EIARVARNDUNILVERSIINGE LIBRARY OF THE MUSEUM OF COMPARATIVE ZOÖLOGY. a An Jahn 14,190 hi R N FEN: EN PREISE RUL FF, Na Kdtente ARCHIV ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE. FORTSETZUNG DES von REIL, REIL v. AUTENRIETH, J. F. MECKEL, JOH. MÜLLER, REICHERT vw. DU BOIS-REYMOND HERAUSGEGEBENEN ARCHIVES. HERAUSGEGEBEN VON Dr. WILHELM HIS, PROFESSOR DER ANATOMIE AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG, UND Dr. TH. W. ENGELMANN, PROFESSOR. DER PHYSIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN. JAHRGANG 1900. SUPPLEMENT-BAND ZUR PHYSIOLOGISCHEN ABTIEEILUNG. LEIPZIG, VERLAG VON VEIT & COMP: 1900. ARCHIV FÜR PHYSIOLOGIE PHYSIOLOGISCHE ABTHEILUNG DES ARCHIVES FÜR ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE. UNTER MITWIRKUNG MEHRERER GELEHRTEN HERAUSGEGEBEN VON Dr. TH. W. ENGELMANN, PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN. JAHRGANG. 1900. SUPPLEMENT-BAND. ‘MIT ABBILDUNGEN IM TEXT UND EINER TAFEL. LEIPZIG, VERLAG VON VEIT & COMP: 1900. Druck von Metzger & Wittig in Leipzig. ' Inhalt. V. P. Ossırow, Ueber die physiologische Bedeutung des Ammonshornes SınvEstro BAGLions, Der Athmungsmechanismus des Frosches. . . . H. ZwWAARDEMAKER, Ueber Intermittenztöne . 5 R. pu Borıs-Reymonp, Ueber die Geschwindigkeit des Nerven nrieeips Max VERWORN, Zur Physiologie der nervösen Hemmungserscheinungen . 5 W. von MorAczEwsKı, Die Zusammensetzung des Leibes von hungernden und blutarmen Fröschen . W. v. BECHTEREw, Ueber die oesheation der mern in de Behieneindl Max VERWORN, Ermüdung, Erschöpfung und Erholung der nervösen Centra des Rückenmarkes. Ein Beitrag zur Kenntniss der Lebensvorgänge in den Neuronen Hans WINTERSTEIN, Ueber die Wirkung der Kohlensäure auf das Centralnerven- system & SILVESTRO ENeionn.- ER Siblbeicche ern nehschiedener Mechanismen des hückenmarkes. (Physiologische Wirkung des ee und der Carbol- säure.) (Hierzu Taf. I.) $ : Auscusr PÜTTER, Studien über Thigmotaxis ven Pretisten. ES N CET Verhandlungen der physiologischen Gesellschaft zu Berlin 1899—1900. H. VırcHow, Ueber die Dicke der Weichtheile an der Unterseite des Fusses beim Stehen auf Grund von Röntgenbildern . : : E. Benpıx, Bericht über Versuche, wie viel Zucker Ben Daeichune ver ae: dener Eiweiss-Arten im thierischen Organismus gebildet wird N. Zuntz, Ueber den Kreislauf der Gase im Wasser N. Zuntz, Versuche, die Methode des Nachweises von Kohleuosydgus i in des Luft zu verfeinern H. VırcHow, Bedeutung der Eonaehanen im Keen ; R. pu Boıs-Reymonn, Ueber antagonistische Coordination der Waden- ad Sohlen! musculatur. . . . RR TH. W. EnGELManNN, Bean die ER: Mean as Tee echnndislen der Erregung im motorischen Nerven Cowr, Ueber lineare Kinematographie, nebesoafne “s ER aıe de Dale R. pu Boıs-Reymonp, Ueber die Fixation des Kniegelenkes beim Stehen WırH. Koch, Bemerkungen über Entstehungszeit und Wesen der Eingeweidebrüche des Rumpfendes . BE. BERGER, Ueber erealonicche nn end Brillen o Tr. W. Ensermann, Ueber ein Mikrospectralobjectiv mit Nonnen FEB 14 1901 Ueber die physiologische Bedeutung des Ammonshornes. Von Dr. med. V. P. Ossipow, Assistenzarzt an der psychiatrischen und Nervenklinik zu St. Petersburg. IE Experimente über die physiologische Bedeutung des Ammonshornes nach der Methode des Functionsausfalles wurden bisher nur von wenigen Forschern angestellt. Obschon die von diesen Forschern aus ihren Thier- experimenten gezogenen Schlussfolgerungen zum Theil unter einander gleichartig sind und sogar, wenn auch nicht vollständig, mit den Schluss- folgerungen anderer Autoren zusammenfallen, welche nach anderen Unter- suchungsmethoden gearbeitet haben (Edinger, Zuckerkandl — nach vergleichend-anatomischer, embryologischer, anatomischer Methode), so muss man doch niehts destoweriger, wenn man die Arbeiten dieser Autoren näher kennen lernt, unweigerlich zu dem Schlusse kommen, dass ihre Ergebnisse auf sehr schwankender Grundlage beruhen. Experimente mit operativer Entfernung des Ammonshornes wurden an Thieren ausgeführt von Ferrier, Ferrier und Yeo, theilweise von Horsley und Schäfer, von Luciani und Sepilli und von Fasola. Zur Begründung meiner Behauptungen muss ich wenigstens in aller Kürze die Arbeiten der angeführten Autoren einer Besprechung unterziehen. Die Experimente von Ferrier wurden im Jahre 1875 an Affen an- gestellt. Nachdem die Affen chloroformirt waren, wurde die Schädelhöhle in der Gegend der Scheitel- und zum Theil der Schläfenwindungen eröffnet. Durch die entstandene Oefinung drang der ÖOperateur mit einem Galvano- kauter in die Gehirnsubstanz ein, indem er dem Instrument eine solche Richtung gab, dass eine Zerstörung des Gyrus hippocampi und Ammons- hornes erreicht wurde. Nach der Operation wurden die Thiere untersucht, wobei zur Prüfung. des Geruches Essigsäure und Ammoniak verwandt Archiv f. A. u. Ph. 1900. Physiol, Abthlg. Suppl. 1 2 V. P. Ossıpow: wurden, zur Prüfung des Geschmackssinnes Citronensäure, endlich zur Prüfung der Hautsensibilitätt — heisses Eisen und Kneifen. Unter Anderem gelangt der Verfasser zu folgenden Schlüssen: die Zerstörung des Hippocampus major (C. Ammonis) und des Gyrus hippo- campi führt den Verlust der Berührungsempfindlichkeit auf der gegenüber- liegenden Körperseite herbei; das Geruchscentrum ist gelegen in dem Subieulum ec. Ammonis oder in dem Gyrus uncinatus derselben Seite; das Centrum für die Daun ist localisirt neben dem Ge- ruchscentrum. Mit der Untersuchung ie Thiere begann der Verfasser sogleich nach der Operation, d. h. zu einer Zeit, wo sich das Thier noch unter dem Ein- fluss der Narkose befand, obschon nach Ansicht des Verfassers (siehe Versuch XII) sich die Thiere von der Operation im Verlaufe von 5 Minuten erholten, daher ist es auch kaum zu verwundern, dass die Thiere auf so kräftige Reize, wie Essigsäure u. s. w., keine Reaction zeigten. Kein einziger der vom Verfasser operirten Affen, ausser Nr. XVII, lebte länger als 2 Mal 24 Stunden nach der Operation (Versuch XII), die Thiere gingen in comatösem Zustande an demselben Tage zu Gründe, oder sie wurden durch Chloroform nach einigen Stunden oder am Tage nach. der Operation getödtet. Bei der Section des Gehirnes der eingegangenen Affen zeigten sich gewöhnlich weitgehende Zerstörungen, was durchaus verständlich ist mit Rücksicht auf die vom. Verfasser angewandte Operationsmethode. Auch entzündliche Erscheinungen waren in der Regel deutlich ausgeprägt, ob- schon Verf. hierüber ziemlich schnell hinweggeht (Versuch XVJ).! Auf Grund der vom Verfasser angestellten Versuche und mit Rück- sicht auf seine Methoden der Untersuchung war es, meines Erachtens, nicht gut möglich, die Abhängigkeit des Ausfalls der oder jener physio- logischen Function von einem bestimmten Abschnitt des centralen Nervensystems zu behaupten, besonders aus dem Grande, weil die vom Verfasser beobachteten Erscheinungen keineswegs beständig waren. Die Unrichtigkeit seiner Schlussfolgerungen geht aus den weiteren Arbeiten des Autors hervor, die angeführten Experimente Ferrier’s sind lediglich von historischer Bedeutung. Wie schwierig die Beobachtungen unter derartigen Verhältnissen sind, ergiebt sich allein schon daraus, dass Ferrier das Eintreten der Blindheit bei Thieren, wenn man diesen die Hinterhaupts- lappen zerstört, entging (Versuch XVII). Weitere Versuche in der angegebenen Richtung wurden von Ferrier in Gemeinschaft mit Yeo angestellt und im Jahre 1884 publieirt. Die ‘ David Ferrier, Experiments on the brain of monkeys. Philosophical Trans- actions. 1875. Vol. CLXV. Part. II. p. 433—488. Exp. XI, XU, XII, XIV, XVII, XVII. ÜBER DIE PHYSIOLOGISCHE BEDEUTUNG DES AMMONSHORNES. 3 Versuche sind schon besser als früher, insofern, als die Affen erheblich länger nach der Operation lebten, bis zu 3 Monaten, und die Beobach- tungen waren auch viel sorefältiger. Ausserdem wurden Ferrier, nach dessen eigenen Worten, gegen seine ersten Versuche mancherlei Einwände gemacht. Aus welchem Grunde, ist nicht ersichtlich, doch spricht Ferrier diesmal nur sehr wenig von einer Beeinträchtigung des Geruches nach der Zerstörung des Gyrus hippocampi und des ©. Ammonis, obschon er diesmal weit mehr Versuche anstellte, als zum ersten Mal. In dem Versuche 24, wo der Galvanokauter durch den linken Hinterhauptslappen ging und zum Theil den Gyrus hippocampi und das ©. Ammonis zerstörte, war die Reaction auf Essigsäure linkerseits herabgesetzt; in dem Versuche 25, wo theilweise sowohl der Gyrus hippocampi, als auch das ©. Ammonis zerstört wurden, war die Störung des Geruchssinnes zweifelhaft; in dem Versuche 26, wo gleichfalls dieselben Theile verletzt wurden, war die Reaction auf Am- moniak linkerseits herabgesetzt. Interessant ist, dass die Verfasser ein völliges Verschwinden des Geruches nach der Operation überhaupt nicht erwähnen. In dieser Arbeit ist Ferrier bestrebt, um jeden Preis den Beweis dafür zu liefern, dass der Gyrus hippocampi und das C. Ammonis das Centrum für die tactile und musculäre Sensibilität repräsentiren. Jedoch fallen schon bei einem oberflächlichen Durchlesen der Versuchsprotocolle eine Menge von Widersprüchen auf. Ich will hier nur einzelne Beispiele solcher Widersprüche anführen, da die vorliegende Arbeit von Ferrier und Yeo bereits von Prof. H. Munk! einer eingehenden Kritik unterworfen wurde. Ungeachtet annähernd gleich weitgehender Zerstörungen des Gyrus hippocampi und des C. Ammonis, wie sie bei einigen Operationen statt- fanden, wiesen die musculäre und tactile Sensibilität dennoch nicht gleich- artige Veränderungen auf, bald waren sie herabgesetzt, bald waren sie völlig geschwunden. In dem Versuche 32 constatiren die Verfasser, ungeachtet einer Zerstörung des Gyrus hippocampi und des C. Ammonis (oberfläch- licher Art), eine Hyperästhesie der Haut der gegenüberliegenden Körper- seite des Thieres; 4 Wochen darauf wurde die Operation rechterseits wieder- holt, wobei ausgiebige Zerstörungen ausgeführt wurden; die hierauf eingetretene linksseitige Anästhesie verschwand vollkommen am 6. Tage nach der Operation. Die Verfasser erklären dies Verhalten dadurch, dass die Zerstörung des Gyrus hippocampi und des C. Ammonis keine voll- ständige gewesen wäre; nach den Versuchsprotocollen zu urtheilen, war sie jedoch bedeutender, als in einigen anderen Fällen mit völligem und an- dauerndem Verlust der Sensibilität. In dem Versuche 33 kehrte die ! H. Munk, Ueber die Fühlsphären der Gehirnrinde. Sitzungsber. der königl. preuss. Akad. der Wissensch. zu Berlin. Sitzung der physik.-math. Classe vom 14. Juli 1892. Bd. XXXVI. 8. 679-723. 4 V, P. Ossıpow: Sensibiliät bereits am Tage nach der Operation wieder, ungeachtet einer weitgehenden Zerstörung der bezeichneten Hirntheile. Die Verfasser führen in der besprochenen Arbeit 10 Experimente mit einer Zerstörung des Gyrus hippocampi, des ©, Ammonis und der sie umgebenden Hirntheile an; nur in dreien (25, 26, 32) von den 10 Versuchen lebten die Affen eine längere Zeit nach der Operation (4 Wochen bis zu 3 Monaten), doch waren die bei ihnen zur Beobachtung gelangten Erscheinungen keineswegs gleich unter ein- ander; in dem Versuche 24 lebte der Affe 8 Tage; in den übrigen 6 Ver- suchen dagegen fanden die- Verfasser ihre Thiere am Tage nach der Operation, resp. am 3. oder 4. Tage nachher todt aus unbekannter Ursache, oder sie tödteten die Versuchsthiere mittels Chloroform am folgenden Tage, weil sie dieselben in comatösem Zustande antrafen. Bei der Section des Gehirnes der Thiere wurden heftige Entzündungserschei- nungen beobachtet, in einigen Fällen jedoch, z. B. in dem Versuche 33, war das Gehirn anscheinend normal. ‚In der zwischen der Operation und dem Tags darauf erfolgten Tode des Thieres gelegenen Zeit wurde das Thier von den Verfassern in comatösem Zustande untersucht, wobei den Ergebnissen dieser Untersuchung in den Augen der Verfasser die gleiche Bedeutung zukam, wie den Resultaten, wie sie bei der Untersuchung der wenigen Versuchsthiere gewonnen wurden, die längere Zeit hindurch beobachtet wurden. Mehrere Stellen der Versuchsprotocolle fallen durch ihre Eigenthümlichkeit auf: so notiren die Verfasser beispielsweise in dem Versuche 30 bei dem operirten Affen eine Verminderung der tactilen Sen- sibilität an der linken Seite und erwähnen gleich darauf, es finde sich bei dem Thiere eine allgemeine Unempfindlichkeit gegenüber Berührungen? Am darauffolgenden Tage fand man den Affen in comatösem Zustande und tödtete ihn durch Chloroform. Man sollte doch meinen, dass ein derartiger Versuch nicht mit in Rechnung gezogen werden dürfe — doch werden auch aus ihm Schlussfolgerungen gezogen. Schliesslich hatten die Verfasser, indem sie ausgedehnte Zerstörungen im centralen Nervensystem erzeugten, kein Recht, eine Abhängigkeit der von ihnen ‘beobachteten Er- ° scheinungen von bestimmten Hirnbezirken zu behaupten. Zum Schluss will ich die Schlussfolgerungen aus der Arbeit der ge- nannten Forscher anführen, welche wohl kaum als begründet gelten können. Sie halten den Gyrus hippocampi und das C. Ammonis für das Centrum der tactilen und musculären Sensibilität, wobei zum Zwecke der Erzeugung eines völligen Verlustes dieser Arten von Sensibilität eine vollständige Zer- störung der genannten Hirntheile an der gegenüberliegenden Seite noth- wendig sein soll. Eine Zerstörung nur der Rinde des Gyrus hippocampi rufe eine unvollständige und vorübergehende Anästhesie hervor; Zerstörung der Faseia dentata — vorübergehende Hyperästhesie; Zerstörung allein des ÜBER DIE PHYSIOLOGISCHE BEDEUTUNG DES AMMONSHORNES. 5 C. Ammonis bewirke eine merkliche Anästhesie der gegenüberliegenden Seite. 1 In einem grossen Werke über die Functionen des Gehirns, das im Jahre 1886 erschienen ist und die Resultate früherer Arbeiten zusammen- fasst, setzt Ferrier seine früheren Ansichten über die Bedeutung des Gyrus hippocampi und des ©. Ammonis aus einander und fügt bloss hinzu, dass -die Zerstörung dieser Theile, einzeln für sich, nur eine temporäre Störung in der tactilen Sensibilität hervorrufe, welche sich zusammensetze aus der cutanen, musculo-eutanen und musculären Sensibilität.” Etwas später wurden die Versuche von Ferrier von Horsley und Schäfer wiederholt, jedoch schon unter verbesserter Versuchsanordnung. Ungeachtet bedeutender Zerstörungen des Gyrus hippocampi und des C. Ammonis bekamen die genannten Forscher an den von ihnen operirten Thieren keinerlei Sensibilitätsstörungen. Ferrier erklärte diesen Wider- spruch durch eine ungenügende Zerstörung der Gegend des Hippocampus. Hierauf führten Horsley und Schäfer eine neue Reihe von Versuchen aus, mit weitgehenderen Zerstörungen der genannten Region, wobei sie in einem von 8 Versuchen eine gewisse Herabsetzung der tactilen Sensibilität, in 2 weiteren Fällen der tactilen und Schmerzempfindlichkeit eintreten sahen (Versuche 31, 33, 34); doch auch diese 3 Versuche sind keineswegs einwandsfrei. In dem Versuche 31 dauerte die Störung der Sensibilität nur eine Woche an, und dies geschah erst nach Vornahme der 4. Operation an ein und demselben Thiere. In dem Versuch 33 ging der Affe 2 Tage nach der Operation in comatösem Zustande zu Grunde; die Verfasser selbst sind der Ansicht, dass die Untersuchung des Thieres in Folge dieses Um- standes nur eine unvollständige sein konnte, thun aber dennoch Erwähnung einer gewissen Herabsetzung der tactilen und Schmerzempfindlichkeit linker- seits (Operation auf der rechten Seite). In dem Versuche 34 kehrte die Schmerzempfindlichkeit bereits am folgenden Tage zur Norm zurück, wäh- rend die Herabsetzung der tactilen Sensibilität noch 3!/, Monate nach der Operation bemerklich war.? Auch auf Grund dieser Versuche ist es nicht möglich, Schlüsse auf die Function des Ammonshornes zu ziehen. Zudem muss man wohl richtiger annehmen, dass sowohl in den Experimenten Ferrier’s, wie auch in denen von Horsley und Schäfer die Sensibilitäts- störung bei den Thieren von einer Verletzung der Hirnschenkel oder der ! Ferrier and Yeo, A record of experiments on the effects of lesion of different regions of the cerebral hemispheres. Philosophical Pransactions. 1884. Part. II. London 1885. p. 532—564. Exp. 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33. ” Ferrier, The functions of the brain. London 1886. ® Horsley and Schäfer, A records of experiments upon the functions of the cerebral cortex. Philosoph. Transact. 1888. Vol. CLXXIX. p. 1—45. Exp. 28--35. 6 V. P. Ossıpow: Capsula interna abhängig war, wenn nicht unmittelbar durch den Galvano- kauter, so veranlasst durch entzündliche Processe in Folge der grob aus- geführten Operation. Daher ‚sind die negativen Resultate von Horsley und Schäfer viel beweisender. Von Interesse ist, dass die letztgenannten Forscher mit keinem Wort einer Störung des Geruches bei den operirten Thieren Erwähnung thun. Im Jahre 1884 publieirte Luciani in Kürze eine Zusammenfassung seiner Experimente im Gebiete der Sinnescentren der Hirnrinde. Seine Versuche über den Gyrus hippocampi und über das ©. Ammonis bestätigen, ebenso wenig wie die Experimente von Horsley und Schäfer, die Bedeu- tung dieser Windungen als Centren für die cutane und musculäre Sen- sibilität (Ferrier); Luciani behauptet mit Entschiedenheit, das Ammons- horn sei die centrale Stelle der Riechsphäre, da schon geringe Läsionen desselben beim Operiren Geruchsstörungen hervorriefen, und in der ersten Zeit nach der Operation das Geruchsvermögen sogar vollständig verloren gehe; eine Zerstörung des Gyrus hippocampi führe gleichfalls zu einer Störung des Geruches. Das Ammonshorn sei nur ein Hauptabschnitt der Riechsphäre, die gesammte Riechsphäre der Hirnrinde sei sehr gross, sie umfasse mehr als die Hälfte der. Oberfläche der Schläfen- und Scheitel- lappen. Ausserdem sieht Luciani, freilich nur vermuthungsweise, das Ammonshorn als einen Theil der corticalen Hörsphäre an. In der Nachbar- schaft des Geruchscentrums befinde sich auch das (Geschmackscentrum, welches die vierte äussere Windung einnehme (the fourth external con- volution) und einen Theil des Gyrus hippocampi, aus dem Grunde, weil nach Entfernung dieser Theile der Hirnrinde bei den Hunden auf der der Operation entsprechenden Seite -der Zunge die Reaction auf den bitteren Geschmack des Digitalin verschwunden wäre. ! Mich interessiren ganz besonders die Versuche von Luciani, in welchen ‚bei Thieren das Ammonshorn entfernt wurde. Daher will ich diese Experi- mente ausführlicher betrachten. In einer grossen Arbeit über die Locali- sation der Centren in der Rinde des Grosshirns, ausgeführt. in Gemeinschaft mit Sepilli, führt Luciani 4 Versuche an, wo er bei Hunden unter Anderem auch eine partielle Exstirpation des Ammonshornes ausführte. Versuche, die besonders der Exstirpation des Ammonshornes gewidmet waren, giebt es in dieser Arbeit nicht. In dem ersten dieser Versuche (Luciani und Sepilli, Seite 75 bis 78) wurde ein Hund 2 Mal operirt; die erste Operation bestand in der Exstirpation eines Theiles der Sehsphäre Munk’s in der linken Hemisphäre; nach der Operation gelangte eine heftige Wund-. ! Luciani, On the sensorial localisations in the cortex cerebri. Brain. 1884. Juli. Part. XXVI. p. 145 - 160. ÜBER DIE PHYSIOLOGISCHE BEDEUTUNG DES AMMONSHORNES,. 7 eiterung zur Beobachtung, begleitet von Fieber; nach 2°/, Wochen wurde die Entfernung der zurückgebliebenen Abschnitte der Sehsphäre ausgeführt, wobei der Seitenventrikel eröffnet, das Ammonshorn dagegen nur blossgelegt wurde. Am Tage nach der Operation schien der Geruch des Hundes herab- gesetzt, so dass er Speisen vermöge des Geruches erst in einer Entfernung von 2 @ wahrnahm. An den folgenden Tagen fanden die Verfasser den Geruch gleichfalls herabgesetzt gegen die Norm. Am 10. Tage nach der Operation fieberte der Hund, verweigerte die Nahrungsaufnahme und starb am 11. Tage nach der Operation an einer äusserst scharf ausge- sprochenen eitrigen Gehirnentzündung (wie die Section ergab, bedeckten reichliche Eiterungen die ganze Hirnbasis und überfüllten die Ventrikel); an dem linken Ammonshorn zeigte sich eine kleine Ecehymose. In dem zweiten Fall wurde ein Hund 4 Mal in Zwischenräumen von 10 Tagen bis zu 3 Wochen operirt; bei der ersten Operation wurden beider- seits die hinteren Abschnitte der Scheitellappen entfernt, bei der zweiten die Sehsphäre linkerseits, bei der dritten Operation die Sehsphäre rechter- seits; der Geruch war normal; bei der vierten Operation partielle Ent- fernung (in der Ausdehnung von ca. 1°“) des Ammonshornes. Nach 1 Tage: Fieber, Appetitmangel, Geruch abgeschwächt, sogar für intensiv riechende Substanzen. 2 Tage nach der Operation Temperatur niedriger und Geruch besser. Am 3. Tage stürzte der Hund in einen tiefen Keller und verendete. Die Section des Gehirns bestätigte die Exstirpation eines kleinen Abschnittes des mittleren Theiles des Ammonshornes (Lucianı and Sepilli, Seite 84 bis 88). Dem dritten Hunde wurden in 3 Sitzungen die Sehsphären beiderseits exstirpirt; bereits nach der dritten Operation bemerkten die Verfasser eine Abstumpfung des Geruches; am 11. Mai wurde linkerseits der Seitenventrikel eröffnet, aus welchem viel Cerebrospinalflüssigkeit herausfloss und der sehr erweitert schien (ein entzündlicher Process?); exstirpirt ist der nach innen von dem Cornu inferius gelegene Theil des Ammonshornes. Das Thier überlebte die Operation nur mit genauer Noth: 6 Stunden nach der Ope- ration betrug die Temperatur im Rectum 27° C. Tags darauf bemerkten die Verfasser, dass das Thier vollständig blind war (Hinterhauptslappen); es fand die ihm vorgesetzte Nahrung nur mit Hülfe des Geruches, die tactile Sensibilität war rechts bedeutend herabgesetzt, der Geruch abge- stumpft. Am 13. Mai sind die Erscheinungen in geringerem Grade aus- gesprochen; am 14. Mai trat bei bestehender Fiebertemperatur (40.4° C.) und Appetitmangel noch eine Gehörsstörung hinzu. Zwischen dem 15. und 28. Mai schwanden die Störungen des Gehörs, des Geruchs und der tactilen Sensibilität vollkommen; in der Nacht auf den 6. Juni ging das Thier an eitriger Meningo-Encephalitis zu Grunde, wobei der linke Ventrikel mit 1) V. P. Ossıpow: Eiter angefüllt war. Die Verfasser fügen hinzu, dass das ganze übrige Gehirn, mit Ausnahme des vollständig degenerirten, nicht exstirpirten Theiles des Ammonshornes, normal war? (Luciani und Sepilli, Seite 88 bis 93). Auch der vierte Hund machte 4 verschiedene Operationen durch: die Exstirpation eines Theiles des linken Schläfenlappens, hierauf des rechten, bei der 3. Operation wiederum eines Theiles des linken Schläfenlappens. Vor dem Beginn der 3. Operation epileptischer Anfall; Tags darauf be- deutende Geruchsabschwächung; am folgenden Tage ed ana ein epilep- tischer Anfall. Nach Verlauf von 3 Wochen war das Geruchsvermögen, welches sich nach der 1. Operation noch weiter abgeschwächt hatte, noch immer herabgesetzt. Doch wurde nichts destoweniger eine partielle Ent- fernung des Ammonshornes der rechten Seite vorgenommen. Darnach nahm der Geruch sehr bedeutend ab, um jedoch am 5. Tage zur Norm zurück zu kehren, obschon, wie die Verfasser anführen, der Hund sich desselben im Verlaufe mehrerer Monate nicht recht zu bedienen vermochte, d. h., brachte man dem Hunde sein Essen, so begann er wohl sofort zu schnüffeln, musste aber lange suchen, bevor er das Essen fand. (Luciani und Sepilli, Seite 103 bis 113.) | Auf Grund der angeführten Versuche machen Luciani und Sepilli! Schlussfolgerungen, die auf Folgendes hinauslaufen: Das Ammonshorn ist die centrale Stelle der Riechsphäre. Selbst geringfügige Läsionen desselben (eine Ecchimose in dem ersten Falle?) führen zu intensiven Geruchs- störungen; bei einseitiger Verletzung des Ammonshornes wird der Geruch beiderseits herabgesetzt (auf der gegenüberliegenden Seite im geringerem Maasse), was für eine theilweise Kreuzung der Riechbahnen im Gehirn spricht. War nach Exstirpation der Regionen der Sehsphären bei den Thieren die Blindheit eine unvollständige, so führte eine Verletzung des Ammonshornes zu völliger Seelenblindheit. Ausserdem steht das Ammons- horn in Zusammenhang mit der corticalen Hörsphäre (Lueiani und Sepilli, Seite 139 bis 166). Zu Anfang der soeben besprochenen Arbeit von Luciani und Sepilli geben die Verfasser einige sehr gute Rathschläge bezüglich dessen, wie man experimentiren solle und wie man die operirten Thiere heaadkiem müsse. So bemerken sie unter Anderem vollständig richtig, die Grund- bedingung eines jeden Experimentes sei die Sauberkeit der Operation, welche nicht operative Complicationen der Wunde nach sich ziehen dürfe, und gerade gegen diese Regel verstiessen die Verfasser selbst im höchsten Maasse.. " Luciani und Sepilli, Die Funetionslocalisation auf der Grosshirnrinde. Autorisirte deutsche und vermehrte Ausgabe von Fraenkel. Leipzig 1886. ÜBER DIE PHYSIOLOGISCHE BEDEUTUNG DES AMMONSHORNES. 9 Indessen ist die Schlussfolgerung bezüglich des Zusammenhanges des Am- monshornes mit der Sehsphäre ausschliesslich auf den zweiten und dritten der von mir angeführten Versuche gegründet und selbstverständlich nicht richtig, wovon übrigens noch später die Rede sein wird. Ebenso wenig begründet sind auch die Schlussfolgerungen der Verfasser hinsichtlich der Gehörsfunction des Ammonshornes, da sie auf Experimenten mit schlechter Versuchsanordnung beruhen. Sehr wenig beweisend sind auch die Schluss- folgerungen der Verfasser bezüglich der Geruchsfunction des Ammonshornes. In dem ersten Versuche wird die Geruchsstörung mit der, bei der Section gefundenen, Eechymose in dem Ammonshorne in Zusammenhang gebracht, dagegen wird das Vorhandensein einer eitrigen Meningo-Encephalitis über-. haupt nicht in Betracht gezogen, ganz ebenso wie in den weiteren Ver- suchen. In dem zweiten Versuche besserte sich der Geruch am Tage nach der Operation, als die Temperatur des Thieres etwas niedriger wurde und sich wieder Appetit einstellte, welcher am Tage nach der Operation gefehlt hatte. Doch ist es jedem Experimentator bekannt, dass, wenn ein Thier fiebert und Nahrungsaufnahme verweigert, es in keiner Weise auf den Duft von Speisen reagirt, selbst wenn es sich um Fleisch handelt. Folglich darf man aus einem derartigen Versuche keine Schlüsse ziehen. Der Tod des Hundes verhinderte weitere Beobachtungen. In dem dritten Falle war der Geruch bereits vor der Exstirpation des Ammonshornes herabgesetzt, obschon er darnach noch weiter abgeschwächt wurde, doch führte eine eitrige Meningo- Encephalitis, welche auch sonstige Complicationen hervorrief, schnell zum Tode des Thieres. Interessant ist es, dass die Schärfe des Gehörs und Geruchs sich parallel den Schwankungen der Temperatur des Thieres änderte Hierdurch lässt sich auch erklären, dass Gehör und Geruch beiderseits in gleicher Weise beeinträchtigt waren. Das Thier fieberte und hatte nur ganz schlechten Appetit. Beweisender könnte der vierte Fall sein, weil das Thier lange Zeit nach der Operation lebte und allseitiger Beobachtung unterzogen werden konnte, doch wurden an diesem Thier 4 Operationen ausgeführt, nach jeder einzelnen Operation war der Geruch stark beeinträchtigt. Als nun bei Gelegenheit der 4. Operation an dem Hunde mit bereits herabgesetztem Geruchsvermögen eine partielle Exstir- pation des Ammonshornes vorgenommen wurde, sank der Geruch wiederum bedeutend, kehrte jedoch nach Ablauf von 4 Tagen bereits zur Norm zurück. Hat man nun ein Recht, auf Grund des Gesagten den Schluss zw ziehen, das Ammonshorn sei der Hauptpunkt des Riechcentrums? Die Verfasser führen noch einen weiteren Versuch an, wo bei der Operation der theilweisen Exstirpation des Subiculum c. Ammonis eine unbeträchtliche Verletzung des Ammonshornes stattfand, doch wurde in diesem auch keineswegs einwandsfreien Falle (profuse Blutung während der 10 V. P. Ossıpow: Operation) der Geruch aus irgend einem Grunde ganz besonders auf der gegenüber liegenden Seite beeinträchtigt (Seite 124 bis 126). Ueberhaupt wurden in den Versuchen von Luciani und Sepilli bei den operirten Thieren Störungen des Geruches hervorgerufen durch die allerverschiedensten Operationen, woher die Verfasser auch zu dem Schlusse gelangten, dass die Riechsphäre über den grösseren Theil der Hirnrindenoberfläche sich erstrecke (Luciani und Sepilli, Seite 165). Unerlässlich ist es noch, zu bemerken, dass aus der genannten Arbeit nicht hervorgeht, ob die Verfasser den Geruch ihrer Hunde vor der Ope- ration geprüft haben. Zur Untersuchung des Geruches nach der Operation benutzten die Verfasser Fleisch und Essigsäure, Chloroform und Ammoniak, Substanzen, die zur Prüfung des Geruchssinnes absolut untauglich sind. Wie es scheint, sind sich die Verfasser selbst der Unzulänglichkeit ihrer Versuche auch vollkommen bewusst; sie bemerken, dass, wenn ihre Versuche bezüglich des Geruchssinnes auch unzureichend wären, sie doch immerhin den Weg zeigten, den man beschreiten müsse (Seite 162). Zur Bekräftigung der Richtigkeit seiner Schlussfolgerungen beruft sich Luciani auf eine aus seinem Laboratorium erschienene Arbeit von Fasola.! Aehn- lich Luciani exstirpirte Fasola Hunden das Ammonshorn, erst auf der einen, dann auf der anderen Seite (in einem Versuche geschah die doppel- seitige Eixstirpation in einer Operation) und untersuchte darauf seine Hunde längere oder kürzere Zeit hindurch. Gleich Luciani kommt der Verfasser zu dem Schlusse, dass die Function des Ammonshornes in engem Zusammen- hange mit dem Gesicht, Geruch und Gehör stehe; seine Bedeutung für die Hautsensibilität und das Muskelgefühl stellt Fasola hingegen in Abrede. Die Versuche von Fasola sind gleichfalls bei weitem nicht einwandsfrei; er führt 6 Versuche an, davon 3 mit doppelseitiger und 3 mit einseitiger Exstirpation des Ammonshornes, wobei in einem von diesen Versuchen das Ammonshorn nur leicht verletzt wurde (siehe Fasola, Exp. F). Von diesen Versuchen dürfte dreien keine Bedeutung zukommen, und zwar den Ver- | suchen C (beiderseitige Exstirpation des Ammonshornes), E und F (einseitige - Exstirpation), aus dem Grunde, weil in den beiden ersten Fällen die Thiere an einem eitrigen Process in der Hirnwunde zu Grunde gingen, und in dem 3. Versuche das Thier zufällig am 5. Tage nach der Operation einging, und daher nur sehr kurze Zeit hindurch beobachtet werden konnte. So bleiben denn 3 Versuche übrig. | Die Fehlerquellen in den Versuchen Fasola’s sind folgende: 1. Ver- fasser führte kein einziges Mal die Exstirpation des Ammonshornes in einer "6. Fasola, Sulla fisiologia del grande hippocampo. Rivista speriment. di freniatria. 1895. Anno XI, p. 434—4T5. ÜBER DIE PHYSIOLOGISCHE BEDEUTUNG DES AMMONSHORNES. 11 Sitzung aus, sondern er trug zuerst die Munk’sche Sehsphäre auf der einen Seite ab, sodann, nach Ablauf von 3 bis 4 Wochen, erfolgte die Ex- stirpation des Ammonshornes auf derselben Seite, während in einer dritten Operation die Sehsphäre und in einer vierten Operation das Ammonshorn der anderen Hemisphäre exstirpirt wurde. In dem Versuche E wurden vor Fxstirpation des Ammonshornes zu verschiedenen Zeiten links 3 Opera- tionen im Bereich der Hinterhauptslappen ausgeführt. Das wiederholte Öperiren in ein und denselben Hirntheilen, wobei die Sehsphären nahezu in ihrem ganzen Umfange abgetragen wurden (die drei Occipitalwindungen) und bisweilen bereits vor Entfernung des Ammonshornes der Seitenventrikel eröffnet wurde, konnte unbedingt eine schädliche Wirkung auf die benach- barten Hirnpartien ausüben. 2. Die Operationen wurden antiseptisch ausgeführt, wobei die Hirnwunden in ausgiebiger Weise mittels mit Carbol- säure getränkter Schwämmchen angefeuchtet wurden: letztere drang dabei natürlich auch in das Cornu inf. und in den vorderen Theil der Ventrikel ein und entfaltete ebenso ihre schädigende Wirkung auf die an der Öber- fläche gelegenen benachbarten Hirnbezirke (Gyrus hippocampi, Schläfen- lappen u. A.). Beim Anlegen der Nähte (Muskel- und Hautnähte) wurden die zusammengenähten Wundränder reichlich mit Jodoform bestreut. Die angeführten Bedingungen erlangen besondere Bedeutung in Anbetracht ihrer wiederholten Einwirkung. 3. Schliesslich muss ich es dem Verfasser zum Vorwurf machen, dass er bei der Untersuchung des Geruches die Hunde festhielt, indem er ihnen Fleisch und riechende Substanzen (Terpentin, Nelkenöl und — zur Prüfung des Geruches völlig untaugliche Substanzen — Ammoniak, Essigsäure und Chloroform) unter die Nase brachte. Bei der Prüfung der verschiedenen Intensitätsgrade eines so feinen Sinnes, wie des Geruches, konnte die Aufmerksamkeit des Thieres von dem Gegenstande der Untersuchung leicht dadurch abgelenkt werden, dass man es an der Hand hielt, ja auch die Genauigkeit selbst der Prüfung kann bei diesem Verfahren unbemerklichen, aber möglichen Zufälligkeiten unterliegen; bei der Prüfung des Geruches muss der Hund mit verbundenen Augen ruhig dasitzen. Ueberdies geht aus der Arbeit des Verfassers nicht hervor, ob er den Hund vor Anstellung des Versuches auch im Suchen von auf dem Fussboden hingelegten Fleischstückchen bei verbundenen Augen sich über- liess. - Hunde, welche nach wiederholten Uebungen Fleischstückchen rasch und fehlerlos aufsuchen, rufen das erste Mal den Eindruck hervor, als seien sie des Geruches beraubt — so schlecht suchen sie das Fleisch und so un- geschickt sind ihre Bewegungen. Wurde ein Hund nicht vor Exstirpation des Ammonshornes daran gewöhnt, unter solchen Bedingungen Fleisch zu suchen, so darf man nach der Operation aus dem Benehmen des Hundes während dieses Versuches keinen Schluss auf dessen Geruchsfähigkeiten ziehen. 12 V. P. Ossıpow: Die Herabsetzung des Geruches bei den Hunden in den Versuchen Fasola’s, welche in den ersten Tagen nach der Operation deutlich aus- geprägt war (sogar bei nur unbeträchtlicher, einseitiger Verletzung des Ammonshornes in dem Versuche F), kehrte im Verlaufe von 2 bis 3 Wochen nach der Operation allmählich wieder zur Norm zurück. Aus allem oben Auseinandergesetzten geht unzweifelhaft hervor, dass die Frage nach der physiologischen Bedeutung des Ammonshornes nach der Methode des Functionsausfalles bisher noch völlig unaufgeklärt ist. Die Untersuchungen von Zuckerkandl! und Edinger,? d.h. von Forschern, die nach anderen Methoden gearbeitet haben, weisen auf die grosse Bedeu- tung des Ammonshornes für den Geruch hin, doch fehlt es zur endgültigen Entscheidung dieser Frage noch an experimentellen Beweisen. Bis zu einem gewissen Grade wären die Experimente zu ersetzen im Stande klinische Beobachtungen von Fällen von Anosmie, wo sich bei der Section eine isolirte Läsion des Ammonshornes herausstellte, doch giebt es, nach der umfangreichen Arbeit von Zwaardemaker? zu urtheilen, derartige Fälle nicht; es giebt im Gegentheil, wie wir später sehen werden, klinische. Be- obachtungen, welche gegen die Geruchsfunetion des Ammonshornes sprechen. Fälle von Hirntumoren und -Abscessen, begleitet von Anosmie, sind wenig beweisend, da sie für gewöhnlich ausgedehnte Hirnpartien betreffen. 1. In Anbetracht der zweifelhaften und theilweise sich widersprechenden Thatsachen, wie sie auf experimentellem Wege erlangt waren, schien eine neue Reihe von Versuchen überaus wünschenswerth. Ich führte nun der- artige Versuche aus in dem „Physiologischen Institut an der thierärztlichen Hochschule zu Berlin“, auf den Vorschlag von Prof. H. Munk und unter seiner unmittelbaren Anleitung. Die später anzuführende Operationsmethode wurde gleichfalls von Prof. H. Munk in Vorschlag gebracht. Die Versuche wurden an Hunden angestellt, als an Thieren, die einen sehr ausgebildeten Geruchssinn besitzen, und bestanden darin, dass den Hunden mit einer Operation das Ammonshorn exstirpirt wurde; darnach wurden die Hunde im Laufe einer mehr oder‘ weniger langen Zeit beobachtet. | ! E. Zuckerkandl, Ueber das Riecheentrum. Stuttgart 1887. — Derselbe, Das Riechbündel des Ammonshornes. _„Inatomischer Anzeiger. 1888. III. Jahrgang. Nr. 15. 8. 425—434, i ° L. Edinger, Ueber den phylogenetischen Ursprung der Rindencentren und über den Riechapparat. Archiv für Psychiatrie. 1893. Bd. XXV. S. 584. ’» H. Zwaardemaker, Die Physiologie des Geruches. Leipzig 1895. ÜBER DIE PHYSIOLOGISCHE BEDEUTUNG DES AMMONSHORNES. 13 Die Exstirpation des Ammonshornes geschah auf folgende Weise: Mittels eines Längsschnittes durch Haut und Fascie wurde der Schädel des Hundes blossgelegt; darauf wurde der M. temporalis an der Stelle seiner Insertion an die Schädelknochen durchschnitten und mit einem Raspatorium von den Knochen abgelöst. Die Musculatur wurde so weit abgelöst, dass man freien Zugang zu dem Oceipitaltheile des Schädels erhielt. Trepanation entsprechend der Lage der Hinterhauptslappen. Die Trepanationsöffnung wurde mit der Knochenzange erweitert, bis die 2. und 3. Oceipitalwindung freillagen. Auf solche Weise erhielt man eine viereckige Oeffnung in dem Schädel, deren vordere Grenze durch die Lage des Ammonshornes bestimmt; wurde. Schwierigkeiten gab es in dieser Beziehung nicht, da bereits vor dem Operiren am lebenden Thiere eine Reihe von Operationen an todten Thieren vorgenommen wurde. Durch einen Kreuzschnitt von dem Centrum der Wunde nach den Winkeln hin mittels eines scharfen Skalpells mit kurzer Schneide wurde die Dura mater eröffnet. Weiter wurden folgende Schnitte durch das Gehirn geführt: 2 seitliche Schnitte, die an den Rändern der.2. und 3. Windung so nahe den Grenzen der anliegenden Windungen verliefen, als dies die hier liegenden Gefässe gestatteten. Zur Operation wurde ein Skalpel mit schmaler Schneide benutzt. Das Skalpell war ent- weder senkrecht in die Tiefe des Gehirns gerichtet, oder bei einem inneren Schnitte mit der Schneide etwas zur Mittellinie gerichtet, bezw. bei einem äusseren Schnitte nach aussen, je nach dem, ob man im Sinne hatte, einen grösseren oder kleineren Theil des Ammonshornes freizulegen. Der Quer- schnitt, welcher die Ränder der beiden Längsschnitte vereinigte, entsprach der vorderen Grenze der Oefinung im Knochen, die hinteren Enden der Längsschnitte — seiner hinteren Grenze. Die Schnitte wurden allmählich vertieft, bis der Seitenventrikel eröffnet war. Darauf wurde das exstirpirte Hirnstück mittels des Endes des schmalen und flachen Stieles eines Skalpels nach hinten zurück geschlagen und an der hinteren Grenze der Knochen- öffnung abgeschnitten. In dem vorderen Abschnitte des Grundes der Hirnwunde lag das freigelegte Ammonshorn klar vor. Es erübrigte nun- mehr, mittels desselben feinen Skalpells ein grösseres oder kleineres Stück des Ammonshornes zu exstirpiren. Hierauf wurden die Ränder der Hirnwunde mit der Dura mater bedeckt, und Muskel- sowie Hautnähte angelegt. Nach Verlauf von 2 Wochen wurde die Operation auf der anderen Seite wiederholt. - Es versteht sich von selbst, dass die Operationen unter möglichster Einhaltung der Regeln der Antisepsis und Asepsis ausgeführt wurden. Ich halte es für nöthig, zu bemerken, dass bei meinen Experimenten eine Carbollösung nur zum Waschen der Hände des Operateurs benutzt wurde. Die Operationswunden, sowohl Hirn-, als Muskel- und Hautwunden wurden nur mit sterilisirter Watte gereinigt, wobei keine Spur irgend 14 V. P. Ossıpow: eines antiseptischen Mittels angewendet wurde. Sogar die fest vernähte Hautwunde wurde nicht einmal mit Jodoform bestreut. Vor der Operation wurde den Hunden Morphium injieirt. Angewandt wurde Aethernarkose, unter Hinzufügung geringer Mengen von Chloroform. Der Hund wurde auf dem Operationstisch in Bauchlage angebunden, der Kopf mittels Halters befestigt; das Operationsfeld wurde rasirt. Bei einem gewissen Maasse von Uebung lässt sich die beschriebene Operation ziemlich schnell ausführen (etwa in 1 Stunde), besonders, wenn nicht Blutungen daran hindern, doch muss diese Operation nichts desto ° weniger zu den allerernstesten Eingriffen gezählt werden, da sie mit der Eröffnung eines Hirnventrikels verknüpft ist. Die Eröffnung des Ventrikels — das ist der wichtigste Augenblick der Operation. Das ganze Augenmerk des Operateurs muss darauf gerichtet sein, dass kein Blut in die Tiefe des Ventrikels eindringt. Der Weg durch die Occipitallappen zum Ammonshorn ist recht geeignet wegen der anatomischen Lage des letzteren, und auch aus dem Grunde, weil die Function der Rinde der Oceipitallappen relativ gut studirt ist, was eine richtige Würdigung der Erscheinungen an den operirten Thieren gestattet. Ich gehe zur Beschreibung der Methodik der Untersuchung der Thiere über. Die zu den Versuchen bestimmten Hunde wurden nicht nur nach der operativen Entfernung des Ammonshornes, sondern auch vorher unter- sucht. Zur Prüfung des Geruchssinnes diente Fleisch und Ol. origani vulg., das sich durch einen distineten Geruch auszeichnet. Dem Hunde wurden die Augen verbunden, darauf wurde der Nase langsam ein Stückchen Fleisch genähert, und darauf geachtet, aus welcher Entfernung der Hund letzteres wahrnahm und wie lebhaft er dies äusserte durch Bewegen der Nasenflügel und Vorstrecken des Kopfes in der Richtung des vorgehaltenen Fleisches. Öriganumöl ist eine den Hunden unangenehme Substanz. Der Nase des Hundes mit den verbundenen Augen wurde langsam der kleine Korken . von dem Gläschen mit Orieanumöl genähert. Gewöhnlich wandte der Hund, sobald er den Geruch des Oeles wahrnahm, äusserst lebhaft die Schnauze zur Seite hinab, indem er bisweilen sogar zurückwich; einige Hunde zeigten ihren Widerwillen gar durch Grimassiren, durch Runzeln der Backen und Fletschen der Zähne. Vor der Operation (mit Ausnahme der beiden - ersten Versuche) wurden die Hunde daran gewöhnt, das Fleisch mit ver- bundenen Augen zu suchen. Zu diesem Zwecke wurden die Fleischstückehen auf der Diele in Reihen und auch ohne bestimmte Ordnung hingelegt. Der Hund musste sie aufsuchen. Gewöhnlich bemühte sich der Hund Anfangs, den Verband abzureissen, doch schon nach wenigen Wiederholungen der Uebungen, zuweilen auch schon vom ersten Male an, verstand der Hund, was man von ihm wollte, und unterzog sich gern dieser Uebune. ÜBER DIE PHYSIOLOGISCHE BEDEUTUNG DES AMMONSHORNES. 15 Stiess der Hund mit der Pfote auf ein Fleischstückehen, so achtete man darauf, ob er dies bemerkte (taetile Sensibilität) und wie genau er sich . über die Lage des Fleischstückchens orientirte (Muskelgefühl). Einige der Fleischstückchen wurden leicht mit Origanumöl bestrichen; man hatte im Sinne, hierdurch zu bestimmen, ob nicht der Geschmack! der Hunde neben dem Geruch nach der Operation leide, und wie genau die Hunde die be- strichenen Fleischstückchen von den nicht bestrichenen unterschieden. Es war von Interesse, an denjenigen Hunden, welche lediglich auf einer Seite operirt waren, den Unterschied in den Geruchswahrnehmungen auf dem einen und auf dem anderen Nasenloch zu bestimmen. Zu diesem Zwecke wurde das eine Nasenloch des Hundes durch einen Wattepfropf verschlossen, der mittels des Fingers an dasselbe angedrückt wurde, dem anderen Nasenloch wurde Origanumöl oder Fleisch genähert; darauf wurde das andere Nasenloch geprüft. Es gelang mir nicht, die Hunde das Fleisch suchen zu lassen, nachdem ich das eine Nasenloch mit Watte ver- stopft hatte: die Hunde begannen sofort foreirte Exspirationsbewegungen zu machen, bis der Wattepfropf herausflog. Ueberdies hütete ich mich vor einer allzu energischen Wiederholung dieses Versuches, in der Befürchtung, hierdurch möglicher Weise die Schleimhaut der Nasenhöhle zu verletzen. Bei der Prüfung des Geruchssinnes waren die Augen des Hundes regelmässig verbunden, ebenso wie bei der Prüfung der Reflexe und Sen- sibilität. Ausser dem Geruchssinn wurde das Gesichtsfeld der Hunde einer sorgfältigen Untersuchung unterworfen, da bei der Operation ein Theil der Sehsphäre abgetragen wurde. Es wurde jedes Auge einzeln für sich durch langsames Vorüberbewegen eines Fleischstückchens vor den Augen des Thieres in verschiedenen Richtungen untersucht; sobald der Hund das Fleischstückchen sieht, folgt er mit den Augen den Bewegungen desselben. Das nicht untersuchte Auge war durch einen Verband zugedeckt. Des- gleichen wurde an sämmtlichen, zum Experimente bestimmten, Hunden eine Prüfung der tactilen und Schmerzempfindlichkeit, des Muskelgefühls und der Berührungsreflexe vorgenommen. IIl. Ich gehe zur Schilderung der einzelnen Versuche über. Versuch 1. Ein schwarzer Pudel von mittlerer Grösse, überaus be- weglich und zutraulich; reagirt auf den Geruch von Origanumöl, indem er sich lebhaft zur Seite abwendet; bemerkt sogleich der Nase genäherte Fleisch- stückchen, fängt kräftig zu schnüffeln an und erfasst das Fleisch. Seitens der Sinnesorgane, der cutanen und musculären Sensibilität nichts Abnormes. ! Origanumöl hat leicht bitteren Geschmack. 16 V. P. Ossıpow: Am 17. Oetober 1899 wurde die partielle Exstirpation des Ammons- hornes linkerseits ausgeführt. Es erfolgte nur eine oberflächliche Abtragung desjenigen Theiles vom: Ammonshorn, welcher nach Ausschneidung der 2. und 3. Hinterhauptwindung frei lag, d.h. es wurde die Marksubstanz des Hornes entfernt und eine unbeträchtliche Menge der darunter liegenden grauen Substanz. Eine unbedeutende Blutung, die während der Operation stattfand, wurde mittels Tampons von steriler Watte gestillt. Die Muskel- und Haut- nähte wurden nach sorgfältiger Reinigung der betreffenden Partien mit ebensolehen Wattetampons angelegt. 18. Oetober. Der Hund, hat sich schon leidlich von der Operation erholt, reagirt lebhaft auf den Geruch von Origanumöl, indem er den Kopf ab- wendet. Appetit ist noch nicht vorhanden. 19. October. Der Hund hat sich völlig von der' Narkose erholt. Die Wunde heilt vortrefflich. Unvollständiger Ausfall des grösseren Theiles der rechten Gesichtsfeldhälften auf beiden Augen. Reaction auf Origanumöl und Fleisch äusserst lebhaft, beiderseits gleich. Bei verbundenen Augen wollte der Hund anfänglich die Fleischstückehen nicht suchen und bemühte sich, den Verband abzureissen, begann jedoch darauf mit dem Aufsuchen der Fleischstückchen und fand sie ziemlich schnell. Wenn der Hund auf die Fleischstückchen trat, so bemerkte er sie sogleich und erfasste sie ohne jedes Verfehlen. Eine Störung der Sensibilität nicht zu beobachten. Das Gehör ist gleichfalls nicht merklich gestört, der Hund kehrt sich auf einen leisen Pfiff um; lässt man ein Stückchen Fleisch ganz sachte auf den Fuss- boden niederfallen, so wendet sich der Hund sofort dahin. Bewegungen sind frei. Die Untersuchung des Pudels an den folgenden Tagen ergab niehts Neues; dank der fast täglichen Wiederholung des Versuches mit dem Aufsuchen der Fleischstückchen bei verbundenen Augen begann er nur die auf dem Fussboden liegenden Stückchen aufzufinden, fast ohne eines derselben auszulassen. Zum 26. October hat sich das nach der Operation beeinträch- tigte Gesichtsfeld etwas erweitert. Die Wunde ist per primam verheilt. 30. October. Ganz die gleiche Operation, wie links, auf der rechten Seite. Während der Operation unbeträchtliche Blutung. 31. Oetober. Der Hund befindet sich noch unter dem Einfluss der Narkose, reagirt jedoch bereits auf Origanumöl. 1. Novemher. Hat sich von der Narkose erholt. Reagirt lebhaft auf Origanumöl und Fleisch. Unvollständige Amaurose auf beiden Augen.! In den nächstfolgenden Tagen machte die Erholung des Pudels nach der Operation rasche Fortschritte, so dass er am 3. November bei verbundenen Augen Fleischstückehen aufsuchte, wobei kein Unterschied gegenüber seinem Ver- halten vor der Operation zu bemerken war: er fand die Fleischstückchen ganz ebenso rasch und machte nicht mehr Fehler, als vorher. Abgesehen von der Sehstörung bei der Untersuchung des Thieres nichts Abnormes zu finden. Wiederholte Untersuchung des Hundes im Laufe weiterer Beobachtungs- dauer ergab lediglich eine gewisse Besserung Seitens des Sehvermögens: Weder von Seiten des Geruches, noch des Gehörs, wie auch in gleicher Weise der eutanen und musculären Sensibilität war irgend etwas Abnormes zu bemerken. N ! Genaueres über die Sehstörungen an den operirten Hunden unten. ÜBER DIE PHYSIOLOGISCHE BEDEUTUNG DES AMMONSHORNES. 17 7.December. Der Pudel diente noch zu einer Hirnoperation, die er gleichfalls leicht überstand, indem er sich bald von ihr erholte. 12. Januar 1900. Der Pudel wird getödtet, da Untersuchungen an ihm weiter kein Interesse bieten konnten. Seetion. Prompt verheilte Haut- und Muskelwunde. Die Hirnwunden in vortrefflichem Zustande, die freien Ränder der im Laufe der Operation durchtrennten Dura mater leicht verwachsen mit dem Muskel. An den Rändern der Hirnwunden keine Spuren entzündlicher Reaction sichtbar, die Hirnrindenoberfläche unterscheidet sich an dieser Stelle nicht von anderen Stellen. Zum Zwecke weiterer Untersuchung wird das Gehirn behufs Härtung in Formalin eingelegt. Ein Querschnitt durch das Gehirn in der Höhe der Lage des Ammonshornes bestätigte das Gelingen der Operation. Versuch 2. Ein weisser Hund (Terrier). Die Untersuchung vor der Operation ergab eine lebhafte Geruchsreaction auf Origanumöl und Fleisch. Der Hund bietet keinerlei merkliche Abweichungen von der Norm dar. Am 21. Oetober 1899 wurde linkerseits die Exstirpation des Ammons- hornes vorgenommen; der Gang der Operation ganz so wie im Versuch 1, Exstirpation des Hornes tiefergreifend und in grösserer Ausdehnung, als im Versuch 1. Bereits am Tage nach der Operation reagirte der Hund lebhaft auf den Geruch von Origanumöl, die Reaction war gleich lebhaft beim Annähern des Oeles an das eine wie das andere Nasenloch. Am 3. Tage hat sich vorzüglicher Appetit eingestellt. Der Hund erholte sich so gut von der Operation, dass man bereits am 4. Tage zu einer eingehenderen Untersuchung desselben schreiten konnte: Die Geruchsreaction auf Origanumöl und Fleisch ist beiderseits gleich lebhaft. Bei dem ersten Versuche mit dem Suchen von Fleischstückchen bei verbundenen Augen findet der Hund das Fleisch zwar, doch nicht sehr schnell, geht auch bisweilen an dem Fleisch vorüber. Sehprüfung: Unvollständiger Ausfall der rechten Gesichtsfeldhälften beiderseits. Die Berührungsreflexe rechts deutlicher als links. 26. October. Dieselben Erscheinungen. Die Hautwunde verheilt per primam. Sucht bei verbundenen Augen schon bedeutend besser. Zum 30. October ist die Hautwunde bereits gut verheilt. Der Unter- schied in den Reflexen ist verschwunden. Bei verbundenen Augen findet der Hund die Fleischstückchen fast fehlerlos. Die Gesichtsfelddefeete etwas kleiner. 2. November. Exstirpation des Ammonshornes rechts. Abgetragen ein annähernd gleich grosses Stück wie links. Blutung kaum vorhanden. 3. November. Das Thier hat sich von der Narkose beinahe völlig erholt, reagirt lebhaft auf Origanumöl. 4. November. Der Hund frisst schon mit Appetit. Lebhafte Geruchs- reaction auf (\riganumöl und Fleisch. Dasselbe an den nächstfolgenden Tagen. Bedeutende Gesichtsfelddefecte. 7. November. Die Hautwunde verheilt ohne Complicationen. Reflexe beim Bestreichen der Extremitäten beiderseits gleich. Geruchsreaction auf ÖOriganumöl und Fleisch ebenso deutlich ausgeprägt, wie vor der Operation. Findet bei verbundenen Augen Fleischstückchen gut, obwohl er bisweilen auch daran vorbeigeht, als bemerkte er die Stückchen nicht. Berührt der Archiv f, A, u. Ph. 1900. Physiol, Abthlg. Suppl. 2 18 V. P. Ossıpow: Hund ein Fleischstückehen mit der Pfote, so bemerkt er dies augenblicklich, wendet sich um und erfasst: das Fleisch prompt, was für ein normales Ver- halten des Berührungs- und Muskelgefühles spricht. Berührt der Hund oder tritt mit der Pfote auf Schwammstückchen, die zwischen den Stückchen Fleisch hingelegt sind, so achtet er auf sie in keiner Weise. Ein mit Origanumöl leicht bestrichenes Fleischstückehen umgeht er; schliesslich, als alles Fleisch aufgefressen ist, frisst er auch dies, jedoch nicht, ohne es vorher mehrere Male vorsichtig in’s Maul zu nehmen und wieder auszuspeien; er verschlang es mit sichtlichem Widerwillen. Seitens des Gehörs und der Hautsensibilität keinerlei Abweichungen von der Norm zu bemerken. Alle Bewegungen frei. i Bis zum 16. November wurde der Hund fast täglich untersucht, wobei sich gleiche Resultate wie vorher ergaben. Gesichtsfeld beiderseits in den äusseren Hälften erhalten, obgleich auch hier nach oben, unten und aussen hin eingeschränkt. 3 Wochen hindurch wurde der Hund nieht weiter untersucht. 9. December. Eine Sehprüfung ergab dasselbe wie früher. Sucht Fleisch bei verbundenen Augen besser als früher; erstens müht er sich nicht unnütz ab, sondern schnüffelt ganz ruhig, geht dann an das Fleischstückchen heran und erfasst es. Während der ganzen Dauer der Prüfung ist er kein einziges Mal an einem Stückchen vorbeigegangen, ohne es durch den Geruch zu bemerken und sofort aufzufinden. Im Uebrigen status idem. Bis zum 21. December im Verhalten des Hundes nichts Neues bemerkt. Am 21. December erlitt der Hund einen epileptischen Anfall, wobei die Krämpfe hauptsächlich in der rechten Körperhälfte ausgeprägt waren; nach dem Anfall trat ein deutlich komatöser Zustand ein, der auch am Tage darauf noch nicht völlig gewichen war. Am 22. December wird der Hund getödtet. Die Section ergab vorzüg- liche Verheilung der Haut-, Muskel- und Hirnwunde; in der Umgebung letzterer keinerlei entzündliche Erscheinungen zu constatiren. Die im Ver- laufe der Operationen durchtrennte Dura mater ist beiderseits theilweise mit dem die Wunde deckenden Muskel verwachsen. Deutliche Hyperämie der submeningealen Gefässe im Gebiete des linken Frontallappens und der vorderen Hälfte der linken motorischen Sphäre. Das Hirn wird in Formalin- lösung eingelegt. Querschnitte durch die Gegend der Ammonshörner be- - stätigten, dass das Ammonshorn beiderseits exstirpirt war in einer Ausdehnung von dem Fornixschenkel beinahe bis zur Stelle seines Ueberganges in das Cornu inferius. Versuch 3. Eine kleine schwarze Terrierhündin. .Reagirt bei ver- bundenen Augen lebhaft auf den Geruch von Fleisch und Origanumöl. Nach zwei vorausgegangenen Uebungen sucht der Hund 'ausgezeichnet die Fleisch- stückchen auf, indem er hierbei Halbkreise beschreibt und schnüffelt. Geht kein einziges Mal an einem Fleischstückehen vorbei, ohne es zu bemerken und zu erfassen, einerlei, in welcher Anordnung die Stücke auch liegen mögen. Umgeht das mit Origanumöl bestrichene Stückehen sorgfältig, frisst jedoch zuletzt auch dieses auf, obschon mit sichtlichem: Unbehagen. Muskel-, Berührungs- und Schmerzempfindlichkeit vorzüglich ausgeprägt. Reflexe beim Bestreichen der Extremitäten gleich. ÜBER DIE PHYSIOLOGISCHE BEDEUTUNG DES AMMONSHORNES. 19 23. October 1899. Exstirpation des Ammonshornes links. Die Schnitte durch die Dieke der Ocecipitallappen nicht senkrecht, sondern etwas schräg geführt, um das Ammonshorn in grösserer Ausdehnung freizulegen. Die vordere Grenze des Schnittes verlief etwas mehr nach vorn wie gewöhnlich. Das Ammonshorn seiner ganzen Dicke nach abgetragen, beginnend von dem Fornixschenkel, bis zur Stelle seines Ueberganges in das ÜÖornu inferius. Irgendwie bedeutendere Blutungen erfolgten bei der Operation nicht. 25. October. Der Hund hat sich vollständig von der Narkose erholt, es hat sich guter Appetit eingestellt. Geruchsreaction auf Origanumöl und Fleisch ebenso lebhaft wie vor der Operation, beiderseits gleich. Ein grösserer Gesichtsfelddefeet, als in den beiden ersten Versuchen. Die Untersuchung an den nächstfolgenden Tagen ergab die gleichen Resultate. Hautsensibilität, Muskelgefühl und Gehör anscheinend unverändert. Am 27. October wird der Versuch gemacht, den Hund bei verbundenen Augen Fleisch suchen zu lassen, doch fing der Hund überhaupt nicht an zu suchen. Stopfte man ihm die Stückchen gewaltsam in’s Maul, so spuckte er sie immer wieder aus. Sobald man dagegen den Verband abnahm, fing der Hund alsbald an, das Fleisch mit sichtlichem Behagen zu verzehren. Dasselbe wiederholte sich auch am nächsten Tage, obschon der Hund in seinem Käfig im Hunde- stall vorzüglich frass. Die Wunde heilte ausgezeichnet, ja auch der Appetit des Hundes sprach gegen etwaige Complicationen. Der Hund wird vom 30. October bis zum 4. November ohne Fressen gelassen, doch konnte ihn auch dies nicht veranlassen, bei verbundenen Augen Fleisch zu suchen. In dem Laboratorium wollte der Hund sogar mit offenen Augen nicht Fleisch nehmen und spuckte es wieder aus. Hierbei erweckte der Hund den Anschein, als fürchte er sich vor irgend etwas. Die Wunde ist per primam verheilt. 6. November. FHExstirpation des Ammonshornes rechts. Operation ganz wie links. Bei der Abtragung des Ammonshornes an der Stelle seines Ueberganges in das Cornu inferius erfolgte eine Blutung, die jedoch mit Leichtigkeit gestillt wurde. Am 8. November schritt man bereits zur Untersuchung des Thieres: lebhafte Geruchsreaction auf Fleisch und Origanumöl. Fast völlige Amaurose auf beiden Augen, Sehen erhalten bloss in dem unteren äusseren Segment ‚des Gesichtsfeldes des linken Auges. Geht wie blind, hebt die Vorderpfote hoch. Geruch, eutane und musculäre Sensibilität und Reflexe bieten keinerlei merkliche Abweichungen von der Norm. An den nächsten Tagen status idem. 10. November. Dem Hunde werden neuerdings die Augen verbunden, und auf den Fussboden Fleischstückchen hingeworfen, in verschiedener Ent- fernung von einander. Wider alles Erwarten begann der Hund lebhaft zu suchen, wobei es ihm keinesfalls schlechter als vor der ersten Operation gelang, das Fleisch aufzufinden. Die Stückehen wurden in regelmässigen Reihen hingelegt, oder auch nieht, verschieden weit von einander entfernt, ganz einerlei — der Hund fand sie immer mit einer erstaunlichen Schnellig- keit; während der ganzen Versuchsdauer ging der Hund kein einziges Mal an einem Stück vorbei, ohne es sogleich zu finden. Das mit dem Origanumöl bestrichene Stückchen wollte er lange Zeit hindurch nicht nehmen, frass jedoch zum Schluss auch dies auf, nachdem er es zuvor mehrere Male wieder ausgespieen hatte. I# 20 V. P. Ossıpow: Vom 12. bis zum 18. November wurde der Hund täglich untersucht, wobei nichts Neues zur Bean gelangte. Die Wunde ist per primam verheilt. Des Weiteren wurde der Hund alle 2 bis 3 Tage untersucht; Ergeb- nisse der Untersuchung wie früher. Gesichtsfeld hat sich nicht erweitert. So ging es bis zum 26. December, an welchem Tage man die Wahrnehmung machte, dass der Hund nur mit Widerwillen frass. Am 27. December trat eine Reihe von epileptiformen Krampfanfällen auf, hauptsächlich in der linken Körperhälfte. Komatöser Zustand. Der Hund wird getödtet. Section: Haut- und Muskelwunde in vortrefflichem Zustande, in der Umgebung der Hirnwunden keinerlei entzündliche Reaction zu bemerken, doch sind die Wunden, wie es scheint, durch die Narbe der Dura mater etwas zusammengezogen. Hyperämie der meningealen Gefässe, entsprechend der Lage der motorischen Regionen, besonders rechterseits. Das Gehirn wird in eine Formalinlösung eingelegt. Querschnitte durch das Gehirn bestätigten das Gelingen der Operation. Versuch 4. Kleine Terrierhündin. Vor der Operation 3 Mal unter- sucht. Lebhafte Geruchsreaction auf Fleisch und Origanumöl. Sucht bei verbundenen Augen gut, indem er laut hörbar schnüffelt, macht jedoch bis- weilen Fehler, indem er Fleischstückehen übersieht.. Auffallend entwickeltes Muskelgefühl: Tritt der Hund mit der Hinterpfote auf ein Fleischstück, so hebt er sofort die Pfote, wendet sich schnell um und erfasst das Stück augenblicklich, ohne sich je dabei zu irren. Das mit Origanumöl bestrichene Fleischstückehen frisst er nur mit grossem Widerwillen. Hautsensibilität gut ausgebildet. Reflexe beim Streichen der Extremitäten lebhaft und gleichmässig. 21. December 1899. Exstirpation des Ammonshornes rechts. Die Fläche des inneren Längsschnittes durch die Masse des Gehirnes verlief nicht ganz senkrecht, sondern leicht schräg zur Mittellinie. Das Ammons- horn in seiner ganzen Dicke abgetragen, in einer Ausdehnung von dem Fornixschenkel bis zu seiner Uebergangsstelle in das Cornu inf. inel. Die Operation geschah unter ganz unbedeutender Blutung. 22. Der Der im reagirt äusserst lebhaft und beiderseits gleich auf den Geruch von Fleisch und Ohne, 23. December. Lebhafte Geruchsreaction. Unvollständiger Defect der linken Gesichtsfeldhälfte auf beiden Augen. Reflexe ‚und Hautsensibilität normal. ; 25. December. Die Operationswunde verheilt ohne Complicationen. Geruchsreaction lebhaft, wie früher. Sucht Fleisch bei verbundenen Augen ganz ebenso gut, wie vor der Operation. Muskelgefühl ebenso fein aus- geprägt, wie vor der Operation. Gehör und Hautsensibilität normal. Das Gesichtsfeld in dem unteren äusseren Segment des linken und in dem oberen inneren Segment des rechten Auges hat sich wieder hergestellt. Wiederholte Untersuchungen ergaben die gleichen Resultate. 4. Januar 1900. Exstirpation des Arrnionelommies links, ganz wie rechts, nur verlief der innere Längssehnitt durch die Masse des Hinter- hauptlappens 3"% vom äusseren Rande der 1. Oceipitalwindung entfernt, jedoch schräger als bei der ersten Operation. ÜBER DIE PHYSIOLOGISCHE BEDEUTUNG DES AMMONSHORNES. 21 5. Januar. Der Hund hat sich von der Narkose erholt, reagirt auf den Geruch von Origanumöl ebenso lebhaft wie vor der Operation. 6. Januar. Rechts totale Amaurose, links ist das Gesichtsfeld central und etwas nach aussen erhalten. An den rechten Extremitäten Reflexe schwächer als an den linken. Geruchsreaction lebhaft, wie früher. Haut- und Muskelsensibilität normal. 8. Januar. Bei verbundenen Augen sucht der Hund ebenso gut, wie vor der Operation. Muskelgefühl ebenso fein ausgeprägt wie vorher. Zum 15. Januar ist die Hautwunde bereits gut verheilt. Das Gesichts- feld des linken Auges hat sich vergrössert, auch rechts hat sich das Seh- vermögen wieder eingestellt. Reflexe beim Streichen der Extremitäten gleich. Geruch, Gehör, Muskelgefühl und Hautsensibilität ebenso gut ausgeprägt, wie vor der Operation. Bei wiederholt vorgenommenen Untersuchungen ergab sich nichts Neues. Der Hund wird am 22. Februar getödtet. Die Section ergab vorzüg- liche Heilung der Operationswunden; im Bereich der Hirnwunde ist die Dura mater beiderseits mit dem Muskel leicht verwachsen. Die Ränder der Hirnwunden unterscheiden sich ihrer Farbe nach nicht von anderen Theilen der Hirnrinde. Das Gehirn wird in eine Formalinlösung eingelegt. Querschnitte durch das Gehirn bestätigten das Gelingen der Operation. Versuch 5. Ein junger kleiner Hund (Terrier). Lebhafte Geruchs- reaction auf Origanumöl und Fleisch. Findet nach einigen vorausgegangenen Uebungen fast fehlerlos Fleischstückchen bei verbundenen Augen. Die mit ÖOriganumöl bestrichenen Stückchen umgeht er anfänglich, frisst aber zuletzt auch diese auf. Muskelgefühl und Hautsensibilität gut ausgeprägt. Reflexe beim Streichen der Extremitäten lebhaft, beiderseits gleich. 29. December 1899. Exstirpation des Ammonshornes rechts. Erste Öceipitalwindung bedeutend breiter als gewöhnlich, aus welchem Grunde der innere Schnitt nieht nach aussen von ihr geführt wurde, sondern durch die Substanz der Windung selbst. Das Ammonshorn abgetragen in der Ausdehnung von dem Fornixschenkel bis zu seinem Uebergange in das Cornu inferius, doch wurde die Uebergangsstelle selbst von hinten und von vorn bloss umschnitten. Eine geringfügige Blutung während der Operation wurde gestillt. Am 30. December hatte sich der Hund bereits ganz gut von der Narkose erholt. Geruchsreaction auf Origanumöl ebenso lebhaft, wie vor der Ope- ration, beiderseits gleich. 31. December. Hat sich von der Operation erholt; frisst mit Appetit; reagirt lebhaft auf den Geruch von Fleisch und Origanumöl. An den folgenden Tagen Geruchsreaction ebenso lebhaft. 2. Januar 1900. Findet bei verbundenen Augen Fleischstückchen ohne Fehler; Geruchsreaetion lebhaft; verhält sich dem mit Origanumöl be- strichenen Fleischstückchen gegenüber ebenso wie vor der Operation. Reflexe beim Streichen der Extremitäten gut ausgeprägt. Hautsensibilität und Muskel- gefühl unverändert, desgleichen das Gehör. Die Sehprüfung ergab fast voll- ständigen Ausfall der linken Gesichtsfeldhälften. Das Gleiche wurde auch an den folgenden Tagen beobachtet. Die Hautwunde verheilte per primam. 22 V.P. Ossıpow: 10. Januar. Operation auf der linken Seite. Der vordere Schnitt durch die Dieke der Oceipitalwindungen wurde etwas schräg in der Richtung von innen und vorn nach hinten und aussen geführt, in dem Wunsche, die hier gelegene grosse Vene zu schonen. Nach Freilegung des Ammonshornes wurde, nachdem die Wirkung der Aethernarkose so weit nachgelassen hatte, dass der Hund auf schmerzhafte Reize zu reagiren begann, der Versuch einer Reizung des Ammonshornes gemacht. Hierzu diente der faradische Strom von der Spule eines du Bois-Reymond’schen Schlittenapparates, der von einem Daniell’schen Elemente gespeist wurde. Trotz wiederholter Reizung der verschiedenen Theile des Ammonshornes mit Strömen von wechselnder Stärke (von 150 bis 30" Rollenabstand) gelang es nicht, sei es Krampfbewegungen, oder Aenderungen des Respirationsrhythmus, oder Bewegungen der Nasenflügel zu constatiren, welche ‚auf eine Reizung des Geruchsorgans hingewiesen hätten. Hierauf wurde das, unter dem Einfluss der andauernden Reizungen stark gerunzelte und dunkler aussehende Ammons- horn bis zu seiner Uebergangsstelle in das Cornu inferius abgetragen. 11. Januar. Der Hund reagirt bereits lebhaft und beiderseits gleich auf den Geruch von Fleisch und Origanumöl. .Das Gleiche auch an den nächstfolgenden Tagen. F 14. Januar. Der Hund führt den Versuch mit dem Suchen von Fleisch bei verbundenen Augen tadellos aus. Das mit Origanumöl bestrichene Stück- chen frass er mit grossem Widerwillen. Weder von Seiten des Gehörs, noch von Seiten der Sensibilität irgend etwas Abnormes zu bemerken. Sehprüfung: Erhalten ist nur das untere äussere Segment in dem Gesichts- felde des linken Auges. Im Laufe der nächstfolgenden Zeit wiederholt vorgenommene Untersuchungen bestätigten lediglich die soeben angeführten Resultate. Die Wunde verheilte ohne Complicationen. Am 22. Februar wird der Hund getödtet. Wie in den vorhergehenden Fällen, so zeigte sich auch hier die Dura mater im Bereiche der Hirn- wunden mit dem Muskel leicht verwachsen. Schnitte durch das in Formalin gehärtete Gehirn bestätigten das Gelingen der Operation. Nicht alle Operationen, betreffend die Exstirpation des Ammonshornes, verliefen so glatt, wie in den angeführten fünf Versuchen. Ich will diese Versuche in Kürze erwähnen, ohne mich dabei an die Kelanilae der ; Versuchsprotocolle zu halten. Am 14. November 1899 wurde einer kleinen, zuvor genau untersuchten Hündin das linke Ammonshorn in der Ausdehnung von dem Fornixschenkel bis zu seiner Uebergangsstelle in das Cornu inf. inel. exstirpirt. Am folgenden Tage reagirte der Hund auf den Geruch von Origanumöl und Fleisch ebenso gut, und beiderseits gleich, wie vor der Operation. Am 17. November suchte der Hund bei verbundenen Augen Fleischstückchen fehlerlos. Es wurden keinerlei Abnormitäten, ausser dem unvollständigen Ausfall der rechten Ge- sichtsfeldhälften, bemerkt. Die Wunde verheilte per primam. Am 28. No- vember dieselbe Operation rechts; dabei heftige Blutung, welehe den Tod des Hundes am Tage nach der Operation zur Folge. hatte. Die Section ergab, dass grosse Mengen von Blut in die Tiefe des Beitenventrikels und des-3. Ventrikels alias Damage waren. ÜBER DIE PHYSIOLOGISCHE BEDEUTUNG DES AMMONSHORNES. 23 Am 23. December 1899 wurde einer jungen Terrierhündin das rechte Ammonshorn bis zu seiner Uebergangsstelle in das Cornu inf. inel. exstirpirt. Dieser Hund besass einen ungemein feinen Geruch, er fand schnell und ohne Fehler Fleischstückchen, die in Abständen von ungefähr 1” von ein- ander auf dem Fussboden lagen; auf den Geruch von Origanumöl reagirte er, indem er die Zähne fletschte. Die Untersuchung des Hundes nach der Operation ergab keinerlei bemerkbare Geruchsstörungen. Es war nur das Sehen beeinträchtigt (Ausfall der linken Gesichtsfeldhälfte des rechten Auges und des centralen Theiles des Gesichtsfeldes des linken Auges. Die Wunde verheilte per primam. Am 6. Januar 1900 wurde die gleiche Operation linkerseits wiederholt. Am 7. Januar reagirte der Hund lebhaft auf den Geruch von Fleisch und Origanumöl. Ausser einer Sehstörung nichts Abnormes zu constatiren. Bei verbundenen Augen suchte der Hund Fleisch ohne Fehler. Am 14. Januar wich die Hautwunde in ihrer hinteren Hälfte aus einander, und es wurde eine Wundeiterung bemerkt. Am 17. Januar Zuckungen in den Extremitäten, der Hund in komatösem Zustande getödtet. Die Section des Gehirnes ergab eine eitrige Entzündung der Hirnhäute, wobei sich Eiter auch in den Ven- trikeln und unter den Häuten des Cervicaltheiles des Rückenmarkes fand. Am 16. Januar frass der Hund noch, jedoch nieht mehr mit gutem Appetit; die Reaction auf den Geruch von Fleisch erschien herabgesetzt. Am 17. Januar reagirte er weder auf Geruchsreize, noch auf Schmerz- oder Berührungsreize. Diese beiden Versuche sind in ihrer ersten Hälfte als gute zu be- zeichnen, d.h. als Experimente mit einseitiger Exstirpation des Ammons- hornes. In dem zweiten Versuche lebte der Hund 11 Tage nach der zweiten Operation, wobei in den ersten Tagen keinerlei Störungen zu bemerken waren, welche auf einen entzündlichen Process hingedeutet hätten. Daraus folgt, dass die eitrige Entzündung nicht von der Hirnwunde aus, sondern von aussen her ihren Anfang nahm, von dem Zeitpunkt an, wo die Nähte aus einander wichen, und sich dann schnell auf die Hirnhäute und das Gehirn weiter verbreitete. IV. Und so ergaben die 5 von mir angeführten Versuche mit doppelseitiger Exstirpatiin des Ammonshornes und die 2 Versuche mit einseitiger Ex- stirpation desselben (die zweite Operation in dem letztangeführten Falle ziehe ich nicht mit in Rechnung, aus dem Grunde, weil der Hund nur kurze Zeit darnach lebte und an eitriger Meningitis zu Grunde ging) völlig gleichartige Resultate, unabhängig davon, ob ein kleinerer oder grösserer Theil des Ammonshornes bei der Operation abgetragen wurde. Allerdings wurde in keinem einzigen meiner Versuche das Ammons- horn in seiner ganzen Ausdehnung exstirpirt; in allen Versuchen blieb der 24 V.P. Ossıpow: im Cornu inf. liegende Antheil desselben erhalten. Wie Schnitte durch das in Formalin gehärtete Gehirn zeigten, betrug dieser erhalten gebliebene Theil in den Versuchen 3, 4 und 5, wie auch in den beiden Versuchen mit einseitiger Exstirpation des Ammonshornes, ungefähr '/, seiner ganzen Länge. Doch darf man diesem Umstande wohl kaum eine besondere Be- deutung beimessen, da die Function dieses erhalten gebliebenen Theiles durch die bei der Abtragung des Ammonshornes erfolgte Reizung gewiss schon beeinträchtigt war, wenigstens für die allernächste Zeit nach der Operation. Man hätte ja den Versuch machen können, auch diesen Theil | des Ammonshornes mit abzutragen, doch wäre dadurch eine Operation im Dunkeln gegeben, wobei man nicht für die Unversehrtheit der anliegenden Hirntheile hätte bürgen können. Im gegebenen Falle strebte ich auch gar nicht darnach, schon aus dem Grunde, weil andere Forscher an den von ihnen operirten Thieren ausgesprochene Veränderungen bereits in Folge einer kleinen Eechymose auf der Oberfläche des Ammonshornes, oder in Folge einer unbeträchtlichen Verletzung desselben während der Operation erhielten (Luciani und Sepilli, Fasola), die Störungen dagegen, welche von ihnen nach Abtragung von ausgedehnten Partien des Ammonshornes beobachtet wurden, durch ihre auffallenden Erscheinungen einfach befremden. Sind die Versuche dieser Forscher richtig, so konnte auch in meinen Fällen die Exstirpation von ?/, des Ammonshornes beiderseits nicht ohne merkliche Schäden vorübergehen, Die Beobachtung der von mir operirten Thiere ergah positive und negative Resultate, wobei sich sowohl die einen, wie die anderen consequent wiederholten. Zu den positiven Resultaten gehört die Sehstörung, wie sie bei sämmtlichen von mir operirten Hunden zur Beobachtung gelangte, zu den negativen der Mangel von Störungen Seitens des Gehörs-, Geschmacks- und Geruchssinnes. : Wie aus der Litteraturübersicht hervorgeht, bringt Luciani das Arnmonshorn mit dem psychischen Sehcentrum in Zusammenhang, da nach Exstirpation desselben (einseitig und scharf begrenzt) bei Hunden, deren - Blindheit trotz in vorhergegangenen Operationen erfolgter Abtragung der corticalen Sehsphären keine vollständige war, vollkommene Seelenblindheit eintrat. Auf Grund derselben Dinge schliesst auch Fasola auf eine Seh- function des Ammonshornes. An der Richtigkeit der. Beobachtung Luciani’s und Fasola’s zu zweifeln, habe ich kein Recht, doch kann ich mich mit der von ihnen für die beobachtete Erscheinung gegebenen Erklärung keines- falls einverstanden erklären. Ich will dies nunmehr auf Grund meiner Versuche zeigen. Exstirpirt man einem Hunde die Rinde der 2. und 3. Oceipitalwindung einer Hemisphäre in ihrer ganzen Ausdehnung, so fällt, wie einschlägige ÜBER DIE PHYSIOLOGISCHE BEDEUTUNG DES AMMONSHORNES. 25 Untersuchungen! zeigen, auf der Seite der Operation aus dem Gesichtsfelde des Thieres der innere, auf der gegenüber liegenden Seite der mittlere Theil aus; bei doppelseitiger Operation beiderseits müssen die äusseren Abschnitte des Gesichtsfeldes erhalten bleiben. Dank dem anatomischen Bau des Gehirnes, erscheinen die Sehbahnen, welche die Zellen der Hirnrinde mit den darunter liegenden Öentren verbinden, in den der grauen Rindensubstanz zunächst gelegenen Abschnitten der weissen Substanz als Strahlen, welche von der Rinde in schräger Richtung zu dem tiefer liegenden Centrum ver- laufen. Führt man daher einen senkrechten Schnitt durch die Masse der grauen und weissen Substanz der Hirnrinde, so durchschneiden wir nicht nur die Leitungsbahnen desjenigen Abschnittes der grauen Substanz, durch welche der Schnitt ging, sondern auch zugleich die der ihm benachbarten Abschnitte. In meinen Versuchen betrafen die Verticalschnitte die ganze Dicke der weissen Substanz der Hirnrinde; verständlich ist, dass hierbei auch ein Theil der Sehbahnen der ersten Occipitalwindung durchschnitten wurde. In den beiden ersten Versuchen, wo die seitlichen Schnitte genau senkrecht geführt wurden, blieben bei den Hunden nach Ausführung der doppelseitigen Operation die äusseren Abschnitte des Gesichtsfeldes beider Augen erhalten. In den Versuchen 3 und 5 verliefen die Flächen der inneren und äusseren Längsschnitte schräg, in der Weise, dass der Querschnitt des abgetragenen Hirnstückes etwa einem Trapezoid glich. In diesen beiden Fällen war, nach doppelseitiger Operation, der Effect voll- ständige Amaurose der Hunde auf dem rechten Auge, während in dem Gesichtsfelde des linken Auges ein kleiner Theil in seinem unteren äusseren Abschitte erhalten blieb. In dem Versuche 4 behielt der Hund nach doppelseitiger Operation das untere äussere Segment des Gesichtsfeldes links und das obere innere rechts. Dieser Umstand spricht dafür, dass bei der rechtsseitigen Operation die 1. Oceipitalwindung und der äussere hintere Theil der 3. Windung weniger beeinträchtigt waren, als in anderen Ver- suchen, speciell in den Versuchen 3 und 5. Das Ammonshorn wurde in dem Versuche 4 beiderseits in ebenso grosser Ausdehnung abgetragen, als in den Versuchen 3 und 5. Stände folglich, wie Luciani annimmt, das Ammonshorn in so naher Beziehung zur Sehsphäre, dass selbst wenig aus- gedehnte einseitige Abtragung desselben bei Thieren vollständige Seelen- blindheit erzeugte, so hätte auch dieser Hund das Sehen vollkommen ver- lieren müssen, was in Wirklichkeit aber nicht der Fall war. In den Versuchen 3 und 5, wo die Fläche des inneren Längsschnittes durch den Oceipitallappen schräg in der Richtung nach unten und zur ı H.Munk, Ueber die Functionen der Grosshirnrinde. Berlin 1890. Siehe die Schemata auf S. 73 und 74, 26 V. P. Ossıpow: Mittellinie verlief, wo also die mit den Zellen der 1. Oceipitalwindung verbundenen Leitungsbahnen fast in ihrer ganzen Masse durchtrennt wurden, trat schon nach der ersten Operation ein nahezu vollständiger Ausfall der inneren Gesichtsfeldshälfte auf der Seite der Operation und der äusseren Hälfte auf der gegenüberliegenden Seite ein. Aus dem Gesagten geht unzweideutig hervor, dass die Amaurose, wie sie unter gewissen Bedingungen nach doppelseitiger Exstirpation des Ammons- hornes eintritt, keineswegs abhängig ist von einem Ausfall der Funetion des Ammonshornes, sondern “vielmehr von der Durchschneidung derjenigen Leitungsbahnen, welche mit den bei der Operation nicht verletzten Theilen der grauen Substanz der Sehsphäre der Hirnrinde in Verbindung stehen. Alles eben Angeführte lassen nun Luciani und Fasola völlig unberück- sichtigt, ebenso wie Luciani der profusen Eiterung, wie sie bei den von ihm operirten Thieren auftrat, keinerlei Bedeutung: beimisst. Die bei meinen Versuchen gewonnenen negativen Ergebnisse verdienen Beachtung da sie in directem Widerspruche zu den von anderen Forschern erhaltenen Resultaten stehen, besonders zu denen von Ferrier und Ferrier und Yeo. Obschon die Resultate Ferrier’s bezüglich des Ammonshornes von späteren Forschern auch nicht bestätigt werden konnten, so bedürfen dieselben doch einer ausdrücklichen Erwiderung, da sie, ohne die gehörige Kritik aufgenommen, bereits zum Theil zu einer unrichtigen Auslegung der Thatsachen geführt haben.’ Wie aus meinen Versuchsprotocollen zu ersehen, gelangten bei den Hunden nach der Exstirpation des Ammonshornes kein einziges Mal Störungen der Hautsensibilitätt und des Muskelgefühles zur Beobachtung. Sämmtliche Bewegungen der Hunde waren vollständig frei und, wäre nicht die Sehstörung vorhanden gewesen, man hätte kaum an- nehmen können, die Hunde seien operirt worden. In 2 Fällen wurde von mir (Versuche 2 und 4) eine Ungleichheit der Berührungsreflexe beim Streichen der Extremitäten an den Thieren beobachtet, doch. wurde diese Erscheinung eben nur in 2 Fällen beobachtet und dazu nur an den ersten Tagen nach der Operation und erklärt sich, meiner Ansicht nach, durch den Reizzustand der operirten Hemisphäre in der Zeit gleich nach der Operation. Die von Ferrier und Yeo beobachteten Erscheinungen er- klären sich offenbar daraus, dass ihre Versuche nicht reine waren. Ich erachte es für nothwendig, hier einen Versuch anzuführen, wo ! Sommer, welcher sich auf die Untersuchungen von Ferrier beruft, ist bestrebt, eine Erklärung dafür zu geben, weshalb bei Epileptikern häufig Veränderungen des Ammonshornes gefunden werden, und nimmt einen causalen Zusammenhang zwischen der Erkrankung des Ammonshornes und der Epilepsie an. Siehe W. Sommer, Er- krankung des Ammonshornes als ätiologisches Moment der Epilepsie. Archw für Psychiatrie. 1880. Bd.X. S. 631, 672, 675. ÜBER DIE PHYSIOLOGISCHE BEDEUTUNG DES AMMONSHORNES. 27 nach Exstirpation des Ammonshornes ein Hund Erscheinungen zeigte, ähnlich den von Ferrier beobachteten: Am 2. December wurde einem Hunde rechts das Ammonshorn exstirpirt. Im Verlaufe der Operation wurde ein Gefäss im Inneren des Gehirnes verletzt, es erfolgte eine profuse Blutung, welche die weitere Operation in dem Maasse hinderte, dass das Ammons- horn nur oberflächlich und in ganz geringer Ausdehnung abgetragen werden konnte; es gelang nur mit Mühe, die Blutung zu stillen. Am 4. December hatte sich das Thier von der Operation bereits gut erholt, doch beobachtete man zwangsmässige Kreisbewegungen des Hundes nach der rechten Seite hin, bei deutlich ausgesprochener Ataxie der linken Extremitäten; das Nämliche wurde auch am 6. December beobachtet. Das Muskelgefühl war in den linken Extremitäten so stark beeinträchtigt, dass man sowohl die Vorder- als auch die Hinterpfote des Hundes frei flectiren konnte, wobei der Hund auf den gebeugten Pfoten stehen blieb, ohne dies überhaupt wahrzunehmen und ohne irgend welche Versuche zu machen, um die Pfoten aus dieser ungewohnten, ihnen künstlich gegebenen Stellung zu befreien. Diese Störung des Muskelgefühles darf man gewiss nicht auf die Ex- stirpation des Ammonshornes beziehen; wie die Section des noch an dem- selben Tage getödteten Hundes ergab, war der Seitenventrikel von reichlicher, trüber, seröser Flüssigkeit erfüllt, in ihm fanden sich Blutgerinnsel nicht nur in seinen hinteren, sondern auch in seinen vorderen Abschnitten; die Hirnrinde zeigte sich im Bereiche des Operationsgebietes stark hyperämisch, wie auch die intracorticalen Ganglien. Auf solche misslungene Experimente stützen sich eben die Schlussfolgerungen von Ferrier bezüglich der Function des Ammonshornes. Und so wird die Bedeutung des Ammonshornes, als eines Centrums für die Hautsensibilität und das Muskelgefühl, durch meine Versuche in keiner Weise bestätigt. Lucianri und Fasola setzen das Ammonshorn in Beziehung zur Hör- sphäre des Hundes. In meinen Versuchen beobachtete ich nicht eine Gehörstörung an den operirten Thieren: sämmtliche Hunde nahmen einen leisen Ruf, einen leisen Pfiff ganz ebenso gut, wie vor der Operation wahr. Während Ausführung des Versuches mit dem Suchen von Fleisch bei ver- bundenen Augen wandten die Hunde, ganz ebenso wie vor der Operation, den Kopf sogleich nach der Richtung des Geräusches, wenn man ein Fleisch- stückchen auf den Fussboden fallen liess. Uebrigens ist die angeführte Behauptung von Luciani auf den dritten der von mir angeführten Ver- suche gestützt: Die Gehörstörung seines Hundes zeigte sich einige "Tage nach der Operation, bei bestehender Fiebertemperatur und Nahrungs- verweigerung, verschwand jedoch wieder in den allernächsten Tagen, trotz- dem sich bei dem Hunde bereits eine eitrige Meningo-Encephalitis entwickelt 28 V. P. Ossıpow: hatte, an der er auch kurze Zeit darauf einging. Luciani prüfte den Geschmack der operirten Hunde mit Hülfe einer Lösung von Digitalin und beobachtete keinerlei Geschmacksstörung. Diese Beobachtung von Lueiani wird durch meine Versuche bestätigt: Die operirten Hunde nahmen das leicht mit Origanumöl bestrichene Fleisch nach der Operation ganz ebenso ungern, wie vorher; häufig nahmen die Hunde ein solches Stück in’s Maul, spuckten es dann wieder aus und fuhren fort, eifrig die anderen Stückchen aufzusuchen. Waren alle anderen Fleischstückchen aufgefressen, so pilegten die Hunde von Neuem zu dem mit Oel bestrichenen Stück zurückzukommen, - nahmen es vorsichtig in’s Maul, gaben es gewöhnlich wieder von sich und erfassten es wieder, um es schliesslich zu verschlingen. Somit lag kein (rund vor, eine Geschmacksstörung bei den operirten Hunden anzunehmen. Es erübrigt noch, das Verhalten des Geruchssinnes bei den operirten Hunden einer Betrachtung zu unterziehen. Alle: meine Hunde reagirten am Tage nach der Operation ganz ebenso lebhaft auf den Geruch von Origanumöl, bisweilen auch von Fleisch, wie vor der Operation. Sämmt- liche Operationen wurden in Chloroform-Aethernarkose ausgeführt, vor der Operation erhielten die Hunde eine subcutane Injection von 3 bis 5m einer 3 procent. Morphiumlösung. Unter dem Einflusse der Narkose schliefen die Hunde in der Regel bis zum folgenden Tage, zeigten sich aber nicht selten auch dann noch verschlafen und frassen nicht. Näherte man der Nase solch’ eines Hundes. dann ein Stück Fleisch, so wandte der Hund sich zur Seite ab, woraus man natürlich nicht den Schluss ziehen durfte, dass der Hund den Geruch des Fleisches nicht wahrnehme. Am 2. Tage nach der Operation hatten sämmtliche Hunde bereits vorzüglichen Appetit, und in allen Fällen war die Reaction auf den Geruch von Fleisch ganz die gleiche und erfolgte auf dieselbe Entfernung, wie auch vor der Operation. Alle Hunde suchten die Fleischstückchen bei verbundenen -Augen ganz ebenso gut, wie vor der Operation, ja mitunter sogar noch besser auf; dies hatte statt im Verlaufe der ganzen Beobachtungsdauer. Der einzige Fall, welcher die Aufmerksamkeit auf sich lenken dürfte, das ist der Hund in’ dem Versuche 2, welcher, 3 Wochen hindurch ohne Uebung, darnach plötzlich besser zu suchen begann, als zuvor. Man könnte hier, wie es scheint, auf die Vermuthung kommen, als wäre der durch die Operation beeinträchtigte Geruchssinn wieder zur Norm zurückgekehrt. Doch spricht das Fehlen eines Unterschiedes in dem Suchen des Fleisches vor und nach der zweiten Operation gegen eine derartige Annahme, ganz ebenso wie die nächstfolgenden Versuche, wo eine solche Erscheinung nicht zur Beobachtung gelangte, obwohl hier bei der Operation ein ausgedehnterer Theil des Ammonshornes abgetragen wurde, als in dem erwähnten Falle Der angeführte Fall erklärt sich am besten dadurch, dass der Hund, der ÜBER DIE PHYSIOLOGISCHE BEDEUTUNG DES AMMONSHORNES. 29 diesmal länger als gewöhnlich gehungert hatte, sich aufmerksamer zur Sache verhielt. In dem ersten meiner Versuche lebte der Hund 87 Tage nach der ersten Operation und 74 Tage nach der zweiten Operation; in dem zweiten Versuche 61 Tage nach der ersten und 49 Tage nach der zweiten Operation; in dem dritten 65 Tage nach der ersten und 51 Tage nach der zweiten Operation; in dem vierten 63 Tage nach der ersten und 49 Tage nach der zweiten Operation und im fünften Versuche 55 Tage nach der ersten und 43 Tage nach der zweiten Operation. Trotz dieser langdauernden Beobachtungszeiten der Thiere konnte ich doch kein einziges Mal eine Abschwächung des Geruches bei meinen Hunden constatiren; besonders hervorgehoben zu werden verdient die That- sache, welche für mich ausser allem Zweifel steht, dass sich in den Tagen unmittelbar nach der Operation die Geruchsreaction der Hunde auf den Geruch von Fleisch und Origanumöl in nichts von der gleichen Reaction vor der Operation unterschied. Bisweilen wurden den Hunden bei dem Versuche des Suchens von Fleisch bei verbundenen Augen Stückchen von Hundefleisch untergeschoben doch nahmen die Hunde in der Regel dieselben nicht, sowohl vor der Exstirpation des Ammonshornes, als auch nach der- selben. Zur Prüfung des Geruchssinnes der Hunde wurden zwei Substanzen verwandt; die eine von ihnen (Fleisch) besitzt einen den Hunden angenehmen Geruch, die andere (Origanumöl!) einen unangenehmen; auf die erste Substanz reagirten die Hunde positiv, d. h. sobald sie den Duft des Fleisches witterten, streckten sie die Schnauze alsbald in der Richtung nach ihm aus und schnüffelten, indem sie frequentere Inspirationsbewegungen machten und die Nasenflügel bewegten. Auf die zweite Substanz reagirten die Hunde negativ, d. h. sie wandten sich sogleich zur Seite hin ab und machten keinesfalls verstärkte Inspirationsbewegungen; eine derartige Re- action wurde sowohl vor, wie auch nach der Operation beobachtet. Hieraus geht hervor, dass der Geruch der Hunde weder in quantitativer, noch in qualitativer Beziehung gelitten hatte. Bei dem Suchen der Fleischstückchen bei verbundenen Augen gingen sämmtliche Hunde lange Zeit hindurch um das mit Origanumöl bestrichene Fleischstückchen herum und frassen es erst ganz zuletzt, dazu mit sichtlichem Unbehagen. Dieser Umstand weist gleichfalls unzweideutig darauf hin, dass die qualitative Seite des Geruchz- sinnes bei den Hunden nieht beeinträchtigt war, da ja die Fähigkeit der Auswahl in vollem Umfange erhalten geblieben war. ! Ich versuchte, auch andere riechende Substanzen, wie Bergamottöl und Nelkenöl, anzuwenden, doch erwiesen diese in Folge ihres scharfen Duftes sich als weniger ge- eignet, wie das Origanumöl. 30 V. P. Ossıpow: Sobald ein Hund durch den Geruch ein Fleischstückchen bemerkte, so ging er unverzüglich auf dasselbe los, indem er dabei nach der Nase ging, und erfasste das Stück bei genügender Annäherung. Kein einziges Mal beobachtete ich, dass der Hund unter gewöhnlichen Bedingungen das Fleisch verfehlte, indem er mit den Zähnen in die Luft schnappte: Dies geschah lediglich mitunter in Fällen, wo ich das Fleischstück dem Hunde schnell unter der Nase fortzog. So blieb denn auch das Vermögen, die Geruchsquelle zu localisiren, unverändert. Luciani erwähnt, dass einer von seinen Hunden (s. oben) nach ein- . seitiger partieller Exstirpation des Ammonshornes auf den Geruch von Fressen, das in die Stube gebracht wurde, wohl vorzüglich reagirt hätte, jedoch trotzdem lange hätte suchen müssen. Meines Erachtens lässt sich dies durch den Mangel gehöriger Uebung bei dem Hunde Luciani’s erklären; in meinen Versuchen verstanden es sämmtliche Hunde vorzüglieh, sich ihres Geruches zu bedienen. Aus allem oben Gesagten kann man nur den einen Schluss ziehen, dass nämlich dem Ammonshorn irgend eine wesentliche Bedeutung für den Geruchssinn nicht zukommt. Die -technische Seite meiner Operationen, betreffend die Exstirpation des Ammonshornes, schliesst Fehler aus, wie sie bei der Besprechung von Fasola’s Versuchen gezeigt sind. Daher meine ich, dass diejenigen positiven Resultate, mit Beziehung auf den Geruchs- und Gehörssinn, welche dieser Autor erhielt, sich erklären nicht durch einen Ausfall der Function des Ammonshornes, sondern durch eine Functionsstörung der benachbarten Hirnpartien, und daher als Neben- erscheinungen, hervorgerufen durch die Operation, aufzufassen sind. Ausser- dem konnte der Verf., welcher zu wiederholten Malen in ein und den- selben Hirnregionen operirte und dabei mit dem scharfen Löffel in die Tiefe des Cornu inf. eindrang, in einigen Fällen den G. hippocampi ver- letzen, der dem Ammonshorn eng anliegt und sich mit demselben ver- einiet. Die Bedeutung aber dieser Windung für den Geruch kann für bewiesen, auch nach der Methode des Functionsausfalles,? gelten. Die Geruchsfunction des Ammonshornes völlig auszuschliessen, dazu habe ich auf Grund meiner Versuche nicht das Recht, da es sehr wohl möglich ist, dass das Ammonshorn an sich einen nur unbedeutenden Antheil der grossen Riechsphäre (G. hippocampi) repräsentirt, so dass seine Abtragung nicht eine Bestimmung der Herabsetzung des Geruchssinnes mit Hülfe der uns zugänglichen Methoden gestattet. Weniger wahrscheinlich ist es, anzu- nehmen, dass die verschiedenen Abschnitte des peripherischen Riechapparates mit streng localisirten benachbarten Bezirken der corticalen Riechsphäre in ! H. Munk, Ueber die Functionen der Grosshirnrinde. Berlin 1890. 8. 108—111. ÜBER DIE PHYSIOLOGISCHE BEDEUTUNG DES AMMONSHORNES. 31 Verbindung stehen, ganz ähnlich dem, was für das Sehen gilt; doch kann man den Ausfall der Function eines bestimmten Abschnittes der Retina nach partieller Abtragung der Sehsphäre mit Leichtigkeit constatiren. Wenn jedoch nach Exstirpation des Ammonshornes ein Theil des peripherischen Riechapparates auch zu funetioniren fortfährt, so muss dieser zurückgebliebene Theil augenscheinlich so bedeutend sein, dass er eine Beeinträchtigung des (Geruchssinnes weder in quantitativer, noch in qualitativer Beziehung be- merken lässt. Bei zweien der von mir operirten Hunde (Versuch 2 und 3) stellten sich nach Ablauf von etwa 2 Monaten nach der Operation epileptische Anfälle ein; ich bringe diese Erscheinung nicht mit dem Fehlen des Ammonshornes bei diesen Hunden in Zusammenhang, da ich zur Erklärung dieses Verhaltens auf anderem Wege genügend Thatsachen besitze: Erstens war die Bluteirculation in der Hirnrinde der Hunde durch die Ausschaltung der Gefässe der Oceipitallappen gestört; zweitens war in beiden Oceipital- lappen je eine Narbe (partielle Verwachsung der Dura mater mit dem Muskel) vorhanden — die Bedeutung von Narben der Dura mater für die Entstehung der Epilepsie unterliegt ja keinem Zweifel. Ausserdem spricht das negative Resultat, wie es bei Reizung des Ammonshornes durch einen faradischen Strom von wechselnder Intensität (s. Versuch 5) gewonnen wurde, keineswegs zu Gunsten der Annahme von der Bedeutung einer Erkrankung des Ammonshornes für die Aetiologie der Epilepsie im Sinne von Meynert, Sommer! und Bratz.” Von der Unhaltbarkeit der Hypothese Sommer’s sprach ich bereits oben; Bratz beschränkt sich nur darauf, das Factum zu registriren, dass sich bei der Section des Gehirnes von Epileptikern häufig Sklerose des Ammonshornes findet, hütet sich aber wohlweislich, daraus irgend welche weiteren Schlüsse zu ziehen. Die Arbeiten von Sommer und Bratz sind für mich von besonderem Interesse, insofern als sich in ihnen deutliche Hinweise darauf finden, dass die Bedeutung des Ammonshornes für den Geruchssinn keine wesentliche ist. Sommer führt 90 Fälle von Läsion des Ammonshornes bei Epilep- tikern, darunter 30 Fälle von doppelseitiger Läsion (grösstentheils Sklerose), an und weist zum Schlusse seiner Arbeit? auf das seltene Vorkommen von Störungen des Geruches und Geschmackes in den von ihm angeführten Fällen hin. Die Fälle von Sommer sind hauptsächlich aus der Litteratur zusammengestellt; möglicher Weise ist in vielen von ihnen der Geruch ! Sommer, 2.2.0. ° Bratz, Ammonshornbefunde bei Epileptischen. Archiv für Psychiatrie. 1899. Bd. XXXI. S. 820—836. — Derselbe, Ueber das Ammonshorn bei Epileptischen und Paralytikern. Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie. 1899. Bd. LVl. 8. 841—844. > Sommer, 2.2.0. 8. 671. 32 V.P. Ossıpow: ÜBER DIE PHYSIOLOGISCHE BEDEUTUNG U. S. w. auch gar nicht geprüft worden. Aus diesem Grunde ist den Daten von Bratz eine grössere Bedeutung beizumessen, welcher bei 25 von 50 Epi- leptikersectionen Sklerose des Ammonshornes fand; in einem Falle waren beide Ammonshörner sklerosirt. Der genannte Verf. spricht es ganz klar aus, dass die Geruchsprüfung bei einer sehr grossen Zahl von Epileptikern — die Untersuchung wurde in Wuhlgarten auf die Veranlassung des Directors Hebold ausgeführt, auch die Arbeit des Verf. ist von Wuhlgarten aus erschienen — negative Resultate ergab. Der Verf. erklärt dies dadurch, dass das Riechbündel, welches durch das Ammonshorn geht, frei von der - Läsion war, wie die mikroskopische Untersuchung der Gehirne der Epileptiker zeigte (die Zellen waren lädirt!). Vielleicht ist die mikroskopische Unter- suchung der Gehirne der von mir operirten Thiere im Stande, die Sache aufzuklären, obgleich es mir zweifelhaft erscheint, dass das Riechbündel in meinen Versuchen erhalten geblieben sein sollte, da ja von mir das Ammons- horn seiner ganzen Dicke nach, beginnend von dem Fornixschenkel, ab- getragen wurde. Wenn ich nunmehr die von mir gewonnenen Thatsachen in Kürze resumire, so kann ich Folgendes sagen: Das Ammonshorn darf, entgegen der von Ferrier und Yeo vertretenen Ansicht, nicht nur nicht als Centrum für das Muskelgefühl und die Hautsensibilität angesehen werden, sondern es steht seine Function überhaupt nicht in einem irgendwie näheren Zu- sammenhange, sei es mit dem Muskelgefühl oder der Hautsensibilität. Die Beziehung des Ammonshornes zu dem Gesichts-, Gehörs-, Geschmacks- und Geruchssinn muss gleichfalls stark in Zweifel gezogen werden, aus dem Grunde, weil es nach der Methode des Ausfalles der Function, ent- gegen der Meinungsäusserung anderer Autoren, nicht gelingt, irgendwie bemerkbare Abweichungen von der Norm Seitens dieser Sinne nachzuweisen. Zum Schlusse ist es mir eine angenehme Pflicht, Hrn. Prof. Hermann Munk meine tiefgefühlte Dankbarkeit für das mir überlassene Thema, sowie für das aufrichtige Interesse, mit welchem er meiner Arbeit folgte, sowie für seine schätzenswerthen Rathschläge bei Ausführung der Arbeit und für den freundlichen Empfang, der mir in seinem Laboratorium zu Theil wurde, auszusprechen. ! Bratz, Archiv für Psychiatrie. 1899. Bd. XXXI. 8. 833. Der Athmungsmechanismus des Frosches. Von Silvestro Baglioni. (Aus dem physiologischen Institut der Universität Jena.) Vorwort. Wenn man einen ruhig dasitzenden Frosch aufmerksam beobachtet, so bemerkt man sofort die sich immer wiederholenden und ununterbrochen auf- und abgehenden Bewegungen der Kehle Man würde zweifellos diese Bewegungen für echte Athmungsbewegungen halten, wenn man nicht gleich- zeitig die Seiten des Rumpfes beachtete, welche nur dann und wann, aber immer in längeren Perioden, sich einziehen und wieder vorwölben. Nichts desto weniger dürften diese Kehlbewegungen bei der Athmung oder wenig- stens im Leben des Frosches eine wichtige Rolle spielen, da sie andauernd bei ihm zu beobachten sind. Bisher hat man indessen diese Bewegungen ausnahmslos für secundäre! oder rudimentäre,? jedenfalls für Be- wegungen ohne beträchtliche Bedeutung gehalten. Am Ende dieser Arbeit sollen die Vorstellungen der früheren Forscher vom Athmungsmechanismus der Frösche Berücksichtigung finden. Zunächst aber soll über die Ergeb- nisse berichtet werden, welche der Verfasser aus seinen Untersuchungen über den Athmungsmechanismus der Frösche überhaupt gewonnen hat. . Das bisherige Studium des Athmungsmechanismus der Frösche hat sich hauptsächlich beschränkt auf die graphische Untersuchung der Flanken- und Mundhöhlenbewegungen, wie auf die Ermittelung der Wirkungen des ı N. Wedenskii, Ueber die Athmung des Frosches. Pflüger’s Archiv. 1881. Bd. XXV. ° C. Heinemann, Ueber nicht der Lungenrespiration dienende sogenannte u. s. w. Ebenda. 1884. Bd. XXXIV. Archiv f, A. u. Ph. 1900. Physiol. Abthlg. Suppl. 3 34 SILVESTRO BAGLIONT: Vagus. Bei den folgenden Untersuchungen ist die Frage nach der Inner- vation der Athmung zunächst nicht berücksichtigt worden, denn es erschien nothwendig, erst den Mechanismüs der Athmung an sich genauer zu er- mitteln, ehe die Verhältnisse der Innervation einer exacten Behandlung zugänglich werden. Auch die graphische Methode hat bei den folgenden Versuchen keine Anwendung gefunden, weil dieselbe einerseits für die Dar- stellung der gröberen Athembewegungen von den früheren Autoren erschöpft ist, und weil sie andererseits für die feineren Verhältnisse des Athem- mechanismus mit zu ‘grosser Ungenauigkeit und Unsicherheit verknüpft erscheint. Die Versuche, die den folgenden Untersuchungen zu Grunde liegen, sind im Uebrigen so einfacher Art, dass sie leicht jeden Augenblick wiederholt werden können und von wesentlichen Fehlerquellen vollständig frei sein dürften. Die folgenden Versuche wurden vorwiegend an 'Temporarien ausgeführt. 1. Die äusseren Athmungserscheinungen. Zunächst mag eine eingehendere Schilderung der Athembewegungen vorausgeschickt werden, die äusserlich am Frosch zu beobachten sind. Sitzt der Frosch in seiner hockenden Ruhestellung ungestört still, so beobachtet man dauernd die oben genannten „oscillatorischen“ Bewegungen der Kehle. Dabei sind die Nasenlöcher offen ohne sichtbare Veränderung, das Maul ist fest geschlossen, Augen und Trommelfell sind unbeweglich. Die Haut der Kehle folgt in ihren Bewegungen lediglich der Thätigkeit der Muskeln, d. h. sie wird niemals durch erhöhten Luftdruck in der Mund- höhle ausgedehnt, da die Luft bei der Aspiration und Compression von Seiten der Mundhöhle durch die Nasenlöcher ungehindert ein- und austreten kann. Dadurch wird ein Wechsel der Luft in der Mundhöhle erzeugt und die darin vorhandene Kohlensäure nach aussen hin abgegeben. Zwischen diese fortdauernden Kehlbewegungen eingeschaltet treten von Zeit zu Zeit umfangreichere Bewegungserscheinungen auf, die „echten“ Athembewegungen. Da die letzteren einen verwickelteren Bewegungscomplex vorstellen, und da die Verbindung ihrer einzelnen Momente nicht ganz leicht gleichzeitig zu beobachten ist, so mögen ihre Momente zunächst einzeln und dann in ihrer zeitlichen und räumlichen Aufeinanderfolge be- trachtet werden. Das Gebiet der Lungen wird äusserlich beim Frosch durch zwei deut- lieh sichtbare Vortreibungen der Haut kenntlich gemacht, welche in der dorsalen Thoraxregion liegen. Die Lungen stehen medial in directem Con- tact mit der Wirbelsäule, dorsal werden sie begrenzt durch den M. ab- DER ATHMUNGSMECHANISMUS DES FROSCHES. 35 dominalis obliquus externus und die Haut, oral vom Schultergürtel, lateral, ventral und caudal vom Herzen, Magen und den anderen Ein- geweiden. Dies so umgrenzte Gebiet soll im Folgenden kurz als Flanke oder Seite bezeichnet werden. Dieses Gebiet, welches während der rhythmischen Kehlbewegungen, abgesehen von unwesentlichen, mechanisch von der Kehle her übertragenen Erschütterungen, ruhig und ohne Veränderung einer Oberflächenausdehnung bleibt, erfährt bei jeder eigentlichen Athembewegung zuerst eine rasche Einziehung und gleich darauf eine Wiederhervorwölbung, welche den nor- malen Stand wieder herbeiführt. Dabei ist leicht zu erkennen, dass mit der Einziehung die Exspiration und mit der Vorwölbung die In- spiration verknüpft ist. Darauf folgt eine längere Pause zwischen der letzten Inspiration und der nächstfolgenden Exspiration, während welcher die Flanken die gleiche Ausdehnungshöhe zeigen. Der Boden der Mundhöhle zeigt bei diesen Athembewegungen zuerst eine Herabsenkung. Damit ist eine Erweiterung der Mundhöhle ver- knüpft, die noch ausserdem charakterisirt ist durch einige andere Symptome. Es senkt sich nämlich nicht nur die Kehlhaut nach unten, sondern es wird auch das Trommelfell etwas nach aussen vorgetrieben, es werden die Augen ein wenig hervorgehoben und beim Männchen schwellen die Schallblasen, wenn auch nur wenig, doch immerhin deutlich sichtbar an. Aus diesen Erscheinungen geht schon ohne Weiteres hervor, dass der Druck in der Mundhöhle während dieser Phase positiv ist. Auf diese Erweiterung der Mundhöhle folgt sogleich eine energische und rasche Hebung des Mundhöhlenbodens meist über sein ursprüngliches Niveau hinaus, aber unmittelbar darauf kehren mit der Kehlhaut auch die Schallblasen, das Trommelfell und die Augen vollkommen zu ihrem ursprüng- lichen Stand zurück. An den Nasenlöchern tritt eine rasche Schliessungs- bewegung auf, der unmittelbar eine Oeffnungsbewegung folgt. Darauf und während der ganzen Flankenpause treten sofort wieder die '„oseillatorischen“ Kehlbewegungen auf und dauern bis zum nächsten Athmungsact. Es entsteht nun die Frage, in welchem zeitlichen Verhältniss diese ver- schiedenen Bewegungsmomente zu einander stehen. Ohne Weiteres sichtbar ist, dass die Flankeneinziehung, d. h. die Exspiration und die Erweiterung der Mundhöhle mit ihren einzelnen Begleiterscheinungen (Vorwölbung der Kehlhaut, der Schallblasen, des Trommelfells u. s. w.) gleichzeitig stattfindet, sowie dass die Vorwölbung der Flanken, d.h. die Inspiration und die Verengerung der Mundhöhle zusammenfallen, so dass man äusserlich den Eindruck gewinnt, als ob das gleiche Luftquantum zuerst aus den 3*F 36 SILVESTRO BAGLIONT: Lungen in die Mundhöhle und dann aus der Mundhöhle wieder in die Lungen zurückgetrieben wird. Der relative Zeitpunkt der Bewegungen der Nasenlöcher ist bei dem geringen Umfang derselben etwas schwieriger festzustellen. Nach längerer sorgfältiger Beobachtung scheint es jedenfalls, dass die Schliessung der Nasenlöcher vor der Verengerung der Mundhöhle und noch während der Erweiterung derselben beginnt, und dass sie aufhört, noch bevor die Mund- höhle wieder den Höhepunkt ihrer Verengerung erreicht hat. Indessen werden sich bald noch andere Momente ergeben, aus denen dieser Umstand mit Sicherheit hervorgeht. Hier sei nur noch erwähnt, dass die Schliessung der Nasenlöcher wie auch der vorher geschilderte Erscheinungscomplex bis- weilen einige Abweichungen zeigt, deren Bedingungen unten eingehender geprüft werden sollen. 