A ; 47 2: u? 4 % ä > FHARVARD/ZUNIVERSHEY: LIBRARY OF THE MUSEUM OF COMPARATIVE ZOÖLOGY. Re STERN. | z 5 Fi a 2 Ns nid: ve Wi ge # D$ Bu E27 i U} AR 19% I DESU we run? gay Bat Han YYyaQ BÄNORA IR RLRAEV ar N De: Ks a y DR FIAHTAL VERIADOIDIEYEN ee N | AAYalIaW. IHR: Bags ee FRE 5 N R Erna r En ARCHIV FÜR ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE. FORTSETZUNG DEs von REIL, REIL v. AUTENRIETH, J. F. MECKEL, JOH. MÜLLER, REICHERT vw. DU BOIS-REYMOND HERAUSGEGEBENEN ARCHIVES. HERAUSGEGEBEN VON Dr. WILHELM WALDEYER, PROFESSOR DER ANATOMIE an DER UNIVERSITÄT BERLIN, UND Dr. TH. W. ENGELMANN, PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN. JAHRGANG 1905. SUPPLEMENT-BAND ZUR PHYSIOLOGISCHEN ABTHEILUNG. LEIPZIG, VERLAG VON VEIT & COMP. 1905. ARCHIV FÜR PHYSIOLOGIE. PHYSIOLOGISCHE ABTHEILUNG DES ARCHIVES FÜR ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE. UNTER MITWIRKUNG MEHRERER GELEHRTEN HERAUSGEGEBEN VON Dr. TH. W. ENGELMANN, PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN. JAHRGANG 1905. SUPPLEMENT-BAND. MIT ABBILDUNGEN IM TEXT UND VIERZEHN TAFELN. - LEIPZIG, VERLAG VON VEIT & COMP. 1905. Druck von Metzger & Wittig in Leipzig. Inka State, Experimentelle Studien über den Alveolardruck der Lungen und über den Druck im Pleuraraum. (Hierzu Taf. I-IX.). Pıvı Schutz, Ueber die angebliche refractäre Periode der Darmaiusthlatur er Warmblüter : FERDINAND HUEPPE, Ueen Bnlaaon He Kohlen Einzel EL TONER Organismen WırısaLp A. NAGEL, Untersuchungen über dien Wiedercnle Boktodiacher Be wegungen durch die König’schen Flammen. (Hierzu Taf. X.) . : Ernst BARTH, Ueber den Mechanismus der Kehldeckelbewegungen beim Menschen B. DanıLewskv, Ein Versuch über künstliche Erzeugung von ne bei Hunden . : H. ZWAARDEMAKER, Ueber ddr Sale im Corti kalan Oi ah Kos Stra. liche Gehörsreiz . Hans Piper, Untersuchungen ie da eleiktrombtorisahh erhalten e Netzhauı bei Warmblütern B. DanıLewsky, Versuche über die ostmodtale Böizbarkeit der hemmenden N erven- apparate im Herzen der Säugethiere. (Hierzu Taf. XI.) WILHELM STERNBERG, Die stickstoffhaltigen Süssstoffe . A WirıBaLD A. NaGEr, Ueber Contractilität und Reizbarkeit des Samenleiters, Bi Mittheilung F. H. Quix und H. F. Miami Ds Ernpfindlichkeit de Ohres für Töne v ver- schiedener Schwingungszall . F EAN Er) F. H. Quıx, Die Empfindlichkeit des eehichen Ohren! Antyort an Herrn Prof. Max Wien ; R. pu Boıs-ReymoxD, Zur Ehrenpoe® ds Shrinsens Ben GEoRG Fr. Nıcoraı, Ueber Ungleichförmigkeiten in der onen digkeit des Nervenprineips, nach Untersuchungen am marklosen Riechnerven des Hechtes. (Hierzu Taf. XII—XIV.) ; J. Dewırz, Untersuchungen über die Verwandlung de Insectenlarren. 1. Verhandlungen der physiologischen Gesellschaft zu Berlin 1904—1905. N. Zunzz, Ueber die Wirkungen des Sauerstoffmangels im Hochgebirge . Rawıtrz, Ueber das Auge der Wale R. pu Boıs-Reymonp, Zur Demonstration der Aufhellung ie: Blutes N. Zuntz, Besonderheiten eines von ihm nach dem Prineip von Regnault dl Reiset gebauten Respirationsapparates Seite 23 115 124 133 193 201 287 305 320 329 341 389 416 430 430 431 vI INHALT. M. BorcHERT, Ueber die Hirnrinde der Selachier . R. pu Boıs-ReymonD, Zur Physiologie des Springens Levy-Dorn, Projection kinematographischer Röntgenbilder W. Vöurtz, Ueber die Bedeutung des Betains für die thierische Henahene N. Zunrz, Zur Kritik der Blutkörperchenzählung . : Max MüÜrteR, Ueber die eiweisssparende Wirkung des Neperzghn: ber do: Er nährung . Pınkus, Ueber den Akehen Others und Ovstonmigpriine eu Torikaiktien (Zwischenhirn) verlassenden Hirnnerven der Dipnoer und Selachier . M. RoTHMAnNn, Ueber combinirte Ausschaltung centripetaler Leitungsbahnen im Rückenmark ; SOMMERFELD, Zur Kenntniss ne Nekreion des “Mapens ein "Menschen ä KonkAap Herty, Demonstration über einen Hund mit Gallenfistel . NAGEL, Ueber das Niesen . NAGEL, Contractilität und Beizbarkeit aa Samenletters LEWANDOowsKYy, Zur Anatomie der Vierhügelbahnen . Seite 434 434 435 436 441 444 447 452 455 456 457 458 458 Physiol. Abtheilung. 1905. Supplement-Band, I. Hälfte. [2 E N Sa rn Di: ARCHIV FÜR ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE FORTSETZUNG DES von REIL, REIL v. AUTENRIETH, J. F. MECKEL, JOH. MÜLLER, REICHERT vw. DU BOIS-REYMOND HERAUSGEGEBENEN ARCHIVES. HERAUSGEGEBEN voN De. WILHELM WALDEYER, PROFESSOR DER ANATOMIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN, UND ‚Dr. TH. W. ENGELMANN, PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN. JAHRGANG 1905. | —— PHYSIOLOGISCHE ABTHEILUNG. —— SUPPLEMENT-BAND. == ERSTE HÄLFTE. = \ | MIT NEUNUNDSECHZIG ABBILDUNGEN IM TEXT UND ZEHN TAFELN. LEIPZIG, VERLAG VON VEIT & COMP., 1905 | Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes. (Ausgegeben am 10. November 1905.) Inhalt, Seite SIHLE, Experimentelle Studien über den Alveolardruck der Lungen und über den Druck im Pleuraraum. (Hierzu Taf.I-IX.) . ... 1 ‘ Paun Schuutz, Ueber die angebliche refractäre Periode der Darmmusenlatur der. Warmblüter. ... . . 93 FRRDINAND HuEpPpE, Ueber Mernen ae lets: an onheiigeie Organismen . . 33 WiLIBALD A. NAGEL, Untersnolrneen uber 4 Wide dab. Veriodischer Be- wegungen durch die König’schen Flammen. (Hierzu Taf.X.) . . . . 62 Ernst BartH, Ueber den Mechanismus der a bein Menschen... 2. 84 B. DanıLewsky, Ein Versuch, über kersiiche en von kr erhakie bei Hunden 2... al H. ZWAARDEMAKER, Ueber den Shan im "Corti Gehen Orein ale is: re liche Gehörsreiz . . . 4124 Hans PIPER, Untekuchensen über Has lekromehinche Verhalien der Netz. hautsbei: Warmblütern.c- 20,20 100 e S r el3 Die Herren Mitarbeiter erhalten vzerzig Sur, Abzüge ihrer Bei- träge gratis. FRE Beiträge für die anatomische Abtheilung sind an Professor Dr. Wilhelm Waldeyer in Berlin N.W., Luisenstr. 56, Beiträge für die physiologische Abtheilung an Professor Dr. Th. W. Engelmann in Berlin N.W., Dorotheenstr. 35 portofrei einzusenden. — Zeiehnungen zu Tafeln oder zu Holzschnitten sind auf vom Manuseript getrennten Blättern beizulegen. Bestehen die Zeich- nungen zu Tafeln aus einzelnen Abschnitten, so ist, unter Berücksichtigung der Formatverhältnisse des Archives, eine Zusammenstellung, die dem Lithographen als Vorlage dienen kann, beizufügen. Experimentelle Studien über den Alveolardruck der Lungen und über den Druck im Pleuraraum. Von Dr. Sihle. (Aus dem physiologischen Institut zu Odessa. Director: Prof. Werigo.) (Hierzu Taf. I—-IX.) Der Frage nach dem Intraalveolardruck der Lungen scheint man ex perimentell bisher nicht näher getreten zu sein; wenigstens haben wir in der Litteratur diesbezügliche Arbeiten nicht vorfinden können. Die Schwan- kungsgrösse des intraalveolären Druckes, von der man keine rechte Vor- stellung hatte, beansprucht nicht allein ein physiologisches Interesse. Eine experimentelle Prüfung der Druckschwankungen im Alveolarraum wäre auch im Stande, grelle Streiflichter zu werfen auf einige bisher noch viel umstrittene Fragen, die im Zusammenhang stehen mit dem Asthma, speciell aber mit der Frage, durch welche Factoren eine acute Lungenblähung bedingt wird. Es ist einleuchtend, dass eine Lungenblähung nur durch eine Luft- incarceration bedingt werden kann. Die Bedingungen für letztere sind gegeben, wenn das Exspirium im Verhältniss zum Inspirium erschwert wird. Der Streit dreht sich also um die Frage: durch welche Factoren wird das Exspirium erschwert? Ist der Grund in einem Spasmus der Bronchial- bezw. Bronchiolenmusculatur oder in einer Schwellung der Schleimhaut zu suchen? Oder schliesslich, wirken beide Factoren gemeinsam ? Auf die Frage, weshalb bei Verengerung der Bronchiallumina die Exspiration in höherem Grade erschwert sein soll als die Inspiration, wollen wir hier nicht näher eingehen, da sie anatomisch und physiologisch genügend geklärt und begründet zu sein scheint. Archiv f.A. u, Ph. 1905. Physiol, Abthlg. Suppl. 