EAN u ET DS Evers sine "" > ns ans je "Ue Dre a een hunhnaimame Y a ri PBSEIER ’ m gr nei TER 2 er ” ” ER OU “ar n ans - vu EN Ua] ne gg nme na a gen a mag e n mn ai "gr bie Meer E04 F Be nt an Ten ie Yon ee” | PRRNRFOR. Dan - Dun WEFA- er % h EbELTOO TOEDO DO UNI NN IOHM/IAWN ALLGEMEINE EEIYSIOLOUIE EIN GRUNDRISS DER LEHRE VOM LEBEN VON MAX VERWORN, DR. MED. ET PHIL., PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE UND DIREKTOR DES PHYSIOLOGISCHEN INSTITUTS DER UNIVERSITÄT GÖTTINGEN. FÜNFTE, VOLLSTÄNDIG NEU BEARBEITETE AUFLAGE. MIT 319 ABBILDUNGEN. JENA, VERLAG VON GUSTAV FISCHER 1909. Alle Rechte vorbehalten. 750 I DEM ANDENKEN AN JOHANNES MÜLLER DEN MEISTER DER PHYSIOLOGIE WIDMET DIESE BLÄTTER EIN PHYSIOLOGE. Vorwort zur ersten Auflage. Der Elementarbestandteil aller lebendigen Substanz und das Substrat aller elementaren Lebensäußerungen ist die Zelle. Wenn daher die Physiologiein der Erklärung der Lebensäußerungen ihre Aufgabe sieht, so kann — das liegt auf der Hand — die allgemeine Physiologie nur eine Zellularphysiologie sein. Die Entwicklung der modernen Physiologie ist an einem Punkte angelangt, wo ihre Probleme mehr und mehr beginnen, mit Entschieden- heit eine Verfolgung in der Zelle zu fordern. Immer deutlicher zeigt sich uns in der physiologischen Forschung die Tatsache, daß die allgemeinen Probleme des Lebens bereits in der Zelle enthalten sind, dem elementaren Substrat, das allem Leben auf der Erdoberfläche zugrunde liegt. Dieser Umstand erweckte in mir die Absicht, die allcemeinen Probleme und Tatsachen, Theorien und Hypothesen vom Wesen des Lebens, die bisher nie eine ausführlichere Zusammen- fassung erfahren hatten, nach zellularphysiologischen Gesichtspunkten in einheitlicher Weise zu bearbeiten, um so den Grundriß eines Gebietes zu entwerfen, in das sämtliche Zweige der speziellen Physio- logie einmünden. Ich habe daher im vorliegenden Buch den Ver- such gemacht, die allgemeine Physiologie als allgemeine Zellular- physiologie zu behandeln. Indem ich dieses Unternehmen dem Andenken JOHANNES MÜLLERS widmete, wollte ich nicht bloß dem Danke Ausdruck geben, den wir alle dem Wirken unseres erhabenen Meisters in der Physiologie schuldig sind, ich wollte vor allem den Standpunkt damit andeuten, den ich stets in meiner Forschung mit Energie zu vertreten bestrebt war: das ist der vergleichend-physiologische Standpunkt JOHANNES MÜLLERs. Die vergleichende Behandlungsweise physiologischer Pro- bleme, welche die Forschung unseres Meisters so außerordentlich fruchtbar gestaltete, ist leider nach seinem Tode der Physiologie, als sie sich mehr und mehr in die speziellen Probleme des menschlichen Körpers vertiefte, abhanden gekommen. Allein jetzt, wo sich immer mehr zeigt, daß der Umfang des gebräuchlichen Arbeitsmaterials zu eng wird für die Ausdehnung, welche die physiologischen Probleme auch auf diesen Gebieten anzunehmen beginnen, verlangt die Physio- logie wieder dringender nach einer vergleichenden Behandlung, um schiefen und falschen Verallgemeinerungen aus dem Wege zu gehen und sich freier weiterzuentwickeln. Aus diesem Grunde scheint es mir unerläßlich, auf die Forschungsweise JOHANNES MÜLLERS zurück- zugreifen, und aus diesem Grunde widmete ich die folgenden Blätter den Manen des großen Physiologen. VI Vorwort. Der Plan des vorliegenden Buches nahm zuerst festere Gestalt an auf einer Studienreise, die ich im Jahre 1890 zum Zwecke ver- gleichend-physiologischer Untersuchungen nach verschiedenen Punkten des Mittelmeeres und des Roten Meeres unternahm. Meine Universitäts- vorlesungen in Jena boten mir nach meiner Rückkehr Gelegenheit, das Material zum ersten Male im Zusammenhang darzustellen. Trotzdem blieb mir die Hauptmasse der Arbeit noch übrig, als ich im Sommer 13592 mit dem Manuskript des Buches begann. Obwohl ich mich seit nahezu zehn Jahren vorwiegend mit den Problemen der allgemeinen Physiologie beschäftigt und mich in einer Reihe von Arbeiten bemüht habe, Beiträge zur Lösung allgemein-physiologischer Fragen zu liefern, so war doch mit dem Zusammenschaffen, Nachprüfen, Auswählen, Ver- vollständigen und Anordnen des vielfach sehr zerstreuten Materials eine so große Arbeit verbunden, daß das Buch nur langsam vorwärts- rückte. Dabei waren die Empfindungen, die mich während der Ab- fassung der einzelnen Abschnitte begleiteten, sehr wechselnd. Vielfach stellten sich Momente der Sorge ein, ob der Erfolg im einzelnen der Begeisterung und Liebe, mit der das Ganze unternommen war, ent- sprechen würde. Allein, hier kann nur die Kritik der Fachgenossen die Entscheidung treffen. Es liegt auf der Hand, daß ein Buch, welches ein bisher nie einheitlich behandeltes Material zum ersten Male unter bestimmten Gesichtspunkten zu einem eigenen Gebiete zusammenfaßt, nicht gleich bei seinem ersten Erscheinen etwas Vollkommenes bieten kann. Ich gebe mich daher nicht der Illusion hin, daß mir auch das nur annähernd gelungen sei. Vielmehr bin ich fest überzeugt, daß sich hier und dort mancherlei Fehler und Irrtümer eingeschlichen haben, die ich meine Fachgenossen freundlichst zu verbessern bitte. ° Eine besondere Genugtuung aber hat es mir gewährt, daß einer meiner amerikanischen Fachgenossen, Prof. FREDERIC S. LEE aus New- York, in einem Vortrage auf der Versammlung amerikanischer Natur- forscher und Aerzte gleichzeitig mit mir dieselben Ideen über die Forderungen der modernen Physiologie entwickelt hat, wie sie im ersten Kapitel dieses Buches von mir ausführlich begründet und be- reits an anderen Orten, hauptsächlieh aber in einem Artikel des „Monist“ (Chicago) ausgesprochen worden sind. Bei der Darstellung des Stoffes wurde hauptsächlich Wert auf eine leichtverständliche und nicht allzu ermüdende Sprache gelegt. Diese Forderung tritt immer auf, wenn man die in einem Buche nieder- gelegten Ideen einem weiteren Leserkreise zugängig machen will. Das war hier der Fall. Ich wollte ein Buch schreiben, das sich zwar zu- nächst an meine engeren Fachgenossen wendet und ihnen neben einigen neuen Tatsachen und Ideen vor allem eine Zusammenfassung des bisher zerstreuten Materials bieten sollte, aber zugleich ein Buch, das jedem naturwissenschaftlich gebildeten Leser, der sich für den Gegen- stand interessiert, sei er Arzt oder Philosoph, sei er Botaniker oder Zoolog, einen Ueberblick über die Probleme und Tatsachen, Theorien und Hypothesen des Lebens geben sollte, ein Buch schließlich, das den Studenten der Medizin und Naturwissenschaft in das Wesen der allgemeinen Physiologie einführen und ihm die für sein Studium wich- tigen theoretischen Vorstellungen dieses Gebietes liefern sollte. Es war schwierig, dieser vielseitigen Absicht gerecht zu werden, und nur dann möglich, wenn eine Sprache zur Verwendung kam, die jedem Gebildeten verständlich ist. Inwieweit es mir gelungen ist, meine Vorwort. VII Absicht zu erreichen und für so verschiedene Ansprüche etwas Brauch- bares zu liefern, kann nur das Urteil des Lesers entscheiden, den ich um eine nachsichtige Kritik ersuche. Schließlich fühle ich mich verpflichtet, allen meinen Freunden, die an der Entstehung, Entwicklung und Vollendung meines Planes einen regen Anteil genommen haben, sowie besonders Herrn GUSTAV FISCHER, der mir bei dem Verlage und der Ausstattung des Buches mit großer Liberalität entgegengekommen ist, meinen verbindlichsten Dank zu sagen. London, den 4. November 1894. Der Verfasser. Vorwort zur zweiten Auflage. Indem ich die zweite Auflage der Oeffentlichkeit übergebe, drängt es mich vor allem, meinen wärmsten Dank auszusprechen für die überaus günstige Aufnahme, welche das Buch bei seinem Erscheinen von seiten der Leser und speziell von seiten der Kritik gefunden hat. Besonders bin ich auf das freudigste überrascht gewesen durch die Wahrnehmung, daß die allgemeine Physiologie nicht bloß in den Kreisen der theoretischen Naturforschung, sondern grade auch in den Kreisen der praktischen Medizin das lebhafteste Interesse und die reichste Anerkennung geerntet hat, wie mir nicht nur die zahl- reichen brieflichen und mündlichen Zustimmungen, sondern vor allem die Kritik der Fachzeitschriften des In- und Auslandes gezeigt haben. Ich erblicke darin mit großer Genugtuung ein Zeichen, daß die praktische Medizin unserer Zeit die eminente Bedeutung richtig er- kannt hat, welche die allgemein-physiologischen Erfahrungen über das Leben der Zelle für das Verständnis der physiologischen und patho- logischen Erscheinungen im Zellenstaat des menschlichen Körpers be- sitzen. In dieser Ansicht werde ich um so mehr bestärkt, als ich mit besonderer Freude konstatieren kann, daß die Zahl der zellular- physiologischen Arbeiten sich in den letzten Jahren ungewöhnlich gesteigert hat. Ich bin daher bemüht gewesen, in der zweiten Auf- lage die wichtigeren unter den neuen Erscheinungen zu berücksich- tigen. Leider habe ich dabei in Rücksicht auf den Umfang des Buches manches Neue kürzer behandeln müssen, als es mir lieb war, und manches Alte einschränken müssen, was in der ersten Auflage einen breiteren Raum einnahm, aber ich glaube dennoch durch Einfügung einer beträchtlichen Zahl neuer Figuren und Ersetzung mangelhafter durch bessere die lebendige Anschauung wesentlich erleichtert zu haben. Im übrigen gebe ich mich auch bei dieser zweiten Auflage nicht der Illusion hin, daß sie frei wäre von Fehlern und Mängeln; aber ich denke, daß jeder objektive Kritiker die großen Schwierig- keiten bei der Behandlung eines so ausgedehnten Materials anerkennen und die Irrtümer nachsichtig beurteilen wird. Für den freundlichen Hinweis auf einzelne Mängel und Irrtümer in der ersten Auflage bin VIIL Vorwort. ich meinen Kritikern aufrichtig zu Dank verpflichtet. Ich habe mich bemüht, dieselben, soweit es sich um tatsächliche Fehler handelte, in dieser Auflage zu berichtigen und, soweit dabei Auffassungs- oder Standpunktsdifferenzen zugrunde lagen, dieselben nach bestem Wissen und Gewissen zu würdigen. Eine englische sowie eine italienische Uebersetzung der „Allgemeinen Physiologie“ sind im Erscheinen begriffen. Eine russische Ausgabe ist bereits vor längerer Zeit erschienen, doch sehe ich mich leider genötigt, die Verantwortung für die letztere durchaus abzulehnen, da dieselbe gänzlich ohne mein Vorwissen publi- ziert worden und bisher weder meinem Herrn Verleger noch mir zu Gesicht gekommen ist. Schließlich möchte ich nicht unterlassen, Herrn Dr. Gustav FISCHER auch für seine liebenswürdige Mühe wegen der zweiten Auf- lage meinen wärmsten Dank zu sagen. Jena, physiologisches Institut der Universität, im Juni 1897. Der Verfasser. Vorwort zur dritten Auflage. Aıs im Sommer 1900 der Druck einer dritten Auflage der „All- gemeinen Physiologie“ notwendig wurde, war ich leider nicht so- gleich in der Lage, die Herausgabe derselben in Angriff zu nehmen, und als ich dann im Herbst die Zeit dazu fand, stellte sich heraus, daß einzelne Abschnitte doch infolge des inzwischen wieder bedeutend angewachsenen Materials eine Erweiterung und teilweise Umarbeitung erforderten, die eine beträchtliche Zeit in Anspruch nahm. Leider war ich auch durch anderweitige dringende Arbeiten mehrmals gezwungen, die Neubearbeitung des Buches zeitweilig zu unterbrechen. So kam es, daß sich die Herausgabe der dritten Auflage über Gebühr ver- zögert hat und daß das Buch mehr als ein halbes Jahr lang ver- griffen war. Ich habe mich bemüht, auch bei dieser Auflage den Umfang des Buches seinem Zwecke entsprechend möglichst wenig zu vergrößern. Wenn sich trotzdem eine Erweiterung von beinahe zwei Bogen, sowie eine Vermehrung der Abbildungen bei der Neubearbeitung ergeben hat, so liegt das daran, daß die Fülle selbst des wichtigen Materials im Laufe der drei seit dem Erscheinen der zweiten Auflage ver- flossenen Jahre eine ganz gewaltige geworden ist. Es wird an allen Ecken und Enden in der allgemeinen Physiologie gearbeitet, denn die allgemeinen Fragen der Wissenschaft haben in den letzten Jahren nach einer gewissen Periode der Vernachlässigung wieder an- gefangen, ein erhöhtes und ausgedehnteres Interesse für sich in An- spruch zu nehmen. Leider konnte selbstverständlich nicht alles Wünschenswerte in dem engen Rahmen des Buches Aufnahme finden. Vorwort. 7x Wenn daher manches Wichtige nur kurz berührt oder vielleicht ganz unberücksichtigt geblieben ist, so bitte ich, das damit zu entschuldigen, daß ich bestrebt war, die Grenzen des Buches und damit seinen ursprünglichen Zweck und Charakter durchaus zu wahren. Das Buch würde seinen Zweck verfehlen und würde seine Brauchbarkeit zum großen Teile einbüßen, wenn es zu einer trockenen Materialsammlung auswüchse, die bei dem ungeheuren Umfang des Gebietes der allge- meinen Physiologie ja doch immer ein unvollständiges Stückwerk bleiben müßte. Das Buch soll orientieren und anregen. Bei der mühevollen und undankbaren Arbeit des Korrekturlesens haben mich Herr cand. med. PÜTTER aus Breslau und Herr Dr. KLIMMER aus Dresden in liebenswürdigster Weise unterstützt. Ich möchte beiden Herren an dieser Stelle für die große Mühe und Arbeit, welche sie dem Buche gewidmet haben, meinen wärmsten Dank aus- sprechen. Von Uebersetzungen sind nunmehr die englische, franzö- sische, russische und italienische erschienen. Bei der italienischen haben sich aber leider so ungemein viel Druck- und vor allem Sinnfehler eingeschlichen, daß manche Teile derselben da- durch fast unbrauchbar geworden sind. Indem ich schließlich auch für die Herausgabe dieser dritten Auf- lage meinem hochverehrten Freunde, Herrn Verlagsbuchhändler Dr. GusTAv FISCHER in Jena meinen wärmsten Dank sage, übergebe ich das Buch hiermit zum dritten Male seinen Lesern. Göttingen, physiologisches Institut der Universität, im Mai 1901. Der Verfasser. Vorwort zur vierten Auflage. Der Druck der vierten Auflage, welcher diesmal bereits anderthalb Jahre nach dem Erscheinen der letzten Auflage notwendig wurde, hat sich leider wiederum über Gebühr in die Länge gezogen. Bei der schnellen Aufeinanderfolge der Auflagen, deren Neubearbeitung und Drucklegung jedesmal eine beträchtliche Zeit erfordert, habe ich mich daher in Uebereinstimmung mit dem Herrn Verleger entschlossen, die neue Auflage in einer etwas größeren Zahl von Exemplaren zu drucken als bisher. Das Material ist trotz der kurzen Zeit, die seit dem Erscheinen der dritten Auflage verflossen ist, doch wieder so bedeutend angewachsen, daß ich mich an verschiedenen Stellen zu Erweiterungen und Aende- rungen entschlossen habe, die ich, um den Umfang des Buches nicht allzusehr auszudehnen, durch Verkürzungen an einigen weniger wich- tigen Stellen des Buches zu kompensieren bemüht war. Ich habe natürlich auch diesmal wieder nur das Wichtigste aus der Fülle des neuen Materials berücksichtigen können. Der Zufluß des Interesses x Vorwort. zu den allgemeinen Fragen der Physiologie ist jetzt ein so mächtiger geworden, daß es nicht mehr möglich ist, selbst manche von den interessanteren Ergebnissen in den begrenzten Rahmen eines orien- tierenden Buches mitaufzunehmen. Dem Leser, der sich tiefer in die einzelnen Fragen der allgemeinen Physiologie und ihre jüngste Behandlung versenken will, habe ich durch die Begründung der „Zeitschrift für allgemeine Physiologie“ (Verlag von Gustav FISCHER in Jena) seit vorigem Jahre eine Sammelstelle zu bieten unternommen, an der er in Originaluntersuchungen, Sammel- referaten und Besprechungen der wichtigeren anderweitig erschienenen Einzelarbeiten sich einen Ueberblick verschaffen Kann über die Arbeit, welche in unserer Zeit auf dem Gebiete der allgemeinen Physiologie geleistet wird. So bietet die Zeitschrift in gewisser Weise eine Er- gänzung und Erweiterung des vorliegenden Buches über seinen be- grenzten Rahmen hinaus. Bei der Neubearbeitung der vierten Auflage haben mich mehrere Herren durch ihre freundliche Unterstützung zu großem Dank ver- pflichtet. Herr Geheimrat Prof. Dr. A. von BAEYER in München und Herr Prof. Dr. CoEHN in Göttingen waren so liebenswürdig, mir in bezug auf den chemischen resp. physikalisch-chemischen Teil des Buches einige zweckmäßige Aenderungen vorzuschlagen. Herr Prof. Dr. RHUMBLER hat die große Freundlichkeit gehabt, den Abschnitt über die Mechanik des Zellteilungsvorganges (p. 571—581 der neuen Auflage) auf Grund der neuesten Untersuchungen auf diesem Gebiet, an denen er durch seine eigenen Arbeiten in erster Linie beteiligt ist, selbst einer erweiternden Bearbeitung zu würdigen. Schließlich hat mich Herr Dr. PÜTTER auch bei den Korrekturen dieser Auflage wieder in aufopferndster Weise unterstützt. Indem ich allen diesen Herren, die mir bei der Herausgabe der neuen Auflage in so liebens- würdiger Weise behilflich gewesen sind, sowie auch meinem ver- ehrten Freunde Herrn Verlagsbuchhändler Dr. Gustav FISCHER an dieser Stelle meinen wärmsten Dank sage, übergebe ich diese vierte Auflage der „Allgemeinen Physiologie“ ihren Lesern. Göttingen, physiologisches Institut, Juli 1903. Der Verfasser. Vorwort zur fünften Auflage. Obwohl die vierte Auflage der „Allgemeinen Physiologie“ bereits vor nahezu 3 Jahren vergriffen war, ist es mir doch leider auch diesmal wieder nicht möglich gewesen, wie ich gern gewollt hätte, die neue Auflage der alten sofort folgen zu lassen. Einerseits war meine von den laufenden Verpflichtungen freie Zeit bis gegen das Ende des vorigen Jahres durch andere Arbeiten, vor allem durch die Herausgabe des „Physiologischen Praktikums“ in An- spruch genommen, andererseits habe ich der neuen Auflage diesmal Vorwort. XI eine so umfangreiche Neubearbeitung zuteil werden lassen, daß kaum ein Abschnitt des Buches davon unberührt geblieben ist. Das hat die Ausgabe der fünften Auflage bis heute verzögert. Eine ausgedehnte Neubearbeitung des Buches schien mir dies- mal um so mehr geboten, als seit der Ausgabe der ersten Auflage auf nahezu allen Gebieten der Physiologie das Streben nach der Be- handlung allgemeiner Fragen einen höchst erfreulichen Aufschwung genommen hat, der von einem reichen Gewinn neuen Materials be- gleitet war. Unsere Analyse der Lebensvorgänge in der Zelle hat durch Heranziehung der neueren Erfahrungen aus den Gebieten der Chemie, der Physik und der physikalischen Öhemie eine mächtige Förderung erfahren. Unsere älteren Kenntnisse von den allge- meinen Lebensäußerungen der Zelle, von den Lebensbedingungen, von den Wirkungen der Reize etc. sind durch eine unabsehbare Fülle von neuen Tatsachen und Beispielen bestätigt und erweitert worden. Namentlich hat sich unser Einblick in das Getriebe der Reizwirkungen in der lebendigen Substanz durch die Erkenntnis fundamentaler Vor- eänge des Stoffwechsels und Energieumsatzes ganz beträchtlich ver- tief. So konnten unter anderem in der neuen Auflage zum ersten Male die engen Zusammenhänge zwischen der Erstickung, der Er- müdung, der Narkose, dem Refraktärstadium der lebendigen Sub- stanz und ihrem Verhalten bei Reizung nachgewiesen und auf grund- legende Prinzipien zurückgeführt werden. Es drängt mich, bei dieser Gelegenheit namentlich meinen Mitarbeitern der letzten 8 Jahre aus dem Göttinger physiologischen Institut für ihre lebhaften und erfolg- reichen Bemühungen nach dieser Richtung hin meinen persönlichen Dank auszusprechen. Eine vollständige Umgestaltung hat der erkenntnistheoretische Teil des ersten Kapitels erfahren. Ich bin hier vor allem bemüht gewesen, den exakten und präzisen Standpunkt des wissenschaftlichen Konditionismus, zu dem ich mich in den letzten Jahren immer klarer hindurchgearbeitet und dem ich bereits seit mehreren Jahren auch bei anderen Gelegenheiten Ausdruck gegeben habe, an die Stelle des unklaren kausalistischen Standpunktes zu setzen. Diese Grundauf- fassung vom Wesen und der Aufgabe aller wissenschaftlichen For- schung hat zwar, ohne daß ich derselben vollbewußten Ausdruck verliehen habe, schon die Darstellung des Buches von der ersten Auf- lage an stark beeinflußt, besonders in dem Kapitel von den Lebens- bedingungen, aber ich habe doch in der vorliegenden Auflage zum ersten Male die Erörterung und Analyse der Lebensäußerungen unter völliger Vermeidung des Ursachenbegriffs allein vom Standpunkte des exakten Konditionismus aus durchgeführt. Ich wollte dabei an einem Beispiel zeigen, daß die streng wissenschaftliche Analyse der Lebens- äußerungen althergebrachten Vorurteilen zum Trotz den alten unklaren und noch halb mystischen Begriff der Ursache vollständig entbehren kann. Der mißverständliche Begriff der Ursache hat daher für die Erklärung der Lebensäußerungen im ganzen Buche nirgends einen Platz gefunden. Es ist zu hoffen, daß er, wenn auch langsam, aus der exakten wissenschaftlichen Forschung auch auf anderen Gebieten vollständig verwiesen wird, so wie er bereits heute in der Mathe- matik keinen Platz mehr findet. War es infolge der gewaltigen Ausdehnung unserer allgemein physiologischen Erfahrungen einerseits nötig, in allen Kapiteln zahl- XII Vorwort. reiche neue Abschnitte einzufügen, manchen älteren Abschnitt zu ändern oder ganz wegzulassen, so bin ich doch ganz besonders be- müht gewesen, die Anlage des Ganzen, die Gruppierung des Stoffes, kurz den spezifischen Charakter des Buches, der ihm zu seinem Er- folge verholfen hat, zu erhalten. Leider hat es sich trotz vielfacher Kürzungen an Stellen, die es erforderten, doch nicht vermeiden lassen, daß der Umfang dieser Neubearbeitung um mehr als 5 Druckbogen und 19 Abbildungen zugenommen hat. Ich hoffe indessen, daß dieser Umstand dem Buche nicht zum Nachteil gereichen wird, da ich sehr sorgsam bemüht war, das Buch nicht auf das Niveau einer ein- fachen Materialsammlung herabsinken zu lassen. Für die Zwecke eines selbständigen und weiter ausgedehnten Studiums der allgemein physiologischen Probleme bietet ja die „Zeitschrift für allge- meine Physiologie“ nach wie vor ein umfangreiches Material an Originalarbeiten, Sammelreferaten und Besprechungen der neueren Literatur. Schließlich möchte ich meinem treuen Mitarbeiter und Freunde, Herrn Privatdozent Dr. FRÖHLICH für die liebenswürdige Mühe, mit der er mich beim Korrekturlesen unterstützte, sowie meinem ver- ehrten Freunde, Herrn Geheimrat Dr. Gustav FISCHER für das Ent- gegenkommen bei dem Verlag dieser fünften Auflage meinen herz- lichsten Dank aussprechen. Göttingen, physiologisches Institut, Weihnachten 1908. Max Verworn. Inhaltsverzeichnis. Seite Erstes Kapitel: Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung 1 IrDarbroblem der Physiologie ..... 1... euere sr 2 II. DieEntwicklungsgeschichtederphysiologischenFor- BIN RIER STE Te e Ne 7 A. Die älteste Zeit 7. — B. Das Zeitalter GALEnsS 9 — C. Das Zeitalter HARVEYs 12. — D. Das Zeitalter HALLERs 16. — E. Das Zeitalter JOHANNES MÜLLERS 20. Ill. Die Methode der physiologischen Forschung ...... 29 A. Das bisherige Ergebnis der physiologischen Forschung 29. — B. Erkenntniskritik. 32. 1. Du Boıs-REymonps Grenzen des Naturerkennens 32. 2. Erkenntnistheoretischer Konditionismus 35. 3. Körperwelt und Psyche 41. — C. Der Vitalismus 47. — D. Zellularphysiologie 53. Zweites Kapitel: Von der lebendigen Substanz . . ° . 2.2.2222 2 20.. 63 I. Die Zusammensetzung der lebendigen Substanz ... 64 A. Die Individualisation der lebendigen Substanz 65. 1. Die Zelle als Elementarorganismus 65. 2. Allgemeine und spezielle Zell- bestandteile 73. 3. Mehrkernige Zellen und Syneytien 83. — B. Die morphologische Beschaffenheit der lebendigen Substanz 87. 1. Form und Größe der Zelle 87. 2. Das Protoplasma 92. a) Die geformten Bestandteile 93. b) Die Grundsubstanz des Protoplasmas 97. 3. Der Zellkern oder Nuclöus 100. a) Die Gestalt des Zellkerns 101. b) Die Substanzen des Zellkerns 102. c) Die Struktur der Kernsub- stanzen 106. — C. Die chemischen Eigenschaften der lebendigen Sub- stanz 107. 1. Die organischen Elemente 107. 2. Die chemischen Verbindungen der Zelle 110. a) Die Eiweißkörper 111. b) Die Kohlehydrate 122. c) Die Fette 125. d) Die anorganischen Be- standteile der lebendigen Substanz 126. e) Die Verteilung der Stoffe auf Protoplasma und Kern. 127. — D. Die physikalischen Eigenschaften der lebendigen Substanz 129. 1. Die Konsistenz der lebendigen Substanz 129. 2. Membranfunktionen und osmotische Eigenschaften der Zelle 134. 3. Das spezifische Gewicht der leben- digen Substanz 139. 4. Die optischen Eigenschaften der lebendigen Substanz 140. Hr-Bebendige und leblose Substanz . ı . „em a. 2. 142 A. Organismen und anorganische Körper 143. 1. Morphologische Unterschiede 143. 2. Genetische Unterschiede 144. 3. Physikalische UN Inhaltsverzeichnis. Seite Unterschiede 147. 4. Chemische Unterschiede 149. — B. Lebendige und leblose Organismen 151. 1. Leben und Scheintod 151. 2. Leben und Tod 158. Drittes Kapitel: Von den elementaren Lebensäußerungen . . . .» 2.2... 163 I. Der SEotfzwechael’ z’r 2.10. Se Te ee 165 A. Die Aufnahme von Stoffen 165. 1. Die Nahrungsstoffe 165. 2. Der Modus der Nahrungsaufnahme von seiten der Zelle 169. — B. Die Umsetzung der aufgenommenen Stoffe 176. 1. Extrazellulare und intrazellulare Verdauung 177. 2. Die Fermente und ihre Wir- kungsweise 182. 3. Assimilation und Dissimilation 189. a) Assi- milation 189. b) Dissimilation 194. — ©. Die Abgabe von Stoffen 199. 1. Der Modus der Stoffabgabe von seiten der Zelle 200. 2. Sekret- und Exkretstoffe 204. a) Sekrete 205. b) Exkrete 207. Nate,RoraDilgung u ee a a EN 212 A. Diephylogenetische Entwicklungsreihe212. 1. Die Vererbung 214. 2. Die Anpassung 218. B. Die ontogenetische Entwicklungsreihe 225. 1. Wachstum und Fortpflanzung 226. 2. Die Formen der Zellteilung 229. a) Die direkte Zellteilung 229. b) Die indirekte Zellteilung 230. 3. Die Befruchtung 236. 4. Die Entwicklung des vielzelligen Organismus 244. I, Der inerplieunmentz ee 249 A Die allgemeinen Gesetze der Energetik 249. 1. Die Formen der Energie 249. 2. Das Gesetz von der Erhaltung der Energie. „Erster Hauptsatz“ 251. 3. Der „zweite Hauptsatz“ 252. 4. Das Wärmemaß der Energie 254. — B. Die Einfuhr von Energie in den Organismus 255. 1. Das Gesetz des Energieumsatzes bei che- mischen Prozessen 255. 2. Die Zufuhr chemischer Energie 258. 3. Die Zufuhr von Licht 260. 4. Die Zufuhr von Wärme 261. — C. Die Energieproduktion des Organismus 262. 1. Die Produktion mechanischer Energie 262. a) Passive Bewegungen 263. b) Bewegungen durch Quellung der Zellwände 266. c) Bewegungen durch Verände- rung des Zellturgors 268. d) Bewegungen durch Veränderung des spezifischen Gewichts 271. e) Bewegungen durch Sekretion 274. f) Bewegungen durch Wachstum 276. g) Bewegungen durch Kontrak- tion und Expansion 276. Die amöboide Bewegung 277. Die Muskel- bewegung 283. Die Flimmerbewegung 289. 2. Die Produktion von Licht 297. 3. Die Produktion von Wärme 303. 4. Die Produktion von Elektrizität 307. Viertes Kapitel: Von den allgemeinen Lebensbedingungen . ....... 319 I. Die jetzigen Lebensbedingungen aufder Erdoberfläche 321 A. Die allgemeinen äußeren Lebensbedingungen 321. 1. Die Nahrung 321. 2. Das Wasser 328. 3. Der Sauerstoff 330. 4. Die Tempe- ratur 340. 5. Der osmotische, Druck 347. 6. Der mechanische Druck 350. — B. Die allgemeinen inneren Lebensbedingungen 354. IT. Die Herkunft des Lebens auf der Erde . . . 2 357 A. Die Theorien über die Herkunft des Lebens auf der Erde 358. 1. Die Lehre von der Urzeugung 358. 2. Die Lehre von den Kosmozoen 360. 3. PREYERs Theorie von der Kontinuität des Lebens 362. 4. PFLÜGERs Vorstellung 364. 5. Die Hypothese von Inhaltsverzeichnis. XV Seite E. J. ALLEN 367. — B.Kritisches 369. 1. Ewigkeit oder Entstehung der lebendigen Substanz 369. 2. Die Deszendenz der lebendigen Substanz 373. IT Diei@eschrcehio den. Lodas want sd. 0 1, RE er: 379 A. Die Vorgänge der Nekrobiose 380. 1. Histolytische Prozesse 381. 2. Metamorphotische Prozesse 390. — Die Bedingungen des Todes 397. 1. Aeußere und innere Todesbedingungen 397. 2. Die Frage nach der körperlichen Unsterblichkeit 401. Fünftes Kapitel: Von den Reizen und ihren Wirkungen . . .. 2.2.2... 408 Dans WeSEm dor Reizune te ee ee 410 A. Das Verhältnis der Reize zu den Lebensbedingungen 410. 1. Der Begriff des Reizes 410. 2. Die Reizqualitäten 411. 3. Die Reiz- intensität 413. 4. Die sogenannten „trophischen* Reize 415. — B. Die Reizbarkeit der lebendigen Substanz 417. 1. Der Begriff der Reizbarkeit und die Art der Reizwirkungen 417. 2. Die Dauer der Reizwirkungen 420. 3. Die Fortleitung des Reizerfolges 424. IDie-Reizwirkungenian.der Zelle... . „2 0..me..; 428. A. Die Wirkungen der verschiedenen Reizqualitäten 429. 1. Die Wirkungen chemischer Reize 429. a) Erregungswirkungen 429. b) Lähmungswirkungen 435. 2. Die Wirkungen osmotischer Reizung 444. a) Erregungswirkungen 445. b) Lähmungswirkungen 446. 3. Die Wirkungen mechanischer Reize 446. a) Erregungswirkun- gen 447. b) Lähmungswirkungen 456. 4. Die Wirkungen thermi- scher Reize 457. a) Erregungswirkungen 458. b) Lähmungswir- kungen 463. 5. Die Wirkungen strahlender Reize 467. Die Wir- kungen der Lichtstrahlen 467. a) Erregungswirkungen 470. b) Lähmungswirkungen 475. Die Wirkungen der RÖNTGEN-Strahlen 476. Die Wirkungen der BECQUEREL-Strahlen 478. 6. Die Wir- kungen elektrischer Reize 480. a) Erregungswirkungen 489. b) Lähmungswirkungen 504. — B. Die bewegungsrichtenden Wir- kungen einseitiger Reizung 506. 1. Chemotaxis 507. 2. Barotaxis 518. 3. Phototaxis 527. 4. Thermotaxis 532. 5. Galvanotaxis 535. — C. Die Wirkungen der Ueberreizung 542. 1. Ermüdung und Erschöpfung 542. 2. Das Refraktärstadium 558. 3. Die schein- bare Erregbarkeitssteigerung durch Reize 562. 4. Tod durch Ueber- reizung 565. — D. Die spezifische Energie der lebendigen Sub- stanz 568. Sechstes Kapitel: Vom Mechanismus des Lebens . .. 22 222220. 72 INDVer Debensvorganpes sn 25 A. Der Stoffwechsel des Biogens 574. 1. Das Biogen 574. 2. Die Frage nach der Rolle des Sauerstoffs im Stoffwechsel 584. 3. Der Biotonus 586. — B. Die Wirkung der Reize auf den Stoffwechsel des Biogens 590. 1. Die Veränderungen des Biotonus unter dem Ein- fluß von Reizen 590. 2. Die Selbststeuerung des Stoffwechsels und das Massenwirkungsgesetz 593. 3. Funktioneller und cyto- plastischer Stoffwechsel 596. 4. Die Interferenz von Reizwirkun- gen 602. 5. Die polaren Veränderungen des Biotonus und der Mechanismus der Achseneinstellung bei einseitiger Reizung 608. XVl Inhaltsverzeichnis. IL Die:Mechanik des Zelllebena.. 1... 2.2. 22 022. A. Die Rolle des Kerns und Protoplasmas im Leben der Zelle 619. 1. Die Theorie von der Alleinherrschaft des Kerns in der Zelle 619. 2. Kern und Protoplasma als Glieder in der Stoffwechselkette der Zelle 626. — B. Ableitung der elementaren Lebensäußerungen aus dem Stoffwechsel der Zelle 633. 1. Die Stoffwechselmechanik der Zelle 633. a) Stoffwechselschema der Zelle 633. b) Mechanik der Aufnahme und Abgabe von Stoffen 639. 2. Die Formbildungs- mechanik der Zelle 649. a) Das Wachstum als Grundvorgang der Formbildung 649. b) Entwicklungsmechanik 666. c) Struktur und Flüssigkeit 671. d) Vererbungsmechanik 677. 3. Die Mechanik des Energieumsatzes in der Zelle 679. a) Der Energiekreislauf in der organischen Welt 679. b) Das Prinzip des chemischen Energie- umsatzes in der Zelle 683. c) Die Energiequelle der Muskelarbeit 686. d) Theorie der Kontraktions- und Expansionsbewegungen 692. III. Die Verfassungsverhältnisse des Zellstaates. ..... A. Selbständigkeit und Abhängigkeit der Zellen 703. — B. Diffe- renzierung und Arbeitsteilung der Zellen 709. — CO. Zentralisation der Verwaltung 712. Bachvorzeichnis 1:1... 1. IE Re Fe Erstes Kapitel. Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. I. Das Problem der Physiologie. II. Die Entwicklungsgeschichte der physiologischen Forschung. A. Die älteste Zeit. B. Das Zeitalter GALENSs. ©. Das Zeitalter Harveys. D. Das Zeitalter Harrers. E. Das Zeitalter Jomannes MÜLLERS. IH. Die Methode der physiologischen Forschung. A. Das bisherige Ergebnis der physiologischen Forschung. B. Erkenntniskritik. 1. Du Boıs-Reymonps Grenzen des Naturerkennens. 2. Erkenntnistheoretischer Konditionismus. 3. Körperwelt und Psyche. C. Der Vitalismus. D. Zellularphysiologie. Was die Menschheit von jedem Einzelgebiet des gesamten Kultur- lebens verlangt, ist ein von höher gelegenem Standpunkt aus ge- wonnener Ueberblick über seine Ziele und Erfolge, gewissermaßen eine Landkarte, die jeden Augenblick zur Orientierung dienen, die mit den Landkarten anderer (Gebiete harmonisch zu einem großen Gesamtbilde, zu einer Weltanschauung, vereinigt werden kann. Vor allem ist diese Forderung berechtigt gegenüber den Natur- wissenschaften, deren enorme Entwicklung das Kulturleben unserer Zeit so mächtig beeinflußt hat. i Zwei gewaltige Bedürfnisse der Menschheit sind es, zu deren Befriedigung beizutragen Zweck der Naturforschung ist: ein prak- tisches, das Streben nach zweckmäßiger und angenehmer Ausge- staltung der äußerlichen Lebensverhältnisse — die hohe Entwick- lung der modernen Technik und Medizin legt Zeugnis ab für die Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 1 2 Erstes Kapitel. Leistungsfähigkeit der Naturforschung in dieser Hinsicht —, und ein theoretisches, das mit der Höhe der Kultur gesteigerte Streben nach einer widerspruchslosen Welt- und harmonischen Lebensauffassung. Beide sind mächtig, wenn auch verschieden je nach der Persönlich- keit des einzelnen Menschen. Die Menschheit darf von der Natur- wissenschaft verlangen, daß sie diesen Zweck nie aus dem Auge ver- liert und daß sie ihre Stellung zu den übrigen Seiten des mensch- lichen Lebens nicht verkennt, eine Gefahr, die bei der ungeheuren Ausdehnung, die auch die speziellsten Spezialgebiete innerhalb der Naturwissenschaften angenommen haben, gerade jetzt bedenklich wächst. Einseitige Spezialforschung verfällt stets in diesen Fehler. Sie führt weit ab in unfruchtbare Gefilde, verliert selbst mit den Nachbargebieten mehr und mehr die Fühlung und wird schließlich unfähig, an den allgemeinen Aufgaben der Wissenschaft mitzuarbeiten. Es bedarf wohl nicht der Erwähnung, daß es verkehrt wäre, alle Spezialforschung zu verwerfen. Gesunde Spezialforschung ist ge- rade ein Hauptfaktor für den Fortschritt der Wissenschaft, denn ohne Spezialuntersuchungen gewinnt man keine allgemeineren Erkenntnisse. Aber es ist ein Unterschied, ob man spezielle Untersuchungen aus- führt, um dadurch ein Problem lösen zu helfen, das einem praktischen oder theoretischen Bedürfnis des Lebens entgegenkommt, oder ob man Spezialarbeiten macht, die einem der Zufall oder irgend welcher äußerliche Umstand in die Hände spielt, um zu sehen, ob und was dabei herauskommen wird. Das erste ist wissenschaftliche For- schung, das zweite lediglich Zeitvertreib. Die einseitige Spezialforschung trägt keinem der großen Bedürfnisse des Menschen Rechnung und bringt die Wissenschaft schließlich auf den wenig neides- werten Standpunkt des Famulus Wagner. . Es ist ein unbedingtes Erfordernis für den Fortschritt einer Wissenschaft, daß die Spezialarbeit das allgemeine Ziel, die große Aufgabe fest im Auge behält, damit eine planmäßige, methodische Forschung entsteht. Das ist nur möglich, wenn der Forscher einen Ueberblick über das Gesamtgebiet besitzt, eine Landkarte, auf der die kleinen unbedeutenden Gegenstände verschwinden, auf der in großen Zügen nur die wichtigen und bedeutungsvollen Tatsachen, Anschauungen, Probleme zu einem übersichtlichen Bilde zusammen- treten. Eine solche Uebersicht über die Ziele und Wege und Errungen- schaften braucht aber nicht allein der einzelne Forscher, eine solche Uebersicht, nicht eine Summe von zusammenhangslosen Einzeltat- sachen, verlangt jeder Gebildete, um für sich aus der Wissenschaft herauszufinden, was er für die praktischen oder theoretischen Bedürf- nisse seines Lebens verwerten kann, denn die Wissenschaft ist demLeben dienstbar, nicht dasLieben der Wissenschaft. "I. Das Problem der Physiologie. Das frühe griechische Altertum verband mit dem Wortell,pdors““ den Begriff aller lebendigen Natur, eine Bedeutung, die in reinster Form noch in den Gesängen HomERs zum Ausdruck kommt. Allein der mit dem Worte verknüpfte Begriff hat seitdem mannigfache Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 3 Wandlungen erfahren. Schon frühzeitig wurde die ursprüngliche Be- deutung verallgemeinert, und bereits die Blütezeit griechischer Bil- dung bezeichnete die jonischen Philosophen, die ältesten Naturforscher Griechenlands, als „gvoröioyor“, indem sie den Begriff pdsts auf die gesamte Natur übertrug. Später, mit der Lostrennung der Physik als eigener Wissenschaft im jetzigen Sinne, ist der Begriff wieder enger gefaßt worden, aber in anderer Weise, indem er speziell auf die unbelebte Natur beschränkt wurde, so daß er jetzt grade die ent- gegengesetzte Bedeutung trägt wie ursprünglich. Faßt man den Begriff pdsts in seiner eigentlichen ursprünglichen Bedeutung, so bringt der Name „Physiologie“ das Wesen der Wissenschaft, die er bezeichnet, völlig zutreffend zum Ausdruck, und es ist nicht nötig, ihn durch das neuere Wort „Biologie“ zu er- setzen, mit dem heute sehr verschiedenartige Vorstellungen ver- bunden werden. Die Physiologie ist demnach die Lehre von den Vorgängen in der lebendigen Natur, und somit ist ihre Aufgabe „die Erforschung des Lebens“. Trotz der scheinbaren Einfachheit dieser Aufgabe arbeitet die physiologische Forschung schon jahrhundertelang an ihrem Problem. Indessen bedarf es nur einer oberflächlichen Ueberlegung, wenn man sich die Schwierigkeiten klar machen will, die darin enthalten sind. Es ist nur nötig, die Ausdrücke „Leben“ und „Erforschen“, die in dieser Verbindung zunächst als bloße Worte erscheinen, mit Vor- stellunesinhalt zu füllen. { * * Fassen wir zunächst das Objekt der Physiologie ins Auge, das „Leben“. Der Unbefangene knüpft gewöhnlich an dieses Wort eine Summe von Vorstellungen, die sich auf Aeußerungen sekundärer Natur beziehen, weil er nur an die im täglichen Leben ihm fort- während bemerkbaren weiteren Folgen der primären Lebensvor- gänge denkt. Ihm ist der Begriff „Leben“ gefüllt mit verschiedenen Beschäftigungen, mit Arbeiten, mit Vergnügen, mit Gehen, Fahren, Lesen, Sprechen, Essen, Trinken etc., von denen je nach Beruf und Individualität des einzelnen die eine oder andere Tätigkeit als wesent- licher Teil seines Lebens in den Vordergrund tritt. Aber die ganze Fülle der verschiedenartigen Beschäftigungen des täglichen Lebens stellt nur Kombinationen einiger weniger einfacherer Lebensäußerungen vor. Suchen wir daher die Entwicklung des Begriffs „Leben“ bis in die graue Urzeit zurück zu verfolgen, wo der Mensch noch nichts ahnte von allen jenen Beschäftigungen, welche die hochentwickelte Kultur im Gefolge hat, wo er eben erst anfing, über sich und die ihn um- gebende Welt nachzudenken, so gelangen wir zu dem Ergebnis, daß der Begriff des Lebens nur aus der Zusammenfassung einer Reihe von einfacheren Vorgängen entsprungen sein kann, die der Urmensch durch Selbstbeobachtung fand, vor allem solcher Vorgänge, die mit auecenfälligen Bewegungen verbunden sind, wie die Ortsbewegung, das Atmen, die Ernährung, der Herzschlag und anderes mehr. In der Tat ist es auch nicht schwer, die verwickelten Beschäftigungen unseres heutigen Lebens in ihre einfacheren Bestandteile zu zerlegen, und zu erkennen, daß die ganze Mannigfaltigkeit sich aufbaut aus der verschiedenen Zusammensetzung einer geringen Zahl von einfacheren 1* 4 Erstes Kapitel. Lebensäußerungen, wie Ernährung und Atmung, Wachstum und Fort- pflanzung, Bewegung und Wärmebildung etc. Wenn wir den Begriff Leben in dieser Weise als eine Summe gewisser primärer Vorgänge fassen, würde die Physiologie also die Aufgabe haben, diese einfachen Lebensvorgänge festzustellen, zu untersuchen und zu erklären. Wir müssen uns indessen erinnern, daß wir uns hierbei gemäß der Entwicklung des Lebensbegriffs zunächst auf die Lebensäußerungen des Menschen beschränkt haben, daß aber das Gebiet des Lebens ein weit größeres ist. Tiere und Pflanzen zeigen ebenfalls Lebensäuße- rungen, und es fragt sich, ob diese sich hier überall ebenso verhalten wie beim Menschen, oder ob etwa einige fehlen, andere neu hinzu- kommen oder abweichen. Es müssen also alle lebendigen Organismen in den Kreis der physiologischen Forschung hineingezogen werden, und die Blume und der Wurm muß ebenso gut ihr Objekt sein wie der Mensch. Es ist daher die erste Pflicht der Physiologie, das Ge- biet des Lebendigen abzustecken und festzustellen, was lebendig, was nicht lebendig ist. Allein dieses Unternehmen ist schwieriger als es scheint. Der Inhalt des Begriffs „Leben“ ist nicht zu allen Zeiten derselbe gewesen. Er hat sich wesentlich im Laufe der Entwicklung des Menschengeschlechts verändert. Schon früh ist der Begriff vom Menschen, an dem er gebildet war, übertragen worden auf andere Dinge. Die Urvölker haben den Begriff viel weiter gefaßt als wir, sie nannten lebendig, was wir jetzt nicht mehr als belebt: be- trachten. Gestirne und Feuer, Wind und Welle waren für sie be- lebte und beseelte Wesen und wurden in anthropomorpher Weise personifiziert. Das zeigen uns noch die heute lebenden primitiven Volksstämme, und den Rest davon finden wir in der Mythologie der klassischen Völker und unseres eigenen Volkes. Im Laufe der Kultur- entwicklung hat man zwar immer schärfer unterschieden zwischen lebendig und leblos, aber noch heute kann man beobachten, daß ein Kind eine Dampfmaschine für ein lebendiges Tier hält. Das Kind richtet sich dabei, mehr oder weniger bewußt, nach demselben Kri- terium wie die Urvölker, die das flackernde Feuer und die wogende Welle für belebt hielten, nach dem Kriterium der Bewegung. Die Bewegung ist in der Tat auch für den heutigen Menschen von allen Lebensäußerungen diejenige, die am meisten den Eindruck des Leben- digen hervorruft. Doch das sind primitive Völker und Kinder, wird man sagen. Der in der Erfahrung des Lebens geschulte Kulturmensch wird im gegebenen Fall stets mit Leichtigkeit entscheiden, ob lebendig oder ob leblos. Indessen, auch das trifft durchaus nicht überall zu. Sind trockene Samenkörner lebendig oder leblos? Ist eine Linse, die jahre- lang unverändert im Küchenschrank gelegen hat, lebendig? Die Naturforscher sind selbst nicht immer in dieser Frage einig gewesen. Lebensäußerungen zeigt sie nicht, aber sie kann jeden Augenblick dazu veranlaßt werden, wenn sie in feuchte Erde gesteckt wird. Dann keimt sie und wächst und entwickelt sich zur Pflanze. Viel schwieriger noch wird aber die Entscheidung, ob lebendig oder ob leblos, wenn es sich um Objekte handelt, die man nicht täglich im Leben zu sehen gewöhnt ist, z. B. um gewisse mikro- skopische Dinge. Es bedarf häufig einer tagelangen Beobachtung und sehr eingehender Untersuchungen, um zu entscheiden, ob in einer rs - Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 5 Flüssigkeit feinste Teilchen, die man bei mikroskopischer Beobachtung findet, leben oder nicht. Entnehmen wir einer Flasche Weißbier einen Tropfen des Bodensatzes und betrachten wir ihn unter dem Mikro- skop, so werden wir finden, daß in der Flüssigkeit eine Unzahl kleiner, blasser Kügelchen enthalten ist, häufig zu zweien und dreien anein- ander hängend, die, so lange man sie auch beobachtet, in voll- kommener Ruhe verharren und keine Spur von Bewegungen oder sonstigen Veränderungen zeigen. Ganz ähnliche kleine Kügelchen beobachten wir unter dem Mikroskop in einem Tropfen Milch. Beide Arten von Kügelchen sind nur bei stärkeren Vergrößerungen von einander zu unterscheiden. Bei der geduldigsten und andauerndsten Beobachtung unter dem Mikroskop läßt sich an beiden keine An- deutung von Lebensäußerungen erkennen, und doch sind beide Ob- jekte so grundverschieden wie ein lebendiger Organismus von einem leblosen Körper; denn die Kügelchen aus der Bierhefe sind Hefe- zellen (Saceharomyces cerevisiae), die Gärungserreger des Bieres, vollständig entwickelte, einzellige, lebendige Organismen; die Kügelchen aus der Milch dagegen sind leblose Fetttröpfchen, die durch ihre massenhafte Anwesenheit der Milch infolge ihrer all- seitigen Reflexion des Lichtes die weiße Farbe geben. Als Gegen- stück zu diesen beiden Präparaten können wir ein drittes machen. In der Leibeshöhle des Frosches liegen zu beiden Seiten der Wirbel- säule zwischen den seitlichen Fortsätzen der Wirbel kleine, weißgelb erscheinende Klümpchen. Nehmen wir mit dem Messer aus einem solchen Gebilde etwas von seinem Inhalt heraus, tun wir es mit einem Wassertropfen auf einen Objektträger und bedecken wir das Ganze mit einem Deckegläschen, so sehen wir bei starker Vergrößerung mit dem Mikroskop eine große Menge kleiner Körnchen und kurzer Stäbchen von verschiedener Größe, die sich rastlos in zitternder und tanzender Bewegung ergehen, die kleineren sehr lebhaft, die größeren langsamer. Jeder Unbefangene, der vor die drei Präparate gestellt und gefragt wird, welches von den drei Objekten er für lebendig hält und welches für leblos, bezeichnet unfehlbar die Hefezellen und Fetttröpfchen für leblos, die tanzenden Körnchen dagegen für lebendig, und doch sind letztere nichts weiter als kleine Kriställchen, so leicht, daß sie durch äußerst feine Bewegungen der Wasserteilchen, wie sie in jeder Flüssigkeit vorhanden sind, passiv in zitternde bewegung versetzt werden. Das Symptom der Bewegung, die man auf eine innere „Ur- sache“ zurückzuführen geneigt ist, weil man keinen äußeren Anlaß sieht, verführt hier zur Annahme des Lebens, und solche Beispiele lassen sich in unbegrenzter Zahl finden. Es ist also unter Umständen durchaus nicht leicht, Lebendiges von Leblosem zu unterscheiden, und es ist demnach klar, daß es die erste Pflicht der Physiologie sein muß, die Kriterien für eine solche Unterscheidung aufzusuchen, und ihr Forschungsobjekt, das Leben, gegenüber den Vor- gängen der leblosen Natur begrifflich zu begrenzen. * x ste e A Nicht minder groß sind die Schwierigkeiten, auf die wir stoßen, wenn wir uns den zweiten Begriff ansehen, der in der Aufgabe der Physiologie steckt, das „Erforschen“. Was heißt Erforschen oder Erklären ? 6 Erstes Kapitel. Ein Bedürfnis des Menschen, das mit fortschreitender Entwicklung seines Geisteslebens immer deutlicher zum Ausdruck kommt, ist sein Bedürfnis, die Inhaltsbestandteile seiner sinnlichen Wahrnehmungen und weiterhin seiner Vorstellungen miteinander in Beziehung zu setzen und geemeinschaftliche Momente aus ihnen herauszufinden. Ist es gelungen, eine neue Beobachtung in lauter solche schon aus früheren Beobachtungen und Vorstellungen bekannte Momente auf- zulösen, so gilt die neue Beobachtung vorläufig als erklärt. Jede Erklärung stellt also einen Reduktionsprozeß vor, insofern sie eine Mannigfaltigkeit von zusammengesetzten Dingen durch Analyse auf eine geringere Zahl von einfacheren Dingen zurückführt. Was für den einzelnen Fall gilt, findet seine Anwendung auch auf die Ge- samtheit aller Beobachtungen und Vorstellungen, d. h. auf die Er- klärung der Welt. Schließlich entsteht aber die Frage, wie weit diese Zurückführung gelingt. Gibt es letzte Elementarbestandteile der Dinge oder geht die Zurückführung ins Grenzenlose fort? Die Forschungen auf allen Gebieten der leblosen Natur, be- sonders in der Physik und Chemie, haben zu dem Bestreben geführt, alle Vorgänge herzuleiten aus einem gemeinschaftlichen Prinzip. Zwar haben die Ansichten über die zweckmäßigste Formulierung dieses Prinzips in der Geschichte der Naturwissenschaften mehrfach ge- schwankt, und gerade in neuester Zeit wieder haben lebhafte Er- örterungen über die Brauchbarkeit verschiedener Symbole für die Darstellung und Ableitung der Naturvorgänge stattgefunden. Es handelt sich dabei aber lediglich um Zweckmäßigkeitsfragen. So, wie man darüber streiten kann, ob es zweckmäßiger erscheint, einen Ge- danken mit lateinischen oder mit deutschen Lettern schriftlich zum Ausdruck zu bringen, so kann man verschiedener Ansicht sein über die praktische Brauchbarkeit oder vielleicht auch über die Durchführ- barkeit dieser oder jener Symbolik für die Darstellung der Natur- vorgänge. (Gegenüber manchen neueren Versuchen aber hat sich bis heute noch immer das am schärfsten von KIRCHHOFF formulierte sogenannte „Masse-Raum-Zeit-System“ im Gebrauch erhalten, das die sämtlichen Naturvorgänge auffaßt als Ausdruck der Ver- änderung kleinster Körper in Raum und Zeit, d.h. der Bewegung von distinkten kleinsten Massenteilchen. Hat die Physiologie die Aufgabe, das Zustandekommen der Lebensvorgänge zu erklären, d. h. ihre Elementarvorgänge zu er- forschen, so fragt es sich daher, ob in der lebendigen Natur eben- falls alle Vorgänge auf diese gleichen Elemente zurückgeführt werden können, oder ob es notwendig wird, zur Erklärung der Lebensvor- eänge zu einem anderen Prinzip Zuflucht zu nehmen. In der Be- antwortung dieser Frage liegt eine weitere Aufgabe der Physiologie. Weiter. Seit alters her hat man die große Kluft gefühlt, die zwischen zwei Gruppen von Lebensäußerungen besteht, zwischen den körperlichen und den geistigen. Es entsteht daher die Frage, in welchen Beziehungen stehen die beiden Gruppen von Vorgängen zu- einander? Sind die Prinzipien, die wir für die Erforschung der körperlichen Lebensvorgänge anwenden, auch gültig für die Erforschung der psychischen? Und wenn das nicht der Fall ist, können dann die psychischen Aeußerungen das Objekt physiolo- gischer Forschung bilden? Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 7 Eine Fülle von Fragen also ist es, auf welche die Erforschung des Lebens stößt, von Fragen, die bis in die dunkelsten Tiefen menschlicher Erkenntnisfähigkeit hinabführen. II. Die Entwieklungsgeschichte der physiologischen Forschung!). Einen Blick auf die bisherige Entwicklungsgeschichte der physio- logischen Forschung zu werfen ist ebenso unterhaltend wie wichtig für die Beurteilung des jetzigen Standes und der ferneren Wege, welche die Physiologie zur Erreichung ihres eben festgestellten Zieles ein- zuschlagen hat. A. Die älteste Zeit. Die ersten Spuren naiver physiologischer Vorstellungen verlieren sich in dem undurchdringlichen Dunkel der vorgeschichtlichen Zeiten. Sie finden aber einen uns überlieferten Ausdruck in der Mythologie der alten Kulturvölker. Diese führt uns einen Zustand vor Augen, in dem sich alles Wissen, alle Vorstellungsbildung um die Verehrung höherer Wesen gruppiert. Der primitive Kultus und das damit zu- sammenhängende Wissen der alten Völker kann als ein. untrennbares Ganzes betrachtet werden, aus dem erst im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende allmählich theologische, philosophische, naturwissen- schaftliche und medizinische Ideenkomplexe langsam als selbständige Gebiete auskristallisierten. Die ältesten Vorstellungen vom Leben waren sehr naiv. Alles, was sich bewegte, war lebendig und wurde als beseelt gedacht. Das Charakteristikum der Bewegung war für das Leben ausschlaggebend. Wind und Wasser, Feuer und Sterne wurden personifiziert. Die Meteorite, die sich durch die Luft bewegten, die „Bätylien“ wurden von den Phöniziern für beseelte Steine gehalten und als heilwirkend betrachtet, und noch SusRuTAs, der Verfasser der Ayur Veda, des ältesten indischen Werkes der Heilkunde, stellte den unbeweglichen, d. h. leblosen, alle beweglichen als lebendige Körper gegenüber. Die Heilkunde, die fast ausschließlich Arzneimittellehre war und in uralter Zeit besonders in den Zauberländern am Pontus blühte, wo HEKATE verehrt wurde, war roh empirisch, mit Magie und Geheimlehren ver- bunden und entbehrte noch der ersten Spur einer physiologischen Grundlage. Nur eine Gruppe von Vorgängen fand in dieser frühesten Zeit bereits eingehende Beachtung, jene Vorgänge, die dem Menschen am unmittelbarsten sein Leben offenbaren, die psychischen Lebens- äußerungen. Schon aus dem primitiven Denken der prähistorischen Naturvölker stammt die Vorstellung eines Dualismus von Leib und Seele, die in der Idee von der Wanderung der Seele nach dem Tode 1) Der Darstellung der früheren Entwicklungsepochen der Physiologie ist zu- grunde gelegt K. SPRENGEL: „Versuch einer pragmatischen Geschichte der Arznei- kunde, und H. HAESER: „Lehrbuch der Geschichte der Medizin“. Einen kurzen Abriß der Geschichte der Physiologie im Anschluß an das letztere Buch gibt auch PREYER in seinen „Elementen der allgemeinen Physiologie“. g Erstes Kapitel. des Körpers in andere Körper ihren prägnantesten Ausdruck findet. Diese Vorstellung ist später durch die griechischen Philosophen, be- sonders PYTHAGORAS, aus Aegypten auch in die griechische Philosophie verpflanzt worden. Ueberhaupt hat von den ältesten Zeiten an die Beschäftigung mit den Vorgängen des Seelenlebens immer einen be- sonderen Reiz für Priester und Philosophen, die frühesten Träger theoretischen Wissens, gehabt, und wir finden im Altertum von allen Gebieten wissenschaftlicher Forschung gerade die Psychologie am meisten gepflegt. Während die physiologischen Vorstellungen von seiten des medi- zinischen Ideenkomplexes bis lange nach HIrpoOKRATES kaum die ge- ringeste Beeinflussung erfuhren, wurden sie dagegen durch das erste Aufblühen der Philosophie als eigener, von der Priesterlehre unab- hängiger Disziplin in Griechenland in bedeutsamer Weise bereichert. Die ältesten griechischen Philosophen, sowohl die jonischen „Physio- logen“, als auch die Eleaten, wie auch die Atomisten und die einzeln- stehenden Denker jener Zeit, waren, da ihr Ziel in der Entwicklung einer Kosmologie bestand, gezwungen, auch über die Entstehung der lebendigen Natur nachzudenken, und man mag über die ungebundene Art und Weise des Spekulierens dieser ältesten Denker urteilen wie man will, immer wird es eine der überraschendsten Tatsachen bleiben, wie richtige Vorstellungen sie bereits über manche Lebensvorgänge gehabt haben. Es ist ganz merkwürdig, bei vielen dieser alten Philo- sophen Ideen zu begegnen, die nach mehr als zwei Jahrtausenden wieder ganz modern und zu den wichtigsten Grundlagen der heutigen Wissenschaft vom Leben geworden sind. Besonders gilt das von den Gedanken über die Entstehung und Entwicklung der ÖOrganismen- welt. Bei ANAXIMANDER (geb. um 620 v. Chr.) findet sich schon der Gedanke der Abstammung des Menschen von tierähnlichen Vor- fahren, die ursprünglich im Wasser lebten, in klarer Form aus- gesprochen, und HERAKLIT (um 500 v. Chr.) hat bereits eine Vor- stellung von der Bedeutung des „Kampfes ums Dasein“ (Zpı-). Am deutlichsten aber und am überraschendsten ist die Theorie des EMPEDOKLES (geb. 504 v. Chr.) über die Entstehung der Lebewesen. Es entstanden nach ihm zuerst die Pflanzen, dann die niederen Tiere, aus denen die höheren und zuletzt die Menschen sich durch Vervoll- kommnung entwickelten. Das wirksame Prinzip für diese Vervoll- kommnung sah er darin, daß die unzweckmäßig gebauten im Kampf des Lebens zugrunde gingen, während die lebensfähigen sich fort- pflanzten. Es hat beinahe zwei und ein halbes Jahrtausend gedauert, bis dieser einfache, von EMPEDOKLES bereits klar ausgesprochene Ge- danke der Deszendenz und der natürlichen Selektion der Organismen von DARWIN empirisch begründet und als natürliche Erklärung für die sonst so wunderbare Manniefaltigkeit der organischen Formen hingestellt worden ist. Auch eine Anzahl von mehr oder weniger richtigen Vorstellungen über einzelne spezielle physiologische Vorgänge finden sich bei den älteren griechischen Philosophen. Aber diese zerstreuten Wahrheiten sind mit so viel abenteuerlichen und rein willkürlich gebildeten Ideen vermischt, daß sie den Wert, den sie zu haben scheinen, durch die übrige Gesellschaft, in der sie sich befinden, wieder einbüßen. Ein zusammenhängendes, systematisches Nachdenken oder Beobachten der Lebensvorgänge ist vor ARISTOTELES nicht zu finden. Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 9 Von seiten der praktischen Medizin erfuhr die Erforschung des Lebens selbst dann noch keine bedeutende Förderung, als Hırro- KRATES (460—377 v. Chr.) die bisherige kritiklose Arzneikunde auf eine gesundere Grundlage setzte. Erst bei den Nachfolgern des HıPrroOKRATES sehen wir, wahr- scheinlich unter dem Einfluß der Philosophie PLATos, eine physio- logische Lehre sich ausbreiten, die, bald weiter ausgebildet, die ganzen medizinischen Vorstellungen jener Zeit beherrschte. Das ist die Lehre vom rvsöna, in deren Grundgedanken man bereits den ersten Keim einer fundamentalen physiologischen Wahrheit finden kann. Die Lehre vom rzveöna sagt, daß das zveöua, das wir uns als ein äußerst feines, luftartiges Agens vorgestellt denken müssen, von den Lungen des Menschen angezogen werde, daß es aus den Lungen in das Blut über- gehe und durch das Blut im Körper verteilt werde. Auf der Wirkung des zveöha im Körper beruhen die sämtlichen Lebensvorgänge. Diese Konzeption, die freilich mit allerlei absurdem Beiwerk geschmückt ist, erinnert lebhaft an unsere modernen Vorstellungen von der Rolle des Sauerstoffs im Organismus. B. Das Zeitalter GALENS. In der älteren Pneumalehre der Hippokratiker, die besonders in der alexandrinischen Schule eine Fortbildung durch HEROPHILUS (um 300 v. Chr.) fand, sowie durch ERASISTRATUS (gest. 230 v. Chr.), der bereits ein zveöpa Cormöv im Herzen und ein zvedna duyıröy im Ge- hirn unterschied, liegt die erste Andeutung eines Erklärungs- versuchs der Lebensvorgänge. Es geht daraus hervor, daß das Problem der Physiologie, die Lebensvorgänge zu erklären, schon mehr oder weniger deutlich zum Bewußtsein zu kommen begann. Bisher waren nur gelegentlich einzelne physiologische Tatsachen be- obachtet oder physiologische Fragen behandelt worden. Je deutlicher jetzt das Problem der Physiologie sich zu gestalten anfing, um so mehr begann auch die Behandlung physiologischer Fragen den Cha- rakter methodischer Forschung anzunehmen. Die Vorbedingungen dazu schaffte ARISTOTELES (384322), der große Polyhistor des Altertums, der ein unermeßliches Tatsachen- material in seinem Kopfe zusammenfaßte. Die Bedeutung des ARI- STOTELES für die Physiologie liegt nicht in der Erklärung der Lebensvorgänge — diese ist vielmehr oft unkritisch und tritt auch nicht in den Vordergrund seiner Tätigkeit —, sondern in der Samm- lung einer großen Menge physiologischer Beobachtungen, unter denen sich neben vielen ausgezeichneten und scharfsinnigen Untersuchungen allerdings auch manche irrtümliche Vorstellung findet, wie z. B. die Idee einer Entstehung von Aalen und Fröschen durch Urzeugung aus Schlamm. Aber diese Anhäufung des Beobachtungsmaterials ist die Grundlage für die neue Entwicklungsphase, in welche die Geschichte der Physiologie nach ARISTOTELES tritt, und die charakterisiert ist durch die klare Erkenntnis des physiologischen Problems und seiner unermeßlichen Bedeutung für die praktische Medizin. Nachdem ARISTOTELES durch sein systematisierendes Wirken für die Naturwissenschaft eine breite empirische Basis geschaffen hatte, gewann auch die Pneumalehre unter den späteren Pneumatikern, be- sonders durch ATHENAEUS und ÄRETAEUS (beide um 50 n. Chr.), eine 10 Erstes Kapitel. weitere Ausbreitung. Es liegt in der Natur der Pneumalehre, daß sie notwendig zu dem Streben führen mußte, die Vorgänge des Lebens unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zusammenzufassen und zu erklären, und so finden wir denn in der Tat gerade in dieser Zeit zum ersten Male eine klare, bewußte Erkenntnis des physio- logischen Problems und eine methodische Zusammenfassung der physio- logischen Beobachtungen. Der Mann, der das Wesen und die Be- deutung der Physiologie zum ersten Male deutlich erkannte, war GALENUS (131 bis ca. 200 n. Chr.). GALEN sah ein, daß eine prak- tische Medizin nicht gedeihen könne, wenn sie sich nicht auf der genauesten Kenntnis der normalen Lebensvorgänge des menschlichen Körpers aufbaut. Die Erforschung der Funktionen des normalen Körpers sei die erste Vorbedingung einer Heilkunde. Dieser prak- tische Zweck war es, der zum wichtigsten Hebel für die Ent- wicklung der Physiologie wurde, und bis in das 18. Jahrhundert ist Physiologie fast ausschließlich zu diesem Zwecke getrieben worden. Ferner erkannte GALEN zuerst klar die Bedeutung der anatomischen Kenntnis des Körpers für das Verständnis der Funktionen seiner Teile und legte großen Wert auf die Zergliederung von Tieren, von denen er besonders Affen und Schweine sezierte.. Endlich wußte GALEN bereits den Wert des Experiments an Tieren für die Erforschung physiologischer Vorgänge zu würdigen und führte selbst Vivisektionen an Affen und Schweinen aus, wenn auch die experimentelle Methode unter ihm noch nicht jene exakte Form annahm und jene grund- legende Bedeutung erlangte, die ihr erst viele Jahrhunderte später HARVvEY zu geben verstand. Es ist bei aller Anerkennung seiner unsterblichen Verdienste GALEN mehrfach zum Vorwurf gemacht worden, daß er sich nicht damit begnügt hat, physiologische Tatsachen zu sammeln, Beobach- tungen zu machen, Experimente anzustellen, sondern daß er das leb- hafte Bedürfnis empfand, das gesammelte Material zu einem ge- schlossenen und umfassenden System der Physiologie zu vereinigen, wobei er der Hypothese und philosophischen Spekulation einen Platz einräumte, den eine exakte Untersuchung hätte ausfüllen sollen. Es kann nichts ungerechter sein als dieser Vorwurf. Hätte GALEN sich be- gnügt, unzusammenhängende physiologische Tatsachen zu konstatieren, so wäre die Physiologie und damit die ganze Medizin durch ihn um keinen Schritt weiter gebracht worden, als sie bereits ARISTOTELES geführt hatte. Die größte Bedeutung GALENs liegt gerade in der Vereinigung der physiologischen Einzelkenntnisse zu einem zusammen- hängenden System. Erst im Zusammenhange mit anderen Tatsachen gewinnt die einzelne Beobachtung Wert, und erst der Ueberblick über den Zusammenhang der Tatsachen ermöglicht ein methodisches Weiter- forschen. Daß bei diesem ersten Versuche, das physiologische Be- obachtungsmaterial zu einem einheitlichen Bilde vom Leben des mensch- lichen Körpers zu gestalten, die Hypothese, ja, sogar manche für uns heute absurde Hypothese hier und dort eine Zuflucht bieten mußte, liegt in der Natur der Sache. Der einzige Fehler, an dem das System des GALEN leidet, ist nicht der zusammenhängende Kitt philosophischer Spekulation an sich, sondern der eigentümliche Dualismus, zu dem sich GALEN verleiten ließ, indem er einerseits der aus seiner natur- wissenschaftlichen Erfahrung sich ergebenden strengen Notwendig- keit des Geschehens und andererseits der aus der ARISTOTELischen Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 11 Philosophie übernommenen Teleologie bei der Erklärung der Lebensvorgänge gleichzeitig eine Stelle einzuräumen bestrebt war. Indessen man wird bei gerechter Würdigung der damaligen Zeit, in der die ARISTOTELischen Ideen bereits angefangen hatten, ihre mehr als tausendjährige Weltherrschaft auszuüben, dem GALEN kaum einen Vorwurf daraus machen, um so weniger, wenn man daran denkt, daß die teleologische Vorstellung von einem Endzweck alles Geschehens noch heutzutage hier und dort in der modernen Naturforschung um- geht. Das System GALENs basiert auf der Pneumalehre. Die Quelle aller Lebensäußerungen des menschlichen Körpers, der sich aus den vier Grundsäften des Blutes, des Schleimes, der gelben und der schwarzen Galle zusammensetzt, bilden die drei verschiedenen Formen des Pneuma, von denen das rzvedna dbvyray im Gehirn und den Nerven, das rveöua [orıxöov im Herzen und das zvedpa Yucızdy in der Leber seinen Sitz hat. Diese drei Formen des Pneuma, die fortwährend durch die Aufnahme des rvsdun Lorızöy aus der Luft regeneriert werden müssen, sind die Triebfedern, welche die Funk- tionen der betreffenden Organe unterhalten. Es gibt eine große Zahl von Funktionen des Körpers, aber sie lassen sich je nach der ent- sprechenden Form des Pneuma in drei Gruppen teilen, deren jede durch eine dem betreffenden Pneuma entsprechende Kraft (ödvanıc) ausgeübt wird. Die psychischen Funktionen umfassen Denken, . Empfinden und willkürliche Bewegung, die sphygmischen Funk- tionen Herzschlag, Puls und Wärmebildung, die physischen end- lich die Ernährung, das Wachstum, die Sekretion, die Fortpflanzung und die dazu in Beziehung stehenden Tätigkeiten. In der Leber wird das Blut gebildet. Hier entspringen die Venen. Durch diese gelangt das Blut in die rechte Herzkammer, wo die brauchbaren Teile von den unbrauchbaren gesondert werden, indem die ersteren in die linke Herzkammer transportiert, während die letzteren durch die Lungen- arterie zu den Lungen geführt werden. In den Lungen werden sie durch das Pneuma wieder regeneriert und brauchbar gemacht. Es ist merkwürdig, mit welcher divinatorischen Gabe GALEN auf einen Bestandteil der Luft als das Pneuma hingewiesen hat, dessen Natur er noch nicht ahnen konnte. GALEN spricht nämlich ganz deutlich die Vermutung aus, daß es einmal gelingen würde, denjenigen Be- standteil in der Luft zu isolieren, der das Pneuma bilde. Mehr als ein und ein halbes Jahrtausend hat es gedauert, ehe GALENS Ver- mutung durch PRIESTLEYs und LAvoISIERs Entdeckung des Sauerstofts bestätigt wurde. Das durch die Aufnahme des Pneuma in den Lungen wieder regenerierte Blut fließt dann durch die Lungenvenen ins linke Herz, von wo es, mit dem übrigen brauchbaren Blut vereinigt, durch die Aorta und ihre Verzweigungen im ganzen Körper umhergetragen wird. Die Anschauungen GALENs über das Nervensystem sind ebenso interessant. Im Gehirn und Rückenmark liegt der Ursprung der Empfindungs- und Bewegungstätigkeit der Nerven. Die bewegenden Nerven treten in Wirksamkeit, indem sie wie Stricke an den beweg- lichen Organen ziehen. In der speziellen Nervenphysiologie unter- suchte GALEN experimentell den Zusammenhang des Nervus vagus und der Zwischenrippennerven mit der Atmung und Herztätigkeit, und machte Rückenmarksdurchschneidungen der Quere und Länge nach, Versuche, die beweisen, wie tief er bereits in das Verständnis 12 Erstes Kapitel. der Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Organen des Körpers eingedrungen sein mußte. GALENS physiologisches System war für die damalige Zeit ein monumentales Werk, und es ist sicherlich nicht allein der gänzlichen Unfruchtbarkeit des Mittelalters auf wissenschaftlichem Gebiet zuzu- schreiben, daß die Anschauungen GALENSs dreizehn Jahrhunderte als unantastbarer Kodex der Medizin bestehen blieben. Im ganzen Mittel- alter tat die physiologische Forschung nicht einen Schritt in der Ent- wicklung vorwärts. Die Araber, welche die antike Kultur übernommen hatten, waren zwar als Aerzte bedeutend, aber ein selbständiges Forschen, ein philosophisches Denken verbot ihnen allein schon der Korän. Selbst AvıcEnnA (IBgn Sina |980—1037]), der berühmteste unter den arabischen Aerzten, der auch philosophische Neigungen ver- riet, leistete nichts Selbständiges.. Sein System war mit geringen Aenderungen das des GALEN, dessen Ruhm er durch sein eigenes gewaltiges Ansehen in der ganzen damaligen Kulturwelt verdunkelte. Auch die zahlreichen berühmten medizinischen Schulen, die um diese Zeit in Italien, Frankreich und Spanien entstanden, zogen zwar viele tüchtige Aerzte heran, führten aber die GALENschen Ideen um keinen Schritt weiter, abgesehen davon, daß hier und dort eine vereinzelte physiologische Beobachtung gemacht wurde. Dieser Zustand der Stagnation dauerte bis ins 16. Jahrhundert hinein. C. Das Zeitalter HARVEYS. Der Anfang einer selbständigen Fortentwicklung der Physiologie ist erst im 16. Jahrhundert zu finden. Einer der ersten, die das GALENsche System verließen, war PARACELSUS (14953—1541), der selbst ein vollständiges System der Natur entwickelte. Zwar war sein System mit theosophischen Ideen durchdrungen, ein Zug, der bei seinen Nachfolgern starke Folgen hatte und sie ganz der Mystik in die Arme trieb; aber es enthielt doch viele originelle, wenn auch häufig absurde Ideen. PARACELSUS macht mit Bewußtsein gegen die bisherigen gedankenlosen Nachbeter des GALENschen Systems und seiner Auswüchse, wie sie sich im Mittelalter entwickelt hatten, Front, und das war in der damaligen Zeit ein wichtiger Fortschritt. Die Grundlage seines Systems ist der Gedanke von der Einheit der Natur. Die Natur stellt ein einheitliches Ganzes vor, den Makrokosmos. Im Menschen als Mittelpunkt der Natur sind alle einzelnen Formen des Naturseins enthalten. Der Mensch ist daher als ein Mikrokosmos zu betrachten. Dabei darf aber die Natur nicht als ein Fertiges, sondern muß vielmehr als ein ewig Werdendes angesehen werden. Die spezielleren Seiten seines Systems sind ziemlich willkürlich und haben keine Bedeutung, wie überhaupt ja dieser erste Anfang eines selb- ständigen Forschens noch ziemlich unbeholfen war. Vor allem fehlte ihm eine gediegene empirische und experimentelle Grundlage. Zur selben Zeit begann auch in Frankreich und in Italien eine freiere Richtung von den Medizinschulen auszugehen. Bereits FERNELIUS (1497—1558) hat, obwohl er noch ganz auf dem Boden des GALEN- schen Systems steht, manche neue Gedanken. Er trennt von den verschiedenen Formen des „Spiritus“, d. h. des GALENschen rvedn.a die „anima“. Erstere bestehen aus der feinsten materiellen Substanz, letztere dagegen ist die Seele, die nur in ihren Wirkungen zu er- Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 13 kennen ist. Ferner vertritt er die Vorstellung, daß die Vorgänge im Organismus in letzter Instanz von bestimmten geheimnisvollen Kräften bedingt werden. Einen höheren Aufschwung nahm die speziell physiologische For- schung erst im Anschluß an die großen anatomischen Entdeckungen in den Schulen Frankreichs und Italiens, wo durch VESALIUS, EUSTACHIUS, FALorrıaA und andere die anatomische Kenntnis des menschlichen Körpers auf eine ganze neue, rein empirische Grundlage gesetzt wurde. Besonders waren es die Untersuchungen über den anatomischen Bau des Herzens und den Verlauf der Gefäße, die äußerst fruchtbar für die Physiologie wurden. Die Lehre vom Blutkreislauf, wie sie GALEN begründet hatte, erfuhr dadurch wesentliche Aenderungen. SERVETO (1511—1553) widerlegte zuerst die GALENsche Vorstellung, daß das Blut aus der rechten Herzkammer direkt in die linke ge- lange, durch den Hinweis auf die Undurchgängigkeit der Scheidewand. Seine Nachfolger, COLOMBO (gest. 1559) und ÜESALPINO (1519— -1603), fügten dieser "Tatsache noch neue über die Zirkulation des Blutes in den Lungen hinzu, und ARGENTIERI (1513—1572). der die Lehre von den Spiritus animales bekämpfte und den glücklichen Gedanken hatte, an ihre Stelle die Wärme als Quelle der Lebensvorgänge zu setzen, betonte, daß die Ernährung des ganzen Körpers allein durch das Blut besoret werde. Durch diese speziellen Forschungen auf dem Gebiet der Blutphysiologie wurde der Weg geebnet zu “der größten Entdeckung dieses Zeitraumes, zu der Entdeckung des Blutkreislaufs durch Harvey (1578-1657). Der wichtige Punkt in HArvEys Ent- deckung liegt darin, daß er zuerst den Zusammenhang der Arterien und Venen durch das Kapillarsystem und den Uebertritt des Blutes aus den Arterien durch die Kapillaren in die Venenstämme und von hier ins Herz feststellte und so die Tatsache begründete, daß alles Blut durch das Herz strömt und in einem geschlossenen Kreise im ganzen Körper zirkuliert. Hieran fügte er noch eine große Zahl spezieller Tatsachen, den Mechanismus des Kreislaufs betreffend, die alle — und darin liegt die große Bedeutung von HARVEYS Arbeiten — auf scharfer Beobachtung und exakter experimenteller Grundlage beruhten. HArRvEY hat durch seine Entdeckung, dem exakten Zuge seiner Zeit folgend, der auch einen ÜOPERNICUS, einen GALILEI, einen Bacon, einen DESCARTES hervorrief, die experimentelle Methode, nachdem sie in dreizehn Jahrhunderten völlig in Vergessenheit ge- raten war, in der Physiologie aufs glänzendste wieder zu Ehren ge- bracht. Der gewissenhafte Forschergeist Harveys, verbunden mit der großen logischen Schärfe seines Verstandes, ist es, der seine Persönlichkeit charakterisiert und ihn als den ersten wirklichen Physiologen nach der langen Pause des Mittelalters erscheinen läßt. Uebrigens steht seiner Lehre vom Blutkreislauf eine zweite Lehre „de generatione animalium“ ebenbürtig zur Seite, in der er einen Satz begründete, der später eine ungeheuere Bedeutung in der Wissen- schaft vom Leben gewonnen hat und in den verschiedenen Fassungen, die er in neuerer Zeit annahm, die ganzen modernen physiologischen Anschauungen von der Fortpflanzung der Organismen beherrscht, den Satz „omne vivum ex 0vo“, Unter den Vertretern der großen theosophischen Schule, die PARACELSUS hervorrief, hat nur einer Bedeutung in der Geschichte der Physiologie erlangt, van HELMoNT (1577—1644), und zwar da- 14 Erstes Kapitel. durch, daß er trotz der Mystik, welche die ganze theosophische Rich- tung charakterisiert, auch wirklich genaue Beobachtungen gemacht hat. Auf dem Boden der PARACELSUSschen Lehre von der All-Einheit der Natur und dem ewigen Werden derselben fußend, stellt er sich alle Naturkörper vor als zusammengesetzt aus der Materie und dem „Archeus“ (Kraft). Nur in dieser Verbindung existieren die Dinge und leben. Alle Dinge sind infolgedessen lebendig. Nur gibt es verschiedene Grade des Lebens, und die sogenannten leblosen Körper befinden sich nur auf der untersten Stufe des Lebens. Von den speziellen physiologischen Vorstellungen VAN HELMONTS ist besonders interessant seine chemische Lehre von den Fermenten. Er verwirft die Idee GALENs, daß die Verdauung im Magen durch die Wärme geschehe, und setzt an ihre Stelle die richtigere Vorstellung, daß das an die Magensäure gebundene „Fermentum“ die Verdauung bewirke. Einen großen Einfluß gewannen auf die weitere Entwicklung der Physiologie die philosophischen Systeme des BAcon VON VERULAM (1561—1626) und des DESCARTES (1596--1650). Die Philosophie Bacons, die durch die energische Betonung der induktiven Forschungs- methode zur Grundlage der ganzen modernen Naturwissenschaft wurde, gab auch auf physiologischem Gebiete zu der großen Fülle von neuen Beobachtungen Anlaß, die, auf empirisch-experimentellem Boden erwachsen, seitdem ununterbrochen unsere Kenntnis von den Lebensvorgängen bereichert haben. Die Philosophie des DESCARTES, zwar rein dualistisch, gewann ihrerseits doch durch die Theorie der sinnlichen Wahrnehmung, die ihren Ausgangspunkt bildete, große Be- deutung für die Sinnesphysiologie und Erkenntnistheorie. DESCARTES war der erste, der den Satz aufstellte, daß das einzige in der Welt, von dem wir sichere Kenntnis haben, unsere eigene subjektive Empfindung sei. Unsere Psyche, unsere Empfindung, unser Denken muß daher ein für allemal der feste Punkt sein, auf den sich eine Weltanschauung stützt. Erst auf dieser Grundlage läßt sich weiter bauen. „Üogito ergo sum.‘ Dieser Satz ist so bestimmt und klar ausgesprochen und begründet, daß man sich wundern muß, wie DESCARTES trotzdem, in die größte Inkonsequenz verfallend, weiterhin zu einem vollendeten Dualismus von Körper und Seele gelangen konnte. Man könnte fast verführt werden, zu denken, daß ein so klarer und folgerichtiger Denker, wie DESCARTES, im stillen für sich die letzte Konzequenz selbst zog und, nur dem Drucke der damaligen kirchlichen Verhält- nisse Rechnung tragend, aus praktischen Rücksichten dem Gedanken- gange seiner Philosophie diese unerwartete Wendung gab, indem er es jedem vorurteilsfreien Denker selbst überlassen wollte, die offen zutage liegende -Inkonsequenz zu bemerken und den Schlußstein selbst in konsequenter Weise aut das Gebäude zu setzen. Von der weitgehendsten physiologischen Bedeutung ist bei seinem Dualismus aber wieder die klare Einsicht, daß sich alle Tiere sowie der Körper des Menschen vollkommen wie kunstvoll gebaute Maschinen verhalten, daß sie sich bewegen nach rein mechanischen Gesetzen. Dann freilich tritt der Dualismus wieder störend hervor, indem DESCARTES den Anstoß für alle Bewegungen in die Seele verlegt, die von der Zirbel- drüse aus, in der sie als dem einzigen. unpaarigen Organ des Ge- hirns ihren Sitz haben soll, die einzelnen Teile des Körpers regiere. Indessen sind nicht bloß die allgemein philosophischen Vorstellungen DESCARTEsS’ von großer Bedeutung für die Physiologie geworden, Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 15 sondern der geniale Denker hat auch eine Reihe von sehr wichtigen, speziell physiologischen Beobachtungen gemacht, die besonders die Lehre von den Sinnesorganen, die physiologische Optik und Akustik, um einen bedeutenden Schritt gefördert haben. Der DESCARTESSsche Gedanke, daß der Körper des Menschen in bezug auf seine Lebensverrichtungen als eine komplizierte Maschine aufzufassen sei, wurde besonders fruchtbar für die Physiologie in der genialen Anwendung, die er durch BorRELLI (1608—1679) in der Lehre von der tierischen Bewegung fand. BORELLI unternahm es zum ersten Male, die Bewegungen und Leistungen der organischen Bewegungsapparate auf rein physikalische Gesetze zurückzuführen und schuf so die Grundlage unserer heutigen Bewegungsmechanik der Tiere. Der große Erfolg dieses Unternehmens fand darin seinen Ausdruck, daß die Lehren BoRELLIS Ausgangspunkt einer eigenen Schule wurden, der iatromechanischen (iatrophysischen oder iatromathematischen ) Schule, die eine bedeutende Rolle in der weiteren Entwicklung der Physiologie gespielt hat, indem sie darauf ausging, auch andere Lebens- vorgänge des Tierkörpers aus rein physikalischen Gesetzen zu erklären. Zugleich wurden unter den Nachfolgern BORELLIS einige, besonders GLISSON, die Vorläufer der späteren Muskelirritabilitätslehre, indem sie die Kontraktilität als eine der Muskelsubstanz selbst innewohnende Fähigkeit hinstellten. Fast gleichzeitig mit der Begründung der iatrophysikalischen sehen wir eine andere, eine Zeitlang mit ihr parallel laufende Schul- richtung entstehen, die iatrochemische. Ihr Begründer war DELBOE SyLvıus (1614— 1672). Unbefriedigt durch die Einseitigkeit der latrophysiker, aber ohne die Bedeutung ihres Prinzips zu ver- kennen, betonte SyLvıus neben dem physikalischen Erklärungsprinzip der Lebensvorgänge auch das chemische und bearbeitete, diesem Prin- zip folgend, hauptsächlich die Physiologie der Verdauung und Atmung, indem er die van HELMoNnTsche Lehre von den Fermenten weiter- führte. In der Lehre von der Atmung äußerte auch Mayow (1645 — 1679) sehr treffende Gedanken über die Analogie der Atmung mit der Verbrennung. Eine bedeutsame Unterstützung, deren Wert für die physiologische Forschung aber bis auf den heutigen Tag noch immer nicht genügend ausgenutzt worden ist, erfuhr die Physiologie in jener Zeit durch die Erfindung zusammengesetzter Mikroskope und die sich daran knüpfen- den mikroskopischen Entdeckungen von LEEUWENHOEK (1632— 1723), MALPIGHI (1623—1694) und SWAMMERDAMM (1657 — 1685). Vor allem war es die Physiologie der Zeugung und Entwicklung, die da- durch um ein bedeutendes Stück weiter geführt wurde. Freilich ver- leiteten gerade auf diesem Gebiet die ersten mikroskopischen Ent- deckungen noch zu manchem verzeihlichen Irrtum. Als man z. B. anfing, Infusionen von Wasser auf fäulnisfähige Stoffe zu machen, und dabei das massenhafte Auftreten von Infusorien beobachtete, glaubte man hier, dem Satze HARvVEYs „omne vivum ex 0vo“ ent- gegen, eine Urzeugung, d. h. eine Entstehung aus leblosen Stoffen, vor sich zu haben, wie sie früher sogar für höhere Tiere von ARISTOTELES angenommen war. Anderseits aber wurde gerade der Harveysche Satz wieder Ausgangspunkt für wichtige Entdeckungen, indem MALPIGHI die Entwicklung der Eier unter "dem Mikroskope verfolgte, während LEEUWENHOEKS Schüler LuDwIG van HAMMEN 16 Erstes Kapitel. die Spermatozoen entdeckte, deren Bedeutung LEEUWENHOEK alsbald erkannte. Durch diese und eine große Zahl von speziellen physiologischen Entdeckungen, die alle auf dem Grunde streng wissenschaftlicher Untersuchung gediehen, bekommt die Zeit des 17. und 18. Jahr- hunderts mit dem Auftreten HArvEyvs den Charakter des Aufblühens exakter Forschung in der Physiologie, wie ja der Zug der empirischen Methode alle Wissenschaften jenes Zeitraums belebend und befruchtend durchweht. Daneben aber finden sich, wie sich das immer von neuem in der Geschichte der Wissenschaften wiederholt, als Reaktion gegen einseitig übertriebene Spezialforschung Systeme, die gerade in das andere Extrem verfallen, die jeder exakten Grundlage entbehren und auf reiner Spekulation beruhen. Zwar wußte BOERHAAVE (1668— 1738), der ein eklektisches System aus den verschiedenen Lehrmeinungen seiner Zeit zusammenstellte und als Quelle aller Lebensvorgänge ein „prineipium nervosum“ in Gestalt einer sehr dünnen Flüssigkeit annahm, durch Vorsicht diesem Vorwurf noch zu entgehen, um so mehr aber trifft derselbe die Systeme von HOFFMANN (1660—1742) und von STAHL (1660— 1734). Das „mechanisch-dynamische System“ HOFFMANNSs ist rein teleologisch und entstand unter dem Einfluß der LEıBnItzschen Philosophie. Als letztes Prinzip aller Lebensäußerungen sieht HOFFMANN den Aether an, dessen Bewegung einerseits zwar nach mechanischen Gesetzen erfolgt, anderseits aber ihren unmittel- baren Antrieb durch die jeder Aethermonade innewohnende Vor- stellung ihres eigenen Daseinszweckes erhält. Noch mehr auf speku- lativen Füßen steht aber das „animistische System“ STAHLSs, welches die Lehren HoFFmanns befehdete. StAaHLs System liegt ein Dualis- mus von Körper und Seele zugrunde, nach dem der Körper in seinen Verrichtungen zwar mechanischen Gesetzen folgt, aber erst durch die „anima“, über deren Natur sich STAHL nur ganz unklar und widersprechend äußert, belebt und vor Fäulnis und Zerfall be- wahrt wird. Trotz der haltlosen Spekulationen und vielen Wider- sprüche gewann der „Animismus“ doch zahlreiche Anhänger, was, wie gesagt, nur aus dem Bedürfnis nach einer Sichtung der zahllosen Einzeltatsachen und einer zusammenhängenden Auffassung der Lebens- vorgänge gegenüber den vielen speziellen Untersuchungen zu er- klären ist. D. Das Zeitalter HALLERS. Dem Bedürfnis nach einer einheitlichen Zusammenfassung des gesamten Gebietes entsprach in wirklich wissenschaftlicher Weise erst HALLER (1708—1777), von dessen Auftreten daher gleich wie einst von dem GALENS und später HArRvEys eine neue Epoche in der Ent- wicklung der physiologischen Forschung datiert. Hatte GALEN die praktische Bedeutung der Physiologie zuerst erkannt und die Kennt- nis der Lebensvorgänge zur Grundlage für die praktische Medizin gemacht, hatte HArvEY durch Einführung der exakt experimentellen Forschung der Physiologie die fruchtbringende Methode geschaffen, deren Anwendung im 16. und 17. Jahrhundert die ungeheure Menge von Einzelentdeckungen hervorrief, so faßte HALLER zum ersten Male das ganze gewaltig angewachsene Material von Tatsachen und Theorien in seinen „Elementa physiologiae corporis humani“ zu einem Ganzen Kt Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 1% zusammen und schuf aus der Physiologie eine selbständige Wissen- schaft, die nicht bloß praktische Zwecke im Interesse der "Heilkunde, sondern auch für sich selbst rein theoretische Ziele verfolgte. In dieser Tat HALLERS liegt seine große Bedeutung für den Fort- schritt in der Entwicklung der Physiologie. Eine Zusammenfassung eines großen Tatsachenmaterials zu einem geschlossenen und über- sichtlichen Ganzen wirkt immer anregend und befruchtend für die weitere Forschung, und so erklärt sich die ungeheure Autorität und der gewaltige Einfluß, den HALLER auf die Entwicklung der physio- logischen Forschung gewonnen hat. Seine eigenen physiologischen Untersuchungen dagegen sind zwar sehr gewissenhaft und exakt, wie z. B. die Untersuchungen über die Atembewegungen und zur Irri- tabilitätslehre, enthalten aber nicht gerade epochemachende Ent- deckungen und haben sogar zum Teil das Unglück gehabt, in der weiteren Entwicklung der Physiologie eine verhängnisvolle Rolle zu spielen. Das gilt besonders von zwei Lehren, die HALLER vertrat, von der sogenannten Präformationstheorie und der Irritabilitätslehre. Die Präformationslehre (Einschachtelungstheorie) entstand im Anschluß an die mikroskopischen Beobachtungen, die im 17. Jahrhundert über die Entwicklung des Eies gemacht wurden. Da man sah,. wie sich aus einem einfachen kleinen Ei nach und nach durch allmähliches Ausbilden eines Organs nach dem anderen ein voll- ständiges Tier entwickelte, so entstand die Vorstellung, daß jedes im Laufe der Entwicklung auftretende Organ, kurz das ganze Tier, be- reits als solches im Ei präformiert oder eingeschachtelt sei und sich nur durch zunehmendes Wachstum und Auseinanderfaltung den Augen sichtbar mache, daß also das Ei, oder wie andere meinten, das Sper- matozoon des Menschen bereits ein fertig gebildeter, kleiner Homun- kulus sei. Die notwendige Konsequenz dieser Vorstellung war die Annahme, daß bereits bei Erschaffung der Welt in dem Ei eines jeden Tieres sämtliche kommenden Generationen fertig vorgebildet enthalten gewesen wären. Das Widersinnige dieser Auffassung führte den jungen Arzt CASPAR FRIEDRICH WOLFF (1733— 1794) zu einer neuen Lehre, die er der Einschachtelungstheorie gegenüberstellte. Die „Theoria generationis“ WOLFFs, die später die Grundlage für unsere ganzen modernen Vorstellungen von der »Entwicklung der Organismen geworden ist, bestritt die Einschachtelung und setzte an ihre Stelle die „Epigenesis“, welche ausdrückt, daß alle Organe des Körpers bei der Entwicklung nacheinander gebildet werden, daß sie also als völlig neue Teile entstehen und vorher im Ei nie in dieser Form vorhanden gewesen sind. HALLER konnte sich mit der Idee der Epigenesis nicht befreunden und trat ihr energisch entgegen, indem er mit seiner ganzen Autorität das Präformationsdogma stützte und so den Fortschritt in der Lehre von der tierischen E ntwicklung um mehr als ein halbes Jahrhundert verzögerte. In etwas anderer Weise wirkte auf den Entwicklungsgang der Physiologie die HaLrersche Irritabilitätslehre ein. Die be- treffenden Untersuchungen HALLERS waren sehr genau und förderten durch experimentelle Behandlung die Frage von der Irritabilität um ein bedeutendes, aber sie wurden von den Nachfolgern HALLERS in mehrfacher Weise falsch verstanden und weitergeführt und bildeten so den wesentlichsten Ausgangspunkt für eine Lehre, welche die ganze Physiologie bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts befangen hielt und Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 2 18 Erstes Kapitel. welche noch jetzt in verschiedenartiger Form hier und dort wieder auftaucht, d. i. die Lehre von der „Lebenskraft“. Die Tatsache der Irritabilität oder direkten Reizbarkeit der Muskeln war schon von den älteren latrophysikern, besonders von GLısson (1597—1677) be- tont worden. HALLER bemächtigte sich der Irritabilitätsfrage wieder und führte den Experimentalbeweis dafür, daß die Muskelfaser unab- hängig vom Nerveneinfluß die Fähigkeit, sich auf Reizung zu kontra- hieren, besitze, eine Eigenschaft, die er als „Irritabilität“ scharf von der den Nerven zukommenden „Sensibilität“ unterschied. Durch diese scharfe Unterscheidung wurde ein Gegensatz zwischen Nerven- und Muskelerregung statuiert, welcher der Wirklichkeit nicht ganz entsprach und in vielen von den Nachfolgern und Anhängern HALLERs das Bedürfnis erweckte, die Irritabilität als eine einheitliche Eigenschaft nachzuweisen. Am erfolgreichsten versuchte das der geniale aber liederliche Eng- länder JoHun BROwNn (1735-1788). BROwNn kannte überhaupt nur eine einzige dem Nerven- und Muskelsystem, das er sich als ein ein- heitliches Ganzes dachte, gemeinsame Erregbarkeit. Die Fähigkeit, durch Reize erregt zu werden, komme der ganzen lebendigen Natur zu und sei gerade die Grundeigenschaft, durch die sich die lebendigen Wesen, Tiere und Pflanzen, von den leblosen unterscheiden. Ueber das Wesen der Erregbarkeit äußert sich BROwN ebenso wenig wie alle anderen Physiologen, welche die Irritabilität behandelten. Die Hoffnungen der latromechaniker und latrochemiker, die Lebensvorgänge ohne Rest in Physik und Chemie auflösen zu können, waren nicht in Erfüllung gegangen. In der Irritabilität hatte man eine Eigenschaft, die, wie man glaubte, alle Organismen allen leblosen Körpern gegenüber auszeichnete, und die doch einer physikalisch- chemischen Erklärung zu spotten schien. In Verbindung mit den noch immer nicht überwundenen dynamischen Systemen HOFFMANNS und Staus wurde daher der unerklärte Begriff der Erregbarkeit Aus- gangspunkt für den Vitalismus oder die Lehre von der Lebens- kraft, die in ihrer vollendetsten Form einen scharfen Dualismus zwischen lebendiger und lebloser Natur zum Ausdruck brachte. Die Lehre trat zuerst in Frankreich, besonders in der Schule von Mont- pellier, später auch in Deutschland auf, und ihre unklaren Vorstel- lungen von der Lebenskraft beherrschten bald die ganze Physiologie. In Frankreich wurde der Vitalismus begründet durch BORDEU (1722 — 1776), weiter ausgebildet durch BArTHEZ (1734—1806) und CHAUS- SIER (1746—1828), und am schärfsten formuliert von Lovıs DUMAS (1765—18135). Die Vitalisten verwarfen bald die mechanischen und chemischen Erklärungen der Lebensvorgänge mehr oder weniger radi- kal und führten eine über allen waltende „force hypermecanique“ als Erklärungsprinzip ein, die unbekannt und unerforschlich sei. Während alle Veränderungen an den leblosen Körpern zurückzuführen seien auf die Wirksamkeit chemischer und physikalischer Kräfte, herrsche in den lebendigen Organismen eine besondere Kraft, deren Tätigkeit die sämtlichen Lebensäußerungen hervorbringe. In Deutschland ent- wickelte sich der Vitalismus nicht zu dieser Klarheit. Sein Begründer Reın (1759—1813) sprach zwar abweichend von den französischen Vitalisten in seiner Abhandlung „über die Lebenskraft“ ziemlich deut- lich die Ansicht aus, daß auch die Vorgänge in den lebendigen Or- ganismen chemisch-physikalischer Natur seien, nur walteten hier Ge- Pe Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 19 setze, die ausschließlich in den Organismen durch die eigentümliche Form und Mischung der lebendigen Substanz bedingt seien. Indessen die späteren Vitalisten erklärten den Begriff der Lebenskraft über- haupt nicht mehr und benutzten die völlig mystische Lebenskraft, von der sie besondere Arten unterschieden, als bequeme Erklärung für die verschiedensten Lebensvorgänge, wie z. B. den „nisus forma- tivus“ als Erklärung für die Formentwicklung der Organismen. Daß aus dem Ei eines Huhnes sich immer wieder ein Huhn und nie ein anderes Tier entwickelt, daß die Nachkommen eines Hundes immer wieder Hunde werden, erklärte sich einfach aus dem spezifischen „nisus formativus“, aus dem eigentümlichen „Bildungstrieb“* des betreffenden Tieres. Man begnügte sich für eine Erklärung mit dem bloßen Wort „Bildungstrieb“, „Lebenskraft“ etc. und verstand darunter nur eine allein den Organismen zukommende mystische Kraft. So war es leicht, die kompliziertesten Lebensäußerungen zu „erklären“. Doch fehlte es daneben nicht an Forschern, die sich mit dieser Art von Erklärung nicht begnügten und, unbekümmert um die Lebenskraft, in der chemisch-physikalischen Erklärung der Lebensprozesse fortfuhren. Mächtige Anregung dazu gaben die neuen Entdeckungen GALvAnıs (1737— 1798), der bewies, daß vom leben- digen Tierkörper, besonders von den Nerven, Elektrizität erzeugt werde. Diese Tatsache wurde freilich in ihrem Werte sehr bald überschätzt, und unter dem Bann der damaligen Naturphilosophie entwickelte sich besonders infolge der Untersuchungen RITTERS (1776—1810), zum Teil auch ALEXANDER VON HuMBOLDTs (1769 bis 1859) und anderer, welche die Versuche GALVANIS fortsetzten, die noch später sehr beliebte Vorstellung, daß der galvanische Strom die „Ursache“ sämtlicher Lebensäußerungen sei, ja, sogar, daß sich aus der galvanischen Polarität überhaupt alle Vorgänge der gesamten Natur erklären ließen. Auch die großen chemischen Entdeckungen des 18. Jahr- hunderts beeinflußten die Entwicklung der Physiologie. Besonders wurde die Pflanzenphysiologie durch InGEnHouss (1750—1799) ge- fördert, der die Lehre von dem Kohlensäureverbrauch der Pflanzen entwickelte. Die für die Physiologie so ungeheuer wichtige Entdeckung des Sauerstoffs durch PRIESTLEY (1733—1804) und LAvoIstEer (1743 bis 1794) endlich trug ihre ersten Früchte, als GIRTANNER (1760 — 1800) zeigte, daß das venöse Blut in den Lungen Sauerstoff aus der ein- seatmeten Luft aufnehme. Durch diese Entdeckung wurde die alte Pneumalehre, die einst Jahrhunderte hindurch die physiologischen Vorstellungen beherrscht hatte, in moderner Form zu ihrem Recht gebracht und gleichzeitig die geniale Idee MAayows, der die Atmung mit einem Verbrennungsprozeß verglichen hatte, zum Range einer fundamentalen Tatsache in der Physiologie erhoben. Neben den physikalischen und chemischen Entdeckungen jener Zeit führten auch die anatomischen zu wichtigen physiologischen Ergebnissen, unter denen das von CHARLES BELL (1774—1842) er- schlossene, von JOHANNES MÜLLER zuerst experimentell bewiesene Fundamentalgesetz der speziellen Nervenphysiologie, welches besagt, daß die hinteren Ursprungsfasern der Rückenmarksnerven sensibel (zentripetalleitend), die vorderen dagegen motorisch (zentrifugalleitend) sind, den ersten Rang einnimmt. 2* 20 Erstes Kapitel. Auf dem Gebiete der mikroskopischen Forschung schließlich erwarb sich der scharfblickende SPALLANZANI (1729—1799) und später besonders TREVIRANUS das Verdienst, durch zweckmäßig angeordnete Versuchsreihen die Lehre von der Urzeugung der Infusionstierchen aus fauligen Aufgüssen experimentell widerlegt und gezeigt zu haben, daß sich auch diese niedrigsten aller lebendigen Wesen nur aus Keimen entwickeln, die überall in der Luft und im Wasser zu finden sind, so daß also der HArvEysche Satz: „omne vivum ex ovo“ auch hier keine Ausnahme erleidet. Die meisten von allen diesen exakten Untersuchungen lieferte England und Frankreich, während in Deutschland zu jener Zeit die Naturphilosophie durch ihren maßlosen Drang nach reiner Spekulation auf naturwissenschaftlichem Gebiet selbst die bedeutendsten Geister, wie OKEN, mit sich fortriß. E. Das Zeitalter JOHANNES MÜLLERS: JOHANNES MÜLLER!) (1801—1858) ist eine jener monumentalen Gestalten, wie sie die Geschichte jeder Wissenschaft nur einmal her- vorbringt. Dem Gebiete, auf dem sie wirken, geben sie ein voll- kommen verändertes Antlitz, und alle spätere Entwicklung ruht auf ihren Schultern. JOHANNES MÜLLER war, wie die Forscher seiner Zeit, Vitalist, aber sein Vitalismus hatte eine sehr glückliche Form. Die Lebens- kraft war ihm zwar eine Kraft, die etwas ganz anderes ist als die Kräfte der leblosen Kultur, aber er stellte sich vor, daß ihr Walten streng nach physikalisch-chemischen Gesetzen erfolge, so daß MÜLLERS ganzes Streben dahin ging, die Lebensvorgänge mechanisch zu er- klären. Dabei umfaßte er das ganze Gebiet der Lebensäußerungen gleichmäßig, vernachlässigte keine und schuf auf allen Einzelgebieten durch eigene, immer originelle Untersuchungen die Grundlage, auf der wir weiter arbeiten. Stets hielt er bei seinen Arbeiten den Blick auf das Ganze gerichtet; nie stellte er Spezialuntersuchungen an, die ihm nicht helfen sollten, irgend ein großes allgemeines Problem zu lösen. Das Geniale an ihm und das, was gerade in der neueren Physiologie vielfach vermißt wird, war aber die Art und Weise, wie er die Probleme anfaßte. Er kannte nicht „eine“ physiologische Methode, er benutzte jede Methode, jede Behandlungsweise, die gerade augenblicklich das Problem erforderte, das er mit kecker Hand er- gritt. Physikalische und chemische, anatomische und zoologische, mikroskopische und embryologische Kenntnisse und Methoden standen ihm gleichmäßig zur V erfügung, und alle benutzte er seiner JEwenern Absicht gemäß. Die Naturphilosophie, die zur Zeit JOHANNES MÜLLERS unter dem Einfluß der SCHELLInGschen und HEsGELschen Ideen ihre üppigsten Blüten trieb und mit ihrer zügellosen, jeder tatsächlichen Grundlage entbehrenden Spekulation die Naturforschung bedrohte, konnte auf den streng kritischen Geist JOHANNES MÜLLERS nur die segensreichste Wirkung ausüben. Er erkannte in dem himmel- stürmenden Drang der Naturphilosophen den berechtigten Kern und 1) Die hervorragendste Würdigung JOHANNES MÜLLERS findet sich in der Ge- dächtnisrede, welche Du BoIs-REYMOND auf JOHANNES MÜLLER hielt. u. Ze P u u A Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. Al gestaltete unter diesem Einfluß seine eigene Forschungsweise zu dem Typus einer echt philosophischen Naturforschung, welche, die großen Probleme und das Ziel der Wissenschaft immer im Auge behaltend, mit kritischem Blick die speziellen Methoden und Fragen stets nur als Mittel zum Zwecke betrachtet, als Mittel, zu einer harmonischen Auffassung der Welt zu gelangen. Dieser philo- sophischen Auffassung der Naturforschung, die JOHANNES MÜLLER bereits in seiner Habilitationsrede: „Von dem Bedürfnis der Physio- logie nach einer philosophischen Naturbetrachtung“ energisch hervor- gehoben hat, ist er sein ganzes Leben hindurch unerschüttert treu geblieben, und es ist ewilk eine merkwürdige Tatsache, daß bei aller einmütigen Bewunderung, mit der man zu der Gestalt JOHANNES MÜLLERs aufblickt, in der neueren Physiologie gerade dieses Moment nicht selten ganz vernachlässigt worden ist. Das hat sich unter anderem besonders bemerkbar gemacht auf zwei Gebieten, für die JOHANNES MÜLLER von Jugend auf das lebhafteste Interesse gehabt hat, in der physiologischen Psychologie und der ver- gleichenden Physiologie. Die Psychologie wird von der heutigen Physiologie fast mit einer gewissen Aengstlichkeit gemieden, die in einem eigentümlichen Gegensatz zu der Auffassung JOHANNES MÜLLERS steht, der gerade die Physiologie als allein berufen ansah, in der Psychologie auf empirischem Wege einen Fortschritt zu erzielen, und der bereits bei seiner Doktorprüfung die These verteidigte: „Psychologus nemo nisi Physiologus.“ Es ist wahr: die Psychologie ist zwar keine Wissen- schaft, die ohne weiteres als bloßes Teilgebiet der Physiologie be- trachtet werden darf; aber die Erfahrungen der Physiologie auf dem (rebiete des Nervensystems und der Sinnesorgane sind doch von so grundlegender Bedeutung für die Psychologie. daß man sagen muß, die Physiologie ist mehr als irgend eine andere Naturwissenschaft berufen, psychologische Fragen zu behandeln. Mit welchem Erfolg die Physiologie psychologische Probleme zu fördern im stande ist, zeigen gerade MÜLLERS eigene Arbeiten am deutlichsten; es hat wohl kaum je eine physiologische Entdeckung eine größere, leider immer noch nicht allgemein gewürdigte Tragweite für die ganze Psychologie und Erkenntnistheorie gehabt, als die Lehre von der spezifischen Energie der Sinnesnerven oder Sinnesorgane. Diese Lehre sagt, daß die verschiedensten Reize, welcher Art sie auch sein mögen, auf das- selbe Sinnesorgan, z. B. das Auge, angewandt, immer nur ein und dieselbe Art der Empfindung hervorzurufen im stande sind, und zwar die Empfindung, die durch das betreffende Sinnesorgan bei Ein- wirkung seines adäquaten Reizes, in unserem Falle also des Lichtes, vermittelt wird. Umgekehrt ruft ein und derselbe Reiz auf ver- schiedene Sinnesorgane appliziert, ganz verschiedenartige Empfindungen hervor, je nach der Beschaffenheit des Organs, auf das er einwirkt. In diesem Satze ist die fundamentale Tatsache enthalten, daß die Dinge der Außenwelt in Wirklichkeit durchaus nicht identisch sind mit unseren Empfindungen und Vorstellungen von ihnen, sondern daß wir dasselbe Ding der Außenwelt in ganz verschiedenartiger Weise empfinden und erkennen, je nach den spezifischen Bedingungen des Sinnesorgans, mit dem wir es wahrnehmen. Außer diesem fundamen- talen Satz aber hat MÜLLER noch eine ganze Reihe anderer wichtiger psychologischer Tatsachen gefunden, die er in seinen Arbeiten „Zur 22 Erstes Kapitel. vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes des Menschen und der Tiere“, „Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen“ und in dem Buche „Vom Seelenleben“ seines „Handbuchs der Physiologie“ nieder- gelegt hat. Mit der vergleichenden Physiologie hat MÜLLER eine neue Wissenschaft zur Anerkennung gebracht, angeregt durch die ungemeine Fruchtbarkeit, welche die vergleichende Methode in der Anatomie in jener Zeit zu entfalten begann, und vor allem durch Ideen seines Lehrers RUDOLPHI, die dieser in den Worten zusammen- faßte: „Die vergleichende Anatomie ist die sicherste Stütze der Physiologie, ja, ohne dieselbe wäre kaum eine Physiologie denkbar.“ MÜLLER vertrat sein ganzes Leben hindurch den Standpunkt, es könne „die Physiologie nur eine vergleichende sein“, und es gibt unter der schier erdrückenden Zahl seiner physiologischen Arbeiten wenige, in denen das vergleichend-physiologische Denken nicht mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck käme. Zusammengefaßt hat MÜLLER die Ergebnisse seiner eigenen Untersuchungen sowohl wie überhaupt alles physiologische Wissen seiner Zeit in seinem „Handbuch der Physiologie“. Dieses „Hand- buch der Physiologie“ steht noch heute unübertroffen da in der wahr- haft philosophischen Art und Weise, wie hier der ganze, durch die zahllosen speziellen Untersuchungen damals bereits ungeheuer ange- wachsene Stoff zum ersten Male gesichtet und zu einem großen einheitlichen Bilde von dem Getriebe im lebendigen Organismus vereinigt worden ist. Das Handbuch ist in dieser Beziehung bis heute nicht nur unübertroffen, ja, es ist sogar un- erreicht. Zwar sind viele von den Einzelheiten desselben nach heutigen Vorstellungen nicht mehr zutreffend, zwar haben neuere, mit vollkommenerer Technik ausgeführte Arbeiten einzelne Gebiete gewaltig erweitert und umgestaltet, zwar sind manche selbst von den allgemein-physiologischen Vorstellungen MÜLLERS, wie die Vorstellung von der Lebenskraft, von der neueren Physiologie vollständig fallen gelassen worden; soviel aber steht fest, daß von allen den zahllosen Hand- und Lehrbüchern, die seit JOHANNES MÜLLER entstanden sind, in bezug auf die Behandlungsweise des Stoffes kein einziges das Hand- buch des großen Meisters erreicht hat. Die meisten der späteren Handbücher, Lehrbücher, Grundrisse etc. nehmen sich, obwohl sie fast ausschließlich für den Gebrauch des Studenten berechnet sind, nicht einmal die Mühe, die Ziele, das Problem, den Zweck der physiologischen Forschung auch nur kurz anzudeuten, geschweige denn, dem Stoffe im ganzen eine philosophische Behandlung im Sinne JOHANNES MÜLLERS angedeihen zu lassen, ein Mangel, der gerade ‘ vom denkenden, nicht bloß blind auswendig lernenden Studenten als großer Nachteil empfunden werden muß. Die unermüdliche physiologische Tätigkeit er MÜLLERS, die ihm den Ruhm, bei weitem der größte Physiologe aller Zeiten zu sein, eintrug, hinderte ihn nicht, namentlich in seinen späteren Lebensjahren, sich der Morphologie, speziell der Zoologie, ver- gleichenden Anatomie und Paläontologie mit gleichem Eifer hinzu- geben und sich hier wieder den Namen des größten Morphologen seiner Zeit zu erwerben. So vielseitig und umfassend war der ge- waltige Mann, daß er zwei mächtige Gebiete, deren jedes jetzt kaum einer allein zu übersehen im stande ist, in allen ihren Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 23 einzelnen Teilen durch eigene grundlegende Arbeiten vollständig be- herrschte. Daß ein so ungeheures Reich nach dem Tode seines Beherrschers nieht mehr einheitlich zusammenhalten konnte, nimmt kein Wunder. Wie das Weltreich ALEXANDERS nach dessen Tode, zerfiel es in viele kleine Territorien, deren jedes von seinem eigenen Herrscher regiert wurde, und es dürfte auch schwerlich bei dem jetzigen Umfange der Wissenschaft sich je wieder ein Sterblicher finden, der, selbst wenn er mit der übermenschlichen Arbeitskraft JOHANNES MÜLLERS begabt wäre, das ganze, einst von diesem gegründete Reich in allen seinen Teilen gleichmäßig zu beherrschen imstande wäre. Die Morphologie war schon lange vor JOHANNES MÜLLER selbständig gewesen. Die Physiologie teilte sich bald nach seinem Tode in eine ausschließlich chemische und eine rein physika- lische Richtung. Die chemische Richtung leitet sich her von WÖHLER (1800—1882) und LieBIG (18053—1875). Durch die epochemachende Synthese eines in der Natur nur von Organismen produzierten Körpers, des Harnstoffs, aus rein anorganischen Stoffen, die WÖHLER bereits im Jahre 1828 gelang, wurde die Lehre von der Lebenskraft, wenn auch nicht sogleich, so doch in der Folge stark erschüttert. Man hatte geglaubt, die Stoffe, die der Organismus produziert, ent- ständen nur durch die Tätigkeit der Lebenskraft: hier war zum ersten Male ein sehr charakteristisches Stoffwechselprodukt des Tierkörpers im chemischen Laboratorium auf künstlichem Wege dargestellt worden, und bald folgten dieser Synthese andere nach. Der Begründer der neueren Anschauungen vom Stoffwechsel der Organismen wurde JUSTUS v. LIEBIG, und in neuester Zeit haben besonders Vort (1831—1903), PFLÜGER, ZUNTz, HOFMEISTER und andere die Stoffwechsellehre, wenn auch nicht übereinstimmend, weitergeführt. Die physiologische Chemie gestaltete sich mehr und mehr zu einer eigenen Wissenschaft, besonders, als MULDER und LEHMANN zuerst eine Zusammenfassung des Gebietes gaben, und vor allem, als Künne (1837-1900) durch seine originellen Methoden und Untersuchungen zum ersten Male über die physiologisch-chemischen Verhältnisse der Eiweißkörper etwas Licht zu verbreiten wußte und seine Auffassung der physiologischen Chemie in seinem Lehrbuch zum Ausdruck brachte. Schließlich drohte die physiologische Chemie sich unter den Arbeiten von HOPPE-SEYLER (1825—1895), HAMMARSTEN, BUNGE, HALLIBURTON, BAUMANN (1846 bis 1377), HOFMEISTER, KOSSEL und anderen nicht zum Vorteil der Physiologie als selbständige Wissenschaft ganz von der Physiologie loszulösen, eine Gefahr für das Gesamtgebiet der physiologischen Forschung, die jetzt glücklich beseitigt zu sein scheint. Einen mächtigen Impuls erfuhr die physiologische Chemie von seiten der chemischen Forschung namentlich durch die Arbeiten A. von BAEYERsS und EMIL FIscHErs, die über die Konstitution der wich- tiesten organischen Verbindungen des ÖOrganismenkörpers grund- legende Entdeckungen machten. Auch der Ausbau der Lehre von den Fermentwirkungen seitens der physikalischen Chemie, besonders durch die Arbeiten von OsTtwALp und BREDIG, sowie die gewaltige Ent- wicklung der modernen Immunitätslehre unter den Arbeiten von EHRLICH und seiner Schule, sowie von KOCH, BEHRING, ÄARRHENIUS, METSCHNIKOFF, ROUx und anderen übte einen bedeutenden Einfluß 94 Erstes Kapitel. auf die moderne Entwicklung unserer Ansichten vom chemischen Ge- schehen im Organismenkörper aus. Die physikalische Richtung begründeten E. H. WEBER (1795 —1878), VOLKMANN (1801 — 1877), Lupwies (1816-1895), HELM- HOLTZ (1821—1894), Du BoıIs-REYMmonD (1818—1896), Fick (1829 bis 1901), MAREY u. a. Vor allem schuf Lupwıe eine für die Unter- suchung der rein physikalischen Leistungen des Tierkörpers äußerst wertvolle Methode von der weittragendsten Bedeutung, indem er die Big: ir I Lupwiss Kymographion. Der eine Schenkel des Manometer- rohrs wird bei A in eine Arterie eingehginden, so daß die Blutdruck- schwankungen sich auf die Queck- silbersäule fortpflanzen und den im anderen Schenkel auf dem Queck- silber befindlichen Schwimmer mit seinem Schreibhebel in Bewegung setzen. Der Schreibhebel schreibt seine Schwankungen auf die Trom- mel (€ auf, die durch ein Uhr- werk B in konstanter Rotation er- halten wird. Aus BRÜCKE. ee \ II Pulskurve von einem Kaninchen. Die kleinen Er- hebungen sind die Blutdruck- schwankungen des Pulses, die großen Wellenlinien die Schwan- s kungen, die der Blutdruck durch die Atmung erfährt. rhythmischen Druckschwankungen des Pulses durch mechanische Ueber- tragung auf einen beweglichen Schreibhebel sich selbst auf eine glatte, mit gleichmäßiger Geschwindigkeit bewegte Papierfläche aufzeichnen ließ (Fig. 1). Diese „graphische Methode“ erwies sich als so ungemein fruchtbar, daß sie in der Folge die weiteste Verwendung in der Physiologie fand. So wurde sie unter anderem für die graphische Darstellung der Muskelzuckung, der Atembewegungen, des Herz- Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 35 schlages etc. verwendet. In Frankreich war es MAREY, der die graphische Methode zu ungeahnter Vollkommenheit ausbildete, so daß sie jetzt als wichtiges Forschungsmittel dient bei allen Untersuchungen, in denen es sich um makroskopische Bewegungsvorgänge handelt. Neben der graphischen war es noch eine andere Methodik, welche für die physikalische Seite der Physiologie fundamentale Bedeutung erlangte, die umfangreiche, geistvolle, durch E. Du Bo1s-REYMONDSs klassische Untersuchungen über die allgemeine Muskel- und Nerven- physik geschaffene Technik der galvanischen Reizung. Du Boıs-REY- MOND hat durch die Ausbildung dieser Technik den galvanischen Strom zu einem so bequem anwendbaren, fein abstufbaren und leicht lokalisierbaren Reiz für Nerven und Muskeln gestaltet, wie es keiner der anderen Reize ist, so daß jetzt überall, wo es sich um Reizungs- versuche handelt, der galvanische Reiz immer die erste Stelle ein- nimmt. Die weiteste Anwendbarkeit verdankte schließlich diese geniale physikalische Methodik der Ausbildung der vivisektorischen Technik von seiten der großen französischen Physiologen MAGENDIE (1783—1855) und CLAUDE BERNARD (1815— 1878). CLAUDE BERNARD führte in Frankreich die Physiologie zu ihrer höchsten Blüte, ohne dabei in Einseitigkeit zu verfallen. Er war ein philosophischer Forscher, der die allgemeinen Probleme des Lebens bei seinen Untersuchungen im Auge hatte. Kein Wunder, wenn man daher die ganze fran- zösische Physiologie von heute als CLAUDE BERNARDS Schule be- trachten muß. In England schließlich hat die vivisektorische Technik in neuester Zeit, namentlich durch die Arbeiten von SHERRINGTON, LANGLEY, STARLING und BAyrıss, in Rußland durch die Unter- suchungen von PAwLow bedeutende Erfolge erzielt. Neben der chemischen und physikalischen Richtung in der Physio- logie traten nach JOHANNES MÜLLERS Tode die übrigen Seiten etwas mehr in den Hintergrund oder wurden ganz vernachlässigt. Die psychologische Forschung wurde besonders durch die Physiologie der Sinnesorgane, in der die genialen Untersuchungen von HELMHOLTZ, WunDT und HERING zu den wichtigsten Ergeb- nissen führten, sowie durch die Physiologie des Zentralnervensystems der höheren Wirbeltiere gefördert, welche durch die epochemachenden Arbeiten von FLOURENS (1794—1864), Hırzıc (1858— 1903), Munk, GoLtz (1834—1900), SCHÄFER, RICHET, HORSLEY, SHERRINGTON, LAnGLEY und anderen ausgebaut wurde. Der Versuch PREYERS (1841— 1897), die Bewußtseinsvorgänge des Menschen in ihrer Ent- wicklung während der ersten Lebensjahre zu verfolgen, ist leider lange Zeit ziemlich vereinzelt geblieben und wird erst in allerletzter Zeit im Hinblick auf praktisch-pädagogische Interessen von neuem mit Eifer wieder aufgenommen, in dem mächtig sich entwickelnden (rebiete der Kinderforschung. Den allgemeinen Fragen der Physiologie wurde anfangs nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die „Allgemeine Physiologie des körperlichen Lebens“ von LoTzeE (1851) war zwar rein spekulativ und behandelte die physiologischen Fragen vom Standpunkt des Philo- sophen, aber sie hätte dennoch der experimentellen Physiologie jener Zeit in wichtigen Fragen manche wertvolle Anregung bieten müssen, wenn das Interesse für allgemeine Probleme in der exakten Wissen- schaft größer gewesen wäre. Die ausgezeichneten Arbeiten von CHARLES RoBIN: „Chimie anatomique et physiologique“* (1853) und 26 Erstes Kapitel. „Anatomie et physiologie cellulaires‘“ (1873) sind, obwohl sie schon einen zusammenhängenden Abriß der Anatomie und Physiologie der Zelle boten, leider ebenfalls von physiologischer Seite nur wenig gewürdigt worden. Auch die zellularpathologischen Untersuchungen und Ideen RUDOLPH VIRCHOWS („Zellularpathologie‘“ 1858), welche die Vorstellungen der ganzen Medizin von Grund aus umwälzten, haben, trotzdem sie die enorm praktische Bedeutung allgemein-physiologischer Untersuchungen an der Zelle auf das augenfälligste zeigten, doch bis vor kurzer Zeit auf die Entwicklung der Physiologie kaum den ge- ringsten Eintluß gehabt, weil die Physiologie durch Fragen speziellerer Art kaptiviert war. Mehr Aufmerksamkeit erregten dagegen die „Lecons sur les phenomenes de la vie communs aux animaux et vegetaux‘ ÜLAUDE BERNARDS (1378), die eine Reihe von allgemeinen Lebens- fragen in klassischer Form, wenn auch etwas ungleichmäßig, behandelten. Gleichmäßiger suchte PREYER die Fragen der allgemeinen Physiologie zu erörtern in seinen „Elementen der allgemeinen Physiologie‘ (1883), die sich aber leider mit einem kurzen schematischen Abriß des Gebietes begnügten. Die Physiologie der Zelle erfuhr in jüngster Zeit mancherlei wichtige Förderung durch die moderne Entwicklung der physikalischen Chemie. Die wichtigsten Anwendungen dieses Gebietes auf die Pro- bleme der Zellphysiologie hat HÖBER in seinem Werke: „Physikalische Chemie der Zelle und der Gewebe“ (1902) in dankenswerter Weise zusammengestellt. Schließlich lieferten die Untersuchungen der Histo- logen und Zoologen manchen Beitrag zur Physiologie der Zelle, und besonders wurde die Physiologie der Fortpflanzung, Befruchtung, Entwicklung und Vererbung in unserer Zeit von dieser Seite ganz der eigentlichen Physiologie abgenommen und mit großem Erfolg zu einem selbständigen Gebiet ausgebaut. „Die Zelle und die Gewebe“ von O. HErTwIG (1892), die „Gesammelten Abhandlungen über Ent- wicklungsmechanik“ von W. Roux (1895), „La structure du proto- plasme et les th&ories sur l’heredite etc.“ von YvEs DELAGE (1895), „Praxis und Theorie der Zellen- und Befruchtungslehre“ von V.HAECKER (1899), sowie „Morphologie und Biologie der Zelle“ (1904) von GUR- WITSCH, liefern Zusammenfassungen der großen Leistungen auf diesem speziellen Gebiet. Die vergleichende Methode wurde seit JOHANNES MÜLLER in der Physiologie lange Zeit völlig vernachlässigt, man müßte denn die wenigen Arbeiten, die hin und wieder an anderen Versuchstieren als dem üblichen Hund, Kaninchen oder Frosch ausgeführt wurden, als vergleichende betrachten. Erst in unserer Zeit beginnt sich die Erkenntnis wieder von neuem Bahn zu brechen, daß die Verwendung der vergleichenden Methode unumgänglich ist, wenn man nicht aus den Befunden an den traditionellen Versuchstieren zu einseitigen und falschen Verallgemeinerungen gelungen will. Die Untersuchungen von Künne, MAx VERWORN, LOEB, v. FÜRTH, PÜTTER u. a. haben ge- zeigt, wie unentbehrlich die vergleichende Methode gerade für die Bearbeitung allgemein-physiologischer Fragen ist. Unabhängig von der übrigen Physiologie entwickelte sich indessen die Pflanzenphysiologie zu einer selbständigen blühenden Wissen- schaft, ja, die ausgezeichneten Arbeiten von HOFMEISTER, NÄGELI, SACHS, PFEFFER, STRASBURGER, BERTHOLD, STAHL, DETMER, WIESNER, HABERLAND, MOLISCH u. a. haben sie in neuerer Zeit zu dem vollkommensten Zweige der Physiologie überhaupt gemacht. Es ee Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 97 liegt dies einerseits an dem Umstand, daß alle Lebensverhältnisse in der Pflanze bedeutend einfacher und übersichtlicher sind als im tierischen Organismus, andererseits aber auch daran, daß sich die Pflanzenphysiologie gewisse Erfahrungen der Naturwissenschaft zu Nutzen gemacht hat, die in der Tierphysiologie teils gar nicht, teils erst in letzter Zeit Verwendung gefunden haben. Es sind besonders drei der größten Entdeckungen des verflossenen Jahrhunderts, von deren weiterer Auswertung die Physiologie noch immer große Erfolge erwarten darf. Die eine dieser gewaltigen Entdeckungen ist das bereits von ROBERT MAYER (1814—1878) mit Bestimmtheit ausgesprochene, von HELMHOLTZ in umfassendster Weise begründete Gesetz von der Erhaltung der Energie. Die modernen chemischen Unter- suchungen hatten bereits zur Erkenntnis des Gesetzes von der Erhaltung des Stoffes geführt, indem sie zeigten, daß die Stoft- menge in der Welt eine konstante sei. Das Gesetz von der Er- haltung der Energie wies die gleiche Konstanz für die Summe des Arbeitskapitals im Weltall nach. „Energie“ kann ebensowenig ver- nichtet oder neugebildet werden wie Stoff, und wo uns Energie zu verschwinden oder zu entstehen scheint, da geht sie in Wirklichkeit nur aus einer Form in die andere über. Die Anwendung des Gesetzes von der Erhaltung der Energie auf die Energetik der Organismen ist zwar von ROBERT MAYER schon begonnen und später noch mehrfach in Angriff genommen worden, auch ist sogar durch die kalorimetrischen Untersuchungen von DULONG, HELMHOLTZ, RUBNER und anderen der experimentelle Nachweis er- bracht worden, daß das Gesetz von der Erhaltung der Energie in der lebendigen Natur ebensowohl Gültigkeit besitzt wie in der leblosen, aber über das Energiegetriebe bei den einzelnen Leistungen des Körpers, über die Umformungen, welche die Energie auf ihrem Wege durch die lebendige Substanz erfährt, sind unsere Kenntnisse noch immer äußerst spärlich, und erst in neuester Zeit hat das Interesse begonnen, sich intensiver diesen Problemen zuzuwenden. So hat TanGr das bisher noch gar nicht bearbeitete Gebiet einer Energetik der organischen Embryonal-Entwicklung in neuester Zeit mit großem Erfolge durch zahlreiche Arbeiten gefördert. Verhältnismäßig am weitesten vorgeschritten ist die Pflanzenphysiologie, die besonders den ausgezeichneten Untersuchungen PFEFFERS über die Energetik der Pflanzenzelle wichtige Aufschlüsse und Wegweisungen verdankt. Auf dem Gebiet der Energetik der lebendigen Substanz bleibt aber der Zukunft noch ein weites Feld voller dankbarer Arbeit, die sich besonders fruchtbar gestalten dürfte, wenn die neueren Errungen- schaften der physikalischen Chemie, vor allem die Erfahrungen über Osmose, Diffusion, Oberflächenspannung, Massenwirkung, Katalyse, Kolloideigenschaften, Ionenwirkung etc. mehr als bisher bei der Analyse der Lebensvorgänge in der Zelle Berücksichtigung finden werden. Vor allem aber ist neben dem als „erster Hauptsatz der mechanischen Wärmelehre‘ bezeichneten Gesetz von der Er- haltung der Energie aus dem sogenannten „zweiten Hauptsatz der Wärmelehre“, der uns sagt, daß nicht jede beliebige Energieform sich vollständig in jede andere umwandeln kann, und der uns in seinen Konsequenzen mehr und mehr die Bedingungen enthüllt, denen die Energieumwandlungen unterworfen sind, für die Zukunft noch mancherlei 28 Erstes Kapitel. Aufklärung über das physiologische Geschehen in der lebendigen Sub- stanz zu erwarten. Hier stehen wir noch ganz im Anfang. Die zweite der großen Entdeckungen, die hauptsächlich der Pflanzenphysiologie zu ihren bedeutendsten Erfolgen verholfen hat, die aber in der Tierphysiologie erst in der letzten Zeit angefangen hat, eine größere Bedeutung zu gewinnen, war die Entdeckung vom Aufbau der Organismen aus Zellen. Die Keime der Zellen- theorie erwuchsen aus dem Boden der Botanik. Die Mikroskopiker des 17. und 18. Jahrhunderts, besonders MALPIGHI, TREVIRANUS, MOHL, MEYENn, fanden bereits, daß die Pflanzen aus kleinen mikroskopischen Kammern oder Zellen und langgestreckten Röhren aufgebaut sind, die einen flüssigen Inhalt besitzen. Die langgestreckten Röhren erwiesen sich alsbald als Gebilde, die aus Zellenreihen hervorgehen, indem die Querwände sich auflösen. Brown fand dann einen festeren Zellkern als ein sehr verbreitetes (rebilde in dem flüssigen Zellinhalt; aber erst SCHLEIDEN brachte die Vorstellung zur allgemeinen Geltung, daß alle Pflanzen aus Zellen zusammengesetzt sind, und unterschied im Inhalt der Zelle als wesentliche Bestandteile neben dem Zellsaft und dem Zellkern noch den dickflüssigen und beweglichen Pflanzenschleim, der dann von MonHL als „Protoplasma“ bezeichnet wurde. Inzwischen war auch im Tierreich die weite Verbreitung von Zellen anerkannt worden, und SCHWANN begründete bald nach SCHLEIDEN die Zellen- theorie auch für das Tierreich, indem er zeigte, daß die Tiere eben- falls aus Zellen oder Zellprodukten zusammengesetzt sind und in ihrer Entwicklung aus Stadien hervorgehen, die nur wenige gleich- artige Zellen enthalten. Später stellte die Entwicklungsgeschichte fest, daß überhaupt alle Organismen aus einer einzigen Zelle, der Eizelle, sich entwickeln zu einem großen gewaltigen Zellenstaat, in dem die verschiedenen Teile, (sewebe, Organe aus ganz spezifischen Zellen- formen bestehen. Obwohl mit dieser Erkenntnis die Tatsache gegeben war, daß die Zelle das Element des lebendigen Organismus ist, der Ort, wo sich die Lebensvorgänge abspielen, ist doch die Zelle in der Physiologie, abgesehen von der Pflanzenphysiologie und der Embryologie, noch immer viel zu wenig zum Gegenstand des Stu- diums gemacht worden, und wir werden alsbald sehen, daß gerade in dieser Richtung eine wesentliche Vertiefung der Physiologie zu er- warten ist. Die dritte Entdeckung endlich, die in der Physiologie bisher noch sehr wenige Früchte gezeitigt hat, ist die Entdeckung der Deszendenz in der Organismenwelt. Von LAMARcK bereits in ihren Umrissen skizziert, von DAarwın durch das Prinzip der Selektion fest begründet, hat die Deszendenzlehre auf morphologischem (rebiete schon längst den gewaltigsten Umschwung in der ganzen Forschung herbeigeführt und vor allem der modernen Morphologie ihr charakteristisches Gepräge aufgedrückt. Die Deszendenzlehre zeigt, daß die mannigfaltigen Formen der Organismen sämtlich untereinander durch Abstammung in verwandtschaftlichen Beziehungen stehen, und zwar in der Weise, daß alle in letzter Instanz von den einfachsten Organismen, die je existiert haben, direkt abstammen. Die Selektions- theorie zeigt ein Erklärungsprinzip für die ungeheure Mannigfaltigkeit der Formen in der durch den Kampf ums Dasein bedingten natür- ichen Auslese, welche bewirkt, daß unter jeder Generation im Kampf ums Dasein immer nur diejenigen Individuen am Leben bleiben, die ee en Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 9) den jeweiligen äußeren Verhältnissen am besten entsprechen, d.h. am zweckmäßigsten angepaßt, also am lebensfähigsten sind. So hat die uralte Idee des EMPEDOKLES von der Deszendenz und der all- mählichen Veränderung der Organismenwelt durch Selektion nach mehr als zweitausendjähriger Vergessenheit durch die DArwınsche empirisch- naturwissenschaftliche Begründung in unserem Jahrhundert ihre Auf- erstehung gefeiert. Während die Entwicklungsgeschichte, soweit sie die Formentwicklung der Organismen betrifft, durch die mächtige An- regung, die sie infolge der Darwınschen Lehre besonders von seiten HAECKELS und seiner Schüler erfuhr, zu einer bewundernswerten Blüte gelangte, hat die Physiologie sich bisher der Entwicklungsidee noch nicht bemächtigt. Die Entwicklung der Lebensvorgänge, die Ent- stehunge und Ausbildung der vielen Funktionen, welche die einzelnen Teile des lebendigen Körpers versehen, ist bisher noch nahezu eine Terra incognita. Die Arbeiten PREYERS über die Entwicklung der ÖOrganfunktionen beim Embryo haben leider keine Fortführung erfahren. Nur ein physiologisches Problem der Entwicklungslehre ist in den letzten Dezennien, und zwar auch dieses fast ausschließlich von zoologischer Seite, ungemein lebhaft erörtert worden, das Problem der Vererbung. Dennoch ist man auch hier an einem Punkte an- gelangt, wo nur die experimentelle Physiologie einen neuen Fortschritt herbeizuführen imstande ist. II. Die Methode der physiologischen Forschung. Wir haben das Problem der Physiologie, ihre Aufgabe, die Lebens- äußerungen zu erklären, kennen gelernt; wir haben ferner in großen Zügen gesehen, wie sich die physiologische Forschung im Laufe der Geschichte entwickelt hat: jetzt, nachdem unsere Betrachtung beim augenblicklichen Stande der Physiologie angelangt ist, entsteht uns die Pflicht, einerseits rückschauend auf die Entwicklung der Wissen- schaft das Fazit zu ziehen, uns zu vergegenwärtigen, was die Physio- logie bisher in der Richtung auf das angegebene Ziel hin geleistet hat, und anderseits vorwärts blickend zu prüfen, welchen weiteren Weg wir zu wählen haben, um schließlich zu unserem Ziele zu kommen. A. Das bisherige Ergebnis der physiologischen Forschung. Was haben wir bisher erreicht? Unser Ziel ist, die Lebensvor- gänge zu erklären, d. h. bis in ihre elementaren Bedingungen auf- zulösen, so daß wir sie aus diesen Bedingungen heraus vollständig verstehen. Was haben wir in dieser Richtung bisher erreicht ? Die Antwort darauf fällt wenig ermutigend aus. Wir haben, wenn wir genau die einzelnen Gebiete der Physiologie durchmustern, bisher eigentlich nichts kennen gelernt als die groben mechanischen und chemischen Leistungen des Wirbeltierkörpers. Die Bedingungen, aus denen diese Leistungen sich ergeben, sind uns bisher noch zum großen Teil völlige Rätsel. Wir wissen, daß die Atmung beruht auf den Gesetzen der Aerodynamik, indem durch rhythmische Verminderung und Erhöhung 30 ° Erstes Kapitel. des Luftdrucks in den Lungen infolge der Kontraktion und Expansion der Atemmuskeln die Luft in den Lungen passiv ein- und ausströmt, wobei ihr die roten Blutkörperchen des Blutes den Sauerstoff ent- ziehen, den sie chemisch an ihre eigene Substanz binden und weiter an die Zellen des ganzen Körpers übertragen. Wie aber die Kon- traktion der Atemmuskeln zu stande kommt, welche chemischen Vor- gänge die als Kontraktion und Expansion bezeichnete Formveränderung und Leistung in der einzelnen Muskelzelle herbeiführen und worin die Impulse bestehen, die von den Ganglienzellen des Atemzentrums für die Kontraktion der Atemmuskeln entsendet werden, davon haben wir kaum eine Vorstellung. Wir wissen ferner, daß die Zirkulation des Blutstromes in unserem Körper erfolgt nach den Gesetzen der Hydrodynamik, daß sie bedingt ist durch die rhythmischen Schwankungen der Druck- differenzen innerhalb des Gefäßsystems, welche durch die Kontraktion und Expansion des Herzmuskels herbeigeführt werden. Wie aber die rhythmischen Kontraktionen des Herzmuskels zu stande kommen, darüber hat uns die Physiologie noch gar nichts ermittelt. Wir wissen weiter, daß die Verdauung der aufgenommenen Nahrung stattfindet nach chemischen Gesetzen, indem die von den Drüsenzellen des Verdauungskanals sezernierten chemischen Stoffe die Nahrung chemisch umsetzen, genau so, wie wir das mit Hilfe dieser Verdauungssekrete auch außerhalb des Körpers im Reagenzglase nachahmen können. Wie aber die Drüsenzelle dazu kommt, gerade ihr spezifisches Sekret zu sezernieren, wodurch es bedingt ist, daß die Speicheldrüsenzelle nur Ptyalin, die Magendrüsenzelle nur Pepsin produziert, obwohl beiden durch das Blut die gleiche Nahrung zugeführt wird, das läßt die physiologische Chemie vorläufig offen. Wir wissen weiter, daß bei der Resorption die durch die Ver- dauungssäfte chemisch veränderten und löslich gemachten Nahrungs- stoffe durch die Zellen der Darmwand in den Körper aufgenommen werden, und man hat lange Zeit geglaubt, daß diese Aufnahme allein nach den physikalischen Gesetzen der Filtration und Diffusion erfolge. Allein HEIDENHAIN hat gezeigt, daß diese Gesetze durchaus nicht aus- reichen, um die Durchwanderung der gelösten Nahrungsstoffe durch die Darmwand zu erklären. Vielmehr nehmen die Zellen der Darm- wand aktiv bestimmte Stoffe in sich auf, während sie anderen den Durchtritt erschweren oder verweigern. Wie ein solches „Auswahl- vermögen“ der Darmepithelzelle aber mechanisch zu erklären sei, darüber hat die Physiologie bisher kaum die allgemeinsten Ver- mutungen geäußert. Wir haben ferner gesehen, daß bei der Entwicklung des menschlichen Körpers die früher so wunderbare Aufeinanderfolge ganz bestimmter Formenstadien bis zum fertigen Menschen nach dem „biogenetischen Grundgesetz“ bedingt ist durch die Stadien der Vor- fahrenentwicklung in der gesamten Stammesreihe bis zu den ein- zelligen Urorganismen hinab. Wie aber von den aus der Teilung des- selben Eies hervorgehenden Zellen die einen zu Drüsen-, die anderen zu Nerven-, die dritten zu Oberhautzellen etc. werden, ist vorläufig noch nicht einmal annähernd zu sagen. Wir haben erkannt, daß die Bewegungen der Skelettknochen, der Arme, der Beine, der Gelenke etc. nach rein mechanischen, mathematisch formulierbaren Prinzipien, speziell nach dem Gesetz der Er Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 31 Hebelwirkung, erfolgen. Was aber die völlig passiven Skelettknochen in Bewegung setzt, d. h. worin die Tätigkeit der Skelettmuskeln be- steht, ist wieder dasselbe Rätsel, auf das wir schon mehrmals ge- stoßen sind: die Kontraktion der Muskelzelle. Wir wissen auf Grund des Gesetzes von der Erhaltung der Energie, daß die vom lebendigen Körper produzierte Wärme und Elektrizität aus den chemischen Veränderungen stammt, welche die aufgenommene Nahrung in den Geweben des Körpers durchmacht. Mit welchen chemischen Prozessen aber die Zellen der einzelnen Ge- webe an dieser gesamten Wärme- und Elektrizitätsproduktion beteiligt sind, das ist unserer Kenntnis fast gänzlich verborgen. Wir wissen endlich, daß die höheren Sinnesorgane des Men- schen nach dem Prinzip physikalischer Apparate konstruiert sind. Wir wissen z. B., daß das Auge ein optisches System ist aus ver- schieden brechenden Medien, die durch sphärisch gekrümmte Flächen voneinander getrennt und auf einer optischen Achse zentriert sind. Wir wissen auch, daß in einem solchen optischen System nach den Gesetzen der Liehtbrechung im Hintergrund des Auges ein verkleinertes, um- gekehrtes Bild von den Dingen der Außenwelt zu stande kommen muß. Was aber dabei in den Zellen der Netzhaut vorgeht und wie von hier aus durch Vermittlung des Sehnerven die Ganglienzellen in unserem Gehirn veranlaßt werden, in uns die Empfindung und weiter- hin die Vorstellung des betreffenden Bildes zu erzeugen, das bleibt noch immer ein Rätsel. Wir könnten diese Aufzählung noch lange fortsetzen, aber das bisher Gesagte genügt schon, um eine allgemeine Tatsache daraus zu erkennen. Ueberall, auf allen einzelnen Gebieten der Physiologie, wo wir uns auch umblicken mögen: sobald wir die groben Leistungen des Körpers etwas tiefer verfolgen, bis da, wo sie der Tätigkeit der einzelnen Zellen entspringen, immer stoßen wir auf un- gelöste Rätsel. Ja, wer pessimistisch ist, könnte verführt werden, mit BungE'!) zu behaupten: „Alle Vorgänge in unserem Organismus, die sich mechanistisch erklären lassen, sind ebensowenig Lebens- erscheinungen wie die Bewegungen der Blätter und Zweige am Baume, der vom Sturme gerüttelt wird, oder wie die Bewegungen des Blüten- staubes, den der Wind hinüberweht von der männlichen Pappel zur weiblichen.“ Wer aber wie BungE deshalb an der chemisch-physika- lischen Erklärung der Lebensvorgänge verzweifelt, dem bleibt nichts anderes übrig, als seine Zuflucht wieder zu der längst begrabenen Lebenskraft zu nehmen. In der Tat hat sich in neuester Zeit wieder an verschiedenen Orten das alte Gespenst der Lebenskraft gezeigt. So ist es neuerdings bei HANSTEIN, bei KERNER, bei RINDFLEISCH, bei DRIESCH und anderen Naturforschern gesehen worden. Noch viel mehr wird aber mancher geneigt sein, zu verzweifeln, wenn er das Gebiet der psychischen Vorgänge mit heranziehen will. Zwar hat die Gehirnphysiologie und die Physiologie der Sinnesorgane manche Aufklärung gegeben über die physiologischen Vorgänge, mit denen die Existenz gewisser psychischer Prozesse untrennbar ver- knüpft ist, dennoch aber bleibt das uralte Rätsel von den Beziehungen zwischen Körper und Geist und das Bedürfnis nach seiner Lösung, 1) G. BungE: „Lehrbuch der physiologischen und pathologischen Chemie“. II. Auflage. Leipzig 1889. 32 Erstes Kapitel. das schon im frühesten Altertum der denkende Verstand so intensiv gefühlt hat, wie es scheint, für die überwiegende Zahl aller Natur- forscher unberührt bestehen. Bei diesem Stande der Dinge drängt sich dem verzweifelnden Geiste des Forschers immer ungestümer und hartnäckiger die Frage auf: Sind denn unserer Erkenntnis der Lebensvorgänge wirklich Grenzen gezogen, und wo liegen diese Grenzen, oder sind wir auf einem falschen Wege, war unsere Fragestellung an die Natur fehler- haft, so daß wir ihre Antwort nicht verstanden ? B. Erkenntniskritik. 1. Du Boıs-REyYmonDs Grenzen des Naturerkennens. Sind wir auf dem Punkte angelangt, wo an uns die Frage heran- tritt: Gibt es Grenzen in unserer Naturerkenntnis, und wo liegen sie, eine Frage, die gerade in unserem, auf die Erfolge der Naturwissen- schaften so stolzen Zeitalter bereits wiederholt aufgetaucht und in verschiedenartiger Weise behandelt worden ist, so knüpfen wir den Faden unserer Betrachtung am zweckmäßigsten an die bekannte Rede E. Du Boıs-REymonps „Ueber die Grenzen des Naturerkennens“ !) an, in der er das Thema in seiner unvergleichlich künstlerischen Weise behandelt hat. Da bei dem leider so weit verbreiteten Mangel philosophischer Betrachtungsweise in der heutigen Naturforschung nicht selten die merkwürdigsten Vorstellungen über die Grundlagen der Naturerkenntnis angetroffen werden, ein Umstand, welcher der spekulativen Philo- sophie leider in diesem Punkte die Berechtigung verleiht, mit Gering- schätzung auf ihre Nebenbuhlerin in der Erkenntnis der Wahrheit, die Naturforschung, herabzublicken, so ist es notwendig, auf diese Fragen etwas genauer einzugehen und zunächst den Grenzen der Er- kenntnis nicht bloß in der organischen, sondern in der gesamten Welt nachzuforschen. In der genannten Rede Du Boıs-REYMoNDs kommt die in den Kreisen der Naturforscher allgemein verbreitete Auffassung in typischer Weise zum Ausdruck und zugleich geht aus ihr in ebenso typischer Weise hervor, wie eine solche Auffassung ihren eigenen Bankrott zu erklären genötigt ist. Unter Zugrundelegung der Atomtheorie definiert Du Boıs-Rey- MOND, um einen festen Punkt zu gewinnen, auf dem er seine Betrach- tung aufbaut, die Naturerkenntnis folgendermaßen: „Naturerkennen — genauer gesagt, naturwissenschaftliches Erkennen oder Erkennen der Körperwelt mit Hilfe und im Sinne der theoretischen Naturwissenschaft — ist Zurückführen der Veränderungen in der Körperwelt auf Be- wegungen von Atomen, die durch deren von der Zeit unabhängige Zentralkräfte bewirkt werden, oder Auflösen der Naturvorgänge in Mechanik der Atome.“ Einer Fiktion von LAPLACE folgend, der sich einen bis zum höchsten Grade vervollkommneten Menschengeist vorstellt, welcher eine solche Kenntnis von den Bewegungen der Atome besäße, wie wir sie in der Astronomie von der Bewegung der Gestirne annähernd 1) E. Du Boıs-REyMoNnD: „Ueber die Grenzen des Naturerkennens“. In: Reden, erste Folge. Leipzig 1886. Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 33 besitzen, fährt nun Du Bo1s-REYMOND fort: „Denken wir uns alle Ver- änderungen in der Körperwelt in Bewegung von Atomen aufgelöst, die durch deren konstante Zentralkräfte bewirkt werden, so wäre das Weltall naturwissenschaftlich erkannt. Der Zustand der Welt während eines Zeitdifferentiales erschiene als unmittelbare Wirkung ihres Zu- standes während des folgenden Zeitdifferentiales. Gesetz und Zufall wären nur noch andere Namen für mechanische Notwendigkeit. Ja, es läßt eine Stufe der Naturerkenntnis sich denken, auf welcher der ganze Weltvorgang durch eine mathematische Formel vorgestellt würde, durch ein unermeßliches System simultaner Differential- gleichungen, aus dem sich Ort, Bewegungsrichtung und Geschwindig- keit jedes Atoms im Weltall zu jeder Zeit ergäbe.“ Von einem solchen „LAPrLAcEschen Geist“, der bis zu dieser Er- kenntnis zu dringen vermöchte, ist nun zwar, das ist nicht zu ver- schweigen, der menschliche Geist nur „ein schwaches Abbild“; immerhin aber ist er von ihm „nur gradweise verschieden“, und wir können in den Leistungen des LArLAcEschen Geistes das Ideal er- blicken, dem die Entwicklung des menschlichen Geistes immer mehr und mehr sich nähert. Stellen wir uns also einmal vor, wir hätten dieses Ideal erreicht und wären im Besitze der „Weltformel“. Was wäre dann gewonnen? Um einen bestimmten Naturvorgang zu erklären, brauchten wir dann nur in die Weltformel bestimmte, aus der Beobachtung sich er- gebende Werte einzusetzen, und wir würden durch Rechnung den betreffenden Vorgang als notwendige Konsequenz unserer bekannten Beobachtungen nachweisen können. Durch dieses Spiel würde unser Erklärungsbedürfnis vielleicht eine Weile gefesselt werden, bald aber würde es von neuem sich frei machen und uns mit lauter und lauter werdender Stimme zurufen: gut, wir könhen jetzt alle Vorgänge der Körperwelt in ihrem Zusammenhang untereinander verstehen, wir können sie als ganz bestimmte Bewegungen von Atomen erklären; aber was ist denn nun ein Atom? Hier stehen wir nach Du Boıs- Reymonps Auffassung bereits an der einen Grenze des Natur- erkennens. Was ein Atom ist, d. h. was mit Kraft begabte Materie ist, darüber klärt uns die Weltformel nicht auf. Und fragen wir uns, wie wir zu dem Begriff des Atoms kommen, so finden wir, daß wir es uns nur als einen aus fortgesetzter Teilung eines Körpers hervor- gegangenen, äußerst kleinen, nicht weiter teilbaren Elementarteil des Körpers vorstellen. Aber indem wir uns einen Körper immer weiter und weiter geteilt denken bis in seine Atome, erhalten wir doch durch die Teilung nichts anderes als Körper. Auch die Atome sind immer noch Körper und haben deren allgemeine Eigenschaften. Wir können daher nicht erwarten, durch die Teilung etwas zu erhalten, was uns über das Wesen des Körpers aufklärt. Wenn wir einen unbekannten Vorgang aus der Bewegung von Atomen erklären, so zerlegen wir ihn eben nur in eine Summe von unbekannten Teilvorgängen. Was ein Atom ist, erfahren wir auf keine Weise, denn das Atom hat immer nur die Eigenschaften, die wir ihm selbst beilegen auf Grund der sinnlichen Wahrnehmung dessen, was uns die großen Körper zeigen, d. h. es ist undurchdringlich, geformt, bewegt etc. Ueber das Wesen der kraftbegabten Materie, d. h. dessen, woraus die Körper- welt besteht, erlangen wir nicht die geringste Aufklärung. Unser Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 3 34 Erstes Kapitel. Erklärungsbedürfnis bleibt also in diesem Punkte unbefriedigt, und wir befinden uns im Verfolg dieser Auffassungsweise nach Du Boıs- REYMONnD an der ersten Grenze unserer Erkenntnis. Aber diese Grenze ist nicht die einzige. Stellen wir uns wieder vor, wir hätten, wie Du BoIs-REYMOND sich ausdrückt, „astronomische Kenntnis“ der Körperwelt, d. h. wir hätten dieselbe mathematisch genaue Kenntnis von den Bewegungen der Atome, wie wir sie von den Bewegungen der Himmelskörper haben, so würden wir damit zwar alle Vorgänge der Körperwelt verstehen, aber wir würden nicht begreifen, wie Bewußtsein entsteht, wie überhaupt ein psychischer Vorgang, und sei es der allereinfachste, zustande kommt. Hätten wir z. B. „astronomische Kenntnis“ unseres Gehirns, so wüßten wir die Lage und die Bewegung jedes einzelnen Atoms in jedem Augenblicke; wir könnten auch genau verfolgen, mit welchen mate- riellen Veränderungen, mit welchen Umlagerungen und Bewegungen der Atome die einzelnen psychischen Prozesse untrennbar ver- bunden wären, und „es wäre“, wie Du BoIs-REYMOND sagt, „grenzen- los interessant, wenn wir, so mit geistigem Auge in uns hinein- blickend, die zu einem Rechenexempel gehörige Hirnmechanik sich abspielen sähen, wie die Mechanik einer Rechenmaschine; oder wenn wir auch nur wüßten, welcher Tanz von Kohlenstoft-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoft-, Phosphor- und anderen Atomen der Seligkeit musikalischen Empfindens, welcher Wirbel solcher Atome dem Gipfel sinnlichen Genießens, welcher Molekularsturm dem wütenden Schmerz beim Mißhandeln des Nervus trigeminus entspricht.“ Dies alles könnten wir bei „astronomischer Kenntnis“ des Gehirns wissen. Wir könnten uns so durch Selbstbeobachtung überzeugen, daß Bewußtsein mit Bewegung von Atomen untrennbar verbunden ist. Was uns aber bei alledem immer verschlossen bleibt, das ist die Art und Weise, wie Bewußtsein entsteht, wie der einfachste psychische Vorgang zustande kommt. Würden wir die Bewegung der einzelnen Atome im Gehirn auch noch so genau verfolgen, wir würden immer nur Bewegung, Zusammenstöße und wieder Bewegung von Atomen sehen. So ist es offenbar, daß wir das Bewußtsein, die psychischen Vorgänge, aus Bewegungen von Atomen, also mechanisch zu erklären unmöglich imstande sind, und wir befinden uns an einer zweiten Grenze des Naturerkennens, die nicht minder unübersteiglich erscheint als die Grenze, die sich der Erkenntnis von Materie und Kraft in den Weg stellt. Wie aber verhielte sich die zweite Grenze des Naturerkennens, wenn wir die erste als überschritten, wenn wir das Rätsel von Materie und Kraft gelöst dächten? Wäre sie dann auch noch unübersteiglich, oder wäre sie damit auch zugleich überschritten? Man kann sich offenbar vorstellen, daß das Bewußtsein oder vielmehr die einfachste Form der Psyche bereits zum Wesen eines Atoms gehöre, daß es also mit der Erkenntnis des Wesens der Materie gleichfalls erkannt wäre. Diese Vorstellung erscheint in der Tat zunächst als die einzige, welche ein mechanischer Erklärungsversuch des Bewußtseins allein annehmen könnte, und welche besonders HAECKEL, der energische Vorkämpfer einer monistischen Weltanschauung unter den Naturforschern, immer vertreten hat. Du Boıs-REYMmono selbst streift diese Möglichkeit nur kurz, indem er sagt: „Schließlich entsteht die Frage, ob die beiden Grenzen unseres Naturerkennens nicht vielleicht die nämlichen seien, Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 35 d. h. ob, wenn wir das Wesen von Materie und Kraft begriffen, wir nicht auch verständen, wie die ihnen zugrunde liegende Substanz unter bestimmten Bedingungen empfindet, begehrt und denkt. Freilich ist diese Vorstellung die einfachste und nach bekannten Forschungs- grundsätzen bis zu ihrer Widerlegung der vorzuziehen, wonach, wie vorhin gesagt wurde, die Welt doppelt unbegreiflich erscheint. Aber es liegt in der Natur der Dinge, daß wir auch in diesem Punkte nicht zur Klarheit kommen, und alles weitere Reden darüber bleibt müßig.“ Du Boıs-REyYmonD entschließt sich daher, „gegenüber dem Rätsel, was Materie und Kraft seien und wie sie zu denken ver- mögen“, zu völliger Entsagung und ruft der Naturforschung nicht nur ein augenblickliches „Ignoramus“ zu, sondern für alle Zeiten ein apodiktisches „Igenorabimus“. 2. Erkenntnistheoretischer Konditionismus. Wir sind der Betrachtung Du Boıs-REYMOND so ausführlich ge- folgt, um uns zu überzeugen, daß sich uns auf dem Wege der Er- kenntnis, den seine Betrachtung voraussetzt, sehr bald Grenzen ent- gegenstellen, die uns die Welt als unbegreiflich erscheinen lassen. Dem unermüdlich weiter denkenden Verstande, dem die ewige Ent- sagung schwer fällt, muß hier die Frage aufstoßen, ob dieser Weg der Erkenntnis der rechte war, ob die vorausgesetzte Definition des Naturerkennens, nach welcher Erkennen Auflösen in Mechanik von Atomen ist, eine zureichende Definition des Erkennens überhaupt vor- stellt. Prüfen wir also zunächst diese Grundlage unserer Betrachtung und fragen wir uns, was Erkennen sei!). Wir wollen zu diesem Zweck den Begriff „Erkennen“ in seinem weitesten Umfange, in seiner allgemeinsten Form fassen. In diesem Sinne heißt Erkennen nichts anderes als Erfahrungen bilden. Alles Erkennen reicht nur so weit wie die Erfahrung. Es ist aber nötig, den Begriff der Erfahrung genau zu präzisieren. Die Ur- form aller Erfahrung ist die sinnliche Empfindung. Aus dieser primären Form der Erfahrung gehen alle sekundären Erfahrungen hervor. Zunächst die Vorstellungen, die nichts weiter sind als Erinnerungsbilder von sinnlichen Empfindungen. Diese Erinnerungs- bilder können hervorgerufen werden auf mannigfaltigen Wegen, durch mannigfaltige Impulse und bedürfen nicht des speziellen Sinnes- reizes zu ihrer Auslösung, der die ursprüngliche Empfindung her- vorrief. Durch die Vorstellungen werden wir also mit unserem Erkennen zeitlich und räumlich in hohem Grade unabhängig von den Sinnesreizen, die ja nicht jeden Augenblick und überall einwirken. Vorstellungen assoziieren sich zu Vorstellungsreihen oder Gedanken. Da die Bildung von Vorstellungsassoziationen von vornherein der Selektion durch die sinnliche Erfahrung unterliegt, insofern als nur diejenigen Assoziationen durch die sinnliche Erfahrung bestätigt werden, die wirklich zutreffend sind, so werden nur bestimmte Vor- stellungsreihen oder Gedanken weiter gezüchtet, andere eliminiert. Es entwickelt sich ein „logisches“ Denken. So ergibt sich eine 1) Vergl. zu diesem Abschnitt MAx VERWORN: „Die Erforschung des Lebens“. Jena, Gustav Fischer, 1907; und ferner „Die Frage nach den Grenzen der Erkenntnis“. Jena, ebenda, 1908. 3* 36 Erstes Kapitel. völlige Einheitlichkeit aller Erfahrungen, denn alle Erfahrungen, auch die sekundären, entspringen immer nur aus einer und derselben Quelle, aus der sinnlichen Empfindung. Unter der ungeheuren Fülle von Erfahrungen, die wir im Laufe der geistigen Entwicklung der Menschheit gewonnen haben, befindet sich eine, die als allgemeinste Erkenntnis eine dominierende Rolle spielt, das ist die Erkenntnis einer Gesetzmäßigkeit alles Seins und Geschehens. Gesetzmäßiekeit bedeutet nichts weiter als die Tatsache, daß jeder Zustand oder Vorgang ein- deutig bestimmt ist durch die Summe seiner sämtlichen Bedingungen. Ueberall, wo die gleichen Bedingungen gegeben sind, findet sich auch der gleiche Zustand oder Vorgang. Ungleiche Zustände oder Vorgänge sind nur da, wo ungleiche Bedingungen vorhanden sind. Daraus ergibt sich klar und eindeutig die Aufgabe aller wissenschaftlichen Forschung. Sie kann immer nur darin bestehen, die sämtlichen Bedingungen eines gegebenen Zustandes oder Vorganges zu er- mitteln. Sind diese Bedingungen sämtlich erkannt, so ist der Zustand oder Vorgang auch wissenschaftlich erklärt. Eine weitere Erklärung existiert nicht. Es ist aber notwendig, diese fundamentale Tatsache noch etwas genauer zu betrachten, weil seit alter Zeit in den Begriff der Erklä- rung noch ein anderes Moment hineingetragen worden ist, das selbst in der Naturforschung von heute noch immer eine große Rolle spielt. Man pflegt als wissenschaftliche Erklärung eines Zustandes oder Vor- ganges gewöhnlich die „kausale Erklärung“ zu betrachten, d. h. den Nachweis seiner „Ursache“, denn man erblickt in der bestehenden Gesetzmäßigkeit eine „kausale Verknüpfung“ des Seins und Geschehens, ein Abhängigkeitsverhältnis der Dinge nach dem „Gesetz von Ursache und Wirkung“. Jedes Ding. d. h. jeder Zustand oder Vorgang, so meint man, muß seine „Ursache“ haben und der Zustand als Vorgang ist wissenschaftlich erst erklärt, wenn man seine „Ursache“ ermittelt hat. Was ist nun eine „Ursache“ ? Wir geraten in einige Verlegenheit, wenn wir den Begrift etwas schärfer unter die Lupe nehmen, um ihn zu analysieren. Die Antwort ist nicht leicht zu finden, obwohl man gewöhnt ist, auf Schritt und Tritt mit dem Ursachenbegriff umzugehen und obwohl man die „kau- sale Naturbetrachtung“ in der Regel als den Gipfel der Exaktheit in der Naturforschung zu bezeichnen pflegt. Woher stammt der Begriff? Wie alle Begriffe ist auch der Ursachenbegriff vom Menschen ge- schaffen, um irgend eine Erfahrung zu charakterisieren, aber sein Ur- sprung verliert sich im Dunkel der vorgeschichtlichen Zeit. Wo wir ihn zuerst fassen können, da bedeutet er ein den Sinnen nicht wahr- nehmbares geheimnisvolles Agens, dem man eine dem menschlichen Willen analoge, bestimmende Bedeutung für die Vorgänge zuschreibt. Es ist wahr, das wissenschaftliche Denken hat diesen ursprünglich völlig mystischen Begriff allmählich zu klären versucht. und wir müssen uns ja doch an den heutigen Ursachenbegriff halten. Aber auch dieser enthält noch immer einen Rest der ursprünglichen Mystik. Man pflegt zu sagen: jeder Zustand oder Vorgang hat „eine Ursache“. Dabei tritt der den Zustand oder Vorgang bestimmende Faktor, „die Ursache“ in der Einzahl auf. Hier liegt schon der Irrtum. Es gibt keinen Zustand oder Vorgang in der Welt, der nur von einem einzigen Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 37 Faktor abhängige wäre. Immer sind es eine ganze Anzahl von Fak- toren, die ihn bestimmen. Nehmen wir irgend ein Beispiel. Bringe ich Salzsäure auf kohlensaures Natron, so entweicht gasförmige Kohlen- säure. Was ist „die Ursache“ der Kohlensäureentwicklung: die Salz- säure oder das kohlensaure Natron? In Wirklichkeit sind beide not- wendige Bedingungen. Aber es gibt noch mehr Bedingungen, die ebenfalls notwendig sind für das Zustandekommen der Kohlensäure- entwicklung, wie z. B. Wasser, eine gewisse Temperatur und ein be- stimmter Druck. Ist eine von diesen Bedingungen nicht erfüllt, dann tritt keine Kohlensäureentwicklung ein. Diese Bedingungen sind also sämtlich gleichwertig, weil sie sämtlich notwendige sind für den Vor- gang. Mehr als notwendig aber kann keine Bedingung sein. Es ist daher durchaus unberechtigt, aus dem Komplex von Bedingungen eine Bedingung, etwa die Salzsäure, besonders hervorzuheben und ihr eine dominierende Rolle als „Ursache“ anzuweisen. Das gilt für jeden Vorgang und für jeden Zustand in gleicher Weise. Was ich feststellen kann, sind nur die Bedingungen, von denen er abhängt. Für eine „Ursache“ bleibt daneben kein Platz. Man hat deshalb vielfach darauf verzichtet, von „Einer Ursache“ in der Einzahl zu sprechen und hat den Begriff der „Ursache“ auf die sämtlichen bestimmenden Faktoren eines Vorganges angewendet. Aber dann zerfließt der Begriff der „Ur- sache“ in Nichts, denn er wird dann identisch mit dem Begriff der Bedingung. In der Tat ist die Einkleidung der durch die Erfahrung festge- stellten Gesetzmäßigkeiten in die konditionale Form die einzige wissen- schaftliche Darstellungsweise, denn sie bringt lediglich Tatsachen zum Ausdruck ohne irgend einen Deutungsversuch. Die Mathematik, die sich im Laufe der Zeit die exaktesten Ausdrucksformen für ihre Wahr- heiten entwickelt hat, weiß das schon lange und kennt daher den Ur- sachenbegrift gar nicht mehr. Nicht „weil“, sondern „wenn“ zwei Größen einer dritten gleich sind, sind sie untereinander gleich. So muß auch die Naturforschung mehr und mehr danach streben, den Kausalbegriff aus ihrem exakten Denken zu eliminieren. Nicht Kau- salismus, sondern Konditionismus! Man könnte aber auf den ersten Blick geneigt sein, dem Kondi- tionismus einen Vorwurf zu machen, indem man sagte: der Konditionis- mus stellt nur in formaler Weise Gesetzmäßigkeiten fest, ohne auf das „Quale“ der‘ Dinge einzugehen. Indem er nur Bedingungen er- mittelt, scheint er auf eine Erklärung eigentlich zu verzichten. Bei genauerem Zusehen wird man indessen finden, daß dieser Vorwurf nicht zutrifft. Was sind denn die „Bedingungen“ eines Zustandes oder Vor- ganges? Es sind ebenfalls wieder Zustände und Vorgänge, also Dinge von bestimmten Qualitäten. Jede „Bedingung“ repräsentiert demnach von vornherein schon immer einen ganz spezifischen Komplex von Qualitäten, die wir als Sinnesempfindungen kennen. Indem wir einen komplexen Zustand oder Vorgang auf seine Bedingungen zurückführen, zerlegen wir ihn nur in seine Bestandteile und stellen sein gesetz- mäßiges Abhängigkeitsverhältnis von diesen fest. Der Vorgang oder Zustand st in Wirklichkeit nichts weiter als der gesamte Komplex seiner Bedingungen. Ist dieser ge- samte Komplex von Bedingungen gegeben, so ist auch der betreffende Zustand oder Vorgang gegeben, denn 38 Erstes Kapitel. er ist identisch mit ihm; etwas anderes ist nicht an ihm vorhanden. Indem wir also die Bedingungen eines Zustandes oder Vorgangesanalysieren,analysieren wir ihn selbst qualitativ. Noch eine Tatsache ist hierbei von Wichtigkeit. Die Erfahrung zeigt uns immer nur Dinge, die in Abhängigkeitsbeziehungen von- einander stehen. Absolute, isolierte, unabhängige Dinge kennen wir nicht. Wenn uns irgend ein Körper, z. B. ein Organismus, ein Mensch oder ein Tier als ein selbständiges, in sich geschlossenes, isoliertes System entgegentritt, so beruht das auf ungenauer oder unvollständiger Beobachtung. In Wirklichkeit befindet sich dieses System in engster Abhängigkeit von der Umgebung. Unsere Sinnes- organe zeigen uns das nur nicht alles mit einem Male. Sie greifen aus dem ganzen Zusammenhange elektiv nur einzelne Momente her- aus, und es bedarf eingehenderer Analyse, um die Abhängigkeiten sämtlich zu ermitteln. Dann finden wir aber, daß der Organismus in einem fortwährenden Stoftaustausch mit seiner Umgebung steht, daß er fortwährend Stoffe von außen aufnimmt und andere nach außen abgibt, daß er auch von der Temperatur der Umgebung und vom Drucke des Mediums im höchsten Grade abhängig ist. Die Fest- stellung dieser äußeren Lebensbedingungen ist eine Hauptaufgabe der Physiologie. Was aber für den Organismus gilt, gilt für jedes körper- liche System. Ueberall finden wir bei genauerer Unter- suchung Zusammenhänge zwischen den Dingen und er- kennen, daß jedes Ding selbst ein Bedingtes ist und zugleich wieder eine Bedingung für ein anderes bildet. Nach alledem ist es klar, daß wissenschaftliche Forschung, auf welchem Gebiete auch immer es sei, allein nur darin bestehen kann, die Gesetzmäßigkeit in den Abhängigkeitsverhältnissen der Dinge untereinander zu ermitteln. Sind die sämtlichen Bedingungen, von denen ein Zustand oder Vorgang abhängig ist, festgestellt, so ist der Zustand oder Vorgang damit vollständig erkannt. Fassen wir daher die beiden Hauptsätze des erkenntnistheore- tischen Konditionismus noch einmal zusammen, so lauten sie folgender- maßen: 1. EinZustand oder Vorgang ist eindeutig bestimmt durch die Gesamtheit seiner Bedingungen. Daraus ergibt sich die Ableitung: Gleiche Zustände oder Vor- gänge sind stets Ausdruck gleicher Bedingungen; ungleiche Bedin- gungen finden ihren Ausdruck in ungleichen Zuständen oder Vor- gängen. 2. Ein Zustand oder Vorgang ist identisch mit der Gesamtheit seiner Bedingungen. Daraus ergibt sich die Ableitung: Ein Zustand oder Vorgang ist wissenschaftlich vollständig erkannt, wenn die Gesamtheit seiner Be- dingungen festgestellt ist. Von dieser durch induktive Erfahrung gewonnenen Basis des Konditionismus aus kommen wir nun auf deduktivem Wege wieder einen Schritt weiter in der Erkenntnis. Zunächst müssen wir uns erinnern, daß alle Erkenntnis der Dinge auf sinnliche Empfindungen zurückgeht. Was ich von den Dingen unmittelbar weiß, sind nur meine eigenen Empfindungen. Analysiere ich nur einmal irgend ein Ding, z. B. ein Stück Kreide! Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 39 Was kann ich von ihm sagen? Die Kreide ist weiß. Weiß ist meine Empfindung. Die Kreide ist schwer. Schwer ist meine Empfin- dung. Die Kreide ist hart. Hart ist meine Empfindung. Die Kreide ist kalt. Kalt ist meine Empfindung. Die Kreide hat eine bestimmte Form. Die Form ist nichts weiter als eine bestimmte Anordnung meiner Empfindungen. Wie ich auch das Stück Kreide untersuchen mag, ich finde immer nur meine eigenen Empfindungen. Was aber von der Kreide eilt, das gilt von allen Dingen. Hier ist nun der Punkt, an dem man leicht in einen Fehlschluß ver- fällt, der zu absurden Konsequenzen führt. Man sagt: wenn ich an den Dingen nichts anderes finden kann als meine eigenen Empfin- dungen, "dann ist die Existenz einer außer mir bestehenden Außen- welt eine reine Hypothese, und die Welt ist nur ein Spiel meiner Empfindungen. Man hat diese wunderliche Vorstellung als „Sol- ipsismus“ bezeichnet. Der Solipsismus glaubt besonders exakt zu sein, denn er hält sich frei von jeder Hypothese und folgt nur der Erfahrung. Nach seiner Auffassung wäre aber die Welt höchst selt- sam. Wenn nur ich allein selbst existiere, und wenn die Welt iden- tisch ist mit meinen Bewußtseinsvorgängen, dann würde die Welt vollkommen zusammenhansglos sein, ein buntes Gewirr von Empfin- dungen und Vorstellungen, Gedanken und Gefühlen, das jeden Abend in Nichts zerfließtt, um am Morgen sein kaleidoskopartiges Spiel von neuem zu beginnen. Das wäre absurd. Es muß also in dem Ge- dankengang, der zum Solipsismus führt, ein Fehler sein. Wo steckt er? Es ist nicht schwer, ihn zu finden. Er liegt darin, daß der Solipsismus sich zwar streng an die Erfahrung hält, aber daß er nicht die ganze Erfahrung berücksichtigt. Er ver wendet. nur die primären Erfahrungen, die Empfindungen, und übersieht völlix die sekundären Erfahrungen, die uns die Erkenntnis einer Gesetzmäßigkeit liefern. Die Tatsache, die im ersten Hauptsatz des erkenntnistheoretischen Konditionismus zum Ausdruck kommt, die Tatsache, daß ein Vorgang oder Zustand eindeutig bestimmt ist durch die Gesamtheit seiner Be- dingungen, diese Tatsache gestattet mir, den Nachweis zu führen, daß die Dinge auch weiter existieren, wenn ich sie nicht wahrnehme. Wenn ich die sämtlichen Bedineungen eines Vorganges ermittelt habe, und ich stelle sie her, dann muß der Vorgang sich mit unab- wendbarer Notwendigkeit abspielen, ganz gleichgültig, ob ich ihn währenddessen beobachte oder nicht, vorausgesetzt, daß die Beob- achtung nicht selbst zu den notwendigen Bedingungen des Vorganges gehört, wie bei dem Vorgange der Empfindung. Jedes Experiment, das ich ausführe, ist im stande, mir eine Probe auf die Richtigkeit dieser Deduktion zu liefern. Bringe ich 'z. B. in. ein Becherelas von bestimmtem Durchmesser bei bestimmter Temperatur eine bestimmte Quantität Formaldehydlösung von bestimmter Konzentration, und setze ich dazu eine bestimmte Quantität Konzentrierter Salpetersäure, so erfolgt nach bestimmter Zeit eine explosionsartige Reaktion, indem der Formaldehyd durch Sauerstoffaufnahme aus der Salpeter säure zu Kohlensäure und Wasser verbrennt, während die Salpetersäure durch Sauerstoffabgabe zu Stickoxyd, Stiekstoffdioxyd und Wasser zerfällt nach folgender Formel: CH,0 +2 HNO, = CO, +2H,0O+NO-+NO, Stelle ich nun die genannten Bedingungen her, so muß unter allen Umständen diese Reaktion nach bestimmter Zeit erfolgen. Ich kann jetzt die Augen schließen. Nach Ablauf der bestimmten Zeit höre 40 Erstes Kapitel. ich an dem charakteristischen Geräusch, daß die Reaktion erfolgt ist. Oder ich kann währenddessen hinausgehen. Kehre ich nach Ablauf der bestimmten Zeit zurück, so erkenne ich an den vorhandenen braunen Dämpfen, daß die Reaktion in der gesetzmäßigen Weise er- folgt ist. Oder ich bleibe draußen und ein anderer, der von der ganzen Vorbereitung nichts weiß, ist im Zimmer und bestätigt mir, daß die Reaktion nach der bestimmten Zeit in der vorausgesagten Weise erfolgt ist. Das alles zeigt mir, daß die Vorgänge sich in ihrer gesetzmäßigen Weise auch abspielen, wenn ich sie nicht wahr- nehme, mit anderen Worten, daß die Dinge auch außerhalb meines Bewußtseins existieren. Sie bilden nur keine Empfindungen mit mir, weil die Bedingungen für die Entstehung von Empfindungen bei mir durch die Ausschaltung meiner Sinnesorgane nicht hergestellt sind. Hier pflegt nun die Frage aufzutauchen: was sind denn eigent- lich, die „Dinge an sich“ Josgelöst von meiner Empfindung, wenn ich sie nicht wahrnehme? Machen wir uns klar, was diese Frage eigentlich bedeutet! Sie bedeutet einen vollkommenen Unsinn, denn sie enthält nichts weniger als die Forderung: ich soll erkennen, was die Dinge sind, ohne daß ich sie meinen Erkenntnismitteln zugänglich mache, also ich soll die Dinge erkennen, ohne sie zu erkennen! Der Widerspruch liegt auf der Hand. Es handelt sich hier gar nicht um ein wirkliches Problem, sondern um ein Scheinproblem, das bei genauerer Ueberlegung in Nichts zerfließt. Wenn wir die Geschichte der Probleme überblicken, die während der langen Entwicklung des menschlichen Geisteslebens auf der Erde den Verstand der Denker beschäftigt haben, so finden wir, daß manche Probleme, die bereits das graue Altertum bewegten, sich erhalten haben, unverändert und ungelöst bis auf den heutigen Tag, daß andere Probleme dagegen gelöst sind, daß aber viele Probleme, die einst jahrhundertelang im Vordergrund des Interesses standen, vollkommen von der Bildfläche verschwunden sind, obwohl sie keine Lösung fanden. Das uralte Problem von der „Quadratur des Zirkels“, an dem sich mancher Kopf vergebens zergrübelt hat, das Problem des „Perpetuum Mobile“, das seit alter Zeit eins der Hauptprobleme der Physik ge- bildet hat, und viele andere sind spurlos verschwunden, und doch hat niemand die „Quadratur des Zirkels“ gefunden, und doch hat niemand ein „Perpetuum Mobile“ konstruiert. Fragen wir aber, wie kommt es, daß sich in unserer Zeit kein Mensch mehr um diese Probleme kümmert, so lautet die einfache Antwort: weil wir eingesehen haben, daß die Fragestellung, die diesen vermeintlichen Problemen zugrunde lag, falsch war. Wenn wir falsche Fragen stellen, so können wir nicht erwarten, eine richtige Antwort zu bekommen, so können wir uns im Schweiße unseres Angesichts abmühen Tag und Nacht, wir werden keine Lösung finden. Ein solches Problem ist die Frage nach den „Dingen an sich“. Noch jetzt beschäftigt diese Frage den Geist eines jeden, der unbefriedigt ist, wenn er meint, daß ihm zur Entwicklung seines Welt- bildes Schranken gesetzt seien: noch jetzt aber findet jeder, daß er mit seinem ernstesten Denken der Lösung des Problems nicht näher rückt. Nur ganz allmählich wird sich erst die Ueberzeugung Bahn brechen, daß das Problem jenen anderen Problemen gleicht, an deren Lösung der Verstand von Jahrhunderten scheitern mußte, weil die Frage falsch gestellt war. een A Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 41 Noch viel schlimmer aber wird die Verwirrung, wenn man aus der Unlösbarkeit eines absurden Scheinproblems noch einen falschen Schluß zieht und sagt: Da wir nicht erkennen können, was die „Dinge an sich“ sind, so wird uns die Wirklichkeit für ewig verschlossen bleiben. Darin liegt ein großer Irrtum und eine völlige Verkennung der Tat- sachen. Die Wirklichkeit ist uns durchaus nicht verschlossen, denn wir erkennen sie ja fortwährend. Erkennen heißt eben Empfindungen und Vorstellungen bilden, und Empfindungen und Vorstellungen von den Dingen kann ich nur bilden, wenn ich die nötigen Bedingungen dazu herstelle, d.h. wenn ich die Dinge zu mir in Beziehung setze. Damit erkenne ich die Dinge, und damit erkenne ich die Wirklichkeit. Es wäre eine grobe Täuschung, wenn man die Be- wußtseinsvorgänge nicht als Wirklichkeit betrachten wollte. Empfin- dungen, Vorstellungen, Gedanken etc. sind genau so „Dinge an sich“ wie irgend welche anderen Dinge! Es liegt auch nicht die mindeste Veranlassung vor, zwischen ihnen und anderen Dingen eine Kluft zu konstruieren. Die Bewußtseinsvorgänge sind von anderen Dingen nicht mehr verschieden als andere Dinge untereinander. Sie sind sämtlich Bestandteile der Wirklichkeit. In meinen Bewußtseinsakten fällt Erkennen und Sein oder Geschehen zusammen, in meinen Emp- findungen und Vorstellungen erlebe ich die Wirklichkeit selbst !). 3. Körperwelt und Psyche. Wie gestaltet sich nun vom Standpunkte des erkenntnistheore- tischen Konditionismus aus die Erforschung der Welt? Sind ihr in der Tat Schranken gesetzt an den beiden Punkten, an denen Du Bo1s- REYMOoNnD einst zu seinem „Ignorabimus“ gelangt war? Die erste Grenze lag für Du Boıs-REyMmonD in der Unmöglich- keit, das Wesen der Materie zu erkennen. Was ist Materie? Hier fühlt sich Du Boıs-REymonD ratlos. In Wirklichkeit ist kein Grund zu irgendwelcher Verlegenheit.e. Wir müssen uns nur, wie immer und immer wieder bei allen Begriffen, die wir verwenden, erinnern, daß es sich hier um einen Begriff handelt, der einst vom Menschen geschaffen worden ist, um eine Reihe von Tatsachen unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt zusammenzufassen, der aber, wie alle Begriffe, sobald er bei weiter und weiter fortschreitender Er- fahrung zu eng oder gar falsch wird, geändert oder ganz abgeworfen werden muß. Der Begriff der Materie ist sehr alt und läßt sich bis 1) Die hier entwickelten Anschauungen berühren sich am nächsten mit denen von ERNST MAcH. Zur weiteren Beschäftigung mit diesen Fragen sei verwiesen auf folgende Bücher: ERNST MAcH, „Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen“, 3. Aufl., Jena 1902. — Derselbe, „Erkenntnis und Irrtum“, Leipzig 1905. — A. v. LECLAIR, „Der Realismus der modernen Natur- wissenschaft“, Prag 1879. — Ferner J. PETZOLDT, „Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung“, Bd. I, 1900; Bd. II, 1904, Leipzig. — Derselbe, „Das Weltproblem vom positivistischen Standpunkt aus“. In der TEUBNERschen Sammlung: Aus Natur und Geisteswelt, Leipzig 1906. — Ferner RICHARD AVENARIUS, „Kritik der reinen Erfahrung“, 2. Aufl., Leipzig, Reisland, 1907. — Ferner TH. ZIEHEN, „Psychologische Erkenntnistheorie“‘, Jena, Gustav Fischer, 1898. — W. JERUSALEM, „Der kritische Idealismus und die reine Logik. Ein Ruf im Streite“, Wien und Leipzig 1905. — Ferner TH. Lıpps, „Naturwissenschaft und Weltanschauung“. In Verhandl. der Gesellsch. Deutscher Naturforscher und Aerzte zu Stuttgart 1906. Erschienen Leipzig, en — Ferner B. KERN, „Seelen- und Geistesleben“, 2. Aufl., Berlin, Hirsch- wald, L 42 Erstes Kapitel. ß in die Zeiten der ionischen Naturphilosophie zurückverfolgen. Er entsprang aus der Annahme, daß alle Körper aus einem gemeinsamen Urstoff bestehen. Das ist aber eine Hyphothese, für die auch heute noch nicht der Schatten eines Beweises existiert. Die Tatsache der Teilbarkeit von Körpern hat dann weiterhin dazu geführt, die Materie aus kleinen, diskreten Teilchen bestehend zu denken. LEUKIPPOS und DEMOKRITOS haben, wie es scheint, diese Corpuscularvorstellungen zu- erst in ihrer Atomtheorie in ausgedehnterer Weise entwickelt. Die Atom- theorie ist dann bekanntlich von der modernen Chemie in unvergleichlich scharfsinniger Weise ausgebaut worden und hat sich in ihrer heutigen Form als ein unendlich fruchtbares heuristisches Prinzip erwiesen. Aber wir dürfen mit dem Begriff des Atoms keine unhaltbaren Vor- stellungen verknüpfen. Und es ist nicht zu leugnen, daß sich das naive Denken durch die Atomtheorie und ihre plastische Anschaulich- keit selbst in der Naturforschung noch häufig zu ganz kindlichen Ansichten verführen läßt. Der Mensch ist gewöhnt, die Dinge, die er zergliedert und betrachtet, sich selbst gegenüberzustellen. So kommt der naive Geist unwillkürlich dazu, sich einen Standpunkt außerhalb der Welt zu konstruieren, von dem aus er die gesamte Welt, wie der Naturforscher das einzelne Objekt betrachtet. Auf Grund der Atomtheorie erscheint ihm dann die vor ihm liegende Welt wie ein enormer Haufen kleinster Kügelchen, die er sich mikroskopisch vergrößert denkt, so daß er das einzelne Kügelchen herausgreifen, in die Hand nehmen und für sich isoliert untersuchen zu können glaubt. So ungefähr sieht das materialistische Weltbild aus, ein wahrer Ratten- könig von schiefen und falschen Vorstellungen! Es wäre indessen verkehrt, wenn wir die großen Verdienste des Materialismus damit verkennen wollten. Es gibt Leute, die den Materialismus überwunden haben und sich nun nicht genug tun können, über den „krassen und rohen Materialismus“ zu schimpfen. Das ist undankbar, denn wir verdanken dem Materialismus viel: Wir verdanken ihm — um nur den wichtigsten Punkt hervorzuheben — den Sieg der Klarheit, der plastischen Anschaulichkeit über den unklaren Mystizismus und wunderverkündenden Kirchenglauben, den Sieg des Lichts über die Dunkelheit. Die Atomtheorie speziell ist auch heute noch eine äußerst fruchtbare, ja unentbehrliche Vorstellung, so z. B. in der Chemie. Was hat die Chemie alles mit diesem Er- klärungs- und Forschungsprinzip erreicht! Es wäre undankbar, wenn wir verkennen wollten, was hier die materialistische Anschauungsweise vollendet hat. Es gibt Irrtümer in der Geschichte des menschlichen Denkens, die wertvoller sind als manche Wahrheit; ein solcher frucht- barer Irrtum war auch der Materialismus. Aber wir müssen über ihn hinwegzukommen suchen, sobald wir auf seine Fehler stoßen. Jede Weltanschauung ist endlich. Sie wird alt und verfällt dem Tode, genau wie jeder Organismus. So ist auch der Materialismus als Weltanschauung heute im Absterben begriffen, weil er neben seinen brauchbaren Bestandteilen eine Menge von schiefen und falschen Vorstellungen enthält. Du Boıs-Reymonps Betrachtung hat recht deutlich gezeigt, wie die materialistische Weltanschauung zur völligen Ratlosigkeit führt. Machen wir uns die Irrtümer des Materialismus klar. Wenn wir uns nur immer streng an die Betrachtungsweise des wissenschaftlichen Konditionismus halten, wird uns das nicht schwer. Die Hypothese, u Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 43 daß allen Dingen ein gemeinsames letztes Substrat zugrunde liege, wird durch die Erfahrung in keiner Weise gestützt. In der Periode der Naturwissenschaft, deren Anschauungen in der Betrachtung Du Boıs-REYMonDs zum Ausdruck gekommen sind, hielt man noch die Atome der sogenannten chemischen Elemente für die letzten Bestand- teile der Wirklichkeit und der Satz von ihrer Unveränderlichkeit war ein allgemeines Dogma. Aber schon auf Grund dieser Vorstellungen hätte von einem einheitlichen Substrat der Dinge gar nicht die Rede sein können, denn man kannte ja nicht weniger als 70 verschiedene „Elemente“. Allerdings begann schon damals der Gedanke sich zu verbreiten, daß die chemischen Elemente in einem bestimmten gene- tischen Verhältnis zueinander stehen müßten, so daß die Elemente mit höherem Atomgewicht aus Elementen mit niederem Atomgewicht einmal entstanden seien. Das MENDELEJEwsche natürliche System der Elemente gab für diese Anschauung eine starke Stütze. Aber erst die Untersuchungen der letzten Jahre haben gezeigt, daß unter bestimmten Bedingungen tatsächlich ein Zerfall von Elementatomen stattfinden kann in Teilchen von ganz unvergleichlich geringerer Größe. Die Untersuchungen über die radioaktiven Stoffe, deren sich über- stürzende Resultate noch gar kein Ende absehen lassen, haben uns an die Existenz viel kleinerer Teilchen gewöhnt und die Elektronen- theorie scheint berufen, das Gebiet dieser kleineren Bestandteile all- mählich ebenso anschaulich aufzuklären, wie die Atomtheorie es für die Welt der Elementatome getan hat. Wenn man aber annehmen wollte, daß die Elektronen nun die letzten Bestandteile der Dinge seien, so wäre diese Annahme wiederum völlig aus der Luft gegriffen und durch keine Erfahrung begründet. Die Elektronen existieren, genau wie die Atome ebenfalls, als solche nur, wenn bestimmte Bedingungen gegeben sind, und nichts hindert uns anzunehmen, daß die Elektronen unter anderen Bedingungen wiederum in kleinere Teilchen zerfallen. Schließ- lich ist die Annahme letzter, nicht weiter teilbarer Bestandteile der Dinge, in welcher Form sie auch auftreten mag, stets eine durchaus willkürliche Hypothese, und es existiert kein stichhaltiger Grund, die Teilbarkeit der Körper, die als unendlich denkbar ist, irgendwo als begrenzt zu betrachten. Vor allem aber ist eine Vorstellung, die der Materialismus gezüchtet hat, vollkommen im Widerspruch mit aller Erfahrung, das ist die Annahme, daß irgend ein Substrat der Dinge existiere, das unter allen Umständen eine bestimmte Summe von unveränderlichen und ihm selbst stets immanenten Eigenschaften besäße. Eine solche absolute Materie, die von allen Bedingungen unabhängig wäre, existiert schlechterdings nicht. Es gibt nur be- dingte Dinge. Absolute Dinge zeigt uns "die Erfahrung niemals und nirgends. Ein Ding, und sei es selbst ein Atom oder ein Elektron, ist immer nur da, wenn bestimmte Bedingungen gegeben sind. Wo diese Bedingungen fehlen, da ist auch kein Atom, denn was ich ein Atom nenne, das ist ja identisch mit diesem System von Bedingungen. Wenn wir aber diese schiefen und irrigen Vorstellungen aus dem Begriff der Materie eliminieren, dann verändert dieser Begriff sein Aussehen vollständig. Dann besteht die Welt nicht aus einem Haufen von teilbaren kleinsten Teilchen, von denen jedes eine Summe von absolut unveränderlichen Eigenschaften besitzt, sondern aus einer un- endlichen Mannigfaltigkeit von Dingen, die alle untereinander in ein- deutig bestimmtem Abhängigkeitsverhältnis stehen. Die Aufgabe der 44 Erstes Kapitel. Forschung ist es, dieses Abhängigkeitsverhältnis zu ermitteln. Wie wir oben sahen, erforschen wir damit die Dinge selbst. Das Problem einer absoluten Materie als des letzten allgemeinen Bestandteils aller Körper ist also ebenfalls ein Scheinproblem, das vor der konditionellen Betrachtungsweise zerschmilzt wie der Schnee vor der Sonne. Infolgedessen liegt hier auch keine Grenze der Er- kenntnis, denn erkennbar sind alle Dinge, die ich zu mir in Beziehung setzen kann, und mit der Erkenntnis eines jeden Dinges mache ich einen Fortschritt in der Erkenntnis der Welt. Aber gibt es nicht Dinge, die ich nicht zu mir in Beziehung setzen kann, weil sie sinnlich nicht wahrnehmbar sind, Dinge, die demnach unerkennbar wären ? Seit alter Zeit hat man bekanntlich zwei Arten von Dingen unterscheiden zu müssen geglaubt, die körperlichen und die geistigen Dinge. Die Unterscheidung der menschlichen Natur in Leib und Seele geht weit in die prähistorische Steinzeit zurück. Wenn wir aus dem primitiven Denken der heute noch lebenden Naturvölker einen Rück- schluß ziehen dürfen auf die prähistorische Geistesentwicklung, so ist diese dualistische Spaltung des menschlichen Wesens entstanden aus der Beobachtung der Todestatsache und des Traumlebens.. Man sah einen Menschen, der eben noch sich bewegte und sprach, atmete und empfand, plötzlich daliegen regungslos und stumm, ohne Atemzug und ohne Empfindung. Es mußte etwas aus ihm heraus geflogen sein, etwas Unsichtbares, das vorher in ihm atmete und sprach, sich bewegte und fühlte. Das war die Seele. Unverändert aber, wie er immer gewesen war, blieb der sichtbare Körper zurück, der Leib. Im Schlafe sah man dann bei sich selbst, ebenso wie bei anderen im Tode, häufig die Seele sich vom Körper trennen und auf die Wanderschaft gehen in ferne Gegenden zu fernen Leuten. Aber diese Trennung war nur vorübergehend. Die Seele kehrte des Morgens wieder in ihren Körper zurück, der während dessen ruhig auf seinem Lager gelegen hatte. Auch die Seele eines Verstorbenen sah man bisweilen des Nachts im Traume ganz in der Gestalt des Lebendigen wiederkehren, während sein toter Körper noch in seiner Hütte oder tief unter Steinen vergraben mit fest an den Leib gefesselten Beinen und Armen im Erdboden lag. Das alles mußte den naiven Geist zu der Annahme von zwei ganz verschiedenen Wesen im lebendigen Menschen führen, zu der An- nahme, daß ein unsichtbares Wesen, die Seele, in dem sichtbaren Leibe wohne, wie ein Mieter in einem Hause. Diese Konzeption des steinzeitlichen Menschen hat eine wahrhaft unendliche Fülle von Spekulationen angeregt. Ja man kann sagen, daß sich an ihr das ge- samte Denken der Menschheit vervollkommnet und emporgerankt hat bis zur seiner heutigen Blüte. Bei DESCARTES hat diese Idee ihren schärfsten Ausdruck gefunden in der Charakterisierung der Körper als ausgedehnter Dinge, der Seele als eines Dinges ohne Ausdehnung. Allmählich ist dieser so einleuchtende Gedanke eines Dualismus von Leib und Seele fast allen Völkern der Erde in Fleisch und Blut über- gegangen, so sehr, daß selbst das Denken des Kulturmenschen von Jugend auf von ihm durchtränkt wird. Es fragt sich aber, ob die Gründe, die einst den primitiven Geist des steinzeitlichen Menschen zu diesem Dualismus geführt haben, für uns auch heute noch bindend sein können. Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 45 Auf der einen Seite hat die moderne „Lehre vom psycho- physischen Parallelismus“ der steinzeitlichen Idee ihre wissen- schaftliche Sanktion erteilt, ja sie hat sogar diese Vorstellung noch schärfer formuliert. Nach der Lehre vom psycho-physischen Parallelis- mus gehen bestimmte körperliche Vorgänge in den Bestandteilen der Großhirnrinde stets und unabänderlich parallel mit bestimmten ‘psychischen Vorgängen, ohne daß aber zwischen beiden Reihen von Vorgängen eine „kausale* Abhängigkeit bestände. Die Reihe der körperlichen Vorgänge ist nach dieser Vorstellung vollständig in sich geschlossen, ihre einzelnen Glieder stehen in untrennbarem „Kausal- zusammenhange“ untereinander und nirgends ist zwischen ihnen eine Lücke, die durch ein psychisches Glied ausgefüllt würde. Die Glieder der körperlichen Reihe sind schließlich allein objektiv sinnlich wahr- nehmbar, die der psychischen Reihe sind nur aus subjektiver Er- fahrung bekannt. Das ist die Lehre, die sich heute einer weiten Wertschätzung in manchen Kreisen der Philosophie und der Natur- wissenschaften erfreut. Auf der anderen Seite ist man seit langer Zeit unbefriedigt ge- wesen von dem psycho-physischen Dualismus. Zahlreiche Denker haben versucht, diesen Dualismus in monistischem Sinne zu lösen. Es sei nur an die Versuche Spınozas, der Materialisten HAECKELS und in neuerer Zeit OstwALps erinnert. Aber man kann nicht sagen, daß einer dieser Versuche allgemeine Zustimmung erfahren hätte. Suchen wir nach der Begründung, die heute noch für die An- nahme des Dualismus von Körperwelt und Psyche angeführt wird, so ist es immer ein und dasselbe Moment. Man sieht eine unüber- brückbare Kluft zwischen körperlichen und geistigen Vorgängen darin, daß die ersteren der sinnlichen Wahrnehmung objektiv zugänglich sind, die letzteren nicht. Du Boıs-Reymonps Betrachtung glaubt das besonders schlagend gezeigt zu haben. Aber täuscht man sich nicht etwa hier? Sehen wir zu! Nehmen wir an, ein LarLAcescher Geist im Sinne Du Boıs-REeymonps könnte in das Gehirn eines lebendigen Menschen hineinsehen, während dieser die Empfindung einer Rose hat, die er ansieht, so würde ein solcher idealer Geist die sämtlichen physiologischen Vorgänge in den Ganglienzellen beobachten, die sich während der Empfindung des betreffenden Menschen ab- spielen, aber — so nimmt nun Du Boıs-REymonps Art der Be- trachtung an — er würde niemals die Empfindung der Rose selbst wahrnehmen und würde nicht verstehen, wie diese zu stande kommt. Ja, was denkt man denn eigentlich zu finden, wenn man die Empfindung selbst in den Ganglienzellen des Beobachteten sucht? Hier liegt der Fehler der ganzen Betrachtungsweise. Man glaubt, der Beobachter müßte die Empfindung der Rose selbst haben, die der andere hat, wenn der Beobachter während dessen in sein Gehirn hineinsähe. Man denkt im Stillen, daß in den Ganglienzellen des anderen irgend ein schattenhaftes, körperloses, verkleinertes Bild der Rose zu sehen sein müßte, etwa von der Art, wie der alte „Orbis pietus“ die Seele des Menschen abzubilden pflegte. Die konditionale Betrachtungsweise zeigt uns auch hier wieder sofort, welche kindliche Auffassung diesen Erwartungen zugrunde liegt und weshalb sie sich nicht erfüllen können. Gleiche Vorgänge oder Zustände können ja nur immer da sein, wo gleiche Bedingungen sind. Wenn ich also das Gehirn eines anderen ansehe, während 46 Erstes Kapitel. dieser eine Rose betrachtet, so kann ich unmöglich die Empfindung der Rose haben, die jener hat, sondern nur die Empfindung seines Gehirns. Bei mir und bei ihm bestehen ja vollständig verschiedene Bedingungen und infolgedessen müssen natürlich auch die Empfindungen bei ihm und bei mir verschieden sein. Gleiche Empfindungen können bei ihm und bei mir nur vorhanden sein, wenn bei uns beiden die gleichen Bedingungen bestehen, d. h. wenn wir beide die Rose an- sehen. Aber daraus, daß ich nicht ein verkleinertes Bild der Rose im Gehirn des anderen finde, wenn ich sein Gehirn ansehe, während er die Empfindung der Rose hat, darf ich doch nicht den Schluß ziehen, daß seine Empfindung nicht wahrnehmbar wäre. Nach unserer konditionalen Betrachtungsweise ist die Empfindung wie jedes Ding eindeutig bestimmt durch die Gesamtheit ihrer Be- dingungen, denn sie ist identisch damit. Wenn ich die Bedingungen einer Empfindung analysiere, so analysiere ich damit die Empfindung selbst. Hätte ich also, wie der LarLacesche Geist Du Boıs-Rey- MONDS, „astronomische Kenntnis“ von den sämtlichen Vorgängen, die sich abspielen vom Einfall der von der Rose reflektierten Licht- strahlen bis zur Erregung der Ganglienzellen in der Sehsphäre der Großhirnrinde, so hätte ich damit die Empfindung erforscht, und es wäre absurd, noch weiter nach etwas anderem Unbekannten zu suchen oder einen unerkennbaren Rest anzunehmen. Bei konditionaler Be- trachtungsweise ist eine Empfindung genau ebenso ein Objekt sinn- licher Wahrnehmung, wie jedes andere Ding, und damit erledigt sich der Dualismus von Leib und Seele von selbst. Die naive Konzeption des steinzeitlichen Menschen erweist sich also als ein Irrtum, allerdings als ein Irrtum, der in der Geschichte des menschlichen Denkens von unvergleichlicher Fruchtbarkeit war. In Wirklichkeit existieren nicht zwei Reihen von Vorgängen, die parallel nebeneinander laufen, sondern nur eine einzige. Was der psvcho-physische Parallelismus wirklich nachweisen kann, ist nicht das Nebeneinander von körperlichen und geistigen Vorgängen, sondern nur die Tatsache, daß die Bewußtseinsvorgänge unter anderem durch bestimmte Vorgänge im Gehirn bedingt sind. Wir dürfen aber dabei nie vergessen, daß wir auch die physiologischen Vorgänge im Gehirn, wie überhaupt alle Dinge der Welt, nur als unsere eigenen Empfindungen und Vorstellungen kennen. So sind also die Bewußt- seinsvorgänge unserer objektiven Forschung genau so zugänglich wie alle anderen Dinge. Indem wir sie mit unseren Erkenntnismitteln untersuchen, d. h. indem wir von ihnen Empfindungen und Vor- stellungen bilden, lernen wir sie in allen ihren einzelnen Bedingungen kennen. Haben wir einmal ihre sämtlichen Bedingungen ermittelt, so sind sie auch vollständig erforscht und es bleibt uns kein Rest weiter übrig. Die Prinzipien für die Erforschung der Bewußt- seinsvorgänge können immer nur dieselben sein wie die Prinzipien aller Forschung, d. h. die Ermittelung ihrer sämtlichen Bedingungen. Auf diesem Wege aber stellen sich uns prinzipielle Grenzen nirgends ent- gegen. Die Forschung ist frei und unbegrenzt und reicht so weit wie die unendliche Welt. * * Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 47 Nach unserer obigen Betrachtung erscheint es als ein Widerspruch, die Natur (pösts) und etwas „hinter“ der Natur (pera iv pbawv) zu unterscheiden. Es gibt nur eine Welt, mag man diese als Natur oder Psyche oder Wirklichkeit oder sonstwie bezeichnen, das sind nur Namen. Infolgedessen gibt es auch nur eine Art von Erkenntnis und nicht zwei. Sobald es sich daher um die Frage nach den Prinzipien und Grundlagen der Erkenntnis handelt, fallen alle künst- lichen Grenzen fort. Täuschen wir uns also nicht! Das Ziel, das dem Menschengeist in der theoretischen Forschung vorschwebt, ist nicht allein Erkenntnis der leblosen Körperwelt, ist auch nicht allein Erkenntnis der lebendigen Körper, es ist auch nicht bloß Erkenntnis dieser oder jener psychischen Vorgänge, sondern wonach der Menschengeist strebt, wonach er dürstet, ist zuletzt die Erkenntnis der Welt. Eine Arbeitsteilung innerhalb der Forschung dagegen ist nicht nur nicht zu verwerfen, sondern sogar praktisch geboten durch die ungeheuere Fülle der Dinge; nur muß man sich des rein äußerlichen Zweckes derselben bewußt bleiben und die Grenzen zwischen den einzelnen Arbeitsgebieten, die man selbst gezogen hat, nicht verwechseln mit natürlichen Grenzen im Objekt. Es ist ein Verhältnis, das sich in den kommenden Jahr- hunderten bitter rächen muß, wenn die Kluft zwischen Philosophie und Naturforschung von beiden Seiten her künstlich noch immer er- weitert wird, indem auf der einen Seite die ungebundene Spekulation, auf der anderen die einseitige Spezialforschung immer mehr überhand nimmt, statt daß eine Annäherung zu wohltätiger gemeinsamer Arbeit von beiden Seiten stattfände. Die Naturforschung kann nicht auf die Dauer ohne einen philosophischen Arbeitsplan ersprießliche Fort- schritte machen, und wir sehen ja auch in der Geschichte der Wissen- schaft, daß niemals durch beschränkte Spezialforschung, sondern stets nur von wahrhaft philosophisch, d. h. planmäßig, methodisch und zielbewußt arbeitenden Naturforschern große Fortschritte gemacht wurden. Ebensowenig aber kann die Philosophie auf rein spekulativem Wege wirklich bedeutende Erfolge erzielen, wenn sie sich nicht eng an die sichergestellten Tatsachen hält und ihre Spekulationen streng unter die kritische Kontrolle der Erfahrung stellt. Ein wahrer Fort- schritt kommt, wie die Geschichte der Wissenschaft am besten beweist, immer nur zu stande durch denkende Forschung. Die ganze vorstehende erkenntnistheoretische Ueberlegung soll uns eine Grund- lage für die Forschung geben, wie sie jeder denkende Forscher sich einmal gebildet haben und immer weiter und freier ausbauen muß, um fruchtbar arbeiten zu können. C. Der Vitalismus. Wenden wir uns jetzt wieder unserer eigentlichen Aufgabe zu, Unsere Ueberlegung hat uns die Möglichkeit gezeigt, alle Vorgänge die körperlichen wie die geistigen, nach den gleichen Prinzipien, zu analysieren, und wir haben gefunden, daß sich unserer Forschung keine prinzipiellen Grenzen entgegenstellen. Beschränken wir uns aber nunmehr auf das spezielle Gebiet der Physiologie, auf die Erforschung der Lebensvorgänge. Die Gesetze, nach denen sich die Vorgänge in der leblosen Körperwelt abspielen, hat uns bekanntlich, soweit wir sie bis heute kennen, die Physik und Chemie erschlossen. 48 Erstes Kapitel. Es entsteht hier nun für uns die Frage, ob auch die Vorgänge in der Örganismenwelt sich nach den gleichen Gesetzen vollziehen. Der Vitalismus sagt: Nein. In den Organismen herrscht eine besondere Kraft, welche die Lebensvorgänge hervorbringt: die Lebens- kraft. Die Lebenskraft ist nur auf die lebeudige Organismenwelt beschränkt und ist nicht identisch mit den chemisch-physikalischen Faktoren der leblosen Natur. In diesen Worten ist der wesentliche Inhalt des Vitalismus ent- halten. Prüfen wir, welche Berechtigung der Hypothese von der Lebenskraft zukommt, und worauf sie sich stützt. Wir haben bei unserem Ueberblick über die Entwicklungsgeschichte der physiolo- gischen Forschung die Geschichte der Lebenskraft kennen gelernt; wir haben gesehen, wie diese Lehre entstand im Anschluß an die Tatsachen der Irritabilität, und wir haben gefunden, daß der Begriff der Lebenskraft nie einheitlich definiert worden ist, daß er vielmehr immer ein verschwommener war und meistens nur als Bequemlich- keitsprinzip diente. Diese Unklarheit des Begriffes einer mystischen, unbekannten Lebenskraft ist die Hauptschwierigkeit für seine kritische Beleuchtung. Wäre der Begriff faßbar und scharf definiert, so könnte man ihn leichter erörtern. Die Behauptung einer Lebenskraft stützt sichallein aufdie Tatsache, daßsich bestimmte Lebensäußerungen bisher nicht haben auf chemisch-physikalische Gesetze zurückführen lassen. In der Tat haben wir bereits, als wir das Fazit aus der bisherigen physiologischen Forschung zogen, die entmutigende Wahrnehmung gemacht, daß, was wir von Lebens- äußerungen erklärt haben, immer nur die groben physikalischen und chemischen Leistungen des Körpers waren, daß, wo wir diese Leistungen weiter auf ihre tiefer gelegenen Bedingungen untersuchten, sich immer ungelöste Rätsel uns entgegenstellten. Ja, BunGE be- hauptet sogar!): „Je eingehender, vielseitiger, gründlicher wir die Lebenserscheinungen zu erforschen streben, desto mehr kommen wir zu der Einsicht, daß Vorgänge, die wir bereits geglaubt hatten, physikalisch und chemisch erklären zu können, weit verwickelter Natur sind und vorläufig jeder mechanischen Erklärung spotten.“ Wie wenig auch die Tatsache zu bestreiten ist, daß viele, ja ganz besonders gerade die elementaren und allgemeinen Lebensvor- eänge brsher einer genügenden chemisch-physikalischen Analyse entbehren, so ist doch aus dieser Tatsache noch keine logische Berech- tigung abzuleiten für die Behauptung, daß diese Vorgänge über- haupt nicht nach chemisch-physikalischen Gesetzen zu stande kommen, und daß eine besondere Lebenskraft existiert, die sie hervorbringt. Dagegen gibt es wohl Umstände, welche direkt gegen die Existenz einer Lebenskraft sprechen. Es ist, trotz aller Bemühungen der Vitalisten, bisher noch nicht gelungen, irgend eine besondere Kraft in den Organismen festzustellen, d. h. in der Weise aus ihren Wirkungen zu charakterisieren, wie die Physik und Chemie es für die Kräfte der anorganischen Natur getan haben. Für keine von den Leistungen des Körpers, die aus der Tätigkeit einer Lebenskraft entspringen sollen, haben die Vitalisten 1) BunGe: „Lehrbuch der physiologischen und pathologischen Chemie“. V. Aufl. Leipzig 1901. Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 49 bis jetzt die Behauptung zu widerlegen vermocht, daß sie in Wirklich- keit nur Ausdruck komplizierter chemisch-physikalischer Verhältnisse sind. Man hat z. B. lange geglaubt, daß bestimmte Stoffe, die man ausschließlich im lebendigen Organismus findet, nur durch die Wirksamkeit der Lebenskraft entständen, daß sie auf chemisch-physi- kalischem Wege nicht darstellbar wären. Diese einst so wichtige Stütze für die Annahme einer Lebenskraft hat, wie wir sahen, WÖHLER!) bereits im Jahre 1828 zum Wanken gebracht, indem er den Harnstoff, einen Körper, der nur im Stoffwechsel des lebendigen Organismus produziert wird, im Laboratorium synthetisch herstellte, und zwar aus cyansaurem Ammon (NH,)CNO, das dem Harnstoff (NH,),CO isomer ist, d. h. die gleiche Anzahl derselben Atome in anderer Anordnung besitzt. Das cyansaure Ammon aber wird aus rein anorganischen Stoffen dargestellt. Dieser Synthese des Harnstoffs folgte seitdem noch eine ganze Reihe anderer von derselben Bedeutung, die alle zeigten, daß sich charakteristische Stoffe des Organismus auch künstlich zusammensetzen lassen. Die Annahme einer besonderen Lebenskraft für ihre Erzeugung im Organismus war damit überflüssig geworden. Freilich ist es noch immer nicht gelungen, eine große Anzahl von Stoffen des Tier- und Pflanzenkörpers künstlich herzu- stellen. Es ist wahr, daß wir gerade die wichtigsten dieser Stoffe, die Eiweißkörper der lebendigen Substanz, bisher noch nicht im Laboratorium haben darstellen können, aber die Gründe dafür sind sehr naheliegend. Wir kennen noch nicht genau genug die chemische Zusammensetzung der im Organismus vorkommenden Eiweißkörper; wir wissen zwar jetzt, welche Atome in ihnen enthalten sind, aber wir haben noch keine ausreichende Erfahrung darüber, wie diese Atome aneinander gekoppelt sind. Daß wir demnach vorläufig noch nicht hoffen dürfen, mit Erfolg die künstliche Darstellung der von uns im Organismus gefundenen Fiweißkörper zu versuchen, liegt auf der Hand. Dennoch ist bekannt, wie die genialen Untersuchungen EMmIL FISCHERSs über die Eiweißkörper bereits soweit gediehen sind, daß es gelungen ist, in der großen Gruppe der Polypeptide Stoffe künst- lich herzustellen, die den natürlich vorkommenden Eiweißkörpern bereits außerordentlich nahe stehen. Eine andere Ueberlegung, die uns die Annahme einer besonderen Lebenskraft als gänzlich unhaltbar erkennen läßt, ist folgende. Die kalorimetrischen Untersuchungen der neueren Zeit haben gezeigt, daß beim erwachsenen Tier, das sich in vollkommenem Stoffwechsel- gleichgewicht befindet, d. h. das genau so viele Atome aus seinem Körper als Ausscheidungsstoffe entfernt, wie es als Nahrung aufnimmt, auch vollkommenes energetisches Gleichgewicht besteht, d. h. daß genau dieselbe Energiemenge, die als chemische Spannkraft mit der Nahrung in den Körper eintritt, bei der Lebenstätigkeit des Tieres den Körper auch wieder verläßt. Wir müssen daher die sämtlichen energetischen Leistungen des Körpers allein ableiten aus den Energie- mengen, die mit der Nahrung in den Körper gelangen. Wollten wir das nicht, so würden wir zu ganz absurden Konsequenzen geführt werden. Würden nämlich die Leistungen des Körpers aus einem be- sonderen Energiefonds, aus der „Lebenskraft‘‘ bestritten, so müßten 1) WÖHLER: „Ueber künstliche Bildung des Harnstoffs“. In Poggendorffs Annalen der Physik und Chemie, Bd. 12, 1828. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 4 50 Erstes Kapitel. wir einerseits die Annahme machen, daß die Lebenskraft fortwährend aus nichts im Körper neu gebildet würde, um seine Leistungen dauernd zu unterhalten, und anderseits, daß die Energiemengen der Nahrung als überflüssig im Körper fortwährend in nichts verschwänden. Dazu dürfte sich aber heute wohl kein Naturforscher mehr entschließen. JOHANNES MÜLLER, der auch Vitalist war, hat, obwohl ihm noch nicht das Gesetz von der Erhaltung der Energie bekannt war, doch diese Schwierigkeit gefühlt und zu vermeiden gesucht, indem er die Lebenskraft nach chemisch-physikalischen Gesetzen wirken ließ. Aber damit ist eben eine spezifische Lebenskraft, die etwas anderes ist als chemisch-physikalische Kräfte, im Grunde schon beseitigt, denn der Begriff Lebenskraft ist dann nur ein Sammelwort für die komplizierten chemisch-physikalischen Verhältnisse, welche die Lebensvorgänge be- dingen. In der Tat fassen manche Naturforscher das Wort nur in diesem Sinne auf, und wäre JOHANNES MÜLLER bereits mit dem Gesetz von der Erhaltung der Energie bekannt gewesen, so hätte er das Wort Lebenskraft sicherlich auch noch vermieden. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ist der alte Begriff der Lebenskraft vollständig aus der Physiologie verschwunden. Um so seltsamer muß es daher erscheinen, wenn die Schlagworte des Vitalismus seit einer Reihe von Jahren wieder von neuem hier und dort vernommen werden. Ein genauerer Einblick in diese Tatsache zeigt uns indessen, daß es sich hier meistens nur um eine sehr unglückliche Verwendung der alten Worte handelt, daß der Sinn derselben vollständig gewechselt hat, und daß da, wo man von „Vitalismus“ und „Neovitalismus“ spricht, in der Regel etwas ganz anderes darunter verstanden wird als in der alten Lehre von der Lebenskraft. Freilich ist in ver- einzelten Fällen auch noch die unklare Mystik des echten Vitalismus der alten Zeit unter den neueren Vitalisten zu finden. Im allgemeinen kann man unter den Aeußerungen des neueren Vitalismus drei Gruppen unterscheiden, die man kurz bezeichnen kann als „mechanistischen“, „psychischen“ und „teleologischen“ Vitalismus!!). Der „mechanistische Vitalismus‘“ ist die hier und dort vertretene Ansicht, daß zwar die Lebensvorgänge im Grunde auch auf der Wirksamkeit physikalischer und chemischer Faktoren beruhen, daß aber chemische und physikalische Bedingungen in den lebendigen Organismen zu einem so eigenartigen, bisher noch unerforschten Komplex verkettet sind. daß man diesen vorläufig als eine besondere, nur das Geschehen in den lebendigen Organismen charakterisierende Lebenskraft allen Faktoren der anorganischen Natur gegenüber stellen muß. Mit anderen Worten, man versteht unter Lebenskraft nur das spezielle Getriebe der chemisch-physikalischen Faktoren, das gerade den Lebensvorgängen zugrunde liegt. Es ist offenbar, daß sich gegen 1) Vergl. Max VERWORN: „Erregung und Lähmung“. Vortrag, gehalten in der zweiten allgemeinen Sitzung der 68. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Frankfurt a. M. 1896. — Derselbe: „Die vitalistischen Strömungen der Gegenwart“. In „Die Deutsche Klinik am Eıngange des zwanzigsten Jahrhunderts in akademischen Vorlesungen“, Berlin 1904. — Ferner derselbe: „Prinzipienfragen in der Naturwissenschaft“. Jena Gustav Fischer, 1905. — Zur Literatur über den Vita- lismus vergl. schließlich auch: O. BürTscHLı: „Mechanismus und Vitalismus“. In Verhandl. d. V. internat. Zoolog.-Kongr. zu Berlin 1901. Jena, Gustav Fischer 1901, sowie vor allem das neuere Buch von PAUL JENSEN: „Organische Zweckmäßigkeit, amHon , und Vererbung vom Standpunkte der Physiologie. Jena, Gustav ischer, 1907. Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 51 das Tatsächliche dieser Auffassung nichts einwenden läßt. Eine andere Frage ist es aber, ob die Bezeichnung „Lebenskraft“ und „Vitalismus“ in diesem Falle gerechtfertigt ist. Mit dem alten Vita- lismus, der eine „force hyperme6canique“ als „Ursache“ der Lebens- voreänge annahm, hat diese Vorstellung nichts zu tun. Es heißt daher nur den Vorteil, den uns die mühsam erkämpfte Ueberzeugung von der Einheitlichkeit der Prinzipien in der gesamten Natur bietet, wieder aufgeben, wenn man zu dem übel berufenen Wort, das bei uns ein ganz bestimmtes Vorurteil erweckt, zurückkehrt. Etwas ganz anderes ist der psychische Vitalismus, wie ihn BunGE!) und im wesentlichen, wenn auch mehr poetisch als klar, RINDFLEISCH ?) vertritt. Es ist nicht eigentlich eine physiologische Lehre, sondern mehr eine philosophische, die der richtigen Erkenntnis von der Unzulängligkeit des Materialismus entspringt und sich in be- dauerlicher Weise des äußerst ungeeigneten Namens „Vitalismus“ und „Neovitalismus‘“ bedient. Betrachten wir z. B. den Standpunkt von BUnGE etwas genauer. Mit dem Satze: „Wenn aber die Gegner des Vitalismus behaupten, daß in den lebenden Wesen durchaus keine anderen Faktoren wirksam seien als einzig und allein die Kräfte und Stoffe der unbelebten Natur, so muß ich diese Lehre bestreiten“, spricht zwar BUNGE unzweideutig das vitalistische Glaubensbekenntnis aus. Indessen geht aus seinen weiteren Ausführungen ebenso deutlich hervor, daß sein Vitalismus in Wahrheit gar kein Vitalismus ist. In Wirklichkeit zeigt sich näm- lich, daß BunGes Vitalismus im wesentlichen ein „philosophischer Idealismus“ ist?).. Dabei begeht BunGE nur die Imkonsequenz, daß er der gesamten organischen Natur eine Psyche zuschreibt, der anorganischen dagegen nicht. Die Psyche ist ihm der Faktor, der die Leistungen der lebendigen Körperwelt gegenüber denen der leb- losen auszeichnet. BUNGE sagt, anknüpfend an das Gesetz JOHANNES MÜLLERS von den spezifischen Sinnesenergien: „Ich meine das ein- fache Gesetz, daß ein und derselbe Reiz, ein und derselbe Vorgang der Außenwelt, ein und dasselbe ‚Ding an sich‘ auf verschiedene Sinnes- nerven einwirkend stets verschiedene Empfindungen veranlaßt (‚aus- löst‘), und daß verschiedene Reize auf denselben Sinnesnerv ein- wirkend stets dieselbe Empfindung veranlassen, daß also die Vor- gänge in der Außenweft mit unseren Empfindungen und Vorstellungen nichts gemein haben, daß die Außenwelt für uns ein Buch mit sieben Siegeln, daß das einzige unserer Beobachtung und Erkenntnis unmittelbar Zugängliche die Zustände und Vorgänge des eigenen Bewußtseins sind. Diese einfache Wahrheit ist das Größte und Tiefste, was je der Menschengeist gedacht. Und diese einfache Wahrheit führt uns auch zum vollen Verständnis dessen, was das Wesen des Vitalismus aus- macht. Das Wesen des Vitalismus besteht nicht darin, daß wir uns mit einem Worte begnügen und auf das Denken verzichten. Das Wesen des Vitalismus — richtiger Idealismus — besteht darin, daß wir den allein richtigen Weg der Erkenntnis einschlagen, daß 1) BunGE: „Lehrbuch der physiologischen und pathologischen Chemie“. V. Aufl. Leipzig 1901. 2) v. RINDFLEISCH: „Neovitalismus“. Vortrag, gehalten auf der 67. Versamm- lung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Lübeck 189. 3) BUNGE hat daher in der letzten (V.) Auflage seines Lehrbuches den Aus- druck „Vitalismus“ durch Idealismus“ ersetzt. 4* 52 Erstes Kapitel. wir ausgehen von dem Bekannten, von der Innenwelt, um das Unbekannte zu erklären, die Außenwelt. Den umgekehrten und verkehrten Weg schlägt der Mechanismus ein — der nichts anderes ist als der Materialismus — er geht von dem Unbekannten aus, von der Außenwelt, um das Bekannte zu erklären, die Innenwelt.‘ Man sieht hieraus, daß BunGeEs Standpunkt in der Tat mit dem Vitalismus nichts zu tun hat. Seine Betrachtungen sind vielmehr nichts anderes als ein Ausdruck seines Strebens, aus den Schwierig- keiten und Widersprüchen, zu denen der Materialismus führt, heraus- zukommen. Leider verfällt er dabei in neue Widersprüche und Schwierigkeiten, weil er nicht bis auf die Basis der Erkenntniskritik zurückgeht. Der teleologische Vitalismus endlich ist ein wirklicher Vitalismus von altem Schrot und Korn, denn er glaubt in der Tat die Lebensäußerungen nicht anders erklären zu können, als durch das Walten von mystischen Zweckvorstellungen in der organischen Natur. Indessen gibt es unter den wissenschaftlichen Forschern wohl nur sehr wenige Anhänger dieser naiven Vorstellung, und es ist charakte- ristisch, daß ihr Standpunkt gerade von seiten der physiologischen Forschung nirgends Berücksichtigung gefunden hat. Da indessen ihre Vertreter durch ihre Darstellungsweise den Eindruck zu erwecken suchen, als ob es sich dabei tatsächlich um eine wissenschaftliche Er- kenntnis handele, so sei hier kurz darauf eingegangen. Es sind hauptsächlich die Tatsachen der Entwicklung und Regene- ration, die zu solchen vitalistischen Spekulationen geführt haben. So gelangt z. B. DrıescH!) durch folgende Betrachtung zu seinem Vitalismus. Es ist seit langer Zeit bekannt, daß bei vielen Pflanzen und niederen Tieren nach Abtragung beliebiger Substanzmassen von bestimmten Teilen eine vollständige Regeneration der verloren ge- gangenen Organe oder anderer dem Organismus eigentümlicher Organe an der Schnittstelle erfolgt. Ob man viel oder wenig an den betreffen- den Stellen abträgt, jede beliebige Schnittstelle regeneriert immer wieder normal gebaute Organe. DRIESCH zieht daraus den Schluß, daß die Elementarteile dieser Organismen oder gewisse Gewebe der- selben, obwohl sie sämtlich die gleiche ‚prospektive Potenz‘, das soll heißen, die gleichen Entwicklungsmöglichkeiten, haben, doch unter allen ihnen otfenstehenden Möglichkeiten nur diejenige wählen, deren Verwirklichung mit den Entwicklungsprodukten der anderen Ele- mentarteile zusammen ein harmonisches Organ zur Ausbildung bringt. Daraus wiederum schließt DRIEsSCH auf das Wirken einer ARISTO- TELischen „Entelechie“, also einer Zweckvorstellung in jedem Teilchen, durch die sich alle organischen Systeme von allen anorganischen Körpern fundamental unterscheiden. Der Fehler dieser ganzen Schlußfolgerung liegt in der Voraus- setzung mehrfacher Entwicklungsmöglichkeiten der einzelnen Ele- mentarteile, unter denen das einzelne Elementarteilchen eine Wahl vornehmen könnte. Vom Standpunkte des Konditionismus hätte sich DRIESCH vor diesem Fehler ohne weiteres bewahren können, denn von diesem Standpunkte aus springt der Fehler deutlich genug hervor. 1) H. DrıEscHh: „Zwei Beweise für die Autonomie der Lebensvorgänge“. In Verhandl. d. V. internat. Zoolog.-Kongresses zu Berlin 1901, Jena, Gustav Fischer, 1902. Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 53 Das einzelne Flementarteilchen hat gar nicht verschiedene Entwick- lungsmöglichkeiten, unter denen es auswählen könnte, denn seine Ent- wicklung ist eindeutig bestimmt durch die ganze Summe von Be- dingungen, unter denen es steht. Diese Bedingungen sind aber für jedes einzelne Elementarteilchen schon allein infolge seiner Lage völlig verschieden, denn jedes wird ja von einer anderen Umgebung beein- flußt. Infolgedessen können gar nicht alle Teilchen sich überein- stimmend weiter entwickeln und die Annahme einer gleichen „pro- spektiven Potenz‘ aller Teilchen ist falsch. Damit fällt aber auch die ganze weitere Schlußfolgerung einer Auswahl und Zweckvorstellung zusammen, und von „beweisen“ für den Vitalismus, wie DRIESCH geglaubt hat, ist gar nicht die Rede '). Wiederum bewahrt uns ein konsequenter Konditionismus hier vor falschen Schlußfolgerungen und ihren Fallstricken. Für die streng konditionale Betrachtungsweise gibt es nur überall eindeutig be- stimmte Gesetzmäßigkeit und diese gilt für die organische Natur ebenso wie für die anorganische. Die Physik und Chemie sind die Wissenschaften, die diese allgemeine Gesetzmäßigkeit des Seins und Geschehens in der Welt formulieren. Es ist also logisch selbst- verständlich, daß die Vorgänge in der organischen Natur auch den Gesetzen der Physik und Chemie folgen müssen. Die Physiologie ist und kann daher nie etwas anderes sein als Physik und Chemie der lebendigen Organismen. Auf der anderen Seite darf nicht vergessen werden, daß Physik und Chemie auch heute noch keine fertigen Wissenschaften sind, daß sogar ganz wesentliche Ansichten auf diesen Gebieten in Zukunft noch tiefgehende Aenderungen erfahren werden. So viel aber steht fest: niemals kann sich für die Phy- siologie ein anderes Erklärungsprinzip derLebensvor- gänge ergebenals für diePhysik und Chemie bezüglich der Vorgänge in der leblosen Natur. Die Annahme einer besonderen Lebenskraft, die etwas prinzipiell anderes wäreals die Gesetzmäßigkeit in deranorgani- schen Welt, istinjeder Form nicht nur durchaus über- flüssig, sondern auch unzulässig, denn sie beruht immer nur darauf, daßman die Analyse einer Lebens- äußerung nicht weit genug durchgeführt hat. D. Zellularphysiologie. Wie kommt es, daß ganz moderne Bestrebungen in der Natur- forschung, nachdem die berüchtigte Idee von der Existenz einer Lebenskraft jahrzehntelang für endgültig beseitigt gehalten worden ist, trotz ihrer großen Verschiedenartigkeit gerade dieses verfehmte Wort als Devise von neuem hervorsuchen? Worin liegt der Reiz, den die Worte: „Lebenskraft“, „Vitalismus“ etc. in der Neuzeit noch auf Forscher, wie HANSTEIN?, KERNER?®), BUNGE®), RınD- 1) GURWITSCH schließt sich in seinem Buch über die „Morphologie und Bio- logie der Zelle“ dem Vitalismus von DRIESCH an. Indessen zeigt dieses Buch auch sonst eine so weitgehende Naivität im kritischen Denken, daß man sich über seine vitalistische Tendenz nicht weiter wundern kann. ... 2) J. v. HANsTEIN: „Das Protoplasma als Träger der tierischen und pflanz- lichen Lebensverrichtungen“. Heidelberg 1880. 3) A. KERNER v. MARILAUN: „Pflanzenleben“. Leipzig 1887. 4) BunGE: „Lehrbuch d. physiologischen u. pathologischen Chemie“. 1. Aufl. 1887. 54 Erstes Kapitel. FLEISCH !), DRIESCH ?) und andere auszuüben vermögen? Das psycho- logische Motiv ist nicht schwer aufzudecken. Es ist dasselbe, das einst zu HALLERSs Zeiten die Idee von der Lebenskraft geboren hat, nämlich das Unvermögen, gewisse Lebensäußerungen bisher mechanisch er- klären, d. h. auf chemisch-physikalische Prinzipien zurückführen zu können. Freilich hat diese Tatsache während der verflossenen Jahr- zehnte auch bestanden, aber man hat sie mehr vernachlässigt, solange die Aufmerksamkeit durch die epochemachenden physiologischen Entdeckungen LUDWIGS, CLAUDE BERNARDS, Du Boıs-REYMOoNDSs, HELMHOLTZsS und anderer gefesselt war. Heute, wo die glänzenden Entdeckungen der großen Physiologen des 19. Jahrhunderts bis in ihre nächsten Konsequenzen hinein bereits verfolgt sind, wo die Mechanik der eröberen Leistungen des Körpers in ihren wesentlichen Zügen bekannt ist, heute, wo man die in der alten Richtung gewonnenen Ergebnisse zwar noch bis in ihre Einzelheiten zu vertiefen bemüht ist, wo man aber mit den alten Methoden keine wesentlich neuen, hervorragenden Ergebnisse mehr erzielt: heute ist man sich dieser Tatsache mehr bewußt geworden. Dazu kommt noch ein weiterer unterstützender Umstand. Die heutige Naturforschung befindet sich zum großen Teile noch immer unter dem Banne jener mächtigen Zauberformel, mit der Du Boıs- REYMmonn den ungehindert vorwärts strebenden Geist gelähmt und abgeschreckt hat, indem er der Forschung mit seinem „Ignorabimus“ eine ewige Entsagung auferlegte, deren Notwendigkeit man um so bereitwilliger anerkannte, als sie von solchem Munde und in so ge- waltig packender Form gepredigt wurde. Diese Entsagung in Ver- bindung mit der Tatsache, daß man mit den bisher gebräuchlichen Methoden gewissen Problemen des Lebens gegenüber in der Tat große Schwierigkeiten findet, dürfte psychologisch die Neigung zur Koketterie mit dem Vitalismus, sei es, daß er sein altes Gewand trägt, sei es, daß er in modernem Kleide erscheint, genügend er- klären. Indessen dem menschlichen Geiste fällt die Entsagung schwer, und selbst Du Boıs-REymonD entschließt sich nicht leicht dazu. Diese natürliche Abneigung des Denkens gegen ewige Entsagung läßt schon allein vermuten, daß der Entsagungsstandpunkt kein in der Natur des menschlichen Geistes begründeter, kein berechtigter sein dürfte, und unsere frühere Betrachtung gibt uns darin recht. Wenn aber der Entsagungsstandpunkt gegenüber den Rätseln des Lebens, den übrigens in praxi die meisten Forscher verleugnen, nicht der richtige ist, wenn die Aeußerungen des Lebens dennoch auf mecha- nischen Vorgängen beruhen, dann bleibt nur eins übrig, nämlich, daß die physiologische Forschung ihre Methoden erweitert. Wir sind im letzten Jahrzehnt des verflossenen Jahrhunderts bei einem Wendepunkt in der Physiologie angelangt, wie er deutlicher sich nicht bemerkbar machen kann. Die Wiederkehr des Vitalismus ist ein Anzeichen dafür. Wie vor großen Wendepunkten in der Geschichte bei hell- 1) RINDFLEISCH: „Aerztliche Philosophie“. Festrede zur Feier des dreihundert- undsechsten Stiftungsfestes des Königl. Julius-Maximilians-Universität. Würzburg 1888. — Derselbe: „Neovitalismus“. Vortrag, gehalten auf der 67. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Lübeck 189. 2) DrıisscH: „Zwei Beweise für die Autonomie der Lebensvorgänge“. Verhandl. d. V. internat. Zoologen-Kongr. zu Berlin. Jena, Gustav Fischer, 1902. Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 55 sehenden Leuten vorbedeutungsvolle Geister erscheinen, so taucht in unseren Tagen bei manchen Naturforschern das alte Gespenst der Lebenskraft wieder auf. Was diesen Wendepunkt in der Physiologie charakterisiert, ist nicht schwer zu sehen. Wenn wir uns fragen, was haben wir in der Physiologie erreicht, so finden wir, daß wir die groben chemischen und physikalischen Leistungen des Körpers zum größten Teil kennen gelernt haben, und zwar dank den genialen Forschungsmethoden und den gewaltigen Entdeckungen der Forscher unserer Zeit vielfach bis zu einer Genauigkeit, wie sie sonst nur die Entdeckungen der Physik und Chemie noch auszeichnet. Wir kennen die Gesetze der Herz- tätigkeit, der Blutbewegung, des Luftwechsels in den Lungen, der Muskelzuckung, der Nervenleitung; wir kennen die Leistungen der Sinnesorgane; wir wissen, in welcher Weise die Verdauungssäfte auf die Nahrung einwirken; wir kennen die spezielle anatomische Lokali- sation der Bedingungen vieler Bewußtseinsvorgänge. Aber alles das sind nur die Massenleistungen großer Teile des Körpers, sind nur die letzten Enderfolge der Lebensvorgänge. Alles, was wir jetzt noch mit den speziellen Methoden, die von den großen Meistern in der Physiologie eben für diese Zwecke geschaffen wurden, weiter er- reichen, ist im wesentlichen nur eine Vertiefung unserer bisherigen Kenntnisse bis in feinere Einzelheiten und eine Anwendung auf analoge Verhältnisse. Das beweist jeder Blick in die physiologische Literatur, das lehrt jedes neu erscheinende Heft der Archive. Daher gibt es augenblicklich auch keine dominierende Richtung in der Physiologie, wie es noch vor kurzer Zeit die physikalische Richtung war. Eine neue größere Entdeckung wird auf dem bisherigen Wege trotz eines häufig bewundernswerten Aufwandes an Scharfsinn und Kenntnissen nur selten noch gemacht, und doch sind die eigent- lichen Rätsel des Lebens noch nicht gelöst. Wir wollen nicht so weit gehen wie BunGE und behaupten, daß alle Lebensäußerungen, die bisher mechanisch erklärt wurden, überhaupt keine Lebensäußerungen sind; aber es kann dennoch kein Zweifel darüber bestehen, daß wir gerade die allgemeinen, die elementaren Lebensvorgänge bisher nicht erklären konnten. Diese Machtlosigkeit der heutigen Physiologie gegenüber den einfachsten Lebensvorgängen weist offenbar darauf hin, daß die Methoden, welche die Mechanik der groben und speziellen physiologischen Leistungen erklärt haben, so genial sie für diesen Zweck erdacht waren, uns für andere Zwecke, für die Erforschung der Lebensvorgänge in ihren tieferen und allgemeinen Be- dingungen, vielfach im Stiche lassen. Um den allgemeinen Rätseln des Lebens beizukommen, müssen wir einen ganz anderen Weg einschlagen. Aber es gibt einen Weg, und auf diesen Weg sind wir bereits deutlich genug gewiesen, als wir nach unserem Ueberblick über die Entwicklungsgeschichte der physiologischen Forschung die Ergebnisse kurz zusammenfaßten. Worauf uns die Betrachtung jeder einzelnen Funktion des Körpers immer wieder hindrängt, das ist die Zelle. In der Muskelzelle liegt das Rätsel der Herzbewegung, der Muskelkontraktion; in der Drüsenzelle liegen die Bedingungen der Sekretion; in der Epithelzelle, in der weißen Blutzelle liegt das Problem der Nahrungsauf- nahme, der Resorption, und in der Ganglienzelle 56 Erstes Kapitel. schlummern die Geheimnisse der geistigen Vorgänge sowie der Regulierung aller Körperleistungen. Längst hat uns die Zellenlehre gezeigt, daß die Zelle der Ele- mentarbaustein des lebendigen Körpers, der „Elemen- tarorganismus“ ist, indem die Lebensvorgänge ihren Sitz haben; längst haben Anatomie und Entwicklungs- geschichte, Zoologie und Botanik die Bedeutung dieser Tatsache erkannt, und längst hat das mächtige Auf- blühen dieser Wissenschaften die Fruchtbarkeit der zellularen Forschungsweise glänzend bewiesen. Nur in der Physiologie hat man erst in der jüngsten Zeit angefangen, die einfache und mit so logischer Schärfe auftretende Konsequenz zu beachten, daß, wenn die Physiologie die Erforschung der Lebensvorgänge als ihre Aufgabe betrachtet, daß sie dann die Lebensvor- eänge an dem Orte untersuchen muß, wo sie ihren Sitz haben, wo der Herd der Lebensvorgänge ist, d. i.in der Zelle. Will daher die Physiologie sich nicht bloß damit beenügen, die bisher gewonnenen Kenntnisse von den groben Leistungen des menschlichen Körpers noch weiter zu vertiefen, sondern liegt ihr daran, die ele- mentaren und allgemeinen Lebensvorgänge zu er- klären, so wird sie das nur erreichen als Zellular- physioloeie. Es könnte paradox aussehen, daß erst dreißig bis vierzig Jahre, nachdem RUDOLF VIRCHOW in seiner „Zellularpathologie“ !) das zellulare Prinzip als die Grundlage der gesamten organischen Forschung erklärt hat, eine Grundlage, auf der sich jetzt in der Tat alle unsere medizinischen Vorstellungen aufbauen, daß erst soviel später die Physiologie begonnen hat, neben einer Örganphysiologie auch eine Zellphysiologie zu entwickeln. Indessen wir dürfen darin nur den natürlichen Entwicklungsgang erblicken, der zuerst die groben Leistungen der Organe ins Auge faßt und erst allmählich tiefer und tiefer dringt, bis er beim einfachsten Bauelement, bei der Zelle, angelangt ist. Die Anatomie ist von jeher die Vorläuferin der Physiologie gewesen und muß es sein, um ihr den Weg zu ebnen. Wie die Anatomie ausgegangen ist von den großen Organen des Körpers, um erst in unserem Jahrhundert bis zu den kleinsten Elementen desselben, den Zellen, zu gelangen, mit deren feinster morphologischer Erforschung der glänzende Fortschritt der modernen Anatomie sich vollzog, so mußte auch die Physiologie beginnen mit der Erforschung der großen, augenfälligen Organfunktionen und konnte erst in unserer Zeit herantreten an die Lebensäußerungen der Zelle. Wir würden uns einer groben Undankbarkeit schuldig machen, wollten wir die eminente Bedeutung der bisherigen physiologischen Forschung unterschätzen, auf deren Schultern wir stehen, auf deren Ergebnissen wir mehr oder weniger bewußt weiterbauen. Ihre Ziele und Ideen werden uns auch weiterhin leiten, und ihre Methoden uns auch fernerhin niemals entbehrlich sein. Ferner dürfen wir bei der Beurteilung des Entwicklungsganges der 1) RUDOLF VIRCHOW: „Die Zellularpathologie in ihrer Begründung auf physio- logische und pathologische Gewebelehre“. 1. Aufl., Berlin 1858. Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 57 physiologischen Forschung ein Moment nicht vergessen, das die Ent- wicklung einer jeden Wissenschaft beherrscht, das ist das psycho- logische Moment der Mode. ‚Jede Wissenschaft hängt in ihrer Entwicklung ab von dem gewaltigen Einfluß großer Entdeckungen. Wo wir uns auch umblicken in der Geschichte der Forschung, überall finden wir, daß imponierende Entdeckungen, wie sie in der Physiologie die Arbeiten LupwıGs, CLAUDE BERNARDS, Du BoIs-REYMoNDSs, LIEBIGS, PASTEURS, KocHs, EHRLICHsS und anderer vorstellen, das Interesse von anderen Gebieten ablenken und eine eroße Anzahl von Forschern veranlassen, in derselben Richtung, mit denselben Methoden weiter zu arbeiten, besonders wenn sich die Methoden als so ungemein fruchtbar erweisen wie in den angeführten Fällen. So werden be- stimmte Arbeitsgebiete im Anschluß an epochemachende Arbeiten geradezu Mode, während für andere sich das Interesse verliert. Doch tritt im Laufe der Zeit immer ein Ausgleich ein; denn jedes Gebiet ist endlich und erschöpft sich mit der Zeit. An einem solchen Zeit- punkt sind wir augenscheinlich in der Physiologie angelangt: die Örganphysiologie hatden Höhepunktihrer Entwicklung überschritten. Auch die Zellularphysiologie wird sich im Laufe der Zeit erschöpfen, und andere Ziele und Wege werden sich in der unaufhaltsamen Entwicklung ablösen, Ziele und Wege, wie sie gerade der jedesmalige Stand des Problems erfordert. Vorläufig hat die Zellularphysiologie aber ein unabsehbares Ar- beitsfeld vor sich. Es gibt freilich Forscher, die, obwohl sie von der dringenden Notwendigkeit einer Zellularphysiologie überzeugt sind, obwohl sie einsehen, daß die Zelle als der Herd der Lebensvorgänge auch das Objekt der Forschung bilden müßte, dennoch zweifeln, ob wir den Lebensrätseln in der Zelle überhaupt beizukommen vermögen. Es kann daher billigerweise auch verlangt werden, daß ein Weg, daß Methoden gezeigt werden, mit denen sich eine Zellularphysiologie begründen läßt. Der Zweifel an der Ausführbarkeit dieses Unter- nehmens entspringt zum größten Teil einem Umstande, der, und hier muß man in der Tat sagen „leider“, die Physiologie nach JOHANNES MÜLLERs Tode charakterisiert, einem Umstande, auf den bereits auf- merksam gemacht wurde, nämlich der starken Vernachlässigung der vergleichenden Methode in der Physiologie. Noch immer hat die Physiologie diese wichtige Erbschaft JOHANNES MÜLLERS, unseres größten Meisters, und seiner Zeit nicht in vollem Umfange angetreten. Wie wenige Versuchsobjekte besitzt die heutige Physio- logie! Es sind im wesentlichen der Hund, die Katze, das Kaninchen, das Meerschweinchen und der Frosch. Wie wenig sind die vielen, herrlichen Versuchsobjekte bekannt, welche die ungeheure Formen- fülle der niederen Tiere dem offenen Auge bietet! Und gerade unter diesen Objekten finden sich solche, die in hervorragendem Maße ge- eignet sind für die zellularphysiologische Lösung der allgemeinen physiologischen Fragen. Es ist allerdings richtig, wenn man die Rätsel der Verdauung, der Resorption, der Bewegung etc. allein am Menschen oder an höheren Tieren mit der mikroskopischen Methode zu behandeln ver- sucht, wird man bei der Untersuchung der lebendigen Drüsenzelle, der Darmepithelzelle, der Muskelzelle etc. leicht auf mehr oder weniger große technische Schwierigkeiten stoßen. Dennoch haben z. B. die bewunderungswürdigen Untersuchungen von HEIDENHAIN über die 58 Erstes Kapitel. Sekretion, Lymphbildung, Resorption etc. gezeigt, welche Ergebnisse auch hier die zellularphysiologische Forschung zu erringen vermag. Solche planmäßigen histologischen Experimente, bei denen die lebendige Zelle in ihrem intakten Konnex mit dem Körper unter bestimmte Bedingungen gesetzt und das Endergebnis dann am plötzlich getöteten Tiere untersucht wird, so daß sich daraus Schlüsse auf die Vorgänge während des Lebens unter den betreffenden Bedingungen ergeben, werden ohne Zweifel noch viele bedeutungsvolle Früchte zeitigen. Allein die mikroskopische Methode ist nicht die einzige Methode der zellularphysiologischen Forschung. Verhältnismäßig viel günstiger z. B. liegen bei den Gewebezellen die Bedingungen für die chemischen Untersuchungsmethoden, mit denen die Z ellularphy siologie, wenigstens in manchen Fällen, in der Lage ist, Stoffwechseluntersuchungen an großen lebendigen Zellkomplexen, z. B. den Muskeln, auszuführen und daraus Schlüsse auf das Leben der einzelnen Zellen zu gewinnen. In der Tat verdanken wir auch gerade der Gewebechemie ganz wesent- liche Aufschlüsse über die Verhältnisse des Stoffwechsels in der Zelle. Selbst die Vorgänge in den Zellen des Nervensystems sind in neuester Zeit mittels der Methode der Durchspülung mit geeigneten Flüssig- keiten vom Arteriensystem her von MAx VERWORN, H. von BAEYER, WINTERSTEIN, BAGLIONI, BONDY, LiPpscHÜTz u. a. experimentell studiert worden. Freilich liegt es in der Natur der Sache, daß im tierischen Körper nur wenig Gelegenheit geboten ist, reine Gewebe, d. h. Komplexe von gleichartigen Zellen als Untersuchungsobjekte zu benutzen, und daß die Deutung der Ergebnisse mit der morphologischen Komplikation des Objekts an Unsicherheit zunimmt. Auch sind die Untersuchungen an Gewebezellen dadurch beschränkt, daß die Gewebe wenigstens der Warmblüter manchen Methoden während des intakten Lebens große Hindernisse in den Weg stellen. In dieser Hinsicht bieten bedeutend geringere Schwierigkeiten die freilebenden Zellen des vielzelligen Organismus, z. B. die weißen Blutkörperchen, und so kommt es denn auch, daß wir gerade über die Lebensäußerungen der Leukocyten, besonders durch die Arbeiten von METSCHNIKOFF, LEBER, MASSART, BUCHNER und vielen anderen in neuerer Zeit die eingehendsten Erfahrungen gewonnen haben. Stellt man sich aber auf den vergleichend-physiologi- schen Standpunkt, den JOHANNES MÜLLER stets mit Energie vertrat, so eröffnet sich ein unabsehbar weites Arbeitsgebiet für zellular- physiologische Untersuchungen. Die vergleichende Betrachtung zeigt zunächst eine Tatsache von fundamentaler Wichtigkeit, daß nämlich gewisse elementare Lebensvorgänge in jeder Zelle zu finden sind, sei sie eine Zelle aus irgend einem Gewebe der höheren Tiere, sei sie aus dem Gewebe der niederen Tiere, sei sie aus dem Gewebe der Pflanzen, oder sei sie schließlich eine freilebende Zelle, ein selbständiger einzelliger Organismus. Jede Zelle zeigt diese allgemeinen Lebensvorgänge in ihrer individuellen Form. Mit dieser Erfahrung hat es die Forschung nur nötig, für jeden speziellen Ver- suchszweck aus der Fülle der Formen die geeignetsten Objekte aus- zuwählen, und diese drängen sich bei einiger Kenntnis der Tier- und Pflanzenwelt dem Experimentator förmlich auf. So ist es nicht mehr nötig, sich ängstlich allein an die Gewebezellen der höheren Wirbel- tiere anzuklammern, die man z. B. zu mikroskopischen Experimenten lebendig und unter normalen Lebensbedingungen nur in seltenen Aus- PEN VER Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 59 nahmefällen benutzen kann, die, sobald man sie aus dem Gewebe isoliert, fast immer schnell absterben oder Reaktionen geben, die zu falschen Schlüssen und Irrtümern führen können. Viel günstiger sind in dieser Beziehung schon die Gewebezellen mancher wirbelloser, kaltblütiger Tiere oder der Pflanzen, die man eher unter annähernd normalen Bedingungen untersuchen kann; doch auch sie halten längere Versuchsreihen häufig nicht aus. Aber hier bieten sich uns als außer- ordentlich günstige Objekte für zellularphysiologische Zwecke die freilebenden einzelligen Organismen, die Protisten. Sie sind förmlich von der Natur für den Physiologen geschaffen, denn sie haben außer ihrer großen Resistenzfähigkeit noch den unschätzbaren Vorteil, daß sie Organismen sind, welche den ersten und einfachsten Lebensformen, die einst die Erde be- wohnten, von allen jetzt lebenden Organismen noch am nächsten stehen und daher manche Lebensäußerungen, die bei den Zellen des Zellenstaates sich durch einseitige Anpassung zu großer Komplikation entwickelt haben, noch in einfacherer und ursprünglicherer Form er- kennen lassen. Man hat freilich die Behauptung aufgestellt, daß gerade umge- kehrt diejenigen Zellformen, die an eine ganz spezielle Funktion im Zellenstaate der höheren Tiere angepaßt sind, auch günstigere Objekte für die Erforschung der betreffenden Lebensäußerung liefern müßten als die einzelligen Organismen, an denen wir die analogen Lebens- äußerungen sehen. So hat man z. B. mit Vorliebe gesagt: für die Erforschung der Kontraktionsbewegungen sei die quergestreifte Muskel- zelle entschieden geeigneter als die Amöbenzelle, in der die Aeuße- rungen des Lebens noch ungetrennt sämtlich an demselben Substrat vereinigt wären. Allein so einleuchtend diese Behauptung auf den ersten Blick scheinen mag, so wenig zutreffend erweist sie sich doch bei genauerer Betrachtung. Es ist zunächst ein großer Irrtum, wenn man stillschweigend annimmt, daß nur bei den einzelligen Organis- men die verschiedenen Aeußerungen des Lebens in einer Zelle un- getrennt vereinigt wären. (renau dasselbe gilt von jeder Gewebezelle, mag sie noch so sehr eine bestimmte Leistung für die äußerliche Be- obachtung in den Vordergrund treten lassen. Jede Zelle, welcher Art sie auch sei, versieht alle elementaren Funktionen des Lebens. Ohne sich zu ernähren, ohne zu atmen, ohne Stoffe auszuscheiden, ohne Energie umzusetzen etc. kann die Muskelzelle ebensowenig ihre Bewegungen ausführen wie die Amöbe. Es gibt überhaupt keine Zelle, die nur das Eine täte, denn es liegt in der Natur des Lebens- prozesses, daß er nach verschiedenen Seiten hin zum Ausdruck kommt. Daher ist es direkt falsch, das Zustandekommen des Kontraktions- aktes in der Muskelzelle für etwas Einfacheres zu halten als die Ent- stehung der Kontraktionsbewegung in der Amöbenzelle. Ferner aber lehrt jede auch nur oberflächliche mikroskopische Betrachtung, daß die Kontraktionsbewegung in der quergestreiften Muskelzelle an ein schon morphologisch viel komplizierteres Substrat gebunden ist als in der Amöbe. Die Differenzierung verschiedenartiger Bestandteile in der Muskelzelle, über deren Bedeutung wir zum Teil noch gar keine Vorstellung haben, ist geradezu eine staunenswerte gegenüber der nackten Amöbe mit ihrem einfachen Zellleib. Im übrigen hat auch die Geschichte der Forschung zur Genüge gezeigt, daß wir trotz der erdrückenden Fälle von Arbeit, die auf die Erforschung der Kontrak- 60 Erstes Kapitel. tionsbewegungen des Muskels seit Jahrhunderten verwendet worden ist, doch bisher in der Lösung des Problems kaum über Vermutungen alleemeinster Art hinausgekommen sind, während wir über den Kon- traktions- und Expansionsvorgang bei der Amöbe schon heute ziem- lich eingehende Kenntnis besitzen. Es ist also nicht bloß gerecht- fertigt, sondern sogar geboten, bei der Erforschung des Kontraktions- problems die einfacheren Formen der kontraktilen Substanzen als wichtiges Forschungsobjekt heranzuziehen, und die analoge Forderung gilt für die Untersuchung aller anderen Probleme. Freilich wird man für die Erforschung einer allgemeinen Lebensäußerung auch unter den einzelligen Organismen stets solche Objekte wählen müssen, bei denen sie besonders deutlich hervortritt. Man wird für die Unter- suchung der Sekretion Zellformen wählen, bei denen der Sekretions- akt der Untersuchung leicht zugänglich ist, ebenso wie man für das Studium der Kontraktionsbewegungen auch nur Objekte nehmen wird, an denen Kontraktionsbewegungen direkt sichtbar sind. Ferner wird es notwendig sein, die Lebensäußerungen an verschiedenartigen Zellformen vergleichend zu behandeln, denn nur eine vergleichende Zellularphysiologie ist imstande, das Spezielle und Unwesentliche vom Alleemeinen und Wesentlichen zu sondern. Daher wäre es verkehrt, die Untersuchung der Gewebezellen über den einzelligen Organismen zu vernachlässigen. Es werden sich nicht selten Gelegenheiten bieten, wo die Gewebezellen oder ganze Gewebemassen von Pflanzen oder Tieren aus dieser oder jener Rücksicht den Vorzug verdienen, ja, wo es sogar selbstverständ- lich ist, Gewebezellen als Objekte zu verwerten, wie z. B. bei der ganzen großen Masse von speziellen Problemen der Physiologie, die überhaupt nur an eine bestimmte Zellform geknüpft sind. Eine Einseitigkeit, ein Schematisieren, eine Aufstellung allgemeiner Regeln wäre hier wenig am Platze. Die Wahl des Objekts wird in jedem einzelnen Falle ganz allein vom gegebenen Problem bestimmt werden. Nur der eine Punkt ist bei allen diesen Untersuchungen stets im Auge zu behalten: die Erforschung der Zelle. Die Morphologie, die Vorläuferin aller Physiologie, hat auch hier der physiologischen Untersuchung den Weg bereits geebnet. Wir kennen heute den Bau der Zellen, seien sie freilebend, seien sie zu (seweben verbunden, bis in äußerst feine Einzelheiten hinein, und manchen wichtigen Aufschluß, manche wertvolle Anregung betreffs der Lebensäußerungen besonders der Gewebezellen, wie der Zellen des Zentralnervensystems, der Drüsen, der Muskeln etc. haben wir gerade der histologischen Forschung zu verdanken. Um die Anwendung experimentell-physiologischer Methoden an der Zelle brauchen wir nicht verlegen zu sein, denn hier finden sich für jeden Zweck unter der erdrückenden Mannigfaltigkeit der Formen immer gleich mehrere geeignete Versuchsobjekte, auf die sich die verschiedensten speziellen Methoden vorzüglich anwenden lassen. Wir können, um mit der einfachsten Methode zu beginnen, bei der freilebenden und unter Umständen auch bei der Gewebezelle die Methode der einfachen mikroskopischen Beobachtung der Lebensäußerungen in der bequemsten Weise anwenden. Die bloße Beobachtung hat denn auch dazu geführt, daß wir die sicht- baren Lebensäußerungen der Zelle ziemlich genau kennen gelernt Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. 61 und zum Teil sehr eingehend untersucht haben. Unter den ersten Errungenschaften dieser einfachen Methode seien nur die äußerst wertvollen Erfahrungen über die feineren und feinsten Verhältnisse bei der Befruchtung, Teilung und Fortpflanzung erwähnt, welche FLEMMING, BÜTSCHLI, VAN BENEDEN, die Brüder HERTWIG, STRAS- BURGER, BOVERI, HEIDENHAIN, RHUMBLER, RABL, HAECKER, WILSON, MORGAN, LOEB, MATHEWS, DELAGE, GODLEWSKI und viele andere teils an lebendigen Zellen, teils an Zellen, die in bestimmten Lebens- zuständen fixiert waren, in unserer Zeit gemacht haben. Wir können aber auch unter dem Mikroskop vivisektorische Operationen an der Zelle ausführen in ganz derselben Ausdehnung und mit größerer methodischer Genauigkeit, als wir es makroskopisch an höheren Tieren tun. Mehrere Forscher, wie GRUBER, BALBIANI, MAX VERWORN, HOFER u. a., haben bereits diesen operativen Weg mit eroßem Erfolge betreten, und eine lange Reihe von Arbeiten hat zur (senüge bewiesen, welche Fruchtbarkeit für die Behandlung allgemein physiologischer Probleme gerade diese zellular-vivisektorische Ope- rationsmethode zu entfalten vermag. Mit dieser vivisektorischen Me- thode führten auch Roux, CHABRY, die Brüder HERTWIG, DRIESCH u. a. ihre ausgezeichneten experimentellen Untersuchungen über die Entwicklung der Tiere aus. Wir können ferner die umfassendsten Versuche über die Wir- kungen der verschiedenen Reizqualitäten auf die Lebens- äußerungen der Zelle oder verschiedener Zellformen anstellen, und gerade auf diesem Gebiet ist bereits ein umfangreiches, fortdauernd sich mehrendes Tatsachenmaterial gesammelt worden. Eine große Anzahl von Untersuchungen an einzelligen Organismen hat gezeigt, daß gerade die Reizwirkungen, die nach Anwendung von chemischen, mechanischen, thermischen, photischen, galvanischen Reizen an der Zelle auftreten, für die Erkenntnis der Lebensvoreänge die aller- größte Tragweite haben. Es ist durch diese Versuche in den letzten Jahren möglich geworden, mehr und mehr Klarheit über die allge- meinen Gesetze der Erregung und Lähmung der Lebensprozesse und ihre Folgen zu verbreiten und zugleich einen tieferen Einblick in die Natur der Lebensvorgänge selbst zu gewinnen. Wir Können schließlich den Lebensäußerungen der Zelle che- misch nahetreten, und zwar mit makrochemischen sowohl wie mit mikrochemischen Methoden. Große Massen von einzelligen Organismen, wie Hefezellen, Leukocyten, Spermatozoen, und nicht minder ganze Verbände von Zellen, wie die Gewebe, haben bereits für die makro- chemische Untersuchung ausgezeichnete Objekte geliefert. Wir ver- danken diesen Untersuchungen unsere wichtigsten Kenntnisse über die chemische Zusammensetzung und den Stoffwechsel der Zelle. Aber auch für die mikrochemische Untersuchung finden wir eine Fülle von günstigen Versuchsobjekten, wenn auch in dieser Beziehung bisher nur der allererste Anfang der Forschung gemacht worden ist, da die mikroskopischen Methoden der Chemie noch wenig entwickelt sind. Immerhin haben bereits die Arbeiten von MIESCHER, KOSSEL, LILIEN- FELD, LOEw und BOKORNY, ZACHARIAS, SCHWARZ, LÖWITT, MANN und anderen bewiesen, daß die mikrochemische Untersuchung der Zelle eine sehr aussichtsreiche Zukunft vor sich hat. Indessen es ist überflüssig, einzelne Methoden aufzuzählen, die sich auf zellularphysiologischem Boden anwenden lassen. Es sind eben 62 Erstes Kapitel. Von den Zielen und Wegen der physiologischen Forschung. alle Methoden brauchbar, die gerade der augenblickliche spezielle Versuchszweck erfordert. Wir müssen in der Physiologie immer wieder und wieder zu den Gesichtspunkten zurückkehren, die einst die Forschung unseres großen Meisters JOHANNES MÜLLER so fruchtbar gestaltet haben. JOHANNES MÜLLER vertrat sein ganzes Leben hindurch praktisch und theoretisch die Ansicht, daß es nicht Eine physiologische Methode gäbe, sondern daß jede Methode recht sei, die zum Ziele führe. Er wählte stets die Methode nach dem jedesmaligen Problem, nie das Problem nach der Methode, wie es heute vielfach geschieht. Nicht die Methode ist einheitlich in der Physiologie, sondern das Problem. Zur Lösung dieses Problems muß der Physiologe chemische und physika- lische, anatomische und entwicklungsgeschichtliche, zoologische und botanische, mathematische und philo- sophische Untersuchungsmethoden in gleicher Weise anwenden, je nachdem es der spezielleZweck erfordert. Aber alle sollen sie zu einem Ziele führen, zur Erforschung des Lebens. Zweites Kapitel. Von der lebendigen Substanz. I. Die Zusammensetzung der lebendigen Substanz. A. Die Individualisation der lebendigen Substanz. 1. Die Zelle als Elementarorganismus. 2. Allgemeine und spezielle Zellbestandteile. 2. Mehrkernige Zellen und Syncytien. B. Die iR 2: morphologische Beschaffenheit der lebendigen Substanz. Form und Größe der Zelle. Das Protoplasma. a) Die geformten Bestandteile. b) Die Grundsubstanz des Protoplasmas. . Der Zellkern oder Nucleus. a) Die Gestalt des Zellkerns. b) Die Substanzen des Zellkerns. c) Die Struktur der Kernsubstanzen. chemischen Eigenschaften der lebendigen Substanz. Die organischen Elemente. . Die chemischen Verbindungen der Zelle. a) Die Eiweißkörper. b) Die Kohlehydrate. c) Die Fette. d) Die anorganischen Bestandteile der lebendigen Substanz. e) Die Verteilung der Stoffe auf Protoplasma und Kern. physikalischen Eigenschaften der lebendigen Substanz. . Die Konsistenz der lebendigen Substanz. . Membranfunktionen und osmotische Eigenschaften der Zelle. . Das spezifische Gewicht der lebendigen Substanz. . Die optischen Eigenschaften der lebendigen Substanz. II. Lebendige und leblose Substanz. A. Organismen und anorganische Körper. 1: 2. 3. 4. Morphologische Unterschiede. Genetische Unterschiede. Physikalische Unterschiede. Chemische Unterschiede. B. Lebendige und leblose Organismen. 1; 2, Leben und Scheintod. Leben und Tod. 64 Zweites Kapitel. GALEN, der Vater der Physiologie, hatte bereits klar und deut- lich die Notwendigkeit erkannt, daß für die Erklärung der Lebens- äußerungen irgend eines Organs die genaue Kenntnis seiner ana- tomischen Verhältnisse unbedingte Voraussetzung sei, und diese wichtige Forderung hat die Physiologie bis auf den heutigen Tag zu ihrem größten Vorteil aufrecht erhalten. Jede physiologische Untersuchung muß als erste unentbehrliche Vorbedingung die stoftliche Kenntnis des Substrats betrachten, dessen Lebensäußerungen sie ins Auge faßt. Das gilt für die allgemeine Physiologie nicht minder wie für die spezielle. Es wird demnach die Betrachtung der lebendigen Substanz, d.h. ihrer Zusammensetzung und ihrer Unterschiede gegen- über der leblosen Substanz den Ausgangspunkt der allgemeinen Physiologie bilden müssen. I. Die Zusammensetzung der lebendigen Substanz. Der Versuch, das geheimnisvolle Dunkel zu lüften, das die Mysterien der lebendigen Substanz umhüllt, der Substanz, die von selbst sich ernährt und atmet, sich bewegt und wächst, sich fortpflanzt und entwickelt, hat von alters her einen eigenen Reiz auf die Ge- müter erübelnder Denker ausgeübt. Im naiver Weise glaubte das Altertum aus der Vermischung gewisser Stoffe die Substanz der lebendigen Körper erklären zu können. So stellte sich HIPPOKRATES vor, der normale menschliche Körper bestehe aus Blut, Schleim und Galle, die in bestimmten Verhältnissen miteinander gemischt seien. Das Mittelalter, das die Rätsel der Natur sämtlich mit Hilfe der vielmächtigen Alchymie zu lösen suchte, glaubte dem Geheimnis der lebendigen Substanz schon auf der Spur zu sein. Wie tief man in diesem Wahn befangen war, zeigen die vielen Versuche des Mittel- alters, lebendige Substanz künstlich in der schwarzen Küche darzu- stellen. Die gespannte Erwartung, mit der im phantastischen Halb- dunkel seines Laboratoriums, umgeben von seltsamen Adepten und abenteuerlichen Apparaten, der mittelalterliche Alchymist den Homun- culus jeden Augenblick fertig der Retorte oder dem Schmelztiegel entsteigen zu sehen hoffte, stellt einen Zug vor, der nicht wenig charakteristisch ist für die Entwicklungsstufe, auf der die Wissen- schaft in jenen Jahrhunderten stand. Aber wie stolz wir auch auf unsere moderne Wissenschaft zu sein pflegen, wir haben nicht das Recht, mit Spott auf diese Versuche des Mittelalters herabzu- blicken, wenn wir daran denken, daß seit jener Zeit bis in unser Jahrhundert hinein die Versuche fortgedauert haben, zwar nicht den Menschen selbst, den Homunculus, wohl aber die einfachsten Formen lebendiger Substanz künstlich herzustellen. Und doch gleichen all diese Versuche nur dem Unternehmen eines Mannes, der ein kompliziertes Uhrwerk zusammenzusetzen versucht, ohne die dazu not- wendigen Teile zu kennen. In der Tat, wie einfach auch das Problem der künstlichen Darstellung lebendiger Substanz dem Mittelalter noch erschien, der Fortschritt nüchternen Denkens und kritischer Forschung hat immer mehr und mehr gezeigt, wie weit wir vorläufig sogar noch von der Kenntnis ihrer feineren Zusammensetzung entfernt sind. Wie sollte es aber möglich sein, eine Substanz chemisch darzustellen, deren chemische Zusammensetzung gar nicht bekannt ist! Das Augenmerk Von der lebendigen Substanz. 6 der modernen Forschung hat sich daher mehr und mehr darauf ge- richtet, die Zusammensetzung der lebendigen Substanz zu erforschen, und die Erfolge sind nicht ausgeblieben. Die moderne Forschung hat tiefe Blicke getan in die Formbildung, in die physi- kalischen Verhältnisse, in die feinere Struktur und in die chemische Konstitution der lebendigen Substanz, und unermüdliche Geister sind beschäftigt, den Schleier, der diese Rätsel umhüllt, noch weiter zu lüften. A. Die Individualisation der lebendigen Substanz. 1. Die Zelle als Elementarorganismus. Werfen wir einen Blick auf die organische Welt, welche die Erd- oberfläche bewohnt, so finden wir, daß die lebendige Substanz nicht eine einzige zusammenhängende Masse bildet, sondern daß sie in einzelne organische Individuen geschieden ist. Der Begriff des organischen Individuums ist nicht ganz leicht zu definieren, und viele Forscher, in neuerer Zeit besonders HAECKEL!), haben sich schon bemüht, ihm eine allgemein gültige Form zu geben. Er ent- stand in alter Zeit durch Abstraktion vom Menschen und den höheren Tieren, die als einheitliche, voneinander unabhängige, lebendige Wesen erschienen. Aber wie bei allen jenen alten Begriffen, deren Bildung einem beschränkten Kreise von Erfahrungen entsprungen ist, und deren Inhalt sich später mehr und mehr erweiterte, so ist auch bei dem Begriff des Individuums die ursprüngliche Form zu eng ge- worden und bedarf einer Erweiterung, die den Begriff auf einen größeren Kreis von Erfahrungen anwendbar macht. Die ursprüngliche Vorstellung, die das Wesen des Individual- begriffs ausmachte, war die Vorstellung der Unteilbarkeit. Danach wäre ein Individuum ein einheitliches Ganzes, das sich nicht weiter teilen läßt, ohne seine charakteristischen Eigenschaften zu verlieren. Solange man nur den Menschen, die Wirbeltiere und allenfalls noch die Insekten dabei im Auge hatte, stieß in der Tat diese Definition auf keine Schwierigkeiten, denn ein Wirbeltier oder Insekt läßt sich nicht durch Teilung in mehrere selbständige Individuen zerlegen. In- dessen wenn man etwas tiefer in der Tierreihe hinabsteigt, oder wenn man den Begriff auch auf das Pflanzenreich anwenden will, machen sich bald Schwierigkeiten bemerkbar. Es gibt im Süßwasser unserer Teiche und Seen einen eigentüm- lichen Vertreter der großen Familie der Nesseltiere, den Süßwasser- polypen Hydra. Dieser kleine, ungefähr zentimeterlange Polyp mit seinem dünnen, schlauchförmigen Körper, an dem sich mehrere lange fadenförmige Fangarme befinden (Fig. 2 A), hat schon bald nach der Entdeckung des Mikroskops die Aufmerksamkeit der Be- obachter zu fesseln begonnen. Man fand nämlich, daß dieses merk- würdige Wesen sich durch einen queren Schnitt in zwei Hälften zer- legen läßt, deren jede sich wieder zu einem vollständigen, nur ent- sprechend kleineren Individuum umformt. Die vordere armtragende Hälfte schließt einfach die Schnittwunde und setzt sich wieder mit dem hinteren Ende fest, die hintere Hälfte dagegen läßt alsbald von den Wundrändern neue Fangarme hervorsprossen, und in kurzer Zeit 1) ERNST HAECKEL: „Generelle Morphologie der Organismen“. Berlin 1866. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 9 66 Zweites Kapitel. sind beide Teilstücke wieder vollständige Hydren. Ja, man kann sogar die einzelnen Teilstücke noch weiter teilen und schließlich das ganze Tier in eine große Anzahl kleiner Stücke zerlegen, deren jedes sich wieder zu einem vollständigen Individuum umbildet. In diesem Beispiel ist also das einheitliche Individuum in zwei oder mehrere Individuen geteilt worden. Wäre daher die Unteilbarkeit allein maß- gebend für die Entscheidung, ob man ein Individuum vor sich hat oder nicht, dann wäre die Hydra kein Individuum, denn sie läßt sich teilen, ohne daß die Teilstücke die charakteristischen Eigentüm- lichkeiten des ursprünglichen Tieres verlieren, und dasselbe ist der Fall bei jedem Baum, bei jedem Strauch. Das Moment der Unteilbarkeit ist also nicht aufrecht zu erhalten für die Definition des Individualbegriffs, sondern nur das Moment der Ungeteiltheit, der Einheit. Solange die Hydra ungeteilt war, bestand sie als Individuum, als Ganzes, als Ungeteiltes, Fig. 2. Hydra fusca, Süßwasserpolyp. 4 bei * quer durchgeschnitten, B und € die beiden Teilstücke haben sich zu zwei vollständigen Individuen regeneriert. als Einheit. Durch die Teilung ging zwar das ursprüngliche Indivi- duum zugrunde, aber es entstanden zwei neue Einheiten daraus, die, solange sie nicht selbst weiter zerschnitten werden, wirklich voll- kommene Individuen vorstellen. Nur das Moment der Einheit kann also maßgebend sein für die Definition des Individualbegriffs, wenn sie in einer so allgemeinen Fassung gegeben werden soll, daß sie für alle speziellen Fälle gültig bleibt. Ein organisches Individuum wäre demnach nichts als eine einheitliche Masse lebendiger Substanz. Aber in dieser allgemeinsten Form ist die Definition wieder zu weit, denn danach wäre auch jeder kleine Fetzen lebendiger Substanz. den wir von einer lebendigen Zelle unter dem Mikroskop abgeschnitten haben, noch ein Individuum. Wir werden uns indessen nicht ent- schließen können, einen solchen Fetzen als Individuum zu betrachten, wenn wir sehen, wie jedes Stückchen lebendiger Substanz, das nicht mehr den Wert einer Zelle hat, stets nach einiger Zeit unfehlbar zu- erunde geht. Es gehört also zum Begriff des Individuums noch das Moment der Selbsterhaltungsfähigkeit. Somit können wir sagen: ein Von der lebendigen Substanz. 67 organisches Individuum ist eine einheitliche Masse lebendiger Substanz, die unter bestimmten äußeren Lebensbedingungen selbsterhaltungsfähig ist. Diese Definition findet zunächst Anwendung auf alle einzelnen, freilebenden Organismen, die räumlich voneinander getrennt und nicht künstlich zerteilt sind, also auf alle Organismen in der Form, wie sie in der Natur vorkommen; aber die Definition umfaßt noch mehr als nur räumlich getrennte Organismen, sie umfaßt auch zusammen- gehörige Gruppen von einzelnen Organismen, deren jeder vom anderen zwar räumlich getrennt sein kann, die aber alle zusammen eine Einheit bilden. Ein Beispiel dafür ist der Ameisenhaufen. Der Ameisenhaufen stellt ein Individuum vor, insofern er ein einheitliches Ganzes ist, in dem die einzelnen Teile, wie die Glieder eines Orga- nismus, einheitlich zusammen arbeiten. Der Ameisenstaat besteht Fig. 3. Eueorallium-rubrum, Edelkoralle. « ein Korallenstock mit vielen Individuen, b ein einzelnes Individuum, stärker vergrößert. Nach HAECKEL. aber seinerseits wiederum aus lauter einzelnen Individuen, aus Männ- chen, Weibchen, Arbeiterinnen, Soldaten etc., und so sehen wir schon, daß die Individualität von sehr verschiedenem Werte sein kann. Der Ameisenstaat, selbst ein Individuum, umfaßt wieder eine große Menge von Individuen. Wir haben es hier also mit In- dividualitäten von verschiedenem Grade zu tun. Es erscheint daher zweckmäßig, diese Individualitätsgrade in der Weise zu unterscheiden, daß man die umfassendere Individuenform als ein Individuum höherer Ordnung, die sie zusammensetzenden Individuenformen als Individuen niederer Ordnung bezeichnet. Ganz ähnlich dem Verhältnis zwischen dem Ameisenstaat und der einzelnen Ameise ist das Verhältnis bei den Korallenstöcken. Hier ist der ganze Korallenstock (Fig. 3«@) ein Individuum höherer Ordnung, der einzelne Korallenpolyp (Fig. 35) aber ein Individuum niederer Ordnung; der Unterschied gegenüber dem Ameisenhaufen besteht nur darin, daß 5* 68 Zweites Kapitel. die Individuen niederer Ordnung hier substantiell untereinander im Zusammenhang stehen. Es wird zweckmäßig sein, eine Umschau in der organischen Welt danach zu halten, welche verschiedenen Grade der Individualität wir finden. Der Staat, die Kolonie ist offenbar der höchste Indi- vidualitätsgrad, denn auch eine Summe von Staaten überschreitet die Individualitätsstufe des Staates nicht als eine neue Einheit. Die nächst niedere Individualitätsstufe im Staat aber ist die einzelne Person. Sehen wir, ob auch die Person noch niedrigere Individualitätsstufen umfaßt. Schon die Korallenkolonie könnte man in gewissem Sinne als Person auffassen, die aus einzelnen Organen besteht; noch deut- licher aber wird das Verhältnis bei einer anderen Cölenteratengruppe, bei den Siphonophoren. Die Siphonophoren stellen Personen vor, die Fig. 4. Stephalia corona, eine Siphonophore. A Längsschnitt, BR äußere Ansicht, sb Schwimmblase, sg Schwimmglocken, go dGeschlechtstrauben, Ag Magenschläuche, o Hauptmagenschlauch, ? Tentakel. Sämtliche Organe sind einzelne Individuen. Nach HAECKEL. aus einer Anzahl verschiedenartig entwickelter Organe zusammen- gesetzt sind. Alle diese Organe, von denen die einen für die Be- wegung, die anderen für die Ernährung, einige für die Fortpflanzung, andere für den Schutz des ganzen Körpers entwickelt sind, gruppieren sich um eine Längsachse in regelmäßiger Anordnung herum (Fig. 4). Aber alle diese Organe sind einzelne Individuen, denn die Entwicklungs- geschichte der Siphonophoren zeigt uns einerseits, daß sie durch Knospung sämtlich aus morphologisch homologen Teilen hervorgehen, und andererseits, daß sich in bestimmten Fällen einzelne Individuen, wie z. B. die Schwimmglocken, vom Stamme loslösen und ein selb- ständiges Dasein als Medusen führen können. Wir sehen also, daß wir die Person der Siphonophoren als eine Kolonie von einzelnen Organen auffassen können, daß somit die Individualitätsstufe der Person die niedrigere Individualitätsstufe der Organe umfaßt. Suchen wir, ob es noch niedrigere Individualitätsstufen gibt als das Organ. Von der lebendigen Substanz. 69 Bei genauer Zergliederung eines Organs, etwa eines menschlichen Armes, zeigt sich, daß auch dieses noch aus verschiedenartigen Be- standteilen zusammengesetzt ist, die wir als Gewebe bezeichnen. Der Arm enthält Muskelgewebe, Nervengewebe, Knochengewebe etec.; das Charakteristikum für das Organ ist daher seine Zusammensetzung aus mehreren verschiedenen Gewebearten. Die nächst niedrigere Indivi- dualitätsstufe wäre also das Gewebe. In der Tat gibt es Organismen, die nur aus einer einzigen Gewebeform bestehen, bei denen noch keine Verschiedenheit der einzelnen Gewebebestandteile vorhanden ist. Solche freilebenden Gewebe finden wir zahlreich vertreten in der Gruppe der Algen. Eudorina elegans z.B. ist eine durchsichtige, kleine Gallertkugel, in der nebeneinander viele einzelne runde Klümpchen eingebettet liegen, die sich bei näherer Untersuchung als voneinander getrennte Teilchen lebendiger Substanz erweisen. Diese kleinsten Teilchen für sich existierender lebendiger Sub- stanz sind Zellen. In unserem Falle hat jede Zelle zwei zier- liche Geißelfäden, durch deren Bewegung die ganze maulbeer- förmige Gallertkugel im Wasser umhergetrieben wird (Fig. 5). Jede solche Geißelzelle ist ein selbständiges Individuum und lebt, wenn sie von der Gallert- kugel getrennt wird, wie das z. B. auch spontan bei der Fortpflanzung eintritt, ungestört weiter. Hier sehen wir also, x daß diesIndividualitätsstufe, des „De. "udorinn Slegans. Eine Flazel = : : laten-Kolonie. Die einzelnen Zellindividuen Gewebes. die einzelne Zelle liegen in einer gemeinsamen Gallertkugel ein- in sich birgt. Das Gewebe ist gebettet. 5 eine Kolonie von Zellen. Aber bei der Zelle sind wirauch an der niedrigsten Individualitätsstufe angelangt. Zwar finden wir, daß auch die Zelle noch zusammengesetzt ist aus verschiedenen Bestandteilen, vor allem aus einer weicheren Grundmasse, dem Protoplasma, und einem darin eingebetteten meist etwas festeren Kern, dem Zellkern ; aber wir können bei keiner Zelle diese beiden Bestandteile trennen, ohne daß sie einzeln zugrunde gingen. Eine große Anzahl von Experimenten hat gezeigt, daß kein Protoplasma ohne Zellkern und kein Zellkern ohne Protoplasma allein selbsterhaltungsfähig ist. Also bildet nach unserer Definition des Individuums keins von beiden mehr ein In- dividuum. Dem entsprechend ist auch in der ganzen Natur nirgends ein freilebender Organismus bekannt, der eine niedrigere Individualitäts- stufe repräsentierte als die Zelle. Die Zelle ist der einfachste Individualitätsgrad, die Zelle ist, wie BRÜCKE!) sagt, der „Elementarorganismus“. Scheinbar im Widerspruch mit dieser Auffassung der Zelle als 1) BRÜCKE: „Die Elementarorganismen“. Wiener Sitzungsbericht, Jahrg. 1861 XLIV, 2. Abt. 70 Zweites Kapitel. eines Individuums niedrigster Ordnung steht die Tatsache, daß die Zelle, wie durch viele Versuche in neuerer Zeit festgestellt worden ist, unter bestimmten Bedingungen doch noch künstlich geteilt werden kann in Teilstücke, die dauernd ungestört weiter leben und sich sogar noch fortpflanzen können. Zerschneidet man z. B. unter dem Mikroskop eine freilebende Infusorienzelle, etwa den zierlichen, im Süßwasser lebenden Stentor Roeselii (Fig. 6 A), der sich besonders dazu eignet, in der Weise, daß jede Hälfte ein Stück des langen stab- förmigen Zellkerns mitbekommt, so zeigt sich dieselbe Tatsache wie bei Hydra: Die beiden Teilstücke formen sich wieder zu vollständigen kleinen Stentoren um (Fig. 6 B und ©) und leben als solche in vollkommen normaler Weise weiter. Hier ist also die Zelle, das In- dividuum niedrigster Ordnung, doch noch in zwei Individuen zer- legt worden und kann sogar in noch mehr In- dividuen geteilt wer- den, wenn man die Operationen so ein- richtet, daß jedes Stück sowohl etwas Proto- plasma als auch einen Teil des Zellkerns mit- bekommt. Wir werden dieser Tatsache von fundamentaler Bedeu- tung noch öfter zu ge- denken haben. Aber im vorliegenden Falle steht sie doch nur scheinbar im Wider- spruch mit der Auf- Fig. 6. Stentor Roeselii, eine trompetenförmige In- fassung der Zelle als fusorienzelle..e A quer zerschnitten, B und € die beiden Elementar- Individu- Teilstücke haben sich zu vollständigen Stentoren regeneriert. um, denn, was wir Die helle, langgestreckte Masse im Innern bezeichnet dureh die Teilung er- rn halten haben, sind jain Wirklichkeit gar keine neuen Individualitätsstufen, sondern vollkommene Stentoren, d.h. Individuen vom Formenwert einer Zelle. Bei allen diesen Teilungen von Zellen, wo wir in den Teilstücken Protoplasma und Kern haben, sind immer die Teilstücke ebenfalls wieder Zellen; über die Zelle kommen wir dabei nicht hinaus. Teilen wir dagegen so, daß das eine Teilstück Protoplasma und Kern, das andere nur Protoplasma ohne Kern bekommt, so bleibt das erstere leben und repräsentiert eine vollständige Zelle, das letztere aber, das nicht mehr auf der Indi-. vidualitätsstufe der Zelle steht, geht unfehlbar zugrunde Die Zelle bleibt also in jedem Falle der Elementarorga- nismus. Fassen wir unsere bisherigen Betrachtungen über die Individualität zusammen, so können wir in der Organismenwelt fünf Individualitäts- stufen unterscheiden und in folgender Weise charakterisieren: Von der lebendigen Substanz. ar 1. Individuen erster Ordnung sind die Zellen. Sie repräsentieren die Elementarorganismen, die nicht mehr aus niedrigeren, für sich lebensfähigen Einheiten zusammengesetzt sind. Ein Beispiel ist das einzellige Wimper-Infusorium Stentor (Fig. 6). 2. Individuen zweiter Ordnung sind die Gewebe. Die Gewebe sind Verbände von Individuen erster Ordnung, deren jedes gleich dem anderen ist. Ein Beispiel ist die flagellate Algen- kugel Eudorina (Fig. 5). 3. Individuen dritter Ordnung sind die Organe. Die Organe sind Verbände von verschiedenen Arten Individuen zweiter Ordnung. Ein Beispiel ist die Hydra (Fig. 2), deren ganzer Körper nur aus zwei Schichten von Geweben besteht. 4. Individuen vierter Ördnung sind die Personen. Die Personen sind Verbände von verschiedenen Individuen dritter Ordnung. Ein Beispiel ist der Mensch, dessen Körper aus der Vereinigung verschiedener Organe besteht. 5. Individuen fünfter Ordnung sind die Staaten. Die Staaten sind Verbände von Individuen vierter Ordnung. Bei- spiele sind die Ameisen- und Bienenstaaten. Dieses Schema erfordert aber noch eine Bemerkung. Es zeigt zunächst, daß jedes Individuum höherer Ordnung aus einem Verband von Individuen der nächst niedrigeren Ordnung besteht. Nun sind aber die Konstituenten eines Individuums höherer Ordnung nicht immer reelle Individuen, d. h. sie sind, wenn sie aus ihrem Ver- bande getrennt werden, nicht immer für sich selbsterhaltungsfähig. Sie haben nur die Fähigkeit der Selbsterhaltung, solange sie im Ver- bande leben, sind also nur virtuelle Individuen. Nehmen wir z. B. ein Individuum vierter Ordnung, also eine Person, etwa einen Menschen, so besteht diese Person aus einzelnen Organen, also aus Teilen, die ihrem Formenwert nach Individuen dritter Ordnung gleichen. Diese Organe sind aber nur virtuelle, nicht reelle Individuen, denn aus dem Verband getrennt gehen sie zugrunde. Dasselbe kann bei Individuen aller Ordnungen der Fall sein. Auch z. B. die Zelle eines tierischen Gewebes, aus dem Verband mit ihren Schwestern getrennt, ist für sich nicht lebensfähig; sie ist also nur als virtuelles Individuum im Gewebe enthalten usf. In anderen Fällen dagegen können die Konstituenten eines Individuums höherer Ordnung auch zu reellen Individuen der nächst niederen Ordnung werden, wenn man sie aus dem Verbande trennt, wie das z. B. der Fall der Eudorina zeigt, bei der die einzelnen Zellen auch getrennt für sich lebensfähig sind. Was aus diesen Betrachtungen hervorgeht, ist die wichtige Tatsache, daß alle lebendigen Individuen, welcher Ordnung sie auch angehören mögen, in letzter InstanzentwederausZellenalselementaren Bausteinen zusammengesetzt oder selber freilebende Zellen sind. Die Zelle muß daher der Herd derjenigen Vorgänge sein, deren Ausdruck die Lebensäußerungen sind, d.h. der Sitz der Lebensvorgänge selbst. Demgegenüber ist vor einiger Zeit von ALTMANN!) der Versuch 1) ALTMANN: „Die Elementarorganismen und ihre Beziehungen zu den Zellen“. Leipzig 1890. 12 Zweites Kapitel. gemacht worden, eine noch niedrigere Individualitätsstufe nachzuweisen als die Zelle, und damit die Anschauung zu widerlegen, daß die Zellen die Elementarorganismen seien. Seit langer Zeit bereits weiß man, daß im Inhalt der Zellen weit verbreitet sich in einer homogen aus- sehenden Grundsubstanz rundliche Körnchen von verschiedener Größe finden, die als Elementarkörnchen, Granula oder Mikrosomen bezeichnet werden (Fig. 7). In manchen Fällen sind nur wenige solcher Granula in der Zelle vorhanden; in anderen Fällen ist die ganze Zelle dicht mit ihnen vollgepfropft, so daß die Grundsubstanz dazwischen fast verschwindet. Diese Granula betrachtet ALTMANN als die eigentlichen Elementarorganismen und bezeichnet sie als „Bioblasten“. Sie sollen nach ALTMANN die eigentlich lebendigen Elemente in der Zelle vor- stellen, die den Sitz der Lebensvorgänge bilden. Die Zelle selbst ist nach der Auffassung ALTMANNS dann als eine Kolonie von Bioblasten anzusehen, also nicht mehr als Elementarorganismus, sondern als Individuum höherer Ordnung. Freilich kann man den einzelnen Bioblasten, wenn er aus dem Verband mit den übrigen Bioblasten der Zelle getrennt ist, nicht mehr am Leben er- halten. Indessen gibt es nach ALTMANN auch freilebende Bioblasten in der Natur, und das sind die Bakterien. Das große Heer der Fig. 7. Leberzellen Spaltpilze oder Bakterien stellt, wie ALTMANN mit Granulis. Nach meint, nichts weiter vor als freilebende Ele- ALTMANN. mentarorganismen, die den Granulis oder Bio- blasten, welche den Zelleninhalt zusammen- setzen helfen, in bezug auf ihre Individualitätsstufe durchaus gleich- wertie sind. Vergeblich sieht man sich in den Arbeiten ALTMANNS nach einer stichhaltigen Begründung der Hyphothese um, nach der die Bioblasten die Elementarorganismen vorstellen. Dagegen ist es nicht schwer, die Unhaltbarkeit dieser Auffassung zu erkennen, so daß sie denn heute auch von der wissenschaftlichen Forschung vollkommen abge- lehnt worden ist, und der Versuch ALTMANNS, in den sogenannten Bioblasten eine noch niedrigere Individualitätsstufe nachzuweisen als die Zelle, für völlig mißlungen angesehen werden muß. Als die beiden wichtigsten Momente, welche die Granulahypothese unhaltbar erscheinen lassen, sind folgende zu betrachten. Einerseits faßt ALTMANN unter dem Begriff des Granulums die allerverschiedensten Elemente des Zellinhalts zusammen, Elemente, die schlechterdings überhaupt nicht miteinander homologisiert werden können. Zwar hat ALTMANN später die Auffassung, daß die Chlorophylikörper, die den Pflanzenzellen die grüne Farbe verleihen, ebenfalls Bioblasten seien, fallen gelassen, aber immerhin umfaßt der Begrift noch jetzt die heterogensten Dinge. So wurden von ALTMANN als Granula nicht nur die feinen grauen Körnchen betrachtet, die weit verbreitet in den verschiedensten freilebenden und Gewebezellen vorkommen und selbst wieder die allerverschiedenste chemische Zusammensetzung und Be- deutung für das Zellleben haben, sondern auch die feinen Farbstoff- körnchen der Pigmentzellen, die den Geweben, in denen sie liegen, ihre charakteristische Farbe verleihen, ferner die feinen, plättchen- artigen Gebilde, die aus dem Dotter der Eier bekannt sind, und schließlich sogar die kleinen Oeltröpfchen und Fettkügelchen, die sich Von der lebendigen Substanz. 13 in den verschiedenen Gewebezellen, besonders in der Leber und den Zellen des Unterhautbindegewebes vorfinden. Unter den Granulis im ALTMANNschen Sinne werden aufgenommene Nahrungsstoffe und Stoffwechselprodukte der Zelle einträchtig zusammengefaßt und als Elementarorganismen betrachtet, also Stoffe, welche die allerver- schiedenste Rolle im Zellleben spielen oder gespielt haben. Anderer- seits aber weist ALTMANN für keine einzige aller dieser Granulaformen nach, daß sie die allgemeinen Lebensäußerungen zeigt, eine Forderung, die man doch erfüllt sehen muß, um die Bezeichnung „Elementar- organismus“ zulässig finden zu können. Uebrigens dürfte wohl niemand einen Versuch, diesen Nachweis zu führen, für aussichtsvoll halten, besonders wenn es sich um einen in der Zelle liegenden Oeltropfen oder ein Pigmentkorn handelt. Nun glaubt zwar ALTMANN, in den Bakterien freilebende Granula erblicken zu müssen, aber hierfür fehlt nicht nur jeder Anhaltspunkt, sondern wir wissen auch heute, daß die Bakterien vollkommene Zellen sind, also Organismen, die ALTMANN als Kolonien von Bioblasten betrachtet. Diese Bedenken genügen schon, um die Auffassung der Granula als Elementarorganismen umzustoßen. Es erscheint überhaupt durchaus unzulässig, Gebilde als Elementarorga- nismen zu bezeichnen, für die wir keine analogen frei- lebenden Organismen kennen. Wenn wir das tun, dann fällt der Begriff des organischen Individuums vollständig in sich zusammen, denn wir haben dann keine Berechtigung, bei irgendeinem Teil der lebendigen Substanz halt zu machen, sondern können mit der gleichen Berechtigung schließlich ein Sauerstoff- oder Kohlenstoff- oder sonst irgendein Atom, das gerade am Lebensvorgang beteiligt ist, als Elementarorganismus bezeichnen. Dann gäbe es ebensoviel ver- schiedene Arten von Elementarorganismen wie organische Elemente. Eine andere Frage ist die, was wir als einen Organismus, als ein organisches Individuum bezeichnen wollen, eine andere diejenige, was wir überhaupt lebendig nennen wollen. Ueber die letztere Frage werden wir uns später auseinander zu setzen haben; bezüglich der ersteren aber müssen wir, wenn uns der Begriff des organischen Individuums nicht zwischen den Fingern zerfließen soll, unbedingt an der Forderung festhalten, daß zum Organismus die Summe aller der Lebensäußerungen gehört, welche die Selbsterhaltung repräsentieren, und dieser Bedingung entspricht als niedrigster Organismus nur die Zelle. Die Zelle bleibt daher dasIndividuumniedrigster Ordnung — die Zelle ist der Elementarorganismus. 2. Allgemeine und spezielle Zellbestandteile. Der Gedanke, daß die Summe der Vorgänge, welche das Leben in seiner bunten Mannigfaltigkeit bilden, in allen ihren wesentlichen Elementen schon an das mikroskopisch winzige Klümpchen lebendiger Substanz gebunden ist, das die einzelne Zelle vorstellt, regt so un- widerstehlich den Drang zum tieferen Nachforschen in der Zelle an, daß seit jener Zeit, als man die Zellen zuerst in ihrer Bedeutung als Elementarorganismen erkannte, bis jetzt sich ein unzählbares Heer von Forschern mit dem eingehenderen Studium der Zelle und ihrer Bestandteile beschäftigt hat, ein Umstand, dem wir es verdanken, daß unsere morphologische Kenntnis der Zelle von Jahr zu Jahr er- 74 Zweites Kapitel. weitert und der Begriff der Zelle immer mehr und mehr präzisiert worden ist. Der Begriff dessen, was man zum Wesen der Zelle zu rechnen habe, ist nicht immer derselbe gewesen. Die Entstehung des Zell- begriffs stammt, wie wir sahen!), aus der mikroskopischen Beob- achtung der Pflanzen. Die Mikroskopiker des 17. und 18. Jahr- hunderts fanden, daß die Pflanzengewebe neben langen röhrenförmigen Gebilden auch kleine, kammerartig durch Wände voneinander abge- grenzte Elemente enthielten, die eine Flüssigkeit beherbergten. Diese kleinen Gebilde bekamen wegen ihrer Aehnlichkeit mit den großen Zellen der Bienenwaben den Namen „Zellen“. So stellte man sich zu jener Zeit die Zelle als ein einfaches, von einer Wand oder Membran umschlossenes Flüssigkeitströpfchen vor. Als das Charakte- ristische, das auch zu der für die Pflanzenzellen sehr bezeichnenden Namengebung „Zelle“ geführt hatte, galt dabei die „Zellmembran“, die eben die Kammer- oder Zellenform bedingte. Diese Auffassung erhielt sich auch noch, als bereits SCHLEIDEN neben der Zellflüssig- keit oder dem Zellsaft noch eine schleimige, dickflüssige Masse, den „Pflanzenschleim“, oder, wie MOHL sie nannte: das „Protoplasma“ entdeckte, und als von seiten SCHwANNs der Zellbegriff auch auf die Elementarteile der tierischen Gewebe ausgedehnt wurde. Erst die grundlegenden Arbeiten von MAX SCHULTZE?) gaben dem Zellbegriff einen ganz anderen Inhalt. Das Studium der Rhizo- poden, jener einzelligen Organismen, deren nackter Protoplasmakörper an beliebiger Stelle seine zähflüssige Leibessubstanz zu feinen Fäden und Netzen auszuziehen vermag, führte MAx SCHULTZE zu der An- sicht, daß die Zellmembran nicht das Wesentliche der Zelle sein könne, denn die große Menge der Rhizopodenformen hat zeitlebens keine Zellmembran, sondern daß das Wesentliche die Substanz sei, die schon früher von DuJarpın®) bei den nackten Rhizopoden und Infusorien des Süßwassers als Sarkode bezeichnet worden war. Durch eine Vergleichung der Rhizopoden und der Pflanzenzellen lieferte darauf MAx SCHULTZE den Beweis, daß die Substanz der Rhizopoden, die Sarkode, durchaus identisch ist mit dem zähflüssigen Inhalt der Pflanzenzellen, dem Protoplasma, und so begründete er die „Protoplasmatheorie“, nach welcher der wesentliche Be- standteil der Zelle das Protoplasma ist, Die Auffassung, daß die Zelle ein Klümpchen Protoplasma sei, hat sich in der Folge auch glänzend bewährt gegenüber der alten Auffassung, welche die Zell- membran für das Wesentliche ansah, denn nicht nur ist mit der ungeheuren Formenfülle der einzelligen Rhizopoden, zu denen die kalkschaligen Polythalamien oder Foraminiferen und die kiesel- schaligen Radiolarien ebenso gehören wie die völlig schalenlosen Amöben, eine erdrückende Menge von membranlosen Zellen bekannt geworden, sondern man hat auch gesehen, daß bei der Entwicklung vieler Pflanzen und Tiere als Eier einzellige Stadien vorkommen, die jeder Zellmembran entbehren. So ist seit MAx SCHULTZES Be- gründung der Protoplasmatheorie die Auffassung, daß die Zell- 1) Vergl. p. 28. 2) MAx SCHULTZE: „Ueber Muskelkörperchen, und was man eine Zelle zu nennen habe“. Im Arch. f. Anat. und Physiologie. 1861. — Derselbe: „Das Proto- plasma der Rhizopoden und Pflanzenzellen“. Leipzig 1863. 3) DUJARDIN: „Histoire naturelle des Zoophytes-Infusoires“. Paris 1841. Von der lebendigen Substanz. 75 membran ein allgemeiner Zellbestandteil sei, vollständig fallen ge- lassen worden. Indessen mit der Definition MAx SCHULTZEs sind die wesent- lichen oder allgemeinen Zellbestandteile noch nicht erschöpft. Schon Brown!) hatte 1833 im Protoplasma noch ein besonderes Gebilde, den Zellkern, entdeckt, der als ein rundliches Körnchen durch sein abweichendes Lichtbrechungsvermögen deutlich von dem ihn ein- schließenden Protoplasma zu unterscheiden war. SCHLEIDEN ?), der diese Entdeckung BROWNS auferiff, wies den Zellkern als einen weit verbreiteten Bestandteil der Zelle im Protoplasma vieler Pflanzen nach, ließ sich aber verleiten, in seiner Theorie der Phytogenesis den Kern als dasjenige Element zu betrachten, aus dem die Zelle erst im Lauf der individuellen Entwicklung der Pflanze entstände. Seit jener Zeit hat man dem Zellkern immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Man fand ihn nicht nur in den pflanzlichen Zellen, sondern nach SCHWANNS®) Arbeiten auch in den verschiedensten tierischen Zellen. Besonders aber, als man mittels gewisser Farbstoffe, wie Karmin, Hämatoxylin ete., den Kern färben und so im Protoplasma, in dem er eingebettet ist, deutlich sichtbar zu machen lernte, kam man mehr und mehr zu der Ansicht, daß der Kern einen sehr charakteristischen Bestandteil der Zelle vorstellt, und bald entstand die Frage, ob es überhaupt Zellen ohne Kern gäbe, ob nicht der Kern ein allge- meiner Bestandteil der Zelle sei, der ebenso wie das Protoplasma zum Wesen der Zelle gehöre. Unter den einzelligen, freilebenden Rhizopoden, auf die Max SCHULTZES Untersuchungen die Aufmerksamkeit gelenkt hatten, fand HAECKEL*) eine ganze Anzahl, in denen keine Spur von einem Kern nachzuweisen war, die HAECKEL, da sie aus einem einfachen Klümp- chen Protoplasma zu bestehen und somit die niedrigsten und einfachsten überhaupt denkbaren Organismen zu sein schienen, als Moneren bezeichnete. Eine andere Gruppe von Organismen, in denen sich keine Kerne nachweisen ließen, war die ebenfalls erst in neuerer Zeit in den Vordergrund des Interesses gezogene Mikroorganismengruppe der Sproßpilze und der Spaltpilze (Bakterien), der kleinsten überhaupt existierenden lebendigen Wesen, die, wenn sie auch bereits eine feste, unveränderliche Form besitzen, doch keine Spur von einer Differenzierung ihres durch und durch gleichartig erscheinenden Proto- plasmakörpers erkennen ließen. Wenn wir von den roten Blut- körperchen der Warmblüter absehen, die ebenfalls keine Differen- zierung ihrer Körpersubstanz in zwei gesonderte Teile, in Protoplasma und Kern, zeigen, die sich aber nachweislich aus wirklichen, kern- haltigen Zellen entwickeln, so enthielten die Gruppen der Moneren, der Sproßpilze und der Bakterien die einzigen anscheinend kernlosen Zellen. Indessen die Auffassung der Moneren als kernloser Zellen änderte sich mit der in neuerer Zeit so enorm aufblühenden mikroskopischen 1) R. BRown: „Observations on the organs and mode of fecundation in Or- chideae and Asclepiadeae‘. In Transactions of the Linnean Society, London 1833. 2) M. SCHLEIDEN: „Beiträge zur Phytogenesis“. In Müllers Archiv, 1833. 3) TH. SCHWANN: ‚Mikroskopinche Untersuchungen über die Uebereinstimmung in der Struktur und dem Wachstum der Tiere und Pflanzen“. 1839. 4, Ernst HAECcKEL: „Biologische Studien. 1. Heft: Studien über Moneren und andere Protisten“. Leipzig 1870. 76 Zweites Kapitel. Färbetechnik mehr und mehr. Immer mehr von den Organismen, die HAECKEL noch als Moneren beschrieben hatte, wurden bei An- wendung der neueren, komplizierten Färbemethoden als kernhaltige Zellen erkannt; in manchen von ihnen wurde sogar eine große Zahl kleiner Kerne nachgewiesen, und GRUBER!) fand Formen, in denen die Kernsubstanz in unzähligen, äußerst winzigen Körnchen durch das eanze Protoplasma zerstreut ist (Fig. 8). So schmolz die Zahl der ursprünglichen Moneren immer mehr zusammen, und die wenigen, deren man noch nicht zu erneuter Untersuchung habhaft werden konnte, werden von den meisten Forschern jetzt ebenfalls für kern- haltige Zellen gehalten, in denen nur die unvollkommenere Technik der früheren Zeit, wie bei den anderen, jetzt für kernhaltig erkannten Zellen, die Kerne nicht nachzuweisen vermochte. Viel länger als die Moneren haben die Bakterien den Bemühungen getrotzt, eine Differenzierung, die dem Kern und dem Protoplasma der übrigen Zellen entspräche, in Ä : 2. ihnen aufzufinden. Alle erdenklichen en) Färbemethoden und die stärksten re U mikroskopischen Verrößerungen ver- EL TER mochten nicht zwei voneinander ge- schiedene Formen der lebendigen Substanz in ihrem winzigen, durch- aus homogen erscheinenden Körper nachzuweisen. Dieser Stand unserer Kenntnisse dauerte trotz des ge- waltigen Aufschwungs, den die Bak- teriologie in neuerer Zeit nahm, bis in das letzte Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts. Erst 1890 gelang es BürscHaLı?), in dem Körper der Bakterien eine feinere Struktur zu entdecken. Er fand nämlich, daß sich bei sehr starken Vergröße- rungen und unter Anwendung be- Fig. 8 Pelomyxa pallida. Ein stimmter, nicht zu starker Inten- Rhizopod mit sehr fein verteilter Kern- sität der Durehleuchtune mit den substanz. Nach GRUBER. apa = = = ; spezifischen Kernfärbemitteln, die, wie z. B. Hämatoxylin, nur die Kernsubstanz und nicht das Protoplasma färben, zwei verschiedene Substanzen im Bakterienkörper sichtbar machen lassen, von denen die eine sich intensiv färbt, während die andere den Farbstoff nicht annimmt. Das Massenverhältnis der beiden Substanzen ist charakte- ristisch. Es überwiegt nämlich meist die Masse der färbbaren Sub- stanz über die Masse der ungefärbten. Dagegen ist die gegenseitige Lagerung beider bei verschiedenen Bakterienformen verschieden. Während bei der einen, wie z. B. Bacterium lineola (Fig. 9a), die gefärbte Substanz in der Mitte liegt und die ungefärbte eine schmale peripherische Schicht um dieselbe bildet, ist bei anderen, be- 1) A. GRUBER: „Ueber einige Rhizopoden aus dem Genueser Hafen“. In Ber. d. naturforschenden Gesellsch. zu Freiburg i. B., Bd. 4, 1888. 