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ARCHIV

FÜR DAS

STUDIUM DER NEUEREN SPRACHEN UND LITERATUREN,

HRRAUSGEGEBKN

LUDWIG HERRIG.

XXXI. JAHRGANG, 58. BAND.

BRAUNSCHWEIG,

DRUCK UND VERLAG VON GEORGE WESTERMANN.

1877.

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Inhalts- Verzeichniss des LVIII. Bandes.

Abhandlungen.

Seite Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare -Textes. Von

Ed. Tiessen 1

Shakespeare's Julius Cäsar und Kruse's Brutus. Von H. Palm . . . . 23 Zwölf Sätze über wissenschaftliche Orthographie der Mundarten. Von J. F.

Kräuter 43

Der deutsche Krieg von 1870 1871 im Volksliede. Von Dr. E. Küsel . 55

Ueber Ossian. Von A. F. Nicolai 129

Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare -Textes. Von

Ed. Tiessen 159

Ueber die Art, wie in Schiller's Jungfrau von Orleans am Ende des 3. Actes

die Katastrophe herbeigeführt wird. Von Dr. Franz Weineck . . 171 Charakteristik der holländischen Sprache hinsichtlich ihrer historischen Ent-

wickelung und die ihr gegenüber der hochdeutschen Schvvestersprachc

gebührende Würdigung. Von Dr. phil. Hermann Hänel. . . . 177

Metapherstudien. Von Dr. FriedrichBrinckmann 193

Die bildlichen Darstellungen des Reineke Fuchs im Mittelalter. Von A. L.

Meissner 241

Der Torpedo. Beitrag zur Geschichte der Fremdwörter. Von A. Boltz 261 Moliere's Misanthrope und die Urtheile der Kritik. Von Dr. R. Mahren holz 267 Ueber Corneille's Anschauung vom Wesen der Tragödie. Von Dr. K. Foth 277 Die provenzalische Bearbeitung der Kindheit Jesu. Von A dolf Kressner 291 Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare -Textes. Vou

Ed. Tiessen 311

Deutsche Spruchweisheit auf Münzen, Medaillen und Marken von C.

Schulze. (Schluss) '. 321

Die dialektfreie Aussprache des Hochdeutschen nach physiologischen, sprach-

geschichllichen und statistischen Tatsachen. Von Dr. Aug. Grabow 345 Die mannigfaltigen Wendungen des deutschen lassen im Englischen. Von

Dr. Wilhelm Dreser 379

Sprachvergleichendes. Mit Zugrundelegung des sechsten Gesanges der

Frithiofssage. Von W. Körner 395

Metrische Uebersetzungen. Von H. L. Willems 427

Sitzungen der Berliner Gesellschaft für das Studium der neueren Sprachen 447

Beurtheilungen und kurze Anzeigen.

Anglia. Zeitschrift für englische Philologie. Enthaltend Beiträge zur Ge- schichte der englischen Sprache und Literatur, herausgegeben von Richard Paul Wülcker. Nebst kritischen Anzeigen und einer Bücherschau heraus- gegeben von Moritz Trautmann. I.Band. I.Heft. (Dr. David Asher.) 87 Pierer's Conversations-Lexicon. Siebente vollständig umgearbeitete Aufl. (H.) 89 Entgegnung zu Bd. LVII, 1, S. 89. (Gymnasiallehrer Wendel) ... 90 Historische Skizzen über die Ursachen des Bunten und Wirren in der neu- englischen Orthographie und «" '^oepie. Fünf Vorträge von Dr. H. G. Miganlt 94

Seite Dr. J. Baumgarten. Bibliothek interessanter und gediegener Studien und Abhandlungen aus der polytechnischen und naturwissenschaftlichen Lite- ratur Frankreichs. VIII. und XI 94

German Genis in an English setting by Jane MuUey 94

Iwein und Parzival. Zwei Rittersagen des Mittelalters, Erzählt und erläutert

von Albert Richter. (Kölscher.) 221

Tristan und Isolt in deutschen Dichtungen der Neuzeit von R. Bechstein. (F. L.) 222

G. Biichmann, Geflügelte Worte. (H. Holstein.) 223

Studium und Unterricht des Französischen. Ein encyklopädischer Leitfaden von H. Breitinger, Professor der neueren Sprachen an der Universität

Zürich. (Bg.) 226

F. L. Rhode's Praktisches Handbuch der Handels - Correspondenz und des Geschäfts- Stils in deutscher, französischer, italienischer und spanischer Sprache. Siebente verbesserte und vermehrte Auflage, bearbeitet von

Dr. Bernhard Lehmann. (A. Fels) 227

Priscae Latinitatis originum libri tres, scripsit Hermannus Buchholtz. (H.) 4.57 Emil Henrici. Zur Geschichte der mittelhochdeutschen Lyrik. (Hans

Loeschhorn.) 460

The poets and poetry of Scotland, from the earliest to the present time. Comprising characteristic selections from the works of the more note worthy Scottish poets, with biographical and critical notices. By

James Grant Wilson. (Dr. Weddigen.) 461

The succession of Shakespeare's works and the use of metrical tests in settl-

ing it, by Fred. J, Furnivall. (H.) 462

Bertrand et Raton, par Scribe; herausgegeben von Dr. O. Dickmann. (K.

Körner.) 463

Systematischer Grundriss der französischen Syntax für höhere Lehranstalten

von Dr. M. Cohn. (K. Körner.) . " 463

Cours complet et gradue de Lectures fran9aises. I. Partie (Sexta et

Quinta). Par J. Westenhoeffer 464

Vocabulaire Militaire fran9ais-allemand. Recueil de termes de la Tech- nologie militaire moderne par le lieutenant Ribbentrop, instructeur ä

r^cole des Cadets de Berlin. (H.) 464

Antwort auf eine Kritik des Herrn Dr. Grabow 465

Erwiderung zu Archiv LVIII, 1. S. 90 93 467

Programmenschau.

Geschwundenes Sprachbewusstsein im Deutschen. Vom Oberlehrer Dr. Gütz-

laff. Programm des Gymnasiums zu Elbing 96

Bemerkungen und Ergänzungen zuWeigand's deutschem Wörterbuch. Vom

Oberlehrer Dr. Gombert. Progr. des Gymn. zu Gross-Strehlitz ... 97

Ueber germanische Wörter im Französischen. Von Dr. K. Holtenrott. Pro- gramm der Realschule I. O. zu Cöln 98

Einige sprachliche Eigenthümlichkeiten aus dem Wupperthale. Vom ordentl. Lehrer Dr. Bauernfeind. Programm der Realschule IL 0. zu Barmen- Wupperfeld 98

Die majuskeltheorie der grammatiker des neuhochdeutschen von Johann Kolross bis auf Karl Ferdinand Becker. Von Director Dr. Hagemann. Programm des Gymnasiums zu Graudenz 99

Zur Geschichte der Kritik und Erklärung des Hilde brandsliedes. Von Dr.

Schulze. Programm des Gymnasiums zu Naumburg 100

Die Nibelungen in der deutschen Poesie. Von C. Rehorn. Programm der

Musterschule zu Frankfurt a. M ^00

Die sittliche Lebensanschauung Walther's von der Vogelweide. Vom Ober- lehrer Dr. Ferd. Gumpert. Progr. der Realschule zu Würzen ... 103

Seite Ueber die politische Dichtung Walther's von der Vogelwcide. Von Dr. Adolf

Grimm. Programm des Gymnasiums zu Schwerin 104

Zur Charakteristik Fishart's. Von Dr. Gustav Dederding. Programm der

Luisenstädtischen Gewerbeschule zu Berlin 104

Beiträge zur Kenntniss von Andreas Gryphius' Leben und Schriften. Von

Th. Wissova. In der Festschrift des kathol. Gymnasiums zu Glogau 103 Christian Weise's Verdienste um die Entwickelung des deutschen Dramas.

Vom Oberlehrer Dr. Glass. Progr. der Realsch. 2. Ordn. zu Bauzen 105 Ein Andernacher Schauspiel aus dem Jahre 1781. Vom Rector Dr. E.

Schweikert. Programm des Progymnasiums zu Andernach .... 10.5 Ueber Schiller's Verhältniss zu Christian Gottfried Körner. Vom Gymnasial- lehrer Franz de Paula Lang. Programm des Gymnasiums zu Marburg

in Steiermark .... IOC

Klein Roland, der sterbende Roland, der getreue Eckart auf Quarta erklärt.

Von A. Schleussinger. Programm der Studienanstalt zu Ansbach . . 106 Studien zu Skakespeare's Julius Cäsar (Forts.). Von Professor Erenbert

Gerstmayr. Programm des Gymn. zu Kremsmünster 107

Ueber den epischen Werth der Voltaire'schen Henriade. Von Dr. Wunder.

Progr. der Realschule zu Schönberg im Fiirstenthum Ratzeburg . . 107

Miscellen.

Seite 108 122, 231—240, 469—474.

Bibliographischer Anzeiger.

Seite 123-125, 475—480.

Verzeichniss der Vorlesungen an der Berliner Akademie für moderne Philo- logie. Wintersemester 1877 126

Beiträge

Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes.

Ed. Tiessen.

V. A Midsummernight's Dream.

Einleitung. D: „Der Name des Elfenkönigs Oberon kommt schon vor Shakespeare in verschiedenen Märchen und Balladen vor; am Frühesten vielleicht in der englischen Uebersetzung des französischen Romans von Huon de Bourdeaux, welche Lord Berners im Jahre 1597 lieferte." Ein ähnlicher und unzwei- felhaft identischer Name war schon viel früher in die englische Volksdämonologie verpflanzt worden. In einem in den Archiven entdeckten Schriftstück gesteht ein Benedictinermönch dem Car- dinal Wolsey, der Herzog von Norfolk habe ihn rufen lassen, damit er ihn von einem Geist befreie, mit dem der Herzog sich durch Wolsey's Zauberkünste behext glaubte. „And then he asked whether I ever heard that your Grace had any spirit or nay. And I said 1 never knew no such thing, but I heard it spoken that Oberyon would not speak at such time as he was raised by the parson of Lesingham, Sir John Leister, and others, because he was enchanted to the Lord Cardinal's Grace." Wolsey fiel ums Jahr 1529; dieses wäre also das späteste Da- tum des in mehr als einer Beziehung merkwürdigen Schrift- stücks.

(Ibid.) In Oberon's Erklärung des Farbenwechsels der Blume love-in-idleness haben die Commentatoren bekanntlich aller- lei Beziehungen auf vornehme Zeitgenossen des Dichters finden wollen. Nach Delius' Auffassung ist es Nichts damit. A mer-

Archiv f. n. Sprachen LVIII. 1

2 Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes.

maid on a dolphin's back bedeutet weder die mit dem Daupliin vermählt gewesene Maria Stuart, noch eine Sängerin auf dem Rücken eines künstlichen Delphins mit einer ganzen Bande mu- sicirender Jonaese im Bauche, sondern eine wirkliche Sirene auf einem lebendigen Seefisch. Wenn Oberon sagt: certain Stars shot raadly from their spheres, meint er damit so wenig die Grafen Northumberland und Westmoreland , wie etwa die Kunstleistungen eines Feuerwerkers, sondern leibhaftige Sterne, die aber durch den verführerischen Gesang der Sirene von Liebe bethört aus ihren Bahnen gelockt worden sind. Unter a fair vestal throned by the west und the imperial votaress versteht Oberon dagegen nicht eine im Westen Europa's als Herrscherin eines Reiches thronende sterbliche Jungfrau, die das Gelübde der Keuschheit abgelegt hat, sondern „die so eben im Westen aufgehende Luna," Wenn der Mond im Westen aufgeht, zeigt er sich uns in Gestalt einer ganz schmalen Sichel und hat wenig Anspruch auf das Epitheton throned ; dies ist indess noch nicht das gewichtigste Bedenken gegen Delius' Auslegung. Cupido flog zwischen dem kalten Monde und der Erde; er zielte, auf wen? auf den Mond? Dann niusste Oberon sagen: auf jene holde Vestalin. Er sagt aber: auf eine holde Vestalin. Ferner: sein feuriger Pfeil Avurde gelöscht von den keuschen Strahlen des wässerigen Mondes, und die der Keuschheit geweihte Herrscherin ging In jungfräulicher Beschaulichkeit und liebefrei ihres Weges weiter. Die holde Vestalin hiesse nun wieder der wässerige Mond? Mich dünkt, Avenn der Dichter Delius' Auffassung geflissentlich vorbeugen wollte, konnte er es gar nicht deutlicher thun. Die Rolle, die der Mond in dem geschilderten Vorgange spielt, besteht offenbar lediglich darin, dass er die jungfräuliche Herrscherin gegen Cupido's Pfeil be- schützt, und in diesem Sinne darf man annehmen, dass unter the moon die Göttin des Mondes, die Göttin der Keuschheit selbst, zu verstehen ist. Wir werden daher fortfahren dürfen, bei der jungfräulichen Herrscherin, auf die der Schaft mit sol- cher Gewalt abgeschnellt wurde, als sollte er hunderttausend Herzen durchbohren, an die Königin Elisabeth, bei den hundert- tausend Herzen an die Herzen ihrer Unterthanen zu denken. Selbst Halpin's Erklärung mag unter all ihren Abgeschmackt-

Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Sliakespeare-Textcs. 3

lieiten ein Krütnclien Wahrheit verberi-en und Uisst sich keinen- falls damit beseitigen , dass die Feste von Kcnilvvortli zwanzig Jahre vor der Entstehungszeit des Midsummernight's Dream stattgefunden hatten. Als dieses Stück geschrieben wurde, war Elisabeth sechszig Jahre alt; ebendeshalb durfte der Dichter es wagen, auf Vorgänge in ihrem Leben anzuspielen , die einer schon historisch gewordenen Vergangenheit angehörten. Anderer- seits ist es klar, dass Elisabeth nicht eher als die jungfräu- liche Königin gefeiert werden konnte, als bis sie über die Jahre hinaus war, in denen sie aufhören konnte es zu sein. Dass der Dichter unter a little western flowcr in der That an die Gräfin Lätitia von Essex gedacht haben möge, ist durchaus nicht ohne innere Wahrscheinlichkeit. Ich verweise übrigens auf eine Autorität ersten Ranges: Some have doubted whether „Cupid's fiery dart" was as effectually „quenched in the chaste beams of the watery moon" as her poet intimates. Hallam, Const. Hist. of Engl. cap. 3.

(A. I. Sc. 1.) Long withen'ng out a yonng man's uevenue.

To wither out erklärt Delius durch aussaugen, an Etwas zeh- ren. Es ist in diesem long Avithering out eine eigenthümliche Vermischung von transitiver und intransitiver Bedeutung: durch lange währendes Hinwelken vorenthaltend.

(Ibid.) This man liath bewitch'd the bosom of my child.

Das man hier fortzulassen, ist nicht nur der Correctheit des Verses, sondern auch der Eleganz der Sprache wegen em- pfehlenswerth.

(Ibid.) Know of your youth,

Das heisst nicht: erforsche Deine Jugend, sondern: forsche bei Deiner Jugend nach, oder: frage bei Deiner Jugend an.

(Ibid.) Were the world mine, Demetrius being bated, The rest I'll give to be to you translated.

Wenn Helena die ganze Welt besässe, erklärt D., würde sie dieselbe, den Demetrius abgerechnet, aufHermia übertragen. Nein, Helena würde die ganze Welt, Demetrius abgerechnet,

1*

4 Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare- Textes.

darum geben, wenn sie in Hermia verwandelt werden könnte. (Bottom, thou art translated!)

(Ibid.) Upon faint primrose-beds were wont to lie,

Faint bed, meint Delius, sei ein Bett für Müde. Faint bezieht sich jedenfalls auf den Duft der Schlüsselblume.

(Sc. 2.) You were best to call them generally.

Unter generally versteht Bottom nicht nominally, wenn auch allerdings etwas Aehnliches, nämlich severally.

(Sc. 3.) The clamorous owl, that nightly boots, and wonders At our quaint spirits.

To hoot at übersetzt Delius mit anheulen ; es heisst hier ge- nauer ausschelten.

(Sc, 3.) Where is Demetrius? 0, how fit a word Is that vile name to perish on my sword!

Die Herausgeber würden sich Dank verdient hab^n, wenn sie uns belehrt hätten, warum der Name Demetrius so bezeich- net wird. Soll man an to demit, demüthigen, unterwerfen, oder an meat, Fleisch, das an den Spiess gesteckt wird, dabei denken?

(Ibid.) So I, being young, tili now ripe not to reason,

Delius meint, ripe sei hier Verbum. Wie ist das möglich? Dann heisst die Stelle ja: ich reife bis jetzt nicht zur Vernunft, wahrend Lysander sagen will: bis jetzt war ich nicht reif zur Vernunft.

(A. III. Sc. 1.) A stranger Pyraraus than e'er play'd here.

Delius hält es für möglich, dass played hier Particip sei. Dann hätte der Dichter gewiss geschrieben: A stranger Pyraraus was ne'er play'd here; aber was er wirklich geschrieben hat, ist ja bei Weitem komischer.

(Ibid.) A bog, a headless bear,

D.: „Vielleicht wäre heedless zu lesen." Um keinen Preis der Welt!

Beiträge zur Feststellung und Erklärung dos Sbakespearc-Textes. 5 (Sc. 2.) Wliat night-rulc now about tliis haunted gi'ove?

Die Erklärung dieser Stelle ist ziemlich dunkel. Vermuth- lich: Warum jetzt diese nächtige Stille in diesem sonst belebten Hain?

(Ibid.) But hast thou yct latch'd the Athenian's eyes With thc love-juicc, as I bid theo do?

Man braucht to latch weder von dem französischen lecher abzuleiten, noch als synonym mit to catch zu fassen. Die wört- liche Bedeutung von to latch, zuklinken, gibt ja einen ganz guten Sinn.

(Ibid.) And hast thou kill'd hira sieeping? 0 brave touch!

O brave touch heisst nicht: O schöner Zug, sondern: O tapferer Hieb! A touch ist ein Hieb oder Stich, auf welchen Blut fliesst.

(Ibid.) If for his tender here I make some stay.

His tender übersetzt Delius durch „was jener ihm darbietet". Genauer und dem Bilde entsprechend ist es die Accordsumme, die der bankerotte Schuldner dem Gläubiger bietet.

(Ibid.) 0 weary night, 0 long and tedious night,

Abate thy hours: shinc, comforts, from the east,

Delius: „Vielleicht ist comforts als Object zu shine zu fassen, wobei freilich das Tageslicht, dem die Anrede gilt, hinzugedacht werden müsste." Das ist aber nicht möglich, denn bis dahin hat Helena nur die Nacht angeredet.

(A. IV. Sc. 1.) Trip we after thc night's shade;

Wenn man the fortlässt, kann man wol lesen nightes shade, allenfalls auch zwischen night's und shade ein y, aber nicht ein e einschieben.

(A. V. Sc. 1.) And grows to something of great eonstancy,

Constancy, von Delius mit Bestand, Wirklichkeit erklärt, hat hier wohl eher die Bedeutung von consistency, logische Folge- richtiskeit.

6 Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes.

(Ibid.) AuJ what poor duty cannot do,

Der Vors wäre vielleicht ohne Versündigung am Dichter herzUtStellcD : And what poor duty can but poorly do.

(Ibid.) For, if I should as lion come in strife Into this place, 'twere pity on my life.

Ou my life kann keincnfalls: bei meinem Leben heissen Süllen. *

VI. All's Well That Encls Well.

(A. I. Sc. 1.) he hath persecuted tirae with hope, and finds no other advantage in the process,

Process heisst nicht Verlauf, sondern Prozess, und bezieht sich nicht auf time, sondern auf he hath persecuted time; da auf eine gerichtliche Verfolgung angespielt wird, wäre vielleicht prosecuted zu lesen.

(Ibid.) I heard not of it before.

Delius: „Bertram hat nie von einer Krankheit dieses Namens «rehört." Nach Lafeu's Antwort: I would it were not notorious, ist wahrscheinlicher, dass Bertram entweder überhaupt noch nicht von der Krankheit des Königs, oder noch nicht gehört hat, dasa der König an dieser bestimmten Krankheit leidet.

(Ibid.) Count. If the living be enemy to the grief, thc excess makes it soon mortal. Ber. Madam, I desire your holy wishes. La f. How understand we that?

Wahrscheinlich muss gelesen werden:

Helen. If the living be enemy to the grief, the excess makes it

soon raortal. La f. How understand we that? Ber. Madam, I desire your holy wishes.

Die wahrscheinlichste Erklärung des ersten Satzes ist : Wenn der Lebende der Feind des Grames ist, so muss jener

Beiträge zur Feststellung und Erldiirun;-^^ des Shakespeare-Textes. 7

wünschen, diesen recht hahl umzubringen, und das thut er durch Uebertreibung des Grams.

(Ibid.) PIo cannot want thc best

That sliall attend bis lovc.

Delius : „Die Besten, Vornehmsten am Hofe werden sich um Bertrams Zuneigung bemühen, ihm huldigen." Das ist schwer- hch der Sinn; die Gräfin bittet Lafeu: good my lord, advise him, und in Lafeus Antwort ist zu the best zu suppHren: ad vice; es kann ihm an dem besten Kath nicht fehlen, der der Liebe zu ihm dienstbar sein wird.

(Ibid.) In our Iieart's table;

Delius: „Our heart sagt Helene allgemeiner von dem weiblichen Herzen überhaupt.-' Ihre unmittelbar folgenden Worte beweisen, dass sie von ihrem eigenen Herzen spricht; our heart bedeutet dasselbe wie one's heart.

(Ibid.) You have somc stain of soldier in you;

Delius: „Some stain of soldier = ein gewisser Anstrich vom Soldaten, nicht das wirkliche Wesen eines solchen." Letztere Negation liegt nicht darin: Helena sagt einfach: Ihr habt was vom Soldaten an Euch.

(Ibid.) Not my virginity yet.

Diese Worte lassen sich mit der vorhergehenden Frage des Parolles, will you anything with it? kaum in Zusammenhang bringen, aber man darf annehmen, dass Helena sagen will, mit ihrer Jungferschaft sei es noch nicht so weit, dass das Bild von der welken Birne darauf passe. Dass hinter Not my vir- ginity yet etwas fehlt, ist augenscheinlich, und gegen Hanmer's Ergänzung: You're for the court, um so weniger einzuwenden, als das spätere: The court's a learning-place darauf hinweist, dass von dem Hofe schon vorher die Rede gewesen ist.

fibid.) A counsellor, a traitress, and a dear;

Delius: „Seil, a dear one, auf traitress bezüglich." Nein; a traitress und a dear sind coordinirt.

8 Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes.

Sc. 2. You are lov'd, Sir;

Tliey, that least lend it you, shall lack you first.

Wahrscheinlicher als auf lack ist it auf das in loved steckende Substantiv love, oder auch auf den ganzen Satz, you are loved, zu beziehen.

Sc. 3. he that loves my flesh and blood is my friend: ergo he that kisses my wife is my friend.

Die scharfsinnige Beweisführung des Narren erinnert an eine Stelle bei Kabelais: Si tu es cocu, ergo ta femme sera belle: ergo seras bien traicte d'elle: ergo tu auras des amis beaucoup: ergo tu seras saulve.

(Ibid.) And lack not to lose still.

D.: „Ich entbehre es nicht, ich lasse mich dadurch nicht, irre machen, wenn ich das Wasser stets vergebens einschütte, wenn ich es immer wieder verliere." Vielmehr: ich habe genug, um immer wieder zu verlieren.

(Ibid.) How shall they credit

A poor unlearned virgin, when the schools, Embowell'd of their doctrine, have left off The danger to itself?

Embowellcd of their doctrine, mit ihrer Gelehrsamkeit aus- gestopft, im Gegensatz zu unlearned. D. übersetzt to embowel hier irrthümlich durch ausweiden.

(A. II. Sc. 1.) if both gain, all

The gift doth Stretch itself as 'tis receiv'd,

Hier muss interpungirt werden: if both gain all, The gift etc

(Ibid.) Stay; the king

Dies kann nur Antwort auf Parolles' Frage: What will you do? sein sollen; man muss daher mit Collier lesen: Stay with the king.

(Ibid.) I wish I had; so I had broke thy pate,

Statt des Semikolon ist ein Komma zu setzen; so heisst wenn.

Beiträge zur FeKtKtellimg uml Erkluning des Sluikespeare-Textes. 9

(Ibid.) Ycs, but you will niy noble grapcs, Hinter will gehört ein Komma.

(Ibid.) onc, that in her sex, her years, profossion,

Wisdoni, and constancy, hath amaz'd me more Than I dare blarae my weakness.

Die von Dclius als die gesuchtere bezeichnete Erklärung M. Masons trifft das Richtige. Lafeu meint, seine Schwäche möge an seinem Staunen mitschuldig sein, trage aber die Schuld daran nicht allein.

(Ibid.) In wliat he did profcss well found.

Well found heisst entweder wohlausgerüstet, oder wahr- scheinlicher, zuverlässig erfunden.

(Ibid.) nc worse of worst extended,

With vilest torture let my lifo be ended.

Wenn man liesst: nay, worse to worst extended, sind die Schwierigkeiten dieser Stelle beseitigt.

(Sc. 3.) There's one grape yet, I am sure, thy father drank wine.

Mit one grape yet meint Lafeu „den letzten noch übrig bleibenden jungen Herrn", d. h. aber, Bertram selbst.

(Ibid.) A countcrpoise, if not to thy estate, A balance more replete.

Der richtige Sinn ergiebt sich, wenn das Komma hinter estate gestrichen wird.

(Sc. 4.) The great prerogative and rite of love,

Which, as your due, time claims, he does acknowledge,

But puts it ofF to a compeird restraint ;

Whose want, and whose delay, is strew'd with sweets,

Whose want and Avhose delay, von Delius auf restraint bezogen, kann sich *iiur auf prerogative and rite of love beziehen. Das Vorkommen dieser Art von Construction spricht für eine späte Entstehungszeit des Stücks. To a compelled restraint hat wol zuerst by a compelled restraint heissen sollen, aber der Dichter mag an die andere Bedeutung von to put ofF, die Kopfbedeckung

10 Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare -Textes.

abnehmen, «redaclit und während des Schreibens den bildlichen Ausdruck vorgezogen haben.

A. III. Sc. 2. Why, he will look upon bis boot, and sing; mend the ruff, and sing;

Delius: „The ruft' bezieht sich auf his boot und sollte eigent- lich rufHe heissen." Aber so viel ich weiss, heisst rufF ein Spitzenkragen, wie ihn zu Sh'g. Zeit auch Männer trugen.

(Ibid.) The fellow has a deal of that, too much, "\yhich holds him much to have.

Dieser Interpunction entsprechend übersetzt Delius: „Parolles hat viel von dem, hat zuviel von dem, was ihm den Glauben verschafft, dass er viel habe, was ihn in der Meinung hält oder behauptet, dass er viel habe." Das Komma hinter that muss fortfallen ; was holds him bedeutet, geht aus Helena's letzter Kede in dieser Scene hervor: My being here it is that holds thee hence. Der Sinn der obigen Stelle ist: Parolles hat viel zu viel von dem, was ihn hindert viel zu haben.

(Sc. 5.) Whatsoe'er he is,

He's bravely taken here.

Nicht: er hat sich tapfer benommen hier, sondern: er wird hier für etwas Besonderes gehalten.

(Ibid.) And brokes with all that can in such a suit Corrupt the tender honour of a maid :

Delius: „To broke=:den Kuppler oder Unterhändler spielen." Das trifft den Sinn nicht ganz: er macht Alles zu seinem Kupp- ler was etc.

(A. IV. Sc. 2.) What is not holy, that we swear not by, But take the Highest to witness:

Delius versteht die erste Zeile als Frage, und übersetzt: „Es giebt nichts Heiliges, das wir nicht zu Zeugen unserer Schwüre anriefen." Die richtige Erklärung ist; Was nicht heilig ist, dabei schwören wir nicht, sondern rufen nur das Höchste (die Höchsten oder den Höchsten) als Zeugen an.

Beiträge zur Feststellung und ErkliiruDg des Shakespeare-Textes. 11

(Ibid.) Tliis has no Holding,

To swear by him, wboni I protcst to lovc, Tliat I will work against him.

Die von Delius in der Anmerkung flüchtig erwähnte, aber verworfene Erklärung, dass sich swear by him whom I protcst to- love auf das vorhergehende Jove beziehe, beseitigt alle ver- meintlichen Schwierigkeiten dieser Stelle. Diana sagt: es hat keinen Halt, wenn ich bei dem Gott, den zu lieben ich betheure, schwöre, dass ich mich gegen ihn vergehen will. So wird der Gedanke des Vorhergegangenen: If I should swear by Jove's great attributes, I lov'd you dearly, would you believc my oaths, when I did love you ill? noch eindringlicher wiederholt.

(Ibid.) I See, that men make ropes in such a scarr, That we'U forsake ourselves.

Der Versuch, make ropes in such a scarr zu erklären, er- weist sich als so völlig hoffnungslos, dass es unbedingt besser gewesen wäre, entweder make hopes in such affairs oder make hopes in such a suit in den Text zu setzen.

(Sc. 3.) cur crimes would despair, if they were not cherished by our virtues.

Delius: „D. h. wir würden wegen unserer Schlechtigkeit ver- zweifeln, wenn unsere Tugend uns nicht wieder Muth machte." Genauer: unsere Verbrechen würden verzweifeln, wenn unsere Tugenden nicht da wären um sie zu trösten.

(Ibid.) where but women were, that had received so much sbame,

Delius: ,,Mit einer Frau, die bei soviel Schmach so frech bliebe etc." So frech bliebe? Der Sinn ist nur: der so viel Schande widerfahren wäre.

(A. V. Sc. 1.) I will come after you, with what good speed Our means will make us means.

Der Vorschlag, das letzte means zu streichen, hätte unbe- denklich befolgt werden dürfen.

(Sc. 2.) Here is a pur of fortune's, Sir, or of fortune's cat,

Delius: „Pur =z das Schnurren einer Katze, deutet Douce

12 Beitrage zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes.

richtig auf den Bettelbrief des Parolles au Lafeu. Die Katze selbst ist Parolles." Unter pur ist nicht das Schnurren einer Katze, sondern ein festes Excrement zu verstehen, und es bezieht sich natürlich auf Parolles selbst, nicht auf seinen Bettelbrief. Diesen zu befördern, hat der Narr vorher schon abgelehnt und darauf gesagt: Look, here he comes himself (nämlich Lafeu). Dem Lafeu stellt er den Parolles mit den Worten vor: Here is a pur of fortune's, sir, or of fortune's cat, that has fallen into the unclean fishpoud of her displeasure. Der letzte Absatz lässt keinen Zweifel über den Sinn.

(Sc. 3.) We lost a jewel of her^ and cur esteera Was made much poorer by it:

Unsere eigene Schätzung unseres ßeichthums wurde durch den Verlust des Kleinods viel ärmer gemacht, ist eine so ein- fache und so wörtliche Erklärung, dass es sich schwer begreift, wie unter den Herausgebern Meinungsverschiedenheiten über diese Stelle haben entstehen können.

(Sc. 3.) The natura of his great ofFence is dcad, And deeper than oblivion we do bury The incensing relics of it:

Incensing rehcs übersetzt Dehus durch noch brennende, noch nicht erloschene Trümmer. Sollte incensing nicht eher erzürnend heissen?

(Ibid.) He looks well on't.

Dies bezieht Delius auf Then shall we have a match, und übersetzt: Bertram ist wohl zufrieden damit. Es kann sich nur auf des Königs letzte Worte beziehen: I have letters sent me, that set him high in fame, und muss daher bedeuten: He looks well of it; er sieht so aus, dass man den Briefen wohl glauben darf.

(Ibid.) I am not a day of season,

A day of season ist allerdings a seasonable day, wie Ma- lone erklärt, das heisst aber nicht: ein Tag, in dem man eine bestimmte Jahreszeit erkennt, sondern ein heiterer Tag. Delius' Irrthum ist verzeihlich, verglichen mit dem eines Engländers, der a day of season für einen ununterbrochenen Regentag ausgiebt.

Beitrüge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes. 13

(Ibid.) Our own love, waking, cn'es to see wliat's done, While shamcful hate sleeps out the aftcrnoon.

Delius: „Unterdessen hält der Hass, der uns verblendete, schamerfdllt über das, was er angestiftet, nicht länger an als ein Nachmittagsschlaf dauert und schläft sich in der Zeit aus." Eine völlig unmögliche Uebersetzung. Malone giebt das Richtige: Haben wir den, der durch unsere Schuld gestorben ist, geliebt, so erwacht die Liebe nach seinem Tode wieder und beweint ihn; haben wir ihn gehasst, so bekümmert sein Tod uns nicht.

(Ibid.) The last that e'cr I took her leave at court,

Dies gibt schlechterdings keinen Sinn ; man muss mit Rowe she statt I lesen.

(Ibid.) Noble she was, and thought

I stood ingag'd:

Ingaged steht, wie das Folgende ganz unzweifelhaft ergiebt, für ungaged oder unengaged.

(Ibid.) In a sweet verbal brief, Delius: „Eine gedrängte Darstellung in kurzen, anmuthigen Worten." Brief ist die Instruction, die der Rechtsbeistand einer Partei dem für dieselbe vor Gericht auftretenden Advocaten giebt.

(Ibid.) Her infinite cunning, Delius schreibt diese Emendation des insuite commino- der Fol. Sidney Walker zu; wenn Collier's alter Corrector keine Erfin- dung ist, gebührt diesem die Priorität.

VII. Twelfth Night.

(A. I. Sc. 1.) The element itself, tili soven years heat,

Heated tili seven years, wie Delius construirt, ist nicht mög- lich; man rauss lesen: tili seven years' heat.

(Sc. 2.) 0! that I serv'd that lady,

And might not be deliver'd to the world, Till I had niade mine own occasion mellow, What my estate is.

14 Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes.

Delius verbindet what :ny estate is mit delivered to the Avorld, miiss also construiren: and that it might not be delivered to the World. Die richtige Construction ist: and that I miglit not be delivered to the world , tili I had caused mine own occasion to mellow (seil, the time for discovering,) what my estate is.

(Sc. 3.) Castiliano vulgo; for here comes Sir Andrew Ague-face.

Dass Castiliano volto zu lesen sei, ist an sich wahrschein- lich und wird es noch mehr dadurch, dass Sir Toby Ague-face statt Ague-cheek sagt.

(Ibid.) but that he hath the gift of a coward to allay the gust he hath in quarrelling,

Wahrscheinlich muss gift statt gust gelesen werden. (Sc. 4.) And all is semblative a woman's part

Andere Ausgaben haben its semblative; vermuthlich ist thy semblative zu lesen.

(Sc. 0.) To be generons, guiltless, and of free disposition, Besser als guiltless scheint guileless in den Sinn zu passen.

(Ibid.) Now, Mercury endue thee with leasing, for thou speakest well of fools!

Wenn leasing hier Lüge bedeutet, ist die Stelle sehr dunkel.

(Ibid.) 'tis with him in Standing water, between man and boy.

Die Lesart e'en standing water scheint eine Verbesserung.

(Ibid.) If you be not mad, be gone; if you have reason, be brief:

Dass If you be mad zu lesen sei, darf man wohl als sicher annehmen.

(A. II. Sc. 2.) She took the ring of me; I'll none of it.

She took the ring of me kann gewiss nur ein Ausruf der Verwunderung sein und muss also ein Ausrufungszeichen er- halten.

(Sc. 3.) By my troth, the fool has an excellent breast.

Wenn breast, wie Delius meint, Stimme bedeutet, wie kommt

Beiträge zur Feststellung und Erklärung des SIiakespcare-Tcxtes. 15

es, (lass Sir Andrew gleich darauf noch einmal, ausdrücklich, von der Stimme des Narren spricht?

(Ibid.) When thou spokest of Pigrogromitus, of the Vapians pass- ing the equinoctial of Queubns :

Delius nimmt an, dass die Eigennamen, die Sir Andrew von dem Narren gehört haben will, von diesem aus der Luft ge- griffen sind. Aus den Worten des Narren: I did impeticos thy gratilhty, ist zu vermuthen, dass Sir Andrew die Namen, die er gehört hat, verkehrt ausspricht ; bei lediglich fingirten Namen käme darauf Nichts an. üb ferner die Namen, Avie Sir Andrew sie ausspricht, uns so überliefert worden sind wie der Dichter sie geschrieben hat, lässt sich nicht ermitteln; jeder Erklärungs- versuch tappt mithin im Dunkeln. Beim ersten Lesen der Stelle denkt man unwillkürlich an Rabelais, mit dem Sh., wie aus As You Like It und All's Well That Ends Well hervorgeht, be- kannt gewesen ist, und vielleicht nicht nur, wie Delius annimmt, durch englische Volksbücher. Die scenaueste Durchforschung von Gargantua und Pantagruel ergiebt indess nur sehr schwache Anhaltspunkte. Wollte man z. ß. annehmen, der Narr hätte von den Utopians gesprochen, so würde damit nicht stimmen, dass die Utopen bei Rabelais nicht die Linie passirt haben, son- dern, auf einem leider noch nicht wieder entdeckten Wege, durchs Nordmeer nach China geschifft sind. Für Queubus findet sich bei Rabelais kein ähnliches Wort, mit Ausnahme von Quebecu, welches aber sehr versteckt steht. Sollte endlich Pig-rogromitus aus dem Rabelais stammen, so müsste der Narr den Namen Picrochole etwa in der Form von Picrocholicus sich mund- gerecht gemacht haben. Dies Alles sind vage Vermuthungen, die höchstens Andere zu weiterem Nachforschen anregen mögfen. Dagegen halte ich, da es nur Einen Aequator giebt, für ziemlich sicher, dass statt passing the equinoctial of Queubus gelesen werden muss: passing the equinoctial; of Queubus: so dass der Narr von einer Person dieses Namens gesprochen hätte.

(Ibid.) and the Myrmidons are no bottle-ale houses.

Nicht unwahrscheinlich ist, dass der Narr sagen will, Sir Andrew solle bei dem Namen Myrmidons nur nicht an raermai-

IG Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare- Textes.

dens (lenken, die etwa auf dem Aushängeschild einer Schenke dargestellt sein mochten.

(Ibid.) Then come kiss me, sweet-and-twenty,

Sweet- and -twenty heisst gewiss nicht, wie Delius erklärt, eigentlich süss und zwanzigmal süss, sondern ist eine anmuthige Wortbildung nach Analogie von two- and -twenty, womit der Sänger zugleich die Lieblichkeit und die Jugend seines Mäd- chens ausdrückt.

(Sc. 4.) Let still the woman take

An eider than herseif; so wears she to him,

To wear, meint Delius, heisse hier: sich dem Gatten anschmie- gen, ihm anhängen. Der Nachdruck liegt indess auf to him, als Gegensatz zu from him. Da Frauen schneller altern als Männer, so nähert sich die jüngere Frau im Alter allmälig dem Manne; die ältere entfernt sich immer weiter von ihm.

(Ibid.) So sways she level in her husband's heart:

Level erklärt Delius: im Niveau seines Herzens, nicht darüber Iiinaus. Die wörtliche Uebersetzung: so herrscht sie auf immer gleichem Niveau in seinem Herzen , giebt einen besseren Sinn.

(Ibid.) And in sad cypress let me be laid;

Cypress kann schwerlich einen Sarg aus Cypressenholz bedeuten; dies wäre ein Luxus, den nur Fürstenleichen sich gestatten könnten. Es heisst wahrscheinlich soviel wie cyprus. Hall beschreibt ein im J. 1527 bei Hofe aufgeführtes allego- risches Schauspiel; darin treten auf: Religio, Ecclesia, Veritas, like three widows, in garments of silk, and suits of lawn and cypress. (Fronde, Hist. of Engl. cap. 1.)

(Sc. 5.) my metal of India?

Für das mettle der ersten Fol. mit der zweiten nettle zu lesen, ist augenscheinlich vorzuziehen.

(Ibid.) the lady of the Sfrachy

Strachy entspräche in der Aussprache dem italienischen Stracci, wobei an Strozzi zu denken sein dürfte.

Beitriign zur Foststollnng und Krkliirung dos Shakospcaro-Toxtes. 17

(Ibid.) Wliat follows? tlie numbeis ultored ! „No iii:in mnst know." if tliis sliould be thee, ISFalvolio?

Zu the numbers altered bemerkt Delius: „Die folgenden Verse sind in einem anderen Versmaass als die vorhergelicnden." Aber warum lallt dies dem Malvolio auf? Weil er den Heim zu No man must know vermisst und ihn sich nun selbst hinzudenkt. Er muss daher sprechen: Mal-vo-li-o.

(Tbid.) Why, Ibis is evident tn any formal capacity.

Formal heisst hier vielleicht eher gewöhnlich, als gehörig, ordentlich.

(A. III. So, 2.) I bave been dear to bim, lad:

Delius: „Auf 1 liegt der Nachdruck." Mehr noch üeot er auf him.

(Sc. 3.) Most of your city did:

Your ist wohl nur Druckfehler für our.

(Ibid.) For wbich, if I be lapsed in this place,

Delius: „So in Hamlet (A. 3. Sc. 4.) laps'd in time and paa- sion." Dort hat indess lapsed einen anderen Sinn. liier heisst es : fallen in with.

(Sc. 4.) nor after my degree, but fellow.

Fellow hat Olivia in Bezug auf Malvolio nicht, wie Delius sagt, in vertrauHcher, sondern in wegwerfender Weise gebraucht; gerade Malvolio fasst es als vertraulichen Ausdruck auf.

(Ibid.) If all the devils in hell be drawn in little, and Legion him- self possessed him,

Legion, sagt Delius, sei der Name eines Teufels. Eines Teufels?

(Ibid.) lest the device take alr, and taint.

Delius: „To taint bezieht sich auf infection:" (his very genius has taken the infection of the device,) „Malvolio soll in Gewahr- sam gebracht werden , damit sein Uebel nicht an die Luft

Aicliiv f. n. Spinclicn. I.VIII. 2

18 Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes.

komme und ansteckend wirke." Ansteckend wirke? auf wen? To taint heisst to taint itself: damit der Anschlag nicht an die Luft komme und brandig werde, d. h. herauskomme und zu Schanden werde.

(Ibid.) Very brief, and to exceeding good sense-less.

Delius: „Manche Herausgeber lassen stillschweigend to weg." Sie thun vielleicht nicht recht, es stillschweigend wegzulassen; aber sie thun recht, es wegzulassen und das beschädigte Wort- spiel herzustellen.

(Ibid.) Virtue is beauty; but the beauteous-evil

Are empty trunks, o'erflourish'd by the devil.

Wenn, wie Delius will, o'erflourish'd by the devil sich nicht auf empty trunks, sondern auf the beauteous-evil beziehen soll, ergibt sich die unmögliche Construction: wdien the beauteous- evil are overflourished by the devil, they are empty trunks.

(Ibid.) Methinks, bis words de from such passion fly, That he believes himself; so do not I.

So do not I kann kaum heissen sollen: I do not believe him; eher noch: I do not believe myself. Vielleicht aber ist zu lesen: That he believes himself, I am not I.

(Ibid.) An I do not,

Dies antwortet Sir Andrew auf Sir Tobys: Do; cuff him soundly, but never draw thy sword, und D. bezieht es auf ncver draw thy sword; es bezieht sich vermuthlich auf do; cuff him soundly.

(A. IV. Sc. 1.) These wise men, that glve fools money, get them- selves a good report after fourteen years' pürchase.

Delius: „Sie erhalten den guten Leumund erst in vierzehn Jahren, nachdem sie dafiir bezahlt haben; es ist also ein ziem- lich unvortheilhafter Handel, den die Weisen mit den Narren abschliessen." Gerade das Gegentheil ist gemeint. After fourteen years' pürchase ist gleichbedeutend mit according to oder at fourteen years' pürchase, und was dies heisst, ergiebt sich u. A. aus folgender Stelle in Froudes Hist. of Engl., worin von den

Relträgo, zur Fciststellmig und Erklärung des Sliakcspoare-Toxtt'S. 19

unter Eduard dem Sechsten eingezogenen Kirchengütern die llede ist: The annual procceds of the hmds sold were 21,304 £, Strl. 14 s. 4 d.; the money paid for them, 435,277 £. Strl. 12 s. 1 d. The average value, therefore, was a fraction over twenty years' purchase. Twenty years' purchase ist also das Zwanzigfache des jährlichen Pachtertrages, und wenn dies in einer Zeit bezahlt wurde, in der das Angebot von Ländereien sehr gross und dringend war, so folgt daraus, dass ein Kauf für den vierzehn- jährigen Jahresertrag ein ungewöhnlich vortheilhafter sein musste. They get themselves a good report after fourteen years' purchase heisst demnach : sie kaufen sich um ein Billiges einen guten Leu- mund. — Davon abgesehen, dass Delius' Auslegung den Narren etwas Widersinniges sagen lässt, ist seine Unbekanntschaft mit dem technischen Ausdruck sehr verzeihlich, da dieser selbst vielen Engländern nicht bekannt ist.

(A. V. Sc. 1.) Fear'st thou that, Antonio?

Delius: „Bist Du in Zweifel darüber, dass ich Sebastian bin? Hast Du Bedenken deshalb?" Sebastian will wirklich sagen: Fürchtest Du, dass ich Sebastian bin? Da er von Viola's Ver- wechselung mit ihm noch nicht weiss, kann er sich nicht erklä- ren, warum Antonio seine herzliche Begrüssung mit der be- stürzten Frage: Ihr seid Sebastian? erwidert. Auf derselben Seite 517 steht hinter Than these two creatures ein Komma statt eines Punktes, und zwischen As doth that orbed continent und the fire ein nicht hingehöriges Komma.

(Ibid.) When that is known and golden time convents, To convent, gewöhnlich zusammenberufen, vorladen, ist hier, wo es ohne Object steht, vielleicht besser mit Douce durch to be convenient zu erklären.

VIIT. The Merry Wives of Windsor.

(A. I. Sc. 1.) he's a justice of peace in his country, Country ist ein von den Herausgebern übersehener Druck- fehler für county, nämlich Glostershire, woher Shallow mit

9 *

20 Beitrüge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes.

Slender nach Windsor gekommen ist, um sich über Falstaff beim Könige zu beschweren.

(Sc. 3.) The good humour is to steal at a minim's rest. So verbessert Delius nach Langton das miniite's der Q. A. und Fol. Vielleicht aber sollte Nym nach des Dichters Absicht wirklich minute's für minim's sagen.

(Ibid.) I will possess him with yellowness, for the revolt of mien is dangerous.

Besser als mien für mine der Fol. liest man mit den Cam- bridge Edd. mine anger.

(Sc. 4.) he is as tali a man of bis hands, as any is between this and bis head:

Das sinnlose bis head, anscheinend aus der nächsten Rede hierher verirrt, steht entweder für das nahe bei Windsor be- lesfene Maidenhead, oder für einen Ortsnamen aus Glostershire.

(A. II. Sc. 1.) I'U exhibit a bill in parliament for the putting down of men.

Theobald's Emendation fat men erscheint als wesentlich. (Ibid.) 0, that my husband saw tbis letter!

Delius: „O, that drückt hier keinen Wunsch aus, sondern nur die Möglichkeit." D. h. Mrs. Ford wünscht, dass es möglich wäre, ihren Mann den Brief sehen zu lassen.

(Sc. 2.) Which I with sword will open. Delius : „Manche Herausgeber fügen aus Q. A. hier noch folgenden Vers hinzu: I will retort the sum in equipage." Sie thun recht daran; Falstaff's wiederholtes: Not a penny, wird dadurch begründet.

(Ibid.) I have grated upon my good friends. Delius: „Tograte upon =; sich an Jemandem reiben, ihm stark zusetzen." Das Wort ist nur aus to grate upon the ear zu erklären, womit ein das Ohr verletzendes Geräusch, wie das Kratzen auf einer Schiefertafel oder das Durchsägen von Stei- nen, bezeichnet wird. Ebenso überlästig ist Falstaff durch seine wiederholte Verwendung für Nym und Pistol seinen guten Freun- den geworden.

Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes. 21

(Ibid.) and yoiir bold-brating oatlis,

Deliiis: „Flüche, die kühn drcinschlagen." Das giebt aljcr keinen befriedigenden Sinn; man hat ofTenbar nur die Wahl, brow-beating oder bull-baiting zu lesen.

(A. III. Sc. 1.) Cried I aim? said I well?

In der Q. A. und Fol. steht cried gaine; dies lässt sich mit geringerer Veränderung und besserem Sinn durch cried 1 game? ersetzen. To cry gamc sagt man von Hunden, welche anschlagen", sobald sie die Spur des Wildes gefunden haben. So in der Introduction zu Taming of the Shrew: Ile cried upon it at the merest loss.

(Sc. 2.) pluck the borrowcd veil of modesly frora the so seeriiing Mistress Page,

Das Wort so bezieht sich nicht auf modesty, sondern so seeming heisst: so ehrbarthuend. Man erinnere sich an your seemers in Measure for Measure.

(Sc. 3.) thou hast the right archod beauty of tlic brow

Arched beauty der Fol. durch das arched beut der Q. A. zu ersetzen, kann man kaum eine W^illkür nennen; ich halte es sogar für eine Verbesserung.

(Ibid.) thou art a tyrant to say so:

Auch hier ist der Lesart der Fol. die der Q. A.: traitor für tyrant, überlegen.

(Sc. 4.) if not, liappy man be his dole!

Delius: „Wenn nicht, Heil Dem, dem es zu Theil wird. Happy man be his dole ist in diesem Sinne sprüchwörtlich." Nein: es wird auf Einen angewandt, der bei der Vertheilung von Almosen leer ausgegangen und mit einem Glückwunsch abgespeist worden ist; in diesem Sinne wendet es Slender auf sich selbst an.

(Ibid.) I pray thee, once to-niglit

Give my sweet Nan this ring.

Delius: „Once erklärt Steevens mit sorae time. Eher möchte once auch hier die Bedeutung haben, die es sonst bisweilen bei

22 Bfitrii'Te zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes.

Sh. hat: einmal für allemal, kurz und gut. Fenton will durch den King sich kurz und gut mit Anna Page verloben." Mir ist keine einzige Stelle bei Sh. bekannt, In der das Wort once die ihm hier zugeschriebene Bedeutung hätte. Ein für allemal heisst once for all ; Sh. gebraucht dafür an einer Stelle : for all. Once heisst durchaus nur: einmal.

(A. IV. Sc. 1.) He tcachcs him to hick and to hack,

Dies heisst weder to do mischief, noch to stammer, to hesitate, sondern zu deutsch: hecken, sich fleischlich vermischen.

(Sc. 2.) if I find not what I seek, show no colour for niy extremity;

Delius: „So sollt Ihr mein tolles Treiben nicht beschönigen, keinen Grund dafür angeben," Show no colour ist aber kein Imperativ, sondern steht für if I show no colour: wenn ich nicht finde, was ich suche, wenn ich nicht zeige, dass ich Ur- sache gehabt habe, zu diesem Acussersten überzugehen. Der Imperativ tritt erst in den nächsten Worten ein: let me for ever be your table-sport. Statt des Semikolons muss also ein Komma, hinter extremity stehen.

(Sc. 5.) Ay, Sir: like avIio more bold.

Die von Delius adoptirte Erklärung Dyce's fiir die Lesart der Fol., like thc boldest, ist ganz unmöglich, während die Lesart der Q. A.: Ay, Sir Tike, who more bold? einen klaren Sinn giebt. '

(A. V. Sc. 5.) Ignorance itself is a plummet over me:

Die Erklärung von Tyrwhitt: ignorance itself is not so low as I am by the length of a plummet-line, welche Delius für die natürlichste hält, scheint mir äusserst gezwungen. FalstafF kommt sich selbst in diesem Augenblick so seicht vor, dass sogar das Senkblei der Unwissenheit ihn zu ergründen vermag.

(Ibidj) And this deeeit loses the name of craft, Of disobedience, or unduteous title.

Delius fasst unduteous title als Object zu loses ; dies ist nicht richtiir. Man muss construiren: This deeeit loses the name of craft, of disobedience, or of unduteous title, und übersetzen: Anmaassung eines unzukömmlichcn Rechts.

Shakespeare's Julius Cäsar und Kruse's Brutus.

Die interessante Thatsachc, dass der hisforisclie Stoff, den Shakespeare in seinem Julius Cäsar dramatisch gestahet hat, von einem neueren Dramatiker wieder aufgenommen worden ist, scheint eine Andeutung zu sein, dass neben der Shake- speare'schen Auffassung und Darstellung auch noch für eine andere Raum vorhanden ist. Das nähere Eingehen auf diese Vermuthung führt zunächst auf das Verhältniss des Shake- speare'schen Dramas zum historischen Stoff.

Es kann als feststehend gelten, dass der Dramatiker nicht an die historischen Thatsachen als solche gebunden ist, aber dem Geist der Geschichte ist er insofern Treue schuldio-, als er in seiner Dichtung unter demselben nicht zurückbleiben darf. Wenn das Bild der Haupthelden aus der Dichtung kleiner, unbedeutender, geistig geringer hervortritt, als aus der Ge- schichte, so ist dies auch ästhetisch als ein Verdammungsurtheil oder wenigstens ein Tadel der Dichtung zu betrachten, falls nicht der Dichter von seinen Personen die historischen Namen zurückzieht. In solches Missverhältniss seinem historischen Stoffe gegenüber zu gerathen, ist für den Dichter die Gefahr um so grösser, je grösser, populärer, geistig höher in der Ge- schichte sein Held steht, je bekannter dessen Leben und Thatcn sind. Wie siegreich und glänzend Schiller in seinem Wallen- stein über solche Gefahr triumphirt hat, ist bekannt; sein AVallen- stcin ist höher, geistig bedeutender als der geschichtliche. Wie aber Shakespeare in seinem Julius Cäsar dieser Gefahr nicht entgangen ist, das darzulegen soll im Folgenden versucht und zugleich vom rein dramatischen Gesichtspunkte aus diese Tragödie betrachtet werden.

24 Shiikespeare's Julius Cäsar und Kruse"s Brutus.

Die Grundforderung einer jeden Tragödie ist, dass ein Conflict durch wirklich handelnd auftretende Individuen, welche die Gegensätze repräsentiren, dargestellt werde. Dieser For- derung ist gerade im Julius Cäsar von dem sonst so eminent dramatischen Shakespeare nicht genügt worden. Denn Cäsar's Auftreten ist in dem Stück so unbedeutend, sein Handeln so unwesentlich, dass dadurch die eine nothwendige Seite des tragischen Gegensatzes gegen die Verschworenen erblasst und damit der ganzen Handlung des Stückes der feste Boden ent- zogen wird. Man hat dies oft gefühlt und als die Idee des Dramas den Conflict in der Seele des Brutus bezeichnet. Aber wenn dieser Conflict tragisch zur Geltung kommen, wenn man überhaupt an ihn glauben soll, muss Brutus nicht gegen Schatten kämpfen, nicht schon vor Philippi gegen Cäsar's unsichtbaren, für ihn und seine Mitverschworenen unerreichbaren Geist. Die- ser Cäsar, gegen den er ankämpft, muss ihm verkörpert als Mensch, als Freund, als Staatsmann, als Gewalthaber, als ein mächtig wirkender und in seinem Handeln vor unseren Augen so erscheinender Charakter gegenüberstehen und aus der gegen- seitigen Anziehung und Abstossung dieser beiden llauptträger der Handlung muss deren dramatische Fortbewegung und ihr schmerzlicher Reflex in der Seele der Männer, aus der sie ge- boren ward, resultiren. Von dieser Grundbedingung aber ist in unserem Stück gar wenig erfüllt. Cäsar's Grösse in dem- selben steht in schlechtem Verhältniss zu der Bedeutung, die er in der Geschichte hat und die er im Stücke haben müsste. Wenn man auch zugeben wollte, dass ein Held im Drama nicht extensiv gross zu erscheinen braucht durch die Fülle oder AVucht seines Handelns, so muss er doch intensiv gewaltig, ja nur durch eine einzige Handlung, so knapp und concentrirt sie auch sei, also erscheinen. Aber eine solche Handlung können wir dem Shakespeare'schen Cäsar durchaus nicht vindiciren, und wo er selbst auftritt, macht er keinen wahrhaft grossen Eindruck. In seinem ersten Auftreten in den Worten, die er zu Marc Anton spricht, sein Weib Calpurnia zu berühren, etwas Anderes als einfache Benutzung der Plutarchischen Erzählung, von der in Rom beim Luperealienfeste herrschenden Sitte, etwa einen Charakterzug Cäsar's, die Sorge um seine Dynastie, zu

Shakespeare's Julius Cäsar und Kruse's Brutus. 25

erkennen, fällt schwer, ebenso aus der Antwort, die er dem Wahrsager gicbt, etwas ihn besonders Charakterisirendes heraus- zuerkennen. Bei seinem zweiten Auftreten sein Argwohn gegen den Cassius enthält ausser dem, was bei Plutarch in dieser Beziehung zu finden ist, nur den schlechten Zusatz zu seinem Charakterbilde, der ihn geradezu als Renommist erscheinen läest:

Zwar ich fürclit' ihn nicht; Doch wäre Furcht nicht meinem Namen fremd, Ich kenne Niemand, den ich eher miede, Als diesen hageren Cassius.

Ich sag' dir eher was zu fürchten stände, Als was ich fürchte; ich bin stets doch Cäsar.

So etwas dem Antonius gegenüber auszusprechen, war der geschichtliche Cäsar wahrlich nicht prahlerisch und unklug genug.

In der Scene mit Calpurnia erscheint Cäsar's Benehmen seltsam. Zuerst lässt er den Priester wegen der nächtlichen Ereignisse sogleich zum Opfer schreiten, sodann aber setzt er sogleich den liebevoll mahnenden Worten Calpurnia's eine Prahlerei entgegen, die seiner in dieser Situation durchaus unwürdig ist.

Cäsar geht aus. Mir haben stets Gefahren Im Rücken nur gedroht ; wenn sie die Stirn Des Cäsar werden sehn, sind sie verschwunden.

An dieser Stelle war wohl ein ungeheures, verblendetes Selbstvertrauen Cäsar's, aber nicht ein Kühmcn seiner Furcht- losigkeit seinem Weibe gegenüber natürlich. Gleich darauf

heisst es:

Ein Thier ja wäre Cäsar ohne Herz

Wenn er aus Furcht sich heut zu Hause hielte.

Das wird er nicht; gar wohl weiss die Gefahr,

Cäsar sei noch gefährlicher als sie.

Wir sind zwei Leu'n, an einem Tag geworfen,

Und ich der ältre und der schrecklichste ;

Und Cäsar wird doch ausgehn.

Man begreift nicht, warum Cäsar mit so vielen Worten seinem W^eibe gegenüber beweisen Avill, dass er sich durchaus nicht fürchte. Wenn er sich in der That nicht fürchtete, hätte er wohl kaum so viel von seiner Furchtlosigkeit gesprochen,

26 Shakespeare's Julius Cäsar und Kruse's Brutus.

wie denn überhaupt die häufige Erwähnung dieser seiner bei Shakespeare besonders betonten Eigenschaft, so wie sein von ihm selbst ausgesprochenes Bewusstsein seiner Grösse aus seinem eigenen Munde sich schlecht ausnimmt und für seine wahre Grösse, zumal dieselbe nirgend in einer wirklichen Handlung erscheint, keine günstige Meinung erweckt.

In jener Scene aber erklärt trotzdem Cäsar seinem Weibe, dass er ihr zu Liebe zu Hause bleiben wolle. Aber diese Er- klärung ist nicht aufrichtig, denn er schämt sich ja nachher, wie er sagt, der Angst Calpurnia's nachgegeben zu haben; schämen aber konnte er sich nur, wenn er aus eigener Furcht, nicht wenn er aus Liebe zu seinem Weibe den Bitten derselben gewichen war.

Im dritten Acte bricht wieder das Selbstlob Cäear's in sehr schroffer, seinen Charakter herabsetzender Weise so her- vor, dass er hier zu dem humanen, ja in seiner Grösse be- scheidenen, milden und wahrhaft grossen historischen Cäsar einen völligen, für ihn höchst unvortheilhaften Gegensatz bildet. Einem Brutus und den ersten Männern des Staates gegenüber, die er kurz zuvor seine Freunde genannt hat, spricht er die Worte :

Ich Hesse wohl mich rühren glich ich euch ;

Mich rührten Bitton, bat ich um zu rühren.

Doch ich bin standhaft wie des Nordens Stern,

Dess unverrückte ewig State Art

Nicht ihres Gleichen hat am Firmament.

Der Himmel prangt mit Funken ohne Zahl,

Und Fouer sind sie all und jeder leuchtet;

Doch Einer nur behauptet seinen Stand.

So in der Welt auch; sie ist voll von Menschen

Und Menschen sind empfindlich, Fleisch und Blut;

Doch in der Menge weiss ich Einen nur,

Der unbesiegbar seinen Platz bewahrt,

Vom Andrang unbewegt; dass ich der bin,

Auch hierin lasst es mich ein wenig zeigen,

Dass ich auf Cimbers Banne festbestand,

Und drauf besteh, dass er im Banne bleibe.

Das Alles nur nicht aus Cäsar's eigenem Munde. Und wozu diesen Aufwand von Selbstruhm? Um ein einfaches Gesuch abzuschlanen. Wenn aber auch Cäsar gereizt und er-

Shakespeate's Julius Cäs.ir und Kruse's Brutus. 27

zürnt war, so war dies wohl ein Grund, dem Ciniber heftige Worte zu sagen, aber nicht in Form des Eigenruhms:

Cimbcr hör. Ich muss zuvor Dir kommen. Dieses Kriechen, Dies knechtische Verbeugen könnte wohl Geraeiner Menschen Blut in Feuer setzen Und vorhestimnite Wahl, gefassten «Schluss Zum Kindcrwillen machen. Sei nicht thöricht Und denk, so leicht empört sei Cäsar Blut Um aufzuthauen von seiner ächten Kraft Durch das, wass Narrn erweicht: durch süsse Worte, Gekrümmtes Blicken, hündisches Geschmeichel. Dein Bruder ist verbannt durch einen Spruch ; Wenn Du für ihn dich bückst und flehst und schmeichelst, So stoss ich Dich wie einen Hund hinweg Wiss! Cäsar thut kein Unrecht; ohne Gründe Befriedigt man ihn nicht.

So finden wir in diesem Cäsar vorzüglich das sich mit Vorliebe selbstrühmende Bewusstsein seiner Unerschrockenheit und Macht ausgebildet, von seinem Geist, der Grösse und Huma- nität, der genialen Thatkraft seines Charakters sehen wir nichts.

Wie aber Cäsar sich selbst hier schlecht charakterisirt, so er- scheint er auch im Spiegel der sich um ihn drängenden Ereignisse und Charaktere. Diese secundäre Art der Charakteristik ist überhaupt nicht eigentlich dramatisch ; denn im Drama sollen die Personen durch sich selbst, durch ihr Thun und Trachten unmittelbar interessiren; aber wenn ihr selbständiges Bild sonst kräftig: fireuuo; hervortritt, kann es durch seine Keflexe in den übrigen Personen und ihm nicht zugehörigen Handlungen noch gcsteiofert Averden. Da aber Cäsar's selbständiges Bild im Shake- speareschcn Stücke allzu bedeutungslos erscheint, können auch seine Wiederspiegelungen seinen Eindruck nicht recht erhöhen und können den tragisch nothwendigen, agirenden Gegensatz zu Brutus und den übrigen Verschworenen nicht abgeben. So er- scheinen durch das Fehlen von Cäsar's Charakter auch die Personen des Brutus und der Verschworenen schattenhaft, ihre Handlungs- weise unmotivirt, ; dies tritt deutlich am Brutus hervor. Wenn wir an seinen Seelenconflict glauben sollten, müsste Cäsar's Handeln und seine Persönlichkeit vor unseren Augen die tiefsten

28 Shakespeare's Julius Cäsar und Kruse's Brutus.

Gegensätze in Brutus' Gemüth aufwühlen und in dem Sies; einer unerschütterlichen Ueberzeugung den schwer erkämpften Ent- schluss des furchtbaren Mordes erzeugen. Statt dessen weiss Brutus selbst nicht einmal recht, warum er den Mord begehen will und hilft sich mit Sophistik. Da er sich gesteht, dass Ciisar eigentlich keine Schuld begangen, beschliesst er auf die blosse Möglichkeit hin, dass Cäsar in Zukunft einmal eine Schuld begehen könnte, den Tod des geliebtesten Freundes und edelsten Mannes. Wie können wir an diese Freundesliebe noch glauben, wie können wir diese voreilige mordgierige Justiz, die nicht nach wirklichen, sondern nach möglichen Gründen richtet, als das Motiv eines tragischen Charakters gelten lassen:

Es nuiss durch seinen Tod geschehn. Ich habe

Für mein Theil keinen Grund ihn wegzustossen,

Als für's gemeine Wohl. Er wünscht gekrönt zu sein :

Wie seinen Sinn das ändern möchte, fragt sich.

Der warme Tag ist's, der die Natter zeugt;

Das heischt mit Vorsicht gehn. Ihn krönen? Das

Und dann ist's wahr, wir leihn ihm einem Stachel,

Womit er kann nach Willkür Schaden thun.

Der Grösse Missbrauch ist, wenn von der Macht

Sie das Gewissen trennt ; und um von Cäsarn

Die Wahrheit zu gestehn, ich sah noch nie

Dass ihn die Leidenschaften mehr beherrscht

Als die Vernunft. Doch oft bestätigt sichs,

Die Demuth ist der jungen Ehrsucht Leiter;

Wer sie hinanklimmt, kehrt den Blick ihr zu.

Doch hat er erst die höchste Spross' erreicht,

Dann kehret er der Leiter seinen Rücken,

Schaut himmelan, verschmäht die niedern Tritte,

Die ihn hinaufgebracht. Das kann auch Cäsar

Drum, eh er kann, beugt vor. Und weil der Streit

Nicht Schein gewinnt durch das, was Cäsar ist,

Legt so ihn aus : das was er ist, vergrössert

Kann dies und jenes Uebermass erreichen.

Drum achtet ihn gleich einem Schlangenei,

Das ausgebrütet, giftig würde werden,

Wie sein Geschlecht, und würgt ihn in der Schale.

So kann nur ein völlig haltloser Charakter sprechen, der aus einer hypothetischen Sophistik, nicht aus dem tiefsten Grunde seiner Ueberzeugung handelt. Und wenn solche Denk-

Shakespoare's Julius Cäsar und Kruses Brutus. 29

weise noch den erschütternden Gegensatz zu seiner Frenndes- liebe biklen soll, so können Avir an die Wahrheit dieser nimmer- mehr glauben. Die einzige Möglichkeit, aus Brutus einen tragi- schen Charakter zu machen, ist von Shakespeare darin versäumt worden, dass er uns nicht gezeigt, wie der Entschluss des Mordes der Sieg einer in Brutus tiefstein Innern wurzelnden, mit seinem Wesen verwachsenen republikanischen Gesinnung ist, die in ihrer freien Selbstbestimmung und ihren Grundsätzen thatsächlich durch Cäsar's Gesinnungen und Handlungen vor unseren Augen verletzt, durch die Liebe zu Cäsar in furchtbar schwankendem (Gleichgewicht gehalten, endlich als das Gewal- tigere und damit tragiscii P^ntscheidende hervorbricht und damit auch sogleich die That vollführt. Aber weder Bi'utus republi- kanische Gesinnung wird vor uns entwickelt, noch deren Störung durch Cäsar's monarchische in vorgeführten Thatsachen dar- gestellt, und so der Conflict von vornherein abgeschnitten. Wenn Brutus freilich vor den Verschworenen Cäsar's Schalten als frechgesinnte Tyrannei bezeichnet, so ist dies ebensowenig seiner und seiner Freundschaft würdig, als es mit dem oben ange- führten Monolog übereinstimmt; am wenigsten aber darf man darin einen Beweis von Brutus echt republikanischer Gesinnung erblicken, denn diese hätte doch zu viel Achtung vor Cäsar's Geist, um seine Tyrannei als frechgesinnte zu bezeichnen.

Noch schlimmer aber als mit Brutus Republikanismus steht es mit dem des hocharistokratischen Cassius, denn dieser be- gründet seine Gesinnung meist nur dadurch, dass er mit noch wenifjer Achtuno; vor Cäsar's Geist und mit noch mehr Hass gegen Cäsar's Machtstellung spricht als Brutus. Aus Grund- sätzen handelt er nicht, Beweise und Thatsachen für Cäsar's Verletzung der Republik, für seine Tyrannei giebt er nicht an; er handelt aus Nichtachtung und Hass. Seine wie der übrigen Verschworenen Motive sind, wie auch Antonius am Schlüsse des Stückes sagt, persönliche, sie handeln aus Missgunst gegen Cäsar. Warum sie aber Cäsar hassen, was er ihnen zu Leide gethan hat, weiches ihre Motive sind, das erfahren wir nirgends. Im Drama aber wollen wir das wissen. Dafür erhalten wir von Cassius, Casca u. A. hasserfüllte Schilderungen. Cassius sieht in Cäsar den schwächlichen Mann, der der stolzen Welt

30 Shakespeare's Julius Cäsar und Kruse's Brutus.

den Vorsprung abgewann und nahm die Palm' allein, der die enge Welt beschreitet wie ein Colossus, unter dessen Riesen- beinen die kleinen Leute wandeln und schauen umher nach einem schnöden Grab, er erkennt in ihm den Wolf, der in den Römern Schafe, den Leuen, der in ihnen Rehe sieht. Rom ist daher für Cassius ein Plunder, das zum schlechten Stoffe dient, der einem schnöden Ding wie Cäsar'n Licht verleiht. Hierzu nehme man noch des Casca Erzählung vom Ausschlagen der Krone, des Decius Aeusserung über Cäsar's Empfänglichkeit für Schmeichelei, so erscheint die Achtung seiner Gegner vor diesem grossen Manne nur sehr gering und andrerseits erscheinen solche Gegner seiner kaum würdig, die nicht einmal eine feste Parteigesinnung kundthun, noch auch durch Anführung von Thatsachen, die scenisch dargestellt werden mussten, ihn der Tyrannei bezichtigen konnten. Darum weiss auch Brutus in seiner Rechenschaftsrede auf dem Forum vor dem versammelten Volke kein triftiges Motiv der That anzugeben; er sagt nur: Cäsar war herrschsüchtig. Davon aber haben wir vorher im Stücke nichts gesehn, Brutus bleibt daher auch den Beweis und die Thatsachen schuldig und Antonius hat Recht, wenn er ihn und die anderen Verschworenen Schlächter nennt, denn tra- gische Helden sind sie nicht. Wie unendlich tief motivirt er- scheinen dagegen die Thaten des tragischen Mörders Macbeth, der auch einen König tödtet, aber einen König, von dem man vorher gesehen, wie gut er ist, wie milde, Avie er seinen Lieb- ling hoch emporhebt, Avie er ihn belohnt, wie er ihn zum Than von Cawdor macht, wie er in seinem Hause einkehrt als Gast, wie dies Alles den furchtbarsten Zwiespalt in Macbeth's Seele hervorruft, der einzig mit dem Ehrgeiz, der stärker ist als Alles, die Seiten seines WoUens anzuspornen weiss. Wenn man damit den Vorgang in der Seele des Brutus und dessen schwache Motivirung, die sich ausserdem auf gar keine scenisch dargestellte Beziehung zu Cäsar stützt, vergleicht, so begreift man kaum, wie diese beiden tragischen Charaktere, der eine aus dem Tiefsten wirkend, der andre aus gänzlich ungenügen- den Motiven, aus Unklarheit handelnd, von einem und dem- selben Dichter sind.

Da also in unserem Stücke weder Cäsar wirkt noch die

Shakospcare's Julius Ciisar und Krusc's Hrutiis. 31

Verschworenen recht wissen, was und warum sie es thun, so tappt die llandhmg bis zum Tode Cäsar's eigentlich im Dun- keln, sie erscheint, um mit Brutus' Worten zu reden, mehr als ein Phantom, ein schreckenvoller Traum, der sich mit Cäsar's Tode erfüllt. Die Verschworenen standen eben nicht gegen Cäsar, sondern wie es Brutus ausdrückt, gegen Cäsar's Geist, Was aber Cäsar's Geist ist, davon haben wir im Stücke nichts gesehen, wir haben ihn nie von Angesicht zu Angesiciit ge- sehen, und von vorn herein ist er dem geistigen Auge fast ebenso- sehr ein unerreichbares Gespenst , als da er im Zelte des Brutus diesem mit leiblichen Augen sichtbar wird. Daher auch an eine Symbolik dieser Geistererscheinung, wie an eine solche im Macbeth oder Hamlet, nicht recht zu glauben ist.

Mit dem Tode Cäsar's hört die eigentliche dramatische Handlung einer Tragödie Julius Cäsar auf. Dass die Ver- schworenen nunmehr schrecklich aus ihrem Traume erwachen, ist nur die Consequenz dieses Traums, keine dramatische Fort- bewegung der Handlung, es ist epischer Zusatz, durch den man erfährt, wie es diesen Leuten nun geht. Der Conflict ist im dritten Acte gelöst, die beiden letzten Acte sind nur Aus- malung der als Folgen sich ergebenden Vorgänge, obgleich allerdings nicht zu leugnen ist, dass in Shakespeare's Drama unser Interesse für Cäsar erst im dritten Acte mit dessen Tode recht beginnt, was aber als Fehler zu bezeichnen ist. Man könnte nun der Meinung sein, dass in Folge dessen der Con- flict doch noch nicht gelöst sei, indem die eine Seite des tragi- schen Gegensatzes, die monarchische, nur ihre Vertreter wechselt, indem für den nunmehr uns sympathisch werdenden Cäsar dessen Nachfolger und Erben Antonius, Oktavianus und Lepidus ein- treten. Aber dadurch wird die Einheit des dramatischen In- teresses gestört, welche nicht duldet, dass die Vertretung der Gegensätze von einer Person auf die andere übergeht, indem diese Gegensätze überhaupt nur interessiren, wenn sie mit den Personen verkörpert und gleichsam identisch mit ihnen siegen oder untergehen. Somit gehört die Erscheinung des Antonius, obgleich sie wohl die interessanteste im Stück ist, über den dritten Act hinaus nicht mehr in den Rahmen des Stückes. Im dritten Act aber, in der Leichenrede des Antonius, gipfelt

32 Shakespeare's Julius Cäsar und Kruse's Brutus.

offenbar das dramatische Interesse, das Aeiisscrste in der Fland- lung, das Vorzüglichste im ganzen Stück ist erreicht, wir haben die Gewissheit und ethische Ueberzeugung, dass die Nemesis über die Mörder hereinbrechen muss, Alles ist gelöst, was in der Exposition und Schürzung des Knotens angeknüpft wurde, zu einem Mehr ist unser Interesse von vornherein nicht an- gespannt worden. Mit dem Wegfall der beiden letzten Acte fiele auch jenes unerfreuliche Zerwürfniss im vierten Acte weg, das, mag man es nun als Wirkung der schon nahenden Nemesis oder als einfache Thatsache auffassen, den Charakteren des Brutus und Cassius grossen Schaden thut, zumal da Brutus bekennt, der Schmerz über Pox'cia's Tod habe sein Gemüth so sehr ergriffen. Die Stimmung des Schmerzes um eine geliebte Person aber ist schwerlich die, in der man geneigt ist, sich mit dem besten Freunde zu entzweien.

Nach der angestellten ästhetischen Kritik müssen wir ge- stehen, dass Shakespeare, der sonst immer seinem Stoff soweit überlegen ist, im Julius Cäsar, und wir können wohl sagen, in die- sem Stücke von allen allein, unter seiner Aufgabe zurückgeblieben ist. Fast nirgends, wenigstens nicht in den grösseren Stücken, begegnen wir so w^esentlichen Mängeln in den Grundbedingungen des Dramas, dass er den Hauptcharakter fast gar nicht agiren, dass er die Handlung aus ungenügenden Motiven hervorgehen und ohne Gegensätze sich bewegen lässt. Die ihm sonst in so hohem Grade eigene consequente, scharfe, kräftige und ge- schlossene Charakteristik vermissen wir ebenfalls in diesem Stücke, besonders im Brutus. Dass nun allerdings vieles Ein- zelne, der Charakter des Antonius, wie überhaupt die poetische Färbung und Lebhaftigkeit des Ganzen den Genius des Dich- ters verräth , ist trotzdem nicht zu leugnen. Wunderbar aber bleibt es doch, dass Shakespeare, der das allgemein und rein Menschliche so meisterhaft darstellt, es hier in der antiken Form nicht recht erfasst zu haben scheint. Sollte dies vielleicht daher kommen, dass er dieser antiken Form doch zu fern stand? Dafür spricht die Thatsache, dass Antonius und Cleopatra so- wie Coriolan, das eine Drama grössere Vorzüge enthaltend, das andere offenbar vollkommener als Julius Cäsar, nicht so specifisch antik in Form und Geist wie dieser sind. So bauete

Shakespeare's Julius Cäsar und Kruse's Brutus. 33

Shakespeare mehr auf den Namen Cäsar ein hnmerhin glänzen- des Phantasiegebikle, als dass er in die Substanz von dessen Geist sich vertieft hätte und daraus etwa in ähnlicher Weise ge- schöpft Avie Goethe aus dem hellenischen Geist in christlich- ideali- sirender Weise seine Iphigenie. Aber wie lange und innig hatte auch Goethe sich in den antiken Geist versenkt, während sich ein Gleiches von dem Genius Shakespeare's nicht nachweisen lässt. Nach dem Gesagten ist es natürlich, wenn wir den Versuch eines neueren Dichters, den Stoff, der Shakespeare's Julius Cäsar zu Grunde liegt, dramatisch neu zu gestalten mit Freuden be- grüssen. Heinrich Kruse, der durch seine „Gräfin", „Wullen- wever", „König Erich", „Moritz von Sachsen" und neuerdings durch den „Marino Faliero" rühmlich bekannte Dramatiker, hat diesen Versuch in seinem „Brutus", wie wir anticipiren können, mit Glück gemacht und einen entschiedenen Fortschritt in der Auffassung und Behandlung des Stoffes an den Tag gelegt. Durch den Titel „Brutus" gewinnen zunächst auch die beiden letzten Acte, die im Grossen denen in Shakespeare's Cäsar entsprechen, Berechtigung. Dass wir sie dennoch in Einen zusammengezogen wünschten, davon später. Ferner aber erscheint nun auch das Zurücktreten Cäsar's gegen die Be- deutung, die Brutus im Stücke hat, natürlich ; freilich darf aber auch in einem „Brutus" die Figur des Cäsar nicht zu der un- thätigen Bedeutungslosigkeit schwinden , wie dies bei Shake- speare der Fall ist. Dies hat denn auch Kruse sehr wohl ge- sehen, nämlich wie Cäsar's Königthura sich vor uns entfalten müsse, damit wir Brutus' Befürchtungen für die Republik theilen und mit ihm schliesslich Gewissheit erlangen, dass Cäsar auch nicht mehr den Schein der Republik bestehen lassen wolle, dass er nicht nur die Macht , sondern auch den Namen eines Königs usurpire. Dies scenisch dargestellt und den Charakter Cäsar's durch Action entwickelt zu haben, ist ein wesentliches Verdienst des Kruse'schen Stückes. W^enn Cäsar noch mehr in den Vordergrund getreten, wenn seine Bestrebungen noch augenscheinlicher durch Handlungen und Worte hervorgetreten wären, so hätte dies nach unserer Meinung dem Stücke zu noch grösserem Vortheile gereicht. Aber auch so schon gewinnt die ganze Handlung im Drama ihre alleinige Berechtigung, im

Arcliiv f. n. Sprachen. LYHI. 3

34 Sbakespeare's Julius Cäsar und Kruse's Brutus.

Gegensatz aber zu Cäsar's sich vor uns entfaltendem Geist und dessen Zielen des Brutus Charakter seine volle Bedeutung, sein Wollen einen Inhalt, sein Herzensconflict Begründung und Wahrheit, seine republikanische Gesinnung endlich in ihm Ent- schluss und That aus ganzer männlicher Ueberzeugung. Ehe noch in Kruse's Drama Cäsar selbst auftritt , erhalten wir im Zwiegespräch des Brutus und Cassius ein Bild des Standes der Dinoe in Rom:

Cassius. Was ward , was ward ans unsrer Republik ? Die Republik! Es ist ein lieü'ges Wort. Ich schaudere vor Ehrfurcht, wenn ich es Ausspreche; ach und jetzt so tief entweiht! Wir haben keine Republik mehr.

Brutus.

Mass ! Die Republik Hess Cäsar noch bestehn.

Cassius. Nun ja, Pi'ätoren sprechen noch das Recht, Aedilen lassen wilde Thiere kommen Zum Spiele für den Circus.

Brutus.

Mehr, als das! Das Volk versammelt sich noch auf dem Markt, Wählt seine Obrigkeiten, beide Consuln

Cassius. Der eine Consul heisst Julius, Der andre Cäsar! Spiele nicht mit Worten. In unsrer Halle stehn in langen Reihn Die Ahnenbilder da von Rauch geschwärzt. Wir gehn an Consuln und Censoren und Triumphatoren stumm beschämt vorbei. Die stolze Republik, für die sie lebten, Für die sie freudig starben, ist nicht mehr. Mit Beilen und mit Ruthenbündeln ziehn Lictoren noch den heil'gen Weg dahin Und Consuln folgen gravitätisch nach, Doch Alles das ist nichts als leerer Schein. In Wahrheit herrscht nur Einer noch in Rom.

Shakespeare's Julius Ciisar und Kriisc's Brutus. 35

Wir alle sind nur Diener seiner Macht, (auf die mit Purpur verbrämte Toga der Senatoren zeigend) Dies bunte Kleid ist seine Dienertracht!

lirntiis. Was willst du mir mit vielen Worten sagen?

Cassius. Dass Cäsar ein Tyrann ist. Schmeichelte er nicht dem Volk ? Er wandelte den Weg der Gracchen, machte Den Pöbel zu dem Hebel seiner Grösse, Er rüttelte den Staat uns um und um, Bis dass der Bodensatz sich oben fand : Der Schaum ist mit der Hefe nah verwandt.

Brut u s. Ich will die Mittel nicht vertheidigen, Durch Avelche Ciisar zu der Macht gelangte; Doch hat er klug und milde sie gebraucht. Er hat den Staat, der tief zerrüttet war, Von Grund aus neu geordnet

Cassius. Brutus, Brutus, Du bist ein Freund des Cäsar!

Brutus.

Läugu' ich das?

Cassius. Drum sei vor Deinem Her/en auf der Hut.

Sei jetzt Du selbst und denke nicht so sehr An das was Cäsar Dir erwiesen hat

Brutus. Wohlthaten ohne Zahl, doch mehr als das; Er liebt mich.

Cassius. Er liebt Dich offenbar Avie einen Sohn, Und wenn Du warten willst, bis dass er stirbt, So kannst Du Cäsar werden.

Brutus.

Das sei fern. Ich hasse nicht wie Du den Herrscher selbst;

3*

36 Shakesjjeare's Julius Cäsar und Kruse's Brutus.

Allein die Herrschaft ist auch mir vcrhasst. Die beste Herrschaft hat den Fluch, dass sie Den Geist der Knechtschaft um sich her erzeugt.

C assius. Da hör ich meinen alten Brutus wieder.

Ja, frage Dich, will Cäsar deine Tugend Belohnen oder Deine Kraft entmannen?

Brutus. Was willst Du, Cassius?

Cassius.

Ich will nicht dulden, Dass Julius Cäsar König wird in Rom.

Brutus. Er König und wir Unterthanen? Nein. Doch kann man glauben

Cassius.

Woran zweifelst Du ? Brutus. Dass Cäsar, nicht zufrieden mit der Macht, Nach einem leeren Titel haschen soll?

Cassius. Ist er zu gross für solche Kleinigkeiten ? Sein Lorbeerkranz hat nicht so viele Blätter Als immer neue Titel, Würden, Ehren Der knechtische Senat auf ihn gehäuft.

Brutus.

Das Alles hat der römische Senat Nach altem Recht und Brauch ihm zuerkannt. Allein die Königs würde ist ein halbes Jahrhundert nun in dieser Stadt verflucht.

Cassius. Ist's etwa auch nach altera Recht und Brauch, Dass, als die Götter Roms durch unsre Stadt Auf hohen Sesseln jüngst getragen wurden, Sein, Cäsar's Bild, darunter auch erschien? Ist's Recht und Brauch, dass seine Statue Im Tempel aufgestellt ward und geweiht Mit dieser Schrift: ,Dem unbesiegten Gott'?

Sbükcspcyrc's -Julius Ciisar und Kruse's ßiulus. 37

So erhalten wir ein uuögeführtcs, mit Thatsaehen erfülltes Bild des Zustandes von Koni, Cäsars und seiner principiellcn Gegner, der Träger echter und alter republikanischer Gesinnung, die mit aller Festigkeit eines männlichen Charakters an derselben festhalten und dieselbe zur unverrückbaren Richtschnur und inner- sten Quelle ihres Handelns uiachen. Sie erkennen Cäsar's Ver- dienste um den zerrütteten Staat an, aber in der neuen Ordnung der Dinge erblicken sie einen Sturz der Republik, die Jahr- tausende lang bestanden und ihren Anhängern höher gilt als jede andere Rücksicht. So ist das Grundmotiv für das ganze Drama gegeben, der principielle Gegensatz der in Brutus und Cassius verkörperten , mit wirklichem geschichtlichen Inhalt er- füllten republikanischen Gesinnung gegen die überall monarchisch schaltende und waltende Gesinnung Cäsar's, damit aber auch zugleich der Conflict in die Seele des Brutus gelegt, der all- mählich mit der wachsenden Gewissheit von Cäsar's Absichten sich steigert und nur in der blutigen Tragik des Entschlusses zum Morde seine Lösung findet. Solcher Exposition und Grund- motivirung bedurfte es für die Berechtigung der Handlung und das Verständniss des ganzen Stückes. Sie gegeben zu haben ist ein wesentliches Verdienst des Kruse'schen Dramas.

Das folgende Gespräch mit Antonius drängt die dem Cas- sius schon längst zur Gewissheit gewordene Vermuthung, dass Cäsar dem Königthum auch dem Namen nach zustrebe und darin von seinen Freunden unterstützt werde, nunmehr auch dem Brutus unabweislich auf. Der angeregte Verdacht des Brutus wird dann in der folgenden Scene bestätigt. Hier sah Kruse ein, dass nicht mehr Unterredung und Erzählung genüge, son- dern eine scenische Darstellung beweisen müsse. Daher, was bei Shakespeare von Casca erzählt wird, bei Kruse vor unseren Augen geschieht. Aus der Art, wie Cäsar den Senat miss- achtet und beleidigt, wie er vor ihm nicht aufsteht, wie er die von Antonius ihm angebotene Krone nur scheinbar zurückweist, aus den charakteristischen Worten endlich von der Bedürftigkeit des Römerreiches beherrscht zu werden, aus dem Allen, was an uns vorübergegangen, hat Brutus die Ueberzeugung gewonnen, dass Cassius Recht hatte und kann sich jetzt mit diesem, der ihm die Theilnahme anderer Republikaner zusagt, eingedenk der

38 Shakespeare's Julius Cfisar und Kruse's IJrutiis.

alten Tnulitionen, die solches forderten, zum Sturze Cäsar's ver- binden. So sieht man, wie das alte und neue Element in Rom sich feindlich gegenüberstehen, begreift das relative Eecht der Verschworenen, sowie die Grösse und Noth wendigkeit der Er- scheinung Cäsars.

Der erste Act in Kruse's Brutus ist, wie wir glauben, der vorzüglichste des ganzen Stückes. Wie nun hier die Charaktere, insbesondere Cäsar's, in wesentlichen Zügen ihren geschichtlichen Originalen ähnlich sind, das im Einzelnen nachzuweisen würde zu weit führen. Wie nothwendig aber bei diesem Stoff gerade eine gewisse, an und für sich ja gar nicht erforderliche geschicht- liche Treue ist, das kommt daher, weil es ohne Anlehnung an wesentliche Züge der Ueberlieferung dem Dichter zu schwer sein würde dem Geist und historischen Bilde so grosser Männer ebenbürtige poetische Charaktere zu schaffen an welcher Schwierigkeit sogar Shakespeare in gewissem Sinne scheiterte. In Folge dieser tieferen Aufnahme geschichtlichen Geistes sind denn auch bei Kruse Brutus und Cassius wirklich die hohen und starren Republikaner, die es als ihre politische aus tiefer Ueberzeugung mahnende Pflicht betrachten, den als Tyrannen betrachteten Ciisar zu erstechen. Cäsar selbst aber erscheint in seinem Auftreten als die freie, grossartige, von edler Humanität beseelte Persönlichkeit in seiner Klarheit und Harmonie, wie wir ihn uns zu denken pflegen. In Brutus' Augen ist er eine von den höheren Naturen, deren Vorrecht es ist, dass sie in jedem Augenblick sofort wie gottbegeistert wissen was zu thun. Ent- schluss und That sind stets bei ihnen Eins, wie Jupiter aus seiner Donnerhand den Donner schleudert und den Blitz zu- gleich. Cäsar selbst aber kann mit vollem Bewusstsein von sich sagen:

Für meinen Ruhm hab ich genug gelebt, Ich lebe nur noch für das Wohl des Reiches.

Und dem Argwohn, den ihm Antonius zu wecken sucht, kann er in hoher Sicherheit mit den Worten entgegnen:

Du fichtst noch immer bei Pharsalus, Freund.

Ich habe meine Feinde nicht allein

Durch Waffen überwunden, auch durch Grossmuth.

Sliak(^spftai'(!'s Julius Ciisar und Kiiifo's I5rutus. 39

Wenn Antonius ilni fragt, worauf baust Du, antwortet er ein- gedenk der von den Göttern ihm übertragenen Aufgabe:

Siehst Du den Stern? Es ist des Cäsar's Glüok. Aber später fügt er auch im Bewusstsein menschlicher Grenzen hinzu:

Die Götter gleichen Alles ans; sie gaben Mir jedes andre Glück mit vollen Händen, Nur nicht das Köstlichste, ein liebes Kind.

Nun werden uns aber auch Casar's Schwäclien dargestellt, sein ehrgeiziges Trachten nach der Königskrone, das seinen Fall herbeiführt, seine schlaue Verhüllung dieses F^hrgeizes beim scheinbaren Abweis des Diadems, sein beleidigendes Geltend- raachen setner Stellung gegenüber dem Senat, endlich der Aus- bruch seines Ehrgeizes in den Worten:

Fort mit dem Band ! Man wird mich wohl noch gar der Herrschsucht zeihn! Herrschsüchtig? Wer mich also nennen will, Zeigt wenig Einsicht; denn er sollte sagen, Dass dieses Weltreich herrschbcdürftig ist. Sie sollten Gott auf ihren Knieen danken, Dass Jemand da ist, welcher sie beherrscht. Beherrschen kann, Sie haben mich mehr nöthig, als ich sie. "~^

Hier tritt zugleich Cäsar's geschichtliches Anrecht auf die Herr- schaft und sein persönlicher Anspruch auf die Krone in einer Weise hervor, die dem Brutus so deutliche Aufklärung giebt über das, was Cäsar ist und sein will, dass er dem Cassius zugeben muss: Du hattest Recht.

So ist denn das, was der dramatischen Handlung eine wirk- liche Basis giebt, im ersten Acte enthalten. Aber wir hätten die Entfaltunor und insbesondere die o-egenseitige Einwirkung der beiden Hauptcharaktere Brutus und Cassius auf einander noch energischer dargestellt gewünscht, vielleicht dass dann der Conflict in der Seele des Brutus noch an Tiefe gewonnen hätte und dadurch ein Mangel beseitigt worden, der oft hervortritt und dem Brutus viel von unserer Theilnahme entzieht. In dieser Beziehung, was die Lebhaftigkeit und Innerlichkeit des seelischen Conflicts betrifft, ist die Figur des Brutus dem Dichter bei Weitem nicht so gelungen als die Motivirung des Conflicts in

40 Shakespeare's Julius Ciisar und Kruse's Brutus.

dem Festhalten an seinem starren Rejmblikanismns gegenüber den Regungen des Freundesherzens. Diese mussten stärker mit jenem in dramatischen Kampf treten, und während Shakespeare's Brutus in seiner Gesinnung haltlos schwankt ^ ist Kruse's mit derselben zu früh fertig und darinnen erstarrt, so dass die Freund- schaft all zu schnell abgethan erscheint. Im zweiten Acte des Kruse'schen Dramas bricht in der Scene mit Porcia einmal das Schmerzliche des Conflicts in Brutus' Seele hervor, aber nur vorübergehend, und allzu rasch hat Brutus seine kalte Besonnen- heit wieder. Dass im Uebrigen in dieser ganzen Scene, die ohne Zweifel den Vorrang vor der entsprechenden Shakespeare- schen verdient, sowie überhaupt im ganzen Stück, der Charakter des Brutus dennoch sympathisch ist, kommt daher, dass Brutus keineswegs als bloss kalt besonnener Stoiker, sondern auch als ein, wenn nicht leidenschaftlich gewaltiger Held, so doch mensch- lich fühlender, stark denkender und handelnder Charakter dar- gestellt ist.

In der Scene, welche die Zusammenkunft der Verschwore- nen darstellt, ist besonders die Erwähnung des Factums zu bemerken , dass Cäsar seine Statuen habe bekränzen und die Volkstribunen Flavius und Marullus, welche die Kränze von den Statuen entfernt, habe verhaften lassen. Ein so wichtiges Zeugniss für das eigenmächtige Schalten Cäsar's durfte, das sah Kruse richtig, von Seiten der Verschworenen nicht unerwähnt bleiben aber es musste wohl noch mehr verwerthet, es musste scenisch dargestellt werden, damit man in einem neuen Factum vergegenwärtigt Cäsar's Willkür gegenüber der Republik sehe, die Empörtheit der Verschworenen begreife und die Worte des Brutus fühle:

Die Volkstribunen abgesetzt dort steht

Das Capitol sonst kennt' ich Rom nicht mehr.

C i n n a. Unmöglich ist jetzt nichts mehr, siehst Du wohl.

Brutus. Da von der ganzen Republik und ihren Zwölf Tafeln nur das Tafelclien noch gilt, Auf dem er seinen Willen niederschreibt Und Cäsar ein Tyrann geworden ist

Sliakespt'urc's Julius Ciisiir und Krufjc's IJrulus. '11

Das musstc man in der sccnisclien Darslollunp; der Verhaftung der Volkstribunen mit Augen sehen.

Der dritte Aet nimmt , abgesehen von einzelnen Zügen in der Handlung, den ans dem Shakespeare'sclien Stücke bekannten Verlauf; in Auffassung, Colorit und Charakteristik freilich ist er sehr verschieden von diesem. Die Scene zwischen Cäsar und Calpurnia erscheint für den Charakter Cäsar's bei Kruse ent- schieden vortheilhafter als bei dem britischen Dichter; so auch die Scene, welche dem Morde voraufgeht, für den Charakter des Brutus sowohl als des Cäsar. Wie dieser kurz vor seinem Tode in völliger Arg- und Ahnungslosigkeit noch von seinen weitaussehenden Planen spricht, lässt ihn grossartig, seine Sicher- heit, sein Selbstvertrauen erhaben erscheinen. Dem gegenüber will sich auch Brutus noch einmal versichern, ob er auch nicht irre, ob er auf dem rechten Pfade sich befinde, und stellt als letzte Probe an Cäsar die directe Frage, ob es wahr sei, dass er sich König nennen wolle. Cäsar aber giebt ihm , mit einer Entschuldigung, dass er dem besten Freunde solches bisher ver- schwiegen, die unumwunden bejahende Antwort. Jetzt weiss Brutus Alles so genau, wie er es nur wissen kann, und jetzt weiss sein republikanischer Geist, was er zu thun hat.

Diese hier berührten Züge sind dem Kruse'schen Drama eigenthümlich und sehr gut; aber der Schluss des Actes, die Marktscene und die Leichenrede enthalten nichts wesentlich Neues. Hier vermisst man vielmehr unwillkürlich Shakespeare's Kunst und Geist, das Feuer der Beredtsamkeit und die hin- reissende dramatische Gewalt. Es ist hier die einzige Stelle, wo man bei Kruse unwillkürlich daran erinnert wird, dass man bei Shakespeare schon unter einem stärkeren Eindruck derselben Momente gestanden hat. Dem bei Kruse am Schluss fragenden Antonius:

Ist das nicht zündende Beredtsamkeit? möchte man antworten: Ja wohl, aber ein anderer Antonius hat schon stärkere Fackeln in unsere Phantasie geworfen.

Die beiden letzten Acte endlich müssten nach unserer Mei- nung concentrirter sein, denn sie enthalten zu wenig dramatisches Interesse. Ganz interessant zwar ist die kluge Politik des An- tonius, der Streit um Cäsar's Erbschaft, die Begegnung der

42 Sliakespeare's Julius Cäsar und Knisc's nriitiis.

Calpiirnia und der Porcia, der Abscliluss des Triumvirats, aber alles das liey;t zu weit von dem Interesse ab, das man an dem eigentlichen Träger der dramatischen Idee des Stückes, an Brutus nimmt. Alles was jetzt noch folgt, erscheint mehr als epischer Zusatz und von mehr historischem Interesse, denn als drama- tischer Fortschritt. Es fragt sich, ob auch bei dem Titel , Bru- tus' nicht eine andere Acteintheilung und eine Weglassung oder Zusammenziehung der beiden letzten Acte in Einen zu empfehlen wäre. Denn wenn wir auch die Nemesis über die Mörder her- einbrechend erwarten, so brauchten wir gar nicht einmal Philippi, denn zu der moralischen Ueberzeugung von dem Nahen der Nemesis genügte auch schon eine einzige Scene nach der Leichen- rede des Antonius, so unhistorisch auch dieselbe ausfallen möchte. Dadurch würde die breit ausgesponnene Epik der beiden letzten Acte vermieden werden und das Stück an Einheit und concen- trirtem Interesse gewinnen. Wenn aber auch dies nicht angehen sollte , so wäre wohl eine starke Kürzung der beiden letzten Acte dem Ganzen nur vortheilhaft. Das Gesammturtheil über Kruse's Drama hat nun vor Allem das Unternehmen anzu- erkennen nach Shakespeare's Cäsar noch einmal denselben Stoß in anderer Auffassung, von einem, man kann sagen höheren Gesichtspunkte aus, der darum auch ein wirklich poetischer ist, dramatisch zu gestalten. Wie sehr dieses Unternehmen nament- lich in den drei ersten Acten gelungen, wie sehr darin man gestatte diesen Ausdruck ein Fortschritt in der poetischen Behandlung dieses tragischen Stoffes gar nicht zu verkennen ist, glauben wir nachgewiesen zu haben. Denn wenn auch Shakespeare's Tragödie lebhafteren Schwung und intensivere Farbe voraus hat, so verdient doch in Exposition, Motivirung und Fortoang der Handluno^, Ausgestaltung^ und Festigkeit der Charactere, Feinheit und Sicherheit der Behandlung und Dar- stellung, also in den dramatischen Haupterfordernissen die Kruse- sche Tragödie den Vorzug. Ob nicht dies auch einmal von Seiten der Bühnen anerkannt und das Herkömmliche nicht des- halb festgehalten werden wird, weil es von einem grossen Dichter ist, das Bessere nicht desw^egen ausgeschlossen, weil es das Neue ist?

Berlin. H. Palm.

Z w ö 1 f S ii t z e

über

wissenschaftliche Orthographie der Mundarten.

I. Gleiches ist inimei- gleich zu bezeichnen. II. Verschiedenes ist immer verschieden zu bezeichnen.

III. Aehnliches ist, wo möglich, ähnlich zu bezeichnen.

IV. Die Nebenzeichen über und unter den Buchstaben müssen möglichst einfach sein und sich untereinander leicht verbinden lassen.

V. Für alle akustischen Erscheinungen deren Darstellung für die Dialektologie am nötigsten ist, muss man die Zeichenverbindungen so wählen dass wenn nicht alle, so doch die allermeisten sich in jeder grössern Druckerei bereits vorfinden.

VI. Jedem Buchstaben der gewöhnlichen Schiift Avird derjenige Einzellaut zugetheilt welchen er in der neuhochdeutschen Orthographie gewöhnlich bezeichnet.

VII. Die herkömmlichen Zeichen ä, ö, ii sind durch die beque- mern a, 0, y zu ersetzen.

VIII. ' (oder ^) über einem Buchstaben giebt an dass ein Laut zu sprechen ist dessen Verengung oder Verschluss etwas weiter nach hinten in der Mundhöhle liegt als bei dem Laut welchen der Buchstabe ohne ' bezeichnet.

IX. ' hat die entgegengesetzte Bedeutung von ".

X. Die Nasalirung wird mit dem polnisch - litauischen ^ be- zeichnet.

XI. Neu einzuführende Buchstaben sind:

1) 9 für den Mittellaut zwischen A und O, den Vokal der meisten deutschen Nebensilben.

44 Zwölf Siitze über ■wis£enscl)aftHclie Orthographie der Miiiularten.

2) ?y für den Nasal mit Gaumenverschlnss.

3) a für den mediopalatalen Reibelaut.

4) j für das tönende .r.

5) V für das tönende /.

6) q für den faiikalen Schlaglaut.

7) i oder g für den antepalatalen Reibelaut.

s oder T) für den stimmlosen interdentalen Reibelaut.

8)(

/' oder d für den tönenden interdentalen Reibelaut. XIT. Die Länge wird durch bezeichnet.

Zur Begründung. *

§ ]. Sowohl praktische als auch wissenschaftliche Bedürfnisse haben schon längst dazu geführt eine neue Orthographie zur genauem Bezeichnung der Laute aufzustellen. Ueberblickt man was in dieser Beziehung bisher geschehn ist, so überrascht vor Allem dass die gemachten Versuche zahllos sind und die allerver- schiedensten Ergebnisse gehabt haben. Der Fall dass jemand die orthographischen Vorschläge eines Vorgängers ohne die leiseste Veränderung zu den seinigen macht, kommt beinahe nicht vor. Die Ursache dieser unglaublichen Zersplitterung springt sofort in die Augen: die grenzenlose Willkür und Prinziplosigkeit mit welcher jeder Einzelne verfahren ist und das häufige Fehlen aller orthographischen und phy- siologischen Vorkenntnisse; die Arbeiten eines Andern finden ganz beliebig in einigen Theilen Beifall, in andern Missbilligung meist ohne dass ein andrer Grund vorläge als zufällige Gewohnheiten oder sonder- bare Grillen. Sehr Viele treten an die Aufgabe heran ohne nur im entferntesten zu ahnen dass sie nicht die Ersten sind welche dieselbe zu lösen versuchen. Am meisten Ansehn haben sich die Vorschläge von Lepsius errungen, trotz ihren nicht geringen Mängeln; aber kaum jemand der sich mit der Sache nicht bloss theoretisch beschäftigte, son- dern zu praktischer Verwertung überging, hat dieselben unbedingt gut- geheissen ; Jeder hat daran zn ändern gehabt, der Eine da, der Andre dort ; zur Einigkeit ist man nicht gelangt.

§ 2. Dass es besser werde, ist nur dann zu hoffen wenn man allgemein die unerfreuliche Sachlage klar erkennt und die Lehren be-

* Die Eintheiluiig in Paragraphen bat keinen andern Zweck als die Er- leichterung des Zitirens.

Zwölf Sätze über wisscnscliuftliclie OrtlK^graphic der Miiiularton. 4.0

herzigt welche sie uns in unticliwer verständlicher Weise giebt. Es ist natürlich sehr leicht aus der Unzahl der möglichen Spraclilautc will- kürlich einige herauszugreil'en und dafür ebenso willkürlich irgend welche Zeichen aufzustellen ; aber wird man auf diesem Wege eine Verständigung erzielen? Sehr wahrscheinlich nicht einmal zwischen den wenigen Mit- gliedern eines beratenden Ausschusses ; schwerlich in der germanischen Sekzion einer nicht ganz spärlich besuchten Philologenversammlung; ganz gewiss nicht zwischen der Mehrzahl der Betheiligten in Deutsch- land. Will man sich nicht der bedenklich nahe liegenden Gefahr aus- setzen viel Läim um nichts zu machen, so rauss man sich bestreben allgemeine, fest begründete Prinzipien zur Anerkennung zu bringen aus welchen sich die Entscheidung für jeden Einzelfall mit Sicherheit ableiten lässt. Nur dann werden sich, was zum Zweck der Einigung unerlässlich ist, Viele dazu bequemen auf ihre zufällige Gewohnheit zu verzichten und Neues, Fremdartiges anzunehmen, um dieses Ziel zu erreichen genügt es natürlich nicht bloss einige Thesen aufzustellen, sondern dieselben müssen von einer ausführlichen Begründung be- gleitet sein.

§ 3. Vor Allem sei ausdrücklich bemerkt dass die hier gemach- ten Vorschläge lediglich nur die Zwecke der Wissenschaft im Auge haben; auf Schriften welche zur Unterhaltung des grossen Publikums dienen, können und sollen sie keine Anwendung finden. Eine wissen- schaftliche Orthographie ist durchaus unmöglich ohne die bisherige Gewohnheit des Auges sehr schwer zu verletzen; in dieser Hinsicht darf man sich keiner Tauschung hingeben.

§ 4. Die Sätze I und II geben allgemein als unerlässlich An- erkanntes in knappster und zugleich erschöpfender Fassung. Nach I darf z. B. der Reibelaut des Vordergaumens nicht bald durch CH, bald durch G, bald durch J dargestellt werden, wie dies in mitteldeutschen Dialektproben oft geschieht. Ferner der A-Laut nicht bald durch ä, bald durch ae oder ä, bald durch e. Ferner der stimmlose S-Laut nicht bald durch S, bald durch SZ, bald (in Verbindung mit T) durch Z, bald (in Verbindung mit K) durch X. P^erner die grössere Zeitdauer nicht bald durch Längestriche, bald durch Verdopplung der Lautzeichen. Endlich die grössere Schallstärke nicht bald diu'ch Beistrichelchen, bald durch Anwendung ganz verschiedener Buchstaben, wie etwa „P" für starkes „B". u. s. w. u. s. w.

46 Zwölf Sätze über wissenschaftliche Oithograpliie der Mundarten.

§ 5. Nach Satz II darf z. B. für den stimmlosen S-Laut nicht f wie für den tönenden geschrieben werden. Ferner darf E nicht bald dem e-Laute, bald dem ä-Laute, bald (wie in Pein) dem a-Laute, bald (wie in badete) dem a-Laute, bald (wie in euch, heute) dem o-Laute dienen. Endlich darf für F nicht PH stehn, da P die labiale Tenuis, H den gutturalen (im Kehlkopf, nicht am Gaumen gebildeten) Reibelaut bezeichnet; aus ähnlichen Gründen sind auch TH für den interdentalen, CH für den palatalen Reibelaut unzulässig, u. s. w.

§ 6. Nach Satz III dürfen die verschiedenen Abstufungen einer und derselben Eigenschaft nicht durch ganz verschiedene Zeichen dar- gestellt werden, z. B. nicht ein Grad der Schallstarke durch \ ein anderer durch '. Auf die Bezeichnung der verschiedenen Lautarten kann Satz III nur in beschränkter Weise Anwendung finden; es ist z. B. nicht möglich die Gleichartigkeit der mit P, T, K bezeichneten Laute graphisch hervorzuheben ohne das lateinische Alfabet aufzugeben. Wir haben nur darauf zu sehn dass die notwendigen neuen Zeichen zu den alten in einer leicht erkennbaren Beziehung stehn; z. B. für den Mittel- laut zwischen i und e ist eine Darstellung zu wählen welche dessen Verwantschaft mit i oder mit e anzeigt.

§ 7. Gegen Satz IV sündigt man häufig in der unbegreiflichsten Weise, so dass man ohne Not das Auge durch Ueberladung und Fremdartigkeit beleidigt und die Satz- und Druckkosten erheblich ver- mehrt ; man denke sich z, B. zu dem an sich schon ungeheuerlichen ä (= Mittellaut zwischen ö und a) die Zeichen ^ ~ ' hinzu ! Verwerf- lich sind daher a? e, a? o u. s. w. als Zeichen für Vokalklänge. Ferner alle Striche und Halbkreise deren Längsaxe nicht von oben nach unten läuft; stehende Zeichen lassen sich sehr leicht und raumsparend ver- binden, liegende aber nicht; auch nehmen letztere natürlich einen breitern Raum ein, was über schmalen Buchstaben wie i leicht störend werden kann und einer allfällig nötigen Verlängerung des Zeichens im Wege steht. Einfachheit ist auch deshalb unerlässlich weil es bei der Menge der zu berücksichtigenden akustischen Erscheinungen üble Ver- schwendung ist zur Darstellung einer lautlichen Eigenschaft ein Zeichen anzuwenden das aus mehreren besteht (wie z. B. * und * aus ' ^; ferner ' aus ' - u. s. w).

§ 8. Satz V ist für Jeden selbstverständlich der jemals in die Lao-e irekommcn für den Druck eines Werkes die Herstellung unge-

Zwölf Sätze über wissoiisclKiftlicho OrtliOf^rapliii! der Mtindarton. 47

wohnlicher Typen fordorn zu müssen; die Verleger verhalten sich sol- chen Zumutungen gegenüber sehr ungeberdig auch wenn sie Besitzer von Schriftgiessereien und von grossen, reich ausgestatteten Druckereien sind. Wie oft liest man in den Grammatiken von Missionaren sie hätten die Lepsiusschen Schreibungen nicht verwenden können und andere annehmen müssen, weil die Druckerei nicht darauf eingerichtet war. Wo bleibt dann die ersehnte Einheit? Die Veröffentlichung wissenschaftlicher Dialektschriften gehört ohnehin nicht zu den einträg- lichsten Kapitalanlagen, Der Verleger von Frommanns Zeitschrift „die deutschen Mundarten", auf deren Verhalten in dieser Frage sehr viel ankommt, hat für das Unternehmen bereits grosse Opfer gebracht und weigert sich ganz bestimmt noch viel weiter zu gehn. Je kostspieliger man eine Orthographie macht, desto hartnäckiger werden sich die Schriftsteller, Verleger und Drucker gegen deren Annahme sträuben, so dass alle Beratungen und Besprechungen welche diesen Verhält- nissen nicht genügend Rechnung tragen, schliesslich leeres Gerede sind. Wer es entwürdigend findet dass die Wissenschaft auf Geldfragen Rücksicht nimmt, der möge einige tausend Thaler hergeben um allen wissenschaftlichen Bearbeitern von Mundarten die Mehrkosten einer ganz unabhängigen Schrift zu vergüten ; will er dies nicht thun, so ist seine Entrüstung eine sehr wohlfeile.

§ 9. Selbstverständlich ist es ein Ding der reinen Unmöglichkeit eine Schrift aufzuotellen welche allen Bedürfnissen der Wissenschaft genügt und dennoch nicht mehr Aufwand erfordert als der Satz irgend eines Dreipfennigromans. Aber dies verhindert nicht dass man die Zeichen welche voraussichtlich am häufigsten gebraucht werden müssen und der Dialektforschung am unentbehrlichsten sind, so wähle dass un- gewöhnliche Typen möglichst vermieden werden. Von mehreren in wissenschaftlicher Hinsicht gleich guten Vorschlägen muss derjenige unbedingt den Vorzug erhalten welcher in den meisten Druckereien am leichtesten ausfühibar ist.

§ 10. Man sollte hoffen düifen dass die Sätze I bis V jeder- mans Billigung finden werden ; ihre Beurtheilung ist reine Ver- standessache und wird nicht durch die zahllosen Vorurtheile und Zu- fälligkeiten beeinflusst welche bisher jede Einigung vereitelt haben. Wer nicht stichhaltige Gründe dagegen vorzubringen vermag, der ver- zichtet auf jede Berechtigung gegen deren konsequente Anwendung

48 Zwölf Satze über wissenschaftliclie Orthographie der Mundarten.

Einsprache zu erheben, mögen dadurch seine orthographischen Gewohn- heiten verletzt werden oder nicht.

Die Sätze VI bis XII sind die notwendigen Folgerungen aus I bis V.

§ 11. Eine nagelneue Schrift wie die von Brücke (Sitzungsbe- richte der Wiener Akademie der Wissenschaften, phil. bist. Klasse, Band XLI, S. 2 '2 3 bis 285) vorgeschlagene, ist, abgesehn von den schweren wissenschaftlichen Bedenken die sich dagegen erheben, schon wegen Satz V verwerflich. Durch die Anlehnung an das Herkömm- liche erreichen wir nebenbei den Vorzug leichterer Erlernbarkeit.

§ 12, Unhaltbar ist die Forderung es dürfe in das neue Alfabet kein Buchstabe aufgenommen werden welchem irgend eine der germani- schen und romanischen Orthographien eine andere Bedeutung beilegt als die übrigen. Wir brauchen uns um dieselbe um so weniger zu kümmern da diejenigen welche sie stellen, selber in der gröbsten Weise dagegen Verstössen. Nehmen wir z. B. die Schreibungen von Lepsius. Er verlangt S für den stimmlosen S-Laut ; aber in Deutschland ist S das Zeichen für den tönenden Reibelaut; sa lesen die meisten gebikle- ten Deutschen als französisches za; der Buchstabe S wäre also liir die neue Orthographie nicht brauchbar. Z soll den tönenden S-Laut darstellen ; aber in Deutsehland bedeutet es ts, in Italien ts und dj\ in Spanien p. U für den dunkelsten Vokal widerspricht der französi- schen Orthographie, in welcher es die Geltung i/ (d. h. ü) hat. V für w verträgt sich nicht mit dem deutschen Gebrauch, welcher ihm den Wert / beilegt. W für unsilbiges u ist unzulässig weil es im Deutschen und Holländischen nur den zü-Laut bezeichnet. H für den Kehlkopfreibelaut taugt nichts, denn bei den Romanen ist es stumm. P, T, K dürften nicht für die reinen Tenues verwendet werden weil sie in Deutschland und Dänemark als gewöhnliche Vertreter der Lautverbindungen jj/;, th, Ag, Jcw gelten. B, D, G wären zur Dar- stellung der tönenden Medien durchaus untauglich weil sie in Süd- und Mitteldeutschland als reine Tenues gesprochen Averden. u. s. w. Streng genommen müsste man jeden Buchstaben verwerfen der in irgend einer der genannten Orthographien mehrere Werte hat; z. B. A=a, denn engl.A oft = e, a u. s. w. ; E = e, denn engl. E oft = 2' und o; 1^2, denn engl. I oft = af, 0, i; 0=^o, denn dänisch O oft = m; U = M, denn engl. U oft in, 0, ü; G=g, denn ital. G oft df^ franz.

Zwölf Sätze über wissenscljuftliche Orthographie der Mundarten. 4'J

G oft = /, Span. G oft = x; D=^d, denn span. und dän. D oft = \) oder d u. s. w. u. s. w. Ein Grundsatz der von seinen eigenen Ver- fechtern mit Füssen getreten wird, kann keinen Anspruch auf Beach- tung erheben.

§ lo. Man hat eingewendet die neuhochdeutsche Orthographie könne nicht zur Grundkige einer wissenschaftlichen Schreibung gemacht werden, weil die Geltung ihrer Buchstaben in den einzelnen Gegenden Deutschlands oft sehr verschieden ist. Dies ist ohne Belang. Mehr als die Hälfte aller Deutschen spricht E und I für 0 und Ü; aber deshalb zweifelr niemand daran dass die Laute ?', e mit I, E zu bezeichnen sind und nicht mit Ü, O, oder dass den Buchstaben Ö, Ü die Laute ö, y als eigentlicher Wert zukommen. Ebenso wenig kann Streit dar- über entstehu ob G ein ff und nicht vielmehr einen CH-, oder J-, oder K- oder U-Laut u. s. w. darstellen solle.

§ 14. Wäre es nicht besser von der italiänischen Orthographie auszugehn statt von der neuhochdeutschen? Durchaus nicht! Im Wesentlichen würden beide Wege zu demselben Ziele führen; aber in manchen Fällen reicht die italiänische Schreibung nicht aus und miisste man dann ohnehin auf die neuhochdeutsche zurückgreifen; z. B. die Gaumentenuis bezeichnet der Italiäner mit C, was vor E und I miss- lich wäre; für die Laute ä, y" (tönendes S) hat er keinen besondern Buchstaben; die Laute h, y, ö kennt seine Schriftsprache nicht. Keine Orthographie eignet sich so gut zur Grundlage einer wissenschaftlichen Schreibung wie die deutsche.

§ 15. Die Buchstaben welche wir nach Satz VI anzunehmen haben, sind folgende: a, ä, b, d, e, f, g, h, ?', k, l, ??;, n, o, ö, j), r, /, s, t, u, M, IV. Ueber f als Zeichen für den tönenden S-Laut s. Herrigs Archiv 1877, Band LVI, S. 327 bis 332.

§ 16. Von diesen Zeichen können drei nicht gufgcheissen wer- den, nemlich (V, ö, ü. Sie Verstössen gegen Satz IV erstens weil der Doppelpunkt •• aus zwei Zeichen zusammengesetzt ist, zweitens weil er unbequem ist und sich mit andern Zeichen schlecht verbindet. Mit Satz V sind ä, ö, ü unverträglich weil sie in Verbindung mit den ein- fachsten und über allen andern Vokalzeichen gebräuchlichen Beistrichen und ^ in den Druckereien nicht vorkommen. Der Vorschlag von Lepsins den Doppelpunkt unter den Buchstaben anzubringen, kann natürlich nicht befriedigen. Für ü giebt es einen Ersatz welchem die drei

Arcliiv f. 11. Spiacliün. LYUI. 4

50 Zwölf Sätze über wissenscliaftlicbe Orthographie der Mundarten.

oben gerügten Fehler nicht ankleben und welcher bereits mehr oder weniger üblich ist : in griechischen Fremdwörtern und in der Ortho- graphie des Angelsächsischen , Altnordischen , Schwedischen und Dä- nischen finden wir den «-Laut stäts mit ij bezeichnet. Diesem Vorgang müssen wir uns unbedingt anschliessen.

Hingegen für ä und ö ist die Abhülfe nicht so leicht; denn welche Zeichen wir auch wählen mögen, so sind deren Verbindungen mit den nötigsten Beistrichen in den Druckereien nicht vorrätig und ist es daher unmöglich dem Satze V zu genügen; wir können also bloss aiif Satz IV Rücksicht nehmen. Das Zunächstliegende sind Verschleifun- gen von a und o mit e ; da nun aber die bereits üblichen se, o3 an grosser Unbeholfenheit leiden, ferner in der Kursivschrift schwer von einander zu unterscheiden sind und in der Kurrentsclirift leicht mit den zwei- lautigen ae und oe verwechselt werden, bleibt nichts übrig als das e in das a und o zu stellen (Satz VII). Dies ist übrigens in dem hier vorgeschlagenen System der einzige Fall wo ein eigentlicher Buchstabe neu geschnitten werden muss.

§ 17. Am wichtigsten für die mundartliche Wissenschaft ist zu- nächst die Bezeichnung der gebräuchlichsten Vokale für welche die her- kömmliche Orthographie keine besondern Buchstaben besitzt. Die meisten Vorschläge welche bisher gemacht worden, Verstössen gegen einen oder zwei der Sätze III, IV und V oder gar gegen alle drei und leiden obendrein an zwei Fehlern : sie verschwenden eine Menge von Neben- zeichen und lassen die Mittelstufen zwischen i, y, n und e, ö, o un- berücksichtigt. Die einzige nach allen Seiten hin befriedigende Be- zeiehungsweise ist die von Rumpelt in seinem höchst verdienstlichen „System der Sprachlaute" (Halle, Waisenhaus 1869) angewendete: der Gebrauch des ^ (Rumpelts ' für den „alfabetischen" Lautwert der Buchstaben ist überflüssig und mit Satz VI unverträglich). Nach Satz VIII vervollständigen sich die Vokalzeichen folgendermassen :

uüobäaaäeeli Zugleich erhalten wir für den Laut des

0 deutschen SCH das Zeichen s, für das

ö französische J: f, für die am hintersten

y Gaumenrande gebildete Tenuis: k u. s. w.

y u. s. w.

§ 18. Dass dem' die dem' entgegengesetzte Bedeutung beigelegt

Zwölf Salze über wissenscliafi liehe Orthographie der Mundarten. 51

wird, ist beinahe selbstverständlich; übrigens wird ' bei Vokalzeichen vorläufig kaum nötig sein.

§ 19. Das von Kapp, Lepsius u. A. für die Nasalirung vorge- schlagene ~ ist unbrauchbar, denn es ist zu komplizirt (aus ^ und ^ zu- sammengesetzt), nhnmt als wagrechtes Zeichen zu viel Raum nach rechts und links ein und verbindet sich schlecht mit irgend einem andern Beistrich (s. oben § 7). Es ist daher unvermeidlich das von Rumpelt, Sievers u. A. angewendete polnisch-litauische anzunehmen.

§ 20. 9 ist seit Schmeller und Rapp in der wissenschaftlichen Dialektschreibung so gut wie eingebürgert. Von dem Lepsiusschen e kann schon wegen Satz V und § 8 keine Rede sein.

§ 21. Aus denselben Gründen ist für den Nasal mit Gaumen- verschluss nur das von Rapp und vielen Andern eingeführte tj zu- lässig; ?j allein hat den Vorzug dass es mit den nötigsten Beistrichen und ' (//, // ) in jeder grössern Druckerei vorhanden ist.

§ 22. Statt des von Rapp, Lepsius u. A. vorgeschlagenen x ist das von Winteler und zum Theil auch von Rapp und Sievers verwendete x vorzuziehn weil es auch in der kleinsten Druckerei zu haben ist und vor X überdies den Vorzug hat nicht unter die Linie herabzugehn. Nach Satz VIII ist damit zugleich t?^ für den am hintersten Rande des Gaumensegels gebildeten Reibelaut gegeben.

§ 23. Gegen j als Zeichen für tönendes ,t wird sich schwerlich ein Einwand erheben.

§ 24. Ebenso wenig gegen v für das, von unserm w scharf zu sondernde, tönende /, welches im Niederdeutschen und Romanischen vorkommt und in der Orthographie dieser Idiome mit V bezeichnet wird; die Holländer und die niederdeutschen Dialektschriftsteller halten V und W und F auf das strengste auseinander.

§ 25. q ist das zunächstliegende Zeichen für den faukalen Schlag- laut; so ergiebt sich nach Satz VIII zugleich auch q für die Kchl- kopftenuis.

§ 26. In Betreff von Satz XI 7 und 8 kann die Entscheidung verschieden ausfallen je nachdem man Satz III und IX oder aber Satz V zur Geltung bringt; i s' / sind systematischer, q p 8 üblicher.

§ 27. Von * und von" als Dehnungszeichen kann keine Rede sein, wenn man gegen die Sätze IV und V (vgl. §§ 7 und 8) keine

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52 Zwölf Sätze über wissenschaftliche Orthographie der Mundarten.

schlagenden Vernunftgründe vorzubringen weiss. Sie sind nicht nur an sich unbequem, sondern kommen in Verbindung mit Konsonanten- zeichen und mit andern Beistrichen in keiner Druckerei vor. Ferner ist " eine Zusammensetzung. Ueberdies wird mit der Zeit das Bedürf- niss eintreten nicht bloss eine sondern mehrere Stufen der Länge zu unterscheiden; dies kann in Berücksichtigung von Satz III (vgl. § 6) z. B. nur durch Verlängerung des Dehnungszeichens geschehn, z. B. ~ müsste eine grössere Dauer als - bezeichnen ; wie soll aber ~ über einem schmalen Buchstaben Platz finden ? Sehn wir was für Längenbezeichnungen welche nicht gegen Satz I Verstössen, sonst noch üblich sind, so finden wir in der Orthographie des Altnordischen, des Ungarischen, des Böhmischen, des Irischen und vieler lateinischen In- schriften den Querstrich '. Dieser bietet alle die Vortheile welche wir bei " und ~ vermissen. In der polnischen , tschechischen und litaui- schen Orthographie und in dem Lepsiusschen System kommt ' über den allermeisten Konsonantenzeichen vor; über Vokalzeichen ist es in jeder Druckerei vorrätig ausser über ä und ö; aber in dieser Verbin- dung findet man auch keine ' und ~. Was kein ' hat, ist kurz.

§ 28. Auch wenn wir davon absehn dass wir mit der Verwen- dung von ' und ' in der oben erläuterten Bedeutung nicht etwas Un- erhörtes aus der Luft greifen, sondern uns an den längst gemachten Vorschlag eines angesehenen Grammatikers und an den hergebrachten Gebrauch mehrerer Kulturvölker anlehnen, so zwingt uns schon Satz V diesen Weg einzuschlagen. Zu welchen Zwecken bedarf die mundart- liche Orthographie am nötigsten und am häufigsten der Anwendung von Nebenzeichen? Um gewisse Schallfärbungen und um die Länge darzustellen. Welche beiden Nebenzeichen finden sich bereits in jeder Druckerei allein oder in Verbindung mit einander über den meisten der zunächst in Betracht kommenden Buchstaben? Die Bei- striche ' und ' (welche sich zu " zusammensetzen). Kann man diese beiden Thatsachen nicht in Abrede stellen, so zwingt die unerbittlichste Notwendigkeit zur Annahme der Sätze VIII und XII, mag man sich drehn und wenden wie man will.

§ 29. Wenn man auch die Bezeichnung der „Betonung" für unerlässlich erklärt, so ist dies ein schwerer Irrthum. Erstens betonen die verschiedenen Mundarten, die in prosodischer Hinsicht sehr stark von einander abweichen, im Wesentlichen ganz gleich. Zweitens ist

Zwölf Sätze über wisseiiscli;ifUiclie Ortliograpliie der Mundartoii. 53

innerhalb des einfachen Wortes beinahe immer die Stammsilbe stärker als die übrigen Silben ; wer nun mit dem Deutschen vertraut ist, weiss in den meisten Fällen den Stamm als solchen zu erkennen ; obgleich unsere herkömmliche Oi'thograpliie in Wortbildern wie begeben über die dynamischen Verhältnisse keinerlei Auskunft giebt, entsteht trotz- dem nur in den seltensten Fällen ein Zweifel darüber was Stamm- und was Nebensilbe ist. Drittens haben wir 9 nur in schwachen, die übrigen Vokale meistens nur in starken Silben; die genaue Dar- stellung des Klanges macht also gewöhnlich auch die Tonsilbe dem Auge kenntlich. Viertens kommen in schwachen Silben selten lange Selbstlauter vor ; unser Längezeichen ' wird also in den meisten Fällen auf die Betonung hinweisen. Von einem dringenden Bedürfniss nach Akzentbezeichnung kann also nicht entfernt die Rede sein. Soll übrigens eine solche angewendet werden, so genügt es der Wissenschaft durch- aus nicht, bloss die dynamischen Verhältnisse innerhalb des vereinzel- ten Wortes kenntlich zu machen, sondern sie muss auch diejenigen innerhalb mehrwortiger Sätze berücksichtigen; daran wird meistens gar nicht gedacht. Auch handelt es sich darum zugleich eine Be- zeichnungsweise der Schallstärke aufzustellen welche geeignet ist die in unsern Lehrbüchern der neuhochdeutschen Metrik immer noch gras- sirenden Kurzlangschemata zu verdränofen.

§ 30. Die in den Sätzen VI bis XII vorgeschlagene Schreibung reicht aus für die dringendsten Forderungen der Wissenschaft; hat man sich in diesen Punkten geeinigt, so werden die übrigen, welche man in Frommanns deutschen Mundarten Bd. VII, S. 313 3l5 be- sprochen findet, wenig Schwierigkeiten mehr machen.* Das ganze System ist bis in seine kleinsten Theile nach allen Seiten hin reiflich durchdacht; die Lauttheorie auf welcher es beruht, habe ich ausführlich erörtert in Reicherts und du Bois-Reymonds Archiv für Anatomie und Physiologie (1873, S. 449 477), in meiner Rezension von Sievers' Grundzügen der Lautphysiologie (Steinmeyers Zeitschrift für deutsches Alterthum 1877, Anzeiger III, S. 1 22) und in meinem Buche „Zur Lautverschiebung". Noch sei bemerkt dass wenn auch zunächst die Bedürfnisse der deutschen »Dialektologie ins Auge gefasst worden, die

* Ebendaselbst (S. 315 330) habe ich vor den Fehlern gewarnt welche gewöhnlich bei dialektischen Beobachtungen begangen werden und auch die besste Orthographie wertlos machen.

54 Zwölf Sätze übor wissensdiaftliche Orthographie der Mundarten.

vorgeschlagene Orthographie dennoch auf jede Sprache, also auch auf die romanischen Mundarten mit Leichtigkeit anwendbar ist.

Zum Schlüsse wiederhole ich was man immer nicht genug wieder- holen kann: soll in der wissenschaftlichen Orthographie irgend welche Einigung erzielt werden, so lasse man sich nicht durch beliebige Ge- wöhnungen und Zufälle leiten, sondern durch klare und wohlerwogene Vernunftgründe.

Alle Freunde der mundartlichen Forschung bitte ich dringend, meine Vorschläge einer eingehenden, unbefangenen Piüfung zu unter- werfen und deren Ergebniss zu meiner Kenntniss gelangen zu lassen. Jeder Ausdruck der Zustimmung, jede ausführlich begründete Verbes- serung wird mir willkommen sein. Auf der 32. Versaniniliing deutscher Philologen im September 1877 zu Wiesbaden sollen die „Zwölf Sätze" zur Verhandlung kommen.

Saargemünd, im Februar 1877. J. F. Kräuter.

Der deutsche Krieg Ton 1870 1871

im Volksliede.

„Volkes Stimme ist Gottes Stimme" dies alte Sprich- wort hat sich in unseren Tagen wunderbar bewahrheitet. Als im Jahre 1849 der König von Preussen die ihm von Frankfurt aus angetragene Kaiserkrone ausschlug, da sang das Volk, wenn auch in unberechtigtem Unrauth gegen Friedrich Wil- helm IV., prophetisch und voll Zuversicht:

„Er will nicht Kaiser werden,

Es ist ihm zu gering

Was nicht von Gottes Gnaden,

Das mag er nicht, das Ding.

„Es ist auch so wohl besser

Bei dieser harten Zeit,

Die zwingt man nicht mit Beten,

Da gilt es schweren Streit.

„Wir brauchen einen Kaiser,

Der fromm ist und gerecht,

Doch auch mit blankem Schwerte,

Wo's nöthig ist, zuschlägt.

„Kommt's heute nicht, kommt's morgen,

Es muss uns doch ersteh'n

Der Himmel wird schon sorgen,

Dass wir den Kaiser seh'n !"

Und nicht lange sollte es währen, da war der Kaiser nach seinem Herzen erstanden, der Kaiser, auf dessen Fahne des Volkes Wort sich geschrieben fand: „Mein Schwert mein Hort und Gott meine Burg," und jubelnd erscholl es ;

56 Der deutsclio Krieg von 1S70 1871 im Volkslietle.

„Vivut Hoch! in allen Landen, Ruft ihr Deutschen allzugleich, Denn der Kaiser ist erstanden Und das neue deutsche Reich." *)

Und nochmals erhebt derselbe Prophet seine Stimme; zehn Jahre später, 1859, da heisst es in einem Liede:

„Und rings in deutschen Landen Im Volk die Sage geht, Dass mit dem Barbarossa Der Sänger neu ersteht.

„Bricht er aus seinem Berge Der alte Kaiserheld, Dann zieht der Ofterdinger Mit ihm ins ofF'ne Feld.

„Dann gibt's ein Liederfechton, Ein herrliches Turnei : Dann kommt des deutschen Liedes Verlornes Reich herbei!"

Und kaum begann im Jahre 1870 der Kaisermorgen zu tagen, erweckt durch die Stimme des neuen Uebermuthes von der Seine her

„Da singt der ganze Dichterhain: Zum Teufel mit dem Mondenschein, Mit Rosen, Kosen, Lust und Leid, Mit Zagen, Klagen, Liebesstreit, Nun schleift für unsrer Krieger Reih'n Des deutschen Verses Edelstein.

„Und sieh', aus allen deutschen Gau'n, So weit die deutschen Wogen blau'n, Rückt auf beschwingtem Zelter an Manch' lorbeerstolzer Sängersraann. . .

„Und mächtig rauscht's im Weltenall, Wie Bardenton, zum Sonnenball: Wir schwingen das Gedankenschwert Und Schilder, unsrer Ahnen werth.

*) Dieses, sowie die meisten der nachfolgenden Lieder, sind entnommen der grossen Sammlung von Franz Wilhelm Freiherrn von Ditfurth: „Histo- rische Volkslieder der Zeit von 1756 bis 1871", Berlin, Franz Lipperheide 1871 1872 auf die hier ein für alle ]\Ial hingewiesen wird.

Der di'uti^clie Kiicg von 1870—1871 im Volkslierle. 57

Wir steh'n vereint, dem Sang; zum Schutz, Dem deutschen Sang zum Schutz und Trutz."*)

Sofort fuhren wir an die Waffen, die Hände in die Saiten, und wie in alten Tagen, so stimmten auch jetzt in treuem Vereine „Leier und Schwert" die gemeinsame AVeisc an zu „Schutz und Trutz" für's Vaterland: Deutschland stand da, ein Volk in Waffen, ein Volk im Liede, und beides, auch das letztere, im wahrsten Sinne des Wortes : denn nicht bloss waren es die „lorbeerstolzen" Sungesritter, die auf dem Wahlplatze erschienen, nein, der „tönereiche" Drang ging durch alle Schichten des Volkes, und mit dem edlen Meister der Gesangeskunst erhebt auch der Volkssänger seine Stimme, und wenn auch manch' rauher, derber Ton aus seiner Kehle dringt, „an echt kern- hafter, vaterländischer Gesinnung steht er jenem nicht nach, ja an liedlicher Flüssigkeit, an körnigem schlagfertigen Witz und Humor ist er ihm nicht selten voraus", und, was sein Haupt- vorzug ist, in seinem Liede tritt die Zeitstimmung immer un- mittelbar und unverfälscht und lebendig hervor. Denn die Volkssänger sind meistentheils selbst Theilnehmer der o-eschil- derten Ereignisse, Soldaten auf der Wacht, wie sie sich uns öfters am Schlüsse der Lieder als Verfasser darstellen, Land- wehrmänner, die mitten im Kampfe gestanden und des Krie- gers Freud und Leid an sich selbst erfahren, und Avas das für einen Unterschied macht, das können wir von jenem Volks- sänger hören, der auf einsamem Posten in strömendem Regen und mit knurrendem Magen treuherzig ausruft :

„Ihr Dichter, die hinterm Ofen Ihr es so schön besingt, Wie die Kanonen donnern Und wie die Dromete klingt

„Und wie um das Lagerfeuer Sich lustig der Krieger drängt Und wie man Nachts auf dem Posten An lauter Poetsches denkt.

„Ich wollt, von Euch so Einer Stand hier auf meinem Fleck

*) Zu Schutz und Trutz" von R. Weisse in der trefflichen gleichnamigen Sammlung von Franz Lipperheide, 7. Lieferung, p. 43.

58 Der deutsche Krieg von 1870—1871 im Volksliede.

„Wenn er dann noch Humor bätt' Wie ich Kreuzelement ! Ich wollt ihn schöner besingen Als er es irgend könnt."

Ja dort spricht die Kunst, hier die Natur; dort braust der Strom der Begeisterung in dithyrambischem Schwünge dahin, hier herrscht einfaches, unmittelbares Leben, und was das Volkslied an Schönheit der Form einbüsst, das ersetzt es reich- lich durch die Naivität seiner Darstellung und die Mannig- faltigkeit seiner Gedanken. Denn da giebt es keinen Zug in dem Lager- und Kriegesleben, der nicht seinen poetischen Aus- druck findet, kein Verdienst, das nicht seine Krone empfängt; im bunten Wechsel zieht der Sturm der Schlacht und der lang- wierige, ermüdende Festungskampf, das gemüthliche Wacht- feuer und die lustige Munitionscolonne, der schmerzvolle Ver- bandplatz und das jammerreiche Krankenlager an uns vorüber, und der heldenkühne Officier, der löwenmuthige Wachtmeister, der unerschrockene Tambour, der „terrible Ulan", sowie der unermüdliche Arzt und die sorgsame Schwester Salome, der Trost der Verwundeten , treten nach einander auf die belebte Kriegesbühne und neben Moltke, dem schweigsamen Denker der Schlachten, steht der redselige, selbstbewusste Soldat und Politiker Kutschke; weit über Alle aber ragt empor der Kaiser mit dem weissen Haare und dem Jünglingsherzen in der Brust, und neben ihm sein Heldensohn, der tapfere und doch so gemüthliche Kronprinz mit seiner kurzen Pfeife, in scharfem Contraste zu dem grimmigen Kriegshelden im rothen Attila, dem gefürchteten Prinzen Friedrich Karl. Und wenn sie dabei auf Kosten eines übermüthigen Feindes, des „Ritters von dem Grossmaulsorden", über dessen

„Dickpelzige gloire,

Die uns lassen musste Haut und Haare"

die ganze Lauge derben Volkswitzes sich ergiesst, ihre eigenen Thaten erheben und sich des Gefühles ihrer Ueberlegenheit mit gemüthlichem Wohlg-efallen erfreuen, so ist doch immer das Ende vom Liede: „Nicht wir, sondern Gott war in uns mächtig, der den Hochmuth zu Falle bringt ; auf die Kniee, gebt ihm die Ehre!"

Der deutsche Krieg von 1870- 1871 im N'olkslicde. 59

So giebt uns das liistorische Volkslied von 1870 ein voll- ständiges in sich abgeschlossenes Bild jener weltbewegenden Epoche, und dies ist die Quelle, an die wir gehen müssen, um nicht bloss jene ewig denkwürdigen Tage der Erhebung, nein den Geist unseres Volkes überhaupt in seiner Grösse und Lauterkeit richtig zu verstehen und zu würdigen. Dann werden uns auch nicht mehr die Schatten der Gegenwart, die jenen Geist zu umnachten streben, erschrecken ; wo so viel Gottver- trauen und Königstreue in einem Volke mächtig ward, da ver- mag der böse Feind, mag er nun von Aussen oder von Innen seine verführerische Stimme erheben, doch nichts mehr auszu- richten. Und diesen Geist des Glaubens und der Stärke von Neuem herauf zu beschwören, das soll heute, an dem Geburtstage Desjenigen , der ihn erweckt , meine Aufgabe sein ; ist doch gerade diese Gesammt-Erhebung des deutschen Volkes seine Kaiserthat, die wir nie genug preisen können. Ich will also ein Bild entwerfen, wie sich jene grosse Zeit in dem Volks- liede abspiegelt, ich werde aber dabei nicht sowohl dem Gange der Ereignisse selbst folgen, sondern die grossen Persönlich- keiten, Staatsmänner und Heerführer, die sie bestimmt und geleitet, sowie das Volk in Waffen zum Mittelpunkt meiner Darstellung machen, muss mich aber auch hier bei der Reichhaltigkeit des Stoffes und der Kürze der mir zugemes- senen Zeit auf die hervorstechendsten Züge beschränken.

Der Grundtypus dieser Dichtung ist nun von vorn herein Witz und Humor, und es ist dies zugleich ein charakteristischer Zug, der sie wie Ditfurth dies mit Recht hervorhebt*) von den Liedern der Freiheitskriege, mit denen sie sonst so vielfach, namentlich in der Einmüthigkeit patriotischer Gesin- nung übereinstimmt, beachtenswerth unterscheidet ein Um- stand, der freilich in der politisch verschiedenen Lage seine natürliche Erklärung finde. „Damals nämlich galt es den hei- mischen Boden erst von dem kühnsten, gewaltigsten Feinde zu befreien, während jetzt ein wohlgerüstetes Deutschland den Gegner sofort im eigenen Lande angreifen konnte. Dort, in so schwankenden Verhältnissen, war der Boden mehr für den

*) Ditfurth a. a. O. I, III, p. 8.

CO Der deutsche Krieg von 1870—1871 im Volksliede.

Ernst der Poesie, als für den Humor geeignet, der erst mit ffünstigerer Gestaltunjr der Lag-e mehr hervortrat; hier aber Hess volles Kraftbewusstsein und Sicherheitsorerühl den Humor schon gleich anfangs in allen Farben aufblitzen." Freilich ist der Spott in dem ersten Liede „der Ohrenzwang von Ems", das noch unmittelbar unter dem ersten Eindrucke jenes frevel- haften und so unerwarteten Attentates entstanden ist, mehr ein bitterer, und gellend tönt der Ruf nach Rache des in seinem treuen Könige beleidigten Volkes hervor:

„Der Benedetti sprach uns Hohn, Dem König und den Preussen ; Drob soll er dir Napoleon Ein Maledetto heissen."

Bonaparte hat sich zwar für solche Botschaft den rechten Knecht erkoren ; aber sie passt schlecht für Wilhelms Ohren ; ihm fuhrt der Ohrenzwang von Ems in die Glieder; darum geht er jetzt zur Kur nach Paris und restaurirt sich wieder

„Und restaurirt, wer weiss noch was Er dort wohl restauriret, Wenn er der Frechheit Ueberrnass Dir gründlich auskuriret.

„Du setztest einen Egel an, Und er hat Blut gezogen ; Das deutsche Blut, es kommt heran In hohen Völkerwogen.

„Bluthunde nicht, wie du sie dir Hast überm Meer gezüchtet, Es kommt ein Volk von Männern hier, Das deinen Frevel richtet."

Und in diesem Tone tiefster Bitterkeit und Empörung macht sich der Unmuth des Volkes über diese „teuflische Leicht- fertigkeit", wie sie genannt wird, einen Völkerkrieg anzuzetteln und alle Welt in Hass und Streit zu verwickeln, noch öfters Luft, z. B. in dem nicht weniger schneidigen Liede „Der Franz- mann ist toll"; indess auch an leichtem Spotte fehlt es nicht über jenen kläghchea Diplomaten und seinen verblendeten Kaiser,

Der deutsche Krieg von 1870 1871 im X'ollcsliede. Gl

und in wahrhaft prächtigem Ilinnor sind die Ijieder gehalten: „Benedetti der Franzose" „König Wilhehii sass ganz heiter" und das „Littauische Soldatenlied na den Leed vom Dannen- bohin, abersch e bösske fixer on schlömnier":

,. Benedetti" nämlich „der Franzose" Dacht', es wäre ganz famose. Wenn der König gab' klein bei ! Das würd' Louis Freude machen Und die Kaiserin würd' lachen, Frankreich schrei'n ein Siegsgeschrei.'''

Flugs macht er sich also an's „Drängeln; schwänzelt, tänzelt und scharwänzelt" um den König herum und verlangt endlich von ihm, er soll es ihm schwarz auf weiss geben, dass nie ein Hohenzoller den spanischen Thron besteigen werde:

,,Schreib's auf Louis sein Geheiss," ,,Da sieht unser Wilhelm Rexe Sich das klä.gliche Gewächse Mit den K ö n i g s a u g e n an : Sagte gar nichts weiter, sundern Wandte sich, so dass bewundern Jener seinen Rücken kann."

Aber fiir ihn antwortet der littauische Volkssänger, der hier entrüstet ausruft:

„So'n Rackertieg! Wat denke ju

Von onsem Landesvader,

So got, so friedlich, fest on tru,

Det Vaderlands Berader?

He suU ju allen Wollen dohn.

Na june Piepe danze?

Wacht man, Franzos, dat findt sek schon,

Wi wäre di kuranze!"

Doch in Paris grosser Sturm:

Gramraont, Olivier rufen Krieg, Bazaine, Mac Mahon hoffen Sieg

Und die Kaiserin Etigenie Ist besonders noch diejen'ge

C2 Der deutsche Krieg von 1870—1871 im Volksliede.

Die in's Feuer bläst hinein."

Und Er darauf: „So sei's entschieden, In Königsberg dictir' ich Frieden."

Und da,mit zieht er sich die ..Stiebehi", die vordem sein Oheim trug, grausam an, und auch der zarte Lulu nach den seinen f'rug, und nun treten viele tausend rothe Ho^eu untern Chassepot,

,, Blasen in die Kriogstrompete Und dem Heere ä la tete BriiHt der wilde Turico: Auf Franzosen, über'n Rhein !"

J.König Wilhelm sprach derweile: Hat es denn so grosse Eile ? Müssen auch dabei doch sein.

„Er Hess seine Stimm' erschallen Und rief zu den Deutschen allen : „Der Franzos ist wieder los!

„Kommt aus Süden und aus Norden Gegen diese fränk'schen Horden, Kommet Alle, Gross und Klein !

„Und sie Alle, Alle kamen, Alle d'rauf in Gottes Namen Greifen feste zu dem Schwert.

An die Million Soldaten, Für das Vaterland zu thaten Mochten wohl beisammen sein.

„Dieses grosse Kriegsgetümrael Dringt sogar bis in den Himmel, Wie's ein gross Getümmel thut. Blücher sprach zum alten Fritzen, Weil die ju.st beisammen sitzen: Donnervvetter, das wird gut."

Ja der alte Marschall Vorwärts wird bei diesem Anblick selbst wieder ganz kriegslustig; er verlangt in dem Liede „Vater Blücher" von Scharnhorst seinen Degen und will mit dazwischen fegen „Soll'n die Funken fliegen sehn!"

Der deutsche Krieg von 1870—1871 im Volksliede. G3

Scliarnhorst aber .sijracli : „Mit nichten, Dieses kön'n wir nicht verrichten, Weil wir jetzt im Himmel sein. Aber Steinmetz und den Goeben Und den Herwarth sah ich eben Fransecky und Falkenstein."

Sprach darauf der alte Blücher: „Wenn das ist gewiss und sicher, Scharnhorst steck den Säbel ein. Wo die fünf die Prcussen führen. Werden sie die Franzosen schmieren, Grad' als wenn ich's selber sei."

Und damit kehrt er dann beruhigt auf seinen verlassenen Sitz zurück, kann es sich aber nicht versagen, noch recht of Aväh- rend des Kampfes auf seine wackeren Preussen aus dem Him- nielsfenster herabzuschauen und seiner Freude an ihrem muthi- gen Streiten mit seinem kräftigen „Schlag ein Donnerwetter drein" Luft zu machen. Den Franzosen aber fängt es jetzt an ängstlich zu werden : mit Entsetzen sehen sie das Wetter von Deutschland her nahen, und an Stelle ihres unzeitinen Siegesgeschreies hören wir nun das bange Klagelied:

,,Was braust von Osten so mächtig herein?

Ist der jüngste Tag denn entglommen?

Es blitzen die Höhen im Waffenschein ;

Es dröhnen die Thäler von langen Reih'n

Der deutschen Männer, die kommen.

Sie kommen im Zorn zur lieissen Schlacht:

Frankreich, Frankreich! dir wird ein End gemacht.

„Vereinigt kommen die Deutschen, mir graut.

Wer reitet voran, sie zu lenken ?

Sein Haar ist Schnee, sein Bart ist ergraut:

Das ist der Bräut'gam, und Deutschland die Braut.

Er will ihr zur Mitgift schenken

Das Elsass, Lothringen, die Freigrafschaft !

Frankreich, rückwärts! Weiche der deutschen Kraft!"

So ergreifend lasst der Dichter eine Stimme aus dem fran- zösischen Volke klagen, wo es aber darauf ankommt, die all- mählich erwachende Bansiskeit des Kaisers selbst zu schildern, da ist der Humor wieder oben auf, und namentlich sind hier

G4 Der deutsche Krieg von 1870 1871 im Volksliede.

mehrere Gespräche von der belustigendsten Art, die Napoleon mit Bismarck, an dem er nunmehr seinen Meister in der Staats- kunst gefunden, und der ihm denn auch klar beweist, dass nicht er mehr die Welt, sondern Bismarck ihn am Narrenseile führe, und mit den Süddeutschen zusammenbringen, die er noch in letzter Stunde zunächst durch Schmeicheln und Ver- sprechungen, dann durch Drohungen von „den Preussen,

Die sie werden doch zerreissen"

zu trennen sucht. Indess es hilft nichts mehr; er ist erkannt und mit ihm seine Helfershelfer, die Ultramontanen in Baiern, wie dies in dem „Schnadahüpfln eines baierischen Soldaten im Felde" treuherzig zum Ausdruck kommt:

,iUnd der Pfarrer hot gsagt, Oes müsst's lutherisch wer'n, Der hat uns aufbund'n An tüchtinga Bär'n.

„Ob lutherisch, katholisch Wer fragt da dernach ? Der Feind kriegt katholisch Und luthrisch sei Sach!"

Sie halten jetzt wie eine andere Stimme aus Süddcutsch-

land lautet

„Fest zum König Wilhelm, Heldengreis, Von dem das ganze Deutschland Aveiss, Dass er zu Deutschlands Ehre Nur führet seine Heere/'

Seinen Gipfelpunkt erreicht aber hier der Spott in dem Liede „Louis Abschied von Muttern" im Berliner Dialekt :

„Ick geh nu fort beginnt er kläglich ach lebe wohl Eugenie!

Ick wollt, ick bliebe ruhig hier zurück ;

Du weest, ick liebte immer Dir, wie Wen'je,

Un mit die Deutschen hab ick doch keen Glück.

Een Taschentuch gieb, Mutter, nur noch lu>r,

Am Ende blutet mir die Nase sehr;"

sie, ärgerlich über sein „Jezeter", meint, er vermisse wohl nur sein Lieblingsgericht zu Mittag, „Hammelfleisch"; indess

Der deutsche Krieg von 1870—1871 im Volksliede. 65

,,Ne Hammelkeule holt ick nich vom Koch Die Keile kriegst Du ja in Deutschland noch ;"

er bittet sie das „cujoniren" zu lassen; er weiss es wohl, er niuss es jetzt riskiren, sie treibt ihn ja mit Gewalt ins Kriegs- getünimel und will ihn nicht mehr zu Hause dulden ; aber es wird schief gehen ; drum so schliesst er in komischer Re- signation :

„Häng' mir man 'nen jrossen Beutel an,

Dess ick dir meine Knochen schicken kann."

Welch' einen Contrast bildet zu dieser jämmerlichen Scene in den Tuillerien das erhebende Bild, das uns das Lied „Des Königs Rückkehr" vor dem Königspalaste in Berlin entrollt!

„In später Abendstunde Wie regt sich's in Berlin, Was treibt die Menschenmenge Zum Königshaus zu zieh'n ?

„Der König ist gekommen. Dem fränk'scher Hohn genaht, Er ging, um Ruh zu finden, Er kommt zu schwerer That."

Gross und Klein drängt sich an seinem Palaste; aller Augen blicken Liebe sprechend zu dem wohlbekannten Fenster empor, und durch die nächtige Stille erschallt „Die Wacht am Rhein"; der greise Heldenkönig grüsst und winkt, ach wie oft! aber noch immer will das Volk von diesem Platze, wo es sich so sicher fühlt, nicht weichen. Da dringt plötzlich in die Massen das Wort der Bitte:

„Noch viel fällt unserm König Der Arbeit heute zu, Gönnt ihm zum schweren Werke Der späten Stunde Ruh!"

„Da wird es still und stiller, Wie Donner wirkt das Wort; Und Einer nach dem Andern, Sie gehen schweigend fort."

Artliiv f. n. Spraclien. LVllI. 5

66 Der deutsche Krieg von 1870—1871 im VoIkslieJe.

„Und vor dem Königshause Stumm liegt die dunkle Nacht Ein Fenster ist erleuchtet : Der treue König wacht!"

Ja der treue König! über ihn hat des Liedes Sonne ihre ervvärrnendsten Strahlen ausgegossen, und mit stolzem Vertrauen rufen seine Scharen dem Feinde zu :

,, Wollt ihr einen König schauen ? Seht euch unsern Wilhelm an ! Auf den kann man schon bauen, Jeder Zoll ein König und ein Mann."

Einem solchen Führer ist es eine Lust zu folgen ; denn, singen die Dreiundfünfziger in ihrem Marschliede,

„Seht an, der greise Held Im weissen Silberhaar, Wie jung ist er im Feld, Wie strahlt sein Auge klar ! Das ist ein trefflich Beispiel, Das unser König giebt. Und freudig folgen Alle, Weil man ihn herzlich liebt."

Und wie mächtig dies Beispiel gewirkt, das können wir noch besonders von den Pommern erfahren, die von der Schlacht bei Gravelotte berichten:

„Da als die liebe Sonne aufging, Unser alter Kriegsherr uns empfing. Den Blick gerichtet himmelwärts. Ging er voran: das stärkte das Herz, Das gab uns Kraft, das machte uns Muth Und machte fröhlich das Pommerblut."

Und so klingt es immer wieder und wieder zum Lobe für „unsern Vater auf dem Thron" ein Kranz von Liedern, wie ihn schöner noch niemals das Volk um die Stirn eines gelieb- ten Herrschers gewunden hat! Und die schönste Blüthe in diesem Kranze ist der Siegsgesang:

Der deutsche Krieg von 1870—1871 im Volksliede. 67

„Violoria! der deutsche König siegt,

Der deutsche König, er unsre Wonne,

Dem unser Herz entzückt entgegen fliegt,

Nun geht sie auf, des deutschen Reiches Sonne!

Du, Streiter mit dem Schwerte und Gebet,

Victoria! der Tapfere besteht."

Da war er nun erstanden, der lang ersehnte Kaiser, der „fromm Ist und gerecht",

„Doch auch mit blankem Schwerte,

Wo's nöthig ist, zuschlägt."