1 2 SIHLE: Es ist von vornherein klar, dass eine Lungenblähung mit einer Steigerung des Intraalveolardruckes einhergehen muss. Wenn wir nun die Möglich- keit hätten, den Alveolardruck zu messen und die Schwankungen desselben bei Bronchospasmus und bei Schleimhautschwellung aufzuzeichnen, so wären die vorhin erwähnten Streitfragen endgültig gelöst. Nun muss hierbei gleich eingestanden werden, dass wir keine Methode besitzen und wohl auch in Zukunft nicht besitzen werden, um den Alveolar- druck direct zu messen. Wohl aber ist es möglich, auf indireectem Wege, durch Berechnung, dieser Frage näher zu treten. Die von uns geübte Methodik ist neu, und daher haften ihr noch verschiedene Mängel an. Sie ist aber verbesserungsfähig, und daher ist zu hoffen, dass die zu erlangenden Resultate in Zukunft einwandsfreier gestaltet werden können. — Durch welche Mittel und Wege können wir Einblick erlangen in die Schwankungen des Alveolardruckes? Das Verdienst, zur Klärung dieser Frage eine Methode ersonnen zu haben, gehört Herrn Prof. Werigo, während Autor vorliegender Zeilen die Gedanken Prof. Werigo’s bloss zur Ausführung gebracht hat. Hierbei sei es gestattet, Herrn Prof. Werigo meinen aufrichtigsten Dank auszusprechen für die grosse Anregung, die mir durch seinen Vorschlag zu Theil wurde, sowie auch für die Erlaubnis, die Methode in seinem Laboratorium durchführen zu können, wobei mich Prof. Werigo in steter Bereitwilligkeit mit seinem liebenswürdigen Rath unterstützte. Der Alveolardruck ist uns eine unbekannte Grösse = x. Um für ihn eine Formel zu finden, gehen wir von einer bekannten Grösse aus, und wählen dazu den Druck im Pleuraraum = £. Der Intrapleuraldruck ist gleich dem Druck im Alveolarraum minus der Lungenelastieität (E). Also ist: Je un JB; Daraus folgt, dass x = P+ BE sein muss. Während der Respiration sind nun aber ? und EZ beständigen Schwankungen unterworfen. Um also eine Vorstellung vom Alveolardruck zu erlangen, müssen wir im Stande sein, diese Schwankungen continuirlich zu registriren und zu messen. Es ist einleuchtend, dass zur Erreichung eines solchen Zieles enorme Schwierigkeiten überwunden werden mussten. Es kann aber nicht unsere Aufgabe sein, über die grosse Zahl misslungener Versuche, die uns vom erstrebten Ziele immer weiter abzutreiben schienen, Bericht zu erstatten. Bei beständiger Verbesserung der Versuchsanordnung gelangten wir schliess- lich zu einer brauchbaren Methode und wollen uns daher gleich in medias res begeben und beschreiben, wie wir die einzelnen Factoren, von denen der Alveolardruck abhängig ist, zu bestimmen versuchten. ÜBER DEN ALVEOLARDRUCK DER LUNGEN. 3 Die Lungenelastieität ist bei der Art unserer Versuche während der Respiration, d. h. beim lebenden Thiere nicht zu bestimmen. Die Messung muss am eben getödteten Thiere vorgenommen werden. In die Trachea wurde bei Atmosphärendruck eine zweiarmige Canüle fest eingebunden. Der eine Arm der Canüle stand mit einem Wassermanometer in Verbindung, der andere Arm diente zur Lufteintreibung und -aussaugung. Die Rippen beider Thoraxhälften wurden möglichst breit resecirt und darauf der Lungen- druck am Manometer abgelesen und notirt. Durch Eintreiben bezw. Aus- saugen ganz bestimmter Luftquantitäten konnte dann weiterhin die jeweilige Elastieität entsprechend den Athemvolumina der einzelnen Athmungsphasen bestimmt werden. Eine derartige Bestimmung der Elastieität genügt jedoch unseren Zwecken noch nicht, weil sie, wie wir gleich sehen werden, eine bedeutende Fehlerquelle in sich schliessen würde Um nämlich die Schwankungen der Lungenelasticität, wie sie sich während der Respiration fortlaufend gestalteten, bemessen zu können, ist es nothwendig zu wissen, wie gross das Luftquantum war, das in einem beliebigen Moment der Athmungsphase in- oder ex- spirirt wurde. Zu diesem Behufe musste daher das Thier aus einem Behälter respi- riren. Wir benutzten dazu eine ca. 50 Liter fassende Athemflasche, mit welcher die Trachea des Hundes (nur an letzteren haben wir unsere Ex- perimente angestellt) in Verbindung stand. Von dieser Flasche führt ein Schlauch zu einer Kapsel, welche die Athmungsdruckschwankungen in der Flasche an einem Hürthle’schen Kymographen aufzeichnet. Um nun nach beendigtem Experiment zu wissen, welchem Athemvolumen je ein beliebiger Punkt auf der erhaltenen Curvenlinie entspricht, wird die Athemflasche, anstatt mit dem Hunde, mit einem Wassermanometer verbunden. In die Flasche werden mit einer graduirten grossen Spritze bestimmte Luftquantitäten sowohl bineingepumpt als auch herausgesogen, wobei der in der Flasche vorhandene jeweilige positive bezw. negative Druck einerseits von der Kapsel registrirt, andererseits am Manometer abgelesen und notirt wird. Nachdem auf diese Weise die in die Flasche hineingetriebenen oder aus ihr heraus- gesogenen Luftquantitäten vermittelst der Kapsel auf berusstem Papier graduirt worden sind, kann aus einem Vergleiche mit der Curve des Ex- perimentes durch Messung festgestellt werden — einerseits, wie gross das Luftquantum war, welches das Thier in einem beliebigen Moment der Athmungsphase in- oder exspirirt hatte — andererseits, wie der Druck in der Athemflasche im Verlaufe der einzelnen Athemphasen beschaffen war. Auf diesen letzteren, nämlich den Druck in der Athemflasche, kommt es an, wenn wir bei der Berechnung der Lungenelasticität nicht in die vorhin erwähnte Fehlerquelle gerathen wollen. Bei der Bestimmung der 1* 4 SIHLE: Lungenelasticität am eben getödteten Thiere gingen wir vom Atmosphären- druck aus. Während des Experimentes athmet das Thier jedoch nicht bei Atmosphärendruck, sondern bei einem Druck, der während des Inspiriums unter den Atmosphärendruck sinkt, während des Exspiriums dagegen über denselben steigt oder jedenfalls steisen kann, je nach der Athemphase, bei welcher im Beginn des Experiments das Ventil zur Athemflasche geöffnet wird. Bei der Berechnung ist es daher wichtig den jeweiligen Druck in der Athemflasche genau zu kennen, weil ja eine jede Druckänderung die Lungenelastieität beeinflusst. Denn den Druckschwankungen in der Athem- flasche entsprechen ebensolche Schwankungen in der Trachea bezw. in den Bronchien. Wenn wir also auf unsere Formel x = P+ E zurückgreifen, so können wir unter E nicht diejenige Elastieität verstehen, die beim eben getödteten Thiere ermittelt war, sondern müssen die entsprechenden Druck- werthe in der Athemflasche in Berücksichtigung ziehen. In welchem Sinne das zu geschehen hat, darüber sprechen wir später. Zunächst wenden wir uns der Frage zu, wie wir die Messung des Intrapleuraldruckes vor- nahmen. Bei der Bestimmung des Druckes im Pleuraraum kam es haupt- sächlich darauf an, Canülen zu besitzen, bei deren Einführung einerseits ein Pneumothorax zu vermeiden war, andererseits das viscerale Pleurablatt möglichst wenig vom parietalen abgedrängt werden sollte. Die Canülen, welche wir zu diesem Behufe construiren liessen und welche in vollkommen befriedigender Weise ihren Zweck erELlEn; zeigen folgende Configuration in Originalgrösse: Fig. 1. Fig. 2. Erklärung: a&—d—c ist das Endstück, welches zwischen den Pleura- blättern zu liegen kommt. a liegt dem visceralen Blatte an, 5 dem parie- talen. Fig. 2 ist die Ansicht des Endstückes vom visceralen Blatte aus. Zwischen a und 5 ist eine Spalte von ca. 1!/, ®® Breite. Die Fläche 5 des Endstückes ist um ca. 2 @® schmäler (auf Fig. 2 die punktirte Linie), - ÜBER DEN ALVEOLARDRUCK DER LUNGEN. 