2) OÖ. BürscHLı: „Ueber den Bau der Bakterien und verwandter Organismen“. Leipzig 1890. Von der lebendigen Substanz. rer sonders den korkzieherartig gewundenen Spirillenformen, wie dem im Sumpfwasser gemeinen Spirillum undula (Fig. 95), die ungefärbte Substanz ganz an einem oder an beiden Enden des langgestreckten, nur aus gefärbter Substanz bestehenden Körpers angesammelt. Diese Differenzierung der Körpersubstanz in zwei verschiedene Teile, von denen der eine sich mit den spezifischen Kernfärbemitteln färbt, während der andere ungefärbt bleibt, scheint vollständig der Sonderung der lebendigen Substanz in Kern und Protoplasma, wie sie alle anderen Zellen charakterisiert, zu entsprechen, und auch im Tier- reich haben wir Zellenformen, die ganz dasselbe Massenverhältnis von beiden Substanzen zueinander zeigen, nämlich die Samenfäden oder Spermatozoen, deren einzelliger Körper ebenfalls aus einer großen Menge Kernsubstanz und einer nur sehr geringen Menge von a b ce Fig. 9. Struktur verschiedener Bakterien. Nach BürscHLı. a Bacterium lineola, normal und in Teilung begriffen, b Spirillum undula, c Bacterium aus Sumpfwasser. Protoplasma besteht. Es darf indessen nicht unerwähnt bleiben, daß von anderer Seite!) gegen die BürscHLische Auffassung des Bakterien- körpers der Einwand geltend gemacht worden ist, es handle sich hier um Differenzierungen, die nur durch die angewandten Reagentien hervorgebracht worden seien, um Veränderungen, wie sie in der Botanik als „Plasmolyse“ bezeichnet werden. Es läßt sich vorläufig nicht entscheiden, wie weit dieser Einwand zutrifft. Jedenfalls ist er nicht allgemein als zutreffend anerkannt worden, und BÜTscHL1?) hat diese Deutung durch schwerwiegende Argumente zurückzuweisen ge- sucht. Außerdem weiß man, daß auch im Körper der Bakterien die sonst für die Zellkerne charakteristischen Substanzen, die Nukleine, nicht fehlen. Bei den Sproßpilzen, den verschiedenen Hefezellarten end- lich, war es ebenfalls bis in die neuere Zeit nicht möglich gewesen, mit Sicherheit einen Zellkern zu finden. Erst gegen Ende des vorigen Jahrhunderts gelang es einigen Untersuchern, besonders dem englischen 1) A. FISCHER: „Untersuchungen über Bakterien“. In Jahrb. f. wiss. Botanik, Bd. 27, 1894. 2) BürscHLı: „Weitere Untersuchungen über den Bau der Cyanophyceen und Bakterien“. Leipzig 1896. 718 Zweites Kapitel. Forscher HAROLD WAGER!), mit aller nur wünschbaren Deutlichkeit den Zellkern nachzuweisen. Der Kernapparat der Hefezellen steht sogar auf einer ziemlich hohen Entwicklungsstufe. Er besteht aus einer Vakuole, die chromatische Elemente enthält, und einem isoliert davon und neben ihr im Protoplasma liegenden Nukleolarkörper. Bei der Sprossung zeigt dieser Kernapparat ein sehr charakteristisches Ver- halten, das am besten durch die beistehende Fig. 10 veranschaulicht wird. So scheint es nach dem jetzigen Stande unserer Kenntnisse, als ob es unter den heute auf der Erde lebenden Organismen überhaupt keine Zellen gäbe, in denen nicht eine Sonderung von Zwei ver- schiedenen Substanzen vorhanden wäre, als ob also außer dem Proto- plasma auch jede Zelle einen Kern besäße. Eine andere Frage ist es freilich, ob es während der Entwicklungsgeschichte der lebendigen Substanz auf der Erde in früheren Zeiten einmal Organismen gegeben habe, bei denen der ganze Körper aus einer einzigen homogenen Sub- Fig. 10. Hefezellen (Saccharomyces cerevisiae) mit ihrem Kernapparat in vier ver- schiedenen Stadien der Sproßbildung. Der helle Hof ist die Kernvakuole mit den dunklen Chromatinkörnchen, der dunkle Kreis das Kernkörperchen. Nach HAROLD WAGER. stanz bestand, bei denen noch keine Sonderung in verschiedene Stoffe eingetreten war. Sollte es jemals solche Organismen gegeben haben, so könnten wir diese als Cytoden, wie HAEcKEL die kernlosen Ele- mentarorganismen bezeichnet, den wirklichen Zellen gegenüberstellen. Jedenfalls aber können wir vorläufig daran festhalten, daß zu dem Begriff der Zelle nicht bloß eine einzige homogene Masse, das Proto- plasma, sondern auch noch eine davon differente Substanz, die Kern- substanz, gehört. Demnach wäre die morphologische Definition Max SCHULTZES in folgender Weise zu erweitern: Die Zelle ist ein Klümpchen Protoplasmamiteinergewissen Menge darin eingebetteter Kernsubstanz. Ist hiermit aber die Definition der Zelle erschöpft, oder gehören zum morphologischen Begriff der Zelle noch mehr Bestandteile ? Wenn wir mit stärkeren Vergrößerungen das Protoplasma der Zellen durchmustern, finden wir, daß außer dem Kern in vielen Zellen noch andere distinkte Bestandteile in der protoplasmatischen Grundmasse eingebettet liegen. So finden wir in manchen Zellen Oeltröpfchen, in anderen Pigmentkörnchen, in Pflanzenzellen Stärkekörner etc., aber 1) HAROLD WAGER: „The Nucleus of the Yeast-Plant“. In Annals of Botany, Vol. 12, No. 48, 1897. Von der lebendigen Substanz. 79 keinen von allen diesen Körpern treffen wir in jeder Art von Zellen; sie sind sämtlich nur spezielle, keine allgemeinen Zellenbestandteile. Dagegen schien es in neuerer Zeit den Anschein zu gewinnen, als ob neben den beiden bisher allein als allgemein bekannten Zellbestand- teilen, dem Protoplasma und dem Zellkern, doch noch ein dritter all- gemeiner Zellbestandteil existierte, das Polkörperchen, Zentral- körperchen oder Zentrosom. Das Zentrosom (Fig. 11) ist erst in neuerer Zeit etwas genauer bekannt geworden. Zwar war es schon vor drei Jahrzehnten, als NN y nella 32 72,9 Yarı'ı 0a, IR ll?) Null N Fig. 11. a Pigmentzelle vom Hecht. Zwischen den beiden Kernen liegt das Zentrosom mit seiner Protoplasmastrahlung. Nach SOLGER. b Leukoeyt von einer Salamanderlarve. Neben dem hantelförmigen Kern liegt rechts das Zentrosom mit Strahlenkranz. Nach FLEMMING. c Eizelle, in Teilung begriffen. Um die beiden Zentrosomen deutliche Protoplasmastrahlung. Nach BOvERT. man die eigentümlichen Kernteilungsvorgänge bei der Zellvermehrung untersuchte, bemerkt worden, aber erst später wurde es von VAN BENEDEN!) und BovErL?) als wichtiges Element in der Zelle er- kannt, das sich wie der Zellkern bei der Vermehrung der Zellen durch Teilung fortpflanzt. VAn BENEDEN kam daher zu der Ansicht, daß das Zentrosom ebenso wie der Zellkern und das Protoplasma ein allgemeiner Zellbestandteil sei, eine Annahme, die durch die Beobach- tungen von FLEMMING, SOLGER, HEIDENHAIN u. a. gestützt zu werden schien, die auch in anderen Zellarten, wie Leukocyten, Pigmentzellen, Epithelzellen etc., ein oder mehrere Zentrosomata auffanden, und zwar zu Zeiten, wo die Zellen nicht im Teilungszustande waren. Trotzdem ist es bei einer großen Anzahl von Zellen bisher nicht gelungen, ein Zentrosom nachzuweisen, und in letzter Zeit mehren sich die Stimmen, die auch in einzelnen Fällen, in denen man früher mit Sicherheit die l) E. van BENEDEN: „Recherches sur la maturation de l’euf, la f&condation et la division cellulaire‘. In Arch. de Biologie, 1883. T. 4. — VAN BENEDEN et NEYDT: „Nouvelles recherches sur la f@condation et la division mitosique chez Pascaride megaloc@phale“*, 1887. 2) Tu. BoveErr: „Zellenstudien“. In Jenaische Zeitschrift für Naturwissen- schaft, 1887, 1888, 1890. Ferner: „Ueber das Verhalten der Zentrosomen bei der Befruchtung des Seeigeleies“. In Verhandl. d. physik.-mediz. Gesellschaft zu Würz- burg 1895; ferner: „Ueber die Polarität des Seeigeleies“. Ebenda 1901. so Zweites Kapitel. Existenz eines Zentrosoms behauptete, die letztere bestreiten, ja über- haupt die Existenz des Zentrosoms als eines dauernden Zellbestandteils verneinen. Indessen das kann vielleicht in der Natur des Zentrosoms begründet sein. Das Zentrosom ist ein wegen seiner verschwindenden Kleinheit im „Ruhezustande“ der Zelle sehr schwer auffindbarer Be- Fig. 12. Ei des Spulwurms mit zwei Zentro- somen, deren jedes zwei Zentriole enthält. Nach BOVvERI. standteil, der sich mit unseren besten mikro- skopischen Hilfsmit- teln nur als ein kleines homogenes Kügelchen (Archoplasma) mit einem durch Teilung in zwei Hälften zerfallen- den Körnchen‘ (Zen- triol) erkennen Jäßt (Fig. 12, Fig. 13 u.Fig. 14). Dazu kommt, daß das Zentrosom mit den gewöhnlichen Farb- stoffen in der Regel nicht färbbar ist. Auch die Versuche M. HEI- DENHAINS, spezifische Färbemittel für das Zentrosom zu finden, wie sie für den Kern existieren, haben nicht zu befriedigenden Er- gebnissen geführt. Das Zentrosom wird erst deutlich bemerkbar durch die Strahlung des Protoplasmas (Astrosphäre), von der es bei bestimmten Zuständen der Zelle umgeben wird. Bei der Teilung der Zellen nämlich ordnet sich das Protoplasma in Form eines Strahlen- Fig. 13. Fig. 14. Fig. 13. Leukocyt vom Salamander mit Zentrosom und Strahlenfigur. Im Zentrosom das in zwei Hälften geteilte Zentriol. Nach HEIDENHAIN. Fig. 14. Zentrosom mit Protoplasmastrahlung aus dem Ei der Lungen- schneeke Physa fontinalis. Nach KOSTANECKI. Von der lebendigen Substanz. 81 kranzes um das Zentrosom herum an, das den Mittelpunkt der Strahlungs- figur bildet (Fig. 11, 12, 13, 14) und eben als Mittelpunkt dieser eigentümlichen Strahlung erst augenfälliger hervortritt. Ms Während eine große Zahl von Forschern, vor allem van BENEDEN, dazu neigt, das Zentrosom als einen eigenen Bestandteil der Zelle aufzufassen, da es immer im Protoplasma getrennt vom Zellkern vor- kommt, vertritt O. HErTwıG!) die Meinung, daß das Zentrosom als Teil der Kernsubstanz zum Kern gehört und nur während der Tätig- keit des Kerns bei der Befruchtung und Teilung aus dem Kern in das Protoplasma übertritt, um nachher bei dem Ruhezustand der Zelle wieder als Teil der Kernsubstanz in den Kern zurückzutreten. Daß diese Annahme HERTWIGS für gewisse Fälle in der Tat zutrifft, haben SD Ä Awıet D'00 se DIRT, SR #3 OFENTS of] Y Ö RE 71 8 4 Ä } E ° NS SS g v2 Bo 9 TE EN STERN 0 More ES > 2a DOSE, Fig. 15. Teilung und Austritt des Zentrosoms bei dem [Kern der Samenzellen von Ascaris megaloc’ephala. Oben zwei Reihen aufeinander- folgender Stadien des Kerns (n Nucleolus, c Zentrosom). Darunter zwei Samenzellen nach Austritt des Zentrosoms aus dem Kern. Nach BRAUER. wenig später die ausgezeichneten Untersuchungen von BRAUER ?) über die Entwicklung der Samenzellen des Pferdespulwurms (Ascaris megalocephala) gezeigt. BRAUER konnte feststellen, daß das Zentrosom bei diesen Zellen während der Ruhezeit im Kern selbst enthalten ist und sich sogar in gewissen Fällen im Kern selbst teilt, um dann erst in das Protoplasma auszutreten und hier die Protoplasma- strahlung zu erzeugen, welche das Zentrosom bei der Teilung der Zelle zu umgeben pflegt (Fig. 15). Andererseits wissen wir aber jetzt, daß 1) ©. HerrwiG: „Die Zelle und die Gewebe.“ Jena 1892. 2) A. BRAUER: „Zur Kenntnis der Herkunft des Zentrosomas.“ In Biol. Centralbl., Bd. 13, 1893. — Derselbe: „Zur Kenntnis der Spermatogenese von Ascaris megalo- cephala“. In Arch. f. mikrosk. Anat., Bd. 42. 6 Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 82 Zweites Kapitel. in der großen Mehrzahl von Fällen das Zentrosom dauernd auch während der Ruhe der Zelle außerhalb des Kerns liegen bleibt. HEIDENHAIN!) und BoVvERI?) meinen daher, daß wir weder Grund haben, das Zentrosom als einen Kernbestandteil, noch als einen Protoplasmabestandteil zu betrachten; sie sind vielmehr geneigt, es vor- läufig bis die Erfahrungen eine festere Form angenommen haben, als einen selbständigen Zellbestandteil aufzufassen, der gleichwertig neben Zellkern und Protoplasma in der Zelle existiert. Dieser Auffassung würden aber die neuerdings wohl als gesichert zu betrachtenden Be- obachtungen von WILSON°’), WASSILIEFF*) und anderen im Wege stehen, aus denen hervorgeht, daß auch in kernlosen und zentrosoma- losen Protoplasmamassen von Eizellen durch künstliche Einwirkung bestimmter Stoffe Zentrosomen und Strahlungsfiguren, unter Umständen sogar in sehr großer Zahl, zur Entstehung gebracht wer- «&, un den können (Fig. 16). Wenn ec NW- Q RT also das Zentrosom im Ei- \yz * I ZIS N protoplasma sich vollständig j RR N neu entwickeln kann, und \ wenn es nicht, wie man früher allgemein glaubte, immer nur NIE aus der Teilung schon vor- I handener Zentrosome hervor- > —g ZRSSEZAH N: > | geht, dann kann man es auch INUZEBNNZ ' nicht dem Kern und Proto- > ZN, / plasma, die immer nur aus y der Teilung von vorhande- ; nen Kern- und Protoplasma- > massen entstehen, als gleich- v wertigen selbständigen Zell- er bestandtel an die Seite Fr stellen. Auf keinen Fall aber 2 Ne en £ haben wir, da ja sehr viele ahlreichen ünstli 2 : en ee von nern de Zellformen, namentlich unter erzeugten Zentrosomen. Nach WıLson. den einzelligen Organismen, bekannt sind, in denen man bisher noch kein Zentrosom hat auffinden können, die Berechtigung, im Zentrosom einen allge- meinen Zellbestandteil zu erblicken wie im Kern und im Proto- plasma. Unter den sämtlichen Lebensäußerungen der Zelle ist übrigens bisher nur bei der Fortpflanzung und Befruchtung eine Be- teiligung des Zentrosoms bekannt geworden. Nach alledem können wiralsallgemeine Zellbestand- teile einzig und allein das Protoplasma in seiner Ge- 1) M. HEIDENHAIN: „Neue Untersuchungen über die Zentralkörper und ihre Beziehungen zum Kern und Zellenprotoplasma“. In Arch. f. mikrosk. Anat., Bd. 43, 1894. 2) TH. BOVERI: „Ueber das Verhalten der Zentrosomen bei der Befruchtung des Seeigeleies, nebst allgemeinen Bemerkungen über Zentrosomen und Verwandtes.“ In Verhandl. d. physik.-med. Gesellsch. zu Würzburg, N. F. Bd. 29, 1895. 3) WILSON: „Studies in experimental Morphology.“ In Arch. f. Entwicklungs- mechanik 1899, 1901, 1902. 4) WASSILIEFF: „Ueber künstliche Parthenogenesis des Seeigeleies“. In Biol. Centralbl., 1902. Von der lebendigen Substanz. 83 samtheit und den Zellkern mitseinen Differenzierungen allen speziellen Zellbestandteilen, wie Zellmembranen Stärkekörnern, Pigmentkörnern, Oeltröpfchen, Chloro- phyllkörpern, Zentrosomen etc. gegenüberstellen. 3. Mehrkernige Zellen und Syncytien. Wir hatten vorhin in der organischen Natur fünf Individualitäts- stufen voneinander unterschieden; jetzt müssen wir uns aber erinnern, , daß in der lebendigen Welt nirgends in Wirklichkeit scharfe Grenzen zu finden sind. Wir hatten die Zellen als Elementarorganismen von der nächst höheren Individualitätsstufe, den Geweben, unterschieden, und es könnte den Anschein haben, als ob in der Tat keine schärfere Grenze existiere, als zwischen einem Gewebe, das aus einer Anzahl gleichartiger Zellen besteht, und einer einzelnen Zelle, als ob beide Individualitätsstufen sehr leicht voneinander zu unterscheiden wären. Allein dem ist in Wirklichkeit nicht so. Es gibt einzelne Organismen, die eine Unterscheidung, ob Elementarorganismen oder Gewebe, nicht leicht erscheinen lassen, und wir werden uns hier, ebenso wie in vielen anderen Fällen, wo es sich darum handelt, in der Natur Grenzen zu ziehen, recht klar bewußt, daß alle Abgrenzungen und Definitionen in letzter Instanz ein mehr oder weniger willkürliches Moment in sich enthalten müssen, wenn sie scharf sein sollen, — daß alle Grenzen und Definitionen nichts als psychologische Hilfsmittel zum Zwecke der Erkenntnis sind. Die Uebergangsformen zwi- schen typischen Zellen und echten Geweben sind zahl- reich. Sie bestehen darin, daß innerhalb einer einheitlichen Protoplasmamasse mehrere di- stinkte Zellkerne liegen. In vielen Fällen finden wir in einer Zelle statt des einen m, 17. Zellknorpel; die Zellen enthalten Zellkerns, wie er für den Are Zelkeme: Typus einer Zelle charakte- ristisch ist, deren zwei. So trifft man z. B. sehr häufig in manchen Geweben, wie dem Gewebe des Zellknorpels (Fig. 17), Zellen mit zwei Kernen. Von diesen Zell- formen führen Uebergänge, die drei, vier, fünf und mehr Kerne haben, bis zu denjenigen Organismen, die eine ungezählte Menge von Kernen in ihrem Protoplasma bergen. Zellformen mit wenigen Kernen sind z. B. manche Epithelzellen (Fig. 18a), Zellen mit vielen Kernen die in dem Darm der Frösche parasitisch lebenden großen Wimperinfusorien Opalina (Fig. 185), und Formen mit zahllosen Kernen finden wir unter den Meeresalgen, unter denen z. B. Cau- lerpa (Fig. 19) eine riesige Zelle von der Gestalt und Größe eines Blattes vorstellt, in deren dünner, lamellöser Protoplasmaschicht eine unzählige Menge von Zellkernen liegt, die alle mit dem Proto- S4 Zweites Kapitel. plasma zusammen in fortwährender, langsam strömender Bewegung zwischen den Zellwänden, d. h. den beiden Blattflächen, begriffen sind. Alle diese Organismen mit mehreren Zellkernen können wir als mehrkernige Zellen von den vielzelligen Geweben, zu denen sie den Uebergang bilden, trennen, wenn wir das Gewicht bei der Unter- scheidung auf den Umstand legen, daß bei den mehrkernigen Zellen das den einzelnen Kern umgebende Protoplasmaterritorium nicht von Fig. 19. Fig. 18. a Epithelzelle mit mehreren Kernen aus der Harnblase des Menschen. Nach VIRCHOw. 5b Opalina ranarum, ein einzelliges Wimperinfusor aus dem Darm des Frosches mit vielen Kernen. Nach ZELLER. Fig. 19. Caulerpa, eine blattförmige Meeresalge. Die einzelnen Blätter sind dünne, zwischen zwei flächenhafte Zellulosewände eingeschlossene Protoplasmalamellen mit zahllosen kleinen, hier nicht sichtbaren Kernen. Natürliche Größe. Nach REINKE. den benachbarten abgegrenzt ist, sondern mit dem ganzen übrigen Protoplasma zusammen eine einheitliche Masse vorstellt, die nur als Ganzes nach außen hin durch eine bestimmte Oberflächenform ab- geschlossen erscheint, während im Gewebe jedes einzelne Protoplasma- territorium, das zu einem Zellkern gehört, von den benachbarten deutlich abgegrenzt ist. Die vielkernige Zelle stellt also immer noch eine Zelle vor, die als Ganzes durch eine bestimmte Oberflächengestalt charakterisiert ist; das Von der lebendigen Substanz. 85 Gewebe aber wird von einer Summe von einzelnen Zellen gebildet, deren jede ihre eigene, mehr oder weniger scharf abgegrenzte Gestalt besitzt. Schwieriger wird die Frage, ob wir es mit vielkernigen Zellen oder mit echten Geweben zu tun haben, bei gewissen niederen Orga- nismen, die von den Botanikern als Pflanzen, von den Zoologen häufige als Tiere in Anspruch genommen worden sind und in vielen Beziehungen großes Interesse verdienen. Das sind die Myxo- myceten. Im Laubwalde auf moderigen Blättern oder faulenden Baumstämmen sieht man bisweilen weiße, gelbe oder braunrote Netz- werke, die sich öfter mehrere Dezimeter weit mit ihren feinen, baum- artig verzweigten Strängen an der Unterlage ausbreiten (Fig. 20.2). Diese Netzwerke, die auch mitunter dich- tere, klumpige Massen von demselben Aus- sehen bilden, sind, wie man bei näherer Be- trachtung findet, von einer weichen, schleim- artigen Konsistenz. Beobachtet man ein solches Netzwerk nach einigen Stunden oder am nächsten Tage wieder, so findet man, daß es nicht nur seinen Platz, sondern auch Fig. 20. IT Aethalium septicum. Stück eines netz- seine Gestalt vollstän- förmigen Myxomyceten-Plasmodiums. Natürliche Größe. dig verändert hat, und II Chondrioderma difforme Stück eines Plas- : 5; modiums, « eine Spore, b dieselbe quellend, c der Sporen- trennt man ein Stück- inhalt kriecht aus, d die Spore hat sich in eine Geißelzelle chen davon ab, SO verwandelt, e die Geißelzellen haben sich in Amöben um- kann man, wenn es gebildet, die wieder zur Bildung eines Plasmodiums zu- auf eine Glasplatte ge- sammenkriechen. // nach STRASBURGER. lest und an einem feuchten Orte gehalten wird, sehen, wie die ganze Masse anfängt, langsam zu fließen und feine Ausläufer nach hierhin und dorthin zu entsenden, die sich baumförmig verzweigen und netzartig zusammen- fließen. Kurz, man sieht, daß das ganze Netzwerk lebt. Diese eigen- tümlichen Wesen sind als Myxomyceten bekannt. Sie bestehen aus vollständig nacktem Protoplasma. In den feinen Strängen ihrer „Plasmodien“ findet man bei mikroskopischer Untersuchung und Färbung eine große Menge von Zellkernen, die fortwährend von dem langsam fließenden Protoplasma mitgeschleppt werden, die über- und untereinanderkugeln und deutlich erkennen lassen, daß sie keine be- stimmte Lage besitzen, sondern regellos in der einheitlichen Proto- plasmamasse immer wieder ihren Platz wechseln. Hier sind also keine einzelnen Zellterritorien im Protoplasmakörper abgegrenzt. Wir würden daher die Plasmodien nach dem oben gegebenen Kriterium für vielkernige Zellen halten müssen. Indessen in dieser Auffassung werden wir wieder schwankend, wenn wir die Entstehung der Myxo- mycetenplasmodien verfolgen. Die Myxomyceten pflanzen sich durch „Sporen“ fort, d. h. durch kleine, mikroskopische Kapseln, deren 86 Zweites Kapitel. Schale platzt und je einer kleinen, nackten, formwechselnden Zelle mit einem Kern den Austritt gewährt (Fig. 20 ITa,b,c). Da von den Sporen immer eine sehr große Menge zusammenliegt, schlüpft gleichzeitig auch immer eine Menge einzelner Zellen aus. Alle diese Zellen kriechen alsbald zusammen, fließen ineinander und bilden so eine größere einheitliche Protoplasmamasse, in der eine Menge von Kernen enthalten ist (Fig. 20 ITe, f). Indem die Protoplasmamasse durch selbständige Ernährung wächst, vermehren sich auch die Kerne durch Teilung, und so entsteht schließlich das große, netzförmig aus- gebreitete Myxomyceten-Plasmodium. Dieses Plasmodium, obwohl es eine einheitliche Protoplasmamasse mit vielen Kernen ohne Zellgrenzen vorstellt, ist also trotzdem aus vielen einzelnen Zellen hervorgegangen. Wir haben daher nicht das Recht, die Plasmodien der Myxomyceten als vielkernige Zellen zu betrachten, während wir auf der anderen Seite auch nicht berechtigt sind, sie als echte Gewebe anzusprechen, denn wir finden ja für die einzelnen Kerne keine Zellgrenzen abge- steckt. Man hat daher für diese Zwischenstufen zwischen der einzelnen Zelle und dem Gewebe einen besonderen Namen geschaffen und be- zeichnet sie als „Syneytien“. Solche Synceytien kommen auch im Körper der höheren Tiere an einzelnen Stellen vor. Sie entstehen hier dadurch, daß die Zellen bei der Entwicklung sich nicht vollständig voneinander trennen. Sind die Zellen, die sich im Laufe der Entwicklung durch fortgesetzte Teilung vermehren, vollständig membranlos, so kann natürlich, da sie sich ja bei der Entstehung des Zellenstaates nicht voneinander trennen, keine Abgrenzung ihres Protoplasmakörpers bei der Teilung entstehen. Es teilen sich die Zellkerne und rücken voneinander fort, aber das Protoplasma bleibt eine zusammenhängende Masse. So entstehen Syneytien, wie z. B. bei manchen Epithelien. In anderen Fällen grenzen sich zwar bei der Zellteilung die Protoplasmakörper der Zellen durch deutliche Membranen oder Interzellularsubstanzen von- einander ab, aber diese Abgrenzungen behalten einzelne sehr kleine Lücken, durch welche die Protoplasmakörper mittelst äußerst feiner Protoplasmabrücken untereinander in Zusammenhang bleiben. Solche Zusammenhänge durch Interzellularbrücken haben offenbar eine große physiologische Bedeutung für das gemeinschaftliche Zusammenarbeiten der Zellen des betreffenden Gewebes, und sind daher sehr weit ver- breitet im Pflanzenreich sowohl wie im Tierreich. Im Pflanzenreich treten die Interzellularbrücken durch die Tüpfelkanälchen in den Zellulosemembranen hindurch. Im Tierreich verbinden sie Epithel- zellen, Muskelzellen, Neurone etc. miteinander. So finden sich also im Zellenstaate alle möglichen Uebergangs- stufen von der schärfsten Abgrenzung der Zellen eines Gewebes bis zum reinen Syncytium mit zusammenhängender protoplasmatischer Grundmasse. Daß dadurch aber der Begriff der Zelle und damit auch die ganze Zellenlehre hinfällig würde, wie früher hin und wieder ge- legentlich behauptet worden ist, davon Kann gar keine Rede sein. Da ja die Existenz einer Membran. nicht zum Wesen der Zelle gehört, so ist es selbstverständlich, daß in solchen Fällen bei der Bildung eines Gewebes durch fortgesetzte Zellteilung die Protoplasmakörper miteinander im Zusammenhang bleiben müssen. Trotzdem hat selbstverständlich jedes um einen Kern herum gelagerte Protoplasmaterritorium [mit seinem Zellkern zusammen den Wert einer Zelle. Von der lebendigen Substanz. | ( —] B. Die morphologische Beschaffenheit der lebendigen Substanz. 1. Form und Größe der Zelle. Ein Umstand, welcher der konsequenten Durchführung der Zellenlehre in der ersten Zeit am meisten im Wege gestanden hat, und welcher noch jetzt jedem, der sich mit dem feineren Bau der Organismen zu beschäftigen anfängt, die größten Schwierigkeiten be- reitet, ist die erstaunliche Verschiedenheit der Form, in welcher der eine einzige Elementarbestandteil des organischen Lebens auftritt. Die Formen der verschiedenartigen Zellen sind so überaus mannigfaltig, daß es dem ungeübten Beobachter nicht selten schwer wird, sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß es sich hier nur um verschiedene Modifikationen eines und desselben Elements, eines und Fig. 21. Eine Amöbe in verschiedenen Formenstadien beim Kriechen. Das hyaline Exoplasma fließt immer voran. In der Mitte und hinten liegt das körnige Endoplasma mit dem dunkleren Kern und der blasseren Vakuole. desselben Typus handelt. Gegenüber dieser unerschöpflichen Mannig- faltigkeit der verschiedenen Zellenarten unter sich besteht aber ander- seits eine sehr weitgehende Konstanz der Form einer und derselben Zellenart, so daß die Zellen irgendeines bestimmten Gewebes des menschlichen Körpers, z. B. der Leber, der Haut, des Knochens, des Blutes etc., immer sofort als solche, d. h. als Leber-, Haut-, Knochen- oder Blutzellen, zu erkennen sind. Einige Beispiele werden die großen Verschiedenheiten in der Form der Zellen am besten illu- strieren. Es gibt eine nicht geringe Zahl von Zellen, die überhaupt keine beständige Form besitzen, sondern ihre Gestalt fortwährend verändern und daher als amöboide Zellen bezeichnet werden. Die amö- boiden Zellen haben sämtlich einen nackten Protoplasmakörper, der, von keiner Zellmembran umschlossen, bald hier, bald dort an seiner Oberfläche eine Vorwölbung seiner Körpersubstanz auftreten oder wieder verschwinden läßt und so jeden Augenblick eine andere Ge- 88 Zweites Kapitel. stalt annimmt. Je nach der verschiedenen Zellart haben aber diese Vorwölbungen oder „Pseudopodien“ auch verschiedene Formen, so Fig. 22. a Eizelle eines Kalkschwammes. Nach HAECKEL. b Blutzelle eines Kreb- ses. Nach HAECKEL. ce Biomyxa vagans, ein Süßwasserrhizopod. d Pigmentzelle aus dem Schwanz einer Frosch- larve. daß die eine Zellform, wie z. B. die meisten im Süßwasser lebenden Amöben (Fig. 21) oder die Eizellen (Fig. 224) mancher Tiere, durch breite lappen- oder fingerförmige, die andere, wie z. B. die Leukocyten (Fig. 225) oder farblosen Blutzellen, durch spitze, a b Fig. 23. a Eizelle aus dem Eierstock eines Seeigels. Nach HERTWIG, db Epidermiszellen vom Frosch. Von der lebendigen Substanz. 89 zerfetzte, wieder andere, wie viele Rhizopoden (Fig. 22ec) oder die Pigmentzellen (Fig. 22d) durch fadenförmige und netzförmig untereinander zusammenfließende Pseudopodien charakterisiert sind. Die überwiegende Mehrzahl der Zellen besitzt dagegen eine be- ständige Form, sei es, daß das Protoplasma von einer Zellmembran umkleidet ist oder nicht. Die einfachste Zellform, die als Typus des Elementarorganismus betrachtet werden kann, ist jedenfalls die Kugelform, wie sie unter anderen bei vielen Eizellen (Fig. 23a) und einzelligen Algen zum Ausdruck kommt. Von diesem Typus finden sich Abweichungen nach den verschiedensten Richtungen. Schon dadurch, daß die Zellen in den Verband mit anderen ihres- gleichen treten, was ja in jedem Gewebe der Fall ist, wird ihre Ge- stalt durch den Druck, dem sie von seiten der Nachbar- zellen ausgesetzt sind, beein- flußt. Eine Zelle, die an sich rund ist, muß daher im Ge- webe nach einfachen mecha- nischen Gesetzen schon eine polyädrische Gestaltannehmen, so etwa wie Erbsen, die man Why CERAUFRAIRRN 777) a b | Fig. 24. a Euastrum, eine einzellige Alge aus der i Gruppe der Desmidiaceen. Nach HAECKEL. b Gang- l lienzelle aus dem Rückenmark des Menschen. Nach N GEGENBAUR. z Zellkörper, n Nervenfortsatz (Achsen- zylinderfortsatz). | dicht gedrängt in eine Flasche getan hat und quellen läßt, ihre runde Ge- stalt verlieren und polyädrisch werden. In der Tat kommt die poly&drische Gestalt der Zellen gerade in Geweben, besonders bei Haut- (Epi- thel-) (Fig. 235) und Drüsenzellen sehr häufig vor. Dann aber ist ein wesentliches Moment, das eine Abweichung vom runden Typus herbeiführt, die Ausbildung beständiger Fortsätze über die Oberfläche hinaus. Dadurch kommen oft ganz dieselben Zellgestaltungen als be- ständige Formen zustande, wie sie amöboide Zellen vorübergehend zeigen. Die grüne Algenzelle von Euastrum (Fig. 24a) repräsen- tiert eine solche Zelle mit formbeständigen lappigen Fortsätzen, und die in unserem Zentralnervensystem, im Gehirn und Rückenmark 90 Zweites Kapitel. liegenden Ganglienzellen, die den Nervenfasern ihren Ursprung geben, besitzen dauernd Ausläufer und Fortsätze, die genau wie die Pseudopodien mancher Rhizopodenzellen aussehen (Fig. 245). Andere Zellen, die Wimperzellen, haben an ihrer Oberfläche bewegliche, aber dauernd vorhandene Fortsätze von der Gestalt der Augenwimpern. Diese Wimperzellen sind ungemein verbreitet und kommen nicht nur in Geweben als Flimmerepithelzellen (Fig. 25a) vor, sondern auch freilebend, das große Heer der Ciliaten oder Wimper- infusorien und der Flagellaten oder Geißelinfusorien bildend, je nachdem der einzellige Körper viele, sei es gleiche, sei es verschiedenartig differenzierte Wimperhaare besitzt (Fig. 255) oder nur einen oder wenige Geißelfäden trägt (Fig. 25c). Schließlich haben Fig. 25. a Flimmerepithelzellen. Nach SCHIEFFERDECKER. b Stylonychia mytilus, eine Wimperinfusorienzelle mit verschiedenartig differenzierten Wimpern, Wz Mund-Wimperzone, © kontraktile Vakuole, N Makronucleus, N’ Mikronucleus, A Afteröffnung. Nach STEIN. c Euglena viridis, eine Geißelinfusorienzelle mit einer einzigen Geißel.e n Kern, o Augenfleck, ce Vakuole. Nach STEIN. wir 'Zellen, die vom Typus dadurch abweichen, daß sie nach einer Richtung hin enorm in die Länge gezogen sind, so daß sie als schmale, band- oder fadenförmige Gebilde erscheinen. Extreme in dieser Rich- tung sind die glatten und quergestreiften Muskelzellen (Fig. 26a) sowie manche Spermatozoäön (Fig. 265). Gegenüber der erstaunlichen Formenmannigfaltigkeit der Zellen muß es auffallen, daß die Größe der Zellen nur innerhalb ver- hältnismäßig enger Grenzen schwankt. Es ist eine sehr bemerkens- werte Tatsache, daß bei weitem die Mehrzahl aller Zellen mikro- skopisch klein ist. Wohl bewegt sich die Größe der Organismen innerhalb enorm weiter Grenzen von der verschwindenden Kleinheit des Bakteriums, das nur wenige Tausendstel eines Millimeters mißt, Bu nn Von der lebendigen Substanz. 91 bis zu der imponierenden Masse eines Elefanten oder bis zur ge- waltigen Ausdehnung eines amerikanischen Mammutbaumes. Niemals aber “finden wir, daß größere Organismen nur aus einer einzigen Zelle beständen. Nur sehr wenige Zellformen erreichen, wenn sie einen klumpigen Protoplasmakörper haben, einen Durchmesser von wenigen Millimetern, und bei diesen wenigen Zellen, die eine solche Größe besitzen, werden wir bald auf die Tatsache aufmerksam, daß sie einen amöboiden Protoplasmakörper haben, dessen Oberfläche sich fortwährend verändert, dessen Substanz fortwährend in strömender Bewegung begriffen ist. Die Tatsache, daß klumpige Zellen, deren Radius nach allen Dimensionen ungefähr gleich groß ist, und deren Protoplasma sich nicht in fortwährender Strömung befindet, niemals die Größe von wenigen Millimetern überschreitet, erleidet nur scheinbare Ausnahmen. Man könnte z. B. als eine solche Ausnahme die Eizelle der Vögel geltend machen. Bekanntlich repräsentiert das Ei eines Huhnes anfangs noch eine einzige Zelle. Ein Straußenei würde demnach eine einzige riesige, klumpige Zelle sein, die schein- bar der angeführten Regel widerspräche. In- dessen, diese Ausnahme ist, wie gesagt, nur scheinbar, denn das wirklich aktive oder lebendige Protoplasma der Eizelle besitzt nur eine sehr geringe Größe und ist nur in Form einer äußerst dünnen und zarten Lamelle der übrigen Masse aufgelagert, die ihrerseits ganz allein von dem untätigen Eidotter, dem Nähr- material für die sich weiter entwickelnde und fortpflanzende Zelle, gebildet wird. Also hier haben wir in Wirklichkeit gar keine solide, klumpige Masse lebendiger Substanz, sondern nur eine dünne Lamelle, und eine solche ein- oder zweidimensionale Größenentwicklung liegt auch bei allen anderen Zellen vor, die, wie z. B. die oft über dezimeterlangen, quer- gestreiften Muskelzellen der Bein- _ muskeln oder die in mehr als meterlange ne 2 a SleitaMus $e z c elzelle. Nach SCHIEF- Nervenfäden auslaufenden Ganglienzellen yerrvecker. 5b Sperma- oder die blattförmigen Zellen der Caulerpa, tozoönzelle von Sala- die gewöhnliche Größe überschreiten. Was bei mandra maculata. allen diesen Tatsachen aber zum Ausdruck Naeı ewewie. Pr Topf kommt, ist der Umstand, daß das Ver- lead Membran, hältnisvon Masse zu Oberfläche der ef Endfaden. Zelle eine gewisse Größe niemals überschreitet. Wie wir später sehen werden, ist diese Tatsache tief im Wesen der lebendigen Substanz begründet, und die Entstehung eines großen massigen Organismus ist überhaupt nur möglich durch Aufbau aus sehr kleinen” autonomen Elementen, wie es die Zellen sind. 92 Zweites Kapitel. 2. Das Protoplasma. Es ist häufig der Fehler begangen worden, daß man das Proto- plasma als eine chemisch einheitliche Substanz betrachtet hat. Dieser Auffassung liegt ein doppelter Irrtum zugrunde. Der Begriff Proto- plasma, wie ihn die älteren Zellforscher geschaffen haben, ist einer- seits gar kein chemischer, sondern ein morphologischer Begriff, und anderseits umfaßte er den ganzen Inhalt der Zelle mit Ausnahme des Kerns. Dieser Zellinhalt ist aber weder in chemischem noch in morphologischem Sinne eine einheitliche Substanz, sondern ist ein Gemisch von vielen, teils flüssigen und gelösten, teils festeren und geformten Bestandteilen, und es muß immer wieder darauf aufmerk- sam gemacht werden, daß eine Einschränkung des Begriffs Proto- plasma auf gewisse Bestandteile der Zelle schon deshalb durchaus unstatthaft ist und zu ganz schiefen Konsequenzen führt, weil es durchaus falsch wäre, den einen oder den anderen Bestandteil als nebensäch- lich aus dem Begriff auszuscheiden. Die konditionale Betrachtungsweise, die nicht eine einzige „Ursache“ der Lebens- vorgänge kennt, weiß auch nichts von einer einzigen chemischen Verbindung, Fig. 27. a Epidermiszellen vom Frosch. Die lebendige Substanz erscheint voll- kommen hyalin. 5 Clepsidrina blattarum, eine einzellige Gregarine aus dem Darm der Küchenschabe. Das Protoplasma ist ganz mit Körnchen angefüllt. an die das Leben geknüpft wäre. Sie kennt nur eine große Menge von notwendigen Bedingungen und so sind denn auch alle die Stoffe, die im Protoplasma vorhanden sind und am Lebensvorgang in irgend- einer Weise teilnehmen, solche inneren Bedingungen des Lebens, die alle gleichwertig sind, weil sie eben notwendig sind zum Zustande- kommen des Lebens. Der Begriff Protoplasma ist daher unter allen Umständen in dem ursprünglichen Sinne als ein morphologischer Sammelbegriff aufrecht zu erhalten; das Protoplasma ist eine Summe, ein Gemisch der verschiedensten Substanzen. Mag man nach und nach immer mehr die einzelnen Bestandteile, welche das Protoplasma zusammensetzen, morphologisch und chemisch charakterisieren, mag man immerhin bestimmten hochkomplizierten organischen Verbin- Von der lebendigen Substanz. 93 dungen eine zentrale Stellung anweisen im Lebensprozeß, der Begriff Protoplasma als Sammelbegriff wird dadurch nicht beseitigt werden. Welche ver schiedenartigen Leistungen die einzelnen "Stoffe im Lebensprozeß der Zelle vollziehen, ist eine ganz andere Frage, die den Begriff Protoplasma nicht berührt. Wenn wir den Inhalt des Protoplasmas untersuchen, so können wir bei oberflächlicher Betrachtung schon zwei Gruppen von Bestand- teilen unterscheiden, einerseits verschiedene einzeln abgegrenzte Körper, wie Körner, Tröpfchen u. Ss. w., und anderseits eine "gleich- mäßige, zähflüssige, homogen erscheinende Grundmasse, in der die ersteren ebenso wie der Zellkern eingebettet liegen. W ährend aber in manchen Zellen die Grundmasse keine oder nur wenige Einlagerungen geformter Körper zeigt, wie z. B. bei vielen Epithelzellen (Fig. 27 a), ist in anderen vor lauter körnigen Bestandteilen die homogene Grund- masse kaum zu sehen, wie das bei manchen Pflanzenzellen und besonders ausgeprägt bei gewissen parasitär lebenden einzelligen Organismen, den Gregarinen (Fig. 275), häufig vorkommt. a) Die geformten Bestandteile des Protoplasmas. Fassen wir zuerst die geformten Bestandteile des Proto- plasmas ins Auge, so sind es körperliche Elemente der aller- verschiedensten Natur, die aber sämtlich spezielle Zellbestandteile sind, also nicht in allen Zellen vorkommen. Wir finden darunter Körper, die für das Leben der be- treffenden Zelle, in der sie enthalten sind, unbedingt notwendig sind, Stoffe, die ge- wissen Zellen geradezu ein charakteristisches (epräge aufdrücken; wir finden aber auch Bestandteile, die im Lebensprozeß nicht weiter Verwendung finden, wie z. B. unver- dauliche Reste der Nahrung. Wir stoßen ferner auf Nahrungsbestandteile, die noch nicht ver- ändert wir bemerken aber auch Stoffe, die aus der Nahrung durch den Lebensprozeß bereits in bestimmter Weise umgewandelt oder sogar neu gebildet und als Reserve- materialien aufgespeichert worden sind, und schließlich treffen wir in manchen Zellen Fig.28. « Eine Pflanzen- ganz konstant selbständige Organismen, die zelle mit Chlorophyll. als Symbionten oder Parasiten in ihnen en ar BER dauernd leben und unter Umständen eine ach Een | gewisse Rolle im Lebensprozeß der Zelle spielen können. Unter den geformten Protoplasmabestandteilen, die eine unent- behrliche Bedeutung im Leben der betreffenden Zelle haben, die da- her als Organe der Zelle oder, da wir unter Organ ein aus vielen Zellen zusammengesetztes Gebilde verstehen, besser als „Organoide“ der Zelle aufgefaßt werden können, sind besonders wichtig die Chlorophyllkörper der Pflanzenzellen. Diese kleinen, meist rundlichen, bisweilen auch bandförmigen Körper, die in der Grund- masse des Protoplasmas eingebettet liegen (Fig. 28), sind es, die der 94 Zweites Kapitel. Pflanzenzelle und damit der ganzen Pflanze ihre prachtvolle grüne Farbe geben, denn ihr weicher, aus Eiweißverbindungen bestehender Körper enthält einen intensiv grünen Farbstoff. Die Chlorophyll- körper sind unentbehrlich für das Leben der Pflanzenzelle, denn in ihnen läuft ein bedeutsamer Teil des Lebensprozesses ab, der die Pflanzenzelle charakterisiert. Andere Organoide der Zelle, die eben- falls ein bedeutsames Glied im Zellleben bilden, stellen die Flüssig- keitstropfen oder Vakuolen, wie sie eewöhnlich, wenn auch wenig treffend, genannt werden, vor. Unter den Vakuolen lassen sich zwei Arten unterscheiden. Es gibt Flüssigkeitstropfen, die nur gelegentlich einmal im Protoplasma sich an einer Stelle ansammeln, wo gerade eine Wasser anziehende Substanz gelegen ist; es eibt aber auch Vakuolen, die dauernd existieren und häufig in so großer Menge im Protoplasma vorhanden sind, daß die Grundsubstanz des Protoplasmas ganz gegen sie zurücktritt und nur noch dünne Wände für die Vakuolen /} . m INN, N fx fi M /) N IR & GR IP KO r , I} \ N \\\ II! DEE TAN ! N \ \\ Il) IN} ge IH, i -e y AL GEH 0 er N} Ahnen = Em in Ui Z ZU NN N N N a d c Fig. 29. a Pflanzenzelle aus einem Staubfadenhaar von Tradescantia. Nach STRASBURGER. b und c Pflanzenzelle mit großen Vakuolen. Nach HABERLANDT. d Thalassicolla nucleata, eine Radiolarienzelle. abgibt, so daß das Protoplasma förmlich ein schaumiges Aussehen erhält, wie z. B. bei manchen Pflanzenzellen (Fig. 29a, 5b, c) und Radiolarien (Fig. 294). Zu den konstanten Vakuolen, die als Zellen- organoide dienen, gehören schließlich die sogenannten kontraktilen oder pulsierenden Vakuolen, Flüssigkeitstropfen, die meist rhythmisch im Protoplasma verschwinden und wieder an derselben Stelle ent- stehen, indem die Flüssigkeit sich rhythmisch mit dem Protoplasma mischt und wieder sammelt. Manche dieser pulsierenden Vakuolen haben komplizierte Abzugskanäle und eine dauernd bestehende Wand- schicht, wie das z. B. bei vielen einzelligen freilebenden Organismen, besonders den Wimperinfusorien, der Fall ist (Fig. 30). Neben solchen dauernd bestehenden Formelementen des Proto- plasmas trifft man nun in vielen Zellen &eformte Bestandteile, die EEE EEE TE TE u a er An re EEE en ee N u re 6 et eh TEE Von der lebendigen Substanz. 95 nur vorübergehend als solche vorhanden sind. Hierhin gehören vor allem die Nahrungskörper, welche in Zellen zu finden sind, die sich durch Aufnahme geformter Nahrungsbestandteile ernähren. Ein- zellige, nackte Organismen, wie Amöben, weiße Blutzellen, Infusorien- zellen und andere, zeigen in ihrem Körperinhalt ‚nicht selten kleine III Fig. 30. Fig. 31. Fig. 30. Paramaecium aurelia, eine. Wimperinfusorienzelle. 5, und b, die beiden alternierend pulsierenden Vakuolen, von denen b, gerade im Stadium der Diastole, db, im Stadium der Systole sich befindet. Bei 5b, sind die radiären Kanäle deutlich zu sehen. Die übrigen Buchstaben bezeichnen: « den Zellkern (Makronucleus), c den Zellmund, d den Zellpharynx, e den Zellafter, f die Trichocysten, g die Basalkörperchen der Wimpern, A Nahrungsballen, die mit dem Protoplasma in der Richtung der Pfeile k zirkulieren, und © das Peristomfeld. Nach einer Zeiehnung von A. PÜTTER. Fig. 31. I Leukoeyten oder weiße Blutzellen vom Frosch, die ein Bakterium ent- halten, Nach METSCHNIKOFF. II Pflanzenzelle mit Stärkekörnern. I/II Stärke- körner isoliert. «a von der Kartoffel, b vom Mais, c von der Erbse. Algen, Bakterien, Infusorien, die sie von außen her aufge- nommen haben (Fig. 517), und die zuweilen kaum von anderen ge- formten Bestandteilen des Protoplasmas zu unterscheiden sind. Diese Nahrungsorganismen werden allmählich verdaut und verschwinden dann als geformte Protoplasmabestandteile. 96 Zweites Kapitel. Dafür treten als Produkte der Nahrungsumwandlung, sowohl bei Zellen, die geformte, als auch bei Zellen, die nur flüssige Nahrung aufnehmen, häufig wieder bestimmte, meist rundliche Körn- chen im Zellkörper auf, Körnchen der allerverschiedensten Natur (Fig. 7), die ALTMAnN zum Teil unter dem Namen Granula zusammengefaßt hat, und die er, wie wir bereits oben sahen, für die Elementarorganismen, die letzten lebendigen Elemente der Zelle, hält. Der größte Teil dieser Stoffwechselprodukte der lebendigen Substanz, die in Form von Granulis den Protoplasmakörper zusammensetzen helfen, ist seiner chemischen Natur und seiner Bedeutung nach noch nicht bekannt. Dagegen sind andere sehr genau charakterisiert und leicht zu erkennen, wie z. B. die konzentrisch geschichteten Stärke- körnchen in den Pflanzenzellen (Fig. 31/7 und IIT), die Fett- tröpfchen in den Zellen der Milchdrüsen, dieGlykogenkörnchen in den Leberzellen, die Pigmentkörnchen in den Pigmentzellen Fig. 33. Fig. 32. Amöbenzelle, die eine Diatomeenschale und zwei Sandkörnchen in ihrem Protoplasma enthält. Fig. 33. Paramaecium bursaria, eine Wimperinfusorienzelle, deren Exoplasma mit kleinen parasitären Algenzellen (Zoochlorellen) erfüllt ist. der Haut vieler gefärbter Tiere (Fig. 22d), die aus Eiweiß bestehenden Aleuronkörner in den Zellen keimender Pflanzensamen, die Kristalle von Kalkoxalat in Pflanzenzellen, von Guaninkalk in Pigmentzellen und viele andere, deren spezielle Aufzählung zu weit führen würde. Eine vierte Gruppe von geformten Elementen finden wir im In- halt mancher Zellen, Elemente, die am Lebensprozeß der Zelle über- haupt nicht oder nicht mehr beteiligt sind. Das sind die gelegentlich aufgenommenen unverdaulichen Körper, wieSandkörnchen (Fig.32), die man in manchen Amöben trifft, ferner die unverdaulichen Reste der Nahrungsstoffe, wie Schalen, Skelette, Hülsen von Nahrungsorganismen, und endlich die Exkretstoffe, die als unbrauchbare Nebenprodukte oder als Endprodukte des Stoff- wechsels noch eine Zeitlang im Zellkörper verharren, und nach und nach ausgeschieden werden. Schließlich sind unter den geformten Elementen des Protoplasmas in gewissen Zellen, besonders im Wasser lebender Tiere, nicht selten symbiotische oder parasitäre einzellige Organismen, die zwar genau EEE EEE Von der lebendigen Substanz. 97 genommen nicht zum Protoplasma der betreffenden Zelle gehören, die aber in einzelnen Fällen eine wichtige Rolle im Leben ihres Wirtes spielen. Solche symbiotische Organismen sind vor allem manche Algen, die Zooxanthellen und Zoochlorellen, über deren Natur als selbständige Organismen lange Zeit eestritten worden ist. Sie finden sich zahlreich in den Zellen niederer Tiere und be- sonders vieler Infusorien und Radiolarien, denen sie durch die Tätig- keit ihrer Chlorophylikörper den Sauerstoff liefern, so daß ihre Wirte in ihrer Atmung in hohem Grade unabhängig von dem Sauerstoff- gehalt des Mediums werden, in dem sie leben (Fig. 33). Wir wollen hier nicht in ermüdender Aufzählung jedes einzelne geformte Element anführen, das in dieser oder jener Zelle anzutreffen ist. Eine solche Liste würde viele Druckseiten füllen müssen. Es kommt uns hier nur darauf an, zu sehen, wie verschiedener Natur die geformten Bestandteile des Protoplasmas sind, die in einzelnen Zellen auftreten können, und wie unberechtigt es daher ist, das Protoplasma als eine einheitliche Substanz aufzufassen. Verlassen wir also die Reihe der geformten Protoplasmaelemente, und wenden wir uns zur Betrachtung der homogenen Grundsubstanz. b) Die Grundsubstanz des Protoplasmas. Wie bereits bemerkt, erscheint die Grundsubstanz des Protoplasmas, in der die Granula etc. eingebettet sind, bei ober- flächlicher Betrachtung vollständig homogen. Man kann das am besten an solchen Zellen sehen, die in ihrer Grundsubstanz nur wenig geformte Be- standteile eingelagert enthalten, besonders bei vielen Amöben, jenen freilebenden, am Boden stehender Gewässer umherkriechenden Zellen, deren nackte, fortwährend ihre Form wechselnde Protoplasmakörper die niedrigsten und einfachsten Organismen vorstellen, die überhaupt unsere Erd- oberfläche bewohnen. Diese interessanten Elemen- tarorganismen bilden in der Regel völlig granula- freie Vorwölbungen oder Pseudopodien (Schein- füße) an ihrer Oberfläche von breiter, finger- oder lappenförmiger Gestalt, die vollkommen hyalin und Fig. 34. Amöbenzelle strukturlos erscheinen (Fig.21, p. 87 und Fig. 34). mit vollkommen hya- In der Tat ist wohl auch bei den Amöben das En: ee hyaline Protoplasma nicht selten vollkommen ja. en ER strukturlos. Wenigstens haben alle bisherigen liegt im Endoplasma eine Untersuchungen, die mit den besten mikrosko- blasse, kontraktile Vaku- pischen Untersuchungsmitteln vorgenommen wor- 21° (Flüssigkeitstropfen). den sind, keinerlei Struktur erkennen lassen. j Aber die wirkliche Homogenität der Grundsubstanz des Proto- plasmas ist jedenfalls nicht die Regel, vielmehr zeigt sich bei An- wendung starker Vergrößerungen, daß die überwiegende Mehrzahl aller Zellen in ihrer scheinbar homogenen Grundmasse in Wirklichkeit eine äußerst feine und charakteristische Struktur besitzt. Schon 1844 hatte REMAK!) beobachtet, daß nicht nur die Nerven- 1) H. REMAK: „Neurologische Erläuterungen“. In Arch. f. Anat, und Physio- logie, 1844. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 7 98 Zweites Kapitel. fäden, sondern auch die Ganglienzellen des Zentralnervensystems eine sehr feine faserige oder fibrilläre Struktur erkennen lassen, eine Be- obachtung, die von einer großen Reihe von Forschern, besonders Max SCHULTZE!), und in neuerer Zeit von ArAÄTHY?) und BETHE ’) bestätigt und erweitert wurde. Später fand man auch in einzelnen anderen Zellen, in Drüsenzellen, Epithelzellen, Muskelzellen etc., eine streifige Struktur des Protoplasmas, und so bildete sich bei einzelnen Forschern die Vorstellung heraus, daß eine fibrilläre Struktur des Protoplasmas weit verbreitet wäre, eine Ansicht, die noch heute be- sonders von FLEMMING, BALLOWITZ und CAMILLO SCHNEIDER Ver- treten wird. Indessen schon früh erfuhr diese Lehre vom fibrillären Bau des Protoplasmas eine Modifizierung. FROMMANN besonders hat seit 1867 in einer langen Reihe von Arbeiten zu zeigen gesucht, daß die feinere Struktur des Protoplasmas aller Zellen nicht eigentlich eine fibrilläre, sondern eine netzförmige sei, eine Ansicht, die fast gleichzeitig auch von HEITZMANN aufgestellt wurde und bald eine weitere Verbreitung fand. Nach dieser Vorstellung soll das Protoplasma ein Netzwerk oder besser ein Maschenwerk bilden, dessen Knotenpunkte uns als einzelne Körnchen erscheinen. Das ganze Maschenwerk der Zelle ist nach außen offen, und zwischen seinen Fäden befindet sich eine Flüssigkeit, die aber von der Flüssigkeit des Mediums, in dem die Zelle lebt, also vom Wasser oder von den Körpersäften etc., ver- schieden ist. Es ist schwer, sich eine Vorstellung davon zu machen, wie es die Anhänger der Lehre von der Netzstruktur des Proto- plasmas für möglich halten, daß sich die innere Zellflüssigkeit bei membranlosen Zellen, wie es die Leukocyten des Blutes und die Amöben sind, an denen gerade die Netzstruktur von HEITZMANN sehr eingehend geschildert worden war, trotz ihres großen Wasser- gehalts nicht fortwährend mit dem umgebenden Medium mischt. Ver- suche, membranlose lebendige Protoplasmamassen mit bestimmten Farbstofflösungen zu färben, zeigen jedenfalls deutlich, daß die Färbe- flüssigkeit nicht in das lebendige Protoplasma eindringt. Diese und ähnliche Schwierigkeiten, die sich aus der Auffassung des Proto- plasmas als eines nach allen Seiten hin offenen Maschenwerks er- geben, haben denn auch viele Forscher zu einer sehr ablehnenden Haltung gegenüber der Lehre von der Netzstruktur des Protoplasmas veranlaßt, obwohl von verschiedenen Seiten das netzförmige Aus- sehen des Protoplasmas vieler Zellen bestätigt wurde. Erst die ausgezeichneten Untersuchungen, mit denen BÜTSCHLI®) vor einer Anzahl von Jahren die wissenschaftliche Welt überrascht hat, haben uns vollständige Klarheit über die wirkliche Beschaffenheit der so vielfach beobachteten Protoplasmastrukturen gegeben. Be- trachtet man das Protoplasma einer Zelle, die so viele Vakuolen oder 1) M. SCHULTZE: „Allgemeines über die Strukturelemente des Nervensystems“. In STRICKERsS Handbuch der Gewebelehre, 1871. 2) APATHY: „Das leitende Element des Nervensystems und seine topographi- schen Beziehungen zu den Zellen“. In Mitteil. der zool. Station zu Neapel, Bd. 12, 1897. (Hier eine Zusammenfassung seiner früheren Arbeiten mit vielen Tafeln.) 3) BETHE: „Ueber die Primitivfibrillen in den Ganglienzellen von Menschen und anderen Wirbeltieren“. In Morphol. Arbeiten von SCHWALBE, Bd. 8, 1898. 4) OÖ. BÜTSCHLI: „Untersuchungen über mikroskopische Schäume und das ge Leipzig 1892. Hier findet sich auch die genannte einschlägige iteratur. Pe Von der lebendigen Substanz. 99 Flüssigkeitstropfen einschließt, daß ihr Inhalt ein schaumiges Ansehen besitzt, mit stärkeren Vergrößerungen unter dem Mikroskop, so erhält man nicht das Bild vieler dichtgedrängter Vakuolen oder Blasen, sondern das Bild eines Netzwerkes, dessen Fäden die Querschnitte der dünnen Vakuolenwände bilden. Es liegt das daran, daß man mit starken Vergrößerungen immer nur Flächen, nie Körper sehen kann. Das Mikroskop zeigt von Körpern immer nur optische Querschnitte. Der optische Querschnitt durch einen Schaum aber stellt ein Netz- werk vor. So kommt es, daß stark vakuolisiertes Protoplasma bei stärkeren Vergrößerungen als Netzwerk erscheint. Diese Tatsache führte BÜTScHLI zu der Ueberzeugung, daß auch das feine netz- förmige Aussehen des bei schwacher Vergrößerung homogen er- scheinenden Protoplasmas, wie es bei so vielen Zellen bereits beob- achtet worden war, nur der optische Ausdruck einer äußerst feinblasigen & Ce d Fig. 35. a Schaumstruktur im intrakapsulären Protoplasma von” Tha- lassieolla nucleata. 5b Schaum aus Olivenöl und Rohrzucker. c Proto- plasmastruktur auf einer Pseudopodienausbreitung einer Foramini- ferenzelle (Miliola). d Protoplasmastruktur einer Epidermiszelle des Regenwurms. Nach BÜrscHLı. Schaumstruktur sei. Um diese Frage zu entscheiden, versuchte BÜTscHLI mikroskopische Schäume künstlich herzustellen von gleicher Feinheit wie die fraglichen Protoplasmastrukturen, und das gelang ihm in der wünschenswertesten Weise. BürscHuLı benutzte zu diesen Versuchen Oel, das mit Pottasche oder Rohrzucker sehr fein verrieben worden war. Kleine Tröpfchen von diesem Oelbrei, auf einer Glas- platte in einen Wassertropfen gesetzt, mit einem Deckgläschen be- n* d 100 Zweites Kapitel. deckt und unter dem Mikroskop beobachtet, nahmen alsbald eine äußerst feinschaumige Struktur an, indem die Pottaschen- oder Rohr- zuckerteilchen, die fein in dem Oeltröpfchen verteilt waren, durch das Oel hindurch auf dem Wege der Diffusion Wasserteilchen von außen her anzogen, so daß sich sehr feine Wassertröpfchen um sie herum dichtgedrängt im Oeltropfen ansammelten und diesen in einen über- aus feinen Oelschaum verwandelten. Die auf diese Weise gewonnenen Oelschäume zeigten nun eine so auffallende Uebereinstimmung mit der Struktur des Protoplasmas, daß sie kaum davon zu unterscheiden waren. Die umstehenden Figuren 35a und d, die von BÜTSCHLI entlehnt sind, lassen die völlige Identität in der Struktur beider Objekte auf den ersten Blick erkennen. Nach den sehr sorgfältigen und umfassenden Untersuchungen, die BüTscHLı in seinem großen Werke veröffentlicht hat, und nach den zahlreichen Bestätigungen, die seine Entdeckung durch Forscher wie SCHAUDINN und andere erfahren hat, kann es jetzt keinem Zweifel mehr unterliegen, daß die in Frage stehenden feinen Strukturen des Protoplasmas in Wirklich- keit Schaumstrukturen sind, die darauf beruhen, daß in einer gleich- artigen Grundmasse eine ungeheure Menge äußerst feiner, fast an der Grenze der mikroskopischen Wahrnehmbarkeit liegender Vakuolen eingebettet ist, die so dicht aneinander gedrängt sind, daß ihre Wände nur verhältnismäßig dünne Lamellen bilden. BürscHhLı hat ferner diese Schaumstruktur des Protoplasmas bei einer so großen Zahl der verschiedensten Zellformen (Fig. 35a, e, d) nachgewiesen, daß ihre weite Verbreitung jetzt nicht mehr bestritten werden kann. Nach allen diesen Untersuchungen der neueren Zeit können wir uns jetzt folgendes Bild von dem feineren morphologischen Bau des Protoplasmas machen. Das Protoplasma besteht aus einer in manchen Fällenanscheinendvollständig homogenen, in vielenFällenabersehr feinschaumartig oder waben- artig strukturierten Grundmasse, in der eine mehr oder weniger große Menge der verschiedenartigsten seformten Elemente oder Granula eingeschlossen liegt. Bei dem schaumartigen Protoplasmaliegendie Granula immer. in den Ecken und Kanten, wo die Schaum- vakuolen zusammenstoßen, niemals "in der Flüssigkeit der Schaumwaben selbst. Schließlich enthält das Protoplasma in seinerGrundmasse in einzelnen Fällen fibrilläre und grob retikuläre Differenzierungen. Von der Auffassung ALTMANNs, der die Granula allein für die Elementarteile des Protoplasmas, die Zwischensubstanz zwischen den Granulis aber für nicht lebendig hält, haben wir bereits oben!) ge- sprochen. Ihre Unhaltbarkeit tritt nach den BüTscHLischen Unter- suchungen nur um so augenfälliger hervor. 3. Der Zellkern oder Nucleus. Der Zellkern ist seit einigen Jahrzehnten ein Lieblingsobjekt morphologischer Untersuchungen geworden, und es hat sich hier eine psychologische Tatsache bemerkbar gemacht, die sich in der Ge- schichte des menschlichen Geistes immer und immer wiederholt, seit- 1) Vergl. p. 71 und folgende. un Von der lebendigen Substanz. 101 dem der Mensch überhaupt über die Dinge nachzudenken angefangen hat, das ist die Uebertreibung. Die älteren Protoplasmaforscher, besonders MAx SCHULTZE, hatten sich überzeugt, daß das Protoplasma wichtige Lebensäußerungen zeigt, und alsbald hatte sich durch über- triebene Verallgemeinerung die Ansicht herausgebildet, daß das Proto- plasma der alleinige Träger aller Lebensvorgänge sei, während der Zellkern eine nebensächliche Bedeutung haben sollte. Seitdem hat man bei gewissen Lebensäußerungen gerade eine hervorragende Be- teiligung des Zellkerns erkannt. Eine Reihe von Forschern hat gezeigt, daß der Zellkern bei der Fortpflanzung, Befruchtung, Sekre- tion ete. eine sehr wichtige Rolle spielt, und sofort ist die ursprüng- liche Meinung von der Alleinherrschaft des Protoplasmas in über- triebener Reaktion in das Gegenteil, in die Vorstellung von der Alleinherrschaft des Kerns, umgeschlagen. Wie wir in einem späteren Abschnitt sehen werden, liegt hier, wie so oft, die Wahrheit in der Mitte. Aber jede Reaktion ist übertrieben. Wie ein Pendel gehen die Meinungen zuerst nach beiden Extremen über den Ruhepunkt hinaus, und erst nach einiger Zeit wird die richtige Mitte dauernd eingehalten. Immerhin haben wir es diesen Untersuchungen über den Zellkern zu verdanken, daß sich unsere Kenntnis desselben bedeutend erweitert hat). a) Die Gestalt des Zellkerns. Was zunächst die Gestalt des Zellkerns betrifft, so ist die- selbe in verschiedenen Zellen sehr verschieden. Die Bildung des Zellkernbegriffs ging aus von solchen Zellformen, bei denen inmitten einer umgrenzten Protoplasmamasse ein einziger, mehr oder weniger rundlicher Kern gelegen ist, der sich hinsichtlich seines Lichtbrechungsvermögens und seiner Konsistenz wesentlich von dem ihn umgebenden Zellprotoplasma unterscheidet. Später fand man, daß er auch durch sein charakteristisches Verhalten gewissen Reagen- tien, besonders Farbstoffen, gegenüber in scharfem Gegensatz zum Protoplasma der Zelle steht. Diese Art des Auftretens der Kern- masse in der Zelle ist denn auch die verbreitetste in der ganzen Örganismenwelt. Ein großer Teil der freilebenden und die meisten gewebebildenden Zellen im Tier- und Pflanzenreich zeigen diesen Typus. Dabei ist das Verhältnis des Volumens des Kerns zu dem des Zellprotoplasmas ein sehr verschiedenes. Es finden sich Zellen, in denen ein verhältnismäßig kleiner Kern von einer großen Menge von Protoplasma umgeben ist, wie z. B. bei manchen Foraminiferen, während in anderen Zellen die Menge des Zellprotoplasmas gegen die der Kernmasse äußerst gering ist, wie bei den meisten Spermatozoen. Von dem Typus des mehr oder weniger rundlichen, in der Einzahl vorhandenen Zellkerns finden sich Abweichungen nach den verschie- densten Richtungen hin. Zunächst in bezug auf die Zahl der Kerne. Wie wir bereits oben sahen, gibt es Organismen, die aus einer ein- heitlichen Protoplasmamasse bestehen, in der eine große Menge von Zellkernen eingebettet liegt, wie das bei den mehrkernigen Zellen und 1) Vor einiger Zeit hat A. ZIMMERMANN die Ergebnisse der Forschung über den Zellkern besonders der Pflanzenzellen übersichtlich zusammengefaßt in seinem Buche: „Die Morphologie und Physiologie des ptlanzlichen Zell- kerns. Eine kritische Literaturstudie“. Jena 1896. 102 Zweites Kapitel. Syncytien der Fall ist. Dabei kann die Zahl der Kerne so groß und ihre Größe so verschwindend klein sein, daß, wie es GRUBER!) bei gewissen Rhizopoden aus dem Hafen von Genua, speziell bei Pelo- myxa pallida, beobachtet hat, die Zellkerne wie ein feiner Staub durch das ganze Protoplasma zerstreut liegen (Fig. 36). Bei solcher Verteilung der Kernmasse, wie sie bei den vielkernigen Formen auf- tritt, ist die Oberfläche der Kern- ä. a JS masse natürlich erheblich größer als RESET | Pa bei der Anordnung derselben Menge EEE — zu einem einzigen großen Kern, ein SEEN = Umstand, der in physiologischer ESTER! Hinsicht besonders wichtig ist. ; 2 Dasselbe Prinzip der Ober- flächenvergrößerung kommt aber auch zur Geltung durch Form- differenzierung des in der Einzahl vorhandenen Kernes. Von der ty- pischen rundlichen Form kommen \ die mannigfachsten und weitgehend- \ IN sten Abweichungen vor. Wurst- förmige, bandförmige (Fig. 37a), rosenkranzförmige (Fig. 375) Kerne sind namentlich unter den ciliaten Infusorien sehr verbreitet. Noch Fig. 36. Pelomyxa pallida, eine weiter gehend, führt „das Prinzip Rhizopodenzelle aus dem Hafen von Genua der Oberflächenvergrößerung zu mit fein verteilter Kernsubstanz im Proto- den sternförmigen und verzweigten plasma. Nach GRUBER. Kernen, wie sie z. B. in gewissen Zellen des Insektenkörpers ge- funden werden, und wie sie in den geweihförmig verästelten Kern- formen der Spinndrüsenzellen vieler Raupen ihre höchste Ausbildung erreichen (Fig. 37c). Als bemerkenswert erscheint es, daß es gerade die Kerne von sezernierenden, also durch lebhafte Tätigkeit charakte- risierten Zellen sind, die besonders das Prinzip der Oberflächen- vergrößerung durch Verzweigung zum Ausdruck bringen. b. Die Substanzen des Zellkerns. Bezüglich der substantiellen Beschaffenheit des Zell- kerns gilt genau dasselbe wie für das Protoplasma. Der Zellkern ist ebensowenig wie das Protoplasma eine einheitliche Substanz. Er ist ein morphologisches Gebilde, ein Organoid der Zelle, das aus mehreren verschiedenen Bestandteilen sich aufbaut, aus Bestandteilen, die sich mikroskopisch in manchen Fällen mehr, in anderen Fällen weniger deutlich voneinander unterscheiden lassen, die auch nicht immer sämtlich in allen Zellen vertreten sind. Bei der ungeheuren Kleinheit der Objekte ist es vielfach nicht leicht, die einzelnen Be- standteile scharf zu charakterisieren. Infolgedessen ist die Identität mancher Kernbestandteile einer Zellform mit denen einer anderen Zellform nicht immer über allen Zweifel erhaben, und es bedarf noch 1} GRUBER: „Ueber einige Rhizopoden aus dem Genueser Hafen“. In Bericht d. naturforsch. Ges. zu Freiburg i. B., Bd. 4, 1888. Von der lebendigen Substanz. 103 ausgedehnter Untersuchungen, bis wir zur völligen Klarheit darüber gelangen, welche Kernbestandteile der einen Zelle den oder jenen Bestandteilen einer anderen genau entsprechen. Immerhin kann man eine Reihe von Kernbestandteilen, die, wie es scheint, eine sehr weite Fi N ‘ Kane wo. b ce Fig. 37. Zellen mit verschiedenen Zellkernformen. a Vorticella, ein Wimperinfusor mit wurstförmigem Zellkern. 5 Stentor, ein Wimperinfusor mit rosen- kranzförmigem Zellkern. ce Spinndrüsenzellen von Raupen, mit geweihförmig verzweigtem Zellkern. Nach KORSCHELT. Verbreitung haben, schon jetzt ziemlich gut charakterisieren. Am meisten konstant in den Kernen der verschiedensten Zellen sind folgende Kernsubstanzen zu finden: 1. Der Kernsaft stellt die flüssige Grundsubstanz vor, in der die übrigen geformten Kernbestandteile enthalten sind (Fig. 38). 2. Die achromatische Kernsubstanz bildet in dieser Grundsubstanz ein Gerüstwerk aus feinen Strängen, die dadurch charakterisiert sind, daß sie sich ebensowenig wie der Kernsaft, in dem sie aufgehängt sind, durch die typischen Kernfärbemittel, wie Karminfarbstoffe, Hämatoxylin etc., färben lassen. 3. Die chromatische Kernsubstanz unterscheidet sich von der achromatischen gerade durch ihre Färbbarkeit mit diesen Färbe- mitteln. Sie ist in der Regel in der Form von kleinen Körnchen und Bröckchen in den Strängen der achromatischen Substanz ent- halten und auf ihrer Färbbarkeit beruht zum größten Teil unsere Kenntnis vom feineren Bau des Zellkerns. 104 Zweites Kapitel. 4. Das Kernkörperchen (Nucleolus) ist ein homogenes Körn- chen, das nur selten in der Mehrzahl im Kern vorhanden ist, und be- steht aus einer stark lichtbrechenden Substanz, die mit der chromatischen Substanz nahe verwandt zu sein scheint. Da sich die Substanz der Nukleolen mit den Kernfarbstoffen in der Regel ebenso färbt wie die chromatische Substanz, so ist das Kernkörperchen von manchen For- schern nur als eine besondere Ansammlung von chromatischer Substanz betrachtet worden, eine Ansicht, der indessen das abweichende Ver- halten beider Substanzen gewissen chemischen Reagentien gegenüber zu widersprechen scheint. Alle diese Substanzen, zu denen sich bei weiter fortschreitender Kenntnis des Zellkerns vielleicht noch andere gesellen werden, sind in den verschiedenen Zellen in sehr wechselnder Menge enthalten. Während manche Zellen die eine oder die andere Substanz in größerer Menge in ihrem Zellkern enthalten, tritt dieselbe Substanz in anderen < Zellen ganz in den ER Hintergrund, ja, es scheint sogar, als ob einzelne Substanzen in manchen Zellkernen vollständig fehlen Fig. 38. Verschiedene Zellkerne aus Samen- könnten. Umschlossen TZ Y Ss : ach HERTWIG. mutterzellen vom Pferdespulwurm. Nach TWIG und vom Protoplasma abgegrenzt sind die Kernsubstanzen in vielen Fällen durch eine besondere Kernmem- bran, die aber ebensowenig wie die Zellmembran für die Zelle ein allgemeiner Bestandteil des Kerns ist. ZACHARIAS!) und FRANK SCHWARZ?) haben vor einiger Zeit die herkömmlichen Namen für die einzelnen Substanzen durch andere Namen zu ersetzen gesucht. So ist die chromatische Substanz als Nuklein, die achromatische als Linin, die Nukleolarsubstanz als Para- nuklein oder Pyrenin, der Kernsaft als Paralinin und die Substanz der Kernmembran als Amphipyrenin bezeichnet worden. Es empfiehlt sich indessen durchaus nicht, diese Namen einzubürgern, denn sie führen so leicht zu Verwechslungen mit chemischen Begriffen, daß der Irrtum entstehen könnte, als handle es sich hier um die chemische Charakterisierung der betreffenden Kernelemente, und doch sind die Begriffe der Kernsubstanzen zunächst nur rein morphologische. Wollten wir aber den Begriff Nuklein wirklich in chemischem Sinne anwenden, dann würden wir die chromatische Kernsubstanz dadurch zu den übrigen Kernsubstanzen in einen chemischen Gegensatz bringen, der in Wirklichkeit nicht in dieser Weise existiert, denn die Mehrzahl der übrigen Kernsubstanzen gehört chemisch ebenfalls zu den sogenannten Nukleinen und stellt nur verschiedene Arten der- selben vor. Daher ist es zweckentsprechender, die morphologischen Kernbestandteile mit den ursprünglichen, oben verwendeten Namen zu belegen und sie nicht mit chemischen Stoffen begriftlich zu vermischen. Von Interesse aber ist noch eine Beobachtung bezüglich der Diffe- renzierung der einzelnen Kernsubstanzen. Das ist die Tatsache, daß 1) ZACHARIAS: In Botan. Zeitung 1881, 1882, 1883, 1885 u. 1887. 2) F. Schwarz: „Die morphologische und chemische Zusammensetzung des Protoplasmas“. Breslau 1887. Von der lebendigen Substanz. 105 von den Substanzen, die sich in den meisten Zellen innerhalb des Zell- kerns zusammen vorfinden, sich in manchen Zellen auch einzelne zu räumlich im Zellprotoplasma getrennten Massen differenziert haben, so daß zweierlei ganz verschiedene Kernformen in derselben Zelle nebeneinander vorkommen. Dieser Zustand ist fast durchgehends bei den eiliaten Infusorien verwirklicht, die neben einem großen Kern, dem „Makronucleus“, der hauptsächlich aus chromatischer Sub- stanz gebildet wird, noch einen oder mehrere, oft eine größere An- zahl sogenannter Nebenkerne oder „Mikronuklei“ besitzen, die vorwiegend aus chromatischer Substanz bestehen. Die Forderung, die zweierlei Elemente in der Infusorienzelle wirklich als zwei verschiedene Kernsubstanzen aufzufassen, ist in den Vorgängen beeründet, die nach den ausgezeichneten Untersuchungen von R. HErTwıG!) bei der Konjugation zweier Infusorien auftreten. Hier zerfällt der Hauptkern völlige im Protoplasma, und seine neue Anlage differenziert sich nach der Konjugation aus der Substanz der Neben- kerne. Während bei den ciliaten Infusorien der Zustand mit zwei differenten Kernformen im ganzen Leben der dauernde bleibt, wurde bei der Rhizopodenfamilie der Difflugien festgestellt, daß eine räumliche Differenzierung von zweierlei Kernen nur während der Kon- Jugationsperiode auftritt, um nachher wieder dem einkernigen Zustande Platz zu machen’). Schließlich sind in neuerer Zeit von R. HERTWIG°’) und seinen Schülern bei verschiedenen Zellformen, namentlich aus dem Reiche der einzellisgen Organismen, außerhalb des Zellkerns liegende Massen beschrieben worden, die sich mit Kernfarbstoffen wie Chromatin färben und daher von R. HEerTwIe als „Chromidien‘ bezeichnet worden sind. Dieser außerhalb des Kerns liegende „Chromidialapparat“ kann sehr verschiedene Formen annehmen. Er kann als dichte Masse den Kern außen umlagern (Fig. 39a), er kann in Form eines strangförmigen (zerüstes als „Chromidialnetz“ das Protoplasma durchziehen (Fig. 39 b) und er kann schließlich in der Gestalt einzelner isolierter Fäden und Bröckchen im Protoplasma zerstreut sein (Fig. 39c). Bei bestimmten Lebensvorgängen in der Zelle, beim Wachstum, beim Hunger, vor allem aber bei der Fortpflanzung geht der Chromidialapparat bestimmte Veränderungen ein. So geht z. B. bei der Sporenbildung mancher Rhizopoden der bläschenförmige Zellkern zugrunde und aus einem Teil der Chromidialkörner bildet sich in jeder aus dem Protoplasma- zerfall hervorgegangenen Spore ein neuer Zellkern. SCHAUDINN ®) und GOLDSCHMIDT?°) betrachten die Chromidien als gleichwertig mit den Nebenkernen der Infusorien und verallgemeinern die bisher ver- hältnismäßig wenigen Befunde von Chromidialmassen im Protoplasma 1) R. HERTwIG: „Ueber die Konjugation der Infusorien“. In Abhandl. der König. Bayr. Akad. München 1899. 2) M. VERWORN: „Biologische Protistenstudien“ II. In Zeitschr. f. wiss. Zool., Bd. 50, 1890. 3) R. HERTWIG: „Ueber den Chromidialapparat und den Dualismus der Kern- substanzen“. In Sitzungsber. d. Gesellsch. f. Morphologie und Physiologie in München 1907. 4) SCHAUDINN: „Untersuchungen über die Fortpflanzung einiger Rhizopoden“. In Arbeiten a. d Kais. Gesundheitsamt, Bd. 19, 1903. 5) GOLDSCHMIDT u. POPOFF: „lie Karyokinose der Protozo@n und der Chro- an ust der Protozo@n- und der Metazoönzelle“. In Arch. f. Protistenkunde, NR 106 Zweites Kapitel. zu der allgemeinen Lehre von einem Dualismus der Kernsubstanzen in der Zelle, von denen die eine „vegetative“, die andere „generative“ Funktionen haben soll. R. HERTwIG selbst schließt sich dieser Auf- fassung indessen nicht an. Für ihn existiert nur ein einheitliches Chromatin in der Zelle und seine Veränderungen sind lediglich die Folgen verschiedenartiger Bedingungen in verschiedenen Zuständen des Zelllebens. Indessen die Untersuchungen über diese Kerndiffe- renzierungen und ihre physiologische Bedeutung sind noch lange nicht zum Abschluß gelangt und es kann kein Zweifel bestehen, daß der ursprünglich einheitliche Begriff des Zellkerns, je mehr sich diese Untersuchungen vertiefen, um so mehr sich auflösen wird in eine r RLEET, N 5 F oe RE E Br ZN f | ö: 2 | | { INES £ 2, /-ch Br Fig. 39. a Radiolarienzelle (Acanthochiasma). Der Kern ist mit einer mäch- tigen Rindenschicht von Chromidialmasse umgeben. b. Süßwasser-Rhizopoden- zelle (Arcella vulgaris). Durch die mit runder Oeffnung (s) versehene Schale hindurch sieht man zwei Kerne, n, und das Chromidialnetz ch im Protoplasma liegen. c. Muskelzelle vom Spulwurm (Ascaris). Um den runden Kern mit seinen Kernkörperchen (Nucleolus) liegen dunkel gefärbte Chromidialschleifen und -fäden herum. Den unteren basalen Teil der Zelle bildet die kontraktile Fasermasse. a und 5b nach R. HERTWIG, ce nach GOLDSCHMIDT. große Vielheit von verschiedenartigen Substanzen, die bei den ver- schiedenen Zellformen in mannigfaltiger Weise morphologisch und räumlich differenziert sind, und von denen jede in dem Lebensprozeß ihrer spezifischen Zellform eine ganz bestimmte Rolle spielt als ein notwendiges Glied in der gesamten Kette von Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Zellteilen. e) Die Struktur der Kernsubstanzen. Werfen wir schließlich noch einen flüchtigen Blick auf die Struktur der Kernsubstanzen, so haben wir bereits gesehen, daß die achromatische Substanz in der Grundmasse des Kernsaftes ein Gerüstwerk bildet, in dessen Strängen und Knotenpunkten die chromatische Substanz und die Kernkörperchen eingebettet liegen in ganz derselben Weise wie die geformten Elemente, die Granula etc. in den Wabenwänden des Protoplasmas. Ja, die Aehnlichkeit des Verhältnisses geht sogar, wie BÜTSCHLI gezeigt hat, in einzelnen Fällen so weit, daß die achromatische Substanz genau dieselbe Waben- struktur im Zellkern zeigt, wie sie die Grundmasse des Protoplasmas als Regel besitzt (Fig. 40). Sie schließt dann den Kernsaft in den Von der lebendigen Substanz. 107 Wabenräumen selbst ein. In anderen Fällen erscheint im Kernsaft eine äußerst feine Granulierung. So hat z. B. KORSCHELT!) gefunden, daß die Zellkerne von Spinndrüsenzellen der Raupen ganz von gleich- mäßig feinen Körnchen (Mikrosomen) erfüllt sind, zwischen denen die chromatische Substanz in Form von dickeren Brocken (Makrosomen) eingelagert erscheint (Fig. 41). Fig. 40. Fig. 41. Fig. 40. Wabenstruktur im Zellkern einer Ganglienzelle. Nach BÜTscHLı. Fig. 41. ZweiZellkerne aus den Spinndrüsenzellen der Raupevon Pieris brassicae. Die Grundsubstanz der Kerne zeigt eine feinkörnige Struktur (Mikrosomen). In ihr liegen die Chromatinkörperchen (Makrosomen) eingelagert. Nach KORSCHELT. Alle diese Strukturen sind aber nur charakteristisch für den so- genannten Ruhezustand der Zelle. Sobald die Zelle sich anschickt, sich durch Teilung zu vermehren, treten ganz eigentümliche und sehr komplizierte Veränderungen in der Struktur der Kernsubstanzen ein, auf die wir erst später in einem anderen Kapitel näher eingehen wollen. C. Die chemischen Eigenschaften der lebendigen Substanz. 1. Die organischen Elemente. Wo das Mikroskop seine Grenze findet, beginnt das Reich der Chemie. Die chemische Forschung dringt unter allen Naturwissen- schaften am tiefsten in die Zusammensetzung der Körperwelt ein, indem sie vorgeht bis zu den kleinsten Teilen. Bekanntlich ist denn auch die Chemie bis zu dem Punkte gelangt, daß sie die ganze Formenfülle der unermeßlichen Körperwelt als zusammengesetzt er- kannt hat aus den Atomen einer verhältnismäßig geringen Zahl ein- facher Stoffe der chemischen Elemente. Während man aber früher die Atome der etwa 70 chemischen Elemente als letzte unteilbare Bestandteile der „Materie“ betrachtete, haben sich in den letzten Jahren die Anschauungen der Naturwissenschaft in diesem Punkte ganz wesentlich geändert. Allerdings war man schon lange zu der Ueberzeugung gekommen, daß in Wirklichkeit die Atome der chemischen Elemente keine letzten Einheiten sind in dem Sinne, wie eine frühere Phase der chemischen Forschung sich dachte. MENDE- LEJEWS Entdeckung des natürlichen Systems der Elemente wies schon darauf hin, daß eine auf direkter Abstammung voneinander beruhende 1) E. KoRSCHELT: ‚Ueber Kernstrukturen und Zellmembranen in den Spinn- drüsen der Raupen“. In Arch. f. mikr. Anat., Bd. 47, 1896. 108 Zweites Kapitel. natürliche Verwandtschaft unter den chemischen Elementen bestehe. Allein erst die rapide sich folgenden Entdeckungen der letzten Jahre über die radioaktiven Stoffe haben uns mit der Tatsache des Atom- zerfalls bekannt gemacht und haben dadurch eine Reihe von alt- hergebrachten Anschauungen teils ganz über den Haufen geworfen, teils heftig erschüttert). Wir wissen jetzt wenigstens von einer An- zahl von Elementen, daß sie in andere Elemente zerfallen können und langsam von selbst zerfallen. So geht das Radium aus dem Zerfall des Urans hervor und der Zerfall des Radiums wiederum liefert Helium, Polonium und Blei. Die Vorstellung der mittelalterlichen Alchymisten von der Umwandlung der Metalle, die so lange der modernen Chemie zum Gespött dienten, haben dadurch eine tatsäch- liche Basis erhalten. Ja, wir kennen in den negativen Elektronen heute körperliche Teilchen, die noch 2000mal leichter sind als die Atome des leichtesten Elementes, des Wasserstoffs. So hat die moderne Forschung die Welt der chemischen Elementatome, in deren Grenzen bisher alles chemische Denken eingeschlossen war, um unermeßliche Strecken überschritten. Indessen berühren alle diese Dinge, die eben erst in den Gesichtskreis wissenschaftlicher Erkenntnis eintreten, die physiologischen Probleme vorläufig noch nicht, denn die Physiologie hat noch nicht einmal Zeit gehabt, die Frage aufzuwerfen, ob und wie weit die Vorgänge des Elementzerfalls am Lebensvorgang be- teiligt sind. Es ist aber ganz zweifellos, daß die neuen Entdeckungen der Chemie und Physik auch auf unsere Vorstellungen vom Lebens- vorgang sehr bald einen Einfluß ausüben werden. Beschränken wir uns vorläufig auf die Welt der chemischen Elementatome, so zeigt uns eine chemische Elementaranalyse der lebendigen Substanz, daß von den etwa 70 Elementen, aus deren Zusammensetzung sich die gesamte Körperwelt aufbaut, nur die geringe Zahl von 12 Elementen konstant in der lebendigen Substanz zu finden ist. Die 12 Elemente, die in jeder Zelle angetroffen werden, sind: Name: Zeichen: Atomgewicht: Kohlenstoff: ».. "2-1 De Stiekstott“ 1%: 0 Zus IND Bee er ee et Behweiel,r 2. rum Wege we Va ne Ve Eee MLABSELSLOfE.-.. 5... ars SEELE er 2 SABEERIOH, „ir auf ee ee ee ie ER DHOr dr. ren Bere ra A ee Kalmmas, 2 0... Jig> Genie ee ne EN TEEN 6 Se SE > eva 7 En Metelen 1. gg MO ee et Balearen er ae ee Eisen eeh a Bes ee Neben diesen 12 allgemeinen organischen Elementen kommt noch eine kleine Anzahl spezieller Elemente vor, die nicht in allen Zellen anzutreffen sind und zum Teil nur ganz sporadisch gefunden werden. Es sind das: 1) Vergl. darüber zur näheren Orientierung E. RUTHERFORD: „Radioaktive Umwandlungen“. Uebersetzt von M. Levis. Braunschweig 1907. Von der lebendigen Substanz. 109 Name: Zeichen: Atomgewicht: LT a Slneae. urn ren BOB N rn la he a BREITER Ne BR EU oo ee a ee nn u et TR KENNEN T SR ee NER: U | Er OR REN. ERENTO Unter ihnen tritt das Silicium weit, das Fluor wenig verbreitet auf, während die anderen, die ebenfalls nur ein sehr beschränktes Vorkommen haben, nebst einigen Metallen, die bisweilen spurweise in der lebendigen Substanz gefunden werden, wie das Kupfer, viel- leicht gar keine Bedeutung für den Lebensvorgang der betreffenden Organismen besitzen, in denen sie beobachtet worden sind. Aber keins von diesen gesamten organischen Elementen ist aus- schließlich auf die organische Natur beschränkt. Der Kohlenstoff findet sich, an Sauerstoff gebunden, als Kohlensäure in der Luft und massenhaft im kohlensauren Kalk der Sedimentgesteine. Der Wasserstoff bedeckt, ebenfalls an Sauerstoff gebunden, als Wasser den größten Teil der Erdoberfläche. Der Sauerstoff ist sowohl frei als Gas in der atmosphärischen Luft vorhanden, die er zu ca. 21 Proz., zusammensetzt, als auch ge- bunden an eine große Zahl anderer Elemente. Der Stickstoff kommt gleichfalls sowohl im freien Zustande vor in der Luft zu ca. 79 Proz. als auch gebunden an Wasserstoff und Sauerstoff in den Verbindungen des Ammoniaks sowie der salpetrigen und Salpetersäure. Der Schwefel ist weit verbreitet in Verbindung mit Sauerstoff in schwefelsauren Salzen. Der Phosphor verhält sich ebenso und ist in den phosphor- sauren Salzen der Alkalien und alkalischen Erden überall zu finden. Das Chlor erscheint in ungeheurer Verbreitung, an Natrium gebunden, als Kochsalz. Das Kalium kommt, an Chlor gebunden, als Chlorkalium und in Verbindung mit Säuren in Form von salpetersauren, schwefel- sauren, phosphorsauren Salzen vor. Das Natrium erscheint hauptsächlich im Chlornatrium oder Kochsalz überall auf der Erdoberfläche, gelöst im Meere sowohl wie in der Erde und als große feste Massen in Salzlagern. Das Magnesium ist ein beständiger Begleiter des Kaliums und Natriums und tritt in denselben Verbindungen auf wie diese, als Chlor- magnesium, kohlensaure, schwefelsaure und phosphorsaure Magnesia. Das Calcium setzt in Form von kohlensaurem, kieselsaurem, schwefelsaurem, phosphorsaurem Kalk die ungeheuren Kalkstein- schichten der Sedimentgebirge zusammen. Das Eisen ist in Form von Schwefelverbindungen sowie Oxyden und deren Salzen ungemein weit auf der Erdoberfläche verbreitet. Das Silicium erscheint fast ausschließlich an Sauerstoff ge- bunden in Form von Kieselsäure und deren Salzen in den Gesteinen der plutonischen Gebirgsmassen. Das Fluor findet sich hauptsächlich in Verbindung mit Calcium als Flußspat. 110 Zweites Kapitel. Das Brom und Jod ist als Brom-(Jod-)Natrium und Brom-(Jod-) Kalium in vielen Salzlagern sowie im Meerwasser vorhanden. Das Aluminium ist in seiner Verbindung mit Sauerstoff zu Tonerde und diese in Verbindung mit Kieselsäure zu Feldspat ein über die ganze Erde verbreitetes Element. Das Mangan schließlich, sowie alle anderen Metalle, die ge- legentlich noch hier und dort im lebendigen Organismus beobachtet werden, sind in Form ihrer Oxyde, Schwefelverbindungen und der verschiedensten Salze in den Gesteinen der Gebirge überall anzu- treffen. Dieser Ueberblick zeigt uns schon, daß alle organischen Elemente zugleich die anorganische Körperwelt unserer Erdoberfläche zusammen- setzen helfen. Da aber ferner die chemische Elementaranalyse der lebendigen Substanz zu dem Ergebnis geführt hat, daß außer diesen Elementen keine anderen im Organismus zu finden sind, so ergibt sich, daß ebensowenig ein besonderes Lebenselement in den Orga- nismen existiert wie eine besondere Lebenskraft. Die Begriffe dest s;Lebensäthers“, des-„spiritus animalis“, der „Lebensmaterie* etc., mit denen die ältere Physiologie so freigebig umging, sind daher aus derheutigen Lehre vom Leben entsprechend der fortgeschrittenen Ent- wicklung, welche die analytische Chemie in unserer Zeit durchgemacht hat, vollständig verschwunden, und man weiß, daß die lebendige Substanz aus keinen anderen elementaren Stoffen zusammengesetztist, als die Welt der leblosen Körper. 2. Die chemischen Verbindungen der Zelle. Um den chemischen Aufbau der lebendigen Substanz kennen zu lernen, müssen wir die lebendige Substanz töten. So paradox das klingen mag, dennoch ist es vorläufig der einzige Weg, auf dem wir zu einer Kenntnis von dem Uhemismus der lebendigen Substanz ge- langen können, und wir müssen uns den beißenden Spott, den MEPHISTOPHELES vor dem Schüler über diese Praxis der physio- logischen Chemie ausgießt, noch immer ruhig gefallen lassen. In der Tat ist es nicht möglich, der lebendigen Substanz mit den Methoden der Chemie nahezutreten, ohne dieselbe zu töten. Jedes chemische Reagens, das mit ihr in Berührung kommt, zerstört oder verändert sie, und was wir dann chemisch untersuchen, ist keine lebendige Sub- stanz mehr, sondern eine Leiche, eine Substanz, die völlig andere Eigenschaften hat. Wir können daher nur durch Rückschlüsse aus den chemischen Befunden am Leichnam auf die Verhältnisse am lebendigen Objekt zu Vorstellungen über die Chemie des letzteren gelangen, durch Schlüsse, deren Richtigkeit wir nur in seltenen Fällen experimentell am lebendigen Objekt nachzuprüfen in der Lage sind. Daß bei dieser Sachlage die größte Vorsicht in bezug auf die Uebertragung der, Er- gebnisse vom toten Objekt auf die Verhältnisse des lebendigen nötig ist, liegt auf der Hand, und wir müssen uns jeden Augenblick be- wußt bleiben, daß die chemischen Verhältnisse am lebendigen Objekt scharf von denen seines Leichnams zu unterscheiden sind. Haben wir uns einerseits überzeugt, daß zwischen den Ele- mentarstoffen, welche die lebendige Substanz zusammensetzen, Von der lebendigen Substanz. 111 und denen, aus welchen sich die leblose Körperwelt aufbaut, kein prinzipieller Unterschied existiert, so finden wir doch anderseits, daß ein Teil der Elemente in der lebendigen Substanz zu ganz eigen- tümlichen Verbindungen zusammentritt, die nur die leben- dige Substanz charakterisieren und die, soweit sie nicht vom Menschen künstlich hergestelltwerdenkonn- ten, in der leblosen Natur nirgends zu finden sind. So haben wir in der lebendigen Substanz neben chemischen Verbindungen, die auch in der leblosen Natur vor- kommen, spezifisch organische Atomkomplexe. Ein großer Teil dieser organischen Verbindungen und unter ihnen gerade die, welche für die lebendige Substanz von hervor- ragender Bedeutung sind, besitzt eine so komplizierte Konstitution, daß es der Chemie bisher noch nicht gelungen ist, einen Einblick in die räumlichen Lageverhältnisse der Atome in ihren Molekülen, d.h. in ihren letzten Teilchen, die noch die Eigenschaft des ganzen Stoffes besitzen, zu gewinnen, wenn auch vielfach bereits ermittelt werden konnte, "wieviel Atome jedes Elements im Molekül des Stoffes ent- halten sind. Drei Haupteruppen von chemischen Körpern und ihren Um- setzungsprodukten sind es vornehmlich, durch deren Vorhandensein sich die lebendige Substanz von der Substanz der leblosen Körper unterscheidet, das sind die Eiweißkörper, die Fette und die Kohlehydrate. Unter diesen drei Gruppen sind nur die Eiweißkörper und deren Derivate mit Sicherheit sanz allgemein in allen Zellen nachgewiesen worden, so daß man sie als die wesentlichen oder allgemeinen unter den organischen Bestandteilen der lebendigen Substanz den sämtlichen speziellen gegenüberstellen muß. a) Die Eiweißkörper. Die Eiweißkörper (Albuminosen, Proteine) spielen als diejenigen Körper, die für alles Leben, das augenblicklich die Erdoberfläche be- völkert, durchaus unentbehrlich sind, und die ihrer Masse nach den Hauptbestandteil aller organischen Verbindungen der Zelle ausmachen, die wichtigste Rolle in der Zusammensetzung der lebendigen Substanz. Sie bestehen ausnahmslos aus den Elementen Kohlenstoff, Wasserstoft, Schwefel, Stickstoff und Sauerstoff, unter denen der Stickstoff das- jenige Element ist, das die Eiweißkörper den anderen beiden Haupt- eruppen der organischen Körper, den Kohlehydraten und Fetten gegenüber besonders charakterisiert, so daß man sie auch als die stickstofthaltigen den stickstofffreien Körpern gegenübergestellt hat. [hr Molekül ist zwar trotz der gewaltigen Fortschritte der Eiweiß- chemie seiner Atomverkettung nach noch nicht bis in alle Einzel- heiten hinein bekannt, aber wir wissen aus einer Reihe von Analysen, bei denen das Molekül in eine eroße Menge selbst noch sehr kom- pliziert zusammengesetzter Moleküle gespalten wird, daß es eine un- geheuer komplizierte Konstitution haben muß und, obwohl es nur die fünf Elemente C, H, N, S und OÖ enthält, doch eine Atomenzahl in sich birgt, die oft weit “über tausend geht. PREYER!) hat zuerst im 1) PREYER: „‚De Haemoglobino observationes et experimenta“. (Dissertation.) Bonn 1866. 112 Zweites Kapitel. Jahre 1866 eine Analyse des Hämoglobins ausgeführt, desjenigen Ei- weißkörpers, der dem Blute und speziell den roten Blutkörperchen die charakteristische Farbe gibt und als Ueberträger des Sauerstoffs aus den Lungen durch das Blut zu den Zellen der Gewebe eine äußerst wichtige Rolle im Tierkörper spielt. PREYER fand die Zusammen- setzung des Hämoglobinmolküls: C;o0HggoNı54Feı830179 und obwohl diese Formel anfangs Befremden erregte, hat seitdem eine Reihe weiterer Analysen ganz ähnliche Resultate ergeben }). So läßt sich nach GRÜBLERS?) Untersuchungen die Zusammen- setzung des kristallisierten Eiweißes, das in Kürbissamen vorkommt, auf C2992H4sıNg00839; berechnen. ZINOFFSKY?) fand die Formel des Hämoglobins aus Pferdeblut sogar noch größer als PREYER, nämlich: Cz12H11ı30N214 024, FeıS; und Formeln von ähnlich hoher Konstitution sind auch für das Ei- weiß, welches das Weiße des Hühnereies bildet, berechnet worden. Aus allen diesen Analysen ergibt sich, daß das Molekül der Eiweißkörper wegen der Menge der darin enthaltenen Atome außerordentlich groß sein muß!?). Die physikalischen Eigenschaften der Eiweißkörper. Die natürlich vorkommenden Eiweißkörper bilden in Wasser keine eigentlichen, sondern kolloidale Lösungen. Seitdem GRAHAM im Jahre 1861 zuerst kristalloide und kolloide Stoffe unterschieden hat, ist diese Unterscheidung wenigstens bezüglich des Löslichkeits- verhaltens der chemischen Stoffe immer schärfer charakterisiert worden. Während die kristalloiden Stoffe, wie z.B. fast alle Salze, in Wasser Lösungen bilden, indem sich ihre Moleküle gleichmäßig im Lösungs- mittel isoliert voneinander verteilen, bleiben in den Lösungen kollo- ider Stoffe die Moleküle zu mehr oder weniger großen Komplexen miteinander verbunden, so daß sie als feine Partikel im Lösungs- mittel suspendiert sind. Aus der kolloidalen Natur der Eiweißlösungen ergibt sich die wichtige Eigenschaft der Eiweißkörper wie andere kolloide Stoffe durch semipermeable Mem- branen nicht zu diffundieren. Bringt man in ein weites Glas- rohr, dessen Oeffnung mit einer Membran, am besten von künstlichem Pergament, überzogen ist (Fig. 42), eine Lösung von Kochsalz oder einem anderen löslichen Salz in Wasser und hängt man das Glasrohr in ein Gefäß mit reinem Wasser, so findet man nach kurzer Zeit, daß die Salzlösung in dem inneren Glasrohr bedeutend an Konzen- 1) Vergl. BuNGE: „Lehrbuch der physiologischen und pathologischen Chemie“. 2. Aufl., Leipzig 1889. 2) GRÜBLER: „Ueber ein kristallinisches Eiweiß der Kürbissamen“. In Journ. f. prakt. Chemie, Bd. 23, 1891. 3) ZINOFFSKY: „Ueber die Größe des Hämoglobinmoleküls“. In Zeitschr. f. physiolog. Chemie, Bd. 10, 1885. 4) Die für die Beurteilung der Größe des Eiweißmoleküls in Betracht kommen- den Tatsachen sind neuerdings in übersichtlicher Weise verwertet worden in der Ar- beit von FR. N. SCHULZ: „Die Größe des Eiweißmoleküls“. Jena 1903. Von der lebendigen Substanz. 113 tration abgenommen hat, während das Wasser im äußeren Gefäß jetzt einen ebenso großen Prozentgehalt an Salz besitzt wie die Lösung im inneren Glasrohr. Es ist also Salz aus dem Glasrohr durch die Membran in das äußere Wasser diffundiert, bis der Prozentgehalt an Salz in beiden Flüssigkeiten gleich war. Nimmt man aber statt des Salzes eine Lösung von Hühnereiweiß, die man erhält, wenn man das Weiße eines Hühnereies mit etwa 100 ccm Wasser tüchtie zusammen- reibt und durchfiltriert, so kann man die Lösung im Dialysator, wie man diesen Apparat nennt, stunden- und tagelang stehen lassen, ohne daß eine Spur von Eiweiß aus dem inneren Rohr in das äußere Wasser diffundiert. Aus der kolloidalen Natur der Eiweißlösung erklärt sich diese Tatsache sehr einfach: die Eiweiß- moleküle sind zu größeren Partikeln untereinander vereinigt, die zu groß sind, als daß sie durch die sehr feinen Poren der Membran hindurchgehen könnten, während den isolierten Molekülen der Salze kein Hindernis im Wege steht. Für die chemische Untersuchung der Ei- weißkörper ist übrigens diese Eigenschaft von praktischer Bedeutung, denn man kann durch Dialyse die Eiweißkörper von allen Salzen, die etwa mit ihnen zu- sammen in Lösung sind, immer leicht trennen. Schließlich darf nicht übersehen werden, daß die Eiweißmoleküle durch Einwirkung bestimmter Reagentien über- Fig. 42. geführt werden können in Stoffe, welche durch Membranen diffundieren, ohne dabei diechemischen Eigenschaften der Eiweißkörper verloren zu haben. Diese Stoffe, in die z. B. die Eiweißkörper unter dem Ein- fluß der Verdauungssäfte des Magens und des Pankreas im Körper übergehen, werden als „Albumosen“ und „Peptone“ bezeichnet, und man weiß, daß sie durch Spaltung des ursprünglichen Eiweiß- moleküls unter Wasseraufnahme entstehen, daß sie Hydrate der ur- sprünglichen Eiweißkörper vorstellen. Aus dieser Tatsache ergibt sich eine wichtige Schlußfolgerung. Da das Eiweißmolekül bei der Peptonisierung gespalten wird in Peptonmoleküle, die viel kleiner und daher diffusibel sind, die aber in chemischer Beziehung die Eigen- schaften der Eiweißkörper haben, so folgt daraus, daß das ur- sprüngliche Eiweißmolekül kein einfaches Molekülist, sondern ein polymeres Molekül, d.h. ein Molekül, das aus einer kettenartigen Verknüpfung vieler gleich- artiger Moleküle besteht. Bei dem Uebergang in den Pepton- zustand zerfällt das Eiweißmolekül unter Wasseraufnahme in die einzelnen gleichartigen Atomgruppen, die zwar noch sämtlich die chemischen Eigenschaften der Eiweißkörper haben, aber viel kleinere Moleküle vorstellen. Hat die Unterscheidung GRAHAMs zwischen kristalloiden und kolloiden Stoffen bezüglich der Verschiedenheiten ihrer Löslichkeit gerade in neuerer Zeit zu sehr wichtigen Anschauungen und Erfah- rungen geführt, so ist sie doch bezüglich der Verschiedenheiten im Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 8 Dialysator. 114 Zweites Kapitel. Kristallisationsvermögen nicht aufrecht zu erhalten gewesen. Die kristalloiden Stoffe sollten aus ihren Lösungen auskristallisieren können, die kolloiden Stoffe dagegen nicht. In Wirklichkeit kennen wir heute eine Menge Eiweißkörper, die echte Kristalle bilden können, wie die bereits genannten Eiweißkörper in den Kürbiskernen, die als Aleuronkörner in Pflanzensamen weit verbreitet vorkommen, und wie ferner das Hämoglobin der roten Blutkörper- chen. Schüttelt man z. B. geschlagenes Meerschweinchenblut längere . Zeit mit etwas Aether, wodurch das Hämoglobin aus der Substanz der roten Blutkörperchen ausgezogen und in die Blutflüssigkeit über- geführt wird, und läßt man einen Tropfen dieser Flüssigkeit auf einer 1 II JÄNE Fig. 43. Hämoglobinkristalle. 7 vom Menchen, II vom Meerschweinchen, III vom Eichhörnchen. Nach KIRKES. Glasplatte langsam verdunsten, oder noch besser, vermischt man etwas Meerschweinchenblut mit Kanadabalsam, der in Aether gelöst ist, auf einem Objektträger und bedeckt das Ganze sogleich mit einem Deck- gläschen, so scheiden sich allmählich sehr zierliche tetraöderförmige Kristalle aus (Fig. 43 IT), die reines Hämoglobin vorstellen. Ebenso ist es in neuerer Zeit gelungen, auch eine ganze Reihe anderer Ei- weißkörper zur Kristallisation zu bringen. Wenig aufgeklärt ist bisher eine weitere physikalische Eigentüm- lichkeit, die fast allen Eiweißkörpern mit Ausnahme weniger Stoffe dieser Gruppe, wie z. B. der Peptone, zukommt, das ist die Fähig- keit, zu gerinnen, zu koagulieren. Die Gerinnung besteht in einem Uebergang aus dem gelösten in einen festeren Zustand inner- halb des Lösungsmittels. Ein Mittel, das fast alle Eiweißkörper zur Gerinnung bringt, ist das Kochen. In einem frischen Hühnerei ist das Eiweiß in einer dicken, klaren, fadenziehenden Lösung vorhanden. Im gekochten Hühnerei dagegen ist es zu einer festen, weißen, un- durchsichtigen Masse geworden, es ist koaguliert. Aus dünnen Lösungen kann sich das Eiweiß beim Kochen in Gestalt von feinen geronnenen Flocken ausscheiden. Indessen auch andere Mittel bringen das Eiweiß in seinen Lösungen zur Gerinnung und fällen es unter Trübung der Flüssigkeit durch Koagulation aus, wie z. B. gewisse organische Säuren und Alkohol. Daß die Koagulationsfähigkeit mit den kolloidalen Eigenschaften des Eiweiß in irgendeinem Zusammen- hang steht, dafür scheint die Tatsache zu sprechen, daß auch anor- ganische Stoffe, wie Kieselsäure, in kolloidaler Lösung zu einer Gallerte gerinnen können. Stellt man z. B. Kieselsäure dar, indem man zu einer Lösung von kieselsaurem Natron Salzsäure hinzusetzt Von der lebendigen Substanz. 115 wobei neben Kochsalz freie Kieselsäure entsteht, so kann man durch Dialyse die Kieselsäure von dem Kochsalz trennen, da sie als kollo- ider Körper im Gegensatz zu der Kochsalzlösung nieht durch Mem- branen diffundiert. Diese Kieselsäurelösunge kann man aber durch Zuleiten einiger Kohlensäureblasen sofort in eine geronnene gallert- ähnliche Masse verwandeln. Die chemische Zusammensetzung der Eiweißkörper. Bis vor wenigen Jahren war unsere Kenntnis von der chemischen Zusammensetzung der Eiweißkörper noch eine sehr lückenhafte, und so fehlten uns auch noch die Anhaltspunkte, um bestimmte chemische Reaktionen mit ihnen zu machen. Trotzdem hatte man schon rein empirisch eine Reihe von Eiweißreaktionen ermittelt, die für die Ei- weißkörper charakteristisch sind und die in Zweifelsfällen die An- wesenheit von Eiweiß ermitteln lassen. Diese üblichen Eiweiß- reaktionen, von denen allerdings eine allein nicht immer ausreichen würde, um mit vollkommener Sicherheit die Eiweißdiagnose zu ge- statten, sind folgende: 1. Die Xanthoproteinprobe, die darin besteht, daß eine Eiweißlösung durch Kochen mit Salpetersäure gelb gefärbt wird, eine Farbe, die bei Zusatz von Ammoniak in Orange übergeht. Die Biuretprobe: Macht man eine Eiweißlösung mit Kali- oder Natronlauge alkalisch, so nimmt sie im Kalten bei Zusatz eines Tropfens Kupfersulfatlösung eine klare, violette Farbe an. 3. Die MırLonsche Probe: Mit einer Lösung von Quecksilber- nitrat und etwas salpetriger Säure längere Zeit gekocht, wird das Eiweiß rosenrot gefärbt. 4. Die ApamkıEewiczsche Probe: Eine starke Eiweißlösung mit Eisessig versetzt, zeigt bei Zusatz von konzentrierter Schwefelsäure an der Grenzfläche beider Flüssigkeiten einen roten bis violetten Ring. 5. Die MoLischsche Probe: Eine Eiweißlösung mit einer alkoholischen Thymollösung versetzt, zeigt bei Zusatz von konzentrierter Schwefelsäure eine Rotfärbung. 6. Die Salzsäureprobe: Kochen mit konzentrierter Salzsäure löst die koagulierten Eiweißkörper unter Violettfärbung der klaren Flüssigkeit. 7. Die Ferrocyankaliumprobe: Eine Eiweißlösung, die mit Essigsäure versetzt ist, zeigt bei Zusatz von etwas Ferrocyan- kaliumlösung eine weiße Trübung. 8. Die Schwefelbleiprobe: Eine durch Kali- oder Natron- lauge alkalisch gemachte Eiweißlösung liefert beim Kochen mit Bleiacetat einen schwarzen Niederschlag bezw. eine Braun- färbung von Schwefelblei. 9. Die Jodprobe: Als gutes mikroskopisches Erkennungsmittel der Eiweißkörper dient Zusatz von Jodtinktur oder einer Lösung von Jod in Jodkalium. Durch das Jod werden die Gerinnsel gelbbraun gefärbt. Man hatte nun schon aus einigen dieser Proben gewisse Anhalts- punkte gewonnen für die Anwesenheit bestimmter Atomgruppen im Eiweißmolekül. So deutete z. B. die MırrLonsche Probe darauf hin, 8* ID 116 Zweites Kapitel. daß ein aromatischer Atomkomplex im Eiweißmolekül enthalten ist, denn die MıLLonsche Reaktion geben alle Benzolderivate, bei denen ein Wasserstoffatom durch eine Hydroxylgruppe vertreten ist. Ein tieferer Einblick in den Bau des Eiweißmoleküls wurde aber erst gewonnen durch die genauere Erforschung der Spaltungsprodukte des Eiweiß. Obwohl manche dieser Spaltungsprodukte bereits seit längerer Zeit bekannt sind, so haben doch erst die systematischen Unter- suchungen von KOSSEL, besonders aber von EMIL FISCHER und seinen Schülern den gewaltigen Fortschritt in der Eiweißchemie hervor- gerufen, den wir in den letzten Jahren erlebt haben. Ja, den Arbeiten von EmIL FISCHER verdanken wir auch bereits die ersten wichtigen Schritte in der künstlichen Synthese von Körpern der Eiweißgruppe. Sowohl bei der Spaltung der Eiweißkörper mit Säuren oder Alkalien in der Siedehitze als auch bei der Spaltung, wie sie unter dem Einfluß der Verdauungsenzyme sich vollzieht, entstehen aus dem Eiweißmolekül eine ganze Anzahl von Aminosäuren, d.h. von Säuren der Fettsäurereihe, in denen ein Wasserstoffatom durch die Amino- gruppe NH, ersetzt ist. So erhält man z. B. als Produkte der Ei- weißspaltung: Glykokoll oder Glyzin, d. i. Aminoessigsäure, Alanin, d. i. Aminopropionsäure, ferner Abkömmlinge des Alanins wie Serin, d. i. Aminooxypropionsäure und besonders aromatische Abkömmlinge des Alanins wie Phenylalanin, Tyrosin (Paraoxyphenylaminopropion- säure) und Tryptophan (Indolaminopropionsäure), sodann Asparagin- säure, d. i. Aminobernsteinsäure, Valin, d. i. Aminovaleriansäure, Leuein, d. i. Aminocapronsäure, und schließlich basische Stoffe wie Lysin, d.i. Diaminocapronsäure, Histidin, d.i. Imidazolalanin, Arginin, d. i. Guanidinaminovaleriansäure und viele andere, zum Teil noch nicht näher ermittelte Stoffe. Man muß daher das Eiweißmolekül auffassen als ein sehr komplexes Molekül, dessen hauptsächlichste Atomgruppen von verschiedenartigen Aminosäuren gebildet werden. Manche von diesen Aminosäuren enthalten zugleich aromatische Gruppen und in gewissen Eiweißkörpern finden sich auch Aminosäuren mit Kohle- hydratgruppen vereinigt. Durch die Mannigfaltigkeit der Aminosäuren, durch die vielen Substitutionsmöglichkeiten, welche die Aminosäuren anderen Gruppen bieten und durch die große Zahl der in einem Ei- weißmolekül enthaltenen Aminosäuren wird die ganze große Fülle der verschiedenartigen Eiweißkörper, welche die Organismenwelt zu- sammensetzen und wird auch zugleich die riesige Größe des Eiweiß- moleküls verständlich. Hier ist durch Variation der Zahl, der Art und der Substitution von Aminosäuren im Molekül die Möglichkeit für eine ganz unabsehbare Mannigfaltigekeit von Stoffen der Eiweiß- gruppe gegeben und es wird noch lange dauern, bis wir auch nur die bekanntesten und verbreitetsten unter den Körpern der großen Ei- weißgruppe bis in ihre sämtlichen spezifischen Konstituenten hinein analysiert haben werden. Das schließt nicht aus, daß EmIL FISCHER !) schon jetzt mit großem Erfolg versucht hat, Stoffe, die den natürlich vorkommenden Eiweißkörpern ähnlich sind, synthetisch durch Anein- anderkoppelung von Aminosäuren aufzubauen. Auf diese Weise ge- langte Emın FISCHER zu einer Gruppe von Stoffen, die er als „Peptide“ bezeichnete. l) Emin FiscHER: „Untersuchungen über Aminosäuren, Polypeptide und Proteinstoffe“. Berlin 1906. Von der lebendigen Substanz. 117 Eine sehr häufige Verkoppelungsweise von zwei Molekülen in der organischen Chemie besteht darin, dal das eine Molekül eine OH-Gruppe, das andere ein H-Atom abspaltet, so daß die in jedem Molekül da- durch frei werdende Valenz sich gegenseitig absättigen kann, während als Nebenprodukt H,O entsteht. Auf diese Weise können z. B. zwei Glykokoll-Moleküle miteinander verkoppelt werden, so daß unter Wasseraustritt ein Körper entsteht, der als Glyzylelyzin bezeichnet worden ist: H,N-CH;,-COOH 4 H,N-CH,-COOH = Glykokoll Glykokoll (Amidoessigsäure) (Amidoessigsäure) H,N-CH,;,-CO— HN-CH,-COOH-+H,0 Glyzylelyzin Wasser In diesem Falle sind zwei Moleküle der einfachsten Aminosäure, der Aminoessigsäure, miteinander zu einem Molekül verkoppelt. Es ist ein „Dipeptid“ entstanden, das wir gewissermaßen als den ersten Schritt auf dem Wege zur Eiweißsynthese betrachten können. In- dessen können nun auch verschiedenartige Aminosäuren nach demselben Prinzip zu Dipeptiden vereinigt werden, z. B. Glykokoll (Aminoessig- säure) mit Alanin (Aminopropionsäure) zu Glyzylalanin: H,N-CH,-COOH + H,N-CH-CH,-CO0OH= Glykokoll -F Alanin H,N-CH,-CO— HN-CH-CH,-COOH-+H,0 Glyzylalanin Wasser Aber noch mehr. Es ist EmıL FIscHEr nicht bloß gelungen, zwei, sondern eine ganze Anzahl, neuerdings bis zu 14 Aminosäure-Moleküle miteinander zu verkoppeln und so synthetisch verschiedenartige „Polypeptide“ aufzubauen, von denen einzelne bereits eine erstaun- liche Aehnlichkeit mit Eiweißkörpern besitzen und eine Reihe der charakteristischen Eiweißreaktionen liefern, wenn sie auch in ihrer Gliederzahl und Zusammensetzung noch nicht den natürlich vor- kommenden Eiweißkörpern gleichen. Es ist aber nicht unwahrschein- lich, daß die letzten Spaltungsprodukte der Eiweißkörper, die noch Eiweißnatur haben, also die bei der Eiweißverdauung entstehenden Peptone, chemisch solche einfacheren Polypeptide sind. Wie dem aber auch sei, nachdem EMmIL FISCHER einmal den Weg gezeigt hat, auf dem wir in die Erkenntnis der Eiweißgruppe gelangen können, ist die Aufklärung dieser wichtigsten Gruppe von Bausteinen der lebendigen Substanz nur eine Frage der Zeit. Eine natürliche Einteilung der Eiweißkörper würde als Einteilungsprinzip die Art der Atomgruppen (Aminosäuren, Benzol- ringe, Kohlehydratgruppen etc.) benutzen, die in den verschiedenen Eiweißkörpern enthalten sind. Eine solche Einteilungsweise wäre die allein wünschenswerte, aber wir sind augenblicklich noch nicht in der Lage, sie durchzuführen, weil von den meisten Fiweißkörpern die Zusammensetzung aus diesen oder jenen Gruppen noch nicht bekannt ist. Infolgedessen müssen wir uns vorläufig noch mit äußerlichen Einteilungsprinzipien begnügen und jede Einteilung der Eiweißkörper bleibt daher bis zu einem gewissen Grade willkürlich. Die ver- schiedenen Autoren haben deshalb auch im einzelnen sehr vonein- ander abweichende Einteilungen gegeben. Augenblicklich ist die 118 Zweites Kapitel. Verwirrung besonders groß geworden, weil einerseits heute schon das natürliche Einteilungsprinzip sich zu entwickeln beginnt und anderer- seits doch noch die alten äußerlichen Einteilungsprinzipien unentbehr- lich sind, so daß viele Stoffe, die früher auf Grund äußerlicher Eigenschaften wie der Fällbarkeit, Aussalzbarkeit, Diffusionsfähigkeit, Koagulierbarkeit etc. in eine gemeinsame Gruppe gebracht worden waren und einen gemeinsamen Namen erhalten hatten, jetzt weit voneinander getrennt werden müssen, weil sie eine total verschiedene Zusammensetzung erkennen lassen. Als die einfachste Gruppe der Eiweißkörper können gewisser- maßen die von EMIL FISCHER künstlich durch Aneinanderfügen von Aminosäuren hergestellten Peptide angesehen werden. Unter den Polypeptiden befinden sich manche, die bereits die Biuretreaktion geben und andere Eigenschaften mit den eigentlichen Eiweißkörpern gemeinschaftlich haben. An die Polypeptide schließen sich die Aydrolytischen Spaltungs- produkte der natürlich vorkommenden Eiwerßkörper, die Albumosen und Peptone an, die sich einerseits durch Diffusibilität, schwere Fäll- barkeit etc. von den nativen Eiweißkörpern unterscheiden, die sich aber andererseits durch eine Reihe von typischen Eiweißreaktionen, wie Biuretprobe, MıLLonsche Reaktion ete. doch als echte Eiweiß- körper zu erkennen geben. Die nativen Eiweißkörper, d. h. die natürlich vorkommenden einfachen Körper der Eiweißgruppe werden sich in nächster Zeit bald auf Grund ihrer Spaltungsprodukte in ein natürliches System einordnen lassen. Bisher pflegte man zwei große Gruppen vonein- ander zu unterscheiden nach dem Verhalten ihrer Löslichkeit in Wasser, die Albumine und Globuline. Die Albumine sind in reinem Wasser ohne weiteres löslich. Zu ihnen gehört z. B. das Laktalbumin, das in geringer Menge in der Milch vorkommt, ferner das Serumalbumin, ein Albuminkörper, der in der Blutflüssigkeit ent- halten ist, das Muskelalbumin, der in Wasser lösliche Eiweißkörper der Muskelzellen, das Pflanzenalbumin, das im Zellsaft der Pflanzen- zellen gelöst ist, und manche andere. Das Eiereiweiß, das früher auch zu den nativen Eiweißkörpern gerechnet wurde, ist eine kompli- ziertere Eiweißverbindung. Die Globuline sind nur in Wasser lös- lich, wenn dasselbe neutrale Salze, aber nicht bis zur Sättigung, ent- hält. Sättigt man dagegen eine Globulinlösung mit Salzen, so fällt das Globulin in Flocken aus, eine Behandlungsweise, die als „Aus- salzen“ bezeichnet wird, und ebenso fällt das Globulin aus, wenn man die Lösung durch Diffusion im Dialysator von den Salzen ganz befreit. Zu den Globulinen gehört z. B. das Serumglobulin, das eben- falls in der Blutflüssigkeit gelöst ist, ferner das Fibrinogen, der dritte Eiweißkörper des Blutes, der beim Stehenlassen des Blutes außerhalb der Blutgefäße schon von selbst zu Fibrinflocken und -fasern gerinnt, dann das Myosin, der Globulinkörper der Muskeln, der ebenso beim Stehenbleiben von selbst koaguliert, ein Vorgang, der z. B. im absterbenden Muskel bei der Totenstarre eintritt, und schließlich das Pflanzenglobulin, das dem Inhalt der Getreidekörner seine klebrige Beschaffenheit verleiht und daher auch als „Kleber“ bezeichnet worden ist. Neben den einfachen Eiweißkörpern kennen wir aber auch Er- werßverbindungen. Bei diesen Verbindungen der Eiweißkörper, die Von der lebendigen Substanz. 119 man auch als „Proteide“ den einfachen Eiweißkörpern oder Proteinen gegenübergestellt hat, verhält sich das Eiweißmolekül chemisch im alleemeinen wie eine schwache Säure, und man kann es durch Zusatz stärkerer Säuren vielfach aus seinen Verbindungen verdrängen, wobei die stärkere Säure an seine Stelle tritt. Dann wird das Eiweiß frei. Eine Gruppe der Eiweißverbindungen lernten wir bereits kennen, die Hämoglobine, die im Blut eine so hervorragende Rolle spielen und durch ihren Eisengehalt charakterisiert sind. Die verbreitetsten Verbindungen aber, in denen die Eiweißkörper ausnahmslos in jeder Zelle auftreten, sind die Nukleoproteide. Die Nukleoproteide stellen, wie ALTMANN*) gezeigt hat, Verbindungen von Eiweiß mit Nukleinsäure vor, einer Säure, die selbst eine Verbindung ist von Phosphorsäure mit eigentümlichen basischen Körpern, den sogenannten Nukleinbasen: Guanin, Adenin, Xanthin und Hypoxanthin. Die Nukleo- proteide sind in jeder Zelle in Form von Nukleinen in großer Menge im Zellkern enthalten. Den Nukleoproteiden durch ihren Phosphor- gehalt ähnlich ist die Gruppe der Pseudonukleine (Paranukleine) und Pseudonukleoproteide (Paranukleoproteide), die aber scharf von den echten Nukleoproteiden unterschieden ist dadurch, daß sie keine Nukleinsäuren enthält. Ein solches an Kalk gebundenes Pseudonukleoproteid ist das Kasein, ein Körper, der den physio- logischen Chemikern lange Zeit Schwierigkeiten gemacht hat. Das Kasein ist das an Kalk gebundene Pseudonukleoproteid der Milch, das zum Käse verarbeitet wird und die Eigentümlichkeit hat, beim Kochen der Milch nicht zu gerinnen, während es, wenn man es etwa durch Essigsäure von dem Kalk trennt, sofort ausfällt. Auch die im Eidotter enthaltenen Vitelline gehören, wie es scheint, zu den Pseudo- nukleoproteiden. Eine vierte Gruppe von Eiweißverbindungen sind die Glykoproteide, in denen das Eiweiß mit einem Kohlehydrat verbunden ist und unter denen vor allem das in den Zellen der Schleimdrüsen enthaltene Mucin, der Schleim, ferner die Amyloid- substanz der Gefäßwände und der früher als „Eieralbumin“ be- zeichnete Bestandteil des Eiereiweißes eine wichtige Rolle spielt. Von besonderem Interesse erscheint es, daß in der lebendigen Substanz der Zelle die Eiweißverbindungen bei weitem die Hauptmasse bilden. Während man früher und vielfach noch heute die Vorstellung hatte, daß die Hauptmasse des Protoplasmas aus nativem Eiweiß besteht, haben schon REINKE und KRÄTZSCHMAR ?) gezeigt, daß es, wie sie sich ausdrücken, „lebenstätiges Protoplasma gibt, in dem sich keine Spur von Eiweißstoffen nachweisen läßt“. So besitzt der Zellkörper der Alge Vaucheria „ein durchaus eiweiß- loses Protoplasma“. Spätere Untersuchungen von HAMMARSTEN ’) und LILIENFELD*) haben das für verschiedene andere Gewebe be- stätigt, und SOSNOWSKL°) hat das gleiche bei einzelligen Organismen 1) ALTMANN: „Ueber Nukleinsäuren“. Arch. f. Physiol. von Du Boıs-Rey- MOND 1889. 2) REINKE und KRÄTZSCHMAR: „Studien über das Protoplasma.“ Zweite en Untersuchungen aus dem botanischen Laboratorium d. Univ. Göttingen. , 1883. 3) HAMMARSTEN: „Studien über Mucin“. In PFLügeErs Arch., Bd. 36, 1885. 4) LILIENFELD: „Beiträge zur Chemie der Leukocyten.“ In Zeitschr. f. physiol. Chemie, Bd. 18, 1894. u ee) en „Beiträge zur Chemie der Zelle.“ In Centralblatt f. Physiologie, . 13, 1899. 120 Zweites Kapitel. gefunden. Die Hauptmasse des Protoplasmas besteht nicht aus reinen Eiweißkörpern, sondern aus komplizierten Eiweißverbindungen, die zum Teil ganz andere Eigenschaften haben wie die ersteren. Wir müssen endlich den althergebrachten Gedanken fallen lassen, daß das Protoplasma der Zelle einen einfachen Eiweißklumpen vorstelle. Die Eiweißverbindungen spielen im Protoplasma der meisten Zellen die Hauptrolle. Dabei ist aber immer zu berücksichtigen, daß wir es bei der chemischen Untersuchung mit abgetötetem Protoplasma zu tun haben. Neben den echten Eiweißkörpern und ihren Verbindungen, die wir soeben charakterisiert haben, existiert schließlich eine Anzahl von Körpern, die sich in mancher Beziehung ähnlich verhalten wie die Eiweißkörper und deshalb als Albuminoide bezeichnet worden sind. Die Gruppe der Albuminoide ist eine wahre Rumpelkammer in der physiologischen Chemie. Sie enthält die verschiedenartigsten Körper, die teilweise wohl einfache Eiweißkörper, teilweise Ver- bindungen von Eiweißkörpern sind, die aber in ihrem chemischen Verhalten viel weniger Gleichartiekeit zeigen und noch viel weniger bekannt sind als die bisher genannten Stoffe der Eiweißgruppe. Vor allem rechnet man zu den Albuminoiden einen großen Teil derjenigen Stoffe, die von der Zelle als Skelettsubstanzen zur Stütze weicherer Teile des Organismus produziert werden. Ein näheres Eingehen auf die bisher bekannten Reaktionen, welche die einzelnen der zahlreichen Albuminoidkörper liefern, würde zu weit führen und für unseren Zweck überflüssig sein!). Es genügt, einige der wichtigsten Körper, die sämtlich in festem, ungelöstem Zustande auftreten, hier anzuführen. Solche zu den Albuminoiden gezählte Körper sind das Keratin, das in den meisten, von den Epidermiszellen der Haut produzierten Horngebilden (Hörnern, Hufen, Haaren, Federn, Nägeln etc.) enthalten ist, das Elastin, das die elastischen Fasern der Zellen des Binde- sewebes und das mächtige gelbe Nackenband zusammensetzt, das Kollagen, das die organische Grundsubstanz der Knochen und Knorpel ausmacht und unter Wasseraufnahme beim Kochen in Leim übergeht, das Spongin, die Skelettsubstanz der Badeschwämme, das Konchiolin, die organische Substanz der Muschel- und Schnecken- schalen, das Kornein, die der Korallen, und viele andere Substanzen, die besonders bei wirbellosen Tieren skelettbildend auftreten. Schließlich wird zu den Albuminoiden vielfach auch eine Reihe von Körpern gerechnet, die ihrer Zusammensetzung nach noch gar nicht bekannt sind, die aber jedenfalls Derivate der Eiweißkörper vor- stellen und im Leben des Organismus, vor allem für die Verdauung, die größte Bedeutung besitzen. Das sind die gelösten Fermente oder Enzyme, wie z. B. das Pepsin, das die Drüsenzellen des Magens, das Ptyalin, das die Zellen des Pankreas und der Speicheldrüsen, das Trypsin, das ebenfalls die Pankreaszellen produzieren, und zahllose andere. Auf die Eigentümlichkeiten dieser Körper und ihre Rolle im Leben des Organismus werden wir an einer anderen Stelle näher einzugehen haben. Die hier gegebene Charakterisierung der Eiweißkörper und ihrer Verbindungen würde also etwa zu folgender Klassifikation derselben 1) Eine Uebersicht und zugleich die einschlägige Literatur findet sich in COHNHEIM: „Chemie der Eiweißkörper“. Braunschweig 1904. Von der lebendigen Substanz. 121 führen, die natürlich, wie nochmals betont sei, nur ein ganz provi- sorisches Schema zum Ausdruck bringen kann. Eiweißkörper. I. Synthetisch hergestellte Peptide. Dipeptide. Polypeptide. II. Hydrolytisch gespaltene Eiweißkörper. Albumosen. Peptone. Ill. Native Eiweißkörper. Albumine. Globuline. IV. Eiweißverbindungen oder Proteide. Hämoglobine. Nukleoproteide. Pseudonukleoproteide. Glykoproteide. NErArlbumimoride: Skeletine. Enzyme ? * Als ständige Begleiter der Eiweißkörper im Organismus treten gewisse Abkömmlinge des Eiweißes auf, die wir in zwei Gruppen, nämlich in stickstoffhaltige und stickstofffreie Spaltungs- produkte, trennen und an dieser Stelle verzeichnen können. Werfen wir zuerst einen Blick auf die stickstoffhaltigen Spaltungs- produkte, so treten wir mit ihnen bereits in die Reihe derjenigen Stoffe ein, deren chemische Konstitution schon seit längerer Zeit ge- nau bekannt ist. Es sind das die sogenannten „Stoffe der regressiven Eiweißmetamorphose“. Dahin gehören z. B. die bei der Eiweißver- dauung unter dem Einfluß des Pankreastrypsins auftretenden Spal- tungsprodukte, unter denen die Aminosäuren, deren wichtigste oben genannt wurden, die Hauptrolle spielen. Dahin gehören aber vor allem auch die bei höheren Tieren durch den Harn in größerer Menge ausgeschiedenen Stoffe. Unter diesen steht in erster Reihe der Harnstoff (NH,),CO, der von allen stickstoffhaltigen End- produkten der Eiweißzersetzung das stickstoffreichste ist, und dessen künstliche Synthese bereits WÖHLER im Jahre 1828 gelang. Nächst dem Harnstoff ist der wichtigste Stoff die Harnsäure 0,H,N,O;; ihr reiht sich die Hippursäure an und das aus der Eiweißzer- setzung in den Muskeln stammende Kreatin und Kreatinin. Ferner sind die bereits erwähnten Nukleinbasen, wie Xanthin, Hypoxanthin oder Sarkin, Adenin und Guanin, als End- produkte der Zersetzung von Nukleinen im lebendigen Organismus angetroffen worden, von denen namentlich das letztere, an Kalk ge- bunden, sehr häufig in den Hautzellen von Amphibien und Fischen vorkommt, in denen seine Kristalle den bekannten Silberglanz er- zeugen. Schließlich ist noch eine Gruppe stickstoffhaltiger Körper, die Lecithine, die den Fetten nahe stehen, aber phosphorsäure- haltig sind und nach HoPPE-SEYLER wahrscheinlich in keiner leben- 122 Zweites Kapitel. digen Zelle fehlen, als Spaltungsprodukte der Eiweißkörper und speziell wohl der phosphorhaltigen Proteide zu betrachten, mit denen sie zu- sammen vorkommen. Unter den stickstofffreien Endprodukten der Eiweiß- zersetzung steht allen voran die von jeder Zelle produzierte Kohlen- säure. Ferner sind wichtig die Milchsäure, die Oxalsäure und die Schwefelsäure. Auch haben wir jedenfalls als Derivate von Eiweißverbindungen die Cholestearine anzusehen, die in aller lebendigen Substanz vorzukommen scheinen, aber nur unter bestimmten Verhältnissen in Form von perlmutterglänzenden Schüppchen zu größerer Anhäufung gelangen, wie z. B. an der Oberfläche der Haut und am Schnabel der Vögel, sowie in pathologischen Zuständen als Gallensteine in der Galle. Ihrer chemischen Natur nach sind die Cholestearine einwertige Alkohole, die mit Fettsäuren fettähnliche Ver- bindungen eingehen können. b) Die Kohlehydrate. Im Gegensatz zu den Eiweißkörpern sind die Kohlehydrate stick- stofffrei. Ihr Molekül enthält nur die drei Elemente: Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff, und zwar bei den natürlichen Kohle- hydraten immer in der typischen Weise, daß die Anzahl der Kohlen- stoffatome entweder fünf oder sechs oder ein Mehrfaches davon beträgt, weswegen diese Gruppen den Namen „Pentosen“ und „Hexosen“ erhalten haben, während die Anzahl der Wasserstoffatome stets das Doppelte von der Anzahl der Sauerstoffatome gibt, so daß also Wasser- stoff und Sauerstoff in demselben gegenseitigen Verhältnis wie im Wasser vorhanden sind, ein Umstand, der eben zu der Bezeichnung „Kohlehydrate‘“ geführt hat. Die Kohlehydrate sind zwar ebenfalls weit verbreitet und besitzen namentlich für den Aufbau der lebendigen Substanz in den Pflanzenzellen eine sehr große Bedeutung, aber es gibt doch Formen der lebendigen Substanz, in denen freie Kohlehydrate nicht nachgewiesen werden konnten; sie sind also nicht allgemeine Bestandteile der lebendigen Substanz. Die Gruppe der Kohlehydrate bietet ferner chemisch bei weitem einfachere Verhältnisse als die der Eiweißkörper, und ist ebenfalls durch die klassischen Arbeiten von EmiL FISCHER !) schon vor längerer Zeit mehr und mehr aufgeklärt worden. In einem kurzen Ueberblick mögen die wesentlichsten Momente hier zusammengefaßt werden. Von den beiden Gruppen der natürlich vorkommenden Kohle- hydrate haben die Pentosen bisher noch kein besonderes physio- logisches Interesse gewonnen. Dagegen spielen eine ungemein wichtige Rolle in der ganzen organischen Welt die Hexosen. Wie alle Kohle- hydrate haben die Hexosen entweder Aldehyd- oder Keton-Natur, d. h. sie besitzen in ihrer Kohlenstoffkette entweder die endständige Aldehydgruppe = oder die zwischen zwei Kohlenstoffatome der | Kette eingefügte Ketongruppe Ü=0. Man spricht daher von Aldo- | hexosen und von Ketohexosen. Als Beispiele mögen dienen: 1) EmIL FiscHER in Ber, d. Deutsch. chemischen Gesellsch., Bd. 23, 1890 u. ff. Von der lebendigen Substanz. 123 Aldohexosen: Ketohexose: ECHO. Sn CHO " CH,OH nah co HOCH H-0-0H HO—0—H co H-0—0H H0— OH en ee: H-0— OH CH,OH CH,OH CH,OH d-Glukose l-Galaktose d-Fruktose Man pflegt die Hexosen einzuteilen in Monosaccharide, Disaccharide und Polysaccharide, von denen die beiden letzten Gruppen polymere Anhydridformen der ersten Gruppe sind. Die Monosaccharide haben sämtlich die Formel (,H,,0;- Zu den Monosacchariden gehören hauptsächlich der Traubenzucker (Dextrose oder Glukose) und der Fruchtzucker (Lävulose oder Fruktose), beide in Pflanzensäften, ersterer auch im tierischen Or- ganismus weit verbreitet, sowie ferner ein aus dem Milchzucker (Lak- tose) gewonnenes Monosaccharid, die Galaktose. Eine der be- merkenswertesten Eigenschaften der Monosaccharide besteht darin, daß sie leicht Sauerstoff aus ihrer Umgebung aufnehmen und infolge- dessen sauerstoffreiche Körper reduzieren, eine Eigentümlichkeit, auf der die wichtigsten Proben zu ihrer Erkennung beruhen, wie die TROMMERsche Probe (Reduktion von Kupferoxyd zu Kupferoxydul), die BÖTTGERsche oder NYLANDERSche Probe (Reduktion von Wismut- oxyd zu metallischem Wismut), und die Silberprobe (Reduktion von Silberoxyd zu metallischem Silber) )). Eine sehr charakteristische Eigentümlichkeit des Traubenzuckers ist seine Gärungsfähigkeit. Er wird nämlich durch Hefezezellen ?) (Saccharomyces) gespalten in Alkohol und Kohlensäure: C;H»0,=2G,H,0H +2C0,. Man stellt solchen Gärungsversuch am besten in einem Gärungs- röhrchen (Fig. 44) an, indem man dasselbe mit einer Traubenzucker- ösung füllt, die mit frischer Bierhefe gemischt ist, so daß die Flüssig- keit den langen, oben blind geschlossenen Schenkel des Röhrchens vollständig ausfüllt. Bei einer Temperatur von ca. 30—40° 6 tritt alsdann eine ziemlich energische Spaltung des Traubenzuckers ein, so daß fortwährend wie in einem Glase Sekt kleine Kohlensäurebläschen aufsteigen und sich an dem oberen Ende ansammeln. Je mehr Kohlen- säure sich oben ansammelt, um so mehr wird die Flüssigkeit aus dem langen Schenkel heraus in den kugligen Teil des Röhrchens gedrängt. Am Geruch der Flüssigkeit erkennt man ohne weiteres die Anwesen- heit von Alkohol. Schließlich sei noch eine Eigenschaft der Monosac- charide, die sie mit allen löslichen Kohlehydraten teilen, erwähnt, das ist ihre Fähigkeit, die Polarisationsebene zu drehen, und zwar, wie ihr Name bereits sagt, die Dextrose nach rechts, die Lävulose nach links. 1) Ueber die Ausführung dieser Proben und anderer Reaktionen siehe MAx VERWORN: „Physiologisches Praktikum“. Jena 2) Ueber den wirksamen Bestandteil der Hefozelien vergl, unten den Abschnitt über die „Fermente“. 124 Zweites Kapitel. Die Disaccharide können wir uns aus den Monosacchariden entstanden denken, indem zwei Moleküle der letzteren zusammen- getreten sind und zusammen ein Molekül Wasser verloren haben, so daß wir für sie die Formel gewinnen: C,H550,,. Unter den Disac- chariden sind vor allem bemerkenswert der Rohrzucker (Sac- charose), der im Zellsaft des Zuckerrohres in großen Mengen enthalten ist, der Malzzucker (Maltose) aus dem Malz, und der Milch- zucker (Laktose), das Kohlehydrat der Milch. Durch gewisse Mittel, wie Kochen mit verdünnten anorganischen Säuren oder Einwirkung bestimmter Fermente kann man die Disaccharide unter Wasserauf- nahme spalten, so daß sie wieder in die entsprechenden Monosac- charide übergehen, die in ihrem Molekül zusammengekoppelt sind. So wird die Saccharose durch die „Invertase‘“ gespalten in ein Traubenzucker- und ein Fruchtzuckermolekül, die Maltose durch die a b 7 RR Fig. 44. Gärungsröhrchen; a frisch Fig. 45. I Pflanzenzelle mit gefüllt, b mit Kohlensäureentwicklung. In Stärkekörnern. II Stärkekörner dem geraden Schenkel hat sich bereits ein isoliert. a von der Kartoffel, b vom Quantum Kohlensäure oben angesammelt. Mais, c von der Erbse. „Maltase“ in zwei Traubenzuckermoleküle und die Laktose durch die „Laktase‘“ in ein Galaktose- und ein Traubenzuckermolekül. Bei Berührung mit gewissen Gärungserregern werden die Disaccharide zwar nicht direkt zur Gärung veranlaßt, wohl aber zunächst durch die entsprechenden Fermente in Monosaccharide übergeführt, die nun ihrerseits der gärenden Wirkung dieser Organismen zugänglich sind. Dabei entsteht z. B. bei der Einwirkung von Bacterium lacticum auf Milchzucker schließlich Milchsäure: CH Ö, > 2 GH,0; ein Vorgang, der gegenüber der alkoholischen Gärung durch Hefe- pilze als Milchsäuregärung bezeichnet wird, und auf dem das Sauer- werden der offen an der Luft stehenden Milch beruht. Unter Ein- wirkung eines anderen Gärungserregers, des Bacillus butyricus, kann schließlich die Milchsäure noch weiter zerlegt werden, und zwar in Buttersäure, Kohlensäure und Wasserstoff‘: = 0,5;0, == H50; + = CO, —+4H Von der lebendigen Substanz. 125 so daß sich also der Alkohol- und Milchsäuregärung noch eine Butter- säureeärung zugesellt. Die Polysaccharide schließlich stellen noch weitergehende Anhydridstufen der Monosaccharide vor, indem sich mehrere Mono- saccharidmoleküle unter Austritt je eines Moleküls Wasser vereinigen, so daß ihre Formel ein Mehrfaches von C,H,.0;, vorstellt. Unter den Polysacchariden befindet sich eine Reihe von Körpern, von denen die einen im Leben der Pflanzenzelle, die anderen in vielen tierischen Zellen eine wichtige Rolle spielen und weit verbreitet sind. Das ist vor allem die Stärke, die in Form von konzentrisch geschichteten Körnchen (Fig. 45) in allen grünen Zellen der Pflanzen auftritt, ferner das Glykogen, das in der Gestalt von Schollen und Krümeln be- sonders in den Zellen der Leber und der Muskeln vorkommt, und schließlich die Zellulose, welche die Zellmembranen der Pflanzen- zellen bildet. Diese Körper der Polysaccharidgruppe unterscheiden sich sämtlich voneinander in sehr charakteristischer Weise durch ihr Verhalten gegen Jodlösungen. Stärke wird nämlich durch Jod intensiv blau, Glykogen mahagonibraun und Zellulose gar nicht, sondern nur bei Anwesenheit von Jod und Schwefelsäure blau gefärbt. > > >* Neben den freien Kohlehydraten existieren schließlich Verbin- dungen von Kohlehydraten in der lebendigen Substanz, z. B. mit Eiweißkörpern, von denen wir als Beispiel das Mucin bereits oben kennen gelernt haben. Ebenso haben wir schon die wesentlichsten Zersetzungs- produkte der Kohlehydrate berührt, die, wie Milchsäure, Buttersäure, Kohlensäure etc., auch sämtlich in der lebendigen Substanz angetroffen werden können. €) Die Fette. Auch die Fette gehören nicht zu den allgemeinen Bestandteilen der lebendigen Substanz, sind aber hauptsächlich in tierischen Zellen weit verbreitet. Ebenso wie die Kohlehydrate sind die Fette stick- stofffrei und enthalten nur die Elemente Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff. Aber sie unterscheiden sich ihrer chemischen Natur nach wesentlich von den Kohlehydraten. Sie stellen nämlich sogenannte Ester vor, d. h. Verbindungen, in denen sich eine Säure mit einem Alkohol unter Wasseraustritt vereinigt hat. Der Alkohol, der allen Fetten zugrunde liegt, ist das Glyzerin (,H,(OH),, und die Säuren, die an das Glyzerin gebunden sind, gehören der Fett- säurereihe an, deren allgemeine Formel C„H3n0, ist und die als Säuren charakterisiert sind durch den Besitz der Karboxylgruppe —COOH. Da das Glyzerin einen dreiwertigen Alkohol repräsentiert, so sind in den neutralen Fetten immer drei Moleküle der Fettsäuren mit einem Molekül Glyzerin zu Triglyzeriden verbunden. Die allge- meine Formel der Fette ist daher: C,H,(OH), -- 304:2.0; EZ SIE AR Als Beispiele der Fettsäuren mögen hier angeführt sein die 126 Zweites Kapitel. Ameisensäurre = H COOH Essigsäure =( H, COOH Propionsäure = (, H, COOH Buttersäure = (, H, COOH Valeriansäure = (, H, COOH Kapronsäure = (, H,ıCOOH Palmitinsäure = (,;H;,, COOH Margarinsäure = 0,,H;; COOH Stearinsäure = (C,;H;,,COOH Daneben kommt noch die nicht zur normalen Fettsäurereihe ge- hörende Oelsäure C,,Hs;COOH an Glyzerin gebunden vor in den ver- schiedenen Oelen. Entsprechend dieser Zusammensetzung lassen sich die neutralen Fette durch bestimmte Mittel unter Wasseraufnahme in ihre Bestand- teile, d.h. in Glyzerin und freie Fettsäuren, zerlegen. Diese Spaltung erfolet z. B. im Organismus unter dem Einfluß bestimmter Ver- dauungsenzyme, tritt aber ferner auch ein, wenn man neutrale Fette mit alkalischen Flüssigkeiten, etwa Kali- oder Natronlauge, kocht. Dabei verbinden sich die freiwerdenden Fettsäuren mit dem Alkali und bilden die sogenannten Seifen, die man als Kali-, Natron-, Kalkseifen etc. unterscheidet. Die Fette sind sämtlich leichter als Wasser und lösen sich in Wasser nicht. Dagegen sind sie leicht löslich in Aether und Alkohol. Eine charakteristische Eigenschaft schließlich, die für die mikro- skopische Erkennung von Fetttröpfchen in der Zelle Bedeutung hat, ist ihre Fähigkeit, Ueberosmiumsäure zu reduzieren zu metallischem Osmium, das sich als schwarzer Ueberzug auf den Fettkügelchen ab- lagert. Indessen ist diese Osmiumsäurereaktion für die Fettdiagnose allein nicht als sicheres Kriterium zu verwenden, denn es gibt zweifel- los noch andere reduzierende Stoffe, die unter gewissen Umständen sich durch Osmium schwärzen können. Daher ist die Osmiumreaktion des Fettes immer nur im Verein mit den anderen Momenten, Lös- lichkeit in Aether und Alkohol, starkes Lichtbrechungsvermögen etc., für die Diagnose zu benutzen. d) Die anorganischen Bestandteile der lebendigen Substanz. Ebenso wie wir unter den organischen Verbindungen der Zelle die allgemeinen Bestandteile (Eiweißkörper) den speziellen (Kohlehydraten und Fetten) gegenüberstellen konnten, so können wir auch unter den anorganischen dieselbe Scheidung treffen. Das vorwiegende Interesse haben davon begreiflicherweise wieder die allgemeinen anorganischen Bestandteile, unter denen wir das Wasser, die Salze und die Gase unterscheiden. Das Wasser ist derjenige Bestandteil der lebendigen Substanz, der ihren flüssigen Zustand erzeugt und dadurch die leichte Ver- schiebbarkeit der Teilchen ermöglicht, die unbedingt notwendig ist für das Zustandekommen der Lebensvorgänge. Es ist teils chemisch sebunden als „Konstitutionswasser“, teils frei als Lösungsmittel der verschiedensten Stoffe in der Zelle enthalten. Dementsprechend ist das Wasser in reichlicher Menge vorhanden, so daß es an Gewicht durchschnittlich über 50 Proz. der lebendigen Substanz ausmacht. Untersucht man z. B. den gesamten Wassergehalt des menschlichen Von der lebendigen Substanz. 127 Körpers, der bei der großen Mannigfaltigkeit der verschiedensten Gewebeformen eine gute Durchschnittszahl liefert, so findet man, wie sich aus den eingehenden Untersuchungen BEZOoLDs ergibt, etwa 59 Proz. Wasser. Die verschiedenen Gewebe verhalten sich dabei aber sehr verschieden. So enthalten die Knochen nur etwa 22 Proz., die Leber 69 Proz., die Muskeln 75 Proz. und die Nieren 82 Proz. Wasser. Hiernach kann es nicht auffallen, wenn der Wassergehalt der lebendigen Substanz zwischen verschiedenen Tierarten noch viel mehr schwankt, und wenn wir zwischen den geringen Spuren von Wasser, die ein eingetrocknetes, aber noch lebensfähiges Rädertierchen enthält, und dem mehr als 98 Proz. betragenden Wassergehalt ge- wisser, pelagisch lebender Rippenquallen alle Uebergänge im Prozent- gehalt antreffen. Im Wasser gelöst finden sich ferner viele Salze, die in keiner lebendigen Substanz fehlen. Ganz besonders wichtig scheinen zu sein die Chlorverbindungen, sowie die kohlensauren, schwefelsauren und phosphorsauren Salze der Alkalien und alkalischen Erden, also vor allem das Chlornatrium (Kochsalz), Chlorkalium, Chlorammonium, sowie kohlensaures, schwefelsaures und phosphorsaures Natrium, Kalium, Magnesium, Ammonium und Calcium. Schließlich kommt von Gasen in aller lebendigen Substanz vor die Kohlensäure, und zwar, soweit sie nicht chemisch gebunden ist, fast stets in Wasser absorbiert, selten, wie z. B. bei manchen ein- zelligen Organismen, den Rhizopoden, in Form von Gasblasen. Die speziellen anorganischen Bestandteile dieser oder jener Zellen bieten eine große Mannigfaltigkeit, indessen ist es für unsere Zwecke nicht notwendig, hier näher darauf einzugehen. Auffallend ist aber, daß in gewissen Zellen sogar freie Mineralsäuren auftreten, und zwar Salzsäure, die von bestimmten Zellen der Magen- drüsen bei den Wirbeltieren produziert, und Schwefelsäure, die bei manchen Meeresschnecken von den Zellen der Speicheldrüsen ausge- schieden wird. e) Verteilung der Stoffe auf Protoplasma und Kern. So bedeutend die Fortschritte in der morphologischen Erkenntnis der Zelle in den letzten Jahrzehnten gewesen sind, und so eingehend uns die mikroskopische Forschung mit den feinsten Strukturver- hältnissen der Zelle bekannt gemacht hat, so gering sind auf der anderen Seite unsere Kenntnisse von der chemischen Natur der einzelnen morphologischen Bestandteile. Hier ist der Punkt, an dem die physiologische Mikrochemie mit ihrer Arbeit einsetzen muß. Nur die Kombination von mikroskopischer Beobachtung und chemischer Reaktion ist im stande, die Brücke zu bauen zwischen dem, was wir einerseits morphologisch als Grundsubstanz und mannigfaltig geformte Bestandteile im Protoplasma und Kern kennen gelernt haben, und dem, was uns anderseits die grobe chemische Analyse als Bestand- teile der lebendigen Substanz überhaupt gezeigt hat. Diese Brücke zwischen Morphologie und Chemie der Zelle zu schlagen, ist eine schwierige Aufgabe, da die Mehrzahl der Reaktionen, die man im Reagenzglas bequem und leicht anstellen kann, unter dem Mikroskop bei der Kleinheit der Objekte teils sehr undeutliche Resultate gibt, teils ganz im Stiche läßt. Es bedarf also vor allem erst der Aus- 128 Zweites Kapitel. bildung feiner und zuverlässiger mikrochemischer Methoden. Dennoch sind die ersten Schritte in dieser Richtung bereits getan, und wir haben schon hier und dort begonnen, einen Einblick in die Verteilung der chemisch charakterisierten Stoffe im Zellinhalt zu gewinnen. Es hat sich gezeigt, daß das, was wir als morphologische Differenzierungen im Zellinhalt gefunden haben, sich auch chemisch different verhält. Vor allem haben die Untersuchungen von MIESCHER, SCHWARZ, ZACHARIAS, ALTMANN, KOSSEL, LÖWwIT, MALFATTI und anderen ergeben, daß charakteristische chemische Unterschiede be- stehen zwischen den Bestandteilen, welche die beiden wesentlichen Zellelemente, das Protoplasma und den Kern, zusammensetzen. Die Eiweißkörper, die allein die allgemeinen chemischen Zellbestandteile vorstellen, finden sich zwar sowohl im Protoplasma als im Zellkern, indessen hat man einen sehr bemerkenswerten Unter- schied zwischen ihnen gefunden. Es hat sich nämlich herausgestellt, daß sich im Kern ganz vorwiegend die phosphorsäurehaltigen Ver- bindungen der Eiweißkörper, und zwar speziell die echten Nukleine, finden !), die im Protoplasma dagegen ganz zu fehlen scheinen, während das Protoplasma seinerseits zum größten Teile aufgebaut wird aus den kompliziertesten Eiweißverbindungen, vor allem den Pseudo- nukleoproteiden, den Glykoproteiden, den Vitellinen und verwandten Körpern. Um diese Tatsache zu erhärten, gibt es ein einfaches chemisches Mittel. Die Nukleine sind nämlich, wie MIESCHER?) ge- zeigt hat, im Gegensatz zu anderen Eiweißkörpern und Eiweißver- bindungen resistent gegen die Verdauung mit Magensaft. Bringt man daher Zellen der verschiedensten Art mit künstlichem Magensaft zur Verdauung, so werden alle anderen Eiweißkörper verdaut, und die Nukleine bleiben übrig. Dabei findet man denn, daß der ganze Protoplasmakörper verdaut wird, während die Zellkerne unter unbe- deutender Volumenabnahme mit etwas zernagtem Kontur zurück- bleiben, und prüft man nun die zurückgebliebene Substanz des Kerns mit den bekannten Kernfärbemitteln, so zeigt sich, daß das, was fehlt, der Kernsaft ist?) und vielleicht auch die achromatische Substanz, denn die ganze übrig bleibende Masse speichert die Kernfärbemittel mehr oder weniger stark auf. Daraus geht also hervor, daß die chromatische Substanz und die Kernkörperchen aus echten Nukleinen bestehen, während das Protoplasma der Zelle aus anderen Stoffen der Eiweißgruppe zusammengesetzt ist. Mit einer mikrochemischen Re- aktion haben LILIENFELD und MonTı®) in KossELs Laboratorium den Nachweis zu führen gesucht, daß der Phosphor speziell im Zellkern lokalisiert ist. Setzt man zu einer phosphorsäurehaltigen Substanz molybdänsaures Ammon, so entsteht eine Verbindung, die Phosphormolybdänsäure, die durch Einwirkung von Pyrogallol eine dunkle braunschwarze Färbung annimmt. In der Tat konnten LILIEN- FELD und MonTıI zeigen, daß sich mittels dieser Reaktion in den verschiedenartigsten Zellen die Kerne schwarz färben, während das 1) KossEL: „Ueber die chemische Zusammensetzung der Zelle“. Im Archiv für Physiologie und Anatomie, physiologische Abteilung, 1891. 2) MIESCHER. Verhandl. d. naturforsch. Gesellsch. in Basel, 1874. 3) MALFATTI: „Zur Chemie des Zellkerns“. In Ber. d. naturw.-med. Vereins zu Innsbruck, 20. Jahrg., 1891/1892. 4) LILIENFELD und MoNTI: „Ueber die mikrochemische Lokalisation des Phosphors in den Geweben“. In Zeitschr. f. physiolog. Chemie, Bd. 17, 1892. Von der lebendigen Substanz. 129 Protoplasma ungefärbt bleibt. Allein es darf doch nicht unerwähnt bleiben, daß bald darauf von RACIBORSKI, GILSON und HEINE der Einwand gegen die Reaktion erhoben worden ist, es handle sich da- bei nur um eine Aufspeicherung des molybdänsauren Ammons im Kern, die etwa der Aufspeicherung der Kernfarbstoffe im Zellkern analog sei. Demnach werden wir zunächst noch vorsichtig sein müssen in den Schlußfolgerungen, die sich aus dieser Reaktion er- geben. Ueber die Lokalisation eisenhaltiger Proteide in der Zelle hat besonders MACALLUM!) eine Reihe ausgezeichneter Untersuchungen gemacht, in denen er fand, daß eisenhaltige Eiweißverbindungen im Zellkern vorhanden sind, von hier aus aber sich, wie es scheint, auch im Protoplasma ausbreiten können. Daß endlich im Protoplasma die einfachen nativen Eiweißkörper meist gänzlich fehlen, wurde oben schon erörtert. Die Kohlehydrate scheinen auf das Protoplasma beschränkt zu sein; wenigstens sind bisher keine Kohlehydrate im Kern gefunden worden. Im Protoplasma dagegen treten die Kohlehydrate nicht selten als geformte Bestandteile auf, so z. B. das Glykogen in Form von Schüppchen und Krümchen im Protoplasma der Leberzellen, die Stärkekörner allgemein im Protoplasma aller grünen Pflanzenzellen und die Zellulose als Protoplasmaprodukt an der Oberfläche der Pflanzenzelle. Von den Fetten gilt dasselbe wie von den Kohlehydraten. Im Zellkern scheinen sie ausnahmslos zu fehlen. Dagegen finden sie sich im Protoplasma als Fett- und Oeltröpfchen weit verbreitet und sind immer an ihrem starken Lichtbrechungsvermögen oder in dubio an ihrer Schwärzung durch Ueberosmiumsäure und Löslichkeit in Aether und Alkohol zu erkennen. Ueber die Verteilung der anorganischen Bestandteile der Zelle ist fast gar nichts bekannt. Nur von den Kaliverbindungen scheint es nach Untersuchungen von VAHLEN, als ob sie ausschließ- lich im Protoplasma, nicht im Zellkern, zu finden wären. Das sind die wesentlichen bisher bekannt gewordenen Tatsachen. Die große Masse der als Granula bezeichneten Stoffe des Proto- plasmas sowie die gelösten Körper des Zellinhalts sind bisher ihrer chemischen Zusammensetzung nach noch völlig unbekannt. Hier er- öffnet sich der physiologisch-chemischen Forschung der Zukunft ein unabsehbares Gebiet. D. Die physikalischen Eigenschaften der lebendigen Substanz. 1. Die Konsistenz der lebendigen Substanz. Obwohl bereits die älteren Zellforscher, wie SCHLEIDEN, MOHL und andere, der direkten Beobachtung folgend, den Inhalt der Zelle als flüssig betrachteten, indem sie seine Konsistenz mit der des Schleims verglichen, machte sich später mehrfach eine Auffassung geltend, die merkwürdigerweise das Protoplasma als eine in ihrer Grundlage feste Substanz zu betrachten geneigt war. Diese Vorstellung entsprang 1) MACALLUM: „On the distribution of assimilated iron compounds in animal and vegetable cells“. In Anat. Journ. of Mierose. Soc., 1395. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 9 130 Zweites Kapitel. zunächst aus rein theoretischen Ueberlegungen. BRÜCKE !) besonders meinte, der Zellinhalt könne deshalb nicht eine flüssige Masse sein, weil die Lebensvorgänge unmöglich an ein flüssiges Substrat gebunden sein könnten, sondern eine bestimmte „Organisation“ voraussetzten, die sich nicht mit dem Charakter einer Flüssigkeit vertrüge. Die Brückesche Ansicht gewann bald mehrere Anhänger. Vor allem aber schien die Vorstellung von der festen Beschaffenheit des Zellinhalts gestützt zu werden durch die Lehre von dem netzförmigen Bau des Protoplasmas, wie sie FROMMANN und HEITZMANN vertraten. Man glaubte in dem Netzwerk das feste Gerüst gefunden zu haben, mit dessen Organisation die Lebensvorgänge verknüpft wären. Inzwischen hat sich aber herausgestellt, daß die netzförmige Struktur des Proto- plasmas eine optische Täuschung war, und so ist der Ansicht von der festen Konsistenz des Protoplasmas die tatsächliche Grundlage wieder entzogen worden. In Wirklichkeit ist bei unseren jetzigen mikro- skopischen Untersuchungsmitteln eine starke Voreingenommenheit für gewisse unhaltbare Theorien erforderlich, wenn man sich der Tatsache verschließen will, daß das Protoplasma, abgesehen von den festeren Einlagerungen, die sich in seiner Grundsubstanz befinden, sich physi- kalisch wie eine Flüssigkeit verhält. Die Vorstellung, daß die Lebensvorgänge nur an ein festes Sub- strat, unmöglich aber an eine Flüssigkeit gebunden sein könnten, ist in der Tat nicht nur unberechtigt, sondern sogar in dieser Form un- haltbar. Sie läßt sich nicht nur durch keinen annehmbaren Grund belegen, sondern sie widerspricht sogar Tatsachen, die leicht zu be- obachten sind. Es ist z. B. vollkommen unverständlich, wie bei einer mehr oder weniger starren Beschaffenheit eines Gerüst- oder Netz- werkes das Protoplasma die Fähigkeit des Strömens und Fließens besitzen könnte, die man so leicht in geeigneten Pflanzenzellen und bei Amöben beobachten kann. Ein festes Netzwerk kann unmöglich fließen in der Weise, daß die einzelnen Punkte seiner Masse fort- während sich durcheinander mischen, wie das in den Amöben so deutlich zu sehen ist. Mag auch die Theorie von der festen Kon- sistenz auf den ersten Anschein dem Verhalten der formbeständigen Zellen nicht widersprechen, mit den Erfahrungen an nackten Proto- plasmamassen ist sie schlechterdings unvereinbar. So haben denn auch in neuerer Zeit verschiedene Forscher, wie BERTHOLD ?), BürscHLı?), und kürzlich besonders JENSEN *) und RHUMBLER°), die Auffassung von der flüssigen Natur des Zellinhalts mit Nachdruck wieder vertreten, und es dürfte wohl kaum noch einen mit den Tatsachen genügend vertrauten Forscher geben, der sich dieser Vorstellung verschließen könnte. Es genügt auch, einige wenige Tat- sachen zu beobachten, um sofort von der flüssigen Konsistenz des Zellinhalts überzeugt zu sein. E 1) BRÜCKE: „Die Elementarorganismen“. In Wiener Sitzungsbericht, Jahrg. 44, 2. Abteil., 1861. 2) G. BERTHOLD: „Studien über die Protoplasmamechanik“. Leipzig 1886. 3) OÖ. BÜTSCHLI: „Untersuchungen über mikroskopische Schäume und das Protoplasma“. Leipzig 1892. 4) P. JENSEN: „Ueber den Aggregatzustand des Muskels und der lebendigen Substanz überhaupt“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 80, 1900. 5) L. RHUMBLER: „Der Aggregatzustand und die physikalischen Besonderheiten des lebenden Zellinhaltes“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 1 u. 2, 1902, 1903. Von der lebendigen Substanz. 131 € Vor allen Dingen beweisend für die flüssige Natur des Proto- plasmas sind die bereits erwähnten Bewegungsvorgänge. An den Protoplasmasträngen der Pflanzenzellen und in den Pseudopodien der Rhizopoden sieht man die lebendige Substanz wie das Wasser eines ruhig dahingleitenden Stromes in fließender Bewegung, bald langsamer, bald schneller und an verschiedenen Stellen mit ungleicher Geschwindigkeit, so daß sich die Teilchen fortwährend untereinander mischen, wie man das besonders leicht an den der Grundmasse des Protoplasmas eingelagerten DBe- standteillen, den Granulis, Fett- tröpfehen etc., beobachten kann. Wie könnte eine starre Grund- masse fließen wie das Wasser in RER LM einem Strome! R Eine andere Tatsache, die deut- Bi lich die flüssige Konsistenz des vi Protoplasmas erkennen läßt, ist die II/\ N Tropfen- und Kugelbildung Be 2 x N Mg Te TE ST Te een ne iR Ser Fig. 46. Fig. 47. Fig. 46. a Vaucheriaschlauch, am oberen Ende angeschnitten. Das Protoplasma tritt heraus und rundet sich zu Kugeln ab. Nach PFEFFER. db Amöbenzelle mit blasser Vakuole und verschiedenen kleinen Fetttröpfchen. Fig. 47. Tradescantia. Zelle eines Staubfadenhaares. 4A mit ruhig strömendem Protoplasma. B dieselbe Zelle durch den elektrischen Induktionsstrom gereizt. Das Protoplasma hat sich auf den Strängen zu einzelnen Kugeln zusammengeballt (c, d). Nach KÜHNE. von Protoplasmamassen, die beim Zerquetschen oder Anschneiden der Zellwände aus der Zellmembran herausquellen. Solche tropfen- und kugelförmigen Zusammenballungen beobachtet man z. B. sehr schön an dem Protoplasma der Alge Vaucheria (Fig. 46a). Aber auch an den fließenden Protoplasmasträngen der unverletzten Pflanzenzelle kann man solche kugeligen Zusammenballungen beobachten, wenn man z. B. den elektrischen Strom hindurchgehen läßt. Alsdann sammelt sich das Protoplasma zu Kügelchen und Spindelchen an, die, wenn man den Strom unterbricht, sich wieder lang ausstrecken, ver- mischen und ihre Substanz weiterfließen lassen (Fig. 47). Dasselbe kann man auf den Pseudopodienfäden der Meeresrhizopoden sehen, 9* 132 Zweites Kapitel. wenn man sie stark oder andauernd erschüttert (Fig. 48), und an vielen anderen Objekten ebenfalls. Eine dritte Tatsache, die auf die flüssige Konsistenz des Proto- plasmas hinweist, und die in den allerverschiedensten Zellformen be- obachtet werden kann, ist die Kugel- und Tropfenform der im Protoplasma eingeschlossenen Flüssigkeitsansamm- lungen, wie z. B. der sogenannten Vakuolen, der Fett- und Oel- tröpfchen etc., die hier und dort im Protoplasma zerstreut ent- stehen, wachsen und unter Umständen wieder verschwinden können (Fig. 465). Wäre die Grundmasse des Protoplasmas starr, so wäre es unverständlich, wie diese Flüssigkeitstropfen der verschiedensten »” . © “aus 0 895° U) 0° M\\ A B Fig. 48. Orbitolites. Teil der vielkammerigen Kalkscheibe des Foraminifers mit ausgestreckten Pseudopodienfäden. 4 in ungestörtem Zustande. B das Protoplasma der Pseudopodien hat sich auf starke Erschütterungsreize zu Kügelchen und Spindeln zu- sammengeballt. Größe gerade immer Kugelform annehmen und dieselbe, wie die Oel- tröpfchen, bei ihrer Massenzunahme beibehalten sollten. Eine Kugel- form dieser Flüssigkeiten ist mechanisch nur möglich, wenn das um- gebende Medium nach allen Seiten hin einen gleichen Druck ausübt und in gleichem Maße nachgibt, d. h. wenn es selbst eine Flüssig- keit ist. Derartiger Tatsachen, die sich nur mit einem flüssigen Cha- rakter des Protoplasmas vertragen, ließe sich eine unbegrenzte Zahl anführen. Die genannten genügen aber vollkommen, um zu zeigen, daß die Lebensvorgänge sehr wohl an ein flüssiges Substrat geknüpft sein können. Freilich sind der flüssige und der feste Zustand der Körper nicht durch eine scharfe Grenze voneinander zu trennen, sondern durch unmerkliche Uebergänge miteinander verbunden. Nach unseren physikalischen Vorstellungen beruht der Unterschied zwischen dem gasförmigen, flüssigen und festen Zustande der Körper nur darauf, daß die Moleküle im ersten Falle in rapider, im zweiten in etwas schwächerer und im letzten Falle in noch geringerer Bewegung Von der lebendigen Substanz. 133 begriffen sind. Da das also nur ein gradueller Unterschied ist, so läßt sich auch eine scharfe Grenze unmöglich ziehen. So haben wir auch in der lebendigen Substanz verschiedene Grade der Beweglich- keit der Teilchen, d. h. die lebendige Substanz ist in einem Falle leicht-, im anderen dickflüssiger. Im allgemeinen besitzt sie etwa die Konsistenz und Beweglichkeit von rohem Hühnereiweis, doch kommen auch festere Formen vor, ja, gewisse dauernd bestehende Differen- zierungen des Protoplasmas können sogar in einzelnen Fällen die schon nahe an den festen Zustand erenzende Konsistenz einer weichen Gallerte haben, ohne aber je die Verschiebbarkeit ihrer Teilchen ein- zubüßen. Bei Muskelfasern, Geißelfäden, Wimperhaaren, am Zellkern und an der Oberfläche mancher membranloser Protoplasmamassen, z. B. bei Infusorienzellen, haben wir derartige Verhältnisse. Nur in solehen Fällen kann man mit einiger Berechtigung von einer etwas festeren Struktur sprechen. Indessen, diese zäheren Konsistenzver- hältnisse sind immer lokal in der Zelle beschränkt; die ganze übrige Masse des Zellinhalts ist stets dünner flüssig. Schließlich dürfen wir nicht vergessen, daß die lebendige Substanz niemals eine ganz homogene Flüssigkeit ist. Vor allem ist daran zu denken, daß das Protoplasma in vielen Fällen eine äußerst feine wabige Struktur besitzt, ein Moment, das wie neuerdings RHUMBLER (l. ec.) durch seine ungemein gründlichen Studien gezeigt hat, für das Verständnis mancher physikalischen Besonderheiten des lebendigen Zellinhaltes eine sehr wichtige Rolle spielt. Aber auch der Umstand ist nicht zu vernachlässigen, daß in der Flüssigkeit allerlei geformte Elemente von der verschiedensten Konsistenz aufgeschwemmt sein können, daß wir es also mit einem Gemisch oder, wie BERTHOLD es bezeichnet, mit einer „Emulsion“ zu tun haben. Aus diesem Grunde ist es nicht zweckmäßig, von einem „Aggregatzustand“ des Protoplasmas zu sprechen, wie das von vielen Forschern geschehen ist. Von einem Aggregatzustand kann streng genommen nur bei einer homogenen Substanz die Rede sein, nicht bei einem Gemisch, das Stoffe enthält, die selbst die verschiedenartigsten Aggregatphasen vor- stellen. Schließlich ist immer zu berücksichtigen, daß im Lebensprozeß der Zelle fortwährend Stoffe aus einer dickflüssigeren in eine dünn- flüssigere Phase, aus dem ungelösten in den gelösten Zustand über- gehen und umgekehrt, so daß andauernd Mischungen und Ent- mischungen der Inhaltsbestandteile der lebendigen Substanz stattfinden. Vor allem scheinen in dieser Beziehung von großer Bedeutung für die Lebensvorgänge die Veränderungen zu sein, welche die kolloidalen Verbindungen des Zellinhalts unter verschiedenen Bedingungen er- fahren. Die Kolloide können durch Auftreten von Salzen und ihren Ionen aus ihren Lösungen in den festen Zustand übergeführt werden und umgekehrt. Sie bilden mit den verschiedensten Stoffen Ver- bindungen, die im Lösungsmittel als feste Massen ausfallen. Viele dieser Verbindungen sind, wie z. B. diejenigen mit neutralen Salzen, reversibel und können durch Konzentrationsverminderung, durch Diffusion ete. wieder in kolloidale Lösungen übergehen. Gerade die kolloidalen Eigenschaften der besonders wichtigen organischen Verbindungen der lebendigen Substanz, wie der allgemein verbreiteten Körper der Eiweißgruppe, dürften in Zukunft noch mancherlei wert- volle Aufschlüsse für die feinere Analyse der Lebensvorgänge liefern, denn bisher sind nur die ersten Schritte auf diesem Gebiete getan, 134 Zweites Kapitel. dessen Erforschung die physikalische Chemie erst in neuerer Zeit in Angriff genommen hat!). Die flüssige Natur der lebendigen Substanz ist ihre wichtigste physikalische Eigenschaft. Sie verlangt, daß die lebendige Substanz in physikalischer Beziehung den Gesetzen tropfbarer Flüssigkeiten gehorchen muß. Wir werden dementsprechend und im Gegensatz zu der Vorstellung, welche die Lebensvorgänge nur mit einer festen Organisation für vereinbar hält, gerade sehen, daß sich die Lebens- äußerungen nur verstehen lassen unter der Voraussetzung eines flüssigen Zustandes ihres Substrats, d. h. eines Zustandes, in dem die Teilchen mehr oder weniger verschieblich sind. Die Ge- bilde, welche, wie Sehnen, Bindegewebsfasern, Zellhäute, Knochen- und Knorpelgrundsubstanz ete., eine vollkommen starre Konsistenz haben, zeigen überhaupt keine aktiven Lebensäußerungen, und der alte Satz: „corpora non agunt nisi soluta“, wenn er auch in seiner Allgemeinheit anfechtbar ist, trifft für dielebendige Substanz durch- aus zu. 2. Membranfunktionen und osmotische Eigenschaften der Zelle. Dem Besitz ihrer kolloidalen Verbindungen verdankt die lebendige Substanz eine Eigentümlichkeit, die für das gesamte Spiel der Lebens- vorgänge von der allergrößten Bedeutung ist, das ist die Eigentüm- lichkeit, daß ihre kolloidalen Grenzflächen die Eigenschaften sogenannter „semipermeabler Membranen“ besitzen. Semipermeable Mem- branen sind Membranen aus kolloiden Stoffen, welche die Diffusion bestimmter Stoffe verändern ?). Bringt man zwischen zwei diffusible Flüssigkeiten eine vollkommen permeable Scheidewand, etwa von poröser Kohle oder porösem Ton, so erfolgt der Diffusionsaustausch zwischen beiden Flüssigkeiten nach den Gesetzen der Diffusion ent- sprechend der Diffusionsgeschwindigkeit der beiden Flüssigkeiten. Scheidet man dagegen die beiden Flüssigkeiten voneinander durch eine semipermeable Membran aus Kollodium oder Gelatine oder Ei- weiß oder irgendeinem anderen kolloidalen Material, so findet die Diffusion nicht mehr entsprechend der Diffusionsgeschwindigkeit der beiden Flüssigkeiten statt, sondern die Membran verändert die Ge- schwindigkeit der Diffusion und zwar in sehr verschiedener Weise für verschiedene Stoffe. Semipermeable Membranen üben also einen elek- tiven Einfluß auf die Diffusionsvorgänge aus. Man hat die Bedin- gungen für diese Tatsache darin gefunden, daß die kolloidale Sub- stanz der Membran Lösungsmittel oder gelöste Stoffe absorbiert oder bindet, so daß Konzentrationsänderungen daraus resultieren. Damit sind zugleich die an semipermeablen Membranen auftretenden elektri- schen Potentialdifferenzen verständlich, die der Elektrizitätsproduktion der lebendigen Substanz zugrunde liegen. 1) Zur Orientierung kann dienen: WOLFGANG PAULI: „Beziehungen der Kolloid- chemie zur Physiologie‘. In Verh. d. Ges. Deutscher Naturf. u. Aerzte, 78. Vers. zu Stuttgart, 1906, 1. Teil. 2) Die sehr umfangreiche Literatur über die Eigenschaften semipermeabler Membranen findet sich zusammengestellt und erläutert bei HEINRICH ZANGGER: „Ueber Membranen und Membranfunktionen“. In „Ergebnisse der Physiologie“, 7. Jahrgang, 1908. Von der lebendigen Substanz. 135 Das lebendige Protoplasma hat in seinen kolloidalen Bestandteilen die Eigenschaften semipermeabler Membranen. Protoplasmaoberflächen üben daher einen elektiven Einfluß auf die Diffusion bestimmter Stoffe aus. Dabei hängt das Elektionsvermögen ganz von der Zusammen- setzung des Protoplasmas ab, es kann bei verschiedenen Formen der lebendigen Substanz sich auf ganz verschiedene Stoffe erstrecken. Für das Verständnis gewisser Lebensäußerungen sind besonders wichtig einige Folgen dieses Elektionsvermögens. Füllen wir eine Flasche, die statt des Bodens eine einfache Membran, etwa aus Pergamentpapier, besitzt, mit einer konzen- trierten Kochsalzlösung und schließen wir sie, nachdem sie bis zum Rande gefüllt ist, mit einem durchbohrten Gummistopfen, durch den ein senkrechtes Steigrohr geht, so können wir, wenn wir dieses System mit der Membran in eine Schale mit destilliertem Wasser tauchen, die reine Wirkung der Diffusion beobachten. Zwischen beiden durch die Membran getrennten Flüssigkeiten besteht eine große Differenz des osmotischen Druckes. Der osmotische Druck einer Lösung ist nach dem bekannten Gesetz von AVOGADRO und nach VAnr Horrs klassischen Untersuchungen bei gleicher Temperatur abhängig von der Anzahl der in der Flüssigkeit enthaltenen Moleküle des gelösten Stoffes. Durch die Diffusion erfolgt nun bekanntlich eine Durch- mischung der miteinander in Verbindung tretenden Flüssigkeiten so lange, bis die Differenz vollkommen ausgeglichen ist, d. h. bis beide Flüssigkeiten in allen Punkten die gleiche Zusammensetzung und Kon- zentration haben. Da aber Wasser durch die Membran der Flasche viel schneller hindurchtritt als Kochsalz, so wird zunächst viel mehr Wasser von der Schale in die Flasche hineintreten, als Kochsalz aus der Flasche in die Schale herausdiffundiert. Die Folge davon wird sein, daß die Flüssigkeitsmenge in der Flasche mehr und mehr zunimmt. Dement- sprechend steigt der hydrostatische Druck in der Flasche, was sich an dem Steigrohr direkt bemerkbar macht. An dem hydrostatischen Druck haben wir hier einen Maßstab für den osmotischen Druck. Wäre die Flasche oben geschlossen, so würde der steigende Druck in der Flasche die Membran immer mehr nach außen vorpressen, event. bis zum Platzen. Es können durch Osmose auf diese Weise ganz bedeutende Druckwerte erzielt werden. Läßt man indessen eine Dialyseflasche, wie sie hier geschildert wurde, einige Zeit stehen, so bemerkt man, daß die Flüssigkeitssäule, nachdem sie ein Maximum erreicht hatte, wieder zu sinken beginnt, weil allmählich auch immer mehr Kochsalz aus dem Innern der Flasche durch die Membran in das umgebende Wasser diffundiert. Der os- motische Druck bleibt also nicht konstant, da die Membran auch für Kochsalz durchlässig ist. Nehmen wir dagegen statt der einfachen Pergamentmembran eine halbdurchlässige Membran, die zwar Wasser aber nicht die gelöste Substanz durchläßt, so erhalten wir nach einiger Zeit einen stationären Druckwert, der nur die Höhe des os- motischen Druckes angibt. Man verfährt dazu am besten in der von PFEFFER beschriebenen Weise, indem man in einer gewöhnlichen Ton- zelle, wie sie für galvanische Elemente dient, eine Niederschlagsmem- bran herstellt, die semipermeablen Charakter hat. Eine kleine, gut ge- reinigte und unter der Luftpumpe getrocknete Tonzelle wird mit einer Kupfersulfatlösung getränkt und dann in eine Ferrocyankaliumlösung getaucht. Ferrocyankalium bildet mit Kupfersulfat eine Niederschlags- 136 Zweites Kapitel. membran, die sich in den feinen Poren der Tonzelle ablagert. Nun kann man die Tonzelle abspülen, innen mit einer Kupfersulfatlösung füllen und dann in reines Wasser hängen. Um den osmotischen Druck der Kupfersulfat- lösung zu bestimmen, verbindet man eine solche mit einem seitlichen Tubus versehene Tonzelle mit einem Baro- meter in der nebenstehend angegebenen Weise und schließt, die Zelle oben luft- eis. R Jul / | Fig. 49. Dialyseflasche mit Steigrohr. Die unten mit einer einfachen Pergamentpapier- membran verschlossene Flasche ist mit Kochsalz- lösung gefüllt und mit ihrem unteren Ende in eine Schale mit Wasser gehängt. Fig. 50. PFEFFERsche Zelle im Längschnitt. Die Tonzelle, welche eine Niederschlagsmembran enthält, ist in ein Wassergefäß gehängt und trägt seitlich einen Tubus, der sie mit einem Manometer verbindet. Oben ist sie mittels einer zugeschmol- zenen Glasröhre von der Luft abgeschlossen. Von der lebendigen Substanz. 137 dicht durch einen Kautschukstopfen, der eine Glasröhre trägt, die nach vollkommener Füllung der Tonzelle mit Kupfersulfatlösung ab- geschlossen wird, so daß das System jetzt vollkommen geschlossen ist. Hängt man dann die Tonzelle mit ihrem unteren Teil in ein Glasgefäß mit Wasser, so beginnt nun das Wasser in die Kupfer- sulfatlösung hineinzudiffundieren, während das Kupfersulfat die Niederschlagsmembran der Tonzelle nicht passieren kann. Infolge- dessen steigt der Druck in der Tonzelle bis zu einem Maximum an, und zwar solange, bis der Quecksilberdruck dem osmotischen Druck das Gleichgewicht hält. Dann bleibt der Druck in der Tonzelle stationär und man kann seine Größe an dem Quecksilberstande des Barometers ablesen. Fig. 51. Schema des Zellturgors einer Pflanzenzelle. 7% Zellmembran, p Primordialschlauch, % Zellkern, ce Chlorophylikörper, s Zellsaft, e eindringende Salz- lösung. Bei A Zelle in voller Turgeszenz, der Primordialschlauch liest der Zellmembran fest an. Bei B hat der Turgor infolge einwirkender Salzlösung abgenommen, die Zelle ist kleiner geworden, aber der Primordialschlauch liegt der Zellmembran noch an. Bei © ist der Turgor noch geringer geworden, der Primordialschlauch beginnt sieh von der Zellhaut, die ihre geringste Größe erreicht hat, abzuheben. Bei D hat der Primordial- schlauch sich vollständig zusammengezogen, weil die osmotische Wirkung der von außen her einwirkenden Salzlösung e sehr hohe Werte erreicht hat. Nach DE VRIES. Die lebendige Zelle repräsentiert nun ein ähnliches System wie die Tonzelle im obigen Versuch. Sie kann aufgefaßt werden als eine Flüssigkeitsmasse, in der osmotisch wirksame Stoffe gelöst sind und die umgeben ist von einer semipermeablen Membran, die für Wasser gut, für die im Zellinhalt gelösten Stoffe aber gar nicht durch- lässig ist. Ein ideales Paradigma dieser Verhältnisse bietet z. B. die Pflanzenzelle. Bekanntlich stellt die Pflanzenzelle eine zylindrische Kapsel vor, deren Wände von einer elastischen Zellulosehaut gebildet werden (Fig. 51). Die Zellulosehaut entspricht der Tonwand des Zylinders im obigen Versuch. Die Innenhaut der Zellulosekapsel ist mit einer dünnen aber kontinuierlichen Protoplasmaschicht, dem so- genannten ‚„Primordialschlauch“ überzogen, der wie ein Sack oder eine Blase eine Flüssigkeit, den „Zellsaft“, umschließt und in der Regel Stränge von Protoplasma quer- und längsverzweigt mitten durch diese große Zellsaftvakuole hindurchsendet (auf der neben- stehenden schematischen Figur sind diese Protoplasmastränge fort- 138 Zweites Kapitel. gelassen). Der Primordialschlauch hat semipermeable Eigenschaften und entspricht der Niederschlagsmembran im obigen Versuch. Im Zellsaft gelöst sind verschiedene osmotisch wirksame Stoffe wie Salze, Zucker etc., die im Lebensprozeß der Zelle produziert werden. Sie entsprechen der Kupfersulfatlösung im obigen Versuch. Für diese Stoffe ist das Protoplasma als semipermeable Membran im normalen Zustande undurchlässig. Sie können also nicht von innen nach außen durch den Primordialschlauch hindurchdiffundieren. Dagegen kann Wasser von außen nach innen in die Zelle hineindiffundieren. Wenn also beim Stoffwechsel der Zelle mehr osmotisch wirksame Moleküle im Zellsaft aufgehäuft werden als in dem umgebenden Medium sich befinden, wird von außen solange Wasser in das Innere der Zelle hineintreten, bis die Druckdifferenzen ausgeglichen sind. Osmotische Druckdifferenzen zwischen Zellinhalt und äußerem Medium können nicht auf die Dauer bestehen, sie gleichen sich durch Diffusion immer von selbst aus, sobald sie auftreten. Im vorliegenden Falle muß daher der Druck in der Zelle durch die Wasseraufnahme steigen, d. h. der Primordialschlauch wird ausgedehnt. Aber nicht nur der Primordial- schlauch, sondern auch die elastische Zellulosekapsel erfährt eine Dehnung, so daß die ganze Zelle an Volumen zunimmt. Der Druck, der auf diese Weise in der Zelle entsteht, wird als „Turgor‘ der Zelle bezeichnet. Es ist klar, daß der Turgor der Zelle ganz ab- hängig ist von dem osmotischen Druck. Bringt man die Zelle in ein Medium, das einen geringeren osmotischen Druck hat als der Zell- inhalt, das also weniger osmotisch wirksame Moleküle gelöst enthält als der Zellsaft, so wird der Turgor der Zelle durch Wasseraufnahme steigen. Infolgedessen nimmt das Volumen der Zelle zu, die Zell- membran wird gedehnt. Erhöht man umgekehrt die Zahl der os- motisch wirksamen Moleküle im Medium, so wird. der Turgor der Zelle durch Wasserabgabe sinken. Die Wasserabgabe kann dabei so stark werden, daß sich der Primordialschlauch beim allmählichen Zu- sammenziehen ganz von der vollständig entspannten und auf ein ge- ringeres Volumen reduzierten Zellulosekapsel abhebt (Fig. 51 D). Man spricht dann in der Pflanzenphysiologie wenig zutreffend von „Plas- molyse“. Der Turgor der Pflanzenzellen ist für die Erhaltung der Festigkeit und Widerstandsfähigkeit und dadurch der Stellung der Pflanzenteile, wie Stengel, Blätter, Blüten etc. von der größten Be- deutung. Pflanzen, in deren Zellen der Turgor sinkt, werden welk. Noch nach einer anderen Richtung hin spielen die osmotischen Vorgänge im Leben der Zelle eine tief eingreifende Rolle. Die Osmose reguliert den Wassergehalt der lebendigen Substanz. Vom Wasser- gehalt aber ist wiederum die Fähigkeit der lebendigen Substanz, auf Reize zu reagieren, in engster Abhängigkeit. Jede Zellform hat einen unter normalen Verhältnissen für sie ganz spezifischen Wassergehalt, der auf osmotischem Wege bestimmt wird einerseits durch die Menge der Salze und anderen osmotisch wirksamen Stoffe, welche die Zelle enthält, und andererseits durch die Menge der osmotisch wirksamen Stoffe im umgebenden Medium. Bei ungestörtem Stoffwechsel sind diese Mengenverhältnisse konstant. Dem entspricht ein ganz be- stimmter Grad der Erregbarkeit der Zelle durch Reize. Entzieht man aber auf osmotischem Wege der Zelle Wasser, so daß der Wassergehalt ihrer lebendigen Substanz sinkt, so nimmt ihre Erreg- barkeit zu, steigert man umgekehrt ihren Wassergehalt über die Norm, Von der lebendigen Substanz. 139 so sinkt ihre Erregbarkeit. Das zeigt z. B. sehr deutlich der Muskel. Durchspült man einen Muskel mit einer hypertonischen Salzlösung, d.h. mit einer Salzlösung, die einen höheren osmotischen Druck hat als die normale Spültlüssigkeit des Muskels, das Blut, so rufen die- selben Reize, die vorher eben nur eine schwache Reaktion erzeugten, alsbald heftige Kontraktionen hervor. Durchspült man dagegen um- gekehrt den "Muskel mit einer hypotonischen Salzlösung, so wirken alsbald die stärksten Reize nicht mehr. Schließlich dürften die osmotischen Vorgänge in der Zelle und speziell die elektiven Eigenschaften der semipermeablen Protoplasma- oberflächen einen wichtieen Faktor bilden bei der Entstehung der elektrischen Ströme, die wir unter gewissen Bedingungen an lebendigen Objekten auftreten sehen. Indem "beim Zerfall elektrisch indifferenter Moleküle elektrisch positiv und elektrisch negativ geladene Atome resp. Atomgruppen, die „Kationen“ und „A nionen“ entstehen, und indem die semipermeablen Membranen die eine Ionenart leichter durchlassen als die andere, ist stets Gelegenheit zur Entstehung elektrischer Potentialdifferenzen an verschiedenen Stellen eines leben- digen Objektes gegeben. Es ist aber kaum zweifelhaft, daß sich in Zukunft noch zahlreiche andere Vorgänge im Zellleben werden auf- finden lassen, die von den Verhältnissen der Osmose und den Eigen- schaften der Protoplasmaflächen als semipermerabler Membranen in tiefeinschneidender Weise beherrscht werden. 3. Das spezifische Gewicht der lebendigen Substanz. Unter den physikalischen Eigenschaften der lebendigen Substanz besitzt ferner für das Verständnis gewisser Lebensäußerungen ihr spezifisches Gewicht eine bemerkenswerte Bedeutung. Wenn man Zellen der verschiedensten Art oder möglichst reine Gewebestücke in destilliertes Wasser fallen läßt, so beobachtet man fast ganz allgemein, daß sie im Wasser zu Boden sinken. Es stellt sich also heraus, daß der Zellinhalt als Ganzes im allgemeinen spezifisch schwerer ist als Wasser, d.h. ein größeres spezifisches Gewicht besitzt als 1. JENSEN!) hat vor einiger Zeit eine etwas genauere Bestimmung des spezifischen Gewichts der einzellieen Wimper- infusorienform Paramaecium aurelia ausgeführt, und zwar in folgender Weise. Bekanntlich kann man durch Zusatz von löslichen Salzen das spezifische Gewicht einer Flüssigkeit erhöhen und durch Steigerung der Konzentration sehr fein abstufen. JENSEN setzte also die Paramäcien in eine schwache Lösung von Kaliumkarbonat, deren Konzentration er so lange erhöhte, bis de Paramäcien darin eben nicht mehr zu Boden sanken, sondern mitten in der Lösung schweben blieben, ein Zeichen, daß jetzt die Lösung dasselbe spezifische Gewicht besaß, wie die Paramäcienkörper. Dann wurde mittelst eines Aräometers das spezifische Gewicht der Lösung bestimmt, und so fand sich, daß der Zellkörper der Paramäcien ein spezifisches Gewicht von ungefähr 1,25 besitzt. Im allgemeinen dürfte wohl das spezifische Gewicht der lebendigen Substanz überhaupt nicht viel höhere Werte aufweisen. Soweit bis jetzt Erfahrungen vor- liegen, handelt es sich immer nur um Werte, die wenig größer sind als 1. 1) PAUL JENSEN: „Die absolute Kraft einer Flimmerzelle“. In PFLÜüGERs Archiv, Bd. 54, 1893. 140 Zweites Kapitel. Allein, es gibt gewisse Fälle, in denen das Gesamtgewicht der Zelle Abweichungen von diesem allgemeinen Verhalten zeigt, in denen die Zelle als Ganzes spezifisch leichter ist als 1. Diese Fälle sind ohne weiteres verständlich, wenn wir uns wieder erinnern, daß das Protoplasma keine homogene Substanz ist. Ver- gegenwärtigen wir uns z. B. Zellen, bei denen Fetttröpfchen in der Grundsubstanz des Protoplasmas eingelagert sind, so ist es möglich, daß, obwohl die Grundsubstanz spezifisch schwerer ist als Wasser, doch die Zelle als Ganzes ein geringeres spezifisches Gewicht besitzt, wofern nur die Ansammlung des Fettes, das spezifisch bedeutend leichter ist als Wasser, eine solche Größe erreicht, daß sie die Schwere des übrigen Protoplasmakörpers überwiegt. Solche Fälle sind reali- siert in den Fettzellen des Unterhautbindegewebes beim Menschen und vielen Tieren, die, wenn man sie ins Wasser wirft, an der Oberfläche schweben bleiben. KFettleibige Menschen haben aus diesem Grunde beim Schwimmen geringere Anstrengungen zu machen, um sich über Wasser zu erhalten, als magere. Dieselbe Rolle wie das Fett können im Zellkörper noch andere Stoffe spielen, vor allem Gasblasen, die das spezifische Gewicht des Gesamtkörpers der Zelle unter Umständen enorm herabsetzen können, ein Verhältnis, das z. B. bei manchen schalentragenden Rhizopoden des Süßwassers (Arcella, Difflugia) vorkommt. Es ergibt sich aus dieser Tatsache, daß die Zelle durch Anhäufung leichterer oder schwererer Stoffe ihr spezifisches Gewicht unter Um- ständen aktiv verringern oder erhöhen und dadurch ohne Benutzung irgendwelcher Lokomotionsorgane aktiv im Wasser aufsteigen oder niedersinken kann, eine Fähigkeit, die für das Leben der betreffenden Organismen unter manchen Verhältnissen, z. B. wenn an der Stelle, an der sie leben, die Lebensbedingungen ungünstig werden, von großer Bedeutung ist. Inallen Fällen aber, wo man Zellen findet, die spezifisch leichter sind als Wasser, sindimmer nur bestimmte Bestandteile, niemals das ganze Proto- plasma, spezifisch leichter. Die Grundmasse des Proto- plasmas scheint stets um ein Geringes schwerer zu sein als Wasser. 4. Die optischen Eigenschaften der lebendigen Substanz. Werfen wir schließlich noch einen flüchtigen Blick auf die opti- schen Eigenschaften der lebendigen Substanz, so finden wir, daß das Protoplasma in den meisten Fällen durchaus farblos, grau, in dünnen Schichten, die von geformten Einschlüssen frei sind, durchscheinend, in dicken Schichten undurchsichtig ist, und das Licht etwas stärker bricht als Wasser. Im einzelnen verhalten sich aber die mannigfaltigen Formen der lebendigen Substanz je nach der Beschaffenheit ihrer Bestandteile verschieden. Einzelne geformte Elemente, wie Fetttröpfchen, Wasser- tropfen, Chlorophylikörner, können intensiv gefärbt sein, so daß die Zellen, in denen sie in größerer Anhäufung vorhanden sind, gelb, rot, grün etc. gefärbt sind, wie z. B. bei den Pflanzengeweben. Ebenso ist das Lichtbrechungsvermögen der einzelnen Bestandteile verschieden, das der Wassertröpfchen in den Vakuolen geringer, das der Fetttröpfchen größer als das der Grundsubstanz. Im Leben der Von der lebendigen Substanz. 141 Zelle spielen diese Farbstoffe unter Umständen eine bedeutende Rolle, insofern sie Licht- und Wärmeeinwirkungen in bestimmter Weise regulieren, wie das namentlich in weitgehendem Maße im Pflanzen- leben der Fall ist. Es würde zu weit führen, auf alle einzelnen Fälle einzugehen, doch ist es von Interesse, das Verhalten einer Form der lebendigen Substanz, nämlich das der sogenannten kontraktilen Substanz, d.h. derjenigen Substanz, die, wie das amöboide Protoplasma, die Flimmerhaare und die Muskelfasern, bestimmte Formveränderungen (Kontraktionen) ausführt, näher ins Auge zu fassen. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fand BOoEcK, daß gewisse Bestandteile der quergestreiften Muskelfaser doppel- brechend sind, d. h. das Vermögen haben, einen Lichtstrahl zu zerlegen in zwei Strahlen, die beide mit verschiedener Geschwindigkeit fort- gepflanzt werden, eine Fähigkeit der Muskelsubstanz, die besonders BRÜCKE später genauer untersuchte. Seitdem hat ENGELMANN!) die Beobachtung gemacht, daß nicht nur diese Schichten des quer- gestreiften Muskels, sondern überhaupt alle faserig differenzierten kontraktilen Substanzen, wie die der glatten und quergestreiften Muskelzellen, der kontraktilen Fasern oder Myoide des Infusorien- körpers, sowie der Wimperhaare und Geißelfäden aller Flimmerzellen, positiv einachsig doppelbrechend sind, und zwar in der Weise, daß ihre optische Achse mit der Faserrichtung zusammenfällt. Diese Tat- sache weist darauf hin, daß die Molekularstruktur aller dieser Faser- gebilde in der Faserrichtung eine andere sein muß als in den übrigen Richtungen, eine Folgerung, die für das Verständnis der Kontrak- tionsvorgänge an diesen Objekten vielleicht Bedeutung besitzt. An dem nackten kontraktilen Protoplasma der Rhizopoden, z. B. der Amöben, hat EnGELMANN keine Doppelbrechung auffinden können. Nur auf den graden, strahlenförmigen Pseudopodien von Aktino- sphaerium Eichhornii, einem zierlichen Süßwasserrhizopoden, beobachtete er Doppelbrechung, die aber hier höchst wahrscheinlich nicht von dem kontraktilen Protoplasma herrührt, sondern von starren Strahlen, die sich als Stützorgane in der Achse der Pseudopodien befinden und nachweislich mit der Kontraktion nichts zu tun haben. >k * * Fassen wir schließlich die Hauptpunkte von allem, was unsere eingehende Untersuchung ergeben hat, zu einem übersichtlichen Bilde von der lebendigen Substanz zusammen, so können wir sagen: Die lebendige Substanz, wie sie jetzt auf der Erdoberfläche existiert, tritt nur auf in Form von teils einzeln lebenden, teils zu größeren zu- sammenhängenden Staaten vereinigten Elementarorganismen, den Zellen. Jede Zelle ist ein meist mikroskopisch kleines Klümpchen flüssiger Substanz, in der verschiedene, teils geformte, teils gelöste Bestandteile eingelagert sind. Als allgemeine Zellbestandteile, die in allen Zellen zu finden sind, können nur die dickflüssige Grund- masse selbst, das Protoplasma, und eine darin eingelagerte, etwas festere Substanz, der Zellkern, betrachtet werden. Ein Klümpchen Protoplasma mit einem Kern ist bereits eine vollständige Zelle und anderseits gibt es keine Zelle, die nicht Kern und Protoplasma be- are W. ENGELMANN: „Kontraktilität und Doppelbrechung“. In PFLÜGERS Arch. f. d. ges. Physiologie, Bd. 11, 1875. 142 Zweites Kapitel. säße. Ebenso, wie sich morphologisch in der lebendigen Zellsubstanz die verschiedensten Bestandteile nebeneinander unterscheiden lassen, ebenso sind in der lebendigen Substanz auch die verschiedensten chemischen Körper vorhanden. Die Elementarstoffe, aus denen die lebendige Substanz besteht, sind nur solche, wie sie auch in der unbelebten Körperwelt existieren, doch ist ihre Zahl eine geringe, und es sind hauptsächlich die Elemente mit niedrigstem Atomgewicht, welche die lebendige Substanz zusammensetzen. Ein besonderes Lebenselement existiert nicht. Dagegen sind viele Verbindungen, zu denen diese Elementarstoffe zusammentreten, für die lebendige Substanz charakteristisch und finden sich nicht in der anorganischen Welt. Vor allem sind es die Eiweißkörper, die kompliziertesten unter allen organischen Verbindungen, die aus den Elementen C, H, 0, N, S bestehen und in keiner lebendigen Substanz fehlen. Daneben kommen noch andere komplizierte organische Verbindungen, wie Kohlehydrate, Fette und einfachere Stoffe vor, die sämtlich ent- weder aus dem Zerfall der Eiweißkörper stammen oder zu ihrem Aufbau notwendig sind, sowie schließlich anorganische Stoffe, wie Salze und Wasser. Die Eiweißkörper verleihen zugleich der leben- digen Substanz der Zelle ihre kolloidalen Eigenschaften und der Zell- oberfläche die Eigentümlichkeiten semipermeabler Membranen. Das Wasser ferner gibt der lebendigen Substanz ihre flüssige Konsistenz, mit der das Leben untrennbar verknüpft ist. Die Salze endlich regulieren auf osmotischem Wege den Wassergehalt und damit die Erregbarkeit der Zelle. Das ist in groben Zügen das Bild, das uns die anatomische, die mikroskopische, die chemische und die physikalische Untersuchung der lebendigen Substanz ergeben hat. II. Lebendige und leblose Substanz. Noch ist aber unsere Vorstellung von der lebendigen Substanz unfertig.. Wir haben zwar ein Bild von ihrer Zusammensetzung bis in alle jetzt bekannten Einzelheiten hinein gewonnen, aber uns fehlt zum Gesamtbilde noch ein Punkt, ja, der wesentlichste Punkt. Worin liegtdercharakteristische Unterschied zwischen leben- diger und lebloser Substanz? Die Frage ist inhaltsschwer, denn sie enthält nichts Geringeres als das Problem der ganzen Physiologie, jenes gewaltige Problem, das seit alter Zeit schon manchen grübelnden Geist unwiderstehlich gefesselt hat, und das noch heute den Forscher zwingt, seine Lebensarbeit der Lösung des alten Rätsels zum Opfer zu bringen: das Problem des Lebens. Wie wir schon früher sahen, ist der Begriff des Lebens nicht immer derselbe gewesen. Seit seiner Entstehung bei den Urvölkern hat er sich mannigfaltig verändert. Versuchen wir, ob es gelingt, den Begriff in wissenschaftlicher Weise zu fixieren, indem wir die Unter- schiede zwischen lebendiger und lebloser Substanz aufsuchen. Dieses Unternehmen muß sich naturgemäß nach zwei Richtungen hin erstrecken, einmal auf die Unterschiede zwischen Organismen und anorganischen Stoffen, dann aber auch auf die Unterschiede zwischen lebendigen und leblosen Organismen, denn offenbar unterscheiden wir Von der lebendigen Substanz. 143 scharf zwischen Objekten, die niemals lebendig waren, wie z. B. einem Stein, und solchen, die gelebt haben und leblos geworden sind, also z. B. einer Leiche. A. Organismen und anorganische Körper. 1. Morphologische Unterschiede. Man hat bei der Vergleichung der Organismen mit den anorga- nischen Substanzen mit Vorliebe den Fehler begangen, den Organis- mus einem Kristall gegenüberzustellen, statt ihn mit einer Substanz zu vergleichen, die ähnliche Konsistenz, überhaupt ähnliche physi- kalische Verhältnisse bietet wie die lebendige Substanz, also etwa mit einer diekflüssigen Masse. Aus diesem fehlerhaften Vergleich ist dann eine Reihe von Unterschieden entnommen worden, deren Un- haltbarkeit auf der Hand liegt. So hat man gesagt, indem man die Kristalle im Auge hatte: Die anorganischen Körper haben nach einfachen mathematischen Ge- setzen konstruierte Formen mit genau bestimmten Winkeln, Ecken und Kanten, während die Organismen mathematisch nicht darstellbare Körpergestalten besitzen. Man braucht nicht gerade das „kristallisierte Menschenvolk* zu zitieren, das MEPHISTOPHELES in seinen Wanderjahren gesehen hat; die Unhaltbarkeit dieser Unterscheidung wird von selbst klar, wenn man daran denkt, daß einerseits wirklich auch unter den Organismen mathematisch sehr einfache Körperformen vorkommen, wie unter den Rhizopoden bei den mit so überaus zierlichen Kieselskeletten versehenen Radiolarien sowie bei vielen polyädrisch aneinandergedrängten Gewebezellen oder schließlich bei vollkommen kugelförmigen Eizellen, und daß ander- seits in der anorganischen Natur sämtlichen Flüssigkeiten die mathe- matisch feste Körperform abgeht. Man hat ferner behauptet: Die anorganischen Körper, wie die Kristalle, haben keine Organe, ein Besitz, der dagegen sämtliche Organismen kennzeichnet. Auch das ist nicht richtig. Es gibt nicht nur Organismen ohne eigentliche Organe, wie die Amöben oder noch besser die roten Blutzellen, bei denen der ganze flüssige Protoplasmakörper selbst Organ für alles ist, es gibt auch anorga- nische Gebilde mit wirklichen Organen, wie die Maschinen, bei denen die einzelnen Teile eine ganz bestimmte Funktion versehen, und dennoch wird niemand im Ernste die Blutzellen für anorganische Körper oder die Dampfmaschinen für lebendige Organismen halten. Einen anderen Unterschied wollte man darin finden, daß die Organismen im Gegensatz zu allen anorganischen Körpern zusammen- gesetzt sind aus den charakteristischen Elementarbausteinen aller lebendigen Substanz, den Zellen. Es ist richtig, daß die Zelle ein spezifisches Element der gesamten Organismenwelt ist. Aber was diesen Elementarbestandteil der lebendigen Welt charakterisiert, was ihn unterscheidet von der ganzen anorganischen Welt, ist nicht seine bloße morphologische Abgrenzung. Objekte, die aus gesonderten Form- elementen zusammengesetzt sind, können wir auch aus anorganischen Stoffen mit Leichtigkeit herstellen, und solche Objekte hat die Natur in großem Maßstabe hergestellt in den Gesteinen, die, wie der Granit, aus einem Gemenge von lauter isolierten Kristallen bestehen. Was 144 Zweites Kapitel. die Zelle charakterisiert, sind vielmehr ihre chemischen Eigenschaften. Durchgreifende morphologische Unterschiede liefert uns dieses Mo- ment nicht. Man hat schließlich gesagt: die anorganischen Körper besitzen eine sehr einfache gleichmäßige Struktur, die Organismen dagegen eine hochkomplizierte „Organisation“. Sobald man unter „Organi- sation“ nur den mehr oder weniger komplizierten Aufbau der Orga- nismen aus verschiedenartigen Elementarbausteinen, den Zellen, ver- steht, trifft das innerhalb gewisser Grenzen zu, wenn auch der Unter- schied einem zusammengesetzten Gestein gegenüber dann immer nur ein gradueller wäre. Aber wir müssen ja eben schon die einzelne Zelle zum Vergleich heranziehen, denn sie ist selbst bereits ein voll- kommener Organismus. Will man aber den Begriff der komplizierten „Organisation“ auf die Zelle anwenden, so kann man damit nur die große morphologische Mannigfaltigkeit und chemische Komplikation ihrer Inhaltsbestandteile meinen, und eine solche können wir im Reagenzglas bei komplizierten chemisch-physikalischen Gemischen eben- falls herstellen. Versteht man dagegen unter „Organisation“ eine be- sondere Art der Aneinanderfügung der einzelnen Inhaltsbestandteile, wie sie in der anorganischen Natur nicht vorkäme, so enthält der Begriff mehr oder weniger ein Stück Mystik, die freilich vielfach noch immer für die Erklärung der Lebensvorgänge beliebt ist. Wir können aber diesem Vorgang in der Wissenschaft nicht folgen, denn Wissen- schaft und Mystik schließen sich aus. Wir sehen: wesentliche Unterschiede liefert uns die Ver- gleichung der Bauverhältnisse von lebendiger und anorganischer Sub- stanz nicht, und wenn wir nicht durchaus der Neigung nachgeben, die lebendige Substanz immer nur mit dem Kristall zu vergleichen, son- dern mit flüssigen Gemischen, so finden wir, daß sie sich in ihren Bauverhältnissen nicht mehr von leblosen Flüssigkeitsgemischen unterscheidet, wie diese untereinander, ja nicht einmal so sehr wie diese von einem Kristall. 2. Genetische Unterschiede. Eine zweite Reihe von Unterschieden, die man zwischen Orga- nismen und anorganischen Stoffen zu finden geglaubt hat, bezieht sich auf die Fortpflanzung und Abstammung. Allein auch diese Unterschiede sind durchaus nicht prinzipieller Natur, und es bedarf keiner tiefen Ueberlegung, um zu erkennen, wie in ihnen kein wirklicher Gegensatz zwischen beiden Körpergruppen begründet ist. Es ist als charakteristisches Unterscheidungsmerkmal der Orga- nismen angesehen worden, daß sie sich fortpflanzen, während den anorganischen Körpern die Fortpflanzungsfähigkeit fehlt. Darin liegt aber wieder kein durchgreifender Unterschied, denn wir kennen ganze Reihen von Organismen, welche leben und sich trotzdem nicht einmal fortpflanzen können. So geht bekanntlich den sogenannten „Arbeiterinnen“, jenen mit verkümmerten Geschlechtsorganen ver- sehenen Individuen im Ameisen- und Bienenstaat, die sogar die große Hauptmasse des ganzen Staates bilden, die Fortpflanzungsfähigkeit zeitlebens ab, und dennoch können wir nicht umhin, sie als lebendige Organismen zu bezeichnen. Ferner aber, wenn wir zusehen, worin eigentlich die Fortpflanzung bei den Organismen besteht, so finden Von der lebendigen Substanz. 145 wir, daß es lediglich eine Abgabe einer gewissen Menge von Körper- substanz ist, eine Teilung des eigenen Leibes. Am deutlichsten, d.h. am wenigsten durch begleitende Nebenumstände verdeckt, zeigt sich diese Tatsache bei den einzelligen Organismen. Eine Amöbe z.B. schnürt sich einfach in zwei Hälften auseinander, und jede von beiden Hälften lebt als neue Amöbe weiter. Besteht aber die Fortpflanzung im wesentlichen nur in einer einfachen Teilung der Substanz, so existiert kein prinzipieller Unterschied zwischen der Teilung einer lebendigen Zelle und eines anorganischen Körpers. Ein Wasser- tropfen, der an einer Dachrinne hängt und sich allmählich vergrößert, zerreißt jedesmal, wenn er eine bestimmte Größe erreicht hat, und teilt sich in zwei neue Tropfen, die immer wieder Wassertropfen sind. Allein man hat gesagt: Die Organismen stammen stets von anderen Organismen ab, während die anorganischen Körper sowohl von Organismen wie auch von anorganischen Körpern ab- stammen können. So gelinge es nicht, auch nur den einfachsten Organismus künstlich aus anorganischen Stoffen zusammenzusetzen, während es nicht schwer sei, anorganische Körper, z. B. das Wasser, auf die verschiedenste Weise sowohl aus organischen wie aus anorga- nischen Stoffen zu gewinnen. Das erscheint in der Tat als ein durch- greifender Unterschied, denn es ist wahr, daß es trotz aller Be- mühungen nicht gelungen ist, zu zeigen, daß Organismen aus an- organischen Stoffen entstehen können, weder in der Natur noch im Laboratorium. Dennoch kann auch diese Unterscheidung bei ge- nauerem Zusehen nicht als wirklich durchgreifend anerkannt werden. Man kann nämlich zunächst einwenden, daß ja im Pflanzenkörper fort- während organische Substanz aus anorganischen Stoffen gebildet wird, denn die Pflanze baut ihren Körper ausschließlich aus anorganischen Stoffen auf. Aber darauf hat man erwidert, daß diese Entstehung von organischer Substanz aus anorganischer nur unter Mithilfe von lebendigen Organismen möglich ist, und PREYER!) hat gesagt: die Organismen unterscheiden sich von den anorganischen Körpern eben dadurch, daß sie immer schon die Existenz von lebendiger Substanz voraussetzen. Allein auch in dieser Form gilt die Unterscheidung höchstens für unsere jetzige Zeit. Der Satz VIrcHows: „omnis cellula e cellula“, der die im Laufe der Zeit notwendig gewordene Verallge- meinerung des alten HArvEvschen Satzes: „omne vivum ex ovo“ vorstellt, hat nur Gültigkeit für die Verhältnisse, die jetzt auf der Erdoberfläche herrschen. Das liegt auf der Hand. Gehen wir näm- lich zurück in der Erdentwicklung, so kommen wir bald in eine Zeit, wo die Erde noch eine Temperatur hatte, bei der keine Zelle existieren konnte. Die Zellen müssen also irgendwann einmal aus Stoffgemengen entstanden sein, die keine Zellen waren. An diesem Punkt angelangt, stehen wir aber vor folgender Alternative. Entweder sind, wie die „Urzeugungslehre* annimmt, die Organismen irgend einmal aus anorganischen Stoffen entstanden, oder der Begriff des Lebens muß,‘ wie die „Theorie von der Kontinuität des Lebens“ fordert, auch noch auf die Körper angewendet werden, aus denen die Zellen sich entwickelt haben, wenn sie auch noch von der lebendigen Substanz der heutigen Organismen gänzlich verschieden waren. Nimmt 1) PREYER: „Die Hypothesen über den Ursprung des Lebens“. In „Natur- wissenschaftliche Tatsachen und Probleme“. Berlin 1880. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 10 146 Zweites Kapitel. man das erstere an, so fällt der Unterschied in der Abstammung der beiden Körpergruppen von selbst fort, denn dann stammt nicht bloß die anorganische, sondern auch die organische Natur von lebloser Substanz ab. PREYER entschließt sich daher zu der zweiten Annahme, indem er auch die Stoffgemenge, aus denen die Zellen sich entwickelt haben, ja sogar schließlich die ganze glühende Masse des Erdballs selbst als lebendig betrachtet, und sagt, den Satz HaArvEys noch weiter ausdehnend: „omne vivum e vivo“, womit er ausdrücken will, daß das Leben von Ewigkeit her existiert hat und niemals entstanden ist. Indessen, auch damit ist die Schwierigkeit, die sich einer durchgreifenden Unterscheidung der Organismen und anorganischen Körper auf Grund ihrer Ab- stammung entgegenstellt, nicht beseitigt. Konsequent seiner Vor- stellung, daß die ganze glühende Masse, die den Erdball einst bildete, als lebendig zu betrachten sei, nimmt nämlich PREYER an, daß das Anorganische aus dem Örganischen entstanden sei. Dann aber ist es klar, daß der oben aufgestellte Unterschied in der Abstammung der beiden großen Körpergruppen ebenfalls in sich zusammenfällt, denn dann setzt nicht nur die organische, sondernauch die anorganische Natur die Existenz von lebendiger Substanz voraus. Wir sehen also, daß auch bei einer Erweite- rung des Lebensbegriffs, wie sie PREYER fordert, der Unterschied in der Abstammung für die frühere Zeit der Erdentwicklung nicht aufrecht erhalten werden kann. Ebensowenig wie in der Fortpflanzung und Abstammung von seinesgleichen besteht in der Entwicklung des Organismus ein durchgreifender Unterschied gegenüber den anorganischen Körpern. Unter Entwicklung verstehen wir eine Reihe von Veränderungen des Organismenkeimes, die ihn schließlich seinen Erzeugern wieder ähn- lich machen. Indessen, solche Veränderungen kommen in der an- organischen Natur ebenfalls vor und sind durchaus nicht fundamental davon unterschieden. Schmelzen wir z. B. ein Stück Schwefel in einem Tiegel über dem Feuer und schütten wir die geschmolzene Masse in Wasser aus, so bekommen wir eine zähe, braune, gummiartige Substanz, die mit dem Stück Schwefel, von dem sie stammt, nicht die geringste äußere Aehnlichkeit hat. Lassen wir sie aber einen oder zwei Tage liegen, so wird sie allmählich fester und härter, ihre braune Farbe verblaßt und macht einer gelblichen Platz, bis die ganze Masse nach einiger Zeit wieder das Aussehen des gewöhnlichen gelben, harten Schwefels hat. Hier hat das Stück Schwefel eine Entwicklung durchlaufen, die es dem ursprünglichen Stück, von dem es abstammte, wieder ähnlich gemacht hat. Aber auch für die Organismen ist die Entwicklung durchaus kein durchgreifendes Unter- scheidungsmerkmal, denn es gibt Organismen, die leben, ohne sich zu entwickeln, z. B. die Amöben. Hier sind, nachdem die Amöbe sich in zwei Teilhälften zerschnürt hat, beide Teile schon ohne weiteres wieder vollständige Amöben und unterscheiden sich von dem ursprünglichen Individuum, von dem sie abstammen, nur durch ihre Größe. Man hat schließlich auch in der Art des Wachstums einen Unterschied zwischen Organismen und anorganischen Substanzen zu begründen gesucht, jedoch mit ebenso wenig Erfolg. Zur Aufstellung dieses Unterschiedes hat wieder die unglückliche Gegenüberstellung Von der lebendigen Substanz. 147 des Organismus und des Kristalls geführt. Man sagte: der Kristall wächst durch „Apposition“, der Organismus dagegen durch „Intus- suszeption“ der Teilchen, d. h. der Kristall wächst, indem sich an seiner Oberfläche ein Teilchen nach dem anderen anlagert, wobei das Innere fest und unverändert bleibt, der Organismus dagegen, in- dem die Teilchen in das Innere aufeenommen und zwischen die schon vorhandenen zwischengelagert werden. Wenn man eine Zelle als Ganzes einem Kristall gegenübergestellt, ist das in der Tat nicht zu bestreiten; allein nicht alle anorganischen Körper sind Kristalle, und wir sahen bereits, daß wir die lebendige Substanz der Organismen ihren physikalischen Eigenschaften nach im wesentlichen nur mit einer flüssicen Masse in Vergleich setzen dürfen. Flüssigkeiten aber wachsen stets nur durch Intussuszeption in ihr Inneres, d. h. wenn man zu einer Flüssigkeit einen löslichen Körper hinzusetzt, etwa Salz zu Wasser, so löst das Wasser das Salz auf und lagert die Salz- moleküle durch Diffusion von selbst zwischen seine eigenen Wasser- moleküle hinein. Hier haben wir also genau denselben Vorgang wie beim Wachstum des Organismus. Die Vergleichung der genetischen Verhältnisse von Organismen und anorganischen Körpern liefert daher ebensowenig einen prin- zipiellen Unterschied zwischen beiden, wie die Betrachtung der morphologischen Verhältnisse, und wir sind wieder gezwungen, weiter zu suchen. 3, EhysikalischezUnterschrede: Eine dritte Gruppe von Unterschieden, die zwischen Organismen und anorganischen Körpern behauptet worden sind, umfaßt die Vorgänge der Bewegung. Die Bewegung, jene augenfälligste unter den Lebensäußerungen, galt schon in früher Zeit als ein charakteristisches Merkmal für das Leben, und die Naturvölker sahen, in konsequenter Weise diese Unterscheidung durchführend, dement- sprechend auch Wind und Welle als lebendige Wesen an. Indessen, wir bezeichnen jetzt das wogende Meer nicht mehr als einen lebendigen Organismus und kennen andererseits in den ruhenden Pflanzensamen etc. Zustände von Organismen, die nicht die geringste Bewegung erkennen lassen, ohne doch tot zu sein. So ist in unserer Zeit der Unterschied der Bewegung in seiner primitiven Form fallen gelassen worden. Dafür sind speziellere Verhältnisse in den Bewegungs- vorgängen als unterscheidende Merkmale zwischen Organismen und anorganischen Körpern angesprochen worden, sofern sich beide über- haupt bewegen. Man glaubte einen Unterschied in den „Ursachen“ erblicken zu müssen, die einerseits die Bewegungen der Organismen, ander- seits die Bewegungen der anorganischen Körper erzeugen. Die ersteren, wie die Muskelbewegungen, sollten durch „innere Ursachen“ veranlaßt werden, die ihren Sitz im Organismus selbst haben, die letzteren, wie das Treiben der Wogen und Wolken, durch „äußere Ursachen“, die wie der Wind von außen her auf das Objekt einwirken. Sehen wir ab von dem unglücklichen Ursachenbegrift, den wir verworfen haben, so hatte man hier mehr oder weniger bewußt die mystische „Lebenskraft“ vor Augen. Wir haben uns indessen schon früher von der Niehtexistenz einer besonderen „Lebenskraft“ überzeugt, und 10> 148 Zweites Kapitel. dementsprechend läßt sich auch der Unterschied in den „Ursachen“ der Bewegung nicht in dieser Weise aufrecht erhalten. Im übrigen dürfte eine scharfe Grenze zwischen inneren und äußeren „Ursachen“ in vielen Fällen auch schwer zu ziehen sein. Denkt man z. B. nicht gerade an Wind und Wellen, sondern an eine Dampfmaschine, so läßt sich in der Tat hier mit demselben Rechte wie vom Organismus sagen: sie arbeitet aus „inneren Ursachen“, denn die Dampfspannung, die den Stempel treibt und die Räder in Bewegung setzt, befindet sich im Inneren ihres Dampfkessels. Allein man hat gesagt, der Unterschied zwischen den bewegenden Faktoren in der Dampfmaschine und im Organismus bestehe darin, daß die Dampfmaschine dennoch nicht arbeiten könne, wenn sie nicht von außen geheizt würde, während der Organismus von selbst arbeite. Das ist aber schlechterdings falsch. Auch der Organismus muß „eheizt werden, wenn er in Tätigkeit, d. h. am Leben bleiben soll, genau so wie die Dampfmaschine. Seine Heizung besteht in der Zufuhr von Nahrung. Ja, die Analogie zwischen der Heizung der Dampfmaschine und der Ernährung des Organismus geht sogar sehr weit. Die kohlenstoffhaltige Nahrung wird im Organismus ver- brannt, wie die Kohlen in der Dampfmaschine, d. h. die Nahrungs- stoffe werden mit dem durch die Atmung aufgenommenen Sauerstoff oxydiert, allerdings in etwas anderer Weise, als die Kohle oxydiert wird, aber wir bekommen in beiden Fällen als Endprodukt Kohlen- säure. Wird die Zufuhr der Nahrung unterbrochen, so hört die Tätig- keit des Organismus nach einiger Zeit, wenn alle aufgenommene Nahrung verbraucht ist, ebenso auf wie die der Dampfmaschine: in beiden erlischt die Bewegung. Als ein allgemeines Charakteristikum aller Organismen gegenüber den anorganischen Körpern hat man schließlich die „Irritabilität“ bezeichnet. Wir haben bei unserem Ueberblick über die Entwicklungs- geschichte der physiologischen Forschung gesehen, daß mit dem Worte Irritabilität anfangs sehr unklare Vorstellungen verbunden wurden, und müssen daher, um Mißverständnisse zu verhüten, den Begriff in einer bestimmteren Form definieren. Wir können dann nur ganz all- gemein sagen: Irritabilität ist die Fähigkeit eines Körpers, auf äußere Einwirkungen mit irgendeiner Veränderung seines Zustandes zu reagieren, wobei die Größe der Reaktion zu der Größe der Ein- wirkung in keinem bestimmten Maßverhältnis steht. In der Tat ist eine solche Irritabilität oder Reizbarkeit Allgemeingut sämtlicher lebendigen Substanz, sei es, daß der Organismus mit Steigerung oder mit Herabsetzung oder gar Stillstand seiner Lebensäußerungen auf die äußere Einwirkung antwortet. Allein diese Irritabilität ist wieder kein ausschließlicher Besitz der Organismen, denn auch leblose Stoffe sind irritabel und antworten auf äußere Einwirkungen mit bestimmten Veränderungen, z. B. mit Produktion bestimmter Stoffe oder Energie- formen, wobei die Größe der Produktion durchaus nicht immer mit der Größe des äußeren Anstoßes in einem bestimmten Verhältnis steht. Das deutlichste Beispiel dafür liefern die explosiblen Stoffe. Das Nitro- glyzerin zerfällt bei einer Erschütterung unter gewaltiger Energie- entwicklung in Wasser, Kohlensäure, Sauerstoff und Stickstoff, ant- wortet also mit einer enormen Produktion von Energie und mit einer entsprechenden stofflichen Veränderung auf die äußere Ein- Von der lebendigen Substanz. 149 wirkung. Auch die Irritabilität ist demnach kein durchgreifendes Merkmal für die Unterscheidung von Organismen und anorganischen Körpern, und wir sehen, daß uns die dynamischen Verhältnisse ebenso- wenig wie die morphologischen und genetischen feste Anhaltspunkte für die Aufstellung eines prinzipiellen Gegensatzes zwischen Organismen und anorganischen Stoffen bieten. Suchen wir noch weiter. 4. Chemische Unterschiede. Erst bei der Vergleichung der chemischen Verhältnisse gewinnen wir endlich einen Unterschied zwischen Organismen und anorganischen Körpern. Freilich haben wir gesehen, daß ebensowenig, wie es eine be- sondere „Lebenskraft“ gibt, im Organismus ein eigenes „Lebens- element“ existiert. Die chemischen Elemente, die den Organismus zusammensetzen, kommen ohne Ausnahme auch in der anorganischen Natur vor. Einen prinzipiellen Gegensatz von organischer und anorganischer Substanz, d.h. einen Gegensatz, der in einer elemen- taren Verschiedenheit beider Körperwelten beruht, werden wir also auch auf chemischem Gebiet nicht erwarten dürfen. Aber es existiert ein Unterschied in der Art der Verbindungen, zu denen die Elemente zusammentreten. Wir sahen, daß in der lebendigen Substanz chemische Verbindungen vorhanden sind, wie die Eiweißkörper, Kohle- hydrate und Fette, die nirgends in der anorganischen Körperwelt vorkommen. Was aber das Wichtigste ist, das ist die Tatsache, daß Eine Gruppe von diesen chemischen Körpern, die Eiweißkörper, allen Organismen ohne Ausnahme zukommt. Wie es einerseits keinen einzigen Organismus gibt, sei er lebendig oder tot, in dem die Eiweißkörper fehlten, so gibt es andererseits kein einziges anorganisches System in der Natur, in dem ein auch nur annähernd ähnlicher Stoff vorhanden wäre. Der Besitz des hochkomplizierten Eiweißmoleküls ist in der Tat ein durchgreifendes Unterscheidungs- merkmal des Organismus gegenüber allen anorgani- schen Körpern. Man ist aber noch weiter gegangen und hat einen durchgreifenden Unterschied zwischen Organismen und anorganischen Körpern nicht nur in der Existenz bestimmter Verbindungen, sondern auch in der Art und Weise von Anordnung und Aufeinanderfolge der chemischen Vorgänge im tätigen Organismus finden wollen. Man hat gesagt: Die lebendige Substanz ist charakterisiert durch ihren „Stoffwechsel“, indem bestimmte Verbindungen fortwährend entstehen, wieder zer- fallen, ihre Zerfallsprodukte nach außen abgeben und auf Kosten der von außen als Nahrung aufgenommenen Stoffe wieder neu entstehen, so daß ein fortwährender Stoffstrom durch die lebendige Substanz geht, der durch den Aufbau und den Zerfall der betreffenden Ver- bindungen bedingt ist. In der Tat ist der „Stoffwechsel“ ein über- aus charakteristischer Vorgang für den lebendigen Organismus, und wir werden später sehen, daß auf ihm das Leben beruht, aber er ist nur ein Vorgang, der den lebendigen Organismus vom leblosen unterscheidet, nicht von der anorganischen Substanz, denn er ist 150 Zweites Kapitel. durchaus nicht auf die Organismen beschränkt, sondern kommt auch im Reiche anorganischer Körper vor. Ein einfaches Beispiel dafür gibt uns das Verhalten der Salpetersäure bei der Produktion der „englischen Schwefelsäure“. Bringt man nämlich Salpetersäure mit dem Anhydrid der schwefligen Säure zusammen, das bei der Schwefel- säurefabrikation durch Rösten von Schwefelerzen gewonnen wird, so entzieht die schweflige Säure der Salpetersäure Sauerstoff, indem sie selbst in Schwefelsäure übergeht, während aus der Salpetersäure Stickoxyd und Stickstoffdioxyd wird. Wird nun für den fortdauernden Zutritt von frischer Luft und Wasser gesorgt, so wird aus dem Stick- oxyd und Stickstoffdioxyd immer wieder Salpetersäure neugebildet, und diese gibt einen Teil ihres Sauerstofts wieder an neue Massen schwefliger Säure ab, so daß das Molekül der Salpetersäure fort- während durch Sauerstoffabgabe in niedere Oxyde zerfällt und sich durch Sauerstoftaufnahme wieder herstellt. Auf diese Weise kann mit derselben (Quantität Salpetersäure eine unbegrenzte Menge von schwefliger Säure in Schwefelsäure übergeführt werden. Hier haben wir also in einfacherer Form, d. h. an einer einfachen chemischen Verbindung, eine Aufeinanderfolge von Zerfall und Neubildung einer Substanz unter Aufnahme und Abgabe von Stoffen, also einen regel- rechten Stoffwechsel, der im Prinzip bis in die Einzelheiten hinein dem Stoffwechsel der Organismen entspricht, und doch ist die Salpeter- säure eine anorganische Verbindung. Derartige Vorgänge, die, wie neuere Erfahrungen gezeigt haben, viel verbreiteter sind in der anorganischen Natur als man früher an- nahm, gestatten es nicht, daß wir das Vorhandensein eines Stoff- wechsels an sich als Unterschied zwischen lebendigen Organismen und anorganischen Körpern hinstellen. x > En Blicken wir hiernach noch einmal zurück auf das Ergebnis unserer Vergleichung, so finden wir, daß ein durchgreifender Unter- schied zwischen lebendigen Organismen und anorganischen Systemen nur in der Art der chemischen Verbindungen besteht, die in beiden getroffen werden. Gegenüber der Gesamtheit alleran- organischen Körper besteht das gemeinsame Öharakte- ristikum der Organismen nur in dem ausnahmslosen Besitz gewisser hochkomplizierter chemischer Ver- bindungen, vor allem der Eiweißkörper. Darin liegt aber kein prinzipieller, kein elementarer Gegensatz zwischen beiden Körpergruppen. Im Gegenteil, die elementare Analyse zeigt uns in beiden die gleichen Elemente. Wo man daherirgendeinen allgemein durch- greifenden Gegensatz zwischen lebendigen Organismen und anorganischen Systemen findet, da hat man die Analyse noch nicht bis zu Ende geführt). 1) Vergl. MAx VERWORN: „Prinzipienfragen in der Naturwissenschaft“. Vor- trag gehalten in der allgem. Sitzung des X. Nederlandsch Natuur- en Geneeskundig Congres zu Arnheim 1905. Jena, Gustav Fischer, 1905. — Ferner derselbe: „Die Erforschung des Lebens“. Jena, Gustav Fischer, 1907. Von der lebendigen Substanz. 151 B. Lebendige und leblose Organismen. 1. Leben und Scheintod. In Indien, dem alten Lande des Wunders und der Zauberei, ist, wie es scheint, schon seit langer Zeit der Glaube verbreitet, daß manche Menschen, namentlich einzelne „Fakire“, die im Geruch be- sonderer Heiligkeit stehen, die wunderbare Fähigkeit besitzen, ihr Leben willkürlich auf längere Zeit vollkommen zu sistieren, um später ungestört und unverändert ihr entbehrungsvolles und selbstquälerisches Dasein fortzusetzen. Eine große Reihe solcher Fälle, in denen sich die betreffenden Fakire angeblich in diesem Zustand des suspendierten Lebens haben begraben und nach einer bestimmten Zeit wieder haben ausgraben lassen, ist von Reisenden aus Indien berichtet worden, und JAMES BrAID!), der bekannte Entdecker der hypnotischen Zu- stände, hat einige der am besten beglaubigten Fälle gesammelt und nach Angabe der Zeugen berichtet. Einer von diesen Fällen, der als Typus gelten darf, ist folgender: Am Hofe des RUNJEET SINGH war in einem viereckigen Gebäude, das in der Mitte einen ringsherum geschlossenen Raum besaß, ein Fakir, der sich willkürlich in den leb- losen Zustand versetzt hatte, in einen Sack eingenäht und eingemauert worden, wobei die einzige Tür des Raumes mit dem Privatsiegel des RUNJEET SINGH versiegelt worden war. (Ein dichter Abschluß der Luft fand also nach dem Berichte zu urteilen ebensowenig statt, wie in allen anderen überlieferten Fällen.) RUNJEET SınGH, der selbst nicht an die wunderbaren Fähigkeiten der Fakire glaubte, hatte, um jeden Betrug auszuschließen, außerdem noch einen Kordon seiner eigenen Leibwache um das Gebäude gelegt, vor dem vier Posten auf- gestellt waren, die zweistündlich abgelöst und fortwährend revidiert wurden. Unter diesen Bedingungen blieb der Fakir sechs Wochen in seinem Grabe. Ein Engländer, der als Augenzeuge dem ganzen Vorgange beiwohnte, berichtet über die nach sechs Wochen erfolgte Ausgrabung folgendes: Als man das Gebäude in Gegenwart des RUNJEET SINGH eröffnete, zeigte sich, daß das Siegel und die ganze Vermauerung unversehrt war. In dem dunklen Raum des Gebäudes, der bei Lichtschein untersucht wurde, lag in einem ebenfalls mit un- versehrtem Siegel verschlossenen Kasten der Sack mit dem Fakir. Der Sack, der ein verschimmeltes Aussehen zeigte, wurde geöffnet und die zusammengekauerte Gestalt des Fakirs herausgeholt. Der Körper war völlig steif. Ein anwesender Arzt stellte fest, daß nirgends am Körper eine Spur von Pulsschlag zu bemerken war. In- zwischen übergoß der Diener des Fakirs dessen Kopf mit warmem Wasser, legte einen heißen Teig auf seinen Scheitel, entfernte das Wachs, mit dem die Ohren- und Nasenlöcher fest zugeklebt waren, öffnete gewaltsam mit einem Messer die fest aufeinandergepreßten Zähne, zog die nach hinten umgebogene Zunge hervor, die immer wieder in ihre Stellung zurückschnellte, und rieb die geschlossenen Augenlider mit Butter. Alsbald fing der Fakir an, die Augen zu öffnen, der Körper begann konvulsivisch zu zucken, die Nüstern wurden aufgeblasen, die vorher steife und runzelige Haut nahm all- 1) JAMES BrAıD: „Der Hypnotismus“. Ausgewählte Schriften von J. BRAID. Deutsch herausgegeben von W. PREYER. Berlin 1882. 152 Zweites Kapitel. mählich ihre normale Fülle wieder an, und wenige Minuten später öffnete der Fakir die Lippen und fragte mit matter Stimme den RUNJEET SInGH: „Glaubst Du mir nun?“ Aehnliche Fälle werden von mehr oder weniger zuverlässigen Zeugen in großer Zahl berichtet. Ein ganz analoger Fall ist ferner auch in Europa beobachtet worden und von BrAID ebenfalls zitiert. Es ist der bekannte Fall des Oberst TOwNsEND, von dem uns Dr. ÜHEYNE, ein auch in wissenschaftlichen Kreisen bekannter Arzt aus Dublin, erzählt: „Er konnte nach Belieben sterben, d. h. auf- hören zu atmen, und durch bloße Willensanstrengung oder sonstwie wieder ins Leben zurückkommen. Er drang so sehr in uns, den Ver- such einmal anzusehen, daß wir schließlich nachgeben mußten. Alle drei fühlten wir erst den Puls; er war deutlich fühlbar, obwohl schwach und fadenförmig, und sein Herz schlug normal. Er legte sich auf den Rücken zurecht und verharrte einige Zeit regungslos in dieser Lage. Ich hielt die Hand, Dr. BaAynArD legte seine Hand aufs Herz und Herr SKRINE hielt ihm einen reinen Spiegel vor den Mund. Ich fand, daß die Spannung des Pulses allmählich abnahm, bis ich schließlich auch bei sorgfältigster Prüfung und bei vorsichtigstem Tasten keinen mehr fühlte. Dr. BaynAarn konnte nicht die geringste Herzkontraktion fühlen und Herr SKRINE sah keine Spur von Atem- zügen auf dem breiten Spiegel, den er ihm vor den Mund hielt. Dann untersuchte jeder von uns nacheinander Arm, Herz und Atem, konnte aber selbst bei der sorgfältigsten Untersuchung auch nicht das leiseste Lebenszeichen an ihm finden. Wir diskutierten lange, so gut wir es vermochten, diese überraschende Erscheinung. Als wir aber fanden, daß er immer noch in demselben Zustande verharrte, schlossen wir, daß er doch den Versuch zu weit geführt habe, und waren schließlich überzeugt, daß er wirklich tot sei und wollten ihn nun verlassen. So verging eine halbe Stunde. Gegen 9 Uhr früh (es war im Herbst), als wir weggehen wollten, bemerkten wir einige Be- wegungen an der Leiche und fanden bei genauerer Beobachtung, daß Puls- und Herzbewegung allmählich zurückkehrten. Er begann zu atmen und leise zu sprechen. Wir waren alle auf das Aeußerste über diesen unerwarteten Wechsel erstaunt und gingen nach einiger Unter- haltung mit ihm und untereinander von dannen, von allen Einzelheiten des Vorgangs zwar völlig überzeugt, aber ganz erstaunt und über- rascht und nicht imstande, eine vernünftige Erklärung dafür zu geben.“ Es ist nicht zu leugnen, daß diese Erzählungen, vor allem die von den indischen Fakiren, von vornherein Mißtrauen zu erwecken geeignet sind, und eine gesunde Skepsis ist die Grundlage aller guten Kritik. Das Mißtrauen wird auch noch gesteigert, wenn sich Fälle ereignen, in denen die Fakire, wie auf der ungarischen Millenniums- ausstellung in Budapest, als Schwindler entlarvt werden. Allein vom Standpunkte einer vorurteilsfreien Wissenschaft müssen wir doch sagen, daß es durchaus verkehrt wäre, eine Sache ohne weiteres mit überlegenem Lächeln als unwahr zu erklären, lediglich weil die Be- richte auf den ersten Blick seltsam klingen und weil ein Betrüger gelegentlich die Sache benutzt, um Vorteil für sich daraus zu ge- winnen. Es entspricht vielmehr den Gepflogenheiten einer gewissen- haften Forschung, die Dinge vorerst genauer zu prüfen und vor allem zu sehen, ob sich wirklich wissenschaftliche Unmöglichkeitsgründe dagegen vorbringen lassen. Wenn wir alle die bekannten Geschichten 6 Von der lebendigen Substanz. 153 ihres mehr oder weniger sensationellen Beiwerks entkleiden, bleibt nur die einfache Angabe übrig, daß einzelne Menschen sich willkürlich in einen Zustand versetzen können, in dem durch eine mehr oder weniger oberflächliche Unter- suchung keine Lebensäußerungen mehr nachweisbar sind, um später wieder zu deutlich sichtbarem Leben zu erwachen. Dabei ist in erster Linie zu berücksichtigen, daß alle diese Angaben aus früherer Zeit stammen, in der die Unter- suchungsmethoden der Lebensäußerungen noch nicht so fein ausge- arbeitet waren wie heute. Sodann ist nicht zu übersehen, daß die Berichterstatter fast ausnahmslos Leute ohne besondere naturwissen- schaftliche oder medizinische Schulung waren. Nun kennen wir aber aus früherer Zeit genug Fälle, in denen Aerzte mit den gewöhnlichen Mitteln ihrer Praxis an Menschen durchaus keine Spuren irgend- welcher Lebensäußerungen mehr aufzufinden vermochten, in denen weder Puls noch Atmung, weder Bewegung noch Reizbarkeit zu be- merken war und in denen doch der vermeintliche Tote nach einiger Zeit wieder zum Leben zurückkehrte. Das sind die Zustände, die gewöhnlich als „Scheintod* bezeichnet werden, und der Winterschlaf bei warmblütigen Tieren ist ein ähnlicher Zustand verminderter Lebenstätiekeit.e. Wenn wir also die Tatsache des Scheintodes nicht bestreiten können, so schrumpft das Wunderbare und Mystische der erzählten Geschichten immer mehr zusammen und beschränkt sich allein auf die Fähigkeit, willkürlich in einen solchen Zustand über- gehen zu können. Aber auch in dieser Beziehung wissen wir, daß es möglich ist, durch Uebung körperliche Tätigkeiten, wie z. B. die Bewegung und Hemmung gewisser Muskeln, die sonst nur unwill- kürlich erfolgen, dem Einfluß des Willens zu unterwerfen. Vor allem aber ist bekannt, daß in gewissen pathologischen Zuständen, besonders in Fällen schwerer Hysterie, viele Funktionen unter den Einfluß von Willensvorgängen treten können, die bei normalen Menschen nicht damit assoziiert werden. Nach alledem sind wir daher nicht berechtigt, von vornherein die Unmöglichkeit der berichteten Ge- schichten zu behaupten, wenn wir auch die fast ausnahmslos von englischen Offizieren und Beamten stammenden Berichte über die lebendig begrabenen Fakire nur mit großer Vorsicht und Kritik auf- nehmen dürfen. Es wird daher eine interessante Aufgabe des Physio- logen sein, diese bisher noch so unklaren Dinge genauer zu unter- suchen und mit feineren Methoden zu prüfen, welche Lebensäußerungen und bis zu welchem Grade sie wirklich herabgesetzt werden, um schließlich zu zeigen, wie diese Fälle des willkürlichen Schein- todes, die durchaus nichts Mystisches an sich haben, wie vielfach geglaubt wird, physiologisch zu erklären sind. Wie wenig man berechtigt ist, ganz allgemein die Fähigkeit ge- wisser Organismen zu bezweifeln, ohne die geringsten Lebensäuße- rungen lebensfähig bleiben zu können, und zwar so lange Zeit, daß ihre gewöhnliche Lebensdauer weit übertroffen wird, das zeigt sich, wenn wir uns von den Wirbeltieren zu den wirbellosen Tierformen wenden, die in dieser Beziehung sehr genau untersucht worden sind. Schon LEEUWENHOER!) machte die überaus merkwürdige Be- 1) LEEUWENHOEK: „Epistolae ad societatem regiam Anglicam et alios illustres viros seu continuatio mirandorum arcanorum naturae detectorum.“ Lugdun. Batav. 1719. 154 Zweites Kapitel. obachtung, daß im Staube der Dachrinnen kleine Tierchen existieren, die vollständig eintrocknen können, ohne die Fähigkeit zu verlieren, bei Anfeuchtung mit Regenwasser wieder zu frischem Leben zu er- wachen. Seit ihrer Entdeckung durch LEEUWENHOEK ist diese Tat- sache von einer großen Zahl von Beobachtern bestätigt und immer genauer beschrieben worden. In der Tat ist es nicht schwer, sich von ihrer Wahrheit zu überzeugen. Schabt man aus einer alten Dachrinne oder von der moosbedeckten Seite alter Baumstämme etwas von ihrer Staubkruste ab und begießt das trockene Pulver mit reinem Regenwasser, so kann man oft schon im Laufe einiger Stunden unter dem Mikroskop eine Anzahl von kleinen Tieren munter zwischen den Schlammteilchen umherkriechen sehen. Es sind meistens Vertreter aus der Gruppe der Rädertierchen oder Rotatorien, deren fernrohrartig ausgezogener Körper an seinem Vorderende ein mit dicken Wimpern besetztes Bewegungsorgan be- sitzt, das wegen der scheinbar räder- artigen Bewegung der Wimpern als „Räder- organ“ bezeichnet worden ist. Neben den Rotatorien finden sich aber auch die sogenannten Bärentierchen oder Tardigraden, plumpe, mit U\ vier Paaren kurzer, klauen- tragender Fußstummel ver- sehene milbenartige Tiere, die ebenso wie die Rota- torien bereits mit Nerven- N system, Verdauungsappa- 1 rat etc. begabt sind (Fig. 52a). Solange diese sonder- baren Tierformen im Wasser a 6 sind, entfalten sie sämtliche Lebensäußerungen in der- Fig. 52. Macrobiotus Hufelandi, Bärentier- gelben Weise wie andere chen; a im lebendigen Zustande kriechend. Nach : F : R. HERTWIG. b im scheintoten Zustande Tiere. Isoliert man sie aber eingetrocknet. und läßt sie auf einer Glas- platte langsam eintrocknen, so sieht man, wie ihre Be- wegungen, je mehr das Wasser verdunstet, um so träger werden, bis sie schließlich, sobald der Tropfen eingetrocknet ist, ganz auf- hören. Alsdann schrumpft der Körper allmählich vollkommen ein, die Haut wird runzelig und bildet Falten; die Form des Tieres ver- liert sich bis zur Unkenntlichkeit, und einige Zeit, nachdem es ein- getrocknet ist, kann man das Tier von einem Sandkörnchen kaum noch unterscheiden (Fig. 52 b). In diesem eingetrockneten Zustande können die Tiere viele Jahre lang liegen bleiben, ohne daß sie die geringste Veränderung durchmachen. Benetzt man sie wieder mit Wasser, so kann man unter dem Mikroskop verfolgen, wie nach langem, tiefem Schlaf das Leben wieder in den eingetrockneten Körper zurückkehrt. Das „Erwachen“ des Bärentierchens oder die „Ana- Von der lebendigen Substanz. 155 biose“, wie PREYER!) diesen Vorgang genannt hat, verläuft etwa folgendermaßen. Zuerst quillt der Körper wieder auf und streckt sich, die Falten und Runzeln verschwinden langsam, die Extremitäten treten hervor, und bald hat das Tier seine normale Körperform wieder gewonnen. Anfangs bleibt es noch still liegen, aber je nach der Dauer der Trockenzeit, bald schon nach einer Viertelstunde, bald erst nach mehreren Stunden treten erst langsame, träge, dann kräftigere Eigenbewegungen auf, die allmählich häufiger werden, bis nach einiger Zeit das Tier unbeholfen von dannen kriecht, um nach langem Schlafe sein Leben an dem Punkte wieder fortzusetzen, wo es unterbrochen worden war. Diese höchst merkwürdigen Tatsachen des Scheintodes und der Anabiose sind aber nicht bloß auf die Rotatorien und Tardi- geraden beschränkt. Im Laufe späterer Untersuchungen, die in großer Zahl der LEEUWENHOERSchen Entdeckung folgten, sind sie an ver- schiedenen anderen Organismen ebenfalls konstatiert worden. Man hat sie beobachtet an den sogenannten Kleisterälchen oder An- guilluliden, jenen kleinen aalförmig gestalteten Würmern, die in kranken Weizenkörnern leben; man hat sie festgestellt bei Infu- sorien und Amöben, und man kennt sie schließlich auch von Bakterien. Auch die längst bekannte Fähigkeit der Pflanzensamen, trocken viele Jahre lang unverändert zu bleiben, ohne dabei ihre Keimfähig- keit zu verlieren, gehört in die Reihe dieser Tatsachen; ja man hat sogar geglaubt, daß Pflanzensamen unbegrenzt lange Zeit keimfähig bleiben können. Bekannt sind die Angaben, dal Weizenkörner, die in ägyptischen Mumiengräbern gefunden wurden, nach mehrtausend- jähriger Ruhe noch zum Keimen gebracht und wieder zu blühendem Leben erweckt worden seien. Es hat sich indessen herausgestellt, daß diese Angaben auf einer Täuschung beruhen, denn MARIETTE, der bekannte Aegyptologe, hat gezeigt, daß mit echtem Mumien- weizen diese Versuche immer fehlschlagen, da bereits alle aus den Gräbern entnommenen Weizenkörner ein verkohltes Aussehen haben und in Wasser gebracht zu einem lehmigen Brei zerfallen. Dagegen scheint es nach mehreren Beobachtungen sicher, daß manche Pflanzen- samen, wenn sie völlig trocken aufbewahrt werden, über hundert Jahre, vielleicht über zweihundert Jahre ihre Keimfähigkeit erhalten können. Für die Fixierung des Lebensbegrifts sind diese seltsamen Tat- sachen von hervorragender Bedeutung und fordern zu tiefgehenden Untersuchungen auf. Es handelt sich nämlich darum, ob wir die Organismen in diesem eigentümlichen Zustande wirklich für leblos erklären dürfen. Theoretisch stößt die Unterscheidung von lebendigen und leblosen Organismen in ihrer allgemeinsten Fassung auf keine großen Schwierig- keiten. Der Lebensbegriff ist gebildet worden auf Grund der Be- obachtung von gewissen Veränderungen, die sich nur an lebendigen Organismen zeigen, auf Grund der Lebensäußerungen. Wo wir die Lebensäußerungen beobachten, da sprechen wir von einem leben- digen Organismus. Ja, wir können sogar diese Charakteristik des Lebensbegriffs noch vereinfachen. Fassen wir nämlich die ganze 1) PREYER: „Naturwissenschaftliche Tatsachen und Probleme“. Berlin 1880. 156 ' Zweites Kapitel. Fülle der verschiedenartigen Lebensäußerungen ins Auge, so finden wir, daß sich dieselben in drei große Gruppen einordnen, in die Tat- sachen des Stoffwechsels, des Formwechsels und des Energiewechsels, denn jeder lebendige Organismus zeigt einen Wechsel der Stoffe, die ihn zusammensetzen, indem er fortwährend Stoffe von außen in sich aufnimmt und andere Stoffe nach außen abgibt; er zeigt ferner einen Wechsel seiner Form, indem er sich entwickelt, wächst und sich unter Umständen durch Abschnürung gewisser Teile fortpflanzt, und er zeigt schließlich einen Wechsel von Energie, indem er die auf- genommene Energie umsetzt in andere Energieformen. Aber Stoft- wechsel, Formwechsel und Energiewechsel sind nicht drei ver- schiedene Vorgänge, die unabhängig voneinander beständen, sie sind vielmehr nur die verschiedenartigen Aeußerungen eines und desselben Vorgangs, denn kein Stoff existiert ohne Form oder Energie. Stoff, Form und Energie sind nur die drei Seiten, nach denen wir die Körperwelt betrachten, und es hängt lediglich von dem Indikator ab, mit dem wir einen Vorgang prüfen, ob uns derselbe als stoffliche oder energetische oder Formveränderung ent- gegentritt. Werfe ich ein Natriumstück auf Wasser, und untersuche ich den Vorgang, der sich da abspielt, mit chemischen Methoden, so spreche ich von einer stofflichen Veränderung, untersuche ich ihn im Kalorimeter, so rede ich von einem energetischen Prozeß, und beob- achte ich ihn mit bloßem Auge, so bezeichne ich den Vorgang als eine Formveränderung. Am tiefsten in die Einzelheiten dringt im allgemeinen die chemische Untersuchung und so ist es berechtigt, wenn man rein konventionell auch als den Lebensvorgang den Stoffwechsel bezeichnet. Es darf dabei nur nicht übersehen werden, daß auch die energetische und die morphologische Unter- suchung uns wieder andere Seiten des Lebensvorganges zeigen, die bei der chemischen Untersuchung nicht so sinnfällig hervortreten. Wir können aber der Kürze halber sagen, daß der Lebensvorgang, als dessen äußeren Ausdruck wir die verschiedenen Lebensäuße- rungen wahrnehmen, der „Stoffwechsel“ (im allgemeinen Sinne) ist. Demnach ist es der Stoffwechsel, durch den sich der lebendige vom leblosen Organismus unterscheidet. Praktisch, d. h. im konkreten Falle, gestaltet sich diese Unter- scheidung jedoch nicht immer so einfach. Das zeigen uns gerade die eingetrockneten Organismen; denn nach unserer eben angestellten Ueberlegung handelt es sich darum, ob diese Organismen in ihrem eigentümlichen Zustande wirklich keinen Stoffwechsel besitzen, oder ob ihr Stoffwechsel nur auf ein so geringes Maß herabgesetzt ist, daß er für unsere unbewaffneten Sinne nicht in der Gestalt von Lebensäußerungen bemerkbar wird, d. h. ob der Lebensvorgang wirklich stillsteht, oder ob nur eine „vita minima“ vorliegt. Die Ent- scheidung dieser Frage ist nur mittels der feinsten und sorgfältigsten Untersuchungsmethoden möglich. Zwar hat stets die Mehrzahl der Forscher die Ueberzeugung gehabt, daß man es bei den eingetrock- neten Organismen wirklich mit einem vollkommenen Stillstand des Lebens zu tun habe, aber es war doch immer noch der Einwand möglich, daß der Stoffwechsel in diesem Zustande nur ein so geringer sei, daß er bei der Kleinheit der meisten Objekte mit unseren ge- wöhnlichen Untersuchungsmethoden nicht nachgewiesen werden könne. Allein diesen Einwand dürften die von KocHs angestellten Versuche Von der lebendigen Substanz. 1574 beseitigt haben. Bei den eingetrockneten Tieren, die isoliert auf einer reinen Glasplatte aufgehoben werden, ist eine Aufnahme von fester und flüssiger Nahrung von selbst ausgeschlossen, und ebenso leicht überzeugt man sich durch direkte Beobachtung, daß auch keine Abgabe von flüssigen oder festen Stoffen stattfindet. Daß aber auch nicht eine Atmung, d.h. eine Aufnahme von Sauerstoff und eine Abgabe von Kohlensäure vorhanden ist, das hat Kocns') auf folgende Weise nachgewiesen. Er wählte zu seinen Versuchen verschiedene vollkommen trockene Pflanzensamen und tat eine größere Quantität davon in ein weites Glasrohr, das er auf der Luftpumpe möglichst luftleer machte und dann zuschmolz. Wäre in diesen Samen auch nur ein geringer Stoffwechsel vorhanden gewesen, so hätte man bei ihrer erheblichen Quantität wenigstens eine Spur von ausgeatmeter Kohlen- säure finden müssen. Als aber KocHs den Inhalt der Glasröhren nach mehreren Monaten mittels der feinsten Methoden unter- suchen ließ, fand sich auch nicht die geringste Spur ausgeatmeter Kohlensäure oder sonst eines anderen Stoffwechselprodukts in den Röhren. Und diese Versuche wurden stets mit dem gleichen Erfolge wiederholt. Dennoch waren die Samen lebensfähig geblieben und keimten nach ihrer Aussaat. Nach den Ergebnissen dieser Versuche können wir keinen Zweifel mehr hegen, daß in den eingetrockneten Organismen das Leben in der Tat vollkommen still steht. Aber können wir darum die ÖOr- ganismen in diesem eigentümlichen Zustande als tot bezeichnen ? Die eingetrockneten Organismen sind in Wirklichkeit zwar leblos, aber nicht tot, denn es ist bei ihnen nach Zufuhr von Wasser eine Anabiose möglich. Der tote Organismus dagegen ist durch nichts wieder zum Leben zurückzubringen. Der Unterschied zwischen dem eingetrock- neten und dem toten Organismus liest darin, daß beim ersteren noch alle inneren Lebensbedingungen erfüllt und nur die äußeren zum Teil fortgefallen sind, daß dagegen beim toten Organismus die inneren Lebensbedingungen irreparable Störungen erfahren haben, während die äußeren sämtlich erfüllt sein können. Sehr treffend hat PREYER diesen Unterschied veranschaulicht. Er vergleicht den eingetrockneten Organismus mit einer Uhr, die aufgezogen, aber an- gehalten ist, so daß es nur eines Anstoßes bedarf, um sie wieder in Gang zu setzen, den toten Organismus dagegen mit einer Uhr, die zerbrochen ist und durch keinen Anstoß mehr zum Weitergehen ver- anlaßt werden kann. Wir müssen also zwischen den eingetrockneten Organismen und den toten Organismen scharf unterscheiden. Ander- seits aber können wir diese Organismen auch nicht lebendig nennen, denn sie zeigen keine Lebensäußerungen, und, wie wir sahen, sind die Lebensäußerungen das Kriterium des Lebensvorganges oder des Lebens selbst. Den Zustand in dem sich die eingetrock- neten Organismen befinden, hat CÜLAUDE BERNARD als „vie latente“ bezeichnet. Es wird zweckmäßig sein, diesen Ausdruck anzunehmen und demnach die drei Zustände, in denen sich Organismen befinden können, zu unterscheiden als aktuelles Leben, latentesLeben und Tod. 1) W. Kocas: „Kann die Kontinuität der Lebensvorgänge zeitweilig völlig unterbrochen werden?“ In Biolog. Centralbl., Bd. 10, 1890. 158 Zweites Kapitel. 2. Leben und Tod. Stieß die Fixierung des Unterschiedes zwischen aktuellem und latentem Leben auf praktische Schwierigkeiten, insofern die ex- perimentelle Entscheidung, ob bei den eingetrockneten Organismen der Lebensvorgang in der Tat ganz still steht, nicht eben leicht zu treffen war, so sind es mehr theoretische Hindernisse, die sich der Feststellung einer scharfen Grenze zwischen Leben und Tod in den Weg stellen. Der Praxis des täglichen Lebens fällt es zwar nicht schwer, den toten Organismus von dem lebendigen zu unterscheiden, denn wir haben den Begriff des Todes vom Menschen und den höheren Tieren abstrahiert und sind gewöhnt, den Moment als den Augen- blick des Todes zu betrachten, in dem das sonst nie rastende Herz still- steht, und der Mensch aufhört zu atmen. Allein wir fassen dabei, der oberflächlichen Erfahrung des täglichen Lebens folgend, nur die großen Unterschiede ins Auge, die sich in diesem Moment gegen- über dem Zustande des ungestörten Lebens geltend machen, ohne aber die Fortdauer gewisser Vorgänge zu bemerken, die selbst nach diesem allerdings tief eingreifenden Moment noch bestehen. Das Kriterium des Lebens bilden ausschließlich die Lebensäuße- rungen, d. h. die verschiedenartigen Seiten, nach denen der Lebens- vorgang, der Stoffwechsel äußerlich wahrnehmbar wird. Aber gerade, wenn wir dieses Kriterium auf den Menschen anwenden, dann ist er in dem Moment, den wir gewöhnlich als den „loment des Todes“ bezeichnen, in Wirklichkeit noch nicht tot, wie eine eingehendere Prüfung sogleich zeigt. Freilich hören die spontanen groben Muskelbewegungen auf, der Mensch wird schlaff und ruhig. Für äußere Einwirkungen aber bleiben die Muskeln häufig noch mehrere Stunden empfänglich und antworten darauf mit Zuckungen und Bewegungen der betreffenden Glieder, zeigen also Lebensäußerungen. Ja, es tritt sogar ein Moment ein, in dem sich die Muskeln von selbst noch einmal allmählich zusammen- zuziehen beginnen, das ist die „Totenstarre“. Erst wenn diese auf- gehört hat, ist das Leben der Muskeln erloschen. Aber trotzdem ist auch jetzt der Körper durchaus noch nicht tot. Es sind nur bestimmte Organe, nur Teile von ihm, nur Zellenkomplexe wie die Zellen des Nervensystems, des Herzens, der Skelettmuskeln ete., die keine Lebensäußerungen mehr zeigen; andere Zellen und Zellenkomplexe leben dagegen noch lange, nachdem die Totenstarre vorüber ist, weiter. Die innere Oberfläche der Luftwege, also des Kehlkopfs, der Luftröhre, der Bronchien ete., ist bekanntlich mit einem „Flimmer- epithel“ überkleidet, d. h. mit einer Schicht von dicht aneinander gedrängten zylindrischen Zellen, die an ihrer Oberfläche feine, härchen- förmige Anhänge besitzen, mit denen sie eine dauernde, rhythmische Schlagbewegung ausführen (vergl. Fig. 25a, S. 90). Diese Flimmer- zellen bleiben an der Leiche noch tagelang nach dem Stillstand des Herzens, also nach dem sogenannten Tode, in normaler Tätigkeit. Sie „überleben“, wie man sagt. Aber selbst nach einigen Tagen ist noch immer nicht der ganze menschliche Körper gestorben. Die weißen Blutkörperchen oder Leukocyten, jene amöboiden Zellen, die nicht bloß im Blutstrom passiv fortgetragen werden, sondern auch aktiv in allen Geweben des Körpers umherwandern und im Haushalt Von der lebendigen Substanz. 159 des Organismus eine bedeutsame Rolle spielen, können, wenn man sie unter günstigen Bedingungen hält, noch länger am Leben er- halten werden. Nach alledem: Welchen Moment soll man als den Moment des Todes bezeichnen? Wenn man die Existenz von Lebensäußerungen als Kriterium verwendet, so kann man konsequenterweise den Augen- blick, in dem die spontane Muskelbewegung, speziell die Herztätigkeit aufhört, noch nicht als Moment des Todes betrachten, denn andere Zellenkomplexe leben noch lange Zeit ungestört weiter. Wir sehen also, es gibt nicht einen bestimmten Zeitpunkt, in dem das Leben aufhört und der Tod beginnt, sondern es ist ein allmählicher Ueber- gang vom normalen Leben zum völligen Tode vorhanden, der sich häufig schon während einer Krankheit bemerkbar zu machen beginnt. Der Tod entwickelt sich aus dem Leben. Die Geschichte des Todes bei verschiedenen Tierklassen ist sehr verschieden. Während sich bei den Warmblütern, infolge der großen Abhängigkeit aller Gewebezellen von ihrer Ernährung durch den Blutstrom, der Tod verhältnismäßig schnell nach dem Stillstand der Blutzirkulation entwickelt, geht der Organismus der Kaltblüter durch- schnittlich viel langsamer vom Leben zum Tode über, ja die Aus- bildung des definitiven Todes, d. h. des Zustandes, in dem keine einzige Lebensäußerung mehr am Körper wahrzunehmen ist, erfolgt in manchen Fällen erst Monate, nachdem das Tier eine irreparable, tödliche Verletzung erfahren hat. Entsprechend der größeren Un- abhängiekeit der einzelnen Organe von der Blutzirkulation sowohl als voneinander können von allen Kaltblütern auch einzelne ab- geschnittene Teile lange Zeit überleben, ehe sie zugrunde gehen, eine Eigentümlichkeit, auf der die besondere Brauchbarkeit solcher Tiere, wie z. B. der Frösche, für physiologische Untersuchungen beruht. Man kann bekanntlich aus einem Frosch einen Muskel mit seinem Nerv herausschneiden und unter geeigneten Bedingungen tagelang in erregbarem Zustande für Versuche am Leben erhalten. Hier tritt die Tatsache, daß der Tod nicht ein Zustand ist, der momentan einsetzt, sondern der sich ganz allmählich entwickelt, noch viel deutlicher hervor als beim Menschen. Allein man könnte sagen, in allen angeführten Fällen handelt es sich um vielzellige Tiere, in denen die eine Zellenart früher, die andere später dem Tode anheimfällt; wie verhält es sich dagegen mit der einzelnen Zelle, die selbst bereits einen lebendigen Organismus vorstellt? Die Geschichte des Zelltodes entspricht genau der Todes- entwicklung beim vielzelligen Organismus, nur daß hier die einzelnen wichtigen Punkte noch klarer zum Ausdruck kommen. Wir sehen auch hier, daß der Tod nicht momentan eintritt, sondern daß das normale Leben mit dem definitiven Tode durch eine lange Reihe von lückenlos ineinander greifenden Uebergangszuständen verbunden ist, deren Verlauf häufig mehrere Tage und nicht selten mehrere Wochen in Anspruch nehmen kann. Wir sind bereits mehrfach der Tatsache begegnet, daß kernlose Protoplasmamassen, die man von einer Zelle auf operativem Wege abgetrennt hat, nicht am Leben bleiben. Ver- folgt man ein solches abgeschnittenes Stück Protoplasma, das keinen Kern besitzt, dessen Schicksal also besiegelt ist, unter dem Mikroskop, so kann man sich überzeugen, wie es nur ganz allmählich von seinem normalen Verhalten zum völligen Stillstand aller Lebensäußerungen 160 Zweites Kapitel. übergeht!). Sehr geeignet für diesen Zweck sind gewisse marine Rhizopodenformen, z. B. Orbitolites, die aus den Poren ihrer Kalkschale Büschel von nackten, kernlosen Protoplasmafäden oder „Pseudopodien“ von beträchtlicher Länge herausstrecken, mit denen sie sich bewegen, Nahrungsorganismen festkleben und die Nahrung verdauen. Schneidet man eine solche Pseudopodienmasse von einem Orbitolites unter dem Mikroskop ab, so fließt das Fadennetz zuerst zu einem rundlichen Tröpfchen zusammen, das aber alsbald wieder neue Pseudopodien von der gleichen Form wie der unverletzte Orbitolites ausstreckt und sich bewegt wie im Zusammenhange mit dem kernhaltigen Körper. Die neuen Pseudopodien fangen auch noch Nahrungsorganismen, aber sie haben nicht mehr die Fähigkeit, sie zu verdauen. Das ist sehr wichtig, denn daraus folgt, daß das kernlose Protoplasmatröpfchen fernerhin keine neue Körpersubstanz mehr zu bilden imstande ist. Dabei bleiben die Bewegungen des mikroskopisch kleinen Klümpchens noch Stunden lang normal, und auch die Irritabilität ist erhalten. Erst ganz allmählich werden die Pseudopodien mehr und mehr eingezogen, während keine neuen mehr ausgestreckt werden. Infolgedessen zieht sich die Masse nach und nach wieder zu einem kugeligen Klumpen zusammen. Aber noch können wir immer nicht sagen, die Protoplasmamasse wäre tot, denn noch am nächsten Tage können wir äußerst langsam verlaufende, schwache Formveränderungen feststellen, wenn wir das Objekt im Zwischenraum von mehreren Stunden beobachten. Erst nach einigen Tagen zerfällt das Protoplasmatröpfehen unter Aufquellung zu einem locker zusammenhängenden Körnerhaufen. Der Tod tritt also auch in der Zelle nicht unvermittelt ein, sondern ist nur das Endglied einer langen Reihe von Prozessen, die, von einer irreparablen Schädigung des normalen Körpers beginnend, nach und nach zum vollständigen Aufhören aller Lebensäußerungen führen. Da aber auch während des Ablaufs dieser Prozesse einerseits noch Lebensäußerungen bemerkbar sind, anderseits der Tod infolge der Schädigung unausbleiblich ist, so ist es zweckmäßig, die Zeit vom Eintritt der tödlichen Schädigung bis zum definitiven Tode auch durch den Namen als eine Zeit lückenloser Uebergänge zu charakterisieren und sie mit Erweiterung eines von K. H. SCHULTZ und VIRCHOW?) in die Pathologie eingeführten Begriffs als die Zeit der „Nekro- biose“ zu bezeichnen. Wir sehen also, daß es unmöglich ist, eine scharfe Grenze zwischen Leben und Tod zu ziehen, daß Leben und Tod nur die beiden Endglieder einer langen Reihe von Veränderungen sind, die nacheinander an einem Organismus ablaufen. Aber lassen wir, nach- dem wir das festgestellt haben, die Uebergangsglieder einmal außer Betracht, und fassen wir nun die beiden Endglieder selbst ins Auge, den unversehrten, lebendigen Organismus einerseits, und anderseits etwa den gleichen Organismus mit allen Mitteln der modernen Technik fixiert und in Alkohol konserviert, so können wir diese beiden Glieder sehr scharf unterscheiden dadurch, daß im ersteren der Lebensvorgang 1) Max VERWORN: „Die physiologische Bedeutung des Zellkerns“. In PFLÜGERS Arch. f. d. ges. Physiol., Bd. 51, 1891. 2) R. VircHow: „Die Zellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre“. 4. Aufl. Berlin 1871. Von der lebendigen Substanz. 161 in ungestörtem Gange ist, wie sich aus der Entfaltung aller Lebens- äußerungen ergibt, während im letzteren der Lebensvorgang voll- kommen und dauernd still steht, wie das Fehlen der geringsten Lebens- äußerung zeigt. * Nach allen diesen Betrachtungen sind wir nunmehr in der Lage, den Schlußstein in unsere Charakteristik der lebendigen Substanz einzufügen, mit anderen Worten, den Lebensvorgang selbst allgemein zu charakterisieren. Es hat sich gezeigt, daß ein prinzipeller Unterschied, d. h. ein Unterschied in den Elementarstoffen und Elementarvorgängen, zwischen den Organismen und den anorganischen Körpern nicht existiert. Die Lebensäußerungen der Organismen müssen also auf denselben allgemeinen mechanischen Gesetzen beruhen wie das Ge- schehen in der anorganischen Welt. Dagegen besteht ein Unterschied zwischen beiden großen Körpergruppen in bezug auf die Art der chemischen Verbindungen, zu denen die Elementarstoffe zusammen- gefügt sind, insofern in den Organismen ganz allgemein gewisse hochkomplizierte Verbindungen, besonders die in keiner lebendigen Substanz fehlenden Eiweißkörper vorkommen, die in der anorganischen Körperwelt nirgends gefunden werden. Allein es liegt auf der Hand, daß dieser Unterschied nur von derselben Art ist wie die Unterschiede, die auch zwischen einzelnen anorganischen Körpern selbst bezüglich ihrer chemischen Zusammensetzung bestehen. Immerhin haben die Organismen allen anorganischen Körpern gegen- über in dem Besitz der komplizierten Stoffe der Eiweißgruppe etwas (semeinsames. Es hat sich ferner gezeigt, daß die lebendigen Organismen sich von den leblosen, sei es, daß letztere sich im Zustande des latenten Leben befinden oder tot sind, unterscheiden durch ihren Stoffwechsel, d.h. durch die Tatsache, daß ihre Substanz fortwährend von selbst zerfällt und sich wieder regeneriert und dementsprechend fortwährend Stoffe nach außen abgibt und andere Stoffe von außen her in sich aufnimmt. Die Art der aus dem Zerfall hervorgehenden Produkte läßt aber erkennen, daß es sich um stickstoffhaltige Ver- bindungen handelt, und zwar speziell um Eiweißkörper. Da wir schließlich wissen, daß die stickstoffhaltigen Eiweißkörper mit ihren Trabanten, welche letzteren teils von den Eiweißkörpern abstammen, teils zu ihrem Aufbau nötig sind, von allen organischen Verbindungen die einzigen Körper vorstellen, die in keiner lebendigen Substanz fehlen, überall ihre Hauptmasse ausmachen und allein zum Aufbau lebendiger Substanz genügen, so können wir sagen, daß alle lebendigen Organismen charakterisiert sind durch den Stoffwechsel von Eiweiß- körpern. Damit haben wir das Fazit aus unseren bisherigen Betrachtungen gezogen und zugleich dem Problem der ganzen Physiologie einen einfacheren Ausdruck ge- geben. Der Lebensvorgang besteht im Stoffwechsel von Eiweißkörpern. Ist das richtig, so ist die gesamte Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 11 162 Zweites Kapitel. Von der lebendigen Substanz. physiologische Forschung eine Probe darauf und hat die Aufgabe, diesen Stoffwechsel bis in seine Einzel- heiten zu verfolgen und die verschiedenen Lebens- äußerungen als einen Ausdruck dieses Lebensvor- ganges zu erkennen, die sich mit derselben eisernen Notwendigkeit aus ihm ergeben müssen, wie die Vor- gänge in der anorganischen Natur aus den chemischen und physikalischen Veränderungen der anorganischen Körper. Drittes Kapitel. Von den elementaren Lebensäusserungen. I. Der Stoffwechsel. A. Die Aufnahme von Stoffen. 1. Die Nahrungsstoffe. 2. Der Modus der Nahrungsaufnahme von seiten der Zelle, B. Die Umsetzung der aufgenommenen Stoffe. 1. Extrazellulare und intrazellulare Verdauung. 2. Die Fermente und ihre Wirkungsweise. 3. Assimilation und Dissimilation. a) Assimilation. b) Dissimilation. C. Die Abgabe von Stoffen. 1. Der Modus der Stoffabgabe von seiten der Zelle. 2. Sekret- und Exkretstoffe. a) Sekrete. b) Exkrete. II. Die Formbildung. A. Die phylogenetische Entwicklungsreihe. 1. Die Vererbung. 2. Die Anpassung. B. Die ontogenetische Entwicklungsreihe. 1. Wachstum und Fortpflanzung. 2. Die Formen der Zellteilung. a) Die direkte Zellteilung. b) Die indirekte Zellteilung. 3. Die Befruchtung. 4. Die Entwicklung des vielzelligen Organismus. IH. Der Energieumsatz. A. Die allgemeinen Gesetze der Energetik. 1. Die Formen der Energie. 2. Das Gesetz von der Erhaltung der Energie: „Erster Hauptsatz‘“. 3. Der „zweite Hauptsatz‘. 4. Das Wärmemaß der Energie. B. Die Einfuhr von Energie in den Organismus. 1. Das Gesetz des Energieumsatzes bei chemischen Pro- zessen. 2. Die Zufuhr chemischer Energie. 3. Die Zufuhr von Licht. 4. Die Zufuhr von Wärme. die 164 Drittes Kapitel. C. Die Energieproduktion des Organismus. 1. Die Produktion mechanischer Energie. a) Passive Bewegungen. b) Bewegungen durch Quellung der Zellwände. c) Bewegungen durch Veränderungen des Zellturgors. d) Bewegungen durch Veränderung des spezifischen Gewichts. e) Bewegungen durch Sekretion. f) Bewegungen durch Wachstum. g) Bewegungen durch Kontraktion und Expansion. Die amöboide Bewegung. Die Muskelbewegung. Die Flimmerbewegung. 2. Die Produktion von Licht. 3. Die Produktion von Wärme. 4. Die Produktion von Elektrizität. Was wir Leben nennen, ist eine Reihe von Vorgängen, die untereinander überaus ungleichwertig sind. Die größte Zahl aller der Tätigkeiten, die beim Menschen das tägliche Leben ausmachen, ist teils komplexer Natur und setzt sich zusammen aus mehreren elementaren Vorgängen, teils stellt sie erst sekundäre Folgen ele- mentarer Lebensvorgänge vor. Selbst die scheinbar einfachen und unmittelbaren unter ihnen, wie die Blutzirkulation, die Respiration etc., sind noch keine elementaren Lebensvorgänge. Elementar ist erst die Kontraktion des Herzens und der Atemmuskeln, welche sekundär die Zirkulation des Blutes und den Luftaustausch in den Lungen bewirkt; denn die Muskelkontraktion läßt sich nicht mehr auf die Tätigkeit anderer Elementarbausteine des Körpers zurück- führen, sie ist unmittelbarer Ausdruck des Lebens derjenigen Zellen, an denen sie auftritt. Wollen wir aber die elementaren Lebensäußerungen kennen lernen, so müssen wir eben bis auf die Zellen zurückgehen, die Elementarorganis- men, an denen sie auftreten. Wenn wir so alle komplizierten Tätigkeiten und sekundären Aeußerungen bis zu den ihnen zugrunde liegenden Elementarprozessen zurück verfolgen, so finden wir, wie wir bereits sahen, dreigroße Gruppen von elementaren Lebensäußerungen, die in irgendeiner Form aller lebendigen Substanz, jeder Zelle eigentümlich sind, das sind die Tatsachen des Stoffwechsels, der Formbildung und des Energieumsatzes. Jede lebendige Substanz ohne Ausnahme, so- lange sie lebt, zeigt einen fortwährenden Wechsel der Stoffe, ferner Veränderungen ihrer Form und schließlich einen Umsatz von Energie, und diesen drei großen Gruppen der elementaren Lebensäußerungen lassen sich alle Lebensäußerungen, die es überhaupt gibt, einfügen, wenn man sie bis in die Elementarbausteine des Körpers, die Zellen derjenigen Organe verfolgt, an denen sie zu beobachten sind. Suchen wir in diesem Kapitel uns einen Ueberblick über die Fülle der elementaren Lebensäußerungen zu verschaffen, indem wir zunächst nur die Tatsachen verzeichnen, um uns die Analyse der Lebens- äußerungen bis in ihre chemischen und physikalischen Bedingungen für ein späteres Kapitel vorzubehalten. Von den elementaren Lebensäußerungen. 165 I. Der Stoffwechsel. A. Die Aufnahme von Stoffen. Die Aufnahme von Nahrungsstoffen aus der Umgebung stellt die „Ernährung“ im weitesten Sinne vor. Wenn wir bei dem Begriff der Ernährung nur an die Nahrungsaufnahme des zusammengesetzten Organismus denken, so ist das lediglich ein äußerlicher Teil des ganzen Ernährunesprozesses, denn was wir beim Essen und Trinken in ein einziges Organ, den Magen, einführen, kommt jeder einzelnen von den vielen Millionen Zellen zu gute, die den Körper des Menschen zusammensetzen. Damit der Körper sich am Leben erhält, müssen alle Zellen bestimmte Nahrungsstoffe aufnehmen. Unsere Betrachtung wird sich daher auf zwei Punkte erstrecken müssen, einerseits auf die Beschaffenheit der Stoffe, die jede Zelle braucht, um ihr Leben zu unterhalten, und anderseits auf den Modus der Auf- nahme dieser Nahrungsstoftfe. 1. Die Nahrungsstoffe. Alle lebendige Substanz muß, da sie fortwährend von selbst zer- fällt, Stoffe in sich aufnehmen, welche die sämtlichen chemischen Elemente enthalten, aus denen die lebendige Substanz selbst sich wieder aufbaut. Ist es so einerseits eine allgemeine Lebensäußerung jeder Zelle, überhaupt Nahrungsstoffe in sich aufzunehmen, so ist anderseits die Art dieser Nahrungsstoffe für jede bestimmte Zellenform verschieden. Trotz aller speziellen Verschiedenheiten der Stoffe aber, die jede einzelne Zellenform für ihr Leben braucht, lassen sich doch alle Or- ganismen in einige wenige große Gruppen einreihen, innerhalb deren gewisse allgemeine Uebereinstimmungen in der Art der Ernährung herrschen. Schon früh hat man einen fundamentalen Unterschied in der Ernährung der Pflanzen und Tiere gefunden. Alle grünen Pflanzen nehmen einfacheanorganische Stoffe aus dem Erdboden und der Luft auf, um daraus ihre lebendige Substanz aufzubauen; alle Tiere dagegen ohne Aus- nahme bedürfen hochkomplizierter organischer Ver- bindungen, um ihr Leben dauernd unterhalten zu können. Diese Tatsache ist leicht festzustellen. Um sich zu überzeugen, daß Tiere ohne organische Nahrung nicht existieren können, braucht man nur entsprechende Fütterungsversuche anzustellen. Die Tiere gehen bei Fütterung mit rein anorganischen Stoffen, wie Wasser und Salzen, selbst wenn diese die chemischen Elemente der lebendigen Substanz sämtlich in richtigem Verhältnis enthalten, nach kürzerer oder längerer Zeit stets zugrunde. Dagegen kann man durch geeignete Versuche zeigen, daß Pflanzen nur auf Kosten von anorganischen Stoffen leben, indem man sie in sogenannten „Nährlösungen“ wachsen läßt, die in Gestalt von anorganischen Salzen die chemischen Elemente besitzen, welche zum Aufbau der lebendigen Substanz nötig sind. Eine solche Nährlösung, welche die Elemente N, H, O, S, P, Cl, Na, 166 Drittes Kapitel. Mg, Ca, Fe, also mit Ausnahme des Kohlenstoffs alle organischen Elemente, in löslichen Verbindungen enthält, ist z. B. nach SacHs!) folgendermaßen zusammengesetzt: Wasser daeale 2... WR ERERN 27. EODBTEERN Salpetersantes Kali . 2... 227.028 g Ghlornatemsn: ; .. gan en, MORE Schwefelsaurer Kalk . . . ...05 g Schwefelsaure Magnesia . . ....05 g Phosphwsänrer Kalk a. 27.9... 05V Schwefelsaures Eisenoxydul . . . . 0,0058 Taucht man die Wurzel eines Maiskorns, das man im Wasser zum Keimen gebracht hat, in einen Zylinder mit dieser Nährlösung, während die oberirdischen Teile in die Luft ragen (Fig. 53), so wächst die Pflanze am Licht ganz aus- gezeichnet, entwickelt sich zu einer großen Mais- staude, treibt Blüten und bringt Samen, mit denen man das Experiment von vorn anfangen kann. Fehlt das Eisensalz in der Nährlösung, so wächst die Pflanze ebenfalls einige Zeit, bleibt aber farblos, und die mikroskopische Untersuchung der Blätter zeigt, daß den Zellen der Chlorophylifarbstoff fehlt. Erst auf Zusatz von einer Spur Eisensulfat färben sich die Blätter grün. In der Nährlösung ist, wie ein Blick auf die darin enthaltenen Stoffe zeigt, kein Kohlenstoff. Da die Pflanze aber unter allen Umständen Kohlenstoff zum Aufbau ihrer organischen Substanz braucht, so muß sie beim Wachsen den Kohlenstoff aus der Luft genommen haben. Deshalb mußte der Versuch auch so angestellt werden, daß die oberirdischen Teile in die Luft ragen. Schließt man durch Ueber- stülpen einer Glocke die Luft vollständig ab, so geht die Pflanze in kurzer Zeit zugrunde. Der Kohlen- stoff ist aber in der Luft nur in Form von Kohlen- Fie. 53, Mais. Säure enthalten; die Pflanze muß ihn also aus dieser pflanze ineinem Verbindung beziehen, und in der Tat zeigt sich denn Zylinder mitNähr-- auch, daß, wenn man unter die Glocke eine be- en en: stimmte Menge Kohlensäure gelassen hat, nach Maiskorn. K Kork Kurzer Zeit alle Kohlensäure von der Pflanze ver- Nach Sacns, braucht ist. Diese wichtige Tatsache, daß die Pflanze ihren Kohlenstoffbedarf nur aus der Kohlensäure der Luft bestreitet, ist bereits von INGENHOUSS und DE SAUSSURE entdeckt worden und bildet jetzt, nachdem sie zuerst eine Zeitlang angezweifelt worden war, eine der wichtigsten Grundtatsachen der ganzen Pflanzenphysiologie. Der Stickstoff der Pflanze dagegen kann, wie ein dem obigen analoger Versuch zeigt, nicht aus der Luft be- zogen werden, obwohl er hier bekanntlich in Gasform in großer Menge vorhanden ist; er wird allein aus den stickstoffhaltigen Salzen des Wassers aufgenommen. Aus diesen Versuchen geht also hervor, daß die Pflanzen ihre lebendige Substanz aufbauen aus einfachen anorganischen Verbin- 1) JuLıus Sachs: „Vorlesungen über Pflanzen-Physiologie“. Leipzig 1882. 4 Von den elementaren Lebensäußerungen. 167 dungen, und zwar aus der Kohlensäure der Luft, die von den Blättern aufgenommen wird, sowie aus dem Wasser mit seinen Salzen, das durch die Wurzeln in die Pflanzen gelangt. Demgegenüber vermag kein einziges Tier seine lebendige Substanz aus einfachen anorga- nischen Verbindungen synthetisch aufzubauen, selbst wenn alle Ele- mentarbestandteile des tierischen Körpers darin enthalten sind; viel- mehr brauchen alle Tiere ohne Ausnahme bereits fertiges organisches Material zu ihrem Leben. Dieser Gegensatz zwischen Tier und Pflanze ist in der Tat von weittragender Bedeutung, denn er bringt die wichtige Tatsache zum Ausdruck, daß die Tierwelt nicht ohne die Pflanzenwelt existieren kann. Zwar gibt es eine große Zahl von Tieren, die Fleischfresser, die nur tierische Nahrungsstoffe, vor allem Fleisch brauchen, aber, verfolgt man weiter, woher wieder diese zur Nahrung dienenden Tiere ihr Material beziehen, so kommt man schließlich immer zu Pflanzenfressern, und die Pflanzenfresser können ohne Pflanzennahrung nicht leben. So ist auch der Fleischfresser in letzter Instanz auf die Existenz der Pflanzen angewiesen. Ohne Pflanzen würde die Tierwelt zugrunde gehen, denn nur die Pflanzen vermögen aus anorganischen Stoffen Kohlehydrate, Fette und Eiweiß herzustellen, deren die Tiere zu ihrer Existenz notwendig bedürfen. Man kann also der alten Naturphilosophie aus dem Anfange des vorigen Jahrhunderts nicht ganz Unrecht geben, wenn sie in ihrer gesuchten Ausdrucksweise die ganze Tierwelt als Parasiten der Pflanzen be- zeichnete. Man hat lange Zeit geglaubt, daß der eben besprochene Unter- schied in der Ernährung der Tiere und Pflanzen ein durchgreifender sei, so daß man alle lebendigen Zellen nach ihrem Stoffwechsel ein- fach in tierische und pflanzliche Zellen trennen könne. Allein es hat sich herausgestellt, daß dieser Unterschied doch nur innerhalb be- stimmter Grenzen besteht, nämlich nur soweit es sich um tierische Zellen einerseits und um grüne, d. h. chlorophyllhaltige Pflanzen- zellen anderseits handelt, denn diejenigen Bestandteile der Pflanzen- zelle, in denen die Kohlensäure aufgenommen und verarbeitet wird, sind ausschließlich die grünen Chlorophylikörper. Es gibt aber Pflanzen ohne Chlorophyll oder analoge Farbstoffe, wie z. B. die Pilze, die in ihrem Stoffwechsel gewissermaßen einen Uebergang zwischen den Tieren und den grünen Pflanzen bilden. Die Pilze haben nämlich nicht die Fähigkeit der chlorophyll- führenden Pflanzen, ihren Kohlenstoff aus der Kohlensäure der atmosphärischen Luft zu beziehen; sie brauchen vielmehr, um ihren Kohlenstoffbedarf zu decken, ebenso wie die Tiere organische Stoffe, wie Eiweiß, Kohlehydrate etc., denen sie den Kohlenstoff entnehmen. Dagegen verhalten sich die Pilze wie Pflanzen, insofern sie ihren Bedarf an Stickstoff auch aus anorganischen Salzen dem Boden ent- nehmen können, während die Tiere zur Deckung ihres Stickstoff- bedarfs allein auf die Eiweißkörper und deren Derivate angewiesen sind. Diese Tatsachen ergeben sich aus Versuchen mit Nährstoff- lösungen, in denen Pilze nicht wachsen, wenn ihnen kein organisches Material zur Verfügung steht, dagegen vortrefflich gedeihen, wenn ihnen beispielsweise neben einfachen stickstoffhaltigen Salzen noch Zucker geboten wird. Somit haben wir in den Pilzen eine Gruppe von Organismen, die in ihrem Stoffwechsel halb tierische, halb pflanz- 168 Drittes Kapitel. liche Charaktere vereinigen. Aber auch damit sind noch nicht alle tatsächlich vorkommenden Verhältnisse erschöpft. In der Welt der Mikroorganismen kommen zahlreiche Formen vor, die ganz ähnliche Uebergangsglieder vorstellen, und je mehr wir die höchst eigenartigen Lebensverhältnisse dieser mikroskopischen Wesen, vor allem der Bakterien, erforschen, um so mehr scheint es, als ob in der Gruppe dieser kleinsten Organismen die Verhältnisse des Stoffwechsels überhaupt noch nicht so einseitig differenziert sind wie bei den höher organisierten 'Tieren und Pflanzen. So hat zuerst der ausgezeichnete jakterienforscher WINOGRADSKY!) Bakterienformen entdeckt, die in der Erde leben und ganz aus anorganischem Material, nämlich hauptsächlich aus kohlensaurem Ammon und einigen Mineralstoffen, ihre lebendige Substanz aufbauen. Diese merkwürdigen Stickstoft- bakterien (Nitromonas) verhalten sich also genau wie die grünen Pflanzen, obwohl sie kein Chlorophyll besitzen, während hingegen andere Bakterienformen ohne organische Nahrung nicht bestehen können. Werfen wir noch einen Blick auf die speziellere Ernährung der Tiere, so herrscht auch hier in bezug auf die organischen Nahrungs- stoffe eine ziemlich bedeutende Verschiedenheit zwischen den einzelnen Tierformen. Nur in einem Punkte herrscht allgemeine Ueberein- stimmung: Alle Tiere ohne Ausnahme brauchen Eiweiß oder wenigstens die das Eiweiß aufbauenden Amino- säuren in ihrer Nahrung. Schon seit langer Zeit ist bekannt, daß unter allen Nahrungsstoffen nur das Eiweiß als ausschließliche Nahrung, wie z. B. bei den Fleischfressern, hinreicht, um den Bedarf aller zum Aufbau des Körpers erforderlichen Elementarstofe zu decken, und PFLÜGER?) hat durch eingehende Versuche gezeigt, daß sogar Hunde selbst dann noch dauernd von reiner Eiweißnahrung leben können, wenn sie täglich harte Arbeit verrichten müssen. Die Hunde verlieren bei diesen Versuchen schon nach kurzer Zeit fast alles Körperfett, bleiben aber im höchsten Maße leistungsfähig, kräftig und gesund. Dagegen ist es unmöglich, Tiere allein mit Kohle- hydraten oder mit Fetten oder auch mit beiden zusammen am Leben zu erhalten. Die Tiere zehren dann trotz reichlichster Fett- oder Kohlehydratnahrung von ihrem eigenen Körpereiweiß, wie das die fortdauernde Stickstoffausscheidung im Harne zeigt, und gehen schließ- lich unfehlbar zugrunde. Diese Tatsache ist ohne weiteres verständ- lich, denn da die lebendige Substanz fortwährend von selbst in be- stimmtem Maße zerfällt, muß sie immer wieder neu aufgebaut werden, wenn das Tier leben soll. Das kann nicht geschehen, wenn dem Tier kein Stickstoff geliefert wird, der ja den Kohlehydraten und Fetten fehlt. Aus anorganischen Verbindungen können die Tiere, wie wir sahen, keinen Stickstoff aufnehmen. Es bleiben also für die Deckung des Stickstoffbedarfs beim Tier nur organische Stickstoffverbindungen übrig, und unter diesen sind es die Eiweißkörper, die das Tier ganz allgemein mit Stickstoff versorgen. Da indessen die Eiweißkörper der Nahrung bei der Verdauung erst in einfachere Bestandteile gespalten 1) WINOGRADSKY in Annales de I’Institut Pasteur, 1890. 2) PFLÜGER: „Die Quelle der Muskelkraft“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 50, a Be oe „Ueber Fleisch- und Fettmästung“. In PFLÜGERs Arch., 3 Ber 2. Von den elementaren Lebensäußerungen. 169 werden, ehe sie zum Aufbau der lebendigen Substanz zur Verwendung kommen, so ist in neuerer Zeit die Frage entstanden, ob nicht auch mit einfacheren stickstoffhaltigen Spaltungsprodukten des Eiweiß der Stickstoffbedarf des Tieres gedeckt werden kann. In der Tat ist das der Fall.e. Von den Peptonen wußten wir schon lange, daß sie die nativen Eiweißkörper in der Nahrung ersetzen können. In neuester Zeit hat aber Orro LoEw1?) durch höchst interessante Versuche ge- zeigt, daß auch stickstoffhaltige Spaltungsprodukte, die nicht mehr Eiweißnatur haben, wie die Aminosäuren, im stande sind, den Stick- stoffbedarf des Tieres zu decken, und zahlreiche Forscher wie ABDER- HALDEN und RONA, HENDERSON und DEAN, LÜTHJE u.a. haben die von LoEwı entdeckte Tatsache bestätigt. Wir können also dem- nach die wichtige Tatsache feststellen, daß von allen organischen Substanzen allein die Eiweißkörper und ihre nächsten stickstoffhaltigen Spaltungsprodukte bis zu den Aminosäuren herab für die Ernährung der Tiere unentbehrlich, aber auch in gewissen Fällen allein ausreichend sind, um das Leben der Tiere dauernd zu erhalten. Neben der Aufnahme der eigentlichen Nahrung im engeren Sinne ist die Aufnahme von Sauerstoff fast allen Organismen gemeinsam, mit Ausnahme einer kleinen, nur den niederen Organismengruppen angehörigen Zahl von Organismen, die in eigentümlicher Weise an das Leben ohne Sauerstoff angepaßt sind und daher den Namen der „anaäroben Organismen“ erhalten haben. Der Vorgang der Sauerstoffaufnahme und des Verbrauchs von Sauerstoff zu Oxydations- prozessen in der lebendigen Substanz wird als ein besonderer und wichtiger Teilprozeß des Stoffwechsels seit altersher mit dem be- sonderen Namen der „Atmung“ bezeichnet. Freilich beziehen nicht alle sauerstoffatmenden Organismen den Sauerstoff in gleicher Weise und aus gleicher Quelle. Die Landorganismen nehmen ihn in Gas- form aus der Luft, die Wasserorganismen verbrauchen den im Wasser gelösten Sauerstoff, die Gewebezellen entnehmen ihn dem Blute resp. der Lymphe. Schließlich nehmen alle Organismen ohne Ausnahme Wasser in sich auf und teils mit dem Wasser, teils mit der festen Nahrung gewisse Salze, die ebenfalls unentbehrlich sind für die Erhaltung des Lebens, wenn auch in bezug auf die Art der erforderlichen Salze unter den einzelnen Organismen weitgehende Verschiedenheiten herrschen. Unentbehrlich aber scheinen allen Organismen zu sein die phosphor-, schwefel-, kohlenstoff- und chlorhaltigen Salze des Natriums, Kaliums, Magnesiums, Kalks und Eisens. Das ist ein kurzer Ueberblick über die Nahrungsstoffe der Organismen. Betrachten wir jetzt, wie die einzelne Zelle diese Nahrung erlangt. 2. Der Modus der Nahrungsaufnahme von seiten dien) Ziele. Die Nahrungsstoffe sind teils in gasförmigem, teils in flüssigem, d. h. gelöstem, teils in geformtem Zustande, aber bei weitem nicht 3) Otto LoEWI: „Ueber Eiweißsynthese im Tierkörper“. In Arch. f. experim. Pathol. u. Pharmakol., Bd. 48, 1902. 170 Drittes Kapitel. alle lebendigen Zellen sind in der Lage, geformte Nahrung aufzu- nehmen. Die größte Mehrzahl aller Zellen, fast alle tierischen und pflanzlichen Gewebezellen, und viele einzelligen Organismen nehmen nur gelöste Nahrung auf, sei es, daß ihre Nahrung von vornherein gleich ausschließlich in gelösten Stoffen besteht, sei es, daß sie die geformte Nahrung erst durch Einwirkung bestimmter Sekrete außer- halb ihres Zellkörpers in den gelösten Zustand überführen. Nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Zellformen ist auf die Aufnahme geformter Nahrung eingerichtet. Bei der Aufnahme der gasförmigen und gelösten Nahrungsstoffe, die wir als „Resorption“ bezeichnen, handelt es sich im wesentlichen um den Durchtritt dieser Stoffe durch die Oberflächen des Zellprotoplasmas. Dieser Durchtritt wird bestimmt durch die speziellen Eigenschaften des Protoplasmas, das die Eigen- schaften einer semipermeablen Membran besitzt!) Selbstverständlich kann das Protoplasma überall, wo es an seiner Oberfläche mit Nahrungsstoffen in Berührung steht, stets auch direkt mit diesen in chemische Beziehung treten. Eine Zufuhr von gasförmiger und gelöster Nahrung steht aber jeder Zelle zur Verfügung. Bei den Pflanzen tritt die Kohlensäure und der Sauerstoff der Luft in direkte Berührung mit den Zellen der Blätter. Ebenso ist es in den Lungen der Wirbeltiere. Die feinsten Aeste des Bronchial- baumes endigen in kleinen blinden Säckchen, den sogenannten Lungen- alveolen, die von einer äußerst dünnen Lage von Epithelzellen ge- bildet und von einem dichten, ebenfalls überaus dünnwandigen Netz von Blutgefäßkapillaren umsponnen sind. Durch die dünnen Wände kann der Sauerstoff der in die Lungen eingeatmeten Luft leicht hin- durchtreten, um dann von den roten Blutkörperchen gierig aufge- nommen und im ganzen Körper umhergetragen zu werden. Auch die gelösten Stoffe bespülen stets die Oberfläche der Zellen. In den Pflanzen steigen sie mit dem Wasser in feinen röhrenförmigen Kanälen in die Höhe und werden so den Zellen direkt zugeführt. Im zusammengesetzten Tierkörper stehen die Zellen teils unmittelbar, wie die Zellen des Darmepithels, mit den gelösten Nahrungsstoffen des Darmtraktus in Berührung, teils werden sie, wie die sämtlichen Gewebezellen, vom Blut- resp. Lymphstrom umspült, der ihnen die gelöste Nahrung bereits in bestimmt verarbeiteter Form zuträgt. Auch bei solchen wirbellosen Tieren, die kein eigentliches Blut- zirkulationssystem besitzen, stehen die Zellen entweder unmittelbar mit dem umgebenden Wasser in Berührung oder werden von Säften versorgt, die in feinen Interzellularlücken die Zellen umspülen. Am einfachsten schließlich liegen die Verhältnisse bei einzelligen Orga- nismen, die sich, wie die Algen, Bakterien und andere, stetig in einer Nährlösung, sei es im Wasser mit seinen Salzen, sei es in organischen Flüssigkeiten, befinden. Eine Aufnahme geformter Nahrung finden wir nur bei wenigen Zellformen. Von den einzelligen Organismen nehmen alle Rhizopoden, die meisten Wimperinfusorien und einige Geißelinfusorien geformte Nahrung auf. Im zusammengesetzten Zellenstaat besitzen die Leukocyten oder weißen Blutkörperchen, die deshalb von 1) Vergl. oben p. 134 u. ff. Von den elementaren Lebensäußerungen. rl METSCHNIKOFF auch als „Phagocyten“ (Freßzellen) bezeichnet worden sind, ferner die bei niederen Tieren die Rolle von Leukocyten spielenden amöboiden Wanderzellen, dann amöboide Eizellen, wie sie bei Schwämmen vorkommen, und schließlich die Darmepithelzellen mancher Tiere diese Fähigkeit. Unter allen diesen Zellformen kann man zwei Typen nach der Art der Aufnahme geformter Nahrung unterscheiden: Die einen können an jeder beliebigen Stelle ihrer Oberfläche die Nahrungskörper in ihre lebendige Substanz aufnehmen ; das sind alle amöboiden Zellen, zu denen die Rhizopoden, Leukocyten und manche Darmepithelzellen gehören; die anderen haben eine be- sondere, dauernd bestehende Zellmundöffnung, das sind die Wimper- und Geißelinfusorien, die bereits eine bestimmt fixierte Körperform mit festerer Hautschicht besitzen. Alle ‘Zellen aber, die überhaupt geformte Nahrung aufnehmen, können es nur vermöge aktiver Körper- bewegungen. Als Beispiel für den ersten Typus kann uns die Nahrungs- aufnahme der Amöben dienen. Der Vorgang, den man nur ver- hältnismäßig selten vollständig beobachtet, verläuft etwa folgender- Fig. 54. Amöbe, eine Algenzelle fressend. Vier aufeinanderfolgende Stadien der Nahrungsaufnahme. maßen. Eine Amöbe, die wir im Wassertropfen unter dem Mikroskop verfolgen, kriecht, indem sie bald hierhin, bald dorthin die lebendige Substanz ihres formlosen Protoplasmakörpers in breite, lappenförmige Ausläufer vorfließen läßt, auf der Glasplatte umher (Fig. 54). Plötzlich wendet sie sich einer kleinen, in der Nähe liegenden Algenzelle zu und kriecht heran, bis sie die Algenzelle be- rührt. Alsbald beginnt ihr Protoplasma in Form der gewöhnlichen lappigen „Pseudopodien“ von der Seite her um die Algenzelle herum- zufließen, aber durch das herandrängende Protoplasma wird die Algen- zelle fortgeschoben, und die Amöbe muß von neuem einen Versuch machen, mit ihren Pseudopodien die Algenzelle zu umfließen. Nach mehreren fruchtlosen Versuchen gelingt es der Amöbe, die Algen- zelle in eine solche Lage zu bringen und durch ein feines klebriges Sekret so festzuhalten, daß ihre Pseudopodien die Alge vollständig umgreifen können. Indem jetzt das Protoplasma immer weiter und weiter um die Algenzelle herumfließt, schließt es sie allmählich von allen Seiten her ein, und die Alge befindet sich von einer dünnen Wasserhülle, der sogenannten „Nahrungsvakuole“, umgeben im Innern der Amöbe, die dann unbehindert weiterkriecht. Die Amöbe nimmt also die geformte Nahrung in sich auf, indem ihr Protoplasma den Nahrungskörper einfach umfließt. Allein nicht immer verläuft der Akt so glatt. Die Schwierigkeiten, welche entstehen, bis der 172 Drittes Kapitel. Nahrungskörper, der fortwährend dem Druck des heranfließenden Protoplasmas nachgibt, so fixiert ist, daß ihn das Protoplasma von allen Seiten umschließen kann, sind häufig so groß, daß die Amöbe sich mit ihren auch nach anderen Seiten fortdauernd vorfließenden Pseudopodien nicht selten wieder von ihrem Opfer entfernt und von neuem erst wieder herankriechen muß, um sich desselben zu be- mächtigen, wenn sie sich nicht zu weit aus der Einwirkungssphäre des Nahrungskörpers entfernt hat. Genau wie bei der Amöbe findet auch die Nahrungsaufnahme bei den anderen Rhizopoden statt, mögen sie nun dicke lappige, feine fadenförmige oder baumartig verästelte Pseudopodien haben. Sind die Nahrungskörper bewegliche Organismen, wie z. B. Infusorien, so be- Fig. 55. Leukoceyt vom Frosch, einen Bakterienfaden fressend. Drei auf einanderfolgende Stadien der Nahrungsaufnahme. Nach METSCHNIKOFF. Fig. 56. Darmepithelzellen des Leberegels mit pseudopodienartigen Proto- plasmafortsätzen zur Aufnahme der Blutkörperchen a, 5 und Chylustropfen ec. Nach SOMMER. wirken sie durch den Reiz des Anschwimmens an den Rhizopoden- körper meist die Ausscheidung eines klebrigen Sekretes, die durch den Reiz der Fluchtversuche noch vermehrt wird, so daß die Nahrungs- organismen immer fester kleben und in das Protoplasma hineingezogen werden können. Auch die amöboiden Wanderzellen und Leuko- cyten nehmen geformte Stoffe, die sich im Blute oder in den Ge- webelücken zwischen den Zellen befinden, ebenso auf wie die Amöben und besitzen, wie METSCHNIKOFF!) durch seine bewunderungswürdigen Arbeiten gezeigt hat, eine große Bedeutung für den Schutz des Körpers vor bestimmten Infektionskrankheiten, indem sie gewisse pathogene Bakterien, die in eine Wunde hineingekommen sind, auffressen (Fig. 55), ihre Vermehrung verhüten und den Körper vor weiterer Erkrankung 1) METSCHNIKOFF: „Untersuchungen über die intrazellulare Verdauung bei Wirbeltieren“. In Arbeiten aus dem zool. Inst. d. Univ. Wien, Bd. 5, 1884. — Derselbe: „Ueber die Beziehungen der Phagocyten zu den Milzbrandbazillen“. In VIRCHOWs Arch. f. Anat., Physiol. u. klin. Med., Bd. 107, 1886. Von den elementaren Lebensäußerungen. 173 schützen. Endlich schließt sich auch die Aufnahme mikroskopischer Fetttröpfehen von seiten der Darmepithelzellen allerdings nur bei einzelnen wirbellosen Tieren demselben Modus der Nahrungsauf- nahme an. Bei diesen Tieren, z. B. bei manchen Würmern, sind die Darmepithelzellen wirklich amöboide Zellen und umfließen mit ihren Pseudopodien die Fettkügelchen des Speisebreies (Fig. 56). Bei den höheren Tieren, bei den Säugetieren und dem Menschen dagegen haben die Darmepithelzellen nicht mehr diese Fähigkeit. Die seinerzeit von THANHOFFER!) beschriebene und fast allge- mein als zutreffend angenommene Beobachtung, nach der auch bei Wirbeltieren die Darmepithelzellen Fetttröpfchen als solche in ihren Zellkörper aktiv hineinziehen sollten, hat sich nicht bestätigt. Die Fettaufnahme im Darm des Wirbeltieres findet seitens der Darm- epithelzellen nur nach Spaltung des Fettes in seine Konstituenten Glyzerin und Fettsäuren und nach Verseifung der letzteren statt, unterliegt also dem Modus der Aufnahme gelöster Stofte. a b [2 d Fig. 57. Vorticella bei der Nahrungsaufnahme in vier aufeinanderfolgenden Stadien. Eine Algenzelle wird in den Zellmund hineingestrudelt und durch den Pharynx ins Endoplasma aufgenommen. Ganz anders sind die Verhältnisse beim zweiten Typus der Nahrungsaufnahme, wo die Zelle eine festere, formbeständige Ober- flächenschicht besitzt und nur eine kleine Oeffnung, den Zellmund, der direkt ins dünnflüssige Endoplasma führt. Hier vermittelt ausschließ- lich die Bewegung der Wimpern und Geißeln der Zelle die Aufnahme der geformten Stoffe. Als Beispiel kann uns Vorticella dienen, ein Wimperinfusorium, dessen glockenförmiger Zellkörper auf einem kontraktilen Stiel festsitzt und an seinem breiten Ende mit einem spiralförmigen Kranz von Wimpern besetzt ist (Fig. 57). Am Grunde dieses spiralförmigen Wimpertrichters befindet sich der Z ellmund, der sich noch ein Stück weit als Zellpharynx in das Protoplasma fortsetzt, aber dann allmählich im dünnflüssigen Endoplasma verschwindet. Die Wimpern des „Peristomkranzes“ schlagen nun fortwährend in rhyth- mischem Tempo und erzeugen auf diese Weise im Wasser einen Strudel, der so gerichtet ist, daß er kleine Teilchen, wie Detritus- und Schlammpartikelchen, Bakterien, Algen etc., die im Wasser sus- 1) THANHOFFER: „Beiträge zur Fettresorption und histologischen Struktur der Dünndarmzotten“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 8, 1874. 174 Drittes Kapitel. pendiert sind, in den Zellmund hineinstrudelt, von wo sie, mit einer Wasserhülle umgeben, durch Kontraktionen des Körpers in den Zell- pharynx und weiter bis in das Endoplasma hinein geschoben werden (Fig. 57). Der Vorgang läßt sich sehr leicht beobachten, wenn man, wie das schon EHRENBERG!) getan hat, Karmin- oder Indigokörnchen in das Wasser mischt. Alsdann sieht man, wie die Vorticellen die roten oder blauen Körnchen in sich hineinstrudeln und in ihrem Protoplasma zu Klumpen zusammenballen, die von einer Wasserbülle, der Nahrungsvakuole, umgeben sind. N SID Fig. 58. Vier Individuen von Coleps hirtus, einen Nahrungsballen umschwär- mend und aufnehmend. Ganz ähnlich wie bei Vorticella ist auch die Nahrungsauf- nahme bei den meisten anderen Infusorien. Die freischwimmenden Formen suchen häufig festliegende Nahrungsmassen selbst auf und strudeln sie in sich hinein. Ja, es kommt vor, daß manche Infusorien wie z. B. Coleps, ein kleines eiförmiges Wimperinfusorium mit zierlichem Gitterpanzer, große Nahrungsballen, die breiter sind als ihre Mundöffnung, aufnehmen, indem sie sich mit der Mundöffnung . durch die Kraft ihres Wimperschlages auf den Nahrungsballen hinauf- pressen, bis sich die Mundöffnung, wie bei einer Schlange, immer mehr und mehr erweitert. So „lutschen“ sie förmlich den Nahrungsballen in sich hinein (Fig. 58). 1) EHRENBERG: „Die Infusionstiere als vollkommene Organismen“. Leipzig 1838. Von den elementaren Lebensäußerungen. 