Und weil nun das Schwert seine Sache vollbracht hat, da lässt das Lied den Kaiser selbst dem flehenden Feinde:

antworten

„Herr Kaiser, erbarmet Euch nun,

Und lasst die schrecklichen Waffen ruh'n."

„Wohlan, so sei's! Mein Sinn stand stets nach Frieden ; Ihr wolltet Krieg, der Kampf war heiss, Gott hat mir den Sieg beschieden. Er macht den Uebermuth zu Spott, Ein' feste Burg ist unser Gott."

Nächst dem Kaiser tritt nun, wie schon bemerkt, die ritterliche Gestalt des Kronprinzen aus dem Kahmen des Volksliedes am meisten hervor , aber während dort die Ehrfurcht vor dem grauen Haupte des Landesvaters mehr den ernsten Ton der Liebe anschlägt, so sind es hier die herzigsten Weisen, die oft in naivster Form zum Lobe des geliebten Königssohnes er- klingen. Schon der stereotype Ausdruck „unser Fritze" oder „König Wilhelms einzger Fritze" zeigt von einem Verhältniss zwischen Führer und Truppen, wie wir es in solcher Wärme und Innigkeit nirgends wiederfinden. In ihm verehren sie nicht bloss den siegreichen Feldherrn, nein , sie lieben in ihm auch den freundlichen, allzeit leutseligen Kame- raden, der an der Seinigen Leid und Freude immer den gleichen Antheil nimmt. So ward denn der „Kronprinz mit der kurzen Pfeife" die volksthümlichste Figur im Heere, und gilt es etwas zu betheuern, wie in jenem Liede, wo der anfangs so wilde, später nur noch hinter Eisengittern in Deutschland knurrende Turco verspottet wird, so heisst es gleich:

ö*

68 Der deutsche Krieg von 1870-1871 im Volksliede,

,,Bei Fritzen's Pfeifenkopf rwahr, Das scheinet mir sehr lächerbar."

Und wie oben von dem Kaiser, so singen die Soldaten auch von ihm :

„Der Kronprinz, der Kronprinz,

Wie stärkt er unsern Muth !

Hurrah ! du tapfrer Kronprinz,

Wir weih'n dir Gut und Blut."

So hangen sie mit Leib und Leben an ihm und folgen ihm um so lieber, als sie unter seiner Führung des Sieges gewiss sind, denn:

,,Der Kronprinz und Victoria,

Die sind zusammen immer ja."

Und wie rasch ist der Sieg gewonnen! „Gleich dem Blitze fährt der Fritze unter die Franzosenbrut" dies ist seit Weissenburg und Wörth, „dem Doppel-W," mit dem er des „Königs Namenszus" J^ls Gedenkzeichen für die Beleidiguns; von Ems dem E^einde auf den Rücken geschrieben hat, ein stets wiederkehrendes Gleichniss. Darum fürchten ihn aber auch die E^einde, wie die Trojaner den Achilles, und wie einst Andromache zu Hector, so fleht die Kaiserin Eugenie in einem dem bekannten Scliiller'scheu Gedichte nachgebildeten Liede „Bazaine's Abschied" diesen an:

„Will Bazaine sich ewig von mir wenden, Wo der Fritz mit unnahbaren Händen Immer näher auf den Hals mir rückt ? Komm, Bazaine, ach komm, lass dich erweichen, Komm und such Paris noch zu erreichen, Eh' der schnelle Fritz den Spass verdirbt!"

Diese seine Blitzesschnelligkeit hat er von seinem grossen Vor- fahren ererbt, mit dem er denn auch im Liede vielfach zusam- mengebracht wird, und der alte Held selbst schwebte mit seinem Geiste über ihm gleich in jener ersten Schlacht:

,,Denn sieh, auch aus den Lüften Da fuhr's Avie Schlachtenblitz, Das war der Schlachtensegeii, Der SeD:en vom alten Fritz!

Der deutsche Krieg von 1870 1871 im Volksliede. 69

Der hat auf Fritz, den jungen Gar väterlich geblickt Und seinen eignen Lorbeer Ihm auf das Haupt gedrückt."

Kann man nun den Kronprinzen mit dem sonnigen Helden aus dem Nibelungenliede, dem edlen Siegfried vergleichen, so zeigt uns dagegen das Bild des Prinzen Friedrich Karl etwas von dem düsteren Wesen des grimmen, gefürchteten Hagen. Wie Töne des Gerichtes klingt es in dem Liede „Prinz Friedrich Karl bei Vionville" :

„Wie lang schon bebt sein Degen Und zittert seine Faust, Nun kommt auf raschen Wegen Er stolz dahergebraust ; Nun kommt er angeflogen, Der mit dem Adlerblick Und stemmt die Heereswogen Des wälschen Feindes zurück."

„Er regt die schwarzen Schwingen,

Wie Sturmwind ist sein Flug,

Zum blutig ehernen Ringen,

Und wie G e w i 1 1 e r z u g ;

Verbirg dich in die Erde,

O Feind, vor seiner Wuth,

Vor seinem blutgen Schwerte

Und seinem Adlermut h.

„Versuch es hinter Wällen Solch' wildem Feuerbrand Entgegen dich zu stellen, Doch nicht im offnen Land! Viel rothes Blut macht fliessen Der Prinz im rothen Kleid, Franzmann, du musst's beschliessen Mit Thränen und Herzeleid."

Ihm wagt sich das Lied nicht mit herzlicheren Tönen zu nahen; wie Gottes Cherubim steht er da mit flammendem Schwerte und die Feinde zerstieben vor ihm

„Wie die Spreu vor Sturmes Weh'n,"

70 Der deutsche Krieg von 1870 1871 im \'olksliede.

Der Dritte endlich in diesem prinzlichen Führer-Bunde, der verherrlicht wird, ist der damalige Kronprinz, jetzige König Albert von Sachsen; ihm weiss das Lied kein höheres Lob zu spenden, als w^nn es ihn mit unserm Fürstenhause in Vergleich stellt. Von der Schlacht bei Beaumont, seiner Kuhmesthat, heisst es:

„Führt nicht der Sachsenprinz das Heer,

Als wär's ein Hohenzoller? "

Neben jener fürstlichen Drei steht dann eine andere heilige Drei Roon , Moltke, Bismark, des Kaisers verdienteste Männer, denen der dankbare Monarch nach dem Tage von Sedan selbst den Toast ausbrachte, dass der eine das Schwert ireschärft, der andere es o;eleitet, der dritte aber durch seine ofeniale Staatskunst Beider Wirken ermösflicht habe. Aehnlich sangen die Baiern in einem ihrer vielen Kriegsschnadahüpfln nur mit Uebergehung des Kriegsministers Roon

,,Der Bismarck hat's gespunna, Der Moltke hat's g' rieht, Dös wird für d' Franzos'n A z'widerne G'schicht."

Und so heisst es dann in dem schon oben bei dem Kaiser citirten „lustigen Marschierliede" nach der Kaiserstrophe weiter:

„Und der Bismarck, Deutschlands Retter,

Der wie eine Eiche steht,

In dem Kriegesdonnerwetter,

Wie ein heiliger Prophet:

Der wird sorgen, dass die Sachen

Sich für nns am besten machen;

Der wird drehen es und wenden,

Bis zum allerschönsten Enden.

Sollt was schief gehn, ist er da,

Unser Bismarck mit Hurrah !

,,Wie 'ne dunkle Wetterwolke In dem General-Quartier Sitzt der kluge Vater Moltke Mit dem Bleistift und Papier. Und er sagt nns, wo wir stehen. Und er sagt uns, wo wir gehen,

Der dt'ntsclie Krieg von 1870— 1S71 im Volksliede. 71

Und er sagt uns, wo wir reiten Und er sagt uns. wo wir streiten, Ja, so sind wir immer da, Wie's der Moltke will, mit Hurrah !

„Neben unserem Strategen Steht der Kriegsminister Roon, Na, der wird den Franzmann fegen, Das wisst ihr ja alle schon."

Und nun werden auch all' die anderen hervorragenden Führer noch rühmlich erwähnt, und die Quintessenz des Ganzen ist hier, wie immer

„Wir werden Alle voll Vertrann Auf unsre grossen Führer schaun."

Am nächsten von Allen steht ihnen aber der gute Vater Moltke, wie er immer im Liede genannt wird ; seiner treuen Fürsorge stellen sie das herzliche Zeugniss aus:

„Selbst Moses, dieser Gottesmann, Sein Volk nicht besser führen kann, Denn sicher wir in Feindeslanden, Wie in der Heimat uns befanden."

Ganz besonders ergreifend aber ist hier ein „Vater JNIoltke" überschriebenes Gedicht; es beginnt voll Gefühl:

„Wenn die Stern am Himmel stehen Ueber heiss erkämpftem Feld, Kann man ihn noch sitzen sehen Bei dem Licht im kleinen Zelt."

Es ist die Nacht vor Sedan; mit der Karte von Frankreich auf den Knieen, wo er die rothen Linien von Lothringens Feld nach Sedan, und schon weiter nach Paris gezogen hat, lässt er seinen ganzen wunderbaren Plan an seinem Geiste vorüber- ziehen ; denn es gilt morgen Mac Mahon, den er schon lange trotz des Marschalls „Manövriren voll Genie" an „dem Seile der Strategie" gehalten hat, „die letzten Sprünge machen" zu lassen. Blutig geht der Morgen auf:

72 Der deutsche Krieg von 1870 1871 im Volksliede.

„Die Massen stehn, die nimmer weichen, Zum Anfang nur bedarfs ein Zeichen, Manch' einer wohl die Frag' noch stellt, Wie hier des Glückes Würfel fällt.

„Da kommt der Mann, der Held im Schweigen, Sich seinen Kindern heut' zu zeigen ; Auch heute wie zu jeder Stund Geschlossen ist sein stummer Mund.

„Doch in gewohnt bescheidnen Tritten, Kommt lächelnd heut er angeschritten. Drückt lächelnd heut' dem Prinz die Hand: ,,Dies nehmt als bestes Unterpfand!

„Dies Lächeln, dieses Wohlbehagen Sagt mehr als tausend Worte sagen, Da könnt' der Sieg nicht schwankend sein : Und raulhig schlug'n wir Alle drein.''

Nicht minder wie diese grossen preussischen Führer werden ferner die baierischen Helden v. d. Tann und v. Hartniann gefeiert, die dem Feinde wie es mit einem Wortscherze heisst

„Tannig sind und hart,

Ihr Schwert ist so schneidig, das hat deutsche Art."

Und so empfängt nun jeder brave Soldat, ob Officier oder Gemeiner, seinen wohl verdienten Lorbeer, von dem General von Budritzki, dem „grossen Kleinen", der die Fahne in der Hand seinen „Elisabethern" voran in das Dorf Le ßourget stürmt, herab bis auf den muthigen Husaren- Wachtmeister Hiidebrandt, der in der Schlacht bei Sedan allein in die feind- lichen Reihen stürmt und 18 Gefangene macht, und den Cc^- poral Dettenhofer vom baierischen Leibregiment, der. Nachts mit 10 Mann zum Eclairiren ausgeschickt, eine Compagnie Franzosen in die Flucht schlägt und so seine gefangenen Kame- raden befreit. Besonders belustigend ist hier die AfFaire, wie der erste Turko gefangen wird. Ein Hauptmann vom 5. baie- rischen Infanterie-Regiment, der „solchen Heiden gerne lebendig mal besehen hätte", brummt in der Schlacht bei Weissenburg schon verdriesslich :

Der deutsche Krieg von 1870—1871 im Volksliede. 73

„Die Kerle sclüessen wirklich mir Den letzten Turco todt."" ,, Wenns das nur ist, denkt Köhler sich, Dann ist die Sach nicht schwer: ,,Du Kamrad, halt mir's doch amal A bissei mei Gwehr!"

Und damit springt er durch den Kugelregen auf die Turcos los, packt den nächsten beim Genick und sagt: „Komm mit Franzos."

,,Er hält ihn seinem Hauptmann hin Und salutirt und spricht : Da habn's an'n, doch verzeihn's, Der schönste ist es nicht."

Ja die ßaiern, sie „fangen den Teufel auf freiem Feld", und sie selbst nennen sich gerne „die blauen Teufel" in ihren Lie- dern, und rühmen noch besonders ihre „pfalznen Faustknedel, mit denen sie den Hals der Feinde genudelt". Damit sind wir nun zu der zahlreichen Classe von Liedern gekommen, in denen die verschiedenen Vorzüge der einzelnen Truppenabthei- lungen und Waffengattungen gepriesen werden; meistentheils lustige Marschlieder, die, im Kreise der Soldaten selbst ent- standen, von ihnen auf dem Marsche gesungen wurden, also eine echte Soldatenpoesie. Voran die Infanterie; von ihr heisst es in dem Marschliede der Vierundsechziger:

,,So lang es Krieg und Schlachten gab, Glänzt die Infantrie als heller Stern, Sie grabt dem Feind ein sich'res Grab Und ist des Heeres fester Kern. D'rum hat mir stets vor andern allen Die Infantrie so wohl, so wohl gefallen."

Sie kennt keine Furcht, und wie vernichtend in ihrer Wirkung auch die französischen Waffen geschildert werden, kaltblütig entgegnet sie:

„Ob den heiigen Chassepot preise Auch der Franzmann voller Glut: Glaubt mir, auch der heiige Dreyse Und der Werder Wunder thiit.'"

74 Der deutsche Krieg von 1870 1871 iin Volksliedo.

Und von solchen Wundern wissen uns denn auch die Lieder mit jeder Schlacht immer Neues zu belichten. Jedoch das Kleinste war es gewiss nicht, womit jene winzige Saarbrücker Besatzung unter Major Pestel den Feldzug eröffnete, 40,000 Chassepots so lange in Schach zu halten, bis ganz Deutsch- land die Rüstims' ansezooren hatte eine That, die natürlich ihre wiederholentliche Verherrlichung findet! Freilich war es hier nicht die Infanterie allein, die dies Wunder zu Stande brachte, auch der Ulan, wenn auch in noch geringerer Anzahl als jene, half wacker mit, und er ist es nun auch, der unter der Cavallerie dem Feinde am gefürchtetsten ward. In der Schlacht bei Mars la Tour haben sie sich den Namen „les Ulans terribles" erworben und fortan:

,,Bei dem Zetergeschrei les Ulans, les ülans, Reisst aus in grausem Gewühle Die grande nation mit grossem elan Nationale und Mobile."

Ihm gehört daher die ganze Welt, und interessant ist es zu vernehmen, .,wie der Ulan eine Stadt erobert":

„Meistens ist Ulan zu drei'n, Wenn er in die Stadt rückt ein; Sprengt sogleich vor'm Maire sein Hans, Macht Getös und ruft ihn 'raus :

„Augenblicks capitulirt,

Oder's Nest wird bombardirt!"

Maire von Drinnen ruft „gleich, gleicli,"

Kommt heraus, bringt todtenbleich

,,Alle Schlüssel von die Stadt . . .

Herrscht Ulan drf^uf in der Stadt, Raucht und trinkt und isst sich satt.

,, Sprengt dann fort in scharfem Ritt Und die Schlüssel nimmt er mit. Andern Tags kommt Infantrie, Nichts zu thun mehr findet sie."

Der (Icntsclie Krieg vor» 1870 - 1871 im Volksliecle. 75

,, Können spar'n die Munition

Stadt erobert gestern schon

Ohne Aufsch'n und Geräusch,

Ileisst schon Nanzig, ist schon [)rcnss'sch."

Aber auch die anderen Reiter-Truppen lassen es an Furcht- barkeit nicht fehlen und ergreifend ist hier, was das Lied von den Ilalberstädter Kürassieren zu berichten weiss. In der Schlacht bei Gravelotte erhalten sie den Befehl, die gefährdeten Brandenburger aus dem feindlichen Kugelregen herauszuhauen ; unwiderstehlich ist ihr Anprall , die französischen Batterien schweigen und Brandenburg bekomnrit wieder Luft. Aber was für ein Kampf war es ! Wie schneidet der Ausruf ins Herz :

„Doch was ist das? In Frankreich hat

Es im August geschneit?

Del h'egt das halbe Halberstadt

Im weissen WafFenkleid.

„Da liegen sie, da schlafen sie Den ehrenreichen Schlaf, Wie sie der Blitz der Batterie, Der Säbelhieb sie traf."

Und nun erst die Artillerie! bei ihr heisst es:

,, Immer feste auf die Weste ! Halt dich tapfer alter Krupp, Bring uns bis zum letzten Reste All das Kruppzeug auf den Schub!"

sie schiessen in die Festung hinein,

,,Dass sie vermeinen die Hölle thut spei'n Aus ihrem feurigen Rachen."

Doch zuerst müssen die Pioniere ihre Arbeit gethan haben, und sie sind denn auch immer schnell voran, gilt es nijn Lauf- gräben zu ziehen oder Schienen zu legen. So hiess es nach der Vollendung der Schanzen vor Metz :

,,In acht Tagen Woll'n guten Tag wir sagen Unsern Brüdern vor Paris."

76 Der deutsche Krieg von 1870—1871 im Volksliede.

Und nun machten sie an einem Tage 7 Meilen und

,,So kann ich Euch verkünden, Wo heute noch zu finden Sieben Meilenstiefel sind : Bei unsern Pionieren, Die immer flott marschiren."

So ward Festung auf Festung eingenommen ; kein Wunder, wenn die Soldaten da von sich treuherzig rühmen:

„Wir haben doch ein sehr Einnehmendes Wesen ! Was will man mehr?"

Und das gilt nun ebenso von der Linie wie von der anfangs von den Franzosen so gering geschätzten Landwehr: sie giebt ihnen in dem Liede „Gebt Acht" auf ihren Spott: „Die Preus- sische Landwehr bestehe nur aus Handwerkern" die derb tref- fende Antwort:

,,Gebt Acht, ihr Franzosen ! die Landwehr ist da, Die Preussischen Handwerker fern und nah. Die Männer vom Webstuhl, Drehrad und Riem, Vom Hammer und Ambos, von Hobel und Pfriem: Die treiben gar lustiges Handwerk Hurrah!"'

Und nun machen sie ihnen in drastischen Reimen die schöne Aussicht, es wolle ein Jeder sie mit seinem besonderen Hand- werkszeuge bearbeiten.

Und dass dies keine eitlen Prahlereien sind, die Division Kummer hat es bewiesen, aber das hätten die Franzosen wohl auch wissen können, denn wie der Schlues eines dialek- tischen Marschliedes lautet

„Von Anno drüthen lange Tied, Kennst du noch dütsche Landwehrlüt."

Und hierbei thut sich nun auch die Berliner Landwehr etwas zu Gute auf ihre Strandwache an der Ostsee, und voll Selbst- gefühl singt sie:

Der deutsche Krieg von 1870 1871 im Volksllede. 77

„Frankreichs Schiffe sind von Eisen, D'rinnen Herzen nur von Holz ; Schaffet Herzen d'rin von Eisen, Schiffe, die da sind von Holz."

Freilich die Furcht des Feindes lässt sich leicht erkliiren, denn

wie es mit Anspielung auf das Stadtwappen Berlins heisst

„der Bär steht an dem Strand". Nur einmal wagten die Franzosen eine Landung zum Schrecken der Bürger von Stolpe, indeas es war gar nicht ihre Absicht zu schrecken, es leitete sie vielmehr der idyllische Zweck einer friedlichen Verprovian- tirung, ein Contrast, wie er in einem „Pommerisch-Preussischen Strandidyll, das der Kladderadatsch unter dem 25. September 1870 brachte, zu ergötzlicher Darstellung kommt. Und als nun gar das Preussische Kanonenboot Meteor den französischen Aviso Bouvet in die Flucht trieb, die er, stark beschädigt, nach der Havannah antrat, da folgte „der grossen und gefährlichen Armada, von der man so viel in alten Mähren gesungen", der schärfste Hohn jener Strandwächter nach:

,,Es kamen viel Panzerfregatten, Dass überliefe das Meer So hiess es nun trübet kein Schatten Die friedlichen Fluten umher."

Die Furcht vor der Flotte Geschützen ist nun verronnen wie ein Tropfen im Sand; die Küstenbewohner sitzen wieder fröh- lich am Strand und nach der Melodie „Ich weiss nicht, was soll es bedeuten" :

,, Singen sie vom Lenz und Liebe,

Von goldner, seliger Zeit,

Und wo die Flotte nur bliebe

Die Flotte aber schwimmt weit."

So ward denn überall der „gallische Hahn vom Adler zerzaust", wie es in jenem französischen Klageliede heisst, und des Kai- sers stolze Parole „gloire und elan", sie wandelt sich ihm in „terreur" und „Sedan". Indess einer Ungerechtigkeit macht sich der Deutsche selbst einem verhassten Gegner gegenüber nicht schuldig: sein Lied weiss auch feindliche Tapferkeit an- zuerkennen und oft genug heisst es :

78 Der deutsche Krieg von 1870 1871 Im V'olksliede.

„Sie stritten, wie die Löwen;" und von Gravelotte:

„Hier stand, wie Stein und Fels,

Der Feind so fest und kämpfte wacker."

Aehnlich von Sedan:

,, Franzosen aber stehen fest, Wie hinter Mauer und Thurm."

Nur die Franctireurs, „die Kellerlochschützen", werden immer mit Indignation behandelt , sowie mit mitleidigem Spotte die Truppen , die Gambetta immer von Neuem aus dem Boden stampft, namentlich die Bourbaki'sche Armee, deren kläglicher Zustand uns also beschrieben wird:

,, Fähndrich ohne Fahn', G'wehre ohne Hahn, Feldherrn ohne Witz, Stuckleut' ohn' G'schütz Sind wie Pharao Sie gestürzet so."

Tritt nun in den bisher besprochenen Liedern vorzugsweise die militärische Seite unsers Bildes hervor, so lassen es andere auch an politischer Weisheit nicht fehlen, und voran steht hier der berühmte Füsilier Kutschke mit seinen drastischen Reflexionen über den Gang der Ereignisse und seinen humoristischen Mani- festen, die er von seiner Feldwacht aus an Napoleon, Garibaldi und die Pariser ergehen lässt. Kutschke ist heute eine welt- historische Persönlichkeit; sein allbekanntes Lied, das von der- selben durchschlagenden Bedeutung war wie die „Wacht am ßhein", hat nicht weniger als 35 Uebersetzungeu erfahren, in allen lebenden und todten Sprachen, sogar in Keilschrift, Hiero- glyphen und Runen; sie sind zusammengestellt in der von dem Ref^ieruno-srath Ehrenthal in Marienwerder herauso-eojebenen Kutschke-Polyglotte ; auch ist das Lied fünf Mal componirt. Fürwahr ein berühmtes Lied, und kein Wunder also, wenn sich über den Autor desselben viele literarische Fehden entspannen, die aber alle fruchtlos blieben, bis denn der Autor selbst in der

Der deutsche Krieg von 187Ö 1871 im Volksliede. 79

Liedersammlung zu „Schutz und Trutz" von Franz Lipper- heide mit seinem Namen hervortrat.*) „Es ist der Präpositus, alias Superintendent, Herm. Alex. Pistorius zu Basedow bei Malchin in Mecklenburg, der wieder seineraeite zur Abfassung jenes Liedes durch eine Notiz in der Kreuzzeitung vom 14. August 1870 veranlasst wurde, die also lautete: Unter den vielen Liedern ist entschieden das beste der Heldengesang, den der Füsilier Kutschke vom 40. Regiment auf dem Vorposten bei Saarbrücken dichtete. Der Dichter sah die Franzosen am Waldrande vor sich hin und her laufen, da sang er:

,,Was kranclit da in dem Busch herum ? Ich glaub, es ist Napoh'nm !"

Beim Lesen dieser Verszeiien habe es ihm geschienen, dass, wenn man dieselben erweiterte, der damals schon offenbar ge- wordene Geist unseres Heeres und Volkes, der gottvertrauende, pflichtgetreue, todesmuthige, siegesgewisse deutsche Geist in einem Volksliede zum Ausdruck gebracht werden könne und dies eines Versuches werth sei. So entstand das Kutschke- Lied, und es erschien zuerst in den „Mecklenburgischen An- zeigen" unter dem 22. August 1870 mit der Angabe „Vom alten Sechsundzwanziger", weil der Verfasser im 26. (1. Magde- burgischen) Infanterie-Regiment als Einjähriger gedient hat. Woher aber die Stammverse:

,,Was kraucht da in dem Busch herum? Ich glaub, es ist Napolium,"

sowie der Name und die Figur Kutschke's herrühren, ist noch nicht aufgeklärt und wird dies auch kaum gelingen ; sie sind wahrscheinlich viel älteren Ursprungs und stammen vielleicht, wie Einige es auch behaupten, noch aus den Freiheitskriegen her." Jedesfalls ist aber erst durch das Lied von Pistorius Name und Figur zu einer so seltenen Volksthümhchkeit gelangt, und ihm haben wir auch eine Anzahl Nachahmungen acht

*) S.'Fr. Lipperheide, 12. Liefennig, p. 1S4, wo die liier folgenden Notizen ausführlich zusammengestellt sind.

80 Der deutsche Krieg von 1870—1871 im Volksliede.

im Ganzen zu verdanken, die meistentheils ebenso tref- fend und drastisch sich an die Hauptphasen des Krieges bis zum Einzüge in Paris anlehnen. Fassen wir nun alle diese Lieder, die zwar nicht aus der Feder eines Verfassers, aber doch aus dem Geiste eines einmüthig fühlenden Volkes her- stammen, als ein Ganzes zusammen, so stellt sich uns Kutschke, wie gesagt, nicht bloss als tapfern Soldaten, sondern auch als fürsichtigen Politiker dar: er ist das Organ, durch welches die Meinungen, Wünsche und Hoffnungen des Volkes nach dieser Richtuns: hin zum Ausdruck kommen. Kutschke hat den Kriesf vorausgesehen ; er sagt in dem zweiten dieser Lieder, in dem er uns einen Ueberblick über den Gang der Ereignisse bis nach der Schlacht bei Mars la Tour giebt:

,,Wir bauten ruhig Kraut und Rüben,

Wir Sassen fest im Webstuhl d'rin.

Den Franzmann auch sah'n wir da driiben,

Anscheinend still, Oliven zieh'n ;

Doch Kutschke glaubte nicht daran,

Und hat auch gar sehr wohl gethan."

Und als es nun in dem Gebüsche bei Saarbrücken herumzu- krauchen begann, da ist er dann auch der Erste, an den sich der Kaiser, wie es naiv heisst, mit dem Auftrage wendet :

,,Hör, Kutschke, ich vertraue dir, Such du emal im Busch herum, Ob's wirklich ist Napolium!"

Er hält denn auch sofort, ganz unbekümmert darum, ob es ihm aus dem Busche „mitralliös" entgegenknallt, seine Suche ab, und bringt nun seinen originellen Rapport:

„Bei Saarbruek, in dem Busch herum Kraucht mit Lulu Napolium."

An Letzteren aber ergeht zugleich seine classisch gewordene Prophezeihung :

,, Napolium, Napolium, Mit deiner Sache geht es krumm. Mit Gott drauf los, dann ist's vorbei, Mit seiner ganzen Kaiserei!"

Der deutsche Krieg von 1870 1871 im Volksliedc. 81

eine Propliczeihung, deren volle Wahrheit Napoleon selbst ihm nach der Katastrophe von Sedaii zugesteht, indem er da in einer Selbstbetrachtung, „Das Czarenlied" betitelt, wehklagt:

„Und lässt man mich laufen und lässt man mich frei, Mit der Kaiserei, sagt Kutschke, ist's dennoch vorbei!"

So zufrieden nun Kutschke mit dieser schnellen Erfüllung seines prophetischen Wortes ist, so unzufrieden ist er jedoch mit der glimpflichen Behandlung des Kaisers, und kopfschüt- telnd ruft er in seiner „Einsprache" aus:

,,Das geht mir sehr im Kopp herum Auf Wilhelmshüh Napolium! Was hast du da auf's Schloss zu thun Als Prisonjeh ? das frag ich nun.

,,Mit Eklipaschen und Lakai'n Ziehst du nun doch in Deutschland ein? Das glaub' ich, das gefällt dir so! Das hat man von den Chassepo."

Aber auch andere Stimmen vereinigen sich mit der seinigen ; ein anderes, höchst komisches Gedicht „St. Helena von 1870 oder Napoleon und die Berliner Gerichtslaube" will ihm diese höchstens als Aufenthaltsort angewiesen Avissen, da kann er denn allenfalls einen kleinen Handel mit „der Tante Vossen" anlegen, aber am besten

,,Sie sollen ihn behalten Und Sie und Es dazu;" denn ,, Wohin ihn exportiren ? Er ist zu sehr bekannt."

Und 80 lässt denn ein Dritter an Kutschke selbst die Auffor- derung; ergehen :

„An's Herz leg' ich die Sache dir, Sprich mit dem König, Füsilier! Und sag', wie wir in Deutschlands Gau'n Voll festen Zutrauns auf ihn schau'n."

Der König solle der Thränen seiner hochseligen Mutter, der Königin Louise, gedenken und erst in Paris Frieden schliessen,

Archiv f. n. Sprachen. LYHI. Q

82 JDer deutsche Krieg von 1870 1871 im Volksliede.

trotz aller Einsprache der Franzosen , die dies für Barbarei ausschreien 4ind mit ihrer Republik der Sache ein Ende zu machen denken. Indess Kutschke sieht das schon lano-e ein:

„Ne ganze Erbswurscht wett ich drauf, Der Krieg hört in Paris erst auf;"

lautet der Anfang seines Manifestes an die Pariser:

„Was nützt euch das Petroleum Denn ohne den Napoleum.

„Nun wollt mit Tiger, Panther, Leu'n, Pariser, ihr uns Deutsche dräu'n ? Und alle Lampen pust't ihr aus, Und glaubt, wir machen uns was draus.

„Was schreckt uns eure Republik? Damit habt ihr bei uns kein Glück. Es giebt bei euch, Parol Donnöhr, Gar keine Republikaner mehr."

,,Ich thu' euch hier vorweg schon kund: Rinn muss das Elsass in den Bund, Eh' geht der Frieden euch nicht auf, Da wett' ich meine Erbswurscht drauf.

Aber die Franzosen glauben weder ihm noch ihrem Lands- mann, dem „politischen Nachtwächter von Paris", der jetzt wieder, wie in dem siebenjährigen Kriege und in den Freiheits- kriegen — denn er ist eine stereotype Person im Volksliede bei jeder Stunde aus Verzweiflung über die Niederlage der französischen Waffen eine noch nie gehörte deutsche Wahrheit ausruft, und bei dem Rufe 12 nachdrücklich mahnt:

,,A11 mein Wachen kann nichts nützen, Ob wir fluchen, schreien, blitzen. Jeder mach' sein Testament, Denn Frankreich hat bald ein End."

Sie glauben es nicht, denn eine neue Hoffnung ist ihnen in Garibaldi aufgegangen, dem alten Feldherrn in der rothen Bluse, der „von trüoendem Wahn und Träumen bethört" nun auf dem

Der deutsche Krieg von 1870—1871 Im Volksllede. 83

Schlaclitfeldc erscheint. Indcss Kiitschke Ist gleich bei der Hand, auch ihm den Staar zu stechen: er ruft ihm in einem anderen Manifest warnend zu:

„Was willst du, Garibaldi, nur Bei der Regierung da in Tour ? Wer kann mir, frag' ich ernstlich nun, Von Beiden jetzt am leidsten thun.

„Mischst du dir mit Menottilein

In solche faule Sachen rein!

Und die Franzosen schrei'n gleich aus:

Eh bien, nun sind wir schöne 'raus!

„Man still! dir und dem Kronensohn, Euch werden Avir's besorgen schon."

Und es ward besorgt, Paris ward eingenommen und Kutschke konnte bald sein prächtiges Einzugslied anstimmen :

„Da siehst du mir, da hast du mir, Da hast du deinen Sieger! Bonschur Paris! Betrachte dir Nun den Barbarenkrieger.

„Der Einzugsschmerz, der Einzugsgraus War mal nicht abzuwenden ; Der Deutsche will sich mal durchaus „Entehren" nun und ,,pchtinden.'''

,,Verlass dir auf das Weltgericht '

Und lass ihn einmarschiren. Es ist das erste Mal ja nicht Warum sich denn so zieren ?"

Und so zieht er mit Hurrah durch das Siegesthor, wobei ihm mit einem Male beim Anblick des Louvre und der glänzenden Boulevards eo „welthistorisch" zu Muthe wird; „ja," ruft er aus:

„Das ist Paris! das ist der Lohn, Nach dem ich alter Knabe Mir nun sechs lange Monden schon Gesehnt im Stillen habe.

6*

84 t>er deutsche Krieg von 1870 1871 im Volksliede.

„Das ist's! Nun freu' dir auch drauf los! Geniess des Siegers Ehi'c ! Ich freu' mir ja wenn ich man bloss Bei Muttern wieder wäre!"

Und 60 treuherzig Avie hier Kutschke mitten in dem Sieges- jubel seiner Sehnsucht nach der Heimath Ausdruck giebt, so treuherzig dies sei zum Schluss noch erwähnt kommt dies Gefühl auch noch öfter, namentlich in der sogenannten „Vorpostenpoesie", zum Ausdruck. So hören wir z. B. einen Berliner in einsamem Quartier auf einem Heuboden bei Metz melancholisch singen :

,,Hier is et kalt und zucht och sehr, Gewiirme wimmelt um mich her, Hier riecht et faul imd moderig Mit eenera Wort: Hier is et koderig!"

Dazu keine Cigarren, nicht mal ein Streichholz; es hiess wohl, es seien Liebesgaben gekommen aus der Fern, indess zu ihm ist keine gekommen, er hat weder Glück noch Stern. Wer kann ihm da den Wunsch verargen:

,,Ach wäre ick doch still zu Haus,

Un tränk' ne kühle Weisse aus!

Doch einsam hier verschmachten soll ich

Ach wäre ick bei Muttern dort

Mit eenem Wort:

Da war' et mollig."

Und ein Anderer wieder, der in der Zeitung von den 1000 Fas- sern liest, die zu Hause bei jeder Siegesnachricht auf das Wohl der tapferen Krieger ausgetrunken werden, ruft in kon)i- scher Verwunderung aus :

,,0b mich der Teufel hole. Dies Räthsel fass' ich nie: Wir dürsten zu ihrem Wohle, Auf unsers trinken sie.

Ja wir, die wir zu Hause über die grossen Siege gejubelt, wir haben keine Ahnung, wie viel des Schweisses der Edlen sie

Der (Kutjclie Krieg von 1870—1871 im Volksliede. 85

gekostet. Und doch mit welchem Humor können sie noch über ihre bedrängnissvolle Lage poetisircnl Hören wir nur das Lied eines solchen poetischen Vorpostens: ..^^'ie wir Metz erobern."

,,Es ist eine schöne Jegend Um diese Festung hier, Und wenn's manclnnal nicht rejent, So sielit man was von ihr.

„Jewöluih'cli rcjents jrässhch, Und jiesst daneben her, Und ist das Wetter hässlicb, Denn jiesst es noch viel mehr."

„Man liegt auf Wiesenrändern Im weiten Kreise rings Will man sich mal vei'ändern, (So legt man sich nach links

,,Und kiekt von einer Stelle, Sechs Wochen lang ejal. Hinüber auf die Wälle, Hinunter in das Tiial.

„Die Seife ward zur Mythe .... Die Socken . . . ich verlor, Das Einz'gc, was noch trocken, Sind Kehle und Humor.

,,Kurz dieser Heroismus Is nich janz ohne Reiz. Mich zieht der Rheumalisnuis Fürs Vaterland durch's Kreuz."

Doch:

,,Gott war mit Euch, er mass die Priifungszeit, Er gab Euch Kraft, den Kampf durch Sieg zu enden ; Er hat durch Euch die Brüder uns befreit, Dank, dreimal Dank Euch stets aus unsern Händen! Treu stand't Ihr, fest Ein Wall um's Vaterland, Das deutsche Reich erkämpftet Ihr uns wieder ; Und heil'ge Treue, edle Freiheit, deutsche Lieder Sind unsers Volkes bleibend Unterpfand."

Zu ihm aber, dem grossen Führer, dem treuen König, dem allverehrteu Kaiser, schallt es heute an seinem 80. Geburtstage

86 Der dculsclie Krieg von 1870 1871 im Volksliede.

aus allen Gauen des dankbaren deutschen Landes wieder eben so mächtig, als damals beim Beginn des Kampfes gegen den Erbfeind, empor: ^

,.Hör' an des Thrones Stufen

Das Vaterland beut' rufen : Und wenn die ganze Welt voll Teufel war', An unsrer Fahne steht's: ,,Vom Fels zum Meer." ,,Hoch Wilhelm, deutscher Kaiser, lebe hoch!"

Gumbinnen. Dr. E. Küsel.

Beurtheilungen und kurze Anzeigen.

Anglia. Zeitschrift für englische Philologie. Enthaltend Bei- träge zur Geschichte der englischen Sprache und Litera- tur, herausgegeben von Richard Paul Wülcker. Nebst kri- tischen Anzeigen und einer Bücherschau herausgegeben von Moritz Trautmann. 1. Band. 1. Pleft. Halle a. d. S. Lippert'sche Buchhandlung (Max Niemeyer) 1877. Gr. 8. 188 S. .

Als die Nachricht sich verbreitete, dass das „Jahrbuch für Romanische lind Enghsche Sprache und Literatur" aufhören würde zu erscheinen, da jrewann es den Anschein, als ob die Pflege der modernen Philologie bisher doch nur eine schwache gewesen sein müsse und dem „Jahrbuche" sicher nicht genügende Unterstützung seitens der Fachmänner zu Theil geworden wäre. Mit dem „Archiv" konnte man glauben, hätte es eine andere Bo- wandtniss, da dieses den gesamniten neueren Sprachen gewidmet, also auch die deutsche mit eingeschlossen, wesshalb ihm (Vie Nahrung reichlicher zu- flösse, und zwar sowohl was die wissenschaftlichen als auch die pecuniären Beiträge (ich meine natürlich das Abonnement) betrifft. Wie sehr man sich hierin getäuscht, freilich (O, Seltenheit!) angenehm getäuscht hatte, erwies sich bald nnchher. Denn noch war das Licht, welches das „.Jahrbuch" auf die in Rede stehenden Studien warf, nicht erloschen, als schon von ßreshiu her die Ankündigung der „Englischen Studien" vom Privatdocenten E. Köl- bing kam, welche denn auch seitdem erschienen und besonders in England mit grosser Anerkennung aufgenommen worden sind. Und fast gleichzeitig erliessen die Herausgeber der hier angezeigten Zeitschrift ihren Prospect. der, sowohl hinsichtlich der vortheilhaft bekannten Namen der Herausgeber sowie des stattlichen Verzeichnisses von Mitarbeitern in Deutschland und England, verheissungsvoU genug war. Das vorliegende erste Heft hat denn auch die Erwartungen, zu denen der Prospect berechtigte, erfüllt und jeder Freund der wissenschaftlichen Behandlung und Durcharbeitung der neueren Sprachen wird die „Anglia" mit Freuden begrüssen. Es werden die clas- sischen Philologen dadurch nur immer mehr genöthigt werden, die moderne Philologie als eine ihrer ^Vissenschaft ebenbürtige zu betrachten, und dürfte wolil bald die Zeit kommen, wo man das Englische auch auf den Gym- nasien als obligatorischen Unterrichtszweig einführen wird. Es muss dem Ausländer wahrlich sonderbar erscheinen, in einem Lande, wo man einen englischen Dichter, freihch mit Recht, als den grössten überhaupt be- trachtet, ihm eine, und zwar die erste, Stätte gegeben, dessen Ptlege eine

88 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.

Gesellschaft und ein Jahrbuch gewidmet hat und ihn geradezu als einen einheimischen behandelt, und zwar mit Bevorzugung vor den wirklich vater- ländischen, dessen Sprache auf deutschen Gelehrtens<hulen ausgeschlossen oder nur geduldet zu finden. Doch dies beiläufig. Um auf die „Anglia" zurückzukommen, so wird eine Angabe* des Inhalts geniigen, dessen Reich- haltigkeit darzuthun, während die Namen der \'erfasser der verschiedenen Artikel (Referent freut sich fast, dass er erst nach dem Erscheinen des Heftes seine Mitarbeiterschaft zugesagt hat, obgleich vor demselben freund- lichst dazu eingeladen, da er diess jetzt, ohne unbescheiden zu sein, sagen darf), schon an sich für deren Gediegenheit bürgen.

C. Grein eröfihet mit der Frage „Ist die Bezeichnung , angelsächsische Sprache' wirklich unberechtigt" und beantwortet sie natürlich verneinend. Bei der Gewichtigkeit dieser Stimme, als vielleicht erste Autorität auf dem Gebiete und bei dem wohl unnöthigen Staub, den diese Frage in neuerer Zeit in England aufgewirbelt hat, habe ich hier ausnahmsweise das Resultat der Untersuchung mitgetheilt, was man bei den übrigen nicht erwarten darf, da ich die Leser des Archiv durch diese Anzeige nur dazu bestimmen möchte, die „Anglia" selbst zu lesen. J. Zupitza folgt mit einer Abhand- lung „Zum Poema Morale", unter Abdruck des Textes nach der Digby Handschrift. R. Köhler weist in der deutschen Literatur eine Parallele zu „Chaucer's The Millere's Tale" nach. H. Düntzer hat das Wort „Zu Marlowe's Faust" ergrilFen. C. Horstmann liefert den Text der „Legen- den von Celeslin und Susanna" mit eingehenden „Einleitungen", welche sich mit der Sprache und dem Versraaass dieser Dichtungen beschäftigen. Von W.Sattler erhalten wir „Beiträge zur Präpositionslehre im Neuenglischen." Hier jedoch kann Referent die Bemerkung nicht zurückhalten, dass bei aller Anerkennung des Sammlerfleisses , mit welchem W. Sattler seine Stoße behandelt (er hat ja auch schon das Archiv mit manchem ähnlichen Beitrag versehen), ihm dabei des Guten zu viel gethan scheint, wodurch schliesslich nur Verwirrung entstehen kann. Es kommt im Englischen stets auf den Sinn an, den man in einen Ausdruck hineinzulegen wünscht, und muss dabei hauptsächlich das Sprachgefühl leiten. Wer das nicht besitzt, dem ist es durch noch so viel Belegstellen nicht beizubringen. Man miss- verstehe mich nicht: was ich hier ins Auge fasse, sind eben nur solche Fragen, wie die von W. Sattler ohnlängst im Archiv behandelte „In the Reign" und „under the Reign" und sein hier behandeltes Thema „To expect from und of", wo beide entweder gleichmässig gebraucht werden, wenn es sich um „von" handelt, ganz unterschieden aber sind, wenn man bei of eigentlich „in" meint; also im letzteren Falle gerade wie bei to hear from und of, wo of durch über zu übersetzen ist. M. Trautmann han- delt von dem (schottischen) Dichter Huchown und seinem Werke. Die Ab- handlungen schliessen mit einer „CoUatlon of the Poetical Solomon and Saturn witli the Ms.", von H.Sweet. Hierauf folgen Anzeigen und Kritiken, darunter eine ausführliche über K. Elze's W. Shakespeare, von F. A. Leo, eine eben solche über A. W. Ward's History of English Dramatic Litera- ture, von W. Wagner, deren Fortsetzung folgen soll, und eine von R. Wülcker über Th. Arnold's Ausgabe des Beowulf.

So sei denn die Zeitschrift allen modernen Philologen bestens empfoh- len! Ein Glückauf ruft ihr auf den Weg

Dr. David Asher.

Biurtluilnnfien nuil kuivc Anzeifii'n. 89

Pierer's Conversutions -Lexicon. Siebente vollständig umgear- beitete Auflitge. Oberhausen und Leipzig bei A. Spaar- mann.

Das Pierer'sche Universallexicon , welclies in den Jahren 1824 183G zuerst hervortrat, und in den Jahren 1875 ff. die (i. Aullage erlebt, übertrat' seine Concurrenten durch die grosse Anzahl von Artikeln, die es aui einen verhältnissmässig engen Raum zusanimcnihüngt, und durch seine knappe, vielumfassende Sprache. Als Nachschlagebuch hatte es für den Ge- lehiten, Beamten und Geschäftsmann einen durch kein anderes Hiüfsmittel zu ersetzenden W'erth. Aber seine Form unterlag mehr und mehr dem Schicksale der Veraltung, um! nicht minder bedurfte sein Inhalt einer neuen durchgreifenden Revision. Der G. Auflage folgte eine Reihe von Jahren, die auf Gebieten der Kunst, des Handels und der Gewerbe, der PoHtik mid des gesellschaftlichen Lebens einen staunenswerthen Reichthum neuer Forschungs- ergebnisse, Entdeckungen und Erfahrungen zu Tage förderte. Wurde hierdurch die Aul'nahrae einer grossen Menge von bisher nicht beachteten oder unbekannten Artikeln zur Nothwendigkeit, so hatten viele andere Gegenstände ihre Bedeutung verloren und mussten dem Zwecke der Raum- ersparniss weichen. Ja, der ganze das Lexicon durchwehende Geist bedurfte einer frischen Modernis irung, und namentlich war es eine unabweislicheZeit- forderung, da5s neben der rühmlichen Fürsorge, die das Werk in seinen bisherigen Auflagen der klaren und gediegenen Belehrung über zahllose Einzelfragen auf allen (lebietendes Wissens und Lebens gewidmet hatte, neben der vorherrschen- den pünk tliclien Thatsächli chkeit, die einem solchen Unternehmen vor Allem zur Pflicht gemacht werden muss, ein bisher von demPierer'schen Lexicon zuwenig berücksichtigtes Element, nämlich die Bildung der Nation scharf ins Auge gefasst und vorzüglich in den allgemeinen Artikeln, so weit es nur die Knappheit des Raumes gestattete, eifrig gepflegt wurde. Mit dieser Richtung, zu der alle Strömungen unserer Zeit hindrängen, musste entschie- dener, als es in den bisherigen Auflagen geschehen war, die Seh eide wand zwischen der Gelehrsamkeit und dem Leben fallen. Ohne dem Ernst und der Gediegenheit des Wissens Abbruch zu thun, hatte man ihm eine anziehende, elegante, populäre und doch edle Einkleidung zu geben und es an passenden Stellen mit den die Gegenwart bewegenden ideellen und materiellen Grundfragen in Beziehung zu setzen. Es galt, nicht allein die Wissbegierde über einzelne Punkte zu befriedigen, sondern aus den ein- zelnen Artikeln einen Spiegel des gesammten jetzigen Geistes- lebens entstehen zu lassen, der dem Gebildeten und nach Fortbildung Verlangenden Mittel und Anregungen zum tieferen Nachdenken über die wichtigsten Angelegenheiten der Nation und der Mensch- heit und zur Gewinnung einer f est en Ansicht über sie darböte. Eine solche Encyclopädie und Auslegung des Zeitbewusstseins erschien als die letzte und höchste Aufgabe des Werkes, das Streben nach diesem Ziele gibt sich in wiederholten Aussprüchen der Redaction zu erkennen, die uns beweisen, wie ernst sie ihre Sache nimmt, und es tritt uns erfreulich in gar manchen Artikeln entgegen, denen es durch den weiteren Umfang ihres Themas gestattet war, über die Grenzen der Notizenhaftigkeit hinauszugehen. Durch das eifrige Zusammenwirken gediegener Kräfte, durch gelehrten Fleiss, durch klares und geistvolles Urtheil, durch eine häufig begegnende Kunst gedrängter, viel umfassender, lichter und ansprechender Darstellung erscheint hier das alte, verdienstvolle Lexicon im wahren Sinne verjüngt, in der doppelten Eigenschaft eines Nachschla- gebuches und einer Bildungsschule als eine sehr dankenswerthe Gabe für unsere Nation.

Die vor uns liegenden acht Bände enthalten, um das Gebiet der ger- manischen und romanischen Sprachen und Literaturen hervor-

90 Beurtheilungen und kurze Anzfiigen.

zubeben, allgemeine Artikel über die Bereiche iles Angelsäcbsischen, Dänischen, Deutschen, Englischen, Französischen und Friesischen, mit denen wir unsere Befriedigung aussprechen. Dies gilt namentlich von dem Artikel „Deutsche Nationalliteratur". Er umfasst seinen Gegenstand im weitesten Sinne des Wor- tes und macht, besonders in der Zeit bis zum Tode Schiller's, mit der leben- digen Beziehung der Literaturgeschichte auf die allgemeine Culturent- wickelung der Nation in einer Weise Ernst, die noch immer zu den Selten- heiten gehört. Der zweckmässige Plan, die Fülle des auf wenigen Bogen zusammengedrängten Inhaltes, die Klarheit des Urtheils und der Darstellung möchten diesen Artikel selbst zum Grundrisse für akademische Vorlesungen empfehlen. Mit etwas flüchtigerer, wenn auch feiner und kundiger Hand, ist die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts bear- beitet. Unter den Einzelartikeln aus der deutschen Nationalliteratur und aus den angrenzenden Gebieten heben wir Albrecht, Alexandersage, Anno- lied, Apollonius von Tyrus, Aufemberg. Arnim den Dichter, Aschenbrödel, Bälde, Balder, Barlaam und JosaphHt, Michael Behaira. Bodenstedt, Bodmer, .Jakob Böhme, Sebastian Brant, Bremer Beiträge, Clemens Brentano, Brockes, G. A. Bürger, Castelli, Chamisso, Matthias Claudius, Cronegh, Simon Dach, Deutsche Mythologie, Dietrich von Bern, Dingelstedt. Eichendorfl", Elfen, Ermonrich, Eschenbach, Faust, Freiligrath. Freyja, Frayr, Friesische Sprache und Literatur hervor. Die meisten Artikel aus der deutschen Nntionallitera- tur fügen den biographischen und bibliographischen Andeutungen, nach denen allerdings in einem solchen Lexicon am häufigsten gesucht wird, sachgemässe Andeutungen über die literarhistorisclie Stellung der Schriftsteller und Schriftwerke und treffende ästlietische und ethische Urtheile über sie bei oder verweisen dcsfalls auf die betreffenden Seiten des oben erwähnten Haupt- artikels. Seltener geschieht dies in den Artikeln zur englischen und den romanischen Literaturen. So freu<lig wir nun die Bevorzugung iles nationalen Elementes anerkennen, glauben wir doch, dass hierin das Lexicon zu weit gehe, und wir vermögen den Wunsch nicht zu verschweigen , die tüchtigen Mitarbeiter im Fache der englischen und der romanischen Literaturen möchten neben der rühmlichen Sorgfalt, mit der sie das Leben der Schrift- steller in seinen wichtigsten Punkten vorführen und die literarischen Quellen und Hülfsmittel vorführen, auch, wie es bereits in einzelnen Artikeln von ihnen geschehen ist, überall oder doch in den meisten Fällen ihr literar- historisch-ästhetisches Urtheil, wenn auch mir in kurzen Worten, aussprachen, treffliche Beiträge zu diesem Gebiete sind die Artikel Addisson. Boileau, Bulwer, Robert Burns, Byron, Thomas Carlyle, Chateaubriand, Cid, Cole- ridge, Cuvier, Victor Cousin, William Cowper, Dora d'Istria. Aus dem benachbarten Fache der Poetik nennen wir die Artikel Balladen, Charakter-

stücke, Classisches Epos.

H.

Entgegnung zu Bd. LVII, 1, S. 89.

Herr Prof. K. Bartseh schrieb mir, dass noch in Rostock auf der Philo- logischen Versammlung die Ansichten über Aussprache des Altfranzösischen sehr auseinander gingen. Diese Meinungsvrschiedenheit entstand sicherlich nicht aus mangelnden Kenntnissen jener Gelehrten, als vielmehr daraus, dass nicht ein Moment in den Vordergrund gestellt werden konnte, welches in meiner Schrift: „Aussprache des Französischen nach Angabe der Zeitgenossen Franz L", zum ersten Male vielleicht, als entscheidend hervortrat, nämlich nicht bloss zu fragen „Welche Aussprache existirte", sondern „Welche galt

Beiirtlieüungen und kurze Anzeigen. 91

als correct". Da das Studium, statt auf solche Angaben', sich lieber auf Orthographie, Reime und Patois richtet, so ^chlug ich vor, einmal diesen neuen Weg zu wählen, was aber „selbstverständlich" nicht heisst, jene anderen Wethoden nun „völlig unbenutzt" (S. 4. a. a. O.) zu lassen, und verwand, als mir 1874 der Eaum von 32 Seiten eines Schulprogrammes zu}- Verfügung stand, diesen zu einer Zusammenstellung solcher directen Angaben. Mein Unternelimen bestand also darin, einmal von Eeimen etc. abzusehen und dafür die Aufmerksamkeit zunächst auf Quellen solcher Angaben zu lenken, dann aber auch diese selbst wörtlich mitzutheilen, um Anderen die vielen Mühen zu ersparen, sich jene seltenen Werke zu verschaflen. Mit Staunen las ich daher, dass 11. Uibrich in Ilerrig's Archiv Bd. LVII, H. 1, p. 89, jenes „Unternehmen als gescheitert" betrachtet, weil mein Schulprogramm von jenen Angaben und nicht vielmehr von Reimen etc. handelt, (!) „dann wegen der vollständigen Kritiklosigkeit, derznfolge" mir „nie einfällt, dass Palsgrave ein Engländer ist" (!) Welch ein Kritiker, der nicht gesehen hat, dass S. ß m. Sehr, den Werth der Aussprüche Palsgrave"s eingehend prüft,_ S. 34 sogar dessen englische Wörter besonders bespricht ! und der nicht einmal weiss, dass Palsgrave allgemein, bei Diez u. A. längst schon als Autorität gilt! Auf mein Ersuchen, mir seinen „Nachweis" meiner „Irrthümer" mitzutheilen, schrieb Herr ü. am 25. März, zwar keinen angeben zu können, bemerkt aber noch: „obgleich ich Ihre Schrift Uider nicht besitze, von meinem damaligen Bericht über dieselbe auch nichts niedergeschrieben habe, so ist mir doch noch so viel erinnerlich, dass ich Alles, was mir unvollständig oder irrthümlich zu sein schien, nur aus dem einen Umstände (den ja auch Schuchardt in seiner übrigens oberflächlichen Recension im Lit. Centralbl. hervorhebt), abgeleitet habe, dass Sie sich zu ausschliesslich (!) in die Grammatiker vertieft haben und die Assonanzen und Reime der altfranz. Poesie unberücksichtigt lassen." Sind „Assonanzen und Reime der alil'ranzösischen Poesie" Angaben der Zeitgenossen Franz I. ? hat Herr U. auch S. 34, 35, 38 m. Sehr, nicht gesehen, obschon er diese „Zusätze" kritisirte? Oilenbar liess er sich von Herrn S. ver- führen, obgleich er ihn jetzt „oberflächlich" nennt, nachdem dieser im Lit. Centralbl. N. 11, S. 3G3; 1877, so weit der Kaum reichte, auf sein über- eiltes Absprechen und auf entgegengesetzt lautende Urtheile verschiedener Autoritäten aufmerksam gemacht worden war. Auch Herr S. mildert (Lit, Centralbl. p. 364) sein Urtheil über die vorgebliche Reimvernachlässigung, vergisst aber wieder den Zusammenhang; denn es ist klar, dass ich nicht das Folgern aus jedem Reime für „unzuverlässig" halte, da in den „Zusätzen" S. ,S4, 35, 38 selbst auf diese Beweiskraft, freilich einer ganz anderen Periode, sich stützen, und S. 4 fZ. 4). also unmittelbar vorher, vom „Klange des Französischen einer bestimmten Zeit" spricht, die doch im Schulprogramm die des Franz I. ist. Wer aber z. B. die Schrift TalbertV : prononcation de la voyelle au XVI© siecle, Paris 1876, kennt, wird sich aufs Neue überzeugt haben, wie „unzuverlässig" es ist, bloss aus Reimen dieser Epoche Schlüsse zu ziehen. Bei Herrn S., und daher ebenso bei Herrn U., erscheint, trotz des Nachweises, wie eine willkür- liche Behauptung von mir, dass nach Angabe der Zeitgenossen Franz L kein e ouvert in der mustergiltigen Aussprache zu existiren schien. Da bei vor- gefasster Meinung dies Resultat auffällig ist, wies S. 15 m. Sehr, auf Corssen I, 328, auf Blanc 32, u. S. 33, 34, auf'G. Paris, welche sämmtlich durchaus nicht in vollem Widerspruch mit jener Angabe der Zeitgenossen stehen, u. S. 33 urtheilte hiernach, dass wohl „ein etwaiges e von den Gebildeten des begin- nenden 16. Jahrhunderts ignorirl, blieb.« Ferner erscheint bei Herrn S., und daher ebenso bei Herrn U , wie eine unbegründete Behauptung meinerseits, dass während der Zeit der 1. Serie in einer mustergiltigen Aussprache die Diph- thonge zwar einsilbig, aber doppellautig, dagegen die Nasalen^ noch nicht so wie die modernen zu klingen hätten. Obschon der Nachweis hierzu S. 17 bis 29 wörtlich gegeben ist, gesteht Herr U. , dass er ihn noch „vergebens" sucht! Dieselben Programmseiten constatiren zugleich als That-

92 Beurthcilungen und kurze Anzeigen.

sache, dass die jetzige Aussprache erst während der Zeit der 3. Serie von jenen Zeitgenossen als mustergiltig anerkannt wurde. Die „Zusätze" bis S. 39 zeigen, dass diejenige Aussprache, die noch zu Anfang des 16. Jahr- hunderts für massgebend galt, aus altfranzösischen Zeiten stammte und der Kürze halber „gemein -romanisch" genannt werden kann. Daraus, dass die moderne sie nicht schon früher aus der tonangebenden Oberherrschaft ver- drängt hat, folgt selbstverständHch nicht, dass nirgends die moderne heimhch wucherte, im Gegentlieil, S. 27 sagt ausdrücklich: „nicht wie Pallas dem Haupte des Zeus, entspringt einem alten, vielköpfigen Prononciationsorganis- mus ein grundverschiedener gleich in fertiger Bildung," und S. 35, dass nur außailig sein könne, warum „die gemein -romanische Prononciation noch im Anfang des IG. Jahrhunderts mustergiltig war." Um dies begreiflich zu finden wiesen S. 30 und 37 auf Verschiedenes hin; an die Vorliebe Franz I. zum Mittelalterlichen einerseits und an die seinem Tode folgende Umsturzperiode andrerseits wurde nur erinnert, um die Rasch- heit des Umschwunges vielleicht erklären zu können. Dies scheint Herr U. zu verwechseln, während Herr S. sich erlaubt, mir Unkenntniss vorzuwerfen. Um nämlich nachzuweisen, die moderne Aussprache sei nicht plötzlich, wie Pallas, entstanden, hielt ich für ausreichend z. B. anzudeuten, dass abge- schwächter Klang der Diphthonge schon längst vorkam, (natürlich aber als uncorrect), ohne dasselbe bezüglich der nasalen Aussprache zu wiederholen. Herr S. glaubt nun zu jener liebenswürdigen Vermuthung sich berechtigt, da ich „sonst schwerlich behauptet haben würde, dass die französische Nasa- lirung noch nicht existirte." Er vergisst aber dabei wieder den Zusammen- dang: nach Angabe etc. und „als correct", sowie dass auf S. 31 wohl seutlich genug steht: „so lange die diphthongische Aussprache die Oberherr- schaft besass", die Nasallrung noch nicht „dominirend ihr Haupt erhob". Da also Herr S. sehr leicht den Zusammenhang vergisst, scheint es rathsam, ihn auch bezüglich seiner Entschuldigung wegen Corssen's u = ui im Voraus zu erinnern, dass nur die Schreibweise besprochen wurde, als es S. 11 hiess, dass die nördlichen Gallier, während sie ein Zeichen für den Laut ui gebrauchten, ein solches in der lateinischen Literatur finden konnten, da sie auch bei den Römern den Laut ui hörten und ihn durch u bezeichnet sahen. Ferner muss erinnert werden, dass was die Aussprache selbst des fran- zösischen n betrifit, desgleichen des o, wie überhaupt jene Angaben über die französischen Laute, wie diese nach Wesen und Geschichte im Programm erscheinen, sie nichts mit meinen subjectiven Vorstellungen von französi- schen Lauten zu schaffen haben, sondern oil'enbar nur die möglichst objectiven Wiedergaben dessen sind, was und wie jene Zeitgenossen berichten. Findet Herr S. solche Vorstellungen unklar und will er mich deshalb tadeln, so ver- gisst er das Thema, das mir in dieser Beziehung neue Gesichtspunkte etc. geradezu verbot. Für einen solchen neuen, mir angehörigen, hält Herr S. ebenfalls das, was S. 27 von den veränderten geselHgen \'erhältnissen der damals tonangebenden Kreise Frankreichs gesagt wurde, und er kann sich nicht erklären, dass volle Doppelvocale besser mit den Gesängen der Trouveres z. B. harmoniren und das weniger diphthong gesprochene Modernfranzösische besser zu den gewandten und behenden Abstractionen taugen , wie solche im leichten Geplauder einer witzsprudelnden Gesellschaft vorkommen. Schade, dass der grosse Jacob Grimm gestorben Ist, er würde Herrn S. die vermisste Aufklärung vielleicht gewähren ; kurz, Herr S. weiss ollenbar nicht, dass von dem besprochenen Verhältnisse, z. B. der Doppelvocale zur Musik etc., Grimm bereits überzeugt war. Hier darf aber Herr S. nicht wieder, wie bei meinem Hinwelse anl Corssen (Lit. Cent. S. 11) klagen, „er hätte wohl gethan, die Seitenzahl hinzuzusetzen;" denn diese Behauptung Grimm's ist S. 38 m. Sehr, genau angegeben! Herr S. muss wohl zugestehen, dass er diese Stelle bei seiner Kritik wiederum nicht gesehen oder nicht beachtet hat, kurz, er wird wohl thun, die Worte, die er am Schlüsse (Literarisches Centralblatt

Heurtlieilungcn untl kuize Anzeigen. i)3

8. 3G4) ruh- zuruft, selbst zu beherzigen, niimlich dass „so lange Nichts ver- loren ist, als man die Fähigkeit besitzt, seine Fehler einzugestehen." Wer aber trotz augenfälligen Versehens vorgiebt, „kein Jota" zurückzunehmen, tant pis ! der tritt selbst aus dem Kreise der Forscher nach Wahrheit. Wenn aber Herr S. jene Behauptung Grinim's iu der Form, welche sie vom Letzteren erhielt, nicht frappirte, dagegen in derjenigen einer concretereu Gestalt, die ich ihr gab, so dass sie sogar Herrn S. zu Ausrufen („was hat ... mit Doppelvocalen zu schaflenV") veranlasst, so wird er nun selbst fühlen, wie der von mir gewählte Stil in einem Schulprogramme nicht so ganz verwerflich ist; ja, trotz seines Absprechens wäre vielleicht sogar manchem Professor, der nicht zuvor Schulmann war, zu rathen, in seinen Vorlesungen durch concretere Gedankenform auf die Jugend fesselnd einzuwirken, damit die Studenten nicht aus denselben wegbleiben, weil sie „zu trocken, ledern" sind. Diese stilistische Eigenheit meines Schulprogramins war in einer vom Literarischen Centralblatt S. 363 mitgetheilten Recension der „methodolo- gische" Charakter genannt, bei Herrn S. gilt sie für „Poesie"; er verwirft des- halb meine Satzform: „wie nach einem Winter erblühten aus den Ruinen des Lateins die Diphthonge etc." Sind Ausdrücke, z. B. „Ueberreste" einer Sprache, ihre „Wurzeln", „Stämme", ihr „Biütheu", „starre" Consonanten etc. nicht ganz gebräuchlich in der Philologie? Corssen, der bekanntlich früher selbst Scimlmann war, gestattete sich sogar von „aristocratischen" und „plebejischen" Vocalen, von „Fernröhren der sprachHchen Forschung" zu sprechen und nennt (I, p. tj27; 2. Aufl.) den Blick in die früheren Zeiten einer Sprache einen Blick „auf ein reiches schönes Land in blauer Ferne von der Kuppe eines Berges, den er im Scliweisse des Angesichts über Stock und Stein erklommen hat." Freilich gesteht Corssen auch (p. XH, a. a. O.) dass er „durcli eine tiefe Kluft getrennt sei" von manchen Ansichten des Herrn S. Ich wählte für jenen (angebl. „poetischen") Satz die concretere Ein- kleidung, weil er, selbst durch die dürrsten Worte, nicht kürzer zu geben war, sobald er eindringlich hervorgehoben werden sollte. Dies letztere wünschte ich, theils damit er überhaupt nicht d;is Schicksal des oben besprochenen Gedanken Grimm's erleide, theils weil er factisch eine neue Ansicht andeutet. Die Sprachvergleichung pflegt bekanntlich, namentlich durch Jünger der Sanscritstudien, das indogermanische Sprachleben als im Ver- welken begrilFen darzustellen ; mnn behauptet, dass, wie Wasser nicht wieder den Berg hinauflaufe, in den indogermanischen Töchtersprachen unseres Jahrtausends keine neue Vocalsteigerung entstehen könne, dieser Trieb, der als Beispiel eines aufkeimenden Sprachfrühlings, zur weiteren Sprachent- faltung mit beitrug. Ich hege dagegen die Ueberzeugung, dass man an den romanischen Sprachen nachweisen kann, wie wirklich solche Friihlings- triebc neu erwachten, obschon die Grundlage dazu das morsche Latein war! Das von mir gebrauchte Bild ist also berechtigt, und hat einen tieferen Sinn, den HerrS. nicht zu ahnen vermochte, da er in seiner Recension naiv ausrief: „was in aller Welt bedeuten diese ... Wendungen?" Sind somit die Anschuldigungen zurückgewiesen , so fallen damit auch diejenigen des Herrn U., die nur das Echo einer Recension sind, welche er selbst „oberflächlich" nennt.

Plauen. Gymnasialoberkhrer Wendel.

1)4 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.

Historische Skizzen über die Ursachen des Bunten und Wirren in der neuenglischen Orthographie und Orthoepie. Fünf Vorträge von Dr. H. G. Migault. Nürnberg, Zeiser.

Oben genannte populär gehaltene Vorträge , welche übrigens selbst manchem Lehrer vielerlei werthvolle Winke geben dürften, waren von dem Verf. zu einer vorübergehenden und beiläufigen Unterhaltung der jugend- lichen Mitglieder des Heilbronner kaufmännischen V^ereins bestimmt, in wel- chem der Verf. mehrere Jahre den englischen Unterricht geleitet hat. Man darf deshalb an diese Vorträge den Maassstab einer streng wissenschaft- lichen Kritik nicht legen, da dieselben eigentlich nichts weiter sein wollen, als das Geplauder eines gebildeten und vorurtheilsfreien Engländers über seine Muttersprache. Das kleine Buch liest sich, obwohl es wenig Neues bieten kann, sehr angenehm; es ist mit Ausnahme einiger wenigen Angli- cismen recht gut geschrieben und bietet noch insofern ein besonderes Fn- teresse, als sich der Verf. auf mancherlei persönliche Erfahrungen bezieht und Erlebnisse aus seiner eigenen Vergangenheit beibringt, die namentlich in Beziehung auf die Aussprache von ganz besonderem Werthe sind. Ref. kann demnach das Heftchen recht wohl empfehlen, da es ihm gelungen ist, einen weitere Lebenskreise scheinbar wenig interessirenden Gegenstand in ausserordentlich ansprechender und zugleich beleBrender Weise populär be- handelt zu haben.

Dr. J. Baumgarten, Bibliothek interessanter und gediegener

Studien und Abhandlungen aus der polytechnischen und

naturwiesenschaftl. Literatur Frankreichs. VIII. und IX. Cassel, bei Th. Kay.

Die beiden neuesten Hefte dieser trefflichen Sammlung begrüsst Ref. mit besonderer Befriedigung, da dem Leser hier in der That nur Interes- santes und Gediegenes geboten wird. Der Herausgeber bezeichnet Heft V'III als Causeries technologiques et industrielles, welche Aufsätze über Eisenbahnbau, Gaserleuchtung, Photographie, Photosculptur u. s. w. bringen und eine sehr hübsche Ciiarakteristik von Jacquart aus Lj'on und dem be- rühmten Ingenieur Brunei. Das folgende Heft, „Tableaux zoologlques" !)etitelt, zerfällt in fünf Abschnitte, nämlich: „Merveilles zoologiques d'Afrique, Industrie et moeurs des insectcs, La Fanthere, Le Ti^re, La chasse au lion chez les Arabes." Die Schilderungen sind frisch, voll Leben und äusserst anziehend und verdienen auch in stylistischer Beziehung uneingeschränktes Lob. Ref. benutzt deshalb gern diese Gelegenheit, die ganze Sammlung von Neuem bestens zu empfehlen.

German Gems in an English setting by Jane Mulley. Weimar, H. Böhlau 1877.

Das vorliegende Büchlein, welches den Zweck verfolgt, die besten poe- tischen Leistungen unserer neueren deutschen Literatur in England und Amerika zu verbreiten, kann an dieser Stelle bestens empfohlen werden. Wahrend die Engländer in Ihren deutschen Studien nur selten über Schiller und Goethe hinauskonnnen, finden wir hier sehr ansprechende Dichtungen

Bcurtlioilungcn luid kurze Anzeigen. 95

vonGeibel, Platen, Uhland, Anastasius Grün, Lenau, Freiligratli, Heine u. s. w., und dem deutschen Texte ist stets die englische poetische Uebersetzung gegenüber gestellt. Die letztere kann meistens ausserordentlich schwung- voll genannt werden und bekundet grosse Formengewandtheit, wie sie denn überhaupt den Beweis liefert, dass die Verfasserin die beiden Sprachen in anerkennenswerthor Weise beherrschen muss. Die äussere Ausstattung ist vorzüglich.

Programmenschau.

Geschwundenes Sprachbewusstsein im Deutschen. Vom Oberl. Dr. GützlafF. Programm des Gymn. zu P^lbing 1876. 45 S. 4.

Die uml'angreiche Abhandlung bietet eine Fülle belehrenden Stoffes. Es ist ganz richtig, wie der Verf. sagt, dass es auch eine Aufgabe des deut- schen Unterrichts ist, dem gesunkenen Sprachbewusstsein durch Unterwei- sung zu Hülfe zu kommen. Es erhebt sich nur immer die Schwierigkeit, wie man die Zeit gewinnen soll. Allgemeine Sätze sind wenig fruchtbrin- gend, die Fülle des Einzelnen bringt erst Interesse und Einsicht. Der Verf. räth, in der Prima hin und wieder einige Stunden ausschliesslich der Woi't- erklärung zu widmen und so im Zusammenhange einzelne Abschnitte deut- scher Etymologie durchzunehmen. Derselbe Vorschlag ist auch anderswo gemacht worden. Es ist nur zu besorgen, dass diese Stunden auch von anderer berechtigter Seite in Anspruch genommen werden. Da nun solche Stunden nicht leicht zur Hand sein möchten, so ist es ein dankenswerther Versuch des Verf. gewesen, als Ersatz diese populäre Schulschrift zu bieten. Sie will eben keine neuen wissenschaftlichen Entdeckungen machen, sie nennt sich bescheideu einen Auszug aus Wiegand's Wörterbuch mit Berücksichti- gung der Grimm'schen Schriften. Das Ganze ist in fünf Abschnitte getheilt : a) die etymologisch verwandten Wörter, b) die ihre Bedeutung in histo- rischer Zeit geändert haben, c) die Erklärung von Zusammensetzungen, die durch Contraction oder Verschwinden des einen Bestandtheiles dunkel ge- worden sind, d) die gebräuchlichsten heutigen Vornamen, e) Verzeichnis« der eingebürgerten Fremdwörter. I. Etymologisch verwandte Wörter. Gut ist der Vorschlag, schon in den unteren Classen die Schüler auf Reihen von einander abgeleiteter Wörter aufmerksam zu machen; z. ß. Bau, Bude, Bauer, Nachbar, Baum ; ferner besonders hinzuweisen auf die Art der Ver- wandtschaft zwischen Wörtern, die durch Ablaut des Vocals aus gemein- samer Wurzel entsprossen sind, da die Regelmässigkeit dieses Vorgangs vor Allem im Deutschen sichtlich ist, z. B. winden, Winde, Windel, Wand, Gewand, wandern, wund, Wunde; auch schwierigere, z.B. Hehl, Held, hohl, Hülle, Hölle, Hülse. Mitunter fehlt jetzt das Wurzelverbum, da ist das Suchen nach der Grundbedeutung bildend, z. B. bei Himmel, Hemd; ferner die Bedeutungen von dürfen, können, mögen. H. Worte, die in historischer Zeit ihre Bedeutung geändert haben. Alle Abstracte haben einen sinnlichen Ursprung, worauf immer belehrend hinzudeuten ist ; man denke an Wörter wie anfangen, fortfahren, aufhören (Verf weist gut hin auf Cauer's Pro- gramm, Hamm 1870), Aufsatz (die mhd. Bedeutung noch in aufsätzig).

Programmenschau. 97

Gesell, Geweih. Und hierbei ist der umgestaltende Einfluss des Christen- thums nicht zu übersehen (vergleiche Ehe, Tugend), sowie der Zeitverlitilt- nisse (veigl. Reise), des höfischen Wesens, des Drucks des niodern Volkes (vergl. Adel, Tölpel, Knecht). Von solchen in der Bedeutung geänderten Wörtern führt die Abh. eine grosse Anzahl an. III. pjrkliirung einiger zu- sammengesetzter Wörter. Bei solchen ist oft die Zusammensetzung iiljer- haupt dem heutigen Sprachbewusstsein entschwunden, so bei heute, bei den Endungen bar, lieh, heit u. a., bei andern wie Dienstag, ^Freitag pflegt es falsch abzuleiten, auch bei Vormund und zahllosen andern, die der Verf. nennt. Das Bestreben, den Wörtern, namentliuh Fremdwörtern, eine der Zunge geläufigere Aussprache zu geben, hat sie so gestaltet, dass das Volk einer falschen Etymologie nachgeht; so entstehen die Gebilde der Volks- etymologie: vergl. Maulwurf, Fastnacht, Hagestolz, Ahorn, Baldrian, Arm- brust, Mäusethurm; die Redensart: flöten gehn, leitet der Verf. ab von dem jüdischen pleto = Flucht; das seit 1(3.50 voi'kommende Fidibus leitet doch wohl Grimm richtig von fil de bois ab. IV. Erklärung der gebräuchlicheren deutschen N'ornamen. V. Fremdwörter. Der Verf. stellt nach bestimmten Rubriken diejenigen zusammen, welche als solche dem Spraciibewusstsein kaum mehr erkennbar sind; in Bezug auf diesen Abschnitt ist auch noch das Buch von V. Ilehn: Culturpflanzen etc , zu vergleichen. Maske ist hier abgeleitet von lat. masticare, weil die Hexe (das ist die erste Be leutung von Maske) als Kinder fressend gedacht wurde. Andere deniven an arab. meschara von sacher = verspotten. Soldat wird abgeleitet von solidus, der Münze; Grimm (Gesch. d. d Spr.) leitet ab von skula, obligatus, s(j1- durnis bei Cacher, der Krieger, der sich ins Heer verpflichtet hat. (xraf wird als Fremdwort angesehen {yodcptiv., Andere (Leo Meyer) leiten ab von goth. grefan = beschliessen, vorschreiben, gebieten. Kummer ist schwer- lich ein Fremdwort; aus der Bedeutung Haft ergieht sich nach dem deut- schen Wörterbuche zunächst die Bedeutung: rechtliche Belastung. Eine Uebersicht derjenigen Wörter, welche ursprünglich gut deutsch ins Ausland gewandert und von dort in fremdem Anzüge zu uns zurückgekehrt sind, so dass sie uns wie Fremdwörter anmuthen, schliesst die beachtenswerthe Ab- handlung.

Bemerkungen und Ergänzungen zu Weigand's deutschem Wör- terbuch. Vom Oberlehrer Dr. Gombert. Programm des Gymn. zu Gross-Strehlitz 1876.

Ref. hat nicht die Absicht, noch zu diesem Programm Nachträge zu geben, er will hier nur dasselbe hervorheben, damit es nicht unter so vielen andern der Aufmerksamkeit der Freunde der deutschen Sprache, und wer wäre das nicht? entgehe. Das Weigand'sche Wörterbuch verdient mit vollem Recht seinen guten Ruf, aber wie viele Lücken und Irrthümer es enthält, zeigen die vorliegenden trefflichen Bemerkungen. Namentlich hat der Verf. nachgewiesen, wie nicht bloss \Veigand, sondern auch das Grimm- sche Wörterbuch, denn für dieses sind eben so wohl die Bemerkungen berechnet, die reiche Literatur des 17. Jahrh., vor Allem die sog. zweite schlesische Dichterschule, sowie die heutige Redeweise noch zu wenig ge- würdigt haben, wie Wörter, denen unsere Wörterbücher einen ziemlich neuen Ursprung zuschreiben, schon weit früher vorkommen. Die Bemer- kungen reichen bis zum Buchstaben M; möge bald eine Fortsetzung er- scheinen I Für die vielfache Belehrung, welche Ref. aus dem Programm gewonnen hat, seinen Dank zu bezeugen, erlaubt er sich nur zwei Zusätze:

Archiv f. n. Sprachen. LVUI. 7

QS Programmenschau.

Die vom Verf. als nicht richtig bezeichnete Betonung von „bhitarm = sehr arm" ist im westhchen Norddeutscblaud die einzig übliche, trotz der Zwei- deutigkeit; ebenso (S. 12) sagt man dort nur: „Kruptüch, nie Kroptüch."

Ueber germanische Wörter im Französisclien. Von Dr. K. Hottenrottr Programm der Realschule I. O. zu Cöln 1876. 15 S. 4.

Die Arbeit will nicht das Thema erschöpfend behandeln, auch nicht Neues bieten, sondern nur für Gebildete überliaupt einen Au.«zug aus den Forschungen eines üiez, Littre u. A. geben. Es sind etwa 300 Wörter zu- sammengestellt. Voraus geht eine kurze Uebersicht über die Entwicklungs- geschichte der französischen Sprache. Der Einfluss des Germanischen in der Zeit der Völkerwanderung wird vom \'erf. weniger bedeutend angenom- men, als man gewöhnlich glaube; auf den Organismus der französisc^hen Spraiihe sei das Germanische ohne Eintluss gewesen, es habe nur den latei- nischen Wortschatz um einige hundert Wörter bereichert. Zeigt sich aber dieser Eintluss nicht in der Flexion der Nomina und Verba? Wenn man die Tabellen der germanischen Wörter im Französischen übersieht, muss man da nicht von Unwillen ergriffen werden, dass die Halbbildung unserer Commis voyageurs und anderer auf gleicher Stufe stehenden Gesellschafts- classen so mächtig bei uns gewesen, dass die französische Form unserer heimathlichen Wörter auch bei uns die übliche geworden ist?

Einige sprachliche Eigenthümlichkeiten aus dem Wupperthale. Vom ordentl. Lehrer Dr. ßauernfeind. Programm der Realschule II. O. zu Barmen- Wupperfeld 1876.

Der Verf. versteht unter Wupperthal das, was auch wir im gewöhn- lichen Leben darunter verstehen, nämlich den Theil des von der Wupper durchströmten Thaies, welcher seiner Beschaffenheit nach zu einer dichteren Bevölkerung geeignet war, die heutigen grossen Städte Elberfeld und Bar- men. Durch das Wupperthal ging die Scheide zwischen den Sachsen und Franken, zwischen der hochdeutschen und niederdeutschen Sprache, und da die industrielle Gegend von nah und fern einen starken Zuzug erfahren hat, so ist um so mehr hier die Sprache eine bunte Mischsprache geworden und weiset mancherlei Eigenthümlichkeiten auf. Unterschiede zeigen sich schon zwischen den östlichen und westlichen Stadttheilen Barmens. Ohne be- stimmte Ordnung führt der Verf. eine Menge von Besonderheiten in lexica- lischer und grammatischer Beziehung an, die ihm als solche erschienen sind; indessen vielleicht die Mehrheit davon -kommt nicht bloss in dem W^upper- thale vor, viele Erklärungen würde er sich haben sparen können, wenn er niederdeutsche Idiotika zu Rathe gezogen liätte; es hätte besonders Lübben- Schiller's Wörterbuch nicht übersehen sein sollen. Dem Verf. klingt V^ieles auffallend, was dem geborenen Niederdeutschen durchaus nicht aufiällt, was uns in unserem Sprachgebiet überall begegnet ; es scheint die niederdeutsche Sprache nicht seine Muttersprache zu sein. Das ist unter Anderem zu schliessen daraus, dass ihm das Wort Staats oder staatsch so merk- würdig vorgekommen ist (S. 8). Der Niederdeutsche wird daher gar oft bei der Musterung dieser Wupperthaler Spracheigenthümlichkeiten sagen müssen; „Gar nicht eigenthümhch." Zum Schluss theilt der Verf. ein Lied

Progranimenscliiui. 99

mit, das Baueinkinder, wie er sagt, Besen verkaufend anfangs November auf den Strassen singen, er nennt es das Lied vom „Muten"; es beginnt: „Mäten is en goden mann, de us brav wat geben kann". Dies „Mitten" ist nicht erklärt. Das Lied isc aber das bekannte verbreitete Martini-Lied: „Sünte Märten god mann, de us wat vorteilen kann, de appel und de biren u. .s. w." Der Schlusssatz des Liedes, wenn die Kinder leer ausgehen, ist im A\upperthale sehr abgeschwächt; die Kinder der rothen Erde haben eine viel drastischere Schlussstrophe. Leider kennt die Jugend der Gegen- wart dies alte kräftige, theiiweise sehr unsinnige Martinilied nur noch wenig; die moilerne Schulmeisterweisheit hat ihr dafür ein recht frommes und mattes Lied eingeimpft. Wisst ihr, was ein Philister heisst?

Die majuskeltheorie der gramraatiker des neuhochdeutschen von Johann Koh'oss bis auf Karl Ferdinand Becker, Von Dir. Dr. Hagemann. Programm des Gymn. zu Graudenz 1876.

Der Verf. ist schon als rüstiger Mitkämpfer auf dem Gebiete der Re- form unserer Orthographie den Lesern des Archivs bekannt geworden. Er hat wiedei'um seinen Fleiss daran gesetzt, einen speciellen Gegenstand zu durchforschen. Eine Majuskeltlieorie hat es lange nicht gegeben; nach ihrer Willkür haben nicht die Gelehrten, sondern die Setzer lange sie an- gewandt; was so Usus der Officinen geworden, ward Usus des Publikums, und den jetzt so allgemein gewordenen Gebrauch in ein gewisses System zu bringen, ist allein die Aufgabe und Arbeit der Grammatiker gewesen. Es hat das Verfahren Verwandtschaft mit der Begründung der mittelalterlichen Dogmen durch die Scholastik. Aus den Schriftdenkmälern lässt sich eine Entwicklung der Majuskeltheorie nicht construiren, denn jene hängen eben von der Laune der Setzer ab, es ist nichts seltenes, dass in den Schriften der Grammatiker gegen deren Sätze von den Setzern wenige Seiten später direct gefehlt wird. Der Verf. hält sich also allein an die Theorien der Grammatiker, aus ihnen bringt er die vollgültigsten Beweise vor für die Entstehung der Majuskeltheorie und die vielen Unsicherheiten, an denen sie leidet. Zuerst findet sich eine solche Theorie bei Johann Kolross 1529; ausser den Eigennamen wird da der Name Gott in allen Buchstaben mit Versalbuchstaben zu schreiben befohlen. Aber die Praxis überschreitet sclinell diese engen Grenzen. Da befiehlt Job. Rud. Sattler 1607 auf Kol- ross Regeln zurückzugehen, 1Ö41 setzt aber Christian Gulietz hinzu, auch diejenigen Appellative, welche einen Nachdruck haben (Namen der Künste, Tugenden, Laster, Festtage, Thiere), und die von solchen Subst. abgelei- teten Adjective mit grossen Anfangsbuchstaben zu schreiben. Samuel Butschry giebt den Namen der Bücher und Tage die Majuskel. J. Georg Schotte! ist nicht, wie vielfach gemeint ist, der erste, der eine Theorie auf- gestellt hat. Joli. Girbert 1651 hat zuerst allen Substantiven unterschieds- los die Majuskel vindicirt. Aber Johann Beilin 1657 will nicht, dass man jegliches Substantiv gross schreibe; indess Job. Bödiker 1690 konnte den Setzern nicht mehr widerstehen und geht auf Girbert's Standpunkt zurück. Weniger freigebig ist Casper Stieler 1691. Hieronymus Freyer 1722 räth in seiner weitverbreiteten Grammatik: obgleich Viele die Appellative mit einem kleinen Buchstaben schreiben, obgleich es nicht unrecht sei, doch bei dem Usus zu bleiben, aber demselben auch darin zu folgen, dass man durch eine Präposition zu Adverbien gewordenen Substantiven (anstatt, zu gaste gehen, zu fusse gehen, ins werk richten u. ä.) den kleinen Anfangs- buchstaben lasse. Gottsched in seiner deutschen Sprachkunst will alle Sub- stantive mit grossen Anfangsbuchstaben geschrieben wissen. Nach Klop-

100 Pi'Ogrammenschau.

stock's Neuerungen trat eine grosse Unsicherheit ein. Dieser wollte Adelung steuern. Hervorzuheben ist, dass er allen Substantiven und als Substantiv gebrauchten Wörtern den grossen Anfangsbuchstaben giebt ; auch wenn .Substantive als Umstandswörter stehen, erlialten sie die Majuskel, wenn die substantivische Gestalt, nicht ganz verloren geht (an Kindes Statt, Statt haben, Platz greifen); ebenso auch „Anfangs, es ist Hechtens, Falls, Abends u. s. w." Im 19. Jahrh. sind zu nennen Heinsius und A. Heyse. Heinsius setzt u. A. fest die Majuskel in allen von Eigennamen abgeleiteten Eigenschafts- und Umstandswörtern. Aus A. Heyse ist zu bemerken, dass das Adjectiv nach einer Präposition als Adverbium anzusehen und nicht gross zu schreiben sei, z. B. aufs neue, in kurzem, mit den usuellen Aus- nahmen „im Oanzcn, im Allgemeinen, im Einzelnen, im Besonderen"; da- gegen das Wort „sich" in Briefen bei der Beziehung auf „Sie" sei gross zu schreiben; Hauptwörter als Verhältniss- oder Nebenwörter gebraucht ver- lieren die Majuskel, so „theils, flugs, anfangs, laut, zum besten haben, preis geben, zuwege bringen" mit Ausnahme der zeitbestimmenden Genitive: Morgens, Nachts u. s. w., ferner: im Stande sein. Trotz bieten, Statt finden, Willens sein u. ä. K. F. Becker bietet nichts Neues.

Zur Geschichte der Kritik und Erklärung des Hildebrandshedes. Von Dr. Schulze. Programm des Gymn. zu Naumburg 1876. 33 S. 4.

Die vorliegende Abhandlung ist alles Dankes werth ; sie soll einen Ueberblick über die gesammte Literatur des Hildebrandsliedes geben, den- jenigen Lehrern und Freunden des Liedes, die nicht über die vielfachen Bearbeitungen und einzelnen erklärenden Beitrage gebieten können, zu Hülfe kommen. Es bietet die Abhandlung denn auch in der That wohl Alles, was in Kritik und Erklärung des Liedes erschienen ist, übersichtlich geordnet; in dem angehängten literarischen Nachweis findet Ref. nur eine Schrift nicht citirt: W. Mohr: Das Lied von Hiltibraht und Hadubrand mit einigen seiner schwierigsten Stellen erläutert. Marburg 1636. Die Lese- bücher, welche das Gedicht enthalten, hat der Verf. nicht alle citiren wollen, so ist z. B. das Lesebuch von Kehrein, welches bekanntlich auch ausführlichere Erklärungen giebt, nicht benutzt. Vielen wird es gewiss er- wünscht sein, den jetzt seltenen berühmten Druck Lachmann's von 1833 ganz mit Lachmann's üebersetzung aufgenommen zu finden; manchem der alten Schüler Lachmann's mag dabei wohl der Gedanke gekommen sein, ob nicht immer noch der Druck der Vorlesung Lachmann's Anklang finden würde.

Die Nibelungen in der deutschen Poesie. Von C, Rehorn. Programm der Musterschule zu Frankfurt a. M. 1876.

Es ist doch immer ein erfreuliches Zeichen, dass unsere deutsche Vor- zeit mit der Zeit dem deutschen Volke immer bekannter, dass namentlich das Nibelungenlied und die Nibelungensage allmälig so in die Masse einzu- dringen scheinen, wie einst die Homerischen Lieder den Hellenen vertraut waren. Wie sich diese Kenntniss immer mehr verbreitet hat, das zeigt uns die vorliegende fleissige ausführliche Abhandlung.

Mit dem Interregnum fing das deutsche Volk an seine früheren Dich- tungen zu vergessen. Es ist eine vereinzelte Erscheinung, dass Martin Opitz

Programniensch.iii. 101

das Annolied herausgab und erläuterte. Im Norden wurde mehr als hi Deutschland ein wissenscliiiftliches Interesse an den Denkmälern der Vorzeit rege; aber hüben und diüben hat die eigentliche Poesie noch nicht die Auf- merksamkeit auf sich gezogen. Gottsched's Bemühungen hatten noch wenig Krfcilg. Auch Bodmer's Ausgabe von 1757 regte wenig an. Aber erfolgreich war die Ausgabe des Nibelungenliedes durch Chr. IJ. Müller 1782, zu so grossen Verwirrungen auch der in dieser Ausgabe hervortretende Mangel an Kritik geführt hat.

Klopstock hat für das Mittelhochdeutsche ein Interesse gehabt; schon der Rtim der mhd. Gedichte war ihm unangenehm. Lessing war mit Bod- mer's Ausgabe bekannt, er geht aber kühl über das Nibelungenlied hinweg, wohl aus Antipathie gegen den Herausgeber Bodmer. Als durch Herder's Einfluss die hterarische Revolution anbrach, das subjective Gefühl sich gel- tend machte, in der musikalischen ^Virkung das AVesen der Poesie gesucht wurde, das Volkslied als das Ideal galt, da hatte man keine Zeit, an einer einzelnen poetischen Erscheinung lange zu verweilen ; Herder berührt nirgends die Nibelungen, dann wurde Ossian bekannt, er über alles vergöttert, da konnte die Epik der Nibelungen keinen Boden finden. Nach dem Unter- gange der politischen Nationaltinheit, nach dem verloren gegangenen Be- wusstsein der sittlichen Zusammengehörigkeit verflüchtigte sich die Begeiste- rung über Friedrich's des Grossen Thaten in einen gegenstandslosen Kos- mopolitismus. Dazu kam die mangelhafte geschichtliche Bildung; diesem Mangel und seiner ganz anders angelegten Natur ist es zuzuschreiben, dass Schiller dem deutschen Mittelalter fern geblieben ist. In Göthe's langem Leben zeigt sich erklärhch ein verschiedener Standpunkt zum deutscheu Altcrthum ; absprechend urtheilt er 1773 über die alte vaterländische Dicht- kunst, 1827 beurtheilt er Sinirock"s Uebersetzung des Nibelungenliedes höchst anerkennend, 1807 hatte er zum ersten Mal das Nibelungenlied gelesen. Der Historiker Johannes Müller sprach sich schon 1783 günstig über das Gedicht aus, der Grammatiker Adelung aber hielt es 1784 nicht der gering- sten Beachtung werth. Die Romantiker sind es gewesen, welche die Nibe- lungen in die deutsche Poesie eingeführt und auch die philologisch-kritische Nibelungenfrage wesentlich gefördert haben. Friedrich und Aug. W. von Schlegel heben begeistert den poetischen Gehalt und die historische Bedeu- tung des Gedichtes hervor, Tieck war es ein vollendetes Gedicht, er dachte an eine vollständige Bearbeitung; aber sie hatten alle noch geringe Erfolge, weil die grammatischen Vorarbeiten noch ganz fehlten. Es ist bekannt, dass das nationale Unglück von 1806 die Blicke auf die Denkmäler der Vorzeit lenkte, um durch eine männliche Poesie den gesunkenen Volksgeist zu heben. Es erschien 1806 des Knaben Wunderhorn, 1807 aus Beiträgen von Arnim, Brentano, Görns, Tieck, Ilhland, J. Grimm die Einsiedlerzeitung, v. d. Hagen's Sammlung deutscher Volkslieder, 1808 die deutschen Gedichte des Mittelalters, 1807 v. d. Hagen's halb umgedichtetes Nibelungenlied. Bald erhob sich die Wissenschaft der deutschen Philologie zu ihrer Hebe, die nachromantische Dichtkunst schöpfte immer neue Nahrung aus den (Quel- len des Mittelalters. In Schenkendorf's Liedern khngt die Erinnerung an das Nibelungenlied wieder; Uhland's Natur ist vor Allem der mittelalterlichen Volksdichtung verwandt, auch als gelehrter Forscher ragt er vor Vielen her- vor, unter seinen Vorlesungen steht zu oberst die Erklärung des Nibelungen- liedes. Auch Platen ist ein Herold der grossen Vergangenheit, in seinem Aufsatz über das Theater als ein Nationalinstitut dringt er darauf, die Jugend so früh als möglich mit den Nibelungen bekannt zu machen. Auch seinem Gegner Heinrich Heine ist das Nibelungenlied eines der gewaltigsten Gedichte, welches kein Franzose begreifen könne.

Inzwischen hatten aber Andere bei aller Hochachtung der Nibelungen die Form der poetischen Einkleidung für verbesserungsfähig gehalten ; man hatte Umarbeitungen begonnen. Bodmer schon fing 1767 solche in schlechten

102 Programmenschau.

Hexametern und in Romanzenstrophen an; 1783 folgte eine Nachahmung von Hagewisch in Amphibrachen; 1805 ein Stück von Chr. Niemeyer in ungereimten lamben, 1807 von Hinsberg in freien Stanzen; P'riederike Nau- bert brachte 1792 das Märchen vom Horte der Nibelungen in Prosa. Erst als Lachmann das Wesen der alten Nibelungenstrophe dargelegt hatte, bemühte man sich um getreue Uebersetzung. Auch die dramatische Dich- tung bemächtigte sich des Stofies; voran gehen die Arbeiten Fouque's 1803 und 1808. 1819 erschien die begeisterte Schrift v. d. Hagen's: die Nibe- lungen, ihre Bedeutung für die Gegenwart und für immer, voll wunder- licher Etymologien, mit dem Grundirrthum der Auffassung des Liedes als eines christlichen Heldengedichts, aber dennoch anregend; man fing an tiefer in den Mythus einzudringen. Es folgten die dramatischen Arbeiten von Fr. R. Hermann 1819, Joh. W. Müller 1822, C. F. Eichhorn 1824, Zarnack 182G, Raupach 1834, Reinold Reimar 1835, Fr. Hebbel 1862, W. Hosäus 1865, der Rüdiger von Bechlarn von W. Osterwald 1849^ von Lothar Schenck 1866, von Felix Dahn 1875, die Brunhild von E. Geibel 1857 und von Robert Waldmüller 1863, endlich Richard Wagner's Bühnenfestspiel.

Der Verf. vorliegender Abhandlung erörtert hierauf das, was er als die Poesie der Nibelungen bezeichnet. Li dem Gedichte spiegelt sich noch die ganze Geschichte des Mythus von seinem Ursprung im grauen Heidenthum, seiner Wanderung von der Nordsee bis an die Donau wieder. Selten ist etwas weiter ausgemalt, und doch kommen alle Begungen des mentchlicheu Herzens, feindliche und freundliche, vor; die Personen zeigen sieh mensch- lich im Fühlen, Denken, Handeln, aber ibre Leidenschaften sind noch dämo- nischen Ursprungs. Neben der fortlaufenden geschlossenen Handlung ist der Phantasie eine schrankenlose Freiheit gestattet. Von Haus aus war mit diesem Stoffe die epische Form verbunden. Die Motivirung ist durch den gewalligen Strom des Epos in den Hintergrund gedrängt. Indem man über die Motive zu reflectiren anfing, wurde man zu dem Versuche der dramatischen Bearbeitung gedrängt. Indess da treten Schwierigkeiten her- vor: die Situationen des Epos lassen sich auf der Bühne nicht wiedergeben; für das Auge sind die Greuelscenen zu grässlich, die übermenschlichen Cha- raktere lassen sich nicht darstellen. Die Helden dieses Epos müssen unserem modernen Verständniss, und das Drama wendet sich doch an Menschen der Gegenwart, fremd bleiben, es müsste also die heidnische Grundanschauung umgewandelt werden, aber das hat auch seine Grenzen. Die Charaktere aber lassen sich unmöglich in die Sphäre des allgemein Menschlichen herab- setzen. Und die Hauptforderung der Tragödie, der sittliche Conflict, ist weder bei Siegfried noch bei Krimhild zu finden. Rüdiger ist eine echt tra- gische Gestalt, aber er ist eine passive Gestalt, er sucht den Tod ; das Tra- gische, was in seinem Untergange hegt, ist ergreifend, aber es ist episch, nicht im Sinne der Tragödie.

Ein Denkmal der fortlebenden Sage ist Hans Sachsens Tragödie: Der hören Sewfriedt 1557, in roher Weise Siegfried's Leben vor seinem Ab- schied aus dem Elternhause bis zu seinem Tode behandelnd. Fouque behan- delte dramatisch Siegfried's Jugend 1808 in dem Sigurd, der Schlangen- tödter, Heldenspiel in sechs Abenteuern. Die Figuren sind kräftig gezeich- net. Seine Quelle ist die Edda. Die oben genannte Bearbeitung von F. R. Hermann vei fährt mit dem Stoffe willkürlich, zeichnet die Personen im Sinne des romantischen Ritterthums, psychologische \'erknüpfung fehlt ganz. Müller's Chriemhildens Rache, Trauerspiel in drei Abtheilungen, mit Chören, ist mehr lyrischer als dramatischer Art, die Charakteristik der Personen ist eine ganz unsichere, die Sprache ist aber edel und würdig. C. F. Eich- horn's Chriemhildens Rache, welches auch heissen könnte, der rasende Hsigen, besteht grösstentheils in Exclamationen, Geistererscheinungen, Mordscenen u. s. w. Raupach's Nibelungenhort ist in der Sprache klar, weicht zum Theil von der Sage ab, ist in der Charakteristik matt. Remold Reimar's

Programmenschau. 103

Tranerspiel, Cliricmhildens Rache, hält sich penau an den Gang fies Epos, lässt aber Wirksames aus und ist im referirenden Dialog zu breit; die Sprache ist aber edel, <]ie Charakteristik nicht consequent. In Hebbers Nibelungen sind fast alle Personen verzeichnet, theilweise roh, ohne Würde, das Ganze sieht aus wie ein Puppens])ioI. Das Trauerspiel von W. Hosäus sucht finen sittlichen Conflict cinzufiilircn, niimUcjh in Chriemhildens Seele, die dämonische Natur siegt aber völlig über die versöhnende Macht dos Christenthums. Rüdiger von Bechlarn ist der dramatische Held für Schenck, Osterwald, Dahn geworden. Bei Schenck schwört Rüdiger ausser dem Chriemhild geleisteten P^id noch den Burgunden zu Bechlarn einen feier- lichen Eid, unbedachtsamer Weise, so dass man nicht weiss, warum er später sich für den ersten Eid entscheidet; Sprache und Ausführung sind sonst edel. Osterwald's Gedicht hat auch diesen letzteren Vorzug; aber der Held erscheint zuletzt zu weichlich, so dass die Tragödie episch mit lyii- schem Anstrich wird. Dahn's Gedicht ist das umfangreichste, reich an vielen lebendigen neuen Zügen ; aber die Stärke der Verwicklungen lässt die Noth- wendigkeit der Entwicklung unklar erscheinen, auch liegen die stark beton- ten politischen Vorstellungen der Sage fern. Brunhild ist Gegenstand der Trauerspiele Waldmüller's und Geibel's. Bei dem erstem Dichter findet der Verf. in Brunhild's und in Siegfried's Benehmen psychologische Unmög- lichkeiten, auch Siegfried's Tod nicht motivirt. Bedeutender ist Geibel's Gedicht, aber an ihm rügt der Verf., dass der Leser beim Schluss keine Versöhnung fühle, es drohe noch entsetzliches Unheil in der Zukunft. Die bedeutendsten der neueren Nibelungendichtungen sind die Nibelungen von W. Jordan; dies Gedicht entnimmt seinen Stoff nur zum kleineren Theil der engeren deutschen Sage, aber auch mit der nordischen verfährt der Dichter sehr frei. Das Gedicht ist reich an schönen Einzelnheiten, auch das Ganze eine grossartige Composition, doch wird es Demjenigen, der nicht mit dem ganzen Sagengebiet bekannt ist, bei dem Umfange schwer, den Faden festzuhalten. R. Wagner ist in seinem Bühnenfestspiel sehr willkür- lich mit der Sage umgegangen; aber wie der Verf. in demselben grosse dramatische Lebendigkeit und poetische Empfindung an vielen Stellen an- erkennt, so hebt er mit besonderem Lobe hervor, dass Wagner mit Ernst und Entschiedenheit für die deutsche Oper auch einen nationalen Stoff als Text gefordert hat. Mit Recht spricht der Verf. am Schluss seiner schönen Abhandlung die Hoffnung aus, es werde von nun an die nationale Sage immer mehr dem Volke zum Bewusstsein kommen und zur Stärkung des Einheitsgefühles das Ihrige beitragen; auch werde wohl die richtige poe- tische Form endlich gefunden werden, um dem grossartigen Stoff" in die weitesten Kreise Eingang zu verschaffen; bis dahin habe die Schule vor- zugsweise die deutsche Sage zu pflegen.

Die sittliche Lebensanschauung Walther's von der Vogelweide. Vom Oberl. Dr. Ferd. Gumpert. Programm der Real- schule zu Würzen 1876. .23 S. 4.

Auch in dieser Beziehung ist Walther von der Vogelweide oft Gegen- stand längerer oder kürzerer Abhandlungen gewesen. Vorliegender Aufsatz bespricht: 1) Walther's Minnegesang. Der Dichter singt von Winter und Sommer, von Blumen und Vogelsang, von Lenz und Liebe ; denn Frauen- liebe ist der schönste Lohn für den Sänger. Da, wo keine Tugend ist, wird die Minne zur Unminne. In den mannigfaltigsten Variationen ergehen sich Walther's Minnelieder. Er wendet sich launig gegen den Aberglauben der Träume, ernst gegen den Verfall der Zucht; er preist deutsches Wesen

104 Progiaiiunenscliau.

über Alles; in seinen letzten Gedulittu klingt Resignation durch. 2) Wal- ther's Gottesdienst, Er ist eine echt fromme iNatur, er ist schwärmerisch begeistert für die Idee der Kreuzzüge, er ist selbst Kreuzfahrer, aber in anderen Liedern tritt aiub seine Duldtamkeit gegen Andersgliuibige hervor. Den Legendenglauben theilt er mit seiner Zeit, er achtet den Stand der Geistlichen, aber ihre SittenJosigkeit greift er streng an, wie die Missbräuche der Kirche. 3) Walt hers Herrendienst. Er steht ganz auf der Seite des Reiches.

Ueber die politische Dichtung Walther's von der Vogelweide von Dr. Adolf Grimm. Programm des Gymn. zu Schwerin 1876. 21 S. 4.

Auch dies Thema ist öfters Gegenstand gelehrter Abhandlungen ge- wesen; die vorliegende behandelt denselben gründlich. Das Gewand der politischen Dichtung Walther's ist der Spruch, der Spruch ist einstrophig; über die metrischen Gesetze giebt der Verf. die verschiedenen Ansichten der Herausgeber an. Walther ist trotz seiner Erbitterung gegen die Geist- lichkeit der gläubigste Christ, duldsam auf religiösem Gebiete, erhaben über Standesvorurtheile, jedoch ganz in seinem Stande, er schätzt die Rittersitte, er klagt über den Verfall derselben. Er hat die höchste Anschauung von der kaiserlichen Machtbcfugniss, ihn beirrt der Bannfluch nicht; die zwei Alemannen, die es Innocenz gelungen unter einen Hut zu bringen, sind auf Otto IV. und Friedrich H. zu deuten. Er sucht ernst die höhere deutsche Geistlichkeit von des Papstes Rücken abzuziehen, der Mehrzahl des Clerus wirft er Bosheit und Wollust vor. Er preist vor Allem den König Philipp und Irene, er steht auch mit Rath dem Könige zur Seite, er hat niemals mit ihm gebrochen. Nach Philipp's Tode steht er auf Otto's Seite und begrüsst ihn auf dem Hoftage zu Frankfurt 12.12. Otto erfüllte aber die dem Dichter gegebenen Zusagen nicht, Walther löste sich von ihm ab und wandte sich Friedrich zu, von ihm hofi'te er Belohnung, er erhält das Gut in Franken und wird Erzieher des Prinzen Friedrich, aber sagt sich nach einigen Jahren von dem unverbesserlichen Zögling los. Ob der Dichter sich dem Kreuzzuge Friedrich's IL angeschlossen habe, muss zweifelhaft bleiben. Den Babenberger Hof verliess Walther 1198 nach des Herzogs Friedrich Tode, als seine Hoffnungen sich nicht erfüllten; aber 1200 ist er wieder in Wien, durch Leopold's Freigebigkeit versöhnt; dann nimmt ihn Leopold zwischen 1207 und 1209 ganz an seinen Hof auf. Nach kurzer Zeit durch die Sparsamkeit des Hofes vertrieben, kehrt er 1217 1219 zurück und begrüsst den von Palästina heimkehrenden Leopi)ld und preist seine Milde. Auch in Eisenach weilte Walther wiederholt, Landgraf Her- mann überschüttet ihn mit seiner Gnatfe; auch seinem Sohne Ludwig bleibt er treu. Walther"s Spruchdichtung ahmt nach Reinmar von Zweter; dessen Verhält niss beleuchtet der Verf. ausführlich. Ebenso dichtet in Walther's Weise Bruder Wernher, dann, ihm weit nachstehend, Ulrich von Singenberg ; auf ihn weisen hin Wolfram und der Winsbake ; als politischer Gegner greift ihn Thomasin von Zercler an.

Zur Charakteristik Fishart's. Von Dr. Gustav Doderding. Pro- gramm der Luisenstädtischen Gewerbeschule. Berlin 1876. 22 S. 4.

Die volksthümllche vaterländische Gesinnung Fischart's zu beweisen, ist Vorwm-f dieser Arbelt. Fischart liebt sowohl seine Vaterstadt Strassburg

Prociniinienscliau. 105

als Deutstbliind. Mit dir Schrift de originibus Argcntoiatcrisibus hält Verf. wohl richtig <lie Schrift descriptio particulae territorii Argentinensis für identisch. Als BeAveise von Fischart's deutscher (Besinnung dient seine genaue Bekanntschaft mit deutscher Sitte, Sage, Geschichte, sein Lob der Muttersprache, seine Vertheidigung der deutschen Kunst, der patriotische Tadel der deutschen Fehler, wie der Nachahmungssucht, der allgemeinen Schwäche, seine politischen Grundsätze. Zur Erläuterung giebt der Verf. Auszüge aus Fischart's Schriften.

Beiträge zur Kenntniss von Andreas Gryphius' Leben und Schriften. Von Th. Wissova. In der Feetschriü des katliol. Gymn. zu Glogau 3 87G. S. 53 64.

In der P'estschrift zur zweihundertjährigen Jubelfeier des kathol. Gym- nasiums zu Glogau hat der A'erf. dieser Abhandlung einige Punkte aus A. Gryphius' Leben ausführlicher behandelt, namentlich aus der Lebensgeschichte seiner Vorfahren. Hervorzuheben ist, dass als A. G's. Geburtstag, über den die Angaben verschieden lauten, der 2. October festgestellt wird, der sonst aber angegebene 11. October nach dem verbesserten Gregorianischen Ka- lender gerechnet ist. Ueber den weiteren Bildungsgang des Dichters giebt der Verf. nach den alten Lebensbeschreibungen einige daukenswerthe Notizen.

Christian Weise's Verdienste um die Entwickelung des deut- schen Dramas. Vom Oberlehrer Dr. Glass. Programm der Realsch. 2. Ordn. Bauzen 1876.

Der Verf. hebt die \'erdienste Christian Weise's hervor: er habe in dem Volksleben den besten Stofi' für die Bühne gefunden, sei reich an guten P>findungen, habe bestimmte Regeln von dem Bau des Dramas, über- treffe in der Technik alle seine Vorgänger, ebenso in der Charakterzeich- nung, sein Dialog sei kernig, seine Sprache einfach und natürlich. Diese Sätze sucht der Verf durch kurze Auszüge aus den Dramen zu erhärten. Dass Weise manche Tugenden besitze, ist nicht zu leugnen; Lessing hat ja auch noch seinen Maf^aniello geschätzt. Indess der Abstand zwischen ihm und Lessing ist doch ein unermesslicher, ein weit grösserer als der Verf. anzudeuten scheint; in der Sprache namentlich hat er doch seine Ab- hängigkeit von dem Geschmack seiner Zeit nicht verleugnet. Er hatte gewiss trelfliche Anlagen, aber er hat zu schnell gearbeitet, meist zu schnell arbeiten müssen.

Ein Andernacher Schauspiel aus dem Jahre 1781. Vom Rcc- tor Dr. E. Schweikert. Programm des Progymn. zu Andernach 1876.

Das hier meistens nur dem Inhalte nach gedruckte Schauspiel nennt sich ein Trauerspiel und behandelt die Opferung der Tochter Jephtha's. Man würde sehr irren, wenn man hier eine interessante Schulcomödie zu finden glaubt, wie nun schon so viele gedruckt sind. Aus der eigentlichen Zeit der Schuldramen stammt dies Schausi)iel nicht, es stammt aus der Zeit der höchsten Blüthe unserer Literatur, die milgetheilte Anlage und die Verse der Arien sind höchst geschmacklos. Der Verf. hat eine Einleitung über Schuldramen vorausgeschickt; diese passt jedoch wenig zu diesem

106 Programmenschau.

Nachkömmling. Es ist fast unbegreiflicb, wie im Jahre 1781 noch eine solclie Plattheit in den höheren Schulen herrschen konnte; aber die Schul- geschichte belehrt uns, dass nicht bloss auf den katholischen Schulen am Rhein, sondern auch in protestantischen Anstalten vielfach wenig davon zu merken war, dass längst das goldene Zeitalter der deutschen Poesie an- gebrochen war.

lieber Sehiller's Verhältniss zu Christian Gottfried Körner. Vom Gymnasiall. Franz de Paula Lang. Programm des Gymn. zu Marburg in Steiermark 1876. 31 S. 8.

Das Programm behandelt das Verhiiltniss der Freunde von seinem Ent- stehen an bis zu Sehiller's Abschied von Dresden; die Forlsetzung, welche der wichtigere Theil werden und Körner's Einfluss auf Sehiller's historische Arbeiten und philosophische Studien darstellen wird, soll nachfolgen. Di^ Abhandlung hat zwar keine neue Quellen benutzt und bringt nichts Neues; aber der ehrenwerthe Zweck ist sicherlich erfüllt, durch die Schilderung dieses edlen Freundschaftsbundes noch innigere Liebe zu dem grossen Dich-, ter in dem Wirkungskreise des Verf. zu nähren, wo an der Grenzmark deutscher Zungen an die deutsche sich eine zweite, die slovenische, Nation anschliesst, welche schon mit Vorliebe die slovenischen Uebersetzungen Schillerscher Dramen studirt.

Klein Roland, der sterbende Eoland, der getreue Eckart auf Quarta erklärt. Von A. Schleussinger. Programm der Studienanstalt zu Ansbach 1876. 28 S. 4.

Der Verf. geht bei diesen Erklärungen von dem richtigen Grundsatze aus, dass Interesse zu wecken und Geistesthätigkeit zu üben in erster Linie Aufgabe der Schule sei, dass diese ohne liebevolle Behandlung auch des Einzelnen sich nicht lösen lasse, dass hierbei vielfache Anregung gewonnen werde, wenn man mitunter baM rechts, bald links abbiege. Gleichartiges verknüpfe, also den Blick des Knaben erweitere und vertiefe. So erklärt nun der Verf. zuerst das Uhland'sche Gedicht, hier und da von Hiecke, den er anführt, abweichend, doch so, dass man bei diesen Abweichungen ihm beipflichten muss; dagegen scheint ihm der Aufsatz von Eichholtz in der Zeitschr. f. Gymn.-W. 1871 nicht bekannt zu sein. Er hebt natürlich nicht bloss die Disposition hervor, auch das Einzelnste giebt Veranlassung zu Fragen, die, wenn sie auch entlegen zu sein scheinen, hier doch nicht un- [lassend seien, z. B. die, welche auf die Eigennamen Bezug haben; er will auch historische Erläuterungen angebracht wissen, z. B. über Pfalzen, Ritter- saal. Bei diesen letzten \Vorten soll auf das Kaiserhaus in Goslar hin- gewiesen werden, dessen Restauration irrthümlich schon beendet genannt wird; von der Pracht eines solchen Rittersaales giebt passender die Wart- burg ein Bild. Dass mitunter etwas zu viel erklärt ist, beeinträchtigt nicht den Werth der Arbeit. Der zweite Aufsatz ist die Erklärung des Gedichtes von Stöber; hier hat nur die Erklärung von Recke als der von der Rache Verfolgte etwas Aull:allendos. Das Gedicht Göthe^s ist so oft erläutert, dass der Verf. nichts Neues beibringen konnte.

Progranimtnschau. 107

Studien zu Shakespeare's Julius Cäsar (Forts.)- Von Prof. Erenbert Gerstmayr. Programm des Gymn. zu Krems- münster 1876. 30 S. 8.

Das sind einzelne oberflächliche Charakteristiken; die erste Hälfte der Arbeit aber nehmen Auszüge aus Aristoteles' Poetik, Horaz' ars poetica, Schiller's philos. Abhandlungen ein, deren Zusammenhang mit dem Folgen- den anzugeben eine schwierige Aufgabe sein würde.

Ueber den epischen Werth der Voltaire'schen Henriade. Von Dr. Wunder. Programm der Realschule zu Schönberg im Fürstenthum Ratzeburg 1876.

Es gab eine Zeit, wo auf den höheren Schulen die Henriade eine stehende Leetüre war; heutiges Tages mag das nur noch sehr vereinzelt vorkommen. Heute stimmt Niemand mehr in Friedrich's des Grossen Lob- lied auf Voltaire's Gedicht ein; heute mag wohl auch unter den Franzosen sich nur selten ein Lobredner finden. Der Verf. vorliegender Abhandlung hat darum doch nicht eine überflüssige Aufgabe sich gestellt, indem er dar- thun wollte, welche Mängel die Henriade als episches Gedicht habe. Wenn Voltaire als Mittelpunkt seines Gedichts den Kampf Heinrich's um seine Anerkennung betrachtet wissen will, so entbehrt der 4. und 5. Gesang, die Ermordung Heinrich's IIL behandelnd, der Beziehung auf den Helden. Ferner der Traum Heinrich's, eine Nachbildung der Hadesfahrt des Aeneas, lässt uns den König rein leidend erscheinen; die ihm gegebene Offenbarung macht ihn um nichts lebendiger, er soll sich auch ferner willenlos vom S( hicksal leiten lassen ; und der Traum ist nur eingeführt, auf dass wir den Dichter bewundern sollen, der seine philosophischen Ueberzeugungen mit dem Dogma der katholischen Kirche zu vereinigen versucht. Im 9. Gesang wird die Liebe der Gabriele gemalt, sie ist eine Nachahmung der Dido; aber man sieht nicht, dass aus sich selbst der König die Kraft zum Wider- stände gegen diese Liebe gewinnt. Die Kirche wird dargestellt als der Herd des Fanatismus, und doch soll aus innerer Ueberzeugung zu dieser Kirche der Held zurückkehren. So verherrlicht Voltaire zwei disparate Stücke, den Kam[)f gegen den Fanatismus und den Sieg der Kirche. Ferner überall tritt der Dichter des 18. Jahrhunderts hervor, das Gedicht ist überreich an philosophischen Reflexionen, an Lehren, welche seiner Zeit der Dichter geben will, die aber durchaus nicht in die Zeit Heinrich's IV. passen. Sodann statt gewaltiger Ereignisse bringt ^'oltaire fertige Schilderungen der Personen und liebliche Bilder. Und in den Schilderungen von Tugen- den und Fehl^'ru sucht er den Mangel an veranschaulichender Phantasie durch gelehrte Herbeiziehung von geschichtlichen Analogien auf ungeschickte Weise zu ersetzen. Die Helden der Henriade sind grösstentheils Schatten- bilder, Abstractionen ; Heinrich IV. ist ein Heiliger, Mornay die verkörperte stoische Philosophie; Mayenne, das Haupt der Gegenpartei, greift niemals selbstthätig ein. Die an die Stelle der alten Götter gesetzten allegorischen Gestalten der Zwietracht, Liebe u. s. w. erscheinen bald als wirkliche Per- sonen, bald aber als reine Abstracte; es ist ein fortwährendes Hinundher- schwanken. Bei so zahlreichen Fehlern stellt sieh der epische Werth der Henriade als sehr gering heraus. Niemand war ungeeigneter ein Epos zu dichten als Voltaire, denn Niemand denkt mehr an sich als er pflegte. Was ihn auf dies Gedicht führte, war die neue Philosophie seiner Zeit, die er als Prophet verkünden wollte; diese Zeitideen wurden in schöne Verse gegossen und etwas episches Beiwerk zugefügt.

Herford. Kölscher.

Miscellen.

In der neuesten Zeit hat sich der englische Dichter Algernon Charles Swinburne einen weithin schallenden Namen errungen und namentlich dm'ch seine Schöpfung „Bothwell" nach dem Urtheile bedeutender Kritiker weit über alle seine Zeitgenossen erhoben.

Algernon Charles Swinburne wurde im Jahre 1843 zu Holm- wood bei Ilenley on Thames geboren, erhielt seine erste Erziehung in Frankreich, wurde nachher in Eton auf die Universität vorgebildet, studirte in Oxford und veiliess die Universität, ohne promovirt zu haben. Er ver- öffentlichte zuerst im Jahre 1861 zwei Dramen: „The Queen Mother" und „Rosamond", die nur eine kühle Aufnahme fanden, während seine nächste, im streng classischen Stile gehaltene Tragödie „Atalanta in Calydon", 1865, sowie das in demselben Jahre erschienene, im Stile des Elisabethanischen Zeitalters verfasste Drama: „Chastelard" allgemeinen Beifall fanden und ihn den ersten lebenden Dichtern anreihten. Im folgenden Jahre veröffentlichte er „Poems and Ballads", welche wegen ihrer Indeceuz so heftigem Tadel begegneten, dass der Verleger sie, ob mit Zustimmung des Verfassers, weiss ich nicht, wieder aus dem Buchhandel zurückzog. Jedenfalls suchte Swinburne sich zu rechtfertigen und antwortete seinen Angreifern in „Notes on Poems and Reviews", London 1866. Von beiden Bänden erschienen Ausgaben in New- York, die Gedichte unter dem veränderten Titel: „Laus Veneris and other Poems and Ballads" und die Autwort unter gleichem Titel wie die Londoner. Unterstützt wurde er in seiner A'ertheidigung vom Kritiker AV. M. Kossetti in dessen Schrift : „Poems and Ballads, a Criticism", London 1866. Im Jahre 1867 veröffentlichte Swinburne seinen „Song of Italy" und „William Blake, a Critical Essay"; im Jahre 1868 „Siena, a poem".

Von Tennyson kann man sicherlich, wie von wenigen englischen Dich- tern sagen, er habe nie eine Zeile geschrieben , die er sterbend könnte ge- strichen wünschen; er vertrat in seinen Dichtungen so recht die Keuschheit und Sitlenreinheit, welche am englischen Hofe seit dem Regierungsantritt der jetzigen Königin und während ihres musterhaften ehelichen Lebens mit ihrem verstorbenen Gemahl, selbst ein Muster aller Tugenden, wie ihn Tennyson so schön und treffend geschildert, geherrscht hat. Diese Sitten- reinheit war denn auch im Ganzen tonangebend für die englische Gesellschaft und das englische Familienleben, und wirkte auf diese ebenso ein, und hatte einen ebenso günstigen Einfluss auf ilie Literatur der Zeit, wie z. B. die Verderbtheit und Sittcnlosigkeit eines CarFs If. auf die unter seiner Regie- rung. Es scheint aber, wie die Geschichte der Literatur aller Länder dar- thut, auch in ihr, wie in der Politik, Philosophie etc., das Reactionsgesetz sich geltend zu maclu-n, nach welchem die Extreme nach irgend einer Rich- tung hin, nach einem gewissen Zeiträume in ihren Gegensatz umschlagen. Swinburne folgte auf Tennyson und Browning, wie Heine und das junge

Mlscellon. 109

Deutschland auf die Romantiker, und unternahm es, „das Fleisch zu rehabi- litiren" , in anderen Worten , (l;is Sinnliche wieder zur GeltuMf; zu bringen, nachdem es bei Jenen in den Hintergrund getreten war. In seinen „Notes on Poems and lleviews" sagt er also: „In einem Dinge scheint es, habe ich mich geirrt: ith habe vergessen, meinem Werke die rechtzeitige Warnung eines grossen Dichters und Humoristen vorzusetzen:

,.J'en previens les meres des familles, Ce quo. j'ecris n'est pas pour les petites filies Dont on coupe le pain en tartines; mes vers Sont des vers de jeune homme."

„Ich habe den Beweis übersehen, den jeder Tag klar macht, dass unsere Zeit nur Raum für diejenigen hat, die sich damit begnügen, für Kinder und Mädchen zu schreiben. Glücklicherweise braucht man nicht zu fürchten, dass der Bedarf an Milch für die kleinen Kinder noch eine Zeit lang nicht werde gedeckt werden. Es giebt nämlich moralische Milchmänner genug, die ihre Waare in den Strassen und Nebengassen ausrufen . . . Die Frage, um welche es sich handelt, ist, ob nicht Alles, was in der Kinderstube gelallt oder im Schulzimmer mit Fingern befasst werden kann , deshalb aus der Bibliothek verwiesen werden , ob nicht der häusliche Kreis für alle Männer und Schriftsteller die äussere Grenze und der äusserste Gesichtskreis ihrer Leistungswelt sein soll. Die Literatur, die der Männer würdig sein soll, muss umfassend, freisinnig und aufrichtig sein; und wenn sie sich nicht mit dem vollen Menschenleben und der ganzen Natur der Dinge befassen soll, so wollen wir sie mit den Ruthen und Klappern der Kindheit bei Seite werfen. Auf wie wenige wirklieh grosse Namen ist nicht dieser kleine und von Schmutz bedeckte Stein geschleudert worden! Ein Ruf scheint unvoll- kommen zu sein, dem nicht dieser Tribut ebenfalls gezollt worden ist; ein Juwel fehlt seiner Krone . . . Bei den englischen \'ersmachern ist die idyl- lische Form allein jetzt an der Mode . . . AVir haben gute und schlechte, hässliche und hübsche Idyllen; Idyllen aus der Meierei und der Mühle; aus dem Speisesaal und der Wohnstube des Domprobstes . . . Die idyllische Form eignet sich am besten für Haus- und Schäfer -Dichtung; sie steht natürlich niedriger, als die tragische oder lyrische. Ihre sanften und jung- fräulichen Lippen sind etwas schmal für den Strom und etwas kalt für das Feuer des Gesanges. Sie ist ganz passend als einzige Nahrung der Mäd- chen: aber nicht sehr als einzige Speise von Männern."

Der Kritiker Austin bestreitet nun, dass Swinburne seiner vortreff- lichen Theorie nach gehandelt habe: seine Dichtung sei gewiss nicht zur einzigen, ja nicht einmal zur theilweisen Nahrung für Mädchen geeignet, aber ebenso wenig seien seine Venus und Chastelards, seine Anatoria's und Faustinen, seine Dolores, Sappho's und Hermaphroditus Speise für echte Männer. Er sei nicht nur nicht männlicher als Tennyson, sondern entschieden weniger männlich. Dann habe Tennyson zuweilen ebenso leidenschaftliche Gluth in seine Dichtung gehaucht, so z. B. in Fatima, wie Swinburue in die seinige. Wie Tennyson, der uns fast nur von Frauen singt, was Claribel, Lilian, Isabel, IMariana, Madeline, Adelmine, The Lady of Shalott, Oriana, Fatima, Eleanore, Oenone, The May Queen, The Miller's Daughter, Tlie Gardeners Daughter, Lady Clara Vere de Vere, Maud, The Idylls of the King, zur Genüge beweisen, so besinge Swinburne hauptsächlich die Liebe.

Hören wir jedoch nun eine andere Stimme über diesen Dichter.

Vor einigen Jahren widmete ihm die Westminster Review eine ausführ- liche Besprechung und konnte bei der Gelegenheit nicht umhin, auf Tennyson Bezug nehmend, gleich im Anfang zu constatiren, dass der mächtige Ein- tluss, den dieser auf die Jugend Englands unleugbar ausgeübt habe, bedeu- tend im Abnehmen sei. „Er (der Einfluss) hatte", sagt der Verfasser des Artikels, „vor etwa 20 Jahren den Höhepunkt erreicht, seine Kraft aber liat

HO Miscellen.

sich längst erschöpft und ist einer ruhigen, kritischen Schätzung gewichen. Tennyson's Gedichte liest man, wie sie stets werden gelesen werden, als clasisische Werke; sie werden aber nicht mehr mit Andacht als göttliche Dolmetscher, Freunde, Wahner, Führer und Tröster gepflegt. Seitdem der Laureatus seine besten Werke geschrieben, haben sich die Zustände ver- ändert; es gilt nicht mehr, dieselben Probleme zu lösen, dieselben Ziele zu erreichen, dieselben Hindernisse zu überwinden; und die Zeit verlangt einen neuen Lehrer, bisher ohne Erfolg und selbst mit geringer Hoffnung auf dessen Ankunft."

Man wird hierin eine weitere Bestätigung meiner oben ausgesprochenen Ansicht über diesen Dichter finden. Classisch in der Form, war der Inhalt seiner früheren Dichtungen lehrhaft, war seine Muse: Tendenzpoesie. Als solche konnte sie, eben wie die Lehren seines Meisters Carlyle, nur von vorübei gehendem Einflüsse sein, denn: andere Zeiten, andere Sitten, oder sagen wir hier, andere Bedürfnisse, Anschauungen und Geschmacksrichtungen. Diese Strömungen in dem geistigen Leben eines Volkes gehen indessen nicht auf der Oberfläche vor sich, sondern wie die im Meere, unter derselben, und sind daher nur dem wahrnehmbar, der jenes Leben gründlich erforscht. Der blossen oberflächlichen Beobachtung entgehen sie. Soweit dies Gleich- niss auf die neueste englische Literatur anwendbar ist, hat m. W., mit Ausnahme F. H. Ahn's, in seiner bekannten Sammking englischer Schrift- steller und Dichter, in dem Vorworte zu dem eine Auswahl aus Ten- nvsou's Gedichten enthaltenen Bändchen, Niemand bei uns auf die neueste Strömunc hingewiesen oder ihre neueste Phase geschildert. Man ist eben, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, bei uns bei Byron stehen geblieben, ist kaum noch bei Tennyson angelangt und weiss von der neuesten Entwickelung auf dem Gebiete der Dichtung jenseits des Canals so gut wie g;\r nichts. Die Wissenschaft ist so sehr in den Vordergrund getreten, dass die Dicht- kunst von ihr ganz in den Hintergrund gedrängt worden. Man folgt jener mit grösster Aufmerksamkeit, empfängt von drüben die neue Lehre mit an- dachtsvollem Eifer und verarbeitet sie nach allen Richtungen hin, während man dieser den Rücken gekehrt und sie nicht mehr für der Beachtung werth zu halten scheint. Und doch bleibt die Poesie der höchste Ausdruck des Volks- und Zeitgeistes, und wer ein Volk kennen lernen will, der muss es nicht „bei seiner Arbeit", weder der körperlichen noch der rein wissenschaft- lichen, sondern bei seinen Liedern beobachten, der Volksstimme lauschen. Seitdem man die „N'ölkerstimmen" bei uns zu sammeln begonnen, eröffnete sich die Völkerkunde, die sich jetzt einer so schönen Pflege erfreut. Der ist aber kein echter Dichter, der nicht die Stimme des Volkes ausdrückt, oder doch wenigstens die Gefühle eines Theils derselben, sei es des minder oder höher gebildeten, zum Ausdruck bringt, hnmer und immer wieder wird daher Goethe's Ausspruch wiederholt werden müssen:

„Wer den Dichter will verstehen, Muss in Dichters Lande gehen;"

denn die beiden bedingen sich gegenseitig und der eine verhilft zum Ver- ständniss dos andern.

Der Verfasser des gedachten Artikels, um auf diesen wieder zurück- zukommen, fährt dann fort und sagt, es fehle zwar nicht an echten und un- echten Sängern, doch mangele es ihnen an schöpferischer Knift. Sie ahmen entweder nach oder fallen aus der poetischen Sphäre. Der Ausnahmen gebe es wenige. Browning predige in vortrefflichem Verse (mitunter, muss ich qualilicirend hinzufügen) eine esoterische Philosophie einer kleinen Secte eifriger Schüler; allein weder erreicht er die Zierde der vollkommenen Form und Klarheit (Dunkelheit, dein Name ist Browning! muss ich wieder ein- schaltend ausrufen), noch erstrebt er sie überhaupt. Zwei oder drei andere (Bailcy, Morris, Buchanan und Arnold z.B.) philosophiren ebenfalls unter

Misccllen. m

einem poetischen Gewände. iJie Uebrigen pfeifen nach der Melodie, deren Variationen Tennyson fast erschöpft hat. Was er in einer reizenden Ideinon Allegorie singt, wo es heisst:

Most can raise tlie flowers now, For all have got the seed ; And some are pretty enough, And some are poor indeed, And now again the people Call it but a weed,

das treflie auf den Zustand der heutigen (damaligen) englischen Dichtung zu. „Die Ankunft eines neuen Dichters," heisst es dann, „unter so eigenthiim- liclien Bedingungen, ist Gegenstand des allgemeinen Interesses geworden. Vor etwa vier oder fünf Jaliren wurden die Leser des Spectator (einer Londoner Wochenschrift) von einigen kurzen Gedichten angenehm überrascht, welche, wenn auch nicht durchaus eigenartig, doch gewiss keine Nachahmun- gen von Tennyson und Browning waren. Der Dichter war offenbar unter Einflüssen gebildet worden, die heutzutage nicht sehr gewöhnlich sind. Die leidenschaftsvolle Hyperbel der hebräischen Propheten hatte seiner Diction eine seltene Gluih verliehen. Er hatte tief aus den Quellen des griechischen und römischen Gedankens geschöpft, und wenn irgend eine neuere Kunst- schule ihm eine Richtung gegeben, so waren es sicherlich nieht die glatten idyllischen Sänger unseres 'J'ages, sondern eher die rauheren Romantiker Frankreichs. Diese Gedichte trugen grösstentheils die Unterschrift Algernon Charles Swinburne . . . Doch er.st nach der Veröffentlichung seiner „Atalanta in Calydon" wurde sein Name allgemein bekannt und seine Zukunft Gegen- stand der JVluthmassung. Dass ein neuer, mit keiner der vorhandenen Schulen verbundener Dichter erschienen, war gewiss; dass er die Gabe des Rhythmus und Melodie in Fülle besass, dass er sowohl im schildernden, wie im dramatischen Stil kräftig zu schreiben und dem englischen Leser die Form der classischen Kunst mit unübertroffenem Geschick darzustellen ver- mochte, waren theilweise zugestandene Thatsachen. Die mit den idyllischen Sängern in Einklang gebrachte Kritik indessen war nicht fähig, Swinburne's Poesie in ihrem ganzen Ziel und Zwecke zu fassen. Auch nahm sie Anstoss an der Kühnheit, mit welcher einige der gewichtigsten Fragen des mensch- lichen Lebens und Gedankens behandelt wurden einer Kühnheit, welche zugleich an die unverdauten und gewaltigsten Theile von Shelley's „Queen Mab" erinnerte.

So geschah es, dass, während „Atalanta" von den Recensenten zwar nicht unfreundlich aufgenonmien wurde, deren VorzÜL'e von den meisten Lesern, über deren Häupter hin diese Dichtung in der That zielte, und deren Phantasie nur an dürftigere geistige Kost gewöhnt, sie auf eine unangenehme Weise anstrengte, nur schwach anerkannt wurden."

Von dieser Tragödie heisst es an einer späteren Stelle, die ich der Ordnung halber gleich hier folgen lassen will, sie sei entschieden die grösste neuere Reproduction der griechischen. „Der Dialog und die lyrischen Theile sind gleich vortreffliche Wiedergaben des athenischen Dramas; die Diction ist vollkommen griechisch, und die llauptidee ist der unwiderstehliche Fort- scihritt jenes unerbittlichen, unvermeidlichen Schicksals, welches wir vielleicht nicht gehörig zu fassen vermögen, das aber den Reiz und die zauberhafte Macht der traurigen Sagen vom Oedipus und den Atriden bildet. Freilich haben wir hier ein tieferes Eindringen in menschliche Beweggründe und Handlungen, als die hellenische Phantasie eingegeben hätte; auch würde ein Grieche keinen so lebhaften Sinn für Natnrschönheit gezeigt haben, als hier überall durch die Handlung des Dramas durchbricht; doch können wir dem Dichter über diese Abweichungen von dem reinen Muster classischer Kunst nicht grollen. Ihm verdanken wir die glänzendsten lyrischen Ergüsse, sowie

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«lle tiefsten Soclenfragen und gelassenen Aeusserungen der heldenmlithigen Verzweillung. Ein minder verzeihlicher Fehler ist das herrschende Düster und die Strenge des Gemäldes, die allerdings nicht gi-iechisch sind ..."

Mit ilinweisuug auf den erhabenen Gesang in der „Antigene" 'Eocog ari- y.azE fiäy^av beginnend, wo Sophokles einen ähnlichen Gegenstand behandelt, wird das folgende Bruchstück als Beweis angeführt, mit welcher Vollständig- keit Swinburne es verstanden, die gi'iechische Denkungsart darzustellen: Was there not evil enough, Mother, and anguish on earth Born with a man at his birth, Wastes under foot, and above

Storm out of heaven and dark Shaken down from the shining thereof,

Wreoks from afar over seas And peril of shallow and firth,

Und tears that spring and increase In the harren places of rairth;

That thou having wings as a dove Being girt with desire for a girth,

That thou must come after these, That (hou must lay on him love?

„Uies," sasit <lcr Recensent, „ist Poesie, die nicht leicht vergelien wird."

Freilich aber widerspricht er sich hier, nachdem er eben gesagt, dass solche düstere Lebensanschauung nicht griechisch sei. Uebrigens liat ja auch Schopenhauer seine pessimistische Anschauung gerade im Sophokles am deutlichsten ausgesprochen gefunden und ihn als Gesinnungsgenossen angeführt. Gleichwohl war Sophokles gewiss ein echter Dichter und somit ein Vertreter echter griechischer Lebensanschauung. Man wird sich daher die Sache wohl so zu erklären haben, dass die pessimistische die eigentliche Grundanschauung bei den Griechen war, dass der Hellenismus aber ihr einen heiteren Anstrich gab, was wohl an der Heiterkeit des griechischen Himmels und der Schönheit der südlichen Natur lag. Haben wir nicht ein Aehnliches in unserer Zeit in Wien erlebt? Nirgends hat man sich mehr und lebhafter für den Pessimismus Schopenhauers und, irre ich nicht, auch Ed. v. Hart- mann's interessirt, als gerade in der österreichischen Hauptstadt, und doch ist man äusserlich dabei so lebenslustig geblieben , wie man es dort stets gewesen. Man kann aber, wie ich das bereits an anderen Stellen erörtert habe, in der Praxis den Optimismus zur Schau tragen, welcher sagt: „Essen und trinken wir (heute) , denn morgen sterben wir" , eine Handlungsweise, welche Schopenhauer mit Unrecht dem Judenthum vorwirft, und in der Theorie pessimistisch denken, wie das ja im zweiten Theile des angeführten Ausspruches angedeutet ist. Ganz abgesehen hiervon aber, ist die Hinwei- sung auf Sophokles gerade bei der angeführten Stelle gar nicht zutreffend, es müsste denn ilas Folgende hei Swinburne einen anderen Ton anschlagen. Denn bei Sophokles lautet der Anfang des Gesanges nach SchöU's Ueber- setzung also:

Gott Eros, All-Sieger im Kampf,

Gott Eros, Freibeuter des Reichsthums, Auf Wangen der zarten Maid hältst

Du heimlicher Weise Nachtwacht,

Schweifst hin durch Meer-Weiten und suchst Ländliche Trift-Hut heim. Und kein Himmlischer weiss Dir zu entgehen. Dir

Im Wandel des Erdentags kein Mensch Und ergriffen rast er!

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was mehr an Schopenliauer's Lehre von der Macht der GeschlechtsHebe, d'C sich zu allen Zeiten nnd unter allen Umständen behauptet und stets obsiegt, als an seinen Pessimismus erinnert , der in obigen Versen von Swinburne einen vo ergreifend schönen poetischen Ausdruck gefunden hat.

„Die „Poems and Ballads", heisst es in dem besagten Artikel, stiessen auf den heftigsten Tadel seitens der Kritik, den man in unserer periodischen Literatur erlebt hat, seitdem unter ähnlichem Vorwande ein nur zu erfolg- reicher Versuch gemacht wurde, den Ruf des verstorbenen Alexander Smith zu vernichten Auch das Geschrei gegen „Poems and Ballads" war eine Zeit lang erfolgreich. Die grossen Leihbibliotheken weigerten sich, Exemplare des Buches zu nehmen; vom Verfasser sprach man überall als vom mauvais sujet zeitgenössischer Literatur. Swinburne's P^rwiderung war in einigen Punkten befriedigend, in allen interessant. Unsere eigene Meinung ist, dass Swinburne dazu an g et h an sei, die Herrschaft über die Phantasie der Nation auszuüben, deren der Laureatus sich einst erfreute, die aber unvermeidlich von ihm gewichen ist. Wir glauben, dass es Swinburne an keiner der Eigenschaften mangle, welche von einem erfordert werden, der einen solchen Platz in den Gedanken der Menschen einzunehmen wünscht, und dass er keine Fehler besitze, welche eingewurzelt wären, oder seinen Gaben verderblich werden könnten. Wir stimmen mit einigen Kritikern überein, dass in seinen bisherigen Hervorbringungen (Atalanta, Chastelard, Poems and Ballads) wenig Spuren von Beschaulichkeit zu finden seien; auch hat sich Swinburne noch nicht sehr in der schildernden Schreibart, sei es in der minutiös genauen Weise eines Wordsworth oder in dem kühneren und vielleicht wirksameren Stil ßyron's versucht."

Sein grösster Mangel aber sei sittlicher Art. Es fehle ihm gänzlich an „Glauben", wobei nicht religiöser Glaube gemeint sei, sondern sittliche Kraft, ein Grundsatz, der dem Leben und der Handlung zu Grunde liege und sie gestalte, sei es der Glaube an die Pflicht, Freiheit oder Tugend. Solcher Glaube habe Rousseau, Goethe, Shelley, Carlyle und Victor Hugo gross gemacht, ebenso wie er Hiob und Ezechiel, Paulus und Johannes von Patmos gross gemacht habe. Der Fluch sittlicher Unvollkommenheit, der auf Byron lastete, sei mit doppeltem Antheil an seiner Leidenschaft und Gewalt auf den Dichter von „Dolores" und „Faustine" gefallen.

„Die , Poems and Ballads' zerfallen übrigens in eigentliche und drama- tisch-lyrische Gedichte, d. h. die letzteren sind wie Browning's ,Dramatis Personae' lyrisch der Form, dramatisch aber ihrem Wesen nach. Unter diesen befinden sich einige der besten Leistungen Swinburne's. In einigen wenigen Zeilen erfahren wir die Geschichte eines Lebens, die Entwickelung eines Charakters, das Ergebniss eines Kampfes, und zwar nicht durch den unmittelbaren Ausdruck des Sängers , sondern gleichsam durch seine Hand- lung. Der Dichter benutzt hierbei vorzugsweise den anapästischen Rhythmus, dessen Ungestüm besonders geeignet ist, die Verschmelzung der objectiven und subjectiven Zustände darzustellen. Welche malerische Form er aber auch anwende, so bekundet er doch stets seine Gabe, mannigfaltige und zarte Musik hervorzubringen. Er macht sich jeden Rhythmus zu eigen und erzwingt von ihm einen besonderen Klang und eine eigenthümliche Melodie, die, wenn man sie einmal erkannt hat, nie verwechselt werden kann, nie in den wohlklingendsten Versen anderer Dichter zu entdecken ist. Und diese Melodie hat nichts Eintöniges. Der Klangvers seines Dramas, der vermischte Chorus der „Atalanta", die ungestüme, schwellende LeidenschaftHchkeit von „Anactoria" (obgleich dieses Gedicht nur in gewöhnlichen heroischen Reim- paaren geschrieben ist), der rasche Erguss des Anapästs in einigen der Balladen, selbst die feinere Schönheit der kürzeren Gedichte, Nachahmungen und Uebertragungen , sie alle sind von demselben lieblichen Gesang durch- drungen. Anders freilich ist es mit der Diction. Ist sie auch hinlänglich

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reich und eigenartig, so hat Swinburne doch augenscheinlich diesem Theil seiner Leistungen nicht die nothwendige limae labor gewidmet. Die Wieder- kehr derselben oder ähnlicher Ausdrücke ist häufig langweilig und zuweilen geradezu beleidigend fürs Ohr."

„Von neueren und zeitgenössischen Schriftstellern und Dichtern haben Walter Savage Landor, den er als den höchsten der zeitgenössischen Namen" bezeichnet, und ganz besonders Victor Hugo, den grössten persönlichen Einfluss auf ihn ausgeübt. Ueberhaupt ist er viel mehr bei den neueren französischen Dichtern, als bei irgend welchen neueren englischen in die Schule gegangen. Vor Allen aber verehrt er, wie bereits gesagt, den eben genannten Franzosen. Ihm widmet er sein Chastelard, als dem ersten der lebenden Dichter, dem ersten Dramatiker seines Zeitalters; dem grössten Verbannten (die Widmung datirt vom Jahre 18G5), und daher dem grössten Manne Frankreichs, und ebenso sein neuestes, grösstes Werk, Bothwell, in einem französischen Sonnette, das ich hier anführen will, um zu zeigen, wie Bedeutendes Swinburne auch im Französischen, in welcher Sprache (der seiner Mutter und seiner Kindheit) er Vieles gedichtet hat, zu leisten vermag.

A Victor Hugo. Comme un fleuve qui donne ä l'ocdan son äme, J'apporte au lieu sacre d'oü le vers tonne et luit Mon drame epique et plein de tumnlte et de flamme, Ou vibre un siecle eteint, flotte un jour qui fuit. Un peuple qui rugit sous les pieds d'une femme Passe, et son souffle emplit d'aube et d'ombre et de bruit Un ciel apre et guerrier qui luit comme une lame Sur l'avenir debout, sur le passe detruit. Au fond des cieux hagards, par l'orage battue, Une figure d'ombre et d'etoiles vetue Pleure et menace et brille en s'evanouissant; Eclair d'amour qui blesse et de haine qui tue, Fleure eclose au sommet du siecle eblouissant, Rose ä tige epineuse et que rougit le sang.

Schon früher hatte er ihm ein Gedicht gewidmet, welches nicht minder schön, ja, nach dem, was mir davon zu Gesicht gekommen, noch schöner als obiges und in der majestätischen Stanze geschrieben ist, welche Milton in seiner „Hymn on the Nativity" angewandt hat. Noch grösseres Lob wird der grossartigen psychologischen Trilogie „Dolores", „The Garden of Pro- serpine" und „Hesperia" gespendet. Doch darf ich mich nicht länger bei den Einzelnheiten der Beurtheilung aufhalten, soll diese Arbeit sich nicht zu sehr ins Weite ausdehnen. Hören wir dagegen jetzt, welcher Ansicht der Verfasser des Artikels in dem Westminster Review über die Stellung ist, die Swinburne zu seinen Vorgängern einnimmt. Bei dem früher ange- führten Austin bildete er einen scharfen Gegensatz zu Tennyson. In gedachtem Artikel heisst es: „Man kann nicht in Frage stellen, dass Swin- burne's Dichtung hauptsächlich das Ergebniss und bisher die höchste Kund- gebung eines starken, stillen, aber sehr fühlbaren Rückschlages gegen die Grundsätze und Praxis der Wordsworth'schen Dichterschule ist. Seit einem Vierteljahrhundert hat diese Schule die englischen Dichter beherrscht; die grössten unserer Dichter sind ihrem Zauber nicht entgangen, und nur die angeborene Kraft ihrer Individualitäten hat sie in allen wichtigen Punkten vor Schädigung bewahrt. Wir wollen keineswegs Wordsworth's eigenes Genie verkleinern, welches In seiner Art unübertroffen war. Seine wärmsten Verehrer aber müssen einräumen, dass sein Einfluss auf die enghsche Dich- tung nicht durchaus wohlthätig war. Es ist sicher, dass die fieberhafte Be- wunderung des Dichters der „Excursion", welche England nach dreissig- oder vierzigjähriger Vernachlässigung ergriff, jedes der besonderen Laster unserer

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zeitgenössischen Dichterwerke genährt hat. Corruptio optimi fit pessima, Die Eigenschaften, welche Wordsworth zu einem grossen Dichter machten, haben alle Dichterlinge veranlasst, Berge und Maulwurfshügel, wenn nicht die Metaphysik zu besingen. Der scheinbare (nicht wirkliche) Mangel an Vollendung in einigen der kleineren Gedichte von Wordsworth hat unseren jüngeren Sängern einen Vorwand zur Rohheit und Nachlässigkeit in ihrer Arbeit gegeben, und von demselben Beispiel haben sie die Theorie her- geleitet, dass nicht heldenmüthiges Leben oder heldenmüthige Handlungen der geeignete Stoff" sei, den die Poesie zu verarbeiten habe, sondern vielmehr Butterbliimchen und kleine Kinder." „Swinburne's Poesie also, welche Ver- wahrung gegen die Engherzigkeit und Sprödigkeit des Tages einlegt, ist ins entgegengesetzte Extrem übergegangen und hat die gewöhnlichsten An- nahmen Lügen gestraft."

Die beiden Stimmen, die wir nun vernommen haben, einigen sich also dahin, dass Swinburne's Dichtung einen entschiedenen Gegensatz zu der vor seinem Auftreten herrschenden Richtung bildet, nur, dass Austin den jetzi- gen, der Verfasser des angeführten Artikels aber den letztverstorbenen Poeta Laureatus dieses Amt bekleidete Wordsworth bekanntlich vor Tennyson als deren Vertreter nennt, was sich im Grunde gleich bleibt, denn ist auch Wordsworth der grössere Dichter von Beiden, so ist doch nicht zu leugnen, dass sein Mantel auf Tennyson gefallen ist und dieser den nämlichen sittlichen Ton bewahrt hat, wie der Dichter der Excursion.

Ganz irrthümlieh also war es , als ein sonst vorzüglicher Kenner der englischen Literatur einst in einem Artikel über die Tennyson'sche Schule Swinburne dieser beizählte. Im Gegentheil bezeichnet sein Auftreten, wie wir gesehen haben, eine ganz entschiedene Wendung, einen Rückschlag, viel- leicht, falls er Schule macht und dauernden Einfluss gewinnt, eine Epoche in der englischen Dichtung. Anhang hat er auch bereits gefunden : wir haben schon von einer „Pre-Raphaelite'S oder auch „Fleshly School" ge- nannt, gehört, und wenn Swinburne deren Heiland ist, so darf Dante Gabriel Rossetti als deren Johannes bezeichnet werden. Diese Bezeichnung ist ihr indessen, wie wohl leicht ersichtlich, nur von Gegnern angeheftet worden. Den wahren Sachverhalt hat Franz HüfTer in seinem , den Poeras by Dante Gabriel Rossetti, Leipzig, Bernhard Tauchnitz 1873, vorangeschickten Me- moire in Folgendem kurz dargestellt.

„Rossetti's Gedichte", sagt er, „müssen daher nicht als der vereinzelte Ausfluss eines vereinzelten begabten Individuums angesehen werden, sondern auch als das Ergebniss einer Bewegung, in welcher viele der hervorragend- sten Männer des heutigen Englands mit unserem Dichter in verschiedenen Zweigen der Literatur und Kunst zusammenwirken. Ich selbst möchte diese Bewegung die Wiedergeburt des mittelalterlichen Gefühls (Re- naissance of mediseval feeling) nennen, entsprechend jener anderen Wieder- geburt antiker Cultur im 15. und 16. Jahrhundert. Da sie indessen bereits einen Namen oder Spitznamen (wenigstens insofern ihre Tendenzen die Malerschulen in England betraf) erhalten hat, und da die Bezeichnung pre- Raphaelite (vor-Raphaersche) Schule fast zum Alltagswort bei uns geworden, so muss ich es wider Willen bei dieser in vielen Hinsichten unpassenden Benennung bewenden lassen. Das gemeinschaftliche Schibboleth der Haupt- vertreter dieser Schule und zugleich der heutigen englischen Kunst, wie Holman Hunt, Burne Jones und Madox Brown, dürfte eine starke Oppo- sition gegen die glatte conventioneile Behandlung der Natur und der mensch- lischen Gestalt genannt werden, wie wir sie bei den späteren Cinquecentisten finden. Die meisten dieser Männer sind in hervorragendem Sinne Coloristen und zeigen allerdings in der Behandlung ihrer Farbenwirkungen einige Ab- hängigkeit von den ältesten florentinischen Meistern. Doch gelang es sämmt- lichen Hauptmitgliedern der Schule bald, sich von der „götthchen Schiefe" und „heiligen Ungeschicklichkeit" ihrer früheren Versuche zu befreien, und

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heutzutage von einem Manne, wie z. B. Madox Brown, mit seiner bewunderns- wcrtben Gabe, dramatische Wirkung hervorzubringen und menschliche Lei- denschaft darzustellen, als einen vor-RaphaePschen JNIaler par excellence und daher als wahlverwandt mit Fra Angelico zu reden , würde gnnzlich wider- sinnig sein. Rossetti war einer der Gründer und Führer der vor-Raphael'- schen Bewegung während ihres ephemeren Daseins als Malerschule; auch bildet er das Bindeglied zwischen ihr und der Dichtergruppe, deren Streben mehr oder minder vom Geiste der wiedergeborenen Mittelalterlichkeit erfüllt war. Die Namen der zwei Dichter, Morris und Swinburne, welche nebst Rossetti selbst das vertretende Dreigestirn der Bewegung bilden, smd viel- leicht jenseits des Canals nicht so bekannt, wie sie es verdienen. Hier in England bilden sie den Kern einer starken Partei von Gesinnungsgenossen, welche täglich an Zahl und Bedeutung zunimmt."

Für die Besprechung solcher Vorgänge im stammverwandten England hatte ehedem vor 1866 meine ich unsere Presse, wie die Augsburger „Allgemeine Zeitung", die „Grenzboten", welche letztere besonders unter Julian Schmidt's Redaction der Entwicklung der neuesten englischen Lite- ratur mit Aufmerksamkeit folgte, Raum in ihren Spalten zu entbehren. Aber heute? Das erstgenannte Blatt hat seit etwa zwei Jahren die früheren, wenn auch nur spärlichen und seltenen Besprechungen neuer fremder litera- rischer Erscheinungen wie es scheint ganz eingestellt, in die letztere Zeit- schrift verirrt sich nur dann und wann ein sporadischer Artikel über solche. Der jüngst dort erschienene über Charles Wolfe's berühmtes Gedicht „The Burial of Sir John Moore" gehört der älteren Zeit an und ist bei aller Liebe und Gründlichkeit, mit welcher der Gegenstand behandelt worden, doch nicht erschöpfend in seiner Untersuchung. Die „Preussischen Jahr- bücher" brachten jüngst einen (ersten) Artikel über die englichen Drama- tiker (Marlowe führt den Reigen derselben, es scheint also nur auf die älteren abgesehen zu sein) aus der Feder des sonst so tüchtigen Literatur- historikers Charles Grant, dessen The Last Hundred Years of English Literature ich sehr schätze. Jener Artikel aber ist so schlecht übersetzt, dass er für mich ganz ungeniessbar war. Die Wörter sind deutsch, lassen aber, wie ein Palimpsest, auf dem sich zwei Schriftarten befinden, das Eng- lische überall durchblicken. Der Satzbau, die Ausdrucksweise, der ganze Gedankengang ist englisch , und das stört denn doch , wenn man glaubt, einen deutschen Artikel zu lesen. Doch zur Saclie.

Zunächst einige Worte über Chastelard. Mit diesem Drama eröffnete Swinburne seine beabsichtigte Trilogie, deren Heldin oder doch Hauptfigur Maria Stuart ist. Schon diese Wahl ist bezeichnend und rechtfertigt gewis- sermassen Austin's Behauptung, dass auch Swinburne's Muse eine „weib- liche" sei und unter dem weiblichen Einflüsse unserer Zeit stehe; eine Be- hauptung, die er freilich auf die Behandlung oder die Charakterschilderung des Titelhelden stützt, indem er mit Recht das weibliche oder besser weibische Element zu tadeln findet. Bei der Richtung der Schule, zu welcher Swin- burne gehört, dürfen wir uns indessen nicht wundern, dass er gerade eine solche Wahl getroffen. Er wollte die Gluth einer verzehrenden, sinnlichen Liebe darstellen, wie die schottische Königin geschaffen war sie einzuflössen, und so bot sich ihm einer ihrer früheren Liebhaber Chastelard als geeigneter Vorwurf dar.