5 als die dem visceralen Pleurablatte anliegende Fläche, wodurch eine Ver- lesung des zwischen « und 5b befindlichen Raumes durch die Pleura ver- mieden wird. Das untere Ende des Endstückes — ce — ist halb stumpf gearbeitet, denn der Zweck ist, die Zwischenrippenmuskeln nicht zu durch- schneiden, sondern stumpf durchzubohren. Zu diesem Zwecke werden zu- nächst die Haut und die Brustmuskeln durchschnitten, darauf das End- stück mit seinem freien Ende c in die Zwischenrippenmuskeln hineingedrückt und unter Drehung der Canüle um ihre Längsaxe in den Pleuraraum hineingeschraubt. Die gezerrten und gerissenen Muskelbündel legen sich fest um die Canüle d, und vermittelst der Schraubenvorrichtung e wird die Canüle an der Thoraxwand fixirt. Zu beachten ist, dass das Endstück a—d quer auf einer benachbarten Rippe liegen muss. In den anderen Pleuraraum wird eine zweite Canüle von derselben Construction hineingebracht und beide Canülen mit kurzen Schläuchen ver- sehen, die in einen gemeinsamen Schlauch münden. Der letztere ist mit einer Schreibcapsel verbunden, welche am Hürthle’schen Kymographen die Pleuradruckcurven registrirt. Um diese Curven auf ihre Druckwerthe zu prüfen, wurde, wie bei der Graduirung der Athemflaschenkapselcurve schon geschildert, verfahren. Mit einem Wassermanometer, der mit der Kapsel in Verbindung gesetzt war, wurden nach dem Experiment die ein- zelnen Druckhöhen bestimmt. — Alle diese Erläuterungen werden dem Leser verständlicher werden, wenn wir uns gleich der Durchsicht der einzelnen Curven zuwenden. Nehmen wir die Curventafel A. Die obere Curve stammt von der Pleurakapsel. Die punktirte obere Linie bezeichnet den Atmosphärendruck. Die unterste Curve entstammt der Athemflaschenkapsel. Der dicke Strich — bezeichnet den Atmosphärendruck. Auf Tabelle II der Curventafel A be- merkt man unter dem dicken Strich noclı einen punktirten. Derselbe ent- spricht dem Durchschnittsdruck während der Respirationspause Auf den weiteren Tabellen sehen wir den punktirten Strich bald oberhalb, bald unterhalb der Linie des Atmosphärendruckes, was verständlich ist, da ja der Druck in der Flasche ein verschiedener sein wird, je nachdem in welcher Respirationsphase das eben vorhergegangene Experiment abgebrochen wurde Auf Tabelle I fällt der Atmosphärendruck mit dem Durchschnitts- druck in Respirationspause zusammen. Die mittlere Curvenreihe stellt die schematische Constructionseurve für den Alveolardruck dar, und zwar in Wasserdruck berechnet. Die Details dieser Constructionscurve befinden sich in der Berechnungstabelle für Curventafel A. Die einzelnen, unter sich.gleichen, Ziffern im Verlaufe der drei Curven entsprechen den gleichen Respirationsphasen. 6 SIHLE: Beginnen wir mit Tabelle I der Curventafel A: Bei der Zahl 9 auf der untersten Curvenreihe befindet sich die Curven- linie unterhalb der Linie des Atmosphärendruckes bezw. des Durchschnitts- druckes in Respirationspause. Nach der Berechnung des Athemvolumens (siehe die Tabelle, in welcher die Athemvolumina und der entsprechende Elastieitätsdruck der Lungen verzeichnet ist) entspricht dieser Stand der Curvenlinie einem inspirirten Luftquantum von 50 «=, Bei Eintreiben von 50 m Luft betrug die Lungenelastieität am eben getödteten Thier + 5.0 m H,0-Druck. Während des Experimentes inspirirte das Thier jedoch aus der Athemflasche, wodurch der Druck in der letzteren sank. Der jeweilige Druck in der Flasche herrschte aber auch zugleich in der Trachea bezw. den Bronchien. In diesem Falle betrug der Druck in der Flasche bezw. den Bronchien — 1-0 ®. Also um 1.0 ““ war der Bronchialdruck geringer, als wenn das Thier bei Atmosphärendruck geathmet hätte. Dieser niega- tive Bronchialdruck beeinflusste jedoch die Lungenelastieität im positiven Sinne, d.h. der negative Druck im Pleuraraum war im Experiment um 1.0 = grösser, als er beim Athmen bei Atmosphärendruck gewesen wäre. Daher muss der negative Bronchialdruck als positiver dem Werthe der am todten Thiere gefundenen Lungenelastieität hinzuaddirt werden. Wir erhalten also folgende Werthe für die Respirationsphasenziffer 9 (= Zahl der unteren Curvenreihe der Tab. I auf Curventafel A). (Elastieität am getödteten Thier) #= +5-0 (Bronchialdruck) = — 1-0 (dieser Werth als positiver der Elastieität hinzuaddirt) + 6-0 Der Druck im Pleuraraum war bei der Zahl 9 = — 7.4 " (vergleiche die Messtabelle für die Pleurakapsel). Dieser Druckwerth muss, gemäss der obigen Formel x = P + E, zur vorhergehenden Werthsumme (+ 6-0) hinzu- addirt werden, woraus dann der Alveolardruck resultirt. Es stellt sich also die Berechnung in folgender Weise dar: E=+5'0 Bb=-1. +6°0 (Pleuradruck) P= — 7.4 (Alveolardruck = AA=2= — 1-4 = HO,-Druck. Dieser Druck von — 1-4 ist auf der Constructionscurve unterhalb des Atmosphärendruckes bei Zahl 9 verzeichnet. Nehmen wir jetzt beispielsweise die Zahl 13 auf Tabelle II der Curven- tafel A. Auf der untersten Curvenreihe messen wir bei Zahl 13 zunächst ÜBER DEN ALVEOLARDRUCK DER LUNGEN. T den Werth für die Lungenelastieität. Der Punkt 13 entspricht beinahe der Höhe des Inspiriums. Wir messen die senkrechte Entfernung der Zahl 13 von der punktirten Linie und sehen dann auf der Messtabelle für die Athemflaschenkapsel nach, welchem Athemvolumen diese Distanz ent- spricht. Wir erhalten ein Athemvolumen von etwa 130 «m, Aus der Tabelle für die Elastieität (am eben getödteten Thier) ersehen wir, dass ein Inspirium von 130 «= dem Werth + 7.3 entspricht. Jetzt messen wir die senkrechte Entfernung der Zahl 13 von der schwarzen Linie (—), welche letztere den Atmosphärendruck darstellt. Wir vergleichen diese Distanz ebenfalls mit den Distanzen der Messtabelle für die Athemflaschen- kapsel und erfahren, dass der negative Druck in der Athemflasche (bezw. in den Bronchien) = — 3-4 °® betrug. Darauf messen wir auf der Pleura- curve die Entfernung der Zahl 13 von der punktirten Linie und erfahren, dass der negative Druck im Pleuraraume = — 15-2 war. Die Berechnung für den Alveolardruck (= A=x) ist dann folgende: E=-+.1.3 = — 3.4 + 1-7 P=-15-2 Ale) — 2128) Wir heben hierbei noch einmal hervor, dass der am getödteten Thiere gefundene Druckwerth für die Lungenelasticität bei der Berechnung des Alveolardruckes einer Oorreetur bedarf, d. h. die Differenz, um wieviel der Druck in der Athemflasche niedriger oder höher war, als der Athmosphären- druck, muss im umgekehrten Verhältniss zum Werth der am getödteten Thiere gefundenen Elasticität hinzuaddirt oder subtrahirt werden. Die Berechnung des Alveolardruckes ist zulässig nur unter gewissen Bedingungen. Wir können diese Berechnung anstellen sowohl bei intacten Vagis, als auch nach Vagotomie. In allen anderen Fällen, wo durch den experimentellen Eingriff die Lungenelastieität Veränderungen erleidet, kann unsere Berechnungsmethode nicht angewandt werden, wie wir uns wieder- holt überzeugt haben. Wenden wir uns daher zunächst der Durchsicht solcher Tabellen zu, bei welchen wir den Alveolardruck berechnet und con- struirt haben. Wir greifen zu diesem Zweck zwei Tabellen heraus. Curventafel A. Tabelle I.! Vagi intact. Beim Beginn des Inspiriums fängt der Alveolardruck an allmählich unter den Atmosphärendruck zu sinken. Seine ! Wir haben im Ganzen an 15 Hunden experimentirt. Bei allen wurde eine Chloroform-Morphiumnarkose eingeleitet. 8 SIHLE: grösste Tiefe erlangt er noch vor Beendigung des Inspirationsactes. Weiterhin bis zum Abschluss des Inspiriums steigt er nur unbedeutend, um dann mit dem Einsetzen des Exspiriums plötzlich in die Höhe zu schnellen und weit über den Atmosphärendruck zu steigen. Sofort sinkt der Druck aber wieder, um während der Respirationspause sich in der Nähe des Atmos- phärendruckes zu halten. In diesem Falle steht die Curvenlinie des Al- veolardruckes während der Respirationspause ungefähr 0-5 °“ H,O-Druck über dem Atmosphärendruck. Zu erwarten wäre es, dass die Linie mit dem Atmosphärendruck zusammerfiele. Hierbei sei sogleich betont, dass von unseren Messungen eine mathematische Genauigkeit nicht erwartet werden kann, da die Messung und Berechnung von sehr vielen und mathe- matisch nicht absolut genauen Einzelfactoren abhängig ist. Wir haben uns aus den vielen Einzelberechnungen davon überzeugt, dass Fehlerquellen bis zu 0.5 @ H,O-Druck nicht nur vorkommen können, sondern auch vor- kommen müssen. Die Druckschwankungen im Alveolarraum variiren in diesem Falle (bei ruhiger Athmung) zwischen 5 und 15 = Wasserdruck. Bei den anderen Experimenten haben wir ähnliche Schwankungswerthe ge- funden. Hinzuweisen ist bei dieser Gelegenheit auf die Curvenlinien zwischen den Zahlen 49 und 52. Bei 49 hat der Alveolardruck seinen tiefsten Stand erreicht. Bei 50 ist das Inspirium zu Ende. Der Druck steigt bei Beginn . des Exspiriums bis zur Zahl 51. Auf der Curve der Pleurakapsel sehen wir von 51 bis 52 einen wagerechten Absatz, trotzdem dass die Curven- linie der Athemflaschenkapsel unbehindert steil aufsteigt. Die Exspiration erfolgte also ohne Störung. Wenn wir daher diese Curvenconstellation einer Messung unterziehen, so erhalten wir auf der Curve des Alveolar- druckes an dieser Stelle ein bedeutendes Sinken desselben, das uns un- verständlich bleibt. Es ist demnach unwahrscheinlich, dass wir es hier thatsächlich mit einem Sinken des Alveolardruckes zu thun haben. Da jedoch diese Erscheinung, wie wir sehen werden, sehr oft sich wiederholt, so sei vorläufig auf dieselbe nur hingewiesen. | Tabelle II. Vagotomia sin. Im Allgemeinen ist das Bild analog der Tabelle ._Wir sehen hier eine lange Respirationspause, während welcher der Alveolardruck dem Atmosphärendruck entspricht. Gehen wir jetzt zu den Versuchen mit Vagusreizung über. Tabelle III. (OurventafelA.) Hier wurde der durchschnittene linke periphere Vagusstumpf gereizt. Der andere Vagus blieb intact. Auf der unteren Curvenreihe (Athemflaschenkapsel) sehen wir, dass zu Beginn der Reizung die Respiration eine ausgiebige ist. Bald nach Beginn der Reizung wird die Athmung gradatim flacher, um nach Aufhören der Reizung fast vollständig zu sistiren. Dabei ändert sich aber auch der Charakter der Inspirationslinie. Der ÜBER DEN ALVEOLARDRUCK DER LUNGEN. 