175 Die Aufnahme geformter Nahrung von seiten der Zelle ist also in jedem Falle durch aktive Bewegungen des Zellprotoplasmas oder seiner Bewegungsorganoide bedingt. Bei der Aufnahme von Stoften seitens der lebendigen Zelle ver- dient eine Tatsache noch besonderes Interesse, das ist die Tatsache der Nahrungsauswahl. Von verschiedenartigen, in demselben Medium lebenden Zellen nimmt jede Zelle andere Stoffe in sich auf, Stoffe, die sie für den Aufbau gerade ihrer charakteristischen Zell- substanz nötig hat. Das ist schon deutlich bei den Gewebezellen hochorganisierter Tiere, z. B. des menschlichen Körpers zu sehen. Hier ist die Blut- resp. Lymphflüssigkeit das gemeinsame Nährmaterial für alle Gewebezellen. Aber dieser gemeinsamen Nährflüssigkeit ent- nimmt jede Zellform die gerade für ihr Leben notwendigen Stoffe; die Schleimzelie andere als die Ganglienzelle, die Muskelzelle andere als die Knorpelzelle, die Leberzelle andere als die Sinneszelle usf. Die verschiedenen Zellen wählen gewissermaßen jede nach ihrem Be- dürfnis ganz verschiedene Stoffe für sich aus. Vielleicht noch auffallender ist diese Tatsache der Nahrungsaus- wahl bei gewissen freilebenden Zellen, die geformte Nahrung aufnehmen. CIENKOwsı!), der das Leben der niedrigsten Rhizopodenformen, der nackten „Monaden“, eingehend studiert hat, gibt uns eine interessante Schilderung davon, wie sich Colpodella und Vampyrella, zwei einfache nackte Rhizopodenzellen, ihre Nahrung verschaffen, die aus lebendigen Algenzellen besteht. CIENKOWSKI berichtet: „Obwohl die Zoosporen- und Amöbenzustände der Monaden nur nackte Protoplasma- körper vorstellen, so ist trotzdem ihr Verhalten bei Aufsuchen und Auf- nahme der Nahrung so merkwürdig, daß man Handlungen bewußter Wesen vor sich zu sehen glaubt. So sticht z. B. die Colpodella pugnax die Chlamydomonas an, saugt das heraustretende Chlorophyll aus und läuft davon. Einen zweiten seltsamen Fall dieser Art bietet die Vampyrella Spirogyrae. Die zu ihr gehörende Amöbe legt sich nämlich an gesunde Spirogyren an, bohrt die Zellwand durch und verschlingt den langsam heraustretenden Primordialschlauch mit dem Chlorophylibande zusammen. Und nur an Spirogyren scheint sie den Hunger stillen zu können.“ (Fig. 59.) Aber wir brauchen gar nicht so weit zu suchen. In unserem eigenen Körper haben wir Zellen, die sich ganz ähnlich verhalten. Die Leukoeyten fressen, wie METSCHNIKOFF?) durch seine langjährigen Untersuchungen gezeigt hat, gewisse Bakterienformen, die in den Körper gelangt sind, auf und verdauen sie, während sie andere Bakterien verschmähen, ja sogar geradezu fliehen. Ein anderer, ebenfalls sehr interessanter Fall von Stoffauswahl schließlich, der zwar nicht in der Aufnahme von Nahrung, wohl aber auch von solchen Stoffen besteht, die im Leben der betreffenden Organismen eine Rolle spielen, ist gleichfalls vielfach, wenn auch mit Unrecht, auf ein bewußtes Auswahlvermögen der Zelle bezogen worden. Es ist die Aufnahme von Schalen- und Gehäusebaumaterial von seiten gewisser schalentragender Rhizopoden. Die Difflugien, einzellige 1) CIENKOWSKI: „Beiträge zur Kenntvis der Monaden“. In Arch. f. mikr. Anat., Bd. 1, 1865. 2) METSCHNIKOFF: „Lecons sur la pathologie comparee de l’inflammation“. Paris 1892. 176 Drittes Kapitel. Rhizopoden des Süßwassers, deren nackter Protoplasmaleib in einem überaus zierlichen Gehäuse von Urnen- oder Flaschenform steckt, nehmen das Baumaterial für ihre niedlichen Wohnungen aus dem Schlamm der Tümpel und Seen, an deren Grunde sie leben, mit ihren fingerförmigen „Pseudopodien“ selbst in sich auf‘). Das Baumaterial ihrer Gehäuse ist sehr verschieden, aber man findet Formen, deren Gehäuse nur aus einem ganz bestimmten Material zusammengekittet ist (Fig. 60). So findet man Difflugienformen, die ihr Gehäuse nur aus den Panzern der Kieselalgen oder „Diatomeen“ aufgebaut haben, während andere nur Sandkörnchen von bestimmter Größe und wieder andere Schlammpartikelchen zu ihrer Maurerarbeit benutzt haben. Man hat daraus den Schluß ziehen wollen, daß die Difflugien das Baumaterial unter den ihnen zu Gebote stehenden Stoffen nach > a. 77 Pu N I Fig. 59. Vampyrella Spirogyrae, eine PAR; /N SEN SRLLTS Spirogyrazelle anbohrend und aus- RR AN RE A EN saugend. A Die Spirogyrazelle ist angebohrt, e U \ und der Inhalt tritt in die Vampyrella über. u B Die Spirogyrazelle ist vollständig ausgesaugt. Bei * eine angebohrte und bereits leergefressene 4 Spirogyrazelle. Nach CIENKOWSKI. bestimmten Gesichtspunkten mit Ueberlegung auswählen. Allein wir werden später sehen, daß von einer so grob anthropomorphen Auf- fassung des Vorgangs gar keine Rede sein kann. B. Die Umsetzung der aufgenommenen Stoffe. Den Vorgang des Aufbaues der lebendigen Substanz aus den aufgenommenen Nahrungsstoffen bezeichnen wir mit dem Worte „Assimilation“. Unter Assimilation im engeren Sinne wird seit langer Zeit in der Botanik die synthetische Bildung des ersten sicht- baren organischen Stoffes, der Stärke, aus den aufgenommenen orga- nischen Verbindungen in der Pflanze verstanden. Allein es ist zweck- mäßig, den Begriff zu erweitern und ihn auch für den Aufbau der komplizierteren organischen Verbindungen, vor allem der komplizierten Eiweißverbindungen, und zwar nicht bloß in der Pflanze, sondern auch im Tiere, zu verwenden. Wir verstehen daher unter Ässi- 1) Max VERWORN: „Biologische Protistenstudien“ I. In Zeitschr. f. wiss. Zool., Bd. 46, 1888. Von den elementaren Lebensäußerungen. ler milation die Gesamtheit der Prozesse, die zum Aufbau der lebendigen Substanz bis zum Höhepunkt ihrer kompliziertesten Konstitution, der Synthese der Ei- weißverbindungen, führen, und können dann dem Auf- bau oder der „Assimilation“ den Abbau oder Zerfall als „Dissimilation“ gegenüberstellen. Fig. 60. Verschiedene Difflugien-Gehäuse. A aus Diatomeenschalen, B aus feinen Sandkörnchen, C aus feinen und groben Sandkörnchen, D aus Diatomeenschalen und Sandkörnchen, Z aus groben Sandkörnchen, F die gleiche Form wie E, aus blauen Glassplittern gebaut. 1. Extrazellulare und intrazellulare Verdauung. „Corpora non agunt nisi soluta.“ Dieser alte Satz spielt im Leben der Zelle eine überaus große Rolle. Damit die aufgenommenen Nahrungsstoffe chemisch wirken und zum Aufbau der lebendigen Substanz verwendet werden können, müssen sie in gelöstem Zustande sein; da aber die vom Organismus aufgenommene Nahrung zum Teil geformte Nahrung ist, muß sie erst in lösliche Formen übergeführt werden, und diesen Vorgang bezeichnen wir als Verdauung. Wir sehen, daß nur wenige Zellen die Fähigkeit haben, geformte Nahrung in sich aufzunehmen; bei diesen sprechen wir dann von einer „intra- zellularen Verdauung“, da die Ueberführung der geformten Nahrung in lösliche Verbindungen hier im Innern der Zelle vor sich geht. Die große Mehrzahl der Zellen dagegen kann keine geformte Nahrung in ihren Zellkörper hineinziehen; bei ihnen muß also die Umsetzung der geformten Nahrungsstoffe in lösliche Formen 'schon außerhalb der Zelle stattfinden, damit eine Aufnahme möglich ist. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 12 178 Drittes Kapitel. Wir bezeichnen daher diese Umformung als „extrazellulare Verdauung“ und die Aufnahme der gelösten Nahrung als „Re- sorption“. Die Ueberführung der geformten Nahrung, wie der geronnenen Eiweißkörper, der Stärke, der Fette etc., in lösliche Verbindungen ge- schieht durch Einwirkung bestimmter Sekrete, welche der Zellkörper nach außen abgibt. Diese eigentümlichen Sekrete werden „Enzyme“ oder gelöste Fermente genannt. Den Erfolg ihrer Wirkung können wir uns auch außerhalb des Organismus vor Augen führen, Fig. 61. Lieberkühnia, ein Süßwasserrhizopod, aus dessen eiförmiger Schale verzweigte Pseudopodienstränge heraustreten. indem wir ein Enzym, z.B. das „Pepsin“, das von den Zellen der Magendrüsen produziert wird, auf eine geronnene Eiweißflocke ein- wirken lassen. Tun wir z. B. in ein Becherglas eine Lösung von Pepsin in Wasser, das wir mit dem gleichen Volumen 0,4-proz. Salzsäure versetzt haben, so sind wir im Besitze eines künstlichen Magensaftes. Wenn wir in diese Verdauungslösung eine Fibrinflocke, d. h. eine Flocke jenes Eiweißkörpers, der durch seine spontane Koagulation die Gerinnung des Blutes außerhalb der Blutgefäße herbeiführt, hineinlegen und das Becherglas in einem Verdauungsofen auf Körpertemperatur erwärmen, so finden wir nach einiger Zeit, Von den elementaren Lebensäußerungen. 179 daß die feste Fibrinflocke anfängt, aufzuquellen, von außen her durch- siehtig zu werden und sich allmählich in der Flüssigkeit aufzulösen. Schließlich ist die ganze Fibrinflocke als solche verschwunden, und wir finden statt ihrer in der Flüssigkeit verteilt Pepton, jenen einfachen Eiweißkörper, der, wie wir bereits früher gesehen haben, durch hydrolytische Spaltung des polymeren Eiweißmoleküls entsteht, in Wasser löslich ist, durch organische Membranen diffundiert und beim Kochen nicht mehr gerinnt. Neben dem Pepton finden wir noch ge- wisse Uebergangsstufen zwischen dem nativen Eiweiß und dem Pepton, die ebenfalls in Wasser löslich sind und als Albumosen bezeichnet werden. Auf die eigentümliche Wirkungsweise der Fermente selbst werden wir sogleich näher eingehen. Was hier bei der extrazellularen Verdauung außerhalb des Zellkörpers geschieht, was wir sogar im Reagenzglase nachahmen können, das erfolgt bei der intrazellularen Verdauung innerhalb des Protoplasmas. Auch hier können wir den Prozeß verfolgen, und zwar am besten an dem nackten Protoplasmaleib der Rhizopoden. Lieberkühnia ist ein großes Süßwasserrhizopod, aus dessen eiförmiger membranöser Schale durch eine Oeffnung am spitzen Pol dicke, baumartig verzweigte Pseudopodienstränge heraustreten (Fig. 61). Beobachten wir mit dem Mikroskop, wie die Lieberkühnia ein heftig gegen ihre Pseudopodien anschwimmendes Infusorium fängt und verdaut!), so sehen wir, daß die Beute zuerst an den Pseudopodien hängen bleibt, durch starke Fluchtbewegungen sich immer fester und fester verstrickt und nun allmählich, sei es ganz, sei es teilweise, vom Pseudopodienprotoplasma umflossen wird (Fig. 62). Einige Zeit dauern die Bewegungen des Infusoriums noch fort, bald aber werden sie matter und matter, und gleichzeitig beginnt sich schon seine Körperform zu verändern. Dann sieht man, wie es an Volumen immer mehr ab- nimmt, während flüssige und körnige Teile seines Protoplasmakörpers auf das Pseudopodienprotoplasma übertreten, sich mit diesem mischen und nicht mehr unterscheidbar dem Zentralkörper der Lieberkühnia zuströmen. So wird allmählich der ganze Körper des Infusoriums auf- gelöst, und sein verflüssigter Inhalt mischt sich mit dem Protoplasma der Lieberkühnia, bis nichts Unterscheidbares mehr von ihm übrig geblieben ist. In anderen Fällen der intrazellularen Verdauung wird der Nahrungskörper, wie z. B. bei den Amöben und Infusorien, inner- halb des Endoplasmas von einer Nahrungsvakuole umgeben und in derselben Weise aufgelöst, wie in dem Exoplasma der Lieber- kühnia. Sehr interessant sind ferner die Beobachtungen, die Miß GREENWOOD?) an Infusorien gemacht hat. Sie verfolgte die Schick- sale der aufgenommenen Nahrungsmassen bei Vorticellinen, speziell bei Carchesium, und fand dabei, daß sie, während sie ihrer Ver- dauung unterliegen, einen ganz bestimmten Weg im Zellkörper zurücklegen, nämlich vom Zellpharynx (Fig. 63) nach der Basis der Zelle und schließlich nach der Zellmundöffnung, wo die unver- ne 1) MAx VERWORN: „Psycho-physiologische Protistenstudien“. Jena 1889, afel III. 2) GREENWOOD: „On the constitution and mode of formation of ‚Food va- cuoles‘ in Infusoria as illustrated by the history of the processes of digestion in Carchesium polypinum“. In Philosophical Transactions of the Royal society of London, Vol. 185, 1894. 12* [ 180 Drittes Kapitel. dauten Massen wieder ausgeworfen werden. Dabei ist es sehr be- merkenswert, daß die Nahrungsmassen in der Konkavität, die der wurstförmige Zellkern dem Zellinnern zukehrt, längere Zeit liegen bleiben, um hier hauptsächlich ihre Zersetzung zu erfahren. Es deutet TR Eh ee > N a gan ee en —— Q TTS nun E 59 c Par 3: EZ . = Lad nn Dr —— d e ee we ze er — — og wi et TB ch Fig. 62. Ein lang ausgestrecktes Pseudopodium von Lieberkühnia, auf dem sich ein Infusorium (Colpidium colpoda) gefangen hat. a, b, c, d, e, f verschiedene Stadien der Verdauung dieses Infusoriums. diese Tatsache offenbar auf eine nähere Anteilnahme des Kerns an der Verdauung der Nahrungsmassen in der Zelle hin. Bei Para- maecium hat PÜTTER die Zirkulation des Protoplasmas mit den Nahrungsmassen verfolgt und die nachstehende Zeichnung (Fig. 64) Von den elementaren Lebensäußerungen. 181 freundlichst zur Verfügung gestellt, auf der die Pfeile den Weg der Strömung angeben. Ebenso wie die Eiweißkörper durch das „Pepsin“ in saurer und durch das „Trypsin“ in alkalischer Lösung werden auch die mh = E : =k ER Sn, eK 4 S E Li N -=ein b, Fig. 63. Fig. 64. Fig. 63. Carchesium polypinum. Schema des Weges, welchen die aufge- nommene Nahrung nimmt bis zur Verdauung und zum Auswurf der Exkretstoffe. Die Nahrung tritt durch den Pharynx ein und wird nach unten transportiert (kleine Kreise), wo sie sich in die Konkavität des wurstförmigen Zellkerns (an den dunkleren Einlage- rungen zu erkennen) lagert. In der Konkavität des Zellkerns bleibt sie eine Zeitlang in Ruhe (Kreuzchen). Dann wird sie an der anderen Seite nach oben befördert (Punkte) und kommt zurück in den Mittelpunkt der Zelle, wo ihre Auflösung erfolgt. Die Exkrete werden durch die Zellmundöffnung wieder nach außen entfernt. Die schwarze Linie mit Pfeilen gibt die Richtung des Weges an. Nach GREENWOOD. Fig. 64. Paramaecium aurelia, a Zellkern, db, und 5b, die alternierend pulsierenden Vakuolen (b, in Diastole, 5, in Systole mit deutlich sichtbaren radiären Abzugskanälchen), ce Zellmund, d Zellschlund, e Zellafter, f die Trichoeysten, g die Basalkörperchen der Wimpern, A mehr oder weniger veränderte Nahrungsballen, i Peristomfeld, % Pfeile, die den Weg der langsamen Protoplasmaströmung anzeigen. Nach PÜTTER. unlöslichen Kohlehydrate, wie Stärke, sowohl bei intrazellularer als bei extrazellularer Verdauung durch die Einwirkung gewisser Enzyme in lösliche Formen übergeführt. Die Stärke ist, wie wir sahen, ein Polysaccharid, das aus der Vereinigung mehrerer Zuckermoleküle in 182 Drittes Kapitel. Anhydridform besteht. Bei der Einwirkung der Enzyme, z. B. des „Ptyalins“, des Speichel- una des Pankreassaftes im Tiere oder der „Diastase“ in der Pflanze, wird nun das polymere Stärkemolekül unter Waässeraufnahme in Maltose und diese weiterhin durch die „Maltase“ in die einfachen Traubenzuckermoleküle gespalten, die in Wasser löslich sind. Bei der intrazellularen Verdauung der Infusorien werden die Stärkekörner, wie M. MEISSNER!) gezeigt hat, von außen her langsam angedaut, so daß sie wie angefressen aussehen (Fig. 65), bis sie schließlich ganz aufgelöst sind. Indessen scheint es nach den IRWE N UM 7: ' ausgezeichneten Untersuchungen (=) St J) *) von Miß GREENWOOD?) und MEISS- NER (l. c.), daß Rhizopoden, wie Fig. 65. Angedaute Stärkekörner, B. Amöben, ‚obwohl sie gelegent- die von einem Infusorium gefressen und lich Stärke in sich aufnehmen, angedaut worden sind. Nach M. MEISSNER. dieselbe doch nicht zu verdauen imstande sind. Die Fette endlich werden bei der extrazellularen Verdauung durch das Fettferment, das „Steapsin“, ebenfalls unter Wasseraufnahme gespalten in Glyzerin und Fettsäuren, wovon die letzteren sich mit Alkalien zu Seifen verbinden. Glyzerin sowie Seifen aber sind löslich und können resorbiert werden. Dagegen findet bei der intrazellularen Aufnahme der neutralen Fetttröpfehen als solcher nicht immer eine sofortige Verdauung statt. Wie MEISSNER beobachtet hat, behalten Amöben und Infusorien aufgenommene Fetttröpfehen tagelang un- verändert in ihrem Protoplasma, und Miß GREENwooD hat gefunden, daß Amoeba und Actinosphaerium das aufgenommene Fett überhaupt nicht verdauen. 2. Die Enzyme und ihre Wirkungsweise?). Die Enzyme sind eine physiologisch so überaus interessante Gruppe von Körpern, daß es notwendig ist, etwas näher auf sie ein- zugehen und vor allem ihre eigentümliche Wirkungsweise kennen zu lernen. Wir verstehen nämlich unter Enzymen oder ge- lösten Fermenten eine Reihe von Stoffen aus dem Tier- und Pflanzenreich, welche die merkwürdige Eigentüm- lichkeithaben, gewissechemische Umsetzungen herbei- zuführen, ohne selbst dabei verbraucht zu werden. Wenn man mit einer bestimmten Menge eines Enzyms eine große Menge einer chemischen Verbindung gespalten hat, so findet man die ursprüngliche Menge des Enzyms noch unverändert in der Flüssig- keit vor. Unter geeigneten Bedingungen kann man daher mit einer kleinen Menge des Enzyms eine unbegrenzte Menge gewisser Stoffe zerspalten. 1) M. MEISSNER: „Beiträge zur Ernährungsphysiologie der Protozoen“. In Zeitschr. f. wiss. Zool., Bd. 47, 1888. 2) GREENWOOD: „On the digestive process in some Rhizopods“. In Journal of Physiology, Vol. 7 and 8, No. 5. 3) Bei der Neubearbeitung dieses heute so aktuellen Abschnitts habe ich zum großen Teil das gleichlautende Kapitel meiner Untersuchung: „Die Biogenhypothese. Eine kritisch-experimentelle Studie über die Vorgänge in der lebendigen Substanz“, Jena 1903, übernommen. Von den elementaren Lebensäußerungen. 185 Leider sind unsere Kenntnisse vom Wesen der Enzyme und ihrer Wirkungsweise noch immer gering trotz der vielen Erfahrungen, die uns die letzten Jahre gebracht haben und trotz der fortwährenden Verwendung, die der Begriff auf Schritt und Tritt in der Physiologie findet. In letzterer Beziehung möchte man fast von einer geradezu mißbräuchlichen Verwendung sprechen. Zunächst ist nämlich schon die chemische Natur der Enzyme so gut wie unbekannt. Zwar kann man in manchem Lehrbuch lesen: „Die Enzyme sind komplizierte stickstoffhaltige Verbindungen, die den Eiweißkörpern nahestehen“, aber das ist nichts Besseres als eine Vermutung, und das gleiche gilt von der in neuerer Zeit mehrfach geäußerten Ansicht, daß die Enzyme zur Gruppe der Nukleoproteide sehören. Bis jetzt ist noch kein Enzym mit Sicherheit isoliert worden, geschweige denn in seiner chemischen Zusammensetzung erkannt, selbst nicht einmal die am besten studierten Enzyme der Verdauungs- säfte. Auch die neueren Angaben von PEKELHARING!), daß es ihm gelungen sei, das Pepsin des Magensaftes rein darzustellen, ändern an dieser Tatsache nichts. Wenn PEKELHARING versichert, das Pepsin als chemisches Individuum isoliert zu haben, so kann man ihm das glauben, wenn man will. Einen Beweis für seine Behauptung hat er nicht geliefert, denn es existiert kein Kriterium, auf Grund dessen man wirklich entscheiden könnte, ob das PEKELHARINGsche Pepsin ein chemisches Individuum ist oder ein Gemisch. Nach den Befunden von FRIEDENTHAL und MıyAmoraA?’) läßt sich die Nukleinsäure- wie die Eiweißkomponente entfernen, ohne daß die enzymatische Wirk- samkeit des Pepsins oder Trypsins verloren geht. Die Sache liegt hier also genau so zweifelhaft wie bei den verschiedenen Eiweiß- körpern, von denen wir ebenfalls nicht mit Gewißheit sagen können, ob sie chemisch einheitliche Verbindungen sind oder Gemische von solchen. Ja, bei vielen Eiweißkörpern steht es sogar vielleicht noch insofern besser, als man allenfalls ihre Kristallisationsfähigkeit für ihren Charakter als chemische Individuen geltend machen kann. Das ist bei den Enzymen nicht einmal der Fall. Aber selbst wenn es ge- länge, Enzyme rein zu gewinnen, dann wäre noch immer ihre stereo- chemische Konstitution zu ermitteln. Davon scheinen wir aber noch weiter entfernt zu sein wie bei den Eiweißkörpern, Bei diesem Zustande bleibt also nichts übrig, als die Enzyme lediglich durch ihre Wirkung zu charakterisieren und, wie oben ge- sagt, das Gemeinsame in ihrer Wirkung darin zu sehen, daß sie große Mengen bestimmter chemischer Verbindungen spalten können, ohne selbst dabei verbraucht zu werden. Bei dieser Charakteristik kommt aber wesentlich die Frage in Betracht, wie man sich diese eigentümliche Wirkungsweise der Enzyme chemisch oder physikalisch zu denken hat. Die alte Liegıssche Vor- stellung, daß das Fermentmolekül die Schwingungen seiner eigenen Atome auf die der zu spaltenden Verbindung überträgt und dadurch das chemische Gleichgewicht im Molekül dieser Verbindung stört, ist heute wohl gänzlich verlassen worden. Die heutigen Vorstellungen 1) PEKELHARING, „Mitteilungen über das Pepsin“. In Zeitschr. f. physiol. Chem., Bd. 35, 1902. 2) FRIEDENTHAL und MIYAMOTA, „Ueber die chemische Natur des Pepsins und anderer Verdauungsenzyme“. Im Zentralbl. f. Physiol., Bd. 15, 1902. 184 Drittes Kapitel. über die Theorie der Enzymwirkungen betrachten als Prinzip der- selben die chemische Affinität des Enzymmoleküls zu dem Molekül der Verbindung, auf die es wirkt, und ordnen die Enzymwirkungen ganz allgemein der großen Gruppe von katalytischen Prozessen unter, die wir in ihren einfachsten Fällen schon lange aus der anorganischen Chemie kennen. Um ein Verständnis für einen Vorgang zu ge- winnen, ist es immer der zweckmäßigste Weg, denselben in seiner ein- fachsten bekannten Form zu studieren, und das hat bekanntlich heute zu einem eingehenden Studium der einfachsten katalytischen Prozesse von seiten der physikalischen Chemie geführt. Vor allem hat OstwALD in dieser Beziehung anregend gewirkt, indem er zunächst versucht hat, den Begriff der Katalyse faßbar zu definieren. Er findet das Wesen der Katalyse in der Geschwindigkeitsänderung eines chemischen Vor ganges durch die Gegenwart eines fremden Stoffes, den er „Katalysator“ nennt. „Ein Kataly- sator ist jeder Stoff, der, ohne im Endprodukt einer chemischen Reaktion zu erscheinen, ihre Geschwindig- keit verändert“!). Es ist hier nicht der Ort, die Frage aufzu- werfen, ob diese Definition wirklich allgemein durchführbar ist und vor allem, ob sie sich in dieser so sehr heterogene Dinge zusammen- fassenden Form als praktisch erweisen wird. Jedenfalls ist die Ana- logisierung der Enzymwirkungen mit den einfachsten katalytischen Prozessen der Chemie durch das eingehendere Studium der letzteren von seiten OSTwALDs und seiner Schüler für die Auffassung der ersteren außerordentlich fruchtbar geworden. Besonders die Arbeiten von BREDIG?), der die Metalle in ihrem kolloiden Zustande direkt als „anorganische Fermente* bezeichnet, haben eine solche Fülle von interessanten Uebereinstimmungen zwischen diesen und den organi- schen Enzymen zum Teil neu entdeckt, zum Teil näher beleuchtet, daß man hinsichtlich der Wirkungsweise beider wohl ohne allzu- schwere Bedenken das gleiche Prinzip voraussetzen darf. Das gewöhnlich als Paradigma ziterte Beispiel einer katalytischen Wirkung ist bekanntlich die Katalyse des Wasserstoffsuperoxyds durch Platin. Bringt man in ein trockenes Reagenzglas eine Spur Platin- moor und übergießt man dieses mit einer 1-proz. Wasserstoffsuper- oxydlösung (H,0,), so tritt sofort eine heftige Gasentwicklung ein. Kleine Sauerstoffblasen steigen in der Flüssigkeit in ungeheuerer Menge empor und bringen die Flüssigkeit förmlich zum Schäumen. Nach der von BREDIG neuerdings gegebenen Formulierung ist der Vorgang dabei folgender: 1. yH;0, + nPt=Ptn0, + yH30, 2. Pt.O,+yH,0; — nPt+yH,0-y0,. Das heißt: Das Platin reißt aus dem Molekül des Wasserstoffsuper- oxyds ein Atom Sauerstoff heraus, bildet selbst ein Oxyd und gibt beim Hinzutritt neuer Wasserstoffsuperoxydmoleküle wieder Sauerstoff ab, indem derselbe mit dem zweiten Atom Sauerstoff eines Wasser- stoftsuperoxydmoleküls sich zu austretenden Sauerstoffmolekülen ver- 1) OstwALp: „Ueber Katalyse“. Verhandl. d. Hamburger Versamml. deutsch. Naturf. u. Aerzte, Teil 1, 1902, p. 184. 2) BREDIG u. R. MÜLLER E BERNECK: „Ueber anorganische Fermente“. In Zeitschr. f. physiol. Chem., Bd. 31, 1889, p. 258. — BREDIG: „Anorganische Fer- mente“. Leipzig 1901. Von den elementaren Lebensäußerungen. 185 einigt. Schält man aus diesem Vorgang das Prinzip heraus, so liegt es in der Bildung und dem Wiederzerfall eines Zwischen- produktes. Der katalytisch wirkende Stoff fesselt durch seine Affinität einen Bestandteil der Verbindung, die er dadurch spaltet, und gibt denselben an einen Körper mit stärkerer Affinität wieder ab, so daß der Katalysator immer wieder für neue Spaltungen zur Verfügung steht. Interessant ist es, daß man diesen Vorgang durch Zufügung bestimmter chemischer Stoffe hemmen kann, genau so wie gewisse Lebensvorgänge durch bestimmte Narcotica oder Gifte ge- lähmt werden. Vergiftet man nämlich das Platinmoor mit einigen Tropfen Schwefelammoniumlösung (Ammoniumhydrosulfid, NH,SH), so tritt die Wasserstoffsuperoxydkatalyse gar nicht oder doch nur in sehr schwachem Umfange ein. Genau so wie hier die Wasserstoffsuper- oxydkatalyse kann auch eine Menge von enzymatischen Prozessen durch ganz bestimmte chemische Stoffe gehemmt werden. Das Prinzip der Katalyse ist offenbar ziemlich weit verbreitet. So liegt es z. B. nach der bereits sehr alten und noch immer allge- mein gebräuchlichen Auffassung von CLEMENT und DESORMES dem Bleikammerprozeß bei der Herstellung der englischen Schwefelsäure zugrunde, wo die Oxyde des Stickstoffes die Rolle des Katalysators spielen, indem sie einerseits fortwährend Sauerstoff aus der Luft auf- nehmen und Salpetersäure bilden, anderseits fortwährend Sauerstoft an die schwefelige Säure abgeben und dieselbe zu Schwefelsäure oxydieren. Auch die Reduktion des Indigblaues zu Indigweiß durch Traubenzucker in einer mit kohlensaurem Natron versetzten Lösung und die fortwährende Reoxydation des Indigweißes zu Indigblau bei Zutritt von Luftsauerstoff beruht jedenfalls auf dem gleichen Prinzip. In diesem Falle ist der Indigofarbstoff der Katalysator. Ferner dürfte hierher gehören die Oxydation des Trimethylamins und seine Reduk- tion durch reduzierende Substanzen und noch manches andere Bei- spiel. Indessen sind alle diese Prozesse bisher noch nicht so gründ- lich auf die bei ihnen ablaufenden Zwischenreaktionen hin durch- gearbeitet, daß ihre Auffassung als katalytische Prozesse im Sinne der Platinkatalyse des Wasserstoffsuperoxyds schon genügend gesichert erschiene. Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, daß möglicherweise der Reaktionsmechanismus auch bei der Wasserstoffsuperoxydkatalyse sogar in wesentlich anderer Gestalt sich vollzieht als die hier zu- grunde gelegte, schon von TRAUBE vertretene Auffassung ihn dar- stellt, wonach das Wasserstoffsuperoxyd zugleich Oxydations- und Reduktionsmittel ist. So vertritt MAncHoT nach einer persönlichen Mitteilung seinerseits auf Grund seiner Untersuchungen über die Superoxyde des Eisens und die katalytischen Wirkungen der Eisen- salze!) die Anschauung, daß das Wasserstoffsuperoxyd lediglich per- oxydierend auf das Metall wirkt und daß die Sauerstoffentwicklung dann auf einem spontanen Zerfall der Superoxyde beruht. Wie dem aber auch sei, in jedem Falle haben wir dasselbe Prinzip, daß eine bestimmte Verbindung, im vorliegenden Falle ein Metall- oxyd, fortwährend zerfällt und sich wieder bildet. 1) W. MANcHoT u. OÖ. WILHELMS: „Ueber Superoxyde des Eisens und die an osche Wirkung der Eisensalze“. Ber. d. Deutsch. chem. Ges., Bd. 34, 1901, p. 2479. 186 Drittes Kapitel. Macht man die Annahme, daß den Wirkungen der Enzyme das gleiche Prinzip zugrunde liegt wie dieser Gruppe von katalytischen Vorgängen, so sind die eigenartigen enzymatischen Prozesse in der organischen Natur auf ein einfaches Schema zurückgeführt. Eine solche Annahme aber hat durchaus nichts gegen sich. Im Gegenteil, sie ist im höchsten Grade wahrscheinlich, wenn sie auch naturgemäß erst ihre endgültige Bestätigung finden kann, nachdem die Enzyme hinsichtlich ihrer chemischen Konstitution genau bekannt und die Zwischenreaktionen bei ihrer Wirkung ermittelt sind. Bei einer Gruppe von Enzymen wird diese Annahme besonders plausibel. Die soeben genannten Beispiele von katalytischen Prozessen haben das Gemeinsame, daß bei ihnen der Katalysator die Rolle eines Sauer- stoffüberträgers spielt. Infolge seiner Affinität zum Sauerstoff bindet er den Sauerstoff an sich, um ihn an einen Stoff mit größerer Sauer- stoftaffinität wieder abzugeben. In diesem Punkte nun besteht eine vollkommene Analogie mit der erst in neuerer Zeit bekannt gewordenen Gruppe von Enzymen, die als „Oxydasen“ bezeichnet zu werden pflegen. Diese Stoffe, wie die Laccase, Tyrosinase, Schinoxydase, Katalase und andere, die besonders im Pflanzenreich, aber auch im Tierkörper eine große Verbreitung zu besitzen scheinen, stimmen in ihrer Wirkung als Sauerstoffüberträger in jeder Hinsicht mit den ge- nannten Katalysatoren vom Typus des Platinmoors überein. Als eine besonders charakteristische Eigenschaft vieler Enzyme muß man die Eigentümlichkeit betrachten, daß das Enzym immer nur für eine einzige ganz bestimmte chemische Verbindung sich wirksam erweist. EMIL FISCHER, dessen Arbeiten die Lehre von den Enzymen einen besonderen Fortschritt verdankt, hat das Verhältnis zwischen dem Enzymmolekül und der Verbindung, auf die es wirkt, sehr treffend verglichen mit dem Verhältnis zwischen dem Schlüssel und seinem Schloß. Nur der eine einzige Schlüssel, der für das bestimmte Schloß gemacht ist, vermag dasselbe aufzuschließen, und auch nur dieses be- treffende Schloß vermag er zu öffnen. Diese spezielle Anpassung geht in einzelnen Fällen so weit, daß die Enzyme nicht einmal auf die isomeren Verbindungen der entsprechenden Körper wirken, auf die sie ihre Wirksamkeit entfalten. So hat EmıL FISCHER z. B. folgende Tatsachen feststellen können. Als er die enzymatische Spaltung von Glykosiden (d. h. Zuckerarten, in denen eine OH-Gruppe durch ge- wisse Säuren oder Alkohole ersetzt ist) untersuchte, fand er, daß das Emulsin, ein Enzym, das in den bitteren Mandeln in großer Menge enthalten ist, nur das 3-Methylglykosid zu spalten imstande ist, nicht aber das «-Methylelykosid, dessen Molekül genau dieselbe chemische Zusammensetzung besitzt wie das erstere, aber mit anderer Lage der Methylgruppe im Molekül. Dagegen vermag die Maltase, ein Enzym, das aus getrockneten und gepulverten Hefezellen gewonnen wird und im Malzextrakt vorkommt, umgekehrt nur das «-Methylglykosid zu spalten, nicht die isomere -Verbindung. Einen bedeutenden Impuls erhielt das Studium der Fermente vor wenigen Jahren durch die Untersuchungen E. BuCHnErs. Während man früher ganz allgemein geglaubt hatte, daß die traubenzucker- spaltende Wirkung der Hefezellen (Fig. 10, p. 78 und Fig. 66) an ihr intaktes Leben untrennbar gebunden sei, kurz, daß die Spaltung des Traubenzuckermoleküls in Alkohol und Kohlensäure durch den Von den elementaren Lebensäußerungen. 187 Stoffwechsel der Zelle selber bewirkt werde, ist es E. BUCHNER ge- lungen, aus der Hefe einen Preßsaft zu gewinnen, der keine Hefe- zellen mehr enthält und dennoch, allerdings nur eine Zeitlang, eine starke Gärtätigkeit entfaltet. BUCHNER hat daraus den Schluß ze- zogen, daß die Alkoholgärung ein rein enzymatischer Prozeß ist und daß die Hefezellen ein Enzym enthalten, die „Zymase“, das nur durch Zertrümmerung des Zellkörpers aus demselben befreit werden kann und außerordentlich labil zu sein scheint. Man hat freilich gegen die BUCHNERsche Annahme der „Zymase“ im Hinblick auf die kurze Wirksamkeitsdauer des Hefepreßsaftes den Einwand erhoben, daß es sich bei der Wirkung des Preßsaftes nicht um ein Enzym, sondern um überlebende Fetzen oder Trümmer des Proto- plasmakörpers der Hefezellen handle, allein durch eine Anzahl von schwerwiegenden Kontrollver- suchen hat dieser Einwand in letzterer Zeit immer mehr an Ge- wicht verloren. Dagegen dürften diejenigen wohl vorläufig viel zu weit gehen, die nun im Anschluß an die BUCHNERsche Entdeckung die Ansicht vertreten, daß überhaupt alle Gärungsvorgänge ebenso wie Fig. 66. Saecharomyces, Hefezellen. die Alkoholgärung lediglich enzyma- aa Eure tische Prozesse seien. Schließlich sei noch ein Punkt von Wichtigkeit erwähnt, das ist die Frage nach synthetisierenden Enzymen. Fast die ganze erdrückende Fülle von Enzymen, die seit langer Zeit überall in der lebendigen Substanz gefunden worden sind, entfaltet ausschließlich spaltende Wirkungen, und zwar überwiegen hier wieder die hydro- Iytischen Spaltungen, d. h. Spaltungsprozesse, die unter Aufnahme von Wasser erfolgen. Es wäre aber für die Auffassung der Vorgänge in der lebendigen Substanz von großer Bedeutung, festzustellen, ob es auch Enzyme gibt, die Synthesen vermitteln und die etwa bei den Assimilationsvorgängen in der lebendigen Substanz eine Rolle spielen könnten. Was zunächst die Möglichkeit solcher synthetisierender Enzym- wirkungen betrifft, so muß sie unbedingt zugegeben werden, wenn man den oben angenommenen Reaktionsmechanismus der katalytischen Prozesse, wie das heute wohl allgemein der Fall ist, im Prinzip auch für die enzymatischen Vorgänge als gültig betrachtet. Von dieser Voraussetzung aus ist es offenbar denkbar, daß der bei der Zwischen- reaktion vom Enzym gebundene Körper bei seiner Abgabe an einen anderen mit letzterem zusammen sich zu einer komplizierteren Ver- bindung vereinigen kann, die nicht unmittelbar wieder zerfällt. Um bei dem konkreten Fall der Sauerstoffübertragung durch ein Enzym zu bleiben, so ist es durchaus nicht nötig, daß der vom Enzym an einen Körper mit größerer Sauerstoftaffinität abgegebene Sauerstoff zu einer oxydativen Spaltung des letzteren führt, sondern er kann direkt zum Aufbau eines stabilen Oxyds benutzt werden. Es wäre das im Prinzip der einfachste Fall einer syntheti- sierenden Wirkung eines Enzyms. In der Tat liefert nun wieder das Beispiel des Platins einen wohlbekannten Beleg für ein solches Vorkommen. Der vom Platin gefesselte Sauerstoff der Luft 188 Drittes Kapitel. kann direkt zur Synthese von Wasser verwendet werden, wenn man über Platinschwamm einen Wasserstoffstrom streichen läßt, wie es im DÖBEREINERschen Feuerzeug geschieht. Ebenso vermag das Platin durch Sauerstoffübertragung aus niederen Oxydstufen höhere aufzu- bauen, z. B. aus schwefliger Säure SO, Schwefelsäure SO,. Das Platin wirkt hier also genau im Sinne eines Enzyms, indem es, ohne an Menge abzunehmen, eine unbegrenzte Wirksamkeit entfalten kann, aber nicht eine spaltende, sondern eine synthetisierende. Der Aus- druck „Katalyse“*, der nach der umfassenden Anwendung, die ihm ÖSTWALD zu geben sucht, auch diesen Fall einschließt, würde hier, genau genommen, mit dem Vorgang selbst in Widerspruch stehen, denn nicht um eine Katalyse (zaraXdo), sondern um eine Synthese (soyrideng:) handelt es sich dabei. In der gleichen Weise aber könnte man sich Synthesen auch durch Enzyme vermittelt denken, und schließlich ebensogut wie die einfachen Synthesen von Oxyden könnte man sich auch kompliziertere Synthesen als Enzymwirkungen vor- stellen. Wenn das Enzym nicht wie die Oxydasen bloß Sauerstoff bei der Zwischenreaktion bindet, sondern eine größere Atomgruppe aus dem Verbande eines Moleküls herausreißt und fesselt, um sie in toto oder unter Aufspaltung an ein Molekül mit stärkeren Affinitäten wieder abzugeben, so ist damit die Möglichkeit von komplizierteren Synthesen auf Grund des vorausgesetzten Prinzips der Enzym- wirkungen ohne weiteres gegeben. In der Tat sind nun nach langem vergeblichen Suchen im letzten Jahrzehnt einige Fälle von Synthesen bekannt geworden, die, wie es scheint, durch Enzymwirkungen vermittelt werden. So hat ÜROFT Hırn!) beobachtet, daß unter dem Einfluß von Hefemaltase in einer Traubenzuckerlösung Maltose oder richtiger, wie EMMERLING?) bald darauf zeigte, Isomaltose und dextrinähnliche Produkte entstehen, wenn die Lösung lange Zeit stehen bleibt. Eine analoge Beobachtung machten EmıL FISCHER und ARMSTRONG, indem sie unter der Ein- wirkung von Kefirlaktase aus Galaktose und Traubenzucker Isolaktose entstehen sahen. In konzentrierten WırrE-Peptonlösungen wurde ferner von DANILEWSKI und seinen Schülern unter Einwirkung von Pepsin die Entstehung eines Koagulums, des „Plasteins“ beobachtet, das jedenfalls einen komplexeren Eiweißkörper vorstellt als Albumosen und Peptone. Auch unter Vermittelung von Pankreas-Steapsin schließ- lich sind Synthesen von Fetten aus Fettsäuren und Glyzerin nachge- wiesen worden). Indessen darf doch bei allen diesen Vorgängen nicht übersehen werden, daß der nähere Reaktionsmechanismus noch vollständig unbekannt ist und unbekannt bleiben wird, bis es gelungen ist, den chemischen Aufbau der betreffenden Enzymmoleküle zu er- mitteln. Bis dahin läßt sich auch nicht mit Sicherheit sagen, ob das Enzym als solches die Synthese vermittelt, oder ob es nicht vielmehr bloß Reaktionen einleitet, als deren weitere Folgen oder als deren Endresultat sich die betreffenden Synthesen vollziehen, denn wir dürfen nicht vergessen, daß ja die große Masse von Synthesen über- haupt ohne Vermittelung von Enzymen auf ganz anderem Wege sich 2 1 ae Hırr: „‚Reversible Zymohydrolysis“. In Transactions of the Chem. oc., 1898. 2) EMMERLING: „Synthetische Wirkung der Hefemaltase“. In Bericht der Deutschen Chemischen Gesellschaft, Bd. 34, 1901, p. 600. Von den elementaren Lebensäußerungen. 189 vollzieht. Es erscheint überhaupt geboten, mit dem Begriff der Enzymwirkung etwas weniger freigebig umzugehen, als das in letzter Zeit vielfach geschehen ist. 3 Assımmllatıon und Dissimilation. a) Assimilation. Die Verdauung der Nahrungsstoffe durch die Einwirkung der Fermente ist nur eine Vorbereitung für den Assimilationsvorgang. Erst nachdem die Nahrungsstoffe in den Zustand gebracht worden sind, in dem sie chemisch wirken können, d. h. nachdem sie ge- löst worden sind, kann ihre Verwertung zum Aufbau der lebendigen Substanz beginnen. Der Assimilationsvorgang gestaltet sich naturgemäß je nach der verschiedenen Beschaffenheit der aufgenommenen Nahrung sehr ver- schieden. Vor allem werden wir entsprechend den Unterschieden, die wir zwischen der Nahrung der Pflanzen und der Nahrung der Tiere kennen gelernt haben, auch Unterschiede in der Assimilation bei beiden Organismengruppen finden müssen. Es liegt auf der Hand, daß die Prozesse, die zum Aufbau der lebendigen Substanz in der Pflanzenzelle führen, eine viel längere Reihe bilden müssen, als die Prozesse der Assimilation in der tierischen Zelle, denn die Pflanze muß aus den einfachsten anorganischen Verbindungen, aus der Kohlen- säure, dem Wasser, den Salzen und dem Sauerstoff die hochkompli- zierten Eiweißmoleküle aufbauen, während das Tier schon fertige organische Verbindungen, ohne die es nicht leben kann, zugeführt bekommt und diese nun bloß noch in seiner spezifischen Weise um- formt. Verfolgen wir die Prozesse, die zur Assimilation der Eiweiß- körper führen, soweit sie überhaupt bekannt sind, in beiden Reihen etwas genauer. Die Lückenhaftiekeit unserer Kenntnis wird uns freilich hier fühlbarer als irgendwo sonst. Fassen wir zunächst die Pflanzen ins Auge, so zeigt uns ein einfacher Versuch den ersten Schritt, den die Pflanze tut in der Reihe der Vorgänge, welche die Assimilation vorstellen. In ein oben geschlossenes zylindrisches Kugelrohr (Fig. 67), das nach seinem Volumen graduiert ist, stecken wir vermittelst eines Drahtes ein grünes Blatt und lassen eine bestimmt abgemessene Menge Kohlen- säure einströmen. Das Glasrohr schließen wir an seinem unteren Ende mit Quecksilber ab und lassen es einige Stunden am Sonnen- lichte stehen. Prüfen wir dann gasanalytisch den Inhalt des Rohres wieder, so stellt sich heraus, daß die Kohlensäure verschwunden und statt dessen ein gleichgroßes Volumen Sauerstoff in dem Glasrohr enthalten ist. Da die Kohlensäure an Volumen gleich dem Volumen des in ihr enthaltenen Sauerstoffs ist, so beweist der Versuch nicht nur, daß die Pflanze die Kohlensäure aufgenommen und Sauerstoff abgegeben hat, sondern er zeigt auch, daß sie ebensoviel Sauerstoff abgegeben hat, wie in der Kohlensäure enthalten war. Der erste Schritt zur Assimilation in der Pflanze ist also eine Spaltung der Kohlensäure, die in der grünen Pflanzenzelle unter dem Einfluß des 1) Ein ausführliches Referat über den heutigen Stand der Lehre von den Enzymen findet sich in den Ergebnissen der Physiologie, Bd. 6, 1907, von H. EULER unter dem Titel: „Allgemeine Chemie der Enzyme“. 190 Drittes Kapitel. Sonnenlichts erfolgt. Den Sauerstoff gibt die Pflanze nach außen ab. Ueber das Schicksal des zurückbehaltenen Kohlenstoffs aber gibt uns die mikroskopische Beobachtung Aufschluß. Es zeigt sich nämlich, daß entsprechend der Zersetzung der Kohlensäure in den Chlorophyll- körpern selbst Stärke gebildet wird, die sich in Form kleiner, stark lichtbrechender Körnchen (Fig. 31 III, p. 95 und Fig. 68) ablagert, und SacHs!) hat durch eine Reihe von Versuchen gezeigt, daß, sobald die Kohlensäurespaltung in der Dunkelheit aufhört, auch die Stärke- bildung sistiert wird, um bei Belichtung mit der Zersetzung der Kohlensäure so- fort wieder zu beginnen. Da die Stärke außer dem Kohlenstoff nur noch Wasser- stoff und Sauerstoff in dem Atomverhält- nis von Wasser enthält, so kann also die Stärke nur durch eine Synthese aus dem abgespaltenen Kohlenstoff und dem durch die Wurzeln aufgenommenen Wasser ent- standen sein. Die Stärke ist daher das erste sichtbar werdende Assi- milationsprodukt. Ueber die speziellen Vorgänge bei der Fig. 67. Apparat zur Unter- Fig. 68 Stärke als helle Schüppchen suchung derKohlensäurespal- in Chlorophyllkörpern. A Chlorophyll- tung in den grünen Pflanzen- körper in der Zelle liegend... B Chlorophyll- teilen. Nach DETMER. körper in der Teilung begriffen. Nach SAacHs. Bildung der Stärke herrschen bis heute nur Vermutungen, doch kommt der von BAEYERschen Hypothese ein so hoher Wahrscheinlichkeitsgrad zu, daß sie die allgemeinste Annahme gefunden hat. Nach dieser Hypo- these von BAEYERS verbindet sich der aus der Spaltung von Kohlen- säure (CO,) freiwerdende Kohlenstoff (C) im Moment des Freiwerdens 1) JuLrus Sachs: „Ueber den Einfluß des Lichtes auf die Bildung des Amylum in den Chlorophyllkörnern“. In Botan. Zeitung, 1892. — Derselbe: „Ueber die Auf- lösung und Wiederbildung des Amylum in den Chlorophylikörnern bei wechselnder Beleuchtung“. In Botan. Zeitung, 1864. Von den elementaren Lebensäußerungen. 191 mit dem durch die Wurzeln aufgenommenen Wasser (H,O) zu einem Molekül Formaldehyd (CH,0). Es wäre also nach dieser Hypo- these der Formaldehyd das erste synthetische Produkt der Pflanzen- zelle. Indem sich nun sechs Formaldehydmoleküle durch Aneinander- kettung (Polymerisation) miteinander zu einem komplexeren Molekül vereinigen, entsteht ein Monosaccharidmolekül, wahrscheinlich der Traubenzucker ((,H,>0,). Die Synthese des Traubenzuckers wäre also der zweite Schritt zur Bildung der Stärke. Aus ihm ent- steht wiederum durch Polymerisation, indem sich eine Anzahl Trauben- zuckermoleküle je unter Austritt eines Moleküls Wasser miteinander verketten, die Stärke (C,H ,o0;)n. Der ganze Vorgang der Assimi- lation der Stärke spielt sich also nach dieser Hypothese etwa in folgender Weise ab: CO, +H,0 —= CH,0 70, 6(CH;0) = (,H,0; n (C;H 1205 — H,O) = (CEH,00;)n. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Stärke nur die Reservematerial- form der Köhlehydrate ist, daß sie aber im Bedarfsfalle, sobald Kohle- hydrate aktiv im Stoffwechsel Verwendung finden, wieder in die Monosaccharidmoleküle gespalten wird. In neuester Zeit hat der Elektrochemiker WALTER Lög!) inter- essante Versuche angestellt, die möglicherweise einmal weiteres Licht auf den spezielleren Mechanismus der Kohlehydratassimilation werfen dürften. Er hat, wie schon andere Forscher, die sogenannte „stille elektrische Entladung“, wie sie z. B. in GEISSLERSchen Röhren er- folgt, als Energieform für chemische Synthesen verwendet, und es ist ihm auf diesem Wege zum ersten Male gelungen, aus Kohlensäure und Wasser synthetisch Formaldehyd und andere den Kohlehydraten nahestehende Verbindungen wie Glykolaldehyd aufzubauen. Dadurch gewinnt die Hypothese A. von BAEYERs zum ersten Male eine starke experimentelle Stütze. WALTER LöB stellt sich vor, daß unter diesen Bedingungen Kohlensäure und Wasser zunächst in Kohlenoxyd, Wasser- stoff und Sauerstoff gespalten wird, und daß dann aus dem so ent- stehenden Kohlenoxyd und dem freiwerdenden Wasserstoff der Formal- dehyd und daneben Glykolaldehyd sich aufbaut, aus denen dann durch Polymerisierung Traubenzucker entstehen könnte nach folgendem Schema: CO, + H,O —(0+H-0, H, +C0 — 7580 2(H,+C0) =CH,0H-COH 6 H,CO =, H2%% 3 CH,0H-COH = (,H,0; Wenn nun auch die stille elektrische Entladun® nicht ohne weiteres in ihrer Wirkung mit dem Licht, das in der Pflanze als Energiequelle dient, identifiziert werden darf, und wenn auch die Rolle, die das Chlorophyli dabei spielt, und die nach Lö» die eines Katalysators sein soll, zunächst noch etwas dunkel bleibt, so ist es doch immer 1) WALTER Lög: „Studien über die chemische Wirkung der stillen elektrischen Entladung“. In Zeitschr. f. Elektrochemie, Bd. 12, 1906. — Vergl. dazu auch die Betrachtungen, die J. RüLF an diese Untersuchungen LöBs anknüpft in seiner Arbeit: „Ueber das erste organische Assimilationsprodukt“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 4, 1907. 192 Drittes Kapitel. von großem Interesse, einen dem Assimilationsprozeß vergleichbaren Vorgang gefunden zu haben, bei dem aus Kohlensäure und Wasser synthetische Produkte entstehen, die man auf dem Weg zur Trauben- zuckersynthese in der Pflanzenzelle seit langer Zeit als Zwischen- stationen gefordert hat. Sicherlich wird hier die nächste Zukunft uns einen wesentlichen Schritt vorwärts führen. „Wenn die Stärke“, sagt Sacus!), „das einzige und erste sichtbare Assimilationsprodukt ist, so folgt ohne weiteres, daß alle übrigen organischen Verbindungen der Pflanze durch chemische Metamorphosen aus ihr hervorgegangen sein müssen.“ In der Tat, erinnern wir uns an die Zusammensetzung der künstlichen Nährlösung, in der wir die Pflanze wachsen ließen ?), so wissen wir, daß in ihr kein Kohlenstoff enthalten war. Wenn also die Pflanze späterhin andere Kohlehydrate, Fette und schließlich Eiweißkörper bildet, die sämtlich Kohlenstoff enthalten, so kann sie dazu nur die Stärke als Ausgangspunkt benutzen. Freilich wissen wir über die speziellen chemischen Um- setzungen, welche die Stärke weiter erfährt, fast nichts Genaues. Allein wir können uns wenigstens in großen Zügen eine Vorstellung von den weiteren Assimilationsvorgängen bilden. Daß aus der Stärke lösliche Zuckerarten durch hydrolytische Spaltung sehr leicht entstehen können, ist ohne weiteres verständlich, wenn wir daran denken, daß ja die Stärke ein polymeres Zuckeranhydridmolekül vorstellt. So kann also die Stärke in den Zustand der löslichen Kohle- hydrate übergehen, der notwendig ist, um weitere chemische Syn- thesen zu ermöglichen. Auch die Bildung von fetten Velen aus Stärke läßt sich noch empirisch nachweisen. Wenn man unreife Samen von gewissen Pflanzen, z.B. Paeonia, die nur Kohlehydrate und kein Fett enthalten, an feuchter Luft liegen läßt, findet man nach einiger Zeit, daß alle Stärke verschwunden, statt dessen aber Oel entstanden ist. Viel komplizierter dagegen ist die Entstehung des Eiweißes aus den Kohlehydraten. Da das Eiweiß außer den Atomen der Kohlehydrate noch Stickstoff und eventuell auch Schwefel ent- hält, den die Pflanze durch die Wurzeln nur aus den salpeter- sauren und schwefelsauren Salzen bezieht, so müssen hier erst komplizierte Umsetzungen stattfinden, deren Einzelheiten sich unserer Kenntnis bisher noch vollständig entziehen. Zweifellos ist es aber heute, daß auf dem Wege zur Eiweißsynthese erst die Bildung von Aminosäuren erfolgen muß, aus denen sich weiterhin das Eiweiß- molekül durch Polymerisation zusammensetzt. Jedenfalls wissen wir jetzt sicher, daß in keimenden Pflanzen Aminosäuren reichlich vor- handen sind, die von der wachsenden Pflanze zum Aufbau von Ei- weißkörpern verwendet werden. Wie schließlich das synthetisch ge- bildete Eiweißmolekjil zum Aufbau von lebendiger Substanz verwertet wird, darüber können wir bei unserer äußerst mangelhaften Kenntnis des Stoffwechsels der Zelle bis jetzt noch nicht das Geringste aus- sagen. Hier eröffnet sich der künftigen physiologischen Forschung ein ungeheuer weites Gebiet. Bei den Tieren ist der Weg von der aufgenommenen Nahrung bis zu den Eiweißverbindungen der lebendigen Substanz naturgemäß wesentlich kürzer, denn alle Tiere ohne Ausnahme bedürfen schon 1) Jurrus Sachs: „Vorlesungen über Pflanzenphysiologie“. Leipzig 1882. 2) Vergl. p. 166. Von den elementaren Lebensäußerungen. 193 fertiger Fiweißkörper oder wenigstens ihrer Konstituenten, der Amino- säuren, zu ihrer Ernährung. Es fragt sich aber, was mit den als Nahrung aufgenommenen Eiweißkörpern weiter geschieht. Zunächst ist seit langer Zeit bekannt, daß die nativen Eiweißkörper durch die Verdauungsenzyme des Magen- und Pankreassaftes hydrolytisch in Albumosen und Peptone gespalten werden. Auch wußte man schon, daß das Trypsin des Pankreassaftes bei längerer Einwirkung im Rea- eenzglase das Eiweißmolekül in noch einfachere Bruchstücke zerlegen kann, nämlich in eine Reihe von Aminosäuren wie Leucin, Tyrosin, Asparaginsäure, und KUTSCHER und SEEMANN!) haben den Nach- weis geführt, daß auch im lebenden Darm bereits solche Aminosäuren als Produkte der Eiweißverdauung auftreten. Neuerdings hat nun COHNHEIM ?) gefunden, daß von der Darmwand ein eigenes Enzym produziert wird. das „Erepsin‘“, das die durch die Pankreastrypsin- verdauung entstandenen Peptone sehr schnell bis zu ihren Amino- säuren aufspaltet, während es auf das native Eiweißmolekül nicht ein- wirkt. Es gewinnt dadurch immer mehr den Anschein, als ob im Verdauungsakt des Tierkörpers überhaupt alles Eiweiß bis zu Amino- säuren aufgespalten wird, ehe es der Resorption unterliegt. Die oben angeführten Versuche von Löwı haben schließlich gezeigt, daß der Tierkörper die Fähigkeit hat, ebenso wie der Pflanzenkörper aus Aminosäuren wieder Eiweiß aufzubauen, und es fragt sich nun, wo diese Synthese stattfindet. Schon nach den Untersuchungen von SaLvIoL1®), HOFMEISTER !), NEUMEISTER) und anderen konnte kein Zweifel mehr bestehen, daß die Peptone als solche auf ihrem Wege durch die Darmwand wieder umgewandelt werden. Bringt man näm- lich Stücke der Darmschleimhaut eines Kaninchens in eine Pepton- lösung, in der die Zellen der Darmwand eine Zeitlang am Leben bleiben, so findet man nach einiger Zeit, daß alles Pepton ver- schwunden ist. Spritzt man dagegen eine Peptonlösung einem Tiere ins Blut, so wird in kurzer Zeit die ganze Peptonmenge unverändert durch den Harn wieder ausgeschieden, und im normalen Leben ist das Blut immer frei von Peptonen. Diese beiden Versuche beweisen unzweifelhaft, daß die Peptone als solche nicht in die Zirkulation ge- langen, und das gleiche gilt von den Aminosäuren. Alle Versuche, Aminosäuren im Blutstrom nachzuweisen, sind negativ ausgefallen. Wir werden uns also wohl vorstellen müssen, daß die Spaltungsprodukte des Nahrungseiweißes auf dem Wege durch die Darmwand nach der Resorption von den Darmepithelzellen wieder zu nativem Eiweiß zusammengesetzt werden, jetzt aber zu den charakteristischen Eiweiß- körpern des Blutes, vor allem zu Globulinen, die dann an das Blut abgegeben werden. Hier, mit dem Blutstrom, zirkuliert dieses gelöste Eiweiß im ganzen Körper, umspült die Zellen aller Gewebe und wird 1) KUTSCHER und SEEMANN: „Verdauungsvorgänge im Dünndarm“. In Zeitschr. f. physiol. Chemie, Bd. 34, 1901—1902. 2) COHNHEIM: „Die Umwandlung des Eiweißes durch die Darmwand“. In Zeitschr. f. physiol. Chemie, Bd. 33, 1901. — Derselbe: „Weitere Mitteilungen über Eiweißresorption. Versuche an Octopoden“. Ebenda Bd. 35, 1902. 3) GAETANo SarvıoLl. In Du Boıs-REyMonps Arch. f. Physiol., 1880, Supplem. h 4) HOFMEISTER: „Das Verhalten des Pcptons in der Magenschleimhaut“. In Zeitschr. f. physiol. Chemie, Bd. 6, 1882. 5) NEUMEISTER: „Zur Physiologie der Eiweißresorption und zur Lehre von den Peptonen“. Würzburg, 1890. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 13 194 Drittes Kapitel. von den Zellen dem Blute entnommen. In den Zellen schließlich wird das Eiweiß zum Aufbau der lebendigen Substanz verbraucht, um dann im Stoffwechsel wieder zu zerfallen, was daraus hervorgeht, daß alles über eine bestimmte Quantität hinaus in den Körper auf- genommene Eiweiß in auffallend kurzer Zeit in seiner ganzen Menge als Harnstoff, Harnsäure etc. im Harn erscheint. Früher glaubte man, daß der Zerfall des zirkulierenden Eiweißes im Blute, in den Körper- säften erfolge!). Später aber haben PFLÜGER und SCHÖNDORFF’?) durch sehr genaue Untersuchungen gezeigt, daß der Zerfall des im Blute gelösten Eiweißes nicht im Blute selbst, sondern in den Zellen der Gewebe stattfindet, daß also der Eiweißzerfall durch den Stoft- wechsel der lebendigen Zelle veranlaßt wird. Einen geringen Teil des im Blute gelösten Eiweißes halten indessen unter Umständen auch die Zellen fest, um ihn, wie beim Wachstum, zur Vermehrung ihrer lebendigen Substanz zu benutzen, oder. um ihn, wie bei der Mästung, in Form von Reserveeiweiß im Protoplasma aufzuspeichern. Solches passives, indifterentes Reserveeiweiß kann unter bestimmten Bedingungen, wie z. B. beim Hungern oder bei der Entwicklung der Eier, wieder in den Stoffwechsel hineingezogen werden. Das Vitellin in den Eizellen ist ein derartiger Stoff. Ueber'die Verwendung der aufgenommenen Fette und Kohlehydrate zum Aufbau der lebendigen Substanz weiß man ebensowenig etwas Eingehenderes wie über die entsprechende Verwendung der Eiweiß- körper. Das Fett, das als solches in die Zellen aufgenommen ist, bleibt häufig lange Zeit als Reservematerial liegen. Auch kann das vorher in Glyzerin und Fettsäuren gespaltene und in dieser Form resorbierte Fett in der Zelle wieder in neutrales Fett zurückverwandelt werden, wie aus den ausgezeichneten Versuchen von J. Munk?) her- vorgeht, der ausgehungerte und völlig abgemagerte Hunde durch Fütterung von fettfreien Seifen oder auch freien Fettsäuren wieder zum Ansatz von (Gewebefett brachte. In gleicher Weise kann der aus den Kohlehydraten durch enzymatische Spaltung hervorgegangene und im Ueberschuß vorhandene Traubenzucker in den Gewebezellen, vor allem in den Zellen der Leber und der Muskeln, synthetisch in Glykogen verwandelt und als solches abgelagert werden. Ueber das weitere Schicksal dieses abgelagerten Fettes und Glykogens aber wissen wir nur, daß es beim Hungern und bei angestrengter Muskel- arbeit von den Zellen in ihrem Stoffwechsel wieder gespalten und verbraucht wird, daß es also ein Reservematerial vorstellt, das den Zellen des Körpers in Fällen des Bedarfs jederzeit zur Verfügung steht. b) Dissimilation. Noch weit spärlicher als vom Assimilationsprozeß sind unsere Kenntnisse von den Vorgängen bei der Dissimilation der lebendigen Substanz. Eigentlich wissen wir nur, daß sich die lebendige Sub- 1) Vergl. C. VoIt: „Physiologie des allgemeinen Stoffwechsels und der Er- nährung“. In HERMANNs Handbuch der Physiologie, Bd. 6, 1881. 2) PFLÜGER: „Ueber einige Gesetze des Eiweißstoffwechsels“. In PFLÜGERSs Arch., Bd. 54, 1893. — SCHÖNDORFF: „In welcher Weise beeinflußt die Eiweiß- nahrung den Eiweißstoffwechsel der tierischen Zelle?“ Ebenda. 3) J. Munk: „Zur Lehre von der Resorption, Bildung und Ablagerung der Fette im Tierkörper“. In VIRCHOWws Arch., Bd. 95, 1884. Von den elementaren Lebensäußerungen. 195 stanz fortwährend von selbst zersetzt, denn das geht aus der Abgabe der Zerfallsprodukte hervor. Welche Wege aber der Zerfall z. B. von den komplizierten Eiweißverbindungen der Zelle bis zu den End- produkten einschlägt, welche speziellen chemischen Umsetzungen bei diesem „Abbau“ der Eiweißverbindungen stattfinden, davon haben wir begreiflicherweise nur ganz mangelhafte Kenntnis, da wir ja die chemische Zusammensetzung der Eiweißkörper selbst noch sehr wenig kennen. Eine Tatsache aber wissen wir jetzt wenigstens sicher, das ist die, daß die meisten von allen denjenigen Stoffen, die aus dem Zer- fall der Eiweißverbindungen stammen, nicht einfach abgespaltene Atomgruppen sind, die schon vorher als solche im Molekül präformiert waren, sondern daß sie erst durch Synthesen entstehen, sei es im Moment des Zerfalls durch Umlagerung der Atome im Molekül der Eiweißverbindungen selbst, wie wir es z. B. von der Kohlensäure annehmen, sei es erst später außerhalb des Moleküls durch Vereinigung mit anderen Spaltungsprodukten und gleichzeitiger Umlagerung der Atome, wie es z.B. bei der Bildung des Harnstoffs der Fall ist. Von keinem einzigen Zerfallsprodukt der Eiweißkörper bezw. ihrer Ver- bindungen aber wissen wir bisher, daß es durch einfache Abspaltung präformierter Atomgruppen entstände. Es ist wichtig, wenigstens die wesentlichsten Abkömmlinge der zerfallenden Eiweißverbindungen der Zelle kennen zu lernen. Wie wir schon bei der Untersuchung der Stoffe fanden, die in der lebendigen Substanz enthalten sind!), können wir unter den Zer- setzungsprodukten der lebendigen Substanz zwei große Gruppen unter- scheiden, stickstoffhaltige und stickstoftfreie Verbindungen. Von beiden Gruppen entstehen Vertreter in jeder Zelle, nur kann ihre spezielle Zusammensetzung im einzelnen Falle je nach dem charakteristischen Stoffwechsel der Zelle verschieden sein. Unter den stickstoffhaltigen Stoffen sind die am weitesten verbreiteten der Harnstoff, die Harnsäure, die Hippursäure, das Kreatin, sowie die Nukleinbasen: Xanthin, Hypoxanthin oder Sarkin, Guanin und Adenin. Von der Mehrzahl dieser Stoffe ist es bisher nicht bekannt, wie sie aus dem Zerfall der Eiweißkörper oder ihrer Verbindungen hervorgehen, doch haben wir für einige wenigstens Vermutungen über ihre unmittelbaren Vorstufen. So wird man z.B. aus der Tatsache, die SCHRÖDER fand, daß kohlensaures Ammon, in die frisch herausgeschnittene, noch lebendige Leber eines Hundes ge- leitet, als Harnstoff die Leber wieder verläßt, zu der Vermutung geführt, daß das kohlensaure Ammon die Vorstufe des Harnstoffs sei, aus dessen Molekül die Leberzellen durch Umlagerung der Atome unter Austritt von zwei Molekülen Wasser Harnstoff bereiten: (NH,),C0O, — 2H,0 = (NH,),CO. Allein wenn es auch zweifellos ist, daß die Leberzellen aus kohlen- saurem Ammon Harnstoff zu bereiten vermögen, so ist doch damit noch nicht gesagt, daß aller Harnstoff auf diesem Wege entsteht. In der Tat wissen wir, daß auch nach Ausschaltung der Leber noch Harnstoff im Tierkörper gebildet wird. Es muß also noch andere Wege der Harnstoffbildung im Körper geben, die uns bisher noch nicht näher bekannt geworden sind. Kaum viel besser steht es um Dip. 121, 13* 196 Drittes Kapitel. unsere Kenntnis der Harnsäurebildung. Bei Reptilien und Vögeln stellt die Harnsäure denjenigen Stoff vor, in welchem die Hauptmasse des aus dem Eiweißzerfall stammenden Stickstoffs den Körper ver- läßt. Bei diesen Tieren ist die Vorstufe der Harnsäure das milch- saure Ammon. Aus Versuchen, die GAGLIo!) an Hunden anstellte, geht hervor, daß die Milchsäure des Blutes aus dem Zerfall von Ei- weiß stammt, denn der Milchsäuregehalt des Blutes steigt und sinkt mit der Menge der Eiweißnahrung und ist, wie es scheint, unabhängig von der Menge der eingenommenen Kohlehydrate. Während sich nun im Blute stets Milchsäure findet, ist im Harn unter normalen Verhält- nissen keine Spur vorhanden; die Milchsäure muß also eine Um- setzung erfahren, ehe sie ausgeschieden wird. Diese Verhältnisse klärte MInKOWwsK1?) durch einen Versuch auf, indem er zeigte, daß Gänse nach Exstirpation ihrer Leber nur noch ganz unbedeutende Mengen von Harnsäure ausscheiden, dafür aber große Mengen von Milchsäure und Ammoniak, und zwar letztere beide in den Mengen- verhältnissen des milchsauren Ammons. Aus dieser wichtigen Tat- sache schließt Minkowskı mit Recht, daß das milchsaure Ammon bei den Vögeln die Vorstufe für die Bildung der Harnsäure sei, aus der durch Umlagerung Harnsäure entstehe. Wie weit dieser Weg der Harnsäurebildung auch für andere Tiere in Betracht kommt, läßt sich vorläufig nicht sagen, aber wir können heute wohl mit größter Wahr- scheinlichkeit annehmen, daß außerdem bei allen Organismen, bei denen Harnsäure gebildet wird, Harnsäure auch als ein Umsetzungsprodukt der Nukleine des Zellkerns auftritt. Die Nukleinbasen gehören zu der Gruppe der Purinkörper und das gleiche ist mit der Harnsäure der Fall. Die Harnsäure stellt ein Oxydationsprodukt des Purins vor, ein Trioxypurin, und entsteht zweifellos aus dem oxydativen Zerfall der Kernnukleine, und zwar teils der Zellkerne der lebendigen Zelle selbst, teils der mit der Nahrung aufgenommenen Gewebezellen. Von der Hippursäure, die besonders im Stoffwechsel der Pflanzenfresser entsteht, können wir dagegen mit Bestimmtheit die Synthese angeben. Hippursäure wird beim Kochen mit Mineralsäuren oder Alkalien unter Wasseraufnahme in Benzoösäure und Glykokoll gespalten, und diese letzteren beiden können durch Erhitzen unter hohem Druck wieder zu Hippursäure unter Wasseraustritt vereinigt werden. Man wird also schon daraus auf die Vermutung geführt, daß auch im Körper der Pflanzenfresser, wo die Möglichkeit der Entstehung einerseits von Benzoösäure aus Eiweiß oder den aromatischen Verbindungen der Nahrung, anderseits von Glykokoll aus leimgebenden Substanzen, die vom Eiweiß abstammen, gegeben ist, die Hippursäure aus diesen beiden Substanzen synthetisch gebildet wird. In der Tat kann man nicht nur im Körper der Pflanzenfresser, sondern sogar auch der Fleisch- fresser die Hippursäurebildung künstlich hervorrufen, wenn man Benzo&säure in den Magen einführt. Der Körper liefert dann das nötige Glykokoll selbst und bildet damit Hippursäure. Auch über den Ort der Hippursäurebildung wissen wir genau Bescheid. Es ist, wie BUNGE und SCHMIEDEBERG°) zuerst nachgewiesen haben, die Niere 1) GAasLio: „Die Milchsäure des Blutes und ihre Ursprungsstätten“. In Du Bo1s-REYMoNDs Ärch., 1886. 2) MINKOWSsKI: „Ueber den Einfluß der Leberexstirpation auf den Stoffwechsel“. In Arch. f. ee Pathol. u. Pharmakol., Bd. 21, 1886. 3) Arch. f. exper. Pathologie und Pharmakologie, Bd. 6, 1876. Von den elementaren Lebensäußerungen. 197 und neuerdings ist es sogar ÜRAMER und BASHFORD!) gelungen, mit Nierenbrei als Vermittler aus Benzoösäure und Glykokoll Hippursäure außerhalb des Tierkörpers zu gewinnen. Daraus aber, wie es mehr- fach geschehen ist, schon den Schluß zu ziehen, daß die Hippursäure- synthese in der Niere ein enzymatischer Prozeß sei, ist mindestens voreilige. Von der Entstehung des Kreatins ist uns wiederum noch gar nichts näheres bekannt. Wahrscheinlich steht es zum Guanidin in näherer genetischer Beziehung. Das Kreatin und das aus ihm durch Wasseraustritt hervorgehende Kreatinin ist derjenige Stoff, in dem die Muskelzellen die Hauptmasse des aus dem Zerfall ihrer lebendigen Substanz hervorgehenden Stickstoffs abgeben. Allein man weiß auch über das Schicksal des Kreatins nach seiner Entstehung ebensowenig, wie über seine Entstehungsgeschichte selbst; denn ob- wohl das Kreatin in beträchtlichen Mengen in den Muskeln zu finden ist, treten nur geringe Mengen davon im Harn auf. Es scheint also noch in irgendeiner Weise Umsetzungen im Körper selbst zu er- fahren. Auch von den Nukleinbasen schließlich wissen wir nur, daß sie aus dem Zerfall der Nukleine und ihrer Abkömmlinge stammen ; durch welche Umlagerungen sie aber daraus hervorgehen, wissen wir vom Xanthin und Hypoxanthin ehensowenig wie vom Guanin und Adenin. Von den stickstofffreien Umsetzungsprodukten der Eiweiß- verbindungen in der lebendigen Substanz sind die wichtigsten: Fette, Kohlehydrate, Milchsäure und Kohlensäure. Auch diese entstehen nicht durch einfache Abspaltung aus dem Eiweißmolekül, sondern durch Umlagerung und synthetische Prozesse. Daß im Tierkörper Fett durch Umsetzungen aus Eiweiß entstehen kann, ist schon früher viel bezweifelt worden und wird noch heute von PFLÜGER im Gegensatz zu Vorr und anderen Physiologen energisch bestritten. Der pathologische Prozeß der sogenannten Fettmetamorphose der Zellen, bei dem sich im Protoplasma Fetttröpfehen anhäufen, bis die Zellen am Ende des Krankheitsprozesses tot und von Fett erfüllt sind, mußte zwar eine unbefangene Auffassung zunächst zu der Vorstellung führen, daß hier das Eiweiß sich in Fett umwandele. Aber man konnte den Einwand machen, daß das Eiweiß der Zelle im Verlauf der Krankheit nur durch von außen eindringendes Fett verdrängt werde. Man hat daher diese wichtige Frage experimentell geprüft, und es schien, als ob die Experimente zugunsten der ersten Ansicht sprächen. LEO?) benutzte die Tatsache, daß Phosphorvergiftung eine ungemein schnell eintretende Fettmetamorphose, besonders der Leberzellen, hervorruft, zu einem Experiment. Er wählte aus einer Anzahl von Fröschen gleicher Größe und gleichen Gewichts sechs Individuen aus, tötete sie und bestimmte ihren Fettgehalt. Darauf nahm er sechs andere Individuen, vergiftete sie mit Phosphor und tötete sie nach drei Tagen. Die Fettbestimmung ergab einen bedeutend größeren Gehalt an Fett als bei den sechs ersten Fröschen. Dieser Versuch schien zu zeigen, daß in der Tat Fett bei der Phosphorvergiftung entstanden ist. Einen Versuch, der aber mehr direkt auf die Entstehung von Fett 1) Verhandl. d. Ges. Deutscher Naturf. u. Aerzte zu Hamburg 1901. II. Teil, II. Hälfte: Medizinische Abteilungen, Leipzig 1902. 2) Leo: „Fettbildung und Fetttransport bei-Phosphorintoxikation“. In Zeitschr. f. physiolog. Chemie, Bd. 9, 1885. 198 Drittes Kapitel. aus Eiweiß hinzudeuten schien, stellte FrRAnz HoFMAnN!)an. Er nahm einen Haufen von Eiern der Schmeißfliege (Musca vomitoria) und teilte ihn auf der Wagschale in zwei gleich schwere Portionen. Eine dieser Portionen benutzte er, um den Fettgehalt zu bestimmen, die andere setzte er auf Blut, dessen geringer Fettgehalt ebenfalls be- stimmt war. Die aus diesen Eiern auskriechenden Fliegenmaden nährten sich von dem Blut, wuchsen und wurden groß. Nachdem sie ausgewachsen waren, bestimmte HOFMANN ebenfalls ihren Fettgehalt, und da stellte sich heraus, daß sie zehnmal so viel Fett enthielten, als die Eier und das Blut zusammengenommen. Der Blutzucker kam wegen seiner geringen Menge nicht für die Fettbildung in Betracht. Man schloß also, daß das Fett nur aus dem Eiweiß des Blutes entstanden sein könnte. Allein es ist bei allen diesen älteren Versuchen bezweifelt worden, ob die angewendeten Untersuchungsmethoden auch zuverlässig waren. Indessen haben auch die neueren, in größerer Zahl erschienenen Arbeiten über diese Frage noch keine endgültige Entscheidung zu bringen vermocht, wie die eingehenden Sammelreferate, die F. Kraus und RIBBERT auf der Kasseler Naturforscher-Versammlung im Jahre 1905 gegeben haben, sowie die sich daran anschließenden Vorträge ?) deutlich erkennen ließen. Auf Grund der neueren Erfahrungen kann man heute nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit annehmen, daß im Tierkörper aus Eiweiß kein Fett gebildet wird, und daß es sich bei der Fettmetamorphose, die sich unter pathologischen Verhältnissen in manchen Organen entwickelt, wohl immer um eine Fetteinwanderung, um einen Fetttransport von anderen Fettdepots in die betreffenden Gewebezellen handelt. Dagegen ist es vom Pflanzenkörper niemals bezweifelt worden, daß hier Fett aus Eiweiß- verbindungen entsteht. Die Pflanze und viele niedere Organismen vermögen unbestreitbar durch ihren Stoffwechsel Fette und Oele aus Eiweißverbindungen durch chemische Umsetzungen zu bilden. Ueber die Entstehung von Kohlehydraten (Traubenzucker und Glykogen) aus Eiweiß kann kein Zweifel herrschen. Schon lange weiß man, daß bei schweren Formen der Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) selbst bei vollständigem Fehlen der Kohlehydrate in der Nahrung mit der Steigerung der genossenen Eiweißmenge auch die im Harn bei dieser Krankheit ausgeschiedene Menge von Trauben- zucker bedeutend vermehrt wird. Desgleichen hat schon ULAUDE BERNARD beobachtet, daß bei Hunden, die durch Hungern glykogen- frei gemacht waren, Glykogen in größerer Menge wieder abgelagert wird, wenn sie reichlich mit reiner Eiweißnahrung gefüttert werden, und MEHRING°) fand bei einem Hunde. der nach 21-tägigem Fasten vier Tage lang mit reinem Fibrin gefüttert worden war, über 16 g Glykogen in der Leber. Aehnliche Beobachtungen sind zahlreich ge- macht worden, so daß jetzt die Entstehung von Kohlehydraten aus Eiweißverbindungen im Tierkörper sichergestellt ist. Das ist auch um so weniger zu bezweifeln, als ja auch außerhalb des Körpers aus gewissen Eiweißkörpern Kohlehydrate gewonnen werden können *). Die 1) Fr. HormAnn. In Zeitschr. f. Biologie, Bd. 8, 1872. 2) Siehe Verhandl. d. Ges. Deutscher Naturf. u. Aerzte, 75. Versamml. zu Kassel. II. Teil: Medizinische Abteilungen, Leipzig 1904. 3) MERING. In PFLÜGERs Arch., Bd. 14, 1877. 4) Vergl. pag. 116 u. 119. Von den elementaren Lebensäußerungen. 199 Entstehung von Milchsäure aus Eiweiß haben uns schon die Unter- suchungen von GAGLIO !) bewiesen, aus denen hervorgeht, daß der Milchsäuregehalt des Blutes nur von der Menge des genossenen Ei- weißes, nicht der aufgenommenen Kohlehydrate abhängt. Daß schließ- lich auch die Kohlensäure, welche die lebendige Substanz aus- atmet, aus der Zersetzung von Eiweißverbindungen und nicht etwa von stickstofffreien Stoffen hervorgeht, ist ohne weiteres aus der Tatsache ersichtlich, daß bei den Fleischfressern das Leben dauernd mit Eiweißnahrung allein erhalten werden kann. Ueberhaupt beweist diese wichtige Tatsache, daß aus dem Eiweiß der Nahrung sowohl alle diejenigen Stoffe gebildet werden können, welche fortwährend vom Organismus ausgeschieden werden, als auch alle die Stoffe, welche notwendig sind, um das Leben dauernd zu unterhalten. Man hat früher einen scharfen Unterschied zwischen tierischen und pflanzlichen Zellen auf der Art der chemischen Umsetzungen be- gründen wollen, die in beiden Organismenformen verlaufen, und hat gesagt: in den Pflanzen finden fast ausschließlich Synthesen, in den Tieren nur Spaltungsprozesse statt, eine Auffassung, die sich bis in die neuere Zeit hinein mitgeschleppt hat. Allein schon vor mehr als 30 Jahren hat PFLÜGER!) bestritten, daß ein solcher prinzipieller Unterschied bestehe. In der Tat, wie unsere bisherige Betrachtung gezeigt hat, besteht der Unterschied allein darin, daß die pflanzlichen Eiweiß- verbindungen der Chlorophylikörper sich die Fähigkeit aus der Urzeit her erhalten haben, anorganisches Material zu assimilieren, während die Tiere fertiges organisches Nahrungsmaterial zum Aufbau ihrer lebendigen Substanz brauchen. Dagegen finden sowohl im Tier, wie im Pflanzenkörper Synthesen und Spaltungen statt. Der Synthese der Stärke in der Pflanze muß erst die Spaltung der Kohlensäure vorhergehen; damit die Stärke weiter verarbeitet werden kann, muß sie erst wieder in einfache Zuckerarten gespalten werden, usf. Schließlich haben wir auch in der Pflanze die ganze Reihe von Spaltungen, die mit dem Zerfall der spezifischen Eiweißver- bindungen der Zelle, mit der Dissimilation verbunden sind, genau so wie im Tierkörper. Demgegenüber aber finden auch im Tierkörper in großem Umfange Synthesen statt. Die Weiterverarbeitung der ver- dauten Eiweißkörper, Fette und Kohlehydrate zum Aufbau der leben- digen Substanz erfordert ausgedehnte synthetische Prozesse und schließlich haben wir gesehen, daß die meisten Stoffe der regressiven Eiweißmetamorphose erst auf synthetischem Wege aus den Spaltungs- produkten der Eiweißkörpor gebildet werden. Spaltungen und Syn- thesen gehen also in der tierischen wie in der pflanzlichen Zelle stets Hand in Hand, und die alte Unterscheidung in Spaltungs- und syn- thetische Organismen ist nur der Ausdruck eines früheren Standes unserer Kenntnisse von den chemischen Vorgängen in der lebendigen Substanz. C. Die Abgabe von Stoffen. In dem Maße, wie die lebendige Substanz Stoffe von außen auf- nimmt, und in ihrem Stoffwechsel umsetzt, findet naturgemäß auch 1) GAGLio. In Du Boiıs-REyMmonDps Arch., 1886. 2) PFLÜGER: „Ueber die physiologische Verbrennung in den lebendigen Orga- nismen“. In PFLÜGERs Arch. f. d. ges. Physiol., Bd. 10, 1875. 200 Drittes Kapitel. eine Ausscheidung der Umsetzungsprodukte statt, und ebenso mannig- faltig wie die Natur der von den verschiedenen Zellformen aufge- nommenen Stoffe ist auch die der abgegebenen im speziellen Fall. Allein bei unserer geringen Kenntnis der Umsetzungen in der leben- digen Substanz können wir unter der erdrückenden Fülle aller von den verschiedenen Zellformen ausgeschiedenen Stoffe nur in den aller- weniesten Fällen sagen, aus welchen Prozessen sie herrühren. Bei der größten Masse wissen wir nicht einmal, ob sie aus den assimila- torischen Prozessen oder aus den dissimilatorischen Vorgängen stammen, denn offenbar werden sowohl bei dem aufbauenden Teile der Stoffwechselkette, als auch bei den Abbauprozessen eine große Menge von Nebenprodukten gebildet, sei es durch einfache Spaltung, sei es durch Synthese aus den dabei auftretenden Spaltungsprodukten oder anderen Stoffen, die vom Organismus entweder zu irgendeinem weiteren Nutzen oder als unbrauchbare Produkte nach außen ausge- schieden werden. Der letztere Gesichtspunkt, ob die ausgeschiedenen Stoffe noch weiter irgendeinen Nutzen für das Leben des Organismus haben, oder ob sie als unbrauchbare Produkte, als Schlacken, ent- fernt werden, hat zu einer Unterscheidung der abgegrebenen Stoffe Anlaß gegeben, die, wenn sie sich auch in aller Schärfe nur schwer durchführen läßt, doch bei der ungeheuren Fülle der verschiedenen Produkte ein praktisches Einteilungsprinzip liefert. Man scheidet die von der Zelle abgegebenen Stoffe, unter denen sich gasförmige, flüssige und feste in allen Konsistenzgraden befinden, in Sekrete, wenn sie im Leben des Organismus noch weiter irgendeine nützliche Rolle spielen, und in Exkrete, wenn sie nur als unbrauchbare Reste nach außen entfernt werden. Danach spricht man auch von einer Sekretion im Gegensatz zur Exkretion. Gehen wir noch einen Augenblick auf beide Gruppen von Stoffen und auf den Modus ihrer Ausscheidung etwas näher ein. 1. Der Modus der Stoffabgabe von seiten der Zelle. Wie der Modus der Nahrungsaufnahme, so gestaltet sich auch die Art und Weise der Abgabe von Stoffen verschieden, je nachdem die Stoffe gasförmig, gelöst oder geformt sind. Die Abgabe der gasförmigen oder gelösten Stoffe erfolgt, das liegt auf der Hand, unter denselben Bedingungen und in derselben Weise wie die Aufnahme solcher Stoffe, denn hier haben wir denselben Vorgang, nur in umgekehrtem Sinne. In manchen Zellen, z. B. in vielen einzelligen Organismen, besorgt höchstwahrscheinlich die sogenannte kontraktile Vakuole (Fig. 69, ferner Fig. 30 5, und 5, p. 95), ein Flüssigkeitstropfen, der im Zellkörper durch meist rhyth- mische Kontraktionen seines Wandprotoplasmas abwechselnd ausgeleert und wieder vollgesogen wird, die Ausscheidung der gelösten Stoffe. Dieselben sammeln sich vermutlich mit dem Wasser, das bei der Diastole der Vakuole von allen Seiten aus dem Protoplasma zu- sammenströmt, in der Vakuole und werden mit demselben bei der Systole der Vakuole nach außen abgegeben. Jede Zelle scheidet vor allem, das ist klar, die Stoffe aus, die aus ihrem eigenen Stoffwechsel stammen. Indessen im zusammen- gesetzten Zellenstaat, besonders des tierischen Organismus, existieren auch Zellen, die daneben noch die Ausscheidung gewisser anderer Von den elementaren Lebensäußerungen. 201 Stoffe für den ganzen Körper übernommen haben. So scheiden die Nierenzellen in den gewundenen Harnkanälchen den von den Leber- zellen bereiteten und an das Blut abgegebenen Harnstoff aus, indem sie ihn aus dem Blute aufnehmen und nach außen wieder abgeben. Andere Zellen der Niere, die Zellen in den sogenannten Glomerulis, jenen mikroskopischen Kapseln, in denen sich die feinen Arterien zu Knäulen verzweigen, saugen dagegen wieder gierig Wasser aus dem Blute auf, um es in das Nierenbecken als Harnwasser abzusondern. So sondern ferner die Lungenepithelzellen die im Körper von allen Gewebezellen gebildete Kohlensäure aus dem Blute ab usf. Bei der Abgabe von geformten Stoffen haben wir wieder zwei Typen zu unterscheiden. Sie gestaltet sich nämlich wesentlich verschieden, je nachdem die ausgeschiedenen Stoffe ent- weder in der Zelle selbst in gelöstem Zustande sich befinden und erst nach der Ausscheidung fest werden, oder in der lebendigen Substanz schon als geformte Massen liegen, die als solche nach außen abgegeben werden. Im ersteren Falle, der realisiert ist z. B. bei der Ausscheidung der meisten Skelettsubstanzen, wie Chondrin, Chitin, Kalk etc., haben wir die- selben Verhältnisse, wie bei der Ausscheidung gelöster Stoffe überhaupt; nur daß hier die Stoffe nach Austritt aus der lebendigen Substanz früher oder später feste Form annehmen. Durch das Festwerden der Stoffe an der Oberfläche wird aber nicht verhindert, daß immer wieder neue Stoffe in gelöstem Zustande an die Oberfläche gelangen und dort in festen Zustand übergehen, bis derart alle Stoffe an der Oberfläche ausge 5 or ba. h : eben dem dunklen Kern schieden und fest geworden sind. So entstehen jjegt im Endoplasma eine die Zellmembranen der Gewebezellen, die Zellu- blasse, kontraktile Va- losehüllen der Pflanzenzellen, die Chitinpanzer kuole. der Insekten, die Kalkschalen der Foraminiferen ete. Diese skelettbildenden Sekrete nehmen beim Festwerden zum Teil ganz außerordentlich feine und komplizierte Strukturen an, um deren Analyse sich in der letzten Zeit durch eingehende Arbeiten namentlich BIEDERMANN !) bemüht hat, dem es gelang, manche dieser Gebilde auch künstlich bis zu einem bestimmten Grade nachzuahmen. Wir können uns diesen Modus und zugleich den Modus des Wachstums dieser Oberflächengebilde bis zu einem gewissen Grade durch einen Versuch veranschaulichen, der von TRAUBE angegeben und seinerzeit viel besprochen wurde. Läßt man vorsichtig einen Tropfen von gelatinierender Leimlösung in eine Gerbstofflösung fallen, so entsteht um den Tropfen herum eine sogenannte Niederschlags- membran aus gerbsaurem Leim, indem an der Grenzschicht des Leims und der Gerbstofflösung beide Stoffe untereinander eine chemische Verbindung eingehen. Diese Niederschlagsmembran zeigt nun die eigentümliche Tatsache eines Wachstums sowohl in bezug auf ihre 1) BIEDERMANN: „Ueber die Bedeutung von Kristallisationsprozessen bei der Bildung der Skelette wirbelloser Tiere, namentlich der Molluskenschalen“. In a le Physiologie, Bd.1, 1902. — Derselbe: „Geformte Sekrete“. Ebenda d. 2, 1903. 202 Drittes Kapitel. Fläche, als in bezug auf ihre Dicke. Man hat den TrAugeEschen Leimtropfen in der Gerbstofflösung geradezu mit einer lebendigen Zelle verglichen und als „künstliche Zelle“ bezeichnet. Da näm- lich die Leimlösung Wasser an sich zieht, so tritt immer mehr Gerb- stofflösung durch die Niederschlagsmembranp hindurch zum Tropfen. Der Gerbstoff selbst kommt dabei immer nur bis an die Oberfläche des Tropfens, da er hier durch den Leim immer gleich gebunden wird, wobei er zur Verdickung der Membran durch fortwährende An- lagerung neuer Schichten führt. Das Wasser dagegen dringt in das Innere des Tropfens, so daß dieser immer mehr und mehr aufquillt und an Größe zunimmt. Dadurch entstehen fortdauernd in der Niederschlagsmembran äußerst feine Lücken und Risse, die aber schon im Moment ihres Entstehens durch neuen Niederschlag wieder geschlossen werden. So wächst die „künstliche Zelle“ kontinuierlich und gleichmäßig weiter, bis aller Leim gebunden ist. Die Bildung und Größenzunahme der Membran, die hier am großen Tropfen ver- hältnismäßig schnell vor sich geht, verläuft in der kleinen lebendigen Zelle sehr all- mählich. Man hat in der Botanik lange einen recht unfruchtbaren Streit geführt, ob die Zellulosemembran der Pflanzenzelle durch „Intussuszeption“, d.h. durch Zwischen- lagerung neuer Teilchen zwischen die alten oder durch „Apposition“, d. h. durch äußere Anlagerung geschieht!), ein Streit, der im Anschluß an die unglückliche Ver- gleichung oder vielmehr Unterscheidung NAEGELIS zwischen dem Wachstum der 70 ‚Zeilmerd einer Kristalle und dem der Organismen ent- Markzelle von Clematis standen ist, bis man in neuerer Zeit mehr mit Diekenwachstumsschichten. und mehr zu der Ansicht gekommen ist, Nach STRASBURGER. daß beide Formen zum Wachstum der Zellmembran führen, die eine zum Flächen-, die andere zum Dickenwachstum. Wenn der Protoplasmakörper der Zelle selbst sich vergrößert, wird die Membran gedehnt. Dabei ent- stehen zwar in der Regel keine wirklichen Risse, wie in der künst- lichen Zelle, wohl aber werden infolge der Dehnung die Zwischen- räume zwischen den einzelnen Teilchen der Membran weiter und größer, so daß neue Teilchen vom Protoplasma her dazwischen- treten können. Andererseits aber zeigt die bei starken Vergrößerungen sichtbare Schichtung der Zellmembran parallel der Fläche, die mit zunehmendem Dickenwachstum immer deutlicher wird, daß auch eine Dickenzunahme durch Apposition vorhanden ist (Fig. 70). Wenn die Zellen in ihrem Stoffwechsel kontinuierlich Stoffe pro- duzieren und nach außen abscheiden, so entstehen allmählich jene gewaltigen konsistenten Massen, die bei mehrzelligen Geweben, wo die Produkte der einzelnen Zellen untereinander verschmelzen, wie z. B. beim Knorpel und Knochen (Fig. 71 und 72), die sogenannten Interzellularsubstanzen bilden. Nicht immer aber werden die Stoffe sogleich nach außen abgeschieden, in manchen Fällen werden 1)/Vergl. p. 14% Von den elementaren Lebensäußerungen. 203 sie in einer Vakuole in der Zelle selbst erst als eine feste Masse ab- gelagert, an die sich Teilchen für Teilchen, wie bei einem Kristall, weiter ansetzt. So werden z. B. die Stärkekörner in den Pflanzen- zellen, ferner die Kalknadeln und Kieselkörper bei den Echinodermen, Schwämmen etc., in der Zelle selbst angelegt, und erst nachdem sie eine bestimmte Größe erlangt haben, werden sie nach dem Aus- scheidungsmodus der festen, geformten Körper nach außen abgegeben (Fig. 73, nach SEMOoN)!). Inn INH Inliij] INN Fig. 71. Fig. 71. Knochenquerschliff. Zwischen den sternförmigen Knochenzellen liegt die kompakte Knochengrundsubstanz. In der Mitte des Schliffs ist der Querschnitt eines Knochenkanälchens. Nach HATSCHER. Fig. 72. Hyaliner Knorpel. Zwischen den einzelnen Zellen ist eine feste hyaline Grundsubstanz ausgeschieden. Nach HATSCHEK. Den Ausscheidungsmodus derjenigen Stoffe, die schon als geformte Massen im Zellinnern liegen, zeigen uns wieder am besten die Amöben. Wir sahen bei der Nahrungsaufnahme von seiten der Amöben, daß schließlich der Nahrungsballen, in einer Nahrungs- vakuole eingeschlossen im Protoplasma liegt. In dieser Vakuole, die man auch als Verdauungsvakuole bezeichnen kann, wird alles Ver- dauliche gelöst und geht in das Protoplasma selbst Et über; die unverdaulichen 3 Reste aber, wie Schalen von Algen, Panzer von Diatomeen, Chitinmassen von Rädertierchen etc., Fig. 73. Entstehung eines Kalkdreistrah- bleiben in der Vakuole Ilers in einer Echinodermenzelle. Nach liegen und werden schließ- SEMON. lich auf folgende Weise aus- geschieden: Beim Kriechen der Amöbe kommt es gelegentlich vor, daß im strömenden Protoplasma die Verdauungsvakuole sehr nahe an die Oberfläche gelangt, so daß der Inhalt der Vakuole nur noch durch eine dünne Protoplasmawand von dem Medium getrennt ist. In diesem Falle zerreißt die schmale Wand sehr leicht, indem das Protoplasma nach beidenSeiten von der dünnsten Stelle fortfließt, und der Inhalt der Vakuole entleert sich mitsamt der geformten Masse nach außen (Fig. 74). Dieser Modus der Entleerung geformter Bestandteile aus dem Proto- plasma findet sich ausschließlich bei Zellen, die keine Membran be- sitzen, also hauptsächlich bei den amöboiden Zellen der verschiedensten Art. Bei den Infusorien ist häufig an einer bestimmten Stelle des 1) R. SEMoN: „Beiträge zur Naturgeschichte der Synaptiden des Mittelmeeres“, In Mitteil. der zool. Station zu Neapel, Bd. 7. 204 Drittes Kapitel. Körpers ein besonderer Zellafter vorhanden, ebenso wie diese Orga- nismen auch einen dauernd bestehenden Zellmund haben (vergl. Fig. 255, p. 90, und Fig. 30e, p. 9). Eine Uebergangsform aber zwischen dem Modus der Abgabe flüssiger Stoffe und fester Stoffe stellt gewissermaßen die Schleim- sekretion vor. Die Schleimzellen, die im zusammengesetzten Organis- » . » F at £ a Fig. 74. Amöbe in vier aufeinanderfolgenden Stadien der Exkretion eines unverdauten Nahrungsrestes. mus eine so überaus wichtige Rolle spielen, indem sie gewisse innere Gewebeflächen durch ihre Schleimabsonderung schützen und glatt und feucht erhalten, sind stets zylindrisch. Ihr Kern, von etwas konsi- stenterem Protoplasma umgeben, liegt am Grunde des Zellkörpers, während der obere Teil der Zelle, der an die freie Schleimhautfläche grenzt, von einer Substanz, dem Mucigen, gebildet wird, die an der Oberfläche in stetiger Umbildung in Mucin begriffen ist. Bei ruhiger Tätigkeit der Zelle teilt sich kontinuierlich ein wenig von dem Sekret 5 derdünnen Flüssigkeits- = schicht mit, welche die E Gewebefläche bedeckt. E 8 Bei energischer, plötz- 4 licher Sekretion aber ß Fig. 75. Schleimzellen. wird der ganze Ballen R) A drei isolierte Schleimzellen. von Schleimsekret, wel- | a 5 5 1 eo A ER a drei linken voll, die vier rechten entleert sind. Nach SCHIEFFER- DECKER. der Zelle bildet, her- ausgeschoben (Fig. 75) und verschmilzt mit den von den benachbarten Schleimzellen ausgestoßenen Schleimpfropfen zu einer dicken zu- sammenhängenden Schleimdecke. Ganz merkwürdig ist die Eigen- tümlichkeit mancher Holothurien, jener gurkenförmigen Echino- dermenformen, ihre dicke und feste Lederhaut auf Reize hin in kurzer Zeit zu einem seidenglänzenden, fadenziehenden Schleim umzuwandeln. Ueberhaupt verspricht die zellularphysiologische Untersuchung des Sekretionsvorgangs noch manche allgemein-physiologisch sehr inter- essante Tatsache zu liefern. 2. Sekret- und Exkretstoffe. Da es weder möglich noch notwendig ist, hier auf die ganze Fülle der Sekrete und Exkrete, die Tier- und Pflanzenzellen in ihrem Von den elementaren Lebensäußerungen. 205 Stoffwechsel liefern, näher einzugehen, so wollen wir uns auf einen Ueberblick über die wichtigsten dieser Stoffe beschränken. a) Sekrete. Wenn wir das Charakteristische der Sekrete darin erblicken, daß sie dem Organismus von irgendwelchem Nutzen sind, so ist die Tat- sache verständlich, daß manche dieser Sekrete dem Organismus dauernd erhalten bleiben und nicht an die Außenwelt abgegeben werden. Danach können wir zwei Gruppen von Sekreten unter- scheiden, je nachdem sie nach ihrer Entstehung immer sofort nach außen abgegeben oder dauernd im Organismus, sei es in der Zelle, sei es an ihrer Oberfläche, zurückgehalten werden, wobei es im Zellenstaat des zusammengesetzten Organismus übrigens in beiden Fällen durchaus nicht immer nötig ist, daß das Sekret gerade der- jenigen Zelle Nutzen bringt, von der es sezerniert wird. Unter den Sekreten, die nach ihrer Produktion den Organismus verlassen, haben wir in erster Linie die, welche zur extrazellulären Verdauung in Beziehung stehen, also die Enzyme oder gelösten Fermente, die im Tierreich sowohl wie im Pflanzenreich auftreten. So produzieren die Zellen der Speicheldrüsen bei den Tieren das Ptyalin, das die Stärke in Traubenzucker über- führt, die Zellen der Magendrüsen das Pepsin, das die Eiweiß- körper peptonisiert, sowie das vielleicht mit dem Pepsin identische Labferment oder Chymosin, das die Kaseingerinnung herbei- führt, die Zellen des Pankreas oder der Bauchspeicheldrüse das Ptyalin zur Verdauung der Stärke, das Trypsin zur Peptonisierung der Eiweißkörper und das Steapsin oder die Lipase zur Spaltung der Fette. Bei den Pflanzen finden wir ebenfalls Enzyme, so z. B. bei den sogenannten „fleischfressenden Pflanzen“, die, wie unsere auf Sümpfen wachsende Drosera, Insekten fangen, festhalten und durch Sekretion peptonisierender Enzyme verdauen. Von großer Bedeutung sind schließlich die Enzyme bei den einzelligen Organismen für die Ernährung der Zelle, wenn diese Organismen, wie die Bakterien, auf organische Nahrung angewiesen sind, und ihre festen Nahrungsstoffe erst verflüssigen müssen, um sie resorbieren zu können. Als eine höchst bedeutungsvolle, aber ihrer chemischen Natur nach noch völlig unbekannte Gruppe von Sekreten kann die bisher nur aus ihren Wirkungen bekannte Reihe der „Antitoxine“ be- trachtet werden. Es handelt sich hier um Stoffe, die bei Einführung bestimmter Gifte, vor allem der durch pathogene Bakterien erzeugten organischen Gifte, von den Zellen des Körpers produziert werden und die ungemein wichtige Wirkung haben, daß sie als Gegengifte den Körper vor den betreffenden Giftwirkungen schützen. Es ist ge- nugsam bekannt, daß man auch künstlich durch Einspritzung von sterilisiertem Blutserum solcher Tiere, in denen man durch eine In- fektion die Bildung der entsprechenden Antitoxinart in großem Maß- stabe hervorgerufen hat, ein anderes Tier oder den Menschen gegen die betreffende Infektionskrankheit immunisieren resp. bei ihm den Ablauf der schon eingetretenen Infektionskrankheit sistieren oder wenigstens mildern kann. Es sei hier nur auf die grundlegenden Erfahrungen hingewiesen, die wir den genialen Untersuchungen EHR- 206 Drittes Kapitel. LICHS und seiner Schüler, sowie ROBERT KOCHSs, PASTEURS, ROUxs, BEHRINnGs und vieler anderer verdanken }). Andere Sekrete, wie das weit verbreitete Mucin und die mu- cinoiden Substanzen, aus denen der Schleim besteht, haben mehrfache Bedeutung. Der Schleim z. B. schützt einerseits die Zelle selbst vor äußeren Einwirkungen, die etwa schädlich sein können, z. B. vor direkten Berührungen, indem bei einer starken Reizung die Schleimzelle eine dicke Schleimschicht produziert, die sie von dem berührenden Körper trennt, wie das der Fall ist bei den Schleim- zellen der Luftröhre, wenn ein Fremdkörper in die „unrechte Kehle“ gekommen ist. Ferner dient der Schleim dazu, die zerkauten Bissen gleitbar zu machen, so daß z. B. die vom Schleim des Mundspeichels durchtränkten Speiseballen besser durch die enge Speiseröhre gleiten können. Schließlich aber dient der Schleim besonders bei den nie- deren Tieren und bei den einzelligen Organismen zum Festhaften. Die Rhizopoden sondern an der Oberfläche ihres Protoplasmakörpers einen feinen, schleimigen Ueberzug ab, mit dem sie sich einerseits an ihrer Unterlage ankleben, was für ihre Lokomotion unentbehrlich ist, mit dem sie aber andererseits auch anschwimmende Nahrungs- organismen festhalten, so daß sie dieselben in ihren Protoplasma- körper hineinziehen und verdauen können. Eine ähnliche Bedeu- tung, wie der Schleim als Schutzmittel, haben die Fette, die, wie der Talg, von den Talgdrüsen der Haut produziert werden und die Haut einerseits vor zu starker Verdunstung schützen und anderseits geschmeidig erhalten. Als Schutzmittel allein dienen ferner, wie STAHL?) durch eine Reihe von interessanten Versuchen gezeigt hat, auch in anderer Weise viele Sekrete im Tierreich, vor allem aber im Pflanzenreich, wenn sie übelriechende oder übelschmeckende Stoffe, und zwar Säuren undätherische Oele, enthalten. Die Organismen werden dadurch geschützt vor dem Gefressenwerden. Gerade in diesen Fällen liegen meist sehr interessante Anpassungen an bestimmte Ver- hältnisse vor, die durch natürliche Selektion entstanden sind und für den Organismus überaus zweckmäßige Einrichtungen repräsentieren. Dasselbe gilt auch von anderen Fällen, in denen die Pflanzen gerade durch gutriechende oder gutschmeckende Sekrete, wie ätherische Oele, Blütenhonig etc., Insekten anlocken, deren Kommen und Gehen den Pflanzen insofern von Nutzen, ja vielfach unentbehrlich ist, als diese Tiere den Blütenstaub an ihren Beinen mit forttragen und zu den weiblichen Blüten verschleppen, die auf diesem Wege befruchtet werden. Derartige oft erstaunlich zweckmäßige Anpas- sungen finden sich zahllose besonders im Pflanzenreich, und die Physiologie der Sekretion berührt sich hier in engster Weise mit dem interessanten Gebiete der Wechselbeziehungen zwischen Pflanzen und Tieren. Schließlich könnte man als Sekrete im weitesten Sinne auch die 1) Eine eingehende Darstellung dieser sehr wichtigen Erfahrungen und Theo- rien hat ASCHOFF in der Zeitschrift für allgemeine Physiologie, Bd. 1, 1902 ge- geben unter dem Titel: „EHRLICHs Seitenkettentheorie und ihre Anwendung auf die künstlichen Immunisierungsprozesse*. 2) E. Stau: „Pflanzen und Schnecken“. Eine biologische Studie über die Schutzmittel der Pflanzen gegen Schneckenfraß. In Jen. Zeitschr. f. Naturw., Bd. 22, N. F. 15, 1888. Von den elementaren Lebensäußerungen. 207 in der Zelle produzierten Stoffe, wie Stärke, Aleuronkörner, Fetttröpfchen etc., auffassen, die in der Zelle als Reservestofte eine Zeitlang aufgespeichert, später im Stoffwechsel wieder verbraucht werden. Zu den Sekreten, die nach ihrer Produktion dauernd, im Organismus bleiben, gehören fast ausschließlch die Pigmente und die skelettbildenden Substanzen. Während die Pigmente, die meist in Form feiner Körnchen auftreten, stets im Zellkörper bleiben und besonders beim Farbenwechsel der Tiere eine noch nicht ganz aufgeklärte Bedeutung für das Tier besitzen, wird die überwiegende Mehrzahl der skelettbildenden Substanzen nach außen abgeschieden, sei es, daß sie in der Zelle selbst angelegt und später ausgestoßen werden, wie die Kalknadeln und Plättchen der Holothurien, sei es, daß sie gleich als Membranen, Schalen, Panzer an der Oberfläche A B Fig. 76. Kieselskelette von Radiolarien nach HAECKEL. A Dorataspis. B Theoconus. der Zellen abgesondert werden, wie die Zellmembranen, dieZellulose- membranen der Pflanzenzellen, die Chitinpanzer der Insekten, die Kieselsäureschalen der Diatomeen, die überaus zierlichen Gitter- skelette der Radiolarien (Fig. 76), die Kalkgehäuse der Foramini- feren etc., sei es endlich, daß sie in den Geweben zwischen den ein- zelnen Zellen abgelagert werden als sogenannte „Bindesubstanzen“, wie das Chondrin im Knorpel, das Kollagen im Knochen, der phosphorsaure Kalk im Knochen und die ganze Fülle der Stütz- und Gerüstsubstanzen, die in die Gruppe der Albuminoide gehören und bei den verschiedenen Tiergruppen verschiedenartige, noch wenig gekannte Zusammensetzung haben. b) Exkrete. . Die Exkrete sind weit weniger mannigfaltig als die Sekrete. Die Hauptrolle unter ihnen spielen die Stoffe der regressiven Eiweiß- metamorphose, die von jeder lebendigen Substanz ausgeschieden werden. 208 Drittes Kapitel. Unter den gasförmigen Exkreten ist das wichtigste die Kohlensäure, das Endprodukt der Atmung, das zum größten Teil aus dem oxydativen Zerfall der Eiweißverbindungen, Kohlehydrate und Fette der lebendigen Substanz hervorgeht, zum Teil aber auch aus Gärungsprozessen herrührt, denen diese Stoffe im Stoffwechsel unterliegen. Neben der Kohlensäure scheiden, wie wir bereits sahen, die Pflanzen noch Sauerstoff aus, der aus der Spaltung der von den grünen Pflanzenteilen aufgenommenen Kohlensäure stammt. Man hat daher den bereits früher berührten vermeintlichen Gegensatz im Stoffwechsel von Pflanzen und Tieren auch darin zu finden geglaubt, daß die Pflanzen Kohlensäure aufnehmen und Sauerstoff abgeben, während die Tiere bei der Atmung umgekehrt Sauerstoff aufnehmen und Kohlensäure ausscheiden. Allein spätere Untersuchungen haben gezeigt, daß auch dieser Gegensatz zwischen beiden Organismenreihen in Wirklichkeit gar nicht besteht. Zwar ist es wahr, daß die Tiere mit Ausnahme der Anaörobien sämtlich Sauerstoff einatmen, zur Ver- brennung der lebendigen Substanz verwerten und als Verbrennungs- produkt dafür Kohlensäure ausatmen. Aber auch die Pflanzen tun dasselbe. Bei ihnen ist dieser fundamentale Lebensvorgang der Atmung nur verdeckt durch den Verbrauch und die Spaltung der Kohlensäure, die aber mit dem speziellen Vorgang der Atmung selbst nichts zu tun hat, sondern lediglich mit dem Aufbau der ersten organischen Substanz der Pflanze aus anorganischen Stoffen in Be- ziehung steht. Untersucht man daher den Stoffwechsel der Pflanze zu einer Zeit, wo keine Stärkebildung vor sich geht, wo keine Kohlen- säurespaltung stattfindet, wo aber das Leben der Pflanze in anderen Vorgängen zum Ausdruck kommt, also im Dunkeln, so findet man bei gasanalytischen Versuchen, die den früher beschriebenen analog sind, daß die Pflanze genau in derselben Weise Sauerstoff verbraucht wie das Tier und genau so Kohlensäure dafür ausatmet wie das Tier. Der Prozeß der Atmung bei der Pflanze ist also nicht zu verwechseln mit dem Prozeß der Stärkeassimilation, der eine Auf- nahme und Spaltung der Kohlensäure und Abscheidung von Sauer- stoff verlangt und so den Prozeß der Atmung, der stets daneben existiert, nur verhüllt. Unter den flüssigen Exkreten finden wir überall das Wasser und eine Anzahl im Wasser gelöster Stoffe. Da die einzelne Zelle bei ihrer Kleinheit zu geringe Mengen von allen diesen Exkret- stoffen abgibt, so ist es bei dem jetzigen Stande der mikrochemischen Reaktionen zum größten Teil noch nicht möglich, diese Stoffe für jede einzelne Zelle nachzuweisen; wir müssen uns also, um sie kennen zu lernen, an den zusammengesetzten Zellenstaat halten. Bei der Pflanze wird das Wasser während der „Transpiration*“ durch die sogenannten Spaltöffnungen der Blätter ausgeschieden und verdunstet. Durch die Tätigkeit besonderer Schließzellen können die Spalt- öffnungen geschlossen und geöffnet und es kann dadurch die Abgabe des Wassers von seiten der Pflanze in feinster Weise geregelt werden. Bei den Tieren sind es besondere Drüsen, die Lungen, die Nieren und die Schweißdrüsen, deren Zellen das Wasser aus den Körpersäften ausscheiden und nach außen befördern. Unter den stickstofffreien Produkten des Eiweißumsatzes sind die meisten vollständig bis zu Kohlensäure und Wasser oxydiert, so daß als Endprodukte fast ausschließlich Kohlensäure und Wasser Von den elementaren Lebensäußerungen. 209 den Körper verlassen. Allein es treten dabei doch auch Zwischen- produkte auf, die, von gewissen Zellen ausgeschieden, im Körper selbst noch ein anderes Schicksal haben. Das gilt besonders von der Milch- säure, die unter anderem von den Muskelzellen in das Blut aus- geschieden wird und sich noch im Blute findet, aber nicht als solche im Harn den Körper verläßt. Daß die Fleischmilchsäure oder Para- milchsäure aus dem Zerfall von Eiweißkörpern stammt und nicht etwa aus den aufgenommenen Kohlehydraten, geht aus den bereits angeführten Versuchen von GAGLIO!) hervor. Die stickstoffhaltigen Produkte des Eiweißumsatzes sind die bekannten Stoffe, denen wir schon mehrfach begegnet sind, vor allem Harnstoff, Harnsäure, Hippursäure, Kreatin etc., ferner die Nukleinbasen XNanthin, Hypoxanthin oder Sarkin, Adenin und Guanin, die zum größten Teil von den Nieren im Harn ausgeschieden werden und die Stoffe repräsentieren, in denen, abgesehen von einer unbedeutenden, im Schweiße und den Faeces enthaltenen Menge, der ganze in der Nahrung aufgenommene Stick- stoff den Körper wieder verläßt. Die letztere Tatsache, daß mit Ausnahme der verschwindenden Menge im Schweiße und den Faeces der sämtliche Stickstoff im Harn ausgeschieden wird, hat im Hinblick auf den Umstand, daß die Eiweißkörper und ihre Derivate die einzigen stickstoffhaltigen Stoffe im Organismus sind, eine sehr große Bedeutung in der Physiologie der tierischen Organismen erlangt; aber leider hat sie auch zu einem Fehlschluß geführt, der an sich vielleicht keinen unmittelbaren Einfluß auf die Entwicklung unserer grundlegenden physiologischen Vor- stellungen gehabt hätte, wenn nicht auf ihn weitgehende und wichtige Folgerungen aufgebaut worden wären. Aus der eben genannten Tat- sache ergibt sich nämlich mit Notwendigkeit zwar, daß der sämt- liche im Harn ausgeschiedene Stickstoff aus dem Zer- fall von Eiweißkörpern oder deren Verbindungen stammen muß, aber nicht der Schluß, den man noch weiterhin ziehen zu müssen glaubte, daß der im Harn ausgeschiedene Stickstoff ein Maß für den Eiweißumsatz im Körper abgibt. Der letztere Schluß wäre nur berechtigt, wenn man wüßte, daß alle stickstoff- haltigen Spaltungsprodukte des Eiweißes ausnahmslos den Körper verlassen. Dafür hat man aber durchaus keinen Anhaltspunkt; im Gegenteil, es ist, um hier nur die Möglichkeit zu berühren, durch- aus keine Tatsache vorhanden, die dagegen spräche, daß sich stick- stoffhaltige Spaltungsprodukte der Eiweißkörper oder ihrer Ver- bindungen mit neuen stickstoftfreien Atomgruppen wieder zu Körpern der Eiweißgruppe synthetisch regenerieren können. Diese letztere Möglichkeit hat man übersehen, und infolgedessen ist man besonders in bezug auf den Stoffumsatz im Muskel früher vielfach zu An- schauungen gekommen, die in ihrer Einseitigkeit nicht zutreffend waren. Den Exkretstoffen der regressiven Eiweißmetamorphose können wir noch eine Gruppe von Stoffen anreihen, die ebenfalls aus der Umformung von Körpern der Eiweißgruppe hervorgehen, und zwar hauptsächlich im Stoffwechsel der Bakterien. Das sind die sogenannten Ptomaine und die wegen ihrer sehr giftigen Wirkung als Toxine 1) GAGLIo: „Die Milchsäure des Blutes und ihre Ursprungsstätten“. In Du Boıs-REyMonDs Arch., 1886. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 14 210 Drittes Kapitel. bezeichneten Stoffe. Auf ihrer giftigen Wirkung beruhen zum größten Teil die schweren Erkrankungen bei den durch Bakterieninfektion erzeugten Infektionskrankheiten, wie Cholera, Dysenterie, Diphtherie, Typhus ete. Die chemische Zusammensetzung dieser Stoffe ist erst. in neuerer Zeit ein wenig bekannt geworden, vor allem durch die umfangreichen und tiefgehenden Arbeiten von BRIEGER!). Einige unter ihnen, die zuerst aufgefundenen Ptomaine, die bei Fäulnis von Eiweißsubstanzen, z. B. in Leichen, durch den Stoffwechsel der Fäulnisbakterien erzeugt werden, sind stickstoffhaltige Basen, welche den sogenannten Alkaloiden oder Pflanzenbasen, die im Pflanzen- körper entstehen und ebenfalls überaus giftige Exkretstoffe repräsen- tieren, verwandt sind. Schließlich ist hier der Ort, um mit einigen Worten noch auf eine sehr interessante Reihe von Stoffen einzugehen, die gleichfalls hauptsächlich durch den Stoffwechsel der Bakterien, aber auch vieler anderer Zellen erzeugt werden und erst in neuester Zeit die Auf- merksamkeit der Forscher auf sich gelenkt haben. Das sind die Toxalbumine, giftige Eiweißkörper, die in dem Stoffwechsel der betreffenden Zellen durch Umformung aus anderen Körpern gebildet werden und in der Pathologie der Infektionskrankheiten eine wichtige Rolle spielen. Diese Toxalbumine sind hauptsächlich Körper aus den Gruppen der Globuline und der Albumosen. So ist z. B. der wirk- same Bestandteil des seinerzeit von KocH aus den Stoffwechsel- produkten der Tuberkelbacillen gewonnenen „Tuberkulins“ eine Toxalbumose, die schon in geringen Dosen äußerst giftig wirkt. Durch Produktion einer anderen Toxalbumose rufen die Diphtherie- bacillen ihre sehr charakteristischen Vergiftungssymptome im Körper diphtheriekranker Personen hervor, die oft nur sehr langsam wieder verschwinden. Die Toxalbumose der Diphtheriebakterien war der erste Toxalbuminkörper, der von LÖFFLER?) als solcher erkannt und von BRIEGER und FRÄNKEL*®) rein dargestellt wurde. Man war nicht wenig erstaunt, als man die ersten giftigen Eiweißkörper kennen lernte, nachdem man so lange die Eiweißkörper stets nur als unschädliche, ja sogar als unbedingt zum Leben notwendige Nahrungs- stoffe gekannt hatte. Und nicht geringer war die Verwunderung, als man später fand, daß die giftige Wirkung des gefürchteten Schlangengiftes, des Blutes mancher Fische, wie der Muränen etec., ebenfalls auf die Anwesenheit solcher Toxalbumine zurückzuführen ist, die hier durch den Stoffwechsel der Gewebezellen erzeugt und ausgeschieden werden. Feste Exkretstoffe schließlich finden wir fast nur bei den Zellen, die geformte Nahrung aufnehmen. Bei ihnen werden die un- verdaulichen Reste der Nahrung als feste Exkrete in der bereits be- schriebenen Weise nach außen abgegeben. Nur in wenigen Fällen werden Exkretstoffe, die sich gelöst im Zellinhalt befinden, in der Zelle selbst zu festen Konkrementen geformt und dann ausgestoßen, wie es z. B. nach den Untersuchungen von RHUMBLER*) bei Wimper- 1) BRIEGER: „Ueber Ptomaine“. Teil I, II u. III. Berlin 1885 u. 1886. 2) LöFFLER: In Deutsche med. Wochenschr., 1890, No. 5 u. 6. 3) BRIEGER u. FRÄNKEL: „Untersuchungen über Bakteriengifte“. In Berl. klin. Wochenschr., 1890. 4) L. RHUMBLER: „Die verschiedenen Cystenbildungen und die Entwicklungs- geschichte der holotrichen Iufusoriengattung Colpoda“. In Zeitschr. f. wiss. Zool., Bd. 46, 1888. Von den elementaren Lebensäußerungen. 311 a infusorien vorkommt. Ob man die Konkremente von Guanin und die Kristalle von Guaninkalk, die in manchen Zellen angehäuft und dauernd im Protoplasma abgelagert werden, wie die schön irisierenden Kristallplättehen und Nadeln in den Epidermiszellen der Amphibien und Fische, als Exkrete aufzufassen hat oder nicht viel- mehr als Stoffe, die im Leben der betreffenden Organismen eine be- sondere Bedeutung haben, ist zur Zeit noch nicht zu entscheiden. * *x Blicken wir noch einmal zurück auf die Tatsachen des Stoff- wechsels, und vereinigen wir die einzelnen Erfahrungen zu einem Gesamtbilde, so finden wir, daß der Stoffwechsel vom Eintritt der Stoffe in die lebendige Zelle bis zum Austritt aus dieser in einer langen Reihe von komplizierten chemischen Prozessen besteht, die wir uns unter dem Bilde einer Kurve mit einem aufsteigenden und einem absteigenden Schenkel vorstellen können. Der aufsteigende Schenkel enthält als Glieder alle Prozesse, die zum Aufbau der lebendigen Substanz führen; der Höhepunkt wird gebildet von der Synthese der höchstkomplizierten organischen Stoffe, der Eiweißkörper und ihrer Verbindungen, der absteigende Schenkel umfaßt die Prozesse des Zerfalls der lebendigen Substanz bis in ihre einfachsten Spaltungs- produkte. Ausgangspunkt und Endpunkt der Kurve, d.h. die Stoffe, die in den Organismus eintreten und aus ihm austreten, sind am besten bekannt, am wenigsten dagegen und zum größten Teil sogar überhaupt nicht die Glieder der Stoffwechselkurve, die um den Höhepunkt liegen. Der gesamte Stoffwechsel aber ist ein ungeheuer kompliziertes Getriebe einer vorläufig noch ganz unabsehbaren Zahl von einzelnen chemischen Prozessen, die alle in ganz bestimmter Weise ineinander greifen und voneinander in engster Abhängigkeit stehen. Die grüne Pflanzenzelle, ja schon die einfache, einzellige, grüne Alge, z. B. ein Protococcus, stellt ein chemisches Laboratorium vor, in dem aus den einfachsten anorganischen Stoffen, Kohlensäure, Wasser und Salzen, organische Substanz hergestellt wird, wobei Spal- tungen und Synthesen immer Hand in Hand laufen. Zuerst entstehen Kohlehydrate. Die Kohlehydrate dienen wieder dazu, um unter Mit- wirkung der stickstoffhaltigen Salze Eiweißkörper und deren Ver- bindungen aufzubauen, wobei die verschiedenartigsten Nebenprodukte entstehen. Diesen allmählichen Aufbau ‘der Eiweißkörper aus ihren Verbindungen vollzieht die grüne Pflanzenzelle aber nicht allein für sich selbst, sie tut es zugleich für sämtliche tierische Zellen mit, welche die Fähigkeit, aus anorganischem Material organisches zu machen, im Laufe der Entwicklung verloren haben. Die von der Pflanze produ- zierten organischen Stoffe dienen den Pflanzenfressern, das Fleisch der Pflanzenfresser den Fleischfressern als Nahrung. Fleischfresser können aber allein von Eiweißnahrung leben. Wir sehen also, daß alle Stoffe, die im Stoffwechsel vorkommen, teils wie in der Pflanze zum Aufbau von komplizierten Körpern der Eiweißgruppe führen, teils wie im Fleischfresser allein aus dem Umsatz solcher Körper entstehen können. In der Pflanze sowohl wie im Tier aber findet schließlich ein fortwährender Zerfall von komplizierten Eiweiß- verbindungen statt, und als definitive Endpunkte des Stoffwechsels erhalten wir wieder einfache anorganische Verbindungen, dieselben, 14* 212 Drittes Kapitel. von denen der Aufbau der lebendigen Substanz ausgegangen ist, nämlich im wesentlichen Kohlensäure, Wasser und stickstoffhaltige Salze. Der ganze Stoffwechsel ist also nur eine Reihe von chemischen Prozessen, die sich um den Aufbau und um den Zerfall der Eiweißkörper und ihrer Ver- bindungen gruppieren. Und das gilt von der Pflanze sowohl wie vom Tier. Il. Die Formbildung'). Die Form der Organismen ist keine unveränderliche. Auch ab- gesehen von den Formveränderungen, die mit den Bewegungsvor- sängen verbunden sind und die wir an anderer Stelle betrachten wollen, zeigt die Organismenwelt weitgehende Formveränderungen, die wir als ihre Entwicklung bezeichnen. Zwei große Reihen von Formveränderungen sind es, die wir an der lebendigen Substanz feststellen: die phylogenetische Entwicklungsreihe oder Stammesentwicklung, welche die Formveränderungen der lebendigen Substanz in ihrer Gesamtheit während der Erdentwicklung umfaßt, und die ontogenetische Entwiceklungsreihe oder Keimes- entwicklung, welche die Formveränderungen bezeichnet, die das einzelne Individuum während seines individuellen Lebens durchläuft. Beide Reihen stehen, wie HAECKEL?) durch seine bahnbrechenden und für die moderne Entwicklungslehre grundlegenden Arbeiten gezeigt hat, in einem engen Zusammenhange untereinander, und zwar ist die Keimesentwicklung im allgemeinen eine abgekürzte Rekapitulation der Stammesentwicklung der Organismen. A. Die phylogenetische Entwicklungsreihe. Die Formen der lebendigen Substanz auf der Erde sind nicht stets dieselben gewesen, die wir jetzt auf der Erdoberfläche sehen. Die moderne Paläontologie, die Erforschung der versteinerten Orga- nismen, die sich in den verschiedenen Schichten der Erdrinde finden, hat uns mit einer erdrückenden Fülle von Formen bekannt gemacht, die von den jetzt lebenden um so mehr abweichen, je älteren Schichten sie entstammen. Zwar hat die kritische Forschung der letzten Jahr- zehnte eine ganze Zahl der wunderbaren Wesen, mit denen die ältere Geologie die Erde bevölkerte, ins Reich der Fabel gewiesen und als Phantasiebilder entschleiert, die mit den seltsamen Tiergebilden, welche der formenschöpferische Geist der Inder, der Babylonier, der Mexikaner erschuf, auf gleicher Stufe stehen; dennoch aber hat die Entdeckung wohlerhaltener fossiler Formen gerade in den letzten Jahrzehnten uns deutlich bewiesen, wie ganz anders die Organismen- 1) Die hier in Betracht kommenden Verhältnisse, die bisher fast ausschließlich von der Morphologie studiert worden sind und dadurch in etwas einseitiger und in vielen Punkten sehr schiefer Auffassung erschienen sind, weil man bei ıhrer Unter- suchung zu sehr die feste, stabile Form des Organismus und zu wenig das Geschehen in ihm, dessen Ausdruck die Formbildung ist, berücksichtigte, haben neuerdings eine sehr eingehende Würdigung unter physiologischen Gesichtspunkten erfahren durch das Buch des Physiologen PAUL JENSEN: „Organische Zweckmäßigkeit, Entwicklung und Vererbung vom Standpunkte der Physiologie“. Jena 1907. 2) E. HAECKEL: „Generelle Morphologie der Organismen“. Berlin 1866. Von den elementaren Lebensäußerungen. 213 welt der Erdoberfläche in früheren Perioden der Erdentwicklung zu- sammengesetzt war. Wir haben eine überwältigende Formenfülle von Organismen kennen gelernt, die vor uns Wasser und Land be- völkerten, aber erst die Deszendenzlehre hat einen inneren Zusammen- hang in diesen Formenreichtum gebracht, indem sie zeigte, daß die fossilen Organismen nicht als alleinstehende Kuriosa, als „lusus naturae“, als mißlungene Versuche eines Schöpfers aufzufassen sind, wie es noch das 18. Jahrhundert glaubte, sondern daß sie die aus- gestorbenen Zweige und Aeste eines gewaltigen, mächtig ausgebreiteten Stammbaumes sind, dessen jüngste und letzte Sprossen die jetzt lebenden Organismen repräsentieren, dessen älteste Aeste aus einer gemeinsamen Wurzel, dem Reich der Protisten, entsprungen sind, deren direkte, verhältnismäßig wenig veränderte Nachkommen wir noch jetzt in dem interessanten Formengebiet der einzelligen Wesen, der Rhizopoden und Bakterien, der Infusorien und Algen, vor uns haben. Der modernen Morphologie ist es im wesentlichen gelungen, durch Kritische Forschung ein Bild vom Stammbaum der Organismen in großen Zügen zu entwerfen, und der Begriff der natürlichen „Ver- wandtschaft“, wie er von der früheren systematischen Morphologie in übertragener Bedeutung vorahnend angewandt worden war, hat durch die phylogenetische Forschung eine durchaus reale Bedeutung erhalten. Unsere jetzige Organismenwelt ist das Produkt einer sich über ungeheuer lange Zeiträume erstreckenden historischen Entwicklung, bei der die einen Formen, wie die Wirbeltiere, das Resultat mannigfaltiger und tiefgehender Umformungen sind, während die anderen Formen, wie die Protisten, sich in verhältnismäßig wenig veränderter Gestalt aus frühester Zeit her er- halten haben. Der letztere Umstand, daß wir in den einzelligen Protisten eine Organismengruppe kennen, welche die Charaktere der alten ehrwürdigen Vorfahren aller Organismen noch in verhältnis- mäßig wenig getrübter Reinheit besitzt, läßt uns übrigens gerade diese einzelligen Mikroorganismen auch physiologisch als eine be- sonders wertvolle Gruppe betrachten. Gehen wir aber noch etwas genauer auf die Tatsachen der Formentwicklung im allgemeinen ein. Kein Stoff ohne Form. Form und Stoff sind untrennbar mit- einander verknüpft, und jeder Stoff, jede Substanz hat eine bestimmte Form, welche der Ausdruck chemisch-physikalischer Faktoren ist, die teils durch die Beschaffenheit des betreffenden Stoffes selbst, teils durch die Einwirkungen, die der Körper von außen her erfahren hat, gegeben sind. Die lebendige Substanz ist nur ein Teil des Stoffes, der den Erdkörper zusammensetzt, und ist ihrer elementaren Be- schaffenheit nach nicht von anderen Stoffen verschieden. Die lebendige Substanz muß also in ihrer Formbildung ebenso den mechanischen Gesetzen des Stoffes gehorchen wie alle anderen Körper. Hat aber ein Organismus irgendeine bestimmte Form, so sind es zwei Momente, deren Wechselwirkung seine weitere Formentwicklung bestimmt, ein konservatives Moment, das in formerhaltendem, und ein kommutatives, das in formveränderndem Sinne wirksam ist. Das formerhaltende Moment äußert sich in der Vererbung der vorhandenen Eigen- schaften, das formverändernde in der Anpassung an veränderte Bedingungen. 214 Drittes Kapitel. 1. Die Vererbung. Die Vererbung ist eine der bekanntesten Tatsachen, so bekannt, daß wir sie im täglichen Leben kaum beachten, und uns ihrer nur be- wußt werden in besonders charakteristischen Fällen. Die Vererbung ist einfach die Tatsache, daß sich die Eigenschaften der Eltern bei der Fortpflanzung auf die Kinder übertragen, so daß die Nachkommen den Vorfahren im allgemeinen gleichen. Die Nachkommen eines Käfers werden immer wieder Käfer von derselben Form; aus den Eiern eines Huhnes entwickelt sich immer wieder ein Huhn; ein Hund kann immer nur Hunde, ein Mensch nur Menschen erzeugen, niemals andere Wesen. Diese Vererbung der Eigenschaften der Eltern auf die Nachkommen geht bis in die feinsten Einzelheiten, und nicht bloß die äußere Körperform, sondern auch bestimmte Bewegungs- formen, Haltungen, Gewohnheiten etc. vererben sich. Am deutlichsten sehen wir das beim Menschen, weil beim Menschen durch Uebung in der Unterscheidung unser Blick am meisten selbst für Kleinigkeiten geschärft ist. Es fällt uns aber die Tatsache der Vererbung in der Regel nur auf, wenn es sich um besonders charakteristische Merk- male handelt, wenn wir eigentümliche Gesichtszüge, Abnormitäten des Körpers, wie z. B. überzählige Finger, Behaarung des ganzen Körpers oder ungewöhnlicher Teile, körperliche Defekte etc. sich von den Eltern auf die Kinder übertragen sehen. Allein nicht immer sehen wir die Vererbung aller Eigentüm- lichkeiten. Viele speziellere Eigenschaften vererben sich überhaupt nicht, andere übertragen sich nicht von den Eltern auf die nächste Generation, sondern erst wieder auf die zweite oder dritte. Dieses Wiederauftreten von Eigenschaften in der zweiten, dıitten oder in noch späteren Generationen mit Ueberspringung der dazwischen- liegenden ist als Rückschlag oder „Atavismus“ bekannt. So be- obachtet man beim Menschen nicht selten, daß die Kinder wieder Eigentümlichkeiten ihrer Großeltern haben, die ihren Eltern zeitlebens fehlten. Ja, manche Eigentümlichkeiten können, nachdem sie viele Hunderte von Generationen hindurch latent geblieben waren, plötzlich wieder in einer Generation auftreten. Das wird besonders oft beob- achtet bei Haustieren und Kulturpflanzen, die durch allmähliche Veredlung aus wilden Formen künstlich gezüchtet worden sind. Diese schlagen, wenn man sie verwildern läßt, in der Regel wieder in die wilde Stammform zurück, und jeder Tierzüchter, jeder Gärtner kennt eine Unzahl von Beispielen dafür. Es würde zu weit führen, diese Tatsachen hier ausführlicher zu behandeln, und es würde überflüssig sein, da durch die unsterblichen Werke DAarwıIns!), sowie durch die Arbeiten der Morphologie, die im Anschluß an die Deszendenztheorie entstanden sind, eine Fülle von Beispielen ganz allgemein bekannt geworden ist. Eine Frage ist in neuerer Zeit im Vererbungsproblem in den Vordergrund des Interesses getreten und äußerst lebhaft diskutiert worden, das ist die Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften bei vielzelligen Organismen. Werden Eigentüm- lichkeiten, die während des individuellen Lebens durch Einwirkung 1) CHARLES DARWIN: „On the origin of species by means of natural selection (or the preservation of favoured races in the struggle for life)‘. London 1859. Von den elementaren Lebensäußerungen. 215 äußerer Einflüsse entstanden sind, also z. B. Verstümmelungen, Krankheiten etc., auf die Nachkommen vererbt oder werden nur an- geborene Eigenschaften, d. h. die Eigenschaften, die während der Entwicklung des Organismus ohne äußere Einwirkungen aufgetreten sind, übertragen? Während DArwın!), HAECKEL?), EIMER?), R. von WETTSTEIN®) und andere die Ansicht vertreten, daß auch erworbene Eigenschaften erblich sind, hat WEISMANN °) in einer langen Reihe von Arbeiten zu zeigen gesucht, daß nur solche Eigenschaften vererbt werden, die bereits in ihrer Anlage in den Keimzellen des Organismus vorhanden waren, und H. DE VRıES®) ist in einer Reihe botanischer Untersuchungen zu demselben Ergebnis gekommen. Es muß auf den ersten Blick verwundern, daß eine solche Frage, die scheinbar so leicht zu beantworten ist, Gegenstand so entgegen- gesetzter Vorstellungen sein kann; denn nichts scheint einfacher, als durch das Experiment zu entscheiden, ob sich etwa Verstümmelungen, die man an einem erwachsenen Tier anbringt, auf die Nachkommen vererben. In der Tat sind von WEISMANN und anderen solche Ver- suche gemacht worden. WEISMANN schnitt zwölf weißen Mäusen, von denen sieben weiblichen und fünf männlichen Geschlechts waren, die Schwänze ab und züchtete fünf Generationen von Nachkommen, im ganzen 849 Mäuse, von diesen schwanzlosen Eltern, aber keine einzige unter ihnen kam ohne Schwanz auf die Welt; die Schwänze hatten sämtlich bei den ausgewachsenen Tieren ihre völlig normale Länge. Solche Versuche sind mehrfach angestellt worden, aber sie beweisen nichts anderes, als daß in den betreffenden Fällen die Ver- stümmelungen nicht vererbt wurden. Daß überhaupt keine er- worbenen Eigenschaften vererbt werden, darf daraus noch nicht ge- schlossen werden. Demgegenüber ist von der anderen Partei eine Anzahl von Beispielen beigebracht worden, aus denen hervorzugehen schien, daß gewisse erworbene Eigentümlichkeiten vererbt worden waren. Allein WEISMAnN hat alle diese Fälle wieder einer sehr sorgfältigen Kritik unterzogen und zu zeigen versucht, daß sie aus verschiedenen Gründen nicht als beweiskräftig angesehen werden dürfen. So ist die Frage bisher noch immer nicht entschieden. Eine Entscheidung aber kann in der Tat nur durch das Experiment her- beigeführt werden. Freilich nicht durch Experimente wie die an den Mäusen. Es ist von vornherein im höchsten Grade unwahrscheinlich, daß sich die Verstümmelung des Schwanzes oder des Fingers oder ähnlicher Körperteile vererben sollte, denn es ist kaum anzunehmen, daß die betreffenden Organe mit den Geschlechtszellen, durch die allein eine Fortpflanzung und Vererbung geschieht, in einer solchen 1) CHARLES DARWwIN: „On the origin of species by means of natural selection (or the preservation of favoured races in the struggle for life)“. London 1859. 2) Ernst HAECKEL: „Generelle Morphologie der Organismen“. Berlin 1866. 3) G. Tu. Emer: „Die Entstehung der Arten auf Grund von Vererben er- worbener Eigenschaften nach den Gesetzen organischen Wachsens“. I. Teil, Jena 1888. 4) R. vox WETTSTEIN: „Ueber direkte Anpassung“. Vortrag, gehalten in der feierlichen Sitzung der k. k. Akademie der Wissenschaften zu Wien, 1902. — Derselbe: „Untersuchungen über den Saisondimorphismus im Pflanzenreich“. In Denkschr. d. k. k. Akad. d. Wissensch., Bd. 70, 1900. 5) WEISMANN: „Aufsätze über Vererbung und verwandte biologische Fragen“. (Enthält alle Arbeiten WEISMANNs über Vererbung von 1881 an.) 6) H. DE Vrıes: „Die Mutationstheorie. Versuche und Beobachtungen über die Entstehung von Arten im Pflanzenreich“. Leipzig 1901—1903. 216 Drittes Kapitel. Beziehung stehen, daß ihre Verstümmelung überhaupt einen Einfluß auf die Geschlechtszellen ausüben sollte, und ein solcher wäre die erste Voraussetzung für eine Vererbung. Bei künftigen Experimenten müßten also Verstümmelungen an solchen Organen angebracht werden, die nachweislich mit den Geschlechtsorganen in Korrelation stehen, nur dann wäre an die Möglichkeit einer Vererbbarkeit zu denken. Solche Korrelationen sind aber nur wenige bekannt. So z. B. steht beim Menschen die Entwicklung des Kehlkopfes in Korrelation mit den Geschlechts- organen. Männer, die in der Jugend durch Kastration die Hoden verloren haben, behalten zeitlebens einen in der Entwicklung zurück- gebliebenen Kehlkopf und eine hohe Kinderstimme. Die herrlichen Soprane in der Peterskirche zu Rom, deren gesangskünstlerische Leistungen jährlich Tausende von Fremden anlocken, haben oft Beispiele dafür geliefert. Aehnliche Korrelationen müssen vor allem erst mehr erforscht und dann zu Versuchen benutzt werden, soll nicht das Experimentieren ein planloses Umhertasten bleiben, das die Entscheidung dem Zufall überläßt. Daß Einwirkungen auf die Geschlechtszellen, also auf Ei und Spermatozoon, die weitere Ent- wicklung in hohem Grade beeinflussen, ist von vornherein einleuchtend und zudem in neuerer Zeit durch eine große Zahl ausgezeichneter Versuche, besonders von den Brüdern HERTWIG!), gezeigt worden. Wenn also Verstümmelungen am hochentwickelten Tiere oder an der Pflanze angebracht werden können, welche die lebendige Substanz der Geschlechts- oder Keimzellen verändern, dann erst wäre die Möglichkeit gegeben, experimentell zu entscheiden, ob sich die Verstümmelungen als solche durch ganz bestimmte Beeinflussung der Geschlechtszellen vererben, oder ob sie die Geschlechtszellen nur in- soweit beeinflussen, als aus ihnen Nachkommen mit irgendwelchen anderen Defekten und Abnormitäten hervorgehen, die nicht der an- gebrachten Verstümmelung gleichen. Im ersteren Falle würde eine wirkliche Vererbung erworbener Eigenschaften vorliegen, im zweiten nicht. Von vornherein wäre es allerdings als höchst unwahrscheinlich zu bezeichnen, daß irgendeine Veränderung an einem Organ des Körpers, das mit den Geschlechtsdrüsen in Korrelation steht, gerade eine der- artige Veränderung in den Geschlechtszellen hervorbringen sollte, daß bei der folgenden Entwicklung gerade wieder die gleiche Veränderung des betreffenden Organs resultierte. Man hätte nach unseren bisherigen Erfahrungen keine Möglichkeit, sich irgendeinen Begriff von einer derartigen Beeinflussung der Geschlechtszellen zu machen. Indessen ist eine experimentelle Entscheidung noch immer nicht getroffen, und so bleibt die Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften immer noch offen. Was man bisher im bejahenden oder verneinenden Sinne geäußert hat, sind nichts als mehr oder weniger wahrscheinliche Vermutungen. Allerdings scheint es auf den ersten Blick schwer, sich manche allgemeine Tatsache der Formenbildung ganz ohne die Annahme einer Vererbung erworbener Eigenschaften zu erklären. Man könnte z. B. folgende Ueberlegung anstellen. Die individuellen Variationen unter den Organismen einer und derselben Art können offenbar bei solchen .. .. D O0. und R. HERTWIG: „Ueber den Befruchtungs- und Teilungsvorgang des tierischen Eies unter dem Einfluß äußerer Agentien“. Jenaische Zeitschr. f. Natur- wissenschaft, 1887. Von den elementaren Lebensäußerungen. 217 Organismen, die sich wie die niedrigsten Lebewesen ungeschlechtlich fortpflanzen, in letzter Instanz nur durch direkte Einwirkung äußerer Faktoren auf das Keimplasma derselben entstehen. Sie sind also erworbene Eigenschaften, und wenn sich diese erworbenen individuellen Eigenschaften nicht vererben könnten, dann wäre überhaupt jede Möglichkeit einer Formenentwicklung der Organismen auf der Erd- oberfläche ausgeschlossen, denn die ersten und einfachsten Organismen auf der Erde würden dann ihre Formen immer nur wieder durch Vererbung repetiert haben und könnten niemals Ausgangspunkte für die Entwicklung der ungeheuren Formenfülle sein, die aus ihrer all- mählichen Umbildung entstanden ist. Man könnte hier freilich ein- wenden, daß die erworbenen Eigenschaften sich durchaus nicht not- wendigerweise vererbt haben müssen, sondern vielmehr durch das Bestehenbleiben der Faktoren, welche sie bei den Vorfahren erzeugten, auch beiden Nachkommen immer wieder direkt erzeugt und erhalten würden, solange überhaupt diese wirksamen Faktoren in der äußeren Umgebung dauern. Allein, auch damit würde man noch nicht gut um die Annahme einer Vererbung er- worbener Eigenschaften herumkommen, denn wäre eine solche tat- sächlich nirgends vorhanden, so müßten die betreffenden Eigenschaften nach Wegfall der äußeren Faktoren, welche sie erzeugten, ebenfalls wieder wegfallen, und die Organismenform würde sofort wieder zu ihrer Urform zurückkehren. Das ist zwar bei kurzdauernden Ein- wirkungen tatsächlich vielfach der Fall (siehe unten Artemia und Amoeba), das trifft aber nicht zu für die Eigenschaften, die sich im Laufe von Jahrtausenden und Jahrmillionen festgesetzt haben. Sonst wäre es kaum verständlich, daß in ein und demselben Meerwasser, in ein und demselben Teich dauernd verschiedene Organismenformen unter völlig gleichen Bedingungen nebeneinander lebten. Diese ganze Betrachtung kann aber von einem anderen Standpunkte aus auch wieder erschüttert werden. Man kann nämlich sagen, daß die indi- viduellen Variationen bei einzelligen Organismen, die sich nur durch Teilung fortpflanzen, ebenso wie bei vielzelligen Organismen, die sich durch besondere Geschlechtszellen vermehren, bereits im Keimplasma selbst vorhanden wären, auch wenn die äußeren Faktoren immer und überall die gleichen blieben, denn die Eigenschaften des Keimplasmas sind nicht bloß abhängig von den äußeren, sondern ebenso von den inneren Bedingungen, sie sind eben das Produkt sämtlicher Be- dingungen. Die inneren Bedingungen sind aber bei zwei Teilhälften einer Zelle, selbst wenn die äußeren Bedingungen unverändert bleiben, niemals vollständig gleich, denn die Teilung der Zelle verläuft niemals in mathematisch genauer Weise. Wird nun ein Organismus unter ver- änderte äußere Lebensbedingungen gebracht, unter denen er selbst andere Eigenschaften erwirbt und Nachkommen erzeugt, die diese erworbenen Eigenschaften weiter fortpflanzen usf. durch Jahrtausende und Jahrmillionen hindurch, so könnte man die Tatsache, daß diese Eigenschaften schließlich auch noch fortbestehen nach Fortfall der Faktoren, die sie ursprünglich hervorriefen, auch erklären ohne die Annahme einer Vererbung neu erworbener Eigenschaften, nämlich durch die Jahrtausende hindurch geübte Selektion unter den indi- viduell variierenden Keimen, die immer nur diejenigen Keime sich ent- wickeln und weiter fortpflanzen läßt, die den veränderten Bedingungen am meisten entsprechen, bis schließlich die Nachkommen, nicht durch 218 Drittes Kapitel. die Vererbung der erworbenen Eigenschaften ihrer Vorfahren, sondern durch langdauernde natürliche Zuchtwahl unter den auf Grund der inneren Bedingungen des Keimplasmas variierenden Geschwistern den bestehenden Bedingungen angepaßt sind. (Vergl. den folgenden Ab- schnitt.) Indessen, alles das sind bloße Betrachtungen und Speku- lationen, die nur mehr oder weniger plausible Wahrscheinlichkeits- gründe beibringen können. Ein exakter Beweis oder eine experimentelle Widerlegung der einen oder anderen Ansicht fehlt, wie gesagt, bis heute vollständig. Bei dem Ausbleiben der Vererbung handelt es sich in allen Fällen immer nur um einzelne spezielle Eigentümlichkeiten. Die allgemeinen Charaktere eines jeden Organismus, die schon lange Generationen hin- durch immer fortgepflanzt worden sind, mögen sie nun ausschließlich angeboren oder mögen sie wirklich einst von irgendeinem Vorfahren erworben sein, werden im wesentlichen auch immer wieder auf die Nachkommen übertragen. Eine Veränderung derselben fiudet so lang- sam statt, daß wir sie innerhalb weniger Generationen, die während eines oder weniger Menschenalter zur Beobachtung kommen, ja sogar innerhalb vieler Generationen, wie aus der Identität der in ägyptischen Gräbern gefundenen Tierwelt mit der jetzigen hervorgeht, kaum be- merken können. So repräsentiert die Tatsache der Vererbung ein Moment, das in der phylogenetischen Entwicklungs- reihe dieErhaltung der einmal vorhandenen Eigentüm- lichkeiten der Form bedingt. 2. Die Anpassung. Nicht so unmittelbar wie das formerhaltende Moment der Ver- erbung tritt uns das formverändernde Moment der Anpassung ent- gegen, und zwar vornehmlich deshalb, weil der Vorgang der An- passung fast immer erst innerhalb längerer Zeiträume bemerkbar wird, während die Tatsache der Vererbung uns bei jeder Generation von Organismen vor Augen tritt. Allein, wenn wir auch meist nicht leicht die Veränderungen der Anpassung selbst beobachten, so sehen wir doch täglich ihren Erfolg, der uns auf Schritt und Tritt begegnet, meist allerdings, ohne daß wir uns dieses Umstandes bewußt sind. Die für die ältere Naturforschung so wunderbare Tatsache der Zweck- mäßigkeit in der lebendigen Natur, welche noch bis nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts die ratlose Naturwissenschaft immer wieder der „Teleologie“ in die Arme trieb, d. h. der Annahme eines vorher- bestimmten Schöpfungsplanes,. wie ihn die dogmatische Theologie, alt- ehrwürdige Ideen treulich bewahrend, noch heute annimmt, diese an- scheinend so wunderbare Zweckmäßigkeit in der Natur ist der einfache Ausdruck oder besser Erfolg der Anpassung der Organismen an ihre Lebensbedingungen im weitesten Sinne. Die Wassertiere sind an das Leben im Wasser, die Landtiere an das Leben im Trocknen, die Flugtiere an das Leben in der Luft in höchst zweckmäßiger Weise angepaßt. Die Fische haben als Extre- mitäten Flossen, die als Ruderorgane überaus vollkommen fungieren, die Landwirbeltiere haben statt der Flossen Beine zum Gehen und Kriechen auf dem Trocknen, die Vögel schließlich haben äußerst zweckmäßig gebaute Flügel, mit denen sie ihren leichten, von luft- Von den elementaren Lebensäußerungen. 219 haltigen Knochen gestützten Körper durch die Lüfte schwingen, in einer so vollkommenen Weise, wie es bis jetzt immer der vergebliche Wunsch aller Erfinder von künstlichen Flugmaschinen geblieben ist. Aber in einzelnen Fällen nur können wir in der Entwieklung des Individuums eine Anpassung an andere Verhältnisse verfolgen. So atmen z. B. die Larven der Amphibien, der Frösche, solange sie als geschwänzte Kaulquappen im Wasser leben, wie die Fische durch Kiemen, die in zweckmäßigster und einfachster Weise konstruiert sind, um die im Wasser gelöste Luft in gasförmigem Zustande aus dem Wasser zu gewinnen. "Sobald sie aber als kleine Frösche auf das Land kommen, schrumpfen die Schwänze ein, degenerieren die Kiemen und entwickeln sich die Lungen, mit denen sie, wie alle Landtiere, die Luft direkt in den Körper aufnehmen. Hindert man die Kaul- quappen künstlich, aufs Trockene zu kriechen, so behalten sie dauernd Schwanz und Kiemen, ohne daß die Lungen sich weiter entwickelten, trotzdem die Tiere eine stattliche Größe erreichen. Solche Beispiele zeigen, daß die Organismen in zweckmäßigster Weise an ihre Lebens- verhältnisse angepaßt sind, und die neuere zoologische und botanische Forschung hat gefunden, daß diese Anpassungen sich bis auf die feinsten Einzelheiten erstrecken, an die ein unbefangener Beobachter niemals denken würde. Da sich die Verhältnisse auf der Erdoberfläche seit ihrer Glutzeit her bis jetzt fortdauernd langsam geändert haben, da ferner fort- während in lokal beschränkten Gebieten ziemlich schnelle Aenderungen der äußeren Lebensverhältnisse eintreten, so muß, wenn wir sehen, daß alle Organismen bis in die kleinsten Einzelheiten hinein in so vollkommener Weise den allgemeinen und speziellen Verhältnissen zweckentsprechend gebaut sind, fortwährend eine Anpassung der Organismen an die äußeren Lebensbedingungen stattfinden, und zwar in demselben Maße, wie sich die Lebensbedingungen ändern. Bestände diese Proportionalität zwischen der Aenderung der äußeren Be- dingungen und der Aenderung der Organismenformen nicht, so müßte sich in absehbarer Zeit eine außerordentliche Unzweckmäßigkeit im Bau der Organismen herausgebildet haben. Wir wissen aber, daß die Fälle, in denen ein Organ unzweckmäßig oder auch nur überflüssig zu sein scheint, verhältnismäßig selten sind. Der Modus der Anpassung der Organismen ist ein doppelter. Wir können eine individuelle oder persönliche Anpassung und eine phyletische oder Stammesanpassung unterscheiden. Beide finden in durchaus verschiedener Weise statt. Die individuelle Anpassung bewegt sich nur innerhalb sehr geringer Breiten und hat für die Formveränderung der phylo- genetischen Entwicklungsreihe vielleicht nur untergeordnete, ja, wenn eine Vererbung erworbener Eigenschaften nicht stattfindet, überhaupt keine Bedeutung, denn sie besteht darin, daß die Veränderungen der äußeren Umgebung direkt auch verändernd auf den Organismus selbst einwirken, und zwar in der Weise, wie es den verschiedenen Momenten der Umgebung entspricht. Bei Gewohnheiten, in der Lebensweise etc. spricht sich.hier die Anpassung meistens viel deut- licher aus als in der Form. Ein Mensch, unter andere Lebens- bedingungen. in ein anderes Land, unter andere Leute versetzt, paßt sich im Laufe der Jahre mehr und mehr seiner Umgebung an und übernimmt ihre Sitten und Gebräuche, ihre Tätigkeiten und Lebens- 220 Drittes Kapitel. weise mehr und mehr. Weit seltener beobachtet man an Organismen durch individuelle Anpassung an andere Lebensbedingungen eine Aenderung der Körperformen, und zwar aus dem Grunde, weil dazu schon viel weitgehendere Aenderungen in den Lebensbedingungen notwendig sind, die nicht mehr so leicht ertragen werden wie die ver- hältnismäßig geringen Aenderungen, die nur zur Anpassung in der Lebensweise führen. Schon eine verhältnismäßig geringe Aenderung der Zusammensetzung des Wassers, in dem die Wassertiere leben, führt in den meisten Fällen den Tod herbei. Meerestiere in Süß- wasser und Süßwassertiere in Meerwasser gesetzt, gehen meistens zugrunde; nur wenige Formen, besonders solche, die in den Fluß- mündungen leben, wie viele Fische, haben sich an beides angepaßt. Sehr interessant ist in dieser Beziehung ein Krebs, die Artemia salina. SCHMANKEWITSCH !) nämlich stellte die eigentümliche Tat- sache fest, daß sich dieser kleine, im Seewasser lebende Krebs durch langsame Gewöhnung an Süßwasser in eine andere Krebsform, und zwar in verdünntem Meerwasser zunächst in die Artemia Mil- hauseni, in reinem Süßwasser schließlich in den Branchipus stagnalis, Formen mit durchaus verschiedenen Charakteren, um- wandeln läßt (Fig. 77). Auch von der einzelnen f Zelle sind ähnliche Fälle bekannt. So haben IN A. SCHNEIDER, BRASS und ZACHARIAS?) an EN Spermatozoön, Darmepithelzellen und Amöben ER durch Zusatz verschiedener Lösungen zum EN Medium bedeutende Formveränderungen er- \ zeugt. Ueberhaupt bieten einzellige Organis- men, besonders Infusorien und Rhizopoden, viele günstige Objekte für das Studium der Formveränderungen, welche die Körperform bei Veränderung des umgebenden Mediums A B : : x We. alt 0 erfährt. Sehr interessant ist folgendes Bei- 8 P 3 = ? stagnalis, Süßwasserform. Spiel?), aus dem hervorgeht, daß die ver- B Artemia salina, Se- schiedenen Amöbenformen, die man nach der wasserformdesselbenKrebses. Gestalt der Pseudopodien zu unterscheiden an pflegt, durchaus nicht immer als besondere Arten im Sinne der Systematik aufgefaßt werden dürfen. In faulenden Heuaufzüssen findet man an der aus Bakterien- filzen bestehenden Oberflächenhaut oft unzählige Massen kleiner Amö- ben. Auf den ÖObjektträger gebracht besitzen die Hunderte und Tausende von Amöben zunächst im wesentlichen Kugelform (Fig. 78a). Allmählich beginnen sie breitlappige Pseudopodien auszustrecken, und zwar nach verschiedenen Richtungen hin, so daß sie die Form einer Amöbe annehmen, die als Amoeba proteus (princeps) Fig. 78 5 bekannt ist. Allein, bald bildet sich eine Hauptrichtung des Kriechens heraus, indem die ganze Amöbe gewissermaßen ein einziges langes Pseudopodium vorstellt und die Form der Amoeba limax annimmt. (Fig. 73 c). In dieser Form kriechen die Amöben sämtlich dauernd 1) SCHMANKEWITSCH: „Zur Kenntnis des Einflusses der äußeren Lebens- bedingungen auf die Organisation der Tiere“. In Zeitschr. f. wiss. Zool., Bd. 29, 1877. 2) OÖ. ZACHARIAS: „Experimentelle Untersuchungen über Pseudopodienbildung“. Im Biolog Zentralblatt, 1585. 3) M. VERWOoRN: „Die polare Erregung der lebendigen Substanz ete.“. IV. Mit- teilung. In Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol., Bd. 65, 1896. Von den elementaren Lebensäußerungen. 231 Er umher, solange sie nicht gestört werden. Verändert man nunmehr die Zusammensetzung des Mediums, indem man das Wasser durch Zu- satz von Kalilauge sehr schwach alkalisch macht, so beobachtet man folgendes. Die Amöben ziehen sich zunächst sämtlich wieder kugelig zusammen, aber bald darauf treten an den Kugeloberflächen feine, spitze Pseudopodien hervor (Fig. 73 d), die länger und länger werden und schließlich wie lange, spitze Dornen erscheinen. So nehmen die Amöben im Laufe von etwa 15—20 Minuten die Gestalt einer sehr charakteristischen Amöbenform an, die unter dem Namen Amoeba radiosa (Fig. 7Se, f) als besondere, sehr gut abgegrenzte Amöben- form in der Systematik bekannt ist, und in dieser Form, deren Be- wegungen sehr träge sind, verharren die Amöben, solange die alkalische Beschaffenheit des Mediums andauert. Bringt man sie wieder in ihr gewöhnliches Wasser, so wandelt sich ihre Gestalt allmählich wieder zu der gewöhnlichen Limax-Form um. Ganz ähnlich verhalten sich manche Schimmelpilze, die man an das Leben in konzentrierten Fig. 78. Amoeba limax. a kontrahiert; b im Beginn der Pseudopodienbildung (Proteus-Form); ce gewöhnliche Limax-Form; d, e, f Formen nach Zusatz von Kalilauge; d im Beginn der Einwirkung, e, f Radiosa-Formen. Salzlösungen gewöhnen kann, wenn diese genügend Nährstoffe für den Mucor enthalten. Die Pilzfäden werden alsdann in der Regel bedeutend dünner und schlanker als in gewöhnlichem Wasser. Eine sehr interessante, zwar nicht die Form, sondern die Farbe der Organismen betreffende Anpassung haben vor kurzem ENGELMANN und GAIDUKOYV!) gefunden und experimentell studiert, das ist die Farbenveränderung der Oscillarienfäden unter dem Einfluß von farbigem Licht. Bei diesen Versuchen hat sich eine Gesetz- 1) N. GAIDUKOYV: „Ueber den Einfluß farbigen Lichts auf die Färbun lebender Oseillarien“. In Abhandl. d. Königl. Preuß. Akad. d. Wiss. zu Berlin, 190: (Anhang). 2993 Drittes Kapitel. mäßigkeit der Farbenanpassung herausgestellt, die ENGELMANN als das (sesetz der „komplementären chromatischen Adapta- tion“ bezeichnet, und die in dem Sinne zum Ausdruck kommt, „daß das Absorptionsvermögen des Chromophylis für die in der einwirken- den Strahlung dominierenden Wellenlängen zunimmt, für die relativ seschwächten. abnimmt“, d.h. die ursprüngliche Farbe wird unter der Einwirkung farbigen Lichts mehr und mehr komplementär zu der des einwirkenden Lichts. Diese Verfärbung bleibt aber auch nach dem Ueberführen der angepaßten Algenfäden in gewöhnliches Licht noch monatelang bestehen und scheint sich sogar auf die folgenden Zell- generationen zu übertragen. Sollte sich die letztere Wahrnehmung bei weiterer experimenteller Verfolgung bestätigen, so würde hier wirklich ein experimenteller Beweis für die Vererbung erworbener Eigenschaften vorliegen. Indessen bleiben erst die weiteren Versuche über die Frage abzuwarten. In vielen Fällen wirkt die Veränderung der Lebensbedingungen nicht unmittelbar auf die Form des Indi- viduums, sondern in nicht sichtbarer Weise auf das Keimplasma der Geschlechtszellen ein, so daß erst die Nachkommen andere Formen annehmen, als sie unter den früheren Bedingungen gehabt hätten, ein Moment, das aber schon mehr für die phyletische Anpassung in Be- tracht kommt. Die phyletische Anpassung, d. h. die allmähliche An- passung der Formenreihen an die jeweiligen Lebensbedingungen, hat für den Formwechsel in der phylogenetischen Entwieklungsr eihe eine ungleich größere, vielleicht allein maßgebende Bedeutung. Sie erfolgt auf eine durchaus andere Weise, und es ist die unsterb- liche Tat Darwıns!), indem er die Art und Weise dieser Anpassung aufdeckte, für das Wunder derZweckmäßig- keit in der or ganischen Welt den Weg einernatürlichen Erklärung gezeigtzuhaben. Nach der Darwinsschen Selektions- theorie kommt die Anpassung der Organismen an die äußeren Ver- hältnisse nicht durch unmittelbare Veränderung des einzelnen Indi- viduums zustande, sondern durch „ natürliche Auslese“ (natural selection) unter vielen Individuen, in derselben Weise wie bei der Rassenveredlung durch künstliche Auswahl von seiten des Züchters. Ausgehend von der Tatsache der „individuellen Variabilität“, d. h. der Tatsache, daß unter jeder Nachkommengeneration desselben Eltern- paares nicht ein einziges Individuum dem anderen völlig gleicht, wenn auch unserer Beobachtung vielleicht die Unterschiede häufig sehr klein erscheinen, findet DAarwın als notwendige Konsequenz des „Kampfes ums Dasein“ (struggle for life) eine Auslese, eine Selektion unter den verschiedenen Individuen jeder Generation nach dem Maße ihrer Lebensfähigkeit. Bekanntlich werden von allen Organismen ausnahmslos mehr Nachkommen im Keime erzeugt, als im erwachsenen Zustande genügende Lebensbedingungen finden würden. Um ein drastisches Beispiel anzuführen, hat man berechnet, daß, wenn von den mehreren Millionen Eiern, die ein Störweibchen ablegt, sich nur eine Million zu Weibchen entwickelte und in gleicher Weise fort- pflanzte, bereits die dritte Generation auf der Erdoberfläche keinen Platz mehr finden würde, während die vierte Generation eine W®rtion 1) CHARLES DARWIN: „On the origin of species by means of natural selection“. London 1859. Von den elementaren Lebensäußerungen. 293 Kaviar produzieren würde, die größer wäre als das Volumen der Erde! Allein, dieser wundervolle Zustand ist illusorisch, denn es kann eben nur eine ganz beschränkte Zahl von Individuen ihre Existenz- bedingungen finden, alle anderen gehen zugrunde. Aber es sind nicht beliebige Individuen, die zugrunde gehen in diesem teils passiven, teils aktiven Kampf um die Existenzmittel, sondern fast ausschließlich diejenigen, die weniger lange den Kampf aushalten können, die weniger für die gegebenen Verhältnisse „passen“. Diejenigen da- gegen, die am stärksten, am kräftigsten, am fähigsten sind, unter den betreffenden Bedingungen zu leben, werden die Konkurrenz überstehen und schließlich allein am Leben bleiben. So findet also eine Auslese der für die gegebenen Lebensverhältnisse passendsten Individuen statt, und indem sich diese Auslese, ebenso wie bei der Züchtung, über viele und schließlich unzählige Generationen fortsetzt, während die ausgelesenen Individuen ihre Eigentümlichkeiten durch Vererbung fortpflanzen, tritt eine allmähliche Anpassung der Individuen an die äußeren Verhältnisse ein, deren Folge oder Ausdruck die bis ins kleinste gehende Zweckmäfßigkeit der Organismen in Hinsicht auf die Bedingungen ist, unter denen sie leben. Bleiben die äußeren Verhältnisse eine Zeitlang unverändert, so wirkt auch die Anpassung in konservativem Sinne; ändern sich die Verhältnisse, sei es lokal und plötzlich, sei es allgemein und allmählich, wie bei der Entwick- lung der ganzen Erdoberfläche, so findet auch durch selektive An- passung im Kampf ums Dasein eine proportional laufende Abände- rung der Formen statt. Die Probe auf die Richtigkeit dieser Theorie liegt in den Experimenten der Tier- und Pflanzenzüchter, die so weit sind, daß sie durch künstliche Selektion nach bestimmten Gesichts- punkten gewisse neue Haustier- und Nutzpflanzenvarietäten, mit diesen oder jenen gewünschten Eigenschaften, im Laufe einiger Jahre auf Bestellung liefern können. Hier vertritt die künstliche Selektion des Züchters die Rolle der natürlichen Selektion, die in der freien Natur der Kampf ums Dasein vollzieht. In neuerer Zeit hat HuGo DE VrIES!) die Darwınsche Selektions- theorie durch seine „Mutationstheorie‘“ noch mehr auszubauen und weiterzuführen gesucht. Wie schon DARwIN unterscheidet DE VRIES bei der individuellen Variabilität kleine fluktuierende Vari- ationen, wie sie immer unter den Nachkommen eines jeden Organis- mus auftreten, und große, plötzlich im Laufe längerer Generationen einer Organismenform auftretende Variationen, die nur zu einer be- stimmten Zeit der langen Reihe von Generationen, also gewisser- maßen sprungweise zum Vorschein kommen und die er als „Muta- tionen‘ bezeichnet. In der Tat läßt sich ein solches plötzliches Mobilwerden oder eine solche plötzliche „Explosion“ einer durch lange Generationsreihen im wesentlichen konstant gebliebenen Organismen- form durch die Erfahrung mehrfach feststellen und auch zahlreiche andere Forscher haben schon auf diese Tatsache aufmerksam gemacht. So befindet sich z. B. augenblicklich die großblumige Nachtkerze (Oenothera Lamarckiana) in einer Mutationsperiode und hat i) Hv6o DE VrIES: „Die Mutationstheorie. Versuche und Beobachtungen über die Entstehung von Arten im Pflanzenreich.“ Leipzig 1901—1903. — Einen Ueberblick über die neueren Arbeiten auf diesem Gebiet findet man in dem Sammel- referat von Huco MIEHE: „Neuere Arbeiten auf dem Gebiete der pflanzlichen Des- zendenz- und Bastardierungslehre“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 4, 1904. 224 Drittes Kapitel. DE VRIES ein günstiges Material für seine experimentellen Unter- suchungen geliefert. Diese Mutationen nun bilden nach DE VRIES das Hauptmaterial, an dem der Selektionsprozeß einsetzt und aus dem er neue Organismenformen züchtet, während die kleinen fluktuierenden Variationen zwar auch der Selektion unterliegen, aber wenig zur Ver- änderung einer Organismenform beitragen. Eine Organismenform, die sich durch viele Generationen, abgesehen von den kleinen fluktuierenden Variationen, die aber keine wesentliche Veränderung derselben herbei- führen, konstant erhalten hat, fängt plötzlich an, ganz ungeheuer stark zu variieren und in ihren Varietäten sehr verschiedenartige und ganz neue Eigenschaften zu zeigen. Von diesen Varietäten werden die den augenblicklichen äußeren Lebensbedingungen am wenigsten ent- sprechenden durch natürliche Selektion im Kampfe ums Dasein be- seitigt. Die überlebenden pflanzen sich fort und variieren in ihren Nachkommen weiter so stark usf., so lange wie die Mutationsperiode anhält. Dann wird die nun ganz neu entstandene Organismenform oder die verschiedenen aus dem Selektionsprozeß hervorgegangenen neuen Formen wieder stabil und erhalten sich lange Generationen hindurch, abgesehen von den kleinen fluktuierenden Variationen, kon- stant, bis eine neue Mutationsperiode auftritt. Dieser glückliche Ge- danke von DE VRIES beseitigt mit einem Male eine vielfach betonte Schwierigkeit für die Erklärung der Züchtung neuer Eigenschaften durch Selektion, das ist die Schwierigkeit, die darin besteht, die ersten Anlagen irgendeines neuen Organs, wie z. B. eines elektrischen Organs, die noch gar keinen Nutzen für den Organismus haben können, durch Züchtung auf selektivem Wege zu erklären. Durch das sprung- weise, plötzliche Auftreten sehr stark abweichender und ganz neuer Eigenschaften bei einer in Mutation begriffenen Organismenform wird diese Schwierigkeit beseitigt. Wie WEISMANN, so findet auch DE VRIES die Bedingungen für die individuelle Variabilität und also auch für die Mutationen in der Zusammensetzung des Keimplasmas. nicht in den Einflüssen der Faktoren des umgebenden Mediums. Die Darwınsche Theorie gestattet es uns, ein übersichtliches und zusammenhängendes Bild von dem Zustandekommen des Formwechsels der lebendigen Substanz zu gewinnen, wie er sich vollzog von ihren einfachsten Formen, welche die Erdoberfläche belebten, an bis zu unserer jetzigen Organismenwelt. Die phylogenetische Entwicklung der Pflanzen und Tiere von den einzelligen Protisten an, einerseits durch die Kryptogamen und Monokotylen bis zu den höchstentwickelten Blütenpflanzen, anderseits durch die Cölenteraten und Würmer hindurch bis zu den hochentwickelten Arthropoden und Wirbeltieren, läßt sich auf natürliche Weise verstehen, wenn man die wenigen formbedingenden Momente in ihrer Wirkung erkannt hat. Die Bemühungen der letzten Jahrzehnte, die Selektionstheorie durch das eingehendere Studium ihrer einzelnen Faktoren immer weiter auszubauen, haben in manchen Köpfen die Vorstellung erweckt, als ob es sich dabei darum handelte, die Selektionstheorie zu be- seitigen. Ja, auf einer gewissen Seite, der die natürliche und mecha- nische Erklärung der Entstehung von Organismen Unbequemlichkeiten und Unbehagen bereitet, hat man, ohne genauer zu prüfen, schon frohlocken zu können geglaubt, weil die Selektionstheorie und sogar Von den elementaren Lebensäußerungen. 295 die Deszendenzlehre nun durch neue Forschungen überwunden worden sei. Von alledem kann gar keine Rede sein. Kein kritischer Natur- forscher, der nicht durch irgendwelche Dogmen gebunden und vor- eingenommen ist, bestreitet heute mehr die Wirksamkeit der Selektion und die natürliche Deszendenz der Organismen. Alle lebendige Substanz muß, wie jeder Körper, irgendeine Form haben, die durch ihre Beziehungen zu den chemischen und physi- kalischen Verhältnissen der Umgebung bedingt ist. Blieben die Be- ziehungen zwischen Organismen und Außenwelt immer gleich, so würde in der phylogenetischen Reihe keine Veränderung der Orga- nismenformen zustande kommen, und da die lebendige Substanz die Eigenschaft der Fortpflanzung hat, so würden durch Vererbung die Nachkommen immer wieder den Vorfahren vollständige „leich sein. Da sich aber auf der Erdoberfläche wie auf jedem Weltkörper die Bedingungen fortwährend verändern, und da die Form der lebendigen Substanz, wie jedes Körpers, unter dem Einfluß seiner Umgebung steht, so muß sie sich ebenfalls fortwährend durch Anpassung an die neuen Bedingungen verändern. So sind es die beiden sich entgegen- wirkenden Momente der Vererbung und Anpassung, deren Resultate im Formwechsel der phylogenetischen Entwicklungsreihe zum Aus- druck kommen. B. Die ontogenetische Entwicklungsreihe. Der alte Mythos von den Verwandlungen des vielgestaltigen PrOTEvS findet nirgends eine schönere Verwirklichung als in der Entwicklungsgeschichte des Individuums. Wie die Organismenwelt als Ganzes im Laufe ungezählter Jahrtausende einen ununterbrochenen Formenwechsel durchgemacht hat, so durchläuft auch das einzelne Individuum, vor allem das vielzellige Tier, während seiner Entwicklung zum erwachsenen Organismus in der kürzesten Zeit eine lange Reihe von überaus mannigfaltigen Formen, bis es endlich seinen Erzeugern gleich oder ähnlich geworden ist. Es gehört nicht zur Aufgabe der allgemeinen Physiologie, den „Entwicklungskreis“ der einzelnen Or- ganismengruppen genauer zu verfolgen. da sich die Lehre von der individuellen oder ontogenetischen Entwicklungsgeschichte der Orga- nismen durch ihr mächtiges Aufblühen seit DARwINns und HAECKELS grundlegenden Ideen zu einer selbständigen Wissenschaft, der Embryo- logie, entwickelt hat, von deren hoher Bedeutung für das Verständnis unserer jetzigen organischen Formenwelt die letzten Jahrzehnte ein glänzendes Bild entworfen haben. Kein moderner Naturforscher oder Ar zt, der sich nicht einem blinden Spezialistentum in die Arme wirft, kommt heute mehr ohne embryologische Kenntnisse aus. Allein, wenn auch die Beschäftigung mit den spezielleren Tatsachen der onto- genetischen Formentwicklung dem Embryologen als wohlerworbenes Recht zuerkannt werden muß, so hat doch die Physiologie auf gewisse alleemeine und elementare Lebensäußerungen einzugehen, die der Ent- wicklung des Individuums zugrunde liegen. Das sind die Tat- sachen der Fortpflanzune. Wir müssen die Fortpflanzungsvorgänge an der Zelle studieren, wie wir ja überhaupt immer mehr danach streben müssen, alle Lebens- äußerungen der zellularphysiologischen Methode zugänglich zu machen. Gerade auf dem Gebiete der Fortpflanzungsvorgänge aber hat sich Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 15 226 Drittes Kapitel. gezeigt, wie erfolgreich die zellularphysiologische Behandlungsweise ist, denn die Morphologie, die das Gebiet der Fortpflanzungsvorgänge für sich zu erobern wußte, hat die glänzenden Erfolge, die sie auf- zuweisen hat, allein mit ihrer zellularen Methode errungen. Leider nur hat die Erforschung dieses ganzen Gebietes etwas darunter ge- litten, daß es fast ausschließlich von Morphologen bearbeitet worden ist, obwohl es sich doch dabei in erster Linie um ein physiologisches (Geschehen handelt. Dadurch ist eine gewisse Einseitigkeit der Be- trachtung in dieses Gebiet hineingekommen, die erst in neuerer Zeit eine allmähliche Korrektur erfährt. 1. Wachstum und Fortpflanzung. Die Fortpflanzung läßt sich vom Wachstum nicht trennen, denn sie stellt gewissermaßen nur einen speziellen Fall des Wachstums im weitesten Sinne vor, so daß schon die ältere Embryologie sich ver- anlaßt gesehen hat, die Fortpflanzung als ein Wachstum über das Maß des Individuums hinaus aufzufassen. In der Tat ist der allgemeine Vorgang, der das Wachstum ausmacht, eine Ver- mehrung der lebendigen Substanz, und das Wesen der Fort- pflanzung liegt ebenfalls nur in der Vermehrung der lebendigen Sub- stanz. Der Unterschied zwischen dem, was wir gewöhnlich im engeren Sinne als Wachstum bezeichnen, und dem Vorgange der Fortpflanzung liegt nur in dem Umstande, daß im ersteren Falle die neugebildete lebendige Substanz im dauernden Konnex mit dem ursprünglichen Organismus bleibt und sein Volumen vergrößern hilft, während im letzteren Falle sich ein Teil der Substanz von dem ursprünglichen Organismus trennt, sei es, daß er sich, wie in den meisten Fällen, ganz loslöst, sei es, daß er sich, wie bei der Vermehrung der Ge- webezellen, nur durch eine Scheidewand absondert und an Ort und Stelle verharrt. Dementsprechend gibt es auch eine große Zahl von Uebergängen zwischen dem Wachstum im engeren Sinne und der Fortpflanzung der Zelle. Beispiele dafür liefern besonders manche vielkernige Zellen, wie z. B. das im Froschdarm lebende Infusorium Opalina, das anfangs einkernig ist und, indem es wächst, durch fortgesetzte Teilung des Kerns vielkernig wird. Hier kommt es also nur zu einer Fortpflanzung der Kerne, während das dazu gehörige Protoplasma bei seinem Wachstum im Zusammenhange bleibt, so daß schließlich eine sehr große, aber vielkernige Zelle resultiert. Jede Zelle zeigt, wenn nicht dauernd, doch wenigstens zu einer gewissen Zeit ihres Lebens Wachstumsvorgänge: die Masse ihrer lebendigen Substanz vermehrt sich. Das kann nur durch Stoffauf- nahme von außen und Bildung neuer lebendiger Substanz, also durch den Stoffwechsel, geschehen, und wir können den Begriff des Wachs- tums dahin präzisieren, daß wir sagen, es wird mehr lebendige Substanz im Stoffwechsel gebildet als zerfällt. Nun ist aber die Größe jeder Zelle, wie wir sahen, eine beschränkte. Sie ist durch chemische und physikalische Momente begrenzt und über- schreitet ein gewisses Maß nicht. Vor allem hat die Größe jeder be- stimmten Zellenform eine gerade für diese Zellenform gegebene Grenze, die wenig variiert. Nimmt daher die Masse der lebendigen Substanz der Zelle noch weiter zu, so muß das zu einem „Wachstum über das individuelle Maß hinaus“ führen, die Zellmasse muß sich teilen, d. h, sie-pflanzt sich fort. Von den elementaren Lebensäußerungen. 297 Durch die Teilung vermehrt sich also die Zelle, und jedes der entstandenen Teilstücke, jede Tochterzelle ist nun entsprechend kleiner, so daß sie wieder wachsen kann, bis sie die Grenze ihres individuellen Maßes von neuem erreicht hat. Bei der Fortpflanzung der Zelle durch Teilung müssen aber von beiden wesentlichen Zellbestandteilen, also vom Zellkern und Protoplasma, Teile auf die Tochterzellen über- gehen, sonst würden diese keine vollständigen Zellen vorstellen und könnten daher nicht am Leben bleiben. Wir werden erst in einem anderen Kapitel dazu kommen, ‚die tieferliegenden Bedingungen für das Wachstum und für die Begrenzung der Größe der Zellen aufzusuchen, wenn wir auf die mechanische Analyse der Lebensäußerungen eingehen. Hier an dieser Stelle kommt es nur darauf an, einen Ueberblick über die Lebensäußerungen zu gewinnen. Lassen wir uns aber vorläufig bloß an der Tatsache genügen, daß die Fortpflanzung nur ein weiteres Wachstum ist, während die Größe der Zelle begrenzt ist, so folgt daraus, daß alle Fortpflanzungaufeiner Teilung der lebendigen Saobstanz der Zelle’be- ruht. Die verschieden- sten Formen der Fort- pflanzung sind nichts anderes als Zellteilun- gen, und VIRCHOW hat daherdenaltenHARVEY- schen Satz: „omne vivum ex 0907 mit .hecht. er- weitert inden Satz, der die Grundlage aller Fig. 79. Stentor polymorphus. N rosen- modernen Vorstellun- kranzförmiger Kern, o Mundöffnung, cv kon- genü berdie Fortpflan- traktile Vakuole. 7 Junges Individuum aus- zung der Or ganismen gestreckt, II älteres Individuum in Teilung be- bildet: „omnis cellula griffen, kontrahiert. Nach STEIN. & e cellula“. Bei den einzelligen Organismen liegt das ohne weiteres auf der Hand. Sie pflanzen sich einfach durch Teilung ihres Zell- leibes fort, indem jede Teilzelle schon während der Teilung wieder die Gestalt und Form der Mutterzelle annimmt und, wenn es sich, wie bei den Infusorien, um Zellen mit verschiedenartigen Anhängen und Organoiden handelt, nach der Teilung des Körpers die fehlenden Bestandteile wieder regeneriert (Fig. 79). Beiden vielzelligen Organismen, den Tieren und Pflanzen, dagegen sind besondere Fortpflanzungsorgane entwickelt, deren Zellen sich abschnüren und als Eier durch fortgesetzte Zellteilung wieder zu einem gleichartigen Organismus entwickeln (Fig. 80). Bei den Organismen mit getrennten Geschlechtern sind die Geschlechtszellen der Fortpflanzungsorgane bei männlichen und weiblichen Individuen verschieden. Die männlichen Geschlechtszellen sind die Samenzellen oder Spermatozoän., die weiblichen die Eier. Zur Erzeugung eines neuen Individuums muß 19» 228 Drittes Kapitel. eine Vereinigung beider Geschlechtszellen, eine „Befruchtung“, statt- finden, abgesehen von gewissen Fällen, von denen eine „Partheno- genese“ besteht, d.h. wo sich aus unbefruchteten Eiern lebensfähige Individuen entwickeln können, wie bei manchen Krebsen, Insekten etc. Schließlich aber gibt es bei niederen vielzelligen Tieren neben der geschlechtlichen Fortpflanzung noch eine Art der ungeschlechtlichen Ver- mehrung, nämlich durch Teilungund Knospenbildung. In beiden Fällen werden ganze Komplexe von Zellen abgetrennt. Bei der Teilung zerschnürt sich z. B. bei gewissen Würmern (Fig. 81) der ganze Körper, nachdem er durch Zellteilung eine bestimmte Größe erreicht hat, in zwei oder mehrere Teile, die sich wieder zu vollständigen N BBLD)% N a VarerTen > I /® Dre Dorn & ") SC92°® Fig. 80. Fig. 82. Fig. 80. 7 Eibildung eines Seeigels. 4A Stück eines jungen Eierstocks mit innerem Keimepithel, 3 Stück eines älteren Eierstocks, in dem sich die Zellen des Keim- epithels zu Eiern entwickeln, welche sich abschnüren. Nach Lupwis. II Eiröhre eines Insektenovariums. In der Röhre liegen Eier von den verschiedensten Bildungsstufen. Nach HATSCHEK. Fig. Si. Myrianida, ein Wurm, in Teilung begriffen. Die einzelnen Indi- viduen hängen noch als Glieder einer Kette zusammen. a Das ursprüngliche Tier, b, c, d, e, f, g die Teilglieder vom ältesten (b) bis zum jüngsten (g).. Nach MILNE-EDWARDS. Fig. 82. Knospenbildung eines Polypen. Nach CLAus. Individuen regenerieren. Bei der Knospung z. B. vieler Cölenteraten (Fig. 82) bildet sich an einer Stelle des Körpers durch schnelle Zell- vermehrung eine Knospe, die aus den wesentlichen Schichten des Körpers Zellelemente enthält und sich ebenfalls abschnürt, um sich zu einem neuen Individuum zu regenerieren. Von den elementaren Lebensäußerungen. 2929 In allen Fällen also geschieht die Fortpflanzung, mag sie eine ungeschlechtliche oder eine geschlechtliche sein, immer nur durch Zellteilung, die auf Wachstum beruht. Verfolgen wir daher die ein- zelnen Arten der Zellteilung noch etwas genauer und gehen wir auf die merkwürdigen Vorgänge ein, die sich dabei an der Zelle ab- spielen. 2. Die Formen der Zellteilung. Bei jeder Teilung einer Zelle in selbständige Tochterzellen teilt sich sowohl der Kern wie das Protoplasma, und die Tochterzellen übernehmen Substanz von beiden allgemeinen Zellteilen. Während aber die Teilung des Protoplasmas sehr einfach verläuft, indem sich der Zellkörper nur durch eine Furche tiefer und tiefer einschnürt, bis das Protoplasma in zwei Hälften zertrennt ist, erfolgt die Teilung des Kerns nur in wenigen Fällen so einfach; in den meisten Fällen treten äußerst komplizierte Veränderungen am Kern auf, die aber merk- würdigerweise bei den meisten Zellen, sowohl bei tierischen wie bei pflanzlichen Zellen, im wesentlichen übereinstimmend verlaufen. Ueber die feineren Vorgänge bei der Kernteilung ist in den letzten drei Jahr- zehnten eine kaum noch übersehbare Literatur entstanden, da man, durch das höchst eigentümliche Verhalten des Kerns bei der Zell- teilung verführt, irrtümlich zu der Ansicht gelangt war, der Kern sei der allein wesentliche Zellbestandteil, der auch allein bei der Zell- teilung die Uebertragung der spezifischen Eigenschaften der Zelle, also die Vererbung vermittele. Die grundlegenden Arbeiten über die Vorgänge der Zellteilung lieferten die bewunderungswürdigen Unter- suchungen von BÜTSCHLI !), FLEMMING?), STRASBURGER?), HERTWIG®), VAN BENEDEN’), BOVERI®) und anderen, welche die geeignetsten Objekte für diese Zwecke in den Zellen junger Salamanderlarven, in den Pollenzellen der Lilien, in den durchsichtigen Eiern des Pferde- spulwurms und der Seeigel fanden. a) Die direkte Zellteilung. Die einfachste Form der Zellteilung ist die „direkte oder amitotische Zellteilung“, die aber nur wenig verbreitet ist und außer bei einigen einzelligen Organismen und Leukocyten nur noch an sehr wenigen anderen Zellformen angetroffen worden ist. Als Typus kann uns die Teilung der Amöben dienen (Fig. 85). Während die Amöbe kriecht, nimmt allmählich der ursprünglich 1) BÜTScHLı: „Studien über die ersten Entwicklungsvorgänge der Eizelle, Zell- teilung und Konjugation der Infusorien‘. In Abhandl. der Senckenbergischen naturforschenden tresellsch., Jg. 1876. 2) W. FLEMMING: „Zellsubstanz, Kern und Zellteilung“. Leipzig 1882. 3) E. STRASBURGER: „Zellbildung und Zellteilung“. 1830. — Derselbe: „Historische Beiträge“. Heft I: „Ueber Kern- und Zellbildung im Pflanzenreich‘“. Jena 1858. 4) OÖ. HErTwIG: „Beiträge zur Kenntnis der Bildung, Befruchtung und Teilung des tierischen Ries“. In Morphol. Jahrb., Bd. 1, 3 und 4, 1875, 1877, 1878. — Derselbe: „Die Zelle und die Gewebe“. Jena 1892. 5) VAN BENEDEN: „Recherches sur la maturation de l’auf. la f&condation et la division mıtosique chez l’ascaride m&galocöphale“. Leipzig 1887. en 6) BovERI: „Zellenstudien“. In Jen. Zeitschr. f. Naturw. u. Med., 1887, 1888, 230 Drittes Kapitel. runde Kern eine längliche Form an, wird dann biskuitförmig, schnürt sich in der Mitte durch, indem die immer schmaler werdende Ver- bindungsbrücke zerreißt. und bildet so zwei neue Kerne, die sich als- bald wieder abrunden. Erst jetzt beginnt die Teilung des Protoplasma- körpers, indem sich die Amöbe in ähnlicher Weise semmelförmig zwischen beiden Kernen einschnürt und nach beiden Seiten auseinander kriecht, bis nur noch ein dünner Protoplasmafaden beide Hälften verbindet. Auch dieser zerreißt schließlich, so daß nun zwei neue Amöben mit je emem Kern aus der Teilung hervorgegangen sind. Freilich erfordert der Vorgang längere Zeit, meist mehrere Stunden, und geht durchaus nicht immer ganz glatt vor sich, sondern das Protoplasma fließt öfter wieder zu einem Klumpen zusammen, nachdem u Fig. 83. Amoeba polypodiainsechs aufeinanderfolgenden Stadien der Teilung. Der dunkle, hellumrandete Körper im Innern ist der Zellkern, der blasse Körper die kontraktile Vakuole. Nach F. E. SCHULZE. schon eine beträchtliche Einschnürung zustande gekommen war, fließt dann aber wieder auseinander, bis schließlich einmal die Verbindungs- brücke durchreißt. b) Die indirekte Zellteilung. Bei weitem die größte Mehrzahl aller tierischen und pflanzlichen Zellen dagegen befolgt den Modus der sogenannten „indirektenoder mitotischen Zellteilung“, wobei das Protoplasma sich zwar ebenfalls einfach durchschnürt, der Kern dagegen sehr auftällige und typische Veränderungen von großer Regelmäßigkeit erleidet. Es sind von den einzelnen Autoren verschiedene Stadien unterschieden, die mit verschiedenen Namen bezeichnet worden sind. Ganz allgemein können wir zwei Phasen in der Kernteilung erkennen, eine progressive, Von den elementaren Lebensäußerungen. 23 ın der die Veränderungen ihren Höhepunkt erreichen, und eine re- gressive, in der die Veränderungen an den beiden aus der Teilung hervorgegangenen Kernhälften sich wieder zurückbilden bis zum ©6) . .7 / : 4 RE NER > 2 r k Fig. 84. Schematische Darstellung der mitotischen Kernteilung. Nach BOVvERI. „Ruhestadium“ des Kerns, mit dem man den Zustand bezeichnet, in dem der Kern keine Teilungsvorgänge zeigt. Allein besser als alle Einteilungen und Beschreibungen führt uns die Abbildung die wichtigsten Stadien der Kernteilung vor Augen (Fig. 84). 232 Drittes Kapitel. Gehen wir von dem „ruhenden Kern“ aus, der sich eben zur Teilung anschickt, so sehen wir, daß die chromatische Substanz, die, wie wir wissen, aus Nukleinen besteht, sich zu kurzen Fäden, den „Chromosomen“ anordnet, die lose im Kern liegen. Gleichzeitig teilt sich das bisher einheitliche Zentrosom und jede seiner Teilhälften umgibt sich mit einer eigenen feinen Protoplasmastrahlung (Fig. 84 a—c). Indem sich nun die Kernmembran im Protoplasma auflöst, rücken die beiden Zentrosomen auseinander und lagern sich an zwei Polen des Proto- plasmakörpers einander gegenüber (Fig. 85), so daß die Chromosomen im Aequator zwischen ihnen frei im Protoplasma liegen (Fig. S4d, e). Die Chromosomenfäden, die dieser Form der Kernteilung den Namen der mitotischen Teilung gegeben haben, und die sämtlich ungefähr gleiche Länge haben, spalten sich jetzt ihrer Länge nach, so daß aus jedem Faden ein Doppelfaden wird (Fig. 84 f). Gleichzeitig wird die Protoplasmastrahlung der Zentrosomen nach den in der Mitte gelegenen Chromosomen hin deutlicher und bildet so eine spindelförmige Faden- figur, die aus der mit dem Protoplasma vermischten achromatischen Substanz des Kernes stammt. Alsbald ziehen die von den Zentro- somen ausstrahlenden Spindelfasern die Doppelfäden durch eigene Kontraktion auseinander, und zwar so, daß die eine Hälfte jedes Doppelfadens nach dem einen, die andere nach dem anderen Pol hin- gezogen wird (Fig. 84g, h). So weichen die beiden Fasergruppen auseinander und entfernen sich vom Aequator der Spindelfigur. Damit ist die progressive Phase der Kernteilung vorüber, und es beginnt die regressive. Die beiden Gruppen der Chromatinfäden rücken weiter und weiter nach beiden Polen hin auseinander, so daß der ganze äquatoriale Teil der Spindelfigur frei wird. Zugleich beginnen auch die Spindel- fasern zwischen den beiden Chromatinfäden- N gruppen undeutlicher zu werden, und die Fasern = we 2 Fee krümmen sich wieder zu einer Knäuelform one Dei ac, an jedem Pole durcheinander (Fig. 84, k). Teilung der Eizelle Währenddessen hat sich der ganze Zellkörper Nach BOVERI. durch eine Ringfurche, deren Ebene senkrecht zur Achse der beiden Kernpole steht, einge- schnürt. Die Furche wird tiefer und tiefer und scheidet schließlich die ganze Zelle in zwei gleiche Hälften, deren jede in ihrem Protoplasma einen eigenen Kern besitzt, der sich nun, indem die Spindelfasern vollständig verschwinden, mit einer neuen Kernmembran umgibt und so in sein Ruhestadium zurückkehrt (Fig. 847, %k). So sind durch die Teilung der Mutterzelle zwei Tochterzellen entstanden, die ihrerseits wieder weiterwachsen. Auch im Protoplasma macht sich während des letzten Stadiums der Teilung eine Veränderung bemerkbar. Die von den Zentrosomen ausgehende Protoplasmastrahlung wird wieder un- deutlich und verschwindet schließlich fast ganz. Die hier gegebene schematische Darstellung des mitotischen Zell- teilungsvorgangs erfährt bei verschiedenen Zellformen mannigfaltige, aber nur geringe und unwesentliche Abänderungen, die wesentlich in Verschiedenheiten der Chromosomenzahl und in Variationen der zeit- lichen Zusammenordnung der einzelnen Vorgänge bestehen. Im übrigen ist bei allen mitotischen Zellteilungen der Vorgangim Prinzip der gleiche. Von den elementaren Lebensäußerungen. 233 Während im allgemeinen sowohl die mitotische wie die amito- tische Kernteilung je an ganz bestimmte Zellformen geknüpft ist, in der Weise, daß die eine Zellart nur mitotisch, die andere nur amito- tisch sich teilt, sind in neuerer Zeit Fälle festgestellt worden, in denen ein und dieselbe Zellart das eine Mal mitotisch, das andere Mal amitotisch sich fortpflanzt, je nach den äußeren Bedingungen, unter denen sie sich teilt. So hat PFEFFER!) gefunden, daß die Zellen der Fadenalge Spirogyra, die sich sonst stets mitotisch teilen, wenn man sie in Wasser mit ca. 1—0,5-proz. Aether züchtet, was durchaus unschädlich ist, sich nunmehr rein amitotisch fortpflanzen. Dabei bleiben die sämtlichen übrigen Lebensäußerungen vollkommen unverändert. Die Ansicht von E. H. ZIEGLER und voM RATH, daß die amitotische Teilungsart ein Degenerationssymptom sei, wird da- mit hinfällig, um so mehr, als GERASSIMOFF auch unter natürlichen Lebensverhältnissen bei Spirogyra amitotische Zellteilungen be- obachten konnte, ohne daß irgendwelche Störungen im Leben der Alsen bemerkbar gewesen wären. Bei den einzelligen Organismen verläuft der Modus der Kern- vermehrung nicht immer genau nach dem gewöhnlichen Schema der mitotischen oder amitotischen Kernteilung. Es finden sich hier, wie Fig. 86. I Teilung des Froscheies. P Pigmentierte Oberfläche des Eies, pr proto- plasmatischer Pol, d dotterreicher Eipol, sp Kernspindel. Nach ©. HERTwIG. IT/In- äquale Teilung des Eies eines Wurmes (Fabricia). 4A protoplasmatischer, V dotterreicher Pol. Nach HAECKEL. namentlich durch die sorgfältigen Untersuchungen von SCHAUDINN ?) nachgewiesen worden ist, eine ganze Reihe von verschiedenartigen und gänzlich abweichenden Kernteilungsmodis, die im einzelnen nicht näher besprochen werden können, die aber deutlich zeigen, daß in jener primitiven Gruppe von Organismen, aus der sich erst die Meta- zoen entwickelt haben, die Kernteilungsverhältnisse noch nicht so ein- seitig konsolidiert sind wie bei den Ei- und Gewebezellen der Meta- zo@n. Während bei den Ei- und Gewebezellformen der Metazoen, wie gesagt, der Modus der mitotischen Kernteilung in allen wesent- 1) W. PFEFFER: „Ueber die Erzeugung und die physiologische Bedeutung der Amitose“. In Sıitzungsber. d. Königl. Sächs. Ges. d. Wiss. zu Leipzig, mathem.- phys. Klasse 1599. 2 2) SCHAUDINN: „Ueber die Teilung von Amoeba binucleata GRUBER“. In Sitzungsber. d. Ges. Naturf. Freunde zu Berlin, 1895. — Derselbe: „Ueber den Zeugungskreis von Paramoeba eilhardi n. g. n. sp.“. In Sitzungsber. der K. Pr. Akad. d. Wissensch. zu Berlin, phys.-mathem. Klasse, 1396. — Derselbe: „Unter- suchungen über den Generationswechsel bei Coceidien“. In Zool. Jahrbücher, Bd. 13, 1900. 234 Drittes Kapitel. lichen Bestandteilen überall der gleiche ist, verläuft die Teilung des Zellganzen nicht immer in völlig übereinstimmender Weise. Besonders kommen bei der Teilung von Eizellen, die viel Nähr- material (Dotter) enthalten, in verschiedenen Fällen Abweichungen vom Typus vor. Mit OÖ. Herrwıc'!) können wir übersichtlich die sämtlichen Formen der Zellteilung, die überhaupt bekannt sind, in vier Typen unterbringen: I. Die totale Teilung. a) Die äquale Teilung. b) Die inäquale Teilung. ce) Die Knospung. Il. Die partielle Teilung. Ill. Die Vielzellbildung. IV. Die Reduktionsteilung. Bei der totalen Teilung wird das Protoplasma der Tochter- zellen durch eine Scheidewand vollständig voneinander geschieden, so daß immer vollkommene Zellen aus der Teilung hervorgehen. Aber auch dabei machen sich noch gewisse Unterschiede bemerkbar. In einem Falle, bei der äqualen Teilung, sind die Tochterzellen einander völlige gleich, wie in dem oben geschilderten Typus (Fig. 84). Im anderen Fall, bei der inäqualen Teilung (Fig. 36), sind die beiden Fig. 87. Bildung der Polzellen bei einem Seestern. sp Kernspindel, rk! erstes Richtungskörperchen, rk? zweites Richtungskörperchen, ek Eikern. Tochterzellen sowohl ungleich groß als auch nach ihrem Inhalt ver- schieden, insofern die größere Tochterzelle die Hauptmasse des pas- siven Dotters enthält, während die kleinere vorwiegend aus aktivem Protoplasma besteht. Dadurch sind bereits Unterschiede gegeben, die für die weiteren Teilungen ins Gewicht fallen, so daß die Ver- schiedenheiten immer größer werden. Im dritten Fall, bei der Knospung schließlich, löst sich bei der Teilung nur ein ganz kleines Klümpchen von der Eizelle los, wie das vor allem bei der Bildung der sogenannten „Polzellen“ oder „Richtungskörperchen“ während der Reifung des Eies stattfindet, wo dieser Prozeß zweimal hintereinander erfolgt (Fig. 87). 1) ©. HerTwie: „Die Zelle und die Gewebe“. Bd. 1, Jena 1892. Von den elementaren Lebensäußerungen. 235 Bei der partiellen welche die beiden Tochterhälften scheidet, Teilung schnürt die _Teilungsfurche, nicht die ganze Zelle durch, sondern nur einen Teil, so daß die Tochterhälften auch bei den Fig. 88. Discoidale Furchung des Cephalopoden-Eies. Nach WATASE. folgenden Teilungen noch durch eine gemeinschaftliche Protoplasma- masse an ihrer unteren Seite verbunden bleiben (Fig. 53). Diese Form wird als „discoidale Eifurchung“ bezeichnet. Fig. 89. Superficielle Furchung eines Insekteneies in drei aufeinander- folgenden Stadien. Nach BOBRETZKY. Bei der Vielzellbildung tritt zunächst überhaupt keine Tei- lung des Protoplasmas ein, sondern nur die Kerne vermehren sich in der Eizelle, wandern aber später an die Oberfläche und umgeben sich dann hier je mit einer gesonderten Protoplasmahülle, so daß nun eine in- differente Dottermasse an ihrer ganzen Oberfläche, umgeben von einer einschichtigen Lage gesonderter Zellen, entsteht (Fig. 89 und 90), ein Vorgang, der als „superficielle Eifurchung“ bezeichnet worden ist. Als eine besondere Art der Vielzell- bildung können wir die „Sporenbildung“ auffassen, die besonders im Protistenreich verbreitet ist. Das Charakteristische dieser Form der Zellvermehrung liegt darin, daß der Kern in eine sehr große Zahl winziger Körnchen zerfällt. Jeder dieser kleinen Kerne umgibt sich mit einer gewissen IN ER ON ea a EOS a...) 0 , h (90 Mo KTeR 000 #699 ae | 00” „oe ® so® o2° oo Keane ae] “9 00 | Ö| 468 em". 0,0% Ye 0” so 0 = ‚ Fig. 90. Vielzellbildung bei der Furchung eines Insekteneies in zwei auf- einanderfolgenden Stadien. Nach BALBIANI. Menge von Protoplasma, so daß winzige Zellterritorien entstehen, die als Amöben oder Geißelzellen frei werden, während der übrige Proto- 236 Drittes Kapitel. plasma- oder Restkörper zugrunde geht. Die frei gewordene „Schwärm- spore“ repräsentiert eine sehr kleine Zelle mit einem Kern und ent- wickelt sich langsam wieder zu der Form der Protistenzelle, von der sie abstammt. Bei der Reduktionsteilung endlich, wie WEISMANN gewisse Vorgänge bezeichnet hat, die zur Bildung der Eizellen und Sperma- zellen im Eierstock und im Hoden führen, zeigt sich eine kleine Ab- weichung im Verhalten der Chromatinfäden des Kerns bei der Teilung. Die Sperma- oder Samenzellen entstehen durch mehrfache Teilung anderer Zellen, der „Samenmutterzellen“. Die erste Teilung der Samenmutterzelle verläuft noch nach dem oben geschilderten Typus. Ehe aber die Kerne wieder in das Ruhestadium übergetreten sind, erfolgt gleich eine zweite Teilung, indem sich jedes Zentrosom in zwei Hälften teilt, die auseinanderrücken und die eben erst aus der ersten Teilung hervorgegangenen CUhromatinfäden nach beiden Seiten hin zu sich heranziehen, ohne daß diese sich erst vorher durch Längs- teilung wie bei der normalen Teilung spalten können. So wandert die Hälfte der Chromosomen nach dem einen, die Hälfte nach dem anderen Pol hinüber, so daß bei dieser zweiten Teilung jeder Kern nur halb so viel Chromosomen mitbekommt wie bei einer normalen Teilung (Fig. 91). Fig. 91. Reduktionsteilung bei der Entstehung der Samenzellen aus einer Samenmutterzelle des Pferdespulwurms. Nach O. HERTWIG. Damit sind die wesentlichen Typen der Zellteilung, die uns bis jetzt bekannt geworden sind, erschöpft. Was allen gemein- sam ist, das ist die Vebertragung von Kernsubstanz und Protoplasma auf die Tochterzellen. 3. Die Befruchtung. Der Akt der Befruchtung ist mit dem tiefen Mysterium, das der Menschheit mächtigste Motive umgibt, innig verknüpft. In der Tat — der Naturforscher darf das aussprechen — einer der gewaltigsten Faktoren, die das ganze organische Leben beherrschen, die ge- schlechtliche Liebe in ihrer natürlichen Form, zielt, ohne daß wir uns dessen bewußt sind, auf den mikroskopischen Akt der Befruchtung der weiblichen Eizelle durch die männliche Samenzelle hin. Es könnte wunderbar erscheinen, daß so gewaltige Motive, wie sie die Triebfedern der Geschlechtssphäre im Menschenleben vorstellen, darin gipfeln, einen winzigen Vorgang herbeizuführen, der nicht einmal mit bloßen Augen wahrzunehmen ist; allein, wenn man berücksichtigt, was auf der anderen Seite aus diesem mikroskopischen Akt der Ver- einigung von Ei- und Samenzelle resultiert, was für eine unendlich Von den elementaren Lebensäußerungen. 937 lange Kette von komplizierten Prozessen und Veränderungen bei der Entwicklung des neuen Organismus aus dem Ei durch die Be- fruchtung angeregt wird, was schließlich das Endergebnis dieser langen Reihe von Entwicklungsprozessen ist, das hochkomplizierte Tier, der Mensch, mit dem unermeßlichen Reichtum seines Lebensinhalts, dann verliert diese Tatsache ihr Wunderbares, und wir gelangen vielmehr dazu, dem winzigen Akt der Befruchtung eine unabsehbare Be- deutung beizulegen, die er in potentia enthält. Kein Wunder daher, wenn schon seit alten Zeiten Aerzte und Naturforscher den Vorgang der geschlechtlichen Zeugung, der das äußerliche Beiwerk des Be- fruchtungsvorgangs vorstellt, auf den er hinzielt, vielfach zum Gegen- stand tiefen Nachdenkens gemacht haben. Indessen, erst nachdem LEEUWENHOEK das Mikroskop konstruiert hatte, entdeckte sein Schüler LupwıG vAn HAMMEN die Samenzellen, die wegen ihrer lebhaften Eigenbewegungen als „Samentierchen“ oder „Spermatozoön“ bezeichnet wurden, und erst die ungeahnte Vervollkommnung der Mikroskope in unserer Zeit machte die glänzenden Arbeiten von BÜürTscHL1i, HERTWIG, VAN BENEDEN, BOVvERI und anderen möglich, die uns bis über die feinsten Einzelheiten des Befruchtungsvorgangs Aufschlußgegebenhaben. Beim Menschen und den höheren Tieren ist der Vorgang der Be- fruchtung nicht zu be- obachten, weil er sich im Innern des weiblichen Körpers verbirgt, und weil die Möglichkeit, die Yr 11 Eizellen außerhalb des Fig. 92. Eizellen. 7 Runde Eizelle eines Seeigels. Körpers am Leben zu Nach Herrwic. IT Amöboide Eizelle eines Kalk- erhalten, um sie mit schwammes. Nach HAECKEL. Sperma zu befruchten, nicht gegeben ist. Das letztere gelingt aber bei gewissen niederen Tieren, und so hat man an Eiern, die besonders groß und durch- sichtig sind, wie die der Seeigel und des Pferdespulwurmes, den sanzen Verlauf des interessanten Befruchtungsvorgangs in lückenloser Folge genau studieren können. Wie wir bereits sahen, sind die männlichen und weiblichen (Ge- schlechtszellen überaus verschieden differenziert. Während die Eier fast immer große runde oder amöboide Zellen vorstellen, mit einem bläschenförmigen Kern und sehr viel Protoplasma, das die Bildungs- stoffe für die weitere Entwicklung enthält, sind die Spermatozo@n im Verhältnis zu der Größe der Eier äußerst winzig, denn ihnen fehlt die ganze große Masse des passiven Nähr- oder Dottermaterials, das den Protoplasmakörper der Eizelle so umfangreich macht. Es liegt hier offenbar eine praktische Anpassungstatsache vor, die eine Arbeits- teilung von Spermatozoon und Eizelle zum Ausdruck bringt. Wenn die Eizelle eine genügende Menge passiven Nährmaterials besitzt, so kann die Spermatozoönzelle dasselbe entbehren, denn sie macht ja ihre weitere Entwicklung mit der Eizelle vereinigt durch. Auf der anderen Seite hat die Spermatozoönzelle dafür den Vorteil, daß ihre 238 Drittes Kapitel. Beweglichkeit, die zum Aufsuchen der Eizelle nötig ist, nicht durch unnötige Massen passiver Stoffe behindert wird. Die Spermatozoön bestehen zum großen Teil aus Kernsubstanz, welche die Hauptmasse des Körpers bildet, und haben nur eine dünne Protoplasmahülle, die sich in den meisten Fällen in eine bewegliche Geißel fortsetzt, welche als „Schwanz“ vom übrigen Körper, dem ‚Kopf‘ unterschieden wird und zur Bewegung des Spermatozoons beim Aufsuchen des Eies dient. Die feinere Struktur der Spermazellen ist, wie die eingehenden Unter- suchungen von RETzıus!) und BALLOWITZ?) in neuerer Zeit gezeigt haben, sehr kompliziert, und bei den verschiedenen Tierformen finden sich die mannigfaltigsten Differenzierungen. Die vorstehenden Ab- bildungen mögen einige Beispiele dafür liefern (Fig. 93), können aber nur in sehr unvollkommener Weise die Feinheit der wirklichen Ver- hältnisse zum Ausdruck bringen. Es ist, wenn man einen Begriff 4 k A \ (& ) ) | —> — RAN ' 2 > a ” NS, SQ Fig. 93. Verschiedene Spermatozoönformen. a Von einer Fleder- \ maus (Vesperugo nocturna). Nach BALLOWITZ. 5b u.c Vom Frosch, d vom Finken, e vom Schaf, fu. g vom Schwein. Nach SCHWEIGGER-SEIDEL. h Von einer Meduse, i von einem Affen (Cercopitheeus), Z von einer Krabbe. Nach Craus. k Vom{Spulwurm. Nach BOvERI. von der komplizierten Differenzierung im Bau der Spermatozoen eewinnen will, unerläßlich, die herrlichen Tafelfiguren von RETzZIUS zu betrachten, deren Durchsicht nicht bloß ein hohes wissenschaftliches Interesse, sondern auch einen ebenso eroßen ästhetischen Genuß gewährt. Wenn nun auch bei den weitgehenden Differenzierungen des Spermatozoönkörpers das Protoplasma gegenüber der Kernmasse etwas in den Hintergrund tritt, so sind doch immer die Sperma- tozo&än ebenso wie die Eier vollständige Zellen und enthalten beide wesentlichen Zellbestandteile: Proto- plasma und Kern, eine Tatsache, auf die besonderer Nachdruck zu legen ist. Ehe die Befruchtung eintritt, in einigen Fällen auch erst während des Beginns der Befruchtung, erfolgt der Reifungsprozeß des Eies, der darin besteht, daß durch zwei hintereinander verlaufende 1) GusTar RErzıus: „Biologische Untersuchungen“. Neue Folge X, 1902; XI, 1904; XIIT, 1906. Jena, Gustav Fischer. 2\ BALLowITz: „Das RETZIUSsche Endstück der Säugetierspermatozoen“. In Internat. Monatsschr. f. Anat. u. Physiol., Bd. 7, 1890. — Derselbe: „Weitere Be- obachtungen über den feineren Bau der Säugetierspermatozoen“. In Zeitschr. f. wissensch. Zool., Bd. 52, 1890. Von den elementaren Lebensäußerungen. 239 Kernteilungen zwei Knospen, die „Polzellen‘ oder „Richtungs- körperchen“, gebildet und abgestoßen werden (Fig. 91, p. 236). Die Befruchtung besteht also in der Verschmelzung einer reifen Eizelle mit einer Samenzelle, wobei die letztere die Eizelle aufsucht, durch eigene Lokomotionen, die wir später bei Betrachtung der Bewegungs- typen der Zelle kennen lernen werden. Der Prozeß der Vereinigung zweier Zellen ist ein Vorgang, der sich nicht bloß bei der geschlechtlichen Fortpflanzung findet, sondern Fig. 94. Konjugation von Paramaecium in verschiedenen aufeinander- folgenden Stadien. K Hauptkern, n%k Nebenkern. I. Beginn der Konjugation. II. Der Nebenkern hat sich zweimal hintereinander geteilt. III. Von den vier Teil- stückehen des Nebenkerns gehen drei zugrunde, der vierte teilt sich nochmals in einen männlichen (m) und einen weiblichen (w) Kern. IV. Während der Hauptkern zerfällt, werden die beiden männlichen Kerne /m und 5m ausgetauscht und vereinigen sich mit den weiblichen zu einem Kern, V. t, der sich wieder teilt in ’ und “. VI. t‘ und {“ teilen sich nochmals. VII. Aus dieser Teilung entstehen die Anlagen des neuen Haupt- kerns (pt) und des neuen Nebenkerns (nk‘). Der alte Hauptkern geht zugrunde. Nach R. HERTWIG. sich bis tief in das Reich der einzelligen Organismen hinab verfolgen läßt, bis zu Formen, bei denen von einer geschlechtlichen Differenzierung noch keine Rede ist. Hier, bei den Protisten, ist sie unter dem Namen der „Konjugation“ bekannt. Schon bei den einzelligen schalentragenden Rhizopoden, z. B. bei den mit zierlichem Gehäuse 240 Drittes Kapitel. versehenen Difflugien, kommt eine Konjugation vor, indem diese trägen Protoplasmawesen zu zweien, aber auch bisweilen zu dreien, vieren oder noch mehreren dicht aneinander herankriechen, worauf sich ihre Protoplasmaleiber aneinanderlegen und zu einer gemein- schaftlichen Masse verschmelzen, um sich, nachdem eine Vermischung des beiderseitigen Protoplasmas und gewisse Veränderungen der Kerne Platz gegriffen haben, wieder zu trennen !. Am genauesten sind die Vorgänge bei der Konjugation in neuerer Zeit von BÜTSCHLI?), BALBIANI?), MAuPpAS®), A. GRUBER ) und R. HERTWIG *) an Wimper- infusorien studiert worden. Paramaecium ist eine längliche Infusorienform, die über und über bewimpert ist und ein ungemein günstiges Objekt für zellular- physiologische Untersuchungen der mannigfaltigsten Art abgibt. Die sehr gut mit bloßem Auge wahrnehmbaren Paramäcien lassen sich in faulenden Heuaufgüssen stets in großen Massen kultivieren und vorrätig halten. Dabei beobachtet man häufig, daß in der ganzen Kultur plötzlich eine „Konjugationsepidemie‘ auftritt, so daß man fast nur konjugierte Individuen findet. Die Vorgänge bei der Kon- jugation verlaufen dann folgendermaßen: Zwei Individuen legen sich parallel aneinander, an ihren Mundöffnungen (Fig. 94, I, o) tritt eine Verschmelzung des Protoplasmas zu einer Brücke ein, und es be- ginnen sehr charakteristische Veränderungen der Kerne. Wie bereits früher bemerkt, haben die Wimperinfusorien zwei Kernformen, einen Makronucleus oder Hauptkern, und einen oder mehrere Mikronuclei oder Nebenkerne. Der Hauptkern geht während der Konjugation ganz zugrunde, indem er zerfällt und sich im Protoplasma auflöst. Haben wir eine Paramäcienform mit nur einem Nebenkern, wie Paramaecium caudatum, wo die Verhältnisse am einfachsten liegen, so teilt sich der Nebenkern in jedem Paarling zweimal hinter- einander, so daß vier Teilkerne daraus entstehen. Drei davon lösen sich ebenfalls im Protoplasma auf, der vierte aber teilt sich in jedem Paarling noch einmal und läßt die eine Hälfte (den „männlichen“ Kern) über die Protoplasmabrücke in den anderen Paarling hinüber- treten, so daß jeder Paarling jetzt einen „weiblichen‘‘ Kern von sich selbst und einen „männlichen“ vom anderen Paarling enthält. Diese beiden Kerne verschmelzen alsbald zusammen und teilen sich darauf wieder, indem aus der einen Teilhälfte ein neuer Makronucleus, aus der anderen ein neuer Mikronucleus entsteht. Nach dem Austausch der beiderseitigen Kernhälften trennen sich die Paarlinge wieder von- einander, und die Konjugation ist beendet. Die Konjugation der geschlechtslosen, einzelligen Organismen ist derjenige Vorgang, von dem sich die Befruchtungsvorgänge bei der 1) MAx VERWORN: „Biologische Protistenstudien“. Teil II. In Zeitschr. f. wiss. Zool., 1890. 2) BürscHLı: „Studien über die ersten Entwicklungsvorgänge der Eizelle, die Zellteilung und die Konjugation der Infusorien“. Frankfurt 1876. 3) BALBIANI: „Recherches sur les phenomenes sexuels des infusoires“. In Journ. de la Physiol., T. 4. 4) MaupaAs: „Recherches experimentales sur la multiplication des infusoires eilies“. In Arch. de Zool. experim. et generale, T. 6, Serie 2. 5) A. GRUBER: „Der Konjugationsprozeß bei Paramaecium aurelia“. In Ber. d. naturf. Ges. zu Freiburg i. B., Bd. 2, 1886. 6) R. HERTWIG: „Ueber die Konjugation der Infusorien“. In Abhandl. d. Königl. Bayer. Akad., München 1889. Von den elementaren Lebensäußerungen. 241 _ geschlechtlichen Fortpflanzung phylogenetisch ableiten, denn wir finden bei der Befruchtung im wesentlichen dieselben Tatsachen wie bei der Konjugation. Der Befruchtungsvorgang verläuft übrigens an verschiedenen Objekten nicht ganz gleichartig, wenigstens sind an den beiden Objekten, die bisher am genauesten untersucht worden sind, am Ei der Seeigel und des Pferdespulwurms, einige kleine Verschiedenheiten beobachtet worden, wenn auch alle wesentlichen Momente durchaus übereinstimmen. Fassen wir zuerst die Befruchtung des Spulwurmeies ins Auge, so erfolgt hier die Reifung des Eies, d.h. die Ausstoßung der Richtungskörperchen, erst wenn die Samenzelle in das Ei eindringt. Während die Samenzelle in das Protoplasma des Eies tritt (Fig. 95 I), wandert der bisher in der Mitte gelegene Eikern an die Oberfläche I II III Fig. 95. urmeies (Ascaris megalocephala) in sechs aufeinanderfolgenden Stadien. Gleichzeitig erfolgt die Reifung des Eies, d. h. die Ausstoßung der Richtungskörperchen (Polzellen).. Nach O. HERTWIG. des Eies (Fig. 95 IT), wo er sich zweimal hintereinander teilt und zur Ausstoßung der Richtungskörperchen Anlaß gibt (Fig. 95 III u. IV). Inzwischen hat sich das Protoplasma der Samenzelle mit dem Protoplasma der Eizelle vermischt und sich der weiteren Beobachtung entzogen. Der Spermakern dagegen ist in die Mitte des Eies ge- wandert, wohin ihm nach Angabe der Richtungskörperchen der Eikern von der Peripherie her wieder entgegenkommt. Beide Kerne legen sich jetzt nebeneinander, umgeben sich mit einem durchsichtigen Hof und zeigen nun deutlich je zwei große Chromatinschleifen. Gleich- zeitig machen sich zwei Zentrosomen bemerkbar, die sich zu beiden Seiten der Kerne mit einem Strahlenkranz zu umgeben beginnen (Fig. 95 V). Eine Verschmelzung der Kernsubstanzen tritt beim Spulwurm nicht ein, sondern es entwickelt sich, von den beiden Zentro- Verworn, Allgemeine Physiologie. Aufl. 16 242 Drittes Kapitel. somen ausgehend, die bekannte Kernteilungsspindel, deren Spindel- fasern nach beiden Seiten je eine Chromatinschleife des Eikerns und eine des Spermakerns an die Pole hinziehen, so daß also jede Hälfte der Eizelle einen Kernanteil vom Ei und einen vom Spermatozoon bekommt (Fig. 95 VI). Damit ist die Befruchtung beendet und zu- gleich die erste Teilung der Eizelle vorbereitet, die nun in der ge- wöhnlichen Weise erfolgt, indem sich im Aequator der Spindel das Ei durchschnürt, während die Kerne in beiden Hälften ihre Ruheform annehmen. Die Befruchtung des Seeigeleies zeigt in einzelnen Punkten ein etwas abweichendes Verhalten. Hier ist die Reifung des Eies bereits vollendet, wenn das Spermatozoon eindringt. Ferner ver- schmelzen hier Eikern und Spermakern vollständig zu einem einzigen Kern, ehe die Teilung in die beiden ersten Furchungshälften der Ei- zelle eintritt. Was das Schicksal der Zentrosomen bei der Befruchtung betrifft, so hat BovErı!) und in Uebereinstimmung mit ihm WıLson und MATHEWS?) an Seeigeleiern, sowie MEAp°) an Eiern von Röhren- würmern (Chaetopterus pergamentaceus) gefunden, daß das Zentrosom der Eizelle ohne eine Rolle zu spielen zugrunde geht (MEAD) und verschwindet, während das Zentrosom der Spermazelle nach der Be- fruchtung sich allein in der Eizelle in zwei Zentrosomata teilt, deren jedes ein Zentrum für die Protoplasmastrahlung und die darauf folgende Teilung der befruchteten Eizelle bildet (Fig. 96). Fassen wir nach alledem die wesentlichen Momente des Be- fruchtungsvorganges zusammen, so müssen wir sagen: Die nor- male Befruchtung besteht in der Vereinigung zweier Zellen, der Eizelle und der Samenzelle, bei der das Protoplasma mit dem Protoplasma, und der Zellkern mit dem Zellkern verschmilzt, so daß bei der darauf folgenden Teilung der befruchteten Eizelle jede Teil- hälfte Substanz von beiden verschmolzenen Zellen so- wohl vom Protoplasma als auch vom Kern mitbekommt. Der Akt der Befruchtung ist bei allen geschlechtlich sich fort- pflanzenden Organismen die gewöhnliche Einleitung für die Ent- wicklung der Eizelle. Durch die Einführung der Substanz des Spermatozoons erhält die Eizelle den Anstoß zu der charakteristischen Reihe von Veränderungen, die ihre Entwicklung ausmachen. In- dessen muß hier erwähnt werden, daß bei vielen Pflanzen und wirbellosen Tieren, die sich gewöhnlich geschlechtlich fortpflanzen, unter gewissen Bedingungen auch das unbefruchtete Ei sich zu einem vollkommenen normalen Organismus entwickeln kann, eine Tatsache, die, wie bereits erwähnt, als „Parthenogenese“ be- zeichnet worden ist. Häufig folgen, wie z. B. bei gewissen niederen Krebsen, eine große Anzahl von ungeschlechtlichen Generationen, die sich immer wieder aus unbefruchteten Eiern entwickeln, hinter- 1) BovErI: „Ueber das Verhalten der Zentrosomen bei der Befruchtung des Seeigeleies nebst allgemeinen Bemerkungen über Zentrosomen und Verwandtes“. In Abh. d. physikal.-medizin. Gesellsch. zu Würzburg, Bd. 29, 1895. 2) E. B. Wınson and A. B. MATHEws: „Maturation, Fertilisation and Polarity in the Echinoderm Egg“. In Journ. of Morphol., Vol. 10, 1895. 3) A. D. MEAD: „Some observations on Maturation and Fecundation in Chaet- opterus pergamentaceus Cuvier“. In Journ. of Morphol., Vol. 10, 189. Von den elementaren Lebensäußerungen. 243 einander, bis endlich eine geschlechtliche Generation aus befruchteten Eiern entsteht. Die Bedingungen, von denen die Parthenogenese ab- hängie: ist, scheinen sehr verschiedener Art zu sein. Unter normalen Verhältnissen sind sie wohl meist in den Nahrungsverhältnissen, der chemischen Zusammensetzung und dem osmotischen Verhalten des umgebenden Mediums zu suchen. Auf letztere Momente weist auch die Tatsache hin, daß es einer ganzen Reihe von Forschern gelungen Fig. 96. Schema des Befruchtungsvorganges beim Seeigel in 7 aufeinanderfolgenden ‚Stadien a—g. Nach BOVvERI. ist, durch bestimmte chemische Einwirkungen unbefruchteteEier zu einer parthenogenetischen Entwicklung bis zu gewissen Stadien anzu- regen. So hat TIicHoMIROFF die Eier von Schmetterlingen durch Eintauchen in konzentrierte Schwefelsäure, DewITz Froscheier durch Sublimatbehandlung, KLEBs Algen- und Pilzsporen durch Einwirkung 16* 244 Drittes Kapitel. von Salz- und Zuckerlösungen, HERTWIG Seeigeleier durch Strychnin- lösungen, LOEB Seeigeleier durch Magnesiumchloridlösungen zu par- thenogenetischer Entwicklung veranlaßt. Besonderes Interesse aber im Hinblick auf die Theorie der Befruchtung verdient schließlich die kürzlich von H. WINKLER!) festgestellte Tatsache, daß sich Seeigel- eier durch ein Extrakt von Spermatozoön der gleichen Art in Meer- wasser, das keine lebendigen Spermatozoön mehr enthält, zur Ent- wicklung anregen lassen, wenn auch vorläufig bei den Versuchen die Entwicklung nicht über gewisse Stadien hinausging. Daß es sich in- dessen hierbei um die Wirkung eines Enzyms handle, das im Spermatozoon enthalten sei und auch bei der normalen Befruchtung auf fermentativem Wege die Entwicklung anrege, ist eine von RAPHAEL DuBoıs und Pı£ERI gemachte Hypothese, die sich durch nichts stützen läßt und offenbar nur auf eine Verkennung des Enzym- begriffs zurückzuführen ist, mit dem leider schon so viel gesündigt worden ist. Nach den zahlreichen Erfahrungen, die gerade über diesen Punkt ‘in den letzten Jahrzehnten gemacht worden sind, muß man schließen, daß die Eier verschiedener Tierformen eine sehr verschieden große Neigung zu parthenogenetischer Entwicklung besitzen, indem die einen sehr leicht, die anderen schwerer, die dritten gar nicht durch äußere Einwirkungen dazu veranlaßt werden können. Man könnte die Tier- formen nach der Leichtigkeit, mit der sich ihre Eier zur partheno- genetischen Entwicklung durch äußere Eingriffe anregen lassen, leicht zu einer kontinuierlichen Stufenleiter anordnen. 4. Die Entwicklung des vielzelligen Organismus. Entwicklung im allgemeinen Sinne können wir definieren als eine fortlaufende Reihe von Veränderungen. Wenn wir von der Fort- pflanzung des vielzelligen Organismus durch Abschnürung ganzer Körperteile, wie bei der Knospung und Teilung, absehen, wo ja die wesentlichen Zellgruppen der einzelnen Organsysteme schon direkt bei der Abschnürung vom elterlichen Organismus auf die Knospen oder Teilstücke übertragen werden, dann besteht die Bildung des vielzelligen Organismus nur in seiner Entwicklung aus der Ei- zelle. Mag das Ei unbefruchtet sich entwickeln, wie bei dem Vorgange der „Parthenogenese“, die der uralten Legende von der unbefleckten Empfängnis für gewisse niedere Tiere einen realen Hintergrund verleiht, mag es vorher befruchtet worden sein, wie das die allgemeine Regel bei der Entwicklung der Tiere und Pflanzen ist, immer haben wir die Tatsache vor uns, daß sich der viel- zellige Organismus aus einer einzigen Zelle allmäh- lich entwickelt. Eine Entwicklung haben wir freilich schon bei den einzelligen Organismen, aber hier läuft der ganze Entwicklungskreis an einer einzigen Zelle ab. Immerhin bildet die Entwicklung der Protisten ein interessantes Analogon zu der Entwicklung der vielzelligen Organismen, der Tiere und Pflanzen. Bei den niedrigsten Formen, wie z. B. den 1) H. WINKLER: „Ueber Furchung unbefruchteter Eier unter der Einwirkung von Extraktivstoffen aus dem Sperma“. In Nachrichten d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen, mathem.-phys. Klasse, 1900, Heft 2. Von den elementaren Lebensäußerungen. 245 Amöben, ist die Entwicklung noch mit dem bloßen Wachstum identisch. Eine Amöbe verändert sich nur, indem sie an Masse zunimmt und sich dann teilt. Die Teilhälften beginnen wieder zu wachsen, bis sie so groß geworden sind, daß sie sich wieder teilen. Der ganze Entwicklungskreis der Amöbe besteht im Wachstum bis zur Zellteilung. Wir sehen also, Wachstum und Zellteilung sind die einfachsten Elemente, welche die Entwicklung erfordert, und in der Tat gibt es in der ganzen lebendigen Welt keine Entwicklung ohne Wachstum und Zellteilung. Eine in komplizierteren Formverände- rungen sich äußernde Entwicklung finden wir aber bereits bei allen den Protisten, die sich durch Sporenbildung fortpflanzen. In diesem Falle müssen die Sporen, die ja der Mutterzelle durchaus unähnlich sind, erst eine Reihe von Formveränderungen durchmachen, bis sie der Mutterzelle gleich werden. Die Entwicklungsgeschichte der Pro- tisten ist in neuerer Zeit bei einigen Gruppen genauer studiert worden. So haben RHUMBLER!) von der Infusoriengattung Colpoda, und L. PFEIFFER?), LABBE?®), LAVERAN®), GRASSI®) und SCHAUDINN®) von der Sporozoengattung GCoccidium die Entwicklungsgeschichte mit großer Mühe und Geduld verfolgt. Als Beispiel kann uns der von SCHAUDINN ermittelte Entwicklungskreis des Coccidium Schubergi dienen, einer Protistenform, die in den Darmepithel- zellen der Tausendfüßergattung Lithobius parasitär lebt. Die nebenstehende Fig. 97 zeigt in den römischen Zahlen von 7——-XX den Ablauf der ganzen Entwicklung. / zeigt das Eindringen der aus einer Cyste (X_X) entleerten Sporen in die Darmepithelzellen von Lithobius. //, III, IV sind Entwicklungsstadien, welche die ein- sedrungenen Sporen in den Darmepithelzellen durchmachen. Sie wachsen hier zu kugelförmigen Zellen (/V) heran, die dann austreten und durch Zerklüftung der Kernsubstanz und Abgrenzung des Proto- plasmas um die Kernpartikel zur Vielzellbildung führen (V—VII), wobei wiederum Sporen (VIII—X) frei werden. Diese Sporen dringen wiederum in Epithelzellen ein und differenzieren sich zu weiblichen und männlichen Sporen (X/a und X//a). Während aus den weib- lichen Sporen sich befruchtungsfähige Eizellen entwickeln (X/a,b, e), gehen aus den männlichen wiederum durch Kern- und Zellzerfall zalıl- reiche längliche Schwärmsporen hervor (XI//a, b,c,d,e), die dann die Eizellen befruchten (X/I/IT). Die befruchtete Eizelle selbst umgibt sich dann mit einer dicken Cystenmembran und zerfällt in der Cyste wiederum zu Sporen (XIV—XX), die ihren Entwicklungskreis wieder von vorn beginnen. In ähnlicher Weise kompliziert ist auch die Ent- wicklung des Malariaparasiten. 1) RHUMBLER: „Die verschiedenen Cystenbildungen und die Entwicklungs- geschichte der holotrichen Infusoriengattung Colpoda“. In Zeitschr. f. wiss. Zool., Bd. 46, 1888. 2) L. PFEIFFER: „Beiträge zur Kenntnis der pathogenen Gregarinen“. Zeitschr. f. Hygiene, Bd. 3, 1888. — Derselbe: ‚Die Protozoen als Krankheitserreger“. 2. Aufl. Jena 1891. 3) ALPHONSE LABBE: „Sporozoa“. In „Das Thierreich“, Berlin 1899. 4) LAVERAN: „L’h&matozoaire du paludisme“, Paris 1891. — Derselbe: „Traite du paludisme“, Paris 1898. { 5) GrAsst: „Studi di uno zoologo sulla malaria“. In Mem. R. Accad. dei Lincei, Classe scienze fisiche, Vol. 3, 1900. 6) SCHAUDINN: „Untersuchungen über den Generationswechsel bei Coceidien“. In Zool. Jahrbücher, Jahrg. 1900. 246 Drittes Kapitel. Fig. 97. Entwieklungsgeschichte von Coceidium Schubergi. Nach SCHAUDINN. Von den elementaren Lebensäußerungen. 247 Was sich bei den Protisten an einer einzigen Zelle abspielt, das verläuft bei der Entwicklung des vielzelliven Organismus an einer eroßen Summe von Zellen. Nach unseren Betrachtungen über die Fortpflanzung kann die Entwicklung des vielzelligen Organismus aus dem einzelligen Ei nicht anders geschehen als durch fortgesetzte Zell- teilung. Dabei aber spielen zwei Momente eine wichtige Rolle, das ist einerseits die Tatsache, daß sich die aus der Teilung der Eizelle hervorgehenden Teilungsprodukte nicht wie bei den meisten Protisten voneinander trennen, sondern miteinander im Zusammenhang bleiben, und anderseits die Tatsache, daß die Teilungsprodukte einander nicht immer eleich sind, sondern durch inäquale Teilung zwei von- einander und von der Mutterzelle ganz verschiedene Zellformen bilden können. Auf diese Weise wird nicht nur die Entstehung eines viel- zelligen Organismus überhaupt, sondern die Entstehung eines viel- zelligen Organismus mit Differenzierung der verschiedenartigsten (Ge- webe und Organe ermöglicht. Wäre nur das erste Moment wirksam und das zweite nicht, dann würde ein Zellenstaat resultieren, be- stehend aus vielen Zellen, die aber alle einander gleich wären. Auch solche Organismen existieren tatsächlich im Reiche der Protisten (Fig. 98) und werden als Zellkolonien aufgefaßt, die vollkommen re- Fig. 98. A Eudorina elegans. B Magosphaera planula. Nach HAECKEL. Zwei vielzellige Organismen, aus gleichartigen Zellen bestehend. publikanische Verfassung haben, d. h. in denen jede Zelle der anderen genau gleichgestellt ist. Diese Formen bilden die Zwischen- glieder zwischen den wirklich einzelligen Organismen und den Tieren oder Pflanzen. Im Körper der Tiere und Pflanzen sind, selbst bei den niedrigsten, die Zellen nicht mehr alle gleich, und diese Differen- zierung, durch die überhaupt nur die Entwicklung eines komplizierter gebauten Zellenstaates ermöglicht wird, beruht auf der Wirksamkeit des zweiten Moments, der inäqualen Zellteilung Also Zell- teilung, und zwar sowohl äquale wie inäquale, und Zu- sammenbleiben der Zellen sind die Faktoren, welche die Entwicklung eines differenzierten Zellenstaates hervorbringen. Wir können nicht auf die speziellen Vorgänge in der individuellen Entwicklung der verschiedenen Tiere und Pflanzen näher eingehen 248 Drittes Kapitel. und müssen zu diesem Zwecke auf die ausführlichen Werke von HAECKEL!), HERTWIG ?), BONNET ?), KORSCHELT und HEIDER*) ver- weisen. welche die Embryologie als selbständige Wissenschaft be- handeln. Dagegen müssen wir noch einen Blick auf jenes wichtige Gesetz werfen, das, wie wir schon sahen, der individuellen Entwick- lung ihre bestimmten Wege vorschreibt, auf das „biogenetische Grundgesetz“. Schon KARL ERNST VON BAER, der Begründer der Embryologie, hatte gefunden, daß in der Embryonalentwicklung ganz verschiedener Tierformen Entwicklungsstadien vorkommen, die sich täuschend ähn- lich sehen und nach Darwıns epochemachender Tat sprach bereits Frıtz MÜLLER 5) mit klaren Worten die Tatsache aus, daß die Ent- wicklungsgeschichte des Individuums eine kurze Wiederholung des ganzen Entwicklungsganges vorstellt, den die betreffende Art während der Entwicklung durchgemacht hat. Es war dann Harereus Ver- dienst, das „biogenetische Grundgesetz“ schärfer formuliert und das Bestehen eines Zusammenhanges zwischen der onto- genetischen und phylogenetischen Entwicklungsreihe betont zu haben. HAECKEL®*) zeigte nämlich, daß die individuelle Entwicklung oder Öntogenie nur in groben Umrissen eine Wiederholung oder „Palin- genie* der Stammesentwieklung oder Phylogenie vorstellt, daß aber vielfach diese Wiederholung verwischt oder gefälscht wird durch das Auftreten von Eigenschaften, die nicht in der phylogenetischen Ent- wicklungsreihe der betreffenden Form vorhanden waren, und die er deshalb als Ausdruck einer Fälschungsentwicklung oder „ÜGeno- genie* bezeichnete. Wir haben also in der individuellen Entwick- lungsreihe einer jeden Organismenform zweierlei Bestandteile zu unter- scheiden, einerseits die palingenetischen Bestandteile, welche die Stammesentwicklung der betreffenden Form kurz rekapitulieren, und anderseits die cenogenetischen Bestandteile, die erst durch Anpassung nachträglich entstanden sind und den Verlauf der palingenetischen Vorgänge abgeändert und verwischt haben. Die Erklärung für diese Tatsachen liegt zweifellos in den beiden Momenten, die, wie wir gesehen haben, die ganze Entwicklung des organischen Lebens beherrschen, in dem formerhaltenden Moment der Vererbung und in dem formverändernden Moment der An- passung. Welche Mechanismen freilich im einzelnen der Wieder- holung der Ahnenformen in der Ontogenie und welche der Abände- rung und Umformung derselben zugrunde liegen, welche chemischen und physikalischen Faktoren in beiden Momenten ihren Ausdruck finden, das im einzelnen zu untersuchen, bleibt noch der zukünftigen entwicklungsphysiologischen Forschung vorbehalten. Jedenfalls können wir mit HAECKEL’) das biogenetische Grundgesetz kurz folgender- maßen formulieren: 1) HAECKEL: „Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen“. 4. Aufl. ur 1891. 2) ©. HERTWIG: „Lehrbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen und der Wirbeltiere“. 3. Aufl. Jena 1890. ’ R. BonnET: „Lehrbuch der Entwicklungsgeschichte“. Berlin 1907. 4) KORSCHELT und HEIDER: „Lehrbuch der vergleichenden Entwicklungs- geschichte der wirbellosen Tiere“. Spezieller Teil, Jena 1890. Allgemeiner Teil, Jena 1903. 5) MÜLLER: „Für Darwin“. Leipzig 1864. 6) HAECKEL: „Generelle Morphologie der Organismen“. Leipzig 1866. 7) HAECKEL: „Zieleund Wege der heutigen Entwicklungsgeschichte“. Jena 1875. Von den elementaren Lebensäußerungen. 249 „Die Keimesentwicklungistein Auszug der Stammes- entwicklung; um so vollständiger, je mehr durch Ver- erbung die Auszugsentwicklung beibehalten wird; um so weniger vollständig, je mehr durch Anpassung die Fälschungsentwicklung eingeführt wird.“ III. Der Energieumsatz. A. Die allgemeinen Gesetze der Energetik. Seit alter Zeit hat die Naturwissenschaft verschiedene „Kräfte“ unterschieden, welche die Bewegungsvorgänge in der Natur hervor- bringen sollen. „Kraft“ wurde dabei in naturwissenschaftlichem Sinne als ein Ausdruck für die „Ursache“ einer Bewegung definiert, denn man wußte von einer Kraft nichts anderes zu sagen, als daß sie Be- wegung hervorbringen sollte. So war der Begriff der „Kraft“ nichts anderes als eine Form des alten mystischen Ursachenbegriffs. Sinn- lich wahrzunehmen ist keine Kraft, sinnlich wahrzunehmen sind nur Bewegungen. Es liegt hieran, daß man seit frühen Zeiten schon da, wo man verschiedene Bewegungsformen sah, auch verschiedenartige Kräfte annahm. So kam es, daß mit der Zeit eine Menge von Kräften unterschieden wurde, die schlechterdings nicht miteinander auf die gleiche Stufe gestellt werden konnten. Man sprach von Schwerkraft, von Muskelkraft, von Willenskraft ete. Dieser Zustand ist noch jetzt nicht ganz vorüber. Indessen hat die moderne Physik und Öhemie doch mit dem Begriff der „Kraft“ allmählich etwas auf- geräumt und benutzt das Wort nur noch als Bequemlichkeitsausdruck, nicht aber als Erklärungsmoment. Statt dessen hat man für Er- klärungszwecke in neuerer Zeit einen anderen der Erfahrung ent- nommenen Begriff in die Mechanik der Bewegungsvorgänge eingeführt, der nichts Mystisches enthält, das ist der Begriff der „Energie“. 1. Die Formen der Energie. Der Begriff der Energie hat in der neueren Physik eine ganz bestimmte Bedeutung angenommen. Wir können Energie kurz definieren als Arbeitsleistung oder Arbeitsfähigkeit. Die Vorgänge oder Zustände körperlicher Systeme werden also betrachtet unter dem Gesichtspunkt, ob und welcherlei Arbeit sie leisten oder zu leisten imstande sind und aus welcherlei Arbeitsleistungen sie resultieren. Diese Arbeit kann sehr verschiedener Art sein, und je nach ihr unterscheiden wir eine größere Anzahl von Energieformen durch eigene Benennungen. Zahl und Einteilung der Energieformen sind freilich bis zu einem gewissen Grade willkürlich, aber alle Energie- formen, die wir kennen oder die wir aufstellen wollen, unterliegen einer Scheidung in zwei Gruppen, je nachdem sie Arbeit selbst, d. h. kinetische Energie (Energie der Bewegung), oder Ar- beitsfähigkeit, d. h. potentielle Energie (Energie der Lage) repräsentieren. Daß jedem bewegten System ein gewisser Energiewert zu- kommt, ist ohne weiteres verständlich, denn die Bewegung eines materiellen Systems ist ja direkt eine Arbeitsleistung. Daß aber auch 250 Drittes Kapitel. ein ruhendes System einfach durch seine Lage einen bestimmten Energiewert repräsentieren kann, mag uns das Beispiel der Gravi- tationsenereie zeigen. Befindet sich ein Stein in labiler Gleichgewichts- lage auf der Mauerkante eines Turmes und wird er durch einen minimalen Anstoß ins Wanken gebracht, so fällt er zur Erde. Da- bei leistet er eine Arbeit, die in Bewegung und Wärme zum Aus- druck kommt und deren Größe ganz von seiner Lage abhängig ist. Er leistet mehr Arbeit, wenn er aus größerer, weniger, wenn er aus geringerer Höhe herabfällt. Seine Lage, in diesem Beispiel seine Entfernung vom Erdmittelpunkt, repräsentiert einen ganz bestimmten Arbeitswert und kann jeden Augenblick, wenn die äußeren Bedin- ungen hergestellt sind, direkt zur Arbeitsleistung benutzt werden. Der Stein enthält also in der betreffenden Lage Energie in potentia oder potentielle Energie. Beide Arten von Energie, kinetische (aktuelle, Energie der Bewegung) sowohl wie potentielle (Spannkraft, Energie der Lage) finden wir in den verschiedensten ewändern. Es ist vielleicht zweck- mäßig, einen kurzen Blick zu werfen auf einige Beispiele der wichtigeren Energieformen, die wir in den Vorgängen und Zuständen der Körper- welt unterscheiden können. Beispiele von Energieformeh: Chemische Energie. Kohäsionsenergie. Osmotische Energie. . Energie der Wärme. Mechanische Energie. . Gravitationsenergie. Energie des Lichts. Energie der Elektrizität. Energie des Magnetismus. Die Naturwissenschaft stellt sich die Körperwelt zusammengesetzt . vor aus außerordentlich kleinen Teilchen und nennt diejenigen Teilchen, die nicht mehr geteilt werden können, ohne ihre Eigenschaften zu ver- ändern, „Moleküle“, diejenigen, welche die Moleküle zusammensetzen und früher als überhaupt nicht weiter teilbar galten, „Atome“. Von dieser Vorstellung aus verstehen wir unter „chemischer Energie“ diejenige Energieform, die in der gegenseitigen Anziehung der Atome zum Ausdruck kommt. Die chemische Energie ist potentiell, soweit die Atome ungebundene Affinitäten haben und keine Gelegenheit, einander zu fesseln: sie wird aktuell im Moment, wo eine Verbindung zwischen zwei Atomen erfolgt. Werden einerseits die Atome durch die chemische Energie zu Molekülen vereinigt, so ist es anderseits die Kohäsions- energie, welche die Moleküle untereinander zu großen Körper- massen vereinigt. Auch die Kohäsionsenergie kann als potentielle und kinetische Energie auftreten, ganz analog der chemischen. Als osmotische Energie bezeichnet man die Energie, welche durch die Bewegung der Moleküle in Flüssigkeiten oder Gasen repräsentiert wird und welche der gegenseitigen Durchdringung und Mischung von Flüssigkeiten und Gasen, d. h. den Diffusionsvorgängen, zugrunde liest. Da sie in einer Bewegung und Wanderung der Moleküle be- steht, ist sie kinetische Energie. Ebenfalls eine kinetische Energie-- form ist die Energie der Wärme, die in einer fortschreitenden Bewegung der Moleküle besteht. Nach den besonders von CLAUSIUS ORNaPRwIEr Von den elementaren Lebensäußerungen. 251 entwickelten Vorstellungen sind beispielsweise in einer Flüssigkeit oder in einem Gase die Moleküle in um so intensiverer Bewegung begriffen, je höher die Temperatur ist. Dabei stoßen sie fortwährend aneinander an, prallen wieder ab ete., so daß ein Gewimmel entsteht, das man passend durch den Vergleich mit einem Mückenschwarm an- schaulich zu machen gesucht hat. Aber auch die Atome innerhalb eines Moleküls sind in fortwährenden Schwingungen begriffen, nur daß dieselben hier immer um beständige Gleichgewichtslagen sich bewegen. Man spricht daher in diesem Falle von „intramole- kularer Wärme“. Die groben Bewegungen der großen Körper- massen, die durch Zug, Druck, Stoß etc. veranlaßt werden, sind als mechanische Energie bezeichnet worden. Die gegenseitige An- ziehung der großen Massen, die Anziehung von Sonne und Erde, von Erde und Mond, die Anziehung, die den hochgeworfenen Stein zwingt, wieder auf die Erde zurückzukehren, ist die Energie der Schwere oder die Energie der Gravitation. Auch sie kann potentiell sein wie im oben angeführten Beispiel, wenn der Stein in einiger Höhe über dem Erdboden liegt, aber sie wird aktuell, wenn der Stein fällt. Das Verhältnis ist immer dasselbe, wie zwischen den Atomen, so auch zwischen den Molekülen, so auch zwischen den großen Massen. Ferner sei genannt die Energie des Lichts als diejenige aktuelle Energie, welche die Lichtschwingungen repräsentieren, dann die elektrische Energie, die als kinetische Energie in der Form des elektrischen Stromes, als potentielle Energie in der Form der statischen Elektrizität auftritt, und endlich der Magnetismus, der ebenfalls sowohl als kinetische wie als potentielle Energieform auftreten kann. Ueber das Verhältnis und die Beziehungen mancher von diesen Energieformen zueinander ist bisher noch nicht genügend Klarheit verbreitet worden. Wenn es als zweckmäßig erscheinen sollte, so wäre es durchaus berechtigt, noch mehr Energieformen zu unter- scheiden oder einige der bekannten miteinander zu einer Form zu vereinigen, denn diese sämtlichen Unterscheidungen, daran müssen wir uns immer wieder erinnern, haben nur methodischen Wert und sind lediglich zu dem Zweck getroffen, bestimmte Bezeichnungen für bestimmt charakterisierte Arbeitsleistungen oder Arbeitsfähigkeiten zu gewinnen, die wir in der Welt beobachten. Es wäre verkehrt, wollte man die verschiedenen Energieformen als ebensoviele verschieden- artige, selbständige und unveränderliche Tätigkeiten oder Fähigkeiten einer hypothetischen Materie betrachten. Wie falsch das wäre, zeigt uns am besten die Tatsache, daß sich eine Energieform in die andere verwandeln läßt und in der Natur fortwährend verwandelt wird. 2. Das Gesetz von der Erhaltung der Energie. „Erster Hauptsatz.“ Die überaus wichtige Tatsache, daß die verschiedenen Energie- formen ineinander verwandelbar sind, findet bekanntlich ihren Aus- druck in dem von ROBERT MAYER 1842 zuerst ausgesprochenen und von HELMHOLTZ 1847 selbständig eingehender begründeten Gesetz von der Erhaltung der Energie, das für unsere ganze moderne Naturauffassung grundlegend geworden ist, und dessen Erkenntnis wohl die größte Tragweite gewonnen hat, die je eine Erkenntnis hatte. 252 Drittes Kapitel. Das Gesetz von der Erhaltung der Energie beherrscht alles Geschehen in der Natur, es bildet den „ersten Hauptsatz“ der Energetik. Wie wir bereits früher sahen, besagt es, daß nirgends in der Welt Energie entsteht oder verschwindet, daß die Summe von Energie in der ganzen Welt eine konstante ist, ebenso wie das Gesetz von der Erhaltung des Stoffes die gleiche Konstanz von der Menge des Stoffes aussagt, denn wir dürfen nicht vergessen, daß die stoff- liche und die energetische Betrachtungsweise eines Vorganges oder Zustandes eben nur verschiedene Betrachtungsweisen des gleichen Vorganges oder Zustandes sind, die wir nur unterscheiden nach den Mitteln, mit denen wir denselben untersuchen. Wo uns eine gewisse Menge von Energie zu verschwinden oder zu entstehen scheint, da geht sie in Wirklichkeit nur in eine andere Form oder Modifikation über. Das oben angeführte Beispiel vom fallenden Stein zeigt uns sehr anschaulich diese Umwandlung. Um den Stein auf den Turm zu heben, ist eine ganz bestimmte Menge von kinetischer Energie notwendig, um so mehr, je höher der Stein gehoben wird. Diese selbe Menge von Ener gie steckt in dem Stein als potentielle Energie, solange er in der betreffenden Höhe liegt, sie geht aber sofort wieder in die aktuelle Energie der Bewegung und der Wärme über, sobald der Stein fällt, und zwar wird beim Fall sukzessive je tiefer der Stein sinkt, um so mehr pontentielle Energie in aktuelle verwandelt, bis der Stein zu Boden gefallen ist. Dann hat ihn die ganze Energie, die ihm beim Heben vom Erdboden zugeführt wurde, wieder verlassen. Oder um noch ein anderes Beispiel zu nennen: Leiten wir durch ein Gefäß mit Wasser einen elektrischen Strom, so scheint die elektrische Energie verloren zu gehen. Sie verschwindet aber in Wirklichkeit nicht, denn wir sehen, daß die Moleküle des Wassers in ihre Wasser- stoff- und Sauerstoffatome zerlegt werden, die sich in ihrem gas- förmigen Zustande an den beiden Polen der elektrischen Leitungs- drähte ansammeln und daß dabei gleichzeitig Wärme entsteht. Der elektrische Strom hat also eine Arbeit geleistet, indem er die Atome des Wassermoleküls voneinander getrennt und außerdem Wärme ge- liefert hat. Die frei gewordenen Wasserstoff- und Sauerstoffatome haben aber chemische Affinität zueinander, es ist also bei dem Expe- riment nur die aktuelle Energie des elektrischen Stromes verwandelt worden in die potentielle Energie der chemischen Affinität und in Wärme. 3. Der „zweite Hauptsatz“ ‘Zeigt uns so das Erhaltungsgesetz, daß alles Geschehen in der Welt vom energetischen Standpunkt aus als ein Umsatz von Energien betrachtet werden kann, so fragt es sich weiter, von welchen Be- dingungen sind die Umwandlungen einer Energieform in die andere abhängige. Man könnte, wenn man eine lange Reihe von Vorgängen in der Natur als Energieumwandlungen erkannt hat, leicht auf die Vorstellung verfallen, daß jede Energieform sich ohne weiteres voll- ständig in jede beliebige andere umwandeln könne. Das ist aber keineswegs der Fall, sondern das Geschehen in der Welt, der Ueber- gang einer Energie in die andere ist sehr weitgehenden Beschrän- kungen unterworfen. Der Satz nun, der die allgemeinen Beschränkungen in dieser Hinsicht zum Ausdruck bringt, ist der sogenannte „zweite Hauptsatz“. Von den elementaren Lebensäußerungen. 253 Das Fundament für den „zweiten Hauptsatz“ ist gelegt worden, ehe der erste Hauptsatz, d. h. das Erhaltungsgesetz entdeckt war, von dem jungen französischen Ingenieur SADI ÜARNOT im Jahre 1828. CARNOT, der sich mit Untersuchungen über die Frage be- schäftigte, wie in der Dampfmaschine durch Wärme Arbeit erzeugt würde, formulierte zuerst die Tatsache, daß Wärme immer nur mechanische Arbeit leisten kann, wenn sie von einem Körper höherer auf einen Körper niedrigerer Temperatur übergeht. Die Erkenntnis dieser unscheinbaren Tatsache hat außerordentlich weittragende Konse- quenzen nicht allein in theoretischer Beziehung, sondern vor allem auch für die praktische, sich daran anknüpfende Frage nach den Be- dingungen für die Erzielung maximaler Arbeitsleistungen bei Ma- schinen der verschiedensten Art gehabt. Im obigen Falle von CARNOT ist also die Umwandlung von Wärme in mechanische Arbeit inner- halb eines geschlossenen Systems abhängig von der Temperaturdifte- renz zwischen zwei verschiedenen Teilen des Systems. Ist die Tempe- ratur in allen Teilen eines Systems gleich, so kann, mag das System noch soviel Wärme enthalten, keine mechanische Arbeit in ihm statt- finden. Die Temperatur ist der Intensitätsfaktor der Wärmeenergie. Alle Energieformen kann man definieren als das Produkt ihres „Intensitäts“- und „Kapazitäts“- (oder Extensitäts- oder materiellen) Faktors. So ist z. B. die elektrische Energie das Produkt aus der Spannung (Intensitätsfaktor) und der Elektrizitätsmenge (Kapazitäts- faktor), so ist die chemische Energie das Produkt aus der Affinität (Intensitätsfaktor) und der Stoffmenge (Kapazitätsfaktor), und so ist die Wärmeenergie das Produkt aus der Temperatur (Intensitätsfaktor) und der Entropie (Kapazitätsfaktor.. Es hat sich nun gezeigt, daß das, was ÜARNOT für die Umsetzung von Wärme in Arbeit gefunden hatte, für alle energetischen Umsetzungen, d. h. für alle Naturvorgänge sit." Energieumsetzungen in einem geschlossenen System können immer nur stattfinden, wenn zwischen den beteiligten Energien Intensitätsdifferenzen vor- handen sind. Das ist heute die allgemeinste Fassung des soge- nannten „zweiten Hauptsatzes“. Jeder Energieumsatz oder sagen wir einfach jeder Vorgang — denn jeder Vorgang ist ein Energieumsatz — besteht darin, daß die Energiedifferenz sich ausgleicht. Das kann schneller oder langsamer geschehen. Schließlich aber, wenn sich die Differenz ausgeglichen hat, ist ein Gleichgewichtszustand erreicht und das Geschehen ist zu Ende, das System befindet sich im Ruhezustande. Es kann jetzt erst wieder zu einer Leistung veranlaßt werden, wenn durch Energiezufuhr von außen das Gleichgewicht im System gestört wird. Dann findet wieder ein Energieumsatz statt, weil zwischen der Energie des Systems und der von außen einwirkenden Energie eine Intensitäts- differenz besteht. Und wiederum dauert der Vorgang so lange an, bis sich die beiden aufeinander einwirkenden Energien gegenseitig von neuem ins Gleichgewicht gesetzt haben. In diesem Falle ist dann zwar innerhalb des Systems selbst eine Intensitätsdifferenz vor- handen, aber diese ist kompensiert durch die von außen einwirkende Energie. Es können also in einem System wohl Intensitätsdifferenzen bestehen, ohne daß ein Energieumsatz, ein Geschehen erfolgt, aber das ist nur der Fall, wenn die Differenz von außen her kompensiert ist. Ein Beispiel wird das anschaulicher machen. Eine unbelastete 254 Drittes Kapitel. Hebelwage befindet sich im Energiegleichgewicht, d. h. in Ruhe. Belaste ich die eine Wageschale mit einem kleinen Gewicht, so störe ich das Gleichgewicht in der Wage und es tritt eine Bewegung ein solange bis ein neuer Gleichgewichtszustand erreicht ist. In diesem neuen Gleichgewichtszustande besteht zwar eine Intensitätsdifferenz der Energie zwischen den beiden Hälften der Wage an sich, aber diese ist kompensiert durch das von außen auf das System der Wage einwirkende Gewicht, und ebenso besteht zwischen dem Gewicht und der Luft eine Intensitätsdifferenz, denn das Gewicht würde, wenn es nicht durch die Wage gehalten würde, sich bewegen und zu Boden fallen. Schieben wir das Gewicht von der Wagschale herunter, so fällt es herab, bis auf dem Boden sich ein neuer Gleichgewichts- zustand zwischen dem Gewicht und dem Gegendruck des Bodens hergestellt hat, und die Wage kehrt ebenfalls in ihre ursprüngliche Gleichgewichtslage zurück. Solche von außen kompensierte Inten- sitätsdifferenzen zwischen gleichen oder verschiedenen Energieformen finden wir nun auf Schritt und Tritt in der Welt. Bei allen mög- lichen Körpern, bei den verschiedenartigsten Systemen physikalischer und chemischer Natur können wir solche Energieintensitätssprünge, die von außen her kompensiert sind, beobachten. Sie sind nichts anderes als Systeme mit potentieller Energie. Nach alledem können wir alle Dinge der Welt nach energetischen Gesichtspunkten in zwei Rubriken einordnen, in Vorgänge und Zustände. Vorgänge sind Energieumsetzungen, bedingt durch un- kompensierte Intensitätsdifferenzen. Zustände sind Systeme von Energien, die sich im Gleichgewicht befinden. 4. Das Wärmemaß der Energie. Um ein einheitliches Maß für die Messung irgendwelcher Energie- menge zu gewinnen, hat die Physik im Anschluß an JOULES Unter- suchungen über das Verhältnis von Wärme zu mechanischer Energie eine gewisse Wärmemenge als „Wärmeeinheit“ oder „Kalorie“ gewählt. Eine Kalorie ist diejenige Wärmemenge, welche notwendig ist, um ein Kilogramm Wasser von O° auf 1° C zu erwärmen. Es ist indessen zweckmäßig, wenn man von Kalorien spricht, besonders hinzuzusetzen, ob es sich um solche „großen“ d.h. „Kilogrammkalorien“ han- delt, oder um sogenannte „kleine“, d.h. „arammkalorien‘“, die die- jenige Wärmemenge repräsentieren, die nötig ist, um 1 Gramm Wasser von 0° auf 1°C zu erwärmen. Man wählte mit gutem Grunde die Wärme als diejenige Energieform, welche die Maßeinheit für alle anderen abgibt, denn die Wärme nimmt den anderen Energieformen gegenüber eine eigentümliche Stellung ein, insofern alle anderen Energieformen vollkommen in Wärme umgewandelt werden können, während es nicht gelingt, sämtliche Energieformen in jede beliebige andere Energieform vollkommen überzuführen. Die z. B. bei der Ueberführung von Wärme in mechanische Energie umwandelbare Energiemenge, die sogenannte „freie Energie“, ist immer nur ein Bruchteil der Gesamtenergie, und das ‘gleiche gilt von der Ueber- führung anderer Energieformen ineinander, wenn sie nicht in Wärme allein umgesetzt werden. Wenn wir daher irgendeine Menge einer beliebigen Energieform, etwa mechanischer oder chemischer Energie, zahlenmäßig ausdrücken wollen, so drücken wir sie im „Wärme- Von den elementaren Lebensäußerungen. 255 maß“ aus und geben die Anzahl der ihr äquivalenten Kalorien an. So entspricht z. B. eine Kilogrammkalorie in die Energieform mecha- nischer Arbeit umgerechnet einer Energiemenge, welche nötig ist, um ein Gewicht von 424 kg einen Meter hoch zu heben; man sagt: das „mechanische einer großen Kalorie ist 424 „Kilogrammmeter“, und umgekehrt: eine große Kalorie ist das „W ärmeäquiv alent“ von 424 Kilogrammetern. Auf dieselbe Weise kann man auch alle übrigen Energieformen ihrer Menge nach in Wärmeäquivalenten ausdrücken. Die Kalorie ist die Maßeinheit für alle Energie. B. Die Einfuhr von Energie in den Organismus. Das Leben ist oft mit dem Feuer verglichen worden, eine Vor- stellung, die schon in den ältesten mythologischen Naturauffassungen der Völker eine Rolle spielt und in der Philosophie des HERAKLIT bekanntlich zum ersten Male eine festere Form angenommen hat. Der Vergleich ist in vielen Punkten zutreffend. Wenn wir ihn weiter ausspinnen, dann ist unser Organismus die brennende Kohle, die sich fortwährend verzehrt, unser Atem das en unsere Nah- rung frisch aufgelegtes Brennmaterial, welches das alte immer wieder ersetzt. Wie der brennende Kohlenhaufen ein System vorstellt, in dem ein fortwährender Energieumsatz stattfindet dadurch, daß mit dem Brennmaterial potentielle Energie eingeführt und in die nach außen hin aktuellen Energieformen der Wärme, und bei geeigneter Ver- wendung, wie z. B. in der Dampfmaschine, der mechanischen Arbeit, umgesetzt wird, so ist auch der Organismus ein materielles System, in dem ein gleicher Energieumsatz fortdauernd stattfindet. Wie durch Aufschütten neuer Kohlen auf den Kohlenhaufen die Energie in poten- tieller Form zugeführt wird, so ist auch wenigstens im tierischen Organismus der weitaus größte Teil aller zugeführten Energie poten- tielle chemische Energie. Daher kommt es, daß die Einfuhr von Energie eine bedeutend weniger in die Augen fallende Lebens- äußerung ist, als die in ausgiebigen Bewegungen und anderen augen- fälligen Leistungen sich äußernde Produktion von aktueller Energie, die aus dem Umsatz der eingeführten potentiellen Energie hervorgeht. 1. Gesetz des Energieumsatzes beichemischen Prozessen. Da über den Energieumsatz bei chemischen Vorgängen vielfach etwas unklare Vorstellungen verbreitet sind, so wird es zweckmäßig sein, zunächst überhaupt erst einen Blick auf die allgemeinen Tat- sachen des Energiewechsels bei chemischen Umsetzungen zu werfen. Unter chemischer Energie verstehen wir die Arbeitsleistungen der Atome. Die chemische Energie besitzt in der chemischen Affinität ihren Intensitätsfaktor. Jedes Atom, wenn wir es uns einmal isoliert denken wollen, repräsentiert demnach ein kleines energetisches System, ein Energiemagazin. Die chemische Energie eines isoliert gedachten Atoms wäre potentiell, solange das Atom nicht Gelegenheit hätte, durch seine Affinität ein anderes Atom an sich zu binden. Sobald sich aber zwei Atome miteinander verbinden, geht ein der Stärke 256 Drittes Kapitel. ihrer Affinität entsprechender Teil von potentieller Energie in aktuelle Energie über, die in Gestalt von Wärme, Licht, mechanischer Energie etc. frei wird. Da ferner die chemische Affinität eines Atoms zu verschiedenartigen anderen Atomen sehr verschieden groß ist, so wird um so mehr Energie frei werden, je stärker die Affinitäten sind, die gebunden werden. Eine chemische Verbindung muß also um so weniger frei verfügbare potentielle Energie enthalten, je stärker die Affinitäten sind, welche ihre Atome zusammengeführt haben. Um- gekehrt: Sollen zwei miteinander verbundene Atome getrennt werden, so wird dazu eine gewisse Menge Energie gebraucht, und diese selbe Menge von aktueller Energie, welche jetzt verbraucht wird, um die Atome zu trennen, erscheint nach der Spaltung wieder in Form von potentieller chemischer Energie, meßbar durch die freigewordenen Affinitäten der Atome. Ein Beispiel wird das Verhältnis noch anschaulicher machen. Haben wir über einer Quecksilberwanne einen starken Glaszylinder, der in einem kleinen vom Quecksilber freigelassenen Raume ein Gas- gemisch aus zwei Dritteilen Wasserstoff und einem Dritteil Sauer- stoff enthält, so haben wir ein Gemisch von Molekülen, deren Atome große Mengen potentieller Energie in Form von chemischen Affini- täten zueinander beherbergen. Stellen wir nun die Bedingungen her, daß sich die Sauerstoff- und Wasserstoffatome miteinander ver- einigen können, so stürzen sie gierig aufeinander los, ziehen sich an und geben ihren gesamten Vorrat an potentieller Energie in Form von Wärme, Licht und mechanischer Energie nach außen ab. Es entsteht eine Flamme, der Zylinder wird stark erwärmt, und das Queck- silber wird mit Gewalt nach unten getrieben, steigt aber bald wieder höher und höher, denn der aus der Vereinigung von Wasserstoff- und Sauerstoffatomen entstehende Wasserdampf verdichtet sich mit zunehmender Abkühlung zu tropfbarem Wasser, das schließlich nur einen winzigen Raum im Zylinder einnimmt. So ist bei der Synthese des Wassers aus Wasserstoff und Sauerstoff die potentielle Energie der chemischen Affinitäten in aktuelle Energie umgesetzt und als Wärme, Licht ete. frei geworden. Das Wassermolekül hat also diese genau bestimmbare Energiemenge an die Umgebung verloren. Um- gekehrt können wir die Atome des Wassers wieder voneinander trennen in Wasserstoff- und Sauerstoffatome, wenn wir dieselbe Energie- menge von außen her wieder zuführen. Am besten eignet sich dazu die Form der elektrischen Energie. Leiten wir einen elektrischen Strom durch das Wasser, so werden in demselben Maße, wie die elektrische Energie verschwindet, an den Polen der Drähte Wasser- stoff- und Sauerstoffatome frei. Es wird also Energie verbraucht, um die Atome des Wassermoleküls voneinander zu spalten, aber diese Energie erscheint in den freiwerdenden Atomen als potentielle chemische Energie wieder, denn wenn wir den freiwerdenden Sauerstoff und Wasserstoff wieder zur Vereinigung bringen, dann gewinnen wir da- durch von neuem wieder aktuelle Energie usf. . Diese Betrachtung ist sehr wichtig, denn es ergibt sich daraus ein Satz von weittragender Bedeutung, der meist nicht klar genug formuliert wird, nämlich der Satz: Bei der Verbindung von Atomen wird aktuelle Energie frei, zur Trennung von Atomen dagegen wird aktuelle Energie verbraucht. Dieser Satz, der eine notwendige Konsequenz aus dem Gesetz Von den elementaren Lebensäußerungen. 957 von der Erhaltung der Energie vorstellt, muß als Grundsatz für alle chemischen Umsetzungen betrachtet werden und bildet auch den Aus- gangspunkt für das Verständnis aller Energieumsetzungen im lebendigen Organismus. Daß er in der Regel nicht mit genügender Klarheit hingestellt und angewendet wor den ist, liegt vielleicht an der Tatsache, daß er in gewissen Fällen auf den ersten Blick scheinbar eine Aus- nahme erleidet. Es ist zur Klarstellung dieser Verhältnisse nicht überflüssig, wenigstens kurz darauf einzugehen. Wenn wir die Energie, die bei einem chemischen Prozeß um- gesetzt wird, im Wärmemaß ausdrücken!), so haben wir Prozesse, bei denen Wärme frei wird, und Prozesse, bei denen Wärme verbraucht wird. Nach der Ausdrucksweise der „Thermochemie“ bezeichnen wir die Produktion von Wärme bei einem chemischen Prozeß als „posi- tive Wärmetönung“, den Verbrauch von Wärme dagegen als „negative Wärmetönung“. Nach unserer eben angestellten Be- trachtung sollten wir also erwarten, daß alle synthetischen Prozesse, d. h. alle Prozesse, bei denen sich Körper miteinander verbinden, unter positiver Wärmetönung verlaufen, denn es werden ja bei jeder Synthese Atome verbunden, und bei Verbindung von Atomen wird Energie frei; umgekehrt wäre zu erwarten, daß alle Spaltungsprozesse, d. h. alle Prozesse, bei denen verbundene Atome getrennt werden, mit negativer Warmetönung einhergehen. Das ist, wenn man die Begriffe Synthese und Spaltung in ihrer reinen Bedeutung anwendet, auch immer der Fall. Dennoch scheint es auf den ersten Blick gewisse Ausnahmen von dieser Regel zu geben. Es sind nämlich einerseits einige Synthesen in der Chemie bekannt, die wie z. B. die Synthese von Jodwasserstoff, mit Wärmeverbrauch verbunden sind. andererseits gibt es viele Spaltungen, namentlich komplizierterer Verbindungen, wie etwa des Nitroglyzerins oder anderer explosibler Stoffe, bei denen eine gewaltige Energieproduktion stattfindet. Das sind unbestreitbare Tatsachen. Allein, analysieren wir die Einzelheiten bei diesen Vor- gängen etwas genauer, so klärt sich das scheinbare Paradoxon ohne weiteres auf und bestätigt vielmehr das Gesetz. Es liegt nämlich auf der Hand, daß, soweit nicht entweder freie Atome untereinander oder aber ganze Moleküle ohne Umlagerung ihrer Atome zu einer Ver- bindung zusammentreten oder aus einer Verbindung als präformierte Gruppen abgespalten werden, jeder Synthese eine Spaltung der aktiven Moleküle in ihre Atome vorhergehen und jeder Spaltung eine Synthese der freigewordenen Atome zu neuen Molekülen folgen muß. In diesen Fällen verläuft also keine Synthese ohne vorhergehende Spaltung, und keine Spaltung ohne nachfolgende Synthese. Hiernach leuchtet es ein, daß unter Umständen bei einer Synthese eine negative Wärme- tönung bestehen kann, wenn nämlich, wie im Jodmolekül, die Jodatome oder im Wasserstoffmolekül die Wasserstoffatome zueinander größere Affinität haben als die Jodatome zu den Wasserstoffatomen. Dann wird mehr Energie verbraucht, um die Atome des Jodmoleküls und die Atome des Wasserstoffmoleküls voneinander zu spalten, als frei wird, wenn die Jod- und Wasserstoffatome sich zu einem Jodwasser- 1) Um ein Mißverständnis zu verhüten, soll ausdrücklich betont werden, daß die Wärme bei dieser Betrachtung nicht etwa als einzige Energieform gelten soll, die bei der chemischen Reaktion nach außen hin frei wird, sondern als Energieform, die als Maß dienen kann. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 17 258 Drittes Kapitel. stoffmolekül vereinigen, und da ja bei jedem kalorimetrischen Ex- periment nur der Enderfolg zur Beobachtung gelangt, nie die Zwischen- prozesse, so erklärt es sich, weshalb am Ende der Reaktion sich ein Wärmeverbrauch, eine negative Wärmetönung herausstellen muß. Das Umgekehrte ist bei den Spaltungsvorgängen mit positiver Wärmetönung der Fall. Das Nitroglyzerin (Salpetersäure-Triglyzerid) explodiert bekanntlich bei Erschütterungen unter ungeheurer Energieentwicklung, indem es in Wasser, Kohlensäure, Sauerstoff und Stickstoff zerfällt. Diese Zerfallsprodukte sind aber strukturchemisch nicht im Nitro- elyzerinmolekül präformiert, sondern gehen erst durch synthetische Umlagerung der Atome aus demselben hervor. Da die Atome des Wassers, der Kohlensäure, des Sauerstoffs und des Stickstoffs in dieser Anordnung aber viel größere Affinitäten zueinander haben als in der Lagerung, die sie im Nitroglyzerinmolekül hatten, so genügt eine kleine Energiemenge, um den Zerfall des Nitroglyzerinmoleküls herbeizuführen, während aus den Umlagerungssynthesen eine außer- ordentlich große Energiemenge frei wird. Daher erhalten wir als Endresultat eine positive Wärmetönung. Also ebensowenig, wie streng genommen bei der Jodwasserstoftsynthese der Wärmeverbrauch auf Rechnung der Synthese zu setzen ist, ebensowenig stammt in Wirk- lichkeit die Energieproduktion bei der Dynamitexplosion aus der Spaltung des Nitroglyzerinmoleküls. Es ist notwendig, daß man sich diese Tatsache einmal klar gemacht hat. Da aber nun allgemein, wenn von einer Synthese gesprochen wird, die vorhergehende Spaltung, und wenn von einer Spaltung gesprochen wird, die nachfolgende Synthese unberücksichtigt gelassen wird, so ist es genauer, das Grund- gesetz des Energiewechsels bei chemischen Prozessen in folgender Form auszusprechen: Werden bei einem chemischen Prozeß stärkere Affinitäten gebunden als getrennt, so wird aktuelle Energie frei; werden dagegen stärkere Affinitäten getrennt als gebunden, so verläuft der Prozeß mit Energieverbrauch. 2. Die Zufuhr von chemischer Energie in den Organismus. Nach den obigen Betrachtungen ist es klar, daß chemische Energie in den Organismus nur eingeführt werden kann, wenn die Nahrungs- stoffe Affinitäten enthalten, die zu binden im Organismus Gelegenheit geboten wird. Es müssen also Stoffe in den Körper eingeführt werden, die chemische Umsetzungen mit positiver Wärmetönung erfahren. Das geschieht in der Tat auch auf die zweierlei Weise, die wir eben kennen lernten, nämlich einerseits, indem einfache Stoffe mit starken Affinitäten eingeführt werden, die sich leicht mit anderen Stoffen unter positiver Wärmetönung verbinden, und zweitens, indem zusammen- gesetzte Verbindungen aufgenommen werden, die leicht spaltbar sind und wie die explosiblen Körper unter Umlagerung der Atome in ein- fachere Verbindungen mit fester Bindung der Atome zerfallen. Starke Affinitäten gelangen vor allem mit dem Sauerstoff in den Körper, und es ist ja allgemein bekannt, daß bei der Vereinigung des Sauerstoffs mit anderen Stoffen, d. h. bei der Oxydation oder Ver- brennung eine große Menge von Energie frei wird. Die Oxydations- prozesse spielen aber im Leben fast aller Organismen eine überaus Von den elementaren Lebensäußerungen. 959 wichtige Rolle, und es ist also, wie wir schon sahen, der Vergleich des Lebens mit dem Feuer ein durchaus glücklicher gewesen. Komplexe Verbindungen mit lockerer Bindung der Atome, die zur Umsetzung in einfachere Stoffe mit festen Atombindungen neigen, gelangen beim Tier mit der organischen Nahrung in großer Menge in den Organismus. Es sind dies Stoffe aus den Gruppen der Ei- weißkörper, Fette und Kohlehydrate. Alle diese Stoffe unterliegen im Tierkörper umfangreichen Umformungen, aus denen zunächst einmal in der Assimilationsphase des Stoffwechsels die spezifischen komplexen Verbindungen der lebendigen Substanz aufgebaut werden, die zum Teil noch labiler sind als die eingeführten organischen Nahrungsstoffe an sich. Die Prozesse der Assimilationsphase des Stoff- wechsels werden daher im ganzenmit Energieaufnahme und Energieaufspeicherung in potentieller Form ver- bunden sein. Beim Tier ist aber der Weg von den aufgenommenen Nahrungsstoffen bis zur Bildung der spezifischen Verbindungen, welche die lebendige Substanz aufbauen, verhältnismäßig kurz, da das Tier schon fertige organische Nahrung in den genannten Verbindungen aufnimmt. Bei der Pflanze dagegen ist der Weg viel länger. Da die Pflanze als Nahrung nur die einfachsten anorganischen Ver- bindungen benutzt, wie Kohlensäure, Wasser, Salpeter etc., die wenig oder garkeinen Energiegehalt haben und da andererseits die Aufbauprozesse der Assimilationsphase im ganzen mit einem Energie- verbrauch verknüpft sind, so muß für die Pflanze eine andere Energiequelle zur Verfügung stehen, aus der erst durch Energieumsatz die chemische potentielle Energie gewonnen wird, die in den kom- plexen Verbindungen, welche die lebendige Substanz zusammensetzen, aufgespeichert ist. Wir werden gleich sehen, welche Energiequelle das ist. In der Dissimilationsphase des Stoffwechsels zerfallen die kom- plexen Verbindungen der lebendigen Substanz schließlich, und zwar zum großen Teil durch oxydative Aufspaltung mit Hilfe des aufge- nommenen Sauerstoffs, zum Teil auch durch enzymatische und andere Spaltungsvorgänge in einfache Verbindungen mit fester Bindung der Atome, wie Kohlensäure, Wasser und einfache stickstoffhaltige Stoffe, also in die gleichen Verbindungen, aus denen in der grünen Pflanze diekomplexen Verbindungen der lebendigen Substanz aufgebaut worden sind. Wie der Aufbau von lebendiger Substanz aus diesen einfachen Stoffen mit Energieaufnahme, d. h. mit Energieaufspeicherung ver- bunden war, so ist der Zerfall von lebendiger Substanz in diese ein- fachen Verbindungen natürlich mit Energieproduktion, d. h. mit Energie- abgabe verknüpft. Die Dissimilationsprozesse gehen also im ganzen mit Energieentfaltung nach außen einher. In ihnen liegt die Quelle für die mannigfaltigen Leistungen der leben- digen Substanz. Wie beträchtlich aber die Energiemengen sind, die beim Tier mit der organischen Nahrung in Form von potentieller chemischer Energie aufgenommen werden, das geht aus den Wärmemengen hervor, die bei der Oxydation dieser Stoffe, sei es im Tierkörper, sei es im Kalorimeter frei werden. So beträgt z. B. die Verbrennungswärme für 1 g trocknen Eiweißes 4,998, also rund 5,000 Kilogrammkalorien, für 1 g Rohrzucker 3,348 Kilogrammkalorien und für 1 g Butterfett 7,264 Kilogrammkalorien. Danach gewinnt man einen Begriff davon, 17* 260 Drittes Kapitel. wie große Energiemengen z. B. beim Menschen täglich in den Körper eingeführt werden, wenn man etwa das von VoIT angegebene Kostmaß zugrunde legt, das für einen mittelgroßen Arbeiter 118 g Eiweiß, 500 & Kohlehydrate und 56 g Fett beträgt. 3... Die Zufuhr von Licht: Wenn wir sagen: Die Hauptmasse aller in den Organismus ein- geführten Energie gelangt als chemische Energie in den Körper, so ist dieser Satz für die tierischen Organismen ohne Einschränkung gültig, für die pflanzlichen bedarf er indessen einer Korrektur. Zwar ist auch in der Pflanze die potentielle Energie, auf deren Kosten ihre Leistungen gehen, überwiegend chemische Energie, aber der größte Teil derselben wird nicht sogleich als frei verfügbare Energie, wie sie etwa der Sauerstoff besitzt, in den Körper eingeführt, sondern es ist erst die Zufuhr einer anderen Energieform notwendig, um ver- fügbare chemische Energie zu schaften. Wir wissen, daß zur Synthese des ersten Assimilationsprodukts Kohlensäure und Wasser erforderlich sind). Kohlensäure und Wasser sind aber Moleküle, die als solche gar keinen chemischen Energiewert besitzen, weil ihre Atome in dieser Verbindung durch sehr starke Affinitäten aneinander gekoppelt sind. Um sie daher frei und für neue Leistungen verfügbar zu machen, müssen diese Moleküle erst gespalten werden, und dazu ist Energie- zufuhr nötig. Die Energie, welche diese Spaltung vollzieht, ist im Verein mit der chemischen Energie der lebendigen Pflanzensubstanz selbst das Licht. Ohne Licht ist daher kein Leben der Pflanze möglich, und da ohne Pflanzenleben kein Tierleben existieren kann, so kann man sagen, daß ohne Licht überhaupt kein Leben bestehen würde. Wenn also auch das Licht direkt nur in der Pflanze als Energiequelle eine wesentliche Rolle spielt, so ist es doch eine Energieform, die für die Erhaltung des Lebens auf der Erdoberfläche ebenso unentbehrlich ist wie die chemische Energie der Nahrung. Der Ort, wo in der Pflanze das Licht die Spaltung der Kohlen- säure bewirkt, liegt in den grünen Teilen des Pflanzenkörpers, also vor allem in den Blättern. Man überzeugt sich davon am besten durch den auf p. 190 beschriebenen Assimilationsversuch. Dabei zeigt sich, daß für die Beteiligung der Lichtstrahlen an der Kohlensäure- spaltung in den grünen Pflanzenzellen zwei Momente ausschlaggebend sind, einerseits die Intensität und andererseits die Wellenlänge der Strahlen. Die Wirksamkeit des Lichtes nimmt mit der Intensität desselben zu, so daß in hellerem Licht mehr Kohlensäure gespalten wird als in weniger hellem. Ferner sind bei gleicher Intensität die Strahlen des roten Lichtes (nicht wie die Botaniker früher annahmen, die des gelben) am wirksamsten. ENGELMANN?) hat durch eine mikroskopische Methode, die auf der Wirkung des bei der Kohlen- säurespaltung frei werdenden Sauerstoffs auf Bakterien beruht, in 1) Vergl. p. 1891. 2) TH. W. ENGELMANN: „Neue Methode zur Untersuchung der Sauerstoff- ausscheidung pflanzlicher und tierischer Organismen“. In PFLÜGERS Arch. f. d. ges. Physiol., Bd. 25, 1881. — Derselbe: „Die Erscheinungsweise der Sauerstoff- ausscheidung chromophyllhaltiger Zellen im Licht bei Anwendung der Bakterien- methode“. In ÖOnderz. physiol. Laborat. Utrecht, IV. Reeks, III. Deel, 1895. (Hier sind auch die anderen einschlägigen Arbeiten ENGELMANNs angeführt.) Von den elementaren Lebensäußerungen. 261 einer ganzen Reihe von Arbeiten diese Tatsache über allen Zweifel erhoben. Bei den Untersuchungen ENGELMANNS hat sich gleichzeitig die Ansicht bestätigt, daß die Kohlensäurespaltung in der grünen Pflanzenzelle nur in den Chlorophylikörpern derselben stattfindet, und schließlich hat sich herausgestellt, daß die Kohlensäurespaltung sofort mit Einwirkung des Lichts beeinnt, um bei Verdunklung auch augenblicklich wieder aufzuhören. Die Abhängiekeit der kohlensäure- spaltenden Tätigkeit der Chlorophylikörper vom Licht ist also eine außerordentlich enge. 4. Die Zufuhr von Wärme. Die Wärme endlich, die teils als strahlende, teils als zugeleitete Wärme von außen her in den lebendigen Organismus hineingelangt, spielt ähnlich wie das Licht eine Rolle bei den chemischen Um- setzungen in der lebendigen Substanz, und da wir wissen, daß mit zunehmender Temperatur die Zersetzbarkeit aller chemischen Ver- bindungen zunimmt, so können wir sagen, daß auch die zugeführte Wärme vor allem bei Spaltungsprozessen in der lebendigen Substanz beteiligt ist. Die Rolle der Wärme als Energiequelle ist besonders deutlich zu erkennen bei den sogenannten Kaltblütern, die man richtiger als „wechselwarme (poikilotherme) Tiere“ bezeichnet hat, da sie im Gegensatz zu den sogenannten Warmblütern oder „gleich- warmen (homoiothermen) Tieren“, die eine stets Konstante Körper- temperatur haben, ihre Körpertemperatur mit der Temperatur der Umgebung fortwährend wechseln, so daß sie bei hoher Außen- temperatur mitunter eine Körpertemperatur haben können, die der Temperatur der gleichwarmen Tiere gleichkommt. Diese wechsel- warmen oder poikilothermen Tiere, wie z. B. die Insekten, Reptilien ete., sind bei hoher Temperatur des Mediums, in dem sie leben, äußerst lebhaft, bewegen sich viel und zeigen überhaupt eine intensive Tätig- keit. Mit abnehmender Temperatur nimmt dagegen auch die Leb- haftigkeit ihrer Bewegungen ab, und bei 0° bemerkt man in vielen Fällen kaum noch eine Lebenstätigkeit in ihnen: der Energieumsatz ist fast sistiert. „Wohin man blickt in das Reich der lebendigen Organismen“, sagt PFLÜGER!), „sieht man, wie die. Intensität der Lebensvorgänge, also die Zersetzung, der Temperatur proportional wächst. Betrachte ich die lebhafte, bewegliche, flinke Eidechse im Sommer, und wie sie, wenn man sie einer Temperatur unter 0° aus- setzt, allmählich ruhig wird und in Torpor versunken einem Schein- toten gleicht, und frage ich mich, was die Ursache sei, daß das Tier in der Wärme wieder so aktiv wird, so sagt mir der Augenschein: weil ihren Organen Wärme zugeführt worden ist, die die Atome der Molekeln in Schwingungen versetzt und ihre Dissoziation erzeugt.“ Die zugeführte Wärme dient also auf diese Weise direkt als eine Energiequelle für die Leistungen des Kaltblüterorganismus. Für den Warmblüterkörper kommt die Wärme als Energiequelle kaum in Betracht. Dagegen spielt sie für den Pflanzenkörper wieder eine ebenso große Rolle wie für den Kaltblüter, denn Pflanzen keimen und wachsen nur, wenn ihnen von außen eine gewisse Menge Wärme zu- 1) PFLÜGER: „Ueber die physiologische Verbrennung in den lebendigen Orga- nismen“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 10, 1875. 262 Drittes Kapitel. geführt wird. Unterhalb einer gewissen Temperatur sinkt das Energie- getriebe im Pflanzenkörper auf Null. Damit sind aber die Energiequellen des Organismus erschöpft. Die anderen Energieformen haben als Energiequellen für die Leistungen des lebendigen Organismus kaum eine Bedeutung. C. Die Energieproduktion des Organismus. Die vielverschlungenen Wege zu übersehen, welche die einge- führte Energie bei ihren mannigfaltigen Umformungen im lebendigen Körper einschlägt, ist zurzeit noch vollständig unmöglich. Es ist noch kaum der Anfang gemacht worden, die Umsetzungen zu er- forschen, welche die eingeführte Energie unter den verschiedenen Bedingungen erfährt, die sie in der lebendigen Substanz findet. Hier bedarf es erst einer langen Reihe eingehender Spezialuntersuchungen, vor allem einer tiefergehenden Erkenntnis der Stoffwechselvorgänge, ehe wir uns ein übersichtliches Bild von dem Getriebe des Energie- umsatzes im Organismus machen können. Gerade das Gebiet der physiologischen Energetik bietet noch reichliche und äußerst lohnende Probleme für die Zukunft, die bisher kaum beachtet worden sind. Was wir erst wieder mit Sicherheit kennen, das sind die Endglieder der Reihe von Umwandlungen, welche die eingeführte Energie auf ihrem Wege durch den Körper erfahren hat, das sind die äußeren Leistungen des lebendigen Organismus. Die nach außenhin gehende Energieentwicklung, vor allem die Entwicklung mechanischer Energie, wie sie sich in den Bewegungen des lebendigen Körpers äußert, ist von allen Lebensäußerungen un- zweifelhaft die augenfälligste, sie ist geradezu für den unbefangenen Beobachter mehr oder weniger das erste Kriterium des Lebens, und es mag damit zusammenhängen, daß die Physiologie von jeher mit Vorliebe die Bewegungsvorgänge zum Objekt ihrer Forschungen ge- macht hat. Weniger in die Augen fallend, weil entweder nur wenig verbreitet oder schwer zu beobachten, ist die Produktion anderer Energieformen von seiten der lebendigen Substanz, wie des Lichtes, der Wärme und der Elektrizität. 1. Die Produktion mechanischer Energie. Alle lebendige Substanz bewegt sich, d. h. die einzelnen Punkte ‘ihres materiellen Systems verändern ihre Lage im Raum. Daraus resultiert je nach den speziellen Bedingungen entweder eine Ver- schiebung der einzelnen Teilchen bei gleichbleibender äußerer Form oder eine Veränderung der äußeren Form oder eine Ortsveränderung des Ganzen (Lokomotion) oder schließlich mehreres gleichzeitig. Wenn aber zwar die Bewegung an sich eine allgemeine Lebens- äußerung ist, so zeigt doch nicht jede Form der lebendigen Substanz die gleiche Art der Bewegung. Die Mannigfaltigkeit der Bewegungs- modi, die sich an den verschiedenen Organismen beobachten lassen, ist sehr groß. Dennoch lassen sich alle Bewegungsinodi nach der Art ihres Zustandekommens in einige wenige große Gruppen ein- reihen, von denen wieder nur einzelne durch ihre weite Verbreitung eine hervorragende Bedeutung besitzen. Da die Bewegung der lebendigen Substanz ihre augenfälligste Lebensäußerung ist und das Von den elementaren Lebensäußerungen. 263 Interesse daher am meisten auf sich lenkt, wird es gerechtfertigt sein, wenn wir uns mit den einzelnen Formen der Bewegung etwas eingehender beschäftigen. Es ist zunächst zweckmäßig, die verschiedenen Bewegungsmodi übersichtlich zu unterscheiden: a) Passive Bewegungen, b) Bewegungen dur ch Quellung der Zellwände, €) Beweg ungen durch Veränderung des Zelltur. gors, d) Beweg ungen durch Veränderung des spezifischen Gewichts der Zelle, e) Bewegungen durch Sekretion von seiten der Zelle, f) Bewegungen durch Wachstum, g) Bewegungen durch Kontraktion und Expansion des Zellkörpers: Amöboide bewegung, Muskelbewegung, Flimmerbewegung. a) Passive Bewegungen. Bei den passiven Bewegungen liegt die Energiequelle der Be- wegung außerhalb des bewegten Systems. Die passiven Bewegungen in der lebendigen Substanz sind also nicht Lebensäußerungen der bewegten Teile selbst, sondern Ausdruck von Lebensäußerungen in ihrer Umgebung. Die Bewegung der roten Blutkörperchen, die Strömung der Blutflüssigkeit in den Blutgefäßen des mensch- lichen Körpers ist eine passive, denn die Blutkörperchen und die Blutflüssigkeit besitzen keine Eigenbewegung, sondern werden ledig- lich passiv durch die Tätigkeit des Herzens, das wie eine Saug- und Druckpumpe in dem mit Blut gefüllten Röhrensystem des Gefäß- baumes wirkt, getrieben. Man kann diese Strömung des Blutes in den feinen Kapillargefäßen unter dem Mikroskop sehr schön beob- achten, wenn man einen durch das indianische Pfeilgift „Curare“ gelähmten Frosch auf eine Korkplatte bringt und über einer Oeffnung in derselben mit Nadeln die Schwimmhaut zwischen den Zehen der hinteren Extremität ausspannt. Dann gewinnt man unter dem Mikro- skop ein Bild, das jeden Beschauer mit Interesse erfüllt. Man sieht das weitverzweigte Netz des Kapillargefäßsystems, in dem das Blut mit seinen gelb erscheinenden Blutkörperchen so langsam fließt, daß man jedes einzelne Blutkörperchen bequem verfolgen kann, wie es sich in der klaren Blutflüssigkeit durch die feinen Kanäle und Um- biegungsstellen hindurchwindet (Fig. 99). Noch günstigere Objekte sind die Gefäße der gefüllten Harnblase des Frosches ) Schon in der einzelnen Zelle finden wir solche passiven Be- wegungen. Die feinen Körnchen, die im Protoplasma der nackten Rhizopodenzellen eingebettet liegen, zeigen besonders auf den langen, fadenförmigen Pseudopodien der Meeresrhizopoden eine strömende Bewegung, die sogenannte „Körnchenströmung“, die einen ähn- 1) Ueber die technischen Kunstgriffe und Methoden zu diesen und anderen hysiologischen Experimenten siehe MAx VERWORN: „Physiologisches Praktikum“, ena 1907. 264 Drittes Kapitel. lich fesselnden Anblick gewährt wie die Strömung des Blutes in den Kapillargefäßen, und nur viel langsamer erfolgt. Wie die Spazier- gänger auf einer Straße oder wie die Ameisen auf ihren langen, selbstangelegten Wegen ziehen die Körnchen dahin, bald in zentri- fugaler, bald in zentripetaler Richtung, bald stillstehend, bald um- kehrend, bald weiter fortschreitend. Diese Körnchenströmung kommt nicht zustande durch aktives Vorwärtsrücken der Körnchen selbst, sondern durch passives Mit- geschlepptwerden von seiten der flüssigen protoplasmatischen Grundsubstanz, in der sie ein- gebettet liegen, und die selbst stets in aktiv fließender Be- $ 3, wegung begriffen ist. SS Eine ebenfalls sehr inter- BERN N essante Form der passiven Be- “> wegungen, die in der lebendigen Zelle vorkommen, ist die so- genannte BRownsche Mole- kularbewegung. Im Süß- wasser lebt eine kleine, ein- zellige grüne Alge von zierlicher Mondsichelform, das Closte- rium (Fig. 1007). Diese Alge Fig. 99. Kapillarkreislauf in der hat in ihrem Protoplasma an EENSEEN N rosches. Aus peiden Enden des sichelförmigen ro Körpers je eine Flüssigkeits vakuole, in welcher in der Regel einzelne feine Körnchen liegen, die Brownsche Bewegung zeiren. Die Körnchen sind nämlich, wie man bei stärkerer Ver- erößerung sieht, in einem fortwährenden feinen Zittertanz begriffen, aber ohne große Ortsbewegungen auszuführen. Der Tanz geht uner- müdlich fort und findet nie ein Ende. Das ist ein lebendiges Ob- jekt, an dem diese eigentümliche Bewegung zu sehen ist. Viel öfter beobachtet man sie aber in abgestorbenen Zellen, und lange bekannt ist sie in den sogenannten Speichelkörperchen des Mundspeichels, die weiter nichts sind als abgestorbene Leukocyten (weiße Blut- körperchen). Diese toten Leukocyten sind durch Wasseraufnahme zur Kugelform aufgequollen und besitzen einen Zellkern, den ein körniges Protoplasma umgibt (Fig. 100 IT). Die Körnchen dieses auf- gequollenen Protoplasmas zeigen bei starker Vergrößerung deutlich Molekularbewegung. Daß die Brownsche Molekularbewegung keine ausschließlich im lebendigen Organismus vorkommende Bewegungs- form ist, geht übrigens aus der Tatsache hervor, daß alle leichten mikroskopischen Körnchen irgendwelcher Art, wenn sie in Wasser oder einer anderen leicht beweglichen Flüssigkeit suspendiert sind, diese seltsame Bewegung zeigen. Eines der schönsten leblosen Objekte, die im Organismus vorkommen, sind in dieser Hinsicht die feinen Kriställchen (Fig. 100 //I) aus den Kalksäckchen, welche in der Leibeshöhle der Frösche zu beiden Seiten der Wirbelsäule zwischen je zwei Wirbelfortsätzen liegen. Bringt man etwas von ihrer weißen Substanz in einen Tropfen Wasser und betrachtet man diesen unter einem Deckglas mit dem Mikroskop bei starker Vergrößerung, so hat LI ) are) u D \M x Eh I\ 7 T RESTE Ss \S \\- u AN SER ; Nr 2 ‘Sy ON % BER 4 eos nz, Von den elementaren Lebensäußerungen. 265 man, besonders an den kleineren Kriställchen, den wunderbaren An- blick des rastlosen Zittertanzes lebloser Kristalle in anmutigster Form). Als der englische Botaniker BROwn im Jahre 1827 solche eigentümliche Bewegungen in Pflanzenzellen entdeckt hatte, glaubte man, darin eine aktive Bewegung der feinen Körnchen selbst erblicken zu müssen, die aus den Schwingungen ihrer Moleküle resultierte, und nannte sie deshalb „Molekularbewegung“. Allein nach unseren heutigen Anschauungen ist diese Auffassung als unhaltbar fallen gelassen worden, und man war lange Zeit im unklaren über die Deutung dieser rätsel- haften Bewegung, bis 1863 WIENER?) und bald darauf Exner ihre physikalischen Bedingungen sehr sorgfältig studierten und eine Er- klärung dafür fanden, die mit unseren jetzigen Auffassungen von dem molekularen Zustande der Flüssigkeiten im besten Einklang steht. Ja, das Verhalten der Moleküle einer Flüssigkeit fordert sogar geradezu derartige Bewegungsvorgänge von kleinen leichten I uf III Fig. 100. Brownsche Molekularbewegung. I/Closterium, nach STRAS- BURGER. In den an beiden Enden befindlichen Vakuolen K des sichelförmigen Zell- körpers sind zahlreiche Körnchen in lebhafter Molekularbewegung. // Sogenanntes Speichelkörperchen, ein abgestorbener und kugelig zusammengezogener Leukoeyt aus dem Speichel des Menschen, in dessen gequollenem Inhalt die Körnchen in tanzender Bewegung begriffen sind. I/II Kriställchen aus den Kalksäcken des Frosches. Partikelchen, die in ihr suspendiert sind. Bekanntlich stellen wir uns vor, daß die Moleküle in einer Flüssigkeit in fortwährender Bewegung sind und durcheinanderwimmeln, indem sie aneinanderprallen, sich abstoßen, nach anderer Richtung sich bewegen, wieder anstoßen etc. Diese Bewegung der Moleküle können wir selbst mit den stärksten Vergrößerungen nicht sehen, denn die Flüssigkeiten erscheinen uns homogen, weil ihre Moleküle zu klein sind, um selbst mikroskopisch wahrgenommen werden zu können. Dagegen können wir den Erfolg ihrer Bewegungen an kleinen, leichten Körnchen erkennen, die in der Flüssigkeit schweben, und die, wenn die Moleküle die angegebene Bewegungsart besitzen, von ihnen fortwährend gestoßen werden müssen, so daß sie bei ihrer leichten Beweglichkeit in ein zitterndes Tanzen geraten. Die sogenannte Brownsche Molekularbewegung kleiner 1) Vergl. p. 5. 2) WIENER: „Erklärung des atomistischen Wesens des tropfbar-flüssigen Körper- zustandes“ etc. In POGGENDORFFS Annalen, Bd. 118, 1863. 266 Drittes Kapitel. Körnchen ist also eine rein passive Bewegung, die hervorgebracht wird durch die fortwährenden kleinen Stöße, welche die anprallenden Flüssigkeitsmoleküle auf sie ausüben. Einen treffenden Beweis für die Richtigkeit dieser Auffassung liefert die Tatsache, daß die BRowN- sche Bewegung mit zunehmender Temperatur der Flüssigkeit an Intensität gewinnt. Das war vorauszusagen, da wir wissen, daß die Bewegung der Moleküle einer Flüssigkeit um so intensiver wird, je mehr die Temperatur steigt, bis sie schließlich so mächtig wird, daß die einzelnen Moleküle heftig auseinanderstieben, d. h. bis die Flüssig- keit verdampft. b) Bewegungen durch Quellung der Zellwände. In den Bewegungen, welche durch Quellung der Zellwände zu- stande kommen, haben wir eine Bewegungsform, welche uns hinüber- führt von den passiven Bewegungen zu allen folgenden, die nur auf Energieentfaltung in dem bewegten System selbst beruhen. Bekannt- Fig. 101. Storchschnabelsamen (Erodium eicutarium), a in getrocknetem, b in gequollenem Zustande. lich kommt eine Quellung dadurch zustande, daß sich zwischen die Moleküle eines trockenen, quellbaren Körpers, der in eine feuchte Umgebung gebracht wird, Wassermoleküle lagern, die durch Mole- kularattraktion von den Molekülen des Körpers so stark angezogen werden, daß sie seine Moleküle selbst mit großer Kraft auseinander- drängen, wodurch das Volumen des Körpers bedeutend vergrößert wird. Kommt der gequollene Körper wieder in wasserfreie Umgebung, etwa in trockene warme Luft, so gibt er allmählich wieder sein Quellungswasser ab, vermindert im selben Maße sein Volumen und Von den elementaren Lebensäußerungen. 267 schrumpft ein, um bei neuer Anfeuchtung von neuem zu quellen. Die Quellbarkeit ist besonders bei organischen Produkten des Stoffwechsels der Pflanzen verbreitet, vor allem bei den Zellulosewänden der Pflanzen- zellen. Sie ist durchaus nicht an das Leben der Pflanzenzelle ge- bunden, sondern besteht an den Zellulosegebilden der toten Zellen unbegrenzt lange fort in derselben Weise wie an den Zellulosewänden der lebendigen Zellen. Damit eine einseitig gerichtete Bewegung durch die Volumenzunahme bei der Quellung oder durch die Volumenabnahme beim Austrocknen an irgendeinem quellbaren Objekt, etwa einem Blattstiel oder einer Membran, zustande kommen kann, müssen die einzelnen Seiten derselben verschieden quellbar sein, es muß die eine Seite stark quellen, während die andere nur schwach quillt oder gar nicht. Wären alle Teile gleich stark quellbar, dann würde nur eine gleichmäßige Vergrößerung nach allen Seiten eintreten. Quillt da- gegen bei einem langgestreckten Gebilde eine Seite stärker als die ihr gegenüberliegende, so dehnt sich die erstere aus, während die letztere kürzer bleibt, und die Folge ist eine Biegung des ganzen Gebildes, die, je nachdem die Quellung schnell oder langsam eintritt, plötzlich oder allmählich erfolgt. Charakteristische Ob- jekte für die Beobachtung der Quellungsbewegungen sind die bekannten, neuer- dings häufig aus den ameri- kanischen Wüsten nach Europa kommenden „Auf- erstehungspflanzen“ (Sela- ginella lepidophylla), die in der Trockenheit ihre Blattstiele faustartig zZu- sammenlegen, angefeuchtet sie wieder handtellerartig nach außen biegen, indem Fig. 1022. Spore eines Schachtelhalms. die Blattstiele auf ihrer a Die Elaterenbänder sind in feuchtem Zustande um Innenseite stark quellen. die Sporenzelle herumgelegt; 5b die Elaterenbänder Ganz ebenso verhalten sich sind in trockenem Zustande auseinandergeschnellt. dieallbekannten „Rosen von Jericho“, die nichts anderes sind als die toten, ausgetrockneten Zweige einer in den arabischen Wüsten wachsenden Crucifere (Ana- statica). Das Ausbreiten der getrockneten Zweige, wenn man sie in Wasser steckt, hat beim Volke den Glauben hervorgerufen, dal die „Rose von Jericho“ zu neuem Leben wieder aufersteht, während es sich in Wirklichkeit nur um Quellungsbewegungen der toten Zweige handelt. Die Selaginella dagegen ist eine wirkliche „Auf- erstehungspflanze“, insofern sie, völlig eingetrocknet, jahrelang liegen kann, ohne ihre Lebensfähigkeit einzubüßen. Sehr anschaulich zeigen auch die Samen mancher Storchschnabelarten die Tatsachen der Quellungsbewegungen. Erodium cicutarium hat Samen, die mit einem langen, von Härchen besetzten Stiel versehen sind, der in der Trockenheit korkzieherförmig zu einer schönen Spirale aufgerollt ist (Fig. 101), angefeuchtet sich aber gerade streckt, indem sich eine Windung nach der anderen durch Quellung und Streckung der Innen- seite auseinanderrollt (Fig. 101 5). 268 Drittes Kapitel. Sehr interessant und durch die Schnelligkeit ihres Verlaufs ge- radezu frappierend sind die Quellungsbewegungen der sogenannten „Elateren“ an den Sporen der Schachtelhalme. Die reifen Sporen der Schachtelhalme sind runde Zellen, die von einer Zellulosemembran umgeben sind. Diese Zellulosemembran ist durch zwei Risse, die in einer Spirale von oben nach unten um die ganze Kugel herum verlaufen, in zwei Zellulosebänder, die „Elateren“, gespalten (Fig. 102), die an einer Stelle im Aequator der Kugel untereinander und an der Spore selbst befestigt sind. Bringt man die Sporen etwas angefeuchtet unter das Mikroskop, so sind die beiden Elaterenbänder zu zwei parallelen Spiralen zusammengelegt und bilden eine geschlossene Kapsel um die Spore (Fig. 102«). Läßt man sie aber eintrocknen, so strecken sich die beiden Spiralen zu geraden Bändern aus (Fig. 1025), indem die äußere Seite der Bänder durch Wasserabgabe eintrocknet und sich verkürzt. Haucht man sie in diesem ausgetrockneten Zu- stande an, während man gleichzeitig durch das Mikroskop sieht, so beobachtet man, daß sie fast blitzschnell sich wieder zu Spiralen um die Spore zusammenlegen, indem sich die äußere Fläche durch Quellung ausdehnt. Im Moment, wo die Feuchtigkeit des Hauches verfliegt, breiten sich dann ebenso schnell die Bänder wieder aus und man kann den Versuch, wie alle Quellungsversuche, beliebig oft wiederholen. Die Quellungsbewegungen sind im Pflanzenreich ungemein weit verbreitet und spielen zum Teil eine große Rolle im Leben der Pflanze. Welche gewaltigen Energiewerte durch Quellung erzeugt werden, geht schon allein daraus hervor, daß z. B. mit quellenden$Holzkeilen große Steine gespalten werden können. e) Bewegungen durch VeränderungY;des Zellturgors. Mit den Bewegungen, die durch Veränderung des Zellturgors entstehen, treten wir in den Bereich derjenigen Bewegungsarten ein, die unbedingt das intakte Leben des Objekts voraussetzen, an dem sie auftreten. Mit dem Tode ihres Substrats erlöschen diese Be- wegungsformen. Auch die Turgeszenzbewegungen sind hauptsächlich im Pflanzenreich verbreitet. Erinnern wir uns daher zunächst, daß die Pflanzenzelle eine Zellulosekapsel vorstellt, die innen mit einer kontinuierlichen Protoplasmaschicht, dem Primordialschlauch, über- zogen ist, und ferner, daß der Primordialschlauch die Eigenschaften einer semipermeablen Membran besitzt und eine Flüssigkeit ein- schließt, die osmotisch wirksame Stoffe enthält, für die der Primordial- schlauch unter gewöhnlichen Verhältnissen nicht durchgängig ist. In- folge dieser Eigenschaften ist, wie wir sahen (vergl. p. 138), der Primordialschlauch durch Wasseraufnahme der Zelle von außen in den Zellsaft hinein gedehnt und mit ihm gleichzeitig die umgebende elastische Zellulosekapsel. Diese pralle Füllung der Zelle und Spannung der Zellwand, die durch die osmotischen Eigenschaften des Zellsaftes bedingt ist, repräsentiert bekanntlich den „Turgor“ der Zelle. Der Turgor der Zelle kann nun auf verschiedene Weisen verändert werden. Erstens nämlich kann, wie wir schon früher gesehen haben, das Mengenverhältnis der osmotisch wirksamen Stoffe innerhalb und außerhalb der Zelle sich ändern, indem die Konzentration außen oder Von den elementaren Lebensäußerungen. 269 innen gesteigert oder herabgesetzt wird. Die Folge muß nach unseren früheren Betrachtungen ein Steigen oder Sinken des Turgors der Zelle sein. Ferner aber kann der Turgor auch sich ändern, indem die Wand des Primordialschlauchs aus irgendeinem Grunde durchlässig wird für die gelösten Stoffe des Zellsafts. Dann muß ein Ausgleich der osmotischen Druckdifferenzen durch Diffusion der osmotisch wirk- samen Stoffe eintreten, und die Spannung, unter der die Zellwand stand, fällt weg. Schließlich aber wird auch eine Turgorveränderung eintreten, wenn die Spannung des Primordialschlauchs durch aktive Veränderungen seines Protoplasmas sinkt oder steigt. Kontrahiert sich z. B. das Protoplasma des Primordialschlauchs, so wird seine Kontraktion den ihr bisher entgegenwirkenden osmotischen Druck Fig. 103. Schema des Zellturgors einer Pflanzenzelle. % Zellmembran, p Primordialschlauch, %k Zellkern, ce Chlorophylikörper, s Zellsaft, e eindringende Salz- lösung. Bei A Zelle in voller Turgeszenz, der Primordialschlauch liegt der Zellmembran fest an. Bei B hat der Turgor infolge einwirkender Salzlösung abgenommen, die Zelle ist kleiner geworden, aber der Primordialschlauch liegt der Zellmembran noch an. Bei C ist der Turgor noch geringer geworden, der Primordialschlauch beginnt sich von der Zellhaut, die ihre geringste Größe erreicht hat, abzuheben. Bei D hat der Primordial- schlauch sich vollständig zusammengezogen, weil die osmotische Wirkung der von außen her einwirkenden Salzlösung e sehr hohe Werte erreicht hat. Nach DE VRIES. zum Teil oder ganz überwinden, und die Folge wird sein, daß ent- sprechend viel Wasser aus dem Zellsaft durch den Primordialschlauch nach außen hindurchgepreßt wird, ohne daß indessen die osmotisch wirksamen Stoffe mit hindurchtreten können. Läßt die Kontraktion des Primordialschlauchs wieder nach, so werden wieder mehr Wasser- moleküle von außen nach innen hineintreten, und der Turgor wird wieder größer werden. Gehen wir auf die Folge der Herabsetzung des Turgors ein, so muß diese in allen Fällen die gleiche sein: der Primordialschlauch, der vorher durch die Spannung von innen her stark ausgedehnt war, wird zusammensinken, und sein Umfang wird immer kleiner werden (Fig. 103). Was hier aber noch wichtiger ist, das ist das Kleiner- werden der ganzen Zelle bei Abnahme des Turgors, denn in demselben Maße wie die Spannung des Primordialschlauchs nachläßt, entspannt sich auch die elastische Zellulosehülle und nimmt infolge ihrer 270 Entspannungszustande entspricht (Fig. 103 5, C, D). SD Drittes Kapitel. Elastizität schließlich einen Umfang an, wie er ihrem vollkommenen rung des hier in Betracht kommen, findet nun Turgors Bei den Pflanzenbewegungen, die ausschließlich dadurch eine Verände- statt, daß der Fig. 104. Mimosa pudica. IT in gereiztem Zustande (= Nachtstellung). B II Nach DETMER. I Ganze Pflanze, A in Tagstellung, B in Nachtstellung. II A Ein Zweig in ungestörtem Zustande (= Tagstellung), B ein Zweig desselben Stengels Primordialschlauch bestimmter Zellen aus irgendeinem Grunde sich kontrahiert, in der Weise, daß Wasser aus der Zelle ausgepreßt Von den elementaren Lebensäußerungen. 