Er soll bei der Behandlung seines Stoffes diesmal den Elisabethanischen Mustern nachgeeifert haben. „Aeschylus", heisst es in dem bereits mehrfach angeführten Artikel der Westminster Review, „zerstört für Swinburne nicht die Herrschaft Shakespeare's. Mit unparteiischem Eclecticismus, der oft vorgegeben, aber selten ausgeübt wird, adoptirt er die besten Versuche der classischen und romantischen Schule und nimmt sie in sich auf. Die Cha- raktere in Chastelard weichen von denen der meisten neueren Dramatiker bedeutend ab. Mögen wir Swinburne's Maria Stuart als historisch richtig

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annehmen oder verwerfen, wir können niclit leugnen, dass sie ethisch wahr ist. Man vergleiche sie mit irgend einem anderen Bilde des Weibes, welchem die Geschielite oder Dichtung Umlauf gegeben - mit Sehiller's oder selbst Scott's, und es wird wie die lebende ^^'irklichkeit neben dem schöneren, aber falschen Ideal erscheinen. Niemand kann die leidenschaftliche Wahrheit von Maria's, oder Chastelard's, oder Mary Beaton's Charakter leugnen. Und wenn die Charaktere lebensgetreu sind und die Leidenschaft harmonisch dargestellt ist, so steht es noch fester, dass der Gang der Handlung und die strenge Grossartigkeit der Katastrophe vortrefflich erfunden und ausgeführt ist. Wir wissen nicht, wo wir in dem Bereiche der zeitgenössischen Literatur eine Reihe von Scenen suchen sollten, die majestätischer, intensiver in schmerz- lichem Interesse wären, als der fünfte Aufzug dieses Stückes."

„Ohuc blind gegen seine sittlichen und künstlerischen Mängel zu sein, wird ein unparteiischer Beurtheiler dennoch einräumen müssen, dass „Chastel- ard" höhere dramatische Kraft bekundet, als irgend etwas, das in eng- lischer Sprache geschrieben worden, seitdem der Genius Shelley's in den „Cenci" seinen Höhepunkt erreichte. Jede Seite, fast jede Zeile, zeugt von einem sorgfaltigen Studium der Elisabethanischen Dramatiker, obschon nichts der Nachahmung sich auch nur annähernderes versucht worden und die strengen Regeln der classischen Kunst die Ueppigkeit des Dichters zügeln. Der P^influss Shakespeare' s kann besonders in den Auftritten zwischen Chastel- ard und Maria im königlichen Schlafzimmer und im Gefängniss bemerkt werden.

„Die Beschuldigung der ,leidenschaftlichen Sinnlichkeit", die man gegen das Stück vorgebracht, können wir auf sich beruhen lassen. Die Leiden- schaft der Liebe, wie sie in einer feurigen Natur bis zur Höhe des Wahn- sinns sich steigert, liegt der Handlung zu Grunde, und wenn ein solcher Gegenstand überhaupt dramatisch behandelt werden soll (welche Frage für einen Engländer, dessen Kenntniss seiner Literatur doch wohl Bekanntschaft mit , Romeo und Julie' in sich schliesst!), so wissen wir nicht, wie er mass- voller und keuscher dargestellt werden könne, als in Swinburne's Werk. Das Ungestüme der Leidenschaft mag Einige in Schrecken versetzen und abstossen; die Reinheit der Sprache aber, in welcher sie ausgedrückt ist, muss die Bewunderung Aller herausfordern "

Soweit die Westminster Review, die, ich niuss es offen heraussagen , so ungern ich auch falsche Motive unterschiebe, nur zu sehr Partei zu sein scheint. Das Urtheil hat zu viel Voreingenommenheit in sich, als dass es für ein unbefangenes gelten könnte. Das Lob ist, mindestens gesagt, zu überschwenglich; der Tadel nur zum Schein mit eingeschaltet, zu leise an- gedeutet; ja, nur angedeutet, um widerlegt zu werden. Was mich noch misstrauisclier macht und mir das Urtheil als nicht unbefangen verdächtigt, ist, dass die nämliche Zeitschrift auch von Swinburne's neuester Schöpfung so entzückt ist, dass sie es war, welche, wie bereits oben erwähnt, seinen Bothwell als Shakespeare nahe kommend rühmte. Meiner Ansicht nach heisst Chastelard und Romeo in einem Athem nennen, eine Entweihung des Namens Shakespeare'«. Es ist dies freilich nicht von dem Recensenten geschehen; doch wenn auch nicht in klaren Worten, so ist es doch ange- deutet; denn wenn „die leidenschaftliche Liebe, die in einer feurigen Natur bis zur Höhe des Wahnsinns sich steigert", nicht in Romeo, dem „hohen Lied der Liebe", in der unübertrefflichsten und unübertroffensten Weise geschildert ist, so ist sie es nirgends worden. Cha^^^telard verhält sich zum Romeo etwa wie der Gesang des Kanarienvogels zu dem der Nachtigall, und man weiss, dass jener, neben diese gehangen, zwar ihre Töne nachahmen lernt, den Schlag und Umfang, die Gluth und Fülle derselben aber nie erreicht. Nur häufiger und anhaltender singt er, als die Nachtigall, was natürlich zur eintönigen Wiederholung wird.

Von einer anderen Stelle sagt Austin: „Hier ist nichts Classisches und

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ebenso wenig Männliches. Es ist aber eine vortreffliche Probe einer von Swinburne's zwei individuellen Manieren und ist so durchaus modern und so vollständig weiblich von der „einen Schritt weiteren" Stufe wie irgend etwas es nur sein kann. Es ist wesentlich das Erzeugniss desselben Zeitalters, welches uns Michelet's „L'Amour" und „La Femme" und, um kleine Dinge mit grossen zu paaren, die immerwäbrenden und ermüdenden Artikel in der Saturday Review über Frauen, und zwar die bedeutendsten derselben, von einer Frau geschrieben, gegeben hat. Zwar ist es CLastelard, der Obiges spricht, also ein Mann ein Mann! . . Es ist aber durch und durch weibisch . . kurz, es ist Schneiderismus in Blankvers herumspringend. Dieser Blankvers ist, beiläufig gesagt, unübertrefflich; er ist fliessend, glatt, rein und melodisch."

Swinburne ist hierin nicht bloss ein Nachahmer der Elisabethanischen Dramatiker, so dass seine Diction etwas Antiquirtes an sich hat, sondern scheint er sich auch besonders zu bemühen, sich lediglich des germanischen, zum fast gänzlichen Ausschluss des remanischen Elements der englischen Sprache zu bedienen. Abermals ein auffallender Widerspruch gerade in dem, wie wir oben erwähnt haben, an französischen Mustern herangebildeten Dichter. Schon die wenigen angeführten Stellen aus dem Drama können als Belege dienen; es finden sich aber ganze Seiten im Buche, wie 72, 73, 78, 96, 97 u. s. w. (mir liegt die Ausgabe von 1868, London, John Camden Hotten vor), ohne einen einzigen normannischen oder romanischen Ausdruck. Dieses Streben, das germanische Element mehr hervortreten zu lassen, ist zwar ganz lobenswerth, und die besten Dichter, von Tennyson aufwärts bis Shakespeare, bei welchem Letzteren 68 unter 81 Wörtern germanischen Ur- sprungs sind (in der Bibelübersetzung sogar 125 unter 130 Wörtern haben sich dessen befleissigt; bei Swinburne aber, in CLastelard wenigstens, macht sich dieses Streben denn doch zu bemerkbar, und wird die Sprache , bei den massenhaften einsilbigen Wörtern des germanischen Elements des Englischen, schliesslich eintönig. Noch mehr: es tritt dieses Streben so zudringlich hervor, dass man nur mit Mühe den Sinn dessen, was man liest, in sich aufzunehmen vermag; die Aeusserlichkeit zieht die Aufmerksamkeit auf sich und lenkt sie vom Inhalt ab. Das ist ein Fehltr, der wohl beson- ders gerügt zu werden verdient. Dieser einförmigen Diction ist es wohl auch zuzuschreiben, dass Swinburne dunkel ist. Dass er es nicht bloss mir ist, dass das Dunkel, wie man mit biUigem, Lichtenberg entnommeneu Witz mir vielleicht entgegen halten dürfte, sich nicht bloss in meinem Kopfe be- findet, dafür sei, unter vielen, ein Beweis aus dem bereits angeführten Keader gebracht.

„Ob wir überall", heisst es dort, „glücklich genug gewesen sind, den Dichter vollständig zu begreifen und seine Aeusserungeu genügend zu wür- digen, können wir nicht wagen zu behaupten; denn seine Dunkelheit ist stellenweise ziemlich dicht. Der Geist wird zu sehr durch die Bemühung angestrengt, die Feinheit jedes Gleichnisses zu erfassen und in die innerste Bedeutung seiner Analogien zu dringen." Diese Dunkelheit liegt aber meiner Ansicht nach eben nur in dtr Ausdrucksweise; was klar ausgedrückt worden, kann auch, wie weit hergeholt auch die Gleichnisse sein mögen, immerhin leicht verstanden werden.

Was die Charakterzeichnung betrifft, so ist sie lobenswerth und zeugt für Swinburne's dramatische Begabung. Maria's Coquetterie, Grausamkeit, Sinnenlust, Stolz, Selbst- und Eifersucht werden uns lebhaft vor Augen geführt; dabei fehlt es nicht an einem Anstrich von Schwermuth, der, wie der Schatten ihres künftigen Schicksals, auf sie fällt und eine Vorahnung von diesem giebt. Die Schiller'sche Maria Stuart erkennt man nur in der Liebe wieder, welche ihre Schönheit einzuflössen nicht verfehlt, und in ihrer eigenen Liebe zu Frankreich. Wer erinnerte sich nicht bei folgender Stelle:

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„One grows nnidi oldcr northwards, my fair lord; I wonder men die south; mescems all France Sniells swect witb living, and bright breath of days That ketp men far from dying;"

an Schiller's: „Eilende Wolken! Segler der Lüfte!" wo sich ihre Sehnsucht nach Frankreich, ihrem Jugendlande, so innig ausdrückt. Chastelard ist, wenn auch eine unmännliche Gestalt, doch durchaus richtig und consequent gezeichnet, und Mary Beaton, welche diesen unglücklich liebt und die ein- zige gefällige Gestalt im Drama ist, wird mit wenigen Strichen in gelungener Weise geschildert. Am schärfsten aber tritt der Wankelmuth und die Launen- haftigkeit der schottischen Königin hervor, die sich darin gefallt, einen nach dem andern, den sie bestrickt und an sich gefesselt hat, wieder von sich zu weisen und ihn seinem Schicksale zu überlassen. Dieses ihr grausames Spiel mit Menschenglück und Menschenleben tritt freilich im Bothwell , zu welchem ich gleich übergehen werde, noch greller an den Tag; doch zeigt es sich auch schon hier, in Chastelard, welches, wie oben erwähnt, das ein- leitende Stück zur beabsichtigten Trilogie bildet, deutlich genug und erweckt Schrecken und Mitleid, Schrecken vor dem Abgrund von Unsittlichkeit und Verbrechen, der uns aus dem Charakter der schottischen Königin angähnt, Mitleid für ihre Opfer, die indessen theilweise unsere Verachtung verdienen. Und ihre Liebe? Die einer Lucrezia Borgia, wie dieses verunglimpfte Weib vor Gregorovius' neuestem Werke aufgefasst wurde, oder einer Catharine von Russland unter neueren gekrönten Häuptern, und sollen wir aufs Alter- thum zurückgehen, so muss ich sagen, die der Faustinen, der oder denen Swinburne ja auch ein besonderes Gedicht gewidmet hat. Ueberhaupt scheint sich die satanische Schule oder die der „Rehabilitation des Fleisches", wie ich sie oben bezeichnet habe, besonders darin zu gefallen, solche Charaktere zum Gegenstande ihrer Muse zu wählen, oder um es kurz zu sagen, die Prostituirten zu besingen. Wie Swinburne seine Hymn to Proserpine, Fau- stine, Dolores, Fragoletta, Felise u. s. w. hat, so ist eins der besten Gedichte in Rossetti's Poem's das „Jenny" betitelte, welches eine Prostituirte besingt. Ich will damit nicht die Anklage gegen die Schule erbeben, dass sie etwa die Unzucht feiere; dass diese aber in concreten Gestalten so oft ihren Vorwurf bildet, das liegt klar zu Tage. Das Wort harlot begegnet uns fortwährend in Chastelard und Bothwell, und als harlot ist die schottische Königin dargestellt. Das mag historisch treuer sein, als das Idealbild, wel- ches Schiller sich von ihr entworfen und uns vorgeführt hat, ob aber dich- terisch schöner und erhebender, ist eine andere Frage.

Gehen wir nun zu Bothwell über. Sei es nur gleich bemerkt, dass es des Dichters eigene Schuld ist, wenn die Kritik ihm nicht gerecht werden kann : er hat sie durch die aussergewöhnliche Länge des Stückes es er- streckt sich in der mir vorliegenden Ausgabe (London, Chatto and Windus, 1874) auf nicht minder als 532 Seiten. Wer hat heutzutage die nöthige Zeit, um ein Dichterwerk von diesem Umfang mit Müsse und der ihm ge- bührenden Aufmerksamkeit zu lesen? Sicherlich nicht der, welcher ums tägliche Brot arbeitet. Wie ich bereits Eingangs dieses Artikels bemerkt habe, und wie ja Jeder, den das Glück nicht so begünstigt hat, dass er einer unabhängigen Stellung und eines otii cum dignitate sich erfreut, gewiss an sich selbst erfährt, ist der Kampf ums Dasein jetzt so erschwert, dass er fast die ganze Zeit und Kraft jedes Einzelnen in Anspruch nimmt. Diese jetzt allgemein herrschende Theuerung, die durch Speculation bis zum Un- erschwinglichen hinaufgetriebenen Schwindelpreise aller Lebensbedürfnisse, haben noch eine ganz andere und bedenklichere Seite, als die der Entbeh- rungen, die sie den sämmtlichen Unbemittelten auferlegen. Was solche Entbehrungen bei schwächlicher Gesundheit, zumal aber für Kinder und Kranke bedeuten, weiss wohl Jeder zu ermessen. Dieser aufreibende Kampi

120 Miscellen.

UDis tägliche Brot droht aber ausserdem die ganze Cultur zu gefährden. •Man täusche sich ja hierüber nicht. Die Folgen solcher unnatürlichen Zu- stünde wie die, in welchen wir seit einigen Jahren leben, bleiben ebensowenig aus, wie die der französischen Zustände vor 1789 ausgeblieben sind: sie müssen sich mit der eisernen Nothwendigkeit der Thatsachen, welche mau gewöhnlich als die „Nemesis" bezeichnet, einstellen. Die erste Bedingung aller Cultur aber ist, wie längst bekannt und selbstverständlich, die materielle Grundlage , die Befreiung vom Kampfe mit den Elementen oder den Natur- kräften, die allgemeine oder wenigstens theilweise Wohlhabenheit und die Sorgenfreiheit der Wenigen. Gewiss hat Herr v. Treitschke (sonst nicht ein Mann, mit dem ich mich befreunden kann) ein wahres Wort gesprochen, als er ohnlängst seine Artikel gegen die Socialdemokraten damit schloss, dass er ihnen sagte, es werden die Millionen immer arbeiten müssen (ich erinnere mich des Wortlautes nicht mehr), damit die Wenigen denken und dichten können. Die Zahl dieser Wenigen muss sich aber unter den jetzigen unnatürlichen Zuständen täglich vermindern, und die früher oder später ein- tretende Folge dieser letzteren muss ein unausbleiblicher Rückfall in die Barbarei sein. Der im englischen Sprichwort: „When Adam delved and Eva span, who was then the Gentleman" angedeutete Zustand wird dann wieder- kehren; es werden die Männer wieder graben und die Frauen wieder spinnen müssen, und Niemand wird diejenige Müsse geniessen, welche die Muse, sei es der Wissenschaft oder der Kunst, erheischt. Statt \'orlesungen von zweifelhafter Wirkung für das grosse Publicum und zur Fortbildung für das weibliche Geschlecht zu veranstalten, sorget doch ihr Männer und Frauen, die Ihr so gestellt seid, dass der grosse Kampf es euch noch ermöglicht, lieber dafür, solchen Zwecken eure Kräfte zu widmen, sorget vorerst dafür, dass natürliche Zustände wieder zurückkehren und den Schwindelpreiseu für Lebensmittel, wie den allzu hohen Arbeiterlöhnen endlich ein Ziel und eine Schranke gesetzt werde ! Caveant Consules etc.

Kehren wir jedoch zu unserem Gegenstande zurück. Swinburne's Both- well ist also zunächst ein nur für die Wenigen bestimmtes Werk, oder doch eines, welches nur den Wenigen zu bewältigen möglich ist. Dann aber ist es eben seiner Länge wegen durchaus nicht zur Aufführung geeignet, ist also blos ein Lesedrama, und als solches eben ein Unding, da es keiner der anerkannten oder hergebrachten Gattungen der Dichtung angereiht werden kann. Was die Sache aber noch ausserdem verschlimmert, ist, dass auch die Reden der handelnden Personen oft von solcher Länge sind, dass sie als Monologe angesehen werden können, und eine nur selten unterbrochene Reihenfolge von Monologen zu lesen, ist so ermüdend, dass man den Faden ganz verliert und jede Scene wiederholt lesen muss, um dem Gange der Handlung folgen zu können. Hierzu kommt noch, dass die Aufzüge, wie schon in Chastelard, Namensüberschriften tragen, wovon man den Zweck nicht absehen kann, und was ebenso ungewöhnlich ist, wie es störend wirkt. So ist der erste Act: „David Rizzio", der zweite aber „Bothwell" u. s. w. betitelt. Wie sonderbar, da ja das der Titel der ganzen Tragödie ist. Doch dies wäre Nebensache, wenn nicht die eben gerügte, Livius'sche Ubertas möchte ich sie nennen, unserem Dichter eigen wäre und er nicht durch die allzu grosse Fülle von Worten und Bildern dunkel würde und ermüdete. Wo dies die Wirkung eines Kunstwerkes ist, da ist von vorn- herein ein wahrer Kunstgenuss ausgeschlossen, und ist es, wie bereits gesagt, schwer, dem Dichter gerecht zu werden und ihn richtig zu würdigen. Es fehlt hier das schöne Maass der Griechen, und dieser Maugel muss stets zu einer gewissen Verwilderung führen, von der die Elisabethanischen Drama- tiker, Shakespeare selbst nicht ausgenommen, nicht ganz freizusprechen sind. Ich spreche da ein dreistes Wort gelassen aus, scheue mich aber nicht, es stehen zu lassen. Nicht ganz grundlos konnte ein Voltaire den grossen Dichter einen Wilden nennen: er konnte aber nur dem damals in Frankreich

Miscellen 121

herrschenden Chissicismus gegenüber die bei Shukespeaic nicht hinweg- zuleiignende Ueppigkeit an Charakteren, Sprache und Bildern meinen, die man bei den Romantikern antrill't. Stände er (Voltaire) heute auf und läse Victor llugo's Schöpfungen, die dramatischen, wie die epischen, womit ich natürlich seine Romane bezeichne, er würde sicherlich auch ihn einen Wilden nennen. Und Svvinburne ist ja, wie wir gesehen haben, der Jünger und Verehrer N'ictor Hugo's, der ihm als der grösste Dichter gilt. Dass der an den Brüsten echter Classicität genährte Dichter der „Atalanta in Calydon" sich so von seinen früheren Mustern ab- und den Romantikern zugewendet hat, würde für mich eine auffallende Erscheinung sein, wüsste ich nicht, wie ebenfalls bereits oben erwähnt, dass der Widerspruch der menschlichen Natur eingepflanzt sei und dass ja nach dem bekannten französischen Sprich- worte die äussersteu Gegensätze sich berühren.

In den griechischen Tragödien kommen nun zwar auch lange Reden, wie besonders im Ajax und der Elektra des Sophokles, vor, sie sind aber stets von einer Einfachheit und Durchsichtigkeit, dass man den Inhalt leicht in sich aufnimmt und fasst. Meist sind sie, wie die langen Reden in anderen alten und neueren, ausländischen und deutschen Dramen überhaupt, geschicht- lichen Inhalts, d. h. die Reden erzählen ein Ereigniss, wobei man immer leicht zu folgen vermag. Bei Swinburne aber sind sie zumeist bloss gedank- lichen Inhalts und deshalb schwer zu fassen und ausserordentlich ermüdend. John Knox', des schottischen Reformators, Rede z. B. erstreckt sich einmal auf nicht weniger als dreizehn Seiten! Die Sprache besteht zwar in Both- well nicht aus so vielen einsylbigen Wörtern, wie in Chastelard, hat aber ebenfalls einen alterthümlichen Anstrich, was vom historischen Gesichtspunkte wohl gerechtfertigt sein mag, die Leetüre aber etwas erschwert. Hingegen ist der Blankvers wieder mit einer Meisterschaft gehandhabt, dass er vollen- deter wohl nicht gedacht werden kann. Er schreitet mit Würde und Ma- jestät einher wird aber bei dieser sich inmier gleich bleibenden Majestät ziemlich eintönig. Etwas Abwechselung bringen einige schöne Lieder, die eingelegt sind, und die Gespräche der Bürger, welche den Chor der grie- chischen Tragödie vertreten. Doch auch ihre Sprache ist fast in demselben Tone gehalten, wie die der übrigen auftretenden Personen, deren Zahl übrigens etwas über sechszig beträgt. Darnley's Charakter ist vielleicht am besten geschildert. Die Königin ist wieder dieselbe wie in Chastelard, was freilich nur natürlich ist, da ein Charakter sich nicht ändert: allein ermüdend ist diese ewige Wiederholung eines und des?elben Bildes eines Weibes, wo die Handlung sich um weiter nichts als ihre wandelbare Liebe dreht. Ist das ein Stoß' für eine Trilogie? Swinburne hatte wohl recht, indem er sich gegen die Tennyson'sche Schule und seine Kritiker %vandte und sich ihnen gegenüber damit rechtfertigte, dass die Dichtung nicht bloss für Kinder und Mädchen bestimmt sei, dass sie den ganzen Menschen in ihr Bereich zu ziehen habe und Alles müsse aussprechen dürfen. Wollte man ihr dieses Recht absprechen, so müssten wir Goethe's Faust als unzulässig bezeichnen, ebenso wie gegen Romeo und Julie und natürlich ein ganzes Heer von Dramen, englischer und anderer, mehr als Bedenken erheben, denn in jenen zwei grossen Tragödien haben sich ihre Schöpfer wahrlich nicht gescheut, der sinnlichen Seite der Liebe Ausdruck zu geben und sie unverhohlen zu schildern. Aber eine so unzüchtige Königin, wie sie eben von Swinburne dargestellt wird, sich zur Heldin wählen denn das ist sie ja im Grunde doch heisst nach meinem Dafürhalten ins andere Extrem übergehen und muss den Leser abstossen, statt anzuziehen. Man kann sich bei der Leetüre dieses Stückes eines Bedauerns nicht erwehren , dass so viel Geist und so viel dichterische Kraft an einen so unerquicklichen Gegenstand vergeudet worden: der Dichter reicht uns Sodomsäpfel in goldener Schale; diese ewigen Liebesversicherungen und Betheuerungen im Munde JJaria's sind eine Ent- weihung der reinen, jungfräulichen, keuschen Leidenschaft, die mau sonst

122 Miscellcn.

Liebe nennt und als etwas Hehres und Läuterndes zu betrachten gewöhnt ist. Nur die grössten Dichter, wie eben Shakespeare und Goethe, der eine in Romeo, der andere in Faust, vermögen auch die ausgesprochene sinnliche Liebe so zu verklären, oder doch in solcher Weise darzustellen, dass wir uns dabei immer noch in der höchsten Sphäre der Poesie befinden. In diesen Dichtungen ist auch Uebereinstimmung mit der Schopenhauer'schen Metaphysik der Liebe, es wird uns ihr Urgrund nicht verhehlt; hingegen aber auch das eigentliche Motiv festgehalten.

Swinburne hat also in dieser seiner neuesten grösseren Schöpfung den Reweis geliefert, daps er ein noch langathmigeres Werk, als seine früheren, hervorzubringen im Stande, dass er Tennyson an Macht des Aufschwunges und anhaltender Flugkraft weit überlegen sei und bei mindestens ebenso bedeutender dramatischer Begabung, wie Browning, jedenfalls nicht so dunkel und räthselhaft ist, wie dieser. Da er es aber nicht verstanden oder viel- leicht eigensinnig verschmäht hat, sich weise zu beschränken, und einen wenig ansprechenden Vorwurf sich gewählt und ihn so behandelt hat, dass das daraus hervorgegangene Drama seiner Länge wegen durchaus aicht bühnenfähig ist, so bleibt auch seine neueste Leistung hinter der Vollendung zurück. Diese seine Maria steht übrigens im gänzlichen Missverhältniss zu der uns bekannten und historisch acceptirten. Ausser ihrer wandelbaren Liebe zu ihren verschiedenen Günstlingen wird uns in ihr ein Weib und eine Königin geschildert, die eher an eine Lady Macbeth, an die Bloody Mary oder deren Schwester, der verkörperten Nemesis der schottischen Königin, Elisabeth, erinnert, als an die Maria Stuart der allgemeinen historischen Er- innerung und der Dichtung. Man lese nur beispielsweise ihre letzte Rede in Bothwell und man wird über dieses männliche, entschlossene, blutdürstige Auftreten dieses im Taumel der Sinnlichkeit lebenden Weibes erstaunt sein und befremdet den Kopf schütteln. Aber ebensowenig wird man in dieser und den vielen ähnlichen Reden in diesem Drama die gewaltige Kraft des Dichters zu erkennen verfehlen; man darf auch, um ihm gerecht zu werden, keinen Augenblick vergessen, dass nicht Bewunderung seiner Heldin, sondern unverkennbar der glühendste Flass ihn bei dieser neuen Schöpfung inspirirt hat, dass er ihr Leben und ihre Thaten ganz objectiv und tendenzlos zur Darstellung bringt, denn die Trilogie war lange vor dem seit 1870 ausge- brochenen Kampfe zwischen dem Staate und der katholischen Kirche ent- worfen, und dass man, um ein endgiltiges Urtheil fällen zu können, doch jedenfalls den Schluss dieser Trüogie abwarten muss. Bothwell schliesst mit Maria's Abreise von Schottland, also mit dem Wenilepunkt, der Kata- strophe, denn als solche muss ja ihre Flucht nach England angesehen werden. Dort ereilte sie ihr Schicksal, und der wichtigste Abschnitt ihres Lebens, Ihre Gefangenschaft in Holyrood un 1 liu" trauriges Ende, stehen noch bevor. Hier wird sich erst die ganze Kraft des Dichters zu bewähren haben, wie Schiller's in Wallenstein's Tod. Einstweilen kann ich nur das Urtheil der Saturday Review unterschreiben und mit dem Aussprucli schliessen, dass, hätte Swinburne sich mehr beschränkt, er zwar ein gewaltiges und lebens- volles Drama geliefert haben würde, da.ss es aber auch in diesem Falle Immer noch hinter den höchsten Anforderungen an eine Dichtung zurück- geblieben wäre, Dr. David Asher.

Bibliographischer Anzeiger.

Allgemeines.

G. Groeber, Zeitschritt f. romanisclie Philologie. I. Bd. 4 Hefte. (Halle, Lippeit.) 15 Mk.

Englische Studien, hrsg. v. E. Kölbing. I. Bd. 2. Heft. (Heilbronn, Hen- ninger.) 5 Mk. 50 Pf.

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Lexicographie.

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J. '1. V/. Grimm, Deutsches Wörterbuch. 4. Bd. 1. Abth. 9. Lfrg. bearb.

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1 Livr. (Paris, Maisonncuve ) 5 fr. 60 ct.

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zegger.) (Halle, Waisenhaus) 7 Mk. 50 Pf.

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Grammatik.

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p. Älelchior Barthes. (Saint-Pons, Herault.) 3 fr. 50 ct.

A. Arnavielle, Lous Cants de l'Aubo, poesies languedociennes, avec trac^ fr.

(Avignon, Roumanille.) 4 fr.

Li B ou rgadieiro, Poesies patoises (dialecte de Nimes) par A. Bigot.

(Avignon, Roumanille.) M. Bourrelly, Les fables de Lafontaine en vers proven(,-aux. (Avignon,

Rouu)anilIe.) 11 fr.

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Chauce.r's Tale of the Man of Lawe. Ed. by W. Skeat. (London, Simpkin

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The Leopold Shakespeare, with an Introduction by F. J. Furnivall. lllu-

strated. (London, Cassell.) 10 s. 6 d.

M. Landau, Giovanni Boccaccio, sein Leben und seine Werke. (Stuttgart,

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Calderon de la Barca, Don Pedro, el mägico prodigioso; comedia famosa,

publice d'apres le manuscrit original de la bibliotheque du (lue d'Osuna.

Introduction, variantes, notes etc. par Morel-Fatio. (Heilbronn, Hen- ninger.) 9 Mk.

Bibliographischer Anzeiger. 125

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C. Hoffmann, Schulbucli der neuhochdeutschen Sprachlehre. (Stuttgart,

Steinkopf.) ] Mk. (!0 Pf.

W. Wilmanns, Deutsche Grammatik f. d. Unter- und Mittelklassen

höherer Lehranstalten. (Berlin, Wiegandt, Hempel & Parey.) 2 Mk. T. Beyttenmiller, Deutsche Sprach- und Stillehre. (Stuttgart, Levy &

Müller.) 2 Mk. 40 Pf.

P. Strzemcha, Geschichte der deutschen Literatur. (Brunn, Knauthe.)

1 Älk. GO Pf. A. Wittstock, Französische Sprachlehre f. d. formalbildenden Unterricht.

1. Stufe. (Leipzig, Klinkhardt.) 60 Pf.

F. von Witting hausen, Elementarbuch der franz. Sprache. (Wien,

Holder.) _ 1 Mk. 70 Pf.

K. Frosch, Uebungsbuch z. Uebersetzen aus d. Deutschen ins Französische. (Liegnitz, Kaulfuss.) , 3 Mk.

J. Schnatter, Cours de versification fran^aise. H. Edition. (Berlin, Schröder.) 1 Mk.

Boileau, Epitres. Für obere Klassen hrsg. v. F. Thiimen. (Berlin, Weid- mann.) 75 Pf.

J. Wes tenho effer, Cours complet et gradue de lectures frangaises en 3 parties. I. Partie. (Strassburg, Schultz & Co.) 1 Mk. 20 Pf.

Louis XL von C. Delavigne, mit Erlnnterungen von K. Graeser. (Berlin, Weidmann.) 1 Mk. 20 Pf.

La petite Fadette von G. Sand hrsg. v. C. Sachs. (Berlin, Weidmann.)

1 Mk. 20 Pf.

Le bourgeols gentilhomme von Moliere hrsg. von K. Brunnemann. (Berlin, Weidmann.) 1 Mk. 20 Pf.

Moliere, Le bourgeois gentilhomme. Text m. Erklärungen v. A. Korell. (Leipzig, Teubner.) ^ 1 Mk.

M. Maass, Abrege de l'histoire de Prusse. II. Edition. (Berlin, Kobligk.)

1 Mk. 40 Pf,

H. Löwe, Deutsch-englische Phraseologie in systematischer Ordnung. (Ber- lin, Langenscheidt.) 2 Mk.

J. B. Whyte, German reading book. (Heidelberg, Groos.) 1 Mk. 80 Pf.

Gulliver's Travels, bearbeitet f. d. Schulgebrauch von E. Schüdde. (Berlin. Weidmann.) 1 Mk. 50 Pf.

G. Buona Ventura u. A. Schmidt. Italienische Unterrichtsbriefe. 1. 7.

Lieferung. (Leipzig, Hildebrandt.) ä 60 Pf.

Deutsch-dänischer Dolmetscher. (Leipzig, Schmidt & Günther.) 1 Mk. 25 Pf. Teatro e.spaiiol moderno, p. F. Boocli-Arkossy. Fasel. (Leipzig, Hirt.) 50 Pf. G. Schneider, Grammaire allemande sur un plan methodique et pratique.

(Frankfurt a. M., Sauerländer.) 3 Mk.

Verzeichiiiss der Vorlesungen

an der Berliner Akademie für moderne Philologie. Wintersemester 1877.

Die Encyclopädie der modernen Pliilologie wird am Donnerstag und

Sonnabend von 5 6 Uhr vortragen Prof. Dr. Herr ig. Altenglische Uebungen nach Wülcker's altenglischem Lesebuche. I.

12.50 1350. Dienstag und Freitag von 5 6 Uhr. Dr. Zer-

nial. Hamlet, von Shakespeare. Montag und Donnerstag von 2—4 Uhr.

Prof. Dr. Leo. Shakespeare und Baco, von Verulam. Mittwoch und Sonnabend von

3—4 Uhr. Prof. Dr. Leo. Lovell the Widower von Thackeray wird am Mittwoch und Sonnabend

von 6—7 Uhr erklären Prof. Dr. Hoppe. Charles Dickens from 1837—47. Mittwoch und Freitag von 6—7 Uhr.

Prof. G. Boyle. Englische Grammatik. Syntax des Nomens. Sonnabend von 3 5 Uhr.

Director Dr. Immanuel Schmidt. Exercises in English style. Montag von 5 6 Uhr. Mr. W. Wright, Uebungen in freien englischen Vorträgen. Mittwoch von 5 6 Uhr.

Mr. W. Wright. Chanson de Roland (nach der Ausgabe von Th. Müller, Göttingen

1863). Mittwoch von 3 5 Uhr. Dr. Scholle. Ueber die Celtischen Sprachen, Charakteristik und verwandtschaftliches

Verhältniss derselben, sowie über deren Einfluss auf die deutsche,

englische, französische und die übrigen romanischen Sprachen.

Freitag von 7-8 Uhr. Prof. Dr. Mahn.

A'erzeiohniiss der Vorlesungen 127

Provenzalische Grammatik (Lautlehre und Formenlehre) wird Dienstag und Freitag von G 7 Uhr vortragen Prof. Dr. Mahn.

Provenzalische lyrische und epische Gedichte wird Dienstag von 7 bis 8 Uhr erklären Prof. Dr. Mahn.

Ausgewählte Lustspiele von Moliere wird am Mittwoch und Freitag von 5 6 Uhr erklären Dr. H. Crouze.

Histoire comparee du theiltre fran^ais. Montag von G 7 Uhr. Mr. Ch. Marelle.

Die Romantik in Frankreich. Montag und Donnerstag von 6 7 Uhr. Dr. Chr. Rauch.

Französische Lautlehre. Montag und Donnerstag von 4 5 Uhr. Dr. cking.

Die Syntax der französischen Sprache wird am Montag und Donners- tag von 3—4 Uhr vortragen Prof. Dr. Goldbeek.

Französische Aussprache mit physiologisch-historischer Begründung. Dienstag von 5—6 Uhr. Director Dr. Benecke.

Praktische Uebungen in der französischen Aussprache mit Zugrunde- legung der Athalie. Dienstag von 6-7 Uhr. Director Dr. Benecke.

Exercices de style franpais. Mittwoch von 4 5 Uhr. Prof. Pari seile.

Uebungen in freien französischen Vorträgen. Freitag von 5 6 Uhr. Dr. Burtin.

Spanische Formenlehre, verbunden mit der Erklärung der Novelas exemplares von Cervantes. Montag von 6 8 Uhr Dr. Förster.

Cours pratique de langue roumaine. Donnerstag von 2 3 Uhr. Leg.- Secret. Dr. C. D. Georgian.

Histoire de la langue et la litterature roumaines. Sonnabend von 3 4 Uhr. Leg.-Secret. Dr. C. D. Georgian.

Italienische Grammiitik, verbunden mit der Lesung von Goldoni's Tu- tore. Dienstag und Freitag von 5 6 Uhr. Dr. PL Buchholz.

II novellino oder le cento novelle antiche wird erklären Dienstag von 6—7 Uhr Dr. H. Buch holz.

Uebcr den Plan von Dante's Commedia wird vortragen und ausgewählte Abschnitte des Gedichtes erklären Freitag von 6 7 Uhr Dr. H. Buch holz.

128 an der Berliner Akademie für moderne Philologie.

Schwedische Grammatik (Lautlehre und Formenlehre), verbunden mit

praktischen Uebungen. Montag und Donnerstag von 5- 6 Uhr.

Dr. von Nordenskjöld, Tegner's Frithjof wird erklären Dienstag und Freitag von 7 8 Uhr

Dr. von Nordenskjöld. Praktische Uebungen im Unterrichten werden in zu verabredenden

Stunden geleitet von Prof. Dr. Herr ig.

U e b e r O s s i a n.

Von den zwei keltischen Völkern, deren lebende Sprache das Ersische war, steht Irland weit voraus in dem Erfolge, mit welchem seine heimische Sprache zu Zwecken verwendet wurde, die literarische genannt werden dürfen.

Anderen muss die Aufgabe überlassen bleiben, sowohl die Echtheit als das poetische Verdienst der alten metrischen Ueber- reste richtig zu würdigen, die noch in irischer Sprache existiren. Sie bestehen in zahlreichen Bardenliedern und historischen Sagendichtungen. Von einigen der letzteren wird versichert, dass sie viel älter seien als das 9. Jahrhundert, von dessen Schluss sich die Sammlung datirt, die unter dem Namen des Psalters von Cashel (the Psalter of Cashel) noch jetzt, und zwar wahrscheinlich in ihrer ursprünglichen Form, vorhanden ist. Competente Beurtheiler haben den grossen historischen Werth der Prosa-Chroniken gelten lassen, die bis heute erhalten sind und die, durch die allmäligen Hinzufügungen vieler Generationen in den Klöstern der „Insel der Hei- ligen" („Island of Saints") erwuchsen. In der Form, in welcher sie jetzt existiren, scheint keine von ihnen so alt zu sein, wie die von Tigernach compilirten Annalen, der am Ende des 11. Jahrhunderts starb; allein man glaubt mit gutem Grunde, dass sowohl in dieses Werk als in die Annalen der 5 Meister (the Annais of the five Masters) und in einige andere solcher localen Urkunden, wie die Annalen von Ulster und Innisfallen (the annals of Ulster and In ni 8 fallen) oft bis auf die Worte der Inhalt gar mancher,

Archiv f. n. Sitrachen.. LVUI. 9

130 Ueber Ossiaii.

weit früher verfasster Chroniken übergegangen ist. Es scheint daher nicht voreilig zu sagen, dass die Ii*en gleichzeitige, in der Volkssprache geschriebene, zwar dürftige, aber authentische Geschichten ihres Landes aus dem 5. Jahrhundert oder aus nur wenig späterer Zeit besitzen. Keine andere Nation des neueren Europa kann von sich Aehnliches rühmen.

Auch findet sich nicht, dass die schottischen Kelten auf literarische Denkmäler, welcher Art immer sie seien, hin- weisen könnten, die an Alter diesen irgend vergleichbar wären. In der That war ihre sociale Lage in jeder Hinsicht weit unter der ihrer westlichen Stammgenossen. Die ältesten Reliquien ihrer Sprache sind sämmtlich metrisch. So der albanische Duan (the Albanic Du an), ein erzählendes Gedicht, des- sen Charakter als bardisch und sagenartig beschrieben und das ins 11. Jahrhundert gesetzt wird. In den Gedichten, die den Namen Ossian's tragen, feiert ein angeblicher Augenzeuge Ereignisse, die sich im dritten Jahrhundert begeben. Da die folgende Abhandlung sich ausschliesslich mit diesen Gedichten Ossian's beschäftigt, so mögen noch einige einleitende Bemer- kungen hier ihren Platz finden. Allein, obgleich wir, wie billig, das moderne Machwerk ganz aus dem Spiele lassen, welches das Original dem englischen Leser maskirt hat (cfr. Talvj: Die Unechtheit der Lieder Ossian's und des Mac- phers on' sehen Ossian insbesondere. Leipzig 1840) und obgleich wir ebenso mit Grund anstehen, positiv zu ver- sichern, dass die Fingalssagen wirklich von Irland entlehnt seien, so bleibt es doch auch so noch unmöglich, sich zu über- zeugen, dass irgend eines der Stücke, die jetzt als der ursprüng- liche Kern der Gedichte dargestellt werden, gerechten Anspruch auf einen so weit zurückliegenden Ursprung haben sollte. Alle derartigen Erzeugnisse scheinen nichts als Versuche, zum Theil ausserordentlich geist- und phantasiereiche Versuche zu sein, mit dichterischem und mythischem Glänze die Sagen von Gene- rationen zu bekleiden, die lange vor des Dichters Zeit dahin- geschwunden sind.

Sehen wir hier nun vor der Hand einmal von unserer vater- ländischen Poesie ganz ab, so tritt uns noch der Norden als eine unsere germani?che Natur ganz besonders anmuthende

Ueber Ossian. 131

Region einer eigeutliiimlichen poetischen Welt entgegen. Hier dürfen wir uns als den Repräsentanten des scandinavischen Heidenthums an Frithjof halten, wie ihn Tegner's Dich- tung meisterhaft darstellt, ein Gemälde, das mit allem Zauber nordischer Heldenstärke und Frauenschönheit ausgestattet ist und die wesentlichsten Züge des nordischen Charakters, seine Sitten im Frieden und Krieg, uns vorführt, während Gedanken tiefer Lebensklugheit aus dem Sprucbbuche uralter heidnischer Vorzeit höchst anziehend dazwischen eino^eflochten sind. Das vielfach wechselnde Metrum der einzelnen Gedichte lässt uns diese Dichtung lieb gewinnen, und uns erfüllt ein gewisser Stolz auf die Biegsamkeit unserer herrlichen Muttersprache, die im Ringen mit der keruhaften, bilderreichen Kürze des Nordens, wie sie uns nachher auch bei Ossian wieder begegnet, vom schönsten Erfolge gekrönt Avird. (cfr. Tegner's Frithjofs- sage, übersetzt von A. v. Helvig.)

Ist nun aber die Friihjofssage fast zu allgemeiner Be- kanntschaft des literarisch gebildeten Theiles unseres Volkes gekommen, so ist gerade das Gegentheil mit Ossian's Ge- dichten der Fall. In neuerer Zeit, hätte man denken sollen, würden die herrlichen Dichtungen Walter Scott's, beson- ders die in den Hochlanden spielenden Stücke, vor Allem aber „Waverley" und „Das Fräulein vom See" die Auf- merksamkeit wenigstens der tiefer eingehenden Leser auf den Ürbarden Schottlands, den Sänger Fingal's hingeleitet haben. Das ist aber nicht oeschehen und hat seinen Grund in der vor- herrschenden Entfremdung der jetzigen Generation von aller inneren Beschäftigung mit der Poesie, die unter dem Rennen und Jagen nach Reichthum und dem politischen Treiben nicht mehr zu ihrem Rechte kommt, das nach Goethe darin besteht, „uns als ein weltliches Evangelium von den irdischen Lasten zu befreien, die auf uns drücken und wie ein Luftballon uns mit dem Ballast, der uns anhängt, in höhere Regionen zu er- heben, während die verwirrten Irrgänge der Erde in Vogel- perspective vor uns entwickelt daliegen." Bei dem literar- historischen Interesse, welches Ossian's Gedichte desto mehr in Anspruch nehmen, je mehr noch, gerade in unserem Vaterlande, über sie ein Dunkel unbestimmter Meinungen verbreitet ist,

132 Uebei' Ossian.

und bei dem poetischen Werth, den ihnen Goethe zuerlsannt hat, darf die Fi'age nach dem Alter desselben nicht umgangen werden.

Der Verfasser dieser Abhandlung hat sich bemüht, alles auf Ossian's Gedichte bezügliche Material zusammenzutragen, zu sichten und einer genaueren Untersuchung zu unterwerfen. Wir beo'innen mit dem unstreitig- interessanteren Theil dieser Abhandlung, welcher eine Charakteristik Ossian's begreift.

Ossian, der Sänger des caledonischen Nordens, der jetzt, wie Homer, als einzelner Stern am poetischen Himmel leuchtet, hat zu seiner Zeit ohne Zweifel viele Sangesbrüder gehabt. Dies kann nicht allein aus der grossen Zahl der in seinen Gedichten auftretenden und erwähnten Barden, sondern auch aus dem ungemein poetischen Reichthum seiner Sprache geschlossen werden, was zu der Annahme berechtigt, dass schon in früher Zeit sehr viel in ihr gedichtet und gesungen sein muss, wie dies auch von der homerischen Sprache gilt. Die Frage, wann der Dichter gelebt habe, wird sich wohl kaum jemals genau beantworten lassen. Einige setzen ihn in die Zeit, wo Septimius Severus Kaiser des römischen Reiches war, 193 211, also um das Jahr 200 v. Chr. Dieser suchte durch einen Zug nach Britannien, wo die Caledonier oder schottischen Hochländer (Bergschotten) Hadrian's Grenz- wall durchbrochen hatten, die Reichsgrenze im äussersten Nor- den zu sichern. Insofern diese Hypothese über das Zeitalter des Dichters sich auf den Namen Caracul stützt, den ein in dem Gedichte Caomhmhala vorkommender Häuptling am Flusse Carun (Carron in der Grafschaft Stirling) trägt, gegen welchen Fingal kämpft und in welchem man C ara call a, 211 217, den Sohn des Kaisers Septimius Severus, hat finden wollen, erscheint dieselbe als durchaus unhaltbar.

Passender dürfte es sein, die Zeit Ossian's oder vielmehr des Königs Fingal und seiner Helden an die Periode zu knüp- fen, wo aus dem scandinavischen Norden jene Normanne r- oder Wikingszüge, vorzüglich wohl von Norwegen aus, vielleicht der Richtung der Shetlands- und Orkneys-Inseln fol- gend, nach Schottland, Irland und England gingen. Wie aber diese Wikingszüge mit der Zeit imnier zunahmen und eji'llich

Uebcr Ossian. 133

im 9. Jahrhundert ihren Gipfelpunkt einreichten, so deutet in den ossianiöchcn Gesängen Alles auf die Anfange jener Periode hin. Zwischen Schottland und Norwegen, Morbheinn und Log hl in, herrschte damals ein reger Verkehr; die Fürsten Morbhcinn'ö waren in Lochiin gefürchtet und «jeehrt: Fingal selbst und sein Ahnherr Treunmor verbanden sich mit Loch- lin's königlichen Jungfrauen ; häufige Heirathen der schottischen Könige und Edlen mit norwegischen Prinzessinnen und andern Fräulein fanden statt und trugen dazu bei, die beiden Nationen mehr und mehr zu vermischen. Es dürfte demnach das Zeit- alter des Dichters zwischen das 4. und 6. Jahrhundert n. Chr. zu setzen sein.

Es ist bekannt, dass es eine uralte Sitte aller keltischen Stämme war, dass die Barden das Heer in die Schlacht beglei- teten, und dass jede Heldenthat von diesen Barden in mehr oder minder ausfühi'lichen Gesängen gefeiert wurde. Ohne Zweifel ist dieses auch bei Könis; Fino^al's zahlreichen Kriegs- thaten geschehen. Es muss daher begreiflich erscheinen, dass nach Fingal's Tod und dem Untergänge seines Reiches der auf die Hebriden geflüchtete Königssohn Ossian , nun ein erblin- deter Greis, jene theils von ihm selbst, theils von befreundeten Barden gesungenen Lieder in solche Epopöen, wie „Carthon", ,, Fingal" und .. Tighmora", zusammenfasste. Es ist wohl anzunehmen, dass diese herrlichen Gedichte als Erinnerungen an die vergangene Herrlichkeit des von dem Jahre 300 bis zum Jahre 900 n. Chr. von Normannen, Pikten, Britanniern und Angelsachsen schwer bedrängten Caledonierreiches festgehalten und auf dem gewohnten AVege des Auswendiglernens von Ge- schlecht zu Geschlecht vererbt wurden.

Jetzt tritt die Frage an uns heran: „Wo haben wir die Heimath Ossian's zu suchen?" Seine Heimath ist die mittlere Westküste Schottlands, die heutige Grafschaft Argyle, die vom Frith of Clyde (bei dem Dichter Clutha) im Süden begrenzt wird. Westlich vor jener Küste liegt die Insel Mull, in deren Nähe das merkwürdige kleine Eiland Staffa ist, mit den ßasaltmassen der Fingalshöhle. Dieses ist eine 300 Fuss lange und 100 Fuss hohe, unmittelbar ins Meer mündende Felsengrotte mit prächtigen Basaltsäulen. Der Dichter selbst

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nennt die Landschaft Morbheinn, wovon das heutige Mor- vern unstreitig ein Theil ist; Morvern ist an der Nordwest- spitze von Argyleshire gelegen und durch tiefe Meerein- schnitte, z. B. Sound of Mull, und durch Landseen fast ganz von Wasser umgeben, weshalb es bei Ossian auch „Insel der Berghohen " oder „Eiland der Winde" genannt wird. Südlich daran stösst der District Lorn mit dem äusserst romantischen Thale Glencoe, welches von Einigen als die Geburtsstätte des Dichters bezeichnet wird, richtiger aber wohl nur als sein Lieblingsaufenthalt zu betrachten ist. Das Wort Glencoe bedeutet Thal Coe (glen, Thal), Coe ist verkürzt aus Co na, also Thal Cona. Es mündet dieses Thal in dem Loch Leven (Levensee) (loch, See), der die östliche Spitze des Loch Linnhe (Linnhesee) bildet; in seiner Mitte ist der schmale See Treaehtan, aus welchem der wilde Strom von Cona kommt, an dessen beiden Seiten hohe Berge senkrecht aufsteigen und ungeheure Spalten öffnen, worin beständig Schnee zu sehen ist. Die Stille und Einsamkeit wird hier nur durch das Geschrei des Adlers und das Brausen der Berg- wasser gestört, die sich in einer Menge von Giessbächen in das Thal herabstürzen. Es heisst daher ganz eigentlich in dem Gedichte „Fingal" I, 131: „Wann brüllt durch Cona der Strom?" und ebendaselbst II, 143 ff,:

„Wie tausend Ströme toste das Heer, Die zusammenfluthen in Cona, dem hellen, Aus der Nacht vorbrechend in wildem Fall Zu der Sonne glänzendem Strahl."

(A. Ebrard.)

Ossian wird oft von diesem Thal die Stimme von Cona genannt, z. B, in dem Gedichte Coniao ch und Cuthon n, woselbst Vers 23 ff. also lauten:

„Wie? schläft sie, die Stimme von Cona In ihrer Halle beim Windgebriill? Schläft Oisian herrlicher Thaten, Und im Sturm umtobt ihn das Meer?"

(Ch. W. Ahlwardt.)

Ueber Ossian. 135

und beinc liaif'c die Harfe von Cona, z.B. in dem Gedichte „Cath Loduinn" IIJ, 14 ff.:

„Du, die wohnest in IMitte der Schild', Und die Führer erhebest vom Gram, O Harfe von Cona des Sturms Entsteige der Mauer zu mir."

(Ch. W. Ahlwardt.)

Nördlich von jenem Thale erhebt sich der gewaltige Ben Nevis (über 1300 m. = 4000') mit seinen schroffen Felswän- den; südlich ist der Loch Etive, der sich etwa 3 englische Meilen nördlich von Oban bei dem Orte Dunstafnaon zu einem Strome verengt ins Meer ergiesst. Dieser Strom ist der bei Ossian mehrfl ich vorkommende Lora, cfr. .. T i 2: h m o r a " V, 7:

„Mir scheuchte des Lora Gebraus

Die Fülle der Sagen hinweg."

(Ch. W. Ahlwardt.)

Nicht weit vom Ausfluss des Stromes ist ein Wassersturz, vielleicht der einzige seiner Art in Europa. Der Loch Etive ist an dieser Stelle sehr verengt und hat grosse Felsklippen. In 24 Stunden tritt die Fluth des JNIeeres zweimal in diesen See und dringt durch den Orchay bis in den Loch Avve. So wie nun die Ebbe zurücktritt, stauchen sich die Wellen vor einer Felsenmenge und wälzen sich über die Felsen mit grosser Gewalt und grossem Geräusch. Es ist ein unbeschreiblich grosser, erhabener Anblick, die Wellen so ankonmien, stutzen und sich dann schäumend und donnernd ihren Weg bahnen zu sehen. Es entsteht dann ein betäubendes Gebrüll und der ganze Canal, bis eine Meile unterhalb des Falls, kocht und schäumt. P^s heisst daher ganz bezeichnend von dem König in dem Ge- dichte Fingal III, 22 u. 23:

„Tod strömte sein Arm in der Feldschlacht, Seine Kraft war wie Fluthen des Lora."

Indessen scheint der Name Cona bei Ossian den ganzen Landstrich von dem eigentlichen Bergthale dieses Namens bis zu dem eben beschriebenen Ausfluss des Loch Etive oder dem Lora umfasst zu haben. Die dortige Bai heisst bei ihm

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die Bai von Cona und die in dem Gedichte C arthon vor- kommende „Haide von Cona" kann dort keine andere sein, als die Haide von Lora, die sich von diesem Strom anderthalb engUsche Meilen lang und breit erstreckt und der Schauplatz des in jenem Gedichte geschilderten Kampfes ist.

Da die meisten Vergleiche und poetischen Beiwörter bei Ossian von der ihn umgebenden Natur entlehnt sind, so ist zum richtigen Verständniss seiner Gedichte eine lebendige An- schauung der ihn umgebenden Natur absolut nothwendig. Als Belege nur folgende Stellen: Tighmora V, 142 fF.:

„Wie Ufer r ander senkten nun die Heere

Sich beide zusammen am Lubar.

Wie zwei Bäche sich stürzen von Jäh'n,

So flammte nieder Stahl auf Stahl,

Zwei Giessbäche, die brausen von Höh'n,

Von zwei düstern Felsen der Berg'

Und am Boden vermischen den Schaum."

(Ch. W. Ah 1 ward t.)

In den schottischen Gebirgen, wie dieses bei dem äusserst romantischen Thale Glencoe weiter oben bemerkt ist, stürzen die Giessbäche von den schroffen Wänden und aus den Spalten der Berge wühlen sich Betten, die unten oft breiter sind als oben; diese obern Uferränder neigen sich daher gegen einander und stürzen oft prasselnd herab.

Fingal IV, 408 u. 409:

„Es stürzten die Feind' in der Sehlacht hin, Gleich dem Ufer von Cona der Ström'.

(Ch. W. Ahlwardt.)

In demselben, also dem vierten Gesänge des Fingal V, 165 ff. heisst es:

AVie hundert grosser Ströme G ebraus,

Die vom Bergjoch stürzen mit Schaum und Bellen,

Wie sich sammeln zum Sturm und sich schütten aus

Wechselnde Wolken am Himmel, dem hellen,

So fanden die Helden der Bergeswilde

Sich unter des Königs Stimm' und Schilde."

(A. Ebrard.)

Ueber Ossiiin. 137

Dieeelbe Stelle lautet in der Ahlwardt'schen Uebersetzung:

„Wie dumpf donnern hundert Ströme Mit Schaum und Gebrüll von den Felshöh'n ; Wie stürraebi'ütend Graungewölk sich Unstät an dem Himmel ergeusst: Also stürzten die Krieger der Wüst' Um Fionnghals Stimm' und Schwert."

(Ch. W. Ahlwardt.)

Als letzter Beleg der oben gemachten Bemerkung, dass bei keinem Dichter zum richtigen Verstehen und Empfinden sehier Gedichte eine lebendige Anschauung der ihn umgebenden Natur nothwendiger sei als bei Ossian, da die meisten seiner Gleichnisse und eine Menge seiner poetischen Beiwörter von ihr entlehnt sind, diene folgende Stelle des Fingal:

Fingal V, 62 ff.:

„So blickt' ich einst auf Cona,

Doch Cona erblick' ich nicht mehr

So erblickt' ich einst zwei Anhöh'n

Weichen vom Sitz in der Haid'

Im tobenden Strom des Gebirgs.

Sieh, sie schwankten von Seite zu Seit ;

Es fasste der Bäume Gezweig sich.

Hin wogt' auf die Eb'ne ihr Sturz

Mit Eichen und Haide des Bergs:

Da entdrängten dem Bett sie den Bach

Weither sah man das rothe Gestad'!

(Ch. AV. Ahlwardt.)

Nach der Uebersetzung von A. Ebrard heisst es Fingal V, 62 ff".:

„So sah ich einst an Cona's Heide

Ach, Cona seh' ich nimmer wieder!

So sah ich ein mächtiges Bäumepaar

Von seinem Standort gleiten nieder,

Das vom wüthenden Strom entwurzelt war.

Sie wendeten sich von Seite zu Seite;

Mit den Wipfeln einer den andern umkreisend,

Stürzten sie auf des Ufers Gebreite,

Eichbusch und Haide mit sich reissend.

Und wie die Fluth allmälig sank.

Sah man des Ufers rothe r>ank."

(A. Ebrard.)

138 Ueber Ossian.

Da uns in Ossian'ö Gedichten nicht nur die Namen seiner Eltern, sondern auch diejenigen von anderen seiner Verwandten genannt werden, so wollen wir uns an dieser Stelle mit den- selben näher beschäftigen und das darüber berichten, was uns in den Gedichten Ossian's, also nach des Dichters Ausspruche, als unumstösslich fest und glaubhaft daro-eboten wird.

Der Vater Oisian's war Fionn ghal, eigentlich Fionn, M'ie er auch genannt wird. (Fionnghal, Fionn der Fremde, wahrscheinlich aus Nordirland stammend, von woher seine Vor- fahren als Eroberer nach Schottland gekommen waren.) Der Zusatz ghal oder vielmehr gheal bedeutet weiss, schön, also „Fionnghal" soviel als der weisse, schöne Fionn. Als Ahnen Fionnghal's Averden in Oisian's Gedichten erwähnt sein ürgrossvater Trenraor, oder Trenor (Treun-mhor grosser Held), über welchen besonders die schöne Episode im 6. Gesänge des „Fingal" handelt, welche an dieser Stelle er- wähnt zu werden verdient, wenn auch nur im Auszuge. Fin- gal VI, 58 ff. heisst es:

„Trenor," sprach die Gesangeslippe,

„War entsprossen aus alten Stammes Sippe.

Auf der See war sein Weg nach des Nordens Reich ;

Der Wog' im Sturm war er gleich.

Schroffe Kh'ppcn im Lande der Schiffe,

Waldnacht und dröhnende Felsenwand

P^ntstiegcn dem Nebel der See, und Riffe;

und er reifte die Segel, und fuhr an's Land,

Er verfolgte den Eber der Berges wilde

Den fleckigen, der auf dem Gormal briUlle.

Hinter sich Hess er seine Gesellen;

Der Lanze Trenor's ergab sich die Beute

Und wand sich im Todeskampfe, dem schnellen.

Drei Nordlandshelden sahen die Meute

Und erzählten vom Fürsten aus fremdem Stamme.

Sie erzählten, dass auf der Bergesschicht

Er stehe wie eine grosse Flamme,

In seiner Waffen glühendem Licht.

Da hielt Lochlin's König ein herrliches Mahl,

Und lud zu dem Feste den Recken, den jungen,

Da ward in Gormal's Heldensaal

Drei Tage getrunken und gesungen.

Ihm wurden die Krieger gestellt zur Wahl,

Ueber Ossian. 139

Mit wem sich zu messen ihm wolle gofallcn;

Und keiner war von den Mannen allen,

Den der tapf're Trenor nicht bezwungen.

Neu begann die Schale zu kreisen ;

Zwischen lodernden Feuern sind Lieder erklungen,

Des umwogten Morwen's Fürsten zu preisen,

Der über den Ocean gefahren,

Den tapfern Häuptling tapfrer Scharen." n. s. w.

(A. Ebrard.)

Oisian's Grossvater heisst Tratlial und sein Vater Cum- hal, weshalb er häufig „Cumhars Sohn" heisst. Seine Mutter war Muirne, die Schwester Cleasamor' s, der in dem schönen Gedichte „Carthon" besungen wird. Fionnghal war König von Morbheinn, das, wie schon früher erwähnt worden ist, auf der mittlem Westküste Schottlands lag, welches ganze Land damals mit dem Namen Alba bezeichnet wurde. Er residirte in Schelma, im District Lorn gelegen, südwest- lich vom Thal Cona, etwas nördlich vom Ausfluss des Loch Etive. Schelma ist sowohl der Name der Residenz als auch des von Finnghal beherrschten Reichs, das albanische oder pik- tische Reich, da Finnghal in dem Epos „Tighmora" stabil als „König Alba's" bezeichnet wird. Der Loch Etive und der südlich von ihm gelegene Loch Awe hängen durch einen Fluss zusammen und liegen in einer durch wilde Fels- parthien sich auszeichnenden Gegend des schottischen Hoch- lands. Auf der südöstlichen Grenze von Argyle liegt der schönste der schottischen Landseen, der Loch Lomond, auf dessen westlichem Ufer sich das Dorf Luss auf einem in den See ragenden Vorgebirge mit dem hill of Fionnghal, Fionnghalshügel, befindet.

Zwei Gemahlinnen Oisian's werden in den Gedichten er- wähnt, Clatho und Roscranna. Die erstere war die Toch- ter des Beherrschers von Innistore, d. i. Insel der Wallfische, wie die Orkneys-Inseln im Allgemeinen bezeichnet werden. Der Dichter nennt sie Clatho, blaues Auge" und Clatho mit weissem Busen". Die andere ist Roscranna, Tochter des Königs Cormac von Eiriun (Irland); vom Dichter wird sie „Eirinn's grosses Blauauge", „Sie, der Helden-

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lieber Ossian.

spross, Roscrannaa", „Sie, der Lichtstrahl Cor- mac's der Schlacht" genannt.

Fionughal's Söhne waren, ausser Oisian, „dem Fürsten des Gesangs", wie er in dem Gedichte Tighmora I, 75 ge- nannt wird, noch Pill an und Koinne. Oisian hatte einen Sohn, welcher Oscar hiess.

Finnghal's Stammbaum ist demnach folgenderinaassen zusammenzustellen :

Trathai

I Cnmhal

. I Finngbal

Oisian, Roinne, Fillan

Oskar

Trenor Urgrossvater Finnghal's.

Grossvater Finnghal's. Vater Finnghal's. Finnghal. Söhne P^innghal's. Sohn Oisian's.

Fionnghal, der siegreiche, ruhmgekrönte König von Morbheinn, (Morven) in Schottland, der Vater Oisian's, ist der Mittelpunkt jener herrlichen Zeit, welche uns die Gesänge Oisian's vor Augen stellen. Sein Name lebt noch in den schottischen und irischen Sagen; in allen Theilen des $chotti- schen Hochlandes sind Rainen und Höhlen nach ihm benannt. Fionnghal ist namentlich der Held der beiden grösseren epischen Gedichte, von denen eins nach ihm selbst Fionnghal, in 6 Gesängen, das andere Tighmora, in 8 Gesängen, be- nannt ist. Auch ein drittes Gedicht, Cath Loduinn, besingt in 3 Gesängen seine Thaten. Er hatte, wie schon früher bemerkt wurde, seinen Sitz zu Selma; er zeichnete sich durch seine Kämpfe aus und unternahm auch Seefahrten nach Schwe- den und Norwegen, den Orkneys und Irland. Fionnghal ist ein episch-lyrisches Gedicht von 6 Gesängen, deren jeder 500 bis 600 Verse enthält. Die Handlung umfasst 5 Tage und 5 Nächte; ihr Schauplatz ist Ei rinn, der damalige Nnmo Ir- lands, bei Oisian auch Innisfall (Insel Fala), welches ursprüng- lich wohl nur der Name einer kleinen Insel an der nordirischen Küste war, und „Insel der grünenden Thälei " genannt.

Ueber Ossian. 141

In dem Gedichte Conlaoch und Cuthon wii'd Irland als ein höchst anuiuthiges Land gepriesen, cfr. Vers 70 ff.:

„O Eirinn der Höh'n mit Gras umgrünt, Wie sind dir so reizend die Thale ! Ruh wohnt um deine blauen Ström' Und Sonne bestrahlt dein Gefild."

(Ch. W. Ah 1 war dt.)

Nachdem wir uns bis jetzt ausführlich mit Oisian, seiner Heimath, seiner Familie und seinen Gedichten beschäftigt haben, müssen wir die Sprache, in welcher Oisian sang, einer kurzen Besprechung unterziehen. Oisian's Gedichte sind in der gae- lischen Sprache verfasst. Gaelisch nennen die Hochschot- ten ihre Sprache, welche zu der keltischen Sprachgruppe der indogermanischen Sprache gehört und nebst dem Iri- schen (Ersk) und dem Dialekte der Insel Man (dem Mank) eine eigene Unterabtheilung bildet. Die deutschen Sprachforscher gebrauchen zur Bezeichnung der letztern die Form Ga heiisch, während sie das eigentliche Hochschottische Gaelisch nennen. Die Hochländer hat von jeher ein poeti- scher Geist beseelt und besonders reich an Gesängen gemacht. Die heroischen Handlungen, die weisen und launigen Bemer- kungen, die Unternehmungen, die Arbeiten, die Gaben und die Leiden ihrer Vorfahren waren von jeher der einzige Gegenstand ihrer Unterhaltungen. Da, wo die ganze Welt draussen ver- schlossen war, wurden sie so oft und so gern besprochen, und die geringsten Umstände für die Dahingeschiedenen so gehei- ligt, dass sie mit unglaublicher Treue und Genauigkeit von Vater zu Sohn gingen. Oisian schrieb, wie die Barden seiner Zeit überhaupt, seine Gedichte nicht auf; sie sind durch münd- liche Ueberlieferung fortgepflanzt in jener sangreichen Zeit und später auswendig gelernt, gesungen und hergesagt. Bis zur Schlacht von Culloden im Jahre 1746 hielt jede adlige Familie in den Hochlanden ihren Hausbarden, dessen Hauptgeschäft war, die Thaten der Ahnen zu erzählen und zu preisen. Ein solcher Sgeulaich gehört natürlich nicht nur dem Hause des Häuptlings, er gehört dem ganzen Clan an. Als dieses Ge- schlecht ausstarb, fiel die traditionelle Poesie in die Hände der alten Grossmütter und solcher Handwerker, deren Lebensart

142 lieber Ossian.

ihnen gestattete, genug Aufmerksamkeit tlarauf zu wenden, gerade wie dieselbe Art von Leuten in den schottischen Nieder- landen die erblichen Nachfolger der Minstrels wurden; z. B. Schneider, die in ganz Schottland und im Norden von England im Hause ihrer Kunden zu arbeiten pflegten und bei ihrer Ar- beit die Familie mit Liedern und Geschichten unterhielten. Hill hörte mehrere alte Lieder von einem Schneider, Namens Maclauchan, der vveo;en seiner Kenntnisse in deroleichen Dinoen berühmt war. Noch mehr, namentlich ossianische Lieder, hörte er von einem Schmied, Namens Mac Nab, zu Dalmaly, wo seine Vorfahren bereits seit vierhundert Jahren Schmiede ffe- wesen waren. Mrs. Grant, die lange in den Hochlanden lebte, kann nicht genug davon erzählen, wie gross die V^orliebe für die Seana Dana, d. h. die alten Gesänge, unter dem gan- zen Volke sei.

Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts wollte man die Bibel ins Gaelische übersetzen ; um den nöthigen Wortvorrath für die im schottischen Niederland und Enoland o^anz unbe- kannte Sprache zu bekommen, sammelte man die alten gae- lischen Bardenlieder und fand ganz unerwartet viel grössere poetische Schätze in ihnen als man geahnt hatte. Ln Jahre 1754 wurde das erste ersische Buch gedruckt, und zwar eine Uebersetzung von Baxter's Call to the üncouverted von Mac Farlane. (cfr. Shaw's Inquiry into the authen- ticity of the poems ascribed to Ossian 1781.) Die wenigen gaelischen Bücher, die früher dort gedruckt wurden, wie z. B. eine Uebersetzung der Psalmen von Kirk im Jahre 1G84, waren im irisch-gälischen Schriftdialekte verfasst worden. Früher bedienten sich die Hochländer auch dazu der irischen Lettern, allein im Jahre 1690 wurde die irisch-gaelische Ueber- setzung des neuen Testaments (verfasst zwischen 1609 und 1628 von dem Irländer O'Donnel) mit römischen Buchstaben für dieselben umgedruckt, ein Zeichen, dass die irischen ihnen nicht mehr geläufig waren.

Macpherson, damals Hofmeister im Hause des Obersten Graham, übersetzte einzelne Stücke aus jenen alten gaelischen Bardenliedern ins Englische, die durch die Innigkeit der darin ausgesprochenen Anschauungen und Empfindungen das allge-

lieber Ossian. 143

meine Interesse der Kenner erregten. Die hohe poetische Schön- heit (lieser l^roben, die Pracht der Bilder und Naturschildc- rungen, der zauberische Duft, welcher über dem Ganzen schwebte, erregte die Aufmerksamkeit des Dichters John Home und des Gelehrten Hugh Blair. Durch ihre Lobt>prüche wiederum angeregt, beschloss James Macphers^on die Sammlung solcher gaelischer Volkslieder fortzusetzen. Die ersten Probestücke in englischer Sprache rückte Macpherson ein in die „Fragments of ancient poetry", collected in the Highlands of Scotland. Edinburg 1760, welche von Job. Andr. Engel- brecht unter dem Titel: „Fragmente der alten hochschott- ländischen Dichtkunst" übersetzt wurden. Hamburg 1764. Darauf kam einzeln heraus Fingal. London 1760 u. 1762. Nachher forschte Macpherson im Norden Schottlands weiter nach und sammelte Gesänge, die unter dem Volke gangbar waren, mündliche Nachrichten und Handschriften. So erschien Temora mit einer Abhandlung und einigen Stücken des Origi- nals. London 1763; dann alle Gedichte vollständig unter dem Titel: The works of Ossian. 1765. Macpherson wählte mit Recht für seine Uebersetzung die Prosa. Wenn durch diese einerseits der dichterische Rhythmus und Wohllaut ver- loren geht, so wird dagegen die Einfalt und Stärke der Ge- danken, die Freiheit und Würde des Ausdrucks bei so alten Gedichten eher erhalten, welche die Fesseln des Metrums bei Uebertragung eines Originals gar leicht beschränken oder ver- drängen. Gedichte, wie die ossianischen, haben ihren Einfluss auf fühlende Herzen ohnedies nicht dem Wohllaut zu verdan- ken. Es wird also besser sein, diesen aufzuopfern und die Macht der Gedanken zu erhalten. Welche ungeheure Sensation diese Gedichte sowohl in Britannien als auf dem Continente er- regten, ist bekannt. Bald war Ossian in alle Sprachen über- setzt. Allein Macpherson war doch der gaehschen Sprache nicht hinlänglich mächtig, hatte gar keine grammatischen und lexikalischen Hülfsmittel und erlaubte sich auch so viele Ver- änderungen, dass das Original in hohem Grade von ihm ent- stellt und seiner ursprünghchen Schönheit beraubt wurde. In- zwischen war auch zu Edinburg die H ig bland Society gegründet, eine Gesellschaft für Erforschung gaelischer Sprache,

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Sitte und Alterthümer. Als im Jahre 1764 das „Journal des Savants" zuerst mit der, hernach von den Engländern Shaw und Llaing wiederholten Behauptung auftrat, dass Maepherson statt alter gaelischer Lieder seine eigenen Producte der Welt biete, und als dieser 1766 bei seiner Rückkunft von Florida davon erfuhr, da hat er vor seinen vertrauten Freunden, z. B. Dr. Carlyle, seine Verachtung gegen eine solche Unkritik scharf ausgesprochen cfr. Blair: Dissertation on Ossian. append. p, 78 ff., vor dem Publikum aber die Sache erst in Dunkel gehüllt, weil es ihm schmeichelte, für einen grossen Dichter gehalten zu werden. Indessen machte er, aufgestachelt durch die sich mehrenden kritischen Angriffe geoen die Echt- heit Ossian's, im Jahre 1784 neue Versuche, eine Herausgabe des Originaltextes zu ermöglichen. Endlich in den neunziger Jahren wurde Maepherson von hoch schottischen Edelleuten in Ostindien, welche von ihrer Jugend her sich erinnerten, jene Gedichte in gaelischer Sprache oft gehört zu haben, durch eine Geldsumme unterstützt, und er machte sich nun an die Arbeit und fertigte mit Capitän Morison's Hülfe eine saubere leserliche Abschrift. Er veröffentlichte auch eine Druckprobe, und zwar in griechischen Lettern, wxil nach Julius Cäsar die Kelten sicli des griechischen Alphabets bedient haben. Kaum aber war diese Druckprobe erschienen, so starb Maepherson (17. Fe- bruar 1796) im 59. Jahre auf seinem väterlichen Erbsitze zu Balville, Badenoch in Nordschottland. Sein Körper wurde nach London gebracht und in der Westminsterabtei, nicht weit von der Büste und der Gedächtnisstafel seines Freun- des Goldsmith beioesetzt.

Nun gerieth die Sache abermals in's Stocken. Thomas ßoss in Edinburg, ein tüchtiger Kenner des Gaelischen, fand die Orthographie Macpherson's fehlerhaft und schrieb deshalb das ganze Manuscript noch einmal um. John Makenzie sollte nun den Druck einleiten; da starb auch dieser, und sein Sohn George übergab nun die sämmtlichen Manuscripte der Lon- doner Highland Society. Diese ernannte den 17. Mai 1804 eine Commission. MacFerlan fertigte eine vortreffliche latei- nische Interlinearversion, welche den gaelischen Text Wort für Wort wiedergiebt und dadurch die Leetüre desselben in hohem

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Grade erleichtert. Mit dieser Uebersetzung erschien nun das Werk: „DanaOisein mhicFinn. The poems of Os- sian." London 1807. Der vollständige Titel der von Mac- pherson beabsichtigten, aber damals nicht zu Stande gekom- menen Ausgabe des gaelischen Originals ist: „The poems of Ossian in the original Gaelic, with a literal trans- lation into Latin by the late Robert Macfarlan etc. Published und er the sanction of the Hig bland So- ciety of London." Die „hochl an dis che Gesell s chaft" Hess nämlich viele von den Personen, deren Abschriften von Liedern oder mündliche Ueberlieferungen Macpherson bei seiner Sammlung benutzt hatte, ihre Aussagen gerichtlich deponiren und beschworen, um so die Echtheit der Gedichte ihres grossen vaterländischen Barden über allen Zweifel zu erheben. Nach dem Urtheile ausgezeichneter irischer Gelehrten und gründlicher Kenner der gaelischen Sprache unterliegt es keinem Zweifel, dass Macpherson's sogenannte englische Uebersetzung ein, aus Jugenderinnerungen hochländischer Liederbrocken mannigfacher Leetüre, besonders aber irischer Volkssagen und Liedermärchen, zusammengesetztes Original, die sogenannten 1807publicirten gae- lischen Originale aber eine von ihm im heutigen corrumpirten er- sischen Dialekte verfasste Uebersetzung des englischen Originals ist.

Wir gehen nun zu dem Streit über die Echtheit der Ge- dichte Ossian's über und schliessen diese Abhandlung damit, dass wir 1) eine kurze Geschichte der Ausgaben, Uebersetzun- gen und Nachahmungen Ossian's ; 2) Sammlungen ossianischer und anderer keltischer Gedichte nach der Macpherson'schen ; 3} Schriften zum Erlernen und zur Kenntniss der alten kel- tischen oder gallischen Sprache und endlich 4) Schriften zur alten Geschichte und Geographie von Schottland anführen, und wir hoffen, dass diese Anführungen zum besseren Verständniss nicht unwillkommen sein mögen. Ganz am Ende sind die Schriften zur Erläuterung und Beurtheilung des Ossian auf- geführt.

Gleich nachdem James Macpherson die Gedichte des keltischen Barden in der englischen Uebersetzung herausgegeben hatte (1763), erhob sich der Streit über deren Echtheit. Der stärkste Gegner derselben war Johnson, wie aus dessen

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146 Ueber Ossian.

Briefe, den Bos well in denMemoirs of the lifeof John- son im 2. Bande bekannt gemacht hat, hervorgeht. Allein ihn scheint sein Nationalvorurtheil gegen die Schotten verleitet zu haben, dass er über die Grenze der Wahrheit hinausging und Alles für unecht erklärte, was, im Grundgewebe echt, nur der bessernden und zusammensetzenden Hand Macpherson's bedurft hätte, Johnson gab einem Freunde auf die Frage, ob irgend ein jetzt lebender Mann ein solches Buch, wie der Ossian sei, schreiben könne, zur Antwort: „O ja! mancher Mann, manche Frau, manches Kind!" Er meinte Macpherson, gegen den er jedoch im Umgänge nicht die mindeste Feindseligkeit zeigte, weil er die Streitigkeiten, die er als Schriftsteller hatte, von denen, die er als Mensch hatte, zu unterscheiden wusste. Johnson fand daher auf seiner Reise in die Hochlande nichts, weil er nichts finden wollte. Indessen haben viele Reisende nach ihm bestätigt, dass mehrere dieser Gesänge noch in dem Munde der Schotten des Hochlandes leben. Macpherson sollte sagen, woher er jedes einzelne Stück bekommen hätte. Er legte darauf zu seiner Rechtfertigung einige ersische H.and- schriften zur Einsicht und Untersuchung anderer bei seinem Buchhändler in London nieder; Niemand bemühte sich jedoch, dieselben zu prüfen. Späterhin, als Macpherson Staatsmann und Mitglied des Parlaments für "Camelford wurde, nahm er gar keinen Antheil mehr an diesem Streit, sondern überliess die Führung desselben Anderen. Es erschienen: Remarks on Fingal, by Ferd. Warner 1762; darauf: Fingal re cl ai med 1763, welches wahrscheinlich gegen „Warner's Re- marks" gerichtet ist, da es in dem Register der Reviews Mac- pherson zugeschrieben wird. Auch in dem „Journal des Sa vant s " vom Jahre 1764 findet sich ein Memoire sur les poesies de Macpherson, deutsch im 1. Bande der „Unter- haltungen", von einem Irländer, worin die ossianischen Ge- dichte zu irländischen Producten gemacht werden. Eine ähn- liche Behauptung findet sich auch im „Essay on the anti- quityoflrish language." cfr. Walch's philol. Bibl. Bd. 2, St. 7. Geradezu für untergeschoben werden Ossian's Gedichte erklärt in „An inquiry into the authenticity ofthe poems ascribed to Ossian, by W. Shaw, author ofthe Gallic dictionary and grammar. London 1781

UeLier Os.slan. 147

und 1783. (cfr. Bibli othek der schönen Wies enschaften und Künste. Bd. 27, St. I, S. 146.) Endlich sind auch in Bodmer's Ap oll in ari en, herausgegeben von Stäudlin, Zweifel gegen die Echtheit der caledonischen Gedichte geäussert, (cfr. S. 357—366.)

Es fanden sich aber auch mehrere Männer, welche die Echtheit jener Gesänge gegen Zweifel und Einwürfe zu retten suchten. Wir wollen dieselben hier anführen: 1) Gegen John- son's Behauptungen ist eine Schrift gerichtet, welche den Titel führt: Remarks on D. S. Johnson's Journey to the Hebrides by Donald M. Nicol, 1780. 2) Gegen Shaw schrieb Clark: „An answer to Mr. Shaw 's inquiry into the authenticity of Ossian, by John Clark. London 1782." (cfr. a rejoiner, by W. Shaw 1784; auch „the Ossian controversy stated, London Magazine Nov. 1782" und im deutschen Museum Febr. 1783.) Vorzüglich bemühten sicli Lord Kaims in sketches, Dr. Blair, Macpherson und John Smitli in eisfenen Abhandluni^en Ossian's Echtheit gegen die gemachten Einwürfe zu schützen.

Besonders hervorzuheben ist Hugh Blair 's critical dissertation on the poems of Ossian, London 1763; angehängt ist: an appendix, containing a variety of undoubted testimonies establishing their authen- ticity; französiscli im 1. Bande der „Varietes litteraires" S. 227, und deutscli von Otto Aug. Heinr. Oelrichs. Han- nover und Osnabrück 1786. Sie hätte schon von Denis seiner deutschen Uebersetzung des Ossian sollen zugegeben werden. Macpherson's Abhandlungen über das Alter der ossianischen Gedichte, welche er der Temora zugegeben hat, hat Denis im 2. Bande seines Ossian deutsch übersetzt.

Nach diesen Allen hat auch noch John Smith seinen „gallischen AI t erthümern" eine Abhandlung über die Echtheit der ossifinischen Gedichte, nebst einer Ge- schichte der Druiden, beio^efüo^t. Diese beiden Abhand- luno-en sind als unkritisch getadelt; indessen ist es nicht un- wichtig, auch das, was Smith nach seinen oben angeführten Vorgängern zum Beweis der Echtheit ossianischer Gedichte gesagt hat, nachzulesen. Was Smith's Geschichte der Druiden,

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besonders der caledonischen, betrifft, so haben wir zwar bereits sehr gelehrte Untersuchungen von Frick, Schurz fleisch, Obre cht, Dupleix, Pelloutier u. a. über denselben Gegenstand, aber die meisten von diesen entlehnten ihre Nach- richten aus griechischen und römischen Schriftstellern, die der Landessprache und Sitten der Kelten nicht genug kundig waren, um nicht manches, was sie von den Kelten hörten oder bei ihnen sahen, nach ihren eigenen Denkarten und Sitten zu be- urtheilen und darauf anzuwenden. Smith dagegen versichert aus den Quellen geschöpft zu haben, d. h. aus der Sprache der Kelten selbst und aus Sitten und Gewohnheiten, die von Alters her unter den schottischen Hochländern noch vorhanden sind, wo die Druiden sich am längsten behaupteten.

Dass die ossianischen Gedichte durchaus ein Werk der Macpherson'schen Feder sind, wird wohl Niemand mehr ernst- lich behaupten, der für den in denselben durchweg lebenden Geist hoher Einfachheit und Kraft des Alterthums Sinn und Empfänglichkeit hat; aber es lässt sich auch keineswegs leug- nen, dass sie in ihren einzelnen Theilen und ihrer Verbindung, so wie in einigen Stellen die überarbeitende, nachbessernde, oder doch ändernde Hand ihres Herausgebers ebenso mögen erfahren haben, als die homerischen Gedichte. Ohne Zweifel vereinigte Macpherson mit seinen grossen Kenntnissen von den Sitten der Caledonier alle übrigen Eigenschaften, die zur Wie- derbelebung so alter Gedichte gehörten. Der Verfasser dieser Abhandlung kann aus eigener Erfahrung versichern, dass er sich hiervon durch Vergleichung keltischer Bardengesänge, wie er sie aus dem INhuide einiger Irländer auf seinen Reisen durch Irland im Jahre 1871 und 1872 hörte, überzeugt hat. Gräter in Schwäbisch Halle, der Verfasser der „nordischen Blumen", welcher sich viel mit dem Studium der keltischen Originale von Ossian, Orran und UlHn beschäftigt hat, urtheilt, dass die keltische Sprache viel schwerer als die scandinavische sei, und dass jene mit dieser gar keine Verwandtschaft habe. Gräter erklärte im Jahre 1791 ganz offen, dass er aus dem Wenigen, was er bisher übersetzt habe, sehe, wie wenig bisher Ossian's Ton und Geist aus Macpherson's englischer Ueber- setzung in Deutschland bekannt sei ; Macpherson's Uebersetzung sei mehr Paraphrase als treue Copie. Können wir deslialb

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nicht mit Recht vermuthen, class Macpherson bei der Ausgabe seiner Sammlung eben so verfahren habe, als John Smith in der Vorrede zu seinen vorher angeführten „gallischen Alter- thümern" bei Veranstaltung seiner Ausgabe dieser alten kel- tischen Gedichte verfahren zu haben offenherzig gesteht? Seine Worte sind folgende: „Ich fand bei Nachforschung in die tiefer liegenden und gebirgigeren Theile der Hochländer hinein viele Stücke von keinem geringeren Verdienste, obgleich wenige da- von ganz oder unverstümmelt waren. Was in dem Falle das natürlichste sich zu helfen schien, war, aus verschiedenen Gegenden so viel Ausgaben als möglich zu sammeln, um das Mangelnde zu ergänzen oder die Fehler der einen durch Hülfe der andern zu berichtigen. Dies ist seit verschiedenen Jahren mein Geschäft gewesen, da ich mich in verschiedenen Theilen der Westhochländer aufgehalten, wo eine gebirgige Lage oder eine weniger strenge Aeusserung der Gewalt der gaelischen Muse eine kleine Freistätte verschaffte." Ehe der Verfasser dieser Abhandlung die eigenen Worte des Schriftstellers weiter anführt, muss er zur Erklärung der Worte „in verschiedenen Theilen der Westhochländer" hinzufügen, dass Macpherson sich bei seiner Bemühung, ossianische Gedichte aufzusuchen, haupt- sächlich auf die mehr nördlichen Theile der Hochländer ein- geschränkt hatte. Wir nehmen den Faden der Erzählung wieder auf und lassen den Schriftsteller selbst reden : „Nachdem ich die Materialien gesammelt, so war die wichtigste Arbeit, die verschiedenen Ausgaben zu vergleichen, verschiedene Theile, die offenbar falsch waren, wegzuwerfen, einige Episoden, die auf einander eine nähere Beziehung zu haben schienen, obgleich sie besonders angeführt wurden, zusammenzufügen, und einigen Begebenheiten, die aus einem Gedichte ins andere gestossen zu sein schienen, ihre eigenthümlichen Stellen wieder anzuweisen. Bisweilen war es unvermeidlich, einige Zeilen oder Gedanken einzuschieben, um einige Episoden zu verbinden und den Leser durch einen Bruch hindurchzuführen, der sonst eine Lücke würde geblieben sein." Hieran knüpft der Verfasser dieser Ab- handlung die Bemerkung, dass Macpherson die wesentlichsten Veränderungen oder Versetzungen, die er gemacht hat, in den Noten zu jedem Gedichte angezeigt hat. Auch hat er es in den Noten augegeben, so oft er einige Zeilen oder Gedanken

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eingeschoben hat. Der Schriftsteller fährt fort: „Sollte es ja noch einer Rechtfertigung in Ansehung dieser Freiheiten be- dürfen, so kann ich hinzusetzen, dass ich in meinen Muth- maassungen mich von den Ueberlieferungsmähren oder Sgeu- lachds habe leiten lassen und aus ihnen meine Zusätze selbst genommen habe, da jene immer die alten gaelischen Gedichte begleiten und erklären, und immer ganz bleiben, wenn auch die Gedichte selbst zu blossen Erzählungen herabgekommen sind." Zur Erklärung dieser Stelle diene Folgendes : Der Stil dieser Mähren ist sehr bilderreich und poetisch, und die Gedanken und Worte sind sehr wohl geordnet, so dass sie sich dadurch dem Gedächtnisse und der Einbildungskraft desto leichter und tiefer einprägen. Die Länge dieser prosaischen Erzählungen, sagt Macpherson, sei so ausserordentlich, dass das vollständige Hersagen einiger mehrere Tage erfordere. Sie seien aber dem Gedächtnisse to tief eingeprägt, dass wenige Umstände selbst von denjenigen ausgelassen würden, die sie nur durch die münd- liche Ueberlieferung erhalten haben ; selbst die Sprache der Barden sei darin beibehalten; so äussert sich Macpherson in einer Anmerkung über Lath-Loda, Duna der Erste. Dieselbe Nachricht hat von den irländischen Erzählungen lange vorher W. Teraple gegeben, (cfr. Miscell. Bd. 2, S. 341.) Hieraus sollte man fast schliessen, dass die Länge der ossianischen Ge- dichte Fingal und Temora keinen Einwurf gegen die Echt- heit der Ueberlieferung abgeben könne. Wir nehmen den Faden der Erzählung des Schriftstellers wieder auf, der folgender- maassen fortfährt: „Wo diese P]rzählungen mir nicht einiges Licht gegeben haben, bin ich immer so gewissenhaft gewesen, nicht Aveiter zu gehen, und habe daher verschiedene Lücken gelassen, weil ich mir sagte, dass, wo kein ander Mittel war, als sie durch Einbildungskraft auszufüllen, jeder Andere eben so viel liecht als ich hätte. So sparsam ich übrigens mit irgend anderen Veränderungen, die nicht nothwendig waren, gewesen bin, so fühle ich doch, dass die Gestalt der Gedichte sehr vei'- ändert von derjenigen ist, wie man sie in der oder jener ein- zelnen Ausgabe findet, aus der ich sie zusammengetragen habe. Sie haben etwas mehr von dem Scheine der Regelmässigkeit und Kunst angenommen, als sie in der Gestalt haben, worin man sie meistentheils trifft."

Ueber Ossiau. 151

So höchst wahrscheinlich es ist, dass Macpherson die von ihm gesammelten Gedichte eben so überarbeitet habe, als Smith bei seiner späteren Sammhing es gethan zu haben bekennt, so ist es mir auch nicht unwahrscheinlich, dass einige Gedichte, welche Ossian's Namen tragen, von anderen gleichzeitigen oder später lebenden Barden gedichtet sind. Der königliche Barde hatte bei seinen Lebzeiten den grössten Namen vor allen seinen Mitbrüdern erhalten. Er verdunkelte manche derselben daher auch leicht bei der Nachwelt. Es wurden ihm daher auch wohl manche Lieder in der Folge zugeschrieben, welche die Früchte anderer Dichtergenies waren, wie es derselbe Fall mit einigen dem Salomo zugeschriebenen Schriften und mit mehreren der achtundvierzig Gesänge, welche Homer's Namen führen, ge- wesen sein mag. Die Gleichheit der Denkart und des dich- terischen Stils ist ein schwacher Beweis für die Identität des Verfassers in einem Zeitalter, wo weder die Mehrheit der Stände, welche noch nicht vorhanden ist, eine besondere Verschiedenheit der Sprechart, noch die Mannigfaltigkeit der Dichtungsarten, welche ebenfalls noch nicht stattfindet, einen Unterschied der verschiedenen poetischen Stile hervorgebracht hat.

Dass der Plan und die Anlage des Ganzen in den grös- seren Gedichten Fingal und Temora ein Werk Macpherson's sei, scheint mir ebenfalls nicht zweifelhaft zu sein; aber nicht, als ob der alte Sänger, noch von der Hülfe der Schrift ver- lassen, ein so langes Gedicht nicht hätte allein mit der Phan- tasie dichten und im Gedächtnisse festhalten können. Wer weiss es nicht, dass Naturvölker oft eine bewunderunofswürdio-e Kraft des Gedächtnisses haben, welche Luxus und Ueppigkeit schwächen? Welcher Gelehrte kennt nicht die auffallenden Bei- spiele eines grossen Gedächtnisses, auch selbst unter cultivirten Völkern, die Kunst der Rhapsoden und avroayhSiaQövTic. unter den Griechen, der Improvisatore unter den Italienern, der Bar- den und Druiden unter den Germanen und Gelten? Hierzu kommt, dass diese Meditation der Gesänge mit der Phantasie ohne flülfe der Schrift, und das Festhalten jener im Gedächt- niss das eigenthümliche tägliche Werk und Studium jener Män- ner war, wozu sie viele Jahre hindurch, wie die jungen hebräi- schen Sänger, in sogenannten Prophetenschulen vorbereitet wurden. So erzählt Caesar im Bell. Gall. 6, 14 wenigstens

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von den Druiden, und etwas Aehnliches erzählt auch von Os- sian's Volke Thornton in den Transactions ofthe Ame- rican philos. Society at Philadelphia ßd. 3, S. 314 f. Er erzählt, dasa es noch jetzt in jenem Volke Greise gebcj welche eine solche Menge alter Gesänge im Gedächtnisse be- wahren, dass sie den schnellsten Schreiber Monate hindurch durch das Dictiren derselben beschäftigen könnten. Also nicht aus dem Grunde der Unmöglichkeit, ein aus mehreren Gesän- gen bestehendes Gedicht ohne die Beihülfe der Schrift mit dem Geiste zu empfangen und zu behalten, dürfen wir zweifeln, dass der Plan und die Anlage des Ganzen im Fingal und Te- mora Ossian's Werk sei, sondern weil die Anlage eines grös- seren Ganzen nicht in dem Geiste früherer Zeitalter ist; sonst wäre ja die Kunst der Composition vor der Einfachheit mit einem varegoy jiQOTtQov vorausgegangen. Es ist derselbe Grund, mit welchem Wolf, cfr. proleg, ad Homerum S. 125, die Mei- nung, als habe Homer das grosse Ganze der Iliade und Odyssee planmässig empfangen, erschüttert hat.

Hierzu kommt, dass es sich aus den oben angeführten, neu aufgefundenen alten gaelischen Gedichten in den Trans- actions of the Academy ergiebt, dass Macpherson zwar aller- dings alte ersische Gesänge vor sich hatte, dass aber die Zu- sammensetzung und der Plan des Ganzen im Fingal ganz sein Werk sei; ebenso, dass er viel verschönert und die Geschichte in frühere Zeiten und an andere Plätze versetzt habe, da sie eigentlich nach Irland und in St. Patrik's Zeiten, in das fünfte Jahrhundert gehörte. S. 106 ist der Stoft' zur Temora, der Tod von Oscar ; auch ist es merkwürdig, dass hieraus klar wird, dass das sogenannte Gebet von Ossian eigentlich ein Dialoec zwischen ihm und St. Patrik sei.

James Macpherson machte Ossian's Gedichte zuerst bekannt in enghscher Sprache in den „Fragments of an- cient poetry, collected in the Highlands of Scot- land. Edinburg. 1760, übersetzt von J. A. Engel brecht unter dem Titel „Fragmente der alten hochschottlän- di sehen Dichtkunst". Hamburg. 1764. Darauf kam einzeln heraus: Fingal, London. 1760 tmd 1762. Nachher forschte Macpherson im nördlichen Schottland weiter nach und

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sammelte aus Gesängen, die unter dem Volke gangbar waren, aus mündlichen Nachrichten und Handschriften die übrigen Lieder. Es erschien Temora, London. 1763, mit einer Ab- handlung und einigen Stücken des Originals; dann alle Gedichte vollständig unter dem Titel: „The works of Ossian" 17ß5, 1773 und öfter. Macpherson wählte mit Recht für seine Uebersetzung die Prosa. Wenn durch diese einerseits auch der dichterische Rhythmus und Wohllaut verloren geht, so wird dagegen die Einfalt und Stärke der Gedanken, die Freiheit und Würde des Ausdrucks bei so alten Gedichten eher erhalten, welche die Fesseln des Metrums bei Uebertragung eines Ori- ginals gar leicht beschränken oder verdrängen. Gedichte, wie die ossianischen, haben ihren Einfluss auf fühlende Herzen ohnedies nicht dem Wohllaut zu verdanken. Es wird also besser sein, diesen aufzuopfern und die Macht der Gedanken zu erhalten. Uebrigens hat der englische Uebersetzer die Ge- dichte auch nach der Zeitordnung gestellt, so dass sie gleich- sam eine regelmässige Geschichte des Jahrhunderts , aus wel- chem sie stammen sollen, ausmachen.

In englische Verse ist jedoch nachher übersetzt der Fingal von Hoole 1772; von Ewen Cameron 1777; der Krieg von Ini Thona in den Poetic Effusions 1777. In demselben Jahre erschien eine Uebersetzung des Fingal zu Oxford. 1777.

Bald nach dem Erscheinen des englischen Ossian wurde er in alle europäische Sprachen übersetzt, obwohl in Frank- reich dieser erhabene Naturdichter weniger Beifall fand.

Selbst die französische Encyclopädie, deren ästhetische Ar- tikel sonst noch zu den besseren gehören, urtheilte nachtheilig von ihm. Der Verfasser des sich auf Ossian beziehenden Ar- tikels sagt unter anderem von ihm : „er sei ein Geist, genährt von grossen Ideen und Bildern der Natur, er habe aber nicht Mannigfaltigkeit genug." In's Französische übersetzt wurde Gart hon. London. 1762; mehrere Stücke, als C arthon, Ryno und Alpin, Shilrik, Connal, Oithona, Dar- thula, Lathmon, Comala in den „Varietes litteraires"; ferner Temora vom Marquis de St. Simon. Amsterdam. 1774. Le Tourneur, ein Uebersetzer, der Alles verstüm- melt, übersetzte sämmtliche Werke Ossian's, „Les Poösies

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d'Ossian." Paris. 1777, sehr frei. Ausserdem gab J. W. Lombard ein Werk heraus, welches den Titel trägt: „Essai d'unetraduction d'Ossian." Berlin. 1789; hierin ist aber nur der Fingal in schöne französische Verse übertragen. Später erschien: Hill, Les pocmes d'Ossian, Uliin et d'Ardar ou les delassements des a m es sensibles dans les beautes de la uature, traduction nouvelle de l'Anglais. Paris. 1796. Auch kamen zwei Nachahmungen: „Calthon et Clessamor". Paris. 1791. heraus.

In das Italienische wurde Ossian übersetzt vom Abt Cosarotti, der auch eine itahenische Uebersetzung des De- mosthcnes herausgegeben hat; Cesarotti übersetzte nämlich d^n Ossian in italienische reimfreie Verse. Padua. 1764; vollständig ebendaselbst 1772 und Nizza. 1780, mit Anmerkungen. In diesen Anmerkungen entwickelt er oft einzelne Schönheiten glücklich und stellt den Ossian gern dem Homer zur Seite; in der Uebersetzung hat auch er den alten Barden verschönert, und dadurch die Einfalt des Urg-esanges verwischt. In das Spanische übersetzte ihn J. A. Ortez. Valladolid 1788.

In lateinische Verse übersetzt gab das erste Buch der Temora heraus K. Macferlan. London. 1769.

Was die deutschen Übersetzungen betrifft, so ist Folgendes darüber zu bemerken: Nachdem J. A. Engelbrecht die bereits augeführten „Fragmente der alten hoch- schottlän d ischen Dichtkunst". Hamburg. 1764, heraus- gegeben hatte, übersetzte A. Wittenberg, Licentiat in Ham- burg, den Fingal, nebst einigen kleineren Gedichten. Ham- burg. 1764. Vierzehn Jahre später erschien Temora. Hamburg. 1778, in Jamben. Aber M. Denis übersetzte zuerst den ganzen Ossian. Wien. 1767 1769; eine verbesserte Aus- gabe gab der Verfasser mit seinen eigenen Schriften heraus 1784 und 1791, unter dem Titel: „Ossian's und Sined's Lieder." Diese Uebersetzung ist in Hexametern verfasst, die meistens wohlklingend und richtig sind. Das Eilende und Hüpfende derselben, wenn man sich so ausdrücken darfi passt freilich einerseits für die forteilende Rapidität der Handlung, wie sie z. B. im Fingal ist; aber andererseits wird dadurch, so wie durch die Einförmiakeit des Hexameters und durch den Zwang, der von dieser Versart unzertrennlich ist, die Darstel-

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lung der Kraft und überhaupt des eigenthümlichen Charakters des Originals gehindert. Denis erreicht daher nicht die rauhe Kürze, die abgebrochene Manier und die schöne Einfalt der Urschrift, obwohl seine Uebersetzung übrigens eine starke malerische Sprache und volle Perioden auszeichnen. Eine andere Uebersetzung in deutscher Sprache besitzen wir von V. Harold, einem gebornen Schotten, welcher als General in pfälzischen Militairdiensten stand ; er übersetzte mehrere Ge- sänge Ossian's, welche er in den „Rheinischen Beiträgen zur Gelehrsamkeit" veröffentlichte. Später übersetzte er den ganzen Ossian aus der englischen Uebersetzung in deutsche Prosa. Düsseldorf. 1775. Hierin machte er den Tod ßos- mina's zuerst bekannt, welches Gedicht vorher nie im Eng- lischen erschienen war. Er hatte das keltische Original von einem Freunde erhalten. Der Tod Bosmina's ist ein Gedicht voll Feuer, Pracht und Würde. Diese Uebersetzung von Ha- rold erreicht die Kürze, Kraft und Einfalt des Originals mehr als alle andern. Eine deutsche prosaische Uebersetzung, deren Verfasser der Prediger J. W. Petersen in Stuttgart ist, wurde zu Tübingen 1782 herausgegeben. Eine vollstän- dige Uebersetzung des Fingal gab Lenz. (cfr. Iris, Bd. 3 ff.) Andere Stücke erschienen in „den Leiden des jungen Wert her", im deutschen Museum (Fingal 's Höhle), 1776; in den Balladen und Liedern. Berlin. 1777. In den Volksliedern theilte Herder von folo-enden Stücken Uebersetzungen mit. Darthula's Grabesgesang; Fil- lan's Erscheinung und Fingal's Schildklang. In C. Reiner's Seh anspiele und Ge mälde. Duisburg. 1794, finden wir zwei gereimte Uebersetzungen auä Ossian. In Bürger's „sämmtlichen Schriften", Bd. 4 stehen: Pro- ben einer Uebersetzung von Ossian's Gedichten, nämlich Karrik-Th ura; Komala, ein dramatisches Gedicht; und Kath-Loda, ein Gedicht in drei Gesängen. Hieran schliessen sich: „Proben aus Ossian", von L. Schub art, im „Neuen deutschen Merkur", 1799. „Ossian's Fingal" von W. Schröder. Erlangen. 1800; und eine voll- ständige Uebersetzung aller Gedichte Ossian's von J. G. Rhode. Berlin. 1800. Ossian's Sonn e n gesan g

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aus dem Gedicht Carthon steht in Schiller's Antho- logie auf das Jahr 17 82.

Aus den ossianischen Epopöen würde sowohl der Dramen- und Operdichter als auch der jNIaler und Künstler so manchen trefflichen Stoff zur Bearbeitung entlehnen können, cfr. Sul- zer's Theorie der seh. W. (Artikel Oper und Artikel Ossian.)

Wir besitzen bereits : Fingal in Lochiin, ein Schau- spiel in fünf Aufzügen. Dessau. 1783. Inamorulla oder Ossian 's Grossmuth, ein Schauspiel in fünf Aufzügen. Dessau. 1783.

Alle früheren deutschen Uebersetzungen Ossian's, nament- lich von Denis, Harold und Khode, wurden nach der eng- lischen Bearbeitung Macpherson's gemacht, leiden also noth- wendigerweise an denselben Mängeln wie diese. Da gab end- lich Christian Wilhelm Ahlwardt im Jahre 1811 zuerst eine durchaus getreue metrische Uebersetzung des Dichters in 3 Bänden heraus, die gleich dem deutschen Homer von Voss, dem Tasso und Ariost von Gries eine Ziercle unserer deut- schen Literatur bildet. Sie führt den Titel: Die Gedichte Ossian's aus dem Gaelischen, im Silbenmaasse des Originals, von Christian Wilhelm Ahlwardt, Leipzig bei Goeschen, 1811. Der Verfasser, 1760 zu Greifswald ge- boren, durch gründliche classische Studien gebildet und durch Arbeiten über Theokrit, Kallimachus und Aeschylus, sowie durch Proben metrischer Bearbeitungen des Ariost und der Lusiade des Camoens rühmlichst bekannt, ist mit Liebe und Begeisterung für seinen Dichter erfüllt, dessen Sprache er von einem <z;eborenen Gaelen zu erlernen Geleoenheit fand 'und in dessen äusserer wie innerer Welt er vollkommen heimisch ist.

Zuletzt und am besten übersetzt ist Ossian von Böttger. Leipzig 1847.

Nachdem die Macpherson'sche Sammlung im ganzen gebil- deten Europa so viel Aufsehen erregt hatte, so bemühte man sich, noch mehrere Sammlungen thcils Ossianischer, theils an- derer gleichzeitiger oder späterer gaelischer Gedichte zu ver- anstalten.

A. Ossianische Gedichte sollen folgende Werke sranz oder zum Tlieil enthalten:

üeber Ossian. 157

1) The works of the Caledonian Bärds, trans- lated fi'om the Galic. London. 1778. Deutsch unter dem Titel: „Die Werke der caledonischen Barden". Leipzig. 1779.

2) Gleich darauf gab John Smith, ein Prediger in Kil- brandon in Argylcsiiire, eine neue Sammlung alter aus dem Gaelischen ins Englische übersetzten Gedichte des Ullin, Os- sian, Orran u. s. \v. unter dem Namen „Gallischer Alter- thümer". Edinburg, 1780, heraus. Diese sind aucli aus dem Englischen des J. Smith ins Deutsche übersetzt und bei Weid- mann in Leipzig 1781 erschienen. Der deutsche Uebersetzer scheint sich genau an die Worte des englischen Originals zu halten; er drückt mit Recht die Kühnheit der Metaphern und Bilder und selbst das Eigenthümliche in der Bindung der Wörter aus, um das ursprüngliche Colorit nicht zu verwischen. In den Anmerkungen hat er zuweilen Stellen des keltischen Urgesanges zur vergleichenden Beurtheilung beigebracht und ist darin dem englischen Gelehrten gefolgt. Die Original- gedichte, deren Lieferung Smith in den gallischen Alterthümern versprochen hatte, erschienen 1787 und einiges ist auch daraus in's Italienische übersetzt worden. L. Th. Kosegarten's Blumen. Berlin. 1801, enthalten meistens Uebersetzungen aus Smith's „Galic Antiquities". Ebenso ist „die Schlacht von Lava oder das Lied vom Greise", ein keltisches Gedicht aus dem 13. Jahrhundert, aus Smith's Galic x\ntiquities vom Prof. Meyer im Jahre 1792 übersetzt und in dem Augusthefte der deutschen Monatsschrift in demselben Jahre veröffentlicht worden.

3) E. V. Harold gab auch noch eine Nachlese ossianischer Gedichte unter dem Titel: „Poems of Ossian lately dis- covered by Edmond Baron de Harold". Düsseldorf. 1787, heraus. Dies sind einige Fragmente alter Lieder, welche sich durch Tradition erhalten hatten, und die er durch seine Freunde in Schottland sammeln liess. Die Stücke sind alle nur kurz, aber die Einkleidung ist auch hier neu. Eine deutsche Ausgabe davon erschien unter dem Titel: „Neu entdeckte Gedichte Ossian's, übersetzt vom Baron v. Harold". Düsseldorf. 1787; zweite Auflage 1798. Im Jahre 1800 er- schien Sei am a, eine neu entdeckte köstliche Reliquie Ossian's, vom General von Harold mitgetheilt ; im Jahre 1801 erschien Timara, eine keltische Reliquie, von Harold. Es ipt zu zwei-

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fein, ob diese Reliquien, welche in Aschenberg's Bergischem Taschenbuche zur Belehrung und Unterhaltung in den Jahren 1800 und 1801 veröffentlicht wurden, gei-ade von Ossian her- rühren, aber es weht doch darin ein dem seinigen nahe ver- wandter Geist.

4) Edward Jones gab einen schätzbaren Beitrag zur älteren Geschichte der Poesie und Musik, besonders der wali- sischen oder welschen Barden, unter dem Titel: „Musical and poetical relicsofthe Welsh bards, preserved by tradition and authentic manuscripts, never before published". London. 1785, heraus. Die Sammlung ist sehr zahlreich.

5) Ancient Erse poems. London. 1784. Sie waren vorher stückweise in „the Gentleraan's Magazine", Bd. 52 u. 53, erschienen. Sie sind bekannt gemacht von Thomas Ford Hill, der lange Zeit für Alterthümer und Länderkunde reiste und zu Aviana in Apulien im Jahre 1795 starb. Seine erste Reise machte er nach Schottland im Sommer 1780, um sich von der Echtheit der ossianischen Lieder, die eben damals am heftigsten bestritten wurde, durch Aufsuchung der Ueber- reste der ersischen Sprache in dem Hochlande selbst zu über- zeugen. Die Früchte dieser Reise waren scharfsinnige Beob- achtungen über den Ossian und jene ersischen Lieder.

6) „Vier neu entdeckte Gedichte Ossian 's", ge- sammelt im Hochlande von Schottland durch Dr. Young, erschienen in den „Transactions of the Royal Irish Aca- deray". Dublin. 1787. Das Original ist mit einer englischen Uebersetzung begleitet. Sie waren zum Theil schon zu Perth 1786 durch einen Buchdrucker, Namens Gillies, gedruckt. Auch daraus ergiebt sich, dass Macpherson alte galische Ge- sänge vor sich gehabt, dass er aber verschönert, und dass er besonders den Plan des Ganzen im Fingal zusammengesetzt habe. Ins Deutsche sind diese vier neu entdeckten Gedichte Ossian's ebenfalls übersetzt und unter dem Titel: „Neu auf- gefundene Gedichte Ossian's" zu Frankfurt 1792 er- schienen.

Meerane. A. F. Nicolai,

Oberlehrer.

Beiträge

zur

Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes.

Von

Ed. Tiessen.

IX. King Lear.

(A. I. Sc. 1.) Election makes not np on such conditions.

Delius erklärt: „Die Wahl schliesst nicht ab, entscheidet sich nicht, bei solchen Bedingungen." Das Verbuni to make up ist hier indess elliptisch in derjenigen intransitiven Bedeu- tung gebraucht, in der es sonst mit to somebody oder to some- thing verbunden zu werden pflegt : Unter solchen Bedingungen tritt oder wagt sich die Wahl an ihren Gegenstand gar nicht heran.

(Ibid.) And well are worth the want that yon have wanted.

Das heisst nicht: die Entbehrung „die Ihr erfahren," son- dern: die Ihr gewollt habt.

(Ibid.) There is further compliment of leave-taking between France and him.

D. : „Es wird noch weitere Abschiedsceremonien zwischen dem Könige von Frankreich und Lear geben." Lear hat den König von Frankreich schon mit den Worten verabschiedet: be gone, without our grace, our love, our benison. D. fasst diese Worte zwar als an Cordelien gerichtet auf, indess lassen die unmittelbar folgenden : Come, noble Burgundy, mit denen Lear Frankreich den Rücken wendet, keinen Zweifel über die rich- tige Bedeutung. Es kann also von weiteren Abschiedscom-

160 Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes.

plimenten zwischen Lear und Frankreich nicht die Rede sein; die hier vorliegende Stelle ist als Anknüpfung an den von Regan ausgesprochenen Gedanken: Such unconstant Starts are we like to have from him, as this of Kent's banishraent, und als Fortsetzung desselben aufzufassen; man wird sich mithin entschliessen müssen zu lesen: There is to be, oder there Avill be, further complement (nicht compliment) of the leave-taking between France and him.

(Sc. 2.) Wherefore should I

Stand in the plague of custoin, and permit

The cnriosity of nations to deprive me,

For that I am some twelve or fourteen moonshines

Lag of a brother.

In As You Like It, welches das heitere Janusgesicht zu dem ernsten des Lear bildet, spricht ein anderer jüngerer Bruder denselben Gedanken aus : The courtesy of nations allows you my better, in that you are the first-born. Im Hinbhck darauf möchte ich aus der Incorrectheit des Verses: The curiosity of nations to deprive me, den Schluss ziehen, dass Sh. auch hier courtesy, nicht curiosity, geschrieben habe. Irgend ein Ab- schreiber oder erster Herausgeber, der courtesy nicht durch höfischen Brauch oder Höflingsthum, sondern nur durch Höflich- keit zu erklären wusste , mag darin einen Widerspruch mit to deprive me gesehen und curiosity an die Stelle gesetzt haben. (Sc. 4.) That such a king should play bo-peep.

D.: „Bo-peep ist eine jetzt nicht mehr gebräuchliche Be- zeichnung eines Versteckenspielens." To play at bo-peep ist unter englischen Kindern als Bezeichnung des Versteckenspie- lens noch jetzt gäng und gäbe. In einem Kinderreim heisst es : Little bo-peep went fast asleep : Bo-peep ist das Kind, welches im Winkel stehen muss, während die andern sich ver- stecken.

(Ibid.) That it had it head bit ofF by it young.

Hier ist it wohl nicht eine ältere Form für its, sondern eine kindlich unvollkommene Aussprache von its, wie in King John: Go to it grandam, child; give grandam kingdom, and it gran- dam will etc.

Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Sbakespeare-Textes. 161 (Ibid.) The untented woundings of a father's curse.

Das sind nicht Verwundungen, die nicht gestopft, sondern die wegen ihrer Tiefe nicht einmal sondirt werden können.

(Sc. 5.) To take it again perforce!

Dies kann sich sicherlich nur auf Goneril's Gewaltthätig- keif, nicht auf eine Absicht Lear's beziehen, das Fortgegebene Aviederzunehmen.

(A. II. Sc. 1.) Intelligence is given where you are hid:

D.: „Der Satz ist nicht so zu verstehen, als ob dieser Ver- steckplatz schon ausgekundschaftet sei." Ihn so zu verstehen, ist doch wohl das Natürlichste und unterliegt gar keinem Be- denken.

(Ibid.) have you nothing said

lipon his party 'gainst the duke of Albany?

D.: „Ob er nichts auf Seiten Cornwall's gegen Albany ge- sagt." Was könnte ihm das bei Cornwall schaden? Viel glaub- licher ist die Erklärung: Habt Ihr nichts über seine Parteinahme gegen Albany gesprochen ?

(Ibid.) Draw: seem to defend yourself. Now quit you well!

Aus D.'s Anmerkung: „Edgar soll sich der ihm von Ed- mund zugedachten Rolle gut entledigen," geht hervor, dass er in diesen Worten das Laut und Leise nicht richtig vertheilt. Sie werden in Verbindung mit dem Folgenden so gesprochen:

Laut : Draw !

Leise: Seem to defend yourself.

Laut: Now quit you well!

Yield : come before my father. Lights, ho, here! Leise: Fly, brother.

Quit you well heisst demnach . Nimm Dich zusammen ! In derselben Bedeutung steht das Verbum in As You Like It: He that escapes rae without some broken limb shall acquit him well.

(Ibid.) If 1 would stand against thee, would the reposal Of any trust, virtue, or worth, in thee, Archiv f. u. Sprachen. LVIII. 11

162 Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes.

Nach D.'s Meinung ist virtue or worth dem reposal of any trust coordinirt. Es ist aber ohne Zweifel zu construiren : the reposal of any trust, of any virtue or worth; würde man Dir soviel Zuverlässigkeit, Tugend oder Werth beimessen, um Deinen Worten zu glauben ?

(Ibid.) threading dark-eyed night,

D. unterlässt anzumerken, dass in dem eye in dark-eyed der Doppelsinn Nadelöhr steckt.

(Sc. 2.) hundred-pound knave,

Dies bedeutet weder Einen der hundert Pfund besitzt oder soviel zu verzehren hat, noch Einen, der nur hundert Pfund wiegt, also ziemlich leicht ist, sondern einen bettelhaften kleinen Junker, dessen Land bei der Einschätzung zur Grundsteuer nur auf hundert Pfund taxirt ist.

(Ibid.) one-trunk-inheriting slave,

Das heisst, nicht: der nur einen Koffer, sondern: der nur eine halbe Pluderhose besitzt oder geerbt hat; einer von zwei jüngeren Söhnen, deren väterliches Erbtheil zusammen in einer Pluderhose bestand.

(Ibid.) constrains the garb

Quite from his nature.

D. : „Garb ist die äussere Erscheinung, wie sie sich in Tracht und Haltung darstellt. Kent thut einer solchen Gewalt an, ganz im Widerspruch mit seiner eigentlichen Natur. Staunton fasst his nature als its nature, also auf garb bezüg- lich." — Staunton's Auffassung ist die richtige; garb heisst ferner nicht äussere Erscheinung, sondern Lebensart, das italie- nische garbo; in abgeleiteter Bedeutung Umgangssprache.

(Ibid.) though I should win your displeasure to entreat me to 't.

D. : „Wenn ich Euch auch in Eurem Missvergnügen dazu vermögen könnte, dass Ihr mich auffordertet, ein Spitzbube zu werden." Your displeasure, meint D., stehe in Kent's gesuchter Redeweise für you in your displeasure. Die gesuchte, euphui-

Beiträge zur F'eststelluiig und Erklärung des Shakespeare-Tfxtes 163

stisch alliterirende Redeweise hat Kent aber in seiner letzten Rede schon wieder aufgegeben. Dagegen ist sehr möglich, dass die Stelle mehrdeutig sein soll; entweder: wenn ich auch Ew. Ungnaden vermögen sollte, mich darum zu bitten; oder: sollte ich mir auch Eure Ungnade erwerben, indem ich mich von Euch vergebens darum bitten lasse; oder endlich: könnte ich mir auch selbst Eure Ungnade (als etwas mir sehr Erwünschtes) erwerben, wenn ich mich von Euch dazu erbitten Hesse.

(Ibid.) When he, compact, and flattering bis displeasurc,

Zu compact ist nicht, wie D. meint, with the king, his maeter, zu suppliren, sondern nur with, auf his displeasure be- züglich.

(Sc. 3.) no place

That guard, and most unusual vigilance Does not aftend my taking.

D.: „Für that, welches sich auf place bezieht, sollte nach genauerer Construction where stehen." Das ist ein Irrthum; die Construction ist: guard and most unusual vigilance attend my taking any place whatever.

(Ibid.) That ever penury, in contempt of man, Brought near to beast.

Auch in diesem Satze ist, entgegen der von D. gegebenen Erklärung, that das Object.

(Sc. 4.) Deliver'd letters, spite of intermission,

D.: „Allem Ausruhen zum Trotz, ohne nur eine Pause zu machen, in der Kent seinen Bescheid hätte erhalten können." Genauer erklärt, heisst die Stelle : Der Bote kehrte sich nicht daran, dass der Platz noch besetzt war.

(Ibid.) Till it cry „Sleep to death."

D. : „Till it cry ist nicht nothwendig auf drum zu beziehen, sondern vielleicht unbestimmt zu fassen = bis es ruft, bis der Ruf erschallt: Schlaft zum Tode!" Zu dieser Annahme liegt kein Grund vor. Der Trommelschlag soll den Herzog und die Herzogin durch Entziehung des Schlafs tödten.

11*

164 Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes.

(Ibid.) To be a comrade with the wolf and owl, Necessity's sharp pinch!

Delius übergeht die Schwierigkeit dieser Stelle mit der kurzen Bemerkung, necessity's sharp pinch sei Apposition zu dem ganzen vorhergehenden Satze. Viel ungezwungener erklärt sich die Lesart:

To be a comrade with tbe wolf, and howl Necessity's sharp pinch :

in Gemeinschaft mit dem Wolf des Bauchkneifen des Hungers beheulen (s. A. III. Sc. 1 : the belly-pinched wolf).

(Ibid.) If you will come to me

(For now I spy a danger), I entreat you,

Delius: „Will come ist hier als Futurum der Gegensatz zu now, zur Gegenwart." Ein schwer erklärliches Missver- ständniss. Die Stelle heisst auf deutsch: Wenn Ihr zu mir kommen wollt, so bitte ich Euch, da mir jetzt die Gefährlichkeit Eures grossen Gefolges sichtbar wird, etc. Nach Delius' An- sicht würde sie zu übersetzen sein: Wenn Ihr später zu mir kommen werdet, darin, dass Ihr jetzt gleich kämet, würde ich eine Gefahr sehen. Hiergegen spricht aber, dass der Satz nicht mit wheu, sondern mit if anfängt, und dass ferner zwar you will Ihr werdet heisst, der Begriff von: wenn Ihr werdet, oder : wann Ihr werdet, aber nur durch if you shall oder when you shall ausgedrückt werden kann. Sollte dies in den Gram- matiken nicht stehen, so würde das nur beweisen, dass in den Grammatiken eine Lücke ist.

(Ibid.) Those wicked creatures yet do look well-favor'd !

When others are more wicked, not being the worst Stands in some rank of praise.

Nach der üblichen Satztrennung steht hinter well-favor'd ein Komma und hinter wicked ein Semikolon; den passenderen Sinn, den nach Delius' Meinung die von ihm gewählte Inter- punction giebt, weiss ich nicht herauszufinden. Richtig gelesen heisst die Stelle: Jene gottlosen Geschöpfe, mit denen gleich- zeitig andere noch gottloser sind, sehen doch noch gut aus ; nicht das schlimmste zu sein ist immer noch eine Art von Lob.

Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes. 165

(A. III. Sc. 1.) Or swell the curled wtiters 'bove the main, Mit Unrecht erklärt Delius im Widerspruch zu den eng- lischen Commentatoren main hier als hohe See ; es kann nur das Festland bedeuten.

(Ibid.) unbonneted he rnns.

Delius bemerkt, unbonneted gebrauche Sh. als Metapher in Othello I. 2. Dort heisst aber: to speak unbonneted gerade umgekehrt: bedeckten Hauptes sprechen.

(Sc. 2.) O nuncle, court holy- water in a dry honse is better fhan this rain-water out o' door.

Delius: „Court holy-water bedeutet sprüchwörtlich, wie französisch eau benite de cour, schmeichlerische, gleissnerische lieden, eigentlich Weihwasser, mit dem man am Hofe besprengt wird." Ein Vicekanzler der Universität Cambridge, welcher Heinrich dem Achten im Jahre 1530 deren Gutachten in der Scheidungsfrage überbrachte, beschreibt in einem von Burnet mitgetheilten Briefe seine Unterredung mit dem Könige, und schliesst: Then his Highness departed, casting a little holy water of the court.

(Sc. 4.) Come, unbutton here.

Delius meint, dies sei wahrscheinlich eine Aufforderung an Kent und an den Narren , gleichfalls ihre Kleider abzuthun. Lear spricht zu seinen eigenen Kleidern: las^^t euch aufknöpfen; geht auf, Knöpfe.

(Ibid.) Our flesh and blood, my lord, is grown so vile, That it does hate what gets it.

Delius sagt, Gloster spreche von seinen Kindern. Er kann doch so nur von Edgar sprechen.

(So. 6.) Nero is an angler in the lake of darkness.

Nicht eigentlich im Gargantua, sondern im Pantagruel, wird Trajan als Angler nach Fröschen, Nero aber nicht als Geiger, sondern als Drehorgelspieler (vieilleux) in der Hölle aufgeführt.

(Ibid.) Look, where lie Stands and glares

!

16G Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes.

Hier kann nur von Goneril die Rede sein; statt he muss also she gesetzt werden.

(Ibid.) And for one blast of thy minikin mouth

Damit dürfte eher ein Kuss, als das Blasen auf der Hirten- flöte gemeint sein.

(Ibid.) Poor Tora, thy hörn is dry.

Edgar hat schon vorher gesagt, er könne vor Rührung seine Rolle kaum weiterspielen. Hier will er daher höchst wahr- scheinlich sagen, er sei mit seinem Latein zu Ende.

(Ibid.) Mark the high noises, and thyself bewray,

Delius: „High noises ist der Lärmen und Wirrwarr, der von den Grossen ausgeht oder die Grossen betrifft. Edgar stellt hier, wie durch den ganzen Monolog, seine Interessen als geringfügige und bescheidene den Angelegenheiten der Höheren cregenüber." Das thut er in dieser Stelle nicht mehr, sondern er sagt, was er zu thun vor hat: high noises sind die im Um- lauf befindlichen lauten Gerüchte von bevorstehender Fehde zwischen Lear's beiden Schwiegersöhnen. Diese Gerüchte will Edgar aufmerksam verfolgen und, sobald sie es ihm räthlich erscheinen lassen, aus seiner Niedrigkeit hervortreten.

(Sc. 7.) If wolves had at thy gate howl'd that stern time,

Thou shouldst have said, „Good porter, turn the key," All cruels eise siibscrib'd:

Hierzu bemerkt Delius nur: „Cruels = grausame Wesen, wird hier substantivisch gefasst und bildet demgemäss einen Plural, wie z. B. mortal, mortals. To subscribe - - sich fügen." Er würde also übersetzen : alle anderen grausamen Geschöpfe fügten sich. Dies wäre gerade an der Stelle, wo man den höchsten AfFect erwarten sollte, ein merkwürdiger Anticlimax. Die Stelle ist mir von jeher als eine der dunkelsten erschie- nen, und es hat mich überrascht zu sehen, wie spurlos die Herausgeber darüber hinweggegangen sind. Soviel halte ich einstweilen für sicher, dass subscribed nicht Imperfect des in- transitiven, sondern Particip des transitiven Verbums ist. Die

Beiträge zur Fosistellung uiul Eikliirung des Shfikespcare-Tcxtcs. 167

weitere Erklärung der Stelle wird durch die Möglichkeit er- schwert, dass cruels auch cruel'e heissen kann. In diesem Falle müsste man übersetzen : sonst ist alles Grausame eingeschränkt, alle andere Grausamkeit nichts gegen Deine; - wobei freilich ein zweites eise hinzugedacht werden müsste. Ist dagegen die von Delius in den Text gestellte Lesart richtig, dann ist der wahrscheinlichste Sinn : alle andere Grausamkeit zugegeben, d. h. so grausam Du sonst auch sein oder gewesen sein mochtest.

(A. IV. Sc. 3.) And clamour moisten'd:

Es ist keine Frage, dass dies heissen soll : she moistened clamour, mit dem Weihwasser, welches sie aus ihren himm- lischen Augen schüttelte.

(Sc. 4.) all the idle weeds that grow

In our sustaining corn.

Delius fasst sustaining corn als das nährende Korn im Gegensatz zu dem unnützen Unkraut. Es will mir scheinen, als gebe das Korn, welches dem Unkraut zur Stütze dient, noch einen tieferen Sinn; als einer der in diesem Stücke so häufigen Geisseihiebe gegen sociale Missstände.

(Sc. 6.) None does offend, none, I say, none; I'll able 'em : Take that of me, my friend, who have the power To seal the accuser's lips.

Es bedürfte nur einer kleinen Veränderung der Interpunc- tiou, um rU able 'em; take that of me, my friend, zu einem parenthetischen Einschiebsel zu machen; dann wäre der Sinn: Niemand sündigt, der die Macht hat, des Klägers Ijippen zu versiegeln. Der Uebergang vom Singular does in den Plural have wäre durch das them in der Parenthese vermittelt. Die Gründe für die eine und die für die andere Lesart halten ein- ander die Wage.

(Ibid.) the main descry

Stands on the hourly thought.

Delius fasst main als hauptsächlich und descry als Aus- kundschaftung; er findet die Ausdrucksweise seltsanj. Descry

168 Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes.

steht hier indess als Substantiv mit demselben Sinn, wie als Verbum in Othello: 1 cannot, 'twixt the heaven and the main, descry a sail, und in main steckt der BegriflF: the main army, so dass die Stelle zu übersetzen ist: wir erwarten stündlich, des feindlichen Hauptheeres ansichtig zu werden.

(Ibid.) Let not my worser spirit tempt me again.

Delius: Bei worser spirit denkt Gloster des vermeintlichen bösen Geistes, der ihn in der Maske eines besessenen Bettlers auf die Klippe bei Dover geführt. Der Entschluss, sich das Leben zu nehmen, steht bei Gloster wohl schon fest, ehe er mit Edgar zusammentrifft; hier denkt Gloster an das böse Theil seines eigenen Geistes.

(Ibid.) Ch'ill not let go, Zir,

Es ist ausser Zweifel, dass Edgar hier im Somersetshire- Dialekt spricht.

(Ibid.) or ise try.

Heisst nicht or eise try, sondern or l'll try.

(Ibid.) To know cur enemies' minds, we rip their hearts;

Wir trennen doch die Herzen unserer Feinde nicht auf, um ihre Gedanken zu erfahren ; wir würden es aber thun, wenn wir dadurch ihre Gedanken erfahren könnten. Die von Delius verworfene Lesart we'd rip gehört also unbedingt in den Text.

(Ibid.) the post unsanctified,

So nennt Edgar den Boten, nicht weil er das ungeweihte Grab erhält, sondern weil er es verdient hat.

(A. V. Sc. 3.) w'ell wear out,

In a wall'd prison, packs and sects of great ones,

Ich bin geneigt zu glauben, dass das Bild von dem Ab- nutzen von Kartenspielen entlehnt und dass statt sects sets zu lesen ist.

(Ibid.) Trust to thy Single virtue;

Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes. 169

Delius : „Thy single virtiie = Deine persönliche Kraft oder Tüchtigkeit." Dies macht nicht deutlich genug, welcher ruhige Hohn in den Worten liegt. Edmund ruft nach einem Herold, und Albany sagt: Du hast keinen Herold mehr, nach dem Du rufen kannst; Deine Soldaten sind entlassen.

(Ibid.) here is mine,

Behold, it is the privilege of mine honors, My oath, and my profession :

Delius erklärt, es sei das Vorrecht von Edgar's Ehre, Eid und Beruf, dass er sein Schwert ziehen dürfe. Der Sinn ist ein etwas anderer. Hier ist mein Schwert; siehe, es ist der ganze Freibrief meiner Ehren, mein ganzer durch Lehnseid gesicherter Besitz, und die einzige Urkunde meines kriegeri- schen Berufs.

(Ibid.) This would have seem'd a period

To such as love not sorrow; but another, Tg amplify too much, would make rauch more, And top extremity.

Delius erklärt another durch „ein Anderer"; ich halte another für: ein anderes Leid, und übersetze demgemäss would in would make nicht durch würde, sondern wollte.

(Ibid.) One of them \ve behold.

Delius erklärt, von den Beiden, die das Glück geliebt und gehasst, sei Lear Derjenige, den es gehasst habe. Wahrschein- lich meint Kent, dass Lear einer von Zweien ist, deren Jeden das Glück gleich sehr geliebt wie gehasst hat.

(Ibid.) Nor no man eise.

Dies ist durchaus nicht die Fortsetzung von Kent's vor- heriger Rede, sondern die Antwort auf Lear's : You are wel- come hither. Kent sieht, wie hoffnungslos abwesend Lear ist, und sagt: Weder ich bin willkommen, noch irgend wer sonst; Alles ist öde, dunkel und todähnlich. Er macht dann noch einen Versuch, durch die Nachricht von Goneril's und Regan's Tode einen etwa glimmenden Funken zu wecken, und nun sprechen auch Albany und Edgar aus, dass Alles umsonst ist.

170 Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes.

(Ibid.) What comfort to this great decay may come,

Dies bezieht sich sicher auf Lear und auf sonst nichts weiter.

(Ibid.) The weight of this sad time we must obey;

Die Schlussworte, im Sinne eines Chors gehaUen, spricht jedenfalls mit gröestem Recht der leidenschaftslose Albany.

Ueber die Art, wie in Schillers Jungfrau von Orleans

am Ende des 3. Actes die Katastrophe herbeigeführt wird.

Nach dem von Döring (Nr. 350) veröffentlichten, wenn auch unechten, so doch auf echten mündlichen Aeusserungen des Dichters beruhenden Briefe Schillers aus dem Jahre 1801 ärger- ten sich schon damals Viele über den „ganzen Handel mit der Verliebung (sc. Johanna's) in Lionel", und deren sind bis heute nur noch mehr geworden. Aber auch das Ueberraschende und Ausserordentliche dieser Handlung zugegeben, da sie mitten im Schlachtgetümmel ohne alle Vorbereitung geschieht, so möchte sie doch bei genauerer Betrachtung so unwahrscheinlich oder gar unmöglich nicht erscheinen und in der Dichtung hinreichend motivirt sein.

An und für sich muss man es gewiss dem Dichter als sein gutes Recht zugestehen, dass er die Katastrophe aus dem Widerstreit der menschlich-sinnlichen Natur der Heldin mit ihrer göttlichen, übersinnlichen Berufung und Erfüllung hervor- gehen lässt (IV, 1. Ende). Dass er ferner dazu den weiblichsten Zug des weiblichen Herzens, die leichte Entzündbarkeit der Em- pfindung, die Liebesfähigkeit und Liebesbedürftigkeit benutzt:

Musstest du ihn auf mich laden,

Diesen furchtbaren Beruf!

Könnt ich dieses Herz verhärten,

Das der Himmel fühlend schuf! (IV, 1.) auch das kann ihm von vornherein wohl Niemand bestrei- ten, wenn Mancher es auch anders wünschen möchte. Viele meinen aber, Schiller hätte in Johanna's Busen Ehr- und Ruhm- liebe im Uebermaass sich entwickeln und sie dadurch auf falsche Bahnen gerathen und ihren himmlischen Beruf über- schreiten lassen sollen, eine Richtung, welche der Dichter auch mehrmals selbst andeutet. So HI, 9 :

172 Ueber die Art, wie in Schillers Jungfrau von Orleans

„Nicht Aus den Händen leg' ich dieses Schwert, Als bis das stolze England niederliegt."

und IV, 9:

„Diese Menschen alle Erheben mich weit über mein Verdienst." „Wie eine niedre Magd will ich euch (den Schwestern) dienen. Und büssen will ich's mit der strengsten Busse, Dass ich mich eitel über euch erhob."

Die Verschuldung, so wird argumentirt, durch welche sich der tragische Held in Conflict setzt mit des Schicksals Mächten, müsse aus der Grundlage seiner Persönlichkeit, aus dem, was ihn gerade zum Helden macht, hervorgehen.

Hat Schiller hier dieses Gesetz wirklich nicht erfüllt?

Mit der Uebernahme ihres himmlischen Berufs ist Johanna's weibliche Natur in naturnothwendigen Widerspruch zu dem- selben gesetzt, und dessen ist sie sich auch vollkommen be- wusst. Das spricht sie in den Abschiedsworten des Prologs und nachher oft genug aus, besonders da sie die Liebeswer- bungen Dunois' und La Hire's abweist, HI, 4, Ende:

Weh mir, wenn ich das Rachschwert memes Gottes In Händen führte und im eiteln Herzen Die Neigung trüge zu dem irdschen Mann ! Mir wäre besser, ich war nie geboren!

So kann, beiläufig, auch nicht von Somnambulismus geredet werden, den man ihr angedichtet hat. Das kann auch gar nicht anders sein : Denn dadurch, dass Johanna willenlos jeg- liche Einwirkung von oben an sich geschehen Hesse, würde sie nimmer zur Heldin, auch nicht einer romantischen Tragödie, sondern nur zum blinden Werkzeuge des Schicksals ; zur Heldin wird sie dadurch, dass sie mit ßewusstsein und W^illen in diesen Widerspruch eingeht. Dass sie sieht und weiblich fühlt und mit Freiheit ihre Sinnlichkeit dem Uebersinnlichen völlig unterordnet, dies erst können wir als das bezeichnen, was ihre Hei den persönlichkeit bestimmt. Mit ihrem BUck fing ihr Verbrechen an, doch dieser Blick begründet auch erst die Mög- lichkeit ihres Heldenthums (IV, 1). Nun aber ist diese Unter- drückung des weiblichen Gefühls jedenfalls eine schwere Schädi- gung der Natur, des viel älteren Gesetzes, auf dem die ganze

iim Ende des 3. Actes die Katastrophe herbeigeführt wird. 173

Menschenpersönlichkeit beruht, wie auch das der Erz- bischof und der König (III, 4) deuthch aussprechen :

Erzb. : Dem Mann zur liebenden Gefährtin ist

Das Weib geboren.

(Auch du) wirst deine Waffen von dir legen

Und wiederkehren zu dem sanftei'en

Geschlecht, das du verleugnet hast, das nicht

Berufen ist zum blutgen Werk der Waffen. Karl: Dich treibt des Geistes Stimme jetzt, es schweigt

Die Liebe in dem gotterfüllten Busen.

Sie wird nicht immer schweigen, glaube mir! etc.

Die Natur wird schliesslich auch hier ihr Recht erlangen, und zwar, je länger und gewaltsamer sie unterdrückt wird, desto unerwarteter und vollständiger. Es scheint schon hier- durch die tragische Verwickelung so geboten zu sein, wie sie wirklich erfolgt, und so hat des Dichters Genius sich und seine Heldin ganz eingetaucht in den Geist des Mittelalters und sie doch zugleich zu einer Heldin für sein zur Natur zurückge- führtes und so gefühlvolles Jahrhundert zu gestalten vermocht.

Nun aber nimmt man vornehmlich an dem scheinbar so unvermittelten Umschlag Anstoss, dass Johanna auf dem Schlachtfelde, im Kampfgetümmel zu einem Manne, den sie bis dahin kaum noch gesehen hat, heftige Liebe fasst, da sie ihm zum ersten Male in das Antlitz blickt, um so mehr, da sie bis- her allen Liebeswerbungen der ersten Helden ihres Volkes, die in allen Fährlichkeiten ihr treu zur Seite gestanden haben, standhaft ihr Herz verschlossen hat. Die gewöhnliche Roman- mache würde sich freilich diese Gelegenheiten nicht haben ent- gehen lassen, den Conflict von Pflicht und Neigung ohne viele Schwierigkeiten zu lösen. Johanna will ja aber der Dichter aus dieser Sphäre herausheben, das Ungewöhnliche, das Wun- derbare ist ja bei ihr keineswegs gleichgültige Zuthat oder gar nur Phrase, sondern wesentlich: warum also nicht auch hier? Wenn ferner schon im gewöhnlichen Lauf der Dinge bei Ge- fühlserregungen das Plötzliche, Ueberraschende sich meist am wirksamsten erweist, wie viel mehr ist das hier an seiner Stelle, da höchste ^Erregbarkeit des Gefühls und in Folge dessen scheinbar unvermitteltes Eintreten von Stimmungen, Willens- richtungen und Entschlüssen zu dem visionären Charakter der Prophetin gehört. Wie könnte sie sonst für die Eingiessungen

174 Ueber die Art, wie in Schillers Jungfrau von Orleans

von oben empfänglich sein, wie könnte sie anders die träge und widerwillige Masse mit sich fortreissen? Wunderbar muss sie ihren Landsleuten wie ihren Feinden auch von dieser Seite er- scheinen, und s o lässt sie der Dichter von dem hastigen Er- greifen des Helmes an bis dahin, wo sie auf die Kunde von der Gefangennahme des Königs dreifache Ketten zersprengt, stets reden und handeln. Gehört sonach das Unvermittelte zu allem ihren Thun und erklärt es wesentlich ihre Erfolge, so kann auch die Kehrseite nicht fehlen, es muss auch an ihr und gegen sie sich geltend machen können und irgend ein- mal durch das Medium ihres leicht entzündbaren Gefühls sich geltend machen.

Allein die überraschende Wandelung in Johanna's Herzen ist nicht einmal so unvorbereitet. Sie hat sich bereits in der vorhergehenden Scene gegen ihr himmlisches Mandat aufgelehnt, da sie die neue Botschaft aus der Geisterwelt verkennt und missachtet. Undeutlich spricht ihr da die Stimme des Pro- phetengeistes nicht ohne ihre Schuld, sofern sie weit über das ihr gesteckte Ziel „Rheims befreien und ihren König krönen" hinausgreift. Vorbedeutsam für das gleich Folgende wird da durch die Berührung des Geistes ihr Arm gelähmt, ihr wunder- bares Wirken gehemmt. So ist hier das Walten des sichtbar eingreifenden Schicksals hinreichend durch die eigene Schuld der Heldin vermittelt, ohne dass dabei die tragische Verblen- dung vermisst würde. Damit kommen wir freilich nicht gerade zu der Verliebung als der einzig möglichen Ursache ihres Falles. Doch unvorbereitet ist dieselbe schon nicht mehr. Wenigstens ist sie doch als leicht möglich in der Scene mit dem schönen Walliser angedeutet. Johanna bleibt stehen, als sie ihm die ersten Schritte entgegen gethan hat ; warum, sagt sie selbst :

In Mitleid schmilzt die Seele, und die Hand erbebt, Als bräche sie in eines Tempels heiigen Bau, Den blühnden Leib des Gegners zu verletzen ;

und nur die erhabene Jungfrau rüstet den Arm mit Kraft, so dass das Schwert sich selbst regiert (H, 8). Deutlicher kann Johanna es nicht aussprechen, wie in jedem einzelnen Falle ihre weibliche Natur gegen die ihr gewordene Aufgabe sich empört, und wie besonders der Anblick männlicher Schönheit an einem edlen Gegner die zarten Gefühle in ihrem Busen erregt. Wie

am Ende des 3. Actes die Katastrophe herbeigeführt wird. 175

weit ist es aber von solchem mitleidsvollen Wolgefallen bis zu dem hingebenden Wolgefallen an der Heldengestalt des Edel- sten und Schönsten von allen, denen sie auf dem Schlachtfelde nur begegnen konnte? Des Schönsten das geht schon dar- aus zur Genüge hervor, weil er eben allein das Herz der Krie- gerin des höchsten Gottes zu bezwingen vermag ; und überdies stellt ihm dies Zeugniss ausdrücklich die Lüsternheit der in solchen Dingen wol erfahrenen alten Königin aus (II, 2, Ende). Des Edelsten ihm fällt, des Löwen Bruder, nach dem Tode des himmelstürmenden Talbot von selbst die englische Heeres- leitung zu (bei Schiller), und er allein sucht zuletzt noch die Furchtbare zu bestehen; und mehr als das, die sein Volk mehr als Alles verflucht und verabscheut, die ihr eigenes hinausge- stossen hat, die will er einer Welt zum Trotz durch unauflös- liche Verbindung mit sich retten, wo selbst ein Dunois an ihr und seiner Liebe irre geworden ist. Wenn solcher Heldensinn aus edlem Mannesangesichte der geistesverwandten Heldin plötz- lich entgegenleuchtet und, da der Kuhm dahin ist, trotzig den Todesstreich fordert : da ist es doch nicht so ganz unwahr- scheinlich, dass sich ihr das fühlend geschaflPene Herz dem ein- zig Ebenbürtigen in übermachtiger Erregung zuwendet.

Und das hat ohne Zweifel weit mehr Berechtigung im Kriegsgewühl, wo die Speere sausend sie umtönen, wo in des heissen Streites Wuth auch ihre Brust schnell wechselnde Gefühle wild durchstürmen und alle Fasern des unbewachten Herzens leidenschaftlich erregt sind, als an dem verführerischen Königshofe. Hier presst und ängstigt ihre Brust die müssige Ruhe, hier beengt sie schon das stumme Werben des Edlen,

Der Männer Auge schon, das sie begehrt, Ist hier ihr Grauen und Entheiligung ;

hier mahnt sie alles, ihr Herz mehr zu behüten, aber das ruhiger schlagende ist auch leichter zu behüten als in der auf- regenden Feldschlacht.

Und am Ende ist die Begegnung auf dem Schlachtfelde immer noch eine eben so passende Gelegenheit zum Verlieben, wie die mit dem Mörder des Gatten und Schwiegervaters bei der Leiche des letzteren in Richard lU., I, 2 oder eine solche beim Heraustreten aus dem Gotteshause im Faust, I. Wenn

176 Ueber die Art, wie in Schillers Jungfrau von Orleans etc.

dort Shakespeare die hochbetrübte Wittwe und Schwieger- tochter durch die Liebesheuchelei eines physischen und mora- Hschen Scheusals nach kurzem Wortwechsel überwunden wer- den lässt, so ist doch die psychologische Wahrscheinlichkeit ganz gewiss nicht grösser als bei Schiller; und wenn hier der herzenskundige Göthe in dem Busen des unschuldigen Kindes, da es voll heiliger Empfindungen aus dem Dome tritt, durch die freche Zudringlichkeit eines ganz fremden Mannes die ersten Liebesregungen erwecken lässt, so hat wenigstens und mit Recht daran noch nie Jemand Anstoss genommen. Denn dass Gretchens Herz von dem Augenblicke an dem Faust zugewandt ist, lässt sie der Dichter noch in der näm- lichen Stunde aussprechen :

Ich gab' was cl'runi, wenn ich nur wüsst'.

Wer heut der Herr gewesen ist!

Er sah gewiss recht wacker aus

Und ist aus einem edlen Haus! Ist das nicht Selbstanklage und Entschuldigung? Immerhin ist der Anstoss, den so viele an unserer Stelle neh- men, bis zu einem gewissen Grade ein berechtigter. Es ist doch misslich, wenn eine so wichtige Handlung, auf welcher der ganze weitere Verlauf der Tragödie beruht, erst durch ge- naueres Eindringen in die Oekonomie des Stückes begriffen wird; eine reichlichere und anschaulichere Motivirung wäre wol zu wünschen. Das Unbehagen wird dadurch verstärkt, dass der Dichter, wie oben schon bemerkt, in der unmittelbar vorhergehenden Scene sich allerdings jenen andern Weg zur Katastrophe bahnen zu wollen scheint. Denn es ist kaum mög- lich, Johanna's vermessenes Ueberschreiten ihrer Mission und, was daran geknüpft ist, so nur als untergeordnetes Moment hinzunehmen.

Wenn somit auch ein Rest bleibt, der nicht aufgeht, so ist das doch hier so wenig wie bei anderen Dichtungen Schil- ler's ein Grund, unser m grössten Dramatiker das Recht zu versagen, welches wir dem grossen Briten und auch dem Dich- ter des Faust bereitwilhgst zugestehen, dass wir nämlich seine grossen Schöpfungen nicht nach der kritischen Schablone mei- stern, sondern in liebevoller Hingabe zu verstehen suchen. Lübben. Dr. Franz Weineck.

Charakteristik der holländischen Sprache

hinsiclitlicli ihrer

historischen Entwickelunp; und die ihr gegenüber der hoch- deutscheu Schwestersprache gebührende Würdigung.

Unter den Sprachen der niederdeutschen Abzweigung vom deut- schen Sprachstamme, zu welcher einerseits das Altsächsische, Mittel- niederdeutsche und Plattdeutsche, andererseits das Alt- und Neu-Frie- sische, ferner das Angelsächsische, Alt-, Mitfei- und Neu-Englische, endhch auch das Rhein-Fränkische, Mittel- und Neu-Niederländische, sowie das Flämische gehören, ist die, im Verhältniss zu ihren Nach- barn nur als Dialekt zu bezeichnende holländische Sprache diejenige, welche sich am reinsten erhalten und, nächst der englischen, in Litera- tur und Volksleben am meisten ausgebildet hat.

Vor der englischen hat sie den Vorzug, dass sie, treu ihrem Ur- sprünge und ihrer Abstammung, in kindlicher Liebe anhänglich, ihren Wortschatz vor den Einflüssen des ro man i sehen Sprachstammes so- viel wie möglich bewahrt und hinsichtlich der Wortbildung, Wortbeu- gung, gegenseitigen Abhängigkeit der Wörter, Satzbildung, Satzgefüge und Satzverbindung die deutsche Eigenart behalten hat; vor den übrigen niederdeutschen Dialekten aber zeichnet sie sich dadurch aus, dass sie nicht nur als Umgangssprache in Familie, Gesellschaft, Handel und Wandel, wie auch im öffentlichen Leben fort und fort sich kräftig ent- wickelt, sondern auch als Schriftsprache seit dem dreizelmten Jahr- hundert eine in den meisten Gebieten reiche Literatur aufzuweisen hat und lebenskräftig sich weiter fortbildet, und zwar in eben demselben Maasse als die hochdeutsche, ja streng genommen in edlerer Weise, da sie nicht wie diese, wenigstens im p u bli eist i seh e n Style und in

Archiv f. n. Sprachen. LVIII. 12

178 Charakteristik der LolläntliscLen Sprache.

gewissen adeligen Kreisen, die Unart angenommen hat, übermässig viel Fremdwörter, fremdartige Wortbildungen, Constructionen und Perioden zu gebrauchen, sondern dem Einschleichen von Barbarismen und Solö- cismen durch Festhalten der gegebenen alten Bildungen und Fügungen und durch Hinzuwachs an solchen, nach ihren eigenen Gesetzen auf ihrem Boden entstandenen neuen kräftig entgegen arbeitet. Freilich seit dem französischen Kriege im Jahre 1870 und 1871 macht sich auch in Deutschland ein gleiches Streben nach pietätvoller Behandlung und Veredelung der Muttersprache geltend, und zwar nicht nur in der Literatur auf gelehrtem Gebiete, wo man übrigens schon seit dem Auf- treten der Brüder Grimm in eine bessere Bahn einlenkte, sondern auch in der publicistischen, juristischen und parlamentarischen Stylgattung. Ja in der letzteren, welche doch als öffentlich gehaltene Rede und Widerrede einen Uebergang von der Schriftsprache zu der Umgangs- sprache in gebildeter Gesellschaft veranschaulicht, ist ein bedeutender Umschwung zum Besseren eingetreten. Bleiben wir zunächst bei der Umgangssprache der Gebildeten stehen, so haben die Holländer darin stets nach einer gewissen Correctheit gestrebt, welche nicht nur in einer fliessenden, glatten, fehlerfreien Rede besteht, sondern wozu auch der Gebrauch gewisser Wörter und Wendungen &c. hinzukommt, welche man in der Schriftsprache nicht anwenden darf; umgekehrt darf man die entsprechenden, der Schriftsprache eigenthümlichen Wendungen nicht in der Umgangssprache gebrauchen. Zur Erläuterung sei hier nur der Gebrauch des der Schriftsprache eigenthümlichen Wortes „he- den" für „heute" und des dem entsprechenden gleichbedeutenden Aus- drucks „van daag'* in der Umgangssprache erwähnt. Diese den Hol- ländern eigenartige Weise, einen Unterschied zwischen Schriftsprache und Umgangssprache als Haupterforderniss für den Gebildeten hinsicht- lich der Sprache hinzustellen, kennen wir Deutschen nicht, indem wir uns mit einer fliessenden, fehlerfreien Sprachweise im Umgange, jenem bei den Holländern ebenfalls gestellten Erforderniss begnügen. In Deutschland scheint man, was die Reinheit betrifft, auch hierin einen Fortschritt zum Besseren seit dem französischen Kriege von 1870 zu machen ; in Holland aber ist ein Umschwung seit der Lostrennung von Belgien im Jahre 1831 wahrzunehmen, indem seit der Zeit in höhe- rem Grade, als schon nach der Befreiung vom spanischen Joche und mehr noch nach dem dreissigjährigen Kriege geschehen war, in Schrift sowohl als im mündlichen Verkehr von Seiten der Regierung wie auch

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gelehrter Gesellschaften und der Gebildeten insgesammt es zum guten Ton gehört, nicht nur grammatisch und stylistisch correct und elegant zu schreiben und zu sprechen, sondern auch Fremdwörter zu vermeiden und statt dessen schon bekannte einheimische oder solche neugebildete zu gebrauchen, die der Sprachgebrauch zu gleichbedeutenden gestempelt hat. Ein Unterschied besteht nun hinwiederum zwischen Deutschon und Holländern insofern, als im kaufmännischen und sonstigen Ge- schäftsverkehr die letzteren Fremdwörter wohl toleriren, aber nicht gleich unseren Kauflcuten bevorzugen oder auch gar keine einheimischen Aus- drücke dafür besitzen und, wenn sie solcjaie besässen, von der Hand weisen würden. Die holländischen Kauftente gebrauchen abwechselnd mit den Fremdwörtern die ihnen entsprechenden holländischen Aus- drücke im brieflichen Verkehr unter einander sehr gern; mit Auslän- dern bedienen sie sich der diesen verständlicheren Fremdwörter, welche ja in Gebrauch und Bedeutung der Mehrzahl nach mit den in Deutsch- land, Frankreich, England, Italien u. s. w. üblichen übereinstimmen, in Folge davon, dass diese kaufmännischen termini technici insgesammt von den Italienern ererbt sind, welche dieselben schon im Mittelalter in derselben Bedeutung besässen. Für gewöhnlich aber correspondiren die holländischen Kaufleute mit Franzosen französisch, mit Deutschen deutsch, mit Engländern englisch, mit Italienern italienisch u, s. f., da sie sehr oft diese vier Sprachen, meistens aber zwei, nämlich fi-anzösisch und englisch, oder französisch und deutsch, oder englisch und deutsch, fast ausnahmslos wenigstens eine fremde, nämlich englisch oder fran- zösich zu practischem Gebrauche erlernt haben, und dann wählen sie, wie es der sprachliche Tact verlangt, die jeder dieser genannten Spra- chen zukommenden Fremdwörter.