9 Anfang der Inspiration stellt sich dar, wie bei den vorhergehenden In- sprrationsphasen, als eine ziemlich steil abfallende Linie (siehe die Zahlen 9 bis 9*, 13 bis 14, 18 bis 19, 23 bis 24, 26 bis 27), während der grössere Theil der Inspirationslinie allmählich in eine Horizontale übergeht (9* bis 10, 14 bis 15, 19 bis 20, 24 bis 25, 27 bis 28). Vergleichen wir hiermit die obere Ourvenreihe (Pleurakapsel). Auch hier sehen wir, dass die anfänglichen ausgiebigen Athemexcursionen während und nach der Reizung allmählich geringer werden, aber der Charakter der Inspirationslinien entspricht nicht demjenigen der unteren ÜCurvenreihe. Während auf der oberen Curvenreihe die Inspirationsphase eine gleichmässig abfallende schräge Linie darstellt, sehen wir, dass auf der unteren Curven- reihe bald nach Beginn der Vagusreizung die Inspirationslinie einen zwei- fachen Charakter annimmt, wie das schon vorhin erwähnt wurde Man muss daraus schliessen, dass zu Beginn der Inspiration die Luft un- gehindert in den Brustraum dringt, während im Verlauf der übrigen In- spirationsphase der Lufteintritt zunächst erschwert (14 bis 15, 19 bis 20), später sogar gänzlich behindert wird (24 bis 25, 27 bis 28), denn dass es. sich thatsächlich um eine Behinderung des Lufteintrittes handelt, schliessen wir aus der Curve der Pleurakapsel, auf welcher wir deutliche Inspirations- bewegung (24 bis 25, 27 bis 28) sehen. Liegt hier ein Bronchiolen- verschluss vor? Offenbar. — Können wir aus diesen beiden Curven nach unserer Methode einen Alveolardruck construiren? Wir müssen darauf mit Nein antworten, und zwar aus folgenden Gründen. Jeder Vagusreiz hat im Lungengewebe tiefgehende Cireulationsstörungen zur Folge. Ausserdem werden durch den Reiz die Bronchiolen und wohl auch die Infundibula der Alveolen betroffen, da in den letzteren ebenfalls glatte Muskelfasern ent- halten sind. Es ist daher vorauszusetzen, dass durch die Contraction der museulären Elemente die Gesammtelasticität der Lungen Veränderungen er- leidet, die zu beurtheilen unmöglich ist. Zweitens ist in Betracht zu ziehen, dass, wenn in diesem Falle es wirklich zum Bronchiolenverschluss gekommen ist, von einer Druckberechnung erst recht nicht mehr die Rede ist. Hiermit haben wir zugegeben, dass bei Vagusreizung, sei sie ein- oder doppelseitig, die Berechnung des Alveolardruckes nach unserer Methode nicht ausgeführt werden kann. Deshalb construiren wir den Alveolardruck nur in den Versuchen ohne Vagusreizung. Ebenso geht es nicht den Alveolar- druck in den Fällen mit Ammoniakinhalation zu bestimmen, denn es wird, wie wir uns direet überzeugt haben, die Lungenelastieität durch Schleimhaut- schwellung in Folge von Ammoniak erheblich alterirt. Das hält uns jedoch nicht ab, auch die anderen Curven, welche wir bei Vagusreizung und Ammoniakinhalation erhalten haben, einer näheren Betrachtung zu unter- ziehen, denn sie bieten manches Lehrreiche und Beachtenswerthe. 10 SIHLE: Curventafel B. Hier sind die Curven wiederum bei einseitiger Vagusreizung verzeichnet. Die Pleura- und die Athemdruckcurve verlaufen in diesem Falle in anderer Weise, als auf der entsprechenden Curve in Curventafel A. Wir sehen, dass der Vagusreiz im Beginn der Inspirationsphase eingesetzt hat (Zahl 8). Die Inspirationsbewegung wird unterbrochen und der Druck steigt sowohl in der Pleurahöhle, wie auch in der Athemflasche (9). Es ist zweifelhaft, ob diese Drucksteigerung lediglich als durch eine neue Exspirationsbewegung bedingt aufgefasst werden kann, denn sowohl vorher, wie auch nachher sehen wir bei der Exspiration die Öurvenlinie steil aufsteigen, während an dieser Stelle die Linie in einem schrägen Bogen allmählich nach aufwärts verläuft. Da in der Athemflasche der Druck deutlich gestiegen ist, so muss natürlich Luft in die Flasche abgeflossen sein. Wenn das Thier also in Folge des Vagusreizes eine Exspiration gemacht hat, so entwich die Luft, entsprechend der schrägen Linie unter erschwerten Umständen. Ist es jedoch keine Exspirationsbewegung gewesen, so kann man die Druck- steigerung auf beiden Curven auch dahin deuten, dass durch eine Ver- engerung der Bronchiolen die Luft sowohl in den Alveolarraum, als auch in die Flasche verdrängt wurde. Im weiteren Verlaufe zeigt die Curve während der Reizung keine Athmungshindernisse. Die Inspiration wird ausgiebig, die Exspiration erfolgt ohne Behinderung, ist jedoch deutlich ver- stärkt, so dass der Druck im Pleuraraum positiv wird und sogar bis zum Beginn der nächsten Inspiration positiv bleibt (14 bis 16). Diese letztere Thatsache ist zu beachten und wir ersehen aus ihr, dass in diesem Falle ohne Glottisverschluss der Druck in der Pleurahöhle positiv sein kann, denn die Exspiration ging, wie die untere Curve zeigt, ungehindert vor sich. Müssen wir hier demnach eine Steigerung des Alveolardruckes annehmen? Darauf kommen wir später zurück. Curventafel C. Tabelle I. Vagotomia sinistra. Periphere linksseitige Vagusreizung. In diesem Falle sehen wir eine Erscheinung auftreten, die freilich auch bei den früheren Versuchen beobachtet wurde, doch in diesem Versuch besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Die Vagusreizung erfolgt in der Respirationspause (Zahl 4). Sofort steigt der Druck im Pleuraraum, wird stark positiv und steigt noch weiter bis zum nächsten Inspirationsversuch. Zugleich steigt der Druck in der Athemflasche. Wir haben also zunächst eine Erscheinung, wie wir sie vorher schon beschrieben. Wir sehen dann aber weiter in der Exspirations- phase 10 bis 12, die noch im Bereich der Vagusreizung liegt, dass die Ex- spirationslinie der Pleuracurve einen deutlichen stufenförmigen Absatz zeigt ÜBER DEN ALVEOLARDRUCK DER LUNGEN. 11 (bei 11), während auf der Athemflaschencurve eine gleichmässig fort- schreitende Exspirationslinie verzeichnet ist. Dasselbe wiederholt sich bei der nächsten Vagusreizung, jedoch in viel stärkerem Grade. Der Vagus- rejz setzte hier am Ende der Inspirationsphase ein (kurz vor der Zahl 20). Der Anfang der nächstfolgenden Exspiration geht zunächst in normaler Weise vor sich. Bald wird jedoch die aufsteigende Linie auf der Pleura- curve verändert, sie bildet eine lange Stufe (21— 22), um dann wiederum steil emporzusteigen. Dabei zeigt die Athemflaschencurve auch in diesem Falle eine gleichmässig aufsteigende normale Exspirationslinie. Dasselbe Bild wiederholt sich während der Vagusreizung auf Tabelle II (8 bis 11). Wie kommt diese Incongruenz der Exspirationslinien zu Stande? Wir finden auf dieser Curventafel jedoch noch eine andere Incongruenz der Curvenlinien. Während der Respirationspause bei Zahl 1 (Tabelle I) betrug der negative Druck im Pleuraraum —1.7°® H,O. Bei der Zahl 15, wo das gleiche Quantum Luft exspirirt war, betrug der negative Intrapleuraldruck da- gegen — 3-9” (vergleiche die Messtabelle für die Pleurakapsel). Im letzteren Falle war die Vagusreizung vorausgegangen. Ein ähnliches Bild wiederholt sich auf Tabelle II (vergleiche die Zahlen 4 und 15 auf beiden Curvenreihen). Offenbar