271 4) wird, ein Vorgang, der nach einiger Zeit wieder aufhört, so daß der Turgor dann in demselben Maße, wie die Kontraktion nachläßt, von neuem steigt. So tritt also unter gewissen Umständen eine plötzliche Verminderung des Turgors und damit eine Verkleinerung der Zelle ein, und erst allmählich stellt sich der frühere Zustand wieder her. Damit, auf diesem Prinzip basierend, an einer Pflanze eine be- stimmt gerichtete Bewegung zustande kommen kann, müssen die Zellen, welche die Turgeszenzveränderungen erfahren, in bestimmter Weise angeordnet sein. Stellen wir uns vor, wir hätten schematisch zwei parallel aneinander gelagerte Reihen von Zellen, von denen die eine plötzlich den Turgor ihrer Zellen verringert, so daß die Zellen kleiner werden, während die Zellen der anderen Reihe ihren Turgor unverändert beibehalten, so ist die Folge, daß sich die erstere Reihe verkürzen muß. Dadurch kommt nach einfachen mechanischen Prin- zipien eine Krümmung zustande, die ihre Konkavität an der ver- kürzten Seite hat. Die andere Seite ist dabei passiv etwas gedehnt worden. Findet daher später wieder eine allmähliche Steigerung des Turgors und eine Wiederverlängerung der Zellen auf der verkürzten Seite statt, so wird die Elastizität der andern Seite die Wiederstreckung wirksam mit unterstützen. Solche Turgeszenzverminderung tritt nun bei vielen Pflanzen, so- wohl spontan als auch durch Erschütterungen etc. hervorgerufen, an bestimmten Zelleruppen oft sehr plötzlich ein, und die Folge davon ist eine plötzliche Bewegung gewisser Pflanzenteile. Dabei ist in den meisten Fällen die Anordnung und Gestalt der Zellen, die durch Veränderung ihres Turgors die Bewegung hervorrufen, eine sehr komplizierte. Es sind in der Regel an der Basis der beweglichen Blätter oder Blattstiele kleine Knötchen oder „Polster“ entwickelt, deren Zellen ihren Turgor sehr schnell herabsetzen können. Eins der bekanntesten Beispiele dieser Art ist die Bewegung der Blattstiele bei der „sensitivren* Mimosa pudica, die im „wachen“ Zustande, d. h. am Tage, ihre Blattstiele aufgerichtet und ihre Blättchen aus- gebreitet (Fig. 104 7A und I/ A), im „Schlafzustande“, d. h. nachts, aber die Blattstiele gesenkt und die Blättchen nach oben zusammen- gefaltet hält (Fig. 104 7 B und I/ B). Erschüttert man eine Mimose im wachen Zustande stark, so tritt bei Tage die Nachtstellung ganz plötzlich ein. Auf demselben Prinzip beruhen die zahlreichen anderen Be- wegungen der „sensitiven“ Pflanzen, wie der Blätter des Klees, der Staubfäden der Berberitze, der insektenfangenden Organe der „teisch- fressenden“ Pflanzen u. a. m. d) Bewegungen durch Veränderungen des spezifischen Gewiehts. Es gibt unter den wunderbaren, meist glasartig durchsichtigen Tier- formen, welche eine pelagische Lebensweise in den oberen Schichten der Meere führen und in neuerer Zeit als „Plankton“ Objekt ein- gehender Forschung geworden sind, eine ganze Reihe von Tieren, die mit der merkwürdigen Fähigkeit begabt sind, ohne Gebrauch irgend- welcher Lokomotionsorgane im Meere langsam in die Höhe zu steigen oder in die Tiefe zu sinken. Es sind besonders die Gruppen der Radiolarien, Ötenophoren und Siphonophoren. Auch 212 Drittes Kapitel. unter den einzelligen Organismen des süßen Wassers besitzen einige, wie Actinosphaerium, diese Fähigkeit. Da sich jede äußere Ver- anlassung, etwa Strömungen des Wassers etc., für dieses geheimnisvolle Schweben ausschließen läßt, und da eine Bewegung von besonderen Organen am Körper nicht daran beteiligt ist, so Kann diese Be- wegungsform nur auf Veränderungen des spezifischen Gewichts be- ruhen, und das ist in der Tat auch nachgewiesen worden. Wie wir bereits früher gesehen haben, ist das Protoplasma der Zellen an sich stets etwas schwerer als Wasser!. Es kann also eine Zelle, die am Boden liegt, sich nur erheben, wenn im Protoplasma Stoffe auftreten und angehäuft werden, die spezifisch leichter sind als Wasser. Es ist bekannt, daß gewisse Rhizopoden des Süßwassers, besonders die mit zierlichem Gehäuse versehenen Arcellen und Difflugien, die gewöhnlich am Boden der Pfützen und Teiche zwischen Schlammteilchen und faulen Blättern umherkriechen und spezifisch schwerer sind als Wasser, sich aktiv erheben können, indem sie eine Kohlensäureblase in ihrem Protoplasmakörper entwickeln und, wenn diese groß genug geworden ist, wie ein kleiner Luftballon an die Ober- fläche steigen, eine Tatsache, die ENGELMANN ?) zuerst genauer unter- sucht hat und die jedem, der an einzelligen Organismen des Süß- wassers eingehendere Studien gemacht hat, wohlbekannt ist. Man kann bisweilen in einem Kulturgefäß, wenn bestimmte Bedingungen die Entwicklung einer Kohlensäureblase im Protoplasma der Dif- flugien begünstigen, ein epidemisches Aufsteigen der Individuen vom Boden nach der Oberfläche beobachten. Wird die Kohlensäure dann durch Diffusion wieder abgegeben, so sinken die Difflugien wieder zu Boden. Dadurch kann in der Natur ein ganz beträchtlicher Stand- ortwechsel entstehen, der, wenn die Protisten einmal unter ungünstige Lebensbedingungen geraten sind, unter Umständen großen Nützlich- keitswert für sie gewinnen kann. Auf ähnliche Weise kommt das Steigen und Sinken der Radio- larien und aller Wahrscheinlichkeit mach auch der Ctenophoren und mancher anderen pelagischen Tiere zustande. Thalassicolla nu- cleata z.B. ist ein großes kugelrundes Radiolar von 3—4 mm Größe, das eine einzige Zelle repräsentiert, deren Kern, von Protoplasma um- geben, in einer runden „Zentralkapsel“ gelegen ist (Fig. 105). Das gesamte extrakapsuläre Protoplasma ist von unzähligen Vakuolen durchsetzt, so daß es wie eine Schaummasse aussieht, die nach außen hin durch eine solide Gallertschicht vom Meerwasser abgegrenzt ist. Diese Vakuolenschicht ist derjenige Bestandteil der Zelle, der spezifisch leichter ist als das Meerwasser und die ungestörte Thalassicolla an der Oberfläche des Meeres schwebend erhält ?). Man kann sich davon durch vivisektorische Ausschaltung der einzelnen Bestandteile der Thalassicollenzelle, also durch Abtragung der Gallertschicht, durch Isolierung der Vakuolenschicht und Exstirpation der Zentralkapsel mit ihrem Inhalt leicht überzeugen. Alle Bestand- teile sinken isoliert stets im Meerwasser zu Boden; nur die Vakuolen- 1) Vergl. p. 139. 2) ENGELMANN: „Beiträge zur Physiologie des Protoplasmas“. In PFLÜGERS Arch., Bd. 2, 1869. 3) K. BRANDT: „Die koloniebildenden Radiolarien des Golfes von Neapel“ etc. Herausgegeben von der zoologischen Station zu Neapel. Berlin 1885. Von den elementaren Lebensäußerungen. 273 masse bleibt an der Oberfläche schweben und kehrt beim Unter- tauchen immer hierher zurück). Dementsprechend beginnt die ganze Thalassicolla, sobald dıe Vakuolenschicht durch Zerplatzen der Vakuolen zusammenschmilzt, wie das infolge von Reizung, in der Natur speziell von heftigem Wellenschlag, stattfindet, zu sinken. Dann fällt die Zelle in ruhigere Tiefen und ist so vor gänzlicher Zer- störung geschützt, denn die Vakuolenschicht kann wieder regeneriert werden, und indem sie an Volumen zunimmt, steigt die Thalassi- colla bei ruhigem Wetter aus ihrer sicheren Tiefe wieder in die sonnige Höhe. Die große Be- EWR | deutung dieser Bewegungsart ER \\ ll, für das Leben der pelagischen RR \1111117/// MI Organismen liegt hiernach auf RNIT NW. der Hand RR N WILL N i PR IN {| N] GG Es fragt sich aber nunmehr, QIQQQN NN) Te wodurch der Inhalt der Vakuolen spezifisch leichter wird als das umgebende Meerwasser. Die Be- dingungen für die Entstehung der Vakuolen, deren Neubildung man an jeder isolierten Zentral- kapsel leicht beobachten kann, liegen, wie wir wissen, darin, daß sich im Protoplasma zerstreut osmotisch wirksame Stoffe an- | häufen, welche bewirken, daß Fig. 105. Thalassicolla nucleata, eine Wasser von außen her zu ihnen kugelförmige Radiolarienzelle im Querschnitt. durch das Protoplasma herein- Ian der Mitte der von schwarzem Pigment “ : umgebenen Zentralkapsel liegt der bläschen- tritt. In demselben Maße wie förmige Zellkern. Die Zentralkapsel ist um- die Bildung und Konzentration geben von der Vakuolenschicht, die von einer der osmotisch wirksamen Stoffe Gallertzone eingehüllt wird und durch die im Protoplasma zunimmt, wird letztere hindurch sonnenstrahlenartig faden- die Größe der Vakuolen wachsen, ionnipen upon entendet: denn es muß stets ein Aus- gleich des osmotischen Drucks zwischen der Vakuolenflüssigkeit und dem umgebenden Meerwasser stattfinden, d. h. die Vakuolen- flüssigkeit muß stets dieselbe Anzahl von Molekülen in sich gelöst enthalten wie das Meerwasser. Wir werden aber annehmen müssen, daß in der Vakuolenflüssigkeit, wenn auch die gleiche Anzahl von Molekülen, so doch Moleküle anderer Stoffe gelöst sind, als im Meerwasser. Wenn wir uns daher vorstellen, daß ein Teil der in der Vakuolenflüssigkeit gelösten Stoffe ein sehr geringes spezifisches Gre- wicht hat, so wird es verständlich, wie der Vakuoleninhalt im ganzen auch spezifisch leichter sein kann als das umgebende Meerwasser. In der Tat hat es K. BrRanpr?) vor kurzem höchst wahrscheinlich ge- macht, daß es auch hier die vom Protoplasma produzierte Kohlen- säure ist, die, in der Vakuolenflüssigkeit gelöst, das spezifische Gewicht derselben unter das des Meerwassers herabdrückt. Ist daher 1) MAx VERWORN: „Ueber die Fähigkeit der Zelle, aktiv ihr spezifisches Gewicht zu verändern“. In PFLÜGERs Arch. f. d. ges. Physiologie, Bd. 53, 1892. 2) K. Branpr: „Biologische und faunistische Untersuchungen an Radiolarien und anderen pelagischen Tieren“. In Zoolog. Jahrbücher, Bd. 9. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 18 274 Drittes Kapitel. die Vakuolenschicht bis zu einem gewissen Grade entwickelt, so wird auch das spezifische Gewicht der ganzen Radiolarienzelle geringer sein als das des Meerwassers, d. h. die Radiolarienzelle wird an der Oberfläche schweben. Wird die Masse der Vakuolenschicht durch Zerplatzen der Vakuolen verringert, oder wird die Produktion der Kohlensäure in der Kälte, wo der Stoffwechsel auf ein Minimum herabsinkt, stark vermindert, so werden die Radiolarien unter Um- ständen wieder in die Tiefe sinken. e) Bewegungen durch Sekretion. » Die Bewegungen, welche durch Sekretion von seiten der Zelle zustande kommen, sind auf wenige Organismengruppen beschränkt, besonders auf die Algengruppen der Desmidiaceen und Osecil- larien. Das Prinzip dieses Bewegungsmodus ist überaus einfach. Es besteht lediglich darin, daß eine auf einer Unterlage aufliegende Zelle an einer bestimmten Stelle ihrer Oberfläche und nach einer be- stimmten Richtung hin eine Sekretmasse, meist schleimiger Natur, hervorquellen läßt, die an der Unterlage festklebt, so daß sich der bewegliche Zellkörper dadurch nach einer bestimmten Richtung hin vorwärts stößt, wie der Fischer sein Boot mit einer Stange vom Grunde abstößt. Dauert die Sekretion kontinuierlich an, so gleitet die Zelle langsam auf der Unterlage dahin. Fig. 106. Closterium, eine Desmidiacee, ı 38% die sieh durch Sekretion von Schleim “5 auf der Unterlage fortschiebt. Das nicht . sezernierende Ende pendelt frei im Wasser. Fig. 107. Diatomee mit ausgestoßenen Fig. 107. Schleimfäden. Nach BÜTSCHLI. In dieser Weise bewegen sich z. B. die Desmidiaceen. Das mondsichelförmige Closterium (Fig. 106), das wir schon bei der Betrachtung der Brownschen Molekularbewegung kennen lernten, sezerniert an den beiden Enden seines einzelligen Körpers einen schleimigen Stoff. Während es dabei mit dem einen Ende an der Unterlage haftet, schwebt das andere Ende frei pendelnd im Wasser, so daß der ganze Zellkörper unter einem bestimmten Winkel schräg von der Unterlage nach oben aufgerichtet steht. Mit dem anhaften- den Ende schiebt sich das Closterium, wie KLEBs!) und ADER- 1) G. Kıess: „Ueber Bewegung und Schleimbildung der Desmidiaceen“. In Biol. Zentralbl., Bd. 5, No. 12. Von den elementaren Lebensäußerungen. 275 HOLD!) gezeigt haben, durch Ausscheiden einer schleimigen Sekret- masse langsam vorwärts (Fig. 106), indem es seinen Neigungswinkel zur Unterlage im wesentlichen beibehält. Ab und zu wechselt es beim Vorwärtsgleiten mit seinen beiden Polen ab, indem der freipendelnde Pol sich senkt, anhaftet und sezerniert, während der vorher anhaftende Pol sich erhebt und frei pendelt. So rückt die Alge allmählich auf ihrer Unterlage vorwärts. Ueber die Bewegung der Diatomeen, jener kleinen, braunen, schiffehen- oder stäbchenförmigen Algen, die mit einer äußerst zier- lichen Kieselschale versehen und im Süß- und Seewasser in ungeheurer Formenzahl verbreitet sind, ist bereits eine kaum noch übersehbare Literatur entstanden. Man sieht diese einzelligen Wesen, wenn man sie in einem Wassertropfen auf einem Objektträger beobachtet, in der Richtung ihrer Längsachse manchmal langsamer, manchmal schneller auf ihrer Unterlage in eigentümlicher, zögernder Weise vorwärts- eleiten und dann bisweilen wieder mit dem entgegengesetzten Pol voran nach entgegengesetzter Richtung zurückgehen, ohne daß es gelingt, irgend welche Bewegungsorgane an dem Körper zu entdecken. Die zahllosen Forscher, die, wie MAX SCHULTZE, ENGELMANN U. a., sich mit dieser anmutigen Bewegung beschäftigt haben, sind zu den auseinanderweichendsten Ansichten über ihre Entstehung gekommen. Neuerdings schien es nach den Arbeiten von BÜrtscHLı’) und LAUTERBORN?), als ob sie ebenfalls auf dem gleichen Prinzip der Ausstoßung eines schleimigen Sekrets beruhte. In der Tat gelang es BÜüTscHLI und LAUTERBORN, zu zeigen, daß gewisse Diatomeen- formen von einer Gallerthülle umgeben sind und eigentümliche Sekretfäden ausstoßen, die durch anhaftende Tuschekörnchen sichtbar gemacht werden können (Fig. 107). Allein die sehr eingehenden Unter- suchungen von O. MÜLLER?) in der letzten Zeit haben ergeben, daß diese Fäden jedenfalls nur eine untergeordnete Bedeutung für die Fortbewegung der Diatomeen haben, und daß der Bewegungsmodus dieser kleinen Algenzellen ein viel komplizierterer sein dürfte, der sich möglicherweise mehr der Bewegung durch Protoplasmaströmung anschließt. Von den langen fadenförmigen Oscillarien, die aus vielen, in einer Reihe hintereinander angeordneten Zellen bestehen, und die als blaugrüne Fäden in gleicher Weise langsam im Wasser kriechen, wie die Diatomeen, scheint es indessen, daß sie sich wirklich durch Aus- scheidung eines Sekrets auf der Unterlage vorwärts schieben, und von den Gregarinen (Fig. 275 p. 92), jenen parasitär lebenden ein- zelligen Organismen, die ebenfalls ohne besondere Bewegungsorgane sehr langsam gleitende Bewegungen ausführen, hat SCHEWIAKOFF in neuerer Zeit das gleiche gezeigt. 1) ADERHOLD: „Beitrag zur Kenntnis richtender Kräfte bei der Bewegung niederer Organismen“. In Jen. Zeitschr. f. Naturwissensch., Bd. 15, N. F., 1888. 2) BürscHhLı: „Die Bewegung der Diatomeen“. In Verhandl. der naturbhistor. med. Vereins zu Heidelberg, N. F. Bd. 4, 1842, Heft 5. 3) R. LAUTERBORN: „Zur Frage nach der Ortsbewegung der Diatomeen“. In Ber. d. Deutschen Bot. Ges., Bd. 11, 1894. l) Orto MÜLLER: „Die Ortsbewegung der Bacillariaceen“. I, II, III, IV und V. In Ber. d. Deutschen Bot. Ges. 1893, 1894, 1835 und 1897. 18* 276 Drittes Kapitel. f) Bewegungen durch Wachstum. Die Bewegungen, die mit dem Wachstum der Zellen ver- bunden sind, brauchen wir nur kurz zu berühren, denn ihr Prinzip bedarf weiter keiner Erläuterung. Mit jedem Wachstum gehen Be- wegungen einher, denn indem eine Zelle an Volumen zunimmt, dehnt sie sich aus. Die Wachstumsbewegungen sind also aller lebendigen Substanz eigen, aber sie verlaufen fast immer so langsam, daß man sie mit den Augen kaum verfolgen kann. Vergleicht man dagegen die wachsenden Objekte innerhalb größerer Zeiträume mit ihrem An- fangsstadium, betrachtet man erst das keimende Samenkorn und dann die Pflanze, die sich daraus entwickelt hat, mit allen ihren Zweigen, Blättern und Blüten, so liegt es auf der Hand, daß dabei umfang- reiche Bewegungen stattgefunden haben, durch die das Baumaterial an die Stellen, wo es angelagert worden ist, hintransportiert werden mußte. Besonders deutlich erkennt man auch die Wachstumsbewegungen an langen Pflanzenstengeln oder Ranken, wenn die Zellen auf der einen Seite schneller wachsen oder sich schneller vermehren als auf der anderen Seite, so daß auf diese Weise Krümmungen zustande kommen. Am augenfälligsten aber sind die durch das Wachstum bedingten Bewegungen in den Fällen, wo die beim Wachsen produzierte mechanische Energie nicht dauernd frei abgegeben, sondern in poten- tieller Form aufgehäuft und schließlich durch irgendeinen auslösenden Reiz plötzlich in kinetische Energie übergeführt wird, wie das am schönsten bei den Samen und Früchten gewisser Pflanzen, z. B. von Impatiens, hervortritt, die bei Berührung plötzlich mit einer Schleuderbewegung aufplatzen und ihren Inhalt herausschnellen. Es ist nicht nötig, auf den Modus der Wachstumsbewegungen noch weiter einzugehen, da ihr Prinzip ja ohne weiteres klar ist, und da sie einem auf Schritt und Tritt in der lebendigen Natur begegnen. Daß auch die Wachtumsvorgänge gewaltige Energiewerte erzeugen, wird am anschaulichsten, wenn man daran denkt, wie Bäume, die zwischen Felsen wachsen, mit ihren Wurzeln große Steinmassen auseinander- zusprengen vermögen. g) Bewegungen durch Kontraktion und Expansion. Die Bewegungen schließlich, die durch Kontraktion und Expansion des Zellkörpers entstehen und die man gewöhnlich kurz als „Kon- traktionsbewegungen“ bezeichnet, unterscheiden sich von allen anderen organischen Bewegungsmodis dadurch, daß sie auf Oberflächengestalts- veränderungen der lebendigen Substanz selbst beruhen, die mit gegenseitigen Lageverschiebungen ihrer Teilchen verbunden sind, und zwar verlaufen alle Kontraktionsbewegungen in zwei Phasen, in dem Wechsel zwischen der „Kontraktionsphase“ und der „Expan- sionsphase“. Bei der Kontraktion verlagern sich die Teilchen der lebendigen Substanz so gegeneinander, daß die Masse eine geringere Oberfläche annimmt, bei der Expansion dagegen so, daß dieselbe Masse sich auf eine größere Oberfläche verteilt. Nur der Wechsel zwischen Kontraktions- und Expansionsphase ermöglicht dauernde Bewegungen. Es liegt auf der Hand, daß nur Körper von mehr oder weniger flüssiger Beschaffenheit eine solche Bewegung zeigen können, bei Von den elementaren Lebensäußerungen. DIT der eine Veränderung der Oberflächengröße durch Umlagerung der einzelnen Teilchen gegeneinander zustande kommt. Nur ein Flüssig- keitstropfen kann seine Oberfläche durch Umlagerung seiner Teilchen verringern oder vergrößern, indem er kuglig wird oder sich ausbreitet, je nachdem seine „Oberflächenspannung“ ringsherum gleich ist oder an einzelnen Stellen größer, an anderen geringer wird. Ein fester und starrer Körper, selbst wenn er elastisch ist, kann Kontraktions- bewegungen dieser Art nicht hervorbringen, da seine Teilchen ihre Lage nicht untereinander vertauschen können. Es ist daher für dasZustandekommen der Kontraktionsbewegungenvon fundamentaler Bedeutung, daß die lebendige Substanz eine flüssige Konsistenz besitzt. Wie wir schon früher fanden, ist in der Tat alle lebendige Substanz mehr oder weniger flüssig, ein Umstand, der durch den hohen Prozentgehalt an Wasser bedingt ist, und es ist daher die verbreitete Auffassung, daß über- haupt alle lebendige Substanz „Kontraktilität“ besitzt, d. h. Kontraktionsbewegungen auszuführen imstande ist, durchaus begründet, wenn wir auch viele Zellen kennen, wie gewisse Algenzellen, Bakterien- zellen etc., die, trotzdem sie ein intensives Leben besitzen, doch, weil sie von einer starren Membran umgeben sind, äußerlich keine Kon- traktionsbewegungen zum Ausdruck bringen können. Die Kon- traktilität, d.h. die Fähigkeit, Kontraktionsbewegungen auszu- führen, ist aber eine allgemeine Eigenschaft aller lebendigen Substanz und erfordert daber eingehendes Interesse. Wir können unter den Bewegungsarten, die durch Kontraktion und Expansion nach dem eben charakterisierten Prinzip zustande kommen, je nach der eigentümlichen Differenzierung des Substrats, an dem sie beobachtet werden, drei Gruppen unterscheiden, die wir bezeichnen als: Amöboide Bewegung (Protoplasmaströmung), Muskelbewegung (Bewegung der glatten und quergestreiften Muskelfasern), Flimmerbewegung (Geißelbewegung, Wimperbewegung). * * * Die amöboide Bewegung, die ursprünglichste Form der Kontraktionsbewegungen, finden wir überall da, wo es sich um nackte Protoplasmamassen handelt, um Zellen, deren Protoplasmakörper von keiner Zellmembran umschlossen ist oder, wie bei den Pflanzenzellen, in der Zellmembran freien Raum zur Bewegung besitzt. Es sind das also vor allem die mannigfaltigen Vertreter der großen Protistengruppe der Rhizopoden (Fig. 108 u. 111), ferner im tierischen Zellenstaat die Leukocyten und amöboiden Wanderzellen der verschiedensten Art (Fig. 109), sowie die amöboiden Eizellen gewisser Tiere, wie der Schwämme (Fig. 22a p. 88), ferner die Pigmentzellen der verschie- densten Organe!) (Fig. 110), die Darmepithelzellen (Fig. 48 p. 172) und schließlich die verschiedenartigsten Pflanzenzellen (Fig. 29a, b, e p. 94 u. Fig. 112 p. 282). Als Typus kann uns die Bewegung der 1) Die in neuerer Zeit mehrfach geäußerte Ansicht, daß es sich bei den Be- wegungen der Pigmentzellen allein um eine Wanderung der Pigmentkörperchen handle, ohne eine gleichzeitige Formveränderung des Protoplasmakörpers, hat bisher keine genügende Stütze erhalten. 278 Drittes Kapitel. Amöben selbst dienen (Fig. 108), jener niedrigsten aller Lebens- formen, deren formwechselnder Zellkörper bereits alle Rätsel des Lebens in sich birgt. Mit einer Pipette in einem Wassertropfen vom Grunde eines Teiches genommen und auf einer Glasplatte unter das Mikroskop gebracht, stellt die Amöbenzelle ein kleines graues, halb- durchscheinendes Tröpfehen von mehr oder weniger ausgesprochener Kugelform vor, in dessen zentraler Masse der Zellkern und meist eine kontraktile Vakuole von einem mehr oder weniger körnigen „Endo- plasma“ umgeben liegt, während die peripherische Schicht von einem mehr hyalinen „Exoplasma“ gebildet wird. Behalten wir diesen Tropfen lebendiger Substanz einige Zeit im Auge, so sehen wir, wie sich an irgendeiner Stelle der Oberfläche die Kugelmasse vorwölbt, so daß über der Kugeloberfläche ein lappenförmiger Vorstoß erscheint, Fig. 108. Amöbe in acht aufeinanderfolgenden Stadien der Bewegung. der nun immer größer wird und sich immer weiter und weiter aus- streckt, indem immer mehr Protoplasma in ihn nachfließt, ein Vor- gang, der von den peripherischen Teilen aus nach dem Zentrum hin um sich greift, so daß eine dauernde Strömung vom Zentrum nach der Peripherie in den Ausläufer, das sogenannte „Pseudopodium“, hinein stattfindet (Fig. 108). Häufig fließt die ganze Protoplasmamasse, der Amöbe in diesen einen lappigen Vorstoß nach, so daß der Amöbenkörper eine einzige langgestreckte Masse bildet, wie man das besonders bei der Amoeba limax beobachtet; häufig aber wird die zentrifugale Protoplasmaströmung des eben gebildeten Pseudo- podiums unterbrochen, während sich gleichzeitig an irgendeiner anderen Stelle der Oberfläche ein zweites Pseudopodium in gleicher Weise durch zentrifugales Vorfließen des Protoplasmas in das Medium hinein bildet, und diesem kann wieder ein drittes folgen, so daß die Amöbe nach den verschiedensten Richtungen hin ihre Substanz vor- fließen läßt, bald hierhin, bald dorthin, und ihre Oberfläche auf diese Weise bedeutend vergrößert. Dieses „Ausstrecken der Pseudopodien“, das Vorfiießen der lebendigen Substanz in das Medium hinein, Von den elementaren Lebensäußerungen. 279 repräsentiert die Expansionsphase. Während sich ein neues Pseudopodium ausstreckt, fließt gewöhnlich das Protoplasma aus einem anderen wieder von der Peripherie her nach dem Zentrum zurück und liefert so das Material für ein neues; das alte Pseudopodium wird eingezogen. Diese „Einziehung der Pseudopodien“, das zentripetale Zurückfließen des Pr otoplasmas und die damit verbundene Wieder- verringerung der Oberflächengröße repräsentiert die Kontraktions- phase. Ziehen sich alle Pseudopodien ein, so nimmt die Amöben- zelle wieder Kugelform an. Die Kugelfor m ist also Ausdruck vollkommenster Kontraktion bei nackten Protoplasma- massen. Während des ungestörten Zustandes treten aber gewöhn- lich bei derselben Amöbe gleichzeitig an verschiedenen Stellen der Oberfläche bald Kontraktionen, bald Expansionen auf. Fine Prä- Fig. 109. Leukocyt (weißes Blutkörperchen) vom Froschin verschiedenen Bewegungszuständen. Nach ENGELMANN. formation der Pseudopodien ist also nicht vorhanden; es fließt bald hier, bald dort Substanz vor, mischt sich fortwährend durcheinander und fließt wieder zurück, und dies wechselvolle Spiel ist die amöboide Bewegung. Die Form der Pseudopodien ist bei den verschiedenen amöboiden Protoplasmamassen überaus verschieden, je nach der speziellen Kon- sistenz, Zusammensetzung etc. der lebendigen Substanz. Wie wir bereits gesehen haben '!), finden wir z. B. unter der Formenfülle der Rhizopodenzellen kurze stumpfe, lappig zerschlitzte, dicke fingerförmige, dünne dornenförmige, gerade strahlenartige, lange fadenförmige, baum- artig verästelte und netzartig verzweigte Pseudopodienformen. Aber alle diese durch zahllose Uebergänge miteinander ver- bundenen Pseudopodienformen entstehen auf die gleiche Weise, indem das Protoplasma vom zentralen 1) Vergl. p. 87 und p. 88. 280 Drittes Kapitel. Zellkörper in zentrifugaler Richtung in das Medium hinein vorströmt. Demgemäß muß es bei den Formen mit langen fadenförmigen Pseudopodien, wie den Foraminiferen (z. B. Orbito- lites, Fig. 111) einen sehr langen Weg zurücklegen vom Zentrum bis zur Spitze eines sich immer weiter und weiter verlängernden Pseudopodienfadens, so daß man auf diesen feinen Fäden das Proto- plasma mit seinen Körnchen etc. unter dem Mikroskop strömen sieht, wie das Wasser eines langsam fließenden Stromes; ein äußerst an- mutiges Phänomen, das seine Anziehungskraft auf den Beobachter immer wieder von neuem ausübt und von DuJArDIN!), Max SCHULTZE ?) und HAECKEL?°) als „Körnchenströmung“ oder „Proto- 2 PER IV Fig. 110. Pigmentzellen aus der Haut des Frosches. 7 ausgebreitete, ZZ schwach kontrahierte, //I stärker kontrahierte, /V vollkommen kontrahierte Pigmentzelle.. Der helle Fleck im zentralen Zellkörper ist der Zellkern. plasmaströmung“ in unübertreftlicher Weise geschildert worden ist. Bei der Einziehung dieser langen, fadenförmigen Pseudopodien müssen dann die Protoplasmateilchen wieder den gleichen Weg in umgekehrter, also zentripetaler Richtung zurücklegen. Betrachtet man Pseudopodienfäden, die schon ziemlich weit und längere Zeit ausge- streckt sind, so bemerkt man auf ihnen stets zweierlei Strömungen, eine zentrifugale und eine zentripetale, die erstere an dickeren Pseudopodien deutlich in der Achse, die letztere an der Peripherie des Pseudopodien- 1) DuJArDIn: „Histoire naturelle des Zoophytes-Infusoires“. Paris 1841. 2) MAx SCHULTZE: „Der Organismus der Polythalamien“. Leipzig 1854. 3) HAECKEL: „Die Radiolarien“. Berlin 1862. Von den elementaren Lebensäußerungen. sl Fig. 111. Orbitolites ecomplanatus, eine Rhizopodenzelle aus dem Roten Meer (kleines Exemplar, ca. 40mal vergr., natürl. Größe der ausgewachsenen Exemplare durchschnittlich 5 mm). Der zentrale Protoplasmakörper steckt in einer runden, scheiben- förmigen Kalkschale, die aus zahllosen, im wesentlichen zu konzentrischen Ringen an- IP N HIN N | | INN — geordneten Kammern besteht. Das Protoplasma jeder Kammer enthält einen oder wenige Zellkerne. An der Peripherie der Kalkschale treten zahlreiche feine, gerade Pseudopodien- fäden heraus, die bei großen Exemplaren oft fast 20 mm Länge erreichen, sich mehr- fach verzweigen und auch untereinander verschmelzen. Auf den Pseudopodien sieht man die Protoplasma- und Körnchenströmung in schönster Entwicklung. 282 Drittes Kapitel. stranges. Je nachdem die erstere oder die letztere überwiegt, ver- längert sich oder verkürzt sich allmählich das Pseudopodium. Sind beide gleich stark, so bleibt das Pseudopodium bei gleicher Länge ausgestreckt. So können wir gerade bei den langen, fadenförmigen Pseudopodien der Foraminiferen, wie Orbitolites (Fig. 111), die Expansions- und Kontraktionsbewegungen außerordentlich leicht in ihren Einzelheiten studieren. Immer besteht die Expansions- phase, d. h. die Ausstreckung der Pseudopodien, in einem zentrifugalen Vorfließen der lebendigen Sub- stanz in das umgebende Mediumhinein, die Kontrak- tionsphase, d. h. die Ein- ziehung der Pseudopodien dagegen in einem zentripe- talen Zurückfließenvon der Peripherie nach dem zen- tralen Zellkörper. Die Ex- pansionsphase istcharakte- risiert durch Vergrößerung derOÖberfläche,dieKontrak- tionsphase durch Streben nach der Kugelgestalt. Demselben Schema reiht sich auch die Protoplasmaströmung in den Pflanzenzellen an. Eine Zelle aus den Staubfädenhaaren von Tradescantia virginica stellt eine zylindrische, ringsherum geschlossene Zellulosekapsel vor (Fig. 112 A), in welcher der proto- plasmatische Zellkörper mit seinem Zellkern eingeschlossen ist. Das Protoplasma bildet an der Innen- wand den kontinuierlichen „Primor- dialschlauch“, von dem aus nach verschiedenen Richtungen durch das Bea Zelle aus den Slsup- DI Zellsaft gefüllte Lumen der fädenhaaren von Tradescantia Zellulosekapsel sich Protoplasma- virginica. A Ruhige Protoplasma- stränge ziehen, die miteinander strömung auf den Protoplasmasträngen. anastomosieren und an einer Stelle B Das Protoplasma hat sich nach Reizung 2 zu Klumpen und Kugeln bei a, b, c, d den Zellkern beherbergen. Auf kontrahiert. Nach KüHne. diesen langen Protoplasmasträngen, sowie auf dem Primordialschlauch ist eine beständige Protoplasma- strömung sichtbar, die genau der Protoplasmaströmung auf den Pseudo- podien der Rhizopoden entspricht und von den Botanikern als „Zir- kulation“ bezeichnet wird, wenn auf den verschiedenen Strängen das Protoplasma in ungeordneter, unregelmäßiger Richtung fließt, als „Rotation“ dagegen, wenn die Protoplasmaströmung dauernd nach einer bestimmten Richtung geordnet ist. Diese Konstellation würde also der Protoplasmabewegung einer Rhizopodenzelle, wie etwa Or- bitolites, entsprechen in ungestörtem Zustande, in dem bei lang ausgestreckten Pseudopodien das Protoplasma dauernd sowohl in Von den elementaren Lebensäußerungen. 283 zentrifugaler wie in zentripetaler Richtung strömt, d. h. in dem die Kontraktionsphase und Expansionsphase gleich stark entwickelt sind. In der Pflanzenzelle ist nur durch Verteilung des ganzen Protoplasmas auf einzelne netzförmig anastomosierende Stänge ein so kompliziertes System von Strömungen entstanden, daß man nicht mehr gut von einer zentrifugalen und zentripetalen Strömung sprechen kann, wie das in gleicher Weise bei großen Rhizopoden mit netzartig verzweigten und anastomosierenden Pseudopodien der Fall ist, oder etwa bei den Myxomycetenplasmodien, deren ganzer Körper sich zu einem reich- verzweigten Pseudopodiennetzwerk aufgelöst hat. Ein deutlicheres Hervortreten der Kontraktionsphase ist aber sehr leicht durch Reize zu erzielen. Es ist wie bei den Rhizopoden ebenfalls dadurch charak- terisiert, daß das Protoplasma sich zu Kugeln zusammenballt (Fig. 112 B), die ineinander fließen und unter Umständen schließlich eine große klumpige Masse um den Kern herum bilden. Hier haben wir also das vollkommene Analogon für die Kontraktionsphase der Rhizo- poden, wo sich die Pseudopodien einziehen, so daß der Körper eine mehr oder weniger kuglige (Gestalt annimmt. Die Einzelheiten der Protoplasmaströmung sind also bei den Pflanzenzellen genau die- selben wie bei den Rhizopoden, und bereits MAx SCHULTZE!) hat die Analogie der Protoplasmabewegung in beiden Fällen sehr eingehend erörtert. Die Arbeit, die durch die Protoplasmabewegung geleistet werden kann, ist bis jetzt noch nicht ermittelt worden, doch scheint die Energieentwicklung bei der amöboiden Protoplasmabewegung nicht gerade bedeutend zu sein. * * x Die Muskelbewegung ist die spezifische Bewegungsform des tierischen Organismus, durch die er sich von allen Pflanzen augen- fällig unterscheidet. Alle groben und schnellen Massenbewegungen des ganzen tierischen Körpers oder einzelner Organsysteme, welche die naive Betrachtungsweise des Volkes verführt haben, dem Tiere eine höhere Stufe des Lebens zuzuschreiben als der Pflanze, die man der leblosen Natur für viel näher stehend betrachtet als den Tieren, alle diese auffälligen Bewegungen, die von sämtlichen Lebensäuße- rungen am meisten den Eindruck des Lebendigen hervorrufen, beruhen auf Kontraktion von Muskelfasern. Der amöboiden Protoplasmabewegung gegenüber ist die Muskel- beweeung besonders dadurch charakterisiert, daß sie eine in ihren einzelnen Momenten räumlich „geordnete“ Bewegung ist, insofern sich die Teilchen einer Muskelfaser nur in einer bestimmten Rich- tung verschieben. Freilich kann man sagen, daß auf einem langen, geraden, fadenförmigen Pseudopodium die Teilchen ebenfalls in einer bestimmten Richtung fließen, aber diese Richtung ist keine dauernde; denn indem sich das Pseudopodium einzieht, vermischen sich die Teilchen wieder mit den anderen und gehen nach allen möglichen Richtungen auseinander. Dem gegenüber sind die Teilchen, die in einer Muskelfaser die Träger der Kontraktionsbewegungen sind, dauernd als besondere Gebilde im übrigen Zellprotoplasma vorhanden 1) Max SCHULTZE: „Das Protoplasma der Rhizopoden und der Pflanzenzellen. Ein Beitrag zur Theorie der Zelle“. Leipzig 1863, 284 Drittes Kapitel. und können sich nicht ohne weiteres mit ihm vermischen. Wenn wir die ganze Muskelzelle „Muskelfaser“ nennen, so pflegen wir die be- sonders differenzierten kontraktilen Streifen in ihr als „Primitivfibrillen“ zu bezeichnen, und diese Primitivfibrillen können im Protoplasma der Muskelfaser, das man mit ROLLETT auch kurz „Sarkoplasma“ nennen kann, in der verschiedensten Weise angeordnet, aber sämtlich in gleicher Richtung eingebettet liegen. Die kontraktilen „Fibrillen“ der Muskelfaserzelle stellen also besonders differenzierte Organoide des Zellprotoplasmas vor. Nach dem verschiedenartigen Bau der kontraktilen Muskelfibrillen unterscheiden wir zwei Gruppen von Muskelfasern oder Muskelzellen, „glatte“ und „quergestreifte“. Bei den glatten Muskelfasern Fig. 113. Stentor eoeruleus, ein Wimperinfusorium mit zahlreichen, parallel verlaufenden Muskelfibrillen (Myoidfäden) im Exoplasma. A ausgestreckt, B halbkontrahiert (beim freien Schwimmen), € vollständig kontrahiert. sind die Fibrillen, die im Sarkoplasma parallel untereinander ein- gebettet liegen, völlig homogene Fäden, bei denen jeder Querschnitt gleich jedem anderen ist. Die quergestreiften Muskelfasern dagegen enthalten Fibrillen, welche von einem Ende bis zum anderen in viele Segmente eingeteilt sind, die alle einen übereinstimmenden, aber komplizierten Bau besitzen. Die einfachsten Formen der glatten Muskelzellen finden wir unter den Infusorien. Viele Wimperinfusorien, wie z. B. Stentor, repräsentieren eine solche Muskelzelle einfachster Art, indem ihr be- wimperter Zellkörper in der äußeren Schicht seines Protoplasmas ungefähr parallel nebeneinander verlaufende glatte Muskelfibrillen, so- genannte „Myoide“ eingebettet enthält (Fig. 113). Andere Infusorien, vor allem die zierliche Vorticella, besitzen nur einen einzigen, aus mehreren Fibrillen zusammengekitteten glatten Muskelfaden, der Von den elementaren Lebensäußerungen. 285 aus dem Körper als dicker Strang heraustritt und, umgeben von einer elastischen Scheide, an deren Innenwand er in langgestreckten Spiraltouren angeheftet ist, dem Zellkörper als Stiel zum Festsetzen dient (Fig. 114). Bei den glatten Muskelzellen, die gewebebildend im Zellenstaat vereinigt sind, tritt der Protoplasmakörper gegenüber den kontraktilen Fibrillen sehr an Masse zurück. Entweder bildet er nur eine kleine Sarkoplasmamasse mit ihrem Zellkern, welche{von einer langen, spindelförmigen Hülle kontraktiler Fibrillensubstanz eingeschlossen ist, wie z. B. bei den glatten Muskelzellen aus der Blase des Frosches (Fig. 115«), oder er liegt als kleiner Zellkörper dem kontraktilen Fibrillenbündel seitlich in der Mitte an, wie etwa bei den Retraktorenmuskeln der Süßwasserbryozoen (Fig. 115). m a b ra Alla) — Glatte Muskelzel- = b c len, a aus der Blase des Fig. 114. Vorticella, a ausgestreckt, b kontrahiert Frosches, b aus den Re- (der Stielmuskel ist in « und 5 nicht zu sehen), ce Stiel- traktorenmuskeln der scheide mit Muskelfaden, stark vergrößert. Süßwasserbryozoen. Der Bau der quergestreiften Muskelfasern ist bei weitem komplizierter. Als Typus der quergestreiften Muskelfaser, die ebenso wie die glatte in mannigfachen Modifikationen auftritt, kann uns die Insektenmuskelfaser dienen, deren Bau besonders durch die ausge- zeichneten und ausgedehnten Untersuchungen von KRAUSE, HENSEN, ENGELMANN, ROLLETT, SCHÄFER und HÜRTHLE bis in seine feinsten Einzelheiten bekannt geworden ist. Die quergestreifte Muskelfaser der Insekten stellt eine lange dünne, zylindrische Zelle vor, bestehend aus dem „Sarkoplasm ar, das nach außen hin von einer etwas dichteren Schicht, dem „Sarkole m m“, abgegrenzt ist und zahlreiche, in der Faserrichtung langgestreckte Zellkerne enthält (Fig. 116). In diesem Sarkoplasma eingebettet und parallel von einem bis zum anderen Ende der Faser hinziehend liegen die regelmäßig segmentierten Primitivfibrillen (Fig. 117.4). Betrachtet man die „Muskel- 286 Drittes Kapitel. segmente“ einer Fibrille mit sehr starken Vergrößerungen, so findet man, daß sie alle den gleichen Bau besitzen, indem sich dieselbe Anordnung ihrer Inhaltsbestandteile in jedem Muskelsegment wieder- holt. Jedes Segment ist nämlich von den beiden anliegenden Seg- menten getrennt durch die sogenannte „Zwischenscheibe“ (Fig. 117%) und enthält zwei verschiedene Substanzen, von denen die eine doppelt lichtbrechend oder „anisotrop“ ist und in der Mitte des Segmentes liegt (Fig. 117g resp. g-+m--g), während die andere einfach lichtbrechend oder „isotrop“ ist und in zwei Portionen die anisotrope Substanz begrenzt (Fig. 1172). In der Mitte der an- isotropen Schicht ist mehr oder weniger deutlich eine hellere Zone sichtbar, die als Hensensche „Mittelscheibe“ bezeichnet wird (Fig. 117B m). Bei vielen Muskelfasern verbreitet, aber nicht als Sm 335; EA TE “ es => er ER >. 92% ., % Er 005034 2 ASS 20 5% No Dar aag se, [. 0 e ”o 1% » ® & 7, ar ® RN KIYY «9 Pr A B C Fig. 116. Quergestreifte Muskelfasern. A zwei herausgeschnittene Stücke von Muskelfasern (links oben das Ende einer Faser), die Querstreifung ist deutlich zu sehen, ebenso viele spindelförmige Muskelkerne. Nach SCHIEFFERDECKER. B zwei einkernige, quergestreifte Muskelzellen aus dem Herzen, links vom Menschen, rechts vom Frosch. Nach DissEe. C Querschnitt einer Insektenmuskelfaser. Es sind drei Zellkerne zu sehen und, im Sarkoplasma eingebettet, die Querschnitte von zahllosen Fibrillen. Nach ROLLETT. konstanten Bestandteil aller Muskelfasern, finden wir schließlich eine oder zwei „Nebenscheiben“ (Fig. 117 B n) in die isotrope Substanz eingelagert. Als die allgemeinen Bestandteile des Muskelsegments kommen indessen für uns nur die anisotrope Schicht und die beiden sie begrenzenden isotropen Schichten in Betracht, von denen die an- isotrope Substanz unter dem Mikroskop dunkler und stärker licht- brechend, die isotrope Substanz heller und weniger stark lichtbrechend aussieht. Auf dem Querschnitt liegen in jeder Muskelfaser die gleichen Schichten der einzelnen Fibrillen in gleicher Ebene, so daß die ganze Muskelfaser regelmäßig gebändert oder „quergestreift“ ist (Fig. 116A). Die quergestreiften Muskelfasern der Wirbeltiere er- reichen oft eine ganz beträchtliche Länge, obwohl sie nur eine einzige vielkernige Zeile vorstellen. Die Muskelfasern aus den langen Skelett- Von den elementaren Lebensäußerungen. 287 muskeln des Menschen z. B. sind Fäden von über Dezimeter Länge, und jede Muskelfibrille in ihnen reicht von einem Ende bis zum anderen. Bei der Bewegung der glatten sowohl wie der quergestreiften Muskelfasern können wir dieselben beiden Phasen unterscheiden wie Fig. 117. A Zwei isolierte Primitivfibril- len. ' 'Zwischenscheibe, ? isotrope, q anisotrope Substanz. -Nach RANVIER DB zwei einzelne Muskelsegmente. z Zwischenscheibe, ö isotrope Substanz, g anisotrope !Substanz mit einer Mittel- scheibe m. Das rechte Segment besitzt in der iso- tropen Substanz eine Nebenscheibe n. bei der amöboiden Bewegung: die Kontraktionsphase und die Ex- pansionsphase. Die Kontraktion besteht in einer Verkürzung und Verdickung der Fibrillen, die von dem Punkte ihrer Entstehung aus in Form einer Kontraktionswelle über die ganze Fibrille hin verläuft. Die Teilchen verschieben sich also in der Längsrichtung derartig, daß sie JN II ---T 1 2 1 2 Fig. 118. Einzelne Muskelsegmente schematisch, / im gestreckten und IT kontrahierten Zustande. 7 In gewöhnlichem Licht, 2 in polarisiertem Licht. a Die anisotropen, ö die isotropen Schichten. sich auf einen größeren Querschnittnebeneinander lagern. Dadurch wird die Oberfläche der Fibrille verringert, wenn sie auch nicht bis zu ihrem Minimum, bis zur Kugelform, herabsinkt, wie das bei den nackten Protoplasmamassen der Fall ist. Die gleichzeitige Kontraktion der einzelnen Fibrillen in der glatten und quergestreiften Muskelzelle be- dingt selbstverständlich auch eine Verkürzung und Verdickung der ganzen Muskelfaser. Verläuft die Kontraktion sehr schnell, wie z. B. bei den Fibrillen der Infusorienzellen und den quergestreiften Muskel- 288 Drittes Kapitel. fasern, so schnellt die Faser blitzartig zusammen, und wir bekommen eine „Zuckung“, deren einzelne Momente man nicht mit dem Auge verfolgen kann. So zuckt z. B. der Stiel der Vorticellen plötzlich zusammen und reißt, indem er sich infolge der spiraligen Windung des Muskelfadens zu einer schraubenförmigen Gestalt zusammenzieht, das Köpfchen der Vorticelle dicht an den Fußpunkt des Stieles heran (Fig. 1145). Die glatten Muskelfasern der Gewebe ziehen sich demgegenüber durchgehends nur äußerst träge zusammen und zeigen niemals so plötzliche Zuckungen wie die Infusorienmyoide und die quergestreiften Muskelfasern. Während aber in der glatten Muskel- fibrille außer der Gestaltsveränderung keine weiteren Vorgänge mikro- skopisch zu bemerken sind, zeigen die quergestreiften Muskelfibrillen entsprechend ihrem komplizierteren Bau auch höchst charakteristische Veränderungen der Querstreifung in beiden Phasen der Bewegung. Fassen wir ein einzelnes Muskelsegment ins Auge, so finden wir bei der Kontraktionsphase folgende Veränderungen, die zuerst ENGEL- MANN!) sehr genau analysiert hat: jedes einzelne Segment wird kürzer und dicker, wie das ja aus der Verkürzung und Verdickung der ganzen Fibrille notwendig zu erwarten ist. Dabei zeigen sich auffällige Ver- änderungen in dem Verhältnis der isotropen zur anisotropen Substanz. Die anisotrope Substanz nimmt nämlich an Volumen zu, die isotrope dagegen ab, während das Volumen des ganzen Segments unverändert bleibt. Gleichzeitig wird Fig. 119. Muskelseg- die anisotrope Substanz, die vorher fester und mente von der Wespe dunkler war, weicher und heller, d. h. weniger mit den Röhrchen der ee ® ER : anisotropen Substanz. a Stark lichtbrechend, während die isotrope die Anisotrope Substanz von umgekehrten Veränderungen erfährt, d. h. oben gesehen, 5 von der fester und dunkler, also stärker lichtbrechend Seite; © rei Muskelseg- wird, alssie vorher war. Diese Veränderungen mente, ach SCHAFER sind äußerst wichtig, denn sie zeigen, daß die Kontraktionaufeinem Uebertrittvon Substanzaus den isotropen Schichten in dieanisotrope besteht,undzwarvonSubstanz,diedünnflüssigeristals die der anisotropen Schicht. In neuerer Zeit hat SCHÄFER’?) die mikroskopischen Veränderungen bei diesem Vorgange mittels photo- graphischer Aufnahmen noch eingehender studiert und dabei die interessante Tatsache gefunden, daß in der anisotropen Schicht der Faserrichtung entsprechend bis nahe zur HENsEnschen Mittelscheibe parallel nebeneinander liegende, äußerst feine Röhrchen verlaufen (Fig. 119), in welche die isotrope Substanz bei der Kontraktion hin- einfließt, so daß das Lumen der Röhrchen dadurch erweitert und das ganze Segment breiter und niedriger wird. Der ganze Vorgang der 1) ENGELMANN: „Mikroskopische Untersuchungen über die quergestreifte Muskelsubstanz“, I und II. In PFLÜGERs Arch., Bd. 7, 1873. — Derselbe: „Kon- traktilität und Doppelbrechung“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 11, 1875. — Derselbe: „Neue Untersuchungen über die mikroskopischen Vorgänge bei der Muskelkon- traktion“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 18, 1878. 2) E. A. SCHÄFER: „On the minute structure of the muscle-columns or sarco- styles which form the wing-muscles of insects“. Preliminary note. In Proceedings of the Royal Society, Vol. 49, 1891. — Derselbe: „On the structure of cross-striated muscle“. In Monthly International Journal of Anatomy and Physiol., Vol. 8, 1891. Von der lebendigen Substanz. 289 Kontraktion pflanzt sich nun blitzschnell von einem Muskelsegment auf das folgende und so weiter fort, so daß eine „Kontraktionswelle“ über alle Elemente der ganzen Muskelfaser verläuft. Die Expansionsphase der glatten und quergestreiften Muskel- fasern zeigt genau die Umkehr aller der Vorgänge, die wir bei der Kontraktion beobachten. Die Fibrillen strecken sich wieder, indem sie von dem Punkte aus, von dem vorher die Kontraktionswelle ihren Ausgang nahm, allmählich länger und dünner werden, so daß jetzt eine Expansionswelle von hier aus über die ganze Fibrille hin ver- läuft, bis sie vollständig gestreckt ist. Auch im einzelnen Segment der quergestreiften Muskelfaser haben wir genau die Umkehr der Veränderungen, die bei der Kontraktion eintraten. Das Segment wird wieder länger und dünner, die anisotrope Substanz nimmt an Volumen ab und wird dunkler, fester und stärker lichtbrechend, während die isotrope an Volumen gewinnt und heller, weicher und schwächer lichtbrechend wird, bis der Ruhezustand wieder hergestellt ist. Bei der Expansion der quergestreiften Muskelfaser tritt also aus der anisotropen Schicht dünnflüssigere Sub- stanz wieder in die isotropen Schichten zurück. Glatte Muskelfasern sowohl wie quergestreifte sind im Zellenstaat zu Geweben, den Muskeln, vereinigt, und zwar finden wir überall da, wo es sich darum handelt, schnelle und wiederholt starke Bewegungs- effekte hervorzubringen, wie bei den Skelettmuskeln und dem Herzen, die Muskeln aus quergestreiften Fasern gebaut, während die langsamen und trägen Bewegungen der unwillkürlich sich bewegenden Organe, wie des Magens, des Darms, der Blase etc., auf der Tätigkeit glatter Muskelzellen beruhen. Die höchsten, ja geradezu erstaunliche Werte erreicht die Geschwindigkeit der Muskelkontraktion bei den Flügel- muskeln mancher Insekten, z. B. der Mücken, von denen, wie MAREY gezeigt hat, 300—400 Kontraktionen in der Sekunde ausgeführt werden können. Daß schließlich der Bewegungseffekt da, wo ungeheuer viele Muskelfasern einen Muskel zusammensetzen, ein ganz bedeutender sein wird, liegt auf der Hand. In der Tat finden wir denn auch, daß selbst in verhältnismäßig kleinen Muskeln ein enormer Energieumsatz stattfindet. So vermag ein so kleiner Muskel, wie z. B. der Waden- muskel (Musculus gastroenemius) des Frosches, der kaum einen Zenti- meter an seiner dicksten Stelle im Querschnitt mißt, nach RosEn- THALS Beobachtungen ein Gewicht von mehr als einem Kilogramm zu heben. Ganz enorm ist die Arbeit, die der nie rastende Herz- muskel leiste. Zuntz!) hat berechnet, daß das Herz eines Mannes, wenn es in normaler Weise schlägt, an einem Tage eine Arbeit von etwa 20000 Kilogrammmetern leistet, d. h. eine Arbeit, die ge- nügend wäre, um ein Gewicht von 20000 Kilogramm einen Meter hoch zu heben. Das ist die Arbeit des Herzens an einem einzigen Tage! Wie gewaltig demnach die Arbeit des Herzens während des ganzen Lebens eines Menschen ist, bedarf keiner großen Rechnung. Der Muskel ist die vollendetste Arbeitsmaschine, die wir kennen. * * * Die Flimmerbewegung schließlich ist nicht minder weit ver- breitet als die beiden anderen Formen der Kontraktionsbewegungen. 1) Zuntz: In Berl. klin. Wochenschr., Jahrg. 29, 1892, p. 357. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 19 290 Zweites Kapitel. Das Infusorium, das sich im Wasser der Pfütze munter umhertummelt, bewegt sich durch Geißel- oder Wimperschlag. Die männliche Sper- matozoönzelle, die sich bei der Befruchtung nach der Vereinigung mit der weiblichen Eizelle drängt, treibt sich vorwärts durch die Schwingungen ihres Geißelfadens. Die Zellen des Flimmerepithels, das unsere Luftröhre auskleidet, halten die Schleimhaut rein durch ihre Wimpertätigkeit und schieben Fremdkörper, die beim Schlucken hineingeraten sind, wieder nach außen durch den rhythmischen Schlag ihrer Flimmerhaare. Unzählig aber ist das Heer der Infusorien, weitverbreitet im Pflanzen- und Tierreich sind die geißeltragenden Spermatozo@n, und kaum eine Tiergruppe gibt es, deren Körper nicht an irgendeiner Stelle ein Flimmerepithel besäße. A B C D Fig. 120. A Drei Flimmerepithelzellen aus dem Nebenhoden des Menschen. Nach SCHIEFFERDECKER. B Spermatozoön vom Menschen. aKopf, b, ce Geißel. Nach StöHnr. C Hexamitus inflatus, ein Geißelinfusorium mit sechs Geißeln. Nach STEIN. D Peranema, ein Geißelinfusor, «a schwächer, 5 stärker mit seiner Geißel schlagend. Wie die Muskelbewegung ist auch die Flimmerbewegung eine geordnete Bewegung, d. h. die beweglichen Teilchen verschieben sich in einer ganz bestimmten Richtung. Das ist dadurch ermöglicht, daß die kontraktilen Elemente wie bei der Muskelzelle als dauernde Differenzierungen des Zellprotoplasmas entwickelt sind, und zwar hier in Form von haar- oder wimperähnlichen Anhängen des Zell- körpers. Je nachdem die Zelle ein, resp. einige wenige lange oder viele kurze „Flimmerhaare“ besitzt, spricht man von „Geißelzellen“ (Fig. 120 B, ©, D) oder von „Wimperzellen“ (Fig. 120A, Fig. 25 p. 90). Indem diese „Geißeln“ oder „Wimpern“ regelmäßig schlagende Bewegungen ausführen, entsteht die Flimmerbewegung!). Was die Flimmerbewegung am meisten charakterisiert, sind folgende Momente. Die Flimmerbewegung ist eine automatische Bewegung, d.h. die Impulse für die Tätigkeit der Flimmerhaare entstehen in der Flimmerzelle selbst, im Gegensatz zum quergestreiften Muskel, der die Impulse für seine Tätigkeit immer nur von außen her und zwar von seiten des Nervensystems erhält, ohne die er dauernd in Ruhe ver- ... D) Eine ausführliche Zusammenstellung der Literatur über die Flimmerbewegung gibt PÜTTER: „Die Flimmerbewegung“. In den Ergebnissen der Physiologie, 2. Jahrg., 2. Abt., 1903. Von den elementaren Lebensäußerungen. 291 harrt. Demgegenüber ist kein einziger Fall bekannt, in dem die Flimmerbewegung irgendwie unter dem Einfluß des Nervensystems stände und auch nur gelegentlich Impulse von seiten des Nerven- systems erhielte. Aus vivisektorischen Versuchen scheint hervorzugehen !), daß die physiologischen Impulse für die Bewegung der Flimmerhaare bei Flimmerepithelzellen im Protoplasma des Zellkörpers produziert werden, denn die isolierten Flimmerhaare dieser Zellen, wenn sie kein Protoplasma an ihrer Basis mehr besitzen, bleiben vollkommen be- wegungslos. Hingegen vermögen einzelne Flimmerhaare solcher Zellen, wenn sie nur noch mit der geringsten Menge des basalen Protoplasmas zusammenhängen, immer noch’rhythmische Schläge auszuführen. Es ist nun unlängst PETER?) gelungen, den Ort im Protoplasma, wo die Im- pulse für den Schlag der Flimmerhaare bei diesen Zellen produziert werden, noch genauer zu bestimmen. Bei Anwendung von sehr starken a b C d Fig. 121. Fetzen von Flimmerzellen aus dem Darm von Anodonta. Die feinen Flimmerhaare sind nach oben gerichtet und entspringen aus dem Saum von Basal- körperchen, von dem aus die Fäden des Wurzelkegels ins Innere der Zelle ziehen. Bei a und b hängt noch ein runder Tropfen undifferenzierten Zellprotoplasmas an dem Flimmerapparat, c stellt einen isolierten Flimmerapparat ohne undifferenziertes Zell- protoplasma vor, und bei d ist ein Teil des Wurzelkegels abgetrennt. Alle Zellfetzen sind kernlos und zeigen noch Flimmerbewegung. Nach PETER. Vergrößerungen findet man, daß die Flimmerhaare bei ihnen aus sehr kleinen körnchenartigen Gebilden entspringen, die in der oberfläch- lichsten Schicht des Protoplasmas gelegen sind und von AraArHY als „Basalkörperchen“ bezeichnet werden. Diese Basalkörperchen müssen als die Ursprungsstätten der Impulse für die Bewegung der Flimmerhaare angesehen werden, denn PETER konnte an zer- fetzten Flimmerepithelzellen des Darmkanals von Muscheln (An o- donta) (Fig. 121) feststellen, daß alle übrigen Elemente des Proto- plasmas fehlen können, ohne daß die Flimmerbewegung deswegen aufhörte. So lange dagegen noch die Basalkörperchen im Zusammen- hang mit den Flimmerhaaren sind, vermögen auch diese noch zu 1) MAx VERWORN: „Studien zur Physiologie der Flimmerbewegung“. In PFLÜGERs Arch. f. d. ges. Physiologie, Bd. 48, 1860. 2) KARL PETER: „Das Zentrum für die Flimmer- und Geißelbewegung“. In Anatom. Anzeiger, Bd. 15, 1899. 19* 292 Drittes Kapitel. schlagen. Demgegenüber scheint es für andere Flimmerzellen, und zwar handelt es sich hier um einzellige Geißel- und Wimperinfusorien, zweifellos zu sein, daß auch die isolierte Geißel noch ganz kurze Zeit, etwa 1 Minute lang, nach der‘ Abtrennung vom Zellkörper schlagende Bewegungen auszuführen vermag. So ist von KLEBS!), BÜTSCHLI?), FISCHER ?) und anderen beobachtet worden, daß die von flagellaten Infusorien spontan abgeworfene Geißel vor dem Absterben noch kurze Zeit Schlagbewegungen ausführt. Es wäre indessen ver- fehlt, aus diesen Tatsachen zu schließen, daß unter normalen Verhält- nissen im intakten Zellkörper die autonomen Impulse ebenfalls von der Geißel produziert werden. Daß die Geißel oder das Flimmerhaar er- regbar ist, wird niemand bezweifeln, da es ja aus lebendiger Substanz besteht, daß es kontraktil ist, ebensowenig, denn es führt ja Kon- traktionsbewegungen fortwährend aus. Es ist also durchaus begreiflich, daß isolierte Flimmerhaare in solchen Fällen, in denen sie noch eine kurze Zeit nach der Isolierung überleben, auch noch durch Reize zu Kontraktionen veranlaßt werden können, ebenso wie das im intakten Zellkörper z. B. durch mechanische Reizung eines Flimmerhaares ebenfalls möglich ist. Mit dem Abtrennen vom Zellkörper selbst ist aber zweifellos ein mechanischer Reiz verbunden, der bei künstlicher Abtrennung so stark ist, daß die Wimper sofort durch Ueberreizung zugrunde geht, der bei dem natürlichen Abstoßungsvorgang aber sehr wohl stark genug sein kann, um einerseits noch ein kurzes Ueber- leben zu gestatten, anderseits aber eine Erregung hervorzurufen, welche die Geißel zu Schlagbewegungen veranlaßt. Auf alle Fälle aber wer- den wir uns im intakten Zellkörper die Impulse für die autonome y y | II „N | Y, Fee Tl, == 7 27 > CH CZ ZH —EHN IE u Fig. 122. Flimmerbewegung einer Wimperreihe im Profil. Wimpertätigkeit immer vom basalen Protoplasma ausgehend denken müssen. Darauf weisen auch die weiter unten zu berichtenden Tat- sachen über das Zustandekommen der Metachronie des Wimper- schlages hin. Wir werden daher nicht fehlgehen, wenn wir uns das Verhältnis des Flimmerhaares zum Zellkörper etwa so denken, wie das des Skelettmuskels zum Nervensystem. Auch der Skelettmuskel führt im intakten Organismus nur Zuckungen aus, wenn er Impulse vom Nervensystem her bekommt, obwohl er Erregbarkeit und Kon- traktilität selbst besitzt und nach seiner Isolierung vom Organismus auch noch durch Reize der verschiedensten Art, so lange er überlebt, künstlich zu Kontraktionen veranlaßt werden kann. Charakteristisch für die meisten Fälle der Flimmerbewegung ist ihre Rhythmizität, denn abgesehen von einzelnen Geißel- und Wimperinfusorien schlagen die Flimmerhaare wenigstens bei lebhafterer ... D G. KLers: „Ueber die Organisation einiger Flagellatengruppen und ihre Be- Se a Algen und Infusorien“. In Unters. aus d. bot. Institut zu Tübingen, 2) BürscHLı: „Einige Bemerkungen über gewisse Organisationsverhältnisse der sogenannten Cılioflagellaten und der Noctiluca“. In Morph. Jahrb., Bd. 10, 1885. 3) ALFRED FISCHER: „Ueber die Geißeln einiger Flagellaten“. Jahrb. f. wiss. Botanik, Bd. 26, 1894. Von den elementaren Lebensäußerungen. 295 Tätigkeit stets in regelmäßigen Intervallen. Unregelmäßig werden die Schläge nur beim Uebergang zur Ruhe oder unter dem Einfluß äußerer Faktoren. Ein Moment schließlich, das freilich nur für Wimperzellen mit vielen Flimmerhaaren in Betracht kommt, liegt inder Metachronie der Bewegung aller einzelnen Wimpern. Es schlagen nämlich die einzelnen Wimpern einer Wimperreihe, von einem Ende beginnend, im genau gleichem Rhythmus und in genau gleicher Aufeinanderfolge, so daß jeder Schlag der ersten Wimper von einem Schlag der zweiten, dann der dritten, vierten usf. gefolgt ist. Niemals schlägt eine Wimper spontan außer der Reihe, niemals macht sie eine Bewegung, ehe nicht die vorhergehende Wimper der Reihe in Bewegung getreten ist. Dagegen beginnt sie stets sofort ihre Bewegung, nachdem die vorhergehende Wimper begonnen, und noch ehe dieselbe ihre Bewegung vollendet hat. So kommt es, daß von der letzten Wimper einer Reihe her nach der ersten hin gerechnet, jede obere Wimper jeder unteren Wimper um einen geringen Bruchteil der Bewegung voraus ist (Fig. 122). Die oberste Wimper gibt also das Zeichen für die übrigen: Ist die oberste Wimper in Ruhe, so ruhen auch die übrigen, schlägt sie, so schlagen die anderen der Reihe nach auch, und das eilt nicht bloß für die Wimpern der ein- zelnen Zelle, sondern im Flimmerepithel für die Wimpern aller hintereinandergereihten Zellen. Auf diese Weise entsteht ein äußerst zierliches und regelmäßiges Spiel der Wimpern, das schon manchen Beobachter gefesselt hat, und das den Eindruck macht, als ob regel- Fig.123.- Beroö ovata, mäßige Wellen über die Wimperreihen hinweg- eine Rippenqualle in laufen, etwa so, wie wenn der Wind über natürlicherGröße. Von ein Kornfeld streicht. Dabei schlagen, wenn den acht vom oberen (Sinnes-) ; 5 2 Polnach dem unteren (Mund-) mehrere parallele Reihen von Wimpern vor- pol hin verlaufenden Rip- handen sind, die Wimpern, die in der Quer- pen oder Schwimmplättchen- richtung der Reihen nebeneinanderstehen, reihen sind nur die vier synchron, ebenso wie die parallel in einer u ne 2, sehen, und zwar zwei von Muskelfaser nebeneinanderliegenden Primitiv- vorn und zwei von der Seite. fibrillen auch synchron zucken. Um die Bewegung des einzelnen Flimmerhaares in ihren Phasen genauer kennen zu lernen, dient uns als Objekt am besten die Be- wegung der Schwimmplättchen bei den Ütenophoren oder Rippen- quallen ! ). Der Körper dieser wunderbaren, aus einer zarten, durch- sichtigen Gallerte bestehenden Tiere besitzt acht von einem : ol nach dem andern hin verlaufende Streifen oder „Rippen“ (Fig. 123), die von einer Reihe dachziegelförmig übereinanderliegender Piatiehen den „Schwimmplättchen“, "gebildet werden. Jedes Schwimmplättchen ist etwa 2 mm lang und besteht aus einer erößeren Anzahl mitein- ander verkitteter Wimpern, die den darunterliegenden Wimper- zellen der Rippen angehören. Wegen ihrer außerordentlichen Größe, e = = 3 = = zZ EI 1) MAx VERWORN: „Studien zur Physiologie der Flimmerbewegung“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 48, 1890. 294 Drittes Kapitel. ferner wegen der ungewöhnlichen Einfachheit ihrer Anordnung .in einer Reihe und schließlich wegen des häufig sehr langsamen Rhyth- mus ihres Schlages eignen sich diese Schwimmplättchen wie kein anderes Objekt zum Experimentieren und Beobachten. Zwar sind, wie gesagt, die Plättchen aus mehreren Wimpern verkittet, aber eine jede einzelne der Wimpern macht selbstverständlich genau die- selbe Bewegung wie das ganze Plättchen, so daß wir die Beobach- tungen am ganzen Plättchen direkt auf die Verhältnisse der einzelnen Wimper übertragen dürfen. Wir können bei der Größe des Objektes die Beobac htung mit bloßem Auge oder mit einer schwachen Lupe machen. Dann sehen wir, wenn wir ein einziges Schwimmplättchen im Profil betrachten, daß es in der Ruhestellung dem Körper flach angelegt ist, und zwar so, daß es zwei Krümmungen zeigt, eine stärkere von kleinerem Radius gleich über der Basis und eine schwächere von größerem Radius, aber nach der entgegengesetzten Seite in der oberen Hälfte (Fig. 124«a). Das ist die Ruhestellung. Fig. 124. Schwimmplättchen von Bero&@ in Profilansicht, a in Ruhelage, b in extremer Schwinglage. Führt das Plättchen einen Schlag aus, so gleicht sich die untere Krümmung von der Basis der Wimper an beginnend vollständig aus, ja, sie geht sogar ein klein wenig in eine entgegengesetzte Krümmung über. Das Plättchen steht daher in der extremen Schwinglage auf- recht mit einer geringen Biegung nach der entgegengesetzten Seite. Damit ist die progressive Phase des Schlages erreicht. Jetzt erfolgt die regressive Phase, in der das Plättchen wieder in seine Ruhelage zurücksinkt, dadurch, daß sich die ursprüngliche Krümmung an der Basis allmählich wieder herstellt, bis das Plättchen dem Körper wieder anliegt. Die regressive Phase erfolgt viel langsamer als die pro- gressive. Dadurch und durch die obere Krümmung, auf deren spezielle Bedeutung wir nicht näher eingehen wollen, wird es ermöglicht, daß der motorische Effekt der progressiven Phase durch die regressive nicht wieder aufgehoben wird, sonst würde das Tier dauernd an derselben Stelle im Wasser stehen bleiben und sich nicht vom Ort bewegen. Bei Infusorien kann man die Bewegung der einzelnen Wimper unter dem Mikroskope verfolgen, wenn man den Wimperschlag da- durch verlangsamt, daß man die Objekte in ein dickflüssiges Medium, Von den elementaren Lebensäußerungen. 295 z. B. eine Gelatinelösung, bringt. Dabei findet man, daß die Ruhe- stellung, von der aus die Wimper ihre Schlagbewegungen ausführt, veränderlich ist. Die Wimper liegt einmal nahe dem Körper an, das andere Mal steht sie senkrecht von ihm ab, so daß die Amplitude der Schwingung und damit die Größe des motorischen FEffekts! auf diese Weise sehr fein abgestuft werden kann (Fig. 125). Aus der Formveränderung der einzelnen Wimper beim Ausführen des Schlages geht hervor, daß in der progressiven Phase des Schlages, von der Basis der Wimper ausgehend, eine Kontraktion derjenigen Seite der Wimper stattfindet, nach welcher der Schlag ausgeführt wird; denn eine einfache Ueberlegung zeigt, daß sich diese Seite beim Schlage verkürzen muß, wenn sie in die extreme Schwinglage über- geht. Gleichzeitig wird dadurch die gegenüberliegende Seite passiv mit hinübergezogen, wobei sie nach einfachen mechanischen Prinzipien A B A B IR JET Fig. 125. Bewegung einer einzelnen Wimper eines eiliaten Infusoriums (Urostyla grandis, Randwimper) von zwei verschiedenen Ruhestellungen aus, /u. 1/. A Progressive, B regressive Phase der Bewegung in mehrere aufeinander- folgende Momente zerlegt. Die Pfeilspitze gibt die Richtung an, nach welcher der Infusorienkörper dureh den Schlag vorwärts getrieben wird. gedehnt werden muß. In der regressiven Phase des Schlages erschlafft die kontrahierte Seite wieder, und in dem Maße, wie sie erschlaftt, biegt sich die Wimper infolge der Elastizität der gedehnten Seite wieder in die Ruhelage zurück. Die progressive Phase ist also die Kontraktionsphase, die regressive die Expan- sionsphase des einzelnen Wimperschlages. Durch rhyth- mischen Wechsel zwischen beiden kommt das Spiel der Wimperbewegung zustande. Nicht alle Formen der Flimmerhaare schlagen aber wie die Haare der Ctenophoren-Schwimmplättchen in einer Ebene. Manche Wimpern, besonders gewisse Geißelfäden, beschreiben kompliziertere, trichter- förmige, schraubenförmige, peitschenförmige Bahnen, und die älteren Physiologen haben danach mehrere Formen der Flimmerbewegung unterschieden. Allein, wie auch immer die Schwingbahn der ver- schiedenen Flimmerhaare beschaffen sein mag, allen liegt dasselbe Prinzip zugrunde, daß eine kontraktile Seite sich vom Zellkörper aus kontrahiert und dabei die gegenüber- liegende Seite dehnt, welche letztere in der Expan- sionsphase die Wimper durch ihre Elastizität wieder 296 Drittes Kapitel. in die Ruhelage zurückführt. Je nach der gegenseitigen Lagerung der kontraktilen zu der passiv gedehnten Substanz resultiert daraus eine Schlagbewegung in einer Ebene oder in Komplizierterer Form. Die Arbeitsleistung der Flimmerbewegung steht in ihren Werten weit hinter derjenigen der Muskelbewegung zurück. ENGELMANN, BowDItcH u. a. haben die Arbeitsleistung von Flimmerepithelien be- rechnet, und in neuerer Zeit hat JENSEN!) sogar die Arbeit einer ein- zigen Infusorienflimmerzelle, und zwar des für die verschiedensten Untersuchungen so sehr geeigneten Paramaeciums, gemessen. Da- bei hat sich herausgestellt, daß ein Paramaecium, das eine Länge von etwa 0,25 mm besitzt, ein Gewicht von 0,00158 mg eben noch zu heben imstande ist, d. h. etwa das Neunfache seines eigenen Körpergewichts. * * * Man hat bisweilen die Ansicht ausgesprochen, die amöboide Be- wegung hätte nichts mit der Muskelbewegung, und diese nichts mit der Flimmerbewegung gemein, alle drei seien ganz verschiedene Be- wegungsformen. Unser kurzer Ueberblick wird uns demgegenüber schon zur Genüge davon überzeugt haben, daß diese drei Formen der Kontraktionsbewegung allen anderen Bewegungsmodis gegenüber eine einheitliche Gruppe bilden. Es ist wahr, daß sie gewisse Ver- schiedenheiten untereinander zeigen, daß sie sogar beim ersten An- blick recht verschieden voneinander erscheinen; aber wir haben ge- sehen, daß sie doch alle auf dem gleichen Prinzip beruhen, auf dem Prinzip der abwechselnden Oberflächenverringerung (Kontraktion) und Oberflächenvergrößerung (Expansion) durch Umlagerung von Teilchen der lebendigen Sub- stanz selbst. Daß diese Verschiebung der Teilchen bei der amö- boiden Bewegung eine ganz regellose, bei der Muskel- und Flimmer- bewegung eine streng geordnete ist, beweist nur, daß die beiden letzteren eine höhere Stufe der Differenzierung repräsentieren als die erstere. Daß sie aber im engsten genetischen Zusammenhang mit der amöboiden Bewegung stehen, daß sie phylogenetisch sich aus ihr entwickelt haben, beweisen zahlreiche Fälle von Uebergängen zwischen amöboider und Muskelbewegung einerseits und amöboider und Wimper- bewegung anderseits. Einerseits hat ENGELMANN?) Rhizopoden ge- funden (Acanthocystis) mit fadenförmigen, geraden, unver- zweigten Pseudopodien, die sieh blitzschnell in ihrer Längsrichtung zu kontrahieren vermögen, von denen eine glatte Muskelfaser nur durch ihre dauernde Differenzierung unterschieden ist, so daß ENGELMANN diese Pseudopodien zweckmäßig als „Myopodien“ bezeichnet hat: anderseits hat man mehrfach Fälle beobachtet, in denen fadenförmige Pseudopodien amöboider Zellen pendelartige Schwingungen ausführten, anfangs unregelmäßig und langsam, später rhythmisch, bis sie sich zu wirklichen, dauernden Wimpern entwickelt hatten. Wenn nicht schon eine sorgfältige Beobachtung der einzelnen Momente bei den 1) P. JENSEN: „Die absolute Kraft einer Flimmerzelle“. In PFLÜGERs Arch. f. d. ges. Physiologie, Bd. 54, 1893. 2) ENGELMANN: „Ueber den faserigen Bau der kontraktilen Substanzen, mit besonderer Berücksichtigung der glatten und doppelt schräggestreiften Muskelfasern“. In PFLÜGERs Arch. f. d. ges. Physiologie, Bd. 25, 1881. Von den elementaren Lebensäußerungen. 297 verschiedenen Kontraktionsbewegungen allein die Identität des ihnen zugrunde liegenden Prinzips und ihre Zusammengehörigkeit allen anderen Bewegungesmodis gegenüber deutlich genug bewiese, so be- dürfte es nach diesen letzteren Tatsachen keines weiteren Beweises mehr, um ihren genetischen Zusammenhang außer Zweifel zu setzen. Die Kontraktionsbewegungen der lebendigen Substanz folgen überall dem gleichen Prinzip. Mag die lebendige Substanz als Amöbe auf den faulenden Blättern einer Wasserpfütze umher- kriechen, mag sie sich als weißes Blutkörperchen durch die Saftlücken in den Geweben des tierischen Körpers zwängen, mag sie als Protoplasmanetz in der Zellulosekapsel einer P flanzenzelle zirkulieren, mag sie als Muskelfaser die Kontraktionen des un- ermüdlichen Menschenherzens vollführen, mag sie schließlich als Flimmerhaar im Eileiter des Weibes die unbefruchtete Eizelle in den Uterus hinabführen, um sie der Befruchtung preiszugeben, überall haben wir denselben Vorgang der abwechselnden Kon- traktion und Expansion der lebendigen Substanz durch gegenseitige Umlagerungihrer Teilchen. DDie Produktton vonkicht In den Bewegungen der lebendigen Substanz, vor allem in den Kontraktionsbewegungen, tritt am deutlichsten der Umsatz der in den Körper als Nahrung eingeführten potentiellen Energie in lebendige Energie hervor. Viel weniger in die Augen springend zeigt sich die- selbe Tatsache in der Produktion anderer Formen lebendiger Energie, in der Produktion von Licht, Wärme und Elektrizität, zu deren Nach- weis es sogar teilweise sehr komplizierter Methoden und empfindlicher Instrumente bedarf. Die Produktion vonLicht ist nächst der Produktion mecha- nischer Bewegungsenergie noch am sinnfälligsten und hat von jeher einen geheimnisvollen Zauber auf den Beobachter ausgeübt. Es hat in der Tat einen märchenhaften Reiz, wenn man an einem warmen Abend auf ruhigem Meere bei jedem Ruderschlag das Wasser auf- leuchten sieht in hellem, gelblichem Glanze, oder wenn man in einer lauen Frühlingsnacht die Landschaft des Südens erfüllt sieht von tausendfachen Funken, die lautlos aufblitzen und verschwinden und magische Kreise durch die milde Nachtluft ziehen. Das Leuchten der lebendigen Substanz ist im ganzen Organismen- reiche weit verbreitet. Vor allem ist es eine bedeutsame Tatsache, daß gerade die wunderbaren pelagischen Tiere, deren zarte, elashell durchsichtige Körper die oberen Schichten der Meere erfüllen und als „Plankton“ umhertreiben, fast sämtlich die Fähigkeit des Leuchtens besitzen. Es legt diese Tatsache die Vermutung nahe, daß die Leucht- fähigkeit der lebendigen Substanz möglicherweise viel weiter verbreitet ist, "als wir es wissen, daß wir das Licht nur nicht sehen, weil die Orsanismen nicht durchsichtig sind, oder weil die Lichtproduktion zu schwach ist, als daß sie durch diekere Körperschichten hindurch ge- sehen werden könnte; ja, es ist nicht unmöglich, daß im unserem eigenen Körper ewisse Zellen Licht produzieren. Im den meisten Fällen freilich, wie bei den leuchtenden Insekten, dürfte das Leucht- vermögen eine durch Selektion besonders ausgebildete Eigentümlich- keit sein, die ihre eigene Bedeutung für das Leben der betreffenden 9298 Drittes Kapitel. Tiere hat. Auch bei den pelagischen Seetieren ist eine solche Be- deutung jedenfalls vorhanden, besonders da sie meistens nur auf Reizung plötzlich aufleuchten, so daß man vermuten kann, daß das Leuchten als Schreckmittel gegen Feinde dienen mag. Spontanes Leuchten finden wir viel weniger verbreitet. Es tritt uns besonders entgegen bei gewissen Fäulnisbakterien, die auf faulen- den Seefischen und Fleisch leben (Bacterium phosphorescens), sowie bei Pilzen (Agaricus) und bei einzelnen Insekten (Elater, Lampyris etec.). Die wichtigste physikalische Eigentümlichkeit des Organismen- lichtes ist, daß es ein kaltes Licht ist. Die Lichtproduktion der Organismen gehört also in die Gruppe der Lumineszenzvorgänge, und zwar speziell der Öhemolumineszenz, wie sie bei gewissen chemischen Prozessen auftritt. Bezüglich der Spektralfarben des Lichtes liegen zahlreiche Unter- suchungen vor, so z. B. von PANCERI und SECCHI an Salpen (Pyrosoma), von MosELy an Tiefsee-Cölenteraten (Alcyo- narien), und in neuerer Zeit besonders von LANGLEY und VERY!) an dem Leuchtkäfer Pyrophorus noctilucus und von MorıscH ?) an Bak- terien. Um einen Vergleich des Insektenlichts mit dem Sonnen- licht zu gewinnen, entwarfen LANGLEY und VERY ein Spek- trum des Lichts von Pyro- phorus und ein Sonnenspek- trum übereinander (Fig. 127). Dabei stellte sich heraus, daß bei gleicher Helligkeit beider Fig. 126. Noctilu ca miliaris, eine ‚pela- Liehtarten das Sonnenspektrum gisch lebende een. welche auf Reizung sowohl weiter nach der violetten euchtet. f ; > te g wie nach der roten Seite hin- überreicht als das Licht des Pyrophorus, daß dagegen das Licht des Käfers im Grün intensiver ist als das Sonnenlicht. Gelb, Grün und Blau sind die vorwiegenden Farben des Lichts aller Leuchtorganismen. Daß die Entstehung einer so eigentümlichen Lebensäußerung die Aufmerksamkeit der Forscher besonders gefesselt hat, ist leicht begreif- lich, und es ist nicht zu verwundern, wenn eine unabsehbare Literatur über die Vorgänge des Leuchtens entstanden ist. PFLÜGER°) hat bereits vor längerer Zeit eine Reihe der physiologisch interessanteren An- gaben darüber zusammengestellt und PÜTTER*) hat kürzlich in einem 1) LAnGLEY and VERY: „On the cheapest form of light, from studies at the Allerhany Observatory“. In the American Journal of Science, 3!h Series, Vol. 40, 1890. 2) MoriscH: „Leuchtende Pflanzen. Eine physiologische Studie“. Jena, 1904. 5) PFLÜGER: „Ueber die physiologische Verbrennung in den lebendigen Orga- nismen“. In PFLÜGERSs Arch., Bd. 10, 1875. — Derselbe: „Ueber die Phosphoreszenz verwesender Organismen“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 11, 1875. Bi 4) PÜTTER: „Leuchtende Organismen“. In Zeitschr. f. allgemeine Physiologie, d. 5, 1905. Von den elementaren Lebensäußerungen. 299 Uebersichtsreferat die neueren Erfahrungen über die Lichtproduktion der Organismen zusammenfassend dargestellt. Diese Zusammen- stellungen zeigen, daß die verschiedensten Ansichten über die Ent- stehung des Leuchtens der Organismen aufretaucht sind. Vor allem hat der dem Laien sehr naheliegende Gedanke, daß das Leuchten auf der Anwesenheit von Phosphor beruhe, mit dessen mildem Licht das organische Leuchten eine gewisse äußere Aehnlichkeit besitzt, früher großen Anklang gefunden. Allein, genaue Untersuchungen haben doch gezeigt, daß das Leuchten der Organismen mit Phosphor schlechterdings in keiner Beziehung steht. In der Tat hat man denn auch nirgends an leuchtenden Tieren eine Spur von freiem Phosphor oder leuchtenden Phosphorverbindungen gefunden. Indessen können wir mit Sicherheit sagen, daß das Leuchten der lebendigen Substanz wie/,beim Phosphor an den Ablauf langsamer Oxydationsprozesse ge- 914 Fig. 127. I Spektrum vom Sonnenlicht, J/ Spektrum von Pyrophorus noctilucus. Nach LANGLEY und VERY. bunden ist. Das geht vor allem daraus hervor, daß das Leuchten nur bei Anwesenheit von Sauerstoff fortdauert, dagegen erlischt bei Sauerstoftentziehung, um erst wieder zum Vorschein zu kommen bei erneuter Sauerstoffzufuhr. Ferner hat FABRE!) eefunden, daß der leuchtende Pilz Agaricus während ‚des Leuchtens viel mehr Kohlen- säure produziert, als wenn er nicht leuchtet. Sodann gehört hierher, was MAx SCHULTZE?) an den Zellen der Leuchtorgane von Leucht- käfern beobachtete, nämlich, daß diese Leuchtzellen immer mit den als Atemröhren dienenden „Tracheen“ in engster Berührung stehen, und wenn man sie unter dem Mikroskop mit Ueberosmiumsäure zu- sammenbringt, der letzteren Sauerstoff entziehen, eine Tatsache, die an der Entstehung eines schwarzen Niederschlages zu erkennen ist. Die leuchtenden Zellen verbrauchen also energisch Sauerstoff. Am stärksten schließlich zeigen .die Abhängigkeit des Leuchtens von der Sauerstoffzufuhr die Leuchtbakterien, die besonders auf faulem Fleisch und faulen Seefischen in großer Formenzahl gedeihen. Legt man eine Bouillonkultur von Leuchtbakterien an, was nach den Methoden, die MoLIscH (]. ec.) beschreibt, sehr leicht ist, und füllt man mit der leuchtenden Bouillon ein Reagenzglas, das man umgekehrt über 1) FABRE: In Compt. rend., T. 41, p. 1245. 2) MAx SCHULTZE: „Zur Kenntnis der Leuchtorgane von Lampyris splendi- dula“. In Arch. f. mikr. Anatomie, Bd. 1. 300 Drittes Kapitel. Quecksilber aufstellt, so hört nach einiger Zeit das Leuchten allmäh- lich auf. Läßt man dann aber von unten her ein paar Luftblasen in das Reagenzglas hineinsteigen, so beginnt sofort das Leuchten von neuem und zwar ist es, wie man leicht feststellen kann, allein der Sauerstoff, der das Leuchten von neuem anregt. Das geht z. B. auch recht schön aus den Versuchen von BEIWERINCK!) hervor, der in eine Bouillonkultur von Leuchtbakterien chlorophyllhaltige Pflanzen- zellen brachte. War das Leuchten im Dunklen allmählich in der Kultur erloschen, so genügte das Anstecken eines Streichholzes, um durch die Lichtwirkung auf das Chlorophyll wieder so viel Sauerstoff frei zu machen, daß das Leuchten der Bakterienkultur sofort wieder für einige Zeit zurückkehrte. Alles das und manches andere weist darauf hin, daß es sich bei den organischen Lumineszenzvorgängen um Oxydationsprozesse handelt. Es lag daher sehr nahe, die Lumineszenz mit der Atmung in nähere Beziehung zu setzen und sie direkt als ein Nebenprodukt dieses Vor- gangs zu betrachten. Das hat PFLÜGER auch getan. Er hat sich dabei vorgestellt, daß, wie die Atmung so auch das Leuchten der Organismen untrennbar mit ihrem Lebensprozeß verbunden sei und daher nur an der lebendigen Zelle stattfinden Könne. PFLÜGER sagt! „Hier in dem wunderbaren Schauspiel der tierischen Phosphoreszenz hat die Natur uns ein Beispiel gegeben, welches zeigt, wo die Fackel brennt, die wir Leben nennen.“ „Es ist gewiß kein seltener Aus- nahmefall, sondern nur die speziellere Aeußerung des allgemeinen Gesetzes, daß alle Zellen fortwährend im Brande stehen, wenn wir das Licht auch nicht mit unserem leiblichen Auge sehen.“ Indessen diese Vorstellung ist doch auf Grund neuerer Erfahrungen stark angezweifelt worden. Wenn auch die Lumineszenzvorgänge wohl allgemein Oxydationsprozesse sind, so fragt es sich doch, ob wir sie ohne weiteres mit den Atmungsvorgängen identifizieren dürfen, denn es ist in vielen Fällen von Lumineszenz der Nachweis geführt worden, daß sie sich extrazellulär an Sekreten der Leuchtorgane ab- spielen. Ist es auch nicht zu bestreiten, daß in zahlreichen Fällen das Leuchten intrazellulär erfolgt, so ist es ebenso sicher, daß in zahlreichen anderen Fällen die Leuchtorgane Drüsen sind, deren Zellen Stoffe absondern, die erst außerhalb der Zelle mit Sauerstoff sich verbinden und Licht produzieren, so daß man sie isoliert vom Organismus noch längere Zeit leuchtend erhalten kann. Dabei handelt es sich nicht etwa um ein Leuchten des Sekretes, das durch Leucht- bakterien vorgetäuscht sein könnte, denn man hat für einzelne Fälle mit Sicherheit die Anwesenheit von Leuchtbakterien ausschließen können. Es handelt sich vielmehr um die Lumineszenz von echten Sekreten. MoLiscH (l. e.), der sich in neuerer Zeit am eingehendsten mit den Vorgängen der organischen Lumineszenz beschäftigt hat, ist infolge- dessen im Gegensatz zu den Vorstellungen, die in der Lumineszenz einen spezifisch „vitalen“ Prozeß erblicken, zu der Auffassung ge- kommen, daß von der lebendigen Substanz in ihrem Stoffwechsel be- stimmte chemische Verbindungen, die er als „Photogene“ bezeichnet, cebildet werden, die nun, sei es innerhalb, sei es außerhalb der Zelle, sich mit Sauerstoff verbinden und dabei Licht produzieren. 1) BEIJERINCK: „Les baeteries lumineuses dans leur rapports avec l’oxygene“. Archives N6erlandaises, T. 23, 1890. Von den elementaren Lebensäußerungen. 301 Für eine kritische Betrachtung ist jedoch der Gegensatz zwischen diesen beiden Anschauungen nicht so groß, wie er auf den ersten Blick scheint. Mit dem Leben der Zelle ist der Chemismus der Lumineszenz auf alle Fälle in dem Sinne verbunden, als die Zelle in ihrem Stoffwechsel erst die Verbindungen produzieren muß, die nach- her durch Oxydation lumineszieren. Ob diese Verbindungen von der Zelle sezerniert werden und außerhalb der Zelle bei Oxydation leuchten, oder ob der Vorgang innerhalb der Zelle abläuft, hat keinerlei prinzi- pielle Bedeutung. Ein Teilvorgang des Stoffwechsels, der sich aus dem Gesamtstoftwechsel isolieren und im Reagenzglase darstellen läßt, ist darum nicht weniger eine Lebensäußerung. Hoffen wir ja doch im Laufe der Zeit so weit zu kommen, daß wir alle Teilprozesse des ganzen Lebensvorganges erkennen und im Reagenzglase darstellen können. Würden wir von jedem dieser Teilprozesse, sobald er außer- halb der lebendigen Zelle dargestellt werden könnte, sagen: er ist kein Lebensprozeß, so würde schließlich unsere Erforschung des Lebens nach vollständiger Analyse aller Teilprozesse des Stoffwechsels mit der absurden Erkenntnis endigen, daß es überhaupt gar kein Leben in Wirklichkeit gäbe. Es ist also ein müßiger Streit, ob man die Lumineszenzvorgänge als „vitale“ oder nicht als „vitale“ Prozesse auf- fassen soll. Lebensäußerungen sind sie auf jeden Fall. Anders liegt die Frage, ob man sie mit den Atmungsvorgängen ohne weiteres identifizieren darf, und in dieser Beziehung erweckt die Tatsache, daß die „Photogene“ bei vielen Organismen erst außer- halb der Zelle oxydiert werden, sicherlich Bedenken. Auf keinen Fall können wir mit Rücksicht auf diese Tatsache annehmen, daß der Lumineszenzvorgang mit dem normalen Atmungsvorgang identisch ist. Das schließt aber nicht aus, daß er genetisch und seiner Art nach mit der Atmung in engerer Beziehung steht. Wer sagt uns, daß der Atmungsvorgang immer nur in der Oxydation einer einzigen Ver- bindung besteht? Es wäre ja auch denkbar, daß im Stoffwechsel mancher Zellformen verschiedenartige Verbindungen gebildet werden, die der Atmung unterliegen und daß die Oxydation einer derselben mit Lumineszenz verknüpft ist. In diesem Falle wäre es ganz neben- sächlich, ob dieser etwa durch Selektion gezüchtete Partialprozeß der Atmung sich innerhalb oder außerhalb der Zelle abspielte. Jedenfalls liegen durchaus keine Tatsachen vor, die der Möglichkeit, den Lumineszenzvorgang als einen besonders gezüchteten Teilvorgang der Atmung aufzufassen, im Wege ständen. Aber das alles sind Speku- lationen, die uns in der Analyse der Lumineszenz nicht weiterführen. Wenn wir in diesen Vorgang tiefer eindringen wollen, so treten uns vor allem zwei Fragen entgegen: erstens was sind diese „Photogene“ für Verbindungen ? und zweitens: wie erfolgt ihre Oxydation? Zwar sind wir noch nicht imstande, diese beiden Fragen vollkommen sicher zu beantworten, aber eine Reihe von Tatsachen zeigt uns doch den Weg, auf dem wir ihre Beantwortung suchen müssen. Ueber die Frage, welche Stoffe etwa als „Photogene“ bei der organischen Lumineszenz in Betracht kommen könnten, haben am meisten die schönen Untersuchungen von RADZISZEWSKI!) Licht ver- breitet. RADZISZEWSKI hat eingehend die Bedingungen studiert, unter 1) RADZISzEWSKI: „Ueber die Phosphoreszenz der organischen und organisierten Körper“. In LieBıGs -Annalen der Chemie, Bd. 203, 1880. 302 Drittes Kapitel. denen chemische Stoffe Lumineszenz zeigen und hat gefunden, daß eine ganze Reihe von organischen Körpern leuchtet, wenn sie sich in alkalischer Lösung mit aktivem Sauer- stoff langsam verbinden. Solche Körper sind vor allem viele Fette, ätherische Oele, Kohlenwasserstoffe und Alkohole. Bei vielen tritt das Leuchten schon unter gewöhnlicher Temperatur, bei anderen erst beim Erwärmen ein. Setzt man z. B. in einem Reagenzglase Oelsäure zu einer alkoholischen Lösung von Kalihydrat, so bemerkt man im Dunkeln ein kurzdauerndes Leuchten beim Auflösen. Läßt man, nachdem das Leuchten aufgehört hat, einen Tropfen Wasser- stoffsuperoxydlösung in die Flüssigkeit fallen, so sieht man mit dem . zu Boden sinkenden Tropfen einen hellen Lichtstreifen durch das Reagenzglas ziehen, weil das Wasserstoffsuperoxyd aktiven Sauerstoff an die Oelsäure abgibt. Noch deutlicher zeigt sich dasselbe Phänomen des Leuchtens, wenn man die Oelsäure in reinem Toluol auflöst, das ebenfalls ein phosphoreszenzfähiger Körper ist, und dann damit ein Stück Kali- oder Natronhydrat übergießt. Die Intensität des Leuchtens kann stets durch Umschütteln gesteigert werden, weil durch das Schütteln die freien Sauerstoffatome mit den Molekülen des phos- phoreszenzfähigen Körpers noch mehr in Berührung gebracht werden. Tut man z. B. in einen Glaskolben eine aus gleichen Teilen bestehende Mischung von reinem Toluol und Lebertran, welch letzterer außer Oelsäure auch stets freie Sauerstoffatome einschließt, wirft man in die Mischung einige Stücke Kali- oder Natronhydrat, und erwärmt man das Ganze gelinde, so sieht man zunächst im Dunkeln kein Leuchten. Schüttelt man aber den Inhalt des Kolbens nur leicht um, so erblickt man „sofort ein schönes, wie ein Blitzstrahl die ganze Masse durch- laufendes Licht“. Es ist im höchsten Grade wahrscheinlich, daß es sich beim Leuchten der lebendigen Substanz um analoge Prozesse handelt. Fette und Oele etc. haben wir ja weit verbreitet in der lebendigen Substanz, und PAncERI gibt von gewissen leuchtenden See- fischen direkt an, daß das flüchtige Fett der leuchtende Körper sei. Stoffe, die eine alkalische Reaktion geben, sind ebenfalls überall in der lebendigen Substanz zu finden, und da wir schließlich wissen, daß das Leuchten der Organismen an Oxydationsprozesse geknüpft ist, so würde nur noch die Frage übrig bleiben, wie die Oxydation dieser Stoffe bei der organischen Lumineszenz erfofst. Hier scheint zunächst eine Schwierigkeit vorzuliegen. In den Experimenten von RADZISZEWSKI war es aktiver Sauerstoff, der die langsame Oxydation besorgt. Aktiver Sauerstoff ist aber in der lebendigen Substanz nicht vorhanden und ebensowenig in den Sekreten, die extrazellulär leuchten. Indessen wir wissen seit mehreren Jahren bereits, daß die lebendige Substanz Enzyme besitzt, die Sauerstoff übertragen und die chemische Verbindungen zu oxydieren vermögen, welche an sich niemals mit dem Sauerstoff der Luft sich oxydieren würden. Diese Sauerstoffüber- träger sind die sogenannten Oxydasen (vgl. p. 186), von denen wir im Laufe der letzten Jahre eine große Zahl kennen gelernt haben, die weite Verbreitung im Tier- wie im Pflanzenreiche besitzen. Auch den Atmungsprozeß selbst wird man sich möglicherweise nach dem Prinzip der Wirkungen solcher Oxydationsenzyme erfolgend denken müssen. Damit aber wären für die organische Lumineszenz prinzipiell die gleichen Bedingungen gegeben wie in den Experimenten von RAD- ZISZEWSKI und wir dürfen mit großer Wahrscheinlichkeit heute an- Von den elementaren Lebensäußerungen. 303 nehmen, daß es sich beim Leuchten der Tiere und Pflanzen prinzipiell um die gleichen Vorgänge handelt wie dort. 3. Die Produktion von Wärme. Die Produktion von Wärme ist schon weit weniger sinnfällig als die Lichtproduktion. Während wir die Lichtproduktion bereits an der einzelnen Zelle mit Leichtigkeit beobachten können, ist die Wärme- produktion der einzelnen Zelle wegen der geringen Größe des Objekts mit unseren rohen Instrumenten der Temperaturmessung überhaupt nicht meßbar. Umd dennoch müssen wir annehmen, daß im Innern einer jeden Zelle Wärme produziert wird, denn in jeder lebendigen Zelle spielen sich Oxydationsprozesse ab, die mit Produktion von lebendiger Energie verlaufen, und die Wärme ist gerade diejenige Form der lebendigen Energie, die bei allen derartigen Prozessen ausnahmslos, sei es allein, seiesneben anderen Energieformen, resultiert. Ja, wir haben sogar guten Grund, mit PFLÜGER anzunehmen, daß in einzelnen Molekülen der lebendigen Substanz, z. B. bei der Ent- stehung des Kohlensäuremolekäüls, blitzartig Temperaturen von mehreren tausend Grad Celsius entwickelt werden, da beispielsweise die Ver- brennungswärme von 1 g Kohlenstoff 8,05 Kilogrammkalorien beträgt. Indessen, die Größe eines Kohlensäuremoleküls ist verschwindend klein in der Zelle, und das Molekül ist umgeben von einer ungeheuren Zahl von anderen Molekülen, die eine sehr niedrige Temperatur be- sitzen. Die plötzlich aufblitzende Wärme gleicht sich daher ebenso schnell aus, wie sie entsteht, und da die wärmebildenden Moleküle nicht alle gleichzeitig entstehen, sondern bald hier, bald dort zwischen der großen Masse anderer Moleküle auftauchen, so liegt es auf der Hand, daß die aus dem Ausgleich aller verschiedenen Einzeltemperaturen resultierende Gesamttemperatur der Zelle keine sonderliche Höhe erreichen kann. Dazu kommt, daß wir mit unseren rohen Methoden der Wärmemessung noch nicht einmal die wirkliche, nach außen ab- gegebene Wärme einer einzelnen Zelle messen können, da der größere Teil durch Leitung und Strahlung dabei verloren geht. Es ist daher notwendig, für die Feststellung der Wärmeproduktion nicht die ein- zelne Zelle, sondern größere Zellenkomplexe zu benutzen, wie sie umfangreiche Gewebemassen oder ganze Organismen bieten. Am deutlichsten macht sich die Produktion von Wärme bemerk- bar am Körper der „homoiothermen“ Tiere, der sogenannten Warm- blüter. Wir haben schon gesehen, daß man in neuerer Zeit die alt- hergebrachte Einteilung der Tiere in Warmblüter und Kaltblüter zweckmäßig ersetzt hat durch die Einteilung in „homoiotherme* und „poikilotherme“ Tiere, d. h. in solche, die unter allen äußeren Bedingungen immer die gleiche Körpertemperatur behalten, und solche, deren Körpertemperatur mit der Temperatur der Umgebung steiet und sinkt. Die homoiothermen Tiere zeigen am deutlichsten die Wärmeproduktion des Körpers, weil sie Vorrichtungen haben, die Wärme bis zu einer ganz bestimmten Höhe in sich aufzuspeichern und durch äußerst feine Regulierung auf dieser Höhe zu erhalten. Daher ist der Körper der homoiothermen Tiere bei nicht zu hoher Außentemperatur stets wärmer als das umgebende Medium. Das läßt sich einfach auf dem Wege thermometrischer Messung feststellen. So besitzt der Körper des Menschen in seinem Innern dauernd eine 304 Drittes Kapitel. Temperatur von 37 bis 39°C, an seiner Oberfläche entsprechend der äußeren Abkühlung etwas weniger, in der Mundhöhle etwa 37, in der Achselhöhle ungefähr 36,5° ©. Die höchste Körpertemperatur haben die Vögel mit ihrem lebhaften Stoffwechsel, z. B. die Schwalbe bis 44°C. Daß aber auch die poikilothermen Tiere, wenn sie unter Be- dineungen sich befinden, unter denen die von ihnen produzierte Wärme aufgespeichert und nicht durch Leitung oder Strahlung an das Medium abgegeben wird, bedeutende Temperaturen erzielen können, geht aus der Tatsache hervor, daß Bienen in ihrem Bienenkorbe Temperaturen von 30 bis 40° erzeugen. Ja, selbst Pflanzen können, vor allem beim Keimen und bei energeischem Wachstum, also wenn die Stoffwechselprozesse sich besonders leb- haft abspielen, ihre Temperatur thermometrisch erkennbar über die Temperatur der Umgebung erhöhen. So konnte z.B. SacHs an Erbsen, die er auf einem Trichter unter einer Glas- elocke (Fig. 128) keimen ließ, mit dem Thermometer eine Temperaturerhöhung von 1,5°C feststellen. Ganz außerordentliche Werte aber sind an den Blütenkolben der eigentüm- lichen Aroid&en während ihrer rapiden Ent- wicklung beobachtet worden. Hier fand man nicht selten Temperatursteigerungen von 15°C. Auch bei der Vergärung von Zuckerlösungen wird durch die Hefezellen eine Temperatur- steigerung der Zuckerlösung erzeugt, die unter günstigen Bedingungen mehr als 14° C betragen kann. Um indessen feinere Temperatur- veränderungen festzustellen, besonders an den Geweben der poikilothermen Tiere, reicht die rohe Methode der Temperatur- Fig. 128. Vorrichtung messung mit dem Thermometer nicht aus, und zum Nachweis der man hat sich daher der feineren Methode der Temperaturerhöhung : n beim Keimen von Erb. thermoelektrischen Temperaturmessung be- sen. Unter einer Glaseloeeke dient. Bekanntlich wird in einem thermo- befindet sich ein Trichter elektrischen Element, das aus zwei ver- mit keimenden Erbsen, in schiedenen, an einem Ende miteinander ver- die ein Thermometerrohr hin- = 4 e : ae Da ice. löteten Metallstücken (am besten Neusilber und Eisen oder Antimon und Wismut) besteht, durch die geringste Erwärmung der Löt- stelle eine elektrische Spannung erzeugt. Verbindet man daher die beiden freien Enden der Metalle durch einen Draht, so daß ein geschlossener Kreis entsteht, so kann man von ihnen einen elektrischen Strom ableiten, dessen Vorhandensein durch die Ablenkung einer in seiner Nähe befindlichen Magnetnadel angezeigt wird. Für den Nachweis ganz schwacher elektrischer Ströme dienen besonders empfindliche Apparate, der „Multiplikator“ und das „Galvanometer“, deren Magnete schon bei den feinsten Strömen einen Ausschlag geben. Der Multiplikator besteht aus einem leicht beweglich aufgehängten „astatischen Nadelpaar“, d. h. zwei horizontalen Magnetnadeln, die beide parallel übereinander so befestigt sind, daß der Nordpol der einen über dem Südpol der anderen liegt. In der Nähe der unteren Von den elementaren Lebensäußerungen. 305 Magnetnadel ist der Draht des Stromkreises zu einer Rolle von außer- ordentlich vielen Touren aufgewickelt, so daß, wenn ein Strom hin- durchgeht, jede einzelne Windung in gleichem Sinne ablenkend auf die Magnetnadel wirkt. Die obere Magnetnadel befindet sich über einer in Grade eingeteilten Scheibe, so daß man hier die Ablenkung der Magnetnadel messen kann (Fig. 129). Beim Galvanometer (Fig. 130 u. 131) hat der Magnet die Form eines Ringes, der an einem Kokonfaden in dem Hohlraum der windungsreichen Drahtrolle auf- gehängt ist, und an dem Ringe ist ein kleiner Spiegel befestigt, der alle Bewegungen des Ringes mitmacht (Fig. 130 u. 131). In einiger Entfernung von dem Apparat steht ein Fernrohr, an dem sich eine Skala befindet, deren Spiegelbild man bei genauer Einstellung durch das Fernrohr im Spiegel des Galvanometers beobachtet (Fig. 1317). Die geringste Ablenkung des Magnet- ringes zeigt sich daher im Fernrohr durch eine Verschiebung des Spiegel- bildes der Skala an. Nach dem Umfang dieser Verschiebung kann man die Stärke des elektrischen Stromes und danach empirisch die Größe der Erwärmung des thermoelektrischen Elements, oder besser Fig. 129. Schema eines Multiplikators. An einem Kokonfaden @ hängt das astatische Nadelpaar mit den Nordpolen N und N,. Um die untere Nadel sind die Draht- windungen W herumgeleitet, die obere Nadel bewegt sich über einer graduierten Scheibe. Nach LANnDoıs. einer ganzen Säule von thermoelektrischen Elementen berechnen und so die feinsten Temperaturveränderungen feststellen, die ein leben- diges Gewebe erfährt. Bei derartigen Untersuchungen ‘hat sich herausgestellt, daß bei stärkerer Tätigkeit der Zellen eines Gewebes, etwa einer Drüse oder eines Muskels, auch eine höhere Temperatur erzeugt wird als bei ge- ringerer Tätigkeit oder in der Ruhe. Das ist ein Ergebnis, das mit unseren Auffassungen von der Wärmeproduktion im besten Einklang steht, denn die stärkere Tätigkeit der Zellen beruht auf einem stärkeren Stoffwechsel in ihnen, und die Wärme ist eine Energieform, die aus den chemischen Umsetzungen in der Zelle resultiert. Uebrigens Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 20 306 Drittes Kapitel. ist es eine alte Erfahrung, daß man sich durch angestrengte Muskel- tätigkeit in ergiebigster Weise erwärmen kann. Alle Temperaturmessungen, sei es mit dem Thermometer, sei es mit thermoälektrischen Methoden, dienen indessen nur dazu, die Höhe der Temperatur, die an irgendeiner Stelle des Organismus zu irgend einer Zeit herrscht, festzustellen. Sie geben keinen Aufschluß über die Wärmemenge, die der Organismus oder das einzelne Gewebe produziert. Allein auch diese Wärmemenge hat man festzustellen gewußt, indem man die Anzahl der Wärmeeinheiten oder „Kalorien“ untersuchte. die ein lebendiger Körper in einer bestimmten Zeit nach außen abgibt. So entstand neben der „Thermometrie“ die „Ka- lorimetrie“. Wie bereits erwähnt, ist eine Kilogrammkalorie die- jenige Wärmemenge, welche not- wendig ist, um 1 kg Wasser von 0° C auf 1° C zu erwärmen. Um daher die Anzahl der Kalo- rien zu messen, die ein lebendiger Körper, etwa ein Tier, in einer bestimmten Zeit produziert, hat man ein Wasserkalorimeter konstruiert, das aus einem rings- herum verschließbaren Kasten mit doppelter Wandung besteht. Der Raum zwischen den beiden Wänden wird mit Wasser gefüllt, in den Kasten selbst kommt das Tier hinein, und das Ganze wird durch einen nicht wärmeleitenden Mantel vor Abkühlung oder Er- wärmung von außen her geschützt. Die Wärme, welche das Tier pro- duziert, teilt sich dem Wasser mit Fig. 130. Schema eines Spiegel- und erhöht die Temperatur des- galvanometers (die Drahtrollen sind fort- selben, die man an einem Thermo- gelassen). In der Mitte befindet sich in der meter, das im Wasser steckt, ab- Oeffnung eines runden Kupfergehäuses der jagen kann. Verschiedene Ein- Magnetring pendelnd an einem Kokonfaden i von einer (oben abgeschnitten gezeichneten) richtungen dienen noch dazu, hohen Glasröhre herabhängend. In fester die Fehlerquellen, die auf et- nn Seen en waigem Verlust von Wärme be- gQ S X adens 1 a N 1 1 as 7 ee der = Be ruhen, möglichst einzuschränken. des Magnetrings mitmacht. Nach Cyon. So kann man aus der Menge des Wassers und der Erwärmung des- selben in einer bestimmten Zeit die Wärmeproduktion des Tieres annähernd genau feststellen. In neuerer Zeit ist für physiologische Zwecke das Wasserkalorimeter mehr durch das Luftkalorimeter verdrängt worden, bei dem der Käfig, in den das Versuchstier sich befindet, "umgeben ist von einem ge- schlossenen Luftmantel, dessen Luft durch die vom Tiere abgegebene Wärme ausgedehnt wird, so daß .nach vorheriger Aichung des Appa- rates aus dem Grade ihrer Ausdehnung die Menge der produzierten Wärme sich leicht berechnen läßt. Teils mit der einen, teils mit der anderen Methode haben DULONG, DESPREZ, HELMHOLTZ, ROSENTHAL, RUBNER und KrREHL die vom tierischen Körper produzierte Wärmemenge ——— - == ne mr Von den elementaren Lebensäußerungen. 307 festgestellt. Da die sämtliche tierische Wärme aus der in den Körper eingeführten chemischen Energie der Nahrung stammt, und da alle Energie des Körpers unter den im kalorimetrischen Versuch ge- gebenen Bedingungen in letzter Instanz in Wärme umgesetzt wird, so muß die in Kalorien ausgedrückte Menge der chemischen Energie, die in den Körper durch die Nahrung eingeführt wird, nach dem Fig. 131. 7 Versuchsanordnung für eine thermoelektrische Messung. «a, f Thermo- elektrische Nadeln, die einerseits durch den Draht b, andererseits durch den Draht d, miteinander verbunden sind, welcher letztere um den Magnetring m mit dem Nordpol n in Windungen herumgeht. Der Magnetring m ist an einem Kokonfaden c aufgehängt und fest mit einem Spiegel s verbunden. Vor dem Magnetring befindet sich ein Magnetstab M mit dem Nord- pol N in einer solehen Entfernung, daß der Magnetring sich eben gerade noch nach Norden einstellen kann. Daher genügt eine außerordentlich geringe Strom- intensitä, um ihn aus seiner Lage ab- zulenken. Vor dem Galvanometer befindet sich ein Fernrohr F mit einer Skala KK, deren Spiegelbild der Beobachter B in dem Spiegel $S des Galvanometers be- obachten kann, so daß er jede Bewegung des Spiegels resp. des Magnetrings an der Verschiebung des Spiegelbildes der Skala wahrnimmt. ZZ und /II Verschiedene Formen thermoelektrischer Nadeln. a Neu- silber, f Eisen. Nach LANDolıs. Gesetz von der Erhaltung der Energie gleich sein der Menge der vom Körper nach außen abgegebenen Wärme. In der Tat hat sich auch dieses Resultat aus den Versuchen mit aller nur erreichbaren Genauigkeit ergeben, und damit ist die Gültigkeit des Gesetzes von der Erhaltung der Energie auch für den lebendigen Körper noch ex- perimentell erhärtet. 4. Die Produktion vonemlektrizität. Die Produktion von Elektrizität ist bisher nur in einem Falle an der einzelnen Zelle nachgewiesen worden, und zwar an den großen Pflanzenzellen der Algengattung Chara. Im allgemeinen sind selbst unsere feinsten Apparate zu roh, um sie auf die winzige Zelle anzu- wenden. Es bedarf also auch hier größerer Zellenkomplexe zur Unter- suchung. Die Fälle aber, in denen man an solchen die Elektrizitäts- produktion ohne besondere Hilfsmittel wahrnehmen kann, sind noch 20* 308 Drittes Kapitel. viel geringer an Zahl als die Fälle der direkt wahrnehmbaren Wärme- produktion, die ja alle homoiothermen Tiere zeigen. Die Produktion von Elektrizität ist ausschließlich da ohne weiteres zu beobachten, wo sie im großen Maßstabe erfolgt, d. h. nur bei den elektrischen Fischen, deren heftige Schläge denn auch bereits den Alten bekannt waren. Im übrigen ist die Geschichte der tierischen Elektrizitäts- lehre eng mit der Entdeckung des Galvanismus verbunden und knüpft sich an die Namen GALvAnı und VoLTA selbst. Gewiß ist es ein merkwürdiger Zufall, daß die Entdeckung der physikalischen Fig. 132. DuLoxgs Wasserkalorimeter. Kasten mit doppelter Wand. In dem breiten Raume zwischen beiden Wänden befindet sich Wasser, durch das in Schlangen- windungen ein Rohr nach dem Innern des Kastens läuft, um von außen her bei D dem Tiere, das sich im Kasten befindet, Luft zuzufübren und die verbrauchte Luft durch D' wieder abzuführen. Bei 7 und 7’ befinden sich Thermometer. Nach ROSENTHAL. Tatsache des Galvanismus von physiologischen Beobachtungen ausgegangen ist. Es war an einem Septemberabend des Jahres 1786, als in der altertümlichen Universitätsstadt Bologna ALOISIO GALVANI auf der Terrasse seines Hauses Untersuchungen über den Einfluß der atmo- sphärischen Elektrizität auf abgehäutete Froschschenkel anstellte, wie er sie schon mehrere Jahre früher in Gemeinschaft mit seiner früh- verstorbenen Gattin LucıA ausgeführt hatte. Er zog dabei durch die noch mit den Nerven zusammenhängende Wirbelsäule eines Frosches einen kupfernen Haken. Da, als er dieses Präparat auf das eiserne Geländer der Terrasse legte, bemerkte er zu seinem Erstaunen, daß jedesmal, wenn der Haken das Geländer berührte, die darauf liegenden Froschschenkel heftige Zuckungen ausführten. Diese einfache Beob- achtung sollte der Ausgangspunkt für die Entdeckung der Berührungs- elektrizität werden, deren unabsehbare Tragweite in kultureller Be- ziehung erst unsere Zeit würdigen lernen durfte. ALESSANDRO VOLTA fand nämlich die Erklärung dieser Beobachtung, indem er feststellte, daß bei der Berührung von zwei verschiedenen Metallen mit einem Von den elementaren Lebensäußerungen. 309 feuchten Leiter eine elektrische Spannung entsteht, die sich in Form eines elektrischen Stromes ausgleicht, sobald die Metalle miteinander verbunden werden. Die Nerven und Muskeln des Frosches bildeten bei GALVANIS Anordnung diese feuchte Leitung zwischen dem Kupfer- haken und dem Eisengeländer. So ging der Strom durch die Nerven und reizte sie, daß die Muskeln zuckten. Leider kämpfte GALVANI gegen diese richtige Deutung VOLTAS selbst an, da er sich vorstellte, daß die Zuckung der Froschschenkel durch Elektrizität. die inihnen selbst entstände, hervorgerufen sei. Allein, auch dieser Irrtum sollte den glücklichen Mann wieder zu einer neuen Entdeckung führen. Da er bemüht war, VOLTA zu beweisen, daß die Berührung der Metalle zum Zustandekommen der Zuckung nicht notwendig sei, so suchte er die Zuckung auch ohne Metalle zu erzeugen, und das gelang ihm, indem er den frisch präparierten Nerven eines Froschschenkels an seinem freien Ende mit dem Muskelfleisch in Berührung brachte. In diesem Versuch wird, wie wir jetzt wissen, der Nerv in der Tat von dem im Muskel selbst produzierten elektrischen Strom gereizt, und so wurde GALVANI Entdecker der tierischen Elektrizität, wie er vor- her, wenn auch unbewußt, Entdecker der Berührungselektrizität ge- worden war. Um die weitere Entwicklung der Lehre von der tierischen Elek- trizität bemühten sich PFAFF, HUMBOLDT, RITTER, NOBILI, MATTEUCCI und andere; allein erst den klassischen Untersuchungen Du Boi1s- REYmonps!) war es vorhehalten, dieses damals noch halb mystische Gebiet der Physiologie, das als eine der Hauptstützen für die Lehre von der Lebenskraft galt, auf eine klare, wissenschaftliche Grundlage zu stellen, und zwar dadurch, daß er zunächst eine zuverlässige und umfangreiche Untersuchungsmethodik schuf. Versuchsobjekte bildeten aus naheliegenden Gründen anfangs nur die Muskeln und Nerven des Frosches. Indessen bald zog Du Boıs-REymonD auch die inter- essanten Erfährungen an elektrischen Fischen mit in den Kreis seiner Untersuchungen, und zahlreiche Forscher, wie H. Munk, HERMANN, ENGELMANN, HERING, BERNSTEIN, und in neuester Zeit besonders BIEDERMANN ?), BORUTTAU und WALLER untersuchten die Elektrizitäts- produktion der verschiedensten tierischen Gewebe, sowie auch der Pflanzen. Eine zusammenfassende Uebersicht über die elektrophysio- logischen Tatsachen und Probleme hat in knapper und klarer Dar- stellung kürzlich MENDELSSOHN ?) gegeben. Die ersten Schritte zum Verständnis der Elektrizitätsproduktion in der lebendigen Substanz verdanken wir den Untersuchungen HERMANNs. Die endgültige Aufklärung des ganzen Gebietes brachte erst die Entwicklung der modernen Elektrochemie. Daß aber die Lehre von der tierischen Elektrizität eines der bestgekannten Gebiete der Physiologie werden konnte, das ist unstreitig das Verdienst der grundlegenden Arbeiten Du BoIs-REYMONDs. Die einfachste Methode, einen galvanischen Strom zu gewinnen, ist bekanntlich die, daß man zwei verschiedene Metallstreifen, etwa Kupfer und Zink, die an ihrem einen Ende miteinander verlötet sind, 1) Du Boıs-REYMoND: „Untersuchungen über tierische Elektrizität“. Berlin 1848. 2) W. BIEDERMANN: „Elektrophysiologie“. 2 Bände. Jena 1895. Hier ist das ganze Gebiet unter Berücksichtigung der sämtlichen Literatur zusammengefaßt. 3) M. MENDELSSOHN: „Les ph@nomenes &lectriques chez les £tres vivants“ (Sammlung „Seientia“). Paris 1902 (C. NAuD). 310 Drittes Kapitel. an ihren freien Enden mit einem „feuchten Leiter“, etwa einem nassen Faden, in Berührung bringt (Fig. 153 4). Im Moment, wo die beiden freien Metallenden durch den feuchten Leiter miteinander verbunden werden, beginnt ein elektrischer Strom in dem geschlossenen Kreise zu fließen, der vom Zink durch den feuchten Leiter nach dem Kupfer, und vom "Kupfer durch die Lötstelle wieder auf das Zink übergeht und so lange zirkuliert, als der Kreis geschlossen bleibt. Es ist das die Anordnung, welche "dem ursprünglichen GALVAnIschen Experiment entspricht, bei dem der Nerv den feuchten Leiter zwischen den beiden Metallen Kupfer und Eisen vorstellte. Diese Methode ist in etwas vervollkommneter Form in den „galvanischen Elementen“ verwandt worden (Fig. 133 BD), in denen als feuchter Leiter eine Flüssigkeit benutzt wird, während die beiden Metalle, die mit ihren unteren Enden in den Flüssigkeitsbehälter tauchen, an ihren oberen Enden anstatt durch Lötung durch einen Kupferdraht miteinander in Berührung stehen, was den Vorteil hat, daß man mittels des biegsamen Drahtes den Strom hinleiten kann, wo man ihn gerade braucht. Fig. 133. A Primitive Vorrichtung zur Erzeugung eines galvanischen Stromes. Zn Zink, Cu Kupfer, beide unten verbunden durch einen feuchten Faden. Die Pfeile geben die Richtung des Stromes an. B Einfachste Form eines galvanischen Elementes. Zwei Metall- streifen (Kupfer + und Zink —) tauchen in eine Flüssigkeit und sind an ihren freien Enden metallisch miteinander verbunden. Der Strom geht in der Richtung der Pfeile. Ueber die Entstehung eines galvanischen Stromes im Element hat NErNsT!) eine Vorstellung entwickelt, die sich in der Elektro- chemie als außerordentlich fruchtbar erwiesen hat. Die Theorie von NERNST schließt sich aufs engste an die Anschauungen an, die wir durch die Untersuchungen von vAn’T Horr über die Natur der Lösungen gewonnen haben. Bekanntlich gelten nach diesen An- schauungen für die Lösungen dieselben Gesetze wie für die Gase. Die Moleküle des gelösten Stoffes bewegen sich in dem Lösungs- mittel mit einer bestimmten Geschwindigkeit durcheinander, indem 1) NERNST: In Zeitschr. f. physik. Chemie, Bd. 2, p. 4. . Von den elementaren Lebensäußerungen. 311 sie fortwährend gegeneinander und gegen die Wände des Gefäßes stoßen, abprallen, wieder anstoßen und so fort. Auf diese Weise übt der gelöste Stoff einen gewissen Druck aus, der als „osmotischer Druck“ bezeichnet wird. Wie wir bereits früher sahen, ist nach dem AVOGADRO-VANT Horrschen Gesetz dieser osmotische Druck abhängig von der Zahl der Moleküle des gelösten Stoffes. Man sollte also eigentlich erwarten, daß der betreffende Stoff, z. B. Salzsäure oder Schwefelsäure, in konzentriertem Zustande den erößten os- motischen Druck haben sollte. Man war aber sehr erstaunt, als man fand, daß der osmotische Druck von Salzen, Säuren und Basen in gelöstem Zustande größer ist, als man ihn berechnete. Angesichts dieser Tatsache blieb nur übrig, entweder daß das AVOGADRO- van tr Horr'sche Gesetz nicht allgemein gültig war oder daß die Moleküle der „elösten Stoffe in wässerigen Lösungen zu einem be- stimmten Prozentverhältnis in einfachere Bestandteile, Atome oder Atomgruppen, dissoziiert sind. Das letztere erwies sich als zutreffend. Wir wissen heute, daß z. B. Salzsäure in wässeriger Lösung in H- und C]-Atome dissoziiert ist, und zwar in verdünnten Lösungen in größerer Molekülzahl als in konzentrierteren. Die Dissoziationsgröße der verschiedenen Stoffe hängt ganz ab von der Art der Stoffe, von der Art des Lösungsmittels und von der Konzentration. Reines Wasser ist so gut wie gar nicht dissoziiert. Das Wichtigste ist nun aber, daß während das geschlossene Molekül eines gelösten Stoffes elektrisch indifferent ist, die Dissoziations- produkte elektrisch geladen sind, und zwar die einen positiv, die anderen negativ. So ist das Wasserstoffatom H positiv geladen, das Chloratom Cl negativ: E= = HOI= HELL So ist bei der Dissoziation des Wassermoleküls, wie sie z. B. in wässerigen Lösungen entsteht, das Wassermolekül gespalten in ein Wasserstoffatom H und eine Hydroxyleruppe HO, von denen das erstere wieder positive, die letztere negative Ladung hat: En — Ro ea Man bezeichnet nun allgemein die mit negativer Elektrizität ge- ladenen Atome oder Atomgruppen als „negative Ionen“ oder „Anionen“, die mit positiver Elektrizität geladenen als „positive“ oder „Kationen“. Nun haben die Metalle nach NERNSTs Theorie eine große Neigung, ihre Moleküle als Kationen an die Lösungen ge- wisser Salze abzugeben, und zwar wird diese Abgabe von Kationen um so größer sein, je größer die Lösungstension des Metalls ist. Durch die Abgabe der Kationen wird im Metall das elektrische Gleichgewicht gestört, denn da in dem nach außen elektrisch in- differenten Metall beide Elektrizitäten in gleicher Menge angenommen werden müssen, so muß entsprechend der Menge von positiver Elek- trizität, die durch die in Lösung gehenden Kationen das Metall ver- läßt, eine gleiche Menge von negativer Elektrizität frei werden, die dem Metall eine negative Ladung gibt. Umgekehrt muß der Zuwachs an positiven Ionen der an sich nach außen elektrisch indifferenten Flüssigkeit eine elektrisch positive Ladung verleihen. Taucht man nun in die Lösung ein anderes Metall, dessen Lösungstension geringer 312 Drittes Kapitel. e ist als die des ersten Metalls, so werden sich auf diesem Metall jetzt umgekehrt aus der Flüssigkeit Kationen anlagern und demselben eine positive Ladung mitteilen. Es wird also eine elektrische Spannung zwischen beiden Metallen entstehen, und wenn man beide durch einen Leiter miteinander verbindet, wird in dem so geschlossenen Kreise ein elektrischer Strom zirkulieren, so lange wie zwischen den Metallen und der Lösung die entsprechenden elektrochemischen Umsetzungen stattfinden. Wie wir durch die Untersuchungen der Elektrochemie, besonders seit der enormen Entwicklung, welche diese Wissenschaft nach den glänzenden Arbeiten von KOHLRAUSCH, ARRHENIUS, NERSNT u.a. erfahren hat, wissen, kann bei den verschiedensten chemischen Pro- zessen eine Störung des elektrischen Gleichgewichts eintreten. Bei den verschiedenartigsten chemischen Spaltungsprozessen können posi- tive und negative Ionen frei werden. Finden die gleichen chemischen Prozesse an allen Punkten eines Systems in gleichem Umfange statt, Fig. 134. Schema. I Ein Flüssigkeitstropfen, in dem die chemischen Prozesse an allen Punkten gleichartig sind, ist stromlos. ]II Ein Flüssigkeitstropfen, in dem an zwei verschiedenen Steilen ver- schiedenartige chemische Prozesse > verlaufen, bei denen Ionen von ver- ; schiedener Diffusionsgeschwindigkeit . auftreten, gibt bei der Ableitung A > einen Strom. Der große Kreis ist der 10 Flüssigkeitstropfen, der kleine der Multiplikator mit Magnetnadel. Beide sind verbunden durch Drähte. II so läßt sich davon kein Strom ableiten, denn es besteht keine Spannung zwischen den Ableitungspunkten, weil an beiden sowohl positive als negative Atomgruppen in gleicher Menge entstehen (Fig. 134 /). Ver- laufen aber in einem System, wie es eine Flüssigkeitsmasse vorstellt, verschiedenartige chemische Umsetzungen räumlich gesondert, so kann sich zwischen diesen beiden Punkten stets eine elektrische Spannung entwickeln, wenn die positiven und negativen Ionen, die dabei frei werden, verschiedene Wanderungsgeschwindigkeit bei ihrer Diffusion besitzen, so daß Konzentrationsdifferenzen in der elektrischen Ladung der beiden Ableitungsstellen entstehen. Es kann dann von diesen Punkten, solange die Prozesse andauern, ein galvanischer Strom nach außen abgeleitet werden (Fig. 134/7). Die Bedingungen, unter denen ein galvanischer Strom entsteht, können wir also in folgendem Satz ausdrücken: Von einem System ist ein Strom nach außen ableitbar, wenn in ihm chemische Prozesse auf- treten, die zur Entstehung von Konzentrationsdiffe- renzen der gleichnamigen Ionen an beiden Ableitungs- stellen Anlaß geben. Dieser Satz hat seine Gültigkeit für die lebendige Substanz ebenso wie für die leblose. Die lebendige Substanz einer Zelle ist ein Flüssig- keitstropfen, in dem sich komplizierte chemische Umsetzungen dauernd vollziehen. Sind dieselben an allen Punkten der Zelle gleich, so kann Von den elementaren Lebensäußerungen. 313 von der Zelle kein Strom (abgeleitet werden (Fig. 1357); sind sie aber an zwei verschiedenen Polen der Zelle qualitativ oder quantitativ Fig. 135. Schema. I Eine Zelle, in der an allen Punkten ihrer lebendigen Substanz die gleichen chemischen Prozesse stattfinden, ist stromlos. II Polar differenzierte Zellen (z. B. Schleimhautzellen), bei denen an einem Pol andere chemische Prozesse ablaufen wie am anderen, geben einen Strom, verschieden, so daß sie zu Differenzen in der Jonenkonzentration Veranlassung geben, so resultiert eine Spannung zwischen diesen beiden Polen, und wenn man sie durch einen Schließungsbogen miteinander ver- binden könnte, würde man einen Strom im Schließungskreise erhalten. An der einzelnen Zelle kann man freilich wegen ihrer Kleinheit diesen Versuch kaum an- stellen, aber für den Zellenkomplex, für das Gewebe muß das gleiche gelten wie für die einzelne Zelle. Hier, am größeren Zellenkomplex, kann man auch in der Tat dieses Verhalten leicht konstatieren, und HERMAnNNs!) „Differenztheorie“, welche sagt, daß nur dann von einem (Gewebe (Muskel, Nerv, Schleimhaut etc.) ein Strom ableitbar ist, wenn an den beiden Ableitungsstellen verschiedenartige Pro- zesse stattfinden, ist nur der Ausdruck der tatsächlichen Verhältnisse. Ein ruhender unverletzter Muskel, wie z. B. der Mus- culus sartorius vom Frosch, an dem man sich am besten davon überzeugen kann, ist stromlos, weil an jeder Stelle dieselben inneren Vorgänge in gleicher Intensität stattfinden. Bringen wir aber an zwei Stellen des Muskels künstlich eine Differenz hervor, indem wir die eine Stelle erwärmen, oder indem wir einen Querschnitt machen, der mit einem lokalen Zerfall der leben- IDF Fig. 136. Schema. Musculus sartorius vom Frosch. An beiden Enden befinden sich die Knochenansätze. / Unverletzt und ruhend ist er stromlos. /7 Ver- letzt (Querschnitt) gibt er einen Strom, und zwar ist die verletzte Stelle negativ. I/II Tätig (es läuft eine Kontraktionswelle von rechts her über den Muskel) gibt er einen Strom. Die tätige Stelle ist negativ. digen Substanz verbunden ist, oder indem wir schließlich eine Kon- traktionswelle über den Muskel hinlaufen lassen, so bekommen wir einen elektrischen Strom, und zwar verhält sich dann, wie die Er- fahrung gezeigt hat, die erwärmte oder absterbende oder kontrahierte 1) HERMANN: „Untersuchungen zur Physiologie der Muskeln und Nerven“, I—III, Berlin 1868. 314 Drittes Kapitel. Stelle stets negativ zu jeder normalen. Gewebe, deren Zellen nicht polare Verschiedenheiten besitzen, zeigen im umgekehrten Zustande niemals einen Strom, dagegen kann man von Drüsen und Schleim- häuten, deren Zellen polar differenziert sind, in der Weise, daß der untere Teil des zylindrischen Zellkörpers andere Stoffe und Stoff- umsetzungen beherbergt als der obere, auch in ungestörtem Zustande stets verhältnismäßig starke Ströme ableiten (Fig. 135 /7). Die von MENDELSSOHN gefundene, früher sehr auffällige Tatsache, daß der herausgeschnittene Nerv bei Ableitung von beiden Querschnitten einen axialen Strom zeigt, welcher der Richtung der Nervenleitung entgegen- gesetzt, d.h. beim motorischen Nerven zentripetal, beim sensiblen zentri- fugal, verläuft, ist neuerdings von O. WEıss!) in sehr einfacher Weise aufgeklärt worden. Die Differenz an den beiden Ableitungsstellen ist nämlich hier rein quantitativer Art und allein bedingt durch die verschiedene Zahl von Nervenfasern, die sich bei einem Nerven an zwei verschiedenen Querschnitten finden. Nach den obigen Betrachtungen ist es selbstverständlich, daß man aus dem Auftreten von elektrischen Spannungen in lebendigen Objekten schlechterdings keinen Schluß ziehen kann auf die Art der Prozesse, die währenddessen in der lebendigen Substanz sich abspielen. Es können, wie gesagt, die allerverschiedenartigsten chemischen Um- setzungen zu chemischen Spannungen bezw. zu elektrischen Strömen Veranlassung geben. Die Hoffnung der älteren Physiologie, durch die Erforschung der Gesetzmäßigkeit bei der Elektrizitätsproduktion des lebendigen Objekts Aufschlüsse über den eigentlichen Lebensprozeß selbst zu gewinnen, dürfte daher nach der heutigen Entwicklung der Elektrochemie als gescheitert zu betrachten sein. Die ungeheure Be- deutung, die man einst der Erforschung dieser Lebensäußerungen bei- legte, hat sich heute auf ein bescheidenes Maß reduziert. Den Nachweis der Ströme führen wir wie bei den auf thermo- elektrischem Wege entstehenden Strömen mittels des Multiplikators oder Galvanometers. In neuerer Zeit sind indessen für elektrophysio- logische Zwecke diese beiden Methoden des Stromnachweises durch zwei andere Methoden mehr und mehr verdrängt worden, durch das LippmAannsche „Kapillarelektrometer“ und ganz neuerdings durch EINTHOVENS „Saitengalvanometer“. Das „Kapillarelektrometer“ beruht auf der Tatsache, daß die Oberflächenspannung zwischen Queck- silber und verdünnter Schwefelsäure vergrößert wird, wenn ein auch nur schwacher elektrischer Strom durch beide hindurchgeht. In einer Kapillarröhre, die von einer mit Quecksilber gefüllten Glasröhre aus- gezogen ist, befindet sich das Quecksilber in Berührung mit verdünnter Schwefelsäure, in welche die Kapillare eintaucht, und gerade vor der Grenze zwischen Quecksilber und Schwefelsäure ist ein Mikroskop angebracht, mit dem man jede Verschiebung der Grenze, wie sie beim Hindurchgehen eines Stromes entsteht, beobachten und event. projizieren kann. In das Quecksilber sowohl wie in die Schwefelsäure führt je ein stromzuleitender Draht, der mit den Ableitungsstellen des Präpa- rates verbunden wird. Das Ganze ist an einem geeigneten Stativ aufmontiert. Bei dem EINTHOVvEnschen „Saitengalvanometer“ handelt es sich um einen Apparat, der wiederum auf einem anderen 1) OÖ. Weiss: „Ueber die Ursache des Axialstromes am Nerven“. In PFLÜGERSs Arch. f. d. ges. Physiologie, Bd. 108, 1905. Von den elementaren Lebensäußerungen. 315 Prinzip beruht. Hier beobachtet man mikroskopisch die Ablenkung, die ein äußerst feiner, versilberter und wie eine Saite zwischen den Polen eines starken Elektromagneten aufgespannter Quarzfaden erfährt, wenn ein galvanischer Strom durch ihn hindurchgeht. Der Faden wird dann senkrecht zu den magnetischen Kraftlinien abgelenkt und zwar proportional der Intensität des hindurchgehenden Stromes. Dieser neueste Apparat zum Nachweis feinster elektrischer Ströme ist be- sonders empfindlich. Für alle Untersuchungen über {die Elektrizitätsproduktion der lebendigen Substanz ist schließlich noch eine besondere Vorrichtung der ableitenden Elektroden notwendig, wenn man falsche Resultate vermeiden will. Läßt man nämlich durch einen einfachen Metalldraht, Fig. 137. Unpolaerisierbare Elektroden. I Zwei unpolarisierbare Elektroden sind an einen durchschnittenen Wadenmuskel des Frosches angelegt. II Eine unpolarisierbare Elektrode in ihrem Stativ. dessen Enden in einen feuchten Leiter tauchen, längere Zeit einen Strom gehen, so treten an den beiden Enden des Drahtes, den Elek- troden, elektrolytische Zersetzungsprodukte des feuchten Leiters auf und sammeln sich hier an. Die Ausscheidung dieser Produkte an den beiden Drahtpolen bedingt eine elektrische Spannung, die zu einem, dem ursprünglichen entgegengesetzt gerichteten Strome, dem sogenannten „Polarisationsstrom“, führt. Es liegt auf der Hand, daß, je stärker sich der Polarisationsstrom entwickelt, um so mehr die Intensität des ursprünglichen Stromes dadurch vermindert werden muß. Wenn wir daher von einem lebendigen Gewebe einen Strom mit Metallelektroden ableiten, so entwickelt sich sofort ein Polari- sationsstrom, der das Bild des Gewebestromes vollständig verwischt. Um diesen Uebelstand zu vermeiden, hat man sogenannte „unpolari- sierbare Elektroden“ konstruiert, die aus nicht metallischen Leitern bestehen. Die bequemste Form dieser „unpolarisierbaren Elektroden“ sind die von FLEISCHL angegebenen „Pinsel-Elektroden“, die aus einer mit konzentrierter Zinksulfatlösung gefüllten Glasröhre bestehen, welche unten durch einen Pfropf von plastischem Ton ge- 316 Drittes Kapitel. schlossen ist. In dem Tonpfropf steckt ein kurzer, weicher, mit Koch- salzlösung angefeuchteter Pinsel; in die Zinksulfatlösung ragt ein amalgamierter Zinkstab, an dem der Draht befestigt wird (Fig. 137). Zwei solcher Elektroden, von denen jede in einem beweglichen Stativ steckt, werden dann mit ihren Pinseln an das lebendige Gewebe angelegt, und die Erfahrung hat gezeigt, daß man auf diese Weise den störenden Polarisationswirkungen aus dem Wege geht. Handelt es sich bei der Elektrizitätsproduktion der fmeisten tierischen und aller pflanzlichen Gewebe stets nur um so schwache Ströme, daß zu ihrem Nachweis besonders empfindliche Apparate not- wendig sind, so haben wir bei den interessanten Elektrizitätsentwick- lungen der elektrischen Fische Ströme von ganz beträchtlicher Stärke, wenn auch die bekannte Erzählung ALEXANDER VON Hunu- BOLDTS, daß der südamerikanische Zitteraal Pferde durch seine Schläge Fig. 138. / Torpedo marmoratus (Zitterrochen). Die Haut ist zum: Teil’ weg- geschnitten, damit das elektrische Organ «a sichtbar ist, das aus lauter einzelnen poly- gonalen Säulchen besteht, die hier vom Querschnitt aus gesehen sind. Nach RANVIER. II Zwei !elektrische Säulchen von der Längsseite mit den sich darauf verzweigenden elektrischen Nerven von Torpedo. Nach R. WAGNER. zu !betäuben vermag, auf einem ‘Irrtum beruhen dürfte. Was die Ströme der elektrischen Fische den Strömen anderer Gewebe gegen- über am meisten charakterisiert, ist ihre kurze Dauer und große In- tensität, so daß sie als kurze, starke elektrische „Schläge“ auftreten, die vom Tiere spontan oder auf Reizung mehrere Male hintereinander abgegeben werden können. Das wird selbstverständlich, wenn man bedenkt, daß die Elektrizitätsproduktion bei diesen Tieren als Ver- teidigungsmittel dient, das sich während ihrer Stammesentwicklung zu dieser enormen Wirksamkeit herausgebildet hat. Dementsprechend sind bei diesen elektrischen Fischen besondere Organe allein zur Elektrizitätsproduktion vorhanden. Es ist aber im höchsten Maße interessant, daß diese elektrischen Organe entwicklungsgeschichtlich denselben Ursprung haben wie die quergestreiften Muskeln, mit denen sie auch in ihrer vollständigen Ausbildung noch große Aehnlichkeit be- Von den elementaren Lebensäußerungen. 317 sitzen. Das elektrische Organ z. B. des Zitterrochens (Torpedo) ist aufge- baut aus vielen langen, im Querschnitt sechseckigen Säulchen (Fig. 138), die den Muskelfasern entsprechen. Jede dieser Säulen aber ist wieder zusammengesetzt aus gleichmäßig übereinanderliegenden Querscheiben (Fig. 139 A), die genau der Querstreifung der Muskelfaser homolog sind, ohne jedoch doppelt brechende Elemente zu besitzen, und ohne Formveränderungen bei der Tätigkeit zu erfahren. Noch größer ist die Uebereinstimmung des Baues der elektrischen Säulchen mit Aunenaunnam NR I : N B ; : sr SET Te TE Tereeeen Fig. 139. AtZwei elektrische Säulchen von 8, Gymnotus eleetrieus. Nach SCHULTZE. B I Säulchen aus dem pseudoelektrischen : = ) Organ von Raja clavata. //a und 5b Ein- rue SUSE zelne Segmente daraus, stärker vergrößert. Linke Hälfte in gewöhnlichem, rechte in pola- A risiertem Lichte. Nach ENGELMANN. den quergestreiften Muskeln bei den „halbelektrischen“ oder „pseudoälektrischen“ Fischen, z.B. Raja clavata (Fig. 139 B Iu. II). Hier tritt ein sehr interessanter und augenfälliger Funktions- wechsel ein, indem sich die elektrischen Organe aus wirklichen, kontraktilen, quergestreiften Muskelfasern entwickeln, die mit dem Verlust ihres Kontraktionsvermögens ihre elektrischen Eigenschaften stärker hervortreten lassen. Allein, auch in der Tätigkeit des fertig entwickelten Organs besteht eine Aehnlichkeit mit der des Muskels; denn wie der Muskel bei der einzelnen Zuckung nur einen kurz- dauernden Strom gibt, ebenso entsteht beim elektrischen Organ nur ein momentaner Strom, allerdings von unvergleichlich größerer Stärke. * * * Unser Bild vom Energieumsatz in der lebendigen Substanz ist genau so lückenhaft wie das vom Stoffwechsel. Wie beim Stoffwechsel 318 Drittes Kapitel. Von den elementaren Lebensäußerungen. kennen wir auch beim Energiewechsel nur die Anfangs- und End- glieder der Reihe. Als chemische Energie und als Licht und Wärme tritt die Energie in den lebendigen Körper ein. Licht und Wärme werden dabei verbraucht, um ebenfalls chemische Energie zu schaffen, und zwar Licht, um in der Pflanze die Kohlensäure, die als solche keinen Energiewert besitzt, in Kohlenstoff- und Sauerstoffatome mit freien Affinitäten zu spalten, die Wärme, um die labilen Verbindungen der lebendigen Substanz durch Steigerung der intramolekularen Schwingungsintensität ihrer Atome zur Umlagerung zu bringen. Beide, Lieht und Wärme, schaffen also verfügbare, chemische Energie. Die chemische Energie ist daher das Grundkapital für die Gewinnung aller anderen Energieformen im Organis- mus, aus ihr gehen alle vom Organismus produzierten Leistungendurch Umsatzhervor: mechanische Energie, Licht, Wärme, Elektrizität. In demselben Maße, wie diese neuen Energieformen vom Organismus abgegeben werden, verschwindet die chemische Energie. Als Endprodukte des Lebens sehen wir da- her in Kohlensäure, Wasser, Ammoniak etc. Stoffe, deren chemischer Energiewert gleich Null oder doch äußerst gering ist, aus denen sich kaum noch kleine Energiemengen gewinnen lassen, und es bedarf erst wieder der Zufuhr neuer Energie von außen, und zwar des Lichts, um aus ihnen in der Pflanze durch Spaltung neue Energiemengen in Form von freien Affinitäten verfügbar zu machen. Das sind die Anfangs- und die Endglieder der Reihe. Welches aber im einzelnen die vielverschlungenen Wege des Energiegetriebes im lebendigen Körper sind, welche Energieformen in jedem speziellen Fall zunächst aus der eingeführten Energie hervorgehen, welche Zwischenglieder, welche Rückverwandlungen die in den Körper eingeführte chemische Energie durchläuft, bis sie in Form von Bewegung, von Licht, von Wärme, von Elektrizität wieder den Körper verläßt, das sind Fragen, die noch zum größten Teil in Dunkel geküllt sind. Wir dürfen hier vornehmlich von dem Fortschritt unserer Kenntnisse über die spezielleren Stoffwechselprozesse mehr Licht erwarten, denn der Energieumsatz ist von den Stoffwechselvorgängen nicht zu trennen. Wir haben der Uebersichtlichkeit wegen die Lebensäußerungen des Stoffwechsels, der Formbildung und des Energieumsatzes ge- sondert betrachtet. In Wirklichkeit sind alle drei Gruppen, wie immer wieder betont werden muß, nicht voneinander zu trennen, denn jeder Wechsel des Stoffes ist gleichzeitig ein Wechsel der Form und der Energie. Das gilt von der lebendigen Substanz wie von jedem anderen Objekt, das wir betrachten. Was wir gesondert mit verschiedenen Methoden untersuchen als Stoffwechsel, als Form- wechsel, als Energiewechsel, ist ein und derselbe Vorgang, nur von verschiedenen Gesichtspunkten mit verschiedenen Sinnesorganen und verschiedenen Hilfsmitteln von unserer Seite aus betrachtet, und so können wir kurz sagen: Die gesamten Lebensäußerungen eines lebendigen Organismus sind der Ausdruck des kontinuierlichen Wechsels der Substanz, aus der er besteht, und dieser Wechselist eben das Leben. Viertes Kapitel. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. I. Die jetzigen Lebensbedingungen auf der Erdober- fläche. A. Die allgemeinen äußeren Lebensbedingungen. . Die Nahrung. Das Wasser. . Der Sauerstoff. Die Temperatur. . Der osmotische Druck. . Der mechanische Druck. B. Die allgemeinen inneren Lebensbedingungen. II. Die Herkunft des Lebens auf der Erde. A. Die Theorien über die Herkunft des Lebens auf der Erde. 1. Die Lehre von der Urzeugung. 2. Die Lehre von den Kosmozoen. 3. Prevers Theorie von der Kontinuität des Lebens. 4. PrLüsers Vorstellung. 5. Die Hypothese von E. J. Auen. B. Kritisches. 1. Ewigkeit oder Entstehung der lebendigen Substanz, 2. Die Deszendenz der lebendigen Substanz. IH. Die Geschichte des Todes. A. Die Vorgänge der Nekrobiose. 1. Histolytische Prozesse. 2. Metamorphotische Prozesse. B. Die Bedingungen des Todes. 1. Aeußere und innere Todesbedingungen. 3. Die Frage nach der körperlichen Unsterblichkeit. Die lebendige Substanz der Organismen bildet einen Teil der ge- samten Stoffmenge, die unseren Erdkörper zusammensetzt. Ihre Unterschiede gegenüber den leblosen Substanzen sind, wie wir sahen, nicht prinzipieller Natur; denn dieselben Elemente, aus denen jene zu- sammengesetzt sind, bauen auch diese auf. Der Unterschied zwischen der organischen Substanz und den anorganischen Substanzen ist nicht größer als der Unterschied mancher anorganischen Substanzen unter- einander und besteht allein in der Art und Weise, wie die Elementar- stoffe zusammengefügt sind. | Es ist wichtig, daß wir uns an den Gedanken gewöhnen, die lebendige Substanz nicht als einen außer allem Zusammenhang stehen- 320 Viertes Kapitel. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. den, zu aller übrigen Materie im Gegensatz befindlichen, mystischen Stoff zu betrachten, sondern nur als einen Teil der Stoffe, welche die Erdrinde bilden. Dann ist es selbstverständlich, daß das Leben, wie jeder Vorgang in der Welt, durchaus bedingt ist durch die Be- schaffenheit der Stoffe, die den Organismus aufbauen, und durch die Beschaffenheit der Umgebung, kurz, daß die Entwicklung der lebendigen Substanz untrennbar mit der Entwicklung des Erdkörpers verknüpft sein muß. Demnach ist die Zusammensetzung und Form der jetzigen lebendigen Substanz, welche die Erdoberfläche bedeckt, genau unter demselben Gesichtspunkt zu betrachten, wie etwa die Zusammensetzung der jetzigen Meere, d.h. als etwas allmählich Gewordenes, das nur in dieser jetzigen Beschaffenheit so existiert, weil die Bedingungen augen- blicklich derartig sind. Wie die Meere mit ihren Salzen noch nicht in ihrer jetzigen Beschaffenheit existieren konnten, ehe das Wasser auf der Erde in tropfbar-flüssigem Zustande vorhanden war, ebenso konnte auch die lebendige Substanz zu jener Zeit noch nicht in ihrer jetzigen Zusammensetzung bestehen, denn sie enthält ja durchschnitt- lich über 50 Proz. Wasser. Wie aber das Wasser seine jetzige Form annehmen mußte, als bestimmte Bedingungen in der Erdentwicklung gegeben waren, so mußte auch die lebendige Substanz allmählich ihre jetzige Beschaffenheit erhalten in dem Maße, wie sich die jetzigen Verhältnisse der Erdoberfläche herausbildeten. Die Aussonderung der lebendigen Substanz aus den Stoffen der Erdrinde ist ebenso nur eine Folge der Erdentwicklung wie die Ausscheidung bestimmter Gesteine, bestimmter Salze oder des Wassers aus dem Stoffgemisch des Erdballes. Zu derselben Vorstellung kommen wir von einem anderen Aus- gangspunkte aus, wenn wir nämlich nicht die elementare Zusammen- setzung, sondern die Lebensäußerungen der lebendigen Substanz ins Auge fassen. Es ist ein leicht begreiflicher, durch den oberflächlichen Eindruck hervorgerufener Irrtum, wenn man einen Organismus als ein selbständiges, in sich geschlossenes, von seiner Umgebung unab- hängiges System betrachtet. Die Tatsache des Stoffwechsels klärt uns aber sofort über diesen Irrtum auf; denn wenn der Organismus nur lebt, solange er Stoffe von außen aufnimmt und nach außen abgibt, so steht er dadurch in der allerengsten Abhängigkeit von der Außenwelt: die Außenwelt bedingt sein Leben. Auf diese Weise gelangen wir zu dem Begriff der „Lebens- bedingungen“, d. h. der Bedingungen, die erfüllt sein müssen, wenn das Leben eines Organismus überhaupt bestehen soll. Da es ferner auf der Hand liegt, daß jede Veränderung der Lebens- bedingungen einen Einfluß auf das Leben des Organismus ausüben muß, weil der spezifische Lebensvorgang eines jeden Organismus ein- deutig bestimmt ist durch die Summe sämtlicher Lebensbedingungen, so ist es für die Vollständigkeit eines Bildes von den Be- ziehungen zwischen -Organismenwelt und Lebensbedingungen er- forderlich, nicht nur die Lebensbedingungen, wie sie jetzt sind, zu untersuchen, sondern auch die Lebensbedingungen in früheren Zeiten der Erdentwicklung ins Auge zu fassen, soweit wir überhaupt uns eine Vorstellung davon machen können, um so einige Anhaltspunkte zu gewinnen für die Frage nach der Herkunft, derAbstammung, der Entwicklung des Lebens auf der Erde. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 321 I. Die jetzigen Lebensbedingungen auf der Erdoberfläche. Nicht sämtliche Lebensbedingungen irgendeines Organismus sind für jeden anderen lebendigen Organismus in gleicher Weise notwendig. Ja, was für die Existenz "des einen Organismus erforderlich ist, kann das Leben des anderen geradezu gefährden. Seetiere, in Süßwasser gebracht, gehen nach einiger Zeit zugrunde, und Süßwassertiere, in Seewasser gesetzt, verfallen demselben Schicksal. Das eilt aber nicht nur für große Organismen eru ppen, das gilt auch für jede einzelne Organismenfor m. Jeder einzelne Organismus braucht für seine Existenz ganz bestimmte spezielle Bedingungen, ohne deren Erfüllung er nicht dauernd am Leben bleibt. Diese „speziellen Le bens- bedingungen“ sind so mannigfaltig wie die unermeßliche Fülle der Organismenformen selbst, denn ein jeder Organismus ist nichts anderes als die Summe seiner sämtlichen Lebensbedingungen. Die speziellen Lebensbedingungen der einzelnen Organismen beschreiben, hieße daher, die gesamte Naturgeschichte jedes “einzelnen Organismus schildern. Diese Aufgabe gehört in das Gebiet der speziellen Physiologie. Allein, diesen speziellen Lebensbedingungen gegenüber gibt es Bedingungen, die für alle Organismen erfüllt sein müssen, damit sie leben können, und diese Bedingungen müssen daher als „allgemeine Lebensbedineungen“ selten. Wir werden uns in der allgemeinen Physiologie nur mit den allgemeinen Lebens- bedineungen der Organismen zu beschäftigen haben und können auf einzelne spezielle Lebensbedingungen nur gelegentlich einen Blick werfen, wenn sie gerade besonderes Interesse erfordern, d. h. wenn sie für besonders große Gruppen von Organismen nötig sind oder wenn sie uns die eigenartige Anpassung der lebendigen Substanz an besonders eigentümliche Verhältnisse vor Augen führen. Gewöhnlich ist man geneigt, bei dem Begriff „Lebensbedingungen“ nur an äußere Faktoren, wie Nahrung, Wasser, Sauerstoff, Temperatur, osmotischen und mechanischen Druck zu denken. Indessen stehen diesen äußeren Lebensbedingungen auch innere Lebens- bedingungen gegenüber, die in der Zusammensetzung des Organis- mus selbst liegen, und deren Wegfall ebenso den Tod des Organismus zur Folge hat wie der Fortfall der äußeren Lebensbedingungen. A. Die allgemeinen äußeren SeneHSdihgungen. 1. Die Nahrung. Das Vorhandensein von Nahrung ist diejenige Lebensbedingung, die ohne weiteres aus der Tatsache des Stoffwechsels sich ergibt. Wenn die lebendige Substanz sich fortwährend von selbst zersetzt, dann muß, falls sie dauernd am Leben bleiben soll, von außen her ein Strom von Stoffen in sie eintreten, der alle diejenigen chemischen Elemente enthält, die zum Aufbau der lebendigen Substanz notwendig sind. Die Summe dieser chemischen Stoffe, die in den Organis- mus eintreten, bildet die Nahrung. Danach gehören also Wasser und Sauerstoff ebenfalls zu dem allgemeinen Begriff der Nahrung; indessen pflegt man diese beiden Stoffe in der Regel davon zu trennen. Wir wollen sie daher, diesem Sprachgebrauch folgend, auch besonders Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 21 322 Viertes Kapitel. für sich betrachten und zuerst nur auf die Nahrung im spezielleren Sinne eingehen. Die zwölf allgemeinen organischen Elemente, aus denen alle lebendige Substanz zusammengesetzt ist (p. 108), müssen in irgend- welcher Form als Nahrung in den Körper des Organismus gelangen. Darin liegt die allgemeine Bedeutung der Nahrung. Im speziellen aber sind die chemischen Verbindungen, in denen diese Elemente in den Körper eingeführt werden, für die verschiedenen Organismen- formen ebenso mannigfaltig wie die Organismenformen selbst. Es gibt nicht eine allgemeine Nahrung für alle Orga- nismen, und wir haben schon bei früherer Gelegenheit gesehen !), daß sich die Organismen nach der Art der Nahrungsstoffe und der Weise, wie sich aus denselben ihre lebendige Substanz aufbaut, in mehrere große Gruppen, in Pflanzen, Pilze, Tiere, unterscheiden lassen. Während die grünen Pflanzen ihre lebendige Substanz allein aus an- organischem Material, aus Kohlensäure und verschiedenen Salzlösungen aufzubauen vermögen, bedürfen die Tiere unbedingt organischer Nahrung und können ohne komplizierte organische Verbindungen, wie Eiweiß, Kohlehydrate, Fette etc., nicht leben. Die Pilze aber stehen gewisser- maßen zwischen diesen beiden Gruppen, indem sie ihren Stickstoff- bedarf zwar aus anorganischen Salzen bestreiten können, dagegen zur Deckung ihres Kohlenstoffbedarfs organische Verbindungen brauchen. Eine Ausnahme davon machen nur gewisse Bakterienformen, wie die interessanten Stickstoffbakterien, die ihren Stickstoff und Kohlenstoff aus kohlensaurem Ammon beziehen, also wie die grünen Pflanzen ausschließlich von anorganischen Nahrungsstoffen leben. Aber wie auch die Nahrung im einzelnen Fall beschaffen sein mag, ohne irgendwelche Nahrung kann kein lebendiger Körper auf die Dauer leben. Ueber die quantitativen Bedingungen der Nahrung, über das Maximum und Minimum an Nahrung, das ein lebendiger Körper braucht, und das für jede Organismenform ein anderes ist, liegen bis- her nur für wenige spezielle Verhältnisse und ausschließlich an höheren Wirbeltieren Untersuchungen vor. Das sind Fragen, die im speziellen noch ihrer Lösung harren, und die, zellularphysiologisch behandelt, zu theoretisch und praktisch gleich wichtigen Ergebnissen führen dürften. Bisher hat man nur einzelne Werte für den Gesamtorga- nismus des Menschen ermittelt. Voırrt?) hat gefunden, daß ein er- wachsener Mann bei angestrengter Arbeit dauernd mit einem täglichen Kostmaß von 118 g Eiweiß, 56 g Fett und 500 & Kohlehydraten existieren kann. Bei einer solchen Kost befindet sich der Mensch im „Stoffwechselgleichgewicht“, d. h. die durch den Harn, den Schweiß, die Exspiration, die Faeces etc. ausgeschiedenen Mengen der Elementarstoffe sind gleich denen, welche mit der Nahrung eingeführt werden. Indessen, man muß hier noch etwas mehr spezialisieren und muß diese Werte für die einzelnen mit der Nahrung eingeführten Elementarstoffe, wie Stickstoff, Kohlenstoff ete., gesondert bestimmen. Besonders wichtig ist in dieser Beziehung für den tierischen Körper die Bestimmung des Stickstoffwechsels, denn der Stickstoff ist das charakteristische Element der Eiweißkörper, ohne die kein Tier auf die Dauer existieren kann. Bei dieser Bestimmung hat sich ergeben, daß schon mit einer Eiweißmenge von nur 50 g, welcher eine Stick- 1) Vergl. p. 165 u. ff. 2) C. VoIT: „Physiologie des allgemeinen Stoffwechsels und derjErnährung“. In HErrMmAnns Handbuch der Physiologie, Bd. 6, 1881. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 323 stoffmenge von etwa 7,5 g entspricht, „Stickstoffgleichgewicht“ erzielt werden kann, falls nur die Menge der stickstofffreien Nahrungs- stoffe, der Kohlehydrate und Fette, entsprechend gesteigert wird, 7,5 g würde also etwa dem täglichen Stickstoffminimum entsprechen, bei dem ein Mensch noch eben existieren kann. In neuerer Zeit sind besonders in Amerika umfangreiche Stoftwechselversuche in großem Maßstabe am Menschen angestellt worden. Bei diesen Untersuchungen ist CHITTENDEN!) zu dem Resultat gekommen, daß selbst für stark arbeitende Männer das von VoIT zuerst angegebene Kostmaß viel zu hoch ist. Vor allem betont ÜHITTENDEN mit Recht, daß bei den Kulturnationen im allgemeinen viel zu viel Eiweiß in der Nahrung aufgenommen wird. Das bedeutet nicht nur einen Luxus, sondern auf die Dauer auch direkt eine Schädigung des Organismus. EFiner- seits nämlich werden durch die Spaltung des Eiweißes und die Aus- scheidung der Spaltungsprodukte viel zu hohe Anforderungen an Ver- dauungsorgane und Nieren gestellt und anderseits überschwemmen die Spaltungsprodukte des Eiweißes den ganzen Organismus und ent- falten in ihm toxische Wirkungen. ÜHITTENDEN findet, daß mit 55 g Eiweiß pro die der Mensch seinen Stickstoffbedarf vollständig decken Kann, so daß er, falls nur die Gesamtenergiemenge der täg- lichen Nahrung 2000—2500 Kalorien beträgt, dabei körperlich wie geistig vollkommen leistungsfähig und was besonders wichtig ist — gesunder bleibt, als bei reichlicherer Eiweißkost. Das Nahrungsminimum, bei dem eben noch Stoffwechselgleich- gewicht besteht, bei dem das Leben eben noch dauernd erhalten werden kann, ist von großer Bedeutung. Wird die Nahrungszufuhr über das Minimum gesteigert, so ist das Stoffwechselgleichgewicht nur in sehr geringem Maße gestört, indem nur sehr geringe Mengen von Elementarstoffen in den Ausscheidungen weniger auftreten, als der mit der Nahrung aufgenommenen Menge entspricht. Diese sehr ge- ringen Mengen bleiben im Körper zurück und dienen zur Vermehrung der lebendigen Substanz und zur Aufspeicherung von Reservestoften, ein Vorgang, den man in der Landwirtschaft als „Mästung“ be- zeichnet. Indessen hängt das Zustandekommen der Mästung noch von vielen einzelnen Faktoren ab, die zum Teil noch nicht genauer bekannt geworden sind. Sinkt dagegen umgekehrt die Nahrungs- menge unter das Minimum, oder wird sie gleich Null, so tritt der Zustand des „Hungers“, der „Inanition“, ein, in dem das Stoffwechselgleichgewicht mehr und mehr gestört wird. Dieser Zu- stand ist bereits etwas genauer untersucht worden. Es lohnt sich, die Veränderungen, die der lebendige Organismus im Zustande der Inanition erfährt, etwas genauer zu verfolgen. Jede lebendige Zelle, die sich unter normalen Bedingungen befindet, hat mehr oder weniger Stoffe in sich, auf deren Kosten der Lebensprozeß noch eine Zeitlang weiter geht, wenn ihr die Nahrungszufuhr abge- schnitten ist. Das sind ihre Reservestoffe. Es ist daher eine allgemeine Tatsache, daß zunächst die Reservestoffe während der Inanition verschwinden. Pflanzenzellen, die mit Stärkekörnern ange- füllt sind, verbrauchen diese, wenn sie ins Dunkle gebracht werden, d. h. wenn sie hungern müssen, denn im Dunkeln findet keine Assimilation von Stärke aus Kohlensäure und Wasser, also keine Ernährung mehr statt. Infusorien, deren Zellkörper in ihrer Infusion, ]) CHITTENDEN: „Physiological economy in nutrition with special reference to the minimal protein requirement of the healthy man“. London 14905. 21* 324 Viertes Kapitel. wo sie in Nahrungsüberfluß schwelgen, allerlei Körnchen und Granula enthält und infolgedessen undurchsichtig körnig aussieht, werden, wenn sie in Wasser mit möglichst wenig Nahrungsstoffen gesetzt werden, heller, durchsichtiger und körnchenfrei. Dabei wird der Zellkörper kleiner und kleiner (Fig. 140). Die Zelle stirbt also nicht Fig. 140. Colpidium colpoda, eine Wimperinfusorienzelle. a Im normalen Zustande, 5b im Zu- stande der Inanition. Der Zell- körper ist kleiner und durch- sichtiger geworden, die Granula im Innern sind verschwunden. Ver- größerung in beiden Fällen 260. Nach Beobachtungen und Zeich- nungen von JENSEN. gleich im Moment der Nahrungsent- ziehung, sondern lebt noch eine Zeit- lang weiter auf Kosten der Stoffe ihres eigenen Zellkörpers. Sind diese ver- braucht, so geht sie allmählich zugrunde — ebenso wie eine Uhr, die nicht mehr aufgezogen wird, allmählich abläuft nnd dann stehen bleibt. Die Inanitionsver- änderungen der einzelnen Zelle sind erst kürzlich zum ersten Male methodisch studiert worden von WALLENGREN !) im Göttinger physiologischen Laboratorium anParamaecium und gleichzeitig am selben Material im Münchener zoolo- gischen Institut von KASANZEFF?). Dabei zeigte sich, daß im Hunger zunächst alle sogenannten „Granula“ des Protoplasmas verbraucht werden, so daß das Entoplasma ein helles und homogenes Aussehen an- nimmt. Dann beginnt das Entoplasma selbst einzuschmelzen. Später erst wird das Ektoplasma mit seinen Differenzierungen, wie Wimpern etc., in Angriff genommen und endlich, wenn die Masse des Protoplasmas bereits stark reduziert und durch Vakuolenbildung vollkommen deformiert ist. zerfällt auch der nuklein- reiche Makronucleus bis auf sein Kernkörperchen. Bis zuletzt dagegen bleibt nahezu unverändert der Mikronucleus. Zum Schluß fällt der Rest der Zelle dem körnigen Zerfall anheim. Diese Reihenfolge, in der die ein- zelnen Teile der Zelle in Angriff genommen werden, ist interessant. Sie richtet sich ganz nach der Bedeutung, welche dieselben für die Erhaltung des Lebens haben. Zuerst wird das Reservematerial ver- braucht, dann die eigene Zellsubstanz, und zwar erst die entbehrlichen, später die lebenswichtigeren Teile. Zum Schluß bleibt nur noch ein wenig Protoplasma und ein Rest Kernsubstanz übrig. Solange dieser Rest der Zelle noch nicht dem Zerfall unterliegt, ist er auch noch fähig, bei Nahrungszufuhr die ganze Zelle wieder zu regenerieren. Man sieht, wie die Zelle beim Hunger noch lange gegen den Unter- gang geschützt ist, und wie ihr bis zum letzten Augenblick noch die Möglichkeit einer Rettung gesichert ist, gewiß eine ganz außer- ordentlich nützliche Anpassung der lebendigen Substanz. Da es eine charakteristische Eigentümlichkeit der lebendigen Substanz ist, daß sie sich fortwährend von selbst zersetzt, so ist es klar, daß bei hungernden Tieren das Stoffwechselgleichgewicht gestört sein muß. Mit den Zerfallsprodukten der lebendigen Substanz werden fortwährend Stickstoff, Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff etc. aus- 1) WALLENGREN: „Inanitionserscheinungen der Zelle“. 7. Okt. 1901. Zeitschr. f. allgem. Physiol., Bd. 1, 1902, p. 67. 2ı KASANZEFF: „Experimentelle Untersuchungen über Paramaecium caudatum“. Inaug.-Diss. Zürich 1901. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 325 geschieden, während keine neue Zufuhr stattfindet. Die Folge davon ist, daß wie bei der einzelnen Zelle, so auch beim vielzelligen Orga- nismus sich die lebendige Substanz allmählich mehr und mehr selbst aufzehrt und an Gewicht abnimmt. Auch das vielzellige Tier lebt also noch eine Zeitlang von den eigenen Geweben. Daher ist es begreiflich, daß die Pflanzenfresser in dem Verhalten ihrer Aus- scheidungen den Fleischfressern ähnlich werden. Der Harn der Pflanzenfresser, der bei normaler Ernährung alkalisch und trübe ist, wird in der Inanition sauer und klar wie der Harn der Fleisch- fresser, denn die Pflanzenfresser leben ja in der Inanition von ihrem eigenen, also von tierischem Gewebe, sie werden gewissermaßen zu Fleischfressern. So zehrt sich die lebendige Substanz allmählich mehr und mehr auf, bis das Körpergewicht einen so großen Verlust erfahren hat, daß das Tier zugrunde geht. Ömossar!) hat diese Fig. 141. Paramaecium aurelia. A normal; B, ©, D, E im Hungerzustande mit zunehmender Vacuolisation und Formveränderung des Zellkörpers ?). Grenze der Gewichtsabnahme durch viele Versuche festgestellt und hat gefunden, daß bei den verschiedensten Tieren der Tod eintritt, wenn der Gewichtsverlust etwa den 0,4 Teil des ganzen Körper- gewichts erreicht hat. Allein dieser Wert wird von verschiedenen Tieren erst nach sehr verschieden langer Zeit erreicht. Frösche leben länger als ein Jahr, und der Proteus anguineus, jenes eigen- tümliche Amphibium der Adelsberger Grotten, angeblich mehrere Jahre ohne Nahrung. Der Mensch stirbt in verhältnismäßig kurzer Zeit. Früher hatte man nur selten Gelegenheit, Menschen, die lange Zeit hungerten, zu untersuchen, und die früheren Angaben sind auch mit Vorsicht aufzunehmen. So soll im Jahre 1831 in Toulouse ein Sträfling, der nur Wasser zu sich genommen hätte, erst nach 63 Tagen gestorben sein. In neuerer Zeit, seitdem das wahrhaft „brotlose“ Gewerbe der „Hungerkünstler“ aufgekommen ist, haben die Physio- logen öfter Gelegenheit gehabt, exakte Untersuchungen an hungernden Menschen zu machen, und LucıAnI?) hat uns eine ausgezeichnete 1) CHossaT: In „M&moires pr6sentös par divers savants ä l’acad&mie royale des sciences de l’Institut de France“, T. 8, 1843. 2) Aus MAX VERWORN: „Das Neuron in Anatomie und Physiologie“. Jena 1900. 3) Lucıani: „Das Hungern. Studien und Experimente am Menschen“. Deutsch von M. FRÄNKEL. Hamburg und Leipzig 1890. 326 Viertes Kapitel. Monographie über das Hungern geliefert, die basiert auf Untersuchungen an dem bekannten Hungerkünstler Succı, der sich einem 30-tägigen Fasten unter seiner Aufsicht unterzog. Durch den Fall Succı ist zweifellos bewiesen, daß ein normaler Mensch unter günstigen Bedin- gungen sicher wenigstens 30 Tage lang ohne Nahrung existieren kann. An dem Gewichtsverluste des Körpers sind die verschiedenen Gewebe in sehr verschiedenem Maße beteiligt. Während die Zellen mancher Gewebe sehr schnell und in hohem Grade beeinträchtigt werden, erfahren diejenigen anderer Gewebe nur geringfügige Ver- änderungen. Man überzeugt sich davon durch folgenden Versuch CHossats. Zwei Tauben desselben Geleges von gleicher Größe, gleichem Geschlecht und gleichem - Gewicht werden als Versuchs- objekte benutzt. Die eine wird sofort getötet, und ihre einzelnen Gewebe werden gewogen. Die andere läßt man hungern, bis sie stirbt, um dann an ihren Geweben die gleichen Wägungen vorzu- nehmen. Auf diese Weise ermittelt man, welche Veränderungen des Gewichts die einzelnen Gewebe während der Inanition erfahren haben. Dabei findet man, daß das Fettgewebe etwa 93 Proz. seines Gewichts verloren hat, das Gewebe der Milz, des Pankreas, der Leber 71 bis 62 Proz., das der Muskeln 45—34 Proz., der Haut, der Nieren, der Lungen 33—22 Proz., der Knochen 17 Proz. und das des Nerven- systems nur etwa 2 Proz. Das Fettgewebe wird also am meisten, das Nervensystem am wenigsten betroffen. Wir haben uns freilich diese Verschiedenheiten in der Gewichtsabnahme der einzelnen Ge- webe- oder Zellenarten jedenfalls nicht so zu denken, daß sie bloß auf einer verschieden schnellen Abnahme jeder Zellengattung durch die Entziehung der Zufuhr von Nährstoffen beruht. LucıAnI ist viel- mehr mit Recht der Ansicht, daß daneben noch ein anderer Faktor eine Rolle spielt, daß nämlich unter den verschiedenartigen Gewebe- zellen ein Kampf um die Nahrung in der Weise besteht, daß die einen die im Körper vorhandenen Reservestoffe gieriger an sich reißen als die anderen und schließlich nach Verbrauch der Reservestoffe sich auch noch das Stoffmaterial der anderen selbst aneignen, um ihren Stoffwechsel zu unterhalten. Daraufhin deutet wenigstens eine inter- essante Beobachtung MIESCHERS!). Wenn die Rheinlachse aus dem Meer stromaufwärts in den Rhein wandern, sind sie kräftige, musku- löse Tiere von gutem Ernährungszustande. Während ihres 6—9- monatlichen Aufenthalts im Rhein hungern die Lachse. Dabei zeigt sich, daß ihre Muskeln, besonders die des Rückens, enorm an Vo- lumen abnehmen, während die Geschlechtsorgane sich ganz außer- ordentlich entwickeln. Hier findet also ein Kampf ums Dasein unter den Gewebeelementen der Geschlechtsorgane und der Muskeln statt, in dem die ersteren sich überlegen erweisen und sich die Substanz der letzteren für ihren eigenen Bedarf aneignen. In ähnlicher Weise wird jedenfalls auch zwischen anderen Gewebeelementen und bei anderen Tieren im Inanitionszustande ein Kampf um die Existenz stattfinden, und die gleiche Tatsache finden wir bereits an der ein- zelnen Zelle, wie uns die oben angeführten Untersuchungen von WALLENGREN (]. c.) an Infusorienzellen gezeigt haben. Die letzte Folge alles Hungerns ist aber immer der Tod. Die Uhr läuft schließ- lich ab, wenn sie nicht mehr aufgezogen wird. 1) P. MIESCHER-RÜscH: In Amtl. Ber. über die internat. Fischereiausstellung in Berlin 1880. Wissensch. Abt. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 3927 Wenn wir den Tod als das Endergebnis alles Hungerns hin- stellen, so bedarf diese Behauptung allerdings noch einer gewissen Berichtigung. Sie gilt für die Organismen nur, solange sie sich im Zustande des aktuellen Lebens befinden. Die Organismen im Zustande des latenten Lebens, wie die eingetrockneten Rädertierchen, Bärentierchen, Bakteriensporen, Samenkörner etc., bedürfen keiner Nahrung, denn, wie wir sahen !), ist bei ihnen auch mit den feinsten Hilfsmitteln kein Stoffwechsel nachzuweisen. Sie sterben also auch nicht, wenn die Nahrung in ihrer Umgebung fehlt. Hier ist die Uhr nur angehalten, aber nicht abgelaufen. >* > 3 Um schließlich noch eine Vorstellung zu gewinnen von den weit- gehenden Anpassungen einzelner Organismen an spezielle Lebens- bedingungen ganz ungewöhnlicher Art, soweit sie die Nahrung be- treffen, brauchen wir nur einen Blick auf die eigentümlichen Lebensverhältnisse gewisser Bakterien- formen zu werfen, die besonders durch die ausgezeichneten Arbeiten Wıno- GRADSKYS bekannt geworden sind. Die „Schwefelbakterien“ (Beggiatoa) bilden eine Mikroben- familie, die in faulenden Tümpeln und Pfützen des Süßwassers sowohl wie des Meerwassers lebt. Diese merkwürdigen Wesen, die als kurze Stäbchen oder lange Fäden (Fig. 142) im Wasser um- herwimmeln, können nur existieren, wenn ihnen nicht unbedeutende Mengen von Schwefelwasserstoff zur Verfürung stehen. Den Schwefelwasserstoff brauchen sie zu ihrem Stoffwechsel, indem sie aus ihm durch Oxydation freien Schwefel bilden, den sie in Gestalt von feinen, stark lichtbrechenden Körnchen in ihrem winzigen Zellleibe aufspeichern (Fig. 142), um ihn weiterhin durch fortgesetzte Oxydation in Schwefelsäure überzuführen und in dieser Form nach außen wieder abzuscheiden. Bringt man die Schwefel- bakterien in Brunnenwasser, das keinen pie. 142, Verschiedene For- Schwefelwasserstoff enthält, so gehen sie, men vonSchwetelbakterien. nachdem sie den in ihrem Körper vor- Die Körnchen im Innern sind handenen Vorrat an Schwefel oxydiert Schwefelkörnchen. Nach SCHENK : und WARMING. und ausgeschieden haben, zugrunde. Der Schwefelwasserstoff, ein Gas, das auf die meisten Organismen geradezu giftig wirkt, gehört also zu ihren Lebensbedingungen. Ohne Schwefelwasserstoff können sie nicht dauernd existieren ?). Eine ähnliche, ganz spezielle Anpassung an eigentümliche Lebens- bedingungen hat WInoGrRADSKY bei den „Eisenbakterien“ nach- o oo0on oo 0% 2,0083 o .o BE o: 000 00200 80.800. 5 © 00 00. 9,0 1) p. 157. 2) WINOGRADSKY: „Ueber Schwefelbakterien“. In Bot. Zeitung, Bd. 45, 1887. 328 Viertes Kapitel. gewiesen!). Allgemein bekannt sind die in sumpfigen Gegenden weit- verbreiteten „Raseneisensteinmoore“ mit dem fettigen, bunt schillern- den Häutchen an der Oberfläche ihrer flachen Wasserschicht und dem dieken, rötlichgelben Schlamm darunter. Das sind die Wohnsitze der Eisenbakterien, und die Produktion von Raseneisenstein ist zum Teil ihr Lebenswerk. Die Eisenbakterien brauchen nämlich kohlen- saures Eisenoxydul, das im Wasser gelöst ist, zu ihrem Stoffwechsel. Dieses Fisenkarbonat nehmen sie in sich auf und oxydieren es zu kohlensaurem Eisenoxyd, das sie nach außen wieder abgeben. Das ausgeschiedene kohlensaure Eisenoxyd geht dann mit der Zeit in bloßes Eisenoxyd über, das unlöslich ist und einen gelbbraunen Niederschlag auf den von den Bakterien ausgeschiedenen Gallerthüllen bildet, in denen ihre Leiber stecken. Kultiviert man die Eisenbakterien ohne kohlensaures Eisenoxydul, so werden ihre Lebensäußerungen immer schwächer, und schließlich scheint ein völliger Stillstand des Lebens einzutreten. Die Anwesenheit von kohlensaurem Eisenoxydul gehört also zu den Lebensbedingungen dieser merkwürdigen Mikroben. Diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, wie eigenartig die speziellen Lebensbedingungen hinsichtlich der Nahrung sich bei den verschiedenen Organismen gestalten können. Weiter auf diese speziellen Verhältnisse einzugehen, ist hier nicht der Ort; das gehört in das Gebiet der speziellen Physiologie. 2. Das Wasser. Die lebendige Substanz ist flüssig. Es ist notwendig, daß wir uns an diese physikalische Fundamentaleigenschaft der lebendigen Substanz erinnern. Der flüssige, breiartige Zustand der lebendigen Substanz ist bedingt durch die Wassermenge, die sie ent- hält, und von der man sich leicht durch Abdampfen von lebendiger Substanz überzeugen kann. Nur flüssige Massen, nicht feste, nur Substanzen, die Wasser enthalten, können lebendig sein, denn nur mit dem flüssigen Zustande ist der Stoffwechsel vereinbar. Daher sind im Organismus alle Substanzen, die fest und starr sind, wie die Binde- substanzen der Zähne, der Knochen etc., nicht lebendig. Desgleichen sinkt die Lebenstätigkeit bei Wasserentziehung. An eingetrockneten Räder- oder Bärentierchen sowie an trockenen Samen sind keine Lebens- äußerungen mehr wahrzunehmen. Erst wenn die Samen durch Zufuhr von Wasser zum Aufquellen gebracht werden, erst wenn die Substanz ihrer Zellen wieder flüssig wird, beginnt das Leben sich zu äußern. Das Wasser gehört also zu den allgemeinen Lebens- bedingungen. Wo kein Wasser ist, da ist kein Leben. Diese Schlußfolgerung ist sehr einfach und klar. Allein es gibt Fälle, in denen auch an Orten der größten Trockenheit dauernd or- sanisches Leben existiert. Jene öden, sonnendurchglühten Wüsten Asiens und Afrikas, die dem Reisenden das gewaltigste und ergreifendste Bild der Leblosigkeit vor Augen führen, deren endlose Sandflächen kaum einmal im Jahre von spärlichen Regengüssen benetzt werden, beherbergen trotz ihrer Trockenheit mannigfaltige Tier- und Pflanzen- formen. Diese scheinbare Ausnahme beruht darauf, daß alle Wüsten- organismen in ganz eigentümlicher Weise an das Leben in langer 1) WINOGRADSKY: „Ueber Eisenbakterien“. In Bot. Ztg., Bd. 46, 1888, No. 17. Von den allgemeinen Lebensbedingungen, 329 Trockenheit angepaßt sind, indem sie mit dem wenigen Wasser, das ihnen in langen Zeiträumen zu Gebote steht, äußerst sparsam und haushälterisch wirtschaften. Man ist erstaunt, in der trockensten Wüste grüne Pflanzen zu treffen, die eine Fülle von Säften enthalten, Pflanzen (Mesembry- anthemum crystal- linum), über und über mit Zellen besät, die solche Mengen von klarem Wasser beherbergen, daß sie wie kleine kristal- lene Tröpfchen aussehen (Fig. 143). Diese Wüsten- pflanzen halten das Wasser ungemein fest, indem sie entweder lösliche Stofte von sehr großem Wasser- anziehungsvermögen in ihrem Zellsaft aufspei- chern, oder indem sie mit einer feinen Wachsschicht an ihrer ganzen Ober- fläche überzogen sind, so daß bei geschlossenen Spaltöffnungen kaum eine Spur von Wasser durch Verdunstung aus dem } Pflanzenkörper herausge- Fig. 143. Mesembryanthemumerystallinum, ] k D b eine Wüstenpflanze aus Südafrika. Der angen Kann. aneben ganze Stengel und die Unterseite der Blätter sind mit besitzen sie meist sehr kristallhellen Wasserzellen besetzt. weit und flach unter dem Boden hinziehende, reich- verzweigte Wurzeln, diejede Spur von Wasser gierig aufsaugen, das gelegentlich einmal die Erde benetzt. Auch die Tiere, die durch ihre ge- ringe Lokomotionsfähig- keit an ihre trockene Heimat gefesselt sind, wie die Schnecken, schützen sich, indem sie ihre Wasserabgabe bis auf ein Minimum einschränken. Die Schnecken ver- schließen ihre Gehäuse- öffnung mit einem doppel- Fig. 144. Bacillus butyricus bei der Sporen- «ten, dichten Deckel, so bildung. a Beginnende Sporenbildung, b reife, aber daß kaum eine Spur von noch in den Bacillenstäbehen befindliche Sporen, Wasser durch Ver- ce Sporen nach Auflösung der Mutterzellmembran, 2. d Sporen, die wieder zu keimen beginnen und Bacillen dunstung den Körper aus sich hervorgehen lassen. Nach MIGULA. verlassen kann. Die Trockenkeit der Umgebung erstreckt sich also in allen diesen Fällen nicht auf die lebendige Substanz der Wüstenorganismen. Diese ist 330 Viertes Kapitel. vielmehr wie alle lebendige Substanz flüssig, und in der Tat haben alle Wüstenorganismen ein aktuelles Leben, nicht ein latentes, wenn dasselbe auch bis auf ein Minimum herabgesetzt ist. Kommt aber einmal ein leichter Regenguß, so fängt sofort ein frisches Leben an sich zu regen, die Pflanzen wachsen und blühen, und die trägen Tiere erwachen aus ihrem Sommerschlaf. In etwas anderer Weise als die Wüstenpflanzen und Wüstentiere sind andere Organismen, die zeitweilig Wassermangel durchmachen müssen, an das Leben in der Trockenheit angepaßt, indem sie in der Trockenheit sogenannte „Dauerformen“ bilden, die gegen die Trocken- heit geschützt sind. Solche Dauerformen kommen namentlich bei den einzelligen Organismen sehr weit verbreitet vor, wie die „Sporen“ der Bakterien (Fig. 144) oder die „Üysten der Rhizopoden, Sporozoön und Infusorien (Fig. 97, p. 246), die in einer dichten, völlig undurch- lässigen Haut die lebendige Zellsubstanz einschließen. Auch die Samen der Pflanzen gehören zu diesen Dauerzuständen der Organismen. In- dessen, bei allen diesen Dauerzuständen handelt es sich schon um latentes Leben, bei dem sich keine Spur von Lebensäußerungen selbst mit den feinsten Hilfsmitteln mehr nachweisen läßt. Wie wir wissen, steht in allen diesen Fällen das Leben in der Tat still wie eine auf- gezogene Uhr, die plötzlich angehalten worden ist. Aus diesen Tatsachen geht zur Genüge die Bedeutung des Wassers für die Unterhaltung des Lebens hervor. Ohne Wasser existiert kein Leben. Mit Zu- und Abnahme der Wasser- versorgeung der lebendigen Substanz innerhalb ge- wisser Grenzen steigt, sinkt und erlischt auch die In- tensität des Lebens. 3. Der Sauerstoff. PRIESTLEY, der Entdecker des Sauerstofts, selbst war es, der die fundamentale Bedeutung dieses Gases für das Leben auf der Erde erkannte, indem er Mayows genialem Vergleich der Atmung mit einem Verbrennungsprozeß durch seine epochemachende Entdeckung des Sauerstoffs und seiner Eigenschaften eine reale Grundlage gab. In der Tat wird bei der Atmung freier Sauerstoff von der lebendigen Substanz aufgenommen und dafür Kohlensäure wieder ausgeschieden. Es muß also ein Verbrennungsprozeß, eine Oxydation des Kohlen- stoffs in der lebendigen Substanz stattgefunden haben. Wenn sich daher alle Organismen wie der Mensch und die Säugetiere verhielten, an denen diese Verhältnisse der Atmung ermittelt worden sind, so würde man sagen müssen, daß der Sauerstoff eine allgemeine Lebens- bedingung ist. Das war auch bis in die neueste Zeit hinein die übliche Auffassung. Man hatte aber, wie das in der Physiologie immer wieder geschehen ist, die wenigen Erfahrungen, die man an den Wirbeltieren gemacht hatte, zu früh verallgemeinert. Wir wissen heute, daß zwar für die ganze große Mehrzahl aller Organismen die Sauerstoffversorgung eine Lebensbedingung bildet, daß aber daneben eine kleine Gruppe von Organismen existiert, die ein Leben ohne Sauerstoff führen, ja die zum Teil sogar direkt bei Sauerstoftzutritt zugrunde gehen. Das sind die anaä@roben Organismen. Freilich repräsentieren sie nur eine verhältnismäßig kleine Schar, die in einseitiger Weise an ganz spezielle Lebensbedingungen angepaßt ist, aber sie sind doch da Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 331 und so können wir den Sauerstoff nicht als eine allgemeine Lebens- bedingung der lebendigen Substanz ansprechen. Bei der ungeheuren Verbreitung der Sauerstoffatmung aber und bei dem hohen Interesse, das sie für die Auffassung der Lebensvorgänge hat, scheint es doch wohl gerechtfertigt, auch an dieser Stelle den Sauerstoff als Lebens- bedingung neben den allgemeinen Lebensbedingungen zu betrachten, um so mehr, als man vielfach noch bis in die letzte Zeit hinein den Versuch gemacht hat, auch für die anaöroben Organismen eine Sauerstoft- atmung wahrscheinlich zu machen und so die Sauerstoffversorgung der lebendigen Substanz als eine allgemeine Lebensbedingung zu retten. Man hat nämlich gesagt, es wäre denkbar, daß die anaöroben Organismen zwar keinen freien Sauerstoff aufnähmen, daß sie aber doch Sauerstoff für ihre Atmung aus chemischen Verbindungen bezögen. Indessen diese Auffassung hat sich nicht bestätigen lassen. Dagegen gibt es neuere Erfahrungen, die mit ihr nicht leicht vereinbar sein dürften. Es hat sich bei der Untersuchung dieser Fragen wiederum herausgestellt, wie äußerst wichtig es ist, daß die Physiologie sich mit ihren Ver- suchsobjekten nicht auf die paar üblichen Wirbeltiere, wie Mensch, Hund, Kaninchen, Meerschweinchen, Taube und Frosch beschränkt, sondern wie durchaus nötig es ist, daß sie auch den Kreis der wirbel- losen Tiere und der einzelligen Organismen berücksichtigt, wenn sie sich vor einseitigen und falschen Vorstellungen selbst bezüglich der Vorgänge im menschlichen Körper bewahren will. Berücksichtigt man diese Forderung bei der Untersuchung der Frage nach der Sauerstoffatmung der Organismen, so findet man, daß die Abhängigkeit verschiedener Organismenformen vom Sauerstoff un- gemein verschieden ist. Man kann die Organismen je nach ihrer Ab- hängiekeit von der Sauerstoffzufuhr in eine lange Reihe einordnen. Das eine Ende dieser Reihe bilden die Warmblüter, d. h. die aöroben Organismen, die eine Sauerstoffentziehung nur ganz kurze Zeit über- stehen, das entgegengesetzte Ende der Reihe die obligaten An- aäroben, die durch Zufuhr von Sauerstoff geschädigt werden und zugrunde gehen. Zwischen diesen beiden Polen ordnet sich die ganze übrige Zahl der Organismen ein, je nachdem sie mehr oder weniger Sauerstoff zum Leben brauchen oder, wie die fakultativen An- a&öroben, sowohl mit als ohne Sauerstoff existieren können. Schreiten wir in unserer Betrachtung von einem Ende dieser Reihe nach dem andern hin. Bekanntlich ist die Zusammensetzung der Atmosphäre in ihren wesentlichen Bestandteilen folgende: Stickstoff inkl. Argon 79,02, Sauerstoff 20,95 und Kohlensäure 0,03 Volumenteile. Diese Zusammen- setzung ist stets und überall auf der Erdoberfläche die gleiche. Wenn wir daher die Landorganismen ins Auge fassen, an denen die meisten Untersuchungen über die Abhängigkeit vom Sauerstoff gemacht worden sind, so können wir sagen, daß sie dauernd in einer Atmosphäre leben, in der rund 21 Proz. Sauerstoff vorhanden sind. Die Unter- suchungen von W. MÜLLER und PAauL BERT haben nun aber selbst für Säugetiere gezeigt, daß sie durchaus nicht an diesen Prozentgehalt und an den Druck von einerAtmosphäre gebunden sind. W. MÜLLER!) hat nämlich gefunden, daß Säuge- 1) W. MÜLLER: In Sitzungsber. d. Wiener Akad. d. Wiss., Mathem.-naturwiss. Klasse, Bd. 33, 1858. 332 Viertes Kapitel. tiere einerseits selbst mit 14 Proz. Sauerstoff noch dauernd existieren können und erst bei 7 Proz. Störungen erfahren, bis bei 3 Proz. der Erstickungstod eintritt, daß sie anderseits aber auch in reinem Sauer- stoff bei dem Druck von einer Atmosphäre ausgezeichnet weiterleben. In entsprechender Weise geht auch aus einer Versuchsreihe, die PAUL BERT!) veröffentlichte, eine weitgehende Unabhängigkeit der Tiere vom Partiardruck des Sauerstoffs hervor. In atmosphärischer Luft können Tiere noch bei einem Minimaldruck von ungefähr 250 mm Quecksilber und bei einem Maximaldruck von 15 Atmosphären existieren, während in reinem Sauerstoff das Druckminimum noch bedeutend niedriger liegt, dafür aber auch bereits ein Druck von drei Atmosphären tödlich wirkt. Ueberhaupt geht aus den Versuchen von PAuL BERT hervor, daß die Wirkungen eines zu geringen Prozentgehalts durch Erhöhung des Druckes, und die Wirkungen eines zu hohen Druckes durch eine Herabsetzung des Prozent- gehalts des Sauerstoffs innerhalb gewisser Grenzen kompensiert werden können. Als sehr merkwürdig mußte früher die Tatsache gelten, daß Säugetiere in reinem Sauerstoff bei einem Druck von nicht mehr als drei Atmosphären zugrunde gehen, und noch seltsamer mußte die Angabe von PAuL BERT anmuten, daß das unter Erstickungs- symptomen geschieht. PFLÜGER?) suchte diese Beobachtungen nun dadurch plausibel zu machen, daß er auf ein analoges Verhalten des Phosphors hinwies, der in atmosphärischer Luft sich unter Bildung von phosphoriger Säure mit dem Sauerstoff der Luft verbindet, der sich aber in einer Atmosphäre von reinem Sauerstoff nicht oxydiert. In Wirklichkeit liegen, wie wir heute wissen, die Verhältnisse indessen ganz anders. Die Tiere gehen unter den angegebenen Bedingungen nicht, wie PAuL BERT dachte, an Erstickung zugrunde, sondern an Vergiftung, und zwar an Vergiftung mit Sauerstoff. Eine große Reihe von Erfahrungen hat nämlich gezeigt, daß Sauerstoff, wenn er in zu großer Menge einwirkt, ebenso ein Gift für den Organismus ist wie irgendein anderer giftiger Stoff. Die Grenze der Konzentration liegt nur für die verschiedenen Organismen sehr verschieden hoch, je nach den Lebensbedingungen, an die sie angepaßt sind. So liegt sie bei den Säugetieren sehr hoch und wird erst erreicht in reinem Sauerstoff bei Erhöhung des Druckes auf drei Atmosphären. Bei dem Infusorium Spirostomum liegt sie, wie PÜTTER ?) gezeigt hat, bereits viel niedriger. Diese Infusorien sind durchaus a@robe Or- ganismen, d. h. sie gehen zugrunde, wenn man ihnen den Sauerstoff in ihrer Kulturflüssigkeit entzieht, und es müssen wenigstens 7—8 Proz. Sauerstoff ihnen zur Verfügung stehen, wenn man sie am Leben er- halten will. Aber schon bei 21 Proz. Sauerstoff zeigen sie nach 1—2 Stunden Lähmungssymptome, und je höher man den Prozentgehalt steigert, um so schneller gehen sie zugrunde. Ganz analog verhalten sich, wie WINOGRADSKY*) gefunden hat, die Schwefelbakterien oder 1) PAuL BERT: „Recherches experimentales sur l’influence que les changements dans la pression barometrique exercent sur les phenom£nes de la vie“. In Comptes Rendus, 1873, T. 76 und 77. 2) PFLÜGER: „Ueber die physiologische Verbrennung in den lebendigen Or- ganismen“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 10, 1875. 3) PÜTTER: „Die Wirkung erhöhter Sauerstoffspannung auf die lebendige Substanz“. In Zeitschr. f. allgem. Physiol., Bd. 3, 1904. 4) WINOGRADSKY: „Ueber Schwefelbakterien“. In Bot. Zeitung, Bd. 45, 1887. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 333 Beggiatoön, die ebenfalls schon durch den Sauerstoffgehalt der Luft geschädigt werden und im offenen Tropfen an der Luft nie länger als einige Tage am Leben bleiben. Sie halten sich infolgedessen in ihren Wassertümpeln auch immer einige Millimeter unter der Wasser- oberfläche. Auf der anderen Seite kann Beggiatoa aber auch wiederum nicht ganz ohne Sauerstoff leben, ist also ein aörobes Bak- terium. Unter den Bakterien finden wir nun auch alle möglichen Stufen der Abhängigkeit vom Sauerstoff ver- treten bis herab zu den obligaten Anaöroben. So finden wir bei ihnen außer den Aöroben von allen Stufen des Sauerstoffbedarfs auch fakultativ anaörobe Formen, die sowohl ohne Sauerstoff als mit Sauerstoff leben können, wie z. B.dieCholeravibri- onen, die vollständig anaörob ge- züchtet werden können, und denen ja auch im Darm kaum Spuren von Sauerstoff zur Verfügung stehen, die aber andrerseits, wenn ihnen Sauerstoff zur Verfügung steht, wie bei Kulturen im hängenden Tropfen, sich wieder als ungeheuer sauerstoffgierig erweisen. So finden sich schließlich unter dem großen Heere der Bakterien auch obligat ana@robe Formen, von denen die einen schneller, die anderen lang- samer durch Sauerstoff geschädigt werden, und von denen die einen schon bei den kleinsten Spuren, die anderen Fig. 145. A Rauschbrandbak- erst bei etwas größeren Mengen von terien-Kultur. Nach MiGULA.:Im Fauerstail, zugrunde s gehen. Die, ud I lenane en us Rauschbrandbazillen (Fig. 145.4), die kKolmier B Telanushekterien. Tetanusbazillen (Fig. 145 5) und die Kultur. Die Bakterien haben den Bazillen des malignen Oedems zeigen unteren Teil der Nährgelatine im rschiedenarti : Reagenzröhrchen verflüssigt und eine nes Grade der obligaten Gasblase gebildet, die sich am oberen 2 Ende der verflüssigten Masse befindet. Sehr hübsch kommt der ver- Die Bakterien sind nur im unteren, schiedene Grad des Sauerstoffbedarfs von der Luft durch eine dicke Gelatine- bei verschiedenen Formen einzelliger Shieht getrennten Teile des Reagenz- Organismen zum Ausdruck in den DL AeDE gewachen: Ansammlungslinien, die sie in ge- ringerer oder größerer Entfernung von Sauerstoffquellen bilden, und die von BEIJERINCK als Atmungslinien bezeichnet worden sind. Die sauer- stoffgierigen Formen lagern sich dicht an die Sauerstoffquelle an, die an einen geringeren Sauerstoffgehalt angepaßten Formen in einiger Entfernung und die anaöroben Formen in größter Entfernung !). Wenden wir uns nun zu den speziellen Folgen der Sauerstoff- entziehung in den Fällen obligater A&robiose, so ist es klar, daß in allen diesen Fällen, also bei der ganz überwiegenden Mehrzahl aller 1) Vergl. dazu weiter unten den Abschnitt über Chemotaxis. 334 Viertes Kapitel. Organismen, das Leben schließlich aufhört, wenn die Sauerstoffzufuhr unterbrochen wird. Es entwickelt sich dann der Vorgang, den wir als „Erstiekung“ bezeichnen. Die Erstiekung tritt bei den verschiedenen Organismen und ebenso bei den verschiedenen Zellformen eines und desselben Organismus innerhalb sehr verschieden langer Zeit nach der Sauer- stoffentziehung ein, ebenso wie auch bei Nahrungsentziehung die ver- schiedenen Zellformen in sehr verschieden langer Zeit zugrunde gehen. Immer aber erfolgt nach Sauerstoffentziehung die Erstickung unver- gleichlich viel schneller als nach Nahrungsentziehung der Hungertod. Am schnellsten ersticken die Warmblüter. Bei ihnen be- ginnen die Erstickungssymptome bereits wenige Minuten nach der Sauerstoffentziehung mit einer Lähmung der Zellen der Großhirnrinde: das Bewußtsein schwindet. Der Symptomenkomplex, der sich dann rapide weiter entwickelt, zeigt zuerst starke Erregungsvorgänge im Gebiete des verlängerten Markes.. So wird das Atemzentrum immer mehr erregt: die Atmung wird tiefer, die akzessorischen Atem- muskeln treten mit in Tätigkeit, bald ist die Atmung bis zum Maxi- mum forciert. Vom Atemzentrum breitet sich die Erregung über das ganze motorische Sammelzentrum des verlängerten Markes aus, das sämtliche Körpermuskeln versorgt: es brechen klonische Krämpfe aus, die den ganzen Körper schütteln, die sogenannten TENNER-KUSS- MAuLschen Erstickungskrämpfe. Ferner ergreift die Erregung das Herzvaguszentrum, d. h. das Zentrum der Herzhemmungsnerven im verlängerten Mark: das Herz schlägt langsamer, die Pausen werden größer, schließlich bleibt es im diastolischen Zustande völlig erschlafft und mit Blut gefüllt stehen. Auch das Gefäßnervenzentrum des ver- längerten Markes wird erregt und führt eine heftige Zusammenziehung der Blutgefäße herbei. Schließlich weicht die Erregung in allen diesen Zentren einer schnell fortschreitenden Lähmung, die bald zum völligen Stillstand aller von diesen Zentren aus versorgten Funktionen führt: die Atmung wird schnappend, flach, die einzelnen Atemzüge erfolgen in langen Pausen und hören schließlich ganz auf; die Krämpfe lassen nach und weichen allmählich einer Erschlaffung aller Muskeln; das Herz beginnt noch einmal zu schlagen, aber seine Schläge werden immer schwächer, bis es nach längerer Zeit still steht; nur die Ge- fäßmuskulatur bleibt kontrahiert, aber diese Kontraktion hat keinen zentralen Ursprung. So stirbt das Tier. Viel weniger stürmisch ist der Verlauf der Erstickungssymptome bei kaltblütigen Wirbeltieren, z. B. bei Fröschen. Frösche können auch in einer vollkommen sauerstofffreien, reinen Stickstoff- atmosphäre noch viele Stunden am Leben bleiben. An Fröschen sind in neuerer Zeit auch zahlreiche Versuche gemacht worden über die Erstickung einzelner Organe und Gewebe. Wenn man bei einem Frosch das Blut durch eine sauerstofffreie Kochsalzlösung von 0,8 Proz. vollständig verdrängt, so daß den Zellen der Gewebe keine Spur von Sauerstoff mehr zugeführt wird, und daß statt des Blutes eine indifferente Kochsalzlösung in seinen Adern zirkuliert, so dauert es doch bei niedriger Außentemperatur einige Stunden, bis die Zellen des Zentralnervensystems vollständig un- erregbar geworden sind. Führt man dann mit der Kochsalzlösung wieder eine gewisse Menge Sauerstoff in die Zirkulation ein, so ist in wenigen Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 335 Minuten die Erregbarkeit wieder vollständig hergestellt!). Es ist das unter den Gewebezellen eins der besten Beispiele für die wichtige Rolle, die der Sauerstoff als Lebensbedingung spielt. Für den Nerven hat H. von BAEYER?) kürzlich die gleiche Tatsache nachgewiesen und FRÖHLICH hat dieselbe bestätigt und weiter verfolgt. In einer voll- kommen reinen Stickstoffatmosphäre wird der Nerv, je nach der Temperatur, unter der das Tier in der letzten Zeit lebte, in etwa zwei bis acht Stunden nicht nur unerregbar, sondern auch leitungs- unfähig. Bei der geringsten Zufuhr von Sauerstoff restituiert er sich aber schon innerhalb einer Minute bis zu seiner vollen Funktions- JI Fig. 146. [ ENGELMANNsche Gaskammer. Ein ringförmiger Hohlraum ist unten von einer Glasplatte geschlossen und oben mit einem Metalldeckel bedeckt, der in seiner Mitte ein Deckglas für die Untersuchung im hängenden Tropfen besitzt; a a’ sind Heiz- röhren, die in den Hohlraum des Ringes I selbst münden, so daß der Ring durch durch- strömendes warmes Wasser geheizt werden kann; b b‘ sind Röhren, die in die glasbedeckte Kammer selbst einmünden und zum Hindurchleiten des Gases dienen, so daß der am Deckglas hängende Tropfen mit seinem lebendigen Inhalt in der Kammer vom Gase um- spült wird. // Versuchsanordnung zur Untersuchung in reinem Wasser- stoff. a KıPpPscher Apparat zur Wasserstoffentwieklung, b zwei Waschflaschen zur Reini- gung des Wasserstoffs, ce Mikroskop, unter dem sich die Gaskammer mit hängendem Tropfen befindet. fähigkeit. Andere Zellformen von Geweben der Kaltblüter sind noch viel unabhängiger vom Sauerstoff und gehen erst nach langer Zeit an Sauerstoffmangel zugrunde. Macht man aber den Kaltblüter, z. B. den Frosch, künstlich zum Warmblüter, indem man ihn in einen Wärmekasten bringt und seine Temperatur erhöht, so erstickt er, wie WINTERSTEIN gezeigt hat, genau so wie der Warmblüter in einigen Minuten. Dazu genügen schon Temperaturen von etwa 30° C. Ja, 1) MAx VERWORN: „Ermüdung, Erschöpfung und Erholung der nervösen Zentra des Rückenmarks. Ein Beitrag zur Kenntnis der Lebensvorgänge in den Neuronen“. In Arch. f. Anat. u. Physiol., Physiol. Abt., 1900, Suppl. 2) H. von BAEYER: „Das Sauerstoffbedürfnis des Nerven“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 2, 1902. 336 Viertes Kapitel. WINTERSTEIN!) fand, daß bei einer Temperatur von 33 bis 35° C die Zellen des Nervensystems bereits ohne Abschluß der Sauerstoffzufuhr unter heftigen Erregungssymptonen ersticken, weil die Sauerstoffver- sorgung der Zentra nicht mehr mit ihrem Sauerstoffbedarf gleichen Schritt halten kann. Ein auf diese Weise gelähmter Frosch erholt sich auch bei Abkühlung in einer sauerstofffreien Atmosphäre nicht wieder, sondern kann nur durch Zufuhr von neuem Sauerstoff nach Abkühlung wieder belebt werden. Für einzellige, freilebende Organismen hat man ebenso wie für den Kaltblüternerven im reinen Stickstoff oder Wasserstoff ein be- quemes Mittel, um den Sauerstoff vollständig auszuschließen, ohne andere schädigende Momente in den Versuch einzuführen. Man braucht zu diesem Zweck nur chemisch reinen Stickstoff oder Wasser- stoff durch eine geschlossene Gaskammer zu leiten, wie sie am zweck- mäßigsten ENGELMANN für mikroskopische Untersuchungen konstruiert hat (Fig. 1461). In eine solche Gaskammer werden die zu unter- suchenden Zellen in einem hängenden Tropfen des flüssigen Mediums, in dem sie leben, gesetzt und beobachtet. Durch eine Reihe von Versuchen hat KÜHnE?) gezeigt, daß nach Verdrängung der Luft durch Wasserstoff Amöben erst nach etwa 24 Minuten allmählich ihre Bewegungen einstellen. Aus diesem Zustande können sie durch erneute Zufuhr von atmosphärischer Luft wieder zum Leben gebracht werden. Dagegen sterben sie, wenn sie einige Zeit länger unter Sauerstoffabschluß verweilen. Große Myxomycetenplasmodien stellen oft erst nach drei Stunden im sauerstofffreien Medium ihre Protoplasmabewegung ein und sterben noch später. Für das Studium der Frage, in welcher Weise die beiden Phasen der Kontraktionsbewegungen, die Expansions- und die Kontraktions- phase, durch die Sauerstoffentziehung beeinflußt werden, sind die marinen Rhizopoden mit ihren langen Pseudopodien, an denen die Bewegung jedes Protoplasmateilchens auf eine sehr große Strecke hin ausgedehnt ist, die günstigsten Objekte?). Bringt man z. B. das Rhizoplasma Kaiseri, ein nacktes Rhizopod, aus dessen ein- kernigem, orangerotem Zellkörper nach allen Seiten hin dünne anasto- mosierende Pseudopodien mit ungemein lebhafter Protoplasmaströmung ausstrahlen (Fig. 147 I), in die EnGELMANNsche Gaskammer und leitet einen Wasserstoffstrom hindurch, so sieht man, daß erst nach 1'/, bis 3 Stunden die Wirkungen der Sauerstoffentziehung bemerkbar werden. Die zentrifugale Protoplasmaströmung, die vorher sehr lebhaft war, so daß sich die Pseudopodien ausstreckten, wird schwächer und schwächer, bis sie schließlich ganz aufhört. Statt dessen besteht die zentripetale Strömung noch eine Zeitlang fort, so daß die Pseudo- podien sich langsam verkürzen. Allmählich läßt aber auch die zentri- petale Strömung mehr und mehr nach, und bald ist sie kaum noch bemerkbar. Das Protoplasma hat sich an den Verzweigungsstellen zu winzigen Anhäufungen gesammelt, die aber nicht kuglig und spindel- förmig sind, wie bei stärkerer kontraktorischer Erregung, sondern 1) H. WINTERSTEIN: „Ueber die Wirkung der Wärme auf den Biotonus der Nervenzentren“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 1, 1902. nr 2) a „Untersuchungen über das Protoplasma und die Kontraktilität“. eipzig 1864. . 3) MAx VERWORN: „Zellphysiologische Studien am Roten Meer“. In Sitzungsber. d. Kgl. Preuß. Akad. d. Wiss. zu Berlin, Bd. 46, 1896. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 337 II Fig. 147. Rhizoplasma Kaiseri. J/ Individuum in normalem Zustande mit ausge- streckten Pseudopodien und lebhafter Protoplasmaströmung. // Individuum mit Stillstand der Protoplasmabewegung nach Sauerstoffentziehung. Das Protoplasma bildet auf den Verzweigung-stellen der Pseudopodien kleine eckige Anhäufungen. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 22 358 Viertes Kapitel. mehr spitzig, eckig und zackig. In dieser Form bleibt das Rhizo- plasma schließlich bewegungslos liegen (Fig. 147 IT). Exemplare mit kürzeren Pseudopodien haben dieselben zuletzt ganz eingezogen. Es ist also durch die Sauerstoffentziehung zuerst die Expansionsphase (die zentrifugale Protoplasmaströ- mung) und dann erst allmählich die Kontraktionsphase (die zentripetale Protoplasmaströmung) zum Stillstand gekommen. Läßt man nunmehr von neuem atmosphärische Luft hinzu, so treten bereits nach fünf Minuten wieder die ersten neuen Pseudopodienspitzen aus dem zentralen Zellkörper hervor. Nach etwa zehn Minuten wird auch auf den alten Pseudopodien wieder eine leb- hafte Strömung bemerkbar. Es kommt ein neuer Protoplasmastrom auf ihnen vom Zentrum her, und die kleinen Anhäufungen zerteilen sich, indem ihre Substanz teils zentripetal, teils zentrifugal weiter- fließt. Auf diese Weise glätten sich die Pseudopodien, ihre Strömung wird lebhafter, und nach einer halben Stunde hat das Ganze wieder dasselbe Aussehen wie am Anfang des Versuchs. Auch an Flimmerzellen konnte ENGELMANN feststellen, daß sie noch mehrere Stunden lang ohne Sauerstoff fortzuleben imstande sind, und für verschiedene Wimperinfusorienformen hat PÜTTER!) eben- falls ein längeres oder kürzeres Ueberleben im sauerstofffreien Medium nachweisen Können. Das gleiche hat schließlich HERMANN für den Muskel gezeigt, indem er von den beiden, vollständig gleichen Musculi gastrocnemii eines Frosches den einen in einen Zylinder mit reinem Wasserstoff, den anderen in einen Zylinder mit sauerstoffhaltiger Luft brachte und mittels elektrischer Reize, die gleichzeitig beide Muskeln trafen, ihre Erreebarkeit prüfte. Der Muskel im reinen Wassertoff lebte noch mehrere Stunden bis zu einem Tage, ehe er unerregbar wurde, und der andere Muskel im Sauerstoff blieb stets nur wenige Stunden länger erregbar. Schließlich gibt es auch aörobe Organismen, die länger als einige Stunden oder einen Tag ohne Sauerstoff existieren können. Dazu ge- hören besonders einige parasitär lebende Würmer. So hat BunGE?) Spulwürmer und PÜTTErR?) Blutegel mehrere Tage in einem völlig sauerstoftfreien Medium am Leben erhalten. Aus allen diesen Versuchen geht hervor, daß gewisse aörobe Zellen längere Zeit in einem sauerstofffreien Medium am Leben bleiben können. Es entsteht nun aber die Frage, wie ein solches kürzeres oder längeres Ueberleben aörober Formen der lebendigen Substanz nach Sauerstoffentziehung zu denken ist. Es liegt zunächst die Annahme nahe, daß dieses Ueberleben möglich wird mit Hilfe einer gewissen Menge von Reservesauerstoft, den der Organismus in sich enthält. Diese Annahme ist denn auch von zahlreichen Forschern, wie PFLÜGER, ROSENTHAL, H. von BAEYER u.a. gemacht worden, während sie von einzelnen anderen Forschern wie ZunTz und WINTERSTEIN, abgelehnt 3 1) a „Die Atmung der Protozoön“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, un el05: 2) BUNGE: „Ueber das Sauerstoffbedürfnis der Darmparasiten“. In Zeitschr. f. physiolog. Chemie, Bd. 8, 1883. 3) PÜrTTER: „Der Stoffwechsel des Blutegels (Hirudo medicinalis)“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 6, 1907, und Bd. 8, 1908. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 339 worden ist. Indessen wird man doch wohl kaum leugnen können, daß wenigstens in vielen Fällen eine gewisse, wenn auch immer nur verhältnismäßig geringe Menge von Sauerstoff in den Organismen aufgespeichert ist. Einen Fall, in dem wir das tatsächlich feststellen können, haben wir ja in den Wirbeltieren vor uns. Hier ist Sauer- stoff, an Hämoglobin gebunden, auch noch nach äußerer Sauerstoft- entziehung in Reserveform vorhanden. Beim Warmblüter ist diese Sauerstoffmenge wegen des intensiven Stoftwechsels der Gewebe allerdings in wenigen Minuten vollständig verbraucht, aber beim Kaltblüter, namentlich wenn sein Stoffwechsel bei niedriger Tempe- ratur eine geringere Intensität hat, hält diese Reservemenge von Sauerstoff bedeutend länger vor. Es ist nun aber aus gewissen Er- fahrungen sehr wahrscheinlich, daß, so wie hier im Blute, wenigstens bei vielen Kaltblütern, auch intrazellular kleine Reservemengen von Sauerstoff vorhanden sind, die bei äußerer Sauerstoffentziehung ver- braucht werden. Immerhin würde es sich dabei — und das muß immer im Auge behalten werden — stets nur um verhältnismäßig kleine Mengen handeln gegenüber den großen Mengen von orga- nischem Reservematerial, das jede Zelle aufgespeichert enthält. Für bestimmte Fälle, in denen die Erstickung erst mehrere Tage nach der Sauerstoffentziehung eintritt, würden daher diese kleinen Reserve- mengen von Sauerstoff unmöglich ausreichen, um das lange Ueber- leben verständlich zu machen. Es bleibt daher nur die Annahme übrig, daß in allen Fällen, in denen nach völligem Aufbrauche alles zur Verfügung stehenden Sauerstoffs das Leben dennoch eine Zeitlang bestehen bleibt, ein Stoffwechsel ohne Sauerstoff stattfindet, also ein Stoffwechsel, in dem die Dissimilationsphase nicht wie unter normalen Verhältnissen bei aöroben Organismen im wesentlichen in oxyda- tiven Spaltungen besteht, sondern in Spaltungsvorgängen anderer Art. In der Tat hat PÜTTER (l. ce.) bei Untersuchungen über den Stoff- wechsel des Blutegels feststellen können, daß, während bei diesem Tier von dem gesamten Energieumsatz im Falle der Sauerstofizufuhr 60 Proz. durch oxydative Spaltungen, 10 Proz. durch hydrolytische und 30 Proz. durch Spaltungsprozesse anderer Art bestritten werden, demgegenüber im Falle der Sauerstoffentziehung die oxydativen Spaltungen überhaupt keine Rolle mehr spielen, dagegen der ganze Energieumsatz zu 10—20 Proz. durch hydrolytische und zu 3090 Proz. durch andere Spaltungsprozesse gedeckt wird. Es fragt sich aber nun schließlich noch, warum das Leben dann bei diesen Organismen nach Sauerstoffentziehung nicht dauernd durch solche nicht oxydative Spaltungsvorgänge unterhalten werden kann, wenn genügende Nahrungsmengen zur Verfügung stehen, denn es ist eine allgemeine Tatsache: Bei Sauerstoffentziehung gehen die obligat aöäroben Organismen nach kürzerer oder längerer Zeit schließlich unter Lähmungssymptomen aus- nahmslos zugrunde. Die Antwort auf diese Frage ist offenbar die, daß bei allen obligat aöroben Organismen nach Sauerstoff- entziehung durch die nicht oxydativen Spaltungsprozesse Stoffe gebildet und angehäuft werden, die allmählich lähmend und vergiftend auf die lebendige Substanz wirken, weil sie nicht in dem Maße ausgeschieden werden können, wie sie entstehen. Sie können aber höchstwahr- scheinlich nicht in dem Maße ausgeschieden werden, weil sie in dieser Form überhaupt schwer ausscheidbar sind, da sie nicht bis zu Das 340 Viertes Kapitel. leicht ausscheidbaren Stoffen wie Kohlensäure, Wasser und Ammoniak- verbindungen gespalten sind. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um komplexe stickstoffhaltige Spaltungsprodukte des Eiweißes. Daß aber in anderen Fällen solche lähmenden Stoffwechselprodukte sich nach Sauerstoffentziehung offenbar nicht anhäufen, zeigen die fakul- tativ anaöroben Organismen, die bei Sauerstoffzufuhr einen aöroben Stoffwechsel mit oxydativen Spaltungen haben, bei Sauerstoffentziehung dagegen dauernd a@rob auf Kosten anderer Spaltungsprozesse zu leben vermögen. Damit ist nun allerdings nicht gesagt, daß die Lähmung, die bei der Erstickung aller obligat aöroben Organismen schließlich eintritt, immer nur allein auf einer Vergiftung durch schwer ausscheidbare Produkte des aöroben Stoffwechsels beruht. Es ist vielmehr nicht unwahrscheinlich, daß im allgemeinen die Abnahme der Erregbar- keit bei Sauerstoffentziehung zum Teil auch auf den Fortfall der oxydativen Spaltungen zurückzuführen ist, die ja die größte Energie- entwicklung liefern, da bei ihnen ein großes labiles Molekül sofort bis zu den einfachsten energiefreien Endprodukten wie Kohlensäure und Wasser zerfällt. Wie eroß aber der relative Anteil beider Komponenten an dem Verlust der Erregbarkeit, d.h. an der Lähmung bei der Erstickung ist, läßt sich vorläufig gar nicht entscheiden. Es ist sehr wahrscheinlich, daß er bei verschiedenen Formen der leben- digen Substanz sehr verschieden sein wird. Auf jeden Fall dürfen wir nicht vergessen, daß die verschiedenen Formen der Anaörobiose und die sehr verschieden entwickelte Fähig- keit verschiedener Organismen zum anaöroben Leben so einseitige Anpassungen an ganz spezielle Lebensbedingungen vorstellen, daß wir sehr vorsichtig sein müssen, wenn wir aus den Erfahrungen über den anaöroben Stoffwechsel Schlüsse ziehen wollen auf den aöroben Stoffwechsel und vor allem, daß wir uns hüten müssen, einzelne Tat- sachen, die im anaeroben Stoffwechsel beobachtet werden, zu ver- allgemeinern. Was uns die Untersuchungen über den anaöroben Stoffwechsel gelehrt haben, ist in erster Linie die wichtige Tatsache, daß es bezüglich der Prinzipien des Stoffwechsels nicht die allgemeine Einheitlichkeit in der Organismenwelt gibt, die wir uns früher dachten, als wir, die Erfahrungen an den Wirbeltieren verallgemeinernd, noch glaubten, daß die Sauerstoffatmung ein allgemeiner Teilprozeß alles Stoffwechsels und die Sauerstoffzufuhr eine allgemeine Lebensbedingung sei. 4. Die Temperatur. Außer den Bedingungen der Stoffzufuhr, von denen der Stoff- wechsel unmittelbar abhängig ist, müssen noch andere Bedingungen erfüllt sein, wenn Leben dauernd bestehen soll. Dazu gehört vor allen Dingen eine Temperatur innerhalb gewisser Grenzen. Es ist bekannt, daß die chemischen Prozesse in hohem Grade unter dem Einfluß der Temperatur stehen. Hohe Temperaturen führen im allgemeinen zur Dissoziation von Verbindungen, die sich bei niederen Temperaturen nur sehr langsam zersetzen. Die Wärme wirkt bei chemischen Prozessen immer als Beschleuniger. Die leben- dige Substanz ist ein Gemisch von zahlreichen chemischen Stoffen, unter denen sich sehr komplizierte Verbindungen in sehr labilem Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 341 Zustande befinden. Es liegt also auf der Hand, daß auch die lebendige Substanz in hohem Grade von der Temperatur abhängig sein muß, und daß das Leben nur innerhalb bestimmter Temperaturgrenzen be- stehen kann. Diese Temperaturgrenzen, das Temperaturminimum und das Temperaturmaximum, sind freilich für die verschiedenen Formen der lebendigen Substanz durchaus verschieden. Temperaturen, bei denen die einen gedeihen, sind für andere Organismen schon tödlich. Aber es interessiert uns hier nicht, für die einzelnen Organismen- formen die obere und untere Temperaturgrenze festzustellen, sondern es kommt uns allein darauf an, zu prüfen, welches das Temperatur- minimum und -Maximum ist, bei dem überhaupt noch Leben auf der Erdoberfläche existieren kann. Es ist vielfach schon die Beobachtung gemacht worden, daß poikilotherme Tiere und Pflanzen einfrieren können, ohne ihre Lebens- fähigkeit dadurch zu verlieren. So sah JOHN FRANKLIN auf seiner Polarreise im Jahre 1820 Karpfen, nachdem sie steinhart gefroren waren, beim Erwärmen am Feuer wieder lebendig werden und um- herspringen, obwohl an den geschlachteten Exemplaren die Eingeweide so fest waren, daß sie als ein einziges Stück entfernt werden konnten. Ebenso brachte DumErıL Frösche, die in kalter Luft von —4° bis — 12° hart gefroren waren, durch vorsichtiges Erwärmen wieder zum Leben, und auch PREYER!), der eine Reihe diesbezüglicher Angaben gesammelt hat, machte die Beobachtung, daß festgefrorene Frösche, wenn ihre Innentemperatur —2,5° C nicht erreicht hatte, wieder be- lebt werden konnten. Aehnliche Beobachtungen konnte ROMANES an Medusen (Aurelia aurita) machen, deren weicher, gallertartiger Körper von lauter feinen Eiskristallen durchschossen war. Allein, alle diese Angaben sind mit einiger Kritik aufzufassen. Zweifellos ist wohl die Tatsache, daß alle diese Tiere wirklich fest in Eis ein- frieren und dennoch nach vorsichtigem Auftauen wieder ins Leben zurückkehren können; aber bei allen diesen Beobachtungen ist es nicht entschieden, ob die lebendige Substanz der Zellen selbst eine Temperatur unter 0° © besitzt. Bekanntlich produzieren alle Zellen eine gewisse Menge Wärme durch ihren Stoffwechsel, und ihre Innen- temperatur könnte, wenn sie eingefroren sind, infolgedessen bei kürzerem Einfrieren um ein geringes höher sein als die des um- gebenden Eises. Es wäre daher möglich, daß in allen diesen Be- obachtungen die lebendige Substanz der Zellen selbst gar nicht eine Abkühlung auf 0° oder unter 0° © erfahren hätte. Es bedurfte also genauerer Untersuchungen, um die Frage zu entscheiden, ob die lebendige Zelle selbst eine Abkühlung ihrer Substanz bis auf oder unter 0° © ohne Schaden erträgt. Derartige Versuche hat zuerst KÜHnE angestellt. KÜHNE?) setzte in einem Uhrschälchen einen Tropfen Wasser, in dem sich viele Amöben befanden, auf Eis und fand, daß allmählich, entsprechend der Abkühlung, die Bewegungen der Amöben lang- samer und langsamer wurden, bis sie schließlich ganz aufhörten und die Amöben vollständig regungslos liegen blieben. Wurde der Tropfen dann wieder auf gewöhnliche Zimmertemperatur gebracht, so 1) PREYER: „Naturwissenschaftliche Tatsachen und Probleme“. Berlin 1880. 2) W. KÜHNE: „Untersuchungen über das Protoplasma und die Kontraktilität“. Leipzig 1864. 342 Viertes Kapitel. stellten sich die Bewegungen wieder ein. Die Amöben waren also am Leben geblieben. Anders aber gestaltete sich der Erfolg, wenn Künne den Tropfen mit den Amöben selbst einfrieren ließ. Als- dann blieben die Amöben auch nach dem Erwärmen regungslos und waren nicht mehr ins Leben zurückzurufen. Sehr eingehende Versuche stellte in neuerer Zeit Kochs'!) an Fröschen und Wasserkäfern an. Er ließ diese Tiere in Gläsern mit Wasser einfrieren. Dabei blieb aber, wenn die Temperatur nicht sehr niedrig war, um die Tiere herum, rings vom Eise umschlossen, eine flüssige Wassermasse, deren Temperatur, wie sich nach Durch- bohrung der Eismasse zeigte, 2° über dem Nullpunkt war. Fror auch diese letzte Wasserschicht nach der Anbohrung noch ein, so konnten die Tiere noch durch Erwärmen zum Leben gebracht werden, wenn sie nicht länger als 5—6 Stunden eingefroren waren. Bei dem Durch- sägen derartiger Präparate stellte sich aber heraus, daß die Tiere innen noch nicht hart gefroren waren. Wurde der Versuch dagegen so weit ausgedehnt, daß auch das Innere der Tiere hart gefroren war, was eintrat, wenn sie in kalte Luft von —4° Ü gebracht wurden, so waren alle Wiederbelebungsversuche vergeblich. Die umfassendsten und an interessanten Ergebnissen reichsten Experimente hat kürzlich BACHMETJEW?) an Schmetterlingen angestellt, indem er sich der thermoälektrischen Methode für die Temperaturmessung der Körperbestandteile bediente. Es hat sich bei seinen Versuchen ergeben, daß sich die Körpersäfte der Schmetterlinge ähnlich verhalten wie gewisse Flüssigkeiten, die unter ihren normalen Erstarrungspunkt bis zu einem bestimmten Temperaturgrade durch langsame Temperaturerniedrigung in flüssigem Zustande abgekühlt werden können, ohne zu erstarren. Erst wenn die „Unterkühlung“ einen bestimmten Temperaturgrad, den „kritischen Punkt“, erreicht hat, tritt die Erstarrung ein, und zwar unter dem Vorgange des sogenannten „Temperatursprunges“, d. h. einer plötzlichen Temperatur- erhöhung. Auf diese Weise können die Schmetterlinge eine beträcht- liche Temperaturerniedrigung ertragen, ohne daß ihre Körpersäfte gefrieren. Aber auch vollständig erstarrte Schmetterlinge konnte BACHMETJEW durch Erhöhung der Temperatur wieder beleben. Be- züglich der großen Fülle von interessanten Einzelheiten, welche die Untersuchungen von BACHMETJEW ergeben haben, muß auf die Originalarbeiten verwiesen werden. Allen früheren Erfahrungen hat aber vor einiger Zeit RAOUL PıcTErT?) Tatsachen hinzugefügt, nach denen wir, wie es scheint, nun- mehr unsere Vorstellungen ganz verändern müssen. Der bekannte Forscher, der uns bereits früher mit einer Anzahl außerordentlich wertvoller Entdeckungen über die chemischen Wir- kungen der niedrigsten Temperaturen überrascht hat, stellte vor 1) W.Kocns: „Kann die Kontinuität der Lebensvorgänge zeitweilig unterbrochen werden?“ In Biol. Centralbi., Bd. 10, No. 22, 1890. 2) BACHMETJEW: „Experimentelle entomologische Studien vom physikalisch- chemischen Standpunkte aus. 1. Bd.: Temperaturverhältnisse bei Insekten“. Leipzig 1901. — Derselbe: ‚Kalorimetrische Messungen an Schmetterlingspuppen“. In Zeitschr. f. wiss. Zool., Bd. 71, 1902. — Derselbe: „Ein neu entdecktes Schutzmittel bei Schmetterlingspuppen gegen Kälte“. Societas entomologica, Jahrg. 16, 192. 3) RAOUL PICTET: „Das Leben und die niederen Temperaturen“. In Revue scientifique, T. 52, 1893. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 343 einigen Jahren in seinem Laboratorium Versuche an über die physio- logische Wirkung extrem niedriger Temperaturen. Die Versuchs- objekte wurden durch Holz vor der Berührung mit den Metallwänden des Kältegefäßes, in das sie gebracht wurden, geschützt, so daß sie nur der niedrigen Lufttemperatur ausgesetzt waren. Dabei zeigte sich, daß sich die verschiedenen Tiere sehr verschieden verhielten. Fische, die in einem Eisblock auf —15° C abgekühlt wurden, blieben nach vorsichtiger Erwärmung dennoch am Leben, obwohl ihre Ver- suchsgenossen sich wie das Eis selbst zu Pulver zerstampfen ließen. Dagegen gingen die Fische bei einer Abkühlung auf —20° C zu- grunde. Frösche ertrugen eine Temperatur von —28°C, Tausend- füßer von —50°C und Schnecken sogar von —120° C, ohne zu sterben; ja Bakterien überstanden eine Temperatur von unter —200° C! Nach diesen überraschenden Versuchen dürfte es jetzt kaum noch zweifelhaft sein, daß die lebendige Substanz der Zellen selbst in einzelnen Fällen zu Eis gefrieren kann, ohne ihre Lebensfähig- keit einzubüßen. In der Tat haben die Angaben RAoUL PICTETS durch die neuen und sehr gewissenhaften Versuche MACFADYENS!) speziell für die Bakterien eine volle Bestätigung erfahren; ja, sie sind sogar noch übertroffen worden. MACFADYEN konnte feststellen, daß Kulturen von verschiedenen Bakterienarten, von den sehr hinfälligen Cholera- spirillen an bis zu den sehr resistenten Milzbrandsporen, den Temperaturen flüssiger Luft von ca. —190° 0 1—7 Tage ausgesetzt werden können, ohne ihre Lebensfähickeit und Virulenz einzubüßen. Kulturen von Bacterium phosphorescens hören bei so niedrigen Temperaturen auf zu leuchten, beginnen aber sofort wieder mit ihrer Liehtentwicklung, wenn sie herausgenommen werden. Die Grenze, bei der die Lebensfähigkeit der Bakterienkulturen erlischt, konnte auch MACFADYEN nicht erreichen, obwohl er mit flüssigem Wasserstoff Temperaturen von —252° © erzielte. Aber auch bei dieser Tempe- ratur, die nur noch 21° GC über dem absoluten Nullpunkt liegt, wurde die Lebensfähigkeit der Bakterien trotz 10-stündiger Dauer des Versuchs in keiner Weise geschädigt. An diese Tatsachen knüpfen sich verschiedene Fragen. Zunächst entsteht die Frage: Woran liegt es, daß die lebendige Substanz mancher Organismen zugrunde geht beim Gefrieren, wenn doch andere Fälle zeigen, daß die lebendige Substanz mancher Organismen ohne Schaden einfrieren kann? Es sind von vornherein nicht ohne weiteres die näheren Bedingungen für den Tod in den ersteren Fällen zu ersehen. Dennoch haben die Bemühungen be- sonders der Botaniker in neuerer Zeit ein Verständnis in dieser Be- ziehung angebahnt. Durch die Untersuchungen von MoLIScH ?) ist es im höchsten Grade wahrscheinlich geworden, „daß der Gefriertod der 1) MACFADYEN: „On the influence of the temperature of liquid air on Bac- teria“. In Proceedings of the Royal Society, Vol. 66, 1900. — Derselbe und Row- LAND: „Further Note on the influence“ etc. Ebenda. — Derselbe: „Influence of the temperature of liquid Hydrogen on Bacteria“. Ebenda. — Derselbe: „The ef- fect of physical agents on Bacterial life“. Royal Inst. of Great Britain, Friday, June 8, 1900. 2) Hans MoLIscH: „Untersuchungen über das Erfrieren der Pflanzen“, Jena 1897. 344 Viertes Kapitel. Pflanze im wesentlichen auf einen zu großen, durch die Eisbildung hervorgerufenen Wasserverlust des Protoplasmas zurückzuführen ist“. Durch den Wasserverlust wird die chemische Struktur der spezifischen Verbindungen des Protoplasmas offenbar in vielen Fällen so weit- gehend verändert, daß infolgedessen die Lebensfähigkeit dadurch ver- nichtet wird. Daß die verschiedenen Formen der lebendigen Substanz in sehr verschiedenem Grade durch den Wasserverlust beeinflußt werden, ist ja bekannt. Es braucht nur daran erinnert zu werden, daß die IIb IIe Fig. 148. I Wässerige 2-proz. Gelatinelösung gefroren und sodann aufgetaut. IT Amöbe, a normal, 5b eingefroren. Innerhalb der Amöbe bildet sich an zahl- reichen Punkten unter Abscheidung von Luftbläschen (2!) Eis auf Kosten des Plasma- und Vakuolenwassers; dadurch wird das Plasma (p) samt seinen festen Einlagerungen zwischen die Eisklümpcehen (e) als unregelmäßiges Gerüstwerk zusammengedrängt. c aufgetaut. Die Amöbe zeigt deutlich die Lakunen, die vorher von Eis erfüllt waren, dazwischen das tote Plasmagerüst. Nach MOLISCH. meisten Organismen beim Eintrocknen ihre Lebensfähigkeit verlieren, während andere dabei nur in den Zustand des Scheintodes übergehen (p. 153 u. ff.), ohne doch ihre Lebensfähigkeit einzubüßen. So wird es, wenn das Einfrieren durch Wasserentziehung wirkt, verständlich, daß die einen Organismen das Einfrieren vertragen, während die anderen dabei zugrunde gehen. Daß aber die Beschaffenheit organischer Verbindungen durch Einfrieren wesentlich verändert werden kann, Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 345 geht z. B. aus den Versuchen von MorıscH an Gelatine und Stärke- lösungen hervor, die beim Einfrieren durch Entmischungsvorgänge eine ganz charakteristische Schwammstruktur annehmen (Fig. 148 I). Dabei haben sie durch den starken Wasserverlust ihr Klebevermögen verloren und gewinnen es erst nach Einwirkung höherer Temperatur allmählich wieder. Ganz ähnliche Strukturveränderungen zeigen Amöben nach dem Einfrieren (vergl. Fig. 148 IT). Eine andere Frage ist die, ob es sich in den eingefrorenen, aber lebensfähigen Organismen wirklich um einen völligen Stillstand der Lebensprozesse handle, eine Frage, die PREYER bejahen zu müssen glaubt. Theoretisch würde diese Annahme durchaus nichts gegen sich haben; denn wenn wir sehen, wie mit sinkender Temperatur die Energie der Lebensprozesse immer mehr abnimmt, dann ist es nicht ausgeschlossen, daß einmal ein Punkt erreicht wird, an dem die letz- teren überhaupt aufhören. Die Möglichkeit, daß die Zellflüssiekeit selbst gefrieren kann, ohne daß die Lebensfähigkeit der Zelle dabei vernichtet wird, würde diese Annahme sogar noch unterstützen; denn wie wir sahen, kann das Leben ohne flüssiges Wasser nicht bestehen. Sobald also das flüssige Wasser in der lebendigen Substanz in den festen Zustand übergegangen ist, müßte man erwarten, daß auch die chemischen Umsetzungen in der Zelle stehen blieben. Eine Tatsache freilich, die, wenigstens auf den ersten Blick für gewisse Organismen der Annahme eines völligen Stillstandes Schwierigkeiten zu bereiten scheint, ist die von PICTET gemachte Beobachtung, daß Organismen, die zu Eis gefroren sind, gegen ein weiteres Sinken der Temperatur über einen bestimmten Punkt hinaus nicht mehr resistent bleiben. Sie sind nach dem Auftauen nicht mehr zum Leben zurückzurufen. Man könnte sagen: Stände bei diesen Organismen das Leben wirklich absolut still, so wäre es schwer zu verstehen, wie ein weiteres Sinken der Temperatur noch von Einfluß sein sollte. Indessen ein wirklicher Einwand gegen die Annahme eines völligen Stillstandes der Lebens- vorgänge liegt hierin bei genauerem Zusehen doch nicht. Daß auch bei sehr niedrigen Temperaturen noch chemische Veränderungen auf- treten können, wissen wir. Wenn also wirklich von einer gewissen Temperatur an abwärts die Lebensvorgänge stillstehen, so können doch durch weiteres Sinken der Temperatur sehr wohl noch andere chemische Vorgänge hervorgebracht werden, welche die Lebens- fähigkeit der Zellen vernichten. Schließlich kann man sich doch angesichts der von PICTET und MACFADYEN für Bakterien erreichten ganz außerordentlich niedrigen Temperaturen kaum der Vorstellung verschließen, daß hier das Leben wirklich vollständig zum Stillstand gekommen sein muß. Allein, um mit Sicherheit diese Frage zu be- antworten, fehlen uns doch bis jetzt noch die entscheidenden Experi- mente. Erst wenn sich herausstellen sollte, daß lebendige Substanz in gefrorenem Zustande jahrelang lebensfähig erhalten werden kann, wie sich gewisse Organismen in getrocknetem Zustande Jahre, Jahr- zehnte, ja Jahrhunderte lebensfähig erhalten lassen, erst dann würde die Wahrscheinlichkeit, daß das Leben in den gefrorenen Organismen wirklich stillsteht, der Gewißheit nahekommen. Vorläufig fehlen diese Feststellungen noch. Wir müssen deshalb auf eine definitive Lösung der Frage nach dem absoluten Stillstand des Lebens in der Kälte vorläufig noch verzichten. Auf ähnliche Schwierigkeiten wie die Feststellung des Minimums 346 Viertes Kapitel. der äußeren Temperatur stößt auch die des Maximums. Das Maximum ist mindestens gegeben durch den Punkt, wo die Eiweiß- körper in der lebendigen Substanz der Zelle gerinnen. Die Eiweiß- körper spielen, wie wir wissen, im Leben der Zelle die wesentlichste Rolle, und es ist begreiflich, daß, wenn das gelöste Eiweiß in den festen Zustand übergeht, der Stoffwechsel, also das Leben, stillstehen muß. Hiernach könnte es sehr einfach scheinen, das Temperatur- maximum, bei dem noch Leben bestehen kann, zu ermitteln. Indessen ist einerseits die Gerinnungstemperatur für verschiedene Eiweißkörper eine sehr verschiedene, anderseits gibt es Berichte über Organismen, die selbst bei Temperaturen noch lebten, bei denen längst alles Eiweiß geronnen sein müßte. Künne!) stellte in gleicher Weise wie über das Temperatur- minimum auch über das Temperaturmaximum an Amöben Ver- suche an, bei denen er fand, daß sich die vorher lebhaft kriechenden Amöben bei einer Temperatur von 35° © kontrahierten, aber noch lebensfähig blieben, daß sie dagegen nach einer Erwärmung auf 40—45° © nicht mehr durch Abkühlung zum Leben zurückzurufen waren. Dabei konnte KÜnne feststellen, daß ein Eiweißkörper der Amöbenzelle, den er für die kontraktile Substanz hält, bereits bei 40° C, ein anderer erst bei 45° C gerinnt. Für Pflanzenzellen er- mittelte MAx SCHULTZE ?) eine Temperatur von 47° C als den Punkt, an dem der Tod eintrat. Demgegenüber haben verschiedene andere Autoren Angaben gemacht von merkwürdigen Fällen, in denen Or- ganismen noch unter viel höheren Temperaturgraden existieren. Die wunderbarste Angabe war bisher immer die Beobachtung von EHREN- BERG), der in den heißen Quellen von Ischia bei einer Temperatur von 81—85° © zwischen Filzen von Oscillarien ciliate Infusorien und Rädertierchen lebend antraf. HOoPPE-SEYLER*), der in Casamicciola auf Ischia diese Angabe EHRENBERGS einer Prüfung unterzog, fand freilich nur bedeutend niedrigere Temperaturen. Algen lebten, wenn sie heißen Dämpfen ausgesetzt waren, zwar bei 64,7°C, aber im Wasser betrug die höchste Temperatur, bei der sie existierten, nur 550. Vor mehreren Jahren sind aber von neuem sehr eingehende Untersuchungen in Amerika an den heißen Quellen des Yellowstone- Park unternommen worden, bei denen wieder lebendige Algen unter vie] höheren Temperaturen gefunden wurden. Die alte EHRENBERG- sche Angabe scheint also doch nicht unrichtig gewesen zu sein. Für einige Bakterienformen hat in neuester Zeit MACFADYEN’) nachgewiesen, daß sie sehr hohe Temperaturen ertragen können. Es gibt „thermophile“ Bakterien, die das Optimum ihres Wachstums erst bei einer Temperatur von 50—65° C haben, und manche wachsen sogar in ihren Kulturen noch bei 72° C. Sind diese Tatsachen schon wunderbar genug, so kennen wir doch 1) Künne: „Untersuchungen über das Protoplasma und die Kontraktilität“, Leipzig 1864. 2) MAx SCHULTZE: „Das Protoplasma der Rhizopoden und der Pflanzenzellen“, Leipzig 1863. 5 3) EHRENBERG in: Monatsber. d. Akad. d. Wissensch. zu Berlin, 1859. 4) HoPPE-SEYLER: „Physiologische Chemie“. Teil I. Berlin 1877. 5) MACFADYEN: „The effect of physical agents on Bacterial life“. Royal In- stitution of Great Britain, June 8, 1900. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 347 noch eine sicher verbürgte, leicht zu beobachtende Tatsache, die auf den ersten Blick noch viel auffallender ist. Das ist das Verhalten gewisser Sporen von Bakterien gegenüber hohen Temperaturen. KocH, BREFELD u. a. haben gezeigt, daß die Sporen des Milzbrand- bacillus (Bacillus anthracis), sowie des Heubacillus (Bacillus subtilis) Temperaturen von mehr als 100° © ertragen können, ohne ihre Lebensfähigkeit einzubüßen. Für diese rätselhaften Tatsachen fehlt uns vorläufig noch jede Erklärung. Wir können nur annehmen, daß in diesen Organismen die Eiweißkörper resp. Eiweißverbindungen sich wie trockenes Eiweiß in einem Zustande befinden, in dem sie durch hohe Temperaturen, ja, wie bei den Sporen der Heubazillen, selbst durch Siedehitze nicht zum Gerinnen gebracht werden Können, denn die Annahme, daß die lebendige Substanz in diesen Organismen trotz der äußeren Hitze des umgebenden Mediums nicht bis zum Gerinnungspunkt des Eiweißes erwärmt werden sollte, ist selbstverständlich aus- geschlossen, und dasselbe gilt von der Annahme, daß die Lebens- fähigkeit trotz der Gerinnung der Eiweißkörper in ihnen er- halten bleiben sollte. Wir wissen vorläufig noch nicht, in welchen molekularen Veränderungen das Wesen des Gerinnungsprozesses be- gründet ist, und von welchen Bedingungen sein Eintreten, abgesehen von den wenigen bekannten Faktoren, noch sonst beeinflußt wird. Erst wenn wir über diese Fragen besser unterrichtet sein werden, wird vermutlich auch einiges Licht auf die rätselhaften Tatsachen fallen, die wir eben kennen gelernt haben. 5. Der osmotische Druck. Jede lebendige Zelle besitzt die Eigenschaften einer wässerigen Lösung von osmotisch wirksamen Stoffen, die durch eine semiperme- able Membran nach außen abgeschlossen ist, sie hat also einen be- stimmten osmotischen Druck und es ist wiederum ein interessantes Beispiel für die Bedeutung der physiologischen Forschung hinsichtlich der Entwicklung der physikalischen und chemischen Wissenschaft, daß die Grundlagen für die Entwicklung eines der wichtigsten Ge- biete der heutigen physikalischen Chemie durch physiologische Unter- suchungen über den osmotischen Druck der Zelle gelegt worden sind. Es ist das unvergängliche Verdienst unseres großen Pflanzenphysiologen PFEFFER), mit seinen Studien über die osmotischen Eigenschaften der Pflanzenzelle den Grund für die Theorie der Lösungen gelegt zu haben, die dann besonders van’T Horr in der physikalischen Öhemie entwickelt hat. Da die semipermeable Membran der Zelloberfläche stets für Wasser leicht durchgängig ist, für die im Zellinhalt gelösten osmo- tisch wirksamen Stoffe unter gewöhnlichen Verhältnissen gar nicht oder nur schwer, liegt es auf der Hand, daß der Wassergehalt der lebendigen Substanz in hohem Grade von den osmotischen Druck- verhältnissen des Mediums abhängig sein muß, und da wiederum der Wassergehalt der lebendigen Substanz seinerseits in weitgehendem Maße durch Veränderung der Massenverhältnisse ihrer chemischen Inhaltsbestandteile den Ablauf der Lebensvorgänge in der lebendigen Substanz beherrscht, so ergibt sich daraus, eine wie große Bedeutung 1) W. PFEFFER; „Osmotische Untersuchungen“. Leipzig 1877. 348 Viertes Kapitel. der osmotische Druck des umgebenden Mediums für die lebendige Zelle als Lebensbedingung besitzt. Es ist allerdings eine Tatsache, daß sich gewisse Organismen von dem osmotischen Druck ihres Mediums innerhalb weiter Grenzen un- abhängig gemacht haben. Dahin gehören in erster Linie selbstver- ständlich alle Landorganismen, ferner aber auch ein großer Teil der im Wasser lebenden Tiere, wie alle Wassersäugetiere, und ein Teil der im Meere lebenden niederen Wirbeltiere, wie Seeschildkröten und Knochenfische (Teleostier). Bei allen diesen Organismen ist mit Hilfe von regulatorischen Mechanismen, die ganz analog den Temperatur- regulationsmechanismen der Warmblüter funktionieren, die Einrichtung getroffen, daß der osmotische Druck ihrer Zellen unabhängig von dem osmotischen Druck des Mediums immer auf gleicher Höhe erhalten wird. Wir müssen uns dabei erinnern, daß bei allen diesen Orga- nismen ja die lebendigen Zellen des Körpers nicht in Berührung mit dem Medium stehen, in dem der betreffende Organismus lebt, sondern, daß das sie bespülende Medium die Körperflüssigkeit der betreffenden Organismen ist, also bei den Wirbeltieren Lymphe und Blut. Zwischen dem osmotischen Druck der Körperzellen und dem der Lymphe und des Blutes besteht immer Gleichgewicht, d. h. beide haben immer den gleichen Wert und dieser Wert erfährt infolge der regulatorischen Mechanismen immer nur ganz unbedeutende Schwankungen. Die eigentlichen lebendigen Bestandteile des Körpers, die Zellen, sind aber in sehr hohem Grade von dem osmotischen Druck der sie um- spülenden Lymph- oder Blutflüssigkeit abhängig, denn spült man statt dieser normalen Körpersäfte eine künstliche Spülflüssigkeit von geringerem oder höherem osmotischem Druck durch ihre Gefäße, so sterben die Zellen des Körpers in kurzer Zeit ab. Die Unabhängig- keit der lebendigen Substanz dieser Organismen von dem osmotischen Druck des umgebenden Mediums ist also nur eine scheinbare oder indirekte. In Wirklichkeit ist jede lebendige Zelle durchaus ab- hängig im Ablauf ihrer Lebensprozesse von dem osmotischen Druck der Flüssigkeit, in der sie lebt. Es ist interessant, zu prüfen, wie verschieden der osmotische Druck der Gewebeflüssigkeiten bei ver- schiedenen Organismen sich gestaltet hat. Man kann den osmotischen Druck von Flüssigkeiten am besten durch Gefrierpunktsbestimmungen ermitteln. Durch die Anwesenheit von gelösten Stoffen wird der Gefrierpunkt des Wassers erniedrigt, und zwar hängt diese Er- niedrigung des Gefrierpunktes ab von der Zahl der im Wasser ge- lösten Moleküle. So kann man also aus dem Grade der Gefrier- punktserniedrigung die Menge des gelösten Stoffes und damit den osmotischen Druck der Lösung bestimmen. Auf diese Weise ist z. B. festgestellt worden, daß das Blut des Menschen eine Gefrierpunkts- erniedrigung von rund 0,6% C zeigt, ein Wert, der nach KörpE!) nur innerhalb sehr geringer Grenzen, nämlich innerhalb 0,51—0,61° schwankt. Das würde einem osmotischen Drucke entsprechen, der im mechanischen Druckwerte ausgedrückt etwa 7 Atmosphären beträgt und dieser Druck von rund 7 Atmosphären entspricht dem osmotischen Druck bei allen Säugetieren. Er ist gleich dem osmotischen Druck 1) KörpeE: „Physiologische Chemie in der Medizin“. 1900. — Vergl. über diese Verhältnisse auch HÖBER: „Physikalische Chemie der Zelle und der Gewebe“. Leipzig 1902. Von den allgemeinen Lebenbedingungen. 349 einer Kochsalzlösung von 1 Proz. Beim Frosch beträgt der osmo- tische Druck des Blutes nur etwa 4 Atmosphären, das ist gleich dem osmotischen Druck einer Kochsalzlösung von etwa 0,7 Proz. Wenn man also Organe, Gewebe oder Zellen vom Säugetier oder vom Frosch außerhalb ihres normalen Zusammenhanges mit dem Körper studieren will, so ist es nötig, sie in Flüssigkeiten zu halten, die nicht nur chemisch indifferent sind, sondern auch einen osmotischen Druck haben, der dem osmotischen Druck der Körpersäfte dieser Tiere ent- spricht. Im wesentlichen als chemisch indifferent können schwache Kochsalzlösungen betrachtet werden. Man bezeichnet daher für Säuge- tierzewebe eine etwa 1-proz., für Froschgewebe eine etwa 0,7 — 0,8-proz. Kochsalzlösung als „physiologische Kochsalzlösungen“. Natürlich müßten für jede Tierart mit anderem osmotischem Druck der Körpersäfte physiologische Kochsalzlösungen von anderem Prozent- gehalt gewählt werden, wenn man ihre Zellen außerhalb des Körpers am Leben erhalten will. So hat Borrazzı!) für die verschieden- artigsten Cölenteraten, Echinodermen, Würmer, Kephalopoden, Crusta- ceen etc. eine Gefrierpunktserniedrigung der Körpersäfte von rund 25° C gefunden. Das ist dieselbe Größe wie beim Meerwasser und entspricht einem Druck von etwa 28 Atmosphären. Man kann daher bei physiologischen Untersuchungen an isolierten Körperteilen dieser Tiere direkt Meerwasser als Medium benutzen, ein Umstand, der das Arbeiten an wirbellosen Meertieren so außerordentlich erleichtert. Bei diesen letzteren Organismen, und wie es scheint, bei allen im Wasser lebenden Pflanzen und wirbellosen Tieren ist nun ein solches Regulationsvermögen des osmotischen Drucks der Körpersäfte nicht vorhanden. Bei ihnen verändert sich der osmotische Druck der Zellen mit den ‘Schwankungen des osmotischen Drucks des Mediums. Da indessen in der Natur der osmotische Druck des Süß- oder Meer- wassers im allgemeinen kaum oder nur in sehr geringen Grenzen Schwankungen erfährt, so wäre auch die Fähigkeit einer Regulation des osmotischen Drucks der Körpersäfte im Sinne etwa der Warm- blüter von keiner besonderen Bedeutung für diese Organismen. Im übrigen existiert bei vielen Organismen eine weitgehende Anpassunesfähigkeit an veränderte osmotische Druckverhältnisse des Mediums, das ihre Zelloberflächen berührt. Man kann z. B. viele einzellige Süßwasserorganismen in Seewasser bringen und umgekehrt, ohne daß sie zugrunde gehen. Es zeigen sich zwar unmittelbar nach der Ueberführung in ein Medium von anderem osmotischen Druck meistens Reizwirkungen, die aber nach einiger Zeit, wenn ein Aus- gleich zwischen Medium und Zelle stattgefunden hat, wieder ganz verschwinden können. Bei Pflanzenzellen treten mit Erhöhung des osmotischen Drucks die bekannten Symptome der Plasmolyse auf?). Auch tierische Zellen schrumpfen unter diesen Bedingungen. Umge- kehrt erfolgt eine Aufquellung bei Erniedrigung des osmotischen Druckes im Medium. Bei vielen Organismen ist die Anpassungs- fähigkeit an Konzentrationsänderungen des Mediums enorm. So können z. B. Schimmelpilze der Gattung Mucor in konzentrierten Kupfersulfatlösungen gedeihen. Andererseits gelingt es z. B., Para- 1) BoTTAzzı, Arch. ital. de Biologie, T. 28, 1897. 2) Vergl. p. 138. 350 Viertes Kapitel. mäcien, wie WALLENGREN!) fand, durch allmähliche Ueberführung in destilliertes Wasser zu bringen und einige Zeit am Leben zu er- halten. In der Regel aber gehen die Zellen bei etwas umfangreicheren Aenderungen in der Konzentration des Mediums zugrunde. Die (Gewebezellen der höheren Tiere sind in dieser Beziehung ungeheuer hinfällig. Destilliertes Wasser tötet sie meist sofort. Rote Blut- körperchen in destilliertes Wasser gebracht, quellen ungeheuer stark auf, werden blaß und fast unsichtbar und zerfließen. In hypotonischen Lösungen dagegen gehen sie unter Schrumpfungssymptomen, die sich in der Annahme einer „Stechapfelform“ äußern, zugrunde. Die obere und untere Grenze des osmotischen Druckes, bei der das Leben er- lischt, ist aber bei verschiedenen Zellformen sehr verschieden hoch gelegen und über die Extreme in dieser Beziehung läßt sich aus Mangel an ausgedehnten Erfahrungen vorläufig noch nichts weiter sagen. 6. Der mechanische Druck. Wie die Temperatur und der osmotische Druck, so hat auch der mechanische Druck, unter dem die Körper stehen, einen Einfluß auf ihre chemische Konstitution. Dieser Einfluß macht sich besonders in gewissen Fällen bemerkbar, bei denen der chemische Körper in einem Medium sich befindet, mit dessen Stoffen er in chemischer Beziehung steht. Ist diese Bedingung erfüllt, befindet sich ein chemischer Körper in einem gasförmigen oder flüssigen Medium, das Stoffe ent- hält, die zu ihm chemische Affinität besitzen, so kann durch Erhöhung des mechanischen Drucks eine chemische Verbindung zwischen dem Körper und den betreffenden Stoffen des Mediums zustande kommen, durch Verminderung dagegen eine Spaltung in die früheren Bestand- teile. Dieses Verhalten beruht auf dem Antagonismus zwischen den Wärmebewegungen der Moleküle resp. Atome im Molekül und dem mechanischen Druck. Bei einem höheren Druck werden die Moleküle resp. Atome im Molekül zusammengedrängt. Es können also mehr Moleküle und Atome miteinander in Berührung treten, während bei Aufhebung des Druckes die Wärmebewegungen der Moleküle und Atome wieder so groß werden, daß die Atome sich aus der lockeren Ver- bindung losreißen. Die lebendige Substanz befindet sich in einem solchen Falle. Sie lebt in einem Medium, sei es Luft oder Wasser, mit dem sie in chemischem Stoffaustausch steht. Es ist also klar, daß der mecha- nische Druck, sei es der Luftdruck, sei es der Wasserdruck, eine große Bedeutung für das Leben haben wird, und daß ein mechanischer Druck innerhalb bestimmter Grenzen zu den allgemeinen Lebens- bedingungen der lebendigen Körper gehören muß. Leider ist gerade diese Lebensbedingung bisher noch am wenigsten erforscht, und es ist zurzeit erst zum Teil möglich, festzustellen, bei welchem Druck der Luft oder des Wassers überhaupt noch Leben existieren kann, zwischen welche Grenzen des Druckes das Leben auf der Erdoberfläche in seiner jetzigen Form eingeengt ist. Bei der l) WALLENGREN: „Inanitionserscheinungen der Zelle“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 1, 1902. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 351 experimentellen Erforschung dieser Probleme müßte aber wieder ein- gehend spezialisiert und es müßten die Werte für die einzelnen Kon- stituenten von Luft und Wasser, wie Sauerstoff, Kohlensäure etc. manometrisch gesondert bestimmt werden. Wir haben bereits bei Besprechung des Sauerstoffes als einer wich- tigen Lebensbedingung die Bedeutung des Partiardrucks dieses Gases kennen gelernt !) und haben gesehen, daß reiner Sauerstoff bei einem Druck von mehr als 3 Atmosphären auf homoiotherme Tiere schon tödlich wirkt, während der gleiche Erfolg in gewöhnlicher Luft erst bei einem Druck von 15—20 Atmosphären eintritt. Ebenso erfolgt der Tod, wenn der Partiardruck des Sauerstoffes allzusehr sinkt. Man hat das gewagte Experiment der Luftballonfahrt benutzt, um Erfahrungen darüber zu sammeln, bei welcher Höhe in der Atmosphäre der Luftdruck so gering wird, daß für den Menschen Lebensgefahr eintritt. Berühmt "eworden ist die Luftballonfahrt, die SPINELLT, SIVEL und TISSANDIER im Jahre 1875 von Paris aus machten. Sie stiegen ziemlich schnell in die Höhe und erreichten ohne irgendwelche Störung eine Höhe von 7000 m. Bei etwa 7500 m dagegen, so erzählt TıssAnDIER, fühlten sie eine immer mehr zunehmende Schwäche und Apathie, die sich bald zu vollständiger Bewegungslosigkeit steigerte, obwohl der Geist zunächst noch klar blieb. Die willkürlichen Bewegungen konnten sie nicht mehr aus- führen und selbst die Zunge nicht mehr zum Sprechen benutzen. Als TıssanDIER dann die Beobachtung gemacht hatte, daß der Ballon eine Höhe von S000 m überschritten hatte, verlor er nach ver- seblichen Versuchen, seinen beiden Genossen diese Tatsache mit- zuteilen, das Bewußtsein. Als er wieder erwachte, war der Ballon bis 7059 m gesunken. Darauf warf SPINELLI, der ebenfalls wieder erwacht war, Sand aus, um den Ballon nicht zu schnell fallen zu lassen. Infolgedessen stieg der Ballon wieder, und die Luftschiffer verloren von neuem ihr Bewußtsein. Als TıssanpIER darauf zum zweiten Male erwachte, waren sie bis zu 6000 m Höhe gesunken, und das Barometer zeigte an, daß der Ballon eine Höhe von etwa 8500 m erreicht hatte. Aber TıssanpIER war diesmal der einzige, der das Licht wieder erblicken sollte; seine beiden Gefährten er- wachten nicht mehr. Der Faktor, der ihren Tod bedingte, war hier der Sauerstoff- mangel. Wird dieser Mangel korrigiert, so gelingt es dem Menschen ohne Verlust des Lebens sogar noch größere Höhen der Atmosphäre zu erreichen. Immerhin sind auch unter Benutzung aller Vorsichts- maßregeln diese Untersuchungen gefahrvoll. Die größte Höhe, die bisher Menschen erreicht haben, sind 10500 m. Bis in diese Höhe gelangten BERSON und SüÜrInG bei ihrer Fahrt mit dem Ballon „Preußen“ am 31. Juli 1901. Da aus der Beschreibung der beiden Luftschiffer, die sehr genaue Beobachtungen an sich anstellten, eine große Uebereinstimmung mit den Erfahrungen TISSANDIERS sich ergibt, lasse ich ihre Beobachtungen mit ihren eigenen Worten hier kurz folgen ?): „Bis gegen 9000 m war der Zustand relativ behaglich ; jedoch machte sich zuweilen etwas Schlafbedürfnis geltend, das sich 1) Vergl. p. 331. 2) BERSON und SürınG: „Ein Ballonaufstieg bis 10500 m“. In Illustrierte aeronautische Mitteilungen. Deutsche Zeitschr. f. Luftschifffahrt, Oktober 1901. 352 Viertes Kapitel. vollkommen ungezwungen durch die vorangegangene kurze Nachtruhe von kaum 3—4 Stunden und den ermüdenden Aufenthalt auf dem Ballonplatze seit 6 Uhr erklären läßt. Diese Müdigkeit ging jedoch allmählich in eine nicht unbedenkliche Apathie, in ein vorübergehen- des unbeabsichtigtes Einschlummern über, von dem man sich aller- dings durch Anruf oder Schütteln erweckt, sofort wieder völlig erholte, so daß alsdann die Beobachtungen mit etwas Ueberwindung, aber doch ohne besondere Anstrengung ausgeführt werden konnten. Das Einsaugen von Sauerstoff erwies sich zur vollen Belebung als ganz ausreichend. Irgendwelche schweren Bewußtseinsstörungen’oder Krank- heitssymptome traten bei beiden Insassen bis zur letzten Beobachtungs- reihe in 10250 m Höhe nicht ein. Die Erschöpfung bei körperlicher Arbeit, z. B. dem Aufziehen des Uhrwerkes am Psychrometer, Auf- steigen auf den Sitzkasten des Korbes, oder dem Durchschneiden einer Leine nahm dagegen rapide zu. Ueber 10250 m sind die Vor- gänge den Teilnehmern nicht mehr völlig klar. Jedenfalls zog BER- son, als ihm der Schlafzustand bei SürınG bedrohlich erschien, zwei- mal das Ventil und zwang dadurch den Ballon zum Abstieg, brach jedoch dann ohnmächtig zusammen. Vor oder nach diesem Ventil- ziehen versuchte auch SÜRING in lichten Augenblicken seinem schlafen- den Kollegen durch verstärkte Sauerstoffatmung aufzuhelfen, aber ver- gebens. Schließlich werden vermutlich beide Insassen ihre Atmungs- schläuche verloren haben und dann in eine schwere Ohnmacht ge- sunken sein, aus welcher sie ziemlich gleichzeitig bei etwa 6060 m wieder erwachten.“ Es ist kein Zweifel, daß auch hier wieder die beobachteten Vor- gänge durch den sehr niedrigen Partiardruck des Sauerstoffs bedingt waren, der nicht in genügender Weise kompensiert wurde, denn es sind die typischen Anfangssymptome langsamer Erstickung, die den Zustand der Luftschiffer in der Nähe charakterisieren; die starke Apathie, die Unlust zu Bewegungen, die leichte Ermüdbarkeit und das Schwinden des Bewußtseins ohne besonders unangenehme Sen- sationen. Darin liegt das physiologische Interesse dieser beiden be- rühmten Luftreisen. Für Pflanzen und Tiere kann man das Luftdruckminimum, bei dem sie eben noch am Leben bleiben, unter der Luftpumpe bestimmen, wobei es sich für die Tiere hauptsächlich um den Partiardruck des Sauerstoffs, für die Pflanzen um den der Kohlensäure handelt; doch liegen genauere Untersuchungen über diese Verhältnisse noch nicht in erwünschtem Maße vor. Weit mehr Erfahrungen als über die unteren Grenzen des Luft- drucks, bei dem lebendige Körper existieren können, haben wir über dieselben Werte für den Wasserdruck. Die Verminderung des Wasserdrucks um den Druck der auf dem Wasser lastenden Atmosphäre mittels der Luftpumpe scheint auf alle im Wasser lebenden Organismen an sich ohne Einfluß zu sein. Indessen ist eine weitgehende und andauernde Verminderung des Wasserdrucks nicht möglich, ohne den Gasgehalt des Wassers zu ver- ändern. An dieser Stelle geht daher die Frage nach dem Minimum des Wasserdrucks in die Frage nach dem Minimum des Partiardrucks der darin enthaltenen Gase, vor allem des Sauerstoffs, über und knüpft wieder an die Frage nach der Bedeutung des Sauerstofis als Lebens- bedingung an. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 353 Dagegen läßt sich wohl eine Wirkung der Druckerniedrigung be- obachten bei Tieren, die im Wasser unter sehr hohem Druck zu leben gewöhnt sind. Die interessanten Tiefseeforschungen der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, daß, gegenüber früheren Vorstellungen, selbst in den größten Meerestiefen, wo ewiges Dunkel herrscht, und ein Druck von mehreren hundert Atmosphären auf den Körpern lastet, noch lebendige Or- ganismen ein weltvergessenes Dasein führen. Der Druck, unter dem diese Tiere leben, ist so groß, daß z. B. Fische bei der plötzlichen Druckerniedrigung, die sie beim Heraufziehen erfahren, platzen. Sie kommen aufgebläht, mit abstehenden Schuppen und aus dem Maul herausgequollenen Eingeweiden an der Oberfläche an (Fig. 149), — eine Tatsache, die übrigens schon an den Fischen, welche in den Tiefen des Bodensees leben, beobachtet wird. Fig. 149. Neoscopelus macrolepidotus, aus 1500 m Tiefe an die Oberfläche gebracht. Die Augen und die Einge- weide quellen hervor, und die Schuppen lösen sich durch die Ausdehnung der Haut vom Körper ab. Nach KELLER. Die eingehendsten und umfangreichsten Experimentalunter- suchungen über die Wirkungen sehr hohen Drucks hat REGNARD!) angestellt. REGNARD führte mit einem Apparat, der es ge- stattete, Druckwerte bis zu 1000 Atmosphären zu erzeugen, ganz systematische Versuchsreihen an den verschiedenartigsten Organismen durch und studierte mit sorgfältigen Methoden das Verhalten der Lebensäußerungen unter diesen Bedinguugen. Bei diesen Versuchen stellte sich heraus, daß z. B. Hefezellen unter einem Druck von mehr als 400 Atmosphären die Fähigkeit, Traubenzuckerlösungen zu vergären, einbüßen und erst allmählich wieder erlangen, einige Zeit nachdem sie unter gewöhnlichen Druck zurückgebracht worden sind. Aehnlich verhalten sich die Erreger der Milchsäure- und Buttersäuregärung sowie die Fäulnisbakterien. Harn, Eier, Fleisch, Blut ete., die mit Fäulniserregern infiziert sind, zeigen bei einem Druck von 700 Atmo- sphären selbst nach mehreren Wochen keine Fäulnis, wenn die bei gewöhnlichem Druck aufgestellten Kontrollpräparate längst in Verwesung übergegangen sind. REGNARD ist daher geneigt, zu 1) P. REGNARD: „Recherches experimentales sur les conditions physiques de la vie dans les eaux‘. Paris, Ed. Masson, 1891. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 23 354 Viertes Kapitel. schließen, daß in sehr großen Meerestiefen keine Fäulnisprozesse stattfinden. Dagegen bleiben gelöste Fermente, also Enzyme. in ihrer Wirksamkeit selbst von den höchsten Druckwerten unberührt. Bei den Wimperinfusorien, wie Colpoda, Paramaecium, Vorti- cella ete., führt ein Druck von 600 Atmosphären schon in 10 Minuten zu vollständigem Stillstand der Wimperbewegung. Unter gewöhn- lichen Druck zurückgebracht, nehmen die Infusorien erst nach 1 Stunde allmählich wieder ihre Wimpertätigkeit auf. Längerer Aufenthalt unter höherem Druck tötet die Infusorien. Bei größeren Organismen findet man ebenfalls unter hohem Druck einen Stillstand der Lebensäuße- rungen. Dabei bemerkt man zugleich, daß sie ihr Volumen ganz beträchtlich durch Wasseraufnahme in die Gewebezellen vergrößern. Aktinien z. B. zeigen nach einem einstündigen Aufenthalt unter einem Druck von 1000 Atmosphären ihr Volumen und ihr Gewicht ver- doppelt. Nach der Herausnahme nimmt das Volumen allmählich wieder ab, und in 5—6 Stunden beginnt das Leben wieder zu er- wachen ; ja, ihre Lebensfähigkeit ist selbst nach einem 15-tägigen Aufenthalt unter so enormem Druck noch nicht verloren gegangen. Bei Würmern, Mollusken, Krebsen erhielt REGNARD analoge Resultate. Froschmuskeln zeigen nach einem Aufenthalt von 10 Minuten unter einem Druck von 600 Atmosphären zugleich mit einer Volumen- und Gewichtsvergrößerung durch Wasseraufnahme ebenfalls völlige Un- erreebarkeit. Sie sind starr und steif geworden. Ihre Erregbarkeit erlischt bei einer allmählichen Steigerung des Druckes bereits bei 400 Atmosphären für die stärksten galvanischen Reizungen. Eine histologische Untersuchung der verschiedenen Gewebe von Fröschen, die unter hohem Druck waren, zeigt, daß das Protoplasma der Zellen überall durch Wasseraufnahme gequollen, ja in manchen Zellen, wie z. B. den Schleimzellen, völlig zerflossen ist. Bei Leuchttieren erlischt das Leuchten unter hohem Druck. Es ist nicht möglich, alle die interessanten Einzelheiten, die REG- NARD und seine Mitarbeiter feststellten, zu verzeichnen. Aus allen diesen Versuchen ergibt sich aber das eine, daß bei ge- nügend hohem Druck die Lebensäußerungen bei allen bisher untersuchten Organismen erlöschen, und daß sie selbst nach kurzem Aufenthalt unter hohem Druck nur durch Zurückführung unter gewöhnliche Verhältnisse wieder in Gang gebracht werden können. Langer Auf- enthalt unter sehr hohem Druck scheint stets zum Tode zu führen. Ob es sich bei dem Erlöschen der Lebensäußerungen unter hohem Druck aber um einen absoluten Stillstand handelt oder nur um den Ausfall gewisser Prozesse resp. um eine vita minima, muß hier ebenso wie für die Kälte zunächst unentschieden bleiben. B. Die allgemeinen inneren Lebensbedingungen. Mit der Erfüllung der bisher besprochenen Bedingungen der Stoff- zufuhr, bestimmter Temperaturgrade und eines gewissen Drucks ist die Reihe der allgemeinen Lebensbedingungen, welche im Medium ge- geben sein müssen, erschöpft. Andere Bedingungen, wie z. B. das Licht, die ebenfalls noch äußere Lebensbedingungen sind, stellen Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 355 keine allgemeinen Lebensbedingungen vor, sondern gelten nur für spezielle Organismen oder Organismengruppen. Allein, zu den allgemeinen äußeren Lebensbedingungen ge- sellen sich noch andere, die erfüllt sein müssen, wenn Leben bestehen soll, die aber im Organismus selbst liegen. Das sind die allge- meinen inneren Lebensbedingungen. Die selbstverständliche Hauptbedingung für die Exis tenz desLebens neben der Erfüllung aller äußeren Lebensbedingungen ist die Anwesenheit lebensfähiger Substanz, an der die Lebensvorgänge sich abspielen können. Wenn wir uns daher ein winziges Tröpfchen lebendiger Substanz denken in einem Medium, in dem die äußeren Lebensbedingungen sämtlich erfüllt sind, so müßten wir annehmen, daß es dann am Leben bliebe, solange nicht von außen störende Momente hinzutreten. Aber dem widerspricht die Erfahrung durch das Experiment. Wir können leicht eine kleine Menge lebendiger Substanz ge- winnen, indem wir von einer lebendigen Zelle, etwa von einer Amöbe, unter dem Mikroskop mit einer feinen Lanzette ein winziges Stückchen des hyalinen Protoplasmas abschneiden. Das abgeschnittene Stückchen ist lebendig; das erkennen wir daran, daß es auch nach der Operation noch Lebensäußerungen zeigt. Die äußeren Lebensbedingungen ferner sind sämtlich erfüllt, denn es befindet sich in demselben Medium und unter denselben äußeren Verhältnissen wie die ganze Amöbe. Und dennoch dauert es nur kurze Zeit, dann ist das abgeschnittene Proto- plasmatröpfehen tot und kann durch niehts mehr zum Leben zurück- geführt werden. Denselben Erfolg hat unfehlbar jedes gleiche Experiment an irgendeiner anderen Zelle. Hier haben wir also eine gewisse Menge lebendiger Substanz in einem Medium, in dem alle äußeren Lebensbedingungen erfüllt sind, und dennoch kann die Masse nicht dauernd am Leben bleiben. Es fehlt uns also noch ein Moment in der vollständigen Bestimmung aller allgemeinen Lebensbedingungen, Unser Versuch zeigt uns dieses Moment: es ist der natürliche Zusammenhang und die Wechselwirkung der wesent- lichen Teile eines Organismus, denn es existiert jetzt auf der ganzen Erde keine lebendige Substanz, die in allen ihren Punkten gleichartig wäre. Das gilt vom Zellenstaat in gleicher Weise wie ‘von der ein- zelnen Zelle. Zwar könnte man einwenden, daß man in vielen Fällen Teile, ja ganze Organe von einem Organismus abtrennen kann, ohne seine Existenz zu gefährden. Das ist richtig; aber in allen diesen Fällen handelt es sich immer nur um Teile, die nicht unbedingt zur Erhaltung des Individuums notwendig sind, sei es, weil sie in der Mehrzahl vorhanden sind und in ihrer Rolle durch andere vertreten werden können, sei es, weil sie mit den anderen Teilen nicht in engerer Wechselwirkung stehen und daher auch abgetrennt noch voll- kommene Individuen vorstellen. Ein Polyp kann in zwei Teile ge- schnitten werden, die beide weiterleben, und von einem Polypenstock kann ein einzelner Polyp losgetrennt werden, ohne zugrunde zu gehen. In unserem Experiment an der Amöbe bleibt der kernhaltige Zell- körper auch nach Abtrennung eines Stückes Protoplasma noch am Leben, weil er noch eine größere Menge von ebensolchen Protoplasma- teilchen besitzt. Dagegen geht das abgeschnittene Stück Protoplasma 235 396 Viertes Kapitel. zugrunde, weil der Zusammenhang und die Wechselwirkung mit der Substanz des Zellkerns aufgehoben ist. Wir kennen die lebendige Substanz, die jetzt auf der Erdober- fläche existiert, nur in Form von Zellen, mögen die Zellen einzeln leben oder zu Zellenstaaten verbunden sein. Die Zelle aber enthält als allgemeine morphologische Bestandteile zwei verschiedene Sub- stanzen, das Protoplasma und den Zellkern'). Wo noch ein wenig Protoplasma und ein wenig Kernsubstanz vereint existiert, da haben wir noch eine Zelle, und nur diese ist, wenn ihre äußeren Lebens- bedingungen erfüllt sind, lebensfähig. Wir können daher auch eine große Zelle in viele lebensfähige Stücke teilen, solange wir nur darauf achten, daß jedes Stück etwas Protoplasma und ein wenig Kern- nsihfiit substanz mitbekommt, IWLLUD ZZ. und daß das Mißver- ZUR hältnis zwischen bei- den Massen eine be- stimmte Größe nicht übersteigt?). Das Ex- periment ist beieiniger (Geschicklichkeit an großen einzelligen Organismen gar nicht so schwer auszuführen (Fie. 150). Wird aber eine Zelle so geteilt, daß der Kern vom Protoplasma getrennt wird, so gehen beide Teile unfehlbar zu- grunde. ‚9%+Da die Zelle also der allgemeine Ele- Fig. 150. Stentor Roeselii, eine Wimperinfu- ehe Re sorienzelle. Die helle, langgestreckte, stabförmige Masse 4 eı f Organismen, im Innern ist der Kern. A bei * in zwei kernhaltige Stücke das Individuum nie- zerschnitten; B und C, die kernhaltigen Stücke haben sich drigster Ordnung ist, wieder zu ganzen Stentoren regeneriert und leben weiter. so können wir als eanzallgemeine innere Lebensbedingung die Forderung des Zusammenhanges von Kern und Protoplasma in der Zelle aufstellen. Die Begriffe des Kerns und des Protoplasmas aber umfassen wiederum die ganze Fülle von Einzelbedingungen, die ihr Wesen charakterisieren und die wir oben bereits eingehender erörtert haben. Es gehört hierhin die Summe aller morphologischen, chemischen und physikalischen Momente, die für jeden speziellen Fall den Zellkern und das Proto- plasma eindeutig bestimmen und die uns im einzelnen auch noch nicht annähernd vollständig bekannt sind. Alle diese Momente zu- sammen bilden die inneren Lebensbedingungen und sie finden nur ihren allgemeinen Sammelausdruck in den Begriffen „Protoplasma“ 1) Vergl. p. 73 u. ff. 2) FRANK LiLLIE: „On the smallest part of Stentor capable of Regeneration. A Contribution on the limits of Divisibility of Living Matter“. In Journ. of Morphol., Vol. 12, 1896. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 357 und „Zellkern“. Daher können wir ganz allgemein sagen: nur wo Kern und Protoplasma vereint sind, da kann Leben auf die Dauer existieren. * * * Ein Vorgang in der leblosen Natur tritt ein, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, denn der Vorgang ist identisch mit der Summe seiner Bedingungen. Dasselbe gilt von den Lebensvorgängen. Die Lebensäußerungen treten mit mechanischer Notwendigkeit auf, wenn die sämtlichen inneren und äußeren allgemeinen und speziellen Lebensbedingungen erfüllt sind. Die Lebensäußerungen sind, so könnte man auch mit anderen Worten sagen Ausdruck der Wechselbeziehungen zwischen lebendiger Substanz und umgebendem Medium, oder wie CLAUDE BERNARD!) sagt: „les manifestations vitales rösultent d’un conflit entre deux facteurs: la substance organisee vivante et le milieu“. Bei dieser konditionalen Auffassung des Lebensvorganges drängt sich die Frage auf: Wie war es um das Leben bestellt zu einer Zeit, zu der noch ganz andere Bedingungen auf unserem Weltkörper herrschten als jetzt? Konnte schon früher Leben bestehen? wann konnte es entstehen ? und wie entstand es? II. Die Herkunft des Lebens auf der Erde. Es gab eine Zeit, zu der unser Erdball ein feuriger Körper war, seiner Mutter gleich, der Sonne, die jetzt noch unsere Tage mit den Strahlen ihrer glühenden Masse erwärmt und erhellt. Die härtesten Gesteine, die festesten Metalle, die heute die erstarrte Rinde unseres Erdkörpers zusammensetzen, befanden sich damals in einem feurig- flüssigen Zustande, und eine Atmosphäre von glühenden Gasen umgab den flüssigen Kern. Nach Tausenden von Graden maß die Temperatur in diesem glühenden Gemisch, in dem es in gewaltiger Bewegung durcheinanderwogte und wirbelte. Die Vorstellung, daß unser Erdball einst einen solchen Zustand in seiner Entwicklung durchlaufen hat, ist jetzt ein unbestrittenes All- gemeingut aller einzelnen Zweige der Naturwissenschaften. Astronomie und Physik, Geologie und Entwicklungsgeschichte, Mineralogie und Chemie, alle treffen in diesem Punkte zusammen. In der Tat hat uns die moderne Forschung mit Hilfe des Fernrohrs und des Spektral- apparates direkt vor Augen geführt, daß noch jetzt im Weltall überall sich derselbe Entwicklungsprozeß wiederholt, den unser Erdball einst durchgemacht hat, daß wir noch jetzt überall im Weltenraum an anderen Weltkörpern die analogen Zustände zu jedem einzelnen Ent- wicklungsstadium der Erde finden, vom gasförmigen Nebelfleck an durch die feurig-Nüssige Kugel bis zur festen, in eisiger Kälte er- starıten Masse, dem Schicksal, das auch unserer Erde einst bevor- steht, und das uns unser treuer Gefährte, der Mond, täglich vor Augen hält. hi Die Tatsache, daß unsere Erde sich einst in einem Zustande befand, in dem ihre Temperatur eine ungeheure war, in dem kein 1) CLAUDE BERNARD: „Lecons sur les ph@nomenes de la vie communs aux animaux et aux v6ögetaux“, T. 2, Paris 1879. 358 Viertes Kapitel. Tropfen Wasser existierte, kurz, in dem von den Lebensbedingungen, die wir heute als unerläßlich für die Existenz der Organismen kennen, keine Rede sein konnte, diese Tatsache wird immer ein wichtiges Moment sein, mit dem alle Spekulationen über die Herkunft des Lebens auf der Erde zu rechnen haben. Betrachten wir hiernach die verschiedenen Ansichten, welche auf wissenschaftlicher Grundlage über die Herkunft des Lebens auf der Erde von verschiedenen Forschern geäußert worden sind, um uns danach selbst, wenn auch nur in allgemeinen Zügen, eine Vorstellung bilden zu können. A. Die Theorien über die Herkunft des Lebens auf der Erde. 1. Die Lehre von der Urzeugung. Der Inhalt der modernen Urzeugungslehre (Lehre von der Archigonie, Abiogenesis, Generatio spontanea oder aequivoca etc.) in seiner allgemeinen Form gipfelt in folgender Schlußfolgerung. Da es eine Zeit in der Entwicklung unseres Erdkörpers gab, zu der die Existenz der lebendigen Substanz, die jetzt die erkaltete Erdober- fläche bewohnt, schlechterdings unmöglich war, so muß die lebendige Substanz zu irgend einem späteren Zeitpunkt der Erdentwicklung einmal aus lebloser Substanz entstanden sein. Es entsteht aber danach die Frage, wie die ersten Organismen beschaffen waren, und unter welchen Bedingungen sie entstanden. Dem Altertum, ja selbst einem Geiste von so umfassender Natur- kenntnis wie ARISTOTELES machte die Vorstellung, daß selbst Tiere, wie Würmer, Insekten, sogar Fische aus Schlamm entstehen könnten, keine besonderen Schwierigkeiten. Erst in verhältnismäßig später Zeit, besonders im Anschluß an die Untersuchungen von REDI und SWAMMERDAMM über die Entwicklung der Insekten, ließ man diese naiven Urzeugungsideen als unvereinbar mit den festesten naturwissen- schaftlichen Erfahrungen fallen. Einen neuen Anhaltspunkt gewann die Lehre von der Urzeugung aber wieder, als die Erfindung des Mikroskops zur Entdeckung einer bis dahin völlig unbekannten, überaus formenreichen Welt führte, als man fand, daß in jedem Aufguß von Wasser auf eine tote organische Substanz nach kurzer Zeit eine Fülle von kleinen lebendigen Wesen sich entwickelte, die wir noch jetzt deshalb als Aufgußtierchen oder Infusorien bezeichnen. In den Infusorien glaubte man mit Sicherheit Organismen gefunden zu haben, die durch Urzeugung aus den toten Stoffen des Aufgusses sich bildeten. Das mußte um so mehr Wahr- scheinlichkeit für sich haben, als die Infusorien gleichzeitig die niedrigsten und einfachsten Wesen waren, die man überhaupt bis dahin kannte. Allein, auch in diesem Falle stellte sich heraus, daß die Organismen nicht durch Urzeugung erst entständen, sondern sich entwickelten aus Keimen, die schon vorher in den Stoffgemischen enthalten waren oder durch die Luft in die'Gefäße gelangten. MILNE EDWARDS, SCHWANN, MAX SCHULTZE, HELMHOLTZ u. a. zeigten nämlich, daß, wenn man die Substanzen durch Kochen vorher keim- frei gemacht hatte, und wenn man verhinderte, daß durch die Luft Keime in den Aufguß gelangen konnten, daß dann die Entwicklung von Infusorien stets unterblieb, man mochte den Aufguß stehen lassen, Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 359 solange man wollte; ja, GEORG MEISSNER wies sogar nach, daß die verschiedensten tierischen Säfte, auch ohne künstlich vorher sterili- siert zu sein, wenn sie nur ohne Infektion direkt aus dem Tierkörper in sterilisierte Gefäße gebracht werden, selbst bei Zutritt von Luft, aber Abschluß der in der Luft enthaltenen Keime, vollständig steril bleiben'). Als schließlich in neuerer Zeit die kleinsten aller Mikroorganismen, die Bakterien, die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Welt in hohem Maße auf sich zu lenken begannen, als man mit unseren ver- feinerten Forschungsmethoden fand, daß diese winzigen Wesen oder ihre Keime überall in der Luft, in der Erde, im Wasser vorhanden sind, da bemächtigte sich die Urzeugungslehre auch dieser Organismen und ließ sie als die niedrigsten noch heute fortwährend aus leblosem Material entstehen. Aber auch hier hat die moderne Bakteriologie mit den bewunderungswürdig feinen Methoden, die sie ihren Be- eründern, vor allem PASTEUR und ROBERT KochH, verdankt, die Ur- zeugungslehre zurückgewiesen, indem sie zeigte, daß unter Abschluß aller Keime, die von außen auf das Präparat gelangen könnten, selbst der fruchtbarste Nährboden, der alle Stoffe für die Ernährung der Bakterien in günstigster Mischung enthält, bakterienfrei bleibt, daß sich dagegen eine ganze Welt der verschiedensten Bakterienformen auf ihm entwickelt, sobald man ihn nur kurze Zeit offen an der Luft stehen läßt. Mit diesem fortlaufenden Streit um die Urzeugungslehre Hand in Hand gingen die bis in die neueste Zeit reichenden Versuche, lebendige Organismen künstlich im Laboratorium herzustellen. In unserer Zeit sind diese Bemühungen besonders mit dem Namen POUucHETs verknüpft, der wohl der letzte zähe Vertreter der Ansicht war, daß es möglich sei, einzellige Organismen, wie Bakterienformen, Hefepilze und ähnliche Mikroben aus leblosen Substanzen künstlich zu erzeugen, indem man nur die notwendigen Bestandteile vermischt und unter günstige äußere Bedingungen bringt. Aber selbst wenn diese Versuche einmal zu positiven Resultaten geführt zu haben schienen, immer kamen wieder die Bakteriologen mit ihren kritischen Methoden und zeigten, daß es sich um die Entwicklung von Keimen handelte, die von außen dazu gekommen waren oder sich schon vorher in den Versuchsgefäßen befunden hatten. Diese Bemühungen, aus toten Stoffen künstlich lebendige Mikroben zu erzeugen, sind im Grunde genommen nichts anderes als das Unternehmen des Famulus WAGNER, den Menschen selbst in der Retorte aus chemischen Ge- mischen zusammenzusetzen. Wie kann man hoffen, auch nur den ein- fachsten Organismus chemisch herzustellen, wenn uns die chemische Zusammensetzung der wichtigsten Stoffe, aus denen alle lebendige Substanz besteht, die Zusammensetzung der lebenswichtigsten Eiweiß- verbindungen zurzeit noch so wenig bekannt ist! Das Verdienst, den gesunden Kern aus der absurden Hülle der früheren Urzeugungsideen herausgeschält und in einen rein wissen- schaftlichen Boden verpflanzt zu haben, gebührt HAEckEL. Für ihn ist die Frage, ob jetzt noch lebendige Substanz durch Urzeugung 1) Die aus den siebziger Jahren des vorigen Jahunderts stammenden Präparate befinden sich noch heute ohne Fäulnisprozesse im Göttinger physiologischen Institut. 360 Viertes Kapitel. irgendwo entsteht oder nicht, indifferent!). Heute, mehr als 40 Jahre später, nachdem die Kenntnis der niedrigsten Organismen und ihrer Fortpflanzung eine so enorme Entwicklung durchgemacht hat, ist die größte Mehrzahl der Forscher geneigt, diese Frage in negativem Sinne zu beantworten. Dagegen hat HAEcKEL als der erste in voller Schärfe den Schluß gezogen, daß die lebendige Substanz zu irgend einem Zeitpunkt der Erdentwicklung einmal aus leblosen Substanzen entstanden sein muß, weil es eine Zeit gab, zu der die Erde sich in einem Zustand befand, der jedes organische Leben ausschloß. Dieser Zeitpunkt kann nach HAECKEL nicht früher datiert werden, als zu einer Zeit, in der sich der in der Atmosphäre ringsum suspendierte Wasserdampf in tropfbar-flüssiger Form niedergeschlagen hatte. Worauf HAECcKEL ferner den größten Wert legt, ist die Annahme, daß die durch Urzeugung entstandenen Organismen noch keine Zellen, sondern die niedrigsten und einfachsten Orga- nismen gewesen sein müssen, die wir uns vorstellen können, „vollkommen homogene, strukturlose, form- lose Eiweißklumpen“. Diese lebendigen Klümpchen kann man sich entstanden denken aus der Wechselwirkung der im Urmeere ge- lösten Substanzen. Eine eingehende Erörterung aber über das „Wie“ der Entstehung weist HAECKEL ausdrücklich zurück: „Jede irgendwie ins einzelne eingehende Darstellung der Autogonie ist vorläufig schon deshalb unstatthaft, weil wir uns durchaus keine irgendwie be- friedigende Vorstellung von dem ganz eigentümlichen Zustande machen können, den unsere Erdoberfläche zurzeit der ersten Ent- stehung der Organismen darbot.“ Von den überaus einfachen und niedrigen, durch Urzeugung entstandenen Organismen, die HAECKEL eben ihrer Einfachheit wegen als „Moneren“ bezeichnet, stammen dann durch lückenlose Deszendenz die Zellen und sämtliche Orga- nismenformen ab, die heute noch die Erdoberfläche bevölkern. Das ist im wesentlichen die Urzeugungslehre in ihrer heutigen Form. Aber so einfach und einleuchtend ihre Schlußfolgerung auch ist, so hat sie doch von mehreren Seiten Widerspruch erfahren und zur Aufstellung anderer Theorien über die Herkunft des Lebens auf der Erde Veranlassung gegeben. 2. Die Lehre von den Kosmozoän. Die Theorie von den im Weltenraume umhertreibenden lebens- fähigen Keimen niederer Organismen, oder, wie PREYER sie kurz ge- nannt hat, von den „Kosmozoön“, war die erste Vorstellung, die sich in neuerer Zeit zur Urzeugungslehre in einen Gegensatz stellte. Ihr Begründer war H. E. RiCHTER?). Ausgehend von der Vorstellung, daß sich überall im Weltenraum kleine Partikel fester Substanz umhertreiben, die bei dem raschen Dahinfliegen der Weltkörper von diesen fortwährend abgestreift werden, nimmt RICHTER an, daß gleich- Ei 1) Ernst HAECKEL: „Generelle Morphologie der Organismen“, Bd. 1, Berlin 1866. 2) H. E. RiCHTER: „Zur Darwisschen Lehre“. In ScHMiDTs Jahrb. d. ges. Med., Bd. 126, 1865, und 148, 1870. — Derselbe: „Die neueren Kenntnisse von den ran na nen Schmarotzerpilzen“. In ScHhMmipTs Jahrb. d. ges. Med., Bd. 151. 1871: Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 361 zeitig mit diesen festen Teilchen und an ihnen haftend, auch dauernd lebensfähige Keime von Mikroorganismen von solchen Weltkörpern, die bewohnt sind, abgeschleudert werden und auf andere Weltkörper gelangen. Kommen solche Keime auf Weltkörper, deren Entwicklungs- zustand gerade günstige Lebensbedingungen, besonders mäßige Wärme und Feuchtigkeit, aufweist, so beginnen sie hier sich zu entwickeln und werden Ausgangspunkt für eine reiche Organismenwelt. Irgendwo im Weltenraume, meint RICHTER, hat es immer Weltkörper gegeben, auf denen Leben existierte, und zwar in Form von Zellen. Die Existenz von lebendigen Zellen in der Welt ist eine ewige. „Omne vivum ab aeternitate e cellula“, sagt RıcHTER, indem er den alten Harveyschen Satz nach VIRCHOows Vorgange in neuer Weise modi- fiziert. Das organische Leben ist also niemals entstanden, sondern nur immer von einem Weltkörper auf den anderen übertragen worden. Das Problem von der Herkunft des Lebens auf der Erde heißt daher nach RICHTER gar nicht: wie ist das Leben auf der Erde ent- standen? sondern: wie ist es von anderen Weltkörpern auf die Erde gelangt? Und diese Frage beantwortet er durch die Theorie von den Kosmozoen. Für die Möglichkeit, daß lebensfähige Keime vom Weltenraum her durch die Atmosphäre auf die Erdoberfläche gelangen, ohne dabei durch die infolge der enormen Reibung entstehende Glühhitze zu- grunde zu gehen, glaubt RıiCHTER eine Stütze zu finden in der Be- obachtung, daß in manchen Meteorsteinen Spuren von Kohle, ja, sogar Humus und petroleumartige Stoffe vorkommen sollen. Wenn diese, ohne zu verbrennen, auf unsere Erde gelangen könnten, dann wäre es in der Tat möglich, daß auch lebensfähige Keime die "Atmosphäre passieren, ohne ihre Lebensfähigkeit einzubüßen. Daß organische Keime eine längere Reise durch den Weltraum von einem Himmelskörper auf den anderen ohne Wasser und ohne Nahrung vertragen können, dürfen wir in keinem Falle bezweifeln, kennen wir doch in den eingetrockneten Organismen, die sich, wie ja auch die Sporen von Mikroorganismen, im Zustande des latenten Lebens befinden, in der Tat lebensfähige Substanz, die sehr lange Zeit ohne Wasser und ohne Nahrung in ihrem leblosen Zustande ver- harren kann, um wieder zu neuem Leben zu erwachen, sobald sie unter die erforderlichen Lebensbedingungen gerät. Unabhängig von RICHTER haben HELMHOLTZ und WILLIAM THomson einige Jahre später die Frage erörtert, ob das Leben nicht etwa von anderen Himmelskörpern auf unsere Erde übertragen worden sei, und beide haben diese Ansicht als nicht unwissenschaftlich be- zeichnet. HELMHOLTZ!) sagt: „Die Meteorsteine enthalten zuweilen Kohlenwasserstoffverbindungen; das eigene Licht der Kometenköpfe zeigt ein Spektrum, welches dem des elektrischen Glimmlichtes in kohlenwasserstofthaltigen Gasen am ähnlichsten ist. Kohlenstoft aber ist das für die organischen Verbindungen, aus denen die lebenden Körper aufgebaut sind, charakteristische Element. Wer weiß zu sagen, ob diese Körper, die überall den Weltraum durchschwärmen, nicht auch Keime des Lebens ausstreuen, so oft irgendwo ein neuer Welt- körper fähig geworden ist, organischen Geschöpfen eine Wohnstätte 1) HELMHOLTZ: „Ueber die Entstehung des Planetensystems“. m Vorträge und Reden, Bd. 2, Braunschweig 1884. 362 Viertes Kapitel. zu gewähren! Und dieses Leben würden wir sogar vielleicht dem unseren im Keime verwandt halten dürfen, in so abweichenden Formen es sich auch den Zuständen seiner neuen Wohnstätte an- passen möchte.“ Daß Meteorite Träger solcher Keime sein könnten, hält HELMHOLTZ für durchaus möglich, da große Meteorsteine nur an ihrer Oberfläche stark erhitzt werden, wenn sie die Atmosphäre der Erde passieren, während sie in ihrem Innern kühl bleiben. HELM- HOLTZ sagt ferner über die Kosmozoentheorie: „Ich kann nicht dagegen rechten, wenn jemand diese Hypothese für unwahrscheinlich im höchsten oder allerhöchsten Grade halten will. Aber es erscheint mir ein vollkommen richtiges wissenschaftliches Verfahren zu sein, wenn alle unsere Bemühungen scheitern, Organismen aus lebloser Substanz sich erzeugen zu lassen, daß wir fragen, ob überhaupt das Leben je entstanden, ob es nicht ebenso alt wie die Materie sei, und ob nicht seine Keime, von einem Weltkörper zum anderen herüber- getragen, sich entwickelt hätten, wo sie günstigen Boden gefunden.“ „Die richtige Alternative ist offenbar: ÖOrganisches Leben hat ent- weder zu irgendeiner Zeit angefangen zu bestehen, oder es besteht von Ewigkeit.“ 3. PREYERS Theorie von der Kontinuität des Lebens. Durch Ueberlegungen anderer Art ist PREYER!) zu einer Theorie über die Abstammung des Lebens gelangt, die sich sowohl zu der Urzeugungslehre als zu der Kosmozoöntheorie in Gegen- satz stellt. PREYER kann sich zur Annahme der Urzeugungstheorie nicht entschließen auf Grund folgender Betrachtung. Wenn man annimmt, daß zu irgendeiner Zeit der Erdentwicklung einmal lebendige Sub- stanz aus lebloser durch Urzeugung entstanden sei, dann müßte man fordern, daß das auch heutzutage noch möglich sei. Das hat aber das Fehlschlagen der unzähligen Menge darauf gerichteter Versuche im höchsten Grade unwahrscheinlich gemacht. Nimmt die Urzeugungs- lehre dagegen an, daß die Urzeugung nur einmal in grauer Ver- gangenheit möglich war, aber jetzt nicht mehr vorkommt, so ist das ebenso unwahrscheinlich, „denn dieselben Bedingungen, welche zur Erhaltung des Lebens erforderlich und jetzt verwirklicht sind, mußten notwendig auch bei der supponierten Entstehung des Lebendigen aus anorganischen Körpern verwirklicht sein, sonst hätte das Produkt der Urzeugung nicht am Leben bleiben können“ Man begriffe also nicht recht, was jetzt fehlen sollte, wenn doch die Urzeugung in unserer Zeit nicht mehr möglich ist. Die Kosmozoentheorie kann PREYER ebensowenig anzunehmen sich entschließen, weil er darin nicht eine Lösung, sondern nur eine Vertagung des Problems sieht, d. h. eine Verschiebung von unserer Erde auf irgendeinen anderen Weltkörper, bei der aber das Problem immer noch bestehen bleibt. Von der durch induktive Erfahrung gewonnenen Tatsache aus- gehend, daß alle Organismen stets von anderen Organismen ab- 1) W. PREYER: „Die Hypothesen über den Ursprung des Lebens“. In Natur- wissenschaftliche Tatsachen und Probleme. Berlin 1880. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 363 stammen, die ihnen ähnlich waren, daß bis jetzt niemals durch Beobachtung die elternlose Entstehung eines Organismus festgestellt werden konnte, wirft PREYER daher die Frage auf, ob nicht etwa das Problem der Urzeugung auf einer falschen Fragestellung beruhe, wenn es verlangt, daß die lebendige Substanz einst aus lebloser ent- standen sein soll; ob nicht vielmehr umgekehrt die Frage lauten muß: ist vielleicht die leblose Substanz aus der lebendigen hervor- gegangen? Alle Organismen stammen immer nur wieder von anderen lebendigen Organismen ab; die anorganische, leblose Sub- stanz dagegen sehen wir noch heute fortwährend nicht bloß von anderer lebloser Substanz, sondern auch von lebendigen Organismen abstammen, von denen sie als tote Masse ausgeschieden wird, oder von denen sie nach dem Tode übrig bleibt. PREYER stellt daher der Urzeugungslehre die Theorie gegenüber, daß das Primäre die leben- dige Substanz sei, und daß die leblose Substanz aus der lebendigen Substanz erst sekundär durch Ausscheidung hervorgegangen sei!). Er fordert dazu, daß die Kontinuität in der Abstammung der lebendigen Substanz niemals unterbrochen worden sei. „Wer die Reihe der auf- einanderfolgenden Generationen der Organismen durch die Setzung einer Generation ohne vorhergegangene Eltern unterbricht, wer also die Kontinuität des Lebens leugnet, macht sich der Willkür schuldig.“ „Omne vivum e vivo.“ Dieser Erfahrungssatz hat nach PREYER nie- mals eine einzige Ausnahme erlitten. Sehr interessant sind die Konsequenzen, die sich aus dieser Auf- fassung ergeben. Wenn das Leben auf der Erde niemals aus leblosen Stoffen entstanden ist, sondern immer wieder von lebendigen Sub- stanzen abstammte, so muß auch schon Leben existiert haben, als die Erde noch ein glühender Körper war. Diesen Schluß zieht PREYER in der Tat. Er muß deshalb den Lebensbegriff bedeutend weiter fassen, als es gewöhnlich geschieht, und nicht bloß die heutige lebendige Substanz als lebendig betrachten, sondern auch glühend- flüssige Massen, wie sie zu jener Zeit allein existierten, denn von protoplasmatischen Organismen, wie sie heute leben, konnte zu jener Zeit noch keine Rede sein. „Wenn man sich aber losmacht“, sagt PREYER, „von dem ganz und gar willkürlichen und faktisch durch nichts wahrscheinlich gemachten Gedanken, als ob nur Protoplasma von der Beschaffenheit des gegenwärtigen leben könnte, und von dem alten, durch nichts als Bequemlichkeit. im Denken genährten Vorurteil, als wenn zuerst nur Anorganisches existiert hätte, dann wird man den einen eroßen Schritt weiter nicht scheuen, auch die einstmalige Ur- zeugung fallen zu lassen und die Anfangslosigkeit der Lebensbewegung anzuerkennen. Omne vivum e vivo!“ Auf Grund dieser Betrachtung entwirft PREYER etwa folgendes Bild von der Abstammung des Lebens auf der Erde. Ursprünglich war die ganze feurig-Hüssige Masse des Erdkörpers ein einziger riesiger Organismus. Die mächtige Bewegung, in der sich seine Substanz be- fand, war sein Leben. Als aber der Erdkörper anfing, sich abzukühlen, da schieden sich die Stoffe, welche bei jener Temperatur nicht mehr in flüssiger Form verharren konnten, wie etwa die schweren Metalle, als feste Massen aus und bildeten, da sie nicht mehr an der Lebens- bewegung des Ganzen teilnahmen, die tote, anorganische Substanz. 1) Vergl. p. 146. 364 Viertes Kapitel. So entstanden die ersten anorganischen Massen. Dieser Prozeß schritt fort. Zunächst waren es immer noch feurig-flüssige Massen, welche das Leben des Erdkörpers gegenüber der anorganischen Masse repräsen- tierten. „Dann erst, als auch diese Kombinationen im Laufe der Zeit an der Oberfläche der Erdkugel erstarrten, d. h. starben und aus- starben, kamen Verbindungen der bis dahin noch gasig und tropfbar- flüssig gebliebenen Elemente zustande, die nun nach und nach dem Protoplasma, der Basis des Lebendigen unserer Tage, immer ähnlicher wurden. Immer kompliziertere Verbindungen, chemische Substitionen, immer dichtere Körper, immer mehr verwickelte, in- einandergreifende Bewegungen sich näher aneinanderlagernder Teile mußten mit der Temperaturabnahme und Verminderung der Dissozia- tionen eintreten, und hierbei erst konnten die durch die fortschreitende Differenzierung möglichen, sich gleichenden Anfangsformen des Pflanzen- und Tierreiches von Dauer sein.“ „Wir sagen also nicht, daß das Protoplasma als solches von An- fang der Erdbildung an war, auch nicht, daß es als solches anfangs- los anderswoher von außen aus dem Weltraum auf die abgekühlte Erde einwanderte, noch weniger, daß es sich aus anorganischen Körpern auf dem Planeten ohne Leben zusammengesetzt habe, wie es der Urzeugungsglaube will, sondern wir behaupten, daß die anfangs- lose Bewegung im Weltall Leben ist, daß das Protoplasma not- wendig übrig bleiben mußte, nachdem durch die intensivere Lebenstätigkeit des glühenden Planeten an seiner sich abkühlenden Oberfläche die jetzt als anorganisch bezeichneten Körper ausgeschieden worden waren, ohne daß sie wegen fortschreitender Temperatur- abnahme der Erdhülle in die nach und nach auch an Masse ab- nehmenden heißen Flüssigkeiten wieder eintreten konnten. Die schweren Metalle, einst auch organische Elemente, schmolzen nicht mehr, gingen nicht wieder in den Kreislauf zurück, der sie aus- geschieden hatte. Sie sind die Zeichen der Totenstarre vorzeitiger gigantischer glühender Organismen, deren Atem vielleicht leuchtender Eisendampf, deren Blut flüssiges Metall und deren Nahrung vielleicht Meteoriten waren.“ 4. PFLÜGERSs Vorstellung. In einer der gedankenreichsten Arbeiten!) der physiologischen Literatur hat PFLÜGER schon vor längerer Zeit sehr eingehend die Frage nach der Herkunft des Lebens auf der Erde erörtert, wobei er ebenfalls die Ansicht der Urzeugungslehre vertritt, daß die lebendige Substanz auf der Erde selbst aus leblosen Substanzen entstanden sei. Was aber die PFLÜGERschen Ideen besonders auszeichnet, das ist, daß sie das Problem speziell mit Rücksicht auf chemische Verhältnisse erörtern und etwas tiefer in seine Einzelheiten zu verfolgen be- müht sind. Den Angelpunkt von PFLÜGERS Untersuchung bilden die chemi- schen Eigenschaften des Eiweißes als desjenigen Körpers, mit dem das Wesen allen Lebens untrennbar verbunden ist. Es existiert, sagt PFLÜGER, ein fundamentaler Unterschied zwischen dem toten Eiweiß, 1) PFLÜGER: „Ueber die physiologische Verbrennung in den lebendigen Or- ganismen“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 10, 1875. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 365 wie wir es etwa im Eiereiweiß haben, und dem „lebendigen Ei- weiß“, wie es die lebendige Substanz aufbaut, das ist die Selbstzer- setzung des letzteren. Alle lebendige Substanz zersetzt sich dauernd in gewissem Maße von selbst und in größerem Umfange auf äußere Einwirkungen hin, während das tote Eiweiß unter günstigen Be- dingungen unbeerenzte Zeit unzersetzt bleibt. Als die wesentlichste Bedingung für die eroße Zersetzbarkeit des lebendigen Eiweißes betrachtet nun PFLÜGER, wie schon früher HERMANN), die intra- molekulare Einfügung des Sauerstoffs in das Eiweißmolekül, der von ihm fortwährend durch die Atmung von außen her aufgenommen wird. Daß der Sauerstoff die Zersetzbarkeit bedingt, schließt PFLÜGER daraus, daß bei der Zersetzung fortwährend Kohlensäure gebildet wird, und daß die Kohlensäure nicht etwa durch direkte Oxydation des Kohlenstoffs und einfache Abspaltung des Kohlensäuremoleküls aus dem lebendigen Eiweiß hervorgehend zu denken ist, sondern durch innere Umlagerung der Atome und Trennung der neuen Atomgruppen voneinander. Daß aber die lebendige Substanz den Sauerstoff schon vorher im lebendigen Molekül gebunden enthalten muß, so daß er bei der Zersetzung nur eine Umlagerung erfährt, ist daraus zu schließen, daß Muskeln, wie HERMANN fand, länger als einen Tag in einer sauerstofffreien Atmosphäre leben und dabei immer noch Kohlen- säure ausatmen können, obwohl aus ihnen kein Sauerstoff ausgepumpt werden kann. Wie schließlich durch die Einfügung des Sauerstoffs ein stabileres organisches Molekül in einen labileren Zustand über- geführt wird, das wird klar, wenn man daran denkt, daß dadurch die Möglichkeit gegeben wird, die Atome des Koblenstoffs und Wasserstofts durch intramolekulare Umlagerung zu Kohlensäure und Wasser zu oxydieren. Die Zersetzbarkeit muß dadurch enorm gesteigert werden, denn die Affinität des Kohlenstofts und Wasserstoffs zum Sauerstoff ist eine sehr große. Kohlensäure und Wasser aber treten, sobald sie durch innere Umlagerung in einem Molekül entstanden sind, als selbständige stabile Moleküle aus. So ist also, nach PFLÜGERS An- schauung, die große Neigung der lebendigen Substanz zum Zerfall wesentlich durch die Menge des intramolekularen Sauerstofts bedingt. Indem PFLÜGER weiterhin eine Betrachtung darüber anstellt, welche Konstitution etwa das lebendige Eiweißmolekül habe, und vor allem durch welche Atomgruppen es sich vom Molekül des toten Ei- weißes unterscheide, gelangt er zu der Hypothese, daß das lebendige Eiweißmolekül charakterisiert sei durch den Besitz des Uyanradikals (CN). PFLÜüGER findet nämlich bei einem Vergleich der stickstoft- haltigen Zersetzungsprodukte des lebendigen Eiweißes mit den ent- sprechenden Zersetzungsprodukten des toten Eiweißes, die man bei künstlicher Spaltung das letzteren erhält, daß beide fundamental verschieden sind. Die charakteristischen " Zersetzunesprodukte des lebendigen Eiweißes, wie Harnstoff, Harnsäure, Kreatin etc.?), seien durch künstliche Spaltung des toten Eiweißes niemals zu gewinnen. Und diese so charakteristischen Stoffe enthielten entweder selbst das Cyanradikal oder sie könnten aus Cyanverbindungen durch Umlagerung der Atome künstlich hergestellt werden, wie z. B. Harnstoff aus cyan- saurem Ammon (WÖHLER). Das weise mit großer Wahrscheinlichkeit 1) HERMANN: „Untersuchungen über den Stoffwechsel der Muskeln“. Berlin 1867. 