Im mündlichen Umgange herrscht bei ihnen dieselbe Nachsicht wie bei unseren Geschäftsleuten; im kleinen Geschäftsverkehr und im bürgerlichen Leben der unteren Stände dulden die Holländer ebenso die Fremdwörter wie wir, weil sie der Zunge dieser Leute geläufig, dem Ohre angenehm und auch verständlicher sind, als die einheimischen zunächst im Anfange sein würden. Der Grad der Bildung sowol, als zumal die Stufe im gesellschaftlichen Leben steigt bei den Hollän- dern entsprechend dem Purismus, das ist, der Vermeidung von Fremd- wörtern und fremdartigen Wendungen. Daher hört man in Holland mehr noch in den höchsten Ständen und Schichten der Gesellschaft

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rein und elegant holländisch sprechen , als in gelehrten Kreisen, und eben daher nennen die Holländer diese reine und elegante Sprache zuiver nederlandsch („sauber niederländisch") zum Unterschiede von der Sprache im Munde des Kleinbürgers und des niedern Volkes, welch letztere hollandsch schlechthin heisst und welche auch von vielen in die- ser Hinsicht einem laisser aller nachgebenden Gelehrten gesprochen wird. Ausser den hier angeführten allgemeinen und besonderen Unter- schieden zwischen der Schrift- und der Umgangssprache ist noch einer näher zu beleuchten, ich meine nämlich die in der gesprochenen Sprache, sowol im mündlichen Verkehr als beim Vorlesen und freien Vortrag hörbare Aussprache. Was die Sprachrichtigkeit derselben betrifft, so hat jede besondere Sprache infolge einer entweder die feine Natur der Lautunterschiede beobachtenden oder couventionell davon abweichenden, oder an der aus früheren Jahrhunderten überkommenen Gestalt fest- haltenden Rechtschreibung ihre Eigenthümlichkeiten und auch mit an- deren Sprachen gemeinsame Eigenschaften. Die nähere Feststellung und Auseinandersetzung der unter diesem Gesichtspuncte der hollän- dischen Sprache zukommenden Merkmale verdienen eine besondere wissenschaftliche Behandlung, an dieser Stelle erwähne ich nur, an das oben Gesagte anknüpfend, die Sorgfalt, mit welcher unter den gebilde- ten Holländern die als mustergültig anerkannten Regeln der Aussprache befolgt werden, nicht nur in Rücksicht auf die Vocale und Consonan- ten, sondern auch auf den rhetorischen Wohlklang der Silben und Wörter, die rhythmisch wohltönende Bewegung der einen Satz bildenden Worte und endlich die harmonische Durchdringung der zu einem Satz- gefüge gehörigen Sätze und der eine Periode aufbauenden Satzgefüge und Satzverbindungen. Leider nehmen wir da in Deutschland wahr, dass selbst unter den Gebildeten nicht so allgemein und durchgängig diese Sorgfalt beobachtet wird, nicht einmal, wie man doch erwarten sollte, bei Predigten und öffentlich gehaltenen Reden, wo uns un- bestritten die Holländer und auch andere Nationen, z. B. die Franzosen, Engländer, Italiener übertreffen und beschämen ; denn gerade die Hol- länder sind in Schule und Familie so nach den Wollautsregeln erzo- gen, dass ihnen dieselben in Fleisch und Blut übergegangen, zur zweiten Natur geworden sind. Was das Auftreten auf der Bi'ihne in der be- treffenden Hinsicht angeht, so kostet es den zu Schauspielern sich aus- bildenden Deutschen viel Mühe, eine gewisse Fertigkeit zu erlangen, und nur so ungefähr halten wir darin mit anderen Nationen gleichen

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Schritt, weil der Deutsche zu sehr in seinen besonderen dialektischen Eigenheiten befangen ist.

Die holländische Sprache ist also gleich der englischen in schrift- lichem und mündlichem Verkehr weiter fortgebildet worden und lebens- kräftig geblieben; die beiden übrigen vorhandenen niederdeutschen Dia- lekte von heut zu Tage, nämlich der plattdeutsche und der friesische, vegetiren jetzt bloss als Umgangssprache auf dem platten Lande und im Verkehr des niederen Volkes, sowie im Umgänge der Gebildeten mit diesem, in den feineren Familien meist nur scherzweise und in lau- niger Unterhaltung, so dass man annehmen möchte, in zwei bis drei Jahrhunderten werden beide aussterben. Im Mittelalter aber erfreuten sieh beide sogar im Staatsleben, in Kirche, Schule und vor Gericht eines ebenso gebildeten Gebrauchs wie die holländische und hochdeutsche Sprache, und besassen auch eine Literatur, von welcher leider nur einige Denkmäler, wie der altsächsische Heliand, der mittelniederdeutsche Sachsenspiegel, der plattdeutsche Reineke Voss, das altfriesische Asega- bok, das Emsiger Landrecht und die Brocmer Willkür aus dem 13. und 14. Jahrhundert, die im 16. Jahrhundert verfassten Friesche Rymlerye des Dichters Gisbert Japicx neben anderen spärlichen Ueberresten bis auf unsere Tage sich erhalten haben. Das Friesische in Deutschland, specieller das Ost-Friesische und auch das Nord-Friesische, wurden als Schriftsprache für den Gebrauch im Gerichtswesen, der Gesetzgebung und im Staatsleben schon im späteren Mittelalter, d. h. ungefähr seit dem 13. Jahrhundert, durch das Plattdeutsche, und in gleicher Weise das Westfriesische in Holland seit dem Ende des 16. Jahrhunderts dui'ch das Holländische verdrängt, das Plattdeutsche hinwiederum musste im öffentlichen Leben dem Hochdeutschen seit Mitte des 16. Jahrhunderts weichen. Das heutige Friesisch ist, geographisch genom- men, immer mehr nach Norden zurückgewichen, aber es wird auf den Inseln der Nordsee von den Eingeborenen als Umgangssprache ziemlich zäh festgehalten, während das Plattdeutsche nach dem Friesischen zu seine geographische Grenze erweitert hat und auch im Süden vor dein Hochdeutschen nicht die Segel streicht, dafür aber im Gegensatz zum Friesischen mehr von den unteren, als von den mittleren und höheren Ständen gebraucht und geschätzt wird, während eben die Friesen von jeher Standesunterschiede unter sich fast nicht gekannt haben und auch heute nicht so sehr aufkommen lassen. Im Mittelalter aber besassen beide Dialekte schätzensvverthe Eigenschaften, die sie bis heutigen Tags,

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wenn auch in weit geringerem Grade, noch behalten haben, und zwar solche Eigeflschaften, die sie mit der holländischen Sprache gemeinsam und vor der hochdeutschen voraus haben, ich meine nämlich die ker- nige, markige, abgerundete Gestalt der Wörter und den durch an- gemessene Abwechslung der Vocale mit den Consonanten hervorgebrach- ten Wolklang, sowie auch die klare Bestimmtheit im Sprachgobrauche. Die hochdeutsche Sprache dagegen übertrifft sie an idealem Schwünge in der Poesie und kühnem Fluge in der Beredtsamkeit, sowie in der Fähigkeit, die Seele zu rühren, die Phantasie zu begeistern und den Willen zu Thaten anzuflammen. Man muss dem bei beiden Nationen, den Holländern sowol wie den Deutschen, herrschenden Vorurtheile, dass ihre eigene Sprache edler und wohlklingender sei als die andere, welche dagegen gehalten platt und gemein erscheine, entgegentreten und vielmehr anerkennen, dass beide einander ebenbürtig sind, zugege- ben, dass die niederdeutschen Dialekte, besonders in der Gestalt des Altsächsischen, an weniger Härten leiden als die alt- und neuhoch- deutsche Sprache, zumal aber die Dialekte Mittel- und Oberdeutschlands an Wohlklang, süsser Weichheit und Fülle fiberragen. Zufolge der Grimm'schen Theorie von der Lautverschiebung gelten die niederdeut- schen Dialekte, mithin auch das hier in Frage kommende Holländische für älter, da ja die zweite Stufe der Lautverschiebung, welche ein Haupt- kennzeichen der oberdeutschen Dialekte und der daraus entwickelten alt- und mittelhochdeutschen Schriftsprache, sowie natürlich der in Mitteldeutschland ihren Urspiung habenden neuhochdeutschen bildet, der vorhergehenden ersten Stufe zeitlich nachfolgen muss, denn dass der alemannische, schwäbische, bairische und österreichische Dialekt nicht sofort von der Basis der litu-slawischen und der graeco-italo- keltischen Sprachen mit einem Sprunge die jetzige Stufe der literae mutae eingenommen haben, sondern jüngeren Datums sind, nämlich ungefähr erst im 7. Jahrhundert n. Chr. ihren Anfang nehmen, geht aus einer Vei'gleichung der Avenigen Orts-, Völker- und Personennamen, welche aus den eisten sechs Jahrhunderten n. Chr. uns überkommen sind, mit analogen Wurzeln, Wörtern und Namen in Niederdeutschlatid und Scandinavien hervor, sowie daraus, dass südlich der Donau und des heutzutage unter dem volksthümlichen Namen Teufelsmauer noch übrigen, von Kehlheim nach Gunzenhausen, sodann südwestlich bis Lorch und von da über Aschaffenburg, Langenschwalbach, Ems nach Köln am Khein hin sich erstreckenden römischen Grenzwalles vor

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Christi Geburt nicht deutsche, sondern keltische Völkerschaften wohn- ten und keltische Sprache und Sitte herrschte. Damit ist der Beweis davon gegeben, das nur die nördlich der eben bezeichneten Linie liegen- den Land- und Völkerschaften hinsichtlich ihrer Bcnennunffen vor Christi Geburt in F'rage kommen. Nun ist in der Zeit keine Lautver- schiebung zu bemerken, folglich muss man auf noch frühere Zeit zu- rückgreifen, um dui'ch Beispiele den Beleg dafür zu geben, dass die erste Stufe der Lautverschiebung bei den niederdeutschen Dialekten und schliesslich der deutschen Sprache überhaupt in eine historische Zeit zu setzen ist, vor welcher die deutsche Sprache auf der Basis der übrigen indogermanischen Sprachen sich noch befand. Setzen wir bil- liger Weise denselben Zeitraum, welchen die Zeit der Germanisirung des südlichen Deutschlands bis zum Erscheinen der althochdeutschen Sprache, insbesondere dem ersten Vorkommen des Namens „Schwa- ben", früher „Suevi", von Christi Geburt bis ins 7. Jahrhundert ein- nimmt, für die Entwickelung des Niederdeutschen aus dem Keltischen, d. h. sieben Jahrhunderte vor Christo bis auf die Zeit seiner Geburt : so nehmen wir, je weiter wir nach Norden kommen, eine desto frühere Absonderung vom Keltischen und eigene Selbständigkeit wahr, denn die Friesen, und nach ihnen die alten Sachsen, sind wol im Bereiche des heutigen Deutschland als die dem Namen nach am frühesten vor- kommenden deutschen Völkeischaften zu betrachten. Werfen wir nun einen Blick auf die Zeit der uns erhaltenen Denkmäler, so kann die- selbe nach dem voraus Gesagten nicht mehr massgebend sein, und wir brauchen uns nicht darum zu kümmern, ob vielleicht schon vor dieser Zeit deren existirt haben und für uns verloren gegangen sind. Nach den neuesten Forschungen gelten die aus dem G. Jahrhundert stammen- den Glossen zur lex Salica und die karolingischen Psalmen des 9. Jahr- hunderts, jene als salfränkisch, diese als rheinfränkisch für die ältesten erhaltenen Denkmäler der holländischen Sprache, beide nicht ganz zu- treffend ultniederländisch benannt. Vielmehr ist es angemessener, so- Avol die Glossen zur lex Salica, zuletzt im Jahre 1869 von Kern her- ausgegeben und gedeutet, als auch die in Heyne's kleinen altnieder- deutschen Denkmälern abgedruckten karolingischen Psalmen mit dem umfassenderen Ausdruck altniederdeutsch zu benennen. Allerdings dürfen wir wol die Sprache der Salfranken mit Dr. H. Kern auch die urvlämische oder vielleicht uralt brabantische nennen, denn das Herzoglhum Brabant war wol zur Zeit der Abfassung der lex Salica

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am Ende des 5. Jahrhunderts unter Chlodwig und der salfränkischen Glossen, d. i. ungefähr im 7. Jahrhundert, dasjenige Land, welches die Salfranken inne hatten, nachdem sie früher bis zum 4. Jahrhundert in der heute noch so benannten Landschaft Salland, Hamaland und Twenthe der heutigen Provinz Oberyssel gewohnt hatten. Von rheinfränkischen Sprachdenkmälern sind uns mehr erhalten, und unter den Glossen dieses Dialects sind die aus dem 9. Jahrhundert stammenden Xanthener die ältesten. In einem noch vorhandenen früher im Kloster Egmond in Nordholland, jetzt in der Königl. Bibliothek zu Brüssel befindlichen, aus dem 9. Jahrhundert stammenden Büchercatalog wird ein psalterium teutonice glossatum erwähnt, und eben dieser Ausdruck teutonice deutet auf niederdeutschen Dialekt hin, und zwar können wir ebenso gut frie- sischen als fränkischen dafür substituiren, aber sehr wahrscheinlich ist dabei nicht an altsächsischen zu denken, da ja in Egmond und Um- gegend sowie in ganz Nordholland in jen^r Zeit Friesen wohnten, welche durch die Franken und unter ihrer Herrschaft zum Christenthum be- kehrt worden waren. Vielleicht ist dies Psalterium identisch mit den aus demselben Jahrhundert stammenden Karolingischen Psalmen, und wenn dies der Fall, dann hätte sich der Text nebst den Glossen wieder gefunden und wir dürften mit vollem Recht das Egmonder Psalterium zu den rheinfränkischen Denkmälern zählen. Jedoch wenn wir es zu den fränkischen rechnen wollen, dann ist es vermuthlich eher noch als salfränkisch anzusehen, und es würde dann der Verlust desselben in- soforn zu bedauern sein, als wir durch Vergleichung mit den Glossen zur lex Salica diejenige Veränderung, welche der salfränkische Dialekt nach Verlauf von ungefähr zwei Jahrhunderten erfahren haben mochte, uns vergegenwärtigen könnten. Da uns nun also ausser jenen dürf- tigen Glossen kein aus der Gegend des heutigen Holland, Brabant und Flandern stammendes Sprachdenkmal nachweisbar erhalten ist (denn die sogenannten altniederdeutschen Denkmäler gehören mit Ausnahme einiger weniger sächsischer dem rheinfränkischen Gebiete an, d. i. der heutigen Rheinprovinz, Lothringen, Luxemburg und Lüttich), und da selbst die rheinfränkischen von der Sprache der altsächsischen lautlich und grammatisch nicht zu sehr abweichen, so fehlt den niederländischen Sprachgelehrten der Ausdruck „altniederländisch" für den dem 13. Jahr- hundert vorausgehenden Zeitraum mit Recht und entspricht derselbe auch nicht den rheinfränkischen Denkmälern, obgleich die Sprache der letzteren in dem angegebenen Zeitraum und noch mehr natürlich im

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folgenden unter allen niederdeutschen Dialekten dem niederländischen Dialekt des Mittelalters, wie er seit dem 1 3. Jahrhundert literarisch uns bekannt ist, am nächsten steht. Die schwachen Momente, welche manche Gelehrte aus dem LudwigsHede des 9. Jahrhunderts und der Servatiuslegende des Heinrich von Veldeke für das Altniederländische ableiten wollen, fallen nicht ins Gewicht, denn das erstere ist in mittcl- fränkischem Dialekt, d. h. dem zwischen dem niederfränkischen und oberfränkischen mitten inne liegenden geschrieben , und der letzteren Abfassung fällt nach Jonckbloet's Meinung erst in das 13. Jahrhundert. Streng genommen darf man höchstens nur eine in sechs Worten bestehende Randbemerkung zum Ev. Marci eines lateinischen Evan- gelienbuch aus dem 10. Jahrhundert altniederländisch nennen. Diese Randbemerkung selbst stammt der am Schlüsse derselben befind- lichen Angabe zufolge aus dem Jahre 1130 und vom Orte Belisla, d. i. Bilsen bei Mastricht, wo eine Abtei war, wurde zuerst von Mone im Anzeiger zur Kunde deutscher Vorzeit im Jahre 1834 bekannt gemacht und wird auch von Jonckbloet in dessen Geschiedenis der neder- landsche letterkunde als niederländisch anerkannt; die in Rede stehenden Worte lauten so: „Tesi samamunga was edele unde scona" und bedeuten: „Diese Versammlung war edel und schön." Wie man aus der vorausgehenden lateinischen Notiz „rexit coenobium . . . Mathildis abbatissa . . . cum fratribus et doctissimis sororibus Beregunt, Hadewic, Mahilt, Voda, Steinhilt, Mabilia" ersieht, bezieht sich die niederländische Bemerkung auf die Gemeinschaft der Aebte und Sliftsschwestern der Abtei Bilsen. Sprachlich ist zu bemerken, dass das Wort tesi ver- muthlich einer romanischen Gewohnheit zufolge hier mit der tenuis statt der den romanischen Sprachen gänzlich fremden aspirata th geschrieben sich findet, wofür später durchgängig die media trat, welche aber lautlich bis auf den heutigen Tag die angelsächsische sanfte aspirata d (= engl, th im Artikel the u. a.) sowol als die scharfe J) (= engl, th in thick, thin etc.) vertritt. Das dem Worte samamunga entsprechende Wort samnunga kommt in den Karolingischen Psalmen und auch im Allhochdeutschen vor, und zwar in derselben Bedeutung „Versammlung", „Convent", „Priesterschaft", „Kirche". Im Alt- sächsischen lautet es wie im Althochdeutschen , und wir dürften die vorliegende Form samamunga wol als aus einer Assimilation von n an m entstanden betrachten. Ausser jener Randbemerkung besitzen wir für die Kenntniss einer altniederländiechen Sprache keine Anhaltspunkte,

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und ist mithin auch von einer niederländischen Nationalliteratur, welche über das 13. Jahrhundert noch zurückginge, nicht die Rede. Nur soviel können wir sagen, dass die Sprache der aus dem Jahre 1130 stammenden Bemerkung von der des 13. Jahrhunderts einigermassen durch Alterthümlichkeit abweicht, nämlich durch die Endung „i" für das genus femin. des Pronomens, die Bildungssilbe „ung" und die auf a auslautenden Adjectiva gen. fem., wofür bezüglich später der Artikel und das Pronomen im gen. masc. und gen. fem. fibereinstim- men, ferner statt „ung" die Silbe „ing" eintrat und rosp. drittens die Adjectiva gen. fem. auf e auslauteten. Späterhin gehört im prädica- tiven Gebrauch der Adjectiva Unterscheidung von numerus und genus auf, aber im 12. Jahrhundert war es, wie wir aus vorliegendem Bei- spiele sehen, noch nicht der Fall. Mit vollem Rechte beginnen daher die niederländischen Literarhistoriker die Geschichte der niederländi- schen Literatur mit der sogenannten mittelniederländischen Periode, d. i. ungefähr vom Jahre 1250 an bis zum J. 1450 und nennen die damals herrschende Sprache middennederlandsch (seltner middelneder- landsch); wohl aber darf man von altniederländischer Geschichte, Sage und Romanen sprechen, wenn auch der letzteren schriftliche Aufzeich- nung erst in die mittelniederländische Periode, respective später fällt. Das älteste mittelniederländische Sprachdenkmal ist wiederum unbedeu- tend seinem Umfange nach, nämlich die Brüsseler Keur, eine Urkunde, welche man früher ins Jahr 1229 setzte, von der man aber neuerdings annimmt, dass sie, wie Serrure zuerst nachgewiesen, im J. 1249 ab- gefasstsei. Das erste bedeutende Ergebniss des niederländischen National- geistes ist ein Thierepos, nämlich Reinaeit de Vos, dessen Abfassung und Vollendung in das dritte Viertel des 13. Jahrhunderts zurückdatirt, dessen literarische Entstehung aber von Jonckbloet in der zweiten Aus- gabe seiner Geschiedenis der nederlandsche letterkunde kurz vor dem Jahre 1250 angenommen wird.

Im Vergleich hierzu sind wir allerdings in Bezug bei der For- schung über die Entwickelung der hochdeutschen Sprache, welche als solche vor dem 6. Jahrhundert unserer Zeitrechnung noch gar nicht existirte, besser gestellt, insofern uns in fortgesetzter Reihe vom 8. Jahrhundert, an Denkmäler derselben erhalten sind. Vor dem 6. Jahrhundert, wie gesagt, standen die in Oesterreich, Baiern, Schwaben und Alemannien gesprochenen Dialekte auf derselben Stufe der Lautver- schiebung wie die niederdeutschen , erst ungefähr seit oder wol nach

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dem 6. Jahrhundert trat die zweite Stufe der Lautverschiebung allmälig ein. Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass nicht bei den Nieder- deutschen sowol als bei den Oberdeutschen die Sprache gleichzeitig in schriftlichen Gebrauch gekommen wäre und unter den Gebil- deten zur Cultursprache sich herangebildet hätte. In Brabant und Flandern spielte lange Zeit im frühen Mittelalter, vor dem 13. Jahr- hundert, das Französische an den Höfen, unter den Gebildeten und wol auch im officiellen Verkehre eine bedeutende Rolle, aber am Rhein und bei den sächsischen Stämmen durchaus nicht. Jakob Grimm rechnet das schon aus dem 7. Jahrhundert stammende Lied von Hildebrand und Hadubrand zu den hochdeutschen Denkmälern, obwol dasselbe noch niederdeutschen Anstrich hat und vielleicht in der Gegend von Nieder- hessen redigirt worden ist , in folgenden Worten : „jenes Lied bildet den factischen Uebergang des älteren niederdeutschen Idioms in das heranwachsende Oberdeutsch, welches erst im Otfried zum Althoch- deutsch sich ausbildet." Unter Oberdeutsch versteht man die in Ober- deutschland gesprochene Volkssprache, zu der man gewöhnlich auch die in Mitteldeutschland übliche zu rechnen pflegt , obgleich die letztere schon im Mittelalter sehr abweicht, was Jacob Grimm durch mehrere in dem Alhis und Prophilias betitelten Gedichte des Mittelalters vor- kommenden Ausdrücke zu beweisen unternommen hat, z, B. geitalin „vereiteln", ein march bescritin „ein Pferd besteigen", sich vertrachtiu „sich in Gedanken verlieren", zugatir „zusammeü", Stempel „der Tempel" generis neutrius, wofür im Oberdeutschen andere Formen, wenn auch desselben Stammes, und im Niederdeutschen Aviederum andere gebräuchlich waren, so dass man für viele Ausdrücke schon im Mittelalter drei coordinirte Variationen in Deutschland nachweisen kann. Das Mitteldeutsche, ungefähr in Hessen, Thüringen, Meissen und Schlesien herrschend, bildete den Uebergang vom Niederdeutschen zum Oberdeutschen, und wurde allmälig dem Oberdeutschen so ähnlich, dass wir heutzutage beide als den einen Hauptzweig des deutschen Stammes im Gegensatz zum niederdeutschen zusammenfassen, bei welchem letz- teren der fränkische Nebenzweig gegenüber dem sächsischen anfangs dieselbe Rolle spielte, als eben demselben gegenüber der mitteldeutsche und oberdeutsche. Späterhin hat sich der fränkische in der holländischen Schriftsprache zum Nebenbuhler nicht nur der sächsischen, sondern auch der hochdeutschen entwickelt und seinen niederdeutschen Charakter bewahrt, während die heutzutage fränkisch genannten Mundarten südlich

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von Bonn und den Main entlang, sowie am Neckar und in der Pfalz, den Charakter der oberdeutschen Lautverschiebung an sich tragen, und die mitteldeutsch genannten Mundarten den Charakter des Nieder- deutschen ebenfalls früh verloren, sowie ihre besonderen Eigenthnmlich- keiten in der Entwickelung der neuhochdeutschen Schriftsprache gegen- über der oberdeutschen Eigenart in sehr geringem Masse aufrecht hielten. Heutzutage unterscheidet man füglich nur noch zwei Classen von deutschen Mundarten, nämlich niederdeutsche, welche auf der ersten Stufe der Lautverschiebung stehen geblieben sind, und oberdeutsche, worin die mitteldeutschen inbegrifTen sind. Letztere stehen auf der zweiton Stufe der Lautverschiebung. Die geographische Grenze zwischen beiden Classen erstreckt sich von Westen nach Osten, nördlich davon wird plattdeutsch , südlich oberdeutsch in Volkes Munde gesprochen, und zwar früher mehr nach Süden, jetzt aber allniälig nach Norden zu den Platz räumend. Dieselbe beginnt im Westen des deutschen Reiches südlich von Aachen , und zieht sich von da nach Remagen am Rhein, dann über Siegen zwischen dem Sauerland und dem Westerwald hin- durch ins Waldeck'sche hinein, südlich von Korbach und nördlich von Frankenberg in Hessen hin nach Wolfshagen und Hofgeismar bei Cassel, von da an den Zusammenfluss der Werra und Fulda nach Münden an der Weser, und steigt von Landwehrhagen ab, die Fürsten- thümer Göttingen und Grubenhagen dem niederdeutschen Gebiete zu- theilend, in nordöstlicher Richtung nach Herzberg, Andreasberg und Elbingerode, jedoch so, dass die sieben hannoverschen Bergstädte im Harz eine oberdeutsche P]nclave bilden. Von Andreasbei'g und Elbinge- rode wird die Grenze durch folgende Richtungspunkte ungefähr gezo- gen: Quedlinburg, Aschersleben, Ballerstedt, Bernburg, Aken an der Elbe, längs dem rechten Ufer dieses Stromes nach Wittenberg, Jessen, Dahme, Lfibben, Schwielunger See, Schwibus, Meseritz , Birnbaum an der Warthe, dann längs der polnischen Sprachgrenze ein wenig südlich von Bromberg und Thorn, nordwestlich nach der Weichsel zuriickbie- gend nach Graudenz, und zuletzt an die Ostsee bei Memel anlangend, nämlich in der Weise, dass das ganze Hcrzogthum Preussen mit Aus- nahme seiner polnischen und litauischen Sprachgebiete dem niederdeut- schen Sprachzweige angehört. Im Nordosten , hart an der Grenze Russlands, giebt es eben viele litauische Enclaven, und in früheren Jahrhunderten hatten die alten Preussen ihre eigene Sprache, nämlich die preussische, welche vor ungefähr 200 Jahren gänzlich ausstarb.

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Dieselbe bildet einen Z^veig der preussisch-litauischen Spracligruppe, deren andere Zweige wir im Litauischen und im Lettischen noch besitzen ; eben diese Gri'uppe steht zwischen der germanischen und slawischen in linguistischer und ethnographischer Beziehung. Im Westen des Herzogthums Preussen und Pommerns wird das niederdeutsche Ge- biet durch kassubische Sprachenclaven, und daran sich anschliessend südlich und südöstlich bis nach Bromberg hin durch mehr oder weniger zusammenhängende polnische Sprachgebietstheile unterbrochen, so dass die deutsche Küste der Ostsee westlich der Halbinsel Heia ungefähr auf die Strecke einer Meile slawisches Sprachgebiet aufweist. Im Osten wird das Niederdeutsche durch das Litauische und Polnische etwas verdrängt, im Westen behauptet es sich besser; überhaupt aber ge- winnt der Einfluss des Hochdeutschen als Schriftsprache, Staats- und Gesetzessprache, sowie als Umgangssprache der höheren Classen und Stände allmälig eine solche Macht, dass das Plattdeutsche in wenigen Jahrhunderten verschollen sein, und wenn diebestehenden schriftlichen Denkmäler erhalten bleiben, in Deutschland nur noch als todte Sprache gelten, sowie als solche dem Sprachforscher einiges Material bieten wird. Anders steht die Sache in den Niedei landen, d. h. in Holland ganz besonders und zum Theil in Belgien, wenn auch hier auf schwäche- ren Füssen ; in Holland nämlich herrscht das Niederdeutsche als Staats- nnd Gesetzessprache und Umgangssprache des Gebildeten, nicht nur des Volkes, fort, und seit der politischen Spaltung im Jahre 1831 gilt im Königreiche der Niederlande der Sprachgebrauch, dass man mit dem Ausdruck nederlandsche taal oder auch zuiver nederlandsch (= sauberes, reines Niederländisch) die Sprache, wie sie von den Gebildeten gesprochen und geschrieben wird, bezeichnet, während hollandsch die Volkssprache genannt wird, in früheren Jahrhunderten aber unter nederduitsch im engeren Sinne die niederländische Volkssprache in den vereinigten Nie- derlanden verstanden wurde. So sprechen die holländischen Gelehrten im Gegensatz zur Umgangssprache von middennederlandsch als der Schriftsprache des Mittelalters, in welcher die mittelalterlichen Denk- mäler niederländischer Literatur abgefasst sind. Den Reigen derselben eröffnet, wie bereits oben gesagt, das Thierepos Reinaert de Vos, eine Dichtung, in welcher ein acht nationaler, der Volkssage entlehnter Stoff, episch behandelt ist. Aus dieser Gestalt der Sprache, näm- lich dem Mittelländischen , entwickelt sich allmälig seit dem Ende des 15. Jahrhunderts das Neuniederländische, nieuwnederlandsch.

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Nachdem die Wörterbücher von Plantijn im Jahre 1573 und von Kiliaen im Jahre 1599 erschienen, und nachdem die Gelehrten das Alter, die Ausbreitung und den Reichthum ihrer Muttersprache kennen gelernt, trat das Studium derselben ins Leben, gleichzeitig gefördert durch den grossen Aufschwung, den seit dem Abfall von der spanischen Herrschaft die niederländische Nationalit<ät nahm. Besonders that sich hervor die Amsterdamer Sprachgesellschaft, w^elche den Namen Amster- damsche Rederijkerskamer in liefde bloeyjende führte, und gab im Jahre 1584 ein Werk unter dem Titel de Tweespraak van de Nederduitsche Letterkunde heraus. Die holländische Sprache des 16. und noch des 1 7. Jahrhunderts bis ins dritte Viertel desselben zeigt im Vergleich zum 19. Jahrhundert viele Abweichungen im Wortschatz sowol als im Satzbau und in der Construction der Worte. Diese Abweichungen sind aber andrerseits als ein Sichlosreissen vom Flämischen, Brabanti- schen und Niederrheinischen Dialekte aufzufassen, denn der National- stolz wurde durch blühenden Handel und SchifFfahrt, welche beide ihre Blüthe zunächst der Erfindung, Häringe einzusalzen und in Tonnen zu packen verdankten, gar sehr gross gezogen. Als die Unruhen , welche den Abfall der Niederlande herbeiführten, begannen, besass allein die Provinz Holland schon 1000 Seeschiffe ungefähr, und im Jahre 1602 segelten 1500 Häringsböte, nur den beiden Provinzen Holland und Seeland gehörig, zum Häringsfang in See. Der Nationalstolz bewirkte demnach , wie gesagt , dass die holländische Nation sich auch durch Literatur vor Brabant und Flandern hervorthat und die Sprache be- sonders cultivirte, während die beiden zuletzt genannten Provinzen, welche das spanische Joch nicht abzuschütteln vermocht hatten, in diesen Beziehungen keine Fortschritte machten. Das Neunisderländische im engeren Sinne, weicht also von der Sprache Flanderns und Bra- bants ab und beginnt nach dem dreissigjährigen Kriege, ungefähr um 1650; ja zur Zeit des Oraniers Wilhelm IH. am Ausgang des 17. Jahrhunderts hatte sich die Grammatik und der Sprachgebrauch so weit consolidirt , dass man bis 1830 keine grosse Veränderung inner- halb der Sprache wahrnimmt. Im Mittelalter und bis gegen Ende des 16. Jahrhunderts hiess die Volkssprache vlaarasch, mithin nach Flan- dern als der blühendsten Provinz benannt, seit dem 17. Jahrhundert heisst aber die des Nordens hollandsch. Flaamsch und hoUandsch fassen die Nationalgrammatiker unter der Bezeichnung dietsch zusammen, womit in Flandern das Volk mitunter noch seine Sprache benennt.

Charakteristik der holländischen Sprache. 191

Das Studium der Muttersprache wurde im 17. Jahrhundert und den folgenden noch mehr gepflegt als im 16. So erschien im Jahre 1635: Nieuwe Konst, genaamd de Spraakkonst, ontdekt en beschreven door P. Montanus. Diesem Werke folgten mehrere andere sprach- wissenschaftliche, alle unter dem Titel Spraakkunsten. Dann Avurde durch die wenn auch noch so mangelhafte Ausgabe der gothischen Bibelübei'setzung durch Franciscus Junius im Jahre 1665 die tiefere Kenntniss der Sprache derartig erschlossen, dass Lambert ten Kate im Jahre 1723 das epochemachende Werk: Aanleiding tot de kennis van het verhevene deel der Nederduitsche Spraakkunst schreiben konnte. Gelehrte, unter ihnen besonders Huydecoper und Clignett, verbreiteten diese Kenntniss unter dem Volke durch ihre wissen- schaftlichen Arbeiten, und Siegenbeek wurde im Jahre 1801 von der Regierung beauftragt, die Rechtschreibung zu regeln, was ihm auch meisterhaft gelungen ist. Unter den Deutschen haben darnach zuerst Jacob Grimm die Grammatik des ganzen deutschen Sprachslammes historisch erforscht und wissenschaftlich begründet, während Hoffmann von Fallersleben zuerst die ältere niederländische Literatur allgemeiner bekannt machte und mit grossen Entdeckungen bereicherte. In neuester Zeit haben noch Bilderdijk durch Aufstellung von Regeln über das Geschlecht der Hauptwörter, Weiland und Biill durch ihre Sprach- lehren , sowie de Jager durch ein Wörterbuch um die niederländische Grammatik sich verdient gemacht. Noch im Entstehen begriffen ist das Wörterbuch von de Vries und te Winkel , beides Gelehrte von so bedeutendem Scharfsinn und ausgebreiteten Kenntnissen in ihrer Mut- tersprache, dass wir zu den besten Hoffnungen berechtigt, freudig der Vollendung dieses Werkes entgegensehen. Dies gilt von den Forschun- gen für die Sprache im Bereich des heutigen Königreichs der Nieder- lande; in Bezug auf das Nachbarland Belgien sei hier nur mit wenigen Worten der Unterschied zwischen der in Flandern, Provinz Antwerpen und Südbrabant nebst angrenzenden Gegenden im Volke herrschenden vlämischen Sprache und der holländischen berührt. Während die letztere seit Ende des 16. Jahrhunderts von der beiderseitigen Grund- lage aus sich immer weiter selbstständig entwickelt, bleibt die erstere der alten Rechtschreibung, Grammatik und Sprachgebrauch ziemlich treu, indem dieselbe z. B. die langen Vocale ae, ue und y nebst dem Diphtong uy statt der entsprechenden neuniederländischen aa, uu , ij und ui beibehält. Vor dem 16. Jahrhundert hatte die niederländische

192 Charakteristik der holländischen Spraclie.

Liteiatur ihren Sitz in Flandern und Brabant und wandelte dann erst nach Gelderland , Holland und Utrecht Es scheint nicht zu gewagt, die niederländische Sprache, wie sie uns vor dem 16. Jahrhundert bekannt ist, auch altvläraisch zu nennen, denn aus der vlämischen Mundart heraus hat sich die mittelniederländische Literatur entwickelt. Den Uebergang vom heutigen Vlämischen zum Holländischen bilden die Mundarten Seelands , Nordbrabants und Limburgs. Die friesische Sprache grenzt andrerseits im Nordosten an das Sprachgebiet der neu- niederländischen , lebt aber als westfriesische Mundart heutzutage nur noch in der Provinz Friesland und den dazu gehörigen Inseln der Nordsee fort, während im Mittelalter im nördlichen Theile der Provinz Nordholland , welche Provinz ja erst nach der Römerzeit durch eine Sturmfluth abgetrennt wurde, noch friesisch gesprochen wurde. Nicht nur in Deutschland durch das Plattdeutsche und jetzt auch das Hoch- deutsche, sondern ebenfalls in Holland durch das Holländische wird das Friesische von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer mehr verdrängt, bis dasselbe nach einigen Jahrhunderten aus der Reihe der lebenden Mund- arten ganz verschwunden sein wird. Das Vlämische im Süden hat einen schweren Kampf mit dem Französischen als der Sprache des Hofes, der Gebildeten und der wallonischen Provinzen in Belgien zu bestehen, wobei es früher oder später wol unterliegen wird. Die holländische Sprache allein unter diesen dreien wird sich hingegen, weil durch den Staat, die Kirche und die gebildeten Stände geschützt, noch Jahr- hunderte durch unter den lebenden erhalten.

Dr. phil. Hermann Hiinel in Dresden.

Metapher Studien*)

von Dr. Friedrich Brinkmann.

Huhn und Hahn. I.

Wir gehen jetzt zu denjenigen Hausthieren über, die zu den Vögeln gehören. Es sind dies das Huhn, die Gans, die Ente, die Taube, der Pfau, der Schwan, und dazu kommt noch aus dem Gebiete der Insekten die Biene. Sie sind alle, eben so gut wie die bisher behandelten Vier- füsser, vom Menschen als Hausgenossen aufgenommen worden , und dem gemäss hat denn auch die Sprache ihnen eine ähnliche Aufmerk- samkeit geschenkt wie jenen. Während von den übrigen, dem Menschen ferner stehenden Thieren nur verhältnissmässig wenige Metaphern und Sprüchwörter gebildet worden sind , reihen sich die auf das Haus- gefliigel bezüglichen an Zahl und Wichtigkeit würdig denen der bisher behandelten Hausthiere an.

Ganz besonders gilt das vom Huhn, das, wie es das wichtigste dieser Klasse von Hausthieren ist, so auch die meisten Methaphern und Sprüchwörter hervorgebracht hat. Jene Thatsache, dass für den Menschen das Huhn der wichtigste Vogel ist, wird unter den Aus- drücken für Huhn (lat. gallina, gallus, pollus gallinaceus ; gr. oQviq, aXsxTO- Qig, dXeyitQvav; it. pollo, gallina, gallo; sp. pollo, gallina, gallo; fr. poule,

*) Fortsetzung der Abhandlungen: 1. Der Hund, Archiv Bd. XLVI, S. 425 bis 464; 2. Das Pferd, Archiv Bd. L, S. 123 bis 190; 3. Der Esel, Archiv Bd. LIV, S. 155 bis 173; 4. Das Maulthier, daselbst S. 174 bis 182; 5. Die Katze, daselbst S. 337 bis 366 ; 6. Das Rind, Archiv Bd. LV, S. 327 bis 362; 7. Die Ziege, Archiv Bd. LVT, 8. 343 bis 3.^0; 8. Das Schaf, daselbst S. 350 bis 367; 9. Das Schwein, daselbst S. 367 bis 376.

Archiv f. n. Spraclien. LVIU. 13

194 Metapherstudien.

coq ; engl, fowl, heu, cock) ausgesprochen in dem egl. fowl und dem alt- griechischen oQPig, die beide im weiteren Sinne Vogel, im engeren aber Huhn bedeuten. Allerdings muss es für die romanischen Nationen eine Zeit ge- geben haben, wo nicht das Huhn, sondern die Gans als der wichtigste, nütz- lichste Vogel angesehen wurde, da sie dieselbe als auca, oca, oie (von avis, avica), d. h. als den Vogel schlechthin bezeichnen. Dass jedoch auch in den romanischen Sprachen jene Anschauung des Huhnes jetzt getheilt wird, beweist am besten der Umstand, dass auch in ihnen die auf das Huhn bezüglichen Metaphern und Sprüchwörter an Zahl und Wichtigkeit die auf die Gans bezüglichen bei weitem übertreffen.

Indessen haben die meisten dieser Metaphern und Sprüchwörter speciell auf den Hahn oder die Henne Bezug, nur sehr wenige auf das Huhn im Allgemeinen, und das liegt in der Natur der Sache. Folgendes ist ungefähr die Charakterisirung, welche die Sprache vom Huhne im Allgemeinen giebt.

Wie die Gans als das dumme Thier von der Sprache aufgefasst wird, so das Huhn als das feige Thier, z. B. im Span, bedeutet gallina (Henne), wenn es männliches Geschlecht hat, Feigling, und wie bei der Gans vorzugsweise das Junge als dumm gilt, so das junge Huhn, das Küchlein, vorzugsweise als feig. Da aber das Huhn be- sonders verzagt und kläglich dann aussieht, wenn es vom Regen durch- nässt ist, so greift das Italienische und Französische gerade dieses Bild auf, um metaphorisch einen Feigling zu bezeichnen:

It.: Star li come un p ulcin bagnat o (Giiisti 371) oder andarsene come un p. b. heisst: wie ein begossenes Huhn (wie wir sagen: Hund) dastehen, davonlaufen. Fr.: poule mouillee, eine Memme, c'est une poule niouillee = c'est un poltron (Le Roux I, 127), während das wörtlich genau entsprechende

Sp. : estar hecho un poUo de agua nur bedeutet: in Schweiss gebadet sein, und im Englischen heisst hen- hearted, chicken-hearted (mit einem Hühnerherz) feigherzig.

Für die Verbindung von Verzagtheit und Unbeholfenheit (wofür er den Ausdruck hat dappoco, dappocaggine) braucht der Italiener ausserdem das Bild von dem Küchlein im Werge, besonders in der beliebten Redensart piü impacciato che un pulcin nella stoppa, oder imbrogliato, impastojato come un pulcino tra la stoppa, in Ver- legenheit wie ein Küchlein im Werge*

Metapherstudien. 195

Gia l'aveva sentito dire ch'era un homo du poco, ma in quest' occasione ho dovuto proprio vedere, che e piü impacciato che un pulcin nella stoppa,

Manzoni, prom. sp. cap. 24. Als schmutzig erscheint das Huhn hier und da im Sprüchwort: It.: Pulito come un bastone di pollajo. Giusti 369.

Ragazzi e polli imbrattan le case. ib. 129. Fr. : Enfans, poules et les Coulombs

Embrenent et souillent les maisons. Le Roux I, 140. Auch als gefrässig bis zur Unersättlichkeit: It. : Ragazzi e polli

Non si trovan mai satoUi. Giusti 129. Preti, frati, monache e polli Non si trovan mai satoUi. ib. 178. Fr. : Nonnains, moisnes, prestres et poullets

Ne sont jamais pleins ne saoules. L. Roux I, 25. Sp. : Doce gallinas y un gallo comen tanto como un caballo.

Oudin, 100. und in seiner natürlichen Feindschaft zum Fuchse, wie die von Lamm und Wolf, Maus und Katze ist.

It. : Quando la volpe predica, guardatevi, galline. Giusti 47. Consiglio di volpi, tribolo di galline. ib. Quando le volpi si consigliano, bisogna chiudere il pollajo. ib. Fr. : Profiter ä qn. comme une poule egaree au renard. Von Thätigkeiten des Huhnes im Allgemeinen sind zwei be- merkenswerth : das Scharren mit den Füssen in dem Erdboden und das Auffliegen auf die Stange. Der italienische Ausdruck für den ersteren Begriff, razzolare, und der spanische escarvar bedeuten metaphorisch nachspüren, emsig aufsuchen, und das scharrende Huhn ■wird oft im Sprüchwort als Bild gebraucht.

It. : Tanto razzola la gallina, che scuopre il coltello, che l'amazza.

Giusti 201. Sp. : Escarva la gallina y halla su pepita. Oudin 131.

= Muchas veces el que escarva lo que no querria halla.

(Dicc. d. 1. Acad.) = Der Blick des Forschers fand Nicht selten mehr als er zu finden hoffte.

Lessing, Nathan IT, 7. 13*

196 Metapherstudien.

It. ; Chi di gallina nasce, convien che razzoH. Giusti 128. (= Chi nasce di gatta, piglia i topi al bujo.) Ogni gallina raspa a se. Giusti 91. Auch das

It.: Scrive come una gallina. Giusti 370. (lat. : Has literas gallina scripsit.) bezieht sich auf das Scharren.

Vom Ausdruck für das Auffliegen der Höhner auf die Stange, wo sie übernachten, ist im Italienischen ein Metapher gebildet worden : appolajarsi heisst sich niederlassen an einem Orte.

Se questa feccia die gente qua pensasse appollajare.

IL

Eine bei weitem reichere Metapherbildung stellt sich uns dar, wenn wir den Hahn und die Henne besonders ins Auge fassen. Was den Hahn betrifft, so trägt seine ganze Erscheinung zu auffallend den Charakter des Stolzes und gefallsüchtiger Eitelkeit, als dass die Sprache sich diesen Zug entgehen lassen könnte. Er tritt am reinsten und bestimmtesten im Spanischen und Englischen hervor : Sp. teuer mucho gallo heisst sehr stolz sein (teuer soberbia, altaneria ö vanidad, y afectar superioridad ö dominio) und gallear den Kopf hoch tragen; Egl. cock sich brüsten, einherstolziren wie ein Hahn, cock the nose die Nase hoch tragen (wie der Hahn den Kopf, vgl. It.: a testa ritta come un gallo), cock the hat den Hut aufs Ohr setzen, und : den Hut aufkrämpen, a cocked hat, ein aufgekrämpter, dreieckiger Hut, welche letzteren Ausdrücke sich dadurch erklären, dass sowol in dem aufs Ohr Setzen des Hutes als in dem Aufkrämpen des Randes Eitelkeit und Gefallsucht gesehen wurde; bawcock, aus dem franz. beaii coq entstanden, wird in der Bedeutung: netter Junge, Bürschchen gebraucht, z. B. in Shakesp.'s Twelfth night III, 4, redet Junker Tobias so den Malvolio an : Why, how now, my bawcock ? how dost thon, chuck?*)

*) Anm.: vgl. Falke: Die deutsche Trachten- und Modenwelt, Bd. II, S. 238: Es konntf nicht ausbleiben, dacs die dominirende Perrücke auch auf den Hut umgestaltend einwirkte. Zur Steifheit muss sich wieder zierlicbeEleganz, Bewegung im Conto ur gesellen. So richtet sich der Rand allniälig wieder auf, erst auf der einen Seite, und zwar auf der linken, dann auf zweien, bis er endlich mit drei Krampen die feste be- stimmte Form erhalten hat, mit welcher er wie ein Diener die Allonge- periiicke in ihrer Höhozelt begleitet.

Metapherstudien. 197

Als Gefallsucht wird das Benehmen des Hahns ausschliesslich im Französischen gedeutet. Es wird hier also nur auf sein Benehmen in Bezug auf die Hühner gesehen, wo denn die Eitelkeit sich be- stimmter als Gefallsucht charakterisirt. Das allbekannte und weitver- breitete coquet ist nämlich von coq der Hahn gebildet, und heisst also gefallsüchtig wie ein Hahn; von coquet wieder coqueter. Wie dies Wort in das Deutsche übergegangen ist, so auch in das Spanische (coqueta, coquetar) und das Englische (coquet, to coquet). Der Italiener dagegen hat seltsamer Weise die kleine Eule, das sog. Käuzchen, als Bild benutzt, um Kokette und kokettiren zu bezeichnen, er sagt dafür civetta und civettare, und das hat wohl seinen Grund darin, dass dieses Thier durch „seine barocke, lebendige Mimik" sich auszeichnet und darum oft gezähmt wird (siehe Masius, d. gesammt. Naturw. II, S. 222), während zugleich nicht zu verkennen ist, dass das Fratzenhafte und Karrikirte, das beim Kokettiren so leicht sich einschleicht, glücklich durch dieses Bild angedeutet ist.

Angesichts aller dieser Ausdrücke, besonders aber des sp. gallear, können wir nicht anstehen, das italienische gallare und galleggiare mit den Bedeutungen: frohen Muthes , unverzagt sein und oben auf dem Wasser schwimmen, von gallus, Hahn, abzuleiten und die Frage von Diez bei Besprechung dieses Wortes (Etymol. Wörterb. II, 31): „Nahm man es vom stolzirenden üppigen Hahn?" durchaus zu bejahen. Wenn jedoch Diez weiter behauptet, dass „die sinnliche Be- deutung des Obenschwimmens sich erst aus der abstrakten des üeppig- seins entfaltet habe", so muss das als unnatürlich und schwer begreiflich verneint werden. Vielmehr sind beide Bedeutungen, sowol die abstrakte als die sinnliche, aus der ursprünglichen sinnlichen Bedeutung von gallare, galleggiare: den Kopf stolz und hoch tragen wie ein Hahn, hervorgegangen. Es entsteht daraus die Metapher: oben seh wim men, indem man einen auf der Oberfläche des Wassers schwimmenden Gegen- stand mit dem Kopfe eines Hahns vergleicht, der stolz über die Schaar der Hühner hervorragt, und die andere: muthig sein, indem man auf den Gemüthszustand sieht, der in jener Haltung des Hahnes sich auespricht.

Besonders stolz und in seiner Würde fühlt sich aber der Hahn, wenn er auf seinem Miste steht. Wie wir daher die Sprüchwörter haben: Der Hahn ist König auf seinem Miste; und: Der Hahn kräht am kühnsten auf eigenem Miste (Simr. 193), so sagt der Italiener:

198 Met apherstudien.

E ardito il gallo sopra il suo letame, der Spanier: cada gallo canta en SU muladar (Oudin 66), der Engländer: Every cock is proud on his own dunghill (Ray 62). As proud as a cock on his own dunghill (Ray 153), und dieser hat ausserdem die metaphorische Redensart: He is cock on the hoop, oder cock-a-hoop, um einen stolzen, dünkelhaften Menschen zu bezeichnen, ein Ausdruck, der, wenn man die anderen angeführten Sprüchwörter vergleicht, im wörtlichen Sinne nicht anders gedeutet werden kann als: er ist der Hahn auf dem Haufen, obgleich sonst heap Haufen heisst und hoop Reifen. Vielleicht ist dies hoop eine vereinzelte Nebenform von heap, die hervorgegangen ist aus dem angelsächs. heop, einer Nebenform von angels. heap. Der Franzose hat für denselben Gedanken ein anderes Bild, er sagt: Chien sur son fnmier est hardi. Der Lateiner aber fast übereinstimmend mit jenen Sprachen : Gallus in sterquilinio plurimuni potest.

Nahe an dieses Bild schliesst sich das des Hahnes als herrschen - den Hauptes einer Gesellschaft von Hühnern. Wir sehen es zu Grunde liegen in der Bedeutung: Factotum, Hauptperson in einem Hause oder einer Gemeinde , welche das sp. gallo hat (el que en alguna casa, pueblo 6 comunidad todo lo man da, ö lo quiere mandar en tales terminos que no hagan los demas sino lo que el dispone), und in der span. Redensart: hacerse oder ser el gallo, der Hahn sein, sich zum Hahn machen, d. h. die erste Rolle spielen, die Herrschaft sich anmassen (ser el primero en autoridad, aprecio ö saber en alguna comunidad ö Junta); ebenso in der französischen: c'est le coq du vill age, il est le coq de son village, er ist der Hahn des Dorfes, d. h. er ist der Erste, Vornehmste; und in der englischen: He is the cock of the roost (Hühnerstange zum Aufsitzen) mit derselben Bedeutung. In der andern englischen Redensart : He is the cock of the club, er ist der Wortführer im Club, ist einerseits auch wieder an den Hahu als das Haupt der Hühner gedacht, dazu aber an die andere Eigenschaft des Hahns, dass er der Kräher, der Schreier ist. Daher heisst auch im Spanischen gallo derjenige Professor, welcher bei der Verleihung der Doctorwürde die Lobrede auf den Doctoranden hält, während in dem sp. gallear mit der Bedeutung: mit lauter Stimme drohen, schreien gallearse, mit zorniger Stimme Jemandem Beleidigungen sagen (enfurecerse con otro, diciendole injurias), und in dem fr. coquard, ein alberner Schwätzer, blos an den Hahn als den Schreier gedacht ist. In diesen beiden Eigenschaften als Herrscher und als Schreier

Metapherstudien. 199

erscheint der Hahn auch in folgenden Sprüchwöitern, die alle den Ge- danken aussprechen, dass es schlecht mit einem Hause bestellt ist, in welchem der Mann unter dem Pantoffel steht. It. : In quella casa e poca pace

Dove gallina canta e il gallo tace. oder: Trista e quella casa, dove etc. Giusti 129. oder: In casa non c'e pace, quando gallina canta c gallo tace. Fr.: Malheureuse maison et mechante

Ou coq se tait et poule chante. Le Roux I, 111. La poule ne doit pas chanter devant le coq. ib I, 127. C'est chose qui moult me deplaist, Quand poule parle et coq se taist. Rom. d. 1. Rose. Femme qui parle comme homme, et geline qui chante comme coq ne sont bonnes ä tenir. Le Roux I, 146. Sp. : Con mal estä la casa, donde la rueca manda al espada. Egl.: It's a sad house where the hen crows louder then the cock.

Ray 26,

Aus diesem Bilde heraus ist indessen keine Metapher für den Begriff: unter dem Pantoffel stehen, gebildet worden. Metaphorisch drückt ihn der Italiener, Franzose und Engländer dadurch aus, dass er sagt: die Frau trägt die Hosen; it.: Sua moglie porta i calzoni; fr.: Cette femme porte le haut-de-chausses (Le Roux 121), engl.: The woman wears brceches (Ray 137). Der Engländer hat aber ausser- dem noch zwei melaphorische Ausdrücke, also einen nicht zu verken- nenden Reichthum an Ausdrücken für diesen Begriff, was offenbar mit der hoch entwickelten Herrschaft der Frauen in diesem Lande zusammen- hängt. Davon lautet der eine: The grey mare is the better horse (Die graue Stufe ist das bessere Pferd), der andere ist aber wieder ein aus dem Leben des Hahnes mit den Hühnern entnommenes Bild, und zwar ein originelles und geradezu drastisches, aus einer Zeit stammend, wo man die Dinge noch beim rechten Namen zu nennen wagte und die delicacy, fashion und respectability noch nicht regierten. Wenn der Hahn das Huhn tritt (engl. : the cock f reads the hen), so pickt er es in den Kamm. In der Umdrehung dieses natürlichen Verhältnisses, dass die Henne den Hahn pickt, sieht nun der Engländer das Bild des von der Frau beherrschten Mannes, und er bezeichnet einen solchen als einen von der Henne gepickten Ehemann, a henpecked husband.

200 Metapherstudien.

III.

Nachdem wir so gesehen haben, wie die neueren Sprachen die Bilder für eine gewisse Gestaltung des ehelichen Lebens aus dem Leben des Hahnes mit den Hühnern entnehmen, kann es uns nicht wundern, wenn dasselbe geschieht, um einen anderen Charakter desselben, den es durch gewisse Ereignisse erhalten kann, zu bezeichnen.

Einer der am meisten hervortretenden und charakteristischen Züge im geselligen Leben der Hühner ist die Eifersucht des Hahnes. „Vor Allem ergötzlich, sagt Masius (a. a. 0.), ist die Eifersucht, womit der Hahn seine Alleinherrlichkeit überwacht. In hartnäckigen, blutigen Gefechten, mit Sporn, Schnabel und Flügeln kämpfend, vertreibt er den Eindringling aus seinem Gebiete, und nun thut ein weithin dringendes Triumphlied von hoher Stelle herab die Niederlage seines Feindes kund." Das deutsche Sprüchwort drückt dies in den Worten aus; „Zwei Hahnen auf einem Mist vertragen sich nicht" (Simr. 194), und das italienische in diesen : Non istanno bene due galli in un pollajo (Giusti 91). Eins der überall sich darbietenden Bilder aus dem Leben der Hühner ist der Kampf zweier Hähne um die Alleinherrschaft, und mit Rücksicht auf die Veranlassung dieser Kämpfe und den Gemüths- zustand der Kämpfenden, d. h. Eifersucht, macht die Sprache davon Ge- brauch, um den in seinen Rechten verletzten Ehemann zu bezeichnen. Wir sprechen von dem französischen Ausdrucke cocu. Die bis- her allgemein angenommene Meinung (s. Diez, Etymol.Wörterb. I, S. 148) ging dahin, dass cocu von cuculus, der Kuckuck, abstamme, der bekannt- lieh seine Eier in fremde Nester legt , um sie ausbrüten zu lassen. Diese Ableitung ist aber sachlich sehr bedenklich und formell geradezu unhaltbar. Was nämlich den Sinn betrifft, so hat schon Adelung be- merkt, dass, wenn jene Ableitung richtig wäre, cocu nicht den betrogenen Eheni^nn bezeichnen könnte, sondern im Gegentheil den Betrüger (s. Schwenk, Wörterb. d. deutsch. Spr. S. 274), und dieses Bedenken sucht Diez nicht besonders glücklich durch die Bemerkung zu heben : „Gab man nun etwa dem betrogenen Ehemann per antiphrasim den Namen des Vogels, der in fremde Nester legt?" Wir wollen jedoch auf diese Schwierigkeit kein zu grosses Gewicht legen, weil die Wege, auf welchen die Begriffe in einander übergehen, manchmal recht wun- derlich sind, und zudem hier ein Ausweg zur Erklärung versucht werden könnte, von dem wir unten sprechen werden.

Ungleich gewichtiger ist aber das formelle Bedenken. Cocu

Metapherstuclien. 201

kann formell weder von cuciilus, noch von dem seltenen eucus ab- stammen. Cucus müsste im Französischen eine Form couc, wie Inpiis loup, jugimi joug, ergeben, und cucülus kann gar nicht in Betracht kommen, wenn man die vorletzte Sylbe als kurz nimmt, da dann der Ton auf der ersten Sylbe ruht (cuculus) ; nimmt man sie aber als lang, so kann cucülus doch immer nur eine Form cocul oder cocule, wie culus cul, mulus mule ergeben, nicht aber cocu, da ein Wegfall des nach Abwerfung der Endung auslautenden 1 unerhört ist. Und darum ist auch coucou, der Name des Vogels, nicht von cuculus abzuleiten, sondern als ein selbständig nach dem Rufe des Vogels gebildeter Natur- ausdruck anzusehen.

Mit Verw erfung der bisherigen Ableitung von cocu wollen wir daher hier eine andere geben. Das fr. cocu setzt ein iti cocuto (lat. -utus), ein sp. cocudo, ein proven^. cocut oder cucut voraus, wie fr. barbu dem it. barbuto, sp. bai'budo, wie fr. chenu dem it. canuto, proven^. canut, wie membru dem it. membruto, sp. merabrudo tc. entspricht. Von jenen Ausdrücken existiren nun aber in der That die proven^alischen in den Formen cucut, cocu da, cogotz mit der- selben Bedeutung wie das fr. cocu. Hieraus geht einestheils unwider- leglich hervor, dass cocu nicht von cuculus abgeleitet sein kann, denn jene mit ihm identischen proven^alischen Ausdrücke können doch nimmermehr auf cuculus zurückgeführt werden, anderntheils aber das positive Resultat, dass der Auslaut u von cocu das Ableitungssuffix ist, welches lat. utus, it. uto, sp. udo, prov. ut lautet, und dass daher cocu von coq gebildet ist, wie barbu von barbe, membru von membre.

Die Bedeutung von cocu entwickelt sich aber mit Leichtigkeit unter Zugrundelegung dieser Etymologie. Seinem Ursprünge von coq entsprechend bedeutet cocu ursprünglich zu einem Hahne gemacht, einem Hahne ganz ähnlich gemacht, etwa wie it. chercuto (ge- schoren) eigentlich heisst: zu einem Geistlichen (cherico) gemacht, einem Geistlichen ähnlich gemacht , nämlich in Bezug auf die Tonsur. Die Beziehung aber, in welcher eine mit cocu bezeichnete Person einem Hahne ähnlich gemacht ist, liegt auf der Hand. Sie ist dem- jenigen Hahne ähnlich , welchem ein anderer Hahn ins Gehege ge- kommen, oder, wie es deutsch heisst, auf den Mist gekommen ist, und, wenn sie ihren Zustand kennt, so ist sie in demselben leidenschaftlich aufgeregten Gemüthszustande der Eifersucht , wie ein solcher Hahn,

202 Metapherstudien.

der mit dem Eindringling kämpft. Das Tertium comparationis ist also Eifersucht wegen grober Verletzung ehelicher Rechte, und darum ist die eigentliche Bedeutung von cocu: eifersüchtig wie ein Hahn.

Mit dieser Auffassung harmoniren auch die Ausdrücke für den- selben Begriff, die wir bei Besprechung der Ziege kennen gelernt haben : it. becco, becco cornuto, sp. cornudo, fr. porter, avoir les cornes, engl, wear horns, gr. xeQariag^ xeQ(cgq)OQog. Wie cocu heisst zum Hahne gemacht, so bedeuten alle diese Ausdrücke zum Bocke gemacht, mag der Bock ausdrücklich genannt sein wie im it. becco, oder er bloss angedeutet sein durch den Ausdruck : gehörnt, Hörnerträger ; und wie •die bestimmtere Bedeutung von cocu ist: eifersüchtig gemacht wie ein Hahn, so die von jenen Ausdrücken: eifersüchtig gemacht wie ein Bock.*) In beiden Ausdrücken wird also nicht auf die That- sache als solche gesehen, dass der Ehemann beleidigt ist, sondern auf den Gern üthsz u stan d , in den er durch die Beleidigung ver- setzt worden sein muss, und das ist Eifersucht. Die Eifersucht muss aber um so mehr aufgeregt sein, je heisser die Liebe war. Darum wählt dieSprache, um diesen Gemüthszustand auszudrücken, zwei Thiere alsBilder, die durch ihren heftigen Ardor coeundi bekannt sind, den Bock und den Hahn. Vergl. über den Letzteren die oben citirte Stelle von Masius und die aus Buffon (bist. nat. des ois. 67. genre) : quand il [sc. le coq] en aurait cinquante [sc. poules] chaque jour, on pretend qu'il ne raanquerait a aucune**), über den Ersteren die am Schlüsse des Capitels über die Ziege citirten Worte von Buffon , insbesondere : Le bouc . . est tres-chaud, un seul peut suffire a plus de cent cinquante chevres pendant deux ou trois mois. Was die Ausdrücke der anderen Sprache betrifft, welche dem fr. cocu entsprechen, so ist zu unterscheiden: Das italienische euculo kermt die hier besprochene Bedeutung gar nicht und scheidet also aus. Das englische cuckold kann seinen Ursprung aus cock

*) Dies ist eine Auffassung, die auch Shakespeare getheilt haben muss, wie aus folgender Stelle hervorgeht (Oth. III, 3): Tliink'st thou, I'd inake a life of jealousy, to follow still the changes of the moon uith fresh suspicions? No; to be onee in doubt, is once to be resolv'd. Exchange me for a goat, when I shall turn the business of my soul to such ex- sufflicate and blown surmises.

**) Daher sagt Logau (III, 98): An Worten ist er Mönch, an Thaten ist er Hahn.

Metapherstudien. 203

nicht verleugnen, da es im Altengl. coke- wold Uiutet, und stimmt also ganz mit dem fr. cocu überein. So bleiben noch die spanischen und die pr o ven^alisch en Ausdrücke. Die letzteren sind von besonder erWichtigkeit. Sie können unmöglich alle auf ein und dasselbe Etymon zurückgeführt werden. Die schon oben angeführten drei Wörter cucut, cocu da, cogotz haben mit cocu denselben Ur- sprung coq. Davon is cucut, das den Stamm und die Ableitungssylbe am reinsten aufweist, der catalonische Ausdruck ; von cogotz ist aber eine ursprüngliche Form cocut anzunehmen, wie das Femininum cocuda beweist, und dies cocut entspricht dann genau dem fr. cocu. Dagegen kann ein anderes proven9alisches Wort für denselben Begriff, c o g u 1, der im Catalonischen cugul lautet, nur von cuculus, der Kuckuck, ab- geleitet werden.

In den pr ove nzalischen Ausdrücken ist also eine Mischung der beiden Stämme coq und cuculus einge- treten. Und darum können wir nicht umhin, die beiden spanischen Ausdrücke cu quill o und cuclillo, sowol in der Bedeutung von fr. cocu als in der von Kuckuck von cuculus abzuleiten, während, ohne die bestimmte Hinweisung des proven^al. cogul, man geneigt sein könnte, für den ersten Begriff darin eine Bildung aus einem nach fr. cocu voraus- zusetzenden cocudo mit dem Diminutiv- Suffix ellus zu sehen.

Für die spanischen Ausdrücke und das proven9. cogul lässt es sich also nicht leugnen, dass der Name des betrogenen Ehemannes vom Namen des Kuckucks hergenommen ist. Wenn so auch an uns die For- derung herantrritt, dies zu erklären, so geben wir folgende Erklärung als einen Versuch, der, wenn er nicht befriedigt, doch wenigstens das für sich hat, dass er auf keiner blossen Vermuthung, sondern auf einem positiven Grunde fusst.

Was in dem metaphorischen Gebrauche des Namens des Kuckucks für den betrogenen Ehemann befremdet ist oben ausgesprochen worden. Alle Erklärer, die sich hieran versucht haben, sind darin einig, dass es viel natürlicher wäre, den Betrüger als den betrogenen Ehemann unter dem Bilde des Kuckucks zu bezeichnen, dass also gerade das Gegen- theil von demjenigen stattfindet, was sein sollte. Und dieser Einwand ist unwiderleglich, so lange man bloss die Thatsache ins Auge fasst, dass der Kuckuck seine Eier in fremde Nester legt.

Indes sen derVolksglaube scheint sich stellenweise ein etwas anderesBild vom Kuckuck zu machen. In der italienischen

204 Metapherstudien.

Sprüchwörtcrsammlung von Giusti findet sich pag. 365 eine sprüch- wörtliche Redensart : Cova nel nido degli altri come il cuculo, d. h. er brütet im Nest der Anderen wie der Kuckuck. Hieraus geht hervor, dass in Itah'en (und also wahrscheinlich auch in Spanien und der Provence) der Volksglaube besteht, der Kuckuck brüte auch in den fremden Nestern, worin er seine Eier legt, obgleich er dies gerade darum thut, weil er sie selbst nicht ausbrüten kann. Von dieser Ansicht aus fallt nun ein ganz neues Licht auf die besprochenen Ausdrücke. Vorausgesetzt, der Kuckuck brütet in einem fremden Neste, so thut er das in der Absicht, nur sein eigenes hineingelegtes Ei aus- zubrüten ; er brütet aber zugleich auch die fremden dort liegenden Eier aus und ist so g e wi s se rmassen der Betrogene. Nach diesem Volksglauben findet also gerade das Gegentheil von dem wirklichen Ver- laufe der Dinge statt, und so fänden denn die obigen Ausdrücke ihre Erklärung.

Mag man nun aber die sp. Wörter cuquillo, ouclillo, und das proven9. cogul erklären wie man wolle, in keinem Falle beweisen sie etwas für die Herleitung des fr. cocu. Soweit coq als Namen des Hahnes Geltung hat, d. h. im Französischen und Englischen, ist der Name des betrogenen Ehemannes von coq gebildet. Und in dem zwischen dem Gebiete des Französischen und dem des Spanischen liegenden Lande, d. h. in dem Gebiete des Provenzalischen und des Catalonischen, sind in leicht begreiflicher Weise beide Ausdrücke recipirt und an- geeignet worden.

Eine auffallende Parallele zu fr. cocu, wenn wir es von coq ab- leiten, bietet der deutsche Ausdruck Hahnrei. So nah es lag, cocu von coq abzuleiten, ebenso nahe lag es Hahnrei von Hahn abzuleiten. Und ebenso wenig wie jene wagte man diese Ableitung aufzustellen und verstieg sich zu den wunderlichsten Hypothesen*).

*) Man muss den Artikel Hahnrei in dem Wörterb. d. deutsch. Spr. von Schwenk lesen, um sich einen Begriff zu machen, wie selbst tactvolle Sprachforscher zur Erklärung dieses Wortes und der entsprechenden Aus- drücke in den fremden Sprachen immer geneigt gewesen sind, auf das weit Entfernte zu verfallen und das nahe, unmittelbar vor Augen Liegende zu iibersehen. Wie man bei cocu zu cuculus und nicht zu coq als Etymon greift, so sieht Schwenk in dem entsprechenden it. becco nicht becco, den Ausdruck für Bock, sondei-n becco, Schnabel, Maul, und bei cornuto, cornaro, dem Gehörnten, Hörnertrager, denkt er auch wieder nicht an den Bock, sondern er glaubt: „Wahrscheinlich bezeichnete diese Benennung einen Menschen, welcher ochsendumm ist, denn was wir einen Esel bohren nennen.

Metapherstudien. 205

Hahnrei kommt aber ebenso gut von Hahn, wie cocu von coq, und dadurch ist unsere Ableitung um so gesicherter. Man könnte geneigt sein, Hahnrei für eine Bildung von Hahn mit dem Ableitungssuffix ei, statt dessen sehr oft rei steht (s. Grimm, Gramm. 11, S. 97) zu halten, Hahnrei also zusammenzustellen mit Eselei, Schweinerei, und demnach als ursprüngliche Bedeutung eine Handlung, ein Benehmen, einen Zustand wie den eines Hahnes anzunehmen. In seiner Anwendung auf das Ver- hältniss eines betrogenen Ehemannes zu seiner Frau müsste es dann ur- sprünglich nicht den Ehemann selbst, sondern denZustand, in welchem er sich befindet, bezeichnet haben. Man müsste anfangs nicht gesagt haben: „Der X ist ein Hahnrei", sondern „der X ist in einer Hahnrei", d. h. er befindet sich in einer Lage und in einem Gemüths- zustande, wie ein Hahn, zu dem sich ein zweiter Hahn gesellt hat. (Wir verweisen auf die obige Ausführung zu cocu.) Und erst weiter hätte sich dann die Redeweise entwickelt, dass die Person selbst als Hahnrei be- zeichnet wurde, etwa wie Schäferei nicht das Schafehalten, sondern den Inbegriff" der Schafe selbst bezeichnet, und wie im Französischen la garde die Bewachung, und le garde der Wächter heisst.

In der That war ich früher dieser Ansicht. Nachdem ich aber in dem Grimm'schen Wörterbuche eine andere Erklärung gefunden habe, stehe ich nicht an, derselben den Vorzug zu geben. In dem Artikel: Hahnrei, heisst es dort: „Der letzte Theil des Wortes Reie oder Reier enthält den Begriff Tänzer, wie sicher

d. h. andeuten, es habe einer Eselsobren, nennen die Franzosen faire les cornes ä qn. etc." Und so leitet er denn Hahnrei von „Hans" ab, welches einen einfaltigen Menschen bezeichnet, erwähnt aber auch die Schuieller'sche Ableitung von „Heinrich", und bezeichnet auch sie als sehr wahrscheinlich. Die beiden Wörter, welche die wahren Etyma der hier behandelten Ausdrücke sind, Bock und Hahn, werden nicht einmal nebenbei erwähnt. Und warum werden sie so gänzlich übersehen? Weil man sich nicht darum gekümmert hat, zunächst die Charaktere der Thiere in der WirkHcbkeit zu erkennen und darauf das Bild aufzufinden, welches die Sprache von ihnen entwirft, um dann an passender Stelle das einzelne Wort als ^'er- treter eines Zuges in dem Gesammtbilde einzureihen, als Vertreter der mit den übrigen Vertretern desselben Zuges und mit dem Gesammtbilde iu Harmonie und Zusammenhang stehen muss das ist meine Methode , sondern gerade umgekehrt von dem Speziellsten, dem einzelnen Worte, aus- geht und nun auf gut Glück nach einem Etymon sucht, das formell passt und einen Sinn hat, der einigermassen, wenn auch nur schwach, mit dem Sinne des untersuchten Wortes vermittelt werden kann. Welcher von beiden Wegen die Wahrscheinlichkeit für sich hat, das Rechte zu treffen, braucht wohl nicht erst gesagt zu werden.

SOG Metapberstudien.

durch Folgendes bewiesen wird : Wer leyden mag, dass man in göich Oder man inn die Schuh im seich Oder setzt Hörner uff die Oren Der hat ein Reigen mit den Doren. Brant, Narrenschiff (v. Zarnke, S. 34). Das 16. Jahrhundert bezeichnet sehr gern das innige Ver- bundensein innerhalb einer Genossenschaft unter dem Bilde eines Tanzes oder Reigens : Ich bin der drit der sich wol ziert Und diesen Narren- reyen fiert. Murner. Hahnrei, Hahnreier ist demnach der, der einen Reigen der Hähne mitmacht, in die Genossenschaft der Hähne gehört" (Grimm), oder, wie wir auchsagenkönnen, zu e inem Hahn gemacht ist, wie der, welcher „einen Reigen hat mit den Thoren", ein Thor ist. Das bedeutet aber genau auch das fr. cocu, und so ist denn die Ueberein s tim mun g des deutschen und des fran- zösischen Ausdruckes eine vollständige.

IV.

Von einzelnen äusseren Eigenthümlichkeiten des Hahnes tritt besonders das Krähen hervor. Wie der Lateiner sagt: gallus cantat, der Hahn singt, und gallus als abstammend von canere, singen, eigentlich der Sänger heisst, so gebrauchen alle romanischen Sprachen die Ausdrücke für Singen, um das Krähen zu bezeichnen: it. il gallo canta, sp. el gallo canta, fr. le coq chante, während der Engländer mit dem Deutschen übereinstimmend sagt: the coq crows, und nur in dem Ausdruck chanticleer (singe laut) für den Hahn an die romanische Ausdrucksweise erinnert. Ein anderes volksthümliches Wort des Französischen für Krähen ist das von coq gebildete onoma- topöische coqueriquer, und davon ist das Substantiv coquericot, das Krähen, gebildet. Nur eine andere Form dieses Wortes scheint coquelicot zu sein und mundartlich bedeutet es auch dasselbe. In der Schriftsprache heisst aber coquelicot die Klatschrose. Ueber die Entstehung dieser Bedeutung sagt Diez (Etym. Wörterb. II, S. 253): „Leicht konnte man nach seinem Schrei den Hahn selbst coquelicot nennen, wie der Grieche ihn nixtQQog, oder wie der Franzose den Wiede- hopf putput nennt, und wegen seines purpurrothen Kammes den Namen des Hahnes auf die Blume übertragen."

Als Wecker, als Verkünder des Morgens erscheint der Hahn in den Sprüchwörtern :

Metapherstudien. 207

It.: II gallo e l'oriolo della villa. Giusti 342. Fr.: Le coq chante, il nous faut haster. Le Roux I, 110. Coq chante ou non, viendra le jour. ibid. Si ja ne chante le coq si vient le jour. ibid. Egl.: The cock that is the trompet of the morn.

Shakesp. Haml. I, 1. und als Wetterprophet in:

It.: Quando il gallo canta a pollajo,

Aspetta l'acqua sotto il grandajo. Giusti 191. Quando il gallo beve di State, tosto piove. ib. Fr.: Quand en este le haut coq boit

La pluie soudain vient et paroist. Le Roux I., 65. Auf den Hahn als den Kräher muss auch die seltsame französische mit coq gebildete Redensart Bezug haben: coq-a-l'äne. Le Roux de Lincy (Prov. fr. I, S. Hl) führt als Beispiele an:

C'est bien saute du coq ä l'asne aus dem 15. Jahrb., und: Je

ne vis jamais tant sauter du coq a l'ane, que ne pour-

suivez-vous pas votre propos? aus der neuesten Zeit CMoyen

de Parvenir),

und fügt die Erklärung hinzu : Maniere de s'exprimer pour dire passer

d'une chose ä une autre sans aucune liaison.

Diese Erklärung ist ungenügend. Ueber den Sinn ist Niemand im Zweifel: sauter du coq ä l'äne heisst in unzusammenhängender Weise reden, von einem Gegenstande der Rede auf einen anderen kommen, ohne dass ein Zusammenhang vorliegt; und substantivisch gebraucht: le coq-a-1'ane unzusammenhängende Rede, ungereimtes Geschwätz, un- passende Antwort (repondre par un coq-ä-l'äne).

Aber auf welche Weise kommt dieser Ausdruck zu dieser Be- deutung? Das wäre interessanter zu erfahren gewesen. Folgendes scheint die Entstehung dieser originellen Redeweise gewesen zu sein. Die Aufeinanderfolge der Gegenstände einer Rede, oder einer Unter- haltung in Rede und Antwort wird geregelt durch das Gesetz der Ideen-Association. Es muss mindestens Ein Vergleichungspunkt vor- liegen, damit die Rede den Charakter einer zusammenhängenden er- halte. Je mehr Vergleichungspunkte und je ungezwungener sie sich bieten, um so natürlicher erscheint der Uebergang von einem Gegen- stande der Rede auf einen anderen , um so fliessender ist der Strom der Rede oder Unterhaltung; und umgekehrt, je weniger Vergleichungs-

208 Metapherstudien.

punkte und je gezwungener sie sich bieten, um so zerrissener und un- erquicklicher erscheint die Rede, Ein solcher unglücklicher Ueber- gang ist der vom Hahn zum Esel. Beide Thiere haben nichts mit einander gemein, als dass der eine kräht und der andere sein la schreit, das heisst, dass der eine gerade so unmelodische Töne von sich giebt, wie der andere. So erklärt es sich denn, dass dieser Ueber- gang von der Sprache herausgegriffen ist als Typus für eine unzusammen- hängende Rede. Auch das deutsche Sprüchwort macht davon Gebrauch, indem es sagt: „Vom krähenden Hahn zum Esel gehen, heisst einen Gesang hören" (Simrock 100), und dieses kann gleichsam als Commentar zu der französischen Metapher coq-ä-1'äne dienen.

Da der Hahn in der Art wie er kräht, in seinem ganzen Gebahren dabei, seinen Stolz zu erkennen gibt, von dem oben als seinem her- vorragendsten Charakterzuge die Rede war, so erscheint es als eine sinnige Metapher, dass engl, crow prahlen, grossthun bedeutet, und crow over one, sich stolz über Jemanden erheben.

Eine andere aufHüligeEigenthümlichkeit des Hahnes ist sein roth er Kamm. Daher sagt der Franzose: 11 est rouge comme un coq, er hat ein rothes Gesicht wie ein Hahn, besonders von der Zornesröthe gesagt, da der Kamm und die Lappen des Hahnes besonders im Zu- stande des Zornes sich röthen. Dass die Klatschrose ebendaher den Namen coquelicot erhalten hat, wurde schon oben erwähnt. Dazu kommt die englische metaphorische Redensart: to cüt one's comb (Jemandem den Kamm abschneiden, as is usually done to cocks when gelded. Ray) in der Bedeutung Jemandem den Muth nehmen (to cool one's courage), und coxcomb (entstanden aus cock's comb) in der Bedeutung Stutzer, Geck, während die andere von Narr, Dummkopf, daher rührt, dass die Narrenkappe Aehnlichkeit mit einem Hahnenkamm hat.

Will you help? an ass-head, and a coxcomb, and a knave, a thin-faced knave, a gull.

Shakesp. Twelfth night V, 1.

Endlich auf den Hahn als Nahrung des Menschen bezieht sich die bemerkenswerthe sprüch wörtliche Redensart des Französischen: II est comme le coq en päte, er befindet sich dort wie der Hahn im Teige (sc. in dem er gebacken werden soll oder gebacken worden ist, vgl. raettre de la viande en pate), d. h. er befindet sich dort vortrefflich, wie der in Teig zu einer Pastete eingewickelte Hahn im üeberflusse zu sitzen scheint.

Metapherstudien. 209

Vous serez dans sa maison comme un petit coq en päte.

Le Sage, G. Blas, IV, lü. Rabelais gebraucht nun aber genau für denselben Begriff den Aus- druck : il est au nid de la pie. So in den letzten Worten, die er seinem Gönner, dem Cardinal de Bellay, sagen Hess: „Dis a Monseigneur l'etat tu me vois, je m'en vais chercher un grand Peut-i^tre. II est au nid de la pie; dis luy, qu'il s'y tienne, et pour toi, tu ne seras Jamals qu'un fol. Tire le rideau, la farce est jouee." In diesen Worten hat il est au nid de la pie, er sitzt im Elsternneste, die Bedeutung: er sitzt im Ueberflusse, eben dieselbe Bedeutung hat aber die so eben genannte Redensart: il est la comme le coq en päte. Da nun aber diese Bedeutung nimmermehr aus dem eigentlichen Sinne von nid de pie hervorgehen konnte, so bleibt uns nichts anderes übrig, als in: il est au nid de la pie, die bildliche Redensart: il est la comme le coq en päte, zur Metapher erhoben zu sehen, und in nid de pie einen Ausdruck für Pastete zu sehen. Warum man aber eine Pastete metaphorisch ein Elsternnest nennen konnte, erklärt sich leicht aus der Aehnlichkeit der Gestalt eines Elsternnestes mit der einer Pastete, und aus der Aehn- lichkeit des Inhaltes beider, da die Elster mit ihren Jungen ebenso in ihrem Neste steckt wie das Fleisch in der Pastete. So schliesst denn der Ausdruck : II est au nid de la pie, eine doppelte Metapher, oder, wie ich sie nenne, eine Metapher des zweiten Grades in sich, II est au nid de la pie steht für: II est le coq en päte, und dieses vk'ieder für: II est comme le coq en päte, mit dem oben angegebenen Sinne.

Ein besonderes Interesse bat nun noch die Feststellung dieser Metaphern für uns, um die wahre Etymologie eines englischen Wortes zu finden, um dessen Ableitung man sich bis jetzt vergebens bemüht hat. Ich meine das engl. Pie mit der Bedeutung Pastete. Eduard Müller sagt darüber in seinem etymolog. Wörterbuche der engl. Spr. (1865), Theil II, S. 179: „In der Bedeutung Pastete ist pie schwerlich, wie Wedgword möchte, als Abkürzung von pastie zu nehmen ; andere fahren keltische Wörter an, gael. pighe, pighean, kymr. pi, piog; mit pie, Elster, wage ich doch nicht es zusammenzubringen." Warum denn nicht? Das Wagniss erscheint doch nicht besonders gross, wenn wir durch die vorhergehenden Auseinandersetzungen uns davon überzeugt haben, dass im Französischen des 16. Jahrhunderts, und vielleicht noch früher, nid de pie Pastete bedeuten konnte. Wir brauchen dann nur noch einen Schritt weiter zu gehen und in dem

Archiv f. n. Sprachen. LVIII. 14

210 Metapberstudien.

engl, pie eine Abkürzung von nid de pie zu sehen. Und das wird wohl nicht als unerhört betrachtet werden dürfen: wir brauchen uns nur aus einem früheren Capitel daran zu erinnern, dass ital. troja für porca di Troja steht, franz. truie für cochon de Troie.

Andererseits ist aber klar, dass diese Etymologie des engl. Pie, der Umstand, dass dieses Wort noch immer Pastete bedeutet (was das fr. nid de 'pie nicht thut), eine Verstärkung unserer vorhergehenden Beweisführung ist; und so ist denn jetzt durch das eigenthümliche In- einandergreifen der gegenseitig sich stützenden drei Ausdrücke, von il est comme le coq en päte, il est au nid de la pie, und engl. Pie evident bewiesen, sowohl dass nid de la pie ein methaphorischer Aus- druck für Pastete früher war, als dass engl. Pie, Pastete, von Pie, Elster, abzuleiten ist.

Zur Speise pflegt der Hahn fast nur als Kapaun verwandt zu werden. Wir können daher hier einige Metaphern anführen, die sich im Französischen aus dem Namen des Kapauns entwickelt haben.

Zwei davon beziehen sich auf die früher übliche, weitverbreitete Abgabe der Zinshühner, die von den Bauern jährlich an den Guts- herrn zu entrichten war und wahrscheinlich meist in Kapaunen be- stand. Es sind die Redensarten: La terre lui appartient, mais un autre en mange les chapons, das Gut gehört ihm, aber ein An- derer bezieht die Einkünfte; und Ce sont deux chapons de rente, das sind zwei Zinskapaunen, Zinshühner, d. h. das ist ein sehr un- gleiches Paar, welche letztere wohl daraus entstanden ist, dass bei den Zinshühnern es nur auf die zu liefernde Zahl, nicht auf die Qualität ankam, das Gute mit dem Schlechten angenommen werden musste, wie sie gerade kamen. Auch mag dieselbe Beziehung auf Zinshühner dem Sprüchworte zu Grunde liegen: Qui chapon mange, chapon lui vient, wer Kapaunen isst, zudem kommen die Kapaunen, unser: Wo Täubchen sind, da fliegen Täubchen zu.

Im alten Gewohnheitsrechte wurde die Umgebung des Herren- hofes, des Edelsitzes, als le vol du chapon bezeichnet, d. h. so weit der Kapaun fliegen kann, z. B. le vol du chapon appartenait ä l'aine. Ein wunderliches Gepräge hat aber die Redensart: il a lesmains faites en chapon röti, er hat krummgewachsene Hände wie ein gebratener Kapaun, und im figürlichen Sinne: er hat lange Finger, wofür also der Franzose das Bild hat: er bat krumme Finger, wie er für denselben Gedanken auch sagt: il a les mains crochues.

MetapLerstudien. 211

Ein anderer Ausdruck für Kapaun im Französischen ist h e s t o u d e a u, oder, wie Diez schreibt (Etym. Wörterb. II, S. 334), hetaudeau, womit ein junger Kapaun bezeichnet wird. Dies Wort kommt vom alt- hochdeutschen hagastalt, Hagestolz, Junggeselle. Es liegt darin eine „scherzhafte Uebertragung menschlicher auf thierische Zustände; der hetaudeau wird als ein zum Cölibat bestimmtes Thier aufgefasst" (Diez, a. a. O.), und diese Metapher ist also ein Gegenstück zu den oben von uns besprochenen Metaphern, woriii umgekehrt menschliche Verhältnisse, eheliche Zustände nach der Aehnlichkeit mit dem Leben von Hahn und Henne bezeichnet werden. Eine hübsche Erläuterung des Ausdrucks hetaudeau, Hagestolz für Kapaun, ist das deutsche Sprüch- wort: Kein Huhn hält sich zum Kapaunen, sondern zum Göckelhahn (Simrock, 228).

V. Auf das Huhn im engeren Sinne des Wortes, d. h. die Henne, beziehen sich auch eine nicht geringe Anzahl von Metaphern und Sprüchwörtern. Wir wollen, um im Zusammenhange mit dem Vorhergehenden zu bleiben, diejenigen voranstellen , in welchen das Huhn von Seiten des Gebrauchs erscheint, den der Mensch davon als Speise macht, um so mehr, als in dieser Beziehung das Huhn und der Kapaun oft zusammen genannt werden, und so Manches an diesem Orte vorkommt, das auch am Schlüsse des vorigen Abschnittes hätte erwähnt werden können , dort aber mit Rücksicht auf den Zu- sammenhang von Kapaun und Henne übergangen wurde.

Wir haben nun in dieser Beziehung bloss Sprüchwörter anzu- führen, von ihnen aber eine grosse Zahl. Der bemerkenswertheste Zug, der in ihnen hervortritt, ist der, dass die Sprache Henne und Kapaun als die beste und feinste Fleischspeise, daher als ein Kenn- zeichen von Wohlstand und Reichthum ansieht und sie in Gegensatz stellt theils zum Brote, theils zum Rindfleisch, als den gewöhnlichen, allgemeinen Speisen. Es sind besonders folgende:

It.: Pill vale un pan con amore, che un capponecon dolore. Giusti 56. (Val piü un buon giorno con un uovo, che un mal anno con un bue. ib. 78.) Sp.r Mas vale pedazo de pan que gallinas con dolor.

Oudin 175. Mas vale vaca en paz, que pollos con agraz.

14*

212 Metapherstudien.

Fr.: A faute de chapon, pain et oignon. Le Roux d. L. I, 148. vgl. d. Redensart : C'est la piece de boeuf = das ist das tägliche Brot (Art. Rind). It.: Vecchia gallina ingrassa la cucina, oder fa buon brodo.

Giusti 342. Sp. : La vieja gallina hace gorda la cocina. Oud. 153. It.: O polli o grjlli (= Aut Caesar aut nihil). Giusti 357. Non e si piccola ponzina, che di marzo non sia gallina.

ib. 188. Es ist kein Hühnchen so klein, Ueber's Jahr will's eine Henne sein. Sirar. 228. AI carnevale si conosce, chi ha la gallina grassa.

Giusti 185. Ala di cappone, schiena di castrone, son buon bocconi.

ib. 306. Gennajo e febbrajo tienti al poUajo. ib. 309. Sp. : Capon de ocho meses para mesa de reyes. Oudin 68. Aldeana es la gallina, y la corae el de Sevilla, ib. 17. A mengua de carne buenos son pollos con tocino (ironisch

w^ie : A mengua de pan buenas son tortas). ib. 30. AI que da el capon, da le la pierna y el alon. ib. 17. A la mujer y ä la gallina, tuerce le el cuello, y dar te ha la vida. ib. 18. Engl.: If one knew how good it were To eat a hen in Janivere, Had he twenty in the flock He'd leave but one to go with the cock. Ray 157.

Auch vom Eier legenden Huhne reden keine Metaphern, sondern nur Sprüchwörter.

It. : Le galline fanno l'uovo dal becco (Dal becco vien l'uovo).

Giusti 341. Sp. : Ay tiene la gallina los ojos, do tiene los huevos. Oudin 48. No es aquella gallina buena , que come en tu casa y pone en

la ajena. ib. 214. No pone la gallina del gallo, sino del papo. ib 223. (=r dem

obigen it.) Cacarrear y no poner huevo. ib. 60.

Metapher.studien. -213

Fr.: Noire geline pond blanc oeuf. Engl.: A black hen lays a white egg'. (Ray 5G), während der ent- gegengesetzte Gedanke ausgedrückt ist in : As the old cock crows, so crows the young, ib. 98, und in dem oben an- geführten italienischen: Chi di gallina nasce, convien che razzoli.

Um so zahlreichere Metaphern haben sich von dem brütenden Huhne gebildet. Von diesem Bilde wird entweder 1. bloss das aufgefasst, dass die Henne oben auf den Eiern sitzt, theils mit, theils ohne den Nebenbegriff, dass sie dieselben verbirgt; oder 2. dass die Henne so sitzend die Eier ängstlich bewacht; oder 3. darauf, dass sie die Eier ausbrütet, ein neues Wesen aus dem Ei ins Leben ruft.

Das Erste Hegt vor, wenn im Lateinischen gesagt wird: nox i neubat ponto (Nacht liegt auf dem Meere), und coelum, quod urbi incubat (der Himmel, der auf der Stadt liegt); ferner Avenn it. covare die Bedeutung von hervorragen (Anhöhen) = sovrastare, dominare hat (wie des Huhn über dem Neste), und (vom Wasser gesagt) die von stocken, stagniren, keinen Abfluss haben, d. h. ruhig liegen wie eine brütende Henne, während in dem Ausdrucke questa casa cova (dieses Haus ist niedrig, hat ein gedrücktes Ansehen) darauf reflectirt wird, dass die Henne zum Brüten sich niederlegt, also niedriger ist als vorher; ferner in den Redensarten covare il letto, das Bett hüten und faulenzen, covare un male, eine Krankheit verheimlichen (wie die Henne die Eier verbirgt, auf denen sie sitzt), covare il fuoco, le ceneri, immer beim Ofen hocken, das Feuer hüten (eig. auf der Asche, dem Feuer liegen). Daher wird auch die reflexive Form mit passiver Bedeutung gebraucht: covarsi ^gebrütet werden, verborgen werden, sich verbergen.

Nido di tradimento, in cni si cova

Quanto mal per lo mondo oggi si spanda.

Petrarca, son. 105. Und diese passive oder reflexive Bedeutung wird zuweilen auch dem einfachen covare beigelegt. So in der uns schon von früher be- kannten Redensart Gatta ci cova (dahinter verbirgt sich die Katze, dahinter steckt etwas).

La pestilenza, che prima avea piü tempo covato.

214 Metapherstudien.

Auch das französische couver wird so gebraucht: II se couve la-dessous je ne sais quoi (= gatta ci cova). Cette mauvaise humeur couvait dans ses entrailles. Le feu couve sous les cendres, accouve ein Ofenhocker, Faulenzer, und das engl, breed: A disease that has been breeding a long while.

Die ad 2. genannte Auffassung des Brütens als sorg- samen Bewach ens der Eier liegt vor, wie in dem lateinischen in- cubare pecuniae, divitiis, clausis thesauris, so in der Bedeutung des it. covare, ängstlich hüten, bewachen:

Covando tutto il di i sacchetti di que' suoi danari, in der des engl, brood, liebreich pflegen, hätscheln, und in dem schönen französischen Ausdrucke: couver qn. des yeux, gleichsam über Jemanden mit den Augen brüten, d. h. ihn beständig mit zärt- lichen Augen ansehen: eile couve des yeux son fils, sa fille.

Endlich die ad 3. gedachte, einfachste Auffassung des Brütens als des AusbrOtens der Küchlein findet eine weite Anwen- dung zur metaphorischen Bezeichnung des Begriffs Erzeugen, Her- vorbringen. Wie wir sagen : über einem Anschlage brüten, so der Italiener covare un disegno, der Franzose couver de mauvais desseins, tout cela couve quelque grand malheur (alles das führt ein grosses Unglück herbei). Und wie in den Bedeutungen ad 1. so wird auch hier wieder covarsi, se couver und couver im passiven Sinne gebraucht: ausge- brütet werden, im Entstehen begriffen sein, sich vorbereiten.

II se couve quelque chose de fort dangereux, es ist etwas sehr

Gefährliches im Werk. Cette conspiration couve depuis longtemps. II faut laisser couver la chose, man muss die Sache reif werden lassen. Auch von den oben ad 1. angeführten Ausdrücken können manche hierher gezogen werden, insofern eine Sache nicht bloss als verborgen, sondern auch als im Verborgenen zunehmend und zum offenen Erscheinen sich vorbereitend gedacht wird, z. B. le feu couve sous les cendres; cette maladie couvait dans ses entrailles; it. questa malatia covava giü da lungo tempo nel suo interno.

Ebenso gebraucht der Engländer seine Ausdrücke für brüten, breed, brood, hatch als Metaphern:

Breed: Intern perance breeds disease. Obstructions, which are bred in the liver. Their malice was bred in them (ihre Bosheit

Metapherstudien. 215

war ein Naturfehler). That which is bred in the bone, will never come out of the flesh , ein Spruch wort, welches dem Horazischen Spruche : Naturam ut furca expellas tarnen usque recurrit, und dem it. II lupo cangia il pelo ma non i costumi, entspricht. Auch bedeutet breed über etwas brüten, im Geist etwas aushecken wie couver, und ebenso wie dieses wird es auch im passiven Sinne ge- braucht: breed excedingly, sich ausserordentlich vermehren, the love still breeds, die Liebe nimmt noch zu.

Brood, desselben Stammes wie breed, bezeichnet den ursprünglichen

Begriflf brüten, und metaphorisch: über etwas brüten. Hatch aber bat die weiteste Bedeutung, es vereint in sich die Be- griffe von breed, das körperliche und das geistige Hervor- bringen, mit denen von brood :

You count your chickens, before they are hatched;

Ray 63. There is something in bis soul O' er which bis melancholy sits on brood; And, I do not doubt, the hatch and the disclose Will be some danger. Shakesp. Hamlet III, 1.

Einzig steht aber unter allen genannten Ausdrücken aller Sprachen das engl, breed in der Bedeutung erziehen da, und er hat auf den ersten Blick für uns entschieden etwas befremdendes, wenn nicht lächerliches. Der Engländer gebraucht aber, um den Begriflf: ein wohlgezogener Mensch, ein Gebildeter, zu bezeichnen, keinen Ausdruck lieber, als a well bred person, oder a man of good breeding, und an ill bred person für das Gegentheil.

Um sie richtig zu verstehen, muss man sich hüten, well bred mit dem fr. bien ne völlig gleich zu stellen, obgleich dies genau dasselbe bedeutet, und bei oberflächlicher Betrachtung auf das zu Grunde liegende Bild in beiden Ausdrücken Ein und dasselbe zu sein scheint, da der eine wörtlich heisst: wohl ausgebrütet, und der andere: wohl ge- boren. Bien n e bedeutet aber ursprünglich : aus guter Familie stam- mend, und davon übertragen, weil man voraussetzen darf, dass ein Solcher auch gut erzogen ist, ein Gebildeter ist, wohl erzogen, gebildet; also ähnlich wie gr. svyev/jS ursprünglich: von edler Abkunft, von gutem, edlem Gescblechte, bedeutet, und davon übertragen: edel gesinnt.

216 Metapherstudien.

edel denkend. In bien ne und evysvi^<,' wird also gut, edel geboren für gut, edel gebildet, gesetzt, gute Erziehung, Bildung durch gute Geburt ausgedrückt.

Dagegen heisst well bred ursprünglich wirklich gut ausgebrütet, und in der Bedeutung wohlerzogen, gebildet, 8teht es nicht, wie bien ne, vereinzelt da, sondern das ganze Verbum breed hat die Be- deutung erziehen und aufziehen im umfassendsten Sinne des Wortes, im körperlichen und geistigen Sinne, sowohl in Bezug auf Thiere wie auf Menschen (to breed cattle, to breed youth, he was bred a scholar; a breeder of cattle, a good breeder of children), und dieser allgemeinen Bedeutung ordnet sich der Ausdruck well bred auf natürliche Weise unter, dazu werden aber in Ausdrücken wie; Better unborn then unbred (Ray, 114) und: Birth is much, but breeding more (ib. 56), auch in: There I was bred and borne, die Begriffe to be born und to be bred in entschiedenen Gegensatz gestellt.

Breed in dieser Bedeutung ist also als eine selbständige Metapher vom Begriffe brüten anzusehen. Für das Aufziehen und Erziehen wird das Ausbrüten des Eies durch die Henne als Bild ge- nommen. Wie die in dem Ei vorhandenen Keime unter dem Schutze und dem Einflüsse der brütenden , wärmenden Henne allmälig sich entwickeln und endlich zu einem Huhn werden, so werden auch die in das Kind durch die Geburt gelegten körperlichen und geistigen Anlagen unter der Obhut und Pflege von Eltern und Erziehern allmälig ent- wickelt, bis ein Mensch von Bildung fertig ist. Man sieht, das Bild ist ganz passend, ebenso aber auch, dass es ein zweites Bild als Grund- lage voraussetzt. Das Ausbrüten des Eies setzt das Legen des Eies voraus, die Erziehung eines Kindes die Geburt. Es wird also in diesem Falle implicite das Legen des Eies als Bild des Gebarens, Erzeugens genommen, während in den übrigen Bedeutungen von breed das Brüten selbst als Bild dafür gilt.

Ganz ähnliche Ausdrücke wie das engl, breed haben das Italienische und das Spanische. It. creare, sp. criar heissen erziehen und auf- ziehen, in dem allgemeinen Sinne wie breed; it. creanza, sp. crianza Erziehung, it. buona, bella creanza, sp. buena crianza Wohlgezogenheit, Bildung, Gesittung, it. mala creanza, sp. mala crianza, crianza tosca schlechte Erziehung, Unbildung, Rohheit, it. creanzuto ein Mann von Bildung. Auch diese beiden Sprachen vergleichen also die Erziehung mit einem Naturprozesse, denn sie kommen alle von creare, erschaffen.

Metapliersiudien. 217

Aber das Bild, das den genannten Ausdrücken zu Grunde Hegt, ist allgemeiner und grösser. Während breed uns das Bild der brütenden Henne vor Augen führt, erinnern sie uns an das Schaffen der grossen Natur überhaupt. Sie sehen also die Erziehung als eine Thätigkeit an, die wahrhaft schöpferisch erscheint, indem sie aus dem Kinde den Menschen, insbesondere indem sie aus dem elementaren Menschen den Menschen von Bildung macht. Und in der That ist der Erzieher schöpferisch wie ein Künstler, und darum redet man bei einer vollendeten Erziehung von einem Kunstwerke der Er- ziehung.

VI.

Die Henne pflegt während der Zeit, wo sie brütet, eigenthümliche Töne von sich zu geben. Wir nennen es glucksen und gackern, zwei Naturausdrücke, die sich auch in den romanischen Sprachen und im Englischen wiederfinden. Unserem glucksen entspricht it. chioc- ciolare, sp. cloquear, fr. glousser (lat. glocire), engl, cluck, und wie im Deutschen vom Glucksen die brütende Henne Glucke heisst, so im Italienischen von chiocciolare chioccia und chiocciola (ein Wort, das mit chiocciola, Schnecke, nichts zu thun hat, da dies von Cochlea durch Versetzung des 1, Cochlea clochea chioccia, ent- standen ist), im Span, von cloquear clueca (ptg. choca), im Engl, von cluck cluck in g-hen. Dazu kommen die Ableitungen it. chioccio, sp. clueco, llueco, glucksend, und übertragen: heiser, und sp. aclocarse, enclocarse, anfangen zu brüten.

Den anderen Naturausdruck, der im Deutschen Gackern heisst, besitzen zwar ebenfalls alle romanischen Sprachen, aber nur der Spanier und der Portugiese gebrauchen ihn noch in der ursprünglichen sinn- lichen Bedeutung, die übrigen nur metaphorisch. Sp. cacarrear, ptg. cacarejar (und engl, cackle) heissen gackern, dagegen it. chiachierare, chiacchieria , chiacchi mit anderen Ableitungen , und fr. caqueter, caquetage, caquet nur schwatzen und Geschwätz. Aehnliche metaphorische Bedeutungen haben sich aus den sp. und ptg. Ausdrücken entwickelt: cacarrear heisst auch etwas aus- posaunen, sich laut einer Sache rühmen, cacarejar etwas ausplaudern und schlecht singen. Ausserdem ist vom spanischen Ausdruck die sprüch wörtliche Redensart beraerkenswerth : Cacarear y no poner huevo, gackern und keine Eier legen, für: sprechen, aber keine Wirkung

218 Metapherstudien.

hervorbringen (Oudin 60). Was die Form dieser Wörter betrifft, so liegt der mit unserem Worte übereinstimmende Stamm klar vor in dem französischen und dem spanischen Ausdrucke. Der italienische ist aber dadurch zu erklären, dass (vrie in inchiostro aus encaustum, chioma aus coma) hinter dem Anlaut c ein 1 eingeschoben ist, das sich dann wieder in i verwandelte.

Im Italienischen giebt es noch einen Ausdruck für gackern, schi- amazzare, von clamare, rufen, gebildet. Er hat ausserdem die Be- deutung schreien, lärmen (fare strepito, gridare) und wird zu manchen Sprüchwörtern verwandt.

Schiamazza come una gallina. Giusti 370.

Gallina che schiamazza, perde l'uovo (durch unzeitiges Plau- dern verliert man oft sein Glück).

Gallina che schiamazza, ha fatto l'uovo = fr. Qui s'excuse, s'accuse.

Far l'uovo senza schiamazzare, etwas thun, ohne viel Rühmens zu machen.

Chi vuol l'uovo, deve soflfrire lo schiamazzo della gallina.

Giusti 198,

Ridere senza schiamazzare, still vor sich hin lachen.

Die ausgebrüteten Küchlein, die Brut, heissen it. covata, fr. couvee, engl, brood und breed. Alle diese Ausdrücke werden in demselben verächtlichen Sinne, wie unser Brut, von einer Familie, einem Geschlechte gebraucht: it. una cattiva covata; fr. toute la couvee n'en vaut rien; engl, a bad brood; he is of a different breed from.

Bekannt ist die mütterliche Liebe der Henne für ihre Brut, und der Muth, womit sie dieselbe vertheidigt, so dass sie dann den Charakter- zug, den, wie wir oben sahen , die Sprache in den Ausdrücken une poule mouillee, hen-heartet aufgefasst hat, völlig ablegt. Diese Liebe steigert sich aber noch, wenn die Henne nur ein Küchlein hat. Von dem hübschen Bilde der um ihr einziges Küchlein besorgten Henne macht nun das Französische und Englische Gebrauch in der Redens- art: fr. II est empeche comme une poule qui n'a qu'un poussin, engl. As busy as a hen with one chicken (Ray 149), er ist so ge- schäftig wie ein Huhn, das nur Ein Küchlein hat.

Hierher gehört auch der Ausdruck: il est le fils de la poule

Mctapherstudien. 219

blanche, er ist der 8ohn der weissen Henne, d. h. er ist ein Glückskind, ein Sonntagskind. Wie ist er aber zu erklären?

Sollte er daher rühren, dass überhaupt die weissen Hühner viel seltener sind als die dunkelfarbigen? Dass dies der Fall ist, sagt Buffon : Les bonnes fermieres donnent la preference aux poules noires, comrae etant plus fecondes que les blanches, et pouvant echapper plus facilement a la vue per9ante de l'oiseau de proie, qui plane sur les basses-cours. Auch die Eier der weissen Hennen unterscheiden sich von denen anderer, und zwar durch eine dünnere Schale und bekommen so etwas Durchsichtiges, im Lichte Schimmerndes und Leuchtendes. Es kann also leicht der Glaube entstehen, dass das aus einem solchen Eie ent- standene Küchlein in ähnlicher Weise ausgezeichnet sei, wie ein Kind, das mit der Glückshaube geboren wird. So könnte also die Metapher auch entstanden sein. Li den französischen Wörterbüchern sieht man sich natürlich vergebens nach einer Erklärung um.

Der Name des Küchleins oder des Hühnchens wird auch zuweilen als Liebkosungswort gebraucht, so im Französischen poulet, poulette als Liebkosung für Kinder: Viens, ma poulette, mon petit poulet (Komm, mein Hühnchen, mein Putchen),

He bien, mon poulet, me dit-il, lorsque nous fumes hors de table, es-tu content de mon ordinaire?

Le Sage, G. Blas, IV, 10. im Englischen : my dear chicken und chuck

Pray, chuck, come hither. Shakesp., Othello IV, 2. und im Lateinischen mi pulle (Antiqui puerum, quem quis amabaf, puUum ejus dicebant. Festus). Und weil nun solche Liebkosungs- worte wahrscheinlich auch unter Liebenden vorkommen und in Liebes- briefen gebraucht werden, so liegt nichts näher als die Vermuthung, dass die Bedeutung L iebesbri ef, welche fr. poulet (ecrire un poulet, recevoir des poulets) hat, auf diese Weise entstanden sei.

Indessen scheint diese Vermuthung widerlegt zu werden durch eine positiveNotiz, die wir über die Entstehung dieser Bedeutung haben. Sie lautet nach Le Roux de Lincy I, S. 127, der sie aus Voyage d'Italie, par Duval, Paris 1656, anführt, so:

Lorsque l'on donne l'estrapade en Italie, pour punir un maquerelage, on pend deux poulets vifs aux pieds de celuy qui a voulu suborner une femme; et de vient ce que nous appelons en France porter un ponlet quand on envoyc un billet de galanterie, parceque

220 Metapherstudien.

ceux qui se meslaient autrefois de ce mestier portaient des poulets sons pretexte de les vendre, et mettaient un billet sous l'aisle du plus gros, qui estait un advertissement ä la dame avec qui on estait d'intelligence, Le premier qui fiit descouvert fut puny de l'estrapade avec deux poulets attachez au pied qui ne faisaient pendant que voltiger ; et depuis tout maquerelage est puny de ceste sorte en Italie. Sans en savoir l'origine, l'onappelle en France tout petit billet un poulet.

Hiernach wäre alo die Bedeutung von poulet daher entstanden, dass man sich früher zur heimlichen Uebersendung von Liebesbriefen Hühner bediente, denen man den Brief unter einen Flügel steckte und die Hühner so gleichsam Liebesboten w^aren. Dazu stimmt allerdings sehr gut die Bedeutung von it. pollastriere, pollastriera , Kuppler, Kupplerin, da die ursprüngliche Bedeutung Hühnerhändler gewesen sein muss. Indessen kann diese Bedeutung auch auf andere Weise entstanden sein, daher, dass, wie sp. pollaund fr. poul et te junges Mädchen heissen, so auch it. pollastra früher denselben Begriff bezeichnete, und so ist vielleicht pollastriere auf dieselbe Weise zum Begriffe Kuppler gekommen, wie teuere le oche in pastura heisst ein lupanar halten. Und was die Entstehung der Bedeutung von poulet Liebesbrief betrifft, so scheint es mir mindestens zweifelhaft, ob man der mitgetheilten historischen Notiz ein solches Gewicht beilegen darf, dass man dan;m die oben versuchte Erklärung des Ausdrucks aus sich selbst zurück- weisen müsste.

Beurtheilungen und kurze Anzeigen.

Iwein und Parzival. Zwei Rittersagen des Mittelalters. Erzählt und erläutert von Albert Richter. Mit einem Titelstahlstich.

Leip

zig, Brandstetter. 1876. 284 S.

Das vorliegende Buch ist zu betrachten als Ergänzung zu den „deutschen Sagen" des Verf., von denen Kef. eine günstige Beurtheilung im Archiv gegeben hat. Ref. hob mit besonderem Lobe die beigegebenen Erläuterungen hervor, die auf anschauliche Weise in das altdeutsche Culturleben einführen und als Ergänzung des literatur- historischen und auch des eigentlich histo- rischen Unterrichts angesehen werden können. Auch von dem vorliegenden Werke bekennt Ref. gern, dass der Inhalt der Gedichte Wolfram's und Hartmann's, so oft er auch sonst schon der Jugend erzählt sein mag, hier doch auf eine besonders anmuthige und fassliche Weise wiedergegeben ist, so dass nicht zu bezweifeln ist, dass auch dies Werk eine allgemeine Ver- breitung finden wird, und dass dasselbe ebenfalls eine neue Auflage erleben wird. Die Erläuterungen, welche beigegeben, sind ebenfalls lobenswertb. Sie sind anders als bei dem früheren Werke, sie erläutern nicht ausführlich Einzeltheile, die bei der Letcüre der Gedichte dem Ungelehrten Schwierig- keiten bereiten, sie sind allgemeinerer Art und ausschliesslich Ergänzungen des literaturgeschichtlichen Unterrichts, zum Theil selbst eine ausführlichere Literaturgeschichte, so dass sie eigentlich mehr als Excurse zu betrachten sind; ein ziemlicher Theil hätte gespart werden können. Der erste Excurs bespricht die höfische Epik. Auffallend ist hier, dass der Verf., als wäre es ein bedeutendes Werk, das Buch „die Heroen der deutschen Literatur von Sonnenburg" citirt und einen längeren Auszug aus demselben bringt; sollte es ihm nicht bekannt geworden sein, dass dasselbe eine vernichtende Kritik erfahren hat? Eben dieser Auszug auch über die Ideale des Ritterthums: „Der ganze Sinn wandte sich in jener Zeit dem Idealen zu, und das Streben ging dahin, alles Thun und Lassen mit den Gesetzen der reinsten Sittlich- keit in Einklang zu bringen u. s. w." ist doch nicht geeignet, ein wahres Bild der Zeit zu geben, und die folgenden Zeilen: „Und der ideale Sinn, welcher mit heiligem Ernste dem deutschen Kitter das hohe Ziel seines Lebens zeigte, leitete ihn auch in allen Verhältnissen des Familienlebens, keine Stunde, kein Gedanke blieb unberührt von den Forderungen des Ideals", bei denen sich aber nichts denken lässt, wären besser nicht aufgenommen, da sie nur zu geeignet sind, den Hang zur Phrase in der Jugend zu nähren. Unglücklicherweise hat der Verf. weiter unten, wo er von dem Parzival spricht, noch einmal dasselbe Werk angezogen, da doch das nachfolgende

222 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.

Citat aus Bartsch vollständig genügte. An die allgemeine Charakteristik der höfischen Epik schliesst der Verf. eine Uebersicht über die epischen Dichter, von dem einen mehr, von dem anderen weniger; dieser Theil hätte füglich ausgelassen werden können. Durch einen Druckfehler ist Heinrich von Veldeck zu einem Ritter aus dem Lüneburgischen gemacht. Der zweite Excurs handelt von Hartmann von Aue, giebt den Inhalt des Erek und des armen Heinrich und einige Notizen über des Dichters Leben; dass Hartmann in Schwaben daheim war, ist noch keineswegs ausgemacht. Der dritte Excurs bespricht Wolfram von Eschenbach, sein Leben, wobei eine Schilderung des Lebens auf der Wartburg eingeschoben wird, seine Werke; der vierte die Sage von König Artus und seiner Tafelrunde; der fünfte die vom heiligen Gral.

'Herford. Hölscher.

Tristan und Isolt in deutschen Dichtungen der Neuzeit von Reinhold Bechstein. Leipzig, Druck u. Verlag von B. G. Teubner. 1876.

Das vorliegende Buch ist seit der kurzen Zeit seines Erscheinens schon in mehreren Zeitschriften besprochen und lobend hervorgehoben worden. Wenn wir an dieser Stelle nochmals darauf hinzuweisen gedenken, so ge- schieht dies hauptsächlich, um einen Punkt besonders zu betonen.

Von der mittleren Periode unserer Literatur an wurden die alten Dich- tungen dem A'olke in besonderen Bearbeitungen zugänglich gemacht, wovon eine ganze Reihe noch erhaltener Helden- und Volksbücher Zeugniss ablegt. Als nun die literarischen Schätze unserer Vergangenheit in neuerer Zeit wieder aufgefunden und belebt wurden und das Interesse der Gelehrten sich darauf richtete, wurde der Gedanke angeregt, jene alten Denkmäler nicht nur in der Studirstube mit dem Melssel der Grammatik zerlegen zu lassen, sondern sie auch dem Volke, dessen Gemeingut sie einst waren, zurückzugeben und so wirklich in neuem Leben erstehen zulassen. Dabei boten sich jedoch Schwierigkeiten dar, welche auf verschiedene Weise bewältigt werden mussten. Die alte Sprache war dem Volke unverständlich geworden; Wenige hätten vielleicht die Ausdauer besessen, sich hineinzulesen, und so versuchte man denn durch Uebersetzungen, Nachdichtungen, Erzählungen in Prosa und allgemein verständliche Ausgaben diese Schätze auch denjenigen , welche sich nicht speciell mit unserer alten Sprache und Literatur beschäftigt hatten, zugänglich zu machen. Gross war der Erfolg. Auch dem weniger Gebildeten sind heute die Namen von Thaten der Haupthelden unserer grossen National- epen nicht fremd. Natürlich fanden gerade die bedeutendsten und anziehend- sten Dichtungen des Mittelalters die meisten Bearbeiter, und mit besonderer Vorliebe wurde Gottfried's wundervolles Eposfragment von neueren Dichtern in epischer, dramatischer und romanzenartiger Form bearbeitet und weiter ausgeführt. Verhältnissmässlg Wenigen Ist es aber vergönnt, die Quellen zur Hand zu haben, um sich ein klares Bild von der Weiterentwickelung und den Schicksalen des Tristanepos bilden zu können. Darum muss es als besonderes Verdienst von Bechstein's neuestem Buch angesehen werden, dass darin alle derartigen Dichtungen von Hans Sachs bis auf unsere Zeit zusammengestellt und treffender Kritik unterzogen werden. Der V^erfasser, welcher durch seine Tristan-Ausgabe auf diese Untersuchung geführt wurde, hat derselben durch die beigefügten Anmerkungen noch grösseren Werth verliehen. Die vorurthellsfreie Kritik, die klare und gewandte Darstellung sind a. a. O. schon hervorgehoben worden, so dass wir hier darüber hinweg- gehen können. Den Besitzern von Bechstein's Tristan -Ausgabe wird dies Buch eine willkommene Ergänzung sein, allen Gebildeten angenehme Unter- haltung und Belehrung gewähren. F. L.

Beiirtheilungen und kurze Anzeigen. 223

G. Biichmann, Geflügelte Worte. 10. Auflage. Berlin 1877.

Von einem Buche, dass seit seinem ersten Erscheinen (1864) nicht weniger als 10 Auflagen, also fast in jedem Jahre eine erlebt hat, kann man wohl mit Slcherlieit behaupten, dass es eine lebhafte Aufnahme gefunden hat. Und in der That, wir besitzen in Büchmann's AVerk eine vortreffliche Sammlung des Citatenschatzes des deutschen Volkes, welche an Vollständig- keit kaum noch etwas zu wünschen übrig lässt. Darum ist auch die Nach- lese, die wir hier bieten, nur ziemlich gering. AVir haben vielmehr haupt- sächlich die Absicht, auf Einiges aufmerksam zu machen, was uns bei der Leetüre des Buches als unrichtig entgegengetreten ist.

S. 29. Portes fortuna adiuvat steht auch Cic. Tusc. 2, 4, 11. S. 54. Fischart's Schrift von 1575 heisst „Abenteuerliche (eigentlich aflenteuerliche) und ungeheuerliche Geschichtsschrift." S. 55. Grobianus Tischzucht er- schien bereits 1538, nicht erst 1556. Bei dem Ausdruck Grobian könnte vielleicht noch an Leiermatz (Titel eines Schwankbuches vom Jahre 1668: „Des uralten jungen Leiermatzes lustiger Correspondenzgeist), Maulafi'e (Der politische Maulafi'e von Joh. Riemer, 1679), Grillenfänger (Der politische Grillenfänger von B. S., 1682), Klatschmaul (Das politische Klatschmaul von Jaques Gervais, 1683), Schlampampe zur Bezeichnung einer unordentlichen Frau (der Titel einer in Hamburg 1696 aufgeführten Oper), Fläz, der stär- kere Ausdruck für Grobian, der von dem jenaischen Streittheologen Flacius Illyricus (f 1675) stammt, erinnert werden. S. 57. Der Verfasser des 1572 erschienenen Schwankbuches „Sechshundert sieben und zwanzig Histo- rien von Claus Narren" heisst Wolff Büttner, nicht Wolfgang Buttler. Der „kurzweilige Zeitvertreiber" wird von Büchmann in den verschiedensten Auflagen angeführt, S. 57 wird die fünfte Auflage von 1717 genannt, welche Seite 151 schon 1700 erscheint; S. 62 wird die 2. Auflage ohne Jahr, S. 84 dieselbe Auflage von 1668, S. 112 eine (wahrscheinlich die erste) Ausgabe von 1666 angeführt. In den mir zu Gebote stehenden Handbüchern der Literaturgeschichte fehlt das Buch gänzlich. Ich finde nur „Kurzweilige Reissgespräche" von 1645 und „Kurzweiler Polyhistor" von 1719. S. 66. Der aus Gellius 13, 17 mitgetheilte Vers eines griechischen Parömioden verdankt seinen Ursprung einer in Homer's Odyssee mitgetheilten Scene. Odyss. 22, 9 f. beginnt die Rache des Odysseus an den Freiern damit, dass er dem Antinous, welcher gerade den Becher zum Munde führen will, einen Pfeil in die Gurgel schiesst, während Antinous nicht das Mindeste von dem drohenden Unheil ahnt. Der von Büchmann angeführte lateinische Hexa- meter war in der von Gellius 13, 17 angegebenen knappen Fassung „inter OS et offam" weit bekannter und verbreiteter. S. Härtung im Programm der Realschule 1. Ordnung zu Sprottau 1871 S. 5. S. 67. Kann nicht bei dem Grillparzer'schen Werke an die Travestie: „Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr" erinnert werden? S. 70. Der Herausgeber von Mich. Richey's Gedichten ist Gottfried Schütz, nicht Schütze.

S. 71. Warum wird das Erscheinen von Kirchhofs Wendunmut so un- bestimmt ins 16. Jahrhundert gesetzt? Das Buch erschien zu Frankfurt 1563.

S. 71. Lyrum Lamm lyrissimum erschien 1700. S. 72. von Nicolay ist mit c, nicht mit k zu schreiben. S. 74. L^eltzer starb in Langlingen bei Celle, nicht in Langelingen. Ebendas. Karl Georg Neumann war Regierungsrath, nicht Medicinalrath, S. 75. Fulda's Trogalien erschienen 1797, nicht 1787. S. 99. Das Fastnachtsspiel von Peter Probst heisst „Vom kranken Bauer und einem Doctor samt seinem Knechte Simon Hempel", nicht „Von einem kranken Doctor und einem Bauer". S. 100, Z. 2 ist Johann Lauremberg zum Unterschied von Peter Lauremberg zu schreiben. Die vier - Scherzgedichte erschienen 1653. S. 101. Honore d'Urfe starb 1625. Der Roman L'Astrde erschien 1612. Bei Celadon ist daran zu erinnern, dass es der Beiname des Pegnesischen Blumengenossen und kaiser-

224 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.

liehen Hofpoeten in Wien Christoph Adam Negelein war, der 1701 starb.

S. 102. Georg August Detharding war nicht Professor in Altona, sondern dänischer Justizrath und Syndicus des Domstiftes in Lübeck. Er ist auch Uebersetzer von Holberg's Lustspiel „Der politische Kannegiesser", was wohl zu S. 103 erwähnt werden konnte. S. 106 wird unter CoUation richtig auf das Lesen eines Capitels vor dem Essen aufmerksam gemacht. Hierauf konnte bei Seite 232 verwiesen werden. Ebendas. Bei Vademecum darf wohl an Lessing's Vademecum für den Herrn Sam. Gotthold Lange, Pastor in Laublingen, Berhn 1754, erinnert werden, das dem Uebersetzer des Horaz eine traurige Berühmtheit verschafft hat. Ebendas. Die Schrift „Pia desideria" gab Spener 1378 heraus, nachdem er schon 1675 in einer Vorrede zu Arndt's Postille (so ist zu schreiben) sein Herz ausgeschüttet und manches Gemüth heilsam bewegt hatte. S. Hagenbach, Kirchengeschichte V, 201. Wenn Büchmann sagt, zuletzt seien die pia desideria als Vorrede zu „Arnd's Postillen" erschienen, so ist dies „zuletzt" nicht klar. S. 107. Ueber den Calembourg der Franzosen sagt der General-Postmeister des deutschen Reichs Dr. Stephan in seinem am 17. Februar 1877 im wissenschaftlichen Verein zu Berlin gehaltenen Vortrage über die Fremdwörter, dass er nach Chasles (etudes sur l'AUemagne 1854) von einem deutschen Abte Grafen von Kalem- ber^f herrühre, dessen schlechtes Französisch zu lächerlichen Verwechselungen Anlass zu geben pflegte, S. 109. Der Verfasser des poetischen Trichters ist Harsdörff'er, nicht Harsdörfer. S. 111. Wie Schiida, so sind auch Schöppen- stedt, Buxtehude und Mölln zu nennen, letzteres birgt das Grab Till Jiulen- splegel's. S. 112. Die Ethnographia mundi des Olorinus Variscus (pseudo- nyra für Johann Sommer aus Zwickau, Pastor in Osterweddingen , der sich auch Tbeander und Therander nannte) erschien zu Magdeburg 1609, nicht 1610. S. 114. Whatever is, is right, den Ausspruch Pope's, schrieb der Prediger Joh. Frledr. Zöllner in Berlin dem ihm befreundeten Kriegsrath Urslnus am 17. December 1788 In sein Stammbuch. S. 115. Statt Zesen empfiehlt sich Philipp von Zesen zu setzen. S. 116. Der deutsche Michel von Grimmeishausen ist ohne Angabe des Jahres erschienen, es ist daher die Zahl 1673 nicht sicher. S. 119. L'Avocat Pathelin erschien zu Paris 1490. Der Verfasser Pierre Blauchet war ein Geistlicher. S. 156. Die Erzählung vom Proteus steht Hom. Oct. 4, 385-463, nicht 460. S. 160. Der dem Cicero zugeschriebene Ausspruch lautet nicht esse oportet ut vivas, non edere ut vivas, sondern esse oportet ut vivas, non vivere ut edas. Er steht ad Her. 4, 28, 39. Die Schrift wird jetzt nicht mehr dem Cicero, sondern dem Cornificius zugeschrieben. S. 166. Den Spruch des Epictet thellt GeUius 17, 19, 6 nicht in der lateinischen Form sustine et abstine, sondern in der griechischen arsxov et ansxov mit. S. 167. Zu nervus rerum ist zu bemerken, dass Cicero in der Rede für den Oberbefehl des Pompejus 7, 17 die vectigalla als die nervi rel publlcae bezeichnet: etenim si vectigalla nervös esse rei pubhcae semper duximus. Ferner sagt er Phil. 5, 2, 5: quid est aliud omnia ad bellum civile hosti arma largiri? primum nervös belli, pecuniam infinitam, qua nunc eget, deinde equitatum , quantum velit. Ebendas. Z. 24 ist „erschienenen" zu lesen statt „erschienenem".

S. 169. Panischer Schreken (rä Ttareia sc. Ssiunra) findet sich nicht erst bei Cicero, sondern schon bei Aeneas in seinen Tactica 27. S. 171. Oleum et opera steht nicht Cic. ad Alt. 13, 28, somlern 13, 38; ausserdem noch in demselben Sinne ad Att. 2, 17. Dazu könnte noch kommen: Oel ins Feuer giessen, d. h. das Uebel vergrössern, welches sich bei Hör. sat. 2, 3, 321 findet (oleum addere Camino). Ebendas. Vae victis steht nicht Plaut. Pseud. 5, 235, sondern 5, 2, 19. S. 172. Die Stelle aus Aristophanes Plutos steht nicht 1155, sondern 1151. Ebendas. Oderint dum metuant steht Cic. p. Sest. 48, 102; de off". 1, 28, 97. So auch bei Büchmann, nur nicht mit Angabe der Paragraphen, die er jedoch bei der aus der ersten philip- pischen Rede (1, 14, 34) citirten Stelle hat. Warum schlägt Büchmana

Beurthellungen und kurze Anzeigen. 225

nicht ein gleiclnnässigcs \'erfAhren ein? Ebenso vermissen wir die Angabe der Paragraphen S. 173 bei hinc illae lacrimae p. Cael. 25, 61, sowie S. 174, 176 179 bei den aus Cic. de off., p. Rose. Amer. und der zwölften philippischen Rede angeführten Stellen. Zu S. 113 tragen wir nach, dass Amantes amentcs der Titel eines Lustspiels Gabriel RoUenhagcn's vom Jahre 1614 ist; d. i. ein sehr anmuthiges Spiel von der blinden Liebe, oder wie man's deutsch nennet, von der Leffeley. S. 174. Wider den Hoffartsteufel erschien Frankfurt 1560 von Joachim Westphal, nicht auch von Cyriacus Spangenberg. S. 182. Zu Ovid 5, 333 ist zu setzen „Verwandlungen". S. 199. Pia fraus ist der Titel einer Flugschrift des dreissigjährigen Krieges vom Jahre 1620: Pia fraus oder spannisch Natur, welche durch die geschworne spanische Diener, die Jesuiten, in alle teutsche Gemiither zu pflanzen begert und unter- standen. — Aus Stephan's Vortrag tragen wir zu S. 159 nach, dass dem Athener Akademus in der Akademie ein beneidenswerthes Sprachdenkmal, dauernder als Erz und Marmor, geworden ist; zu S. 255, dass der „Tag von Damascus" eine plötzliche Umkehr der Ansichten bedeutet; zu S. 110, dass Stephan der Herleitung des Wortes salbadern von salvatern den Vorzug giebt, indem diese an die Bacchusberedtsamkelt bei den Salvatorfesten er- innern. Endlich erfahren wir von Stephan, dass man von einem beschränkten Menschen wohl zu sagen pflege, ihm fehle die altera pars Petri, eine Redens- art, die sich von der Logik des Petrus Ramus hei'schreibt , deren zweiter Theil von den Urtheilen handelte. S. 217. Bei Periculum in mora dürfte die scherzhafte Umänderung in Pericies in Morea zu bemerken sein. Auch fehlt das Wort Finis coronat opus, dessen Ursprung wir allerdings nicht angeben können. S. 246. Nach 2. Cor. 12, 2 war Paulus entzückt bis in den dritten Himmel. S. 197. Moschewsch's Gesichte Philanders von Sittewald erschienen bereits 1643, nicht erst 1644. Melander's Joco-Seria werden S. 210 und 307 nach der Ausgabe von 1603 citirt. Sie erschienen bereits 1600. Uebrigens ist Melander S. 52 nicht erwähnt, wie im Namen- Register angegeben wird. S. 212. Gartner's Proverbialia dicteria erschienen nach, Gödeke Grundriss S. 112, nicht schon 1566, sondern erst 1570. S. 212. Zincgref's Apophthegmata erschienen zuerst 1628, die Weidner'sche Fortsetzung aber 1653, nicht 1655. Die ersteren erscheinen S. 304 schon 1626 statt 1628. S. 212. Burkh. Waldis „ein wahrhaftige Historien von zweyen Mecessen" erschien 1543. S. 213. Taubmanniana erschienen be- reits 1703, nicht erst 1710. S. 215 findet sich Z. 20 ein Druckfehler. Es muss heissen „des Vater Unser" statt „das V. U." S. 226. Gabriel Voigt- länder's Allerhand Oden und Lieder erschienen 1650. Büchmann führt ein Citat an, doch sagt er S. 226, er habe keiner der Ausgaben von 1642, 1650 und 1651 habhaft werden können. S. 286. Der Gebrauch des Participiums in dem Satze: „das als oberste Autorität betrachtete französische Wörter- buch Littres" ist nicht correct. Es muss heissen: das Wörterbuch, das als oberste Autorität betrachtet wird. Zu den französischen Citaten lässt sich das von Lessing häufig gebrauchte Wort des Riccaut in der Minna von Barnhelm, Act 4, Scene 2: Tous les gens d'esprit airaent le jeu jusqu'k la folie (oder fureur) zählen. Fedor VVehl, Hamburgs Literaturleben im 18. Jahr- hundert, Leipzig 1856, S. 161 erzählt: Lessing spielte in Hamburg gern vor Tische mit der Professorin Busch und der Münzmeisterin Knorre einige Partien L'hombre und pflegte, darüber aufgezogen und geneckt, jene Worte lachend zur Antwort zu geben. Von Alkyonischen Tagen redet man nach Aristophanes Vögeln von 1594. „Reime dich, oder ich fresse dich" ist der Titel einer Satire, welche dem Gottfr. Wilh. Sacer (1635—1699), Kammer- consulent in Braunschweig, zugeschrieben wird. Sie erschien zu Nordhausen 1673. Der Ausdruck: „Jemandem etwas sub rosa sagen", schreibt sich her von der früheren Sitte der Bremer Rathsherren, ihre Sitzungen in einem Tbeile des Rathskellers zu halten, in welchem der Rosenwein lag und an dessen Decke eine grosse gemalte Rose mit Umschrift sich befindet. Was

Archiv f. n. Sprachen. LVIII. 15

226 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.

„sub rosa" verhandelt wurde, verlangte tiefes Stillschweigen; Der Be- gründer der unter dem Namen Pietismus bekannten theologischen Richtung, Spener, richtete zur sittlichen Hebung seiner Gemeinde collegia pietatis ein, woraus sich der Name Pietismus erst bildete. Die Bezeichnung Schul- fuchs verdankt ihre Entstehung einem Professor der griechischen Sprache an der Universität Jena, Mag. Justus Ludwig Buesmann, der vor seiner Be- rufung als Universitätslehrer seit 1552 Rector des Rathsgymnasiums in Naum- burg a. d. S. und seit 1558 Rector in Zwickau gewesen war. Als er 1574 nach Jena kam, trug er einen mit einem Fuchspelze verbrämten Mantel. Wegen dieses Gewandes, und wegen seines früheren Lebens als Schulmann, nannte man ihn Schulfuchs (vulpecula scholastica). Von ihm ging der Name auf alle Schulmänner über und es entstand eine ziemlich umf\ingreiche Schul- fuchsliteratur. Auch verdient erwähnt zu werden, dass zu Rapperswyl 1673 ein Buch erschien unter dem Titel: Der pedantische Irrthum des überwitzigen, doch sehr betrogenen Schulfuchses samt angehencktem singenden Possen- spiele, die Sutoria-Magistrate seltzsame Metamorphosis genannt. Die Aus- drücke Labyrinth, Lethe könnten wohl auch Berücksichtigung finden. Ebenso error in calculo und beati possidentes. Wer diese aber zuerst gebraucht hat, wird sich nicht leicht sagen lassen.

Wir schliessen diese Anzeige mit dem Wunsche, dass der Verfasser des angezeigten Buches rüstig weiter arbeiten möge, damit sein Buch eine immer vollkommenere Gestalt gewinne. Die Freunde seines geschätzten Buches mehren sich täglich, und es wird bald keinen Gebildeten mehr geben, der es nicht besässe.

Verden. H. Holstein.

Studium und Unterricht des Französischen. Ein encyklopädischer Leitfaden von H. Breitinger, Prof. der neueren Sprachen an der Universität Zürich. Zürich 1877. Fr. Schulthess. 192 S. 2,80 M.

Ein werthvolles Hülfsmittel, das verdient, allen Freunden der fran- zösischen Sprache empfohlen zu werden. Inhalt: Einige einleitende Capitel über Aussprache, Orthographie, Interpunktion, Accenle, Silbentheilung und Formenlehre; sodann vierzig Seiten Syntax, eine an die französische Grammatik von Dr. B. Schmitz sich anlehnende Uebersicht der syntaktischen Regeln; hierauf: lateinische Parallelen zur ranzösischen Syntax, Geschichte der französischen Grammatik, Sprachschatz, Lexica, Vocabularien. Gegen- stand der nächsten dreissig Seiten bildet die Synonymik und zwar aus Lafaye , Schmitz und des Verfassers eigenen Collectaneen „dasjenige, was der Lehrer in der Schule und der Schüler im Leben direct verwerthen kann. Die folgenden Capitel behandeln das historische Studium der französischen Sprache, die Geschichte der französischen Sprache mit der Entwicklung der poetischen Sprache, die Entwicklung der französischen Laute und Flexions- Formen, die Literaturgeschichte und Leetüre, den praktischen Theil des Studiums (das Lesen, den mündlichen Vortrag, die Conversation, die schrift- lichen Uebungen, die Gedächtnissübungen), die persönUchen Eigenschaften, die Auszüge, die Bibliothek und die Probelection. Im zweiten Theil, dem Unterricht des Französischen, kommen zur Sprache: die Methode, die Me- thoden, der Elementarcurs, der höhere Unterricht, die empfehlenswerthe einschlägige Literatur.

Vorliegende Arbeit ist eine geschickte Zusammenstellung alles dessen, was theils den Gegenstand des Studiums der französischen Sprache selber ausmacht, theils als Belehrung, Rath oder Warnung sonst wllkommen , ja

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unentbehrlich ist. Der Verfasser weiss , wo die nicht unbedeutende Anzahl von Französisch Lehrenden der Schuh drückt und kommt einem wirklichen Bediirfniss entgegen. Ganz besonders ist dieser Leitfaden demjenigen zu empfehlen, der zu seiner Ausbildung als Lehrer der französischen Sprache in die Fremde reist. Neben der Encyklopädie von Dr. B. Schmitz steht Prof. Breitinger's Werkchen unabhängig da und wird durch dieselbe durch- aus nicht entbehrlich gemacht.

Bg.

F. L. Rhode's Praktisches Handbuch der Handels-Correspondenz und des Geschäfts -Stils in deutscher, französischer, ita- lienischer und spanischer Sprache. Siebente verbesserte und vermehrte Auflage, bearbeitet von Dr. Bernhard Leh- mann. Frankfurt am Main, Sauerländer. 1876.

Der Nutzen des vorliegenden Buches und seine Verbreitung werden durch die sieben Auflagen bezeugt, von denen die beiden letzten seit 1867 erschienen sind. Es enthält alphabetisch geordnet diejenigen Wörter und dazu gehörigen Redensarten, welche in der kaufmännischen Correspondenz eine Rolle spielen, wobei das Deutsche zu Grunde gelegt wird. Finden sich auch die meisten dieser Wörter in den guten Wörterbüchern, so fehlen in denselben doch oft die aus jenen gebildeten Phrasen, und in dem all- gemeinen Wörterbuch erschwert die Masse des Gebotenen das Auffinden. Es empfiehlt sich darum für die besonderen Zwecke des Correspondenten ein Specialwörterbuch, vorausgesetzt, dass es die nöthigen Wörter und Redens- arten eiuigerraassen vollständig, stilistisch gut und sprachlich correct, giebt.

Was den ersten Punkt betrifl^t, so genügt das Rhode'sche Werk jetzt allen billigen Ansprüchen. Es wird mit der Zeit noch ein und das andere Wort hinzugefügt werden können, z. B. ausschütten (die Masse), Ausschüttung (der Masse), Nichtigkeit (s. Ungiltigkei t), und dies und jenes Wort kann füglich wegbleiben, um im allgemeinen Wörter- buch gesucht zu werden, z. B. beseelen, Blick, durchschauen, aber das Zuviel ist kein grosses Uebel, und bei fehlenden Artikeln wird man sich in der Regel durch Aufsuchung eines Synonymums aus der Verlegenheit helfen können.

Die Phraseologie ist, wie das Vorwort besagt, meist Originalbriefen, Geschäftsaufsätzen und Handelsberichten entnommen. Aber die stilistische Güte solcher Erzeugnisse wird häufig mit zu grossem Respect beurtheilt. Französische Briefe sind darum noch lange keine Muster für Französisch, weil sie von Franzosen geschrieben sind. Die spanischen Originale, welche Herr Kotzenberg seiner Handelscorrespondenz zu Grunde gelegt hat, ent- halten zum Theil so verwickelte, langathmige Sätze, dass sie nicht zur Nachahmung empfohlen werden können.

Eine andere Gefahr bei einer Uebersetzung in fremde Sprachen, die weniger Geübten als Muster dienen soll, ist entweder der zu enge Anschluss an das Original , oder die zu freie Behandlung desselben. Im ersten Falle wird die Uebersetzung incorrect, im letzteren leitet sie den Schüler irre.

Das Rhode'sche Buch hat beide Schwierigkeiten im Wesentlichen mit Glück überwunden. Einer erneuerten Prüfung empfehle ich: Wenn Sie so fortmachen, werden Sie sich ganz abarbeiten (Abarbeiten 1), Abermalig, Darzählen, die freie Uebersetzung von Ausbeutung durch advantage derived from.

In Bezug auf den dritten Punkt, die Correctheit der gegebenen

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Uebersetzungen, lässt das Rliode'sche Buch nocb Manches zu wünschen übrig. Am besten ist der französische Theil, mangelhafter der englische. Des Itahenischen bin ich nicht hinlänglich miichtig, um mir ein Urtheil über den darauf bezüglichen Theil des Werkes zu erlauben. Aber einer gründlichen Correctur bedarf das Spanische. Zur Begründung dieses letzten Urtheils beschränke ich mich auf einige Gattungen von Fehlern.

Der Infinitiv nimmt im SpanisL'hcn als Nominativ oder Accusativ keine Praeposition zu sich. Die Ausnahmen sind sehr gering. Gegen diese ein- fache Regel steht de, wo es fehlen sollte, in nos es iraposible de creer (Belang 2); bei permitir unter Erlauben (drei Mal), Ausdehnen 3. Freundschaft 2 (richtig dagegen bei Gegenerbietung); bei tener a bien unter Betrag 1, Freundschaft 2, Nöthig 1, Rein 2, Ver- fügung 1 (richtig: que U. ha tenido ä bien hacerme, unter Con- signation 2); celebrar (Freuen 5), preferir (Masse 3), proponer (Aufhalten 1, Fracht 21), desear (Abmachen 5). Hierher gehört auch nos impidiö de hacerlo (Rechnung 11), indem man spanisch sagt, einem etwas hindern, cfl Salvd, Gramatiea de la lengua castellana, Paris 1872 p. 292: ,Tmpedir ti alguno de despeiiarse es locuciou anticuada, pues ahora decimos, el despenarse, 6 bien, que se despene.' Unter Correspondenz stehen 4 Infinitive mit falschen Präpositionen : nie seria mui grato [de] contribuir: cuanto nos sea (statt es) agra- dable [de] haber; nos es nie rare mos de hacer statt en oder para hacer, wie auch richtig unter Bemühen 3. 6. übersetzt wird; vergl. Salvä Gramatiea p. 288 und Gomez, Der echte Spanier, S. 356; pro curare mos [de] nie reo er . . y [de] conservar. Unter Rathen steht aconsejar ein Mal mit de, ein anderes Älal mit d, während jede Präposition fehlen muss,

Das Genitiv- und Ablativverhältniss wird durch d e ausgedrückt. Dem- nach fehlt de fälschlich in sentimos el dolor (de) decirle (Leid 7); ti steht statt de: le otorgara la facultad ä pro ce der (Ge sicht- lich 4). Abweichend vom Deutschen erfordert tratar die Präposition de. Vergl. Salvä Gramatiea p. 315: tratar de comprar und Beispiele in Gomez, Manual ed. 2, p. 32, 37. 96, 10. 99, 42. 132, 22. 139, 12. Unrichtig heisst es also tratamos deferminar (Bestimmen 2).

Das Dativverhältniss wird durch ä ausgedrückt, welche Präposition un- richtigerweise fehlt in si U. se resolviese (ä) girar (Abgeben 3), cf. Salvä Gramatiea p. 308 resolverse ä navegar und Gomez, Der echte Spanier, S. 373 resolverse ä una cosa. Fälschlich steht de statt A in no he autorizado ä ü. de disponer (ßefugniss 1), vergl. Gomez a. a. O. Regel 350 a.

Nach den \'erben des Bittens steht nicht der Infinitiv, sondern der Conjunctiv. Es muss demnach nicht heissen le rogaba de de tener (wenigstens reteuer ohne de), sondei-n retuviese (Bitten 1), nicht rogamos ä U. de estender (Ausdehnen 1), sondern extienda; nicht le suplicamos de hacer (Bestimmung 4), sondern haga. Der Con- junctiv muss auch in dem folgenden Satze stehen: nos tomamos la libertad de dirigir nos äü.U. para hacernos este servicio(Freund- schaftsdienst) , was nur bedeuten könnte damit wir uns leisten. Wegen des neuen Subjects muss es heissen para que nos hagan. Anstatt des Indicatlvs muss der Conjunctiv stehen in no le aconsejaria nunca [ä] hacer envios que no parecen (Hess parezcan) arrojar un bene- ficio (Rathen 1).

para steht statt por: nuestro reconocimiento para las rei- teradas pruebas (Freundschaft 4j; vigilar para nuestros inter- eses (Freundschaftsdienst und wahrnehmen 3).

Falsch conjugirt ist: la suma serä enteramente absorta (D arauf- gehf^n 1), «tatt absorvida. Qnedar absorto heisst erstaunt sein.

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Statt y muss esc heissen wegen des folgenden i in correspondencia francesa y inglesa (Correspondenz 7).

Häufig bedarf der spanische Ausdruck der Verbesserung. Tenemos enlaces amigables juntos (Freundschaftlich 1) sollte heissen en- laces amistosos ohne juntos. Mittheilen ist (Freuen 5) durch hacer parte übersetzt statt dar parte, wie richtig unter Bedauern 5 steht. La confianza se ha hecho titubear (E rschüttern) sollte wenigstens heissen la c. ha titubeado: besser ha vacilado, ha sido alterada. Was rathen Sie mir zu thun? ist Rathen 2 wiedergegeben: que me da aviso U. de hacer? Es muss heissen: que me aconseja U. hacer oder que haga; denn dar aviso bedeutet Nachricht geben. Acordar wird oft in dem jetzt veralteten Sinne von bewilligen, conceder, ge- braucht, z. B. Bewilligen 1, Credit 5, Dagegen 1, Disconto 3, Frage 5, Gewähren 7, Ueblich 1.

El buque ha anunciado [de] tomar carga (Ladung 11) sollte heissen ha abierto registro oder se ha puesto carga para. Aehnlich sollte es auch unter Fracht 21 statt nos proponemos [de] hacer (ä) la Diona buscar cargamento heissen abrir registro a la generala para la D. oder ponerla Diona encursogeneral.

Dies wird genügen, um mein oben über den spanischen Theil gefälltes Urtheil als gerechtfertigt erscheinen zu lassen.

Wenn ich mich im Allgemeinen mit dem französischen und englischen Theile für mehr einverstanden erklärt habe, so möchte ich doch auch hier bei einer neuen Auflage eine sorgfältige Feile empfehlen. Unter Hand 9 ist jetzt richtig geschrieben worden je ne nie pas que ceux ... n'aient, wo früher ont stand. Aber geblieben ist ein ähnlicher populärer Fehler bei Besinnen 2: Autant que je m'en rappeile statt que je me le rap pelle. Dieser Fehler ist allerdings so landläufig, dass Littre ausdrück- lich davor warnt. Auch in: ces articles conviennent pour nos con- trees; cette serpilliere conviendrait mieux pour votre marchö (Passen) steht wohl convenir pour durch kaufmännischen Missbrauch für convenir u. Auffällig ist, wie der Conditional si M. N. viendrait vous voir (Behändigen 2) statt venait, und eine Präpositionenver- wechselung unter Nachlässigkeit 1: si cette affaire venait de donner, statt ä donner auch in der neuen Auflage sich haben halten können.

Um auch einige Beispiele von mangelhaftem Englisch zu geben, so erwähne ich at the Bourse of Vienna (Ankündigen 8) statt ex- change; the ship happily reached the shore (Anlanden 1) statt safely; as soon as you will have discharged this duty (Ab- bezahlen 2) statt as you have oder as you shall have; it would be too presumptuous froni my part (Anmassen 1) statt on my part; let US put the supposition that (Annehmen 13) für das Gewöhn- lichere suppose oder supposing. If you will not accept my advice (ebend. 19) statt take, foUow, act on; Admitted this to be so (ebend 23), besser admitting. At which price did you charge them (Anrechnen 2) statt at what price; I am anxious to renovate our correspondence (Anknüpfen 2) statt renew oder resume; we shall not stick at (statt to) a few dollars (Ankommen 2); we shall now set at (statt about) this work (Arbeit 3); I shall give an enlight- ment (wenigstens sollte es enlightenmen t heissen) statt I will en- lighten you on this point (Aufklären 2).

Schliesslich möchte ich den Herrn Herausgeber noch auffordern, bei einer zukünftigen Ausgabe sich die Correctheit des Druckes angelegen sein zu lassen. Ich finde viele Druckfehler der fünften Autlage in der siebenten wieder, z.B. suffir statt suffire (Abarbeiten 4), effeuiller, effaner (Abblatten); advises statt advices (A nkündigen 3); to chose statt

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to choose (Ansetzen 4). Im spanischen Theil ist besonders der Accent mit wenig Aufmerksamkeit behandelt; derselbe fehlt z. B. über dem i in aprovechariaraos (Abschrift 4). economia (Auftrag 32), mer- caderia (Bestimmen 13) navio (Abdanken); über dem o in polizas (C onno ssement 2).

Durch Abstellung solcher und der früher erwähnten Mängel wird das Buch, dessen Nutzen schon jetzt unzweifelhafst ist, sich eine immer grössere \'erbreitung verschafien, wie wir sie ihm von Herzen wünschen.

Hamburg. A. Fels.

Miscellen.

Amerikanisches Skizzebüchelche. Eine Epistel in Versen. Mit- getheilt von Georg Asmus. 2. Aufl. New- York 1874. 2. Band 1875. Ebenfalls bei Mayer, Köln u. Leipzig.

Von einem in Amerika, Der, was er ass und trank und sah, Und was ihn sonst noch da genirt', Sei'm Ohm nach Hesse rapportirt.

Durch vorliegende zwei Bändchen ist unsere so hervorragende deutsche Dialektdichtung in köstlicher Weise vermehrt worden. Wir müssen das Werkchen um so freudiger begrüssen, als es, jenseits des Oceans erschienen, ein würdiges Zeugniss deutschen Geistes , wie er sich auch in der neuen Welt bewahrt hat, ablegt. Diese Zeilen sind von dem Wunsche dictirt, den beiden Büchelchen, wie sie es in vollem Masse verdienen, auch in Deutsch- land Freunde zu erwerben. Dazu ist nöthig, dass wir bei dieser Besprechung den Verfasser selbst möglichst oft redend eintühren.

Der erste Band schildert in losen Abschnitten das amerikanische Leben und Treiben im Allgemeinen, wie es sich besonders den Augen des Deutschen darstellt.

Neuyork müsst einer so beschreibe, Wie wann er Welle male will, Is das e Woge, Brause, Treibe Die Strasse selber stehn net still.

Das Dränge, Gurgle, Kreise, Tose! Wie Wirbelström in eine Fluss, Und doch e Gleite, doch kein Stosse, Jed Trüppche weiss wohin es muss.

Und immer Neues kommt gefiosse, Von tausend Schiffe ausgespuckt, Kaum hat's auf's Ufer sich ergösse, Is es auch gierig schon verschluckt.

Kam's elend auch von fremde Strande, Was kummervoll die Küst betritt. Bringt's doch de neue Hoffnungslande E reich Geschenk zwei Arme mit.

232 Miscellen.

Kommt mer aus Japan oder Hesse, Ja aus 'me Land noch net entdeckt, Mer kann hier plaudern, ti'inke, esse Genau im eigne Dialekt.

Ich bin nun hier seit fast zwei Jahre; Glaubst du, ich hätt in all der Zeit, So wimmelts da mit Gehn und B'ahre, , Zweimal gesehn dieselbe Leut?

Punkt Zehe fängt das an zu laufe, Und bis um drei Uhr Jeder rennt, Als hätt er etwas zu verkaufe, Was er net recht verkaufe könnt.

Da sieht mer nobele Gesichter, Den's Wohlthun aus de Auge blitzt, Danebe stolze Bösewichter, Die nur ihr Geld vor'm Zuchthaus schützt.

Es heisst mit Geld war' viel zu mache, Mer müsst Millione nur erschnorrn. Dann könnt mer habe alle Sache, Nur Richter net, die eim verknorrn. u. s. w.

Der galante Dichter widmet gleich den folgenden Abschnitt dem schönen Geschlechte. Er ist so köstlich, dass ich ihn fast unverkürzt wiedergebe.

Am schönste sin die Frauenzimmer, Die sind doch all, als wie gemalt, Wie Wundervögel gehn sie immer, Ich möcht nur wisse, wer's bezahlt.

Se sage, die mer da so sieht, Dass net e Jede arg viel nutzt, So for ins Haus und fors Gemüth, Doch wunnerscheeii sind se geputzt.

Se könne stricke net und koche. Und meistens fahrn se, wann se gehn; Nur zweimal gehn se in die Woche, Drum halte sich se auch so scheen.

Pelz, Sammet, Schleier, Kneifer, Spitze, Se gehn drin so natürlich her, Und Ohrring, Handschuh, Stiwel, Litze, Als ob's auf 'en gewachse war.

Wie sie de kleine Finger stelle, Und schleppend schwebe, vornehm müd; Die lange Kleider schlage Welle, Wie wann en Schwan durchs Wasser zieht.

Gehörig auswärts gehn se hinne, Vorn bolzegrad, das Köppche dreist Das sin Amerikanerinne, Und ob das mit de Auge schmeisst!

Miscellen. 233

Der Tang kühl, weich, e bische südlich, Wie ßahm mit etwas Kaffee drin; In siebenknopp'ge Handschuh niedlich Die kleine Hand verborge sin.

Und wie en Photograph die Mängel Liebvoll verbirgt und überschmiert, So sin hier die lebend'ge Engel Mit Kunst und Sorgfalt retuschirt.

Im Mäulche hen se alsfort Zucker Und auf dem Mäulche auch herrje! Im Herzche e paar lose Mucker, Und in de Händcher 's Portmonneh.

Die Arbeitstheilung, kann raer sage, Ist hier zu Land fiimos zu Haus, Die Männer müsse's Geld erjage, Die Frauenzimmer kehrn's enaus.

Wir überspringen, wenn auch mit schwerem Herzen, wieder einige Ab- schnitte und fahren mit des Dichters Worten fort:

Höchst ausserordentlich gedeihlich Gehts hier zu Land dem Judenthum; Es macht Cultursprüng unverzeihlich, Erwirbt sich Bildung, Geld und Ruhm.

Wie prachtvoll die gleich englisch rede! Das Deutsche kommt en schnell abband, Als ob die Leut sich schäme thäte, Vielleicht auch, weil sie's nie gekannt.

Zum Beispiel nehmt en Mann aus Pole. Der bringt nur, ausser seinem Stock, De Wille mit sein Glück zu hole, Sein' Locke und sein Kaftanrock.

Er lauft sofort durch alle Strasse, E gut Geschäftche hat er schon, Verbrochne Fenster neu zu glase Ist seine ganze Ambition.

E halb Jahr druf is er schon welter, Das erst Bankrottche is gemacht! Er handelt schon mit alte Kleider, Er schläft net, lauert nur, bei Nacht.

Sein' Kinner sin gewiegte Mensche, Die wälze sich im Gold herum; Sie fahrn spaziern in Gla9ehänsche Und sitze in Froscenium.

Ich wähle ferner aus einem kurzen Abschnitt über die Aerzte:

E gut Geschäftche is hier Dokter, Um reich zu werde jedenfalls; Heut kommt er, und schon morge hockt er. Fest in der Butter, bis an Hals.

234 Miscellen.

Spricht er kein Englisch "s kein Schade, Kriegt doch meist Deutsche zu kurirn; Der Yankee will Homöopathe Und lässt sich langsam massakrirn.

Bei euch verspricht mer eim sechs Batze, Nach Jahr und Tag, vor e Visit; Hier kriegt er Doller, und er hat se Erst in der Tasch', sonst thut er's nit.

Ein Zehner for in's Ohr zu gucke, For zwei Ohr'n zwanzig, und so fort; Kriegt einer gar Arznei zu schlucke, Dann kost's en Nibelungehort.

Sag's nur herum, es sollte komme Was medizinisch is gebild't; Manch Haus noch, hab ich wahrgenomme, Hat in Neujork kein Dokterschild.

In diesem prächtigen mit der schärfsten Beobachtungsgabe gepaarten Humor geht das „Büchelche" weiter. Die Schnelligkeit, mit welcher Städte entstehen und wohnlich gemacht werden, schildert folgende Strophe:

Da gibt's gleich Gas und Wasserleitung Und Kirche, Bäder und Hotels; E bettuchgrosse Morgezeitung, Dampfspritze, Eis und Putzmamsells.

Der in Newyork unerträglich heisse Sommer treibt Jeden hinaus, dem es die Umstände nur erlauben :

Die reiche Junggeselle gehe In Adirondakhochurwald, Campire da an stille Seee Und springe übern Felsespalt.

Dort üben sie auf wildem Pfade Die stadtverwöhnte Banerches (Beinchen) Se schlafe, fische, jage, bade, Kurz, spiele da Indianerches.

Se gehn bewaffnet wie die Räuber Und schnuppern nach der Hindin Fährt, Se kriege kesselbraune Leiber Und schauderhafte Stoppelbärt.

u. s. w.

Wer bleibe muss, und hat Monete, Fährt gern am Sonntag auf die Bay;

Da Staaten Eiland, das am Hafe Liegt wie e Traumbild hingestreckt; Auf Sammethügeln weiden Schafe, Kühl blickt die Villa, laubversteckt.

Dort, weit im Ost, der bleiche Streife Das scheint kein Land mehr 's is die See ! Doch lass de Blick net heimwärts schweife, Guck weg, es thut de Auge weh.