2. Die Athmungserscheinungen bei geöffnetem Munde. Das eben Geschilderte ist Alles, was man bei äusserlicher Betrach- tung des Athmungsmechanismus und ohne Veränderung der normalen Be- dingungen feststellen kann. Allein es ist nothwendig, diese Erscheinungen eingehender zu untersuchen, und zu diesem Zweck ist es erforderlich, den Athemmechanismus in bestimmter Weise zu modificiren. Wenn man an den Spitzen des Ober- und Unterkiefers je einen Faden befestigt und mit diesen Fäden das Maul des Thieres offen hält, so kann man die inneren Verhältnisse der Mundhöhle bequem überblicken. Dabei verschwinden fast immer die „oscillatorischen“ Bewegungen. Der Mund- höhlenboden bleibt ruhig stehen, jedoch hin und wieder finden eigentliche Athembewegungen statt, die sich von Zeit zu Zeit wiederholen, aber ohne Erfolg, weil das Maul geöffnet ist. Nach einer leichten und oft kaum. bemerkbaren Herab- und Zurückziehung des geschlossenen Kehlkopfes öffnet sich plötzlich der Aditus laryngis, und alsbald, nach einem kurzen, aber immer deutlichen Zeitintervall, verengert sich die ganze Mündhöhle, wobei besonders folgende Thatsachen bemerkenswerth sind. Unter der Mund- höhlenschleimhaut treten jederseits, wie zwei gespännte Seile, die sich con- trahirenden Musculi petrohyoidei hervor, der geöffnete Kehlkopf wird nach vorn und oben gezogen, darauf schliesst sich der Aditus laryngis, und nunmehr zieht sich der geschlossene Kehlkopf wieder in seine normale Ruhelage zurück. Während der Verengerung der Mundhöhle wird die Zunge sehr deutlich nach vorn und oben gezogen.: » Beobachtet man zu gleicher Zeit die Flankenbewegungen des Thieres, so sieht man ohne Weiteres, dass dem ersten Moment der Kehlkopföffnung DER ATHMUNGSMECHANISMUS DES FROSCHES. 37 die Exspiration entspricht, denn gerade in diesem Moment erfolgt die Einziehung der Flanken. Dass der energischen Verengerung der Mund- höhle die Inspiration entspricht, ist selbstverständlich. Dagegen erfolgt, so lange man das Maul des Thieres offen hält, keine Spur einer Wieder- vorwölbung der Flanken, weil bei der Verengerung der Mundhöhle die Luft statt durch den engen Aditus laryngis in die Lungen vielmehr durch das geöffnete Maul nach aussen gepresst wird. Dadurch ziehen sich die Flanken bei jedem erfolglosen Athmungsact Anfangs sehr schnell, später etwas langsamer immer mehr und mehr bis zur äussersten Grenze ein, so dass die Lungen schliesslich fast gänzlich geleert sind, ohne sich wieder mit Luft füllen zu können. Bei Fröschen, denen das Maul auf diese Weise offen gehalten wird, zeigen sich an den Nasenlöchern keine Veränderungen mehr: sie schliessen sich nicht mehr und sie öffnen sich nicht mehr, wie es beim normalen Frosch im Zusammenhang mit den Athembewegungen stattlindet. Schliesst man dagegen das Maul wieder, so kehrt auch alsbald der Nasenlöcher- mechanismus zurück, d.h. die Schliessung und Oeffnung der Nasenlöcher kommt nicht durch Wirkung selbstständiger Schliessmuskeln zu Stande, sondern sie wird besorgt durch die Beziehungen der beiden Kiefer zu einander. Wie E. Gaupp! festgestellt hat, erfolgt bei diesem Mechanismus die Schiiessung der Nasenlöcher dadurch, dass der Unterkiefer durch die Kaumuskeln und den M. submentalis gehoben und gegen den Zwischen- kiefer gedrückt wird, während die Oeffnung derselben nur durch den elastischen Zug der Gewebe besorgt wird. Was geschieht nunmehr, wenn man das Maul sich wieder schliessen lässt? Nähert man die beiden Kiefer einander mehr und mehr, so kann man leicht beobachten, dass bei jedem Athmungsact, so lange derselbe noch ohne Erfolg bleibt, die Zunge immer mehr und mehr gegen den Gaumen gezogen wird. Werden aber die Kiefer vollkommen geschlossen und be- ginnen die Nasenlöcherbewegungen wieder von Neuem, so erfolgen sofort energische Athembewegungen, und zwar sogenannte „einpumpende“ Be- wegungen, wobei man Folgendes bemerkt. Auf eine anfängliche Contraction der Mundhöhle, durch welche die in der Mundhöhle vorhandene Luft in . die Lungen gepresst wird, folgt eine langsame Senkung des Mundhöhlen- bodens, welche die äussere Luft durch die starr und weit geöffneten Nasen- löcher in die erweiterte Mundhöhle saugt (1. Phase: Aspiration). Im nächsten Augenblick findet eine plötzliche energische Erweiterung der ! E.Gaupp, Zur Lehre vom Athmungsmechanismus beim Frosch. Dies Archiv. 1896. Anat. Abthlg. 38 SILVESTRO BAGLIONT; Mundhöhle statt, wobei die Nasenlöcher fest geschlossen sind; die Flanken ziehen sich ein und die Luft strömt aus den Lungen in die Mundhöhle (2. Phase: Exspiration). - Bald darauf erfolgt eine vollkommene Ver- engerung der Mundhöhle, das ganze in der Mundhöhle vorhandene Luft- quantum wird in die Lungen gepresst, die Flanken wölben sich wieder vor und erreichen jetzt einen höheren Ausdehnungszustand als vorher, denn offenbar wird in die Lungen nicht bloss die Exspirationsluft wieder ein- gepresst, sondern dazu auch noch das von aussen her aspirirte Luftquantum, das sich schon vor der Exspiration in der Mundhöhle befand (3. Phase: Inspiration). Die Nasenlöcher öffnen sich wieder, bevor die Verengerung der Mundhöhle vollendet ist, so dass nachher die äussere Luft bei der folgenden aspiratorischen Mundhöhlenerweiterung in die Mundhöhle ein- strömen kann. Dieser Moment der Nasenlöcherbewegungen muss indessen noch genauer. fixirt werden. Wenn man das besondere Verhalten der Nasenflügel (Cartilago alaris) beobachtet, die sich bei der Schliessung der Nasenlöcher von vorn und aussen nach hinten und innen zurück- klappen, und bei der Oeflnung, ohne eigene Oeffnungsmuskeln zu besitzen, in umgekehrter Richtung durch rein elastische Kräfte wieder erheben, so ist es ohne Weiteres verständlich, dass nothwendiger Weise die Oeffnung der Nasenlöcher eintreten muss, bevor die Verengerung der Mundhöhle vollendet ist, weil sonst bei der alsbald folgenden Erweiterung der Mund- höhle, die einen negativen Druck erzeugt, die Nasenlöcher fest ver- schlossen gehalten würden,. so dass jeder Luiteintritt von aussen ver- hindert wäre. 3. Ein zweiter Verschlussmechanismus der Nasenlöcher. Ist es auf der einen Seite unbedingt nothwendig, dass die Oeffnung der Nasenlöcher eintritt in dem Moment, bevor die Verengerung der Mundhöhle vollendet ist, so ist es auf der anderen Seite -wenigstens ebenso- nothwendig, dass die Mundhöhle in demselben Moment nach aussen hin verschlossen sein muss, damit die Luft bei der inspiratorischen Verengerung der Mundhöhle nicht nach aussen getrieben werden kann. Es fragt sich also, auf welchem Wege dieser Verschluss besorgt wird. Zur Beantwortung dieser Frage ist es nöthig, auf einen besonderen anatomischen Mechanismus einzugehen, der bisher noch keine physiologische Würdigung gefunden hat. Der Hyoidknorpel des Frosches sendet ausser den anderen Fortsätzen, die ihm seine besondere Gestalt verleihen, nach vorn zwei starke, platte Hörner aus, von denen die Griffelstäbe (Fig. 1) entspringen. Diese vorderen Hörner enden in zwei eirunden Platten, welche sehr beweglich sind und gewöhnlich DER ATHMUNGSMECHANISMUS DES FROSCHES. 39 von den Weichtheilen des Mundhöhlenbodens bedeckt zu beiden Seiten der Zungenspitze liegen. Wichtig ist ferner die Gegend, wo sich in der Mundhöhle vor den Augenanschwellungen die Choanen öffnen. Hier liegt jederseits eine den vorderen Bulbusrand begleitende Rinne. Die mediale Grenze des vorderen Randes dieser Rinne, welcher mit scharfem Umriss nach hinten und unten gerichtet ist, bilden die Gaumenzähne (Fig. 2). Fig. 1. Kie 1 Zungenbein von Rana temporaria. Zungenbein von Rana esculenta. Unter den anderen Athembewegungen ist schon die besondere Er- hebung der Zunge bei der Verengerung der Mundhöhle oben erwähnt worden (8. 36, 37). In der That wird die Zunge im letzten Stadium der Fig. 2. Fig. 2'. Gaumenregion von Rana temporaria. Gaumenregion von Rana esculenta. a Gaumenzähne. Die Abbildung Fig.2 stammt von demselben Individuum wie Fig. 1, Inspiration gegen den Gaumen gezogen. Dabei wird ein in der Mitte ge- legener Punkt derselben, den man immer leicht erkennen kann, da er sich als kleiner Hügel fast immer von der Mitte der Zungenspitze abhebt, von den Gaumenzähnen festgehalten. In Folge der soeben geschilderten Con- figuration werden hierbei die Platten der vorderen Hyoidhörner in die Choanen gesteckt. Die Nasenlöcher werden dadurch von innen vollständig verschlossen. Von dieser Thatsache kann man sich leicht durch die folgenden Ver- suche überzeugen. Schneidet man einem normalen Frosch den vorderen Theil des Ober- kiefers so ab, dass.der Schnitt dicht vor die Gaumenzähne fällt, so findet 40 SILVESTRO BAGLIONT: man, dass jeder Inspiration nicht nur eine Erhebung der Zunge gegen die Gaumenzähne entspricht, sondern auch ein deutliches Hervortreten der beiden Hyoidhörnerplatten jederseitS der Zungenspitze, indem sich dieselben in der Richtung vorschieben, wo die durch den Schnitt entfernten Choanen lagen. Wenn der Schnitt indessen hinter die Gaumenzähne fällt, so dass diese mit abgeschnitten werden, so kommen die Platten der Hyoidhörner, obwohl die Zungenerhebung noch ebenso deutlich ist, nicht mehr zum Vorschein, weil die Zunge nicht mehr durch die Gaumenzähne zurück- gehalten wird. 2 Bepinselt man die Zunge mit Farbenpulver, so findet man immer die Gaumenzähne, die Gaumenfurche und die Choanen gefärbt, nachdem der Frosch Athembewegungen gemacht hat. Offenbar ist die besondere Form der Zunge sehr vortheilhaft für den in Rede stehenden Schliessmechanismus, da sich die Zunge, welche vorn an der Symphyse der beiden Unterkiefer angeheftet ist, in die Gaumenfurche zwischen den vorquellenden Augen- bulbi hineinschieben und den Austritt der unter Druck stehenden Luft durch die Nasenlöcher verhindern kann. Wenn man einem normalen Frosch, dem Unterkieferrand folgend, den Mundhöhlenboden so durchschneidet, dass sozusagen ein künstlicher Unter- mund entsteht, und gleichzeitig die Zunge entfernt wird, so sieht man, wie die freigelegten Hyoidplatten und der vordere Hyoidtheil ausserordentlich genau auf die Choanen und ihre Umgegend passen. Dabei bemerkt man nicht nur, wie bei jeder Inspiration das Zungenbein aufwärts und vorwärts gegen die Choanen gezogen wird, sondern auch, dass die.Hyoidplatten in der Regel in die Choanen hineingesteckt werden. Für die Beobachtung ist es indessen zweckmässig, dass die künstliche Oeffnung nicht zu gross ist und dass man die Bewegung des Zungenbeines etwas unterstützt, weil jetzt nur noch die Musculi petrohyoidei in Wirkung treten können, da ja die anderen Vorzieher des Zungenbeines (Mm. submaxillares, geniohyoidei, Genioglossus und 'Hypoglossus) durchschnitten sind, während ihre Anta- gonisten (Mm. omohyoidei und sternohyoidei) noch bestehen. Die Be- deutung der Gaumenzähne als Anhaltspunkte des Zungen- beines wird dadurch ohne Weiteres klar, indem dieselben in den krummen Einschnitt zwischen den vorderen Hörnern des Hyoidknorpels genau hineinstossen. | Wird einem normalen Frosch ein kleiner Querschnitt zwischen den beiden - Nasenlöchern angelegt, der den ganzen Oberkiefer senkrecht durch- schneidet und in der Mundhöhle offen mündet, so kommen bald bei den „echten“ Athembewegungen folgende Erscheinungen zum Vorschein. Im letzten Stadium der Mundhöhlenverengerung wird die Zunge un- mittelbar gegen den Gaumen gezogen in der Weise, dass die künstliche DER ATHMUNGSMECHANISMUS DES FROSCHES. 41 Oeffnung dadurch vollständig verschlossen wird und ein kleiner Knall entsteht, wenn die Zunge bei der nun folgenden Mundhöhlenerweiterung wieder herabgezogen wird. Streng gleichzeitig mit dem Verschluss dieser künstlichen Spalte durch die Zunge findet die Erhebung der Nasenflügel (d. h. bei einem normalen Frosche die Oeflnung der Nasenlöcher) statt, welche bei der Durchschneidung stehen geblieben sind. Da nun mit der Schliessung der künstlichen Spalte durch die Zunge gleichzeitig auch der Verschluss der Choanen durch die Hyoidplatten erfolgt, so ergiebt sich daraus, dass die beiden verschiedenen Mechanismen des Nasenlöcherver- schlusses (der äussere und der innere) während verschiedener Phasen der Mundhöhlenverengerung in Action treten. Im Anfang sind die Nasenlöcher durch die Nasenflügel verschlossen, und im Mo- ment, wo sich die Nasenflügel öffnen, tritt der innere Ver- schluss der Choanen durch das Zungenbein ein. Bei Rana esculenta ist der günstigeren Bedingungen wegen das Hinaufziehen der Hyoidhörnerplatten schon äusserlich ganz deutlich wahr- zunehmen, da bei jeder Inspiration und kurz vor der Oefinung der Nasen- löcher die zwischen Augen und Nasenlöchern den Choanen entsprechende Hautregion von innen nach aussen vorgetrieben wird. Es muss nämlich bemerkt werden, dass bei Rana esculenta der innere Verschluss der Choanen noch wichtiger ist, weil die Athemritze des Kehlkopfes bedeutend enger ist als bei Rana temporaria, wodurch die Einpressung der Luft in die Lungen grösseren Widerstand findet. Daher ist auch die Zunge grösser und die Gaumenzähne sind stärker entwickelt, wie die vorstehende Fig. 27 zeigt. Mit der hier erörterten Bewegung der Zunge in der Mundhöhle ist aber noch ein anderer, sehr wesentlicher Mechanismus bei der Athmung des Frosches eng verknüpft, der sogleich näher besprochen werden soll. 4. Die Oeffnung der Nasenlöcher. Ergreift man einen normalen Frosch vorsichtig mit zwei Fingern an den Flanken — die Männchen eignen sich aus naheliegenden Gründen “mehr — so quakt der Frosch fast ausnahmslos dauernd, so lange man ıhn in dieser Weise festhält. Dieses Quaken besteht darin, dass die Bauch- muskeln und vielleicht auch der Bauchtheil des M. pectoralis sich energisch contrahiren und so die Luft aus den Lungen in die Mundhöhle pressen. Dadurch werden die Stimmbänder zum Schwingen gebracht, während man gleichzeitig zwischen den Fingern ein starkes Nachlassen des Druckes fühlt. Gleichzeitig schwillt die Mundhöhle an, indem die Nasenlöcher fest 42 SILVESTRO BAGLIONT: geschlossen werden. Gleich darauf folgt aber wieder eine energische Con- traction der Mundhöhle und die Luft wird, wenn es nicht durch zu starken Druck der Finger verhindert wird, von neuem in die Lungen gepresst. Die Nasenlöcher werden dabei ausnahmslos stark wieder erweitert. Daher kann man sagen, dass das Quaken im Wesentlichen in einer ener- gischen activen Exspiration mit darauffolgender Inspiration besteht. Ein solches Quaken wiederholt sich so lange, wie die Finger die Flanken mässig drücken, so dass man eine ununterbrochene Reihe dieser eigenthümlich or Athembewegungen erhält, wobei man unter anderem folgende Thatsache leicht beobachten kann: Die Nasenlöcher werden zwischen den einzelnen Quakbewegungen immer wieder stark geöffnet, wenn auch die Quakversuche rasch und ohne Pause auf einander folgen. | Ferner findet während der ganzen Zeit keine active Aspiration von Seiten des Mundhöhlenbodens und keine Spur von oscillatorischen Kehlbewegungen statt. Setzt man den Frosch unter Wasser, so steigt bei dem andauernden Quaken keine Spur von Luft aus der Mundhöhle im Wasser auf. Kurz, es handelt sich bei einer solchen Reihe von Quakbewegungen stets um das- selbe Luftquantum, welches aus den Lungen in die Mundhöhle und aus der Mundhöhle wieder in die Lungen gepresst wird u. s. f. Es sind also die zwischen die einzelnen Quakbewegungen eingeschalteten Oefinungs- bewegungen der Nasenlöcher ohne Bedeutung für die Quakbewegung selbst. Daraus gewinnt man die Vorstellung, dass die Oeffnungsbewegungen der Nasenlöcher mit der Verengerung der Mundhöhle untrennbar verknüpft sind. Das ist in der That der Fall, und zwar kommt bei dieser Verknüpfung der Erhebung der Zunge in der Mundhöhle während der Inspiration eine grosse Bedeutung zu. Wenn man einem normalen Frosch den vordersten Theil des Ober- kiefers durchschneidet (siehe oben), so kann man bei jedem Athmungsact - wahrnehmen, dass die Spitze des Unterkiefers gleichzeitig mit jeder Er- weiterung der Mundhöhle (Exspiration) stark hochgehoben wird und dass darauf bei jeder Verengerung der Mundhöhle (Inspiration) die am Unter- kiefer befestigte Spitze der jetzt gegen den Gaumen gedrückten Zunge rasch zwischen beiden Kiefern nach vorn bewegt wird, wodurch die sehr beweg- liche Spitze des Unterkiefers schnell herabgedrückt wird, während die Ver- engerung der Mundhöhle noch andauert. Exstirpirt-man die Zunge ganz, so hört diese Bewegung der Unterkieferspitze auf. Wir wissen schon, wie enge Beziehungen zwischen der Stellung der Unterkieferspitze und dem Schliessmechanismus der Nasenlöcher bestehen: jede Erhebung der Unterkieferspitze bedeutet eine Schliessung, jede Senkung der Unterkieferspitze eine Oeffnung der Nasenlöcher (Gaupp). Dadurch DER ATHMUNGSMECHANISMUS DES FROSCHES. 453 wird der eben geschilderte Mechanismus klar, denn da die Zunge bei jeder Verengerung der Mundhöhle direct die Unterkieferspitze herabdrückt, veranlasst sie zu gleicher Zeit nothwendiger Weise eine Oeffnung der Nasenlöcher. Kurz, der ganze hier geschil- derte Erscheinungscomplex stellt sich heraus als eine überaus zweckmässige automatische Vorrichtung für den Athemmecha- nismus, 5. Lungenelastieität und intraabdominaler Druck. Dass der Lungenelasticität eine grosse Bedeutung für den Athem- mechanismus des Frosches zukommen muss, geht daraus hervor, dass bei einem Frosch mit blossgelegten Lungen die Athemvorgänge im Allgemeinen noch ebenso ablaufen wie bei einem normalen Individuum. Oeffnet man nämlich die Brusthöhle, so erfolgt nicht wie bei höheren mit Diaphragma athmenden Thieren ein Collabiren der Lungen, sondern vielmehr eine rhyth- mische und jedem Athmungsact entsprechende Anschwellung und Vorwölbung der Lunge, durch welche die Lunge aus der künstlichen Oeffnung heraus- gedrängt wird. Das ist ohne Weiteres verständlich: Der Frosch besitzt kein Diaphragma und keine Rippen; seine Inspiration wird lediglich durch die Thätigkeit der Mundhöhle besorgt, die selbstverständlich durch die angelegte Oeffnung in keiner Weise beeinträchtigt wird. Aber nicht nur die Inspiration, sondern auch die Exspiration findet bei geöffneter Brusthöhle in ganz normaler Weise statt. Für die Exspiration kommt die Thätigkeit der Mundhöhle nur unwesentlich in Betracht; dagegen wird man von vornherein geneigt sein, die Contraction der Bauchmuskeln allein dafür in Anspruch zu nehmen. Das ist indessen nicht der Fall. De- capitirt man nämlich einen Frosch, ohne den Athmungsapparat zu schädigen, und legt man seine Lungen frei, indem man den Rücken und die Ab- dominalwände abschneidet, so kann man ganz leicht mit einem Blasebalg durch die geöffnete Athemritze Luft in die Lungen blasen. Wenn auf diese Weise die Lungen gefüllt sind und man daun die Blasebalgkanüle rasch herauszieht, so schliesst sich die Athemritze sofort und die Lungen bleiben mit Luft gefüllt unverändert stehen. Oeffnet man nun- mehr die Athemritze nur ein wenig, so collabiren plötzlich die Lungen, während die Luft durch die geöffnete Athemritze schnell entweicht. Natürlich gelingt dieser Versuch ebenso deutlich auch bei Fröschen, denen die Lungen nicht freigelegt sind. Immer ent- spricht einer Oeffnung der Athemritze eine rasche vollständige Entleerung der Lungen. Die übrigens schon von Langendorff festgestellte Thatsache unterliegt keinem Zweifel: Die Elasticität des Lungengewebes spielt 44 SILVESTRO BAGLIONT: eine wichtige, vielleicht die wichtigste Rolle für die Exspiration des Frosches. Indessen ist noch ein weiteres Moment zu berücksichtigen, das ist der intraabdominale Druck, der offenbar, wie man a priori schon an- nehmen muss, sehr wichtig für die Exspiration des Frosches sein wird. Die Lungen sind ja unmittelbar von den Baucheingeweiden umgeben. Die Baucheingeweide aber streben durch ihr Gewicht natürlich nach unten und ziehen daher die Flankenwand herab, wobei die letztere gegen die Lungen drücken muss. Jede Inspiration bringt nun die Baucheingeweide aus dieser Gleichgewichtslage heraus, und da dieselben wieder in ihre Lage zurück- zukehren bestrebt sind, werden sie also bei jeder kleinen Oeffnung der Athemritze diesem Streben folgen und die Luft aus den Lungen heraus- drängen. Wenn man einem Frosch nur die eine Lunge freilest und dann wie oben Luft in die Lungen einbläst, sieht man deutlich, dass die noch in ihrer normalen Lage von den Weichtheilen bedeckte Lunge nicht so stark anschwillt wie die freigeleste Lunge und dass ferner nach Oeffnung: der Athemritze die erstere rascher und stärker collabirt als die letztere. Bei der ersteren- wirkt neben der Lungenelastieität noch der intraabdominale Druck, bei der letzteren nur die Lungenelastieität. Daraus geht klar hervor, dass auch der intraabdominale Druck einen grossen Antheil an der Exspiration des Frosches besitzt. Ausserdem muss aber berücksichtigt werden, dass unter abnormen Bedingungen (Dyspnoe) auch exspiratorische Muskelthätigkeit mitwirkt. Vom Quakreflex ist ebenfalls schon gezeigt worden, dass dabei die Bauchmuskel- thätigkeit die Hauptursache für die Exspiration liefert. Nach Langendorff! schliesslich kommen auch bei lungenlosen Fröschen noch Flankenbewe- gungen vor. Re 6. Oeffnung und Verschluss der Athemritze. Im gewöhnlichen Zustande ist der Kehlkopf dauernd geschlossen. Er öffnet sich aber plötzlich bei jedem Athmungsact, um sich sofort darauf wieder zu schliessen. Man kann also sagen, dass der normale Ruhe- zustand des Kehlkopfes der Schliessungszustand ist. Die Oeffnung ihrerseits kommt zu Stande durch die Contraction des Oeffnungsmuskels der Athemritze, der, unmittelbar unter der Schleimhaut gelegen, von den platten Enden der hinteren knochigen Hyoidhörner entspringt und sich "0. Langendorff, Kleine Mittheilungen zur Athmungslehre. Dies Archiv. 1891. Physiol. Abthlg. DER ATHMUNGSMECHANISMUS DES FROSCHES. 45 senkrecht an die Ränder der Athemritze ansetzt. Seine öffnende Wirkung ist ohne Weiteres klar. Unmittelbar unter diesem Muskel liegt der Con- strictor der Athemritze, dessen Fasern sphinkterenweise über dem Kehlkopfgewölbe neben und parallel der Athemritze verlaufen. Auch seine Wirkung ist ohne Weiteres klar. Es entsteht aber die Frage, ob die Schliessung des Kehlkopfes allein eine Wirkung der Constrietorenthätigkeit ist. Durchschneidet man bei einem decapitirten Frosch mit ausgebohrtem Rückenmark die sämmtlichen Kehlkopfmuskeln, bläst man dann wie oben Luft in die noch in normaler Weise bedeckten Lungen und zieht die Canüle des Blasebalgs schnell heraus, so schliesst sich der Kehlkopf trotzdem sofort durch elastische Kraft und die Lungen bleiben in starkem Füllungszustande stehen. Es ist sogar ein beträchtlicher Fingerdruck auf die Flanken nöthig, um den elastischen Verschluss der Athemritze zu überwinden. Unzweifel- haft handelt es sich bei diesem Versuch ebenso wie auch in erster Linie bei dem normalen Verschluss der Athemritze um die Elastieität des knor- peligen Kehlkopfes, während die Constrietorenthätigkeit eine accessorische Verstärkung für besondere Fälle vorstellt. Man kann daraus entnehmen, dass der Bau des Kehlkopfes vollständig für den gewöhnlichen Schliessungs- zustand der Athemritze eingerichtet ist. Die normalen statischen Bedingungen und mechanischen Beziehungen der verschiedenen anatomischen Theile des Kehlkopfes zielen eben auf einen dauernden passiven Verschluss der Athem- ritze hin, ohne irgend welche Verwendung von Muskelthätigkeit. Dagegen wird für die active Oefinung des Kehlkopfes Muskelthätigkeit verwendet. <. Die Bedeutung der Mundhöhle für die Athmung. Was beim Athmungsmechanismus des Frosches die wichtigste Rolle spielt, ist ohne Zweifel die Mundhöhle. Es genügt, die normalen Ver- hältnisse derselben irgendwie zu stören, um tiefgehende Veränderungen be- züglich der Athmung zu verursachen. Dem gegenüber ist die Brusthöhle, wie oben gezeigt, fast ohne Bedeutung. Im Allgemeinen kann man sagen, dass die Mundhöhle die Inspiration . besorgt. Dieser Theil des Athmungsmechanismus ist bereits bekannt. Nach der Erweiterung der Mundhöhle verengert sich dieselbe, indem der Boden der Mundhöhle auf- und vorwärts gezogen wird, und die Luft wird dadurch in die Lungen gepresst. Aus diesem Grunde ist bekanntlich die Athmung des Frosches als „Schluckathmung“ bezeichnet worden, ein leider etwas unzweckmässiger Ausdruck, der geeignet ist, irrthümliche Vorstellungen zu erwecken. 46 SILVESTRO BAGLIONT: Die Muskeln der Mundhöhlenwand, welche bei diesem Bewegungsaet in Betracht kommen, sind in erster Linie die Mm. petrohyoidei, die in Gemeinschaft mit den Mm. geniohyoidei und submaxillares den Boden der Mundhöhle vor- und aufwärts bewegen. Diesen sämmtlichen Muskeln antagonistisch wirken die Mm. omohyoidei und sternohyoidei, die den Boden der Mundhöhle nach hinten und abwärts zurückziehen, wobei die Luft durch die geöffneten Nasenlöcher in die Mundhöhle gesaugt wird (Aspiration). Präparirt man die sämmtlichen Kehlmuskeln von aussen, onne die Mundhöhlenschleimhaut zu schädigen, so kann man leicht be- obachten, dass immer zuerst die Mm. omohyoidei und sternohyoidei sich rasch und energisch contrakiren, worauf sogleich die Contraction der Mm. petrohyoidei u. a. folgt. Hält man dabei gleichzeitig den Mund geöffnet, so sieht man, dass die Athemritze sich öffnet, kurz bevor die Con- traction der OQmohyoidei und Sternohyoidei vollendet ist. Den ganzen Act der Erweiterung der Mundhöhle hat man bisher allein der Thätigkeit der beiden letzteren Muskeln zugeschrieben. Das ist nicht ganz richtig, denn durchschneidet man die Mm. omohyoidei und sterno- hyoidei, so hört die Erweiterung der Mundhöhle dürchaus nicht auf, viel- mehr ändert sich lediglich der Charakter der Erscheinung. In erster Linie verändern sich die oscillatorischen Kehlbewegungen. Sie sind zwar noch vorhanden, aber weniger ausgiebig, gewöhnlich seltener als beim normalen Frosch. Dabei ist leicht zu bemerken, dass die kleine, aber immer deut- liche Erweiterung der Mundhöhle durch die Erschlaffung der vorher contra- hirten Mm. petrohyoidei u.a. besorgt wird. Ausserdem aber treten von Zeit zu Zeit auch noch die echten Athembewegungen auf und dabei auch eine stärkere Erweiterung der Mundhöhle, die aber ebenfalls etwas anderen Charakter hat, als beim normalen Frosch. Sie erfolgt nämlich abrupt und ist nicht mehr so gross wie vorher. Auf sie folgt alsbald die Verengerung der Mundhöhle. Uebrigens ist die Erweiterung der Mundhöhle- bald mehr, bald weniger deutlich, am deutlichsten hei gefüllten Lungen oder fest ge- schlossenen Nasenlöchern. Hat man einem solchen Frosch nämlich die Lungen freigelegt, so zeigt sich, dass mit jedem Collabiren der Lungen (Exspiration) eine Erweiterung der Mundhöhle zusammenfällt. Zweifellos handelt es sich dabei um eine rein passive Erweiterung der Mundhöhle durch die Luft, welche aus den Lungen in die Mundhöhle strömt. Diese Erweiterung muss natürlich deutlicher sein, wenn viel Luft in den Lungen vorhanden ist oder wenn die Mundhöhle auf allen Seiten geschlossen ist. Daher gelingt auch der Quakversuch bei solchen Fröschen in der gewöhn- lichen Weise, denn beim Quaken ist die starke Erweiterung der Mundhöhle rein passiv. Andererseits sind bei solchen Fröschen die sogenannten „ein- pumpenden“ Bewegungen sehr erschwert, d. h. die vollkommene Füllung DER ATHMUNGSMECHANISMUS DES FROSCHES. 47 der Lungen erfolgt niemals so schnell wie beim normalen Frosch. Das ist ohne Weiteres verständlich, weil diesen Fröschen jene Muskeln fehlen, welehe eine active Erweiterung der Mundhöhle herbeiführen und dadurch die Aspiration besorgen. Nichts desto weniger kann auch bei diesen Fröschen eine vollkommene Füllung der Lungen zu Stande kommen dadurch, dass sie bei jeder Exspiration die Nasenlöcher fest geschlossen halten, was für die einpumpenden Athembewegungen das Hauptmoment bildet. Dabei kann immer durch die Mundhöhlenerweiterung, welche durch die Erschlaffung der Museuli petrohyoidei u. s. w. zu Stande kommt, ein beträchtliches Luft- quantum aufgenommen werden. Daher kann man auch künstlich eine Füllung der Lungen bekommen, wenn man die Nasenlöcher von aussen mit einer stumpfen Spitze in zweckmässiger Weise bei jeder Exspiration verschliesst und am Ende jeder Inspiration öffnet, ebenso wie man umge- kehrt eine Entleerung der Lungen herbeiführen kann, wenn man nach Füllung der Lungen die Nasenlöcher geöffnet hält. Aus diesen Thatsachen ergeben sich mehrere wichtige Schlüsse, von denen hier nur das Ergebniss für die Mundhöhlenerweiterung angeführt werden soll. Es existiren zwei Arten der Mundhöhlenerweiterung. Die eine, active, kommt durch die Thätigkeit der Omo- und Sternohyoidei zu Stande, durch welche die Luft nach jeder Inspiration in die Mundhöhle aspirirt wird. Dieser Modus der Mundhöhlenerweiterung ist also gleich wichtig für die „einpumpenden‘“ Bewegungen wie für die „oscillatorischen“ Kehlbewegungen. Jeder Athmungsact fängt mit einer solchen activen Mundhöhlenerweiterung an. Die andere, rein passive Erweiterung der Mundhöhle dagegen kommt zu Stande durch die Luft, welche bei der Exspiration in Folge der Lungen- elasticität, des Intraabdominaldruckes oder auch der Muskelthätigkeit (Quaken) aus den Lungen in die Mundhöhle getrieben wird, wodurch, be- sonders wenn die Nasenlöcher gleichzeitig fest geschlossen sind, die Wände der Mundhöhle ausgedehnt werden. Diese plötzliche Ausdehnung ist die- selbe, die, wie schon oben (S. 37, 38) gezeigt wurde, am Ende jeder lang- samen activen Erweiterung eintritt. Sobald die Athemritze sich öffnet, kurz bevor die active Erweiterung der Mundhöhle zu Ende ist, bilden Lungen und Mundhöhle, die bis dahin zwei verschiedene Räume darstellten, einen einzigen Raum, in welchem natürlich die Luft sich vom Orte des höheren zum Orte des niedrigeren Druckes bewegen muss, d. h. aus den Lungen in die Mundhöhle und gleich darauf umgekehrt, sobald die Muskelthätigkeit der Mundhöhlenwand hinzu- kommt, aus der Mundhöhle in die Lungen. Darauf wird die Athemritze wieder geschlossen. 48 SILVESTRO BAGLIONT: Damit die Mundhöhle ihre Function richtig versehen kann, ist es durchaus nöthig, dass sie vollkommen intact ist. Jede künstliche Oefinung, welche die Mundhöhle in dauernde Verbindung mit der äusseren Luft bringt, stört in eingreifender Weise den Athemmechanismus dadurch, dass bei jeder inspiratorischen Verengerung der Mundhöhle die Luft durch die künstliche Oefinung entweicht, statt in die Lungen zu strömen, so dass schliesslich die Lungen fast gänzlich entleert werden. Es tritt ein asphyktischer Zu- stand ein, indem die Bewegungen, welche auf die einpumpende Athmung hinzielen, z. B. die active-Erweiterung der Mundhöhle, in foreirter Weise: erfolglos ausgeführt werden. In dieser Hinsicht mag nur die Bedeutung des Trommelfelles erörtert werden. Wenn man ein oder beide Trommelfelle abschneidet, kann der Frosch nicht mehr athmen, denn die Luft entweicht bei jeder Inspiration durch die Tuba Eustachii. Die Lungen entleeren sich allmählich, ohne sich wieder zu füllen. Vielleicht ist das Trommelfell beim Frosch für die Athmung ebenso wichtig wie für den Gehörssinn. Bedeckt man die eine Tuba Eustachii nach Entfernung des Trommelfelles mit einer Seifenlösung, so erhält man ein sehr treues Abbild der Druckveränderungen in der Mundhöhle an der Seifenblase, die sich dadurch bildet, dass die Luft von der Mundhöhle aus durch die Oeffnung hindurchtritt. Dabei kann man zwei verschiedene Fälle beobachten, je nachdem das Lumen der Seifenblase dauernd in offener Verbindung mit der Mundhöhle bleibt oder bei jeder Aspirationsbewegung durch einen Tropfen der Seifenlösung, welcher einen gewissen Widerstand leistet, von der Mundhöhle abgeschlossen wird. (Die Exspiration kommt nicht zum Ausdruck, weil die Lungen entleert sind.) Im ersteren Falle erfolgt bei jeder Inspiration eine Vorwölbung, bei jeder Aspiration ein Collabiren der Seifenblase. Im letzteren Falle dagegen, wo der Verschluss zwischen Seifen- blase und Mundhöhle einen etwas grösseren Widerstand bietet, wird das Verhältniss dadurch modificirt, dass der Aspirationsdruck stets einen ge- ringeren Werth hat, als der Inspirationsdruck. In Folge dessen. wird die Seifenblase bei jeder Inspiration weiter vorgetrieben, während bei der activen aspiratorischen Erweiterung der Mundhöhle, wo die Nasenlöcher geöffnet sind, die Luft durch die Nasenlöcher und nicht von der Seifenblase her aspirirt wird. Daher vergrössert sich die Blase durch Summation der in- spirirten Luft bis zum Platzen. Einen anderen brauchbaren Indicator der normalen Druckverände- rungen in der Mundhöhle erhält man, indem man den einen Augenbulbus vorsichtig von aussen her exstirpirt, ohne die Mundhöhle zu öffnen. Dann zeigt die Bewegung der Mundschleimhaut am Boden, der Orbita die Druck- verhältnisse der Mundhöhle deutlich an, indem sich die Mundschleimhaut bei jeder Aspiration oder am Ende jeder Inspiration einzieht, während sie a a Del DER ATHMUNGSMECHANISMUS DES FROSCHES. 49 sich bei jeder Exspiration (Einziehung der Flanken u. s. w.) und noch stärker bei der darauf folgenden Inspiration (Verengerung der Mundhöhle, Vor- wölbung der Flanken) vorwölbt. Der Bau der Mundhöhle entspricht genau ihrer wichtigen Athmungs- function. Die selbstverständliche Voraussetzung ist überall ein fester und hermetischer Verschluss. Das wird auf folgende Weise erreicht. Während die Decke dadurch eine vollkommene Festigkeit besitzt, dass sie fast ganz von Knochen und Knorpeln gebildet wird, gewinnt der Boden eine gewisse Festigkeit durch die Muskeln, vor Allem durch den M. submaxillaris, und ferner durch das Episternum, welches das Zungenbein immer unterstützt, indem es jeder Bewegung desselben folgt. Der hermetische Verschluss wird auf folgende Weise gewonnen. Zunächst schliessen die Lippen der beiden Kiefer die Mundhöhle vollständig ab dadurch, dass der Lippenrand des Unterkiefers genau in eine entsprechende Furche des Oberkiefers passt, so dass kein von innen wirkender Druck den Mund zu öffnen im Stande ist. Der Mechanismus des Schliessens der Nasenlöcher ist schon oben besprochen worden. Schliesslich soll nochmals ausdrücklich betont werden, dass die Mund- höhle die grösste Bedeutung für den Athmungsmechanismus des Frosches hat. Sie besorgt direct activ die Inspiration, das wichtigste Moment bei jedem Athmungstypus, eine Function, die bei den höheren Thieren die Brusthöhle versieht, während beim Frosch die Brusthöhle ohne Rippen und Diaphragma nur eine untergeordnete Bedeutung für den Athmungs- mechanismus besitzt. Auf dem verschiedenen Werth dieser beiden Körper- höhlen beruht der grosse Unterschied des Athmungsmechanismus der Amphibien und der höheren Thiere. Das ist phylogenetisch verständlich. Der primitive Athmungstypus der Kiemenathmung ist ganz oral, und wir sehen, wenn wir die Thierreihe aufwärts überblicken, dass eine continuir- liche Tendenz besteht, von diesem ursprünglichen oralen Athmungstypus zu dem thorakalen der höheren Thiere überzugehen. Die Amphibienathmung stellt die erste Stufe dieses Ueberganges vor: Die Exspiration ist bei ihnen schon ganz thorakal. 8. Die Bedeutung der Nasenlöcher für die Athmung. Es ist nunmehr nothwendig, etwas genauer auf die Frage einzugehen, in welchem Moment des gesammten Athmungsmechanismus der Verschluss der Nasenlöcher erfolgt. Es wurde schon kurz erwähnt, dass er gleich- zeitig stattfindet mit der Exspiration, d.h. dass die Oeffnung der Athem- Archiv f. A. u. Ph, 1900. Physiol. Abthlg. Suppl. 4 50 SILVESTRO BAGLIONT: ritze und die Schliessung der Nasenlöcher genau zusammenfallen. Diese Angabe kann jetzt etwas eingehender begründet werden. In der That könnte keine passive Erweiterung der Mundhöhle von bemerkenswerthem Umfange, wie sie bei der Exspiration immer deutlich zu sehen ist, stattfinden, wenn gleichzeitig die Nasenlöcher geöffnet wären; die Luft müsste ja durch die offenen Nasenlöcher entweichen, ohne die Mundhöhle nennenswerth aufzublähen. Auch beim Quakversuch sind daher die Nasenlöcher bei der Exspiration fest geschlossen. Legt man einen „künstlichen Untermund“ an, indem man, wie oben : bereits beschrieben, den Boden der Mundhöhle längs des Unterkiefers auf- schneidet, und entfernt man die vordere Hälfte des Zungenbeines, so kann man die Athemritze leicht beobachten. Dabei sieht man ohne Weiteres, dass jede Oeffnung der Athemritze mit der Schliessung der Nasenlöcher zusammenfällt und dass niemals eine Oeffnung der Athemritze stattfindet, wenn die Nasenlöcher geöffnet sind. Ferner: Schneidet man bei einem normalen Frosch die Nasenflügel ab, so dass die Nasenlöcher unbeweglich offen bleiben, so tritt bald eine Ein- ziehung der Flanken ein, ohne dass sich dieselben wieder zu ihrem ur- sprünglichen Stande vorwölben. Eine Vorwölbung findet nur bis zu einer bestimmten Grenze statt, über welche auch alle folgenden Athembewegungen nicht hinausgehen. Eine vollständige Entleerung der Lungen tritt des- halb nicht ein, weil in Folge des inspiratorischen Verschlusses der Choanen durch die Zungenbeinhörner immer ein gewisses Luftquantum wieder durch die Inspirationsbewegung der Mundhöhle in die Lungen gepresst wird. Die passive Erweiterung der Mundhöhle dagegen verschwindet und die ein- pumpende Athmung wird dadurch für immer verhindert, weil in jeder Exspiration die Luft durch die offenen Nasenlöcher entweichen muss und daher nicht wieder in die Lungen zurückgepumpt werden kann. Dadurch wird eine successive Vermehrung des Luftquantums in den Lungen (ein- _ pumpende Athınung) unmöglich gemacht und die Lungen erhalten sich damit immer in demselben Füllungszustande. Für die normale Athmung‘ ist es also nothwendig, dass die Nasenlöcher sich bei jeder Exspiration . schliessen und geschlossen bleiben, bis die Inspiration fast vollendet ist (vgl. oben. Es kann also die aus den Lungen exspirirte Luft nicht aus der Mundhöhle entweichen, sondern mischt sich mit der in der Mundhöhle anwesenden Luft und wird von Neuem bei der Inspiration in die Lungen gepresst. Uebrigens ist die Stärke der Nasenlöcherschliessung, wie schon oben erwähnt, grossen Schwankungen unterworfen. Die Nasenlöcher schliessen sich bald unvollkommen, bald sehr fest, gewöhnlich mässig. Schliessen sie sich sehr stark, so wird natürlich die passive Erweiterung der Mundhöhle DER ATHMUNGSMECHANISMUS DES FROSCHES. 51 am umfangreichsten. In diesem Falle spielt sich folgender Vorgang ab. Die Luft strömt bei der Exspiration aus den Lungen in die Mundhöhle, darauf wird dieses Luftquantum, mit dem neuen Luftquantum der Mund- höhle gemischt, bei der Inspiration wieder in die Lungen zurückgepresst, dann folet am Ende der Inspiration die Aspiration, durch welche wieder Luft von aussen in die Mundhöhle aufgenommen wird, die nun mit der nächsten Inspiration ebenfalls in die Lungen gepresst wird u. s. f., so dass sich die Lungen auf diese Weise mehr und mehr füllen. Kurz, wir haben hier die echte „einpumpende“ Athmung. Umgekehrt, werden die Nasenlöcher offen gehalten, so entweicht die Exspirationsluft bei jedem Athmungsact mehr und mehr aus der Mundhöhle nach aussen, die Lungen entleeren sich successive, und wir haben damit die „entleerende“ Athmung. Schliesslich, werden die Nasenlöcher nicht ganz geöffnet und nicht ganz geschlossen gehalten, wie es gewöhnlich der Fall ist, so wird immer ein gleiches Luftquantum inspirirt wie exspirirt, und wir haben dann die gewöhnliche „ventilirende“ Athmung. Ist soeben die Frage erörtert worden, welche Folgen ein dauerndes Öffenhalten der Nasenlöcher hervorbringt, so erhebt sich nunmehr um- gekehrt die Frage nach den Folgen eines dauernden Verschlusses der- selben. Es ist leicht, nach Entfernung der Nasenflügel die Nasenlöcher mit Wachs zu verstopfen. Dabei beobachtet man Folgendes. Zunächst wird fast alle noch in der Mundhöhle vorhandene Luft durch eine Inspiration in die Lungen gepresst. Da aber keine active Aspiration von aussen her mehr erfolgen kann, so bleibt in Folge des äusseren Luftdruckes die Kehl- haut in ihrer erhobenen Lage stehen und es tritt nur bei jedem Aspirations- versuch eine Verschiebung des geringen, noch in der Mundhöhle zurück- gebliebenen Luftquantums von dem vorderen nach dem hinteren Theil ein und wieder umgekehrt, so dass sich rhythmisch der vordere Theil der Kehlhaut noch mehr hebt und wieder senkt, während der hintere sich in entgegengesetztem Sinne bewegt. Zwischendurch erfolgt von Zeit zu Zeit wieder ein echter Athemversuch. Nach einer stärkeren Aspirationsbewegung . erfolgt nämlich eine Exspiration der Luft aus den Lungen in die Mund- höhle und in Folge dessen eine passive Erweiterung der Mundhöhle mit Senkung der Kehlhaut. Es ist das beiläufig eine Gelegenheit, die active und passive Erweiterung der Mundhöhle deutlich von einander zu unter- scheiden, denn da die active Contraction der Mm. omo- und sternohyoidei in Folge des Nasenlöcherverschlusses hier keine absolute Erweiterung der Mundhöhle hervorrufen kann, so kommt der active Charakter dieser 4* 52 SILVESTRO BAGLIONT: Bewegungsphase hier lediglich in einer Ansaugung der Mundhöhlenluft von vorn nach hinten zum Ausdruck, was sich äusserlich in dem Empor- ziehen des vorderen Theiles der Kehlhaut bemerkbar macht, während bei der passiven Erweiterung der Mundhöhle derselbe Theil durch die von den Lungen in die Mundhöhle exspirirte Luft nach unten gedrückt wird. Der Exspiration folgt wieder eine neue Inspiration, d. h. es wird wieder dieselbe Luft, welche eben exspirirt war, aus der Mundhöhle durch active Verengerung derselben in die Lungen zurückgepresst. Diese Reihe von Vorgängen wiederholt sich fortwährend, so dass immer wieder dieselbe Luft zwischen Mundhöhle und Lungen gewechselt wird. Ausserdem aber macht sich noch eine andere Erscheinung bemerkbar. Der Frosch öffnet von Zeit zu Zeit das Maul, während die Athemritze geschlossen ist. Dadurch füllt sich die Mundhöhle wieder mit Luft, die nun bei der nächsten Inspiration ebenfalls mit in die Lungen gepresst wird, so dass sich die Lungen in Folge dessen mehr und mehr füllen. Ein Frosch mit verstopften Nasenlöchern ist nach einiger Zeit immer von Luft geschwollen. Was nämlich einem solchen Frosch höchst schwierig wird, das ist die Entleerung der Lungen. Zwar ver- sucht der Frosch die in den Lungen angehäufte, sauerstoffarme Luft aus- zustossen, indem er das Maul öffnet und auch eine Zeit lang geöffnet hält, aber es erfolgt keine gleichzeitige Oeffnung der Athemritze. Die Athemritze wird vielmehr jedes Mal erst geöffnet unmittelbar nachdem das Maul wieder geschlossen ist, so dass der Frosch dadurch in der Regel keine Entleerung der Lungen erreicht, sondern vielmehr die Füllung der Lungen noch befördert. Nur selten gelingt dem Frosch einmal eine Ent- leerung der Lungen. Einen schlagenden Beweis dafür, dass einem solchen Frosch die Entleerung der Lungen fast unmöglich ist, liefert folgender Versuch. Setzt man nämlich einen in dieser Weise mit Luft gefüllten Frosch in’s Wasser, so bleibt er beständig auf der Oberfläche, wenn er auch künstlich hinabgestossen oder in irgend einer Weise, die den normalen Frosch zum Untertauchen veranlasst, gereizt wird. ; Dieses merkwürdige Verhalten von Fröschen, denen die Nasenlöcher verstopft sind, wird nur verständlich, wenn man sich erinnert, dass bei der normalen Athmung die exspirato- rische Oeffnung der Athemritze niemals erfolgt, so lange die Nasenlöcher geöffnet sind, sondern stets nur gleichzeitig mit Schliessung derselben (8.50). Da aber die Schliessung der Nasen- löcher nur durch die Thätigkeit der Kaumuskeln, d.h. durch Schliessung des Maules besorgt wird, so findet niemals eine ÖOeffnung der Athemritze statt, so lange das Maul activ geöffnet ist. Es ist daher selbstverständlich, dass eine Exspiration nur DER ATHMUNGSMECHANISMUS DES FROSCHES. 55 bei Schliessung des Maules erfolgen kann. Es liegt hier eine reflectorische Verknüpfung der beiden Momente vor, die der Frosch nicht trennen kann. Beiläufig mag noch erwähnt werden, dass der Quakversuch bei Fröschen mit verstopften Nasenlöchern auf einen anderen wichtigen Reflexact hinweist. Drückt man einen solchen Frosch stark auf die Flanken, so quakt er. Wenn die Luft dann in Folge des starken Druckes auf die Flanken auch nicht mehr in die Lungen zurückströmen kann, so tritt doch stets nach der starken passiven Ausdehnung der Mundhöhle eine Contraction der ver- engernden Muskeln ein, die natürlich jetzt keinen anderen Erfolg haben kann, als dass sie die Luft stärker in die Schallblasen presst. Einen deut- lichen Beweis für diesen Reflex findet man, wenn man einem Frosch durch Spaltung der Nasenlöcher die Mundhöhle öffnet und dann von oben her durch die Oeffnung gegen die Schleimhaut des Kehlbodens bläst. Alsdann wird durch die passive Ausdehnung der Kehlhaut reflectorisch eine Hebung derselben mit gleichzeitiger OVeflnung der Athemritze, d.h. eine normale Inspiration erzeugt, so dass man auch auf diesem Wege eine immer mehr zunehmende Füllung der Lungen erzielen kann. Auf jeden Ex- spirationsact folgt daher reflectorisch immer eine Inspiration. Uebrigens wurde schon gezeigt, dass bei Fröschen mit geöffnetem Maul auf die Oeffnung der Athemritze eine vollkommene, wenn auch erfolglose Verengerung der Mundhöhle folgt. 9. Die Bedeutung der ,„oseillatorischen‘“ Kehlbewegungen. Die nächste Frage ist die Frage nach dem Zustandekommen des respiratorischen Gaswechsels. Aus allem bisher Gesagten geht schon die interessante Thatsache hervor, dass beim Frosch keine directe Gaswechselbeziehung zwischen den Lungen und der äusseren Luft besteht, wie es bei höheren Thieren der Fall ist, d. h. dass während eines vollständigen Athmungsactes des Frosches ebenso wenig die Exspirationsluft aus den Lungen unmittelbar an das äussere Medium abgegeben, wie die Inspirationsluft unmittelbar aus dem Medium in die Lungen aufgenommen wird. Der Gaswechsel ‚geschieht vielmehr nur zwischen der Luft der Lungen und der in der Mundhöhle dauernd enthaltenen Luft. Das kann deshalb nicht anders sein, weil nur die Mundhöhle den Mechanismus der Inspiration besorgt. Werden die Lungen einmal künstlich in directe Beziehung mit dem Medium ge- bracht, so kann nur eine Entleerung derselben durch ihre Elastieität und den intraabdominalen Druck zu Stande kommen, aber nie eine Füllung, wie bereits mehrfach betont wurde, und zwar werden eben daher gerade 54 SILVESTRO BAGLIONT; bei der Exspiration die Nasenlöcher geschlossen, um jede directe Beziehung zwischen Lungen und äusserer Luft zu verhindern. Auf der anderen Seite würde immer wieder nur -dieselbe Luftmenge zwischen Mundhöhle und Lungen gewechselt werden, wenn nicht durch einen anderen Mechanismus die Luft der Mundhöhle immer wieder erneuert würde. Diesen Mechanismus stellen die „oscillatorischen Kehlbewegungen“ vor, indem sie durch fortwährende Hebung und Senkung des Kehlbodens bei geöffneten Nasenlöchern einen dauernden Austausch zwischen Medium und Mundhöhle besorgen. Diese Thatsache ist so verständlich, dass sie keiner . weiteren Worte bedarf. Da die oscillatorischen Kehlbewegungen eine so grosse Bedeutung für den gesammten Athmungsmechanismus haben, hören sie selbst bei den stärksten Eingriffen in den Athemapparat fast niemals ganz auf. Sie verschwinden wohl bisweilen Anfangs, aber sie kehren später immer zurück. Interessant ist ihr Verhalten beim Frosch mit verstopften Nasenlöchern. Entweder führt der Frosch dabei die oscillatorischen Kehl- bewegungen bei verschlossenem Maul aus, in diesem Fall wird die in der Mundhöhle enthaltene Luft abwechselnd von dem vorderen Theil in den hinteren Theil der Mundhöhle gesaugt und umgekehrt von hinten nach vorn getrieben (vgl. oben); oder der Frosch vollzieht die oscillatorischen Bewegungen mit halbgeöffnetem Maul. Nach alledem kann man sagen, dass die Mundhöhle des Frosches in Hinsicht auf den Athemmechanismus in erster Linie eine Druckpumpe vor- stellt, welche zwischen Lungen und äussere Luft eingeschaltet ist und die Lungen mit Luft versieht. Daneben stellt sie einen Raum vor, welcher die exspirirte Luft aufnimmt und durch ihre oscillatorischen Kehlbewegungen erneuert. Selbstverständlich wird bei der Inspiration keine ganz reine Luft in die Lungen gepresst, sondern ein Gemisch von Exspirationsluft und atmosphärischer Luft. Der Rest dieses Gemisches, welcher in der Mund- höhle zurückbleibt, wird aber durch die oscillatorischen Kehlbewegungen wieder vollkommen erneuert. 10. Der Athmungsmechanismus des Frosches (Zusammenfassung). Es sind oben bereits die verschiedenen Athmungsmodi (einpumpende, ventilirende, entleerende Athmung) besprochen worden, indem sie in directen Zusammenhang mit der Schliessung der Nasenlöcher gebracht wurden. Hier muss nunmehr noch betont werden, dass alle diese Modi keine ab- normen, sondern die ganz gewöhnlichen Erscheinungen sind, wie man immer leieht an dem entsprechenden Höhenstand der Lungenfüllung erkennen kann. Ja Wedenski! hat durch seine Flankencurven nach- ıA.2.0. DER ATHMUNGSMECHANISMUS DES FROSCHES. 55 gewiesen, dass eine mehr oder weniger regelmässige Periodieität zwischen diesen verschiedenen Athmungsmodis besteht: „Auf einige rhythmische, einpumpende Bewegungen, welche eine bedeutende Anfüllung der Lungen bedingen, folgt eine Pause, hierauf einige entleerende Bewegungen, welche ohne scharfe Grenze in die ventilirende Reihe übergehen u. s. w.“ Ohne Zweifel kommt dieser Thatsache eine grosse Bedeutung in dem Athem- mechanismus des Frosches zu, denn es ist ohne Weiteres verständlich, dass dieser Wechsel, ebenso wie es soeben von den oseillatorischen Kehl- bewegungen gezeigt wurde, gleichfalls bei der Erneuerung der Athmungsluft eine Rolle spielt. Man könnte daher sagen, dass dieses der erste Schritt ist, durch deu sich die Lungen im Athmungsact von der Mundhöhle un- abhängig machen, so dass ein ganzer Athmungsact bei den höheren Thieren viel mehr dieser aus drei Gliedern sich zusammensetzenden Periode ent- spricht, als der anderen, lediglich aus In- und Exspiration bestehenden Reihe. Fasst man schliesslich alle über den Athmungsmechanismus des Frosches hier festgestellten Thatsachen zusammen, so ergiebt sich folgende Erschei- nungsreihe. Der Frosch führt ruhig dasitzend seine „oseillatorischen“ Kehl- bewegungen aus. Am Ende einer solchen, und immer, während der Boden der Mundhöhle herabgezogen ist (active Erweiterung der Mundhöhle, Aspi- ration), wird die Athemritze durch die Thätigkeit der erweiternden Muskeln geöffnet. Die Luft strömt aus den Lungen in die Mundhöhle, während gleichzeitig die Nasenlöcher verschlossen werden (passive Erweiterung der Mundhöhle, Exspiration). Hierauf folgt sogleich die Verengerung der Mund- höhle. Die Zunge wird gegen den Gaumen hinauf und vorwärts gezogen, die Hyoidhörnerplatten versperren von innen die Choanen, während diese Bewegung der Zunge gleichzeitig auch die schnelle Wiederöffnung der äusseren Nasenlöcher veranlasst. Die Luft wird damit von Neuem in die Lungen gestossen (Verengerung der Mundhöhle, Vorwölbung der Flanken, Inspiration). Hierauf schliesst sich sofort die Athemritze wieder durch die Thätigekeit der Schliessmuskeln und bleibt durch ihre Elastieität verschlossen, während die darauf folgenden oscillatorischen Kehlbewegungen wieder die exspirirte Luft erneuern. Unter normalen Bedingungen ist die Reihenfolge dieser Vorgänge immer ein und dieselbe. Die verschiedenen Modi der Athmung hängen nur von .dem verschiedenen Werthe des Nasenlöcherverschlusses ab. Im normalen Athmungsact des Frosches vollzieht sich daher die In- spiration durch die Muskelthätigkeit der Mundhöhle, die Exspiration durch die Elastieität des Lungengewebes, durch den intraabdominalen Druck und vielleicht auch durch die Thätigkeit der Bauchmuskeln, der Gaswechsel aber durch die oscillatorischen Kehlbewegungen und durch die Periodicität der verschiedenen Athmungsmodi. 56 SILVESTRO BAGLIONI: 11. Anhang über die Bedeutung des Quakreflexes. Seit langer Zeit ist in der: Physiologie des Frosches der Quakreflex bekannt und man hat seine Bedeutung nach verschiedenen Richtungen hin gesucht. Bekanntlich wird der Quakreflex nur von mechanischen, nicht von chemischen oder elektrischen Reizen ausgelöst, und zwar ist ein gewisser Druck auf den Rücken oder die Flanken des Frosches erforderlich, um Quaken zu erzeugen. Legt man beispielsweise nur eine Wattellocke auf den Rücken des Frosches, so quakt er trotz der Berührung nicht, erst wenn . man die Flocke gegen die Haut drückt, tritt Quaken ein. Dabei bemerkt man, dass sich der Frosch stets mit dem Rücken :»und dem gesammten Körper dem Druck entgegenstemmt, was am deutlichsten und stärksten in dem von Verworn! beschriebenen tonischen Reflex zum Ausdruck kommt. Diese Erscheinungen sind am sichersten bei grosshirnlosen Fröschen zu beobachten. Allein auch der normale Frosch zeigt dieselben Erscheinungen, nur entzieht er sich leichter durch andere Bewegungen der Reizung. Uebrigens wurde oben schon bemerkt, dass auch der normale Frosch quakt, wenn man seine Flanken zwischen zwei Fingern drückt. Dass es sich bei diesen bekannten Erscheinungen nicht um eine .directe Wirkung des Druckes auf die Lungen handeln kann, beweist die Thatsache, dass der Frosch nicht mehr quakt, wenn er enthäutet ist, oder wenn ihm die hinteren Rückenmarkswurzeln durchschnitten sind, oder endlich, wenn ihm das Rückenmark unterhalb der Medulla oblongata durchtrennt ist. Ohne Zweifel liegt hier ein Reflexact vor, dessen Reflexbogen von den druck- empfindlichen Nervenenden der Haut durch das Gehirn zu den motorischen Nerven der Bauchmuskeln läuft. Auf diesem Wege wird eine starke Ex- spiration erzeugt, die Luft wird aus den Lungen in die Mundhöhle gepresst, die Stimmbänder werden zum Schwingen gebracht und die Mundhöhle wird passiv erweitert. Dabei strömt indessen. die Luft nicht aus der Mundhöhle in die atmosphärische Luft aus, sondern wird bald von Nouan inspiratorisch in die Lungen gepresst. e Es fragt sich nun, welche Bedeutung für den Athemmechanismus dieser Reflexact haben kann. Da der Quakreflex durch Druckreize ausgelöst wird, muss man vor allem die Frage aufwerfen: ‘Wie kann eine Druck- wirkung den Athemmechanismus modificiren? Die Antwort liegt auf der Hand. Ein Druck auf Rücken oder Flanken oder Rumpf überhaupt muss, da die Eingeweide in directem Contact mit den Lungen stehen, da ferner der Frosch keinen Rippenschutz hat und da endlich der Bauch immer unmittelbar gegen den Boden drückt, direct oder: indireet auch auf die ‘ Verworn, Tonische Reflexe. Pflüger’s Archiv. 1896. Bd. LXV. DER ATHMUNGSMECHANISMUS DES FROSCHES. 57 Lungen wirken. Der Quakreflex dient als Schutzmittel dagegen, und zwar in verschiedenartiger Weise. Einerseits werden die Lungen gegen eine zu hohe Drucksteigerung geschützt dadurch, dass ihre Luft in die Mundhöhle gepresst wird. Anderer- seits liegt im Quakreflex ein Mittel, um mechanisch den von aussen drückenden Körper zu entfernen, denn durch die Contraction der Bauch- muskeln werden die Eingeweide nach vorn gegen die Flanken gedrückt, so dass die letzteren sich dem drückenden Körper entgegenstemmen, bezw. ihn entfernen, und durch den stets mit dem Quakreflex verbundenen toni- schen Reflex wird eine Erhebung des Körpers und ein Druck nach oben erzeugt, der jedem auf den Rücken ausgeübten Druck entgegenwirkt. Darin liest zugleich die Bedeutung des so merkwürdigen, von Verworn be- schriebenen tonischen Reflexes. In der That fühlt man bei einem Quak- reflex immer einen starken Druck der Flanken, bezw. des Rückens gegen den Finger. Das Quakgeräusch selbst ist vielleicht nur eine Nebenerscheinung. Nicht selten erfolgt übrigens, besonders bei Weibchen, der Quakreflex ganz lautlos. 12. Schluss. Es braucht hier nicht auf die Entwickelung der in dieser Arbeit ver- wendeten Begriffe bezüglich des Athemmechanismus näher eingegangen zu werden. Es genügt, in dieser Beziehung auf die neueren Arbeiten von Siefert! und Gaupp?” hinzuweisen, welche die Litteratur dieses Gegen- standes bereits ausführlich behandelt haben. Dagegen muss der letzte Stand der Frage noch kurz berücksichtigt werden. Scharf unterschieden werden stets die „oscillatorischen Bewegungen“ von den „echten Athembewegungen“. Nachdem Wedenski?’ die ersteren völlig aus der Reihe der Athembewegungen ausstrich, sind viele Theorien aufgestellt worden, um dieselben zu erklären. Hier sollen nur die zwei wichtigsten erwähnt werden. Heinemann,* der die genannten Kehl- bewegungen nicht nur bei den Amphibien, sondern auch bei den Reptilien mit Ausnahme der Schlangen, ja sogar bei einem mexikanischen Hühner- vogel (Penelope) nachwies, glaubt mit Anderen, dass dieselben nur „vererbte ! Siefert, Ueber die Athmung der Reptilien und Vögel. Pflüger’s Archiv. 1896. Bd. LXIV. ? Gaupp, Zur Lehre von dem Athmungsmechanismus beim Frosch. Dies Archiv. 1896. Anat. Abthlg. ®A.2.0. ı“A.2.0. 58 SILVESTRO BAGLIONI: rudimentäre Athembewegungen sind“. Er beruft sich dabei auf den ur- sprünglichsten Athemtypus, auf die Kiemenathmung. (Bei dieser Gelegen- heit mag übrigens bemerkt werden, dass diese Kehlbewegungen vermuthlich auch bei den Reptilien und Vögeln, wo solche vorhanden sind, dieselbe wichtige, oben geschilderte Rolle spielen, wie beim Frosch.) Die neueste Erklärung dieser Kehlbewegungen wird von Marcacci und Öamerano gegeben, welche sagen, „dass durch die Mundhöhlenschleimhaut ein Gas- austausch stattfindet, der wichtiger ist, als die durch die Haut geleistete Athmung“ (eitirt nach Gaupp). Gaupp endlich deutet bereits in einer - Note seiner Abhandlung die in der vorliegenden Arbeit entwickelte Ansicht über die Bedeutung der oscillatorischen Kehlbewegungen an. Die „echten“ Athembewegungen wurden von den früheren Forschern bereits in verschiedene’ Phasen zerlegt, die Gaupp in seinem geschichtlichen Ueberblick in folgender Weise bezeichnet: 1. Aspiration der Luft durch die geöffneten Nasenlöcher in die Mund-Rachenhöhle durch Erweiterung der letzteren bei geschlossenem Aditus laryngis. 2. Exspiration der Luft aus den Lungen in die erweiterte Mundhöhle bei geöfinetem Aditus laryngis hauptsächlich durch Contraction der Bauchmuskeln. 3. Unmittelbar auf die Exspiration folgend Inspiration der nunmehr in der Mund-Rachen- höhle befindlichen Luft in die Lungen durch Verengerung der Mund- Rachenhöhle bei geschlossenen Nasenlöchern und geöffnetem Aditus laryngis. Bei dieser Darstellung der Vorgänge spielt eine grosse Rolle der erste Moment, die Aspiration. Dem gegenüber wurde oben gezeigt, dass die Aspiration, d.h. die active Erweiterung der Mundhöhle im Beginn eines Athmungsactes unter normalen Bedingungen nicht deutlicher ist als bei einer gewöhnlichen Kehlbewegung. Sie gewinnt erst eine grosse Wichtig- keit und Deutlichkeit bei den „einpumpenden Bewegungen“ und im All- gemeinen bei entleerten Lungen, d. h. im asphyktischen Zustande. Das ist auch der Zustand, bei dem die bisherigen Beobachter den -Athmungsact | studirt haben. Gaupp z. B. macht seine Beobachtungen am „decapitirten“ Frosch. Da indessen jede Oeffnung der Mundhöhle direct zur Entleerung’ der Lungen führt, so muss selbstverständlich dabei die Aspiration, bezw. die Senkung des Mundhöhlenbodens besonders ausgeprägt sein, was unter normalen Bedingungen nicht der Fall ist. Ferner hatte Wedenski die verschiedenen Athmungstypen in „ein- pumpende“, „ventilirende“, „entleerende“ Bewegungen unterschieden und den periodischen Wechsel derselben erkannt. Trotzdem bezieht er, freilich ohne objeetiven Beweis, die Entstehung der verschiedenen Typen auf das verschiedene zeitliche Verhältniss des Momentes der ‚Oeffnung der Athem- ritze zu den sich anschliessenden Momenten der Athmung, und ebenso bleibt ihm die Bedeutung des periodischen Wechsels derselben unbekannt. DER ATHMUNGSMECHANISMUS DES FROSCHES. 59 Was bei den früheren Untersuchungen fehlte, war das besondere Studium des Gaswechsels, der Bewegungen der Zunge und ihrer Be- deutung für die Athmung, sowie der Zeitbestimmung und der Bedeutung des Nasenlöcherverschlusses und schliesslich des Quakreflexes. Im Allge- meinen beschäftigten sich die letzten Beobachter mehr mit speciellen Mo- menten dieser Fragen. So studirt z. B. Gaupp speciell den Verschluss der Nasenlöcher durch den Unterkiefer und die Bedeutung einzelner Muskeln, Langendorff! die Klastieität der Lungen bei der Exspiration u. s. w. Jedenfalls erschien daher noch immer ein Studium wünschenswerth, das alle Erscheinungen in ihren Beziehungen umfasste und eine befriedigende Darstellung des Athmungsmechanismus beim Frosch im Zusammenhange gab. Zum Schluss ist es mir ein angenehmes Bedürfniss, Hrn. Prof. Max Verworn für die liebenswürdige Unterstützung bei der vorliegenden Arbeit meinen wärmsten Dank auszusprechen. ı O.Langendorff, Studien über die Innervation der Athembewegungen. Dies Archiv. 1888. Physiol. Abthlg. Ueber Intermittenztöne. Von H. Zwaardemaker in Utrecht. Bekanntlich lassen sich Intermittenztöne ziemlich gut hervorrufen mit Hülfe einer partiell verschlossenen Sirene. Dennert! z. B. benutzte eine Scheibe, deren Umkreis Raum zu 96 Löchern ‚darbot. Die Oeffnungen waren jedoch nur für die Hälfte wirklich gebohrt, und zwar in der Weise, dass ein Sector mit vier ausgeschlagenen Löchern mit einem gleich breiten Sector ohne Löcher alternirte. Derartige Scheiben sollen aus Metall und nicht aus Pappe angefertigt werden, da sonst die starke Reibung der Luft sehr störende Nebengeräusche schafft. Auch soll sie vollkommen platt sein, damit sie nicht schlägt. Ich benutzte mit gutem Erfolge eine Scheibe aus geplättetem Zink, worin Platz für 100 Oeffnungen. Von diesen waren 50 wirklich ausgeschlagen, und-zwar in Gruppen von fünf. Die dazwischen liegenden Stellen blieben intact. Der Durchmesser der Oefinungen betrug Km, ihre gegenseitige Distanz in den durchlöcherten Sectoren ebenfalls 6m, Wenn man eine solche Sirene mit der Soufflerie anbläst, so hört man bei langsamer Umdrehung neben dem gewöhnlichen Sirenenton Stösse, die bei schnellerer Umdrehung in tiefe Töne übergehen. Wenn eme ge- nügende Geschwindigkeit erreicht ist, klingt der Intermittenzton sogar voller als der hohe Sirenenton, der zuletzt mehr geräuschartig wird. Ich kann nicht sagen, dass der Intermittenzton unter diesen Bedingungen eine Rauhig- keit besitzt, obgleich er nach der anderen Seite, ebenso wenig wie der Sirenenton, vollkommen rein genannt werden darf. Wahrscheinlich rührt dies von dem starken concentrischen Luftzug her, welchen die schnell drehende Scheibe an seiner Oberfläche hervorruft. Jedenfalls ist die Form des Anblaseröhrchens und die Intensität des Anblasens hierauf nicht ohne Einfluss. er ! Dennert, Archiv für Ohrenheilkunde. Bd. XXIV. S. 181. H. ZWAARDEMAKER: ÜBER INTERMITTENZTÖNE. 61 Die der Schallbildung zu Grunde liegende Luftbewegung lässt sich studiren, so lange die Umdrehung langsam stattfindet. Die Membran einer Marey’schen Kapsel (z. B. in den von E. A. Meyer behufs phonetischer Zwecke angegebenen Abmessungen!) folet dann sehr genau den wechselnden Verdichtungen und Verdünnungen der Luft. Bei ansteigender Geschwindig- keit jedoch erscheint bald die Resultante der Anblasungsstösse in der Form eines Plateaus, auf welchem sich die Schwingungen des Sirenentones ver- zeichnen. Die Thäler zwischen den Plateaus sind, abgesehen von den Eigen- schwingungen, geradlinig. Wenn die Umdrehung bedeutend schneller wird, bleiben die gesonderten Stösse völlig aus und die Kapsel giebt statt der gebrochenen Linie eine Schwingungscurve von der Periode des Intermittenz- tones. Es ist überaus unwahrscheinlich, dass diese letzte Curve die treue Wiedergabe der wirklichen Luftbewegung ist, denn es liegt gar kein Grund vor, anzunehmen, dass die Luft die Schwingungen nicht mitmachen könne. Im Gegentheil, es liegt auf der Hand, zu glauben, dass sie bei schneller Rotation der Sirene in vollkommen ähnlicher Weise in Erschütterung ge- bracht wird, als bei jener langsamen, welche genaue Selbstregistrirung erlaubt. Ist diese Anschauung die richtige, so wäre der Anfang der vorstehenden Figur die Graphik der Luftbewegung während der Entstehung eines Inter- mittenztones an der Dennert’schen Sirene. Ich halte diese Vorstellung für der Wirklichkeit sehr nahekommend und jedenfalls weniger entstellt als die Aufzeichnungen, welche man mit anderen Membranen, während des Tönens, erhält. Wählt man z. B. die Membran eines Scott’schen Phonautographen, so erscheint wegen der un- genügenden Dämpfung der hohe Ton schwebungsartig statt abgebrochen. Es wäre sehr interessant, einen Phonographen benutzen zu können, jedoch gelang es mir nicht, durch den verhältnissmässig schwachen Sirenenton Ein- drücke im Wachscylinder des Edison’schen Phonographen zu bekommen.’ ! E.A. Meyer, Beiträge zur deutschen Metrik. Die neueren Sprachen. 1898. BdSVE2S. 1. ® Es gelingt sehr gut, von einem Stimmgabelton Eindrücke zu erhalten. Wenn man z. B. aus einer Scheibe einen Sector ausschneidet und dann dieselbe vor einer Stimmgabel mittlerer Tonhöhe rotiren lässt, entstehen auf der Rolle hübsche Schwebungs- figuren, ganz ähnlich der Glyphik des Consonanten „R“. Dass man in solchen Fällen 62 H. ZWAARDEMAKER: Aus unseren Versuchen mit der Dennert’schen Sirene geht also hervor, dass die Luftbewegung in solchen Fällen graphisch von einer gebrochenen Linie, aufgebaut aus abwechselnd geschlängelten und geraden Stücken, vor- gestellt werden darf. Vielleicht, dass die geschlängelten Stücke nur positive Ordinatwerthe aufzuweisen haben, und in diesem Bereich die Curve nie ganz bis zur Nulllinie zurückkehrt. Es lässt sich nun darüber streiten, ob die grosse Periode einer derartigen Bewegung vom Ohr unmittelbar als Ton pereipirt werden kann. Die ausschlaggebenden quantitativen Verhält- nisse bleiben uns in reellen Fällen unbekannt. Es schien mir deshalb wichtig, eine neue Versuchsordnung zu treffen. In einem Nebenzimmer wurde eine Schallquelle — Stimmgabel oder metallene Zunge — aufgestellt. Der Ton wurde mittels eines kreisrunden, im Durchmesser 22m messenden Loches durch eine ziemlich dieke Wand dem Versuchszimmer zugeführt. Unmittelbar hinter der Oeffnung in der Mauer hatten wir ein Blake’sches Mikrophon aufgestellt, in dessen Leitung sich ausser einem oder zwei Leclanch&-Elementen die primäre Spirale einer kleinen Inductionsspule befand. Die secundäre Spirale wurde nach einem Telephon abgeleitet. Diese Anordnung zeigte sich besser als eine, wobei Schallquelle und Mikrophon im gleichen Zimmer vorhanden waren, wie ich vermuthe, weil in letzterem Falle die Schallwellen durch Beugung auch zu der hinteren Fläche der Mikrophonplatte Zugang hätten. Das Loch und die Dicke der Mauer schwächten noch dazu die Intensität des. Schalles bedeutend ab, was manchmal zum Vortheil_ gereichte. So vorbereitet hörte man natürlich den aus dem Nebenzimmer her- überkommenden Ton ganz deutlich im Telephon,. während er für das un- bewaffnete Ohr fast unwahrnehmbar oder schwach tönte. Von der Kette der secundären Spirale und des Telephons konnte nun mit Hülfe einer keine Abbrechungen der Periodik, sondern Schwebungen bekommt, liegt nicht an der Membran des Phonographen, sondern einfach an der allmählichen Oefinung, bezw. Ab- blendung des Schalltrichters. Man denke sich nun einen Sector von 180° ausgeschnitten und in schneller Rotation vor einer Soufflerie vorübergeführt, .so wird unter günstigen Bedingungen ein Ton entstehen können, der offenbar gleicher Entstehungsart ist, als der tiefe, dumpfe Ton des angehaltenen Flüster--R. Wird der Luftstroim noch gleich- zeitig von einer Stimmgabel in Bewegung gebracht, so muss die.gleiche Graphik ent- stehen, als in dem erstgenannten Falle, wo der Sector selber keinen Ton hervorrief. Diese Analogien — mehr sind es nicht — habe ich in einer kleinen Arbeit „Le registre de R“ hervorgehoben und zu verwerthen gesucht. Hrn. L. Hermann muss der hollän- dische Text unverständlich und der französische (Archives neerlandaises. 2. Ser. T.II. p- 257) unzugänglich gewesen sein, sonst hätte er ohne Frage seine sonderbaren Ein- wendungen und seinen "Tadel a priori zurückgehalten. Ich habe nur bemerkt — und Hr. Hermann wird damit einverstanden sein —, dass der Phonautograph nicht im Stande ist, die Luftbewegungen des Flüster-R zu verzeichnen, während dasselbe mit Hülfe einer schlaffen Kautschukmembran ganz gut gelingt. ÜBER INTERMITTENZTÖNE. 63 Wippe, wenn nöthig, ein übrigens vollständig isolirter, von einer elek- trisch getriebenen Stimmgabel 64 Mal pro Secunde geöffneter und ge- schlossener Contact aufgenommen werden. An und für sich ergeben diese Oefinungen und Schliessungen in der Telephonkette keinen Ton, so dass man, falls die Schallquelle schweigt, fast gar nichts spürt, bei empfind- liehem Apparat höchstens ein undefinirbares Geräusch wahrnehmbar ist. Sobald jedoch die Schallquelle zu tönen anfängt und die Mikrophonplatte in Bewegung kommt, hört man ungemein schön einen kräftigen Inter- mittenzton. Der Intermittenzton schwindet wieder, sobald man den Ton im Nebenzimmer aufhören lässt, und er kehrt zurück unmittelbar nach dem Einsetzen von letzterem. Wenn man sich eine graphische Vorstellung von dem, was hier geschieht, bilden wollte, so wäre ein Alterniren von geraden und geschlängelten Linien am Platze, weil die Stimmgabel ebenso lange über dem Quecksilber schwebt, als eintaucht. Während der erst- genannten Zeit fliesst gar kein Strom durch das Telephon, und während der Schliessungszeit ein vibrirender. Der Uebergang zwischen beiden alter- nirenden Zuständen ist vollkommen scharf, wenigstens haben wir vorläufig keinen Grund, es uns anders zu denken. Weil der Intermittenzton in der Regel mit dem Primärton nicht harmonisch ist, muss der Uebergang fort- während in anderen Schwingungsphasen des Primärtones stattfinden. Dem allgemeinen Glauben nach ist das menschliche Ohr ausser Stande, jene Alternirungen unmittelbar als Ton zu percipiren. Wenn es dennoch geschieht, so muss dies entweder auf secundären Erscheinungen im Telephon oder in der Luft des Gehörganges beruhen oder zur Erweiterung der Helm- h oltz’schen Hypothese im König-Hermann’schen Sinne führen. Obgleich diese physiologische Deutung manche Analogien aufzuweisen hätte,! so ist es klar, dass sie überflüssig wäre, sobald sich eine physikalische Erklärung auffinden liesse. Die meisten Versuche fanden statt 1. mit einer König’schen Stimm- gabel von 252 Doppelschwingungen pro Secunde auf grossem Resonanz- kasten, 2. mit einer metallenen durchschlagenden Zunge f’. Dieseiben gelingen aber auch vorzüglich mit anderen Klängen. Im Allgemeinen werden die mittleren Octaven am lautesten gehört und eignen sich also am besten. Der Primärton, der von der Gabel oder von der Zunge her- rührt, tönt laut und voll. Nimmt man nun ab und zu auch die Unter- brechungsgabel in die Telephonketten auf, so tritt der Intermittenzton hinzu. Dieser ist selbstverständlich tief und von dumpfer Klangfarbe, weil er dem Stimmgabelton gross C entspricht. Manchmal übertönt er jedoch den gleichzeitig vorhandenen Primärton. Bedient man sich zu letzterem ' Auch u. A. Physiologie des Geruches. Leipzig 1895. S. 272. 64 H. ZWAARDEMAKER: Zweck von Klängen von ausserordentlicher Intensität, wie z. B. von jenem, welchen ein Ostwald’sches Inductorium für Widerstandsbestimmungen in einem in die Ketten der seeundären Spirale aufgenommenen Telephon her- vorruft, so hat auch der Intermittenzton eine grosse Intensität und einen unangenehm schmetternden Charakter. Ein überraschendes Resultat erhält man, wenn man eine Zunge gross C temperirter Stimmung wählt, und nachdem man den schönen, reinen Klang gehört hat, die gross C-Gabel physikalischer Stimmung einschaltet. Es entstehen dann langsame "Schwebungen in Uebereinstimmung mit dem. Unterschied der Schwingungszahl. Auf den ersten Anblick ist dieses Ver- halten sehr befremdend, da nach der gemeinsültigen Auffassung der Ton gross C temperirt objeetiver und der Intermittenzton subjeetiver Natur sein soll. Man könnte einen Augenblick glauben, mit; cerebral entstandenen Schwebungen zu thun zu haben, jedoch eine nähere Betrachtung lehrt, dass die Intermittenzen, indem sie sich der Phase nach verschieben, bereits ohne Weiteres ein An- und Abschwellen zur Folge haben müssen. Es braucht also nicht nothwendig der Intermittenzton zu sein, der mit dem Primärton Schwebungen giebt, es können auch einfach die Intermittenzen selbst sein. Die übrigen Combinationen, welche ich versuchte, ergaben noch einige Resultate, deren ich kurz Erwähnung thun möchte. Wenn wir die Zungen der Urbantschitsch’schen Harmonika, die eine vor, die andere nach, vor dem Mikrophon zum Ertönen brachten, fanden wir, dass der Zusammen- klang mit dem Intermittenzton bei d’, f', a’, ce” und d? am schönsten war. Die übrigen Zungen gaben mit dem Intermittenzton von 64 Schwingungen combinirt eine mehr oder weniger rauhe Empfindung. Die höheren Zungen g° bis zu c! gelangen bei der getroffenen An- ordnung für sich im Telephon verhältnissmässig schwach zur Wahrnehmung. Dennoch entsteht durch Einführung der Unterbrechungen -ein deutlicher Intermittenzton. | Das Timbre aller dieser Intermittenztöne hatte durch die nie ganz abwesende Rauhigkeit etwas Eigenthümliches; es lässt. sich übrigens schwer beschreiben. Für d? als Primärton bekam es merkwürdiger Weise Vocal- charakter, und zwar den Charakter eines auf sehr tiefen Sprechton ge- sprochenen „a“. Namentlich wenn man die periodische Unterbrechung plötzlich einschiebt und schnell darauf wieder beseitiste, war die Aehnlich- keit sehr gross. Ich erkläre mir die Sache so, dass in diesem Falle der Intermittenzton den Larynxton vortäuschte und d? als dominirender Ton oder Formant des Vocales auftrat. Die Rauhigkeit des Intermittenztones erschien dann als eine leichte Heiserkeit der Stimme, welche die Aehn- lichkeit mit der menschlichen Stimme noch überraschender machte, um so mehr, als der plötzliche Einsatz einen Glottisschlag nachahmt. Die Zungen ÜBER INTERMITTENZTÖNE. 65 c? und e? ergaben ungefähr dasselbe; jedoch war der Vocalcharakter für d3 verhältnissmässig am reinsten. Nach Pipping! befindet sich in dieser Tonlage auch wirklich das Verstärkungsgebiet des Vocales „a“. Boeke? und Hermann? fanden ähnliche Tonhöhen. Die anderen Vocale vermochte ich nicht hervorzurufen, wahrscheinlich weil die Klansgfarbe der Zungen hierzu ungeeignet ist. Bekanntlich sind die Harmoniumzungen sehr reich an Öbertönen, während der dominirende Ton eines Vocales, ausser „a“, ein scharf umgrenzter ist. Ich möchte meine Beobachtung nicht als eine Stütze für die Annahme, dass der Sprechton beim natürlichen Sprechen ein Intermittenzton wäre, betrachtet wissen. Eine solche Behauptung erscheint mir vollkommen un- verständlich Angesichts der von Niemandem bis jetzt bestrittenen und von Jedem leicht zu bestätigenden Thatsache, dass im Joh. Müller’schen Ver- suche auch der ausgeschnittene Larynx einen Stimmton hergeben kann. Weil das Ansatzrohr dann fehlt und sogar der Stimmkasten nur minimale Dimensionen zu besitzen braucht, ist die Möglichkeit der Entstehung von Intermittenztönen völlig ausgeschlossen. Und dennoch tönt die Stimme, zwar nicht schön, jedoch in durchaus erkennbarer Weise. Auch der Unter- schied der Register (Brustregister und Falset), der sich auf den Schwingungs- modus der Stimmlippen zurückführen lässt,* macht es fast‘ undenkbar, dass der Stimmton einfach ein Intermittenzton der gesprochenen oder ge- sungenen Vocale wäre. Nur könnte es sein, dass im Hermann’schen Intermittenzton das Eigenthümliche der Klangfarbe des Sprechtones im Gegensatz zu jener des Singtones verborgen wäre. Helmholtz’ glaubte, dass die Stimmlippen beim Sprechen vielleicht als aufschlagende Zunge schwingen, statt als durchschlagende, wie beim Singen (letzteres wurde durch die moderne Stroboskopie vollständig bestätigt). Der Helmholtz’sche Gedanke wäre also in der Weise zu erweitern, dass beim Sprechen wegen des neben dem Glottiston in den Vordergrund Kommens des Resonanztones der Mundhöhle ein Intermittenzton hinzutritt, welcher die eigenthümliche Rauhigkeit des Sprechens bedingt. Die Intermittenztöne werden gewöhnlich als eine unüberwindliche Schwierigkeit für die Helmholtz’sche Resonatorentheorie betrachtet. Ob das wirklich so ist, hängt, wie ich glaube, nicht von einem physiologischen Problem ab, sondern von einem physikalischen, d. h. jenem, ob die Inter- ı H.Pipping, Zur Phonetik der finnischen Sprache. Helsingfors 1899. 8. 174. ® J. W. Boeke, Pflüger’s Archiv. Bd.L. 8. 314. ® L.Hermann, Zbenda. Bd. LII. S. 31. * Oertel, Archiv für Laryngologie. Bd. III. 8.1. 5 Helmholtz, Tonempfindungen. 3. Aufl. 8. 163. Archiv f. A. u. Ph. 1900. Physiol. Abthlg. Suppl. 5 66 H. ZWAARDEMAKER: mittenztöne secundäre objective Töne hervorrufen können. Die Physiker haben sich hierüber noch wenig ausgesprochen. Am schärfsten ist diese Frage in unseren Telephonversuchen gestellt, und namentlich in jenem Falle der Intermittenztöne von eigens nahezu unhörbaren Tönen." Das Telephon zeigte sich bei der getroffenen Anord- nung (Schallquelle und Mikrophon in gesonderten Räumen), wie der Leser sich erinnern wird, nicht im Stande, den Schall der Zungen c? bis d* in genügender Intensität zurückzugeben, ja e' und f* wurden gar nicht gehört. Weil es sich dabei um einen Bereich der Tonleiter handelt, für welchen - das menschliche Ohr sehr scharfhörig ist, so darf man folgern, dass die Intensität, mit welcher die genannten Töne das Telephon verlassen, wenn überhaupt vorhanden, äusserst gering sein wird.” Dessen ungeachtet ist ihr Intermittenzton ganz deutlich. Hieraus geht: meines Erachtens hervor, dass der vibrirende Strom, der sich in der Mikrotelephonkette in Folge der Be- wegungen der Mikrophonplatte abspielt, mit Rücksicht auf das Telephon als ein continuirlicher betrachtet werden darf. Das Telephon reagirt, als wenn es von einem constanten Strom, in dessen Kette eine gross C-Stimm- gabel aufgenommen ist, in Bewegung gebracht wurde. Dennoch ist der continuirliche Strom abwesend, wie die Stille beim Aufhören der Schall- quelle beweist. | Weshalb der periodisch unterbrochene Strom der Mikrophonkette die gleiche Wirkung hat, wie ein continuirlicher, wage ich nicht zu beurtheilen, möchte jedoch darauf hinweisen, dass in Folge des Extrastromes die Schliessungs-Inductionsströme der Spule einen anderen Einfluss auf das Telephon (Kern und Membran) haben müssen, als die Oeffnungs-Inductions- ströme. Bei genügend rascher Auffolgung werden sie, wie ich glaube, eine continuirliche Resultante hergeben müssen. Geschieht die Aufeinanderfolge der Stösse langsamer, so bleibt wahrscheinlich auch die Resultante, die wesentlich auf ‚Summation beruht, aus, und statt der früheren Stille hört. das lauschende Ohr im Telephon den Primärton. Wo befindet sich aber die Grenze? Sollte von f? abwärts gar nichts mehr von einer Summation vorhanden sein? Wahrscheinlicher ist es, dass, was der physikalischen Ent- stehung der Intermittenztöne von unhörbaren Klängen zu Grunde liegt, ‘ Weil die Möglichkeit einer Erklärung aus secundären Erscheinungen in der Luft fortfällt. : ° Wie bekannt, ist das Telephon von Blake in seiner Empfindlichkeit regulirbar. Ich beurtheilte, ob das Instrument empfindlich genug gestellt war, indem ich ‘die unhörbaren Zungen e! und f* ihren Differenzton hervorbringen liess. Wenn dieser im Instrument sich zeigte, nahm ich an. dass die richtige Stellung der Schraube erreicht war. Dann hörte man den Intermittenzton vorzüglich, wenn auch mit diesen Zungen etwas rauher als gewöhnlich, ÜBER INTERMITTENZTÖNE. 67 auch nicht ganz ohne Einfluss ist auf die Entstehung der Intermittenztöne von hörbaren Klängen. Höchstens könnte man über die quantitative Be- deutung in Zweifel sein. In den oben beschriebenen Versuchen sind die relativ einfachsten Be- dingungen realisirt, unter welchen sich überhaupt Intermittenztöne hervor- rufen lassen. Alle anderen Methoden beziehen sich auf weit verwickeltere Verhältnisse, wo eine physikalische Deutung sich noch eher erstreben liesse. Ich glaube gezeigt zu haben, dass sogar in jenen einfachsten Fällen noch Raum übrig bleibt zu physikalischen Erklärungen. Falls sie sich erhärten liessen, würde es keineswegs nothwendig sein, jene schöne Resonatorentheorie des Hörens, die bereits so Vieles geleistet hat, fallen zu lassen, um so weniger, weil sonst keine schwerwiegenden Gründe gegen sie vorgebracht werden können. Ueber die Geschwindigkeit des Nervenprineips. Von Dr. R. du Bois-Reymond, Privatdocent, I. Fragestellung. Ueber die Erregbarkeit des Nerven an verschiedenen Stellen seines Verlaufes ist in letzter Zeit wiederholt geschrieben worden. Man sollte meinen, dass die Frage nach der Geschwindigkeit der Erregungsleitung im Verlaufe des Nerven der gleichen Berührung werth ist. Trotzdem ist noch in der neuesten Abhandlung über die Erregbarkeit zu lesen: „Die Frage also, ob die Fortpflanzung der Nervenerregung mit gleichmässiger oder mit beschleunigter Geschwindigkeit, oder, was wohl am wahrscheinlichsten ist, an verschiedenen Stellen der Nerven je nach ihrer Bauart: mit verschiedener Geschwindigkeit abläuft, ist noch eine völlig offene.“! Diese auffallende Lücke hat anscheinend darin ihren Grund, dass sich hervorragende Forscher _ mit der Frage nach dem Verlauf der Geschwindigkeit des Nervenprincips beschäftigt haben, ohne dass ein sicheres Ergebniss erreicht worden ist. Diese Untersuchungen sind aber mittels der einfachen graphischen Methode gemacht, und man darf sagen, dass sich diese Methode als unzureichend erwiesen hat. Zwar ist die Schreibtrommel, insbesondere für den Vorlesungs- versuch, das einfachste und beste Mittel zur Zeitmessung, und sie kann auch, wie es in der Ballistik der Fall sein soll, bei geeigneter Anordnung die Schärfe der elektrischen Zeitmessung erreichen oder gar übertreffen. Verfügt man aber nur über die gewöhnliche Ausrüstung des physiologischen Laboratoriums, so ist offenbar die Pouillet’sche Methode die beste, um so kleine Zeiträume zu messen, wie sie für Untersuchung der Leitungs- geschwindigkeit in Betracht kommen. Auf Anregung von Hrn. Professor ' K. Eiekhoff, Ueber die Erregbarkeit der motorischen Nerven an verschiedenen Stellen ihres Verlaufes. Pflüger’s Archiv. 1899. Bd. LXXVM. S. 13. R. vu Boıs-ReyMoND: ÜBER DIE GESCHWINDIGKEIT U. S. w. 69 H. Muuk habe ich daher unternommen, die Frage mit Hülfe der Pouillet’- schen Methode zu beantworten. Es galt, die Geschwindigkeit der Erregungs- leitung in mehr als zwei verschiedenen Strecken eines Nervenstammes zu vergleichen, um zu erkennen, ob sie an allen Stellen dieselbe sei, oder ob sie (wie nach früheren Versuchen an zwei Strecken vermuthet wurde) mit der Länge der Leitungsstrecke abnehme. Die Untersuchung wurde aus- schliesslich am Nervmuskelpräparat vom Frosch ausgeführt, da es sich zunächst darum handelte, die hierauf bezüglichen Angaben nachzuprüfen. Ueber das Ergebniss ist schon kurz berichtet worden.! Il. Versuchsanordnung. Anfänglich diente zur Zeitmessung eine Wiedemann’sche Spiegel- bussole mit dem kleinen Iiollenpaar. Der zeitmessende Strom ging von vier Grove’schen Elementen aus. Im diesen Stromkreis war ein Wider- stand von 500 Siemens-Finheiten eingeschaltet. Der Nerv war auf einen Trog gebettet, in dem vier Paar Platinelektroden verschieblich angebracht waren, damit jeweilen die volle Länge des Nervenstammes ausgenutzt werden könnte. Zur gleichzeitigen Schliessung des zeitmessenden Stromes und Oeff- nung des primären Kreises für den Reizschlag hatte ich die im hiesigen physiologischen Institut vorhandene Helmholtz’sche Wippe, die mir gütigst zu diesem Zwecke zur Verfügung gestellt wurde, nachbauen lassen. Der Reizstrom wurde von einem Schlitteninductorium mit 1 Daniell’schen Element im primären Kreise erzeugt und mittels 3 Pohl’scher Wippen ohne Kreuz jeder der 4 Reizstellen nach Belieben zugeleitet. Das Präparat war in dem gewöhnlichen Froschunterbrecher eingespannt. Die Differenz der Gesammtlatenzzeiten für je zwei benachbarte Reizstellen ergiebt die Leitungszeit für die dazwischen liegende Nervenstrecke, so dass bei vier Reizstellen die Geschwindigkeit in drei Abschnitten der Gesammtstrecke verglichen werden kann. Mit dieser Anordnung wurde eine Reihe von Versuchen gemacht, ohne dass sich eine ausreichende Regelmässigkeit der Ablesungen ergab. Dagegen trat bald diese, bald jene Fehlerquelle deutlich hervor, so dass mit der ‘ Zeit die Anordnung in vielen Punkten verändert und verbessert werden konnte. Die Bedingungen, die mir schliesslich genügend sichere Bestim- mungen ermöglichten, waren folgende (vgl. Fig. 1): Der Muskel wurde nach wie vor im Froschunterbrecher 7 befestigt. An der Stellschraube, durch die die Muskelklemme auf passende Höhe einzustellen ist, hatte ich eine ! R.du Bois-Reymond, Ueber die Geschwindigkeit des Nervenprineips. Central- blatt für Physiologie. 1899. Bd. XIII. 8. 513. 70 R. pu Boıs-Reymonxp: getheilte Scheibe mit einem Indicator anbringen lassen, um die Länge des Muskels genau einstellen und deren Veränderung überwachen zu können. Die Waagschale ($) wurde mit 50: belastet. Der Trog mit den Elek- troden (#1 bis Zıv) blieb unverändert, nur dass einer der Platindrähte, der mit Zinnloth verunreinigt war, erneuert werden musste. Der Reiz- strom wurde von der secundären Rolle des Inductoriums (/) zwei Queck- oOCOO0O0O OO000000 Fig. 1. Schematische Darstellung der endgültigen Versuchsanordnung. Eı, Eu, Eıu, Eıv = Die vier Elektrodenpaare. Fg, Fp = Quecksilber- und Platincontact des Froschunterbrechers. Ss Waagschale mit 50°” Belastung. Dm = Element im zeitmessenden Stromkreis. Cm = Schlusscontact des zeitmessenden Stromkreises. W = Widerstand von 1000 Siemens-Einheiten. N = 'Vorschaltnebenschluss, der den Strom auf '/,, reducirt. G = Galvanometer. > > H = Fallhammer, B = Balken, Z= Zapfen der Helmholtz’schen Wippe. Cr Oeffnungscontact der Wippe im Reizstromkreis. Dr = Element im Reizstromkreis. J = Inductorium. Q@ = Quecksilbernäpfe zum Anschliessen der Elektroden in den secun- dären Kreis. silbernäpfen (Q, @) zugeleitet, in die vier Drahtpaare, die zu den Elektroden führten, eingetaucht werden konnten. Zur Zeitmessung diente ein „Uni- versal-Galvanometer für hohe Empfindlichkeit“ (G) von Siemens & Halske, das gestattete, die elektromotorische Kraft des Mess-Stromes auf 1 Daniell’- ÜBER DIE GESCHWINDIGKEIT DES NERVENPRINCIPS. 1 sches Element (Im) herabzusetzen, wobei noch ein Widerstand (W) von 1000 Siemens-Einheiten in den Stromkreis eingeschaltet und der den Galvanometer durchfliessende Strom durch Nebenschliessung auf !/ , reducirt war. Geöffnet und geschlossen wurden die beiden Ströme durch die Helm- holtz’sche Wippe (#Z) mit zwei gleich zu besprechenden Aenderungen. III. Die Fehlerquellen. Bei dieser Anordnung des Versuches besteht eine ganze Reihe von Fehlerquellen, die theils in dem Verfahren begründet, also unvermeidlich sind, theils in den Instrumenten liegen und mehr oder weniger vollkommen beseitigt werden können. Es sei zunächst von diesen die Rede. I. A. Das Prineip des ganzen Versuches beruht auf der Voraussetzung, dass der messende Strom genau in dem Augenblicke geschlossen werde, in dem der Reizstrom geöffnet wird, oder dass der stattfindende Zeitunter- schied wenigstens constant sei.! Helmholtz erreichte bekanntlich diese gleichzeitige Schliessung und Oeffnung mit Hülfe seiner „Wippe“. So ein- fach diese Vorrichtung ist, so scheint doch ihre Leistung sehr davon ab- zuhängen, wie sie im Einzelnen gearbeitet ist. Denn das Modell des hiesigen physiologischen Institutes, das mir probeweise gütigst zur Verfügung gestellt wurde, hatte nur einen ganz minimalen Fehler, der nach meiner Prüfung noch kleiner angenommen werden muss, als der der ebenfalls vorzüglichen, von Hermann’? benutzten Wippe. Leider aber war das für mich nach diesem Modell nachgebaute Exemplar bei Weitem schlechter. Der Fehler lag nicht in der Durchbiegung des Balkens, sondern an dem Spiel der Zapfen in ihren Lagern. Die das Schlusscontact-Ende des Balkens von unten empordrückende Feder trieb die Zapfen, die etwas zu lose in den Lagern gingen, an den oberen Rand der Lager (vgl. Fig. 2 A). Der Schluss- contactstift traf, wenn er hinabgedrückt wurde, unmittelbar über der Feder oder noch näher am Drehpunkt auf den Balken, und erzeugte daher zunächst eine Bewegung der Zapfen bis zum unteren Rande der Lager. ! Mit Hülfe einer geeigneten Contactvorrichtung würde sich nämlich die Messung der Leitungszeit in der Weise ganz besonders elegant ausführen lassen, dass man den zeitmessenden Strom erst so lange nach dem Reizstrom beginnen lässt, wie die Latenz- zeit des Muskels dauert. Der Ausschlag des Galvanometers würde dann für die dem Muskel am nächsten gelegene Reizstelle nahezu Null sein, und die Ausschläge bei Reizung der höher gelegenen Stellen würden ausschliesslich die Leitungszeiten bedeuten. ® L. Hermann und ©. Weiss, Ueber die Entwickelung des Elektrotonus. Pflüger’s Archiv. 1898. Bd. L,XXI. S. 245. — Der Fehler der Wippe wird zu 0-00007 Sec. angegeben. 02 R. pu Boıs-Reymonp: Deswegen wurde diese drückende Feder durch eine auf die andere Hälfte des Balkens wirkende Spiralfeder ersetzt, wodurch eine wesentliche Ver- besserung eintrat (Fig. 2 2).. B. Auch wenn beide Enden des Wippenbalkens sich gleichzeitig be- wegen, kann dadurch ein Fehler entstehen, dass die Wippe mit verschiedener Schnelligkeit bewegt wird. Erstens wird der zeitmessende Strom früher oder später vollständig geschlossen, zweitens wird ausserdem der primäre Kreis des Reizstromes ein Mal schneller, ein anderes Mal langsamer geöffnet, so dass die Reize ungleich werden. Aus diesen Gründen empfiehlt es sich, die Wippe durch eine mechanische Vorrichtung auf stets gleiche Weise in Bewegung zu setzen. Hierzu ist am einfachsten ein Fallhammer. Die Construction wurde so gewählt, dass der Stiel des Hammers etwas vor der Mitte den Contactstift trägt, der, auf das Ende des Wippenbalkens niederfallend, den zeitmessen- den Strom schliesst. Der Kopf des Hammers, 9% der an der ganzen Länge des Stieles als an | einem bedeutenden Hebelarm wirkt, kann dann ein sehr geringes absolutes Gewicht haben, und genügt doch, um die Wippe (De x niederzudrücken. Durch die Feder der Wippe en wird der Fall des Hammers allmählich auf- gehalten, so dass störende Vibrationen aus- ee: ; j bleiben. an der mt Wenn die Contuctstellen sorgfältig blank zur Vermeidung des Fehlers. ehalten sind,' werden die durch die Con- struction dieses Theiles der Vorrichtung be- dingten Fehler für das Gesammtergebniss nicht in’s Gewicht fallen, zumal da nicht der bestehende Fehler selbst, sondern nur dessen Schwankung bei wiederholtem. Versuch in Rechnung zu ziehen ist. II. Damit der Reiz gleichmässig sei, muss ferner .die Gleichartigkeit der Elektroden berücksichtigt werden. Ungleichheit der Elektroden hatte sich, wie oben erwähnt, bei den Vorversuchen bemerkbar gemacht: Jedes Mal, wenn der secundäre Kreis durch das obere Elektrodenpaar geschlossen wurde, trat eine Zuckung ein. Die Ursache wurde in der Verunreinigung des Platindrahtes mit Zinnloth gefunden und alsbald beseitigt. Wie aus ! Ist der Apparat längere Zeit im Gebrauch, so bildet sich mitunter eine sehr dünne und feste Schicht von trockenem, schwarzem Schmutz ‚auf der Contactplatte. Es scheint, als würde der Staub durch die beständigen Schläge in diese Form zu- sammengebacken. ÜBER DIE GESCHWINDIGKEIT DES NERVENPRINCIPS. 73 den weiteren Angaben hervorgeht, dürfte dieser Fehler, ebenso wenig wie ungleicher Abstand der einzelnen Elektroden bei den verschiedenen Paaren, einen wesentlichen Einfluss auf die Versuche gehabt haben. III. A. Damit der zeitmessende Strom während seiner Dauer gleich- förmig sei, muss vor Allem der Platincontact des Froschunterbrechers gleich- mässig arbeiten. Abgesehen von Unreinigkeiten, wird der Widerstand dieses Contactes veränderlich sein mit der Grösse des Druckes, mit dem der Hebel auf der Contactplatte laste. Um den Einfluss zufälliger Unregelmässig- keiten an dieser Stelle möglichst abzuschwächen, habe ich in der Regel mit belastetem Hebel gearbeitet. Der Einfluss, den dies auf die Grösse der gemessenen Zeiträume hat, wird weiter unten erwähnt werden. B. Ferner wird der zeitmessende Strom beeinflusst werden durch den Widerstand, den er in dem Quecksilbercontact des Froschunterbrechers findet. Die Zeit, die verstreicht, ehe der Quecksilberfaden zerreisst, ist be- kanntlich ohne Einfluss, weil ja der Strom zuerst im Platincontact unter- brochen wird. Aber ein Unterschied im Widerstande des Quecksilberfadens würde die Stärke des Stromes während seiner ganzen Dauer verändern. Um diese mögliche Unregelmässigkeit (die übrigens thatsächlich nicht er- kennbar ist) zugleich mit denen der Wippe auszugleichen, und ausserdem die Selbstinduction in den Rollen der Bussole zu verringern, wurde bei den Vorversuchen ein möglichst hoher Widerstand in den Stromkreis ein- geschaltet. Bei der zuletzt angenommenen Anordnung war dies nicht noth- wendig, da im Galvanometer selbst schon ein Widerstand von 10000 Ohm vorgeschaltet ist. Hier diente der Widerstand als bequemes Mittel, die absolute Grösse der Galvanometerausschläge abzustufen. IV. Um zunächst die im Apparat liegenden vermeidbaren Fehler- quellen zu erörtern, so wäre noch zu untersuchen, ob die Ausschläge des Galvanometers als der Dauer des zeitmessenden Stromes proportional an- gesehen werden können. Dass dies der Fall war, wurde durch Control- versuche empirisch festgestellt. V. 8o weit der Apparat in Betracht kommt, lässt sich die hinreichende Gleichförmigkeit der Versuchsbedingungen ziemlich leicht erreichen. Eine Quelle viel schlimmerer Fehler bildet aber bei?den eigentlichen Versuchen das Präparat selbst. A. Die bei Weitem wichtigste Fehlerquelle ist im Zustande des Muskels zu finden. Gesetzt, dass die Reize, die den Muskel treffen, stets gleich sind, so kann sich doch die Art, wie der Muskel auf den Reiz reagirt, namentlich wenn es sich um längere Reihen von Beobachtungen handelt, beträchtlich ändern. Es ist zu bedenken, dass der Beobachter nicht den Zeitpunkt der Erregung des Muskels wahrnimmt, sondern erst den Zeit- 74 R. pu Boıs-ReymonD: punkt, in dem der Muskel einen solchen Grad von Spannung erreicht hat, dass er den Hebel des Froschunterbrechers lüftet. Je nach dem Grade der Spannung, die im ruhenden Muskel herrschte, wird hierzu eine ver- schiedene Zeit nöthig sein. Anders ausgedrückt heisst das: Die Ruhelänge des Muskels ändert sich während des Versuches. Wenn also bei der ersten Bestimmung der Muskel gerade so lang war, wie der Abstand zwischen Klemme und Hebel, kann er bei der zweiten oder dritten Bestimmung schon ein Stückchen länger geworden sein, und dadurch wird die Gesammt- latenzzeit vergrössert werden. Es kann aber auch der umgekehrte Fall . eintreten, dass der Muskel kürzer wird, und daher schon vor der Reizung in gespanntem Zustande ist, so dass er nun den Hebel in etwas kürzerer Zeit lüftet. Dann ist die Gesammtlatenzzeit verkürzt. In beiden Fällen wirkt der Zustand des Muskels auf die Grösse des Galvanometerausschlages auf doppelte Weise ein: Erstens, weil der Contact ‘schon während der Dauer des Reizstromes mehr oder weniger vollkommen ist, zweitens, weil die Unterbrechung zu früh oder zu spät eintritt. Die erste Wirkung wird nur in verschwindendem Maasse stattfinden, wenn der Hebel des Unter- brechers belastet ist (vgl. 8.73 u. 77 III. A.). Dagegen wird die zweite mit der Belastung an Bedeutung gewinnen. Die Grösse ihres Einflusses hängt dabei vom Verhältniss der Belastung zur Stärke des Muskels ab, da natürlich ein dünner, schlaffer Muskel durch das gleiche Gewicht mehr gedehnt wird, als ein starker, und umgekehrt die Neigung eines starken Muskels, sich fortschreitend zu verkürzen, bei gegebener Belastung deut- licher hervortritt, als die eines schwächeren. B. Unter den Unregelmässigkeiten, die durch den wechselnden Zu- stand des Präparates hervorgerufen werden, sind an zweiter Stelle die der Erregbarkeit des Nerven zu betrachten. Wenn die dem Nerven zugeleiteten Reizschläge als gleich angenommen werden dürfen, so hänst die Stärke ihrer Wirkung auf den Nerven doch noch von der Erregbarkeit der ver- schiedenen Reizstellen ab. Die Erregbarkeit des Nerven an verschiedenen Stellen seines Verlaufes ist bekanntlich vielfach untersucht, und es darf angenommen werden, dass sie normaler Weise überall die gleiche sei. Aus den Untersuchungen geht aber hervor, dass der normale Zustand an einem Präparat so gut wie niemals anzutreffen ist. Wenn nun an den verschie- denen Reizstellen verschiedene, ja der Zeit nach wechselnde Erregbarkeits- zustände herrschen, so wird auch bei stets gleicher Reizung die Stärke der Erregung bei je zwei Messungen verschieden sein können. Diese Verschieden- heit wird auf mehrfache Weise die gefundenen Zeiten beeinflussen: Erstens wird die Zuckung des Muskels mehr oder minder heftig sein, und demnach wird die Gesammtlatenz, wie eben besprochen, kleiner oder grösser ausfallen. ÜBER DIE (GESCHWINDIGKEIT DES NERVENPRINCIPS. 75 Zweitens könnte die Leitungsgeschwindiekeit selbst von der Stärke der Erregung beeinflusst werden, wovon später (vel. S. 82 ff.). Drittens wird die Wirksamkeit der Stromschleifen, die von der Reiz- stelle aus durch den Nerven gehen, sich auf verschiedene Weite erstrecken, wovon ebenfalls weiter unten die Rede sein soll. Der erste dieser Fehler lässt sich bekanntlich sicher dadurch vermeiden, dass stets übermaximale Reize angewendet werden, das heisst, dass der Reiz- schlag so stark gerommen wird, dass er auch an der Stelle relativ geringster Erregbarkeit maximale Zuckung auslöst. Man darf mit der Verstärkung des Reizes aber nicht zu weit gehen, weil sonst die dritte angegebene Fehler- quelle, nämlich die Stromschleifen im Nerven, zu grossen Einfluss erhält, und weil ausserdem übermässige Reize störende Nachwirkungen hervor- bringen. VI. Gleichmässigen Zustand des Muskels und gleichmässige Erregbar- keit des Nerven vorausgesetzt, wird nun die beobachtete Zeit ferner ab- hängig sein von anderen Zuständen des Nerven, die die Geschwindigkeit der Erregungsleitung beeinflussen können. A. Zunächst ist hier an die Einwirkung der Temperatur zu denken. Da indessen während der Versuche die ganze Nervenstrecke im Allgemeinen der gleichen Temperatur ausgesetzt ist, und da es sich nicht um absolute Bestimmungen handelt, wird die Einwirkung der Temperatur vernachlässigt werden können. B. Wichtiger sind diejenigen Bedingungen, deren Wirkung auf die Erregbarkäit des Nerven bekannt ist, und von denen man voraussetzen darf, dass sie in ähnlicher Weise die Leitungsgeschwindigkeit beeinflussen können. Hier sind zu nennen: Erstens die Verletzung des Nerven durch Abtrennung der Aeste oder andere Eingriffe, ebenso wie die Einwirkung des Querschnittes im centralen Stumpf, so weit es sich um durchschnittene Nerven handelt. Zweitens kommt in Betracht die Wirkung von Eigenströmen in den verschiedenen Nervenstrecken, wie sie entweder durch die unvermeidlichen Verletzungen oder durch Polarisation bei der Reizung auftreten können. Drittens hat nach P. Weiss! mechanische Spannung des Nerven- stammes Herabsetzung der Erregbarkeit zur Folge, und es liegt nahe, eine ähnliche Wirkung auf die Leitungsgeschwindigkeit anzunehmen. Dann würde also ungleiche Spannung der verschiedenen Nervenstrecken zu einer Quelle von Versuchsfehlern werden. ı! P. Weiss, Influence de la tension sur l’exeitabilite du nerf. Comptes rendus hebdomadaires de la Societe de Biologie. Ser.10. T. VL Nr.5. p. 105. 76 R. pu Boıs-ReYmonp: VII. Endlich auch normalen Zustand des Nerven vorausgesetzt, ist eine zuverlässige Bestimmung und Vergleichung der Leitungsgeschwindigkeit in verschiedenen Nervenstrecken. deswegen unausführbar, weil man die Länge der Leitungsstrecken nicht kennt. Es genügt nicht, den Abstand der Elektroden von einander zu messen, weil das dazwischen liegende Nervenstück mehr oder minder gespannt sein kann, weil ferner selbst bei gleicher Spannung die einzelnen Leitungsbahnen (wie die Fontana’sche Bänderung beweist) nicht gleichmässig geradlinig verlaufen, und weil end- lich die Ausbreitung der Stromschleifen nicht überall dieselbe zu sein braucht. Man darf annehmen, dass bei der Schätzung, auf die man bei dieser Lage der Dinge angewiesen ist, Fehler bis zu 10 Procent mit unter- laufen werden. Zieht man in Betracht, dass die zu vergleichenden Zeit- räume nicht aus einer Bestimmung, sondern als Differenz zwischen zwei Bestimmungen gefunden werden, von denen beide durch den begangenen Fehler beeinflusst sind, so erscheint diese Fehlerquelle als eine der schlimm- sten. Sie lässt sich nur dadurch ausschalten, dass man die Zahl der Be- obachtungen häuft. Unter einer hinreichend grossen Zahl von Schätzungen werden annähernd gleich viele in entgegengesetztem Sinne um durchschnitt- lich gleiche Beträge abweichen, und die Durchschnittiszahlen aus der.ganzen Beobaehtungsreihe werden dem richtigen Werthe sehr nahe kommen. IV. Prüfung der Versuchsanordnung. I. A. Um den Fehler der Wippe zu bestimmen, wird ein Strom durch ihre beiden Contacte und zum Galvanometer geleitet. Arbeitet die Wippe, wie sie soll, so wird der Strom im Augenblick, wann er geschlossen ist, auch wieder geöffnet, und das Galvanometer muss also in Ruhe bleiben. Dies war bei meiner Wippe aber nicht der Fall, sondern bei den für die Versuche gültigen Bedingungen ergab sich eine Zeitdifferenz, die einen Ausschlag von etwa 1-5 Scalentheilen hervorrief. Dieser, Fehler war aber - ziemlich constant, so dass sich die Beobachtungen kaum merklich unter- schieden. Dagegen wurde der Fehler mit der Zeit allmählich etwas grösser, so dass beim Schlusse der Untersuchung eine Prüfung Folgendes ergab: 5. 