2) Vergl. p. 195 u. 209. 366 Viertes Kapitel. darauf hin, daß das lebendige Eiweiß das Cyanradikal in sich enthält und sich dadurch vom toten oder Nahrungseiweiß fundamental unterscheidet. Diese Argu- mente PFLÜGERS haben freilich heute aus einem doppelten Grunde an Bedeutung verloren. Einerseits nämlich ist es in neuerer Zeit HOFMEISTER gelungen, auch aus totem Eiweiß Harnstoff herzustellen, und anderseits wissen wir heute, daß die stickstoffhaltigen Stoffe der regressiven Eiweißmetamorphose, wie Harnstoff, Harnsäure, Hippur- säure etc., soweit uns ihre Genese bekannt ist, nicht direkt aus dem Zerfall des lebendigen Eiweißmoleküls als solche hervorgehen, sondern vielmehr aus den bei diesem Zerfall entstehenden Stoffen, wie Kohlen- säure, Milchsäure, Ammoniak ete., erst sekundär synthetisch aufgebaut werden !),. Immerhin aber wird dadurch die PFLÜGERsche Cyan- hypothese an sich nicht umgestoßen, und es existieren bisher keine Gründe, welche dieselbe direkt widerlegen könnten. Es verdienen daher auch noch immer die Schlußfolgerungen Beachtung, die PFLÜGER aus dieser Hypothese weiterhin zieht. PFLÜGER sagt: „Bei der Bil- dung von Zellsubstanz, d. h. von lebendigem Eiweiß aus Nahrungs- eiweiß, findet eine Veränderung desselben, wahrscheinlich mit gleich- zeitiger bedeutender Wärmebindung, statt, indem die Stickstoffatome mit den Kohlenstoffatomen in eyanartige Beziehung treten.“ Daß eine bedeutende Wärmeaufnahme bei der Bildung des Uyans statt- findet, geht daraus hervor, daß das Cyan, wie die kalorimetrische Untersuchung desselben zeigt, ein Radikal mit großer innerer Energie- menge vorstellt. Durch Einfügung des Cyans in das lebendige Molekül wird also „ein Moment innerer starker Bewegung in die lebendige Materie eingeführt“. Danach erklärt sich die große Zersetzbarkeit des lebendigen Ei- weißes infolge der Sauerstoffaufnahme, denn da die Atome des Cyans in starken Schwingungen sind, wird das Kohlenstoftatom des Cyans bei gelegentlicher Annäherung zweier Sauerstoffatome aus der Wirkungs- sphäre des Stickstoffatoms heraus näher an die Wirkungssphäre der Sauerstoffatome kommen und mit diesen zu Kohlensäure vereinigt austreten. So liegen also nach PFLÜGER die Bedingungen für die Kohlensäurebildung, d. h. für den Zerfall der lebendigen Substanz, einerseits im Cyan und andrerseits in der intramolekularen Einfügung des Sauerstoffs in das lebendige Eiweißmolekül. Von diesen Gesichtspunkten aus ergeben sich für PFLÜGER die wichtigsten Andeutungen hinsichtlich der Frage, wie das Leben auf der Erde entstanden sei. „Wenn man an den Anfang des organischen Lebens denkt, muß man nicht Kohlensäure und Ammoniak primär in das Auge fassen. Denn beide sind das Ende des Lebens, nicht der Anfang.“ „Der Anfang liegt vielmehr im Cyan.“ Das Problem von der Entstehung der lebendigen Substanz spitzt sich also auf die Frage zu: wie entsteht das Cyan. Hier führt uns aber die organische Chemie vor die höchst bedeutungsvolle Tatsache, daß das Cyan und seine Verbindungen, wie Cyankalium, Cyanammo- nium, Cyanwasserstoft, Cyansäure etc., nur entstehen in der Glüh- hitze, etwa wenn man die nötigen stickstoffhaltigen Verbindungen mit glühenden Kohlen zusammenbringt oder das Gemenge zur Weißglut erhitzt. „Es ist sonach nichts klarer als die Möglichkeit der Bildung 1) Vergl. p. 19. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 367 von Uyanverbindungen, als die Erde noch ganz oder partiell in feurigem oder erhitztem Zustande war.“ Dazu kommt, daß die Chemie uns zeigt, wie die anderen wesentlichen Konstituenten des Eiweißes, wie etwa Kohlenwasserstoffe, Alkoholradikale etc., ebenfalls synthetisch in der Hitze entstehen können. „Man sieht, wie ganz außerordentlich und merkwürdig uns alle Tatsachen der Chemie auf das Feuer hinweisen, als die Kraft, welche die Konstituenten des Eiweißes durch Synthese erzeugt hat. Das Leben entstammt also dem Feuer und ist in seinen Grundbedingungen angelegt zu einer Zeit, wo die Erde noch ein glühender Feuerball war.“ „Erwägt man nun die unermeßlich langen Zeiträume, in denen sich die Abkühlung der Erdoberfläche unendlich langsam vollzog, so hatten das Cyan und die Verbindungen, die Cyan- und Kohlenwasser- stoffe enthielten, alle Zeit und Gelegenheit, ihrer großen Neigung zur Umsetzung und Bildung von Polymerien in ausgedehntester Weise zu folgen und unter Mitwirkung des Sauerstoffs und später des Wassers und der Salze in jenes selbstzersetzliche Eiweiß überzugehen, das lebendige Materie ist.“ PFLÜGER faßt daher seine Vorstellung in folgenden Sätzen zu- sammen: „Demnach würde ich sagen, daß das erste Eiweiß, welches ent- stand, sogleich lebendige Materie war, begabt mit der Eigenschaft, in allen seinen Radikalen mit großer Kraft und Vorliebe besonders gleich- artige Bestandteile anzuziehen, um sie dem Molekül chemisch einzu- fügen und so in infinitum zu wachsen. Nach dieser Vorstellung braucht also das lebendige Eiweiß gar kein konstantes Molekulargewicht zu haben, weil es eben ein in fortwährender, nie endender Bildung be- griffenes und sich wieder zersetzendes ungeheures Molekül ist, das _ sich wahrscheinlich zu den gewöhnlichen chemischen Molekülen wie die Sonne gegen ein kleines Meteor verhält.“ „In der Pflanze fährt also das lebendige Eiweiß nur fort zu tun, was es immer seit seinem ersten Entstehen tat, d. h. sich fortwährend zu regenerieren oder zu wachsen, weshalb ich glaube, daß alles heute in der Welt vorhandene Eiweiß direkt von jenem ersten abstammt. Deshalb zweifle ich an der Generatio spontanea in der gegenwärtigen Zeit; auch die vergleichende Biologie deutet unverkennbar darauf hin, daß alles Lebendige aus nur einer einzigen Wurzel seinen Ursprung genommen hat.“ 5. Die Hypothese von F.J. ALLEN: In gewisser Beziehung Verwandtschaft mit den Vorstellungen PFLÜGERs haben die Betrachtungen, die F. J. ALLEN über Wesen und Herkunft des Lebens angestellt hat!. Auch ALLEN steht auf dem Boden der Urzeugungslehre, auch er geht von chemischen Ueber- legungen aus, und auch er legt den Schwerpunkt auf die Eigenschaften des Stickstoffs. Allein, er scheut sich vor Angaben über spezielle Verhältnisse und faßt seine Annahmen mit Recht etwas allgemeiner, wo im einzelnen verschiedenartige Möglichkeiten auf dem Boden seiner Anschauung gegeben sind. 1) F. J. ALLEN: „What is life?“ In Proceed. of the Birmingham Natural History and Philosophical Society, Vol. 11, Part 1, 1899. 368 Viertes Kapitel. ALLEN überblickt die charakteristischen Eigenschaften, welche die wesentlichen organischen Elemente N, C, H, OÖ, S, Fe in ihren ver- schiedenartigen Verbindungen zeigen und kommt zu dem Schluß, daß der Stickstoff von allen anderen besonders dadurch unterschieden ist, daß seine Verbindungen sich durch mehr oder weniger große Zer- setzlichkeit, d. h. chemische Aktivität auszeichnen. In dieser Eigen- schaft des Stickstoffs sieht er seine besondere Befähigung zur Bildung labiler Atomkomplexe, wie sie die lebendige Substanz charakterisieren. Der Kern des Lebens liegt daher nach seiner Meinung in den Eigen- schaften des Stickstoffs. Weiterhin trägt ALLEN wie PFLÜGER der Tatsache Rechnung, daß der Sauerstoff für die Zersetzlichkeit der lebendigen Substanz eine fundamentale Bedeutung besitzt und daß mit der Zersetzung eine beträchtliche Energieentwicklung verknüpft ist. Er nimmt daher an, daß im Lebensvorgang der Sauerstoff dadurch eine große Rolle spielt, daß er fortwährend dem Stickstoff chemisch angefügt wird, um dann diesem durch die stärkere Affinität zum Wasserstoff und Kohlen- stoff entrissen zu werden. Dabei wird Wasser und Kohlensäure ge- bildet, ein Prozeß, der natürlich mit beträchtlicher Energieproduktion verbunden ist. „Every vital action involves the passage ofoxygen either to or from nitrogen.“ In bezug auf das aktive Molekül der lebendigen Substanz denkt sich ALLEN, daß es ein ungeheuer komplexes Molekül ist, in welchem verschiedenartige Atomgruppen durch Stickstoffatome miteinander verknüpft sind derartig, daß die Stickstoffatome zentrale Lagerung haben, ohne aber kettenartig miteinander verbunden zu sein. Stirbt die lebendige Substanz ab, so fallen die einzelnen Atomgruppen aus- einander. Ihre Stickstoffatome sind nunmehr peripherisch gelegen und dadurch sind diese Atomgruppen stabiler geworden. Beim Auf- bau der lebendigen Substanz dagegen werden stabile Atomkomplexe mit peripherisch gelegenen Stickstoffatomen dem großen aktiven Molekül der lebendigen Substanz angelagert, und ihr Stickstoff be- kommt dadurch als zusammenkoppelndes Bindeglied eine zentrale Lagerung. Welche Atomgruppen im Innern des großen Moleküls der Stickstoff verbindet, läßt ALLEN offen. Er hält es nicht für zweck- mäßig, irgendwelche speziellen Bindungen des Stickstoffs, wie etwa das Oyanradikal, besonders hervorzuheben, denn es sind hier die ver- schiedenartigsten Möglichkeiten gegeben. Er sieht daher auch keine Veranlassung, die Keime des Lebens bis in die Glutzeit der Erde zu verfolgen, wie es PFLÜGER auf Grund seiner Cyanhypothese tut. Er stellt sich vielmehr wie HAEcKEL vor, daß die Anfänge des Lebens erst begannen, als das Wasser sich schon auf der Erdoberfläche niedergeschlagen hatte. In dieser Zeit hatten sich nach dem Bilde, das ALLEN provisorisch entwirft, die schwereren, stabileren, unlöslichen Verbindungen am Boden abgelagert, die labileren, zersetzlicheren waren teils in Gasform in der Luft, teils in gelöstem Zustande im Wasser enthalten. Bei den mächtigen elek- trischen Entladungen, bei denen fortwährend Blitze durch die feuchte, warme Atmosphäre zuckten, entstanden wie in geringem Umfange heute noch Ammoniak und die Oxyde des Stickstoffs, die durch den Regen niedergerissen und gelöst wurden. Im Wasser war Kohlen- säure in reichlicher Menge vorhanden, und die Chloride, Sulfate, Phosphate der Alkalien und Metalle waren im Wasser gelöst. Es war Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 369 daher Gelegenheit gegeben für den Stickstoff, mit den verschiedensten anderen Stoffen in Wechselbeziehungen zu treten, und so nimmt ALLEN an, daß gleich die erste lebendige Substanz, die sich aus diesen Reaktionen ergab, im wesentlichen Leben von den Eigen- schaften zeigte, wie wir es heute noch auf der Erdoberfläche finden. Auf die Einzelheiten der Bildung lebendiger Substanz, deren Aus- malung vorläufig noch allzu spekulativen Charakter haben müßte, geht ALLEN nicht näher ein. Er stellt nur die Vermutung auf, daß bei der Uebertragung des Sauerstoffs vom oder zum Stickstoff etwa das Eisen in seinen Verbindungen eine Rolle gespielt haben möchte, wie es ja noch heute im Hämoglobin als Sauerstoffüberträger von großer Bedeutung ist. B. Kritisches. 1. Ewigkeit oder Entstehung der lebendigen Substanz. Unter den Ideen über die Abstammung des Lebens auf der Erde, die in den eben aufgeführten Theorien enthalten sind, stehen zwei Vorstellungen in scharfem Gegensatz zueinander. Dieser Gegensatz findet seinen Ausdruck in der schon von HELMHOLTZ (l. c.) aufge- stellten Alternative: „Organisches Leben hat entweder zu irgendeiner Zeit angefangen zu bestehen, oder es be- steht von Ewigkeit.“ Die erstere Vorstellung liegt der Ur- zeugungslehre zugrunde, die letztere der Kosmozo@ntheorie und in gewissem Sinne auch der Theorie PREYERS. Beide sich gegenüber- stehende Vorstellungen schließen einander selbstverständlich aus. Nimmt man die eine an, so verwirft man damit zugleich die andere, und umgekehrt. Es fragt sich aber: welcher von beiden soll man sich anschließen ? Prüfen wir zunächst die Kosmozoöntheorie. Sie sagt, daß das Leben nicht entstanden sei, sondern von Ewigkeit an im Weltall be- standen habe und nur von einem Weltkörper auf den anderen über- tragen worden sei. Eine direkte Widerlegung dieser Lehre, ein Un- möglichkeitsnachweis von unbedingt bindender Kraft dürfte sich bei dem jetzigen Stande unserer Kenntnisse wohl kaum finden lassen. Solange unsere Erfahrungen nicht ausreichen, um den Transport lebensfähiger protoplasmatischer Keime von einem Weltkörper auf einen anderen mit Sicherheit als unmöglich zu kennzeichnen, wird es überhaupt sehr schwer sein, die Kosmozoönlehre direkt zu wider- legen. Aber wenn auch eine direkte Widerlegung zurzeit nicht möglich ist, so läßt sich doch der Gedanke, daß die lebendige Sub- stanz von Ewigkeit her bestanden habe und nie aus anorganischer Substanz entstanden sei, im höchsten Grade unwahrscheinlich machen. Wie unsere vergleichende Betrachtung der Organismen und an- organischen Körper!) ergeben hat, bestehen die Organismen aus keinen anderen chemischen Elementarstoffen als denen, die wir auch in der anorganischen Körperwelt finden, und unterscheiden sich von den letzteren nur durch die chemischen Verbindungen, aus denen sie aufgebaut sind. Die wesentlichen Verbindungen der lebendigen Sub- stanz, die Eiweißkörper, stehen also keineswegs in einem prinzi- 1) p. 110. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 24 370 Viertes Kapitel. piellen Gegensatz zu den Körpern der anorganischen Natur und unterscheiden sich von diesen prinzipiell nicht mehr als die ver- schiedenen anorganischen Verbindungen untereinander. Eine allge- meine Betrachtung, die man über die Abstammung der lebendigen Substanz, vor allem des Eiweißes, anstellt, muß daher mit derselben Berechtigung in ihren prinzipiellen Gesichtspunkten auch auf die an- organischen Verbindungen, wie etwa die Mineralien, den Feldspat, den Quarz etc, angewendet werden können. Hier aber zeigt sich deutlicher als bei der lebendigen Substanz, zu welchen unhaltbaren Konsequenzen die der Kosmozo@nlehre zugrunde liegende Idee führt; denn wenn wir annehmen, daß die komplizierten Verbindungen der lebendigen Substanz, vor allem die Eiweißkörper, nie entstanden sind, sondern von Ewigkeit an irgendwo im Weltraume existiert haben und von dort auf unsere Erde gelangt sind, so müssen wir mit derselben Logik und derselben Wahrscheinlichkeit annehmen, daß auch die an- organischen Verbindungen, der Quarz, der Feldspat als solcher, immer im Weltraum irgendwo vorhanden gewesen und nur durch den Weltraum von einem anderen Weltkörper her auf unsere Erde gekommen seien. Und wenn man diese Betrachtung für alle chemischen Verbindungen durchführt, die unsere Erde zusammensetzen, und für die sie logisch unerbittlich denselben Grad von Wahrscheinlichkeit beansprucht wie für die Verbindungen der lebendigen Substanz, so würde man zu der absurden Konsequenz gelangen, daß schließlich alle Verbindungen der ganzen Erde als solche schon fertig von außen her in unser Planetensystem eingewandert sein müssen. Diese Konsequenz anzu- nehmen würde sich wohl kaum ein Naturforscher entschließen, denn jeder Geologe kennt Beispiele genug von Mineralien, die nachweislich als solche erst auf der Erde auf chemischem Wege entstanden sind, und jeder Chemiker läßt täglich chemische Verbindungen aus ein- facheren Stoffen im Laboratorium entstehen; ja, kein denkender Chemiker zweifelt heutzutage mehr daran, daß sogar die sogenannten chemischen Elemente ursprünglich nicht als solche existiert haben, sondern daß die Elemente mit höherem Atomgewicht erst später aus Elementen mit geringerem Atomgewicht entstanden sind. Zieht man aber die letzte Konsequenz aus den angeführten Ideen, dann leugnet man damit zugleich auch jede Entwicklung nicht nur der lebendigen Substanz, sondern des ganzen Erdkörpers; denn wenn alle Ver- bindungen von Ewigkeit her als solche existiert haben und niemals aus einfacheren Stoffen entstanden sind, dann fällt eben alle Ent- wicklung fort. Das ist eine unabweisbare Konsequenz, wenn man nur daran festhält, daß dieselbe Betrachtung, die für die Abstammung der Verbindungen in der lebendigen Substanz angenommen wird, mit der gleichen Berechtigung und genau derselben Wahrscheinlich- keit auch auf die Verbindungen der leblosen Substanz angewendet werden kann. Man hat aber kein Recht, für den Feldspat ein anderes Prinzip der Abstammung anzunehmen als für das Eiweiß. Beide sind Verbindungen von chemischen Elementen. In einem ganz anderen Sinne als die Kosmozoönlehre, die übrigens nur wenig Anklang gefunden hat, erklärt PREYER in seiner Theorie das Leben für anfangslos und ewig. PREYER sagt: Die lebendige Substanz, die jetzt die Erdoberfläche bewohnt, stammt in lückenloser Deszendenz von den Substanzen ab, die einst als feurig-Hüssige Massen den Erdball zusammensetzten. Die letzteren nicht als lebendig zu Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 371 bezeichnen, wäre willkürlich, da sich keine scharfe Grenze feststellen läßt. Da diese Substanzen nun aber wieder von der Sonnenmasse abstammen, und letztere wieder nur einen Teil der Materie des Welt- ganzen bildet, die in ewiger Bewegung begriffen ist, so wäre danach das Leben, das selbst nur ein komplizierter Bewegungsvorgang ist, ebenfalls so alt wie die Materie. Es liegt auf der Hand, daß die Differenz zwischen PREYERS Theorie und der Lehre von der Urzeugung im wesentlichen nur in der verschiedenen Fassung des Lebensbegrifts liegt. Die Urzeugungs- lehre bezeichnet dem Sprachgebrauch folgend als lebendig nur die lebendige Substanz, wie wir sie jetzt im Gegensatz zu der leblosen Substanz kennen, während PREYER den Lebensbegriff viel weiter faßt und auch elühende Gemenge als lebendig bezeichnet, die mit der jetzigen lebendigen Substanz nicht mehr die geringste Aehnlichkeit haben, außer darin, daß sie auch in energischer Bewegung begriffen sind. Fassen wir den Lebensbegriff in dieser weiten Ausdehnung, dann läßt sich in der Tat nichts gegen die übrigen Konsequenzen der PrEYERschen Theorie einwenden. Es fragt sich aber, ob es zweck- mäßig ist, und ob wir überhaupt das Recht haben, den Lebensbegriff so weit auszudehnen. Der Begriff der lebendigen Substanz, wie wir ihn heute wissen- schaftlich fixiert haben, ist hervorgegangen aus einer genauen Ver- gleichung der jetzt lebenden Organismen mit den jetzt existierenden anorganischen Körpern. Wie wir gesehen haben!), gibt es da nur einen einzigen wirklich durchgreifenden Unterschied, der besteht in dem Stoffwechsel von Eiweißverbindungen. Kein anorganischer Körper besitzt Eiweiß. Dagegen fehlt das Eiweiß in keinem einzigen Organismus, und was das Leben des Organismus ausmacht, worin sich dieser vom toten Organismus unterscheidet, das ist der Stoff- wechsel des Eiweißes. Das ist, wenn auch kein prinzipieller, ele- mentarer, so doch ein durchgreifender Unterschied zwischen lebendigen Organismen und toten, anorganischen Körpern, der uns das einzige Mittel an die Hand gibt, die lebendige Substanz scharf zu charakteri- sieren. Lassen wir diesen Unterschied fallen, indem wir auch Körper, die kein Eiweiß enthalten können, wie die glühenden Massen des einst feurigen Erdballs, als lebendige Substanz bezeichnen, so geben wir den ganzen Vorteil, den uns eine scharfe Definition gewährt, wieder auf, und der Begriff der lebendigen Substanz zerfließt uns zwischen den Fingern, wir können ihn nicht mehr fassen. Allein hier kann man vom Standpunkt der PREYERschen Theorie die Frage aufwerfen: Wenn die lebendige Substanz von heute in lücken- loser Deszendenz von feurig-flüssigen Gemengen abstammt, wo ist dann die Grenze, der Punkt, von dem an man die Substanz als lebendig bezeichnet? Diese Frage macht eine Voraussetzung, die sich in keiner Weise stützen läßt, das ist die Voraussetzung, daß überhaupt ein ganz allmählicher und lückenloser Uebergang zwischen den feurig-flüssigen Gemischen und den Fiweißkörpern vorhanden war. Wir haben zwar bisher immer den größten Wert darauf gelegt, zu zeigen, daß kein prinzipieller Unterschied zwischen lebendigen Körpern und leblosen Substanzen besteht; daß aber ein lückenloser Uebergang zwischen feurig-füssigen Substanzen und Organismen 1) Vergl. p. 161. 24* 372 Viertes Kapitel. bestände, läßt sich durchaus nicht beweisen. Wissen wir doch, daß bei zwei chemischen. Verbindungen, die aufeinander einwirken, die resultierenden Substanzen durch keinerlei Uebergangsstufen mit den ursprünglichen Stoffen verbunden zu sein brauchen, wie verschieden sie auch von ihnen sein mögen. Ueber die Verhältnisse aber, die etwa zur Zeit, als sich das Wasser in tropfbar-flüssiger Form nieder- schlug, auf der Erdoberfläche geherrscht haben mögen, können wir uns auch nicht eine annähernde Vorstellung machen. Danach hätte die Vorstellung, daß das lebendige Eiweiß aus der Einwirkung chemisch ganz von ihm verschiedener Körper ohne Uebergang ent- standen sei zu einer Zeit, als die Bedingungen dazu gegeben waren, mindestens ebensoviel Wahrscheinlichkeit wie die Idee einer allmählichen und durch lückenlose Uebergänge verbundenen Deszendenz. Ferner macht PREYER die stillschweigende Voraussetzung, daß die glühenden Massen, auf die er den Begriff des Lebens aus- dehnt, einen Stoffwechsel gehabt haben. Auch diese Annahme läßt sich durch keinerlei Betrachtung stützen. Zwar wird man einerseits nicht daran zweifeln dürfen, daß diese glühenden Massen eine äußerst energische innere Bewegung besessen haben, und anderseits ist das Leben ebenfalls nichts anderes als ein Bewegungskomplex, mit dem jeder andere molekulare Bewegungsvorgang im Prinzip verwandt ist. Aber dennoch ist die Lebensbewegung, der Stoffwechsel ein den lebendigen Organismus überaus scharf charakterisierender Bewegungs- komplex, der darin besteht, daß die lebendige Substanz fortwährend von selbst zerfällt, die Zerfallsprodukte nach außen abgibt und dafür bestimmte Stoffe von außen wieder aufnimmt, die ihr das Material geben, sich wieder zu regenerieren und durch Neubildung gleichartiger Atomgruppen zu wachsen. Das ist ein ganz allgemeines Charakteristi- kum aller lebendigen Substanz. Daß aber dieser ganz eigentümliche Bewegungskomplex bereits an den glühenden Gemischen des Erd- körpers bestanden und seitdem bis heute, bis auf die Tage unserer jetzigen lebendigen Substanz hin, keine Unterbrechung erlitten habe, ist in hohem Grade zweifelhaft. Die glühenden Gemische des Erdinnern, die wir noch heutzutage an Vulkanen zu beobachten Gelegenheit haben, wie die Laven, die beim Austritt aus einem Spalt des Kraters noch so dünnflüssig sind, daß sie beim Herabstürzen über die Felsen- abhänge dem Beobachter den wunderbar fesselnden Anblick eines glühenden Wasserfalls gewähren, selbst diese äußerst flüssigen Ge- mische, so beweglich sie auch sein mögen, zeigen doch keinen Stoff- wechsel im physiologischen Sinne, und wir haben daher nicht das Recht, sie als lebendig zu bezeichnen. So geistreich die PREYERSsche Theorie auch ist, wir können uns deshalb bei kühler Ueberlegung doch nicht entschließen, die glühenden Massen, die einst den ganzeu Erdkörper bildeten, als lebendig im wirklichen Sinne zu betrachten. Dann aber bleibt als einziger Unterschied der PREYERschen Lehre von der Urzeugungstheorie nur die ganz unwesentliche Frage übrig, ob die lebendige Substanz allmählich und durch unmerkliche Ueber- gänge aus leblosen Substanzen hervorgegangen sei, oder ob sie mehr unvermittelt, wie die Produkte bei einer chemischen Einwirkung zweier verschiedener Körper im Reagenzelase, sich gebildet und ihre charakteristischen Eigenschaften angenommen habe. Aufkeinen Fall aber werden wir dem Schlusse entgehen, daß die lebendige Substanz einst aus Substanzen hervor*- Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 37: segangen ist, die wir als leblose zu bezeichnen ge- wohnt sind. 2. Die Deszendenz der lebendigen Substanz. Im Anschluß an ähnliche Vorstellungen, wie sie von PFLÜGER und ALLEN entwickelt worden sind, können wir uns allenfalls in groben Umrissen eine provisorische Hypothese von der Entstehung des Lebens auf der Erde machen, wie sie den heutigen Erfahrungen und Anschauungen der Naturwissenschaft etwa am meisten entsprechen würde. Die Wurzeln des Lebens reichen vielleicht hinab bis in jene Zeit, wo die Erdoberfläche noch glühend war. Die damals vor- handenen Stickstoffverbindungen lieferten jedenfalls das wesentliche Rohmaterial, aus dem die lebendige Substanz ihren Ursprung nahm. Sie mußten bei ihrer leichten Zersetzbarkeit in Wechselwirkung mit den verschiedensten Kohlenstoffverbindungen treten, etwa mit Kar- biden etc., die ebenfalls der Glühhitze ihre Entstehung verdanken. Als das Wasser sich dann in tropfbar-flüssiger Form auf der Erd- oberfläche niederschlug, gingen diese dem Feuer entsprossenen Ver- bindungen chemische Beziehungen ein mit dem Wasser und den darin gelösten Stoffen, und so entstanden die Eiweißverbindungen, jene höchst labilen Körper, die wie viele andere den Stickstoff enthaltende Atomkomplexe sich durch ihre Neigung zur Zersetzung und zur Polymerisierung auszeichnen und die wesentlichen Bestandteile der lebendigen Substanz bilden. Diese erste lebendige Substanz, die durch Urzeugung aus leblosen Substanzen sich bildete, war jedenfalls noch sehr einfach und zeigte keinerlei Differenzierungen. Es ist im höchsten Grade wahrscheinlich, daß sie noch nicht den morphologischen Wert von Zellen hatte, d. h. daß ihre Masse noch nicht in zwei räumlich gesonderte Stoffgemische, in den Kern und das Protoplasma, geschieden, sondern vielmehr ein gleichartiges Gemisch war, wie es HAECKEL für seine Moneren annimmt. Das würde etwa die Vorstellung sein, die man sich heute mit einem gewissen Anstrich von Wahrscheinlichkeit über die Entstehung der lebendigen Substanz machen kann. Immerhin ist es nicht aus- geschlossen, daß sie später einmal in ihren Einzelheiten ganz wesent- lich modifiziert werden wird. Der Schauplatz, auf dem die lebendige Substanz zuerst auftrat, und die Verhältnisse, die auf demselben herrschten, sind uns zur Zeit nur in so unbestimmten Umrissen be- kannt, daß es wenig Wert hat, über die Einzelheiten noch weiter zu spekulieren. Mit dem Auftreten der lebendigen Substanz auf der Bühne des Erdballs aber gewinnen wir wieder etwas festeren Boden, denn hier ist der Punkt, wo die von LAMARCK und DARWwIN be- gründete und besonders von HAECKEL, WEISMANN, DE VRIES und ihren Schülern ausgebaute Deszendenzlehre einsetzt und uns die weiteren Schicksale der lebendigen Substanz bis in unsere Tage er- läutert. Den ganzen ungeheuren Ideenkomplex, der zur Begründung der Deszendenzlehre geführt hat, hier zu besprechen, würde außerhalb des Rahmens dieser Blätter liegen. Es genügt uns, die Hauptmomente anzudeuten, welche die Grundlage abgeben für die Deszendenzlehre, an deren Richtigkeit übrigens heute kein denkender Naturforscher mehr zweifelt. 314 Viertes Kapitel. Bekanntlich lehrt die Deszendenztheorie, daß die ganze Formenfülle der Organismen, die heute auf der Erdoberfläche leben und je gelebt haben, in ununterbrochener Deszendenz abstammt von jener ersten und einfachsten lebendigen Substanz, die aus leblosen Stoffen entstanden ist, daß also alle Organismen in wirklichen ver- wandtschaftlichen Beziehungen zueinander stehen. Für die historische Zeit bedarf die Kontinuität der Organismenreihen keiner besonderen Begründung, denn die einfache Erfahrung zeigt, daß jeder Organis- mus immer nur wieder von einem anderen, ihm ähnlichen abstammt, daß die Kontinuität der Deszendenz niemals eine Unterbrechung erfährt. Dagegen für die unendlich langen Zeiträume, die, wie die Geologie gezeigt hat, seit der Entstehung der ersten Organismen bis zu historischer Zeit verstrichen sind, fehlt natürlich die direkte Be- obachtung. Allein, hier hat uns die Natur gewisse Urkunden auf- bewahrt, in denen wir die Geschichte der Entwicklung des ganzen ÖOrganismenstammes, wenn auch mehr oder weniger lückenhaft, auf- gezeichnet finden. Die erste Urkunde entziffert uns die Paläontologie oder Versteinerungskunde. Es sind die Zeugnisse, welche die Natur über die Existenz und Beschaffenheit der früheren Organismen in den Schichten der Erdrinde selbst niedergelegt hat: die Versteinerungen oder Petrefakten. Mit der Erforschung der Versteinerungen, die sich in den verschiedenen Schichten der Erdrinde finden, rekonstruiert die Paläontologie bis zu einem gewissen Grade die Organismenwelt, welche zu jenen Zeiten, als diese Schichten sich bildeten, die Erd- oberfläche bevölkerte. So lernen wir die Vorfahren unserer heutigen Organismen kennen und sehen, wie sie in den jüngsten Schichten den jetzt lebenden Tieren und Pflanzen noch sehr ähnlich sind, wie sie ihnen aber um so unähnlicher werden, je tiefer wir bis zu den ältesten Schichten hinabsteigen, und wie ganze große Organismengruppen, die wir heute für weit voneinander getrennt betrachten, in älteren Schichten gemeinsame Vorfahren haben, die gewisse charakteristische Eigen- schaften mehrerer Organismengruppen noch in sich vereinigen. In den allerältesten Schichten finden wir nur niedere Tiere und Pflanzen — noch keine Wirbeltiere und Blütenpflanzen. Für jeden, der nicht einem blinden, supranaturalistischen Schöpfungsglauben huldigt und es nicht vorzieht, wie der biblische Schöpfungsbericht jede Organismen- form für sich aus der Hand eines persönlichen Schöpfers hervor- gerangen zu denken, für den gibt es nur eine einzige natürliche Er- klärung aller paläontologischen Tatsachen, das ist die, daß die ganze Organismenwelt, welche heute lebt und überhaupt je gelebt hat, einen einzigen großen Stammbaum bildet, dessen Keim die erste lebendige Substanz war, die auf der Erde entstand. Dieser Keim entwickelte sich zu einem gewaltigen Baum mit unzähligen Aesten und Zweigen und Blättern, deren letzte Sprossen wir in der heutigen Organismen- welt vor uns haben, deren ältere Aeste im Schoß der Mutter Erde begraben liegen. Leider ist die paläontologische Urkunde sehr lücken- haft, denn einerseits ist nur ein sehr kleiner Teil der Erdschichten unserer Untersuchung zugänglich — die große Masse der Erdrinde ist vom Meere bedeckt —, und anderseits ist die Erhaltung der Organismen teilweise eine sehr unvollkommene, weil sie überhaupt nur unter ganz bestimmten Bedingungen eingebettet werden konnten, ohne vom Wellenschlage oder von der Fäulnis etc. zerstört zu werden; Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 37 ja Organismen ohne schützende Skelettteile sind äußerst selten über- liefert worden, weil ihr weicher Körper nach ihrem Tode sofort zer- fallen mußte. So kommt es auch, daß uns gerade bei der Erforschung der ältesten, einfachsten Organismen, die noch keine schützenden Skelettteile besaßen, die paläontologische Urkunde im Stich läßt. Die vergleichende Anatomie beschäftigt sich mit der zweiten Urkunde, die in den Homologien der einzelnen Organe der jetzt lebenden Organismen gegeben ist. Wenn die vergleichende Anatomie durch Zergliederung der” Organismen bis in ihre feinsten Teile und durch Vergleichung der einzelnen Organsysteme und Organe ver- schiedener Ore sanismengruppen untereinander die Tatsache feststellt, daß gewisse Örganismengruppen mit anderen in wesentlichen Organ- systemen bis zu einem gewissen Grade übereinstimmen, so Kann diese Tatsache auf natürliche Weise wieder nicht anders gedeutet werden als durch eine natürliche Verwandtschaft dieser Organismen, die im allgemeinen um so näher ist, je mehr Homologien sich finden, um so entfernter, je mehr Unterschiede daneben vorhanden sind; denn die Homologien können nur dadurch bedingt sein, daß die betreffenden Organismen in grauer Vorzeit einmal gemeinsame Vorfahren gehabt haben, die diese Merkmale besaßen. Freilich ist auch die Urkunde der vergleichenden Anatomie nur sehr unvollständig, denn die heutigen Organismen sind ja nur die übrig gebliebenen Spitzen der ver schiedenen Zweige des großen Organismenstammbaumes, zwischen denen die anderen Zweige und Aeste abgestorben sind. Aber hier ergänzt ge- rade die paläontologische Urkunde die Tatsachen der vergleichenden Anatomie bis zu einem bestimmten Grade in erfreulichster Weise, indem sie auch die ausgestorbenen Aeste der Vergleichung mit den noch lebenden zugänglich macht. Ein Beispiel erläutert das am besten. Aus vergleichend-anatomischen Gründen war man zu der Ueberzeugung gekommen, daß die Vögel mit den Reptilien in nächster verwandtschaftlicher Beziehung ständen; allein man kannte Formen, die den gemeinsamen Vorfahren entsprächen oder nahe ständen, noch nicht. Da wurde in den Steinbrüchen des Solnhofener litho- graphischen Schiefers jenes versteinerte Tier von etwa Taubengröße entdeckt, der bekannte Archaeopteryx macrurus, das sowohl Vogel- als Reptiliencharaktere nebeneinander besaß, denn es hatte ein Eidechsengebiß mit Zähnen und eine Eidechsenwirbelsäule mit einem langen Eidechsenschwanz, war aber auf seinem ganzen Körper mit Vogelfedern bedeckt, die auf dem Gestein in feinster Weise ab- gedrückt sind (Fig. 151). Durch diesen und ähnliche paläontologische Funde wurde die aus der vergleichenden Anatomie gefolgerte Ver- wandtschaft der Vögel und Reptilien auf das glänzendste bestätigt, und ähnliche Beispiele lassen sich heute in unzähliger Menge an- führen. Die Embryologie oder individuelle Keimesentwicklung (Onto- genie) lehrt uns schließlich die dritte wichtige Urkunde über die Des- zendenz entziffern. Bekanntlich durchläuft der Keim der Pflanzen und Tiere von seinem einfachsten Zustande, der Eizelle, an, eine lange Reihe von Entwicklungsstadien, ehe er dem Mutterorganismus, von dem er abstammt, ähnlich wird. Da wir wissen, daß die Vorfahren stets ihre charakteristischen Eigenschaften auf ihre Nachkommen verer ben, so gewinnen diese Ent- wicklungsstadien, die der Organismus allmählich durchläuft, eine 376 Viertes Kapitel. außerordentlich große Bedeutung für die Erkenntnis der Vorfahren- reihe; denn da sie im großen und ganzen von den Vorfahren her ererbte Formenverhältnisse vorstellen, so werden sie, wenn auch nur in groben Umrissen, die Entwicklungsformen andeuten, die in der Vor- fahrenreihe einst nacheinander aufgetreten sind; mit anderen Worten, die in der KeimesentwickInng oder Ontogenie eines Individuums auf- tretenden Formen rekapitulieren im großen und ganzen die Formen- reihe der Vorfahren des betreffenden Organismus. Dieses von HAECKEL begründete „biogenetische Grund- gesetz“, das wir bereits an anderer Stelle!) kennen lernten, setzt uns also in den Stand, durch kritische Untersuchung aus der ontogenetischen Entwicklung eines Organismus seine phylo- genetische Deszendenz bis zu einem gewissen Grade zu rekon- struieren. Aus allen diesen Tatsachen der Paläontologie, der ver- gleichenden Anatomie und der Embryologie, wegen deren aus- führlicherer Würdigung auf die einschlägigen und grundlegenden Werke von DARWIN, GEGEN- BAUR, HAECKEL und ihren Schülern selbst verwiesen werden muß, ergibt sich nicht nur mit Notwendigkeit der Schluß, daß unsere jetzigen Organismen in lückenloser Deszendenz von der ersten, aus leblosen Stoffen ent- standenen lebendigen Substanz abstammen, sondern auch zugleich der Weg, den die Entwicklung der ARREHNN. lebendigen Substanz auf Erden Be genommen hat. Es ist der phylo- Fig. 151. Archaeopteryx maerurus, genetischen Forschung unserer S. Ba = rn = Cora- modernen Morphologie im wesent- adıus, % na, c Varpus, 1 7 1 I "Scapula, I_IV FR Nach Zermer. lichen gelungen, diesen Weg m großen Zügen festzustellen und so den Stammbaum der Organismen wenigstens in seinen groben Umrissen zu rekonstruieren. Wie sehr auch anfangs die provisorischen Stammbäume, die HAECKEL im An- schluß an die damals bekannten Tatsachen zuerst vor mehr als 40 Jahren aufstellte, Anfeindungen erfuhren, so wenig dürfte es jetzt noch vor- urteilsfreie Morphologen geben, die nicht in den wesentlichen Punkten HAECKELsS Idee der Stammbäume angenommen hätten. In der Tat herrscht jetzt über das phylogenetische Verhältnis der größeren Or- ganismengruppen zueinander im wesentlichen Uebereinstimmung, wenn auch über die kleineren Gruppen und die ganz speziellen Verhältnisse 1) Vergl. p. 248. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 377 noch manche weitgehende Differenz besteht, die erst allmählich durch immer neue Erfahrungen beseitigt werden wird. Nach diesen Vor- stellungen hat die moderne Morphologie auf Grund des jetzigen Standes ihrer Forschungen etwa folgendes Bild von dem Stammbaum der Or- ganismen entworfen: Pflanzen. Tiere. (Metaphyta.) (Metazoa.) Bedecktsamige (Angiospermae) | Wirbeltiere Nacktsamige (Vertebrata) (Gymnospermae) Stachel- Glieder- Mantel- Weich- Farne häuter tiere tiere tiere, (Filieinae) (Echinodermata) (Arthropoda) (Tunicata) (Mollusca) . . .. Zn B% Moose Pflanzentiere Würmer (Muscinae) (Coelenterata) (Vermes) \ Tange Pilze Urdarmtiere (Fucoideae) (Fungi) (Gastraeada) Protophyten Protozoön Di ER Protisten Moneren. Schema des Stammbaums der Organismen. Aus den ersten lebendigen Massen, die HAECcKEL als Moneren bezeichnet, entwickelten sich durch Differenzierung der homogenen Substanz in Kern und Protoplasma die ersten einzelligen Organismen, die Protisten. Die Protisten bilden diejenige Organismengruppe, aus der sich nach der einen Seite die Pflanzen, nach der anderen die Tiere entwickelt haben, und welche die niedrigsten noch jetzt leben- den Organismen umfaßt. Schon unter den Protisten aber fand eine Differenzierung der Art des Stoffwechsels statt, und die Protisten schieden sich in Protophyten, d. h. Protisten mit pflanzlichem Stoffwechsel und Protozoön, d. h. Protisten mit tierischem Stoff- wechsel, indem die ersteren noch immer fortfuhren, aus anorganischen Stoffen ihre lebendige Substanz aufzubauen, während die letzteren den Stoffwechsel vereinfachten, indem sie gleich die von den ersteren gebildete organische Substanz selbst zum Aufbau ihres Körpers be- nutzten. Von den Protophyten stammen alle Pflanzen (Metaphyten), von den Protozo@en alle Tiere (Metazoön) ab, und zwar in folgender Weise. Aus dem Protophytenstamm gingen zwei Aeste hervor, die Tange (Fucoideae) und Pilze (Fungi). Von diesen entwickelte sich der Ast der Tange weiter, und aus ihm entstanden in gerader Des- 378 Viertes Kapitel. zendenz die Moose (Musecinae), aus diesen die Farne (Filieinae), aus diesen die nacktsamigen (Gymnospermen), und aus den letzteren schließlich die bedecktsamigen (Angiospermen) Pflanzen, welche die höchste Differenzierung des ganzen Pflanzenreichs zeigen. Aus den Protozoön anderseits entstanden die Urdarmtiere (Gastraeaden), sehr einfache Tiere, nur aus zwei verschiedenen Zellen- schichten (Entoderm und Ektoderm) bestehend, von denen wahrschein- lich jetzt keine Vertreter mehr leben, deren Vorhandensein in der Stammreihe aber aus dem weit verbreiteten Auftreten des Gastrula- stadiums in der Entwicklung der meisten Tiere mit Notwendigkeit geschlossen werden muß. Aus den Urdarmtieren entwickelten sich einerseits die sogenannten Pflanzentiere (Öölenteraten) und ander- seits die Würmer (Vermes). Letztere gaben den vier Gruppen der Stachelhäuter (Echinodermen), Gliedertiere (Arthropoden), Manteltiere (Tunicaten) und Weichtiere (Mollusken) den Ur- sprung, von denen die Manteltiere schließlich zu den Ahnen der Wirbeltiere wurden, der am weitesten differenzierten Vertreter des ganzen Tierreichs. Unsere heute lebenden Organismen bilden nur die letzten Spitzen aller dieser großen Zweige des gewaltigen Or- ganismenstammbaumes. Ein Ueberblick über die Stammesentwicklung der Organismen von ihrem ersten Entstehen bis in unsere Zeit zeigt uns, wie die lebendige Substanz im Laufe der Erdentwicklung eine ungemein weit- gehende Wandlung ihrer Formen erfahren hat, wie die heutigen Or- ganismen in Hinsicht auf ihre Form und Organisation sich weit nach den verschiedensten Richtungen hin differenziert haben. Eine natür- liche Erklärung dieser Tatsache hat uns, wie wir bereits sahen, DAr- wıns Selektionstheorie gegeben. Werfen wir schließlich noch einen kurzen Blick auf das Wesen der Veränderungen, welche die lebendige Substanz von ihrer Ent- stehung an bis jetzt durchgemacht hat, so tritt uns die Tatsache ent- gegen, daß sie sich von einfachen Formen an zu immer kompli- zierteren Gestalten und Organisationen entwickelt hat, so daß wir unter den heute lebenden Organismen die am höchsten komplizierten finden, wie etwa die Blütenpflanzen und die Wirbeltiere, in denen sich besondere Teile in weitestgehender Weise selbst für die Ausübung der speziellsten Verrichtungen differenziert haben. Man hat im Hin- blick auf diese Tatsache häufig gesagt, daß sich in der Entwicklungs- reihe der Organismen von den ersten Anfängen an bis jetzt ein dauernder Fortschritt, eine fortschreitende Vervollkommnung erblicken läßt. Diese Auffassung verfällt in den Fehler, den zu vermeiden das ganze Streben der Darwınschen Theorie war, nämlich in den Fehler der Teleologie. Der Begriff des Fortschritts, der Vervollkommnung involviert ein Ziel, nach dem hin der Fortschritt, die Vervollkommnung gerichtet ist. Ohne dieses Moment ist der Begriff wesenlos. In Wirklichkeit existiert aber für die Entwicklung der Organismen eben- sowenig ein vorbestimmtes Ziel, nach dem sie strebt, wie für irgend- eine chemische Reaktion. Sie kann nur erfolgen und muß in ganz bestimmter Weise erfolgen, wenn die sämtlichen Bedingungen da sind. Ihre Veränderung ist daher bedingt von der Veränderung ihrer Umgebung. Wenn wir also den Begriff des Fortschritts, der Vervoll- kommnung etc. anwenden, so kann das nur geschehen von einem Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 379 anthropozentrischen Standpunkt aus, indem wir selbst ein Ziel in die Entwicklung hineintragen. Mag man das tun, aus welchen Rück- sichten man will, auf jeden Fall muß man sich dabei bewußt bleiben, daß das Ziel dann ein künstlich gesetztes ist, nicht ein Ziel, das in der Natur selbst läge, denn die Annahme, daß der Mensch voll- kommener sei als eine Amöbe, bleibt immer eine willkürliche, für welche die Wirklichkeit keine Berechtigung bietet, und wenn wir die Entwicklung eine Vervollkommnung nennen, so ist das nichts weiter als eine Konvention. Die Welt selbst hat kein Ziel, nach dem sie strebt; hier existiert nur ewige Entwicklung, d. h. Veränderung ohne Ende. * * * Ziehen wir nunmehr das Fazit aus unseren Erörterungen. Klar und deutlich zeigt sich uns die Tatsache, daß das Leben von seinem ersten Beginn an durchaus bedingt war durch die Verhält- nisse der Erdoberfläche. Das Leben ist eine Funktion der Erdentwicklung in mathematischem Sinne. Lebendige Substanz konnte nicht bestehen, solange die Erde ein feurig-füssiger Ball ohne feste und kühle Rinde war; sie mußte aber entstehen, mit derselben unabwendbaren Notwendigkeit wie eine chemische Ver- bindung, als die nötigen Bedingungen gegeben waren, und sie mußte ihre Form, ihre Zusammensetzung etc. ändern in demselben Maße, wie sich die äußeren Lebensbedingungen im Laufe der Erdentwicklung änderten. Die lebendige Substanz ist lediglich ein Teil der Erdmasse. Die Synthese von Teilen dieser Erd- masse zu lebendiger Substanz war ebenso das not- wendige Produkt der Erdentwicklung wie etwa die Entstehung des Wassers: eine unausbleibliche Folge der fortschreitenden Abkühlung jener Massen, welche die Erdrinde bildeten, und ebenso sind die chemischen, physikalischen, morphologischen Eigenschaften der lebendigen Substanz von heute die notwendige Folge der Einwirkung. unserer jetzigen äußeren Lebens- bedingungen auf dieinneren Verhältnisse der früheren lebendigen Substanz. Innere und äußere Lebensbedin- gungen stehen in einer untrennbaren Wechselwirkung, und der Ausdruck dieser Wechselwirkung ist das Leben. III. Die Geschichte des Todes. Der Punkt, in dem unsere Betrachtung der Lebensbedingungen gipfelte, war die Tatsache, daß das Leben nur bestehen kann, aber auch entstehen muß, mit derselben unabwendbaren Notwendigkeit wie jeder andere Naturvorgang, wenn ein bestimmter Komplex von Bedingungen erfüllt ist. Fehlen diese Bedingungen, so fehlt auch das Leben. Die Entstehung des Lebens auf der Erde war nur die eine Kon- sequenz aus dieser Tatsache. Die andere, die wir jetzt ins Auge fassen wollen, ist die Entwicklung des Todes. 380 Viertes Kapitel. A. Die Vorgänge der Nekrobiose. Fällt eine, mehrere oder alle Lebensbedingungen unter den speziellen Verhältnissen, unter denen sich irgendein Organismus be- findet, aus, so hören die Lebensäußerungen auf; das Leben steht still. Dieser Stillstand ist, abgesehen von den wenigen Fällen des latenten Lebens. stets der Tod. Aber, wie wir schon bei anderer Gelegenheit sahen !), tritt der Tod nie unvermittelt ein. Es eibt keine scharfe Grenze, die Leben und Tod voneinander scheidet, es findet vielmehr ein allmählicher Uebergang statt zwischen Leben und Tod: der Tod entwickelt sich. Gesundes Leben einerseits und Tod anderseits sind nur die äußersten Endglieder dieser Entwicklung, die durch eine Reihe von Zwischenstadien lückenlos miteinander verbunden sind. Beide Endstadien lassen sich wohl leicht und scharf voneinander unterscheiden, aber eine scharfe Grenze zu ziehen da, wo der Tod beginnt und das Leben aufhört, ist unmöglich. Deshalb bezeichnen wir mit einem Worte, das von K. H. SCHULTZ und VIRCHOWw in die Pathologie eingeführt wurde, diesen Uebergang vom Leben zum Tod als „Nekrobiose“. Zwar unterscheidet VIRCHOW ?) zwischen Nekro- biose und Nekrose nach äußeren Gesichtspunkten in der Weise, daß er von Nekrobiose spricht, wenn der betroffene Teil später in seiner Form vollständig zerstört und untergegangen ist, von Nekrose dagegen, wenn er in seiner ursprünglichen Gestalt im Tode noch be- stehen bleibt; allein so praktisch dieser äußere Unterschied für die Beurteilung grober Verhältnisse, ganzer Organe oder Gewebe etc. sein mag, so wenig Bedeutung hat er für die theoretische Auffassung des Vorgangs selbst, denn es hängt häufig von ganz nebensächlichen Momenten ab, ob der Enderfolg sich in dieser oder jener Weise ge- staltet. Hat z. B. eine Zelle eine feste Membran, so bleibt ihre Form, während der Protoplasmakörper schon längst abgestorben ist, noch lange erhalten; ist ihr Protoplasma aber nackt, so zerfällt die Zelle in der Regel zu einem formlosen Häufchen von Körnern, und doch kann das Wesen des Prozesses, der zum Tode führt, in beiden Fällen das gleiche sein. Daher scheint es zweckmäßiger, diese für grobe Verhältnisse praktische Unterscheidung fallen zu lassen und den Begriff der Nekrobiose so weit zu fassen, daß er auch die so- genannten nekrotischen Prozesse mit einschließt. Dann verstehen wir unter Nekrobiose diejenigen Prozesse, die, mit einer unheilbaren Schädigung des normalen Lebens be- ginnend, schneller oder langsamer zum unvermeid- lichen Tode führen. Der damit vielfach synonym gebrauchte Begriff der Degeneration hat den Nachteil, daß er nicht eindeutig ist und auf viele ganz verschiedenartige Dinge Anwendung findet. Mit den Tatsachen der Nekrobiose sind wir bereits auf ein Ge- biet gelangt, das sich wegen seiner enorm praktischen Bedeutung als selbständige Wissenschaft entwickelt und einen ungeheuren Umfang angenommen hat; das ist die Lehre von den Krankheiten, die Patho- logie. Unsere folgende Betrachtung wird sich daher zum großen 1) Vergl. p. 158 u. ff. 2) R. VIRCHoOW: „Die Zellularpathologie in ihrer Begründung auf physio- logische und pathologische Gewebelehre“. 4. Auflage. Berlin 1871. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 381 Teil auf diesem Gebiete bewegen und die Wege aufsuchen, welche in das Schattenreich des Todes führen. Da die Zelle der eigentliche Sitz des Lebens ist, so muß die Zelle ebenso, wie sie für die Erforschung der Lebensäußerungen den Angriffspunkt vorstellt, auch das Objekt für die Untersuchung der Nekrobiose abgeben. Der Tod der großen Organismen mit ihren weitdifferenzierten Organen und Geweben beruht ja lediglich auf dem Absterben der einzelnen Zellen, die den Zellenstaat des Or- sanismus zusammensetzen. In den einzelnen Zellformen aber ver- laufen die Vorgänge, die zum Tode führen, sehr verschieden. Das hängt einerseits von der Beschaffenheit der lebendigen Substanz ab, die jede einzelne Zellform charakterisiert, anderseits von der Art und Weise der Faktoren, die den Tod der Zelle bedingen. Es liegt also auf der Hand, daß daraus eine große Mannigfaltigkeit der Absterbe- prozesse resultieren muß. Immerhin kann man die Vorgänge der Nekrobiose in zwei große Gruppen bringen, die sich fundamental voneinander unterscheiden. Die eine Gruppe dieser Vorgänge besteht darin, daß die normalen Lebensprozesse nach und nach ausfallen, ohne vorher eine wesentliche Aenderung zu erfahren; wir können diese Prozesse als histolytische Prozesse bezeichnen. Die andere Gruppe ist dieser gegenüber dadurch charakterisiert, daß die normalen Lebensprozesse durch die tödliche Schädigung in eine perverse Bahn gelenkt werden und entarten, ehe sie vollständig stillstehen. Diese Prozesse nennen wir metamorphotische Prozesse. 1. Histolytische Prozesse. Die einfachsten Formen der histolytischen Prozesse sind die „Atrophien“ Es sind meist chronisch verlaufende Prozesse, die darin bestehen, daß die aufsteigende Phase des Stoffwechsels der be- troffenen Zellen, also die Vorgänge, die zum Aufbau und zur Neu- bildung der lebendigen Substanz führen, immer mehr und mehr an Umfang abnehmen, bis sie schließlich ganz aufhören. Die Folge da- von ist, daß die lebendige Substanz, die sich ja in gewissem Maße fortwährend von selbst zersetzt, mehr und mehr an Menge einbüßt, so daß die Zelle immer kleiner wird, bis der Rest, wenn es zum Extrem kommt, schließlich zerfällt. Man sagt: die Zelle oder das Gewebe „atrophiert“. Die Fälle von Atrophie eines Organs oder Gewebes sind im ganzen Organismenreich weit verbreitet und spielen sowohl in der normalen Entwicklung der Tiere als auch unter pathologischen Verhältnissen eine große Rolle. Die klarsten Beispiele für atrophische Prozesse liefert der Hunger. Die oben beschriebenen Veränderungen, die sich bei Nahrungsentziehung an den einzelnen Zellen sowohl wie an den ver- schiedenen Geweben und Organen vollziehen, gehören hierher (vergl. p-. 324). Unter den Fällen der Atrophie, die in der Entwicklung des normalen Organismus auftreten, sind vor allem bekannt die Vorgänge der Histolyse oder Rückbildung embryonaler Organe, die besonders für die Tiere mit ausgesprochener „Metamorphose“ oder Larven- entwicklung charakteristisch sind. Diese histolytischen Prozesse sind hauptsächlich an dem atrophierenden Schwanze der Froschlarven 382 Viertes Kapitel. (Kaulquappen) von Looss!) genauer verfolgt worden. Die Histolyse verläuft in ihren wesentlichen Momenten bei den verschiedenen Zell- formen übereinstimmend. Zuerst macht sich eine Auflockerung der die Zellen untereinander zum Gewebe verbindenden Kittsubstanz bemerkbar, so daß die Zellen lockerer aneinanderhängen. Während- dessen aber beginnt auch schon eine sichtbare Veränderung im Proto- plasma der Zellen selbst. „Die Zellsubstanz gibt ihre normale charakteristische Struktur auf: Das ursprünglich in Form eines mehr oder weniger ausgeprägten Schwammgerüstes vorhandene, meist stärker färbbare Spongioplasma zieht sich zusammen, die ein- zelnen Balken werden gröber, und schließlich zerfällt das Ganze in eine größere oder kleinere Anzahl von kugelrunden Tröpfchen, die innerhalb des weniger oder gar nicht gefärbten Hyaloplasmas liegen, das seinerseits ebenfalls zu einer einheitlichen Masse sich vereinigt hat.“ Die Grundsubstanz, in der diese Kügelchen liegen, beginnt sich zuerst aufzulösen, und erst später verflüssigen sich auch diese Kügelchen selbst. So bleiben schließlich vom ganzen Protoplasma nur noch einige Körnchen übrig, die von den als Freßzellen in allen (reweben umherkriechenden Leukocyten aufgefressen werden. Die Kerne der Zellen halten dem Zerfall meist bedeutend länger stand, werden aber schließlich auch Opfer eines ganz ähnlichen Prozesses. Ihre Grundsubstanz verschwindet sehr bald, die chromatische Sub- stanz und die Kernmembran schrumpfen mehr und mehr zusammen und zerfallen in einzelne Bröckel, die sich zuletzt ebenfalls auflösen. IYYyygan0E® Fig. 152. Histolyse der Muskelfasern im Schwanz der Froschlarve. Nach Looss. Ganz ähnlich verhalten sich auch die sonst ziemlich differenten Muskelfasern. Die einzelnen Fibrillen quellen auf und verkleben untereinander. Dabei beginnt sich die isotrope und anisotrope Sub- stanz untereinander zu vermischen, so daß die Querscheibe allmählich verschwindet. Auch die Doppelbrechung der anisotropen Schichten erlischt. Gleichzeitig zerfallen die Muskelfasern in kleinere rund- liche Trümmer, die schließlich ebenfalls der Auflösung anheimfallen (Fig. 152). In ganz analoger Weise dürften die Prozesse der Histo- lyse auch in den meisten anderen Fällen verlaufen, z. B. bei der Rückbildung der larvalen Organe der Insekten, der Muskeln des Lachses, der Thymusdrüse des Menschen etc. Jedoch geht aus den Untersuchungen von METSCHNIKOFF ?), KOWALEVSKY?°) u. a. hervor, daß bei manchen Insekten, besonders bei Fliegenmaden, wo die Rück- 1) A. Looss: „Ueber Degenerationserscheinungen im Tierreich, besonders über die Reduktion des Froschlarvenschwanzes und die im Verlaufe derselben auftreten- den histolytischen Prozesse“. In Preisschriften der Fürstlich Jablonowskischen Ge- sellschaft, Leipzig 1889. 2) METSCHNIKOFF: „Untersuchungen über die intrazelluläre Verdauung bei wirbellosen Tieren“. In Arbeiten d. zool. Inst. d. Univ. Wien, 1883. 3) KOWALEVSKY: „Beiträge zur nachembryonalen Entwicklung der Musciden“. In Zool. Anzeiger, 1885. — Derselbe: „Beiträge zur nachembryonalen Entwicklung der Musciden“. Teil I. In Zeitschr. f. wiss. Zool., Bd. 45, 1887. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 383 bildung der larvalen Gewebe besonders schnell vor sich geht, die Histo- Iyse wesentlich von den Leukocyten mit besorgt wird, indem diese kleinen „Phagocyten“ die noch nicht zerfallenen Gewebezellen auffressen. Immerhin wird man auch hier voraussetzen müssen, daß die Ein- leitung der Histolyse von seiten der Gewebezellen selbst ausgeht, und daß die Leukocyten erst die bereits zu atrophieren beginnenden Zellen auffressen. Der ganze Unterschied liegt dann, wie das auch KOROTNEFF!) hervorgehoben hat, darin, daß da, wo es sich um eine möglichst schnelle Beseitigung der Gewebe handelt, die Leukocyten eine energischere Tätigkeit entfalten und früher damit beginnen. Zu den Atrophien im normalen Leben gehören ferner auch die Vorgänge der „senilen Atrophie, die in einer sehr lang- samen und stetig fortschreitenden Rückbildung der verschiedenen Ge- webe besteht und im höheren Greisen- alter niemals aus- bleibt. Den normalen Atrophien reihen sich die patholo- gischen an, die am Organismus auf- treten, wenn Er- krankungen die ge- eieneten Bedingun- gen dafürgeschaffen haben. So atro- phieren."z. :B. !die: Muskeln des Unter- Fig. 153. Muskelfaserfragmente bei der Metamor- . phose der Fliegenmade von Leukocyten zerstört. schenkels beim Die dunkleren, grau gekörnten Zellen sind die Leukocyten. Menschen, wenn das Nach KOWALEVSKY. Kniegelenk infolge einer Erkrankung verknöchert und unbeweglich geworden ist. Solche Atrophien, die infolge des Nichtgebrauchs eines Organes eintreten, werden als „Inaktivitätsatrophien“ bezeichnet. Die Prozesse bei diesen pathologischen Atrophien sind im großen und ganzen die- selben, die wir bereits kennen gelernt haben, doch zeigen sich bis- weilen noch einige merkwürdige Einzelheiten. So hat man z. B. vielfach in Muskeln, die infolge irgendeiner Krankheit atrophierten, eine ganz ungeheure Vermehrung der Muskelkerne gefunden, während Looss mit Sicherheit feststellen konnte, daß bei der Muskelatrophie des Kaulquappenschwanzes die Kerne weder vermehrt noch ver- mindert waren. Ferner sind die infolge von Krankheiten atrophieren- den Gewebe in der Regel anfangs viel fester und derber als die Ge- webe, die der normalen Histolyse verfallen, ein Umstand, der vielleicht 1) A. KoROTNEFF: „Histolyse und Histogenese des Muskelgewebes bei der Metamorphose der Insekten“. In Biol. Centralbl., Bd. 12, 1892, 384 Viertes Kapitel. in der bedeutend längeren Dauer der pathologischen Atrophie be- gründet ist, bei der die aufgelösten Massen mehr Zeit haben, abzu- fließen. Allein, das sind alles nur speziellere, akzessorische Momente. Die Nekrobiose der Leukocyten hat besonders GUMPRECHT!) bei der akuten Leukämie verfolgt. Sie ist insofern interessant, als sich dabei die Auflösung des Zellkerns in einer sehr einfachen Weise vollzieht. Die Kernmembran geht zugrunde, der Inhalt des Kerns mischt sich mit dem Protoplasma, die chromatische Substanz wird blasser und blasser, bis der ganze Leukocyt eine homogene Masse vorstellt, die unter Aufquellung und Vakuolenbildung zertließt (Fig. 154). Den Atrophien können wir eine Reihe von Absterbeprozessen anfügen, die in der Pathologie unter dem gemeinschaftlichen Namen Fig. 154. Nekrobiose der Leukocyten bei akuter Leukämie. I und ZI normale Leukocyten, die dunkle Masse der Zellkern, der helle Saum das Proto«- plasma. Z//I—VIl Auflösungsstadien. Nach GUMPRECHT. der „Nekrosen“?) zusammengefaßt werden, obwohl sie wenig Aehn- lichkeit untereinander haben, die aber im allgemeinen mehr akut ver- laufen als die Atrophien. Unter den verschiedenen nekrotischen Prozessen können wir mehrere Hauptformen unterscheiden, die durch bestimmte Eigentüm- lichkeiten charakterisiert sind. Eine dieser Hauptformen ist die Ver- trocknung oder der „trockene Brand“. Bei dieser Form der Nekrose schrumpfen die Gewebezellen unter Flüssigkeitsverlust zu festen, lederartigen Massen zusammen, so daß die Gewebe trocken, hart und bröcklig geworden sind, wenn der Prozeß sein Ende erreicht hat. Die Vertrocknung kommt sowohl normal vor beim Eintrocknen des Nabelschnurrestes der neugeborenen Kinder als auch unter patho- logischen Verhältnissen, wie z. B. nach Verbrennen oder Erfrieren der Finger- und Zehenspitzen, besonders im Greisenalter, sowie bei der Mumifikation von Embryonen, die sich, statt im Uterus, in der Bauchhöhle des Tieres oder Menschen entwickeln und, da sie nicht geboren werden können, im Leibe der Mutter absterben. Solche 1) GUMPRECHT: „Leukocytenzerfall im Blute bei Leukämie und bei schweren Anämien“. In Deutsch. Arch. f. klin. Medizin 1896. 2) Vergl. COHNHEIM: „Vorlesungen über allgemeine Pathologie“. 2. Auflage. Berlin 1882. — ERNST ZIEGLER: „Lehrbuch der allgemeinen und speziellen patho- logischen Anatomie und Pathogenese“, Jena 1881. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 385 Embryonen nehmen allmählich eine harte, mumienartige Konsistenz an, weil die in ihnen enthaltene Flüssigkeit vom mütterlichen Körper resorbiert wird. Eine zweite Hauptform der Nekrose ist die zuerst von WEIGERT!) eingehend untersuchte Koagulationsnekrose und besteht darin, daß die Eiweißkörper der betreffenden Gewebe- zellen gerinnen. Man kann zu den Koagulationsnekrosen schon die gewöhnliche Totenstarre der absterbenden Muskeln rechnen, obwohl WEIGERT selbst sie davon trennt, da er für das Zustandekommen der Koagulationsnekrosen die Mitwirkung von Lymphe für unerläßlich hält. ‘Allein im Prinzip haben wir schon bei der Totenstarre, die den absterbenden Muskel unter allmählicher Kontraktion in ein starres Organ verwandelt und so die steife und starre Beschaffenheit der Leichen bedingt, wenn auch vorübergehend, denselben Vorgang; denn das Myosin, der für den Muskel charakteristische Eiweißkörper, der im lebendigen Muskel gelöst enthalten ist, gerinnt beim Absterben und er- zeugt so die Totenstarre, die sich dann erst infolge anderer Umsetzungen im Muskel unter Erschlaffung des- selben wieder löst. Aber auch eine typische Koagulationsnekrose im Sinne WEIGERTS kommt unterpathologischen Verhältnissen, besonders im Anschluß an fieberhafte Krankheiten, wie Ty- phus ete., beim Muskel vor: das ist die sogenannte „wachsartige Degeneration“, die in einer Ge- rinnung der Muskelsubstanz unter Verlust ihrer Querstreifung und Zer- klüftung in wächsern aussehende Fig. 155. Wachsartige Degene- Schollen besteht (Fig. 155). Aehn- ration der Muskeln bei Ty- liche Koagulationsprozesse tretenauch Phus abdominalis «a uerge- ; streifte, normale Muskelfaser, b in in den anderen (Gewebezellen, beson- wachsartige Schollen zerfallene Fasern, ders bei starken Entzündungen der c Muskelkerne, d Bindegewebe. Nach Schleimhäute, wie bei Diphtherie des ZIEGLER. Rachens ete., auf. Zu den Koagula- tionsnekrosen im weiteren Sinne können wir schließlich auch diejenigen Formen des Zelltodes rechnen, die eintreten, wenn wir lebendige (ewebe behufs anatomischer oder histologischer Konservierung mit Gerinnung erzeugenden Flüssigkeiten, wie Mineralsäuren, Alkohol, Sublimat etc., übergießen. Das sind die akutesten Fälle des Zelltodes überhaupt, und gerade darum eignen sich diese Flüssigkeiten zum Abtöten und Konservieren besonders gut, denn die lebendige Zelle wird hierbei plötzlich vom Tode überrascht, so daß sie nicht erst Zeit hat, sich in tiefergehender Weise zu verändern, sondern in einer den lebendigen Verhältnissen ziemlich ähnlichen Beschaffenheit momentan fixiert wird. Eine dritte Form der Nekrose, die Kolliquation, verläuft so, daß 1) WEIGERT: „Ueber pockenähnliche Gebilde in parenchymatösen Organen und deren Beziehungen zu Bakterienkolonien‘“. Breslau 1875. — Derselbe: „Ueber Croup und Diphtheritis. Ein experimenteller und anatomischer Beitrag zur Pathologie der spezifischen Entzündungsformen“. In VIRCHOWs Arch., Bd. 70, 1877. Daselbst ferner Bd. 72 u, 79. 25 Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 386 Viertes Kapitel. eine vollkommene Verflüssigung der betroffenen Gewebezellen eintritt, indem ihr Protoplasma in einen körnigen Detritus zerfällt, und die Zellkerne und Zellgrenzen sich auflösen, bis das Gewebe in einen flüssigen Brei umgewandelt ist. Solche Erweichungen kommen nament- lich bei der Blasenbildung nach Verbrennung zustande (Fig. 156) und können sich häufig mit Koagulationsvorgängen kombinieren. Ueber- haupt kommen nicht selten verschiedene Formen der Nekrose kom- biniert vor, und besonders werden sie noch durch sekundäre Momente kompliziert, wie z. B. durch die Fäulnis. Im letzteren Falle entstehen die Nekroseformen des feuchten Brandes, der Gangrän, der Verwesung etc., die alle durch die Einwirkung von Fäulnisbakterien auf nekrobiotische Gewebe hervorgerufen werden und zum Teil erst postmortale Veränderungen vorstellen. Es sind weiterhin noch manche Fig. 156. Kolliquation am Rande einer Brandblase. a Hornschicht der Epi- dermis, 5b Rete Malpiehii der Epidermis, ce normale Hautpapillen, d aufgequollene und zum Teil schon verflüssigte Zellen, e teilweise noch normale Zellen, f Verflüssigungsherd, g und Ah aufgequollene Zellen mit zerstörtem Kern, i eingesunkene Papillen, % geronnenes Exsudat. Nach ZIEGLER. andere Formen der Nekrose mehr oder weniger gut von der Pathologie charakterisiert worden, indessen beruhen diese Begriffe der Pathologie weniger auf der Untersuchung der mikroskopischen Vorgänge in der Zelle selbst als vielmehr auf dem makroskopischen Bilde des End- ergebnisses, das naturgemäß von den verschiedensten, nicht durch die reinen Vorgänge des Zellentodes unmittelbar bedingten Nebenumständen abhängig ist. Endlich können wir den Atrophien und Nekrosen noch eine Reihe von Vorgängen anschließen, die sich beim Absterben von Zellen in wässerigen Medien in der ganzen Organismenwelt weit ver- breitet finden: das sind die Vorgänge des körnigen Zerfalls!). Das Gemeinschaftliche aller Arten des körnigen Zerfalls liegt darin, daß am Ende des Prozesses die betroffene Zelle einen mehr oder 1) Max VERWORN: „Der körnige Zerfall. Ein Beitrag zur Physiologie des Todes“. In PFLÜGERs Arch. d. ges. Physiol., Bd. 63, 1896. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 387 weniger lose zusammenhängenden Haufen von einzelnen Körnchen bildet. Am leichtesten können wir den körnigen Zerfall bei manchen Infusorien beobachten, wenn ihr Protoplasma besonders wasserreich ist. Das ist z. B. bei dem großen walzenförmigen Spirostomum ambiguum der Fall, das außerdem eine sehr wenig feste Ober- flächenschicht seines Exoplasmas besitzt. Bringt man solchen Infu- sorien eine Wunde bei, indem man sie unter dem Mikroskop durch einen Schnitt in zwei Teile schneidet, so ereignet es sich sehr häufig, daß die Teilstücke von der Wundfläche her förmlich zerstieben. Man kann den Tod mit den Augen verfolgen, wie er, einem glimmenden Funken gleich, der an einer Zündschnur dahinläuft und nur ein loses Aschenhäufchen hinter sich zurückläßt, über den ganzen Infusorien- körper kriecht, Teilchen nach Teilchen ergreifend, Wimper nach Wimper in ihrer ungestörten Tätigkeit überraschend und mitten aus dem Leben zum ewigen Stillstand zwingend, bis in einen toten Körner- haufen verwandelt ist, was eben noch in lebendiger Bewegung begriffen war ieH157). Indessen diese sehr akut ver- laufenden Fälle an Infusorienzellen, die das Interesse jedes Beobachters fesseln, der sie zum ersten Male sieht, sind für das Studium der feineren Vorgänge im Protoplasma deshalb nicht sehr geeignet, weil es sich bei der schon von vornherein sehr körnerreichen Beschaffenheit des Protoplasmas nur schwer entscheiden läßt, wie weit das Körnermaterial der zerfallenen Massen I II sich aus den schon präformierten Fig. 157. Körniger Zerfall. Körnern zusammensetzt, und wie weit / Stück eines Spirostomums von Bar solches “erst «direkt, durch en rs. Io her zerfallend. IT er E - omyxa auf Ueberreizung von einer den Absterbeprozeß gebildet wird. Seite her zerfällend: Außerordentlich günstig ‚sind da- gegen in dieser Beziehung die voll- kommen hyalinen und körnerfreien Protoplasmamassen mancher Rhizopoden, z. B. des marinen Hyalopus Dujardinii (Fig. 158 7). Schneidet man unter dem Mikroskop mit einem feinen Messer eines der glatten, wasserklaren Pseudopodien ab, so beginnt dasselbe von der Schnittstelle her allmählich mehr und mehr zu zerfallen (Fig. 158 II und /IIT). Je nach der Dicke und Größe der abgeschnittenen Masse sieht man dann entweder bald oder erst im Verlauf einiger Stunden statt der durchsichtigen Protoplasmamasse einen Haufen von kleinen Körnchen und Kügelchen, zwischen denen noch vereinzelt etwas größere runde Tröpfchen von hyalinem Protoplasma (Fig. 158 III D, b) sowie bisweilen eine oder wenige matte runde durchsichtige Blasen (Fie. 158 IIID, a) liegen, alles locker zusammengehalten dur ch eine sehr feine, lose, schleimige Masse. Hier ist also” jeder Zweifel ausgeschlossen, daß dieser Haufen von Körnchen und Kügelchen ent- standen: ist durch Umbildung einer ursprünglich vollkommen klaren Masse lebendiger Substanz. Eine interessante Tatsache zeigt sich aber erst bei Untersuchung dieses Prozesses mit stärkeren Ver- 25* tes Kapitel. Vier 388 ee. Dr BOT — > 2° 5 y R ms 2, .. w-. Pu „n© WS —— ö e: S FE : o > EL YALTN 0, Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 389 Fig. 158. Hyalopus (Gromia) Dujardinii, körniger Zerfall. I Ganzes Indi- viduum. Aus der eiförmigen, membranartigen Schale ragen zahlreiche Pseudopodien her- vor, die links in Einziehung begriffen sind. Z// und III abgeschnittene Pseudopodien, an denen sich der körnige Zerfall entwickelt. Die Protoplasmakügelehen und -tröpfehen werden nur noch durch eine lockere, schleimige Bindemasse lose zusammengehalten. Zwischen ihnen zerstreut liegen noch einzelne größere hyaline Protoplasmatröpfehen (I1I Db), sowie einzelne größere Schleimkugeln (/I/Z Da). IV Pseudopodium, das bei « abgeschnitten ist und von hier aus körnig zerfällt, Stärkere Vergrößerung. Bei « ist der körnige Zerfall schon vollständig, die Kugeln sind schon isoliert, bei b erst der Beginn des Zerfalls, der durch die Vakuolenbildung eingeleitet wird. Zwischen beiden Punkten alle Uebergangsstufen. V Schalenöffnung des Hyalopus mit ausgestreckten Pseudopodien, von denen drei an der Stelle des Pfeiles gereizt sind und einen höckerigen Kontur ange- nommen haben. VI Reizstelle eines Pseudopodiums stärker vergrößert. Man sieht Vaku- olen, deren Wandprotoplasma sich höckerig und klumpig zusammengezogen hat. Der Vergleich zeigt die Uebereinstimmung mit IV. größerungen. Die Pseudopodien des Hyalopus lassen nämlich im normalen Leben der Zelle schon einen charakteristischen Unterschied in dem Verhalten ihres Protoplasmas bei der Expansionsphase einer- seits und der Kontraktionsphase anderseits erkennen. Während das Protoplasma bei der Ausstreckung vollkommen homogen aussieht, nimmt es bei der Einziehung die typische Wabenstruktur im Sinne BÜürscaLıs!) an und wird, wenn die Kontraktion, z. B. infolge einer Reizung, sehr stark wird, an der Oberfläche höckerig und wulstig (Fig. 158 V und VT). Bei der Entwicklung des körnigen Zerfalls zeigt sich nun genau derselbe Vorgang wie bei der Kontraktion: das Protoplasma beginnt Wabenstruktur anzunehmen. Das ist die Ein- leitung des körnigen Zerfalls, denn die Wabenwände ziehen sich nun mehr und mehr höckerig und klumpig zusammen, zerreißen hier und da und runden sich schließlich zu kleinen Kügelchen und Tröpfchen ab, die nur durch die schleimige Flüssigkeit der geplatzten Vakuolen, die häufig zu einer größeren Schleimblase zusammmenfließt, als loser Körnerhaufen aneinandergehalten werden (Fig. 1585 /V). Hier stellt also der körnige Zerfall gewissermaßen eine über das Maximum hinaus entwickelte Kontraktion vor. II B A B Fig. 159. I Amöbe, A normal, B in der Nekrobiose. II Leu- kocyt, A normal, B in der Nekrobiose. Diese Tatsache ist von eroßem Interesse; denn wenn wir ver- eleichend die histolytischen Prozesse an verschiedenen Zellen ver- folgen, so finden wir das gemeinsame Gesetz, daß alle Elemente, deren Kontraktilität deutlich zum Ausdruck kommen kann, also vor allem sämtliche nackten Protoplasmamassen, wie Rhizopoden, Proto- plasmatropfen von Gewebezellen etc., ferner kontraktile Fibrillen, 1) Vergl. p. 99. 390 Viertes Kapitel. Muskelfasern etc., ausnahmslos in der Kontraktionsphase absterben. Amöben und Leukocyten nehmen, wie bei jeder Kontraktion, mehr oder weniger vollkommene Kugelgestalt an (Fig. 159 B); Rhizopoden mit langen Pseudopodien ziehen ihre Pseudopodien ein und werden klumpig, oder die fadenförmigen Pseudopodien werden varikös und zerfallen selbst zu kleinen Kügelchen (Fig. 160). Protoplasma- fetzen aus dem Innern irgendwelcher formbeständigen Zellen, etwa Pflanzenzellen oder Gewebezellen oder auch freilebender Zellen, runden sich stets zu kugeligen Tropfen ab (Fig. 46a p. 131). Kontraktile Fibrillen und Muskelfasern gehen in Totenstarre über, d. h. sie kon- trahieren sich noch ein letztes Mal (p. 158), und erst wenn die Toten- starre vorbei, wenn der Tod vollendet ist, werden sie passiv wieder gestreckt durch die Wirkung elastischer Elemente. Kurz, überall finden wir, daß alles Protoplasma, dessen Kontrak- tilität überhaupt zum Ausdruck kommen kann, im Kon- traktionszustande abstirbt. Es wäre ein sehr lohnendes Unternehmen, auch noch andere, allen histolytischen Prozessen gemeinsame Eigentümlichkeiten durch eine vergleichende Untersuchung der nekrobiotischen Vorgänge fest- zustellen, wobei, wie ISRAEL!) in seinen Untersuchungen über den Tod der Zelle mit Recht hervorgehoben hat, die Bedingungen des Todes und die Dauer der Nekrobiose besonders zu berücksichtigen wären. Nur durch eine vergleichende Geschichte des Todes kann ein Verständnis der nekrobiotischen Vorgänge, das bis jetzt noch wenig entwickelt ist, mit der Zeit erhofft und damit zugleich auch die Kenntnis des Lebensvorgangs selbst gefördert werden. 2. Metamorphotische Prozesse. Die metamorphotischen Prozesse sind den einfachen histolytischen Vorgängen gegenüber sehr deutlich dadurch charakterisiert, daß der Stoffwechsel der Zelle nicht einfach mehr oder weniger langsam oder plötzlich stehen bleibt, sondern daß er vorher in eine perverse Bahn einlenkt, in der Weise, daß Stoffe, die in der normalen Zelle entweder gar nicht gefunden werden oder nur als Zwischenstufen auftreten, in- folge einer Stoffwechselstörung in größerer Menge von der Zelle auf- gehäuft werden, bis die Zelle zugrunde gegangen ist. Die häufigsten, bekanntesten und für die Pathologie wichtigsten Formen der meta- morphotischen Prozesse sind die „fettige Degeneration“ oder „Fett- metamorphose“, die „schleimige Degeneration“, die „amyloide Degene- ration“ und die „Verkalkung“. Wenn wir zunächst die Tatsachen der Fettmetamor- phose ins Auge fassen, so müssen wir, wie bereits an anderer Stelle (p- 197) bemerkt, noch immer die Frage offen lassen, ob es sich hier um Fett handelt, das im Stoffwechsel der Zelle aus anderen Zell- bestandteilen, speziell aus Eiweißverbindungen gebildet ist oder, wie es in neuerer Zeit wahrscheinlicher geworden ist, um Fett, das, sei es als solches, sei es in Form seiner Konstituenten von außen her in 1) ©. ISRAEL: „Biologische Studien mit Rücksicht auf die Pathologie. III. Oligodynamische Erscheinungen an pflanzlichen und tierischen Zellen“. In VIRCHOws Arch. f. pathol. Anat. u. Physiol. ete., Bd. 147, 1897. — Derselbe: „Ueber den Tod der Zelle‘. In Berl. klin. Wochenschr., 1897, No. 8. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 391 die Zelle eingewandert ist. In beiden Fällen aber würde eine Ver- änderung im Stoffwechselgetriebe der Zelle vorliegen, die eben ihren Ausdruck darin findet, daß Fett in der Zelle zur Anhäufung gelangt. In vielen Fällen wissen wir sicher, daß es sich bei dem Auftreten von Fett in gewissen Zellen um eine Einwanderung des Fettes oder seiner Konstituenten von außen her handelt, also um eine „Fettinfiltra- tion“. Eine solche finden wir unter physiologischen Verhältnissen in den Zellen des Unterhautbindegewebes. Sie kann aber auch hier schon pathologisch auftreten, wenn sie, wie bei der Mästung oder bei der Fettsucht, abnorme Dimensionen annimmt. Wird dem Körper durch die Nahrung viel Fett zugeführt oder Material, aus dem Fett gebildet werden kann, so lagert sich dieses „Mästungsfett“ mit Vor- D Ä ® Fig. 160. Nekrobiose einer kernlosen Proto- x plasmamasse von ÖOrbitolites. «a Die Proto- f - plasmamasse hat noch normale Pseudopodien aus- ar » gestreckt; b die Pseudopodien werden varikös und r< E “ teilweise eingezogen; c das Protoplasma der nicht ein- e; ihe _ gezogenen Pseudopodien ist zu Tropfen und Kugeln . ° — zerfallen. liebe an bestimmten Orten des Körpers innerhalb der Zellen ab, so z. B. in den Zellen des Unterhautbindegewebes, und so entsteht die Fettleibiekeit, der „panniculus adiposus*“. Die eigentlich pathologi- schen Fälle der Fettmetamorphose aber bestehen darin, daß Zellen, in denen sonst niemals Fett zur Ablagerung kommt, unter allmählich immer mehr und mehr zunehmender Fettanhäufung im Protoplasma zugrunde gehen. Auch diese eigentliche Form der Fettmetamorphose, die mit dem Tode und Zerfall der Zelle endigt, kommt in einem Falle schon als normaler Vorgang im gesunden Körper vor, nämlich in den Zellen der Milchdrüsen zur Zeit, wenn dieselben Milch sezernieren, wenn die Frau still. Zu dieser Zeit findet man, wie in den Drüsen- läppchen der Brüste die älteren Zellen in ihrem Protoplasma mikro- skopische Fetttröpfchen erkennen lassen (Fig. 161), die immer mehr und mehr an Zahl zunehmen, während das Protoplasma selbst all- 392 Viertes Kapitel. mählich abstirbt, bis die Zelle zu einem rundlichen Tröpfchen ge- worden ist, das voller kleiner Milchkügelchen steckt. Das abgestorbene Protoplasma zerfällt allmählich, die Fettkügelchen werden frei, und die ganzen Massen, d. h. die Fettkügelchen in ihrer Flüssigkeit, werden sezerniert als „Milch“, denn die Milch ist weiter nichts als eine Emul- sion von Butterfett in einer Lösung von Salzen, Eiweißkörpern, Zucker etc. Den alten, fettig zerfallenen Drüsenzellen rücken die jüngeren nach. Diese machen dieselben Veränderungen durch, und so geht der Prozeß der Milchbildung ununterbrochen in größtem Umfange weiter. Was in den Zellen der Milchdrüsen als normaler Prozeß auftritt, kommt aber unter pathologischen Verhältnissen in viel größerer Verbreitung in den verschiedensten Geweben vor und führt fast immer zu unheil- baren und tödlichen Verlusten, weil durch jüngere, nachrückende Zellen in der Regel kein Ersatz geschaffen wird. „Wenn jemand* — sagt VIRCHOW!) — „statt in der Milchdrüse im Gehirn Milch fabri- ziert; so gibt dies eine Form der Hirnerweichung. Derselbe Prozeß, welcher an einem Orte die glücklichsten, ja die süßesten Resultate liefert, bringt an einem anderen einen schmerzlichen und bitteren Schaden mit sich.“ Namentlich treten solche Fettmetamorphosen bei Fig. 161. Fettmetamorphose bei der Milchbildung in den Drü- senläppehen der Brustdrüse. Nach VIRCHOW. Fig. 162. Fettmetamorphoseder Herzmuskelzellen. Die Körnchen in den Zellen bestehen aus Fett. Nach ZIEGLER. | langandauernden chronischen Krankheiten, wie Tuberkulose, Herz- krankheiten, Nierenkrankheiten etc., in Niere, Herz, Leber etc. auf (Fig. 162), und ihre Bedingungen liegen immer in Ernährungsstörungen der Zellen, vor allem in der Störung der Sauerstoffzufuhr durch das Blut. Steht nämlich der Zelle nicht genug Sauerstoff zur Verfügung, oder ist ihre Sauerstoffaufnahmefähigkeit herabgesetzt, so wird das Fett, das in geringen Mengen wahrscheinlich den meisten Zellen zu- geführt wird, nicht, wie es normalerweise geschieht, verbrannt, d. h. oxydiert, sondern es kommt zur Ablagerung und häuft sich zu großen Mengen an. Deshalb tritt auch bei Gewohnheitstrinkern und nach Phosphorvergiftung, wo infolge des aufgenommenen Alkohols oder Phosphors die Sauerstoffaufnahme verringert ist, stets eine bedeu- tende Fettmetamorphose der Gewebe, besonders der Leberzellen, ein, und die Pathologie kennt eine ganze Reihe von Fällen, in denen sich die Fettmetamorphose auf die gleichen Bedingungen zurück- führen läßt. Die Tatsachen der Schleimmetamorphose bilden in gewisser Weise ein Gegenstück zu denen der Fettmetamorphose. Wie bei der letzteren in der lebendigen Substanz der Zelle Fett aufgehäuft wird, so tritt bei der ersteren Schleim auf. In vielen Fällen ist der 1) RuDoOLF VIRCHOW: „Die Zellularpathologie“ ete. 4. Aufl. Berlin 1871. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 393 entstehende Schleim echtes Mucin, in anderen sind es Mucinoidsub- stanzen, immer aber handelt es sich dabei um Verbindungen von Eiweißkörpern. Meist sind es Glykoproteide, die den Schleim bilden, doch kommen auch, wie z. B. im Schleim der Rindsgalle, Nukleoproteidschleimbildungen vor!). Wir sehen also, daß bei der Schleimmetamorphose der Ursprung des Schleimes immer im Eiweiß liegt, aber hier wissen’ wir auch, im Gegensatz zur Fettmetamorphose zweifellos, daß der Schleim in der Zelle selbst erst eebildet wird. Auch die Schleimmetamorphose kommt schon normalerweise im ge- sunden Körper vor, besonders in den Zellen der Schleimhäute des Respirations- und Darmtraktus sowie des Urogenitalsystems. Aber bei der Schleimbildung dieser Schleimzellen geht unter normalen Ver- hältnissen nie die ganze Zelle zugrunde, sondern es wird immer nur ein Teil ihres Protoplasmas in Schleim umgewandelt. Fast immer sind die Schleimzellen zylindrische Zellen, deren Basis den Kern be- herbergt, deren oberes Ende die freie Schleimhautoberfläche begrenzt. Immer ist es das obere freie Ende des Zellkörpers, dessen Proto- plasma sich dauernd und in verstärktem Maße bei besonderen äußeren Ein- wirkungen in Schleim umwandelt, indem es zu einer durchsichtigen Masse mit einzelnen darin liegenden Proto- plasmakörnchen auf- quillt, die sich dann ohne Grenze mit den Schleim- massen der benach- barten Schleimzellen zu einerzusammenhängen- Fig. 163. Schleimzellen. A Drei isolierte Schleimzellen. B Sieben zusammenhängende Schleimzellen, von denen die den Schleimdecke ver- drei linken voll, die vier einigt. Der untere, rechten entleert sind. Nach den Kern beherber- SCHIEFFERDECKER. gende Teil des Zell- A körpers bleibt dabei dauernd am Leben (Fig. 165) und schiebt nur immer neue Massen von schleimbildender Substanz oder „Mucigen“ nach oben nach, die in demselben Grade, wie sie nachrücken, wieder in Schleim ver- wandelt werden. Eine vollständige Umwandlung des ganzen Zell- körpers in Schleim unter Zugrundegehen der Zelle selbst! kommt aber besonders häufig unter pathologischen Verhältnissen am mensch- lichen Körper vor. Es sind das die namentlich bei schweren Katarrhen auftretenden Schleimmetamorphosen der Epithelzellen, Leukocyten etc., bei denen die betreffenden Zellen zugrunde gehen unter Aufquellung und Umwandlung ihrer lebendigen Substanz in Schleim (Fig. 164). Um einen prinzipiell ganz anderen Vorgang scheint es sich bei den merkwürdigen Vorgängen der Verschleimung zu handeln, die bei gewissen wirbellosen Tieren schon seit längerer Zeit bekannt sind. Bei manchen Formen der zu den Echinodermen gehörigen Seegurken oder Holothurien, jenen plumpen Tierformen, deren gurkenähnlicher Körper von einer derben, braunen, lederartigen Haut bedeckt ist, sieht man die dicke Haut, die den ganzen Körper 1) Vergl. p. 119. 394 Viertes Kapitel. des Tieres sackartig umgibt, nach starken äußeren Insulten einer vollständigen Verschleimung verfallen. Legt man z. B. die im Mittel- meer lebende Holothuria Poli an die Luft, so beginnt die dicke, harte Lederhaut sich allmählich in einen fadenziehenden Schleim zu verflüssigen und ist nach einigen Stunden bereits vollständig erweicht. Wenn man ein herausgeschnittenes Stück der Lederhaut mit feinen Nadelstichen durchbohrt, kann man, wie SEMPER!) berichtet, diese schleimige Verflüssigung noch schneller herbeiführen, denn um jeden Stich herum beginnt die Haut momentan unter Aufquellung schleimig zu zerfallen, so daß das ganze Stück schließlich in eine dickflüssige Masse verwandelt ist, die, wenn man sie berührt, seidenglänzende Fäden zieht. Manche Arten der Holothuriengattung Stichopus können in ganz kurzer Zeit ihre Haut in einen zähen Schleim ver- wandeln. Nach den Untersuchungen von LINDEMANN?) sind es nun hier nicht die Zellen der Haut, die einer Schleimmetamorphose unterliegen, sondern es ist die von den Zellen produzierte Inter- zellularsubstanz, die eine schleimige Verflüssigung erleidet. Diese Interzellularsubstanz, die eine dem Knorpel nahestehende che- mische Beschaffenheit zu haben scheint, hängt in ihrer Konsistenz ganz wesentlich von dem HI, Turgeszenzgrade der in Wh liegenden Zellen ab. 28) £3{ Schwache Reize können den Turgor der Zellen bedeutend erhöhen, in- - dem sie bewirken, daß die Fig. 164. Schleimig metamorphosierte Zellen. Zellen reichlich Wasser I Leukocyten, // Flimmerzellen. NachfZIEGLER. aus der Interzellularsub- stanz aufnehmen. Durch diese Wasserentziehung wird die Interzellularsubstanz hart wie Knorpel. Wirken auf die knorpel- hart gewordene Haut starke Reize, welche das Leben der Zellen selbst vernichten, so tritt das Wasser aus den Zellen wieder in die Inter- zellularsubstanz, die nun durch reichliche Wasseraufnahme in kurzer Zeit bis zur schleimigen Verflüssigung aufquillt. Die chemische Natur der Interzellularsubstanz bedarf indessen noch einiger weiterer Auf- klärung. Jedenfalls aber steht diese überaus merkwürdige Ver- schleimung der Holothurienhaut im ganzen ÖOrganismenreiche ver- einzelt da. Beiden VorgängenderAmyloid-Metamorphose handelt es sich ebenfalls um die Bildung eines Glykoproteids. Die Amyloidsub- stanz, diese wachsartig oder speckartig glänzende Substanz, die der be- treffenden Erkrankung auch den Namen der wachsartigen oder speck- artigen Degeneration eingetragen hat, wurde von VIRCHOW zuerst als Ampyloidsubstanz bezeichnet, weil sie sich bei Jodfärbung ähnlich wie pflanzliches Amylum und Zellulose verhält, indem sie unter gewissen Be- dingungen durch Jod blau gefärbt wird. Später hat man das Amyloid als einen Körper der Eiweißgruppe erkannt, denn es enthält Stickstoff 1) C. SEMPER: „Reisen im Archipel der Philippinen. Teill, Bd.1: Holothurien“, Leipzig, 1868. l 2) W. LINDEMANN: „Ueber einige Eigenschaften der Holothurienhaut“. In Zeitschr. f. Biologie, Neue Folge, Bd. 21, 1900. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 39 und gibt gewisse Eiweißreaktionen, so daß man es zunächst in die Sammelgruppe der albuminoiden Stoffe einreihte, bis man in neuerer Zeit fand, daß es eine den Mucinoiden zugehörige Substanz ist, die eine Verbindung der im Knorpel vorkommenden Chondroitinschwefel- säure mit einem Eiweißkörper und einer Kohlehydratgruppe verstellt. Wie KRAwKoW!) gezeigt hat, findet sich Amyloidsubstanz in geringen Mengen schon in der normalen Arterienwand, das ist an der Stelle, von der aus auch die pathologische Amyloidmetamorphose der Organe ausgeht. Sehr charakteristisch ist das Verhalten der Amyloidsubstanz gegen die Anilinfarbe Methylviolett, unter deren Einwirkung sie eine schön rubinrote Färbung annimmt, während gesunde Gewebe nur blau gefärbt werden. Durch seine chemische Zusammensetzung deutet das Amyloid offen seinen Ursprung an. Es kann nur von den Ei- weißkörpern der Zelle abstammen, und wir werden, obwohl bisher über die Entstehung des Amyloids nichts Näheres bekannt ist, doch nicht fehlgehen, wenn wir es als ein Proteid betrachten, das von der Zelle selbst gebildet und dann nach außen ausgeschieden und ab- gelagert wird. Das Amyloid scheint nämlich nie in der Zelle selbst zur Ab- lagerung zu gelangen, vielmehr finden wir es immer in den die Zellen ver- kittenden Bindesubstanzen, besonders in den Wandungen der kleinen Blutgefäße (Fig. 165). In demselben Maße aber, wie die Gefäßzellen der erkrankten Organe das Amyloid absondern, gehen sie selbst zugrunde, sei es, daß sie infolge der Stoffwechselstörung, deren Folge eben \ die Anhäufung des Amyloids ist, ab- Fig. 165. Amyloide Degene- sterben, sei es, daß sie passiv durch die ration der Leberkapillaren. sich zu beträchtlichen Massen anhäufende Die Zellen sind durch zwischen Amyloidsubstanz auseinandergerissen, er- ihnen abgelagerte Amyloidmassen en RER = > auseinandergedrängt. Nach drückt, erstickt, getötet werden. Die ann Amyloidmetamorphose ist ein sekun- däres Krankheitssymptom, das haupt- sächlich im Anschluß an lange bestehende chronische Krankheiten, wie Tuberkulose, langwierige Eiterungen etc., in den Unterleibs- organen auftritt, vor allem in Milz, Leber, Nieren, Lymphdrüsen. Das weist darauf hin, daß es sehr allmählich sich entwickelnde und tiefsehende Ernährungsstörungen der Gewebe sind, welche die Zellen in den Zustand versetzen, in dem sie ihr Eiweiß allmählich in Amy- loid umwandeln. In neuerer Zeit ist es DAvIpsoHn ?) und LUBARSCH ?) auch gelungen, eine Amyloidmetamorphose künstlich hervorzurufen durch Erzeugung von wochenlangen Eiterungen mit Hilfe von Ter- pentinölinjektionen. In den Vorgängen der Verkalkung endlich haben wir ebenfalls einen metamorphotischen Prozeß, der sich den letzteren 1) Krawkow: „Beiträge zur Chemie der Amyloidentartung“. In Arch. £. experim. Pathologie und Pharmakologie. 1848. 2) C. DAvIDsoHN: „Ueber experimentelle Erzeugung von Amyloid“. In VIR- CHOWs Arch. f. pathol. Anat. u. Physiol., Bd. 150, 1897, p. 16. 3) O. LuBARSCH: „Zur Frage der experimentellen Erzeugung von Amyloid“. Ebenda, Bd. 150, 1897, p. 471. 396 Viertes Kapitel. beiden an die Seite stellt, denn, wie dort Schleim oder Amyloidsub- stanz, so werden hier Kalksalze von den Zellen gebildet und ent- weder nach außen abgeschieden oder in der absterbenden Zellsubstanz selbst abgelagert. Für die erstere Form haben wir als Analogon im normalen Körper die Knochenbildung. Unsere großen Skelettknochen entstehen nämlich aus einer knorpeligen Grundlage dadurch, daß die Knorpelzellen in die Grundsubstanz hinein Kalksalze, vor allem phos- phorsauren und kohlensauren Kalk, abscheiden, der sich in Krümchen immer mehr und mehr aneinanderdrängt, verkittet und so die feste Knochensubstanz liefert, in der die Knochenzellen als sogenannte Knochenkörperchen weiter leben. Dieser selbe Vorgang, der in der Entwicklung des Wirbeltierorganismus durchaus notwendig erscheint, tritt aber auch unter pathologischen Verhältnissen auf, besonders wenn im Greisenalter oder nach bestimmten Erkrankungen die Knorpel- scheiben der Gelenke verknöchern. Es treten dann dieselben Vorgänge auf; nur gehen in der Regel die Zellen, von denen die Kalksalze ausgeschieden werden, später selbst zugrunde. Neben dieser „Verknöcherung“ kommt aber unter pathologischen Umständen auch eine wirkliche Verkalkung der Zellen selbst vor, wobei die Kalksalze us eo ER Er vr = a "4 on N h ER Y ie [7] ur 5 X EN 2 oO 9 “a A nt KE Rehh ( : Ro U N Bl 1% “ Wr 7 [2 CE we a S . ER gs BRD e- Ru 79 B Fig. 166. Verkalkung von Zellen. 4 Verkalkte Zellen in der Wand eines Blut- gefäßes. B Verkalkte Ganglienzellen aus dem Gehirn eines Blödsinnigen. Nach ZIEGLER. innerhalb der absterbenden Zelle zur Ablagerung gelangen, bis zuletzt die lebendige Substanz völlig verschwunden ist, und ihre Stelle von einer zusammengekitteten Kalkmasse eingenommen wird. Das geschieht z. B. mit höherem Alter, bei dem einen früher, bei dem anderen später, in den Arterienwänden (Fig. 166.4), so daß dieselben brüchig werden und zu Blutergüssen Anlaß geben. Dadurch wird die „Ar- teriosklerose“ älteren Menschen äußerst gefährlich, denn wenn um- fangreiche Blutungen in besonders wichtigen Organen eintreten, können Funktionen gelähmt werden, deren Ausfall den Tod mit sich bringt. Arteriosklerotische Blutungen im Gehirn sind die Grundlage dessen, was man als „Gehirnschlag“ oder „Apoplexie“ bezeichnet, Gefäßbrüche im Herzen führen den „Herzschlag“ herbei. Ferner verkalken bei gewissen Gehirnkrankheiten die Ganglienzellen des Gehirns, so daß man zZ. B. im Gehirn von Blödsinnigen „versteinerte“ Ganglienzellen im wahren Sinne des Wortes beobachten kann (Fig. 166 B). Außer diesen hier angeführten Formen metamorphotischer Pro- zesse kennt die Pathologie noch eine Reihe anderer, wie die „Pigment- atrophie“, die „hyaline Degeneration“ ete., denen aber stets das gleiche Prinzip zugrunde liegt, daß der Stoffwechsel der Zellen eine perverse Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 397 Richtung einschlägt, so daß sich Stoffe in der Zelle anhäufen, die normalerweise nicht zur Aufspeicherunge kommen, bis schließlich die Zelle zugrunde geht. Allein, diese Stoffe und ihre Genese sind in den eben genannten Fällen zum Teil noch viel weniger bekannt als in den besprochenen metamorphotischen Prozessen, so daß es an dieser Stelle nicht nötig ist, näher darauf einzugehen. Ueberhaupt bedürfen die metamorphotischen Prozesse, vor allem die Genese der dabei entstehenden Stoffe und die Störungen des normalen Stoffwechsels, auf denen sie beruhen, noch sehr der Auf- klärung, die freilich erst in dem Maße zu erwarten ist, wie unsere Kenntnisse über den Stoffwechsel im allgemeinen sich erweitern werden. -B. Die Bedingungen des Todes. So manniefaltig wie die Vorgänge, unter denen sich 'der Tod entwickelt, sind auch die Faktoren, die seinen Eintritt bedingen. Einige der speziellen Todesbedingungen haben wir bereits hier und dort berührt; aber es ist unmöglich, die speziellen Bedingungen für jeden einzelnen Fall zu behandeln. Dagegen ist es notwendig, etwas genauer auf die allgemeinen Bedingungen des Todes ein- zugehen, weil sich daran die interessante Frage knüpft, ob der Tod überhaupt für alle lebendigen Organismen jene „dira necessitas‘ ist, die er für den Menschen bildet, mit anderen Worten, ob es auch Organismen gibt, deren Körper unsterblich ist. I Neukeres undsinnere Todesbedingungen; Wenn wir von der Tatsache ausgehen, daß Leben einerseits nur bestehen kann, anderseits aber auch bestehen muß, sobald ein be- stimmter Komplex von Bedingungen erfüllt ist, dann sind die Todes- bedingungen damit ebenfalls schon in ihrer allgemeinen Form bestimmt, denn dann muß der Tod eintreten, sobald die Lebensbedingungen weg- fallen. Entsprechend unserer Unterscheidung von äußeren und inneren Lebensbedingungen müssen wir demnach auch zwischen äußeren und inneren Todesbedingungen unterscheiden, je nachdem der Tod durch den Wegfall der äußeren oder der inneren Lebensbedingungen herbei- geführt wird. Wenn wir zunächst die äußeren Todesbedingungen ins Auge fassen, so bedarf es keiner eingehenderen Erörterung, daß Ent- ziehung der Nahrungsstoffe, des Wassers, event. des Sauerstofts, daß ferner Ueberschreitung der notwendigen Temperatur- und Druck- ‚grenzen den Tod herbeiführt, abgesehen von den Organismen, die unter bestimmten Verhältnissen nur in den Zustand des Scheintodes übergehen. Allein, damit sind doch die äußeren Todesbedingungen noch nicht erschöpft. Die allgemeinen und speziellen Lebens- bedingungen können erfüllt sein, und dennoch kann durch Ein- wirkung äußerer Faktoren der Tod herbeigeführt werden. Wir müssen also den Begriff der äußeren Lebensbedingungen noch er- gänzen, indem wir dazu auch das Fernbleiben solcher Einflüsse rechnen, welche die lebendige Substanz zerstören. Derartige Einflüsse sind vor allem chemische und elektrische Einwirkungen. Die chemischen Einflüsse, die tödliche Wirkungen hervorrufen, sind die Gifte, und ihre Zahl ist unermeßlich. Alle chemischen 398 Viertes Kapitel. Stoffe, die in chemische Beziehung zu irgendwelchen wesentlichen Bestandteilen der lebendigen Substanz treten, so daß der Mechanis- mus des Stoffwechsels dadurch eine Störung erleidet, bedingen teils schon nach kürzester, teils erst nach andauernder Einwirkung den Tod, sei es, daß derselbe sehr schnell erfolgt, sei es, daß er erst das Ende langer nekrobiotischer Veränderungen vorstellt. Wirken z. B. irgendwelche Mineralsäuren oder Metallsalze auf die lebendige Sub- stanz der Zelle ein, so geht die Zelle unfehlbar zugrunde, weil alles Eiweiß durch diese Stoffe gefällt oder chemisch gebunden wird, so daß der Stoffwechsel zum Stillstand kommt. Andere auf alle lebendige Substanz einwirkende Gifte sind die Anaesthetica (Chloroform, Aether, Alkohol etc.), deren Dämpfe bei dauernder Einwirkung ebenfalls alle Lebensäußerungen zum Stillstand bringen, mag es sich um Pflanzen, Tiere oder einzellige Wesen handeln '). Auf welcher Veränderung der lebendigen Substanz aber diese eigentümliche Wirkung der Anaesthetica beruht, darüber sind erst in allerjüngster Zeit einige theoretische Erörterungen angestellt worden, auf die weiter unten eingegangen werden soll. Noch viel weniger aber wissen wir von der Wirkungsart der meisten Gifte, die teils auf alle lebendige Substanz, teils nur auf ganz bestimmte Zellen wirken. Wie die Gifte wirkt auch die Elektrizität in größerer Inten- sität dadurch schädlich auf die lebendige Substanz, daß sie chemische Veränderungen in derselben erzeugt. Es ist bekannt, daß man chemische Verbindungen, die sich in Lösung befinden, durch einen galvanischen Strom elektrolytisch zersetzen kann. Ebenso werden auch die Verbindungen der lebendigen Substanz durch starke galva- nische Ströme zersetzt, so daß die lebendige Substanz getötet wird und zerfällt. So liegen, wenn auch der speziellere Verlauf ihrer Folgen zum Teil noch wenig bekannt ist, die äußeren Todesbedingungen doch klar und deutlich vor uns. Ganz anders ist es dagegen mit den inneren Todes- bedingungen. Sie sind noch immer in tiefes Dunkel gehüllt. Ja, viele Forscher glauben, daß es gar keine inneren Todesbedingungen gäbe, die in den Eigenschaften der lebendigen Substanz selbst be- gründet sind, und erklären den Eintritt des Todes im Greisenalter bei Leuten, die niemals krank gewesen sind, durch die allmähliche Häufung unmerklich kleiner Störungen während des ganzen Lebens. Das ist in der Tat diejenige Lösung des Problems, der man am häufigsten begegnet. Aber sie ist doch sehr wenig zureichend. Schon JOHANNES MÜLLER?) fühlte sich nicht davon befriedigt. Er sagt in dem Abschnitt seines Handbuches über die „Vergänglichkeit der organischen Körper“: „Die Frage, warum die organischen Körper vergehen, und warum die organische Kraft aus den produzierenden Teilen in die jungen, lebenden Produkte der organischen Körper übergeht und die alten produzierenden Teile vergehen, ist eine der schwierigsten der ganzen allgemeinen Physiologie, und wir sind nicht imstande, das letzte Rätsel zu lösen, sondern nur den Zusammenhang 1) CLAUDE BERNARD: „Lecons sur les phenom£nes de la vie communs aux animaux et aux vegetaux“‘. T. I, Paris 1878. 2) JOHANNES MÜLLER: „Handbuch der Physiologie des Menschen für Vor- lesungen“, Bd. 1, 4. Aufl., Coblenz 1844. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 399 der Erscheinungen darzustellen. Es würde ungenügend sein, hierauf zu antworten, daß die anorganischen Einwirkungen das Leben all- mählich aufreiben; denn dann müßte die organische Kraft vom Anfang eines Wesens schon abzunehmen anfangen. Es ist aber bekannt, daß die organische Kraft zur Zeit der Mannbarkeit noch in solcher Voll- kommenheit besteht, daß sie sich in der Keimbildung multipliziert. Es muß also eine ganz andere und tieferliegende Ursache sein, welche den Tod der Individuen bedingt, während sie die Fortpflanzung der organischen Kraft von einem Individuum zum anderen und auf diesem Wege ihre Unvergänglichkeit sichert.‘ Derartige Einwände lassen sich viele machen. Wäre die Ansicht, daß der Tod durch Summation der Wirkungen von äußeren Schädlichkeiten herbeigeführt wird, richtig, so sollte man z. B. auch erwarten, daß es einem Menschen, der sehr regelmäßig lebt und alle Schädlichkeiten möglichst vermeidet, gelingen müßte, ungeheuer viel älter zu werden als jemand, der unregelmäßig lebt und sich vielen Strapazen aussetzt. Allein, selbst wenn sich hier in manchen Fällen eine Differenz herausstellte, so wäre sie doch immer nur verschwindend, denn die ältesten Menschen sind nicht viel über 120 Jahre alt geworden, und das waren durchaus nicht immer Leute von besonders regelmäßigem Lebenswandel. Dazu kommt ein anderer Umstand. Bei allen Menschen ohne Ausnahme, mögen sie in ihrem Leben den größten oder den geringsten Schädlichkeiten aus- gesetzt gewesen sein, mögen sie oft oder nie krank gewesen sein, mögen sie diese oder jene Krankheit gehabt haben, bei allen treten im Greisenalter dieselben Veränderungen ein, die in atrophischen Prozessen fast aller Organe bestehen. COHNHEIM!) bahnt daher, be- sonders im Hinblick auf den letzteren Umstand, mit Recht eine andere Erklärung an, indem er sagt: „Gerade die Konstanz, mit der im Greisenalter, gleichgültig, ob viel oder wenig, und besonders welche pathologischen Vorgänge im Leben eines Individuums gespielt haben, an sämtlichen Organen des Körpers eine mehr oder weniger aus- gesprochene Atrophie sich einstellt, spricht meines Erachtens ganz evident dafür, daß die Bedingungen der senilen Atrophie sozusagen physiologische sind.‘ Auf denselben Standpunkt stellt sich auch SEDGWICK MInoT?) in seinen Untersuchungen über das Wachstum und die Altersveränderungen. In der Tat, wenn man den Menschen nicht als etwas Fertiges, Unveränderliches betrachtet, wenn man viel- mehr seine ganze Entwicklung ins Auge faßt, wie er, obwohl immer unter denselben äußeren Bedingungen lebend, sich auch nach der Geburt noch mehr und mehr verändert, wie schon im Kindesalter normalerweise manche Organe, wie die Thymusdrüse, atrophieren, obwohl nicht die geringsten Schädlichkeiten von außen auf sie ein- wirken, wie später bei allen Frauen noch in ihrem kräftigsten Lebens- alter die Geschlechtsorgane sich zurückbilden etc. ete., dann wird man keinen Zweifel mehr hegen können, daß die senile Atrophie, die schließlich zum Tode aus Altersschwäche führt, nur das letzte Ende der langen Entwicklungsreiheist, l) CoHNHEIM: „Vorlesungen über allgemeine Pathologie“, Bd. 1, 2. Aufl., Berlin 1892. 2) CHARLES SEDGWICK MINoT: „On certain phenomena of growing old“. In Proceedings of the American association for the advancement of science“, Vol. 39, ROT Derselbe: „Senescence and rejuvenation“. In Journ. of Physiol., Vol. , 1891. 400 Viertes Kapitel. die der Mensch wie jedes Tier während seinesindivi- duellen Lebens durchlaufen muß. In Wirklichkeit gibt es keinen Stillstand im Leben des Organismus. Ebenso wie sich der erwachsene Organismus aus der kleinen Eizelle allmählich entwickelt, ohne daß seine äußeren Lebensbedingungen, wie das z. B. bei vielen im Wasser lebenden Tieren der Fall ist, sich auch nur im geringsten verändern, ebenso entwickelt er sich auch, wenn auch mit verschiedener Geschwindigkeit, allmählich weiter zum greisen und schließlich zum toten Organismus. Die Eizelle ist der Anfang, der sterbende Greis das natürliche Ende einer ununterbrochenen Entwicklung, deren innere Bedingungen in der eigentümlichen Zusammensetzung der lebendigen Substanz liegen, die bereits die Eizelle auf ihren Lebens- weg mitbekommen hat. Es muß daher notwendigerweise an die Stelle der landläufigen Ansicht, daß der Tod durch die dauernde Summation äußerer Schädigungen bedingt sei, die Vorstellung ge- setzt werden, daß die Bedingungen des sogenannten „natürlichen“ Todes im lebendigen Organismus selbst gelegen sind. Die Notwendigkeit dieser Vorstellung wird aber noch deutlicher, wenn wir uns nicht bloß auf den Menschen beschränken, sondern wenn wir die Geschichte des Todes in der Organismenwelt vergleichend betrachten. Daß die Auffassung des Todes als Endglied der Entwick- lungsreihe erst so spät hervortreten konnte, liegt vor allem an der Ansicht, daß der Mensch, wenn er erwachsen ist, seine Entwicklung vollendet habe und sich jahre- und jahrzehntelang in einem stationären Zustande befinde. Diese Ansicht ist aber durchaus falsch und wird nur durch den Umstand erweckt, daß die Entwicklung des erwachsenen Menschen so ungemein viel langsamer abläuft als die Entwicklung in seinen ersten Embryonal- und Jugendstadien. In Wirklichkeit aber hört die Entwicklung nie auf. Die Veränderungen sehen wir ja auch deutlich genug, wenn wir die Zustände des Erwachsenen innerhalb längerer Zwischenräume vergleichen. Wenn auch keine neuen Or- gane mehr gebildet werden, so ist doch immerhin der Dreißiger ein anderer Mensch als der Vierziger, der Vierziger ein anderer als der Fünfziger und Sechziger usf. Ein stationärer Zustand tritt nie ein, und wir wissen ja jetzt auch, daß die Zellteilungen, auf denen von der Teilung der Eizelle an alle Entwicklung beruht, auch beim Erwachsenen und selbst beim Greise noch stattfinden, nur immer langsamer und langsamer. Allein was beim Menschen schwerer zu erkennen ist, das zeigt uns ein Blick auf die Verhältnisse, wie sie z. B. bei den Insekten bestehen, ohne weiteres. Während beim Menschen die Lebenszeit des Erwachsenen gegenüber der Embryonalzeit eine außerordentlich lange ist, haben wir bei den meisten Insekten das umgekehrte Verhältnis. Viele Insekten sterben sehr bald nach der Begattung oder der Eiablage, und nur die nicht zur Begattung gekommenen Individuen leben bisweilen länger. Das beste Beispiel liefern die Eintagsfiiegen. Hier leben die erwachsenen und „fertig“ ausgebildeten Insekten häufig nur wenige Stunden. Sie sterben un- mittelbar nach der Eiablage. Diese Tatsachen beweisen am aller- schlagendsten, daß es nicht die summierte Wirkung vieler äußerlicher Schädlichkeiten sein kann, welche den Tod herbeiführt, sondern daß die Bedingungen .des Todes im Organismus selbst schon ange- legt sind, und daß der Tod nur das natürliche Ende der Entwicklung vorstellt. Das Problem der Entwicklung und das Problem des Todes Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 401 gehören also untrennbar zusammen, das letztere ist nur ein Teil des ersteren. Fassen wir das Ergebnis dieser Betrachtung noch einmal mit etwas anderen Worten zusammen. Unsere Vorstellune von den Be- dingungen des natürlichen Todes ist gegründet auf den wichtigen Satz, daß der Organismus sich von seiner individuellen Entstehung an bis zu seinem Tode ununterbrochen verändert. Die verschiedenen Teile des Organismus nehmen aber in sehr verschiedenem Grade und mit sehr verschiedener Geschwindigkeit an den Veränderungen teil. Auf diese Weise bildet sich im Leben eınes jeden Organismus allmählich ein Zeitpunkt heraus, an dem das Getriebe seines Mechanismus durch die in seiner Entwicklung eintretenden Veränderungen der einzelnen Teile eine solche Störung erfahren hat, daß er dem Tode verfällt. Für den vielzelligen Organismus heißt das, daß die verschiedenen Zellen und Zellgruppen seiner Organe sich aus inneren Gründen in ihrer Entwicklung allmählich so verändern, daß bei dem engen Ab- hängiekeitsverhältnis, in dem alle Zellen, Gewebe und Organe zuein- ander stehen, die Störung des Zusammenwirkens immer größer wird, bis der Organismus zugrunde geht. Dabei können die unmittel- baren Todesbedingungen für die verschiedenen Zellen des vielzelligen Organismus sehr verschiedene sein. Ein großer Teil der Zellen und (Gewebe geht sogar stets durch außer ihm, aber doch immer im Organismus selbst gelegene Faktoren zugrunde, weil die Teile, von denen diese Zellen abhängig sind, die zu ihren äußeren Lebens- bedingungen gehören, wie z. B. die Nervenzentra, das Herz etc., Störungen erlitten haben und zugrunde gegangen sind. Sind z. B. die Ganglienzellen. deren Tätigkeit die Atembewegungen beherrscht, gestorben, so hört die Atmung auf. Steht das Herz still, so zirkuliert kein Blut mehr in den Geweben, die Gewebezellen werden nicht mehr ernährt, und die sämtlichen Gewebe sterben früher oder später ebenfalls, weil ihre äußeren Lebensbedingungen ihnen entzogen sind. Stirbt aber die einzelne Zelle nicht durch äußere Todesbedingungen, so gilt für sie genau dasselbe, was für den Zellenstaat eilt: Der Zu- stand ihrer lebendigen Substanz verändert sich aus inneren Bedin- gungen ununterbrochen, und es entwickelt sich allmählich ein Zeit- punkt, an dem die Störungen in dem Zusammenwirken ihrer Bestand- teile so groß geworden sind, daß das Leben aufhört. Damit sind zwar die speziellen Vorgänge in der lebendigen Substanz, deren Folge der Tod ist, noch nicht aufgedeckt, ebensowenig wie der Mechanismus der Entwicklung und des Lebens überhaupt; allein, es ist doch zunächst eine Vereinfachung und eine schärfere Formulierung des Problems damit gegeben, die uns dem Verständnis etwas näher bringt. Das Problem der Entwicklung und das Problem des Todes ent- hält dieselbe Frage, die Frage: Infolge welcher Bedingungen verändert sich die lebendige Substanz während ihres individuellen Lebens fort- dauernd? Erst das tiefere Eindringen in den Chemismus der leben- digen Zelle wird imstande sein, die speziellen Bedingungen für dieses Verhalten aufzudecken. 2. Die Frage nach der körperlichen Unsterblichkeit. Betrachten wir den natürlichen Tod von dem eben gewonnenen Standpunkte, so drängt sich uns immer mehr eine Frage auf, die vor Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 26 402 Viertes Kapitel. einigen Jahrzehnten von naturwissenschaftlicher Seite lebhaft erörtert worden ist, das ist die Frage, ob es nicht Organismen gibt, für die der Tod keine Notwendigkeit ist. Es läßt sich nämlich offenbar ein Organismus denken, dessen Entwicklung eine derartige ist, daß niemals eine Störung sich heraus- bildet, die das Zusammenwirken der einzelnen Teile unmöglich machte. Das wäre z. B. der Fall, wenn die Veränderungen, die während der Entwicklung des betreffenden Organismus ununterbrochen auftreten, eine Reihe von periodisch wiederkehrenden Gliedern bildeten. Eine solehe Entwicklung könnte man sich bildlich etwa in Form der Auf- lösung eines unendlichen Bruches vorstellen, der, in einen Dezimal- bruch verwandelt, eine periodische Reihe gäbe, während sich die Ent- wicklung eines dem Tode geweihten Organismus der Auflösung eines endlichen Bruches vergleichen ließe. Ein solcher hypothetischer Or- ganismus müßte theoretisch unter stets genau gleichbleibenden äußeren Bedingungen unsterblich sein. Es fragt sich aber, ob solche Organismen in Wirklichkeit existieren. WEISMANN glaubt diese Frage bejahen zu müssen, und es ist interessant, seiner Erörterung zu folgen. WEISMANN!) findet einen fundamentalen Unterschied zwischen den vielzelligen Organismen und den einzelligen Protisten. Ausgehend von dem Gedanken, daß man von Tod nur da sprechen könne, wo nachher eine Leiche ist, be- trachtet er die sämtlichen vielzelligen Organismen als sterblich, die einzelligen dagegen als unsterblich. Bei den vielzelligen Organismen ist kein Fall bekannt, in dem der Körper nicht früher oder später zu- grunde geht, also stirbt. Bei den einzelligen dagegen ‘ist das nicht der Fall. Ein einzelliges Infusorium z. B. liefert, wenn es nicht das Opfer einer äußeren Katastrophe wird, niemals eine Leiche. Es wächst und teilt sich, wenn es eine bestimmte Größe erreicht hat, in zwei Hälften, aber jede von beiden Hälften wächst wieder ebenso und teilt sich später gleichfalls usf., und WEISMANnN ist der Ansicht, daß das unendlich oft sich wiederholt. Da aber beide Teilhälften voll- ständig gleich sind, und da die Art nur durch fortgesetzte Teilung erhalten werden kann, so findet man nie eine Leiche, und nie stirbt eine Teilhälfte ohne Einwirkung äußerer Faktoren. Demnach sind die einzelligen Organismen nach WEISMANNs Vorstellung „unsterb- lich“. \WEISMAnN bestreitet daher, daß der Tod eine im Wesen aller lebendigen Substanz begründete Notwendigkeit sei, und glaubt nicht, daß er „auf rein inneren, in der Natur des Lebens selbst liegenden Ursachen“ beruhe. Er hält vielmehr den Tod für eine Anpassung, die erst im Laufe der Organismenentwicklung auf der Erde als zweck- mäßig sich herausgebildet habe, und stellt sich seine Entstehung in der Organismenreihe etwa folgendermaßen vor. Bei den einzelligen Protisten haben wir alle Funktionen des Körpers und auch die Funk- tion der Fortpflanzung noch in einer einzigen Zelle. Wäre der natür- liche Tod daher eine Notwendigkeit für den einzelligen Organismus, so wäre die Fortpflanzung mit seinem Tode zu Ende, und da bei der Gleichheit der Teilhälften für alle das gleiche gilt, würde die be- treffende Organismenform nach kurzer Zeit ausgestorben sein. Der Tod ist also bei den Einzelligen deshalb nicht möglich, so stellt sich 1) A. WEISMANN: „Ueber die Dauer des Lebens“. Jena 1882. — Derselbe: „Ueber Leben und Tod“. Jena 1884. Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 403 WEISMANN vor, weil die Art sonst aussterben würde. Bei den viel- zelligen Organismen dagegen bildet sich, je höher wir in der Orga- nismenreihe hinaufgehen, um so mehr ein Gegensatz heraus zwischen den Geschlechtszellen, die nur der Fortpflanzung, also der Erhaltung der Art, dienen, und den Zellen des übrigen Körpers, die bei den höheren Tieren die Fähigkeit, die Art fortzupflanzen, vollständig ver- loren haben. Hier ist also die Möglichkeit des Todes gegeben, ohne daß die Erhaltung der Art darunter leidet; denn wenn nur eine Fort- pflanzungszelle wirklich zur Fortpflanzung gelangt, wenn nur ein Ei sich entwickelt, dann kann der ganze übrige Körper zugrunde gehen, ohne daß die Art ausstirbt. Da nun, wie WEISMANN sagt, „eine un- begrenzte Dauer des Individuums ein ganz unzweckmäßiger Luxus wäre“, so hat sich nach den bekannten Prinzipien der Selektion die Unsterblichkeit als unzweckmäßig verloren und der Tod entwickelt. „Beieinzelligen Tieren’war es nicht möglich, den nor- malen Tod einzurichten, weil Individuum und Fort- pflanzungszelle noch ein und dasselbe waren, bei den vielzelligen Organismen trennten sich somatische und Propagationszellen, der Tod wurde möglich, und wir sehen, daß er auch eingerichtet wurde.“ Es läßt sich nicht leugnen, daß diese Ausführungen WEISMANNS sehr plausibel klingen, aber doch sind sie nicht frei von Angriffs- punkten und haben bereits mehrfach lebhaften Widerspruch hervor- gerufen. Vor allem ist immer die Berechtigung bestritten worden, die ein- zelligen Organismen nur deshalb für unsterblich zu erklären, weil ihr Körper niemals in ihrem Leben eine Leiche wird. Man hat bei der Fixierung des Todesbegriffs den Ton mehr auf das Aufhören des individuellen Lebens gelegt und hat gesagt: wenn der einzellige Organismus sich in zwei Hälften teilt, dann ist damit seine indivi- duelle Existenz beendigt; wo aber die individuelle Existenz aufhört, da kann von einer Unsterblichkeit nicht die Rede sein, da ist in Wirklichkeit das Individuum gestorben; Tod und Fortpflanzung fallen hier nur zusammen. Es liegt aber auf der Hand, daß es sich bei dieser Polemik nur um einen Begriffsstreit handelt, der die Tatsachen selbst unberührt läßt; denn es ist schließlich Geschmackssache, ob man das wesentliche Moment des Todes in dem Entstehen einer Leiche oder allgemeiner in dem Ende der individuellen Existenz er- blicken will. Dagegen läßt sich die fundamentale Unterscheidung, die WEIS- MANN bezüglich der Unsterblichkeit zwischen einzelligen und viel- zelligen Organismen macht, von einer anderen Seite aus anfechten. Die Theorie WEISMANNS von der Unsterblichkeit der einzelligen Or- ganismen beruht, wie wir sahen, auf der Voraussetzung, daß die Fort- pflanzung der Einzelligen durch "Teilung ins Unendliche vor sich gehen könne, ohne daß jemals ein Rest, eine Leiche übrig bliebe. Allein, es fragt sich, ob diese Voraussetzung richtig ist. MaAuras!) hat vor einigen Jahren an Infusorien eine Reihe aus- gezeichneter Untersuchungen ausgeführt, aus denen hervorgeht, daß das für die Infusorien nicht der Fall ist. Er züchtete nämlich 1) Maupas: „Recherches exp@rimentales sur la multiplication des infusoires eili6s“. In Arch. de zool. experimentale et generale, Tome 6, Serie 2. 26* 404 Viertes Kapitel. Infusorienkulturen viele Generationen hindurch und fand, daß nach einer großen Anzahl hintereinanderfolgender Teilungen die Infusorien allmählich Veränderungen zeigten, die unfehlbar zum Tode führten, wenn nicht nach einer längeren Periode von Teilungen, die oft Hunderte von Generationen lieferten, den Infusorien Gelegen- heit gegeben war, miteinander in Verbindung zu treten, d. h. jene Wechselbeziehung einzugehen, die bei den Einzelligen dem Befruch- tungsprozeß der höheren Tiere entspricht!). Nur wenn einer Reihe von Teilungen eine Konjugationsperiode folgte, waren die aus der Konjugation sich trennenden Individuen wieder in der Lage, sich un- verändert weiter zu teilen, ohne allmählich dem Tode zu verfallen. Wenn die aus der Teilung hervorgehenden Individuen aber nach jeder Teilung immer wieder isoliert werden, so gehen sie nach einiger Zeit unrettbar zugrunde. Hier haben wir also ein wirkliches Altern, das der „senilen Atrophie“ der Gewebezellen beim Menschen und den höheren Tieren vollkommen entspricht, und MaAuras selbst sieht sich daher veranlaßt, die Unsterblichkeitslehre WEISMANNS zu verwerfen. Aber an diesem Punkte ergreift GRUBER?) für WEISMANN das Wort, um die Unsterblichkeitslehre zu retten, und sagt: „Diejenigen Individuen, welche durch Zufall nicht zur Konjugation gelangen, gehen allerdings zugrunde, die Materie der anderen aber lebt in der Tat ewig fort.“ Da nun die Konjugation in der Natur meistens vorkommt — denn sonst wären schon längst alle Infusorien ausgestorben —, so, meint GRUBER, sind die Infusorien wirklich un- sterblich. Indessen wenn wir auch die Berechtigung dieses Arguments anerkennen wollten, so würde doch noch eine andere Tatsache zu beachten sein. R. HErrwıG®) nämlich, der die Vorgänge bei der Konjugation sehr genau studiert hat, stellte fest, daß ein Teil jeder Zelle dabei zugrunde geht, nämlich der Hauptkern und ein Teil der aus fortgesetzter Teilung der Nebenkerne hervorgegangenen Tochterkerne. Diese Zellbestandteile zerfallen in kleine Trümmer, die schließlich vollständig vom Protoplasma aufzelöst werden *). Hier haben wir also wirklich sterbende Teile des Individuums. Daß das aus ihrem Zerfall stammende Material schließlich wieder von der Zelle verbraucht wird, wie die aufgenommene Nahrung, schafft die Tatsache nicht aus der Welt, daß diese Teile wirklich sterben. Die bei der Histolyse des Kaulquappenschwanzes zerfallenden Zellen, deren Tod niemand bestreiten wird, werden ja ebenso wieder als Material zum Aufbau anderer Organe verwertet. Haben wir aber bei der Konjugation der Infusorien wirklich sterbende Teile, wirkliche Leichenteile, so fällt der fundamentale Gegensatz zwischen einzelligen und vielzelligen Organismen, den WEISMANN aufstellt, fort, und der ganze Unterschied liegt nur in dem quantitativen Verhältnis zwischen überlebender und sterbender Substanz, denn auch bei den vielzelligen Organismen sterben nur die Körperzellen, während die Fortpflanzungs- zellen am Leben bleiben können. Ja, es wäre durchaus nicht einmal allgemein richtig, wenn man sagen wollte, daß bei den vielzelligen Organismen eine ungeheuer große Masse, nämlich der ganze Körper, 1) Vergl. p. 239. 2) GRUBER: „Biologische Studien an Protisten“. In Biol. Centralbl., Bd. 9, 1889. 3) R. HERTWIG: „Ueber die Konjugation der Infusorien“. In Abhandl. d. kgl. bayer. Akad. d. Wiss., II. Klasse, Bd. 17, München 1889. 4) Vergl. p. 239. Von den allgemeinen Lebensäußerungen. 405 stirbt, und nur winzige Mengen, nämlich Eier oder Spermatozoön, am Leben bleiben, wi ährend bei den Infusorien der größere Teil am Leben bleibt und der kleinere Teil stirbt. Fassen wir nicht bloß den Menschen ins Auge, so haben wir Beispiele unter den Tieren, in denen das Verhältnis gar nicht von demjenigen bei den Infusorien abweicht. Ja, ein Froschweibchen z. B. produziert im Laufe seines Lebens eine Masse von Eiern, die im Verhältnis zu seinem Körper sogar bedeutend größer ist als die Masse von Zellsubstanz, die im Infusorienkörper bei der Konjugation am Leben bleibt, gegenüber derjenigen, die zugrunde geht. Ist daher der Frosch und überhaupt der vielzellige Organismus sterblich, so sind es die einzelligen In- fusorien auch; in beiden Fällen ist es nur ein Teil der lebendigen Substanz desIndividuums, deraufdieNach- kommen übertragen wird. Aber nicht nur im Leben der Infusorien, sondern auch anderer einzelliger Organismen gibt es periodisch wiederkehrende Vorgänge, bei denen Teile ihres Körpers zugrunde gehen. Eine große Anzahl von Protisten pflanzt sich z. B. durch Sporenbildung fort. V erfolgen wir bei einem größeren Radiolar, etwa Thalassicolla, diesen Vor- gang, der durch R. HErRTwIG und BRANDT genauer bekannt ge- worden ist, so finden wir, daß der Kern in der Zentralkapsel in lauter kleine Kernchen zerfällt, die sich mit einer Protoplasmamasse umgeben und zu vielen kleinen Schwärmsporen entwickeln, während der ganze mächtige extrakapsuläre Protoplasmakörper und auch ein Teil des intrakapsulären Protoplasmas, das nicht bei der Sporen- bildung verbraucht wird, vollkommen zugrunde geht. Hier haben wir ebenfalls wieder, und vielleicht noch augenfälliger als bei den Infusorien, wirkliche Leichenteille.. Wir sehen also: für die große Mehrzahl aller einzelligen Organismen, für alle, deren Entwicklungs- gang bisher am eingehendsten studiert worden ist, stimmt die WEIS- Mannsche Auffassune nicht. Schließlich wäre die Möglichkeit nicht abzuweisen, daß es Pro- tisten gäbe oder im Laufe der Stammesentwicklung der lebendigen Substanz einmal gegeben habe, deren Entwicklungskreis so einfach wäre, daß ihre lebendige Substanz ohne Konjugation und ohne Sporen- bildung immer nur wüchse und, wenn sie ein bestimmtes Volumen erreicht hätte, sich ohne Rest teilte, um wieder zu wachsen und sich wieder zu teilen, so lange es die äußeren Verhältnisse gestatten. Solche Protisten wären nach der WEISMANNschen Auffassung wirklich unsterbliche Wesen, aber gerade an diesem Punkte zeigt sich viel- leicht am deutlichsten die schwache Stelle der Unsterblichkeitslehre. Stellen wir uns nämlich auf den WEIsMAnNschen Standpunkt, daß nicht das Aufhören der Existenz des Individuums, sondern die Um- wandlung von lebendiger Substanz in eine Leiche, d. h. in leblose Substanz, maßgebend ist für den Begriff des Todes, dann fällt die Frage nach der Existenz unsterblicher Organismen mit der Frage nach der Unsterblichkeit der lebendigen Substanz überhaupt zu- sammen. Die lebendige Substanz aber für unsterblich zu er- klären, wird sich kaum jemand entschließen können, der die charakte- ristischste Eigentümlichkeit der lebendigen Substanz im Auge behält, die Eigentümlichkeit des Stoffwechsels, d. h. die Tatsache, daß sie fortwährend zerfällt, sich in tote Substanz verwandelt, also stirbt. Es gibt keine lebendige Substanz, die nicht, solange sie überhaupt 406 Viertes Kapitel. lebt, fortwährend in einzelnen Teilen zerfällt, während sie sich in anderen neu bilde. Kein Molekül der lebendigen Substanz aber bleibt von diesem Zerfall verschont, nur ergreift der Zerfall nicht alle Moleküle gleichzeitig, sondern während das eine zerfällt, entsteht ein anderes usf. Auf diese Weise stirbt die lebendige Substanz fort- während, ohne daß das Leben selbst jemals erlischt. Es ist also keine Unsterblichkeit der lebendigen Substanz selbst, sondern nur eine Kontinuität in ihrer Deszendenz vorhanden. Nur das Leben als Vorgang hat seit seiner ersten Entstehung auf der Erde bis jetzt keine Unterbrechung erfahren, die lebendige Substanz dagegen stirbt fortwährend. Allein nicht einmal das Leben als Vorgang be- sitzt eine wahre Unsterblichkeit, ebensowenig wie es von Ewigkeit her besteht. Wie wir wissen, daß unser Erdkörper in seiner Ent- wicklung eine Zeit durchgemacht hat, in der noch kein Leben be- stehen konnte, ebenso wissen wir, daß er auch wieder eine Zeit durch- ‚„ machen wird, in der alles Leben erlöschen muß. Der Mond zeigt uns das Schicksal, das der Erde bevorsteht, schon jetzt. Als flüssiger Tropfen, der von der großen glühenden Erdmasse einst abgeschleudert worden ist, hat er in kürzerer Zeit im wesentlichen dieselbe Ent- wicklung durchgemacht wie die Erde, die ihm seine Entstehung gab. Die eisige Erstarrung, die jetzt den Mond beherrscht, wird auch die Erde einst ergreifen und alles Leben auf ihr vernichten. Nicht ein bestimmtes System, wie die lebendige Substanz, nicht ein bestimmter Bewegungskomplex, wie das Leben, ist unsterblich, unsterblich und ewig ist nur die Gesamt- heit der Welt und das Geschehen in ihr. -= > HERAKLIT hat das Leben mit dem Feuer in Beziehung gebracht. In der Tat haben wir schon mehrfach Gelegenheit gehabt, den Ver- gleich des Lebens mit dem Feuer als einen sehr glücklichen kennen zu lernen. Die Betrachtung der Lebensbedingungen bestärkt uns darin. Sie hat uns gezeigt, daß das Leben wie das Feuer ein Natur- vorgang ist, der eintritt, sobald der Bedingungskomplex für ihn erfüllt ist. Sind die Bedingungen für den Vorgang des Lebens sämt- lich verwirklicht, dann muß Leben entstehen mit derselben Notwendig- keit, wie Feuer entsteht, wenn die Bedingungen dafür gegeben sind. Ebenso muß das Leben aufhören, sobald der Komplex der Lebens- bedingungen eine Störung erfahren hat, und zwar mit derselben Not- wendigkeit, wie das Feuer erlischt, wenn die Bedingungen für seine Unterhaltung aufhören. Stellen wir uns daher vor, daß wir alle Lebensbedingungen bis in ihre kleinsten Einzelheiten erforscht hätten, und daß es uns ge- länge, diesen Komplex von Bedingungen genau künstlich herzu- stellen, dann würden wir Leben synthetisch erzeugen können, wie wir Feuer erzeugen, und das Ideal, das den mittelalterlichen Alchy- misten in der Erzeugung des Homunculus vorschwebte, wäre wirk- lich erreicht. Allein so wenig diese theoretische Möglichkeit zu bestreiten ist, so verkehrt muß jeder Versuch sein, schon jetzt Leben künstlich er- zeugen und den Akt der Urzeugung, der in so tiefes Dunkel ge- hüllt ist, im Laboratorium nachahmen zu wollen. Solange unsere Von den allgemeinen Lebensbedingungen. 407 Kenntnis, besonders der inneren Lebensbedingungen, d. h. der Zu- sammensetzung der lebendigen Substanz, so verschwindend gering ist wie jetzt, so lange gleicht der Versuch, lebendige Substanz künstlich zusammenzusetzen, dem Unternehmen eines Ingenieurs, eine Maschine zusammenzusetzen, deren wichtigste Teile ihm fehlen. Die Aufgabe der Physiologie kann vorläufig nur in der Erforschung des Lebens bestehen. Erst wenn die Physiologie dieses Ziel wirklich einmal erreicht haben sollte, dann könnte sie daran denken, mit der künstlichen Herstellung von Leben die Probe darauf zu machen, ob die Lösung ihrer Aufeabe vollendet und richtig war. Fünftes Kapitel. Von den Reizen und ihren Wirkungen. I. Das Wesen der Reizung. A. Das Verhältnis der Reize zu den Lebensbedingungen. 1. Der Begriff des Reizes. 2. Die Reizqualitäten. 3. Die Reizintensität. 4. Die sogenannten „trophischen“ Reize. B. Die Reizbarkeit der lebendigen Substanz. 1. Der Begriff der Reizbarkeit und die Art der Reiz- wirkungen. 2. Die Dauer der Reizwirkungen. 3. Die Fortleitung des Reizerfolges. II. Die Reizwirkungen an der Zelle. A. Die Wirkungen der verschiedenen Reizqualitäten. 1. Die Wirkungen chemischer Reize. a) Erregungswirkungen. b) Lähmungswirkungen. 2. Die Wirkungen osmotischer Reize. a) Erregungswirkungen. b) Lähmungswirkungen. 3. Die Wirkungen mechanischer Reize. a) Erregungswirkungen. b) Lähmungswirkungen. 4. Die Wirkungen thermischer Reize. a) Erregungswirkungen. b) Lähmungswirkungen. . Die Wirkungen strahlender Reize. Die Wirkungen der Lichtstrahlen. a) Erregungswirkungen. b) Lähmungswirkungen. Die Wirkungen der Rönrgex-Strahlen. Die Wirkungen der BEcauErEL-Strahlen. -6. Die Wirkungen elektrischer Reize. a) Erregungswirkungen. b) Lähmungswirkungen. B. Die bewegungsrichtenden Wirkungen einseitiger Reizung. 1. Chemotaxis. 2. Barotaxis. Qu Fünftes Kapitel. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 409 3. Phototaxis. 4. Thermotaxis. 5. Galvanotaxis. C. Die Wirkungen der Ueberreizung. 1. Ermüdung und Erschöpfung. 2. Das Refraktärstadium. 3. Die scheinbare Erregbarkeitssteigerung durch Reize. 4. Tod durch Ueberreizung. D. Die spezifische Energie der lebendigen Substanz. Wenn der Physiker einen Naturvorgang analysieren will, dann begnügt er sich nicht damit, die Bedingungen festzustellen, unter denen er eintritt, sondern er sucht auch zu erfahren, wie sich der Vorgang gestaltet, wenn er die Bedingungen verändert. Erst dann kennt er ganz die Gesetzmäßigkeit des Vorganges. Das Leben ist ein Naturvorgang. Wir haben die Lebensäuße- rungen kennen gelernt, wir haben auch die Bedingungen festgestellt, unter denen sie eintreten, und wir haben die Folgen der gänzlichen Entziehung dieser Bedingungen gesehen. Was uns übrig bleibt, das ist: zu erfahren, wie sich die Lebensäußerungen verhalten, wenn wir die Lebensbedingungen nicht entziehen, sondern nur quantitativ verändern, und wenn wir außer den allgemeinen Lebensbedingungen andere, qualitativ neue Bedingungen auf die lebendige Substanz ein- wirken lassen. Man hat die Lebensäußerungen, wie sie eintreten, wenn alle äußeren Lebensbedingungen dauernd und unverändert er- füllt bleiben, als spontane Lebensäußerungen bezeichnet und ihnen die Veränderungen, die eintreten, wenn andere Finflüsse auf sie einwirken, als Reizwirkungen gegenübergestellt. Wir können diese Unterscheidung beibehalten, allein wir müssen uns doch bewußt bleiben, daß die Spontaneität keine unbedingte ist, daß in Wirklichkeit die spontanen Lebensäußerungen nicht minder auf einer Wechsel- wirkung der lebendigen Substanz mit der Außenwelt beruhen, als die Reizwirkungen. Die spontanen Lebensäußerungen repräsentieren nur die Reaktion der lebendigen Substanz auf die normalen äußeren Lebens- bedingungen, die Reizwirkungen dagegen die Reaktion der lebendigen Substanz auf die veränderten äußeren Lebensbedingungen. Aber es ist in vielen Fällen überhaupt nicht möglich, zu entscheiden, ob ein Vorgang eine spontane Lebensäußerung oder eine Reizwirkung in diesem Sinne ist, weil eben auch in der Natur die äußeren Be- dingungen eines Organismus nicht kontinuierlich gleich bleiben, sondern sich häufig in einer Weise verändern, die sich selbst unseren feinsten Untersuchungsmethoden entzieht. Um daher die Reizwirkungen in unzweifelhafter Form studieren zu können, wählen wir den Weg des Experiments und erzeugen sie künstlich, indem wir Reize auf die lebendige Substanz einwirken lassen können, die wir willkürlich nach methodischen Gesichtspunkten bestimmen. Dagegen gewinnen wir den unschätzbaren Vorteil, daß wir die Bedingungen, unter denen die Reiz- wirkungen eintreten, selbst in der Hand haben und genau kontrollieren, so daß wir mit den Lebensvorgängen wie mit jedem einfachen physi- kalischen Vorgang experimentieren können. 410 Fünftes Kapitel. I. Das Wesen der Reizung. Die allgemeine Definition des Reizbegriffs ergibt sich aus dem Gesagten ohne weiteres: Jede Veränderung der äußeren Be- dingungen, die dasLeben eines Örganismusbestimmen, kann als Reiz betrachtet werden. Trifft der Reiz auf einen Organismus, der die innere Bedingung der Reizbarkeit besitzt, d. h. die Fähigkeit, auf Reize zu reagieren, so haben wir den Vor- gang der Reizung in seiner Vollständigkeit. Allein es ist doch nötig, die allgemeinen Eigentümlichkeiten des Reizungsvorganges im einzelnen noch etwas näher ins Auge zu fassen. A. Das Verhältnis der Reize zu den Lebensbedingungen. 1. Der Begriff des Reizes. Merkwürdigerweise ist der Begriff des Reizes früher niemals klar definiert worden, obwohl die Physiologie auf Schritt und Tritt Reiz- wirkungen an den lebendigen Organismen studiert und obwohl sie den Reiz selbst fortwährend methodisch als Hilfsmittel zum Studium der Lebensvorgänge verwendet. Es ist daher unbedingt nötig, den Begriff des Reizes in einer klaren und scharfen Weise zu fixieren und zwar so, daß diese Formulierung allgemein alle Reize umfaßt. Wenn wir den Reiz definieren als eine Veränderung in den äußeren Lebensbedingungen eines Organismus, so ist diese Definition zweifellos allgemein zutreffend, aber es fragt sich, ob sie.auch zu- reichend ist. Man könnte vielleicht daran zweifeln. Betrachten wir nämlich folgenden Fall. Eine Amoeba limax befinde sich in ihrer natürlichen Nähr- flüssigkeit, also etwa in einem Heuaufguß, in dem diese Amöbenform sich in enormen Mengen entwickelt. Nunmehr fügen wir dem Tropfen, in dem wir die Amöben beobachten, eine sehr verdünnte Lösung von Kalilauge hinzu, so bemerken wir die bereits oben (p. 220) be- schriebenen Vorgänge. Die Veränderung in der Zusammensetzung des Mediums wirkt als Reiz. Infolgedessen zieht sich die Amöbe zunächst kugelig zusammen und beginnt dann von neuem Pseudo- podien auszustrecken, die aber nun eine andere Form haben als vorher. Die Amöbe nimmt die Form der Amoeba radiosa an und bleibt dauernd in dieser Form, solange die jetzige Zusammen- setzung des Mediums bestehen bleibt. Bis hierher ist der ganze Vorgang klar. Der Zusatz von Kalilauge zum Medium bedeutete eine Ver- änderung in den äußeren Lebensbedingungen, wirkte also als Reiz. Die Amöbe hat mit der Veränderung der Lebensbedingungen ihre Form verändert. Die Radiosaform ist diejenige Form, die den neuen Lebensbedingungen entspricht. Sie ist der Ausdruck der jetzt be- stehenden Summe von Bedingungen und sie bleibt bestehen, solange diese Bedingungen bestehen bleiben. Für die Amoeba radiosa also war die Zufügung von Kalilauge ein Reiz, für die Amoeba limax da- gegen ist sie eine Lebensbedingung. Nehmen wir nämlich die Amöbe vorsichtig mit einem feinen Kapillarröhrchen unter dem Mikroskop aus dem alkalischen Tropfen heraus und versetzen wir sie wieder in einen Tropfen ihrer ursprünglichen Nährflüssigkeit, so sehen wir, wie Von den Reizen und ihren Wirkungen. 411 sie ihre Pseudopodien wiederum kontrahiert und wie sie allmählich wieder die Form der Amoeba limax annimmt. In diesem Falle hat also die Entziehung der Kalilauge auf Amoeba limax als Reiz gewirkt. Einen analogen Fall liefert das oben p. 220 angeführte Beispiel des Branchipus stagnalis und der Artemia salina und zahllose andere Beispiele für die gleichen Verhältnisse ließen sich anführen. Was alle diese Fälle lehren, ist folgendes. Nicht irgendeine Ver- änderung in den äußeren Lebensbedingungen eines Organismus an sich, d. h. absolut betrachtet, repräsentiert einen Reiz, denn die Kali- lauge, die anfangs als Reiz wirkte, ist in dem angegebenen Beispiel sehr bald zu einer Lebensbedingung geworden; sondern nur eine Veränderung der äußeren Lebensbedingungen in Relation auf den ge- gebenen Zustand des Organismus bedeutet einen Reiz. Die allge- meine Definition des Reizbegriffs, wie sie oben gegeben wurde, ent- hält aber bei genauerer Betrachtung diese Relation bereits in sich, denn durch die bestehenden Lebensbedingungen ist vom Standpunkte des konsequenten Konditionismus der gegebene Zustand des Organis- mus als solcher eindeutig bestimmt und demgemäß muß auch jede Veränderung in den Lebensbedingungen den gegebenen Zustand ver- ändern und wieder einen anderen Zustand bedingen. Es ist daher logisch völlig überflüssig, diese Relation auf den gegebenen Zustand des Organismus noch einmal besonders in der Definition zum Aus- druck zu bringen, denn dann wäre dieses bestimmende Moment doppelt vorhanden. Es liegt aber schon in dem Begriff der Lebens- bedingung, die immer nur einen einzigen Zustand eindeutig bestimmt. Wir können daher sowohl ganz allgemein zutreffend als auch völlig zureichend den Begriff des Reizes definieren, indem wir sagen: Reiz ist jede Veränderung in den äußeren Lebensbe- dingungen. 2. Die Reizqualitäten. Wenn jede Veränderung der Faktoren, die von außen her auf den Organismus einwirken, als Reiz wirken kann, dann liegt es auf der Hand, daß der Arten von Reizen unzählige existieren. Nicht nur jede einzelne äußere Lebensbedingung kann sich ändern; auch neue, vorher nicht bestehende Bedingungen können hinzutreten und auf den Organismus wirken. Dennoch läßt sich die Fülle der ver- schiedenen Reize wenigen größeren Gruppen von Reizqualitäten unterordnen. Eine natürliche Einteilung der Reize ergibt sich dabei am besten von der energetischen Seite der Betrachtung aus, denn mit jeder äußeren Einwirkung auf einen Körper ist ja ein Energie- wechsel verbunden. Wir können daher die Reize nach der Form der Energie gruppieren, durch die sie mit dem Organismus in Beziehung treten. ko Als chemische Reize können wir nach diesem Prinzip alle Einwirkungen chemischer Natur zusammenfassen, also vor allem die Veränderungen in der Zufuhr von Nahrung, Wasser, Sauerstoff, aber auch alle Einwirkungen von anderen chemischen Veränderungen, die sonst nicht mit den Organismen in Berührung kommen. Zu den chemischen Reizen haben wir auch die Reize zu zählen, durch welche im tierischen Zellenstaat das Nervensystem auf die von ihm ab- 412 Fünftes Kapitel. hängigen Gewebezellen einwirkt, denn jede Nervenreizung hat ein chemisches Geschehen in der Nervensubstanz zur Folge, das sich fortpflanzt bis zur peripherischen Gewebezelle, das also für die peripherische Gewebezelle als chemischer Reiz betrachtet werden kann. Als osmotische Reize können wir alle Veränderungen im osmotischen Druck des umgebenden Mediums der lebendigen Sub- stanz bezeichnen, denn alle diese Veränderungen werden auf den Wassergehalt der lebendigen Substanz verändernd einwirken und so zu Veränderungen im Ablauf der Lebensvorgänge führen. Leider hat man bisher die rein osmotischen Reizwirkungen von den rein chemischen Reizwirkungen noch kaum zu differenzieren vermocht. Als mechanische Reize können wir dann alle rein mecha- nischen Einwirkungen auf den Organismus bezeichnen, sei es, daß sie sich wie Stoß, Erschütterung, Druck, Zug, Tonschwingungen als Ver- änderungen der gröberen Druckverhältnisse geltend machen, sei es, daß sie sich in molekularen Attraktionen, also in Kohäsions- oder Adhäsionswirkungen des umgebenden Mediums äußern, sei es schließ- lich, daß sie auf Wirkungen der Gravitationsenergie beruhen. Als thermische Reize haben wir die Veränderungen der Temperatur, unter der sich der Organismus befindet, zu verzeichnen. Als strahlende Reize gesellen sich dazu die Veränderungen in der Einwirkung der Lichtstrahlen, denen wir auch der Einfachheit halber die anderen Strahlenarten beizählen können, die in neuerer Zeit bekannt geworden sind. Als elektrische Reize schließlich würden wir die Einwirkung von Elektrizität auf den lebendigen Organismus zu bezeichnen haben. Damit sind aber diejenigen Energieformen, die überhaupt in Be- ziehung mit dem Organismus treten, erschöpft. Wir sehen, es fehlt in dieser Aufzählung der Reizqualitäten noch der Magnetismus. Allein der Magnetismus ist eine Energieform, die. wie wir jetzt mit voller Sicherheit sagen können, überhaupt keine Wirkung auf die lebendige Substanz äußert, und die wir füglich nicht als Reiz bezeichnen dürfen. Es gab eine Zeit, in der man dem Magnetismus den weitgehendsten und wunderbarsten Einfluß auf den lebendigen Organismus zuschrieb ; das war die Zeit, als der Arzt MESMER den sogenannten „tierischen Magnetismus“ populär machte, und als man Menschen, Tiere und Pflanzen mit Magneten „magnetisieren“ zu können glaubte. Indessen, die neuere Forschung, und zwar zuerst die Entdeckungen des schot- tischen Arztes JAMES BRAID!), haben gezeigt, daß die Tatsachen, die man dabei in den Fällen, in denen nicht ein bloßer Betrug vorlag, in der Tat beobachtet hatte, Wirkungen der Hypnose waren, Tatsachen, die mit dem Magnetismus nicht das geringste zu tun hatten, für deren Zustandekommen ein Stück Glas, ein blanker Knopf, eine Gasflamme und jeder andere in die Augen fallende Gegenstand dieselbe Bedeu- tung hat wie ein Magnet. Dennoch hat es bei dem geheimnisvollen Reiz, den alles Mystische auf das menschliche Gemüt auszuüben pflegt, auch in unserer Zeit nicht bloß unter den phantasievollen Anhängern des Spiritismus, sondern sogar unter ausgezeichneten Aerzten Männer gegeben, die sich von der Wirkung starker Magnete auf gewisse Menschen, vor allem auf hysterische Frauen, überzeugt zu haben 1) JAMES BrAID: „Der Hypnotismus“. Ausgewählte Schriften von J. BRAID. Deutsch herausgegeben von W. PREYER. Berlin 1882. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 413 glaubten. Aber allen diesen Beobachtungen hat die nüchterne For- schung, sobald sie sich damit beschäftigte, immer den Schleier des Geheimnisvollen entrissen und sie entweder als Betrug von seiten der „Medien“ oder als Selbsttäuschung der Beobachter erkannt. In der Tat, so oft man in einwandsfreier Weise Versuche über die Ein- wirkung von Magneten auf den lebendigen Organismus anstellte, ebenso oft haben diese immer mit durchaus negativem Erfolge ge- endigt. Selbst die ausgedehnten Versuche, die vor einiger Zeit von PETERSON und KAnNELLY in Amerika mit den allerstärksten Elektro- magneten angestellt wurden, haben nur die völlige Wirkungslosig- keit des Magnetismus auf die lebendige Substanz zu konstatieren vermocht. Als die einzigen Reizqualitäten Können daher nur die chemischen, mechanischen, thermischen, photischen und elektrischen Verände- rungen in der Umgebung eines Organismus gelten, und diesen wenigen Gruppen lassen sich in der Tat alle einzelnen Reize unterordnen. 3. Die Reizintensität. Um die Vorstellung von dem Verhältnis der Reize zu den Lebens- bedingungen noch klarer zu gestalten, müssen wir, nachdem wir die Reizqualitäten kennen gelernt haben, nunmehr den Verhältnissen der Reizintensität unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Eine jede äußere Lebensbedingung kann in verschiedenem Grade erfüllt sein: Die Zufuhr von Nahrung, Wasser etc. kann eine sehr geringe, aber auch eine sehr große, die Temperatur eine sehr niedrige, aber auch eine sehr hohe sein, kurz, jede Lebensbedingung kann geraduell zwischen sehr weiten Grenzen schwanken, ohne daß das Leben dadurch gefährdet wird. Dennoch sind solche Grenzen von den meisten Lebensbedingungen bekannt, eine obere und eine untere, die wir als Maximum und Minimum bezeichnen. Nur zwischen diesen beiden Grenzwerten jeder Lebensbedingung ist das Leben dauernd möglich. Werden sie überschritten, dann entwickelt sich der Tod. Aber nicht alle Punkte zwischen den beiden Grenzwerten sind in gleichem Maße günstig für den Ablauf des Lebensvorganges. Die Intensität des Lebensvorganges ist eine geringere, wenn die Lebens- bedingung Werte vorstellt, die nahe dem Maximum oder dem Mini- mum liegen, als wenn sie einen mittleren Wert besitzt. Denjenigen Wertgrad einer jeden Lebensbedingung, bei dem die Intensität des Lebensvorganges dauernd am größten ist, bezeichnen wir als Opti- mum. Das Optimum liegt aber durchaus nicht immer in der Mitte zwischen Minimum und Maximum, in vielen Fällen näher dem Maxi- mum, in anderen Fällen näher dem Minimum. Minımım Optimum Mazinum Tod Leben. Tod Nach diesem Schema der Lebensbedingungen läßt sich ohne weiteres der Begriff des Reizes veranschaulichen. Stellen wir uns vor, ein Organismus befände sich im Optimum irgendeiner Lebens- bedingung, etwa der Temperatur, so wirkt jede Schwankung der Temperatur, sei es nach der Richtung des Maximums, sei es nach der 414 Fünftes Kapitel. Richtung des Minimums hin, als Reiz. Derjenige Wert jeder Lebens- bedingung, an den der Organismus angepaßt ist, stellt sein Optimum vor, er bezeichnet den Indifferenzpunkt der Reizung; hier ist der Reiz gleich Null. Aendern sich die Werte der Lebensbedingung nach dem Maximum oder Minimum zu, so wächst damit auch die Inten- sität des Reizes, bis sie das Maximum oder Minimum erreicht. Die Intensität des Reizes hat also ein Minimum, das mit dem Optimum der betreffenden Lebensbedingung zusammenfällt, und zwei Maxima, das eine beim Minimum, das andere beim Maximum der betreffenden Lebensbedingung. Bei übermaximaler Reizugg entwickelt sich der Tod. Wenn wir daher das Schema für die Reizung entwerfen, so müssen wir dieselben Punkte verzeichnen, wie auf dem Schema für die Lebensbedingungen, nur daß wir hier den Punkten andere Namen geben, denn das Optimum wird für den Reiz zum Nullpunkt, das Minimum und Maximum werden beide zu Maximis. Jede Inten- sitätsschwankung zwischen dem Nullpunkt und den beiden Maximis wirkt als Reiz. Maximum Millpunkt Mazimıomn- Tod Leben Tod Dieses Schema umfaßt alle Reizqualitäten, auch diejenigen, die, wie gewisse chemische und die elektrischen Reize, unter normalen Verhältnissen überhaupt nicht mit dem Organismus in Beziehung treten. Die letzteren Reizqualitäten sind nur Faktoren, die unter den Lebensbedingungen in keinem Intensitätsgrade vertreten sind, deren vollständiges Fehlen also dem Optimum entspricht. Sie können daher nur ein Maximum haben, so daß für sie nur der rechte Teil des Schemas in Betracht kommt. Auch in der allgemeinen Definition des Reizes, die als Reiz jede Veränderung der äußeren Faktoren be- zeichnet, welche auf einen Organismus einwirken, sind diese Reiz- qualitäten mit einbegriffen, denn diese Definition gilt ebensowohl für die Faktoren, die, wie z. B. die Wärme, in einem bestimmten Inten- sitätsgrade selbst als Lebensbedingungen fungieren, als auch für die- jenigen Faktoren, die, wie z. B. die Elektrizität, unter gewöhnlichen Verhältnissen gar nicht in der Umgebung des Organismus vorhanden sind, also überhaupt nicht als Lebensbedingungen existieren. Bei unserer Betrachtung der Reizintensität bedarf noch ein Punkt der Erwähnung. Stellen wir uns vor, ein Organismus, etwa ein Skelet- muskel, befände sich unter Bedingungen, unter denen kein Reiz ihn berührt, und wir ließen nun, von der Intensität O an aufwärts steigend, einen Reiz, der sich, wie etwa der galvanische Strom, bequem und fein in seiner Intensität abstufen läßt, auf ihn einwirken. Dann sollten wir erwarten, daß, sobald wir die Intensität über O gesteigert haben, der Muskel Reizwirkungen zeigt, d. h. eine Zuckung ausführt. Das ist aber nicht der Fall. Wir können die Intensität des Reizes vom Null- punkt an noch beträchtlich steigern, ehe der Muskel auch nur die geringste Zuckung ausführt. Erst wenn die Intensität des Reizes eine bestimmte Höhe erreicht hat, sehen wir, daß der Muskel mit einer Zuckung auf den Reiz antwortet, und von hier an bleibt die Zuckung niemals aus, sondern wird bis zu einem bestimmten Grade Von den Reizen und ihren Wirkungen. 415 nur noch energischer, je weiter wir die Intensitätssteigerung treiben. Der Reiz ruft also erst von einer bestimmten Intensität an eine sicht- bare Reaktion hervor, und diesen Punkt bezeichnen wir als „Reiz- schwelle“. Unterhalb der Schwelle entzieht sich die Wirkung des Reizes der Wahrnehmung, denn wir müssen selbstverständlich an- nehmen, daß auch unterhalb der Reizschwelle der Reiz eine, wenn auch nicht wahrnehmbare, so doch zweifellos vorhandene Wirkung ausübt. Anderseits aber steigert sich oberhalb der Schwelle auch die Reizwirkung mit zunehmender Intensität, bis sie ihre maximale Höhe erreicht hat. Für die verschiedenen Formen der lebendigen Substanz ist der Schwellenwert eines Reizes sehr verschieden. So werden 2. B. Nervenfasern schon durch äußerst schwache galvanische Reize in Tätig- keit gesetzt, während Amöben sehr starke galvanische Ströme ver- langen, ehe sie eine Reaktion zeigen. Und das gleiche gilt von allen anderen Reizqualitäten gegenüber den verschiedenen Formen der lebendigen Substanz. 4. Die sogenannten „trophischen“ Reize. Unserer bisherigen Betrachtung lag der Uebersichtlichkeit wegen immer die Vorstellung zugrunde, daß ein gewisser Gegensatz zwischen Lebensbedingung und Reiz existiere, insofern die Lebensbedingung einen stabilen, gegebenen Zustand repräsentiere und der Reiz jede Veränderung dieses Zustandes. Allein diese scharfe Unterscheidung läßt sich nicht durchweg aufrecht erhalten, und zwar aus dem Grunde, weil in Wirklichkeit die Lebensbedingungen durchaus nicht voll- kommen stabile und kontinuierlich wirkende Faktoren sind, sondern in der Natur fortwährend Schwankungen erfahren. Daher können ge- wisse Lebensbedingungen unter Umständen auch als Reize betrachtet werden oder, was dasselbe ist, gewisse Reize als Lebensbedingungen fungieren. Ein paar konkrete Fälle werden dieses Verhältnis ohne weiteres klar machen. Die Nahrung steht allen denjenigen Organismen, die sich nicht in einem dauernd gleichbleibenden Nährmedium befinden, sondern sich vielmehr ihre Nahrung selbst suchen müssen, nur in unregelmäßigen Zwischenräumen zur Verfügung. Es wechseln Perioden des Nahrungs- bedürfnisses und des Nahrungsüberflusses miteinander ab. Hat ein solcher Organismus längere Zeit keine Nahrung bekommen, hat z.B. eine Amöbe, die sich von Algen nährt, längere Zeit ihre Nahrung entbehrt, und kommt sie nun zufällig wieder an eine Stelle, wo sich Algen befinden, so wirken diese Nahrungsorganismen als Reiz auf die Amöbe und veranlassen sie, heranzukriechen und zu fressen. Hier wirkt die Nahrung als Reiz, obwohl sie doch eine allgemeine Lebens- bedingung ist. Analoge Fälle haben wir im Zellenstaat. Das ein- fachste Beispiel bieten die grünen Pflanzen. Eine ihrer wichtigsten Lebensbedingungen bildet das Licht. Ohne Licht findet keine Spaltung der Kohlensäure, keine Stärkebildung, keine Assimilation in den grünen Teilen der Pflanze statt; die Pflanze geht zugrunde. Den- noch ist diese Lebensbedingung den weitgehendsten Intensitäts- schwankungen unterworfen, denn Licht wechselt fortwährend mit Dunkelheit, wirkt also als Reiz. In der Tat können wir nicht nur den Assimilationsprozeß als Reizwirkung auffassen, sondern der Licht- reiz erzeugt daneben noch eine Reihe anderer, ganz augenfälliger 416 Fünftes Kapitel. Reizwirkungen, die sich in Bewegungsvorgängen äußern. Auch im tierischen Zellenstaat sind solche Fälle, in denen Reize geradezu Lebensbedingungen sind, in großer Zahl bekannt. Hier werden den Gewebezellen die Reizimpulse, die im Zentralnervensystem erzeugt werden, übermittelt durch die Nervenfasern. Ein Muskel z. B. bewegt sich nur, wenn ihm ein Reiz vom Gehirn oder Rückenmark her durch seinen Nerven zugeleitet wird. Schneiden wir aber den dazu ge- hörigen Nerven durch, oder machen wir ihn sonst auf irgendeine Weise unfähig, die Reizimpulse vom Zenlralnervensystem her auf den Muskel zu übertragen, dann finden wir, daß der Muskel, der sich nicht mehr bewegen kann, nach einiger Zeit atrophiert. Ja, in ge- ringerem Grade sehen wir schon einen Muskel schwächer werden und an Masse abnehmen, wenn wir ihn wenig gebrauchen, d. h. wenn wir ihm vom Zentralnervensystem wenig Reizimpulse zusenden. Man spricht dann von einer „Inaktivitätsatrophie“. Und das gilt nicht bloß von den Muskelzellen, sondern von allen Geweben, denen durch ihre Nerven keine Reizimpulse mehr zugeleitet werden. In Fällen, in denen durch irgendeine Krankheit eine Nervenstrecke für die Reizleitung vorübergehend unwegsam geworden ist, sucht daher die ärztliche Be- handlung erfolgreich die Atrophie der dazu gehörigen Gewebe zu ver- hindern, indem sie dieselben durch elektrische Ströme künstlich zu reizen sich bemüht, und gerade in dieser Wirkung des galvanischen Stromes dürfte überhaupt die einzige therapeutische Bedeutung der Elektrizität liegen. Auch der umgekehrte Vorgang, die Erstarkung eines Organs durch Uebung, gehört in die Reihe dieser Tatsachen. Durch fortgesetzte Uebung kann man einen Muskel von mittlerer Stärke, wie jeder Turner, Fechter, Ruderer, Bergsteiger weiß, in Kurzer Zeit in ein Organ von ganz bedeutender Stärke und Ausdauer ver- wandeln, dessen Masse mit der Uebung ganz beträchtlich zunimmt. Die Wirkung aller Uebung beruht ebenfalls nur darauf, daß dem be- treffenden Organe fortwährend Reizimpulse zugeführt werden, die es in Tätigkeit versetzen. Aus allen diesen Beispielen geht mit Deutlichkeit hervor, daß gewisse Reize gleichzeitig sehr wichtige Lebensbedingungen sein können, und diese Reize, die zur dauernden Erhaltung des Lebens notwendig sind, ohne welche die Ernährung, der Stoffwechsel der be- treffenden Organe nicht dauernd ungestört bestehen kann, mag man mit einem leider oft sehr verkehrt angewendeten Namen als tro- phische Reize bezeichnen. Die trophischen Reize stehen aber nicht etwa in einem Gegensatz zu den anderen Reizen, sondern der Begriff des trophischen Reizes bezeichnet lediglich die besondere Eigentümlichkeit der Wirkung irgendeines Reizes, durch häufige Wiederkehr eine Massenzunahme des von ihm betroffenen Organs oder Gewebes herbeizuführen. Die verschiedenartigsten Reize aber können eine solche trophische Wirkung haben. Man hat im Hinblick auf die trophischen Reize, die durch die Nerven im tierischen Organismus den Geweben übermittelt werden, geglaubt, besondere trophische Nervenfasern und Nervenzentra neben den Nervenfasern und Zentren von bekannter Wirkung annehmen zu müssen, Nervenfasern, die gar nichts mit der eigentümlichen Funktion der betreffenden Gewebe, die sie versorgen, zu tun haben, sondern lediglich ihre Ernährung und ihren Stoffwechsel regulieren Von den Reizen und ihren Wirkungen. 417 sollten. Dieser Gedanke der sogenannten trophischen Nerven hat viel Unheil und Verwirrung in der Physiologie und in der Medizin angerichtet und noch in neuerer Zeit manchen Forscher zu den aben- teuerlichsten Vorstellungen und vermeintlichen Entdeckungen ver- leitet. Und dennoch ist für jeden kritischen Forscher, der eine be- stimmte Anschauung mit den Begriffen zu verbinden gewöhnt ist, mit denen er umgeht, die unklare Idee der trophischen Nerven nichts anderes als ein Stück des alten Mystizismus der Vitalisten. Wir sehen denn auch, daß es durchaus nicht der Annahme besonderer trophischer Nerven und eigener trophischer Reize, die neben den an- deren Nerven und anderen Reizen existieren, bedarf, um die Tatsachen zu erklären, sondern daß die Nerven, welche die charakteristische Funktion eines jeden Gewebes beeinflussen, eben dadurch den Stoffwechsel der betreffenden Zellen regulieren!) mit anderen Worten, daß jeder Nerv für das Gewebe, das er versorgt, als trophischer Nerv dient, indem die Impulse, die er vermittelt, eben für das Gewebe eine Lebensbedingung vorstellen. B. Die Reizbarkeit der lebendigen Substanz. 1. Der Begriff der Reizbarkeit und die Art der Reiz- wirkungen. Jeder Reizungsvorgang erfordert zwei Faktoren: einerseits einen Reiz, anderseits einen Körper, der reizbar ist. Treten beide Fak- toren in Beziehung miteinander, so resultiert daraus eine Reiz- wirkung, ein Reizerfolg, eine Reaktion. Die Reize haben wir so- eben genauer kennen gelernt, beschäftigen wir uns nunmehr mit der Reizbarkeit. Wenn wir den Begriff der Reizbarkeit (Erreebarkeit, Irritabilität) in einer allgemein gültigen Form definieren wollen, können wir nur sagen: Die Reizbarkeit der lebendigen Substanz ist ihre Fähigkeit, auf Veränderungen in ihrer Umgebung mit einer Veränderung ihres stofflichen und dynamischen Gleichgewichts zu reagieren. Alle anderen Momente, die man noch in die Definition aufnehmen wollte, würden nur auf spezielle Fälle Anwendung finden. Dennoch hat man vielfach, mehr oder weniger unbewußt, den Begriff, ohne ihn fest zu definieren, mit einzelnen Spezialfällen verknüpft. Indem man z. B. besonders das Verhältnis der Größe des Reizes zur Größe des Reizerfolges ins Auge faßte, hat man als Typus der Reizwirkung allein diejenigen Fälle angesehen, in denen durch die verschwindend geringe Energie- menge, die als Reiz auf irgendeine Form der lebendigen Substanz einwirkt, die Produktion einer enormen Menge von Energie als Reiz- wirkung hervorgerufen wird, und hat demgemäß in einseitiger Auf- fassung als Reizbarkeit der lebendigen Substanz die Fähigkeit be- trachtet, auf geringe Reize mit einer unverhältnismäßig großen Energie- entfaltung zu antworten. In der Tat ist dieser Fall, wenn er auch nur ein spezielleres Verhalten repräsentiert, doch besonders augen- fällig und weit verbreitet, so daß es sich lohnt, auf das Energiegetriebe dabei etwas näher einzugehen. 1) Ueber den Mechanismus dieser Reizwirkung siehe weiter unten. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 27 418 Fünftes Kapitel. Nehmen wir als reizbaren Körper einen Muskel mit seinem Nerven und als Reiz den mechanischen Reiz des Druckes, dann können wir folgende Anordnung treffen. Wir hängen den Wadenmuskel (Musculus gastroenemius) eines möglichst großen Wasserfrosches, dessen Nerven (Nervus ischiadicus) wir freipräpariert haben, senk- recht an einem Muskelhalter auf, indem wir den Oberschenkelknochen, an dem der Muskel mit seinem oberen Ende entspringt, in einer Klemme befestigen. Das untere Ende des Muskels ist mit der Achilles- sehne vom Knochen abgeschnitten und in der Sehne selbst mit einem Schlitz versehen worden, in dem ein Haken befestigt ist. Dieser Haken trägt ein Gewicht von 100 g. Der Nerv des Muskelpräparats liegt auf einer horizontalen Platte, die an einem Stativ befestigt ist. Jede Reizung des Nerven veranlaßt eine Zuckung des Muskels. Lassen wir jetzt aus der Höhe von etwa 1 cm ein Gewicht von 10 & mit einer scharfen Kante quer auf den Nerven herabfallen, so daß der Nerv durch den Druck mechanisch gereizt wird, so ent- steht im Moment der Reizung eine Zuckung des Muskels, und der Muskel hebt das Gewicht von 100 & etwa um 1 cm in die Höhe. Hier ist also die Energiemenge, die der Arbeit des Muskels entspricht, etwa zehnmal größer als die Energiemenge, die als Reiz auf den Muskel eingewirkt hat, ja das Mißverhältnis läßt sich unter günstigen Bedingungen sogar noch weit größer gestalten. Nach dem Gesetz von der Erhaltung der Energie ist es klar, daß die beträchtliche Energiemenge, die bei der Reaktion nach außen frei wird, nicht aus der Umwandlung der geringen Energiemenge stammen kann, die im Reize dem Organismus zugeführt worden ist. Sie muß also aus dem Organismus selbst herrühren und muß schon vorher als potentielle Energie im Organismus aufgespeichert gewesen sein. Wir haben uns daher vorzustellen, daß die Reizbarkeit in diesem Falle darauf be- ruht, daß große Mengen potentieller Energie in der lebendigen Sub- stanz des Muskels angesammelt sind, so daß es nur der Zufuhr einer kleinen Energiemenge bedarf, um sie in aktuelle Energie zu ver- wandeln. Eine derartige Reizbarkeit und Reizwirkung ist aber durch- aus nicht auf die lebendige Substanz beschränkt. An leblosen Körpern können wir analoge Verhältnisse herstellen. Wenn wir eine starke Feder spannen und durch einen dünnen Faden, der eben der Spann- kraft das Gleichgewicht hält, zusammenbinden, so stellt die Feder ein System vor, in dem eine große Menge potentieller Energie auf- gespeichert ist, obwohl es sich vollkommen in Ruhe befindet. Be- rühren wir aber jetzt mit der Schneide eines scharfen Messers nur ganz leise den Faden, der die Feder zusammenhält, so schnellt die Feder mit großer Gewalt auseinander und leistet nach außen bedeutende Arbeit. Die potentielle Energie der Feder ist durch den schwachen Reiz, den das Zertrennen des Fadens repräsentiert, in aktuelle Energie verwandelt worden; das Zertrennen des Fadens hat, wie man sagt, die Federkraft „ausgelöst“. Um eine solche „Auslösung“ handelt es sich auch bei den explosiblen Körpern, und da wir hier eine Auslösung chemischer Spannkraft vor uns haben, ist die Aehnlichkeit mit den Auslösungsvorgängen der lebendigen Substanz noch größer, denn auch in letzterer ist die potentielle Energie nur in Form chemischer Spannkraft aufgespeichert. In einer erbsengroßen Menge von Nitroglyzerin ist eine solche Menge potentieller Energie enthalten, daß es nur eines schwachen Stoßes Von den Reizen und ihren Wirkungen. 419 bedarf, um eine wahrhaft zerschmetternde Wirkung auszulösen. Ebenso wie das Nitroglyzerinmolekül ist auch die lebendige Substanz ex- plosibel, wenn auch in einer Weise, die nicht so vernichtende Wir- kungen hervorruft. Allein die Auslösungsvorgänge sind, wie gesagt, nur spezielle Fälle der Reizwirkungen, und das Verhältnis zwischen Reiz und Reizerfolg kann in anderen Fällen ein durchaus anderes sein, denn es gibt einerseits Reize, die, wie etwa Herabsetzung der Temperatur, Entziehung von Nahrung, Abschluß von Sauerstoff ete., überhaupt nicht in der Einwirkung, sondern vielmehr in der Entziehung einer größeren Energiemenge bestehen, und es existieren anderseits Reiz- wirkungen, die gar nicht in einer Erhöhung, sondern vielmehr in einer Herabsetzung, ja in einer vollständigen Unterdrückung aller Energieproduktion zum Ausdruck kommen, wie etwa die Wirkungen der Narcotica.. Demnach müssen wir es sogar als ein Charakte- ristikum des Reizvorganges betrachten, daß zwischen Reiz und Reiz- wirkung überhaupt kein bestimmtes Verhältnis bezüglich der Energie- erößen besteht, das Anspruch auf allgemeine Gültigkeit machen könnte. Wir können daher, wenn wir den Begriff der Reizbarkeit alleemein gültig fassen wollen, nur die obige Definition aufstellen. Dann können wir bezüglich der Reizwirkungen zunächst nur sagen: Die allgemeine Wirkung aller Reize auf die lebendige Substanz besteht in einer Veränderung der spontanen Lebensäußerungen. Bei der ungeheuren Mannigfaltigkeit der Lebensäußerungen je nach der Zusammensetzung der lebendigen Substanz und bei der großen Fülle verschiedener Reize ist es daher von vornherein begreif- lich, daß die Reizwirkungen im einzelnen überaus mannigfaltig sein müssen. Dazu kommt, um die Mannigfaltiekeit der Reizwirkungen noch zu vermehren, daß nicht nur die verschiedenen Reiz- qualitäten, sondern auch die verschiedene Intensität, sowie der zeitliche Verlauf und der örtliche Umfang einer Reizung unter Umständen ganz verschiedene Wirkungen hervor- rufen können. Diese große Mannigfaltigkeit der Reizwirkungen in Verbindung mit der Tatsache, daß die allgemeinen Reizwirkungen erst in letzter Zeit methodisch untersucht worden sind, macht es vor- läufig noch sehr schwierig, allgemeine Gesetze für die Reizwirkungen aus den Tatsachen abzuleiten. Dennoch ist es möglich, für einzelne Gruppen von Reizwirkungen auch gemeinschaftliche Eigentümlich- keiten empirisch festzustellen. Die Veränderungen, welche die spontanen Lebensäußerungen unter dem Einfluß von Reizen erfahren, sind verschiedener Art. Erstens können die spontanen Lebensäußerungen in ihrer Qualität unverändert bleiben und nur quantitative Veränderungen erfahren. Das kann sich entweder in einer Steigerung, sei es aller, sei es ein- zelner Lebensvorgänge äußern — dann bezeichnen wir die Reizwirkung als „Erregung“ — oder es kann in einer Herabsetzung aller oder einzelner Lebensvorgänge zum Ausdruck kommen —, dann sprechen wir von einer „Lähmung“. Zweitens aber können die spontanen Lebensäußerungen auch in ihrer Art gänzlich verändert werden, so daß völlig neue Lebensäußerungen auftreten, die sonst im Leben der Zelle gar nicht vorkommen. Fine solche Reizwirkung haben wir z. B. vor uns in den metamorphotischen 27* 420 Fünftes Kapitel. Veränderungen des Stoffwechsels bei den nekrobiotischen Prozessen !), wo unter mancherlei, zum Teil noch gar nıcht bekannten Einwirkungen die Zellen des Körpers Stoffe aufhäufen, die bei ihnen im ungestörten Leben niemals beobachtet werden. Allein diese Reizwirkungen sind noch recht wenig untersucht, und soweit man bis jetzt urteilen kann, scheint es, als ob sie nur sekundäre Folgen der quantitativen Veränderungen von normalen Lebensvorgängen sind. So kann man sich z. B. vorstellen, daß bei den metamorphotischen Prozessen die Anhäufung bestimmter Substanzen in der Zelle darauf beruht, daß ein oder mehrere Glieder der normalen Stoffwechselkette infolge von chronischer Reizung allmählich gelähmt oder ganz ausgefallen sind, so daß Verbindungen, die sich auch normalerweise bilden, die aber wegen sofortiger weiterer Umsetzung nicht zur Anhäufung kommen, nunmehr in größerer Menge sich aufspeichern, weil die Stoffwechsel- glieder, die zu ihrer Umsetzung nötig sind, jetzt nicht mehr existieren. Indessen, das kann vorläufig nur Vermutung bleiben. Unsere Be- trachtung wird sich daher hauptsächlich mit den Erregungs- und Lähmungsvorgängen zu beschäftigen haben. Es ist jedoch nicht überflüssig, unsere Begriffsbestimmungen von Reiz, Erregung und Lähmung, sowie das Verhältnis dieser Dinge zueinander vorher noch einmal scharf zu betonen, da in der Physiologie nicht selten durch die meist stillschweigend angenommene falsche Vorstellung, daß ein Reiz stets Erregung erzeugen müsse, eine große Verwirrung und Schwierigkeit in der Beurteilung der Tatsachen entstanden ist. Das können wir vermeiden, wenn wir folgende Definitionen fest im Auge behalten: 1. Reiz ist jede Veränderung in den äußeren Lebens- bedingungen eines Organismus. 2. Erregung ist jede Steigerung, sei es einzelner, sei es aller Lebensvorgänge. 3. Lähmung ist jede Herabsetzung einzelner oderaller Lebensvorgänge. 4. Die Wirkung der Reize kann in Erregung oder in Lähmung bestehen. 2. Die Dauer der Reizwirkungen. Eine andere Frage, die bisher freilich noch viel weniger eine systematische Behandlung erfahren hat, die Frage nach der Dauer der Reizwirkungen, verdient nicht minder Interesse, denn sie steht in engster Beziehung mit Problemen, die, wie z. B. die Tatsachen der Anpassung, der Immunisierung etc., zum Teil eine weitgehende praktische Bedeutung besitzen. Es ist zu erwarten, daß diese Ver- hältnisse, die für experimentelle, zellularphysiologische Untersuchungen ein sehr dankbares Objekt abgeben, bald mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen werden. Vorläufig sind es nur wenige zusammenhangs- nn Erfahrungen ganz allgemeiner Natur, die wir hier verzeichnen <önnen. Im allgemeinen können wir sagen, daß die Dauer der Reiz- wirkung in erster Linie von der Dauer und Intensität des Reizes ab- hängt, und daß die Reizwirkung nach dem Aufhören des Reizes um 1) Vergl. p. 390. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 421 so schneller abklingt, je kürzer und schwächer der Reiz war, bis schließlich der ursprüngliche Zustand wiederhergestellt ist. Indessen verdienen doch einige spezielle Fälle noch besondere Beachtung. Fassen wir zunächst die Verhältnisse bei andauernder Reizung ins Auge, so sehen wir hier, daß gewöhnlich die Reizwirkung während der Dauer des Reizes eine Aenderung erleidet, und zwar je nach der Intensität des Reizes. Bei schwachen Reizen finden wir nach einiger Zeit ein Nachlassen und schließlich ein Aufhören der im Beginn der Reizung beobachteten Reizwirkung; es ist eine Gewöhnung, eine Anpassung an den Reiz eingetreten. Beispiele dafür sind sehr leicht an den verschiedensten Objekten und bei Anwendung der ver- schiedenartigsten Reizqualitäten zu beobachten. So gelingt es z. B., wie ENGELMANN!) und andere?) gezeigt haben, mannigfache einzellige Organismen an verhältnismäßig starke Salzlösungen zu gewöhnen, die anfangs deutliche Reizwirkungen hervorrufen. Bringt man ein Actinosphaerium, das seine Pseudopodien sonnenstrahlenartig aus- gestreckt hat, in eine schwache Lösung von Natriumbikarbonat, so zieht es allmählich alle Pseudopodien rinesherum ein und wird zur Kugel. Bald aber treten wieder feine Pseudopodienspitzen aus der Oberfläche hervor, die sich strecken und verlängern, bis das Actinosphae- rium wieder seine frühere Gestalt angenommen hat und vollkommen normal geworden ist. Durch sukzessive Steigerung der Konzentration kann man denselben Erfolg mehrmals hintereinander erzielen. Auch an schwache Giftlösungen, an hohe Temperaturen, an intensives Licht ete. treten solche Anpassungen ein. Sind die Reize dagegen stark, so findet keine Anpassung statt, sondern es entwickelt sich der Symptomenkomplex der Ermüdung und Erschöpfung, den wir an anderer Stelle noch näher kennen lernen werden. Die Erregbarkeit nimmt mehr und mehr ab, und schließlich ist der Tod die Folge. Diesen Tatsachen der Anpassung einerseits und der Ermüdung ander- seits stehen einige Fälle gegenüber, in denen bei andauernder Reizung auch die Reizwirkungen dauernd in gleicher Stärke bestehen bleiben. Beispiele davon liefern uns gewisse Muskeln des Säugetierkörpers, die sich in einem dauernden Erregungszustande befinden, die, wie man sagt, einen „Tonus“ besitzen. Es sind das besonders die Schließmuskeln der Harnblase und des Afters. Diese Muskeln be- finden sich kontinuierlich in einem Zustande der Kontraktion, der veranlaßt wird durch Reize, die ununterbrochen von den Zellen des Nervensystems her auf sie einwirken. Auch von den Skelettmuskeln wissen wir, daß sie fast dauernd einen allerdings je nach der Körper- lage und Haltung fortwährend an Intensität wechselnden Tonus be- sitzen, der unterhalten wird durch die ihnen auf dem Wege des Nervensystems übermittelten, meist von der Peripherie her kommenden schwachen Reize. So wirkt z. B. die Lage und Haltung des Körpers selbst als Reiz und bewirkt reflektorisch auf dem Wege des Nerven- systems die Unterhaltung eines bestimmten Tonus gewisser Muskeln, wie das etwa beim Stehen des Menschen der Fall ist. Besonders augenfällig wird das aber, wenn man Tiere in eine abnorme Lage bringt 1) EnGELMANN: „Physiologie der Protoplasma- und Flimmerbewegung“. In HERMANNs Handbuch d. Physiol., Bd. 1. 2) Max VERWORN: „Psycho-physiologische Protistenstudien. Experimentelle Untersuchungen“, Jena 1889. 422 Fünftes Kapitel. und sie verhindert, wieder in ihre normale Körperlage zurückzukehren. In diesem Fall kann der sonst reflektorisch ablaufende Mechanismus der Lagekorrektion sich nicht abspielen. Infolgedessen wirkt der Reiz der abnormen Lage nun dauernd ein und die zur Lagekorrektion innervierten Muskeln werden daher in eine andauernde tonische Kon- traktion versetzt. Das ist der Fall bei den fälschlich als tierische Hypnose bezeichneten Zuständen !). Ergreifen wir z. B. ein Meerschweinchen sicher, aber ohne es stark zu drücken, mit den Händen, drehen wir es plötzlich auf den Rücken und halten wir es in dieser Stellung mit sanftem Druck eine kurze Zeitlang fest, so macht es einige kurze Abwehrbewegungen und bleibt dann regungslos auf dem Rücken liegen. Dabei bemerken wir, daß die Muskeln der Extremitäten, die eben noch ihre abwehren- den Bewegungen ausführten, ziemlich stark kontrahiert sind, so daß. die Extremitäten starr in die Luft ragen (Fig. 167). Dieser Zustand der tonischen Erregung kann, wenn das Tier nicht gestört wird, eine Viertelstunde andauern. Fig. 167. Meerschweinchen, bewegungslos auf dem Rücken liegend, mit tonisch kontrahierten Extremitätenmuskeln. Die Beine ragen starr in die Luft. 3ei kurzer Reizung pflegen die Reizwirkungen nach dem Aufhören des Reizes meist ziemlich bald wieder dem normalen Zustande des Organismus Platz zu machen, doch gibt es einzelne Fälle, in denen das Erlöschen der Reizwirkung nicht unmittelbar beginnt, sondern in denen sich eine längere, unter Umständen eine sehr lange Nach- wirkung des Reizes bemerkbar macht. So kommt es vor, daß ein einzelner, kurzdauernder Reiz gewisse Ganglienzellen und die von denselben innervierten Muskeln in eine langdauernde tonische Erregung versetzt. Hierher gehört das Auftreten eines andauernden Reflextonus nach kurzdauernder Reizung bei großhirnlosen Fröschen. Wenn man einen großhirnlosen Frosch, der ruhig in seiner gewöhnlichen Hockstellung dasitzt (Fig. 168 A), sanft an beiden Seiten der Wirbelsäule zwischen zwei Fingern reibt, so erhebt er sich auf seine Extremitäten, indem er die Muskeln derselben kontrahiert, und bleibt in dieser grotesken Stellung unter Umständen länger als eine Stunde stehen (Fig. 168 B). . 1) Max VERWORN: „Beiträge zur Physiologie des Zentralnervensystems. I. Teil: Die sogenannte Hypnose der Tiere“. Jena, Gustav Fischer, 1898. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 423 Durch geeignete Operationen kann man feststellen, daß dabei durch den mechanischen Hautreiz die Ganelienzellen der Mittelhirnbasis in einen tonischen Erregungszustand geraten sind, der sich den sämt- lichen Körpermuskeln, die von hier aus innerviert werden, mitteilt). Fig. 1684. Großhirnloser Frosch in gewöhnlicher Hockstellung. Fig. 168B. Großhirnloser Frosch in der Stellung des allgemeinen Reflextonus. Die Extremitätenmuskeln und die Rückenmuskeln sind dauernd kontrahiert, so daß der Frosch auf erhobenen Beinen mit Katzenbuckelstellung unbeweglich stehen bleibt. :.. Am interessantesten und praktisch am wichtigsten aber sind die Nachwirkungen mancher chemischer Reize, vor allem der Bakterien- gifte. Es ist eine alte Erfahrung, daß der Körper des Menschen und der Tiere nach dem Ueberstehen gewisser Infektionskrankheiten, wie Pocken, Scharlach, Masern etc., immun wird für eine weitere Infektion mit dem gleichen Krankheitserreger. Bekanntlich ist auf dieser Tat- sache die moderne Therapie und Prophylaxe der Infektionskrankheiten begründet worden, insonderheit die Impf- und die Injektionsmethoden von JENNER, KOCH, PASTEUR, EHRLICH, BEHRING, ROUX und anderen. 1) MAx VERWORN: „Tonische Reflexe“. In PFLÜGERs Arch. f. d. ges. Phy- siologie, Bd. 65, 1896. 494 Fünftes Kapitel. Durch künstliche Einführung des abgeschwächten Infektionsstoftes oder der Stoffwechselprodukte der betreffenden Krankheitserreger oder schließlich des Blutserums von Tieren, die der Infektion ausgesetzt worden waren, hat man willkürlich eine Immunität hervorzurufen ge- wußt. Was bei allen diesen rein empirisch gefundenen Behandlungs- weisen im Körper vorgeht, entzieht sich freilich noch vollkommen unserer Kenntnis; nur soviel können wir sagen, daß die einmalige Vergiftung mit den betreffenden Bakteriengiften an den Zellen des Körpers eine Nachwirkung erzeugt, die in manchen Fällen, wie bei der Diphtherie, nur verhältnismäßig kurze Zeit, in anderen Fällen, wie bei den Pocken, aber viele Jahre und Jahrzehnte hindurch an- dauern kann. Man steht hier vor einer Tatsache, für die vorläufig nur durch eine Hypothese, nämlich durch die geniale und außerordent- lich fruchtbare „Seitenkettentheorie*“ EHRLICHS!) der erste Versuch einer Erklärung angebahnt ist. Es ist aber zu erwarten, daß ihr Verständnis am meisten gefördert werden dürfte durch zellularphysio- logische Versuche, welche die komplizierten und unübersehbaren Be- dingungen des Säugetier- und Menschenkörpers vorerst durch die ein- fachsten Verhältnisse ersetzen. In der Tat haben einige Versuche mit verschiedenen chemischen Stoffen bei einzelligen Organismen gezeigt, daß hier analoge Ergebnisse zu erzielen sind. So hat z.B. DAVENPORT ’?) Infusorien durch Gewöhnung an schwache Sublimatlösungen für einige Zeit immun gemacht gegen Lösungen von solcher Konzentration, die bei nicht immunisierten Individuen sofort tödlich wirkten. Der zellular- physiologischen Forschung eröffnet sich hier ein ungemein weites und fruchtbares Feld. Ueberhaupt hat gerade die methodische Erforschung der Reizwirkungen an der einzelnen Zelle nicht bloß in theoretischer Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf die praktische Medizin eine ganz fundamentale Bedeutung’). 3. Die Fortleitung des Reizerfolges. Mit der Reizbarkeit untrennbar verknüpft ist eine andere Eigen- schaft der lebendigen Substanz, das ist die Fortleitung des Reiz- erfolges. Wird nämlich eine Masse lebendiger Substanz an irgend- einem Punkte lokal gereizt, wie man das z. B. sehr einfach durch Berühren oder Stechen mit einer spitzen Nadel erreichen kann, dann bleibt die Reaktion nicht auf den gereizten Punkt beschränkt, sondern der Reizerfolg breitet sich von der Reizstelle mehr oder weniger weit auch über die benachbarten Teile aus. Auch die Fähigkeit der Fortleitung des Reizerfolges ist aller lebendigen Substanz eigentümlich, nur in sehr verschiedenem Grade. Während die eine Form der lebendigen Substanz den Reizerfolg sehr schnell und sehr weit leitet, pflanzt ihn die andere Form sehr lang- sam und nur auf die allernächste Umgebung fort. 1) Zur näheren Orientierung über diese Fragen sei verwiesen auf L. ASCHOFF: „EHRLICHSs Seitenkettentheorie und ihre Anwendung auf die künstlichen Immuni- sierungsprozesse“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 1, 1902. 2) DAVENPORT and NEAL: „Studies in Morphogenesis. V. On the acclimati- zation of organisms to poisonous chemical substances“. In Arch. f. Entwicklungs- mechanik, Bd. 2, 1896. 3) MAx VERWORN: „Erregung und Lähmung“. Vortrag, gehalten auf der 68. Versammlung deutscher Naturforscher u. Aerzte zu Frankfurt a. M., 1896. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 425 Am ausgeprägtesten ist diese Fähigkeit bei derjenigen Form der lebendigen Substanz entwickelt, die ausschließlich die Funktion der Erregungsleitung versieht: das ist bei der tierischen Nervenfaser. Die Nerven leiten einen Reizerfolg mit ungeheurer Geschwindigkeit auf meterweite Entfernung hin. HELMHOLTZ hat berechnet, daß im Nerven eines Frosches die Erregung mit einer Geschwindigkeit von 26 m in der Sekunde fortgeleitet wird. Beim Menschen ist die Ge- schwindigkeit noch größer, etwa 34 m in der Sekunde, beim Hummer dagegen, wie LEON FREDERICQ und VAN DE VELDE gezeigt haben, geringer und beträgt etwa 6 m in der Sekunde. Man hat verschiedene Methoden ersonnen, um die Fortpflanzungs- geschwindigkeit der Erregung im Nerven zu ermitteln, ein Unter- nehmen, daß bei der großen Schnellig- keit des Vorganges nicht leicht ist. Das Prinzip aller dieser Methoden be- ruht auf der Feststellung der Zeit- differenz zwischen dem Eintritt einer Muskelzuckung, wenn der dazu ge- hörige Nerv sehr nahe dem Muskel gereizt wird, und dem Eintritt der Zuckung bei Reizung des Nerven an einer entfernteren Stelle (Fig. 169). Zu diesem Zwecke kann man das Du Boıs- REeymonpsche Federmyographion be- nutzen, einen Apparat, der zur gra- phischen Darstellung einer Muskelbe- wegung dient (Fig. 170). Der Apparat besteht aus einem Muskelhalter, in dem ein Wadenmuskel vom Frosch, dessen Nerv freipräpariert ist, mit dem Ober- Bee ee schenkelknochen: so befestigt wird, daß mius mit Nervus ischiadicus er mit einem Hebel in Verbindung vom Frosch. Das Präparat ist am steht, der jede Zuckung des Muskels Oberschenkelknochen, an dem der Mus- mitmacht und mittels einer feinen kel ansetzt, in einen Muskelhalter ein- . . ER - gespannt und der Nerv wird einmal Spitze auf einer plötzlich vorbeige- bei /, das andere Mal bei 2 gereizt. schnellten berußten Glastafel ver- zeichnet. Die Glastafel gleitet in einem schlittenartigen Gestell in vertikaler Ebene vor dem Schreib- hebel vorbei und wird durch eine Feder in Bewegung gesetzt. Gleich- zeitig mit der Auslösung der Federkraft wird auch ein elektrischer Reiz auf den Muskelnerven ausgelöst und außerdem eine Stimmgabel zum Tönen gebracht, die ihre Schwingungen ebenfalls vermöge einer Schreibspitze auf der schwarzen Glastafel verzeichnet. Reizt man nun einmal den Nerven in einer Entfernung von etwa 3 cm vom Muskel und einmal unmittelbar in der Nähe des Muskels, so erfolgt die Zuckung das erste Mal um eine geringe Zeit später als das zweite Mal, weil die Erregung beim ersten Mal eine längere Strecke zu durchlaufen hat als beim zweiten Mal, ehe sie sich dem Muskel selbst mitteilen kann. Diese Differenz in der Zeit, die in beiden Fällen vergeht vom Moment der Reizung bis zum Eintreten der Zuckung, kann man auf der schwarzen Tafel, auf der sich die Zuckung in Form einer Kurve aufgezeichnet hat, außerordentlich genau messen an der Anzahl der Stimmgabelschwingungen, die sich gleichzeitig auf der 426 Fünftes Kapitel. Tafel verzeichnen (Fig. 171). Da nämlich die Schwingungszahl der Stimm- eabel in einer Sekunde bekannt ist, kann man leicht die Dauer einer einzelnen Schwingung und aus der Anzahl der Schwingungen, die Fig. 170. . Du Boıs-REymoxps Federmyographion. > . o- zwischen dem Eintritt der zweiten und der ersten Zuckung liegen, die Zeit berechnen, die vergeht, wenn die Erregung eine Nervenstrecke von 3 em durchläuft. So findet man, daß die Erregungsleitungs- geschwindigkeit des Froschnerven unter normalen Bedingungen etwa 26 m in der Sekunde beträgt. Fig. 171. Aufsteigender Schenkel der myographischen Kurve, mit dem Federmyographion aufgenommen. NR Moment der Reizung, 1 Beginn der Zuckung bei Reizung des Nerven an einer entfernteren Stelle (Fig. 169), 2 Beginn der Zuckung bei Reizung unmittelbar am Muskel. Darunter die Stimmgabelkurve. Die Kurven sind von rechts nach links zu lesen. Andere Formen der lebendigen Substanz leiten den Reizerfolg bedeutend langsamer und manche nur auf ganz kurze Entfernungen hin, wobei der Reizerfolg mit der Entfernung allmählich erlischt. Man sagt: die Erregung erleidet ein „Dekrement“ in ihrem Verlauf. Im normalen Nerven dagegen erleidet die Erregung niemals ein Dekre- Von den Reizen und ihren Wirkungen. 427 ment, sondern wird durch die ganze Länge der Nervenfaser in unge- schwächter Intensität fortgeleitet. Bei sehr langsam leitenden Ob- jekten ist die Geschwindigkeit der Erregungsleitung mit dem Auge zu verfolgen. So kann man z.B. bei Difflugia, einem Rhizopoden mit zierlichem, aus Sandkörnchen gebautem Gehäuse, die Leitungs- geschwindigkeit der Erregung unter dem Mikroskop an den langen, fingerförmigen Pseudopodien sehr gut daran erkennen, daß sich von der Reizstelle her fortschreitend an der Oberfläche des Pseudo- podienplasmas tröpfehenartige Ausbuchtungen bilden. Reizt man ein solches Pseudopodium durch Berührung mit einer Nadel an der Spitze nur schwach, so breitet sich der Reizerfolg nur auf eine kurze Strecke hin aus, indem die Oberfläche des Pseudopodiums nur leicht wellig wird (Fig. 172a). Reizt man dagegen stärker, so ist der Reizerfolg stärker und wird bedeutend weiter fortgeleitet (Fig. 172). Stets aber nimmt die Größe des Reizerfolges mit der Ent- fernung von der Reizstelle her ab und erlischt schließlich ganz!). Eine ungemein ge- ringe Erregungsleitung findet EA man bei manchen Rhizopoden _- mit fadenförmigen Pseudopo- dien, z. B. bei Orbitolites (vergl. Fig. 111, p.281). Hier bleibt die Erregung selbst bei stärkster Reizung, wie sie die Durchschneidung eines Pseu- f dopodiums vorstellt, auf die Fig. 172. Difflugia urceolata. Aus der allernächste Umgebung der von Sandkörnchen gebauten urnenförmigen Schale Reizstelle beschränkt, indem treten 3 fingerförmige, hyaline Pseudopodien sich das Protoplasma hier zu heraus. Bei a schwach lokal gereizt, bei b etwas einem oder mehreren kleinen aan ei al Kügelchen zusammenballt. Diese Kügelchen gleiten zwar auf dem Pseudopodienfaden, der sich dadurch zu verkürzen beginnt, in zentripetaler Richtung entlang, und zwar eine sehr weite Strecke, indem sie sich allmählich wieder auf- lösen und ihre Substanz in den zentralen Zellkörper hineinfließen lassen (Fig. 173), aber ihre Fortbewegung ist nicht als eine wirkliche Fortleitung der Erregung anzusehen ?), sondern lediglich der Aus- 1) Max VERWORN: „Psycho-physiologische Protistenstudien. Experimentelle Untersuchungen“, Jena 1889. . 2) Max VERWOoRN: „Zellphysiologische Studien am Roten Meer“. In Sitzungs- bericht der Kgl. Preuß. Akad. d. Wiss. zu Berlin, Bd. 46, 1896. 428 Fünftes Kapitel. druck des Stofftransports der gereizten Protoplasmamasse nach dem Zellkörper hin, denn das Protoplasma in der Umgebung der Kügelchen zeigt weiter keine Er- regungssymptome, son- dern strömt sogar ruhig in zentrifugaler Richtung weiter vor. Aber zwischen der sehr geringen Erregungs- leitungsfähigkeit und Er- Fig. 173. Pseudopodium von ÖOrbitolites. a Bei * durchschnitten. 5b Reizerfolg (Kugelbildung des Protoplas- mas) nur auf die nächste Um- gebung der Reizstelle beschränkt. L c—Jf Stofftransport. Die gereizten Massen werden auf dem Pseudo- podium entlang nach dem zen- tralen Zellkörper transportiert, ihre Substanz breitet sich all- mählich wieder aus (e, f), wäh- rend das ungereizte Protoplasma keine Erregungssymptome zeigt, sondern zentrifugal weiterfließt, so daß sich das Pseudopodium bald wieder verlängert (e, f). regungsleitungsgeschwindigkeit bei Orbitolites und der unge- heuren des Nerven finden sich bei den verschiedensten lebendigen Objekten die mannigfaltigsten Uebergänge. Die quergestreifte Muskel- faser leitet schon bedeutend langsamer als der Nerv, die glatte Muskelfaser noch viel langsamer als die quergestreifte usf. So ließen sich die lebendigen Substanzen nach dem Grade ihrer Erregungs- leitungsgeschwindigheit zu einer langen Reihe mit den feinsten Ueber- gängen anordnen. II. Die Reizwirkungen an der Zelle. Nach dieser allgemeinen Erörterung der einzelnen Momente des Reizungsvorgangs können wir nunmehr zur Betrachtung der Reiz- wirkungen selbst übergehen. Da die einzelne Zelle nicht alle ihre Lebensäußerungen in gleichem Grade auffällig erkennen, sondern je nach ihrer spezifischen Leistung irgendeine Seite, sei es des Stoffwechsels, sei es des Formwechsels, sei es endlich des Energiewechsels, äußerlich mehr in den Vorder- grund treten läßt, so ist es zweckmäßig, für jede Lebensäußerung eine andere Zellform zum Versuch auszuwählen, welche die betreffende Lebensäußerung gerade besonders deutlich zum Ausdruck bringt. Da- durch ist wieder eine gesonderte Betrachtung des Stoffwechsels, der Formbildung und des Energieumsatzes an verschiedenen Objekten Von den Reizen und ihren Wirkungen. 429 geboten, die uns aber nie verführen darf, diese verschiedenen Gruppen von Lebensäußerungen als etwas voneinander Unabhängiges zu be- trachten. Das Bewußtsein, daß es sich nur um die gesonderte Be- trachtung der verschiedenen Seiten eines und desselben Vorgangs handelt, darf uns dabei nie verlassen. A. Die Wirkungen der verschiedenen Reizqualitäten. 1. Die Wirkungen chemischer Reize. Die Zahl der chemischen Körper, die, mit der lebendigen Sub- stanz in Berührung gebracht, überhaupt in chemische Beziehung zu ihren Bestandteilen treten, ist eine ungeheuer große, aber nur ein eeringer Teil von ihnen ist auf seine Reizwirkungen hin bisher untersucht worden. Eine umfassende, nach systematischen Gesichts- punkten unternommene, vergleichend - zellularphysiologische Unter- suchung der chemischen Reize und ihrer Wirkungen würde zwar eine sehr lange Zeit erfordern, dafür aber auch sicher sehr wertvolle Re- sultate liefern. Es würde durch solche Untersuchungen die heutige Toxikologie und Pharmakologie, die so vielfach nur die rein äußer- lichen sekundären Wirkungen der chemischen Stoffe kennt, eine wesentliche und höchst notwendige Vertiefung erfahren, denn gerade in diesen Wissenschaften ist die Verwertung allgemein-physiologischer Gesetze und Erfahrungen ein sehr dringendes Bedürfnis. Vorläufig sind unsere Kenntnisse der chemischen Reize und ihrer Wirkungen aber noch so lückenhafte, daß von einer methodischen Zusammen- fassung derselben kaum die Rede sein kann. Dazu kommt noch ein anderes Moment. In sehr vielen Fällen, in denen irgendwelche chemischen Stoffe auf die lebendige Substanz einwirken, ist früher eine Erfahrung kaum berücksichtigt worden, die erst durch die neuere Entwicklung der physikalischen Chemie mehr und mehr an Bedeutung gewonnen hat, das ist die Erfahrung, daß mit der rein chemischen Wirkung unter Umständen eine osmotische Wirkung ver- knüpft ist. Beide Wirkungen sind bisher nur selten in genügender Weise differenziert worden, und so muß es noch heute in sehr vielen Fällen unentschieden bleiben, ob die Wirkungen, die ein chemischer Stoff an der lebendigen Substanz hervorbringt, allein auf Rechnung des rein chemischen Reizes, oder auf Rechnung des osmotischen Reizes, oder aber auf Rechnung beider zu setzen ist. Es wird eine der wichtigsten Aufgaben der künftigen Reizphysiologie sein, gerade die Wirkungen osmotischer Reize genauer von denen der rein che- mischen Reize zu differenzieren. a) Erregungswirkungen. Als chemische Reize, die auf den Stoffwechsel erregend wirken, können wir allgemein die positiven Schwankungen in der Menge der zugeführten Nahrungsstoffe auffassen. Das beste Beispiel liefern uns die Zellen der verschiedenen Gewebe des menschlichen Körpers, deren wichtigsten Nahrungsstoff das Eiweiß bildet. Legen wir das alte klassische Kostmaß von Voıt!) zugrunde, so braucht ein kräftiger 1) ©. Voıt: „Physiologie des allgemeinen Stoffwechsels und der Ernährung“. In HERMANnNs Handb. d. Physiol., Bd. 6, 1881. 430 Fünftes Kapitel. Mann, wenn er stark arbeitet, 118g Eiweiß, um sein Stickstoffgleich- gewicht zu erhalten, d. h. um die aus dem Zerfall der lebendigen Substanz seiner Zellen stammende und durch den Harn abgeführte Stickstoffmenge wieder zu ersetzen. Wird nun diese als Lebens- bedingung zu betrachtende Menge von zugeführtem Eiweiß gesteigert, wie das im Durchschnitt bei den meisten in guten Verhältnissen lebenden Menschen der Fall ist, so wird die mehr zugeführte Eiweiß- menge nur zu einem äußerst geringen Teil zum Aufbau neuer Zellen, zur Vermehrung der lebendigen Substanz verwertet, dagegen zum allergrößten Teil zwar von den Zellen der Gewebe in die lebendige Sub- stanz aufgenommen, aber auch sofort weiter gespalten, um in den Stoffen der regressiven Eiweißmetamorphose (Harnstoff, Harnsäure, Kreatinin etc.) fast vollständig mit dem Harn den Körper wieder zu verlassen. Die Steigerung der Eiweißzufuhr über ein bestimmtes Maß (118g) hinaus bewirkt also eine entsprechende Steigerung sowohl des assimilatorischen als des dissimilatorischen Stoffwechsels der Ge- webezellen. Ein ähnliches Verhältnis haben wir im Pflanzenreiche. Die Kohlensäure der Luft dient den Pflanzen als Nahrung und wird in den Chlorophylikörperchen der Blattzellen gespalten. Der freiwerdende Kohlenstoff wird dann mit dem durch die Wurzeln aufgenommenen Wasser zusammen zur Synthese der Stärke, zur Assimilation verwendet. Wird nun der Pflanze mehr Kohlensäure zugeführt, als in der Luft enthalten ist, als ihre Lebensbedingung vorstellt, so steigert sich bis zu einem bestimmtem Grade in gleichem Maße auch die Kohlensäure- spaltung und die Stärkeassimilation. Die Steigerung der Nahrungs- menge bedingt also auch bei der Pflanze eine Steigerung des Stoff- wechsels. Allein, das ist doch nicht ganz allgemein gültig. Vom Sauerstoff wissen wir wenigstens, daß eine Steigerung seiner Menge über das zum Leben notwendige Maß hinaus im wesentlichen ohne Einfluß auf den Stoffwechsel der Gewebezellen bleibt. Die Gewebezellen des menschlichen Körpers z. B. sind innerhalb weiter Grenzen vom Pro- zentgehalt des Sauerstoffs in der Luft unabhängig und zeigen Keine Steigerung des Stoffwechsels bei Erhöhung der Sauerstoffzufuhr. Wie weit freilich das gleiche auch für freilebende Zellen und die Zellen niederer Tiere gilt, bedarf noch der Untersuchung. In manchen Fällen führt die gesteigerte Nahrungszufuhr mit der Steigerung des Stoffwechsels auch eine deutlich erkennbare Beschleu- nigung der Formbildungsprozesse herbei. Während nämlich, wie wir sahen, bei den Gewebezellen des menschlichen Körpers die über das notwendige Maß hinaus zugeführte Nahrungsmenge unter normalen Verhältnissen bis auf einen sehr geringen Bruchteil voll- ständig wieder zersetzt und nicht zur Vermehrung der lebendigen Substanz gebraucht wird, findet bei vielen einzelligen Organismen, besonders bei Bakterien und Infusorien, durch Steigerung der Nah- rungszufuhr vorwiegend eine Steigerung der assimilatorischen Prozesse und nicht in gleichem Maße auch der dissimilatorischen Stoffwechsel- prozesse statt. Die Folge davon ist eine Vermehrung der lebendigen Substanz, eine „Mästung“, die sich in schnellem Wachstum und fort- währender Zellteilung äußert. Bringen wir z. B. Fäulnisbakterien (Baceterium termo, Spirillum undula etc.) aus einer Flüssig- keit, in der sie in spärlicher Individuenzahl leben, in eine gute Nähr- Von den Reizen und ihren Wirkungen. 431 lösung, etwa in einen Heuaufguß, so fangen sie sofort an, sich in ganz enormer Weise zu vermehren, bis aus den wenigen Bakterien, mit denen wir die Nährlösung infizierten, eine Menge von vielen Millionen sich entwickelt hat. Setzen wir in einen solchen von Fäulnis- bakterien wimmelnden Heuaufguß ein Paramaecium, ein Wimper- infusor, das sich von Fäulnisbakterien nährt, so können wir aus diesem einen Infusor durch fortgesetzte Zellteilung in wenigen Tagen Tausende entstehen sehen, so daß sie die Flüssigkeit milchig trüben. So enorm wird bei diesen Mikroorganismen die assimilatorische Stoft- wechselphase durch den Nahrungsüberfluß gesteigert! Unter pathologischen Verhältnissen kommen auch an den Ge- webezellen des menschlichen Körpers ähnliche Tatsachen vor, und die moderne Pathologie kennt in den verschiedenen Arten von pathogenen „Neubildungen“ oder Ge- schwülsten, zu denen auch die bösartigen Krebsge- schwülste gehören, eine ganze Reihe analoger Fälle. li li) C Diese Geschwülste (Carci- , ® nome, Sarkome, Myome, Fi- brome etc.) entstehen da- durch, daß die Zellen eines normalen Gewebes, z.B. der B Oberhaut(Epidermis), plötz- Fig. 174. Amöbe. A Pseudopodien nach ver- lich anfangen, sich rapide schiedenen Richtungen ausstreckend, B mit langem zu teilen. So erfolgt an Pseudopodium in einer Richtung kriechend (Amoeba- der betreffenden Stelle eine limax-Form), C auf chemische Reizung kugelig kon- enorme Zellvermehrung, ahiert, eine Wucherung, die zu einer häufig überaus umfangreichen Geschwulst führt, die aber meist ebenso schnell auch wieder in einem nekrotischen Zerfall der rapide entwickelten Zellen endet. Der Anlaß zu dieser rapiden Zellvermehrung liegt in vielen Fällen jedenfalls in chemischen Reizen, welche auf die betreffenden Zellen einwirken. Wenn es auch höchst zweifelhaft ist, ob die Entstehung der Geschwülste, vor allem des Careinoms, eine Folge von Infektion durch bestimmte Mikroorganismen ist, so neigt doch die Mehrzahl der Pathologen zu der Ansicht, daß sie auf eine Veränderung in der Ernährung der Zellen zurückzuführen ist. Weit augenfälliger als die Wirkungen auf den Stoffwechsel und die Formbildung sind die Wirkungen der chemischen Reize auf den Energieumsatz der lebendigen Substanz, besonders auf die Be- wegung. Ueber die Wirkungen chemischer Reize auf die amöboiden Bewegungen der nackten Protoplasmamassen, wie sie die Rhizopoden (Amöben, Myxomyceten, Polythalamien etc.) und die Protoplasmaleiber der Pflanzenzellen vorstellen, haben uns die klassischen Untersuchungen von MAx SCHULTZE!) und KÜHNE?) schon vor mehr als 40 Jahren Aufschluß gegeben. Die am weitesten verbreitete Wirkung ist hier die Auslösung einer Kontraktion, d. h. die Einziehung der Pseudo- 1) Max SCHULTZE: „Das Protoplasma der Rhizopoden und der Pflanzenzellen“. Ein Beitrag zur Theorie der Zelle, Leipzig 1863. 2) W. Künne: „Untersuchungen über das Protoplasma und die Kontraktilität‘, Leipzig 1864. 432 Fünftes Kapitel. podien, nachdem häufig vorher im Beginn der Einwirkung die Proto- plasmaströmung beschleunigt war. Die verschiedensten chemischen Stoffe können diese Reizwirkung hervorrufen. Läßt man z. B. zu einem Tropfen Wasser, in dem sich viele Amöben befinden, eine Lösung von 0,1 Proz. Salzsäure oder auch von 1 Proz. Kalihydrat oder schließlich auch andere Säuren, Alkalien und Salze in geringen Konzentrationen zufließen, so ziehen die Amöben alsbald ihre Pseudopodien ein und nehmen Kugelgestalt an. Dieselbe Wirkung übt die Kohlensäure aus, wenn man die Amöben in der Gas- kammer!) einige Zeit der Wirkung dieses Gases aussetzt. Andere nackte Protoplasmamassen verhalten sich allen diesen chemischen C u Fig. 175. Actinosphaerium bei chemischer Reizung. _A4 ungereizt, B im Beginn der Reizung, C' nach einiger Dauer der Reizung (die Pseudopodien sind fast ganz eingezogen). Reizen gegenüber ebenso. So zieht das zierliche, mit seinen geraden, strahlenförmigen Pseudopodien wie eine kleine Sonnenkugel aus- sehende Actinosphaerium Eichhornii, mit diesen Reizen in Berührung gebracht, ebenfalls mehr und mehr seine Pseudopodien ein, indem das Protoplasma derselben sich zu lauter kleinen Kügelchen und Spindelchen zusammenballt, die in zentripetaler Richtung langsam in den Zellkörper hineinfließen ?). Ueber die Wirkung chemischer Reize auf die Flimmerbewegung haben besonders ENGELMANN °) und RossBAcH t) eingehende Unter- suchungen angestellt. Auch hier haben viele ganz verschiedenartige Stoffe, wie Säuren, Alkalien und Salze, ferner manche Alkaloide, eine übereinstimmende Wirkung auf die Wimper- und Geißeltätigkeit, in- dem sie die Geschwindigkeit des Wimperschlages bedeutend erhöhen. Die Folge davon ist eine beträchtliche Steigerung des motorischen Effekts, die man namentlich bei freilebenden Flimmerzellen, wie sie die Infusorien vorstellen, in der starken Beschleunigung ihrer Be- 1) Vergl. p 335. 2) MAX VERWORN: „Psycho-physiologische Protistenstudien“, Jena 1889. 3) ENGELMANN: „Physiologie der Protoplasma- und Flimmerbewegung“. In HERMANNs Handbuch der Physiologie, Bd. 1. 4) RossBAcH: „Die rhythmischen Bewegungserscheinungen der einfachsten Orga- nismen und ihr Verhalten gegen physikalische Agentien und Arzneimittel“. In Arbeiten a. d. zool. u. zoot. Inst. zu Würzburg, 1874. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 433 wegung deutlich beobachten kann. Die Wimperinfusorien rasen förm- lich nach Zusatz gewisser chemischer Reagentien mit dem Schlage ihrer Wimpern durch das Gesichtsfeld dahin. Auf die verschiedenen Formen der Muskelfasern (Myoide, glatte Muskelfasern, quergestreifte Muskelfasern) wirken manniefaltige chemische Reize in analoger Weise wie auf nackte Protoplasma- massen, indem sie Kontraktionen auslösen. Setzt man zu einem Tropfen Wasser, in dem sich viele Vorticellen befinden, die auf ihren ausgestreckten Stiel- muskeln anmutig ihre Köpfchen wiegen, chemische Stoffe der oben genannten Art, so zucken sofort alle Vorticellen zusammen, indem sich ihre Stielmuskeln in ihrer elastischen Scheide plötz- lich kontrahieren und zu zier- lichen Spiralwindungen aufrollen (Fig. 1765). Ebenso zucken quer- gestreifte Muskeln auf chemische Reizung plötzlich zusammen. Klemmt man z.B. den Schneider- muskel (Musculus sartorius) des Frosches, der ein schmales Band von nahezu parallelen, querge- streiften Muskelfasern bildet, mit dem daran befindlichen Unter- schenkelknochen in einen Muskel- halter ein und zieht durch den Beckenknochen, den der Muskel mit dem Unterschenkel verbindet, einen Faden, der über eine Rolle Fig. 176. NOS aelEn a ausgestreckt, una : : z : chemischer Reizung kontrahiert (Stielmuskel geleitet ist und durch ein kleines ist nicht zu sehen), e ein Stück der Stielscheide Gewicht in Spannung gehalten mit dem Muskelfaden, stark vergrößert. wird, so kann man an einem Signalhebel, der an der Rolle be- festigt ist, jede Bewegung des Muskels beobachten (Fig. 177). Bringt man nun ein Schälchen mit kohlensaurem Ammon unter den Muskel, so wird der Muskel durch die aufsteigenden Ammoniakdämpfe chemisch gereizt und führt Zuckungen aus, die durch den Signalhebel deutlich angezeigt und auf einer berußten Trommel verzeichnet werden können. Eine sehr merkwürdige Tatsache beobachtete BIEDERMANN!) am Musculus sartorius, wenn er ihn bei einer Temperatur von 3—10° C in einer Lösung von 5 g Kochsalz, 2 g alkalischem, phosphorsaurem Natron und 0,5 & kohlensaurem Natron auf 1 1 Wasser hängen ließ (Fig. 178). Dann zeigte nämlich der Muskel rhythmische Zuckungen, ein Ver- halten, das sonst nie im Leben dieses Muskels beobachtet wird und lebhaft an die rhythmische Bewegung der Herzmuskelfasern erinnert. Es ist diese Beobachtung besonders deshalb interessant, weil sie an [7 b c 1) W. BIEDERMANN: „Beiträge zur allgemeinen Nerven- und Muskelphysio- DR VI. Mitteilung. In Sitzungsber. d. Kaiserl. Akad. d. Wiss. in Wien, Bd. 82, Abteilung III, 1880. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 28 434 Fünftes Kapitel. einem der einfachsten Beispiele zeigt, daß ein kontinuierlich ein- wirkender Reiz zu einer rhythmischen intermittierenden Erregung der lebendigen Substanz führen kann. Für die Theorie der rhyth- mischen Tätigkeiten, die noch immer recht in Dunkel gehüllt ist, wird daher dieser Fall besondere Beachtung erfordern. tes alyarı: Fig. 178. Fig. 177. Chemische Reizung des Sartorius vom Frosch. Fig. 178. Erzeugung rhythmischer Kontraktionen am Sartorius durch chemische Reizung. Auch die Produktion anderer Energieformen, nicht nur der Be- wegung, wird durch chemische Reize erregt. Da es aber zu weit führen würde, alle Arten von Erregungswirkungen chemischer Reize zu betrachten, so wollen wir uns darauf beschränken, nur noch die Erregung der Lichtproduktion anzuführen. Für diese Unter- suchung sind ebenfalls wieder die einzelliven Organismen am geeienetsten, denn bei ihnen sind alle Verhältnisse am übersicht- lichsten und einfachsten. Von vielen einzelligen Organismen, Bakterien, Radiolarien etc., ist es bekannt, daß sie auf chemische Reize ebenso wie auf verschiedene andere Reize hin Licht ent- wickeln. Am häufigsten und ge- nauesten untersucht ist aber die Lichtproduktion bei den eigen- tümlichen Flagellaten, die in unseren nordischen Meeren in Fig. 179. Noctiluca miliaris, eine der Regel das flächenhafte Meer- marine Geißelinfusorienzelle. leuchten erzeugen, bei den Nok- tiluken (Fig. 179). Zuletzt hat MASSART!) die Wirkung chemischer Reize bei diesen Organismen wieder ausführlich studiert. In ein Gefäß mit Meerwasser, in dem sich die Noktiluken ruhig, und ohne zu leuchten, an der Ober- 1) JEAN MAsSART: „Sur Virritabilit& des Noctiluques“. In „Bulletin scientifique de la France et de la Belgique“, T. 25, 1893. - Von den Reizen und ihren Wirkungen. 435 fläche aufhielten, setzte er vorsichtig mit einer Pipette verschiedene Stoffe, wie destilliertes Wasser, eine konzentrierte Kochsalzlösung, eine Zuckerlösung ete., und ließ den Tropfen sich langsam an der Ober- fläche des Meeres ausbreiten. Die Folge davon war, daß alle Nokti- luken, zu denen nach und nach die zugesetzten Flüssigkeiten hin- drangen, sobald sie mit denselben in Berührung kamen, plötzlich hell aufleuchteten, so daß der anmutige Anblick eines langsam sich erweiternden leuchtenden Kreises an der Oberfläche des Meerwassers entstand. b) Lähmungswirkungen. Den erregenden Wirkungen der eben genannten chemischen Reize serenüber stehen die Wirkungen bestimmter chemischer Stoffe, welche die Lebensäußerungen herabsetzen oder ganz lähmen. Diese Stoffe werden daher als „Narcotica“ oder „Anaesthetica“ bezeichnet. Zu ihnen gehören vor allem diejenigen, die auf alle Formen der lebendigen Substanz und auf alle Lebensäußerungen lähmend wirken: Alkohol, Aether, Chloroform und Chloral- hydrat. Zu diesen gesellt sich die große 7 Gruppe der Alkaloide, deren Vertreter, wie E Morphin, Chinin, Veratrin, Digitalin, Strychnin, 2 Curare ete., zum Teil eine unter den verschie- 5 denen Formen der lebendigen Substanz weit 2 verbreitete, zum Teil aber auch eine nur auf 1 ganz bestimmte Zellformen, vor allem auf die E Zellen des Zentralnervensystems, beschränkte 2 Wirkung besitzen. 5 Die lähmenden Wirkungen der Narcotica S auf den Stoffwechsel sind besonders von z CLAUDE BERNARD!) studiert worden. Der 5 bekannte Pariser Physiologe hat gezeigt, daß 7 der Stoffwechsel z. B. durch Chloroformnarkose E R in den verschiedenartigen Zellformen unter- drückt wird. Fig. 180. Spirogyra, So ist z. B. an Pflanzenzellen die Läh- re, ma alge 4 Stück mung des Stoffwechsels, und zwar speziell einandergereihten Zellen be- die Aufhebung der Kohlensäurespaltung im stehend. 2 Einzelne Zelle Chlorophyll, sehr leicht festzustellen. CraupEe mit es Sue BERNARD benutzte dazu die im Wasser lebende ua un den N Fadenalge Spirogyra, deren zylindrische Protoplasmakörper. Zellen der Länge nach zu feinen Fädchen aneinandergereiht sind und ein zierliches spi- ralig gewundenes Chlorophyliband besitzen (Fig. 180). Unter zwei Glasglocken, von denen die eine mit kohlensäurehaltigem Wasser, die andere mit ebensolchem Chloroformwasser gefüllt war, brachte er je eine Portion der Spirogyrafäden und setzte die Glocken dem Sonnenlichte aus. Nach einiger Zeit hatten die Spirogyrazellen der ersten Glocke eine beträchtliche Menge Sauerstoff entwickelt, während in der zweiten, mit kohlensäurehaltigem Chloroformwasser gefüllten Glocke die Sauerstoffentwicklung, also die Kohlensäurespal- tung, vollständig ausgeblieben war. 1) CLAUDE BERNARD: „Lecons sur les ph@nom®nes de la vie communs aux animaux et aux vegetaux“, T. 1, Paris 1878. 28* 436 Fünftes Kapitel. Entsprechend der Aufhebung des Stoffwechsels machen sich in der Narkose auch Lähmungen der Formbildungsvorgänge geltend. Das Wachstum und die Zellteilung hört auf. Um die Lähmung des Wachstums zu konstatieren, Stellte ÜLAUDE BERNARD folgende Versuchsanordnung auf (Fig. 181). In zwei leere zylindrische Flaschen, welche unten einen Tubus besaßen, der ebenso wie die Flaschenhälse mit einem von Glasröhren durchbohrten Gummipfropfen verschlossen war, steckte er in halber Höhe einen feuchten Schwamm, auf dem sich keimende Pflanzensamen befanden. Der Tubus der einen Flasche kommunizierte durch einen Gummischlauch mit einem Glas- zylinder (2), der an seinem Boden eine Aetherschicht (5) enthielt und Fig. 181. Apparat zur Vergleichung keimender Pflanzensamen in nor- malem Zustande und in der Narkose. Nach CLAUDE BERNARD. oben ebenfalls einen Pfropfen trug, durch den außer dem Gummi- schlauch (Y) noch ein offenes Glasrohr (a) von außen bis zu halber Höhe hineinragte. Der Tubus der anderen Flasche kommunizierte durch ein Glasrohr (a!) direkt mit der äußeren Luft. An den Glas- röhren, die aus den Pfropfen der Flaschenhälse nach außen führten, war ein gabelig geteilter Gummischlauch befestigt (5), der mit einer Aspirationsvorrichtung (P) in Verbindung stand. Wurde das Wasser der Wasserleitung (R) durch den Aspirator gelassen, so saugte dieser die Luft durch die beiden Glasflaschen, von denen nun die eine direkt die reine Luft von außen durch den Tubus a! wieder ergänzte, während die andere nur die mit Aetherdämpfen beladene Luft durch den Glaszylinder ? in sich aufnehmen konnte. Auf diese Weise ging ein kontinuierlicher Strom von reiner Luft durch die keimenden Samen des einen und ein Strom von ÄAetherdampf durch die Samen des anderen Zylinders. Nach einigen Tagen waren bei dieser Anordnung diejenigen Samen, die in reiner Luft keimten, zu langen Keimlingen ausge- Von den Reizen und ihren Wirkungen. 437 wachsen (e), während die vom Aetherdampf umspülten Samen über- haupt kein Wachstum zeigten (e!), ohne jedoch die Fähigkeit, in reiner Luft zu keimen, eingebüßt zu haben. Die lähmende Wirkung von Chloralhydratlösungen auf die Zell- teilung haben die Brüder HErrwıc!) an Seeigeleiern untersucht. Ließen sie eine 0,2—0,5-proz. Lösung von Chloral auf die sich zur Ent- wicklung anschickenden Eier einige Zeit (5 Minuten bis 3 Stunden) einwirken, so ging die Zellteilung nicht weiter. Sowohl der Zellkern verharrte dabei in dem Stadium der Teilung, in dem er sich gerade befand, als auch das Protoplasma, in dem die Strahlenbildungen um die Zentrosomen vollständig ausblieben. Erst nachdem das Chloral längere Zeit mit reinem Meerwasser aus den Eiern ausgewaschen war, ging die Entwicklung und Zellteilung wieder weiter. Fig. 182. Mimosa pudica in Aethernarkose. Nach CLAUDE BERNARD. Schließlich werden auch die Energieumsetzungen durch die Narcotica gelähmt. Sowohl die kontinuierliche Energieproduktion als die Fähigkeit, auf Reize zu reagieren, wird herabgesetzt und hört schließlich ganz auf. Unter den Bewegungsformen hat das für die Turgeszenzbewegungen?) der Mimosa pudica ebenfalls OLAUDE BERNARD gezeigt. Setzt man einen Blumentopf mit einer Mimose unter eine Glasglocke, unter der sich ein mit Aether getränkter Schwamm befindet (Fig. 182), so gelingt es nach einiger Zeit nicht mehr, durch Reize die bekannten Bewegungen, die in dem Senken der 1) OÖ. u. R. HErTwIG;; „Ueber den Befruchtungs- und Teilungsvorgang des tierischen Eies unter dem Einfluß äußerer Agentien“. In „Jenaische Zeitschr. f. Naturwissenschaft“, 1887. : 2) Vergl. p. 268. 438 Fünftes Kapitel. Zweige und Zusammenklappen der Blätter bestehen, an der Pflanze hervorzurufen. Die Reizbarkeit ist erloschen, die Pflanze ist in Nar- kose. „Eh bien!“ — sagt CLAUDE BERNARD — „chose singuliere, les plantes commes les animaux peuvent etre anesthesiees, et tous les phenomenes s’observent absolument de la mäme maniere!“ Ebenso wie die Turgeszenzbewegungen hören auch die Wachs- tumsbewegungen der Pflanzen in der Narkose auf, und die sekre- torischen Bewegungen der Diatomeen, Oscillarien, Desmidiaceen !) bleiben aus. Auch die Kontraktionsbewegungen werden durch die Narcotica gelähmt. Die Protoplasmabewegung der Amöben wird sistiert, nach- dem die Amöben sich zur Kugel kontrahiert haben. Wie Bınz?) fand, besitzt auf die amöboiden Bewegungen der Leukocyten besonders das Chinin eine stark lähmende Wirkung. Ueber die lähmende Wirkung der Narcotica auf die Flimmerbewegung hat ENGELMANN?) ausgedehnte Untersuchungen angestellt. Ließ er in einer Gaskammer auf die Flimmerzellen von der Rachenschleimhaut eines Frosches Aether- oder Chloroformdämpfe einwirken, so trat nach einem schnell vorübergehenden Erregungsstadium, in dem die Bewegung beschleunigt war, ein Stillstand der Wimpern ein. War die Dauer der Einwirkung nicht zu lang gewesen, so trat die Bewegung nach Zufuhr von frischer Luft von neuem wieder auf. Ebenso verhält sich die Geißelbewegung der Spermatozoön, die durch Aether- und Chloroformdämpfe, sowie nach den Beobachtungen HERTwIGs*) durch geringe Dosen von Chinin und Chloralhydrat vollständig zum Stillstand gebracht wird, so daß die Befruchtung des Eies durch ihre Bewegungslosigkeit ver- hindert wird. Auch bei Infusorien wird durch Zufuhr von Chloroform- wasser nach kurzem Exzitationsstadium, in dem sie wie rasend durch das Wasser wirbeln, die Wimperbewegung sistiert. An einem Sten- tor können wir neben dieser Tatsache auch gleich die Lähmung der Myoide durch das Chloroformwasser beobachten. Während die Sten- toren in ihrem ungestörten Zustande, mit ihrem Afterpol am Boden angeheftet, zu zierlicher Trompetenform ausgestreckt sind (Fig. 183 A) und nur von Zeit zu Zeit, teils spontan, teils infolge von äußeren Reizen, sich durch die Kontraktion ihrer feinen, im Exoplasma des Zellkörpers von oben bis unten verlaufenden Myoidfäden zu einer gestielten Kugel (Fig. 183 C) zusammenschnellen, nehmen sie in der Narkose nach plötzlichem Zusammenzucken im Beginn der Einwirkung ein Stadium mittlerer Kontraktion (Fig. 183 5) an, hören mit den Wimpern auf zu schlagen und zucken weder spontan noch auf Reizung mehr zu einer Kugel zusammen, bis durch Uebertragung in frisches Wasser die Narkose wieder gehoben wird. Wie die Erregbarkeit der glatten Myoidfäden wird auch die Erregbarkeit der quergestreiften Skelettmuskeln vollständig durch die Narkose aufgehoben. Ein Frosch- muskel, der vorsichtig und langsam von ätherdampfhaltiger Luft um- spült wird, ist durch keinerlei Reize mehr zum Zucken zu bringen. Dennoch stehen anscheinend die Lebensprozesse im Muskel nicht 1) Vergl. p. 274. 2) C. Binz: „Ueber die Einwirkung des Chinins auf die Protoplasmabewegung‘“. In Arch. f. mikr. Anat., Bd. 3, 1867. 3) ENGELMANN: „Ueber die Flimmerbewegung“. In „Jenaische Zeitschr. f. Naturwissenschaft“, Bd. 4, 1868 4) O. u. R. HERTWIG: 1. c. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 439 vollständig still, wie man aus der von BIEDERMANN!) festgestellten Tatsache entnehmen muß, daß die Elektrizitätsproduktion bei der Reizung des Muskels in der Narkose noch ebenso erfolgt, als wenn der Muskel sich im normalen Zustande befände und sich noch Kon- trahieren könnte. Die gereizte Stelle, sowie der künstliche Quer- schnitt zeigt sich bei galvanometrischer Untersuchung ebenso wie unter normalen Verhältnissen elektrisch negativ gegenüber der ruhenden Partie. Es bleiben also auch in der Narkose noch gewisse Stoff- wechselvorgänge unberührt bestehen, und das gilt nicht bloß vom Muskel, sondern von den Narkosezuständen aller lebendigen Substanz. Fig. 183. Stentor eoeruleus, A in der Ruhe ganz ausgestreckt, B im Zustande mittlerer Kontraktion wie beim freien Schwimmen, € vollständig kontrahiert. Neuerdings hat MASSARrT auch ?) die Lichtentwicklung der Nokti- luken durch Alkohol vollständig aufheben können, indem er über das Gefäß mit Meerwasser, in dem sich die Noktiluken ruhig an der Oberfläche schwimmend befanden, einige Lagen mit Alkohol getränkten Fließpapiers legte, so daß die Alkoholdämpfe auf die Noktiluken treffen mußten. Die Protisten waren dann nach kurzer Zeit durch keinen Reiz mehr zum Leuchten zu bringen. Am bekanntesten schließlich sind die lähmenden Wirkungen der Narcotica auf die Tätigkeit der Ganglienzellen des Zentralnerven- systems, sowohl auf diejenigen, welche motorische Impulse produ- zieren, d. h. die Muskeln zur Bewegung veranlassen, als auch auf die, welche zusammen die zentralen Bedingungen für die Sinnes- empfindungen, für das Bewußtsein vorstellen. In der anästhesierenden 1) W. BIEDERMANN: „Beiträge zur allgemeinen Nerven- und Muskelphysiologie“. 22. Mitteil. In Sitzungsber. d. K. Akad. d. Wiss. in Wien, Bd. 98, 1888. 2) JEAN MASSART: „Sur Virritabilit& des Noctiluques“. In „Bulletin seientifique de la France et de la Belgique“, T. 25, 1893. 440 Fünftes Kapitel. Wirkung auf die Zellen des Zentralnervensystems liegt die außer- ordentliche praktische Bedeutung der Narcotica. Sie sind besonders durch die Aufhebung der Funktionen des Großhirns zu einer der größten Wohltaten der Menschheit geworden. Freilich zu einer ge- fährlichen Wohltat, denn der Mißbrauch der Narcotica, des Alkohols, des Morphiums zeitigt die verheerendsten Wirkungen und verwandelt die Wohltat in eines der größten Uebel, weil der Stoffwechsel der betroffenen Zellen dabei irreparable Schädigungen erfährt. A B Fig. 184. Ganglienzellen von einem morphinisierten Hunde, nach der Methode von GOLGI behandelt. Bei A haben alle, bei B die meisten Protoplasmafort- sätze rosenkranzförmiges Aussehen angenommen. Nach DEMOOR. Vor einiger Zeit haben eine Reihe von Forschern, wie LEPINE, DuvaL, SoLvAY, DEMOOR, QUERTON u. a. die Ansicht aufgestellt, daß die Ganglienzellen eine gewisse amöboide Bewegungsfähigkeit besitzen, indem sie ihre Protoplasmafortsätze oder Dendriten inner- halb bestimmter Grenzen verkürzen und verlängern können. So glaubt sich z. B. DEMOOR!), der diese Beweglichkeit als „Plastizität“ der Neurone bezeichnet hat, überzeugt zu haben, daß unter dem Einfluß des Morphiums in der Narkose, aber auch unter der Einwirkung anderer Reize sich deutliche Kontraktionssymptome an den Den- driten der Ganglienzellen bemerken lassen, die genau den Kontrak- tionsvorgängen entsprechen, welche starke Reize auf den verzweigten 1) Demoor: „La plastieit€ morphologique des neurones cerebraux“. In Arch. de Biologie, T. 14, 1896. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 441 Pseudopodienfäden der Rhizopoden erzeugen. Beide Bilder sind in der Tat vollkommen übereinstimmend (vergl. Fig. 184 und 185 B). Die Dendriten der Neurone, etwa im Gehirn eines Hundes, zeigen am fixierten und mit der GoLGIschen Methode imprägnierten Präparat ein sehr charakteristisches perlschnurartiges Aussehen, indem sie ihr Proto- plasma zu lauter kleinen Kügelchen und Spindelchen zusammengeballt haben (Fig. 184), wie das auch bei Rhizopoden (Fig. 185 B), z.B. Am- phisteeina, Orbitolites, Rhizoplasma etc., in der Narkose Fig. 185. Amphistegina Lessonii. Aus der linsenförmigen Kalkschale treten durch die Schalenöffnung fadenförmige Pseudopodien hervor. 4 normal, B in Chloroform- narkose. leicht zu beobachten ist!). Allein, es hat sich in neuerer Zeit, be- sonders durch die umfassenden Untersuchungen von WEIL und FRANK ?), herausgestellt, daß diese rosenkranzähnlichen oder „monili- formen“ Zustände der Dendriten lediglich Kunstprodkukte sind, die durch die Fixierungs- und Imprägnationsmethoden erzeugt werden, und daß demnach kein einziger Beweisgrund für eine „Plastizität“ 1) Max VERWORN: „Zellphysiologische Studien am Roten Meer“. In Sitzungsber. d. Kgl. Preuß. Akad. d. Wiss. zu Berlin, 1896. 2) R. WEIL und R. FRANK: „On the evidence of the Golgi methods for the a of Neuron contraction“. In Archives of Neurology and Psycho-Pathology, Vol. 2, 1899. 442 Fünftes Kapitel. der Dendriten am lebendigen Neuron besteht. Damit ist aber auch den weitgehenden und zum Teil naiven Theorien der Narkose, des Schlafs, der Hemmungsvorgänge, der Bewußtseinsprozesse etec., die man in reicher Fülle und mit großer Begeisterung auf die Lehre von der „Plastizität“ der Dendriten aufgebaut hat, der Boden ent- zogen !). Etwas resistenter als die Ganglienzellen sind die Nervenfasern der Neurone gegenüber den Narcotieis. Wenn bei Aether- oder Chloro- formnarkose die Ganglienzellen der Zentra schon längst gelähmt sind, erweisen sich die Nervenstämme noch immer erregbar. Dennoch wird auch der Nerv durch Aether und Chloroform leicht vollständig ge- lähmt, wenn man ihn in einen mit Aetherdämpfen gefüllten Raum bringt. Dabei verliert der Nerv nicht bloß seine Erregbarkeit, sondern auch seine Leitfähigkeit. Präpariert man z. B. einen Nervus ischia- dicus vom Frosch mit dem dazu gehörigen Unterschenkel frei und trennt man dieses Präparat oben an der Austrittsstelle des Nerven aus dem Wirbelkanal, nachdem der Nerv hier mit einem Faden an- Fig. 186. Vorrichtung für die lokale Narkose des Nerven. Der Nerv des Nervmuskelpräparates vom Frosch ist durch die röhrenförmige Narkosekammer gezogen und mit seinem Ende über die Elektroden gelegt. Ein Gebläse treibt Aetherdämpfe resp. nachher zur Erholung Luft durch die Narkoseröhre. geschlungen ist, ab, so hat man ein sogenanntes Nervmuskel- präparat, an dem man sich von der Wirkung der Narkose auf den Nerven sehr bequem überzeugen kann. Zieht man nämlich den Nerven mit dem angeschlungenen Faden durch eine etwa 2 cm dicke Glasröhre, die in ihrer Längswand zwei gegenüberliegende Oeffnungen trägt, quer hindurch und bringt man das eine Ende der Röhre mit einem Gebläse in Verbindung, mittels dessen man ätherdampfbeladene Luft durch die Röhre hindurchblasen kann, die dann am anderen Ende der Röhre durch ein kleines Ansatzröhrchen wieder entweicht, so kann man auf diese Weise die in der Röhre befindliche Strecke des Nerven sehr schnell in Narkose versetzen (Fig. 186). Man findet dann, daß der Nerv die Fähigkeit der Erregungsleitung verliert. Prüft man nämlich seine Erregungsleitung, indem man das obere, außerhalb der Narkoseröhre befindliche Ende des Nerven mit zwei Platinelektroden 1) Vergl. MAx VERWORN: „Das Neuron in Anatomie und Physiologie“, Jena 1900. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 443 « reizt, so bemerkt man, daß nach kurzer Einwirkung der Aetherdämpfe die anfänglich bei jeder Reizung eintretenden Muskelzuckungen plötz- lich ausbleiben und erst wiederkehreu, wenn man statt der äther- dampfhaltigen Luft einige Zeit reine Luft mittels des Gebläses durch die Röhre hindurchbläst. Die in der Narkosekammer befindliche Strecke des Nerven wird also für die Errerungsleitung gewissermaßen durch das Narcoticum blockiert und wird erst wieder leitfähig, wenn die Narkose aufgehoben wird. Ebenso kann man auch im Tierkörper selbst eine noch in ihrem natürlichen Zusammenhang befindliche Nervenstrecke durch Narkose blockieren. Narkotisiert man z. B. einen intakten Muskelnerven im Körper des lebendigen Tieres lokal, indem man ihn an einer Stelle seines Verlaufs freilegt und mit einer kleinen von Aetherdampf erfüllten Kammer umschließt, so werden keine Impulse mehr vom Zentralnervensystem auf den dazugehörigen Muskel übertragen, weil der Nerv an der narkotisierten Stelle unwegsam geworden ist für den Leitungsvorgang. In diesem Zustande kann man den Nerven längere Zeit erhalten. Hebt man die Narkose wieder auf, so gewinnt er in einigen Minuten seine Erregbarkeit und Leitfähigkeit wieder. Man hat diese Tatsache in der Physiologie vielfach methodisch benutzt, wenn es bei Experimenten darauf ankam, die Impulse des Zentralnervensystems auf die peripherischen Organe, wie Muskeln, Drüsen ete., auszuschalten !). Ueber die Art und Weise, wie die Narcotica ihre lähmende Wirkung in der lebendigen Substanz entfalten, sind wir leider noch immer vollständig im Dunkeln. Indessen haben wenigstens die Unter- suchungen der letzten Jahre eine Reihe von Tatsachen kennen ge- lehrt, die für die Theorie der Narkose von größter Wichtigkeit sind. Bei der Erforschung des Mechanismus der Narkose entsteht zunächst die Frage, worin eigentlich das Gemeinschaftliche der verschieden- artigen Stoffe liegt, die alle übereinstimmend eine lähmende Wirkung auf die Vorgänge in der lebendigen Substanz ausüben. Man hat daher die verschiedenen Narcotica, wie Alkohol, Aether, Chloroform, Chloralhydrat, Kohlensäure, Stickoxydul etc. miteinander verglichen, ohne daß es indessen gelungen wäre, in so verschiedenartigen chemischen Stoffen Atomkomplexe zu finden, die in chemischer Beziehung irgend etwas Gemeinsames hätten. Erst in neuester Zeit ist Hans MEYER?), ausgehend von der Alkoholnarkose der Nerven- zellen, und unabhängig von ihm E. OvERToN?’) auf die Tatsache aufmerksam geworden, daß die Löslichkeit der Narcotica in Fetten und Oelen eine große Rolle spielt bei ihrer narkoti- sierenden Wirkung, daß nämlich im wesentlichen solche Stoffe narko- tisierend wirken, die leichter in fettähnlichen Stoffen als im Wasser löslich sind. Dabei ist im allgemeinen ihre narkotisierende Wirkung um so größer, je mehr der Teilungskoöffizient, der ihre Verteilung in einem Gemisch von Wasser und fettähnlichen Substanzen bestimmt, zugunsten der letzteren ausfällt. Es ist nach diesem Gesichtspunkt 1) MAx VERWORN: „Zur Kenntnis der physiologischen Wirkungen des Strych- nins“. In Arch. f. Anatomie u. Physiologie. physiologische Abt., 1900. 2) Hans MEYER: „Zur Theorie der Alkoholnarkose“. I. Mitt.: „Welche Eigen- schaften der Anaesthetica bedingen ihre narkotische Wirkung?“ II. Mitt. von BAUM: „Ein physikalisch-chemischer Beitrag zur Alkoholnarkose“. In Arch. f. exp. Pathol. und Pharmak., Bd. 42, 1899. 3) E. OVERTON: „Studien über die Narkose“, Jena 1901. 444 Fünftes Kapitel. eine Anzahl von narkotisierend wirkenden Stoffen geprüft und, was noch wichtiger ist, es ist auf Grund dieser Erfahrung die relative Stärke der narkotisierenden Wirkung von manchen bisher noch nicht als Narcotica verwendeten Stoffen vorausgesagt worden, so daß es zweifellos ist, daß die Fettlöslichkeit der Stoffe in Hinsicht auf ihre narkotisierende Wirkung eine wichtige Bedingung vorstellt. Indessen ist selbstverständlich damit noch keine „Theorie der Narkose“ ge- geben, die uns den Mechanismus der Narkose verständlich machte. Aber es ist wenigstens der Anfang gemacht in der Erkenntnis ihrer Bedingungen. Ferner verdient noch die Ansicht Beachtung, die sich auf die Untersuchungen von MEYER und OVERTON stützt, daß es das unzersetzte Molekül des Narcoticums ist, das die Wirkung hervorruft, nicht seine Zersetzungsprodukte. Das schließt z. B. ÖvERTON daraus, daß die Ester der Fettsäuren nur so lange narko- tisierend wirken, als sie unverseift sind, daß sie dagegen mit ihrer Spaltung in den betreffenden Alkohol und die Fettsäure die Wirkung verlieren. Auch die Ansicht HÖBERs!) beansprucht Interesse, daß bei der Narkose eine Zustandsänderung kolloidaler Stoffe der Zelle statt- findet. Freilich ist auch damit noch keine „Theorie der Narkose“ gegeben. Schließlich muß jede Theorie der Narkose mit folgenden experimentell festgestellten Tatsachen rechnen. WINTERSTEIN ’?) hat am Zentralnervensystem und FRÖHLICH ?) am peripherischen Nerven nachgewiesen, daß während der Narkose keine Sauerstoffaufnahme stattfindet, selbst dann nicht, wenn das Sauerstoffbedürfnis der leben- digen Substanz durch Arbeitslähmung oder Einwirkung bis zu einem besonders hohen Grade gesteigert ist und wenn Sauerstoff während der Narkose in reichlicher Menge zur Verfügung steht. Trotzdem geht, wie HEATON in noch unveröffentlichten Versuchen zeigen konnte, der Zerfall der lebendigen Substanz während der Narkose weiter. Die Dissimilationsphase des Stoffwechsels wird nicht gelähmt durch das Narkotikum. Das geht daraus hervor, daß ein Nerv der dauernd in sauerstoffhaltiger Luft narkotisiert wird, wenn die Narkose schließlich in reinem Stickstoff aufgehoben ist, eine ebensolche Abnahme der Er- regbarkeit zeigt, wie ein gleichzeitig ohne Narkose in reinem Stickstoff erstickter Nerv, und daß er sich wie dieser nur erholt, wenn ihm von neuem Sauerstoff zugeführt wird. Nach allen diesen und weiteren Erfahrungen wird also durch die Narkose der Sauerstoffwechsel der lebendigen Substanz gelähmt, während die Dissimilationsphase des Stoffwechsels von der Narkose unberührt bleibt, bis die lebendige Substanz erstickt. Alle diese Tatsachen werden einst wichtige Bausteine für eine künftige Theorie der Narkose liefern, die uns bis jetzt noch fehlt. 2. Die Wirkungen osmotischer Reizung. Wie bereits oben bemerkt, ist es mit großen Schwierigkeiten ver- bunden, die Wirkungen rein osmotischer Reize von denen spezifisch 1) HöBER: „Beiträge zur physikalischen Chemie der Erregung und der Nar- kose“. In PFLÜGERs Arch. f. d. ges. Physiol., Bd. 120, 1907. nr 2) al „Zur Kenntnis der Narkose“. In Ztschr. f. allgem. Physiol., . 1, 1902. 3) Fr. W. FRÖHLICH: „Das Sauerstoffbedürfnis der Nerven“. In Ztschr. f. allgem. Physiol., Bd. 3, 1903. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 445 chemischer Reize zu differenzieren, denn wird in dem:Medium, in dem ein Organismus lebt, also etwa im Wasser, der osmotische Druck durch Hinzufügen oder Herausnehmen eines osmotisch wirksamen Stoffes erhöht oder herabgesetzt, so ist das immer nur möglich da- durch, daß zugleich auch die Konzentration der chemischen Stoffe im Medium verändert wird, d. h. daß chemische Reize gesetzt werden. Die Schwierigkeit, die sich dadurch ergibt, liegt also darin, zu ent- scheiden, ob und wie weit die in einem solchen Falle beobachtete Reizwirkung auf die Rechnung des veränderten osmotischen Drucks oder auf Rechnung der spezifischen Konstitution des chemischen Stoffes zu setzen ist. Dennoch ist es möglich, auf Umwegen diese Frage zu entscheiden. Die ersten Experimente in dieser Richtung sind von MASSART!) ausgeführt worden, der durch vergleichende Versuche mit verschieden konzentrierten Lösungen verschiedenartiger Stoffe zu dem Ergebnis gekommen ist, daß schon geringe Veränderungen im osmo- tischen Druck des Mediums bei einzelligen Organismen Erregungs- wirkungen hervorrufen. Indessen hat JENNINGS?) bald darauf durch ähnliche Versuche wieder Einwände gegen die Deutung der MASSART- schen Befunde erhoben, wenn er auch die Wirkung osmotischer Druck- veränderungen von größerem Umfange nicht bezweifelt. Leider ist seitdem die Frage noch nicht so systematisch studiert worden, daß wir bis heute schon klare Ergebnisse gewonnen hätten, und so müssen wir uns hier darauf beschränken, einige Tatsachen anzuführen, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit als speziell osmotische Reiz- wirkungen betrachtet werden können. a) Erregungswirkungen. Nach allen bisherigen Erfahrungen können wir im allgemeinen sagen, daß jede Erhöhung des osmotischen Druckes der lebendigen Substanz, wie sie durch Wasserentziehung hervorgerufen wird, wenn sie sich innerhalb gewisser Grenzen hält, die Erregbarkeit der leben- digen Substanz steigert und, wenn sie plötzlich auftritt, sogar direkt Erregungswirkungen hervorruft. Wird z. B. einem Frosch von der Aorta aus das Zentralnervensystem mit einer 2—5-proz. Kochsalz- lösung durchspült, so daß den Ganglienzellen stürmisch Wasser entzogen wird, so treten so heftige Erregungswirkungen 3) von seiten des Zentralnervensystems auf, daß sich der Frosch verhält ähn- lich als ob er mit Strychnin vergiftet wäre, einem Gift, das bekanntlich die Erregbarkeit der sensiblen Elemente des Rückenmarks ungeheuer steigert und heftige Krämpfe hervorruft. Durchspült man den Frosch nur kurze Zeit mit einer so stark wasserentziehenden Lösung, so weicht die Erregung sehr schnell einer vollständigen Lähmung und die Zentra sterben ab. Für die Muskeln gilt dasselbe. Hier hat OvErToNn !) gezeigt, daß es sich bei der allmählichen Lähmung und dem Absterben l) MaAssArT: „Sensibilit@ et adaptation des organismes ä la concentration des solutions salines“. In Archives de Biologie, T. 9, Liege 1889. 2) JENNINGS: „Studies on reactions to stimuli in unicellular organismes“, I. „Reactions to chemical, osmotic and mechanical stimuli in the eiliate infusoria‘“. In Journal of Physiology, Vol. 21, 1897. 3) MAX VERWORN: „Die Biogenhypothese. Eine kritisch-experimentelle Studie über die Vorgänge in der lebendigen Substanz“, Jena 1903. | 4) OvERTON: „Beiträge zur allgemeinen Muskel- und Nervenphysiologie“. In PFLÜGERs Arch. f. d. ges. Physiol., Bd. 92, 1902. 446 Fünftes Kapitel. in diesem Fall nur um Wirkungen des osmotischen Druckes handelt, indem er die Muskeln in Lösungsgemische brachte, deren jede einzelne Komponente an sich chemisch völlig unwirksam war, wenn sie in einer dem Muskel isotonischen Lösung gegeben wurde. Eine sehr ein- fache Methode der Wasserentziehung ist schließlich das Eintrocknen- lassen. Muskeln und Nerven vom Frosch, die man an der Luft liegen läßt, so daß sie allmählich durch Verdunstung einen steigenden Wasser- verlust erleiden, werden sehr bald ungeheuer erregbar und können durch die schwächsten Reize in heftige Erregung versetzt werden. Erreicht der Wasserverlust eine bestimmte Grenze, so treten dadurch selbst bereits heftige Erregungswirkungen ein, der eintrocknende Muskel zeigt dauernd kurze Zuckungen und der eintrocknende Nerv entsendet fortwährend zu seinem Muskel heftige Impulse. Genau ebenso verhält sich der Nerv, wenn man ihm durch Aufstreuen von Kochsalz eine sehr rapide Wasserentziehung erzeugt. b) Lähmungswirkungen. Erhöht eine Wasserentziehung innerhalb gewisser Grenzen die Erregbarkeit der lebendigen Substanz, so setzt umgekehrt die Ver- mehrung des Wassergehalts ihre Erregbarkeit herab und ruft voll- ständige Lähmung hervor. Ein Muskel, den man in eine hypotonische Kochsalzlösung bringt, verliert allmählich seine Erregbarkeit und wird wasserstarr. In diesem Zustande ist er durch die stärksten Reize nicht mehr zu Kontraktionen zu veranlassen. Indessen ist es hier schon zweifelhaft, wieweit eine Verminderung des osmotischen Druckes in Frage kommt, denn man muß immer mit dem Faktor rechnen, daß bei Behandlung des Muskels mit Lösungen von sehr niedrigem osmotischen Druck, am meisten natürlich bei Behandlung mit destilliertem Wasser, ein Hinausdiffundieren von Stoffen aus dem Muskel in das umgebende Medium stattfinden kann, so daß dem Muskel Stoffe entzogen werden, die für die intakte Erhaltung seiner Erregbarkeit notwendig sind. Das ist besonders zu berücksichtigen, nachdem OVERTON (]. c.) nachgewiesen hat, daß die Entziehung von Kochsalz durch Diffusion den Muskel auch in sonst isotonischen Lösungen, z. B. in einer 6-proz. Rohrzuckerlösung, unerregbar macht, daß also das Kochsalz zur Erhaltung der Erregbarkeit im Muskel erforderlich ist. Daß auch bei längerdauernder oder stärkerer Erhöhung des os- motischen Druckes die Erregung der lebendigen Substanz sehr bald in eine Lähmung übergeht, wurde oben schon gesagt. 3. Die Wirkungen mechanischer Reizung. Als mechanische Reize können wir alle Veränderungen in den Druckverhältnissen bezeichnen, unter denen die lebendige Substanz in ihrer Umgebung steht. Davon sind die Wirkungen der Vermin- derung des Druckes bisher noch nicht genauer untersucht worden. Es kommen also für unsere Betrachtung ausschließlich die Wirkungen der Erhöhung des Druckes in Frage. Die Erhöhung des Druckes kann in überaus mannigfaltigen Formen auftreten, von der leisen Berührung bis zum kräftigen Quetschen oder bis zum völligen Zerdrücken der lebendigen Substanz, vom kurzen Von den Reizen und ihren Wirkungen. 447 Stoß bis zum kontinuierlichen und andauernden Druck, von der un- regelmäßigen Erschütterung bis zu den rhythmisch-intermittierenden Stößen, wie sie die Stimmgabel erzeugt. a) Erregungswirkungen. Unter den erregenden Wirkungen der mechanischen Reize auf den Stoffwechsel können wir am deutlichsten die Erregung der Stoffproduktion, der Sekretion der einzelligen Organismen beobachten. Ein Actinosphaerium z. B., das in völliger Ruhe im Wasser schwebt, hat viele gerade, nach allen Richtungen hin ausgestreckte Pseudopodien, die von Sekret vollkommen frei sind. Letzteres geht daraus hervor, daß Wimperinfusorien aus der Gruppe der Hypotrichen, Fig. 187. Thalassicolla nucleata, eine kugelförmige Radiolarienzelle. A Unver- letztes Individuum im Querschnitt. In der Mitte liegt die von schwarzem Pigment umgebene Zentralkapsel mit dem Zellkern. B Zentralkapsel herauspräpariert. Sie hat sich schon wieder mit einem neuen Pseudo- ZH, \ podienkranz umgeben. ( Dieselbe Zentralkapsel nach FELHSESFEHNN N starker Reizung. Die Pseudopodien sind etwas einge- JE zogen und zwischen ihnen ist eine dichte Schleim- masse sezerniert worden. B und ( stärker vergr. (8 die nur an ihrer Bauchseite Wimpern tragen, mit denen sie wie Asseln auf Gegenständen im Wasser umherlaufen, nicht selten unge- stört auf den gerade ausgestreckten Pseudopodien entlang promenieren, ohne auf ihnen festzukleben. Prallt dagegen ein solches Infusor ein- mal in heftiger Schwimmbewegüng gerade an ein Pseudopodium an, so genügt dieser mechanische Reiz, um an der Berührungsstelle die Sekretion eines klebrigen Stoffes hervorzurufen, der das Infusor als Beute festhält!). Ebenso ruft ein einzelner starker Erschütterungs- stoß die Schleimsekretion auf den Pseudopodien hervor, so daß kleine, im Wasser suspendierte Partikel daran kleben bleiben. Diese Schleim- l) Max VERWORN: „Psycho-physiologische Protistenstudien. Experimentelle Untersuchungen“, Jena 1889. 448 Fünftes Kapitel. sekretion als Wirkung mechanischer Reizung ist bei den nackten Protoplasmakörpern der Rhizopoden weit verbreitet. Direkt sichtbar wird der Schleim z. B. bei dem großen, im Meere lebenden Radiolar Thalassicolla. Wenn man aus dem runden, erbsengroßen Körper der Thalassicolla die von äußerst feinen Poren durchbohrte Zen- tralkapsel mit ihrem Inhalt von Protoplasma und Zellkern ohne Ver- letzung exstirpiert hat, was mit geringer Mühe gelingt, dann fängt nach kurzer Zeit diese Zentralkapsel an, sich zu einem vollständigen Radiolar zu regenerieren, d.h. Pseudopodien, Gallert- und Vakuolen- schicht neu zu bilden (vergl. Fig. 187). Nachdem die Pseudopodien wie ein Kranz von Sonnenstrahlen aus dem gelben Kugelkörper her- ausgetreten sind, bemerkt man zwischen ihnen einen äußerst feinen, noch überaus dünnflüssigen Schleim, der von den Pseudopodien aus- geschieden wird und die Anlage der neuen Gallertschicht repräsen- tiert. Erschüttert man in diesem Stadium das Radiolar durch starke Stöße, so sieht man, wie sich die dünne Schleimmasse vermehrt und zugleich fester und derber wird, was um so deutlicher zum Ausdruck kommt, je öfter die Erschütterung wiederholt wird !). Die mechanische Reizung befördert also die Schleimsekretion in sichtbarer Weise. Erregende Wirkungen mechanischer Reize auf die Formbildungs- vorgänge des Wachstums und der Teilung der Zellen sind bisher nicht bekannt geworden. Fig. 183. Mimosa pudica. A Ein Zweig in ungereiztem Zustande ausgestreckt. B Ein Zweig in gereiztem Zustande gesenkt mit zusammengefalteten Blättern. Nach DETMER. Dagegen sind die erregenden Wirkungen auf den Energie- umsatz sehr ausführlich untersucht worden, und es liegt ein großes, hier und dort zerstreutes Beobachtungsmaterial darüber vor, aus dem wir hier die typischen Fälle herausgreifen können. Den Mittelpunkt des Interesses bilden auch hier wieder die Be- wegungsvorgänge, die durch mechanische Reize ausgelöst werden. Allgemein bekannt ist die Auslösung der Turgeszenzbewegungen an 1) Max VERWORN: „Die physiologische Bedeutung des Zellkerns“. In PFLÜGERSs Arch., Bd. 51, 1891. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 449 den sogenannten sensitiven Pflanzen, wie etwa an der zierlichen Mimosa pudica. Die einem kleinen Akazienbäumchen ähnliche Mimose hält am Tage und in ungestörtem Zustande ihre Blattstiele erster Ordnung, die vom Stamme entspringen, schräg nach oben ge- richtet. Die Blattstiele zweiter Ordnung, welche die Blätterreihen tragen, sind weit auseinandergespreizt, und die Blättchen selbst stehen horizontal weit ausgebreitet (Fig. 158 A). Sobald aber der Topf, in dem das Bäumchen wächst, einen Erschütterungsstoß erfährt, ändert sich das Bild fast momentan. Die Blattstiele erster Ordnung sinken infolge der Abnahme des Turgors ihrer Basalpolsterzellen schlaff nach unten, die Blattstiele zweiter Ordnung wenden sich näher aneinander, und die Blättchen selbst erheben sich und legen sich mit ihren oberen Flächen zusammen (Fig. 188 BD). In dieser Stellung verharrt die Pflanze, wenn sie ferner in Ruhe gelassen wird, einige Zeit und kehrt dann ganz allmählich, indem der Zellturgor an den betreffenden Stellen der Gelenkpolster wieder steigt, in ihre ursprüngliche Stellung zurück. Auch an einem einzigen Blättchen kann man durch ganz sanfte lokale Berührung die Reizstellung auslösen. Berührt man zu stark, so sieht man die folgenden Blätter nacheinander wie eine Reihe Zinnsoldaten umklappen und hat daran einen überaus augenfälligen Ausdruck für die Fortpflanzung der Erregung in der Sinnpflanze. \ Y; DU IS : Seo2 Y NISIO A B Fig. 189. Difflugia. Aus dem Sandgehäuse ragen drei fingerförmige Pseudopodien hervor. A ungereizt, B gereizt durch eine schwache Erschütterung. Unter den Kontraktionsbewegungen kennen wir als Wirkung mechanischer Reize mit Sicherheit bisher nur die Auslösung des Kontraktionsstadiums, obwohl es nieht unwahrscheinlich ist, daß sehr feine Berührungsreize, wie z. B. der Kontakt einer amöboiden Proto- plasmamasse mit ihrer glatten Unterlage, durch Kohäsionswirkung Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. " 29 450 Fünftes Kapitel. in manchen Fällen auch die Expansion der Pseudopodien beeinflussen könnten. Bei den nackten Protoplasmakörpern der Rhizopoden bringt an den ausgestreckten Pseudopodien ein einzelner Erschütterungsstoß, wie er etwa durch einen starken Schlag auf den Objektträger unter dem Mikroskop erzeugt werden kann, je nach dem sehr verschiedenen Grade ihrer Reizbarkeit, mehr oder weniger starke Kontraktions- bewegungen hervor!). Eine Amöbe, ein Actinosphaerium etc., die in dieser Weise gereizt werden, sistieren ihre zentrifugale Proto- plasmaströmung, d.h. die Ausstreckung ihrer Pseudopodien, momentan, bei starker Reizung kann sogar eine teilweise Einziehung der Pseudo- podien, eine vorübergehend zentripetale Protoplasmaströmung eintreten. Andere Formen dagegen, wie die mit zierlichem, aus Sandkörnchen gebautem Gehäuse versehenen Difflugien (Fig. 189), reagieren ener- gisch auf die mechanische Reizung. Schon bei einer schwachen Er- schütterung werden die Pseudopodien langsam mehr oder weniger weit retrahiert, wobei ihr vorher glatter Kontur runzelig wird (Fig. 189 B). Bei stärkerer Erschütterung aber werden die Pseudopodien häufig > N Fig. 190. Kontraktion eines Pseudopodiums von Difflugia lobostoma nach starker Ersehütterung. Sieben aufeinanderfolgende Stadien der Retraktion. mit ‚solcher Gewalt in den Protoplasmaleib hineingezogen, daß ihre Enden, da das Protist durch ein klebriges Sekret an seiner Unterlage fest- haftet, infolge des energischen Zuges abreißen. Bei stärkerer Reizung macht sich gleichzeitig die Veränderung, welche die Pseudopodien er- fahren, noch in vielausgeprägterem Maße geltend als bei der schwächeren: die Pseudopodien werden nicht bloß runzelig, sondern es quellen aus ihrer ganzen Oberfläche über den glatten Kontur hinaus kleine Tröpfchen hervor ?), die, je weiter die Reizwirkung sich entwickelt, um so größer werden, zu einer Masse von myelinartigem Aussehen zu- sammenfließen und sich deutlich von einem stark lichtbrechenden, in der Achse des Pseudopodiums sichtbar werdenden Strange sondern (Fig. 190), bis das Pseudopodium ganz eingezogen ist und seine Masse mit dem übrigen Körperprotoplasma vermischt. Auch unter den Polythalamien der See finden sich viele Formen mit sehr großer Reizbarkeit, die schon auf einen einzigen Erschütterungsstoß hin ihr ganzes reich verzweigtes Pseudopodiennetzwerk einziehen. 1) MAx VERWORN: „Psycho-physiologische Protistenstudien“. Jena 1889. 2) Vergl. auch Fig. 172 p. 427. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 451 In der gleichen Weise kann man auf dem OÖbjektträger unter dem Mikroskop die Wirkungen eines Erschütterungsstoßes auf die Geißel- und Wimperbewegung beobachten. Verfolgen wir z. B. eine Peranema unter dem Mikroskop auf ihrem Wege, so finden wir, daß dieses kleine Infusorium lediglich durch die regelmäßigen Peitschen- schwingungen seines vorderen Geißelendes gerade und ungestört sich durch das Wasser bewegt (Fig. 191). Führen wir aber jetzt einen kurzen Schlag auf den Objektträger aus, so erfolgt sogleich ein ener- eischer Peitschenschlag der ganzen Geißel, der dem Flagellat eine andere Bewegungsrichtung gibt. Darauf setzt es wie vorher ruhig, nur das Ende seiner Geißel schwingend, seinen Weg wieder fort. Der mechanische Reiz hat also eine Verstärkung des Geißelschlages zur Folge gehabt. Dasselbe können wir bei der Flimmerbewegung der Wimperinfusorien beobachten. Folgen wir unter dem Mikroskop einem recht ruhig und nicht zu schnell dahin- schwimmenden Paramaecium, das sich durch N das Spiel seiner Wimpern wie durch unzählige kleine und schnell schlagende Ruder durch das Wasser bewegt, so sehen wir, wie es auf einen Erschütterungsstoß hin seine Bewegung plötzlich beschleunigt, um aber sofort wieder zu seiner vorhergehenden Geschwindigkeit zurückzukehren. Viel deutlicher aber ist diese Wirkung bei Pleu- ronema chrysalis zu beobachten, einem kleinen bohnenförmigen Infusor, das in der Regel lange Zeit ganz still im Wasser liegt und seine langen, strahlenförmigen Wimpern voll- kommen ruhig hält (Fig. 192), im Moment einer geringen Erschütterung aber plötzlich eine oder Fig. 191. Peranema, einige wenige, sehr energische Schläge mit den °'"° er c 5 £ . rienzelle,. a Ungestört Wimpern ausführt, so daß es einem Floh ähn- ‚chwimmend, 5 durch Er- lich durch das Wasser springt, um gleich darauf schütterung gereizt. wieder an einem anderen Orte ruhig liegen zu bleiben. Aehnliche Fälle gibt es in der sangu- inischen Infusorienwelt in großer Fülle. Weit und breit finden wir, daß mechanische Reize energische Wimperschläge auslösen. Auch um die Wirkungen mechanischer Reize auf die Muskel- bewegung zu beobachten, bietet das Infusorienleben unzählige Ge- legenheiten. Die glatten Muskelfäden (Myoide) sind unter den In- fusorien weit verbreitete Organoide, und wie überhaupt alles im Leben dieser in ewiger Bewegung befindlichen Protisten mit großer Schnellig- keit geschieht, so reagieren auch die kontraktilen Fäden auf die ge- ringste Erschütterung mit einer plötzlichen, heftigen Kontraktion. Es gibt wenige Anblicke in der mikroskopischen Welt, die so anmutig und fesselnd sind wie das Zusammenzucken eines weitverzweigten Vorticellinenbäumchens nach jeder kleinen Erschütterung (Fig. 195). Im Moment des Stoßes kontrahieren sich gleichzeitig und blitzschnell die sämtlichen Stielmyoide der einzelnen Individuen, und die Stiele legen sich in zierliche Sprungfedertouren (Fig. 193 DB). Auch Stentor, der in der Ruhe seine schöne Trompetenform entfaltet hat, zuckt durch die Kontraktion seiner vielen, in der äußeren Körperschicht gelegenen Myoidfäden auf jede Erschütterung plötzlich zu einer ge- stielten Kugel zusammen (Fig. 183 p. 439). Ebenso verhalten sich 29* | ( 452 Fünftes Kapitel. die quergestreiften Muskeln der höheren Tiere, ohne freilich den gleichen hohen Grad der Reizbarkeit zu besitzen. Es bedarf schon | / Fig. 192. Pleuronema chrysalis. A Stillliegend, B im Begriff, auf einen Er- schütterungsreiz zu springen. Die Wimpern sind im Schlag begriffen. eines stärkeren Schlages auf die Muskelsubstanz selbst, um z. B. einen Froschmuskel durch mechanische Reizung zum Zucken zu bringen. Die Erregung der Lichtproduktion durch mechanische Reize ist jedem bekannt, der eine Reihe schöner, ruhiger Sommernächte am > B Fig.193. Carchesium polypinum, eine verzweigte Vorticellinen-Kolonie. A Ungereizt, B durch Erschütterung gereizt. Die einzelnen Individuen sind durch Kon- traktion ihrer Stielmyoide zusammengeschnellt. Meer verbracht hat. Die eigenartige glashelle Tierwelt, die bei ruhigem Wetter die oberflächlichen Schichten des Meeres belebt, hat, gleich- gültig, welchen Tierklassen ihre verschiedenen Mitglieder angehören, Von den Reizen und ihren Wirkungen. 453 die wundervolle Fähigkeit, bei jedem Schaukeln des Bootes, bei jeder Ruderbewegung, bei jedem Wellenschlag hell aufzuleuchten. Wo viele kleine Organismen, wie Noktiluken, Radiolarien, Ütenophoreneier etc., im Meere als Plankton treiben, kann man sich den physiologischen Genuß eines magischen Funkensprühens im Wasser des Abends sogar im Zimmer verschaffen. Bei jedem Umrühren des Meerwassers im Glase blitzen diese einzelligen Wesen im Moment der Berührung mit dem Glasstabe hell auf, um sofort wieder in Dunkelheit zu versinken. Hundertfach sprühen die Funken im Glase und bieten einen ästhe- tischen Anblick von solcher Schönheit, daß selbst das so viel ge- schmähte „verhärtete Gemüt“ des Vivisektors davon nicht unberührt bleibt. Ehe wir uns von der Betrachtung der erregenden Wirkungen mechanischer Reize abwenden, verdient noch eine Gruppe von Reiz- wirkungen unsere Aufmerksamkeit; das sind die Folgen rhyth- misch sich wiederholender Erschütterungen. Hierbei kommen die Wirkungen, die bei einmaliger Erschütterung sich nur unvollkommen entwickeln, durch Summation in ihrem stärksten Grade zum Ausdruck, vorausgesetzt, daß die einzelnen Erschütterungsstöße einander folgen, ehe der Reizerfolg jedes einzelnen schon wieder vorübergegangen ist. Am deutlichsten aus- gesprochen finden wir diese Tatsache bei den Kontraktionsbewegun- gen, bei denen sich eine Kontraktion über die andere „superpo- niert“, so daß gar keine Expansion dazwischen Zeit hat, sich zu ent- wickeln, sondern ein vollständiger Kontrak- tionskrampf entsteht, den wir als „mechanischen Tetanus“ bezeichnen. Die Eigen- tümlichkeit des Tetanus besteht darin, daß er, obwohl distinuierlich aus lauter einzelnen Kontraktionen zusammengesetzt, doch wegen der schnellen Aufeinanderfolge derselben den Eindruck eines kontinuier- lichen Vorganges macht und infolge der Summation der Einzelkontrak- tionen zugleich eine viel stärkere Kontraktion zum Ausdruck bringt, als sie bei einer Einzelreizung zur Entwicklung kommt. Die einfachste Methode, um rhythmische Erschütterungen zu erzeugen, ist die, daß man die Ob- jekte entweder in einem flachen Näpfchen durch ein rotierendes Zahnrad mit weiten Speichen erschüttert oder auf einem dünnen Glasplättchen an dem einen Zinken einer Stimmgabel von geeigneter Tonhöhe befestigt und den anderen Zinken mit einem Geigenbogen anstreicht. Die sofort im Moment der Beendigung des Versuches angestellte Beobachtung zeigt dann, daß Amöben, Actinosphaerium und andere Rhizo- poden ihre Pseudopodien vollständig eingezogen haben und sich im Stadium stärkster Kontraktion, d.h. in mehr oder weniger vollkommener Kugelform, befinden (Fig. 194). Unterbricht man den Versuch schon A B Fig. 194. Amöbe. A Normal, B nach tetanischer Reizung auf der Stimmgabel. 454 Fünftes Kapitel. nach kurzer Dauer der Erschütterung, so kann man, je nach dem Zeitpunkt der Unterbrechung, die verschiedenen Stadien der Entwick- lung des Tetanus beobachten. Die Pseudopodien sind dann erst un- vollkommen eingezogen. Charakteristisch sind dabei die Veränderungen an langen, fadenförmigen Pseudopodien, z. B. des Actinosphaerium oder Orbitolites (Fig. 195 u. 196). Bei ganz schwachen Er- schütterungsstößen bleiben hier die Pseudopodienfäden glatt und gerade, wie sie im ungestörten Zustande waren, und ihr Protoplasma fließt langsam, aber stetig ausnahmslos in zentripetaler Richtung. Sind die Erschütterungsstöße aber heftiger, dann nehmen die vorher glatten Pseudopodien ein variköses Aussehen an, indem das zentripetal strömende Protoplasma derselben sich zu lauter kleinen Spindelchen und Kügelchen sammelt, von denen die kleineren in die nächstliegenden größeren hineinfließen, die größeren sich immer mehr dem zentralen Protoplasmakörper nähern, bis schließlich nach längerer Dauer der Einwirkung alles Protoplasma in den Zellkörper selbst hineingeflossen ist‘). Die eigentümliche Tröpfehenbildung auf den Pseudopodien ist eine bei den mit fadenförmigen Pseudopodien versehenen Rhizopoden A B C Fig. 195. Actinosphaerium. A Ungestört, B im Beginn stärkerer tetanischer Reizung, € im vollkommenen mechanischen Tetanus. allgemein verbreitete Eigentümlichkeit des stark und dauernd ge- reizten Protoplasmas, die nur ein spezieller Fall der allgemeinen Tatsache ist, daß stärkere Reize nackte Protoplasma- massen zur Annahme der Kugelform veranlassen. Das- selbe Bestreben der Kugelbildung, das alles gereizte Protoplasma als Ganzes zeigt, macht sich auch in seinen einzelnen Teilen bemerkbar?). Die Flimmerbewegung wird durch rhythmisch intermittierende Erschütterungen zu großer Energie gesteigert, so daß Infusorien, die auf diese Weise gereizt sind, noch eine beträchtliche Zeitlang nach der Reizung wie rasend durch das Wasser stürmen. Zur Entwicklung eines wirklichen Tetanus, bei dem die Wimpern in Kontraktions- 1) MAx VERWORN: „Die Bewegung der lebendigen Substanz. Eine vergleichend- physiologische Untersuchung der Kontraktionserscheinungen“, Jena 1902. 2) Vergl. hierzu die Vorgänge der Nekrobiose p. 389, Fig. 159. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 455 stellung gekrümmt stehen blieben, scheint es indessen hier nicht zu kommen, wenigstens sind solche Beobachtungen bis jetzt noch nicht gemacht worden. Die rhythmische Bewegung der Flimmerhaare bleibt dauernd bestehen und wird nur in ihrer Geschwindigkeit und Amplitude verändert. Dagegen können wir beim Muskel sehr leicht einen mechanischen Tetanus erzeugen. Vorticellen, in der oben beschriebenen Weise gereizt, verfallen sofort in Tetanus. Der Stielmuskel bleibt dauernd kontrahiert. Ja, der Tetanus ist häufig so stark, daß sich die Zell- körper der Vorticellen von den Stielen ablösen und frei durch das Wasser davonschwimmen. Kurze Zeit nach dem Aufhören der Reizung strecken sich dann die isolierten Stiele wieder, bleiben aber selten noch einige Zeit am Leben. Fig. 196. Orbitolites. Ein Teil der Schalenoberfläche mit ausgestreckten, faden- förmigen Pseudopodien. 4 Ungereizt, B nach stärkeren Erschütterungsstößen. Dem äußeren Eindruck nach könnte man verführt werden, den Tetanus der kontraktilen Substanzen für einen Lähmungsvorgang zu halten, denn die Amöbe, das Actinosphaerium, der Muskel ete. befinden sich während des tetanischen Zustandes anscheinend in völliger Ruhe und Bewegungslosigkeit, wie die gleichen Objekte, wenn etwa ein Narcoticum auf sie eingewirkt hat. Allein, beide Zustände haben durchaus nichts miteinander zu tun. Der Unterschied ist vielmehr fundamental; das zeigt eine genauere Untersuchung des Verhaltens der Stoffwechselvorgänge. Während nämlich in der Narkose die Stoffwechselvorgänge eine wirkliche Lähmung erfahren, haben die Stoffwechseluntersuchungen am tetanisierten Muskel ergeben, daß im Tetanus der Stoffwechsel bedeutend gesteigert ist. Die Menge der Zerfallsprodukte der lebendigen Substanz, wie Kohlensäure, Milch- säure etc., erfährt eine außerordentliche Zunahme; gewisse Stoffe, die im Muskel aufgehäuft sind, wie Glykogen, werden im Tetanus ver- braucht, und die Wärmeproduktion des Muskels steigt während der tetanischen Kontraktion in beträchtlichem Maße. Daraus geht hervor, 456 Fünftes Kapitel. daß im tetanischen Zustande der Lebensvorgang eine bedeutende Steigerung erfährt, daß also der Tetanus durchaus kein Lähmungs-, sondern im Gegenteil ein wirklicher Erregungsvorgang ist. Analog dem Tetanus der kontraktilen Substanzen erscheint auch die Lichtproduktion der Noktiluken bei intermittierender Reizung als ein kontinuierlicher Vorgang. Freilich nimmt dieselbe nach kurzer Zeit schon ganz bedeutend an Intensität ab: sie ermüdet'). b) Lähmungswirkungen. So mannigfaltig und weit verbreitet die erregenden Wirkungen mechanischer Reize sind, so spärlich sind bisher lähmende Wirkungen bekannt geworden, die durch mechanische Reize hervorgerufen werden, und sogar diese spärlichen Fälle sind zum Teil noch wenig untersucht. So hat HORVATH ?) und später übereinstimmend mit ihm REINkKE ?) die Angabe gemacht, daß Bakterien, wenn sie dauernd regel- mäßigen Erschütterungen in ihren Kulturen ausgesetzt werden, eine Beeinträchtigung ihrer Vermehrung erfahren, mit anderen Worten, daß eine Lähmung des Wachstums stattfindet. Später ist von anderen Seiten die Beweiskraft der betreffenden Experimente wieder angefochten worden; aber darauf hat MELTZER*) in einer ausführlichen Versuchs- reihe die Beobachtungen von HORVATH und REINKE im wesentlichen bestätigt, indem er zeigte, daß regelmäßige Vibrationen nicht bloß eine Lähmung des Wachstums, sondern unter bestimmten Verhält- nissen sogar den vollständigen Tod und körnigen Zerfall des Proto- plasmas herbeiführen können. Ferner machte ENGELMANN °) die Beobachtung, daß die Bewegung der Diatomeen und Oscillarien nach Erschütterungen stillsteht. Allein, hier bleibt .die Frage unentschieden, ob dieser Stillstand der Bewegung als Lähmungsvorgang oder vielmehr als Ausdruck tetanischer Erregung, wie etwa der Stillstand der Protoplasmabewegung bei den tetanisierten Amöben, zu deuten sei. Endlich haben wir aber in der Drucklähmung der Nerven jeden- falls einen wirklichen Lähmungsvorgang vor uns, der den Lähmungs- vorgängen, welche die Narcotica hervorrufen, an die Seite zu stellen ist. Diese Drucklähmung, die eintritt, wenn ein Nerv einige Zeit, aber nicht zu stark, komprimiert wird, ist als „Gefühl des Ein- schlafens“ der Extremitäten allgemein bekannt. Außer in den sub- jektivren Empfindungen äußert sich das „Eingeschlafensein“ darin, daß die Reizleitungsfähigkeit des gedrückten Nerven unterbrochen ist, so daß die Muskeln, die von dem betreffenden Nerven versorgt werden, eine Zeitlang nicht durch den Nerven zur Kontraktion erregt 1) MASSsART: „Sur Virritabilit@ des noctiluques‘. In Bull. scientif. de la France et de la Belgique, T. 25. 2) HoRVATH: „Ueber den Einfluß der Ruhe und der Bewegung auf das Leben“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 17, 1878. 3) J. RFINKE: „Ueber den Einfluß mechanischer Erschütterung auf die Ent- wicklung der Spaltpilze“ In PFLÜGERs Arch., Bd. 23, 1880. 4) MELTZER: „Ueber die fundamentale Bedeutung der Erschütterung für die lebende Materie“. In Zeitschr. f. Biologie, Bd. 12, 1894. 5) ENGELMANN: „Physiologie der Protoplasma- und Flimmerbewegung“. In HERMANNs Handbuch der Physiologie, Bd. 1, Leipzig 1879. Von den Reizen und ihren Wirkungen, 457 werden können. Kurze Zeit nach Aufhebung des Druckes stellt sich dann die Leitungsfähigkeit wieder ein. Damit dürften ziemlich alle Tatsachen erschöpft sein, die als Lähmungswirkungen mechanischer Reize aufgefaßt werden können. 4. Die Wirkungen thermischer Reizung. Die Anwendung der thermischen Reizung läßt bei weitem weniger Modifikationen zu als die Anwendung mechanischer oder gar chemischer Reize, denn wir können lediglich als Reiz eine Temperatur- erhöhung oder Temperaturerniedrigung auf die lebendige Substanz einwirken lassen. Rhythmische Temperaturschwankungen von einiger Geschwindigkeit lassen sich der Natur des thermischen Reizes entsprechend nicht leicht erzielen, da die Wärme zu lange Zeit braucht, um sich einem Körper mitzuteilen oder aus ihm zu ver- schwinden. Daher ist es z. B. nicht möglich, einen dem mechanischen Tetanus entsprechenden Wärmetetanus zu erzeugen. So gestaltet sich denn die thermische Reizung überaus einfach, und ebenso einfach er- weisen sich die Wirkungen derselben. Wenn wir ausgehen von der Durchschnittstemperatur, unter der sich eine Zelle normalerweise befindet, die also das Optimum dieser Lebensbedingung vorstellt, so finden wir als allgemeine Wirkung aller Temperaturveränderungen die Tatsache, daß mit steigender Temperatur die Intensität der Lebensvorgänge bis zu einem bestimmten Punkte zu-, mit sinkender Tempera- tur bis zum völligen Stillstand abnimmt. Steigt die Temperatur über das Maximum der Erregung noch weiter, so tritt eine sehr schnell zunehmende Lähmung ein. Das findet in den verschiedenartigsten Lebensäußerungen seinen Ausdruck. Diese Fundamentaltatsache aller Temperaturreizung ist, soweit die mittleren Temperaturschwankungen in Betracht kommen, in voll- kommenem Einklang mit der von van’r Horr!) für zahlreiche che- mische Prozesse nachgewiesenen Gesetzmäßigkeit, die darin besteht, daß ihre Reaktionsgeschwindigkeit mit dem Steigen der Temperatur um je 10°C auf das 2—3-fache steigt. In der Tat ist für eine ganze Reihe von speziellen Lebensäußerungen festgestellt worden, daß sie innerhalb gewisser Grenzen genau der van’r Horrschen Regel folgen. So hat z. B. CoHEN?) durch Rech- ‚nung auf Grund der von OÖ. HERTwIG gefundenen Werte gefunden, *daß die Geschwindigkeit mit der sich Fr oscheier entwickeln, der van’T Horrschen Temperaturregel sehorcht. Das gleiche hat ÄBEGG?) für die Entwicklung von Seeigeleiern auf Grund der Versuche von PETER festgestellt. Für die Kohlensäure-Assimilation in den grünen Pflanzenteilen hat Miss MATTHAELI*) dieselbe Gesetzmäßigkeit er- 1) van’r Horr: „Vorlesungen über theoretische und physikalische Chemie“, 2. Aufl., Braunschweig 1901. 2) 'COHEN: „Vorlesungen über physikalische Chemie“, 1901. 3) ABEGG in Zeitschr. f. Elektrochemie, 1905. 4) MATTHAEL in Philosophical Transactions of the Royal Soc. of London, Vol. 197, 1904. 458 Fünftes Kapitel. mittelt. Schließlich hat KAnıtz?) für die pulsierenden Vakuolen der Infusorien und für die Schlagfrequenz des Säugetierherzens auf Grund der vorliegenden Erfahrungen ebenfalls die Gültigkeit der van’T HorFr- schen Regel erwiesen. Ist also die Gültigkeit der Temperaturregel für viele spezielle Lebensäußerungen zweifellos nachgewiesen, so muß doch auf der an- deren Seite im Auge behalten werden, daß das nur immer für gewisse Breiten der Temperatur gilt. Darüber hinaus nach der positiven so- wohl wie nach der negativen Seite folgen die Lebensäußerungen der van T Horrschen Regel nicht mehr. Diese Tatsache wird aber ohne weiteres verständlich, wenn wir daran denken, daß das Leben ein aus ungemein zahlreichen chemischen Einzelprozessen bestehender Vor- gang ist, dessen einzelne Glieder in engster Abhängigkeit voneinander stehen, vor allem auch in engster Abhängigkeit bezüglich der bei ihnen beteiligten Massen. Da die an den Einzelreaktionen des Stoff- wechsels beteiligten Massen von chemischen Stoffen aber bei steigen- der oder sinkender Temperatur nicht in dem Maße zur Verfügung stehen, wie sie bei dem engen Ineinandergreifen der Prozesse gerade erforderlich sind, sondern entweder mangeln oder im Ueberfluß vor- handen sind, so muß darunter der Ablauf des gesamten Stoffwechsel- getriebes leiden. Das macht sich daher nicht bloß bemerkbar, wenn bestimmte Temperaturgrade durch weiteres Steigen oder Sinken der Temperatur überschritten werden, sondern, wie aus den Versuchen von Miss MATTHAEI hervorgeht, auch, wenn Temperaturen unterhalb dieser Grade längere Zeit einwirken. Es mögen nun eine Reihe von speziellen Erfahrungen über die erregende und lähmende Wirkung von Temperaturreizen auf verschie- dene Formen der lebendigen Substanz folgen. a) Erregungswirkungen. Für die Erregung des Stoffwechsels durch steigende Temperatur bietet das Pflanzenleben eine große Anzahl von deutlichen Beispielen, die zeigen, wie mit steigender Temperatur innerhalb be- stimmter Grenzen die Lebensäußerungen, wie Kohlensäurespaltung, Stärkebildung, Eiweißbildung etc., an Intensität zunehmen. Dabei findet man, daß die Temperaturen, mit denen die Erregung ihr Maxi- mum erreicht, nicht nur für die verschiedenen Formen der lebendigen Substanz, sondern auch für die einzelnen Teilprozesse des Stof- wechsels an demselben Objekt sehr verschieden sind. Ebenso beob- achtet man auch im Tierreich, daß mit den obigen Einschränkungen der Stoffwechsel proportional der Temperatur zunimmt, und bereits SPALLANZANI hat für die Kaltblüter, speziell für die Schnecken, gezeigt, daß der Sauerstoffverbrauch mit steigender Temperatur wächst. Es darf indessen nicht übersehen werden, daß es einen Fall gibt, in dem der Stoffwechsel umgekehrt mit abnehmender Außen- temperatur zu- und mit zunehmender abnimmt. Das ist das Ver- halten der homoiothermen (warmblütigen) Tiere. Es ist eine bekannte 1) KAnıtz: „Der Einfluß der Temperatur auf die pulsierenden Vakuolen der Infusorien“. In Biol. Centralblatt, Bd. 27, 1907. — Derselbe: „Auch für die Fre- quenz des Säugetierherzens gilt die R.G.T.-Regel“. In PFLÜGERs Arch. f. d. ges. Physiol., Bd. 118, 1907. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 459 Tatsache, daß die Warmblüter mit steigender Temperatur eine Ab- nahme des Stoffwechsels erfahren. Der Mensch hat im Winter einen viel regeren Stoffwechsel als im Sommer; er verbraucht am meisten Nahrung bei den niedrigsten und am wenigsten bei den höchsten Temperaturgraden. Dieses merkwürdige Paradoxon ist bisher noch wenig aufgeklärt, und PFLÜGER!), der sich eingehend mit dieser Frage beschäftigt hat, kommt auch nur auf Grund gewisser Hypo- thesen zu einer Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs. Das Charak- teristikum des Warmblüters liegt bekanntlich gegenüber allen anderen Tieren darin, daß er in seinem Nervensystem Mechanismen besitzt, die auf reflektorischem Wege die Temperatur des Körpers regulieren und auf gleicher Höhe erhalten, mag die Außentemperatur noch so eroßen Schwankungen unterworfen sein. Der Stoffwechsel, der ja die Quelle der Wärmeproduktion im tierischen Organismus ist, steht aber bei den Warmblütern im Dienste der Wärmeregulation. Ist die Außen- temperatur sehr niedrig, so wird auf dem Wege durch das Nerven- system reflektorisch von der Haut her der Stoffwechsel und damit die Wärmeproduktion gesteigert, so daß die stärkeren Wärmeverluste des Körpers wieder gedeckt werden, und umgekehrt, ist die Außentempe- ratur sehr hoch, so erfährt der Stoffwechsel und damit die Wärme- produktion, ebenfalls auf reflektorischem Wege, eine entsprechende Herabsetzung. Die Stoffwechselsteigerung der Zellen bei der Kälte und die Stoffwechselherabsetzung bei der Wärme wird also nicht direkt durch die Temperatur hervorgerufen, sondern durch Reize, die vom Zentralnervensystem herkommen. Aber damit ist das Paradoxon doch noch nicht beseitigt, sondern nur verschoben. Die Erregung des Zentralnervensystems, welche die Reize liefert, wird ja erst von der Körperoberfläche, von der Haut her durch Abkühlung oder Erwär- mung auf dem Wege der Temperaturnerven ausgelöst, und so bleibt uns immer noch die Frage offen, wie steigende Temperatur eine Herabsetzung und sinkende Temperatur eine Steigerung der Erregung im Zentralnervensystem hervorrufen kann. Um diese Frage in Ueber- einstimmung mit dem allgemeinen Temperaturgesetz zu lösen und so das anscheinende Paradoxon zu beseitigen, hat sich PFLÜGER?) fol- sende Hypothese gebildet. Er stellt sich vor, „daß das Zentralorgan des Temperatursinnes zwei Substanzen enthalte als Substrate zweier verschiedener spezifischer Energien; die Erregung der einen dieser Substanzen offenbart sich dem Bewußtsein als Wärmegefühl, die Er- reeung der anderen als Kältegefühl. Man hätte sich dann noch weiter vorzustellen, daß beide Substanzen in solchen Leitungsbeziehungen stehen, denen zufolge die Erregung der einen Substanz abnimmt, wenn die der anderen steigt, und umgekehrt“. Solche Verhältnisse kennen wir in der Tat mehrfach in unserem Zentralnervensystem. Unter dieser Voraussetzung ist es klar, daß mit steigender Außen- temperatur das Wärmezentrum erregt und umgekehrt das Kältezentrum gehemmt werden muß, während mit sinkender Temperatur das Wärme- zentrum gehemmt und umgekehrt das Kältezentrum erregt wird. Steht daher das Kältezentrum mit den den Stoffwechsel beeinflussenden Nervenbahnen in Verbindung, so muß Hemmung des Kältezentrums 1) PFLÜGER: „Ueber Wärme und Oxydation der lebendigen Materie“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 18, 1878. 2) PFLÜGER, 1. c. 460 Fünftes Kapitel. durch erhöhte Außentemperatur eine Herabsetzung des Stoffwechsels zur Folge haben, und umgekehrt. Indessen ist diese Vorstellung doch rein hypothetisch. Die Steigerung der Lebensäußerungen durch zunehmende Tem- peratur macht sich auch an den Formbildungsvorgängen be- merkbar, wo sich diese überhaupt deutlich ausprägen, also vor allem an Organismen, die in der Entwicklung begriffen sind, an Zellen, deren lebendige Substanz sich vermehrt und fortpflanzt. So fangen Pflanzensamen erst bei einer bestimmten Temperatur an zu keimen: der Mais etwa bei 9° C, Dattelkerne erst bei etwa 15° Ct). Von diesen Punkten an nimmt mit steigender Temperatur das Wachstum immer mehr zu bis etwa gegen 30—40° C. Ebenso sind zahlreiche Beobachtungen an Bakterien gemacht worden, die dasselbe Verhältnis gezeigt haben. Der Heubacillus z. B. wächst nach den Unter- suchungen von BREFELD erst von einer Temperatur von 6° C an und vermehrt sich mit steigender Temperatur immer schneller bis zu 30° C. Der Tuberkelbaeillus beginnt, wie KocH gezeigt hat, erst bei 28° C zu wachsen und pflanzt sich am schnellsten fort bei 37—38 °C. Fig. 19”. Heizbarer Objekttisch nach PFEIFFER. Daß der Tuberkelbacillus erst bei so hoher Temperatur anfängt zu wachsen, ist auf seine parasitische Lebensweise in den Geweben der warmblütigen Tiere zurückzuführen, mit deren Körpertemperatur auch das Optimum seines Wachstums zusammenfällt. Eine Anzahl ähn- licher Beispiele aus dem Leben der Bakterien hat DE Bary?) in seinen Vorlesungen über Bakterien zusammengestellt. Untersuchungen an anderen Objekten, wie z. B. an tierischen Eizellen, Leukocyten etc., würden voraussichtlich ganz analoge Resultate ergeben. Am unmittelbarsten aber machen sich wieder die erregenden Wirkungen steigender Temperatur am Energieumsatz bemerkbar, insbesondere an der Bewegung. Auch hier zeigt sich fast allgemein eine Zunahme der Bewegung mit steigender Temperatur. Um diese Tatsache an einzeln lebenden Zellen zu verfolgen, können wir uns am besten des von PFEIFFER zu diesem Zwecke konstruierten heizbaren Objekttisches bedienen, der aus einer flachen viereckigen Glaskammer be- steht, die an ihrer Oberseite näpfchenförmige Vertiefungen (Fig. 197 N) trägt. In diese Vertiefungen kann entweder der Tropfen mit den zu untersuchenden einzelligen Organismen direkt hineingebracht werden 1) Juzıus Sachs: „Vorlesungen über Pflanzenphysiologie“, Leipzig 1882. 2) DE BArYy: „Vorlesungen über Bakterien“, 2. Aufl., Leipzig 1887. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 461 oder, was in vielen Fällen zweckmäßiger ist, es kann auf diese Ver- tiefungen ein Deckglas mit dem an seiner Unterseite hängenden Tropfen aufgelegt werden, so daß man selbst mit den stärksten Ver- größerungen an die Objekte herangehen kann. Geheizt resp. abge- kühlt wird der ÖObjektträger dann durch Wasser von bestimmter Temperatur, das man aus einer erhöht stehenden Ausflußflasche in in — Fig. 198. Vorrichtung zur mikroskopischen Untersuchung von ein- zelligen Organismen auf dem heizbaren OÖbjekttische. der auf Fig. 198 angegebenen Weise durch die Glaskammer hindurch- fließen läßt. Die Temperatur im Innern der Kammer wird mittelst eines Thermometers (Fig. 197 Th) gemessen. Für die Feststellung der exakten Temperatur im Tropfen sind daher empirisch festzustellende Korrekturen vorzunehmen. Auf diese Weise können wir uns von der Tatsache überzeugen, daß die Protoplasmabewegung der Amöben, wie bereits ENGEL- MANN!) fand, mit steigender Temperatur immer lebhafter wird, und daß diese Protisten, wie KÜHnE?) zuerst feststellte, bei 35° C in 1) ENGELMANN: „Physiologie der Protoplasma- und Flimmerbewegung“. In HERMANNs Handbuch d. Physiol., Bd. 1, 1879. 2) KÜHNE: „Untersuchungen über das Protoplasma und die Kontraktilität‘“ Leipzig 1869. 462 Fünftes Kapitel. heftige Kontraktion verfallen, indem sie Kugelform annehmen, wie nach heftiger chemischer oder mechanischer Reizung (vergl. Fig. 194 B p. 455). Ganz analog verhalten sich die anderen Rhizopoden, wie Actinosphaerium, Orbitolites etc. (vergl. Fig. 195 und 196 p. 454 und 455), sowie die Leukocyten der verschiedenartigen Tiere, und auch die Protoplasmaströmung der Pflanzenzellen zeigt dieselben Verhältnisse. MAx SCHULZE!) und NÄGELI?) maßen die Geschwindigkeit der Körnchenströmung in den Protoplasmafäden der Zellen von Tradescantia und Nitella bei zunehmender Tempe- ratur und sahen, wie sie mit steigender Temperatur immer größer wird, und KÜHne (]. c.) stellte fest, daß das Protoplasma in den Zellen der Staubfädenhaare von Tradescantia bei einer Tempe- ratur von 45°C heftige Kontraktionsbewegungen zeigt, indem es sich in der typischen Weise zu Kugeln zusammenballt (vergl. Fig. 47 p. 131). Bei der erregenden Wirkung steigender Temperatur auf die Protoplasmabewegung ist eine wichtige Tatsache zu berücksichtigen, die für die Erklärung mancher, noch später zu behandelnder Beobach- tungen von großer Bedeutung ist: das ist die Tatsache, daß die beiden Phasen derBewegung, die Expansionsphase und die Kontraktionsphase, durchaus nicht gleichmäßig er- regt werden?). Man kann diese Tatsache am besten an marinen Rhizopoden mit langen, fadenförmigen Pseudopodien feststellen, bei denen die Protoplasmateilchen einen sehr langen Weg zurückzulegen haben. Beobachtet man z. B. die Wirkung steigender Temperatur auf Rhizoplasma (Fig. 147 p. 357), so sieht man, daß bis zu etwa 31—32° C hinauf zwar beide Phasen mehr und mehr erregt werden, so daß die Protoplasmabewegung beschleunigt wird, daß aber dabei stets die Expansionsphase die Kontraktionsphase überwiegt, so daß sich die Pseudopodien mehr und mehr und immer reichlicher ausstrecken. Bei etwa 31—32° C ist die Erregung beider Phasen gleich stark. Steigert man die Temperatur noch mehr, so sieht man, daß jetzt die Kontraktionsphase mehr und mehr die Expansion über-: wiegt, und daß bei sehr langsamer Zunahme der Temperatur bis gegen 39 und 40° C hin die Pseudopodien schließlich ganz ein- gezogen werden. Die Erregungskurven für die Expansionsphase und Kontraktionsphase fallen also nicht zusammen, gehen auch nicht parallel, sondern haben beide an verschiedenen Stellen ihr Maximum. Zweifellos ist ein ähnliches Verhalten auch bei anderen kontraktilen Objekten und im Gebiete anderer Reize zu beobachten, und es wäre eine sehr dankbare Aufgabe, in dieser Richtung weitere Studien zu machen. Die Flimmerbewegung wird, wie ENGELMANN*) an Flimmer- epithelien und RosspBAcH°’) an Infusorien beobachtet haben, mit steigender Temperatur ebenfalls mehr und /mehr bis zu einem be- 1) MAx SCHULTZE: „Das Protoplasma der Rhizopoden und der Pflanzenzellen“, Leipzig 1863. 2) NÄGELI: „Die Bewegung im Pflanzenreiche“. Beiträge zur wissensch. Botanik, Heft 2, 1860. 3) MAx VERWORN: „Erregung und Lähmung“. Vortrag, gehalten auf d. 68. Vers. deutsch. Naturf. u. Aerzte zu Frankfurt a. M., 1896. — Derselbe: „Zellphysiologische Studien am Roten Meer“. Sitzungsber. d. Kgl. Preuß. Akad. d. Wiss., 46, 1896. 4) ENGELMANN: |. c. 5) RossBACcH: „Die rhythmischen Bewegungserscheinungen der einfachsten Organismen und ihr Verhalten gegen physikalische Ägentien und Arzneimittel‘, 1871. In Arbeiten des zool.-zoot. Inst. zu Würzburg, 1874. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 463 stimmten Grade erregt. Ein bequemes Objekt für die Beobachtung der Flimmerbewegung eines Epithels liefert uns die Rachenschleimhaut des Frosches. Es gelingt leicht, ein etwa 1—2 Quadratzentimeter großes Stück dieser Flimmerhaut, deren Wimperschlag nach der Speiseröhre hin gerichtet ist, vom Gaumen loszulösen und abzuschneiden. Spannen wir dieses Stück dann mit vier Nadeln auf einem Korkrahmen (Fig. 199) aus und bedecken wir die ausgespannte Flimmerschleimhaut mit einem Deckgläschen, so können wir an diesem Objekt, wenn es vor Vertrocknung geschützt wird, tagelang die Flimmerbewegung be- obachten und ihre Geschwindigkeit, sei es direkt unter dem Mikro- skop, sei es au dem Fortgleiten aufgelegter Blutgerinnsel oder Kohlenstaubpartikelchen, untersuchen. So ist es leicht, festzustellen, wie die Geschwindigkeit und Energie der Bewegung mit steigender Temperatur wächst. Ebenso leicht und vielleicht noch augenfälliger kann man an Infusorien auf dem heiz- baren Objekttisch die Flim- merbewegung und ihre Er- regung durch steigende Temperatur beobachten. RoSSBACH, der zuerst diese Untersuchungen an ver- schiedenen Wimperinfuso- rien gemacht hat, beschreibt, wie die Flimmerbewegung dieser Protisten an dGe- schwindigkeit immer mehr zunahm, so daß die Infusorien bei 25° C „pfeilschnell hin und her zu schießen“ begannen, bis ihre Bewegungen bei 30—35° C förmlich rasend wurden. Analog verhält sich schließlich auch der Muskel. Hängen wir z. B. einen Froschmuskel in eine Kochsalzlösung von 0,75 Proz., deren Temperatur schnell gesteigert wird, so verkürzt sich der Muskel von etwa 28° C an mit zunehmender Temperatur immer mehr, bis seine Kontraktion bei etwa 45° C ihren Höhepunkt erreicht. Tauchen wir aber den Muskel plötzlich in eine Kochsalzlösung von 45° C, so tritt sofort eine plötzliche Kontraktion ein. Auch die Erregbarkeit des Muskels wird mit steigender Temperatur erhöht. So finden wir in der lebendigen Natur allgemein verbreitet die Tatsache, daß innerhalb gewisser Gren- zen steigende Temperatur erregend auf die Lebensvor- gänge wirkt. _ III — = 1 9 Fig. 199. Rachenschleimhaut des Frosches auf einen Korkrahmen gespannt. b) Lähmungswirkungen. Die entgegengesetzten Wirkungen wie die steigende hat die sinkende Temperatur. Wenn wir von der Durchschnittstemperatur, unter der sich ein Organismus normalerweise befindet, abwärts- gehend die Temperatur immer mehr und mehr herabsetzen, so finden wir fast durchgehends, daß auch die Lebensäußerungen an Energie mehr und mehr abnehmen, und daß sie von einem be- stimmten niedrigen Temperaturgrade an, der für die verschiedenen Organismen und für die verschiedenen Lebensäußerungen sehr ver- schieden hoch liegt, gar nicht mehr wahrnehmbar sind. So sehen 464 j Fünftes Kapitel. wir die meisten Pflanzen im Winter ihren Stoffwechsel einstellen, Seeigeleier, die in Teilung begriffen waren, bei einer Abkühlung auf 2—3° C in ihrer Entwicklung stillstehen, Amöben bei wenig über 0° GC ihre Bewegung sistieren und, wenn die Abkühlung schnell er- folgt, in der Form, die sie gerade hatten, erstarren (Fig. 200 0). Das Protoplasma wird bei einem bestimmten niederen Temperatur- grad kältestarr. Indessen genügt eine Erwärmung über diesen Punkt, um die Kältestarre wieder zu lösen und die Lebensäußerungen wieder sichtbar auftreten zu lassen. Wird dagegen die Temperatur unter diesen Punkt noch mehr herabgesetzt, so gelangen wir schließ- lich an einen Temperaturgrad, bei dem die Lebensfähigkeit vernichtet wird, von dem an keine Erwärmung mehr das Leben zurückrufen kann. Dieses Temperaturminimum liegt freilich bei den verschiedensten Organismen in sehr verschiedener Höhe. So hat, wie wir sahen, KÜHNE gezeigt, daß Amöben schon beim Einfrieren, also bei Abkühlung bis auf wenig unter 0°C sterben, während PICTET und MACFADYEN für Bakterien fanden, daß sie eine Abkühlung auf mehr als --200 bis —250° C ertragen können, ohne ihre Le- bensfähigkeit zu ver- verlieren!). Die Frage, ob bei der Abkühlung irgendwelcher leben- digen Substanz einmal einPunkt erreicht wird, an dem die Lebens- prozesse vollkom- men stillstehen, ohne daß die Lebensfähig- keit erloschen ist, läßt sich zurzeit nicht ent- scheiden. Vorläufig fehlen noch die Ex- perimente, um diese Frage sicher zu be- antworten ?). Fig. 200. Körperformen der Amoeba limax bei Wenn im allge- verschiedenen Temperaturen: A bei 25°C. Die meinen die Intensi- Amöben haben langgestreckte Keulenform und zeigen leb- tät der Lebensprozesse hafte Protoplasmaströmung; B bei 40°C. Die Amöben mit sinkender Tempe- haben Kugelform angenommen und verharren in Wärme- 2 starre; C bei 2°C. Die Amöben zeigen einen klumpigen ratur abnimmt, so darf Zellkörper, aus dem zahlreiche kleine Pseudopodien hervor- doch nicht übersehen ragen. Die Bewegung ist nur bei schr langdauernder Be- werden, daß es einzelne obachtung noch bemerkbar. merkwürdige Fälle gibt, in denen diese Regel keine Gültigkeit zu haben scheint. So ist es seit längerer Zeit bekannt, daß die Erregbarkeit der motorischen Nerven beim Frosch deutlich zunimmt, wenn man den Frosch einige Zeit unter niedriger 4 1) Vergl. p. 343. 