Miscellen. 235

Welches unendliche Gefühl birgt der eine, kurze Vers ! Tausende deut- scher Landsleute haben gewiss empfunden, was der Dichter in so schlichten AVorten ausdrückt, und wer es liest, rauss es nachfühlen. Gerade bei dieser Stelle fühlen wir uns (merkwürdig genug!) versucht, unseren Dichter mit dem sein deutsches Gemüth meist absichtlich verleugnenden und niederspottenden Heine zu vergleichen , denn bei ihm gerade sind wir die Meisterschaft ge- wohnt, mit den einfachsten Worten die stärksten Wirkungen hervorzubringen. Wenn wir aber Humor und Gefühlstiefe zusammen betrachten und dabei des uns so lieblich anmuthenden Dialektes nicht vergessen, so sind wir wohl am meisten geneigt, den Verfasser des Skizzebüchelche neben Fritz Reuter zu stellen, dem grössten Vorbild für die Vereinigung dieser Eigenschaften in unserer deutschen Literatur.

Nahe am Ende des ersten Bandes giebt uns der Verf. eine Charakteristik der hauptsächlichsten amerikanischen Städte, wie sie in der Kürze treffender nicht gedacht werden kann. Wir geben auch hieraus einige Proben:

Der Mississippi fliegst gemüthlich, Breit, schlammträg, an St. Louis vorbei, Die Leut thun da in Bier sich gütlich Und raissonnirn und schlachte Sau.

Nach Washington schickt mer die Kräfte, Die zum Reglere taugbar, hin ; Sehr häufig Herrn, die für Geschäfte Daheim doch net recht brauchbar sin.

In Boston lebe die Athener Der neue Welt von Lorbersaft; Da gelte Doller nix und Zehner, Da blüht umsonst die Wissenschaft.

Von Philadelphia möcht ich schweige, Es Is e Vorstadt von Neuyork, E Backsteinwüste ohne Gleiche, Solid, doch trocke wie en Kork.

Brooklyn e Seestadt ohne Laster! Da steht e Kirch bei jedem Haus, Die Weibcher schiele nach de Paster Mit fromm verschämte Auge aus.

Hoboke hat kein fremde Flitter, Still lebt sich's wie in Darmstadt hin, Nur dajis die Grossherzög und Ritter Hier reiche deutsche Kaufleut sin.

Im Himmel sind se da, im siebten, E ganz germanisch Paradies I Die Jungfrau stickt da dem Geliebten Noch Hoseträger und Etuis.

Der „Ohm in Hesse" und der aufmerksame Leser hat bis jetzt denken müssen, dass der Schreiber ihm aus purer Menschenfreundlichkeit, zu seinem (des Lesers) Nutz und Frommen, das Land hat schildern wollen. Aber siehe da, der schlaue Verf. ist, wie jeder Sterbliche, ein Egoist, denn der eigentliche Zweck des Schreibens geht aus dem Schlüsse hervor:

Nur eins hier noch. Du wirst Dich freue! Vorgestern hab ich mich verlobt; Se hat zwar nix, doch ihre Treue Hab ich seit dere Zeit erprobt.

236 Miscellen.

E Schönheit über die Beschreibung, So jung und gut, grad sechszehn Jahr; Se hat auch, ohne Uebertreibung, In ganz Neuyork das schönste Haar.

Se is, vom Wirbel bis zum Zehche, Das Feinste was mer sehe kann, Gewachse is se wie e Rehche, Und heisst Miss Molli Flanigan.

Se ging zur Schul; im Zuckerlade Hab ich die Frag' an se gestellt; Jetzt wolle mer uns heierathe, Drum schick mir möglichst bald mein Geld.

Hiermit hat der Dichter angefangen uns für seine eigene Persönlichkeit zu interessiren; was dieser alles begegnet, erfahren wir aus dem kurz vorher in Aussicht gestellten zweiten Bande. Wir schauen diesem mit umsomehr Spannung entgegen, als durch die Verlobung mit einer jener Schönen, deren Vorzüge der Dichter selbst in so zweifelhaftem Lichte geschildert hat, zu- gleich eine tragische Schuld gegeben ist. Wir müssten uns auf das Schlimmste für den armen Helden gefasst machen, wenn die Schlussfolgerungen, welche der allzufrische Humor in uns erweckt, nicht noch hofinungsfreudiger wären. Wer Kopf und Herz so auf der rechten Stelle hat und dem, was er fühlt, so beredten Ausdruck zu verleihen versteht, dem kann es auf die Dauer nicht schlecht gehen.

Und doch, hart genug ist es dem armen Hessen zuerst ergangen.

Dem hawe se die Späss verdriwe, Du liewer Gott, dem junge Blut! Er is gesund un hat geschriwe; Passt uf was er verzähle duht:

Auf der Ueberfahrt schliesst er Freundschaft mit zwei Newyorker Kauf- mannssöhnen, und

in der Rauchstub, so beim Wein, Ward hoch und feierlich beschlösse: Mir drei, mir wollte Partners sein.

Das geschieht denn auch ohne Säumen,

Mer wollte nach und nach errichte Mit Cuba en Produktverkehr; Hill: Butter, Käs und so Geschichte, Her: Südfrucht und dergleiche mehr.

Da wirft ihnen ein gütiges Geschick einen Chemiker in den Weg,

Der könnt e künstlich Butter mache Aus ganz gemeinem Ochsefett,

und seine Gründe wirken schliesslich so überzeugend, dass er als Partner ward genomme Und kriegt' vorab e runde Summ.

Der Absatz bleibt aber aus; unser Landsmann wird dazu bestimmt, die Waare nach Cuba zu schaffen, aber es tritt unterwegs bei fürchterlicher Sonnenhitze Windstille ein, und

die Butter troppt' aus tausend Ritze, bis man endlich alle Fässer über Bord werfen muss, denn

die Wasserpumpe gäbe Schmalz.

Miscellen. 237

Das Geschäft löste sich auf mit schlecht vorhiilltem Bankerott. Da kommt zum Unglück das Wechselchen aus Deutschland an, welches am Ende des ersten ßüchelchens gefordert war; leichtsinniges Gerede lässt unseren Helden für reich halten und

Es hiess, nun könnt ich wohl prästire En niedliche Verlobungsschmaus.

Ein Freund erbietet sich, die Sache billig und elegant ins Werk zu setzen und erhält die Erlaubniss.

Flott hatt' ich mich In Frack geschmisse, Und wartet uf mein' Gäste jetzt; Mein' Handschuh warn, wie mein' Gewisse, Zu zart und eng un drum zerfetzt.

Was all die feine Kellner renne! Ich dacht bei mir im Stille so: War's nur noch möglich durchzubrenne Die Wirthschaft hiess Delmonico !

Die geladenen Pärchen erscheinen im herrlichsten Putze und man führt die Gesellschaft in den Speisesaal. Beim Anblick der Pracht hätte den armen Gastgeber fast der Schlag gerührt. Ein Blumenfrühling prangte zur Zierde auf dem Tische.

Inmitte von dem Tropekrempel Stand, funkelnd wie aus Bergkrystall, E Kandelzuckerliebestempel, Da drinn war Amorettenball.

Dazu macht ihn auch noch das Benehmen der Molli mit ihrem Nachbar desperat.

Froh musst' ich sein so dazusitze,

Und, in bescheid'ner Zärtlichkeit,

Zu streichle mit de Fingerspitze

E Fältche von ihr'm liebe Kleid.

Fing Einer an e Red zu halte, Wie Jungamerika se hält, Will es nach Tisch Talent entfalte. Wo es auch sein mag in der Welt.

Von Grenzenlosigkeit des Landes, Und von dem arme Mann seim Schweiss, Dass hier kein Unterschied des Standes, Und dass Europa war en Greis.

Vom Washington und Sternebanner Und von dem ausgespreizte Aar, Doch's Land war hin, kam net e anner Partei an's Ruder 's nächste Jahr.

\^om edle Volk un der Verwaltung, Von der gesprengte Sklavekett, Von höchster Industrieentfaltung Und Frankreich's grossem Lafayett.

Nun gings an Deutschland: das war Schwindel, Das stöhnt' unner Tyrannehand, Das Volk war ungläubig Gesindel, Der Adel nur e Räuberband.

238 Miscellen.

Als Bürger wär'n mer net die beste, Der Hunger trieb uns hier ins Land, Mer käme her uns voll zu mäste Und hätte jeden Tag en Brand.

„Engherzig nur thun se das Gute, Wann ihne Bier die Seel erfreut; Seht unsre Rieseinstitute For schrankelos VVohlthätigkeit!

Das is nur gross im Kümmelspalte Und kann, bei all seim dumm Geprahl, Sich net emal ziisammehalte For's eigne Heil bei ere Wahl."

Auch Undank legt er uns zu Laste: E Mancher, der hier fand sein Glück, Schlich' mit gefüllte Kist und Kaste Sich in sein Vaterland zurück.

„An Sprach und Atheistesitte Hält Jeder fest mit Obstinanz Dass überhaupt se sin gelitte Beweist recht unser Toleranz !"

Jetzt sprang meim Zorn e jede Fessel! Laut schallte ihr Applausgelach, Drei Schritt weit flog mein Ehresessel, Wild schoss das Blut mir unners Dach.

„Was?" schrei ich, „ihr wollt mir schimpfire Mein heissgeliebtes Vaterland? Und's Volk, was euch alleifl kann führe Aus Vorurtheil und Unverstand?

Still und bescheide hat's gerunge, Wie keins, nach Licht, wenn auch entzweit; Jetzt, wo mer uns Respekt erzwunge. Platzt fast die ganze Welt vor Neid!

Ihr seid noch lang net uf der Höhe, Von der ihr uns begreife könnt, Ihr werd't noch's Mittelalter sehe, Dem ihr ja stracks entgegerennt!

Schwarzröck und Monopolraagnate Reglern, bigott und frech, das Land; Ihr meint, ihr hätt' kein' Potentate Und seid doch all in ihrer Hand!

Was war denn leichter zu verwalte. Als euer unbedroht Revier? Ihr braucht kein' Heere zu entfalte, Euch langt e Flott von Schreibpapier!

Un doch könnt ihr den Kram net halte, Ihr ruinirt das reiche Land, Schafft ihr euch net en wohlbestallte, Erzogene Beamtestand!

Miscellen. 23D

Mir solle uns bei euch bedanke, Und opfere unser Ileimathsbräuch?! Was werft ilir dafor in die Schranke? War Dank am Platz, er war bei euch!

Wer bracht' in euer Klapperlebe E bische Poesie und Klang? Wer hat euch die Musik gegebe? Wer hält de Irische die Stang?

Planzt net der Deutsche euch die Rebe An See' und Ström', das hold Geschenk? Und wenn wir gern uf Bierbänk klebe, Schafft's net auch euch e gut Getränk?

Ihr macht Gesetze mit Gezeter, Die ihr dann selbst net respektirt; Uns is die Bierbank en Katheder, Da wird Philosophie dozirt.

Wer hat aus euerm wilde Weste E wogend Ede hergestellt? Der Deutsch, der ruhigst und der beste, Weil stätigst, Bauer in der Welt.

Vom Paradies wart ihr Verwalter, Vom Sude wie habt ihr's verprasst! Wer warn denn da die Sklavehalter, So lang's dem annern Theil gepasst?

Gut war's, dass ihr habt überwunde Die Rebellion; doch nach dem Schlag Habt ihr die Leut brutal geschunde Und thut's noch bis zum heut'ge Tag.

Und wie dort ausgesaugt die Felder, Die Raubwirthschaft verlangt keiii' Kunst, So geht's genau mit eure Wälder, Denn Forstkultur is euch en Dunst.

E Jeder geht sein' eigne Bahne, Und Jeder is for sich nur fix; Ihr seid e Volk ganz ohne Ahne, Und an de Enkel liegt euch nix!

Uf was habt ihr denn viel zu poche? Mein Volk is en gelehrter Held! Mein Volk hat Logik in de Knoche Ihr habt, im Hosesack, nur Geld!!"

So, Onkel, hab ich losgewettert, Die Wuth hätt mich fast umgebracht; u. s. w.

Wir schliessen unsere Besprechung mit diesem längeren Auszug. Er bedarf für einen Deutschen keines Commentars; wir meinen, dass er allein schon dazu beitragen wird, dem Buche die gebührende Anerkennung zu erwerben.

Ueberhaupt sind die Reden die Glauzstellen des Werkes. Es folgen ihrer noch zwei: eine Advokatenrede vor Gericht, ein vollendetes Muster

240 Miscellen.

parodirender Kunst, welche uns lebhaft an ein derartiges Meisterstück von Dickens in seinen Pickvvickiern erinnerte, in welchem er den Pathos von tendenziösen Zeitungsartikeln vor Parlamentswahlen durth die vortrefflichste Parodie lächerlich zu mach(^n su.cht; und eine Rede des Helden selbst, durch die er ein zum Strike gereiztes Arbeiterpersonal zur Vernunft zurückführt.

Doch das Mitgetheilte hat hoffentlich genügt, um zum eigenen Lesen des „Skizzebüchelche" zu veranlassen. Wir schicken dem Verfasser einen war- men Dank für das Erzeugniss seiner Poesie über den atlantischen Ocean hinüber und knüpfen daran den Wunsch, dass dies nicht die letzten Klänge seiner Muse gewesen sein mögen.

Berlin. W. Körner.

Nachtrag. Seitdem obige Zeilen geschrieben wurden, hat sich unser Wunsch erfüllt durch eine im genannten deutschen Verlage erschienene Novelle „Camp Paradise, 1877", auf welche wir uns später zurückzukommen vorbehalten.

Die bildlichen Darstellungen des Reineke Fuchs

im Mittelalter.

Die bisher beschriebenen I'abelbilder im Dome zu Bristol*) beziehen sich auf wohlbekannte Ereignisse im Leben Reineke's. Merkwürdig ist auch, dass uns beide Hinrichtungen, die auf Befehl des Königs vollzosrene und die durch Rachlust der Gänse vollstreckte, dargestellt werden. Von den übrigen Bildern be- ziehen sich verschiedene auf die Thierfabel, obgleich ihre Deu- tung und der Nachweis schriftlicher Tradition schwerer sind. Ich hebe daraus noch folgende hervor.

1. Ein an der Kette liegender Bär, mit Maulkorb und Ring durch die Nase. Auf beiden Seiten des Bären befinden sich zwei Füchse, die hinter den Bäumen hervorlugen. Zwei Arbeiter mit Schubkarren.

2. Ein nackter, aber mit einem Schwerte bewaffneter Mann wird von zwei Thieren angegriffen. Mit dem Schwerte schlägt er nach dem einen Thiere, das unstreitig einen Fuchs darstellt. Das Thier zur anderen Seite ist unkenntlich gewor- den. Man könnte es mit ebenso viel Recht für einen Fuchs, Bären oder Wolf halten. Zur rechten Seite der ganzen Gruppe sieht man den nackten breiten Hintern eines Mannes, dessen Geschlechtstheile zwischen den Beinen herabhängen. Diese Zugabe weist vielleicht auf die vierzehnte Branche des Roman de Renart : De l'Ours et du Lou et du Vilains qui monstrerent lor cus.

*) Archiv, vol. LVI, p. 265 seqq. Archiv f. n. Sprachen. LVni. 16

242 Die bildlichen Darstellungen des Reintke Fuchs im Mittelalter.

Trestuit trois nos cus mostrerrons,

Et eil qui graignor cal aiira

Le bacon tout emportera. (XIV, 7087 seqq.)

3. Eine Schnecke kriecht einen Berg hinauf. Ein Mönch treibt sie mit einer Peitsche an. Zur anderen Seite steht ein Ritter und sieht unbekümmert zu. Hier haben wir vielleicht die verlorene Geschichte von der Schnecke, über die sich Gau- tier de Coinsi so ungehalten ausdrückt. Doch ist auch die Schnecke Bannerträger im Renart le Nouvel:

Li Rois Tardius le lime9on

Bailla le roial gonfanon,

Et li conmanda l'avant-garde,

Et le lupart l'arriere-garde. (3511 14.)

Nachdem Renart entschlüpft ist, klettert auch Tardif die steile Burg hinan, und da er keinen Widerstand findet, pflanzt er des Königs Banner auf:

Es-vous Tardius le lime^on

Ki dist que par tans le sara.

As Murs s'ahiert, amont rampa,

Nului n'i vit, jus descendi,

A le poi'te vint, si l'ouvri;

Mais ains mist le roial baniere

Ens en le raaistre tour de piere

En signe pris est li castiaus.

Au Roi Noble est eis signes briaus.

(Renart le Nouvel 4214—22.)

Leider habe ich keine weitere Notiz von der Kleidung des Mönches genommen, doch ist es, wenn ich mich nicht irre, kein Bettelmönch.

4. Ein Mann auf einer Gans reitend, und ein anderer auf einem Schweine. Beide halten in der Hand eine Waffe, die ein Speer, aber auch nur ein gewöhnlicher Knüppel gewesen sein mag.

5. Ein Mann, augenscheinlich ein Hausirer, der einen Kasten auf dem Rücken trägt, liegt auf dem Boden. Mehrere Affen springen um ihn herum, öffnen seinen Kasten und neh- men die Waaren daraus.

Die bildlichen Darstellungen des lleinekc Fuchs im Mittelalter. 243

6. Ein Affe, der eine Flasche in der Hand hält. Als ich meine Notizen über Bristol zuerst niederschrieb, sagte ich ,holding a bottlc or a purse in his hand'. Die Schnitzereien zu Beverley zeigen uns den Affen gelegentlich als Arzt seines Freundes, des Fuchses. Dort ist kein Zweifel daran, dass die betreffende Schnitzerei einen Aff'en mit einem Ui'inglase in der Hand darstellt. Man vergleiche damit die Darstellung des Arztes in den Todtentänzen , wo dieselben immer auf diese Weise gekennzeichnet werden.

7. Ein Affe, der auf einer Laute spielt.

8. Ein Affe, oder ähnHches Thier reitet auf einem Esel. Ein Bauer treibt das Thier mit einem Stocke an, Mährend er es beim Schwänze festhält.

Diese Holzschnitzereien stammen wahrscheinlich aus dem Anfang des sechzehnten oder Ende des fünfzehnten elahrhun- derfs her. Doch sind die Steinbilder, zu denen wir uns nun wenden, entschieden älter. Diese befinden sich in der Eid er Lady Chapel oder älteren Marien-Capelle, die hier nicht, wie gewöhnlich, den östlichen Theil, sondern das westliche Ende des nördlichen Seitenschiffes einnimmt. Diese Capelle wurde zwischen 1196 1215 gebaut. Unter den Grotesken des Gewölbes befinden sich folgende Thierbilder:

1. Ein Fuchs, der mit einer Gans davonläuft.

2. Ein Affe und Widder, die auf Pfeifen blasen.

3. Ein Affe, der auf der Pansflöte bläst und einen Hasen auf seinem Rücken trägt.

Zur Zeit der Reformation wurde diese Kirche von Hein- rich VIH. zum Dom erhoben. Von dem mächtigen Hause Berkeley als ein Haus für Augustiner Domherren (nicht zu verwechseln mit Augustiner Bettelmönchen) 1142 gegründet, war dasselbe gegen Mitte des vierzehnten Jahrhunderts zu einer gefürsteten Abtei erhoben worden.

Ich wende mich nun zu den höchst interessanten Sculp- turen zu

Beverley.

Um das Jahr 700 gründete Johann, Erzbischof von York, an seinem Geburtsorte Inderawood ein Kloster für Frauen und

16*

244 Die bildlichen Darstellungen des Reineke Fucbs im Mittelalter.

Mönche. Er selbst zog sich im Jahre 718 altersschwach von seinem Bisthum nach seinem Monasterium zurück, wo er bald darauf, im Jahre 721, starb. Im Jahre 1037 wurde er von Pabst Benedict IX. canonisirt und als S t. John of Beverley verehrt. Seine Gebeine, die noch heutzutage im Münster zu Beverley ruhen, zogen von allen Theilen Englands eine grosse Anzahl Pilgrime an. Beverley, das ehemalige Inderawood, wurde die heilige Stadt des Nordens. König Athelstan be- suchte das Heiligthum auf seiner Expedition nach Schottland, 934, und nachdem er den Heiligen um seinen Schutz angefleht hatte, nahm er das Banner desselben von seinem Grabe und versprach der Kirche mancherlei Privilegien, falls er siegreich zurückkehren sollte. Nach seinem Siege verlieh er dem Heilig- thume das Recht der Freistätte und andere Privilegien. Als im Jahre 1138 die Schotten in das Land einfielen, nahmen die Barone des Nordens das Banner des heiligen Johann und Hessen es mit den Bannern des St. Petrus von York und des St. Wil- frid von Ripon ihren Schaaren in der „Battle of the Standard" vorantragen. Nach der Schlacht bei Azincourt (25. Oct. festum translationis S. Johannis de Beverley) ging Heinrich V., von seiner Gemahlin begleitet, nach Beverley, um dem Heiligen für seinen Beistand in der siegreichen Schlacht zu danken. So gross war der Ruf des heiligen Johannes, dass der König ihm zwei andere Heilige, St. Crispin und St. Crispinian, deren Fest auf diesen Tag fällt, nachsetzte.

Unter den von König; Athelstan verliehenen Privileo-ien wird auch die Gründung einer Guild of Minstrels erwähnt. Athelstan wird auch sonst in der Geschichte als Liebhaber und Beschützer der Sänger dargestellt. Sicher ist es, dass eine Ge- sellschaft von Sängern und Musikern vor alten Zeiten hier be- stand und sich mehrere Jahrhunderte lang hindurch erhielt. Diese Minstrels müssen in hohem Ansehen gestanden haben, wie aus den Steinbildern der Musiker sowohl im Münster als in der Marienkirche hervorgeht. Vielleicht sind sie auf die Ent Wickelung der Reineke -Sage nicht ohne Einfluss gewesen, denn nur Beverley giebt uns eine vollständige Reihe von Bil- dern, welche das Abenteuer vom Gänseprediger zu einem be- friedigenden Abschluss bringen. An Interesse stehen die Bilder

Die bildlichen Darstellungen des Reineke Fuchs im Mittelalter. 245

zu Beverley vielleicht allen anderen vor und werfen auf die Ge- staltung und Bedeutung der Thierfabeln des Mittelalters ein helles Licht.

Wenden wir uns zuerst nach dem herrlichen Münster. Die Wandarkaden der Seitenschiffe sind reichlich mit Grotesken geschmückt. Unter denselben bemerken wir im nördlichen Seitenschiffe ein Steinbild, welches einen Fuchs in Mönchskleid und Pilgerstab in der Hand darstellt. Der Kopf ist leider ab- gebrochen, doch ist der ganze übrige Körper, besonders der schöne buschige Schwanz, gut erhalten. Eine Gans zieht den frommen Pilgrim am rechten Arme und zwei Hähne am linken Arme. Sie scheinen den heiligen Mann zurückhalten zu wollen und zur Predigt aufzufordern.

Unter den anderen Steinbildern wiederholt sich das musi- cirende Schwein, das aber besonders häufig zu Winchester zu sehen ist. Dies halte ich für eine andere Version des so häufio- in mittelalterlichen Kirchen dargestellten Asinus ad lyram.

Wir treten jetzt in den hohen Chor, wo die Misereres so- wohl der oberen als unteren Reihe mit vielen Thierbildern ge- schmückt sind. Zwei Umstände machen dieselben äusserst wichtig. Erstens wissen wir, wer dieselben geschnitzt hat, und zweitens wissen wir genau das Jahr, in dem sie vollendet wurden. Auf einem Miserere steht ein Hahn, der „Erwache" (Wake!) zu rufen scheint, und dabei >^ die Inschrift: „Johannes Wake clericus fabric(avi)t." Auf einem anderen Miserere be- findet sich ein Wappen (eine aufgehende Sonne auf einem den Schild theilenden Querbalken) zwischen zwei Hähnen und der Umschrift: „Arma Wilhelmi Tait Cocton Thesaurarii hujus Ecclesige 1520." Der Athem stockt Einem, wenn man das liest. Was, im Jahre des Heils 1520! Das war das Jahr, in dem Martin Luther die päpstliche Bulle verbrannte! Und in dem Jahre amüsirte sich Johannes Wake clericus im Münster zu Beverley, indem er die Geschichte Reineke Fuchsens auf die Chorstühle schnitzte. Man nehme hinzu, dass Cardinal Wolsey zu dieser Zeit Erzbischof von York war, dass der Clerus im Norden grenzenlose Macht besass und das Volk am Clerus und der katholischen Religion mit fanatischem Eifer festhielt, und man wird unglaublich finden, dass dies Spottbilder auf den

246 Die bildlichen Darstelluugen des Keineke Fuchs im Mittelalter.

Clerus seien. Sechzehn Jahre, nachdem Johannes Wake seine Bilder vollendet hatte, stand der ganze Adel und Bürgerstand von Yorkshire und Lincolnshire unter Anführung der Geist- lichen unter den Waffen, um die Rechte der alten Religion zu vertheidigen. AVas zu Beverley vorging, ist erst heutzutage nach den Acten im Rolls House von James Anthony Fronde im dritten Bande seiner „History of England from the Fall of Wolsey to the death of Elisabeth" beschrieben worden und lässt, meiner Meinung nach, keinen Zweifel, dass Johannes Wake mit seinen Spottbildern die Franciscaner und Domini- caner meinte. Ueberhaupt ist es zum Verständniss der eng- lischen Reformation absolut noth wendig, die wichtigen von Froude zuerst veröffentlichten Documente zu lesen. Ich gebe hier nur die Stelle über die Vorgänge in Beverley.

William Stapleton, a friend of Aske (dem Rädelsführer in der Insurrection) and a brother barrister, also bound to London for the terra, was spending a few days at the grey friars at Beverley, with his brother Christopher, The latter had been out of health, and had gone thither for change of air with his wife. The young lawyer was to have set out over the Hum- ber on the 4*^ of October. At three in the morning his ser- vant woke him, with the news that the Lincolnshire beacons were on fire, and the country was impassable. Beverley itself was in the greatest excitement; the sick brother was afraid to be left alone, and William Stapleton agreed for the present to remain and take care of him. On Sunday morning (October 8, 1536) they were stavtled by the sound of the alarm-bell. A servant who was sent out to learn what had happened, brought in word that an address had arrived from Robert Aske, and that a proclamation was out, under the town-seal, calling on every man to repair to Westwood Green, under the walls of the Grey Friars and be sworn in to the commons. Christo- pher Stapleton, a sensible man, made somewhat timid by ill- ness, ordered all doors to be locked and bolted, and gave direc- tions that no one of his household should stir. His wife, a hater of Protestants, an admirer of C^ueen Catherine, of the pope, and of the old religion, was burning with sympathy for the insurgents. The iämily confessor appeared on the scene, a

Die bildlichen Darstellungen des Relneke Fuchs im Mittelalter. 24 7

certain father ßonaventure, taking the lady'ö part, and they two together *went forth out of the door araong the crowd.' 'God's bleseing on ye' William Stapleton heard Ins sister-in-lavv cry. 'Speed ye well,' the priest eried; 'speed ye well iu your godly purposes.' The people rushed about them. 'VVhere are your husband and his brother?' they shouted to her. 'In the Freers,' she answered. 'Bring them out !' the cry rose. 'Pull them out by the head or we will burn the Freers and them within it.' Back flew the lady in haste, and perhaps in scorn, to urge forvvard her hesitating lord he wailing, wringing his hands, wishing himself out of the world; she exclairaing it was God's quarrel let him rise and show himself a man. The dispute lingered; the crowd grew impatient ; the doors were dashed in; they rushed into the hall, and thrust the oath down the throat of the reluctant gentleman, and as they surged back they swept the brother out with them upon the green. Five hundred voices werecrying: 'Captains! captains!' and pre- sently a shout rose above the rest, 'Master William Stapleton shall be our captain!' And so it was to be: the priest Bona- venture had willed it so; and Stapleton, seeing worse would follow if he refused, consented. (Froude, vol. III, pp. 125 6.) Zum vollständigen Verständniss dieser Stelle ist es noth- wendig zu wissen, dass ausser de^ Chorherren sich ein Haus der Dominicaner und Franciscaner in Beverley befanden. Die letzteren sind die oben erwähnten Grey Friars, schlechtweg 'the Freers' genannt, welcher Ausdruck dann auch auf das Gebäude übertragen wurde. Stapleton, der nicht geneigt ist, sein Leben und Hab und Gut aufs Spiel zu setzen, verbirgt sich bei den Franciscaner Bettelmönchen. Als gentleman hätte man ihn eher bei den Chorherren zu St. John vermuthet. Da will er aber nicht hin, denn er weiss wohl, dass man ihn zum Anführer der Rebellen machen will. Nun kommt der Priester auf die Scene, der, wie zu erwarten war, sich an die Frau macht und aus ihr herausbringt, wo ihr Gemahl und Bruder stecken. Nun merke man wohl auf was geschieht. Vom Priester ge- hetzt, zieht das Volk vor das Haus der Franciscaner, das es zu verbrennen droht. Dieselben Leute, die soeben unter An- führung eines Priesters Gut und Blut für ihren Priester und

;

248 Die bildlichen Darstellungen des Reineke Fuchs im Mittelalter.

Glauben aufs Spiel setzen, sind dennoch gleich fertig, die 'Free zu verbrennen. Dies zeigt uns den Hass der Weltgeistlicl gegen die Bettelorden. Wir reden in Deutschland von Gei liehen und Mönchen und vergessen nur zu leicht, dass Mönche und Mönche gab. Die englische Sprache macht ein Unterschied zwischen Monks und Fr iars» Die Beiden steh einander schroff gegenüber. Der Priester Johannes Wake, im Jahre 1520 die Chorstühle im Dom vollendete, war wal scheinlich 1536 noch am Leben und spielte auch seine Ro in der tumultuarischen Scene an jenem Sonntag im Octob Seine Bilder mag Spottbilder nennen, wer da will, ich nen sie Lehrbilder und Parabeln. Das Lehren durch Parabeln u Fabeln war durch das Beispiel des alten und neuen Testament in der christlichen Kirche stehender Gebrauch. Und so lehi man durch das Bild: Siehe hier, du einfältiger Christ, dies Franciscaner oder Dominicaner, der da verkleidet kommt, i wäre er ein Geistlicher, ist nur ein Betrüger. Er schleicht u deinen Hof, um deine fetten Gänse und Hühner zu stehle Wenn er predigt, und immer wird der Fuchs predigend da gestellt, so höre ihm nicht zu, denn zuletzt frisst er dich ar Schaue dies Bild an und lass dich warnen.

Doch betrachten wir jetzt die auf ßeineke bezügliche Schnitzereien. Auf der oberen Reihe (altae formae) der Miser cordien auf der Evangelienseite finden wir:

1. Ein Fuchs läuft mit einer Gans weg; ein Mann ve folgt ihn.

2. Ein Fuchs als Mönch gekleidet predigt den Gänse Hinter Reineke steht ein Affe, der die nahekommenden Gän ero-reift imd beim Nacken haltend über seine Schulter Avir; Mehrere hat er bereits auf diese Weise über der Schult hängen.

3. Reineke wird von Gänsen gehängt. Ihrer sechs zieh» am Stricke, während andere zusehen.

Dass Reineke nicht auf diese schnöde Weise seinen T( findet, stand immer fest. Wie es ihm aber gelingt zu er wischen, wusste man bis jetzt nicht. Johannes Wake cleric zeigt es uns in zwei kleinen Seitenstücken. Auf dem ein sehen wir Reineke unter dem Galgen auf dem Rücken liegen

Die bildlichen Darstellungen des Reineke FucLs im Mittelalter. 249

der Affe beugt sich über ihn und löst ihm den Strick vom Halse. Inzwischen haben sich die Gänse in aller Sicherheit schlafen gelegt, und Eeineke kommt auf dem anderen Bilde unversehens über zwei schlafende Gänse. Hier hätte John Wake aufhören können, aber er setzt die Geschichte auf der Epistelseite fort und zeigt uns auf der oberen Reihe der Chor- stühle folgende Bilder:

4. Der Fuchs läuft mit einer Gans davon, das Geschrei der übrigen fliehenden Gänse lockt aus einem Hause eine alte Frau, die jedoch zu spät kommt, um den Fuchs am Gänseraub zu verhindern. Auf einem der Seitenstücke sieht man Reineke, die Gans mit den Vorderfüssen festhaltend und rückblickend, ob auch im Rücken alles sicher sei.

5. Um dem Dieb auf den Leib zu rücken, sehen wir hier einen Mann mit seinen Hunden kommen, aber leider zu spät. Reineke sitzt sicher in seinem Fuchsbau und lugt verschmitzt am Eingange nach seinen Verfolgern. Ganz ohne üble Folgen ist aber die Sache für Reineke doch nicht abgegangen, denn auf einem der Seitenstücke sehen wir den Affen, auf einem von Reineke's Verwandten (das Thier ist entweder ein Fuchs oder ein Hund) reitend, seinem alten Cumpan zur Hülfe eilen. In dem anderen Seitenstück-üegt Reineke im Bett, aus den Decken steckt er nur den Kopf heraus. Der Affe beugt sich ängstlich über den Patienten. Reineke hat wahrscheinlich zu viel Gänse gegessen und leidet an ünverdaulichkeit.

6. Eine Fuchsjagd. Männer mit Hunden. Der Fuchs liegt auf dem Rücken und mehrere Hunde stürzen sich auf ihn.

7. Drei Bauern ziehen einen Karren ; Reineke hat auf demselben Platz genommen. Dies ist ohne Zweifel eine Dar- stellung der zweiten Branche Meon's. Reineke legt sich wie todt auf den Weg, die Fischer gedenken seinen Balg mit auf den Markt zu nehmen und dort zu verkaufen und werfen ihn deshalb auf ihren Karren, wo er ihre Fische frisst.

Ausser diesen die Reinekesage unzweifelhaft darstellenden Bildern finden sich noch viele andere Thierbilder, Fabeln und Grotesken an diesen Chorstühlen. Darunter möchte ich folgende als merkwürdig hervorheben.

Eine Katze spielt die Geige, die Mäuse tanzen. Auf dem

250 Die hildlichen Darstellungen des Reineke Fuchs im Mittelalter.

nächsten Bilde spielt die Katze mit einer Maus, auf dem dritten frisst sie dieselbe. Dies ist eine Variation des Gänsepredigei's.

Ein Elephant, der einen Sattel auf dem Rücken trägt. Ein sehr häufig dargestellter Gegenstand in Domkirchen.

P]in Todtentanz. Der Tod führt zwei tanzende Narren ab. Zur rechten Seite trommelt ein dritter Narr zum Abmarsch, während ein vierter die Pritsche schwingt. Im Chor der Kirche und in Holz geschnitzt giebt es nur zwei Todtentänze. Der in der St. Michaelskirche zu Coventry und dieser hier zu Bever- ley. Er ist bis jetzt in keiner der vielen Monographien über den Todtentanz erwähnt worden.

Eine Illustration des Sprichwortes ,Don't put the cart be- fore the horse.' Ein Mann, der sich vergeblich bemüht weiter zu kommen, da er das Pferd hinten an den Karren gespannt hat, so dass es mit dem Kopf über denselben hinwegsieht. Aehnliche Bilder finden sich auch ander\veitig, und bin ich ge- neigt, das von deutschen Forschern so häufig erwähnte Bild eines Mannes, der Eier drischt (an den Chorstühlen zu Cleve, Emmerich und Calcar), auf diese Weise zu deuten. Das Wort dreschen kommt in vielen sprichwörtlichen Formeln vor. Warum sollte es nicht am Niederrhein ein Sprichwort gegeben haben, etwa wie: „Drisch deine Eier nicht", um zu sagen, was du mit wenig Aufwand von Kraft und jNIühe ordentlich zuwege bringen kannst, wirst du nur verderben, wenn du unnöthige Gewalt anwendest.

Eine Frau zieht einen Mann an den Haaren. Indessen frisst ein Thier (Hund, Katze, Fuchs?) aus einem hinter ihr stehenden Behälter. Das Gefdss ist hoch und eng, so dass der ganze Kopf und Nacken des Thieres darin verborgen ist. Es scheint sich festgefahren zu haben. Dies Bild sieht man sehr häufig auch in Deutschland.

Ein Jäger auf der Eberjagd. Ein Hund beisst den Eber in das Ohr.

Ein Hirsch von Hunden verfolgt. Ein Hirsch weidend. Ein Mann auf einem Pferde reitend. Stellt vielleicht die von Horaz (Epist. I, 10, 34 seqq.) erzählte und von Marie de France nacherzählte P^'abel, oder auch Phaedrus, I, 12 dar. Vergl. Lafontaine IV, 13 und VI, 9.

Die bildlichen Darstellungeii des Keiueke Fuchs im Mittelalter. 251

Eine Eule von kleinen Vögeln umgeben. Stellt wohl die Fabel von der Eule dar, die bei Tage ausHog. Das Bild findet sich in vielen anderen Dornkirchen.

Ein Löwe, der auf den Kopf eines Menschen tritt.

Ein Eberschwein bläst den Dudelsack, die jungen Ferkel hören zu. Ein anderer Eber zur Seite spielt auf der Harfe.

Ein Affe, zu Pferde, führt an Ketten drei Bären mit Maul- körben. Eine andere Figur ist abgebrochen ; es scheint ein Mann gewesen zu sein , der dem Affen die Hand auf die Schulter legt.

Schäfer und Schäferin mit Schafen und Widdern. Es ist zu bemerken, dass, wo sich die Reinekebilder befinden, sich gewöhnlich auch der gute Schäfer dargestellt findet. So hier, zu Canterbury, zu Rouen.

Ein Mann liegt auf dem Boden ; acht AflTen sind geschäftig, seine Hucke auszupacken und zu plündern. Der eine hat einen Spiegel herausgenommen, in dem er sich besieht. Vergleiche das ähnliche Bild zu Bristol.

Ein Aflfe mit einer Flasche in der Hand.

Ein Affe, der ein Wickelkind auf dem Schoosse hält.

Ein Geizhals birgt sein Gold in einer Truhe, während ihn von hinten der Teufel packt. _^

Ein Trunkenbold trinkt aus einem grossen Becher, wäh- rend ihn der Satan von hinten ergreift.

Ausserdem finden sicli die Wappenschilder und Namen verschiedener Chorherren auf den Stühlen, und auch die in England zu der Zeit so beliebten heraldischen Wortspiele. So ist Cockton dargestellt durch zwei Hähne, die auf einer Tonne kämpfen. Witten ist dargestellt durch Leute, die Gewichte auf eine Wage (weight on) legen oder Gewichte aufheben, und dergleichen.

Noch einmal wollen wir zu dem Miserere zurückkehren, auf dem der Künstler seinen eigenen Namen geschnitzt hat. Das Mittelstück zeigt uns zwei Jäger mit Falken und Hunden, zur rechten Seite den krähenden Hahn (Wake!) und zur linken einen Hund, der an einem Knochen nagt. Der Hund, das Sym- bol der Wachsamkeit, soll wohl auch auf den Namen anspielen, während das Mittelstück das Hauptvergnügen unseres Kunst-

252 Die bildlichen Darstellungen des Reineke Fuchs im Mittelalter.

lera darstellt. Priester, Künstler, Jäger, ist John Wake das Ideal eines Weltpriesters, eines Benedictiner Chorherrn. Hof- fentlich lässt sich noch etwas Näheres über diese höchst geniale Erscheinung entdecken.

Noch bleibt uns die St. Marienkirche zu untersuchen. Diese schöne kreuzförmige Kirche war eine zum Dom gehörige Rectorei. Die Thierbilder in derselben sind augenscheinlich viel älter als die im Dom, doch lässt sich kein gewisses Datum angeben. Die Minstrels scheinen auch hier beim Gottesdienste musicirt zu haben und einige derselben fanden wahrscheinlich ihren Tod beim Einsturz des Mittelthurmes während des Got- tesdienstes im Jahre 1530. In so hohem Ansehen standen die Minstrels und so wohlhabend waren sie, dass sie auf ihre Kosten einen der Pfeiler, auf welchen der Mittelthurm ruhte, wiederherstellten. Um das Capitol dieses Pfeilers stehen die Minstrels mit musikalischen (jetzt meist abgebrochenen) Instru- menten in den Händen. Der Pfeiler trägt die Inschriften: Thys pyllor made the mynstyris; und Orate pro animabus pro Hysteriorum, M^elches letztere Wort eine curiose Combination der Formen h ister und histrio ist.

Auch in dieser Kirche haben wir ein Steinbild und meh- rere Holzschnitzereien zu erwähnen. Das Steinbild befindet sich im nördlichen Seitenschiffe des Chores am Eingang einer Capelle, die jetzt als Sacristei benutzt wird. Es stellt ein Kaninchen dar, welches, auf den Hinterfüssen gehend, sich auf einen Pilgerstab stützt und eine Pilgertasche über die linke Schulter gehä,ngt trägt.

Die Holzschnitzereien befinden sich wiederum auf den Misereres und sind in Composition von der grössten Ein- fachheit.

1. Zwei Füchse, mit Capuze, doch ohne Kutte, stehen vor einem Lesepulte (Lectern), worauf das Buch offen liegt. Sie heben jedweder eine Vordertatze gegen das Buch auf, als ob sie die Blätter des Evangelienbuches umschlagen wollten. Zu bemerken ist, daes diese beiden Füchse nicht auf den Hinter- füssen, sondern in der Thieren angemessenen Stellung stehen.

Die bildlichen Darstellungen des Reineke Fuchs im Mittelalter. 253

2. Ein Fuchs als Mönch gekleidet steht auf der Kanzel, zu beiden Seiten der Kanzel steht ein Priester, und zu ihren Füssen liegt ein AiFe.

3. Ein Affe steht aufrecht und hält in den Händen eine weite Flasche (Uringlas). Man vergleiche dies mit den Bildern im Münster und man wird zu dem Schlüsse kommen, dass hier der Affe als Arzt dargestellt wird.

4. Ein Priester mit umo-ehänorter Stola. Auf der rechten

o o

sowohl als linken Seite desselben steht ein Fuchs aufrecht, die Kapuze über dem Rücken, einen Bischofs-Krummstab in der Hand haltend. Die Füchse haben jeder eine Gans in der Ka- puze stecken.

5. Ein Bär an der Kette, ihm zur Seite zwei Hunde.

6. Ein Fuchs in aufrechter Stellung, von hinten von einem Pfeile durchbohrt. Der Schütze mit Bogen steht hinter ihm, während vor ihm ein anderes Thier (Fuchs, Wolf??) steht, welches einen Gegenstand (Flasche?) in der Hand hält.

7. Eine Eberjagd. ^

Mit Ausnahme des pilgernden Kaninchens, des predigenden Fuchses und der das Evangelium lesenden Füchse, zeigen uns diese Bilder eine Entwickelung der Thiersage, die bis jetzt durch gedruckte Documente noch nicht erläutert werden kann. Sollen die beiden Füchse mit Gänsen in ihren Kapuzen und Krummstäben in den Händen vielleicht auf eine Bischofswahl hindeuten, bei der die Bettelmönche einen Priester durch Ver- sprechung ihres Einflusses für sich zu gewinnen suchten?

Noch erwähne ich einer Figur an diesen Chorstühlen, die an anderen Orten, z. B. Worcester und Gloucester, sich wieder- findet, die aber wahrscheinlich sich auf einen mittelalterlichen Aberglauben bezieht. Es ist dies ein Mann, der auf einem Ziegenbock reitet und unter dem Arme ein Kaninchen hält.

Unglücklicherweise findet sich kein Datum an diesen Stüh- len und scheinen keine archivalischen Nachrichten vorhanden zu sein, die auf ein bestimmtes Datum schliessen liessen. Doch werden sie wahrscheinlich aus der Mitte des vierzehnten Jahr- hunderts, wo nicht aus früherer Zeit, herrühren. Die einfache Cuculla der Füchse kennzeichnet sie als Cistercienser.

254 Die bildlichen Darstellungen des Reineke Fuchs im Mittelalter.

Lincoln.

Die zahlreichen Sculpturen am Dom sowie im Capitelsaal zu Lincoln verlangen eine genauere Untersuchung, als ich ihnen zu Theil werden lassen konnte. Doch finden sich an den Chor- stühlen, die der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts angehören, folgende Thierbilder.

1. Ein Fuchs steht auf der Kanzel und predigt den Gän- sen und Hühnern, während ein anderer Fuchs eine Gans er- würgt.

2. Ein Fuchs, der auf einer Gans reitet und eine Gans, die auf einem Fuchse reitet.

3. Ein Fuchs, der auf einem Huhn reitet.

Diese Schnitzereien befinden sich an der Rücklehne der niederen Reihe (bassae formae) der Chorstühle auf der Epistel- seite und sind das Erste, was Einem beim Eintritt in den Chor auffällt. Es kann daher sowohl hier, wie an vielen anderen schon beschriebenen wie noch zu beschreibenden Orten, von einem „Anbringen im Versteck", wovon viele deutsche Archaeo- logen sprechen, nicht die Rede sein.

Auf den Sitzklappen befinden sich unter anderen noch fol- gende Fabelbilder:

4. Die Fabel vom Kranich, der Steine in eine Flasche wirft, um das Wasser zum Steigen zu bringen.

5. Zwei Affen tragen auf einer Bahre einen anscheinend todten jungen Affen. Sie halten vor einem Capelichen an, als wollten sie die Leiche dort einsegnen lassen oder bestatten.

6. Ein Affe auf einem Pferde reitend.

Ein sehr merkwürdiges Schnitzwerk an diesem Gestühl ist ein aus einem Kessel aufsteigender, mit der Tiara ge- schmückter Kopf. Ein Teufel facht mit einem Blasebalge das unter dem Kessel brennende Feuer. Man hat dies in neuerer Zeit, ohne den geringsten Grund, auf einen der ehemaligen Bischöfe gedeutet.

Ely.

Die geschnitzten Bilder im Dom zu Ely werden für die schönsten in England gehalten. Nur ein Theil derselben ist

Die bildlichen Darstellungen des Reineke Fuclis im Mittelalter. 255

jedoch alt und gehört der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts an. Unter denselben finden wir einen höchst pompösen liei- neke. Er erscheint nicht als einfacher Mönch, sondern frech als Chorherr oder gar Bischof verkleidet. Auf dem Haupte trägt er die Almucia, über die Schultern gehängt die Stola und in der Hand den bischöflichen Krummstab. In der Rechten hält er ein Spruchband, auf dem wir uns den Avohlbekannten Text des Gänsepredigers geschrieben denken müssen: „Der Herr ist mein Zeuge, wie sehr mich verlangt nach euch Allen in meinen Eingeweiden." Rings um den Fuchs stehen die Gänse und horchen auf die Predigt. Daneben befindet sich ein Bild, auf welchem der Fuchs, welcher seine Verkleidung abgeworfen hat, mit einer Gans davonläuft. Eine alte Frau verfolgt ihn mit der Spindel.

Noch manche andere Thierbilder befinden sich an den Chorstühlen, Eine Eule, die eine Maus fängt, Eichhörnchen, AflPen, eine Jagd, ein Hirsch, der eine Schlange mit Füssen tritt und beisst. Um zu zeigen, wie das Mittelalter in Bildern redete und lehrte, erwäliiie ich noch das folgende Bild: Zwei Männer spielen mit Würfeln, ein dritter hat ein Glas und einen Humpen in den Händen, zur Seite steht eine wehklagende Frau bei einem umgestürzten Bienenkorbe. Das heisst: Wenn der Mann in der Kneipe liegt, spielt und trinkt, da geht sein Haus- wesen zu Grunde.

Gloucester.

Die höhere Reihe der Chorstühle im Dom zu Gloucester wurde auf der nördlichen Seite vom Abte Staunton (1337— 1351), auf der südHchen Seite von dem Abte Horton (1351 1377) errichtet, so dass sie genau der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts angehören.

Dieselben bieten dem Forscher viele höchst schwierio-e Gegenstände dar, welche sich weder aus den Fabeln des Mittel- alters, noch der christlichen Symbolik deuten lassen. Manche scheinen auf heidnischen Aberglauben sich zu gründen.

Hier finden wir den Gänsedieb in seiner ursprünglichen Gestalt. Es ist ein auf allen Vieren dahintrabender Fuchs, der eine Gans beim Nacken hält und deren Leib er flott über seinen

256 Die bildlichen Darstellungen des Reineke Fuchs im Mittelalter.

Rücken gechwungen hat. Hier möchte ich lieber die Thier- bücher zur Erklärung heranziehen. Philippe de Thaun sagt vom Fuchse:

Gulpis de beste est nun Que gupilz apellum; Gulpils est rault livrie E forment veziö ; Grant praie volt conquere, Met sai en rüge terra, Tut s'i enpuldrat, Cum raort se girat, La gist gule baee, Sa langue hors getee; Li oisel ki la veit, Quide que mort seit, AI gupil vent volant La n fait mort semblant, Lors li volt menger, Si la prent a becchieer, En la buche li met Sun chef e sun bech, Li gupils en eslure Li oisel prent e devure; Aez en remembrance Ces est grant signefiance.

Li goupils signefie Diable en ceste vie ; A gent en carn vivant Demustre mort semblant, Tant que en mal sunt entre, En sa buche enferre, Dune les prent en eslure Si 's ocit e desvure, Si cum li gupils fait Li oisel quant I'a atrait. E David en verte dit, Cil ki mort pur De „En main de glaive irnnt De gupil parsevrunt." E Erod en verte A Gupil fud esme; E Nostre Sire dit Par veir en son escrit,

Die bildlichen Darstellungen des Reineke Fuchs im Mittelalter. 257

„Dites ;i la goupille

Qu'il fait grant merveille,"

A la terre fait lait

Des fosses que ele i fait ;

Par terre entendum

Homo par grant raisun ;

E par fosse peche

Dont hume est enginne,

Que Diable i fait,

Par quei hom ä sei trait.

Nor voil ore plus traiter,

Altre voil cumencer.

Aus diesem symbolischen Fuchse hat sich wahrscheinlich der Reineke allmälig entwickelt.

Ein anderes lieinekebiid, welches an das unter No. 6 der Marienkirche zu Beverley beschriebene erinnert, befindet sich an einem anderen Miserere. Ein Mann zielt mit Pfeil und Bogen auf einen im Gebüsch verborgenen Fuchs, während zwei Hunde auf denselben zuspringen. Nichts in den bisher ge- druckten Thierfabeln erklärt^diese Bilder, und glaube ich hier eine der früheren Gestaltungen der Reinekesage zu sehen. Dass die Bilder nicht reine Phantasieproducte des Künstlers sind, geht daraus hervor, dass derselbe Gegenstand sich in einer der nördlichsten und in einer südwestlichen Kirche Eng- lands wiederholt. Selbst wenn nicht schon das Concil von Nicaea im Jahre 787 festgesetzt hätte: Non est imaginum structura pictorum inventio, sed ecclesiae catho- licae probata legislatio atque traditio. Atqui consilium et traditio ista nonestpictoris, ejusenim sola ars est, rerum ordinatio et dispositio patrum nostrorum. Dass die Thierfabel unter den Geistlichen sich traditionell in Wort und Bild fortpflanzte und entwickelte, kann nur Der bezweifeln, der mit den Augen des neunzehnten Jahr- hunderts die Fabeln und die Fabelbilder betrachtet.

W orcester.

Im Kreuzgange befindet sich an der Decke der westlichen Seite ein Boss, der mitten in einer Heerde Gänse aufrecht steht; eine derselben hat er bereits ergriffen und hält sie im

Archiv f. n. Sprachen. LYin. 17

258 Die bildlichen Darstellungen des Reineke Fuchs im Mittelalter.

Maule. Die Zeit der Erbauung dieses Kreuzganges lässt sich nur aus dem Baustyl erkennen, nach welchem er ehestens in die spätere Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts zu setzen ist.

Ein Theil der Chorstühle ist alt. In der Wahl sowie in der Behandlung der Gegenstände zeigt sich eine gewisse Aehn- lichkeit mit denen zu Gloucester. Hier finden wir den Fuchs, der mit einer Gans wegläuft, grade wie in Gloucester. Ausser- dem aber finden wir hier einige Reinekebilder, die einem viel zu denken geben.

Auf einem der Misereres sieht man in der Mitte drei Männer in den Bock (the Stocks) gespannt sitzen. Zur ßechten steht ein Fuchs aufrecht und in der Mönchskutte, vor ihm steht ein Tisch oder Altar, auf welchem das Haupt eines Thieres liegt, und auf welches der Fuchs die Hand legt. Zur Linken reitet ein Kaninchen auf einem Hunde. Das Thierhaupt, wor- auf der Fuchs die Hand legt, ist sehr undeutlich. Ich hielt es erst für ein Wolfshaupt und deutete das Bild auf Bertiliana's Wallfahrt. Es könnte aber eben so gut für einen Schvveinskopf angesehen werden. Im Uebrigen erinnere ich daran, dass der Bock (Stocks) die gewöhnliche Strafe für Bettler und Vaga- bonden war. Noch bedeutender erscheint das Bild, wenn wir das nächste Thierbild ihm zur Seite stellen. In der Mitte sehen wir St. Johannes , das Evangelium in der Hand , den Adler zu Füssen. Zu seiner Rechten ist ein Fuchsbau, aus dem man Füchse hinaus und hineinlaufen sieht. Dies möchte ich etwa so erklären : Dieser Mönch, der bettelnd und predigend herumzieht, sollte, wie die drei armen Sünder hier, dieselbe Strafe erdulden; aber seine Kutte schützt ihn. Siehe genau zu, wen die Kutte verbirgt. Es ist nur ein Fuchs, ein Teufel. Durch seine Schliche (d. h. die Löcher, die er in die Erde bohrt) verdirbt er den Menschen (die Erde selbst). Höre darum lieber auf den Lehrer der Wahrheit, den Evangelisten. Dass diese Deutung; aber die richtige ist, scheint mir daraus hervorzugehen, dass fast allenthalben, wo der Gänseprediger und Dieb dargestellt ist, dicht dabei der gute Hirte steht. So in Canterbury, Beverley, Ronen und Ely. An letzterem Orte stehen dicht dabei auch die vier Evangelisten. Es ist der Fuchs also der Irrlehrer, der Teufel, der sich als Reformator

Die bildlichen Darstellungen des Reineke Fuchs im Mittelalter. 259

ausgebende Bettelmönch. Sämmtliche Bettelorden traten als lieformatoren auf und als solche war natürlich ihre Haupt- beschäftigung das Predigen. Von Savonarola bis auf Luther sind sämmtliche Reformatoren aus den Bettelorden hervor- gegangen. Was Wunder, dass die conservativen Chorherren sie als Irrlehrer, als verkappte Teufel oder Füchse darstellten und das Volk vor ihnen warnten. Es ist hier also nicht an Satire der Mönche zu denken, sondern an Belehrung und War- nung der gläubigen Christen. Wer mit dieser Meinung diese Sculpturen betrachtet, wird sich nicht mehr darüber wundern, dass sie in Kirchen angebracht sind, sondern sie vielmehr ganz an der rechten Stelle finden. Und was Anderes soll es denn bedeuten, wenn man den verrätherischen und falschen ßeineke mit dem oruten Hirten und den heiligen Evangelisten zusam- mengestellt findet. Sieht man dann in derselben Reihe den Pelican, der sich die Brust für seine Jungen öflPnet, St. Georg, der den Drachen bezwingt und ähnliche Symbole, so kann wohl kein Zweifel daran sein, dass hier Belehrung durch Fabeln und Symbole gemeint sei und keineswegs Satire. Was mich aber besonders in dieser Meinung bestärkt, ist, dass selbst wirkliche Grotesken, nicht nur Thierbilder, sich auf diese Weise deuten lassen. Wenn z. B. auf den Lehnen der Chorstühle der alten Collegiat-Kirche zu Xanten am Rhein ein Monstrum wiederholt dargestellt ist, das den Leib und die Füsse eines Schweines, den Schwanz eines Fuchses, den Kopf eines Menschen hat und dabei eine Kapuze trägt, so liegt die Bedeutung klar am Tage. Wem fällt nicht dabei das geflügelte Wort Papst Innocenz' HI. ein, der dem St. Franciscus von Assisi die Bestätigung seiner Ordensregel verweigerte mit den Worten, sie passe sich besser für Schweine als für Menschen. Das Antoniter Schwein (Tony pig, Anthony pig) ist bis zum heutigen Tage sprichwörtlich in England. Wer hier von Satire gesprochen, hat sich nicht klar gemacht, was er eigentlich damit sagt. Es heisst einfach behaupten, dass mehr als zwei Jahrhunderte hindurch es nicht einen einzigen Bischof, Abt oder Chorherrn gab, der an die Wahrheit der christlichen Religion glaubte, und dass Jahrhun- derte lang sie an geweihter Stätte öffentlich ihr Amt imd den Glauben verhöhnten ! Aerger noch. Die da vom Laicismus in

17*

260 Die bildlichen Darstellungen des Reineke Fuchs im Mittelalter.

der Kunst reden, müssen zugeben, dass Jahrhunderte hindurch die Laien von dieser Ruchlosigkeit sämmtlicher Würdenträger wussten und sie in den Gotteshäusern selbst deshalb verspot- teten, und dass eine Generation von Würdenträgern nach der anderen sich dies gefallen Hess! Davor sollte man doch zurück- schrecken. Wahrlich, eine Reformation wäre nicht möglich ge- wesen. Die ganze christliche Religion mit Allem, was darum und daran hängt, wäre längst vor Luther zu Grunde gegangen. Mit Stumpf und Stiel wäre sie ausgerottet worden. Im Gegen- theil opferten Tausende von Priestern und Laien Gut und Blut für ihren Glauben.

Es bleiben noch so viele Darstellungen von Fabelbildern zu besprechen, dass ich hier für's erste abbreche. Ich mache nur auf die mir erst jetzt bekannt gewordenen „Kunstdenk- mäler des christlichen Mittelalters aus den Rheinlanden von Ernst aus'm Weerth" aufmerksam. Ich werde sie im nächsten Artikel besprechen. Ebenso zwei mir zugegangene werthvolle Mittheilungen. Herrn Director Dr. Krause zu Rostock verdanke ich eine Mittheilung über die Strassburger Grotesken. Zu grossem Danke bin ich Herrn C. H. Alting zu Manslagt bei Emden verpflichtet, der mir Copien der Thierbilder an der jetzt abgebrochenen Kirche zu Marienhafen zugesandt hat. Sie sollen in meiner nächsten Mittheilung verwerthet werden.

Queen' 8 College, Belfast.

A. L. Meissner.

Der Torpedo.

Beitrag zur Geschichte der Fremdwörter.

Wie leicht sind wir Deutschen nicht bei der Hand, mit einer fremden Sache auch die fremde Benennung derselben ohne Weiteres einzuführen! Oft ohne auch nur einen Versuch ge- macht zu haben, den fremden Namen zu verdeutschen oder ihm ein echt heimisches Wort entgegenzustellen und anzupassen.

Wir sind in solchen Fällen von einer so seltsamen Sprödig- keit (zu der sich wohl auch ein Bischen Trägheit und Gleich- gültigkeit gesellt), dass wir es vorziehen, die Hände in' den Schoss zu legen und mit offenen Augen zuzusehen, wie unsere, wahrlich nicht arme, Sprache von einer Flut von Fremdwörtern überschwemmt wird, und zwar auch von solchen, die den Gegen- stand, um welchen es sich handelt, keinesweges immer in angemessener, nach allen Richtungen hin zutreffender Weise bezeichnen.

Einen solchen Leichtsinn ich weiss dies Verfahren nicht anders zu benennen finden wir bei den übrigen Völkern durchaus nicht in gleichem Maasse, ja schwerlich bei einem einzigen so stark ausgeprägt wieder vor. Ohne heute des Näheren darauf einzugehen, will ich nur an einem Worte dar- thun, mit welch musterhafter Sorgfalt beispielsweise die Hellenen (die heutigen Griechen*) bei der Begegnung von Fremdwörtern,

*) Unangemessen „Neugriechen" benannt, denn wer spricht von Neu- ägyptern, Neurömern, Neudeutschen u. dergl.

262 Der Toi-pedo.

beziehungsweise bei deren Hellenisirung (e'^iXXijviaig, fj.iray'kioTriaig nicht i-urucpQuaiq) zu Werke gehen.

Es betrifft das Wort Torpedo, das bei der Einführung dieser fremdländischen Erfindung ohne weiteres Besinnen unserer Sprache einverleibt wurde, beim Volke aber so völlig unver- standen ist und bleibt, dass es jüngst vorkommen konnte, dass ein an einen Bediensteten des Torpedo-Bootes „Elbe" gerichteter Brief die Aufschrift trug: „An N. N. auf dem Trorapederboote Nr. 11"*), eine lautliche Anpassung der Benennung dieses Spreng-Ungeheuers, die mindestens ebenso naturgemäss ist, wie die Richtigstellung der Adresse durch den betreflfenden Post- beamten genial war.

Wer soll denn auch immer gleich wissen, und wird es dem Volke denn wirklich gelehrt, dass das lat. Torpedo den mit einem elektrischen Organe versehenen Zitterrochen bezeichnet, der auf die geringste Berührung mit einem elektrischen Schlage antwortet, und dass es dem Erfinder dieser unterseeischen Höllen- maschine gefallen hat, seine Vorrichtung gerade nach diesem wenig bekannten, aber wohlklingend benannten Fische zu taufen.

Die griechischen Zeitungen, vor Allem die „Wiedergeburt" {IJaXtyyevfGia), brachten zuerst für Torpedo und dessen gallisirte Form Tor pille das völlig zutreflfende, aber ganz allgemein ge- haltene und umschreibende fXQrjxnxrj i.iriyavri, Eruptions-Apparat, das so lange gegenhielt, bis es sich darum handelte, dies Zer- störungswerkzeug selbst einzuführen und ein passendes Wort dafür festzustellen.

Denn zur Aufnahme eines Fremdwortes entschliessen sich die Hellenen nicht so leicht, wenn überhaupt. Sie haben im Gegentheil ihre Sprache in wahrhaft bewundernswerther Weise von allen fremden An- und Einwüchsen gesäubert und sie den Formen und Ausdrucksweisen der besten antiken Vorbilder so weit entgegengeführt, als mit dem klarsten Verständniss über- haupt vereinbar ist. Man lese nur jedwede Nummer der geradezu klassisch redigirten Kleih, um von der Wahrheit dieser Behaup- tung überzeugt zu sein.

*) Peder für Peter u. s. w. ist iu Mittel- und Süddeutschland etwas ganz Gewöhnliches.

Der Torpedo. 263

Doch von diesen Dingen ein andermal.

Von den nunmehr in Vorschlag gebrachten Ausdrücken

1. vuvxXaOToyf vavy.Xaarqoq^ etwa SchifFzerbrecher, SchifF-

zerberster,

2. vavd-QuvGTiig, etwa Schiffzertrümmerer, und

3. i'uvcfd^oQog, etwa SchifFzerstörer

wurde zunächst der letztere als der zu wählende bezeichnet, weil minder übelklingend und weniger schwerfällig in der Aus- sprache als die ersteren, die fast unhellenisch genannt wurden; nur wurde für den ersten Theil der Zusammensetzung die ionische Grundform rtjvg bevorzugt , mithin die leicht aus- sprechbare und ausserdem schon von den Alten gebrauchte Form

4. vrio(fd-6Qog in Vorschlag gebracht, wenn man sich ent-

scheiden wolle nunmehr auch

5. vriod-QavortjQ (gegen Nr. 2) als den Vorgang der schiff-

zerspr engen den Wirkung des Torpedos ungleich zutreffender bezeichnend, oder noch besser

6. vi]OQQrjXTog, etwa SchifFzerberster zu wählen.

Dem gegenüber wurde nunmehr die unmittelbare Wieder- gabe des lateinischen „Torpedo" durch

7. vd^xf] oder rd^xa, der Zitterrochen,

vorgeschlagen , als eine Benennung , die alle Vorthelle der Kürze, des Wohllautes und echt hellenischer Urwüchsigkeit in sich vereinigt und vom Volke wohl verstanden wird, wenn auch die Fischer für das Eochengeschlecht den gang und gäben Namen [.lovSidorQa gebrauchen ; oder so fährt die Palig- genesia fort man wähle, in Verbindung mit dem echt grie- chischen y.uTdxrrjg, Zerbrecher , Zerkracher (v. xardyvv(.u), das Wort

8. vHoxardxrrjg, SchifFzerkracher, wenn man nicht vorziehen

sollte, das bequeme Fremdwort „Torpille" etwa in der Form

9. ToQniXXT], einzuführen.

Auch die Alten hätten es nicht verschmäht gänzlich un- helienische Dinge und Begriffe mit den sie bezeichnenden Fremd- wörtern zu benennen, wie die dem Persischen entlehnten Wörter nagdötioog, Park, Garten; äyyaQog, Estafette, nebst dyyaqtvw

264 Der Torpedo.

eine Estafette absenden, uya^vQ)g, pers. Pluderhose, naQaaäyyrjg, pers. Längenmass u. a. hinreichend beweisen.

Mangel an Zustimmung. Neu vorgeschlagen werden als wohlklingend und sinnvertretend die Ausdrücke:

10. oroXod-QavGT^q, etwa Flottenzerstörer,

11. oy.uffod^QuvcsTrig, etwa Schiflfzerstörer,

12. yMQußoTzÜGTTjg, etwa SchifFsprenger,

die aber ihrer Länge wegen wiederum verworfen Averden.

Dagegen wird zurückgegriffen auf das vorerwähnte raQxtj, vuQxa, das den grossen Vortheil gewährt, dass es echt griechische, wohlklingende und leicht auszusprechende Ableitungen zulässt, wie yuQxevg, Torpedoführer (fi-anz. torpilleur) = u/na'^evg aus af.ia6,a; vaQy.ödTQioTog tcovrj, Torpedozone (franz. zone torpillee) = Xid^öüTQMTog oÖog, gegenüber den sonst unvermeidlichen Wör- tern vavy.laoroffÖQog If/iißog oder xaQaßonuarocpoQog Xtfißog für Torpedoboot, die geradezu barbarisch klingen. Den Spreng- apparat nach einem Thiere zu benennen, sei zumal nicht ohne antikes Vorbild, da bekanntlich 6 yqiog, der Widder, auch Mauer- brecher und Widderschiff als Schiffbrecher hiess, und ebenso ?} /eXcoyi], die Schildkröte, auch das Schirmdach bezeichnete, unter welchem der Mauerbrecher vorgeführt wurde.*)

Hierauf wird von einem Herrn N. G. Nikoklis, auf Grund historischer Notizen, die er im Etym. M. unter fuvai&og fand, (eigentl. SchiflPbrand, Name eines Flusses in Unter- Italien, auf welchem ein solcher Act vor sich gegangen war) 'vorgeschlagen, lieber das echt hellenische

13. i'avTiQ}]OTog, etwa Schiffzünder, Brander

zu wählen, da es historisch und lautlich die Sache vollkommen

*) Hier hätte noch geltend gemacht werden können, dass das Wort naoäßi abgekürzt aus xagäßiov^ jetzt ein Kriegsschiff, im Altgr. aber xa^d- ßiov (Hesych.) ein Ruderschiff', desgl. y.äoaßos (Etym. M.) ein Ruderschift' bezeichnet, Krabbe genannt, d. i. Seekrebs (>fa^«/Sts), wegen der Äehnlich- keit der Ruder mit den Krebsfüssen; dass die Russen diesem Worte ihr koräbli (sprich karäbli), die Nordmannen ihm ihre Karbe, aus dem zu- letzt die romanische Corvette, Schiff', wurde, entlehnt haben.

Ferner, dass die alten Nordmannen, wohl die berühmtesten Seefahrer ihrer Zeit, ihre Kriegsschiff'e Drachen (drekjar) und Schnecken (snekja) nannten und viele ihrer Schiffe Thiernamen führten, wie Olafs des Heiligen bekannter Wisund, König Sverris grosses Buchtentliier (fiardakoUa) u a.

Der Toipedo. 265

darstelle und schon durch die hervorgerufenen Ideenverbindungen von TTQTiaig, Entzünden; 7r^/J(TT/? oder nQiarriC, Sägefisch; n()iaT)]Q, feuriger Wetterstrahl, einschlagender Blitz, Orcan; nQi'ang, das neben Spritz- oder Sprühfisch (eine Art Walfisch) auch eine Gattuno; von Kriegs chiffen bezeichnete, das unheimlich Schreckhafte, elementar Gewaltthätige des vulkanartig jach auf- lodernden, prasselnd aufkrachenden Schmetterbruches lautlich versinnliche.

üeberhaupt, sagt er, ist mit blossen Ableitungen, und noch dazu schlecht klingenden, von so matt malenden Verben, wie xXav, zerbrechen, brechen; d-Quven', zerschmettern, zertrümmern, 0&tigeiu , verderben u. dergl. wenig gethan, um die urplötzlich aufberstende, Alles mit einem Ruck zermalmende Wirksamkeit des Mechanismus anzudeuten. Sollte und könnte dies über- haupt geschehen, dann müssten Verben herangezogen werden, die wie

y.aTaffliyeiv, durch Flammen ganz und gar verheeren,

xaraxaieiy, ganz und gar verbrennen,

nvQTioXtTv, mit Feuer verwüsten,

if^nQ}]&ety, einbranden, durch und durch entzünden,

f^miTiQuyai. in Brand stecken,

ai'd-Hv, dui'en', in lichten Brand stecken, dazu angethan sind, ganze Vorstellungsreihen, die mit der zu bezeichnenden verheerenden Catastrophe in Zusammenhang stehen, vor dem inneren Sinne des Hörers wachzurufen.

Das ist der Inhalt von fünf einschlägigen längeren Corre- spondenzen. Eine sechste, sehr lange, erklärte die Paliggenesia wegen Mangels an Raum ablehnen zu müssen; auch ist es kaum fraglich, dass unter den zwölf vorgeführten echt griechischen Benennungen gewiss eine sich vorfinden wird, die den An- forderungen an das Wort entsprechen dürfte.

Und was thun wir, das Volk der Denker? Wir sprechen und schreiben inzwischen ganz ungenirt, als brauchte es gar nicht anders zu sein, von Taucher- Torpedo, Offensiv- und Defensiv-Torpedo, von Torpedo-Angriff, Torpedo- Vertheidigung, Torpedo-Brigade, Torpedo-Sperre, Torpedo-Sonde und Torpedo- Suche und überhaupt von der ganzen Torpedo- Angelegenheit (Grenzboten, 1877 Nr. 4), als verstünde sich das Alles ganz

266 Der Torpedo.

von selber und als wäre das nebenher erwähnte „Sprengboot" oder „Minenboot" (warum steht da Mienenboot?) gar zu ple- bejisch , um in so vornehmer Gesellschaft einer näheren Be- rücksichtigung gewürdigt zu werden.

O neuerstandenes Hellas, wir dürfen wieder von dir lernen!

Homburg v. d. Höhe. Aug. ßoltz.

Moiiere's Misanthrope und die Urtheile der Kritik.

Unleugbar ist Moliere's Misanthrop für die Kritik unserer Zeit nicht mehr das Meisterwerk psychologischer Tiefe und höherer Komik, das von Voltaire und Goethe so hoch bewundert wurde. Nachdem noch die älteren französischen und deutschen Literarhistoriker in der Bewunderung dieses originellen Werkes einig waren und den vereinzelten Angriff Kousseau's von sich abschüttelten , hat sich gegenwärtig die Spitze der Moliere- feindlichen Kritik gegen dasselbe gerichtet. Nicht nur hat Marckwaldt*) ein gut Theil der einseitigen Schärfe, die ihm eigenthümlich, daran gesetzt, um die herkömmliche Geltung dieses Meisterwerkes aus den Angeln zu heben, auch Bewunderer des grossen französischen Dichters, wie Geruzez und Hettner, haben den Einwänden ßousseau's Gehör gegeben. Aber reger und erfolgreicher haben jüngere Kritiker den Ruhm Moliere's gegen alle Angriffe einer von Rousseau beeinflussten Sophistik zu vertheidigen gewusst! War auch bis vor einem Decennium die Vertheidigung noch spärlich und kleinlaut, wusste auch Laharpe**) sich nur mit der sophistischen Unterscheidung zu helfen, dass Molifere nicht die Tugend selbst, sondern nur die Uebertreibung derselben lächerlich gemacht, gab auch Tasche- reau***) zu, dass Alceste zwar einen lächerlichen Eindruck

*) Moliere als Dramatiker S. 29 u. f. **) Cours de litterature V. 431, 436 u. f. *•♦) Vie de Molifere I, 199, 200.

268 Moliere's Misantbrope und die Urtheile der Kritik.

hervorrufe, aber nur deshalb, damit nicht alles Lächerliche in dem Stücke auf Seiten der faden Marquis sei (!), fehlte es auch den feinen Eeflexionen Moland's*) an einem bestimmten Re- sultate, so haben doch die Ausführungen von Humbert und Lindau**) klar gemacht, auf welcher schiefen Ebene sich Rous- seau's Kritik befindet. Nachdem namentlich Lindau durch eine geschickte Heranziehung der „Fameuse comedienne" es ausser Zweifel stellte, dass Moliere's Seelenstimmung, seine innere und äussere Lage zu jener Zeit der des Alceste verwandt war, kann von jener Behauptung des Genfer Philosophen, dass Alceste die personne ridicule sei, dass Moliere mit seiner ganzen Sym- pathie auf Seiten des flachen Weltmannes Philinthe stehe, kaum mehr ernstlich die Rede sein. Ohnehin waren Rousseau's Ar- gumentationen theils so unlogisch, theils so dem Geiste des Stückes widersprechend, dass eine eingehende Widerlegung kaum erforderlich war. Denn macht Alceste auf den objectiv ur- theilenden Leser oder Zuschauer einen lächerlichen Eindruck, so muss er doch vor Allem auf so entgegengesetzte Charactere, wie Celimene, Philinte, die Marquis, ähnlich wirken. Und doch ist Philinte, so sehr er auch die Maximen der AVeltklugheit gegenüber Alceste's Rigorismus vertritt, ein treuer Freund, der alle Launen und Grillen des Alceste verträgt, der seinetwegen auf die Liebe zu Eliante verzichtet, der von ihm mit Achtung, mit einem schmerzlichen Mitgefühl spricht. Doch spottet die leichtfertige Coquette Celimene über Alceste weit weniger, als über seine Nebenbuhler, die faden Marquis, doch giebt sie sich so ernste Mühe, seine Zweifel und Befürchtungen zu widerlegen. Und selbst für seine Nebenbuhler ist Alceste nicht eben lächer- lich! Er beleidigt sie, er reizt ihre Eitelkeit, aber um dies zu können, darf er ihnen nicht geradezu lächerlich erscheinen! Wie würde auch der eitle Dichter Oronte einen ihm lächerlichen Menschen zum Richter seiner Sonnette machen. Eliante endlich, der man gewiss kein tieferes Gefühl für rauhe Tugend und

*) Oeuvres completes I. CXCII, IV, XXIV, XXV. **) Shakespeare, Moliere und die deutsche Kritik, S. 286, 287, und Mo- liere: eine Ergänzung der Biographie des Dichters nach seinen Werken. S. 70 u. f.

Molifere's Misanthrope und die Uitheile der Kritik. 2G9

schroffe Weltentsagung zutrauen darf, liebt Alceste, sie giebt ihm sogar vor dem liebenswürdigeren Pliilinte den Vorzug!

Und was will der zweite Einwand Rousseau's: Alceste, der so warme Liebe, so wahre Hingebung für die Menschheit athrae, sei nicht ein Menschenfeind, sondern ein Menschenfreund. Lehrt nicht die tägliche Erfahrung, dass gerade edle Menschen, eben weil sie keine Weltmenschen sind, überall sich zurückgestossen und angefeindet sehen und deshalb zu Menschenfeinden werden? Wäre der Charakter des Shakespeare'schen Timon im Mindesten unpsychologisch , wäre endlich Rousseau's eigenes Leben und Geistesentwicklung nicht die beste Widerlegung seiner Behaup- tung? Und das sind die beiden Haupteinwände Kousseau's, seine übrigen Bedenken sind von untergeordneter Bedeutung und fallen mit der einseitigen Auffassung, die der unpoetische Sophist von dem Wesen der dramatischen Kunst sich ge- bildet hat.

Gegen die Auffassung Lindau's, die schon weit früher von französischen Kritikern ausgesprochen war, hat nur Fritzsche*) einen triftigen Einwand erhoben. Wie hätte Moliere, so meint der deutsche Kritiker, sein innerstes Seelenleben, die Interna seines häuslichen Lebens vor den Augen der Zuschauer ent- schleiern sollen! Aber Fritzsche übersieht, dass die gesellschaft- lichen Anschauungen der Zeit Moliere's verschieden waren von denen unserer Tage. Hat nicht derselbe Moliere im Amphi- tryon den Ehebruch und vielleicht die geheimsten persönlichen Beziehungen seines Souverains **) auf die Bühne gebracht, hat er nicht in der Männerschule und Frauenschule sein Verhältniss zu Armande Bejart ziemlich unverhüllt blossgestellt. Zudem, da die Rollen des Alceste und der Celimene von MoHere und A. Bejart gespielt wurden, so konnten die Berührungspunkte zwischen den Personen auf der Bühne und in der Comödie Niemandem zweifelhaft sein, ein Jeder musste an die sattsam bekannten Details von Moliere's Familienleben erinnert werden. Die Unzartheit blieb also dieselbe, möchte Moliere sein häus- liches Leid vor Augen stellen wollen oder nicht.

*) Moliere-Studiea S. 3. ♦*J s. P. Lindau a. a. O. 91—93.

270 Moliere's Misanthrope und die Urtheile der Kritik.

P. Lindau hat in dem angeführten Buche auf den inneren Zusammenhang der „Ecole des Maris", ,,Ecole des Femmes" und des „Misanthrope" hingewiesen. Sie sind nach ihm nur die objectiv-humoristische Darstellung dreier Phasen jener schmerz- liehen Katastrophe in Moliere's Leben. Ecole des Maris zeige den Dichter noch ganz im Taumel des Liebesglückes, die frohe Hoffnung gewinne den Sieg über die bangen Befürchtungen. Ecole des Femmes schildere den Kampf düsteren Sorgens und heiteren Hoflfens, Misanthrope endlich den traurigen Schluss jener Katastrophe.

Doch offenbar liegt dem Misanthrope eine weit tiefere, all^ gemeinere Beziehung zu Grunde, als den beiden anderen Ko- mödien, offenbar ist auch die Ecole des Femmes, und mehr noch Ecole des Maris, noch etwas Anderes -als eine SelbstofFenbarimg des Dichters. Die Aehnlichkeiten zwischen Arnolphe in der „Frauenschule", Ariste in der „Männerschule", und zwischen Moliere sind evident genug, Alceste zeigt bei aller Aehnlichkeit doch eine principlelle Verschiedenheit. Zwar die menschlichen Seiten des Rigoristen Alceste erinnern ganz an Moliere. Wie Alceste seinen strengen Principien zuwider doch von der ober- flächlichen Coquette nicht lassen will und, von ihr ganz zurück- gestossen, sich um die Gunst einer Anderen bewirbt, so sucht auch Moliere mitten in seinem Liebesschmerz einen Trost in den alternden Reizen seiner Jugendgeliebten, der Schauspielerin de Brie, und kehrt, der Vernunft zum Trotz, immer von Neuem zur treulosen Gattin zurück. Wie Alceste ist Moliere ein über- triebener Feind der höfischen Gaste und übertrieben loyal als Unterthan. Aber die pointirte Uebertreibung jener Antipathien liegt Moliere fern. Der Alceste, der über die Perrüquen, Ringe, Bänder der eitlen Marquis spottet, der die steife Hofpoesie lächerlich findet und ein einfaches Volkslied höher stellt als gözierte Sonnette, der würdelose Höflinge ohne Verdienst hasst, ist ganz Moliere. Der Alceste aber, der alle Menschen ohne Unterschied mit seinem Hass verfolgt, die Einen, weil sie laster- haft sind, die Anderen, weil sie dem Laster schmeicheln, der sich den ärgerlichsten Verwicklungen aussetzt, ehe er ein herbes Urtheil über ein Sonett zurücknimmt, der lieber einen Process verliert, als dass er an Gerechtigkeit glaubt, ist nicht mehr

Mollere's Misanthrope uud die Urtbeile der Kritik. 271

Moliere. Er stand dem menschlichen Leben, dem höfischen insbesondere, nicht als schroffer Feind, als unerbittlicher Spötter gegenüber, sondern als eindringender Beobachter, als humo- ristischer Kritiker. Den Lastern und Schwächen des Lebens verdankt er seine vielseitige Menschenkenntniss, den reichhaltigen Stoff seiner Dichtung. Und ebenso ist Philinte bei aller Ver- wandtschaft doch grundaus verschieden von Moliere. Allerdings die Grundsätze Philinte's (A. V. Sc. 2):

„Tous ces defauts humains nous donnent dans la vie

Des moyens exercer notre philosophie

C'est le plus bei emploi, que trouve la vertu

Et si de probite tout etait revetu

Si tous les Coeurs etaient Francs, justes et dociles

La plupart des vertus nous seraient inutiles."

stimmen ganz zu der Lebensphilosophie Moliere's. Aber nie bekennt sich dieser zu einer grundsatzlosen Leichtfertigkeit, zu einer unterwürfigen Nachgiebigkeit gegen Laster und Schwächen, zu den demüthigsten Schmeicheleien gegen unwürdige Hofleute, wie Philinte. Diese Uebertreibuno- in der Charakteristik des Alceste und ebenso die zugespitzte Schärfe in der des Philinte war durch den dramatischen Effect bedingt. Sollte der welt- verachtende, menschenfeindliche Alceste in edlerem Sinne komisch wirken, so musste seine Eigenthümlichkeit aufs Schroffste her- vortreten. Ebenso musste ihm eine Welt anderer Ideen und Charaktere gegenübertreten, in der gleichfalls der Gegensatz der Weltklugheit und Weltverachtung, freudiger Lebenslust und freudloser Einsamkeit, praktischer Erfahrung und einseitiger Theorie, kalter Berechnung und warmer Liebe auf die Spitze getrieben wird. Von einer Parteinahme des Dichters für diese höfische Welt kann noch in minderem Grade die Rede sein, als von einer ausschliesslichen Sympathie für Alceste. Sind denn Celimene, diese seichten Marquis, die abgelebte Coquette Ar- sinoe Repräsentanten des Hoflebens, die den Vorwurf auf- kommen lassen, dass der Dichter gleichsam im Bunde mit ihnen die schroffe Tugend des Alceste verspottet habe? Celimene, die, mit herzloser Coquettenkunst, bald die berechtigte Eifer- sucht des Alceste als Laune und Grille verspottet, bald wieder dieselbe zu nähren sucht, indem sie ihn glauben lässt, dass sie

272 Moliere's Misanthrope und die Urtheile der Kritik.

Oroute liebe, die sich einmal stellt, als glaube sie seinen heissen Liebesscliwüren nicht und dann seine warme Liebe mit Hohn zurückstüsst, die in Gegenwart ihrer vornehmen Anbeter Al- ceste's Rigorismus verlacht und mit ihm allein die Albernheit der Hofleute bespottet, jene Marquis, die in ihrer Eitelkeit aufs Empfindlichste gekränkt und überall ausgelacht werden, jene unwürdigen Versuche der Arsinoe, den Alceste zu gewinnen, ihre Zankscene mit Celimene, alles Das macht einen widerwärtigen Eindruck.

Philinte und Eliante stehen einerseits ganz auf Seiten dieser höfischen Kreise, andererseits neigen sie zu Alceste's Welt- anschauung hinüber. Philinte, dessen Gegensatz zu Alceste oft mit scharfer Einseitigkeit hervortritt, erkennt doch die Fehler der höfischen Welt so gut, wie dieser, Eliante, nicht minder eine oberflächliche Weltdame als Celimene, zeigt Theilnahme und Liebe für Alceste.

Verschieden vom Misanthrop ist die Tendenz der Ecole des Maris und Ecole des Femmes, der beiden Stücke, die, hin- sichtlich der persönlichen Beziehungen, sich eng an das erstere anschliessen. Auch in der Männerschule tritt zwar die praktische Lebensweisheit und richtige Menschenerkenntniss des Ariste der einseitigen Theorie und thörichten Selbstverblendung des Sganarelle gegenüber, aber dieser allgemeine Gedanke steht hinter dem anderen, dass nicht äusserer Zwang, sondern der innere Fond des weiblichen Herzens vor Untreue bewahre, zu- rück. In der Frauenschule ist der Grundgedanke, dass alle künstlichen Mittel der Erziehung nichts gegen die Neigungen der Natur vermögen, zu sehr von den persönlichen Beziehungen überwuchert , um scharf und bestimmt hervorzutreten. Die Grundanschauung des Misanthrope ist tiefer, allgemeiner und lebenswahrer, als die der beiden anderen Komödien. Hier ist alle Berechtigung auf der einen Seite, die Gegensätze stehen unvermittelt gegenüber; der Misanthrope hingegen zeigt die entgegengesetzten Zielpunkte des Menschenlebens, die in ihrer Vereinzelung einseitig und irrig sind, in deren Vereinigung aber die volle Wahrheit liegt. So ist dieses Meisterwerk ein Abbild des gesammten Menschenlebens, in dem nirgends das Rechte ausschliesslich in einer Richtung liegt, in dem es an ausgleichen-»

Molibre's Misanthrope und die Urtlieilc der Kritik. 273

der Vermittelung, an mannigfachen Widersprüchen und In- consequenzen nicht fehlt.

Verschieden, wie die Tendenz der drei Stücke, ist auch ihr Abschluss, die poetische Gerechtigkeit in denselben. Sgana- relle und Arnolphe, deren Lebensrichtungen einseitig und irrig waren, sehen sich da getäuscht und betrogen, wo sie Liebe und Theilnahme geholFt, die überlegene Klugheit des Ariste und der einfache, natürliche Sinn der Isabella, gelangen zum Ziel ihrer Wünsche. Im Misanthrope büssen Alle schwerer oder gelinder die Fehler und Irrthümer ihrer Lebensrichtung. Am schwersten die Vertreter der höfischen Anschauungen , deren Handlungs- weise nicht allein intellectuell verkehrt, sondern auch moralisch verderbt ist. Celimene, einst von Allen angebetet, sieht sich allein, von Allen verlassen, Arsinoe hat keinen anderen Triumph, als ihre Feindin gedemüthigt zu sehen, den Alceste gewinnt sie nicht. Die Marquis müsseri unter Spott und Schande da weichen, wo sie zu triumphiren geglaubt. Alceste muss zwar auf die Geliebte verzichten, die ohne ihn in der geräuschvollen Haupt- stadt, nicht mit ihm in der Einsamkeit leben will, doch er thut es freiwillig. Freiwillig verlässt er auch eine Welt, deren leichter Sinn seinen schroffen Grundsätzen zuwider, und die Schlussworte des Stückes:

Philinte (zu Eliante) Allons, madame, employons toute chose pour rompre le dessein que son coeur se propose

lassen uns die Hoffnung, dass Philinte im Bunde mit Eliante den grollenden Alceste der Welt wiedergewinnen, dass dieser nicht immer in der Einsamkeit bleiben wnrd.

Philinte und Alceste, die bei abweichenden Anschauungen stets Verständniss und echt menschliche Theilnahme für Alceste gezeigt, bleiben ungesti'aft.

So ist also der Grundgedanke psychologisch eben so tief, wie von universeller ^^'ahrheit, Schuld und Sühne stehen in einem Ebenmaasse, wie selten in den Werken der dramatischen Kunst. Die persönlichen Beziehungen, die geheimen Andeutungen des eigenen Inneren, finden einen Ausdruck der grossartigsten Objectivität.

Archiv f. n. Sprachen. LVIU. 18

274 Moliere's Misanthrope und die Urtheile der Kritik.

Weder Alceste oder Philinte sind ganz Moliere, noch ent- spricht das Verhältniss zu Celitnene ganz dem des Moliere und der A. ßejart. Wenn es scheint, dass Celimene mehr Neigung für Alceste als für seine höfischen Nebenbuhler habe, so mochte sich Moliere's Eitelkeit dies auch von Armande Bejart einreden, aber jene crasse Rücksichtslosigkeit des Alceste, der die Ge- liebte zwingen will, sich in Gegenwart aller Anbeter für ihn zu erklären und allen Neigungen und Zerstreuuno-en in stiller Ein- samkeit zu entsagen, liegt Moliere's Charakter, wie gesell- schaftlicher Stellung fern.

Ich darf wohl die Behauptungen einzelner Kritiker, welche jedes triftigen Beweises entbehren, übergehen. Da soll Alceste das Porträt des duc de Montausier sein, eines Zeitgenossen Moliere's, und dieser vornehme Herr soll sich selbst darin er- kannt haben. Aber wer von uns Allen fände nicht in einer Moliere'schen Komödie dergleichen Aehnlichkeiten, welche Figur der Dichtungen Moliere's könnte nicht das Porträt eines wirk- lich lebenden Menschen sein*). Ebenso will man in der Celi- mene, jenem so mustergültigen Bilde der Coquetterie, in das einzelne Züge, wie sie uns der Verflisser der Fameuse come- dienne und andere Zeitgenossen von A. Bejart überliefern, hin- eingezeichnet sind, die Madame de Longueville wiedererkennen, lediglich, weil diese Dame einen ähnlichen Zank mit der Mont- bazon gehabt, wie Celimene mit Arsinoe. Unsere deutsche Kritik hat es glücklicherweise verlernt, in den Meisterwerken Moliere's ein ßepertoir des Hofklatsches und der Scandalchronik zu sehen**).

Die sociale Tendenz des Misanthrope ist grundverschieden von der Form und äusseren Einrichtung. Denn in dieser Hin- sicht schliesst sich der Misanthrope mehr als die anderen Ko- mödien Moliere's an den französischen Classicismus an. Das Stück spielt in der Hofsphäre, nicht wie andere Komödien Moliere's, in den bürgerlichen Kreisen oder in den niederen Schichten der Gesellschaft. Alles hat ein höfisches Colorit, das

*) s. Fritzsche a. a. O. XXX. **) Vergl. die Bemerkungen von A. Laun, Einl. zum Misanthrop und Fritzsche a. a. ü. XX[X— XXXV.

Molifere's Misanthropc und <lle Urtheile der Kritik. 275

nur durch Alceste's Rigorismus durchbrochen wird. Hier finden sich keine vulgären Ausdrücke, die das Ohr des Hofmannes verletzen könnten, keine possenhaften und grobkomischen Scenen, keine Derbheit, keine unverschleierte Nacktheit. Darum gilt den Vertretern des französischen Classicismus der Misanthropc als das Meisterwerk Moliere'scher Dichtung gegenüber den mehr vülksthümlichen Stücken. Boileau weist auf den Abstand des Misanthrope und den Fourberies de Scapin hin , und Voltaire bemerkt, der Misanthrope sei für Männer von Geist, nicht für die Menge geschrieben. Aber die Tendenz des Misanthrope hat Boileau wohl niemals durchschaut, denn sie ist dem Classi- cismus des 16. Jahrhunderts durchaus ento;eo;en. Sie richtet sich eben gegen den Hof, den Boileau und Racine in ihren Dichtungen gefeiert und verherrlicht. Der Misanthrope soll uns nicht nur einen Menschenfeind schildern, wie uns der Avare ein Bild des Geizes vorführt,^ er hat Beziehungen zu den Zeit- verhältnissen, eine bestimmte, sociale Tendenz. Darum ist Moliere keinem seiner Vorgäncrer gefolcrt , weder den Timon des Lucian, noch den angeblich Shakespeare'schen Timon hat er benutzt, denn Beide haben nur allgemeine moralische Ten- denzen. Darum ist auch der Misanthrope Molifere's so grund- verschieden von dem Timon des Griechen und des Briten. Wie der Misanthrope in Bezug auf die persönlichen Verhältnisse Mo- liere's sich an die Ecole des Maris und Ecole des Femmes an- schliessen, so reiht er sich in seiner Tendenz an Don Juan und deutet auf Amphitryon und TartufFe hin. Die beiden ersten sind eine bittere Anklag-e gegen das sittliche Leben der höfi- sehen Kreise, TartufFe geissek die scheinheilige Frömmigkeit derselben. Im Amphitryon streift Moliere's Opposition bis un- mittelbar an den Thron*).

Misanthrope, Don Juan, Tartuffe zeigen, wie wenig Moliere ein höfischer Dichter im Sinne des Racine und Boileau war, wie wenig er im Glänze des Hoflebens seine höchste Befrie- digung findet. Nur die unbedingte Hingebung an die Person Ludwig XIV., dessen Gunst ihn gegen den Spott und Hoch-

*) S. P. Lindau a. a. O. und meinen Aufsatz: Moliere und die römische Komödie (Herrig's Archiv .56, 3. S. 249 u. 250).

18*

276 MolI^re's Misanthrope und die ürtheile der Kritik.

muth eben jener höfischen Kreise schützte, theilt er mit jenen Dichtern. Man wird deshalb nicht , wie ein Jacobiner der französischen Revolutionszeit gethan, in Molifere einen Vorläufer dieser Revolution sehen wollen, denn seine Abneiguno- o-eaen das Treiben des Hofes ging nicht bis zum Hasse des Fanatis- mus, bis zur Wuth der Zerstörung.

Halle a. 8. Dr. R. Mahrenholz.

Ueber Corneille's Anschauung

vom Wesen der Tragödie.

Wenn wir bei der Mehrzahl der grossen Bühnendichter alter und neuer Zeit über die Anschauungen, die dieselben von dem Drama hatten, nur durch eingehende Prüfung ihrer ein- zelnen Schöpfungen uns ein annähernd klares Bild machen können, wie z. B. Aristoteles aus den Werken des Aeschylus, Sophokles und Euripides die Regeln seiner Poetik abstrahirt hat, so sind wir bei Corneille in der glücklichen Lage, einen von ihm selber aufgezeichneten „discours sur la tragedie", sowie eine Menge von Vorreden und Untersuchungen zu seinen einzelnen Stücken zu besitzen, in denen er seine Anschauungen über die Tragödie zu fixiren gesucht hat: ein Umstand, der für unseren Zweck um so wichtiger ist, als es ausserordentlich schwer sein dürfte, aus seinen in Bezug auf diesen Punkt eine grosse Mannigfaltig- keit bietenden Trao-ödien allein über seine Anschauun«; ins Klare zu kommen. Wir werden, um diese festzustellen, uns um so mehr an jenen discours halten müssen, als er von Corneille erst in seinem späten Alter, nachdem er seine Tragödien bereits geschrieben hatte, niedergesetzt ist, und also die letzte und end- gültige Meinung des Dichters repräsentirt. Die Vorreden und „examens" zu den einzelnen Stücken aber können schon deshalb nicht unberücksichtigt bleiben , weil sie uns häufio; den Weg; zeigen, auf dem Corneille zu seinen Anschauungen gekommen ist, sowie die Einflüsse, die ihn bestimmt haben, über diesen Gegenstand so und nicht anders zu denken. Dabei werden wir in jedem einzelnen Fall zu untersuchen haben, ob diese An- sichten die richtigen sind, sowie eine kurze Betrachtung der geschichtlichen Data seiner Tragödien und der zu jener Zeit auf diesem Gebiete maassgebenden und einflussreichen Factoren

278 Ueber Corneille's Anschauung vom Wesen der Tragödie.

uns zeigen wird, ob Corneille bei der Abfassung seiner Stücke von einer klaren und sich consequent bleibenden Anschauung des Wesens der Tragödie geleitet wurde oder nicht.

Wie es, wenn man sich die Entstehungso-eschichte der französischen classischen Tragödie als einer in grosserem oder geringerem Masse stattgehabten Nachahmung der antiken ver- gegenwärtigt, kaum anders zu erwarten ist, geht Corneille überall in seinen Bemerkungen über diesen Gegenstand von dem Kunst- richter der Alten, dem Aristoteles, aus, dessen Poetik, wie all- gemein zu seiner Zeit und schon vor ihm von bedeutenden Gelehrten, auch von ihm als oberste Richtschnur anerkannt wird. Daneben beruft er sich auf die Kunstpraxis der alten Dichter, des Aeschylus, Sophokles, Euripides, und nicht zum wenigsten des Seneca.

Nachdem Corneille vom Drama im Allgemeinen bemerkt hat, dass es ausser dem Zweck, zu gefallen, noch den Zweck der Nützlichkeit habe, dass dieser ein dreifacher sei und erstens erreicht würde durch Einfügung von moralischen Sentenzen, zweitens durch klare Schilderang von Tugend und Laster, drit- tens durch die Belohimng der Tugend und die Bestrafung des Lasters, fügt er hinzu, dass die Tragödie aber noch die be- sondere Eigenschaft habe, durch Erregung von Eiircht und Mit- leid ähnliche Leidenschaften zu reinirren. Die hierauf bezüglichen Worte des Aristoteles lauten: „Die Tragödie reinigt durch Er- regung von Mitleid und Furcht solche und derartige Leiden- schaften. Wir haben Mitleid mit denen, die wir unverdient leiden sehen, und wir fürchten für uns ein ähnliches Unglück, wenn wir es Leute unseres Gleichen leiden sehen". Diese Worte erläutert Corneille so: Das Mitleid, das wir beim An- blick eines leidenden Menschen, der uns ähnlich ist, d. h. in dessen Gefühle und Empfindungen wir uns hineinversetzen kön- nen, empfinden, treibt uns zur Furcht vor einem ähnlichen Un- glück, das uns betreffen könnte; diese Furcht zum Wunsch, es zu vermeiden; dieser Wunsch dazu, diejenigen Leidenschaften, die in dem Helden des Stückes dargestellt werden, und die ihn Ins Unglück stürzen, in uns zu reinigen, in unserem Inneren auszurotten. Dass Corneille hier in einem grossen Irrthura befangen ist, indem er die Furcht als eine Folge des Mitleids,

Ueber Corneille's Anschauung vom Wesen der Tragödie. 279

und die Reinigung der Leidenschaften als einen durch innere Ueberlegung und chuch Nachdenken hervorgebrachten Wunsch bezeichnet, solche Leidenschaften, wie sie der Held des Stückes zeigt, in uns zu unterdrücken, das hat Lessing in seiner Ham- burgischen Dramaturgie schlagend nachgewiesen. Es geht dies schon aus den Worten des Aristoteles selbst hervor. Derselbe spricht nirgends von einer Reinigung solcher Leidenschaften in uns, wie sie der Held des Stückes besitzt, sondern von der Reinigung solcher und derartiger Leidenschaften, d. h. solcher, die dem Mitleid und der Furcht verwandt sind, worüber weiter unten ausführlicher. Doch auch Corneille selbst kam mit dieser seiner Erklärung in Ungelegenheit, sobald er nämlich die An- wendung davon auf die Stücke der Alten oder seine eigenen machte. Rodrigo und Chimene im Cid erregen wohl Mitleid, sagt er, aber ob dies Mitleid nun auch die Furcht erregt, dass uns etwas Aehnliches zustossen könnte, und diese Furcht wie- derum in uns den W^unsch rege macht, unsere Leidenschaften 7u reinigen, in diesem besonderen Falle also eine solche Liebe, M'ie Rodrigo und Chimene zu einander haben, nicht in uns auf- kommen zu lassen, das bezweifelt er und kommt daher zu dem Schluss, dass dieser ganze Satz des Aristoteles nur eine schöne Idee ohne thatsächlichen Gehalt sei. Doch um dem Ansehen des Philosophen nicht zu sehr entgegenzutreten, sucht Corneille sich mit ihm zu vereinigen. Nichts ist leichter als eine solche Vereinigung, fährt Corneille fort. Wir brauchen nur anzunehmen, dass Furcht und Mitleid nicht zugleich nothwendig sind zur Reinigung der Leidenschaften, sondern dass schon die Furcht allein genügt, uns zur Erwägung der dargestellten Fehler zu veranlassen und auf diese Weise eine Reinigung herbeizuführen. In Folge dessen braucht auch Furcht und Mitleid nicht durch ein und dieselbe Person, sondern die eine kann durch diese, das andere durch jene Person hervorgerufen werden. Der Tod des Don Gormas im Cid, der Tod der Kleopatra erregten kein Mitleid, nur Furcht; diese dient aber doch dazu, uns vor dem Stolz des Gormas und vor dem Ehrgeiz der Kleopatra auf der Hut sein zu lassen. So Corneille. Man sieht, zu welchen falschen An- nahmen er gelangt ist und gelangen musste bei seiner Auffas- sung des Verhältnisses zwischen Furcht, Mitleid und Reinigung

280 lieber Corneille's Anschauung vom Wesen der Tragödie.'

Lessing ist es, der diese Begriffe zvierst in das richtige Licht gesetzt und damit jene das ganze Wesen der Tragödie ver- wirrende Auslegung Corneille's ein für allemal beseitigt hat. Die Furcht ist nicht eine Folge des Mitleids, sondern sie ist das Gefühl, „dass wir der bemitleidete Gegenstand selber werden können, das auf uns selbst bezogene Mitleid". Es schliesst also das Mitleid nothwendig die Furcht ein, beide gehören eng zu- sammen. ^Venn Corneille sie von einander trennt, so beruht dies auf seiner falschen Auffassung des Mitleids. Er versteht darunter die Kührung, die uns beim Anblick eines leidenden Gegenstandes überkommt, eine Regung, nicht einen Aff'ect, wie mir dies besonders aus einer Bemerkung hervorzugehen scheint, wo er sagt, dass über das Unglück Rodrigo's und Chimenens genug Thränen von Seiten der Zuschauer wären vergossen wor- den. Eine solche, falschlich Mitleid genannte, Rührung ist aller- dings möglich ohne Furcht, und daher kommt denn Corneille auch zu der Annahme, dass die Furcht allein genüge zur Rei- nigung der Leidenschaften, und dass es gleichgültig sei, ob Furcht und Mitleid durch dieselbe Person oder durch verschie- dene hervorgebracht werde. Dieses ist aber absolut unmöglich, wenn Furcht und Mitleid nothwendig zusammen gehören. Ganz falsch versteht Corneille ferner unter Reinigung der Leiden- schaften ein Unterdrücken der vom Stücke vorgestellten Leiden- schaften in unserem Inneren, und stellt dieselbe als ein Resultat überleg-ender und bewusst reflectirender Geistesthätigkeit des Zuschauers dar. Sollte die Reinigung lediglich in einem An- sporn bestehen , in unser Inneres zu schauen und die dort entdeckten Fehler auszurotten, sollte sie also lediglich einen moralisch-didactischen Zweck haben, so brauchte es dazu keines Dramas, keiner Tragödie. Dasselbe lässt sich durch jede andere Gattung der Poesie ebenfalls erreichen. Das Wesen der Tra- gödie aber besteht darin, dass sie durch Erregung von Furcht und Mitleid diese und ihr verwandte Leidenschaften reinigt, nändich Furcht und Mitleid, dass sie das Zuviel und Zuwenig derselben auf das richtige Maass zurückführt, einen gefühllosen Menschen gefühlvoll, einen empfindsamen weniger empfindsam macht, kurz, dass sie Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten verwandelt. Dies ist die Ansicht Lessing's, und er hat damit

Uebcr Corneille's Anschauung vom Wesen der Tragödie. 281

unzweifelhaft das Richtige getroffen, wenngleich dieselbe auf das moderne Drama Shakespeare's und Schiller's nicht mehr ihre volle Anwendung finden dürfte. Der Unterschied in der Rei- nigung hier und dort liegt in dem Unterschied der griechischen und modernen Tragödie überhaupt begründet, der darin besteht, dass die Griechen mit wenigen Ausnahmen vielleicht bei Sopho- kles und Aeschylus, den Verlauf der Handlung mehr durch äussere Einflüsse ohne genügende Rücksicht auf eine Alles re- gierende sittliche Weltordnung zum Abschluss brachten, während bei den Neueren der Verlauf der Beg^ebenheiten aus der Anlage der dargestellten Charaktere erklärt wird und hier das Wort Schiller's gilt: „In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne". In Folge eben dieses Unterschiedes ist die Reinigung der Leiden- schaften in der modernen Tragödie etwas anderer Art, und sehr gut scheint Gustav Freitag in seiner „Technik des Dramas" mir die Gesammtwirkung der Tragödie auf den Zuschauer also zu schildern: „Der Hörer hat in der heftigsten Erregung die Empfindung einer souveränen Freiheit, welche ihn zugleich hoch über die Ereignisse hinaushebt. Er wird nach dem Fallen des Vorhanges trotz der starken Anstrengungen, in welche er durch Stunden versetzt war, eine Steigerung seiner Lebenskraft wahr- nehmen, das Auge leuchtet, der Schritt ist elastisch, jede Be- wegung fest und frei. Auf die Erschütterung ist ein Gefühl von freudiger Sicherheit gefolgt , in den Empfindungen der nächsten Stunden ist ein edler Aufschwung, in seiner Wort- fügung energische Kraft, die gesammte eigene Production ist ihm gesteigert, der Glanz grosser Anschauungen und starker Gefühle, der in seine Seele gezogen, liegt wie eine Verklärung auf seinem Wesen".

Haben wir nun gesehen, wie Corneille's Auffiissung der Reinigung der Leidenschaften als des Resultates einer nüch- ternen Verstandesthätigkelt eine rein äusserliche und verkehrte war, so werden wir uns nicht wundern, wenn er in den Punkten, die hiermit innerlich zusammenhängen, ebenfalls unrichtig ur- thellte. Dahin gehört, was er über die Mittel sagt, die von Aristoteles angegeben sind, um Furcht und Mitleid zu erregen. Nachdem er die Hauptforderung desselben , dass der Held der Tragödie weder ein ganz tugendhafter Mensch, noch ein Böse-

282 Ueber Corneille's Anschauung vom Wesen der Tragödie.

wicht sein dürfe, da beide weder Mitleid noch Furcht erregen, angeführt hat, eine Forderung, der viele von Corneille's Stücken, wie die Medea, Clitandre, Rodogune schnurstracks zuwiderlaufen, fährt er also fort: ,,Um nicht zu viele Stücke, die wir auf dem Theater haben reüssiren sehen, verdammen zu müssen, ist es nöthig, uns nach einer ii-ünstiijen Auslegung; dieser aristotelischen Regel umzusehen und ihre Härte etwas zu mildern." Das Kri- terium der Vortrefflichkeit eines Stückes bildet dem Corneille hier also rein äusserlich der Umstand, ob ein Stück gefallen hat oder nicht. Er findet dann auch folgende günstige Aus- legung, indem er sagt: „Die Darstellung eines ganz tugend- haften Menschen als Helden einer Tragödie ist in dem Falle gestattet, wo dieser ganz tugendhafte mehr Mitleid für sich als Widerwillen o:eo;en den Verfolger erreo;t, welches erstens sje- schiebt, wenn der Tugendhafte der Gefahr entgeht und der Böse sich darin verstrickt, und zweitens, wenn der Böse doch nicht böse genug ist, sondern nur ein schwacher und charakterloser Bösewicht; in beiden Fällen, sagt Corneille, zehrt der Wider- Aville, den der Verfolgte erregt, das Mitleid mit dem Verfolgten nicht j>;unz auf. Wir haben Mitleid mit dem Verfolgten, fols;- lieh ist die Forderung des Aristoteles erfüllt, folglich ist das Stück gut. Dass Aristoteles diesen Fall nicht erwähnt, liegt nach Corneille daran, dass es bei den Griechen keine deraitigen Stücke gab, woraus er ihn hätte entnehmen können. Es würde hier zu weit führen, nachzuweisen, durch welche Verdrehung der aristotelischen Sätze Corneille diese ihm günstig sein sollende Interpretation zu Stande gebracht hat, die er dann noch zu stützen glaubt durch die Autorität grosser Gelehrten, wie des Buchanan, Grotius und Daniel Heinsius. Der Fehler der ganzen Beweisführuno; lieut darin, dass Corneille schon das Mitleid allein für genügend erklärt, eine Reinigung der Leidenschaften zu bewirken. Und wenn er nun gar so weit geht, auch Mär- tyrer und Heilige auf der Bühne zuzulassen, wie er in seinem Polyeucte gethan hat, so hat schon Lessing nachdrücklich darauf hingewiesen, wie man mitempfinden und mitleiden kann nur mit einem, der auch Mensch ist, der die Gebrechen imd Schwächen der Menschheit theilt, nicht aber mit einem Heiligen oder Mär- tyrer, der ja mit Vergnügen leidet und sich für unser Mitleid

Ueber Corneille's Anschauung vom Wesen der Tragörlie. 283

bedanken würde. Dass Corneille ferner auch die Darstellung eines vollkommenen Bösewichts als tragischen Helden gestattet, weil die Bestrafung eines grossen Verbrechens uns zur Furcht, und diese zur Reinigung antriebe, das beruht Aviederum auf seiner falschen Auffassung von dem Begriff eben dieser Rei- nigung. Jedoch repräsentirt Corneille mit dieser Ansicht immer- hin schon einen Fortschritt seiner früheren gegenüber, die er in der Vorrede zu seiner Medea ausspricht, und nach welcher es ganz gleichgültig ist, ob die Handlungen des Flelden tugendhaft oder lasterhaft sind, wenn sie nur eine naturgetreue Daretellung finden. Als weiteres Mittel, Furcht und Mitleid zu erregen, glebt Corneille nach Aristoteles an, dass die Handlung nicht zwischen zwei einander o-leichgültlg sich ijegenüberstehenden Personen oder zwischen zwei Feinden, sondern zwischen zwei sich nahestehen- den vorgehen müsse. Mit richtio-em Blick hat Corneille in diesem Umstand die Vorbedingungen und die Möglichkeit gesehen, jenen Kampf zwischen Natur und Leidenschaft, zwischen Pflicht und Neigung zur Darstellung zu bringen, der von jeher das Menschen- herz bewegt hat, und er hat dieses Mittel bei der Abfassung seiner Tragödien so wenig unbeachtet gelassen, dass er es viel- mehr nur zu oft und, wie mir scheint, mit einer zu grossen Einförmigkeit darin angewendet hat. Die Lage der Chimene im Cid, der Camille im Horace, der Emilie im Cinna ist im Wesentlichen dieselbe. Doch Hesse man sich dies noch gefallen, wenn nur durch diesen Widerstreit von Pflicht und Neigung, in dem doch gerade das Wesen des Tragischen bestehen soll, auch von Corneille nun wirklich ein tragisches Moment hervor- gebracht würde. Aber dem ist nicht so. Anstatt dass die Alles überwältigende Kraft der Liebe das Uebergewicht haben und den Helden, resp. die Heldinnen zur Verletzung ihrer Pflicht, zur Durchbrechung; der sie eineno-enden Schranken und so in einen tragischen Conflict drängen sollte , tritt sie vor jenen Pflichten und Rücksichten, die die sie umgebende ^^'elt von ihr fordert, ganz in den Hintergrund. Diese sind es, welche die Handlung bestimmen, sie sind es, die das Thun und Lassen des Helden bedingen, die Liebe äussert sich nur in pomphaften, declamatorischen Worten, sie unternimmt nichts, das uns von ihrer Wahrhaftigkeit überzeugen könnte. Vollkommen gilt dies

284 Ueber Corneille's Anscliauung vom Wesen der Tragödie.

von den oben erwähnten Stücken und manchen anderen des Corneille. Wie anders und wie viel wahrer hat , um ein nahe- liegendes Beispiel zu nehmen, Sophokles in seiner Antigone den Kampf zwischen der Staatspflicht und der Liebespflicht geschil- dert. Da ist kein Räsonnement, kein Lamentiren über Ver- letzung göttlicher Satzungen und äusserer Rücksichten. Voll- kommen sich ihrer Pflicht bewusst, steht der Antigone die Bruderliebe höher als der Gehorsam gegen den Staat und treibt sie so mit Nothwendigkeit zur Uebertretung seiner Gesetze.

Am deutlichsten aber zeigt sich Corneille's Anschauung vom Wesen der Tragödie in seiner Besprechung der aristote- lischen Eintheilung der Tragödien in mehrere Classen. Wenn Aristoteles hier diejenigen Tragödien für die schlechtesten und nichts Tragisches enthaltenden erklärt, wo die einander nahe- stehenden Personen im Kampfsich gegenübertreten, etwas unter- nehmen und dann von ihrem Vorhaben ablassen und es nicht zur Ausführung bringen, so kann Corneille begreiflicherw-eise diesen Satz nicht unterschreiben, ohne damit zugleich das Ver- dammungsurtheil für seinen Cid, seinen Cinna, Rodogune, He- raclius, Nicomede auszusprechen. Er schränkt daher diese Regel des Aristoteles ein auf solche Helden, die aus blosser Laune oder plötzlicher unmotivirter Willenöänderung von ihrem Vor- haben ablassen, und will sie nicht auf diejenigen ausgedehnt Avissen, die alles Mögliche thun, um den Gegner zu verderben, die aber dennoch an der Ausführung ihres Vorhabens verhindert werden, sei es durch irgend eine höhere Macht, sei es durch einen Wechsel des Schicksals, der sie selbst umkommen lässt. Man wäre, um den letzten Fall zuerst zu besprechen, hier ver- sucht, zu fragen, warum denn der betreff^ende Held überhaupt noch bis zum IV. Acte lebt und alles Mögliche zu des Gegners Verderben versucht, wenn er doch im V. un verrichteter Sache stirbt, ja, warum er überhaupt auf der Bühne erscheint, da er doch eine «janz überflüssiixe Persönlichkeit ist und nichts zu Wege bringt. Bei der anderen Alternative, wo eine höhere Macht den Helden von seinem Vorhaben abbringt, fuhrt Corneille als Beispiel den Cid an. Chimene, sagt Corneille, thut alles Mögliche, um Rodrigo zu verderben; aber eine höhere Macht, nämlich der Wille des Königs, zwingt sie, von ihrem Vorhaben

Ueber Corneille's Anschauung vom Wesen der Tragödie. 285

abzulassen. Das Verkehrte, das in diesen Worten liegt, springt in die Augen. Für den Helden einer Tragödie darf es keine höhere Macht geben, als seine Leidenschaft; alles Andere, was etwa die Handlung bestimmt, ist zufällig und äuaserlich und gehört nicht ins Drama: hier soll Alles in dem Verhältniss von Ursache und Wirkung, naturgemäss, nichts zufällig auf- und auseinander folgen. Im Cid kommt der Befehl des Königs, sich mit der Lage der Dinge zufrieden zu geben, der Chimene sehr gelegen, und man wäre neugierig zu erfahren, wie die Geschichte abgelaufen wäre, wenn jene höhere Macht, die wie ein deus ex machina hier ganz äusserlich und zufällig in die Handlung hin- eingreift, wie sie es sollte, fortgeblieben wäre. Aber Corneille ist so fest von der Vortrefflichkeit dieser Art von Trasödieu überzeugt, dass er geradezu behauptet, sie hätte am meisten Tragisches, und Aristoteles habe unter den griechischen Tragö- dien nur keine dieser Ai^ gefunden , sonst würde er sie un- zweifelhaft für die beste gehalten haben. Dieses Verkennen jedes Tragischen geht, um noch einige Beispiele anzu- führen, so weit, dass in der Rodogune ein Mädchen ge- schildert wird, das ihre beiden Liebhaber zum Morde ihrer Mutter auffordert und schliesslich sich für sie doch Alles fröhlich endet, dass im Cinna ein charakterloser, gänzlich unter der Herrschaft seiner Geliebten stehender Mensch, und eine Frau, eben diese Geliebte, die alle anderen Gefühle, der Rache, des Ehrgeizes u. s. w. eher kennt als die Liebe, geschildert werden. Und wenn diese Beiden allerlei Mordanschläge auf einen Dritten schmieden, dann aber, durch den grossen Edel- muth dieses Dritten gerührt, von ihrem Vorhaben ablassen und sich doch nun eigentlich recht erbärmlich vorkommen müssen, so ist ein solches Stück nach Corneille das am meisten tragische, und Aristoteles würde es jedenfalls auch dafür gehalten haben, wenn er es nur gekannt hätte.

Wenn Corneille nun im weiteren Verlauf seiner Erörterungen über die dramatische Behandlung eines Stoffes nach der ihm innewohnenden Wahrscheinlichheit oder Nothwendigkeit spricht, so ist es sehr schwer, sich von seiner eigentlichen Meinung ü()er diesen Gegenstand einen klaren Begriff zu machen, da er so viele Ausnahmen und PJinschränkungen von den Regeln, die er

286 Ueber CornelUe's Anschauung vom Wesen der Tragödie.

aufstellt, macht und den Begriff des Nothwendigen bald in diesem, bald in jenem Sinne fasst, dass man schliesslich nicht mehr Aveiss, was denn nun eigentlich von all dem Gesagten gelten soll. Es hängt überhaupt diese Frage eng zusammen mit der Frage, ob der Dichter einer Tragödie, wofern er seinen Stoff aus der Geschichte nimmt, geschichtliche Thatsachen ver- ändern darf oder nicht , die Corneille mit Aristoteles dahin be- antwortet, dass man zwar die Haupthandlung unangetastet lassen müsse, die Nebenhandlungen aber und kleinere Zvvischenereig- nisse wohl verändern oder auch selbst erfinden dürfe. Dem- nach, sagt Corneille, begeht der Dichter niemals einen Fehler, wenn er eine geschichtliche Thatsache so behandelt, wie sie wirklich sich zugetragen hat, selbst wenn eine solche Behand- lung den Gefühlen und Erwartungen der Zuschauer, sowie den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit weniger entspräche. Der Dichter sündige in diesem Falle nur o:eu:en die Sors^e um seinen ei^^enen Ruhm, als er vielleicht nur einen geringeren Erfolg mit suineni Stücke erziele, nicht aber "reo^en die Recjeln der Kunst. Lessing war hierin anderer Meinung: er wollte, dass der Dichter, ab- gesehen von allgemein bekannten geschichtlichen Thatsachen und Charakteren, die natürlich nicht verändert werden dürfen, sich um die geschichtliche Wahrheit nicht weiter zu kümmern habe, „als sie mit einer wohl eingerichteten Fabel verträglich sei, mit der er seine Absichten verbinden könne". Denn das Wahr- scheinliche erst macht uns eine Geschichte glaubwürdig, nicht dass sie sich wirklich so oder so zugetragen hat, und es ist daher eine unwahrscheinliche, wenn auch geschichtliche Hand- lung nicht der Behandlung in einer Tragödie zuträglich, tlier muss der Dichter von seiner eigenen Erfindung hinzuthun, er muss erdichten, welchen letzteren Satz auch Corneille anerkennt, und dem er in seinen Dramen oft genug gefolgt ist; nur muss dieses Erdichten ein zweckmässiges sein, nicht wie bei Corneille, z. B. in der ßodogune, ein zweckloses, hervorgegangen aus dem Streben, durch Anhäufung des Schrecklichen und Wunderbaren, durch Intriguen jeder Art Furcht und Mitleid zu erregen.

Aus den mehrere Seiten füllenden Erörterungen Corneille's über die Behandlun»; einer Tragödie nach der Wahrscheinlichkeit oder Nothwendigkeit, in denen er die ganz richtige Bemerkung

Ueber Corneille's Anschauung vom Wesen der Tragödie. 287

macht, dass die einzelnen Handlungen in sich wahrscheinlich sein müssten, die Verknüpfung aber, das Aus- und Aufeinanderfolgen derselben nach dem Gesetz der Xothwendigkeit geschehen müsste, ersieht man im Grossen und Ganzen doch deutlich, dass er über diesen Gegenstand zu keiner vollständigen Klarheit gelangt ist, besonders wenn er schliesslich zu dem falschen Resultat kommt, dass in der Tragödie dann besonders Manches auf Kosten der Wahrscheinlichkeit geschehen dürfe, wenn die Nothwendis:- keit, worunter er hier das Gesetz der drei Einheiten, sowie etwaige bei der Auffidirung sich ergebende technische Schwierig- keiten versteht, den Dichter dazu zwänge. Durch derartige Maximen konnte Corneille allerdinffs leicht die vielen und zahl- reichen Un Wahrscheinlichkeiten und Unnatürlichkeiten rechtfer- tigen, die selbst in seinen besseren Stücken Vernunft und Phantasie des Lesers beleidigen.

VA'enn wir im bisher Ge«;ao;ten schon oft Geleiicnheit oehabt haben, zu sehen, wie Corneille seine Anschauungen über die Tragödie, wie er sie in seinem „discours sur la tragedie" nieder- gelegt hat, sich mehr nach seinen Stücken zu Pass gemacht als aus einer klaren Erkenntniss vom Wesen des Tragischen heraus gebildet hat, und wie verworren und dunkel sie daher sein mussten, so wird die Betrachtuiio; einiger geschichtlichen That- Sachen genügen, dies ausser allen Zweifel zu setzen, zugleich aber dazu dienen, uns eine Erklärung dieses Umstandes zu geben. Man darf nicht vergessen, dass Corneille in gewisser Weise mehr und inniger als die grossen Tragödiendichter anderer Nationen, als etwa Shakespeare und Lope mit seinen Vorgängern zusammenhängt, dass er nicht aus der Reihe der ihn Umgeben- den heraustretend, in eigenartiger, origineller Behandlung des Stoffes neue Bahnen einschlägt, sondern von ihren Anschauungen geleitet und darin befangen, auf demselben Wege fortschreitet und dass seine Thätigkeit wesentlich nur als eine Fortsetzung und Vervollkonminung der einmal falsch eingeschlagenen Richtung nach dem Drama des Alterthums hin anzusehen ist. Hierbei ist nun be- sonders in Betracht zu ziehen der grosse Einfluss, den die ganze da- malige classische Tragödie der Franzosen von der römischen, vor Allem von der des Seneca erfuhr , der bei den Gelehrten jener Zeit fast in noch höherem Ansehen stand als die griechischen Tra-

288 Ueber Corneille's Anschauung vom Wesen der Tragödie.

giker. Dass aber die römische Trao-ödie thells nur ein schwacher Abklatsch, theils ein ins Scheussliche und Grässliche gesteigertes Zerrbild der griechischen war, ist bekannt und wird besonders einleuchtend, wenn man z. B. die Medea oder die Trojanerinnen des Seneca betrachtet. Dieser Einfluss des Seneca zeigt sich bei Corneille nun nicht bloss in denjenigen seiner Stücke, die er ihm nachgeahmt hat, sondern auch in den meisten anderen. Jenen Hang zum Schrecklichen und Uebertreibenden, jenes wort- reiche Pathos voller Sentenzen , jener rhetorische Pomp kenn- zeichnet sich in der Medea so gut wie im Clitandre, Polyeucte und der Rodogune. Zu allem diesem kommt, dass Corneille bei seinem schwankenden und unbeständio;en Charakter eine An- schauung, die er sich einmal zu eigen gemacht hatte, nicht zu vertreten vermochte, dass er allen Einflüssen der Kritik, allen Launen seiner Gönner nur zu leicht zugäng-lich war und ihnen gegenüber seine Ansichten oft plötzlich änderte, wie zahlreiche seiner Vorreden und examens beweisen. Aus seinen Bemer- kungen über den Clitandre z. ß., ersehen wir, dass sein vor demselben verfasstes Stück, die Melite, von den Kritikern getadelt war, weil erstens die Einheit der Zeit nicht innegehalten und zweitens viel zu wenig Handlung darin sei. Dies ist Grund genug für Corneille, bei der Abfassung seines folgenden Stückes, des Clitandre, die Einheit streng zu beobachten und es an In- triguen so wenig fehlen zu lassen, dass sie das Stück zu dem unnatürlichsten und in sich unwahrscheinlichsten Product Cor- neille's gemacht haben. Diese Unbeständigkeit und Unentschlos- senheit des Charakters zeigt sich ferner in der Rolle, die Corneille spielte in dem grossen Kampf zwischen dem romantischen Schau- spiel und der classischen antiken Tragödie. Trotz des bedeuten- den Erfolges, den er mit einem Stück der ersteren Gattung, dem Cid, erzielte, und der ihn hätte aufmuntern sollen, auf dem betretenen Wege fortzufahren, kehrte er dennoch, durch die Anfeindungen seiner Gegner und durch die Ungnade, in die er bei Richelieu gefallen war, kopfscheu gemacht, wieder zu dem antiken Regelzwange zurück, zum grossen Schaden der ganzen französischen Tragödie. Wo derartige Einflüsse zusammen- wirkten, um den Dichter bald so, bald so zu stimmen, kann schon überhaupt von einer klaren , in sich consequenten

Ueber Corneille's Anschauung vom Wesen der Tragödie. 289

Anschauung von dem Wesen der Tragödie keine Rede sein, ge- schweige von einer solchen, die mit den Regeln des Aristoteles grestimmt hätte, wie Corneille Ehr<:reiz ffenns hatte, beweisen zu wollen. Dass hierzu die gezwuno-ensten und verkehrtesten Aus- leiruno-sversuche nÖthis^ waren, haben Avir im Obio;en schon gesehen, und dass er auch da, wo er von dem Aristoteles ab- zuweichen Grund zu haben glaubte, nur zu rein äusserlichen Kunstgriffen seine Zuflucht nahm, davon hier nur ein Beispiel. Aristoteles stellt den Satz auf: die geschichtlichen Thatsachen dürfen nicht verändert werden; die Clyteinnästra z, B. dürfe von keinem Anderen getödtet werden, als von ihrem Sohn Orestes. Da nach unseren heutigen Begriffen von Sittlichkeit ein Mutter- mord auf der Bühne nicht ausführbar ist, sagt Corneille, so würde man diesen üeoenstand etwa so behandeln müssen: Orest hat nicht die Absicht, seine Mutter zu tödten, sondern den Aegisth; indem er zu demv Todesstreich ausholt, wirft sich Clytemnästra zwischen ihn und den Aegisth, so dass sie vom Schlage getroffen todt niedersinkt. So, fährt Corneille fort, ist Clytemnästra von der Pland ihres Sohnes gefillen, wie es Ari- stoteles will, ohne dass unser sittliches Gefühl davon beleidigt würde. (Sic!)

Fassen wir nun Corneille's Anschauung vom Wesen der Tragödie, wie sie sich uns in dem Bisherigen ergeben hat, kurz zusammen, so würde seine Definition der Tragödie etwa fol- gendermaassen lauten: Die Tragödie ist die Darstellung einer würdigen und wichtigen Handlung, die durch Erregung von entweder Furcht oder Mitleid in uns den Wunsch rege macht, die Leidenschaften, die den Helden des Stückes ins Unglück stürzen, in uns zu unterdrücken und auszurotten. Diese Furcht aber vor dem Unoflück irgend einer der Helden und dieses Mit- leid mit irgend einer der leidenden Personen der Tragödie wer- den in gewissen Fällen auch dann in uns hervorgebracht, wenn der Held des Stückes ein ganz tugendhafter oder ein ganz lasterhafter ist. Dabei ist es nicht nothwendig, dass der Ver- lauf der Handlung immer wahrscheinlich sei: die geschichtliche Wahrheit, sowie die Regeln der drei Einheiten und die An- forderungen, die die Aufführung des Stückes an den Verfasser stellt, sind ein Entschuldigungsgrund für im Stücke vorkommende

Arehiv f. n. Sprachen. LVIII. 19

290 lieber Corneille's Anschauung vom Wesen der Tragödie.

Unwahrecheinlichkeiten." Dies sind uno-efähr die Regeln, die Corneille über die Ti'agödie aufgestellt hat, von denen er sich aber in manchen Punkten noch Abweichungen erlaubt, so dass von einer wirklich klaren, sich consequent bleibenden und in sich geschlossenen Anschauung von der Tragödie nicht die Rede sein kann. Der Hauptmangel, aus dem sich auch all das Ver- fehlte in Corneille's Anschauung vom Wesen der Tragödie er- klärt, ist der Umstand, dass ihm überhaupt das rechte Ver- ständniss für das Wesen des Tragischen fehlte , für jenen unlösbaren Conflict, in den der Mensch in Folge seines einseitigen Begehrens gegen widerstrebende Kräfte verwickelt wird, und aus dem er nicht anders befreit werden kann , als durch Sühnung seiner Schuld, wie es uns in den Shakespeare'schen Tragödien so klar entgegentritt. Was Lessing daher von der französischen Tragödie im Allgemeinen sagt, dass sie keine Tragödie sei, weil ihr einmal die Fähigkeit, Furcht und Mitleid zu erregen, fehle, und zweitens ein unlösbarer Conflict, das gilt so recht von Corneille, ihrem Begründer. Die Herleitung der Schuld aus dem Innern des Helden und die Herleitung der Ver- geltunor aus dem Zwange der Handlung vermisst man in seinen Dramen. Wenn dieselben trotzdem so grosse Bewunderung erregten, so verdankte er diese Wirkung nicht so sehr den Stücken als Tragödien, sondern vielmehr dem Umstände, dass er zuerst in schöner und oft wahrer Sprache die Gefühle und Empfindungen zu schildern wusste und seine Helden in pathos- reichen Worten allerlei schöne Grundsätze und Sentenzen aus- sprechen Hess, an die das Publicum schon durch die Stücke seiner Vorgänger gewöhnt war, und an denen es einen ausser- ordentlichen Gefallen fand. Es kam ihm mehr auf die Worte als auf die Handlung, mehr auf die äussere Form als auf eine folgerichtige Entwicklung an. In falschem Verständniss des griechischen Dramas und aus Unvermögen, sich eine eigene An- schauung von dem Wesen der Tragödie zu bilden, wie die Spa- nier und Engländer, unbeeinflusst von den Alten, ein nationales Drama erzeugt haben, hat Corneille die classische französische Tragödie in der Bahn weitergeführt und befestigt, die sie schon theilweise vor ihm eingeschlagen hatte und nach ihm nicht wieder verlassen hat. Dr. K. Foth.

Die provenzalische Bearbeitung der Kindheit Jesu.

Von

Adolf Kressner.

Schon in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeit- rechnung waren die Legenden über Jesu Kindheit, worüber bekanntHch die canonischen Evangelien fast nichts berichten, sehr verbreitet, im Abendlande sowohl als auch im Orient, und wenn sie auch meistens Secten-Zwecken dienten (vergl. Ueber die Apokryphen des neuen Testaments von Dr. Joh. Friedr. Kleuker. Hamburg 1798. De evangeliorum apocryphorum origine et usu. Scripsit C. Tischendorf. Hagae Comitum 1851), so wurden sie doch auch von den Kirchenvätern anerkannt und häufig citirt. Doch mit der Zeit webte die Volkstradition so wunderliche Dinge hinein, dass der berühmte Erlass des Papstes Gelasius (496) de libris recipiendis et non recipiendis sie unter die Apokryphen rechnete. Nichtsdestoweniger fuhr man fort, sie eifrig zu lesen, und daher kommt es denn, dass das Mittel- alter, das gerade an dem Wunderbaren und Unglaublichen so viel Gefallen fand, sie in den Bearbeitungen der hauptsächlich- sten Völker des Occidente, in der spanischen, provenzalischen, französischen, englischen, niederländischen und deutschen Lite- ratur, aufweisst*).

Unter diesen Versionen verdient eine besondere Berück- sichtigung die provenzalische, welche Karl Bartsch nach der

*) Das Nähere bei Grässe, Allgem. Litterärgesch. III; Histoire Lit- tdraire de la France XVIII; Archiv IL; Hahn, Gedichte des XII. und XIII. Jahrhunderts; Die Kindheit Jesu, Gedicht des 12. Jahrhunderts. Herausgegeben v. J. Feifalik. Wien 1859.

19*

292 Die provenzaliscbe Bearbeitung der Kindheit Jesu.

Pariser Handschrift 7693 (fol. 170) in seinen Denkmälern der provenzalischen Literatur, Stuttgart 1856, pag. 270—305 her- ausgegeben hat ; und zwar ist sie merkwürdig sowohl in Bezug auf den Inhalt, da sie mehrere Legenden berichtet, die sich in den Quellen nicht finden, als auch in Bezug auf die Sprache, worüber der betreffende Theil dieser Abhandlung zu ver- gleichen ist.

Die Quellen nun, nach denen die mittelalterlichen Versionen, und so auch unsere provenzaliscbe, gearbeitet sind, sind fol- gende :

1. Evangelium des Thomas, bekannt in zwei griechischen (Thom. gr. A; Thom. gr. B) und einer lateinischen (Thom, lat.) Version. Herausgegeben von F. C. Thilo in Codex apo- cryphus novi testamenti. I. Leipzig 1832, und von Tischendorf in den Evangelia apocrypha. Leipzig 1853.

2. Evangelium Pseudo-Matthaei sive de nativitate Mariae et de infantia Salvatoris, herausgegeben nach der Pariser Hand- schrift von Thilo, nach einer Vaticanischen von Tischendorf. (Ps. Math.)

3. Evangelium Infantiae Arabice, zuerst herausgegeben von Henricus Sike : Evangelium infantiae vel liber apocryphus de infantia Servatoris. Ex Manuscripto edidit ac Latina ver- sione et notis illustravit H. S. Trajecti ad Rhenum 1697. Der arabische Text mit lateinischer Uebersetzung: ist wieder abse- druckt von Thilo ; Tischendorf giebt nur die lateinische Ueber- setzung. (Ev. Ar.)

Hierzu ist noch zu vergleichen : Das Leben Jesu nach den Apokryphen im Zusammenhange aus den Quellen erzählt und wissenschaftlich untersucht von Rudolf Hofmann. Leipzig 1851.

Folgende Tabelle mag dazu dienen, das Verhältniss der provenzalischen Bearbeitung zu den Quellen und das der Quel- len unter einander anzugeben, zugleich aber auch zeigen, wie reich die Quellen in Vergleich zu jener Version fliessen. *)

*) Die arabische Bearbeitung ist nach Weise der Orientalen reich an Todtenerweckungen, Teufelsvertreibungen und anderen Wundern melir, die sich sonst nicht finden. Wir geben daher nur die den übrigen Evangelien entsprechenden Capitel an.

Die provenzalischc Bearbeitung der Kindheit Jesu.

293

Jesus besänftigt Drachen Jesus wird von Löwen u.

Panthern angebetet . . Die Palme neigt sich ; an

ihrem Fusse entspringt

eine Quelle .... Aegyptens Götzen stürzen Die thönernen Sperlinge

fliegen

Jesus und die Töpfer . . Ein Knabe verdorrt . . Ein Knabe schlägt Jesus

und stirbt

Jesu Ankläger erblinden Jesus redet vor Zachaeus Jesus und sein Lehrer Levi ;

dessen Klage .... Der vom SöUer gefallene

Knabe

Der zerbrochene Krug . Jesus säet Getreide . . Jesus bändigt Löwen . . Jesus durchschreitet den

Jordan

Jesus verlängert das Holz Jesu Lehrer stirbt . . Jesus legt die Schrift aus Jesus erweckt einen Todten Jesus heilt Schlangenbiss Jesus heilt einen Knaben Jes erweckt einen Säugling Jesus macht trocknenFisch

lebendig

Jesus als Färber . . . Jesus verwandelt Knaben

in Böcke

Jesus reitet auf Sonnen- strahlen

Thom. Lat.

Ev. Ar.

Pro- venz.

18 19

20 23

26—27

29

30

31

32 33 34 35

36

37 38 39 40 41

6—8

9 11

12

13 14 15

(cf.l8) 16 10 17

10

11

7

9

10

11 12 13

14

8

15

24 11.23

46 (36)

8 4

47

48

2

44 45

5

38—39

49 50-53

43(41-42)

10

1

6

37

7

40

9

3

Die Legende.

In einem Prooeinium benachrichtigt uns der Verfasser, dass er singen wolle zur Ehre und zum Ruhme Christi, der, obgleich erst fünf Jahr alt, doch schon die erstaunlichsten Wunder ver- richtete. Dieses Alter von fünf Jahren setzt der provenzalischc Verfasser willkürlich, denn die Quellen geben Jesus bei Wun- der 1, 2, 9, 10 bereits das Alter von sieben bis acht Jahren. Es folgt darauf eine Schilderung des Knaben Jesus, der so

294 Die provenzalische Bearbeitung der Kindheit Jesu.

„gentils et amoros, bei e cortes e gracios, humils et plazens" ist, dessen Leib so schön gestaltet, dessen Fleisch so zart, dessen Mund so frisch und lachend ist, dessen Augen so liebe- voll vind freundlich blicken, dass Alle, die ihn ansahen, sich un- willkürlich von Liebe zu ihm ergriffen fühlten.

L Zu der ersten That, die aus Christi Leben berichtet wird (Bartsch, pag. 271 276), ist zu vergleichen Ps. Math. 38. Thom. gr. A 14. Thom. lat. 12. Ev. Ar. 49: Jesus ge- räth durch Zufall in eine Schule,

Ont ac doctors e clerx onratz Nobles rix et appoderatz, Et ancian en teuletgia, En logica, en gromancia Et en ganre d'autra siensa.

Mit ihnen beginnt das Kind zu disputiren und legt ihnen so schwere Fragen vor, dass keiner sie beantworten kann und sie Alle beschämt von dannen gehen*).

Einige Verwandte Joseph's hatten der Disputation bei- gewohnt, und erfreut über die Klugheit des Kindes, bitten sie jenen, es bei einem ordentlichen Lehrer in die Schule zu geben, auf dass etwas Tüchtiges aus ihm werde. Joseph ist nicht ab- geneigt und vertraut seinen Sohn dem Meister Arian an, mit der Bitte jedoch, ihn nicht zu schlagen oder irgend wie übel zu behandeln. Der Lehrer beo-innt den Unterricht sofort: „Mein Kind, nun sage Aleph und nachher sage Beph (des Reimes wegen statt Beth)." Jesus aber bleibt stumm, worüber Arian so aufgebracht wird, dass er ihm einen Schlag versetzt (l'eftant anet ferir sul col). Jesus antwortet : ,.Thöricht hast du gehandelt," worauf Arian sofort todt zu Boden stürzt.

Hiermit endigen die oben erwähnten Quellen ; der proven- zalische Dichter aber giebt noch folgende, sich sonst nirgends findende Fortsetzung:

Die Verwandten Arian's messen Jesus den Tod desselben

*) Worin diese Fragen bestanden, erfahren wir nicht; doch sehen wir aus einer anderen Stelle der Apocryphen, dass Jesus wohl bewandert war in Jfhysik und Metaphysik, Hyperphysik und Hypophysik; in der Naturlehre, Himnielskunde und Medicin. Ev. Ar. öO 53.

Die provenzalische Bearbeitung der Kindheit Jesu. 295

zu und erheben Klage vor dem Richter (senescalcj. Dieser lässt die Leiche vor sich bringen, aber da er kein Blut und keine Wunde an ihr entdeckt, giebt er das höchst einsichtsvolle Urtheil ab, der Lehrer sei auf eine andere Art, vielleicht am Schlagfluss, gestorben, das Kind aber jedenfalls unschuldig. Sie sollten Arian nur heimlich beerdigen und kein Wort davon laut werden lassen, denn Jesus sei von hoher und edler Her- kunft, von dem Geschlechte David, Jesse imd Abraham.

2. (Bartsch 276—279.) Durch das traurige Schicksal Arian's nicht zurückgeschreckt, erbittet sich ein anderer, in Theolojjie, den Künsten und der Nio-romantik wohl bewanderter Lehrer Jesum von Joseph zum Unterrichte. (In unseren Quel- len: Ps. Math. 31. Thom. gr. A 6, 7, 8. Thom. gr. B 6. Thora. lat. 6. Ev. Ar. 48 nennt sich dieser Lehrer ein Freund Joseph's und trägt den Namen Zachaeus, Ps. Math. 31 Levi.) Mit Maria's Beistimraung wird ihm das Kind übergeben, unter der Bedingung, es nicht übel zu behandeln. Der Meister nimmt es zu sich:

Mon etFant, ar digas aleph, Et en apres tu diras beph.

Worauf Jesus: „Warum Aleph eher als Beph? Zeige mir den Grund in der Theologie, in den Künsten, in der Nigromantik. Sage mir ferner, was Aleph bedeutet; ich werde dir alsdann die Bedeutung von Beph sagen." lieber diese klugen P'ragen des Kindes erstaunt der Lehrer gewaltig*), er knieet nieder und bittet um Verzeihung : „Herr, ich habe sehr gegen dich gefehlt, meinen Meister wollte ich unterrichten. Verzeihe mir, Herr, nach deiner grossen Güte. Ich glaube, dass du bist Gott und Mensch, allmächtiger König, und dass dein ist die Welt." Die Quellen geben an dieser Stelle die traurige Klage des

*) Die ^'ervvunderung des Lehrers ist in unserer Bearbeitung nicht ge- hörig niotivirt; in den Quellen giebt Jesus eine lange und gelehrte Aus- einandersetzung über den ersten Buchstaben, wie er hat Linien und einen Mittelstrii.h, der durch die, welche man verbunden sieht, geht; zusammen- gehende, indem der Gii)fel aussendet und wieder in sich vereinigt, drei Linien von gleichem Geschlecht, aber untergeordnet, hypostatisch, alier am Maasse gleich. Und vieles andere fing er an darzulegen, was der Lehrer nie gehört noch je in einem Buche gelesen hatte.

296 Die provenzalische Bearbeitung der Kindheit Jesu.

alten Meisters, der sich so von einem Kinde übertrofFen sieht: Ov (ftQio xo avoTijQoy rov ßXtf.i/iiaTog avrov, ov TXQavM rou Xöyou ana'E,. rovio nuidlov yrjyej'rj(; ov/. Ion, tovto (ivvaxai y.ui ttvq daf.iuaui .... noi'u yaori^Q tovto ißdoTuot)', noi'a de /m'jTQrx tovto {^t&Qiipef, lyio uyyoio. o]'[.ioi, cpiXe, t§i]X^t /ne, ov naQaxo}.ovd^i]o<i) T7] öiai'oia uvtov. rjTiÜTTjaa tavTou, 6 TQiGa&Xiog eyco. ijy cor 1(^0- /ii>]y tyeiv ina&rjT}jy, xai tvQtdip' l'/eiy d i ö d oy.aXoy. ^Ey- d'Vf^iovf.iai TTjy uloyvvrjy, oti ytQwy vnü^/wy vtto naidiov eyixrjd )jy . . . . ov dvyu/^iui iv xfj Üqu xuvxtj ^iß^lxpai eig x)]y oipiy avxov .... ovxog Ti TiOTe /.liya eoxiy, rj d'edg tj v.yyeXog i] xi tmxo ovx olÖa. (Thom. gv. A 1.)

Als Jesus hörte, wie der zweite Lehrer seine Göttlichkeit anerkannte, sprach er: „Du hast wahr geredet und mich er- kannt; drum sei auch Arian wieder auferweckt und zum Leben zurückgerufen." Und so geschah es. (cf. Ev. Ar. 49, Thom. gr. A 15.)

3. Das dritte Wunder unseres provenzalischen Berichtes (Bartsch 279 281) lässt sich auf keine unserer Quellen zurück- führen.*) Jesus, in Gesellschaft mehrerer Knaben, betritt ein Haus, in das die Sonnenstrahlen durch ein Fenster dringen; er setzt sich rittlings (de cavalgos) auf einen Strahl und steigt an diesem zur Sonne empor. Die anderen Knaben wollen ihm das Kunststück nachmachen, stürzen aber dabei aus dem Fen- ster und brechen kläglich Arme und Beine. Wehklagend eilen die Eltern der Verunglückten zu Joseph, beschweren sich bei ihm über seinen Sohn, und führen ihn zu dem Hause, wo das Unglück geschehen war. Auf Joseph's Befehl gleitet Jesus wieder an dem Sonnenstrahl zur Erde, heilt die verwundeten Knaben und erweckt die Todten wieder. Von den modernen Bearbeitungen weist nur die englische diese Erzählung auf.

4. Auch die folgende Erzählung (Bartsch 281 —287) suchen wir vergeblich in unseren lateinischen, griechischen und ara-

*) Man ist versucht, dieses Wunder mit einer im Mittelalter sehr ver- breiteten Geschichte zusammen zu bringen, nämlich von einem Diebe, wel- cher auf einem Mondstrahle von dem Dache eines Hauses in dasselbe hin- unter gleiten will und dabei den Hals bricht. Gesta Romanorum (ed. Grässe) no. 136; Disciplina Clericalis (ed. Schmidt) pg. 1.56; Le Grand D'Aussy: Du volenr qui voulout descendre sur un rayon de lune; Latin Stories frcm Mss. of the XIII. and XIV. centuries ed. by Th. Wright no. 23.

Die provenzalische Bearbeitung der Kindheit Jesu. 297

bischen Quellen. Peines Morgens gerüth das Kind auf seinen Streifereien (vol s'en anar deportar Foras la vila en la ribicra) an eine Töpferei und nachdem es eine Zeit lang zuge- sehen, wie die Arbeiter ihre Gefässe formten, legt es selbst hilfreiche Hand an. und so schnell wird das Werk gefördert, dass am Abend mehr Gefässe fertig sind, als sie sonst in fünf Tagen machten. Aber trotzdem die Leute sehen, wie fleissig das Kind arbeitete, laden sie es doch nicht zum Essen und Trinken ein, sondern gehen am Abend vergnügt heim, ohne es weiter zu beachten. Auch Jesus niacht sich auf den Rückweg und wird von Joseph der schon in banger Sorge schwebenden Maria zugeführt. Nachdem er ruhig gegessen und getrunken, legt er sich zum Schlafe nieder.

Am anderen Morgen kommen die Töpfer wieder zur Arbeit ; aber wie entsetzt sind sie, als sie das ganze Werk des vorigen Taoes in Trümmern und Scherben finden. Lautes Jammern erhebt sich, bis einer von ihnen sich des Knaben erinnert, der ihnen so fleissig geholfen hatte, und dem sie nichts zu essen und zu trinken gegeben. Sie ziehen vor Joseph's Haus, um sich bei ihm zu beklagen über die Verwüstung, die sein Sohn angerichtet ; Joseph lässt sich zu der Töpferei führen, um selbst die Sache in Augenschein zu nehmen, und siehe da! er findet Alles in guter Ordnung und im schönsten Zustande. Die Ar- heiter sind hoch erfreut und bitten Joseph vielmal um Ver- zeihung.

5. (Bartsch 287 291.) Jesus geht mit einer Schaar Knaben „deportar"; sie steigen bei ihrem Spiele auf eine Mauer, und Ferrier, un garso mal astrug, stösst Abramon hinab, so dass dieser sich das Genick bricht. Angsterfüllt reissen Alle aus, nur Jesus bleibt auf der Mauer zurück. Bald stellen sich die wehklagenden Verwandten jenes Knaben ein und beschul- digen Jesus, Abramon von der Mauer gestossen zu haben ; das Kind aber weisst diese Beschuldigung zurück und verkündet, der Todte würde selbst Zeugniss ablegen. Als nun die Juden unter Spott über Jesus Zuversicht die Leiche herbeigebracht hatten, wendet er sich an dieselbe und redet sie an: „Sag, Abramon, was habe ich dir gethan? Habe ich dich von der Mauer gestossen und getödtet? Stehe auf und sage die Wahr-

298 Die provenzalische Bearbeitung der Kindheit Jesu.

heit." Und alsbald richtet der Todte sich auf und spricht mit lauter Stimme: „Herr, ich glaube, dass du wahrer Mensch und Gott bist ; Ferrier hat mich getödtet, aber du hast mich auf- erweckt."

Tn derselben Weise berichten diese Erzählung unsere Quel- len Ps. Math. 32, Thom. gr. A 9, Thom. gr. B 8, Thom. Lat. 7, Ev. Ar. 44, nur mit dem Unterschiede, dass der böse Knabe nicht genannt wird und der Name des Getödteten Zeno ist (Thom. Lat. Sinoo).

6. Soeben hatten wir von der Wiedererweckung eines Todten berichtet; es ist leicht begreiflich, dass die apocryphen Evangelien dieses AVunder nach Kräften ausbeuten, cf Thom. gr. A 17 (Thom. Lat. 15); Thom. gr. ^ 18; Ps. Math. 40; Thom. gr. A 10, gr. B 9, lat. 8; Ev. Ar. 41—42. Auch die provenzalische Beaibeitimg (Bartsch 291 293) erzählt noch ein solches Factum, dessen Details jedoch in unseren Quellen sich nicht finden. Eines Morgens kommt Jesus an ein Haus, aus dem lautes Wehklagen erschallt. Ein Kind, der einzige Sohn des Besitzers, war in den Brunnen gefallen. Wie Jesus das hört, springt er zum grossen Entsetzen der Umstehenden dem ertrunkenen Knaben nach, und erscheint nach kurzer Zeit wieder, die Leiche desselben im Arme tragend ; darauf redet er ihn an und glebt ihm das Leben wieder. Der Vater aber knieet dank- erfüllt nieder und erkennt ihn an als wahren und allmächtigen Gott.

7. Die Sage, Christus sei ein Färber gewesen, hat eine weite Verbreitung gefunden, und Angeli de la Brosse in seinem Lexicon Persicum unter tinctoria ars berichtet, dass noch jetzt die persischen Färber Christum als ihren Patron verehren und dass die Färberwerkstätten den Namen „Werkstätte Christi" führen. Dabei beruft er sich auf eine bei den Persern verbrei- tete Schrift „von der Kindheit Christi", worin erzählt werde, dass Christus die Färberkunst getrieben und mit einer einzigen Tinctur Stoffe von jeglicher Farbe bereitet habe. Auch Kes- saeus berichtet das Märchen mit einigen Variationen, cf Sike, in den Noten zum Ev. Inf. arabice, pag. 55. Von unseren Quellen kennen es nur Ev. Ar. 37 und Ev. Thom. gr. yl 6 in der Pariser Handschrift, bei Thilo pag. 289, und aus diesen ist

Die provenzalische Bearbeitung der Kindheit Jesu. 299

es auch in die provenzalische Bearbeitung hinüber gekommen. (Bartsch 293-299.)

Jesus schleicht sich eines Vormittags (entre tercia e mieg dia) in eine Färberei und versteckt sich in einer Arbeitsstube. Mittasrs entfernen sich die Färber und er benutzt die Zeit ihrer Abwesenheit, um die unbearbeiteten Tücher und die verschieden- artigsten Farben bunt durcheinander in einen Kessel zu werfen, den er sorofältio^ zudeckt. Darauf macht er sich aus dem Staube. An der Thür stösst er auf einen der Arbeiter, der ihn fragt, wo er herkomme ; aber das Kind antwortet nicht, sondern läuft spornstreichs davon „fugen corren tan com podia". Wie erstaunt und entsetzt sind die Färber, als sie bei ihrer Zurückkunft ihre kostbaren Tücher und Farben verschwunden sehen! sie können sich nicht denken, dass das Kind sie ge- stohlen habe, denn jener Arbeiter, der es angeredet, hatte es nichts forttragen sehen. Sie vermnthen, dass ihnen Jesus irgend einen Streich gespielt habe (que d'efFant se deu hom gardar), finden auch bald das pele-mele im Kessel und beschliessen, Joseph die Sache vorzutragen. Dieser lässt sich in die Fär- berei führen und fordert die Arbeiter auf, die verunglückten Stoffe ihm zu zeigen. Aber o Wunder! statt der verbrannten Tücher ziehen sie kostbar gefärbte heraus, ein jedes in der Farbe, in der es verlangt war. Nunmehr herrscht grosse Freude, und der Färbermeister, der in den Quellen den Namen Salem führt, bittet Joseph, ihm Jesus zu zeigen, auf dass er ihn an- bete. Joseph antwortet: „Nicht weiss ich, wo er ist. Bisweilen steht er früh am Morgen auf und geht fort, ohne dass wir ihn während des Tages wiedersehen und ohne dass wir wissen, wo er ist." Von den neueren Bearbeitungen erwähnt nur noch die englische (Archiv IL) dieses Wunder.

8. Eins der verbreitetsten und bekanntesten Wunder aus der Jugendgeschichte Jesu ist das Lebendigmachen von Thon- figuren. Ps. Math. 27, Thom. gr. A 2, 7? 3, lat. 4, Ev. Ar. 46 erzählen, dass Jesus an einem Sabbathe mit mehreren Kna- ben an einem Wasserbache spielte und dass sie durch Furchen Wasser aus dem Bach geleitet und sich kleine Teiche gemacht hätten, deren Wasser Jesus durch sein blosses Wort vom Kothe reinigte. Aus dem weichen Lehme habe er zwölf Sperlinge

300 Die provenzalische Bearbeitung der Kindheit Jesu.

gemacht und sie um seinen Teich herumgestelh, zu jeder Seite drei. Der Sabbathschändung angeklagt und von Joseph des- halb zur Rede gestellt, habe Jesus in die Hände geklatscht und die Figuren seien lebendig davongeflogen. Der provenzalische Dichter (Bartsch 299—301) bleibt bei zwölf Sperlingen nicht stehen, nach ihm verfertigt Jesus an tausend Lerchen, Staare, Papageien, Drosseln, heisst sie fliegen, sich begatten, singen „en lor lati", wieder herabkommen und sich in einen grossen Sumpf stürzen. Den Juden Avird bei diesem Wunder ganz unheimlich zu Muth, sie erklären das Kind für einen grossen Zauberer und Betrüger, ja für den enemic selbst und sind der Meinung, dass Jesus auf jeden Fall aus dem Lande zu ent- fernen sei. Kaum vernimmt es dieser, als er den Vögeln be- fiehlt, sich aus dem Sumpfe zu erheben und mit ihren kothigen Flügeln den Juden in's Gesicht zu fliegen, die auf diese Weise über und über besudelt werden und in neue Verwünschungen gegen den Kobold ausbrechen:

0""Ö^

Jeu cre miels sia diable gran, Aquest o fa per diableria.