1II. 1900. Bedingungen wie für den Versuch: Fehler der Wippe: 4, 4, 4, 2.5, 2, 1, 3, 55, 4, 5, 4. Mittlerer Fehler: 3.5. Abweichung: +0-5, +0-5, +05, —1, —1.5, —2°5, —0.5, +2, +0.5, +1-5, +0-5. Mittlere Abweichung: 1-3, ÜBER DIE GESCHWINDIGKEIT DES NERVENPRINCIPS. (er Bei unredueirtem Strom: Hehlergder Wippe: 115,218, 13, 18, 19,177, 16, 14,16, 6* 15, 12: Mittelwerth: 15-2. Abweichung: 0, —2, —2, +3, +4, +2, +1, —1, +1,0, —3. Mittlere Abweichung: 2-3. * Der bezeichnete Werth fällt mit einer Erschütterung der Apparate zusammen, und ist daher ausgeschlossen. B. Wie gross der Unterschied ist, wenn die Wippe schnell oder langsam bewegt wird, wie nothwendig also eine gleichförmig arbeitende mechanische Vorrichtung an dieser Stelle, geht aus folgender Beobachtungsreihe hervor. 23. VII. 1898. Es wird die Latenz eines Muskels mit der Spiegelbussole gemessen. Wippe mit der Hand bewegt. Ablesungen: 225, 231, 226, 241, 225, 230, 226. Nun wird die Wippe absichtlich möglichst schnell bewest: 165. Dann wieder mittlere Bewegung: 192. Darauf absichtlich lang- samere: 250. Dasselbe zeigt folgende Reihe: 70,.190172251:55: 5 300 300 300. 5, 1907727202 .170: Bei gewöhnlicher Bewegung: 1 Bei langsamer Bewegung: 2 Bei schnelier Bewegung: 2 II. Ungleicher Abstand der Elektroden eines Paares hat keinen Kin- fluss. Bringt man die Platindrähte absichtlich viel weiter aus einander, als dies je durch Unachtsamkeit bei einem Versuche vorkommen kann, so erhält man bei den gewöhnlichen Versuchsbedingungen trotzdem gleich- artige Ablesung, z. B.: 29.1IV. 1899. (Vorher 7 Reihen zu je drei Reizstellen.) Dann: Reizstelle: 1. I. JUDE 202 221 238 (weit aus einander gebogen). 202 220 234 (ganz nahe zusammen). 202 219 237 (wieder weit). Ill. A. Der zeitmessende Strom ist abhäneig von den Widerständen in den Leitungen und Contacten. Um die Gleichmässigkeit des Apparates in dieser Beziehung zu überwachen, wurde in der Regel vor jedem Versuch die Grösse der constanten Ablenkung bestimmt, die der zeitmessende Strom bei dauernder Schliessung bewirkte, wenn der Vorschaltnebenschluss des Galvanometers auf 1:10000 gestöpselt war. Es zeigte sich hierbei kein erkennbarer Unterschied im Widerstande des Platincontactes, wenn der Hebel unbelastet auflag, oder wenn die Waagschale belastet wurde. Doch ist der Einfluss der Belastung sehr deutlich, wenn sich ein Muskel in dem Unterbrecher befindet, dessen Spannung das Gewicht des Hebels trägt. Im äussersten Falle kann ja hierdurch der Contact ganz unterbrochen 73 R. pu Boıs-Reymonp: werden. Der constante Ausschlag des Galvanometers unter den eben an- gegebenen Bedingungen schwankte bei den Versuchen zwischen 218 und 235, so dass in dieser Hinsicht vollständige Gleichförmigkeit der Versuchs- bedingungen bestand. B. Im Widerstande des Quecksilbercontactes war kein Unterschied zu erkennen, gleichviel ob ein langer, dünner Faden aus einer faltigen oxydirten Oberfläche ausgezogen, oder ein eben hinreichender Adhäsions- kegel von blankem Quecksilber gebildet wurde. IV. Ob die Ausschläge der Dauer des zeitmessenden Stromes pro- portional seien, wurde auf folgende Weise untersucht: Auf die Grundschiene eines Federmyographions wurden neben einander zwei lange, schmale Queck- silbertröge aufgesetzt. In diese tauchten beide Enden eines auf die Schreib- tafel gekitteten Drahtbügels. Die Länge des einen Troges wurde durch eingesetzte (Juerwände abgestuft. Der Strom, der (genau so wie bei der eigentlichen Messung) durch 1 Daniell’sches Element bei 1000 Siemens- Einheiten eingeschalteten Widerstandes gegeben und durch den zum Gal- vanometer gehörigen Vorschaltnebenschluss auf !/,, reducirt war, wurde den beiden Trögen zugeleitet. Je nachdem also der Gang des Feder- myographions schneller oder langsamer, der Trog kürzer oder länger be- messen war, wurde der Strom durch den vorüberstreifenden Drahtbügel, der in beide Tröge eintauchte, auf kürzere oder längere Zeit geschlossen. Die Länge des Troges konnte gemessen werden, indem (bei auf !/,oo0o reducirtem Strom) der Rahmen des Myographions ganz langsam bewegt wurde, bis der Draht die beiden Tröge verband. In dem Augenblick, in dem das Galvanometer seinen Ausschlag begann, wurde der Rahmen an- gehalten und seine Stellung bezeichnet. Ebenso wurde das Aufhören des Contactes am anderen Ende des Troges bestimmt. Die zeitliche Dauer des Contactes wurde durch die Stimmgabel des Myographions gemessen, auf | deren Curve die Marken für Anfang und Ende des Contactes abgetragen. wurden. Diese Einrichtung hatte den Uebelstand, dass die Quecksilberoberfläche bei Ruhe und bei Bewegung des Schliessungsdrahtes nicht genau die gleiche Form bewahrte. Nicht selten wurden sogar Tröpfchen Quecksilber aus den Trögen herausgeschleudert. Die Länge der Strecke, auf der Contact bestand, konnte also bei der Bewegung eine andere sein als bei der Messung. Daher ergaben sich auch bei wiederholten Messungen mit gleichbleibender Troglänge nicht genau gleiche Ausschläge. So ergab ein Versuch folgende Reihe: 2I.RIEIT. 1907 175, 21917172175 1705 797 ÜBER DIE GESCHWINDIGKEIT DES NERVENPRINCIPS. 19 Bei denselben Bedingungen wurde gefunden: Dauer des Contactes in Ausschlag in Stimmgabelschwingungen Scalentheilen ui 6-5 183 29-1 3.0 88 29-3 und bei einem anderen Versuch (30. XI. 1599): 1-4 40 29-5 3.2 90 27-7 4.5 125 26-1 6-3 165 27-1 7.0 1906 27-2 13-2 360 Diese Zahlen lassen freilich die genaue Uebereinstimmung vermissen, die bei einer Messung mit eigens dazu bestimmten Präzisionsinstrumenten zu verlangen wäre. Der Fehler ist zum Theil offenbar bei Bestimmung der Contactdauer gemacht, da die kürzesten Zeiten, bei denen dieser Fehler am meisten in’s Gewicht fällt, die grössten Verhältnisswerthe haben. Bei fortgesetzten Versuchen ergab sich, dass die Vorrichtung einen höheren Grad von Genauigkeit nicht zuliess. Wenn man aber auch auf Grund dieser Zahlenreihe eine Disproportionalität der Ausschläge, also Abnahme mit zunehmender Contactdauer, annehmen wollte, ist sie jedenfalls so gering, dass sie das Endergebniss der ganzen Untersuchung nicht beeinflusst. V. A. Die wechselnde Spannung des Muskels ist der Umstand, der die grössten Fehler verursacht und alle übrigen Fehlerquellen beherrscht. Dies giebt sich schon daraus zu erkennen, dass die ersten Werthe jeder Versuchsreihe unregelmässig auszufallen pflegen, während die Gleichmässig- keit der gemessenen Zeiten mit der Länge der Versuchsdauer zunimmt. Wenn der Apparat in allen übrigen Punkten gut im Stande ist, lässt sich aber der Fehler, der durch die Spannungsveränderungen im Muskel entsteht, durch sorgfältiges Handhaben der Stellschraube ausschalten oder doch wenigstens überwachen. Das Nervmuskelpräparat wird nach dem Einklemmen zunächst mittels der Stellschraube gehoben, bis der Muskel eben angespannt ist. Diese Stellung ist am sichersten daran zu erkennen, dass, wenn man (bei unbelastetem Hebel) die Klemme noch ein ganz klein wenig höher schraubt, der Platinstift des Hebels auf der Contactplatte klirrt, sobald man auf den Hebel oder das Messingstischehen des Unter- brechers klopft. Man hat dann so viel wieder herunterzuschrauben, bis das Klirren eben aufhört. Um solche Einstellungen mit Genauigkeit ausführen und nach Belieben die erste Stellung wieder auffinden zu können, wurde unter der gerändelten -Schraubenmutter des Unterbrechers eine Theilscheibe \ 80 R. pu Boıs-Reymonp: mit 50 Theilstrichen nebst feststehendem Zeiger angebracht. Da 10 Um- drehungen der Schraube auf 8"= Steigung kommen, würde 1 Theilstrich einer Steigung von 0.016" entsprechen. Das Gewinde der Schraube wurde auf gleichmässigen Gang dadurch geprüft, dass ein in die Klemme sespannter Öbjectträger unter dem Mikroskop verschoben wurde. Bei Drehung der Schraube rückte er ganz gleichförmig weiter. Natürlich kann man auch ohne diese Einrichtung, nur mit weniger Sicherheit, die Längen- änderung des Muskels mit Hülfe der Stellschraube erkennen und ausgleichen. Man braucht nur, nachdem der Muskel auf die beschriebene Weise ein- gespannt worden ist, nach einigen Messungen die Belastung zu entfernen, die Klemme wieder ein wenig emporzuschrauben, und wieder auf den Hebel oder das Messingtischehen zu klopfen. In den meisten Fällen wird das erwähnte Klirren des Hebels ausbleiben, und erst wieder auftreten, nach- dem man die Klemme noch ein merkliches Stückchen höher hinaufgesehraubt hat. Hier hat sich offenbar der Muskel gedehnt, und man würde die Ge- sammtlatenzzeit vergrössert finden. Mitunter tritt das Gegentheil ein, und der Hebel klirrt beim Klopfen, auch ohne dass man die Schraube berührt hat, sobald die Belastung abgenommen wird. In diesem Falle ist der Muskel kürzer geworden, die Latenzzeit würde zu klein gefunden werden. Dann hat man durch Senken der Klemme wieder die Einstellung auf- zusuchen, bei der das Klirren eben verschwindet. Wie stark die angegebenen Umstände hervortreten, ist aus folgenden Beobachtungen zu ersehen: 4.11. 1899. Auf einander folgende Ablesungen einer Gesammtlatenzzeit ohne Aenderung der Einstellung: 391 396 364 405 366 390 345 369 369 297 338 376 318 24.11. 1899. Auf einander folgende Ablesungen einer Gesammtlatenz- zeit ohne Aenderung der Einstellung: 235 247 248 255 248 258 252 252 248 248.247 248 247 3.11. 1899. Auf einander folgende Ablesungen einer Gesammtlatenzzeit mit ne der Einstellung. Die Schraube wird mach jeder Messung um !/, Theilstrich gedreht: 2.67 2698 2109102687270 2.020 2718326952169 2217189725; * Hier unterblieb die weitere Drehung, dann wurden die Ablesungen fortgesetzt, indem die Schraube um je 1 Theilstrich gedreht wurde: 268 271 270 270 270 270 Es wurde nun um je 2 Theilstriche gedreht: - 269 268 267 265 264 264 263 260 260 261 257 253 253* 248 * Hier wurde um 4 Theilstriche auf einmal weitergeschraubt. ÜBER DIE GESCHWINDIGKEIT DES NERVENPRINCIPS. 81 In diesem Versuche ist, nur um die Wirkung der Einstellung auf das Ergebniss zu zeigen, die Einstellung jedes Mal um einen gleichen, in den letzten Reihen offenbar etwas zu hohen Werth geändert worden. Man sieht daraus, dass die Ungleichförmigkeit der Ablesungen in den Versuchen ohne Aenderung der Einstellung im Wesentlichen durch Dehnung des Muskels bedingt sein muss. Bei den endgültigen Versuchen ist selbstverständlich die Einstellung nicht in dieser Weise gebraucht worden, sondern es wurde entweder für jede einzelne Bestimmung die richtige Einstellung ausprobirt, oder, und das gilt von der überwiegenden Zahl der Versuche, es wurde durch wiederholte Bestimmungen und Proben an der Stellschraube eine solche Periode im Zustande des Muskels ausgewählt, in der sich eine hin- reichende Zahl von Messungen nach einander machen liess, ohne dass sich die Spannung des Muskels wesentlich änderte. Bei diesen beiden Verfahren zeigte sich ein gewisser Unterschied insofern, als der absolute Werth der gemessenen Zeiten im Laufe des Versuches immer kleiner zu werden pflegt, wenn durch jedesmalige Einstellung die Spannung gleich gehalten wird, dagegen grösser, wenn bei ein und derselben Einstellung weiter gearbeitet wird. Auch hierfür seien einige Beispiele gegeben. 26.1. 1899. Gesammtlatenzzeiten bei Reizung an 4 Punkten des Nerven. I. 1. II. IV. 1. 251 262 2712, 2208 Es folgen 2 ähnliche Reihen mit Einstellung in je 1 Min. Zeitabstand, ‚dann 3 Reihenpaare, für die nur je einmal eingestellt wurde, wovon die letzte: 8. 204 214 225 228 18. II. 1899. 2: 218 225 225 240 Es folgen 10 ähnliche Reihen, während deren die Einstellung im Ganzen um 20 Theilstriche höher geschraubt wird. 12. 202 214 215 225 3.1. 1899. Bei gleich bleibender Einstellung. 3. 174 180 197 195 8. 195 203 213 216 (Dazwischen eine Pause von 16 Min. und 6 ähnliche Reihen.) 21.1. 1899. T. 195 204 220 223 7. 205 214 221 232 (Dazwischen 5 ähnliche Reihen.) Archiv f, A. u. Ph. 1900, Physiol, Abthlg. Suppl. 6 82 R. pu Bors-Reymonp: Gewöhnlich verhält sich die Sache so, dass der Muskel sich am Anfang des Versuches ziemlich stark dehnt, dann aber in ein annähernd gleich- mässiges Stadium kommt, oder sich sogar verkürzt, worauf nach längerer oder kürzerer Zeit sich wieder Dehnung bemerkbar macht. Dies spricht sich darin aus, dass die gemessenen Zeiten anfänglich zuzunehmen, und dann ganz langsam abzunehmen pflegen." Man kann das Eintreten des gleichmässigen Stadiums beschleunigen, wenn man von Anfang an den Muskel ziemlich stark spannt, oder die ersten Messungen bei grösserer. Belastung vornimmt. Wenn man zwischen je zwei Bestimmungen eine bestimmte Zeit wartet, so dass die Reizungen in ganz regelmässigen Abständen auf einander folgen, so könnte man erwarten, dass der Muskel jedes Mal in genau dem gleichen Zustande vom Reiz getroffen würde. Die Zeit,. die erforderlich war, die nöthigen Einstellungen und Umschaltungen vorzunehmen, belief sich auf ungefähr !/, Minute. Eine grosse Zahl der Versuche wurde nun nach der Secundenuhr in ganz regelmässigem Laufe ausgeführt, indem zwischen je zwei Reizen eine volle Minute verstrich. Es zeigte sich aber, dass für die Regelmässigkeit der Ergebnisse damit nichts gewonnen wurde, weil die Versuchsreihen um so viel länger dauerten, dass dadurch wiederum Ver- änderungen des Präparates eintraten. B. Die Erregbarkeit des Nerven an jeder einzelnen Reizstelle wurde vor dem Versuche geprüft, um zu erkennen, ob die Elektroden sich alle richtig angelegt hätten. Fast immer war die Erregbarkeit für alle Stellen nahezu dieselbe, und die Reizgrenze lag bei mehr als 300 wm Rollen- abstand. Da bei den Versuchen die Rolle auf 100 "m gestellt wurde, durfte wohl angenommen werden, dass übermaximale Reizung stattfand. Bei einigen Controlversuchen, bei denen die Zuckungscurve aufgenommen wurde, trat schon bei mehr als 150 "% Rollenabstand maximale Zuckung ein. Uebrigens wurde in solchen Fällen, wo veränderte Erregbarkeit der Reizstellen vermuthet werden konnte, im Laufe der Versuche häufig die Probe gemacht, ob Veränderung der Reizstärke einen Unterschied mache oder nicht. Die Stärke der Erregung könnte auch die Geschwindigkeit der Leitung selbst beeinflussen. Dies scheint sich aus den Ablesungen zu ergeben, die man für die Gesammtlatenz bei Reizung einer und derselben Stelle mit verschieden starken Schlägen erhält: ! Vgl. A. W. Volkmann, Die Ermüdungsverhältnisse der Muskeln. Pflüger’s Archiv 1870. Bd. III. 8.389: „Wenn ich aus allen meinen Versuchen über den Gang der Ermüdung mir ein Bild zusammensetze, so muss ich annehmen, dass die Ermüdungsverlängerungen von vornherein wachsen und nachmals wieder abnehmen.“ ÜBER DIE GESCHWINDIGKEIT DES NERVENPRINCIPS,. 83 25.1. 1900. 226 230 230 229 225 229 224 223 227 229 Bei einem anderen Präparat ergab abwechselnde Reizung einer und derselben Stelle bei Rollenabstand 300 und 100 folgende Reihe: Rollenabstand 300 < r 100,< Rs 200 < 6 100 < 3; 200 < 370 370 380 377 360 349 377 365 Mittel: 372 365 Sicherer lässt sich die Veränderung der Leitungszeit aus den Differenzen der Gesammtlatenz bei Reizung an mehreren Stellen beurtheilen. Zum Beispiel ergab das erste Präparat: Rollen- Reizstelle k R abstand 1 IL. Differenz Mittel zu 1 a Ne 212 227 15 10 213 - 224 11 IE 210 7925 15 10 210 326 16 I 215 228 13 20 215 230 15 15 Ein zweites Beispiel ist: Rollen- Reizstelle ; j abstand L. IL. Differenz Mittel 10 212 228 16 15-5 215 230 15 00 218 231 13 en 219 234 15 10 219 231 12 13 217 231 14 20 220 237 17 16 222 31 | 15 6* 84 R. pu Boıs-ReyMmonp: Zieht man in Betracht, dass die Reizstärke nicht in linesrem, sondern in quadratischem umgekehrten -Verhältniss zum Rollenabstand steht, so ist klar, dass die in diesen Versuchen gefundenen Unterschiede der Leitungs- zeiten weit über solche Unterschiede hinausgehen müssen, die durch zu- fällige Schwankungen der Erregbarkeit bedingt sein könnten. Bei Anwen- dung maximaler Reize darf also diese Fehlerquelle vernachlässigt werden.! Es ist aber noch ein Umstand in Betracht zu ziehen, durch den sich der Einfluss der Reizstärke auf die Leitungszeit überhaupt als nur scheinbar erklären lässt. Indem nämlich von den Elektroden aus Stromschleifen den Nervenstamm durchsetzen, verbreitet sich die Erregung im Momente des Stromschlusses schon eine Strecke weit unterhalb der eigentlichen Reizstelle. Vergleicht man die Leitungszeiten zweier Nervenstrecken, so sind diese Nervenstrecken in Wirklichkeit nicht von den: Elektroden selbst aus zu rechnen, sondern von dem Punkte aus, wo die letzten wirksamen Strom- schleifen verlaufen. Da dieser Punkt bei sonst gleichen Bedingungen für alle Reizstellen gleich weit unterhalb der betreffenden Elektroden gelegen sein wird, so macht es für die Vergleichung der Leitungszeiten im All- gemeinen keinen Unterschied, ob man die Strecken von den Elektroden- paaren selbst oder von den, gleich weit unterhalb jedes Elektrodenpaares gelegenen Punkten aus rechnet. Liegt aber die untere Elektrode so nahe am Muskel, dass die Stromschleifen bis an den Muskel herangehen, so wird offenbar bei weiterer Verstärkung des Stromes eine weitere Ausbreitung der Stromschleifen an dieser Stelle ohne Einfluss sein, während für jede weiter centralwärts gelegene Reizstelle die Verstärkung des Reizes, die weitere Ausbreitung der Stromschleifen verursacht, einer Verschiebung des Reiz- punktes nach der Peripherie gleichkommt. Dann wird also bei starken Reizschlägen die Leitungsstrecke thatsächlich kürzer sein als bei schwachen, so dass die Leitung selbstverständlich. kürzere Zeit erfordern würde. er Beim Vergleich der Leitungszeiten in verschiedenen Strecken des Nerven bei verschiedener Reizstärke würde sich dann ein Unterschied nur in der untersten Strecke erkennen lassen. Dies lässt sich in einzelnen Fällen nachweisen, wie beispielsweise: 25.1. 1900. Reizstelle I I a nn In Rollenabstand 20: 216 DA 932 243 S 10: 217 220 297 328 In anderen Fällen kann bei verschiedenen Erregbarkeitszuständen der einzelnen Reizstellen wegen der Ausbreitung der Stromschleifen die Länge " Schon Rosenthal, Ueber ein neues Myographion u. s. w. Dies Archiv. 1883. Physiol. Abthlg. Suppl. S. 275, giebt an, dass bei Zunahme der Reizstärke über einen gewissen Punkt hinaus keine weitere Abnahme der Leitungszeit stattfindet. ÜBER DIE GESCHWINDIGKEIT DES NERVENPRINCIPS. 85 der eigentlichen Leitungsstrecken von der Reizstärke in solchem Grade abhängig sein, dass beträchtliche Fehler entstehen. Im Laufe der Versuche wurde daher mehrfach in verdächtigen Fällen durch Abschneiden des Nerven und Zusammenlegen der Stümpfe die Probe auf Stromschleifen gemacht. Bei dem gewöhnlichen Rollenabstande von 100"" war in der Regel keine Erregung unterhalb der Schnittstelle zu finden, doch zeigte sich, dass bei Rollenabstand von 50" die Reizung mitunter noch 5 bis 7 "m unterhalb der Elektroden wirksam war. VI. A. Der Einfluss der Temperatur auf die Leitungsgeschwindigkeit kommt, wie schon oben angegeben, als Fehlerquelle nicht in Betracht (vel. S. 75). B. 1. Bekanntlich wird die Erregbarkeit des Nerven durch Verletzungen, wie schon durch das Abschneiden der Aeste bei der Präparation, beeinflusst. Aber auf die Leitung haben diese Umstände keinen Einfluss. Achtet man bei einer grösseren Zahl von Versuchen darauf, wie die Stümpfe der abgeschnit- tenen Aeste zu den Elektroden liegen, so ergiebt sich durchaus kein Anhalt, irgend einen Zusammenhang zwischen der Lage der verletzten Stellen und den Leitungszeiten anzunehmen. Geht man mit den Elektroden der Länge des Nerven entlang, und prüft an beliebigen Stellen die Leitungszeit, so findet man keinen Unterschied an den Stellen, wo Aeste abgeschnitten worden sind. Dagegen ist eine Verlängerung der Gesammtlatenz zu bemerken, wenn der leitende Stamm selbst beschädigt ist: beispielsweise wenn der Nerven- stamm eingeschnitten, oder im Gebiete des Plexus ein Strang durchtrennt ist. Dies lässt sich aber dadurch erklären, dass die Intensität der Erregung des Muskels durch die Verminderung der Zahl der Leitungsbahnen herab- gesetzt ist. Denn es lässt sich zeigen, dass die Verletzung des Nerven- Stammes an sich, durch Anlegung eines Schnittes oberhalb der Reizstelle, die Leitungsgeschwindigkeit nicht beeinflusst. Erstens ist in dieser Beziehung zu bemerken, dass es keinen erkenn- baren Unterschied macht, ob man ein gewöhnliches Nervmuskelpräparat verwendet, oder ob das Rückenmark in ungestörter Verbindung mit dem Nerven gelassen ist. In dieser Beziehung habe ich allerdings nur wenige Controlversuche gemacht, die sich aber von den anderen Versuchen nicht ‚unterschieden. Für gewöhnlich wurde beim Tödten des Frosches das Rücken- mark ausgebohrt und die Wirbelsäule gespalten, um von jeder Körperhälfte ein Präparat zu erhalten. Zweitens aber (und hierin ist zugleich eine Bestätigung des eben Ge- sagten enthalten) lässt sich zeigen, dass die Fortpflanzungsgeschwindigkeit von der Aenderung der Erregbarkeit unabhängig ist, da sie unverändert bleibt, während die Erregbarkeit sich ändert. 86 R. pu Boıs-Reymonxp: Legt man dicht oberhalb einer der Reizstellen einen frischen Querschnitt an, so erhält man bekanntlich eine Steigerung der Erregbarkeit. Die Ge- sammtlatenz für die betreffende’ Reizstelle bleibt aber unverändert. Dies mag durch eine Reihe von Versuchen bestätigt werden. I. 20.1. 1899. (Vorher zwei Doppelreihen.) Reizstelle I. II. III. IV. 213 220 230 254 209. 218 235 262 Nun oberhalb III durchschnitten. 212 222 231 212 222 238 215 223 239 Nun oberhalb II durehschnitten. 220 228 222 231 II. 20.11. 1899. (Vorher eine Doppelreihe.) Reizstelle I. LI. II. EVA 230 240 255 260 235 248 259 258 Nun oberhalb III. durchschnitten. 239 257 230 242 253 256 Nun oberhalb II durchschnitten. 232- 240 233 246 - 245 II. 21. 111.1899. (Vorher Versuche mit Durchströmung.) Reizstelle IV: 250, 248, 248. Darauf oberhalb frischer Querschnitt: 248. Bei Reizung mit Elektrode III: 240, 240, 240, IV: 248. Darauf Schnitt oberhalb II: 240, 240. A ; Es sollte nun auch festgestellt werden, dass die Erregbarkeit erhöht worden war. Dies geschieht für: Reizstelle II und Reizstelle I Reizschwelle bei Rollenabstand 330 um 246 250 247 251 248 252 Reizschwelle bei Rollenabstand 340 "m Nun Sehnitt oberhalb II. Nun Schnitt oberhalb 1. Reizschwelle nach dem Schnitt bei Reizschwelle bei Rollenabstand 360" Rollenabstand 400 um 260 255 2260 259 262 263 ÜBER DIE GESCHWINDIGKEIT DES NERVENPRINCIPS. 87 IV. 23.111. 1899. (Vorher Versuche mit Durchströmung.) Reizstelle I. IM. III. IV. 272 283 287 303 = — — 301 — = 292 Hier Schnitt — = Reizschwelle 365 " 305 — 300 Hier Schnitt 304 — 302 295 298 Reizschwelle 335 un 290 298 Hier Schnitt Reizschwelle 390 mm Reizschwelle 330 um 304 Hier Schnitt 304 303 Reizschwelle 350 u 305 Reizschwelle 370 "m V. 11.I1I. 1899. Vorher sehr unregelmässige Ergebnisse (nachweisbare Eigenströme im Nerven). Allmählich wurden die Leitungszeiten regelmässiger. Reizgrenze für III und IV 365 "m, - 238 242 255 262 — 219 ne iD Sehnitt oberhalb IV. 270 267 266 271 267 281* Reizgrenze für IV bei 350"", aber der Nerv hatte sich (wie sich auch in dem mit * bezeichneten Werth ausspricht) verschoben und die Schnittstelle lag unmittelbar auf den Elektroden IV. Schnitt oberhalb III. 255 268 275 283 284 Reizschwelle bei 375 "m, Reizschwelle für II bei 310 "", 259 269 275 273 : SR R — 5 Hier Schnitt direet oberhalb H. 265 as Reizgrenze nach dem Schnitt 330%", VI. 12.111. 1900. (Vorher zwei Doppelreihen, dann:) 268 281 298 304 273 281 300 304 303 303 1 7 1 mm 274 Kozeinsclle für IV bei 350" 302 her Schnitt oberh. IV: 276 Reizschw. f. III bei 415 "m 298 305 Reizschw. für II. 298 309 Reizschwelle bei 405 &". 275 bei355 mm 988 302 Hier Schnitt oberhalb III. 2753 288 302 Reizschwelle bei 435 "". 277 287 Hier Schnitt oberhalb II. rt 287 Reizschwelle bei 370 "m, 88 BR. pu Boıs-REymonD: In fast allen Fällen ist trotz deutlicher Erhöhung der Erregbarkeit die Leitungszeit unverändert. Die Gesammtlatenz verändert sich im Laufe der Versuchsreihe, ohne dass die Aenderung der Erregbarkeit einen Unter- schied macht. 2. Es fragt sich nun, welchen Einfluss etwa im Nerven vorhandene Eigenströme auf die Messung ausüben. Zunächst liess sich leicht feststellen, dass gewöhnlich das Präparat Eigenströme zeigte. Je zwei Elektroden eines Paares gaben z. B. bei einem Versuche folgende constante Ausschläge (bei unreducirtem Strom): 10. III. 1899. Reizstelle I. 11. IH. IV. 60 0 4 0 Die Strecken zwischen den Elektroden verhielten sich wie folgt: Reizstelle I—II. IHI—I1l. III—IV. 71 +1 —2 Zwischen I und IV bestand eine Spannung, die den Ausschlag 62 gab. Offenbar wird bei einem solchen Zustande des Präparates die Erreg- barkeit der verschiedenen Stellen merkliche Verschiedenheiten aufweisen. Dies gilt aber, wie aus dem Vorhergehenden ersichtlich ist, nicht noth- wendiger Weise auch für die Leitungsgeschwindigkeit. Im Gegentheil müsste ein Einfluss der elektrischen Ströme im Nerven, oder desjenigen Zustandes, der elektrische Ströme hervorruft, auf die Leitungsgeschwindigkeit erst nach- gewiesen werden. Längere Reihen von Versuchen über die Wirkung äusserer Ströme auf die Leitungsgeschwindigkeit führten indessen nicht zu bestimmten Ergebnissen. Der Strom wurde in der Regel durch je eine Elektrode an den Reizstellen I und IV zugeführt, und die Differenz der Latenzen bei Reizung in II und III sowohl im stromlosen Zustand wie .bei auf- und absteigender Durchströmung untersucht. Hierbei könnte das Ergebniss dadurch verdurkelt worden sein, däss der Indifferenzpunkt der intrapolaren Strecke zwischen die beiden mittleren Elektroden fiel.- Aber auch wenn die intrapolare Strecke in zwei Abschnitten auf ihre Leitungszeit untersucht wurde, zeigte sich kein Einfluss der Durchströmung. Bei den Schwankungen, denen die gemessenen Werthe auch ohne besonders hinzugefügte Complica- tionen der Versuchsbedingungen unterliegen, ist es jedenfalls sehr schwierig, zu regelmässigen Befunden zu gelangen, zumal da die viel deutlichere Wirkung des polarisirenden Stromes auf die Erregbarkeit ausgeschlossen werden muss.! Da die bei den vergeblichen Versuchen angewendeten ! Es sei hier ein Umstand erwähnt, der darauf hindeutet, dass Ströme in Nerven doch einen gewissen Einfluss auf den Versuch haben können. Während einiger Tage wurden für eine der Leitungsstrecken stets sehr kleine, nicht selten sogar negative ÜBER DIE GESCHWINDIGKEIT DES NERVENPRINCIPS. 89 elektromotorischen Kräfte (1 bis 2 Daniell’sche oder 4 Grove’sche Ele- mente) erheblich stärker waren, als die unter gewöhnlichen Umständen im Präparat entstehenden, und sich bei den Versuchen keine deutliche Wirkung erkennen liess, darf man annehmen, dass die durch Verletzungen oder Polarisation bedingten Eigenströme des Präparates die Messung der Leitungs- zeit nicht stören können. Um den Einfluss etwaiger Eigenströme und zugleich den der Strom- schleifen von der Reizstelle aus auszuschliessen, wurden einige Versuche in der Weise angeordnet, dass der Nerv der ganzen Länge nach auf Queck- silber gebettet war, und der Reizschlag von einem einzelnen Drahte aus dem Quecksilber zugeleitet wurde. Doch zeigten sich nicht weniger Un- regelmässigkeiten als bei dem gewöhnlichen Verfahren. Ferner sei hier erwähnt, dass auch versucht wurde, ob durch das in England gebräuchliche Verfahren, nämlich stunden- oder tagelanges Ein- legen in Kochsalzlösung, ein gleichmässigerer Zustand des Präparates zu erzielen wäre. Präparate, die 24 Stunden lang in Kochsalzlösung auf- bewahrt waren, unterschieden sich von frischen nur durch eine absolut grössere Dauer der Latenzzeiten. 8 Versuche mit Kochsalzpräparaten: Reizstelle 1. 1. Il. IV. 20.1.1899. 295 308 s1l 322 Mittel aus je 5 Ablesungen ® 306 319 324 343 desgl. | 22121899. 305 318 328 347 desgl. 21.1.1899... 131 140 148 152 Mittel aus je 6 Ablesungen bei stärkerem Mess-Strom. Y 178 150 186 201 Mittel aus je 4 Ablesungen bei stärkerem Strom. 26. 1.1899. 327 337 348 368 Mittel aus je 5 Ablesungen. 210151899. 7278 290 294 312 Mittel aus je 7 Ablesungen. Re 277 291 294 319 Mittel aus je 8 Ablesungen. Mittl. Differenzen: 10 6 15 Sealentheile. 3. Endlich ist der Einfluss der Spannung des Nerven auf die Leitungs- zeit zu untersuchen. Für die Erregbarkeit hat, wie oben erwähnt, P. Weiss nachgewiesen, dlass sie durch Spannung herabgesetzt wird. Die Versuche von P. Weiss waren auf folgende Weise angestellt: Es wurde der Rollenabstand bestimmt, bei dem das Nervmuskelpräparat eine deutlich erkennbare Zuckung gab. Wurde der senkrecht herabhängende Zeitwerthe gefunden. Nachträglich fand sich, dass die Zuleitungsdrähte an die oberen Elektroden dieser Strecke aus Versehen gekreuzt angeschlossen worden waren, so dass der Reizschlag an dieser Stelle aufsteigende Richtung gehabt hatte. 90 R. vu Boıs-Reymonp: Nerv durch Anhängen eines Gewichtes von 0-87 3% gespannt, so blieb bei der gleichen Reizung die Zuckung aus, trat aber wieder auf, sobald die Last entfernt wurde. Dies Ergebniss liess sich trotz mehrfacher abweichender Versuche be- stätigen, doch sind die Aenderungen der Erregbarkeit nur klein. Bei der- selben Versuchsanordnung, wie sie P. Weiss angiebt, wurde gefunden: 31.V. 1899. Reizung durch Oeffnungsschlag. Unbelastet Belastet mit 2-5 am Reizschwelle bei 275 265 vn Rollenabstand 270 260 265 I 253 257 260 22:93 30. V.1899. Bei dauerndem faradischen Strom und allmählich ge- näherter Rolle tritt Zusammenziehung ein: * Umbelastet Belastet Bei Rollenabstand 102 IM 100 97° 100 95 95 95 27.V.1899. Ebenso: 297 295 » 301 298 303 299 300 300 Eine besonders elegante Form des Versuches ist die, dass man bei passendem Rollenabstand und dauernder Faradisation das Gewicht abwech- selnd unterstützt und frei lässt. Sobald das Gewicht frei am Nerven hängt, erschlafft der Muskel, um wieder in Tetanus zu gerathen, sobald das Gewicht angehoben wird. | i Man könnte annehmen, dass dieser Einfluss der Nervendehnung auf Veränderungen des Widerstandes beruhte, den der Reizstrom im Nerven- stamm findet. Prüft man aber den Widerstand des belasteten und un- belasteten Nerven, so ist kein merklicher Unterschied zu finden. Bei 1 Daniell und durch den Vorschaltnebenschluss auf ?/,.. gebrachtem Strom war die constante Ablenkung bei Einschaltung des Nerven: Unbelastet Belastet 55 52 52 50 Der gefundene Unterschied würde also dem Sinne der vorherstehenden Ergebnisse entgegengesetzt sein, der Widerstand kann daher für den Vor- gang keine Bedeutung haben. ÜBER DIE GESCHWINDIGKEIT DES NERVENPRINCIPS. 91 Es bleibt nun zu untersuchen, ob zugleich mit der Erregbarkeit die Leitungsgeschwindigkeit vom Spannungszustand des Nerven abhängig ist. Hierzu wurde der Nerv an zwei Stellen, I und II, gereizt und abwechselnd mittels eines Fadens stark angespannt oder schlaff gelassen, wobei darauf geachtet wurde, die Elektroden so genau wie möglich an derselben Stelle des Nerven anzulegen. In allen den Fällen, in denen der Contact zwischen Nerv und Elektroden nicht merklich, verändert worden war, ergab sich bei gespanntem und bei schlaffem Nerv die gleiche Leitungszeit. VII. Inwiefern man berechtigt ist, bei gleichem Abstande der Elek- trodenpaare gleiche Länge der Leitungsbahnen für die einzelnen Nerven- strecken anzunehmen, lässt sich durch den Versuch bestimmen. Wenn man mit einem einzigen Elektrodenpaar, das man längs des Nerven ver- schiebt, die Leitungszeiten für die gleiche Strecke mehrmals bestimmt, so muss, wenn die Länge der Leitungsbahn der Verschiebung der Elektroden entspricht, auch die gleiche Leitungszeit gefunden werden. 22.1. 1899. A. 1. Ein Elektrodenpaar. Strecken von je 20%" vom Muskel aufwärts geben im Mittel von 2 Ablesungen 14, 13, 9 Scalentheile Leitungszeit. Vom centralen Ende abwärts ebenso 16, 4, 22 Scalentheile. 2. Strecken von je 15" oberhalb und unterhalb der Mitte des Nerven geben im Mittel aus je 2 Ablesungen 6 und 8 Scalentheile. 3. Ebenso 5"" weiter unterhalb 9 und 8 Scalentheile. 4. Wie unter 2.: 11 und 5 Scalentheile. 5. Strecken von je 15” am oberen und am unteren Ende des Nerven: 5 und 7 Scalentheile. 6. Wie unter 2.: 6 und 3 Scalentheile. 7. Wie unter 2.: 5 und 9-5 Scalentheile. B. 1. Strecken von je 20" vom Muskel aufwärts ergeben im Mittel von 4 Ablesungen: 10, 16 und 7 Scalentheile. 2. Strecken von je 15"® oberhalb und unterhalb der Mitte des Nerven geben bei wiederholter Messung (Mittel aus 2 Ablesungen): 8 und 10 Scalentheile. 11:5, IDEE 10 „ 4 » 3. Strecken von je 15"M am oberen und unteren Ende des Nerven geben bei wiederholter Messung (Mittel aus 2 Ablesungen): 7°5 und 2 Scalen- theile. 4. Wie unter 1.: 10, 10 und 10 Scalentheile. 5. Wie unter 3.: 8 und 7 Scalentheile. 6. Wie unter 2.: 5 und 5 Scalentheile. In den meisten dieser Angaben sind die Abweichungen nicht grösser, als bei der gewöhnlichen Anordnung mit feststehenden Elektroden. Die Schätzung der Nervenstrecken ist also hinreichend genau, um die Ver- gleichung zu rechtfertigen. 92 R. pu Boıs-Reymonp: -V. Die Versuche. Aus den Vorversuchen, in deren Verlauf die oben erörterten Fehler der Anordnung an’s Licht kamen, lässt sich durch Auswahl der am besten stimmenden Beobachtungen eine Tabelle von 20 Doppelreihen von Messungen an verschiedenen Präparaten zusammenstellen. Die Zahlen des ersten Stabes sind die Ausschläge der Bussole bei Reizung nahe am Muskel, die des. zweiten, dritten und vierten die Ausschläge bei Reizung in möglichst gleichem Abstand mehr centralwärts gelegener Stellen. Die Reihenfolge, in der die Messungen gemacht worden sind, war bald von links, bald von rechts oben anfangend, der Zeile nach, und dann in umgekehrter Richtung die nächste Zeile hindurch zurück. Doch wurde mitunter die Reihenfolge beliebig ge- wechselt. Die Differenz zwischen je zwei Nachbarzahblen derselben Zeile drückt also die Leitungszeit einer Nervenstrecke in Scalentheilen aus. Da es sich nur um den Vergleich der Leitungszeiten in verschiedenen Strecken des Nerven handelt, hat es keinen Zweck, die Ausschlagsgrössen in Zeit- maass umzurechnen, sondern es dient A Vereleichseinheit die Zeit, die durch einen nal Ausschlag gemessen wird. Die absoluten Unterschiede zwischen den Zahlen der verschiedenen Versuche erklären sich zum Theil aus Verschiedenheiten der Versuchs- bedingungen, wie Einstellung der Bussole, Belastung und Spannung des Muskels. Daher sind die verschiedenen Zahlenreihen unter einander nicht wohl vergleichbar, dagegen sind die Zahlen einer und derselben Doppelreihe auf einander zu beziehen. Daher ergiebt jede Doppelreihe das Verhältniss der Leitungszeiten der drei untersuchten Nervenstrecken. Die Differenzen der Durchschnittszahlen aus der ganzen Tafel geben die durchsehnittlichen Leitungszeiten und deren durchschnittliches Verhältniss an. - Die grossen Abweichungen im Verhältniss der Differenzen in den ver- schiedenen Versuchen dürfen bei der Unsicherheit der Bestimmung nicht über- raschen. Es ist im Gegentheil hervorzuheben, dass genau übereinstimmende Zahlen überhaupt nicht zu erwarten waren. Denn wegen der vielen Fehler- quellen wird man die richtige Leitungszeit für eine gegebene Strecke nur als Durchschnitt einer grösseren Zahl von Bestimmungen erhalten können. Da es aber unmöglich ist, die Nervenstrecken genau zu messen, wird man wiederum das richtige Verhältniss zweier Leitungszeiten nur als Durch- schnitt einer grösseren Zahl von Versuchen gewinnen können. Sind hierzu n Versuche, und damit der Fehler in der Zeitbestimmung sich ausgleiche, m Versuche erforderlich, so wird es zur Erreichung einer zuverlässigen Durchschnittsreihe z.m Versuche bedürfen. ÜBER DIE GESCHWINDIGKEIT DES NERVENPRINCIPS. 95 Tabelle über die Vorversuche. m oe, | sone | In u | | 285 280 295 325 So | a te | ie 125 | 123 | 140 | 145 em A 165 155 ' 185 || 155 157 155 | 197 10wer 21217251 |.2502 | 26717290 282 | 299 281 336 248 278 273 292 Vo AR 0155, 101652, 151 178 | 172 | ı85 | 198 27T. » » 280 | 289 313 | 313 273 | 272 | 295 299 gm 175 182 195 | 201 19. VII. 1898 | 360 | 385 | 405 | 435 7.IX. 1898 | 265 272 295 | 330 177 186 198 198 10.VIll. „ 257 311 288 I NE. 187 202 210 | 230 267 301 306 329 | 183 203 214 | 235 10 2. » 343 381 399 423 | 2er, 131 139 149 152 360 390 410 385 134 143 147 | 154 1 » 310 320 354 3839,., 24... 286 294 301 315 294 320 355 380 278 284 313 | 313 ID 345 390 | 420 | 500 6.11 318 332 335 | 348 349 389 | 440 , 530 317 331 431 359 Mittelzahl: | 254-6 270.8 284-0 309-8 Mittlere Differenz: 16:2 13:2 25+»8 Rund: 16 13 26 Nach den in der vorstehenden Tabelle enthaltenen Messungen würden die Leitungszeiten für drei auf einander folgende gleiche Strecken des Nerven rund 26, 13 und 16 Zeiteinheiten betragen. Es ist klar, dass diese Zahlen keinen gesetzmässigen Verlauf der Leitungsgeschwindigkeit ‚erkennen lassen. Es wurde nun mit allen den Vorsichtsmaassregeln, die oben angegeben worden sind, eine Reihe von Versuchen angestellt, um womöglich zuver- lässigere Zahlen zu erhalten. Aus den Beobachtungen an 20 bis 30 ver- schiedenen Präparaten, die schätzungsweise 80 bis 100 Doppelreihen um- fassten, an denen allerhand Unregelmässigkeiten zu bemerken waren, wurden die 10 Paar Reihen ausgesucht, die im Tabelle I zusammengestellt sind. 94 R. pu Boıs-Reymoxp: Tabelle 1. 10 ausgewählte Beobachtungsreihen. I. 1. IDDE IV. 19. I. 1899 177 186 197 203 177 187 195 204 DOSN ER 211 219 226 236 209 223 229 239 AO: "200 207 212 228 196 205 216 226 21.2, 201 213 217 226 204 210 218 228 lo 195 202 210 223 197 202 209 223 Dar 214 222 - 241 261 218 220 237 259 232 > 208 218 225 239 207 218 223 236 ZA: 210 225 237 242 210 224 237 238 DA ss 212 237 253 238 211 238 252 258 » Zora; 202 208 222 228 204 214 225 228 Mittel: 203-15 213-9 224-0 234-15 Mittlere Differenz: 10-75 10-15 10-15 Darnach ergiebt sich als durchschnittliche Leitungszeit für drei gleiche, auf einander folgende Strecken 10-15, 10-15, 10-75. Diese Zahlen lassen, wenn man sie nicht als rein zufällig übereinstimmend betrachten will, darauf schliessen, dass die Erregung mit gleichförmiger Geschwindigkeit fortschreitet. Es ist nun zu überlegen, in wie weit diese Zahlen als Ausdruck eines Gesetzes anzusehen sind. Ganz allgemein ist die Uebereinstimmung mehrerer Grössen stets mit grösserer Wahrscheinlichkeit durch eine gleiche innere Ursache, als durch blosse äussere Zufälle zu erklären. Nicht selten freilich wird so grosses Gewicht auf ‚Exactheit der Methoden gelegt, dass That- sachen, die durch minder vollkommene Methoden festgestellt sind, von vornherein angezweifelt werden. Dem gegenüber sei nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die Gewissheit, mjt der aus Versuchsergebnissen auf irgend eine Thatsache geschlossen werden kann, in viel höherem Grade von der Art der Fragestellung abhängt, als von der Genauigkeit der Beobachtungen. So hat beispielsweise ein einziges positives Versuchsergebniss in der Regel viel mehr Gewicht, als noch so viele, mit der grössten Schärfe festgestellte negative Ergebnisse. Denn der erwartete Versuchserfolg kann durch jeden beliebigen Versuchsfehler, der den vorausgesetzten Zusammenhang der zu 1 | ÜBER DIE GESCHWINDIGKEIT DES NERVENPRINCIPS. 9 beobachtenden Vorgänge stört, vollständig aufgehoben werden. Es ist aber schon viel unwahrscheinlicher, dass irgend ein Versuchsfehler gerade eine solche Wirkung hervorbringt, die für ein positives Versuchsergebniss ge- halten werden kann. Ganz Aehnliches gilt in dem vorliegenden Falle von der Uebereinstimmung oder der Regellosigkeit der erhaltenen Differenzen- reihen. Findet man eine Uebereinstimmung in so viel Fällen, dass sie nicht geradezu eine seltene Ausnahme bildet, so ist eine gemeinsame Ursache anzunehmen, gleichviel wie genau oder ungenau die Methode. Denn es ist äusserst unwahrscheinlich, dass sich die Fehler der Methode gerade in der Form summiren sollten, dass sie eine thatsächlich vorhandene Verschiedenheit der gemessenen Grössen ausgleichen könnten. Dies könnte allenfalls dadurch geschehen, dass aus einer sehr grossen Zahl von Fällen gerade solche absichtlich zusammengesucht würden, die sich in geeigneter Weise ergänzten. So ist aber bei der vorstehenden Aus- wahl nicht verfahren worden, sondern es wurde nur darauf gesehen, von den Beobachtungsreihen für jedes Präparat diejenigen auszusuchen, in der die zusammengehörigen (unter einander stehenden) Zahlen alle möglichst gut übereinstimmten. Man kann übrigens auch die Probe machen, ob die Summirung sämmtlicher Beobachtungen ohne Auswahl das Ergebniss be- einflusst. Die nachfolgende Berechnung zeigt, dass auf diese Weise die Differenzenreihe nicht wesentlich anders ausfallen würde: Auf der linken Seite stehen die einzelnen Differenzen aus der Tabelle I, auf der rechten Seite die Differenzen, die sich aus dem Durchschnitt sämmtlicher Beob- achtungen an diesen Präparaten, ohne Auswahl, ergeben. - Ausgewählte Reihen | Gesammt-Durchschnitt 10 10 8 8 ee 5 11 7 10 9 | 4 12 8 7 13 12 2 10 9 6 9 6] 8 8 6 7 13 ob 3) DR N 19 5 18 21 6 11 14 10 6 13 128] 4 14 14 18 3 See, 8 26 5 6 sy ST 4 8 13 4 Ba er 6 Summe: 107 102 1000 :ei00 m 98 Die Uebersicht über diese Zahlenreihe genügt zum Beweise, dass durch die Auswahl bestimmter Reihen das Gesammtergebniss nicht geändert, sondern nur deutlicher gemacht worden ist. Dies bestätigt sich durch die Betrachtung der folgenden Tabellen, die aus der Gesammtheit der angestellten Versuche ausgezogen sind. 96 R. pu Boıs-Reymonp: Tabelle II. Tabelle III. 1. m me | Pan 28. II. 1899 | 235 | 247 | 278 | 263 9. II. 1899 .||.225 | 237 | 250 | 253 236 | 255 | 277 | 263 | 228 | 240 | 248 | 253 Sol, 179 | 186 | 195 | 198 INN Ds 286 | 300 | 311 | 314 181 | 185 | 197 | 200 I 287 | 298 | 310 | 312 Sea 202 | 208 | 220 | 223 10237 75, 195 | 203 | 208 | 214 200 | 204 | 222 | 225 | 198 | 199 | 212 | 217 Sol 204 | 214 | 223 | 284 a 256 | 263 | 268 | 279 210 | 215 | 285 | 231 255 | 262 | 268 | 25 Va 257 | 270 | 281 | 288 19:0, = 234 | 238 | 245 | 257 258 | 264 | 280 | 287 232 | 243 | 245 | 251 a 215 | 227 | 240 | 252 1622; le, 220 | 230 | 228 | 241 216 | 227 | 247 | 248 221 | 228 | 229 | 242 Ian 238 | 247 | 255 | 262 1er, 203 | 215. | 219 | 224 234 | 245 | 258 | 265 .| 202 | 212 | 216 | 225 IH. } 180 189 3. 198.004 Don. 198 | 209 | 225 | 236 179 | 191 196 | 204 202 | 208 | 222. | 241 DER 289, 2950 09 ale er: 270 | 293 | 299 | 313 289 | 300 | 310 | 317 270 | 292 | 295 | 315 DAN, 27711292 | 8052 ,3100. 0.24%, ©, 02195..095 R2062 2010 3717 | 297 | 304 | 310 195 | 198 | 205 | 209 Summe: |4556 |4758 |5020 |5102 Summe: |5115 |5248 |5408 5596 Mittel: |\227-8 | 237-9 | 251-0 | 255-1 Mittel: |255-75| 262-4 |270-15.279-80 Differenz: 10:1 13:1 41 Differenz: 6-65 7-75 9-65 Tabelle IV. Tabelle V. 1% IS Pan Eye AIROE namen? 14. II. 1899 || 218 | 225 | 227 38 10. VI.1899 || 253 | 257.| 266 | 271 216 | 224 | 223° | 236 252 | 261 | 268 | 276 a 207 | 218 | 218 | 230 14.06 185 | 195 | 201 | 211 208 | 217 | 222 | 230 188 | 198 | 205 | 212 10.IH. „ Dr | 289 1 2507 | 3a eo, > 188 | .195 | 201 | 209 275 | 292 | 303 | 321 190 | 198° | 201 | 210 22.1. 210 | 293 1 299 | @318 162, .» 196 | 210 | 218 | 235 : 370 | 292 | 295 | 315 198 | 208 | 218 | 235 Da 224 | 236 | 249 | 256 12.XIL. „ 228: | 2388 | 248 | 255 224 | 232 | 218 | 255 | 237 | .286 | 245 | 258 13° > 198 | 210 | 216 | 218 18002, 285 | 295 | 308 | 310 200 | 208 | 211 | 222 | 282 | 292 | 305 | 315 U 221 | 228 | 231 | 247 ° 26. I. 1900 :| 217 | 228 | 235 | 244 215 | 229 | 228 | 242 || 216 | 224 | 232 | 243 SVEN 182 | 186 | 217 | 237 25.VIL1899 | 212 215 | 224 | 2928 180 | 188 | 218 | 239 212 | 219 | 227 | 232 Bee 1729 177. ls 100, oe 155 | 168 | 166 | 172 ira 175, | 183.185 155, 7.1522) 1622 170 ON 180 | 185 | 188 | 208 15.XII. „ 185 | 194 | 200 | 208 i77 7180| 1er | 198 :|| 190 | 192 | 200 | 210 Summe: ||4280 | 4484 |4645 | 4889 Summe: |\4214 |4375 |4531 | 4679 Mittel: 214-0 | 224-2 |232-25|244-45 Mittel: 210-7 | 218-7 | 226-5 | 233-9 Differenz: 10:2 8:0 12-2 Differenz; s.0 8-3 7-4 ÜBER DIE GESCHWINDIGKEIT DES NERVENPRINCIPS. 97 Tabelle VI. - Tabelle VI. | SP] Tann 98. I. 1899 || 273 | 282 | 290 | 293 29.Iv.ı899 | 198 | 215 | 225 | 239 270 | 280 | 291 | 292 210 | 210 | 227 | 237 SS. ‚,,, 259 | 265 | 265 | 273 Gun 195 | 210 | 223 | 245 260 | 268 | 270 | 281 209 | 225 | 235 | 242 a 195 | 206 | 220 | 2233 16.VI „ 230238 | 241 | 270 198 | 203 | 219 | 220 232 | 238 | 245 | 282 oh IV. ‚, 245 | 252 | 265 | 268 15.XIL „ 223 | 229 | 233 | 246 245 | 252 | 267 | 270 218 | 226 | 237 | 243 DOSI]. ,, 294 | 232 | 25 | 2586 15... , 238 | 245 | 249 | 260 224 | 234 | 249 | 256 240 | 250 | 253 | 261 12.III.1900 || 266 | 280 | 286 | 296 16, „ 232 | 242 | 249 | 260 268 | 278 | 285 | 296 235 | 2418 | 258 | 263 IS, 2681278. | 282 1.295 19. u, 245 | 260 | 262 | 25 263 | 276 | 287 | 297 240 | 252 | 265 | 277 16.XII.1899 || 245 | 250 | 260 | 268 25.1 1900 | 152 | 170 | 171 | 185 244 | 254 | 259 | 270 160 | 171 | 175 | 180 Role ,; 215 | 228 | 234 | 25 12.IM. „ 266 | 280 | 286 | 296 217 | 230 | 233 | 247 268 | ars | 285 | 296 29.1V. 1900 | 220 | 234 | 217 | 22 13. 263 | 276 | 287 | 297 224 | 238 | 250 | 262 269 | 279 | 289 | 298 Summe: |4823 | 5022 5204 15370 Summe: |4523 |4722 4895 5152 Mittel: 241-1 |251-1 | 260-2 | 268-5 Mittel: |226-15| 236-1 | 244-7 | 257-6 Differenz: 10:0 9:1 8:3 Differenz: 10:0 7:6 12°9 Die Mittelzahlen aus sämmtlichen Tabellen, also die gesammten Beob- achtungen zusammengefasst, gleichen sich unter einander so aus, dass als Ge- sammtdurchschnitt eine fast vollkommen gleichmässige Zahlenreihe entsteht. Zusammenstellung der mittleren Differenzen. Tabelle I 10-7 10-1 10:1 rn II 10-1 13:1 4-1 se DIT: 6°6 7-7 9-6 We 10-2 8-2 12-2 > V 8:0 8:3 7:4 Br VI 10-0 9:1 8:3 all 10:0 7:6 12:9 Summe; 65-5 64-1 64-6 Gesammtmittel: 9.4 9.2 92% Aus dieser Zusammenstellung ist zu ersehen, dass mit der Zahl der Beobachtungen die Uebereinstimmung zunimmt. Daraus ist zu schliessen, dass die beobachteten Grössen in Wirklichkeit gleich sind, und dass die Abweichungen auf Fehlern beruhen. Es ergiebt sich also mit einer Be- stimmtheit, wie sie auf. diesem Gebiete nicht grösser gefordert werden kann, Archiv f. A. u. Ph. 1900. Physiol. Abthlg. Suppl. 7 98 R. pu Boms-REyMmonp: das Gesetz, dass sich die Erregung im Froschnervenpräparat mit gleich- förmiger Geschwindigkeit fortpflanzt. Es mag hier noch die Berechnung des absoluten Werthes der vor- stehenden Zahlenangaben Platz finden. Versuche, die nach der auf S. 78 beschriebenen Weise unter denselben Bedingungen wie die endgültigen Messungen angestellt wurden, ergaben: (14. XII. 1899.) 291 Scalentheile Ausschlag bei Stromdauer 3-5 Schwingungen 465 ” 2) ” ” 5-5 ” Summe: 756 Sealentheile entsprechen n 9.0 Schwingungen. Dauer einer Schwingung: !/ ,, Secunde. Die Summe der mittleren Leitungszeiten sämmtlicher Versuche ist 27.7 Scalentheile. Die Gesammtlänge des Nerven betrug in der Regel 60=m, Die Leitungszeit für 60 "m betrug also 27.7 Scalentheile oder 0.0025 Secunden, was eine Geschwindigkeit von 24” in der Secunde ergiebt. VI. Betrachtung des Ergebnisses. Das vorstehende Ergebniss widerspricht der Angabe früherer Unter- sucher, nach der sich das Nervenprineip mit abnehmender Geschwindigkeit fortpflanzen sollte. Bekanntlich hat H. Munk! gefunden, dass, wenn das Nervmuskel- präparat in der Mitte und am centralen Ende des Nerven gereizt wurde, die Zeitdifferenz mehr als doppelt so gross ausfiel, als wenn am. peripherischen Ende und in der Mitte gereizt wurde. Die Versuche waren mit der directen graphischen Methode gemacht. Nun ist von vornherein klar, dass, wenn man die Leitüngszeit zweier Strecken vergleicht, bei der genugsam erörterten Unsicherheit der Bestim- mung im einzelnen Falle sehr leicht die eine mehr als doppelt so gross gefunden werden kann, wie die andere, auch wenn eigentlich beide oleich sind. Dies lässt sich an vielen der oben mitgetheilten Beobachtungen be- stätigen. Denn man kann ja die Leitungszeiten für zwei Nervenstrecken aus den angegebenen Zahlen für drei Strecken mit grosser Annäherung berechnen, indem man die Leitungszeit für die mittlere Strecke nach dem Verhältniss der Leitungszeiten der Endstrecken theilt und die Theile zu diesen Zeiten zuschlägt. Auf diese Weise wird man bei manchen Zahlen- reihen der obigen Tabellen das Verhältniss 1:2 der Leitungszeiten nach- weisen können. Er ‘ H. Munk, Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. Dies Archiv. 1860. Physiol. Abthlg. 8. 798. ÜBER DIE GESCHWINDIGKEIT DES NERVENPRINCIPS. 99 Es fehlt aber viel, dass sich dieser Befund als Regel aufstellen liesse. Um zu sehen, ob dies vielleicht unter ähnlichen Bedingungen, wie sie bei der älteren Untersuchung bestanden, zuträfe, wurden an 15 Präparaten (Winter- und Sommerfrösche) Versuche gemacht, bei denen nur zwei Nerven- strecken in Betracht gezogen wurden, und bei denen, wenigstens bei der grösseren Zahl, der Nerv auf Silberelektroden gebettet war. Allerdings wiesen bei diesen Versuchen eine ganze Zahl von Beobachtungsreihen das Verhältniss 1:2 der Leitungszeiten auf, das Mittel aus allen ergab aber 11:15. Ungefähr. dasselbe Verhältniss erhält man aus den Durchschnitts- zahlen meiner Vorversuche (vgl. S. 93), wenn man nach der eben be- sprochenen Rechnungsweise die Leitungszeiten für zwei Nervenstrecken con- struirt. Denn die betreffenden Zeiten betragen in Scalentheilen 17:13:26. Theilt man die zweite Zahl, 13, nach dem Verhältniss der ersten und dritten in 5 und 8, so erhält man 22:34, also sogar 11:17. Die Durchsehnitts- zahlen grösserer Versuchsreihen beweisen aber, dass den Beobachtungen, bei denen die Zeitdifferenz der oberen Strecke überwiegt, eine ebenso grosse Zahl entgegengesetzter Fälle gegenübersteht. Uebrigens ist auch noch zwischen dem hiernach für eine gewisse Zahl von Fällen gefundenen Ver- hältniss 11:15 und dem von H. Munk angegebenen Verhältniss 1:2 ein unvereinbarer Unterschied. H. Munk hatte das Ergebniss seiner Versuche mitgetheilt, ohne daraus einen weitergehenden Schluss zu ziehen. Als J. Rosenthal später die Versuche wiederholte,' kam er zu dem gleichen Ergebniss und sprach darauf die Hypothese aus, dass sich das Nervenprineip mit abnehmender Ge- schwindigkeit fortpflanze. Es könnte scheinen, als werde, meinen Versuchen gegenüber, durch „zweier Zeugen Mund“? ein sehr grosses-Gewicht in die Waagschale ge- worfen. Dem gegenüber muss darauf hingewiesen werden, dass Rosen- thal’s Bestätigung durch seine weiteren Angaben so sehr eingeschränkt wird, dass sie fast einem Widerspruche gleiehkommt. J. Rosenthal fährt nämlich, nach der Angabe, dass sich H. Munk’s Befund bestätige, folgendermaassen fort: „Wiederholt man aber die Versuche am oben abgeschnittenen Nerven, so vermindern sich die Leitungszeiten ! J. Rosenthal, Ueber ein neues Myographion u. s. w. Dies Archiv. 1883. ‘Physiol. Abthlg. Suppl. 8. 273. ®2 In der Arbeit von Helmholtz und Baxt, Neue Versuche über die Fort- pflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den motorischen Nerven des Menschen (Monatsber. der kgl. Akad. der Wissensch. zu Berlin aus dem Jahre 1870. Berlin 1871. 8.184), die ebenfalls als eine Bestätigung der Angaben H. Munk’s genannt zu werden pflegt, ist ausdrücklich angegeben, dass die gefundenen Unterschiede der scheinbaren Leitungszeiten zu klein waren, als dass sie als sicher festgestellt hätten betrachtet werden können. Te 100 R. pu Boıs-REYmonp: fortwährend. So erhielt ich z. B. an demselben Nerven etwa 10 Minuten später die folgenden Bruttozeiten (folgt Zahlenangabe). Hier ist also die scheinbare Leitungszeit für die obere Strecke nicht mehr grösser, sondern sogar kleiner als für die untere Strecke. Das Munk’sche Phänomen hat sich umgekehrt.“ Aus dieser Stelle, wie auch aus den nachfolgenden ist: zu ersehen, dass die Versuchsergebnisse sehr ungewiss waren. Die rasche Veränderung der Erregungsleitung, von der die Rede ist und die auf Ver- änderung des Nerven in Folge der Durchschneidung bezogen wird, stehe ich nicht an, auf Rechnung des Muskels zu setzen, zumal bei dem von Rosenthal verwendeten Apparat eine Controle durch die aufgezeichneten Curven nicht stattfand. Dass sich die Leitungsgeschwindigkeit mit der Erregbarkeit ändere, ist nach den oben mitgetheilten Versuchen. jedenfalls nicht anzunehmen (vgl. S. 81). | Im Grunde genommen hat aber diese ganze Frage, ob die scheinbare Leitungszeit bei Untersuchung zweier Nervenstrecken für die obere grösser ausfällt als die untere, nur untergeordnete Bedeutung. Es handelt sich vielmehr um den Schluss, den man aus dieser Beobachtung auf das Gesetz des Verlaufes der Leitungsgeschwindigkeit ziehen kann. In dieser Hinsicht geben die genannten Autoren beide an, dass sie versucht hätten, durch Messung an drei Nervenstrecken grössere Bestimmtheit des Ergebnisses zu erlangen. In beiden Fällen erwies sich aber die graphische Methode als unzulänglich.! Dies war auch die Veranlassung für Hrn. Prof. H. Munk, mich auf die Frage nach der Geschwindigkeit des Nervenprincips hinzuweisen. Aus Versuchen an nur zwei Nervenstrecken darf nämlich überhaupt nicht ohne Weiteres auf ein allgemeines Gesetz der Fortpflanzungsgeschwindigkeit ge- schlossen werden. Denn es brauchte nur irgend ein Umstand in’s Spiel zu kommen, der die Leitungszeit der einen Strecke zu gross oder zu klein erscheinen liesse, so wird eine Verlangsamung oder Beschleunigung der Leitungsgeschwindigkeit im Allgemeinen vorgetäuscht, die in Wirklichkeit nur einem Theil der Leitungsbahn zukommt. Prüft man dagegen drei Strecken, so ist gleich zu erkennen, ob man es mit einem allgemeinen Gesetz oder mit örtlichen Einflüssen zu thun hat. Im ersten Falle müssen die den drei Strecken entsprechenden Zeitwerthe der Reihe nach grösser oder kleiner werden (oder auch einander gleich sein), im zweiten Falle wird sich der störende Einfluss auf die eine Strecke dadurch bemerkbar machen, dass zwei der Werthe unter sich ein Gesetz befolgen, von dem der dritte eine Ausnahme macht. | ! Ueber die Grenzen der Anwendbarkeit dieser Methode vgl. E. du Bois-Rey- mond, Ges. Abh. Bd. 1. 8. 277. ÜBER DIE GESCHWINDIGKEIT DES NERVENPRINCIPS. 101 Bei oberflächlicher Betrachtung freilich könnte es scheinen, als werde durch mehrfache Theilung der Gesammtlänge des Nerven für die Genauig- keit der Beobachtung nichts gewonnen, weil bei der Kleinheit des zu messenden Zeitraumes die Beobachtungsfehler entsprechend stärker in’s Gewicht fallen würden. Folgende Ueberlegung zeigt aber, dass die Be- stimmtheit des Ergebnisses mit der Theilung der Gesammtstrecke in viel zu schneller Progression zunimmt, als dass die wachsende Bedeutung des Beobachtungsfehlers diesen Vortheil beeinträchtigen könnte. Es wurde die. Leitungszeit bei Reizung am oberen Ende (4A Fig. 3), in der Mitte (#) und am unteren Ende (C) des Nerven verglichen. Nach den oben erwähnten Angaben soll dann der Unterschied der Leitungszeiten von A und C aus nicht zwei Mal so gross sein wie der der Leitungszeiten von B und C aus, sondern mehr als drei Mal so gross. Nun betrage der 'Zeitunter- Bu schied 3C a Secunden, dann ist also der nn = Zeitunterschied 4C mehr als 3a Secunden. A B c Nach J. Rosenthal wäre dies auf fol- I gende Weise durch abnehmende Leitungs- at en geschwindigkeit zu erklären: Aus dem u. ee _ Zeitunterschiede 3 C ergiebt sich eine mitt- ; lere Geschwindigkeit der Erregungsleitung, die 7 sein möge. Findet die Reizung in Sehema des Verlaufes der Erregung A statt, so beginnt die Leitung mit der Bei Be nen dr und ur eleieh ö EDER HE i 2 f weit von einander gelegenen Stellen gleichen Geschwindigkeit wie bei der Rei- des Nerven unter der Annahme ver- zung in B, und durchläuft die Strecke A, langsamter Leitung. genau wie vorher die Strecke 3C, mit der mittleren Geschwindigkeit /V. Von B an nimmt nun die Leitungsgeschwin- digkeit natürlich immer weiter ab, so dass nun für die Strecke BC die viel geringere mittlere Geschwindigkeit v herauskommt, die nach den Versuchen <1V. Da die Strecke 4.B mit derselben Geschwindigkeit leitete wie die Strecke BC, so ist die für die Leitung von A bis 5 verbrauchte Zeit wiederum « Secunden. Nun folgt noch das ebenso lange Stück BC, das in Folge der Abnahme der Geschwindigkeit mehr als doppelt so viel Zeit, also > 2a Secunden erfordert. Daher ist die Gesammtdauer der Leitung von A bis C > 3a 'Secunden. Allgemein muss die Leitung durch eine längere Strecke unverhältnissmässig hohe Zeitwerthe ergeben. Betrachtet man nun in ganz derselben Weise den Fall, dass ein Nerv- muskelpräparat nicht nur an drei, sondern an vier, oder der Uebersichtlich- keit wegen lieber gleich an fünf verschiedenen, gleich weit von einander entfernten Punkten des Nerven, A, B, C, D, E, gereizt wird, so erhält man folgende Zahlen: Der Zeitunterschied für die Strecke DE betrage Big. 3. 102 R. pu Boıs-ReYMmonp: a, Secunden, mithin nach dem Öbigen der für die Strecke CZ mehr als 3a,. Nun kann man CH, da es gleich der Hälfte von AZ ist, genau so betrachten wie BC in der ersten Ausführung, und erhält dann als Leitungs- zeit für AE mehr als 3.3a,, also mehr als 9a, Secunden. Das Verhältniss der zu vergleichenden Zeiträume nimmt also von 1:3 im Falle der Ver- gleichung zweier Leitungsstrecken, auf 1:9 im Falle der Vergleichung von vier Leitungsstrecken zu. Die. Grösse der zu messenden Zeiträume wird sich aber in beiden Fällen ceteris paribus nur wie 2:1 verhalten. Für die Messung an vier Reizstellen, wie sie bei meinen Versuchen stattfand, würde sich an Stelle des Verhältnisses 1:9 das Verhältniss 1:6 bis 7 ergeben. Nun bemerkt zwar J. Rosenthal,! es sei „die Verzögerung der Ge- schwindigkeit wahrscheinlich lange nicht so bedeutend, als wir soeben an- genommen haben“. Auf Grund der vorstehenden Rechnung wird man aber einsehen, dass die Verlangsamung, wenn sie sich bei der Untersuchung an drei Stellen nicht zu erkennen giebt, so gering sein muss, dass sie über- haupt vernachlässigt werden kann. Ueberdies entsteht die Frage, worauf eigentlich die Annahme der Verzögerung sich stützen soll, wenn nicht gerade auf die Versuche, die für die obere Strecke den doppelten Zeitunter- schied der unteren ergeben haben. Sind diese Versuche zweifelhaft, so kann man die Annahme der Verlangsamung überhaupt fallen lassen. Wenn ich mein Ergebniss dem der genannten älteren Untersuchungen gegenüber zu stellen gewagt habe, darf ich getrost auch des Gegensatzes erwähnen, in dem zwei neuere Arbeiten zu der meinigen stehen. G. Cousot? hat grosse Reihen von Versuchen, am Froschpräparat ebenso wie an ver- schiedenen Säugethieren, angestellt, und hat dabei auch ungefähr das näm- liche Maass für die Geschwindigkeit des Nervenprineips erhalten, wie andere Untersucher. Aus Misstrauen gegen die ja wirklich sehr unsichere Methode wurde dabei besonders auf die Versuche an möglichst unverletzten Säuge- thieren Werth gelegt. Wie mir scheint, müssen dadurch mehr neue Schwie- rigkeiten und Fehlerquellen in die Aufgabe hineingebracht werden, als sie schon an sich bietet. So kennzeichnet G. Cousot die Unsicherheit, die durch die wechselnden Zustände des Muskels entsteht, mit folgenden Worten, die ich zum Vergleich mit der oben erwähnten Stelle. bei Volkmann anführen möchte: „La premiere excitation — parfois la deuxieme et la troisieme —, du nerf donne presque invariablement une contraction plus tardive du muscle, puis les exeitations suivantes repondent par des con- tractions synchroniques, comme si l’activit€ nerveuse assoupie Etait reveillee ıA.2.0. 8. 274. Br ® G. Cousot, Contribution a P’etude de la vitesse de propagation du courant nerveux. Bulletin de l’Academie Royale de medecine de Belgique. Neance du 18 decembre 1897. ÜBER DIE GESCHWINDIGKEIT DES NERVENPRINCIPS. 103 par la premiere irritation; puis apparaissent, sans r6gularit6, aprös trois, quatre, eing, six contractions, une contraction tres retardee, sans doute temoignage de la fatigue, de l’Epuisement du nerf.“ G. Cousot nimmt nun, wenn ich ibn richtig verstehe, unter den schwankenden Werthen nicht den Durchschnittswerth, sondern den Minimalwerth als den richtigen an. Dies führt zu dem Schluss, dass die Geschwindigkeit des Nervenprineips unmessbar gross se. Wenn nur die Minimalwerthe gelten sollen, müsste freilich selbst beim Froschpräparat eine unmessbar grosse Leitungsgeschwin- digkeit angenommen werden, denn bekanntlich ist es oft schwer, für den Vorlesungsversuch hinreichend weit aus einander stehende Curven zu erzielen. Auch in meinen Versuchsreihen fehlte es nicht an ausserordentlich kleinen Zeitwerthen für beträchtliche Nervenstrecken. Mitunter wurden sogar nega- tive Differenzen gefunden. Eben hierin liegt ein bündiger Beweis, dass es sich um Versuchsfehler handelte, und dass diese Fehler nicht, wie G. Cousot meint, einzige und allen im Sinne der Verzögerung der Leitung wirken. Ich halte es deshalb für falsch, nur die Minimalwerthe anerkennen zu wollen, und betrachte die Durchschnittswerthe, die G. Cousot angiebt, als das eigentliche Ergebniss seiner Arbeit. Noch weniger Berechtigung scheinen mir die Anschauungen C. Radzi- kowski’s! zu haben, die ebenfalls nicht in den Beobachtungen, sondern in der Folgerung von der gewöhnlichen Lehre abweichen. Im Anschluss an eine längere Abhandlung über die Eigenschaften des lebenden Nerven be- spricht der Verfasser die Leitungsgeschwindigkeit und die Methode, diese aus dem Unterschiede der Latenzzeit bei Reizung an zwei verschiedenen Stellen zu berechnen. Die gemessene Latenzzeit setzt sich, wie nun aus- führlich erklärt wird, aus fünf einzelnen Zeitabschnitten zusammen, nämlich: 1. Die Zeit, die nach Oeffnung des primären Stromes bis zur Entstehung des secundären Stromes vergeht. 2. Die Zeit, die vergeht, bis der secundäre Strom die zur Reizung erforderliche Intensität erlangt hat, deren Höhe von der Erregbarkeit des Nerven abhängt. 3. Die Zeit, die vergeht, ehe sich der Erregungszustand an der gereizten Stelle herstellt. 4. Die Leitungszeit. 5. Die Latenzzeit des Muskels. Nur für den ersten und den fünften Zeit- abschnitt, meint CO. Radzikowski, darf man behaupten, dass sie bei zwei verschiedenen Reizungen gleich ausgefallen sind. Bildet man also die ‚Differenz der Latenzzeiten bei Reizung an zwei verschiedenen Stellen, so werden dadurch nur diese zwei gleichen Summanden eliminirt, und es bleibt statt der einfachen Differenz der Leitungszeiten die Differenz zweier Summen je aus der Leitungszeit und zwei anderen Summanden zu behandeln. 1 C.Radzikowski, Quelques recherches d’electrophysiologie nerveuse. Bulletin de ia Societe vaudoise des Sciences naturelles. T. XXXV. Nr. 13. p. 238. 104 R. ou Bois-REyMoND: ÜBER DIE GESCHWINDIGKEIT U. S. w. Da nun über die Grösse dieser zwei Summanden (Zeitabschnitt 2 und 3) nichts bekannt ist, kann man über die Grösse der Leitungszeit nichts aus- sagen. So weit sind die Ausführungen C. Radzikowski’s vollkommen richtig. Offenbar unrichtig ist aber die nun folgende Behauptung, dass die Grösse der beiden fraglichen Summanden in Betracht komme und nicht vernachlässigt werden dürfe. Denn bekanntlich steht die Grösse des Unter- schiedes der Latenzzeit für verschiedene Reizstellen in einem deutlichen Zusammenhange mit der Grösse des Abstandes der Reizstellen. Das besagt nichts Anderes, als dass eben die Länge der Leitung für die Grösse des ganzen Zeitunterschiedes maassgebend ist. Gegenüber den viel gröberen Fehlern, die bei jeder thatsächlichen Beobachtung auf diesem Gebiete auf- treten werden, Zeitunterschiede wie den zwischen primärer und secundärer Stromsehwankung in Rechnung zu ziehen, erscheint mir als Haarspalterei. Wozu soll es führen, wenn auf Grund solcher Betrachtungen, wie die eben besprochenen, eine mangelhafte Methode verworfen werden darf, ohne dass eine bessere dafür vorgeschlagen wird? Auch die schlechteste Methode kann gute Ergebnisse liefern, wenn es nur gelingt, ihre Fehler hinreichend genau abzuschätzen. ; EEE Zur Physiologie der nervösen Hemmungserscheinungen. Von Prof. Max Verworn. (Aus dem physiologischen Institut der Universität Jena.) Als Indicator für die Lebensvorgänge im Üentralnervensystem dient der physiologischen Forschung bis heute noch immer im Wesentlichen das Verhalten der peripheren Endorgane. Insonderheit sind es die Muskeln, die in dieser Hinsicht die Hauptrolle spielen. Aus dem Verhalten der Muskeln wird unter kritischer Verwerthung aller in Betracht kommenden Erfahrungen über den Sitz und die Leitungsbahnen der Vorgänge im Centralnervensystem sowie über die Erregbarkeit der betheiligten Elemente die jeweilige Art des Vorganges erschlossen. Ein solcher Schluss ist indessen in eindeutiger Weise streng genommen zunächst nur möglich von einem einzigen Vorgange am Skeletmuskel und seinem verschiedenartigen Ablauf nach Zeit und Intensität, d.i. von dem Vorgange der Contraction, denn da der Skeletmuskel sich niemals spontan, sondern stets nur unter der Herrschaft des Centralnervensystems contrahirt, so muss seine Contraction immer der Ausdruck für einen gleichsinnigen Erregungsvorgang in den ent- sprechenden motorischen Neuronen sein. Aber schon aus dem anderen der beiden entgegengesetzten Vorgänge, zwischen denen sich die Zustands- änderungen des Muskels bewegen, aus dem Vorgang oder Zustand der Ex- pansion ist eine eindeutige Schlussfolgerung auf den gleichzeitigen Zustand bezw. Vorgang im Centrum nicht ohne Weiteres möglich. Wenn wir ge- wöhnlich stillschweigend den Schluss ziehen, dass während der Ruhe des Muskels auch ein gleichsinniger Zustand der Ruhe in den entsprechenden motorischen Neuronen besteht, so wird das in den meisten Fällen wohl zutreffen. Unter manchen Verhältnissen aber ist es sicher nicht richtig. Der normale physiologische Ruhezustand irgend eines lebendigen Gewebes 106 MAx VERWORN: ist charakterisirt durch sein ungestörtes Stoffwechselgleichgewicht von ge- wissem Niveau. Allein, wenn sich auch der Muskel in diesem Zustande, d.h. in seinem Erschlaffungszustande befindet, so ist doch damit nicht gesagt, dass in den entsprechenden motorischen Neuronen der gleiche Zu- stand herrscht. Hier kann beispielsweise eine totale Lähmung, ein völliger Stillstand aller Stoffwechselprocesse bestehen, ohne dass das am Zustande des Muskels im Geringsten zum Ausdruck käme. Der Umstand, dass aus dem Eintritt oder Bestehen des Expansions- zustandes am Muskel kein bindender Schluss auf. einen gleichsinnigen ° Parallelzustand der entsprechenden motorischen Neurone gezogen werden kann, fällt nun besonders für das Studium der nervösen Hemmungserschei- nungen sehr erschwerend in die Waagschale, denn bei Berücksichtigung dieses Umstandes kann man sich nicht verhehlen, dass für die Entstehung einer Muskelhemmung auf nervösem Wege mehrere ganz verschiedenartige Erklärungsweisen denkbar sind. Entspräche der Hemmung, d.h. der Er- schlaffung eines Muskels auf nervösem Wege stets und unbedingt ein gleich- sinniger Parallelprocess in seinen motorischen Neuronen, so wie der Con- traction des Muskels auf nervösem Wege stets ein gleichsinniger Erregungs- process im Centrum entspricht, so würde das so sehr wichtige Problem der nervösen Hemmungserscheinungen längst eine viel einfachere und klarere Form angenommen haben. So aber gehören diese Erscheinungen, obwohl sie dem Physiologen auf Schritt und Tritt begegnen und eine ausserordent- lich weitreichende Bedeutung im Leben des Organismus haben, noch immer zu den dunkelsten Gebieten der Physiologie. Auch der lebhafte und eifrige Meinungsaustausch, der in den sechziger und siebziger Jahren im Anschluss an Setschenow’s Untersuchungen über die Frage der Hemmungserschei- nungen stattfand, hat leider nicht vermocht, mehr Licht über diese Ver- hältnisse zu verbreiten; in weiteren Kreisen hat er sogar vielleicht das Gegentheil erreicht. Seit jener Zeit aber sind diese sehr interessanten Er- scheinungen eigentlich etwas stiefmütterlich behandelt worden, bis in neuerer Zeit wieder Gaskell, Sherrington, Langley u. A. von Neuem wichtige Beiträge dazu geliefert haben. | Durch die folgenden experimentellen und kritischen Untersuchungen ınöchte ich versuchen, wenigstens einer Frage etwas näher zu treten, näm- lich der Frage: Welche Beziehungen bestehen zwischen Centrum und Muskel, wenn eine Muskelcontraction auf nervösem Wege gehemmt wird? Diese Frage erfordert eine gesonderte Behandlung für die Skeletmuskeln einerseits und die übrige Museulatur andererseits. Die Gründe dafür werden sich weiter unten ergeben. Zunächst soll nur die Beziehung zwischen nervösem Öentrum und Skeletmuskel erörtert werden, und zwar soll Zur PHYSIOLOGIE DER NERVÖSEN HEMMUNGSERSCHEINUNGEN. 107 dabei unter „Hemmung“ sowohl der Fall verstanden sein, dass eine be- stehende Muskelcontraction aufgehoben, als auch der Fall, dass der Eintritt einer Muskelcontraction auf nervösem Wege verhindert oder erschwert wird. Diesem so begrenzten Problem gegenüber wären von vornherein verschiedene Möglichkeiten denkbar: 1. Die motorische Erregung der Vorderhornzellen, welche die Con- traction erzeugt, wird selbst gehemmt, und in Folge des Wegfalls oder Ausbleibens ihrer motorischen Impulse hört die contractorische Erregung des Muskels von selbst auf, bezw. bleibt einfach aus. 2. Ausser den motorischen Neuronen versorgen den Muskel noch be- sondere Hemmungsneurone, welche durch ihre Impulse den contrahirten Muskel hemmen, d.h. eine bestehende Contraction unterdrücken, bezw. den Eintritt einer Contraction verhindern. 3. Die motorischen Vorderhornzellen besorgen selbst die Hemmung des Muskels activ, indem sie bei ihrer eigenen Hemmung einen activen Hemmungsvorgang, der dem motorischen Impuls qualitativ entgegengesetzt ist, dem Muskel durch ihre Axencylinder übermitteln. Alle drei Vorstellungen haben in der physiologischen Litteratur Ver- treter gefunden. Die erste Ansicht hat wohl bei Weitem die meisten An- hänger. Die zweite Annahme hat Gaskell! ausgesprochen, der für alle Gewebe neben Erregungsnerven die Existenz von besonderen Hemmungs- fasern für wahrscheinlich hält, und ihm folgen viele Andere, wenn sie auch, wie z. B. Biedermann,’ sich die Gaskell’sche Annahme nicht immer in ihrer ganzen Allgemeinheit angeeignet haben. Die dritte Vorstellung endlich ist vor wenigen Jahren in sehr prägnanter Form von Starke? vertreten worden und muss auf Grund der allgemeinen Erörterungen, die E. Hering * schon vor längerer Zeit und jetzt wieder vor Kurzem über die Theorie der Nervenleitung angestellt hat, besondere Beachtung erwecken. Zwischen diesen verschiedenen Möglichkeiten ist eine experimentelle Entscheidung zu erzielen auf Grund folgender Erwägung. Wird der in situ befindliche intacte Nerv eines Skeletmuskels in seinem Verlauf durch schwache gleichmässige Reize erregt, so dass der Muskel gleichförmige ! Gaskell, On the structure, distribution and function of the nerves which innervate the visceral and vascular systems. Journal of Physiology. 1885. Vol. VII. ° Biedermann, Beiträge zur allgemeinen Nerven- und Muskelphysiologie. XX.Mit- theilung: Ueber die Innervation der Krebsscheere. Sitzungsber. der k. k. Akad. der Wissensch. zu Wien. 1887. Bd. XCV. Abth. III. ° J. Starke, Ueber den Einfluss des Centralnervensystems auf die Erregbarkeit des motorischen Nerven. Centralblatt für Physiologie. 1898. Bd. XII. Nr. 18. * Ewald Hering, Zur Theorie der Nerventhätigkeit. Akademischer Vortrag. gehalten am 21. Mai 1898. Leipzig 1899. 108 Max VERWORN: Zuckungen ausführt, deren Höhen graphisch verzeichnet werden, so dürfen die Höhen der Zuckungscurven bei Hemmung des Muskels auf nervösem Wege keine Abnahme erfahren, wenn die Annahme richtig ist, dass die Hemmung lediglich eine passive ist und durch Hemmung der entsprechenden motorischen Neurone zu Stande kommt; sie müssen dagegen eine Abnahme erfahren, sowohl wenn die Hemmung durch die Thätigkeit besonderer Hemmungsnerven erzeugt, als auch wenn sie durch Uebertragung eines dem motorischen Impulse entgegengesetzten Hemmungsimpulses vom moto- rischen Neuron selbst zum Muskel bewirkt wird. Versuche am Frosch. Im Jahre 1898 berichtete J. Starke! in einer vorläufigen Mittheilung über eine Reihe von Versuchen aus dem Harnack’schen Laboratorium in Halle, deren Ergebniss er darin fand, dass durch Erregung bestimmter Theile des Centralnervensystems die Erregbarkeit eines motorischen Nerven herabgesetzt werden könne. Leider ist die ausführliche Publication dieser Untersuchungen bisher nicht erschienen und ebensowenig eine zweite Mit- theilung, die bereits angekündigt wurde. Ich muss daher Starke’s Ver- suche nach der ersten kurzen Mittheilung referiren. Die Versuche waren im Wesentlichen folgende Bei einem Frosch wird der Ischiadieus frei- gelegt und der entsprechende Gastrocnemius mit einer Schreibvorrichtung verbunden. Wird nunmehr der Ischiadicus in seinem Verlauf in rhyth- mischen Intervallen von 15 bis 30 Secunden mit schwachen Inductions- schlägen gereizt, so zeigt sich, dass die Zuckungshöhen unregelmässige Schwankungen aufweisen: „der Frosch hemmt“. Diese Hemmungen fehlen nach Exstirpation der entgegengesetzten Grosshirnhemisphäre. . Wird dagegen bei blossgelegtem, aber intactem Grosshirn die entgegengesetzte Grosshirn- hemisphäre durch Auflegen eines kleinen Kochsalzkrystalls chemisch gereizt, so erfahren die Zuckungshöhen des Gastroenemius eine starke Abnahme, die Erregbarkeit des Ischiadicus erscheint stark herabgesetzt. Sie steigt aber wieder, sobald die betreffende Hemisphäre exstirpirt wird. Die Reizung der gleichseitigen Grosshirnhemisphäre ist erfolglos. Auch die Reizung der hasalen Partie des Mittelhirns der entgegengesetzten Seite oder eines Rücken- marksquerschnittes hat dieselbe Wirkung, wenn auch nicht immer so deut- lich wie die Reizung der betreffenden Grosshirnhemisphäre Die Versuche hatten denselben Erfolg, wenn die hinteren Wurzeln der Rückenmarksnerven vorher durchschnitten waren. Das sind die wesentlichen, hier in Betracht kommenden Punkte der Untersuchungen Starke’s. Auf weitere Einzel- 1’Ar2. 0. ZuR PHYSIOLOGIE DER NERVÖSEN HEMMUNGSERSCHEINUNGEN. 109 heiten, unter denen manche wohl etwas Kopfschütteln erwecken dürften, braucht hier nicht eingegangen zu werden. Setzt man vorläufig die Richtigkeit der unmittelbaren Versuchsergeb- nisse voraus, so muss doch schon von vornherein darauf hingewiesen werden, dass die von Starke gegebene Deutung nicht die einzig mögliche ist. Starke schliesst aus seinen Versuchen, dass die Erregbarkeit der moto- rischen Nervenfasern durch Reizung bestimmter centraler Theile herab- gesetzt werden kann; aus dem Ergebniss seiner Versuche könnte aber ein Anhänger der Lehre von den Hemmungsnerven mit der gleichen Berech- tigung schliessen, dass im Ischiadicus besondere Hemmungsfasern exi- stiren, die durch Reizung der betreffenden Theile des Centrums in Thätiekeit gesetzt werden. Wie dem aber auch sei, in beiden Fällen würde das Ergebniss von grösstem Interesse sein und eine neue physiologische Er- fahrung von hervorragender Bedeutung repräsentiren. Es lag mir daher sehr daran, die Voraussetzungen für diese Schlüsse auf ihre Richtigkeit zu prüfen, und zu diesem Zwecke habe ich die Versuche Starke’s zunächst wiederholt. Versuchsanordnung. Nachdem bei einem Frosch entweder unmittel- bar oder 1 bis 2 Tage vorher das Gehirn blossgelegt worden war, wurde derselbe mit ausgestreckten Extremitäten auf einer Korkplatte festgesteckt. Das Aufstecken geschah mit Nadeln. Der eventuelle Einwand, dass dadurch Hemmungen hervorgerufen werden möchten, konnte durch die Feststellung der Thatsache, dass die Reflexerregbarkeit nicht gestört erschien, aus- geschlossen werden. Darauf wurde die Haut des einen Schenkels bis zur Ferse entfernt, der Ischiadicus am Oberschenkel eine Strecke weit freigelest und der Gastrocnemius mit der Achillessehne von unten her bis zum Knie- gelenk abgelöst. Das Knie wurde durch Nadeln ebenfalls unbeweglich auf der Korkplatte fixirt. Nachdem dann die Sehne des Gastrocnemius mit einer Schreibvorrichtung in Verbindung gesetzt und ein Platinelektroden- paar unter den Ischiadieus geführt worden war, wurde die Korkplatte und ebenso der Muskelschreiber durch Gewichte derartig festgestellt, dass eine Verschiebung vollständig ausgeschlossen war. Die Belastung des Muskels betrug 308". Nunmehr wurde der Ischiadicus mit schwachen Oeffnungs- inductionsschlägen (1 Daniell’sches Element, Metronomunterbrechung) in rhythmischen Zwischenräumen (jede 1 bis 3 Secunden) gereizt. Nachdem eine Reihe von normalen Zuckungen aufgezeichnet war, wurde auf die Grosshirnhemisphäre der entgegengesetzten Körperseite vorsichtig ein kleines Kochsalzkryställchen gebracht. Einige Zeit darauf wurde das Grosshirn durch einen scharfen Schnitt abgeschnitten. Auch die Lobi optiei wurden dann dem gleichen Verfahren unterworfen. Schliesslich wurde der Ischiadicus oberhalb der Elektroden durchschnitten. Dabei wurde sorgfältig darauf geachtet, dass er noch. immer genügend im Gewebe fixirt blieb und sich 110 MAx VERWORN: nicht auf den Elektroden verschieben konnte. Während der ganzen Dauer des Versuches ging die rhythmische Reizung des Ischiadieus ohne Unter- brechung weiter. Als Versuchsobjecte dienten Temporarien und Eseulenten von verschiedener Grösse und in den verschiedensten Ernährungszuständen, wie bei verschiedenen Temperaturen. Ergebnisse. War die Versuchsanordnung in dieser Weise mit Aus- schluss aller absehbaren Fehlerquellen getroffen, so erhielt ich zunächst beim Beginn der Ischiadieusreizung Zuckungseurven von völlig gleicher Höhe, die nur selten von einer einzelnen, aber stets stärkeren spontanen Zuckung unterbrochen wurden. Unregelmässige Schwankungen in den Zuckungshöhen habe ich bei sorgfältiger Vermeidung aller in Betracht kommenden Fehlerquellen niemals beobachtet. Wurde das Grosshirn in der angegebenen Weise gereizt, so hatte das nicht den geringsten Einfluss auf die Höhe der Zuckungscurven, und auch nach der Abtragung des Gross- hirns blieb dieselbe noch immer unverändert. Das Gleiche war der Fall nach Reizung, Abtragung oder Zerstörung der tiefer gelegenen Theile des Centralnervensystems. DBegreiflicher Weise treten dabei im Moment der Reizung bezw. Zerstörung heftige Zuckungen im Gastroenemius auf, welche die Reizzuckungshöhen an Höhe weit überragen. Stets aber ist gleich darauf die Höhe der Zuckungscurven wieder dieselbe wie vorher, und nie- mals tritt eine Verminderung der Curvenhöhen ein. Auch nach Durchschneidung des Ischiadicus schliesslich, die selbstverständlich wieder eine starke Extrazuckung hervorruft, bleibt die Curvenhöhe noch immer dieselbe. Ich kann also, wie ich das von vornherein fürchtete, die An- gaben von Starke ganz und gar nicht bestätigen. Abgesehen von der sich langsam und ganz gleichmässig entwickelnden Ermüdung, bleiben die Curvenhöhen unverändert. Starke’s Versuchsergebnisse sind nicht anders verständlich als unter der Annahme, dass irgend welche Fehlerquellen die Versuche beeinträchtigt haben. Welcher Art dieselben waren, vermag ich . freilich bei den verschiedenartigen Möglichkeiten, die hier in Betracht kommen, nicht zu sagen. Nicht unwahrscheinlich: ist es mir, dass die Stromquelle fehlerhaft war. Auch wäre eine Verschiebung der Elektroden am Nerven in Betracht zu ziehen, die bei sehr schwachen Strömen von grossem Einfluss werden kann, besonders dann, wenn der Nerv das eine Mal etwas fester, das andere Mal etwas lockerer den Elektroden aufliegt. Mit allen diesen Fehlern habe ich experimentell in der That leicht „in unregelmässiger Weise Schwankungen“ in den Zuckungshöhen hervorrufen können von der Art, wie sie offenbar zu der Täuschung in Starke’s Ver- suchen geführt haben. Viel schwerer aber kann ich mir eine Vorstellung davon machen, wie die von Starke geschilderte Gesetzmässigkeit dieser Schwankungen bei bestimmten Eingriffen in das Centralnervensystem zu ZuR PHYSIOLOGIE DER NERVÖSEN HEMMUNGSERSCHEINUNGEN. 111 Stande gekommen sein könnte. Da Starke seine Versuchsanordnung nicht eingehender beschrieben hat, dürfte es überhaupt nicht angebracht sein, in dieser Richtung Vermuthungen zu äussern. Allein, wenn ich auch die Ergebnisse, zu denen Starke gelangt ist, nicht aus den obigen Versuchen ableiten konnte, so hielt ich es doch nicht für statthaft, auf Grund dieser Versuche schon die vorliegende Frage selbst, ob der Nerv eine Erregbarkeitsherabsetzung erfährt, wenn sein Muskel central gehemmt wird, glatt zu verneinen. Eine kritische Betrachtung der Beweiskraft des oben geschilderten Versuches muss wenigstens starken Zweifel erwecken, ob derselbe überhaupt im Stande ist, diese Frage zu entscheiden. Zunächst ist es meines Wissens bisher noch nicht gelungen, durch irgend welche direete Reizung der Grosshirnoberfläche des Frosches sichere motorische oder inhibitorische Erfolge zu erzielen, wenn auch nach den bekannten Erfahrungen an grosshirnlosen Fröschen angenommen werden darf, dass derartige Impulse bei normalen Fröschen vom Grosshirn aus entsendet werden können. Ich habe selbst längere Zeit darauf verwendet, um wirklich zweifellose Erfolge durch Grosshirnrindenreizung beim Frosch zu erzielen, und habe ebenfalls nur negative Ergebnisse zu verzeichnen gehabt sowohl bei elektrischer, wie bei mechanischer, wie bei chemischer Reizung.! Ferner aber, selbst angenommen, es wäre möglich, durch Reizung der Grosshirnrinde (etwa mittels aufgelegter Kochsalzkrystalle) Hemmungs- wirkungen zu bekommen, so wäre es doch zur Controle immer nöthig, dass man auch ein Kriterium, einen Indicator dafür hätte, dass im gegebenen Fall thatsächlich eine hemmende Wirkung vorhanden ist. Ein solcher Indicator ist aber bei der obigen Versuchsanordnung nicht leicht in ein- wandsfreier Weise zu gewinnen, denn eine etwaige Herabsetzung der Reflex- erregbarkeit in der operirten Extremität lässt sich unter den gegebenen Verhältnissen wohl kaum in sicherer Weise prüfen. Aus diesen Gründen habe ich es, um die obige Frage überhaupt entscheiden zu können, für nothwendig gehalten, die Erregbarkeit des Nerven in solchen Fällen zu prüfen, wo wirklich jeden Augenblick ein Indicator für eine centrale Hem- mung zur Verfügung steht. Fälle solcher Art, die sich auch sonst zu den Versuchen eignen, sind aber, wie ich mich überzeugt habe, nicht eben gerade zahlreich. Wenn man einem Frosch unterhalb der Medulla oblongata das Rücken- mark durchschneidet oder das Thier einfach decapitirt, so beobachtet man ! Inzwischen hat Hr. Silvestro Baglioni im hiesigen physiologischen Institut die Versuche mit chemischer Reizung wieder aufgenommen und ist zu gewissen inter- essanten Resultaten gelangt, die er soeben kurz mitgetheilt hat im Centralblatt für Physiologie. 1900. 9. Juni. 112 MıAx VERWORN: bekanntlich in der Regel eine starke Herabsetzung der Reflexerregbarkeit in den hinteren Extremitäten. Nicht selten ist die Reflexerregbarkeit für mechanische, elektrische oder chemische Reizung der Zehen 5 bis 20 Minuten lang vollständig aufgehoben. Diese Thatsache benutzte ich, um Versuche von analoger Anordnung wie die oben beschriebenen auszuführen. Der Frosch wurde in der gleichen Weise wie oben fixirt, doch blieb die nicht operirte Hinterextremität frei, um jeden Augenblick als Indicator für die Existenz oder Nichtexistenz der Reflexerregbarkeit zu dienen. Nachdem dann mit schwachen Induetions- öffnungsschlägen vom Nerven aus eine Reihe von Zuckungen des präparirten Gastrocnemius erzeugt und verzeichnet waren, wurde, während die Reizungen des Nerven rhythmisch weiter gingen, der Frosch plötzlich durch einen scharfen Schnitt, bei verschiedenen Versuchen in verschiedenen Höhen des Rückenmarkes decapitirt und sofort die Reflexerregbarkeit der freien Hinter- extremität geprüft. Es fanden dabei selbstverständlich nur solche Fälle Berücksichtigung, in denen die Reflexerregbarkeit in Folge der Rücken- marksdurchschneidung für einige Zeit vollständig erloschen war. Bei diesen Versuchen ergab sich, dass im Moment der Rückenmarks- durchschneidung eine einzige sehr hohe Zuckung des Gastroenemius eintrat, dass aber unmittelbar darnach die Zuckungscurven genau die gleiche Höhe innehielten wie vor der Durchschneidung, selbst wenn die Reflexerregbarkeit vollständig aufgehoben war. Auch die stets folgende Durchschneidung des Ischiadieus oberhalb der Reizstelle änderte nichts an der Höhe der Zuckungs- curven, wenn dabei jede Verschiebung des Nerven auf den Elektroden ver- mieden wurde. 2 In diesen Versuchen zeigt sich also wiederum keinerlei Beeinflussung der Erregbarkeit: des Nerven von Seiten des unerregbar gewordenen Central- organs. Allein auch dieser Versuch ist nieht einwandsfrei und nicht ent- scheidend. Es lässt sich nämlich nicht mit Sieherheit nachweisen, ob die. Herabsetzung der Reflexerregbarkeit nach Durchschneidung des Rücken- markes eine reine Hemmungserscheinung ist, oder ob sie nicht viel- mehr eine Lähmung durch Ueberreizung vorstellt. Der Reiz der Durch- schneidung des Rückenmarkes ist ein ausserordentlich starker, und es ist leicht möglich, dass durch ihn auch entfernter gelegene Partieen des Rücken- markes, wie die Centra für den Reflex des Beinanziehens, gelähmt werden könnten. Die Lähmung des Ganglienzellkörpers aber hat, wie bekannt, keinen Einfluss auf die Erregbarkeit der dazu gehörigen Nervenfaser. Die asphyktische, die narkotische Lähmung des Rückenmarkes liefern genügend Beispiele dafür. Es wäre also in dem Falle, dass es sich hier um eine Lähmung handelt, wiederum für die Frage der Hemmung nichts gewonnen. ZUR PHYSIOLOGIE DER NERVÖSEN HEMMUNGSERSCHEINUNGEN. 113 Ein einwandsfreierer Fall einer Hemmung schien mir die in früherer Zeit viel eitirte Nothnagel’sche Hemmung der Reflexe beim Frosch durch Faradisation des centralen Ischiadicusstumpfes zu sein. Bekanntlich hat Nothnagel! folgende Beobachtung gemacht. Wenn man bei einem Frosch etwa 10 bis 15 Minuten nach Durchschneidung des Rückenmarkes den Ischiadieus der einen Seite durchschneidet und den centralen Stumpf mit starken oder mittelstarken Strömen faradisirt, so erlischt die Reflexerreg- barkeit des anderen Schenkels für Druckreize vollständig und die Muscu- latur desselben bleibt vollkommen weich und schlaff. Der Anziehreflex des Beines bei Kneifen der Zehen ist völlig erloschen. Unterbricht man die Reizung, so bleibt die Unerregbarkeit gewöhnlich noch einige Secunden bestehen, klingt dann ab und macht dem gewöhnlichen Verhalten wieder Platz. Ich habe diese Beobachtung N othnagel’s für den vorliegenden Zweck zu verwerthen gesucht. Dabei musste ich aber die Erfahrung machen, dass in einer sehr grossen Anzahl von Fällen sowohl an Temporarien als an Esculenten von einer hemmenden Wirkung der centralen Ischiadicus- reizung auf die Reflexerregbarkeit der entgegengesetzten Extremität über- haupt keine Spur zu bemerken war, obwohl alle Vorsichtsmaassregeln gewissenhaft beobachtet wurden, die Nothnagel für seine Versuche an- gewendet hat. Die Versuche wurden im September, October und November gemacht. In anderen Fällen dagegen war die Reflexhemmung deutlich und total. Inzwischen hat Biedermann? gezeigt, dass die Nothnagel’sche Reflexhemmung besonders deutlich und prompt bei Fröschen zu beobachten ist, die längere Zeit unter sehr niedriger Temperatur gehalten und während des Versuches um den Rumpf mit einer Eispackung umgeben worden sind. Ich habe für die folgenden Versuche unter meinen Präparaten selbstver- ständlich nur diejenigen verwendet, die eine deutliche Reflexhemmung er- kennen liessen. Die Versuchsanordnung war wieder die obige. Der Gastrocnemius des einen Schenkels war mit einer graphischen Vorrichtung verbunden, sein Nerv lag unverschiebbar auf Platinelektroden und wurde mit Metronom- unterbrechung rhythmisch durch schwache Inductionsöffnungsschläge gereizt. Dann wurde von Zeit zu Zeit der Ischiadicus des anderen Beines mit stärkeren Strömen faradisirt, während gleichzeitig zur Controle von einer anderen Person die Reflexerregbarkeit des graphisch verbundenen Muskels durch Kneifen der Zehen der betreffenden Extremität geprüft wurde. Bei ! Nothnagel, Zur Lehre vom celonischen Krampf. Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie. 1870. Bd. XLIX. ? Biedermann, Beiträge zur Kenntniss der Reflexfunctionen des Rückenmarkes. Pflüger’s Archiv. 1900. Bd. LXXX. Archiv f. A. u. Ph. 1900. Physiol. Abthlg. Suppl. 8 114 MAx VERWORN: diesen Versuchen ergab sich, dass die Zuckungshöhen des Gastrocnemius auch bei vollständig aufgehobener Reflexerregbarkeit vollkommen unverändert blieben. Es hat also die totale Reflexhemmung nicht den ge- ringsten Einfluss auf die Erregbarkeit des Ischiadicusstammes oder des Muskels selbst. Versuche am Hund. e Um die oben aufgeworfene Frage an einem noch prägnanteren Falle | zu prüfen, schien es mir besonders geeignet, gewisse Verhältnisse der Inner- vation zu benutzen, die in neuerer Zeit entdeckt und mehr und mehr aufgeklärt zu haben das Verdienst von ee ist. Ich meine die antagonistischen reciproken Reflexe. In einer Reihe von Untersuchungen, die wegen ihrer systematischen Durchführung sich den klassischen Arbeiten der Physiologie anreihen, hat Sherrington,! z. Th. in Gemeinschaft mit E. H. Hering, gezeigt, dass die Antagonisten unter den Skeletmuskeln in der Weise mit einander durch das Centralorgan verknüpft sind, dass die Contraction des einen stets mit der Expansion des anderen verbunden ist. Niemals kommt unter normalen Verhältnissen eine gleichzeitige Contraction von antagonistisch wirkenden Muskeln vor. Diese centrale Verbindungsweise zweier Antagonisten ist derart, dass durch die periphere Reizung der centripetalen Fasern eines Muskelnerven auf reflectorischem Wege eine Hemmung seines Antagonisten experimentell hervorgerufen werden kann. Das kommt natürlich nur zum Ausdruck, wenn der Antagonist auf centralem Wege vorher contraetorisch erregt ist, am besten, wenn er sich in Contractur befindet. Die letztere Thatsache, die Sherrington im Jahre 1898 auf dem IV. internationalen Physiologencongress einem grösseren Kreise von Fach- genossen an der Katze demonstrirte, bietet nun eine ausserordentlich günstige Gelegenheit, die oben gestellte Frage experimentell zu prüfen und in völlig einwandsfreier Weise zu entscheiden. Der Fall ist besonders deshalb für ! Sherrington, Further experimental note on the correlation of action of anta- gonistie muscles. Proceed. of the Royal Soc. London 1893. — Derselbe, Experi- mental note on the movements of the eye. Journ. of Physiol. 1894. — Derselbe, On the reciprocal innervation of antagonistie muscles. Proceed. of the Royal, Soc. London 1897. — H. E. Hering und Sherrington, Ueber Hemmung der Con- traction willkürlicher Muskeln bei elektrischer Reizung der Grosshirnrinde. Pflüger’s Archiv. 1897. Bd. LXVII. — Sherrington, Inhibition: of the tonus of a voluntary muscle by exeitation of its antagonist. Account of the Proceed. of the IV. intern. Physiological Congress held at Cambridge 1898. Journ. of Physiol. Vol. XXXII. Suppl. 1899. ZuR PHYSIOLOGIE DER NERVÖSEN HEMMUNGSERSCHEINUNGEN 115 den vorliegenden Zweck so geeignet, weil in dem Nachlassen der Contractur immer gleichzeitig schon durch den Versuch selbst ein äusserlich ohne Weiteres sichtbarer Indicator für den Eintritt der Hemmung gegeben ist, wie er bei der Nothnagel’schen Hemmung immer erst durch die etwas unbequeme Prüfung der Reflexerregbarkeit für die Controle gewonnen werden muss. Statt des Affen oder der in England als physiologisches Versuchsobject gebräuchlicheren Katze, Thiere, an denen Sherrington seine Versuche ausgeführt hat, benutzte ich, da mir diese Thiere zur Zeit meiner Versuche nicht zur Verfügung standen, den Hund, nachdem ich mich vorher über- zeugt hatte, dass die reciproken antagonistischen Reflexe hier ebenso deutlich und sicher zu erzielen sind wie bei Affen und Katzen. Bei der Ausführung der Versuche war mir Hr. Dr. Grober, Assistent an der hiesigen medi- einischen Klinik, in liebenswürdiger Weise behülflich, wofür ich ihm an dieser Stelle meinen verbindlichsten Dank abstatten möchte. Der als erste Vorbedingung für die Versuche nothwendige Tonus der betreffenden Muskeln wurde erhalten durch einen mittleren Grad der com- binirten Morphium-Aether-Narkose. Diese lieferte mir einen tonischen Con- tractionszustand von nicht zu hohem Grade, wie er für die graphische Verzeichnung eben wünschenswerth erschien. Die Vorbereitung des Thieres für den Versuch geschah dann in folgender Weise. Nachdem der Hund in Rückenlage auf einem eisernen Hundehalter befestigt war, wurde durch einen ausgiebigen Hautschnitt die Kniekehle der einen Hinterextremität blossgelegt. Darauf wurde der breite Biceps femoris sowohl an seiner langen Ursprungssehne vom Femur, als auch an seiner schmalen Endsehne von der Beugeseite des Unterschenkels abgetrennt und nach unten zurück- geklappt, so dass nunmehr der Nervus ischiadieus mit seiner Theilung in Tibialis und Peroneus freilag. Der letztere wurde dann mit seinen Aesten präparirt und dabei der Ast aufgesucht, der den M. extensor digitorum pedis communis longus versorgt, wobei gleichzeitig dieser Muskel selbst freigelegt wurde. Nachdem der ihn versorgende Nervenast durch elektrische Reizung sicher identifieirt war, wurde er auf eine genügend lange Strecke hin freigelegt. Schliesslich mussten noch die Muskeln der Beugeseite, be- sonders der dicke Gastrocnemius etwas freipräparirt werden, dann war die Operation am Kniegelenk vollendet. Für die graphische Verzeichnung sollte der M. extensor digitorum communis longus verwendet werden. Es war daher nöthig, diesen Muskel bis zu seinem Ansatz am Fussgelenk zu isoliren. Zu diesem Zweck wurde über dem Tarsus bis über das Fussgelenk hinauf zum Unterschenkel ein dorsaler Hautschnitt gemacht und die Sehne des M. extensor digitorum communis longus nach Durchschneidung des dorsalen Ligamentum cruciatum freipräparirt, wobei Blutungen durch vorherige 8* 116 Max VERWORN: Gefässunterbindungen leicht vermieden werden konnten. Nachdem durch die freigelegte Endsehne mit einer Nadel ein Faden gezogen und befestigt worden war, wurde die Sehne unterhalb desselben abgetrennt. Um jede passive Zerrung von Seiten der Beuger des Fusses zu vermeiden, wurden endlich auch die Sehnen der letzteren noch durchschnitten. Damit war die operative Vorbereitung des Versuches beendigt. Die Sehne des Extensor digitorum communis longus konnte nun leicht durch ihren Faden mit einer Schreibvorrichtung in Verbindung gesetzt werden, so dass bei Reizung des diesen Muskel versorgenden Peroneus- astes die Zuckungshöhen des Muskels graphisch verzeichnet wurden. Allein um mit vollständiger Sicherheit jede Verschiebung oder passive Bewegung des für die graphische Verzeichnung benutzten Muskels, wie sie vielleicht durch Action irgend welcher anderer Muskeln des Körpers hätte zu Stande kommen können, auch auf anderem Wege noch zu verhindern und aus- zuschliessen, wurde noch die Vorsichtsmaassregel getroffen, die ganze Ex- tremität durch einen Gipsverband zu fixiren. Zu diesem Zweck wurde der Fuss und der Oberschenkel durch Stöcke und Bindfäden am Hunde- halter befestigt und dann in weitester Ausdehnung mit einem Gipsverband umgeben, so dass die Extremität mit dem Hundehalter durch eine feste, steinharte Masse verbunden war, an der nur der Unterschenkel frei lag. Jede Bewegung in den Gelenken und jede Verschiebung der Extremität durch Bewegungen des Körpers war dadurch vollständig unmöglich gemacht, und ich glaube so jede Quelle von Täuschungen, die etwa in uncontrolir- baren Lageveränderungen des Thieres gelegen sein konnte, in subtiler Weise ausgeschaltet zu haben. Wurde nunmehr die Schreibvorrichtung in Thätigkeit gesetzt, so zeigte sich, dass der dauernd bestehende Tonus des Muskels kleinen Schwankungen unterworfen war, so dass der Schreibhebel keine vollkommen gerade Linie zeichnete. Dementsprechend war auch, wenn die Reizung des Nerven durch - rhythmisch jede Secunde erfolgende Inductionsöffnungsschläge ausgeführt wurde, das Niveau der Zuckungshöhen nicht dauernd gleich hoch, während doch die absoluten Höhen der einzelnen Zuckungen bis auf kleine unbe- deutende Schwankungen, die nicht zu vermeiden waren, im Wesentlichen gleich blieben. Nachdem eine längere Reihe von regelmässig auf einander folgenden Zuckungen verzeichnet worden war, wurden plötzlich mit einer Kornzange die Beuger des Fusses 3 bis 4 Secunden lang gekniffen. Sofort im Moment des Kneifens liess der Tonus des langen Zehenstreckers nach und das Niveau der Zuckungscurven sank herab, um nach dem Aufhören des Kneifreizes innerhalb einiger Secunden wieder auf seine ursprüngliche Höhe anzusteigen. 6 bis 8 Secunden nach dem Aufhören des Kneifreizes war fast immer der anfängliche Tonus wieder hergestellt. Wurden die Beuger ZUR PHYSIOLOGIE DER NERVÖSEN HEMMUNGSERSCHEINUNGEN. 117 mit der Zange mehr allmählich zusammengedrückt, so liess der Tonus dem- entsprechend auch langsamer nach. Bei allen diesen Versuchen, die in sehr grosser Zahl ausgeführt wurden, ergab sich niemals eine Differenz der absoluten Zuckungshöhen zwischen den Zeiten der tonischen Contractur und den Zeiten der Hemmung des Muskels. Bisweilen kamen auch spontan plötzliche Hemmungen des Tonus von kurzer Dauer und gleicher Stärke wie die auf reflectorischem Wege erzeugten vor. Auch bei ihnen war das Verhältniss der absoluten Reizzuckungshöhen immer das gleiche. Ein Unter- schied zwischen dem Verhalten des tonisch erregten und des gehemmten Muskels konnte in keinem Falle beobachtet werden. Zuckungscurven des schwach tonisch contrahirten M. extensor digitorum pedis communis longus. Die Pfeile geben die Momente an, in denen der Tonus reflectorisch durch Quetschen der [antagonistischen Muskeln gehemmt wurde. (Die Curven sind auf ?/, verkleinert.) Somit führten die Versuche am Hunde zu demselben Ergebniss wie die oben geschilderten Untersuchungen am Frosch: Die centrale Hemmung eines Skeletmuskels hat keinerlei Einfluss auf die absolute Höhe der Zuckungen, die durch Reizung seines Nerven erzeugt werden. Die physiologischen Beziehungen zwischen Vorderhornzelle und Skeletmuskel. Aus den oben mitgetheilten Versuchen am Frosch und Hund ergeben sich einige bemerkenswerthe Consequenzen allgemeinerer Art. Zunächst lehrt das Versuchsergebniss, dass eine durch periphere Reizung des motorischen Nerven erzeugte Contraction des Skeletmuskels nicht vom Centrum her gehemmt wird, auch wenn in den entsprechenden Vorderhorn- 118 Max VERWORN: zellen selbst der Vorgang oder Zustand der Hemmung entsteht. Mit anderen Worten: der im G@anglienzellkörper der Vorderhörner entstehende Process der Hemmung erstreckt sich nicht auf den Axen- cylinder des Neurons und wird nicht durch denselben zum Skeletmuskel fortgeleitet oder activ irgendwie übermittelt. Die Angabe Starke’s, dass durch centrale Hemmungsvorgänge die Erregbar- keit der motorischen Nerven selbst herabgesetzt oder überhaupt irgendwie beeinflusst würde, beruht also auf einem Irrthum. Diese Schlussfolgerung bleibt bestehen, wie auch der Reflexbogen in den oben beschriebenen Versuchen im Einzelnen beschaffen sein mag. Denken wir uns denselben in einfachster Weise bestehend allein aus dem centripetalen Neuron der Spinalganglien und dem centrifugalen Neuron der Vorderhörner, oder denken wir uns zwischen diese beiden Elemente noch ein oder mehrere andere Neurone, etwa eine Strangzelle des Rückenmarkes oder ein Neuron aus einem höher gelegenen Abschnitt des Centralnerven- systems eingeschoben, immer haben wir ein hemmendes Neuron (Spinal- neuron), welches den hemmenden Reiz übermittelt, und ein gehemmtes Neuron (Neuron der Vorderhörner), welches aus dem Zustande dissimila- torischer Erregung in den Zustand der Hemmung eintritt. Im zweiten Falle würde zwar die Wirkung des hemmenden Reizes nicht unmittelbar in der Vörderhornzelle auftreten, sondern in dem mit dem hemmenden Neuron in Verbindung stehenden eingeschobenen Neuron. Allein das ist für die obige Schlussfolgerung indifferent, denn einerseits tritt ja, wie aus dem Aufhören des Tonus hervorgeht, in der Vorderhornzelle thatsächlich eine Hemmung ein, d.h. die dissimilatorische Erregung (schlechthin „Er- regung“ genannt) hört auf und die Assimilation muss in Folge der Selbst- steuerung des Stoffwechsels zunächst das Uebergewicht haben, andererseits aber findet das, was für das Vorderhornneuron über die Nichtleitung des Hemmungsprocesses vom Ganglienzellkörper durch den Axencylinder gesagt wurde, auch Anwendung auf ein mit dem hemmenden Neuron in Contact stehendes intermediäres Neuron. Würde der Vorgang der Hemmung, der in diesem Neuron erzeugt wird, thatsächlich in irgend einer Form durch seinen Axencylinder weiter geleitet oder übertragen werden, so müsste er ebenso wie der Vorgang der dissimilatorischen Erregung auf die mit ihm in Verbindung stehenden Neurone, also auch auf das Vorderhornneuron und auf den Axencylinder desselben übermittelt werden, was nicht der Fall ist. Ich glaube, es wird kaum Jemand auf den Gedanken kommen, anzunehmen, dass bei der Voraussetzung eines Reflexbogens der zweiten Art der Vorgang der Hemmung, wie er im Ganglienzellkörper des gehemmten Neurons sich entwickelt, zwar noch auf den Axencylinder desselben Neurons sich fortpflanze, nicht aber auf das mit ihm in Verbindung stehende Neuron ZUR PHYSIOLOGIE DER NERVÖSEN HEMMUNGSERSCHEINUNGEN. 