2) Vergl. p. 345. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 465 Temperatur hält. Auch die Erregbarkeit des Rückenmarks solcher Kaltfrösche ist ungeheuer gesteigert, wie BIEDERMANN!) vor einigen Jahren gezeigt hat. Reizung der sensiblen Nerven, die bei Fröschen unter mittlerer Temperatur überhaupt keine Reflexbewegung hervor- zurufen imstande ist, erzeugt bei Kaltfröschen unter Umständen so- gar tetanische Krämpfe. Indessen haben die neueren Untersuchungen FRÖHLICHs ergeben, daß es sich hierbei nur um eine scheinbare Erregbarkeitssteigerung handelt, auf deren Genese weiter unten noch näher eingegangen werden soll. Auch an gewissen Infusorien wirkt, wie PÜTTER?) fand, Abkühlung ungemein stark erregend. So wird z. B. bei Stylonychia die Erregung des Wimperschlages durch Ab- kühlung von 15° bis auf 6° zu einer sonst nie erreichbaren Höhe gesteigert, die bei 6° ihr Maximum hat, von da an aber schnell ab- nimmt bis zu 4°, wo bereits der Tod der Zelle durch körnigen Zer- fall erfolgt. Es bleibt vorläufig unaufgeklärt, wie hier diese eigen- tümlichen Tatsachen zu verstehen sind. Hier sind zunächst noch weitere Erfahrungen nötige. Immerhin sind solche erregenden Wir- kungen niedriger Temperaturen bisher nicht in größerer Zahl bekannt. Die gewöhnliche Wirkung von Temperaturerniedrigungen ist jeden- falls die lähmende. Die lähmenden Wirkungen der Kälte sind aber nicht die einzigen Lähmungswirkungen, die durch Temperaturveränderungen herbei- geführt werden. Ebenso wie hohe Kältegrade, lähmen auch hohe Wärmegrade die Lebensäußerungen. Wir haben gesehen, daß eine Steigerung der Temperatur im allgemeinen zunächst erregend wirkt, und daß die Lebensprozesse bei einer Temperatur von bestimmter Höhe sogar einen stürmischen Verlauf nehmen können, wir haben aber auch bereits gesehen, daß, wenn wir über diesen Punkt noch mit der Temperatursteigerung hinausgehen, die Intensität der Lebens- prozesse plötzlich außerordentlich schnell abnimmt und die Lebens- äußerungen unmerkbar werden. Seeigeleier, die in Teilung oder Be- fruchtung sich befinden, über 30° C erwärmt, verharren in dem Moment der Veränderung, in dem sie sich gerade befanden: Amöben, über 35° C erwärmt, verharren in ihrem kugelförmigen Zustande, die Wimpern der Flimmerzellen bleiben bei der gleichen Temperatur in stark gekrümmter Stellung, d. h. im Kontraktionszustande stehen, kurz, das Protoplasma verfällt in Wärmestarre (Fig. 200 5). Werden die Objekte nach sehr kurzer Einwirkung dieser hohen Temperaturen wieder abgekühlt, so erholen sie sich langsam ; dauert die Einwirkung aber zu lange, oder steigt die Temperatur noch ein wenig, so ist eine Rückkehr zum Leben ausgeschlossen. Wärmestarre sowohl wie Kältestarre sind Lähmungsvorgänge. Es ist daher unzweckmäßig und erweckt unrichtige Vorstellungen, wenn man für Kältestarre und Wärmestarre auch den Ausdruck Kältetetanus und Wärmetetanus anwendet, wie das bisweilen geschehen ist. Die Starre ist gerade das Gegenteil vom Tetanus: Die Starre ist ein Lähmungs-, der Tetanus ein Erregungsvorgang. Ein Kälte- oder Wärmetetanus kann überhaupt nicht erzeugt werden, da zum Begriff 1) BIEDERMANN: „Beiträge zur Kenntnis der Reflexfunktion des Rückenmarkes“. In PFLÜGERs Arch. Bd. 80, 1900. 2) PÜTTER: „Studien über Thigmotaxis bei Protisten“. In Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abt., Jahrg. 1900, Suppl. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 30 466 Fünftes Kapitel. des Tetanus das rhythmische Intermittieren des Reizes gehört, das mit Temperaturreizen wohl kaum erzielt werden kann. Eine Vermischung beider Begriffe kann daher nur zu irrtümlichen Auffassungen führen. So ist das Leben zwischen zwei Temperaturpunkte, den Punkt der Kältestarre und den Punkt der Wärmestarre, eingeschlossen, an denen die Lebensprozesse ein Minimum haben oder ganz stillstehen. Zwischen diesen Punkten aber spielen sich die Lebensvorgänge in wahrnehm- barer Weise ab, und zwar in den meisten Fällen um so lebhafter, je mehr die Temperatur vom Punkt der Kältestarre an steigt, bis zu einem Optimum, das näher dem Punkte der Wärmestarre als dem der Kältestarre gelegen ist. Am Temperaturpunkt des Optimums ist die Intensität der einzelnen Teilprozesse des Stoffwechsels derart, daß alle diese Einzelprozesse harmonisch zusammenwirken und die Inten- sität des gesamten Lebensvorgangs auf der größten dauernd mög- lichen Höhe erhalten. Vom Optimum an steigt zwar die Intensität gewisser Teilprozesse des Stoffwechsels, vor allem der Dissimilations- prozesse mit zunehmender Temperatur noch beträchtlich weiter an, aber andere Teilprozesse des Stoffwechsels erfahren nicht die gleiche Intensitätssteigerung, teils weil nicht die genügenden Massen der zu den Kaltestarre Wärmestarre Fig. 201. Kurve der Erregung bei steigender Temperatur. Die Abszisse gibt die Temperatur, die Ordinaten die Erregung an. Reaktionen nötigen Stoffe zur Verfügung stehen, wie z. B. der Sauer- stoff, teils weil sie nicht genau den gleichen Temperaturkoöffizienten haben. Auf diese Weise entstehen sehr schnell Mißverhältnisse in dem Ablauf der einzelnen Teilprozesse des Stoffwechsels, die mit steigender Temperatur und mit andauernder Einwirkung überoptimaler Temperaturen sehr schnell zum Tode führen. Hätten wir daher einen exakten Maßstab für die Intensität des Lebensvorganges in seiner (Gesamtheit, so wie wir ihn für einzelne Teilprozesse haben, so würden wir den Ablauf des Lebens in seiner Gesamtheit in Form einer Kurve darstellen können, deren Abszisse die Temperatur, deren Ordinaten die Intensität angeben. Diese Kurve würde im wesentlichen die Form von Fig. 201 haben. Indessen eine solche Kurve läßt sich in mathe- matischer Genauigkeit eben deshalb nicht liefern, weil die einzelnen Teilprozesse des Lebensvorgangs mit zunehmender Temperatur eine verschiedene Aenderung erfahren. Diese Kurve kann also immer nur als Schema für einen bestimmten Teilprozeß gelten. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 467 5. Die Wirkungen strahlender Reize. Kannte bis vor kurzer Zeit die Physiologie nur Licht- und Wärme- strahlen als Reize, so hat sich das in neuerer Zeit vollständig ge- ändert. Die neu entdeckten Strahlenarten wie die RÖNTGEN-Strahlen und BEQUEREL-Strahlen haben sich ebenfalls als wirksam auf die lebendige Substanz erwiesen. Allerdings sind die Erfahrungen über die physiologischen Wirkungen der neuen Strahlenarten noch sehr spär- lich und die Angaben zum Teil direkt widersprechend. Immerhin ist es nötig, heute außer den sehr eingehend studierten Wirkungen der Lichtstrahlen auch die bisher bekannt gewordenen Wirkungen der anderen Strahlenarten zu berücksichtigen, soweit einigermaßen ge- sicherte Erfahrungen darüber vorliegen. Die Wirkungen der Lichtstrahlen. Wenn in der Physiologie vom Lichtreiz gesprochen wird, so ist darunter nur die chemische, nicht die thermische Wirksamkeit der Lichtstrahlen verstanden. In diesem Sinne gefaßt, scheint der Licht- reiz auf den ersten Blick den anderen Reizqualitäten in gewisser Weise eigentümlich gegenüber zu stehen, insofern, als nach den bis- herigen Erfahrungen nicht alle lebendige Substanz auf sichtbare Licht- strahlen reagiert, während chemische und mechanische, thermische und ealvanische "Reize auf alle lebendigen Substanzen Wirkungen hervorrufen. Bei den höheren Tieren sind es fast ausschließlich die Sinnes- zellen der Sehorgane, von denen wir die Fähigkeit, auf sichtbares Licht zu reagieren, kennen. Die meisten Gewebezellen sind, soweit bisher die Untersuchungen reichen, nicht für sichtbare Lichtstrahlen erregbar. Dagegen unter den Einzelligen besitzen viele, auch solche, die keine besonders für die Lichtperzeption entwickelten Organoide haben, die Fähigkeit, auf sichtbare Lichtstrahlen zu reagieren, und bei den chlorophylihaltigen Protisten und Pflanzen schließlich ist die Lichtreizbarkeit allgemein verbreitet. Demnach gibt es genug Zellformen, wie z. B. die Mehrzahl aller Gewebezellen und aller Wimper-Infusorien, die nach unseren bisherigen Erfahrungen durch sichtbare Lichtstrahlen, sofern deren thermische Wirkung ausgeschaltet ist, nicht im geringsten affıziert werden. Allein man hat in neuerer Zeit eine Beobachtung gemacht, die im Hinblick auf die Frage nach der Lichtreizbarkeit solcher Zellen, die bisher für unempfindlich galten, doch Beachtung verdient. Seit der Entwicklung unserer modernen Elektrizitätstechnik hat man Mittel kennen selernt, um elektrisches Licht von ganz unge- heurer Stärke zu erzeugen, "Licht, das an Intensität die Strahlen des Sonnenlichtes weit hinter sich läßt, Licht, das mit dem Beiwort „blendend“ nicht mehr genug charakterisiert ist. „Zerstörend“ oder „zerleuchtend“ müßte man sagen, denn in Elektrizitätswerken, in denen Arbeiter solchem Lichte ausgesetzt sind, hat man mehrfach beobachtet, daß die Haut dieser Leute an den unbedeckten Körper- stellen echte Nekrose-Prozesse zeigt. Die Zellen der Epidermis sterben ab, die oberen Hautschichten schälen sich, und die tieferen Hautschichten zeigen heftige Entzündungen und Geschwürsbildungen, ähnlich wie bei Verbrennungen. Und dennoch sind es nicht die ther- mischen Wirkungen des Lichtes, die in diesen Veränderungen zum 30* 468 Fünftes Kapitel. Ausdruck kommen, sondern die chemischen Wirkungen der kurz- welligen Strahlen des Spektrums, wie man durch Zwischenschaltung von wärmeabsorbierenden Medien feststellen konnte. Es kann also kein Zweifel sein, daß wir es hier mit einer sehr starken Lichtwirkung zu tun haben an Zellen, deren lebendige Substanz durch die Intensität der Lichtstrahlen, die unter gewöhnlichen Verhältnissen die Erdober- fläche treffen, gar nicht oder nur in sehr geringem Maße affiziert wird. Diese Tatsache ist sehr beachtenswert, denn es muß sich nun- mehr die Frage erheben, ob nicht auch Zellformen, deren lebendige Substanz als ganz unempfänglich für Licht von unseren gewöhnlichen Intensitätsgraden gehalten worden ist, bei höheren Lichtintensitäten doch etwa auf den Lichtreiz reagieren, ja ob nicht schließlich alle lebendige Substanz ebenso, wie sie auf Wärme reagiert, auch durch Licht beeinflußt wird, nur in verschiedenem Grade. Besitzt diese Vermutung an sich schon einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, da ja besonders die kurzwelligen Strahlen des Spektrums sehr intensive chemische Wirkungen hervorrufen, so ist sie in neuester Zeit durch die grundlegenden Arbeiten von HERTEL!) zur Gewißheit geworden. HERTEL hat nämlich, von dem Gedanken ausgehend, daß gerade die kurzwelligen nach dem violetten Teil des Spektrums hin gelegenen Lichtstrahlen sich durch besonders starke chemische Wirkungen auszeichnen, geprüft, ob nicht die noch kurz- welligeren ultravioletten Strahlen, die über den sichtbaren Teil des Spektrums hinausliegen, auch auf Formen der lebendigen Substanz wirken, die sonst von den sichtbaren Strahlen gar nicht beeinflußt werden. In der Tat ist ihm dieser Nachweis in glänzender Weise gelungen. Er bediente sich für seine Untersuchungen des von einem elektrischen Lichtbogen entworfenen Magnesiumspektrums, und zwar der weit im ultravioletten Teil liegenden Strahlen von 280 »» Wellen- länge. Mit diesen Strahlen vermochte er an den verschiedenartigsten lebendigen Objekten, wie Bakterien, Infusorien, Cölenteraten, Wür- mern, Mollusken, Amphibien, Pflanzenzellen teils erregende, teils lähmende Wirkungen hervorzurufen. Selbst die histologischen Be- standteile des Nervensystems konnten direkt durch diese Strahlen be- einflußt werden. Es ist nun höchst interessant, daß HERTEL auch den Grund auffinden konnte, weshalb die sichtbaren Lichtstrahlen in so vielen Fällen keine Reizwirkungen hervorrufen. Er fand nämlich den Grund einfach darin, daß die langwelligeren Strahlen des Spektrums in den meisten Fällen viel weniger oder gar nicht von der lebendigen Substanz absorbiert werden. Dazu kommt noch, daß auch die Intensität eine große. Rolle spielt, und daß bekanntlich im Spektrum die einzelnen Lichtstrahlenarten sehr verschiedene In- tensität haben. HERTEL kommt daher zu dem Ergebnis, „daß die physiologische Wirkung der Strahlen durchaus nicht 1) HERTEL: „Ueber Beeinflussung des Organismus durch Licht, speziell durch die chemisch wirksamen Strahlen. Vergleichend-physiologische Untersuchungen“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 4, 1904. — Derselbe: „Ueber physiologische Wir- kung von Strahlen verschiedener Wellenlänge. Vergleichend-physiologische Unter- suchungen“. II. Mitteilung. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 5, 1905. — Derselbe: „Ueber die Einwirkung von Lichtstrahlen auf den Zellteilungsprozeß. Vergleichend-physiologische Untersuchungen“. Ebenda. — Derselbe: „Einiges über die Bedeutung des Pigmentes für die physiologische Wirkung der Lichtstrahlen. Vereleic enden Untersuchungen“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, 6, 19072 Von den Reizen und ihren Wirkungen. 469 an bestimmte Spektralgebiete gebunden ist, sondern daß allgemein strahlende Energie an sich das wirk- same Prinzip ist. Eine Funktion der Wellenlänge ist die physiologische Wirkung nur, weil sie natürlich einmal in bestimmtem Abhängigke itsverhältnis steht von der in den einzelnen Spektralbezirken sehr vari- ierenden Gesamtintensität der Strahlung und zweitens vor allem, weil die Aufnahme emöglichkeit der Strahlen durch die Or ganismen umgekehrt proportional der Wellenlänge ist.“ Schließlich haben die ausgezeichneten Untersuchungen HERTELS auch höchst interessante Aufschlüsse über den Chemismus der Strahlen- wirkung in der lebendigen Substanz ergeben. Aus den Erfahrungen der Chemie ist bekannt, daß die chemisch wirksamen Lichtstrahlen besonders Reduktionsprozesse vermitteln, wie ja z. B. die Reduktion von Silbersalzen zeigt, die in der photographischen Technik eine so fundamentale Rolle spielt. HERTEL fragte sich daher, ob nicht etwa auch die Wirkung der Lichtstrahlen auf die lebendige Substanz in erster Linie auf Reduktionsprozessen beruhe und er konnte in der Tat durch eine glänzende Reihe von ebenso einfachen wie planmäßig ausgedachten Experimenten die Richtigkeit dieser Annahme belegen. Zunächst überzeugte er sich, daß die Strahlen von 280 wu. ebenfalls Sauerstoff leicht abgebende Verbindungen reduzieren. Er benutzte dazu das NYLANDERsche Reagens, das bekanntlich zum Nachweis von Traubenzucker verwendet wird!). In der Tat schwärzte sich ein Tropfen dieses Reagens bei Bestrahlung momentan. Dann prüfte er die reduzierende Wirkung seiner Strahlen an Blut. Es trat eine deutliche Reduktion des Oxyhämoglobins ein. Weiterhin suchte er Reduktionsvorgänge in lebendigen Zellen durch die Strahlen des Maenesiumlichtes auszulösen und zugleich mit einem geeigneten Indikator sichtbar zu machen. Alizarinblau färbt, wenn man es einem lebenden Tier einspritzt, gewisse Gewebezellen, wie z. B. die Zellen des Zentralnervensystems intensiv blau, ohne sie jedoch zu schädigen. Durch Reduktion wird Alizarinblau in das farb- lose Alizarinweiß übergeführt. Um diese Reduktion in vitro her- beizuführen, erwiesen sich die von HERTEL benutzten Strahlen nicht intensiv genug. Dagegen gelang es HERTEL zu zeigen, daß die lebenden Zellen des Gehirns von Tieren, denen Alizarinblau in- jiziert worden war, unter dem Einfluß der Bestrahlung der operativ freigelegten Grehirnoberfläche das Alizarinblau zu Alizarinweiß redu- zierten. Diese Versuche legten es nahe, daß die Reduktion hier durch Vermittelung eines katalytisch wirkenden Stoffes erfolgt, ähnlich wie die Reduktion des Wasserstoffsuperoxyds durch Platinmoor ?) oder durch das organische Enzym „Katalase“. HERTEL prüfte daher, ob die Maenesiumstrahlen die Wirkung. der Katalase auf Wasserstoffsuper- oxyd etwa steigerten. Das Wasserstoftsuperoxyd direkt wird von den Strahlen, wie er sich vorher überzeugte, nicht reduziert, dagegen konnte er sofort eine lebhafte Steigerung der Gasentwicklung be- obachten, wenn er die Wasserstoffsuperoxyd-Katalyse durch Katalase herbeiführte und die Flüssigkeit dann mit Magnesiumlicht bestrahlte. 1) Vergl. p. 123. 2) Vergl. p. 184 u. 186. 470 Fünftes Kapitel. Daraus geht also hervor, daß die katalytische Spaltung von Wasser- stoffsuperoxyd beträchtlich durch kurzwellige Lichtstrahlen gesteigert wird, wenn sie durch einen an sich schon katalytisch wirkenden Stoff in Gang gebracht ist. Alle diese Tatsachen machen es im höchsten Grade wahrscheinlich, daß die allgemeine Wirkung der Lichtstrahlen auf die lebendige Substanz in erster Linie auf einer Beeinflussung des Sauerstoffwechsels b eRU h ir 4 Nach diesen allgemeinen Tatsachen mögen nun eine Reihe von speziellen Beispielen aus dem Gebiete der Lichtreizwirkungen folgen. a) Erregungswirkungen. Die Stoffwechsel-Wirkungen des Lichtes sind es, welche der ganzen organischen Welt, die heute die Erdoberfläche in unab- sehbarer Formenfülle bevölkert, das Leben gewähren. Nicht mit Un- recht, wie wir sahen, haben die alten Naturphilosophen in gewissem Sinne die Tiere als Parasiten der Pflanzenwelt charakterisiert. Zwar nähren sich die Fleischfresser von tierischen Stoffen, aber diese tierische Nahrung stammt von Pflanzenfressern, und so sind auch die Fleischfresser auf die Pflanzenwelt angewiesen. Die Pflanzenwelt aber kann nicht existieren ohne die Einwirkung des Lichtes. Die Sonnenstrahlen liefern den Reiz, der die Chlorophylikörper der Pflanzenzelle veranlaßt, die Kohlensäure der Luft in Kohlenstoff und Sauerstoff zu spalten und aus dem Kohlenstoff mit dem durch die Wurzeln aufgenommenen Wasser synthetisch die erste organische Substanz, das erste Produkt des assimilatorischen Stoffwechsels, die Stärke, zu erzeugen. Noch mehr. Die Sonnenstrahlen geben auch den Anstoß zur Entstehung des grünen Chlorophylifarbstoffes selbst, wie aus der Tatsache hervorgeht, daß Pflanzensamen, die man im Dunkeln keimen läßt, ein weißes oder ein hellgelbes Pflänzchen ent- wickeln, das zwar auf Kosten der in den Pflanzensamen aufgespeicherten Reservestoffe eine Zeitlang wächst, das aber erst ergrünt, wenn es dem Lichte ausgesetzt wird. Erst nach dem Ergrünen ist die Pflanze imstande, Kohlensäure zu spalten und Stärke zu bilden. So ist die Entstehung des ersten organischen Produktes, aus dem alle andere organische Substanz sich herleitet, die Wirkung des Lichtreizes der Sonnenstrahlen. Diese assimilatorische Wirkung des Sonnenlichtes kommt nicht allen Lichtstrahlen in gleichem Maße zu. Wie wir bereits an anderer Stelle!) gesehen haben, sind es die Strahlen des roten Lichtes, die von allen bei gleicher Intensität die stärkste assimilatorische Wirkung entfalten. Von den objektiv wahrnehmbaren Wirkungen des Lichtes auf die Netzhautzellen im Auge des Menschen und der Tiere ist bis jetzt zum größten Teil noch nicht sicher, ob sie auf direkter Reizung der betreffenden Zellen selbst oder auf reflektorischer Erregung durch das Nervensystem beruhen: immerhin müssen direkte Stoff- wechselwirkungen in den Retinazellen vorhanden sein, da wir ihre Folgen im Zentralnervensystem, auf das sich die Erregung durch den Sehnerven fortpflanzt, subjektiv als Farben empfinden und objektiv 1) Vergl. p. 260. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 471 bei anderen Menschen oder Tieren an den Bewegungsreaktionen er- kennen, die bei Lichtreizung durch Vermittlung des Zentralnerven- systems ausgelöst werden. Ueber die erregenden Wirkungen des Lichtes auf die Formbildungsprozesse sind, abgesehen von der Beeinflussung des Wachstums der Pflanzen, bisher noch keine umfangreicheren Er- fahrungen bekannt geworden. Dagegen kennen wir zahlreiche Wirkungen auf den Ener- gieumsatz, vor allem auf die Bewegungsvorgänge. Im Süßwasser einzelner Teiche und Pfützen, verborgen zwischen Schlamm und Sand, führt in mattem Dämmerlicht ein unbeholfenes Rhizopod sein träges Dasein, die amöbenähnliche Pelomyxa. Der klumpige, nackte, nicht selten fast 2 mm große Protoplasmakörper dieses merkwürdigen Wesens enthält neben einer großen Anzahl runder Zellkerne eine Fülle von kleinen Sandkörnchen und Schlamm- teilchen, so daß er völlig undurchsichtig ist. Die Bewegungen der Pelomyxa sind genau die einer trägen Amöbe. Der klumpige Protoplasmatropfen läßt ab und zu hier und dort ein flaches, hyalines Fig. 202. Pelomyxa palustris. _4 Ungereizt kriechend, B gereizt kontrahiert. Pseudopodium über den dunklen Körperkontur meist ruckweise vor- fließen, in das dann die Innenmasse mit ihren Kernen, Sand- körnchen ete. nachströmt. In der Regel bildet sich, wenn man das Protist ungestört sich selbst überläßt, nach einiger Zeit wie bei Amoeba limax!) eine bestimmte Kriechrichtung heraus, so daß das Protoplasma nur immer in einer Richtung vorfließt, und der Körper dadurch eine langgestreckte Gestalt annimmt (Fig. 202 A). Wird aber die Pelomyxa beim Kriechen mechanisch durch Erschütterung oder chemisch durch Zusatz von Salzlösungen oder thermisch durch Er- wärmen gereizt, so kontrahiert sie sich sofort und nimmt, wie alle nackten Protoplasmamassen, Kugelform an (Fig. 202 B). An diesem originellen Wesen konnte ENGELMANN?) eine ausgesprochene Licht- reizbarkeit feststellen, und zwar zeigte sich, daß, wenn die Pelo- myxa im Dunkeln ungestört in ihrer langgestreckten Form träge dahinkroch, eine plötzliche Belichtung denselben Reizerfolg hatte, wie ihn die chemische, mechanische und thermische Reizung hervorruft. Der Protoplasmakörper Kontrahierte sich plötzlich zur Kugel, und alle Bewegung hörte auf, um aber bei Verdunkelung alsbald wieder von neuem einzutreten. Langsame Steigerung der Lichtintensität 1) Vergl. p. 221, Fig. 78e. 2) ENGELMANN: „Ueber Reizung kontraktilen Protoplasmas durch plötzliche Beleuchtung“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 19, 1879. 472 Fünftes Kapitel. vom Dunkeln an hatte dagegen keinen deutlichen Einfluß. Ganz ähnlich verhalten sich auch die Protoplasmamassen mancher Myxo- myceten, die ebenfalls auf Lichtreizung Kontraktionsbewegungen be- obachten lassen. ENGELMANN, der sich viele Verdienste um die Physiologie der einzelligen Organismen erworben hat, entdeckte auch ein eigentüm- liches Bakterium, das sich als außerordentlich empfänglich für Licht- reize erwies. Dieses Bakterium, das EnGELMANnN!) Bacterium photometricum nannte, bewegt sich durch den Schlag des Geißel- fadens, den die Enden des beweglichen Bakterienkörpers tragen, rk Y x 4 / 2 x: Dee 74 ai au Te | SE? Tr NE rn N) ESERTTTTNE, ee \ Or BRIEH \ / > R N De \ = A B Fig. 203. Pleuronema ehrysalis. A Ungereizt, still liegend, B gereizt, im Begriff, durch Wimperschlag zu springen. lebhaft im Wassertropfen umher. Allein diese Bewegung dauert nur so lange, als das Bakterium der Einwirkung des Lichtes ausgesetzt ist. Wird es dagegen ins Dunkle gebracht, so hört allmählich die Bewegung auf, und das Bakterium bleibt still liegen. Sobald aber wieder Licht einwirkt, beginnt die Bewegung der Bakterien von neuem, und zwar konnte ENGELMANN mittels eines Spektralapparates feststellen, daß es die Strahlen des Orange und des Ultrarots sind, die besonders diese erregende Wirkung auf die Bewegung der Bakterien ausüben. Bei zahlreichen pathogenen Bakterien, wie bei Bacterium coli, Typhusbakterien, Choleravibrionen, Vibrio Metschni- kovii, Baeillus prodigiosus, Bacillus proteus mirabilis fand HERTEL?) im Beginn der Einwirkung seiner ultravioletten Strahlen von 280 m. Wellenlänge eine Beschleunigung der Bewegung, die aber in wenigen Sekunden einer völligen Lähmung wich. Jeden- 1) ENGELMANN: „Bacterium photometricum. Ein Beitrag zur vergleichenden Physiologie des Licht- und Farbensinns“. In PFLÜüGERs Arch., Bd. 30. 2) HERTEL, 1. c. 1904. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 473 falls dürfte sich wohl durch Strahlen von eerineerer Intensität wie auch durch Strahlen von größerer Wellenlänge hier auch ein länger andauerndes Erregungsstadium erzielen lassen. Auch unter den Wimperinfusorien, die sich für sichtbare Strahlen im allgemeinen bisher als nicht reizbar gezeigt haben, finden sich vereinzelte Vertreter, deren Wimperbewegung durch sichtbare Licht- strahlen erregt wird. Wir lernten schon bei anderer Gelegenheit!) Pleuronema chrysalis kennen, das in ungestörtem Zustande still im Wasser liegt, ohne seine langen Sprungwimpern zu bewegen, und nur von Zeit zu Zeit durch einen plötzlichen Schlag derselben einen schnellen Sprung ausführt. Wenn diese kleinen Infusorien, die man in der Regel in größerer Menge zusammen beobachtet, an einer Stelle auf dem Objektträger still liegen, so kann man schon bei ge- wöhnlichem Tageslicht durch Wegnahme der Blende des Mikroskops eine Sprungbewegung auslösen, die sich öfter wiederholt, wenn die Blende nicht wieder eingeschoben wird ?). Wie eine Herde aufgerester Flöhe springen diese Wimperzellen wild durcheinander, bis sie wieder beschattet werden. Dabei tritt die Schlagbewegung der Wimpern nicht unmittelbar in dem Momente ein, in dem das Licht plötzlich auffällt, Fig. 204. Spektra von verschiedenen Medien. 1 Spektrum eines roten Glases, 2 Spektrum eines Kobaltglases, 3 Spektrum eines grünen Glases, 4 Spektrum einer Kalibiehromatlösung, 5 Spektrum einer Kupferoxyd-Ammoniaklösung. sondern erst nach einem Stadium latenter Reizung, das etwa 1—2 Se- kunden dauert. Durch Einschalten von farbigen Gläsern und Flüssig- keiten zwischen Lichtquelle und Objekttisch des Mikroskops, und zwar von solchen, deren Durchlässigkeit für Strahlen ganz bestimmter Wellenlänge spektroskopisch vorher festgestellt worden ist (Fig. 204), kann man sich leicht überzeugen, daß es nicht etwa eine Wärme- wirkung des Lichtes ist, die in dieser Sprungbewegung zum Ausdruck kommt. sondern daß es gerade die Strahlen des blauen und violetten Lichtes, also die thermisch am wenigsten wirksamen Strahlen, sind, die diese Reizwirkung am stärksten hervorrufen. Auch durch Wärme- strahlen freilich kann man dieselbe Wirkung erzielen, aber dann reicht nicht das gewöhnliche Tageslicht dazu aus, sondern es bedarf Sonnen- lichtes von erößerer Wirksamkeit, wie man es nur durch Konzen- 1) Vergl. p. 452. 2) MAx VERWORN: „Psycho-physiologische Protistenstudien. Experimentelle Untersuchungen“. Nachschrift, Jena 1889. 474 Fünftes Kapitel. tration direkten Sonnenlichtes mittelst eines Hohlspiegels erhalten kann, um die Sprungbewegung auszulösen. Durch die kurzwelligen Strahlen des unsichtbaren Teiles des Spektrums konnte HERTEL!) bei allen untersuchten Infusorienformen im Beginn der Einwirkung erregende Wirkungen erzielen. So wurden die Wimperbewegungen von Paramaecium und Colpidium und einiger anderer holotricher Infusorienformen zuerst unruhiger und hastiger, bis sie sehr bald starke Koordinationsstörungen erfuhren und ganz gelähmt wurden. Bei Stentor polymorphus, Carche- sium und Epistylis traten unter dem Einfluß der ultravioletten Strahlen von 280 ww. heftige Kontraktionen der Myoide ein, bis auch diese Infusorien bei weiterer Einwirkung der Strahlen völlig gelähmt waren. Von der Bewegung der quergestreiften Muskeln ist bisher kein Fall bekannt geworden, in dem sich eine Beeinflussung durch Licht mit Sicherheit ergeben hätte. Dagegen hat STEINACH?) vor einiger Zeit gezeigt, daß gewisse elatte Muskelfasern durch Licht- reize zur Kontraktion gebracht werden können. Der Sphincter iridis bei Fischen und Amphibien, ein Muskel, der die Pupille des Auges durch seine Kontraktion verengert, ist, wie STEINACH fand, zusammen- gesetzt aus glatten Muskelfasern, die ein braunes Pigment enthalten. Die glatten Muskelfasern werden durch Licht direkt ohne Vermittlung des Zentralnervensystems erregt, wie daraus hervorgeht, daß selbst der herausgeschnittene Muskel noch durch Belichtung zur Zusammen- ziehung veranlaßt werden kann. : Ebenso wie die Kontraktionsbewegungen in manchen Fällen durch den Lichtreiz erregt werden, kann auch die eigentümliche Be- wegung der Diatomeen in gewissem Sinne vom Lichte beeinflußt werden. Wie ENGELMANN?) gefunden hat, hören die eigentümlichen Bewegungen der Diatomeen auf, wenn man sie unter Sauerstoffabschluß in einem dunklen Raum aufstellt. Sie beginnen aber alsbald wieder, wenn man Licht auf sie einwirken läßt. Dieses Verhalten ist, wie ENGELMANN zeigte, darauf zurückzuführen, daß unter Sauerstoff- abschluß der zur Bewegung der Diatomeen nötige Sauerstoff bald verbraucht wird. Befinden sich diese Aleenzellen nun im Dunkeln, so stellen sie alsbald infolge des Sauerstoffmangels ihre Bewegungen ein; werden sie dagegen ins Licht gebracht, so spalten sie mittels ihres dem Chlorophyll verwandten gelben Farbstoffs Kohlensäure und produzieren sich auf diese Weise den Sauerstoff, den sie zur Be- wegung nötig haben, selbst, so daß sie ihre Bewegungen von neuem wieder aufnehmen können. Sehr interessant sind schließlich die Untersuchungen HERTELS ‘) über die Einwirkung von Lichtstrahlen auf die histologischen Elemente des Nervensystems. Bei lokaler Belichtung einer Partie des Bauchstranges vom Regenwurm mit ultravioletten Strahlen von der Wellenlänge 280 um beobachtete HERTEL in der von dieser Partie aus innervierten Muskulatur heftige Kontraktionen. Bei dem gleichen 1) HERTEL, 1. c., 1904. 2) E. STEINACH: „Untersuchungen zur vergleichenden Physiologie der Iris“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 52, 1892. 3) ENGELMANN: „Ueber Licht- und Farbenperzeption niederster Organismen“. PFLÜGERs Arch., Bd. 29. 4) HERTEL, 1. c., 1907. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 475 Versuch mit sichtbaren Lichtstrahlen dagegen war keinerlei Wirkung zu sehen. HERTEL war nun sehr überrascht, als er bei dem Wurme Sipunculus bei Belichtung sowohl mit ultravioletten wie auch mit sichtbaren Lichtstrahlen eine deutliche Reizwirkune vom Nerven- system aus erzielte. Die Erklärung für dieses verschiedene Verhalten der beiden Wurmformen ergab sich aus den histologischen Verhält- nissen. Sipunculus hat große Mengen von Pigment im Nerven- system, der Regenwurm nicht. Es ist also hier offenbar das Pigment der Faktor, der bei Sipunculus durch die Absorption des Lichtes die Wirksamkeit auch der langwelligen, sichtbaren Strahlen vermittelte, die beim Regeenwurm von den pigmentlosen Bestandteilen des Bauch- stranges in der verwendeten Intensität des Lichtes nicht oder nicht in genügendem Maße absorbiert werden. b) Lähmungswirkungen. Bis in die letzten Jahre war von lähmenden Wirkungen des Lichtes nur wenig bekannt, und bei dem wenigen, was bekannt war, blieb es auch noch zum Teil zweifelhaft, ob es sich dabei um wirk- liche Lähmungswirkungen des Lichtes handelte. So könnte man z. B. die Tatsache, daß das Wachstum der Pflanzen im Licht ein geringeres ist als im Dunkeln, für eine Lähmungswirkung halten; man könnte sich vorstellen, daß das Licht direkt gewisse Stoffwechselprozesse, die zum Wachstum notwendig sind, herabsetzt. Allein das Wachstum der Pflanzen ist ein sehr komplizierter Vorgang, bei dem viele verschiedene Faktoren eine Rolle spielen, und wie bereits SacHs'!) hervorgehoben hat, ist es zur- zeit noch nicht möglich, zu beurteilen, wie weit das Licht als solches in das Zustandekommen dieses Komplexes eingreift. Eine andere Lähmungswirkung des Lichtes könnte man in seinem Einfluß auf die Lichtproduktion mancher leuchtender Seetiere suchen. Es ist nämlich mehrfach die Angabe gemacht worden, daß pelagische Tiere, wie Ütenophoren, Siphonophoren etc., aus dem Hellen ins Dunkle gebracht, nicht leuchten und erst, nachdem sie einige Zeit im Dunkeln gestanden haben, durch Reize zu einer anfangs schwachen, später stärkeren Lichtentwicklung veranlaßt werden können. Die Lichtproduktionsfähigkeit dieser Organismen scheint also durch Licht- einwirkung gelähmt zu werden, und da sich auch die einzelligen Noktiluken ebenso verhalten sollen, so dürfen wir nicht annehmen, daß es sich um eine sekundäre Wirkung des Lichtes handelt, die erst durch Sinnesorgane und Zentralnervensystem vermittelt würde. Allein auch dieser Fall einer lähmenden Wirkung des Lichtes ist noch recht unsicher, da die fragliche Tatsache zwar von mehreren Autoren be- obachtet, aber bisher noch niemals näher analysiert worden ist. Bei diesen wenigen Fällen handelte es sich ausschließlich um die Wirkungen der sichtbaren Strahlen des Spektrums. Ganz anders wurde nun unsere Kenntnis von den lähmenden Wirkungen des Lichtes durch die bereits mehrfach genannten Versuche HERTELS mit unsichtbaren ultravioletten Strahlen von 230° wu Wellenlänge. Hier zeigte sich mit einem Male, nicht nur, daß alle untersuchten 1) JuLıus Sachs: „Ueber den Einfluß der Lufttemperatur und des Tageslichts auf die stündlichen und täglichen Aenderungen des Längenwachstums der Inter- nodien“. In Arb. d. bot. Inst. in Würzburg, Bd. 1. 476 Fünftes Kapitel. Organismen auf diese Strahlen stark reagierten, sondern ganz über- einstimmend auch, daß diese Strahlen bei genügender Intensität oder etwas längerer Einwirkung allgemein lähmende Wirkungen auf alle lebendige Substanz hervorrufen, die in kurzer Zeit zum Tode führen. Nach einem kurzen Erregungsstadium, das HERTEL in einzelnen Fällen beim Beginn der Bestrahlung beobachtete, trat sofort voll- kommene Lähmung ein. So fand HErRTEL!) bei den gesamten oben genannten Bakterien und Infusorien, ferner bei Pflanzen- zellen, bei Diatomeenetc. eine schnell eintretende Lähmung der Bewegung. Die Formbildungsprozesse werden ebenfalls gelähmt. Im Gegensatz zu DRIESCH, der keinerlei Einfluß der Licht- strahlen auf Eier von Echinus, Planorbis, Rana feststellen konnte, weil er nur mit sichtbaren Lichtstrahlen experimentierte, fand HERTEL, daß durch seine ultravioletten Strahlen der Furchungs- prozeß befruchteter Seeigeleier (Echinus microtuberculatus) stark gelähmt wird. Da sich herausgestellt hatte, daß die Wirkungslosigkeit der sicht- baren Lichtstrahlen, abgesehen von der Intensität, im wesentlichen darauf beruht, daß sie von den betreffenden Objekten nicht absorbiert werden, so suchte HERTEL Seeigeleier für sichtbare Lichtstrahlen zu „sensibilisieren“, indem er sie mit einem roten Farbstoff, dem Eosin belud, der ohne Schädigung des Protoplasmas von den lebenden Ei- zellen aufgenommen wird. Der Versuch gelang. Die so „sensibili- sierten“ Eizellen werden nunmehr auch von den sichtbaren Licht- strahlen in ihrer Entwicklung gehemmt, ein vollkommenes Analogon zu dem von der Natur angestellten Experiment am Nervensystem des Sipunculus, bei dem das natürliche Pigment die nervösen Ele- mente sensibilisiert hat (vergl. oben p. 475). Die Untersuchungen von HERTEL eröffnen hier ein außerordent- lich weites Feld für weitere Versuche über die physiologischen Reiz- wirkungen des Lichts und die Bedeutung des Pigments, und so ist zu erwarten, daß uns die nächste Zukunft eine große Reihe neuer und wichtiger Erfahrungen nach dieser Richtung hin bringen wird. Die Wirkungen der RÖNTGEN- Strahlen. Im Anschluß an die Wirkungen der Lichtreizung mögen zunächst die Erfahrungen Erwähnung finden, die in neuerer Zeit bei Ein- wirkung der unsichtbaren RÖNTGEnschen Strahlen auf Organismen gemacht worden sind. Es hat sich seit der Entdeckung dieser Strahlen- arten eine ganze Reihe von Angaben über ihre Wirkung auf Orga- nismen angehäuft, die aber zum großen Teil mit vorsichtiger Kritik aufzunehmen sind. Es sollen daher hier nur einige der zuverlässigeren Beobachtungen angeführt werden. So hat z. B. RIEDER?) größere Versuchsreihen mit Reinkulturen von verschiedenen Bakterienarten in der Weise angestellt, daß er die Plattenkulturen mit Hilfe eines durchbohrten Bleischirms einer par- tiellen Bestrahlung durch RöntseEnsche Strahlen aussetzte. Dabei fand er, daß z. B. Kolonien von Cholera- und Tuberkelbazillen schon nach einer Expositionsdauer von kaum einer Stunde zugrunde ge- 1) HERTEL, 1. c., 1905. 2) H. RIEDER: „Wirkung der Röntgenstrahlen auf Bakterien“. In Münchener med. Wochenschrift, 1898. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 477 eangen waren, während die Kolonien an den nicht exponierten Stellen der Platte weiter wuchsen. An Pflanzenzellen stellte LoPrRIORE!) Versuche mit RÖNTGEN- Strahlen an, bei denen sich ergab, daß die Protoplasmabewegung in den Zellen der Vallisneria anfangs beschleunigt wird. Bei längerer Exposition machten sich indessen Veränderungen in der Struktur des Protoplasmas bemerkbar, indem dasselbe körniger und vakuolenreicher wurde, während die Chlorophyllkörper ihre grüne Farbe verloren. Ferner hat vor einigen Jahren SCHAUDINN?) an einer größeren An- zahl von Rhizopoden- und Infusorienformen die Wirkung der RÖNTGEN- Strahlen studiert und gefunden, daß diese Strahlen auf die verschie- denen Formen in ganz verschiedenem Grade wirksam sind. Während bei manchen Rhizopoden, wie z. B. Labyrinthula und Hyalopus, selbst bei 14-stündiger Expositionsdauer keinerlei Wirkung zu be- obachten war, reagierten andere, wie z. B. Amoeba princeps, Pelomyxsa palustris, Difflueiaä. pyriformis, Poly= stomella, Actinosphaerium etc. nach kürzerer oder längerer Exposition dadurch, daß sie ihre Pseudopodien einzogen und schließ- lich in totaler Kontraktion abstarben. Bei manchen flagellaten und eiliaten Infusorien wurde die Bewegung der Geißeln und Wimpern allmählich gelähmt, bis sie abstarben. Spirostomum ambiguum blieb dabei vollkommen ausgestreckt und starb ohne Kontraktion seiner Myoidfäden, während es bei Einwirkung anderer Reize gewöhn- lich sofort heftige Kontraktionsbewegungen ausführt. Vermutlich ist das Ausbleiben derselben bei der Bestrahlung mit RÖNTGEN-Strahlen auf die außerordentlich langsam sich entwickelnde Wirkung zurück- zuführen. Sodann haben JosErpH und PROWAZERK?°) Versuche mit kurz- dauernder Einwirkung von RÖNTGEN-Strahlen auf verschiedene Or- ganismen angestellt und dabei gefunden, daß manche freibeweglichen Organismen wie Paramaecium und. Daphnia sich von der Ein- fallsrichtung der RÖNTGEN-Strahlen fortbewegen. Auch konnten sie eine Lähmung resp. Schädigung der Funktionen des Protoplasmas in den Zellen feststellen, wie z. B. der Strömung des Protoplasmas in Pflanzenzellen, der Frequenz der Vakuolenpulsationen in Infusorien- zellen etc. Im allgemeinen gingen bei ihrer kurzen Einwirkungs- dauer der Strahlen die Schädigungen nach Abstellung der RÖNTGEN- Strahlen wieder zurück. ÄSCHKINASS und ÜASPARI*) dagegen fanden bei Bestrahlung von Kulturen des Mierococcus prodigiosus mit RÖNTGEN-Strahlen keinerlei Wirkung. Das Wachstum und die Lebensfähigkeit der Kul- turen wurde in keiner Weise durch die Bestrahlung beeinflußt. 1) LoPRIORE: „Azione dei raggi X sul protoplasma della cellula vegetale vi- vente“. In Nuova Rassegn., Catania 1897. 2) SCHAUDINN: „Ueber den Einfluß der Röntgenstrahlen auf Protozo@n“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 77, 1899. 3) H. JosEPpH u. S. PROWAZEK: „Versuche über die Einwirkung von Röntgen- strahlen auf einige Organismen, besonders auf deren Plasmatätigkeit“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 1, 1902, p. 142. 4) ASCHKINASS u. CASPARI: „Ueber den Einfluß dissoziierender Strahlen auf organisierte Substanzen, insbesondere über die bakterienschädigende Wirkung der Becquerelstrahlen“. In PFLÜGERSs Arch. f. d. ges. Physiologie, Bd. 86, 1901. 478 Fünftes Kapitel. So sind die vorliegenden Untersuchungen über die Wirkung der RÖNTGEN-Strahlen bisher noch wenig geeignet, eine Gesetzmäßigkeit erkennen zu lassen und ein genaueres Studium der Frage, wieweit die RÖNTGEN-Strahlen erregend oder lähmend wirken, welche Rolle ihre Intensität spielt, ob sie bei starker Intensität auf alle lebendige Substanz wirksam sind usf., bleibt der Zukunft vorbehalten. Die Wirkungen der BECQUEREL- Strahlen. Auch über die physiologischen Wirkungen der von den radio- aktiven Stoffen wie Uran-, Thorium-, Radium-, Barium- und Polonium- präparaten entsendeten Strahlenarten sind die gesicherten Erfahrungen noch so wenig zahlreich, daß eine bestimmte Gesetzmäßigkeit sich aus ihnen bisher noch nicht entnehmen läßt. Die Widersprüche, die zum Teil noch in den Beobachtungsergebnissen zum Ausdruck kommen, dürften wohl zum großen Teil darauf zurückzuführen sein, daß die verschiedenen Untersucher sehr verschiedenartige Präparate benutzt haben, die jedenfalls sehr verschiedene Strahlenarten lieferten und Fig. 205. Bestrahlung von Micrococeus prodigiosus mit BECQUEREL- Strahlen. a In der Mitte der Schale befindet sich die Bakterienkultur, die zur Hälfte mit einem Kupferblech B gegen die Einwirkung der Strahlen geschützt ist. b Auf dem geschützten Teil der Kultur haben sich die Bakterien weiter entwickelt, auf dem be- strahlten Teil nicht. ce Anordnung zur Bestrahlung von der Seite gesehen; A Nährgelatine auf der Innendecke der oberen PETRI-Schale, © Bakterienkulturtropfen in der Mitte der Nährgelatine, P Messingschälchen mit dem Radiumpräparat am Boden der unteren PETRI-Schale, der hängenden Kultur gegenüberstehend. Nach ASCHKINASS und CASPARI. außerdem sehr verschiedene Intensität der Strahlen besaßen. Im all- gemeinen aber scheinen die meisten der unter dem Namen der BECQUEREL - Strahlen zusammengefaßten Strahlenarten sehr starke physiologische Wirkungen hervorzurufen, die an die Wirkungen der ultravioletten Lichtstrahlen von sehr geringer Wellenlänge erinnern, denn die lebendige Substanz wird bei stärkerer und längerer Bestrah- lung stark geschädigt. Von den Reizen und ihren Wirkungen, 479 Bei Micrococcus prodigiosus konnten ÄSCHKINASS und CASPARL!) in sehr sorgfältigen Untersuchungen, die mit Berück- sichtigung aller Fehlerquellen ausgeführt wurden, eine wachstums- und entwicklungshemmende Wirkung der BECQUEREL-Strahlen fest- stellen. Aus den zahlreichen Versuchen, die diese Forscher anstellten, sei hier nur der folgende angeführt. Sie brachten in ein breites in- einander stülpbares Glasschalenpaar (sog. PETRI-Schalen) auf den Boden der unteren Schale eine offenes Messingschälchen mit dem radio- aktiven Präparat P, das aus 1 g Barium-Radium-Bromidkristallen bestand und befestigten an der Innendecke der oberen Schale eine Nähragarplatte A, die in ihrer Mitte, dem Radiumpräparat gegenüber, eine Mierococeus-Kultur Ü enthielt. Setzten sie dann diese Kul- tur der Bestrahlung aus, so fand sich nach mehrstündiger Einwirkung stets eine ganz enorme Entwicklungshemmung der bestrahlten Kultur gegenüber den der Bestrahlung nicht ausgesetzten, gleichzeitig ange- legten Kontrollkulturen. Bei Zwischenschaltung einer dünnen Alu- miniumfolie zwischen das radioaktive Präparat und die Kultur blieb der Erfolg aus, obwohl die eine Art von BECQUEREL-Strahlen auch jetzt noch die Kultur traf. Es waren also speziell die leichter absorbier- baren Strahlen, welche die entwicklungshemmende Wirkung ausübten. Schützten ASCHKINASS und ÜASPARI die Kultur zur Hälfte durch ein übergelegtes Kupferblech 5, das die BECQUEREL-Strahlen nicht durch- ließ, so entwickelte sich auf der beschatteten Seite die Kultur weiter, während sie auf der bestrahlten Seite in ihrer Entwicklung zurück- blieb (Fig. 205). Mit einer ganzen Reihe von verschiedenen Präparaten, die teils primär radioaktiv, teils sekundär induziert waren, hat dann bald darauf H. von BAEYER?) die Ergebnisse von ASCHKINASS und CAS- PARI an der gleichen Bakterienform bestätigt und ebenfalls gefunden, daß speziell die leicht absorbierbaren «-Strahlen, sei es, daß sie von primär aktiven, sei es, daß sie von induzierten Präparaten stammten, bakterizide Wirkungen entfalten. Schließlich haben PFEIFFER und FRIEDBERGER?) bei Typhus-, Cholera- und Milzbrandbakterien nach längerer Bestrahlung (16 Stunden bis 3 Tage) ebenfalls eine bakterizide Wirkung fest- stellen können. Es ist zu erwarten, daß die nächsten Jahre die Erfahrungen be- trächtlich erweitern werden, besonders auch mit Rücksicht auf die Frage, ob außer diesen lähmenden Wirkungen nicht durch schwächere oder kürzer dauernde Bestrahlung bei geeigneten Objekten etwa auch erregende Anfangswirkungen zu erzielen sind. Es ist im höchsten Grade wahrscheinlich, daß hier ein ganz analoges Verhältnis vorliegt, wie bei der Wirkung der kurzwelligen Lichtstrahlen, die bei kurzer oder schwacher Einwirkung ebenfalls eine erregende, bei länger dauernder und stärkerer Einwirkung stets eine lähmende ist. 1) ASCHKINASS u. CASPARI ]. c. 1901. 2) H. von BAEYER: „Ueber die physiologische Wirkung der Becquerelstrahlen“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 4, 1904. 3) PFEIFFER u. FRIEDBERGER: „Ueber die bakterientötende Wirkung der Ra- diumstrahlen“. In Berl. klin. Wochenschr., 1903. 480 Fünftes Kapitel. 6. Die Wirkungen elektrischer Reizung. Der elektrische Reiz steht den anderen Reizqualitäten in mancher Beziehung eigenartig gegenüber. Einerseits kommt der elektrische Reiz wohl in der freien Natur nur in Ausnahmefällen mit den lebendigen Organismen in Berührung, was sonst nur noch von manchen chemischen Reizen gilt. Andererseits aber besitzt er mancherlei Eigenschaften, die seine Anwendung auf die lebendige Substanz ganz besonders leicht und bequem gestalten. Der elektrische Reiz läßt sich so bequem wie kein anderer in seiner Intensität abstufen, mit einer Feinheit, die den höchsten Anforderungen entspricht. Ferner läßt er sich zeitlich auf jede beliebige Weise in seiner Anwendung begrenzen. Diese großen Vorzüge, die mit der genial entwickelten elektrischen Reizmethodik ihre höchste methodische Bedeutung erlangt haben, sind der Anlaß dafür geworden, daß man in der gesamten Physiologie überall, wo es sich um die Untersuchung von Reizwirkungen auf Zellen, Gewebe, Organe handelt, fast ausschließlich den elektrischen Reiz ver- wendet. So ist in der physiologischen Forschung der elektrische Reiz zum Reiz „par excellence“, zum alleinherrschenden Reiz geworden. Von den verschiedenen Methoden Elektrizität zu gewinnen (Reibung, In- fluenz, Berührung, Induktion), wendet man zu Reizzwecken in der Physiologie fast allein den durch Berührung oder Induktion gewonnenen galvanischen Strom an, weil dieser durch seine Konstanz und Zuverlässiekeit, durch seine bequeme Handhabung und Anwendbarkeit, durch seine feine Abstufbarkeit an Intensität und Dauer die größten Vorteile bietet. E08. Galvanischen Ele. Da die Methodik der galvanischen Reizung ment. Der freie Zinkpol(—) it Sich aber bis zu einer überaus großen mit dem freien Kupferpol(+)durh Feinheit entwickelt hat, wird es zweck- einen Draht verbunden, so daßen mäßig sein, erst kurz auf einige der act 4 wichtigsten Apparate einzugehen. Bee Wie wir bereits a.a. O.!) sahen, ent- steht eine galvanische Spannung, wenn wir zwei Streifen von verschiedenartigen Me- tallen oder gewissen anderen Körpern mit je einem Ende in eine schwach angesäuerte Flüssigkeit eintauchen. Haben wir z. B. einen Streifen von Kupfer und einen Streifen von Zink, die mit ihren unteren Enden in ein Gefäß mit verdünnter Schwefelsäure tauchen, während die oberen Enden frei in die Luft ragen, so haben wir die primitivste Form eines galvanischen Elements (Fig. 206), in welchem zwischen den freien Enden des Zinks und Kupfers eine Spannung besteht in der Weise, daß sich das freie Kupferende elektrisch positiv, das freie Zinkende elektrisch negativ verhält. Verbinden wir die beiden freien 1) Vergl. p. 310. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 481 Metallenden durch einen metallischen Leiter, z. B. einen Draht, so kann sich in dem Moment, wo diese Verbindung hergestellt wird, die elektrische Spannung ausgleichen. Da sie aber an der Berührungs- stelle der Metalle mit der Flüssigkeit immer wieder von neuem ent- steht, so resultiert auf diese Weise eine kontinuierliche Ausgleichung der Spannung, die wir als einen konstanten galvanischen Strom bezeichnen. Die Kontinuität von Kupfer, Draht, Zink, Flüssig- keit, Kupfer bildet gewissermaßen einen geschlossenen Kreis, in dem der Strom fließt. Dieser galvanische Strom hat immer die gleiche Richtung; er fließt, wenn wir die außerhalb der Flüssigkeit befind- lichen Enden der Metalle ins Auge fassen, vom Kupfer, dem positiven Pole, durch den Draht zum Zink, dem negativen Pole. In der Flüssigkeit selbstverständlich umgekehrt: vom Zink durch die Flüssig- keit wieder zum Kupfer zurück. Da wir aber konventionell immer die außerhalb der Flüssig- . keit befindlichen Pole als positiven und nega- tiven Pol bezeichnen, so ist jeder Irrtum aus- geschlossen: das Kupfer ist der positive, das Zink der negative Pol, oder, wie wir, um die Stromes- richtung im Namen zum Ausdruck zu bringen, auch sagen, das Kupfer(+)Jist dieAnode, Dank) dresKath.orde.) mm ine Diese Form des primitiven galvanischen Ele- ments, wie sie z.B. in geringer Modifikation dem sehr starken Chromsäuretauch- element (Fig. 208) zugrunde liegt, beidem Kohle und Zink in verdünnte Chromsäure tauchen, diese Form hat sich für manche Zwecke als unbrauchbar herausgestellt. Wenn man nämlich den Stromkreis lange Zeit ge- schlossen läßt, d.h. die me- tallische Verbindung zwi- schen beiden Metallenden lange Zeit nicht unterbricht oder, wie man sagt: den Strom nicht „öffnet“, so findet man, daß er nach längerer Zeit nicht mehr so stark ist als anfangs. Das beruht darauf, daß sich Fig. 207. Fig. 208. an den beiden inder Flüssig- Fig. 207. DANIELLsches Element. Zn zylinder- keit befindlichen Metall- förmige Zinkplatte TZ, Tonzelle, Cu zylinderförmige enden durch elektrolytische Kupferplatte. Zersetzung gewisse Stoffe, Fig. 208. Chromsäure-Tauchelement. C sogenannte „Polarisations- Kohle, Zn Zink. Die Zinkplatte ist aus der Chrom- - säurelösung herausgezogen. produkte“, gebildet und an- gehäuft haben, die nun ihrer- seits durch Berührung mit der Flüssigkeit zur Entstehung eines galva- nischen Stromes Anlaß geben, der dem ursprünglichen Strome entgegen- gesetzt ist, ihn also allmählich mehr und mehr schwächt. Um die Ent- Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 3l EHEN Ba H 482 Fünftes Kapitel. stehung dieses „Polarisationsstromes“ zu verhindern und so den ur sprünglichen Strom auf möglichst konstanter Intensität zu erhalten, hat man den Ausweg gefunden, daß man beide Metalle in verschiedene Flüssigkeiten taucht, die durch eine poröse Tonscheidewand von- einander getrennt und so beschaffen sind, daß sie die sich bildenden Polarisationsprodukte im Moment ihrer Entstehung gleich wieder un- wirksam machen. So kann sich kein Polarisationsstrom entwickeln, und die elektromotorische Kraft des Elements bleibt konstant. Solche „konstante Elemente“ sind in verschiedenen Formen im Ge- brauch. Die bekanntesten und in der Physiologie am meisten be- nutzten sind die von DANIELL (Fig. 207), bei denen Zink in verdünnte Schwefelsäure und Kupfer in konzentrierte Kupfersulfatlösung taucht, ferner die von BUNSEN, bei denen Zink in verdünnte Schwefel- säure und Kohle (die das Kupfer vertritt) in konzentrierte Salpeter- säure taucht, und schließlich die von GROVE, bei denen Zink in verdünnte Schwefelsäure und Platin (statt des Kupfers) in kon- zentrierte Salpetersäure taucht. Der freie Zinkpol ist bei allen die Kathode. In diesen galvanischen Elementen besitzen wir nunmehr Elek- trizitätsquellen, von denen wir jeden Augenblick einen galvanischen Strom in bequemster Weise ableiten können, wohin wir ihn haben wollen. Um irgendein lebendiges Objekt, etwa ein Nervmuskel- I Fig. 209. 7 Stromkreis, abgeleitet von dem Element E zu dem Nerven N eines Nervmuskelpräparats. Im Stromkreis befindet sich der Schlüssel Ss. IT Quecksilber- schlüssel. präparat vom Frosch, galvanisch zu reizen, brauchen wir daher nur den Draht, der die beiden Metalle eines Elements verbindet, zu durchschneiden und zwischen seine Enden das Präparat einzuschalten; dann fließt der Strom durch das Präparat (Fig. 2097). Um aber be- quem jeden Augenblick den Stromkreis unterbrechen und wieder schließen und so die Einwirkung des Reizes auf das Präparat will- kürlich beherrschen zu können, schalten wir in den einen Draht noch einen sogenannten „Stromschlüssel“ ein. Dieser besteht aus einem in isolierenden Hartgummi eingelassenen Quecksilbernäpfchen, in welches das eine Drahtende eintaucht, während das andere mit einem kleinen Hebel in metallischer Verbindung steht, den man beliebig jeden Augenblick in das Quecksilber tauchen oder herausheben kann, so daß die neue Leitung jeden Augenblick hergestellt und wieder Von den Reizen und ihren Wirkungen. 483 unterbrochen oder, mit anderen Worten, der Strom geschlossen und geöffnet werden kann (Fig. 209 IT). Wenn man länger einwirkende Ströme auf ein Präparat anwendet, so darf man nicht die Metalldrähte selbst als Elektroden an den Nerven oder Muskel etc. anlegen, da sonst an der Berührungsstelle des Metalls mit dem Präparat, das ja einen feuchten Leiter vorstellt, wieder Anlaß zur Entstehung von Polarisationsströmen gegeben wäre, die das Präparat selbst reizen und so den Versuch stören würden. Um diesen Uebelstand zu vermeiden, hat man daher sogenannte „un- polarisierbare Elektroden“ konstruiert, die an der Berührungs- stelle mit dem Präparat keinen Polarisationsstrom entstehen lassen ). Diese unpolarisierbaren Elek- troden bestehen in ihrer be- quemsten Form je aus einer kurzen Glasröhre, die unten mit einem Pfropfen von pla- stischem Ton verschlossen ist, in dem ein kurzer, weicher Pinsel steckt, während das Lu- men der Röhre mit einer kon- zentrierten Zinksulfatlösung gefüllt ist, in die ein mit dem Zuleitungsdraht verbundener Zinkstab eintaucht (Fig. 210). Diese Elektroden stecken in verstellbaren Stativen und können ungemein leicht ge- handhabt und an das Präparat mit ihren spitzen Pinseln an- gelegt werden. Fig. 210. Eine unpolarisierbare Elek- Nachdem wir in den gal- vanischen Elementen eine zu- verlässige Quelle der Elek- trizität kennen gelernt haben, handelt es sich nunmehr dar- um, die Intensität des galva- nischen Stromes beliebig fein trode. In einem beweglichen Stativ steckt eine Glasröhre, die mit einem Tonpfropfen ver- schlossen und mit konzentrierter Zinksulfatlösung gefülltist. In dem Tonpfropfen steckt ein feuchter Pinsel, und in die Lösung ragt ein Zinkstab, zu dem der Draht geleitet wird. Ueber die Pinsel zweier solcher Elektroden wird der Nerv des Präparats gelegt. abzustufen. Zu diesem Zwecke müssen wir das Grundgesetz, das die Intensitätsverhältnisse des Stromes formuliert, etwas näher ins Auge fassen. Es ist das OmMmsche Gesetz, welches sagt, daß die Intensität eines Stromes proportionalist der elek- tromotorischen Kraft der Stromquelle und umgekehrt proportional den Widerständen: Te Die elektromotorische Kraft hängt ab von der Art und der Zahl der Elemente. Manche Elemente haben nur geringe elektromotorische Spannung, andere sehr hohe, und koppelt man zwei oder mehrere Elemente aneinander, so kann man einen Strom von beträchtlicher Stärke erhalten. Nach dem Ommschen Gesetz wird also das Mittel, 1) Vergl. p. 314. 31* 484 Fünftes Kapitel. um die Intensität / eines Stromes in gröberer Weise zu steigern oder zu schwächen, darin liegen, daß man die Zahl der Elemente vermehrt oder verringert, denn dadurch wird die elektromotorische Kraft E vergrößert oder vermindert. Aber diese Abstufung durch die Ver- änderung der elektromotorischen Kraft ist eine sehr rohe und läßt keine feineren Intensitätsänderungen zu. Deshalb benutzen wir, wo es sich um feinere Abstufungen der Intensität handelt, den zweiten Faktor, von dem, wie das OHMsche Gesetz sagt, die Intensität ab- hängig ist: das sind die Widerstände W. Die Widerstände sind von zweierlei Art: einerseits innere Widerstände, d. h. Widerstände, die im Element selbst durch die Flüssigkeit ete. gegeben sind, denn die Flüssigkeit ist ein feuchter und daher schlechter Elektrizitätsleiter ; anderseits äußere Widerstände, die in der Art, der Länge und dem Querschnitt der Leitung außerhalb des Elements gelegen sind. wi letzteren sind es hauptsächlich, die wir in feinster Weise abstufen önnen. Gute Leiter sind die Metalle; deshalb wählen wir zu unseren Leitungen außerhalb des Elements immer Metalldrähte, am besten Kupferdrähte. Ihr Widerstand ist um so geringer, je kürzer die Leitung und je größer ihr Querschnitt ist. Um den Widerstand zu ae Be Fig. 211. Prinzip der Nebenschließung. JEin einfacher Stromkreis, [I Strom- kreis mit Nebenschließung. EZ Element, N Nervmuskelpräparat, A B Nebenschließung. erhöhen und dadurch die Intensität des Stromes zu schwächen, haben wir also ein sehr feines und leicht abstufbares Mittel in der Hand: wir verlängern die Drahtleitung und nehmen Drähte von recht ge- ringem Querschnitt. Auf diesen Tatsachen basiert ein Prinzip, das bei den Apparaten, die zur Abstufung der Stromesintensität konstruiert worden sind, allgemein zur Verwendung kommt: das ist das Prinzip der Nebenschließung. Leiten wir z. B. von einem Element E (Fig. 2117) durch Kupferdrähte einen Kreis ab zu einem Präparat N, so fließt durch das Präparat, wenn es auch als feuchter Leiter einen beträchtlichen Widerstand gibt, doch ein galvanischer Strom von einer bestimmten Intensität, die sich leicht messen läßt. Bringen wir Von den Reizen und ihren Wirkungen. 485 aber in diesem Stromkreise eine „Nebenschließung“ an, indem wir zwei gegenüberliegende Punkte der metallischen Leitung durch einen Querdraht verbinden, so wird dadurch von dem großen Stromkreis noch ein kleiner Kreis (EAB) abgezweigt, in dem die Widerstände bedeutend geringer sind als in dem großen Kreise, weil seine Leitung einerseits nur aus metallischen Leitern besteht und anderseits auch kürzer ist als die des großen Kreises. Die Folge davon ist, wie das Onmsche Gesetz ohne weiteres lehrt, daß in dem großen Kreise nur noch ein Strom von verschwindend geringer Intensität kreist, der so schwach ist, daß er unter Umständen gar keine Wirkung mehr auf das Präparat ausübt, während in dem kleinen Kreise ein Strom von beträchtlicher Intensität sich bewegt. Wir haben also zwei Extreme der Intensität in dem großen Kreise, in dem sich das Präparat befindet; einmal bei unter- brochener Nebenschließung einen Strom von bemerkenswerter Intensität und das zweite Mal bei geschlossener Neben- schließung einen Strom von ganz ver- schwindend geringer Intensität. Zwischen diesen beiden Extremen können wir nun die Stromesintensität in der feinsten Weise abstufen, indem wir die Wider- stände in der Nebenschließung sukzessive vergrößern, bis sie so groß werden, daß die Nebenschließung fast gar nicht mehr leitet. Dann geht wieder nahezu der ganze Strom durch den großen Kreis und das Präparat. Dieses Prinzip der Nebenschließung hat Du Boıs-REyYMmonD benutzt zu seinem „Rheochord“, einem Apparat, der dazu dient, die Intensität in dem Stromkreise eines Präparats durch Einschaltung von bestimmt abgemessenen Widerständen in eine Nebenschließung beliebig zu steigern. Als Widerstände sind dabei dünne Drähte von ganz bestimmter Länge benutzt, die nach und nach in die Nebenschließung ein- geschaltet werden können. Der Apparat (Fig. 212) besteht nämlich in seinen wesentlichen Teilen aus einer dicken Messingleiste, die in bestimmten Abständen in ihrer Kontinuität unter- brochen ist, so daß sie eigentlich eine Reihe selbständiger Metallklötze vorstellt, die aber alle durch Einfügen metallischer Verbindungsstücke wieder zu einer einzigen Leiste verbunden werden können. Jeder dieser Messingklötze steht ferner mit dem benachbarten Klotz durch einen sehr dünnen Draht von bestimmter Länge in Verbindung, und auf dem Draht, der die ersten beiden Metallklötze verbindet, kann ein metallischer Schieber hin und her geschoben werden, so daß die leitende Drahtstrecke, welche die beiden ersten Messingklötze ver- bindet, durch Hinaufschieben des Schiebers verkürzt oder ganz aus- geschaltet werden kann. Dieser ganze Apparat wird als Neben- schließung in den Stromkreis eingeschaltet, in dem sich das Präparat Fig. 212. Dw Boiıs-REYMONDs Rheochord. 486 Fünftes Kapitel. befindet, in der Weise, daß von der Stromquelle die beiden Poldrähte zu der Messingleiste und von dort zwei andere Drähte zum Präparat geleitet werden. Sind nun die Verbindungsstücke der Metallklötze sämtlich zwischen die Klötze eingefügt, so daß die Messingleiste eine Kontinuität bildet, so haben wir denselben Fall wir in Fig. 212. Es geht also durch den kleinen Kreis ein starker Strom, weil hier wenig‘ Widerstände sind, während durch den großen Kreis nur ein sehr schwacher Strom fließt, da hier das Präparat einen beträchtlichen Widerstand bietet. Wir können nun aber mittels unseres Apparats- in bequemster Weise den geringen Strom, der durch den Präparat- kreis geht, verstärken, indem wir die Widerstände in dem Kreise der Nebenschließung erhöhen, und das erreichen wir, indem wir den Schieber zunächst immer weiter und weiter hinabschieben (Fig. 212), so daß der Strom eine immer größere Strecke des ersten Rheochorddrahtes. durchlaufen muß, die an einer Skala zu messen ist. Dann aber können wir die Widerstände noch mehr verstärken, indem wir nach. und nach auch noch die Verbindungsstücke zwischen den Metall- klötzen herausnehmen. Die Folge davon ist, daß der Strom ausschließ- lich in der Nebenschließung die ganzen Rheochorddrähte durchlaufen muß, die bei ihrer Dünne und Länge einen ganz beträchtlichen Wider-- stand bilden. Je mehr aber die Widerstände im Kreise der Neben- schließung wachsen, um so mehr steigt die Intensität des Stromes, der durch den Präparatkreis geht, und da die Widerstände genau ab- gemessen sind, so kann man auf diese Weise die Stromintensität im Präparatkreise in der feinsten Weise abstufen. Aehnliche Wider- standsapparate, die zum Teil auf dem gleichen, zum Teil auf ganz anderen Prinzipien beruhen, sind in größerer Zahl und in mannigfaltigen Formen für physikalische wie für physiologische Zwecke konstruiert worden. Es genügt indessen für physiologische Zwecke in den meisten Fällen das alte Du Boıs-Reymonnsche Rheochord. I II [ca 2 Ss Fig. 213. Induktionsstrom. / Primäre Spirale, E Element, S Schlüssel. 77 Sekundäre- Spirale, N Präparat. Schließlich bleibt noch übrig, Mittel kennen zu lernen, die es ermöglichen, einen Strom von momentaner Dauer auf ein Präparat einwirken zu lassen, und die es ferner gestatten, solche Ströme von momentaner Dauer in schneller, rhythmischer Aufeinanderfolge zu er- zeugen. Solche Mittel geben uns die Tatsachen der Induktion an die Hand. Es ist dazu nötig, daß wir uns die Gesetze der Induk- tionsströme kurz vergegenwärtigen. Haben wir eine Drahtspirale, in deren Nähe, aber ohne sie zu berühren, sich eine zweite Draht- spirale befindet, und lassen wir durch die erste, die sogenannte Von den Reizen und ihren Wirkungen. 487 „primäre Spirale“, einen konstanten Strom fließen (Fig. 213), so entsteht im -Moment der Schließung dieses primären Stromes in der zweiten, der „sekundären Spirale“, ebenfalls ein Strom. Dieser „Induktionsstrom“ ist von ganz kurzer Dauer; er entsteht nur im Moment der Schließung des primären Stromes, um sofort wieder zu verschwinden. Solange der primäre Strom durch die primäre Spirale fließt, ist nicht der geringste Strom mehr in der sekundären Spirale vorhanden. Dagegen entsteht sofort wieder ein kurzer In- duktionsstrom in der sekundären Spirale, sobald der primäre Strom geöffnet wird. Also nur im Moment der Schließung und der Oefl- nung des primären Stromes entsteht ein Induktionsstrom. Der „Schließungs-Induktionsstrom“ ist aber in gewisser Beziehung canz wesentlich von dem „Oeffnungs-Induktionsstrom“ unter- schieden. Während der Schließungs-Induktionsstrom die entgegen- gesetzte Richtung hat wie der primäre Strom, ist der Oeffnungs- Induktionsstrom dem primären Strome gleich gerichtet. Diese Tatsache ist wichtig, denn sie erklärt uns gleichzeitig einen anderen Unter- schied zwischen dem Schließungs- und Oeffnungsschlag. Wird nämlich der Strom in der primären Spirale geschlossen, so induziert er bei seinem Entstehen nicht nur in der sekundären Spirale, sondern auch in den Windungen der eige- nen Spirale einen ent- gegengesetzt gerichteten Strom, und dieser ihm entgegenlaufende „EX- trastrom“ hemmt das Anschwellen des pri- mären Stromes, bis letz- terer die Höhe seiner In- tensität erreicht hat, auf der die Induktionswir- Fig. 214. NEEFscher oder WAGNERscher kung aufhört. Das ist Acer bei der Oeffnung des pri- mären Stromes aber anders, denn der Extrastrom, der bei der Oeffnung des primären Stromes in den Windungen der primären Spirale entsteht, ist diesem gleich gerichtet. Daher macht sich auch in der sekundären Spi- rale ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Induktionsschließungs- schlag und dem Induktionsöffnungsschlag bemerkbar, insofern beim Schließungsschlag die elektrische Spannung wegen des langsameren An- schwellens des primären Stromes sich allmählicher ausgleicht als beim Oeffnungsschlag, wo der Ausgleich ganz plötzlich erfolgt. Wo es sich daher darum handelt, einen ganz momentanen Strom auf ein lebendiges Objekt einwirken zu lassen, da werden wir ausschließlich den In- duktionsöffnungsschlag verwenden. Abstufen läßt sich die Intensität der Induktionsschläge durch die Abstände, die man zwischen primärer und sekundärer Spirale läßt. Bei größerem Abstand ist die Intensität geringer, bei kleinerem größer, am größten aber, wenn man die sekundäre Drahtrolle, die man immer etwas größer wählt, über die primäre ganz hinüberschiebt. Ein derartiger Apparat zur Errereung von Induktionsströmen ist das zum allernotwendigsten Handwerkszeug des Physiologen gehörige ASS Fünftes Kapitel. „Schlitten-Induktorium“ von Du BoIs-REYMOND. Dieser Apparat, der die sekundäre Drahtrolle auf einer schlittenartigen Bahn ver- schieben läßt (Fig. 215), ist gleichzeitig dazu eingerichtet, einzelne Induktionsschläge schnell und rhythmisch hintereinander zu erzeugen. Die Vorrichtung, die das ermöglicht, ist der NEEFsche oder WAGNER- sche Hammer (Fig. 214) und beruht auf folgendem Prinzip. Bekannt- lich hat der galvanische Strom die Eigentümlichkeit, ein Stück weichen Eisens, das er umfließt, in einen Magneten zu verwandeln, solange er geschlossen bleibt. Wird der Strom geöffnet, so verschwindet der Magnetismus auch wieder aus dem weichen Eisen. Beim NEEFschen Hammer haben wir nun eine Messingsäule 5, die eine gerade ge- streckte Feder trägt. Diese Feder, an deren freiem Ende ein kleiner Hammer aus weichem Eisen befestigt ist, berührt in ihrer Ruhelage eine Stellschraube 7, welche mit einem Draht P in Verbindung steht, der in Windungen um einen senkrecht unter dem Federhammer befind- lichen Stab aus weichem Eisen herumläuft und in einer zweiten kleinen Messingsäule endigt. Die beiden Messingsäulen tragen Klemmschrauben, um die zuleitenden Drähte vom Elemente E her zu befestigen. Wird der galvanische Strom des Elements geschlossen, so geschieht folgen- des. Der Strom tritt durch die Messingsäule 5 ein, geht durch die Feder, von hier aus in die Schraube 7, dann weiter durch die Draht- rolle P, von hier um den Eisenstab herum und zur zweiten, kleineren Fig. 215. Du Boıs-REYmonDs Schlitten-Induktorium. Messingsäule, von wo er zum Element zurückkehrt. Die Folge davon ist, daß der weiche Eisenstab magnetisch wird und den über ihm schwebenden Hammer anzieht. Dadurch wird der Kontakt der Feder mit der Schraube 7 aufgehoben. Durch die Aufhebung dieses Kontakts aber ist der Strom unterbrochen; folglich hört der Magnetismus in dem weichen Eisenstab auch wieder auf, und der Hammer schnellt vermöge der Federkraft der Feder wieder in die Höhe. Infolge- dessen berührt die Feder wieder die Schraube 7, und der Strom ist von neuem geschlossen. So wird durch diese sinnreiche Einrichtung, solange das Element eingeschaltet bleibt, der Strom fortwährend ge- schlossen und unterbrochen in schneller, rhythmischer Aufeinander- folge. Beim Du Boıs-REeymonpschen Schlittenapparat (Fig. 215) ist ein derartiger Hammer in den primären Stromkreis eingeschaltet, und indem der Hammer spielt, bekommen wir bei jeder Oefinung und Von den Reizen und ihren Wirkungen. 489 jeder Schließung im sekundären Kreise einen Induktionsschlag, so daß eine schnelle Aufeinanderfolge von Induktionsschlägen entsteht, die es gestattet, ein Präparat in schnellem Rhythmus intermittierend zu reizen. Es ist zwar nicht zu übersehen, daß mittels dieses Apparates keine rhythmischen Reize von wirklich vollkommen gleicher Intensität und gleicher Frequenz zu erzielen sind, aber die Kon- struktion einfacher Apparate, die diese Anforderungen tatsächlich er- füllen und die gleichzeitig eine beliebige Abstufung sowohl der Intensität als der Frequenz der Einzelreize gestatten, stößt vorläufig auf unüberwindliche Schwierigkeiten, so sehr ein solcher Apparat den sehnlichen Wunsch des Physiologen bildet. Wir verdanken die Konstruktion der meisten oben abgebildeten Apparate allein Du Boıs-Reymonps Erfindergabe, die uns eine Me- thodik geschaffen hat, die in vielen Gebieten der Physiologie unent- behrlich geworden ist. Gehen wir nach diesem Exkurs über die Technik der galvanischen Reizung zu den Wirkungen über, die der galvanische Reiz auf die lebendige Substanz ausübt. a) Erregungswirkungen. Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß die elektrische Reizung, obwohl sie in der Physiologie seit langer Zeit zu den gewöhnlichsten und alltäglichsten Handhabungen gehört, früher fast ausschließlich auf die Nerven- und Muskelfaser und nur gelegentlich auch auf Pflanzen- zellen und einzellige Organismen angewendet worden ist. Dieser Umstand hängt eng mit der einseitigen Entwicklung unserer Wissen- schaft als einer reinen Organphysiologie der Wirbeltiere zusammen. Wenn man sich auf die Organe des hochentwickelten Tierkörpers be- schränkt, dann ist es bei der Abhängigkeit fast aller Gewebe vom Nervensystem bei diesen Objekten sehr naheliegend und in vielen Fällen sogar unvermeidlich, die verschiedenen Gewebe nur indirekt durch die dazugehörigen Nerven zu reizen, da man die Beteiligung der zwischen allen Gewebezellen ungemein verzweigten Nervenfasern bei der Reizung meistens kaum ausschalten kann. Nur für den Muskel haben wir im Curare, jenem äußerst merkwürdigen Pfeilgift der südamerikanischen Indianer, ein Mittel kennen gelernt, um ihn der Einwirkung des Nervensystems vollständig zu entziehen. Die Zellen der Drüsengewebe, der Schleimhäute, der Bindegewebe etc. dagegen sind von dem Einfluß der sie versorgenden Nerven nicht zu befreien, und wenn wir daher einen elektrischen Strom auf sie ein- wirken lassen, so bekommen wir bei der viel höheren Erregbarkeit der Nervenfasern nie eine direkte Reizung der betreffenden Gewebe- zellen allein, sondern immer zugleich eine Reizung der Nervenfasern, die nun ihrerseits wieder ihre eigene Erregung auf die Drüsenzelle, Bindegewebezelle etc. übertragen. Um ein Gewebe durch Reizung in Tätigkeit zu versetzen, genügt es freilich und ist es nicht nur sehr bequem, sondern sogar auch den natürlichen Verhältnissen am meisten entsprechend, dasselbe indirekt durch den Nerven zu reizen; die Wirkungen des galvanischen Stromes auf das Gewebe selbst aber lassen sich dabei nicht studieren. So kommt es, daß es sich bei allen unzähligen elektrischen Reizversuchen am Wirbeltierkörper fast immer nur um direkte Nerven- oder Muskelreizung gehandelt hat. 490 Fünftes Kapitel. Dieser Umstand hat in der Physiologie zu mancherlei einseitigen Vorstellungen über die Wirkungen der galvanischen Reizung geführt. Das ist besonders hervorgetreten bei der Formulierung der Gesetz- mäßigkeiten in den polaren Wirkungen des konstanten Stromes auf die lebendige Substanz. Läßt man einen konstanten Strom durch ein lebendiges Objekt fließen, so zeigt sich, daß nicht die ganze vom Strom durchflossene Strecke gleichzeitig erregt wird, sondern daß die Erregung an der Eintritts- resp. Austrittsstelle des Stromes, also an der Anode resp. Kathode primär entsteht und von hier erst sich über das ganze Objekt ausbreitet. Anode und Kathode sind also die Stellen, an denen der Strom überhaupt allein direkt erregend wirkt, aber wann Anode und wann Kathode Ausgangspunkt der Erregung ist, das ist einer ganz bestimmten Gesetzmäßigkeit unterworfen, und diese Gesetz- mäßigkeit findet ihren Ausdruck in dem Gesetz der polaren Erregung. Wenn man durch einen motorischen Nerven einen konstanten Strom schickt, so wird der Nerv bei der Schließung an der Kathode erregt, und von hier aus pflanzt sich die Erregung durch Nerven- leitung bis zum Muskel fort, der dann eine Zuckung ausführt. Bei der Oeffnung des Stromes dagegen findet die Erregung des Nerven an der Anode statt und pflanzt sich von hier aus zum Muskel fort, daß er zuckt. Dieses Gesetz der polaren Erregung des Nerven hat PFLÜGER!) bereits im Jahre 1859 begründet. Man überzeugt sich von seiner Richtigkeit auf verschiedene Weise, am besten durch folgenden Versuch. Man läßt einen konstanten Strom in verschiedener Richtung durch den Nerven eines Nerv-Muskelpräparats fließen, einmal in ab- steigender Richtung, d. h. so, daß die Anode dem zentralen Ende und die Kathode dem Muskel näher liegt, und das andere Mal-in auf- steigender Richtung, d. h. umgekehrt, so daß die Anode dem Muskel und die Kathode dem zentralen Ende des Nerven am nächsten liegt, und läßt beide Male die Zuckung des Muskels auf einer Myographion- tafel?) aufzeichnen. Dann findet man aus der Länge des Stadiums der latenten Reizung, daß bei der Schließung des absteigenden Stromes der Muskel früher zuckt als bei der Schließung des auf- steigenden Stromes, daß dagegen bei der Oeffnung das umgekehrte Verhältnis stattfindet, und zwar beträgt die Differenz in der Zeit gerade so viel als die Dauer der Erregungsleitung in der intrapolaren Nervenstrecke. Daraus geht hervor, daß die Erregung bei der Schließung von der Kathode, bei der Oeffnung von der Anode aus- gehen muß. Dieses selbe Gesetz der polaren Erregung wurde als- bald auch von BEZOLD°) für den quergestreiften Muskel als gültig erkannt, und ENGELMANN ?) zeigte, daß es auch auf den glatten Muskel Anwendung findet. Nachdem dann spätere Untersuchungen, besonders 1) PFLÜGER: „Untersuchungen über die Physiologie des Elektrotonus‘‘, Berlin 2) Vergl. p. 426 Fig. 170. 3) BEZOLD: „Untersuchung über die elektrische Erregung der Nerven und Muskeln“, Leipzig 1861. 4) ENGELMANN: „Beiträge zur allgemeinen Muskel- und Nervenphysiologie“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 3. 1859 Von den Reizen und ihren Wirkungen. 491 von BIEDERMANN !), noch eine Anzahl neuer Beweise für die Gültig- keit dieses Gesetzes geliefert hatten, nahm man stillschweigend an, daß ebenso wie der Nerv und der Muskel überhaupt alle lebendige Substanz durch den galvanischen Strom bei der Schließung an der Kathode und bei der Oeffnung an der Anode erregt würde. Allein, hier zeigte sich, wie die einseitige Untersuchung des Nerven und Muskels zu Irrtümern zu führen geeignet ist, die bei einer ver- gleichend-physiologischen Untersuchung vermieden werden können, denn die Prüfung anderer Formen der lebendigen Substanz, und zwar der verschiedenartigsten freilebenden Zellen, ergab, daß überhaupt nicht ein allgemein gültiges Gesetz der polaren Er- regung für die lebendige Substanz besteht. Schon im Jahre 1864 machte KüHne?) die eigentümliche Be- obachtung, daß das Actinosphaerium Eichhornii (Fig. 217) einem ganz abweichenden Erregungsgesetze gehorche. Allein, die Be- obachtung Künnes blieb mehr als zwei Jahrzehnte lang vereinzelt und unbeachtet, weil man einerseits in dem vollkommen unbegründeten Vorurteil befangen war, daß das Gesetz der polaren Erregung des Muskels und Nerven allgemein für alle lebendige Substanz gelten müsse und weil man andererseits in der Physiologie in einer so weit- gehenden Unkenntnis der wirbellosen Tiere lebte, daß man sich mit der Deutung der an diesen beobachteten Vorgänge gar nicht zu be- Fig. 216. Objektträger mit Kästchen für galvanische Reizung mikro- skopischer Objekte. a und a, Leisten von gebranntem Ton, b und d, isolierende Kittwälle, welche mit den Leisten zusammen ein Kästchen abgrenzen, in das die Objekte gebracht werden. fassen wagte. Erst als man gewisse andere Wirkungen des gal- vanischen Stromes, die „Galvanotaxis“, entdeckte, wurde die KÜHNE- sche Beobachtung wieder beachtet und mit vollkommneren Methoden bestätigt. Daran schloß sich die Beobachtung einer langen Reihe von frei- lebenden Zellformen, die sämtlich ein vom Nerven und Muskel in ver- schiedener Weise abweichendes Gesetz der polaren Erregung befolgen °). 1) W. BIEDERMANN: „Beiträge zur allgemeinen Nerven- und Muskelphysiologie“. In Sitzungsber. d. k. Akad. d. Wiss., 3. Abt., Wien 1879, 1883, 1884, 1885. 2) W. KÜüHne: „Untersuchungen über das Protoplasma und die Kontraktilität‘“, Leipzig 1864. 3) Max VERWORN: „Die polare Erregung der Protisten durch den galvanischen Strom“. I. In PFLÜGERs Arch., Bd. 45, 1889. — Derselbe: ‚Die polare Erregung der Protisten durch den galvanischen Strom“. II. Ebenda, Bd. 46, 1889. — Der- selbe: „Untersuchungen über die polare Erregung der lebendigen Substanz durch den konstanten Strom“. III. Ebenda, Bd. 62, 1896. — Derselbe: „Die polare Er- regung der lebendigen Substanz durch den konstanten Strom“. IV. Ebenda, Bd. 65, 1896. 492 Fünftes Kapitel. Um unter dem Mikroskop auf dem Öbjektträger galvanische Reiz- versuche mit unpolarisierbaren Elektroden vorzunehmen, bedienen wir uns am zweckmäßigsten eines Objektträgers (Fig. 216), auf dem zwei Leisten von porösem Ton, wie er in den Tonzellen der galvanischen Elemente Verwendung findet, parallel nebeneinander (a und a,) auf- gekittet und an ihren Enden durch je einen kleinen Wall isolierenden Kittes (Kolophonium und Wachs) verbunden sind (Ö und b,), so daß ein kleines offenes Kästchen auf dem Öbjektträger entsteht, in das man die Wassertropfen mit den zu untersuchenden Objekten hinein- bringen kann. An die beiden parallelen Tonleisten werden die Pinsel der gewöhnlichen unpolarisierbaren Elektroden angelegt. Mittels dieser kleinen Vorrichtung gelingt es, die mikroskopischen Objekte nahezu parallel zu durchströmen und die Wirkungen der Reizung gleichzeitig unter dem Mikroskop zu beobachten. Reizt man auf diese Weise das Actinosphaerium, wenn es seine Pseudopodien wie Sonnenstrahlen geradlinig aus dem kugelförmigen Körper heraus- Fig. 217. Aectinosphaerium Eichhornii in vier aufeinanderfolgenden Stadien der polaren Erregung durch den konstanten Strom. Von der Anode her zerfällt das Proto- plasma. gestreckt hat, durch einen konstanten Strom, so findet man, daß im Moment der Schließung an denjenigen Pseudopodien, die in der Rich- tung der Anode und der Kathode ausgestreckt sind, sich Kontrak- tionsvorgänge bemerkbar machen, indem das Protoplasma der Pseudo- podien sich zu kleinen Kügelchen und Spindelchen zusammenballt und dem Körper zuströmt (Fig. 216). Diejenigen Pseudopodien, die senkrecht zur Stromesrichtung ausgestreckt sind, bleiben dagegen in Ruhe. Wir haben also im Moment der Schließung eine kontraktorische Anoden- und Kathodenerregung. Die Erregung an der Anode ist von beiden die stärkere. Während der Dauer des konstanten Stromes macht sich das auch bemerkbar. Die Erregungssymptome an der Kathode verschwinden nämlich sehr bald Von den Reizen und ihren Wirkungen. 493 nach der Schließung allmählich, und die Pseudopodien nehmen hier ihr glattes Aussehen wieder an, während an der Anodenseite die Er- regung fortdauert, solange der Strom geschlossen bleibt. Das äußert sich in den immer weiter fortschreitenden Kontraktionsvorgängen. Das Protoplasma zieht sich immer mehr von der Anodenseite her nach dem Körper zurück; bald sind die Pseudopodien ganz einge- zogen. Jetzt macht sich die Kontraktion am Körper selbst bemerk- bar: das Protoplasma der Vakuolenwände fließt mehr und mehr nach dem Innern hinein, dabei zerplatzen die Vakuolen, und ihre Wand selbst zerfällt zum Teil in feine Körnchen. Dieser Einschmelzungs- und Zerfallsprozeß dauert so lange fort, wie der Strom hindurch- fließt, nimmt aber allmählich etwas an Intensität ab. Es kann also kein Zweifel bestehen, daß der konstante Strom auch während seiner Dauer Erregung erzeugt. In dem Moment, wo der Strom geöffnet wird, hört dagegen auch der Einschmelzungs- prozeß des Protoplasmas an der Anode sofort auf. Statt dessen machen sich an der Kathode geringe Erregungssymptome be- merkbar, indem die Pseu- dopodien hier wieder Kontraktionsvorgänge zeigen und ihr Proto- plasma zu Kugeln und Spindeln zusammen- 2 fließen lassen. Diese Wir- kung hört aber nach einiger Zeit allmählich wieder auf, und es kommt meist nicht zu einer voll- ständigen Einziehung der kathodischen Pseudopo- dien. Oeffnet man den Strom nicht, so zerfällt der Körper des Actino- Beta er, ner M r 1g. . m ı1stegına essonııl (vergl. Fig. a ln 100 205 p- "ran). Die insenforniee Kalkschale tet aut der £ 2 “» scharfen Kante und entsendet aus der zum Boden ge- aber im Laufe der Zeit richteten Schalenöffnung nach allen Seiten hin faden- immer langsamer, bis der förmige Pseudopodien, die am anodischen Pol sehr starke, Zerfall schließlich, wenn Am kathodischen Pol etwas schwächere kontraktorische der Strom nur schwach Erregung deutlich erkennen lassen. war, ganz stehen bleibt. War der Strom dagegen stärker, so schreitet der Zerfallsprozeß schnell fort, bis der ganze Körper in einen leblosen Körnerhaufen zerfallen ist. Das Actinosphaerium wird also bei der Schließung des konstanten Stromes an der Anode undan der Ka- thode, bei der Oeffnung nur an der Kathode kontrak- torvschzerregt- Ganz ebenso wie Actinosphaerium werden auch viele marine Rhizopoden, wie Orbitolites, Amphistegina (Fig. 218) u. a., bei der Schließung des Stromes an der Anode stark, an der Kathode schwach kontraktorisch erregt, eine Tatsache, die auf den langen 494 Fünftes Kapitel. fadenförmigen Pseudopodien noch viel deutlicher in ihrer Reinheit hervortritt als bei Actinosphaerium, indem sich auf den Pseudo- podienfäden die für jede starke kontraktorische Erregung so überaus charakteristischen Kügelchen und Spindelchen an beiden Polen ganz besonders schön entwickeln). An Flimmerepithelien von Wirbeltieren sah KrArr?) gleichfalls, daß beim Hindurchfließen des konstanten Stromes die Flimmer- bewegung im Moment der Schließung an beiden Polen beschleunigt wurde. Ueber die polare Wirkung der Oeffnung konnte er nicht zu einem definitiven Ergebnis gelangen. Schließlich hat LoEB°) ge- funden, daß auch bei Amblystoma, einer amerikanischen Schwanz- lurchform, die Hautdrüsenzellen bei der Schließung des Stromes an der Anode erregt werden, so daß am anodischen Pol die Ausscheidung eines weißlichen Sekrets stattfindet, gleichgültig in welcher Richtung der Strom durch den Körper geschickt wird. Etwas anders, aber auch vom Muskel abweichend, verhält sich Pelomyxa®). Wenn man dieses Protoplasmaklümpchen mit einem konstanten galvanischen Strom reizt, so tritt im Moment der Schließung Fig. 219. Pelomyxa palustris. / Normal, kuglig kontrahiert. 7/7 Im Moment der Schließung beginnt an der Anode das Protoplasma zu zerfallen. nur an der Anode eine Erregung ein, die sich in einer plötzlichen, ruckartigen Kontraktion mit sofort darauffolgendem Zerfall der Anoden- seite äußert (Fig. 219). Bei der Oeffnung des Stromes erfolgt eine gleiche Kontraktion an der Kathodenseite, während der Zerfall an der Anode sofort sistiert wird. Läßt man dagegen den Strom länger ge- schlossen, so zerfällt schließlich der Körper von der Anodenseite her allmählich in eine tote Masse. Also Pelomyxa zeigt ebenfalls, daß auch die Dauer des konstanten Stromes als Reiz wirkt. Dabei wird, je länger der Strom geschlossen bleibt, die Er- regbarkeit immer geringer. Wird nach einiger Zeit der Einwirkung der Strom geöffnet, so wirkt häufig die Oeffnung gar nicht mehr er- regend, und um bei der Schließung einen neuen Erfolg zu bekommen, 1) MAx VERWORN: „Untersuchungen über die polare Erregung der lebendigen Substanz durch den konstanten Strom“. III. Mitteilung. In PFLÜGERs Arch. f. d. ges. Physiol., Bd. 62, 1896. 2) H. Krart: „Zur Physiologie des Flimmerepithels bei Wirbeltieren“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 47, 1890. 3) J. LoEB: „Zur Theorie des Galvanotropismus“. III. Ueber die polare Er- regung der Hautdrüsen von Amblystoma durch den konstanten Strom“. In PFLÜGERS Arch., Bd. 65, 1896. 4) Vergl. p. 471. Von den Reizen und ihren Wirkungen, 495 muß man jetzt bedeutend stärkere Ströme anwenden als zuvor. Die Abnahme der Erregbarkeit bei längerer Einwirkung des Stromes ist auch der Grund, weshalb am Actinosphaerium bei gleichbleiben- der Intensität des durchfließenden Stromes der Einschmelzungsprozeß immer mehr an Intensität abnimmt. Die lebendige Substanz verliert eben bei längerer Einwirkung eines Reizesan Erregbarkeit. Das Erregungsgesetz der Pelomyxa ist also folgendes: Pelomyxa wird bei der Schließung an der Anode und bei der Oeffnung an der Kathode kontrak- torisch erregt. Wieder eine andere Form der polaren Erregung, die aber viel- leicht noch interessanter ist, zeigt uns die Amoeba proteus!). Schickt man durch den Amöbenkörper, wenn er nach verschiedenen Richtungen hin seine Pseudopodien ausstreckt, einen konstanten Strom, so sieht man, daß er alsbald die typische Form der Amoeba limax annimmt, d. h. die langgestreckte Form, bei der das Protoplasma in Fig. 220. Amoeba proteus. Links ungereiztes Individuum mit zahlreichen Pseudo- podien, rechts zwei Individuen durch den galvanischen Strom gereizt. An der Anode zeigt sich eine typische Kontraktion, an der Kathode eine starke Expansion des Proto- plasmas, was besonders deutlich bei plötzlicher Wendung der Stromrichtung bemerkbar wird. einer einzigen Richtung fließt, so daß der ganze Körper gewisser- maßen ein einziges dickes, großes Pseudopodium bildet. Dabei zeigt sich, daß der langgestreckte Körper an der Anode kontraktorisch er- erregt ist, denn hier entwickeln sich die charakteristischen BÜTSCHLI- schen Vakuolen im Protoplasma, und das letztere zieht sich stark von der Anodenseite zurück, während an der Kathode im Gegenteil eine Expansion erfolgt, denn hier breitet sich das Protoplasma zu einem breiten Lappen aus, der Kathode entgegen. Man sieht diese Vor- gänge am besten, wenn man plötzlich die Richtung des Stromes wen- det, so daß nunmehr Kathode wird, was vorher Anode war, und um- gekehrt (Fig. 220). Ganz analoge Erregungsverhältnisse hat LupLorr ?) an Paramae- cium nachgewiesen. Bei der Schließung des Stromes kommen auch 1) MAx VERWORN: „Die polare Erregung der lebendigen Substanz durch den kon- stanten Strom“, IV. Mitteilung. In PFLÜGERS Arch. f. d. ges. Physiol., Bd. 65, 1896. 2) LUDLOFF: „Untersuchungen über den Galvanotropismus“. In PFLÜGERS Arch., Bd. 59, 1895. 496 Fünftes Kapitel. hier zunächst schon in der äußeren Körperform an der Anode Kon- traktionsvorgänge zum Ausdruck, indem das anodische Körperende bei starken Strömen sich zipfelförmig zusammenschnürt und seinen Trichoeysten-Inhalt auspreßt, so daß die Trichocystenfäden das be- treffende Körperende umgeben (Fig. 221 DB). Viel charakteristischer aber äußert sich die polare Wirkung des Stromes an der Wimper- bewegung. Es werden nämlich die Wimpern an beiden Körperpolen Fig. 221. Paramaecium aurelia, polare Erregungsvorgänge. A Ungereiztes Individuum. B Wirkung eines starken Stromes: das anodische Ende hat sich zipfelförmig zusammengeschnürt und seinen Trichocysteninhalt ausgestoßen. C Schwinglage der Wimpern (es ist nur der Körperumriß gezeichnet): an der Anode sind die Wimpern stärker nach dem spitzen hinteren Körperpol gebogen, an der Kathode mehr nach dem stumpfen Vorderende. D Dasselbe bei umgekehrter Körperlage. Nach LUDLOFF. in entgegengesetztem Sinne erregt, und zwar werden die anodischen Wimpern kontraktorisch erregt, indem sie stärker nach dem Hinterende des Körpers schlagen, die kathodischen Wimpern dagegen zeigen ein Ueberwiegen der expansorischen Bewegungsphase, indem sie stärker nach dem Vorderende des Körpers hin schwingen, gleichgültig in welcher Lage zur Stromrichtung der Körper fixiert sein mag (Fig. 221 C u. D). Wir sehen also, daß bei der Amöbe sowohl wie beim Paramaecium die Schließung des Stromes an beiden Polen entgegengesetzte Wirkungen erzeugt, -7 Von den Reizen und ihren Wirkungen. 497 und zwar an der Anode eine kontraktorische Erregung, an der Kathode ein stärkeres Hervortreten der Expan- sionsphase. Die polaren Wirkungen des galvanischen Stromes sind aber auch beim Muskel, wie uns besonders die Untersuchungen von BIEDERMANN!) an glatten und quergestreiften Muskeln gezeigt haben, in Wirklichkeit noch komplizierter, als es das Erregungsgesetz des Muskels in der Form, wie es früher ausgesprochen wurde, angibt. Wir müssen auch hier die Wirkungen noch weiter spezialisieren und nicht nur die kontraktorische Erregung, sondern auch die expan- sorischen Wirkungen berücksichtigen. Aus den Untersuchungen von BIEDERMANN geht hervor, daß der konstante Strom am Muskel bei der Schließung nicht nur eine kontraktorische Erregung an der Ka- thode, sondern gleichzeitig eine expansorische Wirkung an der Anode erzeugt. Am Muskel, der sich auf der Höhe seiner Ausstreckung befindet, kann die expansorische Wirkung an der Anode begreif- lieherweise nicht zum Ausdruck kommen, denn der vollständig aus- gestreckte Muskel kann nicht noch zu einer weiteren Ausstreckung gebracht werden. Daß aber die Anode bei der Schließung expan- sorisch erregend wirkt, wird sofort sichtbar, wenn man die Reizung an glatten oder quergestreiften Muskeln ausführt, die sich im Kon- traktionszustande befinden. Im Moment der Schließung erfolgt als- dann unmittelbar an der Anode sofort eine lokale Erschlaffung. Ebenso konnte BIEDERMAnN am Herzmuskel feststellen, daß umgekehrt bei der Oeffnung außer der kontraktorischen Erregung an der Anode auch noch eine expansorische Wirkung an der Kathode sich einstellt. Demnach ergibt sich die interessante Tatsache, daß die Wirkungen bei der Oeffnung an beiden Polen die entgegengesetzten sind wie bei der Schließung. Die Erfahrungen am Nerven liefern dazu ein voll- ständiges Analogon. Am Nerven haben wir nämlich auch zwei entgegengesetzte Wirkungen an beiden Polen. Das kommt in der Veränderung der Erregbarkeit zum Ausdruck, die an den Polen ein- tritt, wenn der Nerv von einem galvanischen Strom durchflossen wird. Der Zustand, in dem sich ein Nerv oder Muskel befindet, so- lange er von einem konstanten galvanischen Strome durchflossen wird, ist von Du Boıs-REymonDd als „Elektrotonus“ bezeichnet worden. Reizversuche an solchen Nerven, die sich in diesem „elektro- tonischen“ Zustande befinden, haben nämlich gezeigt, daß nach der Schließung des Stromes die Erregbarkeit an der Kathode gegen die Norm erhöht, an der Anode dagegen herabgesetzt ist, und daß sich dieses Verhältnis bei der Oeffnung des Stromes vollkommen um- kehrt, so daß noch kurze Zeit nach der Oeffnung eine Erregbarkeits- steigerung an der Anode und eine Erregbarkeitsherabsetzung an der Kathode bemerkbar ist. Wir haben also an der Kathode und Anode bei der Schließung entgegengesetzte Prozesse, die sich bei der Oeffnung an beiden Polen in ihr Gegen- teil umkehren. Ob sich auch bei manchen freilebenden Zellen ‘ähnliche Verhältnisse zwischen den Wirkungen von Schließung und Oeffnung einerseits und denen der beiden Pole anderseits werden 1) W. BIEDERMANN: „Zur Physiologie der glatten Muskeln“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 46, 1890. — Derselbe: „Zur Lehre von der elektrischen Erregung quer- gestreifter Muskeln“. In PFLÜüGERs Arch., Bd. 47, 1890. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 32 498 Fünftes Kapitel. auffinden lassen, müssen spätere Versuche zeigen. Daß aber dieser Gegensatz, wie er beim Muskel und Nerven besteht, nicht für alle lebendige Substanz verallgemeinert werden darf, zeigt einfach die Tatsache, daß z. B. beim Actinosphaerium, bei Orbitolites, bei Amphistegina ein Gegensatz in den Wirkungen beider Pole bei der Schließung gar nicht vorhanden ist, daß vielmehr hier so- wohl an der Anode als an der Kathode eine kontraktorische Erregung entsteht. Fassen wir das Ergebnis unserer Erfahrungen über die polaren Wirkungen des galvanischen Stromes kurz zusammen, so können wir nur sagen, daß die primären Wirkungen des konstanten Stromes an der Eintritts- stelle (Anode) und an der Austrittsstelle (Kathode) der lebendigen Substanz lokalisiert sind, daß aber die Art der Wirkungen bei den verschiedenen Formen der leben- digen Substanz an der Kathode und an der Anode bei der Schließung und bei der Oeffnung sehr verschieden ist, und daß sich demnach kein allgemein gültiges Ge- setz der polaren Erregung für alle lebendige Substanz aufstellen läßt. Verlassen wir aber nunmehr die Betrachtung der polaren Wirkungen des galvanischen Stromes, und fassen wir zum Schluß noch die ver- schiedenen Arten von Erregungswirkungen ins Auge, welche die elektrische Reizung hervorbringt. Bei den Kontraktionsbewegungen treten die expansorischen Wirkungen der galvanischen Reizung in den Hintergrund, und wir haben ja bereits gesehen, daß es nur in gewissen Fällen möglich ist, dieselben überhaupt zu beobachten. Dagegen machen sich die kon- traktorischen Wirkungen überall bemerkbar. Schon am Actino- sphaerium und der Amphistegina sahen wir die typischen Kontraktionsvorgänge in der Kugel- und Spindelbildung des Proto- plasmas der erregten Pseudopodien. Amöben und Leukocyten ziehen auf einzelne Induktionsschläge hin, wie GOLUBEwW') und ENGELMANN?) gezeigt haben, ihre Pseudopodien ein und nehmen Kugelform an. Das Protoplasma der Pflanzenzellen wird, wie KÜHNE?) an den Zellen der Staubfädenhaare von Tradescantia virginica nachwies, durch wiederholte Schließung und Oeffnung des konstanten Stromes oder durch einzelne Induktionsschläge ebenso zur Bildung von Kugeln veranlaßt, wie sie auch für die nackten Protoplasma- formen charakteristisch ist, eine Wirkung, die auch bei lokaler An- wendung der Reize lokal erzielt werden kann. Die Tätigkeit der Flimmerhaare wird, wie ENGELMANN!) und in 1) GoLUBEW: „Ueber die Erscheinungen, welche elektrische Schläge an den sogenannten farblosen Bestandteilen des Blutes hervorbringen“. In Sitzungsber. d. Wiener Akad., Bd. 57, 1868. 2) ENGELMANN: „Beiträge zur Physiologie des Protoplasmas“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 2, 1869. 3) KÜHNE: „Untersuchungen über das Protoplasma und die Kontraktilität“, Leipzig 1864. 4) ENGELMANN: „Physiologie der Protoplasma- und Flimmerbewegung“. In HERMANNs Handbuch der Physiologie, Bd. 1, 1879. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 499 neuerer Zeit KRAFT!) an Flimmerepithelien beobachtet haben, durch den galvanischen Strom zu größerer Geschwindigkeit gesteigert, in- dem besonders die Frequenz und Amplitude des Wimperschlages und damit der Nutzeffekt beeinflußt wird. Auch am einzelnen Geißel- faden der Flagellatenzelle, z. B. von Peranema, kann man die er- regende Wirkung des elektrischen Reizes beobachten, die sich z. B. bei Einwirkung eines einzelnen In- duktionsschlages in einem energi- schen Schlage der sonst gleichmäßig rhythmisch schwingenden Geißel äußert. Deus = 4, N SR TEE a m ie 9 3 SEN | 77 a a HE De eng na - a A REIT A = o Te PETER ereer Ss gi —— BE rn 4 Er nn ei | ij Fig. 222. Fig. 223. Fig. 222. Tradescantia virginica. Eine Zelle aus den Staubfädenhaaren. A Un- gereizt, B durch den Induktionsstrom gereizt. Das Protoplasma ist bei a, b, c, d zu Kugeln und Klumpen zusammengeflossen. Nach KÜHNE. Fig. 223. Peranema, ein Geißelinfusor. a Ruhig schwimmend, 5 durch einen In- duktionsschlag gereizt. Bei den Myoiden der Infusorien, wie z. B. beim Stielmyoid der Vorticellen, ferner bei den glatten Muskelzellen und schließlich bei den quergestreiften Muskelfasern kommt die Erregung durch einen einzelnen kurzen elektrischen Reiz, etwa einen einzelnen Induktions- schlag, in einer Zuckung zum Ausdruck, die man bei quergestreiften Skelettmuskeln mittels eines Myographions graphisch verzeichnen kann. Ehe wir aber die Betrachtung der Reizwirkungen an den kon- traktilen Substanzen verlassen, verdient noch die Wirkung schnell aufeinanderfolgender elektrischer Reize unsere Aufmerksamkeit. Wir haben nämlich in den rhythmisch sich folgenden Induktionsschlägen des Du Boıs-ReymonDschen Schlittenapparates bei tätigem Hammer 1) H. Krart: „Zur Physiologie des Flimmerepithels bei Wirbeltieren“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 47, 1890. 32* 500 Fünftes Kapitel. das beste Mittel, um ein kontraktiles Gebilde in tetanische Dauer- kontraktion zu versetzen. Eine Amöbe, ein Leukocyt etc. bleiben unter rhythmisch aufeinanderfolgenden Induktionsschlägen, solange die Einwirkung dauert, im Kontraktionsstadium, d. h. sie be- halten Kugelform. Ebenso bleibt der Muskel unter der Einwirkung rhythmisch intermittierender Induktionsströme dauernd kontrahiert. Am Muskel aber haben wir die günstigste Gelegenheit, die Entstehung des Tetanus zu verfoleen und uns besser als bei mechanischer Reizung Fig. 224. I Myographion. // Zuckungskurve. Nach HELMHOLTZ. a Moment der Reizung durch einen Induktionsschlag. Die zweite Erhebung beruht auf Fehlern des Apparates. davon zu überzeugen, daß die tetanische Kontraktion aus distinuier- lichen Einzelzuckungen entsteht, die sich nur so schnell folgen, daß zwischen den einzelnen Kontraktionen dem Muskel keine Zeit bleibt, sich wieder zu strecken. Um die Einzelheiten der tetanischen Kon- traktion zu studieren, bedienen wir uns eines Myographions (Fig. 224 1 und”Fig. 225), dessen Schreibhebel uns die Bewegung des Muskels bei der Reizung in Gestalt einer Kurve auf einer rotierenden Trommel ver- zeichnet. Reizen wir den Muskel mittels eines einzigen, nicht zu starken Induktionsschlages, so daß er nur eine mäßige Zuckung ausführt, so bekommen wir eine einzelne Zuckungskurve, deren aufsteigender Schenkel die Kontraktionsphase, deren absteigender Schenkel die Ex- pansionsphase darstellt (Fig. 224 IT). Lassen wir aber mehrere In- duktionsschläge nacheinander auf den Muskel einwirken, und zwar in regelmäßigen Intervallen in der Weise, daß jeder folgende Reiz den Muskel immer in dem Moment trifft, in dem er eben wieder beginnt sich zu strecken, so finden wir, daß sich die ersten Zuckungen su per- ponieren, d.h. daß die Verkürzung des Muskels mit jeder folgenden Von den Reizen und ihren Wirkungen. 501 Zuckung größer wird, so, als ob der Verkürzungsgrad, den der Muskel noch von der vorhergehenden Zuckung hatte, dem Ruhepunkt des Muskels entspäche, von dem aus sich die Verkürzung der nächsten Zuckung erhebt. So steigt die Verkürzung treppenartig mit jedem folgenden Reiz bis zu einer bestimmten Höhe, auf der sie sich dann erhält, auf der sie aber doch noch deutlich die regelmäßigen Schwan- kungen zwischen den einzelnen Reizen erkennen läßt (Fig. 226 IT). Lassen wir schließlich schneller aufeinanderfolgende Induktionsschläge auf den Muskel einwirken, wie sie beim Spiel des NEErschen Hammers in der sekundären Spirale entstehen, dann ist die Wir- kung jedes einzelnen Reizes nicht mehr als solche zu unterscheiden, sondern wir bekommen eine glatte Kurve, die ziemlich steil an- steigt und sich dann, wenn die Reizung nicht zu lange ausgedehnt wird, als gerade Linie auf gleicher Höhe erhält (Fig. 226 III). So können wir von vollkom- men ausgebildeten Einzel- zuckungen an, indem wir die Geschwindigkeit der Aufeinanderfolge der Reize steigern, durch alle Ueber- zuuselfmen ds unvolk. FiE2, Mepkelehreiber, Id Me nuusz alle - Nerv durch zwei Platinelektrodenspitzen gereizt wird durch die Entstehung des und dessen Muskel durch Uebertragung auf einen vollkommenen Tetanus ver- Schreibhebel seine Bewegung auf eine rotierende folgen und damit den Be- schwarze Trommel aufzeichnet. weis liefern, daß der Teta- nus in Wirklichkeit auf distinuierlichen Vorgängen beruht. Die Tatsache, daß die maximale Verkürzung des Muskels, die man mit einem Einzelreiz erzielen kann, immer etwa 2—Dmal niedriger ist als die Verkürzung, die man bei tetanischer Reizung mit derselben Reizstärke erhält, wird, wie FRÖHLICH !) gezeigt hat, lediglich dadurch bedingt, daß bei der Einzelzuckung niemals die ganze Strecke des Muskels ihrer Länge nach gleichzeitig kontrahiert ist. Es ist viel- mehr, während z. B. die obere Partie des Muskels schon kontrahiert ist, die untere noch erschlafft und während die Kontraktionswelle, die von oben nach unten hin verläuft, in die untere Partie vorgedrungen ist, die obere Partie bereits wieder gestreckt. Die Prozesse verlaufen eben so schnell, daß es gar nicht möglich ist, durch einen Einzelreiz, der eine von einem Ende ausgehende Kontraktionswelle auslöst, alle Punkte des Muskels gleichzeitig in Kontraktion zu versetzen. Folgen aber Einzelreize schnell genug aufeinander, wie bei tetanischer Reizung 1) Fr. W. FRÖHLICH: „Ueber die scheinbare Steigerung der Leistungsfähigkeit des quergestreiften Muskels im Beginn der Ermüdung (‚Muskeltreppe‘), der Kohlen- säurewirkung und der Wirkung anderer Narcotica“. In Zeitschr. f. allgem. Physiol., Bd. 5, 1905. — Derselbe: „Ueber die Abhängigkeit der maximalen Zuckungshöhe des ausgeschnittenen Muskels von der Lage der Reizstelle“‘, ebenda 1905. 502 Fünftes Kapitel. so kann man den ganzen Muskel in allen seinen Punkten gleichzeitig in Kontraktion versetzen und erhält infolgedessen eine viel stärkere Verkürzung. Das ist die Superposition im Tetanus. Ebenso wie der künstlich erzeugte Tetanus sind aber auch alle andauernden Kontraktionen, die wir unter Nerveneinfluß in unserem Körper ausführen, distinuierliche, aus lauter schnell aufeinander- folgenden Einzelerregungen zusammengesetzte Dauerkontraktionen. III Fig. 226. Myographische Kurven vom Gastroenemius des Frosches. T Einzelne Zuckungen, hervorgerufen durch einzelne Induktionsöffnungsschläge. // Un- vollkommener Tetanus, hervorgerufen durch schneller aufeinanderfolgende Induktions- öffnungsschläge. /I/ Vollkommener Tetanus, hervorgerufen durch sehr schnell aufeinander- folgende Induktionsschläge. Schließlich darf nicht unerwähnt bleiben, daß es Formen der lebendigen Substanz gibt, die überhaupt nicht durch Induktionsschläge, weder durch einzelne noch durch schnell oder langsam aufeinander- Von den Reizen und ihren Wirkungen. 503 folgende beeinflußt werden. Solche Objekte sind z. B. Orbitolites, Amphistegina und andere Meeresrhizopoden. Ihr Protoplasma verlangt eine längere Reizdauer, um zu reagieren, als sie der blitz- artige Induktionsschlag besitzt !). Gehen wir noch kurz auf die anderen Erregungswirkungen der ealvanischen Reizung ein, so finden wir, daß der galvanische Reiz nicht nur an den kontraktilen Substanzen mechanische Bewegungs- effekte auslöst, sondern z. B. auch an solchen Organismen, die sich wie die Mimosa durch Turgeszenzveränderungen bewegen. Läßt man auf eine mit ausgespreizten Zweigen und Blättern dastehende Mimosa einzelne Induktionsschläge einwirken, so haben diese ganz dieselbe Wirkung wie etwa mechanische Reizung: die Pflanze senkt sofort ihre Zweige und klappt die Blätter zusammen in der typischen Form, die wir schon früher kennen lernten. Auch die Produktion anderer Energieformen wird durch galva- nische Reize ausgelöst. So haben thermoälektrische Messungen am Muskel ergeben, daß sich derselbe bei der Tätigkeit erwärmt, wenn auch nur in geringem Maße, und daß die Wärmeproduktion in einem ganz bestimmten Verhältnis zu der Arbeitsleistung steht. Ja, die Wärmeproduktion ist sogar stets größer als die Produktion von mechanischer Energie, denn von der Gesamtenergie, die der Muskel bei der Tätigkeit liefert, wird kaum ein Fünftel bis ein Drittel in Form von mechanischer Arbeit, alles andere dagegen als Wärme abgegeben. Daß auch Elektrizitätsproduktion bei der durch galvanische Reizung bewirkten Muskelzuckung erfolgen kann, ist nach unseren früheren Erfahrungen bereits klar, da ja zwischen jeder kontrahierten Stelle und jeder ruhenden Stelle des Muskels eine elektrische Spannung entsteht, in der Weise, daß die kontrahierte Stelle sich zur ruhenden Stelle negativ verhält. Läuft also eine Kontraktionswelle über den ruhenden Muskel von einem Ende zum anderen, so kann man im Moment, wo dieselbe beginnt, von beiden Enden des Muskels einen „Aktions- strom“ ableiten, da das andere Ende sich noch in Ruhe befindet, während das eine sich eben kontrahiert. Schließlich wissen wir auch, daß durch elektrische Reizung bei pelagischen Leuchttieren, wie bei Radiolarien und Noktiluken, Licehtentwicklung erzeugt werden kann. Daß aber alle diese Formen der Energieproduktion zugleich mit einer Erregung des Stoffwechsels verbunden sein müssen, ist nach unseren früheren Betrachtungen selbstverständlich, und hier ist es hauptsächlich der so viel untersuchte Muskel gewesen, der uns das direkt gezeigt hat. Der durch Reizung irgendwelcher Art zu dauern- der Tätigkeit erregte Muskel verbraucht mehr Sauerstoff als der ruhende, er verbraucht das in ihm aufgespeicherte Glykogen, er pro- duziert mehr Kohlensäure als der ruhende und außerdem Milchsäure und nimmt statt der neutralen oder alkalischen Reaktion des ruhen- den Muskels eine saure Reaktion an. Alle diese Veränderungen zeigen aufs deutlichste, daß im Muskel, wenn er durch Reize in Tätigkeit versetzt wird, eine bedeutende Erregung des Stoffwechsels eintritt. 1) MAx VERWORN: „Untersuchungen über die polare Erregung der lebendigen Substanz durch den konstanten Strom“. III. Mitteilung. In PFLÜGERs Arch. f. d. ges. Physiol., Bd. 62, 1896. 504 Fünftes Kapitel. b) Lähmungswirkungen. So vielfach und genau die Erregungswirkungen, die durch den galvanischen Strom erzeugt werden, bisher untersucht worden sind, so wenig klar sind bisher seine Lähmungswirkungen geworden. Dennoch sind auch im vorigen Abschnitt schon solche lähmende Wirkungen erwähnt worden. Die Erschlaffung, die am Muskel bei Schließung des Stromes an der Anode eintritt, und die Herabsetzung der Erregbarkeit, die unter den gleichen Bedingungen am Nerven zu beobachten ist, sind offenbar Lähmungsvorgänge, denn es ist in neuerer Zeit immer wahrscheinlicher geworden, daß sie in einer Herabsetzung der Dissimilationsprozesse bestehen. Es darf aber nicht unerwähnt bleiben. daß HERING, GASKELL, MELTZER und andere diese hem- menden Wirkungen wie alle Hemmungsprozesse nicht als Ausdruck einer dissimilatorischen Lähmung, sondern vielmehr als Folgen einer assimilatorischen Erregung auffassen. Indem durch die Wirkung des konstanten Stromes beim Muskel und Nerven an der Anode die Assi- milationsprozesse gesteigert werden, überwiegt die Assimilationsphase des Stoffwechsels nach dieser Anschauung über die Dissimilations- phase und der Ausdruck davon ist die Expansion der vorher kontra- hierten Muskelsubstanz resp. die Herabsetzung der Erregbarkeit und Leitfähigkeit des Nerven. Neuere Erfahrungen haben jedoch für andere Hemmungsvorgänge diese Auffassung als unzutreffend er- wiesen und so ist es auch nicht wahrscheinlich, daß sie für diesen speziellen Fall richtig ist. Indessen soll auf diese Dinge erst weiter unten bei Erörterung der sogenannten Hemmungsvorgänge näher ein- gegangen werden. Andere Lähmungswirkungen des Stromes sind von ENGELMANN!) und KRAFT?) an der Flimmerbewegung beschrieben worden. Die Kiemenleisten der zweiklappigen Muscheln sind mit einem Flimmerepithel bekleidet, dessen Wimpern sich durch ihre Länge be- sonders gut zur Beobachtung der Flimmerbewegung eigenen. Reizte ENGELMANN diese Flimmerleisten mittels eines einzelnen stärkeren Induktionsschlages, so verfielen die Wimpern in Starre, genau so, wie nach stärkerer thermischer Reizung die Wimpern der Infusorien und Flimmerepithelien in Wärmestarre verfallen. Sie krümmten sich in der Schlagrichtung hakenförmig um, stellten ihre Bewegung ein und verharrten in dieser Stellung um so länger, je stärker der Induktions- schlag gewesen war. Eine analoge Beobachtung machte KrAFT bei länger dauernder Einwirkung des konstanten Stromes auf die Flimmerepithelien der Wirbeltiere. Hier trat im Beginn der Einwirkung zunächst an den beiden Polen, dann aber durch Fortleitung der Erregung im Gewebe auch in der ganzen intrapolaren Strecke eine Beschleunigung des Wimperschlages ein, die aber bei längerer Dauer des Stromes all- mählich abnahm und einer Herabsetzung der Wimpertätigkeit bis zum völligen Stillstand in der ganzen intrapolaren Strecke Platz machte. Wir haben hier also, wie es scheint, dasselbe Verhältnis wie auch bei zahlreichen anderen Lähmungen, daß der betreffende Reiz zunächst 1) ENGELMANN: „Physiologie der Protoplasma- und Flimmerbewegung“. In HERMANNs Handbuch der Physiologie, Bd. 1, 1879. 2) H. KrArt: „Zur Physiologie des Flimmerepithels bei Wirbeltieren“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 47, 1890. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 505 Erregung und dann bei stärkerer oder längerer Einwirkung Lähmung hervorruft. Dieses Verhältnis zwischen Erregung und Lähmung wird uns weiterhin noch eingehender zu beschäftigen haben. Schließlich ist in neuerer Zeit wiederholt die Frage aufgeworfen worden, welche spezielle Eigenschaft des galvanischen Stromes die physiologischen Reizwirkungen an der lebendigen Substanz erzeuge. Es sind hier offenbar verschiedene Möglichkeiten denkbar. Die nächst- liegende ist und bleibt immer die Annahme, daß es die elektro- lytischen Prozesse in der lebendigen Substanz selbst sind, welche die verschiedenen Reizwirkungen hervorrufen. Es ist völlig zweifellos, daß der galvanische Strom in der lebendigen Substanz chemische Umsetzungen herbeiführt. Vor allem werden davon die sehr labilen Verbindungen betroffen werden, die wir, wie sich weiter unten zeigen wird, in der lebendigen Substanz als wesentliche Bestandteile an- nehmen müssen. Mit dem Zerfall dieser Verbindungen ist schon an sich die Entstehung von Erregungswirkungen verknüpft. Sodann aber ist von LoEegB!) auch die Hypothese gemacht worden, daß die polare Erregung bei Objekten, die in einem flüssigen‘Medium sich befinden, dadurch bedingt sei, daß durch die an den Grenzflächen der lebendigen Substanz und des Mediums im letzteren stattfindende Elektrolyse Stoffe entständen, die nun ihrerseits als chemische Reize auf die lebendige Substanz einwirken. Nach dieser Auffassung wären die Wirkungen des elektrischen Stromes als chemische Reizwirkungen zu betrachten. Allein schon PÜTTER ?) hat diese Hypothese von LOEB direkt durch Experimente wiederlegen können und ÜOEHN und BARr- RATT®) haben aus physikalisch-chemischen Gründen ihre Unhaltbar- keit nachgewiesen. Endlich hat man auch die durch den galvanischen Strom hervorgerufene Flüssigkeitsverschiebung in porösen mit Flüssig- keit getränkten Körpern als ein Moment geltend gemacht, das viel- leicht eine Komponente in dem Komplex der Reizwirkungen bei gal- vanischer Reizung vorstellen könnte. CARLGREN*) hat vor einiger Zeit gezeigt, daß in der Tat auch bei abgetöteten Zellen verschiedener Art durch starke Ströme Wirkungen erzielt werden können, die mit gewissen Reizwirkungen äußerlich sehr große Analogien aufweisen, die aber doch lediglich auf Flüssigkeitsverschiebungen zurückgeführt werden müssen. Es wird eine Aufgabe der künftigen Forschung sein, festzustellen, ob und inwieweit jeder einzelne dieser Faktoren an den Reizwirkungen beteiligt ist, die wir als Folgen der galvanischen Durch- strömung an den verschiedenen Formen der lebendigen Substanz be- obachten. Vorläufig können wir noch nicht spezialisieren in dieser Rich- tung. Vorläufig bleibt uns nichts anderes übrig, als die geschilderten Reizwirkungen wie bisher als Wirkungen der „galvanischen Reizung“ schlechthin zu bezeichnen, ohne Rücksicht auf die speziellere Frage, welche Momente im galvanischen Strom an ihrer Entstehung mitwirken. 1) JACQUES LOEB und SIDNEY BUDGETT: „Zur Theorie des Galvanotropismus“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 65, 1897. 2) PÜTTER: „Studien über Thigmotaxis bei Protisten“. In Arch. f. Anat. u. Physiologie, physiolog. Abt., Supplementband, 1900. 3) Gr u. BARRATT: "Ueber Galvanotaxis vom Standpunkte der physikali- schen Chemie“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 5, 1905. & 4) O. CARLGREN: „Ueber die Einwirkung des konstanten galvanischen Stromes auf niedere Organismen“. In Arch. f. Anat. u. Physiol., physiolog. Abt., 1899. 506 Fünftes Kapitel. B. Die bewegungsrichtenden Wirkungen einseitiger Reizung. Unter den physikalischen Unterhaltungen, die uns in den Kultur- ländern schon in früher Kindheit geboten werden, pflegt die Be- schäftigung mit den Wirkungen des Magnetismus eine große An- ziehungskraft auf den kindlichen Geist auszuüben. Die merkwürdige Tatsache, daß sich die freischwingende Magnetnadel unter allen Um- ständen immer wieder mit ihrem einen Ende nach dem Nordpol der Erde einstellt, daß die mit einem Eisenstift versehenen Schiffchen und Tierchen, die das Kind im Wasserbecken schwimmen läßt, wie von einem Zauber gebannt den feinsten Bewegungen des Magnetstabes mit unfehlbarer Sicherheit folgen, daß die auf Papier gestreuten Eisen- feilspäne sich über einem darunter befindlichen Magneten in ganz charakteristischen Kurven anordnen — alles das hat uns als Kinder im höchsten Grade gefesselt. Auch auf die glühende Phantasie der Völker des Orients, die sich in vieler Beziehung noch jetzt kindliche Züge erhalten haben, mußten die Wirkungen des Magneten den gleichen tiefen Eindruck machen. Unter den phantasievollen Märchen der be- rückenden SCHEHERAZADE haben wir dafür in den unheimlichen Er- zählungen vom Magnetberg, dem Schrecken der Seefahrer, die ihr Schiff, von der unsichtbaren Gewalt angezogen, unrettbar an dem glatten Erzfelsen zerschellen sehen, einen sprechenden Ausdruck, der das Kinderherz noch immer mächtig ergreift. Dem Erwachsenen ist durch Gewöhnung an die eigentümlichen Wirkungen des Magneten der Sinn für das Wunderbare und Fesselnde derselben meist abhanden gekommen, aber die alten Empfindungen unserer Kindheit werden wieder wach, wenn wir die analogen Wir- kungen, wie sie der Magnet auf die Magnetnadel ausübt, die Anziehung und Abstoßung, als Wirkungen der verschiedensten Reize in die leben- dige Natur übersetzt finden, wenn wir sehen, daß die Reize eine Wirkung auf die Organismen auszuüben imstande sind, die sie unter Umständen mit derselben unwiderstehlichen Gewalt und der gleichen unfehlbaren Sicherheit, wie der Magnetismus das Eisen, zwingt, sich der Reizquelle zu- oder sich von ihr abzuwenden. Die Motte fliegt mit tödlicher Sicherheit immer wieder dem Lichte zu, und obwohl sie sich bereits unzählige Male ihre Flügel gesengt hat, kann sie dem faszinierenden Reiz des Lichtes nicht widerstehen, bis sie tot in die Flamme fällt. Da aber bei den höheren Tieren infolge der Mitwirkung des Nervensystems diese Reizwirkungen eine Komplikation erfahren, die ihre Uebersichtlichkeit ganz bedeutend er- schwert, so werden wir auch diese Reizwirkungen zweckmäfßigerweise vorwiegend an einfacheren Organismen betrachten, und zwar möglichst an der einzelnen Zelle. Seit den ersten grundlegenden Beobachtungen und Experimenten über diese eigentümlichen Reizwirkungen von PFEFFER, STAHL, ENGELMANN, STRASBURGER und anderen ist eine ganz unüberseh- bare Literatur über diesen Gegenstand erschienen. Unzählige spezielle Beispiele aus dem Gebiete der verschiedenen Reizqualitäten tauchen von Jahr zu Jahr neu auf in der wissenschaftlichen Literatur, so daß es heute nicht im entferntesten mehr möglich ist, die Gesamtheit aller Einzelbeispiele aufzuführen, wie es noch vor 20 Jahren!) geschehen 1) Max VERWORN: „Psycho-physiologische Protistenstudien“, Jena 1889. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 507 konnte. Dagegen ist neuerdings eine vorzügliche zusammenfassende Darstellung auf diesem Gebiete erschienen von JENNINGS!), die auf einer Fülle von wichtigen eigenen Beobachtungen und Experimenten basiert ist. Was zum Zustandekommen dieser interessanten und biologisch so ungemein wichtigen Reizwirkungen unumgänglich notwendig ist, das ist die Bedingung, daß Differenzen in der Reizung an verschiedenen Körperstellen bestehen. Wirken die Reize allseitig gleich stark ein, so beobachten wir zwar alle im vorher- gehenden Abschnitt geschilderten Reizwirkungen, aber eine bewegungs- richtende Wirkung kann nicht zustande kommen. Nur eine un- gleich von verschiedenen Seiten her einwirkende Reizung kann die Bewegungsrichtung beherrschen. 1. Chemotaxis?). Unter „Chemotaxis“ verstehen wir die Tatsache, daß Organismen, die mit aktiver Bewegungsfähigkeit begabt sind, sich unter dem Ein- fluß einseitig einwirkender chemischer Reize entweder zu der Reiz- quelle hin- oder von der Reizquelle fortbewegen. Im ersteren Falle, in dem eine Annäherung an die Reizquelle stattfindet, sprechen wir von einer positiven, im letzteren Falle, in dem eine Entfernung von der Reizquelle erfolgt, von einer negativen Öhemotaxis. Eine einseitige Reizung ist aber bei chemischen Reizen nur da realisiert, wo die Konzentration des betreffenden Stoffes vom lebendigen Objekt her nach einer Richtung hin allmählich steigt. Von ENGELMANN zuerst an Bakterien entdeckt, von STAHL bei Myxomyceten beobachtet, von PFEFFER in größerer Ausdehnung methodisch studiert und in neuerer Zeit von MASSART, LEBER, GABRITSCHEVSKY, METSCHNIKOFF und anderen bei Leukocyten ver- folgt, ist die Chemotaxis jetzt als eine Reizwirkung von ungemeiner Verbreitung unter den verschiedensten Zellen und von außerordent- licher Bedeutung nicht bloß für die einzelligen Organismen, sondern auch für das Leben im Zellenstaate erkannt worden. Unter den nackten Protoplasmamassen wurden die chemo- taktischen Reizwirkungen zuerst von STAHL?) an den Myxomyceten beobachtet. Die gelben, netzförmig sich ausbreitenden Plasmodien des in der Gerberlohe lebenden Aethalium septicum ließ STAHL 1) JENNINGS: „Behavior of the lower organisms“, New York 1906. 2) Ich habe mich nach langem Zaudern entschlossen, die Worte „Chemotropis- mus“, „Heliotropismus“ ete., obwohl sie bereits lange eingebürgert sind, in der zweiten Auflage dieses Buches doch gegen die Worte „Chemotaxis“, „Phototaxis“ etc. zu vertauschen, weil sie nicht bloß schwerfällig klingen, sondern auch vom sprachlichen Standpunkt aus Bedenken erregen müssen. Ich habe mich aber dazu um so schwerer entschlossen, als ich selbst seit langer Zeit bestrebt gewesen bin, im Anschluß an die wenigen bereits früher bekannten „Tropismen“ auch die be- treffenden Wirkungen in anderen Reizgebieten mit dieser gemeinsamen einheitlichen Terminologie zu bezeichnen und dazu neue „Tropismen‘“ einzubürgern, um gleich im Ausdruck die Zusammengehörigkeit aller dieser Reizwirkungen anzudeuten. Heute aber, wo die Erkenntnis von der vollkommenen Analogie aller dieser Wir- kungen im Gebiete der verschiedensten Reizqualitäten allgemein durchgedrungen ist, glaube ich nunmehr doch zweckmäßiger die unglücklichen Wortbildungen durch die bereits verwendeten Ausdrücke „Chemotaxis“, „Thermotaxis“ ete. ersetzen zu dürfen. 3) STAHL: „Zur Biologie der Myxomyceten“. In Bot. Zeitung, 1884. 508 Fünftes Kapitel. auf feuchte Fließpapierstreifen kriechen und hängte dann einen solchen Streifen mit dem einen Ende in sauerstofffrei gemachtes Wasser, das durch eine Oelschicht, die sich völlig indifferent verhielt, von dem Sauerstoff der Luft abgegrenzt war, während das andere Ende des Plasmodiums mit der Luft in Berührung stand. Die Folge war die, daß das Protoplasma der in das Wasser tauchenden Stränge all- mählich ganz aus dem Wasser herausströmte und sich oberhalb der Oelschicht auf dem nassen Fließpapier an der Luft ansammelte. Es war also nach dem Sauerstoff der Luft positiv chemotaktisch. Daß es nicht das Wasser selbst war, was die Plasmodien forttrieb, wie man etwa vermuten könnte, geht aus der Tatsache hervor, daß die Plasmodien sogar positiv chemotaktisch nach Wasser sind, und vom Trockenen her immer ins Feuchte kriechen, so daß man sogar von einer besonderen „Hydrotaxis“ gesprochen hat. Man muß daher die Fließpapierstreifen zu dem Versuch auch stets feucht er- halten, damit nicht die Chemotaxis nach Wasser mit der Chemotaxis nach Sauerstoff interferiertt. Auch anderen Stoffen gegenüber ver- hielten sich die Plasmodien positiv chemotaktisch, vor allem gegen- über der ihnen zur Nahrung dienenden Lohe. So krochen in den Versuchen Staus die Protoplasmamassen stets nach Lohestückchen oder nach Papierkugeln, die mit einem Loheaufguß getränkt waren, hin und häuften sich hier an, eine Form der positiven Chemotaxis, die STAHL als „Trophotaxis“ bezeichnet hat, weil sie, zur Auf- suchung der Nahrung unter den einzelligen Organismen weit ver- breitet, eine wichtige Rolle spielt. LEBER!), MAssArT?), METSCHNI- KOFF°), BUCHNER*) und andere haben dann auch an den Leukocyten der Wirbeltiere chemotaktische Eigenschaften festgestellt, und zwar hat sich hier ein Verhältnis gefunden, das für die Stellungnahme des Organismus gegenüber den Infektionskrankheiten von allergrößter Bedeutung ist. Wie wir an anderer Stelle) bereits sahen, scheiden die Bakterien gewisse Stoffwechselprodukte aus, die in neuerer Zeit vielfach die Aufmerksamkeit der Forscher auf sich gelenkt haben. Diese Stoffwechselprodukte der Bakterien üben eine ganz hervor- ragende chemotaktische Wirkung auf die Leukocyten aus und ver- anlassen sie, in großen Scharen nach derjenigen Stelle im Organismus aus der ganzen Nachbarschaft hinzukriechen, wo eine Einwanderung und Vermehrung von Bakterien stattgefunden hat. So findet an dem Herde der Infektion eine dichte Anhäufung von Leukocyten statt, die in gewissen Fällen, wie METSCHNIKOFF gezeigt hat, die Bakterien auffressen und den weiteren Verlauf der Infektion zum Teil be- stimmen. Ist die Einwanderung und Vermehrung der Bakterien nicht zu stark, so können sie im Kampf mit den Leukocyten, die ge- 1) LEBER: „Ueber die Entstehung der Entzündung und die Wirkung der ent- zündungserregenden Schädlichkeiten“. In Fortschritte der Medizin, 1888. — Derselbe: „Die Entstehung der Entzündung und die Wirkung der entzündungserregenden Schäd- lichkeiten“. Leipzig 1891. 2) JEAN MASSART et CHARLES BORDET: „Recherches sur /’irritabilit@ des leucocytes et sur l’intervention de cette irritabilit@ dans la nutrition des cellules et dans l'inflammation“. In Journal publi@ par la Societ& royale des sciences me&dicales et naturelles de Bruxelles, 1890. 3) METSCHNIKOFF: „Lecons sur la pathologie compar£e de l’inflammation“, 1892. 4) H. BUCHNER: „Die chemische Reizbarkeit der Leukocyten und deren Be- ziehung zur Entzündung und Eiterung“. In Berl. klin. Wochenschr., 1890, No. 47. 5) Vergl. p. 209. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 509 wissermaßen die Polizei des Körpers gegenüber den unbefugten Eindringlingen repräsentieren, unterliegen, und die Infektion wird coupiert. Erweisen sich die Bakterien als die Stärkeren, so findet eine Ausbreitung der Infektion und eine allgemeine Erkrankung des Organismus statt, deren Verlauf dann durch andere Momente be- stimmt wird. Um uns von der positiv chemotaktischen Wirkung der Bakterien- produkte auf die Leukocyten zu überzeugen, können wir mit MASSART folgenden Versuch anstellen. Nach einer von PFEFFER zuerst er- sonnenen Methode füllen wir ein kurzes Kapillarröhrchen mit einer Kultur des eitererregenden Staphylococcus pyogenes albus oder aureus und schmelzen das eine Ende des Röhrchens zu. Dar- auf legen wir das Röhrchen in die Bauchhöhle oder unter die Haut eines Kaninchens und lassen es etwa 10—12 Stunden liegen. Nach Ablauf dieser Zeit finden wir bei der mikroskopischen Betrachtung des Röhrchens, daß von der offenen Seite her ein dichter Schwarm von Leukocyten in das Innere eingedrungen ist, der wie ein dicker weißer Pfropfen die Oeffnung verschließt (Fig. 227). Die Leukocyten sind also, durch die Bakterienstoffe veranlaßt, aus den Geweben der Tiere in die Kapillarröhre hineingekrochen. Ein gewissenhafter For- scher muß indessen sofort den Einwand machen, daß es vielleicht die Nährlösung, in der die Bakterien kultiviert werden, sei, die chemo- taktisch auf die Leukocyten wirke. Aber dieser Einwand läßt sich widerlegen, wenn wir, wie das MAssArT getan hat, zur Kontrolle ein x ra a ei: PER I eg a ee Ay Fig. 227. Chemotaxis von Leukocyten nach Eiterkokken. Die Leukocyten sind in die Kapillarröhre, welche die Kultur von Staphylokokken enthält, in dichten Scharen eingewandert, wie besonders an der Oeffnung der Röhre zu sehen ist. gleiches Kapillarröhrchen, mit derselben Nährflüssigkeit, aber ohne Bakterienkultur in das Tier hineinbringen. Die Einwanderung der Leukocyten bleibt in diesem Falle aus. Auch daß es nicht bloß die Bakterienkörper selbst, sondern die von ihnen abgeschiedenen Stoft- wechselprodukte sind, welche die chemotaktische Wirkung hervorrufen, läßt sich beweisen, indem wir eine sterile und von Bakterienleibern vollständig befreite Kulturflüssigkeit zum Versuch verwenden, in der sich also nur die gelösten Stoffwechselprodukte der betreffenden Bak- terien befinden. Der Erfolg ist dann der gleiche, wie wenn die Kultur direkt zum Versuch benutzt wäre: das Röhrchen hat sich nach einiger Zeit mit eingewanderten Leukocyten gefüllt. Was aber von den Kul- turen des Staphylococcus pyogenes albus oder aureus gilt, das hat man auch bei vielen anderen pathogenen Bakterienformen ge- funden, und es ist zweifellos, daß weiter fortgesetzte Untersuchungen über die Beziehungen zwischen Leukocyten und Bakterien noch Klar- heit über eine ganze Reihe von Punkten verbreiten werden, die bis- her in der Geschichte der Infektionskrankheiten in tiefes Dunkel ge- hüllt gewesen sind. 510 Fünftes Kapitel. Uebrigens zeigen sich die Leukocyten nicht bloß chemotaktisch gegenüber den Stoffwechselprodukten der Bakterien, sondern, wie BuUCHNER gefunden hat, auch gegenüber den Eiweißkörpern der Bakterienleiber selbst und gegenüber einer ganzen Reihe von Stoften nicht bakterieller Abkunft. So fand BucHner, daß Weizenmehl- und Erbsenmehlbrei besonders stark positiv chemotaktisch wirksam sind. Schließlich hat SICHERER!) gezeigt, daß die Leukocyten von Warm- blütern unter geeigneten Bedingungen auch außerhalb des Tierkörpers ihre chemotaktischen Eigenschaften gegen die verschiedensten Stoffe noch lange Zeit ebenso deutlich äußern wie im lebendigen Tierkörper selbst. Eine wichtige Rolle spielt die Chemotaxis der Leukocyten ferner in der Entwicklung vieler Tiere. Das geht besonders aus den schönen Untersuchungen KOwALEVSKYs?) an Insekten hervor. Wenn sich die Fliegenmade in die fertige Fliege umwandelt, eine Metamorphose, die ziemlich schnell erfolgt, werden die alten Organe des Madenkörpers, HER SB Be m Fig. 228. Fig. 229. Fig. 228. Leukocyten bei der Metamorphose der Fliegenmaden die Muskeln zerstörend. Die gekörnten Massen sind Leukoeyten, die gestreiften sind Muskelbruchstücke.. Nach KOWALEVSKY. Fig. 229. Leukoceyt, ein Milzbrandbakterium fressend. Nach METSCHNIKOFF. wie die Kriechmuskeln ete., überflüssig und beginnen zu degenerieren. Die mit Beginn dieser Degeneration auftretenden Stoffe wirken aber in hohem Grade chemotaktisch auf die Leukocyten, die in großen Scharen in die degenerierenden Organe einwandern, um als echte Phagocyten die zerfallenden Massen aufzufressen und so die Beseitigung 1) O. v. SICHERER: „Chemotropismus der Warmblüterleukocyten außerhalb des Körpers“. In Münchener med. Wochenschr. Bd. XLIII, 41. j 2) KowALEVSKY: „Beiträge zur Kenntnis der nachembryonalen Entwicklung der Musciden“. In Zeitschr. f. wiss. Zool., Bd. 45, 1887. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 5ll derselben beschleunigen zu helfen (Fig. 228). Es ist charakteristisch, daß die Phagocyten nur bei solchen Insekten, bei denen die Meta- morphose sehr schnell erfolgt, diese Tätigkeit entfalten, daß sie da- gegen bei anderen Insekten, wie bei der Motte etc., und ferner bei der Degeneration des Kaulquappenschwanzes etc. nicht beteiligt sind. Dagegen konnte METSCHNIKOFF die analogen Vorgänge wieder in der Entwicklung der Seesterne nachweisen. Weit verbreitet ist die Chemotaxis bei den geißeltragenden Bakterien, Infusorien und Schwärmsporen. An Bakterien wurde sie von ENGELMANN!) zuerst entdeckt und auch gleich in genialer Weise praktisch verwendet. ENGELMANN beobachtete näm- lich, daß gewisse Bakterienformen, die in faulenden Aufgüssen leben, sich in großen Massen in der Nähe von Sauerstofiquellen ansammeln. So findet unter dem Mikroskop im offenen Tropfen eine dichte An- sammlung dieser Mikroben an den Tropfenrändern statt, wo der Sauerstoff der Luft den nächsten Zutritt hat. Unter dem Deck- glas sammeln sich die Bakterien ebenfalls in der Nähe des Deckglas- randes an und bilden einen dichten, parallel dem Deckglasrande hin- ziehenden Wall. Auch Luftbläschen, die sich unter dem Deckglas befinden, sowie Pflanzenzellen, deren Chlorophyll im Lichte Sauerstoff abspaltet, wirken in derselben Weise, namentlich wenn man durch Abschluß der Deckglasränder mit einer Oelschicht eine gewisse Sauer- stoffnot unter dem Deckglas erzeugt hat. ENGELMANN hat diese überaus große Erregbarkeit der Bakterien durch Sauerstoff benutzt, um darauf eine Methode zum mikroskopischen Nachweis kleinster Sauerstoffmengen zu gründen, die für die Erkenntnis der assimila- torischen Wirkung verschiedener Lichtarten in der grünen Pflanzen- zelle von maßgebender Bedeutung geworden ist. In der Tat er- kennt man bei äußerem Luftabschluß in einem bakterienhaltigen Tropfen die Stellen, an denen auch nur die geringsten Spuren von Sauerstoff vorhanden sind, sofort an der dichten Anhäufung dieser Mikroben. Ein schönes Beispiel dafür liefert folgende Beobachtung ?). In einem Tropfen unter einem Deckglas befand sich im Gesichtsfelde eine große Diatomee (Pinnularia), die, da sie im Lichte durch ihre Chromophylltätigkeit Sauerstoff abschied, dicht mit einem Wall von bewegungslos daliegenden Spirochäten umgeben war. Im übrigen Teil des Gesichtsfeldes waren fast keine Spirochäten sichtbar. Da fing plötzlich die Diatomee an, eine Strecke weiterzugleiten, bis sie wiederum ganz still liegen blieb. Die Bakterien, auf diese Weise von ihrer Sauerstoffquelle im Stich gelassen, lagen zunächst noch einige Augenblicke ruhig. Alsbald aber trat eine lebhafte Bewegung unter ihnen ein, und in dichten Scharen schwammen sie wieder zu der Diatomee hinüber. In ein bis zwei Minuten waren fast alle wieder um dieselbe versammelt und umgaben sie wie bisher bewegungslos in diehtem Haufen (Fig. 230 7). Aehnliche Beobachtungen hat auch ENGELMANN abgebildet (Fig. 230 IT u. III). 1) ENGELMANN: „Neue Methode zur Untersuchung der Sauerstoffausscheidung pflanzlicher und tierischer Organismen“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 25. — Derselbe: „Die Erscheinungsweise der Sauerstoffausscheidung chlorophylihaltiger Zellen im Licht bei Anwendung der Bakterienmethode“. In Verhandl. d. Kon. Akad. van Wetensch. te Amsterdam, II. Sekt., 3. Teil, 1894. ; 2) Max VERWORN: „Psycho-physiologische Protistenstudien. Experimentelle Untersuchungen“. Jena 1889. 512 Fünftes Kapitel. Die ausgezeichneten und methodischen Untersuchungen PFEFFERS ) über die Chemotaxis hatten ihren Ausgangspunkt in Beobachtungen III Fig. 230. Chemotaxis von Bakterien nach Sauerstoff, der von Algen- zellen im Lichte entwickelt wird. ] Diatomee im Sonnenlicht Sauerstoff ent- wickelnd und von Spirillen umschwärmt. Z7 Diatomee zur Hälfte beschattet, zur Hälfte beleuchtet. Die Bakterien haben sich in der beleuchteten Hälfte gesammelt, wo der Sauerstoff entwickelt wird. III Algenzelle von Bakterien umschwärmt, A im Dunkel, B im Hellen. 1/ und I/II nach ENGELMANN. an den Spermatozoön von Farnen, bei denen sich chemotaktische Be- ziehungen zu der Eizelle herausstellten, die, wie man jetzt weiß, fast . b) W. PFEFFER: „Lokomotorische Richtungsbewegungen durch chemische Reize“. In Unters. aus dem bot. Inst. zu Tübingen, Bd. 1, 1884. — Derselbe: Von den Reizen und ihren Wirkungen. 513 in der ganzen Organismenwelt Analoga finden und für die Befruchtung der Eizelle durch das Spermatozoon bei Tieren wie bei Pflanzen als ungemein wichtige Bedingung fungieren. Das Spermatozoon sucht die Eizelle auf und wird auf den richtigen Weg geführt fast überall in der lebendigen Welt durch die positiv chemotaktische Wirkung, welche die Stoffwechselprodukte der Eizelle auf die freibeweglichen Sperma- tozoönzellen ausüben. Daß unter den unzähligen Scharen von Sperma- tozoön der verschiedensten Tiere, die an manchen Stellen das Meer bevölkern, jede Art die richtige, zu ihr gehörige Eizelle findet, eine Tatsache, die sonst so überaus wunderbar wäre, ist in der über- wiegenden Mehrzahl der Fälle eine unmittelbare Folge der Chemo- taxis, und erklärt sich sehr einfach dadurch, daß jede Spermatozoön- art chemotaktisch ist nach den spezifischen Stoffen, welche die Eizelle der betreffenden Art charakterisieren. Bei den Säugetieren wirkt auch die Uterusschleimhaut durch ihre Sekrete positiv chemotaktisch auf die Spermatozoön, wie LoEW!) jüngst durch Versuche an Ratten, Kaninchen und Hunden nachwies, indem er unter dem Mikroskop einmal Stückchen der Uterusschleimhaut, das andere Mal Stückchen von anderen Geweben, wie Bindegewebe, Leber, Muskeln etc., mit spermatozoönhaltiger Flüssigkeit zusammenbrachte. Erstere war stark positiv chemotaktisch, letztere gar nicht oder, wie z. B. alkalische Darmschleimhaut, nur sehr schwach wirksam. Wir haben hier An- passungen der einfachsten Art vor uns, die uns von neuem eine Vor- stellung geben, wie ganz außerordentlich tief die Chemotaxis in alle Verhältnisse des Lebens hineingreift. Fig. 231. Zwei pflanzliche Eizellen, umschwärmt von Spermatozoen. Nach STRASBURGER. Der Versuch PFEFFERS an den Spermatozoön der Farnkräuter war folgender. PFEFFER füllte ein einseitig zugeschmolzenes Kapillar- röhrchen mit einer Lösung von ca. 0,05-proz. Apfelsäure und legte es in einen Tropfen, der eine größere Menge von Farnspermatozoen enthielt, so daß die Apfelsäure aus der Mündung der Kapillare all- mählich in den Tropfen hinaus diffundieren mußte und dadurch eine „Ueber chemotaktische Bewegungen von Bakterien, Flagellaten und Volvocineen“. In Unters. aus dem bot. Inst. zu Tübingen, Bd. 2. 1) Losw: „Die Chemotaxis der Spermatozoön im weiblichen Genitaltrakt“. In Sitzungsber. d. Wien. Akad., math.-naturw. Klasse, Bd. 11, 1902. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 33 514 Fünftes Kapitel. einseitig wirkende Reizquelle abgab. Bei der mikroskopischen Be- obachtung zeigte sich, daß die Spermatozoön sofort anfingen, auf die Mündung der Kapillare loszusteuern und in dieselbe hineinzuschwimmen. Nach !/, Minute waren bereits gegen 60 und nach 5 Minuten bisweilen etwa 600 Spermatozoön in die Kapillare hineingewandert. Nach 12 Minuten waren in einem Versuch von 24 Spermatozoäön alle bis auf eins, das sich außerhalb zur Ruhe gelegt hatte, in der Kapillare versammelt. Die Apfelsäure wirkt also im höchsten Grade positiv chemotaktisch auf die Spermatozo@n der Farne, die sich dagegen allen anderen Stoffes gegenüber, die PFEFFER noch auf ihre chemotaktische Wirksamkeit prüfte, völlig indifferent verhielten. Das legte die Ver- mutung nahe, daß es auch in dem die Eizelle bergenden Archegonium Apfelsäure sei, welche die Spermatozo@ön zur Annäherung und Ein- wanderung veranlaßte. Nun konnte zwar PFEFFER wegen der Klein- heit der Objekte und des Mangels mikroskopischer Reaktionsmethoden die Apfelsäure im Inhalt der Archegonien selbst nicht nachweisen ; dafür gelang es ihm aber auf makrochemischem Wege, in den ganzen die Geschlechtsprodukte tragenden Pflanzenteilen die Anwesenheit von Apfelsäure festzustellen, so daß die Vermutung, es sei die Apfel- säure, die auch im Archegonium die Einwanderung der Spermatozoön veranlaßt, eine an Gewißheit grenzende Wahrscheinlichkeit gewinnt. Die Spermatozoön der Laubmoose verhielten sich gleichgültig gegen Apfelsäure, dagegen waren sie in ausgezeichnetem Grade chemotaktisch nach schwachen Rohrzuckerlösungen. PFEFFER dehnte später seine Untersuchungen auf eine große Zahl von Bakterien und Geißelinfusorien aus und gelangte dabei zu einer Reihe von Ergebnissen, die im höchsten Grade interessant sind. Es zeigte sich bei diesen Untersuchungen, daß die verschiedensten Stoffe in ganz verschiedener Weise auf die verschiedenen Mikro- organismenformen wirken. Stoffe, auf welche die einen reagierten, erwiesen sich für andere als unwirksam. Manche Stoffe wirkten nur [6) Reixschwelle Optimum ;: ———— pm Fig. 232. Schema der chemotaktischen Reizwirkung. Die Konzentration nimmt von links nach rechts zu; bei O Nullpunkt der Konzentration, bei + Tötungs- punkt. Die Pfeile geben die Bewegungsrichtung an. positiv, andere nur negativ chemotaktisch. Im letzteren Falle ent- fernten sich die betreffenden Organismen von der Reizquelle, und die Kapillare blieb leer. Die Reizschwelle, d. h. derjenige Konzentrations- grad, bei dem die chemotaktisch wirksamen Stoffe eben ihre Wirkung zu äußern beginnen, liegt für die verschiedenen Stoffe und ver- schiedenen Organismen sehr verschieden hoch. Was aber das Inter- essanteste ist, das ist die Tatsache, daß viele Stoffe, diein schwächerer Konzentration positiv chemotaktisch wirken, bei höheren Konzentrationsgraden eine negative Chemotaxis bei den gleichen Organismenver- anlassen. Es existiert also ein Reizoptimum, dem die Organismen von beiden Seiten, sowohl aus der ge- ringeren alsaus der höheren Konzentration, zustreben. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 515 Wird die Konzentration bei diesen Stoffen zu stark, so tritt natürlich der Tod ein. Wir können also vier wichtige Konzentrationsgrade fixieren: den Nullpunkt, an dem der betreffende Stoff noch gänzlich fehlt, die Reizschwelle, an der seine Konzentration eben wirksam wird, das Optimum, dem die Organismen aus allen Konzentrations- graden oberhalb der Reizschwelle zustreben, und den Tötungspunkt, bei dem die Konzentration zu stark ist, um das Leben noch zu ge- statten (Fig. 232). Das Optimum liegt bei dem gleichen Stoff für verschiedene Organismen meist auch bei einem verschiedenen Konzen- trationsgrad. Dafür hat Massarr!) ein hübsches Beispiel in dem verschiedenen Verhalten einer Bakterienform, Spirillum, und einer Wimperinfusorienform, Anophrys, gegenüber dem Sauerstoff ge- funden. Wenn er beide Organismenformen in größerer Zahl unter JE Fig. 233. Chemotaxis von Bakterien und Infusorien. / Luftblase unter dem Deckglas, umgeben von zwei Zonen, von denen die nähere aus Anophrys, die ent- ferntere aus Spirillen besteht. /TRand des Deckglases. Anophrys und Spirillen bilden die gleichen Zonen. III Zwei Wassertropfen, die durch eine Wasserbrücke mit- einander verbunden sind. Im oberen Tropfen liegt Kochsalz. Die im Tropfen befind- lichen Anophrys wandern in den reinen Wassertropfen über, je mehr sich das Koch- salz löst. Nach MASSART. dem Deckglas hatte, so sammelten sie sich zwar beide als Wall an den Deckglasrändern oder um Luftblasen herum an, aber nicht un- mittelbar an der Grenze zwischen Luft und Wasser, sondern jede Form in einer anderen Entfernung von der Sauerstoffquelle, die Anophrys näher, die Spirillen etwas entfernter von der Grenze. So kam das Sauerstoffoptimum für beide auf die deutlichste Weise in der Entfernung ihrer Anhäufung von der Sauerstoffquelle zum Ausdruck (Fig. 233 I und IT). Die oben?) erwähnten „Atmungslinien‘“ 1) JEAN MAssART: „Recherches sur les organismes inferieurs“. In Bulletins de l’Acad. royale de Belgique, 3. Serie, T. 22, 1891. 2) Vergl. p. 333. 33 516 Fünftes Kapitel. BEIJERINCKS sind ebenfalls solche chemotaktischen Ansammlungen von Bakterien in abgestuften Entfernungen von einer Sauerstoffquelle. Unter den Wimperinfusorien sind die chemotaktischen Reiz- wirkungen früher weniger bekannt gewesen, doch hat bereits MASSART auch hier für einige Formen chemotaktische Eigenschaften gegenüber verschiedenen Stoffen nachweisen können. Es sei z. B. noch die negative Chemotaxis der bereits genannten Infusorienform Anophrys gegen Kochsalz angeführt, die sich in sehr einfacher Weise anschaulich machen läßt. Massarr legte an den Rand eines Tropfens, in dem sich zahlreiche Anophrys befanden, einige Kochsalzkriställchen und verband den Tropfen auf der gegenüberliegenden Seite durch eine schmale Wasserbrücke mit einem gleichgroßen Tropfen destillierten Wassers (Fig. 233 III). Die Folge war, daß die Infusorien die Stelle, an der das Kochsalz lag, um so mehr flohen, als das Salz sich löste und in seine Umgebung diffundierte, bis sie schließlich sämtlich durch die schmale Verbindung in den anderen Tropfen hinübergewandert waren. Seit einer Reihe von Jahren hat JENNINnGs!) sehr umfassende und systematische Untersuchungen über die Chemotaxis der Infusorien ge- macht und dabei eine Methode angewandt, die in mancher Beziehung eroße Vorteile bietet. JENNINGS stellt seine Versuche auf dem Ob- jektträger unter einem großen Deckglase an, das von zwei dünnen Glasstäbchen unterstützt ist, so daß eine ziemlich dicke Schicht Wasser mit Infusorien zwischen ÖObjektträger und Deckglas sich befindet. In diese Schicht, die frei sein muß von allen Beimengungen, bringt er mittels einer zu kapillarer Spitze ausgezogenen Pipette vorsichtig einen Tropfen der Lösung, die auf ihre chemotaktischen Wirkungen untersucht werden soll (Fig. 234 A). Die Stoffe dieser Lösung diffun- dieren alsbald in die umgebende Flüssigkeit, in der sich die Infusorien gleichmäßig zerstreut bewegen. Dadurch werden je nach der Wirkungs- » art der betreffenden Stoffe ganz charakteristische Wirkungen unter dem Deckglas erzielt. Sind die betreffenden Stoffe unwirksam, wie z. B. Zuckerlösungen, so schwimmen Paramäcien ungestört in den Tropfen hinein, und nach wenigen Sekunden ist die gleichmäßige Verteilung der Infusorien unter dem Deckglas wieder hergestellt. Wirkt der Tropfen negativ chemotaktisch, wie z. B. die Alkalien, so bildet sich an der betreffenden Stelle ein Kreis, der vollkommen frei ist von Paramäcien (Fig. 234 A). Wirkt der Tropfen aber positiv chemotaktisch, wie z. B. die meisten Säuren, so schwimmen sämtliche Paramäcien, die sich unter dem Deckglas befinden, in den Tropfen hinein (Fig. 234 B). Ist die wirksame Substanz dabei in einer Kon- zentration im Tropfen enthalten, die über dem Optimum liegt, so sammeln sich die Infusorien in einer Ringzone um den Flüssigkeits- tropfen an (Fig. 234 C). Auffallend ist es, daß die Paramäcien, wie nach anderen Säuren, so auch nach Kohlensäure positiv chemo- taktisch sind. Bringt man unter das Deckglas eine Blase chemisch reiner Kohlensäure und gleichzeitig zur Kontrolle eine gewöhnliche Luftblase, so sammeln sich die Paramäcien in dichter Masse um 1) JENNINGs: „Studies on Reactions to stimuli in unicellular Organisms. I. Re- actions to chemical, osmotie and mechanical stimuli in the ciliate Infusoria.“ In Journal of Physiology, Vol. 21, 1897. — Derselbe: „Behavior of lower Organisms“, New York 1906. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 517 die Kohlensäureblase, während sie die Luftblase frei lassen (Fig. 234 D). In demselben Maße aber, wie die Kohlensäure in das Wasser hinein diffundiert und sich zu einer über das Optimum hinausgehenden Kon- Fig. 234. Chemotaxis von Paramaecium aurelia. A Chemotaktisches Deckglas- präparat: Mit einer Kapillarpipette ist ein Flüssigkeitstropfen unter das Deckglas geführt worden, der negativ chemotaktisch wirkt. B Positiv chemotaktische Ansammlung. € Des- gleichen bei zu hoher Konzentration der betreffenden Lösung: Die Paramäcien haben sich ringförmig im Optimum der Konzentration angesammelt. D Eine Kohlensäure- und eine Luftblase sind unter dem Deckglas: die erstere (links) wirkt positiv chemotaktisch ; die letztere ist indifferent. E Dasselbe Präparat einige Minuten später: Die Kohlensäure ist in das umgebende Wasser diffundiert und hat durch ihre zu hohe Konzentration die Paramäcien vertrieben bis dahin, wo sie ihr Kohlensäureoptimum finden. Nach JENNINGS. zentration anhäuft, ziehen sich die Paramäcien in geschlossenem Kreise von der Kohlensäureblase zurück, weil sie gegen höhere Kon- zentrationen von Kohlensäure negativ chemotaktisch sind. Dadurch 518 Fünftes Kapitel. entstehen dann sehr charakteristische Bilder (Fig. 234 E). Da ferner die Paramäcien, wie alle Organismen, auch selbst Kohlensäure produzieren, so werden dort, wo sich viele Paramäcien aus irgend- einem Grunde angesammelt haben, immer noch mehr Individuen durch die von der Ansammlung produzierte Kohlensäure herbeigelockt. Wir haben hier also einen sehr interessanten Fall von Gesellschaftsbildung einfach auf Grund positiver Chemotaxis. In der Tat kann man durch Uebertragung eines Tropfens reinen Wassers aus einer solchen An- sammlung unter ein anderes Deckglas mit Paramäcien eine neue chemotaktische Ansammlung derselben erzielen, von der Art, wie sie Fig. 234 D zeigt. Schließlich geben uns die chemotaktischen Reizwirkungen ein Mittel an die Hand, um uns annähernd einen Begriff davon zu machen, wie verschwindend kleine Reizgrößen es sind, die auf die lebendige Substanz noch eine sichtbare Wirkung auszuüben imstande sind. PFEFFER fand in seinen Versuchen, daß die Farnkrautspermatozoön noch eine deutliche Chemotaxis bekundeten, wenn er das Kapillar- röhrchen mit einer Lösung von 0,001-proz. Apfelsäure beschickt hatte. Bedenkt man nun, daß die Apfelsäure erst in den Tropfen diffun- dieren muß, um ihre chemotaktische Wirksamkeit zu entfalten, so ergibt sich, daß die Menge, die auf die Spermatozoön einwirkt, eine noch weit geringere sein muß. Allein noch nicht genug. Für das Zustandekommen der chemotaktischen Wirkung kommt es ja nicht darauf an, daß eine bestimmte Menge des betreffenden Stoffes in der Umgebung des Organismus gleichmäßig verteilt ist, sondern darauf, daß ein Konzentrationsabfall von einer Stelle her stattfindet. Es ist also die Größe der Differenz in der Konzentration an den beiden Enden des Spermatozoons, die für das Zustandekommen der chemo- taktischen Wirkung maßgebend ist. Da aber der Spermatozoönfaden nur die winzige Länge von 0,015 mm besitzt, so kann man sich ungefähr eine Vorstellung davon machen, wie ganz außerordentlich gering die Konzentrationsdifferenz an beiden Polen des Spermatozoons, mithin die Reizgröße sein muß, die noch eine chemotaktische Wirkung hervorruft. So geben uns gerade die chemotaktischen Reiz- wirkungen und, wie wir sehen werden, auch die analogen Tatsachen aus der Wirkungssphäre anderer Reize besser als alle übrigen Erfah- rungen eine Vorstellung davon, wie überaus schwache Reize noch eine merkliche Wirkung auf die lebendige Substanz hervorrufen. Die lebendige Substanz ist ein ganz außerordentlich feines Reagens auf die geringsten Einwirkungen. 2,-Barotaxis. Alle mechanische Reizung der lebendigen Substanz besteht in einer Veränderung der Druckverhältnisse, unter denen sie sich be- findet. Von der Einwirkung der kontinuitätstrennenden Zerquetschung oder Zerschneidung an bis zur leisesten Berührung und bis zur feinsten Abstufung des Luft- oder Wasserdruckes kann jede Veränderung der Druckverhältnisse als Reiz wirken. Bei einseitiger Einwirkung von Druckreizen, also in allen den Fällen, wo Druckdifferenzen an zwei verschiedenen Stellen des Körpers eines Organismus bestehen, sehen wir daher der Chemotaxis entsprechende Wirkungen zustande kommen, die wir, da sie sämtlich das Gemeinsame haben, daß sie Von den Reizen und ihren Wirkungen. 519 durch ungleichseitig wirkenden Druck (B4pos) hervorgerufen werden, als „Barotaxis“ bezeichnen können. Auch die Barotaxis, von der wir je nach der Art des Druckes verschiedene Arten unterscheiden können, kann eine positive oder negative sein, je nachdem der Organismus sich nach der Seite des höheren oder niederen Druckes hinwendet. Unter „Thigmotaxis“ können wir alle diejenigen Fälle der Barotaxis zusammenfassen, die durch mehr oder weniger starke Be- rührung der lebendigen Substanz mit festeren Körpern zustande kommen. Die einfachste Form derselben zeigen uns die nackten Protoplasmamassen, wie Rhizopoden, Leukocyten ete., und zwar liefern diese uns gerade ausgezeichnete Beispiele dafür, wie die schwache Berührung positive, die heftige Berührung nega- tive Thigmotaxis hervor- ruft, wie also auch hier analog der Chemotaxis * die verschiedene Intensi- tät des Reizes von wesent- licher Bedeutung ist. Lassen wir z.B. einen marinen Rhizopoden, et- wa den schon mehrfach erwähnten Orbitolites (Fig. 111, p. 281), ruhig in einem Glasschälchen mit Seewasser liegen, So beginnen nach einiger Zeit aus den kleinen a b ce d e 7 Löchern der Kalkschale Pseudopodien herauszu- treten, die, zunächst ganz kurze Fädchen vorstel- lend, frei im Wasser flot- tieren. Bald aber, indem sie länger und schwerer werden, senken sie sich mit den Enden auf die Unterlage, haften mittels _ ’ Be e eines feinen Sekrets hier „'%ei = durchschnitten. d0.d, &, } aufeinander fest, und nun beginnt das folgende Stadien der Reizwirkung. Protoplasma lebhaft auf der Unterlage entlang zu strömen, ohne sich je wieder frei ins Wasser zu erheben. Die leben- dige Substanz der Rhizopoden verhält sich also der leisen Be- rührung mit der Unterlage gegenüber positiv thigmotaktisch und wendet sich der Unterlage zu. Die Ausstreckung und reiche Aus- breitung der Pseudopodien findet, abgesehen von den freischwimmen- den Radiolarien, Heliozoön ete., immer im Kontakt mit irgendeinem Körper statt, sei es mit der Unterlage, sei es mit dem Deckglas oder dem Oberflächenhäutchen des Wassers, sei es schließlich mit irgend- welchen im Wasser liegenden Gegenständen. Umgekehrt können wir durch starke mechanische Reizung der Spitze eines lang ausge- 520 Fünftes Kapitel. streckten Orbitoliten-Pseudopodiums, am besten, wenn wir es mit einer Nadel drücken oder mit einem Messer an der Spitze durch- schneiden, eine negative Thigmotaxis seiner lebendigen Substanz hervorrufen, indem sich das Protoplasma an der Reizstelle zu kleinen Kügelchen und Spindelchen zusammenballt und von der Reizstelle hinwegströmt (Fig. 235)'). Noch deutlicher ist die gleiche Wirkung bei einer schneller reagierenden Rhizopodenform des ı\_ süßen Wassers, der gehäusetragenden Oy- phoderia, zu beobachten, wo das Proto- plasma des Pseudopodiums von der Reiz- stelle sich mit großer Geschwindigkeit zu- rückzieht (Fig. 236). Fig. 236. Fig. 237. Fig. 236. Cyphoderia mit lang ausgestreekten Pseudopodien. Bei #> gereizt. Das Protoplasma fließt von der Reizstelle weg. Fig. 237. Positive Thigmotaxis einer Pflanze. a Stab, 5, b, c, d Ranken. Nach SAcHs. Die thigmotaktischen Reizwirkungen sind weit verbreitet. Am bekanntesten sind sie im Pflanzenreich bei den Schlingpflanzen und Rankengewächsen, deren Stengel und Ranken sich den Gegenständen, 1) Max VERWORN: „Die Bewegung der lebendigen Substanz. Eine vergleichend- physiologische Untersuchung der Kontraktionserscheinungen‘‘, Jena 1892. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 521 mit denen sie in Berührung kommen, zuwenden, um in stetem Kon- takt mit ihnen weiter zu wachsen (Fig. 237). Allein, schon in dem ziemlich gleichmäßig gebauten Zellenstaat der Pflanze sind die Ver- hältnisse so kompliziert, daß sich bei diesen Wirkungen das Verhalten der lebendigen Substanz in der einzelnen Zellulosekapsel gegen- über dem Reiz nicht ohne weiteres übersehen läßt, so daß wir bisher noch nicht sicher wissen, in welcher Weise die einzelne Zelle an dem Zustandekommen der thigmotaktischen Rankenkrümmung beteiligt ist. An den Spermatozoen der Küchenschabe (Periplaneta orien- talis) hat Dewitz!) eine positive Thigmotaxis entdeckt. Bringt man die Spermatozoön dieses Tieres in eine Kochsalzlösung von 0,6 Proz. zwischen Objektträger und Deckglas, so haben sich nach kurzer Zeit alle Individuen teils auf der Unterseite des Deckglases, teils an der Oberfläche des Objektträgers angesammelt und beschreiben hier durch den Schlag der Geißel kreisförmige Bogen, deren Richtung ausnahmslos dem Sinne der Uhrzeigerbewegung entgegengesetzt ist. Die Dicke der Flüssigkeitsschicht bleibt vollständig frei von den Spermatozoen, welche die Flächen des Glases, nachdem sie dieselben einmal erreicht haben, nicht wieder verlassen. Legt man eine Kugel in den Tropfen, so wird auch die Kugeloberfläche von ihnen aufgesucht. Auch wenn man eine mit Spermatozoen bevölkerte Kochsalzlösung in den Hohl- raum einer Kugel bringt, ist nach kurzer Zeit die ganze Innenfläche von ihnen bedeckt und die Mitte der Flüssigkeit völlig verlassen. Die ausgesprochene Thigmotaxis dieser Spermatozoön ist ähnlich wie die positive Chemotaxis vieler anderer von größter Bedeutung für die Befruchtung der Eier. Ein Gegenstück zu diesem Verhalten der Spermatozoön von Periplaneta liefert uns folgende Beobachtung an der Wimper- infusoriengattung Oxytricha, deren flacher, biegsamer Körper an seiner Unterseite mit Wimpern besetzt ist, die das Infusor ähnlich wie eine Assel als Beine benutzt, um damit auf den Gegenständen im Wasser umherzulaufen. Immer sieht man diese Infusorien auf dem Objektträger oder am Deckglas oder auf Schlammteilchen, die im Wasser liegen, geschäftig und rastlos umherlaufen, ohne daß sie jemals von selbst den Kontakt mit diesen Gegenständen verließen. Die Episode aus dem Leben einer Oxytricha, um die es sich hier handelt, illustriert aber diese positive Thigmotaxis ganz besonders. Es lagen in einem flachen Schälchen mit Flußwasser einige kugelrunde Eier der Flußmuschel Anodonta, und gleichzeitig befand sich eine Oxytricha im Wasser. Diese war auf irgendeine Weise beim Ein- gießen in Berührung mit einem der Eier gekommen und rannte nun unermüdlich auf der Kugeloberfläche des Eies umher, ohne dieselbe verlassen zu können (Fig. 235 0), da das Ei nur mit einem Punkte auf der ebenen Unterlage ruhte. Stundenlang lief das Infusor so auf der Eikugel umher und muß — seinen Weg auf eine gerade Linie übertragen — eine ganz enorme Strecke zurückgelegt haben. Nach vier Stunden endlich war es durch Vermittlung eines Schlammteilchens, das an die isoliert daliegende Eikugel gelangte, in der Lage, seinen 1) J. DEwITZ: „Ueber Gesetzmäßigkeit in der Ortsveränderung der Sperma- kozokn. Da in der Vereinigung derselben mit dem Ei“. In PFLÜGERs Arch., 523 Fünftes Kapitel. Zwangsaufenthalt wieder zu verlassen. Experimente, die darauf mit anderen Oxytrichen künstlich die gleichen Verhältnisse nachahmten, ergaben ganz analoge Resultate. Einen andern typischen Fall von positiver Thigmotaxis hat JEN- nınssam Paramaecium beobachtet). Bringt man nämlich unter ein Deckglas, unter dem sich zahlreiche Paramäcien gleichmäßig im Wasser zerstreut befinden, ein Fließpapierstückchen oder einen anderen Stoff mit rauher Oberfläche, so sieht man, daß nach einiger Fig. 238. Oxytricha, ein Wimperinfusorium. A Von unten, DB von der Seite gesehen, € auf einem Muschelei umherlaufend. Zeit dieser Körper mit einem dichten Saum von Paramäcien be- setzt ist, die ihn mit ihren Wimpern berühren, ohne sich vom Platze zu bewegen. Bei Anwendung von stärkeren Vergrößerungen zeigt sich, daß diejenigen Wimpern, welche in direkter Berührung mit dem Fremd- körper sind, gerade ausgestreckt vollkommen stillstehen (Fig. 239 A), und daß auch die Wimpertätigkeit am ganzen übrigen Körperum- fange stark herabgesetzt, event. ganz aufgehoben ist. Wir haben hier also eine sehr ausgeprägte Thigmotaxis der Paramäcien vor uns. Bemerkenswert ist übrigens nebenbei, daß die thigmotaktische An- sammlung der Paramäcien durch ihre Kohlensäureproduktion immer neue Individuen chemotaktisch herbeilockt, so daß schließlich die sämtlichen Individuen des Tropfens (meist schon im Verlauf von 5—10 Minuten) um den Fremdkörper versammelt sind, ohne daß es den meisten überhaupt möglich wäre, in direkte Berühung damit zu treten, da derselbe von einem undurchdringlichen Wall thigmotaktisch gefesselter Individuen umgeben ist (Fig. 239B). Die Thigmotaxis, welche die zufällig anschwimmenden Individuen veranlaßt zu bleiben, ist nur der erste Anlaß für die Ansammlung; die Chemotaxis nach der von ihnen produzierten Kohlensäure macht die Ansammlung dann vollständig. 1) JENNINGS: „Studies on Reactions to stimuli in unicellular Organisms. I.“ In Journal of Physiology, Vol. 21, 1897. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 5923 Vor einigen Jahren hat PÜTTER!) eine ausführliche Studie über die Thigmotaxis der einzelligen Organismen veröffentlicht, in der er zeigt, daß die Thigmotaxis sehr weit verbreitet in allen Klassen der Protisten vorkommt. Als die beiden charakteristischen Wirkungen der Kontaktreize, die zum Zustandekommen der thigmotaktischen Reiz- wirkungen wesentlich in Betracht kommen, sieht PÜTTER einerseits die Beeinflussung der Bewegungsorganoide (Pseudopodien, Geißeln, Wimpern) und anderseits die Abscheidung eines klebrigen Sekrets an. Letzteres Moment spielt bei Oscillarien, Diatomeen, Des- midiaceen, Gregarinen und Cocceidien eine besonders wichtige Rolle. Sehr interessant sind ferner die Untersuchungen PÜTTERS über die Intensität der thigmotaktischen Reizwirkungen im Vergleich zu den A B Fig. 239. Thigmotaxis von Paramaecium. A Ein Individuum in Berührung mit einer Fließpapierfaser. Die Wimpern, welche die Faser direkt berühren, stehen voll- kommen still. B Ansammlung von Paramäcien um ein Fießpapierstückehen unter dem Deckglas. Nach JENNINGS. Wirkungen anderer Reize. PÜTTER hat besonders thermische und galvanische Reize zum Vergleich herangezogen. Dabei hat sich her- ausgestellt, daß die hemmende Wirkung der schwachen Kontaktreize eine ganz unerwartet starke ist, daß die thigmotaktischen Infusorien beispielsweise bis zu einem sehr hohen Grade für thermische und galvanische Reize unerregbar sind, daß sie aber sofort ihre normale Erregbarkeit wieder annehmen, sobald ihr Kontakt mit den festen (regenständen unterbrochen ist. Bei vielen Organismen (Euglena, Chilodon, Stylonychia, Spirostomum etc.) vermögen selbst die höchsten Temperaturen nicht die Thigmotaxis zu überwinden und die thigmotaktischen Individuen durch Erregung der Wimperbewegung zur Aufhebung ihres Kontakts zu veranlassen. Diese Organismen sterben bei höheren Temperaturen ab, ohne sich aus dem Kontakt zu trennen. Paramaecium dagegen löst sich bei 57° C, wo die Er- regung der Wimpertätigkeit bei freischwimmenden Individuen einen ganz ungeheuren Grad erreicht, doch endlich vom Kontakt los und stürmt rasend davon. Hier überwindet also die durch den thermischen Reiz erzeugte heftige Erregung der Wimperbewesrung die durch den Kontaktreiz herbeigeführte Hemmung derselben schließlich doch. Die Interferenz der Thigmotaxis mit der Galvanotaxis und die daraus resul- tierenden merkwürdigen Vorgänge werden weiter unten berührt werden. Eine zweite Form der Barotaxis, bei welcher der Druckreiz nicht wie bei der Thigmotaxis durch Berührung mit einem festen Körper, 1) PÜTTER: „Studien über Thigmotaxis bei Protisten“. In Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abt., Supplementband 1900. 524 Fünftes Kapitel. sondern durch den sanften Strom langsam fließenden Wassers erzeugt wird, ist die von SCHLEICHER entdeckte und von STAHL!) genauer untersuchte „Rheotaxis“, d. h. die Eigentümlichkeit gewisser Or- ganismen, fließendem Wasser gegenüber eine der Strömungsrichtung entgegengesetzte Bewegungsrichtung einzuschlagen. Da die Orga- nismen sich demnach der Seite des Druckreizes zuwenden, so haben wir in der Rheotaxis nur eine spezielle Form der positiven Barotaxis zu erblicken. Die Rheotaxis ist bisher nur bei wenigen Organismen bekannt geworden. Am besten brachte sie STAHL bei Myxomyceten- plasmodien, und zwar bei Aethalium septicum, durch folgenden Versuch zur Anschauung. Er hängte einen schmalen Fließpapier- streifen in ein mit Wasser gefülltes Becherglas, das etwas erhöht auf- gestellt war, in der Weise, daß das eine Ende des Streifens in das Wasser eintauchte, während das andere über den Rand lang nach unten herabhing. Auf einem solchen Streifen besteht, wie man sich durch Anbringen einer Farbstoffmarke überzeugen kann, ein kontinuier- licher, langsamer Wasserstrom, der nach dem herabhängenden Ende gerichtet ist. Dieses Ende legte Stau auf einen Lohehaufen, in dem sich Plasmodien von Aethalium befanden. Die Folge war, daß die Plasmodien langsam von dem Lohehaufen an dem Streifen in die Höhe krochen und sich schließlich über den Becherglasrand hinüber an der Innenseite des Glases abwärts, bis an die Wasseroberfläche hin, aus- breiteten. Durch geeignete Kontrollversuche konnte sichergestellt werden, daß es in der Tat nur das strömende Wasser war, das den Reiz für diese Bewegung lieferte. Auch an Paramäcien hat JEnNInGs?) in neuerer Zeit rheo- taktische Bewegungen experimentell hervorrufen können, indem es ihm gelang, in engen Glasröhren Wasserströmungen in ihrer Ge- schwindigkeit so abzustufen, daß er eine Strömungsgeschwindigkeit erhielt, bei der die Paramäcien nicht mehr passiv mit fortgerissen werden. Unter solchen Bedingungen läßt sich eine Strömungs- geschwindigkeit finden, bei der die Infusorien sich mit ihrer Längs- achse in die Strömungsrichtung einstellen und gegen den Strom vor- wärts schwimmen. Es ist anzunehmen, daß diese Reaktionsweise auf Wasserströmungen auch bei anderen freibeweglichen Infusorienformen vorkommt. Leider sind die rheotaktischen Eigenschaften anderer Organismen noch wenig untersucht. Es ist aber sehr wahrscheinlich, daß die Rheotaxis weiter verbreitet ist. Unter anderem lag es nahe, anzu- nehmen, daß auch die menschlichen Spermatozoen rheotaktisch sind und vermöge ihrer Rheotaxis den Weg zur Eizelle finden, denn wenn die Spermatozoön in die Uterushöhle des Weibes hineingelangt sind, so treffen sie hier auf einen ihnen entgegenkommenden Strom schleimiger Flüssigkeit, da das Flimmerepithel, das die Uterus- höhle auskleidet, eine nach dem Muttermunde hin gerichtete Schlag- richtung besitzt, mithin einen nach außen gerichteten Strom erzeugt. Daß es eine Chemotaxis der Spermatozoön nach dem Ei wäre, die ihnen in diesem Falle den Weg wiese, wird sehr unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, daß die Spermatozo@ön auch dann im Uterus in die Höhe wandern, wenn das Ei den Eierstock-Follikel noch gar nicht 1) Srauu: „Zur Biologie der Myxomyceten‘. In Bot. Zeitung, 1884. 2) JENNINGS: „Behavior of the lower Organisms“, New York 1906. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 525 verlassen hat. In der Tat ist es denn auch Rorm!) gelungen, experi- mentell zu zeigen, daß die Spermatozoön und ebenso gewisse Bakterien rheotaktisch sind, indem er unter dem Deckglas eine schwache kon- tinuierliche Strömung erzeugte und dabei sah, daß diese einzelligen Organismen sich der Strömung entgegen bewegten. Für Spermatozoön des Hundes speziell hat WINTERSTEIN in anderweitig nicht veröffent- lichten Versuchen diese Angaben RorHs bestätigen können. Es liegt auf der Hand, welche große biologische Bedeutung der Rheotaxis der Spermatozoön bei den höheren Wirbeltieren zukommt, und diese Be- deutung wird, wie KRAFT?) hervorhebt, noch erhöht dadurch, daß der Flüssigkeitsstrom im Uterus resp. Eileiter gewissermaßen eine Selektion unter den Spermatozoön ausübt, indem er nur den kräf- tigen Exemplaren gestattet, sich den Weg aufwärts, den Weg zur Befruchtung zu erringen. Die Schwächlinge bleiben auch hier zurück, ohne ihr Ziel zu erreichen. Als eine dritte Form der Barotaxis schließlich haben wir die „Geotaxis“ aufzufassen, d. h. die Tatsache, daß sich gewisse Or- ganismen mit ihrer Medianachse in ganz bestimmter Richtung zum Erdmittelpunkt einstellen und bewegen. Den Druckreiz liefern in diesem Falle die minimalen Druckdifferenzen, die sich sowohl im Wasser als auch in der Luft an Punkten verschiedener Höhe finden. Die geotaktischen Reizwirkungen sind am längsten in der Botanik bekannt, denn die Pflanzen sind sämtlich in ausgezeichneter Weise geotaktisch. Die Wurzeln wachsen dem Erdmittelpunkt zu und sind positiv geotaktisch, die Stengel und Stämme wachsen vom Erd- mittelpunkt weg, sind also negativ geotaktisch, und schließlich sehen wir in dem Verhalten der Blätter und in vielen Fällen der Zweige, die stets im wesentlichen tangential zur Erdoberfläche wachsen, eine transversale Geotaxis. An freilebenden Zellen sind besonders von SCHWARZ?), ÄDER- HOLD *), MASSART°) JENSEN ®) und SOSNOWSKL’) geotaktische Eigen- schaften festgestellt worden, indem diese Forscher fanden, daß In- fusorien und Bakterien in Glasgefäßen mit Wasser teils in die Höhe steigen und sich ansammeln, teils die Tiefe aufsuchen und sich am Boden scharen. Bringt man z. B. in eine senkrecht stehende Glas- röhre Wasser, in dem sich zahlreiche Paramäcien befinden, so steigen diese Infusorien, wie JENSEN fand, in kurzer Zeit in die Höhe und sammeln sich am oberen Ende an (Fig. 240), mag dasselbe offen oder verschlossen sein. Die Paramäcien sind also negativ geotaktisch. Umgekehrt verhalten sich, wie MaAssarr beobachtete, 1) RotH: „Ueber das Verhalten beweglicher Mikroorganismen in strömender Flüssigkeit“. In Deutsche med. Wochenschr., 1893, No. 15. 2) H. Krarrt: „Zur Physiologie des Flimmerepithels bei Wirbeltieren“. In PFLÜGERS Arch. f. d. ges. Phys., Bd. 47, 1890. 3) F. Schwarz: „Der Einfluß der Schwerkraft auf die Bewegungsrichtung von Chlamydomonas und Euglena“. In Sitzungsber. d. Deutschen bot. Ges., Bd. 2, Heft 2. 4) ADERHOLD: „Beiträge zur Kenntnis richtender Kräfte bei der Bewegung niederer Organismen“. In Jenaische Zeitschr. f. Naturwiss., 1888. 5) MASSART: „Recherches sur les organismes inferieurs“. In Bulletin de !’Acad. royale de Belgique, 3me Serie, T. 22, 1891. 6) PAUL JENSEN: „Ueber den Geotropismus niederer Organismen“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 53, 1892. 7) SOSNOWSKI: „Untersuchungen über die Veränderungen des Geotropismus bei a aurelia“. In Bull. internat. de l’Acadömie des sciences de Cracovie, lars 1899. 526 Fünftes Kapitel. manche Bakterienformen, die sich bei gleicher Versuchsanordnung am unteren Ende der Röhre versammeln. Diese Bakterien sind demnach positiv geotaktisch. Uebrigens hat Sosnowskı gezeigt, daß sich auch die sonst immer negativ geotaktischen Paramäcien künstlich positiv geotaktisch machen lassen, wenn sie unter gewisse Temperaturen ge- bracht oder mechanisch durch Schütteln gereizt werden, doch spielt bei dieser Umwandlung der negativen in die positive Geotaxis auch der Zustand und das Alter der Paramäcienkultur eine Rolle, die noch weiterer Aufklärung bedarf. Man hat sich bis in die neueste Zeit entweder gar keine oder halb mystische Vorstellungen darüber gemacht, wie die Schwerkraft die geotaktischen Reizwirkungen erzeuge, bis JENSEN zeigte, daß es die Druckdifferenzen an den Punkten verschiedener Höhe sind, welche diese Wirkungen hervorrufen. Bekanntlich ist der hydrostatische Druck in einer Wassersäule oben bedeutend geringer als unten. Der höhere Druck wirkt daher z. B. auf die Paramäcien als Reiz und veranlaßt sie, sich von den Stellen höheren Druckes abzuwenden und die Stellen des geringsten Druckes aufzusuchen. Andere Unterschiede sind, wie jede Ueberlegung ohne weiteres zeigt, zwischen dem oberen und dem unteren Teil der Flüssigkeitssäule in der senkrecht stehenden Glasröhre nicht vorhanden. Ein unbefangener Beobachter muß also sofort in den geotaktischen Reizwirkungen eine Druckwirkung erkennen. Daß sie das aber in der Tat auch sind, konnte JENSEN durch Versuche auf der Zentrifugalscheibe zeigen, indem er in horizontal lieeenden Röhren, in denen unter gewöhnlichen Ver- hältnissen keine geotaktische Ansammlung der Para- Fig. 240. Glas- mäcien eintreten kann, durch Zentrifugieren in der röhrehen mit Richtung des Zentrifugalscheibenradius den Druck am Paramäcien, peripherischen Ende gegenüber dem zentralen Ende die sich infolge steigerte und so künstlich die Verhältnisse nachahmte, u ee die nach den Gesetzen der Erdschwere jn einer senk- ren Ende ange- echt stehenden Röhre herrschen. Der Erfolg war der, sammelt haben. daß sich auch auf der Zentrifuge die Paramäcien Nach Jessen. bei nicht zu schnellem Drehen an den Stellen des niedrigeren Druckes, d.h. an dem zentralen Ende der Röhre, ansammelten, eine Reizwirkung, die JENSEN der Geotaxis als „Zentrotaxis“ an die Seite stell. Die Ansammlung stellt sich mit derselben, ja, bei geeigneter Geschwindigkeit häufiger mit noch größerer Sicherheit ein wie in der senkrecht stehenden Röhre. Wird zu schnell zentrifugiert, so werden natürlich die Infusorien passiv als spezifisch schwerere Körper nach der Peripherie hin geschleudert. Wir müssen schließlich auch die Geotaxis der höheren Pflanzen, die in der Botanik so lange Zeit eine eigene Stellung eingenommen hat, als einen speziellen Fall der barotaktischen Reizwirkungen betrachten, doch liegen hier, wie bei den geotaktischen Reizwirkungen der Meta- zo®n, die Verhältnisse insofern etwas anders, als bei beiden besondere Organe, die „Statolithenorgane“!), speziell für die Vermittlung der 1) MAX VERWORN: „Gleichgewicht und Otolithenorgan. In PFLÜGERSs Arch., Bd. 50, 1891. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 527 geotaktischen Einstellung differenziert sind. Diese Statolithenorgane, deren Prinzip darin besteht, daß spezifisch schwerere, bewegliche Körn- chen, die immer, der Erdschwere folgend, nach unten streben, durch ihren Druck gewisse Zellen des vielzelligen Körpers mechanisch reizen, sind im Tierreich seit langer Zeit bekannt und so, wie diese Stato- lithen im Tierreich sind neuerdings gleichzeitig von HABERLANDT!) und NEMEC?) die Stärkekörner im Pflanzenreich als Vermittler der geotaktischen Reizwirkungen nachgewiesen worden. 3. Phototaxis. Es liegt in der physikalischen Natur der Lichtbewegung, daß der Lichtstrahl von einer Lichtquelle aus in gerader Richtung durch den Raum sich fortpflanzt und mit der Entfernung an Intensität ver- liert. Demnach haben zwei in der Richtung eines Lichtstrahls ge- legene Punkte verschiedene Lichtintensität, der Punkt, welcher der Lichtquelle näher liegt, größere, der, welcher entfernter gelegen ist, geringere. Der Lichtstrahl erfüllt also in vollkommener Weise die Bedingungen, die zum Zustandekommen einseitiger Reize erforderlich sind, ja, es dürfte sogar auf die größten Schwierigkeiten stoßen, Be- dingungen herzustellen, unter denen ein Organismus durch Licht all- seitig gleichmäßig gereizt würde. Infolgedessen bringt auch die Lichtreizung sehr ausgesprochene bewegungsrichtende Wirkungen her- vor, die als „Phototaxis“°) bezeichnet worden sind und das voll- kommene Analogon zur Chemotaxis und Barotaxis bilden. Am längsten bekannt ist das Vorkommen der Phototaxis wieder bei den Pflanzen, wie ja die Pflanzenphysiologie wegen der geringeren Komplikation der Objekte sich überhaupt viel früher zu einer metho- dischen Vollkommenheit entwickeln konnte als die Tierphysiologie. Jeder, der Blumen im Zimmer zieht, hat die Tatsache der positiven Phototaxis täglich vor Augen. Er sieht, wie die im Wachstum be- eriffenen Teile sich immer und immer wieder dem Lichte zuwenden, und muß, um eine gerade in die Höhe wachsende Pflanze zu be- kommen, den Topf von Zeit zu Zeit umdrehen, damit die phototak- tische Krümmung nach der anderen Seite wieder kompensiert wird. Manche Pflanzen sind so ausgesprochen phototaktisch, daß sie bei hellem Sonnenschein im Garten in einem Tage den ganzen Lauf der 1) HABERLANDT: „Ueber die Perzeption des geotropischen Reizes“. In Ber. d. Deutsch. Bot. Ges., Bd. 13, 1900. — Derselbe: „Ueber die Statolithenfunktion der Stärkekörner“. Ebenda, Bd. 20, 1902. — Derselbe: „Zur Statolithentheorie des Geotropismus“. In Jahrbücher f. wiss. Botanik, Bd. 38, 1903. 2) NEMEC: „Ueber die Art der Wahrnehmung des Schwerkraftreizes bei den Pflanzen“. In Ber. d. Deutsch. Bot. Ges., Bd. 18, 1900. — Derselbe: „Ueber die Wahrnehmung des Schwerkraftreizes bei den Pflanzen“. In Jahrb. f. wiss. Botanik, Bd. 36, 1901. — Derselbe: „Die Perzeption des Schwerkraftreizes bei den Pflanzen“. In Ber. d. Deutsch. Bot. Ges., Bd. 20, 1902. 3) Die frühere Unterscheidung von Heliotropismus und Phototaxis, bei der man mit dem ersteren Wort die Stellung, Biegung und Wendung festgewachsener Organismen, mit dem letzteren die Bewegung freibeweglicher Organismen der Licht- uelle gegenüber bezeichnete, ist nicht nur überflüssig, sondern erweckt auch leicht die alsche Vorstellung, daß es sich bei beiden um verschiedene Dinge handle. Es ist daher durchaus notwendig, eine solche doppelte Bezeichnungsweise für Vorgänge, denen dasselbe Prinzip zugrunde liegt, zu vermeiden und die alte, aus rein äußer- lichen Gesichtspunkten entsprungene Unterscheidung jetzt, wo wir eine bessere Er- kenntnis der betreffenden Vorgänge besitzen, als unwissenschaftlich fallen zu lassen, wie das ja auch schon von manchen Autoren geschehen ist. 528 Fünftes Kapitel. Sonne durch ihre phototaktische Krümmung begleiten. Wer z.B. an einem schönen Sommertage ein Beet von blauen Gentianen beobachtet, sieht, daß die Pflanzen ihre prachtvollen Blüten sämtlich mit der breiten offenen Fläche der Sonne zukehren und die langsame Be- wegung der Sonne in dieser Stellung verfolgen, so daß ihre Blüten am Abend fast die entgegengesetzte Richtung haben, wie am Morgen. Bei manchen Pflanzen wird, wie STAHL!) an Schachtelhalmen gezeigt hat, die Wachstumsrichtung bereits an der Sporenzelle durch das Licht in sehr interessanter Weise beeinflußt, indem bei der Teilung der Sporenzelle die erste Scheidewand, welche sie in zwei Teile zer- schnürt, senkrecht zur Richtung der auffallenden Lichtstrahlen ge- bildet wird, und zwar macht sich schon hier ein charakteristischer Unterschied in der Art der Phototaxis beider Hälften bemerkbar, so daß die Rhizoidzelle, aus der die späteren Wurzeln sich entwickeln, stets von der Licht- quelle abgewendet. die Prothalliumzelle, aus der sich die oberirdischen Teile bilden, da- gegen der Lichtquelle zugekehrt ist (Fig. 241). Im Tierreich haben die Untersuchungen von LOoEB?) und DrIEscH°’) ebenfalls weit verbreitet phototaktische Reizwirkungen nach- Fig. 241. Teilung gewiesen. Allein, da das Zustandekommen der Sporenzelle eines dieser Reaktionen, wenn es schon beim Zellen- Schachtelhalms unter staat der Pflanze nicht ganz übersichtlich ist, emEinflußdesLichts. E : =? 3 Der Pfeil gibt die Richtung Noch viel mehr im komplizierten Zellenstaat der Lichtstrahlen an. aLage des Tierkörpers wegen der mannigfaltigen Be- der Zellteilungswand, BRich- teiligung der Sinnesorgane, des Nervensystems, kung a Kernteilungsfigur. der Bewegungsorgane ete. an Uebersichtlich- ach STAHL. s 5 7 > = keit verliert, so ist es zweckmäßig, wenn wir auch hier wieder unsere Betrachtung vor allem an die einfachsten Verhältnisse, wie sie in der freilebenden Zelle bestehen, anknüpfen. Von PRIESTLEY und EHRENBERG bereits beobachtet, wurden die phototaktischen Reaktionen der einzelligen Organismen von NÄGELI, HOFMEISTER, BARANETZKY, STAHL, KLEBS, ÜOHN und an- deren Botanikern weiter verfolgt, aber erst die grundlegenden ÄAr- beiten von STRASBURGER gaben uns ein genaues Bild von der Gesetz- mäßigkeit dieser Reizwirkungen. STRASBURGER*) machte seine Untersuchungen hauptsächlich an Schwärmsporen von verschiedenen chlorophyllhaltigen Algen und beobachtete ihr Verhalten gegenüber dem einseitig vom Fenster ein- fallenden Lichte im hängenden Tropfen. Dabei zeigten sich bei den Geißelschwärmern der verschiedensten Art im wesentlichen die gleichen Wirkungen. Als Typus kann uns das Verhalten der Ulothrix- Schwärmer dienen. Im diffusen Tageslicht von einer geringen In- 1) STAHL: „Einfluß der Beleuchtungsrichtung auf die Teilung der Equisetum- sporen“. In Ber. d. Deutsch. Bot. Ges., Bd. 3, 1885. 2) LoEB: „Der Heliotropismus der Tiere und seine Uebereinstimmung mit dem Heliotropismus der Pflanzen“, Würzburg 1890. 3) DrIEsCH: „Heliotropismus der Hydroidpolypen“. In Zool. Jahrb., Bd. 5, 1890. 4) STRASBURGER: „Wirkung des Lichtes und der Wärme auf Schwärmsporen“. In Jenaische Zeitschr. f. Naturwiss., Bd. 12. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 529 tensität eilen diese kleinen Geißelzellen in geraden Bahnen nach dem- jenigen Rande des Tropfens, der dem Lichte zugekehrt ist, und sammeln sich hier in großen Scharen an. Steigert man die Intensität des Lichtes, was STRASBURGER dadurch erreichte, daß er das Präparat dem Fenster näherte oder direktes Sonnenlicht einwirken ließ, so beginnen von einer bestimmten Intensität an die Schwärmsporen den „positiven Tropfenrand“, d. h. in den Rand, welcher der Lichtquelle zugekehrt ist, zu verlassen und sich nach dem „negativen“, d.h. dem gegenüberliegenden Tropfenrand zu begeben, bis bei weiter gesteigerter Lichtintensität alle am negativen Tropfenrand versammelt sind. Es existiert also ein Lichtintensitätspunkt, dem die Schwärmer zueilen, indem sie sich sowohl von höherer als auch von geringerer Intensität her nach ihm hin begeben, eine Tatsache, die STRASBURGER als „Photometrie“ bezeichnet. Wir haben hier ein vollständiges Analogon zur Chemotaxis, die bis zu einer bestimmten Konzentration des wirk- samen Stoffes positiv ist, von da an aber bei steigender Konzentration negativ wird, so daß wir auch von einer „Chemometrie“ sprechen könnten. Ganz analog den Ulothrix-Schwärmern verhalten sich die Schwärmer von Chaetomorpha, Ulva, Haematococecus und einigen anderen Algen, sowie des Geißelinfusors Chilomonas Paramaecium und die farblosen Schwärmer der Chytridien, die sämtlich bei geringerer Lichtintensität positiv, bei höherer Intensität negativ phototaktisch sind. Indessen gibt es auch Formen, die, wie z. B. die Schwärmer von Botrydium granulatum, bei allen Lichtintensitäten positive Phototaxis zeigen. Diesen Untersuchungen STRASBURGERS schließt sich eine ganze Reihe von Beobachtungen anderer Forscher an, die bei den ver- schiedenartigsten Mikroorganismen phototaktische Reizwirkungen fest- stellen konnten. So untersuchte STAHL!) die schon von HOFMEISTER und BARANETZKY beobachtete Phototaxis der Myxomyceten-Plasmodien und fand, daß junge Plasmodien von Aethalium septicum im Halbdunkel positiv phototaktisch sind und an die Oberfläche der Gerberlohe kriechen, bei stärkerer Beleuchtung dagegen negativ phototaktisch werden und wieder in das Innere der Lohehaufen zu- rückfließen. Ferner fand ENGELMANN?) in Bacterium chlorinum und Bacterium photometricum zwei Bakterienformen, die photo- taktische Eigenschaften besitzten und sich im Lichte ansammeln. ENGELMANN), STAHL), ADERHOLD°) und andere) stellten die phototaktischen Wirkungen auch bei den Diatomeen und Ös- cillarienfäden fest, die sich genau wie die Algenschwärmer verhalten und sehr ausgesprochene Ansammlungen bilden (Fig. 242). 1) STAHL: „Zur Biologie der Myxomyceten“. In Bot. Zeitung, 1884. 2) ENGELMANN: „Zur Biologie der Schizomyceten“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 26. — Derselbe: „Bacterium photometricum. Ein Beitrag zur vergleichenden Physiologie des Licht- und Farbensinns“. Ebenda, Bd. 30. 3) ENGELMANN: „Ueber Licht- und Farbenperzeption niederster Organismen“. In PFLÜüGERs Arch., Bd. 29. 4) STAHL: „Ueber den Einfluß von Richtung und Stärke der Beleuchtung auf einige Bewegungserscheinungen im Pflanzenreich“. In Bot. Zeitung, 1880. 5) ADERHOLD: „Beitrag zur Kenntnis richtender Kräfte bei der Bewegung nie- derer Organismen“. In Jenaische Zeitschr. f. Naturw., 1888. 6) Max VERWORN: „Psycho-physiologische Protistenstudien“, Jena 1889. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 34 530 Fünftes Kapitel. Ebenso wiesen STAHL (l. c.), KLEBS!) und ÄDERHOLD (|. c.) auch bei den Desmidiaceen phototaktische Bewegungen nach und zeigten, daß diese Algenzellen sich mit ihrer Längsachse parallel zum Einfall der Lichtstrahlen einstellen und sich in dieser Stellung durch Absonderung ihres Sekretes in ihrer eigentümlichen Weise nach der Lichtquelle hin oder bei stärkerer Intensität von der Lichtquelle weg auf der Unterlage fortschieben (Fig. 243), so daß in einem Prä- parat mit lebendigen Closte- rien?) oder Pleurotänien alle Individuen mit ihrer Längs- achse parallel untereinander und zur Einfallsrichtung der Licht- strahlen eingestellt sind. Schließ- lich sind auch bei Infusorien pho- totaktische Reaktionen nachge- wiesen worden, bisher aber nur von solchen Formen, die Farb- stoffe in ihrem Protoplasma be- sitzen, welche für dasselbe als Sensibilisatoren dienen®). Die farblosen Infusorien sind ja zum | erößten Teil für sichtbare Licht- = 242. Phototaxis der Diatomeen. strahlen nicht empfänglich, So n einem Tropfen liegt in der Mitte ein 4 Schlammfetzen, der mit Diatomeen dicht be- hat JENNINGS ) an dem blaß setzt war. Die Diatomeen sind sämtlich nach gefärbten Stentor coeruleus dem der Sonne zugekehrten Tropfenrande ge- eine negative Phototaxis fest- krochen. stellen können. Wird der Wasser- tropfen, in dem die Stentoren frei umherschwimmen, auf der einen Hälfte verdunkelt, so sammeln sich sehr bald alle Individuen in diesem verdunkelten Teile an. Gelangen sie bei ihrem Umherschwimmen gelegentlich an die Lichtgrenze, so führen sie eine Bewegung aus, die sie wieder in den dunklen Teil des Tropfens zurückführt. So finden wir, daß die Phototaxis unter den einzelligen Organismen, soweit sie überhaupt durch Lichtstrahlen reiz- bar sind, eine weit ver- breitete Reizwirkung ist. Nachdem die photo- Fig. 243. Phototaxis von Closterium. Das taktischen Reizwirkungen Licht fällt von rechts her ein. Der Pfeil gibt die Gleit- festgestellt worden waren richtung des Closteriums an. : 2 mußte die Frage aufge- worfen werden, ob die verschiedenen Strahlen des Spektrums in gleicher Weise phototak- tisch wirksam seien, eine Frage, die am leichtesten durch Einschal- 1) Kreps: „Ueber die Bewegung und Schleimbildung der Desmidiaceen“. In Biol. Centralbl., Bd. 5. 2) Vergl. p. 264. 3) Vergl. p. 475 u. 476. 4) JENNINGS: „Behavior of the lower Organisms“, New York 1906. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 531 tung von farbigen Gläsern und Lösungen zwischen Lichtquelle und Objekt entschieden werden konnte. Die dabei verwendeten Medien waren so gewählt, daß sie nur Strahlen eines bestimmten Teiles des Spektrums durchließen, so daß nur Strahlen von gewissen Wellen- längen auf die Organismen fallen konnten (Fig. 244). Auf diese Weise stellte bereits CoOHN und später STRASBURGER fest, daß im alleemeinen die kurzwelligen Strahlen des Spektrums, also besonders die blauen und violetten, wirksamer sind als die langwelligen, etwa die roten, die bei nicht zu hohen Intensitätsgraden wie völlige Dunkelheit wirken. Nach den oben angeführten Ergebnissen der klassischen Untersuchungen HERTELS ist diese Tatsache ohne weiteres verständlich. Noch ein Punkt verdient schließlich bei der Besprechung der phototaktischen Reaktionen Erwähnung. Nach unserer ganzen bis- herigen Betrachtung und nach Analogie mit den bewegungsrichtenden Wirkungen der anderen Reize liegt es auf der Hand, daß nur die Differenz in der Intensität der Belichtung an verschiedenen Körper- Fig. 244. Spektra von verschiedenen Medien. 1 Spektrum eines roten Glases, 2 Spektrum eines Kobaltglases, 3 Spektrum eines grünen Glases, 4 Spektrum einer Kali- bichromatlösung, 5 Spektrum einer Kupferoxyd-Ammoniaklösung. stellen eine bewegungsrichtende Wirkung hervorbringen kann, denn wo der Reiz von allen Seiten in gleicher Intensität auf die Körper- oberfläche einwirkt, da fällt der Grund für eine bestimmte Achsen- einstellung fort, wie das am deutlichsten bei der allseitigen Einwirkung chemischer Reize zu beobachten ist. Obwohl diese Ueberlegung ohne weiteres einleuchtet, haben dennoch einzelne Forscher, wie SACHS, LoEB und DAVENPORT geglaubt, nicht sowohl die Intensitätsdifferenzen als vielmehr die „Richtung“ der Lichtstrahlen für das Zustandekommen der phototaktischen Reaktionen verantwortlich machen zu sollen. Es ist schwer, sich von dem Reaktionsmechanismus nach dieser selt- samen Theorie eine Vorstellung zu machen, denn da eine Achsenein- stellung nur möglich ist, wo Differenzen an zwei verschiedenen Punkten der Körperoberfläche bestehen, so bleibt es ziemlich unverständlich, wie die „Richtung“ der Strahlen als solche, die an allen Punkten des Körpers dieselbe ist, eine solche Wirkung hervorrufen Könnte. In der Natur freilich fällt unter gewöhnlichen Bedingungen die Intensitäts- abnahme mit der Richtung “der Strahlen zusammen, und infolgedessen 033 Fünftes Kapitel. sehen wir immer die phototaktischen Bewegungen innerhalb der Rich- tung der Lichtstrahlen erfolgen. Allein experimentell läßt sich doch der Intensitätsabfall von der Fortpflanzungsrichtung der Lichtstrahlen sehr gut trennen. Eine sehr geeignete Anordnung hat zu diesem Zwecke OLTMANNS!) mit Benutzung einer bereits von STRASBURGER verwendeten Idee aufgestellt. OÖLTMANNS stellte sich aus zwei Glas- platten, die unter einem spitzen Winkel von 2° zueinander geneigt waren, einen Keil her, indem er den Raum zwischen beiden Platten mit einer von Tusche getrübten Gelatineschicht füllte. Diese Keil- platten ließen an ihrem dünnen Ende nahezu alles Licht hindurch, während sie an ihrem dicken Ende, wo die Tuschgelatineschicht am dunkelsten war, sehr viel Licht absorbierten. Fällt daher das Licht senkrecht zur Fläche der Keilplatten auf diese auf, so liegt für die in einem dunklen Kästchen dahinter befindlichen Objekte der größte Intensitätsabfall senkrecht zur Einfallsrichtung der Lichtstrahlen. Mittels dieser Platten läßt sich denn in der Tat bei Anwendung ge- eigneter Lichtstärken experimentell beweisen, daß es nicht die Richtung an sich, sondern lediglich die Intensitätsdifferenz an verschiedenen Stellen der Körperoberfläche ist, welche die phototaktischen Reiz- wirkungen erzeugt, wie das von vornherein bei einfacher Ueberlegung nicht anders zu erwarten ist. 4. Thermotaxis. Wie das Licht gestattet auch die Wärme eine sehr leichte An- wendung einseitiger Reizung, da die Wärme, sei es, daß sie sich durch Leitung, sei es, daß sie sich durch Strahlung fortpflanzt, immer mit der Entfernung von der Wärmequelle abnimmt, so daß in der gleichen Richtung von der Wärmequelle an zwei verschiedenen Punkten des Mediums stets Temperaturdifferenzen bestehen. Die erste Beobachtung thermotaktischer Eigenschaften machte STAHL?) an den Plasmodien von Aethalium septicum. Er stellte zwei Bechergläser, deren eines mit Wasser von 7°, deren anderes mit Wasser von 30° gefüllt war, nebeneinander auf und legte einen Streifen Fließpapier, auf dem sich das Myxomycetenplasmodium aus- gebreitet hatte, in der Weise über ihre Ränder, daß das eine Ende des Plasmodiums in das kühlere, das andere in das wärmere Wasser tauchte. Alsbald fing das Protoplasma des Plasmodiennetzwerkes an, aus dem kühlen Wasser heraus- und in der Richtung nach dem wärmeren Wasser hinüberzuströmen, obgleich es vor dem Versuch die entgegengesetzte Kriechrichtung befolgte. Schließlich hatte sich die ganze Protoplasmamasse nach dem warmen Wasser hinübergezogen. Wir haben also hier einen Fall von positiver Thermotaxis. Eine negative Thermotaxis können wir bei Amöben?°) be- obachten, wenn wir auf eine Körperstelle eine Temperatur von min- destens 35° C einwirken lassen, während der übrige Protoplasmaleib sich unter niedrigerer Temperatur befindet. Das ist mittels geleiteter Wärme kaum zu erreichen. Wir benutzen daher strahlende Wärme 1) F. OLTMANNSs: „Ueber die photometrischen Bewegungen der Pflanzen“. In Flora, Jahrg. 1892. 2) STAHL: „Zur Biologie der Myxomyceten“. In Bot. Zeitung, 1894. 3) MAx VERWORN: „Psycho-physiologische Protistenstudien“, Jena 1889. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 53: und treffen folgende Anordnung. Ein größerer Wassertropfen, der viele Individuen von Amoeba limax enthält, wird auf ein großes und dünnes Deckglas gebracht und über eine mit schwarzem Papier beklebte Glasplatte gelegt. Das schwarze Papier dieser Platte besitzt in der Mitte einen kleinen, sehr scharfrandigen Ausschnitt. Unter dem Mikroskop, dessen Konkavspiegel so eingestellt ist, daß er das grelle Sonnenlicht auffängt und durch das Diaphragma reflektiert, wird nach Zwischenschaltung einer undurchsichtigen Platte zwischen Objekttisch und Spiegel bei auffallendem Lichte eine Amöbe gerade so ein- gestellt, daß sie im Verfolg ihrer Kriechrichtung über die Grenze des schwarzen Papiers kriechen muß. Sobald die Amöbe mit ihrem vorderen Ende die Grenze des Ausschnittes überschritten hat, wird plötzlich die undurchsichtige Platte zwischen Spiegel und Objekttisch entfernt, so daß nun die konzentrierten Sonnenstrahlen auf das vordere Ende der Amöbe fallen, während das hintere sich noch im Schatten A B In 2 Fig. 245. Negative Thermotaxis der Amöben. TI Auf einem großen Deckglas befindet sich eine Wassermasse mit vielen Amöben. Das Deckglas liegt über einem schwarzen Grunde, der in der Mitte einen scharfen viereekigen Ausschnitt hat. Durch Verschieben des Deckglases kann eine Amöbe gerade so eingestellt werden, daß sie beim Verfolg ihrer Kriechbahn über die Grenze des Ausschnittes kriecht, // A. Wird dann plötzlich das konzentrierte Sonnenlicht vom Mikroskopspiegel durch den Ausschnitt ge- lassen, so kriecht die Amöbe sofort wieder in das kühle Dunkel zurück, // B. Die Pfeile geben die Kriechrichtung an. des schwarzen Papiers befindet. Die Folge ist, daß die Amöbe sogleich ihre bisherige Kriechrichtung ändert und wieder in den Schatten zurückfließt (Fig. 245). Daß es sich hier um eine reine Wärmewirkung und nicht um eine Lichtwirkung der Sonnenstrahlen handelt, ist ohne weiteres zu entscheiden, wenn man entweder die chemisch wirksamen Lichtstrahlen durch Zwischenschaltung einer absorbierenden Lösung von Jod in Schwefelkohlenstoff oder die Wärmestrahlen durch Einschaltung ven Eis- und Alaunplatten aus- schließt. Im ersteren Falle ist die thermotaktische Wirkung ebenso deutlich wie im reinen Sonnenlicht; im letzteren fehlt sie trotz der großen Helligkeit der Beleuchtung. Ueberhaupt sind die Amöben, wie sich bei genauerer Prüfung zeigt, nicht durch Licht reizbar. 534 Fünftes Kapitel. Dagegen zeigt eine thermometrische Messung der Temperatur im Tropfen direkt über dem Ausschnitt des schwarzen Papiers, daß min- destens eine Temperatur von 355° C erreicht sein muß, wenn die Wirkung eintreten soll. Die thermotaktische Wirkung verschiedener Temperaturgrade läßt sich am besten an Wimperinfusorien studieren, die man, wie Paramaecium, in großen Massen züchten und zum Versuch be- nutzen kann. Bringt man auf eine Metallplatte eine kleine Ebonit- wanne und breitet auf dieser die paramäcienhaltige Flüssigkeit aus, so kann man durch einseitiges Erwärmen oder Abkühlen mittels Eis an beiden Enden der Flüssigkeitsfläche thermometrisch meßbare Fig. 246. Thermotaxis von Paramaecium. In einer schwarzen Ebonitwanne von 10 em Länge befinden sich zahlreiche Paramäcien, die sich bei einseitiger Erwärmung der Wanne auf über 24—28° C alle nach der kühleren Seite hin bewegen. Nach MENDELSSOHN. Temperaturdifferenzen herbeiführen, die eine ausgeprägte thermo- taktische Wirkung zur Folge haben (Fig. 246). Der unten abgebildete, von MENDELSSOHN konstruierte Apparat gestattet eine Heizung und Abkühlung mit heißem oder kühlem Wasser (Fig. 247). Mit dieser Methode hat MENDELSSOHN!) in einer Reihe von Arbeiten die Thermo- taxis von Paramaecium und später auch von verschiedenen anderen Infusorienformen eingehend studiert. Dabei hat sich gezeigt, daß die Paramäcien bei Temperaturen von mehr als ca. 25—28° © negativ thermotaktisch sind, d. h. von der wärmeren Seite in Scharen weg- schwimmen, während sie bei Temperaturen unterhalb dieser Grenze positive Thermotaxis zu erkennen geben, indem sie die abgekühlte Seite verlassen. Wir haben also hier eine der Chemotaxis und Photo- taxis, bei der die Organismen ebenfalls einem bestimmten Intensitäts- grade des Reizes sich von beiden Seiten her zuwenden, vollkommen analoge Reizwirkung. Wie geringe Temperaturdifferenzen an beiden Körperpolen des Paramaeciums übrigens noch eine thermotaktische Wirkung zu erzielen vermögen, ergibt sich aus einer einfachen Be- rechnung, wenn man die Länge der Flüssigkeitsfläche, die geringsten noch wirksamen Differenzen an ihren beiden Enden und die Länge des Paramäcienkörpers kennt. JENSEN fand bei dieser Berechnung, 1) MENDELSSOHN: „Ueber den Thermotropismus einzelliger Organismen“. In PFLÜGERs Arch. f. d. ges. Physiologie, Bd. 60, 1895. — Derselbe: ‚„Recherches sur la thermotaxie des organismes unicellulaires“. In Journ. de Physiol. et de Pathol. generale, 1902. — Derselbe: „Recherches sur l’interference de la thermotaxie avec d’autres tactismes et sur le m@canisme du mouvement thermotactique“. Ebenda. — Derselbe: „Quelques considerations sur la nature et le röle biologique de la ther- motaxie“. Ebenda. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 535 die freilich immer nur annähernde Werte ergeben kann, daß die Para- mäcien noch thermotaktisch sind, wenn an den beiden Enden ihres ca. 0,2 mm langen Körpers ein Temperaturunterschied von 0,01° © herrscht. Es spricht sich darin eine Feinheit der Unterscheidung von Fig. 247. Apparat zur Untersuchung der Thermotaxis. Auf einer Metall- platte befindet sich, in eine Vertiefung eingelassen, eine flache Wanne aus schwarzem Ebonit (Fig. 246), in der die paramäcienhaltige Flüssigkeit ist. Die Metallplatte besitzt 3 Röhren, durch die von einem Becherglase aus mittels eines Schlauches Wasser von be- liebiger Temperatur hindurchgelassen werden kann. Ueber der Wanne sind an einem Stativ Thermometer angebracht, die in die paramäcienhaltige Flüssigkeit tauchen und es gestatten, die Temperatur, die hier an verschiedenen Stellen herrscht, jeden Augenblick abzulesen. Nach MENDELSSOHN. Reizgrößen aus, die in den von PFEFFER für die Ohemotaxis er- mittelten Zahlen, sowie in den geringen bei der Phototaxis wirk- samen Reizunterschieden zwar ein Analogon findet, die aber unsere bewußte Unterschiedsempfindlichkeit für Temperaturreize weit hinter sich zurückläßt. 5: Galvanotaxis. Es ist die charakteristische Eigenschaft des galvanischen Stromes, daß er stets polare Erregungswirkungen hervorruft. Infolgedessen ist die Reizung mit dem konstanten Strome wie die Lichtreizung von vornherein geeignet, bewegungsrichtende Reaktionen auszulösen. Da wir ferner den galvanischen Strom in feinster Weise in seiner Inten- sität abstufen und in seiner Richtung beherrschen können, so besitzen wir in ihm das vollkommenste Mittel, um bewegungsrichtende Reiz- wirkungen in ihrer exaktesten Form und mit der präzisen Sicherheit physikalischer Vorgänge experimentell zu erzeugen. In der Tat sind 536 Fünftes Kapitel. es denn auch die galvanotaktischen Reaktionen der freibeweglichen Organismen, welche am meisten an die Wirkungen des Magneten auf Eisenteilchen erinnern. Die ersten galvanotaktischen Reizwirkungen an Tieren wurden von HERMANN!) an Froschlarven und Fischembryonen entdeckt. Er machte die Beobachtung, daß diese Tiere, wenn durch das Gefäß, in dem sie sich befanden, ein galvanischer Strom geleitet wurde, sich sämtlich bei der Schließung des Stromes mit ihrer Längsachse in der Richtung der Stromkurven einstellen, und zwar so, daß sie mit dem Kopfe nach der Anode und mit dem Schwanze nach der Kathode ge- richtet sind. In dieser Stellung verharren sie, ohne sich vom Flecke zu rühren. Die analogen Wirkungen sind dann in neuerer Zeit von NAGEL?), BLAsıus und SCHWEIZER?) und LOEB*) an verschiedenen anderen, höheren Tierformen beobachtet worden. Auch an Pflanzen sind galvanotaktische Reaktionen aufgefunden worden und zwar an den Wurzelspitzen mancher Pflanzen, die sich bei längerer Durchströmung mit dem konstanten Strome nach der Kathode hin krümmen. Am frappierendsten aber und theoretisch am interessantesten sind die galvanotaktischen Reizwirkungen bei den freilebenden einzelligen Organismen, wie Rhizopoden, Leukocyten, Infusorien ete.). Um die Galvanotaxis dieser Organismen zu untersuchen, bedienen wir uns am besten wieder des oben beschriebenen Objektträgers mit den unpolarisierbaren Tonleistenelektroden oder auch unpolarisierbarer Elektroden, die den Pinselelektroden analog eingerichtet sind, aber statt der Pinsel Spitzen aus gebranntem Ton tragen, die in die zu durchströmende Flüssigkeit eingetaucht werden können (Fig. 248). Bringt man zwischen die parallelen Elektrodenleisten des Objekt- trägers (Fig. 249 BD) einige Tropfen Wasser, in dem sich viele Para- mäcien befinden, und läßt man dann aus zwei an die Tonleisten angelesten Pinselelektroden einen konstanten Strom durch die Flüssig- keit gehen, so stellen sich im Moment der Schließung alle Para- mäcien-mit dem vorderen Körperpol nach der Kathode hin ein und schwimmen in dichter Schar auf dieselbe los (Fig. 249 A). In wenigen Sekunden ist die Anode vollkommen von ihnen verlassen, und an der Kathode befindet sich ein dichtes Gewimmel, das bestehen bleibt, solange der Strom geschlossen ist. Wendet man jetzt den Strom in die entgegen- gesetzte Richtung, so daß zur Kathode wird, was vorher Anode war, und umgekehrt, so rückt die ganze Schar in einheitlichem Haufen wieder nach der gegenüberliegenden Seite hinüber und bildet, wie vorher, eine Ansammlung an der neuen Kathode. Man kann dieses Experiment, das durch die große Exaktheit der Reaktion jeden Be- schauer im höchsten Maße fesselt, beliebig oft wiederholen. Oeffnet man den Strom schließlich, so zerstreut sich die Ansammlung von der 1) HERMANN: „Einwirkung galvanischer Ströme auf Organismen“. In PFLÜGERSs Arch., Bd. 37, 1885: 2) NAGEL: PFLÜGERS Arch. f. d. ges. Physiologie, Bd. 51, 53, 55 u. 59. 3) BLAsIuUs und SCHWEIZER: Ebenda, Bd. 53. 4) LoEB: Ebenda, Bd. 63 u. 65. 5) Max VERWORN: „Die polare Erregung der Protisten durch den galvanischen Strom“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 45 u. 46, 1889, Bd. 62 u. 65, 1896. — LUDLOFF: „Untersuchungen über den Gavanotropismus“. Ebenda, Bd. 59, 1895. — WALLEN- GREN: „Zur Kenntnis der Galvanotaxis“, I, II uIlI in Zeitschr. f. allgem. Physiol., Bd. 2 u. 3, 1902 u. 1903. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 537 Kathode her, und die Paramäcien verteilen sich wieder gleichmäßig in der ganzen Flüssigkeit. Tut man die Paramäcien in einem großen Iropfen auf eine Glasplatte, und taucht man in den Tropfen die Spitzenelektroden ein, so stellen sich de Paramäcien bei Schließung des Stromes wie die Eisenfeilspäne über einem Magneten Fig. 249 B. Fig. 248. Unpolarisierbare Elektrode, die statt des Pinsels eine Spitze aus ge- branntem Ton trägt. Fig. 249. Galvanotaxis von Paramäcien. Der Pfeil gibt die Schwimmrichtung der Paramäcien an, die sich in B bereits alle an der kathodisehen Elektrodenleiste an- gesammelt haben. A Mikroskopisches Bild, B makroskopisches Bild. in die Richtung der Stromkurven ein und schwimmen in dieser Richtung (Fig. 250), bis sie die Kathode erreicht haben, hinter der sie sich in dichter Schar anhäufen. Macht man die kathodische Elektrode be- weglich, so daß man ihre Lage im Tropfen beliebig verändern kann, so gelingt es, die Paramäcien mit der Elektrodenspitze wie blecherne Fische im Wasser mit dem Magneten zu dirigieren, wohin 538 Fünftes Kapitel. man sie haben will. Da die Bewegung der Paramäcien auf die Kathode hin gerichtet ist, kann man diesen Fall als kathodische Galvanotaxis bezeichnen. Wie Paramaecium ist die Mehrzahl aller Wimperinfusorien kathodisch-galvanotaktisch. Unter den anderen Protisten, die noch das gleiche Verhalten zeigen, mögen nur noch die Amöben genannt sein. Amoeba limax beginnt, wenn der Strom geschlossen wird, sofort nach der Kathode hin zu kriechen, indem sie ihre ursprüngliche Fig. 250. Galvanotaktische Schwimmkurven von Paramaecium bei An- wendung von spitzen Elektroden im Wassertropfen. A Beginn des Schwimmens, B vollendete Ansammlung. Kriechrichtung aufgibt und ein Pseudopodium nach der Kathode zu vorfließen läßt, in das die ganze Protoplasmamasse nachströmt, bis der Körper wieder die typische langgestreckte Kriechform hat, in der er stetig der Kathode zufließt. Ganz ebenso verhalten sich auch andere Amöbenformen, wie Amoeba proteus (Fig. 251), Amoeba verrucosa und Amoeba diffluens (Fig. 252). Das entgegengesetzte Verhalten wie die eben genannten Orga- nismen zeigen viele Geißelinfusorien. Lassen wir z. B. einen konstanten Strom durch einen Tropfen gehen, in dem sich eine größere Menge von Individuen der kleinen, eiförmigen Polytoma uvella befindet, die mit ihren zwei Geißeln (Fig. 253) sich unter beständigen Achsen- drehungen durch das Wasser bewegen, so drehen sich bei Schließung des Stromes sofort alle Individuen mit ihrem vorderen, geißeltragenden Ende nach der Anode zu und schwimmen in ihrer gewöhnlichen Be- wegungsweise gerade auf diesen Pol los, wo sie sich in dichten Scharen sammeln. Nach der Oeffnung des Stromes verteilen sie sich wieder gleichmäßig im ganzen Tropfen. Polytoma verhält sich also den beiden Elektroden gegenüber genau umgekehrt wie Paramaecium; sie ist im Gegensatz zu diesem anodisch galvanotaktisch. Einen sehr fesselnden Anblick hat man, wenn man in einer Flüssig- keit anodisch galvanotaktische Infusorien, etwa eine Flagellatenform, wie Polytoma, und kathodisch-galvanotaktische, etwa eine kleine Ciliatengattung, wie Halteria oder Pleuronema, zusammen der Einwirkung des Stromes aussetzt. Das vorher unentwirrbare Durch- einanderwimmeln der beiden Infusorienformen löst sich sofort nach der Schließung des Stromes. Die Ciliaten sammeln sich an der Kathode, die Flagellaten an der Anode. Die Mitte der Flüssigkeit ist nach kurzer Zeit vollständig frei, und die beiden Haufen sind scharf voneinander geschieden. Wendet man jetzt den Strom, so daß die bisherige Anode zur Kathode wird und umgekehrt, so rücken die beiden Infusorienhaufen wie zwei feindliche Heere aufeinander los, Von den Reizen und ihren Wirkungen. 539 kreuzen sich und sammeln sich an den entgegengesetzten Polen von neuem wieder an. Es gibt wenige physiologische Experimente, die so anmutig und zierlich sind, wie der galvanotaktische Reigen der Infusorien. u N BETT Fig."251. Galvanotaxis von Amoeba proteus. Links Amoeba proteus ungereizt mit zahlreichen Pseudopodien. Rechts (oben) nach Schließung des Stromes und (unten) nach Wendung des geschlossenen Stromes. Die Pfeile geben die Kriechrichtung an. Fig. 252. Galvanotaxis von Amoeba diffluens. A Amoeba diffluens ungereizt kriechend, B nach Schließung des konstanten Stromes. Der Pfeil gibt die Kriechriehtung an. Fig. 253. Galvanotaxis von Polytoma uvella. A Polytoma uvella ruhig liegend, B nach Schließung des konstanten Stromes zur Anode schwimmend. Ein sehr merkwürdiges Verhalten gegenüber dem galvanischen Strome zeigt das Wimperinfusorium Spirostomum ambiguum!). 1) MAx VErworn: In den Berichten des zweiten internationalen Physiologen- Kongresses in Lüttich 1892. — Derselbe in PFLÜGERs Arch., Bd. 62, 1896. 540 Fünftes Kapitel. Wenn man diese langgestreckten Infusorien, die mit bloßem Auge bereits als kleine, ca. 2 mm lange, weiße Fädchen wahrgenommen werden können, in ihrem Wasser zwischen die parallelen Tonleisten- elektroden bringt, so bemerkt man, daß sie bei Schließung des kon- stanten Stromes durch die plötzliche Kontraktion ihrer Myoidfäden zusammenzucken, aber nicht, wie man etwa erwarten könnte, nach dem einen oder anderen Pole hinschwimmen. Statt dessen drehen sie sich unter mehrfachen Körperbiegungen durch ihre Wimperbewegung allmählich so, daß sie mit ihrer Längsachse senkrecht zur Richtung des Stromes eingestellt sind, eine Richtung, die sie, wenn auch unter wiederholten Biegungen und Knickungen des langen Körpers, dauernd beibehalten (Fig. 254). Fig. 254. Galvano- taxis von Spi- rostomum ambi- guum. Die Infuso- rien haben sich nach Schließung des Stro- mes mit ihrer Längs- achse senkrecht zur Stromesrichtung ein- gestellt. Ein ähnliches Verhalten, aber noch auffallender, bringen gewisse hypotriche Infusorien zum Ausdruck, wie Oxytricha und Stylo- nychia. Diese Protisten, die in ungestörtem Zustande mit ihren Bauchwimpern auf dem Grunde oder am Öberflächenhäutchen des Wassers umherlaufen, stellen sich bei Schließung des konstanten Stromes sämtlich mit einem Ruck quer zur Richtung des Stromes ein und zwar so, daß ihre Peristomseite der Kathode zugewendet ist. In dieser Einstellung laufen sie vorwärts. Diejenigen Individuen aber, die frei im Wasser schwimmen, zeigen die gewöhnliche Form der kathodischen Galvanotaxis. Geht ein transversal zur Stromesrichtung laufendes Individuum einmal zum freien Schwimmen über, was bei stärkeren Strömen öfters vorkommt, so schwimmt es in der typischen Weise unter Achsendrehungen direkt nach der Kathode, geht aber ein kathodisch galvanotaktisches Individuum zum thigmotaktischen Laufen über, so stellt es sich sofort quer zur Stromesrichtung, so daß es die Kathode zu seiner Linken hat. Da in jedem Reizkästchen immer drei Gruppen von Individuen zu unterscheiden sind, von denen die einen mit der Bauchseite nach unten an der Unterlage, die anderen mit der Bauchseite nach oben am ÖOberflächenhäutchen laufen, während die dritten frei in der Mitte der Flüssigkeit schwimmen, so sieht man auch bei schwacher Vergrößerung gleichzeitig drei verschiedene Be- wegungsrichtungen: die erste Gruppe läuft quer zum Strom nach einer einzigen Richtung, die zweite läuft quer zum Strom nach entgegen- gesetzter Richtung, und die dritte schwimmt nach der Kathode. Diese Bewegungen und Einstellungen erfolgen momentan wie auf Kommando, sobald der Strom geschlossen wird, und hören sofort wieder auf nach der Oeffnung. Wie PÜTTER!) gezeigt hat, ist diese eigentümliche 1) PÜTTER: „Studien über Thigmotaxis bei Protisten“. In Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abt., 1900, Supplementband. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 541 transversale Galvanotaxis bei den hypotrichen Infusorien nur eine Interferenzwirkung der Galvanotaxis mit der Thigmotaxis und kommt dadurch zustande, daß gewisse Wimpergruppen, die für die Orts- bewegung wichtig sind, durch den Kontaktreiz in bestimmter Weise beeinflußt werden. Eingehende Analysen des Verhaltens der Wimpern bei der Gal- vanotaxis der Infusorien und des Mechanismus, der zur anodischen, kathodischen und transversalen Galvanotaxis führt, haben LUDLOFF, PÜTTER, JENNINGS und WALLENGREN ausgeführt. Dabei hat sich aus den Untersuchungen von WALLENGREN!) namentlich an Opalina und Spirostomum ergeben, daß die gleiche Lokalisation der polaren Erregung je nach der Intensität des Stromes durch verschieden starke Beeinflussung dieser oder jener Wimpergruppen zu verschiedenen Formen der Galvanotaxis, d. h. entweder zu einer anodischen oder kathodischen oder transversalen Einstellung führen kann. Die tief- gehenden Untersuchungen von WALLENGREN und JENNINGS über diese sehr komplizierten Verhältnisse lassen sich indessen hier leider nicht in Kürze anschaulich wiedergeben. Sie haben uns aber bis zu einem erstaunlichen Grade über die feinsten Einzelheiten des Mechanismus der Galvanotaxis aufgeklärt. Es darf schließlich nicht unerwähnt bleiben, daß man bisweilen den sehr naheliegenden Gedanken ausgesprochen hat, die galvano- taktischen Reaktionen an mikroskopischen Objekten möchten mit den rein passiven kataphorischen Wirkungen identisch sein, welche sehr starke galvanische Ströme an kleinen in der Flüssigkeit leicht beweglich suspendierten Teilchen hervorrufen. Bei derartigen Ob- jekten, wie Karminteilchen, Lycopodiumsamen, Stärkekörnchen etc. kann man, wie BIRUKOFF ?) wieder eingehend studiert hat, in der Tat ganz bestimmt gerichtete Wanderungen und Ansammlungen als Wirkungen starker Ströme beobachten. Indessen diese Bewegungen haben nur eine rein äußerliche Aehnlichkeit mit den galvanotak- tischen Wanderungen der einzelligen Organismen. Die Tatsachen der anodischen und transversalen Galvanotaxis oder das gleichzeitige Ein- treten der kathodischen und anodischen Galvanotaxis verschiedener Infusorienarten allein schon wären auf Grund dieser Analogie schlechterdings vollkommen unverständlich. Endlich wissen wir auch, daß die Galvanotaxis sofort aufhört, sobald die Infusorien narkotisiert oder abgetötet sind. Alles das und noch zahlreiche andere Momente verbieten es, die Galvanotaxis einfach auf die kataphorischen Wir- kungen des Stromes zu beziehen. Die Galvanotaxis reiht sich viel- mehr als echte Reizwirkung den bewegungsrichtenden Wirkungen der anderen Reizqualitäten unmittelbar an und folgt denselben Gesetzen und Bedingungen wie diese. Welcher spezielle Faktor in dem Kom- plex von Bedingungen, den wir als galvanischen Strom bezeichnen, die charakteristischen Erregungen und Hemmungen der Wimpertätig- keit hervorruft, deren Ausdruck die galvanotaktische Achseneinstellung und Schwimmbewegung der Infusorienzelle ist, diese Frage müssen wir, wie bereits oben?) bemerkt, vorläufig offen lassen. COEHN und 1) WALLENGREN: „Zur Kenntnis der Galvanotaxis“, I, II, III. In Zeitschr. f£. allgem. Physiologie, Bd. 2—3, 1902 u. 1903. 2) BIRUKOFF: „Untersuchungen über Galvanotaxis“. In PFLÜGERS Arch., Bd. 77, 1899. 3) Vergl. p. 505. 542 Fünftes Kapitel. BARRATT!) haben kürzlich die Hypothese geäußert, daß es sich hier primär um eine elektrische Ladung der Organismen handle, die aus der verschiedenen Durchlässigkeit der lebendigen Protoplasmamem- bran für die beiden Ionenarten von Elektrolyten resultiere. Indessen bleibt auch bei dieser Hypothese noch immer die spezifische Beein- flussung der Wimperbewegung unerklärt. Eine genauere Analyse des Reaktionsmechanismus der galvanotaktischen Reizwirkungen, so- weit dieser in der lebendigen Substanz abläuft, wird immer nur mit den gleichen Prinzipien rechnen können, die bei den analogen Reiz- wirkungen aus dem Gebiete anderer Reizqualitäten die Reaktion be- herrschen, d. h. in erster Linie mit den allgemeinen Wirkungen der Reize auf das Geschehen in der lebendigen Substanz. C. Die Wirkungen der Ueberreizung. Als das kleine Häuflein tapferer Athener unter der Führung des MILTIADES den glänzenden Sieg bei Marathon erfochten hatte, eilte, noch warm vom Kampfe, einer der Streiter vom Schlachtfelde nach Athen, um der erste zu sein, der seinen Landsleuten die Kunde des Sieges überbrachte. Das dramatische Geschick dieses Läufers von Marathon erzählt PLUTARCH ?), der uns die Anekdote überliefert hat. Als EUKLES — so war der Name des patriotischen Mannes — von der Anstrengung des langen Laufes erschöpft, in Athen eintraf, hatte er eben noch die Kraft, um seinen Landsleuten mit den Worten: „Yalpere yalpopev!“ die Siegesbotschaft zuzurufen, worauf er tot zusammenbrach. Einer unserer modernen Bildhauer, MAx KrUSE, hat diese Erzählung durch seine in der Nationalgallerie zu Berlin befindliche Darstellung des Läufers von Marathon in künstlerischer Weise versinnlicht und den physiologischen Wirkungen totaler Er- müdung an diesem klassischen Zeugen einen ergreifenden Ausdruck verliehen. Was das tragische Ende des EukLES herbeiführte, war die über- mäßige Anstrengung seiner Muskeln. Es treten nämlich unter dem Einfluß langer Dauer oder hoher Intensität der einwirkenden Reize in der lebendigen Substanz allmählich Veränderungen ein, die, wenn sie einen gewissen Grad erreicht haben, schließlich zum Tode führen. Auf diese, infolge von Ueberreizung sich entwickelnden Ver änderungen wollen wir im folgenden etwas ausführlicher eingehen. 1. Ermüdung und Erschöpfung. Wird ein lebendiges Objekt entweder durch lange andauernde oder durch oft wiederholte oder auch durch sehr starke Reize erregt, so gerät es infolge der übermäßigen Arbeit nach einiger Zeit in den Zustand der Lähmung, die gewöhnlich als Ermüdung und Erschöpfung bezeichnet wird und die wir auch mit einem einheitlichen Ausdruck als „Arbeits- lähmung“ bezeichnen können. Das äußerliche Symptom der Arbeitslähmung zeigt sich allgemein darin, daß der 1) CoEHN und BARRATT: „Ueber Galvanotaxis vom Standpunkte der physi- kalischen Chemie“. In Zeitschr. f£. en Physiologie, Bd. 5, 1905. 2) PLUTARCHI scripta moralia ed DÜRNER, Paris, Didot, Bd. 1, p. 425 in: „rörepov ’ Admvaloı zara nolsuov 7) zara ooplar Evöokdregor“. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 543 Reizerfolg, d.h. die geleistete Arbeit bei fortdauern- der Reizung mit gleichbleibender Reizintensität immer geringer wird. Einige Beispiele für diese Tatsache lernten wir bereits bei Be- trachtung der galvanischen Reizung!) kennen. Lassen wir einen kon- stanten galvanischen Strom von mittlerer Stärke durch ein Actino- sphaerium fließen, so beginnen im Moment der Schließung an der Anode starke Kontraktionsbewegungen aufzutreten. Das Proto- plasma der Pseudopodien fließt zentripetal, bis die Pseudopodien ein- gezogen sind; dann zerplatzen die Wände der Vakuolen, und es erfolgt ein körniger Zerfall des Protoplasmas, der von der Kathode her während der Dauer des Stromes immer weiter vorrückt. Allein dieser Zerfall, der zuerst mit großer Energie begann, wird, je länger der Strom schon hindurchfließt, um so langsamer und geringer, bis er nach einiger Zeit ganz still steht. Die lebendige Substanz des Actino- sphaeriums nimmt also im Laufe der andauernden Reizung an Er- regbarkeit ab, so daß der anfangs heftige Kontraktion hervorrufende Reiz schließlich gar keinen Reizerfolg mehr hat. Noch viel schneller als Actinosphaerium wird Pelomyxa gelähmt. Eine Reizdauer von wenigen Sekunden genügt, um die Pelomyxa für Ströme gleicher Intensität vollständig unerregbar zu machen, so daß es viel höherer Reizintensität bedarf, um wieder den gleichen Reizerfolg zu erzielen wie anfangs. Gegenüber diesen sehr schnell ermüdenden Formen der lebendigen Substanz haben wir in den Nervenfasern eine Form der lebendigen Substanz, die unter physiologischen Bedingungen im intakten Zu- sammenhange des Körpers überhaupt nicht ermüdet und nur außer- halb des Körpers unter ganz bestimmten, experimentell hergestellten Bedingungen künstlich ermüdet werden kann. Die Nervenfaser galt bis vor wenigen Jahren überhaupt für unermüdbar. So schwer sich auch die Physiologie zu dieser Auffassung entschloß, so zweifellos war es doch andererseits, daß alle Versuche, die seit langer Zeit unternommen wurden, um die Nervenfaser zu ermüden, einen nega- tiven Erfolg hatten. Erst vor kurzem sind die Faktoren bekannt ge- worden, die diese scheinbare Unermüdbarkeit des Nerven bedingen und gleichzeitig konnten dann die Bedingungen experimentell her- gestellt werden, unter denen eine Ermüdung des Nerven zu erzielen ist. Ein anderes Organ in unserem Körper, das ebenfalls nicht zu ermüden scheint, obwohl es andauernd arbeitet, ist das Herz. Hier ist aber bereits seit längerer Zeit bekannt, daß die durch jede Kon- traktion erzeugten Veränderungen des Herzmuskels immer wieder sogleich durch den Stoffwechsel ausgeglichen werden, so daß sich unter normalen Verhältnissen keine Ermüdung entwickeln kann, ob- wohl das Herz von lange vor der Geburt an bis zum Tode rastlos tätig ist. Dennoch ist der Herzmuskel ermüdbar, wenn er aus irgend- einem Grunde angestrengter arbeiten muß, als es normalerweise ge- schieht. Das ist z. B. bei andauernd übermäßiger Anstrengung und bei gewissen Krankheiten der Fall. Zwar machen sich häufig die Ermüdungssymptome nicht sofort, wohl aber im Laufe längerer Zeit- räume bemerkbar, und selbst die Substanz des Herzmuskels verändert 1) Vergl. p. 492 u. 494. 544 Fünftes Kapitel. sich in tiefgehender Weise, bis er seine Bewegungen ganz einstellt. Dann erfolet der Tod durch Herzlähmung. Ein besonders günstiges Objekt, um die Entwicklung der Arbeits- lähmung zu studieren, bilden die Skelettmuskeln und die Ganglien- zellen des Zentralnervensystems. Die Ermüdung ist daher auch an diesen beiden Geweben des Wirbeltierkörpers am eingehendsten stu- diert worden. Wenden wir uns zunächst den Erfahrungen am Muskel zu. Da man die Muskelbewegung mittels der graphischen Methode in exakter Weise verzeichnen und in ihren einzelnen Momenten an- van pay iii it) kt M Fig. 255. Ergograph von MOsso. Nach Mosso. schaulich machen kann, so kann man die fortschreitende Ermüdung eines Muskels sehr bequem an der Veränderung der Muskelkurve ver- folgen, die der zuckende Muskel aufzeichnet. Mosso!) hat dies am lebenden Menschen mittels seines Ergographen getan und die Ergeb- nisse in seinem vortrefflichen und fesselnden Buche über „Die Er- müdung“ mitgeteilt. Der Ergograph ist ein Apparat, in dem der Arm eines Menschen mittels eines Armhalters befestigt wird, während ein Finger sich frei bewegen kann. Dieser Finger steht durch einen Faden mit einem Schreibhebel in Verbindung, der alle willkürlich oder auf elektrische Reizung unwillkürlich erfolgenden Bewegungen des Fingers auf einer in Rotation begriffenen schwarzen Trommel verzeichnet. An den Faden kann ferner ein Gewicht gehängt und dadurch die Ar- beitsleistung der Fingerbeugemuskeln beliebig verändert werden (Fig. 255). Mittels dieses Apparates kann man sich in anschau- lichster Weise davon überzeugen, daß bei rhythmischer Erregung des Muskels durch Willensimpulse, die in gleichmäßigen Zwischenräumen aufeinanderfolgen, die Arbeitsleistung der Muskeln immer mehr ab- nimmt und schließlich gleich O wird. Das kommt an der Zuckungs- kurve, die nur die Größe der Kontraktion angibt, in der beständigen Abnahme der Hubhöhe zum Ausdruck (Fig. 256). Es würde bedeutend 2 Mosso: „Die Ermüdung“. Deutsche Originalausgabe von J. GLINZER, Leip- zig 1893. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 545 [e} v) stärkerer Reizung bedürfen, um nach Ablauf der einen Versuchs- reihe wieder gleich hohe Zuckungen der ermüdeten Muskeln zu er- zielen, wie anfangs. Die Einzelheiten der Veränderungen werden aber besser sicht- bar, wenn man, wie dies MArEy') schon vor längerer Zeit getan hat, an einem Myographion Zuckungskurven eines Froschschenkels vom Anfang der Versuchsreihe an immer von dem gleichen Fußpunkte aus übereinander aufzeichnet. Dann stellt sich heraus, daß, wie HELM- HOLTZ bereits fand, mit zunehmender Ermüdung nicht nur die Zuckungshöhe abnimmt, sondern der Verlauf der Kurve auch gestreckter wird, wobei besonders der absteigende Schenkel der Kurve eine Verlängerung erfährt. Vielleicht noch übersichtlicher wird das Bild von den Veränderungen, welche die Muskelzuckung mit zu- nehmender Ermüdung erfährt, wenn man die Zuckungskurven eines heraus- geschnittenen Froschmuskels, die durch rhythmische Reizung mit immer gleich- bleibender Reizstärke gewonnen wer- den, hintereinander in fortlau- fender Reihe auf einer rotierenden Trommel graphisch verzeichnet (Fig. 257). Dabei erkennt man aufs deut- Fig. 256. Ermüdungskurve. Ab- Jichste die folgenden Einzelheiten: Zu- nalmerder Kuzyenhöhe bei zahlreichen Sn enst nimmt die Höhe der Zuekunsen hintereinanderfolgenden Kontraktionen Be = der Fingerbeugemuskeln. Nach Mosso, ANZ allmählich mehr und mehr zu, . - es entwickelt sich die sogenannte „Lreppe“. Diese „Treppe“ macht auf den ersten Blick den Eindruck, als wenn der Muskel in der ersten Zeit seiner rhythmischen Arbeitsleistung an Leistungsfähigkeit zunähme, da seine Zuckungen höher werden. Diese Zunahme der Leistungsfähigkeit ist aber nur eine scheinbare, wie FRÖHLICH ?) gezeigt hat, und stellt in erster Linie nichts anderes als ein erstes Lähmungssymptom dar, das daraus resultiert, daß die Wiederstreckung der Muskelsubstanz mit jeder folgenden Kontraktion etwas langsamer verläuft, so daß eine immer längere Muskelstrecke gleichzeitig in Kontraktion sich befindet ?). Sodann macht sich die Verlangsamung der Wiedererschlaffung, d. h. der Expansionsphase, also die Verzögerung des absteigenden Schenkels der Zuckungskurve immer deutlicher bemerkbar, darin, daß dieser absteigende Schenkel immer langsamer auf seinen Fußpunkt zurückkehrt, so daß die folgende Zuckung bereits erfolgt, ehe der Muskel sich wieder vollständig ge- streckt hat. Dadurch entwickelt sich einerseits ein dauernder Ver- kürzungsrückstand, die sogenannte „Kontraktur“, anderseits werden 1) MAREY: „Du mouvement dans les fonctions de la vie“, Paris 1868. 2) Fr. W. FRÖHLICH: „Ueber die scheinbare Steigerung der Leistungsfähigkeit des quergestreiften Muskels im Beginn der Ermüdung ete.“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 5, 1905. ; 3) Vergl. p. 501. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. wo ot 546 Fünftes Kapitel. Fig. 257. Kurve der Arbeitslähmung desisolierten Froschmuskels durch rhythmische Reizung mit Induktionsöffnungsschlägen (in 6 Teile zer- schnitten). Bei « und 5 ist die allmähliche Entwicklung der „Treppe“ deutlich zu sehen. Bei ce und d entwickelt sich die „Kontraktur“. Bei esind die Zuckungen schon Von den Reizen und ihren Wirkungen. 547 sehr klein geworden, die Reizung wird unterbrochen, der Muskel erholt sich ein wenig. Bei f Wiederbeginn der Reizungen. Die Ermüdung erfolgt jetzt sehr schnell. Nach erneuter Unterbrechung der Reizung wird ein drittes Mal mit den Reizungen begonnen. 35* 548 Fünftes Kapitel. die Höhen der Einzelzuckungen immer niedriger, weil sich die Einzel- zuckungen von einem immer höher rückenden Niveau aus erheben. Schließlich führt der Muskel nur noch ganz schwache Zuckungen aus und bei fortdauernder Reizung kann man es erreichen, daß er über- haupt nicht mehr zuckt. Unterbricht man dann die Reizung (Fig. 257 e), so sinkt die Kurve ganz allmählich mehr und mehr ab, d. h. die Kontraktur läßt nach. Beginnt man dann die Reizung von neuem, so sind die ersten Zuckungen wieder etwas höher. Der Muskel hat sich ein wenig erholt. Sehr schnell aber entwickelt sich jetzt die Kontraktur von neuem und die Zuckungen werden wieder kleiner (Fig. 257 f). Der Muskel ermüdet jetzt viel schneller als anfangs und zwar um so schneller, je öfter man die Reizung von neuem ein- setzen läßt. Ebenso wie bei der Einwirkung einzelner Induktionsschläge, nur viel schneller, treten die Ermüdungssymptome hervor bei Reizung mit dem tetanisierenden Strom. Zeichnet man auf einer rotierenden Trommel die Tetanuskurve eines nicht zu kräftigen, mit einem ziem- lich schweren Gewicht belasteten Wadenmuskels vom Frosch auf, so Fie. 258. Tetanuskurve eines ermüdeten Froschmuskels. sieht man, wie die Kurve nur sehr kurze Zeit auf ihrer anfänglichen Höhe bleibt. Sehr bald schon beginnt sie langsam mehr und mehr zu sinken. Unterbricht man dann die Reizung, so fällt die Kurve meist nicht bis auf das Niveau ihres Ausgangspunktes herab, sondern bleibt eine Strecke über demselben und kehrt erst im Laufe längerer Zeit wieder zu ihrem Ausgangsniveau zurück. Es bleibt also ein ziemlich großer „Verkürzungsrückstand“ nach Beendigung der Reizung am ermüdeten Muskel zurück, und nur ganz langsam nimmt der er- müdete Muskel seine ursprüngliche Länge wieder an. Ziehen wir aus allen diesen Tatsachen das Fazit, so müssen wir sagen: Die Arbeitsleistung des Muskels wird mit zu- nehmender Ermüdung immer geringer, während die Dauer der einzelnen Zuckung zunimmt. Die letztere Tatsache beruht im wesentlichen auf einer zunehmen- den Dauer der Expansionsphase Der ermüdete Muskel braucht nach einer Zuckung unvergleichlich mehr Zeit um sich wieder zu strecken, als der frische Muskel. Es ist von Interesse, daß man entsprechend diesen funktionellen Veränderungen auch mikroskopische Veränderungen am ermüdeten Von den Reizen und ihren Wirkungen. 549 Muskel beobachtet hat. H. M. BERNARD!) hat von einer Anzahl voll- ständig gleicher blauer Schmeißfliegen (Musca vomitoria) einige durch unausgesetzes Hetzen in fortwährender Bewegung erhalten, bis sie vollständig ermüdet zu Boden fielen. Die ermüdeten Fliegen wurden sofort und gleichzeitig mit dem anderen Teil, der inzwischen in völliger Ruhe geblieben war, getötet. Beide Teile wurden dann der gleichen Behandlung unterworfen. Dabei ergab sich ein durch- greifender Unterschied zwischen beiden. Während bei den ausgeruhten Fliegen die Muskelfibrillen deutliche Querstreifung und Unterschiede der Streifen im Tinktionsvermögen zeigten, waren bei den ermüdeten Fliegen nur eben noch die Zwischenscheiben der einzelnen Muskel- segmente deutlich zu sehen; der ganze Inhalt des einzelnen Segments färbte sich gleichmäßig hell, ohne die Differenzierung der Schichten merken zu lassen (Fig. 259). Besonders waren ferner die im Sarkoplasma zwischen den einzelnen Fibrillen lie- senden Körnchen oder „Sar- kosomen“ im ermüdeten Muskel gegenüber dem aus- ceruhten ganz enorm ver- größert. Es würde aber zu weit führen, hier auf die Deutung dieser Verände- rungen näher einzugehen. Es fragt sich nun, was 2: 2 bei der Arbeitslähmung im — - Muskel vorgeht. Einen wich- t | tigen Einblick in diese Vor- A B ganze gewinnen WIF ZU- Fig. 259. Flugmuskeln von der Schmeiß- nächst, wenn wir uns von fliege (Musca vomitoria). A in der Ruhe, den äußerlich am Muskel in der Ermüdung. Die Schichtung der Muskel- selbst wahrnehmbaren Ver- segmente ist unsichtbar geworden, und die Sarkosomen en r ent zwischen den Fibrillen sind enorm vergrößert. Nach anderungen zu den Sympto- H. M. BERNARD. men wenden, die sich sekun- där als Folgen sehr großer Muskelanstrengungen im Körper entwickeln. Wir finden hier einige Tatsachen, die uns in der Kenntnis der Ermüdung um einen Schritt weiter bringen. Ueberblicken wir den Symptomenkomplex, der sich im Laufe starker Muskelanstrengungen an unserem Körper entwickelt, so be- merken wir zunächst eine bedeutende Beschleunigung und Vertiefung der Atmung. Gleichzeitig wird die Frequenz des Herzschlags gesteigert. Die durch die Muskeltätigkeit erhöhte Wärmeproduktion wird auf reflektorischem Wege durch Ausbruch starken Schweißes, dessen Ver- dunstung die Temperatur herabsetzt, im wesentlichen kompensiert. Ist die Muskeltätigkeit eine sehr angestrengte gewesen, so tritt aber, be- sonders wenn der Körper vorher lange Zeit keine Muskelanstrengungen durchgemacht hatte, nicht selten im Gefolge der Anstrengung auch ein leichtes Fieber ein. Die Temperatur steigt, Anfälle von Schüttelfrost 1) Henry M. BERNARD: „On the Relations of the isotropous to the anisotropous Layers in striped Muscles“. In Zool. Jahrb., Abt. f. Anat., Bd. 7, 1894. 550 Fünftes Kapitel. treten auf, und es macht sich eine gewisse Erregbarkeitssteigerung des Zentralnervensystems bemerkbar. Diese Tatsache ist so bekannt, daß man sogar vor einem „Turnfieber“ oder „Reitfieber“ spricht, das nach allzu starken Anstrengungen beim Turnen oder Reiten eintritt. Auch nach sehr ermüdenden Gebirgstouren und nach langen Ritten wird dieses Ermüdungsfieber nicht selten beobachtet. Unter den subjektiven Symptomen, die sich im Gefolge sehr starker Muskel- anstrengung einstellen, sind die bekanntesten die während des Fieber- stadiums, z. B. am Abend nach einem anstrengenden Marsch, ein- tretende Aufregung, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit und ferner die meist erst am nächsten Tage oder noch später sich einstellenden starken Muskelschmerzen. Faßt man diese Momente alle zusammen, so erhält man einen interessanten Symptomenkomplex, der den Arzt auf das lebhafteste an das Krankheitsbild akuter Infektionskrankheiten erinnern muß. Die Vermutung liegt daher nahe, daß dieses ganze im Gefolge der Muskelermüdung auftretende Symptomenbild auch auf ähnliche Weise zustande kommt wie der charakteristische Symptomenkomplex der Infektionskrankheiten. Von letzterem wissen wir durch die neueren Forschungen auf dem Gebiete der Bakteriologie, daß er die Folge einer Vergiftung vorstellt, die durch gewisse von den eingewanderten Bakterien ausgeschiedene giftige Stoffwechselprodukte, die sogenannten Toxine!), hervorgerufen wird. Es ist daher nicht ungerechtfertigt, anzunehmen, daß auch die Muskeln bei angestrengter Muskeltätigkeit in ihrem Stoffwechsel solche Toxine produzieren, die wirkliche Ver- giftungssymptome erzeugen, sobald sie sich in größerer Menge im Körper anhäufen. Daß diese Vermutung in der Tat richtig ist, haben denn auch verschiedene Versuche direkt bewiesen. Die ersten wichtigen Versuche waren die von RAnkKe?), der fand, daß er einen ermüdeten Muskel wieder leistungsfähig machen konnte, wenn er ihn mit einer physiologischen Kochsalzlösung, die bekanntlich indifferent für lebendige Gewebe ist, auswusch. Es mußten also im Muskel durch die Tätigkeit gewisse „Ermüdungsstoffe“ ent- standen und aufgehäuft sein, die auf die Muskelsubstanz selbst lähmend wirkten, nach deren Fortschaffung aber der Muskel seine Arbeitsfähig- keit wieder gewinnt. Das konnte RAnKE durch folgenden Versuch tatsächlich bestätigen. Er machte ein wässeriges Extrakt aus Muskeln, die stark ermüdet waren, und spritzte dasselbe einem frischen Muskel durch die Blutgefäße ein. Die Folge davon war, daß dieser Muskel alsbald seine Leistungsfähigkeit verlor und sich ganz ähnlich wie ein ermüdeter Muskel verhielt. Es ist also durch diesen Versuch in der Tat bewiesen, daß Ermüdungssymptome durch das Anhäufen gewisser Stoffwechselprodukte im Muskel entstehen und durch das Ausspülen derselben wieder beseitigt werden können. In neuerer Zeit hat Mosso’°) einen dem RankEschen analogen Versuch am Hunde an- gestellt... Wenn er einem normalen Hunde Blut von einem anderen normalen Hunde einspritzte, blieb derselbe ebenfalls vollständig normal. Nahm er aber’statt dessen zur Einspritzung Blut von einem ermüdeten 1) Vergl. p. 209 u. 509. 2) RANKE: „Tetanus“, Leipzig 1865. 3) Mosso: „Die Ermüdung‘“. Deutsche Orginalausgabe von J. GLINZER Leipzig 1892. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 551 Hunde, dessen Muskeln durch Tetanisieren mit dem elektrischen Strom auch nur zwei Minuten lang in heftige Kontraktion versetzt worden waren, so traten sofort charakteristische Ermüdungssymptome auf: die Atmung wurde beschleunigt bis zur Atemnot, und das Herz be- gann heftig zu schlagen. Die im Muskel erzeugten „Ermüdungsstoffe“ bleiben also nicht im Muskel, sondern werden vom Blut aufgenommen und gelangen so zu den Organen des ganzen Körpers, die sie allmäh- lich vergiften und schließlich lähmen. Die Geschichte des Läufers von Marathon ist das klassische Beispiel für die daraus entstehende Folge von Vorgängen. Ein weiteres wichtiges Moment für die Analyse der Verände- rungen bei der Arbeitslähmung des Muskels ergibt sich aus den Be- dineungen der „Erholung“. Wenn wir uns eine starke Muskel- ermüdung zugezogen haben, sei es lokal am Ergographen, sei es in erößeren Muskelgruppen bei einer anstrengenden Bergbesteigung, so werden die ermüdeten Muskeln nach kürzerer oder längerer Zeit wieder von selbst ebenso leistungsfähig wie sie vorher waren. Es tritt eine vollkommene Erholung ein, ohne daß wir etwas dazu tun. Offenbar wird hier die Erholung besorgt durch den Blutstrom, der die Ermüdungsstoffe herausspült. Aber es ist noch eine andere Be- dingung, die hier in Betracht kommt. Wie wir oben bereits sahen, vermag auch ein herausgeschnittener Muskel sich noch zu erholen, wenn auch nicht mehr so vollkommen wie im intakten Zusammen- hange mit dem Körper bei ungestörter Blutzirkulation. Diese Tat- sache war schon EDUARD WEBER!) und VALENTIN ?) bekannt. Nun hat schon vor längerer Zeit HERMANN?) und später wieder J. JOTEYKO ®) in RICHETS Laboratorium feststellen können, daß der ausgeschnittene und vollständig ermüdete Muskel sich nur erholt, wehn ihm Sauer- stoff zur Verfügung steht, daß er dagegen unter Sauerstoffabschluß nach vollständiger Ermüdung seine Erregbarkeit nicht mehr wieder- sewinnt. Der Sauerstoff ist also zur Wiederherstellung der Erreg- barkeit des Muskels unbedingt erforderlich. Ganz analog den Erfahrungen am Muskel sind die Ergebnisse des Studiums der Arbeitslähmung an den Ganglienzellen. Für die Untersuchung der Arbeitslähmung an diesen so sehr empfind- lichen und so geschützt liegenden Zellen mußte erst eine Methodik ausgearbeitet werden, die es gestattete, einerseits diese Zellen in ihrem intakten Zusammenhang mit dem Körper in ihren Lebens- äußerungen zu studieren und andererseits mit ihnen so zu experi- mentieren, daß sie unter ganz bestimmte Versuchsbedingungen ge- setzt werden können. Das ist auf folgende Weise zu erreichen °). 1) E. WEBER: „Muskelbewegung“.' In WAGNERs Handwörterbuch d. Physiol., Bd. 3, 2. Abt., 1846. 2) VALENTIN: „Lehrbuch der Physiologie“, 2. Aufl., Braunschweig 1847. 3) HERMANN: „Untersuchungen über den Stoffwechsel der Muskeln, ausgehend vom Gaswechsel derselben“, Berlin 1867. 4) JOTEYKO: „La fatigue et la respiration @l&mentaire du muscle“, Paris 1896. 5) MAx VERWORN: „Ermüdung, Erschöpfung und Erholung der nervösen Zentra des Rückenmarks. Ein Beitrag zur Kenntnis der Lebensvorgänge in den Neu- ronen“. In Arch. f. Anat. und Physiol., physiolog. Abt., 1900, Suppl. — „Er- müdung und Erholung“. Vortrag, geh. in der HUFELANDschen med.-chir. Ges. zu Berlin am 6. Dez. 1900. In Berl. klin. Wochenschrift 1901. — Ferner LıiPsCHÜTz: ne und Erholung des Rückenmarks“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, . 8, 1908. 552 Fünftes Kapitel. Bei einem Frosch wird in die Aorta eine Glaskanüle gebunden und an ein kleines Pumpwerk angeschlossen, das im Rhythmus des Herzens eine gasfreie physiologische Kochsalzlösung in das Gefäß- system hineinpumpt. Auf diese Weise wird das Blut durch die Koch- salzlösung allmählich verdrängt, so daß in den Adern des Tieres statt des ernährenden Blutes sehr bald eine völlig indifferente isotonische Flüssigkeit zirkuliert. die nur durch ihren Mangel an Nährstoffen und Sauerstoff wirkt. Gleichzeitig wird der freigelegte Nervus ischiadicus des einen Beines, dessen Musculus gastrocnemius als Indikator für den Zustand der Rückenmarkszentra dienen soll, durch eine kleine Narkosekammer mittels Aether eine Strecke weit blockiert, damit keine Impulse vom Rückenmark zum Muskel gehen können. Dieses Hilfsmittel ist nötig, weil sonst bei heftiger Arbeit der Rückenmarks- ganglienzellen die vom Rückenmark her kommenden Impulse sehr bald eine Ermüdung der sehr leicht ermüdbaren motorischen Nerven- endapparate im Muskel herbeiführen würden, so daß nun keine Impulse zum Muskel mehr gelangen und die Muskeltätigkeit infolgedessen nicht mehr als Indikator für den Zustand der Ganglienzellen dienen könnte. Sobald indessen die erste heftige Tätigkeit der Zentra vorüber ist, kann die Blockade des Nerven ohne Nachteil wieder aufeehoben werden. Noch nach einer anderen Richtung hin müssen aber die sehr empfindlichen Nervenendapparate geschützt werden. Da nämlich zur Steigerung der Erregbarkeit des Rückenmarks dem Frosch Strychnin injiziert werden soll, und da dieses Gift lähmend auf die Nerven- endapparate im Muskel wirkt, muß die Extremität, deren Muskel als Indikator dienen soll, vor der Giftwirkung geschützt werden, und das geschieht durch Unterbindung der Schenkelarterie. Ist der Versuch soweit vorbereitet, so erhält der Frosch, während die künstliche Zirkulation unterhalten wird, eine schwache Dosis Strychnin, wodurch die Erregbarkeit des Zentralnervensystems ins Ungeheure gesteigert wird. Sofort brechen die heftigsten Krämpfe bei dem Tiere aus. In dem Moment, in dem das geschieht, wird die künstliche Zirkulation sistiert, so daß die Ganglienzellen des Zentralnervensystems nunmehr ohne Zirkulation angestrengt arbeiten müssen. Infolgedessen kommt es bei der enormen Erregung und Tätigkeit der Ganglienzellen sehr schnell zu einer Arbeitslähmung. In kurzer Zeit sind die Neurone daher völlig unerregbar geworden. Wird nunmehr die künstliche Zirku- lation mit gasfreier Kochsalzlösung wieder in Gang gesetzt, so erholt sich der Frosch in wenigen Minuten bis zu einem gewissen Grade. Die Erregbarkeit kehrt wieder. Diese Erholung kann also nur durch die Herausspülung von Ermüdungsprodukten erzeugt werden, denn neues Nährmaterial und neuer Sauerstoff wird ja durch die völlig indifferente Lösung nicht zugeführt. Bleibt jetzt aber die Zirkulation eine Zeit- lang im Gange, so fängt das Zentralnervensystem bald von neuem an zu ermüden, bis es schließlich wieder völlig unerregbar geworden ist. Die Auswaschung des Rückenmarks mit physiologischer Koch- salzlösung hat also jetzt keinen erholenden Erfolg mehr und kann die Tätigkeit der Zentra nicht dauernd unterhalten. Wird dagegen jetzt statt der gasfreien eine sauerstoffhaltige Kochsalzlösung durch- gespült, so erholt sich der Frosch in 1—2 Minuten von neuem, und zwar jetzt vollständig, ein Beweis dafür, daß die Arbeitslähmung im wesentlichen durch Mangel an Sauerstoff bedingt war. In der Tat, man kann sich gerade bei diesen Experimenten am Zentralnerven- Von den Reizen und ihren Wirkungen. 553 system besser als in irgendeinem anderen Fall davon überzeugen, daß man auch bei angestrengtester Tätigkeit der Ganglienzellen viele Stunden lang die Erregbarkeit immer wieder herstellen und unter- halten kann mit Durchspülung der Zentra mittels einer einfachen physiologischen Kochsalzlösung, der man künstlich genügende Mengen von Sauerstoff zugeführt hat. Vermindert man die zugeführte Sauer- stoffmenge, so tritt sofort auch wieder die Arbeitslähmung stärker hervor. Mit der den Ganglienzellen zugeführten Sauer- stoffmenge steigt und sinkt die Dauer ihrer Leistungs- fähigkeit. Es ist nun wiederum von Interesse, daß auch an den Ganglien- zellen entsprechend den Symptomen der Arbeitslähmung histologische Veränderungen nachgewiesen werden konnten. So haben HopcE!), Fig. 260. Fig. 261. Fig. 260. Ganglienzellen vom Hund. A Normal, B ermüdet. Nach Gustav MAnn. Fig. 261. Ganglienzellen des Sperlings. A Morgens, B abends. Nach HODGe. G. Mann ?), LUGARO?) und viele andere in neuerer Zeit an Ganglien- zellen von Säugetieren, Vögeln und Insekten mikroskopisch deutliche Ermüdungswirkungen, sowohl am Protoplasma als auch besonders an ihren Zellkernen, festgestellt. Nach HopgE besitzen z. B. beim Sperling am Morgen nach der Ruhe die Ganglienzellen der Brachial- ganglien, welche die Flugmuskeln innervieren, helle, runde, bläschen- förmige Zellkerne (Fig. 261 A), während sie am Abend nach der An- 1) €. F. HopgE: „A mieroscopical study of changes due to functional activity innerve cells“. In Journal of Morphology, Vol. 7, 1892. 2) Gustav Mann: „Histological changes induced in sympathetic motor and sensory nerve cells by functional activity“. In Journal of Anat. and Physiol., 1894. 3) LUGARO: „Sulle modificazioni delle cellule nervose nei diversi stati fun- zionali“. In Lo Sperim. giornale medico, Anno 49, sez. Biol. F. 2, 1895. 554 Fünftes Kapitel. strengung des Tages einen gezackten Kontur haben (Fig. 261 B). Ebenso sind bei der Katze nach Reizung von einigen Stunden die Kerne der Ganglienzellen, die vorher bläschenförmig und rund waren, geschrumpft und unregelmäßig konturiert, während die Anordnung des Inhalts sich wesentlich verändert hat. Nach Mann und in Ueber- einstimmung mit ihm nach LuGAro besteht die Veränderung der Ganglienzelle während ihrer Aktivität im wesentlichen in einer Turgeszenz des Protoplasmas, während in der Ruhe wieder eine Volumenverminderung eintritt. Die Nısstschen Tigroidschollen, die infolge ihres Verhaltens gegen Anilinfarbstöffe so charakteristische Elemente des Ganglienzellenprotoplasmas vorstellen, lösen sich im Protoplasma mehr und mehr auf (Fig. 260). Dabei wird der Zellkern während der Arbeit unregelmäßig konturiert und immer chromatin- ärmer, und der Nucleolus kann, wie LuGARO fand, durch Ermüdung völlig zum Verschwinden gebracht werden. Am interessantesten sind vielleicht die histologischen Bilder, die genau den oben mitgeteilten Versuchen am Froschrückenmark entsprechen. GORDON HOLMES!) hat in EDInGErs Institut die Rückenmarke der im Göttinger physio- logischen Laboratorium unter den oben geschilderten Versuchs- bedingungen ermüdeten Frösche mikroskopisch untersucht, so daß die beistehenden Bilder die exakten Parallelen zu den soeben geschilderten funktionellen Veränderungen liefern. Es hat sich dabei herausgestellt, daß hier bei andauernder Zufuhr von Sauerstoff aber gänzlichem Mangel an Nährstoffen in noch vollkommenerer Weise als in den oben genannten Fällen die NıssLschen Tigroidschollen mit andauernder Arbeit mehr und mehr bis zum vollständigen Schwinden verbraucht werden (Fig. 262). Schließlich ist es von Interesse, auch noch auf die Ermüdung einer nur schwer ermüdenden Form der lebendigen Substanz einen Blick zu werfen, auf die Arbeitslähmung der Nervenfaser. Wie bereits oben bemerkt, haben früher alle Versuche, die Nervenfaser zu ermüden, ein negatives Ergebnis gehabt, Erst im Jahre 1905 fand GARTEN?) eine eigentümliche Nervenart, die sich leicht ermüden läßt, im Riechnerven des Hechtes. Dagegen waren alle Versuche an anderen Nervenfasern, vor allem an den markhaltigen Skelettnerven, vollkommen erfolglos geblieben. Nachdem sich aber aus den Ermüdungsversuchen am Zentralnervensystem ergeben hatte, daß die Ermüdung der Ganglienzellen in erster Linie durch Sauer- stoffmangel bedingt ist, Jag der Gedanke nahe, auch am Nerven Er- müdungsversuche unter Sauerstoftabschluß zu machen. Die Tatsache, daß der Nerv in einer sauerstofffreien indifferenten Stickstoffatmosphäre, wie H. von BAEYER°) und FRÖHLICH?) gezeigt haben, oder in einer vollkommen sauerstofffreien physiologischen Kochsalzlösung, wie in jüngster Zeit FILLIE°) nachgewiesen hat, allmählich seine Erregbar- 1) GORDON HoLMES: „On morphological changes in exhausted ganglion cells“. In Zeitschr. f. allgem. Physiol, Bd. 2, 1903 2) GARTEN: „Beiträge zur Physiologie der marklosen Nerven. Nach Unter- suchungen am Riechnerven des Hechtes“, Jena 1903. 3) H. von BAEYER: „Das Sauerstoffbedürfnis des Nerven“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 2, 1903. 4) Fr. W. FRÖHLICH: „Das Sauerstoffbedürfnis des Nerven“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 3, 1904. 5) H. FILLiE: „Studien über die Erstickung und Erholung des Nerven in Flüssigkeiten“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 8, 1908. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 555 keit verliert, ließ erwarten, daß der Nerv auch in einem vollkommen sauerstofffreien Medium, wenn er andauernd gereizt wird, schneller unerregbar werden mußte, als wenn er nicht gereizt wurde, denn wenn der Nerv, wie seine Abhängigkeit vom Sauerstoff zeigt, einen Stoffwechsel hat, so war auch anzunehmen, daß dieser Stoff- wechsel bei dauernder Inan- spruchnahme der Funktion =‘ des Nerven durch Reize er- regt, also der Stoffverbrauch gesteigert werden müßte. Fig. 262. Ganglienzellen aus dem Rückenmark des Frosches. A Normal, B nach 5!/,-stündiger Durchspülung des Rückenmarks mit sauerstoffhaltiger Salz- lösung bei andauernder Tätigkeit. (© Nach 11",-stündiger Durchspülung mit sauerstoff- haltiger Salzlösung bei andauernder Tätigkeit. Nach GORDON HOLMES. In der Tat konnte auch FrRöHLıcH!) schon im Jahre 1904 echte Er- müdungssymptome am markhaltigen Nerven in einer reinen Stickstoff- 1) Fr. W. FrönHuıcH: „Die Ermüdung des markhaltigen Nerven“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 3, 1904. 556 Fünftes Kapitel. atmosphäre hervorrufen. Wenn man den Nerven, nachdem seine Erreg- barkeit in einer reinen Stickstoffatmosphäre bis auf einen bestimmten Grad gesunken ist, mit schnell aufeinanderfolgenden Induktions- schlägen reizt, dann zeigt sich, daß von der ganzen Reihe der In- duktionsschläge nur der erste wirksam ist und eine Zuckung des zum Nerven gehörigen Muskels hervorruft, während alle folgenden voll- kommen wirkungslos bleiben. Erst wenn man die Reizung unter- bricht und dann von neuem einsetzen läßt, ist wiederum der erste Induktionsschlag wirksam. Der erste Induktionsschlag ermüdet also den Nerven und da der Nerv keine Zeit hat sich zu erholen, bis der nächste Reiz folgt, bleiben alle folgenden Reize unwirksam. Ganz kürzlich hat nun THÖRNER!) noch in anderer Weise die Ermüdung des Nerven demonstriert. Er benutzte nicht wie FRÖHLICH als Indikator für die Erregbarkeit des Nerven die Zuckung des dazugehörigen Muskels, sondern den bei jeder Erregung des Nerven an diesem selbst auftretenden elektrischen Aktionsstrom?), den er mit einem Kapillarelektrometer sinnlich wahrnehmbar machte. Wenn er nun die beiden Nervi ischiadiei eines und desselben Frosches in die gleiche Stickstoffkammer brachte und den einen der beiden Nerven an seinem einen Ende andauernd tetanisierte, während der andere in Ruhe blieb, so zeigte sich ausnahmslos, daß bereits nach kurzer Zeit der Aktions- strom des tetanisierten Nerven sich bei der Prüfung beträchtlich schwächer erwies als der des nicht tetanisierten Nerven, und daß er schließlich ganz verschwand, während der des nicht tetanisierten Nerven stets viel länger zu erzielen war. Wurden dann beide Nerven wieder mit Sauerstoff versorgt, so erholten sich beide wieder vollständig und ihre Aktionsströme wurden wieder gleich stark wie im Beginn des Versuchs. Das beweist also deutlich, daß der Nerv unter Sauerstoffabschluß durch andauernde Reizung ermüdbar ist wie jedes lebendige Objekt. Seine spezielle Eigentümlichkeit ist aber die, daß er unter normalen Verhältnissen immer so viel Sauerstoff findet und diesen so gierig an sich reißt, daß eine Ermüdung nie zustande kommt. Infolgedessen ermüdet die Nervenfaser in unserem Körper niemals. Während die Ganglienzellen ungemein leicht ermüden, sind die Nerven unter physiologischen Bedingungen tatsächlich un- ermüdbar im Leben unseres Körpers. Wissen wir also aus anderen Erfahrungen, daß der erregungsleitende Teil des Nerven, der Achsen- zylinder, nur ein Fortsatz des Ganglienzellkörpers ist, mit dem er zusammen eine einzige zellulare Einheit, das Neuron bildet, so sehen wir doch an diesem Beispiel, daß die Nervenfaser eine Differenzierung des Neurons vorstellt, die sich physiologisch, wenn auch nur quantitativ, sehr abweichend verhält vom Protoplasma des Ganglienzellkörpers. Die Versuche am Nerven haben aber trotz seiner schweren Ermüd- barkeit doch wieder in glänzender Weise die Abhängigkeit der Er- müdung von der Sauerstoffversorgung gezeigt und beweisen geradezu schlagend, daß bei genügender Sauerstoffzufuhr eine Er- müdung überhaupt nicht eintritt. Was ergibt sich nun aus allen diesen Erfahrungen für die Theorie der Arbeitslähmung? Ziehen wir das Fazit, so müssen wir sagen, 1) TAÖRNER: „Die Ermüdung des markhaltigen Nerven“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 8, 1908. 2) Vergl. p. 313. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 557 zwei wichtige Tatsachen haben sich ergeben, die in dem Vorgang der Arbeitslähmung zum Ausdruck kommen: einerseits Mangel an nötigemErsatzmaterial zur Unterhaltung dernormalen Lebensvorgänge und andererseits die Anhäufung von lähmend wirkenden Stoffwechselprodukten. Wirkönnen diese beiden Tatsachen auch sprachlich in kurzen Aus- drücken unterscheiden, indem wir den Mangel an Er- satzmaterial als „Erschöpfung“, die Anhäufung von lähmenden Stoffen als „Ermüdung“ im engeren Sinne bezeichnen. Die Erschöpfung im engeren Sinne ist, wie die sämtlichen Erfahrungen an allen aöroben Formen der lebendigen Substanz zeigen, unter physiologischen Verhältnissen, d. h. im intakten Körper, stets ein Mangel an Sauerstoff. Nur unter künstlichen, experimentell her- gestellten Bedingungen, nämlich bei dauernd genügender Sauerstoff- zufuhr unter Ausschluß aller anderen Nahrungsstoffe, können wir eine Erschöpfung erzielen, die in einem Mangel an anderem, vor allen Dingen wohl organischem Ersatzmaterial besteht. Das ist darin be- gründet, daß die lebendige Substanz, sofern sie überhaupt Sauerstoff in Reserve besitzt, nur sehr geringe Mengen zur Verfügung haben kann, während ihr Reservematerial an anderen, besonders an orga- nischen Ersatzstoffen stets sehr reichlich vorhanden ist. Infolgedessen tritt bei angestrengter Tätigkeit sehr schnell Mangel an Sauerstoff ein, aber unter physiologischen Bedingungen kaum jemals Mangel an anderen Stoffen. Die Erschöpfung ist also unter physio- logischen Bedingungen stetseine Erstickung, nur unter bestimmten experimentellen Bedingungen kann siein einem Verhungern bestehen. Die Ermüdung im engeren Sinne beruht auf einer Anhäufung von lähmend wirkenden Stoffwechselprodukten, die wir im einzelnen noch nicht chemisch namhaft machen können, die aber jedenfalls bei ein und derselben Form der lebendigen Substanz schon mehrere chemische Verbindungen vorstellen, und die voraussichtlich bei ver- schiedenen Formen der lebendigen Substanz untereinander wieder ver- schieden sind. Von diesen „Ermüdungsstoffen“ ist ein Teil sicher mit wässerigen Lösungen aus der lebendigen Substanz ausspülbar, ein anderer Teil scheint nicht mit solchen Spülflüssigkeiten aus der Zelle herauswaschbar zu sein, ein Verhalten, das sich aus den Eigen- schaften der Protoplasmaoberflächen als semipermeabler Membranen verstehen ließe. Was nun aber besonders wichtig ist, dasist die Tat- sache, daß Erschöpfung und Ermüdung in einem un- trennbaren Zusammenhange stehen, indem die letztere die Folge der ersteren ist. Der Mangel an Sauerstoff führt zur umfangreichen Anhäufung von Ermüdungsstoffen, die bei aus- reichender Sauerstoffversorgung der lebendigen Substanz entweder gar nicht entstehen oder in demselben Maße wie sie entstehen, wieder beseitigt werden. Das zeigt uns der Nerv in geradezu klassischer Weise. Da der Nerv mit sehr geringen Sauerstoffimengen auskommt, so findet er schon an bloßer Luft oder im intakten Körper bei an- dauernder Tätigkeit genügend Sauerstoff, um dauernd von der An- häufung lähmender Ermüdungsstoffe verschont zu bleiben. Nur wenn 558 Fünftes Kapitel. seine Sauerstoffversorgung geringer wird, als sein Sauerstoffbedarf, ist er ermüdbar. So ist also jede Arbeitslähmung bei den aöroben Formen der lebendigen Substanz unter physiologischen Bedingungen stets identisch mit der Erstickung und ihren Folgen, denn sie beruht immer auf relativem Sauerstoffmangel. 2. Das Refraktärstadium. Die Arbeitslähmung der lebendigen Substanz ist um so größer, je andauernder oder stärker ihre Erregung durch Reize, also ihre funktionelle Beanspruchung war. Schon bei kurzdauernder oder schwacher Reizung aber lassen sich geringe Lähmungssymptome be- obachten und es konnte nachgewiesen werden, daß sogar schon ein ganz schwacher und momentaner Einzelreiz eine der Erregung folgende Arbeitslähmung hervorruft, eine Tatsache die wie sich in neuster Zeit ergeben hat, von sehr großer Bedeutung ist für das Geschehen im Leben unseres Nervensystems. Schon vor längeren Jahren hat MArEY!) die Beobachtung ge- macht, daß der Herzmuskel während der Zeit der Systole vollkommen unerregbar für Reize ist. Er wird erst wieder erregbar, wenn er den Gipfel seiner systolischen Kontraktion überschritten hat, und zwar nimmt von hier an während der Diastole seine Erregbarkeit allmäh- lich zu bis sie wieder ihren Höhepunkt erreicht hat. Das Stadium der Unerregbarkeit, das mit jeder Systole einsetzt und die Systole mit abnehmender Stärke etwas überdauert, ist von MAREY als die „phase refractaire* bezeichnet worden. In neuerer Zeit ist dieses „Refraktärstadium“ des Herzens dann besonders ein- gehend in zahlreichen Arbeiten von ENGELMANN und seinen Schülern studiert worden. Einige Jahre später haben RıcHEr und BrocA?’) ein gleiches Refraktärstadium an den Ganglienzellen der Großhirnrinde nachge- wiesen. Diese Forscher hatten einen Hund, der an Veitstanz (Chorea) litt, d. h. der mit bestimmten Muskelgruppen in unregelmäßigen Intervallen kurze Zuckungen ausführte, deren Impulse von der motorischen Sphäre der Großhirnrinde herkamen. Sie legten nun bei diesem Tiere in Morphiumnarkose die Großhirnrinde frei und reizten die motorische Sphäre mit momentanen elektrischen Reizen. Dabei zeigte sich, daß die Reize immer wirksam waren, d.h. eine Zuckung in den entsprechenden Muskeln hervorriefen, wenn sie mehr als 0,1 Sekunde nach einer Choreazuckung angewendet wurden, daß die Großhirnrinde dagegen unmittelbar nach Entsendung eines Chorea- impulses für 0,1 Sekunde vollkommen unerregbar war. Das gleiche Refraktärstadium von 0,1 Sekunde stellte sich auch nach jeder durch einen künstlichen Reiz hervorgerufenen Impulsentladung der Ganglien- zellen ein. Das sind ungemein wichtige Tatsachen, denn sie zeigen, daß die Ganglienzellen unseres Gehirns nicht kontinuierlich in Er- 1) MArREY: „Des mouvements que produit le cur lorsqu’il est soumis & des excitations artificielles“. In Compt. rend. de l’Acad. des Sciences, T. 82, Paris 1891. 2) BRocA et RICHET: „Periode r£fractaire dans les centres nerveux“. In Compt. rend. de l’Acad., 1897. — RICHET: „La vibration nerveuse‘. In Revue scientifique, Dec. 1899. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 559 regung sein, sondern nur rhythmische Entladungen liefern können. Hier trifft die Erfahrung an den Zentren zusammen mit der alten Erfahrung am Muskel, daß die willkürliche Muskelkontraktion, die ja durch Impulse von der Großhirnrinde her hervorgerufen wird, wie wir bereits sahen !), nicht ein kontinuierlicher, sondern ein diskontinuier- licher Vorgang, mit anderen Worten eine tetanische Kontraktion ist. Dafür haben wir z. B. auch beim Menschen einen deutlichen Indikator in dem summenden „Muskelton“, der schon mit bloßem Ohre über einem willkürlich dauernd kontrahierten Muskel (Kaumuskelkontrak- tion bei über das Ohr gelester Hohlhand als Resonator) zu hören ist. Da ein Ton nur durch rhythmisch intermittierende Bewegungsvorgänge entsteht, so muß die Muskelkontraktion rhythmisch intermittierend sein, und da seine Tonhöhe von der Zahl der rhythmischen Unter- brechungen abhängt, so kann aus der Höhe des Muskeltons die Zahl der willkürlichen Impulse in der Sekunde und daher also auch die Dauer des auf jeden Impuls folgenden Refraktärstadiums berechnet werden. Auf diese Weise hat sich ergeben, daß der normale Mensch nur ungefähr 18—20 Impulse in der Sekunde von der Großhirnrinde zum Muskel entsenden kann, daß also das Refraktärstadium der motorischen Ganglienzellen etwa eine Achtzehntel- bis Zwanzigstelsekunde beträgt. Man hat daher gesagt, der Mensch kann nicht öfter als 15—20 mal in der Sekunde „wollen“. Wenn nun auch die Berechnung der Impuls- zahl, welche die einzelne Ganglienzelle in der Sekunde entsendet, auf Grund der Höhe des Muskeltons aus mancherlei Gründen keine exakte und zuverlässige ist, so zeigt die Tatsache des Muskeltons doch ganz zweifellos, daß die Impulse distinuierlich von den Ganglienzellen ent- sendet werden und daß auf jede Impulsentladung ein Refraktärstadium folgt. Weitere Versuche an den Zentren des Rückenmarks beim Frosch haben dann die wichtige Tatsache ergeben, daß die Dauer des Refraktärstadiums bei gleicher Temperatur allein ab- hängig ist von der Sauerstoffversorgung?). Diese Ver- suche, die mit der p. 552 beschriebenen Methodik ausgeführt wurden, zeigten, daß man durch Sauerstoffmangel die Dauer des Refraktär- stadiums beliebig in die Länge ziehen und durch erneute genügende Sauerstoffzufuhr wieder bis auf Bruchteile einer Sekunde verkürzen kann. Bei dauerndem Sauerstoffmangel wird. das Refraktärstadium immer länger, bis es schließlich unendlich ist, d. h. bis die Erregbar- keit sich überhaupt nicht wieder herstellt. Es ist aber nicht die ab- solute Menge des zur Verfügung stehenden Sauerstoffs, welche die Dauer des Refraktärstadiums bestimmt, sondern die relative Menge, d. h. die Menge im Verhältnis zum Bedarf der lebendigen Substanz. Der Bedarf aber wird bestimmt durch die Intensität des Stoffwechsels der lebendigen Substanz. Wird z. B. der Stoffwechsel sehr häufig in rhythmischer Weise durch Reize erregt, so reicht die Menge von Sauerstoff, die bei geringerer Reizfrequenz genügen würde, um nach jedem Reiz die vollständige Erholung zu gestatten, bald nicht mehr aus und das Refraktärstadium wird nach jeder Reizung länger. Das 1) Vergl. p. 502. 2) Max VERWORN: „Ermüdung, Erschöpfung und Erholung der nervösen Zentra des Rückenmarks“. In Arch. f. Anat. u. Physiol., Physiol. Abt., Suppl.-Bd., 1900. — Derselbe: „Die Biogenhypothese. Eine kritisch-experimentelle Studie über die Vorgänge in der lebendigen Substanz“, Jena 1903. 560 Fünftes Kapitel. zeigt deutlich, daß das Refraktärstadium nichts weiter ist als der Ausdruck einer Arbeitslähmung. Ebenso wird natürlich. der Sauer- stoffbedarf abhängig sein von der Temperatur, da bei höherer Tempe- ratur der Stoffwechsel intensiver ist als bei niedrigerer. Die Sauer- stoffzufuhr, die bei niedriger Temperatur bei bestimmter Reizfrequenz eben ausreicht, um zwischen zwei Reizen immer vollständige Resti- tution zu gestatten, wird bei höherer Temperatur nicht genügen und daher trotz gleichbleibender Reizfrequenz zu immer längeren Refraktär- stadien führen. Daß dagegen bei vollkommen ausreichender Sauer- stoffversorgung die Dauer des Refraktärstadiums bei niedrigerer Temperatur größer ist als bei höherer, ist selbstverständlich, da ja Erniedrigung der Temperatur ganz allgemein verzögernd, Erhöhung aber beschleunigend auf den Ablauf chemischer Prozesse wirkt. Daher liefert z. B. das Rückenmark des Strychninfrosches, wie H. von BAEYER!) gezeigt hat, bei 1°C nur etwa 2—3 Impulse, bei 15° C dagegen etwa 12 Impulse in der Sekunde. Schließlich ist der Sauerstoffbedarf der lebendigen Substanz bei gleicher Temperatur nicht bloß abhängig von der Frequenz der Reizung, sondern bei den allermeisten Formen der lebendigen Substanz auch von der Intensität der Reize, weil fast überall innerhalb gewisser Grenzen die Größe des Reizerfolgs mit der Intensität des Reizes zunimmt. Daher wird das Refraktärstadium unter sonst gleichen Bedingungen nach einem stärkeren Reiz länger sein als nach einem schwächeren Reiz, d. h. es wird nach einem stärkeren Reiz länger dauern bis der status quo ante der lebendigen Substanz wieder hergestellt ist, als nach einem schwächeren Reiz. Es ist aber selbstverständlich zu berücksichtigen, mit welcher Reizstärke man dabei die Erregbarkeit während des Refraktärstadiums prüft. Da nach jeder Reizung die Erregbarkeit nur allmählich wieder ihren ursprünglichen Höhepunkt erreicht, so ist das Refraktärstadium für die Prüfung mit einem an der Reizschwelle gelegenen Reiz länger als für die Prüfung mit einem starken Reiz, der schon wieder einen Reizerfolg liefert. ehe die Erregbarkeit ganz auf ihr ursprüngliches Niveau zurückgekehrt ist. Daraus erklärt sich eine auf den ersten Blick sehr paradox erscheinende Tatsache, die jedem Physiologen wohlbekannt ist, nämlich die Tatsache, daß z. B. Nervmuskelpräparate für ganz schwache Reize, die eben gerade den Schwellenwert erreichen, viel leichter ermüden, als für starke Reize. Diese besonders für das Geschehen in unserem Nervensystem höchst wichtige Tatsache ist aber ohne weiteres verständlich, wenn man sich bewußt bleibt, daß die Ermüdung eben relativ ist in bezug auf die Reizstärke. Ist die Ermüdung nur ganz gering, d.h. die Erregbarkeit nur sehr wenig vermindert, so wird ein Schwellenreiz eben nicht mehr wirken, während ein starker Reiz eine starke Wirkung erzielt. Die Wiederherstellung der Erregbarkeit nach einer Erregung vollzieht sich aber so, daß sie von dem tiefsten Niveau anfänglich sehr schnell, dann aber langsamer und langsamer ansteigt, bis sie schließlich wieder ihren Ausgangswert erreicht hat. Der Begriff des „relativen Refraktärstadiums“, bei dem ein Objekt nur für eine gewisse niedrige Reizstärke refraktär ist, muß daher geschieden werden von dem Begriff des „absoluten Refraktärstadiums“, bei dem 1) H. van BAEYER: „Zur Kenntnis des Stoffwechsels in den nervösen Zentren“. In Zeitschr. f. allgem. Physiol., Bd. 1, 1902. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 561 das Objekt überhaupt für jede, auch für die größte Reizstärke un- erregbar ist. Wir haben gesehen, daß die Arbeitsläihmung der lebendigen “Substanz allein abhängig ist von der relativen Sauerstoffver- sorgung, d.h. von dem Verhältnis des Sauerstoffbedarfs zur Sauer- stoffzufuhr. Solange der Bruch Sauerstoffbedarf zu Sauerstoft- zufuhr — 1 ist, tritt keine Arbeitslähmung ein. Erst wenn der Bruch größer wird als 1, also bei relativem Sauerstoffmangel, ent- wickelt sich die Ermüdung. Da nun das Refraktärstadium eine Form der Arbeitslähmung ist, so liegt es auf der Hand, daß von verschiedenen Formen der lebendigen Substanz, die unter gleichen Bedingungen der Sauerstoffversorgung und Temperatur sich befinden, diejenigen, welche schneller ermüden, auch ein längeres Refraktärstadium haben müssen. Ganglienzellen ermüden unter den Bedingungen, unter denen sie im intakten Körper stehen, sehr leicht, Nerven gar nicht. Es wäre also zu erwarten, daß das Refraktärstadium der Ganglienzellen verhältnis- mäßig lang, das der Nerven äußerst kurz ist. Das ist in der Tat der Fall. Während das Refraktärstadium der Ganglienzellen beim Frosch bei Zimmertemperatur etwa 0,1 Sekunde beträgt, ist das Refraktärstadium der Nerven so kurz, daß es kaum meßbar ist. Man hat es bei Anwendung von maximalen Reizen nur annähernd auf 0,001—0,005 Sekunden berechnen können. Daher ist der Nerv an der Luft, wo ihm Sauerstoff im Ueberfluß zur Verfügung steht, unermüd- bar, denn es ist nicht möglich, eine genügend große Reizfrequenz von ausreichender Stärke auf ihn experimentell einwirken zu lassen, da mit zunehmender Frequenz der Reize die Dauer des elektrischen Einzelreizes sehr bald bis zur völligen Unwirksamkeit abnimmt. Wie NERNST und BARRATT!) gezeigt haben. muß aber die Intensität des einzelnen Reizes bei zunehmender Reizfrequenz proportional der Quadratwurzel aus der Frequenzzahl wachsen, wenn der Reiz einen eben noch wahrnehmbaren Reizerfolg erzielen soll. Das ist für die Frequenzen, deren Intervalle kürzer wären als das Refraktärstadium des Nerven, experimentell mit unserer elektrischen Reizmethodik nicht zu erreichen. Nach dem oben Gesagten muß aber durch Sauerstoff- mangel das Refraktärstadium des Nerven ganz beträchtlich in die Länge gezogen werden können und damit muß es auch gelingen, den Nerven zu ermüden. In der Tat hat FRÖHLICH?) in einer reinen Stickstoffatmosphäre das Refraktärstadium des Nerven bis auf etwa 0,1 Sekunde verlängern können und dementsprechend erzielte er auch die Ermüdung des Nerven. Für das Verständnis des Mechanismus der sämtlichen rhythmischen Lebensäußerungen, wie Herztätigkeit, Atembewegungen, tonische Er- regungen, Wimperschlag, Vakuolenpulsationen etc. ist die Tatsache des Refraktärstadiums von grundlegender Bedeutung und jede Theorie des Rhythmus wird an diesen wichtigsten Faktor anknüpfen müssen ?). 1) NERNST und BARRATT: „Ueber elektrische Nervenreizung durch Wechsel- ströme‘‘. In Zeitschr. f. Elektrochemie, 1904. 2) Fr. W. FröHLıcH: „Die Ermüdung der markhaltigen Nerven“. In Ztschr. f. allgem. Physiol., Bd. 3, 1904. 3) MAx VERWORN: „Die Biogenhypothese“. Jena 1903. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. : 36 562 Fünftes Kapitel. 3. Die scheinbare Erregbarkeitssteigerung durch Reize. Schon seit langer Zeit ist die Tatsache bekannt, daß gewisse Reize, die bei längerer Dauer oder oft wiederholter Einwirkung eine Lähmung der lebendigen Substanz erzeugen, im Beginn ihrer Einwirkung erst ein Stadium gesteigerter Erregbarkeit hervorrufen. So ist z. B. ein solches „Exzitationsstadium* im Beginn der Wirkung von Narcoticis oft beschrieben worden. Dem Arzt ist das Exzitationsstadium der Morphiumwirkung eine geläufige Tatsache. Auch für die Herztätig- keit ist eine solche erregende Wirkung z. B. des Alkohols behauptet worden. Da indessen in solchen Fällen, wo es sich um die Erregung von Tätigkeiten im komplizierten Zellenstaat des Wirbeltierkörpers handelt, die Genese sehr wenig klar ist, so war zu prüfen, ob sich ein derartiges Exzitationsstadium im Beginn der Narkose auch be- reits an der einzelnen Zelle beobachten läßt. In der Tat hat H. Nacar!) an Infusorienzellen eine solche erregende Wirkung des _ Alkohols auf die Wimperbewegung im Beginn der Einwirkung oder bei äußerst schwachen Dosen durch sehr sorgfältige Versuche nach- weisen können. Er bediente sich als Maßstab für die Wimpertätig- keit der Schwimmgeschwindigkeit der Paramäcien, indem er ihre Galvanotaxis benutzte und die Infusorien durch einen galvanischen Strom von immer gleicher Stärke zwang, eine bestimmt abgemessene Strecke in gerader Schwimmrichtung zurückzulegen. Dabei fand er, daß bei sehr schwachen Dosen von Alkohol ganz zweifellos die gleiche Strecke in kürzerer Zeit durchschwommen wurde, als ohne Alkohol, und als bei nur wenig stärkeren Dosen. Auch an der Nervenfaser war schon früher von WALLER?) beobachtet worden, daß die Aktions- ströme, die der Nerv bei Reizung mit tetanisierenden Reizen liefert, im Beginn der Einwirkung von Narcotieis eine Verstärkung zeigen, und BORUTTAU?) konnte diese Angabe bestätigen. Er beobachtete dabei, daß diese Verstärkung des tetanischen Aktionsstromes zum großen Teil auf einer Verlängerung der Dauer der in der tetanischen Erregung enthaltenen Einzelerregungen beruht. FRÖHLICH‘), der eine wirkliche Erregbarkeitssteigerung niemals bei der Narkose am Nerven gefunden hatte, konnte dann in gemeinschaftlichen Versuchen mit BORUTTAU°) nachweisen, daß im Gegenteil bei der Narkose trotz der Verstärkung des tetanischen Aktionsstromes stets eine Herabsetzung der Erregbarkeit, also eine Lähmung, vorhanden ist. Das schien zu- nächst sehr paradox. Aber FRÖHLICH‘) hat sehr bald nachgewiesen, 1) H. Naar: „Der Einfluß verschiedener Narcotica, Gase und Salze auf die Sn en von Paramaecium“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, . 6, 1907. 2) WALLER: „Observations on isolated nerve“. Croonian Lecture. In Philo- sophical Transactions, 1897. 3) BoruUTTAU: „Die Aktionsströme und die Theorie der Nervenleitung“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 84, 1901. 4) Fr. W. FRÖHLICH: „Erregbarkeit und Leitfähigkeit des Nerven“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 3, 1904. 5) BORUTTAU und FRÖHLICH: „Elektropathologische Untersuchungen. Ueber Veränderung der Erregungswelle durch Schädigung des Nerven“. In PFLÜGERS Arch., Bd. 105, 1904. 6) Fr. W. FrönLıcH: „Ueber die scheinbare Steigerung der Leistungsfähigkeit des quergestreiften Muskels im Beginn der Ermüdung („Muskeltreppe“), der Kohlen- säurewirkung und der Wirkung anderer Narcotica (Aether, Alkoholj“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 5, 1905. i Von den Reizen und ihren Wirkungen. 563 daß beim Muskel in der Entwicklung der Arbeitslähmung!) ein ganz analoges Verhältnis vorliegt, und er ist bei weiterer Verfolgung dieser Tatsache zur Entdeckung eines Prinzips gelangt, des „Prinzips der scheinbaren Erregbarkeitssteigerung“, das sich als ein Prinzip von ganz außerordentlicher Verbreitung und Bedeutung her- ausgestellt hat. Um das scheinbare Paradoxon einer Erregbarkeitssteigerung bei allmählicher Lähmung zu verstehen, ist es zweckmäßig, wenn wir uns zunächst an die Veränderungen erinnern, die der Muskel bei der Er- müdung erfährt. Wir haben gesehen, daß die einzelne Zuckungskurve des ermüdeten Muskels sich von derjenigen des frischen Muskels da- durch unterscheidet, daß ihr Ablauf ganz beträchtlich verlängert ist, und zwar so, daß speziell der absteigende Schenkel der Kurve, wel- cher der Wiederstreckung des Muskels nach seiner Verkürzung ent- spricht, stark in die Länge gezogen ist. Das heißt mit anderen Worten, daß der ermüdete Muskel sich viel langsamer wieder streckt als der frische. Dazu kommt bei fortschreitender Ermüdung noch ein allmähliches Niedrigerwerden der Zuckungshöhe bis zum vollständigen Aufhören jeder Zuckung. Die Verlangsamung der Wiederstreckung des Muskels findet nun bei der allmählichen Ermüdung des Muskels durch rhythmisch aufeinander folgende Reize ihren ersten Ausdruck in der „Treppe“, d.h. in der Tatsache, daß die Zuckungen im Beginn der Reizung zunächst eine Zunahme ihrer Höhe erfahren. Hier liegt schon das scheinbare Paradoxon. Obwohl der Muskel durch die an- dauernde Arbeit allmählich gelähmt wird, werden seine Zuckungen dennoch höher. Dieses scheinbare Paradoxon löst sich aber sofort auf, wenn wir uns erinnern ?), daß bei einer Einzelreizung des Muskels an einem Ende desselben die Kontraktion in Form einer Welle vom gereizten nach dem anderen Ende hinläuft und daß der zuerst kon- trahiert gewesene Teil des Muskels schon wieder erschlafft ist, wenn normal. Narkosewirkung. Fig. 263. Schema der scheinbaren Erregbarkeitssteigerung. Vier auf- einander folgende Zuckungen des Muskels. Links die Zuekungen des normalen, rechts die Zuckungen des narkotisierten Muskels. Der Zuckungsverlauf ist rechts, wie die punk- tierte Kurve im Vergleich mit der linken zeigt, in die Länge gezogen. Nach FRÖHLICH. die Kontraktionswelle die entfernter gelegenen Teile erreicht hat. Es ist also, wie wir bereits gesehen haben, bei einer Einzelzuckung nie- mals die ganze Länge des Muskels gleichzeitig kontrahiert, sondern immer nur ein Teil. Danach ist es ohne weiteres klar, daß, wenn die Wiederstreckung der kontrahiert gewesenen Muskelsubstanz verlang- 1) Vergl. p. 548. 2) Vergl. p. 501. 