An diese Erzählung sei eine Bemerkung geknüpft über den ganzen Charakter der provenzalischen Bearbeitung. An- fangs ist dieselbe in gemessener und ernster Sprache gehalten ; aber bald bricht sich die moquante Sinnesart des Dichters Raum, und Jesus nimmt immer mehr den Charakter eines bos- haften Kobolds an, der sich der Streiche, die er anstiftet, wohl bewusst ist (cf. N. 7), dieselben überhaupt nur anstiftet, um den Juden seine Allmacht recht handgreiflich vor Augen zu führen. Wie unendlich erhaben ist dagegen der Jesus der canonischen Evangelien I Die Juden sind daher auch weit ent- fernt, in dem Kinde Gottes Sohn anzuerkennen ; im Gegen- theil, sie halten ihn für einen bösen Geist, ja für den Teufel selbst.

9. Der provenzalischen Erzählung des folgenden Wunders Heut wohl der Bericht Ev. Ar. 40, der sich nur in dieser Quelle allein findet, zu Grunde. Es heisst nämlich dort: Als Jesus einst eine Schaar Knaben auf der Strasse sah, mischte er sich unter sie, um mit ihnen zu spielen; diese aber ver-

Die provenzalische Bearbeitung der Kindheit Jesu. 301

steckten sich vor ihm und wollten sich suchen lassen. Als nun Jesus zu der Thür eines Hauses kam und die daselbst stehen- den Frauen fragte, wohin die Knaben oreoranffen seien, und diese antworteten, sie wüssten es nicht, fragte er wiederum : „Die da, welche ihr im Ofen seht, wer sind die?" Auf ihre Antwort, es seien dreijährige Böcke, rief sie Jesus und sprach : „Kommt heraus, ihr Böcke, zu eurem Hirten." Und alsbald kamen die Knaben in Gestalt von Bocken heraus und sprangen um ihn herum. Erst die inständio-sten Bitten der Frauen konnten Jesum bewegen, jenen ihre ursprüngliche Gestalt wieder zu geben.

Bei dem provenzaiischen Dichter (Bartsch 301 303) hat die Sache eine andere Einleitung. Um nämlich Jesus zu ver- suchen, giebt ein böser Jude den hochweisen Rath, einen Saal heimlich mit Kindern beiderlei Geschlechtes zu füllen und dann Jesus rathen zu lassen, was darinnen wäre. So geschieht es, Jesus giebt zur Antwort : „Ich will es euch sagen ; Schweine und Sauen sind darin, gar wohl weiss ich es." Boshaft lachend schliessen die Juden den Saal auf; aber wer beschreibt ihr Entsetzen, als sie ihre Kinder in richtige Schweine ver- wandelt sehen. Jetzt stimmen sie darin überein, dass Christus ein Teufel ist, und zwar der gröseten einer, die in der Hölle sind;

Et sap tota l'astronomia

Las set artz e nigromancia.

Von einer Umwandlung der Schweine verlautet nichts.

10. (Bartsch 303—305.) Malep (im Verlaufe der Erzäh- lung auch Malet, Nalap, Nalep, Nalet genannt), ein Vetter Jo- seph's, baut ein Haus, und da er dabei einen Balken von einer gewissen Länge braucht, so kauft er einen solchen an. Wie er ihn aber an seine Stelle legen will, findet er, dass er um mehr als eine Klafter zu kurz ist. Jesus , der dabei steht, spricht dem deshalb Betrübten Trost zu, heisst ihn an dem einem Ende des Balken anzufassen und zu ziehen, während er selbst ein gleiches mit dem anderen Ende thut. Auf dief^e Weise dehnen sie den Balken, bis er die geeignete Grösse er- langt hat. Während Malep sich nun entfernt, um seine Leute

302 Die provenzalisclie Bearbeitung der Kindheit Jesu.

ZU holen, die ihm bei dem Auflegen desselben helfen sollen, verrichtet Jesus dieses Geschäft selbst und zwingt dadurch den erstaunten Malep zur Anerkennung seiner Göttlichkeit.

Diese provenzalische Darstellung ist verfasst nach dem, was wir Ps. Math. 37, Thom. gr. A 13, £11, Lat. 11 lesen. Dort nämlich hat Joseph, der sonst nur gew^öhnliche Stell- macherarbeiten verfertigte, von einem reichen Manne den Auf- trag erhalten, ein Ruhebett zu machen. Hierbei braucht er zwei gleich grosse Hölzer, und da es sich findet, dass das eine kürzer ist, als das andere, zieht es Jesus so lange, bis beide gleich sind.

Das Ev. Ar. 38 39 schmückt diese Fabel noch weiter aus. Hiernach begleitete Jesus seinen Vater beständig bei der Ausübung seines Gewerbes. Sowie ein Gegenstand zu lang oder zu kurz war, streckte er nur seine Hand aus und der- selbe erhielt die gehörige Grösse, so dass Joseph sich nicht sehr anzustrengen brauchte, „non erat enim Josephus artis fabrilis admodum peritus". Eines Tages nun lässt sich der König von Jerusalem einen Thron von Joseph bauen, wozu er ihm die genauen Maasse angiebt. Nach zweijähriger Arbeit ist das Werk beendet, aber wie es nun aufgestellt wird, findet es sich, dass es an beiden Seiten zu kurz ist. Joseph ist in der grössten Furcht vor dem Zorne des Königs, aber Jesus tröstet ihn, heisst ihn an der einen Seite anfiissen und ziehen, während er dasselbe auf der anderen thut, und auf diese Weise bringen sie den Thron in das gehörige Maass. Dies W^under ist um so erstaunlicher, als dabei die kostbaren, geschnitzten Figuren durchaus nicht zerrissen oder verunstaltet wurden, son- dern in ihrem schönen Ebenmaasse verblieben.

Hiermit ist der Einzelbericht von W^undern in der proven- zalischen Bearbeitung erschöpft; die übrigen fasst der Verfasser in folgenden Schlussworten zusammen:

D'autres miracles demostret Aitant cant am los juzieus estet. Les mortz fazia ressuscitar E los cranx corre et sautar E les sortz faria aurir E los mutz parlar et guerir.

Die provenzalische Bearbeitung der Kindheit Jesu. 303

Expli cit. Detur pro pena scriptori pnlcra pnella. Symon Bretelli de Tor naco Canieracensis diocesis scripsit anno nativ. Ciiristi. MCCCLXXini die XX-i Martii.

Die Sprache.

1. Aus der eben mitgetheilten Unterschrift geht hervor, dass entweder der Verfasser oder, was wahrscheinlicher ist, der Abschreiber des Gedichtes ein Nordfranzose gewesen ist. Da- her kommt es auch, dass der provenzalische Text viele fran- zösische Formen enthält.

Zuvörderst ist eine Vertauschung des auslautenden a mit e zu constatiren.

277, Q sie = sia; 27833 ™ostre = mostra; 279,9 ^^^^ = vida; 2823, obre = obra ; 28824 querie = qiieria; 284,3 avie = avia ; 285, aje =aja; 295,3 «nie = ania ; 2953, trazie = trazia; 3ÜO33 re- gardaven = regardavan.

Ferner tritt e für ai ein:

2786 lesseron = laisseron ; 284.2g "^^^ =^ vait; 290,, mestresian = maistresian ; 294^ pcrol = pairol ; 294,4 vessem = ve s'en = vai s'en.

Man sehe ausserdem folgende Formen:

280,7 veront = vezero ; 29O9 ™fivais = malvatz; 292g ferem = farem ; 2973, vous = vos; 303, majours = majors; SOSg aidier = aidar, ajudar.

2. Auffallend ist die Vertauschung von s (z), entsprechend dem lateinischen d, s, c zwischen Vocalen, mit r, ein Ueber- gang, der sich in der provenzalischen Literatur noch zweimal findet: in dem Petit Thalamus de Montpellier, und in Le libre de Memorias de Mascaro, Chronique de Beziers de 1336 1390. Vergl. Paul Meyer, Du passage d's z ä r et d'r ä s z en pro- ven9al. Romania IV. 1875, pag. 184. Ausserdem noch in Orts- namen, cf. pag. 189 192.

2716 plarens ; 274g veren ; 275,5 raron ; 276,5 au"r, og aurit; 277,, aurava; 277, g aurit; 2783g aurit; 280,g farian; 28I36 aurires; 28320 remarut; 29O9 diren ; 29239 veren; 3O623 faria.

Daneben aber steht s (z) an seiner Stelle:

27I2 plazens, 7 rizens; 27233 plazer; 2746 vesent; 27529 razo, 37 vezer; 278,5 plazer, 22 vezia, 23 fazia, 3- razos; 28I33 vezen ; 283,3 remazutz; 291,7 mescrezens; 3052, fazia.

304 Die provenzalische Bearbeitung der Kindheit Jesu.

3. Für tz im Auslaute tritt an vielen Stellen s ein : 27I21 entendes, 27 aurires ; 27234 dizes; 2787 plas, 05 toques,

og feris bates; 274je sabes, ^ anes, jg fassas ; 275i7 <^igfis voldres, jg seres, 25 fassas, 31 aves, 3- sabes que fares, 36 portares; 276i3 '^ol^s, ^g vulhas, 19 portas ; 277jj podes, ^9 plas; 2783 voles; 281g plas; 283g tos (=::^ totz) ; 292,4 P°^ (-= po^z).

Dagegen bleibt tz im Auslaute in folgenden Stellen: 27229 trastotz onratz, 30 issausatz ; 274,0 ^natz; 2774 veiigutz ; 27820 noiiitz, 21 complitz; 279ig ressucitatz, ^g toniatz; 28l2g tom- batz, ,9 degolatz ; 283^ totz; 297,8 trastotz e delitz e crematz; SOlj aunitz, 2 baratatz escarnitz; 30027 f^nitz, 23 ^.uritz.

Dass aber dies tz wie s gesprochen worden ist, ergeben folgende Reime :

28033_34 Tot respondo: mot be dizes

Anem lay donx tantost ades

derselbe Reim 28534_3g; 2863_4; 2899_io;

281g_9 Mai si vos plas me menares

Lai om dires que l'effant es.

2847_g Jeu vos priec que no m'o seles.

L'effant respondet: no faray ges. 287i4_ig Prec vos que vos me pardones

Per la boniat que en vos es. 28820—21 Qa'es reraazntz el mur laissus Los parens del mort so vengutz. 30—31 Dis lo juzieu: ar me segues

Qu'ieti lous mostre tantost ades.

29I27— 28 En l'ostal avia un pos

Un effant fönt casug lajos.

2933i_32 E cant s'en foron totz anatz L'effan Jhesus qu'era remas. 2979_io E los marsips responden totz Maistre, no sias dopttos. denn die Wörter ades, es, ges, laissus, lajos, remas, dopttos werden nie mit tz geschrieben.

4. Das t nach unbeweglichem n wird von unserem Dichter nach Belieben beibehalten und weggelassen. Es steht in fol- genden Stellen :

27l33ont; 2727; 273io, 29; 27436; 2793 etc. l'effant; 272iocant, le tant, 23 issanient, 24 (^oralment; 2746 vesent, ig secretament, 21 man- tenent, 22 corrent, 59 demantenent, 34 cant, 33 parlant; 27631 estament; 28O36 davant u. s. w.

Die provenzalische Bearbeitung der Kindlieit Jesu. 30ü

Dagegen fehlt es:

27I29; 2989 secretamen, 30 rescostamen; 272io effan, ^4 gran; 273g jausen, ^ issamen; 2743^ davan; 27900 humilmen, jj devotamen ; 281io mantenen, n volentieiranien, 33 ve/.en del pobol e de la gen. 2953 argen u. s. w.

Der Reim in folgenden Stellen lässt darauf schliessen, dass das t von unserem Dichter nicht gesprochen worden ist: 272,7_28 Car si l'effant viu longamen Fort sera savi e sabent. 33_34 Jeu ai plazer e gang mot gran De so quem dizes del effant. 27823—04 E nosti-a dona eissamen

Lur vai pregar mot humilment. 2745_e Et aitantost demantenen

Vesent de trastofa la gent. 275g_,j. Que nos a fag Jhesus l'effant De nostra parent Arian. Vergl.: 27620—21 effan grant.

28I32— 33 mantenent gen. 282jg— jg effant samblan. 284j— 2 gran effant.

3—4 humilment dossamen. 285|2— ]3 doptan effant. 2893J— 32 mantenent volentieiramen. 2923g— 37 certamen omnipotent.

Besonders aber folgende Reime :

28720—21 E tug SOS obriers issamen D'aqui partiron o van s'en. 29230—33 Cant lo paire vit son effant Que fönt alegre e viu e san. 297jg— jg Tota la perdoa et lo dan

Que vos a fag lo seu effant. 304jg— L'effan Jhesus demantenen D'aqui partit et anet s'en. denn die Wörter en, san, dan werden ohne t geschrieben.

5. Was das bewegliche n anbetrifft, so setzt es der Dichter meistens.

274,0, 292,9 doneron; 2743,, 2983, foron; 27O32, 27433 ^o"; 27629 porteron; 2783, 2792i bon ; 27925, 80X3^ respondon; 28O37 ane- ron; 28I32 levesson, ^g perderon ; 2812«, 292]g eron ; 28423 deron ; 24 covideron ; 284o25 ^85,j,2,) ren; 30130,3g ben u. s. w.

Archiv f. n. Sprachen. LVlil, 20

SOG Die provenzalische Bearbeitung dei- Kindheit Jesu.

Dagegen steht das bewegliche n nicht: 27I22 fo; 274i9 ero, cf. 2793^.

2793Q intrero; 280^ pessero, 33 respondo, cf. 28.53^, 28I34 foro; 282i, 2912^, 80832 mati ; 28428 bo mati ; 28836 "i»; 285jß, 23 i'e; 28622 be; 29935 dessendero, 35 pauzero; 303jq, jg fo.

Aus dem Reime

30335_3ß Lo fust per sert pron lonc nie fo

Fis lo portar a nia maison. 305g_g E cant Nalat enat se fönt Jhesus ses autre companho

könnte man schliessen, dass das n nicht gelautet hat. Eigen- thümlich ist die Setzung eines t nach beweglichem n in fol- gen den Worten:

fönt 27I2, 280ii, 28I20, 28232, 283,3, 29128, 29233, 2938.

funt = fönt 30823.

foront 283j5.

6. Der Gebrauch des prosthetischen v, der im Neuproven- zalischen vorherrscht (cf. Diez II, 467 in der 3. Auflage und 438 in der zweiten ; Chabaneau in Romania IV, 339), findet sich auch in unserem Denkmale.

vont = ont (29833,37; 284^3) = on = unde steht 27933, 281j3, 292ig, 298io, 299^2 von 29I24.

Vergl. hvuels = olhs, Bartsch. Chrest. 3326 (Traduction du nouveau testament).

7. Die Enclisis, die sonst nur stattfindet, wenn das vorher- gehende Wort mit einem Vocal endet, steht unregelmässig:

28O29, 2853Q, 29822, 2963J non = nos en. 27025, 297^ nom = non = nos en. 274j7, 282j9, 297^8 von = vos en.

8. In der Zeit, in der unser Gedicht abgefasst wurde, achtete man nicht mehr genau auf die Nominalflexion ; die Unter- schiede des Nominativ und Accusativ, des Singularis und Plu- ralis verwischten sich , und so finden sich denn bei unserem Dichter richtige und falsche Formen promiscue gesetzt, z. B. :

282^, g, 20? 21 l'eflTant = l'efians, jq teulier = tenh'ers, jg gentil eflFan =. gentils effans, 30 tianstot =^ transtofz, 3^ jorn = jors.

2885 negu = negus, 7 totz = tilg, tuit, 21 effant = effans, 32 trabelhat = trabelhatz.

2842 vengut r:^ vengutz, jy, 25 effan == effans, 53 '"^ = i'^'^?

35

teulier = teuliers.

Die provenzalische Bearbeitung der Kindheit Jesu. 307

2864 corrossat = corrossatz, g dolent = dolenz, irat = iratz, ,g razo ^= razos, 26 juzieu = juzieus.

28G3 senher = senhör, gg efFan = eiFans, 59 tot = totz.

293ß, j, effan = effans, ^ apparellhat = apparellhatz, 22 trastot ::= trastotz, 27 tot = totz, 28 dinat = dinatz, cascu =:: cascus.

294:20, 26 fi'gßii = fugens, corren = correns.

295^ hom = homs, intrat = intratz, ^i r^s = re.

29624 l'eff3,nt juzieu =; l'effans juzieus.

2972 ^^^ effant = sos effans, 9 marsip = marsips, tot =• totz, 26 filh = filhs. u. s. w.

Der Versbau.

1. Unser Gedicht ist verfasst in 1301 achtsilbigen paar- weise gereimten Versen. Die achte Silbe hat stets den Ton, doch kann ihr noch eine unbetonte neunte folgen.

Beispiele solcher weiblichen Reime sind:

27 14 Sa perssona ac ben formada

5 E la cara gen fayssonada

g Totz cels que I'efFan regardavan

g Paucs e grans s'en enamoravan

j7 E a cascun gran gaug fazia

jg Tant graut beutat l'effan avia.

27 Ar aurires que anet faire

2g L'enfant Jhesus franc de bon aire. 272j3 Demantenent tots s'en aneron

j4 De gran vei'gonha qu'els agueron. 27433 ^^^ fo" grant lo dol que meneron

34

Cant Arian raort atroberon

29935 Deraantenen tost dessendero 3g El niieg del sol eis si pauzero.

2. Da aber unser Dichter kein besonderes Geschick im Versemachen besass, so finden sich einige Zeilen, die ihm zu lang gerathen sind.

27226 Letras appenre et endotrinar, cf. 273^4 27635 ^'^ ^^ senescalc: sabes que fares. 2763 Devant lo senescalc l'aporteron

26 Cant los parens del moit an aurit

27 So quel senescalc del effant a dig. 2787 Nostra dona et Josep li pregeron

37 Jeu te diray que vol dire beph 280j6 E van sus lo solelh regardar

20*

308 Die provenzalische Bearbeitung der Kindheit Jesu.

28837 E nostra dona cant vit Josep 284g L'efFant respondet: no faray ges 285^ Aissi delida ni malmenada 29 Ij Digas, Abramon, que t'ai ieu fag 29726 Que m'a dat vostre filh et dampnage 30224 Cant an vist que sont treguas e porx

3. In Bezug auf Hiatus und Ellsion kennt unser Ver- fasser keine bestimmten Regeln; er behandelt beide ganz will- kürlich, je nachdem sie ihm dazu dienen, das Maass von acht Silben voll zu machen. Beispiele von Hiatus sind :

27208 Fort sera savi e sabent

30 E son linhatge issausatz 27834 Decosta se el l'assetet 27533 Abans que ieu al re ly fassa 2775 Anet li dire et pregar 2783g Cant lo maistre a aurit 28724 Estalvet se un autre dia

26 S'en vengro essems deportar 2893 Que aquel es l'effan Jhesus

5 Que a Josep non anessem

36 La ont est Jhesus van venir

37 E van lo a Josep mostrar.

Elision dagegen findet statt in folgenden Stellen : 27223 E a nostra dona issament

36 Responderon en aquela hora 274j3 Un bon juzieu que aquo auzi 2702 La mort, la perdoa e l'otrage 27621 ^^ *^® parage noble e grant 2773 Com pogra auer Jhesus TefTant

16 Qu'ieu l'essenhe cosi era mieu 27836 L)igas me que vol dire aleph 28 lg La perdoa el dampnatge gran

jg Septat Jose}) que aqui istet 285g Cant vic tota l'obra afFolada 28633 La obra volgro a Josep mostrar (mit doppelter Elision).

4. Die Vocalverbindung la ist in unserem Gedichte mei- stens einsilbig:

27O26 Que sia ad honor et a lauzor 27520 Sen senescalc, no vos sia greu 279ig An'an sia ressucitatz 28O20 Tot respondo : be poiria far 283,2 Car avian fag tan bei obrage 2g Josep no faria mai plorar.

Die provenzalisehe Bearbeitung der Kindheit Jesu. 309

284j3 Ont avie (= avia) ganre d'obriers

J4 Que farian teules e pichiers

32 Entieira com l'avia laissada 28027 Senher, dis el, no vos sia greu 29435 N' ^^ä tenchas que aviam laissadas 2989 A la tencharia van venir 303g El mon non cre que sia major

jo Non cresian que l'effan fo dieus

j3 El prozom avia nom Malep 30424 Lo tirem tan tro sia pro lonxcs.

Jedoch ist ia zweisilbig zu sprechen : 2703J E non avia mai eine ans 27633 ^^ ^^'^ ™^t gran riqueza 277j E non avia ges d'elFant

12 ^i non o sabia sa maire 28327 Car non lo podia trobar 29525 Maistre, vos sia certas 296j3 Tant cant avia ai perdut.

5. Das Wort maistre braucht der Dichter, je nachdem es der Vers erheischt, dreisilbig oder zweisilbig. Dreisilbig ist es in folgenden Stellen :

2723 Denant les maistres s'en veno 273j Am lo maistre Arian

3 Milher maistre non quäl querre 277j3 E lo maistre respondet

33

El maistre la saludet

278e L'effant al maistre laisseron

27

El maistre val demandar 3g Cant lo maistre a aurit 283| Dis lo maistre: gran falhensa 28635 Maistre anem hy ades. 286|g Maistre fort me meravilh.

Zweisilbig dagegen:

277g Senher maistre si dieus m'ajut

jg Senher maistre voles aurir 278o2 Cant lo maistre l'effant vezia.

6. Ein Wort darf nur dann mit sich selbst reimen, wenn in beiden Fällen die Bedeutung desselben verschieden ist. Richtig ist daher der Reim:

29624__25 Si l'etFant juzieu o a fag

Ab el ai perdut tot mon fag.

310 Die provenzalische Bearbeitung der Kindheit Jesu.

weil hier fag einmal Participium , das andere Mal Substan- tivum ist.

Falsch dagegen sind folgende Reime: 278j2— 13 Vos prometi per re que sia

L'efFant per mal tocat no sia 2869_j() Ton filh Jhesus venc entre nos

A la teulieira adjudet nos. 29l3i_32 Pus filh ni filha non avia

Aquel metis perdut avia 301g_g Los fes trastotz del fanc volar Et pueis los fes en haut volar (die Handschrift hat valar).

7. Dreifacher Reim findet sich:

277^_3 effant pessant effant 29l2_4 degolat tombat veritat 294o/^_26 mot trot pot. cf. 295jg_|7. 300i_3 ajustar anar pelejar 30427—29 tirar alongar torar.

8. Unserem Dichter genügt die Assonanz sehr oft an Stelle des Reimes. Man sehe folgende Beispiele:

276e_7 mort colp, 22—23 D^^it atressi.

277j3_j4 respondet Josep, 29—30 respost fort.

27830—31 respondet beph; 279jß— ^7 Jhesus conogut.

280ji_2 aital tombar; 28I20— 23 sautet Josep.

293j— 2 clam effan, 13-14 draps apparellhatz, 17— ig draps

escarlatas, 35—36 vertz vermelhs.

2947—8 brezilh atressi, 13—14 mantenen vessem, 03— '>4 ^os

mot; 29026—27 sert esquerns.

296^2-13 confondutz perdut.

297j7_jg respondet prec, 23—24 respondut vengutz, 27—28 draps crematz, 29—30 '^"' meravilh, 33—34 respondet Josep.

29820—21 niiravilhos colors, 30—31 Josep prec.

2997_g partia seguian , 13—14 demantenent mescrezens, 21—22 cens essems, 31—32 aval volar.

300j2— 13 seguen vezem ; 3OI35— 36 femels dizes.

302j9_2o petitz obrir, 27—28 meteis dizen.

304jj— 12 regardet est, 23—24 ^°^ lonxcs.

Beiträge

zur

Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes.

Vou

Ed. Tiessen.

X. Macbeth.

(A. I. Sc. 2.) Worthy to be a rebel, for to that The multiplying villanies of nature Do swarm lipon hini.

Delius bemerkt zu dieser Stelle: „to that erklärt Malone: to that end, Steevens dagegen: in addition to that. Erstere Deutung ist plausibler: Weil er -vverth ist, ein Kebell zu sein, weil er ein ausgezeichneter Rebell ist, deshalb gesellt sich Alles, was es Schlechtes giebt, naturgemäss in wimmelnder Meno-e ihm zu. Das Bild ist von sich endlos mehrendem Un- geziefer und Gewürm entlehnt." Hienach darf als erwiesen angenommen werden, dass die Herausgeber bisher nicht erkannt haben, was den Dichter zur Wahl dieses Bildes veranlasst hat: das Wortspiel zwischen rebel und rabble. Auf dass Macdon- wald mit Kecht so genannt werde, schwärmt es auf ihm von den sich mehrenden Niederträchtigkeiten der Natur.

(Ibid.) Carv'd out bis passage, tili he fac'd the slave,

Which ne'er shook hands, nor bade farewell to him,

Da sich which schlechterdings nur auf the slave beziehen kann, als Subject des letzten Satzes aber jedenfalls Macbeth zu denken ist, so lässt sich die von Delius verAVorfene Ersetzung von which durch and nicht abweisen. Bei aller Kühnheit der Construction spricht der Dichter in ernster Rede doch niemals im Styl von Mrs. Gamp und Mrs. Harris.

(Ibid.) Till he unseam'd him frora the nave to the chaps

312 Beitrage zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes.

Delius erklärt: „Vom Nabel aufwärts bis zu den Kinn- backen"; anscheinend hatte Warburton die Stelle ebenso auf- gefasst. Nave heisst indess nicht Nabel, sondern Nabe eines Eades, in abgeleiteter Bedeutung Schiff einer Kirche, hier also Scheitel. Macbeth trennte dem Gegner die Kopfnath auf. Mit geschwungenem Stahl und beim Tranchiren eines Bratens pflegt man von oben nach unten zu schneiden, nicht umgekehrt. (Ibid.) Point against point, rebellious arm 'gainst arm.

Bei dieser von Delius beibehaltenen Interpunction der Fol. kommt der Widersinn heraus, dass der rebellische Arm nur der Arm Macbeth's sein kann ; ausserdem denkt man sich unter einem rebellischen Arm zunächst einen Arm, der dem eigenen Herrn nicht gehorcht. Wird dagegen, wie üblich, das Komma hinter rebellious gesetzt, so entspricht der Satz aufs Beste dem vorhergegangenen : Confronted him with self-comparisons. (Sc. 3.) That, trusted home,

Delius: „That sind die Versprechungen der Hexen, die, wenn man auf sie ganz und gar, bis ans Ende, baut etc." Dies ist nicht richtig. That bezieht sich auf den Gedanken, der Macbeth die Frage eingegeben hat: Hofft Ihr nun (nach- dem sich eben eine Versprechung der Hexen bewährt hat) nicht auch, dass Eure Kinder Könige sein werden? Darauf antwortet Banquo: Wenn man diesen Gedanken bis zu seinem Ursprung verfolgt, so möchte sich aus Eurer Frage ergeben, dass Ihr selbst König zu werden hofft. Noch wahrscheinlicher ist für trusted home thrusted home zu lesen; dann sagt Banquo: Wenn ich Euch das zurückgebe, wenn ich den Spiess um- kehre, etc.

(Ibid.) to betray us

In deepest consequence.

Delius: „Aber in den wichtigsten Sachen verrathen sie uns, meinen sie es falsch." Deepest consequence sagt mehr: Dass es ihnen gelingt, uns zu verrathen, folgt mit strengster Nothwendigkeit daraus, dass es ihnen gelungen ist, durch Zu- verlässigkeit in kleinen Dingen unser Vertrauen zu gewinnen, und auch die Dinge selbst, in denen sie uns schliesslich ver- rathen, stehen in logischer Verbindung mit jenen, in denen wir sie zuverlässig erfunden haben.

Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes. 313

(Sc. 4.) our duties

Are to your throne and State, ohildren and servants; Which do but what they sliould,

So interpungirt, hiesse die Stelle : Unsere Pflichten gebüh- ren Eurem Thron und Eurer Würde, Euren Kindern und Die- nern, und thun nur, was sie sollten etc. Da der Sinn aber ist: Unsere Pflichten stehen zu Eurem Thron und Eurer Würde in dem Verhältniss von Kindern und Dienern, die nur thun, was sie sollten etc, so muss ein Komma hinter are stehen und das Semikolon hinter servants durch ein Komma ersetzt werden.

(Ibid.) From hence to Inverness,

And bind us further to you.

Letzteres erklärt Delius als eine Aufforderung an Macbeth, auch fernerhin sich um den König verdient zu machen. Mac- beth soll sich indess den König dadurch ferner verbinden, dass er* ihm seine Gastfreundschaft gewährt.

(Ibid.) The rest is labour, which is not us'd for you.

Delius : „Diejenige Rast, die nicht für Euch verwandt wird, die sich Euch nicht nützHch macht, ist keine Rast, sondern be- schwerlich wie Arbeit." Wer die Stelle zum ersten Mal auf- merksam liest und den Hamlet kennt, denkt doch gewiss zu- nächst an: The rest is silence, und verfällt nicht leicht darauf, dass rest hier Rast bedeuten könne, wird sich also mit dieser Bedeutung nicht eher beschäftigen, als bis die Uebersetzung durch Rest zu keinem befriedigenden Ziele führt; um so weni- ger, als der Dichter, hätte er Rast gemeint, eher that rest als the rest geschrieben haben würde. Nun giebt aber Rest in Ver- bindung mit des Königs vorhergehenden und Macbeth's nach- folgenden Worten einen ganz natürlichen und guten Sinn: Mac- beth will sagen, was ihm nun zu thun bleibe, thue er nicht dem König, sondern sich selbst und seiner Frau zu Liebe, indem er vorauseile und ihr die frohe Botschaft verkünde.

(Ibid.) Stars, hide your fires!

Let not light see niy black and deep desires : The eye wink at the band ; yet let that be,

Zu yet let that be bemerkt Delius, the eye sei Subject zu let. Das Subject zu diesem let wie zu dem vorhergehenden ist aber stars. Die Sterne sollen das Licht nicht Macbeth's

314 Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes.

Wünsche sehen lassen, sie sollen ferner das Auge nicht sehen lassen, was die Hand thut, und sollen endlich geschehen lassen, was das Auge, wenn es geschehen ist, zu sehen sich fürchtet.

(Sc. 5.) thou 'dst have, great Glamis,

That which eries, „Thus thou must do, if thou have it!"

Statt if thou have it, wenn auch Sh. selbst so geschrieben hat, muss unstreitig gesetzt werden : if thou'lt have it. Du willst das haben was ruft: so musst Du handeln, wenn Du es haben willst.

(Sc. 7.) And, to be more than what you were, you would Be so much more the man.

Nicht, wie Delius erklärt, „um mehr zu sein als Du warst," sondern : warst Du mehr als Du warst.

(A. IL Sc. 1.) A heavy summons lies Hke lead upon me.

Delius: „Heavy ist bei Sh. nicht bloss schwer, sondern auch schwer machend, müde machend, also mit summons = Mah- nung zum Schlaf." Das zu Grunde liegende Bild wird damit nicht erklärt: es ist dasselbe, welches in Julius Caesar IV, 3 angewandt wird: 0 murderous sluraber, lay'st thou tliy leaden mace upon my boy?

Der Schlaf wird als Häscher gedacht, der einen Ange- schuldigten verhaftet und ihm zu dem Ende seinen bleiernen Amtsstab auf die Schulter legt. Banquo fühlt sich nicht ganz frei von sündigen Gedanken und möchte der Vorladung nicht folgen.

(Ibid.) This diaraond he greets your wife withal,

By the name of most kind hostess, and shut up In measureless content.

Delius: „Zu shut up ist he zu ergänzen. Er endete, d. h. beschloss, den Tag in maassloser Zufriedenheit. Andere fassen shut als Partici[)ium, das sich auch als solches nur auf Duncan beziehen Hesse." Wenn sich shut up auf Duncan beziehen lässt, kann es nur Participium sein ; die Umschreibung he shut up ist ganz undenkbar. Es ist aber möglich, dass es sich gar nicht auf Duncan bezieht, sondern dass most kind hostess die Inschrift und measureless content die Umschrift des Ringes be- deuten soll.

Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes. 315

(Ibid.) Yet, when wc can entrcat an hour to serve, Von den beiden Deutungen, die Delius hier neben einander stellt und unter denen er der richtigen den Vorzug giebt, beruht die unrichtige auf der Annahme, to entreat sei bei Sh. nicht nur bitten, ersuchen, sondern auch verhandeln. Diese Annahme hat ihn in Romeo und Juliet irre geführt: My lord, we nmst entreat the tirae alone.

(Sc. 2.) That which hath made them drunk hath made me bold, What hath quench'd them hath given me fire.

Delius: „Der glückliche Erfolg, den die Lady mit ihnen gehabt hat, hat ihr selbst Muth und Feuer gegeben für das ferner zu Thuende. Andere erklären, im genaueren Wort- verstande, dass die Lady selbst von dem Tranke, den sie den Kämmerlingen bereitet, gekostet habe." Letztere Erklärung, also dass Lady M. sich Muth getrunken hat, ist doch wohl un- verkennbar die einzig mögliche.

(Ibid.) Methought, I heard a voice cry, „Sleep no more ! bis zu der Zeile:

Shall sleep no more, Macbeth shall sleep no more !

Delius setzt nur die Stellen: Sleep no more! Macbeth does murder sleep, und in der ersten Zeile des zweiten Absatzes: Sleep no more! zwischen Anführungszeichen, und sieht alles Uebrige als Macbeth's eigene Reflexionen an. Aber schon die Zwischenfrage der Lady M.: What do you mean? weist darauf hin, dass Alles als Ruf der Stimme gefasst werden muss, die Macbeth gehört zu haben glaubt, und für die Aufführung hat die dann gebotene stätige Steigerung des AfFects augenschein- liche Vorzüge.

(Ibid.) Making the green one red.

In der Anmerkung zu dieser Stelle weist Delius nicht ent- schieden genug die Möglichkeit von der Hand, zu interpun- giren: Making the green one, red, und sagt sogar, dies würde heissen: Das Grüne roth machend. Nun kann the green one, mit Beziehung auf ein vorhergehendes Substantiv, den grünen, die oder das grüne, ohne solche Beziehung den Grünen oder die Grüne, niemals aber das Grüne als Substantiv bedeuten. Dass es sich hier nicht um einen Flüchtigkeitsfehler handelt

316 Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes.

geht aus Delius' Anmerkung zu Hamlet V, 2: He hath much land, and fertile, hervor.

(Sc. 3.) The wine of life is drawn, and tbe mere lees Is left this rault to brag of.

Delius fasst this vault als den gewölbten Erdball auf. Aber Macbeth stellt mit dem Ungeschick des bösen Gewissens den Tod Duncan's als einen ihm ganz persönlich zugefügten und ausschliesslich auf ihn gemünzten Schicksalsschlag dar; folge- richtig versteht er unter this vault seine eigene Person, sei es, dass er auf Haupt, Mund oder Brust dabei deutet.

(Ibid.) Here, where our fate, hid in an auger-hole,

Bemerkens werth ist die von Delius hier nicht hervorgehobene Beziehung zu Reg. Scots von ihm in der Einleitung citirter Schilderung der Hexen, worin es u. A. heisst: They can go in and out at awger holes.

(Ibid.) Our tears

Are not yet brewed.

Delius citirt aus T. Andronicus eine Stelle, in der diese Metapher weiter ausgeführt wird, lässt aber ausser Acht, dass sie ebenfalls weiter ausgeführt wird in Malcolm's Antwort an

Donalbain:

Nor our streng sorrow Upon the foot of motion.

Unser starker Schmerz ist noch nicht in der Gährung be- griffen. (Die Maische geht noch nicht, ist der entsprechende technische Ausdruck.) Die Anklänge an beer in tears und an die provinziell zweisylbige Aussprache von wort in sorrow ver- stärken das Bild.

(Sc. 4.) The sacred storehouse of bis predecessors, And guardian of their bones.

The sacred storehouse ist schwerlich „die durch kirchliche Weihe geschützte Schatzkammer", sondern die geweihte Vor- rathskammer, in der die Vorfahren des Königs aufgespeichert wurden.

(A. III. Sc. 1.) in such bloody distance.

Dies heisst nicht: „in einer gegenseitigen Entfremdung, die so lebensgefährlich ist etc.", sondern distance ist der Raum,

Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes. 317

der zwei Fechter trennt; je näher sie einander auf den Leib rücken, desto blutiger wird der Kampf.

(Sc. 2.) Of sorriest fancles your conipanions making. Sorry, im Munde der Lady M., hat hier gewiss nicht den Begriff von traurig, melancholisch, sondern den von kläglich in dem Sinne, dass Macbeth's Phantasieen seiner ganz unwürdige Cumpane sind.

(Ibid.) So, pVythee, go with me.

Hier legt Delius den Sinn hinein, als bäte Macbeth die Lady, ihn ruhig gewähren zu lassen ; es ist indess sicher nichts weiter, als die Aufforderung, mit ihm die Bühne zu verlassen.

(Sc. 3.) Slnce he delivers

Our oftices, and what we have to do, To the direction just,

Delius : „Just gehört entweder als Adjectiv zu direction : to the just direction, oder als Adverbium zu delivers; erstere Construction erscheint als die natürlichere." Dagegen ist nur zu sagen, dass jene erstere Construction nicht englisch wäre; just kann nur Adverbium sein. Der dritte Mörder weiss bis auf die Ueberechrift genau anzugeben, was den Anderen zu thun aufgetragen ist; bis auf die Ueberschrift heisst, da er keinen Brief gebracht hat : er weiss auch genau, an wen er seinen Auftrag ausrichten soll.

(Ibid.) O slave!

Dieser letzte Ausruf Banquo's gilt denn doch wohl jeden- falls Macbeth, nicht, wie Delius meint, dem Mörder.

(Sc. 4.) You do not give the cheer. Delius : „Cheer ist die gastliche Stimmung, die zum Mahl gehört." Das sagt nicht genug; Lady M. will sagen: Ihr mun- tert nicht zum Zulangen auf; Ihr trinkt nicht zu.

(Ibid.) Thou hast no speculation in those eyes.

Speculation lässt sich zwar ganz gut durch Sehkraft, noch besser aber vollkommen wörtlich durch Spiegelung übersetzen. Macbeth weiss ja, dass Banquo keine Sehkraft haben kann, aber er sieht nun, und sieht mit Grausen, dass sich in Ban- quo's Augen nichts abspiegelt.

318 Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes. (Ibid.) If trembling I inhabit then,

Delius übersetzt to inhabit durch: zu Hause bleiben. Ich vermuthe, dass trembHng Object zu inhabit ist: Wenn ich dann das Zittern zu meiner Wohnung mache, oder auch: wenn ich dann das Kleid des Zitterns anlege.

(Ibid.) You make nie Strange

Even to the disposition that I owe.

Aus Rosse's Frage: What sights, my lord? geht hervor, dass diese und die folgenden Worte nicht, wie Delius meint, an Lady M., sondern an die ganze Gesellschaft gerichtet sind. Delius übersetzt die Stelle: „Du machst mich an mir selbst, an meinem eigenen Naturell, irre etc." Der richtige Sinn ist: Ich bin ohnehin aufgelegt, ausser mir zu sein, aber indem ihr solche Gesichte so ruhig anseht, bringt ihr mich noch mehr ausser mir.

(Ibid.) And keep the natural ruby of your checks, When niine is blanched with fear.

Aus dem Irrthum, dass Macbeth nur Lady M. anrede, er- giebt sich dann weiter, dass Delius mine auf the natural ruby bezieht, während es im Gegensatz zu den cheeks aller Anderen my cheek bedeutet. Daher steht auch is nicht für are im Sinne Sh.'scher freier Construction, wie Delius, nach dem Vorher- gehenden, inconsequenter Weise erklärt.

(Sc. 6,) Die ganz unverhüllte Ironie im ersten Theil der Rede des Lenox fasst Delius als vorsichtige Zurückhaltung dem anderen Lord gegenüber. Aber abgesehen davon, dass dieser ein ausgesuchtes Mondkalb sein müsste, um die wahre Meinung nicht zu merken, geht ja Lenox in den offensten Freimuth über, ehe der Andere noch ein Wort gesagt hat, und sobald dieser spricht, zeigt er sich als einen engverbundenen Gesin- nungsgenossen von Lenox.

(A. IV. Sc. 1.) Harpier.

Sollte dies räthselhafte Wort nicht durch harrier, welches Mäusefalk heisst, zu ersetzen sein?

Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes. 319

(Sc. 2.) the poor wren

will fight. Her young ones in her nest, against the owl.

Die Kommas hinter fight und nest sind vom Uebel: der Zaunkönig vertheidigt (fights) seine Jungen in seinem Nest gegen die Eule. Wenn es heissen solhe: Er kämpft gegen die Eule, wenn die Jungen in seinem Nest sind, würde Sh, schwer- lich fight against the owl, sondern eher fight the owl gebraucht haben.

(Ibid.) I pray you, school yourself.

Nach Delius' Meinung liegt der Nachdruck auf yourself und will Rosse, Lady Macduff solle sich wegen ihrer maass- losen Reden selbst in die Zucht nehmen, nicht aber ihren Gat- ten. Er bittet sie wohl ehei;, sich in Geduld zu ergeben ; gerade was er zu Macdufi's Vertheidigung sagt, beweist, dass er ihr innerlich Recht gibt.

(Ibid.) Each way, and move.

Die Vermuthung der Cambridge Edd.: Each way, and none, trifft so augenscheinlich das Richtige, dass die Lesart in den Text aufgenommen sein müsste.

(Sc. 3.) A good and virtuous nature may recoil In an imperial Charge.

Delius: „Eine gute und tugendhafte Art, wie sie Macduff vielleicht eigen ist, mag sich verstecken, zurückweichen, wenn es sich um einen königlichen Befehl handelt." Dies berück- sichtigt nicht das vom Abfeuern und Rückstoss eines Geschützes entlehnte Bild ; die königliche Ladung verdrängt die gute Natur aus ihrer Stelle.

(Ibid.) Convey your pleasures in a spacious plenty.

Dies heisst: Ihr dürft Eure Lüste auf einem weiten Meer des Ueberflusses schiffen lassen. Dass es heimlich geschehen kann, steckt nicht, wie Delius meint, schon in dem Begriff von to convey, sondern wird erst in der nächsten Zeile gesagt und sogar ausdrücklich mit and yet angeschlossen.

320 Beiträge zur Feststellung und Erklärung des Shakespeare-Textes.

(Ibid.) Summer-seeming lust.

Summer-teeming scheint vorzuziehen zu sein.

(A. V. Sc. 2.) their dear causes

Would, to the bleeding and the grim alarra Excite the mortified man.

Delius : „Selbst ein durch ascetische Kasteiungen irdischem Treiben und Trachten abgestorbener Büsser oder Heiliger würde für eine so wichtige, dringende Sache in den blutigen und schrecklichen Kampf ziehen." In Jul. Caes. II. 2 steht: Thou, like an exorcist, hast conjured up my mortified spirit. Schon hieraus ergiebt sich, dass vorstehende Erklärung nicht richtig sein kann. Die Stelle heisst: Selbst Todte würden durch eine Sache wie die Malcolni's und MacdufF's ins Leben zurück- gerufen werden und mit von Frischem blutenden Wunden grimmig zu den Waffen greifen. (Alarm = aux armes!)

(Ibid.) He cannot buckle bis disternper'd cause Within the bell of rule.

Nicht „so aufgelöst und zerrüttet", sondern so krank und davon so aufgetriebenen Leibes ist seine Sache, dass sich der Gürtel der gewohnten Ordnung oder vielmehr der gesunden Vernunft nicht mehr zuschnallen lässt.

(Ibid.) New minutely revolts upbraid bis faith-breach.

Revolts erklärt Delius durch Empörungen; nach Analogie einer Stelle in K. John : Lead me to the revolts of England here, dürfte es durch Empörer zu übersetzen sein.

(Ibid.) those linen cheeks of thine

Are counsellors to fear.

Wie ich vermuthe, hat Sh. hier an spiritual counsellors und an die Leinwandärmel der englischen Geistlichkeit ge- dacht; dann steckt in cheeks ein Anklang an sleeves.

Deutsche Spruchweisheit

a u f M ü n z e n , Medaillen und Marken

C. Schulze.

(Schluss.)

Mags doch sein, lebt doch unser herr Gott noch. (= „Gott lebt noch".) Schaumnz. Anip. 9175.

A. Mancher dvnckt sich in seinem sin garklvg, vf die letzt hat er an einer genvg.

R. Wvnder, wvnder vber wvnder, ein fvchs vffdera bavm vnd vogel drvnder. Spottm. Joh. Casimir's v. Sachen- Koburg auf die vermeintliche Untreue seiner Gemahlin. Vgl. der sich klug dünckt, dem hengt torheyt an, Werdea AHij.

Mars sich nach Cupido rieht. Venus schevt die Waf- fen nicht. Münze f.d. Beilager des als kaiserl. Generalfeldmarschall abziehenden Markgrafen Christ. Ernst v. Baireuth u. Elisab. Sophie v. Preussen, 31. März 1703.

Mein anfang vnd endt stehet alles in Gottes hendt. Nürnbg. Med. f. Konr. Wurm o. J. Imhof 11, 950. Begräbnissthaler Anna Sophias v. Schwarzburg 1652. Köhler 11, V. 25. Schon bei Vridank 175, 16: anevanc und ende stänt in gotes hende, fehlt aber bei W^ander.

Mein end u. leben ist Gott ergeben. Begräbnissthaler des ältest. Prinzen Ludwig sen. v. Anhalt-Cöthen 1624. Madai 1005. Köhler I, 201.

Archiv f. n. Sprackeu. LVUI. 21

322 Deutsche Spruehweisheit auf Münzen, Medaillen und Marken.

Mein gelt ist kl ein (rund) das ich bor g allen. Nieder- länd. Klippe um 1555. Wellenh. II, 9147.

Mein glück und kraft kommt von Gottes macht (m. g. V. k. k. V. g. ra,). Spruchgroschen der Kipperzeit, Fried. Ulrich v. Braunschw. Leitzm. 19, 75. Nach Appel III, 434: Mit glück vnd kunst kann kein verlast geschehen mir. Braunschw. Jet. 1619.

Mein hofnvng steht allein zv Gott, er ist getrev vnd hilft avs not (1 Corinth. 10, 13. vgl. Petri 1,46). 1 1/2 Thaler Rudolfs V. Schaumburg 0. J. Mad. 4364

Min hofnvng zv Got allein. Med. Friedr. II. v. Dänem. 1582. Köhler 10, 129, mit dem Zusatz: dann trew vnd glauben ist worden klein, bei Gruter III, 68.

Mein kind folgst du der eitern rath, gibt Gott durch engel rath und that. Med. Amp. 9198.

Mein stercke glvc vnd lob est mein her vnd Got, exod. 15. Gegoss. Silbermed. d. Landgraf. Philipp des Grossmüth. v. Hessen 1535 u. 37. Hoffmeist. 278.

Mein trost zv Got mich nie verlasen hot. Silbermed. d. Katharina v. Loxau v. 1535. Böhm. Med. 311.

Meine höchste Weisheit ist Jesus Christus. Med. f. d. Tod der Herzogin v. Sachsen-Merseburg, Erdmuth Doroth., v. 1720. Leyser C, 1622. Christum lieb haben ist besser denn alles Wissen, Luther 399.

Mensch bedenck das leben dein grosse frevd oder ewige pein wirdt dein letzter lohn sein. Jet. d. Magdebg. Münzmeist. K. Hunt v. 1586. Leitzm. 29, 92.

Mensch bis frolich, drink v. is, vnd das lezte schtund nit vorgis. Jet. Weller's v. Molsdorf 1546. Reinh. 6254 ähnlich: trink u. iss, Gottes nicht vergiss. Agricola.

Mensch deine sünden mehren sich, drumb schlägt Gott mit dem f auf dich, doch wann dich schlägt die eine handt, so komptdieandr vnd bringt das bandt. Nürnbg. Med. f. d. westphäl. Frieden 1648. Imhof II, 100. Gott schlägt mit der einen Hand und heilet mit der andern. Wander II, 43, 978.

Menschen wagen, wiegen, wanken, Gott hält alles doch in schranken. Werrauth. Med. f. d. europ. Kriegszustände V. 1712, specif. 31.

Deutsche Spruchweisheit auf Münzen, Medaillen und Marken. 323

Menschenliebe ist die kröne aller tugent. Med, f. Sa- lom. Heine, Erbauer des israel. Krankenhauses in Hamburg 1841. Leitzm. U, 88. Gaedech. I, 111.

Mit der zeit. Wahlspruch Otto Heinrich's v. d. Pfalz f. einem Siegel V. 1537. Spiess II, 207.

Mit gedvlt wil ich verwinden, was neithart vber mich feindselich dvt erfinden. Kupferjet. v. 1580. Reinli, 6092.

Mit Gott und mitderzeit. Vermählungsmed. Louise Elisab. V. Würtembg. u. Herzog Phil. v. Sachsen. (Denkspruch seines Vaters) V. 1688. Binder 330.

Nach allgemeinen klag und weinen lässt Gott die gnadensonne scheinen. Med. f. d. Theuerung v. 1770 u. 71. 1772. Hausch. 2861.

Nach den krachen, nach den knallen, nach den wetter, nach den wallen folgt der helle Sonnenschein. Man mus durch das wetter dringen, wil es heutte nicht gelingen, mus es dennoch morgen sein (Tobias 3, 23). Gedächtnissm. f.'d. Hamburger unruhigen Jastram- u. Schnittger'schen Zeiten v. 1685. Langerm. 51.

Nach Gottes willen gehts. Med. Herzog Ludwig's von Würtembg. 1587. Binder 79. Weidner, apophthg. IV, 361.

Nach leidt folgt freud. Hildesheim. Schaumz. um 1750. Leitzm. 12, 35. Eiselein 418.

Nach regen folgt (kompt) Sonnenschein (Tobias 3, 22). Hessische Theuerungsmed. v. 1816. 17. Hofmeist. 2819. Hamburg. Privatportugaleser. Gaedech. II, 118.

Nachdenken und erfahrung vermindern die gefahr. Halber Portugaleser v. 1791 der Hamburg. Assecuranz-Compagn. Amp. 2674. Med. f. d. 50jähr. Jubelf. der IL Assecuranz-Gesellsch. in Hamburg, 1821. Loos s. 69. Gaedech. I, 37.

Nicht sind igt Gott sichts. Med. f. Sigm. v. Landau, Freih. v. Rapoltenstein 1606. Bergm. II, 247.

Nichtes gewisers dann der dot. Jet. des Münzmeist. Alnpeck z. Freiberg 1546. Reinh. 6201 (vgl. „Gewiss ist der Tod").

21*

324 Deutsche Spruchweisheit auf Münzen, Medaillen und Marken.

Nichts, Gott sichts, Gottrlchts. Wermuth. Spruchmed. V. 1690, specif. 36. Wander II, 44, 1005.

Nichts ist so gross, es wird durch Zwietracht end- lich klein. Nichts ist so klein, es wächst durch eintracht ungemein. Nicht Zwietracht eintraclit nur muss nun und ewig sein. Werner'sche Med. f, d. Eintracht zwischen Oester- reich u. Frankreich 1737. Leyser 558: „Concordia res parvae ect."

Nichts ist w ahrlich so w ün schens werth u nd erfreuend, als wenn mann und weib, in herzlicher liebe vereinigt, ruhig ihr haus verwalten; den feinden ein kränkender anblick, aber wonne den freunden, und mehr noch ge- niessen sie selber. Hochzeitsraed. v. Loos. IIa. 13 aus Hermann u. Dorothea v. Göthe.

Nichts vnversucht. Goldene Med. Pfalzgr. Philipp's (bellic.) 1522 u. 1535. Exler I, 44. (sein Wahlspruch) R du R. 1969. Köhler 4, 455. Simrock, Sprichw. 10781.

Nit schimpf mit ernst. Med. Markgraf Ernst's v. Baden (sein Leibspruch) 1533. Köhler I, 365. Heraeus 38, 12. Dagegen: schimpf will ernst haben, Gruter II, 84.

Nit vertrav iedem. Nürnbg. Med. f. Hans Löffelholtz v. 1542. Imhof II, 475. Jedem vertrauen ist thöricht. Agricola I, 308.

Nur im glücke des friedens gedeiht das valerland. Sachs. Med. f. d. Tilsiter Fried, v, 1807. Amp. 15618.

Ob ich gleich hab der feinde viel, so geschieht doch was Gott haben will (Predig. Salom. 3, 15). Med. Karl's XII. 1715 f. d. Bombardem. Stralsunds. Mikocki 169.

Oft raitten (rechnen) macht gvte fre vn ts ch af t. Fami- lienjet, des Steyermärk. kaiscrl. Rathsherrn R. Pögel 1543. App. III, 725, des Zehentners in Joachimsth. Rupr. Puellacher 1543. 45. 52. 56. Böhm. Med. 441 = Wander III, 1514.

O n gelt gesvnth ait ist halbe krangheit. Augsb. Med. f. d. Kaufm. Matheiis Schwartz 1530. Bergm. I, 161 aus dem italie- nischen: Salute senza danaro e mezzo malo. Vgl. Wander I, 1637.

On Gott nichts. Med. f. d. Domherrn Wilib. v. Redwiti: z.

Deutsche Spnichweishcit auf Münzen, Medaillen und Marken. 325

Bamberg 1536. Amp. 7808, Ohne Gott verinag man nichts. Wan- der II, G5, 1563.

Ohne lieb und ohne wein was ist unser leben? Fest- mcd. V. Loos. IIa, 23.

Ahne Ursache ist vnbillioh. Kupferjet. Reinh. 6036. Nichts ohne Ursache. Bair, Sprichw. 9.

0 herr, nim mich mir vnd gib mich gantzzv eigen dir. Schweiz. Med. v. 1560 f. Nicol. v. der Fliie. Haller I, 73. Später als Sprichw. bei Schottel 1125 b.

O w i r a r m e n h ö r n e r t r ä g e r 1 1 a b e n Widerwillen s c h w a e - ger. Halber Praemien- u. Hirsch-Thaler des Landgr. Ludwig VIII. V. Hessen um 1760. HofFmeist. 3933. 30 u. 5561 ff. Abraham a St. Clara sagt : das geschlecht der Cornelier ist gross, es seynd Cor- nelii Taciti, Publicolae, Severi, alte und junge Cornelii.

Packe di, Satan, du Interim. Schaumz. Magdeburgs v. 1549, der sogenannte Interimsthaler. Köhler 22, 59. Nach dem bekannten Sprichwort hat „das Interim den Schalk hinter ihm".

Pasquiln und ligen die warheit biegen. Warheit raus dennoch obsiegen. Hamburg. Gedächtnissm. um 1708 f. Dr. Christ. Krumbholz, Langerm. 123. Zuletzt siegt Wahrheit. Sim- rock 11132.

Pfaff supplex ora, fürst protege, bourque labora. Wermuth. Spruchmed. specif. 36. Stand als Unterschrift eines Bildes am Rathhause in Basel mit goldenen Buchstaben (nach Berckmeyer

322). Simrock 7746.

Philister über dir, Simson. Med. v. 1710 f. die engl. Königin (als Delila dem franz. Könige das Haar abschneidend) v. Loon IV, 572. Simrock 7746b.

Rechne recht vnd nit zu vil, Gott gibt dir auch ein ziel. Kupferjet. Joh. Fiiedrich's II. v. Gotha v. 1558 u. 60. Reinh. 3934 ff. Tenzel II, 237.

Recht wert lang. Warum? Man pravchts seiden.

326 Deutsehe Spruchweisheit auf Münzen, Medaillen und Marken.

Jet. d. Münzmeisters K. Hunt zu Magdeburg 1628. Leitzm. 8, 143. Ganz ähnlich auf einem Becher der Aarauer Schützeninnung aus d. 16. Jahrh.: recht vnd redlichkeit währt am längsten 's macht, man brauchts am allerwenigsten.

Rechtthvn ist kein svnth. Kupferjet. d. Münzmeisters Hunt z. Magdeb. u. eines seiner Nachkommen v. 1617. Leitzm. 8, 143. Sprich w. bei Petri II, 513.

Red alles mit bedacht, Gott hat auf alles acht. Schau- mz. Amp. 9191. Rede Avenig aber wol bedacht. Chaos 560.

Richter, richte recht, denn Gott ist richte r und du bist knecht. Wie du wirst richten mich, so wird Gott richten dich. Med. Hausch. 2816. Simrock 8459.

A. Richtet recht to dyser tyt, op dat u niet we aldort geschiet. R. AI wat ghy richters richtet op der aerden, wert u dort met recht belohnet werden (Matth. 7, 1). Mis- cellthaler. Mad. 5217.

Saemann im fleisch, Mayer in ongerechtigheyt. (Ga- lat. 6, 8.) Wortspiel mit niäher, niederd. mayer. Med. f. d. Religions- störenfried Pastor Dr. Mayer in Hamburg 1692. Chevalier 33.

Sanftmuth sieget (Matth. 5, 5). Med. f. den Hallenser Pre- diger u. Judenbekehrer Steph. Schulze 1755, Spiess 4, 129. Sanftmut hat gross gewalt. Wander III, 1864.

Schertz sollseyn keusch vnd rein. Ducaten. Soothe 1613.

Schicket euch in die zeit (Römer 12, 11). Med. v. 1750 Hausch. 2641.

Schiebe nicht auf. Med. v. Loos. Amp. 9199.

Schläft Mars und ruht, halt dich in hut. Med. f. d. Nürnberg. Stückschiessen v. 1671. Imhof II, 111.

Schweig Stil, zu hause bleib, mit fleissdein arbeit treib. Med. Hausch. 2606.

Schweig und leid, es kvmt die zeit, das schweigen macht leiden queit. Kupfermünze v. 1567. Leitzm. 3, 47. Sachs. Jet. v. Jacob Nebelthau v. 1575. Reinh. 6088.

Deutsche Spruchweisheit auf ]\lünzeii, Medaillen und Marken. 327

Sey fleissig mit den frommen, was dein ist wird schon kommen. Med. Amp. 9203.

Sey fröhlich heut und lass für morgen des guten himmels zeiclien sorgen (Matth. 6, 34). Festmed. v. Loos IIa, 23.

Sey getreu bis in den t od, so will ich dir die kröne des ewigen leben s geben (Apocal. 2, 10). Ducaten Amp. 15989. Hambg. Med. Gaedech. II, 130. Sachs. Reform.-Jubelmed. v. 1817. Bildt 5053. Confirmationsmed. v. Loos. Amp. 9041. Rausch. 2591. 92. Med. aus Krain v. 1829. Leitzm. 24, 41. Wiener Med. um 1835. Wellenh. 11221.

Sey klvg vnd wizig in verkehren (= im Verkehr), soll dich Esopi hvnd nicht lehren (Hund mit dem Fleisch). Ge- dächlnissmed. f. d. Hambg. Actienhandel v. 1720. Langerm. 147.

Sei schnell so ist dein lohn gCAviss. Med. f. Jünglinge V. Loos IIa, 18.

Seyd wolgemut und traui'et nicht, wer weis was noch gar bald geschieht. Spruchgroschen f. Karl XII. v. Schwe- den 1716. Joach. VI, 246. Kupfeijet. f. denselben, Köhler 6, 240.

Selig ist dassvolck, dessen der herr Gott ist (biblisch). Baseler Med. Haller I, 52. Agricola Sprich. 11, 474.

Selig sind die reines herzens sind, denn sie werden Gott schauen (Matth. 5, 8). Med. Amp. 9172.

Selig sind die Gottes wort hören und bewahren (Luc. 11, 28). Confirmationsmed. v. Loos 1844. Leilzm. 11, 79.

Selig sind die friedfertigen (Matth. 5, 9). Niirnbg. Med. f. Wolfg. Hopf 1537. Imhof II, 794.

Selig sind die sa nftm ü t higen (Matth. 5, 5). Med. f. Martin Geyer, Consistorialrath Joh. Georg's II. v. Sachsen, f 1681. M. Mazzuch. II, 65. Amp. 9538.

Selten sehen m(üssen) gebirth vn willen. (Wortspiel mit dem Personennamen.) Nürnbg. Med. f. Sigm. Seidner v. 1540. Imhof II, 916.

Selten wird ein jud ein christ, er hab denn was be- gangen, auch thut ers mei st u m bs geld t , dass er nicht hängen darff, denn wann ers anders stiehl, so strafft

328 Deutsche Spruchweisheit auf Münzen, Medaillen und Marken.

man ihn zu scharff. Med. Hausch. 2850 = en Jude blift en Jude nn wenn er slöpt bet an middag. Wander II, 1034.

S e m p e r f r o e 1 i c h , n u n q u a m traurig. Med. f. d. Taschen- spieler Fröhlich v. 1729. Hausch. 2838. Allzeit frölich ist unmög- lich — heisst es indessen in einem Stammbuch v. 1609. Wander I, 1217.

Sieh mens, bedenk das ende (Predig. Salom. 7, 40). Nürnbg. Med. f. d. Bürgermeist. Loter in Leipz. 1544. Imhof 11, 828.

Sich selbst besiegen der höchste sieg. Jet. Ludwig's v. Baiern um 1840. Leitzm. 18, 8. Wander I, 325.

Sich selbst überwinden ist mehr denn ein königreich. Klippe des Schützenkönigs Wolfg. Matthisen 1701. Kundm. Siles. 420.

Sich vm dich, troi ist mislich (dabei der Hund mit dem Knochen im Maul). Sprichw. bei Agricola. Med. v. Vetterl 1550. App. III, 4170.

Sieh wer dv bist, der tod gwüss ist, vngwüss die stvnd, redt Gotes mund. 1 4 8 8 (Matth. 25, 13). Med. f. Nicol. V. d. Flüe. Haller I, 73; u. f. einer Münze f. Hans Asper v. Zürich 1540. Ebend. 87.

Sie dämpfen nicht des Wortes licht. Gedächtnissthaler Wilh. Ernst's v. Sachsen f. d. Reformat. 1717. Madai 1501.

Siehe, also wird der mann gesegnet sein, der den herrn fürchtet (Psalm 128, 4). Braunschw. Med. f. d. 50. Hoch- zeitsjubil. H. Häseler's v. 1706. Praun 521.

Sihe der hüter Israel sc hl äfft noch schlummert nicht (Psalm 121, 4). Hambg. Gedächtnissm. f. d. Jahresanfang v. 1713. Langerm. 154.

So du gerne lernest, so wirst du gunstu. klugheit finden. Hamburg. Prämienmed. d. Katharinengemeinde v. 1798. Gaedech. I, 296.

So fährt ein recht edler sinn v b e r alles w i e d r i g s h i n n. Diicat. Wolfg. Julius v. Hohenlohe 1697. Köhler D, 2384.

So geht die weit, ihr Gott ist geldt (dabei d. Erdkugel f. einem Krebse). Med. Goeze 2983.

So halten wir nun, das der mensch gerecht werde

Deutsche Sprucliweisheit auf Münzen, Medaillen und Marken. 320

ohne des gesetzes werck, allein durch den glauben. (Rom. 3, 28). Augsburg. Jub.-Denkgrosch. Wilhelm's v. Sachsen 1630. Götz III, 6537.

So ist mein zil, wan Got will. Nürnbg. Med. f. David Kresser v. 1590. Imhof II, 817. Vgl. unten: „Wann Gott wil"

So läuft die weit dahin, jeder nach seinem sinn. Wer- muth. Schaupf. v. 1703. Specif. 28. = Jeder will recht haben.

So nimm nun hin mein Gott zu dir, was du zuvor hast geben mir (Hiob 1, 21), Begräbnissduc. Wilh. v. Sachsen-Weimar V. 1639 f. d. Tod seines neunjähr. Sohnes, Köhler D, 2117. Auch auf Thalern, halben Thal., Ortsthal. u. Groschen, und auf einer Med. Herz. Phillpp's II. v. Braunschw. 1593: „Got gibt, got nimbt" s. ebend.

Sol sein schickt sich. Med, f. Wolf Freih. v. Rogendorf v. 1536. Bretfeld 48258.

Sorge vnd gedencke, doch nicht zv vil, es geschieht geleich wol noch wie Gott wil. Med. v. 1557 f. d. Danziger Rathsherrn Hans Konnert. Mikocki 137. Vgl. Lehm. I, 719, 25. Sorge, aber nicht zu viel, es geschieht doch was Gott will. Sim- rock 9610.

Spotte nicht des gegners schwächen, lächelt dir das blinde glück, siehe, bald gibt er, sich rächend, dir den bittern spott zurück. Whistmarke v. Loos IV a, 6. Man muss keinen feind gering achten, Wander I, 970.

Stets lieben hält den friede. Einträchtigkeit macht liebe. Med. Amp, 9187.

Thve gutes hi in dieser zeit, der tot dirkeine fr ist fergeit. Oesterreich. Rechenpfeng. v. 1586. App. 4, 1772. Vgl. Johann. 9, 4.

Thue recht, furchtir dannoch. Salzburg. Jet, des Münz- meist. Thenn. App. 3, 1065. Thue recht vnd furcht dich dabey. H. Sachs II, LXIII, 2.

Tve recht fvrcht dir dannot . vntrew darf avfsehens (vgl. unten: untrew). Kupferjet, Leitzm. 18, 78. Vgl. App. rep. 3, 2. 3715.

330 Deutsche SiDrucliweisheit auf Münzen, Medaillen und Marken.

Th ue recht, fvrch te Gott , sehe v niemant (Petri 11,546). Kupferjet. v. 1627. Reinh. 6102.

Thue recht, scheue niemand. Jet. d. Familie Chr. Tau- benreutter v. Taubenreut 1592 u. 99. Leitzm. 3, 61. Guld. u. Thaler d. Herz, Julius Franz v. Sachsen-Lauenburg 1678. Weise 1267. Madai 1318, Gräfl, Reussischer Dreifaltigkeitsthaler 1679. Köhler 10, 425. Strassburg. Med, v. 1681. Wellenh. 1808. Ge- däclitnis8thaler d. Grafen Christian August v. Solms-Laubach v. 1767. Madai 5874 und Vermählungslhaler des Erbgrafen Georg August Wilhelm v. 1767, Madai 5875. Med. f. J. Lorenz v, Schaetzlcr 1826. Wellenh. 11, 14726.

Thue recht, scheue niemand, fürchte Gott. Niimoph. Hollian. 4505.

Thue recht, seh. n,, seywachlsamb, brauch v erstand t. Med. Jul. Franz. v. Lauenburg v, 1675. Leyser B 338.

Travw Gott, thve recht, schev niemand. Med. Herzogs Wilh. V. Weimar 1623. Tenzel II, 559,

Trau ist misslich. Doppelbegräbnissthal. Joh. Georg's v. Mansfeld 1615. Madai 1789 =r „sihe für dich, trew ist misslich". Agricol. 15.

Trau nicht dem glück, es hat viel tue k. Im au gen- blick wend sichs zurück. Drumb dich recht in dasselbe schick. Doppelthaler f. d. westfälischen Frieden 1648. Madai 5174, Das Glück ist voller Tück. Wander,

Drav savch wem, Kupfermarke v, 1562 für herzogl, Bairische Maurer- und Zimmerleute, Leitzm, 18, 4, Ebenso bei Franck II, 1 6 a,

Traw schaw wem. Med. Kurfürst Christ, I, 1583, 87, Ten- zel I, 250, Baseler Med. v. 1709. Haller I, 42. 47. 66. Auch als Randschrift des Guldens Ludwig's v. Baden 1821. Amp. I, 2018.

Traue aber siehe woll zu wem. Ebenso bei Franck II, 16 a, Satyr. Med, f, d, Hambg. Pastor Mayer (1692). Gaedech, II, 20,

Trauet Gottes vatterhand, so stehts wol im ganzen land. Med. f. Ludwig VIII. Landgr. v. Hessen-Darmst. o, J. (um 1750). Hoffmeist. 3904 ff.

Trew herr, trew knecht (bei Petri II, 502). Groschen u, Ortsthaler Herz. Wilhelm's v, Weimar f, dessen Hofmarschall J. B,

Deutsche Spruchweisheit auf Münzen, Medaillen und Marken. 331

V. Botzheim 1631. Tenzel II, 565. Med. Friedrich's IL v. Gotha 1694. II, 815.

Trev in allen las niirs gefallen. Nürnbg. Med. f. Sebald Kraus 1569. Imhof II, 815.

Trev ist aller ern wert. Nürnbg. Med. f, Barbara Koetzlin V. 1525. Imhof II, 812.

Trew ist wildpret (Simrock 10469). Med. Friedr. II. v. Dänemark u. Norw. 1582. Köhler 10, 129. Sterbelhaler u. Groschen Graf Friedrich Christoph's v. Mansfeld 1632. Hagen 230.

Trew sleet on end. Med. Ernst's, Graf z. Ortenburg 1562. Wellenh. II, 14427.

Trink und iss (Agric. 130). Knpferjet. d. Münchener Privat- gesellsch. Altengland 1826. Leiizm. 18, 100.

Trink u. sing. Ebend.

Trur nicht Got hilft wunderlich. Jet. des Goslarer Münz- meist. H. Slanbusch v. 1619. Heyse Nr. 25 ff.

Tugend belohnt sich selbst. Med. Amp. 9206 u. 11.

Tugent bringt ehr. Baseler Schulpfeng. v. 1596. Ilaller I, GS = tugend ist der weg zur ehre, virtus gloriam parit, proverb. illustr. 256.

Um manchen ist es ewig schade, dass er komt in die hahnrei-lade. Med. Rausch. 2839.

VnreCht gVt koMt geVVIss nit an Dritten erben. Med. des Kurfürsten Johann Georg I. v. Sachsen. Der Spruch enthält in sich die Jahreszahl 1623, in welchem Jahre durch kur- fürstliches Mandat das bis dahin im Umlauf befindliche falsche Geld gänzlich verboten wurde. Tenzel I, 443. Sprichw. bei Franck II, 124b.

Unschuld macht gedult. Med. f. d. Reformat. Musculus v. 1565. R du R 3047.

Unser herr Gott lebt noch (= der alte Gott lebt noch, Franck II, 17 b). Med. f. d. unruhigen Zeiten v. 1702. Thes. num. med. 236.

Unter Gottes schirm und schütz biet ich meinen

332 Deut sehe Spruchweisheit auf Münzen, Medaillen und Marken.

feinden trutz. Kupfer- u. Silbermed. des Landgr. Ludwig VIII. v. Hessen (1760). Hoffmeist. 5551—53. 55. 3910 ff.

Untrew darf avfsehens. Jet. d. Salzburg. Münzraeisters Thenn. App. 3, 1065.

Vnvergolten ist nit versagt. Neuere Med. f. Hans Nuy- kum V. 1527 u. 29. Imhof II, 850. 51.

Vnversvcht, vnerfarn (= Frank II, 168a vngeniet, vner- farn). Nürnbg. Med. f. Wilh. Löffellioltz v. 1541. Imhof II, 474.

Urteile vnd richte nach gere eh tigk ei t, thve nicht zu viel aus hass vnd neit (2 Mose 17).''i 'Sächsische Kupferjetons v. 1626. 29. 30. Reinh. 6071. Götz 7751 ff.

Van wisen käme wise, van narren käme narren (Pro- verb. 13, 20). Dabei ein Kopf mit einem Kardinalshut, umgekehrt ein Narrenkopf mit Kappe. Amp. 5359.

Vergilt lieb mit treven. Med. des Grafen Steph. v. Schlick V. 1523. Böhm. Med. 498.

Vergiss das zeitlich, bedenk das ewig. Nürnbg. Med. f. Ma(th. Ebner um 1550. Imhof II, 309.

Vergiss nicht was er dir gutes gethan (P.«alm 37, 5). Gedächtnissmed. d. Religionsfried, v. 1555. Frankf. a. M. 1755. Amp. I, 2625.

Vergröss erun gs glas thuts hier und an so vielen enden, dass sich die klügsten auch die geldsucht lassen blenden. Med. f. d. Actienschwindel v. 1720. Hausch. 2831.

Versehen ist verspielt. Simrock 10903. Nachteulenpfeng. (Spielmarke) um 1676. Köhler I, 429. Reinh. 6074. Kupferjet. f. d. schwed. Grafen Baron v. Görtz 1715. Köhler 6, 445.

Vertraue Gott allein. Nürnb. Med. f. Wolf Vechter v. 1542. Imhof II, 934.

Vertrowe God so werd hedi vthelpen (Prov. 20, 22). Thaler d. Graf. Maria v. Jever um 1571. Köhler 14, V. 28. Schlegel.

Vertrauen erregt wieder vertrauen (Gruter floril. HF, 189). Med. f. Bildg. d. Dresdener Nationalgarde v. 1830. Amp. 15781.

Deutsche Spruchweisheit auf Münzen, Medaillen und Marken. 333

Verwirfdas bös, behalt das guct, so bleibst disjar in gneter huet. Augsburg. Med. v. 1626. App. 4,71. (1 Thess. 5, 21.)

Verzaget nicht, Gott lebet noch. Nürnbg. u. Münchener Theuerungsjeton v. 1817. Leitzm. 18, 101. 95.

Vil Wisheit und Kunst verdirpt J. E. armen Man Seckel. Rev. einer Med. v. 1566. Bretfeld 48559. Wander III, 414 schreibt (nach Sutor 309) diesen Spruch: „Ins Armen Mans seckel verdirbt viel Weisheit" Wilhelm v. Sachsen (1577) zu.

Voll blüthen ist der pietist, voll blüth und frucht der wahre christ. Spruchgroschen v. 1694. Wambolt I, 315.

Von Christi blut ein tröpflein klein macht uns von allen sünden rein. AVennuth. Taufmed. specif. 36. (1 Joh. 1, 7.)

Von Gott beschert bleibet vnerweret. Jet. des Kammer- meist. Leonh. Stoer v. 1585. Reinh. 6230. Neander (Latendorf) II, 27.

Vor allen dingen liebe Gott. Nichtes gewisers dann der dot. Jet. d. Münzmeist. Andr. Alnpeck zu Freibei'g 1546. Götz 7761. (Vgl. nichts ist etc.)

Vor zeyten haben wir der gespott, die yetzt seyn die nechsten bey Gott. Med. v. 1546. Juncker Lufh. 304.

Wahrheit (dabei ein von einem Geigenbogen geschlagener Spieler). = Wer die Wahrheit geigt, dem wirft man den Fidelbogen an den Kopf. (Gruter I, 79.) App. 4, 4058.

Warheit bestet, Ivgen verget. Jet. des Münzcontrolleurs Balthas. Dirleber von Kornevburg. Bergm. I, 127. Agricola II, 248.

Wahrheit macht neyd. Silbermünz. Leopold Heypergers, Ziihlm., Schatzmeist. u. Burggraf z. Wien 1555. Bergm. I, 44.

Wann Gott wil, ist mein zil. Wander 72,1745. Nürnbg. Med. f. Magnus Dilher v. 1556, und f. Hans Röming v. 1576. Ira- hof II, 709. 886.

Wan Gott wirdt mit vns, wer wir dt wider vns (Rom. 8, 31). Kupferjet. f. Hans Günther v. Moren, Bergbeamter um 1540. Böhm. Med. 120.

334 Deutsche Spruchweislieit auf Münzen, Medaillen und Marken.

Wann Isaac leist, was Abram heist, Gott gnad er- weist. Med. Amp. 8949.

Wan mans stockfischs geniessen sol, mus man ihn zvvor kloppen wol. So findet man vil favler levt, die nichts thvn wan man sie nicht blevwt. (= Stockfisch will geklopft sein, Sprichw.) Med. f. Herzog Heinr. Jul. v. Braunschweig 1614. Lochner 6, 324.

Was der magnet an sich zevct nicht wider von ihm flevcht. Med. aus Christian's V. v. Dänemark Zeit um IG 90. Kreber I, 18.

Was deines ambts nicht ist, da las deinen fürwitz. Hambg. Med. f. Dr. Christ. Krumbholz 1708. Langerm. 123. Sim- rock 298.

Was du farnimst, so vertraue Gott von gantzen hertzen. Nürnbg. Hochzeitsschilling v. 1686 des Casp. Hieron. Güllen. Imhofll, 766.

Was Got beschert bleibet unerwehrt (vgl. Von Gott be- schert). Spruchgrosch. Phil, V.Hessen 1563. Joach.I, 43. Albus(1563) u. Helmthaler desselb. (1564). Hoffmeist. 379 fF. Auch auf goldenen Thalergeldstücken, die man an Ketten um den Hals trug. Halber Goldguld. u. sechsfacher Ducat. v. 1564. Halbe u. viertel Gulden v. 1564, Hoffm. I, 114. Med. Wilhelm's IV. v. Hessen 1578. Köhler 16, 117 u. Gnadenmed. dess. v. 78 u. 79. Hoffm. I, 548 ff.

Was Gott bewahrt ist wol verwahrt. Begräbnissguld. u. halbe Guld. Amoenas v. Anhalt-Cöthen 1625. Köhler I, 207. Leitzm. 21, 22. Wander 69, 1666.

Was Gott erquickt, kein neyd erstickt. Med. Gisela Agnes V. Anhalt o. J. (um 1700). Leitzm. 21, 31. = Was Gott will erqu., lässt er nicht ersticken. Wander 71, 1740.

WasGott heute nimt, das komt schon morgen wieder. Med. f. d. Tod Wilhelm's HL v. Grossbrit. Thes. num. mod. 161. Gott nimbt vnd gibt zu jeder zeit. Henisch 1708, 65.

Was Gott verheiset, hof ich gewis, vorzevget (ver- ziehet) er den gleich eine kleine frist. Kupferjet. v. 1580. Reinh. 6093. Was Gott verheisst, das kann er auch thun. Henisch 1713, 69.

Deutsche Spruchweisheit auf Münzen, Medaillen und Marken. 335

Was Gott versehen, das muss geschehen. Juliuslöser Herzogs Jiil. v. Braunschweig um 1580. Köhler I, 399. = Was Gott will, das geschieht, wie er will. Henisch 1708, 23.

Was Gott will. Nürnbg. Med. f. Hans Puchner v. 1537. Imhof II, 872.

Was Gott will, das geschiht. Denkm. Wellenh. 15395. Henisch 1708, 23.

Was Gott will geschieht alzeit. Anfang des bekannten Kirchenliedes: „Was mein Gott will" etc. Kupferjet. v. 1579. Reinh. 6090. Wahrscheinlich Mansfelder Jet. v. M. Mainhaidt 1579. Eben- das. 6096.

Was Gott zusammenfüget, das soll der mensch nicht scheiden. (Vgl. unten „Was nun Gott" etc.) (Matth. 19, 6.) Dreifacher Hochzeitsthaler. Wellenh. II, 15184.

Was Gott zusammenfügt, bleibtjederzeit begnügt. Hamburg. Traupfeng. Gaedech. II, 127. 29.

Was Gott zusammengefügt, bleibt unzert rennt ver- gnügt. Hochzeitsmed. Amp. 9057.

Was helffen lichter vnd brill, wenn man mit fleis nicht sehen will. (Vgl. Was hilfft etc.) (Hierbei eine Eule mit Brille u. Fackel.) Braunschw. Jet. Hausch. 2822. z= Was nützt dem liecht oder brill, der nicht sehen kan oder will. Henisch 509, 67.

Was hier der weit entgeht, ins himmels klarheit steht. Sterbethaler Christian. Elisabeth's v. Sachsen-Weimar 1679. Köhler 10, V. 2.

Was hilfft den äugen licht vnd brill, der sich selbst nicht helfen vnd kennen will. Mit den Anfangsbuchstaben auf Brillenthalern u. Gulden Herzogs Jul. v. Braunschw. -Lünebg. 1586. 87. 88. 89. Köhler 6, V. 33. Madai. Weise 1054.

Was hilft manchem licht oder prill wer nicht sehen will. Mit Anfangsbuchstaben auf einem Kupferjet. Reinh. 6073.

Wasjene gans gedacht, hat dieser schwan vollbracht. Med. d. 18. Jahrh. f. Huss. Böhm. Med. 206. Rudolphi 387.

Was jetzt fährt wölken an, bald wieder sinken kann. Med. Friedr. Wilh. v. Brandenburg f. d. schnelle Vertreibung d. Schwe- den 1679. Köhler 14, 231.

Was in dem heiligen rath dergottheit wird bedacht, das wird au ff erden auch gesegnet sein vollbracht. Ver-

336 Deutsche Spruchweisheit auf Münzen, Medaillen und Marken.

mählungsmed. Louise Elisab. v. Würtembg. u. Phil, v. Sachsen 1688. Binder 329.

Was Luther hat gelehrt, gethan, gewürkt im leben, hat Gott nach weisen plan ihm in das herz gegeben. Sachs. Reform.-Jubelm. v. 1817. Bildt 5050.

Was mit mühe und arbeit erworben ist, das währt. Familienjet. d. Tobias Ennderle v. Burgkstadt um 1600. Leitzm. 18, 140.

Was nun Gott zusammengefügt hat, das soll der mensch nicht scheiden (Matth. 19, 6). Hochzeitsthal. P]rnst d. Frommen f. d. Vermählung d. ältesten Sohnes Friedrich mit Magdal. Sibylla v. Sachsen. Halle 1669. Madai 1510.

Was obligt, das gilt allain. Augsburger Med. f. d. Maler Luc. Furtenagel aus Halle v. 1526. Bergm. I, 160.

Was pflanzt das heiige chor, das bleibt im guten flor. Dreifaltigkeitsthaler Heinrich I. jun. v. Reuss 1679. Köhler 9, 129. 10, 425.

Was sol sein schickt sich. Silbermed. f. d. österr. Land- marschall Wolfgang Freih. v. Rogendorf v. 1536. Bergm. I, 230. Gruter H, 103.

Was sorget ihr doch, Gott und ich leben ja noch. Med. f. Karl XII. v. 1714. Amp. 4832.

Was unmöglich zu gewinnen, daraufthu nicht stolz verzieht. Denke, dass nicht gern ein kluger wie der fuchs von t rauben spricht. Whistmarke v. Loos IV, S. 6.

Was wir als Schönheit hier empfunden, wird einst als Wahrheit uns entgegen gehen. (Nach Schiller.) Med. f. Heinr. Dannecker v. 1826. Binder 572.

Weiberlist vbertrift lebnsterck (hierbei Simson mit dem Löwen), Böhm. Jetons mit Ferdinand's I. Bildniss v. 1527. Leitzm. Zeitg. III, 150. XIV, 179.

Weisheit gehet vor sterck. 1633. (Predig. 9, 16.) Thaler Job. Ernst's v. Sachsen-Eisenach, und Prudentia non robore 1634; eben- so Philipp II. V. Pommern: Sapientia non violentia 1617. Tenzel II, 315. Schlegel, Madai 3953. Doppelducat. v. 1634. Köhler D, 2099.

Weisheit zieret stadt und land. Goldene Verdienstmed. Carl's V. Dalberg, Fürstprinz des Rheinbundes v. 1809. Leitzm. 18, 206.

Deutsche Spruchweisheit auf Münzen, Medaillen und Marken. 337

Weit davon ist gutt vorn schus. Gruter II, 105. Med. Hauschild 2G38.

A. Wem schadt mein vngeliicke. R. vielleicht möcht sichs wenden. 1583. Dieser Spruch steht mit Initialen W. S. M. V. und in umgekehrter Folge auf das Wenden des Glückes zielend V. M. S. W. zwischen den Reihen des weiter unten verzeich- neten Spruches: „Wen das glück zv dir thvt wenden."

Wenig zubuss, viel ausheute, macht rech t fröl i che bergleute. Stoiberger Ducaten v. 1701. Leitzm. 21, 94. Frei- berger Med. v. 1701 u. 1709. Ampach 15812.

Wenn Alles vergeht, die liebe besteht. Ducaten. Soothe 1612.

Wenn dein spiel der gegner preiset, dann gieb dop- pelt auf dich aeht, und erinnre dich des raben, den zu- 1 etzt der fuchs verlacht. Whistmarke v. Loos IV, S. 6.

Wen das gluck zv dir thvt wenden, so hast du freind in allen enden, wen aber das gluck verschwindt, dersel- ben sich nicht einer findt. 15 8 3. (Vgl. Wander 17G3, 762. 65. 843.) Küpferjeton des Münzmeisters B. Mainhardt. Reinh. 6171.

Wenn die maus die katze frisst, dann wird einjud ein wahrer ehr ist. Wermuth. Med. Specific. 28. = Getaufter jud thut selten gut. Eöbel, 146. Wander.

Wenn Gott mit uns im zorn will zu gerichte gehen, so muss auch wind und meer ihm zu geböte stehen. Ham- burger Klippe f. d. grosse Wasserflut v. 1717 u, 18. Gaedechen II, 34.

Wenn Gott will, will ich avch. Nürnberg. Med. f. Alexan- der im Hof V. 1527. Imhof II, 411.

Wenn noth vnd trübsal blizt, der treue hirte schützt. Ducat. mit Christi Bild. Ampach 9183.

Wer andern stelt, oft selbst drein feit (Fredig. 10, 3). Jeton des Joachimsthaler Gegenschreibers Georg Hochreuter um 1560. Böhm. Med. S. 720. Auf diesen Spruch zielen auch die Worte: „Qu fodiet sepem. 1601" auf einer Med. des sächs. Kurfürsten Christian II.

Wer da glaubet und getaufet wird, der wird selig werden (Marci 16, 16). Taufthaler Herzog Ernst's v. Gotha v. 1670. Tenzel n, 751. Auf Taufthalern. Mainz o. J. Madai5192. 93. 94. V. Zellerfeld 1708 u. 42, ebend. 5197. Köhler IX, vorr. 32.

Archiv f, n. Sprachen. LVIU. 22

338 Deutsche Spruchweisheit auf Münzen, Medaillen und Marken.

Wirtemberg. Klippe als Pathengeschenk. Binder 589. Taufdenkmünze V. Loos II, s. 7. Familienmed. des Grafen Ervein v. Nostiz v. 1839. Böhm. Med. 191.

Wer da hat, dem wird gegeben (Matth. 13, 12). Med. f. den Sieg bei Sorr in Böhmen 1745. Mazzuchell. II, 206.

Wer da trauet einem w olf au f gr ü ner hai d, einem judenliei seinem eid, einem bösen pfaffen un d rab ulisten

bei ihrem gewissen, der wirdvon allenvi.erenbesch

Wermuth. Schaupfeng. Specificat. 32. Gaedech. II, 22 f. Satyr. Med. f. den Hamburger Pastor Mayer. Wander 1038, 87.

Wer dem herrn vertravet, dem wird nichts mangeln (Psalm 34, 11. 23, 1). Nürnberg. Hochzeitsschilling des Casp. Hieron. Güllen V. 1686. Imhof II, 766.

Wer der ausbeut will gen i essen, lass sich zubuss n i cht ver d riesse n. Groschenförmige Med. des Grafen von Stol- berg V. 1714. Leitzm. 21, 101.

Wer des herren willen prüfet, der befindt den ehe- stand wie die rosen bey den dornen als ein wahres seeg cn s ba nd t. Hochzeitspfennig. Hausch. 2673.

Wer durch des lambs blut vberwindt, die croudes ewgen lebens findt (Apocal. 2, 10). Med. Anna Margareta's, erste Gemahlin des Landgrafen Philipp v. Hessen-Butzbach v. 1629, Hoffmeist. 3268 ff.

Wer fest gegriindt, furcht keinen wind (Matth. 7, 25). Reformat.-Jubel.-Med. der Stadt Biberach v. 1730. Binder 427.

Wer glaubt zu geschwind offt schaden entpfindt (Bild: der Fuchs als Pilgrim vor dem Hahn). Predig. 19, 4. Med. f. den berühmten Fran9. Rabelais um 1553. Lochner IV, 353. Ober- thür 433.

Wer Gott vertraut, hat wolgebaut im himmel und auf erden. Med. Ampach 9188. Agricola I, 745.

Wer Gott ver travt, sein hülffe schavt. Goldene Med.

0. J. des Landgrafen v. Hessen-Darmstadt Ludwig VIII. Hoffmeist. 3896. =: Wer G. v., fest avff jhn bawt, sein gnedig hilff er allzeit schawt (Petri I, 103).

Wer Got trawt hat wol gebawt. Waldeck'seher Groschen des Grafen Samuel v. 1569. Götz 8655. Leitzm. 15, 13. Agric.

1, 745.

Deutsche Spruchweislielt auf Münzen, Medaillen nnd Marken. 339

Wer hat des Herren sinn erkannt (Rom. 11, 34). Bres- lauer Med. f. d. Kometen v. 1744. Hausch. 2875. Auch Hamburger Med. Gaedechen II, 42.

Wer h oft av f Gott, dringt durch all not. Nürnberger Hochzeitsschilling des Konr. Schreck, o. J. Imhof II, 909.

Wer in dugent seet, wirt in errn ernd (vgl. Galat. 6,7). Kupferjeton. Keinh. G037.

Wer körn inhelt. demfliichendie laut he, abersegen komt über den, so es verkaufft (Proverb. 11, 26). Ampach 9243. Schles. üenkm. f. d. Theuerung v. 1694. Spiess III, 337. Satyr. Hamburger Med. f. d. Kornwucher v. 1696. Gaedech. II, 16.

A. Wer lebt in seinem Vaterland, ohn reichthum vnd ohn darben in einem feinen mittelstand von seinen eignen garben. R. Wer niemand dient, hat nicht viel knecht, lebt auch dabey from vnd gerecht in seynenehrenschran- cken: der hat ja Gott zv dancken. Kupferjeton. Reinh. 6077.

Wer nach dem eitlen tracht vnd Gotteswortveracht, bestrafft des höchsten macht. Thaler der Aebtissin v. Qued- linburg Anna Sopl)ia v. 1677. Exter 11, 151. Madai 973.

Wer nicht liebt wein, weib und gesang, derbleibt ein narr sein lebelang (Luther). Festmed. v. Loos II, S. 24.

Wer ohne hader leben w^ill, muss hören viel, offt schweigen still. Denn darum ist der mensch gebohron mit einem mundt und zweyen obren. Med. mit den Initialen C. E. M. Hauschild 2640.

Wer recht glaubt, ja ew^ig lebt. Med. Ludwig's, Grafen v. Leiningen- Westerburg 1612. Köhler XV.

Wer seinen vater ehret, der wird auch freu de an seinen kindern haben (Sirach 3, 6). Med. v. Loos. Ampach 8948.

Wer sich aufs küssen legt, der legt s i ch auch a u fs bette. Med. Haiisoh. 2664. Ducaten Wellenh. II, 15360. Sirarock 6118.

Wer von Leipzig kommt ohne weib, von Wittenberg mit gesundem leib, vnd von Jehna ohne geschlagen, hat von grossem glück zu sagen. Wermuth. Studentenmed. Specific. 29. Wander lil, 30, 9.

22*

340 Deutsche Spruchweisheit auf Münzen, Medaillen und Marken.

Wer wol lehrt, wirdt geehrt. Baseler Schulpfennig. Haller II, 70. Auch Inschrift am Burgdorfer Schulhaus. (Grimm, Lust- wäldlein, 1703.J

"Wer wasser kan in wein verkehren, kan auch dem weh des ehstands wehren. Heirathsducaten. Leitzm. 28, 38. (Joh. I, 1—12).

Wer zuletzt lacht, lacht gut. Whistmarke v. Loos IV, S. 10. Gruter I, 20.

Wer's zil trift ist beglükt. Scheibenschiessklippe d. Mark- graf. Georg Friedrich v. Onolzbach 1577. Spiess III, 332.

Wes ist das bild und die Überschrift? (Matth. 22^ 20). Halber Privatportugaleser Hamburgs auf Karl VII. Krönung v. 1742. Gaedech. 11, 61. Glückwunschmed, der Stadt Breslau v. 1700 an Joseph I. Leyser 425.

Wider macht und list mein fels Gott ist. Doppel- ducaten, ganzer, halber und viertel Thaler, Sterbethaler der Landgräfin Amalie Elisabeth v. Hessen 1651. Hoffmeister I, 1 173 ff. III, 4672 ff.

Wie das kind mit blasen spielt, so das glück mit ehr und leben. Wer nicht nach der tugend zielt, wird dem Unglück untergeben. Med. auf die Hamburger Unruhstifter Jas- tram und Schnitger 1686. Langermann 43.

Wie das licht vom feur entflamt, also lieb von liebe stammt. Med. Goeze 2993.

Wie eine rose vnter den dornen. Med. f. Salomo Lenz, Superintendent zu Regensburg 1632. Ampach 9707. Sprichwört- liches Gleichniss.

Wie es kommt, so gehet es (dabei ein Jude mit einem Beutel, aus welchem Geld fällt). Med. o. J. Rudolphi, Anhang 31. == Wie es k. so gehet es auch hin. Franck II, 95 a.

Wie fein vnd lieblich ist, wo frid vnd lieb sich küst, wo sorg vn d kl vgheit wacht, alls zum guten ende macht (vgl. Psalm 133, 1). Züricher Denkm. v. 1681. Haller I, 209.

AVie Goth wil. Med. Kaiser Rudolfs IL Herrgott II, 88. Henisch 1700.

Wie Gott wil, mir geschehe. Sprucligroschen Joh. Georg's v. Sachsen v. 1659, Joachim I, 45, Begräbnissthaler Magdalena

Deutsche Sprachweisheit auf Münzen, Medaillen und Marken. 341

Sibylla's v. Sachsen (Joh. Georg's Gemahlin) v. 1659. Madai 537. Tenzel I, 520. (= Pleut a Dieu auf Thalern der Stadt Bisanz v. 1584. Madai 7120.

Wie gut wird sichs doch nach der arbeit ruhn. Be- gräbnissmiinze der Herzogin Christiane Friederike v. Sachsen-Koburg 1743. Köhler 15, 377. Lehm. I, 38.

Wie krebskraut stets die sonn ansieht, vnd sicli nach ihrem laufe rieht, also dein wort herr Jesu Christ stets meiner füsse leuchte ist. Med. des Kurfürsten Joh. Georg I. V. Sachsen, gewidmet von Hans von der Pütt 1616. Tenzel, I, 411. Köhler II, 188.

Wie küssen sich die zwei so fein, wer küsst mich armes nunnelein. Scherzmed. f. die zweite Vermählung Herzogs Joh. Kasimir's v. Sachsen-Koburg 1599. Köhler 16, 25.

Wie, was, wann mein Gott will. Med. f. Caspar Kennig (Carnoviens. ?) v. 1629. Hauschild 436. Wander II, 72. Ohne Quel- lenangabe.

W. W. W. W. W. (dabei Blumen neben Unkraut). Got wil also mein ziel. 1678. Jeton des Münzmeisters Schild in Hannover. Nach Heyse (Leitzm. 25, 38) = Wild wächst was wachsen wil. Vielleicht ist besser an den vorhergehenden Spruch zu denken: „Wie, was, wann mein Gott will", bei Wander mit dem Zusätze: das ist mein Ziel. Vgl. auch unten: Wohin, wie etc.

(Es) Will nicht stets glücken, man musssich bücken. Whistmarke v. Loos IV, S. 10. Wander (ohne Quellenangabe) I, 1775: Will dir nichts glücken, so fange an dich zu bücken.

Wils Gott so geschichts. Med. des Grafen Hans v. Wirben V. 1607. Böhm. Med. S. 696. Vgl. Will's Gott, so glückt's. Henisch 1709.

A. Wilt dv Spillen, so spill recht - R. oder man wirtz nicht lassen sein schlecht. Reinh. 6078. Kupferjeton.

Wilt leben wol, fleuch die begierd, sonstgleich dem fisch dir dein lohn wird (dabei eine Hand mit einem Hamen). Braunschweiger Med. v. 1619. Praun 249. Wander I, 1028: der fisch, der die angel gierig schluckt, muss zuletzt daran erworgcn.

Wir zwei haben einen sinn. Geld? niemand weis wo-

3-12 Deutsche Sprncliwelsheit auf Münzen, Medaillen und Marken.

hin (1707). Wermulh. Schaupfennig auf den zweifelhaften Frieden V. 1706. Specific. 29.

Wo der herr nilit die stad he h v t e t, s o wach t (Psalm 127). Gedenkthaler, Madai 5164, d. i. Gedächtnissmünze auf Luther v. 1624, geprägt in Eisleben, v. Hagen S. 239. Dieselbe v. 1632, Schlegel.

Wo der her nit die stad behutt, so wacht der w ächter vm sonst (Ps. 127). Thaler der Stadt Magdeburg v. 1622. Madai 5029.

Wo gii t V n d tre v sich k iissen li gst v o neid zu n fiisse n. Friedensnied. v. 1650, Kurfürst Johann I. v. Sachsen. Tenzel I, 512. Gedächtnissmünze f. d. Nürnberger Executionsrecess des westfäl. Friedens v. 1650, Langerm. 26 u. 323. Hamburger Ducatenstück f. den Pinneberger Interimsrecess v. 1679. Ebend. 84. v. Loon II, 326.

Wo gunst die feder führt, wo geld die richter blen- det, wird die gerech tigkeit gar weit von uns gewendet. W i e a b e r w i r d e s d o r t b e i j e n e m richter s t e h n , w a n zur belohnung ihr müst in die hölle gehn. Wermuth. Med. v. 1731 auf Herkommannus = das Herkommen im Rechtswesen, der Schlendrian der Bestechlichkeit.

Wo gunst und Ungunst urthel spricht, dar ff man das corpus juris nicht. Med. v. 1708. Hausch. 2814. Wander (ohne Quellenangabe) II, 170, 60.

Wo kein truw noch enicheit ist, da ist kein geluck zu keiner frist. Doppelthaler der Stadt Stralsund v. 1611. Madai 5121.

Wo liebe aus der höhe, da segcn in der ehe. Jnbel- hochzeitsmed. v. 17.33. Kundmann, Schlesier in m. S. 446. Ampach 9053. Kühler VI, 421.

Wo reine lieb die hertzen rülirt, man treue, fried und Segen spürt. Trauungsmedaille. Ampach 9052. Hauschild 2670.

Wo selbst das haupt die band legt an, schafft recht V n d s c h u t z den u n t e r t h a n v n d s p a h r t , w a s j e d e r s p a h r e n kan, da geht des 1 an des Wohlfahrt an. Spruchgroschen Friedr. Wilhelm's v. Preussen 1713. Joachim, 8fach. S. 747.

Deutsche Spruchweisheit auf Münzen, Medaillen und Marken. 343

Wohin, wie und wan du w i Ist (vgl. „Wie, was" elc.) Reli- giöse Med. Hausch. 2639.

Wol dem, der wolgerathene kinder hat. Med. Ampach 9198.

Wohl wein Gott das hertz gelenckt, lebenslang zu helfen denckt. Med. d. Landgrafen Ludwig VIIL v. Hessen- Darmst. Hoffmeister 3908 ff. Zwittermed. desselben um 1760. Eben- das, 5554.

Wohlgerathenejugend macht freude. Viereckige Stutt- garter Doppelducatenklippe. Binder 499.

Wohl dem, der freud an seinen k indem erlebt (Sirach 25, 10). Med. Sophia's v. Sachsen. Tenzel I, 296. Köhler I, 296. Ducaten bei Ampach 9062 u. 63. Klippe bei Hauschild 2628. Jeton V. 1790, Wellenh. II, 15171. Hamburg. Denkm. Gaedech. II, 130.

A. Wohl dem, der genvgklvgheit hat R. Vndfrei vor an fechtungen pleiben kan. Jeton des Joachimsthaler Münzmeisters Jörg Gaitzkhofler v. Gailenbach v. 1564. Böhm. Med. S. 62. Wellenh. II, 13731.

Zu Gott allein mein hoffnung. Thaler des Grafen Philipp Ernst V. Mansfeld v. 1617 21. 24—26. Auch Viertelsthaler, Gul- den u. halbe Gulden desselben v. 1624, und Doppelducaten v. 1620. Auch auf einer neueren Med. f. Melchior Peuntner o. J. Imhof II, 861. Und in der Fassung:

Zu Gott mein hoffnung, auf einer Med. f. Sebastian Egerer V. 1583. Böhm. Med. S. 46.

Zu Gott mein trost allein sunst anders kein. Med. f. Christian IH. v. Schleswig-Holstein v. 1541. Heraeus 23, 14.

A. Zu Jesu lasst die kinder kommen, von ihm sie werden aufgenommen. R. Von sunden wascht die tauff vnd schliesst den himmel au ff. Taufpfeng. Kreber II, 360.

Zusehen ist das beste im spiel. Jeton mit der Eule. Hausch. 2820. Köhler III, 419. Uebersehen ist d. b. i. spil. Agri- col. I, 121.

344 Deutsche Sprucbweisheit auf Münzen, Medaillen und Marken.

Zu spatt kan die reu nimmer seyn, wan sie geht aus dem herzen rein. Inschrift auf einer Magdeburger Med. v. 1631 nach der Erstürmung. Leitzm. 20, 130.

Zu viel ist ungesund. Satyrische Med. v. 1707 (dabei ein vomirender Jesuit). Ampach 9236. Agricol. I, 37.

Zw ispalt gl' OS gvet verzert. Einikeit das wenig mehrt. Rechenpfeng Geizkofler's 1586. Wellenh. II, 13729. ,.Con- cordia res parvae ect." = einigk. vermehrt, vneinigkeit verzehrt. Lehm. 165, 17.

Die dialektfreie Aussprache des Hochdeutschen

nach physiologischen, sprachgeschichtlichen und statistischen Tatsachen.*)

Capitel III.

Von der Aussprache des K, G, Ch, den Schrift zeichen für die Gaumen- und Kehllaute.

§ 36. In gewöhnlicher Schrift müssen die drei Buchstaben k, g, ch für die Bezeichnung von sechs verschiedenen Lauten**) aus- reichen, für

1. den harten tonlosen Gaumen- und Kehl-

Verschlusslaut k in Ecke, packen, Kuh.

2. den weichen tönenden Gaumen- und

Kehl-Verschlusslaut g in gern, egal, Agent.

3. den harten tonlosen Gaumen-Dauerlaut \ in ich, weich.

4. den harten tonlosen Kehl- Dauerlaut % in ach, Wucht.

5. den weichen tönenden Gaumen-Dauer-

laut y in Könige, legen.

6. den weichen tönenden Kehl-Dauerlaut g in lagen, zogen.***) Die Verwandtschaft dieser Laute unter einander ergiebt sich auch

*) Fortsetzung der Aufsätze aus Archiv Bd. LIV, Heft 3 u. 4, Bd. LVII, Hvft 1, Bd. LVII, Heft 3 u. 4. **) Vgl. § 22.

***) Von dem Nasallaute Ng ^= fi wird erst im folgenden Capitel ge- handelt.

346

Die dialektfreie Aussprache des Hochdeutscben.

daraus, dass sie oft innerhalb der Ableitung?reihe eines einzigen Wortes ■wechseln, z. B.

biegen

Bogen

Buckel

Bühel,

Bucht

zöge

Herzoge

zucken

ziehen

Zucht

züchtig

Hügel

Höcker

Höhe

hoch

höchste

gediegen

dick

gedeihen

dicht

Flügel

flogen

Flocke

flügge

Flug

Schlägel

schlugen

Schlacke

Schlag

schlachten Schlächter

§ 37. Wir betrachten zuerst die Aussprache des Buchstabens K, über welche nur sehr geringe Meinungsverschiedenheit herrscht. Das einzige Auflallende, was mir hierüber zu Gesicht gekommen ist, steht im 2. Heft Bd. LVH des Archivs, in einem Aufsatze von J. F. Kräu- ter, über die „Verkommenheit der Volksmundarten". Auf S. 206 heifst es: „. . . eine Verkehrtheit begeht Jedermann, welcher kch (ch ist hier zu •sprechen wie in ich, echt, nicht wie in ach, Sache, suchen) dem einfachen k gleichstellt; nach dem allgemein üblichen Gebrauch ist das letztere zu hören in packt, rückt, wechseln (=: wäk- seln), zurückfahren, Stöcke, wecken u. s. w., jenes kch hin- gegen in Kiel, Kien, Kiefer. Wenn ein so handgreiflicher Unter- schied nicht blofs übersehen , sondern sogar hartnäckig abgeleugnet wird, so kann es nicht Wunder nehmen, dass man allgemein glaubt, Tasse, Taube, toll, Polen... zu sprechen, während man in Wirklichkeit Thasse, Thaube, tholl, Pholen mit gröfster Deut- lichkeit hervorbringt."

In diesen Sätzen ist viel Unrichtiges behauptet.

1) Wenn wir die oben beschriebene Aussprache von Kiel, Kien u. s. w. nach unserem System der Aussprache konstrnirten, so würde dieselbe wie kxll, kxin lauten ; Herr Kräuter behauptet ja, dass in diesen Wörtern zwischen dem K und dem nächsten Vokal ein Ch mit Tchlaut eingeschoben werde. Dass dies von einzelnen Individuen geschehe, will ich nicht in Abrede stellen; ich habe selbst Derartiges zuweilen gehört, veihältnisraäfsig am häufigsten an der Saale und mitt- leren Elbe ; es ist mir aber keine Gegend nördlich von der Linie Köln- Breslau bekannt, wo diese fehlerhafte Aussprache durchgehende Eigen- tümlichkeit des betreffenden Heimatsdialekts wäre. Ebenso ist jeder Schauspieler, welcher Wert auf Sauberkeit der Aussprache legt, von diesem Fehler durchaus frei und schiebt ebenso wenis: in Kien einen

Die (dialektfreie Aussprache des Hoch(leutsch(n. 347

Ichlaut ein, wie Herr Kräuter darauf verfallen würde, in Kahn oder Kern diesen Laut einzuschieben. Es ist kein Zufall, dass er nur sol- chen Wörtern, welche mit Ki anfangen, sein Kch zuspricht: die Mund- stellung, welche der Vokal I beansprucht, ist der des Ichlautes sehr ähnlich, und daher mag es kommen, dass Leute mit etwas ungefügen Sprechorganen sich eines eingeschobenen Ch als Fahrgelegenheit be- dienen, um vom K zum I zu gelangen; aber das ist eine Unart des Sprechens und durchaus nicht gut hochdeutsch.

2) Ebenso unrichtig ist die Behauptung, dass man allgemein Thasse, P holen anstatt Tasse, Polen spreche. Neu ist sie nicht: ich habe sie auf der Universität gehört, wo sie mir von einem Lehrer, der über Aussprache kein eigenes Urteil hatte und auch nicht haben konnte, da er sehr undeutlich sprach, vorgetragen wurde, und habe dann eine Reihe von Jahren hindurch auf diesen Punkt geachtet, habe auch mitunter Leute getroffen, die wirklich so sprachen, die un- willkürlich auf diese Absonderlichkeit verfielen, um ihren Worten einen recht pathetischen Anstrich zu geben. Es klingt doch gar zu feierlich, wenn man von „Mhensclienwhürde" und von „Vholksbeglhückung" spricht. Bei zwei Predigern ist mir diese Aspiration bisher am unan- genehmsten aufgefallen, und doch waren sie von dieser Unart meistens frei, wenn sie sich zwanglos unterhielten, ja sie wollten es nicht ein- mal zugeben, dass sie heim öffentlichen Vortrage mit dem H doch gar zu verschwenderisch umgingen. Schauspielern begegnet es auch ziem- lich oft, dass sie „den schhönen Thag prheisen, who der Soldhat ins Lheben hheimkhert", aber daraus darf man wohl nicht den Schluss ziehen, dass das ganze deutsche Volk hinter anlautendem T und P ein vollkommen unmotivirtes h einschiebt. Ich habe schon seit mehr denn 20 Jahren die Aussprache der Gebildeten belauscht, habe ein ziemlich gutes Gehör, was ich dadurch beweisen kann, dass die von mir im Archiv LIV, S. 378 und im Programm des Lemgoer Gym- nasiums 1876 aufgestellte Vokaltabelle von Sachverständigen zustim- mend beurteilt und mehrfach cilirt worden ist; und doch kann ich Herrn Kiäuter, selbst auf die Gefahr hin, von ihm des hartnäckigen Ableugnens beschuldigt zu werden, aufiichtig versichern, dass ich unter je lOOOMenschen höchstens Einen getroffen habe, der zuweilen so sprach.*)

*) Die Leser des Archivs werden (.gewiss überrascht worden sein von der Sicherheit, mit der in dem oben erwähnten Aufsalze behauptet wird,

348 Die dialektfreie Aussprache des Hochdeutschen.

In einigen rusöischen Grammatiken soll sich, wie mir mehrfach versichert wurde, die Behauptung finden, dass die Russen die Laute, welche wir für nackte tenues p, t, k halten, als aspiratae hören; damit ist aber nichts bewiesen, denn wenn ein so guter Kenner der deutschen Sprache, wie Herr K., sich irrt, warum sollten sich nicht russische Gram- matiker irren können, die vielleicht bei unkundigen Sprachmeistern deutschen Unterricht gehabt haben ? giebt es doch bisjetzt keine deutscheGrammatik, mag sie fürDeutsche oder für Aus- länder geschrieben sein, in welcher sich nicht Fehler gegen dieAussp rachenachweisen liefsen.

Wir wollen uns also durch die Behauptungen des Herrn K. nicht zum Misstrauen gegen unsere gesunden Ohren verleiten lassen, wollen ihnen vielmehr vertrauen, selbst wenn sich ihr Urteil durch theore- tische Bedenken anfechten liefse. So ist z.B. in den Wörtern backen und Bäcker die Ansatzstelle beim K nicht dieselbe: ersteres wird tiefer in der Kehle, letzteres höher am Gaumen gesprochen; dessen- ungeachtet ist der Klang des K nahezu vollkommen gleich, mag ihm ein hoher oder tiefer Vokal vorangehen. Ebenso ist es gleichklingend am Anfang, in der Mitte und am Ende der Wörter. Da es als Ver- schlusslaut nur im Augenblick der Bildung oder Lösung des Ver- schlusses ertönt, also ohne Dauer ist, so bezeichnet seine Verdoppe- lung, die durch ein davorgestelltes c angezeigt wird (z. B. in Zweck), nicht eine doppelte Dauer des Konsonanten sondern nur eine Verkür- zung des vorangehenden Vokals, während einfaches k die Länge des vorhergehenden Vokals anzeigt; vgl. buk und backen, Stake und Stecken, Friederike und Ricke.

§ 38. Das im Anlaut deutscher Wörter stehende G wird immer als weicher tönender Verschlussiant (g) gesprochen, auch im Anlaut und Inlaut der Fremdwörter lautet es ebenso, falls es nicht, wie in vielen französischen Wörtern, wie z gesprochen wird. Es lautet also gleich in gar, gern, gucken, Glas, Greis, Agent, egal, Aga, Egeria, Augustus, Regens (d. h. Rector eines Seminars).*)

das P in PumPmeister, T in ZenTner, K in DenKmal sei ein und derselbe liaut, während der Verfasser wiederum da einen Unterscliied der Ausspracho des P in Rippe und rupfen, des T in Sitte unii sitzen bemerken will, we Andere ihn nicht hören. Herr K. beweist dio Richtigkeit seiner Behauptung nicht, folglich möge hier mein einfacher Widerspruch geniigen. *) In Regens (pluviae) lautet es wie y. Vgl. § 45.

Die dialektfreie Ausspriidie des Hochdeutschen. 349

Verdoppelt kommt G nur vor in einigen Wörtern, die aus dem Niederdeutschen ins Hochdeutsche übergegangen sind, und bezeichnet dann natürlich Kürze des vorangehenden Vokals, z. B, in baggern, Dogge, Egge, Flagge, flügge, Roggen, schmuggeln, lieber eine an- dere Aussprache dieser Wörter vgl. jedoch § 45 Anm.

§ 39. Verwickelter ist die Aussprache des Ch. Dieser Doppel- buchstabe wird namentlich gebraucht zur Bezeichnung des Gaumen- und Kehl-Dauerlautes oder des Ich- und Achlautes (,r und i\ § 17), die wir oben als harte tonlose Dauerlaute bezeichnet haben. Es muss an dieser Stelle noch einmal besonders hervorgehoben weixlen, dass sie in lauter und geflüsterter Rede genau denselben Klang haben*); hierauf stützt sich die ganze folgende Beweisführung nicht nur für die Aus- sprache des Ch, sondern auch für die des in- und auslautenden G, über welche die verschiedensten, meist unrichtigen, sämmtlich aber der wissenschaftlichen Begründung entbehrenden Ansichten im Schwange sind. Vielleicht gelingt es, durch dies Wirrsal sich gegenseitig wider- sprechender Meinungen einen Pfad zu bahnen.

I. Schon bei der Betrachtung der Vokale haben wir darauf hin- gewiesen, dass die Tonhöhe derselben sich scharf ausprägt, wenn wir dieselben flüsternd singen. Auch das Ch ist ein Flüsterlaut, unter- scheidet sich jedoch insofern von den Vokalen, als sein Klang nicht eine eng begrenzte Tonhöhe hat, sondern sich mit einer ganzen Reihe von Tönen gut verträgt. Setzen wir bei dem für den Vokal A ge- fundenen Flüsterlaut d'" (vgl. § 2) ein und singen darauf flüsternd, aber ohne den Vokal A auszusprechen, ein Ch ! Es geht vortrefflich, wenn wir den Achlaut nehmen ; denn dann können wir ein gutes Stück die Tonleiter abwärts singen, ohne dass die Klangfarbe des Ch sich wesentlich ändert. Singt man den Vokal mit, setzt also mit ach ein, so ändert sich beim flüsternden Abwärtssingen zwar der Vokal (erst a, dann o, dann w), der Kehllaut aber bleibt sich gleich: singen wir aber von ach an die Tonleiter aufwärts, so ändert sich nicht nur der Vokal allmählich in ä, e, i, sondern auch der Konsonant nimmt eine andere Klangfarbe an. Wider Willen wird man gezwungen, einen Laut zu bilden, der ein Mittelding zwischen Kehl- und Gaumenlaut ist; den Ichlaut selbst erhält man in voller Reinheit schon beim Eigen- ton des t (z. B. in zehn), und muss ihn beibehalten von da an bis

*) Vgl. § 17.

350 Die dialektfreie Aussprache des Hoclideutschen.

weit über den Eigenton des i hinaus, der, wie wir im § 2 gesehen haben, eine Octave höher als der des a ist. Versuchen wir jetzt das Umgekehrte. Wir setzen bei d"'\ dem Eigenton des i, ein und singen flüsternd dazu ich, so kann man, höher singend, Vokal und Konsonant leicht beibehalten ; tiefer singend aber wird man bald bemerken , dass ebenso wie der Vokal allmählich in e, ä, a übergeht, so auch der Ich- laut sich in den Achlaut verwandelt. Ist man eine Octave tiefer ge- kommen bis zum Eigenton des Vokals a, so ist der Ichlaut gerade so unmöglich, wie vorher beim Eigenton des i der Achlaut. Innerhalb dieser Octave hat das Ch beim Eigenton des jl schon deutlich aus- gesprochenen Gaumenlaut-Charakter, und dieser Charakter tritt bei den höheren Vokalen immer deutlicher hervor. Hiernach ist selbst- verständlich, dass die Vokale, deren Eigenton tiefer als der des a liegt (o, u und au), als Begleitungstou den Kehllaut (Achlaut) haben, und ebenso ist auch der Ichlaut so eng mit den Vokalen ä, e, i, ö, ü, ei, eu, ai, äu verknüpft, dass in unmittelbarer Aufeinanderfolge die Höhe des vorangehenden Vokals auch stets die Klangfarbe des Konsonanten bestimmt. Die einzige scheinbare Ausnahme von dieser Regel bildet die Verkleinerungssilbe -chen, die auch nach tiefen Vokalen immer den Ichlaut beibehält, z. B. Mama-chen, Frau-chen. Hier haben wir je- doch keinen so unmittelbaren Zusammenhang zwischen Vokal und Konsonant, wie in machen und brauchen, wo ch noch mit zum Wortstamm gehört.*)

Die Konsonanten, welche vor Ch tretend in derselben Stammsilbe mit ihm verbunden werden können, sind s, r, 1, n. Ueber seh ist schon oben § 33 gesprochen; die anderen drei haben einen Eigenton, der über dem des Vokals A liegt, also wird auch Ch nach K, L, N immer mit Ichlaut gesprochen, z. B. Storch, Störche, welcher, mancher. Da es aber zweierlei R giebt, ein richtigeres, das durch Vibriren der Zungenspitze hervorgebracht wird, und ein weniger gutes, welches durch Vibriren am Gaumen oder in der Kehle entsteht, so wird dialektisch auch in denjenigen Gegenden, in welchen das letztere gesprochen wird, zu diesem der bequem liegende Kehldauerlaut (Ach- laut) gesprochen. So lautet z. B. in einigen Gegenden Westfalens Sarg beinahe wie za;(, durch beinahe wie dllXi Kirche beinahe wie ktax«.

*) Vgl. auch die Aussprache von Büblein und Bübchen § 26.

Die dialektfreie Aussprache des ITochdeutsclien. 351

Aus allem diesem geht der enge Zusammenhang, welcher zwi- schen Ch und den ihm vorangehenden Lauten stattfindet, deutlieh her- vor. Mit den darauf folgenden Lauten dagegen ist gar kein Zusam- menhang vorhanden ; es darf ■/.. B. auf den Achlaut E folgen, z. B. sut'Äen und auf den Ichlaut A, z. B. Schwec7iat.

Alles, was wir bisher über Ch gesagt, bezog sieh nur auf dessen Verbindung mit Fliistergesang. Ist es etwa in lauter Rede ebenso? Man sollte es vermuten, denn Ach- und Ichlaut sind ja in lauter und in geflüsterter Rede vollkommen gleich. In der Tat werden auch alle Vokale, deren Eigenton höher als der des A ist, in lauter Rede mit dem Ichlaut, die tieferen mit dem Achlaut verbunden. Zwar ist der Eigenton des Ch nach ä etwas tiefer als nach i: man kann bei flüstern- dem Singen deutlich spüren, wie bei ich sich der Hauchlaut am oberen Gaumen bildet, wie schon bei ech die Ansatzstelle ein wenig mehr nach hinten liegt, und dass dies noch viel mehr bei äch der Fall ist. Beim lauten Sprechen werden alle diese Mittellaute übergangen. Die laute Rede tönt ja zu stark, um diese feinen Unterschiede für das Ohr noch wahrnehmbar werden zu lassen, andererseits nimmt sie aber auch nicht wie die geflüsterte Rede die Stellung der Sprechwerkzeuge und die volle Mitwirkung der Mundhöhle in dem Mafse in Anspruch, wie die geflüsterte Rede. In lauter Rede klingt Ch in äch, ech, ich vollklommen gleich, und es genügen also für die Praxis des dialekt- freien Vortrags die Grundsätze:

1) Nach ä, e, i, ö, ü, y, ei, eu, ai^ äu wird immer der Ichlaut,

2) derselbe Laut nach r, 1, n;

3) nach a, o, u, au wird immer der Achlaut gesprochen.

Dass auch in lauter Rede die Verkleinerungssilbe -chen immer den Ichlaut hat, ist selbstverständlich. Ursprünglich ging derselben ein kurzes I (oder E) vorher, wie man sich noch aus dem niederdeut- schen Hündeken oder Hündiken, Häusiken, Gänsiken über- zeugen kann. Im Hochdeutschen ist dieser Verbindungsvokal voll- ständig verschwunden, und nur die Tonhöhe des aus dem K entstan- denen Ch zeugt noch davon, dass diesem Laute ursprünglich ein I vorangegangen ist. *)

*) Sollte einem der geneigten Leser diese Darstellung der Aussprache des K imd Ch etwas zu lang vorkommen, so vfrz<'ihe er mir um der Sfbwachen willen, die diese Auseinandersetzung vielleicht zu kurz finden. Die Unwissenheit in orthoepischen Dingen ist viel grösser, als man sich

352 Die dialektfreie Aussprache des Hochdeutschen.

II. Aufser zur Bezeichnung des Ich- und Achlautes dient Ch, wenn es vor einem S steht, welches zu derselben Stammsilbe gehört, als Stellvertreter des K, Dass das darauf folgende S (z. B. in Dachs, Dachse, wuchs, Ochse) stets scharf, d. h. der harte tonlose Zahn- dauerlaut ist, muss wohl nicht so selbstverständlich sein, als man glauben möchte; Herr Dr. Fricke wenigstens, der Herausgeber der „Reform, organ des algemeinen ferelns", welcher die „ortografi" nach „fonetischen grundsäzzen ferbessern will," und dabei die gröbsten Ver- stöfse gegen die Aussprache macht, wie ich in No. 23 der „Gegen- wart" nachgewiesen habe, hält den S-Laut in wachsen, Praxis u. dgl. für weich und tönend, und verbösert daher die bisherige Schreibung in wakfen, prakfis, als ob das S weich gesprochen würde wie in wach- sam, Sprechsaal, wo es nicht stammhaft ist,

III. Als Anfangsbuchstabe echt deutscher Wöi-ter kommt Aveder der Ichlaut noch der Achlaut vor. Die Ableitungen eines einzigen gut deutschen AVortes werden zwar oft noch mit Ch im Anlaut geschrieben: Charfreilag, Charwoche, aber der Abstammung von dem ahd. kara (Wehklage) gemafs wie K gesprochen. Es wäre freilich besser, wenn man diese Wörter immer mit K sehreiben wollte. Früher wurde ja auch Kurfürst mit Ch geschrieben, obwohl das Wort mit kiesen = wählen zusammenhängt; heute aber hat sich die richtige Schi'eibung schon überall Bahn gebrochen.

IV. In Fremdwörtern kommt Ch ziemlich oft vor. Sind die- selben aus dem Französischen entlehnt, z. B. Chassepot, Chance, Cha- rade, Champignon u. s. w., so wird das Ch wie Seh (s) gesprochen, ja Seh wird sogar in den mehr eingebürgerten Wörtern schon ge- schrieben, z. B. Schatulle, Manschette, Bresche, Depesche, marschieren u. s. w. In den nicht aus dem Französischen entlehnten Wörtern lautet es meist wie K: Charakter, Chor, Christ, Chronik. Orchester nimmt seinen K-Laut aus dem Französischen ins Deutsche hinüber.

Einige wenige Fremdwörter werden mit anlautendem Ichlaut ge- sprochen. Es sind dies: Chaos, chaotisch, Charitinnen, Chemie, Cherub, Chiasmus, chiastisch, Chiliasmus, China, die Zusammensetzungen

denkt. Ich kenne z. B. einen bedeutenden Sanskritforscher, der in seinem Leben schon viel über Gutturale und Palatale gesprochen und f!;eschrieben hat, der gedruckte und geschriebene k und k' mit Sicherheit unterschei'let ; wenn sie sich ihm aber als Laute seiner Muttersprache, gesprochen, in ihrer natürlichen Wildheit als Ach- und Ichhiut präsentiren, dann ist sein Ohr „für derartige Feinheiten nicht empfindlich genug".

Die dialektfreie Aussprache des Hochdeutschen. 353

mit Chir, z. B. Chiragra, Chiioinantie, Chiiurg; ferner Chrisam oder Chrisma, endlich die Zusammensetzungen mit Chryso-, z. B. Chryso- beryll, Chrysolith, Chrysopras.

§ 40. In- und auslautendes G.

Die Ansichten über die Aussprache dieses G gehen weit aus ein- ander. Während es Leute giebt, die naiv genug sind, immer ein und dieselbe Aussprache zu fordern, verlangen andere, mit mehr oder weniger Gründen, eine zwei-, drei- bis sechsfache Aussprache. Wir wollen alle die verschiedenen Ansichten durchgehen, die Gründe derselben prüfen, und indem wir die sich ergebenden positiven und negativen Resultate zusammenstellen, uns bei dieser Gelegenheit brauchbares Material für die Begründung unserer eigenen Ansicht sammeln.

§ 41. Die Ansicht von der immer gleichen Aussprache des G als weichen Verschlusslautes (g).

Als Vertreter der Ansicht, dass das G nur eine Aussprache habe, könnte ich ausser dem alten Adelung*") nur Friedr. Schmitt anführen, der in seinem Buche: „Neues System zur Erlernung der deutschen Aussprache" (München 1868, bei Gummi) auf Seite 35 Folgendes sagt: Diese verschiedenen G werden nun, je nachdem es gebräuchlich ist, auf vier bis fünf verschiedene Arten ausgesprochen, bald wie hartes k, wie weiches k (!?), wie eigentliches g, bald wie ch in ich oder ch in ach, wie seh und endlich auch wie 7ir/, mit dem n förmlich verwachsen. „Es ist Zeit," fährt Herr Schmitt entrüstet fort, „dass dieses Unwesen aufhöre, und einzelne Schauspieler, und zwar die besseren, gebrauchen auch das g gleichmäfsig, wie es hier beabsich- tigt ist."

Aus welchen Gründen Herr Schmitt die verschiedenen Arten der Aussprache des G für Unwesen erklärt, darüber hat er sich leider in seiner merkwürdigen Schrift nicht ausgesprochen. Wahrscheinlich ent- spricht sie nicht dem Ideal, das er sich von deutscher Aussprache ge- bildet hat, und das er S. 29 so definirt : „Die schwierige Kunst, die Aussprache der Konsonanten natürlich, aber kunstgerecht zu behan- deln, muss der Sprechende wie der Singende erlernen , und

sie soll sing- und sprechgemäfs sein; nicht deutsch (I), sondern fremdländisch, sowie man von Polen, Italienern, Russen, selbst von

* Deutsche Sprachlehre § 31. Archiv f. n. Sprachen. LVIII. 23

354 Die dialektfreie Aussprache des Hochdeutschen.

Franzosen sprechen hört, wenn sie unsere deutsche Sprache reden ; freilich ist nicht von grammatischen Fehlern und Kauderwelsch die Rede, sondern von der für uns musterhaften Aussprache der Buch- staben, mit Ausnahme derjenigen Buchstaben (soll wohl „Laute" heifsen), welche sie in ihrer Muttersprache nicht haben, wie ch, ng, nk, ei, eu, au."

Man sieht, dies „Neue System zur Erlernung der deutschen Aus- sprache", das übrigens viel richtiger System zur Erlernung einer neuen, noch nie dagewesenen, deutschen Aussprache hiefse, sieht mit souveräner Verachtung auf die im Munde des gesammten Volkes lebende Sprache herab, nur den Abklatsch derselben , welcher als Druckerschwärze auf dem Papier erscheint, für das ureigne Wesen selbst haltend und ihm Gesetze aufnötigend, die nicht der geschicht- lichen Entwickelung dieser Sprache selbst entnommen , sondern von ausländischen Deutschverderbern entlehnt sind. Als ob es eine Aus- sprache gäbe, die von ihrer zugehörigen Sprache unabhängig wäre ! Wer eine besondere Art von deutscher Aussprache lernen will, solche, wie sie kein Deutscher spricht, dem können wir das^^Studium dieses selt- samen Buches angelegentlichst empfehlen : er wird gewiss prächtig radebrechen lernen. Wer aber nur eine schwache Ahnung vom Wesen unserer Sprache hat, der wendet solchen Sprach verbesserern den Rücken, wie dies schon Luther tat, der ähnlichen Vorschlägen gegenüber sagte .,Man muss nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen,

wie man soll deutsch reden, wie die *) tun, sondern man muss

die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markte darum fragen." Treffender können in der Tat solche Sprach leerer nicht abgetan werden und es ist nur unbegreif- lich, wie dies Machwerk noch im Jahre 1866 durch Gutachten eines Kgl. Regisseurs (Heinrich Richter), eines Schulinspectors (W. Eberle) und eines Professors (F. B odens ted t) hat empfohlen werden können, von Letzterem mit den Worten**): „Mein Vertrauen in die Richtigkeit dieser Methode kann ich nicht besser ausdrücken als durch die Bemerkung, dass ich die Absicht habe, meine eigenen Kinder darnach unterrichten zu lassen." Hoffentlich ist diese Absicht nie ver- wirklicht worden ; sonst ist den armen Kindern nur die Wahl geblie- ben, entweder nichts zu lernen, oder das Gelernte wieder zu vergessen.

*) Ein Luther'scher Kraftausdruck. *') A. a. O. S. 2 f.

Die dialektfreie Aussprache des Hochdeutschen. 355

§ 42. Die zwiefache Aussprache des G.

Mehr Beifall möchle die Ansicht Derer finden, welche, auf das gleiche Verhältnis der beiden anderen tönenden Verschlusslaute b und d sich berufend, eine zwiefache Aussprache des G annehmen: als weicher tönender Verschlusslaut g im An- und Inlaut, und als harter tonloser Verschlusslaut (Je) im Auslaut. Hierfür spricht auch das Mittelhochdeutsche, in welchem das auslautende^ immer zu c wird, z. B. mhd. tac, bare, lac, sluoc, steic, sweic, louc, nhd. Tag, barg, lag, schlug, stieg, schwieg, log.

Man reimte damals Wörter, die heute verschieden geschrieben werden, z. B.

Guoter gloube unt reiniu werc

Diu swendent den sünden berc. Vrid. 35, 23.

d. h. Guter Glaube und reine Werk'

Die machen schwinden den Sündenberg.

Aber: Gegen die Aussprache des auslautenden G als K legen die neuhochdeutschen Reime ein entschiedenes Veto ein.

Ich habe mich schon öfter der Reime als Beweismaterials bedient in der Meinung, dass wohl schwerlich Jemand gegen dessen Zulässig- keit Einspruch tun könnte. Der in § 37 citirte Aufsatz J. F. Kräu- ter's aber hat mir gezeigt, dass man zuweilen in die Lage kommen kann, die selbstverständlichsten Sachen beweisen und die gewagtesten Behauptungen widerlegen zu müssen. Kr. spricht den Reimen zwi- schen G und Ch die Beweiskraft deshalb ab, weil die Reime zwischen I und Ü, E und O, Ei und Eu viel häufiger seien ; dessenungeachtet hüte man sich wohl, daraus den Schluss zu ziehen, I müsse wie Ü, E wie 0 u. s. w. gesprochen werden. Hier wird aber der Umstand ausser Acht gelassen, dass in Reimen wie siede müde die Vo- kale ihre genau bestimmbare Aussprache haben und in der Lage sind, ganz genau eben dieselbe beibehalten zu können ; da nun die Aus- sprache von I und Ü verschieden ist, so folgt daraus, dass der Reim ungenau ist. Aehnliches findet statt in dem Reimpaare Gebiete Unterschiede, denn D und T haben verschiedene Aussprache und können sie beibehalten; also ist auch das ein ungenauer Reim. Bei Gebiet Unterschied aber kann das D seine Aussprache als weicher tönender Verschlusslaut nicht bewahren: das wäre ein Verstofs

23*

35G Die dialektfreie Aussprache des Hochdeutsehen.

gegen die Lautgesetze der hochdeutschen Sprache, welche nachweis- lich sclion seit mehr als 1000 Jahren keine Media im Auslaut kennt. Da nun auslautendes D aufser auf denselben Buchstaben nur auf T, resp. Th reimt, so haben hier die Reime Beweiskraft. Derselbe Fall wiederholt sich beim auslautenden G. Die Aussprache desselben als weicher Verschlusslaut (g in Garn) ist unmöglich. Es wird nun darauf ankommen, auf welchen anderen Konsonanten es am häufigsten reimt, auf c, eh, h, j oder k. Ich halte mich, falls Herr Kr. nicht mein Urteil, vielleicht aus triftigeren Gründen, kassirt, für berechtigt, zu Gunsten desjenigen Lautes zu entscheiden, welcher die meisten Reime für sich zeugen lassen kann. Wir müssen im Deutschen ja oft mit ungenauen Reimen vorlieb nehmen, da unsere Sprache eben keinen üeberfluss an guten Reimsilben hat. Reime wie wild erfüllt, sehr schwer, ward zart, Liebe trübe, Gruss Kuss kann man in Menge finden, aber schwerlich in der ganzen neueren Poesie einen Reim wie Lack Lag, Ruck Flug. In Schiller's Reiterlied reimt allerdings ck mit g:

„Des Lebens Ängsten, er wirft sie weg, Er reitet dem Schicksal entgegen keck."

und derselbe Reim keck weg findet sich auch im „Taucher". Auch in Max von Schenkendorf's bekanntem Städteliede reimt Freiheitwei-k mit Königsberg; aber diese Reime stehen höchst vereinzelt da. Un- verhältnismäfsig häufiger kommt bei allen süd- und norddeutschen Dichtern g und ch gereimt vor:

wach Tag, Zweig Streich, Burg hindurch, Flug Tuch, genug Buch, erreicht schweigt, wunderreich Palmen- zweig, sprach Schlag, Jagd Macht,

z. B. Schiller (Kampf m. d. Dr.) : steigt erreicht.

Göthe (Faust) :

Des Geistes Flutstrom ebbet nach und jiiach ; Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag.

Platen (Ep. a. Hyl.): Schlag brach.

Wilh. Müller (Mainottin): gesäugt gereicht.

E. M. Arndt (Deutsch. Tr.): Felsenburg durch.

Fr. V. Schlegel (Im Spessh.): Burg hindurch.

Bürger: Das ist des wilden Heeres Jagd Nacht.

L. A. V. Arnim (Tr. i. Gebet): wach Tag.

Die dialektfreie Aussprache des Ilochdeiitsclicn. 357

Ich will hier nicht Hunderte von Gedichten anführen, in denen ich derartige Reime gefunden. Das Resultat meiner Betrachtung der Reimsilben ist,

dass ich mich anheischig mache, auf jeden ein- zelnen Fall, wo von unsern klassischen Dichtern auslautendes G und K gereimt w^erden, fünfzig da- gegen anzuführen, wo G mit Ch reimt.*) Auslautendes G kann also nur entweder mit Ichlaut oder mit Achlaut gesprochen v^erden.

Hiergegen sind die Ansichten Falkraann's von geringem Gewicht. In seiner Deklamatorik, die von allen bis jetzt vorhandenen Schriften dieser Art immer noch die beste ist, sagt er S. 182, § 40: „Anders verhält es sich mit dem G im Auslaut, gleichviel ob es allein ihn bildet oder in Verbindung mit anderen Konsonanten. Es wäre hier freilich dem Verfahren bei den anderen sanften Schlüssen analog, g wie k vorzubringen, und dies geschieht auch in einigen Gegenden, wo man Tag, Flug, log ausspricht Tahk, Fluhk, lohk, und Berg, Talg, birgt Berk, Talk, birkt. Aber die geschärften und die tonlosen Silben kommen doch auf diese Art sehr hart heraus, wie Schlack, Weck .... Könik, ewik, Ewickeit für König, ewig, Ewig- keit; und da nun das Jot sich in diesen I'ällen ebenfalls nicht wohl anwenden lässt, so wird ein sanftes Ch, wenigstens für den Nieder- deutschen, immer wohl die einzige ZuMucht bleiben."

Seite 192 sagt er: „Die Ausspi'ache eines weichen Lautes am Ende eines Wortes hat für uns Deutsche etwas Widerstrebendes ; und wir ahmen nur mit Mühe des Engländers weiches End-B, End-D, End-G oder gar sein weiches End-S (tub, bed, fog, was) nach. Wir glauben, dass es ein Gewinn für den mündlichen Vortrag wäre, wenn die Deutschen in diesem Stücke ihren Sprachverwandten, den Englän- dern, nachahmten."

Dass Falkmann bei seinen Erörterungen keinen festen Boden unter den Füfsen hat, liegt auf der Hand. Er unterscheidet als Wörter von verschiedener Vokallänge Tahk und Schlack, w^ährend doch in beiden Wörtern ursprünglich der Vokal kurz ist (Mhd. täc, släc, Gen. tagcs, slages), im Nhd. sowohl lang als kui'z gesprochen

*) Hiervon nehme ich selbstverständlich die Nasallaute ng und nk (Rang Dank) aus, welche, wie weiter unten bewiesen werden wird, ihren eigenen Entwickelungsgang gehabt haben.

358 Die dialektfreie Aussprache des Hochdeutschen.

wird; in der Verlängerung Tage, Schlage aber, weil in offener Silbe stehend, immer lang ist. "Wäre die Theorie von dem Ueber- gange des G in K bei dem Worte Tag richtig, so müsste sie sich auch ohne Frage auf Schlag und Weg ausdehnen lassen. Auch Falkniann's Wunsch, wir möchten bei der Aussprache des b, d, g den Engländern nachahmen, ist recht unnütz. Kein Einzelner, und wäre er noch so mächtig, kann der Sprache (und das heifst auch : der Aus- sprache) Bahnen anweisen, auf welchen sie sich bewegen soll. Wenn Falkmann indes schliefslich den Norddeutschen rät, das g am Ende immer wie ch zu sprechen, so beweist dies, dass das Gefühl des Rich- tigen in ihm waltete und nur durch nicht-stichhaltige theoretische Be- denken getrübt war.

Manche, die mit mir der Ansicht sind, dass auslautendes G nicht wie K, sondern wie Ch gesprochen werden müsse, haben mit Vorliebe als Grund geltend gemacht, dass das K am Ende doch gar zu schlecht klinge, und haben dadurch den Freunden dieser Aussprache die Wider- legung recht sehr erleichtert, denn diese behaupten mit demselben Recht, dass die Oberdeutschen ebenso über Siech, Wech, Zuch spotten, wie die Norddeutschen über Siek, Wek, Zuk. Herr Kräuter benutzt dies in dem oben angeführten Aufsatz zu einigen recht unfreundlichen Ausfällen gegen die Verfasser zweier früherer Aufsätze, denen er die gröfsten Geschmacklosigkeiten in die Schuhe schiebt, an die beide Herren gewiss niemals gedacht haben, z. B. dass, wer Zuch aage, auch*) Dinch, Rinch, lanch statt Ding, Ring, lang sagen müsse; dass bei dem „Musikdirechtor" nur „dirichiren" oder „dirijiren" Gnade finde. Solche Gedanken sind dem Haupte seiner Gegner nicht ent- sprungen, das ist eigenes Geistesprodukt. Bei seinem Angriffe wider- fährt Herrn Kräuter das Unglück, dass er auf Gebiete gerät, die ihm durchaus unbekannt sind. In Norddeutschland sagt man nicht lanch, noch weniger Sahn, sart oder**) Ssahn, ssart für Zahn, zart (S. 210); so sind ferner bei der Betrachtung der hochdeutschen Aus- sprache die Mutae der Gaumen- und Kehllaute streng von deren Nasal vg zu trennen, - in Ding kann das G recht wohl wie K gesprochen werden, während dieselbe Aussprache in Teig unzulässig ist. Sollte Herr Kr. dies schon gewusst haben, so musste er nicht über sank

*) Vgl. Archiv LVH, S. 107.

**) Das ist Aussprache der JStannuesgenossen Zwickauers auf dem Berl. Muhlendanira.

Die dialektfreie Aussprache des Hochdeutschen. 359

statt sang seine frostigen Späfse machen (vgl. S. 198); hat er's nicht gewusst, nun dann hat seine Kritik noch weniger Wert. Dass der Herr Kapellmeister Prof. H. Dorn sich trotz der grofsen Arbeitslast, die auf seinen Schultern ruhte, mit der Lösung der Frage über die Aussprache des G beschäftigte; dass er gut und richtig gehört und das Gehörte klar und fasslich dargestellt hat ; dass er die Lautkate- gorien, auf die es bei dieser Frage ankommt, als Erster im Grofsen und Ganzen richtig erfasst hat: das ist sein Verdienst, und wenn er als Nicht-Philologe für diese Erscheinungen noch nicht die volle wis- senschaftliche Erklärung finden konnte, manche Besonderheit der Aus- sprache auf Rechnung des Wohlklanges schrieb, während sie vielmehr in der geschichtlichen EntAvickelung der Sprache ihre Begründung findet, so hat Herr Kr. als Philologe am allerwenigsten das Recht, darüber vornehm die Achseln zu zucken. Seine gelehrten Citate aus Quintilian und Dionys von Halikarnass sind ja ebenso wenig am Platze, damit lässt sich für die Theorie der deutschen Aussprache nichts beweisen; was die Praxis anbetrifft, so zeigt sein PumPmeister und Kchiesel, dass Herr Dorn mehr von deutscher Aussprache versteht als er, denn dessen Aufsatz ist von solchen Wunderlichkeiten frei. Nach- dem ich den Dorn'schen Aufsatz vor etwa zwei Monaten gelesen, habe ich recht sehr bedauert, ihn nicht schon früher gekannt zu haben ; ich würde mir manche umfangreiche Vorarbeit für das Studium dieser Frage haben ersparen können.

Die Tatsache, dass inlautendes B und D in auslautendes P und T übergegangen sind, während G nicht K, sondern Ch geworden ist, liefse sich auch so darstellen, dass die inlautenden Mediae der Lippen- und Zahnlaute im Auslaute zur Tenuis werden, während die Media der Gaumen- und Kehllaute seit der Mittelhochdeutschen Zeit eine Verschiebung bis zur Aspirata erfahren hat. Wir haben hier eine Lautverschiebung, deren vollständige Entwickelungsreihe uns vorliegt, die in einigen Gegenden Siiddeutschlands noch nicht zum Abschluss gekommen ist, auf die, soviel ich weifs, bis jetzt noch Niemand aufmerksam gemacht hat. Vielleicht gelingt es einem Forscher, beim Studium dieser merk- würdigen Erscheinung das Rätsel der Lautverschiebung überhaupt zu lösen oder die Lösung wenigstens anzubahnen. Der Uebergang der Media in die Aspirata ist nicht etwa eine erst in neuerer Zeit aufge- kommene Eigentümlichkeit ; er lässt sich schon bei den letzten Dichtern

360 Die dialektfreie Aussprache des Hochdeutschen.

der mhd. Zeit und den ältesten nhd. Schriftstellern nachweisen.*) So schreiben wir jetzt manche Wörter mit g, die im Mhd. mit ch ge- schrieben wurden, z. B. billig, unzählig, Schwelg**); setzen umgekehrt eil für mhd. g^ z. B. niannig = manch, und befinden uns in grofser Ungewissheit darüber, ob ad lieh, greulich, eklich, Schwalg am Ende mit G oder Ch geschrieben werden sollen. ***)

Das Gesagte muss für Jeden, der für Belehrung nicht unzugäng- lich ist, hinreichen, um ihn zu überzeugen, dass die Aussprache des auslautenden G als Ch dem Ideal, welches sich unsere Klassiker über die neuhochdeutsche Schriftsprache gebildet haben, am besten ent- spricht. Mag man also immerhin in einigen Gegenden Süddeutsch- lands noch die mhd. Aussprache Siek, Sark, Zuk, bewekt, ge- wäkt konservirt haben, mag man ebenda auch über Siech, Sarcli, Zuch, bewecht, gewacht lachen, so müssen sich die anders- redenden Deutschen vorläufig mit verschiedenen Sprichwörtern trösten, unter anderen mit dem Reuter'schen : „Wat den Einen sien Uhl is.

*) Schon Bonerius (um 1340), im Edelstein, schreibt nicht mehr tac, kluoc, genuoe, sondern tag, kluog, genuog. Das auslautende g war Ihm also nicht mehr tenuis.

Bei Philipp Frankfurter (um 1450) kann das au^^lautende g nicht mehr wie k gesprochen werden, denn er reimt es mit inlautendem g, z. B. im Pfarrer vom Kahlenberg (vgl. Wackern. altd. Leseb. S. 1207): als ich sag: auf den Kirchtag ein kleine klag: der Kirchtag. Veit Weber (um 1470) reimt beschach: Rittertag.

(Schlacht bei Mnrten.) Hans Sachs (geb. 1494):

Die mausz er gar fast niederzog. Da kam ein storch geflogen hoch. Seb. Brandt (geb. 1458):

Des strotft jn gott, das er mit klag starb vnd syn suon vfl" eynen tag.

(Narrenschiff.)

Endlich Fr. von Spee, geb. 1591, reimt in der Trutznachtigall: Zweig streich, ruch Zug, Lerch lierg, Zierlichkeit Herrligkeit.

**) Mhd. bildülich, biUich; unzallich ; ahd. swelgo oder swelco, mhd. swelch, nhd. Schwelg = Schwelger.

***) Mhd. adelliche; Schiller: aus adelicher Zucht entstammet (Kampf m. d. Dr.)

Mhd. swalch u. swalc. Schiller schreibt in der Glocke Schwalch; da aber das Wort vom Imperfectstamm des Zeitwortes schwelgen (ver- schlucken) abgeleitet ist, so würde es wohl nach Analogie von Balg besser mit () geschrieben. In dem von der orthogr. Konf. beratenen \Vörterver- zeichnis fehlt dies Wort, dagegen ist die von Raumer vorgeschlagene Schrei- buno; Rettig; in Rettich geändert.

Die (lialektfroie Ausspracbc des Uoclideutsclien. 361

is en Annorn sin Nachtigall", und dann in Geduld warten, bis die Süddeutsclien sich entschliefsen werden, ihren veralteten Standpunkt aufzugeben und sich in das vorher verspottete Bessere zu finden. Und das Avird gewiss geschehen, wenn auch noch nicht in den näch- sten 100 Jahren, denn ein sprachlicher Pro/.css vollzielit sich langsam, aber stätig und mit Sicherheit, nach zwingenden Naturgesetzen,

Die Aussprache des auslautenden G als K ist im guten Hoch- deutsch kaum mehr gebräuclilich. Höchstens in den Adverbien weg, hinweg mag man zuweilen wohl noch die mhd. Aussprache mit K beibehalten (z. 1>. in d^ii Liede vom lieben Augnstin, welches vielleiclit dieser Beibehallung Vorschub geleistet hat), während man das zu- gehijiige Hauptwort Weg und das Genitiv-Adverb unterwegs mit Ichlaut spricht. Wenn man in den altfränkisch klingenden Wörtern ewiglich, männiglich, andächt igli ch, einmütig lieh oder in flugs*), bugsiren, ablugsen das g wohl noch wie k gesprochen hört, so erinnert auch dies an die mittelhochd. Aussprache; obwohl in diesen Wörtern g gewiss wie ch lauten darf.

Aus dem Bisherigen ergeben sich vier Folgerungen:

a) Die Aussprache des auslautenden G als K ist veraltet.

b) Au>lautendcs G wird wie Ch, d, h. entweder als Ichlaut (x) oder als Achlaut (y) gesprochen.

c) Da wir § 36 eine sechsfache Aussprache sämmtlicher Kelil- und Gaumenlaute entwickelt haben, das G aber die Aussprache des K nicht hat, so kann es höchstens auf fünffache Weise gesprochen werden.

d) Da wir soeben zu der Aussprache des anlautenden G in Garn 38), wo es als weicher tönender Verschlusslaut (g) gesprochen wird, noch die des Ich- und Achlautes gefunden haben, so ist die Aussprache des G mindestens dreifach.

§ 43. Die dreifache Aussprache des G als g, x, /.

Wir dürfen uns nicht wundem, dass diese Ansicht sehr viel An- hänger findet. Sie kann etwa so formulirt werden;

*) Genitiv-Adverb von Flug, wie falls von Fall, reclits, links u. s. w.

362 Die dialektfreie Aussprache des Hochdeutschen.

G im Auslaut wird wie Ch gesprochen, und zwar mit dem Ach- laut nach tiefem, mit dem Ichlaut nach hohem Vokal ; in allen übrigen Fällen spricht man es wie anlautendes G (g).

Diese Regel habe ich zwar in den mir zugänglichen Schriften in dieser Fassung nirgend gefunden, doch liefse sie sich vielleicht aus den Werken folgender Sprachgelehrten herausinterpretiren :

Heyse sagt im Wörterbuch: „G, der mittlere Gaumenlaut, härter als j, weicher als k, auch von dem Gaumenhaiichlaut ch in der Aus- sprache zu unterscheiden Als Schlusslaut einer Silbe, wie auch

vor einem <, 6; oder st, nähert sich das g in der besseren Aussprache dem ch (ob dem Ach- oder Ichlaut, ist nicht gesagt), jedoch so, dass der unmittelbar vorangehende Selbstlaut gewöhnlich gedehnt wird: vgl. Dach und Tag, so auch Weg, Zweig, ewig, log, Flug, trug, kläglich, möglich, Talg u. s. w. Nach mundartlicher Aussprache lautet es in diesem Falle dem k ähnlich."

Hiergegen müssen zwei Bedenken obwalten:

a) Ueber G im Inlaut zwischen Vokalen sagt er nichts. Wahr- scheinlich setzt er stillschweigend voraus, dass in Wörtern wie Tage, Wege, Zweige u. s. w. das G immer als weicher tönender Verschluss- laut g gesprochen werden soll.

b) Er spricht immer nur von Aehnlichkeit des G und Ch ; wir erfahren aber weder wie weit sie zusammenstimmen, noch worin sie von einander abweichen. Sind sie wirklich nur ähnlich, warum giebt er dann die Abweichung nicht an ; sind sie aber gleich, warum sagt er es nicht mit nackten klaren Worten ?

Noch weniger klar ist Ch. Fr. Koch 21 der deutschen Gram- matik, Jena 1860). „Dass weiche Laute im Auslaut sich in der Aus- sprache den harten nähern (Bad, bat, Wald, Welt), hat in der für das Mhd. giltigen Regel seinen Grund, dass weicher Laut nicht auslautet, sondern durch den harten vertreten wird (tac, tages u. s. w.). Im Anlaute klingt^ wie gelindes k: Gabe; inlautend vor dunkeln Vo- kalen härter (?), vor hellen und nach r und l weicher (in Mitteldeutsch- land) und nähert sich dem j: legen, Berg; auslautend ist es oft ch gleich: siech, Sieg." Diese Bestimmungen sind viel zu ungenau, teilvveis sogar auch unrichtig, z. B. dass das (/ in legen und Berg gleich ist.

Die dialektfreie Ausspraclio des Ilochdeiitsclien. 363

Wer sich die Mühe nimmt, Alles was in Grammatiken, Wörter- büchern, Lehrbüchern der Declamatorik über die Aussprache des G geschrieben worden ist, dnrchziistudiren, muss davon den Eindruck bekommen, dass die meisten Verfasser solcher Artikel entweder das Richtige nicht gewusst oder wenigstens die Gründe dafür nicht gekannt oder absichtlich verschwiegen haben.

Die dreifache Aussprache hat allerdings viel für sich; denn sie passt 1) für das anlautende G, dem sie den weichen tönenden Ver- schlusslaut zuweist, 2) für den blossen oder durch (i, s, f, st verlän- gerten Auslaut, dem sie den Ach- und Ichlant zuteilt, je nachdem ein tiefer Vokal (a, o, u, a>j) oder ein hoher bis i und ?■, l) vorangeht ; man kann also Wörter wie lag, Magd, fragt. Weg, hegt, legst, log, flog, mögt, biegt, lügst, Garn, gern, Gier ohne langes Bedenken richtig aussprechen. Wie ist es aber mit den Wörtern: lagen, Wege, liegen, logen, lügen, trugen, bergen, schwelgen? Gäbe es nur eine dreifache Aussprache, so niüssten sie ebenfalls mit weichem Verschlusslaut (wie g in Garn) gesprochen werden. Aussprechbar ist dies, hört sich auch ganz gut an; aber das kommt hierbei gar nicht in Betracht. In der Entwickclung der Sprache ist das Streben nach Wohlklang nur von untergeordneter Be- deutung: die Hauptveränderungen geschehen dadurch, dass man sich die Wörter durch Abstofsen unbequemer Laute oder Angleichen ver- wandter Laute mundgerecht zu machen sucht. Daraus ergiebt sich schliefslich auch Wohllaut, doch dieser stellt sich ungesucht von selbst ein. Wir haben früher viel Wohllaut gehabt und haben ihn aus Be- quemlichkeit aufgegeben; z. B. nämumes klingt voller als wir nah- men; wir haben jetzt Manches, was schlecht klingt, z, B. Holzklotz, Wachsmaske, Strickstrumpf, Pfropfen, und können es nicht ändern. Auch die Aussprache des auslautenden G haben wir seit der mhd. Zeit geändert, nicht aus Rücksicht auf Wohlklang, sondern wegen grölserer Bequemlichkeit. Ob das mhd. tac oder das nhd. Tach besser klinge, wer will dafür ii'gend welche stichhaltige Gründe anführen? ebenso darüber, ob Könige (mit Verschlusslaut) oder Köniye (mit Dauerlaut) grölseren Wohlklang habe?

§ 44. Die mehr als dreifache Aussprache des G.

Im Mhd. wurde allerdings der von den Verehrern der dreifachen Aussprache im Inlaut verlangte weiche Verschlusslaut wirklich ge-

3G4 Die dialektfreie Aussprache des Hochdeutschen.

sprochen, z. B. in tniogen, vliigen, berge, tage, lägen, stigen, swigen, swiilgen, wcge, und mit Fug und Recht, denn er war die Erweichung des k in truoc, vlouc, berc, tac, läc, steie, u, s. w. Im Nhd. aber haben wir an Stelle des harten auslautenden Verschlusslautes k den Ach- und Ichlaut, wie so eben bewiesen ist. Schon daraus dürfen wir vermuten, dass auch die Erweichung desselben nicht auf rahd. Standpunkt verharrt ist. Man spricht auch in der Tat in vielen Gegenden Deutschlands das G in klagen, logen, trugen nicht mit tönendem Verschlusslaut g, sondern mit tönendem Kehldauerlaut (H), wie wir ihn § 18 definirt haben. Ebenso wird in vielen Gegenden Deutschlands das G in Könige, mächtige, zeigen, bergen, liegen, lügen mit dem tönenden Gaumendauerlaut (y) gesprochen, der, wie wir in demselben Paragraphen gesehen haben, je nach der Vokalhöhe ein wenig schwankt, dessen musikalisch höchste Lage jedoch, wenn es auf i folgt, beim flüsternden Singen genau mit dem 7 zusammenfällt.

Also : Die Aussprache der beiden tönenden Dauer- laute Q und y findet in Wirklichkeit statt.