119 übergehe. Dagegen müsste geltend gemacht werden, dass der Vorgang der Hemmung gerade bei den reciproken antagonistischen Reflexen keinen langsameren zeitlichen Verlauf seiner Intensitätsschwankung erkennen lässt, als die dissimilatorische Erregung, die doch von Neuron zu Neuron weiter bis zum Muskel hin übermittelt wird, denn im selben Moment, wo eine Contraction in einem Muskel eintritt, wird auch ebenso schnell auf reflec- torischem Wege eine Hemmung seines Antagonisten erzeugt, und bei den oben geschilderten Versuchen am Hund habe ich mich oft genug von dem ganz plötzlichen Nachlassen des Tonus überzeugen können. Würde der Vorgang der Hemmung als solcher oder in irgend einer Form überhaupt, analog dem Vorgang der dissimilatorischen Erregung, vom Ganglienzell- körper aus auf den Axencylinder übergeleitet, so läge also bei der gleichen Geschwindigkeit des zeitlichen Ablaufs beider kein Grund vor, warum der eine im Gegensatz zum anderen vor dem nächsten Neuron Halt machen sollte, da das materielle Substrat des Leitungsvorganges ja in beiden Fällen dasselbe wäre. Nach alledem gelangt man immer wieder zu der Schluss- folgerung, dass die Processe, welche den Zustand der Hemmung im Ganglienzellkörper eines Neurons charakterisiren, durch den Nervenfortsatz desselben weder als solche fortgepflanzt, noch sonst auf irgend eine Weise den mit dem Neuron in Ver- bindung stehenden Elementen activ übermittelt werden. Damit ist ein weiteres Beispiel gegeben für die grosse Verschiedenheit im physiologischen Verhalten des Ganglienzellkörpers und des Axeneylinders eines Neurons, eine Verschiedenheit, an deren Bedeutung für manche Fragen der Erregungsleitung im Centralnervensystem soeben erst Biedermann! wieder erinnert hat. Weder die verschiedenen Zustände der Lähmung, wie sie im Ganglienzellkörper durch Asphyxie, durch Narkose, durch gewisse Gifte, durch Absterben u. s w. hervorgerufen werden, noch der Zustand der Hemmung breiten sich vom Zell- körper aus über das Axencylinderprotoplasma des motorischen Neurons hin aus Was im Axencylinder allein geleitet oder durch denselben activ den Endorganen übermittelt wird, ist lediglich der Zustand oder Vorgang der dissimilatorischen Er- regung. Der Parallelismus zwischen dem Entstehen des Hemmungsvorganges in der dissimilatorisch erregten Vorderhornzelle und der Hemmung, d.h. der ! Biedermann, Beiträge zur Kenntniss der Reflexfunction des Rückenmarkes. Pflüger’s Archiv. 1900. Bd. LXXX. 120 MAX VERWORN: Erschlaffung des contrahirten Skeletmuskels ist also nicht der Ausdruck einer activen Beeinflussung des letzteren durch den ersteren, sondern kommt unabhängig von jedem direeten Zusammenkange durch die allgemeinen Eigenschaften der lebendigen Substanz zu Stande. Wir wissen zwar über die Art und Weise, wie die Hemmung einer Ganglienzelle herbeigeführt wird, nichts Positives. Es sind hier verschiedene Möglichkeiten denkbar, und die bisher geäusserten Auffassungen befriedigen noch nicht. In jedem Falle aber wird, rein äusserlich betrachtet, die dissimilatorische Erregung dabei zum Verschwinden gebracht, und in jedem Falle muss unmittelbar darauf die Assimilation grösser sein als die Dissimilation der Zelle, mag sie nun durch den hemmenden Impuls selbst activ gesteigert werden, oder mag sie nach bekanntem Gesetz einfach in Folge der inneren Selbststeuerung des Stoffwechsels überwiegen. Das Ueberwiegen der Assimilation über die Dissimilation ist jedenfalls ein charakteristisches Moment des Hemmungs- zustandes. Und dasselbe ist auch beim Skeletmuskel der Fall. Zwar wird hier die dissimilatorische (d. h. hier contraetorische) Erregung nicht actıv, sondern einfach durch den Wegfall der motorischen Impulse zum Ver- schwinden gebracht; hört aber die dissimilatorische Erregung auf, so muss auch hier in Folge der Selbststeuerung des Stoffwechsels zunächst die Assi- milation überwiegen, bis das Stoffwechselgleichgewicht wieder hergestellt ist. Es besteht also auch bei der Hemmung bis zu einem gewissen Grade ein Parallelismus zwischen Vorderhornzelle und Muskel, aber dieser Parallelismus der Processe in der Vorderhornzelle und im Skeletmuskel kommt bei der Hemmung auf prineipiell andere Weise zu Stande, als der Parallelismus der Processe bei der contractorischen Erregung. Hinsichtlich der Beziehungen zwischen Neuron und Neuron innerhalb des Gentralnervensystems selbst gilt das Gleiche wie für die Beziehungen zwischen Vorderhornzelle und Muskel. Denkt man sich eine Kette von einander subordinirten Neuronen bis .zum motorischen Neuron’ der Vorder- hörner hin, so wird eine dissimilatorische Erregung des obersten Neurons als activer Vorgang durch Nervenleitung von diesem Neuron auf das folgende u.s.f. bis zum letzten bezw. zum Muskel hin übermittelt; eine im obersten Neuron entstehende Hemmung der dissimilatorischen Erregung wird zwar auch von diesem Neuron abwärts bis zum letzten und bis zum Muskel hin nach einander alle Neurone erfassen, aber lediglich als passiver Vorgang dadurch, dass die Ursache für die vorher vorhandene dissimilatorische Erregung und damit die letztere selbst aufhört. Es liegt hier ein Modus der Hemmung vor, den ich als „passive Hemmung“ bezeichnen möchte, im Gegensatz zu der „activen Hemmung“, die durch directe Einwirkung eines activen Hemmungsreizes entsteht. /uR PHYSIOLOGIE DER NERVÖSEN HEMMUNGSERSCHEINUNGEN. 121 Zur Frage der Hemmungsnerven. Eine weitere Consequenz aus den oben mitgetheilten Ver- suchen ist, dass im Nerven des Skeletmuskels keine centri- fugalen Hemmungsfasern enthalten sind, d. h. keine Fasern, deren Erregung eine im Muskel bestehende Contraction auf centrifugalem Wege activ zu hemmen im Stande wäre. Würden solche Fasern vorhanden sein, so würden sie zweifellos bei refleetorischer Hemmung des Muskels, wie z. B. beim reciproken antagonistischen Reflex u.s. w., in Action treten. Dann müssten aber auch die durch Reizung des Nervenstammes erhaltenen Zuckungscurven des Muskels während seines Hemmungszustandes an absoluter Höhe abnehmen. Das ist nicht der Fall. Es kann sich also bei den reflectorischen Hemmungen des Skeletmuskels nicht um active Hemmungen der Muskelsubstanz selbst durch Vermittelung besonderer Hemmungsnerven handeln, sondern allein um den Modus der passiven Hemmung. Daraus ergiebt sich, dass nicht jedes lebendige Gewebe, das Erregungs- nerven hat, auch zugleich Hemmungsnerven besitzt. Auf der anderen Seite ist selbstverständlich die Existenz von Hemmungsnerven nicht für alle musculösen Gewebe zu bestreiten. Der Herzvagus, die Vasodilatatoren, die Hemmungsfasern der Darmmuseulatur liefern völlig einwandsfreie Beispiele für solche. Aber überblickt man alle die Fälle, in denen Hemmungsnerven für musculöse Gewebe wirklich in unzweideutiger Weise nachgewiesen sind, so ergiebt sich hier eine bestimmte Gesetzmässigkeit.! Es sind nur solche musculösen Gewebe mit Hemmungsnerven versehen, deren Musculatur auto- matisch thätig ist, bezw. einen vom Üentralnervensystem unabhängigen Tonus besitzt, wie unter der quergestreiften Musculatur des Wirbelthier- körpers allein das Herz und ausser ihm nur noch die glatte Musculatur. Die Skeletmusculatur des Wirbelthierkörpers dagegen, die nirgends einen vom Centralnervensystem unabhängigen Tonus oder eigene Automatie be- sitzt, hat, wie oben gezeigt, auch keine Hemmungsnerven. Dieses Verhalten ist dem Oeconomieprineip im Leben des Organismus durchaus conform, ja wenn es nicht direct nachgewiesen wäre, müsste man es nach letzterem schon a priori erwarten. Was hätte ein Hemmungsnerv in einem Muskel, der nur vom Centrum her erregt werden kann, für einen Sinn? Es läge ein ganz unnützer Aufwand von Material und Energie darin, wenn eine Contraction, die von einem Neuron des Rückenmarkes oder Gehirnes her erzeugt und unterhalten wird, von einem anderen Neuron auf einem ebenso ! Vgl. auch Biedermann, Beiträge zur Kenntniss der Reflexfunction des Rücken- markes. Pflüger’s Archiv. 1900. Bd. LXXX. 122 Max VERWORN: langen Wege erst an der Peripherie im Muskel selbst gehemmt werden würde. Das würde eine unverhältnissmässige Energieverschwendung be- deuten, denn einerseits würde der Energieverbrauch des Uentrums, welcher nöthig ist, den Muskel zur Contraction zu bringen, durch eine solche periphere Art Hemmung nicht sistirt werden, andererseits würde ein noch grösserer Aufwand von Energie im hemmenden Neuron nöthig sein, um die Wirkung des erregenden Neurons im Muskel zu unterdrücken. Das Alles kann ein- facher, schneller und mit geringerem Energieaufwand erreicht werden, wenn die Erregung des motorischen Neurons selbst durch das hemmende Neuron intracentral gehemmt wird. Die Hemmung des Skeletmuskels erfolet dann von selbst als rein passive Hemmung. Es wird also einfach die ausser- halb des Muskels, d. h. central gelegene Ursache der Erregung beseitigt, dann fällt auch die Erregung von selbst weg. Anders dagegen bei den Ge- weben, die ihren eigenen Tonus haben. Hier ist nur eine active Hemmung des erresten Gewebes selbst im Stande, die automatische Thätigekeit herab- zusetzen oder aufzuheben, denn da der Zustand der Hemmung selbst, wie oben gezeigt, nicht vom Ganglienzellkörper activ durch den Nerven über- tragen wird, so muss der hemmende Reiz das erregte Gewebe direct treffen, um es zu hemmen, d.h. es sind eigene Hemmungsnerven dafür nöthig. So sind bei den musculösen Geweben des Wirbelthierkörpers beide Modi der Hemmung vertreten, bei den mit eigener Auto- matie begabten der Modus der activen, bei allen anderen der Modus der passiven Hemmung, und ebenso wie an der Peripherie finden sich auch beide Modi bei den a inner- halb des Centralorgans selbst. Während der Modus der passiven Hemmung ohne Weiteres verständ- lich ist, setzt der Modus der activen Hemmung der physiologischen Analyse beträchtliche Schwierigkeiten in den Weg. Die Frage nach‘ der Art und Weise, wie in der Ganglienzelle oder im Muskel eine bestehende dissimi- latorische Erregung gehemmt oder der Eintritt einer ‚solchen verhindert wird, diese Kernfrage des ganzen Problems der Hemmungserscheinungen ist noch immer in völliges Dunkel gehüllt. Die beiden Auffassungen, die sich in diesem Punkte gegenüberstehen, und von denen die eine die Ursache in der specifischen Art des im Hemmungsnerven fortgeleiteten Vorganges, die andere lediglich in der specifischen Endwirkung des allgemeinen Nerven- leitungsprocesses innerhalb der gehemmten Zelle erblickt, sind beide noch immer weit entfernt von einer einwandsfreien Bestätigung oder Widerlegung. Immerhin dürften die Erfahrungsthatsachen eher im Sinne der letzteren Auffassung sprechen. Die Thatsache, dass an Hemmungsnerven bei der Action trotz vieler Bemühungen niemals eine positive Schwankung des Nervenstromes hat nachgewiesen werden können, während im zugehörigen Zu& PHYSIOLOGIE DER NERVÖSEN HEMMUNGSERSCHEINUNGEN. 123 Muskel eine solche zu finden ist, könnte eher im Sinne einer specifischen End- wirkung des gewöhnlichen Leitungsvorganges im Nerven gedeutet werden. Das Gleiche gilt von den bekannten Versuchen Langley’s! über die Verheilung des Vagus mit dem Halssympathicus, bei denen durch Vagus- reizung die charakteristischen Sympathicuswirkungen hervorgerufen werden. Schliesslich ist auch die oben festgestellte Thatsache, dass von allen Zustands- änderungen des motorischen Ganglienzellkörpers ganz allein nur der Vor- gang der dissimilatorischen Erregung, nicht der Vorgang der Hemmung, der Vorgang der Lähmung oder andere Aenderungen des Biotonus der Zelle durch den Nervenfortsatz activ übermittelt werden, eher geeignet, die Auffassung zu bestärken, dass überhaupt nur der Vorgang der dissimilato- rischen Erregung in einer Nervenfaser durch active Leitung übertragen werden kann, kurz, dass es nur eine Art des Leitungsvorganges in den Nervenfasern des Körpers giebt und dass seine specifischen Endwirkungen lediglich vom Endorgan bestimmt werden. 1 J. N. Langley, Note on the experimental junction of the vagus nerve with the cells of the superior cervical ganglion. Proceed. of the Royal Soc. London 1898. Vol. LXII. — Derselbe, On the union of cranial automatic (visceral) fibres with the Nerve cells of the superior cervical ganglion. Journ. of Physiol. 1898. Vol. XXI. Die Zusammensetzung des Leibes von hungernden und blutarmen Fröschen. Von Dr. W. von Moraczewski. (Aus dem Institut für medieinische Chemie in Lemberg.) In einer früheren Arbeit! habe ich versucht, den Stoffumsatz der blut- armen Frösche mit demjenigen der hungernden zu vergleichen. Es stellte sich ein geringer Unterschied heraus, eher ein quantitativer als qualita- tiver. Daraus war zu folgern, dass auch die chemische Zusammensetzung des Organismus keinen wesentlichen Unterschied aufweisen wird. Um es aber mit Sicherheit sagen zu dürfen, mussten entsprechende Versuche an- gestellt werden, das heisst es mussten die durch Ausspülung mit physio- logischer Kochsalzlösung blutarm gemachten Thiere auf ihren Gehalt an Stickstoff, Chlor, Phosphor, Kali, Natron, Kalk u. s. w. quantitativ unter- sucht werden und die gewonnenen Zahlen mit denen, welche die hungern- den Frösche betreffen, verglichen werden. Neben den Mineralbestandtheilen sollten auch der Fettgehalt und der Gehalt an reducirenden Substanzen berücksichtigt werden, um der Frage nach der Bildung, bezw. dem Ver- schwinden von Fett näher zu treten. Die Frösche stammten alle aus dem gleichen Aquarium und wurden, nachdem sie ausgespült und gewogen waren, zum Theil im destillirten Wasser unter Controle gelassen. Sie lebten in destillirtem Wasser, welches von Zeit zu Zeit erneuert wurde, so lange wie die neben ihnen beobach- teten blutarmen Frösche, und wurden nach einer bestimmten Zeit durch Chloroform getödtet, um als „hungernde‘ Frösche auf ihre Zusammensetzung mit den „blutarmen‘“ Fröschen verglichen zu werden. Die „blutarmen“ Frösche von gleicher Gattung und Stärke en durch Ausspülen mit physiologischer Kochsalzlösung blutarm gemacht, dann ! Pflüger’s Archiv. 1899. Bd. LXXVI. S. 290. W. v. MORACZEWSKI: LEIBESZUSAMMENSETZ. HUNGERNDER FRÖSCHE. 125 im destillirten Wasser eine bestimmte Zeit lang gehalten und ebenfalls auf ihre Zusammensetzung quantitativ geprüft. Einige wurden statt mit Koch- salz mit Rohrzuckerlösung !/,-normal. ausgespült, denn so behandelte Frösche können gleich lange wie die Salzfrösche am Leben erhalten werden. Es lag uns viel daran, die Thiere möglichst lange am Leben zu er- halten; denn erstens bilden sich die Veränderungen bei Fröschen sehr lang- sam aus, zweitens muss überhaupt ein abnormer Stoffwechsel lange dauern, wenn er zu Veränderungen der chemischen Zusammensetzung des Leibes führen soll. — Unsere Frösche lebten meist zwei bis vier Monate, und ebenso lange lebten die normalen Frösche unter den gleichen äusseren Be- dingungen, das heisst im gleichen Raume und in ähnlichen Gefässen — (Glaseylinder mit einem Deckel versehen). Nach der Tödtung wurden die Thiere entweder sofort untersucht oder — was nur in zwei Fällen aus zwingenden Gründen geschehen musste — in Formaldehyd gehärtet und nach einiger Zeit der Analyse unterworfen. Jedenfalls waren alle Thiere feucht gewogen, dann in einer Zerkleinerungs- maschine zu einem Brei verrieben, der Brei direct in gewogenen Schälchen aufgefangen und nochmals gewogen, dann bei 110° bis zum constanten Gewichte getrocknet und abermals gewogen (Trockensubstanzbestimmung). Die zerkleinerten und getrockneten Thiere wurden in einem Porzellanmörser zerrieben und das homogen zusammengesetzte Pulver zur Analyse gebraucht. Dort, wo die Frösche in Formalin gehärtet waren, wurden auch die hungernden Coptrolthiere in Formalin gehärtet und erst später untersucht, damit der Einfluss der Härtung in beiden Fällen gleichmässig wirke. Während des Verbleibens im Wasser wurden die Thiere meistens jede Woche gewogen und die Gewichtsabnahme notirt. Dieselbe ist in der Tabelle neben der Gewichtsabnahme der hungernden Frösche aufgezeichnet. Es wurden meistens blutarme Frösche, welche eine Zeit lang gehungert hatten, mit normalen Fröschen, welche ebenso lange wie jene hungerten, verglichen. Um aber auch den Einfluss des Verblutens allein, oder des Ausspülens allein zu kennen, wurden auch solche Frösche analysirt, bei welchen der Sinus venosus geöffnet wurde, und solche, welche sofort nach dem Ausspülen getödtet wurden. Schliesslich wurde ein normaler Frosch analysirt und mit den anderen verglichen.! Die Ausspülung geschah mit physiologischer Kochsalzlösung, von welcher 20 ° m auf einen mittleren Frosch in die Bauchvene langsam injieirt wurde. Die Operation, genau nach der in der früheren Arbeit beschriebenen Weise gemacht, führte freundlichst Hr. Prof. Dr. Adolf Beck aus. ı! Wenn wir auch überall die Einzahl gebrauchen, so soll damit nicht gesagt werden, dass nur ein Frosch untersucht wurde. Meistens wurden zwei bis drei Thiere zusammen zur Analyse verwendet. 126 W. von MORACZEWSKI: Das destillirte Wasser wurde alle drei Tage erneuert. Die Thiere wurden alle durch Chloroform um’s Leben gebracht. Keines der Thiere starb wäh- rend der Versuchszeit. Die Bestimmung der einzelnen Bestandtheile geschah auf folgende Weise: Der Stickstoff wurde nach Kjeldahl, der Chlor, Phosphor und Kalk nach dem früher angegebenen Verfahren, welches auf dem Abrauchen mit Salpetersäure beruht, bestimmt, das Kalium und Natrium nach der all- gemein üblichen Methode, wohei das Kalium als Kaliumplatinchlorid aus einer alkoholätherischen Lösung abgeschieden wurde, filtrirt, mit Alkohol- Aether gewaschen, in siedendem- Wasser gelöst und nach dem Abdampfen in einer Platinschale gewogen. -— Die Bestimmung von Fett geschah in dem Soxhlet’schen Apparate. — Nach etwa 24 Stunden wurde das mit Aether extrahirte Pulver mit ?/,,-normal. HCl versetzt und mit Pepsin im Brütofen während 48 Stunden verdaut; aus der Lösung wurde das Fett mit Aether extrahirt und der Aetherauszug zu der ersten Portion zugesetzt. — Nach dem Verjagen des Aethers und dem Trocknen wurde der Abdampfrückstand mit alkoholischer Kalilauge verseift und durch Retitriren mit !/,-normal. Schwefelsäure die Säurezahl bestimmt. Nach dem Ansäuern wurden aus der sauren Lösung die abgeschiedenen Fette mit Aether ausgezogen und nach dem Trocknen gewogen. Wir erhielten somit drei Bestimmungen von Fett. Die erste betrifft die Menge, welche durch Aether in dem Soxhlet’schen Apparat extrahirt wurde. Die zweite Zahl, als Fett Il bezeichnet, stellt die Summe des Aether- extractes und der nach der Verdauung gewonnenen Fettmenge dar. Die dritte Zahl, als Fett III, ist das Gewicht der Fette, welche nach der Ver- seifung und nach dem Ansäuern aus der wässerigen Lösung durch Aether im Scheidetrichter extrahirt wurden. Die reducirende Substanz wurde durch Wasser und schwaches Alkali aus dem Pulver extrahirt, auf 25° gebracht und genau nach der Vor- schrift von Pflüger mit Hülfe des Allihn-Verfahrens bestimmt. : Die Resultate sind bei jedem Versuche angegeben und mit analytischen Belegen versehen. Die Zusammenstellung wurde nach dem Procentgehalte der feuchten und der trockenen Substanz gemacht, ausserdem wurden die gefundenen Procentzahlen in Verhältniss zum Stickstoff, zum Phosphor und zum Kalk gebracht. Endlich sind die Verhältnisse der Procentzahlen, nach der Menge der Trockensubstanz geordnet, zusammengestellt worden. Die zur Analyse benutzte Menge war stets ziemlich bedeutend, was uns veranlasste, in wenigen Fällen Controlversuche anzustellen, die immer befriedigende Uebereinstimmung aufwiesen. — Es war unmöglich, bei der Fettbestimmung etwa die Jodzahl zu ermitteln, denn dazu reichte das Mate- rial nicht aus. LEIBESZUSAMMENSETZUNG HUNGERNDER FRÖSCHE. 127 Die sogenannte Fettbestimmung ist eine Bestimmung der ätherlöslichen Theile, und zwar waren die direct nach Soxhlet gefundenen Zahlen als Fett I, Fett II und Fett ILL bezeichnet. Die hier angeführten Versuche sind sämmtlich nicht an rein anämischen Thieren gemacht worden, sondern es waren immer hungernde Thiere, die blutarm oder normal bluthaltig waren. I. Normaler Frosch. Durch Chloroform getödtet, in Formalin und nachher in destillirtem Wasser gehalten. Die Thiere lebten 2 Monate ohne Nahrung im destillirten Wasser. 87.899 8m feucht, 12-619 8% trocken, Frosch 102-356 EM. 14-35 Procent Trockensubstanz. :N feucht 1-0 11-610 Proc. N 1.665 Proc. ER EHE: „ Cı Dre ” 0r31SE23:661° „PB 0.525 ,„ 0630 Ue835 „ Ca 1.0527 2, 020327202381. „ : Na 0.054 „ OE02E 02 AT „. K 0.0347, Ole 360 . , ; Hett VOSB) 0.13 1-409 ,„ Fett nach der Verdauung 02202777, 2,74, Com a -norm. NaOH 92.0 „ '/onorm. auf 100 8m Analytischer Beleg. 0.02364 8m KCl mit NaCl Angewandte Substanz . 0-02525 „ K,PtCl, 1.637856 sm 0-.12266 „ CaO 1°19437 „, 0-.14470 „ Mg,P,O, 1-10393 „, 34.5 m !/ -norm. NaOH entspr. 0-12075 8% N 1-04007 „ ee, \ Fett A-T7734 „ II. Normaler Frosch. Weniger als 2 Monate im destillirten Wasser. 86-1182” feucht, 14-181 8”% trocken, Frosch 98°200 85". 16-46 Procent Trockensubstanz. :N feucht 1-0 10°690 Proc. N 1-761 Proc. ER Tr: ” l ER ” 0282 02:510° 7, B 0-42, 0.46 4.863 „ (Ca DEE 0.04 0.466 „Na MENU 25 02057. 0-.527. 7... K 0.086 ,„ Ola 12528, ‚Bett 0249777, 0.15 1°685 ,„ Fett nach der Verdauung 021271000, 0712 21.323 Fett nach dem Verseifen und Ansäuern 0-217 Bye en ıl -norm. NaOH 160-0 „ /norm. auf 1008% Fett 128 W. von MORACZEWSKT: Analytischer Beleg. 0:04800 8m KClI mit NaCl Angewandte Substanz 0-.07330 „ K,PtCl, 2.18913 8m 0-.08701 „ CaO oo. 0-09757 „ Mg,P,0, 1-08507 „ 32.5 m 1/ -norm. NaOH entspr. 0.113758" N 1.06410 „ 008333 srm 0.09201 „ | Fett 5-45294 „ 0-07227 „ II. Normaler Frosch. Gewicht 50-28". Durch Chloroform getödtet und sofort untersucht. 46-7039 feucht, 12-07 8" trocken. 25.6°'% Trockensubstanz. :N feucht 1-0 10-550 Proc. N 2.688 Proc. 0-03 [0/37 | Mittel 0-35 Proc. 01 0:089 0-39 4.093 Proc. P 1.047 .,„ 0-61 6,4262 72263 ya 0-10 DO Na 0.286 „, 0-08 ORDER RE 0.236 „ 0-54 5-758 ,„ Fett direct extrahirt 1-474 „ 0-60 6.400 ,„' Fett nach der Verdauung 11698225 0:46 4.898 Fett nach der Verseifung 2437, 2} 2.0 Mm la -norm. H,SO, 180-0 „ !/,norm. NaOH auf 100% Fett 0-0008 0.058 Proc. Zucker 0.008 Analytischer Beleg. 0.071322" KCl mit NaCl Angewandte Substanz 0-08953 „ K,PtCl, | 1.542934 sm 0.02924 „ (ao | .0-32507 „, 0-07768 „ Mg,P,O, 7702530155, 22.9 ccm 1/-norm. NaOH entspr. 0.080152" N 0-76115 „ 0-15980 5m 0-17768 „ | Fett 9.775396 „ 0.13592 „ 0-00176 „ Cu,O 2.22531 „ IV. Normale Frösche, hungernd. Anfangsgewicht 409, 36°3, 33.3 87", Endgewicht 30-8, 28°9, 27- 1 em, In len Wasser vom 25. XI. 1899 bis 25. III. 1900 gehalten. Durch Chloroform getödtet und sofort analysirt. 81-377 8% feucht, 14-742 8% trocken. 18-11 Procent Trockensubstanz. LEIBESZUSAMMENSETZUNG HUNGERNDER FRÖSCHE. 129 :N feucht 1.0 10°690 Proc. N 1-934 Proc. 0-06. | 0.ggg | Mittel 0-650 Proc. 0) 0.117 0.688 | % 0.54 5-810 Proc. P 092 25, 1-03 1006, Ca SL 0-02 02237 7, Na 0205122, 0-10 W655: K 0.200 ,„ 0-55 35-896 „ Fett direct extrahirt 0.704 „ 0.44 4.685 ,„ Fett nach der Verdauung 0.847 7, 0-21 2.440 Fett nach der Verseifung 0-442 „ Da Ojecn Hi -norm. H,SO, 147-0 „ 1/, „norm. NaOH auf 100 8% Fett 0-006 0-067 Proc. Zucker 0.012708; Analytischer Beleg. 0-03950 3% KCl mit NaCl Angewandte Substanz 0-09505 „ K,PtCl, 1-32568 sm 0-13100 „_CaO 0-98011 „ 0-10855 „ Mg,P,0, 0-.52173 „ 27.0°® 1/ -norm. NaOH entspr. 0-0945 2 N 0-88400 „ 0.13187 8” 0-15851 „ | Fett 3-.38547 „ 0-.08259 „ 0.002238 „ Cw,O 1-69936 ‚„ V. Ein Frosch mit aufgeschnittenem Sin. venosus (verblutet). Gewicht 35.28m, Sofort nach der Tödtung untersucht. 29.21 3% feucht, 6.90 S” trocken. 23°62 Procent Trockensubstanz. :N feucht 1-0 10-325 Proc. N 2.433 Proc 0-07 057307 2201 Voakler r 036 32.0630. 2,2, E Veteitlın 0-61 6-136 „ Ca 1448 7, 0-18 Ste Na 0.427 „ 0-16 a64u,, K 0.3340, 0-59 5-924 ,„ Feit 1.399200, 0-51 5-133 ,„ Fett nach der Verseifung 12312, 07, 0-008 0082 ,„ Zucker auf 0,H,,0, berechnet 0-01 Boalean la -norm. H,SO, 108-0 „ /,0.norm. NaOH auf 100 2m Fett Analytischer Beleg. 007204 8% KC]l mit NaCl Angewandte Substanz 0:09308 „ K,PtOl, 0-.90898 sm 0.03288 „ CaO 0-.38280 „, 0.14689 „ Mg,P,O, 1-13023 „ 20-.1°m 1/ -norm: NaOH entspr. 0-07035 8% N 0-68135 „ Archiv f. A. u. Ph, 1900. Physiol. Abthlg. Suppl. 9 130 0-08352 sm | 0-07237 „ J 0.002083 „ Cu,O v1. Normaler Frosch, mit NaÜl-Lösung sogleich getödtet und analysirt. Fett W. von MOoRACZEWSKT: Angewandte Substanz 1-40981 m 1-24680 „, Gewicht 55- 5 gr, 50-79 8m feucht, 7-91 2” trocken. 15-76 Procent Trockensubstanz. :N SIT & {er} Stoll vn. getödtet. 9.480 Proc. N 1 0.380005, 6 0- san ae 0- 9.522 ,., Ca 1 os Na 0: Doaa 8 0- 3.241 , Fett 0. 0:093 ,„- Zucker 0. 80cm , -norm. H,SO, 104-0 „ !/,.norm. NaOH auf 100 &”% Fett Analytischer Belee. gründlich ausgespült, dann -03094 Em KC1 mit NaCl Angewandte Substanz -04521 „ K,PtCl, 1-13509 gm .03230 „ CaO, 0-24178 „ -04780 „ Mg,P,O, 0-21606 „ ” | Fett senllsnl r, -00362 „ Cu,O 1-95385 „ Mit !/, „.norm. NaCl-Lösung ausgespülte Frösche. Mittels Chloroform | Mit Formaldehyd und Da Wasser behandelt. in destillirtem Wasser gehalten. 1. Frosch. 53-11 3’% lebend gewogen, wogen, 6°783'% trocken gewogen. 15- 3 Procent Brockensuhstane Soleil S R 2 Monate 44-18 &% als feuchter Brei ge- feucht 11-026 Proc. N 1-683 Proc. 2. 60080..130.. 019 0-397a0R, 4-480 „ PB 026892, 32000 757 203 esıd usa no Na Mal 025097 KK 0.078. , 1-281 ,„ Fett direct VE1I6N 2.314 ,„ Fett nach der Verdauung 0.3531 1-064 ,, Fett nach d.Verseifen u. teen 0r1620 7, 5.3 m L/ -norm. H,SO, neutralisirt 400-0 „ 1. -norm. NaOH auf 100 2% Fett LEIBESZUSAMMENSETZUNG HUNGERNDER FRÖSCHE. 131 Analytischer Belee. 0.01676 ®% NaCl mit KCl Angewandte Substanz 001660 „ R,PtCl, Ve 0-03841 „ CaO 0-2903 „ 0-05024 „ Mg,P,O, 0.3187 „ 11.4 °m 1/ -norm. NaOH entspr. 0.0399 8m N 0.361937, 0.03778 8m 0-06912 „ , Fett 3-0349 „, 0-03228 „, VIII. 2. Frosch. Ebenso behandelt. Weniger als 2 Monate in destil- lirtem Wasser gehalten. 46258" Jebend gewogen, 37-508" als feuchter Brei, trocken nicht gewogen. Teisrezrer- ar ger nge rt o SISLSISISISES> IX. getödtet. :N 7-341 Proc. N 07200, Cl AaladE BE gu8b8ı ;, 0Ca 0.748 „ Na 033532 7, K 1043 ,, .. Fett direet 1.400 ,„ Fett nach der Verdauung 0-903 ,„ Fett nach dem Verseifen und Ansäuern 28° 1 norm. H,SO, 404-0 „ 1/,.norm. NaOH auf 100 8% Fett - 01614 „ .01250 8m KCl mit NaCl - 01084 „ .04251 „ .09280 „, -01806 „ .02416 „ Analytischer Beleg. Angewandte Substanz K,PtCl, 0) A 4946 grm CaO 0-35, Mg,P,O, 0-5424 „ Fett 1.0308, Frösche mit Rohrzuckerlösung ausgespült, nach etwa 15 Wochen Nach dem Tode ohne ÜConservirung analysirt. 25.663 3% feucht gewogen. 9.434 Proc. N 5.684 Tr 0.899 1.096 Cl P Ca Na K 132 W. von MORACZEWSKT: :N 0-06 0.575 Proc. Mg 0-27 2.555 „ Bett dieect 0-28 2.668 ,„ Fett nach der Verdauung 0-18 1-645 , Fett nach dem Verseifen und Ansäuern Analytischer Beleg. 0.04740 8® NaCl mit KC1 Angewandte Substanz 0-07406 „ K,PtCl, 1- 08442 sm 0:06463 „ CaO 0-39367 „ 0-01047 „ Mg,P,O, auf Mg 0239304 7; 0.077238 „ Mg,P,O, auf P 0-37953 „ 14.4 m 1/ -norm. NaOH entspr. 0-08048% N 053425 „ 0.05976 8m \ 0-06250 „ g Fett 2-34316 „, 0-03856 „ X. Frosch mit !/,„.norm. NaCl-Lösung ausgespült, dann vom 25.X1. 1899 bis 25. III. 1900 in destillirtem Wasser gehalten. - Anfangsgewicht 45-5, 53-1®%, Endgewicht 39-2, 32-62”%. Durch Chloroform getödtet, sofort untersucht. 65.03 8 feucht, 11°788% trocken. 18-11 Procent Trockensubstanz. N feucht — 9.791 Proc. N 1.772 Proc. 0-04 0.434 „ Cl DEUTET, 0-60 52592 . 5 120000 0% 1.17 11-438 „ Ca ZECHE 0-18 Tea, Na 0252077 0-15 1.4980, 0 K 0- 26955 0:35 3-490 „ Fett direct Ne. 0.40 3-944 ,„ Fett nach der Verdauung Val > o 0-20 2.022 ,„ Fett nach der Verseifung 0.365 1.2 cem 1), -norm, H,SO, 82-4 „ !/morm. NaOH auf 100:"® Fett 0-01 0.125 Proc. Zucker 002257 Analytischer Beleg. 0-.11357 2% NaCl mit KCl Angewandte Substanz 0-14418 „ K,PtÜCl, 1.593744 sm 0-16197 „ CaO -1-01462 „, 0-.15656 „ Mg,P,0, 0-71949 ,, 32.0 °m 1/, -norm. NaOH entspr. 0-11208”% N 1.14431 „ 0-5 „ AgNOS-Lösung entspr. 0°003034 Sm.C1 0°69978 „, O1 eBel] ww 0-14350 „ | Fett 3.640830 „ 0-07361 . J 133 LEIBESZUSAMMENSETZUNG HUNGERNDER F'RÖSCHE. — => | = ee _ ME _ — = — + gmdsoSsne ZunsgLegonz AI Ol 11-81 1220-0 #08 |098-0 |E1L-0 189-0 — 692-0 038-0690-3 [220-7 820-0 |z22-T ||" yosıy usgeuog 7 “ EA = 2 = = m en ee Et rt Bit 2 DR er cs ces "cs ‘8 ost 007 | 897-0 | 848-0 1961-0) — 1|810°0 981-0 |LLE-T |C89-0| — )889-T | pÄyappeurıog "uom z yoeu ‘osuag | 'L 9L-ST |STO-O FOL I — | — [TIE-0| — 1660-0 860-0 |FOC-1L 1996-0 | TET-O|F6r-T |" ° ° ° Mndseösne nen JIM| 9 29-88 610-0) SOT BIS, — IS68-T| — 188-0 187-0 8PF+T 168-0 GLT-0 8EH-Z | © omg = q IT-ST 810-0| LPT |3FF-0| 178-0 F0L-0| — 018-0 | TE0-0,166-T [280-1 |LIT-O | FE6-T |° ° putsung * F 09.3 800-0] OST |6F8-T | 889-T FLE-T I — |988-0| 983-0 | TC9-T |LF0-T 680-0 889-8 | ° ° yposug “ 5 'g H-9T | — 091 | L1E-0 912-0 658-0 | — | 980-0| CL0-0 661-0 \817-0| — 191-1 n en = 3 GE-Pl = 66 — 1808-0 061-0, — 780-0 FC0-0 1360-1 \czC-0| — |699-T pÄyppfeunıo g ur y9soaT AapeuntoN | "T = |. | — |EF9-1| 899-3 | g09-8 | 919-0 | 960-T| 668-0 | LaL-IT | #89-C| — |Fer-6 |° "ndsossne Sunsoplagonz AM | OL IT-8T 821-0| 88 |880-2| 766-8 06r-8| — ser ELL-L|SEF- IL 396-G | FEF-O 162-6 |" Yosız uoyeuom p “ 06 ende F0F 806-0 1009-11 870-1, — 8C8-0|8F1-0 898-6 [641-7 | 921-0 | Tre-L IL Be 8 08.07 | — 00# #90-T | FIE-2 184-1 — 606-0 | #68-0|000-6 |08F-F| — |930-L1 | PÄyapfeunog "uom z qoeu “osuagig | "L 9L-CT |860-0| FOL — — |Ira-8 — ‚689-0 [160-0 z76-6 |zer-9| 88-0|085-6 |" ° ° © ndsoene [gen Mm '9 69.86 ‚380-0 sor |eeı-el — |FR6-C| — 179-1 |SIS-T | 981-9 \089-E| EL-0O|eze-oT|' ° ° ° yommıaaa E Y °@ IT-ST |290-0| 25T 055-2 | 889-7 968-8) — |L91-T| 282-0 |900-T1 |o18-7| C9-0 069-071 ° * ° panimg “kr 09.C3 |880-0| OST 1868-7 007-9 |scıL-4 —\ | 186-0 081-1 | 985-9 |e60-F| ge-o|ogsc-or| "gg ke 39T | — | 09T 828-1 | 089-1 |8a0-L -- |22G-0 999-0 |898-7 |oIc-z| — 0869-01 a Se EG GEHE | = 6 — |60#-T 098-1 — 178-0 188-0 |CE8-L |199-8| — |019-TT | PIeutog ‘purssung ‘yosong uLIoN "I an 107007 En = Ei n HMI en | 9 de 10 N “N »ıloqeyfeaouayg W. von MOoRACZEWSKI 134 a —_ — —_ 62-0 | 27:0 | C#:0 | 61-0 | 97-0 | 90-2 | — |#9-T |’ ° 7 © 0 gmdsossne Sunsonieyonz Am | OL I1-8T 60:0 | 7-88 F£+0 | 29-0 | 06-0 | SL-O: : 61-0 | 86-T | LO-O | 79-1 | EEE TOSTITENOVELO TE Te BT 6 = = F0F | 61-0 | 62-0 | 1-0 | 20:0 | SI-O | 82-1 | E1-O | FE-L |" ' S: er 5 g 08-€L == 00F | 82-0 | 14-0 | 83-0 | TI-0 | 08-0 ı 10-8 | — | 99-2 | RF: EALSPIELLOR Uereuon a yoeu ‘osungy | °L SC EONON EEROE Me — | 88-0 | 07:0 160-0 | eg-T | er-O | ee-T | ° ° ° © “22 yndsadsme IHeN AM | 9 89-85 30-0 sort | 2#-T Il — | #9-T | C7-0 | 0C°0 | 69-T |. 06-0 | 18: | yanıqTaA “ = % °'G I1-ST | 10-0 | 2#1 | 28-0 | 08-0 | 29-0 | 08-0 | 90-0 | 68-T | IT-O | F8-T | puosuny = = = £ | 7 09-23 | 10-0 | ost | 61-T | 9G-T | oP-T | 28-0 | 22-0 | 96-7 | 80-0 24-2 | ° yosıy - Re ee = 'g IF-91 = 09T |.89-0 | 29-0 | 19-0 | 18-0 | 81-0 | 96-1 — |8%# = = “ = & 2 Ce FH] — 26 —_ 68:0 | SE-0 | 20:0 | 01-0 \ 00-3 = 81-E | puaosuny SPIEL N qaSoLA JOJemLoN ar a III II I Basar | tonz “ nz Y Ken so m En AN dıaz a sonen ‘o 'N UOoA sstugfeyIan — — — | 81-0 | 88-0 | 23-0 | 11-0 | 60-0 | v2-1 | 09-0 | — |’ ° ° = © ©. ndsessne Sunsoneyonz AM | OL I1-ST | 010:0 #38 | 08-0 | 07-0 | 0. 10:07 90:0 00-12 | 79:0: | 80.0 | a 2 Er gndsoosne IHeN Am | 9 29-82 | 800-0 | sor | 1-0 | — | 68-0 | 91-0 | 8ST-O | 19-0 | 9E-0 | 20-0 | ° * "70 gopnpqtea ee T1-st | 900-0 | 2FT | 12-0 | #7-0 | CE-0 | 01-0 | 30-0 | E0-T | F7C-0 | 90:0 | * ° ° ° ° ° Spmmosung “ E; 09-°z | 800-0 | 081°) 97-0 | 09-0 | 76-0 | 80-0 | 01-0 | 19-0 | 60 | en-0 | "gg Me | € 9-91 SEE 091 | 31-0 | SI-O | FL-0 | S0-0 | 70-0 | 99-0 | 8-0 | — SWEET £ = = = I GE-FL = 36 — | 81-0 | 17-0 | 30-0 | 80-0 | 89-0 | 1-0 | — | * * 0. pÄyoppemnog ur yosorg JojeunoN E II ]I 1 a) a s\ulolalo x Nnz a sn g ‘fg UoA sstugpeyron 135 t FRÖSCHE. N 4 LEIBESZUSAMMENSETZUNG HUNGERNDI [ | | | | | 66 -— | — | 61-0 | 81-0 | 80-0 | 0-0 | 06-0 | — | 89-1 | cE-FI pÄyapjeuniog ‘purosuny 'uoW 3 “ — JOJEULION 00F — | 81-0 | 83-0 | #1-0 | <0-0 | 60:0 | 65-0 | — | 82-1 | 08- 3 '< IT-8ST | 900-0 | LFT | 88-0 | 27-0 | CE-0 | 01-0 | 80-0 | 89-0 | 90-0 | 26-0 | * * * * punmdunyg 2 2 Y 09-C3 | 900-0 | 08T | 92-0.| 66-0 | 68-0 | F1-0 | 21-0 | 79-0 | co-0 \ #9. | ng z 'g gF-91 — 091 | 28-0 | 78-0 | TE-0 | 1T-0 | 60-0. | Ic-0O | — | 08-23 3 ® Na 2 2 Esel ee — | 61-0 | 81-0 | 80-0 | «0-0 | 08-0 | — | 89-7 | purosany ‘pAyapeunog ur gasorg Topeunton | "I aoe at 1 oyacıy | NZ a 7, SI en Feen N Ze ZNEESEENE SET NE WOASSSTUIT EURO 136 W. von MOoRACZEWSKI: Aus unseren Untersuchungen ist zu ersehen, dass die Zusammensetzung eines normalen Frosches, oder eines verbluteten, d. h. wenn das Blut durch Oefinen des Sinus venosus freiwillig abgeflossen ist, eine andere ist, als die eines hungernden oder blutleeren. — Auch wenn die Blut- leere unmittelbar vor dem Tode erzeugt worden war, ist in der Zusammensetzung ein deutlicher Unterschied zu erblicken. 18 == | 7 Ian | li 17 T m] Ste | | | 2 in r ] nr 32 \ | 15 — 7 ü IL “al | 1 | N I 14 ie | [ I j E Ba | 13 [ + Ju -- me —t 12) ER | Zr 1 | a _ —:—- . 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Dass eine gründliche nn 9 LEIBESZUSAMMENSETZUNG HUNGERNDER FRÖSCHE. rat Durchspülung mit physiologischer Kochsalzlösung eine Erhöhung des Wasser- sehaltes bewirkt, ist wohl selbstverständlich, dagegen soll betont werden, dass ein unverletzter hungernder Frosch, sowie ein anämischer, bei welchem das Blut durch Kochsalzlösung zum Teil ersetzt worden war, nach zwei und nach vier Monaten wasserreicher ist, als ein normaler. Nochmals mag hier darauf hingewiesen werden, dass in, den vorliegenden Untersuchungen stets hungernde Frösche mit hungernden anämischen verglichen sind. Wegen der Schwierigkeiten, welche das Abmessen der Kost bei Fröschen bereiten würde, mussten die Thiere ohne Nahrung ge- halten werden, obgleich es viel interessanter wäre, das Verhalten der anämischen Organismen bei Nahrungsaufnahme mit dem Verhalten der nor- malen nicht hungernden zu vergleichen. In unserem Falle ist also das Bild durch den Einfluss des Hungers gewiss weniger deutlich und beson- ders das Verhalten der Fette durch das Hungern wesentlich beeinflusst. Der Stickstoffgehalt der normalen Frösche ist höher — auf feuchte Substanz berechnet — und nimmt bei anämischen mehr als bei hun- sernden ab. Wie aus dem Gewichtsabnahmeverzeichnisse zu ersehen ist, nimmt auch das Körpergewicht bei blutleeren Fröschen rascher ab, als bei hungernden normalen Fröschen. Vergleicht man den Stickstoffgehalt der getrockneten Substanz, so findet man andere Verhältnisse; auch hier ist der Stickstoffgehalt der anämischen Frösche am geringsten, aber der der hungernden ist höher, als der der normalen Frösche. Wenn man die den Stickstoffgehalt ausdrückenden Zahlen durch die des Phosphorgehaltes dividirt, so findet man dasselbe verhältnissmässig wie oben. Der relative Gehalt an Stickstoff ist bei anämischen am kleinsten, bei hungernden am grössten. Der Stickstoffgehalt der normalen Frösche steht in der Mitte. — Es will das sagen, dass die anämischen Frösche ver- hältnissmässig zum Phosphor und verhältnissmässig zum Wasser mehr Stickstolf verlieren, als die normalen, die hungernden dagegen weniger. Anders gestaltet sich der relative Stickstoffgehalt im Vergleich mit dem Kalkgehalte. Der Kalkgehalt ist deshalb zum Vergleich mit dem Gehalte an anderen Salzen gewählt worden, da die Kalksalze als Skeletbestandtheil wohl den geringsten Schwankungen unterliegen. Hier ist der Stickstoffgehalt bei normalen Fröschen am höchsten, bei anämischen am niedrigsten; dazwischen liegt der Stickstoffgehalt der hungern- den normalen Frösche, d. h. dass im Vergleich mit den Kalksalzen anämische am meisten Stickstoff verlieren, dann die hungernden, dann die normalen. Weiterhin heisst dieses, dass hungernde Frösche relativ mehr Wasser und Phosphorsalze ‘verlieren und relativ mehr Stickstoff zurück 138 W. von MOoRACZEWSKI: halten, dagegen die anämischen hauptsächlich an Stickstoff zehren, oder zum Mindesten bei ihnen der Stickstoffverlust dem des Phosphor- und des Wasserverlustes nicht nachsteht. Der Chlorgehalt scheint bei anämischen Fröschen mehr abzunehmen, als bei hungernden, und ist bei beiden niedriger, als bei normalen Thieren, wenn man auf feuchte Substanz berechnet. Das Gleiche liesse sich vom Chlorgehalt der Trockensubstanz sagen. Dagegen ist relativ zum Stickstoff der Chlorgehalt bei anämischen Fröschen am höchsten, bei hungernden jedenfalls höher, als bei normalen. Relativ zum Phosphor ist dagegen der Chlorgehalt bei normalen am höch- sten, niedriger bei hungernden, noch niedriger bei anämischen. Endlich relativ zum Kalkgehalte ist der Chlorgehalt sowohl bei hungernden, wie bei anämischen Fröschen vermindert. Somit findet eine Chlorretention bei Anämie und Hunger statt, denn der Chlorverlust wird bei hungernden und anämischen Fröschen durch den Stickstoffverlust übertroffen, dagegen geht der Chlorverlust dem Phosphor- und Kalkverluste voraus. Die den Chlorgehalt betreffenden Zahlen sind leider recht dürftig, und wir möchten das oben Gesagte nur mit grosser Reserve hehaupten. Der Phosphorgehalt der frischen Substanz ist bei hungernden Fröschen deutlich niedriger gegenüber den normalen; dagegen ist bei den anämischen kein grosser Unterschied zu finden. Auf Trockensubstanz berechnet, ergiebt sich der Phosphorgehalt der hungernden Thiere viel kleiner, als der der normalen, dagegen der anämischen viel grösser. Das will sagen, dass der Wasserverlust bei Hunger grösser ist, relativ zum Phos- phorverluste, als bei Blutleere. Vergleicht man den Phosphorgehalt mit dem Stickstoffgehalte, so ist das Nämliche zu ersehen. Die hungernden Frösche haben einen relativ niedrigen Phosphorgehalt, die anämischen einen sehr hohen, was wiederum auf einen bedeutenden Stickstoffverlust bei anämischen, auf einen relativ geringen bei Hunger hinweist. Wenn man aber den Phosphorgehalt mit dem Kalkgehalt vergleicht, so findet man eine Verminderung des Phosphorgehaltes sowohl bei Hunger wie bei Blutleere, und zwar bei Blutleere stärker als bei Hunger. | Der Schluss ist ohne Weiteres zu ziehen: Der Phosphorverlust ist grösser als der Kalkverlust bei Hunger und Blutleere, dagegen geringer als der Wasser- und Stickstoffverlust, und zwar wird das Wasser besonders bei Hunger, der Stickstoff besonders bei Anämie verloren. Der Kalkgehalt der Froschorgane ist bei Hunger eher vermindert, bei Blutleere eher vermehrt, auf frische Substanz berechnet. Alle Zahlen, welche sich auf frische Substanz beziehen, zeigen verhältniss- LEIBESZUSAMMENSETZUNG HUNGERNDER F'RÖSCHE. 139 mässig geringe Schwankungen, da die Concentration der Säfte ungefähr dieselbe bleibt. Berechnet man den Kalkgehalt auf trockene Substanz, so ist bei hungernden eine deutliche, wenn auch geringe Ab- nahme zu constatiren, dagegen eine sehr bedeutende Zunahme bei anämischen. Den gleichen Befund ergiebt der Vergleich des Kalkgehaltes mit dem Stickstoffgehalte: Auch hier ist: bei Hunger eine geringe Abnahme, bei Anämie eine deutliche Zunahme vorhanden. Somit wird der Kalk bei Blutarmuth relativ zum Stickstoff und Wasser retinirt; bei Hunger ist dieses nicht der Fall, oder in viel geringerem Grade und erst bei längerem Hungern tritt Aehnliches auf. Relativ zum Phosphor ist der Kalk sowohl bei Hunger wie bei Anämie deutlich zurück gehalten. Der Gehalt an Natronsalzen ist, auf feuchte Substanz berechnet, so- wohl bei Hunger wie bei Anämie geringer, und zwar nimmt er mehr bei Hunger als bei Anämie ab. Das Gleiche erhellt aus dem Procentgehalte der trockenen Froschorgane und aus dem Vergleiche des Gehaltes an Natrun- salzen mit dem Stickstoff, Phosphor und dem Kalkgehalte. Es will dies bedeuten, dass der Organismus bei Hunger und bei Anämie die leicht lös- lichen Natronsalze zuerst verliert, denn der Verlust an diesen übertrifft bei Weitem den Verlust an Stickstoff, Phosphor, Wasser und Kalk. Ueber die Kalisalze lässt sich dasselbe sagen; auch hier ist der Ver- lust bei Hunger und Anämie deutlich, besonders beim Hunger. Dauert aber der Hunger sehr lange an, so wird der Gehalt an Kalisalzen höher, was über Natronsalze nicht gesagt werden kann. Im Vergleich mit dem Stickstofigehalte zeigt der Gehalt an Kalisalzen genau dasselbe: eine relative Zunahme bei langer Dauer der Versuche, eine deutliche Ab- nahme im Anfange. Dasselbe relativ zum Phosphor- und Kalkgehalte. — Auch die Kalisalze verlassen den Organismus eher, als die anderen Bestand- theile, und erst nach geraumer Zeit kehrt der Gehalt an Kalisalzen zur Norm zurück, während die Natronsalze dauernd unter der Norm bleiben. Bei normalen Fröschen ist der Gehalt an Natronsalzen höher, als der der Kalisalze, dasselbe ist bei Anämie zu constatiren, dagegen nimmt bei Hunger die Menge der Kalisalze zu, was mit dem eben Gesagten über- einstimmen würde. Die anämischen Frösche behalten auch nach der längsten Dauer der Versuche, wo der Gehalt an Alkali überhaupt sich zu heben be- ginnt, das oben genannte Verhältniss der Alkalisalze, sind also immer so zusammengesetzt, wie der normale Frosch, das heisst reicher an Natron- salzen und ärmer an Kalisalzen. Der Fettgehalt nimmt selbstverständlich bei Hunger ab, und da unsere anämischen Frösche ebenfalls gehungert hatten, so ist auch bei ihnen eine Abnahme zu verzeichnen. Dauert das Hungern zu lange, so scheint es, als 140 W. von MORACZEWSKT: ob eine Zunahme von Fett stattfinden sollte. Diese Zunahme konnte als solche nicht constatirt werden, denn es wurde selbstverständlich kein Frosch während der Hungerperiode untersucht, um dann am Schluss der Periode nochmals analysiert zu werden. Die Fettzunahme hat sich vielmehr ergeben aus dem höheren Fettgehalte derjenigen Frösche, welche ent- schieden länger gehungert haben (vier Monate), gegenüber dem Fettgehalte jener Frösche, welche nur zwei Monate in destillirtem Wasser gehalten wurden. Weiterhin wird die Meinung durch den Befund der anderen Be- standtheile gestützt, welcher darauf hinweist, dass nach längerem Hungern sowohl die anämischen wie die normalen Thiere eine gewisse Zunahme der Concentration aufweisen, welche in der Zunahme der Trockensubstanz ihren Ausdruck findet. — Allerdings könnte dieses merkwürdige Verhalten auf dem besonders hohen Fettgehalte derjesigen Frösche beruhen, welche zu den langen Versuchen gebraucht wurden. Die Thiere aus dieser Versuchsreihe zeigten Anfangs einen Fettgehalt von 5 Proc., nach 4 Monaten dagegen einen solchen von 3 Proc. Von der anderen Versuchsreihe wurden nur hungernde Frösche untersucht, die sämmtlich einen geringeren Fettgehalt hatten. Sowohl auf trockene Substanz, wie auf feuchte berechnet, zeigen die an- ämischen Frösche eine stärkere Fettabnahme, als die hungernden. Vergleicht man dagegen den Fettgehalt mit dem Stickstoffgehalte, so ist bei hungernden Fröschen eine relativ geringere Fettabnahme, als bei den anämischen. Im Verhältniss zum Phosphorgehalte ist umgekehrt der anämische Frosch fettärmer, der hungernde relativ fettreicher. Dasselbe ist von dem Verhältniss zum Kalkgehalte zu notiren. — Wenn also der anämische Frosch eher Fett- als Stickstoff verliert, so verliert er es langsamer, als ein hungernder, welcher wiederum langsamer das seinige einbüsst relativ zum Phosphor- und Kalkgehalte. Das, was wir als Zucker bezeichneten, und was überhaupt die redu- cirenden Substanzen sind, nimmt bei Hunger und bei Anämie eher zu. Wegen der geringen Zahl der Versuche können wir darüber nicht viel, Sicheres sagen. Es ist vielleicht nicht uninteressant, den Unterschied zu verzeichnen, welcher sich herausstellt beim Vergleiche der Zusammensetzung eines mit Kochsalzlösung ausgespülten Frosches mit dem eines solchen, welcher nach derselben Operation vier Monate gelebt hatte. Der nach der Ausspülung sofort getödtete Frosch zeigte überhaupt eine geringere Concentration der Säfte, während dieselbe sonst bei den verschie- densten Umständen ungefähr die gleiche ist. Wahrscheinlich beruht diese Erscheinung auf einer Quellung der Ge- webe, welche später durch Wasserverlust ausgeglichen wird, ‚hier dagegen ohne Veränderung zum Vorschein kommt. LEIBESZUSAMMENSETZUNG HUNGERNDER FRÖSCHE. 141 Die oben betonte Verminderung der Concentration hat eine Vermin- derung der Trockensubstanz und sämmtlicher Bestandtheile zur Folge. Eine Ausnahme bilden die Chloride, welche wohl aus der Kochsalzlösung stammen. Auf trockene Substanz berechnet, zeigt der frisch ausgespälte Frosch einen Mehrgehalt an Chloriden und Phosphaten, während alle anderen Be- standtheile — das Fett nicht ausgenommen — bei ihm in geringerer Menge vorhanden sind, als bei dem nach vier Monaten getödteten ebenso blutarmen Thiere. Im Verhältnisse zum Stickstoff ist genau die gleiche Zusammensetzung zu verzeichnen. Nur die Phosphate und Chloride sind reichlich ver- treten, alles Andere sparsamer. Auch im Vergleiche mit dem Phosphor- gehalte sind alle Bestandtheile procentisch bei frisch ausgespülten herab- gesetzt; nur das Fett macht hier eine Ausnahme. Im Vergleich zum Cal- ciumgehalte ist der Stickstoff-, der Phosphor- und Fettgehalt geringer bei den nach vier. Monaten getödteten Thieren, als bei den frisch ausgespülten. Dieses will sagen, dass durch die Ausspülung die löslichen Salze zu- erst, dann die stickstoffhaltigen Bestandtheile, dann das Fett und zuletzt die phosphor- und kalkhaltigen Bestandtheile des Organismus betroffen werden. Nach längerem Hungern wird die Concentration der Salze, be- treffend ihren Alkaligehalt, wiederum hergestellt. Somit wird ein anämischer Organismus, im Vergleich mit einem hun- gernden, stickstoff-, chlor- und fettärmer, dagegen alkali-, phos- phor- und kalkreicher. Vergleicht man die Zusammensetzung eines normalen Frosches mit der eines ausgespülten, so sieht man eine Abnahme sämmtlicher Bestand- theile, ausser den Chloriden, welche von der Spülflüssigkeit stammen. Diese Abnahme ist sowohl aus dem Procentgehalte der feuchten wie der trockenen Substanz zu ersehen, nur ist bei der Zusammensetzung der trockenen Sub- stanz eine deutliche Phosphor- und Kalkzunahme zu constatiren. Der Blut- verlust, oder vielmehr der Ersatz des Blutes durch Kochsalzlösung betrifft alle Bestandtheile, ausser den Knochen. Das eben Gesagte erhellt aus dem Verhältniss des Phosphorgehaltes zum Calciumgehalte, welches gleich bleibt bei den ausgespülten und normalen Fröschen. Im Ver- hältniss zum Phosphorgehalte ist ebenso wie im Verhältniss zum Wasser- gehalte der Gehalt an übrigen Bestandtheilen vermindert, mit Ausnahme des Gehaltes an Kalksalzen. Im Verhältniss zum Stickstoff ist nicht nur der Phosphor- und Kalkgehalt nicht vermindert, aber umgekehrt deut- licb erhöht, was nach dem oben Auseinandergesetzten selbstverständlich erscheint. Die Ausspülung betrifft also alle Bestandtheile ausser den Skeletsalzen. 142 W. von MORACZEWSKI: Im Vergleich mit dem normalen Frosch ist der hungernde an allen Bestandtheilen ärmer, ausser an Phosphor- und Kalksalzen, welche bei hungernden überwiegen. Auf trockene Substanz berechnet, ist dagegen der hungernde Frosch an allen Bestandtheilen reicher, ausser an Natron und Fett, was mit der oft erwähnten Neigung des hungernden Organismus, Wasser reichlich zu verlieren, zusammenhängt. Im Vergleich mit dem Stickstoff sind ebenfalls alle Bestandtheile reichlicher, ausser den Natron- salzen und den Fetten. Im Vergleich mit dem .Phosphorgehalte dagegen ist nur der Kalkgehalt reichlicher bei hungernden Fröschen vertreten. Im Vergleich mit dem Kalkgehalte sind wiederum alle Bestandtheile vermindert. Somit verliert der hungernde Organismus besonders viel Wasser und Natronsalze und hält besonders viel Stickstoff zurück. Vergleicht man einen normalen Frosch mit einem verbluteten (durch Oeffnen des Sinus venosus), so sind bei letzterem der Natron-, Kali- und Chlorgehalt höher, besonders der Natrongehalt, alle anderen Bestand- theile sind vermindert. Das Gleiche ist in der trockenen Substanz zu finden, wo auch das Fett des verbluteten Thieres reichlicher ist. Im Vergleiche mit Stickstoff ist von dem relativen Gehalte das Näm- liche zu sagen, dagegen sind im Vergleiche zum Phosphorgehalt sämmtliche Bestandtheile des verbluteten Organismus erhöht. Daraus ist zu schliessen, dass beim Froschorganismus das Fett, die Natron- und Kalisalze in den Organen mehr als im Blute vertreten sind; über den Phosphor und den Kalk lässt sich dasselbe in noch viel höherem Grade sagen. Das Blut ist also das wasserreichste Organ. Wenn man einen normalen Frosch mit einem blutleeren und zudem hungernden vergleicht, so findet man, auf feuchte Substanz berechnet, bei dem blutleeren eine Erhöhung des Gehaltes an Phosphor-, Kali-, Natron- und Kalksalzen, eine Verminderung von Stickstoff und .Fett. - Auf trockene Substanz berechnet, ergiebt sich dasselbe. Relativ zum Stickstoff ist. ebenfalls der anämische und hungernde Organismus an allen Bestandtheilen reicher, ausser an Fett; im Vergleiche mit Phosphor ist er nur an Kalk reicher, im Vergleiche mit Kalk an allen Bestandtheilen ärmer. Der anämische Organismus verliert also hauptsächlich Stickstoff und Fett, da- gegen vermag er Kalk und Phosphor zurückzuhalten (Knochen). Schliesslich sei der hungernde Organismus mit dem hungernden und zudem blutarmen Organismus verglichen. Dabei stellen sich die gleichen Verhältnisse heraus, wie bei dem Vergleiche des normalen mit dem blut- armen: Auf feuchte Substanz berechnet, ist der anämische an allen Bestand- theilen ärmer, ausser an Phosphor und Kalk. Auf trockene Substanz eben- falls; nur treten hier die Natron- und Kalisalze den Phosphaten und den LEIBESZUSAMMENSETZUNG HUNGERNDER FRÖSCHE. 143 Kalksalzen an die Seite. Der anämische Oreanismus retinirt im Vergleich zum Wasser Kali- und Natronsalze neben den unveränderten Skeletsalzen. In Relation zu Stickstoff gebracht, sind alle Bestandtheile des anämischen Organismus vermehrt, ausser den Chloriden, das Fett nicht ausgenommen, also eine relative Verfettung und Chlorverlust. Relativ zum Phosphor gebracht, sind nur der Gehalt an Kalksalzen und der an Natronsalzen ver- mehrt, was auf eine relative Retention von Natronsalzen deuten würde. Relativ zum Kalkgehalte ist der Gehalt an sämmtlichen Bestandtheilen ver- mindert, ausser an Kali- und Natronsalzen, was darauf hinweisen sollte, dass die Kalisalze mindestens so beständig wie die Kalksalze retinirt - werden. Der anämische Organismus unterscheidet sich von dem hungernden durch den-relativ reichen Wassergehalt, welcher den verhältnissmässig starken Kaligehalt mit sich bringt, während der hungernde Organismus gerade wasser- und kaliarın ist. Während der Leib eines ausgehungerten Frosches einen verhältniss- mässig bedeutenden Stickstoffgehalt zeigt, ist ein blutleerer Organismus arm an stickstoffhaltigen Stoffen, was für eine besondere Neigung, solche zu zersetzen, sprechen würde. Die Schnelligkeit, mit welcher das Körpergewicht abnimmt, ist bei den anämischen Fröschen im Anfange grösser, um dann allmählich abzu- nehmen. Bildet man die entsprechenden Curven, so verläuft die Curve, welche die Körpergewichtsabnahme der anämischen Frösche bezeichnet, zuerst steiler herunter, dann parallel mit der Curve, welche die Gewichtsabnahme der hungernden normalen Frösche versinnlicht. Körpergewicht Fig. 2. Die blutleeren Frösche wogen Anfangs . 1. 53.1em, 2. 45-4.m, Nach 1 Monat betrug die Abnahme . . 4.5 „ 2.1, ei, x R Aue ey, Gala oa, ss 5 a; iR 12200; ale De, Er = 5 ur 132.97, 1228 144 W. v. MORACZEWSKI: LEIBESZUSAMMENSETZ. HUNGERNDER FRÖSCHE. Die normalen Frösche nahmen unter denselben Bedingungen an Körper gewicht ab: Anfangsgewicht 2.22.0227. 740.8,,30. 1,093 -2 52C i Nach 1 Monat um a2. 18.0, SEO. ! IN Ce BR 5. | AKA A vier se Sur EN 10:0 RS SEEN , In Procenten des Anfangsgewichtes ausgedrückt, war die Abnahme bei anämischen: bei hungernden: im 1. Monat 200202 0.2.82.5742:6 Procent: 2.3, 2213023, Erocenie RUE a anal) nee 13-4, 7.5, 4.2 " EI A es Mu, Mo 5 21-7, 17-4, 16-6 ” ee an 20a Aejazı . 24.4, 22-7, 18-5 5 = Daraus ist zu ersehen, dass nicht nur die Blutleere, sondern auch das Anfanesgewicht auf die Gewichtsabnahme von Einfluss ist, und zwar -ver- lieren die schweren Individuen mehr an Körpergewicht, als die leichten. Fassen wir die Ergebnisse unserer Arbeit kurz zusammen, so kommen wir zu folgenden Sätzen: 1. Durch die Verblutung wird der relative Gehalt des Froschorganismus an Wasser herabgesetzt. 2. Beim längeren Hungern steigt der relative Stickstoffgehalt des Or- ganismus, dagegen wird der Wasser- und Alkalisalzgehalt vermindert. 3. Bei länger dauernder Anämie wird der Froschorganismus reicher an Wasser und Salzen, dagegen wird sein Stickstoffgehalt_herabgesetzt. 4. Der Gehalt des Froschorganismus an reducirenden Substanzen nimmt sowohl bei Hunger wie bei Blutleere zu. Ueber die Localisation der Geschmackcentra in der Gehirnrinde. Von Akademiker Professor W. v. Bechterew. Die Localisationsverhältnisse der Geschmackcentra in der Gehirnrinde konnten bisher noch immer nicht als genügend klargestellt gelten. Es liegen nach dieser Richtung ältere Versuche von Ferrier vor,! welcher an Affen die Gegend der Scheitel- und Schläfenlappen blosslegte und dann, mit Hülfe des Thermocauters in die Gehirnmasse eindringend, den Gyrus hippocampi und das Ammonshorn zerstörte. Bei den solchergestalt operirten Thieren wurde der Geruch mit Hülfe von Essigsäure und Ammoniak, der Geschmack mit Citronensäure, die cutane Sensibilität durch Glüheisen und Kneifen geprüft. Im Verfolge dieser Versuche gelangte Ferrier zu der Ansicht, Zerstörung des Ammonshornes und des Gyrus hippocampi bedinge Anästhesie der contralateralen Körperhälfte; der Gyrus uncinatus sei Geruch- centrum; in der Nähe des letzteren, und zwar im Lobus temporo-sphenoi- dalis, finde sich das Centrum des Geschmacksinnes vor. Es ist nun hervorzuheben, dass die angewandte Operationsmethode selbst sowohl wie die angedeutete Methode der Functionsprüfung der operirten Geschöpfe bei weitem nicht einwandfrei erscheinen, weshalb denn auch die daraus hergeleiteten Folgerungen nicht unangefochten blieben. In der Folge veröffentlichte Ferrier im Vereine mit Yeo eine weitere Versuchsreihe,? wobei ebenfalls der Thermocauter, der nun durch die hinteren Theile der Hemisphären eingeführt wurde, zur Anwendung gelangte. An der Hand dieser ihrer Versuche bemühen sich die genannten Forscher nun, den Beweis ı D. Ferrier, Experiments on the brain of monkey. Philos. Transact. 1375. Vor CLXV. "Bart. I. ® Ferrier and Yeo, A record of the cerebral hemisphere, Kbenda. 1884/1885. Part II. \ Archiv f. A. u. Ph. 1900. Physiol. Abthlg. Suppl. 10 146 W. v. BECHTEREWw: zu erbringen, dass der Gyrus hippocampi und das Ammonshorn Centra für die Tast- und Muskelsensibilität beherbergen. Jedoch wurden dieselben sowohl nach der technischen Seite hin, als auch bezüglich der abgeleiteten Consequenzen von H. Munk einer schonungslosen Kritik 2 unterworfen. Seinerseits sprach sich Munk dahin aus, dass das Riechcentrum sowohl wie das Geschmackceentrum im Gebiete des Gyrus hippocampi ihre Lage hätten.” Luciani hinwiederum vertritt auf Grundlage von Untersuchungen, die er bereits im Jahre 1884 veröffentlichte, die Ansicht, das Ammonshorn erscheine als centrale Stätte einer ausgedehnten Riechsphäre, die einen be- trächtlichen Theil des Schläfen- und Scheitellappens umfasse. Luciani deutet ausserdem hin auf vorhandene Beziehungen des Ammonshornes zu der Seh- und Gehörfunetion. In nächster Nachbarschaft des Riechcentrums befindet sich nach Luciani das Geschmackcentrum, die vierte äussere Schläfenwindung und einen Theil des Gyrus hippocampi umfassend. End- lich werden durch neuerliche, unter Munk’s Leitung ausgeführte Unter- suchungen von Ossipow° Zweifel erhoben an den Beziehungen des Ammons- hornes zu der Haut- und Muskelsensibilität, zu der Seh- und Hörsphäre und sogar zu dem Geruch- und Geschmacksinne. Auf der anderen Seite suchen manche Autoren die Lage der Geschmack- centra nicht an der Basis des Schläfenlappens, sondern auf der convexen Hemisphärenoberfläche. Beachtung verdienen nach dieser Richtung vor Allem Untersuchungen von A. Schtscherbak an Kaninchen,* wobei nach Entfernung der Parietalregion Verlust des Geschmacksinnes beobachtet werden konnte. Und Tonnini constatirte im Anschlusse an Läsionen der lateralen Hemisphärenoberfläche unter Anderem auch Störungen der Geschmackfunction. Ich selbst hatte schon in meinen „Leitungsbahnen“ im Hinblick auf eigene Untersuchungen die Ansicht dargelegt, bei den Primaten erscheine als Geschmackcentrum der allerunterste Abschnitt der Centralwindungen, bezw. die Region des Klappdeckels. Im Verlaufe der letztverflossenen Jahre ist in meinem Laboratorium von den Hrrn. Schipow, Trapeznikow, Larionow und Gorschkow‘ die Frage in einer Weise weiter verfolgt worden, die die Localisalionsver- hältnisse der Geschmackcentra beim Hunde meiner Ansicht nach endgültig eruiren. ı H. Munk, Ueber die Fühlsphäre der Gehirnrinde. Sitzungsber. der kgl. preuss. Akademie der Wissensch. 1892. 14. Juli. Bd. XXXVI. * Derselbe, Ueber die Funetionen der Grosshirnrinde. Berlin 1887. > Newrologitscheski Westnik. 1890. (Russisch.) * Schtscherbak, Ueber die Localisation der Geschmäckeentra in der Gehirn- rinde. Westn. klin. i ssud. psich. 1891. Heft 1. (Russisch); Newrologisches Central- blatt. 1890. Die LocALISATION DER GESCHMACKOENTRA IN DER GEHIRNRINDE 147 Zunächst hat vor etwa 2 Jahren Hr. Dr. Schipow eine ganze Reihe von Versuchen über Beschädigung des Gyrus hippocampi und fornicatus beim Hunde angestellt, im Verfolg welcher Versuche der Genannte, analog den Befunden Ossipow’s, weder in dem einen, noch in dem anderen Falle irgend merkliche Alterationen der allgemeinen Sensibilität oder der Geschmacksphäre zu beobachten in der Lage war. Diese Versuche lassen also im Vereine mit denjenigen von Ossipow die Annahme von Geschmack- centren in der Gegend des Gyrus hippocampi ausgeschlossen erscheinen. Andererseits konnte Hr. Dr. Trapeznikow durch Versuche an Hunden eruiren,! Beschädigung des unteren Abschnittes der vierten äusseren Win- dung entsprechend dem Winkel zwischen Fissura olfactoria und Fissura präsylvia dicht über dem Lobus olfactorius habe im Gefolge Abschwächung des Geschmackes auf der dem Eingriffe entgegengesetzten Seite. Bilaterale Zerstörung der soeben näher bezeichneten Gegend führte, ausser Störung des Kauactes, zu gleichfalls bilateraler Herabsetzung des Geschmacksinnes und zu Störung des Appetites. Auch fand der genannte Autor im Ge- folge von Beschädigung der vorhin genannten Gegend Degeneration von Fasern, welche bei Anwendung des Marchi’schen Färbungsverfahrens unter Anderem dicht bis zu den Kernen des Glossopharyngeus im verlängerten Marke verfolgt werden können. In analoger Weise constatirte Dr. W. La- rionow einseitige Herabsetzung der Geschmacksempfindung nach Läsionen im Gebiete der vierten äusseren Windung.?” Als ganz besonders umfassend aber sind in dieser Beziehung hervorzuheben die in meinem Laboratorium bewerkstelligten Untersuchungen von Dr. Gorschkow, welcher auf meine Veranlassung das topographische Verhalten der corticalen Geschmackcentra einer speciellen Durcharbeitung unterwarf.” Zum Zwecke seiner Unter- suchungen wurden von dem Genannten Hunde mit ganz besonders gut ausgebildetem Geschmacksinne herangezogen, die in Folge dessen auf ver- schiedene Geschmackstoffe auch im Falle schwacher Concentration derselben lebhaft reagirten. Selbstverständlich wurden die Thiere auf ihre Geschmacks- empfindung mehrere Male vor dem Eingriffe geprüft und wurde diese Prüfung nach ausgeführter Operation während einer längeren Beobachtungs- dauer vielfach wiederholt; geprüft wurde ferner, abgesehen von Körper- gewicht und -Temperatur, die allgemeine Sensibilität und der Geruchsinn, und zwar für sich auf jeder Seite. ! A. Trapeznikow, Ueber die centrale Innervation des Schluckens. Dissert. St. Petersburg 1897. (Russisch.) > W. Larionow, Ueber die Rindencentra des Gehörs. Däissert. St. Petersburg 1898. (Russisch.) 3 Gorschkow, Ueber die Localisation der Geschmackcentra in der Gehirnrinde. Obosr. psich. 1900. (Russisch.) 10* 148 W. v. BECHTEREWw: Was den Geschmack betrifft, so dienten zur Prüfung desselben einer- seits Lösungen von Geschmackstoffen in verschiedener Concentration, anderer- seits pulverförmige solche Stoffe, sei es, dass dieselben auf verschiedene Stellen der Zunge applicirt, oder sei es, dass sie dem Futter des Thieres beigemengt wurden. Auf süss wurde mit Zucker, auf salzig mit Kochsalz, auf sauer mit Citronensäure, auf bitter mit salzsaurem Chinin, Digitalin, Alo& und Coloquinthen geprüft. Insgesammt wurden 42 Hunde operativen Eingriffen unterworfen. Zur Untersuchung gelangten mittels der Methode der Ausschaltung verschiedene Theile der Grosshirnrinde, und zwar sowohl solche, welche schon früher mit der Localisation der Geschmackcentra ver- muthungsweise in Zusammenhang gebracht waren, als auch alle übrigen Rindengebiete auf der dorsolateralen und ventromedialen Oberfläche der Hemisphären. Hierbei wurden die zur Geschmackperception in Beziehung stehenden Gebiete ebensowohl unilateral wie bilateral, und in letzterem Falle bald gleichzeitig, bald zu verschiedenen Zeiten dem experimentellen Eingriffe unterworfen. Die Beobachtungsdauer der Versuchsthiere schwankte, von der Zeit des Eingriffes gerechnet, zwischen einigen Tagen und mehreren Monaten. Als wesentliches Ergebniss dieser Untersuchungen ist Folgendes hervor- zuheben. Bei zweiseitiger Zerstörung eines Rindengebietes, entsprechend dem vorderen-unteren Abschnitte der dritten und vierten Urwindung, erfolgt totaler Verlust des Geschmackes mit Bezug auf sämmtliche Geschmack- stoffe; hingegen ergab Beschädigung anderer Rindenregionen, wie der Stirn-, Scheitel-, Schläfen- und Oceipitallappen oder der unteren Hemisphären- oberfläche beim Hunde keinerlei merkliche Herabsetzung der Geschmacks- empfindung. Im Falle von Beschädigung der vorhin bezeichneten Rindenstelle auf einer Seite erfolgt completer Verlust der Geschmacksempfindung auf der entgegengesetzten und geringe Abschwächung derselben äuf der correspon- direnden Seite. Dies spricht für unvollständige Kreuzung der Geschmacks- bahnen. Bei Zerstörung der Geschmacksphäre tritt neben Störung des Ge- schmackes auch Aufhebung der tactilen Sensibilität der Zunge ein, und zwar ist auch dieser Ausfall bei unilateraler Zerstörung auffallender . auf der entgegengesetzten und weniger auffallend auf der gleichen Seite. Intensität und Dauer der Alteration der Geschmacksempfindung stehen in Abhängigkeit von der Ausdehnung der Substanzläsion. Bei geringeren Zerstörungen stellt sich schon nach einigen Tagen’ eine Besserung des Geschmackes ein, während bei ausgedehnteren solchen Zerstörungen der Geschmacksdefect noch nach Ablauf vieler Monate bei den Versuchsthieren Die LOCALISATION DER GESCHMACKCENTRA IN DER GEHIRNRINDE. 149 fortbesteht. Bei bilateraler Läsion erfolgt die Wiederkehr der Geschmacks- function langsam, doch ist eine Restitution bei verhältnissmässig gering- sradigen Beschädigungen der Geschmackszonen beider Hemisphären noch möglich. Partielle Zerstörungen der Geschmacksphäre bedingen Verlust der Em- pfindung für einzelne Geschmacksqualitäten, was zum Beweise dessen dient, dass die Hauptformen der Geschmacksempfindung: bitter, salzig, sauer, süss, auf verschiedene Theile der Geschmackszone der Grosshirnrinde projieirt sind. Eine völlig genaue Bestimmung der jeder einzelnen erwähnten Ge- schmackskategorie entsprechenden Rindenterritorien ist nicht durchführbar. Es lässt sich jedoch durch Combination ganzer Versuchsreihen erkennen, dass in dem Gyrus sylviacus anterior (vierte Windung) in unmittelbarer Nähe des Gyrus ectosylvius anterior vorwiegend Gebiete für bitteren und salzigen Geschmack, in dem Gyrus ectosylvius anterior (dritte Windung) solche für den sauren und süssen Geschmack und gleichzeitig für die tactile Sensibilität der Zunge localisirt erscheinen. Im Speciellen darf man an- nehmen, die Region des bitteren Geschmackes befinde sich im unteren Abschnitte des Gyrus sylviacus anterior an der Grenze der Fissura Sylvii und der Fissura präsylvia (Trapeznikow und Gorschkow), die Region des salzigen Geschmackes über der vorigen im mittleren Theile des Gyrus sylviacus anterior (Larionow und Gorschkow); das Gebiet des sauren Geschmackes im unteren Abschnitte des Gyrus ectosylvius anterior, das- jenige des süssen endlich im oberen Theile der zuletzt genannten Windung. Dabei lässt die Fähigkeit der Apperception von bitter und salzig anscheinend desto mehr nach, je weiter man sich vom Gyrus sylviacus anterior entfernt, während die Apperceptionsfähigkeit für sauer und süss gerade im Gegen- theil vom Gyrus sylviacus anterior zum Gyrus ectosylvius anterior hin sich steigert. Was das Centrum für die tactile Sensibilität der Zunge betrifft, so findet sich dasselbe im Gyrus ectosylvius anterior in der Nachbarschaft des Gyrus suprasylvius anterior (zweite Windung). Bei faradischer Reizung des unteren Theiles vom Gyrus sylviacus anterior erfolgt Contraction der Lippen auf der entgegengesetzten Seite. Ausserdem lassen sich durch Reizung der Gesehmacksphäre Zungen- und Schluckbewegungen auslösen, wie die bezüglichen, in meinem Laboratorium angestellten Untersuchungen von A. Trapeznikow dargethan haben. Aus den Beobachtungen anderer Autoren und auch aus meinen eigenen Unter- suchungen geht hervor, dass durch Reizung der vorerwähnten Rindengegend beim Hunde auch Kaubewegungen erzielt werden können, welche augen- scheinlich ebenfalls unter dem Einflusse der Geschmacksempfindung stehen. Beim Affen erfolgen Kau- und Schluckbewegungen auf Reizung des aller- untersten Theiles der Centralwindungen, was ich auf Grundlage eigener 150 W. v. BECHTEREW: Versuche zu bestätigen in der Lage war; letzterwähnte Thatsache steht in vollstem Einklang mit dem Umstande, dass die Geschmacksphäre der Affen in der Region des Klappdeckels ihre Lage hat. Zu den klinischen Beobachtungen, die sich auf den vorliegenden Gegen- stand beziehen, übergehend, muss nun leider constatirt werden, dass die Zahl derselben überaus spärlich ist. Bei corticalen Hirnaffectionen, z. B. bei Epilepsie und progressiver Paralyse der Irren,! sieht man jedoch nicht selten partielle Alterationen des Geschmackes auftreten, und derartige Beobach- tungen können nach dem, was wir vorhin über die Differenzirung der den einzelnen Geschmacksqualitäten -entsprechenden Rindengebiete anführten, nicht mehr befremden. Mit Bezug auf solche klinische Beobachtungen, welche speciell mit der Localisation der Geschmacksphäre im Zusammenhange stehen, und mit Rücksicht auf das im Vorstehenden von der Bedeutung des Ammonshornes (Gesagte kann hervorgehoben werden, dass Meynert, Sommer,? Bratz,’ ich selbst* und andere Autoren nicht selten sklerotische Affectionen des Ammonshornes und des Gyrus hippocampi bei Epileptikern vorgefunden haben. Ob aber solche Affeetionen als Ursache der epileptischen Anfälle, wie Einige wollen, oder als Folge derselben aufzufassen sind, steht dahin. Unter Anderem weist Sommer, welcher unter 90 Fällen von Epilepsie 30 Mal Affectionen des Ammonshornes beobachtete, auf die Seltenheit von Geruch- und Geschmackstörungen bei solchen Kranken hin. Diese Beob- achtungen erscheinen jedoch schon deshalb nicht ganz einwandfrei, weil einzelne Fälle, in denen etwa Erhaltung des Geschmackes bei stärkerer Sklerose des Ammonshornes zu constatiren gewesen, nicht verfolgt wurden. Zudem ist Sklerose kaum eine Affection, welche zur Eruirung der Locali- sationsverhältnisse cerebraler Functionen als geeignet in Frage kommen könnte. Eine besondere Bedeutung möchte ich daher einem meiner Fälle beimessen, in welchem bilaterale Zerstörung nahezu des gesammten Gyrus hippocampi mit einem Theile des Ammonshornes und des Gyrus uncinatus mit dem darunter liegenden Marke der Schläfenlappen vorlag und wo nichtsdestoweniger der Geschmacksinn nicht affieirt war.® Dieser Fall lässt zur Evidenz erkennen, dass die von einigen Autoren angenommene ! Herman, Obosr. psich. 1899. Nr. 2. (Russisch.) ? Sommer, Erkrankungen des Ammonshornes als ätiologisches Moment der Epi- lepsie. Archiv für Psychiatrie. 1880. Bd.X. ® Bratz, Ueber die Affectionen des Ammonshornes bei Epileptikern und Para- Iytikern. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie. 1899. Bd: LVI. Heft 5. * Sitzungsber. der psychiatrischen Gesellschaft zu St. Petersburg. 1899. ° Sitzungsber. der wissensch. ‚Versamml. der Aerzte der psychiatr. und Nerven- klinik zu St. Petersburg. 25. Februar 1899. Obosr. psich.. 1899. Nr.7. (Russisch.) Die LoCALISATION DER (GESCHMACKCENTRA IN DER (FEHIRNRINDE. 151 Localisation des Geschmackcentrums im Gebiete des Gyrus hippocampi auch für den Menschen keine Bestätigung findet. Man muss im Hinblick auf solche Befunde das Geschmackcentrum des Menschen auf der lateralen Ober- fläche der Hemisphären suchen, und zwar ist nach den Ergebnissen des Thierexperimentes die Lage des genannten Centrums bei dem Menschen naturgemäss in der Klappdeckelregion zu vermuthen. Leider fehlt es in dieser Beziehung an unmittelbaren klinischen Beob- achtungen von Fällen mit Zerstörung der Operculargegend, in. denen auf das Verhalten der Geschmacksfunction besonderes Gewicht gelegt worden wäre. Jedoch gewinnen im Zusammenhange mit dem Thierexperimente grössere Bedeutung solche Beobachtungen, wo der in der Operculargegend sitzende pathologische Herd zu Krämpfen der Kaumusculatur geführt hatte. Ein solcher Fall ist unlängst von N. M. Popow veröffentlicht worden.! Da wir von den Thierversuchen her wissen, dass Reizung der Geschmacksphäre Contractionen der Zungen- und Kaumuseulatur und Schluckbewegungen auslöst, so spricht der Befund von Kaumuskelkrämpfen in dem erwähnten Falle in positivem Sinne zu Gunsten der Localisation des menschlichen Geschmackcentrums im Gebiete des Operculum. ! Newrolog. Wiestn. 1399. (Raussisch.) Ermüdung, Erschöpfung und Erholung der nervösen Öentra des Rückenmarkes. Ein Beitrag zur Kenntniss der Lebensvorgänge in den Neuronen. Von Prof. Max Verworn. (Aus dem physiologischen Institut der Universität Jena.) Ueber die Lebensvorgänge in den Elementen des Centralnervensystems liegen bisher meines Wissens noch keine systematischen Untersuchungen vor. Die Vorstellungen über das Geschehen innerhalb der nervösen Centra sind bis jetzt nur von ganz vager Natur und gehen nicht hinaus über die theoretischen Betrachtungen, die man auf Grund von Erfahrungen an anderen Objecten über die allgemeinen Vorgänge in der lebendigen Sub- stanz überhaupt angestellt hat. Bei der grossen Bedeutung, die gerade die Physiologie des Öentralnervensystems als des dominirenden Organsystems im Körper vor allem für die Pathologie besitzt, und bei der tiefgehenden Kenntniss, die uns die letzten Jahrzehnte über die Verhältnisse des feineren anatomischen Baues der nervösen Centralorgane gebracht haben, wird daher auch in der Physiologie das Bedürfniss immer fühlbarer, auf experimen- ' tellem Wege eingehendere Erfahrungen über die Vorgänge in den Neuronen zu gewinnen. Die folgende Untersuchung soll einen kleinen Beitrag in dieser Richtung liefern. Methode. Um die Vorgänge in der lebendigen Substanz der Neurone zu unter- suchen, ist es zweckmässig, diese Vorgänge gewissermaassen zu vergrössern, d.h. sie durch Steigerung ihrer Intensität deutlicher zu machen. Das ge- schieht, wie beim Muskel, bei der Drüse und bei anderen lebendigen Objecten am einfachsten durch Reizung. Allein gerade für das Centralnervensystem | | | MAx VERWORN: ERMÜDUNG U. S. W. 153 existirt bekanntlich ein Mittel, das in noch viel höherem Grade geeignet ist, die Thätigkeit gewisser Centra zu steigern, das ist die Strychninvergiftung. Ich habe daher die Strychninvereiftung als Versuchsmethode ver- werthet, wie das ja auch früher gelegentlich schon für andere Zwecke ge- schehen ist. In Bezug auf den histologischen Angriffspunkt des Strychnins im Rückenmark habe ich es in einer früheren Mittheilung nur wahrschein- lich machen können, dass dieses Gift nicht auf die motorischen Neurone der Vorderhörner wirkt.! Inzwischen hat Hr. Baglioni im hiesigen phy- siologischen Institut diese Frage mit einer neuen Methode weiter verfolgt und einwandsfrei festgestellt, dass das Gift in der That nicht auf die motorischen Vorderhornzellen, sondern nur auf die sensiblen Elemente des Rückenmarkstammes wirkt, vermuthlich auf die Zellen der Hinterhörner. Hr. Baglioni wird über seine Untersuchungen selbst in diesem Archiv aus- führlich Bericht erstatten. Die Erregbarkeit dieser Elemente wird durch Strychnin in so enormer Weise gesteigert, dass die schwächsten Reize schon eine ungeheure Erregung derselben hervorrufen, die sich nun auf dem ge- wöhnlichen Wege den motorischen Neuronen der Vorderhörner mittheilt und so zu den heftigsten refleetorischen Muskelcontractionen führt. Wie ich bereits hervorgehoben habe?, lässt sich nur diese eine, d. h. diese erregbar- keitssteigernde Wirkung des Strychnins nachweisen, und eine andere als diese specifische Wirkung ist wenigstens für schwache und mittlere Ver- siftungsgrade im Gebiete des Rückenmarkes schlechterdings nieht vorhanden. Aber es ist auch im höchsten Grade unwahrscheinlich, dass das Strychnin selbst in den allerstärksten Dosirungen noch eine andere als die specifisch erregbarkeitssteigernde Wirkung auf das Rückenmark ausübte, denn die central lähmende Wirkung des Strychnins, die bei sehr grossen Giftgaben zu beobachten ist und die schliesslich zu einer vollständigen Lähmung der Reflexerregbarkeit führt, konnte ich zurückführen auf die Asphyxie, die sich in Folge der diastolischen Herzlähmung durch das Gift entwickelt? Wird die Circulation wieder in Gang gesetzt, so kehrt sofort auch wieder die enorm hohe Reflexerregbarkeit zurück, die eben die specifische Wirkung des Strychnins auf das Rückenmark repräsentirt. Soweit die directe Wirkung des Strychnins auf das Rückenmark in Betracht kommt, lässt sich also keine andere als allein die erregbarkeitssteigernde Wirkung finden. Uebrigens wird dieses Ergebniss durch einige neue Versuche im Folgenden noch weiter bestätigt werden. Ich hebe diese Thatsache aber deshalb schon hier be- sonders hervor, weil sie wichtig ist für die angewandte Methode, denn die ‘ Verworn, Zur Kenntniss der physiologischen Wirkungen des Strychnins, Dies Archiv. 1900. Physiol. Abthlg. S. 385. aA. 0. ARNO. 154 MAx VERWORN: Methode wäre eventuell unbrauchbar, wenn das Strychnin im Rückenmark ausser der erregbarkeitssteigernden Wirkung noch störende Nebenwirkungen erzeugte. Zu den Versuchen dienten mir Temporarien in sehr verschiedenem Ernährungszustande Für die Versuche über Erschöpfung und Ermüdung des Rückenmarkes fand ich besonders ganz magere Individuen sehr geeignet, wie ich sie in den Monaten Juni und Juli dem zum Theil überwinterten Froschvorrathe unseres Ranariums entnehmen konnte. Bei diesen Thieren entwickelten sich in den warmen Sommermonaten die Erscheinungen der Ermüdung und Erschöpfung ziemlich schnell, so dass die Versuche meist in wenigen Stunden beendigt werden konnten. Ferner war die Lähmung der motorischen Nervenendorgane im Muskel durch das Gift bei diesen Thieren selbst nach den stärksten Dosen nur sehr gering, nach schwachen Dosen überhaupt unmerklich. Nachdem’ ich mich durch Controlversuche davon genügend überzeugt hatte, war es zwar nicht mehr nöthig, für die schwachen Dosen, mit denen ich operirte, die Arterie des einen Schenkels zu unterbinden, um am Muskel einen sicheren Index für die Vorgänge im Rückenmark an sich zu gewinnen. Immerhin habe ich doch in vielen Versuchen auch diese Vorsicht geübt. Endlich schloss ich, wo es nöthig erschien, auch die Ermüdung des Muskels durch den Krampf in der be- schriebenen Weise! aus,-indem ich durch Aethernarkose des N. ischiadieus die Muskeln der einen Hinterextremität vom Krampf aussparte, um jeden Augenblick einen reinen Indicator für den Zustand des Rückenmarkes an sich zu gewinnen. Nach Vorausschickung dieser allgemeinen nsuhahschen Angaben lasse ich gleich die Schilderung der Versuche selbst folgen. Versuche. Die folgenden Versuche beziehen sich auf die Vorgänge, die sich bei angestrengter Thätigkeit in den Neuronen des Rückenmarkes abspielen. Daraus werden sich weiterhin einzelne Prineipien ergeben, die überhaupt dem physiologischen Geschehen in den Neuronen zu Grunde liegen. Die Versuche knüpfen an die eigenthümlichen Erscheinungen der Lähmung an, die sich nach stärkerer Strychninvergiftung beim Frosch allmählich heraus- bilden und deren Entwickelung ich bereits geschildert habe.? Versuch I fasst die Hauptmomente dieser Erscheinung, auf.die es im Folgenden an- kommt, noch einmal kurz zusammen. IPA a O)! AERO! ERMÜDUNG U. S.W. DER NERVÖSEN ÜENTRA DES RÜCKENMARKES. 155 I. Ein Frosch wird mit dem Rücken nach unten auf einer Korkplatte festgesteckt. Darauf wird die Schenkelarterie des einen Beines unterbunden, der Ischiadicus bis zum Kniegelenk freigelegt und der Gastroenemius von der Ferse her bis zum Kniegelenk für die graphische Verzeichnung seiner Zuckungen freipräparirt. Nachdem schliesslich das Herz blossgelegt ist, wird der Ischiadicus am Oberschenkel in locale Aethernarkose versetzt und der Frosch nunmehr durch eine Strychnindosis von 0-018® oder mehr subcutan vergiftet. Nach wenigen Minuten treten heftige tetanische Anfälle auf, denen kurze Pausen der Erschlaffung folgen. Etwa 5 Minuten später sieht man, dass die Herzthätigkeit beginnt immer schwächer zu werden. Reflexzuckungen, hervorgerufen durch rhythmische Berührungen derselben Hautstelle, bis Unerregbarkeit eintrat. Während der zwischen den Curven liegenden Zeit wurde keine Reizung ausgeführt, die Reflexerregbarkeit erholte sich inzwischen. Die untere Curve giebt die Zeit in Secunden an. Die Schläge folgen sich langsamer, die Systolen werden unvollkommener und das Herz zeigt immer länger werdende diastolische Pausen. Sehr bald verlieren die Krampfanfälle ihren tetanischen Charakter und gehen all- mählich mehr und mehr in einzelne Zuckungen über, während die Pausen länger werden. Jetzt kann die Narkose des Nerven unterbrochen und die graphische Verzeichnung der Zuckungen des Gastrocnemius begonnen werden. Nach einiger Zeit bemerkt man, dass durch Berührungen der Haut an der gleichen Stelle immer nur eine geringe Zahl von immer kleiner werdenden Reflexzuekungen ausgelöst werden kann, dann ist für einige Secunden die Reflexerregbarkeit von dieser Hautstelle her völlig erloschen, und es bedarf einer kurzen Erholung, bis sie wieder auf dem früheren Grad angekommen ist (s. Fig.). Es wechselt also immer der Erregbarkeitsgrad derartig, dass er nach einigen Reflexzuckungen = 0 ist und dann wieder bis zu seiner für die Strychninvergiftung charakteristischen enormen Höhe ansteigt. Allein 156 MAx VERWORN: die Pausen der Unerregbarkeit werden immer länger, die Zahl und Höhe der von der gleichen Hautstelle auslösbaren Zuckungen immer geringer. Inzwischen ist das Herz vollständig zum diastolischen Stillstand gelangt. Endlich ist es nicht mehr möglich, überhaupt noch eine Reflexzuckung von der Haut her auszulösen, nachdem eben noch die gleiche leise Berührung wie Anfangs wirksam war. Aber jetzt ist die Reflexerregbarkeit überhaupt erloschen, auch für die stärksten Reize. Selbst Zerquetschen und Farädisiren der Haut ruft nicht die geringste Bewegung mehr hervor, das Rückenmark ist total gelähmt, während die directe Reizung des Ischiadicus mit schwachen Induetionsschlägen noch andauernd nahezu die gleichen Zuckungshöhen liefert wie Anfangs. Ist dieser Zustand erreicht, so ist doch der Frosch noch keineswegs todt. Bei künstlicher Athmung mittels eines kleinen Gummiblasebalgs gelingt es meist, wie es scheint lediglich durch den mecha- nischen Reiz, das Herz wieder zum Schlagen zu bringen. In diesem Falle dauert es dann nicht lange und die Reflexerregbarkeit stellt sich wieder ein, und zwar sofort wieder in der enormen Höhe, wie sie eben für die Strychninvergiftung charakteristisch ist. Je nach der Stärke der Herz- thätigkeit erreicht die Erholung einen grösseren oder geringeren Grad. Niemals aber wird sie wieder vollständig... Das Herz wird schliesslich doch wieder gelähmt, und bald darauf erlischt auch wieder die Reflex- erregbarkeit von neuem. Auf Grund dieser Erscheinungen bin ich in meiner früheren Mittheilung bereits zu dem Ergebniss gekommen, dass bei starker Strychninvergiftung zwei verschiedene Processe in den Rückenmarksneuronen mit einander interferiren: Einerseits die durch das Strychnin erzeugte, ausserordentliche Erregbarkeits-- steigerung und andererseits diedurch ungenügende Circulation in Folge der Herzlähmung herbeigeführte Lähmung derselben. | 11. Dieses Ergebniss ist im Hinblick auf die folgenden Versuche so wichtig, dass es wünschenswerth erscheint, von vornherein jeden Einwand dagegen unmöglich zu machen. Es muss daher jeder Verdacht ausgeschlossen werden, dass doch vielleicht das Strychnin selbst, wenigstens in stärkerer Dosis eine lähmende Wirkung ausübe, etwa so wie bekanntlich die Narkotica (Alkohol, Aether, Chloroform, ferner Morphium u. s. w.) in schwachen Dosen erregend oder erregbarkeitssteigernd, in starken lähmend wirken. Gegen eine solche Deutung der Rückenmarkslähmung spricht indessen schon der fortwährende Wechsel von enorm gesteigerter Erregbarkeit und ERMÜDUNG VD. S. W. DER NERVÖSEN ÜENTRA DES RÜCKENMARKES. 157 völliger Unerregbarkeit, wie er sich vor Eintritt der totalen Lähmung immer zwischen zwei Reizungen entwickelt. Wäre die Lähmung eine specifische Strychninwirkung, so würde man nicht recht verstehen, warum zwischen den Perioden der Lähmung immer wieder Momente höchster Erregbarkeit vorhanden sind. Man müsste denn annehmen, dass das Strychnin durch das Blut immer wieder zum Theil herausgespült werde, dass also auch nach totaler Lähmung die Wiederkehr der Erregbarkeit durch Anregung der Herzthätigkeit und durch Wiederherstellung der Circulation nur die Folge des Herauswaschens des Giftes durch das Blut sei. Allein das wäre kaum verständlich, da ja das Blut selbst Träger des Giftes ist. Immerhin glaubte ich den directen Beweis liefern zu müssen, dass die Lähmung keine specifische Strychninwirkung ist. Ein Frosch wird in der gewöhnlichen Weise -auf einer Korkplatte be- festigt. Darauf wird ihm eine Canüle in die Aorta gebunden und das Blut durch eine stark strychninhaltige Kochsalzlösung verdrängt. Dann wird die Durchspülung unterbrochen. Wenige Secunden nach der Einspülung der Lösung treten bereits die tetanischen Krämpfe auf. Bald entwickeln sich die Lähmungserscheinungen in der typischen Weise, und schliesslich, nach etwa 10 bis 25 Minuten, hat der Frosch seine Reflexerregbarkeit vollkommen verloren. Nunmehr. wird die Klemme, welche zur Unter- brechung der Durchspülung an den zuführenden Schlauch angelegt worden war, wieder geöffnet. Die gleiche strychninisirte Kochsalzlösung durchspült jetzt andauernd die Gefässe des Frosches wie vorher. Es dauert nicht lange, etwa 1 bis 2 Minuten, so stellt sich trotzdem die Reflexerreebarkeit wieder her, und zwar sofort und dauernd wieder in ihrer enormen Höhe, so dass ein leiser Berührungsreiz genügt, um heftige Zuckungen des ganzen Körpers hervorzurufen. An eine Herausspülung des Giftes ist hier nicht zu denken, denn die in den Gefässen eirculirende Flüssigkeit ist die Giftlösung selbst, die vorher die Vergiftungserscheinungen hervorgerufen hatte. Wäre die Lähmung eine specifische Wirkung des Strychnins, so könnte sie nicht durch neue Durechspülung mit derselben Giftlösung, die dem Rückenmark immer neue Giftmengen zuführt, wieder aufgehoben werden. Was verändert ist, ist nur die Cireulation. Die Lähmung muss also auf die mangelnde Circulation bezogen werden. Sie ist lediglich eine asphyktische Lähmung. Als Probe darauf diene Folgendes. Frösche, die mit ganz schwachen Strychnindosen vergiftet sind, werden nicht total gelähmt, sondern behalten dauernd von kurzen Pausen unter- brochen ihre hohe Reflexerregbarkeit. Dabei ist die Circulation dauernd erhalten. Ist die totale Lähmung bei starker Stryehninvergiftung lediglich eine asphyktische, so muss sich dieselbe auch bei schwächster Strychnin- 158 MAx VERWORN: vergiftung unter den gleichen charakteristischen Symptomen ent- wickeln, wenn man die Circulation nach dem Ausbruch der Krämpfe zum Stillstand bringt. Das ist thatsächlich der Fall. Ein Frosch wird in schwach strychninisirtes Wasser gesetzt, bis er die ersten tetanischen Anfälle bekommt, dann sofort herausgenommen und auf einer Korkplatte befestigt. Darauf wird entweder das Herz abgeklemmt, bezw. abgeschnitten, oder noch besser, es wird das Blut durch Einspülung von physiologischer Kochsalzlösung in die Aorta verdrängt und die Circu- lation unterbrochen. Der Frosch zeigt zunächst noch tetanische Anfälle, die aber allmählich kürzer werden, in Einzelzuckungen übergehen und in immer längeren Pausen auftreten, bis endlich die Reflexerregbarkeit nach etwa 10 bis 25 Minuten völlig erloschen ist. Die Entwickelung der Lähmung hat dabei den typischen Verlauf. Wird jetzt nach Eintritt vollständiger Lähmung wieder von neuem eine Cireulation mit physiologischer Kochsalz- lösung in Gang gesetzt, so tritt wieder eine Erholung der Reflexerresbarkeit ein, aber trotz der sehr schwachen Vergiftung nur bis zu einem bestimmten Grade. Die leisesten Berührungen geben Einzelzueckungen am ganzen Körper, aber es kommt nicht mehr zur Entwickelung von tetanischen Anfällen. Schliesslich entwickelt sich von neuem eine Lähmung. Aus allen diesen Versuchen geht zur Genüge hervor, dass die Lähmungserscheinungen des Rückenmarkes, die sich unter dem Einfluss des Strychnins entwickeln, nicht auf einer speci- fischen Wirkung des Strychnins auf die Elemente des Rücken- markes beruhen. Die einzige Wirkung des Strychnins auf das Rückenmark ist die enorme Steigerung der Reflexerregbarkeit. Die Lähmung des Rückenmarkes entsteht lediglich als Folge einer unzureichenden Circulation. Ill. Wenn demnach die Lähmung des Rückenmarkes, wie sie sich bei starker Strychninvergiftung entwickelt, eine Folge der gestörten Circulations- verhältnisse ist, so entsteht jetzt die Frage, welche Momente sind dabei speciell betheilist? Wirkt die Anhäufung der bei gesteigerter Thätigkeit in gesteigertem Maasse entstehenden Stoffwechselproducte der lebendigen Substanz lähmend oder ist es der Mangel an Stoffen, die zum Wiederersatz, zur Neubildung der lebendigen Substanz nothwendig sind? Ueber diese Frage muss eine experimentelle Entscheidung gebracht werden. Bei einem Frosch, der mit einer starken Strychnindosis vergiftet worden ist, wird nach Eintritt der totalen Lähmung eine Canüle in die Aorta ERMÜDUNG VD. 8. W. DER NERVÖSEN ÜENTRA DES RÜCKENMARKES. 159 gebunden und ein künstlicher Kreislauf hergestellt mit sauerstofffreier physio- logischer Kochsalzlösung. Sofort fängt das Herz wieder an zu schlagen. Nach etwa 1 Minute kehrt die Reflexerregbarkeit zurück und zwar kommen Einzelzuckungen der Muskeln des ganzen Körpers vor, sowohl spontan, als auf schwache Berührungsreize hin. Dazwischen sind immer noch lange Pausen. Allmählich aber werden die Pausen kürzer. Während zuerst von ein und derselben Hautstelle nur immer je eine Zuckung auszulösen ist, werden jetzt mehrere Berührungsreize unmittelbar hinter einander ' wirksam. Schliesslich gelingt es sogar 7 bis 8 Zuckungen hinter einander durch ebensoviele Berührungen der gleichen Hautstelle hervorzurufen, bis wieder Unerregbarkeit eintritt und eine kurze Erholungspause nöthig wird. Allein zur Entwickelung eines tetanischen oder auch nur eines unvoll- kommenen tetanischen Anfalles kommt es nicht wieder. Vielmehr wird nach etwa 15 bis 30 Minuten die Lähmung wieder stärker, die zur Er- holung nöthigen Pausen werden länger und es ist nur jedesmal eine einzige Berührung wirksam. Bald reagirt der Frosch überhaupt nur noch einmal innerhalb langer Pausen. Welche Hautstelle man auch berühren mag, in der Pause bleibt die Berührung völlig unwirksam. Erst nach langer Er- holung kommt noch einmal bei Berührung eine kurze Zuckung zu Stande und schliesslich ist wieder vollständige Lähmung eingetreten. Nach einer Durchspülungsdauer von 30 bis 45 Minuten ist jede Reflexerregbarkeit wieder erloschen. Uebrigens sei gleich hier bemerkt, dass die Zeitwerthe bei verschiedenen Individuen ausserordentlich stark variiren. Es lassen sich weder für diesen noch für die folgenden Versuche allgemeingültige Zeit- angaben machen. Aus dem eben geschilderten Versuche geht also hervor, dass die Läh- mung wenigstens zum Theil bedingt ist durch die Anhäufung gewisser Stoffwechselproducte der lebendigen Substanz, denn sie kann durch Aus- spülung mit einer indifferenten Lösung bis zu einem bestimmten Grade wieder rückgängig gemacht werden. Allein es lässt sich gegen den Ver- such noch ein Einwand machen. Der Frosch liegt an der Luft, und wenn auch das Diffusionsvermögen des Sauerstofls gegen Wasser, wie Hoppe- Seyler gezeigt hat, ein äusserst geringes ist, so wäre doch vielleicht daran zu denken, dass durch die Herstellung einer künstlichen Circulation immer- hin eine geringe Menge von Sauerstoff von Seiten der Haut aufgenommen worden sei, ausreichend, um bis zu einem bestimmten Grade Erholung zu erzeugen. Derselbe Versuch wie vorher wird daher, um diesen Einwand zu be- seitigen, in der Weise modificirt, dass der Frosch selbst während der künst- lichen Durchspülung mit sauerstofffreier Kochsalzlösung unter sauerstoff- freiem Wasser liegt, so dass er nicht mit der äusseren Luft in Berührung 160 ° Max VERWORN: kommt. Der Erfolg bleibt derselbe. Obwohl dem Frosch keine Spur von Sauerstoff oder Nährstoffen zugeführt wird, erholt er sich nach voll- ständiger Lähmung doch in Folge der sein; n zu einem be- stimmten Grade. Der Einwand, dass es sich bei der Durchspülung um eine Auswaschung des Giftes aus dem Rückenmark handeln könne, wird im Hinblick auf das in der Versuchsreihe II Gesagte ohne weiteres hinfällig und kann auch hier noch dadurch abgewiesen werden, dass auch bei starkem Zusatz von Strychnin zur Durchspülungsflüssigkeit, noch ebenfalls eine Erholung bis zum gleichen Grade erfolgt. Es ist nach alledem unzweifelhaft, dass die Lähmung des Rückenmarkes bis zu einem bestimmten Grade eine Folge der Anhäufung von Stoffwechselproducten ist, die bei der enorm gesteigerten Thätigkeit in grosser Menge entstehen und durch die gestörte Circulation nicht mehr in genügendem Maasse fort- geschafft werden können. IV. Da die Versuche der Durchspülung total gelähmter Frösche mit sauer- stofffreier Kochsalzlösung stets nur eine Erholung bis zu einem gewissen Grade zeigen, niemals eine völlige Erholung bis zur Wiederkehr tetanischer Krämpfe, und da die Controlversuche mit Aethernarkose der Nerven be- weisen, dass es sich dabei nicht um eine Ermüdung der Muskeln handeln kann, so liegt von vornherein schon die Annahme nahe, dass eine zweite Componente der Lähmung in dem Verbrauch von Stoffen, die zur Unter- haltung der Erregbarkeit nothwendig sind, zu suchen sein wird. Die folgenden Versuche werden den rpemiamielllen Beweis für die Richtigkeit dieser Annahme liefern. Zwei gleichgrosse Frösche von gleichem Geschlecht und I Er- näbrungszustande werden in strychninisirtes Wasser gesetzt, bis die ersten deutlichen Vergiftungserscheinungen eintreten. Dann werden beide sofort herausgenommen. Der eine wird intact gelassen und in einer flachen Schale, deren Boden mit Wasser benetzt ist, aufbewahrt. Der andere wird folgendem Versuch unterworfen. Nach den ersten langdauernden tetanischen Anfällen sind längere Pausen eingetreten, die mit immer kürzer werdenden Tetanis wechseln. Je länger die Pause ist, während welcher der Frosch ' in Ruhe gelassen wird, um so länger und stärker ist auch der nächst- folgende tetanische Anfall. Dieser Zustand bleibt schliesslich stationär. Nachdem dies eingetreten ist, wird dem Frosche eine Canüle in die Aorta ERMÜDUNG UT. S. W. DER NERVÖSEN ÜENTRA DES RÜCKENMARKES. 161 gebunden und sein Blut durch sauerstofffreie Kochsalzlösung verdrängt. Während der ganzen Dauer der Durchspülung liegt der Frosch unter sauerstofffreiem Wasser. Dabei zeigt sich nach Beginn der Durchspülung zunächst kaum eine Veränderung im Verhalten des Frosches. Jedenfalls tritt keine Verlängerung der Dauer oder Steigerung der Intensität der tetanischen Anfälle und ebenso keine Verkürzung der Pausen auf. Dagegen entwickelt sich bald das entgegengesetzte Verhältniss. Die tetanischen An- fälle werden kürzer und bald erfolgen bei Berührungen der Haut nur noch einzelne Zuckungen. Dann werden auch die Pausen der Unerregbarkeit länger und die Lähmung nimmt nun ihren typischen Verlauf mit allen ihren charakteristischen Symptomen, bis sie schliesslich in vollkommene Unerregbarkeit endigt. Die eventuelle Annahme, dass bei der sehr schwachen Vergiftung das Strychnin in Folge der andauernden Durchspülung aus dem Rückenmark herausgewaschen und dass die Abnahme der Erregbarkeit auf die blosse Herausspülung des Giftes zurückzuführen sei, wird dadurch sofort widerlegt, dass überhaupt alle Reflexe an dem Thier erloschen sind, und dass bei erneuter Einspülung von Strychnin durch die Aorta keine Wieder- kehr der Reflexerregbarkeit mehr zu erzielen ist. Uebrigens geht aus den verschiedensten Erfahrungen ganz zweifellos hervor, dass das Strychnin in den betreffenden Elementen des Rückenmarks ungemein fest gehalten wird. Während der ganzen Dauer des Versuches hat sich der Zustand des zweiten Frosches, der intact geblieben war, nicht verändert und verändert sich auch bei geringer Sorge für das Thier während der nächsten Tage nicht. Der Frosch liegt bewegungslos mit ausgestreckten Extremitäten, zeigt deut- lichen Herzschlag und ebenso auch Athembewegungen, die nur durch die tetanischen Anfälle, in welche das Thier bei der leisesten Berührung oder Erschütterung geräth, unterbrochen werden, kurz er zeigt das be- kannte Verhalten schwach strychninisirter Frösche, die dauernd am Leben bleiben. Der Versuch lehrt, dass die Lähmung beim Salzfrosch mit künstlichem Kreislauf allein nur eine Folge des Mangels an solchen Stoffen ist, die zur Erhaltung der Erregbarkeit für die lebendige Substanz der Neurone unent- behrlich sind, nicht dagegen eine Folge der Anhäufung von schädlichen Stoff- wechselproducten, denn diese werden bei der Durchspülung dauernd heraus- gewaschen. Dass das richtig ist, darauf kann die Probe gemacht werden in folgender Weise. Wenn die Lähmung durch Verbrauch lebendiger Substanz aus Mangel an Ersatzmaterial zu Stande kommt, dann muss ein Frosch, der vor der Vergiftung in diesen Zustand des Mangels versetzt worden ist, nach der Vergiftung geringere Vergiftungserscheinungen zeigen als ein normaler und die Vergiftungserscheinungen müssen gleich mit einem Stadium be- ginnen, das bei einem normalen Strychninfrosch erst zu einem späteren Archiv f. A,.u. Ph. 1900. Physiol, Abthlg. Suppl. 11 162 MıAx VERWOoRKN: Zeitpunkt der Symptomenentwickelung auftritt. Der folgende Versuch zeigt das verlangte Verhalten. Einem normalen Frosch wird eine Canüle in die Aorta gebunden und alles Blut durch physiologische Kochsalzlösung, die keinen Sauerstoff enthält, verdrängt, bis die aus dem Herzen abfliessende Flüssigkeit voll- kommen klar ist. Der Frosch liest dabei in sauerstofffreiem Wasser. Dann wird die künstliche Circulation für °/, Stunde bis 1 Stunde unterbrochen. Innerhalb dieser Zeit entwickeln sich die gewöhnlichen Erscheinungen der Asphyxie. Schliesslich sind durch Kneifen der Zehen oder der Haut nur noch innerhalb ganz langer Pausen kurze Reflexe zu erzielen. Ehe die Reflexerregbarkeit vollständig erloschen ist, wird die künstliche Durch- spülung wieder in Gang gesetzt und nachdem diese einige Minuten ge- dauert hat, werden zugleich mit der Kochsalzlösung einige Zehntel Cubik- centimeter einer schwachen Strychninlösung eingespült. Dann wird die künstliche Durchströmung wieder unterbrochen. Nach wenigen Secunden ist die Strychninwirkung bereits da. Die Reflexerregbarkeit ist enorm gesteigert und es erfolgt eine Anzahl von schnell aufeinander folgenden intermittirenden Zuckungen. Bei Berührung der Haut treten ebenfalls Reihen von schnell aufeinander folgenden Zuckungen ein, aber dann folgen sofort Unerregbarkeitspausen. Zur Entwickelung eines tetanischen Anfalles kommt es nicht. Vielmehr werden sehr bald die Zuckungs- reihen kürzer und die Pausen länger. Nach wenigen Minuten sind durch Berührung der Haut bloss noch einzelne Zuckungen zu erzielen. Schliess- lich gelingt es überhaupt nicht mehr, Reflexbewegungen hervorzurufen. Die Zeit von der Injection des Giftes bis zum Eintritt der ‚vollständigen Lähmung beträgt etwa 4 bis 6 Minuten. Der Versuch zeigt also in der That, dass bei der Vergiftung eines stark erschöpften Frosches mit Strychnin das erste Stadium der Vergiftungs- erscheinungen, das Stadium der tetanischen Anfälle gar nicht mehr zum Ausdruck kommt, dass vielmehr die Vergifiungserscheinungen bereits mit den für das Lähmungsstadium charakteristischen Symptomen beginnen und sich in der kürzesten Zeit bis zur totalen Lähmung entwickeln. Aus diesen Thatsachen geht mit Sicherheit hervor, dass an der asphyktischen Lähmung des Rückenmarkes ganz wesentlich betheiligt ist der Verbrauch und der mangelnde Ersatz von solchen Stoffen, die zur Erhaltung des Stoffwechsels der leben- digen Substanz in den Neuronen unbedinet erforderlich sind. Die asphyktische Lähmung des Rückenmarkes resultirt also aus zwei verschiedenen Componenten, aus der Anhäufung von schädlichen Stoffwechselproduceten einerseits und aus dem Ver- brauch und Mangel an Ersatzstoffen andererseits. ERMÜDUNG U. S.W. DER NERVÖSEN CENTRA DES RÜCKENMARKES. 163 \ Es handelt sich nun darum, beide Gruppen von Stoffen etwas genauer zu bestimmen. Was zunächst die Anhäufung der schädlichen Stoffwechsel- producte betrifft, so liegt am nächsten der Gedanke an Kohlensäure, die ja zweifellos in grösseren Mengen von den arbeitenden Neuronen producirt werden und sich bei der Stagnation des Kreislaufes im Centralnerven- system anhäufen muss. Ich möchte in dieser Hinsicht einige Versuche anführen, die Hr. Winterstein im hiesigen Laboratorium angestellt hat und über die er selbst noch eingehender berichten wird. Zunächst erscheint es als der einfachste Weg, um die lähmende Wir- kung der Kohlensäure zu prüfen, wenn man mit Kohlensäure geschütteltes Blut durch die Gefässe des Thieres spült. Allein es zeigt sich bald, dass dabei selbst nach sehr langer Durchspülung keine Lähmung des schwach strychninisirten Frosches eintritt. Das liegt jedenfalls daran, dass die Kohlensäure vom Blut beim Schütteln nicht in genügender Menge auf- genommen wird, so dass der Partiardruck der Kohlensäure in den Neuronen bei fortdauernder Durchströmung keinen genügend hohen Werth erreichen kann. Dagegen dürfte bei stagnirender Circulation und angestrengter Thätig- keit der Zellen der Partiardruck der Kohlensäure in den Neuronen des Rückenmarkes bedeutend höhere Werthe erreichen. Die Kohlensäure muss sich unter diesen Bedingungen in ganz beträchtlichem Maasse in der lebendigen Substanz und ihrer Umgebung anhäufen. Um die lähmende Wirkung der Kohlensäure zu prüfen, ist es daher nöthig, auch den Partiar- druck der Kohlensäure in der lebendigen Substanz der Neurone viel höher zu machen, als es bei Durchspülung mit kohlensäurehaltigem Blut der Fall ist. Hr. Winterstein hat das dadurch erreicht, dass er die Thiere in eine Atmosphäre von reiner Kohlensäure oder von einem Gemisch von 20 Procent Sauerstoff und 80 Procent Kohlensäure brachte, wie es der folgende Versuch zeigt. Ein Frosch wird schwach mit Strychnin vergiftet und sofort unter eine über Wasser stehende Glasglocke mit einer Kohlensäure-Atmosphäre gebracht. Da in dieser Atmosphäre eine Abgabe von Kohlensäure durch die Athmung nicht möglich ist, muss sich die von den Gewebezellen produ- eirte Kohlensäure im Blute und iu den Geweben mehr und mehr anhäufen und zwar in um so höherem Maasse im Üentralnervensystem, als ja die Erregbarkeit und damit auch der Stoffumsatz im Centralnervensystem durch das Strychnin beträchtlich gesteigert ist. Diese Anhäufung der Koehlen- säure genügt nun in der That, um das Thier sehr schnell zu Jähmen. Es kommt meistens gar nicht erst zum Ausbruch der Strychninkrämpfe, die Lähmung ist schon vorher vollkommen, die Reflexerregbarkeit auch für te 164 MAx VERWORN: starkes Drücken oder Kneifen erloschen. Nimmt man den Frosch dann nach Eintritt der vollkommenen Lähmung, nachdem er noch einige Zeit in der Kohlensäureatmosphäre verweilt hat, heraus und bringt ihn in eine Atmosphäre von reinem Wasserstoff, ohne Beimischung von Luft oder Sauerstoff, so erholt sich der Frosch alsbald und bekommt nunmehr erst seine tetanischen Krämpfe, ein Beweis also, dass die Lähmung allein durch Kohlensäureanhäufung und nicht durch Sauerstoffmangel hervorgerufen worden war. Es ist also kein Zweifel, dass die Kohlensäure in der Menge, wie sie sich bei Verhinderung der Kohlensäureabgabe von Seiten des Blutes in den Neuronen des Rückenmarkes und ihrer Um- gebung anhäuft, eine lähmende Wirkung erzeugt. Ob ausser der Kohlensäure, wie es vom Muskel bekannt ist, noch andere „Ermüdungsstoffe“ an der Lähmung beteiligt sind, muss vorläufig unentschieden bleiben. vl Die analoge Frage nach der speciellen Natur der in Betracht kommen- den Stoffe, wie sie für die lähmenden Stoffwechselproducte eben erörtert wurde, erhebt sich aber auch für die Ersatzstoffe, deren Mangel zur Läh- mung führt. Hier liegt der Gedanke an Sauerstoff am nächsten. Den in dieser Hinsicht angestellten Versuchen liegt das Prinecip zu Grunde, die Neurone arbeiten zu lassen, ohne ihnen Sauerstoff zum Ersatz zuzuführen. Bei einem Frosch wird alles Blut durch Ausspülen mit einer sauer- stofffreien Kochsalzlösung verdrängt, während derselbe in sauerstofifreiem Wasser liest. Dann wird die Cireulation für etwa eine Stunde unter- brochen, bis nur noch in ganz langen Pausen schwache Reflexbewegungen durch Kneifen der Zehen zu erzielen sind. Dann werden zwei Zehntel Cubikeentimeter einer schwachen Strychninlösung durch die Aorta ein- geführt. Nach einigen Secunden treten die Vergiftungserscheinungen auf. Zuerst Reihen von schnell auf einander folgenden Zuckungen ohne tetani- schen Charakter, dann in immer länger werdenden Pausen nur noch Einzel- zuckungen und nach 4 bis 5 Minuten ist durch Berühren der Haut auch trotz längster Erholung kein Reflex mehr zu erzielen. Nunmehr wird die Durchspülung mit sauerstofffreier Kochsalzlösung für 1 bis 2 Minuten wieder in Gang gesetzt. Die Reflexe kehren wieder und zwar sowohl spontane Einzelzuckungen wie auch Zuckungen nach Berührung, die wenn auch verhältnismässig kräftig, doch an Zahl sehr gering sind und sehr bald wieder durch lange Unerregbarkeitspausen unterbrochen werden. Schliesslich werden die Reflexe auch bei Berührung wieder sehr schwach und nach 5 Minuten ERMÜDUNG UV. S. W. DER NERVÖSEN ÜENTRA DES RÜCKENMARKES. 