564 Fünftes Kapitel. samt ist, selbstverständlich beim Ablauf einer Kontraktionswelle ein größerer Teil des Muskels gleichzeitig sich in Kontraktion befinden muß, als wenn die Streckung schneller geschieht, und das findet eben seinen Ausdruck in der größeren Verkürzung des Muskels bei der Einzelzuckung. So liegt also in Wirklichkeit gar kein Paradoxon vor. Auf Grund dieser selben Tatsache, daß durch die Ermüdung der Ab- lauf der Zuckungskurve verlangsamt wird, erklären sich aber auch die Verhältnisse, die man bei faradischer Reizung beobachtet. Der ermüdete Muskel zeigt, wie seit langer Zeit bekannt ist, eine ge- steigerte Erregbarkeit für faradische Ströme, selbst in einem Stadium, in dem die Erregbarkeit für Einzelinduktionsschläge schon ganz be- trächtlich gesunken ist. Die vorstehende Figur 265 wird dieses Verhältnis ohne weiteres verständlich machen. Das Schema gibt links vier übereinander gelagerte Zuckungen eines normalen Muskels, rechts eines ermüdeten Muskels wieder. Auf der linken Hälfte des Schemas sind die absoluten Höhen der Einzelzuckungen größer als auf der rechten Hälfte; trotzdem erreicht die Gesamtkurve bei dem ermüdeten Muskel rechts eine größere Höhe als bei dem frischen Muskel links, weil sich jede folgende Verkürzung rechts auf einen viel größeren Verkürzungsrückstand von der vorhergehenden Zuckung aufsetzt als links, wo die Streckung schon immer viel weiter vorgeschritten ist, wenn die nächste Zuckung folgt. So gibt also trotz der Abnahme der Erregbarkeit für den Einzelreiz der ermüdete Muskel für den faradischen Reiz doch stärkere Verkürzungen. Ja, man kann es sogar erreichen, daß faradische Reize von einer gewissen geringen Frequenz, die für den frischen Muskel unter der Reizschwelle liegen, und daher gar keinen Erfolg haben, beim ermüdeten Muskel wirksam sind und eine tetanische Kontraktion hervorrufen. Genau wie bei der Ermüdung verhält sich der Muskel bei der Narkose oder bei der Abkühlung, denn alle diese Faktoren wirken in gleicher Weise auf den Ablauf der Zuckungskurve, indem sie in erster Linie den absteigenden Schenkel der Kurve, also die Wiederstreckung nach der Kontraktion verzögern. Sehr interessant ist es schließlich, daß auch die Symptome der sogenannten „Ent- artungsreaktion“ bei Muskeln, die sich in Inaktivitätsatrophie !) befinden, wie REINECKE ?) kürzlich durch eine sehr eingehende Ana- lyse gezeigt hat, genau identisch sind mit den Symptomen bei Er- müdung, Narkose, Abkühlung, und daß sie sämtlich zurückzuführen sind auf das Prinzip der scheinbaren Erregbarkeitssteigerung, dem in Wirklichkeit eine Lähmung zugrunde liegt. Vollkommen identisch mit der scheinbaren Erregbarkeitssteigerung des Muskels ist ferner die Wirkung der gleichen Faktoren am Nerven. Bei der Arbeitslähmung, bei der Narkose, bei der Erstickung, bei der Abkühlung ist der Ablauf der Erregungskurve am Nerven in der gleichen Weise verändert wie am Muskel, wenn wir auch am iso- lierten Nerven keinen Ausdruck dafür in einer Verkürzung haben, sondern nur in dem Verhalten seines Aktionsstromes. Der absteigende Schenkel der Kurve des Aktionsstromes erfährt durch alle die ge- nannten Faktoren eine starke Verzögerung. Infolgedessen finden hier 1) Vergl. p. 416. 2) FRIEDRICH REINECKE: „Ueber die Entartungsreaktion und eine Reihe ihr verwandter Reaktionen“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 8, 1908. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 565 genau die gleichen Verhältnisse Anwendung wie bei der Muskel- zuckung, und wir bemerken bei faradischer Reizung trotz der lähmen- den Wirkung der genanuten Faktoren eine Verstärkung des Aktions- stromes. Nach dem, was wir über die Vorgänge bei allen diesen Beein- flussungen kennen gelernt haben, ergibt sich nun für die Mechanik der scheinbaren Erregbarkeitssteigerung, wenigstens bei den aöroben Formen der lebendigen Substanz, ein einheitliches Prinzip, das allen speziellen Fällen zugrunde liegen dürfte: es ist die Verlang- samung der ÖOxydationen in der lebendigen Substanz. Zunächst liefern alle diejenigen Faktoren, die den Quotienten der relativen Sauerstoffversorgung, d. h. den Bruch Sauerstoffbedarf : Sauerstoff- versorgung in dem Sinne ändern, daß er größer wird als 1, d. h. daß relativer Sauerstoffmangel eintritt, die Bedingungen für dio scheinbare Erregbarkeitssteigerung. Bei der Erstickung ist das selbst- verständlich der Fall. Für die Narkose haben WINTERSTEIN!) an der Ganglienzelle und FröHLıcH ?) am Nerven im Göttinger Labo- ratorium nachweisen können, daß während derselben eine Aufnahme von Sauerstoff seitens der lebendigen Substanz, auch wenn der Be- darf noch so groß ist, nicht stattfindet. Für die Arbeitslähmung haben wir oben gesehen, daß sie unter physiologischen Bedingungen allein auf einem relativen Sauerstoffmangel beruht. Es ist im höchsten Grade wahrscheinlich, daß auch bei der Atrophie die relative Sauer- stoffversorgung der lebendigen Substanz eine Aenderung erfährt. Schließlich wird auch in der Kälte eine scheinbare Erregbarkeits- steigerung beobachtet, die z. B. auch die oben?) angeführte, von BIEDERMANN beobachtete Steigerung der Erregbarkeit des Rücken- marks verständlich macht. Diese Wirkung der Kälte ist ohne weiteres klar, wenn man die Tatsache berücksichtigt, daß die Kälte alle che- mischen Prozesse verzögert, also auch die Sauerstoffversorgung der lebendigen Substanz. Nachdem einmal das Prinzip der scheinbaren Erregbarkeitssteige- rung entdeckt war, zeigte sich, daß es überall im Organismenreiche beobachtet werden kann. Es wird daher nötig sein, die ganze Summe von paradoxen Erregbarkeitssteigerungen unter dem Einfluß schädigen- der, d. h. lähmender Momente, für die namentlich die Pathologie eine Fülle von Beispielen kennt, zu analysieren und in jedem Einzel- falle zu prüfen, ob die Erregbarkeitssteigerung nicht eine scheinbare ist und auf dem hier entwickelten Prinzip beruht. 4. Tod durch Ueberreizung. Wir haben im vorigen Abschnitt gesehen, daß durch Ueberreizung Lähmungswirkungen hervorgerufen werden können. Diese Tat- sache ist wichtig, denn sie zeigt uns, daß dieselben Reize, die bei geringer Intensität oder kurzer Dauer Erregung hervorrufen, bei höherer Intensität und 1) WINTERSTEIN: „Zur Kenntnis der Narkose“. In Zeitschr. f. allgem. Physio- logie, Bd. 1, 1902. 2) Fr. W. FRÖHLICH: „Zur Kenntnis der Narkose des Nerven“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 3, 1904. 3) Vergl. p. 465. 566 Fünftes Kapitel. längerer Dauer gerade die entgegengesetzten Wir- kungen, d. h. Lähmungen, erzeugen können. Die Arbeitslähmung, die wir soeben kennen gelernt haben, ist aber nur ein einzelnes Beispiel für dieses Verhältnis zwischen Er- regung und Lähmung, das im übrigen viel weiter verbreitet ist. Die erregenden und lähmenden Wirkungen der Reize, die wir früher kennen lernten, liefern uns noch eine lange Reihe anderer Beispiele dafür. Hier sei z. B. erinnert an die Wirkungen des Wärmereizes. Die Lebensäußerungen erfahren im allgemeinen mit zunehmender Temperatur eine Steigerung bis zu einem gewissen Temperaturgrade, der für die verschiedenen Formen der lebendigen Substanz und für die verschiedenen Lebensäußerungen derselben Form sehr verschieden hoch gelegen ist. Hier erreicht die Erregung ihr Maximum. Wird aber dieser Temperaturgrad überschritten, so nimmt die Erregung schnell ab und macht einer vollkommenen Lähmung, der Wärme- starre, Platz. Das Wachstum und die Entwicklung der Eizellen, die Protoplasma- und Flimmerbewegung der einzelligen Organismen liefern deutliche Beispiele dafür. Des weiteren sei daran erinnert, daß im Gebiete des Licht- reizes sich das gleiche Verhältnis findet. Geringere Intensität und kurze Einwirkung namentlich kurzwelliger Strahlen rufen an den ver- schiedensten Objekten Erregungswirkungen hervor. Bei längerer Dauer oder starker Intensität desselben Reizes tritt vollständige Lähmung ein. Aus dem Gebiete anderer Reize würden sich leicht ebenfalls Bei- spiele für die Tatsache anführen lassen, daß steigende Reizintensität oder andauernde Reizung zunächst steigende Erregung, dann Lähmung erzeugt. Der Enderfolg andauernder oder starker Ueber- reizung ist schließlich stets der Tod; doch ist die Art, wie er sich entwickelt, je nach den Umständen im ein- zelnen Fall verschieden. Bei andauernder, nicht allzu starker Reizung stellt er sich ziemlich allmählich ein, und man kann die Stadien des Reizerfolgs in solchen Fällen am besten verfolgen. Ein Beispiel mag uns die Wirkung der Narcotica liefern. Setzen wir z. B. eine Infusorienzelle, etwa das Wimperinfusorium Spiro- stomum, der Einwirkung von Aether- oder Chloroformdämpfen aus, so sehen wir zuerst das Stadium scheinbarer Erregung. Allmählich tritt bei andauernder Einwirkung die Lähmung deutlicher hervor, bis vollständiger Stillstand des Wimperschlages eingetreten ist. Aus diesem Stadium läßt sich durch Unterbrechung der Reizwirkung und Wiederherstellung der normalen Lebensbedingungen das Leben meist noch zurückrufen. Dauert dagegen die Einwirkung noch weiter fort, so ist dies nicht mehr möglich: die Narkose ist unmittelbar in den Tod übergegangen. Eine etwas längere Folge von Wirkungen zeigt bei stetiger Zunahme seiner Intensität der Wärmereiz. Die Proto- plasmabewegung der Amöben nimmt mit steigender Temperatur zu bis gegen 355° C. Hier nimmt die Bewegung plötzlich ab; die Amöben verharren im Kontraktionsstadium und machen höchstens noch ganz schwache Bewegungen, die bei wenig höherer Temperatur ganz aufhören. Das ist der Punkt der Wärmestarre. Nach Abkühlung von diesem Temperaturgrad kehrt die Bewegung wieder zurück. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 567 Steigst aber die Temperatur über 40° so geht die Wärmelähmung in den Tod über. Beider Wärmereizung haben wir, von dem Temperaturminimum beginnend bis zum Temperatur- maximum hinauf, eine lange Folge verschiedenartiger Reizwirkungen in größter Deutlichkeit vor uns: Still- stand der Lebensäußerungen in Kältestarre, steigende Erregung, Lähmung in Wärmestarre und. schließlich Tod. Nicht immer ist die ganze Reihe bis zum Tode in dieser Weise entwickelt. Sehr häufig fehlt das eine oder das andere Stadium ganz. Das hängt teils von der speziellen Beschaffenheit der lebendigen Sub- stanz, teils von der Art und Weise der Reizung ab. Namentlich werden bei Einwirkung sehr hoher Reizintensitäten oft alle Stadien übergangen, und es erfolgt sogleich der Tod. Bisweilen tritt erst ein kurzes Erregungsstadium ein, aber die hochgradige Erregung weicht sehr schnell dem Tode. Wenn wir Pelomyxa, während sie ruhig kriecht, nur schwach mit Säuren, Alkalien, Chloroform ete. chemisch reizen, so zieht sie sich in wenigen Sekunden kuglig zu- Fig. 264. Pelomyxa palustris. A Kriechend, B infolge schwacher chemischer Reizung kontrahiert, € bei längerer Reizung körnig zerfallend. sammen (Fig. 264 5), zeigt also den Ausdruck hochgradiger kontrak- torischer Erregung. Erst im Verlauf längerer, gleichbleibender Ein- wirkung des Reizes beginnt der Protoplasmakörper von der Peripherie her körnig zu zerfallen (Fig. 264 C). Lassen wir dagegen den chemischen Reiz gleich von vornherein in größerer Intensität auf den in ruhiger Ausstreckung befindlichen Körper einwirken, so hat der Ausdruck eines Erregungsstadiums gar nicht erst Zeit zu seiner Ent- wicklung. Der Körper beginnt, ohne sich vorher zur Kugel zu kon- trahieren, in der Form, die er im Moment der Reizung hatte, sofort körnig zu zerfallen (Fig. 264 B). Hier tritt also infolge der Reizung unmittelbar der Tod ein, während die anderen Stadien der Reiz- wirkung nicht Zeit haben,. sich äußerlich zu entwickeln. Dasselbe sehen wir bei galvanischer Reizung. Reizen wir Actinosphaerium mit schwachen galvanischen Strömen, so treten die typischen Sym- ptome kontraktorischer Erregung an der Anode ein. Die Pseudo- podien zeigen zentripetale Strömung ihres Protoplasmas, das sich zu kleinen Kügelchen und Spindelchen zusammenballt und dem Körper zufließt, bis die Pseudopodien eingezogen sind. Wenden wir dagegen sogleich einen starken galvanischen Strom an, so hat das Proto- plasma nicht erst Zeit, Kontraktionsäußerungen zur Ausbildung zu 568 Fünftes Kapitel. bringen, sondern es tritt sofort Zerfall des Protoplasmas an der Anodenseite ein. Der äußerlich sichtbare körnige Zerfall des Protoplasmas infolge übermaximaler Reizung ist ein wertvolles Zeichen, wenn es sich, wie z. B. bei der Reizung mit dem galvanischen Strom, darum handelt, die Lokalisation einer Erregung festzustellen an Objekten, die sonst nicht ohne weiteres einen deutlich sichtbaren Ausdruck der Erregung erkennen lassen. In solchen Fällen braucht man nur übermaximale Stromintensität anzuwenden, und man erkennt an dem körnigen Zerfall des Protoplasmas sofort die Stelle, an der die Erregung lokalisiert war. Freilich ist das auch nur bei solchen Formen der lebendigen Substanz möglich, die überhaupt im Moment des Todes den körnigen Zerfall zeigen. Es gibt aber eine große Zahl von Zellformen, be- sonders solche, die mit einer festen Membran versehen sind, welche beim Absterben überhaupt nicht körnig zerfallen. Hefezellen z. B. kann man auf verschiedene Weise töten durch Ueberreizung, ohne daß der Körper zerfällt. Ihr Tod wird nur indirekt dadurch angezeigt, s gen ee 9. ,, 1 ra DATE H pen RR. RL ae nr er, £ hehe 2 q ‘ SNasud >40 A B Fig. 265. Pelomyxa palustris. A Kriechend, B infolge starker chemischer Reizung körnig zerfallend. daß zugleich mit ihm die Fähigkeit, sich in Nährlösungen durch Sprossung zu vermehren, verloren gegangen ist. Auf die verschiedenen Formen, unter denen der Tod eintritt, brauchen wir indessen hier nicht mehr näher einzugehen, da wir dieselben bereits früher kennen gelernt haben). Die Ueberreizung in ihrer allgemeinsten Bedeutung ist nichts anderes als das, was wir an anderer Stelle als äußere Todesbedingungen bezeichnet haben. Es bedarf daher auch nicht erst besonderer Erwähnung, daß die Ueberreizung nicht nur, wenn sie in einer Steigerung, sondern auch, wenn sie in einer Herab- setzung der als Lebensbedingungen wirkenden Faktoren besteht, bei Ueberschreitung einer gewissen Grenze schließlich den Tod zur Folge hat. Wir sahen ja bereits früher, daß sowohl eine Ueber- schreitung des Minimums als des Maximums der Lebensbedingungen zu tödlichem Ausgange führt. D. Die „spezifische Energie‘ der lebendigen Substanz. Wir haben das Leben in einem früheren Kapitel als einen Natur- vorgang aufzufassen gelernt, der wie alle Naturvorgänge zustande kommt, wenn ein bestimmter Komplex von Bedingungen erfüllt ist. 1) Vergl. p. 381 u. ff. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 869 Werden die Bedingungen verändert, so ändert sich auch der Vor- gang; fallen sie ganz fort, so hört auch der Vorgang auf. In den Reizen haben wir nunmehr solche Veränderungen der Lebensbe- dingungen kennen gelernt. Unter dem Einfluß der Reize verändert sich der Lebensvorgang und hört ganz auf, wenn die Reize die Grenzen der Lebensbedingungen überschreiten. Innerhalb dieser Grenzen aber spielt sich die unermeßliche Fülle von Reizwirkungen ab. Ueberblicken wir nun rückschauend noch einmal die bunte Mannigfaltiekeit der Reizwirkungen, die wir im vorhergehenden kennen gelernt haben, und sehen wir ab von der geringen Zahl der bisher noch wenig untersuchten und aufgeklärten Fälle, in denen, wie bei den metamorphotischen Prozessen der Nekrobiose, unter dem Einflusse von chronischen Reizen die Lebensvorgänge allmählich in eine perverse Bahn gedrängt und qualitativ verändert werden, so bemerken wir, daß die Reize innerhalb gewisser Grehzen nur eine einzige Art der Wirkung entfalten, die darin besteht, daß sie die Lebensvorgänge primär nur quantitativ verändern, indem sie ihre Intensität entweder steigern oder herabsetzen. Die Reize rufen also primär nicht neue Lebensäußerungen hervor, sondern erzeugen nur eine Erregung oder Lähmung der schon bestehenden spezifischen Lebensäußerungen jedes Objekts. Es ist aber im höchsten Grade wahrscheinlich, daß auch in den Fällen chronischer Reizung, in denen sich allmählich eine qualitative Veränderung der spezifischen Lebens- vorgänge als Folge des Reizes bemerkbar macht, die primäre Reiz- wirkung nur in einer quantitativen Veränderung eines oder mehrerer Glieder des spezifischen Lebensvorganges besteht, und daß die quali- tative Veränderung erst die sekundäre Folge der andauernden quanti- tativen Störung des Getriebes vorstellt. Betrachten wir daher speziell die quantitativen Veränderungen der spezifischen Lebensprozesse einer gegebenen Form der lebendigen Substanz, so bringen diese Reizwirkungen die bemerkenswerte Tat- sache zum Ausdruck, daß die verschiedenartigsten Reizqualitäten voll- kommen gleichartige Wirkungen an demselben Objekt hervorrufen. Eine Amöbe können wir durch chemische, mechanische, thermische, galvanische Reize zur Einziehung ihrer Pseudopodien und Annahme der Kugelgestalt veranlassen; die Zellen eines Flimmerepithels können wir auf chemische, mechanische, thermische, galvanische Reizung mit einer Beschleunigung der Flimmerbewegung antworten sehen, und bei Noktiluken können wir durch chemische, mechanische, thermische, galvanische Reize Lichtentwicklung erzeugen. Diese wichtige Tatsache zeigt uns, daß in jeder speziellen Form der lebendigen Substanz eine außerordentlich große Neigung zu einer ganz spezifischen Folge von Prozessen bestehen muß, und zwar zu derselben Folge von Prozessen, die in einem bestimmten Umfange dauernd spontan sich abspielt und in den Lebensäußerungen ihren Ausdruck findet. Diese charakteristische Folge von Prozessen kann einerseits durch die leisesten Anstöße der verschiedensten Art be- fördert werden. Wie das Nitroglyzerinmolekül durch mechanische sowohl als durch galvanische wie durch thermische Einwirkungen zum explosiven Zerfall in stets gleiche Bestandteile veranlaßt werden kann, so kann auch in jeder Form der lebendigen Substanz durch die verschiedenartigsten Reize immer die Folge ihrer spezifischen Lebensprozesse in gesteigertem Maße ausgelöst werden. Anderseits 570 Fünftes Kapitel. kann auch diese Folge von Prozessen durch gewisse Reize verzögert und ganz zum Stillstand gebracht werden, ebenso wie die Explo- sibilität der Explosivstoffe durch bestimmte Einwirkungen, etwa Befeuchtung mit Flüssigkeiten, herabgesetzt oder aufzehoben werden kann. y Was JOHANNES MÜLLERS große Entdeckung der spezi- fischen Energie der Sinnessubstanzen besonders für die Erregung der mit Sinnesorganen versehenen Tiere gelehrt hat!), das ist also in seiner erweiterten Form eine Tatsache, die ganz allgemeine Verbreitung hat und tiefim Wesen aller lebendigen Substanz begründet ist. Alle lebendige Substanz besitzt eine spezifische Ener- gie im Sinne JOHANNES MÜLLERS, denn innerhalb gewisser Grenzen rufen ganz verschiedenartige Reize an der gleichen Förm der lebendigen Substanz die gleichen Wirkungen hervor, während umgekehrt der gleiche Reiz an verschiedenartigen Formen der lebendigen Substanz eine ganz verschiedene und für jede Form charakte- ristische Wirkung erzeugt?). Es ist selbstverständlich, daß man bei der Tatsache der spezi- fischen Energie ein Moment nicht vergessen darf, das aller lebendigen Substanz gemeinsam ist, das Moment der Entwicklung. Alle lebendige Substanz entwickelt sich andauernd und einen wirklich stationären Zustand gibt es mit Ausnahme des Zustandes des latenten Lebens, in dem die Lebensprozesse vollkommen stillstehen, bei keiner Form der lebendigen Substanz?). Es mag in einem Fall die Ent- wicklung ungeheuer langsam, im anderen wieder sehr schnell sich vollziehen, niemals aber ist der Zustand irgendeiner gegebenen Form der lebendigen Substanz in zwei verschiedenen Zeitpunkten in mathe- matischem Sinne gleich. Infolgedessen wird derselbe Reiz, der zu zwei verschiedenen Zeitpunkten die lebendige Substanz trifft, auch nicht beide Male auf vollständig gleiche Bedingungen treffen und so kann es kommen, besonders bei schnell sich vollziehender Entwicklung, daß der Reizerfolg des gleichen Reizes von gleicher Qualität, Intensität und Dauer zu verschiedenen Zeiten auch äußerlich sichtbare Verschieden- heiten zeigt. Aus diesen Verhältnissen läßt sich aber natürlich kein Einwand gegen die Lehre von der spezifischen Energie der lebendigen Substanz und das aus ihr entspringende Gesetz der Reizwirkungen ableiten. Die spezifische Energie der lebendigen Substanz ist nicht für einen gegebenen Organismus etwas Unveränderliches, sie bleibt nicht dieselbe das ganze Leben lang, sondern sie ändert sich mit der Entwicklung; die spezifische Energie ist nichts weiter als ein Aus- druck für ein bestimmtes System von Bedingungen. Aendert sich etwas in diesem System, so heißt das nichts anderes als es ändert sich seine spezifische Energie, mit anderen Worten, die Art des Reiz- erfolgs, den das System bei gleichartiger Reizung liefert. Die spe- 1) Vergl. p. 21. 2) Vergl. hierzu E. HERING: „Ueber die spezifischen Energien des Nerven- systems“. In Lotos, Jahrb. f. Naturw., Prag, N. F., Bd. 5, 1884. — MAx VERWORN: „Erregung und Lähmung“. Vortrag gehalten auf der 68. Vers. deutscher Naturf. und Aerzte zu Frankfurt a. M., 1896. 3) Vergl. p. 400. Von den Reizen und ihren Wirkungen. 571 zifische EnergieirgendeinergegebenenFormderleben- digen Substanz ist also etwas Relatives, das abhängig ist von dem gerade gegebenen Zustande des betreffen- den Systems und nur in bezug auf diesen momentan ge- gebenen Zustand besteht die Gesetzmäßigkeit, daß alle Reize primär die spezifischen Lebensprozesse quanti- tativ verändern, indem sie dieselben erresen oder lähmen. In diesem Sinne sind alle Reize gewisser- maßen „Katalysatoren“, die den Ablauf der spezifischen Lebensvorgänge entweder beschleunigen oder ver- zösern. Das ist das allgemeine Gesetz der Reizwir- kungen. Sechstes Kapitel. Vom Mechanismus des Lebens. I. Der Lebensvorgang. A. Der Stoffwechsel des Biogens. 1. Das Biogen. 2. Die Frage nach der Rolle des Sauerstoffs im Stoff- wechsel. 3. Der Biotonus. B. Die Wirkung der Reize auf den Stoffwechsel des Biogens. 1. Die Veränderung des Biotonus unter dem Einfluß von Reizen. 2. Die Selbststeuerung des Stoffwechsels und das Massen- wirkungsgesetz. . Funktioneller und cytoplastischer Stoffwechsel. . Die Interferenz von Reizwirkungen. . Die polaren Veränderungen des Biotonus und der Mecha- nismus der Achseneinstellung bei einseitiger Reizung. II. Die Mechanik des Zelllebens. A. Die Rolle des Kerns und Protoplasmas im Leben der Zelle. 1. Die Theorie von der Alleinherrschaft des Kerns in der Zelle. 2. Kern und Protoplasma als Glieder in der Stoffwechsel- kette der Zelle. B. Ableitung der elementaren Lebensäußerungen aus dem Stoff- wechsel der Zelle. 1. Die Stoffwechselmechanik der Zelle. a) Stoffwechselschema der Zelle. b) Mechanik der Aufnahme und Abgabe von Stoffen. 2. Die Formbildungsmechanik der Zelle. a) Das Wachstum als Grundvorgang der Form- bildung. b) Entwicklungsmechanik. c) Struktur und Flüssigkeit. d) Vererbungsmechanik. 3. Die Mechanik des Energieumsatzes in der Zelle. a) Der Energiekreislauf in der organischen Welt. b) Das Prinzip des chemischen Energieumsatzes in der Zelle. op w Sechstes Kapitel. Vom Mechanismus des Lebens. 573 c) Die Energiequelle der Muskelarbeit. d) Theorie der Kontraktions- und Expansionsbe- wegungen. III. Die Verfassungsverhältnisse des Zellstaates. A. Selbständigkeit und Abhängigkeit der Zellen. B. Differenzierung und Arbeitsteilung der Zellen. C. Zentralisation der Verwaltung. Ein Prinzip, das schon die mythischen Vorstellungen der alten Kulturvölker in poetischer Personifikation als die Quelle des gesamten Weltlebens hinstellten, ist es, das auch nach dem Stande unserer heutigen wissenschaftlichen Erkenntnis den sämtlichen Lebensäuße- rungen zugrunde liegt. Es ist dasselbe Prinzip, das bei den meisten Völkern in der Allegorie eines wechselnden Kampfes zweier feind- licher Gewalten einen uralten Ausdruck gefunden hat. Es ist das Leben und Sterben, das der alte Aegypter in den Gestalten des HoRUS und TYPpHon personifizierte, es ist das Blühen und Welken, das der Germane in die Sage vom BALDUR und Lot kleidete, es ist der Kampf des AHRIMAN mit dem ORMUZD, in dem sich der Perser den Wechsel des Guten mit dem Bösen im Leben versinnlichte, es ist der Zwiespalt zwischen GoTT und dem TEUFEL, in dem der mittel- alterliche Christ das alles erschaffende, positive Element in seinem Gegensatz zum alles zerstörenden „Geist, der stets verneint“, er- blickte, es ist endlich der ewige Wechsel von Werden und Vergehen, von Autbau und Zerfall, der jedes lebendige Wesen beherrscht und alles Geschehen in ihm bedingt. In der fortwährenden Bildung und Zersetzung von lebendiger Substanz haben wir den eigentlichen Lebensvorgang erkannt, der den Lebensäußerungen zugrunde liegt. Jetzt, nachdem wir diese Lebensäußerungen kennen gelernt, nachdem wir die Bedingungen, unter denen sie eintreten, untersucht, nachdem wir die Veränderungen, die sie unter dem Einfluß äußerer Einwirkungen erfahren, festgestellt haben, jetzt sind wir an dem Punkte angelangt, wo wir versuchen müssen, auf Grund der uns bis jetzt bekannten Lebensäuße- rungen den Ablauf des in der lebendigen Substanz sich abspielenden Lebensvorganges in seinem Zusammenhange theoretisch zu kon- struieren und umgekehrt die Gesamtheit der uns bekannten Lebens- äußerungen aus dem theoretisch konstruierten Lebensvorgange mecha- nisch verständlich zu machen, denn die Erforschung des Lebens- mechanismus bildet den Kernpunkt der ganzen Phy- siologie. Il. Der Lebensvorgang. Die Erfahrungen über die einzelnen Momente des Stoffwechsels der lebendigen Substanz sind, wie uns unsere frühere Behandlung dieses Gegenstandes!) gezeigt hat, bisher leider noch sehr lückenhaft. Es liegt daher in der Natur der Sache, daß wir von einer vollständigen Erforschung des Mechanismus der Lebensäußerungen noch weit ent- 1) Vergl. p. 189 u. ff. 574 Sechstes Kapitel. fernt sind, und daß wir uns diesem Ziele in der Physiologie nur langsam nähern können. Ein wesentlicher Fortschritt in dieser Richtung ist aber nur von dem eingehenden Studium der Vorgänge in der Zelle zu erwarten, denn die Zelle ist der Ort, wo der Lebensvorgang selbst seinen Sitz hat, und wo wir bereits die sämtlichen Lebensäußerungen in ihrer einfachsten Form vor- finden. Nur in dem Maße, wie sich die Organphysiologie mehr und mehr in zellularphysiologischem Sinne vertieft, können wir daher hoffen, der Erkenntnis des feineren Lebensmechanismus wesentlich näher zu rücken. In dieser Richtung sind aber bisher nur die ersten Schritte getan. Versuchen wir es also dennoch, uns auf Grund der bisherigen Erfahrungen, soweit es möglich ist, ein Bild von dem Lebensvorgang in der lebendigen Substanz zu machen, so kann es begreiflicherweise nur eine Skizze sein, in der die allgemeinsten Momente in groben Zügen angedeutet sind, eine Skizze, die aber für eine planmäßige Weiterforschung unabweisbares Bedürfnis und notwendige Grund- lage ist. A. Der Stoffwechsel des Biogens. 1. Das Biogen. Wir haben in einem früheren Kapitel gesehen, daß die Charak- teristik der lebendigen Organismen den scheintoten sowohl wie den toten gegenüber, ganz allgemein betrachtet, in dem Stoffwechsel liegt, dessen Ausdruck eben die Lebensäußerungen sind. Es ist aber not- wendig, von dieser allgemeinen Tatsache aus noch einen Schritt weiter zu gehen. Wenn wir uns erinnern, daß wir bei der Feststellung der chemischen Verbindungen, welche die lebendige Substanz zusammensetzen, aus- schließlich auf die Untersuchung der toten Zelle angewiesen waren, so bleiben uns jetzt zur Vervollständigung unseres Bildes von der lebendigen Substanz noch zwei Fragen zu beantworten, nämlich erstens: Kommen die chemischen Verbindungen, die wir in der toten Zelle gefunden haben, auch in der lebendigen Zelle als solche vor? — und zweitens: Haben wir in der lebendigen Zelle noch andere Verbindungen, die in der toten Zelle nicht mehr vorhanden sind, die also mit dem Leben der Zelle untrennbar verbunden waren? Die erste dieser Fragen ist verhältnismäßig leicht zu entscheiden. Eine sorgfältige Vergleichung besonders der geformten Körper, die als Reservestoffe lange Zeit unverändert in der lebendigen Zelle zu finden sind, mit den entsprechenden Stoffen der toten Zelle zeigt uns, daß sowohl Körper der Eiweißgruppe, als Kohlehydrate, als auch Fette, also die drei Hauptgruppen der organischen Verbindungen, und ebenso deren Zersetzungsprodukte, kurz die wesentlichen Stoffe, die wir in der toten Zelle gefunden haben, sämtlich auch in der leben- digen Zelle vorkommen. Es bleibt also nur die Frage übrig, ob daneben auch noch Ver- bindungen in der lebendigen Substanz existieren, die sich beim Tode der Zelle zersetzen, so daß sie in der toten Zelle nicht mehr |zu finden sind. Eine Vergleichung des chemischen Verhaltens der leben- digen und der toten Zellsubstanz zwingt uns in der Tat zu dieser Vom Mechanismus des Lebens. 575 Annahme. Die physiologische Chemie hat gezeigt, daß zwischen der lebendigen und der toten Zellsubstanz ganz wesentliche chemische Unterschiede existieren, Unterschiede, die beweisen, daß die lebendige Substanz beim Sterben tiefgreifende chemische Veränderungen erfährt. Ein weit verbreiteter Unterschied zwischen der lebendigen und der toten Zellsubstanz besteht z. B. in ihrer Reaktion. Die fast ausnahms- los alkalische oder neutrale Reaktion der lebendigen Substanz geht mit dem Tode in der Regel in die saure Reaktion über. Sehr be- merkenswerte Veränderungen erfahren ferner gewisse Eiweißkörper, die in der lebendigen Zellsubstanz in Lösung sind, wie z. B. das Myosin des Muskels. Diese Eiweißkörper gerinnen mit dem Tode und gehen in den festen Zustand über, der für weitere chemische Um- setzungen sehr ungeeignet ist. Aehnliche Veränderungen beim Sterben der lebendigen Substanz hat uns die physiologische Uhemie in größerer Zahl gezeigt. Alle diese Erfahrungen beweisen aber, daß in der lebendigen Substanz gewisse chemische Ver- bindungen beim Absterben Umsetzungen erfahren, so daß in der Tat in der lebendigen Zellsubstanz Stoffe existieren, diein der toten Zellsubstanz nicht mehr zu finden sind. Der Umstand, daß :diese chemischen Verbindungen nur in der lebendigen Substanz vorhanden sind und mit dem Tode zerfallen, zwingt uns zu dem Schluß, daß der Lebensvorgang aufs engste mit ihrer Existenz verknüpft sein muß. Eine wichtige Eigenschaft dieser Stoffe ist jedenfalls ihre große Neigung zu Umsetzungen, die für das Leben ein unentbehrliches Moment bildet. Wenn wir daran denken, wie geringe Veränderungen der Lebensbedingungen es sind, die den Tod der lebendigen Substanz herbeiführen können, wie fast alle chemischen Stoffe, die überhaupt in Wasser löslich sind, in chemische Wechselwirkung mit der lebendigen Zellsubstanz treten, während sich die tote Zellsubstanz gegen die gleichen Einwirkungen vielfach ganz indifferent verhält, so müssen wir sagen, daß die Stoffe, welche die lebendige gegenüber der toten Zellsubstanz aus- zeichnen, eine sehr lockere chemische Konstitution besitzen. Noch viel deutlicher werden wir zu diesem Schluß gedrängt, wenn wir die Tatsache des Stoffwechsels ins Auge fassen. Der Stofi- wechsel zeigt uns, daß die lebendige Zellsubstanz fortwährend zer- fällt und sich neu bildet, wie aus der fortwährenden Abgabe und Aufnahme von Stoffen hervorgeht. Demgegenüber können wir die tote Zellsubstanz unter günstigen Bedingungen außerordentlich lange aufbewahren, ohne daß sie nur eine Spur von den Stoffen ausscheidet, welche die lebendige Zellsubstanz dauernd abgibt. Es muß also die lebendige Zellsubstanz gegenüber der toten durch den Besitz von Atomkomplexen ausgezeichnet sein, die sehr große Neigung zu che- mischen Umsetzungen haben und sich dauernd von selbst zersetzen. Die große Labilität dieser Atomkomplexe geht ferner auch aus der Tatsache hervor, daß ihre Umsetzungen durch geringe Einwirkungen von außen noch bedeutend gesteigert werden können, wie die Er- rerung des Stoffwechsels durch Reize deutlich zeigt. Da aber der Stoffwechsel den eigentlichen Lebensvorgang bildet, so sehen wir ohne weiteres, daß das Leben direkt auf der Existenz dieser labilen Atomkomplexe beruht. Es 576 Sechstes Kapitel. ist daher gerechtfertigt, auf diese Stoffe näher einzugehen und ihrer Natur noch etwas weiter nachzuforschen. Beim Aufsuchen dieser bedeutsamen Verbindungen lassen wir uns am besten von der Art der beim Stoffwechsel ausgeschiedenen Zer- setzungsprodukte leiten. Da finden wir, daß sich unter anderen Stoffen, wie Kohlensäure, Wasser, Milchsäure etc., die nur die Elemente Kohlen- stoft, Wasserstoff und Sauerstoff enthalten, auch Verbindungen finden, die stickstoffhaltig sind. Die stickstofffreien Zersetzungsprodukte könnten möglicherweise aus der Zersetzung von Kohlehydraten, Fetten etc. stammen, die stickstoffhaltigen dagegen können nur aus der Umsetzung von Eiweißkörpern oder ihren Derivaten hervorgehen, denn diese sind die einzigen stickstoffhaltigen Körper, die in jeder lebendigen Substanz vorhanden sind. Dieser wichtige Umstand lenkt unsere Aufmerksamkeit also zunächst auf die Eiweißkörper. Daß wir damit in der Tat auf dem richtigen Wege sind, wird sofort klar, wenn wir uns hier an die Reihe von Erfahrungen über die Eiweißkörper erinnern, die wir im Laufe unserer früheren Be- trachtungen gewonnen haben. Diese Erfahrungen zeigen uns zweifel- los, daß es die Eiweißkörper sind, die im Mittelpunkt des ganzen organischen Lebens stehen. Eine wichtige Tatsache ist schon die, daß die Eiweißkörper in allen Fällen, in denen nicht große Mengen von Reservestoffen, wie Fett, Stärke, Glykogen etc., in der Zelle aufgehäuft sind, bei weitem die größte Masse der organischen Verbindungen in der lebendigen Substanz ausmachen. Das weist bereits darauf hin, daß sie eine be- deutsame Rolle im Leben der Zelle spielen müssen. Die dominierende Stellung der Eiweißkörper unter den chemischen Verbindungen der lebendigen Substanz wird aber ohne weiteres klar durch den Umstand, daß die Eiweißkörper die einzigen Stoffe sind, die ausnahmslos mit Sicherheit in jeder Zelle gefunden werden können. Dazu kommt ferner, daß die Eiweißkörper und ihre Verbindungen von allen wichtigeren Stoffen der Zelle die höchste Komplikation ihrer chemischen Zusammensetzung aufweisen, daß die Eiweißkörper und ihre Verbindungen die größte Anzahl verschiedenartiger Atome in ihren Molekülen vereinigen. Dieser dominierenden Stellung der Ei- weißkörper in der lebendigen Substanz entsprechen denn auch die Erfahrungen, die wir über die chemischen Beziehungen der stickstoff- freien organischen Stoffe, vor allem der Kohlehydrate und Fette, zu den Eiweißkörpern gewonnen haben, denn wir wissen, daß diese Stoffe, soweit wir ihr Schicksal überhaupt kennen, entweder zum Aufbau des Eiweißmoleküls verbraucht werden oder aus den Umsetzungen des Eiweißmoleküls hervorgehen. Das erstere zeigt uns naturgemäß am deutlichsten die Pflanze, in der ja überhaupt alle organischen Ver- bindungen erst synthetisch aus einfacheren anorganischen Stoffen hergestellt werden. In der grünen Pflanzenzelle sehen wir aus Kohlen- säure und Wasser das erste organische Produkt, den Traubenzucker resp. die Stärke, synthetisch entstehen. Diese Kohlehydrate bilden die organische Grundlage, aus der auf kompliziertem, zum Teil noch unbekanntem Wege unter Mithilfe der aus dem Boden aufgenommenen stickstoff- und schwefelhaltigen Salze sich das Eiweißmolekül synthe- tisch entwickelt. Sehen wir einerseits in der Pflanze am deutlichsten, wie die verschiedenen Stoffe zum Aufbau des Eiweißmoleküls dienen, Vom Mechanismus des Lebens. HT so können wir uns andererseits im Tier am besten von der Tatsache überzeugen, daß die wichtigsten stickstofffreien Atomgruppen der lebendigen Substanz, vor allem wieder die Kohlehydrate, auch aus dem Zerfall des Eiweißmoleküls stammen können !). So hat schon ÖCLAUDE BERNARD und später v. MERInG an Hunden, die durch Hungern glykogenfrei gemacht waren, bewiesen, daß nach Eiweiß- nahrung wieder Glykogen in größerer Menge gebildet wird, daß also dieses Kohlehydrat aus Umsetzung des Eiweißes hervorgehen Kann. So hat ferner GAGLIO festgestellt, daß die Milchsäure im Körper aus dem Umsatz des Eiweißmoleküls stammt, da ihre Menge im Blut nur von der Menge des verzehrten Eiweißes abhängig ist. Von den stick- stoffhaltigen Ausscheidungsprodukten des Körpers liegt es aber ohne weiteres auf der Hand, daß sie nur aus dem Umsatz von Stoffen der Eiweißeruppe herrühren können, da sonst unter den allgemeinen organischen Verbindungen der lebendigen Substanz keine stickstoff- haltigen weiter vorhanden sind. Den schlagendsten Beweis aber dafür, daß überhaupt alle Stoffe, sowohl stick- stofffreie wie stickstoffhaltige, die in der lebendigen Substanz der Zelle zum Leben notwendig sind, aus chemischen Umsetzungen der Eiweißkörper stammen können, liefert uns eine der bedeutsamsten Tatsachen der Physiologie, das ist die schon seit langer Zeit. be- kannte Möglichkeit, Fleischfresser mit reiner Eiweiß- nahrung dauernd am Leben und, wiePFLÜGER?) gezeigt hat, bei großer Leistungsfähigkeit erhalten zu können. Keine Tatsache beleuchtet besser als diese die zentrale Stellung des Eiweißmoleküls im Lebens- prozeß. Ergibt sich also auf der einen Seite aus der Tatsache des Stoff- wechsels die Existenz sehr labiler Verbindungen in der lebendigen Substanz, mit deren Anwesenheit das Leben untrennbar verknüpft ist, so sehen wir auf der anderen Seite, daß es die Eiweißkörper sind, deren Vorhandensein die allgemein notwendige Voraussetzung und den Angelpunkt des Lebens bildet. Suchen wir aber diese beiden Momente miteinander zu vereinigen, so entsteht die Forderung, in der lebendigen Zellsubstanz neben den bekannten Eiweißkörpern, die sich auch in der toten Zellsubstanz vorfinden, noch gewisse Eiweiß- körper oder Verbindungen von Eiweißkörpern anzu- nehmen, die nurimLeben vorhandensindundmitihrem Zerfall das Leben beschließen. Totes Eiweiß, wie wir es etwa im toten Hühnerei finden, oder wie es z. B. in Form von Vitellinen in größerer Menge auch in lebendigen Eizellen aufgespeichert ist, können wir, wenn es vor Bak- terien geschützt ist, außerordentlich lange stehen lassen, ohne daß die geringste Zersetzung daran auftritt. Dagegen zersetzen sich ge- wisse Eiweißkörper oder Eiweißverbindungen der lebendigen Sub- stanz fortwährend von selbst, auch wenn sich die letztere unter völlig normalen Bedingungen befindet, und die geringste Einwirkung von Reizen steigert die Zersetzung noch mehr, wie aus den abgegebenen 1) Vergl. p. 198. 2) PFLÜGER: „Die Quelle der Muskelkraft“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 50, 1891. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 37 578 Sechstes Kapitel. Zerfallsprodukten hervorgeht. PFLÜGER!) hat daher, wie wir bereits an anderer Stelle?) gesehen haben, schon vor längerer Zeit in seiner inhaltreichen Arbeit über die Oxydation in der lebendigen Substanz auf diesen wichtigen Unterschied zwischen dem Eiweiß in der toten und dem Eiweiß in der lebendigen Zellsubstanz aufmerksam gemacht und das letztere als „ebendiges Eiweiß“ vom toten Eiweiß scharf getrennt. Der fundamentale Unterschied zwischen dem toten und dem „lebendigen Eiweiß“ besteht eben darin, daß das tote Eiweiß sich in einem stabilen Gleich- gsewichtszustande befindet, während das lebendige Ei- weiß eine sehr labile Konstitution besitzt. Wenn wir so mit PFLÜGER zu der Annahme eines „lebendigen Eiweißes“ geführt werden, das die lebendige Zellsubstanz von der toten unterscheidet, und auf dessen lockerer Konstitution der Schwer- punkt des ganzen Lebens beruht, so müssen wir uns doch sagen, daß dieses sogenannte „lebendige Eiweiß“ ein Körper von wesentlich anderer Zusammensetzung sein muß als die toten Eiweißkörper, wenn auch, wie aus der Beschaffenheit seiner Zersetzungsprodukte hervorgeht, gewisse charakteristische Atomgruppen der Eiweißkörper in ihm enthalten sind. Die große Labilität, die ihn den anderen Eiweißkörpern gegenüber auszeichnet, kann nur bedingt sein durch eine wesentlich andere Konstitution. Ferner wird ein kritischer Kopf mit Recht Anstoß daran nehmen, diese hypothetische Verbindung, die im Mittelpunkt des Lebensprozesses steht, als ein „lebendiges Eiweiß- molekül“ zu bezeichnen, denn es liegt ein gewisser Widerspruch darin, ein Molekül als lebendig zu bezeichnen. Lebendige kann nur etwas sein, was Lebensäußerungen zeigt. Der Ausdruck „leben- dige Substanz“ ist daher wohl gerechtfertigt, denn die lebendige Substanz als Ganzes läßt ja Lebensäußerungen sehen. Ein Molekül aber kann schlechterdings keine Lebensäußerungen zeigen, solange es als solches existiert; denn treten irgendwelche Veränderungen an ihm auf, so ist es schon nicht mehr das ursprüngliche Molekül, und bleibt es als Molekül unverändert, so fehlen eben die Lebens- äußerungen an ihm. Die Lebensäußerungen, die ja auf chemischen Vorgängen beruhen, können nur mit dem Aufbau oder mit dem Zer- fall des betreffenden Moleküls verbunden sein, und so ist es aus doppelten Gründen wohl gerechtfertigt, die Verbindung, die im Angel- punkt des Lebens steht, mit einem anderen Namen zu belegen. Um einerseits diesen Körper von den toten Eiweißkörpern zu unter- scheiden und anderseits seine hohe Bedeutung für das Zustande- kommen der Lebensäußerungen anzudeuten, scheint es zweckmälig, den Namen „lebendiges Eiweiß“ zu ersetzen durch die Bezeichnung „Biogen“. Die Ausdrücke „Plasmamolekül“, „Plassonmolekül“, „Plastidul* ete., die ELSBERG°) und HAECKEL*) angewendet haben, und die sich begrifflich nur in manchen Punkten mit dem Ausdruck „Biogenmolekül“ decken, sind insofern weniger zweckmäßig, als sie leicht den Anschein erwecken, daß das Protoplasma ein chemisch 1) PFLÜGER: „Ueber die physiologische Verbrennung in den lebendigen Orga- nismen“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 10, 1875. 2) Vergl. p. 364. 3) ELSBERG: In Proceeding of the American Association, Hartford 1874. 4) HAECKEL: ‚‚Die Perigenesis der Plastidule oder die Wellenbewegung der Lebensteilchen‘“, Berlin 1876. Vom Mechanismus des Lebens. 579 einheitlicher Körper wäre, der aus lauter gleichartigen Molekülen be- stände, eine Anschauung, die ausdrücklich zurückgewiesen werden muß. Protoplasma ist ein morphologischer Begriff, kein chemischer !). Die Biogene aber bilden eine Gruppe von chemischen Verbindungen. Was wir von den Biogenen sagen können, ist außerordentlich wenig, und wir dürfen uns nicht verhehlen, daß wir uns hier bereits auf vollkommen hypothetischem Boden befinden. Allein, da wir noch nicht einmal die Konstitution der Eiweißkörper selber vollständig kennen, die wir doch jeden Augenblick chemisch zu untersuchen in der Lage sind, ist es begreiflich, daß wir über das hypothetische Biogen, dessen Existenz und Zusammensetzung wir überhaupt nur aus Zerfallsprodukten der lebendigen Substanz erschließen können, noch viel weniger Erfahrungen besitzen. Was wir von ihm behaupten können, ist eigentlich nur seine ungemeine Labilität, die ihm eine ge- wisse Aehnlichkeit mit explosiblen Körpern gibt. Die Hypothese, daß in der lebendigen Substanz leicht zersetzliche stickstoffhaltige Verbindungen eine wichtige Rolle spielen, ist schon lange vor PFLÜGERs bekannten Erörterungen speziell für den Muskel von HERMANN gemacht worden. Auch hat HERMANN bereits andere wesentliche Punkte der Biogenhypothese klar ausgesprochen. Mit der Frage nach der speziellen Natur und chemischen Zusammensetzung dieser höchst zersetzlichen Verbindungen hat sich dann PFLÜGER in besonders eingehender Weise beschäftigt. Etwas später haben DETMER, F. J. ALLEN u. a. die gleiche Frage behandelt. Auf Grund seiner Untersuchungen über den Gaswechsel der Muskeln ist HERMANN?) schon im Jahre 1867 dazu gelangt, einige wesentliche Punkte der Biogenhypothese auszusprechen. HERMANN kam zu dem Schluß, daß in der lebendigen Substanz der Muskeln eine zersetzliche organische Verbindung vorhanden sei, die bei der Tätigkeit in einen stickstoffhaltigen und in einen stickstofffreien Kom- plex zerfalle. Der erstere habe die Fähigkeit, sich synthetisch wieder zu der ursprünglichen Verbindung zu ergänzen, der letztere dagegen trete in der Form der bekannten Stoffwechselprodukte, vor allem der Kohlensäure, aus der lebendigen Substanz aus. Diese allgemeinen Punkte der HermAnNnschen Annahme bilden in der Tat den wichtigsten Bestandteil der Biogenhypothese, während manche andere Erwägungen HERMANNSs heute wohl nicht mehr ganz zutreffen. Etwas spezieller suchte PFLÜGER?) in die Natur des Biogens ein- zudringen. PFLÜGER hat in geistreicher Weise gewisse Tatsachen zu verwerten gesucht, um daraus Schlüsse auf einzelne Eigentümlich- keiten des Biogens zu gewinnen, die auch die große Labilität des Biogenmoleküls gegenüber dem toten Eiweißmolekül verständlich machen sollen. Der Ausgangspunkt für PFLÜGERs Erörterungen ist eine Vergleichung der Zersetzungsprodukte, die fortwährend von selbst entstehen bei der Oxydation des „lebendigen“ Eiweißes, wie sie in der Atmung stattfindet, mit denen, die durch künstliche Oxy- dation des toten Eiweißes gewonnen werden. Dabei zeigt sich ihm die wichtige Tatsache, daß die stickstofffreien Zersetzungs- 1) Vergl. p. 364 u. ff. 2) L. in: „Untersuchungen über den Stoffwechsel der Muskeln, aus- gehend vom Gaswechsel derselben“, Berlin 1867. 3) PFLÜGER: „Ueber die physiologische Verbrennung in den lebendigen Orga- nismen‘“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 10, 1875. 30 580 Sechstes Kapitel. produkte in beiden Fällen im wesentlichen übereinstimmen, während die stickstoffhaltigen nicht die geringste Aehnlichkeit besitzen. „Daraus folgt zunächst, daß das lebendige Eiweiß im Bereiche seiner Kohlenwasserstoff-Radikale nicht wesentlich verschieden vom Nahrungs- eiweiß ist.“ Der wichtige Unterschied zwischen beiden liegt vielmehr nach PFLÜGER in der Anordnung der stickstoffhaltigen Atomgruppen. Prüfen wir aber die stickstoffhaltigen Zersetzungsprodukte des leben- digen Eiweißes, wie Harnstoff, Harnsäure, Kreatin etc, sowie die Nukleinbasen: Adenin, Hypoxanthin, Guanin und Xanthin, so finden wir, sagt PFLÜGER, daß sie im Gegensatz zu den stickstoffhaltigen Zerfalls- produkten, die bei Oxydation des toten Eiweißes auftreten, teils aus Cyanverbindungen künstlich hergestellt werden können, teils selbst das Cyan CN als Radikal enthalten. Es ist also tür PFLÜGER im höchsten Grade wahrscheinlich, daß der Kohlenstoff und der Stick- stoff im Biogenmolekül zu Oyan vereinigt sind, ein Radikal, das den toten Eiweißkörpern fehlt. Damit wäre ein ganz fundamentaler Unterschied in der Konstitution des Biogens oder, besser, der Biogene, denn es handelt sich ja zweifellos in den verschiedenen Formen der lebendigen Substanz um verschiedenartige Körper der Biogengruppe, und der toten Eiweißkörper gegeben, der auch die große Labilität des Biogenmoleküls erklären würde, denn das Cyan ist ein Radikal, das eine große innere Energiemenge enthält, so daß die Cyanverbindungen sämtlich starke Neigung zum Zerfall besitzen. Der letztere Umstand gibt uns auch nach PFLÜGERS Vorstellung ein Ver- ständnis des Atmungsprozesses, denn wenn bei den Bewegungen der Atome im Biogenmolekül zwei Sauerstoffatome in den Bereich des sehr labilen Cyanradikals kommen, so wird sich bei den lebhaften intra- molekularen Schwingungen des Kohlenstoff- und Stickstoffatoms im Cyan das Kohlenstoffatom mit denselben zu dem sehr stabilen Kohlensäure- molekül vereinigen. In der Tat ist auch das Cyan sehr leicht ver- brennlich und liefert Kohlensäure bei der Verbrennung. So stellt sich PFLÜGER vor, daß die fortwährende Aufnahme von Sauerstoff und Abgabe von Kohlensäure seitens der lebendigen Substanz auf der Anwesenheit des COyanradikals beruht, und daß der intramolekulare Sauerstoff die Zersetzbarkeit der lebendigen Substanz wesentlich mit bedingt. Diese Betrachtungen bieten einen Anhaltspunkt für die Art und Weise, wie die Bildung eines Biogenmoleküls aus der aufge- nommenen Nahrung in der tierischen Zelle erfolgt. Das mit der Nahrung eingeführte tote Eiweißmolekül erfährt in der Zelle nach PFLÜGERs Meinung durch Mitwirkung des schon vorhandenen Biogens eine Umlagerung seiner Atome in der Weise, daß unter Wasseraus- tritt sich immer ein Stickstoffatom mit je einem Kohlenstoffatom zum Cyanradikal gruppiert. Die Veränderungen, die dabei notwendig im Bereich der übrigen Atomgruppen des Eiweißmoleküls auftreten, ent- ziehen sich zwar vorläufig ganz unserer Kenntnis, scheinen aber, wenn man nach der wesentlichen Uebereinstimmung der stickstofffreien Zersetzungsprodukte des lebendigen und des toten Eiweißes urteilen darf, nicht von einschneidender Bedeutung zu sein. Durch die intra- molekulare Einfügung des eingeatmeten Sauerstoffs gelangt schließ- lich das Biogenmolekül auf den Höhepunkt seiner Zersetzbarkeit, so daß es nur sehr geringer Anstöße bedarf, um die Vereinigung der Sauerstoffatome mit dem Kohlenstoffatom des Cyans herbeizuführen. Das Material der bei dem explosiven Zerfall des Biogenmoleküls ab- Vom Mechanismus des Lebens. 581 gesprengten stickstofffreien Atomgruppen kann vom Rest des Biogen- moleküls leicht wieder auf Kosten der in der lebendigen Substanz vorhandenen Kohlehydrate und Fette, die solche Gruppen enthalten, regeneriert werden, und in der Tat sehen wir ja auch, daß die letzteren zum Aufbau der Eiweißkörper verbraucht werden. „Das ist wahrscheinlich die wesentliche Bedeutung dieser Satelliten des Eiweiß- moleküls“, wie PFLÜGER sehr treffend die Kohlehydrate und Fette be- zeichnet. Stirbt die lebendige Substanz endlich ab, so geht die labile cyanartige Bindung des Stickstoffs unter Wasseraufnahme wieder in den stabileren Zustand des Ammoniakradikals über, indem sich der Stickstoff mit dem Wasserstoff des Wassers vereinigt. Dann haben wir wieder die stabilen Verbindungen des toten Eiweißes, wie es zur Nahrung gedient hat. Das sind nach PFLÜGER in kurzem einige wesentliche Punkte von dem abgekürzten Wege, den die Nahrung bis zum Aufbau des Biogenmoleküls in der tierischen Zelle durchläuft. Der viel längere Weg, der in der Pflanzenzelle von der Aufnahme der einfachsten anorganischen Verbindungen über die Synthese der ersten Kohlehydrate bis zum Aufbau der Biogene führt, ist zurzeit noch in viel größeres Dunkel gehüllt. Wir haben schon an anderer Stelle!) gesehen, daß die Begründung, die PFLÜGER seiner Cyanhypothese gibt, heute nicht mehr stich- haltig ist. Mag man aber über die Frage, ob im Biogenmolekül eine Cyangruppe steckt oder nicht, denken wie man will, so handelt es sich doch dabei immer nur um einen Punkt von speziellerem Interesse. Die allgemeinen Erörterungen PFLÜGERS, die sich mit den von HER- MANN geäußerten Ansichten im wesentlichen decken, bleiben dadurch unberührt. Auf pflanzenphysiologischem Gebiet ist besonders DETMER?), aus- gehend von dem Atmungsprozeß der Pflanzen, durch eine Reihe von ausgezeichneten Untersuchungen, wenn auch nicht zur Cyanhypothese, so doch zu allgemeinen Anschauungen gekommen, ähnlich denen, die PFLÜGER aus dem Vergleich des toten Eiweißes und der lebendigen Substanz gewonnen hat. Nur in einem wichtigen Punkte weicht DETMER in seinen Anschauungen von HERMANN und PFLÜGER ab, nämlich in bezug auf die Oxydationsprozesse. DETMER nimmt zwar ebenfalls an, daß das Biogenmolekül beim Stoffwechsel in einen stick- stofffreien und einen stickstoffhaltigen Atomkomplex zerfällt, aber er läßt die Oxydation erst diesem Zerfall folgen. Die Biogenmoleküle besitzen nach ihm von vornherein schon eine sehr labile Konstitution und zersetzen sich daher fortwährend von selbst, und zwar in einen stickstoffhaltigen Atomkomplex, der sich wieder zum vollständigen Molekül regeneriert, und in einen stickstofffreien, der nunmehr erst der Oxydation unterliegt und dabei die charakteristischen Verbren- nungsprodukte der lebendigen Substanz liefert. In dieser Auffassung von der Rolle des Sauerstoffs trifft DETMER mit VoIT’) zusammen 1) p. 365. 2) DETMER: „Vergleichende Physiologie des Keimungsprozesses der Samen“, Jena 1880. — Derselbe: ‚Der Eiweißzerfall in der Pflanze bei Abwesenheit des freien Sauerstoffes“. In Ber. d. deutsch. bot. Ges., Bd. 10, 1892, Heft 8. 3) C. von VoIrT: „Ueber Fettbildung im Tierkörper“. In Zeitschr. f. Biologie, A. F. Bd. 5, 1869. — Derselbe: „Physiologie des allgemeinen Stoffwechsels und der Ernährung“. In Hermanns Handbuch der Physiologie, Bd. 6, 1881. 582 Sechstes Kapitel. und neuerdings hat sich auch WINTERSTEIN !) dieser Auffassung an- geschlossen. Schließlich hat F. J. ALLEN?) vor kurzem einige allgemeinere Vermutungen über die Natur der Biogenmoleküle geäußert, die bereits an anderer Stelle?) ausführlich berücksichtigt wurden. Hier sei daher nur noch einmal kurz darauf hingewiesen, daß nach ALLEN die La- bilität des Biogenmoleküls wesentlich auf den Eigenschaften des in ihm enthaltenen Stickstoffs beruht, der im Kern des Biogenmoleküls gelegen ist und den bei der Atmung aufgenommenen Sauerstoff zu- nächst locker an sich bindet. Dem Stickstoff wird dann bei den intra- molekularen Schwingungen der Atome der Sauerstoff immer wieder von den stärkeren Affinitäten des Kohlenstoffs und Wasserstofts ent- rissen, dabei entstehen die charakteristischen Dissoziationsprodukte der lebendigen Substanz, wie Kohlensäure und Wasser. Schließlich hat man neuerdings?) den Grundgedanken der „Biogen- hypothese“ in ausführlicher Weise durch neues Tatsachenmaterial zu begründen und weiter auszubauen und dabei zugleich die außer- ordentliche Fruchtbarkeit der Biogenhypothese für die Erklärung der elementaren Lebensäußerungen an paradigmatischen Beispielen zu demonstrieren gesucht. Heben wir aus allen diesen Spekulationen die gemeinsamen Mo- mente heraus, und lassen wir dabei alle Vermutungen über die speziellere chemische Konstitution der Biogene als vorläufig entbehr- lich fort, so gewinnen wir gewissermaßen als Niederschlag aus den betreffenden Untersuchungen eine Hypothese, welche die wichtigsten und wesentlichsten Ergebnisse in sich vereint, und welche in dieser allgemeinen Form nicht bloß eine sehr große Wahrscheinlichkeit, sondern auch eine ungemeine Fruchtbarkeit als Arbeitshypothese besitzt. Nach dieser Biogenhypothese nehmen wir an, daß der Stoffwechselderlebendigen Substanz, derden Kern- punkt des ganzen Lebens bildet, bedingt ist durch die Existenz gewisser, sehr labiler Verbindungen, die zur Gruppe der Eiweißkörper gehören und wegen ihrer ele- mentaren Bedeutung für das Leben am besten als „Bio- gene“ bezeichnetwerden. Das Biogen zerfälltingewissem Maße fortwährend von selbst, wie sich auch andere or- ganische Körper, z.B. die Blausäure, fortwährend von selbst zersetzen. Bedeutend umfangreicher aber wird der Zerfall des Biogens, wenn auch nur geringe äußere Reize auf die lebendige Substanz einwirken. Wirhaben uns den Zerfalletwa so zu denken, daß bei den äußerst lebhaften intramolekularen Schwingungen der Atome, die den labilen Zustand bedingen, gewisse Atome teils von selbst, teils infolge äußerer Reizanstöße in die Wirkungssphäre anderer geraten, zu denen siegrößere 1) H. WINTERSTEIN: „Ueber den Mechanismus der Gewebsatmung“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 6, 1907. 2) F. J. ALLEN: „What is life?“ In Proceed. of the Birmingham Natural History and Philosophical Society, Vol. 11, Part. 1, 1899. 3) Vergl. p. 367. 4) MAX VERWORN: „Die Biogenhypothese. Eine kritisch-experimentelle Studie über die Vorgänge in der lebendigen Substanz“, Jena 1903. Vom Mechanismus des Lebens. 583 Affinität besitzen als zu ihren ursprünglichen Nach- barn, so daß auf diese Weise stabilere Atomgruppie- rungen entstehen und als selbständige Verbindungen austreten. Wir können die Biogenein dieserBeziehung den explosiblen Körpern vergleichen, die ebenfalls einen sehr labilen Gleichgewichtszustand ihrer Atome besitzen und beiErschütterungenexplodieren,d.h.ihre Atome in stabilere Bindungen übergehen lassen, wie z.B. das zum Dynamit verwendete Nitroglyzerin oder Salpetersäure-Triglyzerid, das auf mechanische Stöße oder elektrische Schläge hin in Wasser, Kohlensäure, Stickstoff und Sauerstoff zerfällt: 2 C,H,(ON0,, =5H,04600,4+6N-0. Allein, den anderen explosiblen Körpern gegenüber müssen wir offenbar dem Biogen die Eigentümlichkeit beilegen, daß im funktionellen Stoffwechsel nicht das ganze Molekül beim Zerfall zugrunde geht, sondern daß nur gewisse, durch die Umlagerung sich bildende, und zwar stickstofffreie, Atomgruppen abgesprengt werden, während sich der zurückbleibende stickstoff- haltige „Biogenrest“ auf Kosten der in seiner Um- gsebung befindlichen Stoffe wieder zu einem vollstän- digen Biogenmolekül regeneriert, ebenso wie sich bei der Fabrikation der englischen Schwefelsäure!) die aus der Salpetersäure durch Abgabe von Sauer- stoff entstandene Untersalpetersäure mit Hilfe des Sauerstoffs der Luft immer wieder zu Salpetersäure regeneriert. Die neben dem Biogen in der.lebendigen Substanz noch vorhandenen Stoffe sind nur die „Satel- liten“ der Biogenmoleküle und dienen entweder zum Aufbau oder stammen aus den Umsetzungen derselben. Ihre Vorbereitung resp. Weiterverarbeitung geschieht zum großen Teil durch Enzyme. Es sind bisher keine Stoffein der lebendigen Substanz bekannt geworden, die nicht zu der Geschichte des Biogens in irgend- welcher näheren oder weiteren Beziehung ständen. Da- gegen müssen wir aus der Verschiedenheit der Zer- setzungsprodukte, dievon verschiedenen Zellformen im Stoffwechsel der lebendigen Substanz ausgeschieden werden, mit größter Wahrscheinlichkeit folgern, daß das Biogenmolekül nicht in allen Zellen genau die gleiche chemische Zusammensetzung hat, sondern daß es verschiedene, Biosenkörper gibt, und daß sorar nicht bloß die Biogene verschiedener Zellen, sondern auch verschiedener Differenzierungen derselbenZelle, wie z.B. des Exoplasmas, der Myoide oder kontraktilen Fäden, der Muskelfibrillen, der Wimpern etc, auch verschiedene Konstitution haben werden, wenn sie auch im wesentlichen Bau übereinstimmen. Die Biogene sind demnach die eigentlichen Träger des Lebens. In dem 1) Vergl. p. 150. 584 Sechstes Kapitel. fortwährenden Zerfall und Wiederaufbau derselben besteht der Vorgang des Lebens, dessen Ausdruck die mannigfachen Lebensäußerungen sind. 2. Die Frage nach der Rolle des Sauerstoffs im Stoffwechsel. Stellen wir uns auf Grund der Biogenhypothese vor, daß die Lebensvorgänge beruhen auf dem fortwährenden Aufbau und Zerfall einer komplizierten und sehr labilen chemischen Verbindung, so liefert uns diese Hypothese zunächst nur einen rein methodischen Gewinn. Das Hypothetische in ihr liegt lediglich darin, daß wir das, was wir von der lebendigen Substanz als Tatsache kennen, d.h. den Stoff- wechsel, verlegen in eine einheitliche chemische Verbindung, und daß wir alles Geschehen in der lebendigen Substanz an diesen Stoff- wechsel der Biogene angliedern. Damit ist in methodischer Beziehung der große Vorteil der Klarheit eines einfachen Schemas verknüpft, an das sich weitere Fragestellungen und neue Tatsachen leicht ankristalli- sieren. Mag sich dieses Schema im Anschluß an neue Erfahrungen allmählich mehr und mehr ändern und komplizieren, wie es unaus- bleiblich ist, ja, mag es allmählich so umgestaltet werden, daß es schließlich ein ganz anderes wird als es ursprünglich war, so hat es doch als Schema seine Dienste getan und als Arbeitshypothese zu neuen Erfahrungen geführt. Jedes Schema ist von vornherein falsch und doch können wir nicht ohne Schemata zu richtiger Erkenntnis gelangen. Ein fruchtbarer Irrtum aber ist mehr wert für die Entwicklung der menschlichen Erkenntnis als eine unfruchtbare Wahrheit. Von diesem Gesichtspunkte aus will die Biogenhypothese beurteilt sein und von diesem Gesichtspunkte aus erheben sich sofort weitere Fragen. Wie fügt sich die Rolle des Sauerstoffs ein in das Schema der Biogenhypothese? Hier stehen sich zwei Ansichten gegenüber, die wir oben schon berührt haben. Nach der Ansicht von HERMANN, PFLÜGER, ALLEN und anderen ist die Labilität des Biogenmoleküls wesentlich bedingt durch die intramolekulare Einfügung des Sauerstoffs. Nach der Auffassung von v. VOIT, DETMER, WINTERSTEIN besteht die Rolle des Sauerstoffs lediglich darin, daß er erst sekundär die aus dem Zerfall hervorgehenden Verbindungen zu Kohlensäure und Wasser oxydiert. Nach der ersteren Auffassung ist die Bildung von Kohlen- säure und Wasser von vornherein ein Produkt der Dissoziation des Biogenmoleküls, nach der letzteren ist sie ein Prozeß, der zeitlich immer erst dem Zerfall nachfolgt. Man könnte daran denken, zwischen diesen beiden Anschauungen leicht eine Entscheidung zu treffen durch die Erfahrungen, die bei der Sauerstoffentziehung gemacht worden sind. Indessen bei genauerer Prüfung ergibt sich, daß diese Tatsachen sowohl im Sinne des ersteren wie des letzteren Standpunktes verwendet werden können. Wir wissen, daß mit Abschluß der Sauerstoffzufuhr die Erregbarkeit der leben- digen Substanz allmählich sinkt und daß die Lebensvorgänge schließ- lich erlöschen. Die lebendige Substanz erstickt. Es liegt nahe, diese Tatsache dadurch zu erklären, daß bei Sauerstoffmangel die Biogen- moleküle nicht mehr auf die Höhe ihrer Labilität gelangen, weil kein Sauerstoff mehr in die Biogenmoleküle intramolekular eingefügt werden kann. Das spräche also für die erstere Annahme. Allein auch die Vom Mechanismus des Lebens. 585 zweite Annahme kann diese Tatsache in ihrem Sinne deuten, indem sie das Sinken der Erregbarkeit erklärt durch die Anhäufung von lähmenden Zerfallsprodukten, die wegen Sauerstoffmangels nicht durch Oxydation beseitigt werden können. Daß sich solche lähmenden Pro- dukte bei relativem Sauerstoffmangel anhäufen, wissen wir aus der Er- müdung, die ja eine Erstickung ist. Ebenso wie die Lähmung bei Sauerstoffmangel läßt sich auch die Erholung bei erneuter Sauer- stoffzufuhr im Sinne beider Auffassungen verwerten. Nach der ersteren Auffassung würde die Rückkehr der Erregbarkeit in diesem Falle auf der intramolekularen Einfügung neuer Sauerstoffatome in die Biogen- moleküle beruhen, nach der letzteren auf einer Beseitigung der lähmenden Zerfallsprodukte durch ihre Oxydation zu Kohlensäure und Wasser. So ist die Tatsache des Kommens und Gehens der Erreg- barkeit in ihrer Abhängigkeit von der Sauerstoffzufuhr nicht imstande, die Entscheidung zwischen beiden Ansichten zu treffen, und es dürfte überhaupt bis heute keine Tatsache bekannt sein, die endgültig die eine Anschauung als die richtige, die andere als die falsche nach- weisen könnte. Dagegen existieren Tatsachen, die den Gegensatz zwischen beiden Anschauungen wenigstens zum Teil auszugleichen imstande sind. Zunächst nämlich kann kein Zweifel darüber bestehen, daß auch ohne intramolekulare Einfügung von Sauerstoff in das Biogenmolekül das letztere eine so große Labilität besitzen muß, daß es durch Dissoziation zerfallen kann. Wäre der Zerfall des Biogenmoleküls lediglich an die Anwesenheit des Sauerstofts gebunden, so müßte nach völligem Verbrauch des zur Verfügung stehenden Sauerstofis Kein Biogenzerfall mehr eintreten. Tatsächlich aber findet auch im Zustande der Erstickung noch andauernd ein weiterer Zerfall des Biogens statt, sonst würde man ja lebendige Substanz unter Sauerstoffabschluß be- liebig lange im Zustande latenten Lebens aufbewahren können, etwa so wie gewisse Organismen bei Wasserentziehung. Demgegenüber ist aber bekannt, daß die lebendige Substanz, nachdem sie durch Sauer- stoffmangel vollständig gelähmt ist, nur kurze Zeit noch ohne Sauer- stoffzufuhr restitutionsfähig bleibt. Also es ist kein Zweifel, daß die Biogene auch ohne Sauerstoffzufuhr zerfallen. Das zeigt aber gleich- zeitig, daß die Lähmung bei der Erstickung auch, wenn man sie allein als eine Wirkung der Anhäufung von Zerfallsprodukten ansieht, keine vollständige sein kann. Der Zerfall geht weiter, wenn auch in be- deutend schwächerem Maße und mit bedeutend geringerer Energie- produktion. Aber es fragt sich, ob dieser Zerfall des Biogens, wie er bei fehlendem Sauerstoff stattfindet, derselbe ist wie bei eenügender Sauerstoffversorgung. Das ist nun sicherlich nicht der “Fall. Die Tatsache des Absterbens und des Verlustes der Restitutionsfähigkeit bei Sauerstoffmangel zeigt, daß der Zerfall der Biogenmoleküle bei Sauerstoffmangel auf alle Fälle ein anderer werden muß als bei Sauerstoffversorgung, mag man das nun darauf zurückführen, daß kein Sauerstoff in das Biogenmolekül mehr eingefügt wird, oder mag man es erklären durch die Wirkung der sich anhäufenden Zerfallsprodukte. Die anaeroben Organismen zeigen uns ebenfalls, daß auch ohne Sauerstoff ein Zerfall des Biogens stattfindet, aber sie beweisen uns gleichzeitig, daß bei ihnen der Stoffwechsel noch eine spezielle Einrichtung besitzt, die aus der Anpassung an die anaörobe Lebensweise resultiert und die ihn wesentlich anders gestaltet, als es 586 . Sechstes Kapitel. der Stoffwechsel der aöroben Organismen ist, denn bei den anaöroben Organismen vollzieht sich bei Sauerstoffmangel der Biogenzerfall so, daß die Biogenmoleküle dauernd restitutionsfähig bleiben. Nach alledem müssen wir den Biogenmolekülen einen so großen Labilitätsgrad bei- legen, daß sie auch ohne Sauerstoffeinfügung noch zerfallen. Ferner ist es ebensowenig zweifelhaft, daß auch die bei der Er- stickung aus dem Biogenzer fall hervorgegangenen lähmenden Produkte, noch nachträglich durch Sauerstoffzufuhr oxydiert und beseitigt werden können. Von der Ermüdung wissen wir z. B., daß sich solche lähmenden Produkte als Folge des Sauerstoffmangels anhäufen. Wir können sie aus ermüdeten Organen oder (reweben oder Zellen, wie wir oben sahen, extrahieren. Ihre lähmende Wirkung wird aber sofort beseitigt durch genügende Sauerstoffzufuhr. Für die anaöroben Organismen aber würden wir annehmen müssen, daß diese Zerfallsprodukte, deren An- häufung lähmen würde, nach ihrer Entstehung durch andere Spaltungs- vorgänge, etwa durch hydrolytische Spaltungen, nicht wie bei den aöroben Organismen durch oxydative Spaltungen zerstört und unwirk- sam gemacht werden. Nehmen wir alles zusammen, so könnenwir un8also vorstellen, daß bei den aäöroben Organismen, solange die Sauerstoffzufuhr zureichend ist, derBiogenzerfall immer sofort bis zu Kohlensäure und Wasser erfolgt, die leicht ausgeschieden werden, daß erstbeirelativem Sauerstoffmangel in dem Maße, wie sich dieser ent- wickelt,. neben Kohlensäure und Wasser aus dem Biogenzerfall auch komplexere Moleküle, sogenannte „Erstiekungs- oder Ermüdungsstoffe* wie Milchsäure hervorgehen, die lähmend wirken, solange bis sie durch Oxydation nachträglich zerstört werden, und daß bei absolutem Sauerstoffmangel ausschließlich solche komplexen „Erstickungsstoffe* beim Biogenzerfall ent- stehen, ja daß zuletzt der Biogenzerfall viel tiefer geht, so daß die Biogenmoleküle ihre Restitutions- fähigkeit vollkommen verlieren. So weit lassen sich beide Vorstellungen einander nähern. Die spezielle Frage aber, wieweit der Erregbarkeitsgrad der lebendigen Substanz abhängt von der intramolekularen Einfügung von Sauerstoff in das Biogenmolekül und wieweit von der nachträglichen Beseitigung lähmender Zerfalls- produkte, diese Frage ist auf Grund des bisher vorliegenden Tatsachen- materials nicht zu entscheiden. = Der Bioteu@ns: Nachdem wir in dem Aufbau und Zerfall des Biogens den ein- fachsten schematischen Ausdruck des elementaren Lebensvorgangs kennen gelernt haben, müssen wir nunmehr gewisse Verhältnisse des Stoffwechsels, welche sich daraus ergeben, noch etwas näher ins Auge fassen und einige Begriffe fixieren, die zur Klärung der Vorstellungen über den Stoffwechsel von Wichtigkeit sind. Wir erinnern uns, daß wir im Stoffwechsel zwei verschiedene Phasen unterschieden, die Assimilation und die Dissimilation. Unter Assimilation verstanden wir die Eigenschaft der lebendigen Substanz, aus den aufgenommenen Nahrungsstoffen fortwährend ihres- Vom Mechanismus des Lebens. 587 gleichen aufzubauen, unter Dissimilation, fortwährend wieder in ein- fachere Produkte zu zerfallen, die dann als solche oder nach weiterer Verarbeitung ausgeschieden werden. Nach unserer obigen Feststellung können wir aber diesen Begriff in eine festere Form fassen und sagen: die Assimilation ist die Gesamtheit aller derjenigen Um- setzungen, die zum Aufbau der Biogenmoleküle führen, während die Dissimilation alle diejenigen Umsetzungen umfaßt, die vom Zerfall des Biogens bis zur fertigen Bildung der ausgeschiedenen Produkte reichen. Eine solche feste Definition dieser beiden Grundbegriffe der ganzen Stoffwechsellehre ist durchaus notwendig, denn wenn wir einen Blick auf die Geschichte derselben werfen, finden wir, daß sie vielfach in sehr verschiedener Bedeutung angewendet wurden. Der Begriff der Assimilation, der ursprünglich ganz allgemein die Bildung lebendiger Substanz aus der toten Nahrung im Organismus bezeichnete, ist von den Botanikern bald in einem ganz speziellen Sinne gebraucht worden. Die Pflanzenphysiologie bezeichnet noch heute zum großen Teil mit Assimilation ausschließlich die Synthese der Stärke aus Wasser und Kohlensäure in den Chlorophylikörpern der grünen Pflanzenzelle. Dieser enggefaßte Begriff ist aber allmählich, und zwar auf tier- physiologischer Seite, wieder erweitert und nicht bloß für die Synthese des ersten organischen Produkts, sondern auch für den Aufbau der komplizierteren Verbindungen der lebendigen Substanz, vor allem der jeder Zellform eigentümlichen Eiweißkörper aus den aufgenommenen Nahrungsstoffen angewendet worden. Demgegenüber hat EwALD HERING!) den Begriff der Assimilation wieder enger gefaßt und in einer inhaltreichen kleinen Arbeit die Assimilation scharf vom Wachs- tum getrennt, wobei er unter Assimilation nur die chemische Ver- änderung schon vorhandener Teilchen in qualitativer Hinsicht und zwar die Vervollständigung der Teilchen zum Höhepunkt ihrer Konstitution, versteht, unter Wachstum dagegen keine qualitative Ver- änderung, sondern eine nur quantitative Vermehrung der vorhandenen Teilchen begreift. Dazu hat HERING zuerst den Begriff der Dissimi- lation geschaffen und ihn der Assimilation an die Seite gestellt, wobei er wieder die entsprechende Unterscheidung zwischen Dissimilation und Schwund wie zwischen Assimilation und Wachstum traf und als Dissimilation nur die mit der Abtrennung gewisser Stoffe aus den vorhandenen Teilchen verbundene qualitative Veränderung, als Schwund dagegen die nur quantitative Verminderung der Teilchen bezeichnete. Allein, diese scharfe Trennung von Assimilation und Dissimilation einerseits und Wachstum und Schwund anderseits dürfte sich, wenig- stens soforn die ersteren auf rein qualitativen, die letzteren auf rein quantitativen Veränderungen der lebendigen Substanz begründet ge- dacht werden, doch kaum aufrecht erhalten lassen. Wir wissen, daß die Bildung lebendiger Substanz nur unter Mithilfe schon vorhandener lebendiger Substanz stattfindet. Nur wo lebendige Substanz schon existiert, können sich neue Mengen lebendiger Substanz bilden. Dabei finden aber weitgehende qualitative Umformungen der aufgenommenen und zum Wachstum verwendeten Nahrungsstoffe statt. Das zeigt besonders deutlich die Pflanzenzelle, in der die lebendige Substanz in 1) E. HERInG: „Zur Theorie der Vorgänge in der lebendigen Substanz“. In Lotos, Bd. 9, Prag 1888. 588 Sechstes Kapitel. großem Maßstabe erst aus rein anorganischen Stoffen produziert wird. Anderseits ist auch der Schwund nicht anders denkbar als durch chemischen .Zerfall, also durch qualitative Veränderung der Biogen- moleküle. Aber selbst wenn wir demnach die Regeneration gewisser Teile des Biogenmoleküls von der Neubildung ganzer Biogenmoleküle sowie dementsprechend die Absprengung einzelner Atomgruppen von dem vollständigen Zerfall des Moleküls unterscheiden können, und sogar unterscheiden müssen, so sind das doch immer chemische Ver- änderungen, die entweder auf den Aufbau oder auf den Zerfall von fertigen Biogenmolekülen gerichtet sind. Die Regeneration ist nur ein Teilvorgang der Bildung eines neuen Biogen- moleküls, und ebenso ist die Abspaltung gewisser Atomgruppen nur ein Teilvorgang des vollständigen Zerfalls. Auch HATSCHER!) hat in einer Hypothese über das Wesen der Assimilation das Wachstum mit diesem Vorgang in Be- ziehung gesetzt, indem er annimmt, daß das einfache Molekül des lebendigen Eiweißes beim Wachsen fortwährend Elementarstoffe aus der Nahrung an sich zieht, bis es zu einem polymeren Molekül ge- worden ist, um dann gelegentlich wieder in die einfachen Moleküle zu zerfallen, die von neuem durch Bindung der nötigen Atome und Atomgruppen sich chemisch allmählich zu einem polymeren Molekül entwickeln usf. HATSCHEK sieht also ebenfalls im Wachsen einen chemischen Vorgang, der nicht prinzipiell von der Regeneration ver- schieden ist. Nach alledem scheint es zweckmäßig, die Begriffe der Assimilation und der Dissimilation in dem allgemeinen Sinne anzu- wenden, daß darunter auch die Bildung neuer und der Schwund alter Moleküle einbegriffen ist, und ihnen die obige feste Fassung zu geben: Assimilation ist die Gesamtheit aller derjenigen Umsetzungen, welche zum Aufbau der Biogenmoleküle führen, während die Dissimilation alle diejenigen Um- setzungen umfaßt, welche vom Zerfall der Biogenmole- küle bis zur fertigen Bildung der ausgeschiedenen Stoffwechselprodukte reichen. Es ist aber wichtig, auf das Verhältnis von Assimilation zu Dissimilation etwas näher einzugehen. Wir wissen, daß die lebendige Substanz fortwährend in Dissimilation und Assimilation begriffen ist. HERING stellt sich dabei vor, daß diese Prozesse, die den Stoffwechsel der lebendigen Substanz ausmachen, „in allen kleinsten Teilen der letzteren zugleich stattfinden“. Auch hierin hat bereits HATSCHEK eine abweichende Ansicht ausgesprochen und die Schwierigkeit der Vor- stellung betont, „daß das Eiweißmolekül gleichzeitig Kohlenstoff auf- nehme und abspalte“. In der Tat ist es, wenn man nur ein einzelnes Teilchen ins Auge faßt, sehr schwierig, sich diesen Vorgang anschau- lich vorzustellen, denn die Abspaltung und die Regeneration irgend- welcher Atomgruppen eines Moleküls schließen sich zeitlich aus und können, wenn auch momentan, so doch, genau genommen, immer nur nacheinander stattfinden, falls man nicht annehmen will, daß die entsprechenden Atomgruppen, die sich an einer Stelle vom Molekül abtrennen, sich an einer anderen wieder anlagern, eine Vorstellung, 1) B. HATSCHEK: „Hypothese über das Wesen der Assimilation, eine vorläufige Mitteilung“. In Lotos, Bd. 14, Prag 1894. Vom Mechanismus des Lebens. 589 die aber HERING selbst zurückweist, indem er gerade betont: „Wir dürfen uns nicht verführen lassen, uns die lebendige Substanz etwa wie eine innerlich ruhende Masse vorzustellen, welche nur von der einen Seite her verbraucht und von der anderen Seite her wieder aufsebaut wird“ Wenn wir uns nun zwar die Dissimilation und Assimilation des einzelnen kleinsten Teilchens oder Biogenmoleküls nicht absolut gleichzeitig vorzustellen vermögen, so kann dennoch innerhalb einer größeren Masse lebendiger Substanz sehr wohl Assi- milation und Dissimilation gleichzeitig stattfinden. Aber in diesem Falle sind es stets verschiedene Moleküle, die im gleichen Zeitmoment zerfallen und sich aufbauen, denn immer nur die im gegebenen Momente vorhandenen Biogenreste können sich regenerieren, und um- gekehrt können immer nur die vorhandenen fertigen Biogenmoleküle zerfallen. Bleiben wir bei einer größeren Menge lebendiger Substanz, wie sie etwa in einer Zelle enthalten ist, und fassen wir das quantitative Verhältnis von Assimilation zu Dissimilation ins Auge, so finden wir dasselbe sehr wechselnd und schon ohne Einwirkung von Reizen innerhalb weiter Grenzen schwankend. Dieses Verhältnis von Assimi- lation zu Dissimilation in der Zeiteinheit, das wir durch den Bruch A:D ausdrücken können und der Kürze wegen als „Biotonus“ bezeichnen wollen, ist von elementarer Bedeutung für die ver- schiedensten Aeußerungen des Lebens. Die Schwankungen in der Größe des Bruches A:D sind es, die allen Wechsel in den Lebens- äußerungen eines jeden Organismus hervorbringen. Wenn wir den Biotonus durch den Bruch A:D ausdrücken, so ist das freilich nur eine schematische Form. In Wirklichkeit sind die Assimilation und Dissimilation keine einfachen Prozesse, vielmehr sind die Vorgänge, die zum Aufbau des Biogenmoleküls und zur Bildung der Zertallsprodukte führen, sehr kompliziert und bestehen aus vielen, eng miteinander verflochtenen Gliedern. Daher müssen wir, wenn wir den Biotonus in einer spezialisierten Fassung aus- drücken wollen, dem Bruch die Form geben a+, + +3%3+...: d+d+d,+d,—..., wobei a, a, %, A, usw., sowie d, d,, ds, d, usw. die Teilprozesse vorstellen, die sämtlich zum Aufbau des Biogen- moleküls und zur Bildung der einzelnen Zersetzungsprodukte führen. Bei unserer äußerst geringen Kenntnis der spezielleren Um- setzungen, die in der lebendigen Substanz stattfinden, ist es zurzeit gänzlich ausgeschlossen, die mannigfaltigen Möglichkeiten, die sich aus der Aenderung der einzelnen Glieder des Biotonusquotienten er- geben, auch’ nur annähernd zu übersehen. Wir wollen daher hier auch nur einige der wichtigeren von den bekannten Fällen betrachten. Wenn die Größe der sämtlichen Glieder der A-Reihe gleich der Größe der Glieder der D-Reihe ist, d. h. wenn Assimilation und Dissimilation in der Zeiteinheit gleich groß sind, so ist der Bruch A:D=1. Wir haben diesen Fall in dem Zustande, den wir als Stoffwechselgleichgewicht bezeichnen. Das heißt, es ist in der Zeiteinheit die Summe der ausgeschiedenen Stoffe jeder Art gleich der Summe der aufgenommenen Stoffe. Werden die einzelnen Glieder der A-Reihe in gleichem Verhältnis zueinander größer, während die Glieder der D-Reihe gleich bleiben oder abnehmen, so daß in der Zeiteinheit die Summe der A-Glieder größer ist als die Summe der D-Glieder, so wird der Stoffwechsel- 590 Sechstes Kapitel. quotient A:D>1. Dieser Fall ist verwirklicht im Wachstum, wo die Neubildung von lebendiger Substanz den Zerfall überwiegt. Wachsen dagegen umgekehrt die Glieder der D-Reihe proportional zueinander, während die der A-Reihe unverändert bleiben oder auch kleiner werden, so wird der Biotonus A:D<1. Dieses Verhältnis liegt der Atrophie zugrunde und führt schließlich zum Tode. Allein, es ist durchaus nicht notwendig, daß sich die sämt- lichen Glieder der einen oder der anderen Reihe immer gleichzeitig und einander vollkommen proportional verändern, vielmehr können auch einzelne Glieder zu- oder abnehmen. So entsteht z. B. die Bildung und Anhäufung von Reservestoffen, die später wieder verbraucht werden. Auf derartigen Aenderungen einzelner Glieder der beiden Reihen be- ruhen alle die Veränderungen, die im Laufe der Entwicklung an einem Organismus auftreten. Es besteht also, wie gerade am besten die während der Entwicklung auftretenden Tatsachen zeigen, wenigstens in geringem Umfange eine gewisse Unabhängigkeit einzelner Glieder des Stoffwechsels voneinander. Andererseits sind aber doch wieder inner- halb gewisser Grenzen nicht nur die einzelnen Glieder einer jeden Reihe, sondern auch die beiden Reihen selbst voneinander in der Weise abhängig, daß jede Veränderung der einen Reihe auch die gleich- sinnige Veränderung der anderen Reihe zur Folge hat. Haben wir z. B. Stoffwechselgleichgewicht, und wächst der Zähler des Bruches, so wächst auch der Nenner. Nimmt der Nenner ab, so tut der Zähler dasselbe. Mit anderen Worten: jede Steigerung der Assimilation hat eine entsprechende Steigerung des Dissimilation zur Folge, und um- gekehrt. Auf diese Weise bleibt der Stoffwechselquotient A: D stets — 1, d.h. es bleibt trotz der absoluten Aenderung der Stoffwechsel- größe doch immer Stoffwechselgleichgewicht bestehen. Sehr treffend bezeichnet HERING diese Erhaltung des Gleichgewichts als „innere Selbststeuerung des Stoffwechsels der leben- digen Substanz“. Eine solche Selbststeuerung der Stoffwechsels innerhalb bestimmter Grenzen zeigt uns z. B. der erwachsene Mensch in dem Verhalten seines Körpers gegenüber dem eingeführten Stick- stoff. Von einer bestimmten Menge des eingeführten Eiweißes an, die nach dem alten, allerdings etwas zu hoch angesetzten Kostmaß von Voırt etwa 118g für den arbeitenden Mann ausmacht, besteht dauernd Stickstoffgleichgewicht, d.h. je mehr Stickstoff im Eiweiß eingeführt wird, um so mehr wird auch im Harn wieder ausge- schieden, ein Zeichen, daß die Dissimilation des Eiweißes in dem- selben Maße wächst wie die Assimilation. Allein dieses letztere Beispiel führt uns schon hinüber zu der Wirkung der Reize auf den Biotonus, die wir etwas ausführlicher be- trachten müssen. B. Die Wirkung der Reize auf den Stoffwechsel des Biogens. 1. Die Veränderungen des Biotonus unter dem Einfluß zon Reizen. Wir haben gesehen, daß die Biogene sehr labile Verbindungen sind, mit anderen Worten, daß die Atome ihres Moleküls sich in lebhaften Schwingungen befinden, infolge deren gewisse Atome gelegentlich in die Anziehungssphäre anderer gelangen, mit denen Vom Mechanismus des Lebens. 591 sie, zu einer festeren Verbindung vereinigt, sich als selbständiges Molekül abtrennen. So.erfolgt auf Grund der großen intramolekularen Wärme die spontane Dissimilation des Biogenmoleküls. Die durch den Austritt der abgetrennten Atomgruppen verfügbar werdenden chemischen Affinitäten haben aber an den Stoffen der aufgenommenen und namentlich durch die Tätigkeit der Enzyme in mannigfacher Weise umgeformten Nahrung die Möglichkeit, sich im gleichen Mo- ment wieder zu binden, so daß sich der Biogenrest wieder zu einem ganzen Biogenmolekül regenerieren kaun. So erfolgt im Anschluß an die spontane Dissimilation die spontane Assimilation des Biogen- moleküls. Da die Dissimilation des Biogens durch die intramolekularen Schwingungen der Atome bedingt ist, so liegt es auf der Hand, daß alle Faktoren, welche die intramolekularen Schwingungen der Atome verstärken, den Dissimilationsprozeß unterstützen müssen. So erklärt sich der erhöhte Zerfall der lebendigen Substanz, der bei Einwirkung chemischer, mechanischer, thermischer, photischer, galvanischer Reize eintreten kann. Sind die äußeren Einwirkungen so stark, daß ein tief eingreifender Zerfall des Moleküls vor sich geht und kein regene- rationsfähiger Rest mehr zurückbleibt, so erfolgt eine Abnahme der lebendigen Substanz und bei Ueberreizung schließlich der Tod. Demgegenüber werden alle Faktoren, welche die intramolekularen Schwingungen der Atome im Biogenmolekül vermindern, wie z.B. Abkühlung oder Einwirkung solcher Stoffe, die einzelne Atome in bestimmter Lage durch chemische Anziehung fixieren etc., den Dissi- milationsprozeß lähmen. Wir wollen alle diese Reize, die den Dissi- milationsvorgang entweder erregen oder lähmen, als dissimilato- rische Reize bezeichnen. Auf der anderen Seite ist es klar, daß auch die Assimilation durch äußere Einwirkungen befördert werden kann. Da der Assimi- lationsvorgang auf der Bindung chemischer Affinitäten beruht, die sowohl der Biogenrest als auch daß fertige Biogenmolekül selbst be- sitzt, so können alle diejenigen Faktoren, welche die zur Bindung der vorhandenen Affinitäten notwendigen Stoffe herbeischaffen und in die geeignete Form bringen, den Assimilationsvorgang steigern. Vor allem wird also in dieser Richtung wirken die erhöhte Zufuhr von Nahrungsmaterial, ferner bei grünen Pflanzenzellen die Einwirkung von Lichtstrahlen, die zur Spaltung der Kohlensäure und Verfügbar- machung des Kohlenstoffs nötig ist, dann alle Reize, welche die Produktion von Enzymen anregen, die zur Lösbarmachung fester Nahrungsstoffe erforderlich sind etc. Aber umgekehrt wird es auch Faktoren geben, die den Assimilationsprozeß lähmen. Das wird vor allem ein Mangel an Nahrung und Anhäufung von lähmenden Stoff- wechselprodukten, bei Pflanzenzellen Mangel an Licht, das Fehlen von Enzymen etc. sein. Wir wollen alle diese Faktoren, die den Assimilationsvorgang entweder erregen oder lähmen, als assimila- torische Reize bezeichnen. Ueberblicken wir dann die Möglichkeiten, die sich bei der Einwirkung von Reizen auf die lebendige Substanz ergeben, so können wir vier wichtige Fälle der Reizwirkungen unterscheiden. Die Reize können erzeugen: 1. Dissimilatorische Erregung, 2. Dissimilatorische Lähmung, 592 Sechstes Kapitel. 3. Assimilatorische Erregung, 4. Assimilatorische Lähmung. Allein damit sind die Möglichkeiten nicht erschöpft. Bei der außerordentlich engen Korrelation, in der die einzelnen Vorgänge in der lebendigen Substanz untereinander stehen, und die, wie wir sahen, eine vollkommene „innere Selbststeuerung des Stoffwechsels“ bedingt, so daß z. B. jede Veränderung der Assimilation eine gleich starke Veränderung der Dissimilation zur Folge hat, ist es möglich, daß ein Reiz gleichzeitig eine dissimilatorische und assimilatorische Er- regung oder eine dissimilatorische und assimilatorische Lähmung herbeiführen kann, wie das z. B. innerhalb gewisser Grenzen bei Temperaturreizen der Fall ist. Wir müssen also den obigen vier Fällen noch hinzufügen: 5. Totale Erregung, 6. Totale Lähmung, wobei noch zu berücksichtigen ist, daß die Erregung oder Lähmung möglichenfalls verschiedene Glieder der Stoffwechselkette in ungleichem Maße betreffen kann. Der Möglichkeiten sind aber noch mehr denkbar. Die „innere Selbststeuerung des Stoffwechsels“ ist nicht unbegrenzt, denn wäre sie immer und überall in vollkommener Weise wirksam, so würde ein ewiges Stoffwechselgleichgewicht bestehen, und kein Wachstum, keine Entwicklung, kein Schwund wäre möglich. Wenn also die Selbststeuerung des Stoffwechsels nur innerhalb bestimmter Grenzen besteht, so sind andere Fälle denkbar, in denen ein Reiz gleichzeitig eine assimilatorische Erregung und eine dissimilatorische Lähmung oder umgekehrt eine assimilatorische Lähmung und eine dissimila- torische Erregung erzeugt. Es würden also als letzte denkbare Fälle der Reizwirkung zu den sechs vorstehenden noch hinzukommen: 7. Assimilatorische Erregung —- dissimilatorische Lähmung, 8. Assimilatorische Lähmung —- dissimilatorische Erregung. Diese verschiedenen Möglichkeiten der Reizwirkung, die HERING !) in seiner kleinen Abhandlung über die Vorgänge in der lebendigen Substanz ausführlicher behandelt hat, geben uns schon einen Begriff davon, in wie mannigfacher Weise sich der Biotonus der lebendigen Substanz unter dem Einfluß verschiedener Reize ändern kann. Und doch sind die Verhältnisse in Wirklichkeit noch viel komplizierter. Wenn wir uns erinnern, daß der Zähler sowohl wie der Nenner des Bruches A:D eine ganze Reihe von einzelnen Gliedern repräsentiert, die sich unter bestimmten Bedingungen in geringem Grade auch un- abhängig voneinander ändern können, dann erst gewinnen wir ein annäherndes Bild von der ganz außerordentlichen Mannigfaltigkeit der Wirkungen, welche die Reize in der lebendigen Substanz hervor- rufen können. Als wir die Wirkungen, welche die Reize an der lebendigen Zelle erzeugen, kennen lernten, konnten wir sie ihren äußeren Folgen nach in wenige Gruppen sondern. Wir fanden, daß die Veränderungen der spontanen Lebensäußerungen, die durch die Reizung erzeugt werden, entweder quantitativer oder qualitativer Art waren. Die quanti- 1) E. HERING: „Zur Theorie der Vorgänge in der lebendigen Substanz“. In Lotos, Bd. 19, Prag 1888. Vom Mechanismus des Lebens. 593 tativen Veränderungen bezeichneten wir, wenn sie in einer Steigerung der Lebensäußerungen bestanden, als Erregung; wenn sie durch eine Herabsetzung derselben charakterisiert waren, als Lähmung. Nach unserer vorstehenden Betrachtung gewinnen wir nunmehr eine an- nähernde Vorstellung davon, wie ungemein kompliziert in Wirklichkeit die Vorgänge sind, deren äußeren Ausdruck wir schematisch als Er- regung und als Lähmung bezeichneten. Den Höhepunkt der Kompli- kation aber haben wir jedenfalls in denjenigen Reizwirkungen zu sehen, die den qualitativen Veränderungen der normalen Lebens- äußerungen zugrunde liegen. Die metamorphotischen Prozesse der Nekrobiose, wie etwa die Fettaufspeicherung die uns als Typus da- für dienen kann, zeigen uns deutlich, daß sich hier einzelne Glieder der A- und D-Reihe langsam mehr und mehr verändern und so bei der engen Korrelation der einzelnen Glieder der Stoffwechselkette sekundär weitere Veränderungen bedingen müssen; sonst könnten nicht Anhäufungen von einzelnen Stoffen entstehen, die normalerweise nicht in der Zelle abgelagert werden. Wir haben in den metamor- photischen Prozessen Reizwirkungen, die durch ganz analoge Ver- änderungen des Biotonus bedingt sind, wie die Vorgänge, die sich spontan in der Entwicklung des Organismus abspielen. Wenn sich aus der Eizelle im Laufe der Entwicklung Drüsenzellen, Muskelzellen, Nervenzellen etc. differenzieren, so müssen diese Vorgänge ebenfalls auf Veränderungen einzelner Glieder der A- und D-Reihe beruhen. Bei unserer überaus lückenhaften Kenntnis der speziellen Glieder beider Stoffwechselreihen liegt es auf der Hand, daß wir bis jetzt noch sehr weit davon entfernt sind, auch nur ungefähr die speziellen Veränderungen zu übersehen, die der Biotonus im konkreten Fall bei der Einwirkung eines Reizes erfährt. Es bleibt uns vorläufig nichts anderes übrig, als den äußeren Ausdruck dieser Veränderungen, den wir schematisch als Erregungs- und Lähmungs- sowie als meta- morphotische Wirkungen bezeichnen, nur ganz allmählich, Schritt für Schritt, zu analysieren, eine Aufgabe, deren Lösung die Physiologie um so näher rücken wird, je mehr sich die Methoden der Zellunter- suchung entwickeln werden. 2. Die Selbststeuerung des Stoffwechsels und das Massenwirkungsgesetz. Wenn wir vom Stoffwechselgleichgewicht sprechen, so müssen wir uns dabei bewußt bleiben, daß wir es hier nicht mit einem Gleich- gewichtszustande im mathematischen Sinne zu tun haben, sondern mit der fortdauernden Annäherung der lebendigen Substanz an einen Gleichgewichtszustand, dessen Bedingungen sich andauernd ändern, so daß ein wirkliches Gleichgewicht im mathematischen Sinne während des ganzen Lebens des Organismus niemals erreicht wird mit Aus- nahme der wenigen Fälle des latenten Lebens. Wir haben gesehen, daß die Entwicklung des Organismus während seines ganzen Lebens niemals zum Stillstand kommt. Ein stationärer Zustand ist also niemals intra vitam vorhanden, denn das Verhältnis der inneren zu den äußeren Lebensbedingungen ändert sich fortdauernd. Darin eben besteht die Entwicklung. Sie repräsentiert wie das ganze Leben nichts weiter als den Ausdruck für die fortdauernde Herstellung eines Kom- promisses der lebendigen Substanz zwischen inneren und äußeren Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 38 594 Sechstes Kapitel. Lebensbedingungen, der in Wirklichkeit niemals ein dauernder wird, weil sich fortwährend die Bedingungen selbst verändern. So ist also auch das Stoffwechselgleichgewicht kein absolutes Gleichgewicht, sondern nur ein relatives, nämlich die möglichste Annäherung an den Gleichgewichtszustand, der dem momentan bestehenden Bedingungs- komplex entspricht. Dürfen wir also zwar nicht übersehen, daß es sich beim Stoffwechsel- gleichgewicht immer nur um die möglichste Annäherung an einen Gleichgewichtszustand handelt, so können wir doch diesen Vorgang auf Grund der Gesetzmäßigkeiten, welche die Entwicklung chemischer Gleichgewichtszustände beherrschen, mechanisch analysieren. Leider befinden wir uns hier auf einem Boden, der noch vollkommen unbe- arbeitet ist. Hat schon das Gesetz der Massenwirkungen, das die chemischen Gleichgewichtszustände beherrscht, trotzdem ‘es in seinem Kernpunkte bereits dem französischen Chemiker BERTHOLLET 1801 bekannt und 1867 von GULDBERG und WAAGE!) in strenger Weise formuliert worden war, selbst in der Chemie erst im letzten Jahrzehnt allgemeinere Berücksichtigung gefunden, so ist seine Bedeutung für das Problem der Selbststeuerung des Stoffwechsels überhaupt erst in den letzten Jahren in ihren allgemeinen Zügen hervorgehoben worden. Und doch läßt sich schon heute voraussagen, daß die Beachtung dieses Gesetzes für das Verständnis der Stoffwechselvorgänge einen außer- ordentlich reichen Erfolg verspricht. Das Massenwirkungsgesetz sagt uns, daß der Reaktionsablauf bei chemisch miteinander reagierenden Stoffen nicht bloß von der Art der chemischen Affinitäten, sondern auch von den Massenverhältnissen der Stoffe abhängig ist, da die Zahl der Zusammenstöße miteinander reagierender Moleküle größer sein muß bei höherer, geringer bei schwächerer Konzentration der Stoffe. Sehr wichtig ist diese Tatsache nun bei reversiblen chemischen Prozessen. Hier kommt sie zum Ausdruck in der Entwicklung dynamischer Gleichgewichtszustände, die volle Uebereinstimmung zeigen mit den Zuständen des Stoff- wechselgleichgewichts bei der lebendigen Substanz. Das klassische Beispiel für solche reversiblen chemischen Reaktionen und die aus ihnen entspringenden Gleichgewichtszustände liefert die Esterbildung. Bringen wir Aethylalkohol und Essigsäure zusammen, so bildet sich Essigsäureäthylester und Wasser. Umgekehrt, bringen wir Essig- säureäthylester und Wasser zusammen, so entsteht Aethylalkohol und Essigsäure: C,H,OH + CH;COOH 2 C,H,-CH;C0OO + H,O Aethylalkohol Essigsäure Essigsäureäthylester Wasser Die Reaktion ist also reversibel, aber wenn wir das Reaktionsprodukt betrachten, finden wir, daß die Reaktion in beiden Fällen nicht bis zu Ende geht, sondern daß in beiden Fällen von dem Ausgangsmaterial eine gewisse Menge übrig bleibt. Um das genauer zu verfolgen, ist es nötig, den Vorgang quantitativ zu untersuchen. Bringen wir also zunächst Aethylalkohol und Essigsäure in dem Mengenverhältnis mit- einander zusammen, in dem sie sich nach der Reaktionsgleichung zu Essigsäureäthylester und Wasser vereinigen, also 1 Gramm-Molekül Aethylalkohol (d. i. das Molekulargewicht des Alkohols in Grammen 1) GULDBERG u. WAAGE: „Etude sur les affinit6s chimiques“, Christiania 1867. Vom Mechanismus des Lebens. 595 ausgedrückt), mit 1 Gramm-Molekül Essigsäure, so bilden sich nur je zwei drittel Gramm-Moleküle Essigsäureäthylester und Wasser; je ein dittel Gramm-Molekül Alkohol und Essigsäure bleiben übrig. Umgekehrt, bringen wir 1 Gramm-Molekül Essigsäureäthylester und 1 Gramm-Molekül Wasser zusammen, so setzen sich beide so um, daß ein drittel Gramm-Molekül Aethylalkohol und ein drittel Gramm- Molekül Essigsäure entstehen, während je zwei drittel Gramm-Molekül Essigsäureäthylester und Wasser übrig bleiben. Von beiden Aus- gangsmaterialien her gewinnt man also dasselbe Resultat: 1 Mol. C,H;0H--1Mol. CH,COOH-+23 Mol. (,H,-CH,C00 +2 Mol.H,O Da das Molekulargewicht des Aethylalkohols 46, der Essigsäure 60, des Essigsäureäthylesters 83 und des Wassers 18 ist, so resultieren in beiden Fällen, sei es, daß wir 46 & Alkohol und 60 & Essigsäure oder sei es, daß wir 83 g Essigsäureäthylester und 18 g Wasser zu- sammenbringen, stets C,H,0H + CH,COOH - C,H,-CH,C00 + H,0 15,33 g 20 8 58,66 12 @. In diesen Massenverhältnissen halten sich die chemischen Reak- tionen das Gleichgewicht, d.h. es bilden sich, wenn dieser Zustand erreicht ist, in der Zeiteinheit ebensoviel Moleküle Essigsäureäthyl- ester und Wasser aus Alkohol und Essigsäure, wie selbst in Alkohol und Essigsäure zerfallen, denn die chemischen Umsetzungen sind nicht etwa zu Ende, wenn dieser Gleichgewichtszustand erreicht ist, sondern sie gehen nach beiden Richtungen andauernd fort, aber so, daß das Gleichgewicht immer erhalten bleibt. Es handelt sich also hier nicht um ein stabiles, sondern um ein dynamisches Gleichgewicht. Aendern wir nun im obigen Beispiel die Massenverhältnisse des Reaktionsproduktes derart, daß wir die Mengen auf der einen Seite der Reaktionsgleichung im äquimolekularen Verhältnis vermehren oder ver- mindern, so vermehren oder vermindern sich auch die Mengenverhält- nisse auf der anderen Seite der Gleichung so, daß sich sofort das gleiche Mengenverhältnis von einem Drittel auf der einen und zwei Dritteln auf der anderen Seite wieder herstellt. Hier liegt also in der Herausbildung eines ganz bestimmten Gleichgewichtszustandes der reagierenden Massen genau dasselbe Prinzip vor, wie wir es in der Selbststeuerung des Stoff- wechsels kennen gelernt haben. Reizen wir z. B. einen Muskel so, daß andauernd der Zerfall seiner lebendigen Substanz gesteigert wird, d.h. daß die Dissimilationsphase seines Stoffwechsels erregt wird, so steigt von selbst auch die Neubildung von lebendiger Substanz, d. h. auch die Assimilationsphase des Stoffwechsels erfährt sekundär eine Erregung und einige Zeit nach dem Aufhören des dissimilatorisch erregenden Reizes ist das Defizit wieder ausgeglichen, das Stoffwechselgleichgewicht wieder hergestellt, der Biotonus wieder — 1. Das ist der Vorgang der Erholung nach jeder dissimilatorischen Erregung. Umgekehrt, steigern wir durch erhöhte Nahrungszufuhr die Assimilationsprozesse, so steigen sekundär auch die Dissimilationsvorgänge und es stellt sich von neuem ein Stoffwechselgleichgewicht her nur auf einem höheren Massenniveau. Das ist die Selbststeuerung des Stoffwechsels. Das Massenwirkungs- gesetz und die Theorie der chemischen Gleichgewichtszustände gibt uns das mechanische Verständnis für diese fundamentale Tatsache der Physiologie, der wir es verdanken, daß wir uns nach einer Anstrengung 38* 596 Sechstes Kapitel. wieder erholen, daß wir Krankheiten überwinden und daß wir über- haupt längere Zeit zu leben imstande sind. 3. Funktioneller und cytoplastischer Stoffwechsel. Haben wir in der Selbststeuerung des Stoffwechsels zweifellos den Ausdruck des Massenwirkungsgesetzes in der lebendigen Substanz vor uns, so dürfen wir doch nicht vergessen, daß die Selbststeuerung des Stoffwechsels und das relative Stoffwechselgleichgewicht doch nur das einfach aussehende Endresultat einer ungeheuer komplizierten Kette von Einzelvorgängen ist, deren Glieder wir zum erößten Teil noch nicht kennen und deren Ineinandergreifen noch viel weniger be- kannt ist. Wenn es nun auch gelingt, einzelne dieser Glieder zu isolieren, und wenn es auch bereits gelungen ist, einzelne Teilsprosse, wie ge- wisse Enzymwirkungen als reversible Prozesse zu erkennen und bei ihnen die Entwicklung von dynamischen Gleichgewichtszuständen nach- zuweisen, so dürfen wir doch die Bedeutung solcher Feststellungen für die Analyse des Stoffwechselmechanismus nicht überschätzen. Es sind nur winzige Einblicke, die wir dabei in das Innere des Stoft- wechselgetriebes gewinnen und es wäre grundfalsch, nach solchen kleinen Einzelerfahrungen das Gesamtbild des großen, noch immer ge- heimnisreichen Getriebes konstruieren zu wollen. Wir geraten dabei zu leicht in die Gefahr, den unberechtigten Schluß zu ziehen, daß der einzelne Teilprozeß, etwa der enzymatische Vorgang in seiner Abhängig- keit vom Massenwirkungsgesetz, so wie wir Ihn im Reagenzglas isoliert sich abspielen lassen, nun auch wirklich in der lebendigen Substanz sich abspielt. Daran ist aber gar nicht zu denken, denn die Be- dingungen in der lebendigen Substanz sind ganz andere als im Reagenz- glase, und was das Wichtigste ist, sie ändern sich dauernd, denn wir haben ja schon gesehen, daß das Stoffwechselgleichgewicht immer nur ein relatives ist, bezogen auf eine momentan gedachte Situation des lebendigen Systems, die sich aber sofort wieder ändert und einen neuen Zustand bedingt, so wie sie aus einem früheren Zustand hervor- gegangen ist. Darin liegt die große Schwierigkeit, in das Geschehen in der lebendigen Substanz einzudringen und das ist der Grund, wes- halb wir immer nur schrittweise vorwärts kommen. Wir werden daher- nicht bloß suchen müssen, an diesem oder an jenem Teilprozeß des Stoffwechsels, den wir aus dem Getriebe herausgerissen im Reagenz- glase nachzuahmen vermögen, ein neues Beispiel für die Gültigkeit des Massenwirkungsgesetzes und die Theorie der chemischen Gleich- gewichtszustände zu statuieren, sondern wir werden auch danach streben müssen, mit der Gesamtheit des Stoffwechsels zu experimentieren, um aus ihr zunächst einzelne größere Bruchstücke und deren Zu- sammenhänge und Abhängigkeitsverhältnisse zu erkennen. In diesem Sinne ist es wichtig, nicht bloß die Gesamtheit der Zerfalls- und der Aufbauprozesse der lebendigen Substanz als Dissimi- lation und Assimilation einander gegenüberzustellen und ihre Ab- hängigkeit voneinander auf Grund des Massenwirkungsgesetzes - zu analysieren, sondern noch zwei andere Gruppen von Vorgängen gegeneinander abzuheben und in ihren Beziehungen zueinander zu erforschen, das ist der funktionelle und der physioplastische oder der Betriebs- und der Baustoffwechsel der lebendigen Substanz. Vom Mechanismus des Lebens. F 97 en Die Notwendigkeit dieser Unterscheidung ergibt sich aus folgender Grundtatsache. Wenn wir längere Zeit hindurch starke körperliche Arbeit verrichten, so wird dabei die Funktion der verschiedensten Organe gesteigert. Die Muskeln, die motorischen Ganglienzellen, das Herz, das Atemzentrum, die Schweißdrüsen der Haut und manche andere Organe des Körpers werden zu stärkerer Tätigkeit erregt. Dementsprechend ist selbstverständlich der Stoffwechsel ihrer Zellen gesteigert. Die Dissimilation ist primär erregt und die Assimilation steigt infolge der Selbststeuerung des Stoffwechsels sekundär ebenfalls. Untersuchen wir aber die Stoffwechselprodukte, die bei einer solchen starken funktionellen Beanspruchung der Zellen, Gewebe, Organe abgegeben werden und vergleichen wir sie mit den Stoffwechsel- produkten des Ruhestoffwechsels, so zeigt sich die merkwürdige Tat- sache, daß die stärkste funktionelle Beanspruchung nur eine Ver- mehrung der stickstofffreien Stoffwechselprodukte herbeiführt, aber keine Vermehrung der stickstoffhaltigen. Demnach wissen wir, daß im Ruhestoffwechsel andauernd auch eine Ausscheidung von stickstoff- haltigen Endprodukten des Stoffwechsels stattfindet. Daraus ergibt sich, daß die funktionelle Beanspruchung der lebendigen Substanz nur mit einem stärkeren Umsatz in den stickstofffreien Atomgruppen ver- bunden ist und daß sie den Stickstoffwechsel unberührt läßt. Auf Grund der Biogenhypothese heißt das: Während beim Ruhe- stoffwechsel die Biogenmoleküle außer ihrem Umsatz innerhalb der stickstofffreien Seitenketten auch noch in gewissem Umfange einen tiefer bisin die stickstoff- haltigen Gruppen hinabreichenden Zerfall und Aufbau erfahren, wird bei Beanspruchung der lebendigen Substanz durch funktionelle Reize nur der Umsatzin den stickstofffreien Seitenketten der Biogenmoleküle erregt. Da es sich bei dem Stickstoffumsatz um einen tiefergehenden, wahrscheinlich vollständigen Zerfall und Aufbau lebendiger Zellsubstanz handelt, so ist es zweckmäßig, diesen Teil des Stoffwechsels als eytoplastischen Stoffwechsel auch im Namen von dem Teil zu unterscheiden, bei dem sich nur ein Zerfall und Aufbau stickstoff- freier Atomgruppen abspielt, der durch funktionelle Reize gesteigert wird und den wir infolgedessen als funktionellen Stoffwechsel bezeichnen können). Der Intensitätsumfang beider Teile des Gesamtstoffwechsels, und zwar sowohl der absolute als auch der relative ist während der Lebensdauer eines Organismus zu verschiedenen Zeiten sehr ver- schieden, doch liegen hinsichtlich der Ermittelung dieser Verhältnisse bisher nur die ersten Anfänge vor. Sie bestehen hauptsächlich darin, daß man gesucht hat, den Umfang des cytoplastischen Stoffwechsels während verschiedener Entwicklungsphasen oder während der gesamten Lebenszeit durch den Energieumsatz und die Energieaufspeicherung zu bestimmen. So hat namentlich TanGr?) in einer Reihe grund- legender Arbeiten diese Fragen in Angriff genommen und ebenso hat l) MAx VERWORN: „Die Biogenhypothese“, Jena 1903. ni 2 TAnGL: „Beiträge zur Energetik der Ontogenese“. In PFLÜüGERs Arch., 598 Sechstes Kapitel. RUBNER!) statistische Untersuchungen über die Größe des Energie- umsatzes während des Lebens verschiedener Organismen unternommen, aus denen er ein bestimmtes Abhängigkeitsverhältnis der Lebensdauer von der Größe des Energieumsatzes entnehmen zu können glaubt. Im allgemeinen können wir nur, was eigentlich selbstverständlich ist, sagen, daß der cytoplastische Stoffwechsel während der Wachstums- periode der Organismen viel intensiver ist als nach beendigtem Wachs- tum. Dabei kommt während der gesamten Entwicklung im Wachstum ein Ueberwiegen der Assimilationsphase, bei atrophischen Vorgängen dagegen ein Ueberwiegen der Dissimilationsphase des cytoplastischen Stoffwechsels zum Ausdruck. Auch die Vorgänge des Wachstums und der Atrophie unterliegen zweifellos dem Massenwirkungsgesetz. So ist es ‘ohne weiteres ver- ständlich, daß die Menge der lebendigen Substanz zunimmt, wenn die Menge der Nahrungsstoffe eine Steigerung erfährt, und daß sie unter gewissen Voraussetzungen dauernd zunehmen kann, wie das Wachs- tum einzelliger Organismen zeigt, wenn dauernd ein relativer Ueber- fluß an sämtlichen Nahrungsstoften besteht und wenn gleichzeitig die Abfuhr der Zerfallsprodukte ungehindert verläuft. In dem oben als Paradigma behandelten Beispiel der Esterbildung tritt ja ebenfalls eine absolute Zunahme aller im Reaktionsprodukt enthaltenen Stoffe ein, wenn z. B. die linke Seite eine Zunahme erfährt, d. h. wenn wir äquivalente Mengen von Aethylalkohol und Essigsäure mehr ein- führen. Das Gleichgewicht zwischen den einzelnen Stoffmengen bleibt dabei immer dasselbe, nur liegt es auf einem höheren absoluten Niveau. Aber wir wissen auch aus Erfahrung, daß bei vielen Organismen trotz einer Steigerung der Nahrungszufuhr eine Zunahme von lebendiger Substanz nicht oder nur in sehr geringen Grenzen zu erzielen ist. Das ist hauptsächlich bei höheren Tieren der Fall. Hier liegen die Verhältnisse jedoch so kompliziert, daß wir die Bedingungen für die Begrenzung des Wachstums auch noch nicht annähernd nachweisen können. Daß umgekehrt bei Verminderung der Nahrungsmenge eine Atrophie, d. h. eine Massenabnahme der lebendigen Substanz ein- treten muß, ist ebenfalls aus dem Massenwirkungsgesetz ohne weiteres verständlich. Sehr wichtig ist nun aber das Abhängigkeitsverhältnis des cyto- plastischen Stoffwechsels vom funktionellen Stoffwechsel. Aus der Tat- sache, daß der funktionelle Stoffwechsel durch Reize gesteigert werden kann, ohne daß der cytoplastische Stoffwechsel gleichzeitig eine merkliche Steigerung erfährt, darf nicht etwa der Schluß abgeleitet werden, daß beide voneinander vollkommen unabhängig wären und gewissermaßen selbständig nebeneinander im Leben der Zelle hergingen. Im Gegen- teil, bei genauerer Prüfung zeigt sich deutlich, daß auch hier eine enge Verknüpfung besteht. Es ist eine bekannte Tatsache, daß eine dauernde funktionelle Beanspruchung eines Muskels zu einer beträcht- lichen Massenzunahme desselben führt und daß umgekehrt eine völlige Ausschaltung der funktionellen Reize eine Inaktivitätsatrophie, also eine Massenabnahme im Gefolge hat. Dieses Verhältnis ist aber nicht bloß auf den Muskel beschränkt. Wir kennen es von den ver- 1) RUBNER: „Das Wachstumsproblem und die Lebensdauer des Menschen und einiger Säugetiere vom energetischen Standpunkte aus betrachtet“. In Sitzungsber. d. Kgl. Preuß. Akad. d. Wissenschaften, physik.-mathem. Klasse, Jan. 1908. Vom Mechanismus des Lebens. 599 schiedenartiesten Geweben unseres Körpers, von Drüsen so gut wie von den Elementen des Nervensystems. Im Leben des Nervensystems spielt dieses Prinzip eine geradezu fundamentale Rolle. Auf ihm beruht alles Lernen, alle Uebung, alles Gedächtnis. Bei der großen Bedeutung, die das Prinzip der Massenzunahme der lebendigen Sub- stanz unter dem Einfluß funktioneller Beanspruchung gerade im Leben des Nervensystems hat, lohnt es sich, noch einen Augenblick bei diesem speziellen Fall zu verweilen. Es ist eine lange bekannte Tatsache, daß die Ganglienzellen sich bei den höheren Tieren und dem Menschen nach der Geburt nicht mehr durch Zellteilung vermehren. Dennoch ist ihre Entwicklung keineswegs schon abgeschlossen, sie besteht vielmehr in einer Massen- zunahme des Protoplasmakörpers, die sich namentlich in der reich- lichen Bildung baumförmig verzweigter Ausläufer, der „Dendriten“, bemerkbar macht. Es ist nun durch eine ganze Reihe von Be- obachtungen festzustellen, daß diese Massenzunahme des Ganglienzell- protoplasmas in engster Abhängigkeit steht von ihrer funktionellen Beanspruchung. So sind z. B. die Ganglienzellen des Kleinhirns, — A B Fig. 266. Ganglienzellen aus dem Kleinhirn des Kaninchens. A Zur Zeit der Geburt, B am 6. Tage nach der Geburt. Nach ATHIAS. das die Erhaltung der normalen Körperlage reflektorisch vermittelt, beim neugeborenen Kaninchen noch klein und haben nur wenig ent- wickelte Dendriten. Dementsprechend ist der Lagereflex noch sehr wenig entwickelt, die Tiere vermögen sich noch nicht in ihrer Bauch- lage zu erhalten und kippen fortwährend um. Nach den ersten paar Tagen, nachdem der Reflex unzählige Male ausgelöst worden ist, hat er bereits durch diese Uebung eine ganz bemerkenswerte Sicherheit und Exaktheit erreicht. In Uebereinstimmung damit haben sich die Ganglienzellen des Kleinhirns durch die häufige funktionelle Be- anspruchung mächtig entwickelt, wie ein Vergleich der von ATHIAS!) mitgeteilten Bilder ergibt (Fig. 266 Au. B). Daß es die funktionelle Beanspruchung ist, welche die Massenzunahme des Protoplasmas und die Dendritenentwicklung der Ganglienzellkörper bedingt, geht aus 1) ArTHIAS: „Recherches sur l’histogen®se de l’&corce du cervelet“. In Journal de l’Anatomie et de la Physiologie normales et pathologiques de l’homme et des animaux, T. 33, Annde 1897. « 600 Sechstes Kapitel. folgenden Experimenten von BERGER!) hervor. BERGER vernähte neugeborenen Hunden die Augenlider, so daß nur sehr schwaches Licht durch die geschlossenen Lider auf die Netzhaut fallen konnte. Nachdem die Tiere mit den nicht operierten, also sehenden Genossen aufgewachsen waren, tötete er beide und verglich die Ganglienzellen der Sehsphäre des Großhirns bei beiden. Es zeigte sich, wie aus den beistehenden Abbildungen hervorgeht, daß die Ganglienzellen der blinden Hunde auf ihrer embryonalen Entwicklungsstufe stehen ge- blieben waren und keine Dendriten entwickelt hatten, während die- jenigen der sehenden Hunde ihre normale Reife erlangt hatten (Fig. 267 Au. B). Diese Beispiele zeigen, daß die Massenzunahme des Proto- plasmas der Ganglienzellen genau so abhängig ist von der Häufigkeit ihrer funktionellen Beanspruchung wie die Massenzunahme des Muskels. Diese Tatsache ist aber von weittragender Bedeutung. Wie beim Muskel die Energieproduktion mit der Masse zunimmt, so ist es auch bei der Ganglienzelle der Fall. Die Energieproduktion der Ganglienzelle besteht in der Entladung ihres spezifischen nervösen Impulses. Eine Ganglien- zelle wird also um so stärkere Impulse entsenden, je mehr sie eine Massenzunahme ihres Protoplasmas erfährt. Da es nun von der In- tensität der Impulsentladung im wesentlichen abhängt, ob und wie weit eine Erregung zu anderen Ganglienzellstationen und durch andere Ganglienzellen hindurch fortgeleitet wird, so wird der Ablauf der assoziativen Vorgänge im Gehirn ganz wesentlich abhängen von der Massenentwicklung der Ganglienzellkörper, die auf der betreffenden Assoziationsbahn gelegen sind. So ergibt sich hier auf Grund der zellularphysiologischen Erfahrungen zum ersten Male eine mecha- nische Erklärung für die bisher als so geheimnisvoll betrachteten Tatsachen des Lernens und des Gedächtnisses?). Die Assoziations- bahnen werden durch Uebung, wie man sagt, „ausgeschliffen“, d. h. ihre Ganglienzellstationen erfahren durch immer wiederkehrende funktionelle Beanspruchung allmählich eine solche Massenzunahme, daß sie immer stärkere Impulse entladen. So laufen die Erregungen auf diesen Bahnen immer leichter und leichter ab. In diesem Prinzip liegt das ganze Geheimnis der Uebung, des Lernens und des Ge- dächtnisses. Es fragt sich nun aber, wie ist die Massenzunahme, also die Steigerung der Assimilationsphase des cytoplastischen Stoffwechsels bei starker Beanspruchung des funktionellen Stoffwechsels durch dissi- milatorische Reize zu verstehen? Welcher Zusammenhang besteht hier, welches Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem cytoplastischen und dem funktionellen Stoffwechsel? Auch in dieser Frage führen uns die Erfahrungen zu einem mechanischen Verständnis. Es ist eine Erfahrungstatsache, daß ein Organ, dessen Funktion durch Reize stark in Anspruch genommen wird, eine stärkere Blutdurchströmung zeigt als in der Ruhe. Das Blut liefert das Nährmaterial für alle Zellen des Körpers, und zwar auf dem Wege über die Lymphe, die alle Zellen des Körpers direkt umspült. Es ist also kein Zweifel, daß ein Organ, das funktionell häufig oder andauernd beansprucht 1) BERGER: „Experimentell anatomische Studien über die durch den Mangel optischer Reize veranlaßten Entwicklungshemmungen im Oceipitallappen des Hundes und der Katze“. In Arch. f. Psychiatrie, Bd. 33, 1909. 3 2) Max VERWORN: „Die zellularphysiologische Grundlage des Gedächtnisses“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 6, 1907. Vom Mechanismus des Lebens. 601 Fig. 267. Ganglienzellen aus der Sehsphäre des Hundes. A In normaler Entwicklung bei einem sehenden Hunde, B in zurückgebliebener Entwicklung bei einem Hunde, dessen Augenlider nach der Geburt vernäht worden sind. Nach BERGER. 602 Sechstes Kapitel. wird, einen größeren Zufluß von Nahrungsstoffen erhält. Das heißt mit anderen Worten: die Menge der zum Aufbau lebendiger Zell- substanz nötigen Stoffe wird vergrößert. Wir haben hier also den gleichen Fall, als wenn wir in unserem Paradigma der Esterbildung die äquivalenten Mengen von Alkohol und Essigsäure vermehren. Der Erfolg ist im letzteren Fall eine gleichzeitige Vermehrung des Essigsäureäthylesters und des Wassers, im ersteren Fall eine Ver- mehrung der lebendigen Substanz. Beide Fälle sind ein einfacher Ausdruck des Massenwirkungsgesetzes. Es ist nun im höchsten Grade wahrscheinlich, daß allgemein in allen Organen unseres Körpers ein Selbststeuerungsmechanismus der Art besteht, daß bei stärkerer Tätig- keit einer bestimmten Zellgruppe auch lokal ein stärkerer Blut- resp. Lymphzufluß herbeigeführt wird auf ganz automatischem Wege einfach dadurch, daß die Mehrausscheidung gewisser Stoffwechselprodukte eine stärkere Lymphsekretion seitens der Blutgefäßkapillarzellen veranlaßt. Ob ein solches Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem cytoplasti- schen und dem funktionellen Stoffwechsel und ein Regulations- mechanismus analoger Art auch in der einzelnen, isoliert lebenden Zelle existiert, was nicht unwahrscheinlich ist, läßt sich heute noch nicht sagen, da wir diese Verhältnisse vorläufig nur von den Zellen des tierischen Zellenstaates kennen. Ueberhaupt wissen wir über die weiteren Beziehungen zwischen cytoplastischem und funktionellem Stoffwechsel bis heute noch sehr wenig, denn die Untersuchung dieser Verhältnisse ist noch ganz in ihren Anfängen und erst den letzten Jahren entsprungen. Nachdem aber einmal die Aufmerksamkeit auf dieses Gebiet gelenkt ist, dürfen wir von weiteren Studien sehr wichtige Einblicke in das Getriebe des organischen Stoffwechsels er- warten. Hier liegt wiederum ein jungfräulicher Acker, der zum ersten Male bestellt wird und reiche Früchte verspricht. 4. Die Interferenz von Reizwirkungen. Eine Frage, die ein ganz besonderes Interesse verdient, ist die Frage nach den Interferenzwirkungen zweier verschiedener Reize. Leider beginnt man erst auf diesem Gebiete mit einer methodischen Behandlung der Probleme, und es ist zurzeit nur möglich, einige wenige Andeutungen zu machen, die auf den Zusammenhang dieser Frage mit gewissen Tatsachen aus den verschiedenen Gebieten der Physiologie hinweisen. Da der Biotonus durch die verschiedenen Reize in sehr ver- schiedener Weise beeinflußt werden kann, je nachdem diese oder jene Glieder desselben von dem betreffenden Reiz erregt oder gelähmt werden, so muß bei einer methodischen Untersuchung der Interferenz- wirkungen zweier Reize die Frage, wie jeder einzelne derselben wirkt, den Ausgangspunkt bilden. Vor allen Dingen ist für das Ver- ständnis einer jeden Interferenzwirkung die Frage zu entscheiden, ob die beiden Reize im gleichen Sinne, d. h.erregend resp. lähmend wirken oder nicht, und auf welche Glieder des Biotonus sich ihre Wirkung primär erstreckt, ob auf Assimilation oder Dissimilation. Nur dureh Beantwortung dieser Fragen ist daran zudenken, allgemeine Gesetze der Interferenzwirkungen zu ge- winnen. Vom Mechanismus des Lebens. 603 € Haben wir zwei untermaximale Reize, die beide in gleichem Sinne, also beispielsweise erregend, und die beide auf die gleichen Glieder des Biotonus, also beispielsweise auf die Dissimilationsphase wirken, so werden wir im allgemeinen eine Summation der Erregungen haben, die allerdings in bezug auf Einzelheiten sich zunächst nicht ohne weiteres vorausbestimmen läßt, weil die Intensität der Reize, ihre Dauer, der Zeitmoment ihrer Einwirkung, der Erregebarkeitssrad der betreffenden Zelle, ihr Refraktärstadium die verschieden starke Beein- flussung der einzelnen D-Glieder, die Tatsache der Selbststeuerung des Stoffwechsels etc. Faktoren sind, die eine entscheidende Rolle beim Zustandekommen des Enderfolges spielen. Hierher gehört z. B. die ganze Fülle der Tatsachen, die namentlich in der Nerven- und Muskel- physiologie als Fälle der „Erregbarkeitssteigerung“ bekannt geworden sind. Durch die Einwirkung eines erregenden Reizes, sagen wir z. B. eines thermischen Reizes, auf einen Nerven kann seine Er- reebarkeit für einen zweiten, sagen wir für einen galvanischen Reiz erhöht sein, und der letztere erzielt eine stärkere Reizwirkung als wenn er allein einwirkte. Auch wenn die Intensität der beiden Reize dicht unter der Reizschwelle liegt, so daß jeder einzeln für sich keine wahrnehmbare Wirkung ausübt, können beide zusammenwirkend einen deutlichen Reizerfolg durch Summation erzielen. Man hat hier sehr unzweckmäßig von einer „Bahnung“ gesprochen und durch diese Aus- drucksweise zu vielen Mißverständnissen Anlaß gegeben, da man unter Bahnung im Nervensystem ursprünglich einen ganz anderen Vorgang, nämlich das eben besprochene „Ausschleifen der Bahnen“ verstand. Im vorliegenden Falle dagegen handelt es sich einfach um eine Sum- mationswirkung zweier Reize. Ein Gegenstück dazu liefern die Wirkungen, welche resultieren, wenn zwei Reize auf die lebendige Substanz einwirken, die beide in entgegengesetztem Sinne, also der eine lähmend, der andere erregend, auf die gleichen Glieder des Biotonus wirken. Hier haben wir gewöhn- lich eine „Erregbarkeitsherabsetzung“ als Resultat. Lassen wir beispielsweise auf eine Zelle ein Narcoticum wirken, oder lähmen wir sie durch Ueberreizung, so wird jeder erregende Reiz einen ge- ringeren Reizerfolg erzielen, als wenn er allein einwirkte, die Zelle wird unter Umständen vollständig unerregbar sein. Hierher gehört nun, wie endlich durch neuere Untersuchungen entschieden werden konnte, die höchst wichtige und interessante Gruppe der Hemmungsvorgänge, die bei aller lebendigen Sub- stanz beobachtet werden können, die aber eine ganz fundamentale Bedeutung haben für das gesamte Leben des Nervensystems. Unter „Hemmung“ verstehen wir die Tatsache, daß die Erregung, die ein Reiz hervorruft, durch die Ein- wirkung eines zweiten an sich ebenfalls erregenden Reizes unterdrückt oder verhindert werden kann. Als ty: isches Paradigma kann uns die Hemmung der antagonistischen Muskeln in unserem Körper dienen, die in den ihnen zugehörigen Ganglienzellen des Zentralnervensystems sich abspielt. Unter nor- malen Verhältnissen ist es uns nicht möglich, zwei antagonistische Muskeln gleichzeitig in Kontraktion zu erhalten. Sind z. B. die Beuge- muskeln des Arms kontrahiert und kontrahieren wir jetzt die Streck- muskeln des Arms, so erschlaffen gleichzeitig die Beuger und um- gekehrt. Der Impuls, den wir entsenden, um die Streckmuskeln zu 604 Sechstes Kapitel. kontrahieren, hemmt gleichzeitig die in den Zentren der Beuger be- stehende Erregung. Ein solches Verhältnis finden wir auf Schritt und Tritt im Leben unseres Nervensystems und auf ihm beruht zum eroßen Teil die Feinheit der Koordination in dem Zusammenarbeiten der Teile unseres Körpers. Ueberall, wo Antagonisten vorhanden sind, ist dieses Verhältnis realisiert. Aber nicht bloß im motorischen Gebiet, sondern auch im sensorischen Gebiete finden wir solche Hemmungsvorgänge. So kann z. B. eine Sinnesempfindung eine andere, eine neu auftretende die vorhergehende hemmen. Wir können nicht gleichzeitig ein Buch lesen und eine Oper hören, ja, wir können nicht einmal zwei Vorstellungen gleichzeitig im Bewußtseinsfelde haben, sondern immer nur nacheinander. Darin liegt eine Grundbedingung alles logischen Denkens, das nur zustande kommen kann durch gesetz- mäßige Aufeinanderfolge von einzelnen Vorstellungen und das ausgeschlossen wäre bei einem Nebeneinanderbestehen zahlreicher Vorstellungen. So haben die Hemmungsvorgänge für unser ganzes Leben eine ebenso grundlegende Bedeutung wie die Erregungs- vorgänge. Es ist daher begreiflich, daß die Physiologie ein ganz be- sonderes Interesse haben muß, den Mechanismus dieser Hemmungs- vorgänge zu analysieren. Allein obwohl man die Hemmungsvorgänge bereits seit der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts kennt und obwohl mehrfach Versuche unternommen sind, das Prinzip der Hemmungsvorgänge zu ermitteln, ist doch eine endgültige Auf- klärung des ganzen Gebietes erst in den letzten Jahren gelungen. Zwar hatte schon SCHIFF sich eine im wesentlichen zutreffende An- schauung über das Zustandekommen der Hemmungsvorgänge gebildet, aber er verwarf selbst diese Anschauung wieder, weil er sie mit anderen Erfahrungen seiner Zeit nicht in Einklang bringen konnte. Fragt man sich, wie etwa die Hemmung einer bestehenden dissimilatorischen Erregung auf Grund unseres Schemas vom Stoff- wechsel mechanisch verständlich wäre, so liegt von vornherein die Antwort nahe: durch die Entstehung der antagonistischen Stoffwechsel- prozesse. Zu einer dissimilatorischen Erregung sind aber zwei Ant- aronismen denkbar: entweder eine assimilatorische Erregung oder eine dissimilatorische Lähmung. Der hemmende Reiz könnte also ent- weder die bestehende dissimilatorische Erregung zum Verschwinden bringen, indem er die Assimilationsphase des Stoffwechsels erregt und so steigert, daß sie die Dissimilation überwiegt, oder er könnte so wirken, daß er die dissimilatorische Erregung lähmt, so daß eine dissimilatorische Lähmung entsteht. Die erstere Ansicht ist in der Tat von GASKELL!), E. HERING?), MELTZER?°) und anderen vertreten worden und man muß gestehen, daß sie auf den ersten Blick sehr plausibel erscheint. Bei genauerem Zusehen aber erheben sich beträchtliche Schwierigkeiten. Es ist nämlich trotz eifrigsten Suchens nicht möglich gewesen, Reize auf- zufinden, die primär die assimilatorischen Prozesse der Zelle momentan zu erregen imstande wären. Die Assimilation überwiegt immer nur 1) GASKELL: „On the structure, distribution and formation of the nerves which innervate the visceral and vascular systems“. In Journal of Physiology, Vol. 7, 1885. 2) EwaLp HERISG: „Zur Theorie der Vorgänge in der lebendigen Substanz“. In Lotos, Bd. 9, Prag 1888. 3) MELTZER : „Inhibition“. In New York med. Journal, 1899. Vom Mechanismus des Lebens, 605 über die Dissimilation entweder primär bei gesteigerter Nahrungs- zufuhr oder sekundär nach dissimilatorischer Erregung. Nervöse Impulse aber, die primär und momentan die Assimilation erregen, sind bisher nicht bekannt geworden und wir wissen auch, daß im Nerven- system nur dissimilatorische Erregungen fortgeleitet werden !), daß also alle nervösen Impulse dissimilatorische Erregungsvorgänge sind, von denen man sich schwer vorstellen könnte, wie sie in irgendeiner Ganglienzelle primär assimilatorisch erregende Wirkungen hervorrufen sollten. Dagegen hat sich gezeigt, daß die zweite Annahme die Hemmungs- vorgänge ohne Schwierigkeit zu erklären imstande ist. Die Grund- tatsache, die zur Annahme geführt hat, daß die Hemmungsvorgänge auf einer dissimilatorischen Lähmung, und zwar auf einer Arbeits- lähmung beruhen, liefert das Verhalten des Strychninfrosches. Durch Strychninvergiftung wird die Erregbarkeit der sensiblen Ganglien- zellen des Rückenmarks?) so gesteigert, daß sie auf den leisesten Reiz hin eine maximale Impulsentladung geben. Dadurch wird die Arbeitsläihmung beschleunigt und das Refraktärstadium, wie wir ge- sehen haben, nach jeder Impulsentladung infolge des relativen Sauer- stoffmangels länger?). Lassen wir nun während dieses Zustandes einen einzelnen Reiz auf eine Hautstelle einwirken, so liefert derselbe eine einzelne Zuckung, also eine dissimilatorische Entladung der von ihm erregten Ganglienzellen. Lassen wir dann einen zweiten Reiz folgen in einem Intervall, das länger ist als das Refraktärstadium in diesem Zeitpunkt, so liefert auch dieser zweite Reiz wieder eine Zuckung. Lassen wir aber den zweiten Reiz in einem Intervall folgen, das kürzer ist als das Refraktärstadium, so bleibt der Reiz- erfolg aus®). In diesem Fall also hat der erste Reiz die Wirkung des zweiten gehemmt. Und lassen wir rhythmische Reize in Inter- vallen aufeinander folgen, die kürzer sind als die Dauer des Re- fraktärstadiums, so bleiben die Ganglienzellen dauernd refraktär, weil jeder folgende Reiz von neuem ihre Erholung verhindert. So hemmt jeder vorhergehende Reiz die Wirkung jedes folgenden Reizes. Hier liegen also die Verhältnisse vollkommen klar. Dieser Funda- mentalversuch der Lehre von den Hemmungsvorgängen ist kürzlich von Herrn TIEDEMANN in einer noch nicht veröffentlichten Unter- suchungsreihe weiter verfolgt worden, die über die Beteiligung der einzelnen Ganglienzellstationen am Zustandekommen der mitgeteilten Tatsachen noch speziellere Aufklärung geben wird. Inzwischen hat FrönHrıcH) in einer Reihe von Arbeiten nachweisen können, daß in 1) MAx VERWOoRN: „Zur Physiologie der nervösen Hemmungserscheinungen“. In Arch. f. Anat. u. Physiologie, physiol. Abt., Supplementband 1900. 2) BAGLionI: „Physiologische Differenzierung verschiedener Mechanismen des Rückenmarks“. In Arch. f. Anat. u. Physiologie, physiol. Abt., Supplement- band 1900. 3) Vergl. p. 559. 4) MAX VERWORN: „Zur Kenntnis der physiologischen Wirkungen des Strych- nins“. In Arch. f. Physiol., 1900. — Drib. „Ermüdung, Erschöpfung und Er- holung der nervösen Centra des Rückenmarks“. Ebenda, Supplementband, 1900. — Derselbe: „Die Vorgänge in den Elementen des Nervensystems“. Referat, erstattet auf dem 15. internationalen med. Kongr. zu Lissabon (April 1906). In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 6, 1907. 5) Fr. W. FröHLicH: „Die Analyse der an der Krebsschere auftretenden Hem- mungen“. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 7, 1908. — Derselbe: „Ueber periphere Hemmungen“. Ebenda. — Derselbe: „Der Mechanismus der nervösen 606 Sechstes Kapitel. der Tat die verschiedenen Arten von Hemmungsvorgängen sämtlich auf das gemeinsame Prinzip der Entwicklung eines Refraktärstadiums, also einer dissimilatorischen Lähmung, zurückführbar sind. Unter- suchungen an dem Oeffnungs- und Schließmuskel der Krebsschere haben FRÖHLICH dabei gezeigt, daß man zwei Typen von Hemmungs- vorgängen unterscheiden kann. Hier besteht nämlich das eigentüm- liche Verhältnis, daß der Schließmuskel, wenn er kontrahiert ist, durch ganz schwache Reize gehemmt wird, während umgekehrt zur Hemmung des kontrahierten Oeffnungsmuskels nur starke Reize wirksam sind. Die Hemmung des Schließmuskels beruht auf der bereits erwähnten Tatsache, daß manche Formen der lebendigen Sub- stanz besonders leicht für ganz schwache Reize ermüden, die in der Nähe der Reizschwelle liegen. Es handelt sich also hier um die Entwicklung eines „relativen Refraktärstadiums“, bei der Hemmung des Oeffnungsmuskels dagegen um die Entwicklung eines „absoluten Refraktärstadiums“. FRÖHLICH hat nun zeigen können, daß im Leben unseres Nervensystems gerade die Hemmungs- vorgänge eine besondere Rolle spielen, denen das Prinzip des „rela- tiven“ Refraktärstadiums zugrunde liegt. Demgegenüber sind die oben beschriebenen Hemmungsvorgänge am Strychninfrosch der Aus- druck eines „absoluten“ Refraktärstadiums, denn hier sind die Ent- ladungen der Ganglienzellen maximal und die Reize in keiner Inten- sität wirksam. In allen Fällen aber beruhen die Hem- mungsvorgänge immer auf einer dissimilatorischen Lähmung, welche die Wirkung dissimilatorisch er- regender Reize verhindert. Es sei hier aber darauf hingewiesen, daß nicht alles in Wirklichkeit Ausdruck von Hemmungsvorgängen ist, was als solcher angesprochen worden ist. So sind z. B. die merkwürdigen Tatsachen, die man fälschlich als „tierische Hypnose“ bezeichnet hat, nicht, wie vielfach angenommen wurde, Ausdruck von Hemmungs-, sondern vielmehr im Gegenteil Ausdruck von Erregungsvorgängen. Das bekannte „Expe- rimentum mirabile de imaginatione gallinae“ des Pater KIRCHER ge- hört hierher. Ergreift man ein Huhn, wenn es noch so erregt ist und schreit, plötzlich mit sicherem Griff und legt man es vorsichtig auf den Rücken, indem man seine Lagekorrektionsbewegungen mit sanftem Druck unterdrückt, so bleibt das Tier nach wenigen kurzen Versuchen, sich zu erheben, bewegungslos liegen (Fig. 268) und ebenso verhalten sich Meerschweinchen (Fig. 167, p. 422), Kaninchen, Tauben, Frösche, Eidechsen und zahllose andere Tiere. Bei allen diesen Experimenten aber handelt es sich in erster Linie, wie wir bereits an anderer Stelle sahen, um ein Tonischwerden des Lage- reflexes, wie die dauernd in der Lagekorrektionsstellung innervierten Muskeln zeigen. Das Großhirn ist bei diesem eigentümlichen Ver- halten gar nicht aktiv beteiligt, wie sich daraus ergibt, daß auch großhirnlose Hühner sich genau ebenso verhalten. Ob bei normalen Tieren neben dem durch das Kleinhirn vermittelten tonischen Lage- reflex noch Hemmungsvorgänge im Großhirn vorhanden sind, dafür existiert keinerlei Anhaltspunkt. Hemmungsvorgänge“. In Mediz.-naturwissenschaftl. Arch., 1907. — Derselbe: „Beiträge zur Analyse der Reflexfunktion des Rückenmarks mit besonderer Berück- Sichtieung von Tonus, Bahnung und Hemmung“. In Zeitschr. f. allgem. Physiol., 9,1909; Vom Mechanismus des Lebens. 607 Im Gegensatz zu dieser Gruppe von Vorgängen liegen dem uralten Experiment der ägyptischen Schlangenbeschwörer, das schon vor mehr als 3000 Jahren Moses und AroN vor dem ägyptischen Pharao aus- führten und das die Schlangenzauberer in Aegypten noch heute dem staunenden Volke demonstrier en, in der Tat echte Hemmungsvorgänge zugrunde. Durch einen leichten Druck in die Nackengegend gelingt Fig. 268. I Naja haje (ägyptische bewegungslos gemacht grade- Brillenschlange, Experiment der & ausgestreckt auf dem Bauch ägyptischen Schlangenbeschwö- ,d liegend. // Huhn, durch rer. Links oben die Haje in erregter v sicheres Zugreifen be- Angriffsstellung (Schildstellung). Rechts ; wegungslos gemacht und oben dieselbe durch einen Druck in die auf den Rücken gelegt. Nackengegend bewegungslos gemacht und 5 Experimentum mirabile auf den Rücken gelegt. Unten dieselbe i a des Pater KIRCHER. Inf es, die wild erregte, zischende, hochaufgerichtete Haje (Brillen- schlange) plötzlich bewegungslos zu machen, so daß man das gefähr- liche Tier ohne seinen todbringenden Biß fürchten zu müssen, nun- mehr in jede beliebige Stellung bringen kann (Fig. 263). Hierbei handelt es sich, wie experimentell nachgewiesen werden konnte!), um 1) MAx VERWORN: „Beiträge zur Physiologie des Zentralnervensystems. I. Teil: Die sogenannte Hypnose der Tiere“, Jena 1898. 608 Sechstes Kapitel. eine totale Hemmung der vorher stark kontrahierten Muskeln des ganzen Körpers. Der Druckreiz in der Nackengegend hemmt die Er- regung der motorischen Zentra. Schließlich beruhen auf einer dissimilatorischen Lähmung wahr- scheinlich auch die hemmenden Wirkungen, die der galvanische Strom an gewissen Formen der lebendigen Substanz an einem Pole entfaltet. Wie wir an anderer Stelle!) sahen, wird ein tonisch kontrahierter Muskel, durch den man einen konstanten galvanischen Strom hindurch- fließen läßt, bei der Schließung des Stromes an der Anode erschlafft. Dementsprechend findet am Nerven beim Durchgang des Stromes an der Anode eine Herabsetzung der Erregbarkeit statt. Eine Amöbe, durch die ein Konstanter Strom hindurchgelassen wird, erschlafft da- gegen an der Kathode und fließt mit breitem Pseudopodium in dieser Richtung vor?). Alle diese hemmenden Wirkungen des Stromes, die HERING im Sinne seiner Auffassung der Hemmungsvorgänge als Aus- druck assimilatorischer Erregung gedeutet bat, dürften sich vielmehr im Sinne der oben entwickelten Theorie der Hemmungsvorgänge eben- falls als Ausdruck dissimilatorischer Lähmung erweisen, und das gleiche gilt für die Deutung der antagonistischen Farbenempfin- dungen, bei denen gleichfalls immer die eine Farbe einer dissimila- torischen Erregung, die andere einer dissimilatorischen Lähmung ent- sprechen wird. 3. Die polaren Veränderungen des Biotonus und der Mechanismus der Achseneinstellung bei einseitiger Reizung. Wir haben bisher nur die Veränderungen des Biotonus bei all- semeiner Reizung der lebendigen Substanz ins Auge gefaßt. Die Veränderungen, die bei lokaler Reizung auftreten, sind aber wert, besonders betrachtet zu werden, weil sie in gewissen Fällen zu ganz charakteristischen äußeren Folgen Anlaß geben. Das sind die be- wegungsrichtenden Wirkungen der Reize an frei beweglichen Organis- men, die wir als Chemotaxis, Barotaxis, Thermotaxis, Phototaxis und Galvanotaxis kennen gelernt haben. Diese interessanten Reaktionen werden, wie wir sahen, sämtlich durch Differenzen in der Reizstärke an verschiedenen Stellen der Körperoberfläche hervorgerufen und kommen zustande durch Beeinflussung der Tätigkeit kontraktiler Elemente. Es handelt sich also in diesen Fällen von Reizwirkungen um die Ver- änderungen derjenigen Glieder der A- und D-Reihe des Biotonus, die der Kontraktion und Expansion der kontraktilen Elemente zugrunde liegen. Nur wo Differenzen des Kontraktions- und des Expansions- zustandes an zwei verschiedenen Stellen des Zellkörpers bestehen, kann eine bestimmt gerichtete Wirkung zustande kommen. Da in bezug auf den Bewegungseffekt Kontraktion (c) und Expansion (e) zwei antagonistische Phasen des Bewegungsvorganges sind, so können wir uns das Verhältnis dieser beiden Glieder des Biotonus in analoger Weise wie den Biotonus selbst durch einen Bruch veranschaulichen. Wir können uns dann die Zustände, die in einer ruhenden Zelle an 1) Vergl. p. 497. 2) Vergl. p. 495. Vom Mechanismus des Lebens. 609 zwei verschiedenen Partien des Körpers bestehen, schematisch in folgender Weise versinnlichen: e wobei Fa das Verhältnis von Kontraktion zu Expansion bezeichnet, das an zwei gegenüberliegenden Polen eines einzelligen Organismus herrscht. Denken wir unseinen Zustand der Zelle, in deme und e gleich groß sind, und indem allseitig eine gleich starke Neigung zur Kontraktionund Expansionbesteht, so kann nach keiner Seite hin eine Bewegung erfolgen. Das ändert sich aber sofort, wenn an zwei Stellen der Oberfläche Differenzen im Biotonus auftreten, wenn e oder e unter dem Einfluß eines einseitig wirkenden Reizes an einem Pol größer oder kleiner wird, als am andern. In diesem Falle ist die Bedingung für eine einseitig gerichtete Bewegung gegeben. Da die merkwürdigen Tatsachen der Chemotaxis, Barotaxis, Thermotaxis, Phototaxis und Galvanotaxis noch bis in unsere Zeit vielfach als ganz rätselhafte „Anziehungen“ und „Abstoßungen“ der einzelligen Organismen von seiten der Reizquelle betrachtet worden sind, deren Zustandekommen noch nicht mechanisch erklärt werden konnte, so ist es von großem Interesse, zu sehen, wie sich auf Grund von polaren Differenzen im Biotonus der Mechanismus dieser eigen- tümlichen Reizreaktionen mit zwingender Notwendigkeit aus der speziellen Bewegungsart einer jeden Zellform von selbst ergibt. Eine derartige Betrachtung muß um so mehr Interesse fordern, als viele der genannten Reizwirkungen, vor allem die Chemotaxis der Bakterien und Leukocyten, auch in der Pathologie des menschlichen Körpers eine weitgehende Bedeutung besitzen. Wenn man folgende drei Faktoren: die spezielle Bewegungsart eines jeden Organismus (Protoplasma-, Geißel-, Flimmerbewegung etc.), dann die Veränderung dieser Bewegung unter dem Einfluß der Reize und schließlich die Stelle des Körpers, an der bei einseitiger Reizung das Maximum der Wirkung in jedem Fall lokalisiert ist, ins Auge faßt, dann erscheint der Mechanismus dieser durch ihre große Gesetz- mäßigkeit imponierenden Reizwirkungen so einfach, daß seine Analyse sich jedem, der sich überhaupt Bewegungsmechanismen im Geiste in ihre Teile zu zerlegen gewöhnt ist, geradezu von selbst auf- drängen muß. Stellen wir uns vor, ein einzelliger Organismus, der nach einer Längsachse differenziert ist, bewege sich ungestört nach beliebigen Richtungen durch das Medium, in dem er sich befindet, und es wirke plötzlich von irgendeiner Seite her ein Reiz auf ihn ein, so wäre zum Zustandekommen einer Annäherung an die Reizquelle oder einer Entfernung von derselben vor allem eine bestimmte Achseneinstellung des Organismus erforderlich, so daß er mit dem vorderen oder hinteren Pol seiner Längsachse nach der Reizquelle gerichtet würde. Nun ist es eine allgemeine Regel, daß alle einachsig differenzierten Organismen sich in völlig ungestörtem Zustande in der Richtung ihrer Längsachse bewegen. Ist daher diese Achseneinstellung einmal ausgeführt, so Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 39 610 Sechstes Kapitel. muß bei vollständigem Fehlen aller anderweitigen Impulse durch die eewöhnliche Lokomotionsart des Organismus eine Bewegung nach der Reizquelle hin oder von ihr fort zustande kommen, und die weitere Einwirkung des Reizes verhindert oder korrigiert nur gelegentliche Abweichungen von dieser Bewegungsrichtung, die etwa durch ander- weitige Impulse erzeugt werden. Das wesentliche Moment bei allen bewegungsrichtenden Reizwirkungen ist also die Achseneinstellung des Zellkörpers, und der Kernpunkt der Mechanik dieser Reizreaktion liegt in der Erklärung der Achseneinstellung. Verfolgen wir daher den Mechanismus der Achseneinstellung bei verschiedenen Typen freilebender Zellen etwas genauer. Die einfachsten und durchsichtigsten Verhältnisse haben wir wie immer bei den nackten Protoplasmamassen, wie sie z. B. die Zellen der Amöben und Leukocyten vorstellen. Denken wir uns eine Amöbe in Kugelform, die im Begriff ist, zu kriechen, und stellen wir uns vor, daß an einer Stelle infolge eines einseitig wirkenden Reizes eine kontraktorische Erregung einträte (Fig. 269 a), so Fig. 269. Schema der Achsen- einstellungeinerAmöbebei kontraktorischer Erregung ur Dr von rechts her. Die Dicke des Konturs deutet die Erregung an. e d € Die Pfeile bezeichnen die Kriech- richtung. würde an der gegenüberliegenden Stelle der Kugeloberfläche die kontraktorische Erregung am geringsten sein. Hier würde das Proto- plasma ungehindert vorfließen, während an der gereizten Seite die starke Kontraktion kein Vorfließen des Protoplasmas gestatten würde. Das Protoplasma der Amöbe würde also nach der ungereizten Seite hin ein Pseudopodium bilden (Fig. 2695). So würde eine Amöbe, die sonst unter ringsherum gleichen Bedingungen nach allen Seiten hin Pseudopodien ausstreckt und bald hierhin, bald dorthin kriecht, eine axial differenzierte Gestalt annehmen (Fig. 269c), wie es bei den Amöben der Fall ist, die man unter dem Namen Amoeba limax als besondere Form bezeichnet hat. Bei andauernder Reizung von derselben Seite her müßte unter diesen Umständen ein allmähliches Fortkriechen der Amöbe von der Reizquelle eintreten, wie wir es ja in der Tat bei der negativen Chemotaxis und Thermotaxis der Amöben, Myxomyceten, Leukocyten etc. vor uns haben. Umgekehrt: stellen wir uns vor, daß auf die kugelförmige Amöbe von einer Seite her ein Reiz einwirke, der lokal eine expansorische Er- regung erzeugt, so wird das Protoplasma nach dieser Seite am stärksten vorfließen, so daß sich die Amöbe bei andauernder Reizung der Reizquelle nähern muß. So erklärt sich die positive Chemotaxis der Leukocyten, Amöben, Myxomyceten und anderer nackter Protoplasma- massen. Wirkt von der einen Seite ein expansorischer, von der anderen ein kontraktorischer Reiz auf die Amöbe ein, so muß der Erfolg sich natürlich in gleichem Sinne äußern, d. h. die Amöbe muß von der kontraktorisch erregten Seite weg und nach der expansorisch erregten Seite hin kriechen. Die Galvanotaxis der Amöben liefert einen ungemein klaren Beleg dafür. (Vergl. Fig. 220 auf p. 495.) Vom Mechanismus des Lebens. 611 Etwas komplizierter ist der Mechanismus der Achseneinstellung bei denjenigen Mikroorganismen, die nicht mehr formwechselnde Proto- plasmamassen vorstellen, sondern wie die Bakterien und Infusorien einen formbeständigen, achsial differenzierten Körper besitzen, der sich mit besonderen Bewegungsorganoiden, den Geißeln und Wimpern, durch das Wasser bewegt. Durch rhythmisches Schlagen der Geißeln oder Wimpern wird der Körper dieser Organismen nach Art eines Ruderbootes durch das Wasser getrieben. Die Analogie der Be- wegungen mit dem Mechanismus eines durch Ruder bewegten Bootes ist in der Tat vollkommen und läßt sich bis in die feinsten Einzel- heiten durchführen. Es sind völlig die gleichen Mittel, welche die Bewegungen des geruderten Bootes und die Bewegungen der frei- schwimmenden Flimmerzelle in feinster Weise lenken und richten, und wir können uns das eigentümliche Verhalten der Bakterien und Infusorien bei ihrer Achseneinstellung gegenüber einseitig wirkenden Reizen nicht besser versinnlichen, als wenn wir an das Bewegen und Lenken eines Bootes mittels der Ruder denken. Unter den ver- schiedenen Formen, die durch Geißel- und Wimperschlag ihren lang- gestreckten Körper durch das Wasser treiben, können wir als wichtigste Typen diejenigen Formen unterscheiden, die mit einer einzigen Geißel, diejenigen, die mit zwei Geißeln und diejenigen, die mit mehreren oder sehr vielen a Wimpern ihren Körper bewegen, entsprechend einem _... durch ein zwei, oder viele Ruder getriebenen Boote. ” " Konstruieren wir uns zunächst einmal schema- tisch die Wirkungen, die sich aus einseitiger Er- regung oder Lähmung der kontraktorischen oder expansorischen Phase des Geißel- oder Wimper- schlages ergeben müssen. Fassen wir dabei zuerst die Formen mit einer Geißel ins Auge, wie sie viele Bakterien und Geißel- infusorien vorstellen, und wählen wir als Vertreter . , das zierliche grüne Geißelinfusor Euglena, das Fe 27% Schema g g ’ des Geißelschla- im Sommer mit seinen ungezählten Scharen das ges einer Geißel- Wasser stehender Pfützen in eine tiefgrüne Flüssig- infusorienzeile. keit verwandelt. Die Geißel der Flagellaten be- findet sich am vorderen Körperpol und bewegt sich in schraubenförmiger Bahn durch das Wasser. Indessen brauchen wir für die Konstruktion unseres Schemas, ohne einen Fehler zu begehen, die Bewegung der Geißel der Einfachheit halber nur in einer einzigen Ebene zu betrachten. Dann sehen wir die Geißel durch abwechselnde Kontraktion rhythmisch nach rechts (b) und nach links (b‘) um die gerade Mittellage («) herum pendeln, und zwar entspricht die Schwingung aus der Mittellage (a) in eine der beiden extremen Schlaglagen (b oder b‘) der Kontraktionsphase, die Rückkehr aus einer der extremen Schlaglagen in die Mittellage (a) dagegen der Expansionsphase (Fig. 270) der Geißelbewegung. Die Geißel wirkt also wie ein Ruder, das am Vorderende des Bootes abwechselnd nach rechts und nach links bewegt wird. Es liegt auf der Hand, daß der Infusorienkörper in gerader Richtung nach vorn sich bewegen muß, wenn das Infusor ungestört unter ringsumher gleichen Bedingungen die Geißel gleich stark nach rechts und links schlagen läßt, d. h. wenn Kontraktion und Expansion nach rechts ebenso schnell verlaufen, wie nach links. Wirkt 39* 612 Sechstes Kapitel. aber von einer Seite her plötzlich ein kontraktorischer Reiz auf das Flagellat ein, und ist die Längsachse des Körpers nicht schon von vornherein in der Richtung des einfallenden Reizes mit dem hinteren Körperpol nach der Reizquelle zu eingestellt, so wird diese Einstellung durch einige Schläge der Geißel von selbst herbeigeführt, denn da die Geißel bei jeder schrägen oder queren Lage der Längsachse auf derjenigen Seite, von welcher der Reiz einfällt, stärker kontraktorisch erregt wird als auf der entgegengesetzten Seite, so führt sie nach der Reizseite stärkere Schläge aus, als nach der entgegengesetzten Seite, und bewirkt so, daß sich der Vorderteil des Körpers von der Reizquelle abwendet (Fig. 271). Wir haben hier genau das gleiche Verhältnis wie bei dem mit einem einzigen Ruder bewegten Boot. a PER ) r RAP ec b a Fig. 271. Schema der Achseneinstellung einer Geißelinfusorienzelle bei kontraktorischer Erregung von rechts her. Die Seite, nach welcher die Konkavität der Geißel gerichtet ist, ist die kontraktorisch erregte. Die Pfeile bezeichnen die Drehungsrichtung. Auch das Vorderteil des Bootes wendet sich, wenn es auf der einen Seite stärker abgestoßen wird, nach der entgegengesetzten Seite. Die ungleiche Stärke des Geißelschlages nach beiden Richtungen dauert aber so lange an, und der Vorderteil des Körpers wendet sich so lange immer mehr von der Reizquelle ab, bis der Körper seine Längs- achse in der Richtung des einfallenden Reizes eingestellt hat (Fig. 271 .d). Dann werden beide Seiten der Geißel gleich stark erregt, und das Protist schwimmt, solange der Reiz andauert, geradeaus. So ergibt sich eine negative Chemotaxis, Phototaxis etc. bei eingeißeligen Bakterien und Flagellaten als notwendige Folge einer einseitigen kontraktorischen Erregung des Geißelschlages. Hiernach ist es sehr leicht, sich die Verhältnisse der Achsenrichtung auch bei zweigeißeligen Formen schematisch zu konstruieren, wie wir sie z. B. in dem Geißelinfusor Polytoma (Fig. 272) vor uns haben. Befinden sich zwei Geißeln am Vorderende der Zelle, so entspricht die Zelle einem Boote, das am Vorderende mit zwei Rudern bewegt wird. Ist der Schlag beider Ruder gleich stark, so bewegt sich das Boot geradeaus. Dasselbe muß auch bei der Geißelzelle der Fall sein. Schlägt dagegen das eine Ruder stärker, so dreht sich das Boot mit dem Vorderende nach der entgegengesetzten Seite. Das gleiche wird also bei der zweigeißeligen Flimmerzelle eintreten, wenn von einer Seite her ein kontraktorischer Reiz einwirkt, der die eine Geißel zu stärkerem Schlagen veranlaßt (Fig. 272abc). Das Vorderende der Geißelzelle muß sich dann von der Reizquelle wegdrehen, bis die Längsachse in der Richtung des einfallenden Reizes mit dem Vorder- Vom Mechanismus des Lebens. 613 ende von der Reizquelle abgewendet ist. In dieser Richtung werden beide Geißeln gleich stark Kontraktorisch erregt (Fig. 272d), und das Flagellat schwimmt infolgedessen gerade von der Reizquelle fort. So entsteht auch bei den zweigeißeligen Formen negative Chemotaxis etc. durch einseitige kontraktorische Erregung. Sy S \ 2 De 2% . a e [7 [72 Fig. 272. Schema der Achseneinstellung einer Infusorienzelle mit zwei Geißeln bei kontraktorischer Erregung von rechtsher. Die stärkere Konkavität der einen Geißel deutet die stärkere kontraktorische Erregung an. Die Pfeile bezeichnen die Drehungsrichtung. Was sich bei Polytoma und anderen Formen aus der Tätigkeit zweier Geißeln ergibt, das kann bei den Wimperinfusorien schließ- lich als Folge des Schlages zahlreicher Wimpern aufgefaßt werden. Hier haben wir z. B. in den Bewegungen von Paramaecium das Analogon zu den Bewegungen eines langen, vielruderigen Bootes. Schlagen alle Ruder auf beiden Seiten vollkommen gleich stark, so schwimmt das Boot geradeaus; schlagen die Ruder auf einer Seite stärker, so dreht sich das Boot nach der entgegengesetzten Seite. Das- selbe gilt von der Wimperbewegung beim Paramaecium. Schlagen die Wimpern auf beiden Seiten gleich stark, so schwimmt das Infusor in gerader Richtung vorwärts; wirkt dagegen von einer Seite her ein kontraktorisch erregender Reiz, so daß die Wimpern auf der einen Seite des Körpers zu stärkerem Schlagen veranlaßt werden, als auf der anderen (Fig. 273a), so muß sich der Körper so lange von der EN [ Fig. 273. Schema der Achseneinstellung eines Wimperinfusoriums bei kontraktorischer Erregung von rechtsher. Die stärkere Konkavität der Wimpern nach hinten deutet die stärkere kontraktorische Erregung an. Die Pfeile be- zeichnen die Richtung der Drehung und befinden sich am vorderen Körperpol. Reizquelle mit dem Vorderende abwenden, bis er mit seiner Längs- achse in der Richtung des einfallenden Reizes eingestellt ist. Dann erst werden die Wimpern an korrespondierenden Punkten der beiden Körperlängsseiten gleich stark erregt, und die Zelle schwimmt in ge- 614 Sechstes Kapitel. rader Richtung von der Reizquelle fort. So ergibt sich schließlich auch bei Wimperinfusorien negative Chemo-, Baro-, Thermo-, Photo- taxis aus einseitiger kontraktorischer Erregung. Ebenso einfach ist die Kontraktion des Mechanismus der Achsen- einstellung bei der positiven Chemo-, Thermo-, Phototaxis etc. der Flimmerzellen. Die Achseneinstellung bei diesen Reizwirkungen kann z. B. hervorgerufen werden durch eine einseitige expansorische Er- regung. Denken wir uns, daß ein Reiz von einer Seite her expansorisch erregend wirkt, so wird die Expansionsphase des Wimperschlages, d. h. die Rückkehr der Geißeln oder Wimpern in die Ruhelage, auf dieser Seite energischer erfolgen als auf der gegenüberliegenden Seite des Körpers. Die Folge davon wird die umgekehrte sein, als wenn die Kontraktionsphase energischer wird, d. h. das Vorderende des Körpers wird sich nach der Seite des einfallenden Reizes hinwenden, bis die Längsachse in der Richtung des Reizes eingestellt ist. Es hängt dann allein von der relativen Größe der Kontraktions- und Expansionsphase der Wimpern ab, ob der motorische Effekt so gerichtet ist, daß die Zelle in dieser Achseneinstellung sich auf die Reizquelle zu oder rückwärts von ihr fortbewegt. Diese Achseneinstellung aber muß immer eintreten, mag sich die Zelle durch eine, zwei oder viele Flimmerhaare bewegen (Fig. 274). (L EZ a‘ k \ Ixz 2 7 \ 02 Re SL - / \ U \ SUUFZ —Z er a‘. INPW er /i A x) = C > /\ ; N N Pr ZN Ra Fr N: Er er a c N a Fig. 274. Schema der Achseneinstellung eines Wimperinfusoriums bei expansorischer Erregung von rechts her. Die Pfeile befinden sich am vordaren Körperpol und geben die Drehungsrichtung an. Die stärkere Konkavität der Wimpern nach vorn deutet die expansorische Erregung an. Wirkt schließlich von einer Seite her ein kontraktorisch erregender, von der andern ein expansorisch erregender Reiz auf die Infusorien- zelle ein, so liegt es auf der Hand, daß beide bezüglich der Achsen- einstellung des Körpers in gleichem Sinne wirken müssen, d. h. so, daß der Körper sich mit dem Vorderteil nach der Seite des expan- sorischen Reizes einstellt. Ob in dieser Achseneinstellung eine Be- wegung in der einen oder in der anderen Richtung oder gar ein Stillstand am Ort stattfindet, das hängt dann ganz von der Größe und Richtung des motorischen Effekts ab, den der Wimperschlag an beiden entgegengesetzten Körperenden hat. Daß alle drei Möglichkeiten realisiert sind, zeigt am schönsten die Galvanotaxis, wo man je nach der Intensität des galvanischen Stromes Vorwärtsschwimmen, Stillstand am Orte oder endlich Rückwärtsgehen erzielen kann. Auch der Mechanismus der Achseneinstellung bei kontraktorischer und expansorischer Lähmung auf einer Seite des Körpers ist nach den vorstehenden Betrachtungen schematisch leicht zu konstruieren, denn es liegt auch hier eine Differenz in der Tätigkeit der Bewegungs- organoide auf beiden Seiten des Körpers vor, die nach den bekannten Vom Mechanismus des Lebens. 615 Prinzipien eine Achsendrehung herbeiführen muß, bis die Differenz auf beiden Seiten der Längsachse ausgeglichen ist. Veranschaulichen wir uns an unserem ersten Schema, von dem wir auseingen, die verschiedenen durch kontraktorische oder expansorische Erregung oder Lähmung des einen Körperpols veranlaßten Achsen- einstellungen eines vorübergehend oder dauernd polar differenzierten Zellkörpers, so bekommen wir folgende Fälle, wobei die Pfeilspitze die Lage des vorderen Körperendes bezeichnet: C e+n C Ce _d— ——— — > e e e en 9 e—n C C —— —— [a e e e—n In-Worten heilt das: Bei’ kontraktorischervEr- regung oder expansorischer Lähmung von einer Seite herr wendet sich der vordere Körperpol von der Reiz- quelle ab; bei kontraktorischer Lähmung oder expan- sorischer Erregung von einer Seite her wendet sich der vordere Körperpol der Reizquelle zu. Wir dürfen indes nicht vergessen, daß es sich hier zunächst nur um konstruierte Schemata handelt. Diese theoretisch konstruierten Schemata des Mechanismus der Achseneinstellung sind aber sicherlich nicht überall in dieser ein- fachen Form realisiert. Sie gelten allerdings zweifellos für alle nackten Rhizopoden und Leukocyten, sonst aber bei Infusorienzellen vielleicht nur in solchen Fällen, in denen ein sehr gleichmäßiger und allmählicher Abfall in der Intensität des Reizes vorhanden ist. Sicher ist, daß das Schema bei Geißel- und Wimperinfusorien überall da, wo eine starke Intensitätsdifferenz, ein plötzlicher Intensitätsabfall des Reizes, also eine annähernd punktförmige Reizung besteht, infolge der speziellen Differenzierung des Wimperapparates durch bestimmte Wimperreflexe eine wesentliche Abänderung erfährt. So hat namentlich JENNINGS!) in den letzten Jahren für verschiedene Infusorienformen den Nach- weis geführt, daß jede Form auf gewisse einseitig einwirkende Reize mit einem ganz bestimmten Wimperreflex antwortet, der eine Be- wegung zur Folge hat, die den Zellkörper von der Reizquelle ab- wendet. Derartige spezielle Zellreflexe sind namentlich für die mit verschiedenartig differenzierten Wimpern versehenen Infusorien oft in sehr komplizierter Weise entwickelt, aber doch so, daß jede Infusorien- form meist nur über einen einzigen, ganz bestimmten Reflexmechanis- 1) H. JENNINGS: „Studies on Reactions to stimuli in unicellular Organisms II. The mechanism of the motor reactions of Paramaecium“. In Americ. Journ. of Physiology, Vol. 2, 1899. — Derselbe: „Studies on reactions etc. III. Reactions to localized stimuli in Spirostomum and Stentor“. In the American Naturalist, Vol. 33, 1899. — Derselbe: „Studies ete. IV. Laws of Chemotaxis in Paramaecium“. In Americ. Journ. of Physiology, Vol. 2, 1899. — Derselbe: „Studies etc. V. On the movements and motor reflexes of the Flagellata and Ciliata“. Ebenda, Vol. 3, 1900. — Derselbe: „Reactions of Infusoria to Chemicals: a criticism“. In American Naturalist, Vol. 34, 1900. — Derselbe: Behavior of the lower organisms“, New York 1906. — MAX VERWORN: „Psychophysiologische Protistenstudien. Experimentelle Untersuchungen‘, Jena 1889. 616 Sechstes Kapitel. mus verfügt, der die Achseneinstellung des Körpers beherrscht. So hat JENnNINnGS z. B. den Wimperreflex und seine Folgen bezüglich der Bewegungsrichtung bei Paramaecium genau analysiert. Schwimmt ein Paramaecium z. B. auf seinem Wege mit dem vorderen Körperende gegen einen festen Körper (Fig. 275 A), so tritt zunächst im gleichen Moment eine Aenderung des Wimperschlages in der Weise ein, daß die Wimpern stärker nach vorn als nach rück- wärts schlagen, so daß das Infusorium eine Strecke weit rückwärts schwimmt. Bald darauf aber kehrt die ursprüngliche Richtung des Wimperschlages wieder zurück, aber so, daß der Wimperschlag auf einer Seite des Körpers heftiger ist als auf der anderen. Die Folge ist, daß das Infusorium seine Schwimmrichtung ändert, so daß es jetzt in einem bestimmten Winkel von seiner alten Schwimmrichtung abweichend von neuem vorwärts schwimmt. Stößt es auf dieser Bahn N Fig. 275. Wimperreflex eines Paramaeciums beim Anstoßen an einen festen Körper A in sechs aufeinanderfolgenden Stadien. Nach JENNINGS. _—— von neuem an ein Hindernis, so wiederholt sich der Reflex. In Fig. 275 sind die einzelnen Phasen dieses Wimperreflexes in den Stadien 1—6 zum Ausdruck gebracht. In ganz analoger Weise ver- hält sich nun Paramaecium bei der Chemotaxis. Kommt ein Individuum auf seiner Schwimmbahn in einen Tropfen von ganz ver- dünnter Säure, die eine positiv chemotaktische Wirkung ausübt !), so schwimmt es vorwärts bis gegen die Grenze des Tropfens. Hier wirkt das umgebende Medium negativ chemotaktisch, und zwar so, daß es als Reiz den oben genannten Reflexmechanismus auslöst, der dem Infusorium eine andere Schwimmrichtung gibt. Kommt es im Verfolg dieser neuen Schwimmrichtung von neuem an die Grenze des Tropfens, so wiederholt sich der Vorgang immer wieder von neuem, so daß das Infusor, wie Fig. 2761 zeigt, niemals aus dem Tropfen herauskommt. Einen ganz analogen Reflexmechanismus hat JENNINGS bei freischwimmenden Stentoren beobachtet, die negativ phototak- tisch sind. Kommen sie auf ihrer Schwimmbahn aus der Dunkelheit an die Grenze des Lichtes, so ändert sich sofort durch einen ganz be- stimmten Reflex des Wimperschlages, den der Lichtreiz auslöst, ihre Schwimmrichtung, wie es Fig. 276// in den aufeinanderfolgenden Sta- dien 1—4 bei einem Individuum erkennen läßt. Auf diese Weise kommen 1) Vergl. p. 516. Vom Mechanismus des Lebens. 617 die Stentoren niemals dazu, die Lichtgrenze zu überschreiten. Für Opalina und Spirostomum hat kürzlich WALLENGREN!), wie bereits oben?) erwähnt, diese Reaktionsmechanismen in der ein- gehendsten Weise analysiert und damit die Mechanik der ver- schiedenartigen Achseneinstellungen, die an ihnen unter verschiedenen Bedingungen eintreten, speziell bei galvanischer Reizung vollständig aufgeklärt. Ob sich die Zelle in der durch den Reiz erzeugten Achsen- einstellung vorwärts oder rückwärts bewegt oder stillsteht, hängt im gegebenen Falle von dem Intensitätsverhältnis der Kontraktions- zu der Expansionsphase des Wimperschlages an der ganzen Zelle ab. m Fig. 276. I Negative Chemotaxis von Paramaecium. Schwimmbahn eines einzelnen Paramaeciums in einem Tropfen schwacher Säurelösung, zu der es positiv chemotaktisch ist. // Negative Phototaxis von Stentor. Reaktion eines Indi- viduums bei Berührung der Grenze von Dunkel zu Hell in vier aufeinanderfolgenden Stadien. Nach JENNINGS. So ergeben sich die interessanten und im gesamten organischen Leben so überaus wichtigen Tatsachen der positiven und negativen Chemotaxis, Barotaxis, Thermo- taxis, Phototaxis und Galvanotaxis mit mechanischer Notwendigkeit als einfache Folgen aus den Differenzen im Biotonus, die an verschiedenen Oberflächenbezirken der freilebenden Zelle durch Einwirkung von Reizen hervorgerufen werden. x * * Indem wir den Kernpunkt des Stoffwechsels in dem fortwährenden Aufbau und Zerfall gewisser hypothetischer Verbindungen von sehr labiler Konstitution erblickten, die wir, obwohl sie sich chemisch bisher nur ungenügend charakterisieren ließen, wegen ihrer hohen Be- deutung für das Leben kurz als Biogene bezeichneten, haben wir den Lebensvorgang selbst in einer schematisch einfachen Form definiert: Der Lebensvorgang ist die Summe aller derjenigen l) WALLENGREN: „Zur Kenntnis der Galvanotaxis“. I, II u. III. In Zeitschr. f. allgem. Physiologie, Bd. 2 u. 3, 1903. 2) Vergl. p. 541. 618 Sechstes Kapitel. Prozesse, die mit dem Aufbau und Zerfall der Biogen- moleküle verknüpft sind. Das in die lebendige Substanz von außen her eintretende tote Nahrungsmaterial wird durch komplizierte Umsetzungen in der leben- digen Substanz fortwährend selbst zu lebendiger Substanz formiert, aber die lebendige Substanz stirbt auch fortwährend und wird wieder als tote Masse von der überlebenden Substanz ausgeschieden. So besteht das Leben aus einem ewigen Lebendigwerden und Sterben, das ununterbrochen und nebeneinander in jedem Augenblick in aller lebendigen Substanz sich abspielt. Die Gesamtheit aller Prozesse, die zum Aufbau lebendiger Sub- stanz führen, bildet die Assimilationsphase, die Gesamtheit der mit dem Zerfall der lebendigen Substanz verknüpften Prozesse die Dissi- milationsphase des Stoffwechsels. Assimilation und Dissimilation sind die Grundlage alles Lebens. Ihr Verhältnis zueinander, das wir als Biotonus bezeichneten, beherrscht die Lebensäußerungen. Vom Beginn der Entwicklung bis zum Tode ändert sich der Biotonus ununter- brochen von selbst, indem einzelne Glieder der Assimilations- oder Dissimilationsreihe andere Werte annehmen, und damit ändern sich die Lebensäußerungen im einzelnen ebenfalls. Darin besteht die Ent- wicklung. Desgleichen ändert sich der Biotonus, wenn Reize auf die lebendige Substanz einwirken, und dementsprechend verändern sich auch die Lebensäußerungen unter dem Einfluß der Reize. So sind die Lebensäußerungen bestimmt durch die einzelnen Glieder der langen Stoffwechselkette, die zusammen den eigentlichen Lebens- vorgang bilden. 1I. Die Mechanik des Zelllebens. Wenn wir den Stoffwechsel als den elementaren Lebensvorgang betrachten, entsteht nunmehr die Aufgabe, die Lebensäußerungen, die wir als Ausdruck des Lebensvorgangs auffassen müssen, mechanisch aus dem Stoffwechsel abzuleiten. Wir haben gesehen, daß alle lebendige Substanz, die jetzt die Erdoberfläche bewohnt, die Form von Zellen besitzt, daß also die Zelle der eigentliche Sitz des Lebensvorgangs ist. In der Zelle finden wir zugleich die allgemeinen Lebensäußerungen in ihrer elementaren Form. Eine mechanische Analyse der Lebensäußerungen muß daher, wenn sie nicht auf halbem Wege stehen bleiben will, die Zelle selbst zu ihrem Untersuchungsobjekt machen. Dabei harrt zuerst die Frage, wie sich der Stoffwechsel der lebendigen Substanz, den wir uns bisher nur schematisch an einem gleichförmigen Substrat vorgestellt haben, in der Zelle mit den charakteristischen Differenzierungen ihres Inhalts gestaltet, ihrer Beantwortung, ehe wir daran denken können, die verschiedenen Lebensäußerungen der Zelle mechanisch aus ihrem Stoffwechsel abzuleiten. Sind wir auch bei unseren sehr geringen Kenntnissen der einzelnen chemischen Prozesse in der Zelle noch immer weit entfernt davon, uns ein detailliertes Bild von dem feineren Stoffwechselgetriebe in der Zelle zu machen, so haben uns doch die Untersuchungen der letzten zehn Jahre genügend Material geliefert, um eine Vorstellung von den allgemeinen Verhältnissen des Stoffwechsels in der Zelle zu gewinnen. Vor allen Dingen haben Vom Mechanismus des Lebens. 619 uns die Untersuchungen der letzten beiden Jahrzehnte mit einer großen Anzahl von Tatsachen bekannt gemacht, die uns über die viel erörterte Bedeutung der beiden wesentlichen Zellbestandteile, des Kerns und Protoplasmas, sowie über die Art ihrer Beziehung zu- einander manchen Aufschluß verschaffen. A. Die Rolle des Kerns und Protoplasmas im Leben der Zelle. 1. Die Theorie von der Alleinherrschaft des Kerns in der Zelle. Die klassischen Untersuchungen der älteren Protoplasmaforscher, unter denen nur DUJARDIN und MAX SCHULTZE genannt seien, waren darauf gerichtet, das Protoplasma als Träger aller Lebenstätig- keiten hinzustellen. Mit dem Zellkern wußte man in der älteren Zellenlehre nichts anzufangen, denn da man alle wahrnehmbaren Lebensäußerungen sich am Protoplasma abspielen sah, hielt man den Kern für unwesentlich und beschäftigte sich nicht weiter mit ihm. Es ist psychologisch interessant und ein charakteristischer Vor- gang in der Geschichte des menschlichen Denkens, daß die Erkenntnis häufig erst nach beiden Seiten um den Mittelpunkt der Wahrheit herum pendelt, ehe sie an demselben stehen bleibt. Eine extreme Anschauung, die sich im Laufe der Zeit als unhaltbar herausstellt, führt einen Umschlag in das gegenteilige Extrem herbei, und erst allmählich wird durch eine gesunde Reaktion die wahre Mitte ge- funden. So geschah es in der Zellenlehre. Die ursprüngliche Vor- stellung von der alleinherrschenden Rolle des Protoplasmas in der Zelle schlug in neuerer Zeit, nachdem man gefunden hatte, daß der Kern besonders bei der Fortpflanzung der Zelle durch Teilung und bei der Befruchtung des Eies tiefgreifende Veränderungen erfährt, während das Protoplasma scheinbar ruhig bleibt, in die gegenteilige Vorstellung von der Alleinherrschaft des Kerns um, d.h. in die Vor- stellung, daß der Kern den wesentlichen Träger des Zelllebens vor- stelle, während das Protoplasma nur eine accessorische Rolle im Zell- leben spiele. Was man in der älteren Zelllehre ausschließlich dem Protoplasma zuschrieb, das wies man in der neueren Zelllehre allein dem Zellkern zu, und erst seit dem letzten Jahrzehnt beginnt sich eine gesunde Reaktion gegen diesen Umschlag in das andere Extrem geltend zu machen. Es ist nicht möglich, auf alle einzelnen Tatsachen einzugehen, die in neuerer Zeit bezüglich der Rolle des Zellkerns und Protoplasmas zusammengetragen worden sind. Es wird genügen, wenn wir einige der wichtigeren Beobachtungen und Versuche anführen, die zu be- merkenswerten Schlußfolgerungen Anlaß gegeben haben. Die Vorstellung, daß der Zellkern eine Alleinherrscherrolle in der Zelle spiele, hat in neuerer Zeit eine ziemlich weite Verbreitung gewonnen und ist in verschiedener Form zum Ausdruck gekommen. Vor allem ist im Hinblick auf die überraschend komplizierten und regelmäßigen Veränderungen, welche die neuere Morphologie bei den Vorgängen der Befruchtung und Teilung der Eizelle am Zellkern nach- gewiesen hat, die von hervorragenden Forschern, wie WEISMANN, HERTWwIG, BOoVvERI u. a. vertretene Ansicht entstanden, daß der Zellkern der Träger der „Vererbungsstoffe“ sei, und daß 620 Sechstes Kapitel. die Vererbung nur durch die UVebertragung gewisser Stoffe desZellkerns auf dieNachkommen erfolge, wäh- rend das Protoplasma keine für die Vererbung nötigen Stoffe enthalte. Die Tatsache, daß bei der Befruchtung der Eizelle durch die Samenzelle nur eine verschwindend geringe Protoplasmamenge von seiten der letzteren auf die Nachkommen übertragen wird, da das Spermatozoon zum überwiegenden Teil aus Kernmasse besteht, hat dazu verführt, diese geringe Protoplasmamenge des Spermatozoons vollständig zu vernachlässigen und damit die Uebertragung der väterlichen Eigenschaften auf die Nachkommen allein dem Kern des Spermatozoons zuzuschreiben. Das war um so naheliegender, als die geringe Protoplasmamasse des Spermatozoons, die hauptsächlich in der Geißel enthalten ist, nach dem Eindringen desselben in die Eizelle sich nicht mehr weiter vom Protoplasma der letzteren unterscheiden läßt, während die charakteristischen und tiefgehenden Veränderungen, die durch die Befruchtung bedingt werden, allein am Kern optisch wahrnehmbar sind. Indessen, kritischeren Köpfen war die Hinfällig- keit der Argumente, auf die sich die Alleinherrschaftstheorie des Kerns bei der Vererbung stützte, peinlich, und so suchten sie nach unzwei- deutigen Beweisen für dieselbe. Die fundamentale Tatsache, die NussBAum !) an Infusorien fest- gestellt hatte, daß kernlose Teilstücke einer Zelle nach einiger Zeit unfehlbar zugrunde gehen, während kernhaltige sich zu vollständigen Zellen regenerieren und durch Zellteilung weiter fortpflanzen, wurde durch GRUBER?) auf experimentellem Wege an anderen Infusorien bestätigt und als direkter Beweis für die Alleinherrschaftstheorie des Kerns ins Feld geführt. GRUBER°) sagt: „Auf rein empirischem Wege werden wir hier vor die unumstößliche Tatsache gestellt, daß der Kern der wichtigste, daß er der arterhaltende Bestandteil der Zelle ist, und daß man ihm mit Recht die höchste Bedeutung bei den Vorgängen der Befruchtung und Vererbung zuschreibt.“ GRUBER vergißt aber dabei, daß man, um den Kern allein als arterhaltenden Bestandteil der Zelle hinstellen zu dürfen, auch noch das umgekehrte Experiment ausführen, nämlich auch den Kern ohne Protoplasma untersuchen muß. Bleibt dann der Kern am Leben, regeneriert er sich einen neuen Protoplasmakörper, und vervollständigt er sich zu einem ganzen Individuum, so wäre sein Versuch in der Tat ein „unumstößlicher Beweis“ für die Ansicht von der allumfassenden Bedeutung des Kerns gewesen. Geht aber der protoplasmaberaubte Kern ebenso ohne Regeneration zugrunde wie das kernberaubte Protoplasma, so liegt kein Grund vor, dem Kern mehr zuzuschreiben als dem Protoplasma ; man könnte dann mit demselben Recht das Protoplasma als den art- erhaltenden Bestandteil der Zelle ansprechen. Ein Experiment in dieser Richtung zeigt aber, daß der protoplasmaberaubte Kern 1) NuSSBAUM: „Ueber spontane und künstliche Teilung von Infusorien“. In Verh. d. naturh. Ver. d. preuß. Rheinlande, Bonn 1884. — Derselbe: „Ueber die Teilbarkeit der lebendigen Materie. I. Die spontane und künstliche Teilung der Infusorien“. In Arch. f. mikr. Anat., Bd. 26, 1886. 2) A. GRUBER: „Ueber künstliche Teilung der Infusorien“. In Biol. Zentraibl., Bd. 4 u. 5, 18855. 3) GRUBER: „Beiträge zur Kenntnis der Physiologie und Biologie der Proto- zoen“. In Ber. d. naturforsch. Ges. zu Freiburg i. B., Bd. 1, 1886. Vom Mechanismus des Lebens. 621 ebenso zugrunde geht wie das kernlose Protoplasma. Man kann bei dem großen Radiolar Thalassicolla (Fig. 105 p. 273) den mit bloßem Auge sichtbaren Zellkern durch eine geschickte Operation mit feinen Instrumenten aus dem Protoplasma der Zentralkapsel unverletzt herausnehmen und isoliert beobachten. Die Folge zeigt, daß der Kern, selbst wenn er vor allen Schädlichkeiten geschützt ist, nach einiger Zeit stets, ohne auch nur eine Spur von Regenerationsvorgängen sehen zu lassen, zugrunde geht!). Das gleiche kann man bei Infusorien konstatieren. Damit ist aber die Beweiskraft des GRUBERSchen Arguments gebrochen. Ein anderes Experiment, das der Alleinherrschaftstheorie des Kerns zur Stütze dienen sollte, stellte BOvERL?) an Seeigeleiern an. Im Anschluß an die von den Brüdern HErTwıG°) beobachtete Tat- sache, daß auch kernlose Protoplasmastücke von Seeigeleiern durch Spermatozoön noch befruchtet werden, fand BovERI, daß diese be- fruchteten Stücke sich auch noch weiter entwickeln, und zwar zu einer Zwerglarvenform, die, abgesehen von ihrer Kleinheit, im übrigen vollkommen den normalen Larven gleicht. Diese Tatsache benutzte BOVERI zu Kreuzbefruchtungsversuchen von kernlosen Eistücken einer Seeigelform mit Spermatozo@ön einer andern Form, nämlich von kernlosen Eistücken des Sphaerechinus granularis mit Spermatozoöen von Echinus microtuberculatus. Er schüttelte eine Anzahl Eier von Sphaerechinus in einem Reagenzglase, wobei immer kernlose Protoplasmastücke abgesprengt werden, und befruchtete die geschüttelte Flüssigkeit mit Sperma von Echinus. Isolierte kernlose Teilstücke zu befruchten, gelang nicht, da eine Kreuzbefruchtung zwischen den beiden Formen nur verhältnismäßig sehr selten eintritt. Unter den durch die Befruchtung erzielten Larven befanden sich: a) Bastardformen, wie sie bei der Kreuzung der beiden Arten immer erhalten wurden; b) Zwergbastardformen, die BovErı von der Befruchtung kern- haltiger Teilstücke herleitet; c) Zwergformen mit echtem Echinus-Charakter, die BOVERI von der Befruchtung kernloser Teilstücke ableitet. Das Vorkommen der letzten Larvenformen besitzt nun nach Boverıs Auffassung direkte Beweiskraft für die Alleinherrschafts- theorie des Kerns, denn da von der einen Seeigelart nur kernloses Protoplasma der Eizelle, von der andern dagegen auch der Kern des Spermatozoons übertragen sei, so sei durch den Erfolg, welcher Larven von der väterlichen Form ergeben habe, bewiesen, daß nur der Kern der Träger der „Vererbungsstoffe“ sein könne. Schon bei einer kritischen Betrachtung indessen ergibt sich, daß dieser Versuch, der bisher vielfach als die feste Stütze der Allein- herrschaftstheorie betrachtet worden ist, in mehr als einer Beziehung 1) MAx VERWORN: „Die physiologische Bedeutung des Zellkerns“. In PFLÜGERS Arch., Bd. 51, 1891. 2) BovERI: „Ein geschlechtlich erzeugter Organismus ohne mütterliche Eigen- schaften“. In Sitzungsber. d. Ges. f. Morphol. u. Physiol. zu München, 1889. 3) O. u. R. HerTwIG: „Untersuchungen über den Vorgang der Befruchtung und Teilung des tierischen Eies unter dem Einfluß äußerer Agentien“. In Jen. Zeitschr. f. Naturw., 1887. 622 Sechstes Kapitel. für den genannten Zweck gar nicht verwertet werden kann. Zunächst nämlich läßt sich die Abstammung der Zwerglarven vom Typus der väterlichen Art bezweifeln. Da die Befruchtung kernloser Eistücke der einen mit Spermatozoön der andern Art nicht isoliert gelang, so bleibt es sehr fraglich, ob die in Frage stehenden Larven auch wirklich aus einer solchen Befruchtung stammten. Es wäre denkbar, daß sich auch aus der Befruchtung von kernhaltigen Eistücken oder ganzen Eiern der einen mit den Spermatozoön der andern Form Larven von überwiegend väterlicher Form entwickeln können; sehen wir doch, daß sich auf die Nachkommen sehr häufig ganz vorwiegend die Eigenschaften des Vaters oder der Mutter übertragen. Die verschiedenen Larvenformen, die BOVvERI in seinem Versuch erhielt, besitzen aber in dem betreffenden Entwicklungsstadium noch so wenige charakteristische Unterscheidungs- merkmale, daß man aus dem Vorhandensein dieser wenigen Eigen- tümlichkeiten durchaus nicht mit Sicherheit auf eine einseitige Ab- stammung Schlüsse ziehen darf. Aber selbst in dem Falle, daß man die Deutung, die BovErI von der Abstammung der betreffenden Larven gibt, annehmen wollte, wäre der Versuch doch nichts weniger als beweisend. Er wäre beweisend nur dann, wenn nicht das ganze Spermatozoon, sondern nur der Kern desselben sich mit dem kern- losen Protoplasma der Eizelle vereinigt hätte. Wären in diesem Falle Larven vom Charakter des Vaters entstanden, so müßte man in der Tat annehmen, daß der Kern allein Träger der Vererbung sein könne. Daaber das Spermatozoon eine vollständige Zelle mit Kern und Protoplasma ist, so ist durch nichts bewiesen, daß nicht auch das Protoplasma an der Vererbung teilnähme. Daß sich ganz überwiegend oder ausschließlich väterliche Charaktere an den betreffenden Larven bemerkbar machen, würde doch wohl kaum verwundern, da ja von väterlicher Seite eine ganze Zelle in die Be- fruchtung eingegangen sein soll, von mütterlicher Seite aber nur ein Stückchen Protoplasma. Die Ansicht BovErIs, daß in seinem Ver- such auch mütterliche Eigenschaften hätten vererbt werden müssen, wenn das Protoplasma ebenso an der Vererbung beteiligt wäre, wie der Kern, würde also, selbst wenn man seine Annahme von der Her- kunft der Zwerglarven mit reinem Echinuscharakter als zutreffend hinnehmen wollte, nichts weniger als sicher begründet sein. Schon auf Grund dieser Ueberlegungen können wir nicht umhin, auch den Versuch BovErıs für die Entscheidung der Frage, ob im Kern allein die charakterbestimmenden Eigenschaften der Zelle ent- halten sind, als völlig indifferent zu betrachten, und die gleiche Stellung zu dem Experiment BovErıs haben auf Grund ihrer eigenen Unter- suchungen in neuerer Zeit MORGAN, SEELIGER und YVES DELAGE ein- genommen. Wenn es aber außer den angeführten Tatsachen noch eines Experimentum crueis bedurft hätte, um den völligen Zusammenbruch der Lehre von der Lokalisation einer spezifischen und ausschließlichen „Vererbungssubstanz“ im Zellkern ganz augenfällig zu demonstrieren, so würde dieses Experiment neuerdings ebenfalls gegeben sein durch die schönen Untersuchungen von GODLEWSKI jun. Es gelang nämlich GODLEWSKI!) kernlose Eistücke von einem Seeigel mit den Sperma- tozoön einer Haarsternform, also einer ganz anderen Echinodermen- 1) EMIL GODLEWSKI jun.: „Untersuchungen über die Bastardierung der Echi- niden- und Crinoidenfamilie“. In Arch. f. Entwicklungsmechanik, Bd. 20, 1906. Vom Mechanismus des Lebens. 623 gruppe zu befruchten und aus ihnen unter anderem auch Larven zu züchten, die rein mütterliche Eigenschaften besaßen. Angesichts dieser Tatsache wird selbst von den eifrigsten Anhängern der Boverıschen Lehre nicht mehr behauptet werden können, daß die „Vererbungssubstanz“ im Zellkern lokalisiert sei. Damit fällt die Alleinherrschaftstheorie des Zellkerns zusammen. In der Tat hat man schon vor GODLEWSKIS Experimenten in den letzten Jahren auch auf morphologischer Seite angefangen, diese Auffassung allmählich zu verlassen !). Eine andere Form der Alleinherrschaftstheorie spricht sich in der Ansicht von EIMER?), HOFER?) u. a. aus, daß der Kern nach Art eines nervösen Zentralorgans die Lebensäußerungen der Zelle, vor allem die Bewegungen des Protoplasmas, beherrsche. EIMER stützt sich dabei auf verschiedene, nicht ganz unangefochtene morphologische Beobachtungen über die Endigung von Nervenfasern in Kernen, sogar in Kernkörperchen von Zellen. Allein selbst wenn diese Verhältnisse sich wirklich bestätigen sollten, so würde darin doch immer noch kein Grund liegen, dem Kern allein die Regulierung der Bewegungen des Protoplasmas zuzuschieben. HOFER dagegen glaubt aus Experimenten an Amöben den Schluß ziehen zu dürfen, daß „der Zellkern ein reeulatorisches Zentrum für die Bewegung darstellt“. HOFER zer- schnitt nämlich den Körper von großen Amöben in einen kern- haltigen und einen kernlosen Teil. Während der kernhaltige Teil sich darauf und auch weiterhin ganz wie eine vollständige Amöbe verhielt, zeigte das kernlose Stück nur noch etwa 15—20 Minuten normales Verhalten. Dann wurden die Bewegungen unregelmäßig, indem die Pseudopodienbildung abnorme Formen zeigte, und hörten schließlich ganz auf. Daraus zieht HorEer den Schluß, daß das Protoplasma zwar die Fähigkeit der Bewegung besitzt, aber daß der Kern ein Zentrum vorstelle, das die Bewegungen des Protoplasmas reguliere. Daß diese Vorstellung sich nicht halten läßt, geht schon aus den ausgezeichneten Experimenten BALBIANIS*) hervor, der be- obachtete, daß kernlose Teilstücke von Infusorien unter günstigen Bedingungen noch viele Tage lang mit völlig unveränderten Be- wegungen am Leben bleiben. Umfassende Versuche an verschiedenen Rhizopoden und Infusorien ?), besonders aber an solchen Wimper- infusorien, die recht komplizierte und charakteristische Bewegungen ausführen, sind schließlich speziell gerade darauf gerichtet gewesen, die Frage zu entscheiden, ob man den Kern als Bewegungszentrum im Sinne der Zentra des Zentralnervensystems bei den höheren Tieren auffassen dürfe. Den Erfolg können wir uns am besten durch einen vivisektorischen Versuch an dem Infusorium Lacrymaria vor Augen führen. 1) R. Fick: „Betrachtungen über die Chromosomen, ihre Individualität, Re- duktion und Vererbung“. In Arch. f. Anat. Supp. 1905. — Ferner: „RABL: „Ueber organbildende Substanzen und ihre Bedeutung für die Vererbung“, Leipzig 1906. 2) EIMER: „Die Entstehung der Arten auf Grund von Vererben erworbener Eigenschaften nach den Gesetzen organischen Wachsens“, Jena 1888. 3) B. HoFER: „Experimentelle Untersuchungen über den Einfluß des Kerns auf das Protoplasma“. In Jen. Zeitschr. f. Naturw., 1889. 4) BALBIANI: „Recherches exp@rimentales sur la merotomie des Infusoires eilies“. In Recueil zoologique Suisse, T. 5, 1888. 5) MAx VERWORN: „Psycho-physiologische Protistenstudien. Experimentelle Untersuchungen‘, Jena 1889. 624 Sechstes Kapitel. Lacrymaria olor wird zu den holotrichen Ciliaten gerechnet und zeichnet sich durch ihre höchst charakteristischen Bewegungen aus, weshalb sie für Versuche über den Einfluß des Kerns auf die Be- wegung ein ausgezeichnetes Objekt abgibt. Das Protist ist in mitt- lerem Kontraktionszustande flaschenförmig und läßt einen Körper-, Hals- und Kopfteil unter- scheiden (Fig. 277a und b). Ist das Protist ungestört, so ist es in rastloser Bewegung, wobei jedem Teil des Zellleibes seine eigen- tümliche Tätigkeit zu- kommt. Der Körper- teil macht fortwäh- rende Gestaltsverän- derungen von peri- staltischem Charakter. Der Hals streckt sich bald zu einem äußerst langen und dünnen Fa- den aus der mit seinem Vorderende sich ver- längert, verkürzt, um- biegt und zwischen den Schlammteilchen hierhin und dorthin tastet (Fig. 277a), bald schnellt er wieder wie ein ausgespannter Gummifaden plötzlich zusammen (Fig. 277 b), um nach kurzem sein Spiel von neuem zu beginnen. Das Kopf- ende schließlich tastet mit den langen Wim- pern seines Mundteils überall auf den Gegen- ständen im Wasser umher, gleichsam als wenn die Wimpern wie Füßchen darauf Fig. 277. Vivisektorische Zerteilung von entlang liefen. Da- Laerymaria olor. Die schwarzen Linien geben die bei ist das ganze Pro- hnittfü . eAb hnittener Kopfteil, stärker ver- A 5 Re ne e tist infolge der fort- während wechselnden Richtung des Wimper- schlages in einem ewigen Vorwärts- und Rückwärtszucken begriffen, so daß es nur wenig von der Stelle kommt und hauptsächlich den langen Hals und Kopf mit rastlosem Eifer umhersuchen läßt. Wird es gereizt, so zuckt es plötzlich zusammen und schwimmt in mittlerem Kontraktionszustande zuerst eine Strecke rückwärts, nimmt dann Vom Mechanismus des Lebens. 625 wieder die Richtung nach vorn an und wirbelt in rasender Ge- schwindigkeit unter beständiger Achsendrehung vorwärts durch das Wasser. Der Kern mit dem dicht anliegenden Nebenkern liegt im mittleren Abschnitt des Körperteils. Bei einiger Geduld gelingt es nun, unter dem Mikroskop durch scharfe Schnitte die einzelnen Körperteile abzutrennen, wobei der Kopfteil, der Halsteil und das hintere Endstück des Körpers stets kernlos sind, während der Körperteil immer die beiderlei Kerne ent- hält. Der Erfolg der Durchschneidung ist zunächst bei jedem Teil- stück der, daß die Wimperbewegung sehr beschleunigt ist. Die Stücke wirbeln daher alle im Kontraktionszustande mit rasender Geschwindig- keit unter Achsendrehung durch das Wasser. Allmählich läßt die enorme Steigerung der Wimpertätigkeit nach, und bald benimmt sich jedes Teilstück genau so, wie es sich benahm, als es noch im Zu- sammenhang mit den anderen stand. Der kernhaltige Körperteil setzt seine metabolischen Bewegungen fort, durch Wechseln in der Richtung des Wimperschlages bald vorwärts, bald rückwärts zuckend, der Hals- teil zieht sich bald lang aus (Fig. 277d) und tastet ruhelos umher, obwohl er weder Kopf- noch Körperteil mehr besitzt, bald schnellt er wie eine Gummischnur zusammen (Fig. 277ec) und streckt sich wieder aus, der Kopfteil endlich läuft, da er jetzt vom Körper befreit ist, wie ein selbständiges Individuum auf den Schlammteilchen im Wasser umher unter ganz denselben Wimperbewegungen wie am unverletzten Protist (Fig 277e). Kurz, jedes Teilstück verhält sich in seinen Be- wegungen noch genau so wie am Körper der normalen Lacrymaria. Auf Reize tritt bei allen Teilstücken Zusammenzucken durch Kon- traktion der Myoide ein und Beschleunigung des Wimperschlages, die zur Wirbelbewegung unter Achsendrehung führt, also ganz wie sie auf Reizung beim unverletzten Protist eintritt. Dieses normale Ver- halten der Bewegung bleibt bei den kernlosen Teilstücken in der Regel nahezu einen Tag lang bestehen. Alsdann tritt der bekannte Unterschied zwischen kernlosen und kernhaltigen Stücken hervor, daß die kernlosen zugrunde gehen, während die kernhaltigen sich bereits zu ganzen Individuen regeneriert haben. Das Verhalten der kernlosen Teilstücke von Zellen läßt sich also dahin charakterisieren, daß nach Ueber- windung eines durch den Reiz der Operation be- dingten Erregungsstadiums jedes Stück fortfährt, die ihm am unverletzten Protist eigentümlichen Bewe- gungen auszuführen und auch auf Reize in derselben Weise zu reagieren, wie vor der Operation. Erst die zum Tode führenden Vorgänge der Nekrobiose, denen das kernlose Protoplasma anheimfällt, ändern auch das normale Verhalten der Bewegungen. Wie in diesem, so zeigt sich in sämtlichen vivisektorischen Ver- suchen, daß die Bewegungen kernloser Protoplasmastücke nach Ueber- windung eines durch die Operation bedingten Erregungsstadiums stets noch längere Zeit, häufig mehrere Tage lang, in vollkommen unveränderter Weise fortbestehen und erst im Verlauf der Nekrobiose des Teilstücks Störungen und schließlich Stillstand erfahren. Damit stimmen auch die tatsächlichen Befunde Horers vollständig über- Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 40 626 Sechstes Kapitel. ein. Uebrigens hat später StoLc!) auch von Amöben kernlose Stücke unter günstigen Bedingungen wochenlang mit normalen Be- wegungen isoliert am Leben erhalten können. Wenn aber die normale Bewegung des Protoplasmas nach Entfernung des Kerns noch tage- und wochenlang fortbesteht, so kann der Kern kein regulatorisches Zentrum für die Bewegung sein, und damit fällt die Zentrumstheoriein sich zusammen. 2. Kern und Protoplasma als Glieder in der Stoff- wechselkette der Zelle. Wenn aus den oben angestellten Erörterungen hervorgeht, daß die neueren Vorstellungen von der Alleinherrschaft des Kerns in der Zelle, mögen sie in dieser oder in jener Form auftreten, ebensowenig Berechtigung haben, wie die älteren Vorstellungen, die im Proto- plasma allein den wesentlichen Träger des Lebens erblickten, so liegt nach alledem die Vermutung nahe, daß die Wahrheit zwischen beiden Ansichten in der Mitte gelegen ist, d.h. daß weder der Kern noch das Protoplasma allein die Hauptrolle im Leben der Zelle spiele, sondern daß beide iin gleicher Weise als notwendige innere Lebensbedingungen am Zu- standekommen der Lebensäußerungen beteiligt seien. In der Tat zeigt uns die ganze Fülle aller bisherigen Versuche und Beobachtungen über die Beziehungen zwischen Zellkern und Protoplasma, daß diese Vermutung richtig ist. Da es zu weit führen würde, das ganze hierher gehörige Tatsachenmaterial anzu- führen, so mögen nur die wichtigeren Erfahrungen an diesem Orte Platz finden. Die erste und bedeutsamste Erfahrung ist die be- reits erwähnte, durch alle bisherigen vivisektorischen Experimente an den verschiedenartigsten Zellen fest- gestellte Tatsache, daß kernlose Protoplasmamassen ebenso wie protoplasmaberaubte Kerne nach längerer oder kürzerer Zeit unfehlbar zugrunde gehen. Damit ist unzweideutig der Beweis geliefert, daß die Lebensäußerungen der Zelle nur aurch die ungestörte Wechselwirkung beider Zellteile, des Kerns und des Protoplasmas, zustande kommen. Daß diese Wechselbeziehungen Stoffwechselbeziehungen sein müssen, liegt von vornherein schon auf der Hand, da ja die Lebensäußerungen nur Aus- druck des Stoffwechsels der Zelle sind. Durch die Veränderungen, die an kernberaubten Protoplasmamassen bis zu ihrem Tode sich ein- stellen, überzeugen wir uns aber auch an spezielleren Tatsachen von dieser Wahrheit. In der oft ziemlich langen Zeit, die von der Ent- fernung des Kerns bis zum Tode der entkernten Protoplasmamasse verläuft, machen sich nämlich nach und nach gewisse Ausfalls- symptome im Stoffwechsel bemerkbar, während manche Lebens- äußerungen noch bis in die letzte Zeit vor dem Tode bestehen bleiben. Diese Ausfallssymptome zeigen uns direkt, daß durch die 1) A. SrorLc: „Ueber das Verhalten des Neutralrots im lebendigen Proto- en N ach Versuchen mit Amoeba proteus“. In Zeitschr. f. Allgem. Physiologie, M, 2 Vom Mechanismus des Lebens. 627 Ausschaltung des Kerns der Stoffwechsel des Protoplasmas eine Störung erlitten hat. Die eine Reihe von Ausfallssymptomen bezieht sich auf die Verarbeitung der aufgenommenen Nahrung und ist be- sonders gut an dem nackten Protoplasma der Rhizopoden zu beobachten. Hat man von einer Polystomella, deren zierliche, schneckenförmige Kalkschale mit einem gewöhnlich nur einkernigen Protoplasmakörper erfüllt ist, durch einen geschickten Schnitt ein Stück der Schale mit kernlosem Protoplasmainhalt abgeschnitten, so bildet das Protoplasma nach einiger Zeit wieder ganz normale Pseudopodien und verhält sich noch tagelang wie eine unversehrte Polystomella. An den mit einem feinen klebrigen Sekret überzogenen Pseudopodien fangen sich auch noch kleine Infusorien, die der Polystomella zur Nahrung dienen, ja diese Infusorien können unter Umständen auch noch durch die Einwirkung des sie umfließenden Protoplasmas der Pseudopodien getötet werden; aber es findet keine Verdauung derselben mehr statt). Die gleiche Beobachtung kann man sehr gut an den großen Radio- larien machen, die, wie Thalassicolla, mit Leichtigkeit ihrer Zentralkapsel mit Kern beraubt werden können. Der ganze große kernlose Protoplasmakörper verhält sich nach dieser Operation zu-. nächst wie eine ganze Thalassicolla. Die Pseudopodien halten anschwimmende Nahrungsinfusorien fest und umgeben sie mit ihrem Protoplasma. Auch werden die Infusorien noch getötet und bisweilen sogar in ihrer Gestalt noch deformiert; aber eine vollständige Ver- dauung tritt nicht mehr ein?). Das gleiche beobachtete HorER’) bei großen Exemplaren von Amöben. Wenn er Amöben, die Infusorien gefressen hatten, so unter dem Mikroskop teilte, daß in die kernhaltige sowohl wie in die kernlose Hälfte des Protoplasmas Nahrungsinfusorien zu liegen kamen, so wurden dieselben in der kernlosen Hälfte nur schwach angedaut, blieben dann aber un- verändert liegen, während sie in den kernhaltigen Hälften voll- ständig verdaut wurden, wie in einer unversehrten Amöbe. Aus allen diesen Versuchen geht also hervor, daß die Assimilation der aufgenommenen Nahrung im Protoplasma nach Ausschaltung des Zellkerns aufhört. Ebenso wie der Verbrauch fällt auch die Produktion ge- wisser Stoffe von seiten des Protoplasmas nach Entfernung des Kerns aus. Eine kernlose Protoplasmamasse von Polystomella scheidet keinen kohlensauren Kalk mehr aus, um ihre Kalkschale zu ergänzen, während die kernhaltigen Stücke den Defekt ihrer Kalk- schale alsbald durch Anlagerung neuer Kalkmassen an der Wundstelle wieder ausbessern *). Die Sekretion von Schleim seitens des nackten Protoplasmas der Amöben ist, wie HoFEr’) gezeigt hat, an kern- 1) MAx VERWoRN: „Biologische Protistenstudien I“. In Zeitschr. f. wissensch. Zool., Bd. 46, 1888. 2) Max VERWORN: „Die physiologische Bedeutung des Zellkerns“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 51, 1891. 3) B. Horer: „Experimentelle Untersuchungen über den Einfluß des Kerns auf das Protoplasma“. In Jen. Zeitschr. f. Naturw., Bd. 17, 1889. 4) Max VERWORN: „Biologische Protistenstudien I“. In Zeitschr. f. wissensch. Zool., Bd. 46, 1838, 5) B. Horer: „Experimentelle Untersuchungen über den Einfluß des Kerns auf das Protoplasma“. In Jen. Zeitschr. f. Naturw., Bd. 17, 1889. 40* 628 Sechstes Kapitel. losen Massen nicht mehr zu beobachten, so daß die Stücke nach der Entkernung frei im Wasser flottieren, ohne sich an die Unterlage an- heften zu können, während die kernhaltigen Protoplasmamassen sich bald nach der Operation wie unverletzte Amöben wieder mit einer feinen Schleimschicht an der Unterlage ankleben und weiterkriechen. Bei den kernlosen Pseudopodien von Difflugia findet zwar anfangs noch eine Schleimsekretion statt, hört aber bald nachher auf, und die Protoplasmamassen verlieren das Vermögen sich anzuheften, nach einigen Stunden ebenfalls!). Ein sehr charakteristisches Symptom schließlich ist der Ausfall der Zelluloseproduktion zur Bildung einer Zellwand, den KLEBs?) bei Pflanzenzellen beobachtete. KLEBS be- nutzte zu seinen Versuchen die Tatsache, daß unschädliche Lösungen wasserentziehender Stoffe den Protoplasmakörper der Pflanzenzelle zur Zusammenziehung und dabei oft zum Zerfall in einzelne Protoplasma- kugeln veranlassen, ein Vorgang, der von den Botanikern als Plasmo- lyse bezeichnet wird. Setzte er Fäden von Zygnema oder Spiro- gyra in eine 16-proz. Rohrzuckerlösung, so zerfiel der Protoplasma- körper der Zellen in vielen Fällen in zwei oder mehrere Kugeln, =—e7 = Fig. 278. 4 Epider- Se miszelleeinesLaub- blattes von Luzula maxima. Der Zellkern liegt in der Mitte der Zelle. B Epidermis- zelle eines Blattes von Cypripedium = a x instgne. Die obere Zellwand verdickt sich. Die Kerne liegen der oberen Zellwand an. © Epidermis- zelle eines Blattes von Aloö verrucosa. An der oberen Zellwand bildet sich ein Wulst. Der Kern liegt diesem Wulste an. Nach HABERLANDT. von denen nur eine den in der Einzahl vorhandenen Zellkern enthielt. Sowohl kernhaltige als kernlose Teilstücke blieben lange Zeit am Leben, selbst die kernlosen in vielen Fällen bis zu 6 Wochen. Aber es zeigte sich während dieser Zeit an beiden ein durchgreifender Unterschied: Die kernhaltigen Stücke umkleideten sich alsbald mit einer neuen Zellulosemembran, während die kernlosen stets nackt blieben. Es geht aus diesem Versuch hervor, daß der Zellkern mit seinem Stoffwechsel wesentlich an der Bildung der Zellulose beteiligt ist. Der Versuch ist aber besonders deshalb so interessant, weil er später eine wünschenswerte Ergänzung erfahren hat durch einen andern Versuch, den DEMOOR?) an den Zellen der Spirogyrafäden angestellt hat. In analoger Weise, wie man nämlich durch vivisek- torische Operationen den Einfluß des Kerns auf das Protoplasma ausgeschlossen hat, gelang es DEMOOR, durch geeignete Einwirkung verschiedener Agentien, wie Chloroform, Wasserstoff, Kälte ete., das Leben des Protoplasmas zu lähmen, während der Kern noch tätig 1) Max VERWORN: „Biologische Protistenstudien 1I“. In Zeitschr. f. wissensch. Zool., Bd. 50, 1894. 2 2) G. KLEBs: „Ueber den Einfluß des Kerns in der Zelle“. In Biol. Centralbl., 1.7.1887. 3) JEAN DEMOOR: „Contribution & l’&tude de la cellule“. In Arch. de Biologie, T. 13, Lidge 1894. Vom Mechanismus des Lebens. 629 blieb, mit anderen Worten also die Tätigkeit des Protoplasmas aus- zuschließen. Der Erfolg war der, daß der Kern ziemlich lange un- gestört am Leben blieb, ebenso wie in den vivisektorischen Teilungs- versuchen das Protoplasma nach Ausschaltung des Kerns noch lange Zeit normale Lebensäußerungen zeigt, ehe es zugrunde geht. Die Lebenstätigkeit des Kerns äußerte N 5 5 sich nun in DEMOORs Versuchen wie im normalen Zellenleben vor- # wiegend in den Vorgängen der Kern- ig! teilune. Indem der Kern, wie im ungestörten Zellleben, fortfuhr, sich zu teilen und die bekannten Kom- plizierten Teilungsfiguren zu bilden, entstanden alsbald zwei Zellkerne, die sich voneinander trennten. Während sich aber im ungestörten Zellleben bei der Trennung beider Zellkerne im Protoplasma stets so- fort eine neue Zellulosemembran bildet, welche die Teilung der ganzen Zelle in zwei Tochterzellen voll- kommen macht, blieb in den Ver- suchen DEMoORs die Bildung einer Zellulosemembran stets unfehlbar Ni aus, obwohl der Kern auch weiter- 9 hin noch seine normalen Lebens- äußerungen zeigte. Wenn also einer- seits die Versuche von KLEBS be- wiesen, daß der Kern zur Bildung der Zellulose notwendig ist, so zeigen anderseits die Versuche von DEMOOR, daß auch das Protoplasma an dieser Produktion beteiligt ist. Fig. 279. 4A Zellenreihe aus der Mit anderen Worten: Die Zellulose kann nur beim Zusammenwirken von Kern und Protoplasma ent- stehen. Diesen Ergebnissen der Ver- suche, denen sich noch zahlreiche ähnliche Erfahrungen anreihen ließen, steht eine ganze Reihe von morphologischen Beobachtungen an den verschiedenartigsten Zellen zur Seite, die sämtlich auf einen regen Stoffaustausch zwischen Kern und Protoplasma hinweisen. Wurzel von Pisum sativum. An der rechten Seite ist an drei Stellen die Bildung eines Wurzelhaares im Gange. Der Zellkern liegt diesen Stellen an. B Drei Zellen aus der Wurzel von Cueurbita pepo. An jeder Zelle be- ginnt sich ein Wurzelhaar zu bilden. Der Zellkern liest der Stelle an, wo das Wurzelhaar sich ausstülpt. € Wurzel- haar von Cannabis sativa. Der Zellkern liegt in der Spitze des Haares, wo das Wachstum stattfindet. Nach HABER- LANDT. Von hohem Interesse sind die von HABER- LANDT!) an Pflanzenzellen und von KOoRSCHELT an tierischen Zellen nachgewiesenen Lagebeziehungen des Kerns zu gewissen von der Zelle produzierten oder aufgenommenen Stoffen. Die Unter- 1) HABERLANDT: „Ueber die Beziehungen zwischen Funktion und Lage des Zellkerns bei den Pflanzen“, Jena 1887. — Derselbe: „Ueber Einkapselung des Proto- plasmas mit Rücksicht auf die Funktion des Zellkerns“. In Sitzungsber. d. Kais. Akad. der Wiss. in Wien, Bd. 98, Abt. I, 1889. 630 Sechstes Kapitel. suchungen von HABERLANDT betreffen die Wachstumsvorgänge der Zellmembran. An einem umfangreichen Material hat HABERLANDT festgestellt, daß in den Fällen, wo es sich um lokale Wachstums- vorgänge der Zellwand bei ihrer endgültigen Ausgestaltung handelt, wie etwa bei den Verdickungen an der Außenseite der Epidermis- zellen oder bei der Bildung der Leisten an den Spaltöffnungszellen oder wie bei der Anlage der durch Spitzenwachstum entstehenden Wurzelhaare der Keimwurzeln, oder auch wo Regeneratioren der künstlich verletzten Zellwand eintreten, kurz, daß in allen Fällen, wo eine besondere Entwicklung des Zellwandmaterials stattfindet, der Kern sich immer der Stelle anlagert, an der diese Wachstumsvorgänge lokalisiert sind (Fig. 278 u. 279). Vor Beginn und ebenso nach Ab- lauf dieser mannigfaltigen Wachstumsprozesse dageeen nimmt der Kern keine bestimmte Lage in der Zelle ein (Fig. 278 A). Den umfassenden Beobachtungen von HABERLANDT an Pflanzen- zellen stehen auf zoologischem Gebiet die ausgezeichneten Unter- suchungen von KORSCHELT!) zur Seite. KORSCHELT hat hauptsäch- lich Eizellen und sezernierende Zellen von In- sekten studiert. In den Eiröhren der Ovarien von Dytiscus marginalis, einem großen Wasserkäfer, liegen die einzelnen Eizellen, je zwei durch ein sogenanntes Nährfach vonein- ander getrennt, perlschnurartig hintereinander. Das Nährfach besteht aus Zellen, die Nähr- material für die Eizelle produzieren und an diese abgeben. Das Verhalten und die Lage des Kerns der Eizelle zu diesem Nährmaterial ist nun sehr charakteristisch (Fig. 280). Von dem Nährfach zieht eine Körnermasse, das Nährmaterial, in die Eizelle hinein, und zwar lagert sie sich hier derartig, daß sie direkt GYoforex ® = 27 Ra e/% » ZIKER: al’ al el 5‘ ol” Js’ Fig. 280. Eizelle von mit dem Kern in engste Berührunge kommt. 8 - * ” ” ” ” .. en nt Das Interessanteste aber, was die Aktivität aarubdber zwel anr- . T;s . us ae des Kerns dem Nährmaterial gegenüber ganz zellen tritt Nährmaterial in die Eizelle hinein, und der Kern der Eizelle sendet spitze Pseudopodien nach diesem Material aus. Nach KORSCHELT. augenfällig macht, ist, daß der Kern in die Körnermasse hinein und zwar nur nach der Seite hin, wo dieselbe ihn berührt, spitze pseudopodienartige Ausläufer entsendet und so seine Oberfläche an der Berührungsstelle mit dem Nährmaterial in ausgiebigster Weise vergrößert. Umgibt ihn das Nährmaterial an seiner ganzen Oberfläche, so zeigt auch die ganze Oberfläche pseudo- podienartige Ausläufer. Ein ähnliches Verhalten, besonders was die Lagerung des Kerns betrifft, schildert KORSCHELT von einer ganzen Reihe von Arthropoden- und Üölenteraten-Eizellen. Ein Gegenstück zu diesen Beobachtungen der Stoffaufnahme von seiten des Kerns bildet das interessante Verhalten der Kerne in sezernierenden Zellen bei der Stoffabgabe. Hier finden sich gegenüber den produzierten Stoffen ganz analoge Beziehungen wie in den Eizellen gegenüber den aufgenommenen Stoffen. An den Eiern einiger Wasserwanzen, Nepa, 1) KORSCHELT: „Beiträge zur Morphologie und Physiologie des Zellkerns“. In Zool. Jahrb. von SPENGEL, Bd. 4, 1889. Vom Mechanismus des Lebens. 31 und Ranatra, befinden sich eigentümliche chitinöse Anhänge, die sogenannten „Eistrahlen“, die von eigens dazu differenzierten Zellen gebildet werden. Diese Zellen, von denen je zwei sich zu einer von KorscHELT als „Doppelzelle“* bezeichneten einheitlichen Zelle mit zwei Kernen vereinigen, nehmen eine beträchtliche Größe an und scheiden innerhalb ihres Körpers selbst die Chitinmasse aus. Dabei ist das Verhalten der beiden Kerne sehr charakteristisch (Fig. 281 J). Sie entsenden nämlich nach der Mitte, wo die Chitinausscheidung stattfindet, zahlreiche, häufig verzweigte, pseudopodienartige Fortsätze, Fig. 281. Gestalt des Zellkernsin sezernierenden Zellen. 7 Doppelzellen mit je zwei Kernen aus den Ei- follikeln von Nepa einerea. Zwischen beiden Kernen wird Chitinmasse zur Bildung eines Eistrahls ausgeschieden, und die beiden Kerne haben nach dieser Seite hin Pseudopodien ausgestreckt, so daß die ausgeschiedene (körnige) Chitinmasse ringsherum von Kernpseudopodien eingeschlossen ist. // Sezernierende Zellen aus den Spinndrüsen von Raupen. Nach KORSCHELT. die eine sehr bedeutende Oberflächenvergrößerung bewirken, während die ganze übrige Oberfläche der Kerne glatt bleibt. Derartige Ober- flächenvergrößerungen der Kerne sind bei den sezernierenden Zellen der Insekten überhaupt weit verbreitet (Fig. 281 //) und weisen darauf hin, daß der Stoffaustausch zwischen Protoplasma und Kern bei der Sekretion ein sehr reger sein muß. Dem entspricht auch die von HEIDENHAIN !) beobachtete Tatsache, daß sich die Kerne der Speichel- drüsenzellen im Zustande der Ruhe und im Zustande angestrengter Sekretion wesentlich verschieden verhalten, indem nämlich in der Ruhe der Kern zackige Ausläufer in das umgebende Protoplasma entsendet, während er nach anhaltender Reizung eine runde Gestalt mit glatter Oberfläche besitzt. Ferner hat Baum?) gefunden, daß die Kerne ruhender Drüsenzellen sich mit Kernfärbemitteln viel dunkler färben als die Kerne solcher Drüsenzellen, die stark sezerniert haben, ein Zeichen, daß das Uhromatin bei der Sekretion zersetzt sein muß. Auch Liıty HuvıIE°) hat neuerdings sehr tiefgehende Veränderungen des Zellkerns im Zustande gesteigerter Tätigkeit der Zelle gefunden, 1) HEIDENHAIN: „Physiologie der Absonderungsvorgänge“. In HERMANNS Handb. d. Physiol., Bd. 5, 1883. 2) H. Baum: „Die morphologisch-histologischen Veränderungen in den ruhenden und tätigen Leberzellen“. In Deutsche Zeitschr. f. Tiermedizin u. vergl. Pathologie, Bd. 12, 1886. 3) Lıty HuIE: „Changes in the Cell-organs of Drosera rotundifolia, en Pr ecding with Egg-albumen“. In Quarterly Journ. of microsc. science, ol. 39, N. S. 632 Sechstes Kapitel. und zwar bei den sezernierenden Zellen der insektenfressenden Sumpf- pflanze Drosera, wenn dieselbe mit Eiereiweiß gefüttert wurde. An dem koloniebildenden Infusor Carchesium hat Miß GREENWOOD!) ebenfalls Veränderungen des Kerns beobachtet, die parallel mit der Ernährung der Zelle sich entwickeln. Die Ermüdungsveränderungen, die HopDGE, LUGARO, Mann, HOLMES u. a. an Ganglienzellen bei angestrengter Tätigkeit festgestellt haben, und die wir bereits früher ?) kennen lernten, gehören in dieselbe Gruppe von Tatsachen, und das gleiche gilt von der Beobachtung O. HErTwIGs?), daß in dotter- reichen Eizellen der Kern sich immer nach der Stelle der größten Fig. 282. Speicheldrüsenzellen. /In der Ruhe. Die Zellkerne haben sternförmige Gestalt. /I Nach Reizung der Drüse. Die Kerne sind rund. Nach HEIDENHAIN. Protoplasmaansammlung hin bewegt. Schließlich kann bei den ver- schiedenartigsten Zellformen während des Zelllebens vielfach ein be- merkenswerter Wechsel in der Größe des Kerns beobachtet werden *), der nur dadurch zustande kommen kann, daß der Kern Stoffe aus dem Protoplasma aufnimmt und an dasselbe abeibt. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle wird wegen der Existenz einer Kernmembran nur der Austausch flüssiger Stoffe zwischen Kern und Protoplasma möglich sein. In manchen Fällen aber, wo durch das Fehlen oder Verschwinden der Kernmembran die Möglichkeit eines Austausches von geformten Massen gegeben ist, haben eine ganze Reihe von Beobachtern, wie FROMMANN, AUERBACH, LEYDIG, BRASS, STUHLMANN u. a., auch direkt eine Aufnahme oder Abgabe von Körnchen und Schollen seitens des Kerns gefunden. Ja in gewissen Stadien des Entwicklungskreises mancher Zellen kommt regelmäßig ein Zerfall des Kerns in viele kleine Partikel vor, die vom Protoplasma resorbiert werden. So erinnern wir uns z. B. an das von R. HERTWIG’) 1) GREENWOOD: „On structural change in the resting nuclei of Protozoa. Part. I. The macronucleus of Carchesium polypinum“. In Journ. of Physiol., Vol. 20, 1896. 2) Vergl. p. 553. 3) OÖ. HERTWIG: „Welchen Einfluß übt die Schwerkraft auf die Teilung der Zelle?“ Jena 1884. 4) F. SCHWARZ: „Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des pflanzlichen Zell- a nach der Teilung“. In Beitr. z. Biol. d. Pflanzen von FERD. CoHn, Breslau 5) R. HERTWIG: „Ueber die Konjugation der Infusorien“. In Abhandl. d. Kgl. Bayr. Akad., München 1888. Vom Mechanismus des Lebens. 633 « beobachtete Verhalten der Kerne bei der Konjugation der Wimper- infusorien t), wo die ansehnlichen Massen der Makronuclei im Proto- plasma zu lauter einzelnen Partikeln zerfallen und vollständig resorbiert werden, während die Mikronuclei durch Stoffaufnahme bedeutend wachsen, ihre Substanz differenzieren, sich teilen und einerseits neue Mikronuclei, anderseits neue Makronuclei hervorbringen, die ganz bedeutende Größenzunahme im Protoplasma erfahren. Es ist nicht nötig, die Aufzählung von Tatsachen noch weiter auszudehnen. Aus den angeführten Versuchen und Beob- achtungen geht zur Genüge hervor, daß zwischen Protoplasma und Kern ein wechselseitiger Austausch von Stoffen besteht, ohne den keiner von beiden Zell- teilen auf die Dauer existieren kann. Mit anderen Worten: Kern und Protoplasma sind beide am Stoff- wechsel der ganzen Zelle beteiligt und für sein Be- stehen unentbehrlich. B. Ableitung der elementaren Lebensäußerungen aus dem Stoffwechsel der Zelle. 1. Die Stoffwechsel-Mechanik der Zelle. a) Stoffwechselschema der Zelle. Durch die Einfügung des Kerns und Protoplasmas in den Stoff- wechselkreislauf nimmt der Mechanismus des Stoffwechsels in der Zelle eine große Komplikation an. Wenn wir uns auch bei unserer mangelnden Kenntnis der speziellen chemischen Prozesse in der lebendigen Substanz zur Zeit noch keine genauere Vorstellung davon machen können, wie der Stoffwechsel des Biogens sich im Schema der Zelle mit differenziertem Kern und Protoplasma gestaltet, wie die einzelnen Glieder dieses Stoffwechsels auf beide Zellteile verteilt sind, so können wir uns doch auf Grund der bisherigen Erfahrungen wenigstens ein Bild von der großen Komplikation des Stoffwechsel- getriebes machen, indem wir uns die Beziehungen zwischen dem um- sebenden Medium und der Zelle mit ihrem Protoplasma und Kern in einem Schema veranschaulichen. In diesem Schema müssen die Wechselbeziehungen zwischen den drei Faktoren: dem äußeren Medium, dem Protoplasma und dem Kern, verzeichnet sein. Zu diesem Zweck ist es nötig, noch einige neue Tatsachen kennen zu lernen. Wenn sich aus den Ausfallssymptomen, die wir an kern- losen Protoplasmamassen einerseits und an kernhaltigen Zellen mit ausgeschaltetem Protoplasma anderseits feststellen konnten, bezüglich vieler Stoffwechselvorgänge eine weitgehende Abhängigkeit des Kerns und des Protoplasmas voneinander ergibt, so geht für manche andere Leistungen aus einigen Versuchen eine gewisse Unabhängigkeit beider Zellbestandteile voneinander hervor. Es gibt nämlich gewisse Vor- gänge, die auch nach Entfernung des Kerns am Protoplasma noch lange Zeit bestehen bleiben. Allein wir haben unter diesen Vorgängen zwei Gruppen voneinander zu unterscheiden. Die einen nämlich dauern nur deshalb noch eine Zeitlang fort, weil auch nach dem Herausnehmen des Kerns aus dem Protoplasma immer noch gewisse Mengen vom 1) Vergl. p. 239. 634 Sechstes Kapitel. Kern abgegebener Stoffe, die wir kurz als Kernstoffe bezeichnen wollen, im Protoplasma vorhanden sind; denn da ja der Kern fort- während Stoffe an das Protoplasma abgibt, so finden sich im Proto- plasma selbst stets noch gewisse Mengen dieser Stoffe vor, die mit der Herausnahme des Kerns nicht entfernt werden können. Auf Kosten dieser noch aus der Zeit vor der Entkernung im Protoplasma vorhandenen Stoffe können also gewisse Vorgänge, zu deren Zustande- kommen die Kernstoffe durchaus notwendig sind, noch eine Zeitlang fortbestehen. Erst mit dem Verbrauch dieser Stoffe hören dann auch die betreffenden Vorgänge auf. Etwas anders aber verhält es sich mit der anderen Gruppe von Stoffwechselvorgängen, die auch nach der Entfernung des Kerns im Protoplasma bestehen bleiben. Sie sind nicht unmittelbar von der Anwesenheit der Kernstoffe abhängig, d.h. die vom Kern an das Protoplasma abgegebenen Stoffe sind nicht unmittelbar zu ihrem Zustandekommen erforderlich. Daß solche Vorgänge existieren, zeigen uns die von KLEBs!) an plasmolysierten Zellen von Spirogyra gefundenen Tatsachen, die GERASSIMOFF’?) später in vollem Umfange bestätigt hat. Wenn Kress die Zellen eines Spirogyrafadens durch Plasmolyse in einer 16-proz. Rohr- zuckerlösung zum Zerfall in einzelne Protoplasmaklumpen brachte, so entstanden häufig Protoplasmastücke, die keinen Kern, aber noch Fetzen des Chlorophyllbandes der Zelle besaßen. GERASSIMOFF’) hat anch durch Anwendung von Narcotieis auf Spirogyrazellen, die in Teilung begriffen waren, vollständig kernfreie Zellen er- halten. Solche kernlose Protoplasmamassen lebten in den Versuchen von KLEBS unter günstigen Verhältnissen noch wochenlang weiter. Wie wir bereits früher sahen, hatten sie im Gegensatz zu den kern- haltigen Protoplasmamassen die Fähigkeit, eine neue Zellulose-Membran zu bilden, verloren. Dagegen blieben bei ihnen, wie KLEBS fand, andere Lebensäußerungen noch unverändert erhalten. Die kernlosen Protoplasmamassen verbrauchten nämlich, wenn sie im Dunkeln ge- halten wurden, die in ihnen enthaltene Stärke vollständig und bildeten, falls sie noch ein Stück Chlorophyll besaßen, im Licht von neuem Stärke. Das heißt mit anderen Worten: die Synthese der Stärke aus Kohlensäure und Wasser, sowie der weitere Verbrauch der Stärke ist bis zu einem gewissen Grade unabhängig vom Einfluß des Kerns. „Bis zu einem gewissen Grade“, denn wenn die anderen durch die Entfernung des Kerns bedingten Ausfallssymptome einen bestimmten Umfang erreicht haben, werden selbstverständlich auch die stärke- bildenden Chlorophyllkörper in Mitleidenschaft gezogen werden; sie werden selbst Veränderungen erfahren, keine Stärke mehr bilden und schließlich zugrunde gehen. Aber das tritt in dem vorliegenden Falle erst verhältnismäßig spät, häufig erst nach mehreren Wochen ein. Insofern also mit der Störung des ganzen Stoffwechsels durch Ent- fernung des Kerns auch der Stoffwechsel der Chlorophyllkörper gestört wird, ist die Stärkebildung auch in gewisser Weise, aber nur mittelbar, vom Kern abhängig. 2 1) G. KLEBs: „Ueber den Einfluß des Kerns in der Zelle“. In Biolog. Zentralbl., 0: 7188 2) GERASSIMOFF: „Ueber die kernlosen Zellen bei einigen Konjugaten“. In Bullet. de la Societ& Imperiale des Naturalistes de Moscou, 1892. 3) GERASSIMOFF: „Ueber ein Verfahren, kernlose Zellen zu erhalten‘. In Bullet. de la Societ& Imp6riale des Naturaiistes de Moscou, 1897. Vom Mechanismus des Lebens. 635 Ebenso wie in der Pflanzenzelle kernlose Protoplamamassen, falls sie nur noch ein Stück Chlorophylikörper haben, Kohlensäure spalten und Stärke synthetisch erzeugen, ebenso vermag auch das kernlose Protoplasma noch lange Zeit zu atmen. Den Beweis dafür, daß die Atmung an kernlosen Protoplasmastücken noch in demselben Maße fortdauert, wie an kernhaltigen Stücken oder ganzen Zellen, liefert uns folgender Versucht). Wir bringen in den hängenden Tropfen einer ENGELMANNSschen Gaskammer?) eine Anzahl von kernhaltigen und kernlosen Teilstücken von Infusorien zusammen mit unverletzten Individuen und lassen von einem Kırpschen Apparat her (Fig. 283 IT) in un Fig. 283. I ENGELMANNsche Gaskammer. | Ein ringförmiger Hohlraum ist unten von einer Glasplatte geschlossen und oben von einem Metalldeckel bedeckt, der in seiner Mitte ein Deckglas für die Untersuchung im hängenden Tropfen besitzt; a a‘ sind Heiz- röhren, die in den Hohlraum des Ringes selbst u I münden, so daß der Ring durch durchströmen- des warmes Wasser geheizt werden kann; b b‘ sind Röhren, die in die glasbedeckte Kammer selbst einmünden und zum Hindurch- leiten des Gases dienen, so daß der am Deckglas hängende Tropfen mit seinem lebendigen Inhalt in der Kammer vom Gase umspült wird. IT Versuchsanordnung zur Unter- suchung in reinem Wasserstoff. a KıPPrscher Apparat zur Wasserstoffentwick- lung, b zwei Waschflaschen zur Reinigung des Wasserstoffs, ce Mikroskop, unter dem sich die Gaskammer mit hängendem Tropfen befindet. einen Strom reingewaschenen Wasserstoffs durch die Gaskammer streichen, der die in der Kammer befindliche Luft in kurzer Zeit ver- drängt. Dann sehen wir, daß in der Regel schon nach 5—10 Minuten die kernlosen Teilstücke sowohl wie die kernhaltigen als auch die un- verletzten Infusorien anfangen, körnig zu zer fallen. Wird dann sehr schnell der Wasserstoff abgestellt und frische Luft statt dessen ein- gelassen, so gelingt es häufig, den vollständigen Zerfall noch zu ver- hüten, der sonst unfehlbar nach kurzer Zeit eintritt. Daraus geht hervor, daß auch in den kernlosen Protoplasmamassen noch ebenso Oxydationsprozesse stattfinden, wie in den kernhaltigen und in der 1) Max VERWORN: „Die physiologische Bedeutung des Zellkerns“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 51, 1891. 2) Vergl. p. 336. 636 Sechstes Kapitel. unverletzten Zelle. Man könnte bei den Versuchen mit Wasserstoff allerdings noch an die entfernte Möglichkeit denken, daß Wasser- stoff doch vielleicht nicht vollkommen indifferent für die lebendige Substanz wäre. Ein solcher Einwand würde wegfallen, wenn die Versuche mit absolut reinem Luftstickstoff gemacht würden, der, wie wir wissen, in der Tat vollkommen indifferent ist. Nachdem seit einigen Jahren die Verwendung von reinem Luftstickstoff für physio- logische Zwecke im Göttinger Laboratorium methodisch in größerem Maßstabe durchgeführt worden ist, sind denn auch die obigen Ver- suche mit reinem Luftstickstoff an Spirostomum ambiguum wiederholt worden !). Die intakten Individuen sowohl wie die kern- haltigen als auch die kernlosen Teilstücke erstickten bei diesen Ver- suchen ebenfalls innerhalb einiger Minuten. Dabei kam es immer zu einer Verlangsamung der Wimperbewegung bis zum völligen Stillstand. Wurde nach Eintritt des Stillstandes der Wimperbewegung sofort wieder Luft durch die Kammer gelassen, so erholten sich sowohl kernlose, wie kernhaltige Teilstücke wieder vollständig. Erneute Sauerstoffentziehung rief erneute Lähmung, erneute Sauerstoffzufuhr erneute Erholung an beiderlei Teilstücken hervor. Mit der Entziehung und Zufuhr von Sauerstoff werden also die Lebensäußerungen bei intakten Zellen, bei kernlosen und bei kernhaltigen Teilstücken ge- lähmt und wiederhergestellt. Daraus geht mit voller Sicherheit hervor, daß im Protoplasma der aöroben Zelle ein Sauerstoffverbrauch statt- findet. Aus der Tatsache aber, daß sowohl bei der Erstickung wie bei der erneuten Zufuhr von Sauerstoff die kernhaltigen wie die kernlosen Teilstücke ein übereinstimmendes Verhalten zeigen, ergibt sich ferner einwandsfrei, daß der Zellkern weder ein Oxydationsorgan, wie LOEB geglaubt hat, noch ein Sauerstoffdepot der Zelle sein kann, sondern daß die Atmung des Protoplasmas vom Zellkern unabhängig erfolgt. Auch PrROWAZERK?) hat kürzlich durch Versuche mit Neutralrot an verschiedenen Infusorien und Seeigeleiern gezeigt, daß in kernlosen Protoplasmamassen noch Oxydationsprozesse stattfinden, daß also der Kern nicht zum Zustandekommen derselben erforderlich ist. Aus allen diesen Versuchen geht allerdings noch nicht mit Sicherheit hervor, ob nicht etwa im Kern ebenfalls Oxydationsprozesse stattfinden, wie im Protoplasma. Allein eine solche Annahme wäre in hohem Grade unwahrscheinlich schon wegen der zentralen Lage des Zellkerns in der Zelle, die ihn für den Sauerstoffwechsel sehr ungeeignet machen würde. Aber auch abgesehen davon sprechen noch folgende Momente sehr stark gegen die Annahme von Atmungsvorgängen im Zellkern. Erstens sind bei den Erstickungsversuchen in Stickstoff am Zellkern niemals irgendwelche mikroskopische Veränderungen zu sehen, während am Protoplasma sehr tiefgehende Veränderungen auftreten. Zweitens aber hat DEMoOR?) in seinen Versuchen an Spirogyren, die er in reinen Wasserstoff brachte, gefunden, daß das Protoplasma bald alle Lebensäußerungen einstellte, während der Kern keine Störungen zeigte und ruhig fortfuhr sich zu teilen. Es scheint demnach, als ob l) MAx VERWORN: „Die Lokalisation der Atmung in der Zelle“. In Fest- schrift zum 70. Geburtstage von ERNST HAECKEL, Jena 1904. 2) PROWAZEK: „Studien zur Biologie der Zelle“. In Zeitschr. f. allgem. Physiol., Bd. 2, 1903. 3) JEAN DEMOOR: „Contribution & l’&tude de la cellule“. In Arch. de Biologie, T. 13, Lidge 1894. Vom Mechanismus des Lebens. 637 die Atmung ausschließlich im Protoplasma lokalisiert wäre, als ob der Kern nicht an den Oxydationsprozessen direkt teilnähme. Die Annahme Lorgs, der Kern sei das Oxydationsorgan der Zelle, ist bloße Phantasie. Nach den Erfahrungen an kernlosen Protoplasmamassen wäre es wünschenswert, auch an protoplasmaberaubten Kernen analoge Ver- suche darüber anzustellen, ob noch gewisse Stoffwechselvorgänge nach Ausschaltung des Protoplasmas längere Zeit ungestört fortdauern. Allein die Entscheidung dieser Frage stößt auf große Schwierigkeiten aus dem einfachen Grunde, weil wir am Kern nur schwer ein äußerlich wahrnehmbares Kriterium für seinen Stoffwechsel auffinden können. Fig. 234. Leukocyt vom Frosch in einem Grade der Chloroformnarkose, wo das Proto- plasma vollständig gelähmt ist, während der Kern noch amöboide Bewegungen macht, Vergl.a, b, c u. d. Nach DEMOOR. n b F d Dennoch geht aus den bereits genannten Untersuchungen von DEMOOR deutlich hervor, daß auch der Kern nach Ausschaltung des Proto- plasmas noch längere Zeit Lebensäußerungen zeigt. DEMOOR narkoti- sierte Zellen von Spirogyra mit Chloroform, so daß das Proto- plasma vollständig gelähmt war, und fand, daß der Kern trotzdem ungestört seine komplizierten Teilungsstadien durchlief und die charak- teristischen Veränderungen zeigte, die er in der unversehrten Zelle bei der Zellteilung bemerken läßt. In den Leukocyten des Frosches besitzt der Kern amöboide Beweglichkeit, und DEMmooRr konnte durch Narkose mit Chloroform das Protoplasma lähmen, ohne daß der Kern seine amöboiden Bewegungen einstellte (Fig. 284). Diese Erfahrungen lassen erkennen, daß auch einzelne Vorgänge im Kern in gewissem Maße unabhängig vom Einfluß des Protoplasmas stattfinden. Freilich läßt sich vorläufig nicht entscheiden, ob diese Vorgänge nur deshalb noch fortbestehen, weil auch nach der Ausschaltung des Protoplasmas immer noch Protoplasmastoffe im Kern enthalten sind, die erst ver- braucht werden müssen, ehe die betreffenden Vorgänge aufhören, oder ob diese Vorgänge in der Tat nicht unmittelbar von den Stoffen des Protoplasmas abhängig sind. Vermutlich werden auch hier beide Fälle verwirklicht sein, denn auch die letztere Möglichkeit hat sehr viel Wahrscheinlichkeit für sich, wenn wir daran denken, daß der Kern jedenfalls auch direkte Stoffwechselbeziehungen zu dem äußeren Medium besitzt, die ohne Vermittlung des Protoplasmas verlaufen. Ohne Zweifel gibt es Stoffe, die vom äußeren Medium durch das Protoplasma hindurch unverändert in den Kern gelangen, um hier für den Stoffwechsel benutzt zu werden. Sicher ist dies von einer be- stimmten Wassermenge der Fall, die ja unbedingt zu jedem Lebens- prozeß notwendig ist. Das Wasser kann auch beständig durch die Zellmembran in das Protoplasma und durch die Kernmembran in den Kern hinein diffundieren. Mit dem Wasser aber werden jedenfalls auch manche Stoffe, die in ihm gelöst sind, von außen in den Kern hinein gelangen und hier zu chemischen Umsetzungen verbraucht werden. 638 Sechstes Kapitel. Schließlich ist anzunehmen, daß nicht alle Stoffe, die der Kern nach außen abgibt, vom Protoplasma zu Umsetzungen benutzt werden, sondern daß auch einige als unbrauchbar das Protoplasma passieren und nach außen befördert werden. Um eine anschauliche Vorstellung davon zu gewinnen, wie eng und fest der Kern in den Stoffwechsel der Zelle verwebt ist, und welche Komplikationen des Stoffwechsels in der Zelle durch die Ein- fügung des Kerns in seinen Kreislauf bedingt sind, ist es zweck- mäßig, die experimentell gewonnenen Tatsachen zu einem Schema zu vereinigen, wie es die beistehende Fig. 285 zur Anschauung bringt!). Das Schema stellt eine Zelle mit Kern vor, in der jeder Pfeil eine Summe von Stoffen auf ihrem Wege im Stoffkreislauf bezeichnet. Die Zelle nimmt gewisse Stoffe von außen auf, von denen ein Teil (a) bereits im Proto- plasma beim Zusammentreffen mit den im Protoplasma vor- handenen Stoffen Spaltungen und Synthesen erfährt. Von den aus diesen Umsetzungen hervor- gehenden Stoffen wird ein Teil (b) als unbrauchbar alsbald wieder RN Ba een ausgeschieden; ein anderer Teil 1g. . chema es w 1 . der Zelle. Die Pfeile geben die Richtung C) bleibt im Protoplasma und der Btoffwanderung an. wird hier weiter verwendet; ein dritter Teil (d) wird dagegen dem Kern zugeführt. Der Kern erhält außerdem noch einen Teil der von außen aufgenommenen und un- verändert durch das Protoplasma gegangenen Stoffe (e). Die in den Kern eintretenden Stoffe (d-+e) erfahren ihrerseits wieder im Kern gewisse Umsetzungen, aus denen wieder Stoffe resultieren, die zum Teil nach außen abgegeben werden, ohne vom Protoplasma ver- ändert zu sein (/), zum Teil in das Protoplasma gelangen, um hier weitere Verwendung zu finden (%), und zum Teil im Kern selbst bleiben (g). Wenn wir uns nun klar machen, daß jeder Pfeil eine ganze Summe von Stoffen repräsentiert, daß die vom Kern an das Proto- plasma abgetretenen Stoffe mit den von außen eintretenden auch wieder Umsetzungen eingehen, daß endlich die aus diesen Umsetzungen hervorgehenden Stoffe zum Teil wieder dem Kern zugeführt werden, so erhalten wir ungefähr einen Begriff, wie eng die Stoffwechselver- kettung des Kerns mit dem Protoplasma ist. Ferner müssen wir uns erinnern, daß bei allen unseren Betrach- tungen Kern und Protoplasma eine große Summe von verschiedenen, in vielen Fällen sogar morphologisch differenten Körpern vorstellt, daß in dem Begriff „Kern“ auch alle als Nebenkerne, Mikronuclei etc. bezeichneten Gebilde zusammengefaßt sind, daß unter „Proto- plasma“ die ganze Summe von verschiedenen Differenzierungspro- l) Max VERWORN: „Psycho-physiologische Protistenstudien“, Jena 1889. Vom Mechanismus des Lebens. 639 dukten, auch Chlorophylikörper, Zentrosome etc., verstanden ist. Erst wenn wir berücksichtigen, daß alle die differenten Körper der Kern- substanz und ebenso die Körnchen, Zentrosome, Ohlorophylikörper etc. des Protoplasmas wenigstens zeitweilig selbst am Stoffwechsel beteiligt sind, daß jeder ein Glied des gesamten Stoffwechsels bildet, erst dann gewinnen wir eine annähernde Vorstellung von der ge- walticen Komplikation des Stoffwechsels in der winzigen Zelle und von den unendlich vielseitigen Beziehungen, durch die der Kern und das Protoplasma untereinander verknüpft sind. Aus diesen engen Stoffwechselverknüpfungen ergibt sich eine weitgehende Korrelation zwischen den einzelnen Elementen der Zelle, speziell zwischen dem Kern und dem Protoplasma. Das eine ist durch das andere bedingt. Eines ist auf die Stoffe, die das andere produziert, angewiesen. So erklären sich die tiefgreifenden Verände- rungen, die das Leben der Zelle erfährt, wenn sich einzelne Glieder der großen Stoffwechselkette, sei es spontan im Laufe der Entwick- lung, sei es infolge der Einwirkung von äußeren Reizen, verändern. Jede Veränderung eines Gliedes im Biotonus hat auch eine Verände- rung vieler anderer Glieder zur Folge, und fällt ein Glied aus irgend- welchem Grunde gänzlich fort, so ist die Stoffwechselkette durch- brochen, und es beginnt die Nekrobiose, die schließlich mit dem Tode endigt. * * b) Mechanik der Aufnahme und Abgabe von Stoffen. Nachdem wir hiermit ein allgemeines Bild von den vielver- schlungenen Wegen des Stoffwechsels in der Zelle gewonnen haben, bleibt uns noch die Frage übrig, wie dieses Getriebe mechanisch unterhalten wird. Da es sich bei den Stoffwechselbeziehungen zwischen dem Kern und dem Protoplasma ebenso wie zwischen der ganzen Zelle und dem Medium um die Aufnahme und Abgabe von Stoffen handelt, so läßt sich die Frage auch einfach in dem Problem zu- sammenfassen, wie die Aufnahme und Abgabe von Stoffen seitens der Zelle mechanisch zustande kommt. Es ist zweckmäßig, dabei die Aufnahme und Abgabe von ge- lösten Stoffen und die Aufnahme und Abgabe von geformten Stoffen gesondert zu betrachten. Man hat lange Zeit den Austausch von gelösten Stoffen zwischen Zelle und umgebendem Medium, und zwar sowohl die Resorption wie die Sekretion, für Vorgänge gehalten, die sich ohne weiteres aus den Gesetzen der Filtration und Diffusion ergeben. Allein in neuerer Zeit ist man auf verschiedene Tatsachen aufmerksam geworden, die beweisen, daß die Filtration überhaupt keine Rolle bei den Vorgängen der Resorption und Sekretion spielt, und daß auch die Diffusion oder Osmose nicht allein ausreicht, um diese Vorgänge zu erklären. Besonders seit den grundlegenden Untersuchungen HEIDEN- HAINS!) wissen wir, daß es der Lebensvorgang in der Zelle selbst ist, der beim Austausch gelöster Stoffe zwischen Zelle und Medium die bedeutendste Rolle spielt, denn die Diffusion allein ist nicht imstande, 1) HEIDENHAIN : ‚Neue Versuche über die Aufsaugung im Dünndarm“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 56, 1894. 640 Sechstes Kapitel. die Triebkraft zu erklären, mit der z. B. das Sekret vieler Drüsen- zellen ausgestoßen wird, oder die beträchtliche Energie, mit der z.B. gewisse Nahrungsstoffe von seiten der Darmepithelzellen herein- gerissen werden. In den letzten Jahren hat nun die Erkenntnis der Tatsache, daß die Protoplasmaoberflächen die Eigenschaften semi- permeabler Membranen besitzen, einen wesentlichen Fortschritt in dem Verständnis der Vorgänge des Stoffaustausches zwischen Zelle und Medium angebahnt. Wie wir bereits an anderer Stelle!) sahen, haben die semipermeablen Membranen die Eigentümlichkeit, die Diffusion von Stoffen so abzuändern, daß sie nicht mehr einfach den Diffusionsgesetzen folgt, sondern einer gewissen Elektion unterliegt. Die semipermeablen Membranen lassen gewisse diffusible Stoffe hin- durch, andere nicht. Dazu kommt noch, daß dieses Elektionsver- mögen nicht nur bei verschiedenen Protoplasmaoberflächen ver- schieden ist, sondern sich auch bei der gleichen Protoplasmaoberfläche unter verschiedenen Bedingungen ändern kann. Auf diese Weise wird der Prozeß des Stoffaustausches viel komplizierter als wir es früher geglaubt haben und es läßt sich ein allgemeines Gesetz für allelebendigen Zellen nur soweit formulieren, als der Stoffaustausch zwischen Zelle und Medium überall be- ruht einerseits auf Diffusionsvorgängen, die durch die spezifischen Eigenschaften der semipermeablen Zell- oberflächen elektiv beeinflußt werden und andererseits auf den chemischen Umsetzungenin der Zelle. Unter Diffusion oder ÖOsmose ver- steht man bekanntlich die Tatsache, daß sich zwei verschiedene Gase oder Flüssig- keiten, die miteinander mischbar sind, von selbst zu einem gleichartigen Ge- menge mischen, wenn sie miteinander in Berührung gebracht werden. Wir haben diesen Vorgang bereits oben kennen ge- lernt. Erinnern wir uns wieder an die dort beschriebenen Tatsachen und an die elektiven Eigenschaften semipermeabler Membranen (vergl. p. 134 ff.), so können Fig. 286. Dialysator. wir uns an einer einfachen Dialysevorrich- tung (Fig. 286) die große Bedeutung klar machen, die der Chemismus der Zelle bei bestehender Dif- fusion oder Ösmose besitzt. Haben wir in dem äußeren Gefäß des Dialysators eine diffusible Salzlösung, in dem inneren Gefäß dagegen eine reichliche Menge der Lösung eines Stoffes, der nicht durch die Mem- bran diffundiert, etwa eines kolloiden Stoffes, so wird aus der Lösung des sroßen Gefäßes in die Flüssigkeit des Zylinders eine bestimmte Menge Salz hineindiffundieren, während vom Zylinder keine Substanz in das srößere Gefäß übertreten kann. Stellen wir uns nun vor, daß die Substanz im Zylinder mit dem Salz eine nicht diffusible Verbindung bildet, so wird das in den inneren Zylinder hineindiffundierende Salz 1) Vergl. p. 134 ff. Vom Mechanismus des Lebens. 641 hier sofort aus dem Diffusionsakt ausgeschaltet. Würde ferner die so entstandene chemische Verbindung kontinuierlich in einfache diffu- sible Stoffe ganz anderer Art zerfallen, die durch Diffusion wieder nach außen hin abtreten, so würde immer neue Salzlösung aus dem äußeren Gefäß in den inneren Zylinder hineindiffundieren und die Salzlösung im großen Gefäß immer dünner und dünner werden, bis schließlich alles Salz in den Zylinder hineindiffundiert, gebunden und entfernt wäre. Ein solcher Fall ist realisiert bei dem Austausch gasförmiger und gelöster Stoffe zwischen dem Medium und der lebendigen Substanz. Die lebendige Substanz ist mischbar mit den gasförmigen und ge- lösten Nahrungsstoffen und sie hat chemische Affinität zu ihnen. Die Protoplasmaoberfläche vertritt die Membran des inneren Zylinders, der Zellinhalt den Inhalt des Zylinders, und die gasförmigen oder gelösten Stoffe vertreten die Stelle der Salzlösung des äußeren Ge- fäßes. Diese Stoffe müssen diffusibel sein, soll überhaupt eine Auf- nahme stattfinden: dagegen kann die lebendige Substanz nicht durch die Zellmembran diffundieren, da ja die Eiweißkörper etc. zu den so- genannten „Kolloidsubstanzen“ gehören. Es werden also die Nahrungs- stoffe in die Zelle eintreten, die lebendige Substanz aber nicht aus- treten können. Da indessen die lebendige Substanz chemische Affinität zu den Nahrungsstoffen hat, muß sie dieselben gleich nach ihrem Eintritt in die Zelle binden. Gleichzeitig zerfällt aber dauernd die lebendige Substanz, gibt die einfachen diffusiblen Zerfallsprodukte nach außen ab und bildet durch den Assimilationsakt mit Hilfe der von außen aufgenommenen diffusiblen Nahrungsstoffe synthetisch selbst wieder komplizierte kolloidale, d. h. nicht diffusible Verbindungen, die wieder demselben Schicksal verfallen usf. So werden die auf- genommenen Nahrungsstoffe immer wieder verbraucht, so daß immer wieder neue Massen in die Zelle hineindiffundieren müssen, und so werden die diffusiblen Zerfallsprodukte des Stoffwechsels immer wieder nach außen hin abgegeben. Stellen wir uns also vor, eine lebendige Zelle läge in einem Medium, das Nährstoffe enthält, also etwa eine Bakterien- zelle läge in einer Nährflüssigkeit, so müssen auf Grund der Osmose und des Chemismus der Zelle die Stoffe der Nährflüssigkeit, soweit sie die semipermeable Protoplasmaoberfläche passieren können, durch die Zellwand hindurch in die Zellsubstanz und umgekehrt die Stoffe der Zellsubstanz, welche die Zellwand passieren können, aus der Zelle in die Nährflüssigkeit treten. Dieser Austausch müßte so lange dauern, bis ein Ausgleich der transportablen Stoffe zwischen Zell- inhalt und Medium eingetreten wäre. Dann müßte der Stoffwechsel aufhören. Allein dieser Zustand tritt in der lebendigen Zelle niemals ein, da wir in der lebendigen Substanz Verbindungen haben, die fortwährend zerfallen und sich von neuem aufbauen. Es kann zwischen der lebendigen Zelle und dem Medium niemals zu einem endgültigen Ausgleich der transportablen Stoffe kommen, weil einer- seits die Stoffe, welche die Zelle vom Medium aufnimmt, immer gleich wieder verbraucht und in andere Verbindungen umgesetzt werden, und weil anderseits die Stoffe, welche die Zelle an das Medium abgibt, immer wieder in neuen Mengen gebildet werden. Es muß daher der Austausch zwischen Zelle und Medium so lange fortdauern, wie die Zelle einerseits noch in genügender Menge Nährstoffe aus dem Medium aufnehmen und anderseits in genügendem Maße Exkretstoffe an das Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 41 642 Sechstes Kapitel. Medium abgeben kann. Ist aber die Masse des umgebenden Mediums eine begrenzte, so muß die Zelle nach einiger Zeit zugrunde gehen, und zwar in dem Moment, in dem entweder die Menge der darin ent- haltenen Nährstoffe verbraucht ist, oder in dem das Medium schon so mit Exkretstoffen gesättigt ist, daß die Abgabe derselben von seiten der Zelle vermindert oder aufgehoben ist. Beide Fälle sind sehr leicht in Bakterienkulturen experimentell zu erzeugen. Die Bakterien sterben entweder an Nahrungsmangel oder an der Anhäufung ihrer eigenen Stoffwechselprodukte, weil der osmotische Stoffaustausch zwischen Bakterienzelle und Nährflüssigkeit durch allmählichen Ausgleich der Stoffe zwischen Zelle und Medium schließlich aufhört. Auch die Ermüdungsvorgänge, die durch Anhäufung von lähmenden -Stoft- wechselprodukten bedingt sind, liefern ein Beispiel für diese |Ver- hältnisse. In manchen Fällen wird aber der Mechanismus des Stoffaus- tausches zwischen Zelle und Medium noch etwas komplizierter. Wenn nämlich die Nährstoffe im umgebenden Medium nicht in diffusibler Form vorhanden sind, d. h. wenn sie entweder geformt sind oder so große Moleküle haben, daß sie die Poren der Zellwand nicht passieren können, dann müssen sie erst löslich und diffusibel gemacht werden, ehe sie die geschlossene Zelloberfläche passieren können. Das ge- schieht durch die Wirkung der Enzyme, welche die Zelle produziert und in manchen Fällen nach außen abgibt. In Berührung mit diesen Enzymen werden z. B. die polymeren Moleküle des Eiweißes, des Leims, der Stärke, des Fettes ete., sowie die geformten Massen dieser Stoffe gespalten und in Lösung gebracht und können nunmehr durch die Zellwand ins Innere der Zelle hineindiffundieren. Gerade bei Bakterienzellen kann man auch diesen Vorgang sehr gut verfolgen. Bringen wir z. B. eine Bakterienzelle auf eine mit fester Nährgelatine bedeckte Glasplatte, so beginnt die Zelle allmählich die Gelatine in ihrer Umgebung zu verflüssigen, d.h. die festen Stoffe in Lösung zu bringen, und aus dem so entstehenden Flüssigkeitstropfen, der die Bakterienzelle umgibt, können die gelösten Nährstoffe in die Zelle hineindiffundieren. Bei membranlosen Zellen endlich mit nackter Protoplasmaober- fläche ist eine extrazellulare Verdauung nicht erforderlich, weil ja hier die Nahrungsstoffe, selbst wenn sie nicht diffusibel sind, ohne weiteres mit der Oberfläche des Protoplasmas in chemische Beziehung treten können. Diese Ueberlegungen lassen es uns mechanisch im wesentlichen begreifen, wie sich die Resorption und Sekretion an der lebendigen Zelle fortwährend von selbst vollziehen kann. Auch die hohen Energie- werte, die sowohl die Resorption als die Sekretion erzielen kann, werden verständlich, wenn wir den Chemismus der lebendigen Zelle genügend berücksichtigen; denn findet in einer Zelle ein sehr leb- hafter Stoffumsatz statt, dann ist es ohne weiteres klar, daß die um- gesetzte chemische Energie in der Resorption wie in der Sekretion zu ganz beträchtlichen Leistungen führen kann. Immerhin bleiben im speziellen Falle noch genug Rätsel übrig, deren Beantwortung aber an eine andere Stelle gehört. Liegen dem Austausch gelöster Stoffe zwischen Zelle und Medium vermutlich in allen Fällen die gleichen Prinzipien zugrunde, so beruht dagegen die Mechanik des Austausches geformter Vom Mechanismus des Lebens. 643 Stoffe in den einzelnen Fällen auf sehr verschiedenartigen Grund- lagen. Allen Fällen des Austausches geformter Stoffe ist nur gemein- sam, daß dieser Austausch lediglich durch Bewegungen der be- treffenden Zelle vermittelt wird, aber das Zustandekommen dieser Bewegungen kann in den verschiedenen Fällen auf sehr verschiedene Weise durch die Einwirkung der Nahrung bedingt sein. Wir finden die Aufnahme und Abgabe geformter Stoffe nur wenig verbreitet, und zwar nur einerseits bei nackten Protoplasmamassen, wie Rhizo- poden, Leukocyten etc., und anderseits bei Infusorien, soweit sie eine besondere Mundöffnung besitzen. Bei vielen Infusorien, wie z. B. Stentor, Vorticella, also namentlich bei solchen, die eine festsitzende Lebensweise führen, scheint die Nahrungsaufnahme lediglich dem Zufall überlassen zu sein, der gelegentlich kleine, freischwimmende Nahrungspartikel, wie Algenzellen, Schwärmsporen, Bakterien etc., in den Bereich des charybdisähnlichen Strudels führt, der durch den Schlag der Peristom- wimperreihe erzeugt wird. Dieser Strudel wird in seiner Richtung durch Veränderungen im Wimperschlag in ganz bestimmter Weise beeinflußt und zeitweilig so geregelt, daß er direkt in die Mund- öffnung des Zellkörpers leitet. Freischwimmende Infusorien und die meisten nackten Protoplasmamassen dagegen suchen die geformte Nah- rung selbst auf. Dabei werden sie entweder durch chemische Reize, die von den Nahrungsmassen durch Diffusion gewisser Stoffe ausgehen, aus der Ferne herbeigelockt, oder sie werden bei direkter Berührung mit den Nahrungsmassen durch mechanische Reizung zur Aufnahme veranlaßt. Im ersteren Falle ist das Aufsuchen und die Aufnahme der Nahrung eine Form von positiver Chemotaxis, indem die Zelle sich nach der chemischen Reizquelle hin bewegt, und ihr Protoplasma in engste Beziehung zu den betreffenden Stoffen bringt, im letzteren Falle eine Form der positiven Thigmotaxis, indem die Zelle die Be- rührung mit dem betreffenden Nahrungskörper möglichst ausdehnt und ihn mit ihrem Protoplasma umfließt. Sehr häufig sind beide Momente vereinigt. Immer aber wird der Nahrungsballen vom Protoplasma allseitig umflossen, wenn er mit ihm in Berührung getreten ist, sei es an der Oberfläche des nackten Protoplasmakörpers, sei es im Grunde der Zellmundöffnung eines Infusors. Diese Umfließung erklärt sich in vielen Fällen aus der expansorischen Wirkung, die der Reiz des Nahrungsballens auf das Protoplasma ausübt: denn wenn sich die Oberfläche des Protoplasmas um den Nahrungsballen ringsherum vorwölbt, muß derselbe schließlich vom Protoplasma umflossen sein. In vielen Fällen dagegen scheinen lediglich die mechanischen Be- ziehungen der Oberflächen des Protoplasmas einerseits und des auf- zunehmenden Nahrungskörpers anderseits zu genügen, um einen Import des letzteren in das Protoplasma herbeizuführen. In dieser Hinsicht sind die ausgezeichneten Untersuchungen von RHUMBLER!) interessant, die dieser Forscher vor mehreren Jahren über verschiedene Momente aus der Mechanik des Zelllebens angestellt hat. So fand RHUMBLER beispielsweise, daß Chloroformtropfen, welche in Wasser liegen, Schel- 1) L. RHUMBLER: „Physikalische Analyse von Lebenserscheinungen der Zelle. I. Bewegung, Nahrungsaufnahme, Defäkation, Vakuolenpulsation und Gehäusebau bei lobosen Rhizopoden“. In Arch. f. Entwicklungsmechanik der Organismen, Bd. 7, 1898. 41* 644 Sechstes Kapitel. lackfäden, die mit ihnen in Berührung kommen, von selbst umfließen, genau wie eine Amöbe ihre Nahrung mit dem Protoplasmakörper umfließt. Hier sind es lediglich die molekularen Beziehungen der Adhäsion zwischen Chloroform und Schellack, die zur Aufnahme des letzteren in den Chloroformtropfen führen. Die Aufnahme von geformter Nahrung findet also ihre Erklärung teils in dem Mecha- nismus der chemotaktischen und thigmotaktischen Reizwirkungen, den wir bereits an anderer Stelle genauer kennen lernten’), teils in den molekularen Öberflächenbeziehungen der Zelle zu den Nahrungs- stoffen. Wie die Abgabe geformter Stoffe stattfindet, ist noch wenig untersucht. Es scheint, als ob sie vielfach dem Zufall überlassen ist. Wenigstens macht es bei der Amöbe den Eindruck. Die geformten Stoffe liegen in der Regel.in Vakuolen, und wenn einmal die Vakuole bei der fortwährenden Bewegung des Protoplasmas dicht an die Körperoberfläche zu liegen kommt, platzt gelegentlich die dünne Wand, die sie vom umgebenden Medium trennt, und der Inhalt wird frei. Vielleicht aber sind zu diesem Platzen der Vakuolenwand auch irgend- welche Reize von seiten des Exkretballens notwendig. Ferner spielen auch hier die Oberflächenbeziehungen zwischen dem Protoplasma und dem Fremdkörper eine große Rolle. So fand RHUMBLER (l. c.), daß Chloroformtropfen in Wasser Glasstückchen, die man in sie hinein- gebracht hat, von selbst an das Wasser abgeben, weil einerseits die Kohäsion der Chloroformteile untereinander und anderseits auch die Adhäsion zwischen Glas und Wasser viel größer ist als die Adhäsion zwischen Glas und Chloroform. Eine Schwierigkeit für die Annahme einer lediglich durch die Adhäsions- und Kohäsionsbeziehungen be- dingten Aufnahme und Abgabe von festen Stoffen liegt scheinbar in der Tatsache, daß ein Flüssigkeitstropfen, der eine bestimmte Art von Fremdkörpern in sich hineinzieht, dieselben nie wieder nach außen abgibt, während doch die Amöbe erst die Nahrungskörper aufnimmt und später auch wieder nach außen abstößt. Allein RHUMBLER macht mit Recht darauf aufmerksam, daß der Nahrungskörper, der von der Amöbe aufgenommen ist, sich ja im Protoplasma chemisch verändert und daher nach der Verdauung eine ganz andere Beschaffenheit be- sitzt als vorher. Unter Berücksichtigung dieses Umstandes konnte RHUMBLER auch künstlich eine Versuchsanordnung herstellen, bei der ein fester Körper erst von einem Flüssigkeitstropfen aufgenommen und später wieder abgegeben wurde. Er wählte wieder Chloroform- tropfen in Wasser und brachte sie in Berührung mit feinen Glasfäden, die mit einer dünnen Schicht von Schellack überzogen waren. Chloro- form nimmt Schellack auf. Daher wurden die Fäden in den Tropfen hineingezogen und von demselben umflossen (Fig. 287), genau wie ein Bakterienfaden von einem Leukocyten (vergl. Fig. 55, p. 172) oder wie ein Algenfaden von einer Amöbe. In Chloroform ist Schellack löslich. Daher wurde der Glasfaden nach kurzer Zeit von seinem Schellacküberzug befreit. Reines Glas wird aber von Chloro- form in Wasser ausgestoßen. Infolgedessen gab der Chloroform- tropfen die von ihrer Schellackhülle befreiten Glasfäden wieder nach außen ab (Fig. 287), wie eine Amöbe die unverdauten Zellulose- hüllen eines Algenfadens. 1) Vergl. p. 608 ff. Vom Mechanismus des Lebens. 645 Als einen ganz wunderbaren Vorgang, der einer mechanischen Erklärung besondere Schwierigkeiten mache, hat man mehrfach die sogenannte Nahrungsauswahl von seiten lebendiger Zellen hingestellt, d. h. die Tatsache, daß die Zellen unter den ihnen zur Verfügung stehenden Stoffen nur ganz bestimmte Stoffe in sich aufnehmen!. So hat BunGE?) von dem Aufsuchen der Spirogyrafäden seitens der Vampyrella Spirogyrae ge- sagt: „An eine chemische Erklärung dieser Erscheinungen ist vor- läufig gar nicht zu denken.“ Weshalb aber daran nicht zu denken sein soll, ist eigentlich nicht recht verständlich. Schält man aus diesen Vorgängen das Prinzip heraus, das ihnen zugrunde liegt, d. h. die Tatsache, daß jede Zelle nur ganz bestimmte Stoffe in sich aufnimmt und andere nicht, so gibt es im Gegenteil eigentlich kaum etwas, was selbstverständlicher wäre. Jede Zelle hat ihre charakteristische Zu- sammensetzung aus ganz bestimmten Stoffen und hat ihren ganz eirentümlichen Stoffwechsel. Ist es da unverständlich, daß nur die- jenigen Stoffe aus dem Medium in den Stoffwechselkreislauf der Zelle hineingezogen werden, die chemische Beziehungen zu den Stoffen des Zellkörpers haben und zur Unterhaltung des Stoffwechsels nötig sind, während die anderen, die keine solchen Beziehungen zur lebendigen Substanz der Zelle besitzen, die für die Zelle indifferent sind, nicht aufgenommen und bei freier Ortsbewegliehkeit nicht aufgesucht werden ? Fig. 287. Ein überschellackter Glasfaden wird von einem Chloroform- tropfen aufgenommen und dann, nachdem er seiner Schellackrinde entkleidet ist, wieder ausgestoßen. Nach RHUMBLER. Das Prinzip, das diesem Vorgange zugrunde liegt, ist offenbar kein anderes als das, welches die ganze Welt der Atome und Moleküle überhaupt beherrscht, das Prinzip der Affinität. Daß eine Vam- pyrella Spirogyrae nur Spirogyrafäden aufsucht, umfließt und verdaut und andere Körper nicht, ist sicherlich nicht wunderbarer als daß sich ein Phosphoratom mit einem Sauerstoffatom sehr leicht ver- bindet, mit einem Stickstoffatom dagegen nicht, obwohl ihm in der Luft beide zur Verfügung stehen oder daß ein ranziger Oeltropfen, 1) Vergl. p. 175. 2) BunGE: „Lehrbuch der physiologischen und pathologischen Chemie“, 5. Aufl., Leipzig 1901. 646 Sechstes Kapitel. wie Gap!) gezeigt hat, auf einer alkalischen Flüssigkeit amöboide Fortsätze aussendet und das Alkali zur Seifenbildung benutzt, auf einer saueren dagegen in Ruhe bleibt. Das Benehmen der Vam- pyrella steht aber auch in Wirklichkeit gar nicht isoliert da; viel- mehr zeigt jede lebendige Zelle das gleiche Verhalten. Im mensch- lichen Körper z. B. nimmt jede Gewebezelle aus der gemeinsamen Nährflüssigkeit, dem Blute, nur ganz bestimmte Stoffe in sich auf, andere nicht, wie aus der Tatsache hervorgeht, daß Drüsen-, Muskel-, Knorpelzellen etc. auch ganz verschiedene und nur für sie charakteristische Stoffe produzieren. In dieser Beziehung ver- hält sich die Zelle, wie bereits HAECKEL?) betont hat, genau wie ein Kristall, etwa von Alaun, der aus einer zahlreiche Salze in Lösung enthaltenden Mutterlauge immer nur Alaunmoleküle aus- wählt, um sie zu seinem Wachstum oder, wenn man ihn verletzt hat, zu seiner Regeneration zu benutzen. So ist das mystische Dunkel, das man künstlich um die sogenannte Auswahl von Nahrungsstoffen seitens der einzelnen Zelle zu verbreiten gesucht hat, in Wirklichkeit gar nicht vorhanden. Was man in anthropomorphischer Uebertragung eine „Nahrungsauswahl“ von seiten der Zelle genannt hat, ist schlechter- dings eine notwendige Konsequenz aus der Tatsache, daß jede Zelle ihre eigene spezifische Zusammensetzung der lebendigen Substanz und ihren eigenen charakteristischen Stoffwechsel hat. Ebenfalls in rein mechanischer Weise erklärt sich die scheinbare Auswahl vonGehäusebaumaterial bei Difflugien und ver- wandten ÖOrganismen°). Auch hier hat man an allerlei wunderbare Fähigkeiten der Zelle gedacht, und auch hier liegen die Bedingungen für die scheinbar so merkwürdigen Vorgänge in einfachen mechani- schen Verhältnissen. Es läßt sich nämlich bei genauerer Untersuchung einzelner Fälle nachweisen, daß hier gar keine wirkliche Auswahl vorliegt, in dem Sinne, wie es bei der Nahrungsaufnahme der oben genannten Zellen der Fall ist. Es hängt vielmehr die Tatsache, daß die Formen eines und desselben Standortes nur ein bestimmtes Material zum Gehäusebau benutzen, vielfach nur von dem Umstande ab, daß ihnen an dem betreffenden Standort nur dieses eine Material zur Ver- fügung steht. Untersucht man z. B. die Wohnstätte einer Form, die ihr Gehäuse nur aus Schlamm oder aus selbst ausgeschiedenen Stoffen baut, so findet man, daß hier andere Materialien, etwa Diatomeen- panzer oder Sandkörner, vollständig fehlen. Gibt man aber einer solchen Form die Möglichkeit, auch anderes Material zu bekommen, indem man in das Kulturgefäß, in dem man sie hält, sehr fein pul- verisierten Sand oder, noch besser, sehr fein zermahlenen Staub von farbigem Glase schüttet, so findet man die durch Fortpflanzung neu entstandenen Individuen mit einem zierlichen Gehäuse von farbigen Glassplittern umgeben. Auch der Umstand, daß einige Formen nur kleine Sandkörnchen, andere vorwiegend größere in ihrem Gehäuse haben, ist zum Teil auf die Beschaffenheit des ihnen zu Gebote stehen- den Materials zurückzuführen, zum Teil aber auch auf andere rein äußerliche Verhältnisse, wie z.B. auf die Enge der Gehäusemündungen mancher Formen, die es nicht gestattet, daß der Protoplasmakörper 1) J. GAD: „Zur Lehre von der Fettresorption“. In Du BoIs-REYMoNDs Arch. f. Physiologie, Jahrg. 1878. 2) HAECKEL: ‚Generelle Morphologie der Organismen“, Bd. 1, 1866. 3) Vergl. p. 176. Vom Mechanismus des Lebens. | 647 größere Sandkörnchen hindurchzieht. Es kann demnach beim Gehäuse- bau der Difflugien von einer wirklichen Auswahl des Baumaterials im anthropomorphen Sinne nicht die Rede sein. Aber auch die scheinbar so kunstvolle und geschickte Bau- tätigkeit der Difflugien verliert bei genauerer Betrachtung alles Wunderbare, das man in ihr sehen zu müssen geglaubt hat. Bei der Zellteilung der Difflugien finden im Protoplasma sehr tiefgehende chemische Veränderungen und mechanische Bewegungen statt. Dabei werden die im Protoplasma produzierten und angehäuften Körner und Tropfen des organischen Schalenbaumaterials an die Oberfläche des Zellkörpers gebracht und lagern sich hier nach einfachen mechanischen Gesetzen aneinander). Mit ihnen wird auch das von außen her auf- genommene Schalenbaumaterial (Sand, Diatomeen etc.), wenn solches im Körper vorhanden ist, an die Oberfläche ausgeschieden und durch das organische Bindemittel verkittet. So entsteht die Schale der neuen Teilhälfte einer Difflugia, die sich ganz genau der Gestalt des Protoplasmakörpers anpaßt, der sich aus der alten Schale heraus- wölbt. RHUMBLER?), dem wir so viele künstliche Nachahmungen von Lebensäußerungen der Zelle verdanken, hat auch den Gehäuse- bau der Difflugien mit einfachen Stoffen nachgeahmt und gezeigt, daß sich z. B. Chloroformtropfen und Oeltropfen aus Quarzkörnern, Glassplittern, Schellack- und Zinnoberteilchen etc., die man ihnen bei- mischt, in Wasser auf Grund der Gesetze der Adhäsion und Kohäsion „Gehäuse bauen“, die von denen der Difflugien schlechterdings nicht zu unterscheiden sind (Fig. 288c,d, e). Wir sehen also, daß auch in den scheinbar so wunderbaren und komplizierten Tätigkeiten der Zelle, wie sie in der Aufnahme und Verwertung fester Stoffe zum Ausdruck kommen, keinerlei Momente enthalten sind, die über eine mechanische Erklärung hinausgingen. Was endlich die intermediären Vorgänge des Stoff- wechsels, die Assimilation und Dissimilation betrifft, so ist deren allgemeines mechanisches Verständnis bereits oben in den Abschnitten über den Lebensvorgang entwickelt worden. Inwieweit aber die ein- zelnen Teile der Zelle mit ihren chemischen Prozessen daran beteiligt sind, entzieht sich bei der mangelnden Kenntnis der speziellen Glieder der Stoffwechselkette vorläufig noch unserer Kenntnis. Darüber aber kann selbstverständlich kein Zweifel bestehen, daß den Vorgängen der Assimilation und Dissimilation ebenfalls keine anderen Faktoren zu- grunde liegen als mechanische. Ein vollständiges Analogon aus der anorganischen Natur für den Stoffwechsel der Organismen haben wir ja schon früher in den Vorgängen bei der Fabrikation der englischen Schwefelsäure kennen gelernt und die fundamentale Tatsache der Selbststeuerung des Stoffwechsels nach einer Störung des Stoffwechsel- gleichgewichts durch Reize hat ihr einfaches mechanisches Paradigma in der Erhaltung chemischer Gleichgewichtszustände auf Grund des Massenwirkungsgesetzes gefunden. Uebrigens verdient an dieser Stelle besondere Erwähnung der geistvolle Versuch ZEHENDERS?), für die 1) MAx VERWOoRN: „Biologische Protistenstudien“. I. u. II. In Zeitschr. f. wiss. Zoologie, Bd. 46, 1888 u. Bd. 50, 1890. 2) RHUMBLER: „Physikalische Analyse von Lebenserscheinungen der Zelle“ I. In Arch. f. Entwicklungsmechanik der Organismen, Bd. 7, 1898. 3) ZEHENDER: „Die Entstehung des Lebens aus mechanischen Grundlagen entwickelt“, Freiburg 1899. 648 Sechstes Kapitel. Vorgänge in der anorganischen wie in der organischen Natur aus gewissen allgemeinen physikalisch-chemischen Voraussetzungen auf synthetischem Wege ein einheitliches Verständnis zu gewinnen. In origineller Weise schlägt ZEHENDER den umgekehrten Weg ein, wie die zergliedernde und analysierende Forschung, und erörtert von Fig. 288. Gehäuseformen (vergl. auch Fig. 60, p. 177), a Gehäuse einer Difflugia aus selbstproduziertem organischen Schalenmaterial, 5 Längsschnitt durch den Proto- plasmakörper einer Difflugia mit den noch weichen Tröpfehen des organischen Gehäuse- baumaterials im Innern, ce Gehäuse eines Öeltropfens aus Quarzkörnern bestehend, d Gehäuse eines Chloroformtropfens aus Glassplittern gebaut, e Gehäuse eines Gemisch- tropfens von Chloroform, Provenceröl und alkoholischer Schellacklösung, der mit Zinnober und Glassplittern verrieben ist (c, d, e nach RHUMBLER). wenigen Prämissen ausgehend, die verschiedenen mechanischen Mög- lichkeiten, nach denen man sich vor allem die Lebensäußerungen in konsequenter Weise aus den vorausgesetzten Grundeigenschaften des Stoffes resultierend denken kann. Besonders verdienen seine Erörte- rungen über den Assimilations- und Dissimilationsvorgang Beachtung. ZEHENDERS Versuch ist besonders deshalb bemerkenswert, weil er, von einem ganz anderen Wege ausgehend, zu dem gleichen Ergebnis führt, wie die physiologische Forschung, nämlich zu einem rein me- chanischen Verständnis der Lebensäußerungen. Nach alledem lassen sich also die Vorgänge des Stoffaustausches der Zelle sämtlich aus chemischen und physikalischen Verhältnissen Vom Mechanismus des Lebens. 649 heraus, wie sie auch in der anorganischen Natur gefunden werden, verstehen, und wenn wir auch bisher außer stande sind, die speziellen Glieder des Stoffwechsels im einzelnen Falle bis in ihre Einzelheiten hinein zu verfolgen, so gewinnen wir doch die Gewißheit, daß der gesamte Stoffwechsel rein mechanisch zustande kommt, und daß wir nirgends auf Tatsachen stoßen, die in Wahrheit einer mechanischen Erklärung unzugänglich sind. Die eiserne Schlußfolgerung, daß alles, was aus den gleichen Elementarstoffen besteht, auch den allgemeinen Gesetzen dieser Ele- mentarbestandteile gehorchen muß, kann selbstver- ständlich auch in der organischen Welt nirgends eine Ausnahme erleiden. 2. Die Formbildungs-Mechanik der Zelle. Obwohl wir bei dem jetzigen Stande unserer Kenntnisse von den Vorgängen in der Zelle nicht wissen, mit welchen speziellen Leistungen sich die einzelnen Bestandteile der Zelle am Gesamtstoffwechsel der- selben beteiligen, mit welchen chemischen Prozessen Kern und Proto- plasma samt ihren speziellen Inhaltsmassen in die Geschichte des Biogens verwebt sind, so genügen doch unsere bisherigen Erfahrungen über die allgemeinen Stoffwechselverhältnisse in der Zelle, um zu er- kennen, daß sich auch die Formbildungsvorgänge, d.h. die Tatsachen des Wachstums und der Fortpflanzung, der Entwicklung und der Ver- erbung, als mechanische Konsequenz aus diesen Stoffwechselverhält- nissen herleiten lassen. a) Das Wachstum als Grundvorgang der Formbildung. Das Wachstum bildet den Grundprozeß der organischen Form- bildung, denn das Wachstum der Zelle ist nicht nur der einfachste Fall der Formbildung überhaupt, sondern es enthält zugleich die inneren Bedingungen für die komplizierten Vorgänge der Fortpflanzung und Entwicklung der Zelle, wie die folgende Betrachtung alsbald er- geben wird. Den Wachstumsmodus der lebendigen Substanz haben wir bereits an einer andern Stelle!) berührt. Wir wissen, daß wir in der lebendigen Substanz Moleküle haben, die eine außerordentliche Neigung zur Polymerisierung besitzen, d. h. Moleküle, die unter gegebenen Bedingungen durch weiter und weiter fortschreitende Anlagerung gleichartiger Atomgruppen sich. vergrößern und Ketten von gleichen Gliedern bilden. In den nativen Eiweißkörpern haben wir solche polymeren Moleküle der lebendigen Substanz kennen ge- lernt, und so ist es schon von vornherein wahrscheinlich, daß die Biogene diese Eigenschaft ebenfalls besitzen werden. Wäre aber nicht schon aus diesem Grunde die Polymerie des Biogenmoleküls mehr als wahrscheinlich, so würden wir notwendig zu ihrer An- nahme gezwungen durch die Tatsache des Wachstums. Das Wachstum der lebendigen Substanz selbst, d. h. die Vermehrung der lebendigen Substanz im Verein mit dem Umstande, daß neue lebendige Substanz nur dort entsteht, wo bereits lebendige Substanz vorhanden ist, ver- langt als Substrat unbedingt ein Molekül, das durch Polymerisierung 1) Vergl. p. 587. 650 Sechstes Kapitel. sich vergrößert. Wir können uns das Wachstum der lebendigen Substanz nur vorstellen, indem wir uns ein Biogenmolekül denken, das aus den Stoffen der Umgebung (Nahrungsstoffen) nach und nach gleichartige Atomgruppen an sich anlagert, die ihrerseits in derselben Weise fortfahren, aus der Umgebung bestimmte Atome und Gruppen an sich zu ziehen und wieder in der gleichen Lagerung zu binden etc. Dabei brauchen die einzelnen Glieder dieser polymeren Ketten nicht dauernd aneinander hängen zu bleiben und so, wie PFLÜGER annimmt, zur Bildung von „Riesenmolekülen“ zu führen. Es scheint vielmehr im Hinblick auf mancherlei Tatsachen richtiger anzunehmen, daß diese Ketten hier und dort immer wieder in einzelne Grundmoleküle aus- einanderbrechen oder auseinanderreißen, indem sich die getrennten Affinitäten in anderer Weise schließen). Daß endlich dieser Neu- bildungsprozeß von Biogenmolekülen dem Massenwirkungsgesetz unter- worfen sein muß, daß also zwischen der Menge der zur Verfügung stehenden Bausteine, wie sie durch die Nahrungszufuhr geliefert und durch die präparatorischen Prozesse des Assimilationsvorgangs in die geeignete Form übergeführt werden, einerseits und der Menge der neugebildeten Biogenmoleküle andererseits ein chemischer Gleich- gewichtszustand bestehen muß, welcher der Selbststeuerung unterliegt, haben wir uns oben bereits an dem paradigmatischen Beispiel der Esterbildung?) klar gemacht. Der Vorgang, den wir uns dort an einem einfachen Substrat veranschaulichten, verläuft freilich in der Zelle, deren lebendige Substanz und deren Stoffwechsel bereits sehr weit differenziert ist, bedeutend komplizierter. In der Zelle sind mehr oder weniger eng an der Bildung und dem Wachstum der Biogenmoleküle sowohl die Substanzen des Kerns als des Protoplasmas mit allen ihren speziellen Differenzierungen beteiligt. Allein es ist bei diesem engen Ineinandergreifen und bei dieser engen Abhängig- keit der einzelnen Bestandteile der Zelle voneinander sehr verständ- lich, daß, wenn z. B. die Biogenmoleküle des Protoplasmas durch Polymerisierung wachsen, dieses nur möglich ist, wenn zugleich auch andere Bestandteile des Protoplasmas oder des Kerns in einem be- stimmten Maße zunehmen, mit anderen Worten, es wird nicht bloß eine einzelne Substanz des Protoplasmas oder Kerns allein wachsen, sondern ihr Wachstum wird begleitet sein von dem Wachstum anderer Substanzen, und es wird bestimmt sein durch die Menge des Materials, das zum Aufbau erforderlich ist. Es ist von Wichtigkeit, auf die Verhältnisse, die sich bei dieser engen Korrelation der einzelnen Zellteile durch das Wachstum ent- wickeln, etwas näher einzugehen. Denken wir uns zum Beispiel eine freilebende runde Zelle, die alle zu ihrem Leben notwendigen Stoffe in dem umgebenden Medium in genügendem Maße zur Verfügung hat, und nehmen wir an, daß diese Zelle wächst, so wird sich mit zunehmender Größe der Zelle das Verhältnis der Oberfläche zur Masse mehr und mehr verändern, und zwar wird nach bekannten mathe- matischen Gesetzen die Oberfläche gegenüber der Masse wachsen im Verhältnis des Quadrates zum Kubus. Mit anderen Worten: je kleiner dieZelle ist, um so größer istdie Oberflächeim 1) MAx VERWORN: „Die Biogenhypothese. Eine kritisch-experimentelle Studie über die Vorgänge in der lebendigen Substanz“, p. 5l, Jena 1903. 2) Vergl. p. 594. Vom Mechanismus des Lebens. 651 Verhältnis zur Masse, und je mehr die Zelle wächst, um so weniger wächst die Oberfläche im Verhältnis zur Masse. Diese einfache Tatsache ist aber von fundamentaler Bedeutung. Das wird sofort klar, wenn wir daran denken, daß die einzelnen Teile des Zellkörpers in innigen Stoffwechselbeziehungen untereinander und mit der Außenwelt stehen. Gegenüber den von außen aufgenommenen Nahrungsstoffen, sowie dem Sauerstoff wird sich, je mehr die Zelle wächst, um so mehr ein Mißverhältnis zwischen den äußeren und den inneren Schichten des Zellkörpers herausbilden, denn da die Ober- fläche, durch die ja die Nahrung aufgenommen wird, sich in geringerem Maße vergrößert, als die Masse des Zellkörpers, so wird ein Zeit- punkt eintreten, an dem die aufgenommene Nahrung nicht mehr für den ganzen Zellkörper ausreicht, und die Folge davon muß sich in einer zu geringen Ernährung der inneren Zellschichten gegenüber den äußeren bemerkbar machen. Während in den äußeren Zellschichten die Ernährung schnell und reichlich erfolgt, geschieht sie in den tieferen Schichten langsamer und spärlicher. Das wird nicht bloß das Proto- plasma treffen, sondern auch den Zellkern. Der Zellkern wird viel weniger Stoffe von außen empfangen, wenn die ihn umgebende Protoplasmaschicht dicker und dicker wird, als wenn sie nur dünn ist. Umgekehrt aber werden auch die äußeren Schichten der Zelle viel weniger reichlich mit Kernstoffen versorgt werden als die inneren. Kurz, der Stoffwechsel muß bei dem engen Ineinander- greifen der einzelnen Zellteile tiefgehende Verände- rungen erfahren, die sich immer mehr steigern, je mehr die Zelle wächst. Der Stoffwechsel der Zelle ist daher, solange die Zelle stetig wächst, in keinem Zeit- differential genau derselbe wie im vorhergehenden und wie im folgenden. Diese zwingende Konsequenz aus der Tatsache des Wachstums enthält aber das Prinzip aller Entwicklung in sich, d. h. die Tatsache des Wachstums reicht bei den engen Stoffwechselbeziehungen, die zwischen den einzelnen Inhaltsbestandteilen der Zellen und des Mediums existieren, allein schon vollkommen aus, um notwendig zu Veränderungen zu führen, wie wir sie als „Entwicklung“ bezeichnen. Zunächst ergibt sich aus diesen Verhältnissen, daß die Zelle eine bestimmte Größe nicht überschreiten kann, denn wenn die Störungen des Stoffwechsels, die durch das steigende Mißverhältnis zwischen den oberflächlicheren und den tieferen Schichten der Zelle entstehen, einen bestimmten Grad erreicht haben, kann die Zelle nicht mehr in dieser Form am Leben bleiben. So erklärt sich sehr einfach die ganz auffallende Tatsache, daß wir keine formbeständigen, massigen Zellen kennen, die größer wären als einige Millimeter; so lernen wir verstehen, wie es kommt, daß die Entwicklung großer Organismen nur möglich ist durch Anordnung der lebendigen Substanz zu einem Kongregat von einzelnen kleinen Zellen und unmöglich durch Anordnung der leben- digen Substanz zu einer einzigen Zelle, etwa von der Größe eines Menschen. Gleichzeitig ist aber auch verständlich, daß unter Um- ständen Zellen, deren Oberfläche bedeutend vergrößert ist im Verhält- nis zur Masse, wie bei den flächenhaften Blättern der Caulerpa, 652 Sechstes Kapitel. oder Zellen, deren Protoplasma in fortwährender Zirkulation zwischen Oberfläche und Innerem begriffen ist, wie bei den Plasmodien der Myxomyceten, eine bedeutendere Größe erreichen können, namentlich wenn auch die Kernsubstanz durch Vervielfältigung eine beträchtliche Vergrößerung aufweist. In diesen Fällen kann sich eine Differenz zwischen den äußeren und den inneren Schichten des Zellkörpers nicht in dem Grade entwickeln, wie bei kompakten Zellen. Wo aber der Zellkörper eine kompakte Masse vorstellt, wo ferner eine lebhafte Strömung des Inhalts nach der Oberfläche fehlt, und wo schließlich nur ein Kern im Protoplasma vorhanden ist, da kann die Zelle eine bestimmte Größe nicht überschreiten. Es muß daher bei einer solchen Zelle an einem bestimmten Zeitpunkt des Wachstums eine Korrektur dieses Mißverhältnisses zwischen Masse und Oberfläche und der da- durch bedingten Stoffwechselstörungen eintreten, und eine solche haben wir in der Tat in der Fortpflanzung der Zelle durch Zellteilung. Die Fortpflanzung der Zelle durch Teilung ist demnach lediglich als eine Folge des Wachstums zu betrachten, und mit Recht haben die Morphologen schon seit langer Zeit die Fortpflanzung als eine Fortsetzung des Wachstums, als ein „Wachstum über das indi- viduelle Maß hinaus“ bezeichnet. Leider gehen die Ansichten über die spezielle Mechanik des Zellteilungsvorganges bisher noch sehr auseinander. Schon über Bedeutung und Herkunft der bei der Zell- teilung auftretenden Strahlungen ist eine Einigung der Auffassungen noch nicht erzielt. Die Mehrzahl der Forscher hält allerdings in An- lehnung an die Untersuchungen von VAN BENEDEN!) und BOVERLI?) die Strahlensysteme für einen Mechanismus der Zelle der durch Kontraktion der Fäden die Chromatinschleifen auseinander zieht; aber auch eine gerade entgegengesetzte Anschauung hat Vertreter gefunden, DRÜNER?), BRAUS!) und MEveEs?°) glauben nämlich in den Strahlen Stemmfasern erblicken zu dürfen, die nicht durch Kontraktion, sondern durch Expansion in Wirkung treten; HoussAY ®), GIARDINA ’) und LEDUc (cf. weiter unten) halten die Strahlen für Diffusionsströme; H. E. ZIEGLER°) schließlich ist der Ansicht, daß eine im Durch- schnürungsäquator bei vielen Zellteilungen auftretende in Kontrak- tionsspannung befindliche plasmatische Zusammenhäufung die Durch- teilung der Zelle bewirkt, und daß die Strahlenbildung bloß einen Begleitvorgang darstellt, der irgendwie mit der Entstehung des äquatorialen Kontraktionsringes in noch nicht analysierbarem Zu- 1) van BENEDEN: „Recherches sur la maturation de l’ouf ete.“. In Archives de Biologie, Bd. 4, 1883. 2) Tm. BoveErI: ‚„Zellenstudien“. In Jenaische Zeitschr. f. Naturw., N. F. oe in: Bd. 21, 1887. — No. 2: Ebenda, Bd. 22, 1888. — No. 3: Ebenda, Bd. 24, 1890. 3) DRÜNER: „Zur Morphologie der Zentralspindel“. In Jenaische Zeitschr. f. Naturw., N. F. Bd. 21, 189. 4) BRAUS: „Ueber Zellteilung und Wachstum des Tritoneies“. In Jenaische Zeitschr. f. Naturw., N. F. Bd. 29, 1895. 5) MEvES: „Ueber die Entwicklung der männlichen Geschlechtszellen von Salamandra maculosa“. In Arch. mikr. Anat., Bd. 48, 1896. 6) HoussayY: Le röle des ph@enomenes osmotiques dans la division cellulaire“. In Anat. Anz., Bd. 14. 1848. 7) GIARDINA: „Note sul meccanismo della fecondazione e della divisione cellu- lare etc.‘“. In Anat. Anz., Bd. 21 u. 22, 1902. 8) H. E. ZIEGLER: „Experimentelle Studien über die Zellteilung“. In Arch. f. Entwicklungsmechanik, Bd. 7, 1898 und Bd. 16, 1903. Vom Mechanismus des Lebens. 653 sammenhang steht. Eine Kritik dieser und anderer Anschauungen findet man in den Arbeiten RHUMBLERS, dessen Untersuchungen am tiefsten in den Gegenstand eingedrungen sind. Schon vor längerer Zeit hat BürscHı!) die Vorstellung aus- gesprochen, daß die Strahlungsfigur, die sich bei der Kernteilung um das Zentrosom im Protoplasma bildet, ein Ausdruck von Diffu- sionsvorgängen sei, die zwischen dem Zentrosom und dem Protoplasma entstehen, und später hat BÜTScHLI?) gezeigt, daß beim Erkalten und Gerinnen warm auf eine Glasplatte gegossener wässeriger (wie die mikroskopische Untersuchung lehrt, schaumig strukturierter) Gelatine- lösungen um Luftblasen herum durch die Zugwirkung der sich zu- sammenziehenden Luft Strahlungsfiguren entstehen, die denen der 22 < ee ® 7 >, 2 ER SORRE net Tan ne | rn $ KARTE Pe % » Aue az E N ac %. r Be ef | a er Fi x ‚ , N, ’ ee ni FE 7 3 u Sn ar In Re RE WEHT, Pi = 2 ” Hirn ar Hr N}; RE h u 7 NEE TEE Fig. 289. Photographische Aufnahme von Strahlungsfiguren. / Kern- strahlungsfigur aus einem Cephalopodenembryo. I/ Strahlungsfigur um zwei Luftblasen in einem Gelatineschaum, der durch Chromsäure zum Gerinnen gebracht wurde. Nach Photographien von BÜTSCHLI. karyokinetischen Figur vollständig gleichen (Fig. 289). An diese Be- obachtungen BürscHLıs lassen sich RHUMBLERS°) theoretische Ab- leitungen am besten anschließen. Die Strahlungserzeugung ist inner- halb des Wabenwerks der Zelle im Gegensatz zum Kleinerwerden der Luftblasen bei den künstlichen Gelatinespindeln mit einer recht augen- 1) BürscHLı: „Studien über die ersten Entwicklungsvorgänge der Eizelle, die Zellteilung und die Konjugation der Infusorien“. In Abhandl. d. Senckenberg. naturf. Ges., Bd. 10, 1876. 2) Derselbe: „Ueber die künstliche Nachahmung der karyokinetischen Figur“. In Verh. d. naturhist.-med. Vereins zu Heidelberg N. F. Bd. 5, 1892. 3) RHUMBLER: „Versuch einer mechanischen Erklärung der indirekten Zell- und Kernteilung. I. Teil: Die Cytokinese“. In Arch. f. Entwicklungsmech., Bd. 3, 1896. — Derselbe: „Mechanische Erklärung der Aehnlichkeit zwischen magnetischen en und Zellteilungsfiguren“. In Arch. f. Entwicklungsmechan., . 16, 1903. 654 Sechstes Kapitel. fälligen Vergrößerung der die Zugwirkung hervorrufenden Zentro- somen verbunden. Zu dieser Zentrosomenvergrößerung ist unbedingt Substanzzufuhr, Substanzaufnahme aus dem Zellleib her, notwendig. RHUMBLER nimmt mit BÜTSCHLI an, daß die aufgenommene Substanz Wasser oder eine wässerige Lösung ist, die dem umgebenden plas- matischen Schaumsystem infolge eines starken Imbibitionsstrebens der Zentrosomen entzogen wird; es ist hierdurch zugleich erklärt, warum das den Sphären zunächst anliegende Protoplasma während der Zell- teilung stärker lichtbrechend, dichter wird; es wird einfach durch den Wasserverlust kondensierter, vielleicht sogar in den festflüssigen Zu- stand der Gelbildung übergeführt!). Die Entziehung der wässerigen Flüssigkeit verändert aber die Oberflächenspannung in den plasma- tischen Schaumwänden: die Oberflächenspannung der Wandflächen wird um so kleiner, je kondensierter die Schaumwandsubstanz durch ihre Flüssigkeitsabgabe an die Zentrosomen wird, denn aus QUINCKES?) Untersuchungen läßt sich entnehmen, daß die Oberflächenspannung eines Kolloids im allgemeinen mit seinem Konzentrationsgrade ab- nimmt. Die dem Zentrosom direkt anliegenden Schaumwände werden, da sie der Imbibitionskraft der Zentrosomen naturgemäß am meisten ausgesetzt sind, die geringste Oberflächenspannung besitzen, und die Öberflächenspannung in den Schaumwänden wird um so mehr steigen, je weiter ein Wandteil von dem Zentrosom entfernt liegt. Da nun das gesamte Wandsystem des Cytoplasmaschaumes eine kontinuier- liche kohärente Masse darstellt, in welcher die Inhalte der Schaum- kämmerchen die Rolle diskontinuierlicher Einlagerungen spielen, so muß die gradweise verschiedene Verteilung der Oberflächenspannung auf den Schaumwandflächen eine Bewegung der zähflüssigen Wand- masse zur Folge haben; die Wandmasse wird aus den weiter abliegenden Wänden, durch den hier stärkeren Oberflächendruck der Wände nach den dem Zentrosom näherliegenden Wandteilen hingedrückt, oder, was dasselbe heißt, die verdichtete, dem Zentrosom anliegende Schaumwandsubstanz, die sogenannte Sphäre, zieht die weniger dichte Wandsubstanz aus den Schaumwänden der peripherischen Zellgegenden an sich heran. Sobald sich aber auf diese Weise das Hyaloplasma der Wabenwände um die Sphären herum zusammenzieht ?), muß (wegen 1) Unter Gelbildung oder Gelatinierung versteht man den Uebertritt der flüssigen Lösung eines Kolloids, des sogenannten „Sol“, in dessen verfestigten Zustand, der als „Gel“ bezeichnet wird. Ein solches, auch „gelatinierte Lösung“ genanntes, Gel ist ein Mittelding zwischen fest und flüssig, der Größe der inneren Reibung nach mehr zu den festen Stoffen hinneigend, mit deutlicher Verschiebungselastizität aus- gestattet, hat es sich doch viele Eigenschaften der tropfbar flüssigen Lösungen be- wahrt (cf. NERNST: „Theoret. Chemie‘, 4. Aufl., 1903, p. 413); es gehorcht noch den Oberflächenspannungsgesetzen, auf die es oben vor allem ankommt. 2) QuInckKE: „Die Oberflächenspannung an der Grenze wässeriger Kolloid- lösungen von verschiedener Konzentration“. In Annal. d. Physik, 4. F. Bd. 9, 1902, und Bd. 10, 1903. 3) Sofern die Verdichtung bis zum Grade einer Gelatinierung vorschreitet, die häufig von einer Flüssigkeitsabgabe von seiten des gelatinierenden Sols begleitet ist (cf. FISCHER u. OSTWALD „Zur physikalisch-chemischen Theorie der Befruchtung“ in Arch. ges. Physiol., Bd. 1U6, 1905 p. 232), würde das Hyaloplasma während seiner Gelatinierung Flüssigkeit an die Wabenräume abgeben können und sich hierbei natürlich selbst kontrahieren. Es wäre hierdurch einem Einwand begegnet, den GURWITSCH gegen die BÜTSCHLI-RHUMBLERsche Theorie erhoben hat, daß nämlich Flüssigkeitsströme keine Zugwirkungen zu erzeugen vermöchten (GURWITSCH: „Mor- phologie und Biologie der Zelle“, Jena 1904, p. 319). Im übrigen ist der Unter- schied zwischen fest und flüssig bei den Kolloiden kein abrupter sondern ein gra- Vom Mechanismus des Lebens. 