handelt es sich hierbei um eine Veränderung der Lungenelasticität, und zwar um eine Erhöhung derselben, bedingt durch den Vagusreiz. Wir begnügen uns vorläufig, auf diese Thatsachen hingewiesen zu haben. Wir sehen derartige Incongruenzen auch auf den meisten übrigen Curventafeln nicht nur bei einseitiger, sondern auch bei doppelseitiger Vagusreizung, nach Ammoniakinhalation, sogar auch bei intacten Vagis. Eine Besprechung dieser Erscheinungen soll nachher erfolgen. Zunächst wollen wir noch die übrigen Curventafeln einer kurzen Durchsicht unterziehen. Curventafel D. Periphere Reizung beider Vagi. Die Reizung setzt im Beginn der Inspiration ein. Die Inspiration ist sehr ausgiebig. Bei der nächsten Exspiration, die, nach der Athemflaschen- curve zu urtheilen, in foreirter Form erfolgt, sehen wir, dass die Pleurakapsel- eurxe nur um ein Geringes gestiegen ist, was weder erwartet werden konnte, noch auch zu verstehen ist. Der Absatz bei Zahl 4 entspricht der treppen- förmigen Abstufung, die wir eben bei den vorigen Versuchen beschrieben, und welche zur Zeit der Vagusreizung besonders häufig eintritt. Weshalb fehlt aber hier während des Exspiriums ein weiteres steiles Aufsteigen der Ex- spirationslinie, wie wir das in den früheren Versuchen gesehen haben? Es erscheint uns eine solche Curve unmöglich, und man ist geneigt sofort anzunehmen, dass wir es bier mit einer zufälligen Verstopfung der Pleura- canüle zu thun haben. Da jedoch in beide Pleuraräume Canülen eingeführt waren und dieselben durch je einen Schlauch mit dem Hauptschlauch in 12 SIHLE: Verbindung standen, der zur Pleurakapsel führt, so fragt es sich, ob es wahrscheinlich ist, dass beide Schläuche mit einem Mal plötzlich verlegt werden konnten. Ausserdem sehen wir, dass der Druck im Pleuraraum sofort nach Aufhören der Reizung stark ansteigt und bei den Zahlen 15 bis 16 einen positiven Druck von + 9.0 °® H,O erreicht (vergleiche die Messtabelle für die Pleurakapsel). Die treppenförmige Abstufung sehen wir auch hier weiter bei 10 bis 11 und bei 14. Curventafel E. Periphere Reizung beider Vagi. Zunächst sehen wir hier eine langdauernde Respirationspause Noch vor der Reizung erfolgt eine foreirte Exspiration, wobei der Druck im Pleuraraum sogar deutlich positiv wird. Zugleich ist auf der Exspirations- linie der Pleuracurve wiederum die treppenförmige Abstufung sichtbar (8 bis 9). Im Beginn der nächstfolgenden Exspiration setzt die Vagusreizung ein. Die Exspirationslinie steigt nur bis zur Zahl 12 steil auf und bildet dort den treppenförmigen Absatz, um weiter nicht zu steigen. Hier haben wir es mit einer analogen Erscheinung zu thun wie auf Curventafel D. Bei der nächsten Exspiration sehen wir zunächst wieder ‚den treppenförmigen Absatz (16—17), worauf der Druck im Pleuraraum colossal in die Höhe steigt, um einen Druck von +16.5 bis 22.0 m H,O zu erreichen (18 und 21) (vergleiche die Messtabelle für die Pleurakapsel. Dabei ersehen wir aus der Athemflaschencurve, dass die Respiration zwar foreirt, aber durchaus unbehindert vor sich geht. Nach Aufhören der Reizung hält sich der intrapleurale Druck noch auf annähernd gleicher Höhe, um ganz allmählich bis zum negativen Druck herabzusinken. Auf einige Missverhältnisse zwischen beiden Curvenlinien wollen wir bei Besprechung der Curventafel G zurückkommen. Curventafel F. YVagus beiderseits durchschnitten. Ammoniakinhalation. Tabelle I. Das Bild, welches wir nach 3 Minuten langer NH,-In- halation erhalten, ist folgendes: Die Respiration ist unbehindert, der Druck im Pleuraraum nähert sich allmählich dem positiven (14, 16). Bemerkens- werth sind hierbei die Druckschwankungen im Pleuraraume während der Respirationspause (1 bis 5, 9 bis 11, 14 bis 16). Diese Druckschwankungen haben kein Aequivalent auf der Athemflaschencurve Wir nehmen an, dass die-selben durch Muskelcontractionen zu Stande gekommen sind. Tabelle II. 5 Minuten später. Der Pleuradruck ist fast durchgängig stark positiv geworden (bei 4 ist er + 8,4°® H,O). Nur auf der Höhe des Inspiriums sinkt der Druck ein wenig unter Null. Zugleich weist der schräg bogenförmige Verlauf der Exspirationslinie darauf hin, dass wir es hier mit einer Verlangsamung des Exspiriums zu thun haben. Die Inspira- tion ist auch erschwert. Wir sehen z. B. auf der Pleuracurve von der Zahl 4 ÜBER DEN ALVEOLARDRUCK DER LUNGEN. 13 bis zur Zahl 5 eine deutliche Inspirationsbewegung, die auf der Athem- flaschencurve kein Aequivalent hat. Die Athemflaschencurve zeigt zwischen 4 und 5 eine annähernd horizontale Linie. Luft ist also während dieser Inspirationsphase nicht in die Lunge gedrungen. Dasselbe wiederholt sich während der folgenden Inspirationsphasen. Tabelle III. !/, Stunde nach Ammoniak. Die Respiration ist im Allgemeinen ausgiebiger geworden. Der Druck im Pleuraraume ist gegen früher etwas gesunken, hält sich aber während der Respirationspause noch immer positiv. Das Exspirium ist noch deutlich erschwert, während das Inspirium schon leichter von statten geht. - Curventafel G. Vagus beiderseits durchschnitten. Das Thier hatte 5 Minuten lang ununterbrochen Ammoniakdämpfe inhalirt. Ueber den Lungen war ausgebreitetes Rasseln vernehmbar. Die Vagusreizung setzte in Exspirationsphase ein. Der Druck im Pleuraraum steist immens, so dass der Kapselschreiber sogar versagt und die höchsten Curvensteigungen nicht zur Aufzeichnung kommen. Zum Beispiel bei der Zahl 9 hat der Druck im Pleuraraum ca. + 21°“ H,O betragen, doch, wie aus der Curve ersichtlich, muss der Druck noch bedeutend höhere Werthe aufzuweisen gehabt haben. Hier summirt sich eben die Wirkung der Vagusreizung zur Wirkung der Ammoniakinhalation. Bei diesen beiden Curvenlinien müssen wir auf eine ganz unverständ- liche Incongruenz hinweisen. Nehmen wir zunächst die Athemflaschencurve (untere Curve). Bei der Zahl 2 hat das Thier die Inspiration beendigt. Von 2 an steigt die Curvenlinie steil hinauf, womit bewiesen ist, dass aus der Lunge Luft in die Flasche exspirirt wurde. Betrachten wir jetzt die Pleuraeurve, so sehen wir, dass bei 2 die Inspirationsbewegung noch nicht zu Ende geführt war, sie geht noch weiter, und die Linie senkt sich bis 3. Nach der Pleuracurve zu urtheilen, ist die Inspirationsbewegung erst bei 3 beendist. Aus der Athemflaschencurve ersehen wir aber, dass bei 3 die Exspiration schon beinahe beendigt war. Es erscheint diese Incongruenz so absurd, dass man an ein Artefact denken muss. Wenn wir die Curve ' nur dieser einen Athemphase vor uns hätten, so könnte man annehmen, dass vielleicht die Kapseln verschoben waren. Bei Betrachtung der nächsten Athemphasen sehen wir jedoch, dass die Differenzen am Ende der einzelnen Inspirationen unter sich nicht gleich sind. Bei 6 ist die Differenz geringer, bei 13 fällt das Ende der Inspiration auf beiden Curven fast ganz zusammen, bei 17 ist die Differenz noch grösser als bei 2. Ganz analoge Erscheinungen haben wir auf der Öurventafel E. Man vergleiche auf diesen Curvenreihen die Zahlen 19 bis 20, 22 bis 23, 25 bis 26, 28 bis 29 und 31 bis 32. Ausser- dem sehen wir, dass alle übrigen Inspirations- und Exspirationsmaxima voll- 14 SIHLE: ständig zusammenfallen. An der Kapsel kann es also nicht gelegen haben. Aber dennoch erscheint dieser Umstand so ganz unmöglich, sodass wir an eine vorläufig nicht erkennbare Zufälligkeit glauben wollen, es sei denn, dass man diese Verspätungen analog den treppenförmigen Abstufungen in der Exspirationslinie auffasst. Aus den Curven der Curventafel G ist nicht zu ersehen, inwieweit die Exspiration erschwert war. Die Inspiration war während der Vagusreizung jedenfalls in höherem Grade erschwert als nach- her (siehe die äusserst schräg verlaufende Linie auf der unteren Curve 5 bis 6). Gleich nach Aufhören der Reizung erfolgt eine tiefere Inspiration, wobei der Druck im Pleuraraum bis auf —26.2® H,O sinkt (vergleiche die Messtabelle für die Pleurakapsel), während bei den folgenden Inspira- tionen, die eine annähernd gleiche Tiefe haben (siehe die untere Curve), der Druck im Pleuraraum positiv bleibt. Wenn wir die Ergebnisse unserer Arbeit zusammenfassen, so können wir dieselben in