165 ist die Erregbarkeit wieder vollkommen erloschen. Wird jetzt die Durch- spülung wieder von Neuem für 1 bis 2 Minuten aufgenommen, so tritt nochmals eine wenn auch schwächere Erholung ein und so fort mehrere Male, je nach der individuellen Beschaffenheit des Thieres öfter oder seltener. Die Durchspülungen werden aber immer unwirksamer und nach einigen Wiederholungen tritt keine Erholung mehr ein, so lange man auch den Frosch durchströmt. Der Sauerstoffvorrath der Neurone ist verbraucht. Jetzt wird statt der sauerstofffreien Kochsalzlösung defibrinirtes Ochsen- blut, das vorher mit Luft geschüttelt und arteriell gemacht war, 1 Minute lang durchgespült. Nach 1 bis 2 Minuten erfolgt plötzlich wieder spontan eine heftige Einzelzuckung. Bald darauf entsteht spontan eine ganze Reihe von schnell auf einander folgenden Einzelzuckungen. Die Reflexerregbarkeit für Berührungsreize ist an den Extremitäten und am Rumpf zunächst noch nicht wieder zurückgekehrt, sondern nur für Berührungen des Kopfes, be- sonders der Kehle. Von hier aus sind durch schwache Berührungen die heftigsten Reflexzuckungen und längere Reihen von solchen zu erzielen. Nach etwa 5 Minuten werden die Reflexe wieder schwächer, die Pausen länger. Die Blutdurchspülung wird deshalb wieder für 1 Minute in Gang gesetzt. Alsbald erholt sich der Frosch noch weiter. Es treten jetzt wahre vollkommene Tetani auf, wie sie im Beginn der Vergiftung nicht vorhanden waren, Tetani von 5 bis 8 Secunden Dauer und, wie der Widerstand zeigt, den der Finger findet, von ganz ausserordentlicher Stärke. Die Reflex- erregbarkeit für Berührungsreize kehrt jetzt auch in den Vorderextremitäten wieder, dann im Rumpf und den Oberschenkeln und erst nach längerer Zeit auch in den Zehen der Hinterextremitäten. Die tetanischen Anfälle werden immer häufiger und länger. Nach einiger Zeit aber nehmen sie wieder intermittirenden Charakter an und es treten wieder längere Pausen auf, in denen das Thier unerregbar ist. Wiederum wird 1 Minute lang Blut durchgespült. Das Thier erholt sich vollständig. Lange, heftige tetanische Anfälle wechseln mit kurzen Pausen. Erst jetzt erreichen die Strychninkrämpfe ihren Höhepunkt. Von allen Stellen des Körpers her liefert die leiseste Berührung heftige Reflexkrämpfe. Sobald wieder ein Nachlassen der Erscheinungen eintritt, braucht nur die Blutdurchströmung wieder für 1 bis 2 Minuten in Gang gesetzt zu werden und das Thier er- holt sich sofort wieder bis zum Gipfel seiner enormen Reflexerregbarkeit und seiner tetanischen Anfälle. In dieser Weise kann der Versuch stunden- lang fortgesetzt werden. Ich habe fast den Eindruck gewonnen, als müsste es möglich sein, einen Frosch, dessen Blut in geeigneter Weise vollständig durch Ochsenblut ersetzt ist, dauernd am Leben zu erhalten. Aus diesem Versuch geht hervor, dass nach vollständiger Erschöpfung alles Reservemateriales in den Neuronen die Erregbarkeit durch Zufuhr von 166 MAx VERWORN: neuem Ersatzmaterial wieder hergestellt werden kann. Es sei übrigens noch bemerkt, dass der eben geschilderte Versuch in gleicher Weise ge- lingt, wenn der Frosch mit den grössten Strychningaben vergiftet war, ein neuer Beweis dafür, dass das Strychnin auch in stärkster Dosirung auf das Rückenmark selbst nur seine bekannte erregbarkeitssteigernde Wirkung erzeugt. Allein es ist aus dem en Versuch noch nicht zu entnehmen, ob speciell der Sauerstoff der Stoff ist, der die Erregbarkeit wieder herstellt, denn im Blut sind ja noch grosse Mengen von anderem Nährmaterial ent- halten. Um die Rolle des Sauerstoffs näher zu fixiren, dienen folgende Versuche. Ein Frosch wird in derselben Weise behandelt wie eben geschildert, nur wird er, nachdem auch die Durchspülung mit sauerstofffreier Kochsalz- lösung keine Erholung mehr zu erzielen im Stande ist, statt mit arteriellem Ochsenblut mit Pferdeblutserum durchströmt, das vorher in sorgfältigster Weise entgast worden war. Der Erfolg ist kein anderer als bei Durch- strömung mit sauerstofffreier Kochsalzlösung. Eine Erholung ist nicht zu bemerken. Es ist also zweifellos die Zufuhr von Sauerstoff, welche die ee: Erregbarkeit wieder herstellt. Wenn das richtig ist, und wenn die Wiederherstellung der Erregbar- keit in weitem Maasse unabhängig ist von der Zufuhr anderen Nähr- materiales, dann muss auch eine Durchströmung mit sauerstoffreicher Kochsalzlösung eine Wiederherstellung der erloschenen Erregbarkeit er- zielen. Das ist in der That der Fall. Ein Frosch wird in der oben angegebenen Weise behandeli. Nachdem die Durchspülung mit sauerstofffreier Kochsalzlösung ihre erholende Wirkung vollkommen verloren hat, wird statt der sauerstofffreien eine mit reinem Sauerstoff längere Zeit geschüttelte und unter einer Sauerstoflatmosphäre stehende Kochsalzlösung 1 Minute lang hindurchgespült. ° 1 Minute später treten bereits wieder spontan starke Einzelzuckungen auf. Nachdem wieder 1 Minute durchspült ist, ruft jede Berührung der Kopfhaut schon wieder Reihen von heftigen Einzelzuckungen im ganzen Körper hervor. Allmählich kehrt auch bei wiederholten Durchspülungen die Reflexerregbarkeit für Berührung der vorderen und zuletzt der hinteren Extremitäten wieder. Es stellen sich unvollkommene Tetani ein von 10 bis 15 Zuckungen, die immer mehr den Charakter wahrer tetanischer Anfälle annehmen. Der Frosch bekommt jetzt erst die eigentlichen Krämpfe, die im Beginn der Vergiftung in Folge der lange dauernden Asphyxie ausgeblieben waren. Bleibt die künstliche Circulation eine Zeit lang unterbrochen, so werden die Anfälle kürzer, gehen in Einzelzuckungen über, die durch Unerregbarkeitspausen ERMÜDUNG U. S. W. DER NERVÖSEN ÜENTRA DES RÜCKENMARKES. 167 von einander getrennt sind, und hören schliesslich ganz auf. Eine minuten- lange Durchspülung mit sauerstoffhaltiger Kochsalzlösung genügt aber jedesmal, um von neuem die Erregbarkeit und Krämpfe von tetanischem Charakter wieder herzustellen. Dies Verhalten bleibt stundenlang bestehen. Allmählich indessen wird die durch künstliche Circulation erzielte Erholung immer schwächer und schliesslich bleibt der Frosch unerregbar. Diese Versuchsreihen zeigen, dass wenn die Durchspülung mit sauerstofffreier Kochsalzlösung ihre erholende Wirkungall- mählich ganz verloren hat, durch Zufuhr von Sauerstoff die erloschene Erregbarkeit in vollem Maasse wieder hergestellt werden kann, während die erholende Wirkung des Auswaschens mit sauerstofffreier Kochsalzlösung vorher nie eine vollkommene ist, sondern immer nur einen gewissen Grad erreicht. VIE: Zum Schluss soll noch einmal auf eine Erscheinung hingewiesen werden, die ich bereits früher! erwähnt und auch im Vorhergehenden schon be- rührt, und die ich bei allen Versuchen immer wieder beobachtet habe. Wenn die asphyktische Lähmung strychninisirter Frösche einen be- stimmten Grad erreicht hat, so dass die totale Unerregbarkeit für Haut- reize beginnt, so findet man immer, dass zuerst die Hautreize an den Zehen und Unterschenkeln der hinteren Extremitäten unwirksam werden, während sie noch an allen übrigen Stellen des Körpers wirken und heftige Reflex- bewegungen des ganzen Körpers, besonders auch noch der Zehen und Unterschenkel der hinteren Extremitäten hervorrufen. Darauf erlischt die Erregbarkeit für Hautreize an den Oberschenkeln und der Analgegend, erst später auch für Hautreize an den Armen. Zuletzt ist nur noch durch Reizung des Kopfes und der Kehlgegend ein Reflexerfolg zu erzielen, aber immer für den ganzen Körper, auch für die Zehenmuskeln der hinteren Extremitäten. Diese Reihenfolge ist ganz typisch. Es variirt zwar in den einzelnen Versuchen die Zeit, welche zwischen dem Erlöschen der Reflex- erregbarkeit von den einzelnen Hautgebieten her liest, indem sich die totale Lähmung einmal schnell, das andere Mal ganz allmählich entwickelt; die charakteristische Aufeinanderfolge aber bleibt immer dieselbe. Dem entspricht umgekehrt wieder die Rückkehr der Hauterregbarkeit in den einzelnen Körpertheilen bei der Erholung. Wenn die Lähmung total und langedauernd gewesen ist, und der Frosch wird zur Erholung mit arteriellem Ochsenblut durchströmt, so kehrt die Erregbarkeit zuerst ! A.a.O. Dies Archiv. 1900. Physiol. Abthlg. 8. 393. 168 MıAx VERWORN: für Hautreize des Kopfes wieder, später erst für Reizung der vorderen Extremitäten und des Rumpfes, dann der Analgegend und der Oberschenkel und zuletzt erst der Unterschenkel und Zehen. Zwischen dem Beginn der Rückkehr und der vollendeten Wiederherstellung der Hauterregbarkeit kann ebenfalls der Zeitraum sehr variren. Zuweilen beträgt er kaum einige Minuten, zuweilen, besonders nach langdauernden Lähmungen, länger als !/, Stunde. Wodurch diese Reihenfolge im Eintritt der Lähmung und in der Rück- kehr der Erregbarkeit bedingt ist, mag ich hier nicht entscheiden. Es geht aber aus der Thatsache, dass Hautreize von den Armen an abwärts unwirksam sein können, während gleichzeitig von der Kopfregion her noch Reflexzuckungen im ganzen Körper bis zu den Zehen der Hinterextremitäten hervörgerufen werden können, hervor, dass bei einem unter dem Einfluss der Strychnin- wirkung ermüdeten Frosch die sensiblen Elemente des Rücken- markes eher gelähmt werden, als die motorischen Neurone der Vorderhörner. £ Ermüdung und Erschöpfung. Unter normalen Verhältnissen, bei ungestörter ruhiger Thätigkeit halten sich die beiden Phasen des Stofiwechsels in den Neuronen das Gleichgewicht. Es wird ebensoviel lebendige Substanz gebildet, wie zerfällt. Der Blutstrom sorgt für Zufuhr des Assimilationsmateriales und. für Abfuhr der Dissi- milationsproducte Anders wird das Verhältniss bei angestrengter Thätig- keit. Das Stoffwechselgleichgewicht wird gestört, der Zerfall wird grösser als die Neubildung. Die Dissimilationsproducte werden in grösserer Menge gebildet und nicht so schnell fortgeschafft wie bei ruhiger Thätigkeit. Die Assimilation kann nicht gleichen Schritt halten mit der Dissimilation. Ist die Anstrengung nur kurz, so stellt sich durch Selbststeuerung des Stoft- wechsels sehr bald wieder das Stoffwechselgleichgewicht her. Die Dissi- milation sinkt, die angehäuften Dissimilationsproducte werden vom Blutstrom fortgespült und die Assimilation bleibt erhöht, bis wieder der alte Gleich- gewichtszustand der lebendigen Substanz erreicht ist. Ist dagegen die An- strengung eine dauernde, so erreichen die Störungen des Stoffwechsels einen immer höheren Grad. \Velche Veränderungen sich dabei in den Neuronen entwickeln, das zeigt uns die dauernde Steigerung ihrer Thätigkeit durch Strychnin bei Stagnation der Circulation und Entziehung des Ersatzmate- riales. Sind diese drei Bedingungen erfüllt, so haben wir Neurone, die gewissermaassen von ihrer Umgebung isolirt sind und dabei ERMÜDUNG U. S. W. DER NERVÖSEN ÜENTRA DES RÜCKENMARKES. 169 angestrengt arbeiten müssen. Wir können also die Veränderungen, die sich bei der Arbeit an ihnen vollziehen, im Speciellen studiren und durch geeignete Gestaltung der äusseren Lebensbedingungen eingehender analysiren. Das ist in den vorstehenden Versuchen geschehen. Fassen wir nunmehr das Ergebniss derselben zusammen, so gewinnen wir folgendes Bild von den Vorgängen in den Neuronen bei angestrengter Thätiekeit derselben. Je länger die Ganglienzelle arbeitet, um so mehr entwickeln sich Lähmungserscheinungen, die speciell im vorliegenden Falle unter der er- regbarkeitssteigernden Wirkung des Strychnins und der mangelnden Cir- culation einen sehr charakteristischen Verlauf nehmen, indem sie sich in immer länger werdenden Pausen von völliger Unerregbarkeit äussern. In diesen Pausen erholt sich die Ganglienzelle auch ohne Zufuhr von Ersatz- material durch das umgebende Medium immer wieder und gewinnt unter dem Einfluss des Strychnins auch stets wieder die enorme Höhe der Er- regbarkeit, die dieses Gift erzeugt. Die Erholung nach den einzelnen Ent- ladungen wird schliesslich immer schwerer und erfolgt immer langsamer, d.h. die Pausen werden immer anhaltender bis endlich überhaupt keine Erholung mehr eintritt. Jetzt ist völlige Unerregbarkeit da. Wie die Versuche gezeigt haben, beruhen diese Lähmungserscheinungen auf zwei ganz verschiedenartigen Ursachen, die beide in demselben Sinne wirken. Die eine ist die Anhäufung von lähmend wirkenden Zersetzungs- producten der lebendigen Substanz, wie Kohlensäure, die andere der Mangel an Ersatzmaterial und zwar zunächst allein an Sauerstoff. Beide Ursachen erreichen unter den gegebenen Bedingungen, speciell bei mangelnder Cir- culation den Höhepunkt ihrer Wirkung zu verschiedenen Zeiten. Die An- häufung der Zersetzungsproducte bewirkt schon eine vollständige Lähmung, ehe noch das Reservematerial der Zelle an Sauerstoff. vollständig erschöpft ist. Die Ganglienzelle vergiftet sich selbst, ehe sie an Mangel zu Grunde geht. Allein bei künstlicher Durchströmung des Thieres mit sauerstofffreier Kochsalzlösung kommt es nicht oder wenigstens nicht in genügendem Maasse zur Anhäufung von lähmenden Stoffwechselproducten. Dennoch ist der Ver- lauf der Erscheinungen hier genau derselbe Es wirkt also der Sauerstoff- mangel in ganz der gleichen Weise lähmend, nur tritt die definitive Läh- mung hier erst etwas später ein. Aus der Thatsache, dass die Ganglienzelle trotz der vollständig fehlenden Sauerstoffzufuhr von aussen sich in den Pausen immer wieder erholt und wieder neuer Entladungen fähig wird, geht ferner hervor, dass sie in sich selbst einen grösseren Reservevorrath von Sauer- stoff enthält, jedenfalls in chemisch gebundener Form, der nur allmählich erschöpft wird. Beim Kaltblüter dauert es sehr lange bis dieser Vorrath erschöpft ist. Beim Warmblüter tritt dieser Zeitpunkt sehr bald ein, wie mir 170 Max VERWORN: Versuche am Kaninchen mit reiner Wasserstoffathmung für die Ganglienzellen des Herzvagus-Öentrums und der motorischen Centra der Medulla oblongata gezeigt haben Es liegt das offenbar hauptsächlich an dem viel intensiveren Stoffwechsel, den die Zellen des hochtemperirten Warmblüterkörpers haben. Von der Zufuhr kohlenstoffhaltiger Nahrung ist die Ganglienzelle noch viel unabhängiger als von der Zufuhr des Sauerstoffs. Sie muss also von diesem Material einen noch weiter reichenden Vorrath in sich bergen. Bei der sehr langen Dauer endlich, welche die arbeitende Ganglien- zelle allein bei Zufuhr von Sauerstoff aushalten kann, ist es zweifelhaft, ob es möglich sein wird, den Zeitpunkt der Erschöpfung an kohlenstoffhaltigem Material durch entsprechende Erholungsversuche zu fixiren. Sollte das ge- lingen, so würde die Frage entstehen, ob die Ganglienzelle nicht in noch viel höherem Maasse unabhängig wäre von der Zufuhr stickstoffhaltiger Verbindungen. Unter der Annahme, dass die wesentlichen Bestandtheile der lebendigen Substanz labile Biogenmolecüle sind, die bei der Thätigkeit nur gewisse stickstofffreie Gruppen durch Dissociation abgeben, um sich in ihrem stickstoffhaltigen Hauptcomplex wieder zu regeneriren,' würde. die letztere Möglichkeit eine grosse Wahrscheinlichkeit besitzen. Die Ganglien- zelle könnte dann wie der Muskel lange Zeit mit ihrem eigenen Stickstoff arbeiten, ohne von aussen neues stickstoffhaltiges Material zu beziehen. Die Ermüdungserscheinungen sind bisher in der Physiologie eingehender nur am Muskel untersucht worden. Die physiologische Untersuchung der Ermüdung des Centralnervensystemes und seiner Elemente war trotz des viel weiter gehenden Interesses dieser Erscheinungen bis jetzt noch nicht in Angriff genommen. Die vorstehenden Versuche haben gezeigt, dass die Ermüdungserscheinungen des Neurons eine weitgehende Analogie bieten mit den Erscheinungen, die uns durch die Arbeiten von Ranke, Kronecker, Mosso, Richet, Joteyko und vielen anderen vom Muskel-her bekannt geworden sind. Vor allem hat sich gezeigt, dass auch die Lähmung des Neurons durch angestrengte und andauernde Arbeit sich aus denselben beiden Componenten zusammensetzt, wie die Lähmung des Muskels, aus der Anhäufung von Stoffwechselprodueten und dem Verbrauch von Material bei ungenügendem Ersatz. Ich möchte, um diese beiden ganz verschiedenen Momente auch in der Bezeichnungsweise von einander zu unterscheiden, wie ich es bereits in der ersten Auflage meiner „Allgemeinen Physiologie“? gethan habe, mit „Ermüdung“ nur die Lähmung durch die Stoff- wechselproducte, die Lähmung durch Materialmangel dagegen mit on bezeichnen. ! Vgl. weiter unten. ° Verworn, Allgemeine Physiologie. Jena 1895. 1. Aufl. 8. 455. el ERMÜDUNG U. S. W. DER NERVÖSEN ÜENTRA DES RÜCKENMARKES. 171 Das Zustandekommen einer Lähmung bezw. die Abnahme der Erreg- barkeit durch Erschöpfung ist ohne weiteres verständlich. Bei andauernder Thätigkeit und Mangel an Ersatzmaterial muss ja die zersetzliche Substanz in der Zelle allmählich abnehmen. Die vorhandene Menge zerfällt und kann in Folge des Zurückbleibens der Assimilation nicht mehr ersetzt werden. Wir haben also primär assimilatorische Lähmung und in Folge dessen secundär auch dissimilatorische Unerregbarkeit. Etwas weniger klar liegen auf den ersten Blick die Verhältnisse bei der Ermüdung. Es fragt sich hier, wodurch und auf welche Weise die Anhäufung der Stoffwechselproducte auf den Stoffwechsel selbst lähmend wirkt. Kommt hier die Lähmung primär auch durch Verhinderung der assimilatorischen oder durch Verhinderung der dissimilatorischen Phase des Stoffwechsels zu Stande? Auf diese Frage geben die oben unter der Reihe V angeführten Versuche von Hrn. Winterstein Auskunft. Ein Frosch, der mit Strychnin vergiftet ist und unmittelbar nach der Vergiftung in eine Kohlensäure-Atmosphäre gebracht wird, wird hier gelähmt und es kommt bei ihm nicht zum Ausbruch der Krämpfe. Reize, die auf seine Haut einwirken, bleiben erfolglos. Sobald der Frosch indessen in eine Wasserstoffatmosphäre kommt, treten auch die Strychninkrämpfe ein. Ebenso verliert ein Frosch, der nach Ausbruch der Strychninkrämpfe in eine Kohlensäureatmosphäre gesetzt wird, allmählich seine Krampfanfälle und bekommt sie erst wieder nach Ueberführung in atmosphärische Luft. Die Unerregbarkeit, die sich unter dem Einfluss der Kohlensäure entwickelt, beruht also primär auf einer Lähmung der dissimilatorischen Phase des Stoffwechsels. Die Ganglienzellen können sich nicht entladen, obwohl sie nicht erschöpft sind und dissimila- tionsfähiges Material in grosser Menge enthalten. Die Kohlensäure hindert ihre Entladung, ihre Dissimilation. Diese primäre Lähmung der Dissi- milation muss natürlich secundär auch ein Sinken der Assimilation im Gefolge haben, denn wenn keine lebendige Substanz zerfällt, hört auch ın Folge der Selbststeuerung des Stoffwechsels die Neubildung lebendiger Sub- stanz auf. Wie man sich die Lähmung der Dissimilation, die Verhinderung der Entladung des Neurons durch die Kohlensäure denken kann, darüber möchte ich nur eine Vermuthung äussern. Es liegt nahe anzunehmen, dass es sich hier um eine einfache Folge chemischer Massenwirkung handelt. Weil die Tension der Kohlensäure in der Umgebung der Molecüle, die durch ihren Zerfall Kohlensäure liefern, immer grösser wird, wird die Mög- lichkeit des Zerfalles immer geringer in analoger Weise, wie beim Kalk- brennen der kohlensaure Kalk seine Kohlensäure auch nicht abgeben kanı und kohlensaurer Kalk bleibt, wenn er unter einer Kohlensäureatmosphäre gebrannt wird. Diese Vorstellung würde natürlich auch auf die lähmende Wirkung etwaiger anderer Zersetzungsproduete übertragen werden können. 172 MAx VERWORN: So wirken Ermüdung und Erschöpfung auch in Bezug auf die beiden Phasen des Stoffwechsels in ganz verschiedenartiger Weise, wenn sie auch beide zu demselben Enderfolg führen, zur Unerregbarkeit. Die Erschöpfung führt primär zu einer Lähmung der Assimilation, die Ermüdung lähmt primär die Dissimilation. Es braucht kaum gesagt zu werden, dass alles, was hier für strych- ninisirte, blut- und circulationslose Frösche festgestellt wurde, abgesehen von den zeitlichen Verhältnissen auch für normale Frösche mit intacter Circulation Gültigkeit haben muss, wenn die Neurone derselben andauernd so stark arbeiten, dass der Blutstrom hinsichtlich der Abfuhr der Stoff- wechselproducte und der Zufuhr von Ersatzmaterial mit der Thätigkeit nicht gleichen Schritt halten kann. Erholung. Aus dem Vorstehenden geht hervor, dass zur vollständigen Erholung zweierlei nothwendig ist, die Fortschaffung der lähmenden Stoffwechsel- producte und die Zufuhr von Ersatzmaterial, zunächst vor allem von Sauer- stoff. Wie die Versuche gezeigt haben, genügt die Fortschaffung der lähmenden Producte oder „Ermüdungsstoffe“ allein nicht, um volle Erholung zu erzielen. Das Thier erholt sich dabei immer nur unvollkommen, bis zu einem gewissen Grade. Es erholt sich erst ganz und gewinnt die volle Höhe seiner ursprünglichen Erregbarkeit und Leistungsfähigkeit wieder, wenn neuer Sauerstoff zugeführt wird. Diese letztere Thatsache ist theoretisch bei weitem die interessantere. Ihr Interesse geht weit über die hier behandelten besonderen Fragen hinaus und erstreckt sich auf die allgemeine Frage nach dem Kuna der Vor- gänge in der lebendigen Substanz überhaupt. Hermann! hat bereits im Jahre 1867 die Vorstellung entwickelt, dass die lebendige Substanz des Muskels eine sehr labile Verbindung enthalte, die bei der Erregung unter Kohlensäurebildung. zerfiele. Der Zerfall führe zur Contraction. Pflüger? hat dann bekanntlich diese Vor- stellung für alle lebendige Substanz verallgemeinert und nach den Ursachen der labilen Beschaffenheit derselben gesucht. Auf Grund seines bekannten Versuches über das Verhalten des Frosches in reinem Stickstoff ist er, wie ebenfalls schon Hermann, zu der Ansicht gelangt, dass die Einfügung des Sauerstoffs in die lebendige Substanz die Labilität, die Zersetzlichkeit " Hermann, Untersuchungen über den Stoffwechsel der Muskeln u.s.ıo. Berlin 1867. ° Pflüger, Ueber die physiologische Verbrennung in den lebendigen Organismen. Pflüger’s Archiv. 1875. Bd.X. ERMÜDUNG U. S. W. DER NERVÖSEN ÜENTRA DES RÜCKENMARKES. 173 derselben bedinge. In der That kann kein Zweifel sein, dass dieser Theil der Pflüger’schen Hypothese über die Vorgänge in der lebendigen Substanz durch gewisse Thatsachen gestützt wird. Immerhin aber ist deren Zahl bis jetzt nicht gross. Abgesehen von dem Pflüger’schen Grundversuch am Frosch sprechen dafür zunächst die schon aus früherer Zeit stammenden Versuche Kühne’s! über die Wirkungen der Sauerstofientziehung und Sauerstoffzufuhr bei Amoeben und Myxomyceten, die Kühne? neuerdings wieder durch weitere Erfahrungen besonders an Pflanzenzellen vertieft und ergänzt hat. Ich möchte aus diesen Versuchen nur die Thatsache hervor- heben, dass die Protoplasmabewegung nach vollständigem Verbrauch allen Sauerstoffs zum Stillstand gelangt und durch erneute Zufuhr von Sauer- stoff wieder hervorgerufen wird. Ich habe die Beobachtungen Kühne’s an anderen Objecten, die unvergleichlich günstiger sind für diese Unter- suchungen als Amoeben und Pflanzenzellen, nämlich an den grossen Rhizo- poden des rothen Meeres wiederholen und erweitern können. Rhizoplasma Kaiseri wird bei allmählicher Verdrängung des Sauerstoffs durch reinen Wasserstoff mit ausgestreckten Pseudopodien nicht nur bewegungslos, sondern, was noch wichtiger ist, auch vollständig unerregbar, gewinnt aber Bewegung und Erreebarkeit bei Berührung mit Sauerstoff in wenigen Minuten wieder. Ich verweise hier auf die Angaben und Abbildungen, die ich an anderen Stellen? vorläufig nur kurz mitgetheilt habe. Schliesslich sind die bekannten Erfahrungen über die Erholung des erschöpften Muskels und zwar sowohl des Skelettmuskels wie des Herzens bei Zufuhr von Sauerstoff als wesent- liche Stützen der obigen Anschauung besonders zu nennen. Dazu gesellen sich nunmehr die Ergebnisse der oben mitgetheilten Versuchsreihen, die in Folge der Benutzung des Strychnins vielleicht in noch prägnanterer und schönerer Weise als die eben angeführten Fälle zeigen, wie die Erregbar- keit der lebendigen Substanz abhängig ist vom Sauerstoff. Die Ganglien- zelle besitzt eine beträchtliche Menge von Reservematerial an Sauerstoff in sich selbst. Die Ganglienzelle, die losgelöst von der Bluteirculation an- gestrengt arbeitet, verbraucht dieses Reservematerial allmählich mehr und mehr. Ist der letzte Rest davon vollständig verzehrt, so ist auch die Er- regbarkeit, obwohl sie bis zuletzt unter dem Einfluss des Strychnins eine ganz enorme Höhe hatte, vollständig erioschen. Mit der Zufuhr einer ge- ringen Menge Sauerstofis von aussen stellt sich sogleich auch wieder die ! Kühne, Untersuch. über das Protoplasma und die Contractilität. Leipzig 1864. ® Derselbe, Ueber die Bedeutung des Sauerstoffis für die vitale Bewegung. I. und II. Mittheilung. Zeitschrift für Biologie. 1898. 3 Verworn, Zellphysiologische Studien am Rothen Meer. Sitzungsberichte der königl. Akad. der Wissensch. zu Berlin. 1896. Bd. XLVI. — Derselbe, Allgemeine Physiologie. 1897. 2. Aufl. S. 289. 174 Max VERWORRN: Erregbarkeit her und schnellt sofort wieder zu ihrer gewaltigen Höhe hinauf. Durch dauernde Zufuhr von Sauerstoff allein kann die vorher vollständig erloschene Erregbarkeit wieder stundenlang erhalten werden. Kann also nach alledem kein Zweifel mehr sein, dass die Erregbarkeit der lebendigen Substanz kommt und geht mit dem Sauerstoff, so entsteht doch .die Frage, in welcher Weise man sich diese Wirkung des Sauerstoffes zu denken habe. Die einzige wirklich befriedigende Antwort darauf dürfte die Pflüger’sche Hypothese geben. Nach Pflüger’s Vorstellung ist be- kanntlich die Ursache für das chemische Geschehen in der lebendigen Sub- stanz das Vorhandensein von sehr complieirten eiweissartigen enable, die sich fortwährend zersetzen und neubilden. Wenn man auch den Pflüger’schen Gedanken, dass die Biogene, wie ich diese Verbindungen genannt habe, durch Polymerisation Riesenmolecüle bilden, die bis zu enormer Grösse auswachsen und durch den ganzen Körper reichen, für überflüssig und vielleicht sogar für unvortheilhaft halten mag, so bleibt doch die Annahme sehr complieirter labiler Molecüle als Kernpunkt für den Stoffwechsel eine ungemein fruchtbare Arbeitshypothese. Das Biogenmoleecül gewinnt nach Pflüger’s Vorstellung seine grosse Labilität erst durch die intramoleculare Einfügung des Sauerstoffs. Hat es diese Labilität ange- nommen, so zerfällt es spontan oder auf Reize hin durch Dissociation. Der Sauerstoff tritt an Kohlenstoff zu Kohlensäure gebunden aus und ebenso auch andere Dissoeiationsproducte. Nach der Vorstellung, die ich in ähn- licher Weise wie früher schon Hermann! besonders mit Rücksicht auf den Muskel entwickelt habe,” würden aber bei der Dissociation nur gewisse stiekstofffreie Atomgruppen aus dem einzelnen Biogenmolecül austreten. Der stickstoffhaltige Kern, der ganze „Biogenrest“ würde zurückbleiben und sich wieder durch Einfügung einfacherer stickstofffreier Atomcomplexe und des Sauerstoffs zum fertigen labilen Biogenmolecül regeneriren. Die vorstehenden Thatsachen liefern eine Illustration für diese theo- retischen Vorstellungen, wie man sie sich nur wünschen kann. Bei der Arbeit der Ganglienzelle zerfallen die Biogenmolecüle. Durch die Vergiftung mit Stryehnin ist die Neigung zum Zerfall in den betreffenden Elementen des Rückenmarkes ganz ungeheuer gesteigert. Jede leise Berührung der Haut eines mit Strychnin vergifteten Frosches führt daher schon zu einer enormen Entladung dieser Elemente, die Biogenmolecüle zerfallen, oder explodiren in heftigster Weise. Mit dem vorhandenen Vorrat von Sauerstoff und anderem Reservematerial erholt sich aber die Zelle anfangs unmittel- bar wieder, die Biogene gewinnen mit Hülfe des Sauerstofls sofort wieder ! Hermann, a.a. 0. * Verworn, Allgemeine Physiologie. 1897. 2. Aufl. 8. 563. ERMÜDUNG VD. S. W. DER NERVÖSEN ÜENTRA DES RÜCKENMARKES. 175 ihre Labilität und zwar auch gleich wieder die unter dem Einfluss des Strychnins enorm gesteigerte Neigung zum explosiven Zerfall. Daher folgen sofort neue Entladungen u. s. w. Allmählich aber wird der in der Zelle vorhandene Sauerstoffvorrat mehr und mehr verbraucht. Es dauert immer länger, bis die Zelle sich wieder erholt hat, bis wieder genügend Biogen- molecüle die genügende Anzahl von Sauerstoffatomen aufgenommen haben. Daher werden die Pausen der Erholung immer grösser. Während dieser Pausen ist die Zelle unerregbar, weil die Biogenreste selbst nicht zerfallen und trotz der Anwesenheit des Strychnins keine Neigung zur Explosion zeigen, da der Sauerstoff und damit die Möglichkeit der Kohlensäurebildung in ihnen fehlt. Das Strychnin vermag also den Biogenrest nicht zersetz- lich zu machen; es kann seine erregbarkeitssteigernde Wirkung nur ent- falten auf die fertigen, durch Sauerstoffaufnahme an sich schon labilen Biogenmolecüle Allmählich haben die Biogenmolecüle während der Er- holungspause wieder genügend Sauerstoffatome aufgenommen, ihre Labilität ist wieder hergestellt und gewinnt unter der Wirkung des Strychnins wieder ihren enormen Grad. Daher erfolgt bei leisester Berührung wiederum sofort ihr explosiver Zerfall u.s.f. Wird der Zelle, wie in den obigen Versuchen der Durchspülung mit sauerstofffreier Kochsalzlösung, kein neuer Sauerstoff mehr zugeführt, während doch andererseits die Zersetzungsproducte immer heraus- gespült werden, so findet schliesslich die Zelle keine Möglichkeit mehr, sich zu erholen, die Biogenreste können keinen Sauerstoff mehr aufnehmen und werden in Folge dessen nicht wieder labil. Daher ist die Erregbarkeit schliesslich ganz erloschen, denn es sind keine fertigen Biogenmolecüle mehr vorhanden. Trotzdem ist die Ganglienzelle nicht todt. Sie zeigt zwar keine Lebenserscheinungen, aber sie ist doch wiederbelebungsfähig. Sobald ihr von aussen her wieder Sauerstoff zugeführt wird, wird sie von'neuem erreg- bar, ihre Biogenmolecüle fügen wieder Sauerstoffatome in ihren Bau ein und werden von neuem labil. Es braucht also in der lebendigen Substanz keine Continuität der labilen Zustände der Biogene zu bestehen, sondern nur Continuität restitutionsfähiger Biogenreste, um die Continuität der Lebensfähigkeit und des Lebens zu sichern. Zum Schluss möchte ich noch kurz einen streifen, der eine ausführlichere Behandlung verdient. Die Erscheinungen der Ermüdung, Erschöpfung und Erholung der Ganglienzelle, wie sie im den mitgetheilten Versuchen zum Ausdruck gekommen sind, dürften, nachdem ihre Ursachen im Vorstehenden analysirt wurden, geeignet sein, auf die Ursachen rhyth- mischer Thätigkeitsschwankungen, wie sie den zahlreichen rhythmischen und periodischen Lebenserscheinungen zu Grunde liegen, einiges Licht zu werfen. Wir haben ja auch in den Erregbarkeitsschwankungen, die bei Sauerstoff- mangel im Rückenmarke des strychninisirten Frosches auftreten, eine 176 MAx VERWORN: ERMÜDUNG T. S. w. Rhythmicität, die sich in dem fortwährenden Wechsel von Zeiten höchster Erregbarkeit und Zeiten völliger Unerregbarkeit äussert. Jeder Entladung der Zelle folgt unmittelbar ein plötzlicher, steiler Abfall der Erregbarkeit bis auf den Nullpunkt herab. Von diesem Minimum an stellt sich all- mählich in der Pause die Erregbarkeit wieder her und erreicht wieder ihre enorme Höhe, um mit der folgenden Entladung plötzlich wieder auf den Nullpunkt zu sinken u. s. f. Hier im vorliegenden Falle sind jetzt die Ursachen für dieses Verhalten genügend bekannt. Es würde eine dankbare Aufgabe sein, nach den hier gewonnenen Gesichtspunkten auch andere ıhythmische Lebenserscheinungen, vor allem im Gebiete des Centralnerven- systems, zu analysiren. Für das Refractärstadium, d.h. für das Stadium der Unerregbarkeit, das bei allen rhythmischen Erregungen der Einzel- erregung unmittelbar folgt, dürfte durch das Ergebniss der vorstehenden Untersuchungen eine tieferes Verständniss angebahnt sein. BR. | Ueber die Wirkung der Kohlensäure auf das Centralnervensystem. Von Hans Winterstein. (Aus dem physiologischen Institut der Universität Jena.) Seitdem zu Beginn der sechziger Jahre in den grundlegenden Arbeiten ‘von Pflüger, Dohmen, W. Müller, Thiry, Traube, Rosenthal u.A. die. verschiedenen Anschauungen über die Wirkungsweise der Kohlensäure ausgesprochen wurden, ist der alte Streit, trotz der zahllosen Abhandlungen, die sich seither auf diesem Gebiete bewegten, noch immer nicht entschieden. Und wenn immer wieder auf’s Neue diesem Probleme die Aufmerksamkeit zugewendet wird, so hat dies seinen Grund vor Allem darin, dass die Kohlensäure als reguläres Zerfallsproduct der lebendigen Substanz im Be- reiche der ganzen Organismenwelt eine ganz besondere Stellung einnimmt und die Frage nach ihrer Wirkung ganz allgemeines Interesse besitzt. Aus eben diesem Grunde aber erscheint jede Bereicherung unserer Kenntnisse, jede Beobachtung, die Anhaltspunkte zu weiteren Schlüssen bietet, von Werth, auch wenn sie nicht die Entscheidung zu bringen ver- mag. — Von diesem Gesichtspunkte aus mögen die folgenden Experimente über die Wirkung der Kohlensäure auf das Centralnervensystem mitgetheilt werden, die an Fröschen und Kaninchen angestellt wurden. I. Versuche an Fröschen. Die Wirkung der Kohlensäure gliedert sich wie beim Warmblüter, so auch beim Frosche in zwei Erscheinungscomplexe entgegengesetzter Art, nämlich in Erregung und Lähmung; es erscheint zweckmässig, sie gesondert zu behandeln und die zuerst auffallenden Erscheinungen der Erregung zunächst in’s Auge zu fassen. Archiv f. A. u. Ph. 1900, Physiol. Abthlg. Suppl. 12 173 Hans WINTERSTEIN: 1. Die Erregungserscheinungen. Es soll gleich vorausgeschickt werden, dass die Erregungserscheinungen beim Frosch individuell ausserordentlich verschieden sind und vielfach lange nicht so deutlich hervortreten wie beim Warmblüter, und dies mag der Grund sein, warum Kropeit,! der gleichfalls diesbezügliche Versuche an- stellte, sie übersah, und der Kohlensäure lediglich depressorische Wirkungen auf den Frosch zuschrieh. Wenn man einen Frosch unter eine mit kohlensäurereicher Atmosphäre gefüllte Glasglocke bringt, so äussert sich zunächst die Wirkung darin, dass er eiligst wieder zu entkommen sucht. Er kneift öfters die Augen zu, macht in einzelnen Fällen auch eine Wischbewegung mit den Vorder- pfoten an der Spitze der Schnauze und zeigt die allgemeine Erregung in mehr oder minder lebhaftem Umherspringen. Die Athmung zeigt eine merkwürdige Veränderung, die ganz analog ist der bei Verstopfung der Nasenlöcher, wie dies von Baglioni? beschrieben wurde. Die Kehl- bewegungen hören nämlich fast sogleich auf und machen den eigentlichen Athembewegungen Platz, welche zuerst in vertiefter Form und stark erhöhter Frequenz auftreten, und dadurch ein Vollpumpen der Lunge bewirken, dann aber bald immer seltener und langsamer werden, um bei fortschreitender Lähmung ganz aufzuhören. — In einzelnen Fällen, meist nur bei nicht zu hohem Procentgehalt des Gasgemisches an Kohlensäure (25 Procent) und kräftigen Fröschen, die der Lähmung nicht rasch verfallen, beobachtet man, jedoch erst einige Zeit, nachdem die übrigen Erregungserscheinungen schon vorüber sind, ein häufiges Aufsperren das Maules, das in Analogie mit diesem Vorgange bei Warmblütern als dyspnoische Erscheinung aufgefasst werden könnte. | Als Ursachen dieses Erregungsstadiums, das bei aller individueller Verschiedenheit meist nur kurz ist, wenige Minuten währt, sind theoretisch drei verschiedene Möglichkeiten gegeben: Es kann die Kohlensäure direct eine bewegungsauslösende Erregung der Centren hervorrufen, sie kann ledie- lich eine Steigerung der Erregbarkeit erzeugen, oder endlich sie kann durch Reizung der peripheren Nervenendorgane in der Haut, den Augen, den Respirationswegen eine reflectorische Erregung verursachen, und wir haben jetzt zu untersuchen, welcher der drei Factoren der maassgebende ist. Wer unbefangen die oben beschriebenen Erregungserscheinungen be- trachtet, insbesondere das Zukneifen der Augen und die Wischbewegungen, ! Kropeit, Die Kohlensäure als Athmungsreiz. Pflüger’s Archiv. Bd. LXXI1. S. 438. * Baglioni, Der Athmungsmechanismus des Frosches. Dies Archiv. 1900. Physiol. Abthlg. Suppl. 8. 33. Dıe WIRKUNG DER KOHLENSÄURE AUF DAS ÜENTRALNERVENSYSTEM. 179 die denen beim Aetzen mit einer Säure gleichen, dem muss sich von vorn- herein der Gedanke aufdrängen, dass es sich hier um eine periphere Reiz- wirkung handle. Am ehesten wäre man versucht, das wiederholte Oeflnen des Maules auf eine directe Erregung durch Kohlensäure zurückzuführen. Nun ist es aber sehr fraglich, ob man überhaupt auf eine bloss äusser- liche Aehnlichkeit hin eine Parallele ziehen kann zwischen dieser und den dyspnoischen Erscheinungen beim Warmblüter. Bekanntlich tritt beim Frosch die Lungenathmung so sehr gegenüber der Hautathmung zurück, dass ein Frosch zwar unter Umständen ganz gut ohne die erstere, nicht aber ohne die letztere zu leben im Stande ist. Bedeutet nun das Aufsperren des Maules eine Art Dyspnoe, so muss man den Eintritt derselben viel eher bei erheblichem Sauerstoffmangel, als bei Störung der Lungenathmung erwarten. Gerade das Umgekehrte ist aber der Fall: Während nämlich das Aufsperren des Maules vielleicht gar nicht, sicher aber nicht regel- mässig eintritt, wenn man einen Frosch in eine reine Wasserstoffatmosphäre bringt und darin ersticken lässt, kann man es in einfacher Weise durch Verkleben der Nasenlöcher hervorrufen, obgleich in diesem Falle keine das Leben schädigende Aenderung des Blutgaswechsels eintritt. Es scheint also, dass das wiederholte Oeffnen des Maules ein durch Störung der normalen Athemthätigkeit bedingter Reflex ist, der nicht eigentlich mit der Dyspnoe des Warmblüters verglichen werden kann. In der That haben wir auch oben gesehen, dass die Kohlensäure in Allem ganz ähnliche Störungen der Athmung erzeugt, wie das Verstopfen der Nasenlöcher, so dass das Auf- treten desselben Reflexes nicht so verwunderlich ist. Die Erregungserscheinungen sind offenbar am stärksten am Kopfe. Bringt man einen Frosch, dem man das Rückenmark abgetrennt hat, in die Kohlensäure, so kann man häufig am Kopf die typischen Reizwirkungen wahrnehmen, während der Rumpf gar keine oder doch nur fast unwahr- nehmbar schwache Erregungserscheinungen zeigt. Unter der Annahme eines reflectorischen Vorganges erscheint dies ohne Weiteres verständlich, da die viel sensibleren Epithelien des Auges und der Respirationswege jeden- falls stärker gereizt werden als die Haut. Die Versuche, die reflectorische Reizung vom Kopfe her auszuschalten, indem man eine festschliessende Kautschukkappe über den Kopf stülpt, gestatten keinen sicheren Schluss, da schon unter normalen Bedingungen dadurch das Verhalten des Frosches so geändert, seine Erregbarkeit so stark herabgesetzt erscheint, sei es einfach durch Abhaltung der Sinneseindrücke, sei es durch irgend welche Hemmungsvorgänge, dass sogar der Lagereflex aufhört. Wir haben oben gesehen, dass bei einem Frosch mit durchschnittenem Rückenmark die von der Haut herkommenden Reize zu schwach sind, um unter normalen Erreebarkeitsverhältnissen deutlichere Erregungserschei- 12* 180 HAns WINTERSTEIKN: nungen hervorzurufen. Nun können wir aber die Erregbarkeit des Rücken- markes künstlich steigern. Zu dem seit Langem als ein solches Mittel bekannten Strychnin ist durch eine gleichzeitig mit dieser erscheinenden Arbeit von Baglioni! ein anderes, in seiner Wirkungsweise nicht minder interessantes Gift hinzugekommen, nämlich die Carbolsäure. In scharf- sinniger Weise hat der Verfasser gezeigt, dass das Strychnin auf die sen- siblen, die Carbolsäure auf die motorischen Mechanismen des Rückenmarkes wirkt, und zwar ein jedes lediglich erregbarkeitssteigernd, nicht aber selbst bewegungsauslösend, so dass auch bei der stärksten Vergiftung noch ein äusserer Reiz hinzutreten muss, um eine Bewegung zu verursachen. Trennt man bei einem Frosch das Rückenmark oberhalb der Medulla oblongata ab, so ist der Reiz der Lage allein nicht hinreichend, um nach Wegfall der Grosshirnimpulse spontan, d. h. ohne Hinzutreten eines äusseren Reizes, eine Bewegung auszulösen, und man besitzt an einem solchen mit Strychnin oder Carbolsäure vergifteten „Kückenmarksfrosch“ ein ausgezeichnetes Mittel, die Reizwirkung anderer Stoffe zu untersuchen. Bringt man nun einen mit Strychnin vergifteten Frosch nach Ab- trennung des Rückenmarkes vorsichtig unter die Kohlensäureglocke, so erhält man keine Bewegung, und wenn man nicht einen mechanischen Reiz ausübt, der natürlich sogleich einen Tetanus auslöst, so tritt die Lähmung ohne eine Spur. vorangegangener Erregung ein. Verwendet man dagegen einen mit Carbolsäure vergifteten Rückenmarks- frosch, so zeigt sich in den meisten Fällen Folgendes: Nach einer kurzen Ruhepause, die über 1 Minute währen kann, beginnen die Reizerscheinungen mit einer leichten Contraction der Rückenmuseulatur, darauf folgen leichte, zuckende Bewegungen der Beine, die rasch stärker werden und schliesslich zu einem energischen Strecken eines Beines und dadurch zu einseitigen Sprungbewegungen führen. Bald darauf tritt dann Ruhe und Lähmung ein. Im ersten Augenblick wäre man versucht, dieses Experiment für einen Beweis für die direete bewegungsauslösende Erregung der motorischen Elemente durch die Kohlensäure zu halten, da in dem früheren Versuche, trotz der durch Strychnin enorm gesteigerten Reflexerregbarkeit, keine Bewegung auf reflectorischem Wege zu Stande kam. Nun ist es aber eine schon lange bekannte merkwürdige Thatsache, die zuletzt von Schlick? und neuestens von Baglioni? genauer untersucht wurde, dass auf den Strychninfrosch chemische Reize eine geringere Wirkung ausüben, als auf " Baglioni, Die physiologische Differenzirung verschiedener Mechanismen des Rückenmarkes. Dies Archiv. 1900. Physiol. Abthlg. Suppl. S. 193. ° Schlick, Zur Kenntniss der Strychninwirkung. Pflüger’s Archiv. Bd. XLVL. SH. \ ? Baglioni, 2.2.0. DıE WIRKUNG DER KOHLENSÄURE AUF DAS ÜENTRALNERVENSYSTEM. 181 den normalen. Die Möglichkeit, dass es sich um eine reflectorische Er- regung handle, ist also durch den negativen Ausfall des Strychninversuches noch nicht ausgeschlossen. Und in der That, wenn man die sensiblen Elemente ausschaltet, was am einfachsten in der von Baglioni! ange- gebenen Weise geschieht, indem man das freigelegte Kückenmark vorsichtig mit Carbolsäure betupft, wodurch die sensiblen Elemente unter der directen Einwirkung der Säure getödtet werden, so dass die Reflexerregbarkeit auf- hört, die motorischen dagegen, wie man sich durch mechanische Reizung des Rückenmarkes. überzeugen kann, in erhöhte Erregbarkeit versetzt werden, so tritt keine Spur der beschriebenen Erregungserscheinungen in der Kohlen- säureatmosphäre ein. Damit ist aber auch der unzweifelhafte Beweis erbracht, dass die Kohlensäure keine direct bewegungsauslösende Wir- kung hervorzubringen vermag, und dass die eintretenden Reiz- erscheinungen lediglich reflectorischen Ursprungs sind. Da ferner zur Annahme einer erregbarkeitssteigernden Wirkung der Kohlen- säure gar.kein Anlass vorliegt, weil eine Erhöhung der Reflexerregbarkeit auch in den ersten Stadien der Kohlensäurevergiftung nicht nachweisbar ist, so ist bisher kein Beweis für eine erregende Wirkung der Kohlensäure auf das Centralnervensystem des Frosches vor- handen. | 2. Die Lähmungserscheinungen. Wenn wir oben die Erregungserscheinungen als die zuerst in’s Auge fallenden bezeichnet haben, so soll dies nicht so verstanden werden, als handle es sich um ein zuerst auftretendes Reizstadium, nach dessen Ablauf die Lähmung eintritt; dies ist durchaus nicht der Fall, vielmehr greifen beide Erscheinungsformen so innig in einander, dass sich eine Grenze über- haupt nicht ziehen lässt. Während z. B. die Athmung schon stille steht oder nur in langen Zwischenpausen einzelne Athembewegungen stattfinden, und auch sonst im ganzen Gebahren des Thieres sich eine deutliche Herab- setzung der Erregbarkeit ausprägt, zeigen sich noch immer einzelne un- gewöhnliche Reizbewegungen, wie auch das oben beschriebene wiederholte Aufsperren des Maules erst zu einer Zeit auftritt, wo die Lähmungs- erscheinungen ganz unverkennbar sind. Wir sehen also, dass Er- regung und Lähmung nicht eigentlich nach einander, sondern vielmehr neben einander auftreten, und dass nur zu Beginn die erstere, im weiteren Verlaufe die letztere die Oberhand gewinnt. ! Baglioni, a. a.d. 182 HANns \WINTERSTEIN: Das Erste, was beim Frosch der Lähmung verfällt, ist das Athem- centrum; es wurde bereits oben beschrieben, dass gleich nachdem der Frosch in die Kohlensäureatmosphäre gebracht wurde, die Kehlbewegungen auf- hören, und dass nach einem kurzen Stadium beschleunigter Athembewegungen auch diese immer seltener werden, um schliesslich und zwar relativ früh- zeitig aufzuhören, während die sonstige Reflexerregbarkeit noch erhalten ist. Wir sehen hier einen seltsamen und für die physiologische Auffassung wohl bedeutungsvollen Contrast in dem Verhalten des Athemcentrums des Frosches und dem des Warmblüters. Denn das Athemcentrum, das dort zuerst der Lähmung verfällt, vermag sich hier verhältnissmässig viel länger lebend zu erhalten, ein Zeichen für die geringe physiologische Bedeutung des ersteren im Vergleich zum letzteren, das sich wohl im Kampfe um’s Dasein die wundersame Vereinigung von grosser Empfindlichkeit mit be- trächtlicher Lebenszähigkeit errungen hat. Allmählich schreitet die Lähmung weiter, der Frosch vermag sich nicht mehr aufrecht zu erhalten, fällt gelegentlich bei einer Reizbewegung auf den Rücken, kann seine Lage gar nicht oder nur sehr mühsam corrigiren, die Reflexerregbarkeit nimmt immer mehr ab, um schliesslich ganz auf- zuhören, und das Thier liegt völlig gelähmt da. Lässt man es noch länger in der Kohlensäureatmosphäre liegen, so hört schliesslich auch die Herz- bewegung auf, so dass das einzige Kriterium, ob man es mit völliger Lähmung oder bereits mit dem Tode zu thun hat, die Fähigkeit der Wieder- erholung darstellt. Um die bei der Lähmung und Erholung etwa in Betracht kommenden Nebenumstände, unter denen der Sauerstoffgehalt des Gasgemisches vielleicht eine grössere Rolle spielt, in halbwegs exacter Weise feststellen zu können, dazu würde bei der ganz ausserordentlich grossen Verschiedenheit des Er- scheinungsverlaufes eine schier unendliche Zahl von Versuchen erforderlich sein. Mit Sicherheit kann man sich jedoch davon überzeugen, dass der allergrösste Einfluss auf Intensität und Schnelligkeit der Lähmung dem Partiardruck der Kohlensäure zukommt, und dies mag der Grund sein, warum Durchströmungsversuche mit kohlensäurereichem Blut zu keinem Resultate geführt haben. Bei einem Kohlensäuregehalt des Gasgemisches von 25 Procent wurden Frösche bei Vermeidung des Sauerstoffmangels selbst in der Zeit von 12 bis 30 Stunden nicht völlig gelähmt, während bei einem Kohlensäuregehalt von 50 Procent meist in wenigen Stunden, in reiner Kohlensäure in ungefähr 5 bis 30 Minuten die völlige Lähmung erfolgt. Die Erscheinungen der Lähmung und Erholung kommen in viel deutlicherer Weise zur Beobachtung, wenn man sich anstatt eines normalen eines mit Strychnin vergifteten Frosches bedient und möglichst hohe Kohlen- säurespannungen, am besten reine Kohlensäure in Anwendung bringt, in > Die WIRKUNG DER KOHLENSÄURE AUF DAS ÜENTRALNERVENSYSTEM. 183 welch letzterem Falle man sich durch entsprechende Controlversuche mit reinem Wasserstoff überzeugen kann, dass man es nur mit der Wirkung der Kohlensäure und nicht auch mit der des Sauerstoffmangels zu thun hat. Um ein anschaulicheres Bild von dem zeitlichen Verlauf dieser Er- scheinungen zu geben, sollen im Folgenden aus den Versuchsprotocollen einige typische Beispiele angeführt werden. Nebenbei sei erwähnt, dass die Versuche fast ausschliesslich an Temporarien angestellt wurden, dass aber die wenigen an Esculenten gemachten Beobachtungen keine bemerkens- werthen Abweichungen dargeboten haben. Zur Strychninvergiftung wurden 0-1 bis 0-3 °m einer verdünnten Lösung (2 Procent einer concentrirten) angewendet. I. 17.VO. Temporaria: 2h 34° wird gleich nach Injeetion des Strychnins in die mit reiner Kohlensäure gefüllte Glocke gebracht, 2" 39’ ist gelähmt, ohne dass vorher Strychnintetani eingetreten wären, 2h 40’ wird in reinen Wasserstoff gebracht, 2h 50° ist wieder erregbar, 2" 53° andauernde Tetani, 25 57° wird an die Luft gebracht, 2h 59’ kommt neuerlich in reine Kohlensäure, 3h 15’ völlig gelähmt, kommt wieder in reinen Wasserstoff, 3b 30’ noch immer völlig gelähmt, kommt an die Luft, 3h 35” tetanische Zuckung, 4® 00’ auf Reiz Tetanus. U. 17.VI. Temporaria. Injection von Strychnin. Wird nach Ein- tritt der Tetani 2h 47’ in reine Kohlensäure gebracht, 2h 57’ völlig gelähmt, kommt in reinen Wasserstoff, 3% 10’ noch immer völlig gelähmt, kommt an die Luft, 36 18’ auf Reiz schwache Zucekung, 3% 27 auf Reiz tetanische Zuckung, 3b 35° spontane tetanische Zuckung. II. 26.VII. Temporaria. Wird gleich nach Injection von Stryehnin 95 00’ unter die Glocke gebracht, die ein Gasgemisch von 80 Procent CO, und 20 Procent O enthält, 95 27’ auf Reiz tetanische Zuckung, 9h 32’ auf Reiz Tetanus, 10% 00’ auf Reiz nur noch ganz schwache Reaction, kommt in Wasser- stoff, bald darauf tetanische Zuckung, 10% 25’ wird, da eine weitere Erholung nicht stattfindet, an die Luft gebracht, 10% 37’ Tetani, kommt wieder in obiges Gasgemisch, 10» 50’ gelähmt, kommt in Wasserstoff, 11% 15° noch gelähmt, kommt an die Luft, wo jedoch auch keine Er- holung mehr stattfindet. 184 HAns WINTERSTEIN: IV. .26.VII. Temporaria. Kommt gleich nach Injeetion von Strychnin 5" 18’ in die Glocke (80 Procent CO,, 20 Procent O), 5h 27’ gelähmt, kommt in Wasserstoff (vor der Lähmung sind keine Tetani eingetreten), 5h 30° auf Reiz leichte Zuekung, 5h 31° Frosch richtet sich auf, 5h 35’ Tetani, kommt an die Luft, 5h 38° wieder in obiges Gasgemisch, 56 46’ gelähmt (nur minimale Reaction), kommt in Wasserstoff, 5h 49° spontan leise Zuekung, 6% 02’ da keine weitere Erholung eingetreten ist, kommt er an die Luft; auch jetzt findet keine Erholung mehr statt. Aus diesen, wie erwähnt typischen Beispielen, mit denen die Resultate anderer Versuche gut übereinstimmen, können wir Folgendes entnehmen: Die Kohlensäure vermag bei hoher Spannung den Eintritt des Strychnin- tetanus zu verhindern. Dies ist bei reiner Kohlensäure fast regelmässig der Fall, bei Gasgemischen von etwas geringerer Kohlensäurespannung (75 bis 80 Procent) ist dies individuell verschieden, und ob vor der Lähmung der Strychnintetanus zu Stande kommt oder nicht, hängt davon ab, ob das Strychnin oder die Kohlensäure schneller ihre Wirkung entfalten.. Lassen wir den Procentgehalt an Kohlensäure noch weiter sinken (50 Procent), so geht der Lähmung regeimässig der Eintritt der Tetani voraus. Die Kohlensäure vermag aber nicht hloss gegebenen Falls den Eintritt der Strychninwirkung zu verhindern, sondern auch die bereits eingetretene Wirkung wieder zu beheben, indem an Stelle der Tetani Einzelzuckungen von immer mehr abnehmender Intensität treten, bis endlich die völlige Lähmung erfolgt. Daraus ergiebt sich, dass die Kohlensäure den Zerfall der lebendigen Substanz nörkindere mithin dissimila- torisch lähmend wirkt. > Besonderes Interesse verdient die Erholung in reinem Wasserstoff: Ein Frosch nämlich, der vor Eintritt der Tetani durch Kohlensäure gelähmt wurde, erholt sich — falls eine Erholung überhaupt noch statt- findet — in reinem Wasserstoff ebenso gut wie an der Luft; bei denjenigen Fröschen hingegen, die erst nach Eintritt. des Strychnintetanus in reiner Kohlensäure gelähmt wurden, findet eine Erholung in Wasserstoff gar nicht oder nur sehr unvollkommen statt. Es hält nicht schwer, für diese Erscheinung eine Erklärung zu finden: Der Sauerstoffverbrauch ist während des Strychnintetanus ganz ausserordentlich gesteigert, was sich unter Anderem auch daraus ergiebt, dass die Lähmung in reinem Wasser- stoff bei einem mit Strychnin vergifteten Frosch ungleich rascher erfolgt, als bei einem normalen. Da nun in obigem Versuche in der reinen Kohlen- säure kein weiterer Sauerstoff zugeführt wird, so ist mit der durch Kohlen- Dıe WIRKUNG DER KOHLENSÄURE AUF DAS ÜENTRALNERVENSYSTEM. 185 säure hervorgerufenen Lähmung zugleich eine Erschöpfung in Folge von Sauerstoffmangel verbunden, und es kann im reinen Wasserstoff nur die erstere durch Abgabe der Kohlensäure, nicht aber die letztere behoben werden, da hierzu Sauerstoff nothwendig ist, wie denn auch thatsächlich (wenn der Versuch nicht zu lange ausgedehnt wird) an der Luft die Erholung eintritt. Ich möchte darauf hinweisen, dass die gleichzeitig mit dieser Arbeit publicirten Resultate von Durchströmungsversuchen, die Verworn! an „Strychninfröschen“ mit O-haltigen und O-freien Lösungen angestellt hat, mit, obigen Ergebnissen vollständig übereinstimmen. Nun wurde, wie Beispiel III und IV beweisen, auch in den Fällen keine oder nur sehr: mangelhafte Erholung in reinem Wasserstoff erzielt, wo die Frösche nach Eintritt des Strychnintetanus nicht in reiner Kohlen- säure, sondern in einem Gasgemisch von zwar hoher CO,-Spannung, aber normalem O-Gehalt gelähmt wurden. Wenn auch dies allgemeine Gültig- keit besitzen sollte, was ich nicht mit Sicherheit anzugeben vermag, da die Zahl der hierüber angestellten Versuche zu gering ist, so würde die obige Erklärung allein hierfür nicht ausreichen, sondern wir müssten zudem noch annehmen, dass, wie dies von verschiedenen Seiten behauptet wurde, die Kohlensäure die Sauerstoffaufnahme im Blute verhindere, oder aber, dass sie nicht bloss, wie wir oben gesehen haben, den Zerfall, sondern auch den Aufbau der lebendigen Substanz und dadurch die Bildung von zerfalls- fähigem Reservematerial verhindere, d.h. dass die Kohlensäure nicht nur dissimilatorisch, sondern auch assimilatorisch lähmend wirke; als sicher erwiesen kann jedoch nur die erstere Wir- kungsweise betrachtet werden. II. Versuche an Kaninchen. Die Wirkung der Kohlensäure auf Warmblüter ist schon so oft Gegen- stand eingehender Untersuchung gewesen, und die hierbei auftretenden Erscheinungen sind so weit in alle Einzelheiten hinein studirt worden, dass es überflüssig erscheint, von Neuem auf alle Details einzugehen. Es soll daher hier bloss die Aufmerksamkeit auf einige Thatsachen gelenkt werden, die bisher vielleicht nicht die genügende Beachtung gefunden haben. Die Methode, deren wir uns bei diesen Experimenten bedienten, stand zwar an Exactheit insofern hinter anderen zurück, als die Ausathmung in denselben Raum erfolgte, aus dem auch die Einathmung stattfand, so dass die Zusammensetzung des Gasgemisches sich im Verlaufe des Versuches ! Verworn, Ermüdung, Erschöpfung und Erholung der nervösen Centra des Rückenmarkes. Dies Archiv. 1900. Physiol. Abthlg. Suppl. 8. 152, 186 Hans WINTERSTEIN: änderte, liess aber dafür an Einfachheit nichts zu wünschen übrig. Das im Uebrigen normale Thier athmete einfach durch Trachealcanüle aus einer 12 Liter fassenden Flasche, die mit dem betreffenden Gasgemisch gefüllt wurde, welches genügende Mengen von Sauerstoff enthielt, um während der meist kurzen Dauer der Versuche die Wirkung des Sauerstoffmangels zu verhindern. Der Blutdruck in der Carotis wurde durch ein Quecksilber- manometer auf dem Kymographion verzeichnet. Auf diesem Wege konnten alle die schon vielfach beschriebenen Erscheinungen beobachtet werden, die sich auch hier in solche der Erregung und solche der Lähmung gliedern. Zu den ersteren gehören vornehmlich die dyspnoische Athmung mit stark vertieften und foreirten Athemzügen und die dadurch bedingte Zunahme der Athemgrösse, wie dies besonders von Löwy und Zuntz! eingehend untersucht wurde, die Steigerung des Blutdruckes in Folge der Erregung des Vasomotorencentrums, wie sie zuerst von Thiry? und Traube? be- obachtet wurde, und die ihr nicht immer, aber häufig vorausgehende Blutdrucksenkung mit den charakteristischen, durch die Erregung des Herzvaguscentrums verursachten rhythmischen Blutdruckschwankungen, die gleichfalls von Traube? entdeckt wurden, sowie endlich die die dyspnoische Athmung begleitenden Erscheinungen, wie das Aufsperren des Maules und der Nasenöffnungen und die in einzelnen Fällen bis zu Krämpfen sich steigernde Gesammterregung. Zu den Lähmungserscheinungen zählen die bald eintretende Beruhigung des Thieres, das Aufhören der Reflexerregbar- keit, der Tod ohne Krämpfe. Vergleichen wir die Erscheinungen beim Warmblüter mit denen beim Frosch, so tritt uns trotz der beträchtlichen Verschiedenheiten, die vor- nehmlich in dem stärkeren Hervortreten der Erregungserscheinungen bei ersterem gipfeln, doch eine unverkennbare Aehnlichkeit entgegen. Da wie dort Erregung und Lähmung. Auch das über die Aufeinanderfolge und den Zusammenhang der beiden Erscheinungscomplexe oben Gesagte müssen wir hier aufrecht erbalten: Auch hier ist es nicht richtig, wie dies ge- wöhnlich geschieht, von einem Erregungsstadium zu sprechen, auf welches die Lähmung folgt, denn auch hier sind beide entgegengesetzten Wirkungen durch keine Grenze zu scheiden, sondern greifen in einander über und treten neben einander auf. Denn die Steigerung des Blutdruckes ist noch vorhanden, während die Reflexerreebarkeit schon erloschen ist, und während die Athmung in ihrer Ruhe und Gleichmässigkeit der des tiefen Schlafes gleicht, ist sie doch noch abnorm vertieft und von Mund- und ! Zuntz, Ueber die Bedeutung des Sauerstoffmangels und der Kohlensäure für die Innervation der Athmung. Dies Archiv. 1897. Physiöl. Abthlg. S. 379. ° Thiry, Centralblatt für medicinische Wissenschaft. 1864. S. 722. 8 Traube, Zbenda. 1865. 8. 881. Dre WIRKUNG DER KOHLENSÄURE AUF DAS ÜENTRALNERVENSYSTEM. 187 Nasenbewegungen begleitet, so dass ihr Charakter wiederum dyspnoisch bleibt. Ist es nun schon nicht leicht, sich vorzustellen, dass ein Stoff zuerst erregend und dann lähmend wirke, ohne dass diese Lähmung durch Er- schöpfung verursacht sei, so ist es kaum möglich, sich eine theoretische Vorstellung zu machen von der Wirkungsweise eines Stoffes, der auf ein und dasselbe nervöse Organ zugleich erregend und lähmend wirke, d. h. also den Stoffwechsel zu gleicher Zeit erhöhe und herabsetze. Diese Betrachtung allein drängt schon zu der Ansicht hin, dass die beiden entgegengesetzten Erscheinungsformen auch auf verschiedene Ursachen zurückgeführt werden müssten. Obwohl schon Traube! die Vermuthung aussprach, dass die Kohlen- säure nicht direct erregend auf die Centren wirke, sondern auf reflecto- rischem Wege, welche Anschauung er allerdings kaum zu begründen ver- mochte und die sich auch mit seiner Auffassung der Kohlensäure als dem normalen Athemreiz und der alleinigen Ursache aller dyspnoischen Er- scheinungen schwer verträgt, so ist doch die Lehre von der direct er- regenden Wirkung der Kohlensäure auf die Centren fast zu einem Dogma geworden, obgleich ein Beweis dafür eigentlich niemals erbracht wurde. Friedländer und Herter? haben als Beweis gegen die reflectorische Natur der Kohlensäure-Erregung die Thatsache angeführt, dass die dys- pnoischen Erscheinungen nach Durchschneidung der Vagi nicht ab-, sondern eher zunehmen. Diese Thatsache, die auch durch unsere Versuche be- stätigt erscheint und ebenfalls schon von Traube? beobachtet wurde, der daraus auf eine rellectorisch durch die Kohlensäure hervorgerufene Er- regung von inspirationsbeschleunigenden Vagusfasern schloss, beweist jedoch nichts Anderes, als dass die etwa die dyspnoischen Erscheinungen ver- ursachenden Reflexbahnen nicht, oder wenigstens nicht ausschliesslich im Vagus verlaufen; über die Existenz derselben ist aber damit nichts aus- gesagt, da ihnen noch der Sympathicus offen steht. Wir wollen nun im Folgenden eine Reihe von Thatsachen anführen, welche für die Auffassung der Kohlensäure-Erregung als eines reflectorischen Vorganges zu sprechen scheinen: In den meisten über die Wirkung der Kohlensäure veröffentlichten Arbeiten ist merkwürdig wenig Gewicht gelegt auf die Reizerscheinungen, welche durch die Wirkung der Kohlensäure auf die peripheren Organe hervorgerufen werden. Zwar erwähnen Friedländer ! Traube, Zur Physiologie der vitalen Nervencentra. Beiträge zur Pathologie und Physiologie. Bd.1. S. 321. ® Friedländer und Herter, Ueber die Wirkung der Kohlensäure auf den thie- rischen Organismus. Zeitschrift für physiologische Chemie. Bd. ll. 8. 99. ® Traube, Zur Physiologie der Respiration. Beiträge zur Pathologie und Phy- siologie. Bd.1I. S. 282, 188 HAns WINTERSTEIN: und Herter! als constante Befunde bei durch Kohlensäureathmung zu Grunde gegangenen Thieren „hypostatische Hyperämie, zerstreute kleinere und grössere Ecchymosen und Oedem der Lungen“, zwar führt auch Bene- dicenti? dieselben Erscheinungen als charakteristische Sectionsbefunde an, doch wird von Keinem diesen Reizwirkungen eine grössere Bedeutung zu- geschrieben. Wir haben bei allen unseren Versuchen mit grösserem Procent- gehalt an Kohlensäure Lungenödem in so hohem Maasse erhalten, dass der dicke, häufig mit Blut versetzte Schleim die ganze Trachea erfüllte und den Erstiekungstod des Thieres herbeiführte, und die in einzelnen Fällen an- gestellte Section hat meist ganz ausserordentliche Blutungen in die Lungen gezeigt. Es mag nun sein, dass dies individuell verschieden ist, und dass in irgend welchen Eigenthümlichkeiten, vielleicht in einer besonderen Empfind- lichkeit gewisser Kaninchensorten, die Ursache für die ungewöhnliche Inten- sität der Reizerscheinungen bei unseren Versuchen liegt, sicher sind sie in allen Fällen gross genug, um eine reflectorische Erregung hervorrufen zu können. Es ist übrigens ausserdem noch bekannt, dass die Kohlensäure bei directer Einwirkung auf die Haut, z. B. bei Bädern in CO,-reichem Wasser „ein Gefühl der Wärme, des Priekelns und Stechens“,? bei Einathmung in grosser Concentration ebenso wie andere irrespirable Gase, z. B. die Halogene und ihre Wasserstoffverbindungen, Stimmritzenkrampf verursacht! u. A. m,, so dass also die.Kohlensäure mehr oder minder auf alle peripheren Organe Reizwirkungen ausübt. Friedländer und Herter! haben als einen Beweis für die directe Er- regung der Centra durch Kohlensäure einen Versuch angeführt, der uns das gerade Gegentheil zu zeigen scheint: Sie haben nämlich gefunden, dass auch nach Absperrung aller Blutzufuhr zum Gehirn und der Medulla oblongata die | Kohlensäure ähnliche Veränderungen des Blutdruckes wie normaler Weise hervorruft. Da nun alle Blutbahnen zu den bezüglichen Centren abgesperrt waren, so konnte die Kohlensäure offenbar auch nicht zu ihnen gelangen, und die eingetretene Erregung des Vasomotorencentrums konnte, wenn sie überhaupt mit der Einathmung der Kohlensäure in Zusammenhang stand, nur auf reflectorischem Wege erzeugt sein. Nun sind aber diese typischen Erregungserscheinungen (Erregung des Herzvagus- und Vasomotorencentrums) nicht bloss durch Einathmung von Kohlensäure, sondern auch auf anderem Wege zu erzielen: Nicht nur bei Einathmung von Ammoniak, in welchem Falle auch eine directe Erresung ! Friedländer und Herter, a.a. ©. ? Penedicenti, Die Wirkung der Kohlensäure auf die Athmung. Dies Archiv. 1396. Physiol. Abthlg. S. 408. ® Hermann, Handbuch der experimentellen Toxikologie. Berlin 1874. * Landois, Lehrbuch der Physiologie des Menschen. 9. Auflage. 8. 254. DIE WIRKUNG DER KOHLENSÄURE AUF DAS ÜENTRALNERVENSYSTEM. 189 der Centren vorliegen könnte, sondern auch bei rein reflectorischer Reizung durch Einwirkung von Ammoniak, Aether und, was das Wichtigste ist, durch Kohlensäure auf den Trigeminus kann man analoge Aenderungen des Blutdruckes erhalten. Im Folgen- den seien zum Vergleich sechs Blutdruckcurven einander gegenübergestellt, welche die Wirkung obiger drei Stoffe bei directer Einathmung und bei Reizung des Trigeminus veranschaulichen sollen. In allen Fällen athmete das Thier durch die Trachealcanüle, so dass bei der Einathmung die Reizung des Trigeminus, und umgekehrt bei Reizung des Trigeminus die Aufnahme der betreffenden Stoffe in die Lungen und damit in das Blut verhindert wurde (Figg. 1 bis 6). Die grossen Schwankungen sind durch die Erregung des Herzvaguscentrums (s. oben), das allmähliche Ansteigen durch die Er- regung des Vasomotorencentrums verursacht. Die Pfeile deuten Beginn und Ende der äusseren Reizeinwirkung an. Unter den umstehenden Curven verdienen, wie nebenbei bemerkt sein soll, Figg.5 und 6, welche von demselben Thiere stammen, noch aus einem anderen Grunde Beachtung. Diese zeigen nämlich, wie geringfügig die bei Einathmung des Aethers auftretende Erregung ist im Vergleich zu der durch Trigeminusreizung verursachten. Dies spricht offenbar sehr für die Anschauung, dass auch das sogenannte „Erregungsstadium“ bei der Narkose nicht auf einer der Lähmung vorangehenden Erregung der Centren durch das betreffende Gift, sondern lediglich auf einer reflectorischen Reizung von den peripheren Nervenenden her beruht, die begreiflicher Weise beim Trigeminus in Folge seiner grossen Sensibilität viel energischer sein muss als bei den Reflexbahnen der Lunge. Ein analoges Verhalten prägt sich auch bei den anderen Stoffen "aus, zwar nicht in der Intensität, da diese in Folge des Andauerns der Reizung, wo die Lähmung nicht so rasch eintritt wie beim Aether, bedeutender sein muss, wohl aber in der Schnellig- keit, mit der die Erregung eintritt, die bei Trigeminusreizung fast sofort, bei Einathmung oft erst nach einiger Zeit erfolgt, nämlich bis die Reizung (vielleicht durch Summation) die entsprechende Höhe erreicht hat. Wenn wir nun noch einmal den ganzen Complex von Erscheinungen überblicken: Dass die durch Kohlensäure erzeugte Erregung beim Frosch reflectorischen Ursprunges ist, dass die Kohlensäure als Reiz auf fast alle peripheren Organe wirkt, dass sich analoge Erregungserscheinungen durch andere Gase sowohl, wie durch Kohlensäure selbst auf rein reflectorischem Wege erzeugen lassen, dass Erregungs- und Lähmungserscheinungen neben einander vorhanden sind, und es eine theoretische Unmöglichkeit ist, die beiden entgegengesetzten Wirkungen auf eine einzige Ursache zurückzuführen, so glauben wir wohl berechtigt zu sein, der Anschauung Aus- druck zu geben, dass auch beim Warmblüter die Erregungs- Hans WINTERSTEIN: 190 er N Inn ‚yeruoumy yoınp snurmosLı) Sop Zunziogy 'F SIT *(Q 3u39014 08 O9 4UROIA OE) aunesusjyoy uoA Sunwuygeurg Q "Tod "m 191 h) u RVENSYSTE A) 4 DıE WIRKUNG DER KOHLENSÄURE AUF DAS ÜENTRALNE Oyay uoA Zunwugeurg 1OgoYy (OANp SNATWASLLT, "G'Sıa sap Zunzeay 9 "Sg "OSEN Ip UT HINKSuo]goM UOA USEIqUT yoanp snumastı], sap Sanzıey 3 'Sıq | | | N una aan at Yan, | oo 192 Hans WINTERSTEIN:. DIE WIRKUNG DER KOHLENSÄURE UT. S. w.. erscheinungen in Folge von Kohlensäureathmung reflectori- schen Ursprunges sind, also mit der lähmenden Wirkung der Kohlensäure auf die Nervencentra in keinem directen Zusam- menhange stehen, und dass demgemäss die Kohlensäure des Blutes weder als Athmungsreiz, noch als Urheberin irgend welcher dyspnoischen Erregung betrachtet werden kann. Zusammenfassung. 1. Die Kohlensäure ist ein Gift des Centralnervensystems. 2. Ihre Wirkung beruht in einer Lähmung des Zerfalles der lebendigen Substanz. 3. Die Intensität und Schnelligkeit der Lähmung hängt in hohem Maasse ab von dem Partiardrucke der Kohlensäure und scheint ihm bis zu einem gewissen Grade proportional zu sein. 4. Die Kohlensäure wirkt erregend auf die peripheren Nervenorgane. r 5. Die der Lähmung vorausgehende, beziehungsweise mit ihr sich combinirende Erregung ist beim Frosch und wahr- scheinlich auch beim Warmblüter rein reflectorischen Ur- sprunges. Zum Schlusse sei es mir gestattet, meinem verehrten Lehrer, Hrn. Prof. Verworn, für die vielfache Anregung und Unterstützung bei meiner Arbeit meinen besten Dank auszusprechen, desgleichen meinem Freunde Baglioni für die liebenswürdige Mithülfe bei vielen Versuchen. Physiologische Differenzirung verschiedener Mechanismen des Rückenmarkes. (Physiologische Wirkung des Strychnins und der Garbolsäure.) Von Silvestro Baglioni. (Aus dem physiologischen Institut der Universität Jena.) (Hierzu Taf. I.) 1. Vorbemerkungen. Bisher wurde das Rückenmark in der Physiologie mehr oder weniger als eine Art von physiologischer Einheit betrachtet, im Gegensatze zu den Ergebnissen der Histologie, die auch in diesem Gebiete des Centralnerven- systems so viele Unterscheidungscharaktere der verschiedenen Elemente feststellen konnte. In der Physiologie ist bisher kaum der Versuch gemacht worden, diese verschiedenen histologischen Elemente auch durch ver- schiedene physiologische Eigenschaften genügend zu kennzeichnen, man hat vielmehr gewöhnlich die stillschweigende Voraussetzung gemacht, dass diese anatomisch durchaus getrennten Elemente im Wesentlichen gleiche physiologische Eigenthümlichkeiten besässen. Es soll nun in den folgenden Untersuchungen gezeigt werden, dass verschiedene Elemente des Rückenmarkes sich gegen chemische Reizung auch physiologisch durchaus verschieden verhalten, dass thatsächlich den anatomisch differenten Elementen des Rückenmarkes auch ganz verschiedene physiologische Eigenschaften zukommen. Die Versuche wurden hauptsächlich an Fröschen (Temporarien und Esculenten) und Meerschweinchen angestellt, gelegentlich auch an Vögeln Archiv f. A.u. Ph. 1900. Physiol. Abthlg. Suppl. 13 194 SILvestro BA@Liont: (Eulen) und Hunden. Bezüglich der angewendeten Methoden wird an den betreffenden Stellen angeführt werden, was in dieser Hinsicht von Belang erscheint. 2. Die äusseren Erscheinungen bei der Vergiftung mit Carbolsäure. Salkowski! hat schon im Jahre 1872 ziemlich ausführlich beim Frosche und beim Kaninchen die verschiedenen Symptome der Vergiftung mit Carbolsäure beschrieben, welche Beobachtungen ich in allen wesent- lichen Punkten bestätigen konnte. Wenn man einem Frosche 0-2 bis 1m einer 1/,- bis 2proc. Carbolsäure- lösung (die Dosen von Salkowski waren zu stark, um die Erscheinungen im Einzelnen genauer verfolgen zu lassen) unter die Haut spritzt, merkt man zunächst gar keine Besonderheiten, abgesehen von den heftigen Reflex- bewegungen, welche ausgelöst werden durch die auf die sensiblen Nerven- enden der betreffenden Hautstelle direct wirkende Carbolsäure. Nach 1 bis 2 Minuten aber stellt sich ein charakteristisches Erscheinungsbild ein: Zunächst senkt der Frosch den Kopf mit geschlossenen Augen und bleibt ruhig sitzen; wenn er gereizt (berührt oder gestochen) wird, senkt er den Kopf noch tiefer und schliesst mit krampfhafter Anstrengung immer fester die Augen, ohne viele Bewegungen auszuführen. Die Reflexerregbar- keit ist etwas herabgesetzt. Das ist „der soporöse Zustand“ von Sal- kowski, der nur bei starker Dosis (2 Procent), aber fast immer deutlich zum Ausdruck kommt. Es ist nicht selten, dass nebst den anderen Erschei- nungen bei Rana temporaria und esculenta, wenn auch bei letzterer nicht so deutlich, noch die merkwürdige Erscheinung der „Katzenstimme“? auftritt, die man niemals vermisst, wenn man eine kleine Dosis anwendet (0.5 m einer O-5proc. Carbolsäurelösung). Indessen sowohl diese Erschei- nungen, wie der oben erwähnte soporöse Zustand sind Folgen der Reizung anderer Partien des Centralnervensystems durch die Carbolsäure, nicht des Rückenmarkes: die erstere nämlich ist eine Reizung des Grosshirns,? der letztere der Medulla oblongata, wie gelegentlich unten gezeigt werden wird. Diese Erscheinungen gehen jedoch allmählich in einen anderen, lang andauernden Erscheinungscomplex über, der hier allein in Betracht kommt, da er eine directe Folge von Aenderungen im Verhalten des Rückenmarkes darstellt: Der früher ruhig dasitzende Frosch führt plötzlich ohne eine ı E. Salkowski, Ueber die Wirkung und das chemische Verhalten des Phenols (Carbolsäure) im thierischen Organismus. Pflüger’s Archiv. 1872. Bd. V. ” 8. Baglioni, Chemische Reizung des Grosshirns beim Frosche. Centralblatt für Physiologie. 1900. Bd. XIV. Nr. 5. DIFFERENZIRUNG VERSCHIEDENER MECHANISMEN D. RÜCKENMARKES. 195 nachweisbare äussere Veranlassung eine starke, kurze, hauptsächlich exten- sorische Bewegung mit den Vorderbeinen aus, auf welche eine mehr oder weniger lange Pause folgt. Darauf folgt eine andere derartige Bewegung der Hinterbeine u. s. f., wobei die Ruhepausen immer kürzer werden. Wenn der Frosch springt oder geht, sieht man deutlich, dass die normalen Be- wegungen der betreffenden Muskeln kürzer, fast blitzartig erfolgen, und gegen das Ende der Bewegung immer von starken Contractionen der Anta- gonisten unterbrochen sind. Diese Erscheinungen nehmen immer mehr zu. Schliesslich führt der Frosch fortwährend momentane, ziemlich starke Zuckungen aus (Fig. 1); die sämmtlichen Muskeln des nr: contrahiren sich nämlich unabhängig von einander: ein Mal erfolgt z. B. eine Extension eines hinteren Beines, gleichzeitig eine Flexion eines Armes mit Senkung des Kopfes, dann wieder gleichzeitig eine Flexion des hinteren und des vorderen Beines mit Wendung des Kopfes nach rechts u.s.f., ohne Zu- sammenhang, ohne irgend welche Regelmässigkeit. Diese Reihen und Gruppen von zuckenden Bewegungen müssen als „clonische“ Zuckungen bezeichnet werden. Wenn man einen Frosch in diesem Zustande mechanisch oder elektrisch oder chemisch reizt, so folgen zunächst noch stärkere clonische Zuckungen, während der Frosch die normalen, bekannten Abwehrbewegungen auszuführen sucht, die aber, von den fortwährenden Zuckungen unterbrochen und ver- hindert, nur selten ihr Ziel erreichen. Zieht man z. B. an einem Fuss, so wird er gleich unter zitternder Bewegung an den Körper angezogen. Wird der Frosch mit zwei Fingern unter den Armen erfasst und so hängend in der Luft gehalten, so führt er zuerst rasche und kurze Zuckungen aus, zieht dann, fortwährend zuckend, die Hinterbeine an den Körper und sucht augenscheinlich seine Füsse — wie ein normaler Frosch — gegen die Finger zu stemmen, um diese zu entfernen, erreicht aber trotz vieler Ver- suche dieses Ziel niemals, offenbar weil die tonische Innervation der be- treffenden Muskeln von den clonischen Zuckungen der Antagonisten unter- brochen wird. Ferner, wenn man den Frosch auf den Rücken legst, führt er viele ziellose, clonische Bewegungen aus; wenn man die Cornea berührt, macht der Frosch die Lider zu, um sie sofort wieder krampfhaft aufzu- reissen, und vieles Andere mehr. Daraus geht schon deutlich hervor, dass die Reflexe noch vorhanden sind, dass der Reflexmechanismus in seinem affe- renten (sensiblen) Theile nicht geschädigt, sondern nur die Ausführung der Bewegungen abnorm von celonischen Zuckungen unterbrochen ist, dass der Reflexmechanismus also offenbar nur in seinem efferenten (motorischen) Theile eine Wersudsrune erlitten hat, 137 196 SILvESTRO BAGLIONT: Dieser Zustand dauert ziemlich lange, von 1 Stunde bis zu 2 oder 3 Tagen, je nach der Grösse der verabreichten Gabe. Bei den oben angegebenen Dosen stirbt der Frosch nie, sondern erholt sich immer all- mählich. Die nämlichen Versuche wurden auch am Meerschweinchen (Cavia cobaya) angestellt. Spritzt man einem mittelerossen Thiere 2 = einer 6proc. Carbolsäurelösung ein, so fängt das Thier bald darauf an zu zittern, als ob es fröre. Anfangs ist dieses Zittern nicht sehr stark, erstreckt sich Curven, die vom Gastrocnemius einer mit 0-7 °” einer O-5procent. Carbolsäurelösung vergifteten Temporaria erhalten wurden. Die Zuckungen wurden ohne wahrnehmbare äussere Veranlassung ausgeführt, nur die mit A angedeuteten durch leise Berührung des Armes veranlasst. (Zeit in Secunden.) aber auf sämmtliche Muskeln des Körpers, ohne dass Ruhepausen ein- treten, nimmt dann immer mehr zu, so dass nach wenigen (ungefähr 15) Minuten der Erscheinungscomplex vollständig ist. Das Thier verliert die Fähigkeit, auf den Füssen zu stehen, gereizt sucht es Fluchtbewegungen auszuführen, die aber nicht zum Ziele führen, da genau so wie beim Frosche die dazu erforderlichen tonischen Contractionen der betreffenden Muskeln von clonischen Zuckungen hauptsächlich der Antagonisten unterbrochen werden. Ebenso werden, wenn man das Thier mechanisch (durch Kneifen, DIFFERENZIRUNG VERSCHIEDENER MECHANISMEN D. RÜCKENMARKES. 197 Stechen, Drücken) oder elektrisch reizt, die elonischen Zuckungen jedes Mal stärker, um wieder abzunehmen, sobald der Reiz aufhört. Zieht man an einer Pfote, so wird sie gleich an den Körper angezogen; wird das Thier auf den Rücken gelegt, so sucht es erfolglos wieder in die normale Stellung zurückzukehren. Das erkennt man ganz deutlich daraus, dass von den Beinen ein jedes, wenn auch unter lebhaften clonischen Zuckungen, doch sein typisches Verhalten zeigt, dass z. B. die Beine, welche normaler Weise durch ihre Contraction hauptsächlich den Körper wieder aufrichten, wie das hintere Bein der Seite, nach welcher der Kopf gewendet ist, stärkere und ergiebigere elonische Zuckungen ausführen als die anderen, die gestreckt bleiben und schwächer zittern. Wird das Thier in der gewöhnlichen Weise auf den Boden gesetzt, so sucht es zu gehen; d.h. wenn man die Hinter- beine in Betracht zieht, sieht man ohne Weiteres, dass dieselben nicht gleichzeitig an den Körper angezogen werden, sondern eins nach dem anderen, dass also während der Beugung des einen das andere gestreckt wird, und umgekehrt. Offenbar ist darin die coordinirte Bewegung des Gehens zu erkennen. Und so bleiben alle normalen Impulse zu bestimm- ten coordinirten Bewegungen erhalten. Auch die so complicirten Athem- bewegungen sind immer vollkommen vorhanden, nur, wie auch beim Frosche, beschleunigt. Also ist es auch hier leicht wahrzunehmen, dass die Sensi- bilität und damit auch die Coordination der verschiedenen Bewegungen ganz gut erhalten und nur die motorische Aus- führung derselben verändert ist. Dieser Zustand dauert bei der angegebenen Dosis nicht allzu lange, durchschnittlich 2 bis 3 Stunden. Nach dieser Zeit hat sich das Thier ganz gut erholt und zeigt auch später keine physiologischen Störungen. Fig. 2 zeigt die Curven, welche man von Muskeln der Hinterextremität eines mit 3°m einer 6proc. Carbolsäurelösung vergifteten Meerschweinchens folgender Weise erhielt: Es wurden die Sehnen des Tibialis anticus (Fussbeuger) und des Gastrocnemius (Fussstrecker) freigelegt, das Thier wie gewöhnlich am Brette mit gestreckten Extremitäten gefesselt. Der hintere Theil des Körpers, hauptsächlich das rechte Hinterbein, dessen Muskeln verwendet wurden, wurde fest eingegipst, so dass jede passive Bewegung der benutzten Extremität von Seiten anderer Muskeln vollkommen ausgeschaltet war, und nur die Contractionen der oben erwähnten, frei- präparirten Muskeln von zwei Schreibhebeln gleichzeitig verzeichnet wurden. Die Spitzen der beiden Hebel waren senkrecht über einander gestellt, so dass jeder Punkt der oberen Curve dem mit ihm durch eine senkrechte Linie verbundenen Punkte der unteren Curve genau entspricht. Man sieht an diesen Curven zunächst, dass die clonischen Zuckungen des Tibialis 198 SILVESTRO BAGLIONT: anticus höher und ergiebiger sind, als die des Gastrocnemius. Der Grund hierfür liegt höchst wahrscheinlich darin, dass bei einem in der angegebenen Lage gefesselten Thiere — mit ausgestreckten Beinen und Füssen — hauptsächlich der Beuger (Tibialis anticus) innervirt wird. Ferner sieht man deutlich, dass die Zuckungen der beiden Muskeln der Zeit nach Fig. 2. Clonische Zuckungen des Gastrocnemius (oben) und des Tibialis anticus (unten) vom Meerschweinchen. völlig unabhängig von einander sind, dass z. B. sehr oft, wenn der Beuger sich in Erschlaffung befindet, der Gastroenemius contrahirt wird, und um- gekehrt, oder auch, dass beide gleichzeitig contrahirt werden u. s. w. Einmal wurden auch einer Eule 5°" einer 5proc. Carbolsäurelösung unter die Haut injieirt, Auch hier kamen die beschriebenen clonischen DIFFERENZIRUNG VERSCHIEDENER MECHANISMEN D. RÜCKENMARKES. 199 Zuckungen zum Vorschein, zuerst Zittern u. s. w., bis das Thier nicht mehr stehen konnte. Nachdem es auf den Boden gefallen war, setzten sich die clonischen Zuckungen des ganzen Körpers in noch stärkerem Maasse fort. Aber die coordinirten Impulse waren auch hier ganz gut erhalten; man sah z. B. die Beine sich immer nach einander contrahiren, wie beim Gehen des Thieres, die Bewegungen der Flügel waren analog denen beim Fliegen u. s. w., nur die motorische Ausführung war in allen Fällen durch die clonischen Zuckungen gestört. Bei einem jungen Hunde, dem 10° = einer 6proc. Carbolsäurelösung unter die Haut injieirt worden waren, wurden die gleichen Resultate erhalten. 3 Weitere Untersuchungen über die physiologische Wirkung der Carbolsäure. Dass die Carbolsäure ein Gift des Centralnervensystems ist, und dass die hier besprochenen Erscheinungen lediglich Folgen der durch Carbolsäure veränderten Function der Nervensubstanz sind, geht daraus hervor, dass, wenn man bei einem Frosche ein Bein vom Körper abtrennt, mit Aus- nahme des Ischiadicus, der als einzige Brücke noch die Extremität mit dem Körper verknüpft, und Carbolsäure unter die Haut des Rückens injicirt, dennoch die clonischen Zuckungen eintreten, und zwar sowohl bei den sämmtlichen Muskeln des übrigen Körpers, als bei denen des abgetrennten Beines, hier dagegen aufhören, wenn der Ischiadicus durchschnitten wird. Andererseits bleiben die celonischen Zuckungen auch bei einem Beine, das in normaler Weise mit dem übrigen Körper verbunden ist, aus, wenn man seinen Ischiadicus durchschneide. Das Gleiche ist der Fall, wenn die sämmtlichen Wurzeln des Rückenmarkes durchschnitten sind. Man kann also mit Bestimmtheit sagen, dass die Carbolsäure auf das Centralnerven- system selbst wirkt. Aus hierüber angestellten Versuchen geht übrigens deutlich hervor, dass bestimmte Carbolsäurelösungen zwar auch auf den Muskel wirken, indem sie seine Erregbarkeit herabsetzen, nicht aber irgend welche Zuckungen hervorrufen. Dies gilt indessen nur für starke Lösungen; bei den oben angegebenen Dosen war kaum ein Unterschied in dem Verhalten eines normalen und eines vergifteten Muskels wahrnehmbar. Schon Salkowski! hat in seiner Abhandlung bewiesen, dass der Sitz der Carbolsäurewirkung bei den clonischen Zuckungen das Rückenmark ist, ndem er zeigte, dass die Zuckungen noch bestehen bleiben, bezw. noch ! Salkowski, a.a. O. 200 N SILVESTRO BAGLIONT: hervorgerufen werden können, nach Entfernung des Kopfes — beim Frosche, oder nach Abtrennung des unteren Theiles des Rückenmarkes vom oberen — beim Kaninchen. Aus den darüber angestellten Versuchen ergiebt sich jedoch, dass, wenn auch nach Abtrennung des Rückenmarkes von den oberen Partien des Gentralnervensystems die clonischen Zuckungen noch hervorgerufen werden können, diese doch gegenüber den normalen Verhältnissen bedeutend an Intensität verloren haben, was übrigens auch Salkowski! an einer Stelle an- zudeuten scheint. Wenn man bei einem mit Carbolsäure vergifteten Frosche nach Ein- tritt der elonischen Zuckungen den Kopf abschneidet, oder besser, weil damit zu viel Blutverlust und starke Störungen verbunden sind, wenn man die Medulla oblongata quer durchschneidet, so hören zunächst die clonischen Zuckungen auf; bald indessen, nach eingetretener Erholung, sobald auch die bekannten Reflexbewegungen wieder hervorgerufen werden können, treten auf Reizung hin auch die clonischen Zuckungen wieder auf, aber ihrer Natur nach kaum zu erkennen, so selten und schwach sind sie im Vergleich zu den vorhergegangenen beim unversehrten Thiere.e Man kann jedoch auch in diesem Zustande deutlichere clonische Zuckungen her- vorrufen, wenn man ein Bein (durch Stechen, Drücken, Kneifen) andauernd reizt. Dann zeigen sich zugleich mit den gewöhnlichen Re- flexen deutlichere clonische Zuckungen. Wenn man aber einzelne, kurze mechanische oder elektrische Reize auf die Pfote oder die Haut einwirken lässt, so erhält man nur einzelne Zuckungen, deren clonische Natur sich nicht erkennen lässt. Deutliche clonische Zuckungsreihen kommen nur bei lang andauernder Reizung vor. Ebenso zeigt sich, wenn man einem Frosche vorher die Medulla oblongata durchtrennt, ihn dann sich erholen lässt und wartet, bis die Reflexe wieder da sind, nach Ver- giftung mit Carbolsäure von selbst keine einzige clonische Zuckung, während man solche durch lang anhaltende Reizung deutlich hervor- rufen kann. Das Gleiche geht aus den an Meerschweinchen angestellten Ver- suchen hervor. Einem mit 3°” einer 6proc. Carbolsäurelösung vergifteten Thiere mit lebhaften clonischen Zuckungen wurde das Rückenmark zwischen dem 7. und 8. Brustwirbel durchschnitten. Sofort hörten die clonischen Zuekungen an den Hinterbeinen auf, während sie sich an den Vorderbeinen und dem Kopfe energisch fortsetzten. Erst später fingen die Hinterbeine wieder an, einige elonische Zuckungen auszuführen, aber sie waren kaum bemerkbar, viel seltener und schwächer als die des vorderen Theiles des ! Salkowski, a.a. 0. DIFFERENZIRUNG VERSCHIEDENER MECHANISMEN D. RÜCKENMARKES. 201 Körpers; auch bei lange ausgedehnter Beobachtung blieb das Erscheinungs- bild unverändert. Unzweifelhaft also nehmen die clonischen Zuckungen bei Carbolsäurevergiftung nach Abtrennung des Rückenmarkes von den oberen Partien des Centralnervensystems bedeutend ab und treten niemals spontan auf. Trotzdem ist hinsichtlich der elonischen Zuckungen das Rückenmark der Sitz der ÖOarbol- säurewirkung, wie aus den folgenden Versuchen unzweifelhaft hervorgeht, bei denen die direete locale Wirkung der Carbol- säure auf das Rückenmark untersucht wurde. Das Rückenmark des Frosches wurde sorgfältig blossgelest. Damit diese Operation möglichst gut gelinge, ist Folgendes besonders zu berück- sichtigen. Man muss beim Abschneiden der Wirbel jede Berührung der nervösen Substanz mit der Scheere und jede stärkere Erschütterung derselben vermeiden. Die kleinen und mittelgrossen Thiere, nicht die ganz grossen, erwiesen sich in dieser Hinsicht als die geeienetsten, da sie nicht so dicke Wirbel besitzen, die man daher abschneiden kann, ohne die Centren allzu stark zu erschüttern. Das beste Zeichen, dass das Rückenmark nicht verletzt wurde, ist es, wenn die beiden Hinterbeine, sobald sie von den Stecknadeln, mit denen sie fixirt waren, befreit sind, gleich an den Körper angezogen werden und auf Reizungen mit Reflexen antworten; dann sind die Centren völlig unversehrt. Bei der Freilegung des Rückenmarkes treten noch Erscheinungen auf, die an dieser Stelle von nebensächlicher Bedeutung sind, auf die noch später eingegangen werden soll. Nach der Eröffnung des Rückenmarkscanales muss man das Rücken- mark sorgfältig mit einer feinen Pincette von der kalkreichen Umhüllung befreien, so dass es ganz rein vorliegt. An dem so blossgelegten Rücken- mark wurde die directe Reizung durch Carbolsäure untersucht. Zu diesem Zwecke wurde eine einfache Methode angewendet: es wurde die Spitze einer Stecknadel mit einer sehr feinen Watteschicht umwickelt und mit dieser so abgestumpften Stecknadel, die in die betreffende Carbol- lösung eingetaucht wurde, vorsichtig die betreffende Stelle des Rücken- markes betupft. Sowie ein Tröpfchen der Lösung mit dem Rückenmark in Berührung kam, wurde es sogleich mit Watte abgewischt, damit es sich nicht ausbreite. Dies wurde so oft wiederholt, bis die Vergiftungserschei- nungen sich einstellten. Meistens wurde zu diesen Versuchen 2proc. Carbol- säure verwendet; diese erwies sich als die beste. Selbstverständlich kann man jedoch auch schwächere Lösungen verwenden, wenn man das absolute Quantum bei der Betupfung in Rechnung zieht. 202 SILVESTRO BAGLIONI 2 Die ersten Erscheinungen, welche sofort nach der Betupfung des Rückenmarkes (z. B. der Pars lumbalis) eintreten, sind heftige coordinirte Abwehrbewegungen der Hinterbeine, die offenbar darauf beruhen, dass zu- gleich die hinteren Wurzeln gereizt werden; bei weiterem Betupfen bleiben sie aus. Wenn man jetzt die Reflexerregbarkeit prüft, indem man z. B. die Zehen einer Extremität drückt oder kneift, so sieht man, dass keine Reflexe mehr zu erzielen sind. Es ist vollständige Anästhesie eingetreten, und zwar zuerst an den hinteren, erst später (nur bei Ausbreitung des Giftes) auch an den vorderen Gliedmaassen. Setzt man die Betupfung weiter fort, so kommt manchmal ein Moment, wo die sämmtlichen Muskeln der Hinter- extremitäten eine einzige lange tetanische Contraction ausführen, welche zur Extension der letzteren führt. Giebt man nunmehr die Betupfung auf und wartet eine Weile, so kommen von selbst die bekannten clonischen Zuckungen zum Vorschein. Das ist das allgemeine Erscheinungsbild, das man bei der directen Reizung des Rückenmarkes mit Carbolsäure erhält. Wir müssen nun näher auf die Einzelheiten eingehen und die verschiedenen Verhältnisse genauer untersuchen, welche dabei in Betracht kommen, hauptsächlich hinsichtlich der clonischen Zuckungen, die allein hier zu erörtern sind. Offenbar kann man mittels der oben geschilderten Reizmethode ge- nügend scharf begrenzte Theile des Rückenmarkes der Carbolsäurewirkung aussetzen und die übrigen intact lassen, wenn man immer denselben Ort mit der Stecknadel befeuchtet und jede Ausbreitung des Giftes durch sorg- fältiges Abtupfen mit Watte verhindert. So wurde ein Mal nur die Pars lumbalis des Rückenmarkes betupft, wo die Wurzeln für die Hinterbeine sich befinden, dann nur die Pars dorsalis, wo die Wurzeln für die Vorder- beine ihren Ursprung nehmen, und dann nur die Medulla oblongata (Rautengrube), von wo unter Anderem die Wurzeln der Kopfnerven aus- gehen, zuletzt das ganze Rückenmark. Die entsprechenden Erschei- nungen, die dabei auftreten, stimmen, wie leicht zu beobachten ist, völlig. überein. Abgesehen von den Reiz- und Lähmungserscheinungen, die immer vorhergehen und oben besprochen wurden, kommen immer die bekannten elonischen Zuckungen zum Vorschein, wenn die Centren nicht zu stark und zu lange gereizt wurden, so dass sie gestorben sind. Wenn man nur die Pars lumbalis des Rückenmarkes reizt, so ist das Resultat folgendes: Wird das Thier von den Stecknadeln, mit denen es am Brette fixirt war, befreit, so bewegt es sich und springt, aber man bemerkt dabei gleich, dass die Hinterbeine, und zwar nur diese, bei den Bewegungen zittern und clonisch zucken, wie bei Injection von Carbolsäure unter die Haut. Nimmt man das Thier an den Flanken zwischen zwei Finger und hält es in die Luft, so werden gewöhnlich gleich von den DIFFERENZIRUNG VERSCHIEDENER MECHANISMEN D. RÜCKENMARKES. 203 Hinterbeinen Abwehrbewegungen ausgeführt, die aber nie ihr Ziel erreichen, da sie von den elonischen Zuckungen unterbrochen werden. Kneift man die Zehen der hinteren Beine, so wird kein Reflex ausgelöst, die Beine bleiben ruhig, bewegungslos hängen; berührt man aber die Schnauze oder die Zehen eines Vorderbeines, so werden gleich heftige elonische Bewegungen der hinteren Beine ausgeführt. Offenbar also sind die sensiblen Bahnen von den hinteren Extremitäten her zerstört, dagegen noch diejenigen erhalten, welche, von oben nach unten gehend, das Gehirn und die Centren der Vorderbeine mit denen der Hinterbeine verknüpfen, denn nur auf diesem Wege kann man die clonischen Zuckungen der Hinterbeine reflectorisch bervor- rufen. Begreiflicher Weise ist hierbei keine Spur von clonischen Zuckungen an den vorderen Beinen und dem vorderen Theile des Körpers überhaupt zu bemerken; hier sind immer nur die gewöhnlichen, normalen Reflex- bewegungen. Ausserdem bemerkt man dabei leicht, dass auch sehr schwache Reize, welche normal keine Bewegung der Hinterbeine oder doch nur ganz schwache herbeiführen können, jetzt starke clonische Zuckungen derselben verursachen, d.h. dass die Reflexerregbarkeit durch die Vergiftung mit Car- bolsäure erhöht ist. Auch hier treten die elonischen Zuckungen um so ausgiebiger auf, je stärker und länger die Reizung ist. Wenn man jetzt oberhalb der Pars lumbalis, dicht an der oberen Grenze der mit Carbolsäure gereizten Stelle, das Rückenmark quer durch- schneidet, so dass jede Continuität mit den höher gelegenen Partien des Centralnervensystems dadurch unterbrochen wird, so bleiben die Zuckungen sofort und dauernd aus und sind auf keinem Wege mehr hervorzurufen, wenn man den Frosch auch noch so lange sich von dem Shock erholen lässt. Kneift man die Zehen der Hinterbeine, so tritt selbstverständlich keine Reflexbewegung ein, da die durch die locale Wirkung der Carbolsäure verursachte Lähmung der hinteren Wurzeln an- dauert; von oben her kann man natürlich ebenso wenig einen Reflex hervor- rufen. Es bleibt also nur noch ein Weg: die directe Reizung des Rücken- markes. Aber auch diese (mechanische oder elektrische) Reizung ruft zwar ganz leicht — leichter als beim normalen Rückenmark, da ja die Erregbar- keit erhöht ist — Bewegungen der Beine hervor, allein sie sind entweder einzelne oder fibrilläre Zuckungen, je nach der Stärke der Reizwirkung, wie am Ende dieser Abhandlung näher erörtert werden wird. Jedenfalls zeigt sich keine Spur mehr von den sonst so deutlichen intermittirenden Zuckungen von clonischem Typus. Lässt man das Thier in Ruhe, so treten dieselben auch spontan nicht auf, selbst bei langdauernder Beob- achtung. 204 SILVESTRO BAGLIONT: Allerdings könnte man denken, dass dieses negative Resultat lediglich eine Folge der Ermüdung oder der Erschöpfung nach dem Shock sei. Aber diese Möglichkeit wird dadurch ausgeschlossen, dass man das gleiche, absolut negative Resultat erhält, wenn man zuerst die Pars lumbalis von den oberen Theilen des Rückenmarkes abtrennt, den Frosch sich er- holen lässt, bis die Reflexe der Hinterbeine deutlich wieder vorhanden sind, und dann die betreffende Stelle mit Carbolsäure reizt. Daraus ergiebt sich, dass die von der Carbolsäure her- vorgerufenen clonischen Zuckungen reflectorisch zu Stande kommen; denn, sind die sämmtlichen sensiblen Bahnen aus- geschaltet, so zeigt sich keine Spur von clonischen Zuckungen, wenn auch die Centren von der Carbolsäure affieirt sind und sich in erhöhter Erregbarkeit befinden. Die clonischen Zucekungen kommen andererseits um so stärker und deutlicher zum Aus- druck, je länger oder stärker das Thier reflectorisch gereizt wird. Wir werden auf diese Thatsache noch zurückkommen, da sie eine ganz allgemeine Bedeutung besitzt. Wenn man nur den Theil des Rückenmarkes, von dem die Wurzeln für die Vorderbeine ausgehen, mit der Carbollösung befeuchtet und die anderen Partien des Centralnervensystems dabei sorgfältig schont, so kommt dasselbe Bild für die vorderen Extremitäten zum Vorschein, wie vorher für die hinteren. Zunächst erfolgt nämlich die Lähmung der hinteren Wurzeln, so dass man nicht mehr durch Reizung der Vorderpfoten irgend welehen Reflex hervorrufen kann, dann treten die elonischen Zuckungen auf, die jetzt nur von den Vorderbeinen ausgeführt werden. Sie erscheinen, wenn man das Thier freilässt, hauptsächlich aber, wenn man die Schnauze und überhaupt den vorderen Theil des Körpers, aber auch, wenn man die Hinterbeine reizt, welche ihrerseits ganz normal mit den gewöhnlichen Beflesewesunsen! reagiren. ; Es ist indessen etwas schwierig, die Betupfung so: zu beschränken, dass ausschliesslich die Centren der Vorderbeine dadurch affieirt werden. Wenn man den oberen Theil des Rückenmarkes (Pars cervicalis) und den unteren Theil der Medulla oblongata mit Carbolsäure befeuchtet, so treten die eben geschilderten Erscheinungen nicht nur im Gebiete der Kopf-, Augen- und Halsmuskeln auf, sondern auch die Vorder- und Hinterextremitäten gerathen in ganz deutliche clonische Zuckungen, wenn man auch jede Möglichkeit einer directen Berührung der Pars dorsalis bezw. Pars lumbalis mit Carbolsäure ausgeschlossen hat. Lässt man das Thier frei, so werden sämmtliche Bewegungen von celonischen Zuckungen unterbrochen; berührt man ganz leise die Schnauze, so treten lebhafte Anfälle von clonischen Zuckungen auf sowohl in den Muskeln des vorderen - DIFFERENZIRUNG VERSCHIEDENER MECHANISMEN D. RÜCKENMARKES. 205 Theiles des Körpers, wie in denen des hinteren. Man gewinnt schliesslich denselben Eindruck, als ob man Carbolsäure unter die Haut injicirt hätte. Trotzdem aber ist dabei ein wichtiger Unterschied bemerkbar: Kneift man nämlich die Zehen der Hinterbeine, während man den Frosch mit zwei Fingern an den Flanken hält, so erscheinen keine clonischen Zuckungen in den Hinterextremitäten, wie bei dem durch subcutane Injection ver- gifteten Thier, sondern nur die normalen Reflexe. Das Bein wird einfach an den Körper angezogen, ohne irgend welche clonische Zuckungen. Es ist eine starke Reizung nöthig, um clonische Zuckungen an dem vorderen Theile des Körpers und zugleich an den Hinterbeinen hervorzurufen, wenn es nicht überhaupt unmöglich ist. Das Gleiche gilt auch für die Zehen der Vorderbeine. Gerade diese Thatsache spricht zweifellos dafür, dass die Pars lumbalis und dorsalis von der Carbolsäure unberührt geblieben ist. Wenn nun bei der Befeuchtung des oberen Theiles des Rückenmarkes und der Medulla oblongata mit Carbolsäure clo- nische Zuckungen an sämmtlichen Muskeln des Körpers auf- treten, sei es spontan, d.h. ohne äussere nachweisbare Reizung oder richtiger durch die vom Gehirn herkommenden Impulse, sei es durch Reizung der Schnauze oder überhaupt des vom Trigeminus innervirten Gebietes, so muss man annehmen, dass dabei von der Carbolsäure jene bekannten übergeordneten motorischen Centren angegriffen werden, die, in der Medulla oblongata gelegen, in directer Beziehung mit den unten ge- legenen motorischen Centren sind und die coordinirten Be- wegungen des Körpers beherrschen. Befeuchtet man den oberen Theil der Medulla oblongata, dicht neben dem Kleinhirn und Mittelhirn mit Carbolsäure, so kommt gleich der von Salkowski‘ beschriebene soporöse Zustand zum Vorschein, der überhaupt bei starker Vergiftung mit Carbolsäure eintritt. Der Frosch athmet nicht mehr, er bewegt sich nicht mehr, er ist „in Ohnmacht gefallen“. Allmählich schwindet dieser Zustand, und die clonischen Zuckungen stellen sich ein. Die an den höher gelegenen Partien des Üentralnerven- systems angestellten Versuche sollen hier nicht erwähnt werden, da hier lediglich vom Rückenmark die Rede ist. Nur sei die wichtige Thatsache hervorgehoben, die sich aus diesen Versuchen deutlich ergiebt, dass man durch Befeuchtung der höher gelegenen Partien — d.i. Lobi optici, Gross- hirn u. s. w. — niemals clonische Muskelzuckungen bekommen kann. ! Salkowski, a.a. 0. 206 SILVESTRO BAGLIONT: Die elonischen Zucekungen sind lediglich eine Folge des von der Carbolsäure afficirten Rückenmarkes. Befeuchtet man mit der Carbolsäure in der bekannten Weise nicht einzelne Partien, sondern das ganze Rückenmark, so treten ganz spontan an sämmtlichen Muskeln des Körpers die clonischen Zuckungen auf, die noch stärker werden, wenn man die Schnauze des Thieres reizt. Selbst- verständlich bleiben die Reizungen der Vorder- und Hinterextremitäten und des übrigen Körpers erfolglos, da ja die hinteren Wurzeln durch die locale Wirkung der Carbolsäure gelähmt worden sind. Es sei aber bemerkt, dass es nicht unbedingt zum Hervorrufen der clonischen Zuckungen noth- wendig ist, dass die hinteren Wurzeln gelähmt und damit die Reflexe der betreffenden Körpertheile erloschen sind; das Carbolsäurequantum kann so gering sein, dass es keine vollständige Lähmung der hinteren Wurzeln verursacht, und kann trotzdem auf die Centren wirken; die besten clonischen Zuckungen erhält man jedoch, wenn die Befeuchtung so weit gegangen ist, dass keine Reflexe mehr von den betreffenden Partien des Körpers zu erhalten sind. Um nun jede mögliche sensible Bahn ganz auszuschalten, wurde der folgende Versuch angestellt. Es wurden die sämmtlichen hinteren Wurzeln des Rückenmarkes durchgeschnitten; dann liess man das Thier sich so lange erholen, bis dann und wann spontane Bewegungen der Gliedmaassen zum Vorschein kamen, oder doch auf jede Berührung der Schnauze Zuckungen der Hinterbeine erfolgten. Dies ist das beste Zeichen dafür, dass bei der Operation die Öentren des Rückenmarkes und ihre Verbindungen mit dem Gehirn geschont wurden. Dann wurde das ganze Rückenmark mit der Carbolsäure in der bekannten Weise befeuchtet; einige Minuten darauf kamen die clonischen Zuckungen an sämmtlichen Muskeln auf’s Deutlichste zum Vorschein. Die Zuckungen sind spontan, werden fast fortwährend ausgeführt in auffallendem Gegensatz zu den ganz geringen spontanen Bewegungen, die vorher gemacht wurden, und nehmen an Stärke zu, wenn. man die Schnauze berührt oder sonst irgendwie reizt. Dabei bemerkt man auch, dass die Dauer und nicht die Intensität des Reizes die Hauptrolle spielt; je länger nämlich die Berührung der Schnauze ist, desto länger hält auch die Zunahme und die Verstärkung der clonischen Zuckungen an, wie dies immer bei der Carbolsäurevergiftung beobachtet werden kann. Selbst- verständlich lassen sich von den Extremitäten und vom Rumpfe her keine Reflexzuckungen hervorrufen. Trennt man jetzt das Rückenmark von den übrigen Partien des Centralnervensystems ab, gerade dort, wo die vorderste durchschnittene hintere Wurzel liegt, so hören alle Zuckungen sofort und für immer auf. Man kann Stunden lang die Beobachtung fort- setzen, ohne dass die geringste Spur von clonischen Zuckungen DIFFERENZIRUNG VERSCHIEDENER MECHANISMEN D. RÜCKENMARKES. 