655 der Inkompressibilität der Flüssigkeiten) notwendigerweise Alveolen- inhalt in entgegengesetzter Richtung entweichen; man kann demnach sagen: die Sphäre attrahiert Schaumwandsubstanz und repulsiert den Alveoleninhalt. Es läßt sich leicht einsehen, daß unter solchen einander entgegen- gesetzten Kräften zunächst die Ziekzackanordnung der Schaumwände, die ruhenden gewöhnlichen Schäumen eigentümlich ist, in eine gerad- linige, auf die Zentrosomen zentrierte übergehen muß, auch läßt sich begreifen, daß nicht alle Waben, die in gleicher Entfernung von den Zentrosomen liegen, die geschilderten Vorgänge in gleichem Grade zeieen. Die stärkste Verdichtung, die stärkste Attraktion und infolge hiervon die ausgiebigste Repulsion von Enchylema werden die direkt den Sphären anliegenden Waben (Fig. 290 A) erfahren, und von ihnen aus wird sich ein Maximum der Leistung auf diejenigen von den Fig 290. Schema, Druck und Zug- verteilung innerhalb einesZell- asters darstellend. In den Qua- dranten /// u. IV sind spätere Zustände der Asterbildung dargestellt als in den Quadranten / u. 7]. $= Sphäre; zwischen A und R die Radialwaben der Strahlen; E = Dottereinlagerungen, für die das- selbe gilt wie für die Enchylemavakuolen. Im Quadranten IV ist für einen beliebi- gen Punkt P des interradialen Gebietes die Druckverteilung eingetragen. Nach RHUMBLER. Sphären weiter abliegenden Waben fortpflanzen, die mit ihnen radiär in einer Flucht liegen und die wir, da sie sich strahlenförmig um die Sphären gruppieren, als Radialwaben (Fig. 290 AR) bezeichnen und in Gegensatz zu den zwischenliegenden Interradialwaben setzen wollen. Die Interradialwaben sind in Sachen „Wandattraktion und Enchylemarepul- sion“ von vornherein den Radialwaben gegenüber im Nachteil, weil ihre der Sphäre zunächstliegende Wabe nicht direkt an die Sphäre, sondern nur an eine der Sphäre konzentrische Wand der A-Waben anstößt, die von Haus aus wegen weiterer Entfernung von der Sphäre weniger von ihr verdichtet und darum auch weniger attrahiert wird; die repulsierenden Kräfte werden sich demnach in der Weise dem Waben- inhalt gegenüber äußern, daß die diosmierbaren und die etwa vor- handenen filtrationsfähigen Substanzen nach Maßgabe des in den dueller, und eine zähflüssige Flüssigkeit, um die es sich natürlich bei der Zell- strahlung allein handeln kann, vermag sehr wohl, was GURWITSCH_ übersehen hat, Zugwirkungen auszuüben und zu übertragen; so kann man beispielsweise relativ erhebliche Lasten an einem zähilüssigen Fischleim- oder Schleimfaden über eine bewegliche Unterlage, z. B. auf einer Quecksilberoberfläche hinziehen ; oder der betreffende Faden zieht die Last selber heran, wenn man ihn mit seinem einen Ende festgelegt hat und er sich infolge seiner Oberflächenspannung zur Kugel zusammenzieht. 656 Sechstes Kapitel. Wabenradien überwiegenden Attraktionsdruckes aus den Wabenradien heraus nach den interradialen Waben hin diosmieren. Da auf diese Weise die Radialwaben (A R) Enchylemainhalt an die Interradialwaben abgeben, so müssen sie sich durch den hierdurch bedingten Volumen- verlust zu verkürzen streben, während die interradialen Waben in gleichem Maße sich durch die ihnen zugepreßten Substanzen aus- zudehnen suchen. Hieraus folgt, daß die Strahlen als in Longitudinal- spannung befindlich angesehen werden müssen, während die inter- radialen Gebiete durch ihr Ausdehnungsstreben sich zwischen die Radien einpressen und die Radien mit senkrecht gegen sie gerichteten Komponenten auseinanderdrängen (vgl. Fig. 290 Pim Quadranten IV). Diese Zug- und Druckverteilung im Strahlensystem stellt ein genaues Analogon zu derjenigen dar, wie man sie in magnetischen Kraftlinien- systemen findet, die man in bekannter Weise durch Einwirkung von Magneten auf Eisenfeilicht bildlich sichtbar machen kann; auch hier Fig. 291. Fig. 292. Fig. 291. Magnetische Kraftlinienspindel zwischen zwei ungleich- namigen (N. und S.) Polen. Photographie nach RHUMBLER. Fig. 292. Lebendds Seeigelei (Toxopneustes variegatus) während der ersten Furchungsteilung 47 Minuten nach der Befruchtung. Nach E. B. Wııson. sind die aus dem Eisenfeilicht gebildeten Strahlen als in Längsspannung bezw. Verkürzungsspannung anzusehen, während zwischen den Strahlen senkrecht gegen die Strahlen anpressende Kräfte (nämlich diejenigen einer gleichnamigen, also sich abstoßenden Induktion) vorhanden sind!); so erklärt sich in einfacher Weise die schon FoL?) und vielen anderen aufgefallene Aehnlichkeit zwischen den Zellteilungsfiguren und den magnetischen Kraftlinienbildern (Fig. 291 u. 292), auf die 1) Vergl. z. B. E. RıEcKE: „Lehrbuch der Physik“, 2. Aufl., Bd. 2, p. 10, Leipzig 1902. 2) FoL: „Die erste Entwicklung des Geryonideneies“, In Jen. Zeitschr. f. Naturw., Bd. 7, 1873. Vom Mechanismus des Lebens. 657 schon von H. E. ZIEGLER!) und besonders eingehend von GALLARDO ?) als vielleicht mechanisch-theoretisch verwertbar aufmerksam gemacht worden war; eine Aehnlichkeit, deren theoretische Auswertung um so verlockender erschien, als in neuerer Zeit noch REINCKE’°) zu zeigen vermochte, daß die mechanische Analogie zwischen Zellteilungs- und magnetischen Induktionsbildern auch für solche Magnete bezw. Sphären eilt, die mit ungleich großen Kräften arbeiten, und RAaLrH S. LILLIE überdies sogar gewisse Kernzustände der Zellteilung mit Hilfe von Magnetreihen zu kopieren vermochte !). Der bei der tatsächlichen Höhe der Uebereinstimmung nahe- liegende Gedanke, daß der Zellteilungsvorgang elektrischer oder mag- netischer Natur sein möge, ist aus zwei Gründen abzuweisen: erstens läßt sich, wie zuerst Roux°) nachgewiesen hat, die Einstellungsrich- tung der Teilungsspindel in Furchung begriffener Amphibieneier weder durch Umleitung noch durch Durchströmung von irgendeiner be- kannten elektrischen Stromart irgendwie gesetzmäßig beeinflussen, was bei elektrisch-magnetischer Natur der Zellteilungsvorgänge auf Grund der Anziehungs- und Abstoßungsverhältnisse benachbarter Ströme er- wartet werden müßte. Zweitens kommen gelegentlich unter besonderen Umständen bei pluripolaren Zellteilungen, die sich durch mehrere Teilungszentren auszeichnen, dreipolige Zellteilungsfiguren vor, deren drei Pole durch drei Spindeln miteinander verknüpft sind. Ein der- artiges Vorkommnis ist aber bei magnetisch-elektrischen Kraftlinien- figuren prinzipiell unmöglich, da nur zwischen „ungleichnamigen“ Magnetpolen, die sich gegenseitig anziehen, Spindeln erzeugt werden, und da es nur zwei Arten von Polen, nämlich N- und S-Pole gibt, so daß unter drei Polen immer mindestens zwei Pole gleichnamig sein müssen. Drei Spindeln zwischen drei Polen, wie sie bei Zell- triastern vorliegen, sind für elektrische Kraftliniendiagramme unmög- lich, weil in dem magnetischen Attraktionsfeld zwischen den beiden notwendig „gleichnamigen Polen“ die Zugwirkung innerhalb der so- genannten Indifferenzzone von abstoßenden Kräften durchbrochen wird, die eine Spindelbildung verhindern ®). Die gegebene Erklärung 1) ZIEGLER: „Untersuchungen über die Zellteilung“. In Verhandl. d. Deutsch. zool. Gesellsch., 1895. 2) GALLARDO: „Interpretaciön dinämica de la divisiön celular“. Buenos Aires 1902. (Dissertation.) 3) F. REINKE: „Zum Beweis der trajektoriellen Natur der Protoplasmastrahlungen. Ein Beitrag zur Mechanik der Mitose“. In Arch. f. Entwicklungsmechan., Bd. 9, 1900. 4) Vergl. p. 665, Fußnote 1. 5) Roux: „Gesammelte Abhandlungen über Entwicklungsmechanik der Orga- nismen“, Bd. 2, p. 558, 572 u. 584, Leipzig 189. 6) HArroG („The dual force of the dividing cell. I. The achromatie spindel figure by magnetic chains of force“, in: Proceed. of the Royal Soe., B, Vol. 76), ein eifriger Verfechter der magneto-elektrischen Zell- und Kernteilungstheorien, versuchte dadurch eine dreipolige Kraftlinienfigur mit drei Spindeln herzustellen, daß er zwei ungleichnamige Magnetpole mit einem neutralen, d. h. nicht magnetischen Eisenpol zusammenbrachte. Der unmagnetische Pol saugt die Kraftlinien an sich heran und es entsteht dadurch eine sogenannte Felddeformation, deren Aehnlichkeit mit einem Triaster, wie schon BALZER hervorgehoben hat, aber so gering ist, daß dieser Ver- such, der magnetischen dreipoligen Dreispindel zu Ehren zu verhelfen, nicht als ge- glückt bezeichnet werden kann. — Vergl. hierzu BALZER: „Ueber mehrpolige Mi- tosen bei Seeigeleiern“, in: Verhandl. phys.-med. Gesellsch. Würzburg, N. F. Bd. 39, 1908, p. 321. Auch GALLARDOS (loc. cit.) neuester Versuch, die Zellteilungsverhältnisse mit der Annahme zu erklären, daß den beiden Spindelpolen gleichnamige Ladung, dem Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 42 658 Sechstes Kapitel. des Zustandekommens der Zellstrahlung und Kernspindel ist an ähn- liche Bedingungen einer bestimmten Paarung der Pole nicht geknüpft ; das Zellsystem arbeitet sozusagen mit neutralen Zugpolpaaren (nicht mit differenten N- und S-Polen wie der Magnetismus), die immer ziehen, wie sie auch immer und in welcher Zahl sie auch immer zu- sammenliegen. .Um die mechanische Möglichkeit solcher Zugsysteme zu beweisen, verwendet RHUMBLER ein großes, aus sechseckigen Maschen zusammengesetztes elastisches Gumminetz, das auf einen kreisrunden, die Zellmembran veranschaulichenden Reifen aufgespannt, das Wabenwerk der Zelle vorstellen soll. Man legt das Modell auf eine feste Unterlage, durch welche an den Stellen, wo die Attraktions- pole liegen sollen, Löcher ge- bohrt sind. Man braucht jetzt nur den jeweils über den Löchern gelegenen Teil des Netzes durch die Löcher hindurch zu fassen und durch die Löcher hindurch nach hinten zu ziehen, um eine strahlige Gruppierung der Netz- maschen um das betreffende Loch herum zu erhalten. Die Strahlung wird um so stärker, je stärker man zieht; zwischen zwei Zug- löchern entsteht jedesmal eine Spindel (Fig. 293), und was nun für uns wichtig ist, zwischen drei Zuglöchern bilden sich drei Spin- deln. Fig.293. Gumminetz, an zwei Stellen durch Oeffnungen der Unterlage hindurch zusammengezogen. Es ist zwischen den beiden Zugenden eine Spindel Das Modell beweist, daß zwischen neutralen (nicht polar- differenten) Zugzentren in einem elastischen System, dessen sechs- entstanden; zu beiden Seiten der Spindel eckige Maschenanordnung der nimmt man eine starke Vergrößerung der im a y , ruhenden Modell überall gleich großen gleichen des Zellwabensystems entspricht, drei Spindeln zwischen drei Zugzentren entstehen. In dem Netzmodell ergibt sich die Longitudinalspannung der strah- lig aneinandergereihten geradegezogenen Gummistrecken von selbst aus der Zugwirkung, die ihnen mitgeteilt worden ist; die senk- recht pressenden Kräfte des Zwischengebietes, die in der Zelle und in dem magnetischen ungleichpoligen Felde vorhanden waren, sollen vorläufig außer Betracht bleiben, da zunächst festgestellt werden soll, welchen Einfluß die Longitudinalspannung der Strahlen auf den in seinen Einzelteilen verschiebbaren Inhalt des Zellleibes haben wird. Um hierbei auf leichter vorstellbaren Boden zu gelangen, kann das MARTIN HEIDENHAINsche Zellteilungsmodell dienen. Die Zellmem- Gummiringmaschen wahr. Photographie, !/, Originalgröße. Nach RHUMBLER. Kern mit seinen Chromosomen aber eine Ladung mit entgegengesetztem Vorzeichen zukäme, wird zwar den Spindeltriastern gerecht, die Chromosomen zwischen sich haben, nicht aber den „achromen“, d. h. chromosomenlosen Sphärenpaaren, die ge- nau ebenso verspindelt sein können. Bei den von BALZER im Seeigelei beobachteten Polyastern, deren Spindeln zum Teil Chromosomen zwischen sich hatten, zum Teil a nicht, ließ sich direkt das Unzutreffende der GALLARDOschen Auffassung artun. Vom Mechanismus des Lebens. 659 bran wird in diesem Modell durch einen Stahlreifen dargestellt, der an zwei gegenüberliegenden Stellen je ein durch Schrauben fest- klemmbares Scharnier trägt; auf den zwischen den Scharnieren ge- legenen Halbreifen sind in gleichen Abständen die Enden von einer für beide Halbreifen gleichen Zahl, etwa 15—17, Gummischnüren (man benutzt dazu zweckmäßig langgezogene Gummiringe) angeheftet, die anderen Enden dieser Gummischnüre sind jeweils in einem die Sphäre vertretenden Springring vereinigt, so daß im ganzen zwei Sphärenringe vorhanden sind, von denen als Zentrum aus je eine gleiche Zahl von in Longitudinalspannung befindlichen Gummischnüren radiär nach dem Zellmembranreifen hin ausstrahlen, an dem sie fest- gebunden sind. Stellt man nun zunächst die Scharniere fest und bindet Fig. 294. Das HEIDENHAINsche Zellteilungsmodell. A im Ausgangsstadium mit eingeschobener Kernscheibe, die zusammengekoppelten Sphärenringe sind exzentrisch nach links, die Kernscheibe ist in entgegengesetzter Richtung nach rechts geschoben. B Die Sphärenringe sind unter Längsstreckung des Modells in der Kernpolstellung ange- kommen, die Kernscheibe ist weggelassen. C' Nach Lüften der Scharnierenschrauben ist die Durchschnürung des Modells erfolgt. Nach M. HEIDENHAIN. die beiden Sphärenringe zusammen, um das ursprünglich einheitliche Mutterzentrosom zur Darstellung zu bringen, und schiebt man ferner, um den Kern und seine Wirkung in dem gespannten Radiensystem zu veranschaulichen, eine entsprechend große Scheibe, einen Kreis- runden Schachteldeckel etwa, zwischen diejenigen Gummischnüre, welche den Scharnieren zunächst liegen, so erhält man ohne weiteres eine von dem Modell selbsttätig herbeigeführte Lagerung der zusammen- gebundenen Sphärenringe und der Kernscheibe, die ganz derjenigen von Muttersphäre und Kern im Anfangsstadium der Zellteilung ent- 42* 660 Sechstes Kapitel. spricht; die zusammengebundenen Sphärenringe liegen, wie die Mutter- sphäre in der Zelle dem Kern, der Kernscheibe dicht an und sind etwas aus dem Zentrum des Zellmembranreifen heraus nach einer Seite hin verschoben, während nach der entgegengesetzten Seite die Kern- scheibe von dem Zentrum abgerückt erscheint. Das ganze System hat einen bilateral-symmetrischen Aufbau angenommen, dessen Symmetrie- achse man erhält, wenn man sich durch die zusammengekoppelten Sphärenringe und den Mittelpunkt der Kernscheibe eine Gerade, die für die Zelle von MARTIN HEIDENHAIN als Zellachse bezeichnet wird, gezogen denkt (Fig. 294 A). Schneidet man jetzt die aneinandergebundenen Sphärenringe aus- einander, um diesen Ringen die Möglichkeit zu geben, wie die aus der Teilung der Muttersphäre hervorgegangenen Tochtersphären der Zelle auseinanderzutreten, so bewegen sich nunmehr die Sphären- ringe von ihrem früheren Platze aus um je einen Quadranten, um die Peripherie der Kernscheibe herum, und stellen sich an zwei entgegen- gesetzten Polen der Kernscheibe, die sie selbst zwischen sich in die Mitte nehmen und jetzt auch in die Mitte des ganzen Membranreifen hineinschieben, in Ruhe auf; sie sind in der sogenannten „Kern- polstellung“ angekommen. Das Modell kopiert jetzt das Stadium der Zellteilung, in welchem sich die aus der Teilung der Muttersphären hervorgegangenen Tochtersphären, durch eine dem Modellversuch ent- sprechende Wanderung an zwei gegenüberliegende Pole des Kerns begeben haben, um hier die Rolle der Spindelpole für die Kernspindel zu übernehmen. Ein zwischen die Sphärenringe an Stelle der Kern- scheibe eingebundenes Gumminetz würde in entsprechender Weise bei den geschilderten Modellvorgängen, bei welchen die Sphärenringe sich weiter voneinander entfernen, zu einer Spindelbildung auseinander- gezoren werden. Schon in der jetzt vorliegenden Form hat sich das ganze Modell, entsprechend der Längsstreckung des Zellleibes, welche der Zellteilung voraufzugehen pflegt, in der Richtung der Spindelachse in die Länge gereckt. (Die Spindelachse steht senkrecht zur früheren Zellachse [Fig. 294 B.]) Gibt man hiernach die sich gegenüberliegenden und schon während der Längsstreckung des Modells einander näher- gerückten Scharniere durch Lüften der Scharnierschrauben frei, so werden, unter weiterem Auseinandertreten der Sphärenringe und Ein- treten jedes derselben in das Zentrum der an ihm befestigten Gummi- fäden, die seither sich gegenüberliegenden Scharniere bis zur direkten Berührung aneinandergepreßt, so daß das Modell jetzt in zwei Hälften geteilt erscheint, von denen jede einen Sphärenring mit abstrahlenden Gummifäden besitzt (Fig. 294 C); auch das Stadium der Zelltrennung ist demnach von dem HEIDENHAINschen Modell nach dem Freigeben der Scharniere selbsttätig in allem wesentlichen bewegungs-bildlich kopiert worden; denn auch die an den Sphären aufgehängten Bestand- teile der Tochterkerne würden durch die auseinandertretenden Sphären auseinandergezogen werden müssen. R. Fick !) hat dem HEIDENnHAINschen Modell den Vorwurf gemacht, daß es durch seine Scharniere der Zweiteilung des Modells an den äquatoriellen Stellen schon im voraus Vorschub leiste, und es ist die Frage zu beantworten, wie man, wenn die Analogie zwischen Modell 1) R. Fick: „Bemerkungen zu M. HEIDENHAINs Spannungsgesetz“. In Arch. f. Anat. u. Physiol., Anatom. Abt., 1897. Vom Mechanismus des Lebens. 661 und Zelle gelten soll, die doppelte Gebrauchsart der Scharniere, erst Festklemmen, dann Freigeben derselben, motivieren kann. Zur Demonstration der Teilung der Muttersphären und der Wanderung der Tochtersphären in die Kernpolstellung mußten die Scharnierschrauben angezogen, zur Demonstration der Kerndurch- schnürung mußten die Schrauben gelüftet werden, d. h. der Widerstand des Zellmembranreifens mußte an der Einschnürungsstelle während der Durchteilung bedeutend herabgemindert werden. „Vermindert aber auch die Zellmembran während ihrer Einschnürung ihre Wider- standskraft an der Einschnürungsstelle ?“, so müssen wir fragen, wenn die ganzen Vergleiche mit den Modellen eine stichhaltige Bedeutung haben sollen. „Oder existieren etwa in der Zelle sonstige, durch das Modell nicht wiederzugebende Verhältnisse, welche die Membran zur Zeit der Sphärenteilung an der Einschnürung verhindern, dieselbe Einschnürung aber zur Zeit der Tochterzellentrennung gestatten ?* Beides ist der Fall, wie sich am leichtesten für kugelige Zellen nachweisen läßt, aber auch für andere Zellen ohne Zweifel gilt. Die Kugel ist für jede gegebene Masse diejenige Form, welche die denkbar geringste Oberfläche besitzt; jeder Uebertritt der Kugelform in eine andere beliebige Gestalt erfordert Oberflächenzusatz, also verlangt auch die während der Zellteilung auftretende Längsstreckung der Zelle und die Hervorbildung der Teilungsfurche Oberflächenzusatz; d. h. für den Fall, daß die Zelle von einer Zellmembran umgeben ist, kann, ehe ein erhöhtes Zellmembranwachstum eingeleitet ist, die Einschnürung trotz der Longitudinalspannung der dizentrisch gruppierten Zellleib- strahlen nicht erfolgen. Das zur Erzeugung der Teilungsfurche er- forderliche „gesteigerte Oberflächenwachstum“ ist aber nach RHUMBLER erst zur Zeit der Spindelbildung ermöglicht. Zu diesem Zellmembranwachstum sind nämliche Stoffe, die der Kern zu liefern hat, notwendig, was sich daraus abnehmen läßt, daß kernlose Frag- mente ihre Defekte nicht zu regenerieren vermögen (cf. p. 626 u. ff.), daß sich nach BoveErıs!) Untersuchungen bei experimentell erzeugten poly- zentrischen Furchungsmitosen, die eine überschüssige Zahl von Sphären besitzen, nur zwischen solchen Sphären eine echte Furche, also Zell- scheidewand, bildet, die einen Kern zwischen sich haben, und daß der Kern auch sonst sehr häufig nach der Stelle hin verlagert ist, wo ein deutlich bevorzugtes Membranwachstum statthaft (cf. p. 630). — Die zum Membranwachstum ersichtlich notwendigen Kernstoffe werden aber erst zur Zeit der Spindelbildung aus der in die Länge gereckten Kernspindel in einer zu dem gesteigerten Membranwachstum genügenden Menge herausgepreßt und verbreiten sich hier im Zellleib- äquator zwischen den beiden Sphären, weil, wie das Netzmodell (Fig. 293) zeigt, die der Kernspindel zugehörigen Waben durch den dizentrischen Sphärenzug zusammengepreßt werden, während sich die um den Spindelbauch herumgelegenen Waben des äquatoriellen Gebietes aufblähen ?), so daß durch die Wabenwände passierbare Substanzen, — die ja schon angesichts des Zellmembranwachstums der ruhenden 1) Tu. BovErL: „Zur Physiologie der Kern- und Zellteilung“. In Sitzungsber. d. physikal.-med. Gesellsch. zu Würzburg 1897. — Derselbe: leben das Verhalten des Protoplasmas bei monozentrischen Mitosen“. Ebenda 1903. 2) Vergl. hierzu COnKLIN: „Karyokinesis and cytokinesis in the maturation, fertilization and cleavage of Crepidula and other Gastropoda“. In Journ. of the Academy of Philadelphia, 2, Ser., Bd. 12, 1902, p. 96 u. 97. 662 Sechstes Kapitel. u Zelle notwendig existieren müssen, — aus den Spindelwaben austreten und in die äquatorialen Zellleibwaben übertreten müssen. In der Aequatorialebene werden die von dem Kern gelieferten Substanzen dann auf die Zelloberfläche treffen und hier das notwendige Wachstum einleiten, wie sich denn in zahlreichen Fällen hier zuerst eine stärker färbbare Substanz ringartig um den Zelläquator herum- zieht, welche die erst später dichter werdende und dann nicht mehr besonders färbbare Teilungsmembran darstellt, und deren mechanische Wirkung man direkt mit der Scharnierwirkung im HEIDENHAINschen Modell vergleichen kann, da die jugendliche Zellmembransubstanz wohl ohne Bedenken als weniger widerstandsfähig (gegen die zentripetalen Zugkräfte) angesehen werden darf als die älteren Membranteile. Das Scharnier am HEIDENnHAINschen Modell und seine verschiedene An- wendung ist also dadurch gerechtfertigt, daß vor der Ankunft der Tochtersphären in der Kernpolstellung die Zelloberfläche wegen noch zu geringer Größe dem dizentrischen Zuge nicht folgen kann, das Scharnier demnach in dieser Periode im Modell festgestellt werden muß, während nach der Spindeleinstellung die Zellmembran vermöge ihres jetzt ermöglichten gesteigerten Membranwachstums dem dizen- trischen Zug zu folgen vermag, so daß alsdann die Scharniere im HEIDENHAINSchen Modell freizugeben sind. Das Zellteilungsmodell zeigt also in der Tat, daß die Longitudinalspannung, die wir für die Zellleibstrahlen nach der RHUMBLERSchen Theorie in Anspruch ge- nommen haben, den Ablauf der Cytokinese und die mit ihr verbundene Zelldurchschnürung mechanisch verständlich macht. Es fragt sich jetzt noch, ob es nicht einfacher wäre, mit HEIDEN- HAIN !) anzunehmen, daß die Zellleibstrahlen elastisch gespannte Fäden (von gleicher Ausgangsspannung bei gleicher Ausgangslänge) wären, als der RHUMBLERSchen auf den Wabenbau begründeten komplizier- teren Theorie Gehör zu geben. Ganz abgesehen von allen anderen Unwahrscheinlichkeiten, die von anderen Seiten gegen die HEIDENHAINsche Annahme der Wirk- samkeit elastischer Fäden in flüssiger Umgebung erhoben worden sind, könnten solche elastische Fäden innerhalb eines einheitlichen flüssigen interfilaren Mediums weder die Kernspindel hervorbilden noch den gebogenen Verlauf der in dem Polgebiet der Zelle vorhandenen Strahlen annehmen, der sehr häufig beobachtet wird (cf. R. HERTWIG) ?), und auf dessen Aehnlichkeit mit den entsprechenden Strahlen mag- netischer Kraftlinienspindeln (cf. Fig. 291 mit Fig. 292) neuerlich E. B. Wırson®) besonders aufmerksam gemacht hat. Das HEIDENHAINSche Modell versagt die Wiedergabe dieser Biegungen und die Spindel- bildung, weil ihm die senkrecht gegen die Strahlen anpressenden 1) M. HEIDENHAIN: „Neue Untersuchungen über die Zentralkörper und ihre Beziehungen zum Kern- und Zellenprotoplasma“. In Arch. f. mikroskop. Anat., 1894. — Derselbe: „Cytomechanische Studien“. In Arch. f. Entwicklungsmech., 1895. — Derselbe: „Ein neues Modell zum Spannungsgesetz der zentrierten Systeme“. In Verh. d. anat. Ges. zu Berlin 1896. — Derselbe: „Neue Erläuterungen zum Spannungs- Se: 53 a Systeme“. In Morphol. Arbeiten, herausgeg. von G. SCHWALBE, Bd. 7, 1896. 2) R. HErRTwIG: „Ueber Kerpteilung, Richtungskörperbildung und Befruch- tung von Actinosphaerium Eichhornii“. In Abhandl. d. Bayr. Akad. (Il. Ki.), Bd. 19, 1898. 3) E. B. Wırson: „Experimental studies in Cytology“. In Arch. f. Entwick- lungsmech., Bd. 12 u. 13, 1901. Vom Mechanismus des Lebens. 663 Kräfte fehlen. In einer einheitlichen Flüssigkeit, die von allen Seiten gleichmäßig auf ihre Einlagerungen drückt, müssen elastisch gespannte Fäden immer zu geraden Linien werden. Haben wir dagegen, wie RHUMBLER behauptet, in den radialen Gebieten longitudinal gespannte, nach Verkürzung strebende Alveolenpartien, in den interradialen Zell- leibpartien dagegen ein aufquellendes Alveolenwerk vor uns, dessen Alveolenwände mit denjenigen der radialen Gebiete in direkter Kon- tinuität stehen, so muß der Aufquellungsdruck des interradialen Alveolenwerks senkrecht gegen die nach Verkürzung strebenden Radialwaben anpressen, und man weiß sofort aus der Analogie mit den magnetischen Kraftlinienfiguren, wo ja auch die eine Längsspannung vertretenden Kraftlinien senkrecht gegen sie anpressende Widerstands- kräfte zwischen sich haben, daß unter solchen Umständen die Bildung der Kernspindel ebensowohl als die Polbiegung der Zellradien in ein- facher Weise erklärt werden. In Betreff weiterer Einzelheiten muß auf RHUMBLERs ÖOriginal- arbeiten verwiesen werden, wo man neben den genannten und dort ein- sehender entwickelten mechanischen Hauptfaktoren, neben der durch die Sphären bewirkten Strahlenkontraktion und neben dem Zellober- flächenwachstum also, noch besondere Hilfsfaktoren abgeleitet finden wird, die dem Zellteilungsvorgang eine größere Sicherung und durch besondere Ausbildung und mechanisch erklärbare Kombination ein- zelner Faktoren auch eine große, die verschiedenen Formen ver- schiedenartiger Zellteilungen erklärende Variationsfähigkeit verleihen. Wenn hiernach die Mechanik der während der Zellteilung auf- tretenden Gruppierungen, Transporte und Umlagerungen der ver- schiedenen Konstituenten des Zellleibes einer Erklärung zugänglich ist, so existiert doch leider bis jetzt noch keine ähnlich durch- gebildete Theorie für die Mechanik der komplizierten Umlagerungs- vorgänge der Kernbestandteille.. So sehr auch die RHUMBLERSche Theorie bereits auf fortgesetzte Stoffaustausche zwischen Kern und Zellleib während der Zellteilung hinweist; wie die karyokinetischen Figuren zustande kommen, ist bis jetzt noch unbekannt; doch bleibe nicht unerwähnt, daß sich auch hier vielleicht ein für die weitere Ergründung der Vorgänge gesicherterer Boden durch Heranziehung lebloser Vergleichsobjekte gewinnen lassen wird. Ein solches Ver- gleichsobjekt scheint sich in den Vorgängen zu bieten, die LEDucC!) bei dem Einträufeln von verdünnter Tuschelösung oder verdünnter Tinte oder Blut in Salzlösungen, z. B. von Kuchsalz oder Salpeter, beobachtet hat und die er lediglich als Diffusionsvorgänge deutet, bei denen wahrscheinlich aber auch elektrische Prozesse mitspielen, da RHUMBLER?) mit Hilfe eines Magneten die betreffenden Konfigu- 1) Lepuc: „Production artificielle des figures de la karyokin®se“. In Compt. rend. de l’Association Frang. pour l’avancem. sci., Congres de Grenoble 1904, p. 816, und: „Les bases physiques de la vie“, Paris 1907. — Eine kurze Mitteilung: „Die Diffusion der Flüssigkeiten“ in Physik. Zeitschr, Jahrg. 6, 1905, p. 793. 2) RHUMBLER: „Aus dem Lückengebiet zwischen organismischer und anorganis- mischer Materie“. In Ergebn. Anat. Entwickelungsgesch., Bd. 15, 1905, p. 28. Hier wird auch darauf aufmerksam gemacht, daß man Tusche, Tinte und Blut nicht schlichtweg als indifferente Körper ansehen darf; die Tusche enthält ein kolloidales Bindemittel, unverdünnte Tinte ergibt mit der Salzlösung eine dicke Niederschlags- membran und Blut enthält wiederum Kolloide. Da sich in neuerer Zeit auch die Kolloide vielfach als mit elektrischen Ladungen versehen herausgestellt haben, so ist auch durch diese Beimengungen Gelegenheit zu elektrischen Potentialdifferenzen gegeben. 664 Sechstes Kapitel. rationen beeinflussen konnte und die Verwendung von Salzlösungen, also von Elektrolyten, von vornherein elektrische Ladungen wahr- scheinlich macht. Nach dem Aufträufeln entstehen nach einiger Zeit aus den Tropfen Strahlungen von oft wunderbarer Schönheit; das Merkwürdigste aber ist, daß Lepuc den ganzen Ablauf der chromatischen Umlagerungen (ef. p. 230 u. ff.) während der Zellteilung sich in richtiger Folge portrait- getreu abspielen sah, wenn er folgendermaßen verfuhr: Er brachte in eine Salzlösung einen mit etwas dünnerer Salzlösung vermischten Tusche-, Tinten- oder Bluts- tropfen und bettete diesen Tropfen zwi- schen zwei andere der gleichen Sub- stanz, die aber mit stärker konzentrier- ter Salzlösung ver- setzt waren. Die äußeren, hypertoni- schen Tropfen bil- deten sich dabei zu den von Strahlen umgebenen Spin- A delpolen aus, wäh- rend der mittlere, hypoto- BERBETIN nische Tropfen die Kern- nachahmung übernahm. Die gefärbten Substanzen grup- pierten sich nämlich in dem mittleren Tropfen zunächst zu einem Knäuel, dieses zer- fiel dann in den Chromoso- men vergleichbare Stücke; die Stücke traten in die Aequatorialebene ein und Fig.295. A Künstlich erzeugte karyokine- wurden — nach den An- tische Figur von LEDUC, B aus GALLARDO. gaben LEDucs — längs- gespalten. Auf diese Längs- spaltung hin erfolgte ein Transport der Spalthälften, die V-Form dabei annahmen, nach beiden Polseiten hin, ganz wie bei der Karyokinese. Daß auf diese Weise sehr beachtenswerte Aehnlichkeiten mit karyokinetischen Figuren!) zuwege kamen, zeigt Fig. 295, welche die Photographien zweier von LEDUC künstlich erzeugter Spindeln mit Polstrahlen wiedergibt. 1) Auch RHUMBLER hat, noch nicht veröffentlichter Mitteilung zufolge, nach Lepucs Methode gewissen Kernteilungsstadien frappant ähnlich sehende Bilder von faszinierender Klarheit erhalten; namentlich gelangen ihm die ersten Stadien der Knäuelbildung ziemlich häufig; eine Längsspaltung der Fäden jedoch konnte er bis- lang ebensowenig wie ein ehe Einrücken der Knäuelstücke in die Aequatorial- ebene erzielen. Da aber die Versuche im ganzen nur sehr schwer nach vielem Aus- probieren gut gelingen, so glaubt er seine diesbezüglichen Fehlversuche vorläufig nicht als Beweise gegen die Richtigkeit der Lepucschen Schilderungen ansehen zu dürfen, zumal die abgebildeten Photographien (Fig. 295) Stadien der regressiven Teilungszustände vorführen. Vom Mechanismus des Lebens. 665 Wenn sich die Angaben Lepucs, die leider sehr wenig ausführ- lich sind, in vollem Umfange bestätigen sollten, so dürfte hier ein relativ unschwer zu analysierendes mechanisches Analogiemodell für die Kernteilung vorliegen, das auch eine entsprechend einfache Er- klärung für die dem Aussehen nach sehr komplizierten Kernteilungs- vorgänge verheißt. Möglicherweise werden dann auch hier anziehende und abstoßende Wirkungen, die bei den Lepucschen Figuren wohl durch elektrische Ladungen zu erklären sind !) durch andere Faktoren — vielleicht durch die Oberflächenspannung der agierenden Sub- stanzen — in Gang gebracht, in ähnlicher Weise, wie das auf den voranstehenden Seiten für die Vorgänge im Zellleib gezeigt worden ist, hier jedoch für den Zellkern nicht näher ausgeführt werden kann. Unabhängig aber von einer derartigen etwa möglichen Er- klärung ist die Tatsache, daß der Kern durch das Auseinanderweichen der beiden Spindelpole in die Länge gezogen und einfach durch- geschnürt wird, in ihrem Gesamtbild nichts als ein einfacher Modus der Oberflächenvergrößerung des Kerns bei gleichbleibender Masse, und die. darauftolgende Durchschnürung des Protoplasmas bedeutet das gleiche für den ganzen Zellkörper. Es ist die einfachste Form einer Korrektur des zwischen Oberfläche und Masse bei fortgesetztem Wachstum entstandenen Mißverhältnisses, und gerade diese einfachste Form der Fortpflanzung dürfte einst der mechanischen Erklärung verhältnismäßig die geringsten Schwierigkeiten in den Weg stellen. Mit der Teilung der Zelle in zwei selbständige Zellen wird in den beiden Teilprodukten das Verhältnis von Oberfläche zu Masse wieder ein ganz anderes, als es in der großen Zelle vor der Teilung war. Die Folge davon ist, daß sich auch die Stoffwechselverhältnisse wieder verändern werden, und daß die Zelle wieder denselben Zustand an- nimmt, den die Mutterzelle hatte, als sie durch Teilung entstanden war und als selbständiges Individuum zu wachsen begann. Es wieder- holt sich also von einer Zellteilung zur anderen derselbe Zyklus von Veränderungen, der durch das Wachstum des Zellkörpers und die dadurch veranlaßten Störungen im Stoffwechsel bedingt ist. Sind diese Veränderungen gering, so werden sie sich äußerlich in der Formbildung der Zelle, abgesehen von der Größenzunahme, nicht be- sonders bemerkbar machen. Die Mehrzahl aller Zellen zeigt dieses Verhältnis, indem sie einfach wächst und, wenn sie eine bestimmte Größe erreicht hat, sich teilt, und so fort. Wo dagegen die durch das Wachstum bedingten Stoffwechselstörungen bedeutender sind, da werden dieselben auch in einer Veränderung der äußeren Form des Zellkörpers zum Ausdruck kommen, und wir bekommen eine typische 1) So konnte RALPH S. LILLIE auf Kork montierte magnetisierte Nadeln, deren einzelne Korke er mit einem Seidenfaden verband, sich zur Knäuelanordnung der ersten Zellteilungsstadien umordnen sehen, wenn er sie auf Wasser schwimmen ließ und der Einwirkung eines darüber gehaltenen Magneten aussetzte (cf. R. S. LILLIE: „Ihe physiology of cell-division. I. Experiments on the conditions determining the distribution of chromatie matter in mitosis“. In American Journ. Physiol., Vol. 15, 1905, p. 46). Das Charakteristische bei dieser Knäuelanordnung ist der gleichmäßige Abstand, den die einzelnen Fadenzüge, so verschiedenartig und unregelmäßig sie auch sonst verlaufen mögen, voneinander halten; diese Abstandsgleichheit, die in gleicher Weise auch im Knäuelstadium der Kernteilung deutlich auftritt, gilt nach RHUMBLERs Erfahrungen auch für die Knäuelstadien der Lepucschen Figuren, so daß die Wahrscheinlichkeit einer elektrischen Beihilfe bei dem Aufbau der LEDUC- schen Figuren sehr nahe liegt. 666 Sechstes Kapitel. Entwicklung der Zelle. Eine große Anzahl der freilebenden ein- zelligen Organismen weist diesen Vorgang auf, und zwar besonders diejenigen, deren Zellkörper bei der Teilung nicht in zwei Hälften, sondern in eine größere Anzahl von Teilen oder „Sporen“ zerfällt. Die Größendifferenz der Spore und des ausgewachsenen Infusors ist allerdings ganz bedeutend. Daher müssen auch die Stoffwechsel- unterschiede ganz bedeutend sein, und es bedarf einer längeren Ent- wicklung, bis die Spore sich wieder zu einem ausgewachsenen Infusor ausgebildet hat. So läßt sich die Entwicklung der Zelle, die periodische Wiederkehr eines und desselben Zyklus von Formveränderungen von einer Zellteilung bis zur anderen, von einer Sporenbildung bis zur anderen als ein Ausdruck der Veränderungen betrachten, welche durch das Wachstum im Stoffwechsel der Zelle hervorgerufen werden. Freilich müssen sich während des Wachstums bei der engen Korrelation aller Zellteile unter sich und mit den Faktoren des Mediums noch unzählige andere, sowohl chemische als physikalische Momente heraus- bilden, die sämtlich wieder mit eingreifen, um die Veränderungen der Zellenform zu unterstützen und zu befördern. Aber als funda- mentale Bedingung aller dieser Veränderungen brauchen wir keinen anderen Faktor anzunehmen als das Wachstum. Das Wachstum allein genügt, um die zyklische Folge von Formveränderungen mechanisch verständlich zu machen, die wir Entwicklung nennen. Das Wachs- tum ist das Grundphänomen des Formwechsels. * * * b) Entwicklungsmechanik. Eine Frage, welche die Entwicklung des vielzelligen Organismus durch fortgesetzte Teilung aus der Eizelle betrifft, ist in neuerer Zeit Mittelpunkt lebhafter Erörterungen geworden. Das ist die Frage: Wie kommt die Teilung einer Zelle in zwei ungleiche Hälften zu- stande, ein Vorgang, der die Grundbedingungen für die Entwicklung ’edes differenzierten Zellenstaates bildet? Diese Frage, die von fundamentaler Bedeutung für das Verständnis der Entwicklung aller höheren Organismen ist, wird auf zwei sehr verschiedene Weisen be- antwortet. Die Ansicht einer Reihe von Forschern schließt sich im großen ganzen der Theorie von Hıs!) über die „organbildenden Keimbezirke* an. Roux?), WEISMANN?) und viele andere folgen, wenn auch mit einigen Modifikationen, dieser Ansicht, welche besagt, daß bereits in der Eizelle verschiedene Bezirke vorhanden sind, die bei der fortgesetzten Teilung auf verschiedene Teilzellen übertragen werden, und deren jeder das Material für die Entwicklung ganz be- stimmter Gewebe und Organe liefert. Mit anderen Worten: Die An- lagen für die verschiedenen Körperteile des fertigen Organismus sind bereits in verschiedenen Teilen des Eies getrennt nebeneinander. Die ‘1 W. Hıs: „Unsere Körperform und das physiologische Problem ihrer Ent- stehung. Briefe an einen befreundeten Naturforscher‘, 1874. 2) RouUx: „Gesammelte Abhandlungen über Entwicklungsmechanik der Organis- men“, Leipzig 1895. — Derselbe: „Vorträge und Aufsätze über Entwicklungsmechanık der Organismen“, Heft 1, Leipzig 1905. 3) WEISMANN: „Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung‘, Jena 1892. Vom Mechanismus des Lebens. 667 Hauptstütze dieser Ansicht bilden die Experimente, die Rovx am Froschei angestellt hat, bei denen er beobachtete, daß sich nach künst- licher Zerstörung einer der beiden ersten Furchungszellen aus der anderen zunächst nur Hemiembryonen entwickelten, d.h. Embryonen, denen die eine Körperhälfte ganz fehlte, daß freilich die fehlende Hälfte später durch „Postgeneration“, wie Roux sich ausdrückt, nach- gebildet werden kann. Dem steht die Ansicht einer anderen Reihe von Experimentatoren, vor allem von PFLÜGER!!), OÖ. HERTwIG ?) und DrIEScH ’) gegenüber, welche die Existenz „organbildender Keim- bezirke“ in der Eizelle leugnen und sich vorstellen, daß die Differen- zierung der gleichartigen Eizelle in verschiedenartige Teilzellen ledig- lich durch die Einwirkung äußerer Faktoren auf die verschiedenen im Ei enthaltenen Stoffe herbeigeführt wird. So wirkt z. B. bei Eiern, die, wie das Froschei, verschieden schwere Substanzen — im Froschei findet sich eine weiße, dotterreichere und eine pigmentierte, protoplasmareichere — enthalten, die Schwerkraft in der Weise, daß sie sich polar differenzieren, so daß die schwerere Substanz unten, die leichtere oben zu liegen kommt und bei Drehung des Eies immer wieder in diese Lage zurückkehrt. Bei der ersten Teilung des Eies wird diese polar differenzierte Zelle durch eine senkrechte Furche in zwei gleiche Hälften geteilt, von denen jede gleich viel weiße und schwarze Substanz enthält. Brachte PFLÜGER aber Froscheier in eine abnorme Lage und fixierte er sie darin, so wurden die Eier bei der Furchung häufig in zwei ganz ungleiche Teile gefurcht, von denen der eine vorwiegend die helle, der andere die dunkle Masse enthielt, und trotzdem entwickelten sich normale Larven daraus. Aus diesen Tatsachen schloß man, daß der Inhalt des Eies also nicht schon so differenziert sein kann, daß sich aus jedem Teil nur gewisse Organe entwickeln können, sondern daß vielmehr im Ei die verschiedenen Bezirke noch durchaus gleichwertig sein müssen für die spätere Ent- wicklung. Dafür schien übrigens auch die von O. HERrRTwIG be- obachtete Tatsache zu sprechen, daß sogar einzelne kleine Stücke der Eizelle, wenn sie nur lebensfähig sind und befruchtet werden, sich zu ganzen Individuen entwickeln. Gegenüber den Beobachtungen von Rovx stellte ferner DRIESCH an Seeigeleiern fest, daß aus jeder der zwei, vier oder acht ersten Furchungszellen, wenn er sie durch Schütteln voneinander isoliert hatte, sich stets vollkommene Individuen ent- wickelten, die sich nur durch ihre geringere Größe von den normalen unterschieden, eine Tatsache, die übrigens seitdem von zahlreichen Beobachtern an verschiedenen Tierarten, unter anderen auch von OÖ. HERTwIG an Rovx’s eigenem Versuchsmaterial, dem Froschei, be- stätigt worden ist. Daß sich ferner aus den einzelnen durch die Teilung der Eizelle entstehenden Furchungszellen durchaus nicht ganz 1) PFLÜGER: „Ueber den Einfluß der Schwerkraft auf die Teilung der Zellen“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 31, 32, 34. 2) O. HERTWIG: „Die Zelle und die Gewebe“, Jena 1892. — Derselbe: „Ueber den Wert der ersten Furchungszellen für die Organbildung des Embryo. Experi- mentelle Studien am Frosch- und Tritonei“. In Arch. f. mikrosk. Anat., Bd. 42, 1893, 3) DRIEScH: „Entwicklungmechanische Studien. I. Der Wert der beiden ersten Furchungszellen in der Echinodermenentwicklung. Experimentelle Erzeugung von Teil- und Doppelbildungen“. In Zeitschr. f. wiss. Zool., Bd. 53, 1892, — Der- selbe: „Zur Verlagerung der Blastomeren des Echinideneies“. In Anat. Anz., No. 10 u. 11, 1893. 668 Sechstes Kapitel. bestimmte Teile oder Organe des Embryo entwickeln, suchten DRIESCH und HERTwIG im Verfolg des bereits von PFLÜGER angestellten Ver- suches noch auf andere Weise zu zeigen, indem sie, wie PFLÜGER, Froscheier zwischen zwei Glasplatten so einklemmten, daß sich die aus der Teilung hervorgehenden Zellen nur in eine Ebene lagern konnten, statt zu einem kugeligen Haufen, daß also eine ganz abnorme Verlagerung der Furchungszellen gegeneinander eintrat. Trotzdem entwickelten sich daraus vollständig normale Embıyonen. Aus dieser Tatsache glaubte man notwendig den Schluß ziehen zu müssen, daß die einzelnen bei der Furchung entstehenden Teilzellen keine be- stimmten ÖOrgananlagen repräsentieren, und daß auch in der Eizelle mithin keine „organbildenden Keimbezirke“ vorhanden sein können. Fassen wir die Gegensätze, die sich in beiden gegenüberstehenden ‚Theorien aussprechen, kurz zusammen, so ist die Vorstellung organ- bildender Keimbezirke im wesentlichen nichts anderes als ein Rest der alten, hier mehr, dort weniger klaren Präformationslehre, wie sie zur Zeit HALLERSs blühte, nur in etwas modernerem Gewande, während die Ansicht von der Gleichwertigkeit der verschiedenen Teile der Eizellsubstanz im allgemeinen den Standpunkt der Epigenesislehre CASPAR FRIEDRICH WOLFFs repräsentiert, wie ihn in der neueren Entwicklungsgeschichte vor allem HAECKEL stets mit großer Ent- schiedenheit vertreten hat. In dieser extremen Fassung sind beide Lehren unvereinbar miteinander. Allein, es kann keinem Zweifel unterworfen sein, daß die Entwicklung eine wirkliche Epigenese ist, und daß die Annahme einer minutiösen Präformation der verschiedenen ÖOrgananlagen in der Eizelle in der Form, wie sie namentlich WEIS- MANN und DE VRIES!) gemacht haben und wie sie der alten Präfor- mationslehre zugrunde lag, ganz entschieden nicht den Tatsachen ent- spricht. Die Tatsache, daß auch kleine Stücke einer Eizelle, ferner die isolierten Furchungshälften und -viertel noch einen normalen voll- ständigen Organismus von entsprechend geringerer Größe liefern, wenn sie nur alle wesentlichen zur Erhaltung des Lebens nötigen Zell- bestandteile enthalten, sowie die Tatsache, daß bei der Verlagerung der Furchungskugeln Tiere mit völlig normaler Lagerung der Organe entstehen, läßt die Unhaltbarkeit einer solchen Annahme ohne weiteres erkennen. Auf der anderen Seite muß aber zuge- geben werden, daß ebenso wie in zahllosen anderen Zellen auch in vielen Eizellen sich spezielle Differenzierungen verschiedener Protoplasmapartien schon mikroskopisch unterscheiden lassen. Werden diese Differenzierungen bei der Teilung in ungleicher Weise auf die Teilhälften übertragen, so ist es ganz selbstverständlich, daß daraus auch Verschiedenheiten in den von den verschiedenen Teil- hälften abstammenden Entwicklungsprodukten resultieren müssen. Aber damit ist noch keine Mosaikstruktur im Sinne der Präformations- lehre gegeben. Vielmehr existieren sicherlich zahllose Eier, bei denen die Differenzierung so gering ist, daß jeder Bruchteil, wenn er nur die zur Erhaltung des Lebens nötigen Zellbestandteile mitbekommt, auch imstande sein wird, den ganzen Organismus zu reproduzieren. Auf jeden Fall ist in jeder Eizelle die Differenzierung verschiedener Be- zirke eine ganz verschwindend geringe im Vergleich zu der ungeheuren Differenzierung der Teile, die der fertig entwickelte Organismus zeigt. 1) DE VRrıes: „Intrazellulare Pangenesis‘“, Jena 1889. Vom Mechanismus des Lebens. 669 Es kann also von einer wirklichen Präformation der Organe und Teile des fertigen Organismus in der Eizelle im Sinne der alten Ein- schachtelungstheorie, auch wenn es sich nur um die Anlage eines jeden Teiles oder Organes handeln sollte, auf keinen Fall die Rede sein. Die ganze große Fülle von Differenzierungen, die sich im Laufe der Entwicklung eines Wirbeltierkörpers herausbilden, beruht auf Epigenese. Aber noch ein anderer Gegensatz ist in den beiden oben skizzierten Anschauungen zum Ausdruck gekommen. Während die Theorie von WEISMANN und Roux die wesentlichen Bedingungen für die Entstehung differenzierter Tochterzellen bei der Teilung des Eies in der Eizelle selbst sucht, findet sie die Vorstellung von PFLÜGER und HERTWIG vorwiegend in den von außen her auf die Zelle ein- wirkenden Faktoren. Während nach der einen Ansicht die Zellen sich aus inneren Bedingungen heraus in ungleiche Teilprodukte teilen, sind es nach der anderen Meinung wesentlich äußere Faktoren, welche die Ungleichheit der Zellen bei fortgesetzter Teilung erzeugen. Hier ist nun zweifellos ein Punkt, an dem eine Vereinbarung zwischen beiden gegenüberstehenden Ansichten auf dem Boden unserer kon- ditionalen Auffassung der Lebensvorgänge möglich ist. Nach unserer oben entwickelten Vorstellung vom Mechanismus der Entwicklung und Fortpflanzung der einzelnen Zelle auf Grund der durch das Wachstum entstehenden Stoffwechselveränderungen liegt es auf der Hand, daß innere und äußere Bedingungen der Formver- änderung sich überhaupt nicht voneinander trennen lassen. Die ge- samte Formbildung und Formveränderung ist danach ein Kompromifß, eine Wechselwirkung zwischen den innerhalb und den außerhalb der Zelle gelegenen Faktoren, so wie der ganze Lebensvorgang nur durch die Summe der inneren und äußeren Lebensbedingungen eindeutig bestimmt ist. Dadurch, daß die Zelle infolge der charakteristischen Beschaffenheit ihrer lebendigen Substanz die Eigentümlichkeit be- sitzt, von außen Stoffe in sich aufzunehmen und Stoffe von innen nach außen abzugeben, ist schon in dem elementaren Lebensvorgang, dem Stoffwechsel selbst, ein Kompromiß zwischen inneren und äußeren Momenten gegeben, ohne den das Leben der Zelle nicht möglich ist. Indem die Zelle aber wächst, werden durch diese Veränderung der inneren Bedingungen wieder die Beziehungen mit den äußeren Faktoren verändert, so daß dieselben jetzt in anderer Weise einwirken als vor- her. So wird in jedem Zeitmoment ein anderer Kompromiß zwischen Zelle und Medium, zwischen inneren und äußeren Faktoren geschlossen, dessen Ausdruck die Veränderung, die Entwicklung und schließlich die Fortpflanzung der Zelle ist. Hiernach ist es klar, daß wir weder sagen können: die Veränderung der Zelle und die Differenzierung ihrer Teilungsprodukte sei allein die Folge ihrer inneren Beschaftenheit, noch auch: sie sei allein die Wirkung äußerer Faktoren. Wirkönnen nur sagen: die Entwicklung und Fortpflanzung der Eizelle und die Differenzierung der ausihrer Teilung hervorgehenden Zellgenerationen ist ein Ausdruck der durch das Wachstum bedingten fortschreitenden Ver- änderungen in’-den Wechselbeziehungen zwischen leben- diger Substanz und Medium. Das fundamentale Unterscheidungsmoment zwischen der einzelnen freilebenden Zelle und der sich zum Zellenstaat entwickelnden Eizelle 670 Sechstes Kapitel. liegt ganz allein darin, daß bei der Entwicklung der Eizelle die aus dem Teilungsprozeß hervorgehenden Tochterzellen miteinander im Zusammenhang bleiben, während sich die bei der Teilung des ein- zellisen Organismus entstehenden Tochterzellen sofort nach der Teilung voneinander trennen. Beim einzelligen Organismus machen daher die Wechselbeziehungen zwischen Zelle und Medium immer nur wieder denselben kurzen Zyklus von Veränderungen durch; bei der Teilung der Eizelle dagegen ändern sich die Wechselbeziehungen zwischen Zelle und äußeren Faktoren mit jeder der schier unzähligen Teilungen wieder in ganz neuer Weise. Daher kommt es, daß die Eizelle bis zur Entwicklung des vielzelligen Organismus eine so ungeheuer lange Reihe von Formveränderungen durchlaufen muß, während der einzellige Organismus entweder eine kaum merkbare Entwicklung oder doch nur einen kurzen Kreis von Veränderungen durchzumachen braucht. Läßt das Wachstum im vielzelligen Organismus allmählich nach, so er- fahren die Zellen auch immer weniger Formveränderungen, und manche Gewebezellen, wie z. B. die Ganglienzellen, die im fertigen Organismus nur noch ein beschränktes Wachstum zeigen, teilen sich nicht mehr und differenzieren sich nicht weiter. In Wirklichkeit hört indessen, wie wir a.a. O.!) sahen, die Entwicklung überhaupt nie ganz auf bis zum Tode; nur treten später die Veränderungen so überaus langsam auf und sind verhältnismäßig so gering, daß wir sie selbst innerhalb langer Zeiträume kaum bemerken. In diesem scheinbar stationären Zustande sind die Gewebezellen wieder mehr jenen einzelligen Organismen ähnlich, die noch keine kompliziertere Entwicklung haben: bei beiden ändern sich die Wechselbeziehungen zwischen inneren und äußeren Faktoren nur in unmerklicher Weise, indem sie bei den Gewebezellen zu langsam verlaufen, bei den Einzelligen zu gering sind und immer wieder zu ihrem Anfangspunkt zurückkehren. Bei beiden nehmen wir daher keine wesentlichen Formveränderungen wahr. Aus dieser Ueberlesung geht hervor, wie verkehrt es ist, wenn man aus der Tatsache, daß sich die kleine Eizelle zu einem so er- staunlich komplizierten Zellenbau differenziert, die Vorstellung her- leiten will, daß die lebendige Substanz der Eizelle gegenüber der jeder anderen Zelle, sowohl jedes einzelligen Organismus wie jeder Gewebezelle, sich durch eine ganz undenkbar feine und komplizierte „Struktur“ auszeichnen müsse. Diese Vorstellung, auf die man ziem- lich häufig stößt, ist aber ebenfalls weiter nichts als noch ein heim- licher Rest der Präformationslehre und, wie wir sahen, ebenso über- flüssig wie unberechtigt; denn die Entwicklung und Differenzierung des Zellenstaates aus der Eizelle beruht lediglich auf den mit dem kontinuierlichen Zellwachstum, mit jeder Zellteilung sich fortwährend weiter verändernden Wechselbeziehungen zwischen der lebendigen Substanz der Zellen und den äußeren Faktoren. Das Wachstum ist der Fundamentalvorgang aller Entwicklung überhaupt, sowohl der einzelnen Zelle als des ganzen Zellenstaates, und wir können diese wichtige Tatsache kaum besser ausdrücken als mit den Worten des Altmeisters der Entwicklungsgeschichte selbst, mit den Worten. in denen einst KARL ERNST v. BAER?) das allgemeinste Ergebnis seiner 1) Vergl. p. 400. . 2) KARL ERNST v. BAER: „Ueber die Entwicklungsgeschichte der Tiere. Be- obachtung und Reflexion“, 1. Teil, Königsberg 1828. Vom Mechanismus des Lebens. 671 Studien über die Entwicklungsgeschichte der Tiere zusammenfaßte : „Die Entwicklungsgeschichte des Individuums ist die Geschichte der wachsenden Individualität in jeglicher Beziehung.“ Fassen wir unsere Erörterungen über die Mechanik der Ent- wicklung in einem übersichtlichen Bilde zusammen, so kommen wir zu folgender Vorstellung. Die sich entwickelnde Zelle repräsentiert, wie jede Zelle, ein System von lebendiger Substanz, das durch einen ganz bestimmten Stoffwechsel charakterisiert ist. Dieser Stoffwechsel ist der Ausdruck der Wechselbeziehungen, die zwischen dem Medium mit seinen einzelnen Faktoren einerseits und der Zelle mit ihren mannigfachen Inhaltsdifferenzierungen anderseits bestehen. Indem die Zelle wächst, ändern sich notwendigerweise die Wechselbeziehungen zwischen dem Medium und der Zelle, weil sich das Verhältnis von Oberfläche und Masse der lebendigen Substanz mehr und mehr ver- schiebt. Infolgedessen finden wir auch eine Veränderung des Stoff- wechsels, denn der Stoffwechsel ist stets eindeutig bestimmt durch die jeweilige Summe der inneren und äußeren Lebensbedingungen. Aendern sich einzelne dieser Bedingungen, so ändert sich auch ent- sprechend der Stoffwechsel. Was wir mit einem kurzen Worte Stoff- wechsel oder Lebensvorgang nennen, ist ja nur ein Ausdruck für die Summe sämtlicher inneren und äußeren Lebensbedingungen. Wir haben also in der wachsenden Zelle eine kontinuierliche Aufeinander- folge verschiedener Stoffwechselzustände in ganz allmählichem Ueber- gang, in der Weise, daß jeder folgende Zustand mit Notwendigkeit aus dem vorhergehenden resultiert. Da die Form, wie überall in der Körperwelt, unter anderem eine Funktion des Baumaterials ist, so ist es erklärlich, daß sich mit der Veränderung des Stoffwechsels auch die Form der Zelle unter gewissen Bedingungen verändern wird, und so haben wir Hand in Hand gehend mit der Aufeinanderfolge verschiedener Stoffwechselzustände auch eine kontinuierliche Aufeinanderfolge ver- schiedener Formzustände, mit anderen Worten: wir haben eine Ent- wicklung. Es ergibt sich daraus, daß die Entwicklung der Zelle eine wirkliche „Epigenese“ ist, im Sinne CASPAR FRIEDRICH WOLFFS, d.h. eine Aufeinanderfolge immer neuer Formzustände, nicht ein deutlicheres Hervortreten schon vorher präformierter, aber noch nicht wahrnehmbarer Strukturdifferenzierungen der lebendigen Sub- stanz, wenn auch immerhin bereits in manchen Eizellen, einzelne funktionell verschiedene Bezirke bestehen. Je nach dem Grade der Veränderungen in den Wechselbeziehungen zwischen Medium und Zelle wird aber die Formveränderung in einem Falle weniger, im anderen Falle mehr zum Ausdruck kommen, am meisten in den Fällen, in denen sich die Beziehungen zwischen Zelle und Medium rapide und andauernd ändern, indem die infolge des Wachstums sich teilenden Zellen im Zusammenhang miteinander bleiben und gegen- seitig aufeinanderwirken, wie bei der Entwicklung des Zellenstaates der Pflanzen und Tiere aus der Eizelle. e) Struktur und Flüssigkeit. Wir haben an einer anderen Stelle besonderen Wert darauf ge- legt, daß die lebendige Substanz im wesentlichen die Eigenschaften einer Flüssigkeit besitzt. Bei der Formbildung spielt aber noch ein 672 Sechstes Kapitel. anderes Moment eine bedeutende Rolle, das ist ihre Struktur. Da es auf den ersten Blick scheinen könnte, als ob Struktur und Flüssigkeit zwei Dinge sind, die sich gegenseitig ausschließen, so wird es zweck- mäßig sein, erst auf diese Frage einzugehen !). Wenn wir unter Struktur eine bestimmte gegenseitige Anordnung der kleinsten Teilchen verstehen, aus denen eine Substanz zusammen- gesetzt ist, so liegt das Grunderfordernis für die Existenz einer Struktur in der gegenseitigen Gruppierung bestimmter Teilchen. Nur wo sich gewisse Teilchen gegenseitig gruppieren, kann von einer Struktur die Rede sein. Diese Forderung ist aber nicht bloß im festen Körper erfüllt, sondern auch in der Flüssigkeit: denn auch in der Flüssigkeit ordnen sich die einzelnen Teile untereinander in bestimmter Weise. Der Unterschied in der Struktur der Flüssigkeiten und festen Körper liegt lediglich darin, daß die Teilchen in einem festen Körper sich infolge der Molekularattraktion (Kohäsion) nur innerhalb beschränkter Grenzen um einen Schwingungsmittelpunkt herum bewegen, während sie sich in einer Flüssigkeit fortwährend aus ihrer Lage losreißen und fortbewegen. Dazwischen liegen alle möglichen Zwischenstufen. Die interessanten Untersuchungen von O. LEHMANN ?) über flüssige Kristalle haben in dieser Beziehung sehr viel Material geliefert, das auch in biologischer Beziehung Interesse verdient. In Wirklichkeit besteht schon in jeder einfachen Lösung eine gewisse Molekularstruktur. Legen wir z.B. in ein Gefäß mit destilliertem Wasser einen reinen Salzkristall, so löst sich derselbe nach einiger Zeit auf, und die Salz- moleküle verteilen sich durch Diffusion gleichmäßig in der Flüssig- keit, so daß in jedem kleinsten Volumen der Flüssigkeit der gleiche Prozentsatz an Salzmolekülen enthalten ist. Es tritt also eine bestimmte Anordnung unter den Molekülen des Salzes und denen der Flüssigkeit ein, und jedes Salzmolekül gruppiert um sich eine bestimmte Anzahl von Wassermolekülen. Der Unterschied in dieser Gruppierung oder Struktur zwischen der beweglichen Flüssigkeit und dem festen Körper ist nur der, daß bei der freien Bewegung der Moleküle in der Flüssig- keit fortwährend Moleküle aus dieser Gruppierung herausgerissen und durch andere verdrängt werden, so daß die Struktur fortwährend zer- stört und wieder neu gebildet wird, während sie im festen Körper, wo die Bewegung der Moleküle eine beschränkte ist, dauernd ungestört bestehen kann. Diese fortwährende Neubildung der Struk- tur in der Flüssigkeit ist aber von fundamentaler Be- deutung für die lebendige Substanz; denn nur wo die Möglichkeit des fortwährenden Aus- und Eintritts von Molekülen gegebenist, kann ein Stoffwechsel bestehen, ohne den ja keine lebendige Substanz denkbarist. Dieser fortwährende Wechsel der Moleküle verhindert indessen nicht, daß auf Grund der betreffenden Molekül- und Atomgruppierungen in der leben- 1) MAx VERWORN: „On the relation between the form and the metabolism of the cell“. In Science Progress, N. S., Vol.1, No. 3, 1897. 2) Unter den zahlreichen Arbeiten von OÖ. LEHMANN, die für die Fragen der molekularen Zustände in Körpern von verschiedenem Aggregatzustande von funda- mentaler Bedeutung sind, mögen hier die folgenden für ein tiefergehendes Studium der einzelnen Fragen besonders hervorgehoben sein: OTroO LEHMANN: „Molekular- physik“, 2 Bde., Leipzig 1888 u. 1889. — Derselbe: „Flüssige Kristalle sowie Plasti- zität von Kristallen im allgemeinen, molekulare Umlagerungen und Aggregatzustands- änderungen“, Leipzig 1904. — Derselbe: „Flüssige Kristalle, ihre Entstehung, Be- deutung und Aehnlichkeit mit Lebewesen“. Vortrag, Frankfurt 1908. Vom Mechanismus des Lebens. 673 digen Substanz an gewissen Stellen dauernde Formdifferenzierungen zustandekommen. Ebenso wie ein Wasserstrahl oder eine Gasflamme dauernd eine ganz bestimmte Form haben kann, obwohl es in keinem Augenblick dieselben Moleküle sind, welche die Form bilden, wie im Augenblick vorher, ebenso kann auch die lebendige Substanz trotz ihrer flüssigen Natur gewisse dauernde Formdifferenzierungen zeigen, die so lange bestehen, wie die Bedingungen für die bestimmte Grup- pierung der Moleküle und Atome die gleichen bleiben. Diese Ueberlegung ist von großer Wichtigkeit, denn sie eröffnet uns das Verständnis für die allgemeinen Prinzipien der Formbildung der lebendigen Substanz. Die anscheinend paradoxe Tatsache, daß die lebendige Substanz, ob- wohl sie in fortwährendem Wechsel ihrer Stoffe begriffen ist, den- noch in vielen Fällen eine dauernde und oft außer- ordentlich komplizierte Form besitzen kann, erklärt sich hiernach ohne weiteres. Denken wir uns z.B. eine Zelle mit verschiedenartigen Differenzierungen, etwa eine Zelle, die, wie das Geißelinfusorium Po- teriodendron, außer ihrem Kern noch eine Geißel und einen Kontraktilen Myoidfaden besitzt (Fig. 2496), so sind hier in jeder der einzelnen Differenzierungen die Teilchen in besonderer Weise angeordnet, im Kern anders als an der Oberfläche des Protoplasmas, in der Geißel anders als im Myoidfaden etc. Aber dennoch treten einerseits aus allen diesen einzelnen Differen- zierungen fortwährend Atome und Atomgruppen in bestimmter Richtung aus, und anderseits treten in die Differenzierungen fortwährend neue Atome und Moleküle hinein, so daß die Struktur ununterbrochen zerstört und wieder gebildet wird. Es ist also ein fortwährender Stoffstrom da, der äußerst kompliziert, in den verschiedenen Differenzierungen verzweigt und in seinen Teilen ganz verschieden zusammengesetzt ist. Dieser Stofistrom ist der Ausdruck der kompli- zierten Stoffwechselbeziehungen zwischen den einzelnen Teilen des Zellkörpers, und er ist es, der gerade diese Fig. 296. Po- teriodendron. Ein einzelnes In- dividuum eines Stockes. Der Zell- körper sitzt, auf einem Myoidfaden befestigt, in einem glockenförmigen Kelch und schlägt mit seiner Geißel. eine, ganz bestimmte, eigentümliche Form einer ge- gebenen Zelle bedingt. Nur wenn bestimmte Atome immer wieder zur rechten Zeit an der nötigen Stelle sind, kann sich die Struktur immer wieder herstellen und dauernd erhalten. Hört der Stoffstrom auf, so zerfallen die Moleküle, und die bestimmte Gruppierung löst sich auf. Solange dagegen der Stoffstrom ununter- brochen dauert, so lange fügen die einzelnen Moleküle und Atome durch Anziehung immer wieder die nötigen Teilchen ein, und die Struktur bleibt bestehen; ändert sich aber der Stoffstrom in Richtung und Zusammensetzung seiner Teilchen, so muß sich auch die Form der Zelle und ihrer Differenzierungen ändern, und wir haben eine Entwicklung. Den Vergleich der Lebensäußerungen mit einer Flamme haben wir schon in mehrfacher Hinsicht als sehr treffend erprobt. Auch hier ist er geeignet, uns das Verhältnis zwischen Formbildung und Stoffwechsel in besonders anschaulicher Weise klar zu machen. Die Schmetterlingsfigur einer Gasflamme hat eine sehr charakteristische Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 43 674 Sechstes Kapitel. Formädifferenzierung. Im unteren Teil der Flamme herrscht völlige Dunkelheit, darüber erhebt sich schmetterlingsflügelartig ausge- breitet die helle leuchtende Fläche. Diese eigentümliche Form der Flamme mit ihrer charakteristischen Differenzierung, die dauernd bestehen bleibt, solange wir die Stellung des Gashahns und die Verhältnisse der Umgebung nicht verändern, rührt lediglich davon her, daß an den einzelnen Stellen der Flamme die Gruppierung der Leuchtgas- und Sauerstoffmoleküle eine ganz bestimmte ist, ob- wohl die Moleküle selbst in jedem Zeitdifferential wechseln. Der Stoffwechsel der Flamme zwischen dem zuströmenden Gase und der umgebenden Luft ist aber so geregelt, daß an derselben Stelle immer wieder dieselben Moleküle in derselben Zahl zusammentreften. Infolge- dessen behalten wir auch dauernd dieselbe Flammenform mit ihrer Differenzierung. Äen- dern wir aber den Stoffstrom ab, indem wir weniger Leucht- gas ausströmen lassen, so ändert sich auch die Form der Flamme, weil jetzt mit dem Gas- druck die gegenseitige Lagerung der Leucht- gas- und Sauerstoff- moleküle verändert wird. So liefert uns die Betrachtung der Leuchtgasflammen- form bis in die Einzel- heiten genau dieselben Verhältnisse, wie wir sie für die Formbil- dung der Zelle als maßgebend gefunden Fig. 297. Stentor Roeselii. 4 Quer zerschnitten. 3 haben. , und © Die beiden Teilstücke haben sich zu vollständigen Eine andere in- Stentoren regeneriert. Die helle, langgestreckte Masse im teressante Gruppe von Innern bezeichnet den Kern. > = Formbildungsvorgän- gen wird unter diesen Gesichtspunkten ebenfalls klar, das sind die Tatsachen der Re- generation. Schneiden wir eine Zelle, am besten eine mit recht charakteristischen Oberflächendifferenzierungen versehene Infusorien- zelle, wie sie z.B. der zierliche Stentor Roeselii vorstellt, in zwei Stücke, aber so, daß jedes Stück einen Teil des Kerns mit- bekommt und somit noch den Wert einer Zelle besitzt, so regeneriert, wie wir bereits a. a. O.!) gesehen haben, in kurzer Zeit jedes der beiden Stücke die ihm fehlenden Teile. Die Wundstelle der Teilstücke schließt sich, und der untere Teil der Stentorenzelle ordnet seine Substanz alsbald wieder so um, daß ein neues Peristom mit der charakteristischen Wimperspirale und einer Mundöffnung entsteht, während sich der obere Teil in die Länge zieht, so daß sich ein neues wur) PN) Re vr NNLUINDEIELAUPT 7707228 BEE: Eu 1) Vergl. p. 70. Vom Mechanismus des Lebens. 675 Fußstück entwickelt, mit dem sich der neue Stentor wieder anheftet. So entsteht durch Anlagerung von Teilchen aus dem Innern des Körpers an die Wundstelle aus jedem Teilstück in kurzer Zeit wieder ein vollständiger Stentor (Fig. 297). Diese Tatsache der Regeneration ist jetzt sehr leicht verständlich. Da in den mit Struktur versehenen Formendifferenzierungen der Zelle jedes Teilchen nur ganz bestimmte andere Teilchen anzieht und festhält und bei Absprengung derselben im Stoffwechsel sofort wieder die entsprechenden Teilchen von neuem anzieht und fesselt, so müssen diejenigen Teilchen an der Wundstelle, die durch den Schnitt von ihren Nachbarn getrennt sind, sofort wieder entsprechende Teilchen, wenn sie ihnen zur Verfügung stehen, an sich ziehen und anlagern. Da aber der Stoffwechsel Keine tödliche Störung erfahren hat durch die Teilung, werden ihnen nach wie vor durch den Stoffstrom die nötigen Teilchen zugeführt, und so kann sich ein Teil- chen nach dem anderen anlagern, wie es die eigentümliche Beschaffen- heit eines jeden erfordert. Ist der Stoffwechsel dagegen unheilbar geschädigt worden bei der Teilung, so ist die Regeneration nicht mehr möglich, weil dann die zum Aufbau nötigen Moleküle und Atome nicht mehr produziert und an die nötige Stelle gebracht werden. Deshalb finden wir ganz allgemein ohne jegliche Aus- nahme überall die fundamentale Tatsache, daß kern- lose Teilstücke einer Zelle, d.h. Teilstücke, bei denen eine tödliche Störung des Stoffwechsels eingetreten ist, obwohl sie unter Umständen noch tagelang Lebens- äußerungen zeigen können, dennoch die verlorenen Teile nicht mehr regenerieren. Ein Vorgang ferner, der bis in die letzten Jahrzehnte noch ganz rätselhaft erschien, wird durch die Tatsache der Strukturen im Zellprotoplasma dem Verständnis gleichfalls sehr nahe gerückt. I AS Fig. 298. Kieselnadeln von Schwämmen. / Schema der Entstehung eines Vier- strahlers zwischen vier blasenförmigen Hohlräumen. Nach F. E. SCHULZE. II Verschiedene Formen von Kieselnadeln. Das ist die Bildung der überaus regelmäßig geformten Kiesel- und Kalkskelette, wie sie vor allem bei den zierlichen Radiolarien, Foraminiferen und Spongien vorkommen. Schon F. E. SCHULZE!) hatte darauf aufmerksam gemacht, daß eine Bildung von Drei- strahlern, Vierstrahlern (Fig. 298 IT) ete., wie sie in den Kiesel- und Kalkskeletten der Spongien eine so große Rolle spielt, zustande h 1) F. E. SCHULZE: „Zur Stammesgeschichte der Hexactinelliden“. In Abhandl. d. Kgl. Preuß. Akad. d. Wiss. zu Berlin, 1887. 43* 676 Sechstes Kapitel. kommen müsse, wenn sich mehrere kugelige Körper aneinander legen und in die feinen Spalträume zwischen sich eine skelett- bildende Substanz, also etwa kohlensauren Kalk oder Kieselsäure, ausscheiden (Fig. 298 I). Freilich dürften in dem speziellen Fall, auf den SCHULZE diese Betrachtung anwendet, nämlich bei der Entstehung der Skelettnadeln der Schwämme, wohl nicht die Faktoren als be- stimmende Momente fungieren, die SCHULZE annimmt. Dagegen hat später DREYER!) für andere Fälle gezeigt, wie verschiedene und zum Teil außerordentlich komplizierte Skelettteile, besonders der Radiolarien, sich leicht auf die Ausscheidung der skelettbildenden Substanz in den protoplasmatischen Wänden eines Vakuolenlagers zurückführen lassen (Fig. 299). Je nach der Form der Vakuolen und der Dicke der Wandschicht, je nach der Ablagerungsstelle und der Menge der sezernierten Skelettsubstanz muß dabei eine ganze Fülle von verschiedenartigen Skelettformen resultieren, wie wir sie tatsäch- lich in dem Formenreichtum der Radiolarienskelette realisiert finden. So wird die früher so wunderbare Tatsache, daß die einfachen, fort- während in Strömung und Pseudopodienbildung begriffenen Proto- plasmamassen der Rhizopodenzellen so staunenswert regelmäßige, Fig. 299. Schema der Entstehung verschiedener Skelettformen durch Ausscheidung von Skelettsubstanz in den Wänden eines Vakuolen- systems. Nach DREYER. komplizierte und zierliche Skelette zu bilden vermögen, ohne weiteres aus dem Umstande verständlich, daß das Protoplasma der Radiolarien- zelle in einer gewissen Körperzone eine vakuolige oder wabige Struktur besitzt. Je nach der Form, der Lage, dem Umfang dieser Vakuolen- schicht und ihrer Vakuolen müssen auch die durch Ausscheidung von Skelettsubstanz zwischen den Vakuolen entstehenden Abgüsse, die das Skelett bilden, außerordentlich verschieden sein (Fig. 299). Und eine ähnliche Rolle wie die Vakuolenstruktur des Protoplasmas bei der Bildung mancher Radiolarienskelette wird zweifellos auch die Struktur des Protoplasmas sowie die Form und der gegenseitige Druck der einzelnen Zellen bei der Skelettbildung in anderen Organismen spielen. 1) FR. DREYER: „Die Prinzipien der Gerüstbildung bei Rhizopoden, Spongien und Echinodermen. Ein Versuch zur mechanischen Erklärung organischer Gebilde“. In Jenaische Zeitschr. f. Naturwissensch., N. F. Bd. 19, 1892. Vom Mechanismus des Lebens. 677 d) Vererbungsmechanik. Es bleibt uns schließlich noch übrig, auch kurz auf den Mecha- nismus der Vererbung einzugehen. Die Verhältnisse der Vererbung liegen am einfachsten bei den niedrigsten einzelligen Organismen, etwa bei den Amöben, bei denen, abgesehen von einer Größen- zunahme des Körpers, noch keine eigentliche Entwicklung bemerkbar ist. Hier, wo die Fortpflanzung des Organismus einfach durch Teilung der Zelle in zwei Hälften erfolgt, ist der Vorgang der Vererbung sämtlicher Eigenschaften der Mutterzelle auf beide Tochterzellen ohne weiteres verständlich. Die lebendige Substanz der Mutterzelle mit Fig. 300. Kieselskelette von Radiolarien. Nach HAECKEL. A Dorataspis, B Theoconus. ihrem charakteristischen Stoffwechsel und ihren eigentümlichen Lebens- äußerungen lebt in beiden Tochterzellen selbständig weiter, kein Wunder also, daß die Teilstücke, wenn sie unter denselben äußeren Bedingungen leben, genau dieselben Eigenschaften besitzen, wie sie die ungeteilte Zelle besaß. Allein dieser einfachste Fall der Vererbung zeigt uns die wesentlichsten Momente dieses Vorganges gerade am allerdeutlichsten, wie ja überhaupt alle Lebensäußerungen am klarsten zu übersehen und zu verstehen sind da, wo sie in ihrer einfachsten Form auftreten, d.h. an den einfachsten Zellen. Wir sehen hier, daß die Uebertragung der Eigenschaften von den Vorfahren auf die Nach- kommen geschieht durch Uebertragung von lebendiger Substanz, welche die Eigenschaften der Vorfahren besitzt. Daß diese Substanz aber alle Eigenschaften der Vorfahren besitzen kann, ist nur möglich dadurch, daß sie eine vollständige Zelle ist mit allen wesentlichen Bestandteilen derselben. Die charakteristischen Eigentümlichkeiten der Mutterzelle sind der Ausdruck ihres Stoffwechsels. Wenn daher die Eigentümlich- keiten der Mutterzelle auf die Tochterzellen vererbt werden, so ist das nur denkbar, wenn ihr ganzer spezifischer Stoffwechsel vererbt wird, d. h. wenn eine gewisse Menge von allen wesentlichen Bestand- teilen, d. h. von Protoplasma und Kern der Mutterzelle auf die 678 Sechstes Kapitel. Tochterzelle übergeht, denn sonst würde der Stoffwechsel der Tochter- zelle nicht dauernd bestehen können, und die Tochterzelle müßte zu- grunde gehen. In der Tat sehen wir ja auch nicht bloß bei den einzelligen Organismen, sondern überall in der organischen Natur, wohin wir auch blicken, daß die Vererbung von den Vorfahren auf die Nachkommen ausnahmslos durch Uebertragung einer vollständigen Zelle mit Kern und Protoplasma geschieht. Wenn wir unter Vererbung die Uebertragung der Eigentümlichkeiten von den Vorfahren auf die Nach- kommen verstehen, und wenn die Eigentümlichkeiten eines Organismus lediglich der Ausdruck seiner stoff- lichen Beziehungen zur Außenwelt sind, so ist der Schluß schlechterdings unabweisbar, daß bei der Ver- erbung die lebendige Substanz mit ihren eigentüm- lichen Stoffwechselbeziehungen übertragen werden muß. Das istaber nur möglich, wenn alle wesentlichen Teile der Stoffwechselkette übertragen werden, so- wohl Protoplasma als auch Kernsubstanz, mitanderen Worten: eine ganze Zelle. So logisch und einleuchtend diese einfache Schlußfolgerung ist, und so vollkommen sie auch durch die tatsächlichen Verhältnisse be- stätigt wird, so ist sie doch von seiten der Morphologie, die sich mit dem Problem der Vererbung bisher leider fast allein beschäftigt hat, bis vor kurzem eigentlich nirgends mit Klarheit gezogen worden, und erst in der jüngsten Zeit fängt man auf morphologischer Seite mehr und mehr an, die hier entwickelte Auffassung anzuerkennen, wie die neueren Arbeiten von GODLEWSKI!) und namentlich RABL?) erkennen lassen. Im übrigen dagegen hat sich, wie wir gesehen haben, unter den Mor- phologen, besonders im Anschluß an die Ansichten O. HERTWIGSs, STRASBURGERS, WEISMANNS, BOVERIS und anderer, die Vorstellung sehr weit verbreitet, daß die Vererbung der elterlichen Eigenschaften auf die Kinder allein in der Uebertragung von Kernsubstanz durch Ei- und Samenzelle geschehe, und man hat speziell das Nuklein des Zellkerns als die „Vererbungssubstanz“ bezeichnet. Nur wenige unter den Morphologen, wie RAUBER, BERGH und HAACKE, haben sich schon früher gegen diese Auffassung ausgesprochen. Wie uns aber bereits unsere frühere Auseinandersetzung) gezeigt hat, sind die Gründe, auf die sich diese Auffassung stützt, nicht geeignet, einer strengeren Kritik standzuhalten. Für den Physiologen ferner ist diese Vorstellung viel zu einseitig morphologisch gedacht, denn sie trägt dem wesent- lichsten Moment des Lebens, dem Stoffwechsel, keine Rechnung. Mit dem Gedanken einer bloßen „Vererbungssubstanz“, die irgendwo in der Zelle lokalisiert sein und bei der Fortpflanzung übertragen werden soll, wird sich die physiologische Denkweise niemals be- freunden können. Eine Substanz, welche die Eigenschaften einer Zelle auf ihre Nachkommen übertragen soll, muß vor allen Dingen lebens- fähig sein, d. h. muß die Fähigkeit eines Stoffwechsels haben, und dieser ist nicht möglich ohne ihren Zusammenhang mit den anderen, 1) GODLEWSKI jun.: „Untersuchungen über die Bastardierung der Echiniden- und Crinoidenfamilie“. In Arch. f. Entwicklungsmechanik, Bd. 20, 1906. 2) Ragr.: „Ueber organbildende Substanzen und ihre Bedeutung für die Ver- erbung“, Leipzig 1906. 3) Vergl. p. 621 u. ff. Vom Mechanismus des Lebens. 679 zum Stoffwechsel einer Zelle nötigen Substanzen, d. h. ohne die Inte- grität aller wesentlichen Zellbestandteile. Dann fehlt aber jede Be- rechtigung, einen einzigen Zellbestandteil als besonders differen- zierten Vererbungsträger zu bezeichnen, dann ist das Protoplasma der Zelle genau von dem gleichen Wert für die Vererbung wie der Kern, d. h. beide sind notwendige Bedingungen, und wir müssen immer wieder darauf verweisen, daß in der Tat auch in der ganzen leben- digen Natur kein Fall bekannt ist, in dem nicht stets eine vollständige Zelle mit Kern und Protoplasma die Vererbung vermittelte. Was den Charakter einer jeden Zelle bestimmt, ist ihr eigentümlicher Stoffwechsel. Sollen also die Eigen- tümlichkeiten einer Zelle vererbt werden, so mußihr charakteristischer Stoffwechsel vererbt werden, und das ist nur denkbar, wenn Kernsubstanz und Proto- plasma mit ihren Stoffbeziehungen auf die Tochter- zellen übertragen werden. Das giltvon dergeschlecht- lichen Fortpflanzung der höheren Tiere ebenso wie von der ungeschlechtlichen Fortpflanzung der ein- zelligen Organismen; nur wird beidergeschlechtlichen Fortpflanzung der Stoffwechsel zweier Zellen, der Ei- und Samenzelle, durch den Befruchtungsvorgang kom- poniert zu einer einzigen Resultante, dem Stoffwechsel der Nachkommen, die aus der befruchteten Eizelle hervorgehen und daher Charaktere von beiden Eltern besitzen. Der Mechanismus der speziellen Vorgänge aber, die sich ab- spielen vom Beginn der Entwicklung der Eizelle bis zur vollendeten Reproduktion eines Organismus von der gleichen Art, wie der, von dem die Eizelle abstammt, entzieht sich in seinen einzelnen Mo- menten bisher noch völlig unserer Kenntnis und wird auch nur in dem Maße genauer erkannt werden, wie sich unser Einblick in den eigentlichen Lebensprozeß, d. h. in das chemische Getriebe des Stoft- wechselmechanismus, vertieft. 3. Die Mechanik des Energieumsatzesin der Zelle. Die dritte Seite, nach der die Veränderungen eines Körpers unter- sucht werden können, ist neben dem Wechsel des Stoffes und der Form der Wechsel der Energie. Alle drei sind voneinander un- trennbar und stellen den Ausdruck alles Geschehens in der Welt vor. Wäre eins der drei bis in die letzten Einzelheiten hinein gegeben, so wären damit die beiden anderen bestimmt. Das gilt von den lebendigen Körpern ebenso wie von den leblosen, denn beide ge- horchen den gleichen Gesetzen. a) Energiekreislauf in der organischen Welt. Vom Energiewechsel des lebendigen Organismus sind uns leider bisher nur Bruchstücke bekannt. Die Anfangs- und Endglieder sind uns gegeben; aber zwischen beiden liegen die mäandrischen Wege, welche die Energie auf ihrem Durchgang durch die lebendige Sub- stanz verfolgt, und von diesen Wegen sind bis jetzt nur kleine Strecken erschlossen worden. Allein so viel liegt auf der Hand: der Energie- 680 Sechstes Kapitel. wechsel ist im Speziellen ebenso mannigfaltig, wie der Stoffwechsel und Formwechsel, und jede Zellform ist ebenso durch einen ganz spezifischen Energieumsatz charakterisiert, wie sie sich durch einen ihr eigentümlichen Stoffwechsel und eine ihr spezifische Formbildung auszeichnet. Dennoch können wir in großen Zügen einige fundamen- tale Tatsachen des organischen Energiewechsels schon jetzt skizzieren. Da die grüne Pflanzenzelle diejenige Form der lebendigen Sub- stanz ist, die gewissermaßen die Grundlage des jetzigen Lebens auf der Erdoberfläche vorstellt, insofern sie das Laboratorium ist, in dem aus anorganischen Stoffen organische Verbindungen hergestellt werden, die für alle übrigen Organismen eine notwendige Lebensbedingung sind, so muß sich bei der Feststellung des allgemeinen Energiekreis- laufs in der lebendigen Natur unsere Aufmerksamkeit auf die grüne Pflanze lenken, als den Ausgangspunkt für den Eintritt der Energie in die lebendige Körperwelt. Diejenige Form, in der die Energie in die grüne Pflanzenzelle eingeführt wird, liefert vorwiegend die Energie des Sonnenlichts. Chemische Energie wird fast gar nicht in die Pflanze eingeführt; denn die chemischen Stoffe, aus denen die Pflanze ihre lebendige Substanz aufbaut, also die Kohlensäure, das Wasser und die darin gelösten Salze sind Verbindungen, die in dieser Form fast gar keine chemische Energie enthalten. Erst bei Zufuhr von Licht werden durch die Tätigkeit des Chlorophylis in der grünen Pflanzenzelle diese Ver- bindungen in Stoffe mit potentieller chemischer Energie übergeführt. Erst dadurch, daß z. B. die Kohlensäure CO, in Kohlenstoff und Sauerstoff gespalten wird, werden die Affinitäten des Kohlenstoffs und Sauerstoffs verfügbar. Zu dieser Spaltung wird aber Energie ver- braucht, und die dazu erforderliche Energiemenge wird bestritten allein aus den Energiewerten, die durch das Licht in die Pflanze ein- geführt werden. Man hat daher gesagt: alles Leben stammtin direkter Deszendenz vom Sonnenlichte ab, und so wäre der uralten poesievollen Licht- und Sonnenverehrung asiatischer und amerikanischer Völker gewissermaßen ein exakter naturwissenschaft- licher Hintergrund gegeben. Allein die nüchterne wissenschaftliche Ueberlegung zwingt uns doch, dem obigen Satze noch eine Klausel anzuhängen. Daß die Lichtstrahlen der Sonne diejenige Energieform vorstellen, von der alle Energie der lebendigen Welt in letzter Instanz herrühre, diese Vorstellung gilt, wenn man sie überhaupt in dieser Allgemeinheit aussprechen zu dürfen glaubt, jedenfalls nur für die Verhältnisse, wie sie jetzt auf der Erdoberfläche herrschen. Gehen wir aber bis zu den Zeiten zurück, wo die erste lebendige Substanz auf der Erdoberfläche entstand, so werden wir unser Augenmerk zweifellos auf die chemische Energie lenken müssen, als diejenige Energieform, die beim Zusammentritt der einfachsten lebendigen Organismen zuerst in die eben entstehende lebendige Substanz ein- geführt worden ist. Freilich stammt unsere lebendige Substanz, wie alle Substanz, mit ihrer Energie zuletzt von der Sonne her, denn unser Erdkörper ist ja nur ein abgesprengter Teil der Sonnenmasse; aber wir werden wohl kaum gerade das Licht als diejenige Energie- form betrachten dürfen, welche auf der sich abkühlenden Erde den Zusammentritt derjenigen Verbindungen mit ihren Energiemengen be- wirkte, die wir als lebendige Substanz bezeichnen. Ja, in Wirklich- keit ist es auch heute auf der Erde nicht unmittelbar das Licht, das Vom Mechanismus des Lebens. 681 die Spaltung der Kohlensäure und den Zusammentritt der Kohlenstoff-, Wasserstoff- und Sauerstoffatome zum ersten Assimilationsprodukt, zur Bildung der Stärke, bewirkt. Diese Vorstellung, die durch eine ungenaue Ausdrucksweise vielleicht erweckt werden könnte, wäre durchaus falsch. Es ist in Wirklichkeit nur die chemische Energie gewisser Verbindungen der Chlorophylikörper, die in der grünen Pflanzenzelle die Trennung der Kohlenstoffatome aus dem Kohlen- säuremolekül und ihre Vereinigung mit den Wasserstoft- und Sauer- stoffatomen zu Stärke vollzieht. Die Energieform der Lichtstrahlen allein kann niemals Kohlensäure spalten, geschweige denn Kohlen- stoffatome mit Wasserstoff- und Sauerstoffatomen zu Stärkemolekülen zusammenkoppeln. Die Energie der Lichtstrahlen ist nur insofern unerläßlich, als sie diejenige Energieform ist, die in gewissen Ver- bindungen der Chlorophyllkörper eine derartige Bewegung der Atome herbeiführt, daß diese mit den Atomen der Kohlensäure in chemische Wechselwirkung zu treten und so die Kohlensäure zu spalten ver- mögen. Die Energie der Lichtstrahlen wird also erst umgesetzt in chemische Energie, und die chemische Energie der Chlorophyllkörper ist es, welche die Kohlensäurespaltung bewirkt und damit die unab- sehbare Kette von Energieumsetzungen hervorruft, die das Leben nicht bloß der Pflanzen, sondern auch der Tiere charakterisieren. Die Rolle des Lichtes ist eine ähnliche, wie die der zugeführten Wärme, die im Pflanzen- wie im Tierkörper zum Leben unentbehrlich ist und dazu dient, die intramolekularen Schwingungen der Atome zu verstärken, so daß die Atome Gelegenheit zu Umlagerungen erhalten. Immer aber ist es die chemische Energie, die diese Umlagerungen unmittelbar bedingt. Es muß also auch in der Pflanze schon chemische Energie in den Chlorophylikörpern vorhanden sein, und diese wird nur durch Zufuhr und Umwandlung von photischer Energie so beeinflußt, daß sie diese erste, so überaus folgenschwere Spaltung des Kohlensäuremoleküls vollziehen kann. Wo nicht schon lebendige Substanz mit ihrer chemischen Energie vorhanden ist, da kann auch die Zufuhr von Licht kein Leben erzeugen. So wirkt die einstmals in unvordenklicher Zeit bei der Entstehung der ersten lebendigen Substanz in die organische Welt eingeführte chemische Energie noch jetzt in allen lebendigen Organismen fort. Ist es auch immerhin nur eine winzige Menge chemischer Energie, die in der mikroskopischen Eizelle auf die Nachkommen übertragen wird, so vermittelt diese winzige Menge doch die Kontinuität mit der chemischen Energie der lebendigen Substanz, von der sie herstammt, ebenso wie die kleine Menge lebendiger Substanz selbst durchaus notwendig ist, um die Kontinuität der lebendigen Organismen fortzupflanzen. Ohne eine auch noch so kleine Menge lebendiger Substanz mit ihrer chemischen Energie kann kein Leben von einem Organismus auf den anderen übertragen werden, und wenn wir den Energiewechsel eines jetzt auf der Erde lebenden Organismus verstehen wollen, so dürfen wir nie vergessen, die kleine Menge chemischer Energie zu beachten, die jeder Organismus von seinen Vorfahren auf den Lebensweg mit bekommen hat. Ist sie auch noch so klein, so ist sie es doch, die es allein er- möglicht, daß das Leben sich fortpflanzt, denn sie ist es, die gewisser- maßen durch fermentartige Wirkung zum stetigen Umsatz immer größerer und größerer Energiemengen den Anstoß gibt und die schließ- lich die gewaltige Energieentfaltung des erwachsenen Organismus ver- 682 Sechstes Kapitel. anlaßt. Sie ist das Anfangskapital, mit dem der sich entwickelnde Organismus zu wirtschaften beginnt, ohne das seine Existenz un- möglich wäre. In diesem Sinne können wir sagen:* Diejenige Energieform, aus der sich in letzter Instanz alle Lei- stungen der Organismenwelt herleiten, ist die che- mische Energie. Das zugeführte Licht und die zuge- führte Wärme wirken nur dadurch, daß sie chemische Energie disponibel machen. Es liegt auf der Hand, daß dieser Satz für die Tierwelt in gleichem Maße gilt, wie für die Pflanzenwelt. Aus der ursprüng- lichen, in der Ptlanze verfügbaren chemischen Energie werden nicht nur die mannigfaltigen nach außen hin gehenden Leistungen der Pflanze bestritten, sondern es wird auch eine bedeutende Menge als chemische Energie in den organischen Verbindungen des Pflanzen- körpers aufgespeichert. Die komplizierten organischen Verbindungen aber liefern dem Pflanzenfresser die Nahrung, während das Fleisch des Pflanzenfressers wieder dem Fleischfresser den Lebensunterhalt gewährt. So gelangt also mit der Pflanzennahrung die Energie als chemische Energie in die Tierwelt und liefert die Energiewerte, aus denen sich die Leistungen des durch seine mächtige äußere Energie- entfaltung von den Pflanzen so charakteristisch unterschiedenen Tier- körpers herleiten. In der Tat bildet die mit der Nahrung in den Tierkörper eingeführte chemische Energie, abgesehen von der geringen Menge der von außen auf alle Organismen einwirkenden Wärme, die einzige Energiequelle des Tierkörpers. Die Probe auf diesen Satz ist durch die kalorimetrischen Untersuchungen von HELMHOLTZ, DuLonG, ROSENTHAL und später besonders durch die sehr genauen Arbeiten von RUBNER!), in wünschenswertester Weise geliefert worden. Drückt man auf Grund kalorimetrischer Verbrennungen den che- mischen Energiewert der Nahrung im Wärmemaß aus, so bekommt man ebensoviel Kalorien, wie das Tier liefert, wenn alle seine Energie- produktion sich lediglich in Wärmeabgabe äußert. Die Differenzen zwischen der Wärmemenge, die durch Verbrennung der Nahrung bis zu chemisch energiefreien Stoffen geliefert wird, und der Wärme- menge, die das Tier bei gleicher Nahrung in der Ruhe produziert, sind bei den Versuchen RUBNERS so gering, daß sie vollkommen innerhalb der unumgänglichen technischen Fehlergrenzen gelegen sind, und wäre es überhaupt noch nötig, in unserer Zeit die Gültigkeit des Gesetzes von der Erhaltung der Energie auch für die lebendige Natur zu beweisen, so würde der beste Beweis dafür in den kalori- metrischen Versuchen RUBNERS gelegen sein. Mit der Abgabe der Wärme oder mechanischen Arbeit von seiten des Tierkörpers ist der Weg der Energie durch die Organismenwelt beendigt. Chemische Energie, die weiter verfügbar wäre, gibt der Tierkörper, abgesehen von der mit den Geschlechtszellen bei der Fort- pflanzung übertragenen Menge, nicht nach außen ab. Die Stoffe, die den Tierkörper verlassen, wie Wasser, Kohlensäure etc., sind sämtlich solche Verbindungen, die in dieser Form keine chemischen Energie- werte mehr besitzen, und es bedarf erst wieder der Einfuhr des Lichts in die grüne Pflanzenzelle, damit diese aus jenen Stoffen ver- l) RuBNER: „Die Quelle der tierischen Wärme“. In Zeitschrift f. Biologie, Bd. 12, 1894. Vom Mechanismus des Lebens. 683 fügbare chemische Energie schaffen kann. So ist der Kreislauf des Energiewechsels zwischen lebendiger und lebloser Natur geschlossen. Das Licht macht in der Pflanzenzelle chemische Energie verfügbar. Aus dieser chemischen Energie stammen alle chemischen, mechani- schen, thermischen Leistungen der Pflanze in komplizierter Deszen- denz ab. Der Pflanzenfresser nimmt die chemische Energie, die in den organischen Verbindungen der Pflanze aufgespeichert ist, mit der Nahrung in seinen Körper auf und liefert mit den Stoffen seiner Leibessubstanz selbst wieder dem Fleischfresser die unentbehrliche Quelle chemischer Energie, aus der die gesamte thermische und me- chanische, im gegebenen Falle auch photische und elektrische Energie sich herleitet, die der Tierkörper als Wärme, als mechanische Energie der Muskelbewegung oder auch als Licht und Elektrizität nach außen hin abgibt. Aus den an chemischer Energie armen Stoffen, der Kohlensäure und dem Wasser aber, die den Tierkörper verlassen, schafft die Pflanzenzelle unter Einwirkung der Lichtstrahlen von neuem chemische Energie, und so beginnt der Kreislauf von vorn. b) Das Prinzip des chemischen Energieumsatzes in der Zelle. So klar hiernach das Bild des organischen Energiewechsels in seinen groben Umrissen vor uns liegt, so dunkel sind uns noch die Einzelheiten desselben. Es liegt das nicht allein an unserer lücken- haften Kenntnis des Stoffwechsels in der lebendigen Substanz, sondern zum großen Teil auch an dem noch nicht abgeschlossenen Ausbau, den die allgemeine Energielehre in der Physik und Chemie erfahren hat. Vorgänge, die wir in bezug auf ihre stoffliche Seite bis in die feinsten Einzelheiten hinein kennen, sind in bezug auf ihren Energie- umsatz vielfach noch völlig dunkel. So wissen wir z. B. von vielen Arbeitsleistungen, die wir bei chemischen Umsetzungen beobachten, noch gar nicht einmal, ob die dabei freiwerdende mechanische Energie direkt aus Umwandlung chemischer Energie stammt oder erst auf dem Wege durch andere Energieformen, wie Wärme, Elektrizität, osmotische Energie etc., entsteht. Ueberhaupt ist die direkte Um- wandlung chemischer Energie in mechanische bisher noch nicht ge- nügend Objekt des Studiums gewesen, so genau und eingehend man dem gegenüber die Umwandlung chemischer Energie in Wärme und Elektrizität untersucht hat. Ja dieser Umstand hat sogar vielfach zu dem Glauben verführt, daß chemische Energie überhaupt nicht direkt in mechanische übergehen könne, sondern nur etwa durch Vermitte- lung von Wärme, eine Vorstellung, die vollkommen unbegründet ist. Dazu kommt, um eine Verständigung noch zu erschweren, der Um- stand, daß die Begriffe der einzelnen Energieformen durchaus nicht fixiert sind, daß z. B. die Ausdrücke: molekulare Energie, mechanische Energie, Oberflächenenergie etc. in sehr verschiedener Weise verwendet werden, ein Umstand, der daraus resultiert, daß die Beziehungen, die zwischen den einzelnen Energieformen obwalten, bisher nur unvoll- kommen aufgeklärt sind. Demnach liegt es auf der Hand, daß die speziellere Energetik der lebendigen Substanz vorläufig noch eins der dunkelsten Gebiete der Physiologie repräsentiert. Was wir bis jetzt davon wissen, sind nur ganz vereinzelte und unzusammenhängende Tatsachen. Als feststehend haben wir die allgemeine Tatsache zu betrachten, daß die gewaltigen Leistungen des Organismus alle in letzter Instanz 684 Sechstes Kapitel. aus chemischer Energie stammen. Damit ist indessen nicht gesagt, daß jede Leistung im Momente ihres Zustandekommens unmittelbar aus chemischer Energie entspringt. Es gibt zahlreiche Leistungen, die erst auf Umwegen aus chemischer Energie entstammen. Für das Pflanzenreich hat PFEFFER!) dieses Verhältnis besonders beleuchtet. So ist es z. B. sehr häufig, daß beim Stoffwechsel chemische Energie zunächst in potentielle mechanische Energie übergeht und als Spann- kraft aufgespeichert wird, um bei bestimmter Gelegenheit erst in die kinetische Energie einer mechanischen Leistung umgesetzt zu werden. Die springenden Früchte und Samen gewisser Pflanzen liefern Beispiele dafür. Die chemische Energie des Wachstums ist hierbei zunächst in Form mechanischer Spannkraft aufgehäuft worden, und diese geht erst bei Berührung der Frucht in lebendige Bewegung über: die Frucht platzt auf und schleudert mit großer Gewalt die Samenkörner heraus. Analoge Fälle der mittelbaren Abstammung einer Leistung aus chemischer Energie gibt es mehrfach in der Pflanzenwelt wie in der Tierwelt. Immerhin aber stammen vielleicht die meisten Leistungen des Organismus unmittelbar aus der Um- setzung chemischer Energie. Die wesentlichen Leistungen, in denen sich die Energieproduktion der Zelle äußert, zeigen sich in der Erzeugung von mechanischer Energie und Wärmeentwicklung. Die Produktion von Licht und Elek- trizität ist viel beschränkter. Die Hauptmasse jeder dieser Energie- formen aber stammt, soweit wir bis jetzt wissen, direkt aus der Um- formung chemischer Energie, wenn auch die speziellen Umsetzungen, die daran beteiligt sind, vorläufig noch völlig unbekannt bleiben. Wir müssen uns daher, wenn wir überhaupt einen Blick in das Energie- getriebe der Zelle gewinnen wollen, zunächst an das Hauptgesetz er- innern, das den Energiewechsel bei chemischen Umsetzungen beherrscht, und das wir in dem Satze fanden: Werden bei einem chemischen Prozeß stärkere Affinitäten gebunden als getrennt, so wird Energie für Leistungen verfügbar; werden dagegen stärkere Affinitäten ge- trennt als gebunden, so verläuft der Prozeß mit Energieverbrauch ?). Nur wenn wir diese Tatsache fest im Auge behalten, dürfen wir hoffen, allmählich tiefere Einblicke in die Wege des organischen Energie- umsatzes zu erlangen. Das allgemeine Fundamentalprinzip, auf dem der organische Energieumsatz beruht, ergibt sich unter Berücksichtigung dieses Satzes aus den bekannten Tatsachen des Stoffwechsels der lebendigen Substanz bereits mit voller Klarheit: Wir haben in der lebendigen Substanz gewisse Verbindungen mit starken chemischen Affinitäten. In die lebendige Zelle werden von außen her weitere chemische Affinitäten mit der Nahrung und dem Sauerstoff eingeführt. Wir wissen ferner, daß diese eingeführten einfacheren Stoffe verwendet werden zum Aufbau komplizierterer und außerordentlich komplizierter Verbindungen. Dabei geht die chemische Energie, die in die leben- dige Substanz eingeführt worden ist, in Form von potentieller Energie mit in diese komplizierten Verbindungen über und hilft das Gefüge derselben lockern. So kommt es, daß das Molekül der hypothetisch 1) W. PFEFFER: „Studien zur Energetik der Pflanze“. In Abhandl. d. mathem.- phys. Klasse d. Kgl. Sächs. Gesellsch. d. Wiss., Bd. 18, Leipzig 1892. 2) Vergl. p. 258. - Vom Mechanismus des Lebens. 685 von uns angenommenen Biogene eine außerordentlich labile Kon- stitution gewinnt, d. h. daß seine intramolekulare Wärme sehr groß wird !). Infolgedessen neigt das Biogenmolekül zum Zerfall und explodiert teils schon spontan, teils auf geringe äußere Reize hin. Dieser explosive Zerfall beruht auf einer Umlagerung der Atome, wobei im Bereich einzelner Atomgruppen des großen Biogenmoleküls, wie bei allen explosiblen Körpern, stärkere Affinitäten gebunden werden, als vorher im labilen Molekül gebunden waren. Es wird also die Summe aller dissimilatorischen Prozesse im ganzen genommen mit bedeutender Energieproduktion verknüpft sein müssen. Schließlich wissen wir, daß die aus diesem Zerfall des Biogens hervorgehenden Verbindungen, soweit sie den Körper verlassen, wie Kohlensäure, Wasser ete., kaum noch nennenswerte chemische Energiemengen ent- halten, während die im Körper zurückbleibenden Verbindungen, die Biogenreste, wieder chemische Affinitäten zu den aufgenommenen Stoffen besitzen, die sie auf Kosten derselben binden. Die dabei verfügbare Energiemenge wird wieder zur Auflockerung der Biogen- moleküle verwendet, und so schließt sich hier die Kette des Energie- umsatzes in der lebendigen Substanz. Das ihm zugrunde liegende Prinzip ist danach klar: es ist ein fortwähren- des Aufspeichern potentieller chemischer Energie und ein Ueberführen derselben in andere Energieformen; die Quelle der chemischen Energie ist dieNahrung und der Sauerstoff, das Betriebskapital die chemische Energie, die jedes winzige Tröpfchen lebendiger Sub- stanz von seinen Vorfahren überkommen hat, und das Ergebnis sind die energetischen Leistungen der leben- digen Substanz. Die Energieverhältnisse, die sich bei Einwirkung von Reizen in der lebendigen Substanz entwickeln, werden auf Grund dieses Prinzips in ihren allgemeinen Zügen verständlich. In denjenigen Fällen, in denen wir eine dissimilatorische Erregung als Reizwirkung haben, liegen die Dinge am einfachsten. Es handelt sich ja, wie wir an anderer Stelle sahen ?), dabei nur um eine Steigerung der schon spontan sich vollziehenden Leistungen. Die potentielle Energie, die in den labilen Biogenmolekülen aufgehäuft ist, wird schon spontan in gewissem Maße in aktuelle Energie übergeführt, indem beim dauern- den Zerfall die Atome unter Umlagerung durch stärkere Affinitäten aneinander gebunden werden. Daß gewisse äußere Einwirkungen, wie sie die Reize vorstellen, durch Erschütterungen der Atome im Biogen- molekül die intramolekulare Bewegung derselben steigern und dadurch mehr Gelegenheit zu Umlagerungen und zum explosiven Zerfall der Biogenmoleküle geben, ist ohne weiteres verständlich, und so bedarf die Steigerung der Leistungen unter der Einwirkung gewisser Reize weiter keiner Erklärung. Auch diejenigen Fälle der Reizwirkungen, in denen es sich um eine dissimilatorische Lähmung handelt, bedürfen kaum einer weiteren Erörterung, denn alle diejenigen Reize, welche die intramolekulare Bewegung der Atome im Biogenmolekül verringern oder die Umlagerung und Vereinigung bestimmter Atome in irgendeiner Weise hindern, wie etwa die Kälte oder gewisse chemische Stoffe, 1) Verplr.p: 259. 2) Vergl. p. 419 u. 569. 686 Sechstes Kapitel. müssen selbstverständlich auch die normalen Leistungen der Zelle herabsetzen!). Allein nicht alle Leistungen der lebendigen Substanz sind mit der dissimilatorischen Phase des Stoffwechsels verknüpft. Manche wichtige Lebensäußerungen laufen gerade mit dem assimila- torischen Aufbau des Biorens Hand in Hand. So werden also assi- milatorisch erregende Reize, wie wir sie bisher allerdings nur in der gesteigerten Nahrungszufuhr kennen, derartige Lebensäußerungen steigern, indem sie mehr Gelegenheit für die Bildung neuer Biogen- massen liefern, und umgekehrt werden assimilatorisch lähmende Reize die entgegengesetzte Wirkung hervorrufen. Gerade diejenigen Lebens- äußerungen, die mit der assimilatorischen Phase des Stoffwechsels verknüpft sind und durch vermehrte Nahrungszufuhr gesteigert werden, verdienen in Zukunft ein besonderes Interesse, nachdem sie so lange auf Kosten der viel augenfälligeren mit der Dissimilation verbundenen Leistungen vernachlässigt worden sind. Mit dieser Vorstellung von der Wirkung der Reize ist indessen nicht gesagt, daß die infolge einer Reizung sich an bestimmten Leistungen äußernde Veränderung des Energiegetriebes immer direkt und allein aus der Erregung oder Lähmung dieses oder jenes Gliedes der Stoffwechselkette stammt. So folgt z. B. dem explosiven Zerfall des Biogenmoleküls nach unserer Vorstellung immer die Bildung der freigewordenen Affinitäten des Biogenrestes, d. h. seine Regeneration, auf dem Fuße nach. Wir werden also darauf Rücksicht nehmen müssen, daß unter gewissen Umständen im Reizerfol& nicht bloß die durch den Zerfall der komplizierten Verbindungen frei werdende Energiemenge enthalten ist, sondern daß diese Energiemengen modi- fiziert werden durch den bei den unmittelbaren Folgevorgängen des Zerfalls stattfindenden Energieumsatz, so daß das Endresultat immer nur die Resultante aus verschiedenen Komponenten repräsentiert. Dasselbe gilt von den anderen Fällen der Reizwirkungen. Das Energie- getriebe in der Zelle ist eben in allen seinen Gliedern außerordentlich eng verkettet. Das geht mit Notwendigkeit aus den früher erörterten Tatsachen des Stoffwechsels hervor. Die ungeheure Schwierigkeit, den feineren Energieumsatz, der bei einer gegebenen Leistung, sei es spontan, sei es auf Reizung hin, abläuft, in seinen Einzelheiten zu verfolgen, liegt demnach auf der Hand, und es ist daher bei den spärlichen Untersuchungen, die bisher auf diesem Gebiete vorliegen, zur Zeit schlechterdings unmöglich, die Energetik auch nur der äußerlich am deutlichsten hervortretenden Leistungen der Zelle, wie ihre Lichtentwicklung, ihre Elektrizitätsproduktion, ihre Entfaltung mechanischer Energie in den verschiedenen Bewegungsformen, bis in ihre einzelnen Komponenten hinein zu analysieren. Die überaus interessanten Vorgänge des Energieumsatzes, der sich in den ein- zelnen inneren und äußeren Leistungen der lebendigen Zelle abspielt, tiefer zu analysieren, wird daher als eine der anregendsten Aufgaben der künftigen Physiologie vorbehalten bleiben. €) Die Energiequelle der Muskelarbeit. Wenn wir sagen müssen, daß bisher über die Mechanik des Energiegetriebes in der lebendigen Substanz im allgemeinen nur 1) Vergl. MAx VERWORN: „Die Biogenhypothese“, Jena 1903. Vom Mechanismus des Lebens. 687 spärliche Untersuchungen von der Physiologie angestellt worden sind, so gilt diese Bemerkung von einem Gebiet der Energieproduk- tion nicht. Das sind die Kontraktions- und Expansions- bewegungen. Vor allem die Mechanik der Muskelkontraktion, bei der die Energieentfaltung der lebendigen Substanz in hervorragendster und erstaunlichster Gewalt zum Ausdruck kommt, hat von alten Zeiten her den Scharfsinn der Physiologen in lebhaftestem Maße beschäftigt, und die Zahl der Theorien, die über die Mechanik der Muskel- bewegung aufgestellt worden sind, ist keine geringe. Es ist ein interessantes Stück Entwicklungsgeschichte des menschlichen Denkens, das sich in diesen Theorien von den Zeiten GALENs an bis in unsere Tage hinein widerspiegelt, und es gewährt einen historischen Genuß, diese Theorien von ihren naivsten Anfängen an zu verfolgen. Wer Interesse an diesem Kapitel aus der Geschichte der Physiologie nimmt, der findet die Literatur der älteren und ältesten Theorien bis zum vorigen Jahrhundert zusammengestellt bei HALLER!). Die späteren Theorien der Muskelbewegung hat HERMANN?) in seinem Handbuch der Physiologie im wesentlichen angeführt, und die neueren Anschauungen, soweit sie größeres Interesse besitzen, sind gesammelt und kritisch beleuchtet in einer Arbeit, die das alte Problem von ver- gleichend-zellularphysiologischer Seite in Angriff genommen hat}?). Die Muskelarbeit ist zweifellos diejenige Leistung in der ganzen Örganismenwelt, bei der in kürzester Zeit der größte Energieumsatz stattfindet. Die Energiemengen, die bei der Muskeltätigkeit frei werden, erreichen bekanntlich ganz erstaunliche Werte. Es liegt daher zunächst die Frage nahe, welches die Quelle für diein der Muskeltätigkeit frei werdenden Energiewerte ist. Daß es chemische Energie sein muß, liegt auf der Hand, da ja der Tierkörper ausschließlich aus chemischer Energie seine Leistungen bestreitet. Aber die Frage ist, welcher von den in den Körper ein- geführten Nahrungsstoffen durch seine Umsetzung die zur Muskel- tätigkeit nötige chemische Energie liefert. Sind es die Eiweißkörper, oder sind es die Kohlehydrate und Fette, deren Umsetzung im Körper die Energiequelle für die Muskelarbeit bildet? Um diese Frage ist ein heftiger Kampf geführt worden. Die ursprüngliche und sehr einleuchtende Lehre LıiEBıGs®), daß das Ei- weiß als der Hauptbestandteil des Muskels auch die Quelle seiner Leistungen sein müsse, ist schon zu seinen Lebzeiten befehdet worden, und jahrzehntelang glaubte man die richtige Lösung des Problems gefunden zu haben. Die Beweisführung, die zu dieser bis gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts geltenden Vorstellung geführt hatte, ist interessant genug. Man hatte nämlich folgende Ueberlegung an- gestellt: Liegt die Quelle der Muskelkraft in der Zersetzung des Ei- weißes, so muß bei angestrengter Muskeltätigkeit der Eiweißumsatz gesteigert sein. Da man nun in der Stickstoffausscheidung durch den Harn einen absoluten Maßstab für den Umfang des Eiweiß- 1) HALLER: „Elementa physiologiae corporis humani“. Tomus IV, Lau- sannae 1762. 2) HERMANN: „Handbuch der Physiologie“, Bd. 1, Leipzig 1879. 3) MAX VERWORN: „Die Bewegung der lebendigen Substanz, Eine vergleichend- physiologische Untersuchung der Kontraktionserscheinungen“, Jena 1892. 4) LieBi@: „Chemische Briefe“, 1857. — Derselbe: „Ueber Gärung, über Quelle der Muskelkraft und Ernährung“, Leipzig und Heidelberg 1870. 688 Sechstes Kapitel. umsatzes im Körper zu besitzen glaubte, so schien die Frage ent- schieden zu sein, wenn man den Stickstoffgehalt im Harn bei der Ruhe und bei angestrengter Muskeltätigkeit miteinander verglich. War er bei der Arbeit bedeutend erhöht, so konnte das nur von dem ver- mehrten Eiweißumsatz herrühren; war er der gleiche, so war die Quelle der Muskelkraft nicht im Eiweiß, sondern in den stickstoff- freien Nahrungsstoffen zu suchen. Das Problem war also in schärfster Weise zugespitzt, und so konnte die Entscheidung nicht auf sich warten lassen. Fick in Gemeinschaft mit WıIsSLICENUs!) zeigten an sich selbst und Voıt?) am Hunde, daß die Sticekstoffaus- scheidung im Harn auch bei der größten Muskelan- strengung nicht bemerkenswert gesteigert wird. Damit schien die Frage in exaktester Form gelöst. Man schloß, daß die Eiweißzersetzung nicht die ausschließliche Quelle der Muskel- kraft sein könne. Von den stickstofffreien Nahrungsstoffen kommen vor allem die Kohlehydrate und eventuell auch die Fette in Betracht, und in der Tat ist bekannt, daß bei angestrengter Muskeltätigkeit das im Muskel aufgespeicherte Glykogen verschwindet, um sich erst wieder in der Ruhe anzuhäufen. So wurde infolge dieser scheinbar durchaus einwandsfreien Beweisführung die Ansicht allgemein angenommen, daß die Quelle der Muskelkraft hauptsächlich in der Zersetzung der Kohle- hydrate gelegen sei. Allein die Vorstellung, daß das Eiweiß bei der angestrengten Tätigkeit der Muskelzelle nicht in erster Linie beteiligt sein soll, mußte jemandem, der mit den allgemeinen Lebenseigenschaften der lebendigen Substanz etwas näher vertraut war, überaus paradox er- scheinen. Das Eiweiß ist derjenige Körper, mit dessen Bildung und Zersetzung das Leben untrennbar verknüpft ist, und so mußte es sehr wunderbar sein, daß bei einer gesteigerten Lebenstätigkeit, wie sie die angestrengte Muskelbewegung vorstellt, der Eiweißumsatz der gleiche sein sollte, wie in der Ruhe. So konnte sich auch PFLÜGER nie mit dieser Ansicht befreunden. In einer Reihe von ausgezeichneten Arbeiten eröffnete er in neuerer Zeit, gestützt auf einwandsfreie Ver- suche, gegen die bisher allgemein verbreitete Vorstellung einen Feld- zug, in dem er die Zersetzung des Eiweißes als die Hauptquelle der Muskelkraft hinzustellen suchte. Daß sich Hunde mit Fleischnahrung allein erhalten lassen, war schon VoItT bekannt. PFLÜGER?) fütterte daher einen Hund viele Monate hindurch allein mit möglichst reinem und fettfreiem Fleisch und ließ ihn mehrmals wochenlang jeden Tag die schwerste Arbeit verrichten. Dabei zeigte das Tier dauernd „eine ganz außerordentliche Stärke und Elastizität in allen Be- wegungen“. Da die geringen im Fleisch enthaltenen Spuren von Kohlehydraten und Fett schlechterdings‘ für die Ernährung nicht in Betracht kommen, so war damit bewiesen, daß die ganzein 1) Fick und WISLICENUS: „Ueber die Entstehung der Muskelkraft“. In Vierteljahrsschrift d. Züricher naturforsch. Ges., Bd. 10, 1865. 2) Vor: „Ueber die Entwicklung der Lehre der Quelle der Muskelkraft und einiger Teile der Ernährung seit 25 Jahren“. In Zeitschr. f. Biologie, Bd. 6, 1870. — Derselbe: „Physiologie des allgemeinen Stoffwechsels und der Ernährung“. In HERMANNs Handb. d. Physiol., Bd. 6, 1881. 3) PFLÜGER: „Die Quelle der Muskelkraft. Vorläufiger Abriß“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 50, 1891. Vom Mechanismus des Lebens. 689 der schweren Arbeit des Hundes produzierte Energie aus der Umsetzung von Eiweiß stammte. Um aber zu prüfen, ob etwa das Eiweiß nur bei Mangel an Kohlehydraten und Fetten in der Nahrung als Ersatzquelle für die Muskelkraft diene, stellte PFLÜGER!) Versuchsreihen mit gemischter Nahrung an, und diese führten ihn zu dem Ergebnis, daß bei einer aus Eiweiß, Kohle- hydraten und Fetten gemischten Kost die Menge von Kohlehydraten und Fetten, die im Stoffwechsel zersetzt wird, ganz allein davon ab- hängt, ob viel oder wenig Eiweiß gefüttert wird. „Allgemein ist die Menge des zur Zersetzung gelangenden Kohlehydrates und Fettes um so kleiner, je größer die Eiweißzufuhr gemacht wird.“ Die nicht zersetzten Mengen der Kohlehydrate und Fette werden in Körperfett umgewandelt und als Reservematerial im Körper aufgehäuft, während, wie bekannt, das eingeführte Eiweiß, wie viel es auch sei, bis auf einen verschwindend geringen Rest sämtlich zersetzt wird. PFLÜGER sagte daher: „Das Nahrungsbedürfnis wird in erster Linie durch Eiweiß befriedigt.“ Das Eiweiß bildet die „Ur- nahrung“, dieKohlehydrate und Fette nur eine „Ersatz- nahrung“ bei Eiweißmangel. Wenn es nach alledem zweifellos feststeht, daß die Muskelarbeit gänzlich durch die Zersetzung von Eiweiß bestritten werden kann, so muß die ebenso unumstößliche Tatsache, daß die Stickstoffausscheidung im Harn bei der angestrengtesten Muskeltätigkeit nicht entsprechend erhöht ist, zunächst Befremden erregen. In dieser Beziehung verdient ein anderer Versuch PFLÜGERs Beachtung. PFLÜGER fand nämlich, daß auch bei reiner Eiweißnahrung und bei gleichem Kostmaß in der Ruhe und in der Arbeit die Stickstoffausscheidung durch die Muskeltätigkeit nur ganz unbedeutend, ja unter Umständen überhaupt nicht vermehrt wird. Und dennoch mußte die gesamte Arbeitskraft allein aus der Zersetzung von Eiweiß stammen, da keine Kohlehydrate und Fette verfüttert wurden. Dieses merkwürdige Ergebnis wäre bei Ueberschuß an Eiweißnahrung zwar ohne weiteres verständlich, wenn wir daran denken, daß ja schon in der Ruhe alles über ein be- stimmtes Maß hinaus in den Körper eingeführte Eiweiß zersetzt wird. Wenn daher, wie sich gezeigt hat, die Energie der Muskelarbeit trotz- dem aus dem zersetzten Eiweiß stammen muß, so könnte man daraus schließen, daß das Eiweiß, das bei der Tätigkeit verbraucht wird, an anderen Punkten gespart worden sei, und das wäre um so begreif- licher, als wir wissen, daß alles über ein bestimmtes Maß hinaus ge- nossene Eiweiß gewissermaßen eine Luxuskonsumption vorstellt und daher jeden Augenblick, sobald Bedürfnisse auftreten, für diese zur Verfügung steht. Wenn wir aber sehen, daß, wie VoIT?) gezeigt hat, auch im Hungerzustande des Hundes durch die Arbeit im Tretrade die Stickstoffausscheidung im Harn entweder gar nicht oder nur unwesentlich vermehrt ist, dann können wir diesen Schluß nicht ziehen, und die obige Erklärung reicht nicht mehr aus. Dann bleibt uns noch eine Möglichkeit übrig, eine Möglichkeit, die PFLÜGER nur gestreift hat: dasist die 1) PFLÜGER: „Ueber Fleisch- und Fettmästung“. In PFLÜGERs Arch,, Bd. 52, 1892. 2) Voır: „Untersuchungen über den Einfluß des Kochsalzes, des Kaffees und der Muskelbewegungen auf den Stoffwechsel‘, München 1860, ferner Zeitschr. f. Biologie, Bd. 2, 1866. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 44 690 Sechstes Kapitel. Vorstellung, daß bei der Arbeit ein Eiweißumsatz im Muskel stattfindet, ohne daß der Stickstoff des um- gesetzten Eiweißes im Harn zur Ausscheidung kommt. In der Tat ist diese Vorstellung, zu der wir hier durch die Tatsachen gedrängt werden, wenn sie auch einem althergebrachten Dogma in der Physiologie direkt widerspricht, durchaus nicht so paradox, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Dieses Dogma, das den Fortschritt in der Erkenntnis der Lebensvorgänge nicht wenig sehemmt hat, und das nur entstehen konnte, weil man sich bisher ausschließlich mit den Lebensäußerungen der höheren Tiere beschäftigt hat, besteht in dem Satz. daß die Stickstoffausscheidung im Harn ein absolutes Maß für den Eiweißumsatz im Körper sei. Aber eine solche Annahme ist wenigstens in dieser Form durchaus unerwiesen!). Mit voller Berechtigung können wir zwar sagen: der im Harn aus- geschiedene Stickstoff stammt aus der Zersetzung des Eiweißes oder seiner Derivate; wenn wir aber umgekehrt behaupten: der gesamte Stickstoff der im Körper umgesetzten Eiweißverbindungen wird im Harn ausgeschieden, so haben wir dazu nicht das mindeste Recht, denn die Tatsache, daß alles über ein gewisses Maß genossene Nahrungs- eiweiß im Körper in solche Atomgruppen umgesetzt wird, deren Stickstoff durch den Harn zur Ausscheidung gelangt, gestattet keine Verallgemeinerung, vor allen Dingen keine Uebertragung auf den Zerfall des Zelleiweißes, des Biogens. Hier liegt der Punkt, an dem bisher nicht scharf genug unterschieden worden ist. Man hat, wenn man von der Quelle der Muskelkraft sprach, nicht immer hinreichend das tote Eiweiß der Nahrung und das Zelleiweiß oder wie wir sagen, das Biogen der lebendigen Substanz begrifflich aus- einander gehalten. Tun wir das aber, so zerrinnt der ganze lange Streit bei genauerer Betrachtung in nichts. Wie wir sahen, entstehen beim Zerfall des Biogenmoleküls stick- stofffreie und stickstoffhaltige Atomgruppen. Die stickstofffreien, wie Kohlensäure, Wasser, Milchsäure etc., verlassen. alsbald den Körper. Aber nichts zwingt uns zu der Annahme, daß auch die stickstoff- haltigen Atomgruppen sämtlich den Körper verlassen. Die Tatsachen zwingen uns vielmehr zu der Annahme, daß der stickstoffhaltige Biogenrest, der beim Zerfall des Biogenmoleküls nach Austritt der Kohlensäure, des Wassers etc. übrig geblieben ist, unter Umständen sich auf Kosten der Nahrungsstoffe oder im Hunger auf Kosten der Reservestoffe wieder zu einem vollständigen Biogenmolekül regeneriert. Dann hätten wir einen Biogenzerfall, der keine Stickstoffausscheidung im Harn zur Folge hat. Es gibt aber keine einzige Tat- sache, die dagegen spräche, daß bei der Muskeltätig- keit das Biogenmolekül zerfällt, und daß der stickstoff- haltige Rest die verloren gegangenen stickstofffreien Atomgruppen auf Kosten der Nahrung immer wieder regenerierte. Eine solche Sparsamkeit gerade mit dem kostbaren Stickstoff würde im Gegenteil ganz im Sinne des organischen Haushaltes liegen. Diese Vorstellung, die uns hier zunächst als bloße Möglichkeit entzegentritt, auf die wir durch die Erfahrungen hingewiesen werden, 1) Vergl. p. 209. Vom Mechanismus des Lebens. 691 gewinnt aber bei genauerer Betrachtung außerordentlich an Wahr- scheinlichkeit. Vor allem nämlich steht sie im Einklang mit unseren allgemein- physiologischen Ansichten vom Wesen des Lebensprozesses und wird den Vorstellungen gerecht, die wir uns von den Vorgängen in der lebendigen Substanz auf Grund zahlloser Tatsachen machen müssen. Wie wir wissen, bilden die Körper der Eiweißgruppe nicht nur die Hauptmasse aller Stoffe, aus denen die lebendige Substanz besteht, sondern sie sind auch die einzigen von allen organischen Stoffen, aus deren Umsatz allein sämtliche Leistungen des lebendigen Organismus dauernd bestritten werden können. Dazu kommt, daß, wie wir schon früher sahen !), alle anderen Stoffe, die sich sonst noch in der Zelle finden, teils zum Aufbau der Eiweißkörper und Biogene dienen, teils aus dem Umsatz derselben entstehen. Es ist also eine im höchsten Grade wahrscheinliche Arbeitshypothese, daß das Leben auf das engste an den Aufbau und den Zerfall gewisser hochkompli- zierter Eiweißverbindungen gebunden ist, die wir eben deshalb als „Biogene“ bezeichneten. Gibt man das zu, dann wäre es aber äußerst paradox, wenn eine Steigerung, und zwar eine so enorme Steigerung der Lebensprozesse, wie sie bei angestrengter Muskeltätigkeit zum Ausdruck kommt, nicht auch notwendig mit einer Steigerung des Biogenumsatzes im Körper verbunden sein sollte. Deshalb glaubte auch LIEBIG, der Altmeister der physiologischen Chemie, bis an sein Lebensende unermüdlich die Ansicht vertreten zu müssen, daß die Eiweißkörper, welche die Hauptmasse der organischen Muskelbestand- teile bilden, welche die Hauptrolle im ganzen Lebensprozeß spielen, diejenigen Stoffe sind, deren Zersetzung die Quelle der Muskelkraft liefert, und deshalb bekämpft auch PFLÜGER, einer der weitestblickenden unter den Physiologen, heute wieder von neuem die Vorstellung, daß die Muskeltätigkeit ohne Zerfall der Eiweißkörper bestehen könne. Wenn aber bei der Muskeltätigkeit ein gesteigerter Biogenumsatz stattfindet, und wenn trotzdem bei der Muskeltätigkeit nicht mehr Stickstoff ausgeschieden wird als in der Ruhe, dann bleibt eben nichts anderes übrig als der Schluß, daß der stickstoffhaltige Biogenrest sich wieder zum vollständigen Biogenmolekül regeneriert. In der Tat sind auch ohne ein solches Regenerationsvermögen des Biogenmoleküls die einfachsten und allgemeinsten Lebensäußerungen nicht zu ver- stehen. Wie wäre zum Beispiel die Tatsache des Wachstums, die Tatsache, daß lebendige Substanz immer nur von anderer lebendiger Substanz gebildet wird, anders zu begreifen als dadurch, daß das Biogenmolekül die Fähigkeit hat, nach und nach bestimmte Atome und Atomgruppen an sich zu binden, um so zu einem polymeren Molekül anzuwachsen. Jede Regeneration ferner beruht im Prinzip auf denselben Vorgängen wie jede neue Bildung. Auch die Tatsache der vollkommenen Erholung nach gänzlicher Ermüdung und manche andere Grundtatsache der lebendigen Substanz setzt unbedingt die Regene- rationsfähigkeit des Biogenmoleküls voraus. Was aber besonders wichtig ist, das ist, daß die hier entwickelte Vorstellung beiden sich unversöhnt gegenüberstehenden Auffassungen über die Quelle der Muskelkraft, soweit man die Nahrungsstoffe dabei im Auge hat, gerecht wird. Sowohl die Eiweißkörper 1) Vergl. p. 195 u. ff., 576. 44* 692 Sechstes Kapitel. wie auch die Kohlehydrate der Nahrung können nach dieser Auffassung als Quelle für die Muskelkraft dienen. Wenn die unmittelbare Energiequelle der Muskeltätigkeit in dem Zerfall und Wiederaufbau des Biogenmoleküls gelegen ist, und wenn beim Zerfall nur stickstofffreie Atomgruppen das Molekül ver- lassen, so ist es selbstverständlich, daß auch zur Regeneration nur stick- stofffreie Atomgruppen verwendet werden, und die Tatsachen beweisen, daß dazu sowohl die Eiweißkörper als auch die Kohlehydrate der Nahrung dienen können, wenn auch, wie PFLÜGER gezeigt hat, bei gemischter Nahrung und genügender Eiweißzufuhr das Eiweiß den Vorzug erhält. So ist die unbestreitbare Tatsache, daß auch bei starker Muskeltätig- keit die Eiweißnahrung bis zu einem gewissen Grade durch Kohle- hydrate vertreten werden kann, ohne weiteres verständlich, und es ist ebenso berechtigt, zu sagen: die Kohlehydrate der Nahrung liefern die Quelle der Muskelkraft, wie zu behaupten: die Eiweißkörper der Nahrung leisten diesen Dienst. Beide können dieselbe Rolle spielen, aber eben nur dadurch, daß sie dem Biogenrest die stickstofffreien Atomgruppen zu seiner Regeneration zur Verfügung stellen, denn der funktionelle Stoffwechsel erstreckt sich nur auf die stickstoff- freien!) Seitenketten des Biogenmoleküls, nicht auf den stickstoff- haltigen Kern. Aber immer liegt die Energiequelle des Muskels im funktionellen Zerfall des Biogenmoleküls und bleibt dieselbe, ob der Muskel sein Material für die Regeneration des Biogenrestes aus dem Eiweiß oder aus dem Kohlehydrat und Fett der Nahrung be- zieht. Die hier erörterte Auffassung, nach der die Energieentfaltung bei der Muskelbewegung aus dem funktionellen Zerfall und Wiederaufbau des Muskelbiogens stammt, besitzt den höchsten Grad von Wahr- scheinlichkeit, den eine wissenschaftliche Erklärung haben kann. Sie entspringt den Forderungen unserer allgemein-physiologischen Er- fahrungen, sie ist imstande, alle bekannten Tatsachen verständlich zu machen, und steht mit keiner einzigen Tatsache im Widerspruch. Ihr Wert wird sich auch zeigen, wenn wir das Problem der spezielleren Energiewechselmechanik bei der Be- wegung der kontraktilen Substanzen etwas näher ins Auge fassen. d) Theorie der Kontraktions- und Expansionsbewegungen. Ohne auf die schier zahllosen Theorien, die über den Mechanis- mus der Muskelkontraktion aufgestellt worden sind, im einzelnen einzugehen, können wir unter den wichtigeren der in der neueren Physiologie geäußerten Auffassungen zwei wesentlich verschiedene Gruppen bemerken. Daß es die chemische Energie ist, welche die Quelle für die Muskelleistungen liefert, darüber herrscht allgemeine Einstimmigkeit, und kann auch nach unseren Vorstellungen über den Lebensvorgang kein Zweifel bestehen. Während aber nach der Meinung einiger Physiologen die mechanische Energie der Muskel- arbeit direkt aus dem Umsatz chemischer Energie hervorgeht, wird nach der Ansicht anderer die chemische Energie bei der Muskel- kontraktion erst auf dem Umweg durch Wärme in mechanische Energie 1) Vergl. p. 597. Vom Mechanismus des Lebens. 693 übergeführt. Die erstere Ansicht wird von PFLÜGER!), Fick?) und anderen ?) vertreten, die letztere besonders von ENGELMANN!). Wir wählen zum Auscangspunkt für unsere Betrachtung am besten ENGELMANNs thermo-dynamische Theorie der Kontraktions- bewegungen. ENGELMANN sieht eine Schwierigkeit bei der direkten Herleitung der Muskelarbeit aus chemischer Energie in folgendem Umstand. Berechnet man aus der vom Muskel produzierten Energie- menge auf Grund der Annahme, daß dieselbe durch Verbrennung von Kohlehydraten geliefert werde, unter Zugrundelegung einer Ver- brennungswärme von rund 4000 Kalorien pro Gramm Kohlehydrat, die Menge von Substanz, die für die Leistung des Muskels bei einer Zuckung nötig ist, so findet man, daß sie eine ganz erstaunlich ge- ringe ist im Verhältnis zur Masse des Muskels. ENGELMANN be- rechnet, daß nur etwa ein Viermilliontel der ganzen Masse als Quelle für die bei einer Zuckung gelieferte Energie in Betracht kommen kann. Bei dem großen Wassergehalt der Muskeln, den er auf etwa 70—80 Proz. annimmt, hält er es daher für unverständlich, wie durch die direkte Wirkung der nur am Orte wirkenden chemischen Energie einer so geringen Menge von wirksamer Substanz eine so ungeheure passive Masse in Bewegung gesetzt werden kann. Er hält das letztere nur für möglich, wenn die chemische Energie erst in Wärme um- gesetzt wird, die sich überallhin verbreiten kann und daher in ihrer Wirkung nicht auf ihren Entstehungsort beschränkt ist. Die Um- formung eines Teils der Wärme in mechanische Energie kommt nach der Vorstellunx ENGELMANNs durch Verkürzung quellungsfähiger Elemente infolge der Erwärmung zustande°). Bei der letzteren An- nahme stützt er sich einerseits auf die Tatsache, daß alle positiv- einachsig-doppeltbrechenden Substanzen, wenn sie quellbar sind, bei der Quellung sich in der Richtung der optischen Achse verkürzen, und anderseits auf den Umstand, daß quellbare Kö:per stärker quellen, wenn sie erwärmt werden. Im Muskel haben wir aber nach ENnGEL- MANNS Untersuchungen in der anisotropen Substanz positiv-einachsig- doppeltbrechende Elemente, und wie ENGELMANN ebenfalls gezeigt hat, geht bei der Kontraktion des Muskels aus der isotropen, dünn- flüssigeren Masse des Muskelsegments flüssige Substanz in die festere Masse der anisotropen Schicht über, so daß diese an Volumen zu- 1) PFLÜGER: „Ueber die physiologische Verbrennung in den lebendigen Organismen“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 10, 1875. 2, Fick: „Mechanische Arbeit und Wärmeentwicklung bei der Muskeltätigkeit“. In Internation. wıssenschaftl. Bibliothek, Bd. 51, Leipzig 1881. — Derselbe: „Einige Bemerkungen zu ENGELMANNS Abhandlung über den Ursprung der Muskelkraft“. In PFLüseErs Arch., Bd. 53, 1893. 3) MAX VERWORN: ‚Die Bewegung der lebendigen Substanz. Eine vergleichend- physiologische Untersuchung der Kontraktionserscheinungen“, Jena 1902. 4) ENGELMANN: „Ueber den Ursprung der Muskelkraft“, Leipzig 1893. 5) Auch Mac DOUGALL (Journ. of Anatomy and Physiolory, Vol. 31 and 32) hat eine Theorie der Muskelkontraktion auf dem Prinzip der Wasseraufnahme aufgebaut, allerdings in etwas anderer Weise als EnGELMANN. Mc DOoUGALL stellt sich vor, daß in den Muskelsegmenten der Primitivfibrillen auf eınen Reiz hin chemische Umsetzungen erfolgen, dıe zu einer Wasseraufnahme der Muskelsegmente aus dem um- gebenden Sarkoplasma führen. Infolge der inneren Struktur der Muskelsegmente soll daraus eine Verkürzung und Verdickung derselben resultieren. EDWARD B. Meıss (Zeitschr. f. allgem. Physiol., Bı. 8, 1908) hat durch mikroskopische Studien die Mc DousaAutsche Theorie neuerdings zu stützen gesucht. Es fehlen aber vor- läufig noch die experimentellen Belege tür die wichtigsten Prämissen dieser Theorie und auch ihre Durchführung stößt auf mancherlei Schwierigkeiten. 694 Sechstes Kapitel. nimmt. ENGELMANN stellt sich daher vor, daß die Elemente der anisotropen Muskelsubstanz, die er als „Inotagmen“ bezeichnet, bei der Muskelerregung infolge der aus chemischer Energie stammenden Wärme quellen und sich verkürzen, so daß eine Zuckung des Muskels erfolgt. Besonders anschaulich macht ENGELMANN seine Vorstellung durch einen Versuch, bei dem die Kontraktion des Muskels nach dem thermo-dynamischen Prinzip durch Wärmequellung und Verkürzung einer Darmsaite nachgeahmt wird. In einem mit Wasser gefüllten Becherglase befindet sich in Verbindung mit einem Schreibhebel eine aufgespannte Violinsaite, die umgeben ist von einer Drahtspirale. Durch Schließung eines Stromes kann die Drahtspirale erwärmt werden, so daß sich die Wärme der Darmsaite mitteilt. Die Folge davon ist, daß sich die Darmsaite durch Quellung verkürzt und durch Hebung eines Gewichts eine gewisse Arbeit leistet. Bei Oeffnung des Stromes und Abkühlung der umgebenden Drahtspirale erfolgt dann wieder eine Streckung der Saite. Durch seine geniale Einfach- heit macht dieser Versuch die ENGELMANNsche Auffassung außer- ordentlich anschaulich, und es ist nicht zu leugnen, daß er dadurch auf den ersten Blick sehr für die thermo-dynamische Theorie ein- nimmt. Dennoch lassen sich mehrfache Bedenken gegen diese Theorie geltend machen, und in der Tat sind auch besonders von Fick!) gegen ENGELMANNS Auffassung bereits verschiedene, schwerwiegende Einwände erhoben worden. Es ist nicht notwendig, hier alle Schwierigkeiten zu erörtern, die sich der Annahme der EnGELMAnNschen Theorie entgegenstellen. Nur eine Schwierigkeit mag kurz hervorgehoben werden, weil uns ihre Betrachtung hinüberleitet zu einer anderen Auffassung, die sich auf Grund der mikroskopischen Tatsachen den chemischen Theorien der Muskelkontraktion anschließt. Wir müssen nämlich von einer Theorie der Muskelkontraktion fordern, daß ihr Prinzip nicht bloß für die Erklärung der Muskelbewegung, sondern auch für die Er- klärung aller anderen Formen der Kontraktionsbewegungen, d. h. also auch für die Protoplasmabewegung und Flimmerbewegung, Gültigkeit besitzt. „Da dieselben durch alle Uebergänge unter sich und mit der Muskelbewegung verbunden sind, muß dasselbe Er- klärungsprinzip bei allen Anwendung finden können.“ Dieser ersten und obersten Forderung, die ENGELMANN selbst aufstellt, entspricht aber die obige Theorie nicht ganz. Sie ist z. B. nicht imstande, die Bewegungen amöboider Protoplasmamassen zu erklären. Gerade diese einfachste aller Kontraktionsbewegungen macht der ENGEL- MANNschen Auffassung unüberwindliche Schwierigkeiten. Um die Tatsachen der amöboiden Bewegung mit seiner Theorie in Einklang zu bringen, ist ENGELMANN?) zu der Annahme gezwungen, daß auch im amöboiden Protoplasma kontraktile Elemente vorhanden sein müssen, die eine langgestreckte Form haben und in der Weise quell- bar sind, daß sie bei der Quellung kugelig werden. Allein diese An- nahme läßt sich einerseits wohl kaum begründen, anderseits ist sie 1) Fick: „Einige Bemerkungen zu ENGELMANNs Abhandlung über den Ur- sprung der Muskelkraft“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 53, 1893. — Derselbe: „Noch einige Bemerkungen zu ENGELMANNSs Schrift über den Ursprung der Muskelkraft“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 54, 1893. 2) ENGELMANN: „Physiologie der Protoplasma- und Flimmerbewegung“. In HERMANNs Handb. d. Physiol. Bd. 1, 1879. Vom Mechanismus des Lebens. 695 auch nicht imstande, die Tatsachen wirklich zu erklären. Trotz genauer Untersuchung ist es nämlich nicht gelungen, im amöboiden Proto- plasma ähnliche doppeltbrechende Elemente zu finden, wie in den faserig differenzierten Formen der kontraktilen Substanz. Die Beobachtung, daß beim Actinosphaerium die Pseudopodien einen doppelt- brechenden Achsenstrang haben, ist nicht verwendbar, weil der Achsen- strahl der Actinosphaerium-Pseudopodien überhaupt nichts mit der Kontraktion zu tun hat, sondern nur eine Gleitbahn vorstellt, auf der das kontraktile Protoplasma strömen kann, analog den Ra- diolarienskelettstrahlen, wie sie besonders bei der Gruppe der Acan- thometriden sehr verbreitet sind. Aber selbst wenn das kon- traktile Protoplasma der Rhizopoden etc. aus lauter langgestreckten und bei der Quellung kugelig werdenden Elementen bestände, wäre auf Grund dieser Annahme das Ausstrecken so außerordentlich langer und dünner fadenförmiger Pseudopodien, wie sie die meisten Foraminiferen und Radiolarien und zahllose Rhizopodenformen des Süßwassers charakterisieren, vollkommen unbegreiflich. Und dennoch ist die Bildung dieser Pseudopodienformen nichts anderes als die Ausstreckung der kürzeren, stumpfen oder zerfetzten Ausläufer einer Amöbe oder eines Leukocyten. Aber selbst die Bildung dieser Pseudopodien kann man sich nach der EnNGELMANNschen Auffassung nicht erklären. Wie sollte man sich das Zustandekommen einer auch nur einigermaßen bemerkenswerten Formveränderung des Amöben- körpers durch bloße Streckung zahlloser, in ihrer Größe weit unter der Grenze der Wahrnehmbarkeit befindlicher Elemente vorstellen, die, wie ENGELMANN selbst annimmt, regellos nach allen Richtungen durcheinanderliegen? Diese Schwierigkeiten sind unüberwindlich. Hier sind wir aber gerade bei dem Punkte angelangt, an dem das Problem der Kontraktionsbewegungen am ersten mit Aussicht auf Erfolg in Angriff genommen werden kann. In der amöboiden Zelle haben wir die primitivste Form der kontraktilen Substanz; hier liegen die Verhältnisse unleugbar viel einfacher als bei den faserig ent- wiekelten Formen mit ihren komplizierten Substanzdifferenzierungen. Dazu kommt noch, daß wir an den freilebenden und verhältnismäßig großen Protoplasmamassen der amöboiden Zellen unvergleichlich viel leichter die Bewegungen des lebendigen Objekts experimentell unter- suchen können, als an den sehr kleinen Bestandteilen des Muskels, die, aus der Kontinuität mit den Nachbarn getrennt, unfehlbar in kürzester Zeit zugrunde gehen. (sehen wir daher aus von der amöboiden Bewegung der nackten Protoplasmamassen !. Was allen Kontraktionsbewegungen gemein- sam ist, das ist, wie wir früher?) gesehen haben, der Wechsel von zwei entgegengesetzten Phasen, einer Kontraktionsphase, bei der die Oberfläche im Verhältnis zur Masse verkleinert wird, und einer Ex- pansionsphase, bei der die Oberfläche wieder vergrößert wird. Bei der amöboiden Bewegung äußert sich die Expansionsphase in der Ausstreckung und die Kontraktionsphase in der Einziehung der Pseudo- podien und dem Streben nach Kugelgestalt (Fig. 301). Der Wechsel zwischen beiden bildet den Gesamtvorgang der amöboiden Bewegung. 1) Max VERWoRN: „Die Bewegung der lebendigen Substanz. Eine vergleichend- physiologische Untersuchung der Kontraktionserscheinungen“, Jena 1892. 2) Vergl. p. 276. 696 Sechstes Kapitel. Stellen wir uns daher zunächst einen nackten Protoplasmatropfen vor, etwa eine Amöbenzelle, so verhält sich, wie wir wissen, diese Proto- plasmamasse physikalisch wie eine Flüssigkeit. Ihre Bewegungen müssen also, wie vor allem BERTHOLD!) in konsequenter Weise für zahlreiche spezielle Fälle durchgeführt hat, den allgemeinen Gesetzen tropfbarer Flüssigkeiten gehorchen. Physikalisch betrachtet ist aber jede Bewegung eines Flüssigkeitstropfens der Ausdruck von Ver- änderungen seiner Oberflächenspannung, d. h. der Kohäsionsenergie, mit der sich bei einem freischwebend gedachten Tropfen die einzelnen Teilchen untereinander anziehen. Ist die Oberflächenspannung '’an allen Punkten der Oberfläche gleich groß, so nimmt der Tropfen Kugelform an. Wird sie an einer Stelle durch irgendwelche Vor- gänge vermindert, so erfolgt hier infolge des Druckes von den anderen Seiten her eine Vorwölbung des Tropfens, die so lange wächst. bis ein neuer Gleich- gewichtszustand hergestellt iD ® D 'ce ist. Wird die Obertlächen- A spannung an der vorgewölb- ten Stelle wieder größer, so geht die Protuberanz in ent- sprechendem Maße wieder B zurück. Demnach ist die Fig. 301. Amöbe im Umriß. Im Innern liegt Kugelgestalt einer Amö- der Kern. 4A Pseudopodien nach verschiedenen ben zelle der Ausdruck für Richtungen ausstreekend, B in einer Richtung eine an der ganzen Ober- kriechend, € kugelig kontrahiert. fläche gleich große Öber- flächenspannung, die Aus- streckung von Pseudopodien an einzelnen Stellen der Oberfläche das Kriterium für eine Verminderung der Oberflächenspannung an diesen Punkten. Das Problem der amöboiden Bewegung, in dieser Weise präzisiert, gipfelt also in der Frage, aus welchen Bedingungen heraus einerseits eine Verminde- rung der OÖberflächenspannung (Ausstreckung der Pseudopodien) und anderseits wieder eine Erhöhung der Oberflächenspannung (Einziehung der Pseudo- podien und Streben nach Kugelform) zu stande kommt. Ueber die Bediugungen für die Verminderung der OÖberflächenspannung geben uns die bereits früher besprochenen Versuche Künnes?) an Amöben und Myxomyceten Aufschluß. Wenn KÜHnE einen Tropfen mit Amöben in ein sauerstofffreies Medium brachte, das im übrigen indifferent war, wie etwa Wasser- stoff, so blieb die amöboide Bewegung allmählich stehen, und die Amöben verharrten in den Gestalten, die sie gerade beim Kriechen angenommen hatten. Ließ er aber nunmehr wieder Sauerstoff hinzu- treten, so begann die Bewegung von neuem, es wurden neue Pseudo- podien ausgestreckt, und die Amöben krochen weiter. Nicht minder deutlich sind die Versuche KüHnes an Myxomycetenplasmodien. KüÜHnE brachte ein Klümpchen eines eingetrockneten Didymium- 1) BERTHOLD: „Studien über Protoplasmamechanik“, Leipzig 1886. j 2) W. KÜHNE: „Untersuchungen über das Protoplasma und die Kontraktilität‘, Leipzig 1864. Vom Mechanismus des Lebens. 697 plasmodiums in ein Kölbcehen, das mit sauerstofffreiem Wasser gefüllt war. In diesem Zustande blieb jede Pseudopodienentwicklung tage- lang aus. Ließ er indessen einige kleine Luftblasen in das Kölbchen hineintreten, so begann die Pseudopodienausbreitung sofort, und nach fünf Stunden hatte sich das Protoplasmaklümpehen an der Innenwand des Kölbehens zu einem reichverzweigten Netzwerk ausgestreckt. Hiernach liegt es auf der Hand, daß es die chemische Einfügung des Sauerstoffs in die lebendige Substanz sein muß, welche die Oberflächenspannung an bestimmten Stellen herabsetzt und so zur Pseudopodienbildung führt. Bei einseitiger Einwirkung des Sauerstoffs muß dieses Prinzip zur positiven Chemotaxis führen, wie sie auch tatsächlich durch STAHL!) bei nackten Proto- plasmamassen nachgewiesen worden ist. Bezüglich der Art und Weise, wie die Aufnahme des Sauerstofts aus dem Medium die Oberflächenspannung des Protoplasmatropfens vermindert, werden wir uns jedenfalls zu denken haben, daß durch die chemische Ein- fügung des Sauerstoffs in die lebendige Substanz mit der Veränderung der chemischen Zusammensetzung die Kohäsion des Protoplasmas ge- lockert wird. Daß durch chemische Beziehungen gewisser Bestandteile eines Flüssigkeitstropfens zu Stoffen des umgebenden Mediums amöboide Formveränderungen und Bewegungen des Tropfens hervorgerufen werden, dafür haben wir übrigens ein sehr anschauliches Analogon in der unbelebten Natur. Dasselbe liefern uns die interessanten Ver- suche von GAD?) über das Verhalten von Oeltropfen in alkalischen Medien, die später auch von QUINCKE’) studiert worden sind. Bekannt- lich enthalten ranzige Fette und Oele zwischen den reinen Fett- und OÖelmolekülen auch Moleküle von freien Fett- resp. Oelsäuren. Bei Berührung von freien Fett- resp. Oelsäuren mit Alkalien verbinden sich aber beide zu löslichen Seifen. Bıingt man daher einen ranzigen Oeltropfen in eine schwach alkalische Flüssigkeit, so tritt an der Berührungsfläche beider eine fortwährende Seifenbildung ein. Dadurch wird die Oberflächenspannung lokal hier und dort vermindert, und es erfolgt eine richtige Pseudopodienbildung des Oeltropfens. Durch Abstufung der Alkaleszenz des Mediums und des Gehalts des Oel- tropfeus an freien Säuren kann man die verschiedensten Aus- breitungsformen erzeugen, von denen manche eine verblüffende Aehn- lichkeit mit den Pseudopodienformen bestimmter Rhizopoden besitzen (Fıg. 302). Auch die positive Chemotaxis nackter Protoplasmamassen konnte bei Berücksichtigung der hier entwickelten Bedingungen der Oberflächenspannungsveränderungen experimentell an leblosen Objekten nachgealımt werden. So hat neuerdings RHUMBLER #) positive Chemo- taxıs von Ricinuströpfchen nach Chloroform oder Nelkenöl oder 5-proz. l) STAHL: „Zur Biologie der Myxomyceten“. In Bot. Zeitung, 1884, vergl. p. 507. 2) J. Gap: „Zur Lehre von der Fettresorption“. In Du BoIs-REYMoNDs Arch. f. Physiol., 1878. 3) G. QUINCKE: „Ueber periodische Ausbreitung von Flüssigkeits-Oberflächen und dadurch hervorgerutene Bewegungserscheinungen“. In Sitzungsber. d. Kgl. Preuß. Akad. d. Wiss. zu Berlin, Bd. 34, 1888. 4) RHUMBLER: „Physikalische Analyse und künstliche Nachahmung des Chemo- tropismus amöboider Zellen“. In Physikalische Zeitschrift, 1509. 698 Sechstes Kapitel. i Kalilauge hergestellt, indem er sie in ein Medium von 80-proz. Alkohol brachte. Hier krochen die Rieinusöltröpfchen genau wie die Leuko- cyten im Wirbeltierkörper in Kapillarröhrchen hinein, die mit den chemotaktisch wirkenden Stoffen angefüllt waren. Ebenso hat später BERNSTEIN !) an (Quecksilbertropfen künstlich eine chemotaktische Fig. 302. Verschiedene Ausbreitungsformen von Oeltropfen in alkali- scher Flüssigkeit. Bewegung erzeugt, indem er sie in verdünnte Schwefelsäure setzte und in einige Entfernung einen Kristall von Kaliumbichromat brachte, das sich allmählich auflöst, an den Quecksilbertropfen herandiffundiert und als einseitiger Reiz lokal die Oberflächenspannung des Tropfens unter Bildung eines Niederschlages von Quecksilberchromat herabsetzt, so daß eine positiv chemotaktische Bewegung des Tropfens nach dem Kaliumbichromat erfolgt. Kann demnach durch chemische Beziehungen gewisser Teilchen eines Tropfens zu Stoffen des umgebenden Mediums die Oberflächen- spannung vermindert werden, so muß umgekehrt eine Oberflächen- 1) JULIUS BERNSTEIN: „Chemotropische Bewegung eines Quecksilbertropfens. Zur Theorie der amoboiden Bewegung“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 80, 1900. Vom Mechanismus des Lebens. 699 spannungsvermehrung zustande kommen durch gesteigerte An- ziehung zwischen den Teilchen des Tropfens. Eine solche Steigerung der Kohäsion zwischen den Bestandteilen des Protoplasmas wird ver- ständlich, wenn wir daran denken, daß ja die Stärke der Molekular- attraktion durch Veränderungen der chemischen Konstitution der Moleküle beeinflußt wird. Oben hatten wir gesehen, daß die Kohäsion durch die chemische Einfügung des Sauerstofts in die lebendige Sub- stanz vermindert wird. Tritt nunmehr der Zerfall der Biogenmole- küle ein, so liegt wohl die Vorstellung nahe, daß diese tiefgehende chemische Veränderung wieder mit einer Zunahme der Kohäsion ver- bunden ist. Auf Grund dieser Vorstellung würden wir uns etwa folgendes Bild von dem Mechanismus der amöboiden Protoplasmabewegung machen können. Gehen wir aus von der Kugelform der amöboiden Zelle, so würde durch die chemische Einfügung des Sauerstoffs in das Protoplasma an einer beliebigen Stelle der Peripherie die Oberflächen- spannung lokal herabgesetzt werden, das Protoplasma würde sich vor- buchten, und da hierdurch immer neue Protoplasmamassen mit dem Sauerstoff des umgebenden Mediums in Berührung kämen, würde sich je nach der eigentümlichen Beschaffenheit des Protoplasmas ein mehr oder weniger langes Pseudopodium bilden. Das wäre die Mechanik der Expansionsphase. Durch die Einfügung des Sauerstoffs hätte ‚dann die lebendige Substanz den Höhepunkt ihrer labilen Konstitution erreicht. Sie würde in gewissem Grade schon spontan zerfallen, in höherem Maße aber bei Einwirkung dissimilatorisch erregender Reize. Fig. 303. Difflugia lobostoma mit zwei aus dem Sandgehäuse tretenden Pseudopodien, von denen das größere durch einen Schnitt abgetrennt wird. Daneben von links oben bis rechts unten die Veränderungen, welche die abge- schnittene Protoplasmamasse im Verlauf einiger Stunden durchmacht. Zuerst normale Bewegung durch Pseudopodienbildung, schließlich Absterben in der Kugelform. Mit ihrem Zerfall würde die Oberflächenspannung wieder größer, und so müßte das gereizte Protoplasma in zentripetaler Richtung wieder zurückfließen, so daß das Pseudopodium sich einzöge, ein Vorgang, der ja durch die verschiedensten Reize in so überaus charakteristischer Weise hervorgerufen wird. Das wäre die Mechanik der Kontraktions- phase. Nach ihrer Rückkehr zum zentralen Zellkörper hätten die Protoplasmamassen Gelegenheit, sich mit Hilfe der vom Protoplasma und Zellkern produzierten Stoffe, die zum intakten Leben der Zelle 700 Sechstes Kapitel. unumgänglich notwendig sind, wieder zu regenerieren, um dann nach Einfügung des Sauerstoffs ihren W eg von neuem zu beginnen. Durch den Aufbau und Zerfall der Biogenmoleküle würden diese abwechselnden Veränderungen in der Kohäsion des Protoplasmas, die zur Entstehung der Expansions- oder Kontraktionsphase führen, voll- kommen verständlich werden, mag man nun die Einfügung des Sauer- stofts in das Biogenmolekül selbst als den kohäsionsherabsetzenden und den oxydativen Zerfall des Biogenmoleküls als den kohäsions- erhöhenden Faktor annehmen oder mag man die Kohäsionsverminde- rung erst mit der Oxydation der Zerfallsprodukte des Biogenmoleküls und die Kohäsionserhöhung mit der Entstehung dieser Produkte ver- bunden denken. Auf Grund der hier entwickelten Vorstellung werden ferner alle speziellen Vorgänge, die sich bei der Bewegung amöboider Proto- plasmamassen zeigen, verständlich. Vor allem eıklären sich daraus auch ohne weiteres die Nekrobiose-Prozesse nackter Protoplasma- massen, wie man sie z. B. bei den abgeschnittenen, kernlosen, hyalinen Pseudopodien von Difflugien etc. sehr schön verfolgen kann (Fig. 303): das anfängliche Fortbestehen der amöboiden Be- wegung, das allmähliche Aufhören der Pseudopodienbildung und endlich das Absterben im kugeligen Kontraktionszustande'!). Anfangs, gleich nach dem Abschneiden der Masse, stehen noch eine Menge der Kern- und Protoplasmastoffe, welche die Biogenmoleküle zu ihrer Regeneration brauchen, im Protoplasma zur Verfügung. Die Aus- streckung und Einschmelzung der Pseudopodien geht daher anfangs wie vorher noch ungestört weiter. Allmählich werden diese Stoffe aber verbraucht, die Biogenmoleküle zerfallen, die Pseudopodien ziehen sich ein, die Regeneration der Biogene wird unmöglich, die Sauerstoffaufnahme sinkt. Es werden daher keine neuen Pseudo- podien mehr gebildet, und wenn alle Biogenmoleküle zerfallen sind, stirbt die Masse ab, ohne mehr ihre Kugelform zu verändern. A B A B Fig. 304. Muskelsegmente in der Ruhe und in der Kontraktion. I In der Ruhe, // in der Kontraktion; A in gewöhnlichem, B in polarisiertem Licht. a Anisotrope, i isotrope Schichten. Die hier entwickelte Vorstellung vom Mechanismus der amö- boiden Protoplasmabewegung hat aber zugleich auch den großen Vor- teil, daß sich ihre Prinzipien unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse im einzelnen Falle auf sämtliche andere Kontıaktions- bewegungen, auf die Protoplasmaströmung in den Pflanzenzellen 1) Vergl. p. 390. Vom Mechanismus des Lebens. 701 ebenso wie auf die Flimmerbewegung und auch auf die Muskelbewegung anwenden lassen. Wir wollen hier nur noch deu kompliziertesten Fall, die Bewegung der quergestreiften Muskeln, kurz herausgreifen. Beim Muskel müssen wir das einzelne Muskelsegment ins Auge fassen, denn der Bewegungsvorgang spielt sich schon an jedem einzelnen Muskelsegment ab. Wie wir bereits fiüher sahen), besteht das Muskelseement aus zwei verschiedenen Substanzen, der in der Mitte gelegenen, festeren anisotropen Substanz und der zu beiden Seiten der letzteren aufgelagerten isotiopen Substanz (Fig. 304). Die mikıo- skopisch sichtbaren Veränderungen bei der Kontraktion und Expansion, wie sie ENGELMANN?) u. a. bis in die Einzel- heiten festgestellt haben, bestehen im wesent- lichen darin, daß bei einer auf Reizung erfolgen- den Kontraktion isotrope Substanz von beiden Seiten in die anisotrope hineinfließt, so daß die anisotrope an Volumen zunimmt. Dadurch nimmt die Höhe des ganzen Segments ab, die Breite da- gegen zu. Dabei ist die Tatsache beachtenswert, die E. A. SCHÄFER?) fand, daß die anisotrope Sub- Fig. 305. Muskel- stanz, die ihren Ort nicht verändert, durch das be- reits früher *) erwähnte Röhrchensystem (Fig. 305) dem Zuflusse der isotıopen Stoffe eine möglichst große Oberfläche darbietet. Die so entstehende Formveränderung des Muskelsegments ıepräsen- tiert eine Verringerung der Oberfläche bei gleich- bleibender Masse im Sinne einer größeren An- segemente von der Wespe mit den Röhrchen der an- isotropen Sub- stanz. «a Anisotrope Schicht von oben ge- sehen, 5 von der Seite, ce drei Muskelsegmente. näherung an die Kugelgestalt. Stellen wir uns nun Nach EDER TER vor, daß durch den explosiven Zerfall der Biogene bei der Kontraktion die Kohäsionsverhältnisse im Muskelsegment sich so ändern, daß die Öberflächenspannung des Muskelsegments größer wird, so würde damit die Formveränderung des Segments, d.h. die Kontraktions- phase der Bewegung nach denselben Prinzipien verständlich werden wie die Annahme der Kugelgestalt nach Reizung bei einer Amöbe. Indem dabei isotrope Substanz mit anisotroper Substanz sich mischt, sind für die Restitution der zerfallenen Biogeumoleküle günstige Be- dingungen gegeben und nehmen wir an, daß die Sauerstoftzufuhr ohne die ja eine vollständige Erholung des Muskels nicht stattfindet, die Kohäsion wie bei der Amöbe wieder vermindert, so ist damit auch das Verständnis für die Entstehung der Expansionsphase ermöglicht. Mögen sich nun auch die Vorgänge, die sich ja zuızeit noch vollständig unserer Kenntnis entziehen, im einzelnen etwas anders abspielen, jeden- falls scheint das Prinzip der Beeinflussung der Molekularattraktion durch die Veränderungen der chemischen Konstitution der Moleküle, 1) Vergl. p. 286. 2) Vergl. p. 287. 3) E. A. SCHÄFER: „On the minute structure of the musele-columns or sarco- styles which form the wing-muscles of ınsects. Preliminary note“. In Proceedings of the Royal Society, Vol. 49, 1891. — Derselbe: „On the. structure of cross-striated muscle“. In Monthly International Journal ot Anatomy and Physiology, Vol. 8, 1801. — Derselbe: „On the structure of amıoeboid protoplasm, wirh a conıparison between the nature of the contractile process in amıoeboid cells and in museular tissue, and a suggestion regarding the mechanism of eiliary motion“. In Proceedings of the Royal Society, Vol. 49, 1801. 4) Vergl. p. 288. 702 Sechstes Kapitel. dasselbe Prinzip, das die amöboide Bewegung verständlich macht, auch imstande zu sein, künftig den noch so dunklen Vorgang der Muskelbewegung in seinen wesentlichen Punkten aufzuhellen. Auch BERNSTEIN !) übrigens, der sich früher dieser Auffassung der Muskel- kontraktion nicht angeschlossen hatte, ist in neuester Zeit zu dem Ergebnis gelangt, daß die Muskelkontraktion auf der Entwicklung einer durch chemische Prozesse erzeugten Oberflächenenergie beruhe. Er nimmt dabei als Entstehungsort der erhöhten Oberflächenspannung in der Muskelfaser die Grenzfläche zwischen der Substanz der Primitiv- fibrillen und des Sarkoplasmas an. Mag das zutreffen oder nicht, jedenfalls handelt es sich um das gleiche Prinzip der Umsetzung von chemischer Energie in Oberflächenenergie. Hier mündet aber unsere Betrachtung des Mechanismus der Kon- traktionsbewegungen von selbst wieder in unsere Vorstellung von dem Energiewechsel bei der Muskeltätigkeit ein, und wir sind wieder zu derselben Auffassung gelangt, die wir auf einem ganz anderen Wege bereits gewonnen hatten, daß nämlich die Tätigkeit des Muskels auf dem Wechsel von Zerfall und Regeneration der lebendigen Protoplasmateilchen beruht. * “ * Wir stehen jetzt am Ende unserer Untersuchungen über die Mechanik des Zelllebens. Ausgehend von der Vorstellung, daß im Stoffwechsel der eigentliche Lebensvorgang liegt, dessen Ausdruck die mannigfachen Lebensäußerungen sind, mußten wir die elementaren Lebensäußerungen der Zelle auf die Kette der Stoffwechselvorgänge, durch welche die einzelnen Teile der Zelle untereinander und mit der Außenwelt verbunden sind, zurückzuführen suchen, und gerade unsere letzten Erörterungen über die Bewegungsvorgänge an der Zelle liefern uns das beste Beispiel dafür, wie die Vorgänge des Formwechsels und Energiewechsels untrennbar mit den Vorgängen des Stoffwechsels verknüpft sind, wie alle drei in Wirklichkeit ein einziges Ganzes bilden, das nur der Betrachtung verschiedene Seiten bietet. Soweit es unsere “wissenschaftlichen Erfahrungen bisher er- möglichen, haben wir unsere Aufgabe zu lösen gesucht. Freilich hat dabei manche Vermutung, manche Hypothese die weiten Zwischen- räume zwischen den bisherigen Kenntnissen ausfüllen müssen, und manche empfindliche Lücke bleibt trotzdem noch offen. Aber die Zellularphysiologie ist eben erst im Entstehen begriffen, und die eiserne Notwendigkeit ihrer Entwicklung, verbunden mit ihrer großen Leistungsfähigkeit, ermutigen zu den höchsten Erwartungen. Ill. Die Verfassungsverhältnisse des Zellenstaates. Hat bis jetzt bei allen unseren Untersuchungen und Experimenten, Erörterungen und Theorien immer die einzelne Zelle als selbständiger Elementarorganismus im Vordergrunde des Interesses gestanden, SO bleibt uns nunmehr am Ende des langen Weges, den wir im Verfolg 1) BERNSTEIN: „Die Kräfte der Bewegung in der lebendigen Substanz“, Braun- schweig 1902. Vom Mechanismus des Lebens. 703 des physiologischen Problems zurückgelegt haben, noch übrig, wenig- stens in Kürze auf den Mechanismus einzugehen, der aus dem Zu- sammenleben der Zellen im Zellenstaate resultiert. Das Leben des vielzellieen Organismus ist die Resultante aus dem Leben der ein- zelnen Zellen, die seinen Zellenstaat zusammensetzen, aber durch das Zusammenleben und die daraus entspringende gegenseitige weitgehende Beeinflussung der einzelnen Zellen sind mancherlei besondere Ver- hältnisse bedingt, die in den Lebensäußerungen des vielzelligen Orga- nismus einen charakteristischen Ausdruck finden. A. Selbständigkeit und Abhängigkeit der Zellen. Wir haben an einer anderen Stelle gesehen, daß die Größe der einzelnen Zelle nur eine sehr beschränkte ist und sein kann). Aus dieser Tatsache ergibt sich eine wichtige Konsequenz. Ein größerer Organismus kann niemals von einer einzigen Zelle gebildet werden, die Entstehung eines größeren Organismus ist vielmehr nur möglich durch Aufbau aus vielen einzelnen Zellen. In der Tat wissen wir ja, daß alle größeren Organismen Zellenstaaten sind. Aber durch die Vereinigung mit anderen ihresgleichen sind Verhältnisse gegeben, die das Leben der einzelnen Zelle wesentlich modifizieren, so daß sich die Lebensäußerungen der Zelle anders gestalten, als wenn sie frei lebte. Wie jede Staatenbildung erfordert auch die Bildung des Zellenstaates einen Kompromiß zwischen den einzelnen Individuen. Ohne einen solchen Kompromiß ist keine Staatenbildung denkbar. Der Kompromiß besteht darin, daß jede Zelle ein Stück ihrer Selb- ständigkeit aufgibt für den Gewinn, den sie aus dem Zusammenleben mit anderen Zellen zieht. Die spezielle Form dieses Kompromisses zwischen den einzelnen Kontrahenten ist aber im gegebenen Fall un- geheuer verschieden. Wir finden in den Zellenstaaten der Organismen- reihe noch viel mannigfachere Verfassungsformen verwirklicht, als wir sie in der menschlichen Gesellschaft entwickelt sehen, und es würde eine überaus lohnende Aufgabe sein, die moderne Soziologie einmal unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verfassungsformen ver- schiedener Zellenstaaten zu behandeln. Es würden zweifellos manche soziale Reformvorschläge ganz anders ausfallen, als wir sie jetzt bis- weilen vernehmen. Selbstverständlich kann ein Zellenstaat nur leben, wenn seine ein- zelnen Konstituenten ein eigenes Leben führen, denn das Leben des Zellenstaates ist nur der Ausdruck des Lebens der einzelnen Zellen. Außer den Zellen ist nichts Lebendiges im Zellenstaat. Die selb- ständige Lebenstätigkeit der einzelnen Zelle ist also unumgängliche Vorbedingung für das Leben des zusammengesetzten Organismus. Wie viel aber die einzelne Zelle von ihrer Selbständigkeit aufgibt, dadurch, daß sie sich mit anderen vereint, das unterliegt einer enormen Mannigfaltiekeite. Etwas muß sie immer aufgeben, das ist ohne weiteres klar, wenn wir daran denken, daß durch das Zusammen- leben verschiedener Zellen die äußeren Lebensbedingungen für die einzelne Zelle in hohem Grade verändert werden. Ja, Zellen, die das freie Einzelleben dauernd mit dem Leben im Zellenstaate vertauscht 1) Vergl. p. 651. 704 Sechstes Kapitel. haben, wie die Gewebezellen der höheren Pflanzen und Tiere, gehen sogar meistens in kurzer Zeit zugrunde, wenn sie aus dem Verband mit ıhren Genossinnen getrennt werden. Die übrigen Zellen des Zellenstaates sind eine äußere Lebensbedingung für die Gewebezelle geworden. Dieses Abhängigkeitsverhältnis, in dem die Zellen des Zellen- staates zueinander stehen, ist im allgemeinen um so geringer und die Selbständigkeit der einzelnen Zelle um so größer, je tiefer wir in der Organismenreihe hinabsteigen, je mehr noch die einzelnen Zellen des Zellenstaates einander gleichen. Cr Sau Ik A, A JE B Fie. 306. 7TCarcehesium polypinum, ein Ciliatenstock. A Die einzelnen Individuen auf ihren Stielen sind ausgestreckt. 2 Die einzelnen Individuen sind infolge einer Er- schütterung zusammengezuckt. IT A Eudorina elegans, eine Flagellatenkolonie. B Magosphaera planula, eine Ciliatenkolonie. Nach HAECKEL. Die einfachsten Verhältnisse haben wir im Reiche der Protisten. Hier finden wir noch Zellenstaaten mit dem Urtypus einer echt re- publikanischen Verfassung, Zellenstaaten, in denen jede Zelle der anderen tatsächlich noch gleich ist und die Fähigkeit besitzt, auch un- Vom Mechanismus des Lebens. 705 abhängig von den anderen allein für sich zu existieren. Ein Carche- siumstöckchen (Fig. 306 /), eine Eudorinakolonie (Fig. 306 IT), eine Magosphaerakugel (Fig. 306 /I) sind solche wahren Zellen- republiken. Bisweilen trennen sich die Mitglieder dieser Staaten von- einander und führen ein unabhängiges Leben weiter. Aber solange sie im Staate miteinander vereint sind, besteht selbst in diesen echt republi- kanischen Zellenstaaten trotz der hohen Selbständigkeit der einzelnen Zellen ein gewisses Abhängiekeitsverhältnis. Das einzelne Carche- sium wird durch seine Nachbarn beeinflußt. Zuckt einer seiner Nach- barn plötzlich zusammen, so wird es durch die Erschütterung eben- falls zu einer Zuckung veranlaßt. Die einzelne Eudorina- oder Magosphaerazelle ist ebenfalls in ihrer Bewegung abhängig von den anderen. Der Schlag ihrer Wimpern treibt sie nicht hin, wo sie bei freier Beweglichkeit hinschwimmen würde, sondern er ist nur eine der vielen Komponenten, aus denen die Bewegung der ganzen kugeligen Kolonie resultiert. Viel größer als in diesen wahren Zellenrepubliken des Protisten- reiches ist aber die Abhängigkeit der Zellen schon in den Zellenstaaten der Pflanzen und der niedrigsten, in sozialer Beziehung mit ihnen auf gleicher Stufe stehenden Cölenteraten. Man hat auch die Verfassung der Pflanzen noch als eine republikanische bezeichnet im Gegensatz zu der mehr monarchischen Verfassung der Tiere. Das ist richtig; allein die Verfassung des Zellenstaates der Pflanzen, Schwämme, Hydroidpolypen ist nicht mehr die primitive Form der Republik, wie wir sie bei den Protistenkolonien sahen. Wir finden hier schon nicht mehr die Fähigkeit der einzelnen Zelle, aus der Gemeinschaft der anderen getrennt selbständig für sich existieren zu können. Die Ab- hängigkeit von den anderen Zellen ist schon zu groß. Dagegen können kleinere Gruppen von Zellen sich noch selbst erhalten und gesondert weiter leben. Man kaun z. B. die Blätter mancher Pflanzen, wie VÖCHTInG!) gezeigt hat, in winzig kleine Stücke zerhacken und aus dem Brei wieder ganze Pflanzen züchten, und ebenso lebt jedes Stück einer zerschnittenen Hydra, wie wir sahen, selbständig weiter (Fig. 2 p- 66). Noch enger als bei der Pflanzen und niedrigsten Cölenteraten ist die Abhängigkeit der einzelnen Zellen voneinander in manchen Ge- weben der höheren Tiere. Hier herrscht vielfach eine ausgesprochene Despotie. Ein interessantes Beispiel liefert die Verfassung der Flimmer- epithelien. Bekanntlich besteht ein Flimmerepithel aus vielen neben- einanderliegenden Reihen hintereinander angeordneter Flimmerzellen, deren jede eine Anzahl Flimmerhaare besitzt (Fig.307 I). Die Flimmer- haare dieser Zellen sind in einem schnellen, rhythmischen Schwingen begriffen. Dabei fällt aber in die Augen, daß die Flimmerbewegung der einzelnen Zellen einer Reihe nicht regellos und unabhängig von- einander erfolgt, sondern daß eine Metachronie des Wimperschlages besteht ?), in der Weise, daß die Flimmerhaare sämtlicher Zellen, von der obersten Zelle der Reihe angefangen, in regelmäßiger Reihenfolge hintereinander schlagen. Viel besser als am mikroskopischen Flimmer- epithel der Wirbeltiere kann man übrigens diese Tatsache an den 1) H. VöcHTInG: „Ueber die Regeneration der Marchantien“. In PRINGSHEIMSs Jahrb. f. wissensch. Bot., Bd. 16, 1885. 2) Vergl. p. 293. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 45 706 Sechstes Kapitel. Flimmerplättchenreihen der Ötenophorenrippen beobachten (Fig 307 II). Hier, wo die Flimmerplättchen mit bloßem Auge sehr deutlich zu sehen sind, und wo die Bewegung oft sehr langsam abläuft, bemerkt man ohne weiteres, daß jedes Plättchen nur schlägt, wenn das vorher- gehende geschlagen hat, und dann wieder in Ruhe bleibt, bis vom ersten Plättchen her eine neue Schlagwelle kommt. Schneidet man aus einer Bero& eine solche Rippe mit dem darunter liegenden Ge- webe heraus, so hat man eine Flimmerreihe in übersichtlichster Form. Beim obersten Plättchen beginnt die Bewegung und pflanzt sich fort auf alle folgenden. Ist das oberste Plättchen in Ruhe, so sind es auch alle folgenden, nie schlägt ein Plättchen in der Mitte der Reihe, während die vorhergehenden in Ruhe sind. Hält man ein Plättehen mitten in der Reihe fest, so laufen die Flimmerwellen von oben her nur bis zu diesem Plättchen, hier bleiben sie stehen und alle Plättchen abwärts in der Reihe stehen still (Fig. 307 III). So EB E = ET I II Fig. 307. Flimmerepithel. 7 Drei aneinanderhängende Flimmerzellen aus dem Nebenhoden. Nach SCHIEFFERDECKER. IT Bero&@ ovata mit den vier Flimmerplättchenreihen der einen Seite. /IT Flimmerreihe einer Bero& von der Seite. Das Plättehen bei * ist mit einer feinen Lanzette durch Zurückbiegen fixiert, so daß es nicht schlagen kann. Infolgedessen laufen die Wimper- wellen von oben her nur bis zu diesem Plättchen, während die davon abwärts gelegenem Plättehen stillstehen. steht also jedes Plättchen in engstem Abhängigkeitsverhältnis von dem nächstoberen und kann sich niemals selbständig bewegen. Alle Plättehen aber werden auf diese Weise von dem ersten Plättchen der Reihe in ihrer Bewegung bestimmt (Fig. 308 A). Trotzdem besitzt jedes Plättchen in potentia noch eine volle Selbständigkeit. Schneidet man z. B. die Reihe durch, so übernimmt das Plättchen, das jetzt als erstes in der Reihe steht, die Führung und beherrscht durch seinen Schlag und seine Ruhe die sämtlichen abwärts in der Reihe stehenden Plättchen, so daß die beiden getrennten Hälften der Reihe nun in ge- sondertem Rhythmus schlagen (Fig. 308 B). Ja, jedes einzelne aus der Reihe herausgenommene Plättchen, vorausgesetzt, daß noch die zu ihm gehörigen Zellkörper daran haften, schlägt selbständig in Vom Mechanismus des Lebens. 7107 rhythmischer Weise für sich. Wir haben hier einen interessanten Fall vollständiger Subordination. Jede Flimmerzelle eines Epithels besitzt isoliert, solange sie am Leben bleibt, vollkommene Autonomie ihrer . Bewegung, im Verbande mit ihresgleichen dagegen hat sie die Selb- ständigkeit ihrer Bewegung vollkommen aufgegeben. Dieses Verhältnis ist unumgänglich nötig für das Zustandekommen eines metachronen Flimmerschlages. der in motorischer Beziehung wesentliche Vorteile bietet. Daher finden wir auch dasselbe Verhältnis nicht bloß zwischen den einzelnen Flimmerzellen eines Epithels, sondern auch schon zwischen den einzelnen Flimmerhaaren einer Zelle. In einer langen Reihe von Flimmerhaaren, wie sie z. B. bei Wimperinfusorienzellen besonders deutlich zu sehen sind, besteht dieselbe Metachronie des Schlages. Kein Flimmerhaar schlägt, ehe das vorhergehende geschlagen hat. Steht das oberste still, so steht die ganze Reihe still. Und dennoch zeigt auch hier jedes einzelne Haar, aus dem Zusammenhang mit den anderen getrennt, vollkommene Selbständigkeit der Bewegung. /, A| All Ally IN ZEN ZZZAN ZEN ZA KLEE A Zu [/ , /, VASE A| EHE | N / a A| / 4 TE 4 ZH j = — / TAI —Z Al HA ZA ZA Zt B Fig. 308. A Intakte Wimperreihe mit ungestörter Metachronie des Schlages. Die oberste (linke) Wimper gibt den Rhythmus an, und die übrigen folgen in demselben Rhythmus nach. B Wimperreihe, die in der Mitte durch einen Einschnitt in zwei Hälften getrennt ist. Jede Hälfte schlägt in eigenem Rhythmus. Schneidet man z. B. bei Spirostomum die lange Peristomwimper- reihe an einer Stelle ein, so können beide Hälften unabhängig von- einander schlagen !). Ja, trennt man ein einzelnes Wimperhaar mit einem Tröpfehen daran hängenden Protoplasmas vom Zellkörper ab, so schlägt es rhythmisch selbständig weiter, bis es zugrunde geht. Wir müssen also annehmen, daß die vollständige Abhängiekeit, in der das einzelne Flimmerhaar ebenso wie die einzelne Flimmerzelle von den nächstoberen steht, bedingt ist durch irgendeinen Mechanismus des basalen Protoplasmas, der jede selbständige Bewegung verhindert und nur Impulse von oben her übermittelt?). Das ist aber nur mög- lich, wenn beim Flimmerepithel eine ununterbrochene Kontinuität des basalen Protoplasmas durch die ganze Zellenreihe hin besteht. In der Tat wissen wir auch, daß protoplasmatische Verbindungen zwischen den einzelnen Zellen im Zellenstaat der Pflanzen wie der Tiere weit verbreitet sind. 1) MAx VERWORN: „Psycho-physiologische Protistenstudien“, Jena 1889. 2) Max VERWORN: „Studien zur Physiologie der Flimmerbewegung“. In PFLÜGERs Arch., Bd. 48, 1890. 45* 708 Sechstes Kapitel. Die weitgehendste Abhängigkeit aber haben wir schließlich beim höheren Tier in der Herrschait der Nervenzellen über die Zellen der verschiedenartigsten Gewebe. Je höher wir in der Tierreihe hinauf- steigen, um so mehr sehen wir die Tendenz der Nervenzellen, ihre Herrschaft auf alle Gewebe des Körpers auszudehnen. Dabei geht der Verlust der Selbständigkeit bei vielen (rewebezellen so weit, daß ihre Lebenstätigkeit, solange sie nicht durch Impulse von den Nerven- zellen her erregt wird, auf ein Minimum herabsiukt. Die Spontaneität geht vielfach scheinbar ganz verloren. Ein Skelettmuskel führt bei den Wirbeltieren nie mehr spontan eine Zuckung aus, nur allein die Ganglienzellen des Zentralnervensystems können ihn durch ihre Im- pulse zu einer Kontraktion veranlassen. Freilich dürfen wir uns durch das Fehlen der spontanen Zuckungen beim Muskel nicht ver- führen lassen, zu glauben, daß die Stoffwechselvorgänge, welche die Muskeltätigkeit charakterisieren, während der Ruhe vollständig still- stehen. Das ist nur scheinbar der Fall. Wie uns der Vergleich des zum Muskel strömenden arteriellen Blutes mit dem aus dem Muskel kommenden venösen Blute lehrt, verlaufen auch während der Ruhe im Muskel dieselben Stoffwechselprozesse wie in der Tätigkeit, aber in so geringem Umfange und so gleichmäßig, daß es nicht zu einer Zuckung kommt. Erfahren sie aber durch Nerveneinfluß eine plötz- liche Steigerung, so tritt die Zuckung ein. Ganz analog dem Ab- hängiekeitsverhältnis der Muskelzellen ist das Verhältnis vieler anderer (Gewebezellen, z. B. der Dıüsenzellen zum Zentralnervensystem, und sogar das Verhältnis der Ganglienzellen untereinander ist von der- selben Art. Das allgemeine Prinzip, das der Bildung des Zellenstaates und damit der Entstehung eines mehr oder weniger engen Abhängigkeits- verhältnisses der einzelnen Zellen voneinander zugrunde liegt, ist dasselbe Prinzip, das überhaupt alle Entwicklung beherrscht. Es ist das Prinzip der Utilität. Das Zusammenbleiben der Zellen nach der Teilung und damit zunächst die Entstehung eines aus mehreren gleichartigen Zellen bestehenden Staates, wie wir sie bereits im Pro- tistenreich finden, hat schon den Vorteil des größeren Schutzes für die einzelne Zelle. Durch das bloße Zusammenbleiben der Zellen ist aber, wie wir sahen, schon ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis der einzelnen Zellen voneinander bedingt. Daß dieses Abhängigkeits- verhältnis, je weiter wir in der Entwicklungsreihe der Organismen aufwärts steigen. um so enger und fester wird, ist wiederum ein Aus- druck des Utilitätsprinzips: denn je größer die Einheitlichkeit in der Verwaltung des ganzen Zellenstaates, um so sicherer und größer ist nicht nur die Leistung des Ganzen, um so größer ist auch der Nutzen, den die einzelne Zelle von dem Zusammenleben hat. Die Einheit- lichkeit der Verwaltung des Zellenstaates wird aber durch das Ab- hängigkeitsverhältnis der einzelnen Zelle von den übrigen Zellen wesentlich bestimmt. Wie schließlich derartige nutzenbringende Ein- richtungen sich auf natürliche Weise entwickeln müssen, dafür hat uns die Selektionstheorie Darwıns, die das Problem aller Zweckmäßig- keit in der organischen Welt zuerst naturwissenschaftlich behandelt hat, ein allgemein mechanisches Verständnis zu liefern gesucht. Frei- lich sind die speziellen mechanischen Bedingungen in jedem einzelnen Falle immer erst näher zu untersuchen. Vom Mechanismus des Lebens. 709 B. Differenzierung und Arbeitsteilung der Zellen. In der Entwicklung eines Abhängiekeitsverhältnisses der Zellen voneinander bei der Entstehung des Zellenstaates haben wir nur eine Folge des Zusammenlebens der Zellen kennen gelernt. In der Tat kann das auch die einzige Folge bleiben, solange der Zellenstaat ge- wisse Dimensionen nicht überschreitet. Wird aber der Zellenstaat nach allen Dimensionen größer, entwickelt er sich zu einer kompakten Masse, so macht sich eine andere notwendige mechanische Folge des Zusammenlebens bemerkbar, das ist die Differenzierung und Arbeits- teilung der Zellen. Die Differenzierung der Zellen besteht bekanntlich darin, daß die Zellen verschiedenartige Charaktere annehmen, so daß ein Zellen- staat entsteht, der nicht mehr aus gleichartigen Zellen zusammen- gesetzt ist, sondern aus Zellen und Zellgruppen verschiedener Art. Damit sind nicht nur morphologische, sondern selbstverständlich auch physiologische Unterschiede zwischen den einzelnen Zellen des Staates gegeben, d. h. die Leistungen der einzelnen Zellgruppen werden ver- schieden, und es findet eine Arbeitsteilung der einzelnen Zellen oder Zellgruppen statt. Differenzierung und Arbeitsteilung sind vonein- ander untrennbar. Die mechanischen Bedingungen der Zellendifferenzierung im Zellen- staat liegen ziemlich klar zutage. Wir wissen, daß die sämtlichen Eigenschaften eines Organismus Ausdruck der Wechselwirkung zweier Faktoren sind, nämlich der Beziehungen zwischen seinen inneren und äußeren Lebensbedingungen!). Verändert sich einer dieser beiden Faktoren, so ist damit auch eine Veränderung der Eigenschaften des Organismus verknüpft. Stellen wir uns daher eine Zelle vor, die sich durch fortgesetzte Teilung in lauter kleine Nachkommen teilt, und nehmen wır an, daß alle diese Nachkommen zusammenbleiben und einen Zellenstaat bilden, so werden sämtliche Konstituenten dieses Zellenstaates, die aus den fortgesetzten Teilungen hervorgehen, einander immer gleich bleiben, solange die äußeren Bedingungen, unter denen jede Zelle steht, dieselben sind, wie für jede andere. ‘Solche Zellenstaaten haben wir im Protistenreich bereits kennen ge- lernt. Aber ein solcher Staat ist nur möglich, wenn die Zellen alle linien- oder flächenartig nebeneinander geordnet sind. Das ist in der Tat hier der Fall. Die größten, aus gleichartigen Zellen zusammen- gesetzten Zellenstaaten, die wir unter den Protisten kennen, die be- reits zu den Pflanzen hinüber führen, die Algen, sind entweder Fäden, wie die Konferven (Fig. 309), oder blattartige Gebilde, wie die mächtigen Ulvaceen, bei denen in einer Fläche Zelle an Zelle ge- reiht ist, so daß der Teil ihrer Oberfläche, welcher frei bleibt, und der Teil, welcher von den Nachbarn begrenzt wird, in jeder Zelle derselbe ist. So steht jede Zelle unter den gleichen äußeren Lebens- bedingungen. Denken wir uns aber, daß die aus der Teilung einer Zelle hervorgehenden Zellen nicht sämtlich unter den gleichen äußeren Bedingungen bleiben, so müssen sich mit der Zeit Verschiedenheiten herausbilden, falls nicht die Zellen zugrunde gehen. Dieser Fall ist realisiert bei der Bildung eines jeden Zellenstaates, dessen Zellen- 1) Vergl. p. 357 u. 669. 710 Sechstes Kapitel. arten nicht flächenhaft angeordnet sind, sondern sich als größere so- lide Komplexe nach allen Seiten des Raumes verteilen. Hier stehen die Zellen, die im Inneren des massigen Zellenstaates liegen, unter völlig anderen äußeren Lebensbedingungen als die Zellen an der Oberfläche. Infolgedessen müssen sie auch morphologisch und phy- siologisch in einen Gegensatz zu den letzteren treten, so daß eine Differenzierung und Arbeitsteilung erfolgt. Die einfachsten Beispiele dafür haben wir ebenfalls schon in gewissen Formen der Protisten, die so ein äußerst interessantes Uebergangsglied zu den Zellenstaaten der Pflanzen oder der Tiere bilden. Eine derartige Organismenform ist z. B. die Protospongia Haeckelii (Fig. 310), eine Kolonie von Geißelinfusorien, die im histologischen Bau eine gewisse Aehn- lichkeit mit den niedrigsten Spongien hat. An der Oberfläche einer gallertigen Masse sitzen zahlreiche Kragengeißelzellen, im Innern der N AN! N IR SIENNURA . & Fig. 309. Fig. 310. Fig. 309. Spirogyra, eine vielzellige Alge des Süßwassers. 4%Stück eines vielzelligen Fadens. B Einzelne Zelle. Der Chlorophylikörper zieht sich in jeder Zelle- spiralig längs der inneren Zellwand hin. Fig. 310. Protospongia Haeckelii. Nach Lanc. Gallertmasse dagegen befinden sich viele amöboide Zellen ohne Geißel.e Hier haben wir also eine Differenzierung der im Innern und der an der Oberfläche lebenden Zellen, die bereits außerordent- lich augenfällig ist und deren Genese ohne weiteres auf der Hand liegt. Besonders interessant ist nämlich an dieser Organismenform, daß man an ihr deutlich beobachten kann, wie die Differenzierung nur so lange existiert, als die beiden Zellarten unter verschiedenen Bedingungen stehen. Die amöboiden Zellen des Innern haben näm- lich die Fähigkeit, an die Oberfläche zu wandern, und in diesem Falle entwickeln sie sich ebenfalls zu Kragengeißelzellen. Bei diesen niedrigsten Formen des differenzierten Zellenstaates besitzen also die einzelnen Zellen noch die Fähigkeit der Umwandlung in andere Formen im höchsten Maße. Was wir im Protistenreiche nur in den ersten Andeutungen finden, die Differenzierung der Zellen durch Anpassung an die durch ver- schiedenartige Lagerung gegebenen äußeren Bedingungen, das ist. Vom Mechanismus des Lebens. zit für den Aufbau des pflanzlichen und tierischen Zellenstaates das fundamentale Prinzip, das in weitgehendem Maße und bis in die feinsten Einzelheiten hinein verwirklicht ist, und das schließlich zum Aufbau eines so komplizierten Organismus führt, wie ihn der Zellen- staat des menschlichen Körpers bildet. Die ganze Entwicklung des kompliziertesten Tierkörpers mit allen seinen Differenzierungen beruht allein auf dem Prinzip, daß die aus fortgesetzter Teilung der Eizelle hervorgehenden Zellen und Zellenhaufen, je weiter die Zellvermehrung fortschreitet, aus dem einfachen mechanischen Grunde ihrer verschieden- artigen relativen Lage, um so verschiedenartigere Wechselbeziehungen miteinander eingehen und um so verschiedenartigere äußere Lebens- bedingungen ertragen müssen, so daß sie durch Anpassung an die sich immer mehr verändernden äußeren Verhältnisse schließlich in allen ihren Eigenschaften immer mehr divergieren und sich differen- zieren. Die Mechanik der ontogenetischen Entwicklung durchläuft hier, wie wir aus dem biogenetischen Grundgesetz wissen, soweit nicht speziellere Anpassungen ins Spiel kommen, im wesentlichen dieselben Wege, welche die Entwicklung der Organismen in der phylogenetischen Formenreihe durchlaufen hat. Die mechanischen Bedingungen für die Differenzierung der Zellen bei der Bildung des Zellenstaates sind offenbar in ihren wesentlichsten Punkten die gleichen bei der ÖOnto- senie wie bei der Phylogenie eines jeden Organismus. Freilich bleibt es noch der embryologischen Forschung der Zukunft vorbehalten, die überaus mannigfaltigen speziellen Verhältnisse, die ebenso verschieden sind, wie die Organismenformen selbst, im einzelnen aufzudecken. Wenn wir die mechanischen Bedingungen der Zellendifferen- zierung im komplizierten Zellenstaat in der Veränderung ihrer Wechselbeziehungen mit der Umgebung suchen müssen, die für jede Zelle und Zellengeneration durch die fortgesetzte Zellteilung gegeben ist, so sind damit auch die Bedingungen für eine Arbeitsteilung der Zellen bei der Entwicklung des Zellenstaates zugleich realisiert !). Die Leistung eines jeden vielzelligen Organismus ist Ausdruck der Tätigkeit seiner einzelnen Zellen. Sind die Zellen verschieden, so tragen sie auch in verschiedener Weise zur Gesamtleistung des ganzen Organismus bei. Daß dieses Zusammenarbeiten ein einheitliches und zweckmäßiges werden muß, macht das Prinzip der Selektion ver- ständlich, das alle organische Entwicklung, die phylogenetische in gleicher Weise wie die ontogenetische, beherrscht. Nur solche Zellen- staaten, in denen die aus der fortgesetzten Teilung der Eizelle hervor- ehenden Zellengenerationen den speziellen Verhältnissen, unter die sie treten, in zweckmäßiger Weise entsprechen, bleiben am Leben. Alle, bei denen das nicht der Fall wäre, müßten im Kampf ums Dasein durch Selektion zugrunde gehen. Die vollkommenste Zweck- mäßigkeit ist aber da, wo die Einzelleistungen der verschiedenen Zellen so ineinandergreifen, daß, obwohl jede Zelle oder Zellgruppe eine andere Leistung zu ihrer Spezialität entwickelt hat, dennoch diese Leistung allen übrigen Zellen, sei es mittelbar oder unmittelbar zu gute kommt, ja für alle übrigen notwendig ist. So wird die außer- ordentlich weitgehende Differenzierung und erstaunlich feine Arbeits- teilung der einzelnen Zellen und Gewebe im Zellenstaat nach bekannten Prinzipien verständlich. 1) Vergl. p. 669 u. ff. 712 Sechstes Kapitel. Infolge der weitgehenden Arbeitsteilung hat jede Zellenart, jedes Gewebe, jedes Organ im vielzelligen Staate eine ganz spezielle Auf- gabe, und diese Aufgabe bezeichnet die Physiologie seit alter Zeit als die „physiologische Funktion“ des betreffenden Zellenkomplexes. Alle elementaren Lebensäußerungen, die sich bei den niedrigsten Organismen in der einzelnen Zelle abspielen, können im vielzelligen Organismus als spezielle Funktionen in besonders hohem Grade von bestimmten Zell- gruppen entwickelt und in weitestgehender Weise besonderen Zwecken angepaßt werden. So entwickelt sich die Bewegung durch einseitige Ausbildung der Kontraktilität bei den höheren Tieren zur besonderen Funktion der Muskelzellen. So bildet sich die Perzeptionsfähigkeit für bestimmte Reizqualitäten in besonders hohem Grade und spezi- fischer Form als Funktion der Sinnesorgane aus. So steigert sich die Reizleitungsfähigkeit in erstaunlicher Weise zu der Funktion der Nerven. So erfährt der Vorgang der Sekretion in der Funktion der Drüsenzellen seine höchste Ausbildung etc. Das schließt aber nicht aus, daß jede auch noch so speziell differenzierte Zellenart alle elementaren Lebensäußerungen zeigt, nur wird die eine Lebensäußerung in besonders hohem Grade und spezifischer Art als Spezialität entwickelt. Je mehr aber die Spezialitäten der einzelnen Zellen und Zellgruppen allen Zellen zu gute kommen und die Lebensprozesse derselben unter- stützen, um so mehr entwickelt sich ein Zellenstaat, der, wie vor allem der Körper der höheren und höchsten Tiere, einen Mechanismus vorstellt, welcher trotz seines außerordentlich großen Umfanges und seiner ungeheuren Komplikation doch in allen seinen Teilen ein voll- kommen einheitliches Zusammenwirken zeigt. C. Zentralisation der Verwaltung. Verfolgen wir den letzten Punkt, die Entwicklung einer Einheit- lichkeit im Zusammenwirken der Zellen und Gewebe des Zellenstaates, noch etwas genauer, so finden wir, daß in dieser Beziehung außer dem Prinzip der Abhängigkeit und der Differenzierung der Zellen noch ein drittes Prinzip in Betracht kommt: das ist das Prinzip der Zentralisation der Verwaltung. Aber dieses Prinzip ist mit den beiden andern aufs engste verbunden, es ist, unter dem Gesichtspunkte der natürlichen Selektion betrachtet, gewissermaßen eine notwendige Folge der beiden ersteren Momente, die sich um so mehr geltend macht, je mehr diese sich entwickeln. Je weiter die Differenzierung der Zellen geht, je enger das Ab- hängigkeitsverhältnis der Zellen voneinander wird, um so mehr macht sich für ein einheitliches Zusammenwirken die Notwendigkeit geltend, daß auch entfernter gelegene Zellen, Gewebe, Organe des Zellen- staates miteinander in Beziehung stehen, ein Verhältnis, das sich durch Selektion in immer tiefer gehender Weise entwickeln muß, je kompli- zierter der Aufbau des Zellenstaates wird. Dadurch ist aber die Ent- wicklung einer Zentralisation im Zellenstaate bedingt. Der erste Schritt in der Richtung zur Zentralisation ist eigentlich schon durch die Arbeitsteilung getan, indem gewisse Zellgruppen oder Organe eine bestimmte Funktion für den gesamten Zellenstaat über- nehmen. So wird die betreffende Funktion für den ganzen Körper an einer Stelle zentralisiert, und es entstehen so viel Zentren, als sich Organe für bestimmte Funktionen differenzieren. Diesen ersten Vom Mechanismus des Lebens. 713 « Schritt im Sinne einer Zentralisation der Verwaltung finden wir bereits im Zellenstaate der Pflanze. Hier schon ist die Funktion der Stärke- synthese, von der die Ernährung der ganzen Pflanze abhängt, in den erünen Blattzellen zentralisiert. Hier sehen wir ferner die Funktion der Wasseraufnahme, ohne die kein Leben auf die Dauer existieren kann, in den Wurzeln allein lokalisiert, und so fort. Im tierischen Zellenstaate sind ganz entsprechende Lokalisationen vorhanden. So ist die Versorgung der einzelnen Gewebezellen mit Nahrung und Sauer- stoff bei den höheren Tieren zentralisiert in der Tätigkeit des Herzens, welches das ernährende und sauerstoffreiche Blut zu allen Zellen der verschiedenen Gewebe und Organe hintreibt. Im tierischen Zellenstaate ist aber auch der zweite wichtige Schritt zur Zentralisation getan, das ist die Verbindung aller einzelnen Funk- tionszentra oder Organe untereinander, und zwar durch Entstehung eines Zentralnervensystems mit allen seinen Leitungsbahnen. Dieses Prinzip ist es, das in seiner weiteren und weiteren Ausbildung in der Tierreihe schließlich zu jener weitgehenden Zentralisation führt, wie wir sie im komplizierten Zellenstaate der Wirbel- tiere und besonders des Menschen ent- wickelt finden. Im Zentralnervensystem haben wir ein Zentralorgan, das allein die Funktion ausübt, bestimmte Zellen, Gewebe, Organe mit der Außenwelt und unter- einander so zu verbinden, daß ein ge- ordnetes Zusammenwirken derselben mög- lich ist, und je weiter wir in der Tierreihe aufwärts steigen, um so mehr finden wir, wie das Zentralnervensystem im Sinne einer einheitlichen Verwaltung seine Herrschaft allmählich auf nahezu alle Zellen und Zellenkomplexe des Tierkörpers ausdehnt. Fig. 311. Schema des Blutkreislaufs beim Menschen. Zentralisation der Ernährung aller Zellen im Blutstrom. Die schwarze Hälfte ist das venöse, die helle das arterielle Gefäßsystem. Beide sind durch das Kapillarnetz der Lungen (oben) und der Gewebe (unten) miteinander verbunden. In den Kapillaren umspült der Blutstrom alle Gewebe, deren Zellen aus ihm ihre Nahrung nehmen und an ihn ihre unbrauchbaren Stoffe abgeben. Aus RANKE, Um uns das Prinzip, das der Mechanik des Zentralnervensystems zugrunde liegt, zu veranschaulichen, ist es am zweckmäßigsten, die einfachste Form seiner Funktion ins Auge zu fassen: den Mechanis- mus des Reflexes. Das Wesen des Reflexes besteht darin, daß ein den Reiz perzi- pierendes und ein den Reiz in zweckmäßiger Weise beantwortendes Element durch ein zentrales Verbindungsstück so untereinander in Be- ziehung gesetzt werden, daß jeder auf das reizperzipierende Element einwirkende Reiz zum Zentrum und von hier als Impuls für eine Reizreaktion zum ausführenden Element geleitet wird. Ein solcher 714 Sechstes Kapitel. Mechanismus, in dem jeder am sensiblen Ende eintretende Reiz mit maschinenartiger Sicherheit eine Reaktion am Erfolgsende hervor- ruft, ist ein „Reflexbogen“. Die primitivste Form eines Reflexbogens haben wir bereits bei einzelligen Organismen, deren Zellkörper einerseits sensible, ander- seits motorische Elemente besitzt und selbst als zentrales Ver- bindungsstück für beide fungiert. So stellt z. B. ein einzelnes Individuum von Poteriodendron einen solchen Reflexbogen ein- fachster Art vor (Fig. 312 7). Der auf einem Myoidfaden am Boden eines zierlichen Hüllkelches befestigte Zellkörper besitzt eine Geißel, die außerordentlich sensibel ist. Der geringste Reiz, der auf die Geißel einwirkt, wird zentripetal zum Zellkörper und von hier aus zentrifugal zum Myoidfaden geleitet, so daß der Einwirkung des Reizes auf die Geißel die Kontraktion des Myoid- fadens blitzschnell auf dem Fuße folgt. Ganz analog verhält sich z.B. Vorti- cella, nur daß hier die sensiblen Elemente in Ge- stalt der Wimpern des Peristomwimpergürtels in der Mehrzahl vorhanden sind. Dieselben Verhält- nisse haben wir ferner bei den sogenannten Neuro- muskelzellen der CGölente- I II raten (Fig. 312 II). Hier Fig. 312. Primitiver Reflexbogen an der besitzt ebenfalls eine Zelle en elle. 7 Eorerlodendzon, eins L’auf.der men Belle emren- agellatenzelle ın einer eichliormigen ulle au sibles Element und auf einem Myoidfaden befestigt. // Neuromuskel- 2 5 Fe zellen von einer Actinie.e // Nach HERTWIG. der andern eine kontraktile Faser, die sich kontrahiert, sobald das sensible End- organoid gereizt wird. Was aber in allen diesen Fällen an einer einzigen Zelle differenziert ist, das ist im Nervensystem der Tiere auf mehrere Zellen verteilt. Als Paradigma kann hier die einfachste Form des Reflexbogens gelten, die wir im Rückenmark der Wirbeltiere finden. Hier sind es mindestens zwei zentrale Zellen, die zwischen die peripherische Auf- nahmezelle und die peripherische Erfolgszelle eingeschaltet sind. Von der Haut entspringt eine sensible Nervenfaser, sei es frei, sei es aus einer Sinneszelle, und läuft zu einer Ganglienzelle in einem neben dem Rückenmark gelegenen Spinalganglion. Diese erste zentrale Ganglien- zelle (Fig. 313 A) sendet eine andere Nervenfaser ins Rückenmark hinein, wo sich dieselbe in einen aufsteigenden und einen absteigenden Ast mit zahllosen Nebenästen aufteilt. Irgendein solcher Ast setzt sich dann in Verbindung mit einer zweiten zentralen Ganglienzelle, mit einer motorischen Zelle im Rückenmark, die ihre Nervenfaser dann wieder aus dem Rückenmark heraus zu einer peripherisch ge- legenen Muskelzelle sendet. So wird also von der sensiblen Aus- gangsstation in der Haut der nervöse Impuls durch eine zentripetale Bahn übertragen zu einer Spinalganglienzelle und von dieser durch Vom Mechanismus des Lebens. 715 ihre intrazentrale Bahn zu einer motorischen Ganglienzelle des Rücken- marks, die ihn auf ihrer zentrifugalen Bahn nach der motorischen Endstation im Muskel weitersendet. Ebenso wie motorisch kann die Endzelle der zentrifugalen Bahn im gegebenen Falle aber auch sekretorisch oder lichtproduzierend oder auch elektrizitätsentwickelnd sein. So werden auf reflektorischem Wege durch die Ganglienzellen des Zentralnervensystems ganz ver- schiedene und weit auseinander liegende Teile des Zellenstaates mit- einander in Verbindung gesetzt und durch Impulse vom Zentralnerven- system her zur Tätigkeit veranlaßt. A B Fig. 313. Verbindungen der sensiblen und motorischen Bahn im Rücken- mark (Schema). A Einfachster Reflexbogen: rechts die birnförmige, bipolare Spinalganglienzelle, deren zentripetaler Achsenzylinder sich im Rückenmark in seine Kollateralen mit ihren Endverzweigungen auflöst. Die letzteren treten hier direkt an die Dendriten der motorischen Neurone der Vorderhörner des Rückenmarks und verbinden sich mit ihnen per contiguitatem. B Komplizierterer Reflexbogen: zwischen die Endausbreitungen des Spinalganglienneurons und die motorischen Neurone der Vorder- hörner des Rückenmarks ist noch ein Schaltneuron eingeschoben, dessen Achsenzylinder sich ebenfalls in zahlreiche Kollateralen mit ihren Endverzweigungen auflöst und seiner- seits erst durch die letzteren mit den motorischen Neuronen der Vorderhörner in Kontakt tritt. Die weiteren Momente, die beim Mechanismus des Zentralnerven- systems in Betracht kommen, sind, wenn wir vom Schema des Reflex- bogens ausgehen, sehr einfach. Sie bestehen lediglich darin, daß einerseits zwischen sensibles und motorisches Endorgan noch mehr als zwei zentrale Ganglienzellen verschiedener Funktion eingefügt sind (Fig. 313 B), und daß anderseits gewisse Ganglienzellen nicht bloß von einer einzigen Seite, von einer einzigen anderen Ganglienzelle her inner- viert werden, sondern von mehreren, unter Umständen von zahlreichen anderen Zellen. So treten die Ganglienzellen und weiter die einzelnen Ganglienzellensysteme vermittels ihrer Nervenfasern in überaus kom- 716 Sechstes Kapitel. plizierte und verwickelte Verbindungen untereinander, so daß ein scheinbar unentwirrbares Netzwerk von Ganglienzellen und ver- bindenden Nervenfasern entsteht, das aber in Wirklichkeit auf das allerfeinste geordnet ist und immer nur ein ganz bestimmtes und ein- heitliches Zusammenwirken der verschiedenen Teile des Organismus vermittelt, die es untereinander verbindet. Indem einerseits dem Zentralnervensystem von den Sinnesorganen her auf dem Wege der zentripetalen Nervenfasern die Vorgänge in der Außenwelt mitgeteilt werden und indem andererseits vom Zentralnervensystem her, dessen Ganglienzellen bei den Wirbeltieren hauptsächlich im Gehirn und Rückenmark, sowie im sympathischen Nervensystem gelegen sind, die verschiedensten Zellen, Gewebe, Organe des Zellenstaates in zweck- mäßiger Weise innerviert werden, entsteht ein zentrales Verwaltungs- system des ganzen Zellenstaates, das durch seine langen Leitungs- bahnen selbst die entferntesten Teile des Zellenstaates einer einheit- lichen Herrschaft unterwirft (Fig. 314). Man hat daher das Nervensystem sehr anschaulich mit einem Telegraphennetz verglichen, dessen Drähte die entferntesten Regionen eines Landes mit einer zentralen Ver- waltungsstelle in Verbindung setzen. In der Tat ist der Vergleich des Zentralnervensystems mit einer großen Telegraphenstation und der Nervenfasern mit den Telegraphendrähten in bezug auf das beiden zugrunde liegende Prinzip der Zentralisation ein sehr glücklicher. Allein man darf denn doch solche Vergleiche nicht zu weit ausspinnen und schließlich in den Nerven wirklich nur noch Leitungsdrähte für Elektrizität erblicken wie das früher vielfach geschehen ist. Die Nervenfasern sind in Wirklichkeit Ausläufer der Ganglienzellen und be- stehen ebenso aus lebendiger Substanz wie diese, d. h. sie haben einen Stoffwechsel, mit dem ihr Leben und daher ihre Funktion untrennbar verknüpft ist. Das geht ohne weiteres aus der Tatsache hervor, daß die Nervenfaser nach Abtrennung der Ganglienzelle, zu der sie gehört, als kernlose Protoplasmamasse unfehlbar zugrunde geht, und daß sie in ihrer Erregbarkeit wie Leitfähigkeit, wenn auch in geringerem Grade als die Ganglienzelle, von der Anwesenheit des Sauerstoffs abhängig ist. Die Art und Weise, wie anatomisch und funktionell die Elemente des Nervensystems untereinander verbunden sind, verdient noch unsere besondere Aufmerksamkeit, da die neueren Untersuchungen über den feineren Bau des Zentralnervensystems, welche durch die namentlich von GOLGI, Hıs, RETZIUS, KÖLLIKER, RAMÖN Y ÜCAJAL, WEIGERT, APÄTHY, NISSL, BETHE, HARRISON und anderen so außerordentlich hochentwickelte mikroskopische Technik ermöglicht worden sind, hier ganz eigentümliche, gesetzmäßige Verhältnisse aufgedeckt haben. Wir wissen jetzt, daß der elementare Baustein des Nervensystems das „Neuron“ ist, d. h. die Ganglienzelle mit allen ihren Fortsätzen. Von dem Zellkörper der Ganglienzelle gehen nämlich, je nach ihrer Funktion, mehr oder weniger zahlreiche Fortsätze aus, unter denen sich zwei verschiedene Arten voneinander unterscheiden. Die eine Art bildet ein mehr oder weniger reichverästeltes Gezweig und wird daher zweck- mäßig als „Dendriten“ bezeichnet (Fig. 316). Es sind die sogenannten „Protoplasmafortsätze“, wie sie die älteren Histologen nannten. Die andere Art bildet den „Nervenfortsatz*“ oder die „Nervenfortsätze“. Soviel wir bisher wissen, gibt es nach der Anzahl der letzteren nur zwei verschiedene Arten von Ganglienzellen, unipolare (früher multipolare wegen der zahlreichen Dendriten) mit nur einem Nervenfortsatz (Fig.313) Vom Mechanismus des Lebens. FIT und bipolare mit zwei Nervenfortsätzen (Fig. 313). Diese Nervenfort- sätze sind nichts anderes als die Anfänge der Nervenfasern, die bisweilen Ganglien- Dendriten Nerven- nee Jortsatz 7 E ae - Kollaterale B--- Markscheide 2 IE---—-- Achsenzylinder 1R-— -—— Neurilemm Fig. 314. Nervensystem des Men- Bess schen. Vom Gehirn und Rückenmark aus verlaufen die Nervenstränge, welche zentri- petale und zentrifugale Leitungsbahnen ent- halten, nach allen Körperteilen und ver- a Pi binden sie so durch das Zentralnervensystem TR zu einem einheitlichen Ganzen. Nach RANKE. ( 2 e . = nn 94rF Fig. 315. Schema eines Neuron. Fig. 315. a Freier Achsenzylinder; 5b Achsenzylinder, nur vom Neurilemm umgeben; c Achsenzylinder, nur vom Nervenmark umgeben; d Achsen- zylinder, vom Nervenmark und Neurilemm umgeben und durch RANVIERsche Schnür- ringe in Segmente geteilt. Aus STÖHR. 718 Sechstes Kapitel. eine Länge von 1 m und mehr erreichen. Durch die wichtigen Unter- suchungen der letzten Jahre, namentlich durch die Studien RAMÖN Y ÖAJALS und die Experimente HARRISONs über die Entwicklung des Neurons ist jetzt der alte Streit, ob die Nervenfaser eine Kette von selbständigen Zellen oder nur ein Fortsatz der Ganglienzelle sei, end- gültig in dem Sinne entschieden worden, daß die Nervenfasern tatsäch- lich besonders differenzierte Ausläufer der Ganglienzellen sind. Diese } \ IM > IE 2 ya Ga Br N, je ®. - ni - Dendriten Zellkörper Sen Nervenfortsatz Fig. 316. PURKINJEsche Ganglienzelle aus der grauen Rindenschicht des Gehirns mit reich entwickelten Dendriten. Aus STÖHR. Nervenfortsätze der Ganglienzellen nun sind es, welche die entferntesten Zellen des Tierkörpers mit den Ganglienzellen in leitende Verbindung setzen und die Impulse, die von den Ganglienzellen oder den Sinnes- apparaten der Peripherie ausgehen, den betreffenden Gewebezellen oder im gegebenen Falle anderen Ganglienzellen übermitteln. In seinem Ver- lauf vom Ganglienzellkörper bis zu der Zelle, die er innerviert, zeigt der Nervenfortsatz an verschiedenen Punkten aber ein sehr verschiedenes Verhalten. Er sendet hier und dort kollaterale Aeste ab und umgibt sich bald nach seinem Ursprung mit einer aus Myelin bestehenden Hülle, dem „Nervenmark“, die durch die sogenannten RANVIERSschen Schnürringe in einzelne Segmente geteilt ist und erst wieder kurz vor der Zelle verschwindet, die der Nerv versorgt. Das Nervenmark selbst, in dem der Nervenfortsatz als „Achsenzylinder“ verläuft, ist meist von einer membranartigen Scheide, dem „Neurilemm“, umgeben. Vom Mechanismus des Lebens. 719 Das Ende des Nerven schließlich zeigt je nach der Art der Zelle, die er innerviert, sehr mannigfache Differenzierungen. So bildet die Ganglienzelle mit ihren Dendriten und ihrem Nervenfortsatz den zellularen Baustein des ganzen Nervensystems, den WALDEYER in zweckmäßiger Weise mit dem kurzen Wort „Neuron“ bezeichnet hat (Fie. 315). Die Gesamtheit der zahllosen Neurone in ihrer Ver- bindung untereinander stellt das Nervensystem der Tiere vor, wenig- stens in seinen wesentlichen Bestandteilen. Alle anderen Bestandteile des Nervensystems sind Stütz- oder Schutzeinrichtungen für die Neurone. Nach den neueren Untersuchungen von GOLGI, RAMÖN Y CAJAL, VAN GEHUCHTEN, KÖLLIKER, RETZIUS, Hıs und anderen scheint die Verbindung der Neurone untereinander überall derartig zu sein, graue Rindensubstanz AN weiße Marksubstanz 9 Fig. 317. Schnitt durch die Kleinhirnrinde eines Kalbes. Die großen verästelten Zellen sind PURKINJEsche Ganglienzellen. Nach SCHIEFFERDECKER. daß die Dendriten der Ganglienzelle die Reizimpulse aufnehmen, während der Nervenfortsatz die Impulse von einer Ganglienzelle her auf die Dendriten einer anderen überträgt (Fig. 315). Nur die bipolaren Ganglienzellen, die in den zu beiden Seiten des Rücken- marks gelegenen Spinalganglien enthalten sind, besitzen in dem peripherischen Nervenfortsatz eine Bahn, die von der Peripherie her in Form von äußeren Reizen Impulse aufnimmt und auf ihren Ganglienzellkörper in zentripetaler Richtung überträgt, von wo der Impuls dann durch den zentralen Nervenfortsatz und seine Kollate- ralen mit ihren Endverzweigungen zu anderen Neuronen fortgepflanzt wird. Man kann aber auch hier das allgemeine Gesetz, daß der Nervenfortsatz der Ganglienzelle die Erregung stets in zentrifugaler, die Dendriten der Ganglienzelle stets in zentripetaler Richtung in 720 Sechstes Kapitel. bezug auf den Ganglienzellkörper fortleiten, als gültig ansehen, wenn man, wie das vielfach geschehen ist, den peripherischen Fortsatz der Spinalganglienzelle nur als einen ungeheuer langen Dendriten be- trachtet. Dann wäre die physiologische Richtung der Erregungs- leitung im Neuron überall der gleichen Gesetzmäßigkeit unterworfen. Die Dendriten der Ganglienzellen zeigen in manchen Fällen, wie z. B. in den PUrRKINngEschen Ganglienzellen der grauen Hirnrinde, eine ganz erstaunlich reiche Entwicklung (Fig. 316, 317), und bieten damit der Zuleitung der Erregung zum Ganglienzellkörper eine Fülle von Wegen. In bezug auf die Frage nach der Verbindungsweise der Neurone untereinander sind die Ansichten der Histologen noch geteilt. Während die einen sich durch die GoLGIsche Imprägnationsmethode überzeugt zu haben glauben, daß die Nervenendausbreitungen der einen Neurone mit den Dendriten resp. dem Ganglienzellkörper der anderen Neurone nur durch innigen Kontakt zusammenhängen, finden die anderen, daß eine volle Kontinuität besteht, die durch den Uebergang feinster fibrillärer Differenzierungen durch ganze Ketten von Neu- ronen hindurch vermittelt wird. Wie dem auch sein mag, jedenfalls muß eine Einrichtung vorhanden sein, welche die Kon- tinuität der physiologi- schen Erregungsleitung gestattet !). Die Art schließlich, wie die Nervenfasern in die peripherischen End- zellen übergehen, die sie innervieren, oder aus denen sie entspringen, ist eine sehr mannigfaltige. Die von der Peripherie Fig. 318. Fig. 319. des Körpers her zentri- Fig. 318. Riechzellen. A vom Froschh B vom Den a Menschen. Die schmalen, spindelförmigen Zellen sind en) nerven sowoll wie die Riechzellen, an die der Nerv tritt, die breiten, unten die zentrifugal nach der verzweigten sind epitheliale Stützzellen. Nach Frey. Peripherie hin leitenden Fig. 319. Motorische Nervenplatte im querge- (motorischen, sekretori- streiften Muskel, von der Seite gesehen. Aus LaAncG. schen, elektrischen etc.) Nerven sind je nach dem Organ, in dem sie endigen, verschieden. Unter den zentripetal leitenden, d.h. sensiblen Nerven, gibt es welche, die, ohne mit einer Sinneszelle in N 1% € on z N | 1) Ueber alle diese Verhältnisse, sowie über den heutigen Stand der Neuron- lehre überhaupt, gibt eine ausführliche Uebersicht MAx VERWORN: „Das Neuron in Anatomie und Physiologie“. Vortrag, gehalten in der gemeinschaftlichen Sitzung der medizinischen Hauptgruppe der 72. Vers. Deutscher Naturforscher und Aerzte zu Aachen 1900. In erweiterter Form herausgegeben bei Gustav Fischer, Jena 1900. — Ferner derselbe: „Die Vorgänge in den Elementen des Nervensystems“. In Zeitschr. f. allgem. Physiol., Bd. 6, 1907. — Ferner derselbe: „Bemerkungen zum heutigen Stand der Neuronlehre“. In Med. Klinik, Jhg. 1908. Vom Mechanismus des Lebens. 721 Verbindung zu stehen, frei in der Haut endigen. Die anderen ent- springen direkt von einer Sinneszelle, die speziell für die Aufnahme des Reizes entwickelt ist, wie z. B. die Stäbchen- und Zapfenzellen des Auges, die Härchenzellen des Ohres, die Riechzellen der Nase (Fig. 318) ete. Unter den zentrifugal leitenden Nervenendigungen sind die der motorischen Nerven in den quergestreiften Muskeln am meisten charakteristisch. Hier wird der Uebergang der Nervenfaser in die Muskelsubstanz durch ein besonders differenziertes Nervenendorgan, die „motorische Nervenendplatte“, vermittelt, eine platten- oder geweih- förmige Ausbreitung des Achsenzylinders im Sarkoplasma. Das letztere, das an dieser Stelle sehr körnig und durch viele Zellkerne charak- terisiert ist, wird vom Sarkolemm der Muskelfaser bedeckt, welches hier direkt in das Neurilemm des Nerven übergeht (Fig. 319). Viel weniger kompliziert scheint die Endigungsweise der zentrifugalen Nerven in anderen Organen, wie glatten Muskelzellen, Drüsenzellen, Leuchtzellen ete., zu sein, aber diese Verhältnisse bedürfen zum Teil noch genauerer Untersuchung. Durch die zentrale Verwaltung aller Funktionen des ganzen Or- ganismus im Nervensystem allein ist es möglich, daß der Zellenstaat des Tierkörpers sich in so weitgehender Weise differenzieren konnte. Nur wenn im geeigneten Augenblick dieses oder jenes Organ in Tätigkeit tritt oder in Ruhe bleibt, nur wenn in zweckmäßiger Weise dieses oder jenes Organ auf eine Einwirkung an dieser oder jener Körperstelle reagiert, nur wenn in feinster Harmonie diese oder jene Zellen, Gewebe, Organe zusammenwirken, kann sich ein so überaus komplizierter Mechanismus entwickeln, wie wir ihn im Zellenstaat der Wirbeltiere und vor allem des Menschen vor uns haben. le te ar > Hier mündet die allgemeine Physiologie in die spezielle Physiologie des tierischen und pflanzlichen Zellenstaates und seiner verschiedenen Entwicklungsformen ein. Es ist die Aufgabe der speziellen Physiologie, die besonderen Mechanismen, die sich aus dem Zusammenleben der Zellen im Zellenstaat ergeben, im einzelnen zu untersuchen und ihr Zusammenwirken zu erforschen. Das Gebiet der allgemeinen Physio- logie ist hier zu Ende, denn die allgemeine Physiologie reicht nur so weit, als es sich um den Mechanismus derjenigen Lebensäußerungen handelt, die allen Organismen gemeinsam sind. Objekt der allge- meinen Physiologie bleiben daher die elementaren Lebensäußerungen der Zelle; denn die Zelle ist dasjenige Bauelement, das aller leben- digen Substanz zugrunde liegt. Es gibt keine lebendige Sub- stanz, die nicht zu Zellen angeordnet wäre, und es gibt keine Funktion derlebendigen Substanz, die nicht im Lebensprozeß der Zelle ihren Ursprung hätte Wenn daher die Physiologie in der Erklärung der Lebens- äußerungen ihre Aufgabe sieht, so kann die allgemeine Physiologie nur eine Zellularphysiologie sein. Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 46 Sachverzeichnis. Seite A. ANINECHERIS FIR. ee ver Base 358 Abstammung der Organismen 145 | — der Organismen und anorga- nischen Körper ...... 363 Acanthochiasma, Chromidialapparat BERER Ba RETRERER 1 An CB AL 106 Acanthoeystis, Bewegung der Myo- pedien beLeun ee 42.0. & «296 Achseneinstellung bei Amöben . . 610 — bei einseitiger Reizung . 608 u. ff bei, Euuplena 1 1 95, 611 — bei Paramaecium . . . . 613, 616 — ber Polytoma' ec nm > 612 — bei Stentoren . ...... 616 Achsenzylinder der Nerven. ..... 718 Aectinosphaerium, Achsenstrahlen Er Er 141, 695 Anpassung anchemischeReize 42 chemische Reizung von. . . 432 Ermüdung bei. . ...... - 543 | — Lokomotion von. ..... 272 — mechanische Reizung von. . 417 mechanischer Tetanus bei. . 454 — polare Erregung durch den konstanten Strom . . . 491, 567 Adaptation, komplementäre chroma- Echo er m en: 222 ADAMKIEWICZsehe Probe . . 115 Adenin, als Nukleinbase a I A&robiose und Anaäerobiose .333 u. ff. Aethalium septieum, Chemotaxis EIER IT N: 507 — AHydrotaxis von... .... 507 — Phototaxis von ...... 529 — Rheotaxis von. ...... 524 — Thermotaxis von ..... 532 — Trophotaxis von......ı. 508 Aethalium septicum, Myxomyceten- plasmodium'.. 2 0. 20% 85 Aether als allgemeines Narcoticum 435 Agarieus, Lichtproduktion von - 298 Aktionsstrom des Muskels . .. . . 508 — des Nerven bei der Ermüdung 556 — Verhalten bei der Narkose. 562 Albumine, Charakteristik der... 118 Albuminoide, Charakteristik der. . 120 Seite Albumosen als Spaltungsprodukte der Eiweißkörper . . . . 113, 118 — als Verdauungsprodukte der Eiweißkörper. .... . 179, 193 Aldohexosen, chemische Charakte- HISlEslere nn EL 122 Algen bei hohen Temperaturen . . 346 Alizarinblau, Reduktion zu Ali- | BATINWEIRL sn up 469 ‚ Alkaloide als spezielle Narcotica 435 . , Alkohol als allgemeines Narkoticum 435 Alkohol, scheinbare Erregbarkeits- steigerung durch. .... . 562 Alkoholgärung ». 7... 0400208 123 ı Alo&@, Verhalten der Zellkerne beim Wachsen der Zellwände . . 628 ' Amblystoma, polare Wirkung des STLONIER EI ee 494 Ameisenstaat als Individuum 67 Aminosäuren, Ernährung der Tiere RT EN 169 — als Produkte der Eiweißver- dauung im. Darm. 221... 193 — in keimenden Pflanzen . . 192 — als Spaltungsprodukte der Ei- weißkörper! ”.. „= = mul 116 — Umwandlung zu Eiweiß in der Darmwand: |... u A. 193 Amoeba diffluens, Galvanotaxis TORI. en ee Ne 539 limax, Bewegung der. . . 278 — — chemische Reizung der. 431 — Galvanotaxis von 1 — — Umwandlung in Amoeba radiosann me 221, 410 — polypodia, Fortpflanzung durch. Teilung! ».u ar 20% 230 — princeps, Wirkung der RÖNT- GEN-Strahlen auf .... . 477 — proteus, polare Erregung durch den konstanten Strom 495 — — Galvanotaxis von a, — radiosa, Umwandlung in Amoeba limax 2 .,1.221,,410 — verrucosa, Galvanotaxis von 538 Amöbe, Vakuole und Fetttröpfehen : im Protoplasma der. . . 131, 200 Sachverzeichnis. Seite Amöbe, verschiedene Formenstadien beim Rriechen. .ı5 «*.ı... 87 — .EFortpllanzung . .-.. » . . 145 Amöben, Abhängigkeit der Proto- plasmabewegung von der Tem- PERBlB N en : 461 u. ff. — Abhängigkeit der Bewegung vom Sauerstoff . 2... . 696 — u Bewegung der. ... . ..... 278 — Einmeren’.. iu...’ 342, 345 — elektrische Reizung der 498 — Exkretion fester Stoffe bei 203, 644 — 5 1nNekrobiose”: 1. 2... 389 — künstliche Zerteilung der. . 355 — mechanischer Tetanus bei. . 453 — Nahrungsaufnahme der. 171, 644 —» Narköse der. 2 #0: „2 ..% 438 — Sauerstoffentziehung bei . . 366 — Schema der Achseneinstellung ba. EIS: 610 — Temperaturmaximum für. . 346 — Thermotaxis der . . . .532, 533 — Verhalten bei steigender Tem- peratune.n er... 2 566 — Verhalten kernloser Teilstücke bee Das 623, 626, 627 Amphistegina, polare Erregung durch den konstanten Strom 493 — Wirkungslosigkeit der Induk- tIOnsströmenibei en Sn. 503 Amphistegina Lessonii, Narkosevon 441 Amyloidmetamorphose ,„ Vorgänge ders MIR IEIEN. 394 Amyloidsubstanz als Glykopro- BEIN REN ES 119, 394 Anabiose der scheintoten Organismen 154 Ana@robe Organismen . . ..... 169 Anaesthetica, lähmende Wirkung BONES 435 Anastatiea, Quellungsbewegungen . 267 Anatomie, vergleichende als Stütze der Deszendenzlehre . . . . 375 ANAXIMANDER, Abstammungs- lehrasdes. +. ma 1. cu 8 Anima, bei FERNELIUS ..... 12 — im System STAHLS .... 16| IOEBOTEN EVA en. 139, 311 Anisotrope Substanz in den quer- gestreiften Muskelfasern 286 | Anodonta, Flimmerzellen von. . . 201 | Anophrys, Chemotaxis nach Sauer- BEOTEAD SER NE TR, 515°] — negative Chemotaxis gegen | Kochalar . . . . . 516 Anpassung als formveränderndes DErmontaen 5 . . zur 213 — anpBeize/” 7; 2.02 A — individuelle a N) —sshyletische 1%. 1... E 222 | Antitoxine als Sekrete. .... . 205 | Apfelsäure, chemotaktischeWirkung auf Farnspermatozoen . . . 514 N EA 396 Apposition, Wachstum der Kristalle durch a ir EP RE 147, 202 Apposition, Wachstum der Zell- membran durch . . Arbeitslähmung der Ganglienzellen 551 = ‚des. Muskelsi: .. a span: 548 — der Nervenfasern . ... . 554 — Symptome der. ...... 542 Arbeitsteilung der Zellen im Zellen- staat NT ER 709 Arcella, Chromidialapparat von. . 106 Arcella, Gasblasenentwicklung bei . Archaeopteryx maerurus . . 375 Areheus in der Lehre v. HELMoNnv’s 14 ATCHIEONIO er nee ee 358 Ar choplasma des Oentrosoms . . . 80 SRETSEUNG 2.2.02 ) ARISTOTELES als Polyhistor . . 9 — Teleologie bei. ...... 120 ARGENTIERT . ....... 0. 13 Aroideen, Wärmeproduktion in den Blütenkolben der 304 Artemia salina und Milhauseni 220,411 Arteriosklerose. ... ı.. in. 396 Asearis, Zellkern der Samenmutter- ZEILEHAVON IA A a a et. 104 -- Chromidialapparat der Mus- kelzellen'von*:) ru. 0. „..: 106 — Befruchtung des Eies von . 241 Asparaginsäure, als Produkt der Eiweißverdauung im Darm. 193 Assimilation, Begriff der . . . 176, 586 —. -tbei.der Pflanze: .....).... 189 — 2 Eniergetiksder 2 Baer 259 — Steigerung durch Nahrungs- zusuhr Berner ea 430 Verhältnis zur Dissimilation 589 Astronomische Kenntnis, Du Bois- REYMoNDs Begriff der... 34 Atavismustitan en Re er. 214 ARHENAHUS:-FEIMEN DASS 9 Atmosphäre, Zusammensetzung der 331 Atmosphärendruck, Wirkung der Veränderun des. EN > cd Atmung, Begriff der. ...... 169 — Lokalisation der A. in der Zeller a rin 2 635 — Mayows Lehre von der .. 15 ' Atmungslinien BEIJERINCKs . 333, 515 nAtomzerfalle) ae. 2.0... 0 108 Atrophie, Begriff dr ...... 381 — bei HongerdHmn all an. 381 — des Kaulquappenschwanzes . 382 — -senilar 2 a re aut 383, 399 — infolge Nichtgebrauch eines ÜFSANERE 3 U 383 — Verhältnis des Biotonus bei des ER E 590 Auferstehungspflanzen, Quellungs- bewegungen der... ... 267 Aurelia aurita, Einfrieren von. . . 341 Auslese, natürliche . ... . ... 2. 222 | Auslösung, Begriff der. ..... 418 Ausschleifen der Bahnen im Nerven- BYRDEIN. a @% u Aare NE 600, 603 AVIGENNA 1 2132.22 36 Ener 12 AVOGADROSs Gesetz . . . . . 135, 311 724 B. Baeillus anthraeis, Verhalten der Sporen beim Erhitzen butyrieus — Sporenbildung bei. . . prodigiosus, Wirkung des Lichtes auf proteus mirabilis, Wirkung des Lichtes auf subtilis, Verhalten der Sporen beim Erhitzen Bacterium ehlorinum, Phototaxis von coli, Wirkung des Lichtes auf laetieum lineola, Struktur von . . phosphorescens, Abkühlung von i _ Lichtproduktion von .. photometrieum, Phototaxis . — Wirkung des Lichtes auf termo, Vermehrung in einer Nährlösung aus Sumpfwasser, Struktur BACON VON VERULAM Bahnen, Ausschleifen der Balınung, Begriff der Bakterien, angebliche Urzeugung von Chemotaxis der Differenzierung der Kernsub- BLAnZ in. 2 1.5 KOlEuser in, ENGELMANNs Methode des Sauerstoffnachweises durch . lähmende Wirkung von dauernden Erschütterungen Scheintod und Anabiose der Struktur verschiedener B.. . ET N EB ar ke: da an He, m De! ade: Kara Dar Te [“kale-l RS 1,7 Bi ie! Mena vet aa ee Ein thermophile Tod infolge der Anhäufung von Stoffwechselprodukten . Bärentierchen, Eintrocknen und Anabiose der Barotaxis, positive und negative . BARTHEZ, Vitalist Basalkörperchen der Flimmerzellen Bätylien Baustoffwechsel BECQUEREL- Strahlen, Wirkung auf Organismen Bedingung, Begriff der Befruchtung, Begriff der Vorgang der Beggiatoa, Stoffwechsel der . BELL, CHARLES, Lehre von der F unktion der Rückenmarks- wurzeln Berberitze, Turgeszenzbewegungen der Staubfäden bei der. nm. nam a a m Diener a. edle Pan Bero&E ovata, Bewegung der Schwimmplättchen bei . 293, Betriebsstoffweehsel . ....: . . Bewegung als Kriterium des Lebens — als Eigenschaft der Organismen Temperaturminimum für 343, Ba, Seite 347 124 329 472 472 347 529 472 124 77 | 343 248 | 529 472 271 706 596 | 7 147 Sachverzeichnis. Seite Bewegung, verschiedene Formen der organischen ...... 263 =: IPEBSIVB. ..,. her Re 263 — durch Quellung ...... 266 — durch Turgeszenzveränderung 268 — durch Veränderung des spezi- fischen Gewichts. .... . 271 — durch Sekretion ..... . 274 — durch Wachstum. .... . 276 — durch Kontraktion... . . 276 —- -amöboide ik Ar 277 Theorie der amöboiden . 695 ff. Bewußtsein, Analyse ds. .... 46 — Du Boıs-REymonps Problem dessen 34 Bienen, Wärmeproduktion der 304 ' Bindesubstanzen als Sekrete . . 207 Bioblasten, ALTMANNs Begriff der 72 Biogen, Charakteristik des . ... . 578 — polymere Moleküle des . . . 649 Biogenhypothese, Grundgedanken ders 02 582 | Biomyxa vagans, ein Süßwasser- = ENEODOH, "E28 22 Be 88 Biotonus, Begriff ds ...... 589 BlureiproßeR. .. 27... 2:43. 2. 115 Blut, Strömung des . 263 Blutegel bei Sauerstoffentziehung 338 ' Blutkörperchen, rote, als kernlose Zallen oe RE a 75 ı Blutkreislauf im System GALENs. 11 — nach der Lehre SERVETOSs, COLOMBOS, CESALPINOsS und ABGENTIERE. . 2 ufeıkls 13 — Harveys Lehre des . . . 13 — Schema des Blutkreislaufes beim Menschen . ..... 713 BOERHAATE .. » 2... 2msn 16 BORDET, Begründer des Vitalismus 18 BORELLI, Lehre von der tieri- schen Bewegung . ..- .. . 15 Botrydium granulatum, Phototaxis der Schwärmer von .1.4..088 Branchipus stagnalis 220, 411 Brand, Seuchter '; .. 2 22 mue 386 —', trockenen. 2a NE 384 Brandblase, Kolliquation bei der . 386 Brillenschlange, Experiment der ägyptischen Sehlaupenbe- beschwörer mit der . . 607 BROWN, Irritabilitätslehre . . . 18 Butterfett, Verbrennungswärme 259 Buttersäuregärung = U 2 2er. 124 C. Cannabis sativa, Verhalten des Zell- kerns bei der Bildung eines Wurzelhaares von... . . 629 Carchesium, Verdauung bei . . . 176 — Wirkung des Lichtes auf . 474 — polypinum, mechanische Rei- ZUBE VOR ei 452, 705 Caulerpa als vielkernige Zelle 83 Cenogenie in der Keimesentwicklung 248 Sachverzeichnis. Seite BREOMBIE EHEN Aa ra N3 Chaetomorpha, Phototaxis der Schwärmer von . . Se 57) Chara, Elektrizitätsproduktion von 307 CHAUSSIER, Vitalist . . . 18 Chemolumineszenz 298 Chemometrie . . .. 589 Chemotaxis der Bakterien 511, 512 der Inrusorien var 510 ur T. — der Leukocyten . . . . 509, 510 — der Myxomyceten 507, 508 positive und negative . . . 507 — der Sperm atozoen . 513, 514, 518 Chilomonas paramaeeium, Photo- taxis von . Ark air, =.0:.520 Chitin, bei Insekten . . . 207 Chloralhydrat, als allgemeines Nar- coticum 435 Chloroform, als allgemeines "Nareo- ticum . 435 Chloroformtropfen, Aufnahme und Abgabe Beer! Stoffe durch : sh. 643 — Gehäusebau bean 647 Chlorophyll, Lähmung der Kohlen- säurespaltung im ..gl. 435 Chlorophylikörper als Bestandteile der grünen Pflanzenzelle . 93 — Mechanik der Kohlensäure- spaltung in den . . 681 — als Sitz der Kohlesäurespal- LET RR 261 Choler. abakterien, Wirkung der BEc- QUEREL-Strahlen auf ar) Choleraspirillen, Abkühlung von . 343 Choleravibrionen als fakultativ an- aörobe Organismen nk 333 — Wirkung des Lichtes auf 472 Cholestearin, als Eiweißderivat . 122 Chondrin im Knorpel 207 Chondrioderma difforme, Mysomy- cetenplasmodium en 09 Chorea beim Hunde 558 Chromatin ar 105 Chromidialapparat- 105 Chromidien . . 105 Chromosomen, Verhalten bei der Zellteilung .7. ... .. 232 Chymosin, Kaseingerinnung durch 205 Chytridien, Phototaxis der Schwär- mer von i 529 Clematis, Wachstum der Zellwandbei 202 Clepsidrina blattarum, eine Gre- garine . 92 Closterium, Browxsche Molekular- bewegung bei . 01.002264 — Phototaxis von 3 530 — Sekretionsbewegungen von 274 Coleps hirtus, Nahrungsaufnahme IE VE ne EBENE Du. TC CESALPINO ! BB Colpidium eolpoda beim Hunger . 324 Colpidium, Wirkung des Lichts auf 474 Colpodella pugnax, Nahrungsaus- wahl von EEE URLIH Ctenophoren, Schwimmplättchen ders, 2035 Cueurbita pepo, Verhalten der Zell- kerne bei der Bildung eines Wurzelhaares Berner Cysten als: Dauerzustände EUR Cyanhypothese, PFLÜGERS . . 366, Cyanradikal im lebendigen Eiweiß 365, Cyphoderia, Thigmotaxis von. . Cypripedium, Verhalten der Zell- kerne beim Wachstum der Zellwände . : Cytoden als kernlose Zellen. D. Dampfmaschine, Vergieich mit dem Organismus . . . Daphnia, Wirkung der RÖNTGEN- Strahlensaukrr un. tanz Darmepithelzellen, Nahrungsauf- nahmen rer er Darmsaite, Kontraktion durch Quel- lunetaeS + er DARW IN, Deszendenz- und Selek- tionslehre 8, DSL A Dattelkerne, Abhängigkeit der Kei- mung von der Temperatur . Dauerkontraktion, tetanische . . . Degeneration, amyloide ..... — fettige £ — hyaline . — + Schleimiger. nano — wachsartige . ? Dekrement, bei der Erregungsleitung Dendriten, angebliche Plastizität der — Entwicklung der. . . — moniliforme Zustände — der Neurone ; 441, Denken, Entwicklung des logischen DESCARTES, Erkenntnistheorie Desmidiaceen, Phototaxis der Deszendenz, Entdeckung der D. durch LAMARCK . 28, Deszendenzlehre, bei ANAXIMAN- DER, HERAKLIT und EMPE- DOKLES Begründung durch DARWIN 28, 222, Diabetes mellitus, Entstehung von Zucker aus Eiweiß beim . Dialysator nee lee Dialyseflasche . . Diastase, Spaltung der Stärke durch Diatomeen, Bewegungen . . E Phototaxis der ; Stillstand der Bewegungen bei Erschütterungen . Wirkung des Lichtes auf. . Didymium, Abhängigkeit der Be- wegung vom Sauerstoff Differenzierung, Mechanismus der D. bei der Entwicklung der Zellen im Zellenstaat . er »E seiner 125 Seite 706 629 330 580 580 520 628 78 426 441 599 441 716 35 14 530 373. 373 726 Differenztheorie, HERMANNS. .. Difflugia,Ditferenzierung von zweier- lei Kernen Erregungsleitung bei . . . . Gasblasenentwicklung Gehäusebau bei . . . . Konjugation bei mechanische Reizung von Steigen und Sinken der . . Verhalten kernloser Teil- stücke von 628, Wirkungder RÖNTGEN-Strah- len auf Buzz une an sich“, Problem des. . . wie Du sAatiim Biere au) Kat Disaecharide, chemische Charakte- ristik der Dissimilation, Begriff der Energetik der Verhältnis zur Assimilation Dissoziation der Lösungen . . . . DOEBEREINERsches Feuerzeug, Wassersynthese beim. . . . Dorataspis, Kieselskelett von . 207, Drosera, peptonisierendes Enzym bei Druck, mechanischer, als Lebens- bedingung osmotischer . . — als Lebensbedingung — bei Landorganismen — bei Wassertieren Wirkung des erhöhten . — des verminderten . . . . Drueklähmung der Nerven. . . . Dualismus von Leib und Seele . . DUMAS, Vitalist Dytiseus marginalis, Verhalten der ee Kerne in den Eizellen von . E. Eibildung bei Insekten und See- BEE EST EL SER Eier als weibliche Geschlechtszellen Einfrieren, lebendiger Tiere Einschaehtelungstheorie der Ent- wicklung Eisenbakterien, Stoffwechsel der . Eiweiß, ausschließliche Ernährung mit — passives Zersetzung im Zellstoffwechsel zirkulierendes Eiweißkörper, als allgemeine Nah- rung der Tiere Aminosäuren als Spaltungs- produkte der re Bau des Moleküls er Feine Herde ar ae ee NEE u Dam ee De . 135, 269, — der Körperflüssigkeiten 348, ; lebendiges und totes 364, 365, 5 Seite 313 105 427 140 646 240 449 272 699 477 Sachverzeichnis. Seite Eiweißkörper, Einteilung der . 117, 121 — als Energiequelle der Muskel- arbeits) 2 6 9n2 ABER: 687 — Größe des Moleküls der . 112 — hydrolytische Spaltungspro- dukte Alena una 113, 118, 121 — Koagulation der. ..... 114 — als kolloidale Stoffe... . 112 — Kristallisation der ..... 114 —.(Baliye. + ..KaNnin et, 118, 121 _ Pe Banı'der.-.. 2 elrr 113 — Reaktionen der ...... 115 — alsspezifische Bestandteile der Organismen + '.7..2).% 149, 576 — Verbrennungswärme der . . 259 Eiweißverdauung im Darm . .. 19 ı Eiweißsynthese in der Pflanze ... 192 Eiweißmetamorphose, Stoffe der TERTERRIVENI Int 200,7 Dr al 121 |. Hizelle, Größe der 2 „u 0027; 91 — Befruchtung der. ... . 241 ff. — Reifung dee....:..... 238 — Teilung der... 234 ff. | Eizellen, Formen dee ...... 237 Basti 7 ru OR AT 120 Elater, Lichtproduktion von . . . 298 Elateren der Sporen des Schachtel- Balance 268 Elektrizität als äußere Todesbedin- PUUR = 2 ak EN 398 — Produktion bei den Orga- | DIBMeB, , Aw ee 307 Elektroden, unpolarisierbare 315, 483, 536 Elektronen 4.2 27.22 ea 43 Elekipstenusn.: „eis 22a 497 Element, galvanisches .... . . 310 — thermoelektrisches . . . . . 304 Elementarorganismus, ALTMANNS, Bepnifr des 7.1...28. „wen 72 —. ‚die Zelle als: 032 1. 69 Elemente, konstante galvanische 482 — natürliches System der che- mischen, u. Jr. 1ueaa cat Re 107 —- organische: re. e ‚Zee 107 — Umwandlung dee ... . . 108 — verschiedene Formen der gal- vanischen. = % 00% 480, 481 Embryologie als Stütze der Des- zendenzlehre:i..1.... 2 wre 375 EMPEDOKLES, Deszendenz- und Selektionslehre des. . . . - Empfindung als Urform der Erfah- TED in ee A En Spaltung des 3-Methyl- glykosids: deriz ar. 186 Endoplasma der Amöbenzelle 276 ı Energie, Kreislauf der E. in der or- ganischen Welt. . 679 u. ff. — spezifische E. der lebendigen Substanz’. «224g: 2 wen ln — Gesetz von der Erhaltung der 27, 251, 307 — Lehre von der spezifischen E. der Sinnessubstanzen .. 21 — ‚ Bepriib.der gr. en ee: 249 Sachverzeichnis. Seite Energie der Bewegung und der Lage 249 — kinetische und potentielle. . 249 — verschiedene Formen der . . 250 Energiegleiehgewicht . . . . . . 254 Entartungsreaktion der Muskeln . 564 Entelechie des ARISTOTELES . .. 52 Entladung, Wirkung der stillen Blektnkehen . 0. Sin... a. 191 Entwicklung, Ableitung aus dem Stoffwechsel.’ .%..2..0.: 669 — Ableitung aus dem Wachs- DES a retre 651 u. ff. — als Epigenese ....... 669 = Mechanik der. =... „nel « 666 — als Eigenschaft der Orga- TE . 146 — des Organismus aus der Ei- ER BRAIN TER OF E ERE e 244 — bei einzelligen Organismen . 244 — ontogenetische . . ... . 225 — phylogenetische . . . . . . ‚212 — von Coceidium Schubergi 245 Entwieklungskreis der Amöben 245 — von Coceidium Schubergi . . 245 Enzyme, Begriff der. .... 178, 182 — als albuminoide Elnpaz en 121 — Sekretion der . 209 — synthetisierende . .. . . . 187 — Wirkungsweise der 186 Epidermiszelle vom Regenwurm mit Schaumstruktur!.... .)..... 99 Epidermiszellen vom Frosch . 88 Epigenesis, WoLFFs Lehre von der 17, 668 ° Epistylis, Wirkung des Lichtes auf 474 BEASISTRATUS.. . - ....8.. i) Erbsen, Wärmeproduktion beim HIERBEI en ers 304 Erepsin, Spaltung der Sebione in Aminosäuren durch 198, Erfahrung, Begriff der... .. . 35 Ergograph, MO8808 . 2... 544 Erholung, Bedingungen der 551 — Deutung des Vorganges 585 Erkennen, Begriff ds... ... 39 — Du Boıs-Reymonps Defi- 1 10) ANA HE EI BETT ENSE 32 Erkenntnistheorie bei DESCARTES 14 Erklärung, Begriff der... .... 6 Ermüdung der Ganglienzellen 551 Side Miskele 2.0: 544 — der Nervenfaser ...... 554 — Symptomenkomplex bei der 549 — im engeren Sinne ..... 557 Ermüdungskurve . ..... 544 u. ff. Ermüdungsstoffe ET E DER 550, 586 Erodium eieutarium, Quellungsbe-" wegungen der Samen von 266 Erregbarkeit, Abhängigkeit vom Wassergehalt. "1.20. 0% 138 Erregbarkeit, Abhängigkeit der E. vom Sauerstoff ...... 584 — Begriff der Alert 417 Erregbarkeftsherabsetzung, Ana- Iyaemdeniäne vi. san N ars 603 727 E Seite Erregbarkeitssteigerung, Analyse dert N a 603 — Prinzip der scheinbaren 562 u. ff. Erregung, Begriff der ...... 419 — dissimilatorische, assimilatori- sche und totale . . . . 591, 592 Erreguug (iesetz der polaren 490 and Lähmung als primäre Heizuirmpen NT LE 569 Erregungsleitung, Geschwindigkeit In. Nerven; = 4. va 425 — „ber Diffligie 04 Zst 427 — ‚bei Orbitolitee".2.2 22, 0% 417 Erregungsstadium bei der Narkose 438 Erschöpfung, Begriff der. .... 557 Erstiekung des Nerven ..... 353 — der einzelligen Organismen . 336 — „Bympfome der... .ı. 2. 27. 334 — der Warmblüter und Kalt- Dlateria, ul Aare ea 334 — des Zentralnervensystems 334 Erstiekungskrämpfe . . . .... 334 Erstiekungsstofle ........ 586 Essigsäureäthylester, Gleichge- wichtszustand bei der Bilding BES ER 594, 595 Esterbildung als Beispiel chemi- scher Gleichgewichtszustände 594 Euastrum, eine Desmidiacee . 89 Eucorallium rubrum als Indivi- duum höherer Ordnung 3uu.6% Eudorina elegans, eine Flagellaten- kolonie 2 nn. . 2.0: 69, 247, 705 Euglena, Schema der Achsenein- stellungen ae 611 Euglena viridis, eine Geißelinfu- Borienzeller a a 90 EUKLES, der Läufer von Marathon 542 EUSTACHIUS. . 2. -.,: 12 1 a. 13 Exkrete, ‚Begriff der... 1... .... ; 200 Expansion, Bewegungen durch . . 276 Expansionsphase, Charakteristik 276, 289 Exoplasma der Amöbenzelle ... . 278 Exrirastrom 2 2 na sahne 487 Exzitationsstadium bei der Narkose 438 F. Fabrieia, Teilung des Eies bei . . 233 Kakire; indischer :2.2. sau. 2.2 151 FALOPPIA „SH re 13 Federmyographion Du Boıs- Rey- MONDES RT IE 425 Fermente als albuminoide Körper 120 — ., anorganische, sa. AL 184 — Begriff der gelösten . . . 178 Fermentum, Lehre v. HELMONTS VOM! & me Ep DER ER 14 | KRERNERIUB... 12% 2a 12 Ferroeyankaliumprobe der Eiweiß- Körpek 1 a 115 Fett, chemische Reaktion 126 — chemische Zusammensetzung 125 — Frage der Entstehung aus Eiweiß 197 ale voheihe + a Frei u 128 Fett, Lokalisation in den Zellen Synthese durch Steapsin . . Verdauung Fettinfiltration Fettleibigkeit Fettmetamorphose, Tatsachen der . Fettresorption im Darm Fettsäuren, Formel der Fetttröpfehen, mikroskopische Be- trachtung Fibrin, Verdauung durch Pepsin . Fische, elektrische halbelektrische oder pseudo- elektrische Temperaturminimum für . . Fischembryonen, Galvanotaxis der Fleisehfresser und Pflanzenfresser im Hunger im Stoffhaushalt . Fliegenmade, Metamorphose der . an bewegung, Arbeıtsleistung er Er OS S EE Er ren Be ei ee Lähmung durch den elektri- Behen Strom |... 1.4 = 504 Metachronie der 293, 705 — ZN arEnse der. 5 cn 438 | — Verbreitung der... .... 289 | — Wirkung des konstanten Btromssaufidien.. 5. 494 Flimmerepithelzellen aus dem Nebenhoden des Menschen . 290 ERDE der a en ren Baal 90 Flimmerhaare, Verhalten isolierter 291 Flimmerzellen aus dem Darm von IAnElanle.. Inte suR NE 291 — bei Sauerstoffentziehung . . 338 Flimmerzellen, schleimig metamor- phosierte .. a. wel. 394 | Formaldehyd als Zwischenprodukt bei der Stärkebildung 191 — Oxydation mit Salpetersäure 39 Formbildung, bestimmende Faktoren der organischen . . . . 212, 213 — Mechanik der F. der Zelle . 649 — der Gasflamme ...... 674 Forsehung, Aufgabe der wissen- Behaftliehen „27. Wr 36 Fortpflanzung, Ableitung als Folge des: Waehstums . .’.. -*. ı. 52 — als Eigenschaft der Orga- BIRNEN MER LE STE RL 144 — als Wachstumsvorgang.. . . 226 — geschlechtliche und unge- sehlechtliehe N. mc 8 227 Fortschritt in der organischen Ent- wicklung II. Wir 208 378 Frosch, Reflextonus beim . .. . 423 Frösche, Einfrieren der . . . . 342, 343 Frochei, Teilung des. ...... 233 Froschlarven, Atrophie des Schwan- zes bau. den Ku ren 382 —. ‚Galvanotaxis. der. ..... 536 Früchte, springende. . . . . 276, 684 Pruchtzueker... 2 0. ai wauaR 123 167,6 Seite 129 188 182 391 391 390 145 125 296 Einfluß der Temperatur auf 462u. ff. | ' Gärungsröhrchen ' Gedanken Sachverzeichnis. m PS) Hoi ol GEN Fruktose, Formel der Funktionsweehsel we ET Fe Galaktose, Formel der. .... . GALENUS, System des ‚20 GALVANI, Entdecker der tierischen Elektrizität Galvanismus, Entdeckung des Galvanometer Galvanstaxis der Amöben ! der Froschlarven und Fisch- embryonen von Halteria und Pleuronema kathodische und anodısche von Opalina von Oxytricha und Stylonychia der Paramäcien #536; der Pflanzen I. von Polytoma uvella . von Spirostomum ambiguum Theorie der transversale Ganglienzelle, Form der PURKINJEsche Ganglienzellen, angebliche Plasti- zität der Enlwiecine der. 4.123.099 mikroskopische Veränderung bei der Ermüdung. . . 553, Narkose'der’ .! 2 ea als Stationen des Zentral- nervensystems unipolare und bipolare.. . . verkalkte Wirkungen osmotischer Reize auf i I: Gangrän Gase, der lebendigen Substanz Gärung, alkoholische Buttersäure- Milchsäure- . A De ee Le PC 2, Be Fe eh A a BI Waete LE N a Gasflamme, Formdifferenzierung der Gaskammer, ENGELMANNsche 335, Gedächtnis, zellulare Grundlage des als Vorstellungsasso- ziationen Gefrierpunktserniedrigung, hängigkeit vom osmotischen Druck Gehäusebau bei Difflugien . . — bei Chloroform- und Oel- tropfen, . .. .. . We nerEuu Geißelzellen Gelatinelösung, gefroren und auf- getaut Generatio spontanea oder aequivoca Geotaxis, positive, negative und transversale Gesehlechtsorgane, Atrophie der . Gesehwülste, Zellvermehrung bei . Gesetz, OHMsches der polaren Erregung a a re e Kia V's = Fame u. ff. Sachverzeichnis. 36 ı Seite kesetz AVOGADROS j 135, 311 — vonder Erhaltung der Energie 27, 251,307 Gesetzmäßigkeit, Begriff der. . . Gewebe, (Gewichtsabnahme beim Eionsenseals hd ern. 326 —- als Individualitätsstufe.. . . 69 Gewicht, Abnahme der Gewebe beim rungen ee nun 326 — Bewegung durch Veränderung des spezifischen A NR Re 271 — spezifisches, der lebendigen SDRBlanzı en 139 — von Paramaecium aurelia . 139 Gewöhnung an Reize ...... 421 Gilte, als äußere Todesbedingungen 397 GIRTANNER, Entdeckung der Sauerstoffatmung i 19 Gleichgewiehtszustand, chemischer 594 Gleichwarme Tiere . 2 2 22. . 261 GLISSON, Kontraktilitätslehre von 15, 18 Globuline, Charakteristik der. 118 Glukose, Formel der... .... 123 Glykogen als Polysaccharid 125 — Bildung aus Eiwaß .. 198, 577 Glykolaldehyd als Zwischenprodukt bei der Stärkebildung . . . 191 Glykoproteide, Charakteristik ‘der. 119 Glyzerin chemische Zusammen- BELZEN ER, re 125 Glyzylalanin, Synthese des . 17 Glyzylelyzin, Synthese des . 117 Granula, als angebliche Elementar- orpanismehrr.. or Ye. 72 — als Protoplasmaeinlagerungen 96 — in den Schaumwänden des Erotoplasmas =... 2 mw. 100 Gregarinen, Bewegungen der. . . 275 Grundgesetz, biogenetisches . . 248, 376 Gıanin als Bxkret =... .... 211 — als Nukleinbase . . 121, 197 Guaninkalk als Kristallplättchen i im Protoplasma .. 211 Gymnotus, elektrisches Organ von 317 H. Haematococeus, Phototaxis der Schwärmsporen von . . 529 Hämoglobin als Eiweißverbindung 119 - empirische Formel des 112 — Eristalle von u... ea 114 Haje, Experimente ägyptischer Sc hlangenbeschwörer mit der 607 HALLER, Elementa Physiologiae Corporis Humanızı Okuzz 16 — JIhrritabilitätslehre von 17 — Präformationslehre von. .. 17 Halteria, Galvanotaxis von 538 Hammer, NEEFscher oder WAGNER- BEHER een a 487 HAMMEN, LUDWIG VAN ... 2 Harnsäure als stickstoffbaltiges Zersetzungsprodukt des Ei- BENDER ee ea: 121 ' Homoiotherme Tiere Harnsäure, Bildung im Tierkörper chemische Natur der. . Harnstoff als stickstoffhaltiges Zer- setzungsprodukt des Eiweißes — Ausscheidung durch die Nierenzellen:.. u 1276%.m08: — Bildung im Tierkörper . . . — WÖHLERs Synthese des Harnwasser, Ausscheidung durch die Glomeruli HARVEY, Entdeckung des Blut- kreislaufes Generationslehre von. . . Hauptsatz, erster und zweiter der Wärmelehre . erster zweiter Hefemaltase, synthetisierende Wir- kung der Hefezellen als Gärungserreger Kernapparat der mikroskopische Betrachtung der Preßsaft der unter hohem Druck . . Wärmeproduktion beim Gä- rungsvorgang Zymase Heliotropismus, identisch mit Photo- taxis HELMONT, VAN, Lehre vom Ar- cheus Hemmung, Begriff der Hemmungsprozesse an der Anode De re Er ne a nen ut Koeln me De OL en Wr Dr MUCH Ol Od Da et Fo 07 ae) ae An ie 123, 49 3068 beim Muskel und Nerven 504, 608 Hemmungsvorgänge, Theorie der 604, 605 HERAKLIT, Lehre vom Kampf ums Dasein HEROPHILUS Herz, Arbeitsleistung Herzmuskel, Ermüdung des rt OT Herzmuskelzellen, Fettmetamor- Rhosender RI. mn an: Heubazillus, Abhängigkeit des Wachstums von der Tempe- TAU E re — Verhalten der Sporen beim Erhitzen iger ar. tee Hexamitus inflatus, ein Geißel- Infusorium® .2,.0.0.42. 0008. Hexosenn acer HIPPOKRATES . . ... Hippursäure als stickstoffhaltiges Zersetzungsprodukt des Ei- weıßes e Bildung im Tierkörper . Synthese mit Nierenbrei . Histolyse der Muskelfasern.. . . . HOFFMANN, mechanisch-dynami- sches System Homuneulus der mittelalterlichen Alchymisten Huhn, sogenannte Hypnose beim . 261, 121 196 197 382 16 ' Holothurien, Schleimbildung bei 204, 393 303 606 730 Seite HUMBOLDT, ALEXANDER VON 10 Hunger, Stoffverbrauch im A225! — Muskelarbeit beim... . . 689 Hongerkünstler. sm: 27.1211, 325 Hyalopus Dujardini, Entstehung der BürtscHLischen Waben- struktur bei. LI, 389 | — körniger Zerfall . ...... 387 Hypnose, sogenannte tierische 422, 606 Hypoxanthin als Nukleinbase 121, 197 Hydra, künstliche Teilung der .. 65 I. Iatrochemische Schule . . . 15 latromechanische Schule 15 Ignorabimus, Du Boıs-REyMoNnDs 535 Innmiit sa er 424 Impatiens, springende Früchte von 276 Inaktivitätsatrophie, Begriff der 383, 416, 564 Tallinn? KUREN 323 Indigblau, Reduktion zu Indigweiß 185 Individualität, verschiedene Stufen der organischen . .... 68, 71 Individuum, Begriff des organischen 65 — reelles und virtuelles .... 7Lı Induktionsstrom, Entstehung und Gesbize des... u Zu. 486 Infektionskrankheiten, Bedeutung der Leukocytenchemotaxis bei 508 — Immunität gegen ..... 23 — Spmptomenkomplex bei 550 Infusorien,angebliche Urzeugung von 358 — chemische Reizung der 432 — ciliate und flagellate . . .. 0 — Entdeckung der. ..... 15 — Temperaturminimum für - . 346 INGENHOUSS, Lehre von der Kohlensäureassimilation 19 Inotagmen ENGELMANNS 694 Intensitätsfaktor der Energie 253 Interferenz von Reizwirkungen 602 Interzellularbrücken von Proto- DIASmR ae AR I 56 Inter zellularsubstanz, Bildung der 202 Intussuszeption, Wachstum der lebendigen Substanz durch . 1% — Wachstum der Zellulosemem- branzdurceh? 7. DE 202 INVorgasare er nenne ee 124 Jodprobe der Eiweißkörper . . ab Jodwasserstoff, Synthese des . . . 257 Ionen, positive und negative all — Wanderungsgeschwindigkeit . 312 Irritabilität als allgemeine Eigen- schaft der Organismen . . . 148 — ‚Bepriff der. Fr Im 2% 417 Irritabilitätslehre HALLERSs . . 17 Isolaktose, Synthese durch Kefir- laktase MEN: 188 Isomaltose, Synthese durch Hefe- maltase Sa Hl 188 Isotrope Substanz in der querge- streiften Muskelfaser . .. 286 Sachverzeichnis. K. Kalk, phosphorsaurer im Knochen Kalkgehäuse der Foraminiferen — Regeneration ds ..... Kalkkriställehen aus den Kalk- säckchen des Frosches . Kalknadeln, Bildung der K. bei Schwämmen und Echinoder- TDEN:% 5 Me re 203, Kalksäckehen des Frosches . R Kalkschwamm, Eizelle eines . . . Kalkskelette, Bildung der... . Kalorie, Begriff der... . 254, Kalorimeter ealiim, BEch Kaltblüter. ».:72 u sch 261, Baltesthte TANTE | Kampf ums Dasem .:: . .2 .% — — bei HERAKLIT und Enm- PEDOBIES ENTER USE Kapazitätsfaktor der Energie . kapillarelektrometer . ..... Kapillarkreislauf in der Schwimm- haut des Frosche . . . . . Kasein als Pseudonukleoproteid Katalaser WS IR RER 186, Katalysator, Begriff des . . . — der Bezale- Zr N Ir Katalyse, Begriff der. . ..... — Lähmung der... wu 1.20% SKallonen?.1n2.2.0.0:2,2,800 139, Kausalbestitt 22, n We Kausalismus, Begriff des... . . Kefirlaktase, synthetisierende Wir- kung Uer ; „5 Rune, Keimbezirke, Theorie von den or- ganbildenden . ...... Keimesentwicklung als Stütze der Deszendenzlehre . . . . . . —. ‚Begriff. der 2. 2 von Korallii., 20. ae Kernbestandteile, Differenzierung Br N A Kernkörperchen. .. „mW 8% Kernmeinhrane ve. en 104, Kernsaft als Grundsubstanz des Zell- KernB.% We ee Kernstoffe, Begriff der... .... Kernsubstanz, chromatische und achromatischer Saw: Ketohexosen, chemische Charakte- tintikiders. cn Meer er Kleisterälchen, Scheintod und Ana- biose'den HL NS Knochen, Bildung der . 203, Knorpel, Bildung des 203, kKnospenbildung, Vorgang der. . Knospung als Form der Zellteilung Koagulationsnekrose, Charakteri- stukader na RA Koechsalzlösungen, physiologische . Kohlehydrate als Energiequelle der Mtskelarbeitäs mas: — chemische Charakteristik der — Entstehung aus Eıweiß : — Lokalisation der K.in der Zelle Seite 122 155 207 207 228 234 385 349 687 122 198 129 Sachverzeichnis. Seite Kohlensäure als Exkret . .. . . 208 — alsstickstofffreies Endprodukt der Eiweißzersetzung . . 122, 199 — Ausscheidung durch die Lungenepithelzellen 201 Spaltung in der Pflanze 189, 260, 470, 681 Kollagen als organische Grundsub- stanz der Knochen. . . . . 120 — mm Rnoehen‘. 2 alas. 207 Kolliquation, Charakteristik der 385 Kolonie als höchste Individualitäts- Be a Ser 68 Konehinlin. 2 2.2 u 120 Konditionismus, Begriff des 37 — Hauptsätze da . ..... 38 Konjugation, Vorgang der . . 239, 404 Konsistenz der lebendigen Sub- BERNZI a 129, 277 Kontinuität des Lebens 362, 406 Kontraktilität als Eigenschaft der" lebendigen Substanz . . . . 277 Kontraktion, Bewegungen durch . 276 Kontraktionsbewegungen, Problem GEIEaEn EONr : 59 Kontraktionssphäre, Charakteristik RE RL ONE 276, 188 Kontraktionstheorie . . . - - 692’u. ff. Kontraktionswelle . ...... 289 Kontraktur des ermüdeten Muskels 548 Körnehenströmung des Protoplas- mas. ea her 263, 280 Kornein ar m ar A: 120 Korrelation zwischen Geschlechts- und anderen Organen . . . 216 zwischen den Zellbestandteilen 639 Kosmozo@n, RICHTERS Lehre von den 360 Kostmaß für den Menschen nach VoIr 260, 322, 429 Kieselkörper, Bildung bei Schwäm- men 203 Kieselsäureschalen der Diatomeen 207 A anne weh heat ie Kieselskelette, Bildung der 675 = deralkadıolarenwsme re 207 Kraft... Berritf dere ! 2.20% 249 Kraftlinien, magnetische, Vergleich mit Zellteilungsfiguren . A 651) Kreatin und Kreatinin als Stoff- wechselprodukt des Muskels 121, 197 ‚Entstehung und Schick- gal im: Tierkörper . . . . . 197 Krebsscheren, Eigenschaften des Oeffnungs- und des Schließ- nnakelai) un. rel url; 606 Kreuzbefruchtung von Sphaer- echinus granularis und Echi- nus microtuberculatus . 621 u. ff. Kristalle, flüssige... ., 2% un 672 — Vergleich der Organismen N 2 EEE m 143 Küchensehaben, Thigmotaxis der Spermatozoen der . .. . - 521 Kurve, myographische . . . . . . 426 — der Temperaturwirkung 466 L. Labferment, Kaseingerinnung durch BaceasB a N ID. Lachse, Verhalten beim Hunger Laerymaria olor, Bewegung kern- loser Teilstücke von . . . Lagekorrektion, Mechanismus der Lähmung, Begriff der ...... dissimilatorische, assimilato- rische und totale. . . . 591, und Erregung als primäre Reizwirkungen. ...... Laktase LaktoRBi gr Er Sn er ER Lampyris,. Lichtproduktion von LAPLACEscher Geist, Du Bois- REYMONDSs Fiktion des ö LAVOISIER, Entdeckung des SAUerstole, AMY ren Lävulose Leben, aktuelles und latentes Begriff des: 2.2: o0.ı er, Lehre von der Kontinuität des 362, Lebensäußerungen, Begriff der. olen Bea UzUDE 2, Begriff der äußere und innere Grenzen! der 2... Maximum, Minimum, Opti- mum spezielle und allgemeine Verhältnis zu den Reizen . Lebensbegrilf PREYERS . . . . . Lebenskraft, Kritik des Begriffes . Lehre: von der, ze se Wiedererwachen der Lehre von der... arms a Munde Lebensvorgang, Begriff des. . Charakterisierung des . Leberkapillaren. Amyloidmetamor- phose der Leberzellen, Granula in den . . . Leeithin, chemische Natur des . Lernen, zellulare Grundlage des Leuchtorganismen Leuein als Produkt der Eiweiß- verdauung im Darm . . . Leukämie, Nekrobiose der Leuko- CytenkbeL- ir aL.Er. Leukoeyten, amöboide Bewegung der mit aufgefressenen Bakterien Beteiligung bei der Histolyse Chemotaxıs nach Eiterkokken — bei der Metamorphose der Tiere: om ac: — nach Milzbrandbakterien nach Weizenmehl und Erbsenbreir 2:1. NER elektrische Reizung der Nahrungsaufnahme der. . . Narkose durch Chinin . . . in. Nekriobiose: "202: schleimig metamorphosierte . Verhalten des Kerns in der Chloroformnarkose Er De erDegkr AO OML SE Re le DEP DD Te ORTEN re © ern Baer ea nen [ae eb tee je 731 Seite 205 186 326 132 “ Seite LEEUWENHOEK U 2. 72ER 15 Lieht als Bedingung für die Kohlen- säurespaltungin der Pflanzen- zelle. kr Irene fe 260 — kaltes der Organismen . . . 2498 physiologische Wirkung des 467 ff. Liehtbreehungsver mögen der kon- traktilen Substanz NER: 141 — der lebendigen Substanz . 140 Lieberkühnia, Verdauung bei 179 Lipase, Spaltung der Fette durch 205 Lösungen, hypotonische und hyper- EOBIECBBS NER ee 139 ——e kolloidale rn 22. 2 112, 134 Luftballonfahrten, höchste . . . . 351 Luftdruck, Minimum des 352 Luftkaloriimeter ...:.,.. . “u... 306 Lummeszenz #2... . „uud, 298 Luzula, Epidermiszelle eines Laub- blattes ven 2 2 a 628 M. Magnetismus, sogenannter tierischer 412 Magnetnadel, Ablenkung durch den elektrischen Strom. . . . . 305 Magosphaera planula, eine Zell- a RTL 247, 705 Maiskorn, Züchtung in einer Nähr- JOanmp ee Rene 166 Maerobiotus Hufelandi Im leben- den und scheintoten Zustande 154 Makronwlew ....... 105, 240 Maltase, Spaltung der Maltose durch 124, 182 — Spaltung des «-Methylglyko- BidRsduncht Ci "5 ci’ uagenree 189 Maltose als Disaccharid ... . . 124 — enzymatische Synthese von. 188 MABFIGET... 2... : Sun Bann. 15 Malzzucker als Disaccharid 124 Marathon, der Läufer von . . . . 542 Masse-Raum-Zeit-System . . . . 6 Massenwirkungsgesetz . . . . . . 593 LER a 323 Mästungsfett, Ablagerung von 391 Materialismns =. 2 %.J.42 7, dich 42 Materie, Begriff der. ...... 41 Du Boıs-REymoxDs Problem der 33 MAYOW, Lehre von der Atmung 15, 19 Meerschweinehen mit tonisch kon- trahierten Muskeln 422 Membranen, Eigenschaften der semi- permeablen . . 134, 268, 640 Mesembryanthemum erystallinum, Wasserzellen bi. .... . Metachronie der Flimmerbewegung 293, 705 Meteorsteine als Träger organischer Substanz. 2 ZEN Ne ir 361 Methoden der Physiologie i 62 Methylglykosid, enzymatische Spal- tung‘.des; Inne ee 186 Sachverzeichnis. Seite Micrococeus prodigiosus, Wirkung der BECQUEREL-Strahlen auf Wirkung der RÖNTGEN-Strah- len auf Mikronueleus Milch als Emulsion mikroskopisches Aussehen der 5 478 Milchdrüsen, Fettmetamorphose der 391 Milchsäure als Produkt der Eiweiß- zersetzung .. 122, 199, 577 Milehsäuregärung . .. ..... 124 Milchzucker als Disaccharid . . . 124 Miliola, Schaumstruktur des Proto- Plasmas’ von." 47 22 100 MILLONsche Probe des Eiweiß 115 Milzbrandbakterien, Wirkung der BECQUEREL-Strahlen auf . . 479 Milzbrandsporen, Abkühlung von 343 — . Erhitzung von... x „wu 347 Mimosa pudiea, Aethernarkose der 437 — — elektrische Reizung der . 5083 — — mechanische Reizung der 448 — — 'Turgeszenzbewegungender 271 ı Mittelscheibe HENSENs . . . . . 286 Molekularbewegung, BRowNnsche . 264 | MOLISCHsche Probe . .... . 115 ' Moneren, Entstehung durch Urzeu- FUNE N ES 360 — HaEcKELs Begriff der... 7 — Nachweis von Zellkernen in 76 Monosaceharide, chemische Charak- teristik der 123 Mueigen als Vorstufe des Muein 339 | Muein als Glykoproteid . 119, 125, 393 — physiologische Bedeutung des 206 Mueinoide Substanzen. . . . . . 206 Mucor, Anpassung an konzentrierte Balziösungeni! „u. 2" 338% 221 — in konzentrierter Kupfersulfat- Ian A ei 349 MÜLLER, JOHANNES ...... 20 Multiplikator a ET NE 304 Mumienweizen, Keimfähigkeit des 155 Muskel, Arbeitsleistung des 289 — Einfluß der Temperatur auf. 463 — Entartungsreaktion des. . 564 =: ‚Narkose dest sn ar 439 — polare Erregung durch den konstanten Strom . ... . 497 — rhythmische Zuckungen bei chemischer Reizung 423 tetanische Kontraktion des 455, 500: Verhalten bei der Abkühlung . und«Narkose:' 7.4.0.2 @7ab2 564 — Verkürzung bei der Einzel- zuckung und bei Tetanus 501 Muskelarbeit, Energiequelle der 686 — Theorie der... .. 689 u. ff. Muskelbewegung . ..... 283 u. ff. — -Thootiett Im 692 u. ff. Muskelfasern, glatte und querge- streifte. EEE AR 284 — BHistolyse. dei Er ae 382 — Lichtbrechungsvermögen . 141 — Wirkungen des Lichtes auf. 474 Sachverzeichnis. Muskeln bei Sauerstoffentziehung . Totenstarre der . . Wirkung osmotischer Reize auf. Are Burg Muskelschreiber . Me: Muskelsegmente, Bau der Muskelton a. Muskelzellen, Bau und Bewegung der quergestreiften . Se Bewegung der glatten Form der. . . h Mutationstheorie von DE VRiEs . Myographion nach HELMHOLTZ Myoide, elektrische Reizung der . der Infusorienzellen 284, mechanische Reizung der. . Narkose der . I6> Myopodien bei Acanthoeystis . \ Myrianida, Fortpflanzung durch Teilung . . Myxomy eeten, Abhän gigkeit der Be- wegung vom Sauerstoff 4 Entwicklung Protoplasmaströmung bei” Sauerstoffentziehung” bei als Syneytien N. Nachwirkung des Reizes ährlösung für Pflanzen Nahrung, Aufnahme der gasförmi- gen und gelösten Aufnahme der geformten 170, Begriff der Mengen der... . SAN. Zusammensetzung der n.. Nahrungsauswahl seitens der Zelle 175, Nahrungsvakuole im Protoplasma . Nareotica, lähmende Wirkung der Löslichkeit in Fetten und GDelen ce REMrFE Narkose von Amöben von Amphistegina Lessonii . von Ganglienzellen Ä der Flimmerbewegung . . von Mimosa pudica des Muskels . des. Nerven... . .. von Noctiluca . . . . von Pflanzensamen von Seeigeleiern . von Spirogyra. .. . von Stentor . . Theorie der . . Verhalten des Zellkerns beider Naturerkennen, Du BoIs-REYMONDs Definition des . ; nn Bo1s-REYMONDs Grenzen des Nebenkerne der Infusorien . Nebenscheiben in den quergestreif ten Muskelfasern 28; Nebensehließung, Prinzip der » Prag ws Fra Mei de Seite 338 19% 446 501 Nekrobiose, Begriff der Nekrose, Begriff der . Neoscopelus maerolepidotus Druckerniedrigung . bei ' Neovitalismus . ; ı Nepa, Verhalten der Zellkerne in sezernierenden Zellen Neurilemm . . Neuromuskelzellen Neuron, Begriff des . . | Nerv, Drucklähmung des. . Narkose des £ polare Erregung durch den konstanten Strom Nerven, U) osmotischer Reize 160, 380, auf... 446 Nervenendplatte. im Muskel a! Nervenfaser, scheinbare Unermüd- barkeit der , e 543, 554 Nervenfasern,sogenanntetrophische 416 — zentrifugale und zentripetale 715 u. ff. Nervenfortsatz der Ganglienzelle . 716 Nervenmarkr 1.0.4.2... 718 Nervensystem, Wirkung des Lichtes subdassın 84% antun 474 Nervenzentra, sogen. trophische 416 Netzstruktur des Protoplasmas . . 98 Niederschlagsmembranen 137, 201 Nierenzellen als er organe . . „.201 Nisus formativus, Lehre vom . 19 Nitroglyzerin, Explosion des 258, 418, 583 Nutr0mONaB: 2 3. ar See 168 Noctiluea, Lichtentwicklung bei elektrischer Reizung . 503 — Narkose von ....... 439 — tetanische Lichtproduktion bei 456 — chemische Reizung von 434 — Lichtproduktion von . . 298 Nucleoluse 1 Au 104 Nurleus NEN H 100 Nukleine, Lokalisation im Zellkern 128 — Reaktionen der ß 128 Nukleinbasen, Herkunft im Tier- körper ee ae. 2 LO — und Nukleinsäuren 119 Nukleoproteide, Bau der 119 0. Oberflächenspannung a Tan bei der Zellteilung ; 654 — Veränderung bei der amö- boiden Bewegung 696 Objekttisch, heizbarer . 460 Vele, Bildung aus Stärke 192 — ätherische als Pflanzensekrete 206 Oelschäume, BÜTSCHLIS . . 100 Veltropfen, amöboide Bewegung Von tr er ra A 697 Oenothera Lamarekiana als mu- tierende Pflanze... . . 223 ' Ontogenie als Stütze der Deszen- denzlehre . . en 310 734 Opalina als vielkernige Zelle . . 83, 226 — Galvanotaxis von ..... 541 Optimum der Lebensbedingungen . 413 Orbitolites, Absterben kernloser Protoplasmamassen von 160 — Erregungsleitung bei. . . 427 — Kugel- und Spindelbildung auf den Pseudopodien von. 132 — mechanische Reizung von . 455 Protoplasmabewegung bei 280 u. ff. — Thigmotaxis von ..... 519 Wirkungslosigkeit der Induk- tionsströme bei . .. . . . 503 Organ, elektrische... ... . 317 — als Individualitätsstufe. .. 68 | Organisation, Begriff der ..... 144 Organismen, aerobe . . . ... . 331 | — anaerobe Er Ben 1. 6750| — Aufbau aus Zellen... . 28, 143 — Bewegung der. ...... 147 — Charakteristik der lebendigen 161 — chemische Eigenschaften der 149 — Fortpflanzung und Abstam- DENE ABER an 144, 145 — JIrritabilität als Eigenschaft Re. ehe: delde 148 = ZEBEREHOTFBDR. 12, ann ala 143 — Stammbaum der ..... 377 — Stoffwechsel der lebendigen 149 — Unterschied von anorgani- schen Körpern — Vergleich mit BORIHEHL N N A en A en 148 — Vergleich mit Kristallen . . 143 Oseillarien, Anpassung an farbiges ieh 2. U eeRr Se men 211 — Bewegungen der. ..... 275 — Phototaxis de ...... 529 — Stillstand der Bewegung bei Erschütterungen. ..... 456 — bei hohen Temperaturen . . 346 Osmose, Regulierung des Wasser- gehalts der Zelle durch 138 — beim Stoffaustausch zwischen Zelle und Medium. ... . 640 Oxalsäure als Produkt der Eiweiß- BETSELZUNEN 1. De 122 Oxydasen, Begriff der... ... 186 — bei der Lumineszenz . 302 Oxydationsprozesse, Lumineszenz BEIDE en 300 u. ff. Oxyhämoglobin, Reduktion durch ultraviolette Strahlen .. 469 Oxytricha, Galvanotaxis von . . . 540 — Interferenz von Galvanotaxis und Thigmotaxis bei... . 541 — Thigmotaxis von ..... 521 Pr Sagen Bildung von Oel aus Stärke RS ER ER RES: 192 Pnlbontoloeie als Stütze der Des- zendenzlehre "un. Ka ulr. 374 Palingenie in derKeimesentwicklung 248 Sachverzeichnis. PARACELSUS, System des Be Parallelismus, psycho-physischer . Paramaecium, Arbeitsleistung des Chemotaxis von . . 516, —- Galvanotaxıs von a. 0. — Geotaxis von — Rheotaxis von. u a Thermotaxis von Thigmotaxis von — Zentrotaxis — in destilliertem Wasser — beim Hunger Wh Wert ar WON ie ET 22555 se aaa ante Konjugation bei. .... . mechanische Reizung von polare Erregung durch den konstanten Strom . ... . E= Da der ae: BT ER N — Reflexmechanismus bei — spezifisches Gewicht von. . — Verdauung bei — Vermehrung bei Nahrungs- überfigB: =; asien een — Wirkung des Lichtes auf — Wirkung der RÖNTGEN- Strahlen anf .!%. 4 2) — aurelia, pulsierende Vakuolen DL N er 1, Bee Mh Te — bursaria, mit parasitären Algenzellen li zu sa Parthenogenese, Begriff der . 228, —- künstlichen WI ERS Pathologie als Lehre von den Krankheiten? rare: Pelomyxa, Ermüdungssymptome bei — pallıda als vielkerniges Rhi- Z0DOU 2 EEE NEE 76, — körniger Zerfall von . . . Pan Erregung durch den sonstanten Strom — Wirkung chemischer Reize bei — Wirkung des Lichtes auf. Wirkung der RÖNTGEN- Strahlen aufn ar 2.0.84: 1 Pontosen...M ee Pepsin,. Eiweißspaltung — Fibrinverdauung de . . . . — Reindarstellung von . . — synthetisierende Wirkung des Peptide. EmiL FiscHErs Synthese dere en N ae Pepton, Spaltung, Erepsin . . . Peptone als Spaltungsprodukte der Eiweißkörper ..... 113, — als Verdauungsprodukte der Eiweißkörper .... . 179, Peranema, elektrische Reizung von — Geißelbewegung bei . . . - — mechanische Reizung von Perpetuum mobile, Problem des . Person als Individualitätsstufe . . Pferdespulwurm, Zentrosome in den Samenzellen des. ..... Pflanzen, Ernährung der. . . . . — fleischfressende. . . . - 205, 271 Sachverzeichnis. Seite Pflanzen, Galvanotaxis der. . ... 536 — :Gemeren, dern... “hun. 343 — Kohlensäureaufnahme aus der Luft a AL 166 — Kohlensäureaufnahme und Sauerstoffabgabe . . . . . 208 — =: Nahrlösung: für nu... 165 — Stickstoffaufnahme der 166 Pflanzenfresser und Fleischfresser BeimzHlungerul ie 00. . 325 -——- und Fleischfresser im orga- nischen Stotfhaushalt . . 167, 682 Pfilanzenphysiologie, Entwicklung Le OP ER Re 26 Pflanzensamen, Narkose von. . . 436 — Scheintod und Anabiose der 155 Pflanzenschleim, SCHLEIDENS 74 Pflanzenzelle, Plasmolyse der 138 — Prımordialschlauch der 137 — Protoplasmaströmung in der 282 — Rotation und Zirkulation in deng..#. 1: Sn me Larry, 282 — ‚ Lurgor. der.r. .om.r. 137, 268 — Zellulosehaut der ..... 137 Phagocyten, Beteiligung bei der Hiiktolyse a I HESIR, 383 — bei der Degeneration des Kaulquappenschwanzes .. 5ll — bei der Metamorphose der Fliegenmaden . ...... 510 — Nahrungsaufnahme ha Phase refractaire beim Herzen. . 558 Phosphor, Verhalten im reinen Banerstoff.. I. SUEaEiors? 332 Phosphorvergiftung, Fettablagerung in der Leber bei . . . 197, 392 BRalmsener .. rs 300, 301 Hhstometrie. „... vr. um 529 Phototaxis von Aethalium septicum 529 — von Bacterium Chlorinum 529 — von Bacterium photometrieum 529 — vonChilomonas Paramaecium 529 — der Desmidiaceen 5) — der Diatomeen und Ösecillarien 529 — "der.Pflanzen , 2%... 527 — der Schwärmer von Botrydium granulatum . 24. Aa 020 — derSchwärmer der Chytridien 529 — derSchwärmsporen von Chae- tomorpha, Ulva, Haemato- EOCCHR I a ee er 529 — der Sporenzellen von Schach- telbalmen 420.02, 44 2 528 BEI TIEREN. Aa ur, 328 — der Ulothrixschwärmer. . . 529 Physiologie, Aufgabe der ..... . 3 | —Begrisf der. or. iR 3 — Entwicklung der allgemeinen 25 — Entwicklung der chemischen Bachtung >... 0.00 24 lar: 23 — Entwicklung der physikali- schen Richtung . ..... 24 — Entwicklung der psychologi- schen Richtung . ... .. 25 — vergleichende, . .... . 21, 57 735 Seite Pigment, Beziehung zur Lichtwir- KUREN THERME 474, 475 Pigmente als Sekrete . ..... 207 Pigmentatrophlie . -. . ..... 396 Pigmentzellen, Bewegung der 277 —. „Formensder.. ir nee: 83 Pilze, Ernährung der ...... 167 Pisum sativum, Verhalten der Zell- kerne bei der Bildung der Wurzelhaare von ..... 629 Plankton N Aw el: 271, 297 Plasmamplakdl 2. er: 578 Plasmodien der Myxomyceten 85 Plasmolyse der Pflanzenzelle . . . 138 Plastein, Synthese durch Pepsin 188 Plastigs e293 7 RIE 578 Platinmoor, Katalyse des Wasser- stoffsuperoxyds durch 184 Plastizität der Ganglienzellen 441 Pleuronema, Galvanotaxis von . . 538 — mechanische Reizung von 451 — Wirkung des Lichtes auf 473 Pleurotänien, Phototaxis der 530 Pneumalehre des GALEN STE — der Nachfolger des Hıpro- KRATES: SAU EEE 9 Poikilotherme Tiere. . .... 261, 303 Polarisationsstrom . .... 315, 482 Polymerie der Biogenmoleküle . . 649 Polysaccharide, chemische Charak- teristik der? m. Sn; 125 Polypeptide, EMıL FISCHERs Syn- these: der... N Pe 117 Polypen, Knospenbildung bei. . . 228 ' Polystomella, Verhalten kernloser Teilstücke:von 2.2: Kaas: 627 — Wirkung der RÖNTGEN- Strahlen auf : 477 Polytoma, Galvanotaxis von 538 — Schemader Achseneinstellung bein SE ID FE: 612 Polzellen, Bildung der. ..... 234 Postgeneration, Roux’ Begriff der 667 Poteriodendron, Formdifferenzie- rung von ER E. als Neuromuskelzelle. . . . Präformationslehre HALLERsS . 17, 668 Preßsaft der Hefezellen .. . . . 187 PRIESTLEY, Entdeckung des Saueratafle) Ko tan 19 Primitivfibrillen der quergestreiften Muskeln al. U REN 285 Zelle ya 137, 268, 282 Proteide oder Eiweißverbindungen 119,,122 — Lokalisation eisenhaltiger Pro- teide in der Zelle ..... 129 Proteus anguineus im Hungerzu- Bande „in... er 325 Protisten, Bedeutung für die Zellu- larphysiolögie;.. 2.2.22 59 Protococeus, Stoffwechsel des 211 Protoplasma, Absterben des kern- losen 3... I; 159 736 Seite Protoplasma, Absterben im Kon- traktionszustande . .. . . 390 — als allgemeine innere Lebens- hadıngung“ 8. 221. Nap 2 356 als Eee Zellbestandteil Bewegung des... 0... 131 flüssige Natur des. ... . 130 — frei von nativen Eiweiß- körper ai ame aa 119 als Gemisch oder „Emulsion“ 133 = 4Rolloide im 2 era as: 133 — als morphologischer Begriff 92 — Namengebung durch MoHuL. 28 — Strahlungsfigur im 232 Struktur der Grundsubstanz 97, 130 Tropfen- und Bu ulnn: Se A Ewa. 131 — Verhalten kernloser Teil- BIGCKRAÄOR Fer eine I 623 — Wechselbeziehung mit dem Zallkeran ke Mer 626 Protospongia Haeckelii, Differen- zierung der Zellen von. ... 710 Protoplasmabewegung, Abhängig- keit von der Temperatur 461 u. ff. — bei Sauerstoffentziehung 336 =- Mechanik ‚der. 4*, 2,5 12% 695 — Vorgang der ..... 277 u. ff. _ Wirkung der RÖNTGEN-Strah- Iantautidie Klara. an 477 Protoplasmafortsätze der Gan Be Zeller nr. ee 716 Protoplasmaoberflächen als semi- permeable Membranen . . . 135 Protoplasmaströmung bei Rhizo- poden und Pflanzenzellen 280 u. ff. Protoplasmatheorie M. SCHULTZEsS 74 Bseudonukleine: .. ... m. 2.2. 119 Pseudonukleoproteide ... . . 119, 121 Pseudopodien der Amöben und Rhi- ZOPONEN. ..; 4 wre 278 u. ff. — der amöboiden Zellen tee) Psyehologie, vergleichende . . . 21, 26 Ptomaine im Stoffwechsel der Bak- teren ne era er 209 Ptyalin, Stärkespaltung durch 182, 205 Punkt, kritischer bei der Unter- KUhluns@p Prles 342 Pyrophorus, Lichtproduktion von . 298 — Spektrum des Lichtes von 299 Pyrosoma, Lichtproduktion von 298 PYTHAGORAS, Seelenwanderungs- lehre des Quadratur des Zirkels, Problem der 40 Quecksilbersehlüssel . . . . . . . 482 Quecksilbertropfen, Chemotaxis nach Kaliumbichromat . . . 698 Quellung, Bewegungen durch. . . 266 R. Rädertierchen, Anabiose der... . 154 — Eintrocknen der . . 154 74 | Sachverzeichnis. Seite Rädertierehen bei hohen Tempera- Kuren El, ee er 346 Radiolarien, Bildung der Kiesel- Bkeletla rt, Sets Beck 675 Radium aus dem Zerfall des Urans 108 — ertall des ek 108 Radiumpräparate ........ 478. Raja, pseudoelektrisches Organ von 317 ' Ranatra, Verhalten der Zellkerne bei sezernierenden Zellen von 631 Rauschbrandbazillen als anaörobe ÜTSAnismEnn. ra 333 Reaktionsgeschwindigkeit, Abhän- gigkeit von der Temperatur. 457 Reduktionsteilung der Samenmut- terzellengh wa Hr 236 Reflex, Mechanismus des ann Reflexbogen im Rückenmark der Wärbeltiere 4: 237 25.5: 714 Reflextonus beim Frosch . . 423 Refraktärstadium,, Abhängigkeit vom Sauerstoff . ..... 559 — absolutes und relative . . . 560 — als Arbeitsläihmung 560 — Bepriit desin. ln 4 ur 558 Ta (WBABET IdER..E ee 559 Regeneration, Mechanismus der . 674 Regenwurm, Wirkung des Lichtes auf das Nervensystem des 474 REIL, Lehre vou der Lebenskraft 18 Beiktieher ae Aa 550 Reiz. Definition des”. ... Zur. 411 — . Nachwirkung. .. 2 2 422 Reize, assimilatorische . . 591, 604 — dissimilatorische . . . . . . 591 — Chemismus bei der Einwir- EuUnE Non In. nee 685 —v Fophische: N He Nee 415 Verhältnis zu den Lebens- bedingungen . ...... 413 — Wirkung chemischer. . 429 u. ff. — — einseitiger . . . . . 506 u. ff. — elektrischer 80a — — mechanischer. . . . 446u.ff. — — osmotischer 444 u. ff. -—— -— strahlender. . . . . 467 u. ff. jr 22 ithermischer 7 2 . 2457. uRk: Reizbarkeit, Begriff der... .. 417 | Reizerfolg, Fortleitung des. . . . 424 Reizfrequenz, Verhältnis zur Reiz- intensitäbie 22 2 ee 561 Beizintensität..v: -... ha a 413 — Abhängigkeit von der Reiz- freguenz, c- 20, leeulenn Ar 561 Beizqualitäten: 1... 2 = ars Kurt 411 Reizschwelle, Begriff der 415 Reizwirkungen, allgemeines Gesetz deren Des erer Dyai =, Arbxder.. ae ale 417 u. ff. — :,Dauer'der . . Foraer 420 — . ‚toniache.s di RR 421 Reservestoffe, Verhalten beim Hunger.» USA RE: 323 Resorption, Begriff der . . . 170, 178 Rheochord Du BoIs-REYMONDs 485 Sachverzeichnis. Seite RIeootazaRr Ba tens 524 Rhizoplasma, Einfluß der Erwär- IIUDSRUE IE N nn 462 — bei Sauerstoffentziehung 346 Rhythmizität der Flimmerbewegung 292 Rieinuströpfehen, Chemotaxis nach Chloroform, Nelkenöl, Kali- N RT EEE 697 Richtungskörperehen, Bildung der 234 Rieehnerv des Hechtes, Ermüdung EEE RN SE, 554 Biechrelleit.a ar. En Ale. 720 RITTER, Lehre von der tierischen Blektrizitat .H 4 ac 19 Rohrzucker als Disaccharid 124 — Verbrennungswärme . . 259 RÖNTGEN-Strahlen, Wirkung auf ÜLDRISMENINIL ae 476 Rose von Jericho, Quellungsbewe- gungen der ........ 267 Rotation in der Pflanzenzelle . 282 Rückenmark, Einfluß der Abküh- lung auf die Erregbarkeit des 465 — Reflexbogen im 714 S. Saccharomyces als Gärungserreger 123 — Preßsaft’von . . -1..%. 187 Saitengalvanometer . . 314 Salpetersäure, Stoffwechsel der, bei der Schwefelsäurefabrikation 150 185 Salze in der lebendigen Substanz 127 — in der Nahrung - . 169 Salzsäureprobe der Eiweißkörper . 115 Samenmutterzellen, Reduktions- tellung.der zu. aan 236 Sarkin als Nukleinbase. . . . . . 121 Sarkode DUJARDINS. . .. . . . 74 Sarkolemm).. 2 221.7 44 285 SSEKODLASInR > u a ae. 285 Sarkosomen bei der Ermüdung . 549 Sauerstoff, Abhängigkeit der Örga- BiEmen vomr. cs kb: 299 — Ausscheidung bei Pflanzen . 208 — als Bedingung für die Er- holanpy ze A. 22. 551 — als Bedingung für die Proto- plasmabewegung. .... . 696 — Einfügung in I lebendige Eiweißmolekül. ...... 365 — Rolle des S. im Stoffwechsel 584 — Verhalten der Organismen ZIRIE EN 330 u. ff. — Versorgung der Zelle mit S. durch symbiotische Algen. . 97 — Wirkung der S.-Entziehung 333 u. ff. Sauerstoffbedarf . .. .... 561, 565 Sauerstoffmangel, relativer . . 561, 565 Sauerstoffversorgung, relative . 559 u. ff. Schachtelhalm, Quellungsbeweg- ungen der Sporen vom. . . 267 Schaumstruktur des Protoplasmas 99 Verworn, Allgemeine Physiologie. 5. Aufl. 737 Seite Scheintod, willkürlicher . 153 — der Rädertierchen und Bären- tierchen... ta na yo En: 154 Schimmelpilze, Anpassung an kon- zentrierte Salzlösungen . . . . . 221 Schinoxydase: .\.! „run Sera 186 Schlangenbeschwörer, Experimente der ägyptischen” 007 Schleim, chemische Natur des . 119, 393 — physiologische Bedeutung des 206 Schleimmetamorphose, Tatsachen Ent SR TU 392 Schleimzellen, Sekretion der . 204, 393 Schlingpflanzen, Thigmotaxis der 520 Schlitteninduktorium Du Boıs- RETMONDE EHER 488 Schmeißfliege, mikroskopische Ver- änderung der Flugmuskeln bei der Ermüdung . ... . 549 Schmetterlinge, Wirkungen der Ab- kuhlungibel U HU Ru: 342 Schnecken, Temperaturminimum RAR Er BR En 343 Schnürringe, RAnviErsche. . . . 718 Schwärmsporen von Coceidium Schubengti. 0 ER 245 —# Bilding-der 2 2 Se maaı: 236 Schwefelbakteri ien, Stoffwechsel der 327, 332 Schwefelbleiprobe der Eiweißkörper 115 Schwefelsäure als Produkt der Ei- weißzersetzung . ..... 122 — Fabrikation der englischen 150, 185, 583 Schwerkraft, geotaktische Reizwir- kun dern. HEMER 526 Schwimmplättehen bei Bero&@ ovata 293, 294 Seeigelei, Befruchtung des . . . . 242 Seele, Entstehung des Begriffes... 44 Seelenwanderung, Lehre von der. l Seifen, chemische Natur der . . . 126 Sekrete, Begriff der... .... .. 200 Sekretion, Bewegungen ders”. „mrard Selaginella lepidophylla, Quel- lungsbewegungen von . . 267 Selbststeuerung des Stoffwechsels 590, 592, 593 Selektion, Bedeutung bei der Dif- ferenzierung und Arbeits- teilung der Zellen im Zellen- BLRAb, Rn Pan EN 711 — natürliche und künstliche. . 223 Selektionslehre bei HERAKLIT und EMPEDOKLES . ...... Selektionstheorie „ Begründung dureh, DARWIN 14.57 205% 28 —, "DABWINBU HR HEN REN 222 Sensibilität, HALLERs Lehre von der 18 SERVETONN\ 424,4 (ee 13 Sipunculus, Wirkung des Lichtes auf das Nervensystem von . 475 Skelettsubstanzen, Bildung der . 201 Sollpsismus#. N. 39 Sonnenlicht, Spektrum des. 298 47 738 SPALLANZANTE 2 8 ul anf Speicheldrüsenzellen, Verhalten der Zellkerne in ae res Speichelkörperchen, Browxsche Molekularbewegung in den . Spektrum des Sonnenlichts . von Pyrophorus verschıedenfarbiger Medien 475, Spermatozoen, Entdeckung der 16, Bormulesse ka ze - als männl. Geschlechtszellen Massenverhältnis von Kern und Protoplasma vom Menschen der Farnkräuter, Chemotaxis nach Apfelsäure Narkose der Biheotasia Dar... Kal. 1 der Säugetiere, Chemotaxis nach Uterusschleimhaut Thigmotaxis der S. von Peri- planeta verschiedene Formen der. Spezialforschung, Fehler der ein- seitigen Spinndrüsenzellen, Verhalten des Zellkerns in Zellkern der Spirale, primäre und sekundäre Spirillum, Chemotaxis nach Sauer- stoff undula, Struktur von — Vermehrung in einer N ähr- lösung Spirochäten, Chemotaxis der . . ne Eee amitotische Zellteilung ei Narkose von Verhalten kernloser Teilstücke von 628, Verhalten des Zellkerns in der Chloroformnarkose . . . Spirostomum ,„ Abhängigkeit der Wimperhaare voneinander — Atmung kernloser Proto- plasmastücke ME EaENt körniger Zerfall bei 3 Verhalten bei der Narkose Verhalten gegen Sauerstoff Wirkungder RÖNTGEN-Strah- len auf Galvanotaxis von Spongin Sporen als Dauerzustände . Fortpflanzung der Myxomy- ceten durch Sporen, Quellungsbewegungen der Sp. beim Schachtelhalm Sporenbildung bei Bacıllus 2 Te SE bei Coceidium Schubergi . . als Form der sel LE: bei Thalassicolla . Sproßpilze, Nachweis des Be in Spulwurmei, Befruchtung des | ke] Seite 20 531 237 90 227 Sachverzeichnis. Ren aut bei Sauerstoffentzieh- Emm th nina eat Kara stufe Be ee fe Fun! Vrräkte Aug md te ‚ STAHLs animistisches System Stammbaum der Organismen . Stammesentwickelung, Begriff der Staphyloeoerus, chemotaktischeWir- kung auf Leukocyten Stärke, Bildung nach der BAEYER- schen Hypothese ..... . Bildung durch stille elek- trische Entladung Bildung in der Pflanze in den Öhlorophylikörpern der Pflanzenzelle als Polysaecharid Verdauung durch Ptyalin Stärkekörner, angedaute Bauer.) 4 ie ul in Pflanzenzellen ..... Statolithenorgane bei Tieren und Pflanzen Em har Kar. I EEE Sl | Steapsin, Spaltung der Fette durch 182, synthetisierende Wirkung des ı Stentor, mechanische Reizung von Zellkern von? »% 57,0 2% eoeruleus, Myoidfäden bei — Narkose von — Phototaxis von... . . polymorphus, Fortpflanzung durch Teilung — Wirkung des Lichtes auf Roeselii, künstliche ne, GEB INH Rh 7 — Regeneration von. . . Stentoren, Reflexmechanismus der Stephalia corona, Siphonophoren- kolonie Stichopus, Schleimbildung bei Stickstoff, Ausscheidung im Harn als "Sauerstoffüberträ er. 368, Stiekstoffausscheidung im Harn bei Muskelarbeit als Maß für den Eiweißumsatz » , Stiekstoffbakterien, Ernährung I: 323, Stiekstoffgleichgewicht Stoffaustausch zwischen Zelle und Medium Stoffwechsel als Eigenschaft des lebendigen Organismus. . . funktioneller und cytoplasti- scher der Salpetersäure bei Schwefelsäurefabrikation bei Sauerstoffentziehung . . Schema des Stoffwechsels in der Zelle a et Her ren ge Fan Ueberblick über den . . Stoffwechselgleichgewicht, Begriff des 322 Selbststeuerung des 590, 592, 3 Sachverzeichnis. Seite Storehsehnabel, Quellungsbewe- gungen der Samen des. . . 266 Strahlen, physiologische Wirkung der BECQUEREL-Strahlen . 78 dr: hysiologische Wirkung der ÖNTGEN-Strahlen 476 ff. der radioaktiven Stoffe 478 reduzierende Wirkung der ultravioletten . ..-.... 469 469 Wirkung.derultravioletten auf katalytische Prozesse Wirkungen der ultravioletten auf lebendige Organismen 468 ff. Strahlungsfigur in einem Gelatine- HOHAUIDN Sn MER 653 — Mechanik der Strahlungsfigur bei der Zellteilung. . . . 652 ff Strom, Theorie des galvanischen . 310 Steomschlüssel® -.. u. 2.028; 482 Struktur, Beziehung zum Stoff- Mechsolss 2a N; 772 — fester und flüssiger Sub- BIARZENS a SE. 672 — des Protoplasmas ..... 97 Stylonyehia, Galvanotaxis von . 540 Wirkung der Abkühlung auf 465 eine Infusorienzelle 90 Substanz, Deszendenz der leben- dien Em ab erenit Herkunft der lebendigen . 372 Summation von Reizwirkungen 453, 603 SUSRUTAS, Verfasser der Ayur Vedaras sen 7 SWAMMERDAMM ....... 15 SYLVIUS, chemische Lehren des 15 Syneytium, Begriff ds ..... 86 1% Talg als Schutzmittel der Haut 206 Tausendfüßer, Temperaturminimum TU 343 Teilung, künstliche der Hydra . . 65 Teleologie bei ARISTOTELES und GABENE ee RI N 11 Temperatur, Abhängigkeit der Ent- wicklung von Seeigeleiern von EL 457 — Abhängigkeit der Kohlen- säureassimilation von der 457 — Abhängigkeit der Pulsation kontraktiler Vakuolen von der 458 — Abhängigkeit der Schlagfre- quenz des Säugetierherzens SE RTL 458 — Abhängigkeit des Wachstums JOINED EIER 460 — Einfluß auf die Reaktionsge- BeHwindigkeit '.....2. 4.00% 457 — der Organismen . ..... 303 Temperaturgrenzen des Lebens 341 Temperaturmaximum . . . . 341, 346 Temperaturmessung, thermoelek- IIBEHE Au... 20 ae 304 739 Seite Temperaturmessung, thermome- truche nu.» er. F 303 Temperaturminimum . ..... 341 Temperaturregel van THOrFFs . . 457 Temperatursprung bei der Unter- kühlung +3: IB ER: 342 Tetanus, elektrischer. . .. .. . 500 — mechanischer, bei Amöben . 453 — vollkommener und unvoll- Eommener) HI UEUIERERRE 501 Tetanusbazillen als anaerobe Or- ganıRmenn en na IA LReE 333 Tetanuskurve des ermüdeten Mus- kelan. a, ara, SIERT 545 Thalassicolla, Absterben des iso- lierten Zelikerns bei... . 621 — Verhalten kernloser Teil- StUCkENVOn! | = A. Ar 20Rr 627 — nuceleata, mechanische Rei- ZUNGSYON „2 er. 447 — — eine Radiolarienzelle 94 — — Schaunstruktur des Proto- PlasmastIu. 0 Me 99 — — Sporenbildung bei ... . 405 — — Steigen und Sinken. . . 272 Theoconus, Kieselskelett von . 207, 677 Theoria generationis CASPAR FRIEDERICH: WOLEER. . . „aM Thermotaxis der Amöben 532 — von Aethalium septicum . . 532 — von Paramaecium . . . 533, 534 Eu bei Oyphoderia . . . 520 bei Euglena, Chilodon, Sty- lonychia u. Spirostomum . 523 — bei Orbitolites . . . . .. . 519 — bei Oscillarien, Diatomeen, Desmidiaceen, Gregarinen und Goceldien: \. es 523 —.- yon: Paramaecium =iERFR 522 — „der -Pllanzen? 02 Sa 7 520 — bei den Spermatozoen der Küchenschabe.. ra. 0, 521 —:. von ÖOxytrieha ., .. „+. %m.)% 521 Thymusdrüse, Atrophie 399 Tiere, Ernährung der ...... 167 Tod als Anpassung + 4... ee 402 —. Beth da u 1... 0.0 158 Entwicklung des bei der Zelle 159 als Entwicklungsstadium 380, 400 der einzelligen Organismen 402 u. ff. —Z Momentedesı ee 158 — als Notwendigkeit . . . . - 402 durch Ueberreizung 565 Todesbedingungen, äußere und in- DErEN ra 2 397 Tonus als dauernder Erregungszu- Stande 24 See. ur ac ee 421 — reflektorischer ....... 422 Torpedo, elektrisches Organ von 316 Totenstarre als Koagulationsnekrose 385 — als Kontraktionsvorgang . 390 — als letzte Lebensäußerung der Muskeln u.a Ar 158 | "Toxalbumine. 1... 2: 210 Variabilität, individuelle . ı Veitstanz beim Hunde. 740 Seite | Toxalbumose der Diphtheriebak- terien 2 2 Re era 210 Toxine bei Infektionskrankheiten . 550 — bei der Muskelermüdung.. . 550 — als Stoffwechselprodukte der Bakkerien ann 209 Toxopneustes variegatus, Eifurch- ID TODE rk: Meere 656 Tradescantia, Abhängigkeit der Protoplasmaströmung vonder Temperatur bei... wi....d. m 462 — elektrische Reizung der Staub- fädenhaare bei 2 (8 er — Kugelbildung des gereizten Protoplasmas 131 Protoplasmaströmung in den Zellen der Staubfädenhaare VO See 94, 131 282 Traubenzucker, Bildung aus Ei- weiß beim Diabetes 198 — GarmnE dB 10123 — Reduktionsproben des . . . 123 Synthese in der Pflanzenzelle 191 Treppe als Ausdruck einer schein- baren Erregbarkeitssteigerung 563 — bei rhythmischen Muskel- ZUCKÜNPEN IN: er ee 545 DREVTIBANDS ?: . 5 ar 20 Trypsin, Eiweißverdauung durch 181, Tuberkelbazillen, Abhängigkeit des Wachstums von der Tempe- N TE 460 Tuberkuln:: lat area 210 Turgeszenz der Pflanzenzelle. 137, 268 Turgor der Pflanzenzelle. . . 138, 268 Turnlebern...2 42421: at “20 Typhusbakterien, Wirkung des Fechten Bau8 eisen tere hr 472 — Wirkung der BECQUEREL- Strahlen auf. 2 Leer 479 Tyrosin als Produkt der Eiweißver- dauung im Darm .... . 193 ENEORIHRRO an a eher 186 U. Ueberreizung, Wirkungen der . . 565 Uebung, zellulare Grundlage der . 600 Ulothrix, Phototaxis der Sch wärmer a ee ann ee 528 Ulva, Phototaxis der Schwärmer von 529 Unsterblichkeit, Frage nach der körperlichen „2.7... nes 401 — der einzelligen Organismen 402 u. ff. Unterkühlung von Schmetterlingen 342 Urostyla grandis, Wimperbewegung bei ! ELISE RE SER 295 Ursache, Begriff der... ..... 36 rzeugung nach ARISTOTELES 358 — nach, HARCEEN. 7. en 359 — Lehre von der . 9, 145, 358 =: Vakuolen als Protoplasmaeinlage- rungen Sachverzeichnis. Vakuolen, pulsierende oder kon- traktile bei Infusorien . . 94 Vallisneria, Wirkung der RÖNTGEN- strahlen auf die Protoplasma- strünnnag. bei ka aan: Vampyrella spirogyrae, Nahrungs- auswahl: von‘N + 1%. 4/50. 175 Variation, fluktuierende Vaucheria, Kugelbildung des Proto- plasmas bei Verbrennungswärme von Eiweiß, Kohlehydrat und Fett . . . Verdauung, Begriff der intrazellulare und extrazellu- ara Pe Vererbung als formerhaltendes Mo- ment erworbener Eigenschaften Mechanik der Theorie von Kerns bei der Vererbungssubstanz, falscher Be- griff einer wiarT fahmat ie 677 der Rolle des | Verkalkung der Blutgefäße. . . . Verknöcherung der Ganglienzellen . . Vorgänge der . . . Verkürzungsrüeckstand bei der Er- ‚ Verwesung | VESALIUS Vie latente, Begriff der ‚ Vielzellbildung müdung des Muskels . i Verstümmelungen, Frage der Ver- erbung von ze. Ernie Vervollkommnung in der orga- nischen Entwicklung . . . . Vibrio Metschnikovii, Wirkung des Tnchtes auf „u Es Vita minima, Begriff der 5 Vitalismus, Entstehung des. . . . Kritik des mechanistischer psychischer teleologischer Vivisektion bei GALEN | Vorgänge, Begriff, Definition ' Vorstellung als Erinnerungsbild einer Empfindung Vortieella, Nahrungsaufnahme der — mechanischer Tetanus bei. . — Stielmuskel von . ..... — Zuckung des Stielmuskels base EEE 288 — „Aellkern’von# Ss Vorticellinen, mechanische Reizung den. Zap rise W.- Wachstum, Bewegungen durch . . als Grundprozeß der Form- bildung 73... 1 SE FR 649 Seite ‚ 200 ‚645 us ‚433 103 451 276 u... Sachverzeichnis. Seite Wachstum, Mechanismus des 649 u. ff. der Organismen und anorga- nischen Substanzen als Prinzip der Fortpflanzung Vorgang des 587, der Zellmembranen Wanderzellen, Bewegung der amö- beiden. nn wre 2) Warmblüterzssce. ... nn 261, — Abhängigkeit des Stoff- wechsels von der Temperatur Wärme als Beschleuniger chemischer Prozesse Wärmeäquivalent Wärmeeinheit, Begriff der... . . Wärmemaß Wärmeregulation beim Warmblüter Wärmestarre Wärmetönung, positive und nega- tive Wasser, Rrrahe bei den Tieren . . eeome bei den Pflan- Te EN AKT AITIER FORLIEn r er CE WE ER A ET SE ar Gehalt der EDER IBENE, Sub- stanz an W.. . als Lebensbedingung . in der Nahrung Wasserkäfer, Einfrieren der . . . Wasserkalorimeter Wasserstoflsuperoxyd, durch Katalase Spaltung durch Platinmoor Wechselwarme Tiere Weltanschauung, Verlangen des Menschen nach einer. . . . |, Reduktion Wimperreflex bei Infusorien . . Nimperzellen .-. 7. ...w..4 2. — ie Borniider 24. Se. mer. Wüstenorganismen„ Wasserhaus- Halbeders 2.7 #00... 807. 329, X, Xanthoproteinprobe Xanthin als Nukleinbase. . . zZ. Zelle, Abgabe gasförmiger und ge- löster Stoffe Abgabe geformter Stoffe . . Abhängigkeit der Erre Ba keit vom Wassergehalt Aufnahme und Abgabe g formter Stoffe Aufnahme und Abgabe ge- löster Stoffe Definition der Entdeckung der Entstehung des Begriffs der Entwicklung des Todes bei der Größe der künstliche Teilung der . . . Lokalisation der chemischen Verbindungen in der. . 128, RD | | 741 Seite Zelle, als niedrigste Individualitäts- BEUEBNCE ati de ee 69 — ‚PFEFFERSche . ....... 136 — spezifisches Gewicht der 140 — TrAuBEs künstliche . . 202 — verschiedene Formen der. . 87 Zellen, Abhängigkeitsverhältnis der Z. im Zellenstaat .... . 704 — ı kernlose . Sin nen een 75 ==, Mehrkernipe 2.2.0 2 83 Zellenstaat, Differenzierung und Arbeitsteilung der Zellen im 709 — Verfassungsverhältnisse des 702 u. ff — Zentralisation der Verwal- tung im F Se Zellkern als allgemeine “innere Lebensbedingung . .... 356 — als allgemeiner Zellbestandteil 75 — als angeblicher Träger von Vererbungsstoffen . . . 619, 678 — Bestandteile des... .. . 102 — Entdeckung durch BRowN 28, 75 — bei der Ermüdung der Gan- glienzellen. "2 .n.n2 0.00% 553 — ‚Bormen:. des... 0 4.0. 101 — der Ganglienzellen . . . 107, 553 — Größenverhältnis zum Proto- Plasmarka re ae ae 101 — mitotische oder amitotische Teilung des or. 2: 230 von Pelomyxa pallida ... . 102 — yonsBtentor 202 103 von Vorticella ....... 103 — Ruhestadium de ..... 231 — von Samenmutterzellen des Pferdespulwurms ..... 104 der Speicheldrüsenzellen 631 der Spinndrüsenzellen 103, 107, 631 Struktursdessr 106 Theorie von der Alleinherr- schaft desp sr 619 — Verhalten beim Wechstans der Zellwandert en er 630 — Verhalten in der Narkose 637 — Wechselbeziehung mit dem Proteplaamanı 2 2 22 626 Zellknormehr. 7% ran. 83 Zellmembran als Zellbestandteil 74 Zellteilung der Amöben . ... . 229 — äquale und inäquale . . . . 234 — direkte oder amitotische 229 — indirekte oder mitotische . . 230 — künstliche Nachahmung der karyokinetischen . . . . . . 678 —Mechanıkıder 2 m me are 652 — totale und partielle 234, 235 ‚ Zellteilungsfiguren, Vergleich mit magnetischen Kraftlinien . . 656 Zellteilungsmodell, HEIDENHAIN- sches De RE 658 u. ff. — RHUMBLERsches. . . 658 u. ff. Zellturgor der Pflanzenzelle . 137, 268 Zellularphysiologie, Methoden der 60, 61 56 Notwendigkeit der 742 Sachverzeichnis. hr Seite | Seite Zellularphysiologie, vergleichende. 60 | Zerfall, körniger, bei Orbitolites 391 Zellulose als Polysaccharid . . 125 | — -— bei Pelomyxa ..... 387 Zellulosekapsel der Pflanzenzelle . 137 — — bei Spirostomum . . . . 387 Zentralisation der Vergalınng im Zirkulation, künstliche . .... 552 rellenstaat VE EA 212 — in.der Pflanzenzelle ... . 284 Zentralkapsel der Badtolarien { 272 \, Zättersal :.... . SR 316 Zentralkörperehen als Zellbestand- Zitterrochen nee 317 Tale, REN DR, 19 | Zoochlorellen. . . 3 en « aa 97 Zentralnervensystem, en Zoöxanthellen . < . 1. Ra 97 des Au a 7153 , Zuckungskurve des normalen Mus- Zentriol des Zentrosoms . . 80 kBlE 1 EEE TRUE 500 Zentrosom, Bedeutung für die Genese — des ermüdeten Muskels . . 545 ff. der Strahlungsfigur 653 -| "Zustände 4 gi. au: man yaE 254 — Neuentstehung im Proto- Zweekmäßigkeit, Entstehung durch BlSEmB. AEG. ONE, AL SE a 2) Anpassung . 218 — Struktur ds ... .... 80 | Zwischenprodukt bei katalytischen — Verhalten bei der Zellteilung 232 | Pirözesßen 1. Mr CL ana 185 — als Zellbestandteil . . . . . 79 | Zwischenscheibe des quergestreiften — Zelle mit zahlreichen 82 Muskels: 2. 2a. SIERT 286 ZEntrdtaxien, Er IE UI E, 526 | Zygnema, Verhalten kernloser Pro- Zerfall, körniger, bei Hyalopus | toplasmastücke von .. 628 Dojardımı 20 Ei AR N, 378 | Zymase der Hefezellen. ..... 187 _ Frommannsche Buchdruckerei (Hermann Poble) in Jena. — 3466 . Ir A EEE BEN, x AR, ER En Pr nd Pr Fa - a = LE as A FE ERBE BIERLER ar ne RER iR ae Er -