zwei Theile theilen: a) wir haben Resultate, welche unsere Kenntnisse in positivem Sinne bereichern, und zweitens b) wir haben Resul- tate, welche als eine negative Bereicherung unseres Kenntnissschatzes dienen müssen, indem sie zu den schon vorhandenen Räthseln noch neue schaffen. Ada). Durch die von Herrn Prof. Werigo vorgeschlagene Methode ist es möglich, den Intraalveolardruck der Lungen zu eruiren, und zwar gelingt die Bestimmung der Druckschwankungen sowohl bei intacten Vagis, wie auch nach Vagotomie. Der Druck schwankt im Alveolarraum während der Respira- tion um einige Öentimeter H,O. Der niedrigste Druck im Inspirium betrug etwa — 8-5°® H,O, der höchste Exspirationsdruck betrug etwa +6.5°% H,O. Vagusdurchschneidung ändert im Allgemeinen die Druckschwankungen nicht. Versuche mit einseitiger peripherer Vagusreizung ergeben, dass der Druck im Pleuraraum steigen kann (Curventafel B, Tabelle III und Curven- tafel C, Tabelle I). Der Druck im Pleuraraum wird um ein Geringes positiv in Exspirationsstellung. Die In- und Exspiration braucht dabei nicht erschwert zu sein. In einigen Fällen dagegen kann es in Folge des Vagus- reizes zu einem Verschluss der Bronchiolen und zu einem fast vollständigen zeitweiligen Stillstand der Athmung kommen (Curventafel A, Tabelle II). Versuche mit doppelseitiger Vagusreizung zeigen, dass der Druck im Pleuraraume gewaltig steigt und nicht nur während des Exspiriunis, sondern auch während des Inspiriums hochgradig positiv bleiben kann (Curven- tafel E). Dabei ist die Respiration verstärkt, nicht aber behindert. Aus dem Umstande, dass auch der Druck in der Athemflasche steigt (siehe den Schluss der Curventafel E), kann man die Folgerung ziehen, dass die Lungencapacität verkleinert worden ist. Aus den Versuchen mit Ammoniakinhalation ist zu ersehen, dass so- . ÜBER DEN ALVEOLARDRUCK DER LUNGEN. 15 wohl die Inspiration, wie auch die Exspiration erschwert wird (Curventafel F, Tabelle II und III). Der Druck im Pleuraraum steigt und wird stark positiv nicht nur in Exspirations-, sondern auch in Inspirationsstellung. Bei doppelseitiger Vagusreizung nach Ammoniakinhalation wurden die höchsten Druckwerthe im Pleuraraum beobachtet. Ad’b). Zu den Erscheinungen, die wir nicht zu deuten vermögen, gehört zunächst der treppenförmige Absatz auf der Exspirationslinie der Pleuracurve, welcher vornehmlich bei Vagusreizung zu beobachten ist. Freilich kommt dieser treppenförmige Absatz zuweilen auch ohne Vagus- reizung vor (Curventafel A, Tabelle I, 9 bis 10 und Tabelle II, 14 bis 15), doch es macht den Eindruck, dass gerade die Vagusreizung ihn besonders leicht hervorbringt, denn nur in vereinzelten Fällen haben wir ihn bei Vagusreizung nicht beobachtet (Curventafel B, Tabelle III). Wenn dieser treppenförmige Absatz der Ausdruck einer plötzlichen Druckschwankung im Pleuraraume ist, so ist nicht zu verstehen, weshalb diese Druckschwankung nicht auch auf der Athemflaschencurve zum Ausdruck kommt. Am krassesten finden wir dieses Missverhältniss ausgesprochen bei doppelseitiger Vagus- reizung (Curventafel D und E). Ferner sehen wir, dass bei Vagusreizung, speciell bei den Versuchen mit doppelseitiger Reizung der Druck im Pleuraraum hochgradig positiv wird. Es fragt sich nun, wodurch diese Drucksteigerung zu Stande ge- bracht wird. Handelt es sich hier um Lungenblähung? Bei einer Lungenblähung haben wir es mit Luftincarceration zu thun. Das gleiche Quantum Luft, welches mit dem Inspirium in die Lunge drinst, wird mit dem Exspirium nicht hinausbefördert. Es bleibt ein Plus im Alveolarraume zurück. Diesem Plus müsste in unseren Versuchen daher ein Minus in der Athemflasche entsprechen, d. h. der Druck in der Flasche müsste sinken. Das ist nun keineswegs der Fall. Wir sehen, dass mit der Drucksteigerung im Pleuraraume auch der Athemflaschendruck steigt. Also durch eine einfache Lungenblähung können wir die beiderseitige Druck- steigerung nicht erklären. Nun giebt es aber noch eine andere Möglichkeit, wodurch die Drucksteigerung zu Stande gekommen sein könnte. Wir denken an die Circulationsänderungen, welche eine Vagusreizung in der Lunge hervorruft. Wir wissen, dass der Vagusreiz in der Art. pulmonalis eine Drucksenkung, in der Vena pulmonalis dagegen eine Drucksteigerung hervorruft, woraus man folgern kann, dass die Lungengefässe erweitert sind und folglichermaassen die Lunge als Ganzes in ihrem Umfange sich ver- grössert. Wenn wir annehmen, dass in den Versuchen mit doppelseitiger Vagusreizung eine solche Blutstauung im Alveolarraum statigefunden hat, so könnte man die Drucksteigerung in der Athemflasche durch den Druck erklären, welchen das angestaute Blutquantum auf die Lunge als Ganzes 16 | SIHLE: ausübt, wodurch unabhängig von der Respiration ein gewisses Luftmaass in die Athemflasche gedrängt würde. Wenn dabei, wie wir sahen, der Pleura- druck so hochgradig steigt, so erscheint es wahrscheinlich, dass die Lungen- elasticität gleich Null wird. Die Lunge, in ihrer Gesammtheit betrachtet, ist aus drei Bestand- theilen zusammengesetzt, erstens aus dem specifischen Lungengewebe, welches als eine constante Grösse betrachtet werden kann, zweitens aus dem Respi- rationsröhrensystem und drittens aus dem Röhrensystem für die Circulation des Blutes und der Lymphe. Die beiden letzteren Bestandtheile sind variabel und es fragt sich, wie sie sich zu einander im Alveolargebiet ver- halten. Seit Traube war man allgemein geneigt anzunehmen, dass eine Blutstauung im Capillargebiet des Alveolarraumes den letzteren verkleinern müsse, was auch wahrscheinlich erscheint. v. Basch dagegen, wie auch sein Schüler Grossmann behaupten, gestützt auf ihre Experimente, dass durch eine Ueberfüllung der Lungencapillaren die Alveolarwände gedehnt würden. Die Folge davon müsste also sein, dass die Lungencapaeität zunimmt. Wenn wir daher die v. Basch’sche Theorie auf unsere Versuche an- wenden und dabei voraussetzen, dass durch die Vagusreizung eine Blut- überfüllung der Lunge zu Stande gekommen war, die Alveolen sich also erweitert hätten, so hätte der Druck in der Athemflasche sinken müssen. Wir sehen jedoch das Gegentheil. Bei Betrachtung der Curventafel E, auf welcher die Folgen einer doppelseitigen Vagusreizung illustrirt sind, fällt es auf, um wieviel stärker der Druck in der Athemflasche nach der Reizung geworden ist. Vergleichen wir die Respirationspausen vor und nach der Reizung (Zahl 1 und 48), so können wir durch Messung feststellen, dass während der Respirationspause nach der Vagusreizung ein Plus von etwa 110 «® Luft in der Athemflasche vorhanden ist, welches aus der Lunge herausgepresst war. Die Lungencapaeität war also jedenfalls kleiner ge- worden, das steht fest. Ob die hochgradige Steigerung des Intrapleural- druckes nur mit einer Vergrösserung des Lungenumfanges, oder auch zu- gleich mit einer Contractionsstellung der Exspirationsmusculatur zusammen- hängt, muss dahingestellt bleiben. Es scheint jedenfalls, dass die Circulationsstörungen der Lunge bei Vagusreizung eine viel grössere Rolle spielen, als man bisher anzunehmen geneigt war. Es ist hier aber noch nicht der Ort, auf eine eingehendere Diseussion sich einzulassen. Unsere Versuche haben viele neue Fragen er- stehen lassen, so dass man ohne Bearbeitung derselben in der Discussion wohl wenig vorwärts kommen wird. Viel wäre genützt, wenn man während der Vagusreizung die Lungenelasticität messen könnte. Theoretisch er- scheint das ausführbar. Eines jedoch erhellt aus unseren Versuchen mit Sicherheit: durch Vagusreizung allein entsteht keine Lungenblähung. 17 ÜBER DEN ALVEOLARDRUCK DER LUNGEN. Messtabelle für Curventafel AwBeDE. RG. So Ss INN] IN oO Sao SR SI Son S SU EN go DEIES > oo SUNSSN I 10, ARUMNSAMIKL nor egan SS< SS SS SER R -798ÄVID.AM2]J 19p bunumpn.ay 3 I | umındscy R S wmndsup + l 199g, m ugum)| Joaweyy S 8.8 3 DR SS 3 SSSR8 S SS 55 süsses [nsaste ef © >> SIT m IS RIESEN EN SSR | S\s |. SAN USUOSANIKC HT -195ÄdnI + REN Ser | = 129897, Z- way 13p Dunnmpnan ug) uw yon) wptossv Archiv f. A, u. Ph, 1905. Physiol. Abthlg. Suppl, . . SIHLE 18 Messtabelle für Curventafel C. UIUNSANILT-19SADI = UIYISDIZ-WIUYFF IP bun.anpnag MUNSIMIKCH -79SÄDID1M2]] -09pP burumpD.y aumndscz un9gq) 91 umındsup WOQWUNTOAWUAYIY SQ urn boy NONUNS ın nm Nnoa 3 Syn SE9S25® ug) m panıq-o& m 328 SS SS | SS = YMNAT+ YNAT - auy) m yonal-08H S Ss SSWSYWOS=S S I Ss SSSOASOO QO- OO ÜBER DEN ALVEOLARDRUCK DER LUNGEN. 