207 . wahrnehmbar wäre. Reizt man das Rückenmark direct mechanisch, so erhält man auf jede leichte Berührung mit einer Stecknadel ganz leise Zuckungen der Beine, jedoch nur Einzelzuckungen, die keinerlei Aehn- lichkeit mit den bekannten clonischen Zuckungen besitzen. Damit also die elonischen Zuckungen auftreten, ist es in diesem Falle unbedingt nöthig, dass das Rückenmark mit dem Gehirn in Verbindung bleibt. Wir wissen nun aber bestimmt, dass die Wirkung der Carbolsäure im vorliegenden Fall lediglich im Rückenmark localisirt ist, und dass das Gehirn für sie gar nicht in Betracht kommt. Es bleibt daher nur die Annahme übrig, dass Impulse vom Gehirn her nöthig sind, um die elonischen Zuckungen herbeizuführen. Die Rückenmarkscentren befinden sich allerdings durch die Carbolsäure in erhöhter Erregbarkeit, sie können aber nicht von selbst „automatisch“ Bewegungen auslösen, sondern bedürfen hierzu noch weiterer Impulse. Nunmehr versteht man, weshalb durch Reizung der Haut die clonischen Zuckungen sich verstärken, und warum beim Meerschweinchen nach Durch- trennung des Rückenmarkes die celonischen Zuckungen der Hinterbeine so auffällig abnehmen. Im letzteren Falle werden die vom Gehirn, d.h. von den verschiedenen höheren Sinnen stammenden Impulse ausgeschaltet, und es bleiben nur diejenigen übrig, die von den peripheren Nervenenden der Hinterbeine in’s Rückenmark gelangen. Schliesst man auch diese aus, wie beim Frosch mit abgeschnittenen hinteren Wurzeln und abgetrennter Medulla oblongata, so bleiben die Muskeln völlig in Ruhe, trotz der starken Vergiftung. Durch die histologische Untersuchung des Centralnervensystems wurde bekanntlich festgestellt, dass die Bahnen, die das Gehirn in ab- steigender Richtung mit dem Rückenmark verbinden, alle in directer Beziehung mit den motorischen Zellen der Vorder- hörner stehen. Da in unserem letzten Versuche nur diese Bahnen in Betracht kamen, die vom Gehirn aus die in erhöhte Erregbarkeit versetzten Elemente des Rückenmarkes erregten, so liegt die Vermuthung nahe, dass von der erregbarkeitssteigernden Wirkung der Carbolsäure hauptsächlich die Vorderhörner betroffen werden. Dafür sprechen aber auch noch andere Thatsachen. Wir haben schon oben gesehen, dass bei der subcutanen Carbolsäurevergiftung der Reflexmechanismus ganz normal bleibt und nur die motorische Ausführung der Bewegung verändert ist. So bleiben die coordinirten Bewegungen, die normalen Reflexe bestehen. Es ist daher sehr wohl möglich, dass die sensiblen Mechanismen des Rückenmarkes — d.h. die Ganglienzellen der Hinterhörner u. s. w. — von der Carbolsäure bei subeutaner Injection nicht affieirt werden. Sie können in Folge 208 SILVESTRO BAGLIONT: dessen die normalen Impulse den motorischen Elementen weitergeben, die allein unter der Einwirkung der Carbolsäure stehen und daher A E keine normalen motorischen Impulse mehr abgeben können. Andere Thatsachen, die für diese Möglichkeit sprechen, sind die folgen- den: Befeuchtet man einen Theil des Rückenmarkes mit Carbollösung, so sterben, wie wir oben gesehen haben, zunächst die hinteren Wurzeln; setzt man nun die Befeuchtung fort, so liegt der Gedanke nahe, dass unter der localen Wirkung der Carbolsäure sogleich die dorsal gelegenen Theile des Rückenmarkes getödtet werden. Trotzdem kommen die besten elonischen Zuckungen zu Stande. Wenn .man aber jetzt noch weiter im Betupfen fortfährt, dann werden auch die übrigen Elemente des Rückenmarkes ge- tödtet; die elonischen Zuckungen hören auf. Aber auch jede mechanische oder elektrische Reizung sowohl des Rückenmarkes selbst, als der vorderen Wurzeln unmittelbar an ihrer Austrittsstelle aus dem Rückenmark bleibt jetzt erfolglos. Offenbar sind jetzt auch die Vorderhörner getödtet, die nach dem Absterben der Hinterhörner noch lebten. Folgende Thatsache aber zeigt am deutlichsten, dass die Carbolsäure auf die Vorderhörner wirkt. Wir haben schon eesehen, dass man einzelne Partien. des Rückenmarkes ganz eircumscript mit Carbolsäure be- feuchten kann (z. B. die Pars lumbalis, dorsalis u. s. w.) und dass in diesem Falle die clonischen Zuckungen ausschliesslich in jenen Muskeln erscheinen, die ihre motorischen Centren gerade in dem befeuchteten Theile des Rücken- markes besitzen, z. B. bei Befeuchtung der Pars lumbalis nur in den Hinter- beinen. Diese Thatsache ist nur verständlich unter der An- nahme, dass dabei nur die motorischen Zellen der Vorderhörner eine Veränderung erfahren haben; denn wenn die Wirkung der Carbolsäure sich auch auf die Hinterhornzellen erstreckte, so müssten nicht nur die motorischen Zellen desselben’ Niveaus in den betreffenden Erregungszustand versetzt werden, sondern auch die höher oben gelegenen Vorderhornzellen, da bekanntlich die Zellen der Hinterhörner durch ihre Collateralen nicht nur in Verbindung mit den Vorderhornzellen desselben Niveaus stehen, sondern auch mit den höher oben gelegenen Zellen. Nur die motorischen Vorderhornzellen sind nicht mit anderen Elementen des Rückenmarkes in afferenter Verbindung, sondern ihre Ausläufer gehen auf directem Wege zu den zugehörigen Muskelfasern. Aus verschiedenen Gründen kann man also annehmen, dass die Carbolsäure auf die Vorderhörner des Rückenmarkes wirkt, und‘ zwar derart, dass sie die Erregbarkeit derselben erhöht. Man wird unten sehen, dass es noch andere Thatsachen giebt, die für die Localisation der Carbolsäurewirkung in den Vorderhörnern, d. h. in den motorischen Mechanismen des Rückenmarkes, sprechen. DIFFERENZIRUNG VERSCHIEDENER MECHANISMEN D. RÜCKENMARKES. 209 Am Meerschweinchen wurden nicht die nämlichen Versuche mit direeter Befeuchtung des freigelegten Rückenmarkes angestellt, da dieselben am Warmblüter mit zu vielen Fehlerquellen verbunden sind. Aber es ist kein einziger Grund zu der Annahme vorhanden, dass die vorangegangenen Schlüsse nicht auch für die Warmblüter Geltung haben sollten. Doch wurden beim Meerschweinchen andere Versuche angestellt: Wenn man ein mit Carbolsäure vergiftetes und in lebhaften clonischen Zuckungen befindliches Meerschweinchen mit Aether narkotisirt, so sieht man, wie all- mählich die clonischen Zuckungen abnehmen, bis sie schliesslich vollständig aufhören. Das Thier liegt tief und langsam athmend in völliger Ruhe da; man kann es wie immer reizen, ohne eine einzige Zuckung hervorzurufen. Hört man jetzt mit der Narkose auf, so bleibt das Thier zunächst noch in Ruhe; aber die Athembewegungen werden immer schneller, bis auf einmal eine starke Zuckung der sämmtlichen Muskeln des Körpers die Ruhe unter- bricht, aber sofort folgt eine neue Ruhepause; dann wieder eine Zuckung oder zwei oder mehr auf einander folgende clonische Zuckungen und dann wieder Ruhepausen. Aber diese Ruhepausen werden immer kürzer, bis sie vollständig verschwinden, und es treten wieder die fortwährenden clonischen Zuckungen und das unaufhörliche Zittern ein, wie dies schon früher be- schrieben wurde. Wenn man ein normales Thier mit Carbolsäure vergiftet, so treten die elonischen Zuckungen nicht rhythmisch auf, wie bei auf- hörender Narkose, sondern das Thier fängt an zu zittern, anfangs fast unmerkbar, nach und nach immer deutlicher, bis das vollständige Er- scheinungsbild vorliegt. Der Uebergang erfolgt ohne Unterbrechungen, ohne Ruhepausen. Denn im letzteren Falle werden die Oentren all- mählich, aber continuirlich vom carbolsäurehaltigen Blute vergiftet; beim Aufhören der Narkose hingegen sind die Zellen schon völlig vergiftet (in erhöhter Erregbarkeit), nur wird die durch die Narkose herabgesetzte Er- regbarkeit der sensiblen Elemente allmählich wieder gesteigert. Wenn man andererseits einem mit Carbolsäure vergifteten Meerschwein- chen eine schwache Dosis von Strychninlösung unter die Haut einspritzt, die von selbst keine Tetani hervorrufen kann, dann werden die clo- nischen Zuckungen stärker und häufiger; war das Zittern am Verschwinden, so kehrt es wieder; war die Carbolsäuredosis zu klein, um die clonischen Zuckungen deutlich zum Ausdruck zu bringen, dann werden sie durch das Strychnin ganz deut- lich wahrnehmbar. Tetani kommen nur dann, wenn die be- treffende Strychnindosis auch für sich allein solche hervor- zurufen vermag. Dasselbe Resultat bekommt man beim Frosch: Wird einem mit Carbolsäure vergifteten Frosch eine kleine Dosis Strychnin unter die Haut Archiv f. A. u. Ph. 1900. Physiol. Abıhlg. Suppl. 14 210 SILVESTRO BAGLIONT: injieirt, so treten zunächst stärkere clonische Zuckungen auf, die auf einmal in tetanische Anfälle übergehen; dann sind dauernd keine clonischen Zuckungen mehr zu beobachten. „Wir werden später auf diese merkwürdigen Thatsachen zurückkommen, um eine befriedigende Erklärung für sie zu suchen. 4. Die äusseren Erscheinungen bei der Strychninvergiftung. Eine fast unübersehbare Litteratur hat sich allmählich auf diesem Gebiete sangehäuft, so dass die physiologische Wirkung des Strychnins jetzt ziem- lich genau bekannt ist. Es soll daher hier nur an jene Thatsachen erinnert werden, die zu unserer Aufgabe in directer Beziehung stehen, wobei bemerkt sei, dass sämmtliche Versuche von Neuem sorgfältig angestellt wurden. Spritzt man einem Frosch unter die Haut eine ziemlich starke Dosis Strychnin ein, so wird bekanntlich zuerst die Reflexerregbarkeit erhöht, d. h. berührt man den Frosch, oder erschüttert man seine Unterlage, so reagirt das Thier gleich in abnorm starker Weise. Die Athembewegungen sind stark beschleunigt, der Frosch wird immer unruhiger und lebhafter. In diesem ersten Vergiftungsstadium sind sämmtliche Bewegungen normal coordinirt und zweckmässig, gleich denen eines normalen Frosches. Der Hauptunterschied ist der, dass bei dem vergifteten viel kleinere und schwächere Reizungen genügen, um sie hervorzurufen. Es kommt aber ein Zeitpunkt, wo die Bewegungen nicht mehr ganz normal evordinirt sind; sie zeigen die Tendenz, extensorisch zu werden, bis die bekannten, typischen Tetani ausbrechen. Dann ist keine Rede mehr von einer Coordination der Bewegungen; sämmtliche Muskeln des Körpers contrahiren sich gleichzeitig und in langanhaltendem Tetanus. Da die Extensoren ihre Antagonisten an Volumen und daher auch an Kraft übertreffen, so erhalten. die Tetani den bekannten extensorischen Charakter. Mit den übrigen coordinirten Bewegungen hören auch die Athembewegungen auf. Während der Ruhe- pause zwischen den tetanischen Anfällen kann man das Thier in jeder Weise reizen, es werden immer — bis zur. völligen Erschöpfung — exten- sorische Zuckungen ausgelöst. Wenn man z. B. bei einem solchen Frosch die Zehen der Hinterfüsse quetscht, wodurch ein normaler Frosch zum An- ziehen des Beines an den Körper veranlasst wird, erhält man trotzdem eine extensorische Zuckung bezw. einen Tetanus u. s. w. Wenn die Strychnin- gabe nicht allzu gross war und das Thier die Vergiftung überwindet, so kehren nach 2, 3 Tagen nach Ausscheidung des Giftes aus dem Körper die normalen, eoordinirten Bewegungen wieder zurück. Dasselbe Resultat erhält man bei der Strychninvergiftung von Warm- blütern. Es wurden Versuche an Meerschweinchen, Hund und Eule DIFFERENZIRUNG VERSCHIEDENER MECHANISMEN D. RÜCKENMARKES. 211 angestellt. Zuerst wird die Reflexerregbarkeit erhöht. Plötzlich aber brechen die Tetani aus, zuerst bei den Hinterbeinen, die in maximale Extension gerathen, dann bei den vorıeren Extremitäten und bei den Muskeln der Rücken- und Nackengegend. Das Thier fällt mit weit ausgestreckten Glied- maassen und starkem Opisthotonus auf den Boden. Während des tetani- schen Anfalls hören die Athembewegungen auf, da die Athemmuskeln gleichzeitig in Tetanus gerathen. Es giebt selbstverständlich keine coordi- nirten Bewegungen mehr. Gewöhnlich überlebt das Thier den ersten kurzen tetanischen Anfall, dann kommt eine Ruhepause, in der tiefe dyspnoische Athembewegungen ausgeführt werden. Bald aber folgt ein zweiter stärkerer Anfall; die Athembewegungen hören wieder auf und das Thier stirbt durch Asphyxie, nicht durch eine direete Wirkung des Giftes auf die Centren, wie man zuerst glauben könnte Bekanntlich kann man ein mit Strychnin vergiftetes Thier noch lange Zeit am Leben erhalten, wenn man künstliche Athmung unterhält. Da der Frosch hauptsächlich durch die Haut athmet, so spielt bei diesem Thier die Unterbrechung der Lungenathmung keine so grosse Rolle. Daher kann ein mit Strychnin vergifteter Frosch trotz der Tetani noch Tage lang weiter leben und sich sogar erholen, während der Tod beim Warmblüter blitzartig nach dem ersten bis dritten tetanischen Anfalle, das ist ein paar Minuten nach der Vergiftung eintritt. Wenn man die Erscheinungen bei der Vergiftung mit Carbolsäure und mit Strychnin vergleicht, so sieht man, dass der Hauptunterschied zwischen beiden nicht bloss darin liegt, dass im ersteren Falle elonische, im letzteren tetanische Anfälle auftreten, sondern auch, dass hier sämmt- liche coordinirte Bewegungen ausbleiben, und alle Muskeln zusammen und gleichzeitig in Contraction verfallen, dort dagegen die Impulse zu den coordi- nirten Bewegungen normal bleiben und nur deren Ausführung verändert ist. Dies ist auch der Grund für die Thatsache, dass bei der Strychnin- vergiftung das Thier sogleich durch Aufhören der Athembewegungen stirbt, während es bei Vergiftung mit Carbolsäure trotz der allgemeinen Störungen noch Stunden lang leben und sich schliesslich erholen kann, da hier die coordinirten Athembewegungen nicht aufhören. 5. Weitere Untersuchungen über die Erscheinungen bei Stryehninvergiftung. Es wird gewöhnlich angenommen, dass das Strychnin hauptsächlich auf das Rückenmark seine Wirkung ausübt. Es giebt aber verschiedene Gründe, die direct beweisen, dass es auch auf andere Partien des Central- nervensystems wirkt, z. B. auf das Gehirn. Da dies aber an dieser Stelle, 14* 212 SILVESTRO BAGLIONT: wo nur das Rückenmark in Betracht kommt, nicht weiter verfolgt werden soll, so genügt es, darauf hingewiesen zu haben. Wenn man bei einem mit Strychnin vergifteten Frosch zu Beginn der tetanischen Anfälle die Medulla oblongata abtrennt, so sieht man, dass zuerst die Tetani vollständig ausbleiben, allmählich aber, nachdem der Shock in Folge der Operation vorüber ist, wieder zurückkehren, so dass man nur eine geringe Abnahme ihrer Intensität beobachtet, wenn man die Haut des Frosches berührt oder ihn anderweitig reizt. Es besteht jedoch ein grosser Unterschied zwischen einem intacten Strychninfrosch und einem mit ab- getrennter Medulla oblongata. Bei einem Frosch mit abgetrennter Medulla oblongata treten nämlich spontan, ohne Hinzutreten eines äusseren Reizes (Druck, Stich u. s. w.) gar keine Tetani auf; ein solcher Frosch kann, wenn man jede Reizung ver- meidet, sterben, ohne dass ein Tetanus eintreten würde. Diese interessante Thatsache wurde durch die folgenden Versuche festgestellt. Es wurde einem kräftigen Frosch eine schwache Strychningabe unter die Haut gespritzt, gewartet, bis die Erhöhung der Reflexerresbarkeit ziemlich stark war, ohne dass bereits Tetani auftraten, und dann das Rückenmark von den anderen Partien des Centralnervensystems durch einen Schnitt zwischen dem ersten Wirbel und dem Foramen oceipitale des Schädels abgetrennt. Zuerst war die Reflexerregbarkeit verringert, kehrte aber allmählich wieder zurück; Tetani dagegen kamen auch bei mechanischer Reizung noch nicht zum Vorschein. Dann wurde eine zweite, aber starke Dosis Strychnin subeutan in- jieirt, und einige Minuten darauf erfolgte bei nochmaliger Reizung ein starker tetanischer Anfall. Dann wurde der Frosch in eine feuchte Kammer gelest; er hatte das eine Bein ausgestreckt, das andere an den Körper angezogen; längs der Contouren des ganzen Körpers wurden Wattebäuschchen nieder- gelegt und der Frosch dann in Ruhe belassen und fortwährend beobachtet. 30 Minuten später war die Lage des Frosches noch immer unverändert; die Wattebäuschehen lagen da, ohne durch eine minimäle Bewegung des, Frosches auch nur um einen Millimeter verschoben worden zu sein. Dann wurde nochmals eine Pfote berührt, aber kein Reflex antwortete der Reizung. Der Frosch war ohne eine Bewegung gestorben trotz der starken Erhöhung der Erregbarkeit in den Elementen des Rückenmarkes. Bei direeter mecha- nischer Reizung des Rückenmarkes wurden noch einzelne Zuckungen .der Extremitäten ausgeführt. Dieser Versuch wurde sehr ‘oft wiederholt und immer mit dem gleichen Erfolg. Natürlich muss man dabei darauf achten, dass keine directe Reizung des Rückenmarkes zu Stande kommt (z. B. durch das Blut der Wunde), sonst treten selbstverständlich auch ohne Hautreizung Tetani auf. Es muss eben jede Art von Reizung möglichst voll- ständig ausgeschlossen sein, - DIFFERENZIRUNG VERSCHIEDENER MECHANISMEN D. RÜCKENMARKES. 215 Man kann den Unterschied zwischen einem normalen Frosch und einem solchen mit abgetrennter Medulla oblongata gut beobachten, wenn man zwei gleiche Frösche mit derselben Strychnindosis vergiftet und dann einem derselben die Medulla oblongata abtrennt. Man sieht dann, wie jede kleinste Reizung, jede Erschütterung des Tisches gleich tetanische Anfälle bei dem normalen Frosch verursachen, den operirten dagegen völlig unberührt lassen, während man durch wenig stärkere mechanische oder elektrische Reizung der Haut Tetani hervorrufen kann, die keine merkbare Verschiedenheit von denen des anderen aufweisen. Es sei hinzugefügt, dass nicht nur Reizungen der Haut Tetani auslösen können, sondern ebenso gut auch die (mechanische oder elektrische) direete Reizung des Rückenmarkes. Wenn man andererseits sämmtliche hinteren Rückenmarkswurzeln ab- schneidet, ohne die Medulla oblongata abzutrennen, und dann den Frosch mit Strychnin vergiftet, so kommen Tetani spontan oder nach Reizung ‘des Kopfes zu Stande. Diese Versuche zeigen ganz klar, dass zum Zustandekommen der Tetani bei der Stryehninvergiftung die Reizung von sen- siblen Bahnen eine nothwendige Bedingung ist, und dass dabei die mannigfaltigen Reflexbahnen des Gehirns eine besonders wichtige Rolle spielen. Wir sind schon früher bei der Untersuchung der Öarbolsäurevergiftung zu dem gleichen Resultate gelangt. Nur ist in dieser Hinsicht ein grosser Unterschied zwischen den beiden Giften bemerkbar, indem bei Carbolvergiftung eine langdauernde Reizung noth- wendig ist, um nach Abtrennung der Medulla oblongata cloni- sche Zuckungen hervorzurufen, während bei Strychninvergif- tung auch eine momentane Berührung der Haut die stärksten und anhaltendsten Tetani verursacht. Schneidet man bei einem Frosch sämmtliche hinteren Wurzeln des Rückenmarkes durch und trennt das Rückenmark von den höher gelegenen Partien ab und betupft dann das blossgelegte Rückenmark mit Strychnin, so kommen, wie schon H. E. Hering* beobachtet hat, Tetani weder spontan zu Stande, da keine Impulse vom Grosshirn herabkommen können, noch auf mechanische oder elektrische Reizung der Haut, da die sensiblen Bahnen unterbrochen sind. Es bleibt also nur noch die directe Reizung des Rücken- markes. In der That treten auch bei ganz leichter mechanischer Reizung des Rückenmarkes Tetani auf, aber diese sind ausserordentlich kurz und unvergleichbar mit den normalen. ' HA. E. Hering, Ueber die nach Durchschneidung der hinteren Wurzeln auf- tretende Bewegungslosigkeit des Rückenmarkfrosches. Pflüger’s Archiv. 1893. Bd. LIV. 214 SILVESTRO BAGLIONTI: Ausserdem bemerkt man dabei, dass diese Tetani hinsichtlich ihrer Länge mit der Dauer der Reizung übereinstimmen. Jedenfalls sind sie immer ganz kurz. Dass die Centren nicht etwa durch die Operation zer- stört wurden und dass es sich dabei thatsächlich um eine Wirkung des Strychnins handelt, geht daraus hervor, dass vor der Betupfung eine leise Berührung des Rückenmarkes keine Zuckung auslösen konnte, während sie nach derselben sofort kurze Tetani hervorruft. Aus diesen Versuchen ergeben sich verschiedene interessante Folge- rungen. Zunächst sieht man, dass die Wirkung des Strychnins auf die Elemente des Rückenmarkes nur darin besteht, dass es deren Erregbarkeit erhöht, d. h. sie gegen jede beliebige Reizung empfindlicher macht, so dass ein schwacher Reiz, der bei einem normalen Thiere erfolglos bleibt, bei einem strychninisirten nicht nur Reflexzuckungen, sondern auch lange Tetani hervorrufen kann. Aber das Strychnin wirkt nicht als „automatischer“ Reiz auf die Öentren. Die Tetani kommen nicht durch einen inneren Vorgang in den Üentren unter der Einwirkung des Strychnins zu Stande, sondern es ist dazu immer das Hinzutreten von äusseren Reizen nöthig, welche durch die sen- siblen Bahnen oder durch directe Einwirkung zu den Centren gelangen. Man könnte nun noch annehmen, dass nach der ersten Reiz- wirkung der Tetanus durch einen inneren Vorgang in den Centren sich von selbst (automatisch) weiter entwickele. Diese Möglichkeit ist aber durch den zuletzt angeführten Versuch vollkommen ausgeschlossen. Denn wenn die sämmtlichen sensiblen Bahnen, die weitere Reizimpulse den Centren zuführen können, ausgeschaltet sind, so bleiben auch die Tetani aus; und wenn sie durch directe Reizung des Rückenmarkes hervorgerufen werden, so sind sie ganz kurz und ihre Länge immer im Verhältnis mit der Reizdauer. Man muss also nehmen. dass zur vollständigen Ent- wickelung der gewöhnlichen Inden Tetani immer neue Reizungen von der Peripherie her durch die sensiblen Bahnen (hinteren Wurzeln) zu den Gentren gelangen müssen, so dass man bei einem Tetanus zwei verschiedene Arten von Reizungen zu unter- scheiden hat. Zuerst kommt z. B. die Hautreizung, welche reflectorisch die erste Zuckung hervorruft — primäre Reizung —, auf diese folgen weitere periphere Reizungen — secundäre —, die bei der ersten Zuckung entstehen u. s. f., bis die erschöpften Cohen gegen Reize nicht mehr empfindlich sind. Diese secundären Reizungen können von der Erschütterung des ganzen Körpers durch die erste Zuckung oder durch Reizung sensibler DIFFERENZIRUNG VERSCHIEDENER MECHANISMEN D. RÜCKENMARKES, 215 Nervenenden in den Muskeln s.lbst oder vielmehr in den Gelenken und Sehnen verursacht sein, die bei ler Contraction der Muskeln entstehen. Bei einem normalen Thiere werden d.ese secundären Reizungen keine weiteren Folgen haben; aber wenn die Centren sich in so ungeheuer gesteigerter Erregbarkeit befinden, wie dies bei der Strychninvergiftung der Fall ist, -so können diese secundären Reizungen weitere Zuckungen verursachen, so dass schliesslich Tetani zu Stande kommen. Die Tetani sind also lediglich Folgen von refleetorischen Vorgängen. Die erste (pri- märe) Reizung (spontan oder künstlich), die immer nöthig ist, um einen Tetanus hervorzurufen, veranlasst gleich eine starke Zuekung; diese Zuckung wirkt jetzt ihrerseits als secundäre Reizung auf die sensiblen Nervenenden und veranlasst dadurch noch weitere Zuckungen diese wirken gleichfalls als Reize u.s.f. bis zur temporären Erschöpfung. Thatsächlich ist ja, wie bekannt, sogleich nach einem tetanischen Anfall die Reflex- erregbarkeit herabgesetz | Fig. 3. Tetanuscurven des Gastroenemius bei kurzer Berührung der Haut. Sie zeigen die Erscheinung der Nase. Durch diese Erklärung der Tetani wird zugleich eine Erscheinung verständlich, die sehr oft bei Tetanuscurven im ersten Stadium beobachtet wurde. Wie Fig. 3 zeigt, beginnt ein Tetanus mit einer höheren Zuckung, die als „Nase“ die folgenden überragt. Diese „Nase“ entspricht nämlich der primären Reizung (reflectorisch oder spontan), die folgenden Zuckungen den secundären Reizungen, die durch die erste Zuckung verursacht wurden. 216 SILVESTRO BAGLIONT: Wenn aber die Reflexerregbarkeit nicht erhöht ist, so dass viele auf einander folgende Reize erforderlich sind, um einen Tetanus zu erzeugen, so vermisst man bekanntlich diese „Nase“. Ja es folgen sogar umgekehrt zu Beginn auf niedrigere Zuckungen höhere, bis die Zuckungen auf gleicher Höhe continuirlich verharren. Um zu entscheiden, welchem Factor bei diesen secundären Reizungen die grössere Bedeutung zukäme, den sensiblen Nervenenden der Haut oder denen der Muskeln, Gelenke und Sehnen, wurden folgende Versuche an- gestellt: Es wurde die hintere Hälfte des Rückenmarkes blossgelest und die Fig. 4. Tetani des Gastroenemius nach Abtrennung der Pars lumbalis und Betupfung derselben mit Strychninlösung. Normaler Frosch. Pars lumbalis vom oberen Rückenmark abgetrennt. (Als obere. Grenze derselben wurde der Raum zwischen den IV. und V. Wurzeln — von unten gerechnet — angenommen.) Dann wurde die Pars lumbalis mit Strychnin- lösung betupft, in der schon bei der Besprechung der Carbolsäurewirkung beschriebenen Weise. Die Tetani, die durch Reizung der hinteren Extremi- täten erzeugt wurden, zeigten die nämlichen Eigenschaften wie beim Durch- schneiden des Rückenmarkes unterhalb der Medulla oblongata; sie waren nur kürzer, aber nicht um viel, wie dies Fig. 4 zeigt. Nun wurde bei anderen Fröschen die Haut dicht hinter den Vorder- extremitäten abgezogen und dann die Pars lumbalis ‚mit Strychninlösung betupft. Um die Tetani hervorzurufen, brauchte es allerdings stärkerer Reize (Quetschen, Kneifen oder Elektrisiren), da die Nervenenden der Haut DIFFERENZIRUNG VERSCHIEDENER MECHANISMEN D. RÜCKENMARKES. 217 jetzt fehlten, aber sonst glichen die Tetani fast den vorigen, wie aus Fig. 5 zu entnehmen ist. Dabei merkt man, dass die Reizung der Muskeln selbst erfolglos bleibt — wie übrigens schon bekannt ist —, während die Reizung der Sehnen und Gelenke gleich Tetani auslöst. Andererseits wurde der ganze Körper eines mit Strychnin vergifteten Frosches in eine 5proc. Cocainlösung eingetaucht — wie dies Poulsson! in seiner Abhandlung angiebt —, wodurch die sensiblen Nervenenden in der Haut gelähmt werden; trotzdem traten bei starker Reizung der Gelenke und Sehnen nicht nur einzelne Zuckungen, sondern auch echte Tetani auf. Die Reizung der Eingeweide war dagegen absolut erfolglos; sie veranlasste Fig. 5. Tetani des Gastroenemius nach Abtrennung der Pars lumbalis und Betupfung mit Strychninlösung. Enthäuteter Frosch. weder Einzelzuckungen noch Tetani; aber auch bei einem normalen Frosch bleibt diese Reizung vollkommen ohne Wirkung. Es geht aus diesen Versuchen mit Sicherheit hervor, dass die secun- dären Reizungen hauptsächlich von den sensiblen Nervenenden der Sehnen und Gelenke ausgehen, die offenbar bei der Con- traction der betreffenden Muskeln gereizt werden. Darnach wird es auch verständlich, warum bei strychninisirten Fröschen nach Eintritt der Tetani auf jeden Reiz sogleich ein tetanischer Anfall folgt und auf keinerlei Weise eine Einzelzuckung hervorgerufen werden kann, ! Poulsson, Ueber die lähmende Wirkung des Strychnins. Archiv für exper, Pathologie und Pharmakologie. 1889. Bd. XXVI. 218 SILVESTRO BAGLIONT: und warum letzteres erst bei Erschöpfung des Thieres möglich ist,! wenn dasselbe nur mehr auf die verhältnissmässig starken primären Reizungen der Haut reagiren kann und nicht mehr auf die schwächeren secundären Reizungen. Die hier gegebene Erklärung des Strychnintetanus stimmt vollkommen ‚mit der gewöhnlichen Anschauung vom Wesen des Tetanus überein, nach welcher der Tetanus durch viele, schnell auf einander folgende Reizungen zu Stande kommt, und anhält, bis die Centren in Folge der eintretenden Ermüdung gegen diese Reize unempfindlich geworden sind. Weitere Versuche wurden bei mit Strychnin vergifteten Fröschen an- gestellt, um zu entscheiden, ob und wie in den Gentren die Reizungen einer Seite des Körpers auf die andere hinübergeleitet werden und da Tetani hervorrufen können. Es wurde auch bei diesen Versuchen die Pars lumbalis des Rückenmarkes verwendet, da man dabei am leichtesten mit möglichster Vermeidung von Fehlerquellen einen begrenzten Theil des Rückenmarkes untersuchen kann. Es wurde also die hintere Rückenmarks- hälfte blossgelegt, oberhalb der vier unteren hinteren Wurzeln quer durch- trennt und die hinteren Wurzeln auf der einen Seite durchgeschnitten- Dann wurde die Pars lumbalis in der gewöhnlichen Weise mit Strychnin- lösung betupft. Wenn man jetzt vor Ausbruch der Tetani, aber jedenfalls bei steigender Erregbarkeit, das Bein, dessen hintere Wurzeln erhalten sind, reizt, so kann man zunächst noch ganz gut den bekannten Mechanismus der gekreuzten Bewegungen beobachten, indem nämlich bei extensorischer Erregung des normalen Beines das andere angezogen, bei flexorischer Er- regung des ersteren das andere gestreckt wird. Allmählich aber gehen die coordinirten Bewegungen in tetanische Anfälle sämmtlicher "Muskeln über. Dann sieht man, dass durch Reizung des normalen Beines nicht nur in _ diesem, sondern auch in dem anderen Tetani hervorgerufen werden, die hier zunächst kürzer und nicht so kräftig sind. Wenn die Erregbarkeit noch höher gestiegen ist, dann werden die Tetani bei beiden Beinen fast vollkommen gleich. Die beigegebenen Curven werden diese verschiedenen Thatsachen noch besser zum Ausdruck bringen. Es wurden mittels zweier Schreibhebel die Zuckungscurven der beiden .Gastroenemii gleichzeitig und senkrecht über einander verzeichnet. Selbst- verständlich war bei beiden die Belastung die gleiche, und auch sonst Vor- sorge getroffen, um beide Muskeln ihre Zuckungen unter möglichst gleichen Bedingungen schreiben zu lassen. > ! Verworn, Zur Kenntniss der physiologischen Wirkungen des Strychnins. Dies Archiv. 1900, Physiol. Abthlg. S: 395. ; DIFFERENZIRUNG VERSCHIEDENER MECHANISMEN D. RÜCKENMARKES. 219 Anfangs können Reizungen des normalen Beines nur einzelne Zuckungen desselben Beines, später Tetani desselben und starke Einzelzuckungen des anderen, schliesslich auch deutliche Tetani des anderen hervorrufen. Aus diesen Versuchen geht zunächst hervor, dass afferente Verknüpfungen zwischen Fig. 6. Pars lumbalis abgetrennt. Hintere Wurzeln rechts durchsehnitten. Betupfung mit Strychninlösung. Reflexerregbarkeit gesteigert, aber noch keine Tetani. Curven von beiden Gastrocnemii über einander, oben der linken, unten der rechten Seite. Z = Reizung der Zehen, O = Reizung des Oberschenkels. den beiden Rückenmarkshälften existiren — wie ja das aus histologischen Untersuchungen ebenso wie aus den physiologischen Erfahrungen über Reflexe schon bekannt ist, dass also die sensiblen Impulse von einer Seite sich auch auf die andere fortpflanzen, aber auf dieser nicht so stark wirken, 220 SILVESTRO BAGLIONT: wie auf der Seite des Reizes. In dem Maasse, in welchem die Erregbarkeit sich steigert, gewinnt die Reizwirkung auch auf der Gegenseite an Inten- sität, und zwar derart, dass zuerst nur die starken, primären Hautreizungen auf die andere Seite fortgeleitet werden; erst später können sich auch die secundären Reizungen auf die andere Rückenmarkshälfte fortpflanzen und so auch hier Tetani hervorrufen. Es muss hier ferner die merkwürdige Thatsache erwähnt werden, dass die sensiblen Impulse, die durch gleiche Reizung verschiedener Haut- stellen eines Beines erzeugt werden, sich verschieden verhalten. Wenn man nämlich zu Beginn der Erregbarkeitssteigerung die Zehen des normalen Beines berührt, so erhält man nur eine Zuckung desselben Beines, berührt man dagegen den Oberschenkel, so führt nicht nur der Gastrocnemius desselben, sondern auch der des anderen Beines eine Zuckung aus, wie dies Fig. 6 deutlich zeigt. Diese merkwürdige Thatsache kam ausnahmslos bei allen darüber angestellten Versuchen zum Vorschein. Wenn aber die Reflexerregbarkeit noch höher gestiegen ist, dann ruft jede Reizung so wohl der Zehen wie des Oberschenkels Zuckungen, bezw. Tetani der beiden (Grastrocnemii hervor. Die beigegebene Taf. I zeigt diese Erscheinung in ihrer Entwickelung. Es wurde ebenfalls die Pars lumbalis des Rücken- markes verwendet, aber es blieben diesmal die hinteren Wurzeln auf beiden Seiten erhalten, so dass man abwechselnd an beiden hinteren Extremitäten denselben Versuch anstellen konnte. Aus diesen Versuchen ergeben sich interessante Schlüsse für die Phy- siologie des Rückenmarkes. Die Versuche zeigen, dass an Intensität und Qualität gleiche Hautreizungen relativ verschiedenartige Folgen haben können, wenn sie auf verschiedene Stellen des. Beines ausgeübt werden. Die so erzeugten sensiblen Impulse pflanzen sich im Gebiete des Centralnervensystems nicht über- einstimmend fort. Ein Reflex steht also nicht nur mit der In- tensität und Qualität, sondern auch mit dem Orte der Reizung in engem Zusammenhang. Wenn aber die Reflexerregbarkeit erhöht ist, dann wirken sämmtliche Hautreizungen in der gleichen Weise; dies erklärt auch, warum bei den tetanischen Anfällen die. Coordination der Bewegungen aufhört. Was die Frage nach der Localisation der Strychninwirkung im Rückenmark anbelangt, so kann man bereits aus verschiedenen indirecten (Gründen annehmen, es seien die Hinterhörner oder überhaupt die sensiblen (afferenten) Centralmechanismen des Rückenmarkes der Sitz der Strychnin- wirkung, indem man unter letzterem Begriffe alle Elemente des Rücken- markes mit Ausnahme der motorischen Centralmechanismen (Vorderhörner) DIFFERENZIRUNG VERSCHIEDENER MECHANISMEN D. RÜCKENMARKES. 221 zusammenfasst. Die ersteren liegen hauptsächlich im dorsalen Theile des Rückenmarkes und können aus verschiedenen histologischen Elementen be- stehen, nämlich aus den Nervenenden der centripetalen Ausläufer der Spinal- sanglienzellen, aus den Hinterhornzellen selbst und aus deren Fortsätzen, die die Verknüpfung mit den motorischen Zellen bewerkstelligen. Die angedeuteten indirecten Gründe, die dafür sprechen, dass das Strychnin auf die sensiblen Centralmechanismen, oder wenigstens auf einige derselben, jedenfalls nicht auf die motorischen Zellen wirke, sind folgende: Schon Verworn! hat in seiner letzten Arbeit über die Wirkung des Strychnins diese Frage sowie die Schwierigkeit und Unsicherheit ihrer Lösung durch operative Versuche erörtert. Es stellte sich auch im Laufe der vor- liegenden Untersuchung heraus, dass eine Beantwortung dieser Frage durch operative Elimination der verschiedenen Elemente des Rückenmarkes un- möglich ist, und zwar aus dem von Verworn schon angeführten une weil dabei die Centren zu stark geschädigt werden. Dass das Strychnin auf das Rückenmark selbst abgesehen von den Spinalganglien wirkt, geht ohne Weiteres daraus hervor, dass man Tetani auch nach Durchschneidung sämmtlicher hinterer Wurzeln des Rücken- markes hervorrufen kann. Ein theoretischer Grund für die oben erwähnte Annahme, dass das Stryehnin nicht auf die motorischen Vorderhornzellen wirke, wird ferner von Verworn! in Folgendem gefunden: Auf Grund der Annahme der „doppelsinnigen Nervenleitung“, welche ja durch eine genügende Anzahl einwandsfreier Thatsachen als bewiesen gelten kann, müsste, wenn das Strychnin auch die Erregbarkeit der Vorderhornzellen steigerte, eine direete Reizung des motorischen Nerven bei einem Frosch mit durchschnittenen hin- teren Wurzeln nach Strychninvergiftung bedeutend höhere bezw. tetanische Zuckungen hervorrufen. Da aber eine solche Veränderung der Zuckungs- curven im gegebenen Falle nie zu beobachten ist, so kann das darauf hin- deuten, dass das Strychnin nur auf andere Rückenmarkselemente wirkt. Ein anderes indirectes Argument dafür liefert eine gleichfalls von Verworn? beobachtete Erscheinung. Wenn sich nämlich bei der Strychnin- vergiftung nach und nach die Erschöpfung ‘der Centren einstellt, sieht man, dass „die Reflexerregbarkeit für die gleiche Hautstelle bei mehreren hinter einander auf die Haut einwirkenden Berührungsreizen anfängt zu ermüden“. — „Allmählich wird die Zahl der wirksamen Berührungsreize immer kleiner, während zur Erholung immer längere Pausen nöthig werden. Bald wirken nur noch sehr wenige Berührungsreize von der gleichen Hautstelle aus hinter einander. Dagegen können, wenn die Reflexerregbarkeit von I Verworn, 2.2.0. ?2 Derselbe, a. a. 0. 8. 390. 222 SILVESTRO BAGLIONT: einer Stelle aus für den Augenblick erschöpft ist, von jeder anderen Stelle her noch Reflexe ausgelöst werden, bis auch die Reflexerregbarkeit der neuen Stelle erschöpft ist u. s. f.“ Da aber immer derselbe Muskel (Gastroenemius) bei jeder Reflexzuckung sich contrahirt, so muss man offenbar annehmen, dass auch immer dieselben Zellen der motorischen Centren (Vorderhörner) bei jeder Reizung in Erregung versetzt werden, d. Ih. dass die Vorderhorn- zellen selbst nicht erschöpft oder gelähmt werden, sondern nur die sensiblen Zellen, die den verschiedenen Hautstellen entsprechen. Zuletzt kann man noch als einen weiteren Beweisgrund anführen, dass bei der Strychninvergiftung die Coordination der Bewegungen vollkommen und dauernd verschwindet. Bekanntlich sind nur die centralen sensiblen Elemente des Rückenmarkes in reicher Verknüpfung mit einander und mit den verschiedenen motorischen Zellen; dagegen setzen sich - die motorischen Zellen seibst, so weit unsere heutigen Erfahrungen reichen, unter einander nicht in Verbindung (vergl. das Schema Fig. 7). Daraus ergiebt sich nothwendig die Anschauung, dass die coordinirten Bewegungen (Impulse) lediglich von den sensiblen Centralmechanismen vermittelt werden. Da nun bei der Strychninvergiftung die coordinirten Bewegungen ausbleiben und alle Muskeln sich gleichzeitig und auf jede beliebige Hautreizung contrahiren, so folgt, wenn die obige Voraussetzung richtig ist, dass eben diese sensiblen Centralmechanismen des Rücken- markes vom Strychnin angegriffen werden. Dies Alles aber sind lediglich theoretische, indirecte Argumente. Im folgenden Capitel sollen Thatsachen angeführt werden, die den unzweifel- haften Nachweis führen, dass das Strychnin auf die sensiblen Cen- tralmechanismen (Hinterhörner), die Carbolsäure hingegen auf die centralen motorischen Mechanismen (Vorderhörner) wirkt. 6. Interferenzwirkungen des Strychnins und der Carbolsäure. Wir haben schon oben gesehen, was für Folgen die directe Betupfung des blossgelegten Rückenmarkes oder einzelner Theile desselben mit Carbol- säure hat. Zuerst sterben durch die locale Giftwirkung die hinteren Wurzeln, so dass die betreffenden Reflexe ausbleiben, später sterben höchst wahr- scheinlich die dorsalen Theile des Rückenmarkes. Es bleiben nur die Vorder- hörner am Leben, und die clonischen Zuckungen treten auf. Wenn die Betupfung noch weiter geht, sterben schliesslich auch die Vorderhörner, so dass die elonischen Zuckungen aufhören und man auch durch direete Reizung des Rückenmarkes keine Zuckung mehr hervorrufen kann. Wenn also die Vermuthung, dass Strychnin und Carbolsäure auf ver- schiedene Elemente des Rückenmarkes wirken — nämlich das Strychnin DIFFERENZIRUNG VERSCHIEDENER MECHANISMEN D. RÜCKENMARKES. 223 auf die dorsalen (sensiblen) Centralmechanismen, die Carbolsäure auf die Vorderhörner —, der Wirklichkeit entsprechen soll, so muss in einem be- stimmten Zeitpunkte der Befeuchtung des Rückenmarkes mit Carbolsäure, wo nämlich die dorsalen Elemente getödtet, die clonischen Zuckungen aber noch vorhanden sind, eine Betupfung mit Strychninlösung erfolglos bleiben. Die Versuche entsprachen dieser Deduction in vollem Umfange. Es wurde bei einem Frosch das Rückenmark blossgelegt und mit Carbol- säure betupft, bis die Reflexe am ganzen Körper ausblieben. Selbstver- ständlich traten ganz deutliche celonische Zuckungen, spontan oder reflec- torisch bei Reizung der Schnauze, der Augen und des Kopfes überhaupt auf. Dann wurde das Rückenmark in der Mitte der Medulla oblongata durchgeschnitten. Die clonischen Zuckungen blieben jetzt vollständig aus, da jeder Reflex dadurch verhindert war. Nur directe Reizung des Rücken- markes rief blitzartige, rasche Zuckungen der verschiedenen Muskeln hervor, wie dies schon oben geschildert wurde. Wenn man jetzt mit Strychnin- lösung betupft, so erhält man, selbst bei totaler Ueberschwemmung des ganzen Rückenmarkes mit der Giftlösung, keinen einzigen noch so kurzen tetanischen Anfall. BReizt man das Rückenmark direct mechanisch oder elektrisch, so kommen nur jene blitzartigen Einzelzuckungen der verschie- denen Muskeln, die auch vor der Betupfung mit Strychnin auftraten, zum Vorschein; nicht der geringste Unterschied gegen früher ist be- merkbar. Dass die Vorderhörner noch leben, geht daraus hervor, dass eine Berührung des oben gelegenen Rückenmarksquerschnittes Zuckungen der Hinterbeine hervorruft, die also nicht Folge von Reizung der vorderen Wurzeln sein können. Wenn man andererseits das blossgelegte Rückenmark zuerst mit Stryehninlösung betupft, so dass die Tetani zum Ausbruche kommen, und dann mit Carbolsäure, so verschwinden allmählich die Tetani, bis sie schliess- lieh vollkommen aufhören und jede mechanische Reizung des Rückenmarkes nur einzelne Zuckungen verschiedener Muskeln veranlasst; auch bei lang- dauernder Reizung ist keine Spur von tetanischen Anfällen mehr zu sehen. Auch hier sind die Vorderhörner noch am Leben, da eine Reizung der oben gelegenen Partien des Rückenmarkes (Medulla oblongata) Zuckungen der Hinterbeine hervorruft. Auch hier ist somit die Reizung der vorderen Wurzeln dabei ausgeschlossen. Vielmehr werden dabei offenbar die Pyra- midenbahnen gereizt, welche an den motorischen Zellen der Hinterbeine endigen. Allerdings kann man aus diesen Versuchen nicht ohne Weiteres schliessen, dass das Strychnm auf die sensiblen und die Carbolsäure auf die motorischen Centralmechanismen des Rückenmarkes wirke, da hier 224 SILVESTRO BAGLIONT: die Möglichkeit nicht ausgeschlossen wäre, dass beide Gifte auf dieselben Elemente wirken, nämlich auf die Vorderhörner, und dass die Carbolsäure nur den Stoffwechsel der Centren derart verändere, dass eine fernere Wirkung des Strychnins verhindert, bezw. wenn dieselbe schon vorher vorhanden war, bei der nachträglichen Betupfung mit Carbolsäure wieder aufgehoben werde. Allein abgesehen davon, dass bei subeutaner Injection von schwacher Strychninlösung nach vorheriger Injection von Carbolsäure die clonischen Zuckungen aufhören und die vollkommensten tetanischen Anfälle an ihre Stelle treten, schliesst noch. der folgende Versuch diese Annahme auf das Bestimmteste aus und ist zugleich der beste Beweis für die oben ausge- sprochene Localisation der Wirkungen der Carbolsäure und des Strychnins. Man betupft bei blossgelegtem Rückenmark nur die Pars lumbalis mit Carbolsäure, bis sämmtliche Reflexe von den Hinterbeinen ausbleiben. Dann treten die clonischen Zuckungen entweder spontan oder reflectorisch bei Reizung des vorderen Körperabschnittes auf. Jetzt betupft man das ganze Rückenmark mit Strychninlösung und erhält in Folge dessen Tetani sowohl bei den Muskeln der vorderen Körperhälfte, wie auch bei denen der Hinterbeine. Selbstverständlich können diese Tetani nicht durch Haut- reizung an den Hinterbeinen hervorgerufen werden. Wenn man’ nun die Pars lumbalis von dem höher gelegenen Theile des Rückenmarkes abtrennt, bleiben sofort die Tetani an den Hinterbeinen aus. Reizt man die Pars lumbalis direct mechanisch, entweder sofort nach der Abtrennung oder nach einigen Minuten der Erholung, so kommen jetzt nur mehr wie beim nicht strychninisirten Frosch die schon beschriebenen, blitzartigen Einzelzuckungen bei verschiedenen Muskeln zu Stande, die sich jetzt aber nicht mehr gleichzeitig contrahiren, was sonst auch beim kürzesten Strychnintetanus stets der Fall ist. Auf keinerlei Weise kann man Tetani der hinteren Extremitäten hervorrufen. Betupft man hingegen das bloss- gelegte Rückenmark, ohne es vorher mit Carbolsäure zu befeuchten, mit Strychninlösung, und trennt dann die Pars lumbalis ab, so kann man Tetani der hinteren Extremitäten entweder reflectorisch oder durch directe Reizung immer erzielen. | Daraus geht mit Sicherheit hervor, dass die V'orderhörner der Sitz der speeifischen Carbolsäurewirkung und die sensiblen Mechanismen des Rückenmarkes derjenige der specifischen Strychninwirkung sind. Denn bei diesem Versuche waren die sensiblen Elemente der Pars lumbalis durch Carbolsäure getödtet worden. Aber die. Vorderhörner desselben Abschnittes waren noch in vielfacher Verknüpfung mit den noch lebenden sensiblen Elementen der höher oben gelegenen Partien des Rückenmarkes. Diese wurden durch das Strychnin vergiftet, und die motorischen Vorderhornzellen der Pars lumbalis konnten, trotzdem DIFFERENZIRUNG VERSCHIEDENER MECHANISMEN D. RÜCKENMARKES. 225 sie vorher mit Carbolsäure vergiftet worden waren, durch die Impulse der höher oben befindlichen Hinterhornzellen in tetanische Erregung versetzt werden. Durch die Abtrennung der Pars lumbalis wurden diese Verbin- dungen ausgeschaltet, und jetzt blieben die Tetani vollständig aus. Es muss betont werden, dass das Aufhören der Tetani, bezw. das Fehlen derselben, bei den vorangegangenen Versuchen ein vollständiges ist. Denn da wir oben gesehen haben, dass nach Abtrennung der hinteren Wurzeln die durch mechanische Reizung des Rückenmarkes hervorgerufenen Tetani viel kürzer sind, so könnte man denken, dass es sich auch bei der Betupfung mit Carbolsäure, durch welche die hinteren Wurzeln getödtet werden, nur um ganz kurze Tetani handele. Das ist jedoch durchaus nicht der Fall; es sind absolut keine Tetani vorhanden. Die durch mecha- nische Rückenmarksreizung hervorgerufenen Zuckungen sind lauter Einzel- zuckungen verschiedener Muskeln, welche nie zur starken Extension beider Beine gleichzeitig führen, wie dies immer auch beim kürzesten Tetanus der Fall ist. Man findet gar keinen Unterschied zwischen den Zuckungen vor und nach der Betupfung mit Strychnin. Freilich muss man vorher ganz sicher sein, dass die Betupfung mit Carbolsäure ausreichend war, so dass die sensiblen Elemente auch wirklich getödtet wurden, wovon man sich in der bekannten Weise überzeugen kann. Durch einfache Injection beider Stoffe unter die Haut kann man gar keinen Erfolg für den vorliegenden Zweck erzielen, da hierzu eine local beschränkte Wirkung nöthig ist. Spritzt man z. B. einem Frosch eine starke Carbolsäurelösung ein, so wird das ganze Centralnervensystem und das Blutgefässsystem vergiftet. Es sterben in Folge dessen sämmtliche sensiblen Elemente, aber gleichzeitig, oder vielmehr, wie wir später sehen werden, kurz nachher auch die Vorderhörner und das Herz, so dass eine nachträgliche Einspritzung von Strychnin überhaupt nicht mehr wirken könnte Wenn aber andererseits die Reflexe erhalten bleiben, so kommen natürlich bei Strychninvergiftung auch die Tetani zum Ausbruch. <. Theoretische Erläuterung der verschiedenen Erscheinungen. Tetanische und elonische Zuckungen. Die Carbolsäure wirkt also zweifellos auf die Vorderhörner (motorischen Centralmechanismen) des Rückenmarkes, indem sie, wie wir oben gesehen haben, lediglich die Erregbarkeit derselben erhöht, so dass Bewegungen ausgelöst werden durch Reize, die unter normalen Verhältnissen zu schwach sind, um solche zu veranlassen. Dagegen verursacht eine subcutan ver- abreichte schwache Dosis Carbolsäure in den Hinterhörnern keine wahr- nehmbare Wirkung. Archiv f. A, u. Ph. 1900. Physiol. Abthlg. Suppl. 15 226 SILVESTRO BAGLIONT: Andererseits wirkt das Strychnin auf die sensiblen Elemente des Rückenmarkes, und zwar gleichfalls .nur erregbarkeitssteigernd, so dass sie auf kleine Reizungen, die sonst erfolglos bleiben, mit einer starken Entladung von Impulsen auf die Vorderhörner ant- Fig. 7. Schema des Rückenmarkes. a zwei Spinalganglienzellen, 5 deren Axencylin- der, die sich beim Eintritt in das Rückenmark in einen auf- und einen absteigenden Schenkel theilen, c ihre Collateralen, die sich in Verbin- dung setzen mit den Strangzellen d, e Axen- cylinder der Strangzellen die sich durch ihre Collateralen in Verbindung mit den motorischen Vorderhornzellen f setzen, g motorische Wurzel- fasern. In diesem Schema fehlen die Bahnen, die das Gehirn mit den motorischen Zellen ver- knüpfen. worten. Diese selbst aber werden vom Strychnin nicht nachweis- bar berührt. Wir haben ge- sehen, dass nur dadurch die Tetani zu Stande kommen, dass die secundären Reizungen der Gelenke und Sehnen, die nor- maler Weise wirkungslos bleiben, Bewegungen, Öontractionen aus- lösen können, weil die sensiblen Elemente sich in ausserordent- lich gesteigerter Erregbarkeit befinden. Wenn man das nebenstehende Schema (Fig.”7) der verschiedenen Rückenmarkselemente betrach- tet, so kann man unter der Vor- aussetzung, dass das Strychnin die Erregbarkeit der sensiblen Mechanismen steigert, das Auf- treten der Tetani ganz gut er- klären. Mit ein und derselben motorischen Vorderhornzelle ste- hen die Axencylinder von vielen sensiblen Zellen in Verbindung, so dass der ersteren: von ver- schiedenen Seiten nach einander Reize zufliessen können. Zu- nächst kommt die Hautreizung, dann die secundären Reizungen von den Sehnen und Gelenken her, und so kommt der Strych- nintetanus zu Stande. Nicht so leicht ist eine Erklä- rung der clonischen Zuckungen bei der Carbolsäurevergiftung. Wir wollen die einzelnen bisher festgestellten Thatsachen an der Hand des Schemas in’s Auge fassen. Die Carbolsäure DIFFERENZIRUNG VERSCHIEDENER MECHANISMEN D. RÜCKENMARKES. 227 erhöht also die Erregbarkeit der motorischen Elemente und wirkt bei sub- cutaner Injection nicht nachweisbar auf die sensiblen. Nun ist es bekanntlich nöthig, um unter normalen Verhältnissen am Rückenmarkspräparat die moto- rischen Zellen zu einer Entladung zu veranlassen, die zur Muskelcontraction führt, dass ihnen ein Impuls von den sensiblen Elementen aus zugeleitet werde. Durch die Carbolsäure ist nur die Erregbarkeit der motorischen Elemente erhöht, d. h. diese antworten auf kleine Impulse der sensiblen Mechanismen, die sonst erfolglos bleiben, mit einer Entladung, die eine Muskelcontraction auslöst. Da aber die sensiblen Elemente sich nicht in erhöhter Erregbar- keit befinden, so müssen sich die ganz schwachen Reizungen, die von der Peripherie des Körpers zu den sensiblen Elementen gelangen, summiren, damit diese schliesslich einen Impuls auf die motorischen Zellen entladen können. Betrachten wir zunächst die Erscheinungen bei einem mit Carbol- säure vergifteten Warmblüter. Es ist bekannt, dass bei einem normalen Thiere, welches steht, continuirlich Reize, die zum Stehen des Körpers führen, indem sie die betreffenden Muskeln in eineın bestimmten Erregungszustande erhalten, von der Peripherie aus zu den entsprechenden Rückenmarkscentren gelangen müssen. Wenn nun das Thier mit Carbolsäure vergiftet wird, so werden die moto- rischen Zellen in erhöhte Erregbarkeit versetzt. Wären auch die sensiblen Zellen in erhöhter Erregbarkeit, so könnten sich ohne Weiteres alle Impulse auf die motorischen Zellen fortpflanzen, und es kämen Tetani zu Tage, wie dies bei der Strychninvergiftung der Fall ist. Da aber die sensiblen Elemente nicht in erhöhter Erregbarkeit sind, so muss die von diesen Impulsen in ihnen erzeugte Erregung, um sich auf die motorischen Zellen entladen zu können, erst eine bestimmte Höhe erreicht haben; dies geschieht durch Summation. Es ist ja eine in der Physiologie des Rückenmarkes längst bekannte Thatsache, dass Reize, die einzeln erfolglos bleiben, wirksam werden können, wenn sie in grösserer Zahl schnell auf einander folgen. Auf diese Weise kommt auch im vorliegenden Fall die erste Zuckung zu Stande; nach dieser muss eine Ruhepause eintreten, während welcher sich weitere periphere Impulse in den sensiblen Zellen summiren, um wieder die bestimmte Höhe zu erreichen, die zu einer Entladung führt u. s. f. Man versteht so, dass das Resultat nichts Anderes sein kann als clonische Zuckungen. | Wenn man die Curven des mit Carbolsäure vergifteten Meerschwein- chens betrachtet, so erkennt man sofort diese intermittirenden Entladungen der Centren. Auf eine gerade ansteigende Linie (Contraction) folgt ein absteigender, verlängerter Schenkel mit kleinen Zäckchen, dann wieder eine gerade ansteigende Linie u. s.w. Während des absteigenden Schenkels (Extension) kommt die Summation der Impulse zu Stande, die hierauf 15* 228 SILVESTRO BAGLIONI: wieder zu einer starken Contraction des Muskels führt. — Die Curven haben nicht dieselbe Höhe, da die peripheren Impulse nicht immer gleich stark sind und da jedenfalls auch die inneren Bedingungen der Öentren dabei eine grosse Rolle spielen. Die clonischen Zuckungen des Frosches hingegen sind nicht so häufig; der Frosch zittert nicht so stark und so rasch. Aber beim Frosch be- stehen auch normaler Weise nicht so viele periphere Reizungen, die sich summiren könnten; so z. B. steht der Frosch nicht, sondern liegt beinahe. Immer aber kann man durch künstliche Reizung die clonischen Zuckungen in ihrem Tempo beschleunigen, es bedarf dazu nur einer lang anhaltenden Reizung der Haut, da momentane Reize nur Einzelzuekungen hervorrufen. Gerade das spricht sehr für die eben entwickelte Anschauung: denn wenn eine Summation der Impulse nöthig ist, um elonische Zuckungen zu erzeugen, dann müssen die Reize eben andauern. So treten sowohl beim Frosch wie beim Meerschweinchen stärkere und schnellere clonische Zuckungen auf, wenn man das Thier lange an einem Fusse kneift, oder lange elektrisch reizt, oder in einer ungewöhnlichen Körperlage festhält. Mit dem Aufhören dieser Reizungen lassen auch die elonischen Zuckungen wieder nach. Die Strychnintetani. hingegen sind in weitestem Maasse unabhängig von der Dauer und Stärke der Reizung, von der sie verursacht werden; sie hängen lediglich von den inneren Bedingungen der Centren ab. Und auch dies ist verständlich. Denn die sensiblen Elemente befinden sich eben in so ungeheuer erhöhter Erregbarkeit, dass die Stärke der Reizung für den Erfolg ganz gleich ist. Auch die Dauer derselben ist für die Tetani nicht von Belang, da sie durch die secundären, von der primären Reizung erzeugten Impulse verursacht werden. Gewiss ist dies nur.innerhalb be- stimmter Grenzen gültig. Offenbar muss auch bei der Strychninvergiftung ein Verhältniss zwischen den Reizen und ihrer Wirkung bestehen. Aber dieses Verhältniss kommt vielleicht nur für ganz minimale Reize in Be- tracht. Die gewöhnlichen „schwachen“ Reize sind bei der hochgradig gesteigerten Erregbarkeit schon so stark, dass sie: eine maximale Wirkung hervorrufen, und diese kann eben auch durch stärkere Reize nicht noch weiter gesteigert werden. Wir werden aber sogleich auch Bedingungen kennen lernen, bei denen, wie es scheint, die Tetani auch von der Stärke und Dauer der Reizung abhängig sind. Freilich sind diese Be- dingungen nicht bei den gewöhnlichen, verhältnissmässig starken und plötz- lichen, mechanischen oder elektrischen Reizen realisirt, sondern wesentlich bei chemischen. DIFFERENZIRUNG VERSCHIEDENER MECHANISMEN D. RÜCKENMARKES. 229 8. Die chemische Hautreizung bei der Carbolsäure- und Strychninvergiftung. Wir haben bisher nur die mechanischen und elektrischen Reize in Betracht gezogen. Es entsteht aber die Frage: Wie verhalten sich bei Carbolsäure- und Strychninvergiftung die chemischen Reize? Wenn man bei einem mit Carbolsäure vergifteten Frosch eine Haut- stelle mit verdünnter Essigsäure benetzt, so werden die clonischen Zuckungen sofort stärker und schneller, und man erkennt dabei die coordinirten Im- pulse, die zum Abwischen der betreffenden Stellen führen würden, wenn nicht die Ausführung dieser Bewegungen von den clonischen Zuckungen gehindert würde. Bei der Carbolsäurevergiftung verhalten sich also die chemischen Reize ganz so wie die mechanischen und elektrischen. Sie rufen stärkere elonische Zuckungen hervor. Auch hier kann man an eine Summation der Reizungen denken, die von der geätzten Hautstelle aus zu den betreffenden sensiblen Mechanismen des Rückenmarkes gelangen. Anders verhält es sich bei der Strychninvergiftung. Wie in Ueber- einstimmung mit einer Anzahl älterer Arbeiten zuletzt Schlick! festgestellt hat, bleiben hier merkwürdiger Weise chemische Reizungen erfolglos; es kommen bei Benetzung der Haut mit verdünnten Säuren und Alkalien, die beim normalen Thiere heftige Abwehrbewegungen hervorrufen, keine Tetani zu Stande „Während mechanische, thermische und elektrische Reizung des Strychninfrosches nach der Vergiftung eine bedeutende Steigerung der Reflexthätigkeit erkennen lassen, ist bei chemischer Reizung eine solche nicht wahrnehmbar. Ein vor der Vergiftung sehr wirksamer chemischer Reiz kann nachher nahezu oder sogar gänzlich wirkungslos bleiben. Unter allen Umständen aber erscheint dann die Reflexzeit sehr ver- längert.“ Diese Beobachtungen wurden weiter verfolgt, und die betreffenden Ver- suche ergaben die im Folgenden angeführten Resultate. Was die Methode betrifft, so wurden die Versuche in der Weise angestellt, dass verschiedene Concentrationen von Essigsäure angewendet wurden, deren Wirkung vorher am normalen Thiere geprüft worden war. Die Reizung geschah durch einen ganz dünn gedrehten Wattebausch, der mit der betreffenden Flüssig- keit getränkt war. Dieser wurde vorsichtig an die betreffende Hautstelle gebracht, derart, dass nicht die Watte selbst, sondern nur der herabhängende Tropfen in unmittelbaren Contact mit der Haut kam. Als Controle, um die mechanische Reizung auszuschliessen, wurde ein gleicher Wattebausch " Schlick, Zur Kenntniss der Strychninwirkung. Pflüger’s Archiv. 1890. Bd. XLVII. 230 SILVESTRO BAGLIONT: in derselben Weise, aber mit Wasser getränkt, vorher an die Hautstelle gebracht; dieser rief keinen Tetanus hervor. Die Versuche wurden an Strychninfröschen angestellt, die entweder völlig intact gelassen waren, oder "bei denen die Medulla oblongata abgetrennt worden war. Der Erfolg steht erstens in engem Zusammenhange mit dem Stadium der Vergiftung, wie übrigens auch aus den Versuchen von Schlick hervorgeht. Handelt es sich um ein frühes Stadium, wo die Reflexerregbarkeit schon stark erhöht ist, aber auf Reizung noch keine Tetani, sondern nur starke Einzelzuckungen eintreten, dann sind auch die chemischen Reizungen vollständig wirksam. Je mehr sich aber die Frregbarkeit steigert, desto unwirksamer werden sie, bis sie zu einer Zeit, in der auf jede kleine mechanische oder elektrische Reizung starke und lange Tetani folgen, entweder völlig wirkungslos sind, oder erst nach langer Zeit eine Wirkung hervorrufen. Zweitens hängt der Erfolg ab von der Ooncentration der Lösung: Je verdünnter die Lösung, um so geringer ihre Wirkung. Eine starke Essigsäure vermag fast immer sofort Tetani auszulösen. Wir haben schon oben gesehen, dass, wenn man einen Frosch zuerst mit Carbolsäure vergiftet und nachher mit Strychnin, die immer stärker werdenden clonischen Zuckungen allmählich in Tetani übergehen, so dass schliesslich die ersteren vollkommen aufhören und auf jede schwache Haut- reizung gewöhnliche Strychnintetani folgen. Wenn man nun bei einem solchen mit Carbolsäure und Strychnin vergifteten Frosch die Wirkung chemischer Reizung in der eben besprochenen Weise prüft, so zeigt sich die merkwürdige Erscheinung, dass diese jetzt immer von Erfolg begleitet und unter allen Umständen wirksam ist. Sie ruft immer sofort starke Tetani hervor, und es ist gar kein Unterschied mehr bemerk- bar zwischen den mechanischen und den chemischen Reiz- wirkungen. Das war vielleicht zu erwarten, da, wie schon’ erwähnt, bei der Carbolsäurevergiftung die chemischen Reizungen durchaus wirksam sind, indem sie jedes Mal starke clonische Anfälle hervorrufen, die nun ihrerseits secundär Tetanus auslösen können. | Die oben angeführten Thatsachen scheinen nun in folgender Vorstellung eine befriedigende Erklärung zu finden: | Zunächst muss man daran denken, dass eine gewöhnliche chemi- sche Reizung nicht so plötzlich und momentan auftritt, wie eine mechanische oder elektrische. Der betreffende Reizstofft mischt sich zuerst mit der den Körper des Frosches immer umgebenden Wasser- schicht; dann dringt er allmählich durch die Epithelzellen der Haut und wirkt also auch nur ganz allmählich auf die sensiblen Nervenenden ein, zuerst auf ganz wenige Elemente und dann DIFFERENZIRUNG VERSCHIEDENER MECHANISMEN D. RÜCKENMARKES. 231 mit zunehmender Ausbreitung auf eine immer grössere Anzahl, so dass eine Reihenfolge ganz schwacher Reizungen entsteht, die beim normalen Thier in den sensiblen Mechanismen sich summiren müssen, um die zu einer starken Entladung er- forderliche Höhe zu erreichen und so die bekannten Abwisch- bewegungen zu veranlassen. Daher ist, wie bekannt, die Reflexzeit bei chemischer Reizung auch beim normalen Thier bedeutend länger, als bei mechanischer oder elektrischer. Es liegt nun nahe, anzunehmen, dass die schwache chemische Reizung bei strychninisirten Fröschen unwirksam bleibt, weil diese Summation der Reizungen bei der Strychninvergiftung verhindert oder bedeutend verlang- samt ist. Man könnte sich nämlich denken, dass diese ganz kleinen Reizungen sich in den sensiblen Mechanismen deshalb nicht summiren können, weil die letzteren wegen der ungeheuer gesteigerten Erregbarkeit jetzt schon auf eine jede kleinste Reizung mit einer Entladung antworten, aber mit einer Entladung, die zu klein ist, um sich fortpflanzen und auf die motorischen Zellen wirken zu können, da letztere sich nicht in erhöhter Erregbarkeit befinden. Dann wären die Thatsachen verständlich, dass gerade mit steigender Erregbarkeit die chemischen Reizungen immer unwirksamer werden, dass sie, wenn überhaupt, so erst nach längerer Zeit wirken, nämlich erst dann, wenn mehrere Nervenenden angegrifien wurden, dass schliesslich die concentrirten Lösungen stets wirksam sind, da bei diesen die Reizung stärker ist und einen steileren Intensitätsanstieg hat. Wenn aber auch die motorischen Zellen sich in erhöhter Erregbarkeit befinden, wie dies bei der Carbolsäurevergiftung der Fall ist, dann müssen diese kleinen Entladungen der sensiblen Mechanismen auch auf die moto- rischen Zellen wirken. Und thatsächlich haben wir gesehen, dass bei einem mit Carbolsäure und Strychnin vergifteten Frosch die chemischen Reizungen durchaus wirksam sind. Sei dem aber wie ihm wolle, jedenfalls liegt die Annahme sehr nahe, dass bei der Strychninvergiftung eine Summation von einzeln unwirksamen Reizen überhaupt nicht stattfindet, und dies scheint thatsächlich der Fall zu sein, wie aus folgenden hierüber angestellten Ver- suchen mit elektrischer Reizung hervorgeht. Die Summation der Reize wird in folgender Weise geprüft: Es wird ein Frosch geköpft, oder vielmehr sein Rückenmark von der Medulla oblongata abgetrennt. Dann, nach einer längeren Erholungspause wird der Frosch am besten an einem Stativ aufgehängt, eine Pfote auf die Elektroden eines Induetoriums gelegt und mittels eines Schlüssels einzelne Inductionsschläge auf die Haut der Zehen entladen. Es giebt immer einen Rollenabstand, wo schon einzelne Schläge Reflexe hervorrufen und der Fuss an den Körper 232 SILVESTRO BAGLIONT: angezogen wird. Wenn dieser Abstand vergrössert wird, so kommt ein Punkt, wo die Einzelschläge unwirksam bleiben und keine Reflexe mehr auslösen, obwohl die von dem Strom direct getroffenen Muskeln unter der Haut sich contrahiren, was man daran erkennt, dass die Zehen über den Elektroden sich leicht beugen, ohne dass jedoch der Fuss von den Elektroden entfernt wird. Wenn man aber rasch nach einander zwei bis fünf solcher Schläge von derselben Intensität folgen lässt, so kommt der Reflex wieder und der Fuss wird weggezogen. Es handelt sich also offenbar um eine Summation der Reizungen, die im Einzelnen unwirksam sind. Schiebt man die beiden Rollen noch weiter- von einänder, so kann man noch immer innerhalb eines grösseren Zwischenraumes durch Summation der Reizungen den Reflex herbeiführen. Selbstverständlich müssen um so mehr Schläge auf einander folgen, je grösser der Abstand ist. So waren z. B. bei einem Chromsäure-Tauchelement bei einem Rollenabstande von 60 "m die Einzel- schläge schon unwirksam, und nur zwei bis drei auf einander folgende erzielten einen Erfolg; man konnte jedoch auch bei einem Abstande von 100 bis 120"” noch ganz gut Reflexe hervorrufen. ‘Wie man sieht, sind die Grenzen der Summation von Reizungen bei einem normalen Thiere ziemlich weit, von 60m bis zu 120==, Diese Zahlen haben selbstver- ständlich nur einen relativen Werth, da die Thiere sich in dieser Hinsicht verschieden verhalten, und besonders da ja die Stromstärke des Inductoriums nur relativ gemessen wird. Wenn man nun bei einem mit Strychnin vergifteten Frosch, dem man im Stadium der vollständigen Tetani die Medulla oblongata abgetrennt hat, nach genügender Erholung die Summation der Reize in der eben beschrie- benen Weise versuchen will, so sieht man folgende merkwürdige Erscheinung. Man gelangt auch hier zu einem Rollenabstande, bei dem die Einzel- schläge eben noch Tetani hervorrufen, und dieser Rollenabständ ist merk- würdiger Weise nicht sehr verschieden von dem entsprechenden beim nor- malen Thiere. Wenn man aber diesen Rollenabstand ungefähr um 20 m» überschreitet, dann kann man beliebig lange und rasch Schläge auf einander folgen lassen, ohne dass dadurch ein Tetanus erzeugt würde, obwohl sich die direct vom Strom getroffenen Muskeln contrahiren. Zwischen dem Rollenabstand, wo Einzelschläge noch wirksam sind und dem um 20 mm weiteren, ist das Resultat verschieden, manchmal kommen Tetani durch Summation von zwei bis drei Schlägen noch zu Stande, sehr oft bleiben - sie aus. Jedenfalls steht folgende Thatsache fest: Beim normalen Thier wirkt die Summation noch innerhalb einer Grenze von etwa 60"m, heim strychninisirten Frosch nur innerhalb 20”. Selbst- verständlich muss man jede Vorsicht beobachten, um das Thier nicht gleich- zeitig mechanisch zu reizen. Es besteht hier auch die Möglichkeit, dass DIFFERENZIRUNG VERSCHIEDENER MECHANISMEN D. RÜCKENMARKES. 233 die Contraction der vom Strom betroffenen Muskeln ihrerseits als Reizung wirkt, denn es wurde ja schon früher gezeigt, welche wichtige Rolle die Reizung der sensiblen Nervenenden der Gelenke und Sehnen beim Zustande- kommen der Strychnintetani spielen. 9. Anhang: Die ‚„fibrillären‘ Zuckungen. Die sogenannten „fibrillären‘“ Muskelzuckungen kommen sehr oft und unter ganz verschiedenen Verhältnissen zum Vorschein. Da bis jetzt, wenigstens so weit eine oberflächliche Durchsicht der Litteratur erkennen liess, keine befriedigende Darstellung derselben in der Physiologie gegeben wurde, und da andererseits in dieser Abhandlung von „celonischen“ und „tetanischen“ Zuckungen die Rede war, so schien es gerechtfertigt, auch über dieses Gebiet specielle Versuche anzustellen, um so mehr, als es, wie sich zeigen wird, nicht wenige und nicht unerhebliche Beziehungen zu den eben besprochenen Erscheinungen besitzt. Wenn man beim Frosch den Rückenmarkscanal eröffnet, indem man die einzelnen Wirbel von hinten abschneidet, kann man leicht beobachten, dass dadurch nicht selten eine Reizung der Centren verursacht wird, jeden- falls durch die Berührung der nervösen Substanz mit der Scheere. Man sieht z. B., dass bei Freilegung der Pars lumbalis alle Muskeln der hinteren Extremitäten fortdauernd in fibrilläre Zuckungen gerathen. Unter der Haut sieht man das Flimmern der Muskeln, das offenbar darauf beruht, dass sich die verschiedenen Faserbündel nicht gleichzeitig, sondern nach einander contrahiren. Enthbäutet man das Thier, so kann man das noch deutlicher beobachten; man sieht bei Betrachtung eines Muskels, z. B. des Gastrocne- mius, dass, wenn einige Fasern sich contrahiren, die übrigen in Erschlaffung sind, und im nächsten Augenblick wieder die ersteren in Expansion und andere in Contraction u.s. f. Das sind typische „fibrilläre“ Zuckungen. Bei der genaueren Untersuchung dieser Erscheinung gelang es nun, folgende Thatsachen festzustellen. Zunächst ist bei der fibrillären Zuckung gar keine Coordination vorhanden; in dieser Hinsicht haben sie die grösste Aehnlichkeit mit den tetanischen Zuckungen, in welche sie auch, wie sogleich gezeigt werden wird, unter bestimmten Bedingungen übergehen können. Sie können also bei antagonistischen Muskeln gleichzeitig auf- treten, ferner bei verschiedener Lage des Muskels und auch während der Contraction desselben. Man kann nicht selten einen Reflex durch Haut- reizung hervorrufen, und während desselben setzen sich die fibrillären Zuckungen fort, auch wenn der Reflex ganz normal ausgeführt wird, und dauern unter Umständen noch nach Beendigung desselben fort. 234 SILVESTRO BAGLIONT: Um diese fibrillären Zuckungen künstlich hervorzurufen, wurden ein- fach verschiedene Stellen des Rückenmarkes mit einer Stecknadel, deren Spitze mit einem Watteflöckchen umwickelt war, mechanisch gereizt. Aus diesen Versuchen ergab sich Folgendes: Erstens muss man, um fibril- läre Zuckungen bei bestimmten Muskeln hervorzurufen, jene Stellen des Rückenmarkes reizen, wo die Öentren der betreffen- den Muskeln liegen. Will man z. B. fibrilläre Zuckungen bei den Muskeln der Hinterbeine verursachen, so muss man die Pars lumbalis mit der Stecknadel berühren; mechanische heizung der Pars cervicalis oder dorsalis rufen allerdings auch fibrilläre Zuckungen hervor, aber nur bei den Muskeln des Kopfes, bezw. des Rumpfes und der Vorderbeine Wenn Fig. 8. Mechanische, momentane Reizung des blossgelegten Rückenmarkes. Fibrilläre Zuckungen von tetanischem Charakter. gleichzeitig Zuekungen der Hinterbeine zu Stande kommen, so sind dies meistens gewöhnliche Einzelzuckungen; doch ist eigentlich keine scharfe Grenze für die verschiedenen Abschnitte des Rückenmarkes gegeben, so dass ganz gut, hauptsächlich wenn die Reizungen sich ausbreiten, durch Berührung des mittleren Rückenmarkes fibrilläre Zuckungen fast aller Körpermuskeln veranlasst werden können. Ferner ist es charakteristisch für die fibrillären Zuckungen, dass sie ziemlich lange die momentane mechanische heizung überdauern. Gewöhnlich antwortet das Thier auf. die momentane Be- rührung des Rückenmarkes mit einer starken Zuckung, die man leicht übersieht, wenn der Frosch auf dem Korkbrett aufgespannt ist; dieser DIFFERENZIRUNG VERSCHIEDENER MECHANISMEN D. RÜCKENMARKES. 2535 Zuckung folgen dann von selbst die fibrillären Zuckungen verschiedener Muskeln. Weiter können die fibrillären Zuckungen in richtige Tetani der betreffenden Muskeln übergehen, nämlich dann, wenn die mechanische Reizung stark und möglichst umfangreich auf’s Rückenmark ausgeübt wird. So zeigt Fig. 8 auf diesem Wege er- haltene Tetani. Auch diese Tetani zeigen denselben Charakter wie die des Strychnins, d.h. die starke Berührung des Rückenmarkes ist die primäre Reizung, die ihrerseits die Erregbarkeit der sensiblen Centralmechanismen erhöht, so dass diese empfindlich für die secundären Reizungen der Muskel- contractionen werden; so kommen auch hier die Tetani zu Stande. Auch hier bleiben länger dauernde Tetani aus, wenn die hinteren Wurzeln ab- geschnitten sind oder überhaupt die sensiblen Centralmechanismen irgend- wie getödtet werden (z. B. durch starke Narkose, durch Carbolsäure u. s. w.). Dann kann noch mechanische Reizung des Rückenmarkes fibrilläre Zuck- ungen hervorrufen, aber auch sie dauern in diesem Falle gewöhnlich nur kurze Zeit, und es ist oft schwierig, sie bei den raschen Zuckungen der verschiedenen Muskeln zu erkennen. Sind auch die Vorderhörner todt, dann kann man überhaupt keine fibrillären Zuckungen mehr hervorrufen. Dann kommen bei mechanischer Reizung des Rückenmarkes durch Reizung der vor- deren Wurzeln ledielich rasche Einzelzuckungen der verschiedenen Muskeln vor, aber keine Spur von fibrillären Zuckungen. Dass Reizung der vorderen Wurzeln nie fibrilläre Zuckungen erzeugen kann, ersieht man deutlich aus folgendem Versuch: Trennt man die Pars lumbalis des Rücken- markes ab, dreht sie etwas herum, schneidet die vorderen Wurzeln ab und reizt dieselben mechanisch, so erhält man dadurch nur starke Einzel- zuckungen der verschiedenen Muskeln des Hinterbeines. Aus diesem Grunde kann das Auftreten langandauernder fibrillärer Zuckungenr bei leiser Berührung des Rückenmarkes als ein gutes Zeichen dafür angesehen werden, dass die Gentren, und zwar nicht bloss die motorischen, sondern auch die sen- siblen Centralmechanismen des Rückenmarkes noch leben. Alle Versuche bestätigten, dass in diesem Falle auch die Reflexe noch vorhanden sind oder später wieder zurückkehren. Wenn man den Charakter der fibrillären Zuckungen in’s Auge fasst, kommt man leicht auf die Vermuthung, dass dieselben dadurch zu Stande kommen, dass nur einige Zellen von der Reizung getroffen werden, während andere weiter entfernte unberührt bleiben, so dass nur die ersteren zu einer Entladung veranlasst werden. Da die Reizung offenbar nicht eine 236 SILVESTRO BAGLIONT: anatomisch oder physiologisch zusammengehörige Zellgruppe trifft, so müssen sich verschiedene Fasern der verschiedenen Muskeln contrahiren, während ein anderer Theil derselben in Ruhe bleibt; d. h. es kommen eben die bekannten fibrillären Zuckungen zum Vorschein. Wenn nun die mechanische Reizung auf die sensiblen Centralmecha- nismen des Rückenmarkes wirkt, so kommt offenbar nicht nur eine Ent- ladung der getroffenen Zellen zu Stande, sondern es wird bei ihnen auch die Erregbarkeit erhöht, so dass sie jetzt für die secundären Reizungen von den Sehnen und Gelenken her empfindlich sind, und so dauern die fibrillären Zuckungen länger als die Reizung selbst. Wenn nun die Reizung so stark und so umfangreich ist, dass sie viele, fast alle Zellen trifft, so müssen die fibrillären Zuckungen in tetanische Anfälle übergehen, wie dies thatsächlich der Fall ist. Sind die sensiblen Mechänismen gestorben, so kann die Reizung nur einige Zellen der Vorderhörner treffen, und dann kommen nur momentane, blitzartige Zuckungen zu Stande. Auf die gewöhnlichen mechanischen Reizungen mit der Stecknadel antworten die vorderen Wurzeln mit Einzelzuckungen des ganzen Muskels, aber nie mit fibrillären Zuckungen. Wenn die eben ausgesprochene Auf- fassung der fibrillären Zuckungen richtig ist, muss man dieselben aber auch von den vorderen Wurzeln und überhaupt von einem motorischen Nervenstamm aus erhalten können, unter der Bedingung, dass nur einzelne Fasern des Bündels von der Reizung getroffen werden. Zu diesem Zwecke wurde eine vordere Wurzel mit einer ganz fein zugespitzten Nadel so ge- reizt, dass nur einige Fasern derselben getroffen wurden, und thatsächlich kamen momentane, blitzartige, aber doch am blossgelegten Muskel ganz bestimmt localisirte fibrilläre Zuckungen zu Stande. Derselbe Versuch wurde auch mit dem gleichen Resultate am Ischiadicus ausgeführt. Bei den ge- wöhnlichen mechanischen oder elektrischen Reizungen der vorderen Wurzeln oder der motorischen Nervenstämme- dagegen wird gleich das ganze Bündel getroffen, daher können unmöglich fibrilläre Zuckungen dadurch erzielt werden. | Eine andere directe Folge dieser Anschauung ist, dass auch am Muskel selbst fibrilläre Zuckungen müssen entstehen können, wenn. die Reizung sich auf einige Muskelfasern beschränkt; und es ist bekannt, dass das wirk- lich der Fall ist. Eine Folge dieser Anschauung ist schliesslich auch die, dass chemische Stoffe, die direct auf’s Rückenmark, auf Nervenstämme oder auf Muskeln gebracht werden, wenn sie überhaupt auf die Zellen einwirken, in einer bestimmten Concentration fibrilläre Zuckungen auslösen müssen. Denn da sie allmählich eindringen, so müssen nach einander verschiedene Elemente ergriffen und gereizt werden. In stärkerer Dosis müssen sie Tetani oder DIFFERENZIRUNG VERSCHIEDENER MECHANISMEN D. RÜCKENMARKES. 237 eine fortdauernde Contraction auslösen. Wie schon Boni! beobachtet hat, treten z. B. die fibrillären Zuckungen ganz deutlich an den Muskeln der Hinterbeine auf, wenn man die Pars lumbalis des Rückenmarkes mit Koch- salzlösung (1, 1!/, Procent) betupft; desgleichen, wenn man den Ischiadicus mit ihr betupft oder einen Muskel in sie eintaucht. Wenn die Lösung stärker ist (10 Procent), kommen in allen Fällen Tetani zum Vorschein. Dasselbe wurde sehr oft auch bei anderen chemischen Stoffen beobachtet. Die fibrillären Zuckungen kommen also dadurch zu Stande, dass durch irgend eine locale Reizung ungleichzeitig verschie- dene Elemente getroffen werden, die mit einander in keiner directen Beziehung stehen. Die fibrillären Zuckungen können central und peripher hervorgerufen werden, ebenso wie die tetanischen und clonischen Zuckungen, die sich von ihnen nur dadurch unterscheiden, dass bei ihnen sämmtliche Elemente einer bestimmten physiologischen und anatomischen Einheit gleichzeitig gereizt werden. 10. Schlussbemerkungen. Im Vorausgegangenen wurde ausführlich von dem verschiedenen Ver- halten der Rückenmarksmechanismen gehandelt. Eine weitere Eigen- schaft, die die motorischen Mechanismen gegenüber den sen- siblen charakterisirt, ist die, dass die ersteren bei den verschie- denen Reizungen später sterben als die sensiblen, welche sofort angegriffen und gelähmt werden, dass also die ersteren eine verhältnissmässig grössere Widerstandsfähigkeit und Lebens- zähigkeit besitzen als die letzteren. Man kann sich durch verschie- dene Versuche davon überzeugen. Narkotisirt man z. B. einen Frosch so tief, dass weder die Athembewegungen, noch andere Reflexe mehr vorhanden sind, und öffnet jetzt, die Narkose immer fortsetzend, den Wirbelcanal, so sieht man, dass die Vorderhörner bei mechanischer oder elektrischer Reizung noch erregbar sind. Berührt man die Medulla oblongata, so werden Be- wegungen der Hinterbeine ausgelöst; berührt man die Pars lumbalis, so treten ebenfalls starke Zuckungen derselben auf. Um die Möglichkeit aus- zuschliessen, dass dabei die vorderen Wurzeln gereizt wurden, muss man dieselbe Reizung in gleicher Stärke auch tiefer unten ausüben, wo die Wurzeln zusammenlaufen, wo aber das Rückenmark selbst aufhört. In diesem Falle erhält man gar keine Zuckung; diese kommt erst bei stärkerer Reizung zu Stande. Selbstverständlich bleiben bei obigem Versuche die ! B. Boni, Le preparazioni alla Galvani. Roma 1895. 238 SILVESTRO BAGLIONT: langdauernden tetano-fbrillären Zuckungen aus, da die sensiblen Elemente gestorben sind. Dasselbe Resultat ergiebt sich, wenn man dem Frosch das Herz ab- klemmt. Nach !/, bis ?/, Stunde sind alle Reflexe vorüber, das Thier liegt wie todt da. Wenn man jedoch gleich das Rückenmark freilegt, so kann man sich, ebenso wie beim vorigen Versuche, durch mechanische Reizung der Medulla oblongata oder der Pars lumbalis davon überzeugen, dass die motorischen Zellen noch leben. Wenn man aber den Versuch etwas später wieder- holt, so sind auch diese bereits gestorben, da keine Zuckung der hinteren Extremitäten bei Reizung der Medulla oblongata mehr auftritt, und ver- hältnissmässig starke Reizung der Pars lumbalis nöthig ist, um einzelne Zuckungen zu veranlassen. Gerade durch diesen letzteren Controlversuch gewinnt man die sichere Ueberzeugung, dass vorher die vorderen Wurzeln nicht mit gereizt waren. Auch noch bei verschiedenen anderen Gelegen- heiten konnte beobachtet werden, dass beim Absterben des Frosches die motorischen Zellen noch eine Weile länger lebten, als die sensiblen Mecha- nismen. Zum Schlusse möchte ich hier noch auf zwei Folgerungen hinweisen, die sich aus den mitgetheilten Versuchen zu ergeben scheinen. Zuerst, was das allgemeine Zustandekommen der Tetani betrifft. Wenn die oben (8.214 u. ff.) ausgesprochene Auffassung der central erzeugten Tetani allgemein richtig ist, so muss man erwarten, dass zum Zustande- kommen der Tetani nichts Anderes erforderlich ist, als eine Steigerung der Erregbarkeit der sensiblen Centralmechanismen bis zu einer bestimmten Höhe. Wenn diese Bedingung allein erfüllt ist, müssten die Tetani ohne Weiteres auf Reizung oder spontan ausbrechen, ebenso wie bei der Strychnin- vergiftung. Thatsächlich ist dies der Fall, wenigstens in den bis jetzt physiologisch untersuchten Fällen. Es ist bekannt, dass eine’ grosse Reihe chemischer Stoffe, die in kleiner Dosis die Refiexerregbarkeit erhöhen, in stärkerer Tetani hervorrufen, gerade so wie das Strychnin. So z. B. Bruein, Thebain, Coffein, Ammoniak, Pikrotoxin u. s. w. Aber nieht nur chemische Stoffe können die Erregbarkeit der sen- siblen Mechanismen des Rückenmarkes erhöhen, sondern auch physika- lische Einflüsse. Wie kürzlich Biedermann! gezeigt hat, kann auch die Kälte eine Steigerung der Reflexerregbarkeit bewirken, und auch hier können, wenn die Erreebarkeitssteigerung eine gewisse Höhe erreicht hat, reflectorisch durch einzelne Reizungen Tetani hervorgerufen werden. | ! Biedermann, Beiträge zur Kenntniss der Reflexfunction des Rückenmarkes. Pflüger’s Archiv. 1900. Bd. LXXX. DIFFERENZIRUNG VERSCHIEDENER MECHANISMEN D. RÜCKENMARKES. 239 Wir haben schon im vorhergehenden Capitel gesehen, dass mechanische oder elektrische Reizungen der sensiblen Rückenmarksmechanismen Tetani auslösen können. Andererseits sind aus der Pathologie des Öentralnerven- systems Verhältnisse bekannt, wo die Reflexerregbarkeit stark erhöht ist, und auch da kommen nicht selten tetanische Anfälle zum Vorschein. Freilich müssen diese Untersuchungen noch weiter verfolgt werden, aber die hier besprochenen Thatsachen drängen entschieden zu der Ueber- zeugung, dass die Erklärung des Zustandekommens der Tetani, wie wir sie für die Strychninvergiftung gegeben haben, allgemeine Gültigkeit besitzt, überall wo Tetani auftreten. Auch lassen sich durch diese Auffassung alle Erscheinungen in einfacher und befriedigender Weise erklären. Der zweite Punkt, den ich hier noch betonen möchte, ist die all- gemeine Wirkung des Strychnins und der Carbolsäure. Wir haben gesehen, dass, wenn sämmtliche sensible Bahnen des Nervensystems ausgeschaltet sind, gar keine Spur von Bewegung mehr bei dem mit Strychnin oder Carbolsäure vergifteten Thiere eintritt. Man muss jedoch annehmen, dass auch in diesem Falle die Centren unter der Wirkung des betreffenden Giftes stehen. Trotzdem können diese Stoffe ohne Hinzutreten eines (reflec- torisch oder direct auf das Rückenmark wirkenden) Reizes „automatisch“ keine Bewegung verursachen. Höchst wahrscheinlich gilt dasselbe auch für die anderen Gifte, die wie Strychnin oder Carbolsäure auf das Centralnerven- system wirken. E. H. Hering! hat übrigens angegeben, dass sich Strychnin und Pikrotoxin in dieser Hinsicht ganz gleich verhalten. _ Sucht man für diese Erscheinung eine eingehendere Erklärung, so kann dieselbe vielleicht durch die folgenden Betrachtungen in befriedigender Weise gegeben werden: Wird ein Stoff unter die Haut injieirt, so wird er allmählich resor- birt und das Blut allmählich mit ihm versetzt. Durch die Bluteirculation wird dieser Stoff im ganzen Körper verbreitet und das Rückenmark von ihm allmählich immer mehr durchtränkt. Dadurch wird der Stoffwechsel der Rückenmarkszellen allmählich immer mehr verändert, aber ohne irgend eine starke, plötzliche Schwankung. Diese Annahme ergiebt sich von selbst aus den Verhältnissen der Resorption und des Kreislaufes. Der Stoffwechsel der betreffenden Zellen wird also in den besprochenen Fällen allmählich immer mehr erhöht, da die erhöhte Erregbarkeit nichts Anderes sein kann, als eine Steigerung des Stoffwechsels. Da aber diese Steigerung des Stoffwechsels nicht plötzlich, sondern allmählich, ohne starke Schwankung vor sich geht, so wird keine starke Entladung der Zellen ausgelöst und ZESH. Hering, a.2. ©. 240 SILVESTRO BAGLIONT: daher auch keine Bewegung. Es ist ja schon von den Nerven und Muskeln bekannt, dass man eine (elektrische) Reizung allmählich bis zu einer beträchtlichen Intensität steigern kann, ohne auch nur eine minimale Con- traction hervorzurufen. Wenn nun aber eine plötzliche Reizung hinzutritt, wie dies bei Reizung der sensiblen Nervenenden der Haut der Fall ist, so treten plötzlich starke Entladungen auf, da die Centren sich schon in erhöhter Erregbarkeit be- finden, und diese pflanzen sich als Impulse durch das Nervensystem fort. Die Wirksamkeit eines Reizes im Centralnervensystem würde darnach allein vom zeitlichen Ablauf seiner Intensitäts- schwankung abhängig sein. Schliesslich haben wir gesehen, dass die so verschiedenen Wirkungen, die die Carbolsäure auf der einen, das Strychnin auf der anderen Seite hervorruft, nicht in einer specifischen Wirkung dieser Stoffe auf das Rückenmark, als vielmehr in der specifischen Function der verschiedenen Mechanismen ihre Ursache haben. Es liegt der Gedanke nahe, dass ganz allgemein die verschiedenen Vergif- tungserscheinungen nicht in der sogenannten „speeifischen“ Wirkung der Gifte ihre Ursache haben, sondern in der speci- fischen Function der verschiedenen nervösen Elemente, auf welche sie wirken, und dass das Gesetz der specifischen nette der Nervenzellen eine weitere Ausdehnung besitze, als man vielfach anzunehmen geneigt war. Das Ergebniss der vorliegenden Untersuchungen lässt sich kurz in folgenden Sätzen zusammenfassen: 1. Die Carbolsäure wirkt inschwachen Lösungen am Rücken- mark erregbarkeitssteigernd auf die motorischen Mechanismen der Vorderhörner. Die sensiblen Mechanismen der Hinter- hörner werden von schwachen Lösungen, wenn sie subeutan gegeben werden, nicht wahrnehmbar affieirt. 2. Die Carbolsäure schafft durch Erregbarkeitssteigerung der motorischen Mechanismen die Bedingungen für clonische Zuckungen. 3. Das Strychnin wirkt in jeder Dosis am Rückenmark er- regbarkeitssteigernd auf die sensiblen Mechanismen der Hinter- hörner. Die motorischen Mechanismen der Vorderhörner werden vom Strychnin selbst in stärksten Lösungen nicht nachweisbar affieirt. DIFFERENZIRUNG VERSCHIEDENER MECHANISMEN D. RÜCKENMARKES. 241 4. Das Strychnin schafft durch Erregbarkeitssteigerung der sensiblen Mechanismen die Bedingungen für tetanische Krämpfe. 5. Langandauernde Tetani bei momentaner Reizung ent- stehen nur, wenn die Erregbarkeit der sensiblen Mechanismen des Rückenmarkes sehr stark gesteigert ist. 6. Der tetanische Krampf entsteht primär durch einen be- liebigen kurzen Hautreiz und wird secundär in langer Dauer erhalten durch die bei der Contraction der Muskeln entstehende Reizung der sensiblen Nervenenden in den Sehnen und Ge- lenken u. S. w. 7. Fibrilläre Zuckungen kommen zu Stande durch ungleich- zeitige Reizung mehrerer, nicht direct zusammenhängender centraler oder peripherer Elemente. Sie können in tetanische Contractionen übergehen durch gleichzeitige Reizung zusam- menhängender Elemente. Es ist mir schliesslich eine angenehme Verpflichtung, Hrn. Prof. Max Verworn für die liebenswürdige Unterstützung bei meinen Untersuchungen auch an dieser Stelle meinen wärmsten Dank auszusprechen. Archiv f. A.u. Ph, 1900. Physiol. Abthlg. Suppl. 16 242 SILVESTRO BAGLIONI: DIFFERENZIRUNG UT. S. W. Erklärung der Abbildungen. (Taf. I.) Reflexzuckungscurven der beiden Gastrocnemii eines Rückenmarks- präparates, das mit schwacher Strychninlösung vergiftet ist. Die Curven zeigen von links nach rechts die allmähliche Entwickelung der Strychninwirkung. Das Verhalten beider Gastrocenemii wird gleichzeitig über einander verzeichnet: Es wird immer nur eine von beiden Körperseiten berührt, theils an den Zehen (Z), theils am Oberschenkel (0). Anfangs, im Beginn der Erregbarkeitssteigerung, ruft die Be- rührung nur je eine kurze Einzelzuckung hervor, die bei Berührung des Oberschenkels auf die andere Seite übergreift, bei Berührung der Zehen dagegen auf die gereizte Seite beschränkt bleibt. Mit steigender Erregbarkeit greifen allmählich mehr und mehr die Reflexe auch bei Berührung der Zehen auf die andere Seite über. Schliesslich bewirkt jede Berührung irgend einer Stelle der einen Seite (auch der Zehen) nicht nur einen Tetanus der gleichen, sondern auch einen Tetanus der gekreuzten Seite. Die Zeit ist in Secunden verzeichnet. Studien über Thigmotaxis bei Protisten. Von August Pütter. (Aus dem physiologischen Institut der Universität Jena.) In der „allgemeinen Physiologie“! bestimmt Verworn den Be- erifft der Thigmotaxis mit folgenden Worten: „Unter „Thigmotaxis“ können wir alle diejenigen Fälle der Barotaxis zusammenfassen, die durch mehr oder weniger starke Berührung der lebendigen Substanz mit festeren Körpern zu Stande kommen.“ Er unterscheidet ferner eine positive Thig- motaxis, die durch schwache Berührung hervorgerufen wird, von einer negativen, deren Ursache starke Berührungsreize sind. Erstere bewirkt ein Hinwenden zur Reizquelle, letztere ein Abwenden von ihr. Bei Protisten ist bisher diesen Erscheinungen verhältnissmässig nur wenig Aufmerksamkeit zugewandt worden; es sei daher gestattet, zunächst eine Uebersicht der bisher auf diese Frage gerichteten Untersuchungen zu geben. Sehen wir von den Bewegungserscheinungen der Oscillarien, Dia- tomeen, Desmidiaceen und Sporozo&n ab, die zwar zum Theil schon lange bekannt, aber nicht als Wirkungen speeifischer Reize gedeutet worden sind, so stammt die erste Beobachtung über Thigmotaxis, die mir bekannt geworden ist, von Stahl? (1830), und bezieht sich auf eine Interferenz- erscheinung der Thigmotaxis und Heliotaxis bei Euglena, Es folgt darauf im Jahre 1886 die Arbeit von Dewitz,? welcher bei den Spermatozoön von Periplaneta orientalis eine „Flächenanziehung“ ! Verworn, Allgemeine Physiologie. Jena 1897. 8. 445. ® Stahl, Botanische Zeitung. 1880. Nr. 24. S. 410. ® Dewitz, Ueber Gesetzmässigkeit in der Ortsveränderung der Spermatozoön u.s. w. Pflüger’s Archiv. Bd. XXXVIIIl S. 358—385. 16* 244 Ausust PÜTTER: in folgender Weise beschreibt: „man sieht sie, wenn man spermahaltige Kochsalzlösung unter ein Deckglas bringt, welches sich von dem Öbject- träger in gewissem Abstande befindet. Die Spermatozoön sammeln sich in diesem Falle nur oben am Deckglase und unten auf dem Objectträger an, dazwischen fehlen sie. Oder wenn man eine Kugel in Spermaflüssig- keit legt, bezw. dieselbe damit anfüllt, so verlassen die Spermatozoen nie- mals die Fläche .... Die auf Flächen befindlichen Spermatozoön be- schreiben bei ihrer Bewegung beständig Kreislinien .... Die Bewegung im Kreise ist linksläufig..... Wie eine Fläche wirkt auch die Luft. [Wohl richtiger gesagt: das Oberflächenhäutchen.] .... Um dieses zu veranschau- lichen, wird ein Tropfen mit Spermatozoön an dem Deckglase hängend in der feuchten Kammer beobachtet. Die an der Fläche des Deckglases befind- lichen Spermatozoön bewegen sich nach rechts herum (scheinbar), diejenigen auf der Kuppe des Tropfens links herum. Das Haften an Flächen scheint nur lebenden Spermatozoön zuzukommen.“ (Ganz ähnliche Beobachtungen veröffentlicht 1889 und 1890 Massart,! welcher dieselbe Contactreizbarkeit bei Spermatozoön des Frosches constatirt und aus dieser Eigenschaft, die nur lebensfrischen Zellen zukommt, den Mechanismus des Eindringens derselben in das Ei erklärt. Zwei Jahre später machte Pfeffer gelegentlich seiner Studien „über chemotaktische Bewegungen von Bacterien, Flagellaten und Valvo- cineen“? eine Reihe von Beobachtungen, deren Erklärung er treffend in der Wirkung von Contactreizen fand. Er sah, dass Bodo saltans Ehrbg. im offenen Tropfen Stunden lang in guter Bewegung blieb, sich dagegen bei Anwesenheit von Detritus u. dergl. sofort an diesen mittels seiner Schlepp- geissel festheftete. Ebenso vertheilte sich Glaucoma scintillans Ehrbg. in reinem Wasser gleichmässig, sammelte sich aber um vorhandene Detritus- häufchen in Mengen an. Auch ausgekochtes Fliesspapier und feuchtes Schwerspathpulver, bei denen eine chemische Anziehung ausgeschlossen war, bewirkte starke Anhäufung von Thieren. Aehnliche, jedoch minder aus- giebige Ansammlungen wurden auch für Colpidium colpoda (Ehrbg.), Paramaecium aurelia (Müll) und Stylonychia mytilus Müll be- obachtet. Thigmotactisches Festhaften, z. B. an Glasfäden, zeigte auch Urostyla Weissei. Stein. | Weit reichlicheres Material, als diese gelegentlichen Beobachtungen es bieten, brachten im Jahre 1889 Verworn’s „Psycho-physiologische ! Massart, Sur Virritabilite des spermatozoides de la grenouille. Academie Royal de Belgique. 1889. 3. serie. T. XV. Nr. 5. — Derselbe, Sur la penetration des spermatozoides dans l’oeuf de la grenouille. Zbenda. 1890. 3. serie. T. XVII. Nr. 8. ?® Pfeffer, Untersuchungen aus dem botanischen Institut zu Tübingen. 1888. Ba. II. S. 582—661. STUDIEN ÜBER THIGMOTAXIS BEI PROTISTEN. 245 Protistenstudien‘“. Unter dem Namen des „Thigmotropismus“ wurden alle Erscheinungen der Contactwirkung zusammengefasst, die bei der Bewegung der Diatomeen und Osecillarien, sowie beim Laufen der hypotrichen Infusorien in Betracht kommen. Als Erklärung giebt Verworn an, dass diese Bewegungen wohl ermöglicht werden „durch ein Minimum von Klebrigkeit und das geringe specifische Gewicht des Körpers“. Ausser diesen, unter dem Begriff des Thigmotropismus vereinigten Erscheinungen, finden sich in den „Protistenstudien“ und in den Arbeiten „über die polare Erregung der Protisten durch den galvanischen Strom“! eine ganze Reihe von Beobachtungen, die wir heute, bei genauerer Kenntniss der Thigmotaxis, als Erscheinungen der- selben auffassen müssen. 1890 giebt Loeb? eine Reihe von Beobachtungen an Metazoen deren Resultat er in dem Satze zusammenfasst: „Ungemein verbreitet ist im Thierreich eine Form der Contactreizbarkeit, welche bisher wenig beachtet war und welche mit negativem Heliotropismus leicht verwechselt werden kann. Sie besteht darin, dass viele Thiere gezwungen sind, ihren Körper in bestimmter Weise gegen die Oberfläche anderer fester Körper einzu- stellen, bezw. ihren Körper möglichst allseitig mit anderen festen Körpern in Contact zu bringen (Stereotropismus)“, Seitdem hat sich nur noch ein Forscher eingehender mit dem Gegen- stande beschäftist, Jennings,® der besonders die Anhäufungen thigmo- taktischer Paramaecien, die Wimperstellung der thigmotaktischen Thiere und den Einfluss des galvanischen Stromes auf sie studirte. Seine Resul- tate werden unten genauere Erwähnung finden. Methode. Die Untersuchungen wurden nach den Methoden ausgeführt, die Verworn, Jennings, Ludloff u. A. angegeben haben. In den Ver- suchen über Galvanotaxis wurden die Thonkästechen von Verworn nur in geringem Maasse benutzt, da die Anwendung stärkerer Vergrösserungen, wie sie für die vorliegenden Untersuchungen erforderlich waren, bei ihnen ! Verworn, Die polare Erregung der Protisten durch den galvanischen Strom. Pflüger’s Archiv. 1889. Bd. XLV. S. 1—36; 1890. Bd. XLVI S. 281ff.; 1896. Bd. LXII. 8. 415—450; 1897. Bd. LXV. 8. 47—62. ?2 Loeb, Der Heliotropismus der T hiere und seine Uebereinstimmung mit dem Heliotropismus der Pflanzen. Würzburg 1890. > Jennings, Studies on reactions to stimuli in unicellular organisms. I. Reac- tions to chemical, osmotie and mechanical stimuli in the eiliate infusoria. Journal of Physiology. 1897. Vol. XXI. p. 258—322. 246 August PÜTTER: mit Schwierigkeiten verknüpft ist. Meist wurde die Durchströmung im ausgeschliffenen Objectträger vorgenommen, indem der Strom von den Pinselelektroden aus durch Fliesspapier zum Wasser geleitet wurde. Das Fliesspapier durfte, um chemische Wirkungen zu vermeiden, nicht mit physiologischer Kochsalzlösung getränkt werden, sondern mit Infusionswasser. Bei dieser Anordnung war der Widerstand sehr gross, daher benutzte ich für die stärksten Ströme die von Ludloff angegebene Anordnung, von den Pinselelektroden aus durch Vermittelung von etwas plastischem Thon den Strom durch’s Wasser zu leiten, das in ganz dünner Schicht unter dem Deckglase stand. Die Wirkung ‚konnte dann noch dadurch erhöht werden, dass man die Thonstückchen einander näherte, und so die zu durch- strömende Wassersäule verkürzte. Der Strom wurde aus kleinen Chrom- säure-Elementen entnommen, deren 40 zur Verfügung standen. Die Versuche über Wärmewirkung wurden auf dem Max Schultze’schen heizbaren Objecttisch ausgeführt und zur Controlle der Angaben des an demselben befindlichen Thermometers die Temperatur in dem Schälchen, das die Versuchsthiere enthielt, direct gemessen. Dabei ergab sich, dass die Angaben des Objeettisch-Thermometers bei offenen Schälchen etwas zu hoch, dagegen recht genau waren, wenn man statt des Schälchens ein Mikroaquarium anwendete, das dadurch gewonnen war, dass auf einen Objectträger zwei Bruchstücke eines anderen aufgekittet wurden in einer solchen Entfernung, dass man ein grosses Deckglas über sie legen konnte. Es wurden stets Versuche in beiden Anordnungen gemacht. Die Kältewirkung wurde theils in offenen Schälehen studirt, was den Vortheil bietet, dass man die Temperatur messen kann, oder wenn es sich nicht so sehr um die Ermittelung der absoluten Temperaturen, als um die Feststellung der feineren Details der Bewegung handelte, im ausgeschliffenen Öbjectträger unter dem Deckglase beobachtet. Als Kältemischung diente Eis mit Kochsalz. Das Material entstammte theils Heuaufgüssen, theils verschiedenen Gläsern mit Wasser vom „Luftschiff“ bei Jena und aus einer Ausschachtung bei Wenigenjena. j Thigmotaxis bei Rhizopoden. „Lassen wir einen Orbitolites ruhig in einem. Glasschälchen mit Seewasser liegen, so beginnen nach einiger Zeit aus den kleinen Löchern der Kalkschale Pseudopodien herauszutreten, die, zunächst ganz kurze Fädchen vorstellend, frei im Wasser flottiren. Bald: aber, indem sie länger und schwerer werden, senken sie sich mit den Enden auf die Unterlage, haften mittels eines feinen Secretes hier fest, und nun beginnt das Proto- STUDIEN ÜBER THIGMOTAXIS BEI PROTISTEN. 247 plasma lebhaft auf der Unterlage entlang zu strömen, ohne sich je wieder frei in’s Wasser zu erheben. Die lebendige Substanz der Rhizopoden verhält sich also der leisen Berührung mit der Unterlage gegenüber positiv-thigmotaktisch und wendet sich der Unterlage zu. Die Ausstreckung und reiche Ausbreitung der Pseudopodien findet, abgesehen von den frei schwimmenden Radiolarien, Heliozoön u. s. w., immer im Contact mit irgend einem Körper, sei es mit der Unterlage, sei es mit dem Deckglase oder dem ÖOberflächenhäutchen des Wassers, sei es schliesslich mit irgend welchen im Wasser liegenden Gegenständen statt. Umgekehrt können wir durch starke mechanische Reizung der Spitze eines lang ausgestreckten Orbitoliten-Pseudopodiums, am besten, wenn wir es mit einer Nadel drücken oder mit einem Messer an der Spitze durchschneiden, eine nega- tive Thigmotaxis seiner lebendigen Substanz hervorrufen, indem sich das Protoplasma an der Reizstelle zu kleinen Kügelehen und Spindelchen zusammenballt und von der Reizstelle hinwegströmt.“! In diesen Sätzen beschreibt Verworn die für Rhizopoden typischen Erscheinungen der Thigmotaxis. Bei schwacher Reizung das Ueberwiegen der Expansion, bei starker dagegen das der Contraction, sowie das Klebrigwerden der Pseudo- podien. Die letztere Erscheinung, die für die Erklärung des Festhaftens der thigmotaktischen Thiere von Wichtigkeit ist, lässt sich unter den Protozoön fast nur bei Rhizopoden gut beobachten, bei ciliaten Infu- sorien ist meines Wissens nur ein Fall festgestellt, in dem die Abschei- dung eines solchen Secretes beobachtet werden kann (s. u. bei Urocen- trum). Für die weite Verbreitung dieses Vorganges bei Rhizopoden sprechen eine Reihe von Beobachtungen, so an Difflugia urceolata Cart., Actinosphärium Eichhornii Ehrbg. u. s. w., deren Pseudopodien stets durch mechanische Reizung klebrig werden.” Noch eine Beobachtung über die Thigmotaxis bei Rhizopoden scheint mir interessant, da sie eine Vor- stellung von der Kraft giebt, mit der ein thigmotaktisches Pseudopodium an der Unterlage haftet. Verworn sagt in den „Protistenstudien“ (S. 77): Die langen, wunderbar schönen Protoplasmanetze, die Lieber- kühnia Wagneri Clap. u. L. aussendet, werden bei starker Erschütterung „in wenigen Secunden fast vollständig in den Körper eingezogen“, häufig mit einem solchen Ruck, dass die Enden, welche an dem Objectträger kleben, abreissen. Die Kraft der Thigmotaxis überwiegt also hier die Cohäsion des Protoplasmas, gewiss der Ausdruck einer nicht unerheb- lichen Kraft. 1! Verworn, Allgemeine Physiologie. Jena 1897. 8.446. — Derselbe, Die Bewegung der lebendigen Substanz. Eine vergleichend-physiologische Untersuchung der Contractionserscheinungen. Jena 1892. ?2 Derselbe, Protistenstudien. Jena 1889. 8. 81. 248 AuGusT PÜTTER: Thigmotaxis bei Flagellaten. Eine sehr weit verbreitete Form der Thigmotaxis ist bei Flagellaten schon lange bekannt, aber meist nicht unter diesem Gesichtspunkte be- trachtet. Es ist das thigmotaktische Festhaften der sogenannten Schlepp- geissel, die sehr vielen Flagellaten zukommt. Pfeffer erwähnt, dass Bodo saltans Ehrbg. stets sich mit der Schleppgeissel an feste Gegen- stände anheftet, und dasselbe beobachtete Verworn bei Anisonema grande Stein, die auf mechanische Reizung der freien „Schwimmgeissel“ hin, sich rasch umwendet. Es reagiren hier also die beiden Geisseln ver- schieden auf schwache Berührungsreize, die Schleppgeissel ist positiv thigmotaktisch gegen dieselben, die Schwimmgeissel dagegen negativ thig- motaktisch, wodurch beim Anstossen an Fremdkörper das Umwenden um die Schleppgeissel als punctum fixum zu Stande kommt. Diese Beispiele einer auf bestimmte Organoide localisirten, positiven und negativen Thigmotaxis liessen sich sicher beliebig vermehren. Aber auch jene Flagellaten, die keine Schleppgeissel haben, können stark thigmotaktisch werden. Es kommt dann diese Eigenschaft dem Zellkörper selbst zu; die Schwimmgeissel scheint nicht positiv thigmotaktisch zu sein, sondern stets nur negativ. Hierhin gehört z. B. die Thigmotaxis von Euglena, Polytoma und Trachelomonas, die Thiere legen sich auf den Boden und haften hier mit sehr bedeutender Kraft fest. Dass dies Festhaften auch hier durch Secretion erfolgt, dafür spricht die Analogie mit den entsprechenden Vorgängen bei den übrigen Proto- zo&n, ausserdem aber die Thatsache, dass Euglenen wirklich im Stande sind, Schleim abzusondern. Bütschli! sagt hierüber: Klebs wies nach, „dass gewisse Euglenaarten unter ungünstigen äusseren Verhältnissen sehr rasch eine Schleimschicht abscheiden. Dabei gelang es nachzuweisen, dass diese Schleimschicht ursprünglich keine homogene ist, sondern durch Ausscheidung zahlreicher, anfänglich gesonderter Schleimfäden entsteht. Dieselben wachsen allseitig und dichtgestellt über die Cutieula hervor“;..... durch weiteres Aufquellen erscheinen sie schliesslich als homogene Schleimhülle. Interferenz der Thigmotaxis mit anderen Reizen. Den ersten überhaupt bekannt gewordenen Fall von Interferenz der Thigmotaxis mit einem anderen Reiz, in diesem Falle der Heliotaxis, be- schreibt 1880 Stahl? in folgender Weise: „Diejenigen Individuen (von Euglena), welche nicht frei umherschwammen, sassen mit ihrem zuge- ! Bütschli, Protozoa. Bd.1. 8. 686. ? Stahl, Botanische Zeitung. 1880. Nr. 24. 8.410. STUDIEN ÜBER THIGMOTAXIS BEI PROTISTEN. 249 spitzten Hinterende an dem Öbjectträger oder an anderen Körpern fest, während das freie Vorderende je nach Umständen der Lichtquelle zugekehrt oder von derselben abgewendet war. Die Längsaxe dieser Euglenen fiel, wie bei den frei schwimmenden Individuen, annähernd mit der Richtung des Lichtstrahles zusammen. Auch reagirten diese festsitzenden Exemplare wie die frei schwimmenden auf plötzliche Aenderungen der Intensität oder der Richtung des sie treffenden Lichtes, nur traten die Reactionen meist viel langsamer ein. Wurde z. B. der Objectträger plötzlich um 180° ge- dreht, so trat meist nach erfolgter Contraction die vorher eingehaltene Stellung zum Licht erst langsam wieder ein, während die schwimmenden Individuen unmittelbar nach der Aenderung der Lichtrichtung die vorher eingehaltene Bahn verliessen, um wieder die ursprüngliche Orientirung zum Lichte einzunehmen.