In Oberdeutschland ist mau zwar im Inlaut dem weichen tönen- den Verschlusslaut (g) treu geblieben, dies erklärt sich daraus, dass man dort auch auslautendes G noch wie K spricht. Wie kommt man denn aber im übrigen Deutschland gerade auf die beiden Dauerlaute? Warum nimmt man alle beide? Warum verwandelt man nicht in- lautendes G in reines Ch oder reines K? Sollte die innere Nötigung dazu erwiesen werden können, so wäre damit auch zugleich bewiesen, dass diese in Wirklichkeit stattfindende Aussprache auch nach zu- reichenden Gründen erfolge, also unmöglich falsch sein könne.

Der physiologische Beweis lässt sich so führen: Die tonlosen Verschlusslaute unterscheiden sich von den tönenden genau ebenso, wie sich die tonlosen Dauerlaute von ihren tönenden Gegenbildern unterscheiden. Die Stellung der Sprachwerkzeuge beim p resp. t ist wenig oder gar nicht von der beim I) resp. (1 verschieden (nach § 17): es kommt bei letzteren nur noch der als Knurrlaut bezeichnete Ton hinzu. Auf dieselbe Weise unterscheiden sich das tonlose und tönende S (s und z), der harte und weiche Achlaut (i und i^) und der harte und weiche Ichlaut (x und y).

Da nun bei der Verwandlung des Auslauts in den Inlaut bei den- jenigen Wörtern, die in diesem Falle Erweichung zulassen, wie Leib

Die dialektfreie Aussprache des llocluleutsclien. 305

Leiber, Rad Iläder, lag lagen, Sieg Siege, nicht das ge- schriebene Zeichen, sondern der gesprochene Laut mafsgebend ist, so haben wir es nicht mehr mit Leib, Rad n. s. w., sondern mit laip, rät, Iä;(, zix zu tun. Wird, wie in den beiden ersten Wörtern, erweich- bares [I und t Inlaut, so tritt zu jedem der Knurrlaut hinzu, d. h. sie werden in die entsprechenden tönenden Laute b und d verwandelt ; wird also erweichbares i oder \ Inlaut, so nniss auch zu diesem der Knurrlaut hinzutreten, sie müssen also in die entsprechenden tönenden Laute n resp. y übergehen.

Auf diese Beweisführung lege ich grofses Gewicht; sie ist gewissermafsen die Probe für Alle«, was über die Tonhöhe der Vo- kale, über die Einteilung der Konsonanten in tonlose und tönende und über die Wechselwirkung zwischen Vokalen und Konsonanten gesagt ist. Wie wir in § 39 gesehen haben, beeinflusst die Tonhöhe der Vokale a und i die Wahl des tiefen oder hohen Ch. Das geflüsterte Ch aber ist gleichlautend mit dem Ch der lauten Rede 17), folg- lich erstreckt sich der Einfluss der Vokalhöhe von a und i auch auf Ch in laut gesprochenen Wörtern. Da sich aber die harten Dauer- laute von den weichen nur durch das Hinzutreten des Knurrlants unterscheiden, so geht der Einfluss der Vokalhöhe auch auf die Er- weichung der Ch-Laute über, und die Aussprache von lagen, zogen, Fluge mit weichem Achlaut (g), von legen, liegen mit weichem Ichlaut y, ist daher physiologisch wohl begründet; sie ist also mindestens nicht falsch.

Aber sie ist noch mehr: sie ist notwendig, in einigen Wörtern wenigstens, wo es unmöglich ist, den weichen Stofslaut zu sprechen, oder wo ihn wenigstens kein unbefangener Deutscher spricht. Alle Welt spricht in

güt'ger Geber allmächt'ger Gott

reis'ger Reiter beschäd'gende Wirkung

ew'ger Frühling schäb'ger Rock

bausch'ger Aermel zack'ger Bruch

rein'gende Kraft harlnäck'ger Verteidiger

inn'ger Wunsch rotbäck'ger Apfel

das hinter dem Apostroph stehende G wie j, d. h. als weichen Ich- laut [y], und wenn man sie dem hartnäckigsten Verteidiger des wei-

3G6 Die dialektfreie Aussprache des Hochdeutschen.

eben Verschlusslautes g vorlegt mit der Bitte, sie so zu lesen, dass an Stelle des Apostroph kein, wenn auch noch so kurzes i eingeschoben wird, so wird er, wenn er überhaupt Sprachgefühl hat, eingestehen, dass in den obigen Beispielen G wie y gesprochen wird, wenigstens in den drei letzten Beispielen, die man nur bei sehr langsamem Sprechen und dann noch unter Gefahr, sich dabei die Zunge zu be- schädigen, mit dem Verschlusslaut g sprechen kann (wie tsakger; alle Welt spricht doch tsakyer).

Also: der weiche Ichlaut (y) ist in der dialektfreien nhd. Aussprache notwendig. Schon hieraus liefse sich auf die Berechtigung seines Zwillingsbruders, des weichen Achlautes, (i^) ein günstiger Schluss bilden ; aber er bedarf fremder Beurkundung gar nicht ; er beweist seine Berechtigung selbst, wenn auch in weniger drastischer Weise wie der Ichlaut. Man achte nur darauf, wie die Verteidiger des weichen Verschlusslautes in Wörtern wie lagen, zogen, trugen die andern Laute in etwas schneller Rede sprechen! Den vermeintlichen Fehler, das G als weichen Achlaut zu sprechen, vermeiden sie zwar, fallen aber dafür in einen andern : sie sprechen das n nasalirt (wie ng in Zange).*) Darauf aufmerksam gemacht, werden sie zwar langsamer sprechend diesen Fehler vermeiden, und wenn man von ihnen verlangt, sie sollen ebenso schnell sprechen wie vorhin, so gelingt ihnen auch dann vielleicht ein richtiges N bei grofser Biegsamkeit und Geschmeidigkeit der Sprachwerkzeuge, ge- wissermafsen als Kunststück, aber nur indem man ihnen anhört und ansieht, dass ihnen diese in der deutschen Sprache tausendfach vor- kommende Lautverbindung Mühe macht. Noch mehr Mühe wird es ihnen machen, wenn die obigen Wörter mit einer Präposition zusammen- gesetzt sind, die den Hochton hat, z. B. austragen, Beihigen, etwa in dem Satze: „Wenn du doch die Beilagen wolltest austragen lassen." Nur wer vom ganzen deutschen Volke verlangt, dass es, vorgefassten Meinungen Einzelner zu Liebe, seinen Sprachwerkzeugen Gewalt an- tun soll, kann in derartigen Fällen an dem Verschlusslaut g festhalten. Die überwiegende Mehrheit des Volks zieht hier jedenfalls den weichen Achlaut vor, da er auch beim schnellsten Sprechen eine fehlerfreie und mühelose Aussprache des n ermöglicht.

*) Also zogen = tsögn.

Die dialektfreie Aussprache des Hocluleutschen. 367

Für die Richtigkeit des Vorgetragenen könnte ich mich neben den bereits geltend gemachten Gründen auch auf die Autorität des Grimm'schen Wörterbuchs berufen, welches zwar Bd. IV, S. 1105 ff. die Aussprache des G nicht systematisch behandelt, namentlich den Unterschied zwischen Kehl- und Gaumenlaut (Ach- und Ichlaut) nicht nachdrücklich hervorhebt, weil das an dieser Stelle nicht nötig war, aber dennoch alle fünf Arten der Aussprache enthält.

S. 1106 a. a. 0. wird sub 3 a von dem weichen tönenden Ver- schlusslaut g gehandelt. „Die härtere, mehr dem k sich nähernde Ausfiprache gelte da, wo das G vom Einflüsse der Vokale ganz frei sei, hauptsächlich im Anlaute.

S. 1105 u. IIOG 2 b, handelt vom harten tonlosen Kehl- und Gaumen-Dauerlaut (% u. x) : „im mitteldeutschen Gebiete gelte -ch als Auslaut für g; man spreche Tag == Täch, lag = lach, zog = zöch, Weg = Weg, weg (fort) = wech, Berg = Berch, Dieses -ch stimme zu dem niederdeutschen Auslaute, Dach Tag, mach mag, wech, berch u. s. w., der nun durch die mafsgebende Geltung der mitteldeutschen Aussprache sich selbst in das gebildete Oberdeutsch einschleiche.

S. llOö u. 1107 3a und Sh ß handeln vom weichen tönenden Kehl- und Gaumen-Dauerlaut (tt und y) : „nach e, i, ei, eu, (äu) ü werde ein palataler Laut gesprochen, d. i. ein nicht mehr der Kehle, sondern der vorderen Gaumengegend angehöriger Laut, so dass dies G dem J am nächsten liege." „Die weichere Aussprache des G habe da Statt, wo sie dem erweichenden Einf]usse der Vokale oder auch der Liquiden / und r ausgesetzt sei, wie in legen, sagen. Die weichere und härtere Aussprache sei in der medialen Natur des G begründet." De\- Verfasser dieses Artikels, Dr. R. Hildebrand, fährt dann wörtlich fort:

„Es ist tadelnsAvert und lächerlich, dass Tonangebende, wie Schauspieler und selbst Lehrer, angefangen haben, diesen Unterschied als plebej zu verschmähen, die blofse harte Aussprache für hochdeutsch zu halten, so dass man da eigentlich leken, saken zu hören be- kommt. So wenig ist zur Zeit noch die hohe deutsche Sprachwissen- schaft der lebendigen Muttersprache zu Gute gekommen, dass ihr die Gebildeten ungehindert einen solchen Schaden antun können!"

368 Die dialektfreie Aussprache des Hochdeutschen.

§ 45. Verteilung der 5 Kehl- und Gaumenlaute auf das Schrift- zeichen Gr.

Das Ergebnis der bisherigen Untersuchung ist, dass der Buch- stabe G fünf verschiedene Laute bezeichnet:

1) den -weichen tönenden Verschlusslaut g in Garn, gern.

2) den harten tonlosen Kehldauerlaut i in Tag, Flug.

3) den weichen tönenden Kehldauerlaut 0 in Tage, zogen.

4) den harten tonlosen Gaumendauerlaut X in Zweig, Burg.

5) den weichen tönenden Gaumendauerlaut y in Zweige, zack'ge. Wir haben jetzt die Frage zu untersuchen, wie weit das Gebiet

eines jeden Lautes sich erstreckt.

I. Der weiche tönende Verschlusslaut g kommt namentlich im Anlaut vor, nie im Auslaut, doch kann er für den Inlaut nicht durch- aus geleugnet werden. In Verbindungen wie:

dreitäg'ge Reise, einäug'ger Riese

einschläg'ger Bescheid müssten eigentlich die beiden aufeinander folgenden G als weiche Ich- laute (d. h. wie yy) gesprochen werden. Die lange Dauer dieser in einen einzigen verschmelzenden Laute mag wohl anstöfsig erscheinen, und man spricht deshalb das erste G gewöhnlicli als Verschlusslaut, da sich an diesen der darauf folgende Jot-Laut leicht anschliel'sen lässt, also draitägy«, ainsliigyer. In

zug'ger Wagen laug'ge Sole findet, wenn man überhaupt je in die Verlegenheit kommen sollte, diese Wörter apostrophirt brauchen zu müssen, diese Nötigung nicht statt, denn der weiche Achlaut und Jot lassen sich in unmittelbarer Folge leicht aussprechen: tsiißysr. Aber tsugy^r ist gewiss nicht imrichtig.

IL Der harte tonlose Kehl- und Gaumendauerlaut (^ ""*^^ ^ kommen nur im Auslaut vor. Die Entscheidung für den einen oder anderen erfolgt nach musikalischen Principien, wie wir § 39 gesehen haben. Ebenso musikalisch verschieden, wie die tonlosen Dauerlaute, sind aber auch die tönenden. Wir werden also

III. den weichen tönenden Kehl- oder Gaumen-Dauerlaut (0 oder y) in allen Fallen sprechen müssen, wo auslautender tonloser

Die dialektfreie Aussprache des Hochdeutschen.

369

Ach- oder Ichlaut im Inhiut erweicht wird. "Weicher Achlaut ist also z, B. in lagen, logen, schlugen, weil sie aus lag (gespr. lach), log (gespr. loch), schlug (gespr. schlüch) entstanden sind. Wir werden aber dieselbe Aussprache auch den Wörtern nicht versagen dürfen, in denen ein solches auslautendes Ch nicht vorhanden ist, z. B. sagen, Klage, Auge. Dagegen ist weicher Ichlaut (y) in legen, liegen, lägen, lögen, lügen, bergen, borgen, schwelgen zu sprechen, weil die Tonhöhe der dem G vorangehen- den Vokale mit dem Klangregister des weichen Ichlauts übereinstimmt. Das G hat in allen diesen Wörtern ungefähr den Klang des Jot, doch mag ein sehr scharfes Ohr vielleicht bei jedem der verschiedenen Vokale noch einen feinen Unterschied wahrnehmen können. Nach dem i ist das G wirklich vollkommen dem j gleichklingend, nach ä, ö und r klingt es vielleicht etwas tiefer und steht dem weichen Achlaut eine Wenigkeit näher, obwohl es von ihm immer noch deutlich genug unter- schieden ist. Da die Sprachorgane aber von selbst diese Unterschiede hervorbringen , ohne dass die klügelnde Absicht sich ins Mittel zu legen nötig hat, so können wir uns eine genauere Erörterung dieses Punktes ersparen.

Man wird demnach folgenden Wörtern leicht den richtigen Laut geben können:

1.

weicher Verschlussl.

2. harter Achl.

3.

harter Ichl.

4. weicher Achl.

5. weicher Ichl

B

X

X

0

y

Gabe

mag

schlagt

Magen

Schläge

gelb

Magd

Wegs

sagen

Wege

giefsen

Jagd

Stieg

jagen

Stiege

goss

zog

mögst

zogen

mögen

Guss

Herzog

betrügst

Logen

betrügen

Geifsblatt

Flug

Zweig

Fluge

Zweige

glauben

Saugnapf

beugt

Zuge

beugen

Gnade

ragst

Sarg

e

Särge

grüfsen

zogst

Talg

Sauger

balgen

Diese Aussprache ist in der Entwickelung der Sprache wohl be- gründet und wird in der Tat von mindestens 20 Millionen Deutscher, nämlich von der ganzen nördlichen Hälfte (mit Ausnahme Schlesiens)

Archiv f. n, Spraclien. LVIII. 24.

370 Die dialektfreie Aussprache des Hochdeutschen.

und in einzelnen Lautverbindungen (vgl. § 44) auch in Süddeutsch- land gesprochen, man hat also kein Recht, dieselbe als fehlerhaft oder dialektisch zu bezeichnen. Sie ist, was die Wörter unter No. 4 u. 5 betrifft (über No. 1 3 ist ja so gut wie gar keine Meinungsver- schiedenheit), vv^enn überhaupt die deutsche Aussprache auf dem Boden geschichtlicher Entwickelung steht und Zulassung oder Verwerfung nach geschichtlichen, physiologischen und statistischen Grundsätzen zu erfolgen hat; wenn es nicht in das Belieben des Einzelnen gestellt ist, diese oder jene Lautcombination nach subjektivem Ermessen schön oder hässlich zu finden und darnach ein beifälliges oder absprechendes Urteil zu fällen: besser begründet als die, welche in diesen Fällen den weichen Verschlusslaut bevorzugt. Wir wollen damit dem letzteren keineswegs alle Berechtigung absprechen. Wir haben ja gesehen, dass die Schnelligkeit des Sprechens auf die Bevorzugung der weichen Dauerlaute von grofsem Einfluss ist. Spricht man sehr langsam und feierlich, so werden die Silben mehr gedehnt und erhalten gröfsere Selbständigkeit. Dadurch werden die Beziehungen, welche die Laute einer Silbe zu vorangehenden Lauten haben, gelockert : inlautendes G kann dann gewissermafsen als Anlaut der eigenen Silbe betrachtet werden und man kann dann aus diesem Grunde dem weichen Ver- schlusslaut den Vorzug geben. Die Hauptsache bleibt jedoch in diesem Falle, dass der Laut mühelos und ohne Affektation hervor- gebracht wird. Wer dies nicht kann, wähle lieber einen der beiden Dauerlaute, die mindestens ebenso richtig sind. Die Gewöhnung von Jugend auf tut hier sehr viel. Ich möchte ebenso wenig dem- jenigen, der bisher im Inlaut den Verschlusslaut g zu sprechen ge- wohnt war, anraten, sich die Dauerlaute anzugewöhnen, wenn er nicht sehr feines Gehör für lautliche Verschiedenheiten und sehr biegsame und geschmeidige Sprach Werkzeuge hat.

Wer aber im Conversationston sich den Verschlusslaut 2 in Wör-

o

tern wie lagen, zogen (vgl. S. 150 No. 4) gegen die Gewolinheit seiner Kindheit anquälen will, handelt ebenso töricht, als wer auf hoher See ein gut segelndes Schiff verlässt und auf ein Wrack über- geht. Es muss ja aus dem oben Gesagten klar genug hervorgehen, dass der Entwickelungstrieb der Sprache dahin gerichtet ist, auslauten- des G in harten Ach- und Ichlaut, inlautendes in die dazu gehörigen weichen tönenden Laute (\ und y zu verwandeln. Vielleicht wird nach ein paar hundert Jahren dieser Entwickelungsprocess mit ebenso grofser

Die dialektfreie Aussprache des Hochdeutschen. 371

Klarheit sich vollzogen haben, wie die Verwandlung des anlautenden S in Seh (vgl. § 33). Schon jetzt sprechen fast alle Deutschen die Dauerlaute wenigstens in einzelnen Fällen, Viele allerdings, ohne es zu wissen, und auch die B üh n e sollte , wenn sie anders mit der Sprache des Volkes Fühlung behalten will, diesem Zuge der Sprachent Wickelung Folge leisten, da für in- lautendes G die weichen Dauerlaute rt und y notwendiger Weise von Jahr zu Jahr mehr Boden gewinnen müssen. Sehr viel vorurteils- freie, wissenschaftlich gebildete Bühnenkünstler üben in der Tat die fünffache Ausspi'ache aus und lassen sich nicht beirren durch das Ge- schrei derer, die die weichen Dauerlaufe ([ und y in das Gebiet der Provinzialismen verweisen wollen. *) Die fünffache Aiissprache des G ist statistisch der dreifachen überlegen , und bei Abwägung der sprachgeschichtlichen und physiologischen Gründe ist sie auch vor ihr im entschiedenen Vorteil.

Es könnte noch der Einwand erhoben werden, dass die fünf- fache Aussprache viel zu complicirt sei, und dass es aus diesem Grunde besser sei, eine einfachere, wenn auch mit der Aussprache des Volks weniger im Einklang stehende Regel zu befolgen, als eine zwar richtigere, aber doch schwerer zu handhabende, die gleichwohl mit der Aussprache von Millionen nicht übereinstimmt. Dieser ganze Einwand hat nichts auf sich, da er ebenso sehr gegen die dreifache Aussprache geltend gemacht werden kann ; denn es ist durchaus nicht zutreffend, dass die fünffache Aussprache verwickelter ist. Die Unter- scheidung zwischen hartem Ach- und lehlaut ist für beide gleich not- wendig, und die Regeln über die Erweichungen dieser Laute gehen denen über die harte tonlose Aussprache vollkommen parallel. Kommt man über den G-Laut einiger Wörter, wie Säugling, Ereignis in

*) Den Inlaut wie ^ zu sprechen, das ist provinziell, und ein tüchtiger Schauspieler wird diese Aussprache niemals anwenden, wenn er nicht damit irgend eine drastische Wirkung erzielen will. „Wenn z. B. der burschikose Bürger in „Johann von Paris" von dem leeren Ma(jen der Prinzessin spricht, und wenn der Herr Gross-Seneschal dann entsetzt ausruft: eine Prinzessin und einen Magen !" so ist das ganz in der Ordnung. Nichts ist für die Bornirtheit jenes von Etikette überlliefsenden Hofschranzen bezeichnender, als ein g in Magen." Dies von H. Dorn im Archiv Bd. 40 angeführte Beispiel ist sehr treffend, stimmt auch sehr gut mit dem obigen Ausspruch Hildebrand's in Grimm's Wörterbuch überein, und ich begreife nicht, was Herr Kräuter in seinem Aufsatz Bd. 57, S. 197 daran auszusetzen hat.

24*

372 Die dialektfreie Aussprache des Hochdeutschen.

Verlegenheit, so ist diese bei der dreifachen Aussprache, welche zwi- schen X und g schwankt, nicht geringer, als bei der fünffachen, welcher di:; Wahl zwischen x und y schwer wird.

Ueber die Aussprache des G ara Ende der Wörter kann man nie im Zweifel sein, denn die Entscheidung zwischen Ach- und Ichlaut erfolgt ja nach festen Principien. Steht jedoch G nur am Ende einer Silbe und doch mitten im Wort, so entsteht bei Wortableitungen oder Zusammensetzungen oft Unsicherheit darüber, ob G wirklicher Aus- laut ist oder nur verkappter Inlaut, hinter welchem ein E ausgefallen ist. Hier muss man nach Analogien schliefsen. In Feigheit z. B. ist wohl das G als harter Ichlaut zu sprechen, da es schon im Mhd. im Auslaut stand: veicheit; ebenso in Zeughaus, Erträgnis, siegreich, möglich, weil die Endungen hier als unmittelbar an den Wortstamm angehängt gedacht werden. In Säugling dagegen ist wohl das erste G als inlautendes, d. h. als weicher Ichiaut y (die Anhänger der dreifachen Aussprache würden g wählen müssen) zu sprechen, weil im Mhd. hinter dem G noch ein E stand : sügelinc. Ebenso verhält es sich dann mit Feigling, Zögling,*) die in Analogie mit Gründling, Findling 31) stehen, und mit Berglein und den anderen Verkleinerungswörtern auf lein, in welchen vordem L ein E weggefallen ist 26); als oberster und wichtigster Grund ist aber der anzusehen, dass das Volk wirklich so spricht.

Ereignis müsste nach Analogie von Erträgnis, Wagnis eigentlich mit hartem tonlosen Ichlaut gesprochen werden, da es vom mhd. erougen, d. h. vor Augen stellen, sichtbar werden, herkommt, das G also am Ende des Wortstammes steht. **) Die dem Worte zu Grunde liegende Anschauung ist jedoch dem Bewusstsein des Volkes verloren gegangen: es schwebt demselben jetzt die Ableitung von dem Eigenschaftswort eigen und dem davon abgeleiteten Zeitwort eigenen (vgl. zueignen) vor, d. h. man denkt sich fälschlich hinter dem G ein ausgefallenes E und spricht es daher, als ob es Inlaut wäre. Hier ist also offenbar der Sprachgebrauch in die Irre gegangen, wir müssen ihm aber folgen, da es unmöglich sein würde, der abgestorbenen, wenn auch richtigen Form eräugen neues Leben einzuflöfsen.

*) Ahd. Suffix-ilinc.

**) Wegen des offenbaren Zusammenhangs mit Auge wurde das Wort noch vor 100 Jahren nicht selten eräugnen geschrieben.

Die dialektfreie Aussprache des nochdcutschen.

373

Nach Analogie von lieblich redlich müssen auch klüglich (x) behaglich (x) beurteilt werden.

und dickschn ab(e)lig ,, ad(e)lich (lig) zweiflüg(e)lig (y) kug(e}lig(g)

Man spricht also den Ich- oder Achlaut

hart und tonlos in

weich un(

;1 tönend in

Zeughaus x

Zugseil X

Säugling y

Bogner 0

Feigheit

unsagbar

Zögling

verlogner

biegsam

genugsam

Feigling

hagrer

Steigbügel

tragfähig

Berglein

magrer

Stegreif

Tragkraft

Zwerglein

Wagner

Erträgnis

zaghaft

Zweiglein

Vogler

singhaft

Bugbein

Ereignis

(kuglig)

möglich

tauglich

Lügner

spitznaglig

betrüglich

behaglich

Ziegler

kuglicht

unverzüglich

fraglich

hüglig

getragner

kläglich

Taglicht

zweiflüglig

verlegner

täglich

regnen

ungezogner

Der Buchstabe G wird aber nicht nur im Inlaut als weicher Dauerlaut gesprochen, sondern in einem Falle sogar oft im Anlaut : Die Zahl der Deutschen ist nicht klein, welche die Vorsilbe ge in gesessen, gegeben, gewähren, geniefsen u. s. w. nicht mit Ver- schlusslaut g, sondern mit weichem Ichlaut (y) sprechen. Der Grund für diese Aussprache mag vielleicht darin zu suchen sein, dass die Bedeutsamkeit der Vorsilbe ge- nicht mit derselben Klarheit dem Sprach- bewusstsein vorschwebt, wie die der andern mit G anfangenden Wörter, und dass in Folge dessen diese Silbe ihre Kraft zum Widerstände ver- loren hat gegenüber dem Bestreben der Sprache, die G-Laute in Dauerlaute zu verwandeln. Da sich dieser Gebrauch bis jetzt jedoch bei nur wenigen Millionen völlig eingebürgert hat, während die über- wiegende Mehrzahl an dem Verschlusslaut g festhält, so würde im künstlerischen Vortrag dem letzteren der Vorzug einzuräumen sein mit Ausnahme eines einzigen Falles: wenn es vor solche Wörter tritt, in deren Anlaut schon ein Kehl- oder Gaumenlaut steht, z. B. ge- grangen, ge-^eben, ge-^^laubt, ge-Äränkt, ge-Ä:ehrt, ge-/tirrt, ge-/ilagt, Ge-

374 Die dialektfreie Aussprache des Hochdeutschen.

/flirr, ge-guakt, ge-^uält, ge-^^uollen. In der Vorsilbe ge ist nämlich der Vokal e so leicht und flüchtig, dass er in manchen Wörtern sogar ganz wegbleibt, z. B. in glauben, gleich, Glück (vgl. gelingen), Gnade, grade für gelauben, gel eich u. s. w. Will man aber in den Wörtern gegangen, gekränkt u. s. w. die Vorsilbe nach Gewohnheit schnell sprechen, so stellt sich dem die ungefüge Aufein- anderfolge der Kehlverschlusslante entgegen. Wie leicht spielt die Zunge, wenn man möglichst schnell tatatatata spricht, was für ein schweres Stück Arbeit ist dagegen kakakakaka oder gagagagaga „Wie viel Mühe bei der Deklamation macht in Schiller'» „Pegasus im Joche" der Vers: „Der Anfang/ (fing ganz ^ut."

Auch für die uns so nahe verwandten Niederländer scheint die Aufeinanderfolge der Augmentsilbe ge mit einem im Inlaut des Stam- mes stehenden G einige Schwierigkeiten zu machen, wenigstens werden, " wie ich oft selbst zu beobachten Gelegenheit hatte, in dem Particip gegeven die beiden G nicht gleich gesprochen, sondern das erste tonlos, das zweite tönend, also ;;(onc»f!l.

Im Hochdeutschen wird aus demselben Grunde in diesem Falle das Augment-G als Dauerlaut, das Stamm-G als Verschlusslaut ge- sprochen und zwar ersteres mit verschiedener Ansatzstelle, bald am harten, bald am weichen Gaumen, so dass man bald yegebsii, bald ge- geben hört. Selbst diejenigen, welche gewohnheitsmäfsig den Ver- schlusslaut sprechen, lassen, meist gegen ihren Willen, in diesem Falle den Dauerlaut hören , und er verdient auch den Vorzug, nicht nur weil er das Sprechen erleichtert, sondern auch weil er es wohlklingen- der macht; denn wenn es wahr ist, dass Abwechselung angenehm ist, so lautet in diesem Falle die Aufeinanderfolge von Dauerlaut und Ver- schlusslaut besser als die der beiden Verschlusslaute hintereinander.

Hiermit möchte Alles, was sich über die Aussprache des einfachen G sagen lässt, erschöpft sein. Bei der Zerfahrenheit der Ansichten, welche über deutsche Aussprache herrschen, bin ich überzeugt, dass das Ergebnis der obigen Untersuchung von vielen Anhängern der ein- fachen oder dreifachen Aussprache auf das hartnäckigste bestritten, von den Millionen Anhängern der fünffachen Aussprache als das Selbst- verständlichste von der Welt hingenommen werden wird. Von den Ersteren erwarte ich Widerlegung; bei den Letztoren will ich mich nur gegen den Tadel verwahren, als hätte ich von einer über jeden

Die dialektfreie Aussprache des Flochdeutsehen. 375

Zweifel erhabenen Sache zu viel Aufhebens gemacht. Die Richtig- keit der fünffachen Aussprache ist keineswegs so allgemein anerkannt, wie man wohl glaubt. Millionen üben sie praktisch aus, ohne die ver- schiedenen G-Laute der Theorie nach auseinander halten zu können, und bisher habe ich ein System dieser Laute noch nirgend in dieser Fassung aufgestellt, noch viel weniger bewiesen gefunden. Der Beweis aber konnte von mir nur dadurch geführt werden, dass alle beweiskräftigen Einzelnheiten gesammelt, systematisch geordnet und deren Zusammenhang mit den in der lebendigen Sprache wirkenden Gesetzen nachgewiesen wurde. Ebenso wie die Richtigkeit des Systems sich aus seiner Harmonie mit den einzelnen Spracherscheinungen er- giebt, so wird umgekehrt die Richtigkeit des Einzelnen durch die Uebereinstimmung mit dem System erwiesen, und eine Widerlegung desselben wird nicht eher möglich sein, als bis ein anderes eben so wohl gefügtes System aufgestellt wird, durch welches sich alle hier einzeln aufgeführten physiologischen, sprachgeschichtlichen und stati- stischen Tatsachen noch besser erklären lassen. Gegen eine Wider- leguug, die nur in der Anrufung anderer Autoritäten, etwa derorthogr. Konferenz, besteht, glaube ich mich ablehnend verhalten zu dürfen; ist ja doch die von der orthographischen Konferenz nach den Vor- schlägen R.'s von Raumer durchberatene, von ihr verbesserte und durch Abstimmung angenommene Lauttabelle fehlerhaft: die beiden Laute V und g, deren Berechtigung im guten Hochdeutsch in § 18 und in dem eben Gesagten dargetan ist, sind darin nicht aufgeführt. Durch eine Vergleichung derselben mit der unsrigen kann man sich leicht davon überzeugen. Auf Seite 134 der Verhandlungen d. orth. Konf. heifst es :

Man unterscheidet Vokale und Konsonanten Die Konso- nanten sind :

p

b

tu m

t

b

f n

i

t (c, q)

9

df

f) n, ng

1. 5. 5?. in

ei

:ein,

6^)tel. 2. j.

53. in tcf;. ;

in 3tnfev, (ange.

j. 2?. in aä). 4. j. '

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Die lUalektfreie AuEgprache des Hochdeutscbea. 377

schlusslantes ; wir können sie aber auch als Verdoppelucg der tcmen- den Dauerlaute auffassen, wobei durch die Verdoppelang natürlich nur Kürze des vorangehenden Vokals angezeigt -wird. Die Wörter baggern, Dogge, Egge u. s. w. dürfen wir also wie bus;crB. tlosf? f gf und wie bägcrn. i!0(\r, f Tc aussprechen: das Eine ist ebenso richtig als das Andere.

§ 46. j, qu, X.

Wir haben jetzt noch von den anderen Schrift zeichen zu sprechen, die zur Bezeichnung der Gaumen- und Kehllaute dienen. Denselben Klang wie inlautendes G nach hohen Vokalen hat j, das wir daher nur definiren können als weichen tönenden Gaumen-Dauerlaut (= y) und zwar als den am meisten nach dem vorderen Gaumen hin gespro- chenen. Dieses Schriftzeichen steht in gut hochdeutschen Wörtern nur im Anlaut; im Inlaut drückt G, wie wir soeben gesehen, den- selben Laut aus (vgl. Könige, siegen, ew'ge, zack'ge). Dass die Laute, welche durch diese beiden Schriftzeichen dargestellt werden, mit einander nahe verwandt sind, geht am deutlichsten daraus hervor, dass es bei manchen Wörtern noch nicht ausgemacht ist. ob sie mit G oder J zu schreiben sind, z. B. gäten jäten, Gauche Jauche, ahd. gach nhd. jah. Mir scheint jedoch hier die Aussprache und Schreibweise mit J den Vorzug zu verdienen.*)

Li einigen ursprünglich niederdeutschen Wörtern kommt ; auch im Inlaut vor, z. B. in Boje, Koje, aulsenlem in einigen Fremdwör- tern wie Troja, Poinpejus, Xajade, Achaja. In den aus dem Fran- zösischen stammenden Wörtern wird es wie weiches tönendes soh (= z) gesprochen, z. B. in Jabot, Jalousie ; doch darf man mit dieser Aussprache nicht zu Torschwenderisoh sein: Projekt «. B. .stammt nicht aus dem Französischen, sondern aus dem Lateinischen, sonst würde es ja projet gosohriebon werden; das Wort muss alsi> g^ sprochcn wcnlcu : |)ro>Ckl.

lieber die Aussprache drs qu ist bereits § '28 gehandelt^ Anvh über dt'n r>iu'li>tabiMi \ können wir uns kurz fassen. Er wird ge.>

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S76 Die dialektfreie Aussprache des Hochdeutschen.

Wenn wir die in unserem § 22 aufgestellte Konsonantentabelle*), deren Richtigkeit jetzt ausreichend erwiesen ist, in ähnlicher Weise wie die Lauttabelle der Konferenz anordnen, aber so, dass jeder Laut nur mit einer Bezeichnung aufgeführt wird, und zwar mit derjenigen, welche in gewöhnlicher Schrift am häufigsten benutzt wird, so er- halten wir folgende Uebersicht:

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fageu. 4. j. 33. in rafdi, Stein, e^icl 5. j. 33. in gern. (3. 5. 33. in

t(^, etvig. 7. j. 33. in jener, eiv'gc. S. j. 33. in ?lnfer, lange. 9. j. 33. in a^i, tcg. 10. j. 33. in Bogen.

Daraus, dass die Konferenz den Ich- und Achlaut des Ch unter- scheidet, geht wohl hervor, dass ihre Konsonantentabelle auch für Sachverständige berechnet ist und dass sie vollständig sein sollte. War die Konferenz der Ansicht, dass die fünffache Aussprache des Gr die richtige sei, so durfte sie auch nicht den erweichten Achlaut n, d. h. den weichen tönenden Kehldauerlaut in bogen, lagen in ihrer Zusammenstellung übersehen, lieber das Fehlen des Lautes v habe ich schon § 18 Anm. gesprochen. Vergleicht man beide Lauttabellen, so wird man finden, dass die hier vorgetragene an Uebersichtlichkeit der anderen nicht nachsteht, dass sie aber durch den grossen Vorzug der Vollständigkeit und Richtigkeit ihr überlegen ist. Dass die Kon- ferenzmitglieder zwar die mehrfache Aussprache des Ch erwähnt, aber die noch mannigfaltigere des G unberücksichtigt gelassen haben, möchte beweisen, dass sich unter ihnen kein Fachmann befunden hat, dem die Theorie der letzteren besonders geläufig gewesen wäre.

Es bleibt uns noch übrig, über die Aussprache der Gemination gg, welche bereits § 38 erwähnt ist, noch Einiges nachzuholen. Wir haben sie a. a. 0. aufgefasst als die Verdoppelung des tönenden Ver-

*) Vgl. Archiv Bd. LVII, ^. 57.

Die dialektfreie Aussprache dos Hochdeutschen. 377

schlnsslautes ; wir können sie aber auch als Verdoppelung der tönen- den Dauerlaute auffassen, wobei durch die Verdoppelung natürlich nur Kürze des vorangehenden Vokals angezeigt wird. Die Wörter baggern, Dogge, Egge u. s. w. dürfen wir also wie bag^rn, dogf, c'gf und wie baflfni, dÖQf, fj'f aussprechen: das Eine ist ebenso richtig als das Andere.

§ 46. j, qu, X.

Wir haben jetzt noch von den anderen Schriftzeichen zu sprechen, die zur Bezeichnung der Gaumen- und Kehllaute dienen. Denselben Klang wie inlautendes G nach hohen Vokalen hat J, das wir daher nur definiren können als weichen tönenden Gaumen-Dauerlaut (= y) und zwar als den am meisten nach dem vorderen Gaumen hin gespro- chenen. Dieses Schriftzeichen steht in gut hochdeutschen Wörtern nur im Anlaut; im Inlaut drückt G, wie wir soeben gesehen, den- selben Laut aus (vgl. Könige, siegen, ew'ge, zack'ge). Dass die Laute, welche durch diese beiden Schriftzeichen dargestellt werden, mit einander nahe verwandt sind, geht am deutlichsten daraus hervor, dass es bei manchen W^örtern noch nicht ausgemacht ist, ob sie mit G oder J zu schreiben sind, z. B. gäten jäten, Gauche Jauche, ahd. gach nhd. jäh. Mir scheint jedoch hier die Aussprache und Schreibweise mit J den Vorzug zu verdienen.*)

In einigen ursprünglich niederdeutschen Wörtern kommt j auch im Inlaut vor, z. B. in Boje, Koje, aufserdem in einigen Fremdwör- tern wie Troja, Pompejus, Najade, Achaja. In den aus dem Fran- zösischen stammenden Wörtern wird es wie weiches tönendes seh (= z) gesprochen, z. B. in Jabot, Jalousie ; doch darf man mit dieser Aussprache nicht zu verschwenderisch sein: Projekt z. B. stammt nicht aus dem Französischen, sondern aus dem Lateinischen, sonst würde es ja projet geschrieben weiden; das Wort muss also ge- sprochen werden : proj'fkt.

Ueber die Aussprache des qu ist bereits § 28 gehandelt. Auch über den Buchstaben X können wir uns kurz fassen. Er wird ge-

*) In dem von der ortbographisclien Konferenz aufgestellten Wörter- verzeichnis werden sie jäten, gäh (!) und jäh geschrieben. Jauche ist aus- gelassen.

378 Die dialektfreie Aussprache des Hochdeutschen.

sprechen wie die Konsonanten-Verbindung chs,*) d. h. wie ks. Nur in Wörtern, die aus dem Spanischen kommen, lautet es entweder wie der Ichlaut (x), z. B. in Xeres, Xixona, oder wie der Achlaut (x), z. B. in Oaxaca (spr. oä;jäka). Doch wird Mexico wohl meist wie meksiko gesprochen.

") Vgl. § 39, II. OppeJn. Dr. Aug. Grabow.

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Die numnigfaltigen Wendungen des deutschen lassen im Englischen.

In dem Folgenden habe ich dieselbe BegrifFseintheilung von lassen angewendet, wie es Dr, Sonnenburg in seinei- bewährten Grammatik der englischen Sprache, p. 64, gethan; einige derselben entnommenen deutschen Sätze sind mit S., einzelne aus Rothwell's Grammatik mit R bezeichnet. Bei den übrigen Citaten ist der Namen des Schrifistellers angegeben,

§ 1. Das dem deutschen lassen verwandteste und von ihm ab- stammende Wort ist to let (ags. laetan, goth. letan, etc.). Dass to let nicht nur ein Zulassen (sinere, permittere) ausdrückt , wie es manche Grammatiker angeben, sondern auch den Begriff der Auffor- derung in sich schliesst, geht aus der Verwendung desselben bei der Umschreibung des Imperativ hervor. „Die Umschreibung enthält eine Aufforderung, welche aber theils das Zugeben, theils das Ver- anlassen erheischt." Mätzner. Crabb in seinen „English Syno- nymes" legt to let auch nicht den Begriff der Aufforderung bei; er sagt darüber: 'Let, like the German lassen to leave, connected with the Latin laxus, and our word loose, is a less formal action than Leave, and this than Suffer, signifying not to put a stop to. I let a person pass in the road by getting out of bis way. It is in general most prudent to let things take their own course.'

Let schoolmasters puzzle their brain with grammar, and non- sense, and learning. Let them brag of their heathenish gods. She stoops, Goldsmith. Let them wander up and down for meat. Psalm 49, 15. Let but the commons hear this testament. Shake- speare, J. Caesar. I pray you humbly, chieftain, let me go. D'Jsraeli. Friedrich der Grosse war nicht der Mann, um sich eine

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380 Die mannigfaltigen Wendungen

solche Gelegenheit entgehen zu lassen. S. Frederic the Great was not the man to let such an opportunity escape.

§ 2. Lassen in der Bedeutung von Zulassen. Die hier zur Verwendung kommenden Verben sind naturgemäss to suffer, to permit, to allow; eben so gut lassen sich auch not to forbid, not to refuse, not to hinder, not to prohibit anwenden, welches zuweilen auch ge- schieht. Neben der einen Bedeutung „to tolerate", welche to suffer aus dem Lateinischen mit herüber in das Englische gebracht hat, hat es noch die von to allow, permit, not to forbid oder to hinder ange- nommen, welche sämmtlich unserem deutschen lassen entsprechen. To permit hat nur die Bedeutung von erlauben, gestatten, zugeben, zulassen, geschehen lassen; es kann als vollständig synonym mit to suffer betrachtet werden. Auch bieten die verschiedenen Beispiele, in welchen die beiden Verben ihre Verwendung finden, durchaus keine Anhaltspunkte, um einen Begriffs-Unterschied abzuleiten. Das dem Deutschen entnommene to allow könnte man als den schwächsten Be- griff von lassen bezeichnen, bei dessen Anwendung der Schriftsteller eine gewisse Gleichgültigkeit im Einräumen der Handlung voraus- setzt. Jedoch ist dies nicht immer der Fall, denn es kommen auch Beispiele vor, in welchen eine gewisse Dringlichkeit (wenn ich mich so ausdrücken darf) nicht ausgeschlossen ist, die wir öfter bei to suffer und to permit wahrnehmen, um die Erlaubniss zu einer Handlung oder Thätigkeit zu erwirken. Sonderbarer Weise findet sich bei der Lec- ture to suffer weit häufiger vor als to permit und to allow. Das Ver- hältniss, wie ich es beobachtet habe, ist etwa wie 3 zu 1. Selbst- redend handelt es sich immer nur um die, unserem deutschen „lassen" ganz genau entsprechende Bedeutung dieser 3 Verben ; jede andere, wenn auch annähernde Bedeutung (z. B. dürfen, etc.), lasse ich un- berücksichtigt.

To suffer . . . and never turned (Bertha) her rosy little mouth aside, but suffered him (her brother) to kiss it. Dickens, the Cricket. ... he should (Mr. Shandy) by no means have suffered bis right band to engage. Sterne, Tristrara Shandy. How did thy father, the sage Hippocrates, asked he, (Gualtier) suffer thee to come to this? Leigh Hunt. . . where (in Kirkley's Nunnery) the treacherous prioress suffered him (Robin Hood) to bleed to death. Legend. ). . but I will not suffer them to pay for me. Wood.

To permit. Dear madam, permit me to lecture the young gentleraan a little. Goldsmith, she stoops. I was brow-beat by the

des deutschen lassen im Englisclien. 381

master, . . ., and never permitted lo slir out to raeet civility abroad, ibid., the Histoiy. The Japanese captain was so kind as to double out bis own Stores, and would permit no man to searcb me. Swift, Gulliver, Tauchnitz Edition, p. 189. . . and I knew the Dutch were the only Europeans permitted to enter into that kingdom. ibid. p. 233. permitted to enter . . . = denen man freien Zutritt ... Hess To allow. My father allowed niy mother to exhaust herseif. Marryat, Jac. Faithful. A poor industrious devil llke me, . . ., may in pity be allowed to swear and grumble a little. Sheridan, the Rivals.

They (the inhabitants of Brobdingnag) would not allow me to be a dwarf . . Swift, Gulliver, p. 137.

Wir lassen uns fortreissen von der Schärfe von Clarendon's Beob- achtungen und von der einfachen Grösse seines Styls. S. We suffer ourselves to be delighted by the keenness of Clarendon's Observation and by the sober majesty of bis style. S. giebt to suffer, jedoch könnte es eben so gut to permit heissen. The physician allowed bim (o drink wine. R. Derjenige, welcher sich von Schmeichlern bethören lässt . . . R. He that suffers oder allows himself to be deluded.

Wollen Sie meinen letzten Wunsch nicht in Erfüllung geben lassen? R. Will you not allow oder s uff er my last wish to be fulfilled? If the circumstances allow me, etc. . . .

§ 3. Lassen in dem Sinne von „bewirken, verursachen, veranlassen." Die entsprechenden Verben sind to cause, to get, to have, to make. Dem Franzosen ergeht es hier wie uns Deutschen: er hat zum Ausdruck der vier verschiedenen Begriffe im Englischen nur sein faire; es ist ihm folglich eben so unmöglich wie uns, die kleine, oft nur ganz unbedeutende Nuance genau wiederzugeben, wenn nicht durch eine Umschreibung.

Rothwell bringt to cause, to get und to have unter den Begriff des Veranlassens ; to make müsse man brauchen, wenn „lassen" den Begriff von zwingen, fordern oder un wid ers l e hli ch ver- leiten in sich fasse. Als Beispiele von cause führt er an: The king caused the old palace to be thrown dovi^n. The general caused the army to advance in order of battle. Für to get: I must get my books bound. Where do you get them bound? Whatever you please, I shall get done for you. Für to have: I had her punished. The general had all the houses demoHshed. I must have my hair cut to-morrow. P"'erner noch „thun lassen" und „selbst thun".

Angenommen, man wollte vermittelst der von R. angeführten

382 Die mannigfaltigen Wendungen

Sätze zu einem sicheren Resultate im Gebrauch von to cause und to have kommen, so würde man zu der ganz unrichtigen Schlussfolgerung gelangen müssen, dass, da ein König mehr Macht hat als ein General und er eine bedeutend höhere Stellung einnimmt, der Schriftsteller bei einer königlichen Handlung, so unbedeutend sie auch sein mag, nur to cause anwenden dürfe, während bei der Handlung eines Gene- rals etc., selbst wenn sie eine viel grössere Wichtigkeit involvlrt, to have entsprechend sei. Nun frage ich aber ganz einfach: Was ist wichtiger in seinen Folgen, das Niederreissen eines alten Palastes, wo- durch Niemand geschädigt wird, oder das Zerstören einiger hundert Häuser, eine Handlung, durch welche Tausende obdachlos werden? Was die Veranlassung der beiden erwähnten Handlungen betrifft, so kann wohl kaum bestritten werden, dass das Niederreissen aller Häuser einer Stadt oder eines Dorfes eine wichtigere ist, als das Niederreissen eines Palastes. Rothwell, obgleich Engländer, hat hier das Richtige nicht getroffen. Er würde sich in einem unangenehmen Dilemma befinden, wenn gar ein Fähnrich Paläste oder Häuser zer- stören oder niederreissen lassen wollte, und er, Rothw., darüber zu be- richten halte.

AuiFallender Weise bringt B. Schmitz auch nur folgende Beispiele mit cause: William caused the famous Doomsday Book to be compiled. He caused hiniself to be crownod king of England. Canute caused several Saxon princes to be mnrdered. Wie er- sichtlich, geht die Veranlassung der Handlung in diesen Sätzen auch nur von Königen aus. Dass man bei der Lecture to cause mehr in Verbindung findet bei Hochgestellten als bei gewöhnlichen Men- schenkindern, ist sehr leicht erklärlich. Bei dieser Gelegenheit kann ich nicht umhin, einen Satz von S. anzuführen : „König Johann Hess sich in Westminster krönen wenige Wochen nach dem Tode seines Bruders Richard." S. giebt für lassen to get an, welches ich ent- schieden missbillige, wenn es auch ein englischer Geschichtschreiber (Macaulay?), dem es entnommen zu sein scheint, so ausgedrückt hat.

Gaspey bringt zwei Sätze, die uns eines Besseren belehren: „I caused the murderer to be arresled." Dieses 7 kann ein king oder ein beggar sein. „The admiral caused the crew to disembark." Dem Gaspey'schen ,,to cause wird hauptsächlich bei wichtigeren Ver- anlassungen gebraucht", Rige ich erläuternd hinzu: wer auch der Ur- heber oder Veranlasser der Handlung oder der Thätigkeit sein mag. Einige Beispiele zur Illustration: The Romans, when fhey won the

des deutschen lassen im Englischen. 383

day And bore Iheir captives liome, Caused thcm to niarch in sad array . . . aus Lays and Ballads from English History. He went (MacdufF) to a small harbour . . . , and caused a sliip . . . to be fitted out for sea in all haste. Walter Scott. . . and tliis circum- stance (his hands and face buing rubbed with an ointmcnt) added to the plentiful meal he had made (Gulliver), caused him to fall fast asleop. Swift. Behold, these (the Midianites) caused the children of Israel, . . ., to commit trespass against the Lord. Numbers 31, 16. Noch mehr Stellen anzuführen, in welchen die „wichtigere Veranlassung" von wenig bedeutenden Individuen ausgeht, glaube ich unterlassen zu können, da ich durch ein Cilat gezeigt habe, dass die Veranlassung zur Thätigkeit sogar von Gegenständen, die personi- ficirt gedacht werden, ausgehen kann.

To get und to have werden von den gewöhnlichen Verrichtungen des Lebens angewendet. Genau erwogen, bedarf es v^^eder to get noch to have, um unser deutsches lassen richtig zu übersetzen. Meiner Ansicht nach verfiel der erste, oder einer cTer ersten Gram- matiker, auf den Gedanken, das englische to get und to have könne in gewissen Fällen am geeignetsten mit lassen übersetzt werden; dieser Anschauung, einer Art bequemen Schlendrians, schlössen sich Andere an. Obgleich es nun nicht meine Absicht ist, to get und to have in der Bedeutung von lassen verdrängen zu wollen, so glaube ich, die wört- liche Bedeutung der beiden englischen Verben ins Deutsche übertragen, hätte vollständig genügt; freilich müsste to have aequaliter to get be- handelt, d.h. mit bekommen übersetzt werden, wie dies ja im Fran- zösischen bei avoir auch häufig der Fall ist. (Quand aurez-vous votre redingote neuve? Nous avons recolle peu de blecette annee, mais nous avons eu beaucoup de fruits et nous aurons probablement beaucoup de vin. ) Es wird hier gewiss Niemand einfallen, avoir mit haben zu übersetzen, eben so wenig würde man das deutsche bekommen mit recevoir wiedergeben wollen. Auch besieht im F'ranzösischen die ganz gleiche Construction mit avoir, einem darauf folgenden direcfen Objecto und Particip der Vergangenheit: „M. de Turenne re\int; et dans l'instant, sans etre arrete, il eut le bras et le corps fracas- ses du meme coup qui . . . Mme. de Sevigne. (Ich erinnere hier an das lat. „Romani in Asia pecunias magnas collocatas hubent.") Wenn ein Schüler den franz. Satz in das Englische „he had hisarmandhis body crushed by the same cannon-ball etc." übersetzte, so wäre das nicht unrichtig. (Der Engländer würde vorziehen , his arm etc. wcre crush ed.')

384 Die mannigfaltigen Wendungen

Auf gleiche Weise Hesse sich to have, gerade wie to get, mit werden übersetzen, wie dann auch to have als Synonym in englischen Wörter- büchern (von Engländern verfasst), von to get angegeben ist, während weder to cause noch to make als Synonyme betrachtet werden. Dar- aus folgt ganz einfach, dass der Engländer das Verbum to get, in der Bedeutung, wie Avir es durch „lassen, veranlassen, bewirken, verursachen" theil weise wiedergeben, nicht kennt. Man wird diese Aufstellung vielleicht etwas kühn finden. Ich werde sie weiter zu begründen suchen. Man nehme sich einmal die Mühe, bei der Lec- ture die Sätze, in welchen to get mit lassen übersetzt werden kann, zu notiren, so wird man finden, dass sie äusserst selten sind. In Gulliver's Voyage to Brobdingnag von Swift, Tauchnitz-Edition, habe ich von Seite 117 183 nur zwei Beispiele zu verzeichnen, während to suffer 5, to allow 2, to order 12, to make 12, to cause keine, to have 4, to desire 4, to command 5 haben. Die beiden Sätze sind: „I showed him (the captain) a corn that I had cut off, with my own band, from a maid of honor's toe; it was about the bigness of a Ken- tish pippin, and grown so hard, that when I returned to England, I got it hollow ed into a cup, and set in silver. I got it cleaned (a tooth), and put it into my cabinet". p. 180. In A voyage to Laputa etc. ist auch nicht ein einziges Beispiel von p. 187 247 mit to get zu verzeichnen. Der Engländer würde hier anstatt der beiden 'got' kaum cause anwenden, da die Handlung zu unbedeutend ist, wohl aber order ed. Um sich jedoch etwas bescheidener auszudrücken, wendet er to get an, obgleich ihm order in einem unausgedrückten Nachsatze vorschwebt (after having ordered it). To get ist in derar- tigen Beispielen nur in seiner Grundbedeutung erh alten , erlangen angewendet. Es entspricht genau „to obtain". Auch in Grieb's eng- lischem Wörterbuche findet man unter to get, § 6 „(gewöhnlich, aber nicht zierlich) machen (dass etwas geschieht), lassen (veranstalten)." „I will get you snug lying in the Abbey here" aus Sheridan's Rivals erklärt Dr. Ahn „get = obtain for you". Das Beispiel „The w^aiter also sometimes got him to let him out after the landlord was asleep . . .", welches Gaspey in seiner englischen Grammatik unter anderen über to get bringt, kann nicht als gelungen bezeichnet werden, wohl aber als geschraubt.

Eine begründete Veranlassung, to get mit lassen zu übersetzen, oder vice versa, i.*t kaum vorhanden, da der englische Sprachgebrauch, der für uns maassgebend sein muss, eigentlich nur to obtain als syno-

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des deutschen lassen im Englischen. 385

nynien Begriff anerkennt. Wenn nun auch die deutsche Uebersetzung „ich bekam dies oder jenes gethan" (I got it done), obgleich richtiger, doch weniger gang und gebe ist, und wir uns einmal an die mit lassen gewöhnt haben, so wird man sie wohl beibehalten dürfen; empfehlen wird es sich aber, beim Unterrichte darauf aufmerksam zu machen, dass sich der Engländer dazu denkt: After having ordered it.

Mit to have verhält es sich anders: es können Fälle eintreten, in welchen to have mit darauf folgendem directen Objecte und einem Particip der Vergangenheit nicht nur nicht mit lassen übersetzt wer- den kann, sondern in denen es geradezu falsch wäre. Beweis fol- gende Sätze: „I soon grew so familiarized to the sight of spirits, that after the third or fourth time they gave me no emotion at all; or, if I had any apprehensions left, my curiosity prevailed over them". Gul. Trav. p. 224. Man wird nicht im Stande sein, had mit Hess hier zu übersetzen, es entspricht wer e (if any apprehensions were left to me). I don't think there has been a sufficient number of advisers: he (the king) should advise with every person willing to give him ad- vice, and then we should have things done in another guess manner, ib. eh. XIX (wir würden . . . bekommen, oder die Dinge würden gethan, ausgeführt werden). ... and because my mother had still sense enough left to discern thftt „Gin wasn't good for little boys". Marryat, J. Faithful (und da meiner Mutter noch Verstand genug übrig geblieben war. . .). It has been either my good or evil lot to have my roving passion gratified. Wash. Irving, Sketch Book. (Dass meine Leidenschaft, umherzuschweifen, befriedigt wurde.) Die Regeln über to have in Verbindung mit einem directen Ob- jecte und Participium perfecti würden also lauten:

1) To have mit darauf folgendem directen Objecte und Particip. perfecti ist, bei alltäglichen Verrichtungen, in Ermangelung einer cor- recteren deutschen Uebersetzung (bekommen, erhalten etc. wäre etwas schwerfällig) durch lassen wiederzugeben; to have ist als elliptisch angewendetes Hülfszeitwort anzusehen, in welchem Tempus es auch stehen mag; zu ergänzen ist das Particip. perfecti „ordered"; zu dem englischen Participium perfecti ist der Infinitivus praesentis (gewöhn- lich) to be hinzuzudenken. Selbstredend wird durch diesen Vorgang die Handlung oder Thätigkeit von to have in keine andere begrenzte Zeitform versetzt, z. B. My practise was to have my box removed from the place where the performers sat. = to have ordered my box

Archiv f. n. Sprachen. LVIIT, 25

386 Die mannigfaltigen Wendungen

to be removed. Gul. 159. I answer (Sallust), Iwould have those punished (vindicandum in eos) who have betrayed the Com- monwealth to an enemy. = I would have ordered those to be punished. William Rosse, Uebersetzung von Sallust's Bello Jugurthino, cap. 31. By their means he expected to bring over to his party the city slaves to set fire to the city, and either engage their husbands, or, in case of refusal, have the m slain. = to have ordered them to be slain. ib. (Per eas se Catilina credebat posse servitia urbana soUici- tare, urbem incendere, viros earuni vel adjungere vel sibi interficere. De Catilinae conjuratione, cap. 24.) Französische Uebersetzung: . . . engager dans son parti ou faire perir leurs maris. . . and allovr- ing that he (Shylock) had a right by the Venetian law to have the forfeit in the bond expressed, she (Portia) spoke so sweetly of the noble quality of niercy. = to have ordered the forfeit in the bond to be expressed. Lamb. Look, whether the withered eider (Fallstaff) hath not his poll clawed like a parrot. Shakesp. Henry IV, part 11, act II, scene 4. Uebersetzt von Viehoff: Sieh nur, ob sich der verwelkte Alte nicht den Kopf krauen lässt wie ein Papagei?

2) To have mit directem Objecte und Particip der Vergangenheit kann die passive Form vertreten oder kann dem deutschen be- kommen entsprechen; lassen entspricht nicht. Der früher erwähnte Satz von Swift: if I had any apprehensions left =^ if any apprehen- sions were left to me, entspricht; ebenso: Would not this knave of a wheel (Fallstaff) have his ears cut? Shakesp. Henry IV, p. II, act II, sc. 4. Sollten dieser Radnabe nicht die Ohren gestutzt werden? (Sollte diese Radnabe nicht die Ohren gestutzt bekommen?) ... and easily got (her majesty) the farmer's consent, who was glad enough to have his daughter preferred at court. Gul. His queen and he (Macbeth) had their sleeps afflicted. Lamb. (Ihr Schlaf wurde beängstigt.) Dies ist dieselbe Construction wie im Französischen : il eut le bras et le Corps fracasses du meme coup . . .

3) To have mit directem Objecte und einem Infinitiv activ kann theils wörtlich, geeigneter mit wünschen, oder auch mit ver- anlassen, bestimmen, dazu bringen übersetzt werden. . . . and desires to have others believe, what he (Swift) probably believed him- self . . . Dr. Johnson. (und wünscht Andere zu bestimmen, das zu glauben, welches er . . .). He (Prospero) then gave orders what further he would have liim (Ariel) do. Lamb. The queen would have had me sit upon one of these chairs. Swift, Gul. W^hat

des deutschen lassen im Englischen. 387

have I (Lydia) to expect, but, . . ., to go simpering (flennend) iip to the altar; or perhaps be cried three times in a country-church, and have an unmannerly fat clerk ask the consent of every butcher in the parish to join John Absolute and Lydia Languish, spinster ! Sheridan, the Rivals.

NB. Als interessanten Fall führe ich noch to have mit directem Objecte und Participium praesentis (das letztere anstatt eines Infinit., um die Dauer der Handlung auszudrücken) in der Bedeutung von „sehen" an. „Listead therefore of finishing George's shirts, we now had them new^ modelling their old gauzes, or flourishing upon catgut." Goldsmith, Vicar, eh. X.

§ 4. Lassen in dem Sinne von „befehlen , bestellen, dass etwas gethan werde." Die Abstufung der Verben im Englischen, welchen unser „lassen" entspricht, ist eine grosse. Sonnenburg hat to command, das doch wohl die erste Rangstufe einnimmt, nicht ange- führt; einen triftigen Grund dafür kann ich nicht einsehen, denn wenn to Order zu verwenden ist, so ist command doch gewiss auch zu berück- sichtigen. Rothwell sagt von to command und order, dass sie einen überhaupt entscheidenden, befehlenden Sinn, während to desire, to request, to bid, to teil, diesen Begriff mit weniger Nach- druck, mit Höflichkeit oder Gleichgültigkeit ausdrücken. Dieser Auffassung stimme ich bei, nur kann ich der Gradation des auftretenden Individuums nicht beipflichten, sie theilen, wie es R. thut, eine Anschauung, welcher manche englischen Schriftsteller zu huldigen scheinen. Nebenbei sei bemerkt, dass die Sätze mit command, welche unserem deutschen lassen entsprechen, nicht so zahlreich sind, wie die mit to order. Es ist dies auch ganz natürlich. Then shall the priest command to take for him that is to be cleansed two birds alive and clean . . . Leviticus 14, 4. While he was thus reasoning and resolving with himself (the farmer), a gentleman-usher came from court, commanding my master to carry me imme- diately thither, for the diversion of the queen and her ladies. Swift, Gul. p. 134. In dem folgenden Satze scheint das command gleich- sam dazu zu dienen, um den von Frau Tetterby gegebenen Befehl ein wenig in's Lächerliche zu ziehen : Mrs. T., . . . commanded Johnny to bring bis sweet charge to her straightway . . . Dickens, the hannted Man. In den folgenden Sätzen ist die snicht der Fall. The queen com- manded her own cabi net- m ake r to contrive a box . . . Swift,

25*

388 Die mannigfaltigen Wendungen

Gul. 138. . . he would (tlie king) then command me to bring one of my chairs out of the box. ibid. 160. He then commanded (the captain) his men to row up to that side . . . ibid. 178. Prospero had commanded Ferdinand to pile up some heavy logs of wood. Lamb, The Tempest. (Eine wörtliche Uebersetzung ist natürlich nicht ausgeschlossen.) To Order. Zuweilen gebraucht der Schriftsteller der Abwechse- lung wegen, folglich ohne irgend einen logischen Grund, to order an- statt to command und umgekehrt. „Variatio delectat". . . and went himself (the captain) in the boat, ordering his men to take a strong cable along with them. Swift, p. 178. ... and fastening (the captain) a cable to one of the staples, ordered them to tow my ehest, as they called it, toward the ship. ib. 178. Wie ersichtlich, geht der Befehl zum Vollzug der Thätigkeit in den beiden Beispielen mit to order, so wie in dem früher angeführten Beispiele mit to command von ein und derselben Person aus; die Thätigkeit selbst ist gleich wichtig oder gleich unwichtig, wie man es gerade auffassen will. In dem folgenden Satze von Sir Walter Scott sehen wir, dass der von Edward the Confessor ausgebende Befehl zu einer gewiss wichtigen Handlung mit to order ausgedrückt ist: . . the king ordered a great warrior, called vSiward Earl of Northumberland, to enter Scotland with a large force, and assist Prince Malcolm in the recovery of his father's crown. Von demselben Autor bei einer viel weniger wich- tigen Handlung: Macduff ordered his wife to shut the gates of the Castle, draw up the drawbridge, and on no account to permit the King or any of his soldiers to enter. Und dennoch Hesse sich Mac- duff ordered nicht anders geben, wohl aber the king ordered etc. durch commanded substituiren. Metellus ordered his lieutenant, Rutilius, with the light-armed coborts and a detachment of horse, to proceed towards the river . . . Rose. He (Metellus) ordered the youth to be put to the sword ... ib. p. 125. He ordered the greatest part of his army to continue together ... ib. 126. . . he (Marius) ordered his division to slacken the attack . . . ib. 131. Bei Rose findet man beinahe alle Befehle durch to order ausgedrückt; unser lassen ent- spricht in den meisten Fällen. Aus den aus verschiedenen Schrift- stellern angeführten Stellen lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass to command und to order als Synonyma zu betrachten sind. Dennoch empfiehlt es sich und halte ich es für entsprechend, to command für die wichtigeren Handlungen, die durch das deutsche lassen ausgedrückt sind, anzuwenden, Crabb sagt, zwar nicht über die Anwendung der

des deutschen lassen im Englischen. 389

beiden Wörter als Vcrba, sondern als Substantiva, welches schliesslich dasselbe ist, folgendes: „A oominand is an exercise of power or of antliority; it is impei-ativc and must bo obeyed : an Order serves to direct ; it is instructive and niust be executed. Command is properly the act of a superior or of onc possessing power : order has more respect to the office than to the person. A sovereign issues bis com- mands: orders niay be given by a subordinate or by a body; as orders in Council, or orders of a court. A command may be divine or given from heaven; an order is given by man only; order is applied to the common concerns of life."

Wenn wir das Verbum to desire unter der Bedeutung von „to long or greatly wish for something not possessed" kennen, so können wir das Gebieterische , Befehlshaberische daraus schliessen ; diesen beiden Begriffen entspricht in manchen Beziehungen unser deutsches lassen; es drückt daher auch, wie Rothwell ganz richtig sagt, eine Art Wunsch mit dem Befehl verbunden aus. Then desire them (Marlow & Hastings) to step this way . . . Goldsmith, she stoops. . . and desired him to explain the means by which he had obtained access to the Chamber. Ann Redcliffe. He then desired (the em- peror) me to draw my scimitar ... ib. p. 63. I desired (Gulliver) ihe queen's woman to save for me the combings of her majesty's hair. Swift, p. 158. I then desired the governor to call up Descartes and Gassendi . , . ib. 228.

To request = to express desire for; to solicit ; to entreat; to be- seech, findet höchst selten seine Verwendung in dem Sinne von lassen; es kann beinahe immer to desire vertreten. R. giebt „My father de- sires (oder requests) to know your opinion. Desire (oder request) the ladies to walk in".

To bid dagegen findet sich öfter vor; dieses, so wie to teil, sind die Vertreter unseres höflichsten lassens. Das Imperative tritt oft ganz in den Hintergrund. „Break ofF the sports ! he said (king James), and frown'd, And bid our horsemen clear the ground!" Scott, Lady. . . And bid thy noble father live! (king James to Ellen), ibid. . . Aed bade him choose a nioaner bride . . . O'Connor's Child von Campbell. . . And bid them (Caesar's wounds) speak for me. Shakespeare, Jul. Caesar, act III, sc. 2. Then she said (Portia) to Shylock, „Be merciful: take the money, and bid me tear the bond". Lanib. Da to teil in jedem Falle durch seine primitive Bedeutung „sagen" besser und einfacher übersetzt werden kann als mit lassen,

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des deutschen lassen im Englischen.

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beiden Wörter als Verba, sondern als Substantivs, ^ches schliesslich dasselbe ist, folgendes: ^A conimand is an exercis of power or of authority; it is imperative and niiist be obeyed ; ni Order serves to direct ; it is in?truclive and miist be exocuted. Comand is properly the act of a superiur or of onc possessing power order has niore respect to the ofüce than to the person. A sovereig: issues his com- mands: order» may be given by a subordinate or by body; as Orders in Council, or Orders of a court. A command may I divine or given froni heaven; an order is given by men only; orders applied to the common concerns of life."

Wenn wir da« Verbum to desire unter der BuMitung von y,to long or grenily wixh for - ' not possessed'* knien, eo können wir das (»ebieterische , 1 riori!*che daraus :hliesscn; diesen

beiden IlegritFen entspricht in manchen Beziehungerunser deutsches lassen; es drückt daher auch, wie Rothwell ganzichtiL; sagt, eine Art Wunsch mit dem Befehl verbunden aus. I'hen deeiro them (Marlow & Masting») lo »tep this way . . . Goldsmit, sho stoops. . . and dc^ircd liim to explain the mcans by whicllie had obtaiiiod aores» to the chamb-r. Ann Redcliire. He tl i ' d (ilio cm- peror) rao to drnw mv seimitar ... ib. p. 63. - 1 1 ((lulliver)

the queen'» womiin lo save for me the combings of ir majesty's hair. Swift, p. I.'»H. I ihen dosired tho governor to »II im> Descurtes and C!M««ndi ... ib. 228.

To requeat =: lo «xpnM dedre for; to seech, findet hr»ch»t Miten »rino Verwend kann K<^inahe immi^r to denirc \iti »ire« (odrr rcquoitts) to know vour liulies to walk in**.

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390 Die mannigfaltigen Wendungen

so ist es überflüssig, Beispiele anzuführen und nähere Erklärungen darüber zu geben.

Eine noch ganz praktische Bemerkung Rothwell's , auf welche freilich der denkende Schüler durch den Zusammenhang des Satzes von selbst kommt, führe ich hier an. „Bei command und order, wie beim Befehlen im Deutschen, ist wohl zu merken, dass sie einigermaassen unbestimmt sind, denn man kann einen Befehl geben, ohne dass er nachher ausgeführt wird ; durch have und cause vermeidet man diese Ungewissheit, z. B. : The duke of Wellington commanded (oder ordered) a soklier to be hanged, for having taken a loaf of bread. NB. hier könnte man hinzusetzen „aber sein Befehl war (besser: wurde) nicht vollführt", wenn ich aber have oder cause brauche, so ist kein Zweifel mehr, dass die Sache vollbracht worden ist, z. B. The duke of W. had a soklier hanged, for . . ., oder: The duke of W. caused a sol- dier to be hanged, etc. . . Ebenso noch ein Beispiel über die vorher- gehenden Regeln bei demselben. At first the King was suffered t o t r y bis prerogative he was then allowed to forma guard at a later period they caused him to bearrested, and finally they had him beheaded." Lingard.

§ 5. „Lassen" wird durch die passive Form ausgedrückt. Eine Regel aufzustellen, wann das deutsche lassen durch die passive Form ausgedrückt wird, ist nicht möglich, das Richtige kann nur durch längere Uebung getroffen werden. Wie im Französischen öfter das verbum reflexivum angewendet wird, wo wir im Deutschen die passive Form vorziehen, so wird umgekehrt zuweilen im Englischen die pas- sive Form angewendet, wähi'end wir im Deutschen ein verbum re- flexivum anwenden, z. B. : Lass dich nicht durch den Schein täuschen, S. be not deceived, oder auch: do not suffer yourself to be deceived by outward-show. Lass dich nicht durch ein schwieriges Unternehmen entmuthigen. S. Be not discouraged by a difficult enterprise. Der Unglückliche wollte sich nicht trösten lassen. S. The unhappy man did not want oder refused to be comforted.

Das deutsche „es lässt sich" mit einem Infinitiv des Activ kann oft geeignet in das Englische durch to be oder durch «can und may und einem Infinitiv des Passiv übersetzt werden; nach to be steht der Infinitiv mit to, nach can und may ohne to. Das lässt sich (es lässt sich) nicht ausführen, in Worte kleiden, erwarten, glauben, sagen, be- weisen, etc. That (it) is not to oder cannot be executed, clothed witb words, (thoughts are not alvvays to oder cannot be clothed with

des deutschen lassen im Englischen. 391

words), expectcd, believed, told, proved. Hence may be deducted. One may easily understand that.

Sonnenburg giebt in dem Satze: „Kupfer lässt sich zu einer sehr dünnen Platte auswalzen oder hämmern" to bear für lassen an; eben so gut Hesse sich can verwenden ; im gewöhnlichen Leben würde man kaum anders sagen.

§ G. „Lassen" in der Bedeutung von verlassen, hinterlassen, zurücklassen durch to leave. Rothwell giebt einige praktische Sätze, die ich anführe. 'You leave every thing in disorder. He takes the worst and leaves the best. Where did you leave my book? I left it on the table. My only friend has gone and left me. He went away and left his wife behind.' To let wäre in keinem Falle hier richtig.

Zu erwähnen ist hier auch to let alone und to leave alone. Dr. Hoppe sagt darüber in seiner Ausgabe von Dicken's Cricket on the Hearth, p, 20: 'leave alone, lass allein, ohne zu helfen, es braucht deiner Unterstützung nicht; daher leave me alone for that oder to do that, lass mich nur selbst dafür sorgen, sei unbesorgt, ich werde schon machen; leave it alone, rühr's nicht an, bleib davon. Let me alone dagegen : lass mich allein, ungestört, unbelästigt, lass mich in Ruhe". Weiter führt er andere Verbindungen mit to let und to leave an, in welchen unser deutsches lassen nicht passt, z. B. : 'Let me leave it (Christmass) alone, (Christmass Carol) gestatte, dass ich davon bleibe, mich nicht darum kümmere. Letzteres in dem vulgären 'let alone' = geschweige denn, abgesehen von, z. B. there's no work for honest people, let alone thieves; 'let well alone' verlange nicht zu viel; du musst es nicht zu gut haben wollen." Und noch so manches andere Interessante und Wissenswert he.

Zur Illustration von to leave in der Bedeutung von verlassen, zurücklassen, hinterlassen etc. einige andere Beispiele: When he was (Swift) about one-and-twenty, (1688), being, by the death of Godwin Swift his uncle, who had supported him, left without sub- sistence, he went to consult his mother, . . ., about the future course of his life. Johnson. . . he went (my father) into the cabin to in- dulge in his potations, leaving me in possession of the deck and also of my supper . . . Marryat, Jac. Faithful. He then spurred (the gentleman) his horse and left me in amazement. W. Wood. I left you fretful and passionate. Sheridan, Rivals. . . nothing, indeed, was left unattempted on either side. Rosse. Withdraw yourselves, and leave us here alone. Shakesp., Richard II.

392 Die mannigfaltigen Wendungen

Zum Schlüsse bringe ich noch in alphabetischer Ordnung deutsche Ausdrücke mit lassen, -welche im Englischen eine andere Wendung haben; auf Vollständigkeit kann ich natürlich keinen Anspruch machen.

A. zur Ader lassen, to bleed ; im Amte lassen, to continue in office, auch to continue one in office ; anfechten lassen, lass dich das nicht anfechten, do not be uneasy abont that, never trouble yourself about it; von seiner Ansicht lassen, to change one's mind, opinion; sich ausdehnen lassen, to admit of being stretched.

B. Etwas bleiben lassen, to take good care (precious good care) of doing something; der Flügel'sche Ausdruck „Du sollst es wohl bleiben lassen, I shall take care that you shall not do it", ist nicht zu empfehlen; to avoid, to forbear doing; sich bitten lassen, to look for entreaty ; sich begreifen lassen, to be a matter of course; Bier aus dem Fasse lassen, to draw beer, könnte deutsch einfacher gegeben -werden durch „Bier zapfen".

D. sich drängen, treiben lassen, er lässt sich drängen, he must be urged, wants to be urged.

E. sich empfehlen lassen, to send one's compliments; über sich ei-gehen lassen (den Schaden), to take the damage upon one's seif, to bear it one's seif; sich einfallen lassen, to take a fancy into one's head ; sich einreden lassen (Nichts), not to believe anything, not to give credit to anything; er lässt sich nicht gern einreden, he does not like Opposition; eingehen lassen, to leave oflT, to forego, to abolish, to abro- gate; ein Geschäft, to give up ; einen Artikel, to discontinuc the sell- ing of an article; sich einnehmen lassen, to be taken, captivated with, prejudiced by.

F. fahren lassen (allgemein), to forsake, to forego, to give up, to neglect, (o part with, to relinquish, auch to abandon ; alle Hoffnung fahren lassen, to give up all hope; die Vögel lassen ihre Federn fahren, the birds cast off" their feathers, lose their feathers, oder moult ; den Kummer, Sorge etc., to banish grief, sorrow; einen Wind fahren lassen, to break -wind, (vnlg. to fart) ; einen Freund fahren oder fallen lassen, to forsake, to give up a friend. Fallen lassen, to drop (something); eine Bemerkung, ein Wort fallen lassen, to throw out an Observation, to drop a -word (gebräuchlicher to let escape) ; den Muth, das Herz fallen lassen, to lose one's courage; die Stimme fallen lassen, to sink, to lower, to depress one's voice; dem „den Preis fallen lassen", to abate the price of . . ., entspricht besser „den Preis herabsetzen." Folgen lassen, to cite; fordern lassen, to send for, to summon; tosend

des deutschen hissen im Englischen. 393

a chalienge fo a person (vom Duell); frei lassen, lo set free, to free from arrest, to releasc (froni bondage), to emancipafe, to liberatc, to manutnit (von Sklaven); freie Wahl lassen, neben to let auch to give one tlie choicc; freien Lauf lassen, to give scope.

Gr. sich gefallen lassen, to put np with, to comply wilh, to sub- mit to; you must not put up with every thing; sich einen Vor- schlag gefallen lassen, to consent to a proposal ; das kann er sich un- möglich gefallen lassen, it is impossible for him to agree to that ; so etwas lässt er sich nicht gefallen, such things won't go down with him; das lass ich mir gefallen, very well, be it so. Sich gehen lassen, to indulge one's inclinations; viel drauf gehen lassen, to spend a good deal of raoney; die Farbe gehen lassen (besser verlieren), to lose color, to fade; die Schüler gehen lassen, to dismiss the pupils; lass es gehen, wie's geht (wie es mag), leave the world to take its course, let it go as it lists. Lasse dir das gesagt sein, let that be a warning for you; lass es gut sein, never mind, no matter. Ge- schehen lassen, to consent to, not to hinder, not to prevent, auch to let go, to allow.

H. hängen lassen (den Kopf), to hang down one's head; er wird Haare lassen müssen, he will be the worse for it, he will come off second best, he will be fleeced, he will have to pay for it ; er lässt kein gutes Haar an ihm, he has not a word to say in bis favor, he won't allow him one good quality; er wird sich kein graues Haar dar- über wachsen lassen, he will not grieve at it, it will give him no great pain, uneasiness; holen lassen, to send for; hoch leben lassen, to drink the health of somebody; herausgeben lassen, to own. (Komm mit mir, dann, um uns den Koffer und die Reisetasche herausgeben zu lassen, S. p. 200, come with me, then, to own the trunk and the carpet-bag.) Die Redensart „lass dir auf einen Thaler herausgeben", ist durch 'get a Prussian dollar changed' zu übersetzen. Hingehen lassen, not to punish, not to reprimand one for . . . ; sich hören lassen (von Künstlern), to perform publicly, to sing, to play (in public, be- töre Company); von Rednern, to speak ; einen Buchstaben hören lassen, to sound a letter; das lässt sich hören, that is worth hearing, thore is some reason in what is said, what is said is worthy of attention or consideration or of notice, that is acceptable, plausible, reasonable ; er hat lange nichts von sich hören lassen, he has been silent for a long time.

K. kommen lassen, to order, he ordered bis books from London

394 Die mannigfaltigen Wendungen etc.

L. sein Leben lassen, to die, to lay down one's life, to give one's life ; sich lesen lassen, to be worth reading, to be readable; einen laufen lassen (= fortschicken), to turn one out, to discard; etwas lassen, to shun, to avoid ; auch in der Bedeutung von anfangen, z. B. wo haben Sie Ihre Bücher gelassen, what have you done with your books? sich nicht lumpen lassen, to act liberally, to display libera- lity, not to be niggardly, not to act shabbily.

M. sich merken lassen, to show, to discover to betray something; sich nichts merken lassen, to take no notice of . ., to seem not to know, to remark someth. ; einen etwas merken lassen, to give to under- stand, to hint, to intimate.

N. das lässt er sich nicht nehmen, he thinks it to be bis pri- vilege.

R. in Ruhe lassen, to let alone.

S. sitzen lassen (ein Mädchen), to abandon, to give one the slip (auch: stehen lassen); den Hut sitzen lassen, to keep one's hat on; schiessen lassen (die Zügel), to let loose (the reins); im Stiche lassen, to leave in the suds ; stehen lassen (von Rechnungen), not to pay for something; alles stehen und liegen lassen, to give up all, to leave all; etwas auf sich sitzen lassen, to pocket an affront; sich sehen lassen, to come to see.

T. sich träumen lassen, to imagine, to take into one's head ; sich nicht trösten lassen, to refuse consolation; sich thun lassen, to be practicable; etwas thun lassen, to see something done.

U. unberücksichtigt lassen, not lo consider, to mention; unver- sucht lassen, to try every thing.

V. den Vorzug lassen, to give (he preference; (Krieg) vermuthen lassen, to give cause to suspect, to argue war; versehen lassen (seine Stelle), to be represented; vor sich lassen, to admit to one's presence, to receive; sich verdriessen lassen (keine Mühe) to spare no pains, to be unwearied.

W, wissen lassen, to inform ; Wasser lassen, to make water; warten lassen, to keep waiting.

Z. zappeln lassen, neben to leave one to struggle noch: to for- sake one in distress, to keep one in suspense, to tantalize one.

Speyer. Dr. Wilhelm D res er.

Sprachvergleichendes.

Mit Zuiyrundelcouno; des sechsten Gesano-es der Frithiofssage.

Der Verfasser dieser Zeilen hat von jeher eine hohe Befriedigung darin gefunden, sich mit möglichst vielen Sprachen einigermaassen vertraut zu machen. Es gewährte ihm eine unbeschreibliche Freude, sowohl Abweichungen von früher für allgemein gehaltenen Regeln als auch neue Beweise und Analogien für dieselben in neu studirten Spra- chen zu entdecken, und so seine Bewunderung beständig teilen zu müssen zwischen der unendlichen Mannigfaltigkeit und der erstaun- lichen Gleichartigkeit des in den verschiedenen Idiomen ausgeprägten Menschen- und Volksgeistes. Von diesem Gesichtspunkte aus treibt er Sprachvergleichung, ohne sich der Kcnntniss des Sanskrit, die wahr- scheinlich von Vielen dazu für durchaus notwendig erachtet wird, rühmen zu dürfen. Die folgenden Anmerkungen und Excurse sind daher sehr anspruchsloser Natur. Neu an ihnen ist vielleicht nur die Zusammenstellung, während die angeführten Tatsachen meist schon bekannt und zerstreut hier und da behandelt sein dürften. Man nehme also die folgende Arbeit nur als Probe, wie sich der Verfasser die sprachvergleichende Methode zur Anregung beim Unterricht verwertet denkt, und wie er selbst beim sprachlichen Unterricht, je nach dem verschiedenen Auffassungsvermögen und Wissen seiner Schüler, mehr oder minder bemüht ist aus den Sprachen die Sprache, aus den Er- scheinungen das Gesetz abzuleiten. Die Wal des Textes ist eine rein zufällige gewesen, vielleicht beeintlusst von der hervorragenden Stel- lung, welche die Frithiofssage nach des Verfassers Ansicht in der poetischen Literatur aller Völker einnimmt ; hätte eine andere Sprache

396 Sprachvergleichendes

zu Grunde gelegen, so wären die Anmerkungen zwar den Verhält- nissen gemäss modificirt worden, hätten aber doch wesentlich dasselbe Gepräge getragen. Des besseren Verständnisses wegen lasse ich auf den schwedischen Text die deutsche Uebersetzung folgen; die Wörter, an welche sich eine Besprechung knüpft, sind durch den Druck hervor- gehoben.

Frithiof spelar schack.

Björn och Frithiof suto bäda ^'id ett schackbord, skönt att skäda. Silfver var hvarannan ruta, Och hvarannan var af guld.

5 Da Steg Hilding in: „Sitt neder,

Upp i högbänk jag dig leder, Tom ditt hörn, och lät niig sluta Speiet, fosterfader huld!"

Hilding qvad: „Främ Beles söner 10 Kommer jag tili dig med böner.

Tidningarne äro onde, Och tili dig stur landets hopp."

Frithiof qvad: »Tag dig tili vara, Björn, (y nu är kung i fara. 15 Frälsas kan han med en bonde:

Den iir gjord att ofiVas opp."

„Frithiof, reta icke kungar, Starka växa örnens ungar; Fast mot Ring de aktas svaga, 20 Stör är deras magt mot din."

„Björn, jag ser du tornet hotar, Men ditt anfall lätt jag motar. Tornet blir dig svärt att taga, Drar sig i sin sköldborg in."

25 „Ingeborg i Baldershageu

Sitter och förgräter dagen. Kan hon dig tili strids ej locka, Gräterskan med ögon blä?"

„Drottning, Björn, du fäfängt jagar, 30 Var mig kär frän barndomsdagar.

Hon är spelets bästa docka, Hur det gär, hon räddas mä."

„Frithiof, vill du icke svara? Skall din fosterfader fara 35 Ohörd frän din gard, emodan

Ej ett dockspei vill ta slut?"

Da Steg Frithiof upp och lade Hildings hand i sin och sade: „Fader, jag bar svarat redan, 40 Du bar hört min själs beslut.

mit Zugrundelegung des 6. Gesanges der Frlthiofssage. 3ü7

Rid att Beles söner Iura Hvad jag sagt: de kränkt min ära, Inga band vid dem mig fiista, Aldrig blir jag deras man"

45 „Väl, din egen bana vandra,

Ej kan jng din vrede klandra. üdcn styre tili det b'asta!" Sade Hilding ocb försvann.

Björn und Frithiof sassen Beide bei einem Schachbrett, schön zu schauen. Silber war jedes zweite F'eld, und jedes zweite war von Gold.

Da trat Hilding herein: „Setze dich nieder, hinauf zum Ehren- platz geleite ich dich, leere dein Hörn, und lass mich das Spiel been- den, traufer Pflegevater!"

Hilding sagte: „Von Bele's Söhnen komme ich zu dir mit Bitten. Die Nachrichten sind schlecht, und bei dir steht des Landes Hoffnung."

Frithiof sprach: „Nimm dich in Acht, Björn, denn jetzt ist der König in Gefahr. Gerettet werden kann er vermittelst eines Bauers: der ist gemacht aufgeopfert zu werden."

„Frithiof, reize Könige nicht, zu starken wachsen des Adlers Junge heran; obgleich sie gegen Ring schwach erachtet werden, ist ihre Macht gross gegen die deine."

„Björn, ich sehe, du bedrohst den Turm, aber deinem Angrifll' begegne ich leicht. Schwer wird's dir, den Turm zu nehmen, er zieht sich in seine Schildburg hinein."

„Ingeborg sitzt in Balder's Hain und verweint den Tag. Kann sie dich zum Streit nicht locken, die Weinerin mit den Augen blau?"

„Die Königin, Björn, jagst du vergeblich, war mir lieb von Kind - heitsfagen, sie ist des Spiels beste Puppe, wie es auch ergehe, sie muss gerettet werden."

„Frithiof, willst du nicht antworten ? Soll dein Pflegevater un- gehört von deinem Gehöfte gehen, weil ein Puppenspiel nicht Ende nehmen will ?"

Da stand Frithiof auf und legte Hilding's Hand in die seinige und sagte: „Vater, ich habe schon geantwortet, du hast meiner Seele Beschluss gehört.

Reite, Bele's Söhnen beizubringen, was ich gesagt: sie haben meine Ehre gekränkt, keine Bande fesseln mich an sie, nie werde ich ihr Dienstmann."

398 Sprachvergleichendes

„Wol, deinen eigenen Weg wandere, nicht kann ich dein Zürnen tadeln. Odin lenke es zum Besten!" sagte Hilding und verschwand.

1. och „und" dän. og ist der Form nach das deutsche auch. In Bedeutung und Form stimmt mit diesem das schwed. ock. Die Begriffsverschiedenheit von auch und och findet sich sogar in dem- selben Worte und derselben Sprache vereint in dem griech. x«/. Das lat. et kann auch bei Dichtern die Bedeutung von etiam haben, hat sie sogar, in Prosa stehend, in der Formel et i p s e. Das längere etiam im Verhältniss zu et lässt sich mit ocksä (= auch) zu och vergleichen.

suto 3. PI. imperf. v. sitta (sitzen). Der Sing. imp. ist satt mit a. Der Plur. imperf. des starken Zeitwortes hat regelmässig einen anderen Vocal als der Singular. Diese Mannigfaltigkeit der Vocali- sirung ist im Nhdtsch. bis auf wenige Ueberbleibsel (z. B. wie die Alten s?<ngen) verloren gegangen, besteht aber im Ahd., wo sogar die 2. Sing, mit dem Plur. einen gemeinschaftlichen Vocal hat; z. B. Ind. praet. von neman

sing, nani nämi nara

pl. nämumes nämut nämun von tripan

sing, treip tripi treip

tripumes triput tripun. Im Mhd. ist durch den in der ersten Silbe der 2. Sing, eingetre- tenen Umlaut die Vocalisirung noch mannigfaltiger, z. B. von liegen sing, louc lüge louc pl. lugen luget lugen, von geben

sing, gap gaebe gap pl. gäben gäbet gäben. DerConj. imperf. der starken Verben im Schwed. hat durchgängig den Vocal des Indic. PI., es stimmt also die Bildung ganz genau mit dera Ahd.

Der Conj. praet. von nhd. tripan ist

tripi tripis tripi

tripimes tripit tripin. Der Conj. piaet. vom schwed. förnimma jag förnumme geht mit u Aveiter: der Ind. geht

mit Zugrundelegung des 6. Gesanges der Frithiofssage, 399

sing, förnam

pl. förnummo förnummen förnummo.

2. vid (bei), engl, with, deutsch wider. Die Bedeutung ist in allen drei Sprachen eine andere ; doch findet sich engl, with noch in der Bedeutung des deutschen Wortes in Zusammensetzungen wie to withstand = widerstehen. Was den Bedeutungswechsel gleichför- miger Präpositionen in verwandten Sprachen betrifft, vgl. engl, by mit deutschem bei, griech. «m, ano^ ttqo mit lat. ante, ab, pro.

skäda, deutsch schauen. Das engl, verwandte to show hat, wie nicht selten geschieht, die causative Bedeutung angenommen schauen lassen, d. i. zeigen. So heisst im Franz. apprendre 1) vernehmen, 2) benachrichtigen; so wird in gewissen Gegenden Deutschlands lernen vom Volke auch im Sinne von lehren ge- braucht.

3. var imperf. von vara, sein. Nach obiger Regel heisst der Plur. vi voro, I voren, de voro ; der Conj. jag vore, du vore, hau vore u. s. w.

5. neder, deutsch nieder, engl, nether. Die deutsche Media ist im Engl, gewöhnlich aspirata, z. B. thorn = dorn, ^/ireaten =: drohen, lea^/ier ^^ Letter, bath, Bad, mouth, Mund. Auch im Schwed. hatte man früher diese Schreibweise, z. B. bei Stjernhjelm, einem Zeit- genossen Christinen's, der als Vater der schwedischen Literatur ange- sehen wird, ist noch geschrieben then fängne Cupido.

8. speiet = das Spiel. Die Anhängung des bestimmten Ar- tikels an das Substantivum (das Adjectivum,. auch das substantivirte, hat ihn in gewöhnlicher Weise vor sich) ist in den germanischen Sprachen auf das Schwed. und Dänische beschränkt. Treffen Adj. und Subst. zusammen, so werden zwei Artikel angewandt, z. B. det ädla speiet = das edle Spiel. Merkwürdigerweise findet sich die- selbe Eigentümlichkeit auch in einer romanischen Sprache, nämlich im Rumänischen ; dort heisst z. B. fok Feuer, fokul das Feuer, oki Augen, okil die Augen.

9. qvad, 3. Sing, imperf. von qväda, singen, dichten. Im Nhd. ist das Wort geschwunden ; im Ahd. qhuedan, Mhd. queden, imperf. quot (= sagen) ; im Engl, noch die alleinstehende Form quoth he, she = sagt, sagte.

10. tili hat die Bedeutung des engl, to; engl, tili ist im Schwed. tili.«.

400

Sprachvergleicheiides

12. landet, das Land. Das Wort hat im PI. die männliche Endung länder; seltener bleibt land der Plur. Das deutsche sächliche Wort hat in ähnlicher Weise neben seinem gewöhnlichen PI. Länder auch die poet. nach überwiegend männlichen Analogien gebildete Form Lande. Es hat also im Schwed. der üblichere, im Deutschen hingegen der seltenere Plural eine ungewöhnlichere Form. Interes- sant ist es zu sehen, wie die verschiedenen Bedeutungen des deutschen Wortes, nämlich 1) Reich, Staat, 2) Gegensatz zum Wasser, 3) Gegen- satz zur Stadt in anderen Sprachen ausgedrückt werden. Das in dieser Hinsicht am reichsten ausgestattete Franz. hat 3 Wörter: 1) pays, 2) terre, 3) campagne ; das schon ärmere Engl. 2, nämlich 1) und 3) coüntry, 2} land. Doch kann im Engl, und Franz. bei poe- tischer Färbung des Ausdrucks 2) auch für 1) stehen.

13. tag, Imperat. von taga nehmen, engl, to take. Vom deut- schen Stamme aber hat das Schwedische das oben angeführte förnimraa. Sprachen, deren Vocabulariura auf zwei Hauptquellen zurückzu- führen ist, wie z. B. das Engl., verfahren oft so, dass sie zwar das Simplex der einen Sprache aufnehmen, den Sinn des Comp, aber der anderen entlehnen. So entsprechen im Engl, den Bedeutungen

des deutschen kommen bekommen

die Zeitwörter to come receive

suchen

besuchen

to seek

halten

behalten

to hold

sehen

vorsehen

to see

rennen

entrinnen

to run

sprechen

versprechen

to speak

nehmen

zunehmen

to take

treiben

antreiben

to drive

ziehen

vorziehen

to draw

visit retain provide escape promise increase induce prefer

Diese Reihe Hesse sich noch sehr verlängern. Zu bemerken ist übrigens, dass die deutschen Zeitwörter mit be sich oft im Englischen finden, aber mit veränderter Bedeutung, so ist

to become = werden, ziemen to beseech =: ersuchen to behold = gewahren. 14. nu, jetzt, engl, novv, deutsch nun. Das der Form des deutschen jeizt entsprechende engl, yet hat verschiedene Bedeutung, nähert sich aber der deutschen in der Verbindung as yet.

mit Zugrundelegung des G. Gesanges der Frithlofssage. 401

15. frälsas, Inf. pass. von frälsa. Das Schwed. und Dan. haben sich die in den meisten neueren Sprachen verloren gegangene Leichtigkeit gewahrt, das Pass. ohne Hilfszeitw^ort zu bilden. Der charakteristische Consonant desselben ist in beiden Sprachen das 5, vpelches entweder an Stelle des activischen r gesetzt, oder, wo dieses nicht vorhanden, der activischen Form angehängt wird. Doch ist da- neben auch die Möglichkeit vorhanden, nach Analogie unsei'cs werden blifva (eigentlich bleiben) als Hilfszeitwort mit dem Partie, für das Passiv, zu verwenden. Aehnlich verwenden die Polen das auch zu- erst bleiben bedeutende zosta6.

Was den Gebrauch der Hilfszeitwörter anbetrifft , so weichen nicht nur die verschiedenen Sprachgruppen, sondern auch innerhalb derselben verschiedene Sprachen sehr von einander ab. Schwed. und Dan. gehen einerseits, Deutsch und Engl, andererseits ganz Hand in Hand. Notwendig sind bei jenen nur 2, bei diesen aber 3 Hilfs- zeitwörter, um 1) die Vergangenheit, 2) die Zukunft und 3) den lei- denden Zustand auszudrücken. Die roman. Sprachen haben auch nur zwei Hilfszeitwörter, brauchen sie aber für Fall 1) und 3), während Schwed. und Dan. für Fall 1) und 2); die slawische Sprachgruppe endlich können und müssen sie bisweilen anwenden für Fall 2) und 3). Merkwürdig ist bei der Anwendung des Hilfszeitwortes beim Fut. im Russ., dass man zum Fut. von ÖHTL (esse) nicht das Partie, sondei'n den Inf. des betreffenden Zeitwortes setzt, z. B. ich werde handeln n öy;i,y J^'BJiaTB

wörtl. ich werde sein handeln. Im Passiv, kann das Hilfszeitwort vermieden werden, wenn man, wie es ja im Franz. oft geschieht, dafür das reflex. Zeitwort gebraucht, z. B.:

le mot s'emploie CJIOBO ynOTpedJIiieTCJI. Tritt ein Hilfszeitwort ein . so ist es natürlich entsprechend dem esse, etre, to be, sein u. s. w., russ. ÖLITL, poln. byc, für welches letz- tere indessen, wie oben erwähnt, das dem schwed. blifva zu verglei- chende zostac eintreten kann. Aehnlich steht im Ital. statt essere auch bisweilen venire und ähnliche, im Span, und Port, ist sogar dem ser das Hilfszeitwort estar gleichberechtigt.

In den alten Sprachen, wenigstens den mir bekannten, ist der Gebrauch des Hilfszeitworts weit beschränkter, und zwar hat das Zeit- wort selbst, in dem Verhältnisse der früheren Entwickelung der be- Archiv f. n. Sprachen. LVIII. 26

402 Sprachvergleichendes

treffenden Sprache, auch weit mehr eigene Kraft, um die verschieden- sten Verhältnisse auszudrücken. Im Hebr. wird nicht nur für Zeit und Geschlecht kein Hilfszeitwort gebraucht, sondern man giebt sogar andere Beziehungen mit organisch gebildeten Formen des betreffenden Wortes wieder, so z. B. die causative, und zwar caus. act. durch Fiel, caus. passiv, durch Pual, z. B.:

ND er kam, N'^pn er liess kommen, holte, N3in er wurde geholt.

Im Griechischen ist zwar diese Nüancirung der Bedeutung des Zeitwortes nicht vorhanden, doch ist der Gebrauch des Hilfszeitwortes nur auf den selteneren Fall beschränkt, dass im Pei'f. pass. aus äusser- lichen Gründen, z. B. wegen des Zusammenstosses zu vieler Conso- nanten, eine Form nicht organisch gebildet werden kann. So heisst ja die 3. PI. ind. perf. pass. von Ieitko IsXeififitvoi siatr, weil die Sprache XtleiTivrai nicht zulassen und auch nicht umbilden kann. Im Lat. endlich hat sich das Hilfszeitwort auf das Praet. pass. ein bestimmtes Anrecht erworben, welches es, wie erwähnt, in den Tochter- sprachen auf das ganze Pass. und sogar auf einen Teil des Act. aus- gedehnt hat.

18. örnens gen. von örn Adler, Aar, noch mehr verwandt mit dem älteren deutschen Worte arn; dem griechischen Worte oQvig steht es wegen des gleichen Vocales noch näher als dieses. Es hat also das generelle OQVig in örn und arn eine individuelle Bedeutung; ferner ist die früher im Deutschen und noch im Schwed. gebräuchliche Form im Nhd. auf den poetischen Ausdruck beschränkt, während das jetzige generelle Prosawort der Adler früher eine individuelle Be- deutung hatte, indem es aus Adel-ar entstanden ist. Dies veran- lasst uns, einige allgemeine Gesichtspunkte aufzustellen über den Aus- druck gleicher Begriffe in verwandten Sprachen, oder auch in ver- schiedenen Perioden derselben Sprachen, resp. über den Bedeutungs- wechsel gleichwurzeliger Wörter. Im Allgemeinen hat man natürlich als Regel aufzustellen, dass die gleichen Stämme in verwandten Spra- chen auch dieselben Bedeutungen haben , wie ja umgekehrt aus der durchgehenden Gleichheit solcher Stämme die Verwandtschaft der be- treffenden Sprache, das Vorhandensein des Wortes und des Begriffes in der gemeinschaftlichen Ursprache mit Recht gefolgert wird, und viele solcher gemeinschaftlichen Stämme zusammengenommen sogar einen sicheren Schluss auf das Minimum des Wortschatzes jener Ur- sprache, ja sogar auf den Culturzustand des betreffenden Volkes ge-

mit Zugrundelegung des (j. Gesanges der Frithiofssage. 403

statten, welches für so und so viele Begriffe nach Ausdrücken suchen musste. Vgl. z. B. Mommsen, Rom. Gesch. Bd, I, S. 15, wo aus dem Vorhandensein gleicher Wurzeln im Sanskr., Griech. und Lat., wie z. B. sum, do, pater, equus, bos, anser u. a. der Wortreichtum und geistige Horizont des Volkes, welches die gemeinschaftliche Muttersprache jener drei besass, treffend geschlossen wird. Ich will nur ein Beispiel eines Wortes anführen, welches wie jene sich nicht nur durch Sanskr., Gr. und Lat., sondern sogar durch die modernen europ. Sprachen, also durch den ganzen indo-europ. Sprachstamm hindurchführen lässt. Es ist das Wort für Mutter, gr. fH]ti]Q, lat. mater, it., span. u. port. madi'e, franz. mere, engl, mother, schwed. u. dän. moder, russ. MaTB, poln. matka. Sogar ausserhalb unseres Sprachstammes, im hebr. Worte hqn ist mindestens das m vorhanden ; man wurde sich also dieses Begriffs schon in entferntester Vorzeit be- wusst. Weniger drängt sich naturgemäss der Begriff Vater hervor; davon sind die Sprachen wieder ein getreues Spiegelbild, denn wenn wir das Wort durch die genannten begleiten, finden wir bei weitem nicht mehr das zähe Festhalten an denselben Consonanten. Diese allgemeine Regel nun ist von dem stets lebendigen Sprachgeist auf verschiedene Ai'ten durchbrochen worden , von denen ich hier die hauptsächlichsten kurz anführe und sie mit bunt gewälten Beispielen belege.

a) Durch Verengerung oder Erweiterung des Begriffes hat das- selbe Wort in verwandten (Schwester- oder Tochter-)Sprachen gene- relle und individuelle Bedeutung. Es kann also pars pro toto und totum pro parte stehen. Als Beleg wiederhole ich das oben ange- führte

gr. oQvig, mhd. arn, schwed. örn, dän. Oru. Ferner

lat. passer der Sperling, span. päjaro der Vogel,

deutsch der Vogel, engl, fowl, jetzt Federvieh, früher

Vogel, deutsch das Tier, engl, de er Rotwild, gr. &i'jQ wildes Tier, deutsch der Hengst, schwed. hast, dän. Hest das Pferd, deutsch die Mähre (schlechtes Pferd), engl, mare „Stute". Genau so

russ. KJljna der elende Gaul; poln. klacz Stute,

26*

404 Sprachvergleichendes

deutsch das Pferd, franz. le palefroi, engl, the palfrey, der Zelter, während alle drei von demselben paraveredus kommen.

Engl, dog der Hund, deutsch die Dogge,

deutsch der Hund ; engl, the hound der Jagdhund,

poln. sobaka die Hündin ; russ. COÖaKa der Hund im allgem.

Um nicht nur beim Tierreiche zu bleiben, welches allerdings für unseren Zweck die reichste Ausbeute zu gewähren scheint, füge ich ferner hinzu :

russ. jimi,e Gesicht, poln. lice Backe,

russ. Ä06'h die Stirn, poln. leb der Kopf,

lat. crinis das Haar, fr. le er in die Mähne,

engl, sky Himmel; schwed. u. dän. sky Wolke,

ital. colorato gefärbt; span. Colorado rot,

engl, time Zeit; schwed. timma Stunde,

poln. czas Zeit; russ. HSiCh Stunde,

russ. nopa Zeit; poln. pora Jahreszeit,

ro;i,HHa gew. Zeit ; poln. godzina Stunde. Diese und einige später folgende Beispiele zeigen uns, dass besonders zeitbedeutende Wörter die verschiedensten Begriffsnüancirungen zu- lassen.

Engl, money Geld ; fr. monnaie kleines Geld,

it. carta Papier; span. port. carta Brief,

lat. parare bereiten ; fr. parer schmücken,

russ. .ilHCTI> Blatt; poln. list Brief,

deutsch die Wehr; schw. värja Degen,

poln. mig die Gebehrden; russ. MHri> Blinzeln mit den Augen,

schw. skära schneiden ; deutsch scheeren,

schw. frö, dän. fr. Samen ; engl, fry Fischrogen,

russ. M'BCTO der Ort ; poln. miasto die Stadt (vgl. hiermit das deutsche Statt, Stadt, Stätte, wobei auch beide Be- deutungen in einander spielen),

poln. ubierac kleiden; russ. yölipaTt schmücken, niewiasta Frauenzimmer; russ. HeBtiCTa heiratsfähiges Mäd- chen, Braut, zimny kalt; russ. BHMHiin winterlich, bor der Forst; russ. öopii Fichtenwald,

russ. 3B0HTb Ton ; poln. dzwon Glocke,

mit Zugrundelegung des 6. Gesanges der Frithiofssage. 405

russ. caA^ Garten ; poln. sad Obstgarten,

poln, ogorod Garten ; russ. ür()pf>;i,'l> Kfichengarten, platek Läppchen ; russ. n.iaTOKi> Taschentuch,

russ. noro;i,a Wetter; poln. pogoda auch: schönes Wetter,

poln. odmienny verschieden ; russ. OTM'BHHHH gewöhnlich : aus- gezeichnet,

engl, lid Deckel; deutsch (Augen)lid, bone Knochen; deutsch Bein bezeichnet etwas bestimmtes,

deutsch spüren; schw. spörja fragen,

russ. nHTaTL versuchen; poln. pyta6 fragen, ;i;BHraTb bewegen; poln. dzwigac heben.

b) Dasselbe Wort bezeichnet in der verwandten Sprache einen örtlich oder im Gedanken nahe liegenden , allenfalls verwandten Be- griff, z. B.:

deutsch Kinn, engl, chin ; aber schwed. u. dän. kind Backe; ähnl.

poln. szczqka Kinnbacke; russ. meKa Backe; und genau so

lat. maxilla Kinnbacke; sp. mejilla Backe,

russ. OJIOBO das Zinn; poln. oiöw das Blei,

russ. jKaÖa die Kröte; poln. zaba der Frosch.

deutsch Stunde; schwed. stund Augenblick,

deutsch laufen; engl, to leap springen. Umgekehrt :

deutsch springen ; schvr. springa gewöhnl. laufen,

lat. hora Stunde; gr. mQa auch: Jahreszeit,

schw, föda das Leben geben, d. i. gebären ; engl, to feed das Leben erhalten, d. i. füttern,

deutsch Fass; schw. fat gewöhnl. Schüssel,

engl, anger Zorn ; schw. änger Reue,

schw. kräfva heischen, fordern; engl, to crave gewöhnl. bitten,

engl. u. dän. to gro, groe wachsen ; schw. gro keimen,

deutsch Knabe; engl, knave Schurke,

(das deutsche „Bube" hat beide Bedeutungen)

poln. poczciwy ehrlich; russ. nO^THEHII höflich, (die Verwandtschaft der Bedeutungen zeigt das beide besitzende franz. honnete)

engl, always immer geht auf die Zeit; deutsch allerwegen bez. dasselbe vom Ort.

poln. grob Grab; russ. rpoöl. gewöhnl. Sarg,

406 Sprachvergleichendes

poln. nasladowad nachfolgen im Betragen, d. h, nachahmen; russ. HacJI'B^l.OßaTB nachfolgen im Besitz, d. i. erben. Wir dürfen uns sogar nicht wundern, wenn derselbe Stamm in ver- wandten Sprachen gerade Entgegengesetztes bedeutet, das tertium com- parationis springt ja von selbst in die Augen, z. B.:

poln. urod/.iwy schön; russ. ypo;i,JlUBLin missgestaltet. Vergleichen wir drei verwandte Sprachen, so gehen oft zwei in der Bedeutung des gleichstammigen Wortes zusammen, während die dritte ihre eigenen Wege wandelt, z. B.

engl. u. schw. shirt, skjorta Hemd; deutsch hingegen Schürze,

to draw, draga ziehen ; ,, tragen,

deutsch u. schw. gata Gasse; engl, hingegen gate Thor,

,, snäcka Schnecke; engl. hingegen snake, Schlange, deutsch u. engl, worm Wurm ; schw. hingegen orni Schlange, ,, härm Leid, Schaden; schw. hingegen härm Ver- druss, Unwille. Hierzu ist zu rechnen, wenn dasselbe Wort in der einen Sprache in eigentlicher, in der anderen in übertragener Bedeutung gebraucht wird, z. B.:

deutsch Esel, engl, easel Staffelei,

russ. CMyTEUjfl trübe; poln. smutny traurig,

deutsch glatt; engl, glad froh,

Blatt; engl, blade Klinge, schw. vacker schön (von Aussehen); deutsch wacker, schön im

ethischen Sinne, also brav, tüchtig, deutsch fressen; schw. fräta nur übertragen: ätzen, russ. p'»CKüllIb äussere Ueppigkeit, Pracht ; poln. rozkosz Ueppig- keit der Seele, d. i. Vergnügen, ,, .laJITL bellen ; poln. Jajac anbellen, d. i. ausschelten, B3rjia;i,'& Blick; poln. wzglqd Rücksicht,

(beide Bedeutungen vereinigt das fr. regard.)

c) Das in der einen Sprache gewöhnl. Wort ist in der anderen nur poetisch, z. B.:

lat. columba; franz. la colombe poet. deutsch Taube; engl, the dove poet. poln. czolo Stirn; russ. ^eji> poet. engl, horse; deutsch Boss poet.

mit Zugrundelegung des 6. Gesanges der Fritbiofssage. 407

deutsch Stute; engl, steed das Ross,

lat. passer Sperling; franz. passereau,

deutsch Schmerz, schw. smärta ; engl, smart poet.

engl, wing, schwed. vinge; deutsch Schwinge poet. goat; deutsch Geiss poet. und mundartlich

poln. usta Mund; russ. ycTa poet.

schw. vrede Zorn ; engl, wrath poet.

engl, tear, schw. ttir; deutsch Zähre poet.

engl, head, schw. hufvud 5 deutsch Haupt poet. boy; deutsch Bube poet. u. mundartlich.

schw. Sven Bursche ; engl, swain poet.

poln. rzec sprechen ; russ. pe^b poet.

poln. oko Auge ; russ. OKO poet.

poln. piers Brust; ,, nepCH poet. Hierher würde auch, obwol es weniger nah verwandte Sprachen be- trifft, folgendes Beispiel zu ziehen sein :

it. guancia Backe verwandt mit dem deutsch, poet. Wange, das poet. Wort im It. hingegen ist gota.

Oder, was mit dem eben angeführten Fall grosse Aehnlichkeit hat, das schriftmässige Wort der einen Sprache ist in der anderen nur vulgär, familiär oder selten, z. B.:

Echw. trampa treten deutsch trampeln, ,, vackla wanken ,, wackeln, lärjunge Jünger deutsch Lehrjunge,

engl, brain Gehirn deutsch Bregen, ,, butterfly Schmetterling deutsch Butterfliege,

deutsch weinen engl, to whine winseln, ,, Schwein ,, swine selten,

schw. karl Mann deutsch Kerl,

russ. ryöa Lippe poln. g^ba Maul. Dies Beispiel kann auch schon bei a) mitzälen.

engl. schw. knife, knif Messer deutsch Kneif. Besonders gehören hierher unzälige Beispiele aus den romanischen Sprachen, deren Wortschatz ja zum grossen Teile auf das Vulgärlatein, die lingua rustica, zurückzuführen ist, während die Wörter der Schrift- sprache unbeachtet geblieben oder nur in Ableitungen zur Verwendung gekommen sind. Ein Blick in ein französisches u. s. w. etymologisches Wörterbuch macht jede Anführung von Beispielen überflüssig.

408 Sprachvergleichendes

d) Das Diminulivum der einen Sprache wird in der anderen, be- sonders der Tochtersprache, das gewöhnliche Wort, z. B. :

lat. agnellus fr. agneau

,, apicula ,, abeille

auricula oreille

oder, mit anderen Worten, zur Wiedergabe desselben Begriffes bedient man sich in der einen Sprache des Simplex, in der anderen des Dimi- nutivums, z. B. :

lat. soror die Schwester; ital. sorella, russ. iLieHl> das Glied; poln. czlonek, deutsch Helm ; engl, helmet (neben heim), poln. lawa Bank; russ. jiai5Ka,

motyl Schmetterling; russ. MOTM.ieK'B,

kolo Rad; russ. KO.ieC), russ. MaTL Mutter; poln. matka.

Wir haben soeben die Sache von einem anderen Standpunkt betrachtet, indem uns der Begriff das Prius , der Ausdruck das Posterius war. Diese Wendung giebt uns einen willkommenen Anlass, einige kurze Bemerkungen über den Ausdruck desselben Begriffes in verwandten Sprachen hier einzuschalten. Da Beispiele am besten beweisen, neh- men wir aus unserem germanischen Sprachstamm Deutsch, Engl., Schw. und Dan. heraus; beim Engl, kommt natürlich nur der deutsche Fond in Betracht. Das Natürlichste ist, dass derselbe Begriff durch denselben Stamm ausgedrückt wird; ich wäle nur ein Beispiel statt unzäliger anderer.

Deutsch das Haus, engl, house, schw. hus, dän. Hüus.

Dass umgekehrt jede Sprache ihren eigenen, für den betreffenden Be- griff ausschliesslich verwandten Ausdruck haben kann , möchte ich zwar nicht bezweifeln, doch ist es mir nicht gelungen, dafür ein Bei- spiel aufzufinden ; im Gebiete der concreten Wörter ist es wol über- haupt nicht vorhanden. Einigermaassen passt das folgende

deutch obgleich, engl, though, schw. fastän, dän. endskjrtndt, doch ist im Schw. neben dem gebr. fastän auch das seltenere änskönt vorhanden.

Wenn sich für denselben Begriff zwei Wörter finden, so können drei Sprachen zusammengehen und die vierte isolirt stehen, z. B.:

mit Zugrimdflegiuig des 6. Gesanges der Fritliiofr^sage. '109

engl, tu take, sclnv. taga, dän. tage ; aber deutsch nehmen, ,, trcc, schw. tiäd, dän. Trai; aber deutsch Baum, oder

engl, to feel, deutsch fülen, dän. fv^le ; aber schw. känna, oder

schw. visa, deutsch weisen, dän. vvise; aber engl, to sliow, ,, veta, deutsch wissen, däii. wide; aber engl, to know, oder

engl, garden, deutsch Garten, schw. trädgärd ; aber dän. Have, fifty, deutsch fünfzig, schw. fenitio ; aber dän. halvtred- sindstyve, wie denn überhaupt das Dänische seine eigene Methode hat, die Zehner von 50 bis 90 auszudrücken.

Oder es können je zwei Sprachen Hand in Hand gehen, z. B. :

engl, window, dän. Vindue; deutsch Fenster, schw. fönster,

fire, deutsch Feuer; dän. lld, schw. eld.

Es feit nun noch ein Beispiel für die Combination, dass Deutsch und

Dänisch vereint den beiden anderen Sprachen gegenüber stehen ; in der

Klarheit wie die oben angeführten habe ich aber keins auffinden können.

Deutsch hässlich, dän. hieslig kommt zwar im Engl, und Schw. nicht vor; diese Sprachen besitzen aber kein äquivalentes beiden gemein- sames Wort, dessen die zwei erstgenannten entbehren. Auch Bei- spiele, wie das erste der obigen, welche das Handinhandgehen des Dän. mit dem Engl, im Gegensatz zu Schw. und Deutsch beweisen, sind äusserst schwer zu entdecken, während der zweite Fall ein ganz gewöhnlicher ist.

Schliesslich können für denselben Begriff drei Wörter vorhanden sein, indem zwei Sprachen übereinstimmen , die übrigen aber sowol von diesen wie unter sich verschieden sind, z. B. :

dän. Vaar, schw. vär; deutsch Frühling, engl, spring. Ob sich hierzu noch andere Combinationen finden lassen, muss dahin gestellt bleiben.

Es versteht sich von selbst, dass das eben Aufgestellte keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Es genügt uns, einige allge- meine Grundsätze für Beurteilung gleicher Wörter und Begriffe in verwandten Sprachen aufgestellt zu haben ; ihre Ausführung im Ein- zelnen dürfte eine dankenswerte und nicht uninteressante Aufgabe bilden.

410 Sprachvergleichendes

Es liegt nahe, einen Blick auf die Bedeutungen und auch auf die Formen derjenigen Wörter zu werfen, welchen man fremden, oft nicht oder nur entfernt verwandten Sprachen selbstbewusst entlehnt hat. Betrachten wir beispielsweise das Verhältniss unserer Sprache zu der unserer beiden Nachbarvölker, der Franzosen und Slaven, Als Regel kann dienen, dass wir jenen, diese uns viel entlehnt haben ; das hängt ja selbstredend mit den geschichtlichen Begebenheiten zusammen. Ich sehe natürlich hier von den ziemlich auf 1000 sich belaufenden deut- schen Wurzeln ab, welche das früheste Mittelalter nach Frankreich ge- bracht, oft um sie, jeder verwandten Bildung anscheinend entkleidet, später wieder als Fremdwörter in die deutsche Heimat zurückkehren zu lassen. Wer ist sich z. B. heutzutage, wenn er das Wort fauteuil gebraucht, noch bewusst, dass er darin das alte deutsche faldestoel vor sich hat? Was aber die Franzosen später mit deutschen Ausdrücken benannt haben, beschränkt sich in der Tat auf ein Minimum. Es sind meistens Wörter concreter Bedeutung, die aber in der Mehrzal der Fälle einen sonderbar verschrobenen Begriff bekommen haben. So ist

un loustic ein Spassmacher unter den Soldaten,

un boc ein Glas Bier,

un vasistas eine Art Fenster. Es dürfte schwer sein, viele derartige Wörter aufzufinden, welche die deutsche Bedeutung treu bewahrt hätten.

Für die 1000 deutschen Wurzeln in ihrer Sprache sind uns nun die Franzosen nichts schuldig geblieben, denn die Flut von Fremd- wörtern , mit denen wir leider seit mehreren Jahrhunderten in un- nötiger Weise überschwemmt worden sind, ist doch zum grössten Teile vom Westen gekommen. Was Aussprache, Form und Ortho- graphie dieser Wörter anbetrifft, so ist man so wenig wie möglich consequent geblieben , indem man sich bald eng an das Franz. an- schliesst, bald bedeutend von ihm abweicht. Classificationen hier an- zunehmen dürfte nur mit Hilfe der kleinsten Unterabteilungen mög- lich sein. Ein Wort wie Equipage hat vom Franz. nur noch die Aussprache des g zweifellos behalten; die des qu ist bald franz., bald deutsch; das End-e wird, wie meistens, gesprochen, und schliesslich, um die Verwirrung noch grösser zu machen, hat das Wort sogar sein Geschlecht gewechselt, welches Schicksal bekanntermaassen alle franzö- sischen Wörter auf age im Deutschen geteilt haben. Als andere Bei-

mit Zugrundelegung des 6. Gesanges der Frithiofssage. 411

spiele für den Geschlechtswechscl führe ich an: die Broncc, die Car- rosse, die Melange, die Citrone.

Schwerer dürfte es sein, den Uebergang vom weibl. Geschlecht im Franz. zum raännl. Geschlecht im Deutschen mit Beispielen zu belegen. „Der Pantoffel" heisst allerdings la pantonfle; doch ist wol unser Wort eher vom ital. pantofola abzuleiten.

Andere Wörter, z. B. Bureau , haben vollständige franz. Aus- sprache, dagegen halb deutsche Orthographie. Consequent wäre Bu- reau oder Büro zu schreiben. Andere, wie Garnitur, haben mit der deutschen Aussprache auch unsere Schreibweise angenommen. Andere schliesslich, wie Flacon, haben in beiden Beziehungen die französische Form beibehalten.

Ohne hiermit unsere französischen Fremdwörter in formeller Be- ziehung erschöpfend classificirt zu haben, wenden wir uns nun der wichtigeren Frage, der nach der Bedeutung derselben, zu. Das Na- türlichste ist, dass sie sich den Sinn der heimatlichen Sprache bewahrt haben. Wir können in dieser Hinsicht dem Zufalle die Wal von Bei- s[)ielen überlassen; Wörter wie: Broschüre, Ouvertüre, Parcelle, Pläsir, Artillerie, Trümeau, Pincenez, Accoucheur, Fichu, Menü u. a. mehr werden im Deutschen durchaus in demselben Sinne, wie in der Mutter- sprache, angewandt. Dürfen wir uns aber wundern, wenn auch beim Worte, dem menschlichen Geistesproducte, das bisweilen geschieht, was die aus ihrer Heimat verpflanzten organischen Wesen, Tier und Ge- wächs, uns in den meisten Fällen vor Augen führen? Sie bleiben, ilirem Ursprungsboden entrissen, nicht das, was sie vorher waren. So auch mit den einer lebenden Sprache entlehnten Fremdwörtern. Man giebt ihnen 1) nicht selten eine Bedeutung, welche ihnen in der Mutlersprache gar nicht zukommt, oder aber man bleibt 2) bei der An- wendung, welche ihnen zur Zeit der ersten Entlehnung gegeben wurde, stehen, während der lebendig schaffende Sprachgeist des ursprünglichen Besitzers andere Wörter für denselben Begriff" einfahrt. Man ver- gleiche zu 1)

Rouleau mit franz. le rouleau Walze,

Couvert (Briefumschlag) mit franz. le couvert Gedeck,

Pli (Lebensart) mit franz. le pli Falte,

Markör (Kellner im Allg.) mit franz. le marqueur Zäler beim Billard,

Assiette (Schüssel) mit franz. l'assiette der Teller.

412 Sprachvergleichendes

Zu 2)

Portier jetzt franz. le concierge,

Visage jetzt iranz. la figure,

Equipage jetzt franz. la voiture.

Suppe jetzt franz. le potage,

Sauce jetzt franz. meist le jus,

Contor jetzt franz. meist le bureau. Einigermaassen versöhnend kann es auf uns wirken, wenn wir sehen, dass unsere deutsche Sprache, welche ihrer westlichen Nach- barin so viel unnötigerweise entlehnt hat, in dem umgekehrten Ver- hältniss einer Gläubigerin zu den östlichen Nachbaridiomen steht. Das Polnische ist durch und durch mit deutschen Ausdrücken gesät- tigt. Etwas weniger stark, aber immer noch handgreiflich genug, treten sie im Russischen hervor. Im Ganzen wiederholen sich hier im Verhältniss zur Muttersprache dieselben Erscheinungen, wie wir sie eben in flüchtigen Umrissen gezeichnet haben. Ein Hauptunter- schied ist aber der, dass das Russische meist concrete Wörter aus dem Deutschen genommen, die abstracten Lehnwörter grösstenteils auf das Französische zurückgehen, allerdings nicht selten durch das Medium des Deutschen, während wir doch beide Kategorien in reicher Fülle aus dem Franz. geholt haben. So finden sich im Russischen Wörter wie: Apfelsine, Backenbart, Buchhalter, Fackel, Flügel, Forelle, Fracht, Fräulein, Gardine, Gefreiter, Gewaltiger, Graf, Grund, Hals- tuch, Hauptwache, Herzog, Jagdtasche, Jahrmarkt, Kammerdiener, Kartoffel, Komponist, Kunststück, Landkarte, Landschaft, Losung, Mundstück, Oberjägermeister, Schlafrock, Schlagbaum, Tanz, Trauer, Zeughaus, Zifferblatt und viele andere. Besonders gehören hierzu militärische Ausdrücke und Benennungen von Hofämtern.

Aus dem Franz. kommen cepioSHMH, ceHTHMeHTaJIBHHH, ceK- peTi>, neHsajKi., •MSiÄym, naccnopTi., ataöo, MaHemi., cesoH'b, Kan- CIOÄÜ u. s. w.

Aus dem Franz., aber durch das Deutsche hindurch ceKyH;i,aHTT), 3a.aa, coÄji^a^Tb, Kaiipiis'B, cepBHst, aKK.iiiMaTHSHpoBaTL (das franz. Wort heisst nur acclimater) u. a.

Bei dieser letzteren Classe geht es merkwürdig genug her; das Wort 3a.lia z. B. „der Saal" hat das Geschlecht aus dem Franz., das gelinde s aus dem Deutschen. Unnötig sind die Wörter oft gerade so wie bei uns die Fremdwörter; denn neben dem Fremdwort geht nicht

mit Zugrundelegung des 6. Gesanges der Frlthiofssage. 413

selten ein gutes russisches Wort nebenher, so neben Schlafrock xaJiaTi., neben secret Tanna. P^s giebt sogar Beispiele, wo der- selbe Begriff durch franz., deutsches und russ. Wort ausgedrückt wer- den kann, z. B. Landschaft, paysage und BH;i,onil('l>. Doch muss an- erkannt werden, dass man viel häufiger, als bei uns im Deutschen, in Verlegenheit kommen würde, diesen oder jenen Begriff national wieder- zugeben. Dass dabei dieselben Ungeschicktheiten unterlaufen, wie wir oben im Verhältniss zwischen Deutschen und Franz. gesehen haben, ist schon angedeutet. So lieisst z. B. no^Ta.liOH'B der Briefträger, für Pos ti Hon giebt es ein echt russisches Wort. Das vom franz. hasard abgeleitete asapTl. heisst nicht „Zufall", sondern „Zorn". Auch der Fall, dass die entlehnende Sprache bei der früheren Bedeu- tung stehen bleibt, wiederholt sich. So bedeutet z. B. uapxaT'B Sammt, es entspricht der Form nach dem deutschen Barchent ; darunter ist bei Fischart noch in der Form Barchat ein kostbarer Stoff zu verstehen. Auch die Form muss oft leiden. So wird aus Futteral ^yT.lüp'B, aus Teller TapeJiKa fem., Kolophonium KaHH<l>0.aL fem. ; Farbe <l>a6pa (Bartwichse), aus Feldscheer familiär «l>epme.7lt. Man liebt also augenscheinlich eine Umstellung der Consonanten. Das Geschlecht des betreffenden Hauptwortes geht fast in gleichem Procentsatz verloren wie es bleibt, denn nach russischen Sprachgesetzen ist das auf einen harten Conso- nanten ausgehende Wort unbarmherzig Masculinum. Mitunter tritt, wie es bei uns viel häufiger der Fall war, der Uebergang zum Femi- ninum ein. So ist das oben angeführte Jahrmarkt in dem russischen apMapKa weiblich geworden, weil die drei Endconsonanten rkt für ein slavisches Ohr, das doch sonst vor Consonantenhäufung nicht zu- rückschreckt, in dieser Verbindung uneiträglich sind. Der Pole wirft, um das Geschlecht zu bewahren, das End-i aus; bei ihm heisst das Wort jarmark. Sogar Wechsel des Numerus kommt vor; so ist das oben angeführte Backenbart in der russ. Form uaKenöapÄH f. pl., vielleicht durch den Einfluss des fi-anz. les favoris, wenn nicht durch die Natur der Sache. Die Aussprache dieser Wörter ist ferner von der nationalen sehr verschieden. Es macht sich im Russ. ein Be- streben bemerkbar, in unseren deutschen Zusammensetzungen den zwei- ten Teil zu betonen, obschon die Russen sonst kein Bedenken tragen, auf die betonte Silbe noch fünf und mehr tonlose folgen zu lassen. Man betont z. B. üXTauii., Baji^i.uiHeii'L (neben Ba.iL^iiiHeni)) , Baji- TopHa, MyH^niTyK'B u. s. w. Die ursprüngliche Schreibung geht fast

414 Sprachvergleicliendes

ganz verloren, weil die Slaven bei der Transscription solcher Wörter nach dem phonetischen System verfahren. Bei dem Russen können v\^ir das Avegen seiner eigenartigen Schrift, der lateinische Buchstaben abgehen und in der mehrere solcher in einem Zeichen zusammengefasst werden, nicht auffallend finden. Er schreibt z. B. lüeKCnHp'B. Aber auch der Pole, Avelchem doch dieselben Schriftzeichen wie den meisten europäischen Sprachen zu Gebote stehen , schreibt in phonetischer Weise Szekspir.

Was wir von den Fremdwörtern im Russischen gesagt, trifft in fast noch erhöhtem Grade auf das Polnische zu. Die deutschen Wörter wenigstens sind, wegen der grösseren Nachbarschaft und der mannigfaltigeren geschichtlichen Berührungen , viel zalreicher als im Russischen. Was wir selbst aus beiden Sprachen entlehnt haben, ist äusserst geringfügig; denn man borgt eben nur von dem zu einer gewissen Periode civilisirteren Volke, aus der entwickelteren Literatur. Als sehr familiäre Wöi-ter sind z. B. während der Befreiungskriege von den Russen bei uns zurückgelassen worden „Pascholl" = Packe dich, Wudki = Branntwein. Ferner ist auf das Russische zurückzu- führen „die Droschke von ;];pO}KKll, die Knute von KHyTT), von denen jenes die Zal, dieses das Geschlecht gewechselt hat.

Am Schlüsse dieses längeren Excurses wiederhole ich noch ein- mal, dass er nicht für erschöpfend gelten will. Ich habe mich mehr damit begnügen müssen , Fingerzeige für interessante Themata zu geben, als sie selbst auszuführen. Einige mit den eben geführten Untersuchungen nahe verwandte sind ganz ausgelassen worden, z. B. über den Geschlechts Wechsel gleicher Wörter in organisch verwandten Sprachen. Den verschiedenen Ausdruck gleicher Begriffe in eben sol- chen Sprachen haben wir uns nur in einer Gruppe zu erläutern begnügt.

21. tornet, der Turm, dän. Taarn, ebenfalls Neutr. ist ein Bei- spiel zum eben erwähnten Geschlechtswechsel. Ebenso v. 22 anfallet, der Anfall; vergl. ferner it. un minuto, un affare mit fr. une minute, une affaire, und, um auch aus dem Bereich der slavischen Sprachen wenigstens ein Beispiel zu geben, das russ. 11,'B.lL fem. Ziel mit dem poln. cel masc. Uebergang des m zu n finden wir öfters, z. B. fr. la nappe aus lat. mappa, la nefle v. raespilum ; dän. kun (nur) ist im Deutschen kaum.

23. dig ist hier dat. Der Dat. der persönl. Fürwörter ist im Schwed., Dän. und Engl, durchweg dem Accus, gleich, wenn man

mit Zugrundelegung des 6. Gesanges der Frithiofssage. 415

nicht diesen selbst mit vorgesetzter Piäpos, als Dativ verwendet. Die roman. Sprachen unterscheiden beide Casus formell in der 3. Person sing, und pl., so im Franz. acc. sing, le und la, dat. lui, plur, acc. les, dat. leur ; im Ital. acc; sing, lo und la, dat. gli, plur. acc. li, dat. loro u. s. w. Wird aber die 3. Person reflexiv verwandt, dann sind auch hier dat. und acc, gleichförmig. Im Deutschen findet sich nun diese Gleichheit, wie in der 1. und 2. Pers. plur., so auch in der 3., wenn sie reflexiv steht, aber wir haben hier eine auflfallende Anomalie zum Gebrauch der 1. und 2. sing. Wie man mir und mich, dir und dich sagt, so erwartete man in analoger Weise sir und sich. Schleicher versichert nun, dass in irgend einer räumlich nicht weit verbreiteten Mundart in Schlesien die Macht der Analogie diese Form s i r geschaffen hätte.

27, hon, sie, han, er, sind wirklich persönliche Fürwörter, in- sofern als sie von Sachen, in Prosa wenigstens, nicht stehen, sondern dann durch den vertreten werden. Dasselbe ist im Engl, mit he und she der Fall, ist aber hier selbstverständlich, weil alle Gegen- stände Neutra sind , während sie im Schwed. auch männliches und weibl. Geschlecht haben können. Zum Vergleiche passend erscheinen die ital. Formen egli, ella auf der einen, esso, essa auf der anderen Seite, von denen jene auch nur auf Personen anwendbar sind, und diese, wenn nicht ausschliesslich, so doch vorzugsweise von Sachen gebraucht werden.

29. fäfängt, vergeblich, hier Adverbinm , zugleich Neutrum des Adjectivums. An das Neutrum als Adv. sind wir durch das Stu- dium der alten Sprachen gewöhnt. Griech. und Lat. haben zwar be- sondere Endungen für das Adv., nehmen aber doch das Neutrum im Comparativ., und zwar die Lateiner ausschliesslich, die Griechen mit grosser Regelmässigkeit. Im Lat. steht auch im Positiv nicht selten das Neutr. des Eigenschaftswortes in adverb. Bedeutung, z. B. dulce = tlulciter; im Griech. ist im Superlativ das Neutr. plur. des Adj. als Adv. das übliche, z. B. xä'jjiGxa^ nlEiGTa u. a. Die romanischen Sprachen haben bekanntlich mit Ausnahme weniger Adj. das lat. mente als Adverbialendung angenommen, welche, entsprechend dem Geschlechte von mens, an das Femininum des Eigenschaftswortes ge- hängt wird. Im Portug. hat sich hierbei die an deutsche Abkiirzungs- weise erinnernde Eigentümlichkeit erhalten, dass, wenn mehrere Adv. auf mente hinter einander stehen, diese Endung bei dem ersten weg-

416 Sprachvergleichenrles

gelassen werden kann. So sagt man z. B. sabia e conslantemente. Auch das Engl, giebt dem vom Adj. herkommenden Adv. eine Endung, das mit dem deutschen lieh formell übereinstimmende 1 y. Was die slavischen Sprachen anbetrifft , so hat im Russ. das Adv. stets die Form des Neutr. des Adj., aber unterscheidet sich bisweilen in der Ausspraclie von demselben durch eine verschiedene Betonung, wenig- stens in den Provinzen, welche sich einer sorgfältigeren Aussprache rülmien. Im Polnischen hingegen findet sich stets ein besonders ge- endetes Adv., und zwar sind sogar, wie im Lat., zwei Endungen üblich, die mitunter beide bei demselben Worte gebraucht werden können. Der Gebrauch im Schwed. ist derselbe, wie im Lat., nur dass das dort üebliche hier das Seltenere ist und umgekehrt. Denn ausser den als Adverbien gebrauchten Eigenschaftswörtern im Neutrum giebt es auch noch die besondere Endung en für diese Wortclasse, z. B. temligen ziemlich, ändtligen endlich u. a., und es kommt vor, dass beide Arten bei demselben Worte zu finden sind. In der Poesie ist es sogar mög- lich, das Adj. im Masc. als Adv. anzutreffen, z. B. Frith. Saga VII, 25, Dock ändtlig .... du sjunker ner ifrän din höjd, „Doch endlich sinkst du von deiner Höhe nieder". In gewissen Formeln, aber nur dann, finden wir dies in manchen Sprachen auch in Prosa, z. B. fr. demeurer court, engl, to work hard. Wenn wir von diesen letzteren vereinzelten Fällen absehen, steht unser Deutsch mit seiner Gleichför- migkeit zwischen Adj. und Adv. isolirt unter den umgebenden Sprachen da. Dass wir aber früher auch unsere Adverbialendung lieh hatten, würde, selbst abgesehen von der engl. Analogie und den Beweisen altdeutscher Texte, aus dem Umstände hervorgehen, dass sie sich in manchen Wörtern in der ursprünglichen Bedeutung erhalten hat. Als Beispiel diene wahrlich.

30. barn dorn sdagar, Kindheittage, von barnet, das Kind. Barn war früher ein den teutonischen Sprachen gemeinschaft- liches Wort; wir haben es noch im Mhd., z. B. im ersten Gedichte Walther's von der Vogelweide (Ausg. v. Lachm.). Nu biten wir die muoter | und ouch der muoter barn. In Britannien hat sich das Wort im schottischen Dialecte in der Form bairn erhalten, wie denn über- haupt dieser Dialect in manchen Beziehungen reiner deutsch ist, als das eigentliche Englisch. So entsprielit schottisch ken (kennen) dem engl, know, wee (wenig) dem little. Andere Wörter, welche sich auch im Engl, finden, haben im schott. Dialect eine der unseren viel

mit Zugrundelegung des 6. Gesanges der Frithiofssage. 417

näher stehende Vocalisation, z. B. I gae, ich gehe, the slae, die Schlehe. Das Wort barn findet sich auch im Engl., aber in der grundverschiedenen Bedeutung Scheune. Dies bringt uns auf ein Thema, welches mit der Wissenschaft streng genommen nichts zu tun hat, aber immerhin nicht ohne Anziehung ist. Eine so unendliche Mannigfaltigkeit der Combination sich auch mit den gegebenen Lauten oder Lautzeichen erreichen lässt, so hat es doch der Zufall gewollt, dass man in den verschiedenen Sprachen auf sehr viele gleiche Ver- bindungen gekommen ist, welche begriflflich durchaus nichts mit ein- ander zu tun haben. Die Vergleichung einiger Bedeutungen solcher für das Auge oder Ohr gleicher Wörter in verschiedenen Sprachen er- giebt mitunter die wunderlichsten Zusammenstellungen. Derartige Wörter würden die Grundlage für interlinguistische Calembours bilden. Sie beweisen zugleich in schlagender Weise die Macht der Gewöhnung. Dem einen Volke erweckt ein so oder so geschriebenes oder gespro- chenes Wort diese, dem anderen jene Vorstellung. Auf der anderen Seite endlich zeigen sie, dass der Wert einer jeden Sache ein relativer ist, nur von der Umgebung abhängt. Denn wenn man mit mehreren Sprachen vertraut ist, erfordert es sogar eine gewisse geistige Anstren- gung, um sich bewusst zu werden, dass dieses oder jenes Wort, wel- ches in der betreffenden Umgebung uns leicht in der richtigen Bedeu- tung entgegentritt, in einer anderen, sei es selbst die Muttersprache, einen verschiedenen Sinn darstellt. Ganz dasselbe zeigt sich in dem Reiche der Töne. Derselbe Accord, dieselbe Modulation bringt, je nach dem Zusammenhang, in welchem sie sich befindet, die heterogen- sten Eindrücke hervor. Ich lege nun etwa 200 derartige Beispiele vor, wie sie mir bei verschiedener Leetüre aufgestossen sind.

a, lat. von, it. praep. zu, port. weibl. Art. die, engl, unbest. Art. ein, poln. russ. aber air, fr. Miene, deutsch er ale, engl. lUer, poln. aber alla, gr. aXka anderes, it. zu der, schwed. alle, fr. (er) gieng alter 1. der andere, d. Lebensstufe av gr. wol, 1. an oder ob, fr. Jahr, engl, unbest. Art. ein art fr. Kunst, engl, bist, d. schw. dän. Art at hebr. rx du Frau, 1. aber, engl, bei bag engl. Beutel, dän. Rücken bald engl, kal, d. bald bar hebr. 12 Getreide, engl. Schranke, schw. dän. trug bien fr. gut, schw. dän. die Biene bier engl. Bahre, dän. Bienen, d. Bier blanda 1. sp. (die) sanfte, schw. mischen blot engl. Flecken, dän. nur bo hebr. t3 in ihm, schw. dän. wohnen, poln. denn bog engl. Sumpf, dän. Buch, schw.

Archiv f. n. Spraclien. LVIII. 27

418 Sprachvergleichendes

Bug, d. (ich) bog, poln. russ. Gott bok schw. Buch, poln. russ. Seite (am Körper) boot engl. Stiefel, d. Boot bor hehr. -\12 Ci- sterne, schw. (ich) wohne, poln. russ. Forst boi'n engl, geboren, d. Born brama it. Sehnsucht, poln. das Tor brew engl, (ich) braue, poln. Augenbraue bribe fr, Fetzen, engl. Bestechung carni lat. dem Fleisch, hebr. ^:-)p_ mein Horu cena it. Abendessen, poln. Preis ci it. uns, fr. hier, poln. dir col it. mit dem, fr. Kragen come it. wie, sp. isst, engl, komm cur 1. warum, engl. Köter da it. von, sp. giebt, 1. gieb, port. von der, d. da, russ. ja

dais sp. port. (ihr) gebt, fr. Baldachin das 1. sp. port. giebst, d. das dal it. von dem, schw. dän. Tal, poln. Ferne dar sp. p. geben, d. dar, russ. poln. Gabe de gr. aber, sp. p. fr. von, schw. dän. sie plur. del it. von dem, schw. Teil delta gr. Name des Buchstaben, schw. Teil nehmen detta it. gesagte, schw. dies die lat. durch den Tag, engl. Würfel, d. die dies I. Tag, d. dies

din hebr. •j-'t Rechtssache, engl. Getöse, schw. dän. dein do 1. ich gebe, port. von dem, engl, tun, poln. russ. bis dock engl. Dock, schw. doch dog engl. Hund, schw. starb, dän. doch dom schw. Urteil, poln. Haus don fr. Geschenk, engl, ziehe an dona 1. schenke, port. Dame donna it. Dame, fr. (er) gab dos sp. zwei, port. von den, fr. Rücken dotier schw. Tochter, d. Eigelb drew poln. des Holzes, engl, zog dub engl, schlage zum Ritter, russ. Eiche egg engl. Ei, schw. Schneide si gr. wenn, eye engl. Auge, d. Ei elf engl. Elfe, d. Zalwort eile it. sie fem. plur. port. er, fr. sie fem. sing., d. Elle ev gr. in, schw. dän. ein end engl. Ende, dän. als nach Compar. ig gr. in, 1. fr. port. bist, span. ist? d. es far engl, fern, schw. Vater fara schwed. fahren, poln. Pfarre - fat fr. Geck, engl. Fett, schw. Fass, dän. gefasst feil dän. falsch, d. verkäuflich feile dän. feien, d. Feile feil engl. fiel, d. Haut ferme lat. fast, fr. Pachtgut fern engl. Farnkraut, d. entfernt fetter engl. Fessel, d. comp, von fett fiel fr. Galle, d. stürzte fines 1. Gränzen, poln. Feinheit fit 1. es wird, fr. (er) machte, engl, passend foi port. er war, fr. Treue fool engl. Narr, fr. foule Menge franges 1. du wirst brechen, fr, Fransen from engl, von, schw. dän. fromm fuit 1. er ist gewesen, fr. (ei*) flieht gale fr. Krätze, engl. Sturm gang engl. Bande, d. Weg

)'ßj> gr. denn, d. gut gekocht, russ. rapB brandiger Geruch ytj gr. Erde, engl, gay froh, d. imper. v. gelien geld engl, verschneide,

mit ZugrundeK'gung des 6. Gesanges der Frithiofssage. 41 U

d. Münzen gener 1. Schwiegersohn, gener beengen glas d. Glas, russ. r.ia3T> Auge ghit dän. Mädchen, d. Hitze gnat engl. Mücke, poln. Knochen go engl, gehe, poln. ihn graf schw. Grab, d. Titel ham engl. Schinken, dän. ihn, poln. Bauer ag gr. welche, 1. has diese, engl, hat, schw. Gelenk, dän. Narr hat engl. dän. Hut, schw. Hass, d. 3. pers. v. haben haut 1. nicht, fr. hoch, d. schlägt heder schw. Ehre, dän. (ich) heitze held dän. Heil, d. tapferer Mann hell engl. Hölle, schw. Heil !, d. Gegensatz von dunkel hem engl. Saum, schw. Heimat henne schw. sie eam, d. Huhn her engl, sie eam, d. hierher hier fr. gestern, d. an diesem Orte hole engl. Loch, d. imper. v. holen hon schw. sie nom. sing., ung. Vaterland cog gr. wie, lat. hos diese, schw. dän. bei I engl, ich, schw. ihr vos iL gehe, schw. in, dän. ihr vos, poln. russ. und ich d. ich, poln. russ. sie eos, eas iis 1. diesen dat. plur., dän. Eis im d. in dem, poln. russ. ihnen inter 1. zwischen, engl, beerdige is 1. dieser, engl, ist, schw. Eis (W gr. ihr wisst, 1. iste jener it 1. er geht, engl, es ja port. schon, schw. dän. d. ja, poln. russ. ich jam 1. schon, engl, eingekochtes Obst*) jeden d. acc. v. jeder, poln. einer jest engl, scherze, poln. ist xttf gr. = na) äv, d. Kahn kam schw. dän. Kamm, d. imperf v. kommen kind engl. Art, schw. dän. Backe, d. das Kind kom schw. dän. kam, russ. KOMI, welchem d. Kol, engl, coal Kole, hebr. b'ip Stimme künde schw. dän. konnte, d. der Käufer lad engl. Junge, poln. russ. Ordnung, dän. Bank lager schw. Lorbeer, d. das Lager las sp. Artikel fem. plur., fr. müde, d. (ich) las, poln. Wald lire it. Frankenstücke, fr. lesen list d. Schlau- heit, engl. Liste, poln. Brief lit fr. Bett, engl, erleuchtet lo it. sp. ihn, engl, sieh! lobo it. Lungenflügel, sp. port. Wolf log engl. Klotz, schw. lachte, d. imperf v. lügen ma, gr. fm bei (bei Schwüren), it. aber, fr. meine, poln. hat made engl, machte, d. Wurm main fr. Hand, engl, hauptsächlich make engl, mache, schw. Gegenstück men gr. fit'v zwar, engl. Männer, schw. dän. aber mera 1. sp. port. die unvermischte, schw. mehr mig schw. dän. mich, poln. Gebehrden mir d. dat. v. ich, poln. Friede moder schw. dän. Mutter, d. Verwesendes more engl, mehr, d. der

*) Bei meiner Lehrerpraxis in Englimd ist es mir allerdings, entgegen meiner oben ausgesprochenen Ansicht, vorgekommen, dass für das. 1. Wort schüchtern das gleichgeformte engl, genannt wurde.

27*

420 Sprachvergleichendes

Mohr, schw. mor Mutter mot fr. Wort, schw. gegen na port. in der, poln. russ. auf nam 1. denn, poln. russ. uns dat. nass d., nas poln. u, russ. uns acc. neige fr. Schnee, d. imper. v. neigen neve 1. damit nicht, it. Schnee nie fr. läugne, d. niemals, poln. nicht noga schw. genau, poln. russ. Fuss nos 1. uns, schw. Maul ob 1. wegen, d. Fragewort öl schw. Bier, d. das Oel onde it. woher, fr. Woge, schw. dän. böse plur. oro 1. ich bitte, it. sp. Gold, schw. Unruhe os 1. fr. Knochen, sp. euch pace it. Friede, engl. Schritt pain fr. Brot, engl. Schmerz par 1. gleich, it. es scheint, fr. durch, poln. Schwüle para 1. bereite, sp. für, fr. (er) schmückte, poln. Dampf parvi 1. des kleinen, it. ich schien pela port. durch die, fr. (er) schälte, schw. scharren pies fr. Elstern, engl. Pasteten, poln. Hund pion fr. Bauer (im Schachspiele), schw. Päonie por it. port. setzen, sp. durch, schw. Pore, poln. Pourre, russ. der Zeiten proper 1. eilig, engl, reinlich pur fr. rein, gr. tivq Feuer rabot fr. Hobel, russ. paöOTI) der Arbeiten rad schw. dän. Reihe, d. das Rad, poln. russ, gern rege 1. lenke, d. rührig reine fr. Königin, d. unbefleckte rife engl, angefüllt, d. der Reif rock engl, der Felsen, d. Kleidungsstück rum engl, d. Getränk, schw. dän. Raum sa it. (er) weiss, fr. seine sad engl, traurig, poln. russ. Garten sam schw. schwamm, poln. russ* selbst Sans fr. ohne, schw. Besinnung se 1. fr. sp. sich, it. wenn, schw. sehen sed 1. aber, sp. Durst, schw. Sitte sein fr. Busen, d. pron. poss. sembra it. er scheint, sp. er säet sent fr. (er) fült, engl, gesandt, schw. spät ser sp. sein inf., schw. sehe, poln, Käse sex engl. Geschlecht, schw. dän. sechs sin sp. ohne, schw. sein pron. poss. drö gr. deinem, port. so allein, engl. d. so ~ sole it. Sonne, fr. Seezunge, engl. Sohle oöv gr. deinen , son fr. Ton, engl. schw. Sohn, russ. COHTi Schlaf sou port. ich bin, fr. Sou soül fr. betrunken, engl, soul Seele speck engl, Punkt, d. fettes Schweinefleisch spur engl. Sporn, d. Fährte stark engl, starr, d. kräftig Stern engl, ernst, d. Gestirn style engl. Schreib- art, d, steil stock engl. Vorrat, d, Knüttel stole it, Kleider, engl, stal, dän. Stüle störe fr. Rouleau, engl. Vorrat, schw. dän. grosse sul it. auf dem, port. Süden sus sp. seine plur., fr. auf, schw. Geräusch tack engl. Geitau, schw. Dank, poln. tak, russ. TcIKTj so tag schw. dän. nimm, d. der Tag tak schw. Dach, poln. so täle 1. solches, engl. Ei-zälung tarn 1. so, poln, russ. dort

mit Zugrundelegung des 6. Gesanges der Frithiofssage. 421

tan sp. so, engl. Gerberlohe tola 1. Geschosse, it. sie dir tego 1. ich bedecke, schw. schwiegen, poln. dessen ten engl, zehn, poln. dieser tio sp. port. Oheim, schw. zehn to gr. tö, poln. riiss. TD dieses, engl, zu ton fr. dein, d. Klang - tot 1, soviele, russ. TüTGb dieser toi gr. fürwahr, engl, toy Spielzeug torn engl, zerrissen, schw. Thurm, dän. Dorn trop fr. zu viel, poln. Fährte

trost d. Zuspräche, russ. TpoCTh Rohr rov gr. des, lat. tu du, poln. hier, russ. 'ry diese acc. sing. fem. ty schw. denn, poln. du

ov gr. nicht, fr. ou oder, poln. russ. bei vae lat. wehe!, port. er geht vera lat. die wahre, sp. verä er wird sehen vi it. euch, sp. vi ich sah, schw. wir via 1. der Weg, sp. ich sah vide it. er sah, fr. leer, schw. Weidenbaum wand engl. Zauberstab, d. die Wand was engl, war, d. Fragewort, poln. russ. euch acc. Avot engl, (ich) weiss, russ. botT. siehe da!

33. svara antworten, dän. svare, engl, to answer. Die beiden nordischen Sprachen drücken also denselben Begriff mit dem einfachen Wort aus, für welchen d. und engl, das Compositum anwenden. Dies ist in verwandten Sprachen eine nicht seltene Erscheinung. So ist schw. böra d. gebüren, empfangen, lofva geloben, nöje d. Ver- gnügen, ständigt beständig; d. rühmen schw. berömma, engl, wither d. verwittern. Die grössere Neigung für den Gebrauch des zusam- mengesetzten Wortes ist in unserer Sprache vorhanden. Vgl. ferner it. pentirsi mit fr. se repentir; im Sp. und Port, haben wir sogar ein Bicompositum arrepentirse und arrepender-se. Besonders interessant ist der Vergleich zwischen der engl, und fr. Sprache; in jener finden wir gewöhnlich das Comp., in dieser das Simplex des lat. Zeitwortes. z. B. fr. nier engl, to deny, fr. se plaindre engl, to com piain, fr. paraitre engl, to appear, fr. priver engl, to deprive, fr. broder engl, to embroider, fr. orner engl, to adorn. Selten ist das fr. Verbum länger, z. ß. to perceive fr. apercevoir, to register fr. enregistrer.

Ganz besonders lehrreich ist in dieser Beziehung der Vergleich zwischen poln. und russ. Sprache ; in der ersteren finden sich noch viele verba simplicia, die im Russ. nur in Zusammensetzungen vor- kommen, z. B. :

p. kusic sie versuchen r. nur nOKyCHTLCa.

p. ja6, imac fassen r. nur nOHHTB, npHHHTL, nOAHflTB; HaHÄTL u. s.w.

p. reczyc bürgen r. zwar py^iHTtca, aber im act. nur nopy^lHTL.

p. roni(5 fallen lassen r. ypoHHTL.

422 Sprachvergleichendes

p. sciga6 nachjagen r. nur ji,0CTHraTl> einholen, p. wiewac wehen r. paSB'BBaTL.

p. kazac befeien r. npHKasaTB; das simpl. KasaTL kommt in Prosa nur mit reflex. vor. Doch findet sich auch die umgekehrte Erscheinung, zumal bei Hauptwörtei'n, z. B.:

r. BiiKa Augenlid, p. powieka r. KpMJIO Flügel, p. skrzydio r. yqHTe.lL Lehrer, p. nauczyciel. Bisweilen haben wir von einander verschiedene Composita in der- selben Bedeutung, z. B. engl, to confute fr. refuter, neben den weniger gebräuchlichen confuter und to refute. Dies belegen wieder besonders häufig deutsche und schw. Beispiele: förläta erlassen (verzeihen), till- bedja anbeten, fördraga ertragen (vertragen nur in gewissen Ver- bindungen), förtälja erzälen (verzälen noch vom Volke gebraucht), förvärfva er werben, förströ zerstreuen, afrätta hinrichten, för- trycka unterdrücken, (vgl. damit engl, to und er stand und d. ver- stehen), bespara ersparen, förbarma sig sich erbarmen, tillkämpa erkämpfen ; ebenso russ. HaiaXL anfangen, poln. gew. pocziic.

36. ej nicht = icke. Auch dän. ei und ikke. Es lässt sich kaum aus verschiedener Anwendung ein Unterschied der beiden Wörter beweisen; die zweite Form ist entschieden seltener und deshalb viel- leicht etwas poetischer. Diese doppelte Form für die Verneinungs- partikel ist etwas beiden Sprachen eigentümliches. Im Gr. haben wir zwar ov und fi^, aber so, dass für ihren verschiedenen Gebrauch be- stimmte Normen vorhanden ; das hebr. iih und bi<, lat. non und ne sind ausserdem noch wurzelhaft verwandt. Die Ausdrücke pas und point im Franz. endlich können nicht als Analogien angeführt werden, da sie ja selbst gar keinen verneinenden Sinn, sondern nur die Maassbe- stimmung desselben enthalten.

38. i sin in die seine. Die schw. und dän. Sprache kennt keinen formellen Unterschied zwischen absolutem und verbundenem pron, possess. Der Artikel wird demselben nie vorgesetzt. Ebenso ist es in den Sprachen, welche den Art. überhaupt nicht besitzen, im Lat., Poln. und Russ. Auch im Gr. unterscheiden sich beide Arten nicht, denn der Art. kann in bestimmten Fällen zu beiden treten. Im Hebr., wo der Besitzer vei'mittelst an das besessene Object angefügter Suffixe bezeichnet wird, ist eine alleinige Bezeichnung des ersteren ganz un-

mit Zugrundelegung des 6. Gesanges der Frithiofssage. 423

denkbar, weil ja kein Wort da wäre, an welches sich das Suffix an- lehnen könnte. Um noch einmal auf unseren 'germanischen Sprach' stamm zurückzukommen, so hat das Engl, das mit Schw. und Dan. gemein, dass es dem absol. Fürwort nie den Art. vorsetzen kann, aber die Formen beider Classcn im Engl, sind mit Ausnahme des zu beiden gehörigen his verschieden. Im Deutschen kann es bekanntlich ebenso sein, nur dass unsere Declinationsweise in mehr Fällen gleiche Formen für beide Arten geschaffen hat. Ausserdem haben wir aber auch die Möglichkeit, Wörter mit ebenfalls eigener Form mit dem Artikel zu gebrauchen. Dies leitet uns auf die romanischen Sprachen über. In zweien derselben, nämlich im Franz. und Span., ist es ganz wie bei uns. Man sagt franz. ton pere, sp. tu padre, aber ohne Hauptwort le tien, el tuyo. Im It. und Port, hingegen haben beide Arten die- selbe Form, nur dass vor den ohne Hauptwort gebrauchten der Art, stehen muss, welcher indessen im It. auch häufig schon bei der an- deren Classe angewandt wird.