19 Berechnungstabelle für den Alveolardruck der Curventafel A. Tabelle I. = Elastieität der Lunge. = Druck im Pleuraraum. E. B. = Bronchialdruck = Trachealdruck = Druck in der Athemflasche. P. Ar = Alveolardruck. 1. 2. 3. 4. 5. 6. Dex non leere ern Te Pen B.=—-0:8 B.=-0:35 B.=—0.4 B.=-0.55 B.=-0.55 B.=—0:65 +45 +4«60 +47 24-8 +5-05 5-25 P=—40 P=—423 P=-4+5 P=—41 P=-5:0 P.=-5-23 BEE 40 Mer dere 1395 He 1. 8. 9, 10. 11. 12. BR.=14.6 E.=+470 E=+5-0 E.=+5.35 E=+5-60 2.=+6-1 ee 0 Bo Bi Be +5+3 5-55 +6: +6-55 +6-95 +7-8 BP pe pen pe Aa Eee ee 13. 14. 15. 16. 17. 18. He Mar mer His. Bi edegn B.=—1-7 B.=—-1:35 B.=—0-5 B.=+0:0 B.=+0.0 B.=—0:05 EIER +6-95 +4-9 +3. 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B.=0-9 16-0 +4+7 +42 +44 TEASER +4-9 Pr LP 4.9 3P, 23.8 > P= 4.4) P=244 ‚= —4:8 A.=+14 A=+05 A=+04 A41.=+00 A.=+02 A.=+01 37. 38. 39. E.= +44 E.=+4:9 E.=+ 5-9 B.=—1.1 B.=—1»5 B.=— 2:2 +55 +64 +81 P.=—5-8 P.=—7-5 P.=—10-4 A.=—-03 Al A.=—2:3 22 SIHLE: ÜBER DEN ALVEOLARDRUCK DER LUNGEN. Messtabelle für die Lungenelastieität am eben getödteten Thier. Curventafel A. Cubikcentimeter H,O-Druck in cm 100 = 0°5 Kap Ü — 1.0 Exspirium 50 a 9.09 25 = 3.4 0 = 3-83 50 - 5.0 100 = 6-5 Be 150 = Tor Inspirium 200 = 9:0 250 _ 10-5 300 _ 12-0 Nachschrift bei der Correctur. Ich erlaube mir darauf hinzuweisen, dass viele Erscheinungen, die in vorliegender Arbeit nicht genügend erklärt werden konnten, eine bessere Beleuchtung erfahren in weiteren Versuchen, die ich unter dem Titel: „Experimentelle Untersuchungen über Veränderungen des Lungenvolumens und der Lungencapacität bei Reizungen der Nasenschleimhaut“ demnächst zum Abdruck zu bringen beabsichtige Es erhellt aus diesen Versuchen, dass die Mehrzahl von den in der vorliegenden Arbeit erwähnten Problemen thatsächlich in Aenderungen des Blutgehaltes der Lunge ihre Erklärung finden muss. Ueber die angebliche refractäre Periode der Darmmusculatur der Warmblüter. Von Paul Schultz in Berlin, (Aus der speciell physiologischen Abtheilung des physiologischen Instituts der Universität.) Vor einiger Zeit hat Magnus sehr interessante Untersuchungen über die Darmmusculatur der Warmblüter (der Katze) veröffentlicht! Er kam dabei zu einigen auffallenden Ergebnissen, auffallend insbesondere für den- jenigen, der über die Physiologie der längsgestreiften (glatten) Musculatur eigene Erfahrungen besitzt. Das Auffallendste darunter, das zugleich etwas prineipiell Neues brachte, war der Nachweis einer refractären Phase Magnus fand, dass bei Präparaten, welche spontane Contractionen ausführten, die künstliche Reizung während der Dauer einer spontanen Contraction (Ures- cente) und auf der Höhe derselben, in den weitaus meisten Fällen auch während des Beginns der Erschlaffung unwirksam war, dass also das Präparat eine wahre refractäre Periode zeigte. Damit hängt nach Magnus zusammen, dass solche Präparate auf rhythmische Reizung und auf Dauerreizung keinen Tetanus, sondern rhythmische Bewegungen geben. Eine Nachprüfung dieser Befunde schien dringend wünschenswerth; über eine solche soll im Folgenden kurz berichtet werden. Voraus muss geschickt werden, dass schon die kritische Durchsicht der Mittheilungen von Magnus nicht unerhebliche Bedenken erweckt. Magnus ! R. Magnus, Versuche am überlebenden Dünndarm von Säugethieren, 1. Mitthlg. Pflüger’s Archiw. Bd. CII. 8. 123—151; 2. Mitthlg. Zbenda. S. 349—363; 3. und 4. Mitthlg. Bd. CII. 8. 515—540. 24 PAUL SCHULTZ: hat seine Reizversuche über die refractäre Phase zum Theil (die im Text ab- gebildeten alle) mit dem constanten Strom angestellt, den drei Lecelanche- Elemente (= etwa 4-4 Volt Klemmenspannung) lieferten. Die Elektroden waren aus Metall, die eine endete frei in der Ringer’schen Lösung, die andere war, bis nahe zum Ende isolirt, in das Präparat eingestochen. Es ist klar, dass an der im Präparat befindlichen Elektrode nach mehreren Einzelreizen und sehr bald nach rhythmischen und Dauerreizen elektro- lytische Processe vor sich gehen, die die Muskelsubstanz verändern, schädigen und schliesslich abtödten. Bei einem solchen theilweise abgetödteten Präparat ist aber die Stromrichtung für die Reizung von entscheidendem. Einfluss. Denn bei „admortual“ gerichteten Strömen (wo also die Kathode in dem abgestorbenen Theil liegt) wird die Schliessung unwirksam, und, wenn der Strom schwach war, also nur Schliessungserregung auftreten würde, erhält man auf Reizung überhaupt keine Contraction. &Aehnliches hat Magnus wohl auch gesehen, denn er bemerkt, dass unter Umständen nur auf Kathodenöffnung, nicht auf Kathodenschliessung, eine Contraction erfolgt. Es ist ferner klar, dass auch in der salzhaltigen Lösung selbst Elektrolyse stattfindet, und dass dadurch an sich und ferner durch die Anhäufung der Jonten an der im Muskel befindlichen Elektrode auf den ersten Blick nicht leicht übersehbare Complicationen eintreten, die zu Veränderungen der Er- regbarkeit, zu rhythmischer Erregung oder zur Schädigung führen können. Physiologischer Methodik entspricht es allein (wofern es sich nicht darum handelt, überhaupt nur einen Üontractionsvorgang auszulösen) bei Reiz- versuchen mit dem constanten Strom am organischen Gewebe unpolarisir- bare Elektroden anzuwenden, unerlässlich aber ist diese Forderung geradezu, sobald es darauf ankommt, über die Erregbarkeit des Präparates (und darum handelt es sich doch bei der Bestimmung der refractären Phase) etwas auszusagen. Von dem anderen Theil der Versuche, bei denen Magnus zur Be- stimmung der refractären Phase den mechanischen Reiz anwandte, giebt er, wie erwähnt, keine Abbildung, und es dürfte wohl in der That schwer sein, solche Versuche beweisend zu gestalten. Des Weiteren sprechen aber auch die beigefügten Abbildungen nicht in jedem Falle für die Angaben im Texte. So zeigt gerade in der IV. Mit- theilung Fig. 2 (übrigens auch Fig. 2 I. Mittheilung), die automatische Be- wegungen darstellt, wie in einem Falle auf der Höhe der spontanen Con- traction, also vor Beginn der Deerescente unter Einwirkung des constanten Stromes eine neue Contraction einsetzt. Hier kann also die refractäre Phase, wenn sie bestanden hat, nicht ganz bis zum Gipfel der Crescente gereicht haben, und in Fig. 8 (S.536) bildet Magnus einen ähnlichen Fall ab, „das abnorme Verhalten“, wie er sagt, wo auf künstliche Reizung die REFRACTÄRE PERIODE DER DARMMUSCULATUR DER WARMBLÜTER. 25 neue Contraction schon auf dem Gipfel einsetzte, die refractäre Phase also schon auf dem Gipfel endete. Ein solcher positiver Ausfall wiegt aber hier schwer, um so schwerer, als die Bedingungen in diesen beiden Versuchen, wie wir annehmen müssen, genau die gleichen sind, wie in den übrigen Versuchen. Danach dürfte also Magnus nur behaupten, dass die refractäre Phase von ihm allein für die Crescente sicher erwiesen ist. An der Crescente lässt sich aber die Wirksamkeit eines Reizes nur dann nachweisen, wenn die Contractionseurve auf den künstlichen Reiz höher ausfällt als wie sonst die spontanen Bewegungen oder wenn der Verlauf der Crescente durch einen steileren Anstieg ein Abweichen von der gewöhnlichen Richtung zeigt. Was das erstere angeht, so ist darüber die Entscheidung bei unseren Muskeln nicht leicht, weil ja die spontanen Bewegungen selbst sehr verschieden an Höhe ausfallen und sogar häufig Superposition zeigen. Hierzu kommt aber noch ein anderes. Ich habe früher schon darauf hingewiesen, dass man bei einem Präparat aus dem Froschmagen, das spontane Bewegungen zeigt, auf einen Einzelreiz eine Contraction erhalten kann, wie man sie bei einem atropinisirten Präparat, bei dem also die Nerven gelähmt sind, auf einen einfachen Reiz niemals erhält, sondern nur durch Tetanisiren. In jenem Fall wird der Reiz durch die Nerven über das ganze Präparat an alle Muskelzellen verbreitet und führt zur maximalen Contraction aller