“ Eine Interferenz von Galvanotaxis und Thigmotaxis war bei Euglena viridis nicht nachweisbar, da, wie schon Verworn hervorgehoben hat, Euglena überhaupt nicht auf den Strom reagirt; selbst bei Stromstärken, welche an den in demselben Tropfen befindlichen Paramaecien schon Zipfelbildung verursachten, zeigten weder die thigmotaktischen, noch die frei schwimmenden Individuen irgend welche Beeinflussung. Dagegen ge- lang es bei Chilomonas paramaecium Ehrbg. diese Interferenz zu constatiren. Dies Flagellat trägt an seinem schief ausgerandeten Vorder- ende zwei gleich lange Geisseln, deren eine thigmotaktisch ist, in der- selben Weise, wie die Schleppgeisseln so vieler anderer Flagellaten. An ihr liegt das Thier verankert; dass der Körper selbst nicht thigmo- taktisch ist, ersieht man aus den gelegentlichen, allerdings meist geringen, pendelnden Bewegungen, die er um die festhaftende Geissel ausführt. Die frei schwimmenden Exemplare dieses Thieres zeigten sich in der für viele Flagellaten charakteristischen Weise anodisch galvanotaktisch, dagegen war nicht der geringste Einfluss auf die thigmotaktischen Individuen zu bemerken. ! Chilomonas verhält sich also in dieser Hinsicht gerade so, wie Verworn? es für Trachelomonas hispida Stein, Polytoma uvella !.Eine abweichende Angabe finde ich bei Pearl, Studies on electrotaxis. I. On the reactions of certain infusoria to the electric current. Americal Journal of Phy- siology. 1900. Vol. IV. Nr. 3. — Derselbe beschreibt im Gegensatz zu den Beobach- tungen von Verworn, die ich bestätigen kann, dass Chilomonas bei schwachen Strömen kathodisch galvanotaktisch sei, bei starken dagegen durch die kataphorische Wirkung des Stromes passiv zur Anode gezogen würde. Worauf diese Verschiedenheit der Beobachtung einer so einfach feststellbaren Thatsache beruht, kann ich nicht mehr entscheiden, da mir die Arbeit von Pearl erst nach Fertigstellung des Manuscriptes zu Gesicht kam. ® Verworn, Protistenstudien. Jena 1889. S. 287 f. 250 AuGust PÜTTER: Ehrbg. und Peridinium tabulatum Ehrbg. nachgewiesen hat, von denen Trachelomonas und Peridinium kathodisch, Polytoma dagegen anodisch galvanotaktisch ist, alle drei aber reagiren, sobald sie thigmo- taktisch am Boden liegen, überhaupt nicht mehr auf den Strom. 5 Wie verschieden stark die Wirkung der Thigmotaxis ist, ersieht man aus den Resultaten, die einige Versuche über Interferenz von Wärme und Thigmotaxis hatten. Untersucht wurden Chilomonas paramaecium Ehrbg. und Euglena viridis Ehrbg. Bei einer Temperatur von 31° C. lösten sich einige der thigmotaktischen Chilomonas von der Unterlage los, doch waren die meisten noch vollkommen thigmotaktisch, bei 36° C. dagegen hatten sich alle Thiere losgelöst und schwammen lebhaft umher, bei 40°C. wurden ihre Bewegungen unregelmässiger, drehend und wirbelnd, und schon bei 41°C. trat der Tod ein. Anders verhielt sich Euglena, erst bei 45° C. war eine deutliche Beeinflussung der thigmotaktischen Thiere erkennbar, die sich alle maximal contrahirt hatten, aber noch zuckende Bewegungen zeigten, kein einziges aber löste sich vom Boden ab und bei 51 bis 54° C. gingen sie thigmotaktisch zu Grunde. Die frei schwimmenden zeigten bei 33°C. eine bedeutende Bewegungssteigerung, bei 49° wurden ihre Bewegungen taumelnd, wirbelnd. Der Tod erfolgte gleichfalls bei 51 bis 54° C. Diese beiden Fälle zeigen den Unterschied im Verhalten jener Flagel- laten, die nur mit einer Geissel thigmotaktisch sind (Chilomonas), und jener bei denen, wie bei Euglena, ein Theil des Körpers selbst, hier das Hinterende, sich in diesem Zustande befindet. Abkühlung übt keine Wirkung auf die untersuchten thigmotaktischen Flagellaten aus, die freien dagegen bewegen sich langsamer, doch ertragen sie die Kälte gut, denn ich sah sowohl Chilomonas wie Euglena in unmittelbarer Nähe einer Eiskruste, die sich am Rande des Schälchens gebildet hatte, ruhig umherschwimmen. : Thigmotaxis bei Ciliaten. 1. Paramaecium aurelia (Müll.) Die morphologischen Verhältnisse dürfen bei diesem am meisten unter- suchten Protozoon im Allgemeinen als bekannt gelten, ich möchte nur auf einige weniger bekannte Verhältnisse kurz aufmerksam machen. Bütschli! sagt, „dass die Cilien gewöhnlich auf kleinen Papillen der Oberfläche entspringen. Wenn diese relativ klein: sind, könnte man sie den Cilien selbst als angeschwollene, tuberkelartige Basis zurechnen; häufiger ! Bütschli, Bronn’s Classen und Ordnungen. Protozoa. 8. 1326. STUDIEN ÜBER THIGMOTAXIS BEI PROTISTEN. 251 werden sie jedoch umfangreicher und flacher und treten dann deutlicher als Relief der Pellicularoberfläche hervor.“ Dieser zweite Fall ist bei Paramaecium realisirt, bei dem man am ungefärbten Thier deutlich die Reihen der Papillen und den Ursprung der Cilien auf denselben erkennt. Ein weiterer Befund ist meines Wissens bisher noch nicht hervorgehoben worden. Man kann nämlich in jeder dieser Papillen ein Körperchen sichtbar machen, das in inniger Beziehung zu der Wimper steht. Es liegt zwischen je zwei Trichocysten in der Basis der Papille und oft erkennt man deut- lich, dass die Wimper, die ja bekanntlich die Pellicula durchbohrt, bis zu ihm herabreicht. Am ungefärbten Thier habe ich diese Verhältnisse nicht mit Sicherheit erkennen können, dagegen traten sie mit grosser Schärfe an jenen hervor, die intra vitam gefärbt wurden. Als Farben dienten Neutral- roth und Rubin S, beide von Dr. G. Grübler, Leipzig. Neutralroth ist chemisch Dimethyldiamidotoluphenylazinchlorhydrat; Rubin S stellt ein Gemisch der Natrium- oder Ammoniumsalze der Pararosanilin- und Ros- anilintrisulfosäuren dar. Die besten Resultate lieferte bei Neutralroth eine Lösung von 0-001 Procent, bei Rubin von 0.02 Procent, die mit demselben Quantum Infusionswasser angesetzt und in der feuchten Kammer vor Verdunstung geschützt wurden. Die Thiere zeigten in der Form und Bewegung nicht die geringste Veränderung. Die Zeit, welche nöthig ist, um eine gute Färbung zu erzielen, ist verschieden. Die ersten Andeutungen der Farben- aufnahme werden schon nach einigen Stunden sichtbar. Es färben sich, sowohl mit Neutralroth, als mit Rubin, dreierlei Elemente des Körpers lebhaft roth, eine Färbung, die zuweilen in einen mehr rothvioletten Ton überspielt, oder geradezu in dunkles Violett übergeht. Zunächst färben sich die Nahrungsvacuolen, die Färbung ist um so vollständiger, je weiter die Verdauung der Nahrungskörper vorgeschritten ist. Zweitens färben sich eine grosse Anzahl kleiner Körnchen des Ento- plasmas sehr intensiv, für die Beurtheilung ihrer Natur giebt es folgende Anhaltspunkte: Erstens ihre Bewegung, die in constanter Richtung dauernd vor sich geht. Es ist die Erscheinung der Plasmaströmung, die seit langer Zeit, besonders bei Paramaecium bursaria (Ehrbg.) bekannt, und wohl sehr weit unter den Protozo&n verbreitet ist. Durch die Färbung wird diese Bewegung anscheinend beträchtlich erhöht, denn während es mir nur unvollkommen gelang, sie am ungefärbten Thiere nachzuweisen, drängte sich beim gefärbten die Beobachtung förmlich auf. Eine Steigerung erfährt sie auch, wenn die Thiere einige Zeit unter dem Deckglase liegen, was offenbar mit dem zunehmenden Sauerstoffmangel in Zusammenhang steht, und diese Dispnoe ist auch die Erklärung für die Erscheinung, dass die Menge der gefärbten Körnchen erheblich zunimmt, wenn man die Thiere 252 Aucust PüTTer: im zugekitteten Mikroaquarium (s. o.) einige Zeit stehen lässt, wo sie dann auch Sauerstoffmangel leiden. Neutralroth und Rubin färben nur in saurer Lösung, in alkalischer geht ihre schöne rothe Farbe in ein ganz mattes Gelb über, und diese Färbung nimmt das Plasma von Paramaecium an. Man kann daraus also wohl den Schluss ziehen, dass das Plasma alkalisch reagirt, die gefärbten Bestandtheile aber sauer. Nimmt man diese Thatsache zu den oben angeführten hinzu, so gewinnt man die Vermuthung, dass die rothgefärbten Plasmakörnchen zu der Athmung in Beziehung stehen, und dass es eben die, bei derselben abgeschiedene Kohlensäure ist, die ihnen saure Reaction giebt. Die dritte Gruppe gefärbter Elemente sind nun die oben beschriebenen Basalkörperchen der Wimpern. Nachdem Verworn an Protozoön gezeigt hat, dass die Flimmerbewegung fortdauert, so lange die Wimpern noch mit einem Tröpfchen Protoplasma zusammenhängen, nachdem ferner Peter! für die Zellen des Darmcanals von Anodonta sicher nachgewiesen hat, dass es gerade die Basalkörperchen sind, die die motorischen Centra der Flimmerbewegung darstellen, dürfte es nicht zweifelhaft erscheinen, dass die Basalkörper der Cilien von Paramaecium physiologische Analoga zu denen der Flimmerzellen höherer Thiere darstellen, und gleich- falls als motorische Centra der Flimmerbewegung aufzufassen sind. Thigmotaxis. Von dem Verhalten der Wimpern bei Thigmotaxis giebt Jennings? eine sehr gute Beschreibung. Nach seinen Angaben hat man drei Bezirke von Wimpern zu unterscheiden, die in verschiedener Weise beeinflusst werden. 1. Die Peristomwimpern, auf die sich keine wahrnehmbare Ein- wirkung der Thigmotaxis geltend macht, und die fortgesetzt schlagen. 2. Die Wimpern, welche in direeter Verbindung mit dem festen Körper stehen, an dem das Thier thigmotaktisch ist. Diese stehen, nach Jennings, ganz still, senkrecht zur Körperoberfläche. 3. Die übrigen Körperwimpern,; die sich vergleichsweise ruhig verhalten, nicht still stehen, aber doch lang- samer schlagen. Die Angaben von Jennings kann ich völlig bestätigen, möchte sie aber etwas erweitern. Der von ihm beschriebene Zustand kommt recht häufig vor und bezeichnet einen mittelstarken Grad der Thigmotaxis, der durch mannigfache Uebergänge einerseits zu den geringsten, andererseits zu den höchsten Graden überführt. Die thigmotaktischen Reize wirken 1 Peter, Das Centrum für die Flimmer- und Geisselbewegung. Anatomischer Anzeiger. 1898/99. Bd. XV. S. 271—283. ° Jennings, Journal of Physiology. 1897. Vol. XXI. p. 258—322. STUDIEN ÜBER THIGMOTAXIS BEI PROTISTEN. 259 hemmend auf die Bewegung der Körpercilien ein; eine Beeinflussung der Peristomwimpern in diesem Sinne konnte weder bei Paramaecium, noch bei irgend einem anderen Infusor jemals nachgewiesen werden. Wegen dieser hemmenden Wirkung der thigmotaktischen Reize ist es verständlich, dass ihr Effect ausser von ihrer eigenen Stärke auch davon abhängt, wie stark gerade der Wimperschlag des Paramaecium ist. Sehr rasch schwimmende Thiere sieht man nie dauernd positiv thiemotaktisch werden, der hemmende Reiz reicht nicht aus, die kräftige Wimperbewegung aufzuheben. Stösst.ein solches Individuum gegen einen festen Körper mit seinem Vorderende an, so bewirkt in diesem Falle der starke Stoss sogar negative Thigmotaxis, d. h. das Thier zuckt zurück, wobei es die von Jennings beschriebene Drehung ausführt. Streift es dagegen, etwa mit den Wimpern einer Längsseite an einem Gegenstande entlang, so kommt durch den schwächeren Berührungsreiz positive Thigmotaxis zu Stande, die aber in dem angenommenen Falle nur gering und von äusserst kurzer Dauer ist. Sie erstreckt sich nur auf die Wimpern, die in directer Be- rührung mit dem festen Körper sind und der kräftige Schlag der übrigen reisst das Thier sogleich wieder los. Bei den höheren Graden der Thigmotaxis tritt die Abhängigkeit von der Sehwimmgeschwindiekeit nicht so scharf hervor, dieselbe darf, um posi- tive Thigmotaxis zu ermöglichen, ein gewisses Maximum nicht überschreiten, aber ausser diesem Factor wirken noch eine grosse Menge, zum Theil noch völlig unerforschter Bedingungen mit, die bei gleicher Schwimmgeschwindig- keit das eine Mal die Thiere extrem thigmotaktisch werden lassen, während dieselben in anderen Fällen ganz unbeeinflusst bleiben. Die verschiedenen Infusionen verhalten sich hier äusserst verschieden, und ebenso dieselben Infusionen zu verschiedenen Zeiten. Die von Jennings beschriebenen typi- schen Anhäufungen der Thiere um Fliesspapierstückchen oder dergleichen, konnte ich nur zu gewissen Zeiten beobachten, es schien, als ob die Thiere aus frischen Infusionen viel stärker thigmotaktisch wären, als die aus alten, bei denen solche Anhäufungen gar nicht zu erzielen waren. Dass auch indi- viduelle Unterschiede hier eine grosse Rolle spielen, beweist die Thatsache, dass auch bei typischen thigmotaktischen Anhäufungen stets einige Thiere gar keine Beeinflussung zeigen und nach wie vor frei umherschwimmen. An das oben beschriebene Stadium kurz dauernder, „localer“ Thigmo- taxis würde sich nun das von Jennings beschriebene anschliessen, bei dem die Wimperbewesung am ganzen Körper, mit Ausnahme des Peristoms herabgesetzt ist und die „primär“ thigmotaktischen Wimpern, wie man die in directer Berührung mit dem Object stehenden nennen kann, senkrecht zur Körperoberfläche stillstehen. Dies Stillstehen der primär thigmotaktischen Wimpern ist sicher das häufigste Vorkommniss, doch konnte zuweilen 254 August PÜTTER: beobachtet werden, wie auch sie sich bewegten und zwar in einer durch die Thigmotaxis bedingten, höchst eigenartigen Weise, die etwa derjenigen gleicht, die unten bei den Laufwimpern von Stylonychia ausführlich beschrieben werden soll. Durch diese Bewegung kriecht das Thier gewisser- maassen an dem Gegenstande, an dem es haftet, umher; doch ist diese Art der Bewegung bei Paramaecium nie ausgiebig und andauernd. Interessant erscheint sie nur deshalb, weil sie bei den Arten, die dauernd oder doch vorwiegend thig- motaktisch sind, wie z. B. die hypotrichen In- fusorien, eine so grosse Bedeutung für die Loco- motion gewonnen hat. Der extremste Fall der Thigmotaxis ist der, wenn nicht nur die primär thigmotaktischen Cilien jede Be- wegung eingestellt haben, sondern auch die secundär beeinflussten völlig still stehen. Diese totale Thig- motaxis wurde nur bei solchen Thieren constatirt, die mit ihrem Vorderende thigmotaktisch waren, und zwar nicht nur auf einer Seite, sondern z. B, in Bakterienhaufen förmlich mit dem Vorderende eingebohrt waren. Die secundär beeinflussten Wim- pern stehen dabei entweder senkrecht zur Körper- oberfläche, also in einer Mittellage zwischen Con- Totale Thigmotaxis: die traction und Expansion, oder auch in völliger u Expansionsstellung still. Letzteres scheint das häu- tischen Wimpern stehen } { in Expansionsstellung. figere zu sein (s. Fig. 1). A d Hier sei auch eine Erscheinung erwähnt, über a Schwanzwimpern. h ; : Su i b Contractor. schlagende die es mir nicht gelungen ist, völlig Sicheres zu Peristomwimpern. ermitteln, die ich aber doch mittheilen möchte: Die e Primär thigmotaktische contractilen Vacuolen, welche bekanntlich als Ex- Wimpern des Vorder- ABB Se as ka u STUDIEN ÜBER THIGMOTAXIS BEI PROTISTEN. 273 stark thigmotaktisch sind. Beginnen in dieser Stellung des Thieres die Laufwimpern ihre Thätigkeit, so sind sie nicht im Stande, die Thigmotaxis zu überwinden, Da die Peristomwimpern in dauernder Thätigkeit sind, beginnen sie, sobald die Thigmotaxis der Laufwimpern nachlässt, was ja nothwendig ge- schieht wenn sie schlagen, das Thier im Sinne des Uhrzeigers zu drehen, eine entgegengesetzte Drehung kann wegen der Lage des Peristoms nicht erfolgen. Die drehende Wirkung des Peristoms wird, wie erwähnt, beim Vorwärtslaufen mechanisch compensirt durch die verschiedenen Reibungs- verhältnisse des unsymmetrischen, bewegten Körpers gegen das Wasser. Bei abnehmender Bewegung nimmt auch diese Compensation ab, und man beobachtet beim langsamen Vorwärtsgehen deutlich eine Neigung zur Drehung des Vorderendes nach rechts. Ist keine fortschreitende Bewegung vorhanden, so fällt natürlich auch diese Verschiedenheit der Reibungsverhältnisse fort und die drehende Wirkung des Peristoms findet keinen Widerstand mehr. Die Kraft, mit der bei dieser Art der Bewegung die Sprungwimpern, sowie die hinteren Seitenwimpern thigmotaktisch festhaften, gestattet keine Vorwärtsbewegung. Soll eine solche ausgeführt werden, so muss die Wir- kung der Thigmotaxis vermindert werden, was nur dadurch möglich ist, dass die thigmotaktische Fläche verkleinert wird. Hierzu dienen die hin- teren Seitenwimpern, die bei Beginn des Laufens sich aufrichten, und dadurch nicht nur selbst weniger thigmotaktisch werden, sondern auch die Sprungwimpern etwas vom Boden abheben, und daher auch deren haftende Kraft vermindern. Es kommt im Lebenslauf einer Stylonychia gelegentlich vor, dass sie gezwungen ist, frei im Wasser zu schwimmen, allerdings sucht sie bald- möglichst wieder festen Grund zu gewinnen, denn ihr unsymmetrischer Körper muss sicher dem Wasser einen, im Verhältniss zu den verwendbaren Bewegungskräften sehr bedeutenden Widerstand entgegensetzen. Beim Schwimmen dreht sie sich, wie die meisten Infusorien, um ihre Längsaxe, stets in derselben Richtung, im Sinne des Uhrzeigers; wieder eine einfache Folge der Bewegung des unsymmetrisch gelegenen Peristoms, die aber von Bedeutung für das Geradeausschwimmen ist, denn die seitliche Abweichung von der Geraden, welche die Peristombewegung beim schwimmenden Thiere fortwährend veranlasst, wird durch die Drehung stets in verschiedene Rich- tungen gelenkt, und es resultirt daher eine Schraubenlinie, wie sie auch Paramaecium beschreibt. Ueber die Betheiligung der verschiedenen Wimpern am Zustande- kommen der Schwimmbewegung kann ich nur wenige Beobachtungen bei- bringen, da die Thiere zu rasch schwimmen, als dass die Wimperbewegung festgestellt werden könnte. Sehr wahrscheinlich ist es, dass hier die Archiv f. A.u.Ph. 1900. Physiol. Abthlg. Suppl. 18 274 August PÜTTER: Seitenwimpern, die sonst nur von untergeordneter Bedeutung sind, in Wirksamkeit treten. Es spricht dafür folgende Beobachtung: Eine Stylo- nychia lag, entgegen dem gewöhnlichen Verhalten, mit ihrer linken Bauchseite dem Deckglase an, was deutlich an den linken Seitenwimpern zu erkennen war, die in ihrer ganzen Länge sichtbar und thigmotaktisch waren. Von den Wimpern der rechten Seitenreihe berührte keine einzige den Boden, und nun sah man, was sonst nie geschah, diese ganze Reihe in lebhafter, völlig eoordinirter Bewegung. Auch die Schwanzwimpern, über deren Function sonst nichts ermittelt werden konnte, und die nur ganz ausnahmsweise einmal geringe Bewegung zeigten, schlugen sehr leb- haft. Sie beschrieben beim Schlage einen Kegelmantel, wie dies auch die einzeln schlagenden Seitenwimpern thun (s. 0... Da die Bedingung, dass keine Wimper am Schlage gehindert sei, beim Schwimmen erfüllt ist, so ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass unter diesen Bedingungen gleichfalls ein coordinirtes Schlagen der Seitenwimpern stattfindet, was die Bewegungs- vorgänge beim Schwimmen sehr gut erklären würde. Eine weitere Be- obachtung, die ebenfalls in diesem Sinne spricht, wird unten bei Besprechung der Kältewirkung mitgetheilt werden. Auch ’die sonst räthselhaften Schwanz- wimpern mögen beim freien Schwimmen von Bedeutung sein. Beim Schwimmen, wie auch bei den vorher beschriebenen Bewegungsarten sind dagegen die Sprungwimpern in Ruhe. Treten sie in Thätigkeit, so kommen ganz eigenartige bewegüungserscheinungen zu Stande. Zunächst beim ruhenden Thier: ganz ohne Reiz tritt zuweilen spontan, in Folge „innerer Bedingungen“ eine Bewegung der Sprungwimpern ein, die einen kurzen, starken Schlag ausführen, dessen Erfolg darin besteht, dass das Thier eine Strecke weit zurückgeschleudert wird. Dann tritt wieder Ruhe ein. Dies Zurückzucken erfolgt nicht in gerader Linie, sondern stets mit einer kleinen Abweichung des hinteren Körperendes nach links, des vorderen nach rechts. Der Grund liegt ausser in der Peristombewegung auch in der Körperform, die bei einer Rückwärtsbewegung im umgekehrten Sinne drehend wirken muss, als beim Vorwärtslaufen, d. h. gleichsinnig mit dem Peristom. Etwas anders äussert sich die Wirkung des Sprungwimperschlages auf Thiere, die in Bewegung begriffen sind. Hier erfolgen meist mehrere Schläge hinter einander, was zur Folge hat, dass die Thiere rückwärts, und wegen der eben beschriebenen seitlichen Abweichung, im Kreise laufen, eine Erschei- nung, die bei ungereizten Thieren selten ist. Schwimmt das Individuum frei, wenn die Sprungwimpern zu schlagen beginnen, so giebt es einen Kampf der vorwärts treibenden Wimpern mit den Sprungwimpern, indem es zuweilen zu einem Stillstehen des Thieres unter geringem Vor- und Rück- wärtszittern kommt, d. h. indem beide Kräfte sich das Gleichgewicht halten. Endlich gewinnen doch die kräftigeren Sprungwimporn die Oberhand und STUDIEN ÜBER THIGMOTAXIS BEI PROTISTEN. 275 treiben das Thier meist sehr langsaın rückwärts und im Kreise, denn die Drehung um die Längsaxe, die sonst die Bewegung im Kreise verhinderte, hat aufgehört. Damit sind die Arten der Bewegungen beschrieben, deren sich Stylo- nychia unter normalen Verhältnissen bedient. Es soll jetzt die Wirkung von Reizen auf die Bewegung untersucht werden. Die Wirkung galvanischer Reize. Gegen galvanische Reize zeigt Stylonychia ein sehr bemerkenswerthes Verhalten, das, ebenso wie das Verhalten von Colpidium, Chilodon u.s. W., nur verständlich wird als eine Interferenzerscheinung der Thigmotaxis, die als Hemmung, und der kathodischen Galvanotaxis, die als Erregung an dem Thier sich bemerkbar macht. Wendet man zunächst schwache Ströme an, so sieht man an den um- herlaufenden oder stillliegenden, also den thigmotaktischen Individuen, keine Wirkung, wohl aber an den frei schwimmenden, bei denen keine hemmende Wirkung des Contactreizes vorhanden ist, und die genau wie Paramaecium auf die Kathode zuschwimmen. Anders wird das Bild bei mittleren Strömen. Die freien Thiere ver- halten sich gerade so wie bei schwachen Strömen, aber auch die laufenden oder liegenden reagiren, und zwar in der Weise, dass sie sich bei der Schliessung genau senkrecht zur Richtung des Stromes einstellen, derart, dass sie die Kathode stets links haben, d. h. dass ihr Peristom von der Anode abgewandt ist. Bei der Oeffnung des Stromes erfolst ein kurzes Zurückzucken, worauf dann die Bewegungsrichtung un- regelmässig wird. Wendet man den Strom Fig. 8. mit Hülfe des Stromwenders um, so machen alle Thiere eine exacte Kehrtwendung im Stylonychia mytilus Müll. Stellung der Laufwimpern bei Sinne des Uhrzeigers, und stehen dann wieder galvanischer Reizung. still, die linke Seite (das Peristom) nach der Bedeutung der Buchstaben wie Kathode gewandt. Diese Bewegung kommt in Fig. 5. durch folgendes Zusammenwirken der Wim- pern zu Stande: Die Peristomwimpern werden contractorisch erregt, so dass ihre drehende Kraft: erhöht wird, doch würde das allein nicht ausreichen, die Drehung so rasch zu bewirken, wie es thatsächlich der Fall ist, denn sie geht ganz wesentlich schneller vor sich, als die oben beschriebene Drehung ohne Einwirkung von Reizen. Es. wirken vielmehr auch die Laufwimpern 18* 276 Auscust PÜTTER: kräftig mit. Ihre normale Schlagrichtung geht, wie erwähnt, geradeaus, werden sie aber galvanisch erregt, so schlagen sie nach der rechten Seite und nur wenig nach vorne, wodurch der grösste Theil ihrer bewegenden Kraft zur Drehung verwandt wird. (Stellung der Laufwimpern in galva- nischer Erregung s. Fig. 8.) Die Erscheinung des Zurückzuckens bei der Oeffnung des Stromes erklärt sich daraus, dass diese erregend auf die Sprungwimpern einwirkt, die dann durch einen kurzen Schlag das Thier zurückzucken lassen. Dabei ist die Rückwärtsbewegung lange nicht so bedeutend wie beim spontanen Zurückzucken aus der Ruhelage, da bei der Oeffnungszuckung noch die starke Wirkung der Laufwimpern und des Peristoms besteht, die über- wunden werden muss. Auch hier ist natürlich das Zurückzucken mit einer geringen Drehung des Körpers verbunden, die aus den oben entwickelten Gründen eine Abweichung des Vorderendes nach rechts, des Hinterendes nach links zur Folge hat. Da dann nach der Oeffnung keine richtende Kraft weiter auf das Thier einwirkt, läuft es in irgend einer beliebigen Richtung davon. Dieselben Erscheinungen der Axeneinstellung, des „Kehrtmachens‘“ und Zurückzuckens bei Schliessung, Wendung und Oeffnung des Stromes bleiben auch bei ziemlich starken Strömen bestehen, erst wenn man zu sehr starken greift, ändert sich das Bild. Bei den bisher besprochenen Bewegungen blieben die Sprungwimpern bei der Schliessung in Ruhe; das Abweichende in den Reactionen auf sehr starke Ströme liegt nun darin, dass solche im Stande sind, die Sprung- wimpern, deren Erregbarkeit unter allen Wimpersorten von Stylonychia am geringsten zu sein scheint, aus ihrer Ruhe aufzustören und zu kräftigen Bewegungen zu veranlassen. Wegen der Stärke der Sprungwimpern kann ihr One alle Wider- stände überwinden, die die Bewegung der übrigen Wimpern ihm entgegen- stellt. Die Geschwindigkeit der frei schwimmenden Thiere, die bis dahin rasch auf die Kathode zu schwammen, wird ungemein vermindert, es macht den Eindruck, als kämpften die Thiere mit aller Macht gegen eine Gewalt an, die sie entgegen ihren Gewohnheiten zur Anode hinreissen wollte. Der Erfolg ist verschieden. Ist der Schlag der Sprungwimpern nicht sehr stark, so kommt das Thier noch langsam in der Richtung auf die Kathode vor- wärts, allerdings in viel stärkeren Spiraltouren als normal. Gewinnen da- gegen die Sprungwimpern die Oberhand, so werden die Thiere zur Anode hin gezogen und schwimmen also jetzt rückwärts,: wobei sie weite Kreise mit der bekannten Drehrichtung beschreiben. Meist tritt einige Zeit nach der Schliessung, die diese Bewegungsart veranlasst hat, ein Gleichgewichts- STUDIEN ÜBER THIGMOTAXIS BEI PROTISTEN. DL zustand zwischen der Wirkung der Sprungwimpern und ihrer Antagonisten ein, das Thier kommt eine Weile nicht von der Stelle, und beginnt dann wieder langsam zur Kathode, also vorwärts, zu schwimmen. Es nimmt demnach die Stärke des Sprungwimperschlages rasch ab. Bei den am Boden haftenden und laufenden Individuen sind die ver- schiedenen Grade der Sprungwimperwirkung nicht so ausgeprägt, wie bei den frei schwimmenden, was damit zusammenhängt, dass hier die Wirkung der Sprungwimpern dadurch erhöht wird, dass sie am Boden Widerstand finden und so etwa in der Weise wirken können, wie die Springgabeln der Collembolen (nur in entgegengesetzter Richtung). Eine Bewegung der Sprungwimpern ist daher beim thigmotaktischen Thier sogleich mit einem Zurückzucken verbunden, die Axeneinstellung geht verloren, und in grosser Hast laufen, oder richtiger springen die Thiere rückwärts und im Kreise (s. Fig. 9). Die Kreisbewegung kommt, wie immer, durch die Drehung des Körpers über die rechte vordere Ecke zu Stande. Bei der Oeffnung hört diese Bewegung auf, eine specifische Wirkung derselben ist nicht zu bemerken. Dies wird durch folgende Erwägung verständlich: Bei mittleren Strömen bewirkt die Oefinung ein kurzes Zurückzucken; da nun bei starken Strömen die Thiere schon, während der Strom geschlossen ist, rückwärts laufen, verschwindet die in demselben Sinne wirkende Oefinungserregung in der stärkeren durch die Schliessung und den constanten Strom aus- gelösten Wirkung. Bei den stärksten angewandten Strömen (40 kleine Chromsäure- Elemente) trat körniger Zerfall ein. Da das Material ausging, kann ich über die Zerfallserscheinungen nur wenige Beobachtungen beibringen. Der körnige Zerfall scheint meist von dem gegen die Anode gekehrten Hinter- ende auszugehen, wie bei Paramaecium, und zeigt dieselben Bilder wie der Zerfall bei maximaler, thermischer Reizung (s. u... Dass dieselben Zerfallserscheinungen wie an der Anodenseite auch an der der Kathode zugewandten Seite auftreten können, sah ich an einem Thier, das an einer Pflanzenfaser haftend senkrecht zum Strome und auf der Seite lag. Es traten bei ihm besonders am Hinterende sowohl auf der gegen die Anode gekehrten Bauchseite, wie an der der Kathode zugewandten Rückenseite die Auftreibungserscheinungen des beginnenden Zerfalls ein. Dieselbe Axeneinstellung der thigmotaktischen 'Thiere, sowie dieselbe kathodische Galvanotaxis der frei schwimmenden, konnte auch bei Stylo- nychia pustulata (Müll.) festgestellt werden, die recht häufig mit Stylonychia mytilus zusammen vorkam. Im Einzelnen mögen die Er- regbarkeitsverhältnisse der Wimpern, besonders ‘der Sprungwimpern, hier etwas andere sein, was aus der viel lebhafteren Bewegung von Stylo- nychia pustulata zu schliessen ist, die ausserdem alle Augenblicke durch 278 AususrT PÜüTTER: rasches Zurückzucken unterbrochen ist. Ausführliche Angaben über die Bewegung von Stylonyehia pustulata, besonders auch von Theilstücken derselben, finden sich bei Verworn.! Wirkung thermischer Reize. Das Verhalten thigmotaktischer Stylonychien giebt kein Bild von der einfachen Wärmewirkung, sondern stellt eine Interferenzerscheinung der thermischen mit den Contactreizen dar, und kann deshalb in der oben ausgeführten Weise (s. S. 258) einen Begriff von der Stärke der letzteren geben. Die reine Wärmewirkung auf Stylonychia könnte man nur an frei schwimmenden Thieren. studiren; es gelang aber nicht, Individuen zu erhalten, die sich die dazu erforderliche Zeit hindurch schwimmend bewegt hätten. Schon bei einer Steigerung der Temperatur von 15° C. auf 20 bis 23° C. tritt eine sehr deutliche Wirkung ein. Das Peristom schlägt leb- hafter als sonst und ebenso die Laufwimpern, trotzdem aber kommt das Thier nicht vorwärts, da zugleich auch die Sprungwimpern in Bewegung gerathen und ihr Schlag dem der Laufwimpern das Gleichgewicht hält, da er zwar langsamer, aber wegen der Grösse der Wimpern wirksamer ist. Der Erfolg ist, dass sich das Thier fast auf der Stelle dreht, eine Be- wegung, bei der die Seitenwimpern wohl nicht wesentlich mitwirken, da sie nur theilweise und uncoordinirt schlagen, die vielmehr wesentlich durch das Peristom bewirkt wird. Eine erhebliche Steigerung der Ortsbewegung tritt bei etwa 28 bis 30° C. ein. Die Bewegung der Sprungwimpern hat jetzt das entschiedene Uebergewicht über die der Laufwimpern gewonnen, und es resultirt ein rasches Rückwärtslaufen der Thiere. Wegen der un- symmetrischen Körpergestalt und der gesteigerten Peristombewegung können sie natürlich nieht in gerader Linie rückwärts laufen, sondern "beschreiben Kreise, wobei die Drehung des Thieres, wie immer, nach ‘rechts gerichtet, _ die rechte vordere Ecke des Körpers also stets nach der Aussenseite des Kreises gekehrt: ist (s. Fig. 9). Eine weitere Steigerung der Temperatur bringt keine wesentliche Erhöhung der Bewegung hervor, das Maximum ist erreicht, und schon bei 34° C. sind die meisten Stylonychien unter körnigem Zerfall abgestorben. Sie sind also viel empfindlicher gegen Wärme, als Paramaecium. Aus diesem Verlauf der Bewegungserscheinungen ergiebt sich, dass maximale Wärmereize nicht im Stande sind, die Thigmotaxis von Stylo- nychia aufzuheben, denn nie lösten sich die Thiere vom Boden ab, wie ! Verworn, Psycho-physiologische Protistenstudien. Jena 1889. S. 174 ff. u. 182. STUDIEN ÜBER THIGMOTAXIS BEI PROTISTEN. 279 Paramaecium und Colpidium es stets bei maximaler Wärmereizung thaten, sondern sie gingen immer thigmotaktisch zu Grunde. Um so auffallender war daher die Wirkung, welche eine Abkühlung auf Stylonychia hervorbrachte. Wird die Temperatur von 15° C. auf etwa 7-5° C. erniedrigt, so tritt eine auffallend starke Erregung ein. Das Peristom schlägt mit einer Fig. 9. Stylonychia mytilus Müll. Rückwärtslaufen im Kreise bei starker thermischer und galvanischer Reizung. Bedeutung der Buchstaben wie in Fig. 5. Geschwindigkeit, wie man sie sonst kaum jemals beobachtet; die Seiten- wimpern sind gleichfalls stark erregt und schlagen, sobald das Thier etwas auf der Seite liegt und daher eine Reihe ganz ohne Berührung mit. dem Boden ist, völlig eoordinirt; man sieht die Wellen sehr deutlich rasch über die Reihen ablaufen. Auch die Schwanzwimpern gerathen in lebhafte 280 AUGUST PÜTTER: Bewegung. Geringer ist die Erregung der Laufwimpern. Der Erfolg ist, dass die Thiere nur wenig vorwärts kommen, sich aber in Folge des starken Peristomschlages mit dem Vorderende nach rechts drehen. Eine weitere Herabsetzung der Temperatur hat bis zu etwa 6° C. noch eine Steigerung der Bewegung zur Folge, die besonders auch die Sprung- wimpern betrifft. Dadurch kommt es bei den thigmotaktischen Thieren zu einem lebhaften Rückwärtsspringen, das aus den mehrfach hervorgehobenen Gründen im Kreise vor sich geht. Also dieselbe Erscheinung starker Er- regung wie bei der Wärmewirkung. Bei dieser und auch schon bei etwas höheren Temperaturen zeigen die Thiere eine deutliche Neigung, sich vom Boden abzulösen und frei zu schwimmen, ein Grad der Erregung, der, wie oben beschrieben, bei Erwärmung nicht erreicht wird. Die frei schwimmenden Individuen schwimmen wegen der gesteigerten Peristomthätigkeit in starken Spiralen und bei der höchsten Steigerung der Erregung, also bei etwa 6° C., rückwärts im Kreise. Sinkt die Temperatur noch tiefer, so nimmt die Intensität der Be- wegung ab, und schon bei 5° C. zeigen die ersten Individuen körnigen Zerfall, der bei 4-5 bis 4° C. allgemein ist. Er beginnt stets von einem der beiden Körperenden, und es gewährt einen eigenartigen Anblick, wie z. B. ein Thier, dessen Hinterende körnig zerfallen ist, sich durch den fort- dauernden Schlag der Laufwimpern noch vorwärts bewegt, wobei es den zerfallenen Theil seines Körpers zu einem Faden auszieht. Die Wimpern schlagen noch, wenn die Grenze der Zerfallszone bis in ihre unmittelbare Nähe gerückt ist. Den verschiedenen Erfolg der Abkühlung und Erwärmung kann man sich durch die verschiedenartige Erregbarkeit der einzelnen Wimpersorten für Kälte- und Wärmereize erklären. Die Seiten- und Schwanzwimpern werden durch Kälte viel mehr erregt, als die Lauf- und Sprüngwimpern, welche ihrerseits wieder viel empfindlicher gegen Wärmereize sind. Da nun anscheinend gerade die Bewegung der Seiten- und: Schwanzwimpern es ist, die beim freien Schwimmen zur Verwendung kommt, so ist es ver- ständlich, warum die Kältewirkung weit eher ein Loslösen vom Boden zur Folge haben kann, als die Wärmewirkung. Stellt man die Gesammtbewegung von Stylonychia bei verschiedenen Temperaturen durch eine Curve dar, so erhält man zwei Maxima, das eine bei + 6° C., das andere bei 28 bis 30° C. Beide Maxima haben einen sehr steilen Abfall zur Temperatur des körnigen Zerfalles, vom Wärme- maximum aus erfolgt derselbe innerhalb 4° C., noch steiler vom Kälte- maximum in kaum 2°C. Gegen die mittlere Temperatur von 15° C. sinkt die Curve vom Wärmemaximum aus ziemlich langsam ab, dagegen vom Kältemaximum aus wiederum sehr steil (s. Fig. 10). ne Sn u Du 2 ne ee er een Me eine Me 200 Mei urn STUDIEN ÜBER THIGMOTAXIS BEI PROTISTEN. 281 Es ist bemerkenswerth, dass bei Stylonychia weder Wärme- noch Kältestarre eintritt, dass vielmehr die Erregung so stark wird, dass sie zu körnigem Zerfall führt, bevor sich die lähmenden Wirkungen extrem hoher und niederer Temperaturen vollständig geltend machen können. Mechanische Reize. Mechanische Reize spielen im Leben der Stylonychia insofern eine sehr bedeutende Rolle, als die für das Thier so wichtige positive Thigmotaxis eine Wirkung schwacher Berührungsreize ist. Stärkeren Berührungsreizen gegenüber zeigt Stylonychia, wie wohl alle Protozoön, negative Thigmo- taxis, die bei ihr in sehr eclatanter Weise durch ein heftiges Zurückzucken des Thieres von der Reizquelle zum Ausdruck kommt. Da diese Rück- wärtsbewegung, wie mehrfach erwähnt, stets mit einer Drehung nach rechts verbunden ist, kann sie dazu dienen, das Thier Hindernisse, gegen die es einmal angeschwommen ist, umgehen zu lassen, was allerdings bei grösseren Hindernissen mehrere Reactionen erfordert, ganz in der Weise, wie Jennings! es für Paramaecium und eine Reihe anderer Protozoön nachgewiesen hat. Im Uebrigen war eine bemerkenswerthe Erscheinung oft zu beobachten: mit Stylonychia mytilus zusammen kam zahlreich Halteria gran- dinella und Stylonychia pustulata vor. Halteria ist sehr klein und durch häufiges lebhaftes Springen ausgezeichnet, und so kam es oft, dass Thiere gegen eine still daliegende Stylonychia mytilus anprallten. Sobald sie das Vorderende, besonders das Peristom trafen, zuckte die Stylonychia mit Hülfe ihrer Sprungwimpern zurück. Beim Anstossen an das Hinterende sah man keinen Erfolg, offenbar war hier der Reiz zu gering, um eine Bewegung auszulösen. Anders aber ging es, wenn eine Stylonychia pustulata, die sich recht lebhaft bewegen und häufig unter Aenderung ihrer Schwimmrichtung zurückzucken, gegen das Hinterende einer stillliegenden Stylonychia mytilus anschwamm. Es erfolgte auf diesen stärkeren Reiz hin sogleich eine Bewegung, aber nicht ein Zurück- zucken, sondern im Gegentheil lief das Tbier ein paar Schritte, oder besser ein paar Wimperschläge weit vorwärts. Es findet also bei Stylonychia schon eine ziemlich verwickelte Reizleitung statt, indem ein Reiz am Vorder- ende die Sprungwimpern des Hinterendes, und umgekehrt eine Reizung am Hinterende die Laufwimpern des Vorderendes in Bewegung setzt, wobei zur Auslösung des Zurückzuckens ein geringerer Reiz erforderlich ist, als zu der des Vorwärtslaufens. ! Jennings, Studies on the reactions to stimuli in unicellular organisms. Amer. Journal of Physiology. 1899. May. Vol. Il. Nr.4. — American Naturalist. 1899. May. Vol. XXXIH. Nr. 389. — Americal Journal of Physiology. 1899. May. Vol. I. Nr. 4; Vol. IIL Nr. 6 u..9. 282 Ausust PÜTTER: Die Erregbarkeit der Wimpern bei Stylonychia. Die im Vorstehenden mitgetheilten Beobachtungen geben einiges Mate- rial zur Beurtheilung der Reizbarkeitsverhältnisse der verschiedenen Wimper- sorten von Stylonychia. Am leichtesten erregbar durch Reize aller Art sind die Peristomwimpern. Bei 15° C. liegt das Minimum ihrer Bewegung, von da an bewirkt eine kleine Temperaturschwankung in positivem oder negativem Sinne, ebenso wie ein schwacher galvanischer Strom, ein geringer mechanischer Reiz, alle in demselben Sinne eine Steigerung der Bewegung, eine contractorische Erregung. Geringere Erregbarkeit ist den Laufwimpern eigen, bei denen ja jeder Reiz zunächst die Wirkung der Thigmotaxis zu überwinden hat. Bei Reizen, die hierzu nicht stark genug sind, sieht man gelegentlich die Wirkung in der Weise eintreten, dass eine Contractionswelle von der Basis der Wimper her gegen die Spitze abläuft, aber nicht bis zu ihr gelangt, sondern an der Stelle verschwindet, an der die Berührung der Wimper mit dem Boden stattfindet. Die deutlichste Wirkung auf die Laufwimpern übt der galvanische Strom aus, der ihren motorischen Effect verstärkt und ihren Schlag in eine von der normalen Wirkungsrichtung um fast einen rechten Winkel ab- weichende Richtung lenkt (s. Fig. 8). Ob hierbei die Erregung eine con- tractorische oder expansorische ist, lässt sich bei den eigenartig modifieirten Bedingungen, unter denen die beiden Phasen ablaufen, nicht ohne Weiteres entscheiden. Jedenfalls wird auch bei diesen Wimpern durch alle Reize, auf die sie überhaupt reagiren, stets dieselbe Phase der Bewegung verstärkt, so dass eine Umkehr der Schlagriehtung, wie sie z. B. die Wimpern von Paramaecium zeigen, hier nicht vorkommt. Für schwache mechanische Reize, die das Vorderende treffen, sind die Laufwimpern unerregbar, während solche Reize, wenn sie das Hinterende treffen, eine in wenigen Schlägen bestehende Bewegung auslösen. Gerade entgegengesetzt verhalten sich die Sprungwimpern: schon eine schwache mechanische Reizung des Vorderendes hat bei ihnen. eine kräftige Bewegung zur Folge, einen einmaligen Schlag, durch den das Thier eine Strecke weit zurückgeschleudert wird; dagegen bleibt eine mechanische Reizung des Hinterendes, wenn sie ebenso stark ist wie jene, die am Vorder- ende wirkend, mit einer Bewegung beantwortet wurde, völlig ohne sichtbaren Erfolg. Noch sonderbarer erscheint diese Fähigkeit der Sprungwimpern, auf ganz schwache mechanische Reize, die ihnen vom Vorderende aus zugeleitet werden, lebhaft zu reagiren, wenn man in Betracht zieht, dass sie im Uebrigen von allen Wimpern der Stylonychia am schwersten zu erregen sind. mm — nn nn LÖ———ä—Ö6Ö6Ö6—_—_—_—_ä-_-“-“ree ET STUDIEN ÜBER THIGMOTAXIS BEI PROTISTEN. 283 Es bedarf starker galvanischer Ströme und erheblicher Temperatur-Steige- rungen und -Herabsetzungen, um überhaupt Bewegung an ihnen auszulösen. Auch bei den Sprungwimpern lässt sich schwer entscheiden, ob die Erregung eine contractorische oder expansorische ist; wichtig ist aber die Thatsache, dass auch bei ihnen stets nur der Effeet derselben Phase verstärkt wird. Ihre Stellung in einem äusserst flachen Winkel zur Bauchfläche des Thieres macht ja ohnehin eine Bewegung in dieser Richtung unmöglich. Die Bewegungserscheinungen, die an den Seitenwimpern zu beobachten sind, werden wesentlich durch die Thigmotaxis bestimmt. Dieselbe ist bei ihnen so bedeutend, dass starke galvanische Ströme dazu gehören, sie zu überwinden, d. h. die Seitenwimpern in ihrer ganzen Ausdehnung coordinirt schlagen zu lassen, was dann mit einem Uebergange des Thieres zum freien ' Schwimmen verbunden ist. Die einzelnen nicht thigmotaktischen Wimpern zeigen schon bei geringen Strömen eine gesteigerte Thätigkeit. Temperatur- steigerung hat keinen nennenswerthen Einfluss auf die Seitenwimpern, selbst maximale Reizung ist nicht im Stande, die Thigmotaxis zu überwinden, weshalb auch kein Uebergang zum freien Schwimmen bei Wärmereizung erzielt wir. Um so auffälliger ist die grosse Empfindlichkeit der Seiten- wimpern niedrigen Temperaturen gegenüber. Eine Abkühlung von 15° auf etwa 7° C. hat eine Bewegungssteigerung zur Folge, die der bei starken . galvanischen Strömen gleichkommt und die Wirkung maximaler Wärme- reize ganz unvergleichlich übertrifft. Schlagen die Seitenwimpern coordinirt, so wurde auch stets lebhafte Bewegung der Schwanzwimpern beobachtet; da ein Schlagen derselben sonst nie zu bemerken war, so liegt es nahe, anzunehmen, dass eine Beeinflussung des Schwanzwimperschlages durch den der Seitenwimpern stattfindet, eine Vorrichtung, die wohl beim freien Schwimmen nützlich ist. Die Erregung der Seitenwimpern ist stets eine contractorische. Es ist ganz natürlich, dass in der morphologisch am höchsten differen- zirten Gruppe der Protozoön, bei den hypotrichen Infusorien, auch die physiologische Differenzirung ihren Höhepunkt erreicht, das Prineip der specifischen Energien am weitesten durchgeführt ist. Die Eigen- schaft der Peristom-, Lauf-, Sprung- und Seitenwimpern, alle Reize mit wesentlich denselben Bewegungen zu beantworten, ist der Ausdruck einer hochgradigen Ausbildung für specifische Leistungen. Bei holotrichen Infusorien, z. B. Paramaecium, haben die einzelnen Wimpern, die alle einander gleichwerthig und in grosser Anzahl gleichmässig vertheilt sind, noch die Fähigkeit, bald stärker contractorisch, bald stärker expansorisch zu schlagen, nur den Peristomwimpern geht diese Eigenschaft ab, sie schlagen stets contractorischh Das „aristokratische Princip in der Natur“ aber bildet aus der grossen Menge gleichartiger und gleichwerthiger 254 AuGusTt PÜTTER: (sleich geringwerthiger) Organoide eine geringe Anzahl verschiedenartiger, morphologisch und physiologisch höher stehender heraus: morphologisch höher stehende Gebilde, da sie einer grösseren Anzahl niederer Einheiten gleich- werthig sind, physiologisch höher durch ihre bis zur Einseitigkeit entwickelte specifische Energie, die zwar die Zelle abhängiger von dem richtigen Zu- sammenwirken aller Organoide macht, ihr andererseits aber eine Fülle von Bewegungsmöglichkeiten giebt, die mit einer, gewissermaassen demokrati- schen, Menge gleichartiger Gebilde nicht zu Stande kommen kann. Die beigefügten Curven, welche die Erregbarkeit der verschiedenen Wimperarten für thermische Reize darstellen sollen, machen selbstverständ- SE 772 5 20° 95° Ta > Fig. 10. Curven zur Darstellung der verschiedenen Erregbarkeit der einzelnen Wimpersorten von Stylonychia mytilus Müll. a Curve der Gesammtbewegung des Thieres. b Curve der Peristomwimperbewegung. e Curve der Sprungwimperbewegung. d Curve der Seitenwimperbewegung. lich keinen Anspruch auf absolute Genauigkeit, da es ‘nicht möglich ist, die Wirkungen der verschiedenen Wimperbewegungen direct zu vergleichen, und daher die Verhältnisse, welche durch die absoluten Grössen der Ordi- naten angegeben werden, mehr oder weniger willkürlich sind. Die Curven sollen nur einen Vergleich der grossen relativen Verschieden- heiten der Erregbarkeit der einzelnen \Wimpergruppen gestatten. 8. Urostyla grandis Ehrbg. Die Beobachtungen über dieses hypotriche Infusor hat Hr. Prof. Verworn im Winter 1896 gemacht, und war so gütig, mir.seine hierauf bezüglichen Notizen zur Benutzung zu überlassen. STUDIEN ÜBER THIGMOTAXIS BEI PROTISTEN. 285 Morphologisches. Den Angaben Stein’s! entnehme ich Folgendes über Urostyla grandis. „Die Gestalt des Thieres wechselt so ausserordentlich, dass schwer anzugeben ist, welches die eigentliche Form des Körpers sej. Im mitt- leren Zustande ist seine Ausdehnung bei gut genährten und ungehemmt in reichlichem Wasser schwimmenden Individuen nicht viel mehr als noch ein Mal so lang wie breit; eiförmig, vorn und hinten stumpf abgerundet und mit der vorderen Hälfte mehr oder weniger nach links gekrümmt. Die Rückseite ist hochgewölbt, be- sonders stark nach hinten zu, nach vorn mehr und mehr verflacht, die Bauchseite ist ziemlich plan, nach hinten gewölbt und an den Seiten abgerundet. Das Peristom nimmt über ein Drittel der Körperlänge ein. Der breit-bandförmige und sehr deut- lich quergestreifte Aussenrand des Peristoms erstreckt sich von der linken Ecke der Oberlippe in diago- naler Richtung bis zur Mittellinie des Bauches.. Der Innenrand hält die Mittellinie ein und biegt vorn auf gleicher Höhe mit dem rechten Endpunkt der Oberlippe hakenförmig nach links gegen den Aussenrand um, den er jedoch nicht erreicht; er trägt eine schmale undulirende Mem- bran und präorale Wimpern. Neben dem Innenrande liest im Peristom- felde die lange, schräge Mundspalte. — —— u IE QmQ nr Fig. 11. Urostyla grandis Ehrbg. Schema der Wimperstellung (nach Stein). Ventralansicht. a Peristomwimpern. b Laufwimpern (vordere Gruppe). b, Bauchwimpern. ce Seitenwimpern. d Sprungwimpern. Auf dem Stirnfelde stehen die zahlreichen, kurz griffelförmigen, theils geschlängelten, theils hakenförmigen Laufwimpern,? welche einen der wesent- ! Stein, Organismus der Infusionsthiere. 1. Abtheilung. 1859. S. 195. * Stein nennt die Laufwimpern „Stirnwimpern“, auch für die übrigen Wimper- sorten hat er andere Namen, als die oben bei Stylonychia angewandten. Der Gleich- mässigkeit wegen habe ich sie in die oben gebrauchten Namen umgeändert. 286 Ausust PÜTTER: lichsten Charaktere unserer Art bilden. Sie nehmen von vorn nach hinten an Länge und Stärke ab und stehen ziemlich regellos durch einander; nur die vordersten sind deutlich in Querreihen geordnet. Die vorderste Quer- reihe besteht aus fünf bis sechs hakenförmig nach vorn gebogenen Griffeln, dann folgt eine Querreihe von vier bis fünf ähnlichen Griffeln; die folgenden Laufwimpern stehen regelloser durch einander. Die rechte Seitenwimper- reihe beginnt gleich hinter der Oberlippe, die linke hält ihrer ganzen Aus- dehnung nach den Rand inne und ist vorn kaum merklich nach einwärts gerückt. Die Seitenwimpern sind kräftige, bald ringsum über die Seiten- ränder und den Hinterrand vorstehende, bald theilweise unter dem Bauch versteckte Borsten. Die Bauchwimpern! sind den Seitenwimpern sehr ähn- lich, jedoch etwas feiner und kürzer, sie setzen zahlreiche, gleichmässig über die ganze Bauchfläche vertheilte Längsreihen zusammen, die sich von dem Aussenrande des Stirnfeldes und dem des Peristoms bis zum Hinter- rande des Körpers erstrecken. Die sehr dünnen, fast ganz borstenförmigen Sprungwimpern stehen in einer nach links und vorn aufsteigenden Reihe, sie sind meist an der Basis etwas knieförmig gebogen. Die Zahl der Sprung- wimpern beträgt 10 bis 12. Interferenz von Thigmotaxis und Galvanotaxis. Die Individuen, welche frei schwimmen, gehen deutlich galvanotaktisch zur Kathode, wie Paramaecium, diejenigen dagegen, die thigmotaktisch auf dem Boden laufen, reagiren bei schwächeren Strömen, wo bei den freien die Galvanotaxis schon sehr deutlich ist, überhaupt nicht. Sie laufen kreuz und quer in ihrer charakteristischen zuckenden Weise durch einander, bleiben stehen in allen Richtungen u. s. w. Bei stärkeren Strömen dagegen stellen sie sich quer zur Stromrichtung ein und laufen so im Wesent. lichen geradeaus mit ziemlicher Geschwindigkeit. Bei starken Strömen ist die Geschwindigkeit etwas gesteigert. Dabei ist bei den am Boden laufenden Individuen stets das Vorderende so gerichtet, dass die Kathode zur linker Hand liest. Die am Oberflächenhäutchen laufenden spärlichen Individuen laufen in entgegengesetzter Richtung, also so, dass auch bei ihnen di Kathode zur linken Hand liegt. Stehen sie bei. der Schliessung gerade zufällig schon in der Richtung senkrecht zum Strom, Kathode zur Linken, so zucken sie nur ganz schwach rückwärts, häufig kaum merkbar, aber meist doch sehr deutlich, und laufen dann in dieser Richtung weiter. So sieht man bei mittelstarken Strömen bei mittlerer Einstellung aus- gezeichnete Galvanotaxis aller frei schwimmenden Individuen nach der Kathode, bei tiefer Einstellung ausgezeichnete transversale Einstellung aller ! Die Bauehwimpern entsprechen den hinteren Laufwimpern von Stylonychia. | | | | | STUDIEN ÜBER THIGMOTAXIS BEI PROTISTEN. 287 laufenden Individuen, und bei hoher Einstellung dasselbe in entgegen- gesetzter Richtung. Bisweilen lösen sich einzelne Individuen, die laufen, von der Unterlage los und zeigen dann wie alle frei schwimmenden Thiere sofort kathodische Galvanotaxis. Seltener, aber doch zuweilen wenigstens für kurze Zeit, kommt das Umgekehrte vor: Im Moment, wo frei schwimmende Individuen auf ihrem Wege nach der Kathode den Boden berühren, drehen sie sich sofort in die transversale Axenstellung. Oft ist diese Einstellung nur einen Moment vorhanden, dann schwimmt das Individuum wieder frei weiter, sich von Neuem nach der Kathode drehend. Aber stets wirkt die Be- rührung mit dem Boden (das Aufsetzen), auch wenn sie nur momentan dauert, so, dass die betreffenden Individuen sich sofort transversal ein- zustellen suchen. Bei ganz starken Strömen lösen sich alle am Boden laufenden Individuen los und schwimmen frei nach der Kathode, oder es zeigt sich wie bei Paramaecium ein sehr heftiges Kämpfen gegen den Strom unter lebhaftem Axendrehen und seitlichen Excursionen. Die Schwimm- geschwindigkeit ist enorm verringert. Viele bleiben zeitweilig auf der Stelle, zucken sogar kurze Strecken zurück, Alles genau wie bei Paramaecium. Ist die Wasserschicht im Kästchen sehr dünn, die Stromdichte also sehr gross, so tritt an der Anode körniger Zerfall ein, und zwar sehr schön und typisch, die Kathode bleibt intact. Beim galvanotaktischen Laufen gehen sie häufig ganz langsam und bleiben oft lange am Orte stehen in ihrer strengen Axeneinstellung. Beim Oeffnen zucken alle deutlich rückwärts, drehen sich alle wie auf Commando wieder nach ihrer rechten Körperseite hin (wie immer) und machen häufig sogar mehr als eine ganze Umdrehung, häufig nur eine halbe, so dass sie ein Stück in entgegengesetzter Richtung weiter laufen. Dann wird aber gleich die Richtung des Laufens unregelmässig. Sie können sich beim ungestörten normalen Schwimmen nach beiden Körperseiten hin drehen. Beides kommt anscheinend gleich häufig vor. Oft wechseln sie aus einer Richtung in die andere. Bei spontanem Rückwärtszucken, oder wenn man sie angestossen hat, etwa durch Erschütterung des Objectträgers, wo dann sämmtliche wie auf Commando zurückzucken, verändern sie stets ihre Laufrichtung, ausnahmslos in der Richtung, dass sie mit dem Vorderende nach rechts hin umlenken und dann weiter laufen. Die wesentlichen Erscheinungen bei der galvanischen Reizung von Urostyla, die Axeneinstellung, das „Kehrtmachen“ u. s. w., sind dieselben wie bei Stylonychia. Die kleinen Unterschiede zwischen beiden erklären sich aus dem geringeren Einfluss, den einerseits die Peristomwimpern, andererseits die Sprungwimpern bei Urostyla auf die Bewegung haben. 288 Au@ust PÜTTER: Beiden wirken in gewissem Sinne die zahlreichen Bauchwimpern entgegen. Den Peristomwimpern insofern, als sie beim freien Schwimmen gelegentlich zu einer Drehung entgegen der des Uhrzeigers führen, während bei über- wiegender Wirkung der Peristomwimpern die umgekehrte Drehung zu Stande kommt. Der Wirkung der Sprungwimpern setzt der Schlag und die Thiemotaxis der grossen Anzahl von Bauchwimpern begreiflicher Weise ein sehr bedeutendes Hinderniss entgegen, und wenn auch die Zahl der Sprungwimpern doppelt so gross als bei Stylonychia ist, dürfte ihre Wirkung doch die jener fünf Sprungwimpern nicht übertreffen, da die ein- zelnen Wimpern viel kleiner und schwächer sind. Uebereinstimmend mit Stylonychia zeigt Urostyla das Drehen beim Rückwärtszucken. Bei dieser Bewegung kommt die Wirkung der Peristom- und Sprungwimpern zu ungeschwächter Entfaltung, da hierbei die Bauchwimpern wohl nicht in Action treten dürften. Thigmotaxis bei Oscillarien, Diatomeen und Desmidiaceen. Diese drei Gruppen von Organismen haben das Eine gemeinsam, dass ihnen allen specifische Bewegungsorganoide, Pseudopodien, Geisseln oder Wimpern völlig fehlen. In Folge dessen können sie sich, wenn sie frei im Wasser schweben, und eine solche pelagische Lebensweise führen ja viele von ihnen, nicht aetiv bewegen. Sehen wir von den ziemlich zahl- reichen planktonischen Organismen ab, so bieten die übrigen folgende ge- meinsame Erscheinungen: An ihren natürlichen Wohnplätzen sowohl, wie in Culturgefässen sammeln sie sich stets am Boden, an den Wänden oder an Gegenständen, die im Wasser liegen. Activer Bewegung sind sie nur fähig, wenn sie eine feste Unterlage berühren.” Den einzigen Widerspruch ! Für Oscillarien vgl.: F.Cohn, Beiträge zur Physiologie der Phycochromaceen und Florideen. Archiv für mikroskopische Anatomie. 1867. Bd. III. 8. 1-62. — Correns, Ueber die Membran und die Bewegung der Oseillarien. (Vorläufige Mit-. theilung.) Berichte der deutschen botan. Gesellschaft. 1897. Bd. V. S. 139—148. — Engelmann, Ueber die Bewegung der Oscillarien und Diatomeen. Pflüger’s Archiv. 1879. Bd. XIX. 8. 7—14. — Für Diatomeen vgl.: Max Schultze, Ueber die Be- wegung der Diatomeen. Archiv für mikroskopische Anatomie. 1865. :Bd.I. S. 376 bis 402. Tafel XXIII. — Bütschli, Die Bewegung der Diatomeen. Verhandl. des naturhist.-med. Vereins zu Heidelberg. 1892. N.F. Bd. IV. Heft 5. — Lauterborn, Zur Frage der Ortsbewegung der Diatomeen. Ber. der deutschen botan. Gesellschaft. 1894. Bd. XI. — Otto Müller, Die Ortsbewegung der Bacillariaceen. L, II, III, IV und V. Berichte der deutschen botan. Gesellschaft. 1893, 1894, 1896 und 1897. — Für Desmidiaceen vgl.: Klebs, Bewegung und Schleimbildung der Desmidiaceen. Biologisches Centralblatt. 1885. Bd.V. 8.355. — Aderhold, Beiträge zur Kennt- niss richtender Kräfte bei der Bewegung niederer Organismen. Jen. Zeitschrift für Naturwissensch. 1888. Bd. XXII. (N.F. Bd.XV.) S. 342. STUDIEN ÜBER THIGMOTAXIS BEI PROTISTEN. 289 hiergegen finde ich bei Otto Müller, der in den Resultaten seiner Unter- suchungen in der IV. Abhandlung! von den Bacillariaceen sagt: „Zur Fort- bewegung genügt ein flüssiges Medium, der Zellkörper bedarf keines festen Substrates und keiner sogenannten Bewegungslage“; dann aber fortfährt: „Auf ein festes Substrat ist der Zellkörper nur insoweit angewiesen, als eine senkrecht zur Apicalaxe gerichtete Kraft mangelt und die motorische Kraft nicht ausreicht, um den Widerstand der Schwerkraft neben dem der Reibung zu überwinden.“ Müller bestreitet wohl nur aus theoretischen Gründen für die Diatomeen die absolute Nothwendigkeit einer festen Unterlage, thatsäch- lich bewegen sie sich stets auf einer solchen, wie schon Max Schultze hervorhebt. Was die Art der Locomotion anlangt, so darf wohl nach den Untersuchungen von Klebs, Aderhold und Correns für die Oscillarien und Desmidiaceen als erwiesen gelten, dass sie thatsächlich durch Secre- tion erfolgt, für Diatomeen wird von Bütschli und Lauterborn das- selbe behauptet, während Otto Müller eine andere Auffassung vertritt. Für die vorliegende Erörterung ist diese Controverse irrelevant, da die Ver- treter beider Anschauungen das Vorhandensein einer klebrigen Substanz zugeben. Gerade diese Erscheinung ist es aber, welche hier von Interesse ist. Wie aus den vorstehenden Beobachtungen hervorgeht, handelt es sich bei der Wirkung von Contactreizen einerseits um die Beeinflussung der Bewegung des Organismus, andererseits um eine Beeinflussung seines Stoffwechsels in der Art, dass daraus ein Klebrigwerden der Oberfläche durch Abscheidung eines Secretes resultirt. Während nun bei den bisher besprochenen Classen die Beeinflussung der durch besondere Organoide ver- mittelten Bewegung die auffälligste Erscheinung war, fällt diese hier, wo solche Organoide fehlen, selbsverständlich fort, dafür aber nimmt die Stärke der Secretion in extremer Weise zu, und während sie bei den übrigen Organismen hinderlich für die Bewegung war, wird sie hier in weitem Umfange die einzige Ursache derselben. Dieser Auffassung, dass die Be- wegung durch Secretion, oder überhaupt die Abscheidung eines klebrigen Secretes, bei den in Frage stehenden Organismen eine Folge schwacher taktiler Reize sei, könnte mit Recht eingewandt werden, ob dieselben nicht auch, wenn sie im Wasser frei schweben, dies Secret abscheiden. Für Öscillariaceen und Diatomeen muss diese Frage zur Zeit unentschieden bleiben, da darüber keine Beobachtungen vorliegen, dagegen hat Klebs bei Desmidiaceen die fragliche Erscheinung verfolst und kommt zu folgendem Resultat:? „Der Nachweis, dass die Closterien erst während ! Otto Müller, a.a. ©. 1896. 8. 127. ” Klebs, Biologisches Centralblatt. 1885. Bd. V. 8.355 ff. Archiv f£ A.u. Ph, 1900. Physiol. Abthlg. Suppl. 19 290 August PÜTTER: der Bewegung den Schleimfaden bilden, wurde einmal durch die directe Beobachtung des allmählichen Emporsteigens und dann die Färbung mit Methylviolett geliefert, aber auch noch in anderer Weise. Schüttelt man Closterienschleim mit Wasser, so isoliren sich zahlreiche Individuen und sammeln sich am Grunde des Gefässes. Ein Theil dieser schleimfreien Zeilen wurde sofort getödtet; ein anderer Theil auf dem Objectträger be- obachtet. Nach einer halben Stunde schon, bei günstigem Material, liessen sich dann in der zweiten Partie die Schleimfäden nachweisen, die der so- gleich getödteten fehlten.“ Wir sind hiernach also wohl berechtigt, die Seeretion des klebrigen Schleims der Oscillarien, Diatomeen und Des- midiaceen als eine directe Folge taktiler Reize anzusehen und diesen Organismen positive Thigmotaxis zuzuschreiben. Ueber negative Thigmo- taxis wissen wir dagegen von ihnen nichts, nur von OÖscillarien liegt eine Beobachtung vor, welche zeigt, dass der Oscillaria princeps die negative Thigmotaxis fehlt. Correns sagt darüber:! „Das Anstossen der Fadenspitze an einen festen Gegenstand bewirkt keine Umkehr, ebenso wenig - das Streichen mit einem Papierschnitzel vorwärts oder rückwärts, oder das Biegen der freien Enden.“ Gerade diese Erscheinung, die sonst so ungemein verbreitet ist, fehlt hier also. Thigmotaxis bei Sporozoen. Es bleibt noch übrig auch für diese Classe die Thigmotaxis festzustellen. Für die Gregarinen darf es nach Schewiakoff’s? Untersuchungen wohl als erwiesen gelten, dass bei ihnen, wie bei Desmidiaceen und Ösecil- lariaceen die Bewegung durch Secretion einer klebrigen Gallerte erfolgt. Dasselbe wurde von Schaudinn? für das Vorwärtsgleiten der Sporozoiten und Merozoiten, der Coceidien des Lithobius-Darmes nachgewiesen. Es scheint also, dass auch hier die Erscheinung der positiven Thigmotaxis in wesentlich derselben Form auftritt, wie bei den vorher besprochenen Protophyten. Die Erscheinungen der Thigmotaxis. Zusammenfassung. Aus den vorstehend mitgetheilten Beobachtungen und Angaben aus der Litteratur geht wohl zur Genüge hervor, wie weit unter den Protisten die Fähigkeit verbreitet ist, auf mechanische Reize zu reagiren, was auch ! Correns, Berichte der deutschen botan. Gesellschaft. 1897. Bd. XV. S. 148. 2 Schewiakoff, Ueber die Ursache der fortschreitenden Bewegung der Grega- rinen. Zeitschr. f. wissensch. Zoologie. 1894. Bd. LVIII. S. 340—354. Taf. XX, XXI. ? Schaudinn, Untersuchungen über den Generationswechsel bei Coceidien. Zoo/. Jahrbücher. (Abthlg. für Ontogenie.) 1900. Bd. XIH. Heft 2. S. 197. STUDIEN ÜBER THIGMOTAXIS BEI PROTISTEN. 291 nicht im Geringsten Wunder nehmen kann, da ja gerade mechanische Reize zu den häufigsten in der Natur überhaupt vorkommenden gehören. Wie die Rhizopoden morphologisch die generalisirtesten Typen darstellen, die wir kennen, so auch physiologisch, sie zeigen die Erscheinungen der positiven und negativen Thigmotaxis mit grosser Uebersichtlichkeit, und von diesen Erscheinungen ausgehend, gewinnen wir Verständniss für die specialisirten Vorgänge, welche bei Ciliaten einerseits, bei Protophyten andererseits, und als convergente Reihe zu diesen bei Sporozoön aus- gebildet sind. Bei der Reaction der Rhizopoden auf mechanische Reize haben wir zwei Gruppen von Vorgängen zu unterscheiden. Erstens bewirken die Reize eine Veränderung des Bewegungszustandes der Pseudopodien und zweitens eine solche der chemischen Verhältnisse der Oberfläche der Zelle. Das sind auch die beiden Punkte, die mehr oder weniger abgeändert, sich bei allen Protisten nachweisen lassen. Der Vorgang vollzieht sich bei Rhizopoden in der Weise, dass ganz schwache Reize ein Ueberwiegen der Expansion, stärkere dagegen ein solehes der Contraction bewirken. Die chemischen Veränderungen der Oberfläche machen sich in einem Klebrigwerden der gereizten Stelle be- merkbar, das hierbei ausgeschiedene Secret ist mikroskopisch nachweisbar. Eine physiologische Differenzirung irgend eines Theiles des Zell- körpers, die in erhöhter oder verminderter Reizbarkeit ihren Ausdruck finden würde, giebt es bei Rhizopoden noch nicht, wohl aber ist die Ausbildung bei Flagellaten vorhanden. Die Beeinflussung der äusseren Bewegungen muss sich hier auf die Geisseln beziehen, und diese sind in sehr verschiedener Weise reizbar. Betrachten wir als einfachsten Fall die Flagellaten mit einer Geissel (z. B. Euglena), so finden wir, dass dieser Bewegungsapparat die Fähigkeit, positiv thigmotaktisch zu werden, verloren hat, während die- selbe dem Hinterende des Körpers in hohem Maasse zukommt. Die nega- tive Thigmotaxis ist dagegen auf die Geissel beschränkt, was zur Folge hat, dass das Thier sich von der Quelle von Berührungsreizen, die die Geissel treffen, abwendet. Die Erscheinung des Klebrigwerdens muss als charakteristisch für die positive Thigmotaxis gelten und fehlt daher der Geissel völlig. Bei den Flagellaten mit zwei Geisseln (z. B. Chilomonas) ist auch die Fähigkeit der positiven Thigmotaxis streng localisirt, sie kommt der einen als Schleppgeissel bezeichneten in hohem Maasse zu, während sie am Zellkörper nicht mehr zu beobachten ist. War es bei Flagellaten die der Bewegung dienende Geissel, die nicht mehr positiv thigmotaktisch werden konnte, so geht, anscheinend ganz all- gemein, bei Ciliaten dem Peristom diese Fähigkeit ab, eine Erscheinung, 19* 292 AuGust PÜTTER: deren biologische Bedeutung ja ohne Weiteres klar ist. Eine weitere Localisation konnte nur bei wenigen Formen, z. B. Urocentrum turbo (Müll.), beobachtet werden, wo der Schwanzanhang, dessen Bedeutung unklar ist, in ganz hervorragender Weise positiv thigmotaktisch ist, und Spirostomum teres Clap. u. Lachm., wo diese Eigenschaft dem Hinter- ende des Körpers zukommt. Urocentrum bietet zugleich den einzigen bis jetzt bekannten Fall, in dem die Bildung eines klebrigen Secretes bei Ciliaten direct nachweisbar ist. Bei allen übrigen muss man sein Vor- handensein zwar als sicher annehmen, wie aus vielen Beobachtungen folgt, aber der sichtbare Effect der Thigmotaxis liegt hier wesentlich in der Be- einflussung des Wimperschlages. Die positive Thigmotaxis hebt denselben meist völlig auf, eine Hemmung des Schlages ist jedenfalls stets vorhanden, ob dieselbe als eine assimilatorische Erregung oder als eine dissimilatorische Lähmung aufzufassen ist, mag dahingestellt bleiben, die Thatsache bleibt bestehen, dass hier an der einzelnen Zelle ein Hemmungsvorgang nachgewiesen ist. Das meiste Interesse beanspruchen bei hypotrichen Ciliaten die Interferenzerscheinungen der Thigmotaxis mit anderen Reizwirkungen. Einen wie hohen Begriff wir uns von der Kraft machen müssen, mit der ein thigmotaktisches Thier der Unterlage anhaftet, wurde oben bei den Versuchen über Wärmewirkung gezeigt. Noch auffallender aber ist die Interferenz der Thigmotaxis und Galvanotaxis. Das frei schwimmende Thier geht in Folge der contractorischen Erregung des anodischen Pols zur Kathode, anders das thigmotaktische, das in seiner Beweglichkeit erheblich gehemmt ist, seine Einstellung ist ganz wesentlich von der Lage der Peri- stomwimpern abhängig, da diese ja die einzigen sind, auf welche die Thig- motaxis keinen Einfluss hat, die also ohne Weiteres contractorisch erregt werden, so lange sie der Anode zugekehrt sind. Ihre asymmetrische Lage hat stets zur Folge, dass das Thier eine Drehung ausführt, eine Bewegung, der vermuthlich die thigmotaktischen Wimpern, die hierbei über den Boden ' geschleift werden, keinen bedeutenden Widerstand entgegensetzen. Jeden- falls ist dieser Widerstand ungleich geringer als jener, den die klebrig ge- wordene Wimper der Contacttrennung entgegensetzt, die eine nothwendige Bedingung wäre, wenn das Thier zur Kathode schwimmen sollte. Wie oben gezeigt, giebt es bei Hypotrichen zwei Stellungen des Thieres, in denen keine contractorische Erregung des Peristoms stattfindet, das ist die Lage senkrecht zur Richtung des Stromes, die Stellung, welche man bisher als den Ausdruck einer specifischen Wirkung des galvanischen Stromes auffasste, und die Stellung in der Richtung des Stromes, das Peri- stom der Kathode zugewandt. | Für die Erklärung des Mechanismus der transversalen Axeneinstellung STUDIEN ÜBER THIGMOTAXIS BEI PROTISTEN. 293 ist es von Wichtigkeit, dass die Thiere sich in Folge der Lage des Peri- stoms stets nur in einer einzigen, durch die morphologischen Verhältnisse bedingten Richtung drehen können. Dieser Umstand allein würde aber noch nicht zur Erklärung aller möglichen Fälle ausreichen, es wäre z. B. nicht einzusehen, warum ein hypotriches Infusor, das bei Schliessung des Stromes in dessen Richtung, das Vorderende zur Kathode gewandt, liegt, überhaupt eine Drehung ausführt, da ja sein Peristom nicht erregt wird. Die Erklärung liegt darin, dass die Hypotricha zunächst bei Schliessung des Stromes zurückzucken, was stets mit einer Drehung verbunden ist, und so aus der Lage gebracht werden, in der ihr Peristom nicht erregt wurde. Jene Formen, welche wie Bursaria und Chilodon keine Sprung- wimpern besitzen, mit denen sie wie Stylonychia und Urostyla zurück- zucken können, bleiben, wie oben gezeigt wurde, thatsächlich auch in der Richtung des Stromes stehen, das Vorderende der Kathode zugewandt. Die transversale Axeneinstellung der thigmotaktischen Thiere ist nur die Grenz- lage, welche sie einnehmen können, ohne dass ihr Peristom erregt wird, und in die sie gelangen müssen, da sie bei ihrem Zurückzucken sich stets in gleichem Sinne drehen und so derselben immer näher kommen. Dass die erstere Einstellung thatsächlich keine einfache Wirkung des galvanischen Stromes, keine transversale Galvanotaxis ist, sondern eine Interferenzerscheinung der kathodischen (oder anodischen) Gal- vanotaxis und der Thigmotaxis, bedingt durch die verschiedenen Er- regbarkeitsverhältnisse der Wimpern, geht mit Sicherheit daraus hervor, dass dieselben Thiere, die in frei schwimmendem Zustande kathodisch gal- vanotaktisch sind, transversal galvanotaktisch werden, sowie sie vom freien Schwimmen zur Berührung mit der Unterlage übergehen, eine Erscheinung, die auch für Spirostomum, das bisher einzig bekannte transversal galvano- taktische Thier, nachgewiesen werden konnte. Eine ganz andere Ausbildung wie bei den Flagellaten und Ciliaten hat die Thigmotaxis bei den Protophyten, Oscillarien, Diatomeen und Desmidiaceen gefunden. Da diesen Organismen alle Bewegungs- organoide völlig fehlen, war zu erwarten, dass die Erscheinung, welche von solchen Gebilden unabhängig ist, die Erscheinung der Secretion unter dem Einfluss taktiler Reize hier eine besondere Ausbildung erfahren haben würde, und das ist in der That der Fall. Die Secretion einer klebrigen Gallerte, von der bei Desmidiaceen nachgewiesen ist, dass sie erst unter der Ein- wirkung von Berührungsreizen vor sich geht, ist die einzige und sehr auf- fällige Erscheinung, die diese Protisten darbieten. Dass durch die sehr gesteigerte Secretion sogar eine active Ortsbewegung erfolgt, wie für Os- . eillariaceen und Desmidiaceen feststeht, ist gewiss eine höchst eigen- artige Anpassung: der Berührungsreiz selbst bewirkt die Bewegung. 294 AuGust PÜTTER: Im Wesentlichen dieselbe Art der Bewegung bieten die Gregarinen und Coccidien dar, was deshalb besonders interessant erscheint, da an eine directe Verwandtschaft derselben mit den genannten Protophyten- doch wohl kaum gedacht werden kann und wir hier also einen Fall von physiologischer Convergenz vor uns haben, der eine morphologische nicht zur Seite steht. Wie zweckmässig diese Anpassung für Gre- garinen und Coceidien sein mag, kann man sich vorstellen, wenn man erwägt, dass alle diese Thiere Parasiten sind, theils in Organen wohnhaft, in denen, wie im Darm und Circulationssystem, die Gefahr vorliegt, von den herrschenden Bewegungen der Flüssigkeit fortgeführt zu werden, eine Gefahr, die bei der theilweise beträchtlichen Kraft der Strömungen wohl unmöglich durch die Erwerbung negativer Rheotaxis aufgehoben werden konnte, gegen die aber das Festhaften z. B. an der Darmwand genügenden Schutz zu gewähren scheint. Wenn es richtig ist, dass Gregarinen und Coccidien von Fla- gellaten (Volvocineen) abstammen, wie Schaudinn vermuthet, so können wir uns leicht vorstellen, wie die Fähigkeit der positiven Thigmo- taxis des Körpers bei dem Uebergang zur parasitischen Lebensweise die grössere Bedeutung, gegenüber der negativen Thigmotaxis der Geisseln ge- wann, was endlich zum völligen Verlust derselben und andererseits zur extremen Entwickelung der Fähigkeit, klebrigen Schleim zu secerniren, geführt hat, einer Fähigkeit, die, wie wir sahen, bei Flagellaten schon vorhanden ist und nur der weiteren Ausbildung bedurfte. Zur Theorie der Galvanotaxis. 1. Die Theorie der indirecten Wirkung des galvanischen Stromes. we Die Ansicht, welche besonders Verworn in einer Reihe von Arbeiten vertreten hat, dass das Pflüger’sche Zuckungsgesetz der Muskeln und - Nerven keine allgemeine Gültigkeit für die lebendige Substanz habe, ist neuerdings namentlich von Loeb bekämpft worden, besonders in seiner vierten Mittheilung „Zur Theorie des Galvanotropismus“.! Soweit sich diese Arbeit auf die Hautdrüsen von Amblystoma bezieht, kann ich sie nicht kritisiren, wohl aber möchte ich einige Einwände gegen die Schlüsse er- heben, die aus den Beobachtungen an Protozoön gezogen worden sind. Als Resultate seiner Arbeit stellt Loeb folgende Sätze auf.? ! Jacques Loeb und Sidney P. Budgett, Pflüger’s ‘Archiv. 1897. Bd. LXV. S. 518—534. 2 A.2a.0. 8.533. STUDIEN ÜBER THIGMOTAXIS BEI PROTISTEN. 295 1. „Die Erregungserscheinungen bezw. der Zerfall an der Anodenseite von Amblystoma und Protozoön rühren her von der Ausscheidung elektropositiver Ionen des äusseren Blektrolyten an der Anodenfläche des betreffenden Organismus. Das Freiwerden dieser Ionen führt zur Bildung von Alkalien, und die letzteren bewirken die Secretion bezw. das Ein- schmelzen an der Anodenseite. 2. Beweis hierfür ist: a) dass verdünnte Natronlauge bei Amblystoma und Protozoön genau dieselben Erscheinungen herbeiführt, wie der Strom an der Anode; b) dass die Secretionsvorgänge bezw. die Einschmelzungs- processe überall da stattfinden, wo die von der Anode des äusseren Elektro- lyten ausgehenden Stromfäden in den Protoplasmakörper eintreten; c) dass eine gewisse Dauer des Stromes erforderlich ist, um die Wirkungen herbei- zuführen. 3. Die Ausscheidung elektronegativer Ionen an der Kathodenfläche dieser Organismen führt im Allgemeinen nicht zu den typischen Aetz- wirkungen der Säure. 4. Der Grund hierfür dürfte vielleicht darin zu suchen sein, dass erstens die Substanz der betreffenden Organismen alkalisch reagirt und es deshalb zunächst nur zur Abnahme der Alkalescenz, aber nicht zur Aetz- wirkung der Säure kommen dürfte, und zweitens darin, dass das Frei- werden der elektronegativen Ionen nicht nothwendig zur Bildung freier Säure führt. 5. Mit diesen Thatsachen gewinnt die Annahme an Wahrscheinlich- keit, dass alle galvanischen Wirkungen nur indirecte sind, und dass sie in Wirklichkeit nur bedingt sind durch die chemischen Wirkungen der aus- geschiedenen Ionen, bezw. der durch dieselben gebildeten Verbindungen, wobei es zur Erregbarkeitserhöhung vielfach, wenn nicht immer, da kommt, wo die Ausscheidung elektropositiver Ionen stattfindet.“ Dass an den Anodenflächen der Organismen elektropositive Ionen des äusseren Elektrolyten abgeschieden werden, ist unbestreitbar; es handelt sich nur darum, festzustellen, ob es diese äusseren elektrolytischen Vorgänge sind, welche erregend, eventuell einschmelzend wirken, oder die inneren elektrolytischen Vorgänge, die polare Erregung der lebendigen Substanz, deren thatsächliche Existenz ebenfalls unbestreitbar ist. Gehen wir auf die Beweisgründe etwas näher ein: Zunächst stützt Loeb seine Ansicht darauf, dass die Erscheinungen der Einschmelzung unter dem Einfluss verdünnter Natronlauge grosse Aehnlichkeit mit denen unter der Wirkung der galvanischen Ueberreizung stattfindenden haben: die Pellicula erhebt sich und bildet hyaline Blasen, das Plasma zerfliesst, 296 Au@usTt PÜTTER: bei Paramaecium bildet sich am Hinterende ein Zipfel. Bei Einwirkung der Natronlauge gehen diese Einschmelzungsprocesse an der ganzen Körper- oberfläche vor sich, bei galvanischer Reizung dagegen treten sie, nach Loeb, nur an der Anodenseite des Thieres auf. Träfe diese letzte Behauptung, die, wie Loeb selber sagt, eine nothwendige Folge des Umstandes ist, dass der Strom nur eine polare alkalische Aetzung hervorruft, wirklich zu, so würde die Theorie der äusseren elektrolytischen Wirkung des gal- vanischen Stromes darin eine Stütze finden. Dem ist nun aber nicht so. Wie Ludloff! in seinen vortrefflichen „Untersuchungen über den Gal- vanotropismus“ festgestellt hat, treten vielmehr die Erscheinungen an beiden Polen auf, was auch durch eine Abbildung erläutert wird, ja das Schwellen des Körpers ist zuerst an der Kathode zu beobachten. Da nun an diesem Pole die Säure, gleichgültig ob frei oder, wie Loeb behauptet, in anderer Form, abgeschieden wird, ist es jedenfalls undenkbar, dass hier eine Aetz- wirkung durch Alkalien hervorgerufen werden könnte. Man wird viel- mehr besser thun, diese Form des Absterbens, die an Anode und Kathode sowohl, wie unter der Einwirkung von Alkalien stattfindet, als eine speci- fische Eigenthümlichkeit von Paramaecium anzusehen, anstatt sie auf specifiiche Wirkung einer Gruppe chemischer Stoffe zurückzuführen. Kann man also negativ nachweisen, dass es nicht die Wirkungen chemischer Stoffe ausserhalb des Thierkörpers sind, die die Zerfallserscheinungen an der Anode bewirken, so kann andererseits auch der positive Nachweis erbracht werden, dass thatsächlich an der Anode eine Contraction stattfindet, selbst wenn man, wie Loeb, nur die groben Formveränderungen des Körpers und nicht die so genau bekannte Wimperbewegung desselben beachtet. Ludloff stellte fest, dass ein Paramaecium, welches bei Schliessung des Stromes gerade senkrecht zu dessen Richtung liegt, sich nach der Anode hin krümmt. Die concave, zur Anode gelegene Seite ist dann doch offenbar kürzer als die convexe, der Kathode zugewandte, und auch kürzer als sie es vorher war, als das Thier geradegestreckt lag, es hat also an der Anode eine Contraction stattgefunden. | Als zweites Argument für seine Ansicht führt Loeb an, „dass die Secretionsvorgänge bezw. die Einschmelzungsprocesse überall da stattfinden, wo die von der Anode des äusseren Rlektrolyten auscehenden Stromfäden in den Protoplasmakörper eintreten“. Inwiefern hierin ein Beweis liegen soll, weiss ich nicht; weder Verworn noch Ludloff haben das je bestritten, es ist eine Thatsache, über die alle Beobachter einig sind, und die daher zur Entscheidung für oder gegen eine der beiden Anschauungen gar nicht herangezogen werden kann. ! Ludloff, Pflüger’s Archiv. 1895. Bd. LIX. 8. 525—556. a STUDIEN ÜBER THIGMOTAXIS BEI PROTISTEN. 297 Es muss hier auch auf einen Versuch eingegangen werden, den Loeb beschreibt, und dem er ziemliche Bedeutung für die Theorie der galvani- schen Reizung beizulegen scheint. Er fügte zu dem Wasser, in dem die Paramaecien galvanisch durchströmt wurden, physiologische Kochsalz- lösung hinza und fand, dass nun die Thiere nicht mehr vorwärts zur Kathode, sondern rückwärts zur Anode schwammen. Er giebt auch an, dass ohne galvanischen Strom in physiologischer Kochsalzlösung dieselbe Erscheinung zu beobachten ist, und fährt dann fort: „Das erklärt, warum sie (die Paramaecien) in physiologischer Kochsalzlösung zur Anode anstatt zur Kathode gehen.“ Ich kann eine Erklärung im Sinne der elektro- lytischen Wirkung des galvanischen Stromes hierin nicht finden. Die elektrolytischen Vorgänge in der Kochsalzlösung sind doch nicht principiell verschieden von jenen, die im Infusions- oder Leitungswasser vor sich gehen, in dem man die Thiere gewöhnlich untersucht. So enthält z. B. das Wasser in Jena, Leitungswasser sowohl wie das der Gewässer der Umgegend, recht viel Caleiumcarbonat, dessen elektrolytische Zerlegung nie einen Ein- fluss auf die Schwimmrichtung der Thiere hervorgerufen hat. Aber ganz abgesehen von diesen Bedenken, muss ich mich gegen den Versuch als solchen wenden, da er eine bedeutende Fehlerquelle enthält. Wie erwähnt, schwimmen die Paramaecien, wenn man sie in Kochsalz- lösung bringt, rückwärts, es ist dies eine Erscheinung, die ganz allgemein bei allseitiger chemischer Reizung der Thiere auftritt. Befinden diese sich gerade im galvanischen Strome, sind also alle gleich gerichtet, so schwimmen sie bei Reizung durch Kochsalz nun alle in gleicher Richtung rückwärts. Dass diese Erscheinung nichts mit dem galvanischen Strom und seinen Wirkungen zu thun hat, geht schon daraus hervor, dass das wesentlichste Moment bei der galvanischen Reizung, die Axeneinstellung, durch die chemische Reizung gar nicht verändert wird. Noch besser aber lässt sich der Beweis, dass die Wirkung des galvanischen Stromes durch Koch- salzlösung nicht geändert wird, in folgender Weise erbringen: Lässt man die Thiere in Kochsalzlösung einige Zeit stehen, so ge- wöhnen sie sich an das neue Medium und schwimmen wieder in normaler Weise vorwärts. Wartet man mit der galvanischen Durchströmung so lange, bis dieser Zustand eingetreten ist, so erfolgt das Hinschwimmen der Thiere zur Kathode mit genau derselben Exactheit, wie vorher im gewöhnlichen Wasser. Ich habe diese Versuche nicht nur mit Kochsalzlösung gemacht, sondern auch die Galvanotaxis in Magnesiumsulfatlösung von 5 Procent, Bariumchlorid 1 Proc., Natriumphosphat 1 Proc., Kupfersulfat 0.02 Proc. untersucht und stets das gleiche Resultat erzielt, wenn ich wartete, bis die Thiere wieder ihre normale Bewegungsart angenommen hatten. Die an- gegebenen Concentrationen wurden ohne sichtbare Schädigung ertragen. 298 August PÜTTER: Endlich mag noch eine Beobachtung Platz finden, welche die Un- abhängigkeit der Galvanotaxis vom Medium sehr schön demonstrirt. Nach Loeb’s Auffassung kommt die bekannte, unter Ciliaten einzig dastehende anodische Galvanotaxis von Opalina dadurch zu Stande, dass diese Thiere stets in physiologischer Kochsalzlösung untersucht werden. Ich fand nun im Darm eines Frosches neben Opalina ranarum Stein auch Balan- tidium entozoon (Ehrbg.) und untersuchte beide in derselben Flüssig- keit, in Kochsalzlösung, auf ihre Galvanotaxis. Dabei ergab sich, dass Opalina zur Anode, Balantidium aber in ganz demselben Medium, ebenso wie alle anderen Ciliaten, zur Kathode schwamm, was doch wohl dafür spricht, dass die chemische Zusammensetzung des Mediums nicht der bestimmende Factor beim Zustandekommen der Galvanotaxis ist. Es bleibt noch übrig, das dritte Argument zu prüfen, das die indirecte Wirkung des galvanischen Stromes beweisen soll; es ist das, „dass eine gewisse Dauer des Stromes erforderlich ist, um die Wirkungen herbei- zuführen“. Unter den Wirkungen sind nur die Einschmelzungsvorgänge am Zellkörper zu verstehen, und dies zeigt am besten die Schwäche. der Theorie, die auf die Erscheinungen der geringen und mittleren Reizung fast gar keine Rücksicht nimmt und lediglich aus der Beobachtung der Ueberreizungserscheinungen eine Theorie des physiologischen Ge- schehens bei der Galvanotaxis ableitet. Durch die Zipfelbildung und Ein- schmelzung an der Anode, die Erscheinungen, auf welche Loeb den Haupt- werth legt, kann nie eine Bewegung und Axeneinstellung zu Stande kommen, wie sie so charakteristisch für die Galvanotaxis ist. Diese Bewegungen werden durch die Wimpern vermittelt, und nur aus ihrer Beobachtung kann man einen Einblick in die physiologischen Vor- gänge der Galvanotaxis erhalten. Ludloff’s oben erwähnte Arbeit, deren Resultate sowohl ven Verworn, als auch neuerdings von Pearl in seiner oben citirten Arbeit, die aus- gezeichnete Beobachtungen über die Beeinflussung des Wimperschlages bei Golpidium giebt, in vollem Umfange bestätigt worden sind, enthält diese Beobachtungen in vollständigster Weise. Aus ihnen geht völlig eindeutig hervor, dass durch den Strom die Anode contractorisch, die Kathode expan- sorisch erregt wird, und diese Wirkung des Stromes ist momentan. Wie aus diesen beiden Vorgängen sich zwanglos die Erscheinungen der Axeneinstellung, der Verlangsamung der Bewegung bei starken, das Rück- wärtsschwimmen bei noch stärkeren Strömen ableiten lassen, mag in den Öriginalarbeiten verglichen werden. Für die beiden letzteren Erscheinungen der Verlangsamung und des Rückwärtsschwimmens, ist die Theorie der indireeten Wirkung des galvanischen Stromes bisher noch jede Erklärung schuldig geblieben. STUDIEN ÜBER THIGMOTAXIS BEI PROTISTEN. 299 2. Die Theorie der kataphorischen Wirkung des galvanischen Stromes. Es ist hier einer neuen Arbeit zu gedenken, die den Beweis zu erbringen sucht, dass „die kataphorische Wirkung des Stromes und die allgemeine Erregbarkeit der Infusorien zusammen die für die Erhaltung aller drei Arten von Galvanotaxis nöthigen Bedingungen bilden“.! Zunächst giebt die Arbeit eine Reihe recht hübscher Versuche, durch die festgestellt wird, dass Paramaecien sich in einer Flüssigkeit, in deren verschiedenen Theilen verschiedene Stromstärken wirken, stets von dem Gebiet der grösseren Stromstärke entfernen und in Curven zur Kathode des Oeffnungsschlages schwimmen. (Es wurden Inductionsströme angewandt.) Diese Thatsache erklärt sich nach Verworn’s Theorie der polaren Wirkung des galvanischen Stromes sehr einfach aus der contractorischen Erregung der Wimpern an der Anode, der expansorischen an der Kathode. Es wird dann festgestellt, dass Körnchen von Carmin, Stärke und Lycopodiumsamen, die in der Flüssigkeit suspendirt sind, durch die kata- phorische Wirkung des galvanischen Stromes ebenfalls zur Kathode geführt werden, aber nicht wie die Paramaecien auf den Wegen, wo die Strom- stärke am geringsten ist, sondern umgekehrt auf denen der grössten Strom- stärken. Um diese kataphorische Wirkung an mikroskopischen Körn- chen zu erhalten, müssen übrigens, wie der Verfasser selbst angiebt, stärkere Ströme verwandt werden, als nöthig sind, um die ungleich grösseren, schon mit blossem Auge sichtbaren Paramaecien zur Kathode zu lenken. Denn während die Erscheinungen an Paramaecien schon bei einer Entfernung von 15 bis 20°® der primären von der secundären Spirale des du Bois-Reymond’schen Inductionsapparates eintraten, wurden die Erscheinungen an den Carminkörnchen erst „bei mehr oder weniger vollständiger Hinüberziehung der secundären Spirale über die primäre“ erzielt. Eine Erklärung dieser Erscheinung, die doch zu Zweifeln Anlass geben sollte, ob es nicht doch verschiedene Gründe sein möchten, die das Strömen der Carminkörnchen und das Hinschwimmen der Paramaecien zur Kathode des Oeffnungsschlages bewirken, wird nicht gegeben. Das Fortschwimmen der Paramaecien aus dem Gebiet der grössten Stromstärke, das der auffallendste Unterschied zwischen dem Verhalten der Körnchen und der Paramaeecien ist, sucht Birukoff durch „die allge- meine Erregbarkeit“ der Paramaecien zu erklären. Es dürfte schwer sein, sich unter dieser Bezeichnung etwas Bestimmtes vorzustellen, und der ! Boris Birukoff, Untersuchungen über Galvanotaxis. Pflüger’s Archiv. 1899. Bd. LXXVIIL. 8. 555—585. 300 August PÜTTER: Werth eines solchen Begriffes für die Erklärung der Bewegungen von Paramaecium wird um so zweifelhafter, als uns die speciellen Erregungs- vorgänge, die der galvanische Strom hervorruft, durch Ludloff’s schon oben erwähnte Arbeit so genau bekannt geworden sind. Gestützt auf die Thatsachen der Physik, dass verschiedene Körper durch den Strom in entgegengesetzter Richtung kataphorisch fortgeführt werden können, dass ferner derselbe Gegenstand bei starken Strömen in entgegengesetzter Richtung, wie bei schwachen kataphorisch bewegt werden kann, sucht Birukoff die Argumente Verworn’s zu widerlegen, die dieser in den Arbeiten über „die polare Erregung der Protisten durch den galva- nischen Strom“ angeführt hat. Auf eine Kritik dieser Ausführungen kann hier verzichtet werden; sie leiden, abgesehen von allem Anderen, an dem grossen Fehler, dass die kataphorischen Erscheinungen bei sehr starken Strömen an sehr kleinen Körpern beobachtet, und diese Resultate dann zur Erklärung der Bewegung relativ grosser Körper bei schwachen Strömen verwandt wurden. Die Untersuchungen an Stylonychia, Urostyla, Chilodon u.s.w. ergaben nun aber eine Thatsache, für die auch unter den eben als unzu- lässig charakterisirten Voraussetzungen eine Erklärung auf Grund der Theorie der kataphorischen Wirkung des galvanischen Stromes nicht denkbar ist. Wie oben beschrieben, verhält sich eine freischwimmende Stylo- nychia genau wie Paramaecium gegen den galvanischen Strom, dagegen stellen sich alle thigmotaktisch an den Boden gefesselten Thiere senkrecht zur Stromrichtung, so dass sie die Kathode zur Linken haben. Dies ist, wie oben gezeigt werden konnte, eine Interferenzerscheinung der Thigmo- taxis mit der polaren galvanischen Erregung des Protists; sie als Resultat einer kataphorischen Wirkung des Stromes aufzufassen, ist völlig undenkbar. Birukoff erzielte dadurch, dass er Oeffnungs- und Schliessungsschlag gleich stark machte, bei Paramaecium ein Schwimmen senkrecht zur Richtung des Stromes, eine Erscheinung, die eine scheinbare Aehnlichkeit mit den oben beschriebenen Vorgängen transversaler Axeneinstellung hat. Dass die Aehnlichkeit nur eine scheinbare ist, geht schon aus der Versüchsanordnung hervor, denn ein Wechsel von Oeffnungs- und Schliessungsschlägen fand bei den oben beschriebenen Versuchen nicht statt, es wurden vielmehr constante Ströme verwandt. Wurde der Strom gewendet, so machten, wie oben beschrieben, alle thigmotaktischen Thiere eine prompte Kehrt- wendung, und die directe Beobachtung lehrt, dass dies eine einfache Folge der Erregung bestimmter Wimpergruppen ist. Als kataphorische Wirkung des Stromes dagegen ist diese Erscheinung völlig unerklärbar. Sollten also auch alle Argumente, deren Verworn eine ganze Reihe zum Beweis der polaren Erregbarkeit angeführt hat, für nicht stichhaltig ne ns > STUDIEN ÜBER THIGMOTAXIS BEI PROTISTEN. 301 genug erachtet werden, so sind die Thatsachen, welche die Untersuchung der oben aufgezählten Thiere ergeben haben, derart, dass sie allein genügen, die Theorie der kataphorischen Wirkung völlig zu widerlegen. Auch die Theorie der äusseren elektrolytischen Wirkung des Stromes, deren Haltlosigkeit oben schon aus anderen Gründen aufgezeigt wurde, dürfte nicht im Stande sein, sich mit den sicher beobachteten Thatsachen der Wimperbewegung und des dadurch bewirkten plötzlichen, momen- tanen Kehrtmachens bei Stylonychia, Urostyla u. s. w. abzufinden. Die vorliegenden Untersuchungen habe ich im Sommer dieses Jahres unter der Leitung von Herrn Professor Verworn gemacht. Für seine liebenswürdige Unterstützung, die er mir in weitestem Umfange bei den- selben zu Theil werden liess, sowie für die reiche Anregung, die ich aus dem persönlichen Verkehr mit ihm empfing, möchte ich ihn an dieser Stelle meiner dauernden Dankbarkeit versichern. Einige Resultate. 2 1. Die Thigmotaxis in ihren beiden Formen, der positiven und negativen, ist eine in allen Classen der Protisten ungemein weit ver- breitete, wahrscheinlich ganz allgemeine Erscheinung. 2. Sie äussert sich a) in einer Beeinflussung der Bewegungsorganoide, Pseudopodien, Geisseln und Wimpern; letztere werden durch schwache Con- tactreize in ihrer Bewegung gehemmt. b) in der Secretion eines klebrigen Schleims, der bei Rhizopoden sichtbar, bei Flagellaten und Ciliaten meist nur indireet nachweisbar ist, bei den Oscillarien, Diatomeen, Desmidiaceen, sowie Grega- rinen und Coccidien aber die wesentlichste Erscheinung der Thigmotaxis dieser Organismen ist. 3. Die Kraft, mit der die thigmotaktischen Thiere der Unterlage anhaften, ist sehr bedeutend, selbst maximale Wärmereizung vermag bei vielen (Euglena, Chilodon, Stylonychia, Spirostomum u. s. w.) nicht, die Thigmotaxis aufzuheben, diese Thiere gehen thigmotaktisch zu Grunde. 4, Die Kältewirkung besteht meist in einer Herabsetzung der Be- wegung, ihre Wirkung summirt sich also mit der des schwachen Contactreizes. 5. Eine Ausnahme bildet nur Stylonychia mytilus Müll, auf welche Abkühlung als ein ungemein stark erregender Reiz ein- wirkt. Es kommt hier zu keiner Kältestarre, sondern schon bei + 4-5° bis 4° C. tritt körniger Zerfall ein. Auch Wärmestarre kommt bei Stylonychia nicht zu Stande, sondern auch hier tritt, bei 34° C., körniger Zerfall ein. 302 Ausust PÜTTER: STUDIEN ÜBER THIGMOTAXIS BEI PROTISTEN. 6. Die transversale Axeneinstellung gegen den galvanischen Strom, die bisher nur bei Spirostomum ambiguum Ehrbg. bekannt war, findet sich auch bei Spirostomum teres Clap. u. L., bei Colpidium col- poda (Ehrbg.), Chilodon cucullulus Müll, Bursaria truncatella Müll, Stylonychia mytilus Müll. Urostyla grandis Ehrbg. Sie stellt keine einfache Wirkung des galvanischen Stromes, keine transversale Galvanotaxis dar, sondern ist eine Interferenzerscheinung der Galvanotaxis und Thigmotaxis. 7. Die Axeneinstellung erfolgt stets in der Art, dass das Peristom der Kathode zugewandt ist. Die Drehung und die Richtung der Drehung bei der. thigmotaktischen Thieren hängt wesentlich von der Lage des Peristoms ab. 8. Die Erregungserscheinungen und ihre maximale Aeusserung, der Zerfall an der Anode des Zellkörpers sind eine Folge der polaren Erregung der lebendigen Substanz selbst durch den Strom, keine Wirkung äusserer elektrolytischer Vorgänge, durch welche Alkalien an der Anode abgeschieden werden. 9. Beweis hierfür ist: a) Dieselben Hinschmelzundssnchein esen wie an der Anode treten auch an der Kathode auf, wo keine Alkalien abgeschieden werden, können also nicht auf die speeifische Wirkung solcher Stoffe zurückgeführt werden, sondern sind als eine specifische Eigenthümlichkeit des Protoplasmas von Paramaecium anzusehen. b) Die Wirkung des Stromes auf die Cilien, durch deren Schlag ja die Axeneinstellung zu Stande kommt, ist momentan, nur seine Wirkung auf die Körperform, Zipfelbildung und Aufquellen mit Zerfall, bedarf zu ihrer Entwickelung einer gewissen Zeit. 10. Die Erscheinung, dass Paramaecien in physiologischer Kochsalz- lösung rückwärts zur Anode schwimmen, ist durch chemische Reizung be- dingt und nicht durch elektrolytische Vorgänge. 11. Beweis dafür ist, dass, sobald die Wirkung der chbmhischen Reizung aufgehört hat und die Thiere sich wieder normal bewegen, in Kochsalz- lösung, ebenso auch in Lösungen von Kupfersulfat, Magnesiumsulfat, Natrium- phosphat und Bariumchlorid, ganz wie in gewöhnlichem Wasser, die Erscheinungen der kathodischen Galvanotaxis zu beobachten sind. 12. Die Erscheinungen der Galvanotaxis sind nicht als kataphorische Wirkungen des galvanischen Stromes erklärbar. Besonders die Thatsache der transversalen Einstellung gegen den Strom, das „Kehrtmachen“ der transversal galvanotaktischen Thiere bei Wenden desselben, durch das er- reicht wird, dass das Peristom stets der Kathode zugewandt ist, lässt sich unmöglich als eine kataphorische Wirkung des Stromes deuten. Verhandlungen der physiologischen Gesellschaft | zu Berlin. Jahrgang 1899—1900. XI. Sitzung am 18. Mai 1900. 1. Hr. H. VırcHow hält den angekündigten Vortrag: Ueber die Dicke der Weichtheile an der Unterseite des Fusses beim Stehen auf Grund von Röntgenbildern. Das Problem der Mechanik des Fusses beim Stehen, welches nach ge- wissen älteren Darstellungen so einfach schien, setzt sich thatsächlich aus einer Reihe von Einzelproblemen zusammen, von denen jedes beanspruchen kann, für sich betrachtet zu werden. Eines derselben besteht darin, dass die Knochen des Fusses nieht unmittelbar auf dem Boden ruhen, sondern von einer Schicht von Weichtheilen, von einem Polster getragen werden, welches sich nicht aus einander treten lässt, wie ein Gipsbrei oder ein Fladen, in welchen wir absichtlich oder unabsichtlich unseren Fuss setzen, sondern zusammenhält. Obwohl diese Thatsache bei jeder Präparation des Fusses bemerkt wird, so ist sie doch meines Wissens im Zusammenhange mit dem mechanischen Problem nicht beachtet worden und dadurch in letzterem eine Lücke geblieben. Ob der Fehler so gering ist, dass er ver- nachlässigt werden darf, wird sich a priori nicht sagen lassen; jedenfalls muss die Sache geprüft werden. Ich habe dieses Polster und seine mechanischen Eigenschaften stets beachtet, namentlich in Verbindung mit meiner Vorlesung über Anatomie für Künstler, und vor 1!/, Jahren Hrn. Lambertz, Stabsarzt an der Kaiser Wilhelms-Akademie, um eine X-Aufnahme des Fusses beim Stehen gebeten, bei welcher streng darauf geachtet wurde, dass die Antikathode in Höhe der oberen Fläche der Glasplatte war, welche als Unterlage diente. Letzteres wurde von Hrn. Lambertz dadurch erreicht, dass er Heftzwecken mit den Köpfen nach unten auf die Glasplatte legte, wo dann im X-Bilde die Köpfe als einfache Striche erscheinen mussten. Auf einem der vorgelegten Negative sind solche Heftzwecken zu sehen; die Einstellung ist dort so genau, dass zwischen der Unterlage und dem Rande des Kopfes ein feiner keilförmiger Spalt sichtbar ist, da der Kopf nicht völlig plan, sondern ganz leicht ge- wölbt war. 1 Ausgegeben am 5. Juni 1900. 304 VERHANDLUNGEN DER BERLINER Es handelte sich damals für mich nur darum, ein Demonstrationsbild für. Vorlesungen zu erhalten. Der Aufgenommene war ein junger Mann (Student) von guter, aber nicht; besonders kräftiger Körperentwickelung und mässiger Fettbildung. Inzwischen erhielt ich zufällig durch Hrn. General- oberarzt Stechow in Colmar das Bild eines Plattfusses und zum Vergleich das eines Fusses mit ungewöhnlich hohem Spann; auch diese beiden streng orientirt. Da in Folge dessen die Frage nach dem Abstande der Knochen von der Unterlage mein Interesse in zunehmender Weise erregte, so wendete ich mich noch ein Mal an die Güte des Hrn. Lambertz und erhielt die Aufnahme von dem Fusse eines jüngeren Collegen (Dr. F.) mit gut ent- wiekelter, turnerisch geübter Musculatur, aber schwacher Fettentwickelung, welcher durch anatomische, künstlerische und gymnastische Schulung vor- züglich geeignet war, das Problem zu verstehen und auch die feineren Unterschiede in den verschiedenen Arten der Fussstellung zu empfinden. Da sich nun herausgestellt hatte, dass sich bei einseitiger Belastung, wobei der andere Fuss nur als Seitenstütze Verwendung fand, leicht die Neigung einstellt, den Druck mehr gegen den lateralen Fussrand zu legen, so wurden dies Mal beide Füsse zum Tragen benutzt, allerdings der durchstrahlte vor- wiegend; auch darauf geachtet, dass der Unterschenkel senkrecht stand und der Druck sich auf vorderen und hinteren Ballen gleichmässig vertheilte. Die Ergebnisse dieser vier Aufnahmen, denen weiter unten eine fünfte angereiht werden wird, folgen hier in tabellarischer Darstellung, ‘wobei 8. und F. die beiden durch Hrn. Lambertz aufgenommenen Personen, P. (Platt- fuss) und O. die beiden Fälle des Hrn. Stechow bedeuten. Die Abstände vom Boden wurden gemessen für das Tuber calcanei, das mediale Sesambein der Art. metatarso-phal. I und die unteren Ränder der fünf Metatarsalköpfchen. Cale. Ses. M]I.. M.]1. M.IIl.. .M.IV. M.\V. S. I 5 12552 7710 - J $) F. 7 Deo — = — = 6 1 11 10 — I 8 7 4.5 O. 10 8 14 11 9.5 8 6-5 Hat man gegen die Verwerthung des Plattfusses in diesem Zusammen- hang Bedenken, so kann man ihn auslassen; es kommt darauf nichts an. Wie man aus den Lücken in der Tabelle ersieht, waren nicht in allen, Fällen sämmtliche Bestimmungen möglich, was sich leicht begreift, wenn man ein Fussskelet vor sich hinhält und in der Weise betrachtet, wie es den Aufnahmen entspricht. Der Abstand der Platte von der Antikathode war in den beiden ersten Aufnahmen 50°%. Der mediale Fussrand lag der Platte an, und der „Axenstrahl“, d.h. der zur Platte senkrecht gezogene Strahl, halbirte die Fusslänge. Unter diesen Bedingungen sind stets deutlich sichtbar das fünfte und vierte Köpfchen und das mediale Sesambein; ver- deckt sind das laterale Sesambein, was ohnedies, wie die anatomischen Lehr- bücher mittheilen, das kleinere ist, und fast oder gänzlich verdeckt das dritte und zweite Köpfchen; das zweite kann jedoch vor dem Sesambein in der Spalte zwischen Metatarsale I und grosser Zehe sichtbar werden. Der Kopf des ersten Metatarsale kann, trotzdem er der Platte am nächsten ist, undeutlich sein, weil gerade an dieser Stelle so viele Knochen hinter ein- ander liegen; andererseits können aber auch an seinem unteren Rande zwei PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — H. VIRCHOw. 305 Linien anstatt einer sichtbar werden, von denen die höher stehende der Rinne für das mediale Sesambein entspricht. Um nun den eben gemachten Angaben über die Abstände der einzelnen Knochenpunkte vom Boden ihren Platz innerhalb des Gesammtproblemes der Fussstatik anzuweisen, muss ich an die Verhältnisse des Skeletes erinnern. Die alte Auffassung von den drei Punkten, auf welche sich der Fuss beim Stehen stützen soll, Tuber calcanei, Köpfchen des ersten und fünften Meta- tarsale, ist seit langer Zeit von allen denen verlassen worden, welche den Fuss wirklich untersucht haben. Die Form des Fusses, wenn er belastet wird, ändert sich!, und die vorher erhobenen Köpfchen der mittleren Meta- tarsalien treten zwischen dem ersten und fünften abwärts. Diese Aenderung der Fussform pflege ich seit 15 Jahren in Vorlesungen an Abgüssen zu demonstriren, welche den Fuss „in fünf Phasen des Schrittes“ wiedergeben. [Zwei von diesen Abgüssen werden vorgelegt.| Bei der Frage des Stützens muss also der ganze vordere Ballen in Betracht gezogen werden, und es fragt sich nur, in welchem Maasse die einzelnen Metatarsalien zur Ver- wendung kommen. H.v. Meyer hat diese Aufgabe dem dritten Mittelfuss- knochen zugewiesen; Beely verbreitert die Unterstützungsfläche, indem er das zweite Metatarsale hinzufügt. Ich möchte bei dieser Gelegenheit auf den Vortrag Bezug nehmen, den vor einiger Zeit Hr. Muskat in dieser Gesellschaft gehalten hat und der inzwischen als besondere Mittheilung er- schienen ist.” Muskat, der durch Beely in die betr. Fragen eingeführt ist, theilt der Hauptsache nach den Standpunkt des Genannten, modificirt ihn jedoch dahin, dass jedem der beiden Mittelfussknochen eine „selbst- ständige Function zukommt“. Er schliesst dies daraus, dass Brüche der Mittelfussknochen, von welchen in den letzten Jahren durch Verwendung ‚der X-Strahlen eine grössere Anzahl bekannt geworden ist, in der Mehrzahl der Fälle den zweiten oder dritten und viel seltener beide Knochen gleich- zeitig treffen. Muskat hat über diese Art der Fussverletzungen eine inter- essante Arbeit veröffentlicht,” aus welcher hervorgeht, dass die bekannt gewordenen Fälle nahezu ausschliesslich dem Militärstande angehörten. So werthvoll aber diese Mittheilung für die Statistik ist, so wenig scheint sie mir für die Statik des Fusses zu bedeuten. Wenn auch die genauere Aetiologie der Verletzung merkwürdiger Weise durch die Anamnesen nicht genügend aufgeklärt ist, so wird man doch kaum annehmen, dass die Mittel- fussknochen beim Stehen brechen, sondern bei der Bewegung; und der Umstand, dass derartige Unfälle sich so überwiegend häufig beim Militär ereignen, legt die Vermuthung nahe, dass die besondere Art der militärischen Uebungen dazu prädisponirt, wobei man an den militärischen Uebungsschritt (Stechschritt), vielleicht auch Laufen und Springen denken kann. Hier würde denn der Umstand, dass das zweite und dritte Metatarsale weiter vorstehen als das vierte und fünfte und daher unter den genannten Bedingungen zuerst aufgesetzt werden, einen plausiblen Grund für die vorwiegende Ge- fährdung der ersteren abgeben. Ich möchte also der Aeusserung Muskat’s 1 Verhandlungen der Berliner anthropologischen Gesellschaft. 1886. 8.118. ®? G. Muskat, Beitrag zur Lehre vom menschlichen Stehen. Dies Archiv. 1900. Physiol. Abthlg. 8. 285—291. 3 G. Muskat, Die Brüche der Mittelfussknochen in ihrer Bedeutung für die Lehre von der Statik des Fusses. Sammlung klinischer Vorträge. 1899. Nr. 258. Archiv f. A.u. Ph, 1900. Physiol. Abthlg. Suppl. 