40. min själs meiner Seele, gen. Wie im Engl, ist im Schw. der auf s ausgehende Genitiv der einzige Rest einer wirklichen Decli- nation; während er aber im Engl, nur bei gewissen Snbst. statthaft ist, wird er hier ununterschiedlich mit grosser Vorliebe verwandt. Dasselbe ist in der engl. Poesie erlaubt. Daneben finden sich im Schw. noch Spuren einer Beugung, z. B. heisst es in Tegner's Frids- röster: Gudi ära, d. h. Gotte (sei) Ehre; ferner sagt man i andanom (alter abl. plur.) im Geiste.

42. de kränkt sie haben gekränkt. Die Freiheit, welche wir im Deutschen haben, in Relativsätzen die Hilfszeitwörter haben und sein auszulassen und uns mit dem blossen Participium des eigent- lichen Zeitwortes zu begnügen, ist im Schw. insofern ausgebreiteter, als die Auslassung von Formen von hafva nicht nur auf Relativsätze beschränkt ist. Dagegen müssen aber die Formen von vara stets ge- setzt werden. Mit dem Engl, hat das Schw. die Kürze gemein, dass das relative Object ganz ausgelassen werden kann. Beide genannten Kürzungen können sich in demselben Satze finden, z. B. Frith. VII, Nr, 23 Här ställer jag inför ditt öga | det skön aste [hvad] du [har] sett i Nord. Wie im Engl, kann in Relativsätzen, welche von Präpos. abhängen, das Relat. erst dann ausgelassen werden, wenn die Präpos. an das Ende gestellt worden ist.

48. försvanu Imperf. von forsvinna verschwinden. Die Verbin-

424 Spracbvergleichendes

düng von d mit vorausgehendem l oder n neigt in den germanischen Sprachen sehr zur Assimilation, sei es der Orthographie oder nur der Aussprache. Am ausnahmslosesten verfährt vielleicht das Dan., in- dem eine Assimilation in der Aussprache, eine Dissimilation hingegen in der sichtbaren Gestalt des Wortes vorhanden ist, z. B. brande brennen, falde fallen. Im Schw. verfährt man mannigfaltiger. Die assimilirte Aussprache im Innern des Wortes zieht eine entsprechende Schreibung nach sich, z. B. finna iinden, gille Gilde. Am Ende hin- gegen wird d dem n nur in der Aussprache gleich, z. B, stund (spr. stunn) Augenblick. Jene Assimilation im Innern ist aber nicht conse* quent durchgeführt, man vergl. z. B. binda binden mit finna. Im Deutschen stimmt Schrift und Aussprache stets zusammen, z.B. finden, brennen. Eben so unconsequent verfährt das Schw. mit der Muta t hinter s. So reimt lyssna lauschen mit tystna schweigen, von denen also das erstere in Aussprache und Bedeutung, das zweite in Aus- sprache und Schreibweise mit dem engl, to listen übereinstimmt.

Ehe wir von unserem Capitel Abschied nehmen, wollen wir an obiges Wort noch einige Beispiele starker Zeitwöiter in den von uns behandelten germanischen Sprachen anfügen. Das Dan. können wir, wie wir es schon oft schweigend getan, bei Seite lassen, da es mit dem Schw. Hand in Hand geht. Betrachten wir zuerst die betreffenden Sprachen im Einzelnen.

In derselben Sprache, besonders in verschiedenen Perioden, findet sich oft dasselbe Zeitwort stark und schwach conjugirt. Unverkenn- bar ist eine Neigung der fortschreitenden Zeit früher starke Verba als schwache zu behandeln, indem das Bewusstsein der historischen Ent- wickelung mehr und mehr schwindet und die Analogie der Mehrzal den Ausschlag giebt. Aus dem Engl, führe ich an to help, helped, helped, früher holp, holpen shape, shaped, shaped, frühershope, shapen snow, snowed, snowed früher snew, snown u. a. Aus dem Schwed. z. B. simma, sara , summit und simmade, simmat nypa kneipen, nöp, nypit und nypte, nypt smyga schleichen, smög, smugit und smygde, smygt. Im Deutschen sind derartige jetzt schwache Verben noch zalreicher. Unter den zehn Classen starker Zeitwörter, wie sie für das Mhd. noch bestehen, ist nur eine, welche später kein Wort an die schwache Conjugation abgegeben hat. Aus den übrigen neun Classen will ich nur je ein Beispiel anführen: 1) bellen, bille bal gebollen, 2) zemen zam gezomen, 3) jeten (jäten) jite jat gejeten, 4) schaben

mit Zugrundelegung des 6. Gesanges der Frithiofssage. 425

scliuop geschahen, 5) rihcn (reihen) rech gerigen, C) hriuwen (brauen) brou gebriuwen, 7) bannen bien gebannen, 8) sweifen (schAveifen) swief gesweifen, 9) schroten (schneiden) schriet geschroten, bei dem allerdings heutzutage wol nur das Imperf. schwach gebildet wird. Das umgekehrte, dass ein von Hause aus schwaches Zeitwort durch die Minorität der Analogien zum starken geworden ist, findet sich un- gleich seltener. Ich führe als Beispiel an preisen und dingen, welche noch in Luthcr's Bibelübersetzung schwach gebraucht werden, während jetzt die starken Formen die einzig gültigen sind. Minder stärkere Beweiskraft hat fragen, dessen frug jetzt schon wieder dem richtigen fragte zu weichen scheint; die starke Form ist jedenfalls nach dem nur durch den ersten Buchstaben verschiedenen trug ge- bildet worden. Mehrere deutsche Zeitwörter lassen noch beide For- mationen zu, z. B. weben, triefen, saugen, sieden, schallen u. a. ; hier lässt der Gang der Sprache die Vermutung nicht ungerechtfertigt er- scheinen, dass in dem Ringen beider Formationen miteinander schliess- lich die jetzt vielleicht noch weniger gebräuchliche schwache als Sie- gerin hervorgehen wird. Mitunter unterscheiden sich beide Con- jugationsarten durch den Sinn, z. B. in bewegen, oder die starke findet sich nur noch im poetischen Ausdruck, wie bei pflegen und rächen. Nicht selten ist es bei dieser Sinnesverschiedenheit so, dass das intransitive Zeitwort stark, das causative oder transitive hin- gegen schwach conjugirt wird, so dass wir es also eigentlich mit zwei verschiedenen Verben zu tun haben, z. B. im D. schwellen, erschrecken, auslöschen und erlöschen, im Schw. smälla knallen, small smullit; in der Bedeutung abfeuern smällde smälll. Wenn im Engl, und Schw. einige anscheinende Composita starker Zeitwörter schwach gehen, so zeigt uns die Vergleichung des Deutschen, dass wir es auch hier mit anderen Stämmen zu tun haben, z. B. schw. fara fahren for farit, aber befara befürchten befarade befarat (vgl. d. Gefahr, engl, to fear), engl. to come came come, aber to welcome welcomed (vgl. d. bewillkommnen). Endlich kommt es auch vor, dass die Neuerung in der Conju- gationsweise sich nur auf einen Teil des Verbums beschränkt hat, so dass also hartes und schwaches sich gegenseitig ergänzt. So haben sich im Deutschen starke Participia bei manchen im übrigen jetzt schwachen Zeitwörtern erhalten, z. B. bei mahlen, salzen, spal- ten; im Engl, die Nebenform bei to show und to sow; im Schw. ist es schwierig, ganz fest fixirte Beispiele derartiger Mischungen anzu-

426 Sprachvergleichendes etc.

führen, es kommt aber vor (wie ja auch das eben angeführte salzen und spalten nicht mehr ganz zweifellos conjugirt wird), dass ausser vollständig schwachem Charakter sich noch eine starke Nebenform findet, z. B. heta heissen, hette hetat hat im Imperf. auch het, oder umgekehrt das starke qvida winseln, qved qvidit hat im Imperf. auch qvidde.

Die Vergleichung ursprünglich starker Stämme, welche sich in allen drei Sprachen finden, ergiebt folgende Verschiedenheiten :

1) Alle drei Verben sind stark geblieben, z. B.

Engl, to sing sang sung; schw. sjunga sjöng sjungit; d. singen to drive drove driven ; drifva dref drif'vit; d. treiben.

2) Die starke Formation ist nirgends mehr vorhanden, z. B.

Mhd. nagen nuoc genagen ergiebt Engl, to gnaw, Schw. gnaga, nhd. nagen. Mhd. niesen niuse nos genorn ergiebt. Engl, to sneeze, Schw. nysa, nhd. niesen.

3) Die starke Form findet sich nur noch in zwei Sprachen, z. B.

Schw. Ijuga, Ijög, Ijugit, deutschlügen; Engl, to lie lied lied. Engl, to begin, began, begun, deutsch beginnen; Schw. be- gynna, begynde, begynt. Ein Beispiel, bei dem Engl, und Schw. in Bezug auf starke For- mation Hand in Hand gehen, habe ich nicht auffinden können. Einiger- maassen lässt sich hierher rechnen :

Engl, to spread spread spread ; Schw. sprida, spred od. spridde, spridt ; deutsch spreitzen.

4) Die starke Form ist nur noch in einer Sprache vorhanden:

a. Schw. slippa slapp sluppit; d. schlüpfen, engl, to slip.

b. Deutsch fliehen floh geflohen; schw. fly flydde flytt; engl, to flee fled fled.

Für eine nur im Engl, erhaltene starke Formation dürfte sich kaum ein Beispiel finden lassen. Auch der Fall a. ist selten.

Berlin. W. Körner.

Metrische Uebersetzungen.

I. Der Durchgang durch das Rothe Meer*). (Reginald Heber.)

Ermattet von des weiten Wegs Beschwer Und von der Schwüle, brütend rings umher, Lagern an Et ha ms sand'gem Meergestade Die Scharen Israels, des Volks der Gnade. Still, Alles still den Wüstensaum entlang! 5

Es tönt nur schwach der Grille Zirpgesang, Und in das leise Flüstern träger Wellen ISIischt sich der Klang von der Kamele Schellen. Still, Alles still! Die Herden ruh'n zerstreut, Wo die Akacie kühlen Schatten beut, 10

Und wo empor die feuchten Dünste steigen. Die fernem Blick als See die Wüste zeigen; Indess der Hirte, sorglos hingestreckt. In seinem Geiste stolzfr Träume weckt

Von seinem hohen Stamm, von künft'gem Glück ]5

Und seiner Kinder iilänzendem Geschick.

") Das Rothe Meer (Jam-Suph = „Schilfnieer", 2. Mose 13, 18.) =: der arabische Meerbusen. Es soll von Edom, „dem Rothen", den Namen bekommen haben.

3. Etham (2. M. 13, 20) (die Septuaginta übersetzen: Othom = Grenze des Meeres) hegt nordwestlich von Suez, an der Karavanen- strasse nach Arabien, am Rande der Wüste Etham oder Sur.

8. Schellen der Kamele. „Wenn die Kamele beladen sind, so gehen sie eines hinter dem anderen und werden immer sieben mit einer Schnur von Wolle, die an den Sattel des vorausgehenden gebunden wird, an einander gehangt .... Das letzte hat eine Schelle oder Glocke am Hals, damit der Knecht, welcher das erste an einer eben solchen Schnur führt, höre, dass die übrigen folgen."

(Jahn, Biblische Archäologie.)

428 Metrische Uebersetzungen.

Denn traun! nicht fruchtlos ist das Wort verhallt, Das Wort der Söhne Amrams von Gewalt

18. Amram (2. M. G, 20. Kahath's Sohn, Levi's Enkel) ~ der Vater Aaron's und Mose's. „Ammiramis ein edler Hebreer | als er sorg hett für das gantz Hebreisch volek | damit es nit auss mangel vnnd abneninien der jugent zu grund gienge | der war betrübt | das sein hauß- fraw onuersehenlich entfangen halt | vnnd schwanger war | hat sich nach vilen gedancken in ein gebett zu Gott geben | vnd begert | er wolt sich doch zuletzt der menschen erbarmen | die jm allein für vnd für dieneten | vnd das er jnen freyheit gebe | vnd erledigung des lasts | in dem sie zur selben zeyt waren. Nun Gott hat sich sein erbarmet | sein gebett erhört | vnnd ist jm im schlaff' erschinen | jn ermant | er wolt in zukunßt guter hoffnung sein | dann er wer eingedenck sein vnd seins weibs Gottsforcht | vnd würdiger ehrerbietung | vnnd darumb so wolt er jnen widergeltung thun .... Da nun Ammiramis diß gesiebt gehapt | erwachet er | vnd hat Jochobel*) seim weib solchs anzej'gt ) vnnd seind in grosse forcht gefallen | als sie von disem gesiebt geredt haben | dann sie nit allein forcht trugen vom kind das jhnen solt geboren werden | sondern von wegen der grosse des zukünff'tigen

glucks I das sie es nit verschütteten Dem kind aber ist der namm

Mose auß'gesetzt von der geschieht | darumb das er vom wasser ist behalten wor<len | dann die Egyptischen heyssen Moy | wasser | vnnd Esis j gehol- ll'en I oder behalten | also haben sie jm auß den zweyen ein nammen zu- sammen gesetzt I vnd jn Moses | das ist | auf] dem wasser geholfi'en | ge- nant. Welcher Moses nachmals on widersprechen i der aller weysest der Hebreer worden ist | wie dann Gott zuuor gesagt hat. Vnd ist Moses der sybend nach dem Abraham gewesen ] dann er was Ammarame son | welches vatter was Caath **) | welcher von Leui geborn ist | Leui von Jacob | welcher von Tsaac was | dem son Abraham. Er was einer solchen weißheyt | die sein alter vnd maß gar vbertraff" | die bewiß er auch in seiner jugent | vnnd es was sein | als eines jungen | handlung | wichtiger vnd dapfferer | dann nianchs erwachßnen manns. Als er drey jar alt worden | hatt Gott jm wun- derbarliche gnad verlyhen | dann souiel die hüpsche vnnd schöne des leibs betraff" | was niemant so ernsthafft | wann er Mosen anschawete | das er sich nit an seiner hüpsche vergaffet | vnnd vil so sie sahen | das man jn vber die gassen trug | haben sie jr Übung vnderlassen | vnd das kind angeschawet | dann er ein besondere kindtliche gnad vnd augenweyd hett | damit die an- schawenden erlustigt wurden. Nun ein solchs kind hatt Therm ut des Kö- nigs tochter jr an kindts statt angenommen ] dieweil sie sonst kein Ehlich kind hett."

(Flavius Josephus, Zwentzig Bücher von den alten geschichten der Juden ***J. Blatt xxxj u. xxxij.)

*) 2. M. 6, 20. heisst sie Jochebed. **) 2. M. 6, 16: Kahath. ***) Der vollständige Titel meiner Ausg.ibe der Werke Josephi ist (nebenbei be- merkt): „Flauij Joseplii Des Hocliberüenipten Histori beschreibers alle Büclier.

Metrische Uebcrsetzungen. 429

Und Macht, verkündet in der bangsten Stunde

Der Sklaverei, die hehre P'reudenkimde! 20

Noch nicht geschwächt der Elirfurcht AVirkungskraft,

Die sich der furchtbar mächt'ge Stab verschafft,

Auf dessen Wink Hcuschrecken-Riesenscharen

Aus fernem Luftkreis liergefluthet waren,

Und der Reptile zwang, mit grauser Macht 25

Zu tilgen der ägypt'schen Götter Pracht.

Ohnmächt'ge Götter! die ihr nicht im Stande, Vor Feuerfluth zu schützen Zoans Lande! Ohnmächt'ge Gölter! die ihr saht, dass Blut Den Lotos ftirbt' in eures Stromes Fluth, 30

Und dass vierfache Nacht die Erd' bezwang, Dieweii vergebens Memnons Säule klang!

So sinnt die Schar, bis mild der Abend lächelt. Der kühle Westwind ihre Schläfe fächelt, Und jene Säule, die den ganzen Tag 35

Ein schwarz Gewölk auf ihrem Wege lag, (Bei Tage Wolke, Flammensäul' bei Nacht) Den Schleier hebt und sanft ihr Licht entfacht.

28. Zoan (4. M. 13, 23) = Tanis^ jetzt Samnah oder San, südwest- lich von Tyneh in Unter-Aegypten an einem kleinen Arme des Nil, war die Residenzstadt der Könige von der Tanitischen Dynastie und der beson- dere Schauplatz der Wunder Mose's (Ps. 78, 12. Jes. 19, 11. 30, 4. Hes. 13, 14). Unter Zoan wird manchmal ganz Aegypten verstanden.

30. Eures Stromes. Der Nil war der Sitz einiger ägyptischer Gottheiten.

32. Memnons, Säule eine kolossale Steinfigur in sitzender Stel- lung am linken Nilufer, in der Nähe Thebens, die beim Aufgang der Sonne einen klingenden Ton von sich gab. Memnon, ein Sohn des Tithonus und der Aurora, war König in Aethiopien.

Nämlich zwentzig von den alten geseliichten der Juden. Syben vom .Jüdischen krieg | vnd Zerstörung Hierusalem. Zwey wider Appionem Grammaticum vom Alten Herkommen der Juden. Eins von Meysterschalft der vernuntft vnnd der Machabeer Martyrung. Item Beschreibung des lebens Flaiiij Josephi | so vormals in Teütscher Spraach nicht außgangen ist. Alles durch D. Caspar Hedion verteiitscht. Vnnd jetzundt Von neüwem aufts fleyssigst nach den Alten Griechischen Exemplaren re- stituiert I vnd an vilen orten trefi'lich gebessert vnd gemehret. Mit Rom. Kay. Mayestat freyheyt auff zehen Jar. Gedruckt zu Strassburg. M. D. LVI.

Die Widmung, überschrieben: „Den Strengen | Ehrnuesten | Fürsiclitigen vnd weisen Herrn 1 dem Meyster vnd Raht | vnnd den Eyn vnnd zwentzigern | der Frey- statt Straßburg" ist „geben zu Straßburg den xv. May. Anno M.D.XXXV."

430 Metrische Uebersetzungen.

Es lächelt mild der Abend ; doch bevor Der Tag geschieden, tauchen fern empor 40

Am rothen Horizont, vom flachen Strahl Der Sonne kaum gestreift, mit einem Mal Stolz Aveh'nde Banner, und in weitem Bogen Erheben sich des Sandes dunk'Ie Wogen.

„Auf, Israel, giebAcht!" Vor Schreck erstarrt, 45 In bangem Schweigen alles Volk verharrt und stieren Blicks auf die Erscheinung schaut; Bis mählich ein Gemurmel dumpf wird laut, Und Weiberstimmen schreien angstbeklommen: „Sie kommen! sie kommen!'' 50

Sie kommen! Seht, im Abendsonnenglanze Glüht durch der Wüste Dunkel Lanz' an Lanze; Staubwolken bilden wechselnde Gestalten, Je wie die Reihen wechselnd sich entfalten; Und die erregte Phantasie gewahrt 55

Die wilden Racen, die sich dort geschart; Denn mancher schwarze Stamm, aus Rohr den Speer, Die Söldnergarde Mizraims, kommt daher: Vom fernen C u s c h die krieggeObte Schar, Von Sin ah s grüner Insel, von Sennaar, 60

58. Mizraim (1. M. 10, 6. 13. 14.) = Aegypten, wegen der ver- meintlichen Abstaimnung der Aegypter von dem Sohne Ham's so genannt. „Aber die kinder Cham haben von der prouintz Siria an | Vnnd von den bergen Aman vnd Libano | alles land eingenommen | auch das so am Mör gelegen ist | vnnd gegem grossen Mör | vnd haben besondere nammen ge- macht I deren etlich gar vergangen | etlich verändert vnd also gefälschet | das sie vnbekant seind worden .... Es haben auch die Mesreer nach alter gedächtnuß jre benamsung behalten [ dann Egyptum nennen wir Mesren*) | vnd die Mesreer nennen wir Egyp tische | so vil vnser in den selben landen vvonen."

(Flavius Josephus a. a. 0., Blatt viij.)

59. Cusch (1. M. 10, 7) „ein mächtiges Reich in Afrika, sonst Habessynien oder Aethiopien, gestiftet von den Cuschiten, den Nach- kommen Cham's, welches gemeiniglich mit dem Reiche Cusch in Arabien einen gemeinschaftlichen König hatte, oder doch in Verbindung stand."

(Jahn, a. a. 0.) Luther schreibt Chus. Diese Verschiedenheit der Schreibweise beruht einmal auf dem Umstände, dass im Hebräischen die Konsonanten Beth, Gimel, Daleth, Kaph, Pe und Taw nach Vokalen weich, nach Konsonanten

*) Dieser griechische Name deutet auf Mizraim hin

Metrische Uebersetzungen. 431

Auf beiden Flügeln selin'ge Kriegsgenossen! Die Söhne Amalek's auf f'eur'gen Rossen; Dahinter, in des Nilpferds Haut gehüllt, Schangallas, menschenblutgenährt und wild!

Seht ihr die Wagen nah'n im Flug, im wilden, 65

Umringt von blanken Helmen, gold'nen Schilden? Das sind die Herr'n von Afrikas Geschick, Mit stolz erhob'nem Haupt und trotz'gem Blick, Die ausgeströmt als Krieges-Matadore Die Ammonsstadt durch alle hundert Tliore, 70

Die Mutter von Armeen !

Seht, wie glüh'n Smaragde dort, wo Pharao, stolz und kühn. Vom Vorgefühl des Siegs geschwellt die Brust, Einherziehl, glüh vor wilder Rachelust !

aber hart ausgesprochen werden (letztere Aussprache ist die ursprüngliche und wird durch einen in den Buchstaben gesetzten Punkt Dagesch lene

bezeichnet); dann aber auf der häufig statthabenden Verwechselung des Lautes von Sin und Seh in, welche beiden Buchstaben ursprünglich ein und dasselbe Zeichen, sich in der punktirten Schrift nur durch die Stellung des diakritischen Punktes unterscheiden. Der in Rede stehende Name wird nun bald Kusch, bald Chus(ch) geschrieben und gelesen.

CO. Sinah's grüne Insel etwa die nach dem Berge genannte Halbinsel Sinai? Ueber Sinah habe ich in vielen einschlägigen Wer- ken vergebens nach Auskunft gesucht. (Sinai heisst übrigens auch im Eng- lischen Sinai, nicht: Sinah I)

60. Sennaar ehemaliges Königreich in Nubien.

62. Die Söhne Amalek's (1. M. 14, 7). Die Amalekiter waren ein arabisches Räubervolk zwischen Kanaan und Aegypten (4. M. 24, 20). „Einwoner der örter Goboth vnd Petre | welche man die Amalechiter nennet | die zur selbigen zeyt die aller streytbarsten vnder den selben völ- ckern waren." (Josephus, a. a. 0., Blatt xlj.)

64. Schangallas. „In den dichten Waldungen zwischen den abyssinischen Stufenländern und den Sandebenen, besonders im nord- westlichen waldigen Tief- und Sumpf lande, hausen die rohen Schangallas oder Schongollos, Halbwilde von dunkelschwarzer Hautfarbe und mit krausem Negerhaar, jedoch in manchen Stücken von den eigentlichen Negern verschieden." (Ungewitter, Erdbeschreibung.)

65. Wagen. „Streitwagen, auf denen in alten Zeiten angesehene Krieger in die Schlacht fuhren." (Dinter, Schullehrer-Bibel.)

70. Ammonsstadt (nach ihrer Schutzgottheit Ammon so genannt)

das ägyptische Theben, das hundert Thore hatte, aus deren jedem 200 Mann mit Ross und Wagen auszogen.

432 Metrische Uebersetzungen.

Und hinterher, in weisser Stola, hasten 75

Die braunen Magier mit Osiris' Kasten. In der Trompete Schmettern rasselt dumpf Das priesterliche Sistrum.

„Sieg! Triumph!" Warum dies Kriegsgeschrei, so laut, so wild, Das markerschütternd durch die Wüste brüllt? 80

Wem gilt der Krieg, ihr Krieger, wem? Wohl gar Hier diesen Herden, dieser schwachen Schar, Die von der Geissei wund, kaum frei von Ketten? O Gott der Armen ! wollest sie erretten,

75. Stola das Gewand der ägyptischen Priester (Magier) .^ „Immer glänzten ihre leinerne Kleider von Reinlichkeit und Weisse. DIess war ihnen eine heilige Farbe." (Hess, Geschichte Moses. 1777.)

76. Osiris' Kasten. Osiris war eine Naturgottheit, jünger als der uralte Amnion (Araun), aber nachmals der oberste Gott Aegyptens. Sein böser Bruder Typhon nahm ihn einst gefangen, verschloss ihn in einen Kasten und warf diesen in den Nil. Der Kasten schwamm durch eine der Nilmündungen über das Meer nach Byblus in Phönizien, trieb auf die Zweige eines jungen Baumes der Küste und verwuchs mit dem Stamme. Der König des Landes Hess später aus dem letzteren einen Pfeiler für seinen Palast hauen. Isis, die trauernde Gattin des Osiris, entdeckte end- lirh die Stätte, wo die Hülle ihres Gatten ruhte, eilte nach Phönizien und setzte sich in den Besitz der Säule, aus der sie den Kasten herausschneiden Hess. Letzterer wurde heilig gehalten. (Nach: Minckwitz, Mythologie.)

„Die Priester zogen dann" (bei dem Feste, das dem Wiederfinden des Osiris gewidmet war) „an das Ufer des Meeres und gössen daselbst in ein goldenes Kästchen, das sie in der heiligen Kiste dahin trugen, trink- bares Wasser, wobei die Anwesenden mit lauter Stimme riefen: Osiris ist wiedergefunden! Nun nahmen sie fruchtbare Erde, kneteten sie mit jenem Wasser und allerlei Specereien zusammen und machten aus diesem Teige eine kleine mondähnliche Figur, welche sie dann schmückten und ausputzten .... Auf den ältesten Abbildungen .... hält er in der einen Hand die Lotos-Blume, das Symbol der Sonne und der befruchtenden Kraft des Nil." (Funke, Real-Schullexikon.)

78. Sistrum „ein altes Instrument der Aegypter. Es war wie ein Balhietz gemacht, unten mit einem Handgriff. Das oberste Stück zeigte einen Kranz in eiförmiger Gestalt, bisweilen mit Ringen versehen, aber meistentheils mit wunderlich geschnäbelten Spindeln durchstochen, die, wenn das Sistrum geschüttelt wurde, hin und her schiessen konnten .... Die Aegypter glaubten, dass sie mit dem Gerassel dieses Instruments (weiter sind dessen Klänge Nichts) den bösen Geist Typho vertreiben konnten. Im Ki'iege bedienten sie sich desselben auch zur Ermuthigung der Soldaten." (Bernsdorf, Universal-Lexikon der Tonkunst.)

Metrische Uebersetzungen. 433

Die arm und frenndlos! Du, der Freiheit Gott! 85

O hilf den Sklaven in der bangen Noth! Von Nord und Süd und West kein Ausweg frei! Stürmt wild heran Aegyptens Reiterei!

Und weinend drängt die Schar sich an den Strand: Für sie der Erde letzter, letzter Rand ! 90

Und vorwärts rückt die Säule, massig schwer. „So müssen wir hinein in's tiefe Meer?!" Im Seeschaum stehen schnaubend die Kamele ; Noch nässt den Huf nicht die verhasste Welle.

Erkommtl ihr Führer kommt! Gewaltig, hehr 95 Schwingt er den Älachtstab über's weite Meer Und schreitet vor! Es weichen scheu die Wogen Vor seinem heil'gen Fuss in weiten Bogen, Hohl rauschend, und die Brandung, fortgescheucht Und innen tosend, tief, tief unten zeigt 100

Gleichwie in einem Riesenzauberspiegel Den harten Kiessand und Korallenhügel.

Mit schwankem Schritt, bedrückt von Schreckenswucht, Geh'n abwärts sie in eine jähe Schlucht! Und um sie her, chaotisch wild gesellt, 105

Ragt Fels an Fels Geheimnisse der Welt! Und üppig blüh'nde Blumen seh'n sie dort Und Höhlen tief, des Seehunds Zufluchtsort.

87. Kein Ausweg frei! „Als nun die Egyptier die Hebreer er- langet I vnnd ereylt | haben sie sich zum streit gerüst | vnnd als sie mit grosser macht auff sie getrungen | haben sy sie auff eim kleinen platz ein- gethon. Dann sybenhundert wägen jagten jhnen nach [ vnd fünfftzig tausent reysige | auch zweymal hundert tausent schützen zu fuß. Haben die weg dadurch sie vermeinten das die Hebreer fliehen wür- den I beschlossen vnd eingenommen | vnnd zwischen den vnwegsamen felsen vnnd dem mör sie eingethon | da dann der berg von reühe der weg sich endet | haben jhnen zuflieben gar entwört | dann von dem mör gestad vnd des bergs krümme | haben sie die Hebreer mit gewapneten belagert | allen außgang auff das weit veldt zufliehen | jhnen abkürtzt. Also s'eind die Hebreer gleichsam im sack wesen | vnnd als sie verarmet an notwendigen dingen | kein belägerung erdulden mochten | kondten auch nit daruon fliehen | vnnd waren mit wehr vngerüst | ja wa sie schon gewölt streitten | so ließ es sich ansehen | als ob jnen alle hoff"nung entnommen | wa sie sich nit selbs schantlich in willen der Egyptier ergeben."

(Josephus, a. a. 0., Blatt xxxvij.) 108. Höhlen, des Seehunds Zufluchtsort. Man findet hin und wieder Höhlen mit engem Eingang, die sich vom Meere unter die

Archiv f. n. Sprachen. LVIIl. 28

434 Metrische Uebersetzungen.

Sie schreiten abwärts auf dem schmalen Pfade,

Begrenzt von Wassermauernj steil und grade. HO

Und hinter ihnen sinkt der Tag zumal;

Auf E dorn 's Hügeln stirbt sein letzter Strahl.

Doch nicht für Israel entflieht das Licht; Sie schreckt ein nächtig trostlos Düster nicht: An ihrer Spitze strahlet hell und prächtig 115

Die Fackel Gottes, leuchtend wundermächtig! Zehnfache Helle blitzt ihr gold'ner Strahl Im Spiegelplan der ros'gen Wogen all; Und Wärme strömt sie aus so maiensonnig, Dass jede Wange rötliet warm und wonnig! 120

Doch nur für sie! Denn Mizraims Zaub'rer schwätzen Umsonst ihr Licht-Gebet zu ihren Götzen: Es häuft sich Wölk' auf Wolke, mehr und mehr, Zehnfache Finsterniss umgiebt das Heer!

Doch vorwärts geht's! Gespornt von Rachelust, 125 Beschreiten sie das Meerbett unbewusst. Bis mittewegs! Die ferne Feuersäule *

Mischt grell ihr Blitzen in des Sturms Geheule, Verwirrt das Heer; die Wagenräder splittern, Und Ross und Reiter schnauben, grausen, zittern! 13O

„Flieh, Mizraim, flieh!" Sie seh'n die gier'gen Fluthen Und fürchterlicher noch: der Gottheit Gluthen! „Flieh, Mizraim, flieh!"

Felsen ziehen. Am Ende dieser Höhlen ist trockener Felsgrund. In solchen grossen und dunklen Hohlen sammeln sich oft ganze Scharen von See- hunden. (Nach: Lenz, Naturgeschichte.)

112. Edom (Esau. 1. M. 32, 3) = Idumäa („vor Alters Seir genannt" Jahn, a. a. O.), der nördlichste Theil des steinigen Arabien zwischen dem Gebirge Horeb und Kanaan.

„Etwann als er noch jung was | vnd die arbeyt im jagen jn hungerig gemacht hett | vnnd da er heim kam | fand er seinen bruder jm aufl' den jmbiß linsen kochen | die waren hüpsch rot | vnd darumb ist er desto mehr begierig worden | vnd jn gebetten | er wölte jm die hnsen zuessen geben. Also hat er den hungerigen bruder gezwungen | das er jm sein erst geburt | vnnd das recht der selbigen | vmb die speyß verkaufft hat | diser aber vom hunger gezwungen | hat seim bruder die erst geburt mit eyds pflicht ge- wichen 1 der vrsach halben ist er von seinen gesellen die mit jhm spieleten | vmb der speyß röte willen | schimpfflicher weiß Edom genannt worden | dann die Hebreer nennen das rot ist | Edom | also hatt er auch die gegne ge- nant ! welche die Griechen mit etwas zierlicherm vnd liebhcherm wort Idu- meam genant haben." (Josephus, a. a. O., Blatt xx.)

Metrische Uebersetzungen. 435

An Edoms Fclsenslrancl Schwingt abermals den Stab des Führers Hund : Mit Donnertosen stürzt in Eins das Meer, 135

Und Alles öde Wogen rings umher! Doch ob den Fluthen schwebt ein seltsam Tönen, Als stiege aus der Tiefe menschlich Stöhnen. Und flüsternd trägt der Hauch der Wasserwüste Aegyptens Seufzer nach Arabiens Küste! 140

Wie froh begrüsste Israel den Morgen, Als sie, befreit von Furcht und Angst und Sorgen, Nun standen an der rächerischen Fluth, Darin ertränkt des Feindes Uebermuth;

Als sie gewahrten in des Frühroths Schimmer Hb

Von Zoans Stolz die angeschwemmten Trümmer: Zermalmte Glieder, Helme, Wagen, Speere Die traur'gen Reste von dem stolzen Heere! Dann, sanft wie Eli ms Quellen sich ergiessen. Der neugebor'nen Freiheit Zähren fliessen. 150

Und 0! wie er, dess Herz verhärtet schon Durch Knechtschaftsschmach und des Bedrückers Hohn: Der trotz'ge Sklav, durch Hoffnungsmacht gezähmt, In Stammelworten seinen Dank ausströmt! Bis herzerhebend alle Reih'n entlang 155

Ertönt der Jungfernpauke Silberklang;

149. Elim (2. M. 15, 27) im steinigen Arabien. „Hier fanden sie" (die Israeliten) „zwölf nahe bey einander liegende Wasserquellen, und nahe dabey zum Schutz vor der Hitze ein Wäldchen von siebenzig Palmenbäumen. Reisende finden diese Gegend itzt noch bemerkenswürdig, und ergötzen sich, nachdem sie viele Stunden über sandigte Ebnen und heisse Thäler gegangen, an den Wasserquellen und dem Schatten der Bäume; bilden sich auch gern, und mit einiger Wahrscheinlichkeit ein, es seyen dieselben Quellen, die Moses angiebt." (Hess, a. a. O.)

„Ohngefähr in der Gegend, wo hier Elim erscheint, finden sich im Thale Gharundel Quellen zwischen Dattelbäumen. "

(Wislicenus, Die Bibel.)

15G. Jungfernpauke —hebräisch: Toph (2. M. 15, 20). „Toph war ein sehr gewöhnliches Instrument, welches man aber nicht mit unserer Trommel oder Pauke vergleichen muss; denn es wurde nicht nur von Manns-, sondern auch von Frauenspersonen gespielt. Es bestand aus einem metallenen Ring, worüber ein Fell ausgespannt und rundherum mit Schellen behangen war .... Bei den Spaniern hat es den Namen Adufe. Bei den Hebräern war dieses Instrument schon sehr frühe in Ge- brauch und wurde vorzüglich von den Jungfern beim Tanz und anderen Feierlichkeiten gebraucht." (Warnekros, Hebräische Alterthümer.)

28*

436 Metrische Uebersetzungen.

Und, frei von Zweifelsqual, in freud'ger Lust Des Sanges Geist sich regt in Mirjams Brust.

Die Arme bloss, das Aug' empor gerichtet, Das wundersam von tiefer Gluth durchlichtet, 160

Lässt sie die wilden, süssen Harmonieen Auf Windesflügeln durch die Lüfte ziehen. „Wo ist" so singt sie, „nun Aegyptens Heer? 0ns Kriegerschild und Zoans wucht'ger Speer? Im Fluthenbett ihr Heer begraben liegt! 165

Jauchz', Israel! Adonai hat gesiegt!" Und ungestüm in des Gesanges Pausen Von Stamm zu Stamm des Jubels Sturme bi'ausen, Und himmelan ihr Donner-Chorus fliegt: „Jauchz', Israel! Adonai hat gesiegt!"

II. An eine Fliege, welche ich aus einer Bowle Punsch genommen.

(John Wolcott.)

Ach armer Schelm, berauscht von Weines Gluth! Da schwimmst du leblos nun auf duft'srer Fluth.

ßernsdorf (a. a. O.) nennt das Instrument auch „Jungfern pauke"; ebenso der Bischof Heber: „virgin timbrel" in seinem Gedichte.

„Es ist jetzt noch, wie vor Alters, ein Instrument des Frauenzimmers, welches bei seinen Liedern und Tänzen die Aduffe in der linken Hand hält, schüttelt, und mit der rechten Hand nach dem Takte schlägt."

(Jahn, a. a. 0.)

158. Mirjam (2. M. 15, 21). „Miriam, Aarons und Moses Schwe- ster, die als eine religiöse Sängerin („Prophetin") bei der Nation berühmt war, nahm eine Adufe und sang unter den einstimmenden Chören und Tänzen der Frauen und Jungfrauen, die ihr musikalisches Hirten-Instrument hatten, dem männlichen Chor entgegen : Jehova dem Erhabnen will ich singen u. e. w." (Hess, a. a. 0.)

164. On (1. M. 41, 45) = Heliopolis in Unter-Aegypten, etwas nördlich vom jetzigen Kairo. Hier war der Haupttempel der Sonne.

166. Adonai. Wenngleich im Urtext (in der hebräischen Bibel, 2. M. 15, 21) der Name Gottes: nin'' „Jehovah" (oder „Jahveh") steht, so habe ich doch aus Rücksicht auf das nach dem Talmud bestehende Ver- bot, diesen Namen auszusprechen, dafür das vorgeschriebene Adonai (sprich: Adonaj ['^-- wegen des Chateph-Pathach]) gebraucht. Heber sagt: the Lord.

Metrische Uebersetzungen. 437

Warum auf Kuchen nicht beschränkt den Wunsch?

Nun zahlst du mit dem Leben dein Gesumm,

Du Leckermäulchcn ! um den Napf herum !

So wohnt Vergnügen und der Tod im Punscli !

Ich nehm' dich 'raus und pred'ge mir Moral. Wie Fliegen thun die Menschen allzumal! Steht drohend auch der gier'ge Tod dabei : Der Becher des Vergnügens blinkt so schön! Sie können Circe's Trank nicht widersteh'n, Sie müssen, wollen schlürfen, einerlei I

Dem wilden Füllen gleicht die Leidenschaft: Will Klugheit zügeln sie, auch noch so mild, So bäumt sie schnaubend sich mit trotz'ger Kraft; Kein and'rer nur ihr eig'ner Wille gilt!

Potzblitz! du bist nicht todt ? du zappelst noch? Die Parzen schonten deinen Faden doch? Fürwahr! du rührst ein Bein, ein and'res wieder! Und stossweis regen sich nun alle Glieder!

Jetzt öffnest du die trunk'nen Aeuglein dein, Jetzt fühlst du flugs nach deinem Naschen fein, Und da du's findest, reibst die Händchen du. Als wollt'st du jauchzen: „Hei! ich lebe ja!" Und wohl kannst du dich freu'n ! denn nah', sehr nah' Warst du dem öden Reich der Todesruh' !

Jetzt rutschest auf dem Rücken du umher, Denn dass du lebst, es freut dich ja so sehr ! Jetzt drehst du dich herum, und auf dem Tisch Ziehst krabbelnd du manch nasses Ringelein. Jetzt schüttelst du vom Rücken ab den Wein, Und schwingst den Nektar von den Flügeln risch.

Jetzt stehst du auf dem Kopf, prüfst deine Kraft, Und streckst die Beinchen, die vorhin erschlafft. Jetzt reckst du straff die Schwingen in die Höh' Und machst dich flugbereit. Nun denn, adieu!

Flieg' zu den Deinen dort im Sonnenschein, Und bringe Freude der Familie dein ! Dort findest eine Frau du oder Braut, Die Zeugin war, wie dich die Fluth verschlang; Ach! deren Brust der Angstschrei sich entrang. Und die ob deinem Tod jetzt seufzt so laut!

Ja, geh' und tröste deine Freunde all. Und melde warnend deinen Unglücksfall!

438 Metrische Uebersetzungen.

Fortan sei Tort' und Zucker dein Gericht; Die nähren, schmecken süss und schaden nicht; Wogegen Punsch, der lust'ge Sündengeist, Den unbedachten Wand'rer lockt zum Kuss, Und, lächelnd ihm verheissend Hochgenuss, Ihn wie ein Alligator abwärts reisst!

III. Eugen Ära m 's Traum.

(Thomas Hood.)

An einem Sommerabend war's, *) Die Luft war kühl und weich: Da sprengt 'ne munt're Knabenschar Aus der Schule schwülem Bereich ; Der eine rennt, der and're springt. Wie flinke Forellen im Teich.

Fort eilen sie mit frohem Sinn Und Herzen sOndenrein ; Auf einer Wiese schlagen sie Die Cricket-Stäbe ein. Die Stadt King's Lynn erglänzt weithin Im Abendsonnenschein.

Wie Rehe springen sie umher Und jauchzen himmelan; Sie wandeln in Lust der Erde Wust, Wie's nur die Jugend kann. Doch der Lehrer sitzt entfernt allein, Ein tief betrübter Mann.

Sein Haupt ist bar, die Brust entblösst, Dass die Lüftchen kühlen ihn ; Denn sein Busen wogt, und im Gehirn Ihm heisse Gedanken wlüh'n.

*) Der in dem Gedichte erwähnte Mord wm'de im Jahre 1746 in der Stadt Knaresborough (Grafschaft York) an Daniel Clarke begangen und erst, nachdem der Mörder 13 Jahre in der Küstenstadt Lynn (King's Lynn in Norfolk), wohin er bald nach dem Verbrechen sich wandte, als Hülfslehrer gewirkt, im Jahre 1759 entdeckt. Aram wurde auf Aussage seines Verwandten Richard Houseman verhaftet und trotz seiner glän- zenden Vertheidigungsrede („still considered as wholly unequalled from the lips of one defemling his own cause" Bulwer) am 3. August 1759 zum Tode verurtheilt. Vor seiner Hinrichtung soll er sein N'erbrechcn einge- standen haben r

Metrische Uebersetzungen, 439

Den Kopf in der Hand, so liest er gespannt Das Buch auf seinen Knie'n.

Er liest es eifrig Blatt auf Blatt, Wirft keinen Blick zur Seit'. Für den Seelenfrieden liest er das Buch In goldener Abendzeit. Sein Aug' ist glanzlos, die Wange hohl Von Studien-Emsigkeit,

Jetzt endlich schliesst er den schweren Band Mit wilder, heftiger Hast; Die staubigen Deckel presst er zu, Bis der Spangenhaken fasst.

„Ach! könnt' ich des Geistes Mahnbuch auch So schliessen zur ewigen Rast!"

Dann springt er auf, und zornig schweift Sein Blick in irrem Flug. Nun den Anger auf! den Anger ab! Als wär's ihm nimmer genug. Da sieht er im schattigen Winkel allein Ein Knäblein, vertieft in ein Buch.

„Was liest du da, mein lieber Sohn ? Erzählung oder Fabel? Geschichten von Kön'gen, deren Thron Zertrümmert im Sünden-Babel?" Der Kleine schaut in's Aug' ihm traut: „Es ist ,der Tod des Abel.'"

Der Lehrer macht sechs hastige Schritt, Als ob jach ein Schmerz ihn sticht ; Sechs hastige Schritt, kommt langsam dann Zurück mit bleichem Gesicht. Zu dem Knaben setzt er sich zuletzt, Mit dem er von Kain spricht;

Von blutigen Mären aus alter Zeit, Darob das Herz erstarrt; Von Menschen, ermordet ungeseh'n Und heimlich dann verscharrt ; Von grausem Mord, in Höhlen verübt, Der lang' im Dunkel verharrt;

Und wie der blutigen Opfer Geist Hohldumpf aus dem Grabe ruft; Hu ! wie die knöcherne Geisterhand Hinweist auf die heimliche Gruft; i

410 Metrische Uebersetznngen.

Und wie Verrath der Missethat Im Traum entdeckt den Schuft;

Wie der Mörder unter Kain's Fluch Umherirrt und nimmer ruht, Blutrothe Wolken vor dem Aug', Das Hirn in lodernder Gluth : Denn ewig haftet an seiner Seel' Der Fleck von Blut, Blut, Blut!

jf( Und oh ! ich weiss, weich wilde Qual Ihn foltert fort und fort: (Weh, Weh, unsagbar schrecklich Weh ! ) Der vernichtet des Lebens Hort! Denn sieh! heut' Nacht hab' ich vollbracht Im Traum, ach ! einen Mord :

„An Einem, der nie mir Leides gethan, Einem Manne, schwach und alt. Ich führt' ihn auf ein einsam Feld ; Der Mond schien klar und kalt : ,Hier,' sagt' ich dann, ,hier sterbe der Mann! Sein Gold komm' in meine Gewalt!'

„Zwei Schläge mit dem Knotenstock Und einer mit schwerem Stein, Ein rascher Stoss mit dem Messer, bloss : Und die schwarze That war mein! Zu Füssen lag mir weiter Nichts, Als leblos Fleisch und Bein.

„Ja, Nichts als leblos Fleisch und Bein, Das Nichts mir zu thun vermag! Und dennoch bangte mir um so mehr, Weil er so ruhig lag ! Es flammt' ein Muth in seinem Blick, Den tödtet kein Meuchlerschlag !

„Und sieh: die Luft ein Gluthenmeer! Dass vor dem Glast mir graut'! Ein zahllos drohend Augenheer Auf mich hernieder schaut'. Ich nahm den Todten bei der Hand Und rief bei Namen ihn laut.

„O Gott! mir schaudert', ihn so zu seh'n, Als hielt' sein Auge Wacht! Doch als den Körper ich berührt'. Entquoll das Blut mit Macht,

Metrische Uebersetzungen. ^41

Das tropfenweis Scngflaramen heiss In meinem Hirn entfacht'!

„Mein Kopf war brennend wie Kohlengluth, Mein Herz so kalt wie Eis ; Die arme, arme Seele mein Gab ich dem Teufel preis.

Schwer stöhnt' ich. Er hatt' auch gestöhnt,

Erst laut, dann leise, leis!

„Und jetzt vom hehren Himmelsdom, Aus unermess'nen Höh'n Erscholl die Stimme des Rachegeists Mit dumpfem Donnergetön : Du Mörder dort! schaff' den Leichnam fort, Dass mein Aug' ihn nicht kann seh'n !

„Ich hob den grausigen Körper auf Und warf ihn in den Schaum Des wilden Stroms, dess Wasser schwarz,

Dess Tief ergründlich kaum.

Mein liebes Kind, bedenke wohl: Dies Alles ist nur ein Traum!

„Mit hohlem Geräusch verschwand der Leib. Mein Auge blickte stier! Dann wusch ich die blutigen HcHnde rein Und kühlte die Schläfe mir. Den Abend sass ich in der Schul' Bei den anderen Schülern und dir.

„O Gott ! wie rein war euer Herz, Und meins wie schwarz und grimm ! Ich könnt' nicht singen und beten mit euch : Ach ! mir erstarb die Stimm'. Ich erschien mir grass wie Satanas Inmitten Cherubim !

„Und holder Friede geleitet' euch Und bettet' euch weich und kühl; Mir leuchtete grimme Schuld zu Bett Und gab mir harten Pfühl; Sie schloss den Behang mit blutiger Hand. Mir ward so schwül, so schwül!

„In Angst durchwacht' ich die bange Nacht, In tiefer Seelenqual. Die fiebernden Augen schloss ich nicht; Mir graut' vor dem Schlaf zumal;

442 Metrische Uebersetzungen.

Weil ihm die Sünde für meine Seel' Die Schlüssel der Hölle befahl !

„In Angst durchwacht" ich die bange Nacht Bei der Uhr eintönigem Klang, Und meine Seele martert' und quält' Ein Mahnen, ein mächtiger Drang, Ein glühend Verlangen, jenem gleich, Dem auch der Mordplan entsprang;

„Ein Gedanke, so wuchtig, dass vor ihm Kein and'rer konnte besteh'n ; Und immer ungestümer drängt' Die Versuchung: es muss gescheh'n! Sie hetzte mich ab: in seinem Grab Den todten Mann zu seh'n!

„Aufrafft' ich mühsam mich, als kaum Es dämmert' am Himmelsdom. Mit banger Ahnung, gluhem Aug' Schlich ich zum verruchten Strom. Und im Flussbett da den Todten ich sah! Denn trocken war der Strom!

„Die Lftrche stieg und schüttelt' den Thau Von den Flügeln beim Liederklanjr. Ich sah nicht ihren Morgenflug, Ich hört' nicht ihren Gesang. Ich stand vor Schrecken steif und starr Und stöhnte schwer und bang.

„In rasender Eile hob ich ihn auf Und keuchte mit ihm hindann. Mir fehlte die Zeit, zu schaufeln ein Grab, Bevor der Tag begann. Im fernen Wald unter Haufen von Laub Verbarg ich den todten Mann.

„Den Tag durch las ich in der Schul', Doch mein Geist weilt' an jenem Ort. Kaum war der Unterricht zu End', War insgeheim ich dort: Da lag der Leichnam unbedeckt!

Der Wind blies die Blätter fort.

„Nun warf ich mich nieder auf's Gesicht Und weinte, weint' in's Moos. Denn die Erde wollt' mein Geheimniss nicht Verbergen in ihren Schoss ;

Metrische Uebersctzungen. 413

Auch nicht das Meer, das tiefe Meer, Und war' es bodenlos !

„So will's der grimmige Rachegeist, Bis die Schuld gesühnt wird sein. Und lag' er begraben in tiefer Schlucht, Zermalmt von schwerem Gestein; Und hätte die Zeit sein Fleisch gefault: Die Welt sah' doch sein Gebein!

„O Gott! der fürchterliche Traum Umfängt mich im Wachen zumal!

Und wieder, wieder, mit schwindelndem Hirn, Zück' ich den mörd'rischen Stahl! Und die blutige Hand versengt mir im Brand, Wie Cranmer's Hand am Pfahl!

„Und noch immer versagt die Ruhestatt Dem Leichnam Land und Meer:

Das gespenstische AVesen verfolgt mich ohn' Rast! Da steht es ! da vor mir ! ! sieh her ! ! " Der Kleine schrickt auf; er sieht auf der Stirn Des Mannes viel Tropfen schwer!

In selbiger Nacht, als in süssem Schlaf Der Knab' Erquickung fand, Da schritten zwei düst're Männer von Lynn Durch den Nebel über Land: Und Eugen Aram in ihrem Geleit, Mit Fesseln an der Hand!

IV. L e b e n s p s a 1 ni. (Henry W. Loiigfellow.)

Lei're nicht in müssigem Kummer, Dass ein T r au m das Leben sei ; Denn der Geist ist todt im Schlummer, Sein und Schein nicht einerlei.

Wirklich ist und ernst das Leben, Und das Grab nicht Ziel und Fort. ..Staub, dem Staub zurückzugeben!"*) Nicht dem Geiste galt dies Wort.

Nicht Genüsse sind's, nicht Sorgen, Was das Leben uns jrcbeut;

*) 1. Mose 3, 19.

444 Metrische Uebersetzungen.

Wirken! dass uns jedes „Morgen" Weiter finde, als das „Heut'".

Lang die Kunst, und kurz das Leben ! Schlägt das trotzige Herz doch nur Gleich der Trommel, florumgeben, Todtenmärsche der Natur!

Nicht der heitern Zukunft Iraue; Sei vergang'ne Trübsal todt! Gegenwärtig wirke, baue! Innen Herz und oben Gott!

Grosser Männer Thaten treiben Uns zu edler Strebsamkeit: Dass von uns zurück auch bleiben Stapfen auf den Höh'n der Zeit!

V. Mariens Traum. (John Lowe.)

Der Mond ergiesst sein magisch Licht Mild über Wald und Berg und Thal ; Auch jenes stille Kämmerlein Erhellt sein weicher Silberstrahl. Marie legt nieder sich zur Ruh', Im Geist bei John auf fernem Meer. Da hört sie eine Stimme leis' : „Marie, o wein' um mich nicht mehr!"

Sie richtet rasch vom Pfühl sich auf, Zu forschen, wer sie rufe wohl; Da sieht sie John am Lager steh'n, Das Antlitz bleich, das Auge hohl. „Marie, mein Leib ist kalt und starr; Er liegt im wilden tiefen Meer, Fern, fern von dir, im Todesschlaf. Marie, drum wein' um mich nicht mehr !

„Mit Sturm und Wogen kämpften wir Drei Tage und drei Nächte kühn, Zu retten uns're gute Bark; Doch war vergebens unser Müh'n. War auch mein Herz vor Grausen starr, Glüht's liebend doch für dich so sehr! Jetzt ruht der Sturm; nun ruh' auch ich. Marie, drum wein' um mich nicht mehr!

Metrisclie Uebersetzungen. 445

„Mein thenres Lieb, mach' dich bereit : Bald werden wir uns wiedcrseli'n, Dort, wo die Liebe in'cht mehr bangt, Wo nie wir von einander geh'n!" Laut kräht der Hahn; der Schatten weicht 5 Sie sieht von ihrem John nichts mehr. Doch scheidend haucht noch lind der Geist: „Marie, o wein' um mich nicht mehr!"

VI. Auf den ersten Zahn meines jüngsten Sohnei (Hendrik Teilens.)

Triumph, Triumph! mein Lied heb' an! Denn Mutter sagt : ,, Durch ist der Zahn!"

Du, Laute, laut ertöne! Erst schenkte Gott dem kleinen Wicht Den Odem und das Lebenslicht ;

Jetzt giebt er ihm auch Zähne.

Triumph, Triumph ! Gott Dank dafür !

Denn Mutter jauchzt: ,,Den Zahn sieh hierl"

Lasst hell ein Loblied hören ! Glückauf, mein Kind, bei Spiel und Sang! Benutz' es wohl, bewahr' es lang', Was Gott dir will bescheren !

Bewahr' es lang', benutz' es wohl! Sieh, Gott gebeut es gnadenvoll;

Der Mahnung folg' mit Freuden ! Halt' dir zu Nutz und ihm zu Dank Die Zähnchen weiss, das Seelchen blank.

Dann leidet keins von Beiden !

Gedeih', gedeih'! werd' gross und gut; Nimm trefflich zu an Kraft und Muth,

Um nicht im Leid zu bangen! Und schmäht dich Jemand wer's auch sei : Dem zeig' die Zähne frank und frei,

Wo's Ehr' und Pflicht verlangen !

Gedeih'! werd' brav und krön' mein Ziel: Lass früh in dir ein tief Gefühl

Für Wahrheit, Recht entfachen! Tritt muthig für die Braven ein ; Den Bösen musst trotz ihrem Dräu'n

Du in die Zähne lachen !

446 Metrische Uebersetzungen.

Gedeih' I werd' fromm, in Tugend rein, Dass nie mein Aug', jetzt freud'feucht, wein'

Um dich des Kummers Thräne! Und geb' dir Gott bis an den Tod Ein ehrlich Stückchen täglich Brot,

Drin beissen deine Zähne!

Loga bei Leer in Ostfriesland.

H. L. Willems.

Sitzungen der Berliner Gesellschaft

für das Studium der neueren Sprachen.

Herr Michaelis lenkte bei einer Anzeige der neuen Ausgabe von „Brücke's Physiologie und Systematik der Sprachlaute" und „Sie- vers' Indogermanische Grammatik, Bd. 1, Grundziige der Lautphysio- logie" die Aufmerksamkeit auf folgende Punkte: Brücke hatte 1) das alveolare, 2) das cerebrale, 3) das dorsale, i) das dentale Bildungs- gebiet für die Laute unterschieden. Das dorsale steht dabei im Gegen- satz zu den anderen, insofern bei ihm die Zungenspitze den Verschluss bildet. Michaelis (über die Fünf-Laute) hat dann bei den Lauten des mittleren Articulationsgebietes diejenigen geschieden, welche 1) durch die Zungenspitze, 2) durch den Zungenrücken gebildet werden, und hat die ersteren apical genannt; er hat ferner eine superficiale, eine marginale und eine interdentale Bildung der Fünf-Laute unterschieden. Das Bedürfniss nun, die mit der Zungenspitze gebildeten Laute aus- zuscheiden, hat auch Sievers gehabt. Er dehnt den Begriff dorsal noch weiter aus, indem er ihn für jeden Laut anwendet, bei dem „irgend ein Theil des Zungenrückens dem Gaumen genähert oder mit ihm in Berührung gebracht wird"; daher nennt er auch Vocale dorsal, wogegen nichts einzuwenden ist. Zum Gegensatz hat er aber statt des Michaelis- schen apical das Wort „oral" angewandt. Setzt man jenen Ausdruck für diesen, so ist in beiden Theorien Alles in Uebereinstimmung: nur nimmt Michaelis als Uebergang zwischen interdental und alveolar noch zwei Zwischenstufen an, die Sievers nicht hat. Ob aber die Abcände- rung des Ausdruckes apical in „oral" zweckmässig sei, ist fraglich, da dieses von ora hergeleitete Wort mit dem schon bestehenden von os hergeleiteten, „im Munde gebildet" bezeichnenden, zu Collisionen und Verwechslungen Anlass bietet. Herr Völkel besprach die Feind- schaft Boursault's gegen Moliere und die durch des Letzteren Ecole des Femraes hervorgerufenen Anfeindungen der Schauspieler des Hotel

448 Sitzungen der Berliner Gesellschaft

de Bourgogne, sowie Moliere's Critique de l'jfecole des Fernmes und das Impi'omptu de Versailles. Gegenüber Moliere's besonnener und ruhiger Haltung, die ihn selbst die feindlichen Stücke ruhig mit ansehen liess, erscheint Boursault als ein frühreifer Mensch, ohne die nöthige Vorbil- dung, der die Grösse seines Gegners nicht zu erkennen vermochte, und dem es auch an Geschmack und Lebenserfahrung fehlte. Herr Scheffler besprach die Frage, ob Armande Bejart die Schwester oder Tochter Madeleine's sei. Die Heirath mit Armande wurde Gelegenheit, Moliere des Incests beim Könige zu beschuldigen. Derselbe antwortete mit der Erklärung, bei dem ersten Kinde aus der Ehe Pathenstelle übernehmen zu wollen. Nichtsdestoweniger hat nähere Untersuchung gezeigt, dass Armande Tochter von Moliere's früherer Geliebten Ma- deleine ist, aber als ihre Schwester figurirte. Letztere hatte ein Inter- esse, diese Täuschung aufrecht zu erhalten. Sie hatte vertrauten Um- gang mit dem Grafen von Modena gehabt, welcher das Kind anei'kennen und Madeleine heirathen wollte, als er in den Krieg musste, wodurch seine Rückkehr sich verzögerte. Ein zweites Verhältniss hatte ein gleiches Resultat. Es zu vertuschen, fand Moliere den Ausweg, das Kind ihrer eigenen Mutter unterzuschieben. Dies gewinnt an Wahr- scheinlichkeit durch die bei Verzichtleistung auf Erbschaft gerichtlich abgegebene, doch erlogene Erklärung der Mutter, ihre Kinder seien unmündig, während Madeleine und ihr Bruder mündig waren; dadurch wurden sie Beide vom Familienrathe ausgeschlossen, und es erschien weniger unwahrscheinlich, dass das Kleine das Kind der Alten wäre. Zu beachten ist, dass sie 53 Jahre alt war, und dass bei Moliere's zweitem Kinde Madeleine und der Herzog von Modena Pathenstellen hatten. Als 1662 Armande Moliere's Weib wurde, erhielt sie ausser einer Ausstattung von 16000 Fr. noch eine Mitgift von 60000 Fr., trotzdem die alte Bejart auf die Erbschaft ihres Mannes verzichtet hatte. Dagegen erhielt ihre zweite Tochter Genevieve bei ihrer Verheirathung keinen Sou, obgleich sie mit ihr zusammen lebte. Von der letztwilligen Verfügung Madeleine's, dass nach Auszahlung gewisser Legate an Ge- schwister und milde Stiftungen Armande den Rest erben sollte, stiess ein Codicill die erstere Bedingung um und ernannte Armande zur Flrbin des Ganzen. Dies Alles macht es somit durchaus wahrscheinlich, dass Moliere wirklich die Tochter seiner früheren Geliebten geheirathet, falls sich nicht nachweisen liesse, dass Madeleine gar nicht seine Geliebte gev/esen. In der That ist nun festgestellt, dass Moliere einer Bejart zu Liebe zur Bühne gegangen; und eine der vorhandenen Quellen ver- wechselt Mutter und Tochter. Ferner war auch Genevieve bei der Truppe, und es ist wahrscheinlicher, dass Moliere sich in Letzere ver- liebt, denn sie war 19, Madeleine aber 27 Jahre; und die an Grafen und Barone Gewöhnte dürfte dem armen unbekannten Schauspieler kaum Avancen gemacht haben. Dass Moliere's Ehe Schwierigkeiten in den Weg gestellt wurden, ist richtig; wahrscheinlich gingen diese

für das Studium der neueren Sprachen. 449

eben von Genovieve, dei' verlassenen Geliebten, aus. Wenigstens wohnte die Mutter Madeleine der bürgerlichen sowohl wie der kirch- lichen Trauung bei. Herr Boyle machte Mittheilung aus „the Birth day Kegister", Verzeichnisse der Geburtstage bedeutender Männer auf alle Tage des .hihres mit meist glücklich gewählten auf sie bezogenen Citaten aus Shakespeare.

II.

Herr Förster besprach „Höfler, der Aufstand der kastilischen Städte gegen Karl V." (1520 1522), Die spanischen Historiker haben, den Sachverhalt zu trüben, das Ihrige beigetragen, da es nach Be- endigung des Aufstandes iin Interesse der Städte lag, sich als treu ge- blieben darzustellen, der Liberalismus dagegen später die Führer des Aufstandes zu Hen-en zu erklären strebte. Hofier hat das Verdienst, die richtige Mitte dazwischen gefunden zu haben. Gründe des Auf- standes waren hauptsächlich die Ausführung des durch neue Steuern aufgebrachten Geldes aus dem Lande und die Besetzung der Stellen mit Fremden. Der anfangs rein zufällige Umstand, dass die Hidalgos, der Städteadel, nicht die Granden, den Aufstand anfingen, führte im Verlauf einen Kampf dieser gegen jene herbei, in dem die Granden die vordersten Verfechter der Krone wurden; der Schluss war reiner Ver- zweiflungskampf. Der Vortragende verlas Stellen, die den vollstän- digen Wechsel des Tones zeigen, in dem man vor dem Aufstande und nach demselben zur Krone sprach , und die Charakterschilderungen Padilla's und des Cardinais Adrian. Der Stil ist schwerfällig und manierirt. Herr Rauch besprach den Unterricht in modernen Spra- chen an Mädchenschulen. Das Ziel der „höheren Töchterschule" sei, das Mädchen als gebildete Jungfrau zu entlassen ; sie sei eine Stätte für aligemeine Bildung; sie solle abschliessen für die meisten Zög- linge, während Gymnasium und Realschule nur Vorbildung für spä- teres selbständiges Streben liefern ; das Mädchen soll die erworbene Bildung sogleich verwerthen. Demgemäss muss jeder Mädchenlehrer sich in Theorie und Systematik Beschränkung auferlegen, den Kreis der Lehren möglichst verengen und sie so einüben , dass sie fertig ab- geschlossen Elgenthum werden. Das Mädchen hat eine Abneigung gegen Systeme und Abstractionen ; das lebendige Beispiel wirkt am kräftigsten. Ferner muss das Mädchen bis zum 17. Jahre, wo sie Jungfrau wird, fertig gebildet sein; sie muss in 10 Jahren die nöthigen Kenntnisse erringen, während der Gymnasiast 13 Jahre hat, um nur eine grundlegende Bildung zu erwerben. Während also der Knabe in den oberen Classen in das Kritische, Polemische eingevireiht wird, um ibm eine Richtung für den Weg in der Zukunft zu geben, dürfen dem Mädchen nur die Resultate in wohlgeordneter Weise vorgeführt werden. Auf Grund dieser Principien beleuchtete der Vortragende die von der

Archiv f. 11. Sprachon. LVUI. 29

450 Sitzungen der Berliner Gesellschaft

im August 1873 zusammengetretenen Commission (zur Berathung der Frage der höheren Töchterschulen) aufgestellten Forderungen in den einzelnen Punkten und bezeichnete z. B. das Lesen mittelhochdeutscher Texte als Sünde; beim Eingehen auf die deutsche Grammatik dürfe nur die Elementargrammatik ins Auge gefasst werden; Sprachverglei- chung herbeizuziehen , könne nur Oberflächlichkeit und Eigendünkel befördern. In der Literatur müsse dem Beibringen encyklopädischen Materials gesteuert, dagegen Einführung in die Meisterwerke bis zum Heimischwerden gefordert werden. Für den fremdsprachlichen Unter- richt lauteten die Forderungen nicht eben hoch; aber „Bekanntschaft mit den vorzüglichsten Werken der Literaturen" sei ein so vager oder umfassender Ausdruck, dass man damit sehr wohl auch eine Forderung an den pro facultate docendi zu Prüfenden bezeichnen könne. Die Frage, ob in den obersten Classen auch Damen in diesen Disciplinen unterrichten sollten, bejahte der Vortragende entschieden, in Anbetracht, dass es nicht der Zweck sei, gelehrte Damen zu bilden, wohl aber neben der Bildung auch zu erziehen, nnd dass in dieser Hinsicht ein Weib in vielen äusserst wichtigen Punkten viel geeigneter sei, zu dem Mäd- chen zu sprechen, als ein Mann, der in vielen Fällen dafür nicht das Auge habe, gewiss aber in den meisten das geeignete Wort nicht finden könne. Allerdings werde, um diesen Zweck erreichen zu können, nach dem ersten Examen, welches im achtzehnten Jahre statt zu finden habe, ein zweites im dreiundzwanzigsten noth wendig, welches aber auch auf quellenmässige Studien und philologisch -historische Bildung zu ver- zichten hätte. Im Deutschen wären Stil- und Aufsatzlehre, in fremden Sprachen technische Fertigkeit besonders zu betonen, namentlich auch systematische Kenntniss der Grammatik. Kenntniss des Latein bis etwa zur Leetüre des Cornelius Nepos wäre Avünschenswerth; ein Canon classischer Stücke müsste nothwendig gegeben werden. Eine Gleich- stellung der höheren Mädchenschule mit Gymnasium und Realschule sei durchaus zurückzuweisen. Herr Lösch h o rn rechtfertigte die Forderung der „Sprachvergleichung" auf Mädchenschulen als in passen- der Beschränkung wohl realisirbar.

IIL

Herr Michaelis lenkte die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf den 1708 in Neu -Stettin geborenen Professor der Beredtsarakeit an der Stadtschule zu Wismar, Job. Daniel Denso, der in verschiedenen Schriften ein System der deutschen Rechtschreibung annahm, das Vieles bereits durchführt, was heute erst als Forderung auftritt. Namentlich in seinen „pommerschen gegrabenen Seltenheiten", einer Einladungs- schrift zu einem Redeactus 1748, beseitigt er jedes y, fast alle Deh- nungszeichen und meist th, sowie die Consonantenverdoppelung (Her, herlich u. s. vv.); schreibt ie, iemand; das auch als Conjunction; Fus,

für da.s Studium der neueren Sprachen. 451

mas, blos, weis; sat, trit; Blikke; reisse; Saz, seze. In den späteren „ph3'sikalischon Briefen" linden sicli wieder dass, Sitz, Dehnungs- zeichen und Verdoppehingen; aber in der sechsten Auflage der „pommer- schen gegrabenen Seltenheiten", in den „monatlichen Beiträgen zur Naturkunde" kehrt er zu den alten Principien zurück. Auch die Gott- sched'che ß -Regel ist schon einigerniassen bei ihm durchgedrungen. Auffallend ist, dass er nirgends irgend eine Aeusserung über diese seine Schreibweise macht. Wenn auch Luther schon mit Fus, mas u. dgl. vorgegangen war und Andere in anderen Punkten, so hat Denso doch in durchgehender Beseitigung der Dehnungszeichen und Verdoppelung keinen Vorgänger gehabt. Herr Vatke gab eine Uebersicht der Schriften , auf die eine Geschichte der englischen Pädagogik Rücksicht zu nehmen hätte. Als solche führte er für die Zeil vom zwölften Jahr- hundert an: „Education in Early England von Furnival". Ziel der Schule ist Bildung zur Courtesy, würdiges Benehmen, um als Page am Hofe dienen zu können; specifisch englisch die Bildung zum gentleman. Für das fünfzehnte Jahrhundert sind die Briefe des Erasmus eine Quelle, doch Hallam's „Introduction into the Literature of the Middle Ages" weist auf seine Unzuverlässigkeit bei seinem Lobe der englischen Schulen, als den deutschen Oberlegen, hin. Roger Ascham's „The Schoolmaster", Th. 1 „The Bringing up of Youth" sieht sein Ideal in dem Deutschen Job. Sturm. Bacon's „Advancement ofLearning" bietet wenig. Milton's Abhandlung über Erziehung ist viel weniger wichtig als sein eigenes Leben; sein Buch ist Samuel Hartlieb, einem Deutschen, gewidmet; ein Anderer, der noch aus Deutschland kommen solle, habe aruf ihn gewirkt, sagt die Vorrede: dies kann nur Comenius sein. Dieser kam auch um jene Zeit; seine Pläne aber, die schon dem Parlament vor- lagen, zerschlugen sich. Rowley's Drama „When you see me, you know me" enthält drastische und realistische Scenen über Hoferziehung ans Heinrich's VIII. Zeit, lieber die grossen Schulen geben Nachricht Staunton, „The Great Schools of England" 1872, und Lyte's „Geschichte von Eton", welche nur Wesentliches und Geringfügiges mit gleicher Breite behandelt. Ein ganz neues „Essay on Educational Reformers by Robert Herbert Quick" erörtert u. A. die Frage, warum Rousseau nie in England populär geworden, und sucht den Grund darin, dass der Eng- länder im Gegensatz zum Franzosen specifisch decent sei. Herr Förster macht Mittheilungen aus den „Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Wolfgang Menzel", die das Buch als in jeder Beziehung höchst inter- essant erscheinen lassen.

IV.

Herr Boyle machte Mittheilung von dem Kritiker des Athenaeum und des Saturday Review von Tennyson's neuestem Drama „King Harold". Beide sind darin einig, dass das Stück ein schwacher Ver-

29*

4 52 Sitzungen der Berliner Gesellschaft

such sei, schwächer nocli als „Mary Tudor", und rathen dem Dichter, auf das lyrische Gebiet zurückzukehren , wo seine Kraft liege. Herr Körner theilte grössere Stellen mit aus Georg Asmus, „Amerikanisches Skizze-Büchelche", eine Epistel in Versen, New- York 1874, und „Zweite Epistel 1875". Herr Bourgeois sprach über Jean Rotrou , der mit siebzehn Jahren zu dichten anfing und mit zweiundzwanzig schon eine Reihe von Stücken geschrieben hatte. Schlechter Geschmack des Publicums, Ansprüche der Schauspieler und Unvollkommenheit der sprachlichen Ausbildung stellten sich einer Reform des Theaters seiner Zeit entgegen. Die Dichter suchten nur die Neugier des Publicums zu reizen und zu befriedigen; doch fing Rotrou zuerst an, den Stil zu bessern, gab der Sprache mehr Stärke und Adel und erfand eine Menge von Figuren und Formen; Corneille fragte ihn oft um Rath und nannte ihn sogar seinen Lehrer. Wie Letzterer und Racine suchte auch Rotrou schon die Seele zu ergreifen und zu enthusiasmiren: beide haben Ein- zelnes von ihm nachgebildet; Moliere sogar ganze Scenen. Zum Schluss recitirte der Vortragende Scenen aus Rotrou's „Laure und Regnard's Joueur", in denen die Aehnlichkelt in die Augen fällt. Herr Rauch berichtete über die Fortschritte des 1873 in Hamburg gegründeten Vereins für niederdeutsche Sprachforschung; die Herausgabe des Corre- spondenzblattes mit kleineren Mittheilungen, um die verschiedenen Mit- glieder in Verbindung zu halten ; des jährlichen Jahrbuches für die grösseren Artikel. Von den VeröfltentHchungen aus den Schätzen deut- scher Bibliotheken liegt als erste das „deutsche Seemannsbuch aus dem Anfang des sechzehnten Jahrhunderts" vor, der Vortragende meint, dass gewisse Sphären der Poesie sich niederdeutsch gleich gut, wo nicht besser als hochdeutsch würden behandeln lassen. Ueberraschende Resultate liefere die Untersuchung des „geflügelten Wortes", der formel- haften Redensart (Beispiel: „ins Gebet nehmen", „das Pferd ins Ge- biss" nehmen). Das neueste Erzeugniss ist der „Plattdütsche Hus- fründ" von Klaus Groth, mit Beiträgen von Quitzow, Korner u. A. Der Vorsitzende theilt eine Aufforderung zur Betheiligung Seitens des Comite's der Diez- Stiftung mit: dieselbe will Preise für Schriften und Stipendien ertheilen.

Herr Scheffler warf die Frage auf, ob die Stelle in Moliere's Cocu imaginaire, welche den Punkt der Ehre behandelt und eine auf- fallende Aehnlichkeit mit den Worten FalstafF's in Heinrich IV. zeigt, auf eine Nachahmung oder eine gleiche Quelle Shakespeare's und Mo- liere's schliessen lasse. Ersteres hat L. Fournier, „Le roman de Moliere", zurückgewiesen. Dass Moliere den Gedanken der Sccne dem Jodelin Duelliste von Scarron verdanke, ist glaublich; im Uebrigen aber an- zunehmen, dass Moliere und Shakespeare vollständig unabhängig von

für das Studium der neueren Sprachen. 453

einander sind. Herr Leo besprach Werder's und Herman Grinim's Arbeiten (in den preussischen Jahrbücherii) über Shakespeare's Hamlet. Es sei alte Tradition, dass das Stück schwer verständlich sei. Dem- genicäss nimmt Grimm an, der Dichter wolle absichtlich mit dem Publi- cum Versteck spielen; sobald dasselbe glaube, den Charakter verstanden zu haben, lasse ihn der Dichter plötzlich umspringen. Werder legt den Hamlet auf ein Piokrustesbott, indem er nachweisen will, Hamlet könne nicht zur That kommen, weil er keinen Beweis für die Schuld habe. Diese Argumentation zerfällt vor der Thatsache, dass Hamlet, selbst nachdem er den Beweis der Schuld durch das Stück hat, auch zu nichts weiter als Reflexionen kommt. Die einzige Auffassung, die den Kern- punkt getroffen , bleibt die Goethe's (eine grosse That auf eine Seele gelegt, die der That nicht gewachsen ist). Der Kritiker muss soweit Poet sein, um eine Ahnung zu haben, wie der Dichter zur Conception und Ausführung kommt. Es geht eine Entwicklung vor sich, Avie die aus der Zelle zur Pflanze. In der Quellenerzählung interessirte den Dichter zunächst die Darstellung des angenommenen Wahnsinnes. Dann war, wie Elze geschickt hervorgehoben hat, Lord Essex's Sohn in der Lage und von der Natur eines Hamlet; dass ein Mensch dargestellt werden soll, der aus Mangel an Energie den gestellten Forderungen gegenüber untergeht, ist im Stücke überall ersichtlich. Herr Mont- chal stellte Charles d'Orleans, den auf der Höhe der gesellschaftlichen Scala stehenden Mann , der seine Kunst zur Erheiterung nach den Schicksalen eines wechselvollen Lebens übte, Fran(;ois Villon gegenüber, dem Findling, der durch das Studium zu einem Abenteuerer- und Ver- brecherleben kam , und gab eine Charakteristik seiner poetischen Pro- ductionen in Vergleich mit diesem wechselvollen Leben.

VI.

Herr Wüllenweber sprach über die französische Academie im siebenzehnten Jahrhundert. Nach Pelisson's Bericht (1651) sei der erste Anfang ein Privatzirkel von Freunden Malherbe's gewesen, bei dem Richelieu durch Boisrobert habe anfragen lassen, ob sie sich mit staatlicher Autorität als Körperschaft aufthuen wollten. Nach langem Zögern hätten sie sich bejahend entschieden; 1635 sei das Patent ge- geben und Richelieu Protector geworden; erst zwei Jahre später sei die Sanction durch das Parlament erfolgt. Der Abbe Dolivet führt die Geschichte weiter bis 1699; eine neue Ausgabe der Geschichte 1858, mit erläuternden Anmerkungen, wurde durch Livet veranstaltet; eine andere Geschichte der Academie von Paul Menard behandelt mehr die Stellung der Academie der Regierung gegenüber. Die Statuten der Academie stellen ihr hauptsächlich die Aufgabe, die Sprache zu regeln, und be- sonders vier Werke zu schaffen: ein Dictionär, eine Grammatik, eine Rhetorik, eine Poetik, bei allgemeiner Verpflichtung der Mitglieder, den

454 Sitzungen der Berliner Gesellschaft

aufgestellten Regeln zu folgen. Auch andere von Selten des Staates gestellte Aufgaben wurden bearbeitet. Wöchentlich wurde eine Sitzung gehalten. Die ersten Vorschläge über das Dictioncär erfolgten 1638. Vaugelas und Chapelain entwarfen den Plan. Alle als classisch gel- tende Werke sollten vertheilt studirt werden. Als sich die Unmöglich- keit herausstellte, sollte Vaugelas die ganze Arbeit gegen eine Pension übernehmen. Er führte sie durch bis zum i. Mezeray führte die Re- daction bis zu seinem Tode fort. Das ganze Werk erschien erst 1692, Revisionen aber schon 1672. Obgleich königliches Privileg den Druck jt-des anderen französischen Wörterbuches untersagte, so verschaffte sich der Academiker Furetiere ein concurrirendes Privileg auf ein Dictionnaire des arts et sciences, welchem er durch Fälschung, wie behauptet wird, ein Dictionnaire universel substituirte. Dasselbe enthielt viel Sachliches gleich einem Conversationslexicon. Nach seiner Ausstossung lebte Furetiere in Holland, wo sein Dictionär nach seinem Tode 1690 er- schien. Die Academie veröffentliclite in Folge dessen einen Supplement- band, der die Künste und Wissenschaften umfasste. Die Aussprache ist vielfach berücksichtigt; Pluralbildung und Conjugation der unrogel- mässigen Verba fehlt. Das Werk fand mannigfachen Widerstand bei Publicum und Parlament. Auf Schmähschriften , deren wichtigste von Menage, zu antworten, wurde den Akademikern verboten, doch antworteten sie in einer folgenden Vorrede trotzdem auf die Vorwürfe. Lobende ürtheile rühren hauptsächlich von Mitgliedern der Academie her. Die Redaction der Grammatik wurde Regn'ier Desmarets über- tragen; die Arbeit wurde in zwei Bureaux geleistet. Sie war schon vor 1706 fertig und schloss sich sehr eng an die lateinische Grammatik an. 1710 erschien von Delatouche ein kritisch urtheilendes Werk über die Grammatik und die beiden Dictionäre. Wenn auch zugegeben werden niuss, dass die Verfasser sich dem Königthum zu gefügig zeig- ten, so ist doch ein Zusammenwirken so vieler literarischer Männer zu solchem Zwecke sehr dankenswerth. Herr Buchholt/, sprach über Alterthümliches in der italienischen Sprache. Die Meinung, das Ita- lienische sei keine neue Sprache, ist schon früh und oft ausgesprochen, aber ohne Begründung. Der Vortragende hat in seinen „Priscae Latini- tatis origines", Berlin 1877, bei Untersuchung über Entstehung der alt- lateinischen Formen viele Formen der jetzigen italienischen Mundarten als eben so alt, zum Theil als älter erkannt als die lateinischen, und zeigt die Richtigkeit dieser Wahrnehmung an einem Beispiel, nämlich meve = roe, teve = te bei Ciello d'Alcämo ; Quintilian hat mehe oder mehi als altlateinisch = me überliefert. Welche von beiden Formen (mehe oder niehi) Quintilian auch geschrieben habe, i ist gewiss einmal am Schluss gewesen , da dies überhaupt älter als e , und da auch die Dative mihi, tibi, sibi sich in alten lateinischen Inschriften mit aus- lautendem e finden. Aber auch in der ersten Silbe ist ursprünglich i gewesen, wie umbrisch mehe, tefe die Dative für mihi, tibi sind.

für das Studium der neueren Sprachen. 455

Folglich lehrt Qnintilian, dass mihi einst auch Accusativ, mir und mich im Ittilienischon eins gewesen sei. Deshalb ist mihi piget in dem Frag- mente eines alten Ti-agikers und mi öfter statt me in den Handschriften nicht falsch. Nun ist aber schon anerkannt, dass mihi eigentlich mihi, miß (wie tibi) geheissen habe: also war dies oder mefe, mefi einstauch der Accusativ. In alter und neuerer Zeit wird f zu b oder zu v und dies zu h, welches letztere auch schwindet: amabam, amavi, italienisch amava (aus amavi, amahi), amai, vedeva (vedeha), vedea. So erklären sich im Italienischen altes und mundartliches mee, mei, letzteres auch altfranzösisch und altprovenzalisch. Diese sind folglich älter und voll- ständiger als das lateinische und altlateinische me, aber gar nicht kann sich Letzteres an Alter vergleichen mit meve, teve, welche der sicilische Dichter des dreizehnten Jahrhunderts n. Chr. hat. Man muss hiernach gestehen, dass der weit verbreitete Grundsatz, die älter überlieferten Formen seien die älteren und umgekehrt, sehr trügerisch ist. Herr Michaelis erwähnte als Fortsetzer des Werkes Denso's (s. III) Chri- stian Tobias Damm, Lehrer am Halle'schen Waisenhause, Conrector des Kölnischen Gymnasiums zu Berlin (Uebersetzer des Plinius; Lob- rede aufTrajan; Betrachtungen über Religion) er weicht von Denso z. B, in Beibehaltung der Verdoppelung des consonantischen Auslautes nach kurzem Vocal ab, beseitigte aber ebenfalls die Dehnungszeichen. August Ludwig Schlözer, Professor der Geschichte in Göttingen, führte die Consonantenverdoppelung auf das richtige Maass zurück doch konnten diese Bemühungen den eintlussreichen Gegnern gegenüber nicht durchdringen: einmal stellten die Grammatiker den Gebrauch selbst als wissenschaftlichen Grundsatz auf, dann waren die Schrift- steller selbst gleichgültig gegen Besserung oder traten ihr feindlich gegenüber. Herder namentlich wandte sich (mit recht grosser Un- kenntniss der Sache) gegen Denso in seinen „Fragmenten über die deutsche Literatur, erste Sammlung 1767"; ebenso Hamann 1773 gegen Damm in seiner „neuen Apologie des h" eine Schrift, die von Friedrich Heinrich Jacobi preisend hervorgehoben wurde. Wieland's Zuneigung zu Denso's Principien musste sich legen, seitdem er Lehrer der Prinzen geworden war. Goethe hatte kein Interesse für die Sache. Die Regierungen waren durchaus conservativ. Adelung erhielt den Auftrag zur Abfassung seiner Grammatik vom Minister Freiherrn von Zedlitz. Neue Elemente machten sich in Göttingen geltend. Bürger redete Denso's Principien das Wort. Klopstock dagegen Avendete ein eigenes phonetisches Princip ganz geschmacklos an. Auch Öffnete sich eine Kluft zwischen Nord- und Mittel- und andererseits Süddeutschen, die sich namentlich in Anwendung des ie zeigte (namentlich wurde aus- führlich auf die Schreibweise Friedrich eingegangen, die in Preussen erst mit dem Königthum eintrat). Schliesslich trat die Cotta'sche Schreibweise im Druck der Classiker auf, der sich nur Goethe nicht vollständig fügte. Auf Antrag des Vorsitzenden wurde einstimmig

456 Sitzungen der Berliner Gesellschaft etc.

beschlossen, aus dem vorhaudenen Bestände 300 Mark als Beitrag der Gesellschaft für das Diez-Comite fiüssio: zu machen.

VII.

Herr Bourgeois theilt eine (fälschlich?) Boileau zugeschriebene Satire „gegen die Frauen" mit; Betrachtungen eines Mannes, den man verheirathen will, Herr Imelniann behandelte den Namen „Lenore" in Biirger's Ballade. In dem Sagenkreise, auf den dieselbe hinweist, erscheint kein Name. Herder's Uebersetzung der Ballade aus Percy's Relics hat „Margarethe" neben dem von Bürger beibehaltenen „Wil- helm". Aber bei dem Bürger so naturell verwandten Job. Christ. Günther findet sich ein Gedicht an seine Geliebte mit derselben Strophen- structnr, derselben Versbildung und Reimstellung wie unser Gedicht, betitelt „an Lenore" dies war der Name der Geliebten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass mit dem Eindruck der gebrauchten Strophe der Name des weiblichen Wesens sich dem Dichter empfohlen hat. Herr Benecke besprach die Angriffe, die Herr Ploetz in seiner „syste- matischen Darstellung der französischen Sprache (10. Aufl.)" gegen den Vortragenden gerichtet hat. Wenn derselbe in einzelnen Punkten Ploetz's Rügen gerechtfertigt findet (z. B. in der Bezeichnung des Vocallautes in ,femme' als lang), so muss er andererseits gegen die Art der angewandten Kritik Protest erheben, welche gegen alle Regeln und Autoritäten nur immer das Gewicht der eigenen Meinung, den langen Aufenthalt in Frankreich anzuführen weiss, und einen Älann wie Benecke stets als einen darstellt, dessen Grundsätze er „im Interesse des Unterrichts" verbannt wissen will. Dabei werden die in späteren Auflagen gebrachten Verbesserungen der Benecke'schen Bücher ignorirt und Lappalien sind zu Ungeheuerlichkeiten aufgebauscht. Alles wurde an Beispielen aufgewiesen (z. B. die Erklärung der Schreibung -ege neben -eche; Aussprache der Wörter auf -er) und eine eingehende Widerlegung im Druck in Aussicht gestellt.

Beurtheiliingen und kurze Anzeigen.

Priscae Latinitatis originum libvi tres , scripsit Hermannus Buchholtz. Berolini in aedibus Ferdinandi Duemmleri. MDCCCLXXVII. 80. liber I, p. 104; über II, p. 228.

Die Fortschritte in der Erkenntniss des Baues und der Entstehung der romanischen Sprachen sind mit jenen, welche in der Erforschung des Lateins gemacht werden, eng verbunden, ja wir können getrost sagen, sie sind zw einem guten Theile von denselben abhängig. Der Begründer einer wissen- schaftHchen Erforschung der romanischen Sprachen, unser Altmeister Diez, war weit entfernt von dem Stolze, eine solche Abhängigkeit zu verleugnen, wie nicht ganz seltene Berufung auf Ritschl's Arbeiten im Rhein. Museum und Aehnliches beweisen kann. Zogen uns also die Priscae Latinitatis ori- gines von Buchholtz schon durch den Titel an, so machte es die Art der Behandlung des Gegenstandes, die ausserordentlich häufige Heranziehung der Sprache der jetzigen Italiener, des reichen Materials ihrer Mundarten, zu einer gewissen Nothwendigkeit, das Neue des Buches, wenn auch wesentlich vom Standpunkte des Forschers auf dem Gebiete der romanischen Sprachen, hier etwas zu beleuchten.

Das Eigenthiindiche und Neue überwiegt nun freilich in dem Buche bei Weitem. Das Hervorstechendste, was uns hier am meisten angeht und der ganzen Behandlung des Gegenstandes ihr besonderes Gepräge giebt, ist, dass Buchholtz die alte, bis heute allgemein gültige Anschauung verlässt, was bei den neueren kürzer sei als im Alterthume, habe \'erstümmelung erlitten. Heisst es also heute in Italien ,alto', mundartlich ,altu', so lässt er den Schluss nicht gelten, dass diese Formen, weil es lateinisch ,altus' heisse, am Ende das s eingebüsst haben müssen. Denn er setzt ihm entgegen, dass schon in recht alten lateinischen Inschriften (S. 166, 167 M. Fourio, L. Cor- neliü Scipio) statt us bloss o sich zeige, und will man hier eine frühe Spur des später allgemeinen Abfalles von Schluss-s erblicken, so setzt er hier- gegen den Nachweis seines ganzen zweiten Buches, dass das hinten ansetzen von Pronomina stattgefunden habe, um die Wörter allmälig lang und voll- wichtig zu machen, dass bei den kürzeren Formen nicht ein Schwund, eine Verstümmelung vorliege, sondern bei den längeren ein Ansatz, eine Zugabe. Also in jenen altlateinischen, auch umVjrlschen und oskischen, aber auch neuitalienischen Ausgängen ohne s erblickt er die älteren ; lateinisches .altus' ist ihm jünger als italienisches ,alto'. Das später hinten augesetzte s soll eigentlich ,sei' oder ,si' oder ,se' gelautet, dann den Vocal verloren haben, Diese letztere Auskunft mag wohl nicht auf vielen Widerspruch stossen,

458 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.

auch hiU der Verf. gelecentlich Spuren für die Wahrheit seiner Behauptung: doch aber ninss man gestehen, dass man sich durch dies eine ,altus aus alto', oder ,altus nach alto' so mit einem Schlage wie in ein anderes Land versetzt sieht, dass man unmöghch seine fiühere Anschauung gleich vergessen kann und sich dieses als einen Traum erklären möchte. Es wird aber ollenbar, glaube ich, dass vielmehr unser früheres .alto durch A'erstümmelung aus altus' jedes Haltes entbehrt. Und begegnet uns vollends dieselbe Frage wegen eines Ausfalles im Inneren der Wörter, so können wir um so leichter zustimmen. Dass z. B. die sardische Mundart ,fuint' hat, wo das Latein ,fuerunt' setzt, dies nicht als Verstümmelung behandelt zu sehen, können wir nur loben, da ja das alte üskische in ,upsens = operaverunt, fecerunt' einen ähnlichen Fall zeigt. Wir vermissen in dieser Sache ungern bei dem Verf. die Anführung Früherer, welche schon eben so richtig in ähnlicher Sache verfuhren. Mir fällt ein, dass schon Düntzer in der lat. Wortbildung vor- trell'lich erkannt hat, dass sehr oft bei der Vergleichung längerer und kür- zerer verwandter Formen man nicht von Verstümmelung oder V'ergrösserüng im Inneren, sondern von doppelter Bildung reden müsse. Düntzer zeigt a. O. 51, wie schwach es sei, wenn man dem Cicero glaube, dass in dem Namen Ala. weil er auch Axilla lautete, ein x oder xi ausgefoUen sei. Der Fall ist mit jenem be: sardischem ,fuint', lateinischem ,fuerunt' sehr verwandt, dünkt mich. Sollten wir aber mit Buchholtz glauben, dass ,sum' oder ,esum' ich bin. ,sim' ich sei, ,ese' oder ,esse' sein wird, ursprünglich mit ,sum' ihn, ,esim' ihn (necerim nee eum bei Festus) , ,se' sich eins sei er weiss es dem Kenner des Latein, welcher sich nicht fürchten soll vor der Sanskrit- wurzel ,as' = spirare (s. S 33\ sehr nahe zu legen , so könnten wir dreist sagen, es ist ganz derselbe Fall, da das h von Ahala (Ala) in Axilla (d. i. Acsilla) als c oder k zu finden keine Schwierigkeiten macht. Uebrigens haben wohl schon Andere, welche sich nichts träumen Hessen von der Einheit des Verbums und des Pronomens ,sum', doch vorgezogen, in Verbalformen, wenigstens im Definitiv, lieber ein Pronomen ,se' als eine Verbalwurzel ,es' zu erkennen.

Diese Lehre, dass die kürzeren Formen im Ganzen die älteren, die längeren die weiter ausgebildeten jüngeren, durch Zusätze vermehrten sind, vertheidigt der Verf. in vielen Beispielen mit solchem Geschick und solcher Stärke, dass es ein für alle Mal um den ihr feindlichen Satz: Was ältere Ueberlieferung für sich habe, müsse auch der Entstehung nach älter sein, und umgekehrt, geschehen zu sein scheint. Letztere Meinung zQ beseitigen, dient ihm z. B. Folgendes: Wenn Quiutilian ,mehe' als eine altlateinische Form für ,me' nennt, so kommt dies her, wird uns S. 125 ff. gezeigt, von einem ,meve', welches noch ein sicilischer Dichter des 13. Jahrhunderts n. Chr. hat, und aus eben dieser ursprünglichen Form des ,me' erklärt sich im alten Latein ,mepte', indem nach Ansatz des Pronomens ,te' das v (oder b oder f ) jenes sicilischen meve sich verhärtete, wie ,scripsi scriptum' und ähnliche ein p statt eines weiteren Lippenbuchstaben zeigen. Haben schon längst die Sprachforscher gefunden, dass lateinische \ erbalformen , welche auf t aus- gehen, ursprünglich auf ti ausgegangen sein müssen, und freute man sich einer altlateinischen mit genauer Noth durch Festus geretteten Form dieser Art, so liegen in sicilischem und sardischem ,esti' ist, und sardischem ,sunti' sind, solche Formen als heute lebend vor. Denn wer etwa Lust bekommen sollte, eine Vorliebe für vocalischen Auslaut und für schliessende e und i als neue Quelle dieser Formen zu finden, dem tritt der Verf. mit dem Nach- weise entgecen, dass alle diese e und i alt sind.

Dies sind etwa die Wafi'en, mit welchen der Verf. auszieht, sein Reich zu erobern. Aber welch ein Land? Hier geht erst das Erstaunen für den Leser recht an. Ganz allmälig von heute allgemein geltenden Anschauungen ausgehend, wird man im ersten Buche, ohne es zuerst zu ahnen (nachher sieht man es wohl), vorbereitet auf das, was viele Seiten nach dem Anfange

Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 459

des zweiten Buches, wenn man es nicht in der Tnhaltsanoabe S. 105 bemerkt hat, er.'-t vollständig zu Tage tritt, dass nümlich in dem alterthümlichen Latein deutliche Spuren vorliegen von einer nicht zu weit vor ihm liegenden Zeit, in welcher alle sechs Casus des Singular und des Plural noch eins waren. Indem sich unwesentliche Formenunterschiedc hier und da einstellten, fing man an, diese dem Streben nach Deutlichkeit dienstbar zu machen und Formen für die einzelnen Casus und Numeri festzusetzen. Der heutige Zu- stand italienischer und romanischer Declination war jenem alten nicht un- ähnlicli, und er ist zum grossen Theil eine Rettung aus jener alten Zeit. Die einzige Form, aus den unwesentlichen Abwandelungen, aus welcher sich die siinimtlichen classischen Formen entwickelten, ist dem Verf. eine den Ort bezeichnende, eine mit einem hinweisenden da ,ibi' schliessende, ein Locativ. Und daran noch nicht genug, werden zuletzt die Verbalformen als Seiten- stücke zu diesen Declinationsformen, als mit ihnen aus einer Quelle stammend und von Hause aus nicht von ihnen verschieden, nachgewiesen.

Dass die Casus im Lateinischen, wie auch sonst nach Form und Inhalt zum Theil verwandt sind , wird schon von nicht Wenigen anerkannt. Hier- von geht der Verf. aus und zeigt, wie diese Verwandtschaft zwischen diesem und diesen, und wieder des zweiten mit dem dritten u. s. w,, auf nur eine einzige Quelle Aller hinführt. So erklärt er auch alle Zeiten der Latinität überdauernde Vermischungen und sogenannte Verwechselungen und hat Be- lege für Accussative ahd. , welche in Wahrheit Nominative oder richtiger gar keine Casus sind, jenes nur der Form nach scheinen. Dass eben alle die im classischen Latein deutlich vorliegenden Unterscheidungszeichen der Casusendungen von Hause aus unwesentlich waren, erst durch Gebrauch und Uebereinkunft der am besten Redenden und Schreibenden zu etwas gemacht wurden, beweist der \ evt\ durch Fälle, in welchen das eine für das andere steht, oder in welchen das betreffende Endungspronomen noch gar nicht angesetzt ist. Altlateinische auf den Vocal statt auf t ausgehende Verbal- formen bieten die ältesten Inschriften. Eben dort findet sich t und s oder keines von beiden, wie statt ,fecerunt' ,feceruns' und ,fecerum' (S. 214), so dass der Verf. dieses einem Accusativ Sing, der zweiten Declination ver- gleichen kann, jenes, wie das vorhin erwähnte oskische ,upsens', einem No- minativ Sing, der dritten.

Aeusserst anziehend ist der Nacliweis des Alterthumes der italienischen Personalpronomina, und Hesse sich hier ohne Mühe Vieles aus den anderen romanischen Sprachen nachtragen. Wenn wir z. B. altfi'anz. statt ,ille' haben im Nominativ Sing, des Artikels ,li' und ,le', so wird uns das schlies- sende i und e als eins nachgewiesen durch die Vergleichung von latein. ,qui' (auch ,que' kommt als Nominativ Sing. Masc. in alten Inschriften vor) und hi[c]. Dass ital. ,lei' eine gute alte einheitliche Form ist, macht der Verf. ganz deutlich. Wenn er aber, weil es Feminin, das e darin auf ein a zurück- führt, so wäre dies kaum nöthig, wenn man sieht, dass e und i ursprünglich, wie der Verf. wohl weiss , nicht bloss männlich sind , und es vergleicht sich gut, dass von uns eben angeführtes altfranz. ,le' und .li' auch als Nominativ Sing, im Feminin stehen (s. Diez B. Gr. H'', 45). Italienisches ,noi voi', zeigt der Verf., ist älter als lateinisches no[s] und vo[s], indem s jüngerer Zusatz, jenes i aber noch ein Rest des in nobi[s] vobi[s] vollständigen bi ist. Denn, schliesst er, wenn der Nominativ nicht einst nobi, vobi geheissen hätte, könnte Cato nicht mit Anhängung von ,te', ,vopte', d. i. ,vob(i)te', machen , sondern er hätte ,voste' oder Aehnliches gebildet. Von einem hintenangetretenen ,hic' wird man, nachdem diese Erklärung gefunden ist, wohl nicht mehr reden.

Mag nun eine rüstige, von mehreren Seiten her auftretende Kritik sich daran machen. Unhaltbares und Ueberfiüssiges abzuschneiden, ein grosser Theil oder das Wesentliche dieser von Bnchholtz aufgestellten Lehre, glaube ich, wird sich erhalten, und es wird eine neue Art der Betrachtung der

460 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.

romanischen Sprachen, insbesondere des Italienischen, mit diesem Buche an- heben. Galten bisherige Versuche, die Erforschung des Neuen an die des Alten enger anzuschliessen, wie die von Fuchs, Schmilinsky u. A. theils als verfehlt, theils als wenig fruchtbar, so wird jetzt der Erklärung des Neueren in den romanischen Sprachen die des Alten in denselben in ähnhcher Aus- dehnung zur Seite treten, und die Erklärung der alten Sprache wird öfter als bisher durch die Erforschung der neueren gewinnen. I'as ganze Buch wird durch noch einen dritten Theil ,viber Silbenmessung' vollständig werden. Wir glauben gern, dass auch in diesem Manches für den Romanisten sich finden wird, wie schon jetzt gelegentliche Andeutungen über ursprüngliche Gleichberechtigung und spätere Unterscheidung der Silben dem Accente und der Quantität nach vermuthen lassen. Doch bilden wohl die ersten beiden Theile über Conjugation und Declination so weit ein gewisses Ganze, dass es geeignet erscheinen durfte, schon jetzt hier ein Zeichen zu geben.

H.

Emil Henrici. Zur Geschichte der mittelhochdeutschen Lyrik. Berlin, S. Calvary & Comp. 1876. 8*^. 74 S. und eine Karte.

Der Thatsache gemäss, dass Gnomik und Liebesdichtung in der mittel- hochdeutschen Lyrik vorherrschen, theilt der Verfasser seine Arbeit in zwei Abschnitte. In dem ersten, der sich mit der Gnomik beschäftigt, behauptet er mit Beweisen und sicheren Schlüssen zu arbeiten. Es wird versucht, durch Zusammenslellung verschiedener Stellen aus Gedichten vom Ende des elften und vom Anfange des zwölften Jahrhunderts Hartmann's Credo, Deutung der Messgebräuche, Rohmd u. a. mit Sprüchen Spervogel's dar- zuthun, dass der Gedankenkreis dieses Dichters auf der Grenze der genannten Jahrhunderte geherrscht. Dies, die alterthümlichen Reime der Spervogel- sprüche und eine Entlehnung aus diesen (M. F. 25, 29 31) in der als Compiiation bekannten Kaiserchronik (495, 19 21) um 1140, weisen Sper- vogel in die erste Hälfte, vielleicht in das erste Viertel des 12. Jahrhunderts. Die Gönner, welche der Dichter aufzählt, sind bisher für Fixirung der Zeit und der Heimath desselben allein maassgebend gewesen; Henrici prüft, ob seine Datirung stichhaltig durch eine neue Untersuchung über die Gönnernamen. Die Resultate dieser anregenden und daukenswerthen Unter- suchung sind.

1) dass Walter von Husen, den Spervogel beklagt, mit dem Vater Friedrich's nicht identisch zu sein braucht, sondern ein V'orfahre desselben, welcher 1124 eine Ui-kunde des Erzbisdiofs Adalbert von Mainz bezeugt;

2) dass die Grafen von Steinberg (Wernhart 1128 in einer Wormser Urkunde) nicht wie bisher an die Donau, sondern an den Rhein, in den Elsenzgau, zu setzen sind;

3) dass es auch Oettinger am Rheine giebt und Staufen in der Wormser Gegend vorkommen.

Daraus folgert der Verf., dass Spervogel ein rheinischer Dichter, im Besonderen ein Pfälzer sei und seine erhaltenen Gedichte vor das Jahr 1140 gehören. Es wird also zugegeben, dass keineswegs alle Sprüche Spervogel's auf uns kamen. Wäre der Schluss auf die rheinische Heimath nicht etwas zu kühn, wenn nur die Sprüche aufbewahrt wurden, die der fahrende Mann auf einer Rheinfahrt Männern iiaclisang, die ihn einst bei gleicher Gelegen- heit aufnahmen, und die er nun vergeblich aufgesucht? Die Möglichkeit ist wohl nicht abzuweisen.

Der zweite Theil behandelt die Liebesdichtunn:. Er enthält Theorien

Beurtliciliuigcn tind kurze Anzeigen. 461

und Ilypotliesen, die der \'crf. zur Priilung vorlegt. Licbcslii'iler, wie der liuodüeb sie erschiiessen lagst, die Tegernsecr liricfe sie kennen lehren, sind die ältesten ihrer Art. Formelhafte NN'endungen, beständige Wieder- kehr gleicher Keime, charukterisiren sie; in allen Jahrhunderten werden sie gesungen, ohne dass sich ein Fortschrilt zeigt: sie sind starr und einer Ent- wickelung unf'iihig. Verschieden von dieser JStufe ist die „höhere \'olksl\rik". Auch sie stimmt volksthünilichun Ton an, aber ihr Inhalt ist nicht mehr allgemein; das Lied geht von Person an Person, knüpft sieh an gegebene Verhältnisse: es ist (Gelegenheitsgedicht. Dahin gehören die sogen. Küren- bergstrophen, M. F. 37, 4 u. a. Die dritte Stufe bildet die höfische Lyrik.

Schon die höhere Volkslyrik setzt einen V'erkehr der Geschlechter vor- aus, wie ihn die ältere Zeit nicht kannte. Daher handelt der Verf. auf Grund der Dichtung von der Stellung ilor deutschen Frau vom 9. bis zum 12. Jahrhundert und ronstatirt einen völligen Wechsel in ihrem Verhältnisse zum Manne. „Bis ins 12. Jahrhundert ist die Frau activ, aber doch unter- würfig, wie Hiltgund, die ihrem Verlol)ten zu Füssen fällt; seitdem jedoch kehrt sich die Sache um." (S. 34.) Daran knüpft sich die Frage: woher stammen RItterthum, höfisches Wesen und Minnedienst? Wir stehen nicht an, die Erörterung dieser Frage zum Besten zu zählen, was in neuerer Zeit über mittelhochdeutsche Lyrik geschrieben wurde, und wenn man durch frivole Scherze und keineswegs sachliche Bemerkungen die Aufstellungen des Verf. lächerlich zu machen suchte, so hätte man bedenken sollen, dass heute solcher Ton in wissenschaftliehen Arbeiten nicht mehr imponirt. Es würde dem Verf. kaum schwer gefallen sein, das ursprüngliche Kespe;tverhältniss des Dienst mannes zur spendenden Gebieterin weniger ruhig und dürr zu schildern, aber er that gut daran, seiner Dissertation romanhafte Färbung fern zu halten, mit der er „des trockenen Tones satten" seine Ansicht viel- leicht verständlich gemacht hätte. Schliesslich wird die immer noch vor- getragene Lehre vom wesentlichen Einflüsse der Kreuzzüge auf deutsches Ritterthum und auf deutsche Dichtung sachgemäss und historisch abgewiesen.

Eine der Nachahmung werthe Einrichtung zeichnet das Buih aus. „E.\- curse und Belege" (z. B. l. Exegese zu Spervogel 30, 4; II. Urkunden über die von Hausen; IV. heimliche Liebesverhältnisse, aus dem Alexander und aus Ulrich's Frauenbuche erklärt; V. Haupt's Construction M. S. D. VIH, der Westen in der Vorstellung der Deutschen, Parallelen zu M. F. 3, 7; VI. Mann und Frau im 12. Jahrhundert etc.), welche, dem Texte einver- leibt, den Gang der Untersuchung unterbrochen hätten, sind in einem An- hange zusammengestellt, der, wie die Ueberschriften darthun , reich an belehrenden Einzelheiten ist und gleich der ganzen Arbeit von redlichem Studium und fleissigera, mit Erfolg belohntem Eindringen in die Geschichte und die Literatur des 11. und 12. Jahrliunderts Zeugniss ablegt.

Berlin, October 1876. Hans Loeschhorn.

The poets and poetry of Scotl.and, from the earliest to tlie pre- sent tiiDe. Comprising chaiacteristic selections from the works of the more note worthy Scottish poets, with bio- graphical and critical notices. By James Grant Wilson. 2 vols. London, Blackie & Son.

Vorliegendes Werk, das sich aus 2 Bänden zusammensetzt, von denen fler erste die Zeit von Thomas the Rhymer (1219) bis Richard Gall (1776), der zweite die Zelt wn Thomas Campbell (1777) bis Marquis of Lerne, also bis " "^

der

bis auf unsere Tage umfasst, kann als eine werthvolle Encyclopädie schottischen Poesie begrüsst werden. Nach Analogie der Cyclopaedia

462 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.

of Euglish Literature von Chambers angelegt, bietet es uns eine treffllclie Uebersicbt der EntwickUmg der poetischen Strömungen Schottlands dar.

Die biographischen Skizzen enthalten im Grossen und Ganzen alles Wünschensvverthe und lassen die Hauptmomente plastisch hervortreten.

Die ausgewählten Proben der einzelnen Dichter sind in den meisten Fällen wenn wir auch mit dem Princip häufiger nur brucbstücksweiser Wiedergabe literarischer Producte nicht sympathisiren können als ein glücklicher Griff zu bezeichnen und sind im Stande in weiten Umrissen von dem Wesen des Dichters und seiner Dichtung ein cbarakteristisches Bild zu liefern.

Schälzensvverth insbesondere ist auch das dem 2. Bande beigefügte Glossar, das den mit dem schottischen Idiom einigermaassen Vertrauten über die Schwierigkeiten der schottischen Orthographie hinwegzusetzen vermag.

Wir glauben mit Recht auf dieses Werk, das den Versuch gemacht, die Dichter und Dichtung Schottlands als ein von der englischen Literatur los- gelöstes, selbständiges Gebiet zu behandeln, aufmerksam machen zu können, da es ja bisher an einer nennenswerthen, allen Anforderungen entsprechen- den pragmatischen Literaturgeschichte noch immer gebricht.

Schottlands Poesie ist und wird immer einer der schönsten Edelsteine in der weiteren englischen Literatur bleiben. Namen wie Thomson , SmoUet, Macpherson, Burns, Johanna Baillie, Hogg, Scott, Tannahill, Campbell, John Wilson, Carlyle , Buchanan und viele Andere bilden dafür die beste Bürgschaft.

Neben dem Geist wahrer und echter Poesie, der in allen ihren Schöpfun- gen mit ßergesfrische athmet und uns mit unwiderstehlicher Gewalt anzieht, ist es die Ileimath dieser Gestalten vornehmlich, welche sich liebevoll in unserem Jahrhundert dem Einströmen deutscher Ideen hingegeben hat.

Walter Scott, Campbell, Carlyle, John S. Klackie und Theodore Martin haben von der Literatur unseres \'^aterlandes die mächtigsten Anregungen empfangen und die Früchte des deutschen Genius in England nach allen Seiten hin verbreitet.

Schwerin. Dr. Weddigen.

The succession of Sliakespeare's works and the iise of mefrical tests in settling it, by Fred. J. Furnivall. London, Smith, Eider & Co.

Dieser kleine separat erschienene Aufsatz ist die Einleitung, welche Furnivall, der Begründer und Präsident vieler englischen gelehrten litera- rischen Gesellschaften, als Vorwort zu der Bunnet'schen englischen Ueber- setzung des Shakespeare von Gervinus geschrieben hat. Nachdem das Werk unseres deutschen Literarhistorikers sehr anerkennend beurtheilt worden, sucht Furnivall die Veränderungen nachzuweisen, welche im Laufe der Jahre bei den Werken des Dichters sich bemerklich machen; er fordert ein chrono- , logisches Studium der Dramen als eines Ganzen, und zeigt im Einzelnen den Fortschritt und die Entwicklung der geistigen Kraft des Dichters, wie auch den wesentlichen Unterschied in dem Bau der älteren und späteren Verse. Die beigefügte Charakterisirung der neueren englichen Ausgaben Shake- speare's dürfte dem Anfänger in diesen Studien sehr willkommen sein. Auf- fällig erscheint die Schreibweise, welche der Verfasser für die Präterita anwendet; wir lesen da regelmässig: advanct statt advanced, ebenso weighd, examind, markt, coupld, publisht, us't, produc't u. s. w. ^

Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 463

Bertrand et Raton, par Scribe; herausgegeben von Dr, 0. Dick- mann. Berlin, Weidmann, 1877.

Der Ilerausfreber der mit vielem Beifall aufgenommenen Ausgabe des Lutrin hat für die \Veiduiann'sclie Sammlung die Bearbeitung von Scribe's Bertrand et Ilaton übernommen und sich seiner Aufgabe mit vielem Geschick entledigt. Nächst der Ausgabe des Ilorace von Strehlke findet sie Kcf. am besten von den ihm aus jener Sanuulung zu (Jesicht gekommenen Ausgaben. Der \'erf. hat die in der Ankündigung zu dem Unternehmen aufgestellten Gesielitspunkte stets im Auge behalten; bei allen Wörtern, die der Aus- sprache einige Schwierigkeit machen konnten, hat er dieselbe hinzugefügt, die Etymologie ist berücksichtigt und auf synonymische Beslinnnungen das gehörige Gewicht gelegt. In der Kiideitung findet sich eine kurze Biograpliie und Charakteristik Scribe's, nach .1. Sclimidt und Kreissig gegeben, sowie eine als besonders gelungen hervorzuhebende Darstellung der Struensee"schen Katastrophe und eine Schilderung der dabei hauptsachlich betheiligten Per- sonen. Man erhält hierdurch einen genauen Einblick in die Abweichungen, die sich Scribe behufs dramatischer Bearbeitung von der Geschichte erlaubt hat. Von Einzelheiten führe ich als recht interessante Bemerkungen an p. 9, Anm. 49; p. 18, Anm. 104; p. 24, Anm. 151 etc.

Aufgefallen als bestreitbar ist uns auf p. 33 die Anm. 203, wo es zur Stelle on n'a que faire des grands seigneurs heisst: „faire in dieser Redens- art wie das lat. se gerere, das de des Genitives setzt eine Ellipse voraus, z. B. faire le röle des . . . ." Diese Bemerkung sdieint uns nach Genin's Lexicon zum Moüere gegeben , die dort verzeichneten Stellen aber tragen ein anderes Gepräge; wir ziehen darum Littre's Erklärung, die hier auch einen besseren Sinn giebt, vor: n'avoir que faire de quelqu'un = n'en faire grand cas.

Nicht störend sind einige stehen gebliebene Druckfehler, wie p. 13, Z. 12 V. u. nericulum für periculum, wohl aber wenigstens für den Schüler p. 12, Z. 7 V. u. „regner ist ein transitives Verb", anstatt ein intransitives.

Wir können daher die vorliegende Bearbeitung des für obere Classen so interessanten Scribe'schen Stückes den Fachgenossen als recht brauchbar empfehlen.

Hamburg. K. Körner.

Systematischer Grundriss der französischen Syntax für höhere Lehranstahen von Dr. M. Cohn. Hamburg, O. Meissner.

1877.

An französischen Grammatiken ist nachgerade kein Mangel mehr, wohl aber fehlt uns bis jetzt eine auf ein paar Bogen zusammengedrängte Dar- stellung der Syntiix, die wissenschaftlich und dabei doch dim Schüler unserer Mittelschulen verständlich, den Inneren Zusammenhang der grammatischen P^rschelnungen darlegt. Für das (Griechische hat bekanntlich Seifl'ert diese Aufgabe mit Erfolg gelöst; versucht ist sie auch und nicht nu'ssglückt in dem vorliegenden Werkchen. Der reiche Stoff ist auf 67 Seiten zusammen- gedrängt und kaum eine für den Schüler wichtige Erscheinung ausser Acht gelassen; die Hauptregeln sind mit grosser Schrift gedruckt, weitere Be- merkungen und Ausführungen In Anmerkungen verwiesen. Am besten ge- fallen hat Ref. die Behandlung des Infinitives und des Genitives, ferner § 37 die Verba mit verschiedener Rection und die durch das ganze Büchelchen sich hlndin-chzlehende Phraseologie, weniger die der Inversion und des Für- wortes, die etwas reichlicher hätte ausfallen können; bei der I^ehre von den

■ml Beurtheilangen und kurze Anzeigen.

Zeiten hätten wir gewünscht, dass des Passe indefini mit einigen Worten gedacht wäre, auch die Behandlung des Snbjonctif lässt bezüglich der Schärfe der Bestimmungen hin und wider zu wünschen übrig.

Diese Punkte zumal wird der Verf. bei einer jedenfalls bald zu er- wartenden zweiten Auflage einer nochmaligen, sorgfältigen Prüfung unter- ziehen müssen; doch auch in seiner jetzigen Gestalt wünschen wir dem Büchelchen eine recht weite Verbreitung.

Hamburg. K. Körner.

Coiirs complet et graclue de Lectures fran^aises. I. Partie (Sexta et Quinta). Par J. Westenhoeffer. Strasbourg, R. Schulze,

1877.

Vorstehende Sammlung von Lesestücken ist der erste Theil eines grös- seren Werkes, welches der Ver£ zum Gehrauche für die Schulen im Reichs- lande bestimmt hat. P^r giebt uns in ziemlich bunter Reihenfolge: Narrations et recits, Fables et contes, Mythologie, Histoire. Des(;riptions et definitions, llistoire naturelle, Lettres, Dialogues, Poesie und Fables, und begleitet die- selben mit einem Verzeichnisse der schwierigeren V^ocabeln in deutscher Uebersetzung. Die Stücke sind ohne Ausnahme lesenswerth, und es scheinen uns nur einzelne derselben nach ihrem ganzen Ausdrucke für Sextaner und Quintaner etwas zu hoch zu sein, z. B. La verite vcui Massillon u. a. m., ebenso dürfte auch die Zahl der Briefe, wenn solche in einer derartigen Sammlung überhaupt nothwendig sein sollten, doch kaum als hinreichend ungesehen werden. Die Ausstattung des Buches ist schön und der Druck sehr correct.

Vocabulaire Militaire fran^ais-allemand. Recueil de termes de la Technologie militaire moderne par le lieutenant Ribben- trop, instructeur ä Tecole des Cadets de Berlin. Leipzig, Brockhaus 1877.

Die Reorganisation der franz. Armee hat in den letzten Jahren ausser- ordentliche Fortschritte gemacht und das Interesse, welches Kriegsministerium und Offizierkreise in Frankreich für eigentliche wissenschaftliche Studien nuf militärischem Gebiete nehmen, ist fortwährend im Steigen begriffen. Ein Blick in die Pariser Bücherkataloge beweist, wie gross die Zahl der neu erschienenen militärischen Schriftwerke ist, und einer Zeitungsnotiz zufolge soll Dumaine in Paris gegenwärtig von militärischen Werken zwölfmal soviel alisetzen, als in früheren Zeiten. Diese zahlreichen literarischen Erscheinun- gen haben wesentlich zur Bereicherung des Sprachschatzes beigetragen und eine Menge von Neologismen ins Leben geführt, welche dem Ausländer nur sehr schwer verständlich sind und über welche keines der vorhandenen Wörterbücher genügende Auskunft giebt. Es ist demnach ausserordentlich dankenswerth , dass sich der Verf. die Aufgabe gestellt hat, die qu. tech- nischen Ausdrücke nicht nur zu übersetzen, sondern zugleich in äusserst lichtvoller Weise zu erklären, wobei derselbe als tüchtiger Fachmann zugleich von seiner Sprachkenntniss einen glänzenden Beweis geliefert hat; so ist z. B. la deuxieme portion unter administration de l'armee durch folgenden Satz erläutert: „Mannschaften, die bei der Losung hohe Nummern gezogen haben und meist nach sechsmonatlichem, statt fünfjährigem Dienste, schon b(^urlaubt werden müssen , um die etatsmässige Stärke des Heeres inne zu

Beurtlieilungen und kurze Anzeigen. 465

halten (S. 210) oder conpt' de reforine Nr. 1 Entlassung aus dem Heeres- dienste wegen im Dienst (dans le service conimande) zugezogener Krank- heiten."

Das leider nicht durchgehends, sondern innerhalb seiner 7 Abschnitte alphabetisch geordnete Buch erstreckt sich über alle Gebiete militärischen Wissens. Da finden wir ein Capitel Tnctiquc, welches die Ausdrücke der sänimtlichen Reglements aller Waffen, des ISicherheits- und Marsch-Dienstes enthält. Sodann wird uns das militärische Aufnehmen, die Fortification, das Eisenbahnwesen, Fechten, Turnen und Schwimmen vorgeführt, sowie eine Nomenclatur der einzelnen Theile des neuen franz. Infanteriegewebres, ver- bunden mit Angaben über die Scheiben und das Schiessen. Der „Artillerie" folgt ein letzter Abschnitt, welcher die Organisation, Rekrutirung, Verwal- tung u. s. w. umfasst, wobei der Verf. zugleich dem argot mihtaire eine Stelle angewiesen hat.

Augenscheinlich hat sich der Verf. seine Arbeit nicht leicht gemacht, sondern vielmehr mit bewunderungswerthem Fleisse gründlich Umschau in der neuesten Militärliteratur gehalten.

Das Werk, welches auch dem Lexicographen höchst willkommen sein wird, verdient die wärmste Empfehlung.

Antwort auf eine Kritik des Herrn Dr. Grabow.

Auf S. 216 des 57. Bandes d. Bl. würdigt Herr Dr. Grabow aus Lemgo meine bescheidenen Arbeiten auf dem Gebiete der Orthographieverbesserung einer Kritik und meint, dass meine Genügsamkeit in Bezug auf die erforder- lichen wissenschaftlichen Vorkenntnisse Bewunderung verdiene. Ich erlaube mir hierauf dem Herrn Doctor zu erwidern, dass meiner Ansicht nach aller- dings nicht seine Genügsamkeit, bez. Bescheidenheit, Bewunderung verdient, wohl aber in hohem Grade die Leichtigkeit, mit der er Urtheile fällt. Der Mangel an den erforderlichen wissenschaftlichen Vorkenntnissen, der dem Herrn Doctor in meiner letzten Schrift (Die Beschlüsse der orth. Conferenz. Wittenberg 1876), auf die sich sein Urtheil doch jedenfalls bezieht, entgegen- getreten sein soll, muss aber keineswegs so offen zu Tage liegen, da andere, und wie mir scheint, competentere Kritiker, nicht Veranlassung gefunden haben, dies zu rügen. Wohl aber habe ich absichtlich vermieden, einen grossen wissenschaftlichen Apparat in meinem Schriftchen aufzufahren. Das- selbe sollte eben nichts anderes sein, als eine gemeinverständliche Besprechung der Conferenzbeschlüsse. Ausführliche Excurse über die Laut- physiologie des Deutschen u. A., die vielleicht Herr Dr. Grabow vermisst, wären in dem Büchlein keineswegs am Platze gewesen. Ich bin freilich auch der Ansicht, dass Jeder, der bei der Orthographieverbesserung etwas mitsprechen will, genügende sprachgeschichtlicbe, physiologische und ortho- epische Kenntnisse besitzen muss ; ich halte es aber für schwerfällig und unpassend, bei jeder Gelegenheit dieses Wissen umfänglich auszukramen und die ersten zwei Drittel jeder Arbeit mit nochmaliger Durchsprechung aller vielleicht schon längst bekannter Vorbedingungen und Widerlegung schon längst abgethaner Gegengründe anzufüllen. Sehr Vieles lässt sich sicherlich weit einfacher begründen, als die Kathederweisheit manches grundgelehrten Hauptes für möglich hält. W^as würde aber wohl Herr Dr. Grabow sagen, wenn ich mir hier erlaubte, einen bescheidenen Zweifel an seinem Beruf zum Orthographen auszusprechen; wenn ich mir gleichfalls die Freiheit nähme, zu behaupten, dass ihm einige der noth wendigen wissenschaftlichen Vorbedingungen fehlten? Sollte Herr Grabow wirklich klar sein über das Wesen der phonetischen Orthographie, er, der alle seine Vorschläge nur Archiv f. n. Sprachen. LVIII, 30

466 Beurthellungen und kurze Anzeigen.

phonetisch begründet, und der dann schliesslich doch „die Phonetiker", nicht „einige", sondern „die" Phonetiker allesammt mitleidslos verurtheilt? Sollte Herr Grubow wirklich schon über den Zweck der Orthographiereform nachgedacht haben, wenn er z. B. rügt, dass qu durch kw ersetzt werde, weil w in dieser Verbindung bilibial ausgesprochen werde ; wenn er (Gegenwart 23) überhaupt tadelt, dass die „phonetischen Schwärmer" die 40 Laute der deutschen Sprache durch 24 Zeichen decken wollen? Herr Grabow scheint noch gar nicht zu wissen, dass der Zweck der von uns „Schwärmern" angestrebten Reform ein durchaus praktischer, die Auf- stellung einer allgemein anwendbaren Volksschrift ist. Sollte Herr Dr. Grabow ein anderes Ziel verfolgen, vielleicht die Aufstellung eines rein philologischen Alphabets zum Zwecke einer genauen Darstellung der neu- hochdeutschen Lautaussprache mit allen ihren Dialekten, so wünschen wir ihm viel Glück dazu, werden wir diesen seinen Zweck gern als nützlich anerkennen und ihn nicht darin stören, bitten ihn aber, uns gleichfalls un- behelligt zu lassen und seine für seinen und nicht für unseren Zweck passenden Vorschläge für sich zu behalten. Eine Volksschrift kann sich nicht auf die Darstellung aller L.iutmodificationen einlassen; ihre Aufgabe ist einzig und allein die Bezeichnung der Hauptlaute. Jede darüber hinausgehende Forderung würde den Gebrauch der Schreibung erschweren, sie selbst also, da sie nun einmal ein praktisches Werkzeug ist, verschlech- tern. Die übliche Rechtschreibung bezeichnet ja z. B. auch nicht die verschiedenen n, ch und z, und Niemand hat bisher darin einen Mangel gefunden. Muss doch nach den dunklen Vocalen nothwendig der Kehllaut, und nach den hellen Vocalen nothwendig der Gaumeidaut eintreten. Es würde unpraktisch sein, eine Lautmodification noch besonders zu bezeichnen, die unter allen Umständen eintreten muss. Noch viel weniger kann dem Volke, dem Schulkinde, zugemuthet werden, Lautnüancen, deren Erkennung ohne wissenschaftliche Vorkenntnisse unmöglich ist, besonders zu bezeichnen. Wird w nach k, z, seh wirklich bilabial ausgesprochen (ich bezweifle das), und geschieht dies stets, ohne bewusstes Zuthun des Sprechenden, so sehe ich nicht ein, warum wir jene Veränderung noch besonders bezeichnen sollten. Wir streben ja kein photographisch treues Abbild der Lautsprache an, wie es wissenschaftliche Zwecke erfordern. Etwas anders verhält es sich mit der Bezeichnung der verschiedenen E-Laute. Hier wäre eine solche wirklich wünschenswerth. Herr Dr. Grabow erklärt natürlich Jeden für einen Igno- ranten, der nicht die von ihm angegebene Aussprache als die einzig richtige anerkennt und darnach seine Schreibung einrichtet. Hat der gelehrte Herr Dr. Grabow noch nie gehört, dass die E-Laute in den verschiedenen Gegen- den Deutschlands selbst von den Grammatikern sehr verschieden ausge- sprochen werden, und dass seine Aussprache eben nur eine individuelle oder landschaftliche ist? Li Theilen Schlesiens z. B., sowie in Posen, Preussen, Hannover, Braunschweig u. s. w. wird (von Gebildeten) das e in den Wör- tern „lehren, leeren, mehr, Meer, Reede, Rede, Zehen" durchaus gleich, d. h. mit höherem, dem i zuneigenden e, nicht ä, ausgesprochen. Was hat nun Herr Dr. Grabow dafür anzufahren, dass seine Aussprache die allein richtige sei? Aus dieser A'erschiedenheit der Aus-prache ergiebt sich die Unmöglichkeit einer Sonderung der Zeichen, so wünschenswerth eine solche sein würde. Herr Grabow hätte diese Frage erst genauer studiren sollen, ehe er Gelehrte von Ruf, wie Michaelis und Bezzenberger, so arg verketzerte. Auch in Bezug auf ie scheinen mir „die Herren Phonetiker" auf besserem Wege zu sein als der Herr Doctor. Alle wurzelhaften ie müssen, seinem Ausspruche zufolge, nothwendigerwcise ihr e behalten, weil dasselbe noch heute in einigen süddeutschen Volksdialekten gesprochen wird. Consequenter- weise müsste Herr Grabow nun auch süddeutschen Volksdialektcn zu Liebe die Schreibungen „guet, Brueder" u. s. w. als die einzig richtigen empfehlen. Die Formen „ging, fing" werden seiner Meinung nach heutigen Tages besser

Beurtheilungen und kurze Anzeigen. 467

mit kurzem i gesprochen , und doch liegt die Sache so , dass auch heutigen Tages noch überall da, wo ie mit hörbarem e gesprochen wird, auch „ging" und „fing" lang und mit ie gesprochen werden. Warum so inconsequent, Herr Doctor? Wir ..unwissenden" Phonetiker wissen das auch, beziehen uns aber bei unseren Vorschlägen deshalb nicht darauf, weil wir meinen, däss bei Bestimmung der neuhochdeutschen Orthoepie keinem Volksdialekte das Recht mit hinein zu sprechen eingeräumt werden darf. Die neuhoch- deutsche Orthoepie findet ihren Maassstab nur in der überlieferten Recht- schreibung, soweit dieselbe auf phonetischen Grundsätzen beruht. Da nun die übliche Rechtschreibung durch ie nur das lange i bezeichnet, so ist diese Aussprache als die allein hochdeutsche zu betrachten , und wenn wir einmal als Grundsatz einer verbesserten Rechtschreibung die Weglassung der Deh- nungszeichen aufstellen, so ist nothwendig, „schissen" zu schreiben und nicht „schiessen"; denn wir bezeichnen nicht das süddeutsche ie, sondern das hochdeutsche lange i. Dass aber ie in der überlieferten Rechtschreibung nichts Anderes als das lange i bezeichnet, ergiebt sich aus der Thatsache, dass ie in allen den Wörtern geschwunden ist, deren früheres ie in der hochdeutschen Aussprache (nicht in der Mundart) zu kurzem i geworden ist, wie in „Licht, Dirne, ging, fing".

Möchte Herr Dr. Grabow aus dem Obigen lernen, dass Unfehlbarkeit noch nicht zu seinen unbestrittenen Eigenschaften gehört, und dass er besser thun würde, in seinen etwaigen späteren Kritiken sich eines minder hoch- müthigen Tones zu befleissigen.

R. Rissmann.

Erwiderung zu Archiv LVIII, 1. S. 90—93.

Auf die Entgegnung des Herrn Wendel, in welcher er meine Beur- theilung seines Programmes als das Echo Schuchardt's darzustellen be- liebt, habe ich zu erwidern, dass meine Recension in einer October- Sitzung des Jahres 1876 in der Gesellschaft für neuere Sprachen vorge- tragen worden und dass Schuchardt's Referat im Centralblatt am 6. Januar 1877 erschienen ist. Der Irrthum des Herrn W. wäre verzeihlich, wenn nicht der betrefi'ende Sitzungsbericht bereits im Neujahrsheft des Ar- chivs abgedruckt wäre. Uebrigens irrt Herr W. auch darin, dass er glaubt, aus den wenigen Bemerkungen, die über einen halbstündigen Vortrag in das Sitzungsprotokoll aufgenommen worden, sich eine Vorstellung von dem machen zu können, was ich über seine Arbeit gesprochen habe. Welche Rhetorik der Entrüstung würde er erst aufbieten, wenn er wüsste, wie ich sein Capitel über o beurtheilt, und welche Heiterkeit ich hervorgerufen habe durch seine Schlüsse aus Palsgrave, seine Diphthongen-Poesie und seine artigen Witze, z. B. über das Pariser Strassenkind oi, das jetzt „General" geworden, oder den feinsinnig entdeckten Causalnexus von Nasalität und Hochnäsigkeit!

In Bezug darauf, dass ich Schuchardt's Recension oberflächlich genannt habe, thut es mir jetzt leid nicht vorher gewusst zu haben, dass Herr W. sich Privatbriefe schreiben lässt, um sie ohne die Erlaubniss ihres Urhebers drucken zu lassen. Wäre mir dies früher bekannt gewesen, so wüi-de ich meine Ausdrücke besser abgewogen und einen Artikel nicht oberfiächlich genannt haben, der mich nur deshalb nicht befriedigte, weil er mit Herrn W. zu glhnpflich umging und eine Schriftstellerei, die sich mit Celtisch, Walachisch, Oscisch, Lithauisch, Sanskrit und wer weiss welchen Sprachen und Citaten brüstet und dabei der nothwendigsten Vorkenntnisse über den zu behandelnden Gegenstand selbst ermangelt, noch lange nicht so gründ- lich wie sie es verdiente, abgefertigt hat. Denn dass man eine vollständige

30*

468 Beurtheilungen und kurze Anzeigen.

Kenntniss des Altfranzösiscben und seiner verwickelten Lautverhältnisse vom Ursprünge der Sprache an besitzen muss, um die Aussprache, welche im 16. Jahrhundert geherrscht haben kann oder geherrscht haben muss, mit einiger Sicherheit bestimmen und die Grammatiker dieser Zeit auch nur verstehen zu können, das ist Herrn W. bis auf den heutigen Tag noch nicht klar geworden. Wenn er daher in seiner Schrift gegen Diez polemisirt über Dinge, die in das Abc der französischen Philologie gehören, und wenn er neuerdings seine Recensenten auf hochmüthige Weise abkanzelt, so beweist er dadurch nur, dass er der Aufgabe, die er sich gestellt hatte, jetzt noch eben so wenig gewachsen ist wie früher. Trotzdem darf man sich der Hoffnung hingeben, dass der streitbare Romanist von Plauen, wenn er über dem Streiten nicht das Studiren vergisst, in nicht allzuferner Zeit Herrn Schuchardt für seine milde Beurtheilung und unserem Protokollführer für die schonende Kürze seines Berichtes dankbar sein wird.

Oscar Ulbrich.

Mis c e 1 1 en.

Das deutsche Nationaldrama.

lieber die Frage des deutschenNationaldramas imHinblick auf das englische Nationaldrama der Shakespeare-Zeit macht einer unserer Mitarbeiter, Herr Dr. J. Jacoby in Hamburg, in der „Neuen Frankfurter Fresse" nachstehende beachtungswerthe Bemerkungen.

Ein mächtiges Einheitsgefühl hebt und dehnt die Brust jedes Deut- schen; nur der im römischen Religions- Treibhaus Erzogene, nur der eng- brüstige Particularist vermag noch nicht deutsch zu athmen.

Sie werden es lernen müssen und sie werden es erlernen.

Bewusst oder unbewus:^t arbeitet der Einheitsdrang in der Masse des Volkes, das deutsche Nationalgefühl ist realiter da seit dem Jahre 1870.

Frankreichs Hegemonie in Europa ist niedergerungen, der Geisteskampf mit Rom begonnen, in dem Deutschland der freigesinnten Welt als Führer voranschreitet. Unsere Kriegs- und Handelsflotte fährt auf den Weltmeeren, die fernsten deutschen Brüder in Amerika und Australien fühlen sich stolz als Deutsche; das Reich unterstützt Entdeckungsreisen zu See und Land, wir können an überseeische Colonien denken.

Ist dieses unser neues Deutschland nicht ein Fresco-Bild, dessen Pen- dant in der Weltgeschichte als ein kleineres, aber doch stolzes Gemälde, jenes England bildet zur Zeit der ersten dichterischen Entfaltung Shake- speare's.

England hatte damals eben erst das mächtige papistische Spanien besiegt; es fühlte sich als Bollwerk des Protestantismus, als Vorkämpfer einer neuen Zeit ; es umspannte mit seinem Handel, seinen Entdeckungsfahr- ten, seinen Colonisationen die ganze Erde.

Shakespeare lebte in der Zeit des nationalen Aufschwungs, des bewuss- ten Nationalgef übls. Wir können uns rühmen , in ähnlichen Zeiten zu leben.

Aber welch ein Gegensatz in der Literatur Englands vor ca. 280 tFahren und in unserer heutigen! Wenn das Epos dem Kindheits- oder Greisenalter (Homer Virgil! die Gegensätze berühren sich!), die Lyrik dem jugendlichen, das Drama aber dem Mannesalter zukommt, so scheint das Mannesalter unserer Literatur, wenn man nur die heutige im Auge hat, noch nicht gekommen zu sein. In der Lyrik und im epischen Gedicht finden sich nationale Ansätze, denen freilich meist die wahrhaft künst- lerische Sprungkraft fehlt, ja im Roman haben wir einen classischen Er- gründer und Gestalter deutschen Lebens, Gustav Freytag, so dass wir in diesen Gebieten, im Ganzen genommen, nationaler sind als die englischen Dichter jener Zeit; aber im Drama!

Den Beherrschern der altenglischen Bühne gegenüber, den Greene, Mar- Jowe, Shakespeare, Ben Jonson, welches sind die Repertoire-Gewaltigen der

470 Miscellen.

Gegenwart? Die französischen oder französirenden Dichter. Statt jener Dramen, in denen nationales Leben stolz und kräftig pulsirt, transfundiren wir fremdes, nicht ganz unverdorbenes Blut in den schwächlichen Körper unseres Drama.

Aber wie? Haben wir nicht eine bedeutende, ruhmvolle und nationale dramatische Literatur gehabt? Sind Lessing, Schiller. Goethe, Kleist weniger gewesen als jene Engländer? Und können wir nicht mit Stolz das Drama unserer classischen Zeit als nationales auch für unsere Tage in An- spruch nehmen, gerade so wie die Dritten es mit dem Shakespeare'schen Drama thun.

Wir wollen uns die Antworten auf diese 3 Fragen durch die folgenden Betrachtungen zu gewinnen suchen.

Was zunächst die zweite Frage angeht, so wird sie unbedingt zu verneinen sein. Kein Besonnener, und sei er auch Nicht-Deutscher, wird den literari- schen Werth der Shakespeare -Zeit über den unserer classischen Zeit setzen wollen, wird unsere Dichterheroen den englischen unteronmen.

Aber dies ist hier gar nicht die Hauptfrage. Es fragt sich nur: Haben wir eine nationale dramatische Literatur gehabt, sind Goethe, Schiller, Lessing, Kleist nationale Dramatiker gewesen, wie esjene Engländer waren?

Die Antwort ist bald gegeben. Nur eine Nation, nur ein nationaler Staat kann ein nationales Drama, nationale Dramatiker haben. Das sehen wir bei den Athenern, Spaniern, Britten. Bei den Franzosen kann man in Bezug auf das ernste Drama der „classischen Zeit" nur von einem Drama des temporär nationalen Geschmacks reden, nicht von einem eigent- lichen Nationaldrama. Zu einem ernsten Nationaldrama sind die Franzosen bis jetzt nicht gekommen. Das komische Nationaldrama ist bei ihnen hauptsächlich durch Moliere vertreten.

Wo das Nationalbewusstsein nicht jeden Einzelnen durchdrungen hat, wo die nationale Einheit nicht realiter vorhanden ist, da ist kein Boden für das wahre Nationaldrama.

Deutschland zur Zeit Goethe's und Schillers war keine Nation mehr. Das Band der politischen Einheit hing nur noch schlotterig um das Ganze herum, wurde bald auch de facto abgenommen. Sprache, Sitte, Religion, Denkweise trugen bei aller Verschiedenheit noch gemeinsame Grundzüge, der Traum vergangener deutscher Einheit und Grösse lag dem deutschen Michel noch in den Gliedern : viele der Edelsten des Volkes, Dichter, Philo- sophen, Gelehrte, Politiker fühlten ganz deutsch, hofften und erstrebten eine nationale Wiedergeburt; die Dichter gaben der träumenden Erinnerung der Massen, ihrer eigenen Sehnsucht Gestalt in der Dichtung, ja sie kamen einer nationalen Dichtung so nahe, wie es überhaupt bei den thatsächlichen Verhältnissen möglich war aber das Alles gab keine Nation und konnte keine nationale Dichtung, im eigentlichen Sinne, geben. Die nationale Ein- heit existirt nicht in der Wirklichkeit, ein Nationalbewusstsein konnte es nicht geben, das Nationalgefühl der Dichter selbst konnte diese Mängel nicht ersetzen. Die nationale Dichtung erfordert die Nation als Grund- lage, nicht als erstrebtes und erträumtes Ziel.

Es ist interessant zu verfolgen, wie sich unsere grossen Dramatiker diesem Grundmangel gegenüber verhalten.

Lessing sucht die Deutschen auf literarischem Gebiet selbständig, national zu machen, die Idee eines „Nationaltheaters " beschäftigt seinen rast- losen Geist; von Friedrich dem Grossen ei-hofTte er anfangs den mangeln- den politischen Boden: es war noch viel zu früh. Nur der literarischen Selbständigkeit hatte er die Wege gebahnt. Durch sein Jugend-Meisterwerk: Minna von Barnhelm, geht der politische Athem; Die Thaten des Preussen- königs bilden den Hintergrund.

Schiller und Goethe suchen ein „Deutsches Theater" in Weimar zu begründen.

Miscellen. 471

Goethe's erstes grosses Drama, der „Götz", ist ein politiseh-sociales : der geniale „Stürmer und Dränger" fühlte instinctiv das Grundgebrechen des deutschen Volkes und der deutschen Dichtung, Das Motto zum Götz klagt: „Das Unglück ist geschehen, das Herz des Volkes ist in den Koth getreten und keiner edlen Begierde mehr fiihig". Schiller steht auf deutsch- politischem Boden erst mit dem "VVallenstein; sein Schwanengesang, der „Teil", mahnt melancholisch und prophetisch zugleich sein Volk, eine Nation zu werden. Beide wussten wohl, was die deutsche Dichtung und ihre eigene hemmte ; Goethe's zugleich so klarer und tiefer Geist vor Allem hat es offen und bestimmt ausgesprochen, dass die Deutschen keine nationale Dichtung haben konnten, so lange sie keine Nation seien.

Heinrich v. Kleist führte im „Prinz von Homburg" die für die deutsche Entwickelung so ahnungsvolle Gestalt des grossen Kurfürsten auf die Bühne; seine Hermannsschlacht ist ein grossartiger Mahnruf zum Nationalkampf, zu nationaler Einheit, ein Mahnruf, der nicht verhallt ist, zugleich der Scheideruf des Dramas der „classischen" Zeit.

Wir haben bei dieser Betrachtung zugleich eine Reihe von Stücken gefunden, denen zu wahrhaften Nationaldramen nichts fehlte, als dass sie von Slitgliedern einer Nation für eine Nation gedichtet waren. Sie sind (vor Allem Götz, Wallenstein, Hermannschlacht) aus dem national -politischen Leben genommen, ihre Helden sind nationale Helden; Alles was von Natio- nalem im deutschen Volke vorhanden war, fand hier seinen Ausdruck : aber das nationale Selbstbewusstsein musste den Dichtern fehlen, das Bewusstsein, dass sie an eine wirkliche, nicht eine ideelle Nation sich wandten. Wer fühlt nicht jenen Mangel in diesen Dramen heraus? Wo ist hier das stolze und starke, gesunde Nationalbewusstsein, das Shakespeare's englische Dra- men durchdringt?

Ueberall tritt uns die zerrissene, nicht die einheitliche Nation gegen- über, als treues Spiegelbild der damaligen Gegenwart; mit unserer Gegen- wart, mit dem zu einer Nation gewordenen Volke, fehlt der directe Zusam- menhang; ohne den Abschluss der geschichtlichen Entwickelung, den wir erlebt haben, hatten die Dichter den nationalen Halt nicht, von dem aus sie in die Vergangenheit als Entwickelung zur Gegenwart schauen konnten, das Ziel der Entwickelung lag ihnen noch in dämmernder Ferne ; ihre Werke blieben losgerissene Stücke aus der Nationalgeschichte, die sich an kein Gewordenes anschliessen konnten, sie boten Befriedigung in ästhetischer, aber nicht in nationaler Hinsicht.

Die Dichter wollten mehr geben als den Ausdruck ihrer politischen, unnationalen Gegenwart; aber sie konnten höchstens an eine bessere Zukunft mahnen, auf sie hinweisen; ein Ausdruck dieser Zukunft, also ein Ausdruck des wirklich Nationalen, nicht bloss des zum Nationalen neigenden, konnten ihre Dichtungen nicht sein. Der Dichter ist ein Product seiner Zeit und kann auch nur sie wieder produciren.

Drei Arten nationaler dramatischer Literatur sind zu unterscheiden.

Die erste Art, die eigentlichen Nationaldramen, sind die eben besproche- nen national-politischen. In ihnen erhält die Nation als solche ihr Bild zurückgespiegelt.

Die beiden anderen Arten, die national-socialen und die, wie ich sie nennen möchte, national-kosmopolitischen Dramen, tragen ein weit matteres nationales Gepräge. Dem entsprechend tritt in diesen beiden Gat- tungen der dramatischen Literatur unserer „classischen Zeit" der Mangel der politisclien Einheit weit weniger hervor, obwohl auch hier der Blick auf ein nationales Ganze den Dichtern bei ihrem Schaffen eine grössere Sicherheit und Klarheit, einen frischeren, freieren, grossartigeren Schwang verliehen, sie noch tiefer und entschiedener zu Herolden und Leitern nationaler Gesin- nung, Gesittung und nationalen Denkens gemacht hätte.

Sehen wir zunächst auf die zweite Gruppe, die national-socialen Stücke, so

472 Miscellen.

spielt der grössere Theil derselben ein treues Spiegelbild der Zeit, in der die Dichter selbst lebten in einer Periode bereits gebrochener natio- naler Kraft und Einheit. So Lessing's Minna und Goethe's Götz (von denen letzteres Werk auch hierher gezählt werden kann, ersteres vorwiegend hier- her gehört), Schiller's ,.Räuber" und ,,Kabale und Liebe"; nur bei Kleist's „Käthchen von Heilbronn" trifft dies nicht eigentlich zu.

Was ich unter national -kosmopolitischen Dramen verstehe, wird klar werden, wenn ich Lessing's „Nathan", Goethe's „Faust", Shakespeare's „Hamlet" nenne. Sie sprechen nationales Denken, nationale Reflexion über allgemein menschliche Interessen in zunächst nationaler, aber das allgemein Mensch- liclie nicht beeinträchtigender Form aus: auf nationalem Boden stehend, erheben sie sich in die reine Aetherluft des ewig Menschlichen. Sie sind die dichterische Verbrüderung der Nation mit der Menschheit, gleichsam das Angebinde jener für diese.

Man könnte sie auch philosophische Nationaldramen nennen.

Schon der Untergrund des Nationalen ist hier ein breiterer. Er umfasst nicht bloss das einzelne Volk, sondern die Völkerfamilie, den Stamm, zu dem es gehört.

Der „Faust" gehört nach Ort, Zelt, Charakteren, geistigem Gehalt zwar zunächst, aber ni<ht bloss dem deutschen Volke, er gehört zugleich dem nor- disch-germanischen Volksgebiet an (ich erinnere an die Figur des Mephisto, den ganzen Teufels- und Hexenspuk). Aber das Ringen, zunächst des germanischen Geistes mit der Frage nach Grund , Wesen und Zweck des Daseins, kommt in einer Form zum Ausdruck, die von nationalen und Stamm- Besonderheiten gerade nur so viel enthält, um die allgemein menschlichen Züge darunter nicht leiden zu lassen.

„Hamlet" stebt von vornherein nicht sowohl auf nationalem, als auf ger- manischem Boden. Dänemark, Deutschland (Wittenberg!), Norwegen treten in Wechselbezug. England erscheint in der Ferne, und gerade wie im zweiten Theil des „Faust" der germanischen Welt Hellas entgegentritt so hier Frankreich (Laertes!). Hier Ist das schrankenlose Spiel des Zwei- fels, der Skepsis In Gedanke und That zunächst aus germanischem Wesen heraus dargestellt, aber wie in der Form, so im geistigen Gehalt Ist das Nationale nur der vorherrschende Untergrund, der das allgemein Mensch- liche zu anschaulicher Erscheinung bringt. Alle Culturvölker, nach den germanischen vorzugsweise die romanischen, haben sich jetzt, nachdem sie durch die anscheinend fremdartigen Hüllen allmälig bis zum Kern des Werkes durchgedrungen, den Hamlet In vollem Sinne angeeignet.

Es könnte scheinen, als ob Lessing's „Nathan" nicht In diese Zahl gehört. Spielt doch das Stück In Palästina, Ist doch die Hauptfigur ein orientalischer Jude. Hier scheint Alles kosmopolitisch, Nichts national zu sein. Indess, nicht nur, dass der Kreuzzug des deutschen Kaisers Friedrich Barbarossa zur Unterlage der Fabel dient, dass die abemiländischen Christen gerade nur durch Deutsche vertreten werden, dass auch sonst nationale Anknüpfungen nicht fehlen, wendet sich der Dichter mit seiner Auffassung, mit seiner Lehre über das Verhältniss des Confessionellen zum Religiösen und all- gemein Menschlichen, doch zunächst an sein eigenes Volk (die in ihrem ehrlichen, aber beschränkten und vorurtheilsvoUen Denken zu bessern- den Christen im Drama sind eben Deutsche) , an sein eigenes Volk , das dem confessionellen Hader so bittere Opfer gebracht hatte, das aber zugleich jenen Streit des Confessionellen und rein Menschlichen am reinsten, gründlichsten und erschöpfendsten zum Austrag zu bringen , durch seine Geschichte, con- fesslonelle Mischung, seine philosophisch -gründliche Natur angelegt und bestimmt scheint.

Der Ueberbllck über unsere classlsche dramatische Literatur aus natio- nalen Gesichtspunkten erglebt demnach, dass zwar sämmtliche Grujipcn national -dramatischer Literaiur in ihr vertreten sind, dass sie aber

Miscellen. 473

alle gleichsam um eine Stufe hinter dem eigentlich Nationalen zurück- bleiben.

Selbst die verhältnissmässig geringe Zahl „nationaler", oder also richtiger nationeller classischer Dramen*) (in der ersteh Gruppe 5, in der zweiten 4, in der dritten 2, zusammen 11), ist ein Beweis dafür, dass die Zeit für das nationale Drama noch niciit gekommen war; dass nicht einmal der Drang nach nationaler Einheit die ganze Masse des deutschen Volkes durchdrungen hatte. Die nationalen Dichtungen fanden noch nicht ein von vornherein für den Stofl sich interessirendes Gesammtpublicum : daher konnten die Dichter nicht allzu- hiiufig nach jenen Stoffen greifen, die theils, wie die der dritten Gruppe, wegen ihrer zum Abstracten neigenden Natur, theils, wie die der ersten, wegen der geschichtlichen Sprödigkeit, an sich schon einen ganz besonderen Aufwand reflectireniier, entwerfender und gestaltender Dichterkraft erfordern, der nur durch eine begeistert entgegenkommende Stimmung der Gesammtnation auf- gewogen werden kann.

Wir haben also ein eigentliches Nationaldraraa noch nicht gehabt.

Jetzt sind wir, unserer Literatur nach, viel weiter davon entfernt, als vor 75 Jahren.

Die Posse, der bei allem Localwitz ein nationaler Zug nicht fehlt, hat bis jetzt noch nicht dramatische Gestalt gewinnen können, weil sie sich keine Handlung zu schaffen weiss.

Ausser ihr fiorirt, von Richard Wagner ausgebildet, eine nicht nur wie schon bisher der Musik, sondern auch dem Text nach nationale Oper (Musikdrama).

, Im Uebrigen haben die französischen Sitten-, oder vielmehr Unsitten- stücke, noch nicht aufgehört, das moderne deutsche Repertoire zu beherr- schen, soweit nicht auf altere Dichtungen zurückgegrifi'en wird. Nur hier und da, freilich in einer steigenden Zahl, mit immer steigender Zugkraft, taucht ein Drama aus deutscher Geschichte, Sage, deutschem Volksleben auf. Das sind " soweit die Werke aus wirklich dichterischem Drange her- vorgegangen sind, nicht den Stempel der Mache, der Unkraft unverkennbar in sich tragen Saatkörner des zukünftigen deutschen National - Drama's. Nament- lich scheinen gewisse aufsti^bende junge Talente in diese Bahn eintreten zu wollen ; möge ihnen Ermunterung und gerechte Würdigung zu Theil werden !

Noch ist das junge deutsche Reich zu sehr in seiner inneren Organi- sation begriffen, noch ist seine politische Stellung nach Aussen hin in man- chen wesentlichen Fragen nicht entschieden oder nicht erkennbar. Noch gährt es im Schosse des deutschen Volkskörpers zu trüb und unklar von unausgetragenen Gegensätzen aller Art; in politisch-kirchlicher, in rein poli- tischer, in socialer und geselliger, in speculativer, in ästhetischer Beziehung.

In künstlerischer Hin.sicht stehen wir noch zu sehr unter dem Bann unserer grossen „classischen" Literatur, die noch nicht genug in Blut und Nerven der Nation eingedrungen, noch nicht hinreichend „verdauet" ist, um originalen Schöpfungen Raum zu geben. Sinn und Kraft unseres Volks sind seit Langem von der Kunst hinweg auf das Gebiet nüchterner That in Privatleben, Politik und Wissenschaft hingerichtet gewesen; erst jetzt scheint sich die Sehnsucht nach der Kunst, der Einigerin aller menschlichen Beziehungen, allmälig wieder einzufinden.

*) Vergegenwärtigen wir uns dagegen, dass in der kurzen Blüthezeit des englischen Drama Shakespeare allein 13 Stücke von nationalem Ge- präge geschrieben hat. Dahin gehören nicht weniger als 11 in die Zahl der eigentlichen Nationaldramen (1. Gruppe); 8 sind der National- geschichte, 3 (Cymbeline, Lear, Macbeth) dem nationalen Sagenkreis ent- nommen. Die 3. Gruppe ist durch Hamlet, die 2. durch ein Lustspiel (die Lustigen Weiber von Windsor) vertreten aber auch Heinrich IV. nament- lich im zweiten Theil, neigt sehr nach dieser zweiten Gruppe hin.

474 Miscellen.

So sehen wir bis jetzt nur zerstreute Keime zu einem künftigen deut- schen Nationaldrama. Ob sie Wurzeln schlagen werden, was sich aus ihnen gestalten -- wann die Zeit gekommen sein wird, da aus hinreichend durcli- pflügtem Boden frische Saat allüberall mächtig und üppig emporwächst, wer will es bestimmen? Dass aber dann die Poesie nicht vereinzelt, sondern innigst vereint mit der Musik, in schwesterlichem Bunde mit den bildenden Künsten ihre wahrhaft nationale Auferstehung im deutschen Lande feiern werde, das mag man ahnungsvoll schliessen aus dem Gesammtstreben und Weben unseres Volks und unserer Zeit.

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