20 306 VERHANDLUNGEN DER BERLINER über die mögliche Aetiologie der Metatarsalfracturen zustimmen, soweit der „Parademarsch“,! aber nicht, soweit das „Stillgestanden“ in Betracht kommt. Dass übrigens das erste Metatarsale niemals betroffen wird, ist schon durch die Kürze und Stärke desselben genügend erklärt. Wenn aber nur ein Knochen bricht und nicht der zweite und dritte zu gleicher Zeit, so ist daraus wohl kaum auf eine „selbständige Function“ der einzelnen Knochen zu schliessen; ein etwas schiefes Aufsetzen des Fusses, eine Unebenheit des Bodens, viel- leicht ein Stein, auf den die Sohle trifft, würden, wie mir scheint, näher- liegende Erklärungen sein. Es kommt mir aber überhaupt so vor, als sei in den verschiedenen Lehren das Problem etwas auf die Spitze getrieben. Unsere Soldaten stehen zwar in Parade-Aufstellung mit geschlossenen Hacken, die Soldaten Friedrichs des Grossen aber standen bei der gleichen Gelegenheit breitbeinig; ebenso thun es unsere Soldaten bei der Schiessausbildung. Und auch im gewöhn- lichen Leben beobachtet man dies bei Menschen, welche fest stehen wollen; man wird nicht aus der Theorie ableiten wollen, dass dies unnatürlich sei, denn darüber, was „natürlich“ ist, hat nicht die Theorie, sondern die Er- fahrung zu befinden. Stellt man sich aber so auf und prüft das Gefühl in den Füssen, so lassen sich die lateral gelegenen Metatarsalien, das fünfte, vierte, vielleicht sogar noch das dritte etwas lüften, dagegen ist ausser- dem zweiten auch das erste fixirt. Ich bin daher nach allen Erörterungen bisher immer noch der Meinung geblieben, dass für das Stehen der ganze vordere Ballen in Betracht kommt, dass aber je nach der Art des Stehens die hauptsächlich belastete Stelle wechselt. Ich komme nun auf das Weichtheilpolster zurück. Wenn dieses beim Stehen auch unter den Stützpunkten trotz der Belastung eine nicht unerheb- liche Dicke behält, so lässt dies auf eine feste Spannung innerhalb des Polsters schliessen, und dadurch muss sich der Druck von einer beschränkten kleinen Stelle auf die Nachbarstellen übertragen; demnach können wir dem statischen Problem des Fusses nicht genau die gleiche Fassung geben, wie sie sein würde, wenn die Knochen selbst den Boden berührten. Bevor daher die mechanischen Eigenschaften dieses Polsters nicht genau unter- sucht sind, sollte man der Lehre vom Stehen nicht eine so bestimmte Fassung geben, wie es zu geschehen pflegt. Immerhin ist es wichtig und interessant, die Abstände der einzelnen Knochenpunkte vom Boden festzustellen ER hierzu sich der X-Strahlen zu bedienen. Ein Röntgenbild ist jedoch nicht, worüber alle sorgfältigen Untersucher klar sind, unbesehen als der Ausdruck der wirklichen Verhältnisse hin- zunehmen, sondern bedarf in jedem einzelnen Falle einer weitgehenden Kritik. Handelt es sich, wie hier, um horizontale Durchstrahlung des Fusses, so kommen drei Momente in Betracht: Stellung des Fusses, Richtung der Durchstrahlung, Deutung der Bilder. Ueber die Stellung des Fusses beim Stehen habe ich schon gesprochen; sie kann variiren, besonders wenn die Belastung auf einem Fusse ruht und der andere nur ik Seitenstütze benutzt wird; man ist hier nicht nur von den Intentionen und der Sorgfalt des Untersuchers, sondern auch von dem Feingefühl der Untersuchungsperson abhängig. Im’ Besitz eines so vorzüg- AAO SS PHYSIOLOGISCHEN (FESELLSCHAFT. — H. VIRCHOWw. 307 lichen Hülfsmittels, wie es die X-Strahlen sind, sollte man daher in erster Linie die Stellungsänderung der Knochen bei geänderter Belastung studiren. Ueber die Richtung der Durchstrahlung habe ich gleichfalls schon ge- sprochen. Man kann erwägen, ob die Antikathode in Höhe der Unterseite der Köpfchen oder in Höhe der Bodenfläche eingestellt werden soll. Das erstere verbietet sich dadurch, dass nicht alle Köpfchen in einer Höhe stehen; auch würde dann nicht die ganze Unterstützungsfläche auf eine Linie pro- jieirt werden und daher keine sichere Abmessung möglich sein. Es bleibt daher nur die zweite Art der Einstellung übrig. Hierbei werden allerdings die lateral gelegenen Köpfchen zu hoch projieirt, aber dieser Fehler lässt sich berechnen bezw. construiren. Im vorliegenden Falle gestaltete sich diese Construction in folgender Weise: Der Fuss-Umriss des Dr. F. wurde mit dem „Podographen“ aufgezeichnet, eine X-Aufnahme von dem vorderen Theil dieses Fusses bei senkrechter Durchstrahlung gemacht und darnach die Lage der Köpfchen in die Umrisszeichnung eingetragen. Hiernach liessen sich die Abstände der Köpfchen von der an den medialen Fussrand ange- legten Platte abmessen; dann wurde eine horizontale und eine senkrechte Linie, der Bodenfläche und der Platte entsprechend, gezogen; auf ersterer, in 50°% Abstand von der Platte, die Antikathode angenommen und zwei Punkte, je 6" über der Bodenfläche, gemacht, deren Abstände von der Platte dem ersten und fünften Köpfehen entsprachen. Wurden nun von der Antikathode Linien durch diese beiden Punkte gezogen, so wurde der laterale Punkt (Metatarsale V) 1” höher als der mediale (Metatarsale I) projieirt. Es geht daraus hervor, dass die Zahlen meiner Tabelle einer Correetur bedürfen, und dass die lateralen Köpfchen noch etwas niedriger stehend angenommen werden müssen, als dort angegeben ist. Auch über die Schwierigkeiten in der Deutung der Bilder habe ich schon gesprochen für den bei meinen Aufnahmen gegebenen Fall, dass die Platte an den medialen Fussrand angelegt und die Fusslänge durch den Axenstrahl halbirt war. Es wurde daher auf Vorschlag des Hrn. Lambertz, um die Ueberdeckung der Köpfchen zu vermeiden, noch eine Aufnahme von dem Fuss des Dr. F. bei anderer Durchstrahlungsrichtung gemacht; nämlich die Platte schief vor dem Fuss aufgestellt in der Weise, dass der Axenstrahl unterhalb der Tuberositas des Navieulare und des dritten Metatarsalköpfchens hindurchgehen musste. Hierbei sind die Abstände aller fünf Köpfchen von der Platte fast genau gleich, und eine gegenseitige Ueberdeckung derselben ist gänzlich ausgeschlossen. Die gewonnenen Zahlen waren folgende: S.m. 8.1. M. II. M. III. M.IV. NEAVE 6 6 GR 8-5 7 6 Die Aufstellung war die gleiche, wie sie früher angegeben wurde. Das Bild war leider, wie das Fragezeichen andeutet, nicht in jeder Hinsicht be- friedigend, theils wegen der Dicke der durchstrahlten Schicht, theils weil die Bilder der Zehen eine störende Ueberdeckung veranlassten; es ist aber sicher, dass der untere Rand des zweiten Köpfehens nicht niedriger stand, als angegeben; wenn also die Zahl zu ändern ist, so ist sie zu vergrössern. Diese Reihe steht mit den Zahlen der oben gegebenen Tabelle in Ueber- einstimmung, insofern als die tiefst stehenden Punkte die Sesambeine und das Köpfchen des fünften Metatarsale sind. 20* 308 VERHANDLUNGEN DER BERLINER Ich komme nun noch ein Mal auf den Vortrag des Hın. Muskat zurück, weil in diesem gleichfalls über seitliche Durchstrahlung des Fusses berichtet ist und die Zahlen von den meinigen differiren. Ich habe diese Angaben kritisch zu beleuchten, um sie auf ihre Zuverlässigkeit zu prüfen. Muskat fand, dass beim belasteten Fuss „das Köpfchen des zweiten und dritten Mittelfussknochens deutlich tiefer steht, als die abgrenzbaren Sesam- beine des ersten Mittelfussknochens, und der fünfte Mittelfussknochen weder mit dem Köpfehen, noch mit dem Tuberculum auf dem Boden ruht“ (S. 290). Muskat fügt hinzu: „Taf. Il, Fig. 6 zeigt deutlich das Tieferstehen des zweiten und dritten Mittelfussknochens.“ Dies zeigt die Figur allerdings, aber diese Figur ist kein X-Bild, sondern eine Zeichnung nach einem solchen, und der Leser ist daher von der Zu- verlässigkeit zweier Personen, des Autors und des Zeichners, abhängig. Nun ist, wie man weiss, das Verhältniss des Zeichners zum Autor variabel, bald ist der Zeichner nur der Stift des Autors, bald interpretirt er das Object, und der Autor hat den Vortheil. Im vorliegenden Falle wird der anatomisch gebildete Autor nicht für alle Einzelnheiten der Zeichnung eintreten wollen, z. B. das Keilbein. Allerdings ist dies für das specielle Problem gleichgültig. Bedenklicher ist der Hauteontour an der Unterseite des Fusses. Die un- mittelbare Beobachtung sowie jede Trittspur lehrt, dass eine bedeutende Abflachung stattfindet, welche sich auf dem Bilde durch eine gerade Linie aussprechen muss. In diesem Punkte hat der Zeichner nicht einmal intelligent phantasirt. Indessen man kann selbst dem gegenüber noch entschuldigend sagen: dieser Fussumriss ist zwar nicht schön, aber es kommt ja nur auf die Stellung der Knochen an. Aber wo sind die Sesambeine, bezw. das mediale Sesambein (denn das laterale ist durch das mediale verdeckt), welches ja in erster Linie sichtbar sein muss? Hat es der Autor oder Zeichner weggelassen, um die Betrachtung des Bildes zu erleichtern? Vielleicht! Vielleicht hat er es aber auch nicht gesehen, d.h. es mit dem Köpfchen des zweiten oder dritten Metatarsale verwechselt. Die Angaben des Autors sind auch sonst nicht genau genug; über die Richtung der Durchstrahlung ist gesagt (S. 289), dass die Antikathode „den Mittelfussknochen gegenüber“ stand; aber dies ist unbestimmt, da die Mittelfussknochen eine bedeutende Länge haben. Ueber die Stellung der Röhre in Beziehung auf die Unter- lage ist gar nichts bemerkt. In der Erklärung zu Fig. 6 heisst es: „Der erste und zweite (soll heissen zweite und dritte) Mittelfussknochen stehen tiefer als die Sesambeine des ersten und fünften Mittelfussknochens“; dies ist wohl nur, soweit der fünfte in Betracht kommt, ein Lapsus calami; Sesambeine des fünften Mittelfussknochens kommen allerdings vor (nach Pfitzner das laterale in 6-2 Procent, das mediale in 5-5 Procent), aber Hr. Lambertz theilt mir auf Grund seiner grossen Erfahrungen mit, dass er an X-Bildern ein Sesambein der kleinen Zehe nur in zwei Fällen ge- sehen 'habe. Flüchtigkeiten wie die, welche im vorliegenden Falle in allerdings un- gewöhnlicher Häufung vorliegen, treffen wir in der Röntgen-Litteratur massen- haft, und sie müssen uns zu der Forderung drängen, dass auf X-Bildern Marken, an denen wir die Höhe der Einstellung erkennen können, wie bei unseren Aufnahmen die Heftzwecken, und womöglich auch solche, an denen wir die Richtung der Einstellung erkennen können, mit aufgenommen werden, PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — H. VırcHuow. — E. Benpiıx. 309 damit der Beschauer die Möglichkeit eigener Kritik besitze und nicht auf Treu und Glauben von dem Autor abhängig sei. Trotz der vielen im Vorhergehenden geäusserten Bedenken bestreite ich nieht die Möglichkeit des in dem kritisirten Aufsatz behaupteten Ver- haltens (Tiefstand des zweiten und dritten Köpfehens); nur finde ich es nicht bewiesen, Angesichts der Muskat’schen Darstellung und Angesichts der Original-Aufnahme, welche ich durch die Güte des Autors zu sehen Gelegen- heit hatte, bevor der Vortrag gehalten wurde, wobei ich sogleich meine Bedenken äusserte. A priori wäre ja ein Verhalten der Mittelfussknochen, so wie es Muskat schildert, nach unseren Vorstellungen von der Fuss- mechanik durchaus wahrscheinlich; und ich muss selbst erklären, dass die Zahlen, welche ich gefunden habe, mir unerwartet waren, mich so zu sagen in unliebsamer Weise überraschten. Der Umstand, dass nie ein anderes Köpfchen tiefer stand wie das des fünften Metatarsale, und dass die tiefsten Punkte durch letzteres und die Sesambeine der grossen Zehe gebildet wurden, könnte ja geradezu als eine Bestätigung der alten Lehre von den drei Stütz- punkten gedeutet werden. Ich bin weit von dieser Folgerung entfernt; die Thatsache, dass die mittleren Metatarsalien beim Stützen des Fusses ver- werthet werden, ist viel zu sehr gesichert durch die anatomischen Unter- suchungen und die Erfahrungen des täglichen Lebens, um sie einigen X-Bildern zu Liebe zu verwerfen. Ich folgere vielmehr so: Die X-Bilder sind überhaupt nicht in so mechanischer Weise zu deuten, dass wir den Abstand der einzelnen Köpfehen vom Boden ihrer Betheiligung am Stützen proportional setzen können; die Durchstrahlung ist ein Hülfsmittel mehr, um die Mechanik des Fusses kennen zu lernen, aber die Ergebnisse derselben bedürfen der kritischen Beurtheilung ebenso sehr, wie die früheren Methoden: anatomische Analyse, Gypsabguss, Trittspur, Betrachtung der Stiefelsohle und der Schwielen an der Unterseite des Fusses. 2. Hr. Dr. E. Benpıx (a. G.) berichtet über Versuche, welche er im Zuntz’schen Institute zur Entscheidung der Frage angestellt hat, wie viel Zucker nach Darreichung verschiedener Eiweiss-Arten im thie- rischen Organismus gebildet würde. Diese Frage lag deshalb nahe, weil sich im Reagensglase wesentliche Verschiedenheiten zwischen den ein- zelnen Eiweisskörpern in dieser Hinsicht gezeigt haben. Die Versuchsanordnung war folgende: Hunde wurden zunächst glykogen- frei gemacht, indem sie 8 Tage von viel Fett und wenig Eiweiss lebten, sodann 2 Tage hungerten und am 3. Tage eine grosse Muskelarbeit ver- richteten, d. h. auf der Tretbahn einen Weg von mindestens 10 = mit 2000” Steigung zurücklegten. Vier Vorversuche zeigten, dass derartig behandelte Hunde glykogenfrei waren. Solehen Thieren wurde sogleich nach der Arbeitsleistung das Eiweiss (Ovalbumin, Casein und Gelatine) verfüttert. !/, Stunde später erhielt der Versuchshund eine Phlorhizin-Injection, indem die Phlorhizin-Wirkung am geeignetsten erschien, den im Organismus gebildeten Zucker sofort in den Harn überzuführen. Das Phlorhizin — vermittelst Piperazin in Lösung ge- bracht — wurde in der wirksamen Dosis von 0-1 2"" pro Kilogramm Körper- gewicht subeutan gegeben, und diese Injectionen alle 4 bis 5 Stunden wieder- 310 VERHANDLUNGEN DER BERLINER holt. Nach 20 bis 21 Stunden wurde der Versuch abgegrenzt, indem (ebenso wie bei Beginn des Versuches) der Hund katheterisirt wurde. In dem Harne wurde der Quotient bestimmt, da ja dieser die bei dem Eiweiss-Abbau gebildete Zuckermenge ohne Weiteres erkennen lässt. Nahrung Harn-N Harnzucker az | Retinirter N ud £ Ö | Il. Ovalbumin-Versuche. 60 m Ovalbumin 2.904 5-20 | 1-79 + 5-98 308: ss 3:330 | 8:25 | 2.48 + 1-11 80.4 2 5428 18-37 | 3-40 + 6-41 82%: a 4.122 | 19:20 4:00 + 7-41 II. Milcheiweiss-Versuche. 70 == Milcheiweiss 6.555 | 27.88 4-3 | + 8-51 100 „ > 3-537 14-37 4:0 | +11.81 45; ns 4-387 15:27 3-4 + 2:07 80 „ ” 5-956 18-00 3-1 | ..+ 5-52 Il. Gelatine-Versuche. 50 m Gelatine | 5°947 17:22 2-9 ae Dos 60 „, 5; | 8:586 14-85 1-7 + 1:63 502%; & | 6: 756 21:20 3-3 + 1:76 60 „ 3 I 108318) 19:50 1°6 — 20410) Die in der Tabelle zusammengestellten Resultate stimmen am wenigsten gut bei den Ovalbumin-Versuchen überein. Immerhin ergiebt der Vergleich mit den Casein-Versuchen, dass bei den letzteren mehr Zucker aus Eiweiss gebildet wurde, dass aber jedenfalls nicht, wie aus den Reagensglas-Versuchen aprioristisch anzunehmen wäre, weniger Zucker gebildet wurde. (Bekannt- lich gelang es, bis zu 15 Procent Zucker aus Eiereiweiss in der Retorte abzuspalten, dagegen war aus Milcheiweiss überhaupt kein Zucker zu ge- winnen.) Diese Versuchsergebnisse, welche bei den grossen Schwankungen der Einzelwerthe noch der weiteren Bestätigung bedürfen, scheinen also- darauf hinzudeuten, dass eine Analogie zwischen den Reagensglas-Versuchen über Zuckerabspaltung aus Eiweiss und der im Organismus vorkommenden Zuckerbildung aus Eiweiss nicht besteht. Als charakteristisch für den Casein-Abbau gilt das Leucin, und dieser Körper wird für die Zuckerbildung verantwortlich gemacht, besonders weil man nach Darreichung von Leuein ein Ansteigen des Leberglykogens nach- gewiesen hat. Aehnlich grosse Mengen von Leucin wie das Casein liefert auch der Leim. Vergleicht man nun die Casein- und Leimwerthe, so ergiebt sich, dass aus dem Leim viel weniger Zucker gebildet wurde, als aus dem Casein. Dieses Ergebniss spricht gegen die Ansicht, dass der Weg vom Eiweiss zum Zucker über das Leuein führen muss. Als bemerkenswerther Nebenbefund bei diesen Versuchen zeigt sich, dass bei den durch Hunger und Arbeit in ihrem Körperbestand redueirten | | PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — E. Benpix. — N. Zuntz. 311 Thieren die N-Retention während der folgenden 21 Stunden eine auffallend hohe ist, am niedrigsten nach Darreichung von Leim, der ja bekanntlich nur Eiweiss zu sparen — nicht zu ersetzen vermag. 3. Hr. N. Zuntz: Ueber den Kreislauf der Gase im Wasser. Dass im Wasser neben dem Sauerstoffverbrauch, welchen alle lebenden Thiere und chlorophylllosen Organismen bis zu den Bakterien herab bedingen, eine stete Erzeugung von Sauerstoff durch die Assimilation der chlorophyll- haltigen Organismen im Lichte stattfindet, ist längst bekannt. In besonders eleganter Weise haben es die schönen Versuche von Engelmann gezeigt, welcher demonstrirte, dass sauerstoffgierige Bakterien, welche im abgesperrten Wassertropfen ziemlich bald ihre Bewegungen einstellen, sofort wieder thätig werden, wenn eine chlorophylihaltige Algenzelle sich in ihrer Nähe befindet und vom Lichte getroffen wird. Trotzdem auf diese Weise ein Kreislauf der Gase im Wasser analog dem seit Priestley’s Entdeckung bekannten Kreislauf in der Luft erwiesen ist, haben die meisten Forscher, welche sich mit dem Leben im Wasser beschäftigten, die Bedeutung dieses Kreislaufes nür sehr gering veranschlagt und geglaubt, die im Wasser lebenden Thiere seien für ihren Sauerstoffbedarf auf die Zufuhr aus der Atmosphäre an- gewiesen. In diesem Sinne hat Hoppe-Seyler,! welcher jahrelang seine Musse der Erforschung der Gase des Bodensees gewidmet hat, Messungen und Betrachtungen darüber angestellt, wie langsam durch die Diffusion, selbst wenn sie durch Wärmeströmung und Wellenschlag unterstützt ist, die tieferen Schichten des Sees mit Sauerstoff versorgt werden. Noch schärfer hat diese Schwierigkeit Hüfner im Anschluss an seine Diffusionsversuche” dargelegt. Hüfner hat berechnet, dass ein Sauerstofftheilchen, welches in einem gegebenen Moment von der Oberfläche des Bodensees aufgenommen wird, erst nach mehreren hundert Jahren die Bodenschichten erreichen kann. Angesichts dieser Thatsachen und der darauf gegründeten Anschauung war ich sehr überrascht, als sich bei den Respirationsversuchen, mit denen Hr. Knauthe seit mehreren Jahren in meinem Laboratorium beschäftigt ist, herausstellte, dass Wasser, in welchem Fische eine Anzahl Stunden gelebt haben, eine so schnelle Sauerstoffzehrung zeigt, dass es, eben durch Schütteln mit Luft damit gesättigt und dem entsprechend einen Gehalt von 7m Sauerstoff pro Liter aufweisend, schon nach !/, Stunde im Sommer nur noch 2 bis 3°" hat und nach längstens 1 Stunde vollkommen sauer- stofffrei ist. Als Ursache dieser schnellen Sauerstoffzehrung erwies sich der - ziemlich grosse Gehalt solchen Wassers an Bakterien und fäulnissfähigen Substanzen. Diese Ursache der Sauerstoffzehrung ist aber sicherlich in vielen stagnirenden Gewässern, beispielsweise in den die Abflüsse der Dungstätten aufnehmenden Dorfteichen, noch viel grösser, und doch leben in diesen Wässern Fische vollkommen normal. Schon diese Beobachtung zeigt uns, dass die langsame Diffusion aus der Atmosphäre für die Sauerstoffversorgung dieser Gewässer absolut unzu- ! Hoppe-Seyler, Zeitschrift für physiologische Chemie. Bd. XVU. 8.147 u. Bd. XIX. S. +11. ” Hüfner, Dies Archiv. 1897. Physiol. Abthlg. S. 112—131. 312 VERHANDLUNGEN DER BERLINER reichend ist, und legt den Gedanken nahe, dass die Eingangs erwähnte Thätigkeit der pflanzlichen Organismen Ersatz für den Sauerstoffverbrauch schaffe. Diese Auslegung, welche ich zuerst auf dem Fischereitag in Schwerin vor 2 Jahren aussprach, wurde alsbald von Hrn. Knauthe durch Unter- suchungen an Dorfteichen geprüft und bestätigt. Es zeigte sich, dass diese Teiche, in welchen hauptsächlich chlorophyllhaltige Flagellaten (Englena viridis) in ungeheuren Mengen sich finden, bei Tage sehr viel höheren Sauer- stoffgehalt haben, als Wasser durch Schütteln mit atmosphärischer Luft auf- nehmen kann. Aus den neueren Absorptionsversuchen mit reinem Wasser berechnet sich, dass dasselbe aus Luft bei 0° pro Liter etwa 10.1 m O ” 4° ” ” ” 9.2 2 ” 15° ” ” ” voll a) „ 20° ” „ „ 6-5 2? ” 24 „ „ 6-1 aufnehmen kann. Factisch fand sich im Wasser jener Dorfteiche bei Tage eine Sauerstoffmenge von 7 bis 22.3, Es war also in letzterem Falle eine Sauerstoffsättigung eingetreten, wie sie bei der sommerlichen Temperatur etwa im Ausgleich mit einer 60 Procent OÖ führenden Atmosphäre zu Stande kommen könnte. Ebenso energisch aber wie die Vermehrung des O-Gehaltes im Lichte erwies sich, ganz entsprechend den Laboratoriumsversuchen, der Verbrauch des O im Dunkeln. | Gegen 2 Uhr Morgens fanden sich an der Oberfläche des Teiches nur noch 2° m O pro Liter. Man versteht bei dieser rapiden Zehrung, an der natürlich die Athmung der grünen pflanzlichen Organismen ebenso wie die der Bakterien und der Thiere Antheil hat, wie leicht es in besonders warmen, dunklen Nächten zu einem vollständigen Verbrauch des OÖ in diesen Teichen und damit zur Erstickung der Thiere kommen kann. | Aehnliche Verhältnisse, wie in den Teichen, wurden dann in weiteren Versuchen auch mit Wasser der Havel bei Spandau beobachtet. Auch hier übertraf der O-Gehalt am Tage erheblich die Menge, welche durch Aufnahme aus der Atmosphäre in’s Wasser hätte gelangen können, und bei Nacht fand sich, namentlich an stagnirenden Stellen des Flusses, _ eine Abnahme bis auf 2°“ pro Liter. Mit der Steigerung des O-Gehaltes im diffusen Lichte ging eine Ab- nahme der im Wasser absorbirten CO, parallel, derart, dass das gegen Phenolphtalein sauer reagirende Wasser im intensiven Sonnenlichte eine ausgesprochen alkalische Reaction annahm. Es wurde also die freie 00, bei der Assimilation vollständig verbraucht. Diese Beobachtung gab Anlass zu weiteren Versuchen, in welchen der CO,-Gehalt des Wassers künstlich erhöht wurde, indem man es entweder unter einer Glasglocke mit einer kohlensäurereichen Atmosphäre in Berührung brachte, oder indem man ihm direct Selterswasser oder auch stark verdünnte Lösung von Ammonium- carbonat und Natriumbicarbonat zusetzte. Alle diese Proceduren hatten zur Folge, dass der O-Gehalt im Sonnenlichte noch erheblich über die früher im Dorfteiche beobachteten Werthe anstieg. In maximo bis auf 275m PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — N. ZunNTz. ol pro Liter bei 16-2°C. Das ist ein Sauerstoffgehalt, wie er durch Schütteln mit einer 83 Procent OÖ enthaltenden Atmosphäre zu Stande kommen würde. Beachtenswerth ist, dass auch äusserst schwaches Licht schon eine merkliche O-Erzeugung bewirkt. So konnte in hellen Mondnächten beob- achtet werden, dass die dem Mondschein ausgesetzten Theile der Teich- oberfläche O-reicher waren, als die im Schatten liegenden. An einem Sep- temberabend wurde bei einer Wassertemperatur von 20° schon um 9 Uhr Abends eine Abnahme des O-Gehaltes bis auf 2.7“ pro Liter beobachtet. Unmittelbar nachher begann der Mondschein, und nachdem derselbe 11/, Stunde gewirkt hatte, wurde um 10!/, Uhr ein O-Gehalt von 4-6 gefunden. Aehnliche Differenzen ergaben sich, wenn man in Flaschen gefüllte Wasserproben, nachdem die eine einige Stunden im Mondlicht, die andere in absoluter Finsterniss gestanden hatte, verglich. Als jene Versuche ausgeführt und von Hrn. Knauthe die erste Mit- theilung darüber gemacht wurde,! glaubten wir, im Anschluss an die Arbeiten von Hoppe-Seyler und Hüfner, dass die grosse Bedeutung der pflanz- lichen Organismen für den Gasgehalt des Wassers bis dahin unbeachtet ge- blieben sei. Erst später fand ich, dass Petterson schon in einer 1897 veröffentlichten Arbeit? analoge Beobachtungen gekannt und auch in gleicher Weise gedeutet hat. Es handelt sich neben seinen eigenen um die Arbeiten von Natterer über Untersuchung des Wassers im östlichen Mittelmeer und von Knudsen im nordatlantischen Ocean. Allerdings waren, entsprechend dem viel geringeren Reichthum des Meerwassers an Lebewesen, die Unterschiede bei Weitem nicht so bedeutend, wie sie Knauthe im Wasser der Teiche und der Havel gefunden hatte. Wenn kein Verbrauch und keine neue Erzeugung von Sauerstoff im Meerwasser stattfände, müsste in dem daraus ausgepumpten Gase das Verhält- niss von OÖ und N ein constantes sein und zwar annähernd 33 Volumen OÖ auf 67 Volumen N betragen. Factisch sank in manchen Fällen das Ver- hältniss des OÖ bis auf 17 Procent herunter und stieg andererseits bis auf etwa 37 Procent. Die niedrigsten Zahlen wurden in Wasser, welches von Häringsschwärmen wimmelte, gefunden, die höchsten in einigen ruhigen Buchten bei hellem Sonnenschein. Bemerkenswerth ist noch, dass gerade in sehr nördlichen Breiten hohe Sauerstoffwerthe öfter gefunden wurden, was sich aus der im Sommer fast continuirlichen Belichtung erklärt. Weitere interessante Ergebnisse lieferte die Untersuchung des Gas- gehaltes der Gewässer im Winter, über welche ebenfalls schon ein Bericht von Knauthe? vorliegt. Bei der dem Gefrierpunkt des Wassers nahe- stehenden Temperatur ist die Lebensenergie aller darin vorkommender Orga- nismen sehr stark herabgesetzt und demgemäss auch die Zehrung des O bei längerem Stehen des Wassers nur sehr gering. Merkwürdiger Weise ist aber die assimilatorische Thätigkeit der grünen Organismen noch recht lebhaft und führt eben wegen des geringen O-Verbrauches einerseits und wegen des höheren Absorptionscoöfficienten des Wassers für Gase anderer- ! Knauthe, Biologisches Centralblatt. Bd. XVIIL. Nr. 22. ° Petterson, Ueber hydrographische Untersuchungen in der Nord- und Ostsee. Verhandlungen der schwedischen Akademie. 1897. Bd. XXIX. Nr.5; auch Peter- mann’s Mittheil. Bd. XLV1. I. ® Knauthe, Biologisches Centralblatt. Bd. XIX. Nr. 23 u. 24. 314 VERHANDLUNGEN DER BERLINER seits zu noch viel höheren O-Werthen, als man sie im Sommer beobachtet. An durch Aufhacken des Eises frei liegenden Stellen des Wassers wurden bei hellem Sonnenschein O-Werthe bis zu 46 °® im Liter beobachtet, d.h. Werthe, welche nahezu der Sättigung des Wassers mit reinem O-Gase gleichkommen. Unter einer blanken Eisdecke ist auch die Assimilation noch eine sehr lebhafte; auch hier kommen dicht unter der Eisdecke noch O-Zahlen von 40°” und darüber vor. In diesem Falle beobachtet man, dass sich die Organismen des Teiches fast sämmtlich unter der Eisfläche ansammeln, offenbar angezogen durch das einfallende Licht. Wenn dieser Einfluss des Lichtes fehlt, wenn etwa das Eis durch eine Schneedecke un- durchsichtig gemacht ist, findet man im Gegensatz hierzu die Organismen fast alle am Boden des Teiches liegend, wohl, weil unter diesen Umständen die dort höhere Temperatur ihnen zusagender ist. Wenn die Absperrung des Lichtes durch undurchsichtiges Eis lange anhält, mindert sich der O-Gehalt am Boden mehr und mehr und kann schliesslich im Laufe einer Reihe von Tagen so tief sinken, dass das Leben der Fische, die ebenfalls am Grunde des Teiches im Winterschlaf ruhen, bedroht wird. Gegen diese Gefahr hilft, wie man seit Langem weiss, das Schlagen grösserer Löcher in das Eis, sogenannter Wuhnen. Die Deutung, die man der Wirkung dieser Wuhnen gegeben hatte, dass sie die Diffusion mit der Atmosphäre vermitteln, ist aber nicht die richtige. Vielmehr handelt es sich, wie die Versuche von Knauthe direct gezeigt haben, auch hier wieder um die Ermöglichung der Lichtwirkung, durch welche im Bereich der Wuhnen der O-Gehalt sehr bald weit über die durch Aufnahme aus der Atmosphäre möglichen Werthe wächst. Es wird deshalb der Zweck der Wuhnen ganz verfehlt, wenn man dieselben, wie es hier und da geschieht, durch Einstecken von Strohbündeln und dergleichen offen zu erhalten sucht. Diese Verhältnisse sind in neuester Zeit durch Untersuchungen von Dr. Schimanski in Stuhm auch für grössere Landseen bestätigt worden. In dem grossen bei Stuhm gelegenen See war vor einigen Jahren der ganze Fischbestand im Wasser durch Sauerstoffmangel zu Grunde gegangen. Es wurde dann durch reichliches Einsetzen von Brut- und jungen Fischen ein neuer Bestand erzeugt, der in dem eben verflossenen Winter in Folge der lange dauernden Bedeckung der Seeoberfläche mit Schnee abermals in grosse Gefahr gerieth. Diese Gefahr wurde von Dr. Schimanski durch fortlaufende Untersuchungen des O-Gehaltes in verschiedenen Tiefen des Sees rechtzeitig . erkannt und durch reichliches Schlagen von Wuhnen beseitigt. Als Ende Februar trotz der Wuhnen einmal der O-Gehalt am Grunde des Sees fast auf 0° gesunken war, konnte derselbe schnell wieder auf eine erträgliche Höhe dadurch gebracht werden, dass eine Durchfisehung des ganzen Sees mit grossen Netzen unter dem Eise vorgenommen wurde. Die Untersuchungen von Dr. Schimanski haben weiter gelehrt, dass in diesen klaren Landseen ebenfalls im Sonnenlicht recht erhebliche An- sammlungen von O bis zu 17 und 18°“ pro Liter vorkommen, und dass es dabei auch noch, ebenso wie in Dorfteichen, zu alkalischer Reaction des Wassers in Folge Verbrauches der 00, kommt. Dr. Schimanski hatte noch Col geniken, einen Fall von sogenannter Wasserblüthe zu beobachten, allerdings erst, als der Höhepunkt der Er- scheinung vorüber war. Es ergab sich, dass "unter der Einwirkung der die PHYSIOLOGISCHEN (HESELLSCHAFT. — N. ZUNTZ. 315 Oberfläche des Wassers bräunlich verfärbenden Organismen hohe O-Werthe (18° und darüber) auftraten. Hr. Dr. Schimanski setzt die Beobachtung, so weit ihm seine ärztliche Praxis dazu die Zeit lässt, fort und wird wohl in einiger Zeit in der Lage sein, einen Ueberblick über den Wechsel des Gas- gehaltes im Wasser eines grösseren Landsees mit den Jahreszeiten zu geben. Neben dem bisher betrachteten Einfluss der Organismen hat sich in Untersuchungen der Hrrn. Knauthe und O. Berg ein erheblicher Einfluss der Luftelektrieität auf den Gasgehalt des Wassers herausgestellt. Es zeigte sich, dass im Wasser, welches der elektrischen Ausstrahlung einer von einer Influenzmaschine geladenen feuchten Oberfläche (künstliche Wolke) ausgesetzt war, der O-Gehalt rapide abnahm; schneller, wenn das Wasser reich an Fäulnissorganismen war, langsamer in reinem Wasser. Im letzteren Falle konnte zuweilen deutlich Bildung von H,O, zu Anfang der Einwirkung, in den späteren Stadien derselben regelmässig Bildung von NO,H nachgewiesen werden. Dass unter den bei Gewittern in der Natur vorkommenden Bedingungen eine ähnliche Ö-Zehrung stattfindet, wurde vielfach durch Exponiren von Wasserproben bei aufziehenden Gewittern dargethan. Wenn man das Wasser durch eine metallische Umhüllung des Glasgefässes vor den Einwirkungen der Luftelekrieität schützte, blieb die Veränderung aus. Das vielfach beobachtete Fischsterben bei Gewittern an schwülen Tagen dürfte sich zum Theil aus diesen physikalischen Einwirkungen erklären. Der Umstand, dass mit Fäulnissorganismen erfülltes Wasser eine viel stärkere Zehrung unter der Einwirkung des elektrischen Stromes zeigte, kann entweder auf direete Reizwirkung der Elektrieität auf die Organismen oder auf indireete, durch die chemische Veränderung des Wassers vermittelte Steigerung des Stoffwechsels derselben zurückzuführen sein. Weitere Ver- suche werden wohl hierüber Auskunft geben. — Zum Schlusse demonstrirt Vortragender den von ÖOberlehrer Müller in Brandenburg construirten Apparat zur Untersuchung der Wassergase, welcher durch seine Handlichkeit die grosse Zahl der diesen Mittheilungen zu Grunde liegenden Analysen ermöglichte. Die Fehlerquellen des unter dem Namen „Tenax“ beschriebenen Apparates werden kurz besprochen. Die Zuverlässigkeit desselben ist durch zahlreiche Untersuchungen von Wasser- proben, welche bei bestimmter Temperatur durch Schütteln mit Luft gesättigt waren, geprüft und befriedigend gefunden worden. Bei vielen Analysen von Teichwasser wurden N-Werthe gefunden, welche die berechneten nicht unerheblich überstiegen. In diesen Fällen konnte nachgewiesen werden, dass das als N angesehene Gas mehr oder weniger grosse Beimengungen von Methan enthielt. 4. Hr. N. Zuntz berichtet über Versuche, welche Dr. Kostin aus Charkow in seinem Laboratorium ausgeführt hat, um die Methode des Nachweises von Kohlenoxydgas in der Luft zu verfeinern. Die sicherste Methode dieses Nachweises bleibt die Bildung von Kohlenoxyd- hämoglobin, welches seinerseits ja durch eine ganze Reihe sicherer Reactionen von Oxyhämoglobin unterschieden werden kann. Bei den Versuchen wurde von der Erwägung ausgegangen, dass die Absorption von CO aus sehr verdünnten Gemischen dieses Gases mit Luft 316 VERHANDLUNGEN DER BERLINER dadurch vermindert wird, dass der Sauerstoff den Massen beider Gase ent- sprechend mit dem Kohlenoxyd um das Hämoglobin streitet. Ist auch, wie Hüfner nachgewiesen hat, die Affinität des CO zum Hämoglobin 200 Mal stärker als die des OÖ, so ist doch die Menge des letzteren in einer Luft, welche !/, 009 CO enthält, 2000 Mal grösser. Wenn nun Gre&hant einen solchen CO-Gehalt als untere Grenze des Nachweisbaren in der Luft be- stimmt hat, so muss diese Grenze wesentlich verschoben werden, wenn man die Ooncurrenz des O ausschliesst. Um dies zu bewirken, wurde in der Art verfahren, dass man einige Liter der auf CO zu untersuchenden Luft in eine Glasflasche einsaugte, welche mit Eisendrahtnetz gefüllt war, das, mit ammoniakalischem Wasser befeuchtet, den O der eingesaugten Luft in !/, Stunde etwa vollständig absorbirte. Hierauf wurde das O-freie Gas in langsamem Strom durch ein Kugelrohr geleitet, welches etwa 10 “” auf’s 100- bis 200fache verdünnten Blutes enthielt. In diesem Blute konnte nun durch die unter den verschiedenen Methoden als die empfindlichste gefundene Tanninfällung das CO-Hämoglobin noch deutlich nachgewiesen werden, wenn die Luft nur !/,o000 dieses Gases enthielt. Die genauere Beschreibung des vom Vortragenden demonstrirten Appa- rates und die Einzelheiten der Technik wird Hr. Dr. Kostin demnächst in Pflüger’s Archiv mittheilen. { XIII. Sitzung am 22. Juni 1900. 1. Hr. H. Vırcnow: Bedeutung der Bandscheiben im Knie- gelenk. Ueber die Aufgabe der Bandscheiben des Kniegelenkes giebt es zwei Theorien. Nach der einen sind sie wesentlich, nach der anderen Hülfs- theile; nach der einen an der Pfannenbildung betheiligt, nach der anderen nur Polster; nach der einen würde ohne sie der Gang der Bewegung eine Störung erleiden, nach der anderen würde er nicht geändert sein, sondern nur Druck, und vor Allem Stoss, härter empfunden werden. Zur Charakterisirung dieser beiden Ansichten, welche in der Litteratur hin und her schwanken, führe ich nur zwei Citate an, für die erste Henke, ° für die zweite EB. und W. Weber. Nach Henke „drehen sich die Band- scheiben mit der Tibia über den Öberschenkel-Condylen zur Beugung und Streckung. Die Gelenkflächen der Tibia ....... drehen sich gegen die Bandscheiben mit dem Femur zur Rotation“! Die Verfasser der „Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge“ dagegen sagen: „Die halbmondförmigen Knorpel dienen zum Verschluss, zur Vertheilung des Druckes, zur Spannung und zum Schutz des Kniegelenkes gegen heftige Erschütterung* .... „ähn- lich dem Kranze, welchen man auf den Kopf setzt, um Lasten darauf zu tragen“ .? ! Anatomie und Mechanik der Gelenke. 8.218. ® W.Weberu.E. Weber, Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge. Göttingen 1836. 8. 193. PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — N. Zuntz. — H. Vırcuow. 317 Vielleicht liegt aber, wie man zu sagen pflegt, die Wahrheit in der Mitte; vielleicht ist etwas von beiden Ansichten richtig, d. h. in unserem Falle: vielleicht sind zwar für gewisse Phasen der Bewegung die Band- scheiben nicht wesentlich, erlangen aber eine wesentliche Bedeutung bei an- deren Phasen, oder es erlangen wenigstens Abschnitte der Bandscheiben bei gewissen Phasen einen entscheidenden Einfluss. Diese Phasen der Be- wegung und die betreffenden Abschnitte der Bandscheiben genauer zu be- stimmen, war das Ziel meiner Untersuchung. Es liegt von vornherein auf der Hand, dass es sich dabei um die in der Nähe der Endstellungen liegenden Phasen handeln wird, also Streck- Endstellung und Beuge-Endstellung. Diese sind daher vor Allem in’s Auge zu fassen, und insofern, als von realen Problemen des lebenden Körpers gesprochen werden soll, müssten wir zwischen Bewegungen des belasteten und solchen des unbelasteten, frei gehaltenen Beines unterscheiden, von denen die ersteren praktisch die wichtigeren sind. Wir hätten dann weiter die Vorfrage zu stellen, was als Schluss- Streckstellung und Schluss-Beugestellung zu bezeichnen sei, und worin die Hemmungen nach beiden Richtungen liegen, nicht am isolirten Gelenkprä- parat, sondern am Knie des unsecirten Beines, insbesondere des Lebenden. Für die Endstellung in Streckung ist die Antwort nicht schwer zu geben. Zwar variirt dieselbe, wie das praktische Leben und vor Allem die militä- rische Erfahrung lehrt, individuell bis zu einem gewissen Grade, doch kann man als „Norm“ die gerade Streekung des Beines, also 180°, ansehen. Zur Hemmung in dieser Stellung genügen, wie das Gelenkpräparat lehrt, die Bandapparate des Gelenkes selber. So zweifellos durch die klinische Erfahrung dargethan wird, dass das Knie für sich, ohne Assistenz von Mus- keln, dauernder Belastung nicht zu widerstehen vermag, so deutlich ist es doch andererseits, dass für die momentane Einzelhemmung der Band- apparat ausreicht. Deswegen ist auch für diese Stellung von dem isolirten Gelenkpräparat genügende Aufklärung zu erwarten. Anders liegt es mit der Beuge-Endstellung. Hier zeigt die Erfah- rung des Lebens, dass der mögliche Grad der Beugung stark variirt, indem manche Personen so weit beugen können, dass die Sitzbeinhöcker hart auf die Fersenhöcker aufstossen, so dass solche Individuen, wie die ostasiatischen Hocker, so zu sagen auf den Fersenbeinen sitzen; dass dagegen andere Per- sonen es nur bis zu geringeren Graden der Beugung bringen. Bei letzteren liegt die Ursache der Hemmung in der starken Musculatur der Waden, welche auf die Muskeln an der Rückseite der Oberschenkel aufgepresst wird. Sind solche Individuen gewandt und turnerisch geübt, so können sie häufig doch noch beim Emporspringen mit den Fersen an das Gesäss anschlagen, also einen Grad der Beugung erreichen, zu dem sie es beim Hocken nicht bringen. Bei ihnen werden, wenn sie beugen, die im Knie zusammenstossenden Enden von Ober- und Unterschenkel aus einander ge- hebelt und dadurch die Bänder in Spannung versetzt; sicher betheiligt sich auch der reflectorisch erregte Extensor cruris an der Hemmung der Be- wegung. Wir haben also, wofern wir die Erscheinungen des lebenden Körpers zum Gegenstande der Analyse machen wollen, zwei Arten von Beugehemmung zu unterscheiden, die zuletzt geschilderte und die an erster Stelle genannte. Aber auch bei dieser, indem hier Fersenhöcker 318 VERHANDLUNGEN DER BERLINER gegen Sitzbeinhöcker anstösst, wird die Bewegung nicht durch das Knie selbst aufgehalten; ja es besteht die Möglichkeit, noch weiter zu beugen, sich so zu sagen neben den Fuss niederzusetzen. Nach diesen Erfahrungen an lebenden Menschen ist die Frage der Beuge-Endstellung weit weniger durch- sichtig, wie die der Streck-Endstellung, und man dürfte, streng genommen, die Beugehemmung nur an solchen Körpern studiren, bei denen man den Grad der Beugung vorher im Leben hat feststellen können. Bevor ich nun auf das Verhalten der Bandscheiben eingehe, muss ich zwei Punkte aus der Mechanik des Kniegelenkes berühren: die Abflachung der Knorpel durch Druck und das Verhältniss von Flexion und Rotation. Abflachung der Knorpel. — Wir sind neuerdings an die Betrach- tung gewöhnt, dass die Knorpelüberzüge an den Gelenkenden der Knochen nicht starr sind, sondern eine dem Druck entsprechende Gestaltver- änderung (Formung) erleiden. Gerade beim Kniegelenk ist dies zuerst, und zwar durch Braune, hervorgehoben worden, und ist auch hier in Folge der Grösse der Flächen und der Dicke der Knorpel besonders auffällig. Man kann zwei Arten der Pressung unterscheiden: Die durch Belastung von oben her seitens des Körpers, und die durch Spannung der Bänder seitens der im Gelenk zusammenstossenden Knochen selber. Ein Druck der ersteren Art wird in typischer Weise bei aufrechter Stellung und gestrecktem Knie ausgeführt; aber sicher kommt dazu noch bei dem „durchgedrückten Knie* der militärischen Haltung eine besonders starke Pressung der vorderen Ab- schnitte der Knorpel in Folge von Spannung von Bändern und Muskeln. Meine Präparate gestatten jedoch keine genaueren Angaben in dieser Rich- tung, da sie einfach von den Beinen musculöser Männer im Zustande der Starre, oder auch nach Lösung der letzteren genommen sind und daher nur die Verhältnisse des ausgestreckt liegenden Körpers wiedergeben. Mehr kann ich sagen über das gebeugte Knie, denn hier wird auf alle Fälle, namentlich aber bei musculösen Beinen, eine starke Pressung herbeigeführt, deren Folgen wohl ziemlich zuverlässig die Verhältnisse des lebenden Kör- pers widerspiegeln. Es sind hier drei Stellen zu nennen, welche in sehr ausdrucksvoller Weise Abflachungen des Knorpels zeigen: die Berührungsstellen von Knie- scheibe und Femur-Condylen, die Berührungsstellen von. Femur und Tibia und die Abschnitte des Femur, denen die Extensorsehne und der Ansatz des Vastus medialis aufliegen. Berührungsstellen von Kniescheibe und Femur. — Die Knie- scheibe, welche die Facies patellaris verlassen hat und auf die Condylen ge- treten ist, findet sich hier in Folge der starken Spannung des Streckmuskels und des Ligamentum patellae inferius fest angedrückt. In Folge dessen sind sowohl an ihr als auch am Femur zwei scharf umgrenzte Flächen, geradezu Facetten, entstanden. Am medialen Femur-Condylus ist die Facette 20 m” lang und 10" breit, am lateralen 20 "” Jang und 20 %% breit. Berührungsstellen von Tibia und Femur. — Hier ist die Wir- kung des Druckes nieht nur am Knorpel, sondern auch, wovon nachher ge- sprochen werden soll, an den Bandscheiben bemerkbar." Jedoch ist das Bild medial und lateral verschieden (Fig. 3): an der medialen Seite ist die Band- scheibe ausserordentlich stark betroffen, der Knorpel weniger gedrückt; an PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — H. VIRCHOw. 319 der lateralen Seite liegt die Bandscheibe hinter der Stelle der stärksten Pressung, der Knorpel dagegen ist so stark beeinflusst, dass der hintere Ab- schnitt desselben eine nach hinten abschüssige Facette erhalten hat. Die quer verlaufende Linie, welche den Vorderrand der letzteren bildet, liest 15% vor dem Hinterrande des Condylus selbst und 8-5 "” vor der Bandscheibe. An dem Knorpel des medialen Condylus beschränkt sich die nur schwach sichtbare Abflachung auf ein neben der Fossa intereondyloidea posterior gelegenes Feld, welches nach vorn nicht durch eine Querlinie, son- dern durch einen gerundeten Rand begrenzt ist. Der Theil des Femur, welcher diesen Eindruck hervorgerufen hat, ist zu suchen in der schmalen Fortsetzung der Gelenkfläche des Condylus medialis femoris an der Rück- seite des Knochens, während die breitere Abflachung auf dem medialen Meniscus sehon nicht mehr durch den Condylus, sondern durch die darüber gelegene Partie der Rückseite des Knochens erzeugt wurde. Druckerscheinungen von Seiten der Extensorsehne und des Vastus medialis. — Die Sehne des Streckmuskels erzeugt auf dem Knorpel der Facies patellaris Längsrillen, welche an drei Präparaten mit gleicher Deutlichkeit zu sehen waren. Der Ansatz des Vastus medialis an die Sehne ruft an der medialen Knorpelkante, welcher er aufliegt, eine Abflachung hervor. Verhältniss von Flexions- und Rotationsbewegung. — Schon E. und W. Weber betonten nachdrücklich, dass im Kniegelenk neben der Hauptbewegung, der Beugung und Streckung, Drehbewegung möglich sei, und suchten Bedeutung, Ausdehnung, Mechanik derselben festzustellen. Ueber das Verhältniss beider Bewegungsarten zu einander lehrten dann Braune und Fischer,! dass Drehung am Lebenden activ nicht möglich sei, wenn nicht gleichzeitig die Winkelstellung im Sinne der Beugung oder Streckung geändert werde; dass dagegen auf der anderen Seite Beugung und Streckung stets zwangsmässig mit einem gewissen Grade von Drehung („Rollung“) verbunden sei, je nach der Phase der Flexionsbewegung in verschiedenem Betrage. Dies würde, wenn es richtig wäre, eine befriedigende Erklärung für die sonst nicht leicht verständliche Rotationsfähigkeit im Knie geben, denn diese würde damit zu einer Begleiterscheinung der Ginglymusbewegung werden. Die Untersuchung von Braune und Fischer ist mittels einer so feinen Methode ausgeführt, dass auf den ersten Blick ein Widerspruch un- möglich scheint; und auch ich habe sie mehrere Jahre vorgetragen. Sie entspricht jedoch nicht ganz der Wirklichkeit, und die Unrichtigkeit lässt sich leicht nachweisen. Sitzt man auf einem Tisch mit frei herabhängenden Unterschenkeln, so kann man die Tibia activ um die Längsaxe drehen, ohne den Grad der Beugung zu ändern. Um den Nachweis deutlich zu machen, setze man einen Finger auf die vordere Kante des lateralen Tibia- Condylus und einen zweiten Finger der gleichen Hand auf die vordere Kante des lateralen Femur-Condylus. Das Gleiche lässt sich zeigen im Hocksitz, gilt also für das belastete wie für das unbelastete Bein. Es bleibt also nur die schon früher bekannte Thatsache einer zwangsmässigen Schluss- \ Verhandlungen des X. internationalen medicinischen Congresses. Berlin 1891. Bd. 3253: 320 VERHANDLUNGEN DER BERLINER rotation übrig, d.h. die Thatsache, dass allerdings am Ende der Gingly- musbewegung eine drehende Mitbewegung zwangsmässig eintritt. Und hierfür mag ja wohl auch die strenge mathematische Formulirung von Braune und Fischer ihre Bedeutung behalten. Völlig sicher und wohl charakterisirt ist diese Schlussrotation bei Streekung; es wird durch sie der mediale Femur-Condylus auf der Tibia rückwärts gedreht, in seine Pfanne gewissermaassen hineingeschraubt, wodurch der vordere flachere Theil des Femur-Condylus mit der Tibia Berührung gewinnt und dadurch der ausgiebigere Contact hergestellt wird, welcher für die feste Auf- stellung so wichtig ist. Ich mache mir für diese Phase der Bewegung die Worte Froriep’s! zu eigen: „Diese Schlussrotation in der Streckung darf nicht verwechselt werden mit der eigentlichen Rollbewegung“; freilich in anderer Begründung. Weniger deutlich ist die Frage einer Beuge-Schluss- rotation Angesichts der oben erwähnten individuellen Variabilität der Beuge- stellung des Lebenden überhaupt, sie ist auch weniger wichtig. Ich möchte indessen doch im Hinblick auf die noch zu besprechenden Präparate auch an eine solche glauben, und zwar eine solche, bei welcher der mediale Femur- Condylus auf dem Tibia-Condylus vorwärts gleitet. Ueber die Streck-Schlussrotation habe ich noch etwas zu bemerken mit Rücksicht auf den Lebenden. Es wird von dieser Bewegung häufig? -ge- sagt, die Tibia werde dabei gegen das Femur gedreht mit der Fussspitze seitwärts. Dies ist wohl richtig in syntopischem, aber nicht in holotopischem Sinne;?® nimmt man das anatomische Gelenkpräparat, so ist es gleichgültig, ob man Tibia oder Femur als fest betrachtet, bei der Besprechung des Lebenden aber muss man die praktischen Aufgaben zu Grunde legen, und da ist zu betonen, dass die äusserste Streckung nur bei aufgesetztem Fuss gemacht wird. Möglich ist dieselbe allerdings auch bei frei gehaltenem Bein, wie beim militärischen Schritt nach Zählen. Ist nun der Fuss aufgesetzt, so wird eben dadurch die Drehung der Fussspitze und damit auch die der Tibia verhindert. Soll also bei der Schlussstreckung eine Rotation zu Stande kommen, so kann es nicht eine solche der Tibia gegen das Femur, sondern des Femur gegen die Tibia sein; das Femur muss sich demnach innerhalb seiner Weichtheile zwischen Tibia und Becken drehen. Ich habe mich über diesen Punkt zu unterrichten versucht, sowohl an der hängenden Leiche wie am Lebenden; an letzterem sowohl durch Be- tastung wie durch X-Aufnahmen. Die X-Bilder haben nichts Entscheidendes _ gezeigt, was bei den ungemein ungünstigen Bedingungen nieht verwundern kann. Die beiden anderen Untersuchungsmethoden haben die Erwartung bestätigt. Indem ich nun auf die Bandscheiben übergehe, habe ich zunächst die Eigenschaften derselben hervorzuheben. Die Bandscheiben sind ver- schiebbar, verziehbar und comprimirbar. Verschiebbarkeit. — Diese Eigenschaft spielt seit der Weber’schen Darstellung in der Lehre von der Mechanik des Kniegelenkes eine grosse, ! Aug. Froriep, Anatomie für Künstler. 1399. 3. Aufl. 8. 106. ? 7. B. bei Froriep. a.a.O. ® Ueber die Ausdrücke Syntopie und Holotopie s. Waldeyer, Becken, Anmerkung zu 8. 67. PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — H. VIRCHOWw. az aber bei den verschiedenen Autoren verschiedene Rolle. Nach der oben an- geführten Theorie von Henke sind die Bandscheiben bei der Ginglymus- bewegung mit der Tibia und bei der Rotationsbewegung mit dem Femur zu einer Einheit verbunden. Andere Autoren, welche weniger theoretisch be- einflusst und unbefangener das Präparat beobachteten, haben mit Recht an- gegeben, dass auch bei der Ginglymusbewegung die Bandscheiben während des Streckens vorwärts und während des Beugens rückwärts verschoben werden; und andererseits dreht sich bei der schon oben charakterisirten Streck-Schlussrotation der mediale Condylus femoris gegen die festlie- sende mediale Bandscheibe im Sinne der Rotation. So giebt es also auf der einen Seite Flexion und Extension mit Verschiebung der Bandscheiben, und auf der anderen Seite Rotation ohne solche. Verziehbarkeit. — Die Gestalt der Bandscheiben ändert sich bei den wechselnden Phasen der Bewegung durch Verziehung. Es giebt daher streng genommen keine bestimmte Eigenform derselben; bei Streck- stellung (Fig. 2) hat die mediale Bandscheibe die Gestalt eines Halbkreises, die laterale etwa die einer Halbellipse; bei spitzwinkliger Beugung (Fig. 3) gleicht die letztere der in die Länge gezogenen Hälfte einer Ellipse, die mediale zeigt an der Stelle, die dem Ansatz an das mediale Seitenband ent- spricht, eine scharfe Biegung, und an beiden Bandscheiben tritt der bemerkens- werthe Umstand hervor, dass bei Beugestellung der vordere Abschnitt die gerade Verlängerung der rückwärts gereckten vorderen Be- festigungsbänder bildet. Comprimirbarkeit. — Der Ausdruck „comprimirbar* würde wörtlich besagen, dass durch Druck das Volumen der Bandscheibe bezw. eines Ab- schnittes derselben geändert wird, was nur durch Auspressung von Flüssig- keit geschehen könnte. Dies ist nach dem Gefüge der Bandscheiben! nicht unmöglich, wofern es sich um anhaltenden Druck einer bestimmten Stelle handelt; so wie man eine derartige Auspressung durch dauernde Belastung ja auch von den Zwischenwirbelscheiben annimmt. Denkt man jedoch in erster Linie an die von Moment zu Moment wechselnde Belastung der Menisei, so ist der Ausdruck „comprimirbar“ mehr in dem Sinne von „form- bar“ zu verstehen. Diese Eigenschaft wird in ein helleres Licht gerückt durch den Vergleich mit den Bandscheiben des Pferdes, welche nicht nur höher, sondern auch steifer und härter sind, als die des Menschen; und man darf annehmen, dass der Grad von Festigkeit bei den verschiedenen Säuge- thieren in genauem Verhältniss zu der mechanischen Beanspruchung steht. Es wird sich nachher zeigen, wie ausserordentlich die Druckdeformirung sein kann, welcher die Bandscheiben unterliegen. Nach diesen vorbereitenden Betrachtungen lässt sich die oben gestellte Alternative bestimmter angreifen, welche in die Schlagworte „Pfanne“ oder „Polster“ gekleidet werden kann; und es ist nun zu fragen, welche Wege zur Entscheidung der Frage zur Verfügung stehen. Das gewöhnliche Gelenkpräparat alten Styles, an welchem die Muskeln und womöglich auch die Gelenkkapsel entfernt sind, liefert wegen Aus- schaltung so vieler Widerstände keine sichere Entscheidung; Präparate, an ! Vgl. Henle, Bänderlehre. 8. 140. Archiv f. A. u. Ph. 1900. Physiol. Abthlg. Suppl. 21 322 VERHANDLUNGEN DER BERLINER denen die Muskeln erhalten blieben und nur distal von den Vasti zu beiden Seiten der Patella Fenster in die Kapsel geschnitten wurden, sind schon zu- verlässiger, aber doch nicht zuverlässig genug, auch lassen sie zu wenig sehen; X-Bilder lehren für das vorliegende Problem gar nichts; Gefrier-Säge- schnitte für sich allein sind unverständlich. So kommen in erster Linie „Gefrier-Skeletpräparate“! und „Formalinpräparate“? in Betracht. I. Streckstellung. A. Gefrier-Skeletpräparat. — Die Verdrehung der Knochen gegen einander tritt auf’s Deutlichste hervor; obwohl darin nichts Anderes zu sehen Fig. 1. Unterseite des linken Femur und der Bandscheiben vom gestreckten Knie. Ar = Fettläppchen. L.c.t. = Mediales Seitenband. C.m. = Medialer ee] L.l.a.= Vorderes | Befestigungsband der C.l. = Lateraler Ned L.!.p.= Hinteres | lateralen Bandscheibe. = Stelle am medialen Condylus, bis Z.m.a.= Vorderes | Befestigungsband der zu welcher die Anlagerung an Z.m.p.= Hinteres [ medialen Bandscheibe. den medialen Höcker der Emi- M.!. = Laterale Berdschöih nentia intercondyloidea reicht. M.m. = Mediale ji ANSENDE: F.p. = Facies patellaris. M' = Verbindung der Bandscheibe mit p = Untere Grenze des bei Streck- der Kapsel. ° stellung von der Patella einge- P. = Ursprungssehne desM. onen, : nommenen Streifens der Facies in die Poplitealrinne der lateralen patellaris, welcher wegen starker Bandscheibe eingelagert. Verkürz. sehr schmal erscheint. ist, als die wohlcharakterisirte, oben erwähnte Schlussrotation, so wirkt sie doch bei dieser Art der Aufstellung seltsam. Sie hat zur Folge, dass die Verlängerung der vorderen Schienbeinkante auf den lateralen Rand der Facies patellaris fällt, dass die Patella nicht über der Tuberositas tibiae, son- dern mehr medial steht, dass das Femur über die Tibia vorn an der late- ! Vgl. Anatomöscher Anzeiger. T. Jahrg. 8. 285—289. ®? Das mit dem Becken verbundene Bein wird durch die Arteria femoralis mit 10proc. Formalinlösung injieirt, in die gewünschte Stellung gebracht und erst nach mehreren Wochen präparirt. PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — H. VIRCHow. 323 ralen und hinten an der medialen Seite hervortritt. Die Richtigkeit der Aufstellung wird dadurch bewiesen, dass vordere Kante des lateralen Femur- Condylus über vorderer Kante des lateralen Tibia-Condylus, und ebenso vor- dere Kante des medialen Femur-Condylus über vorderer Kante des medialen Tibia-Condylus stehen. Von hier aus laufen die Conturen der einander zu- sewendeten OCondylen von Femur und Tibia parallel nach hinten, aber nur in der vorderen Hälfte des Gelenkes; dann divergiren sie; lateral stärker als medial. Man kann daraus schon schliessen, was an dem Bänderpräparat zu finden sein wird: die vorderen Abschnitte der Bandscheiben eingeklemmt zwischen Tibia und Femur; und hier gewinnen die Furchen am vorderen Rande der Femur-Condylen Bedeutung, welche, wie Henle betont,! bestimmt Fig. 2. Oberseite der linken Tibia und der Bandscheiben vom gestreckten Knie. e.a. = Partie des vorderen gekreuzten f. — Femorales Befestigungsband der Bandes, welches die Verbindung lateralen Bandscheibe. des letzteren mit der lateralen Z.m.a.= VordereslBefestigungsband der 8 Bandscheibe zeigt. L. m. p. = Hinteres (medialen Bandscheibe. O2 = Laterale | Gelenkfläche der M.l. = Laterale : C.m. — Mediale Tibia. Mn. = Mediale | Bandscheibe. 2: = Köpfchen der Fibula. M' = Verbindung der Bandscheibe mit L.e.t. = Mediales Seitenband. der Kapsel. L.!.a. = Vorderes| Befestigungsband der 7. = Tuberositas tibiae. L.!.p. = Hinteresflateralen Bandscheibe. 7. —= Lig. transversum genu. sind, bei Streckstellung die vorderen Abschnitte der Bandscheiben aufzu- nehmen. Diese „Meniscalfurchen“ des Femur wirken um so ausdrucksvoller, wenn man bedenkt, dass bei Beugestellung die Kniescheibe über die inneren Abschnitte derselben hinweg schleift; und beachtet man dabei, dass mit dem Grade der Beugung der Druck der Kniescheibe gegen das Femur zunimmt, so drängt sich der Gedanke auf, ob nicht die Femur-Condylen auch diesem Theil ihrer Aufgabe, dem Kniescheibencontact, gewisse Züge ihre Gestaltung verdanken. Um so sprechender aber ist es, dass doch die Meniscalfurchen in die „Pateilarbahn‘“ einschneiden. ı Henle, Gelenklehre. 8. 137. 21* 324 VERHANDLUNGEN DER BERLINER B. Formalinpräparat. — Die Bandscheiben sind bis an die vorderen Ränder der Tibia-Condylen vorgeschoben und hier durch die Spannung ihrer Befestigungen fixirt. Mit den Femur-Condylen stehen sie ringsherum in Contact (Fig. 1), nicht nur vorn und seitlich, sondern auch hinten, wie man erkennt, wenn man sie am Femur belässt und die Tibia unter ihnen ent- fernt. Ein Druck auf dieselben kann jedoch hinten wegen der erwähnten Divergenz der Knochen nicht stattfinden, und deswegen hat die uns beschäf- tigende Alternative nur für die Vorderseite Bedeutung. Es ergiebt sich also die bestimmte Fragestellung: Sind bei Strecklage die vorderen Ab- schnitte der Bandscheiben an der Pfannenbildung betheiligt? Eine zuverlässige Antwort ist nicht leicht zu geben; sie würde, genau ge- nommen, voraussetzen, dass man ohne Zerstörung von Bändern und auch ohne wesentliche Ausschaltung von Muskel- und Kapselabschnitten die Band- scheiben aus dem Gelenk entfernen könnte, um dann den Gang der Be- wegung zu untersuchen. Ich glaube aber doch auf Grund variirender und möglichst schonend Auersschaltungsversuche Folgendes vertreten zu können: Nach Entfernung der vorderen Abschnitte der Bandscheiben ist der Gang der Bewegung bis zu völliger Streckung im Wesent- lichen unverändert, das Knie bekommt jedoch in der Strecklage Ivo. Unsicheres, Wackliges. Hieraus ergiebt sich auf die uns beschäftigende Frage die Antwort: Die Bandscheiben dienen beim gestreckten Knie als Polster; ausserdem haben aber auch die vorderen Abschnitte derselben einen gewissen, wenn auch nicht allzu erheblichen pfannenbildenden Werth. Indem sie durch die Spannung ihrer Befestigungen gegen die vor- deren Ränder der Tibia-Condylen fixirt werden, wirken sie ungefähr wie Labra glenoidea der letzteren. IH. Spitzwinklige Beugung. A. Gefrier-Skeletpräparate. — Hier sind drei Züge hervorzuheben, welche das Bild charakterisiren. Erstens steht die hintere Kante des lateralen Femur-Condylus über der hinteren Kante des zugehörenden Tibia- Condylus; die des medialen Femur-Condylus dagegen vor der der Tibia, so dass an dieser Seite die Tibia sich an die Furche anstemmt, welche ober- halb der Gelenkfläche des Femur gelegen ist. Es prägt sich darin die oben erwähnte Beuge-Schlussrotation aus, bei welcher der mediale Femur-Condylus auf der Tibia nach vorn gleitet. Zweitens sind die hinteren Kanten der Femur-Condylen in ganz auffallender Weise der Tibia genähert, so dass kaum zu begreifen ist, wie dazwischen noch die beiderseitigen Knorpelüber- züge und Bandscheiben Platz finden können. Drittens entfernen sich von dieser hinten gelegenen Annäherungsstelle an die Gelenkflächen sofort unter weitem Klaffen der Gelenkspalten an der vorderen Seite. B. Formalinpräparat. — Der Anblick des eben besprochenen Prä- parates wirkt in mehrerer oder eigentlich in jeder Hinsicht befremdlich. Ich würde daher nicht wagen, dasselbe für typisch anzusehen, und würde es ganz unbesprochen gelassen haben, wenn sich nicht an drei Formalinprä- paraten die gleichen Verhältnisse gefunden hätten und wenn nicht die Aen- PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — H. VırcHow. 325 derungen der Knochenform bei Hockern, wie sie durch Havelock Charles! beschrieben sind, in der gleichen Richtung wiesen. Die beiden Formalinpräparate, auf welche sich meine Beschreibung stützt (Fig. 3), gehören dem gleichen (muskelkräftigen) Individuum an und wurden durch die Herren Studirenden Dönitz und Ammann auf’s Sorgfältigste präparirt. Ich beschränke mich jedoch auf die Wiedergabe der die Band- scheiben betreffenden Notizen. Beide Bandscheiben sind zurückgeschoben und die vorderen Abschnitte derselben in der Richtung der vorderen Befestigungsbänder gerade gestreckt. Die ganze vordere Hälfte der Spalten zwischen Tibia- und Femur- Condylen klafft, so dass hier weder der Tibiaknorpel noch die Bandscheiben Fig. 3. Oberseite der linken Tibia und der Bandscheiben vom spitzwinklig gebeugten Knie. Bezeichnungen wie bei Fig. 2; ausserdem: Een): = Laterales Seitenband, ungespannt. I. D., m. D. = Vordere Grenzlinie der lateralen, bezw. medialen Druckstelle; jede der letzteren zerfällt in einen meniscalen und prämeniscalen Abschnitt. von dem Femur berührt werden. Im hinteren Theil der Spalten dagegen ist nicht nur Contact vorhanden, sondern auch starke Druckwirkung er- kennbar, deren Einfluss auf die Knorpel schon geschildert wurde (8. 319), deren Folgen für die Bandscheiben hier anzureihen sind. Das Bild ist auf der medialen und lateralen Seite wesentlich verschieden. Der Umfang der Druckstellen ist auf Fig. 3 durch punktirte Linien hervorgehoben. Was aber an der Figur nicht sichtbar ist, das ist der gänzlich verschiedene Grad der Druckwirkung auf beiden Seiten. An der medialen Seite, wo, früherer Schilderung nach, am Knorpel nur eine schwache Druckwirkung sichtbar ist, macht sich die Pressung an der Bandscheibe so stark be- merkbar, dass die charakteristische Keilform der letzteren gar nicht mehr zu erkennen ist, ja sogar nur mit Schwierigkeit der Hinterrand der Bandscheibe ı Journ. of Anat. and Physiol. Vol. XXVIII. pe 1—18. 326 VERHANDLUNGEN DER BERLINER festgestellt werden kann. Die Bandscheibe hat vielmehr eine oben leicht convexe Form erhalten, indem sie sich nicht nur nach dem Innenrande, sondern auch nach dem Aussenrande zu verdünnt. Das erklärt sich aus der vorhin geschilderten Stellung der Knochen: der Femurknorpel reicht nur bis zur Mitte zwischen innerem und äusserem Rande der Bandscheibe, die dahinter gelegene Verdünnung wird durch den Boden der supracondy- loidalen Rinne am Femur erzeugt; die am wenigsten comprimirte Stelle also entspricht dem Rande des Femurknorpels. Eine Zurückdrängung der Bandscheibe über die Tibiakante hat nicht stattgefunden; es ist sogar möglich, dass die Bandscheibe etwas vor der möglichen hintersten Stellung liegt, was ich jedoch Angesichts der geschilderten Deformirung derselben nicht ganz sicher sagen kann. Wenn es der Fall ist, so wäre dieser Um- stand wohl so zu erklären, dass die zwischen beiden Knochen eingequetschte Bandscheibe bei der Schlussrotation mit dem medialen Femur-Condylus nach vorn gleitet. Auf der lateralen Seite dagegen, wo, wie erwähnt (S. 319), der Druck am Knorpel zu einer deutlichen Facettirung geführt hat, ist die Bandscheibe nicht in gleicher Weise gequetscht. Sie hat ihre Keilform bewahrt, und es ist daraus zu entnehmen, dass sie, oder wenigstens ihr hinterer Abschnitt, hinter der engsten Stelle Platz gefunden hat. Sie ist aber trotzdem nicht von der Gelenkfläche der Tibia herunter ge- schoben. Offenbar ist sie in dieser Lage durch ihre Befestigungsbänder ge- halten; und es verdient gerade in diesem Zusammenhange das femorale Band Beachtung, welches dem lateralen Meniscus ausser seinen tibialen Befestigungen zukommt. Dieses Band, gewöhnlich als eine Partie des hinteren gekreuzten Bandes aufgeführt, im Toldt’schen’ Atlas als Robert’sches Band bezeichnet, ist beim Pferde ebenso stark, wie das hintere gekreuzte Band selber, und von diesem am femoralen Ansatz durch einen Zwischenraum geschieden; doch, wo es an die Bandscheibe tritt, ist diese bedeutend höher wie breit, und es scheint, dass diese femorale Fixirung die Bandscheibe gerade bei Beuge- stellung gegen das Hinabrutschen an der Tibia schützt. Stellen wir nun auch für das spitzwinklig gebeugte Knie die Frage: Polster oder Pfanne? so ist es ganz klar, dass die vorderen Ab- schnitte beider Bandscheiben, die überhaupt nicht vom Femur berührt werden, weder als Polster noch als Pfanne dienen können; sie wirken vielmehr nur als Bänder für die hinteren Abschnitte. Die letzteren ver- halten sich an beiden Seiten verschieden: die mediale Bandscheibe liefert ein Polster, welches durch intensive Pressung abgeflacht wird, die laterale dagegen gewinnt, wie mir scheint, einen gewissen pfannenbildenden oder pfannenergänzenden Werth, indem sie sich wie eine Schlinge um den lateralen Condylus legt und dazu beiträgt, das Ueberrollen desselben über die hintere Tibiakante aufzuhalten, wobei sie mit dem in dieser Stellung horizontal nach hinten gespannten vorderen (lateralen) gekreuzten Bande zusammenwirkt. In den vorausgehenden Darstellungen ist die Antwort auf die gestellte Frage: Polster oder Pfanne? enthalten. Die Antwort ist nicht mit einem Worte, nicht mit einem Entweder — oder zu geben; vielmehr sind bei gewissen Stellungen Abschnitte der Bandscheiben weder Polster noch Pfanne; bei gewissen Stellungen Abschnitte Polster aber nicht Pfanne; endlich bei PHYSIOL. GESELLSCHAFT. — H. Vırcuow. — R.pu Boıs-Revmonnd. 327 gewissen Stellungen Abschnitte Polster und zugleich Pfanne. Im Ganzen ist jedoch die Betheiligung an der Pfannenbildung gering. Die mitgetheilten Beobachtungen über die Schicksale der Bandscheiben bei den Bewegungen des Kniees beeinflussen nothwendiger Weise die Auf- fassung von der Mechanik des Gelenkes selber. Man hat zu verschie- denen Malen und in verschiedener Weise versucht, die complieirte Mechanik des Kniegelenkes dadurch verständlich zu machen, dass man dieses in mehrere Einzelgelenke zerlegte, und für jedes derselben die mecha- nischen Bedingungen, Hemmungen, Axen feststellte. Diese Zerlegung wurde in verschiedener Weise gemacht: Man unterschied ein oberes und unteres, ein mediales und laterales, in gewissem Sinne auch (für die mediale Seite) ein vorderes und hinteres Gelenk. Alle diese Zerlegungen sind förderlich, wenn man innerhalb der berechtigten Grenzen bleibt; aber sie führen von dem realen Problem ab, wenn man sie deduetiv in abstracte Conse- quenzen verfolgt. So weit die Bandscheiben dabei in Betracht kommen, hat man im Auge zu behalten, dass dieselben nicht nur verschiebbar sind (was ja allgemein anerkannt ist), sondern dass sie ausserdem auch keine starren Gebilde, sondern verziehbar und comprimirbar sind. XIV. Sitzung am 6. Juli 1900. 1. Hr. R. pu Boıs-Reymonp: Ueber antagonistische Coordination der Waden- und Sohlenmusculatur. Es ist eine allgemein anerkannte Thatsache, dass sich der Körper nur dann „auf die Zehen“ zu erheben vermag, wenn der Schwerpunkt bis über die Fussballen hinaus nach vorn verlegt worden ist. In den verschiedenen Schriften über den Mechanismus der Erhebung auf die Zehen, die in den letzten Jahren erschienen sind,! wird diese Thatsache stets hervorgehoben, dabei aber ein anderer Umstand unberücksichtigt gelassen, auf den hier auf- merksam gemacht werden soll. Die verschiedenen Stellungen, die der Körper während der Erhebung durchläuft, werden mit Recht als Gleichgewichts- lagen bezeichnet, und es werden die Bedingungen dieses Gleichgewichts er- örtert, ohne dass man erfährt, auf welche Weise der Körper aus einer dieser Lagen in die andere übergeführt wird. Dieser Mangel ist deswegen noch fühlbarer, weil der Stützpunkt des Fussballens auf dem Boden immer als ein blosser Drehpunkt aufgefasst wird, so dass sich die nothwen- dige Folgerung ergiebt, dass das erwähnte Gleichgewicht ein labiles Gleich- gewicht sein müsste. Durch die geringste Bewegung würde dies Gleichge- wicht gestört werden, und es ist also schwer zu verstehen, wie unter diesen Umständen das Erheben auf die Zehen so leicht und sicher erfolgen kann, wie thatsächlich geschieht. 1 J. Rich. Ewald, Die Hebelwirkung des Fusses u.s. w. Pflüger’s Archiv. 1394. Bd. LIX. 8.251; 1896. Bd. LXIV. 8.53. — Otto Fischer, Ebenso. Dies Archiv. 1895. Anat. Abthlg. 8.101. — L. Hermann, Pflüger’s Archiv. 1896. Bd. LXII. S. 603. — P. Grützner, Ueber den Mechanismus des Zehenstandes. Pflüger’s Archiv. 1898. Bd. LXXIIL S. 607. 328 VERHANDLUNGEN DER BERLINER Dies ist eben auch nur dadurch möglich, dass es sich in Wirklich- keit nicht um labile, sondern um stabile Gleichgewichtslagen handelt, indem zwischen dem Stand auf der ganzen Sohle und dem auf den Zehen nur der Unterschied ist, dass die Unterstützungsfläche sich auf die vor dem Ballen gelegenen Theile der Sohle beschränkt. Der Schwer- punkt ist nicht bloss über das Metatarsophalangealgelenk verlegt, sondern er kann bis zur Mitte der Zehen vorgeschoben werden. Die Schwere strebt dann, den Körper um den Fussballen als Drehpunkt vorwärts fallen zu machen, und diesem Bestreben wird durch die Zehenbeuger das Gleichge- wicht gehalten, mit Hülfe deren die Zehen sich auf den Boden stemmen, und den Körper rückwärts überzudrücken streben. Mit dieser Anschauung vom Gleichgewichtszustande des Körpers wäh- rend der Erhebung auf die Zehen ist aber für die Frage nach den Ursachen des Ueberganges aus einer solchen Gleichgewichtslage in die andere nichts gewonnen, und ebenso wenig fördern uns die an verschiedenen Stellen der erwähnten Schriften gegebenen Andeutungen, wonach diese Aufgabe dem Zuge der Wadenmuskeln zufällt.! Denn denken wir uns den Körper mit über das Fussballengelenk hinaus verschobenem Schwerpunkte im Sohlen- stande, so muss, um das Vornüberfallen zu verhüten und das stabile Gleich- gewicht herzustellen, die Beugemuseculatur der Zehen beträchtlich angespannt werden. Würde nun, in der Absicht, den Körper auf die Fersen zu heben, die Spannung der Wadenmusculatur vermehrt, so würde statt der Hebung einfach eine Rückwärtsneigung des Unterschenkels und des ganzen Körpers im Fussgelenk eintreten, durch die der Schwerpunkt nach hinten verlegt werden würde, bis der Körper auch um das Fussgelenk selbst kippte und rückwärts umfiele. Dies gegründete Bedenken gegen die gewöhnliche Darstellung des Vor- ganges! hat offenbar A. Imbert bei seinen Betrachtungen über das Gleich- gewicht beim Zehenstande”? vorgeschwebt. Denn es findet sich mehrmals® deutlich ausgesprochen, dass die Thätigkeit des Wadenmuskels für sich allein zur Erhebung des Körpers auf die Zehen nicht ausreiche. Die Begründung, die für diesen Satz gegeben wird, ist aber falsch, was schon daraus hervor- geht, dass sie ebenso wohl für die blosse Erhaltung des Gleichgewichts gilt. Zur Erhaltung eines labilen, oder, unter Mitwirkung der Zehen, stabilen Gleichgewichts ist aber die Thätigkeit des Wadenmuskels vollständig ge- nüsend, Auf Grund seiner Figur (Fig. 4) giebt Imbert, unter der Voraus- - setzung, dass die Winkel PGp und #’Eg annähernd gleich sind, als erste BG oder, daer BG = 2-8 BE findet, FF, =2-8P. Die Bedingung für Gleichgewicht mit gehobener Ferse wird aus den Drehungsmomenten (bezogen auf den Fussballen) wie folgt angesetzt: F.AH=(p-+ WAR. Gleichgewichtsbedingung: an — 1 ı Vgl. Dies Archiv. 1895. Anat. Abthlg. S. 111 vorletzten Absatz und Pflüger’s Archiv. 1898. Bd. LXXIll. S. 623 Ende des Abschnittes. ®? A. Imbert, Mecanisme de P’equilibre et du soulivement du corps sur la pointe des pieds. Journal de Physiologie et de Pathologie generale. 1900. T. Il. p. 11. ® U. a. S. 14 vorletzter Satz des Abschnittes II. PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — R. pu Boıs-Reymonv. 329 Der Ausdruck auf der rechten Seite ist falsch, da darin der Compo- nenten Gp’ und Zg’ nicht gedacht wird, die sich wohl in Hinsicht auf die Drehung um DB, aber nicht auf die um A aufheben. Mithin ist die Schluss- folgerung, auch abgesehen von den angenommenen Zahlenwerthen, die be- trächtlich von den Schätzungen und Bestimmungen Anderer abweichen, hin- fällig. Es lässt sich auch leicht an einem einfachen Modell zeigen (Fig. 5), dass durch Spannung einer einzigen Schnur, die dem Wadenmuskel ent- spricht, in jeder Phase des „Fersenhebens“, bei geeigneter Lage des Schwer- punktes, Gleichgewicht herzustellen ist. Mit Hülfe des Modelles lässt sich auch die Frage leicht erledigen, auf welche Weise das Gleichgewicht während des Erhebens erhalten wird. Wir Fig. 5. Schema des Modells. A = Bleiklotz, der den Schwerpunkt darstellt. F= „Fuss“. B= „Zehen“, die auf dem Boden- brett @@ fest liegen. Z und W = Rollen mit Handhaben, um die Bänder - --, die Zehenbeuger Fig. 4. und Wadenmuskel darstellen, durch Aufwinden zu Nach Imbert. verkürzen. hatten oben gesehen, dass durch Mitwirkung der Zehenbeuger der Körper bei über die Fussballen hinaus vorgeschobenem Schwerpunkt in stabilem Gleichgewicht stehen kann, und wir sahen ferner, dass zunehmende Span- nung der Wadenmuskeln dann keine Hebung, sondern Rückwärtsfallen des Körpers zur Folge hat. Ganz ebenso verhält sich das Modell, wenn die ge- spannten Zehenbeuger durch eine kräftige Feder dargestellt werden. Das Modell ist dann im Gleichgewicht, wenn die Schwere, die es nach vorn über- kippen macht, durch die Spannung der Feder aufgehoben ist. Man kann nun eine völlig sichere „Erhebung auf die Zehen“ am Modell demonstriren, wenn man in dem Maasse, in dem man den Wadenmuskel anspannt, die Spannung der „Zehenbeuger“ nachlässt. Noch deutlicher werden diese gegenseitigen Beziehungen bei der Um- kehrung der Bewegung. Man denke sich den Körper bei äusserster Fersen- 330 VERHANDLUNGEN DER BERLINER hebung im Gleichgewicht, und stelle sich vor, dass, um wieder zum Sohlen- stand zu gelangen, nur die Wadenmuskeln erschlafft würden. Die Unter- schenkel und der darauf ruhende Leib würden zunächst in den Fussgelenken nach vorn kippen, der Schwerpunkt würde über die Zehenspitzen hinaus- fahren und der ganze Körper über die Fussspitzen vornüber zur Erde fallen. Es muss also gleichzeitig mit der Erschlaffung der Wadenmuskeln eine Con- traction der Zehenbeuger eintreten, die die Rückwärtsdrehung des Fusses bedingt, durch die die Sohlenstellung wieder herbeigeführt wird. Der nothwendige Zusammenhang der beiden Thätigkeiten geht aus der Handhabung des Modelles auf’s Ueberzeugendste hervor. Die Erhebung auf die Fersen (Lage des Schwerpunktes von dem Fuss- ballen vorausgesetzt) findet also- dadurch statt, dass die Zehenbeuger nach- lassen, und in dem Maasse, als der Schwerpunkt nach vorn überfällt, die Contraction der Wadenmuskeln ihn rückwärts und aufwärts zieht. Die Sen- kung aus der Stellung mit gehobenen Fersen geht umgekehrt vor sich: Die Zehenbeuger werden angespannt, so dass sie den Körper rückwärts werfen, und gleichzeitig lässt der Wadenmuskel nach, so dass der Schwerpunkt nach vorwärts und abwärts sinken kann. Bei der grossen Sicherheit,!' mit der sich die beschriebenen Muskel- thätigkeiten gegenseitig ergänzen, muss man den Innervationsvorgang- als eine frühzeitig stabilirte Coordination betrachten, wie solche wohl bei vielen Bewegungsarten vorkommen mögen. Der Tibialis anticus, dem man geneigt sein könnte, eine Rolle bei dem Vorgange anzuweisen, is) deshalb ausser Acht zu lassen, weil er, als directer Antagonist des Wadenmuskels, nur eine Vermehrung oder Verminderung von dessen Wirkung herverbringt. Interessant ist der Vergleich zwischen dem Vorgange bei der Erhebung auf die Zehen und dem von den Turnern häufig geübten „Hochdrücken zum Handstand“. Bei letzterem tritt die Wechselwirkung zwischen den Beugern des Handgelenkes (die den Zehenbeugern entsprechen) und dem Ellenbogen- strecker subjectiv ganz auffällig hervor, und ist auch objeetiv an deutlichen Schwankungen des ganzen Körpers wahrzunehmen. 2. Hr. Ta. W. EngeumaAnn spricht: Ueber die graphische Messung der Leitungsgeschwindigkeit der Erregung im motorischen Nerven vermittelst des Pantokymographions und der Tunnelelektroden, einer neuen, strengere Localisirung und grössere Gleichförmigkeit der elektrischen * Erregung gewährleistenden Reizvorrichtung für Nerven, die nach dem vom Vortr. früher? entwickelten Prineip der extrapolaren Amortisirung der Stromdichte gebaut ist und sich zu sehr allgemeiner Verwendung bei elektrischen Reizversuchen an Nerven empfiehlt. Die Versuche, in welchen der Ischiadicus des Frosches an vier, je 12 Wm aus einander liegenden Stellen gereizt ward, ergaben bei völliger Gleichheit der von allen vier Punkten ausgelösten Zuckungen die gleiche Leitungs- geschwindigkeit in allen untersuchten Strecken. ! Freilich zeigen die von Grützner, a.a. 0. Teröffenklichten Curven Unregel- mässigkeiten, die als Schwankungen sedeutet werden können. 2 Versl. d. K. Ak. van era, 1895. 30. Nov. PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — TH. W. EnGELMANnN. — CowL. 331 XV. Sitzung am 20. Juli 1900. 1. Hr. CowL: Ueber lineare Kinematographie, insbesondere die Photographie des Pulses. Im Gegensatz zu der allbekannten Kinematoskopie, die vermittelst Serien vonMomentbildern bewegter Objecte nur den Wiederschein der Bewegungen erweckt, befasst sich die wissenschaftliche Kinematographie mit der un- mittelbaren Wiedergabe von Bewegung in der einfachen, der Zeit und Um- fang nach messbaren Form von fortlaufenden Linien, welche vorzugsweise photographisch fixirt werden. Diese photographischen Curven vermitteln im Prineip eine starke Beleuchtung der Gegenstände, ein photographisches Objectiv und eine hinter einem Spalt sich hierzu, wie auch zur Bewegung des Gegenstandes, senk- recht bewegte photographische Fläche. Die je nach dem Zweck und dem Gegenstande verschiedenen bisher bekannten Verfahren betreffen theils Makro-, theils Mikrobewegungen, die mittels Sonnen- bezw. elektrischen Bogenlichtes auf einer durch Glas oder Papier unterstützten lichtempfindlichen Schicht verkleinert bezw. vergrössert projieirt werden, und hierauf entweder fortwährend oder zeitweise photo- graphisch einwirken. Am Pulse der Arteria radialis des Menschen hat Bernstein vor etwa 10 Jahren, gelegentlich der Naturforscherversammlung in Halle, ein Ver- fahren demonstrirt, das ihm photographische Pulsbilder geliefert hatte. Das- selbe bestand darin, einen Sonnenstrahl im dunklen Zimmer von einem win- zigen Spiegel auf einem sichtbaren Pulse im grossen Winkel zu reflectiren und auf eine rotirende Trommel mit lichtempfindlichem Papier zu projieiren. Das nunmehr demonstrirte Verfahren, das auch bei Individuen mit sicht- barem Pulse Verwendung findet, besteht in der Photographie des Randes eines nahezu gewichtlosen, an den Puls aufrecht festsitzenden Licht- schirmes in der Bahn von starkem Lichte und vermittelst einer Camera am Ende dieser Bahn. Ausser sonst in der Mikrophotographie üblichen Vorkehrungen setzt sich im Weiteren der Apparat zusammen: 1. aus einem Gestell für den Arm des Versuchsindividuums, quer zur Ebene der optischen Axe, zwischen Objeettisch und Tubus eines geeigneten Mikroskops (mit Ob- jeetiv von 20%® Brennweite); 2. aus einer Mikrometerschraube am Ende dieses Gestelles zur Einstellung des Lichtschirmrandes in der optischen Axe des Mikroskopes nebst einer Schnurlaufübertragung bis zur hinteren Seite der Camera; 3. aus einer, am Ende einer am Objecttische hervorstehenden Cylinderblende angeklebten nahezu reibungslosen Führung für den Schirm, beide (Schirm wie Führung) aus schwarzem Glanzpapier bestehend; 4. aus einer cylindrischen Linse (von 7 °® Brennweite) vor der Camera, die gleichzeitig einen eigentlichen Spalt entbehrlich macht, und das ganze durch- gelassene Licht zu einer Strichform bringst; 5. aus der Schlittenbahn eines du Bois-Reymond’schen Federmyographions, die durch einen aufsetzbaren Deckel zur Camera gemacht wird, und 6. aus besonderen Cassetten für licht- empfindliche Glasplatten, welche durch eigene Schlüssel von aussen ge- öffnet bezw. geschlossen werden können und am vorderen Ende eine matte Scheibe zur Einstellung des Bildrandes unmittelbar vor der Aufnahme tragen. 332 VERHANDLUNGEN DER BERLINER Es werden vier mittels des demonstrirten Apparates aufgenommene Pulsbilder eines gesunden Erwachsenen, und zwar die nicht retouchirte Nega- tive, näher vorgezeigt, die theils haarscharfe, theils unscharfe Contouren auf- weisen und in allen Fällen die Form der Haupt- und der dierotischen Welle des Pulses wiedergeben. Es betragen die Abseissenwerthe 1 bis 4°“ pro Secunde, die Ordinaten 3 bis 4m, Die betreffenden Versuche wurden in der speciell-physiologischen Ab- theilung des Berliner physiologischen Institutes ausgeführt. 2. Hr. R. pu Boıs-Reymonp: Ueber die Fixation des Kniegelenkes beim Stehen. Zur Zeit, als die Auffassung vom Stehen die herrschende war, dass der Körper mit einem Minimum von Muskelthätigkeit durch den Mechanismus der Gelenke und Bänder aufrecht erhalten würde, hat man eine ganze Reihe Hypothesen darüber ersonnen, auf welche Weise die einzelnen Gelenke fest- gestellt werden könnten. Mit der Zeit ist indessen das ganze Prineip auf- gegeben worden, da es sich zeigte, dass fast überall, wo Bänderhemmungen angenommen worden waren, die (relenke durch Muskelthätigkeit festgestellt werden. Es entsteht nun in jedem einzelnen Falle die Frage, welche Mus- kelgruppen hierbei thätig sind. Diese Frage ist insbesondere beim Knie- gelenk interessant. Denn das Kniegelenk hat nur einen kräftigen Strecker, nämlich den Quadriceps femoris. Und der Quadriceps ist bei der „natür- lichen Haltung im Stehen“, wie man sich leicht durch Verschieben der er- schlafften Patellarsehne überzeugen kann, vollkommen unthätig. Welche Kräfte halten also das Knie beim Stehen gestreckt? In älteren Lehrbüchern findet man zwar Hypothesen über diesen Punkt, von denen aber keine der Kritik Stand hält. Erwähnt muss hier nur eine werden, die sich auch bei Vierordt! und auch bei Brücke? findet, dass nämlich das Kniegelenk im Zustande der Ueberstreckung zur steifen Stütze für den Körper werde Nun ist erstens nach Braune und Fischer’s Er- mittelungen® das Kniegelenk nicht überstreekt, denn der Gelenkmittelpunkt liegt vor der Verbindungslinie von Hüft- und Fussgelenk. Zweitens kann man sich leicht überzeugen, dass beim Strecken des Beines "bei normalen Individuen kein Einknicken erfolgt, sondern dass bis zur äussersten Streck- stellung das Knie in gleichmässiger Weise zur Beugestellung zurückgeht. Ueberstreckung ist aber auch gar nicht erforderlich, damit das Bein als steife Stütze fungire. Vielmehr liegt die Ursache, weshalb das Knie trotz seiner Beugestellung beim Stehen nicht einknickt, einfach darin, dass keine Kräfte vorhanden sind, die darauf im Sinne weiterer Beugung wirken. Dies lässt sich vielleicht anschaulicher so ausdrücken, dass die Fest- stellung des Unterschenkels genügt, um das Einknicken des Knies zu ver- hindern, während die Lage des Rumpfschwerpunktes vor den Kniegelenken verhindert, dass der Oberschenkel sich gegen den unbewegten Unterschenkel ! Vierordt, Grundriss der Physiologie des Menschen. ‚Tübingen 1862. 2. Aufl. S. 361. ? Brücke, Vorlesungen über Physiologie. 3. Aufl. Bd.I. 8. 528. ® Braune und Fischer, Ueber den Schwerpunkt u. s. w. Kgl. sächs. Gesellsch. der Wissensch. 1889. Bd. XV. PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — R. pu Boıs-Reymonn. 333 beugt. Schon Haycraft hat darauf hingewiesen, dass, sobald der Schwer- punkt nicht mehr vor dem Knie liege, das Knie einknicke und nur durch den Quadriceps gestreckt gehalten werden könne. So lange aber der Schwer- punkt vor dem Knie liegt, strebt die Schwere, den Körper vor dem Knie zur Erde fallen zu machen, und wirkt also nur streckend, nicht beugend ein. Dies gilt, wenn man Fuss- und Hüftgelenk als festgestellt ansieht, für jede noch so spitzwinklige Beugestellung des Knies. Man kann sagen, es be- stehe eine relative Ueberstreckung, da zwar noch eine leichte Beugung vor- handen ist, die Beanspruchung aber schon im Sinne der Streckung geschieht. So lange der Schwerpunkt vor dem Knie gelegen ist, muss das als starr gedachte System: „Rumpf und Oberschenkel“ vorn über zu fallen streben. Dies kann erstens geschehen durch Vorneigung im Fussgelenk, zweitens durch Vorneigung, also Streckung, im Kniegelenk. Das Fussgelenk ist aber durch A. PD ————— — — . — + 2. Fig. 6 u. 7. Curven der Dickenzunahme des Quadriceps beim Einknicken des Knies. S = bei Sohlenstand. Z = bei Zehenstand. C = Ordinate. AB = Maass der Vorwärtsbewegung des Knies in Centimetern. den Zug der Wadenmuskeln fixirt. Folglich kann nur die Vorneigung im Knie, also die Streckwirkung auf das Kniegelenk, eintreten. Für diese Verhältnisse objeetive Beweise beizubringen, ist schwierig, doch kann man auf folgende Weise verhältnissmässig einfach dazu gelangen: Wenn beim Stehen der Zug der Wadenmuskeln plötzlich verringert wird, so kniekt das Knie ein, und um das Fallen zu verhüten, ist die Thätigkeit des Quadriceps nöthig, der refleetorisch eingreift. Dies lässt sich bei plötz- lichem willkürlichen Einknicken der Kniee (durch Contraction der Beuge- musculatur) beobachten. Macht man nun diesen Versuch einmal bei weit nach hinten, das zweite Mal bei weit nach vorn verlegtem Schwerpunkt, und registrirt gleichzeitig die Beugestellung des Knies und die Oontraction des Quadriceps (s Fig. 6 u. 7), so zeigt sich, dass die Contraetion im ersten Falle viel eher einsetzt. Daraus folgt, dass die Kniee beträchtlich gebeugt werden können, ohne dass die Kniestrecker thätig sind, um den Körper im Stehen zu erhalten, und dass die Grösse dieser Beugungsmöglichkeit von der Lage des Schwerpunktes abhängt, und dies ist eine indirecte Begründung des Satzes, dass, so lange der Schwerpunkt vor dem Knie befindlich ist, die Feststellung des Fussgelenkes durch die Wadenmuskeln genügt, die Ein- knickung im Knie zu verhindern. 3354 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 3. Mittheilung des Hrn. Wıra. Koca in Dorpat: Bemerkungen über Entstehungszeit und Wesen der Eingeweidebrüche des Rumpf- endes. (Referent: Hr. H. Munk.) Peter Camper’s Lehre, dass alle Leistenbrüche Brüche des Processus vaginalis, also angeboren seien, hat die gebührende Beachtung nicht ge- funden.! Freilich acceptirt man diesen angeborenen Bruch, erklärt ihn aber für selten im Vergleich zum Leistenbruch des späteren Lebens, dessen Ur- sache die Bauchpresse und an zu langen, kranken Gekrösen hängende Därme sein sollen. Aehnlich diesem Bruch werden die übrigen Brüche des Rumpf- endes, die cruralen, obturatorischen, ischiadischen, perinealen u. s. w. als Erwerbungen des späteren Lebens aufgefasst; nur müsse man für einige der- selben (Schenkel, Nabel) auch noch das subseröse Lipom (Cloquet), für den Diekdarmbruch Innenbelastung des Darmes und Zug seitens des Ileum ver- antwortlich machen (Scarpa). Scarpa widerlegte ich ausführlich in meiner Schrift über die Diekdarmbrüche; er hat schon deswegen nicht Recht, weil das fast leere Caecum ohne Ileum im Bruchsack 7monatlicher Föten sich findet. Hierhin kann es nur durch eigene Energie kommen. Lipome aber des Bauchfelles werden ebenso wenig wie jene der Dura mater unter Bedin- sungen angetroffen, aus welchen die Zerrung der betreffenden Membran nach aussen physikalisch sich ableiten liesse.. Eher wiederholt solch Fett in seiner Formverschiedenheit analoge thierische Zustände, und gegen den intraabdo- minalen Druck sprechen, abgesehen von der Unmöglichkeit, typische Ein- seweidebrüche experimentell zu erzeugen, folgende Erhebungen meines Schülers Dr. Harms an der Leiche. Er fand zunächst leere, z. B. crurale und obturatorische Bruchsäcke gegenüber einem Dünndarmgekröse sammt Darm, welche bis an die Bruchpforten sich nicht heranziehen liessen, also den Bruchsack nicht erzeugt haben konnten. Häufiger ist die Thatsache, dass das Gekröse des Ileumendes, der vorderen Bauchwand gegenüber, relativ zu lang ist, z. B. auf den Schenkel sich ziehen lässt und dennoch intra vitam keinen Bruch erzeugte. Nicht selten bleibt drittens, trotz weit offenen Bruchsackes, solch langes Gekröse im Bauche, der Darm selbst ohne Druck- marken und Stenosen, also ohne Zeichen einstigen Aufenthaltes im Bruch- sack. Federnde, d. h. locker eingebettete, unter jedem Hustenstoss sich aus- buchtende Bruchsäcke vergrössert die Bauchpresse selbst bei schwer arbeitenden alten Leuten nicht, und verbinden die Diastase der Linea alba, den ange- borenen Spalt zwischen den Recti, Bauchfell und Haut als Platte, so ändert nach den Erfahrungen meiner Klinik die Bauchpresse auch hieran nichts. Angesichts dieser und ähnlicher Thatsachen und Mangels zwingender anderer Gründe scheinen mir die Brüche des Rumpfendes Späterwerbungen nicht zu sein. Sie werden angeboren, wie Schenkeldünndarm- und Leisten- dickdarmbrüche aus der Zeit des 7. Monates beweisen. Während der Ent- wiekelung aber arbeitet die Bauchpresse nicht, und nichts stützt die Behaup- tung, dass dann Eingeweidebrüche mit besonderen mechanischen oder patho- logischen Schädlichkeiten zusammentreffen. Also ist wenigstens der Bruchsack Ausdruck der Fähigkeit des embryonalen Bauchfelles, Triehter gegen die Oberfläche auszusenden. Der Processus vaginalis zeugt in diesem Sinne, und der Fehler der Praktiker und Theoretiker war, dass dieser Processus ! Geschichte bei Sachs. JInaug.-Diss. Dorpat 1885. a ae a nn ne Et ARE = PHYSIOLOGISCHEN (GESELLSCHAFT. — WırH. Koch. 335 als der einzige des thierischen Bauchfelles betrachtet wurde, Neben ihm müssen, zur Entwiekelungszeit, noch andere existiren, wie Dr. Harms er- härtet, da er ausser den bekannten drei inguinalen Foveae regelmässig noch erurale, obturatorische, seltener ischiadische und perineale fand. Ist die Fovea ing. ext. Ueberbleibsel eines Bauchfelltrichters, so dürften die Narben über der Fovea cruralis, obturatoria u. s. w. es ebenfalls sein. Die leider vergessene Geschichte des sog. anomalen Descensus testieuli bezeugt es eben- falls. Dieser vollzieht sich u. A. durch den Schenkelcanal, unter dem auf- steigenden Sitzbeinast, gegen den Damm und von der Darmschaufel zum Rectum.! Und gelangt trotzdem einerseits der inguinale Vaginalcanal, natür- lich ohne Beziehung zum Hoden, zur Anlage, so begleiten andererseits den Hoden auf seiner ungewöhnlichen Wanderung jedesmal Bauchfelltrichter. Diese sind also an eine Stelle gebunden, an welcher man nach heutigen Lehren nur einer Fovea begegnet, so dass an die Entwickelungsgeschichte die Forderung zu stellen ist, Bauchfelltrichter ausser dem vaginalen ingui- nalen zunächst anatomisch sicher zu stellen. Noch bliebe der Sinn solcher peritonealen Trichter zu ermitteln. Die Praktiker sehen ihn darin, dass an der vorderen Bauchwand und im Becken schwache, unter der Bauchpresse allerdings meistens spät nachgebende Stellen vorhanden sind. Doch widerlegen diese Ansicht Belastungsversuche der vor- deren Bauchwand und meiner Meinung nach weit mehr die jedesmal nach- weisliche, streng gebundene Oertlichkeit der Bruchsäcke, für welch letztere ich nur eine Erklärung, die finde, dass die Bauchfelltrichter Stellen ent- sprechen, an welchen bei niederen Thieren und selbst noch bei einigen Mam- malien Pori abdominales liegen.” Drängen sich diese Pori bei den Prae- mammalien auf den Beckenboden, um Blase und Mastdarm zusammen, so stimmt damit die Lage des obturatorischen, ischiadischen, perinealen und selbst des inneren inguinalen Bruchsackes überein, während die Abschwen- kung des äusseren inguinalen und vielleicht des cruralen Bruchsackes aus der reicheren Entfaltung des Beckens erklärt werden müsste. Auch vollzieht sich der Funetionswechsel insofern, als (bei Reptilien? und) beim Menschen die Pori Wassergänge oder Excretionskanäle für Harn und Samen, wie bei Praevertebraten, nicht mehr sind.“ Vielmehr tritt beim Menschen das Ex- ceretionsorgan mit eigenem Ausführungsgang hinter den geschlossenen Porus, dessen einziger Zweck, abgesehen vom äusseren inguinalen Processus, nur noch zu sein scheint, die Bauch- und Beckenwand zu lochen, um den Aus- tritt eines beweglichen Organes der Bauchhöhle unter bestimmten Vor- aussetzungen zu ermöglichen. Dieses letzte wäre der für die Bruchlehre wichtige zweite Punkt. Vieler- orten wird nämlich behauptet, es müsse vor der Auswanderung des Darmes in den Bruchsack das Gekröse erst erkranken und zugleich sich verlängern. Dass dieses falsch ist, kann ich wenigstens für den gewöhnlichsten aller Brüche, den rechten Leistenbruch, nachweisen, gleichgültig ob er Dünn- oder Dickdarm umschliesst. Dann ist das Gekröse immer gesund, aber auf Grund ! Thurn (Wernher). Inaug.-Diss. Giessen 1868. ® Die Lehrbücher von Gegenbaur und Wiedersheim. ® Kennel, Zoologie. S. 608. * Weber, Morphol..Jahrb. 1887. Bd. XH. S. 366. 336 VERHANDLUNGEN DER BERLINER entwickelungsgeschichtlicher Vorgänge im Bereich der unteren Hälfte des Ileum verlängert. Beträgt hier seine Länge nach Dr. Harms bei Bruch- losen im Durchschnitt höchstens 11°”, so steigt dieses Maass auf 17 bis 40, je nachdem nur der diverticuläre Bruch oder der Leistenbruch mit viel Ileum als Inhalt vorliegt. Zugleich stecken zwischen den Gekrösblättern Fettplatten, was beides um so mehr die auch niederen Affen zukommende Aus- gestaltung ist, als neben ihr, wie es scheint fast regelmässig, der Dickdarm ebenfalls im Bilde der Prosimier und Primaten, nicht der Anthropoiden, steht, d. h. der Flexura hepatica im eigentlichsten Wortsinne entbehrt, nur die Flexura pylorica erkennen lässt. Doch habe ich den Situs auch der Beutler, Carnivoren, Nager u. s. w., selbst der niedersten Säuger! nachgewiesen, wenn der Diekdarm in den Proc. vaginalis oder hinter ihm in’s Serotum ein- gegangen war. Ich schliesse also mit der Behauptung, dass bei den Ein- geweidebrüchen des Rumpfendes gewisse thierische Einrichtungen festgehalten werden, und bedauere, Raummangels wegen, in ähnlicher Weise die Nabel- schnurbrüche nicht abhandeln zu können. Wie aber gelegentlich des Zwerch- fellbruches das Verschiedenste durch einander geworfen und die Thierähnlich- keit ganz ausser Acht gelassen wurde, das möge man aus den Arbeiten der chirurgischen Universitätsklinik Dorpat, Heft 2 bis 4, ebenso wie die thera- peutischen Consequenzen ersehen, welche kraft dieser Auffassung der Dinge sich darbieten. 4. Mittheilung des Hrn. E. Brreer in Paris: Ueber stereoskopische Lupen und Brillen. (Referent: Hr. A. König.) Zwei zu einander geneigte, decentrirte Biconvexlinsen entwerfen von einem in der Brennweite befindlichen Gegenstande je ein aufrechtes, ver- grössertes, weiter (als der Gegenstand) entferntes, virtuelles Bild für jedes Auge. Da diese Bilder auf identische Netzhautstellen beider Augen proji- eirt werden, so werden dieselben im Gehirn als einem Gegenstande ange- hörend wahrgenommen. Beide Bilder sind um so mehr temporalwärts abge- lenkt, und desto mehr von einander verschieden, je kürzer die Brennweite der die neue binoculäre Lupe? darstellenden Linsen ist. Erstere Erschei- nung erklärt, warum langes Beobachten mit der neuen Lupe ohne erheb- liche Convergenzanstrengung möglich ist; letztere ist Ursache der starken stereoskopischen Wirkung der Lupe.- Die verfeinerte Reliefwahrnehmung macht sich jedoch erst nach einiger. Uebung geltend. Das Gehirn muss erst die Beurtheilung der feineren Relief- unterschiede aus der grösseren Verschiedenheit der Netzhautbilder erlernen. Im Allgemeinen erfolgt dies ziemlich rasch; etwas langsamer bei älteren, als bei jüngeren Leuten, schwieriger bei Berufsarten, welche anhaltendes Arbeiten mit einem monoculären Instrumente erfordern. In einzelnen Fällen ergab sich, dass das körperliche Sehen nur durch die Ueberkreuzung der Contouren und durch die Schlagschatten beurtheilt wird. Auch in mehreren Fällen von Hysterie und von beginnender progressiver Paralyse wurde fest- gestellt, dass die Verschiedenheit beider Netzhautbilder, die jener entsprechen ı Klaatsch, Morphol. Jahrb. 1892. Bd. XVII. S. 696. ? Solehe Lupen (und Brillen) sind neuerdings von mir construirt worden und von Gebr. Koch in Stuttgart käuflich zu beziehen. PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — FE. BERGER. 337 würde, welche eine Vergrösserung des Pupillarabstandes beider Augen her- vorrufen würde, keine bessere Wahrnehmung des Reliefs zur Folge hatte. Längeres Arbeiten mit der Lupe bringt schliesslich bei den meisten Menschen eine erstaunliche Steigerung der Reliefwahrnehmung hervor, und schliesslich wird auch die Reliefwahrnehmung ohne die stereoskopische Lupe bedeutend verbessert. Die zu einander geneigten Linsen rufen eine astigmatische Wirkung hervor, welche entgegengesetzt dem physiologischen As des menschlichen Auges im horizontalen Meridiane den stärksten Brechwerth zeigen; letzterer ist um !/,, stärker, als jener des verticalen Meridianes. Bei einer stereo- skopischen Lupe von + 13 D Brennweite ist mithin der horizontale Meridian um 1 D stärker brechend, als der verticalee Ein Auge mit einem physio- logischen As (As nach der Regel) von !/, D wird mithin einen As von ?/, D gegen die Regel erhalten. Es genügt jedoch, eine Neigung der Lupe im verticalen Sinne auszuführen, um diese Uebercorrection des As des Auges durch jenen der Lupenlinsen auszugleichen. Für feineres Beobachten erfor- dernde Untersuchungen kann für jeden Untersucher die Lupe in der den individuellen As nach der Regel corrigirenden Stellung fixirt werden. In den Fällen, in welchen der Grad des As nach der Regel in beiden Augen verschieden ist, kann jeder Lupenlinse eine verschiedene Neigung gegeben werden; in den meisten Fällen genügt es jedoch, das beim binoculären Seh- act hauptsächlich verwandte Auge (oeil direeteur, Tscherning) zu corri- giren; in den Fällen von As gegen die Regel oder mit schief gerichteten Achsen, müssen den Lupenlinsen ÜÖylindergläser beigefügt werden, welche den As des Auges und jenen der Linsen zusammen zu corrigiren haben. Die neue binoculäre Lupe ist bestimmt, die einfache Lupe in allen ihren bisherigen Anwendungen in der Wissenschaft, Kunst und Industrie zu er- setzen. Die neue Lupe behält die Brennweite, Vergrösserung und den Arbeitsabstand der bisher üblichen Lupen bei; ihr Gesichtsfeld ist grösser, als jenes der letzteren; sie ermöglicht die Untersuchung mit beiden Augen, mit Verfeinerung der Reliefwahrnehmung; sie gestattet eine lange andauernde Arbeit ohne Anstrengung der die Convergenz bewirkenden Museculi recti in- terni; die Ueberanstrengung .des allein bisher verwandten Auges, sowie die Ermüdung des Schliessmuskels des anderen, nicht arbeitenden Auges, die Schädigung des binoculären Sehactes durch lange anhaltende Nichtbenutzung eines Auges, entfallen; in sehr zahlreichen Fällen (90 bis 94 Procent, Nor- denson; Steiger, Knapp) corrigirt der Lupen-As den As des Untersuchers. Decentrirte, zu einander geneigte Convexgläser geben Myopen die Vor- theile einer feineren Reliefwahrnehmung und einer Verminderung der Con- vergenzanstrengung. Sowohl Convex- als Concavgläser können in dieser Weise bei der Nahebrille, welche eine binoculäre Lupe von grösserer Brenn- weite ist, in Verwendung kommen. Die bei der bisher üblichen Nahebrille beobachteten Beschwerden, über welche die meisten Kranken, insbesondere bei der Anwendung von Convex- gläsern, klagen, lassen sich am einfachsten durch eine, in Folge auf beiden Augen ungleich starker, prismatisch-adducirender Wirkung derselben während des Lesens auftretende Coordinationsstörung der Augenbewegungen erklären, die eingehender in einer in der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane erscheinenden Abhandlung besprochen werden sollen. Archiv f. A.u. Ph. 1900, Physiol. Abthlg. Suppl. 22 338 VERHANDL. DER BERLINER. PHYSIOL. Ges. — Ta. W. ENGELMANN. 5. Hr. Tu. W. Ensenmann hält den angekündigten Vortrag: Ueber ein Mikrospeetralobjeetiv mit Normalspectrum. Das im Jahre 1881 vom Vortragenden angegebene und von Carl Zeiss ausgeführte Mikrospectralobjectiv lieferte wie alle gebräuchlichen Spee- tralapparate ein. prismatisches Speetrum. Der damals gehegte Wunsch, den diesen Apparaten anhaftenden Uebelstand der ungleichen Dispersion durch Verwendung eines Beugungsspectrums zu beseitigen, stiess in der Ausführung auf Schwierigkeiten und blieb deshalb unerfüllt. Durch Hrn. Schmidt und Haensch vor Kurzem in den Besitz eines Thorp’schen Gitters (durchsich- tiger Abklatsch eines Rowland’schen Metallgitters) gesetzt, welches ein relativ sehr lichtstarkes, u. A. zu objeetiver Darstellung von Absorptionsspeetren selbst vor grossem Zuschauerkreis genügendes erstes Beugungsspectrum lieferte, veranlasste Vortragender die Werkstätte von Carl Zeiss, die Ver- suche zur Herstellung eines Mikrospectralobjectivs mit Gitter wieder aufzu- nehmen, diesmal mit Erfolg. Das erste, nach dem neuen Princip ausgeführte Instrument wird vom Vortragenden demonstrirt. Es liefert, unter Anwen- dung von System E von Zeiss zur Projeetion, ein sehr reines Normal- spectrum von etwa 0-5" Länge. Es zeigt im Sonnenlicht bei 100- oder mehrfacher Vergrösserung bei mässiger Spaltweite zahlreiche Frauen- hofer’sche Linien, und lässt bei Benutzung eines Auerbrenners oder einer Nernstlampe als Lichtquelle mikroskopische Beobachtung bei sehr starken Vergrösserungen in weitem Umfange zu. Näheres über den Apparat und die damit erzielten Resultate wie auch über ein nach demselben, zur all- gemeinen Kinführung in der Spectroskopie sich empfehlenden Prineip con- struirtes Mikrospectralocular. zur quantitativen Farbenanalyse kleiner Objecte, hofft Vortragender der Gesellschaft später vorzulegen. SWERIEREEE TE SEE BERELEG Dr NE r ee Ba u ET TEEN REITER N ee FEB I K8190] Physiologische Abtheilung. 1900. Supplement-Band. ws ARCHIV | FÜR ANATOMIE UND FHNSIVLÖGIE. FORTSETZUNG DES von REIL, REIL v. AUTENRIETH, J. F. MECKEL, JOH. MÜLLER, REICHERT vw. DU BOIS-REYMOND HERAUSGEGEBENEN ARCHIVES. HERAUSGEGEBEN VON Dr. WILHELM HIS, PROFESSOR DER ANATOMIE AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG, UND Dr. TH. W. ENGELMANN, PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN. JAHRGANG 1900. = PHYSIOLOGISCHE ABTHEILUNG. == SUPPLEMENT-BAND. | MIT SECHSUNDVIERZIG ABBILDUNGEN IM TEXT UND EINER TAFEL. | LEIPZIG, VERLAG VON VEIT & COME. | \ 1900. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes. ‚(Ausgegeben am 29. December 1900.) ARCHIV für ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE, Fortsetzung des von Reil, Reil und Autenriet, . ‚ Meckel, Koh. Müller, Reichert und du Bois-Reymond herausgegebenen Archives, erscheint jährlich in 12 Heften (bez. in N m Abbildungen“ im 4 Text und zahlreichen Tafeln. | 6 Hefte entfallen au den anatomischen Theil und 6 auf den physiolo- gischen Theil. Der Preis des Jahrganges beträgt 54 M. Auf die anatomische Abtheilung (Archiv für Anatomie und Entwickelungs- geschichte, herausgegeben von W. His), sowie auf die physiologische Abtheilung (Archiv für Physiologie, herausgegeben von Th. W. Engelmann) kann separat abonnirt werden, und es beträgt bei Einzelbezug der Preis der anatomischen Abtheilung 40 c#, der Preis .der physiologischen Abtheilung 26 #. Bestellungen auf das vollständige Archiv, wie auf die einzelnen "Ab theilungen nehmen alie Buchhandlungen des In- und Auslandes entgegen. Die Verlagsbuchhandlung: Veit & Comp. in Leipzig. Druck von Metzger & Wittig in Leipzic. vr ? N RL TE ODER ee ® 5 ’ = ® 2 ER, \ wor F AN D « = d v ö 3 anmunln I 2044 093 332 419 Date Due APR 25 1968