Elemente. Natürlich muss dann ein neuer Reiz wirkungsvoller bleiben, wenn er in die Crescente oder selbst auf dem Gipfel einfällt; denn mehr als maximal zusammenziehen können sich die Muskelfasern eben nicht. Ganz so ver- hält sich das vorliegende Präparat; hier ist das ganze peripherische Nerven- system, der Auerbach’sche Plexus, vorhanden, er unterhält ja die auto- matischen Bewegungen. Ein einfacher Reiz wird hier also leicht zu einer maximalen Contraetion aller Muskelzellen führen können, und ein neuer Reiz kann dann erst in der Deerescente wirksam werden. In der That kann man auch häufig beobachten, wie auf einen künstlichen Reiz eine energische Contraction eintritt, die viel höher ausfällt, als die automatischen Contractionen vorher und nachher, wie auch Magnus (IV, S. 532) hervor- hebt. Hiermit hängt eine andere Erscheinung zusammen, die Magnus nieht genügend berücksichtigt hat, der Tonus. Nach der Präparation be- finden sich die Muskelstreifen in einem gewissen, bisweilen sehr aus- gesprochenen Tonus, den ich als reflectorisch bezeichnet habe, weil er vom Nervensystem unterhalten wird. Die Muskeln befinden sich also schon in einem gewissen Zustand der Verkürzung, und die automatischen Contrac- tionen, die eintreten, stellen nur eine Verstärkung dieses Contractionsgrades dar. War dieser schon sehr stark, so kann die weitere Zunahme der Ver- kürzung nur gering sein und kann leicht zum Maximum der überhaupt 26 PAUL SCHULTZ: möglichen Verkürzung führen. Auch dann kann ein künstlicher Reiz erst in der Decrescente wirksam werden. Umgekehrt treten bei Nachlassen oder völligem Schwinden dieses Tonus auf künstlichen Reiz eben jene mächtigen, die spontanen Contractionen übertreffenden Verkürzungen auf, von denen oben die Rede war. Unter Berücksichtigung dieses Umstandes lässt sich meines Erachtens in den \Wechsel der Erscheinungen wohl Gesetz- mässigkeit bringen, die Magnus vergeblich suchte. Für das Herz hat schon Walther darauf hingewiesen, dass aus dem Begriff der refractären Phase als einer Periode einer verminderten Er- regbarkeit sich unmittelbar ergiebt, dass ihre experimentell ermittelte Dauer von dem Reizwerthe des prüfenden Extrareizes, also sowohl von der ab- soluten Stärke des Reizes, als auch vom allgemeinen Erregbarkeitszustande des Präparates abhängig ist. Die Gleichheit des physiologischen Reizwerthes ist deshalb eine nothwendige Bedingung einer vergleichenden Untersuchung der refractären Phase. Hier liegt ein zweiter schwerer methodischer Fehler in den Versuchen von Magnus. Unter den gegebenen Bedingungen haben wir gar keine Gewähr, dass der physiologische Reizwerth der gleiche ist, noch weniger, dass der Erregbarkeitszustand des Präparates constant bleibt. Es war keine Vorrichtung getroffen, die Reizstärke abzuändern und etwa, wie es zunächst geboten gewesen wäre, mit Schwellenreizen zu arbeiten. Daher kommt es, dass die Angaben von Magnus über die Dauer der refractären Phase mit einer gewissen Unsicherheit behaftet sind. Ja, dass sie sogar von Widersprüchen nicht frei sind, lehrt ein Blick auf die Tabelle auf Seite 535 (IV.), welche darthun soll, dass ein Parallelismus zwischen der Dauer der Contraction und der refractären Phase besteht, indem bei der Abkühlung beide verlängert werden. Ich bemerke ausdrücklich, dass unter Contraction hier die gesammte Contraction (Orescente + Decrescente) verstanden ist. Während nämlich weiter oben im Text behauptet wird, dass die refractäre Phase meist in der ersten Hälfte der Erschlaffung endet, weist die Tabelle unter zehn Versuchen zwei auf, bei denen sie ebenso lange dauert, wie die Contraction, wo also erst am Ende der Erschlaffung ein neuer Reiz wirksam wird, und ferner einen Versuch, wo sie sogar länger als die Contraction ist, wo also auf der Ruhelänge 2 Secunden nach Beendigung der Contraction das Präparat sich noch refractär ver- halten soll!! Erwecken diese Bedenken schon Misstrauen gegen die diesbezüglichen Ergebnisse Magnus’, so lässt sich nun auch experimentell mit aller Sicher- heit darthun, dass esam centrenhaltigen, spontan sich bewegenden Längsmuskelstreifen des Darmes eine refractäre Phase nicht giebt. REFRACTÄRE PERIODE DER DARMMUSCULATUR DER WARMBLÜTER. 27 Ich habe in ganz ähnlicher Weise, wie Magnus, die Versuche an- geordnet. Als Stromquelle dienten zwei Accumulatorzellen von 4 Volt Klemmenspannung. Das Präparat wurde vertical aufgehängt, so dass es direet von unten her an den Schreibhebel angriff; es befand sich in einem cylindrischen Glasgefäss, das mit etwa 200 “= Ringer-Locke’scher Lösung gefüllt war, und das durch ein umgebendes Wasserbad sehr constant auf etwa 35°C. gehalten wurde. In einigen Versuchen war die Temperatur etwas höher, in einigen etwas niedriger. Ein schwacher Sauerstofistrom durchperlte die Lösung von unten her beständig. Die eine Elektrode stellte ein Streifen Platinblech dar, der in die Lösung weit hinabreichte, die andere Elektrode bildete eine feine Muskelklemme oder eine Serre-fine am oberen Ende des Präparates. In den folgenden Figg. 1 bis 11 lag die Anode im Präparat (abmortuale Stromrichtung); sämmtliche Prä- parate sind dem Dünndarm der Katze entnommen. Figg. 1 bis 11 stammen von centrenhaltigen, spontan sich bewegenden Längsmuskelstreifen. Figg. 1 bis 6 zeigen automatische Contractionen, bei denen an ver- schiedenen Stellen des Verlaufes ein künstlicher Reiz angebracht wurde. In Fig. 1 fällt der erste Reiz in die Crescente; in der leichten Knickung Fig. 1. io, 9 Fig. 2. derselben kommt seine Wirksamkeit zum Ausdruck. Der zweite Reiz fällt auf den Gipfel und macht sich in einer deutlichen neuen Erhebung geltend; danach in die Decrescente fällt ein spontaner Reiz. In Figg. 2, 3,5 und 6 fällt ebenfalls ein Reiz in die Crescente, und nur die leichte Knickung in der aufsteigenden Linie giebt Zeugniss von seinem Erfolg. Wäre die Um- drehungsgeschwindigkeit der Trommel geringer gewesen, so wäre diese Feinheit verloren gegangen, und es wäre dadurch eine refractäre Phase 28 PAUTL SCHULTZ: vorgetäuscht worden. Recht belehrend in dieser Beziehung ist Fig.5. In der ersten automatischen Contraction sieht man den ersten Reiz in dem aufsteigenden Theil ebenfalls in einer Knickung der Linie deutlich zum Ausdruck kommen, während der zweite Reiz auf der Höhe einfällt und als kleine Erhebung sich markiert. Bei der darauf folgenden spontanen Con- Fig. 3. Fig. 4. traction hebt der zweite Reiz sich deutlich auf der Höhe ab, der Effect des Reizes ist aber kaum zu erkennen. Für diese Contraction war die Um- drehungsgeschwindigkeit der Trommel zu langsam; man sieht auch hier die Crescente in Vergleichung zur vorhergehenden Contraction und zu den anderen Contractionen sehr steil ansteigen. Ebenso ist in Fig. 9 in Fig. 5. der zweiten, dritten und vierten spontanen Contraction der Reiz, der in die Crescente fällt, scheinbar unwirksam, während in der ersten und dritten Contraction der Reiz, der auf der Höhe bezw. etwas später einsetzt, eine neue Erhebung zur Folge hat. Fig. 4 stammt von einem Präparat, das an- fänglich sich in starkem Tonus befand, dann aber sehr stark erschlaffte; hier haben die drei auf einander folgenden Reize eine mächtige Wirkung, REFRACTÄRE PERIODE DER DARMMUSCULATUR DER WARMBLÜTER. 29 weil eben vorher gar keine oder höchstens nur eine sehr geringe Ver- kürzung bestand. Fig. 7 stellt schliesslich eine spontane Contraction dar, bei der der künstliche Reiz in den Anfangstheil der Crescente einfällt. Die grössere Geschwindigkeit der Schreibfläche, die hier gewählt wurde (doppelt Fig. 6. so gross wie bei den übrigen Figuren), lässt sehr deutlich erkennen, wie derselbe wirksam wurde. Magnus hat sich zur Unterstützung seiner Angaben auf Versuche berufen, die Ducceschi am Hundemagen in vivo angestellt hat. Die Ver- hältnisse sind aber hier, wo motorische und hemmende Nerven betheiligt sind, nicht einfach zu übersehen; die Angaben von Ducceschi! sind über- dies so kurz, ja für die Constatirung einer so wichtigen 'Thatsache, wie die refractäre Phase, geradezu so dürftig, dass ihnen ein besonderer Werth nicht beizumessen ist. Keine Abbildung, die Duecceschi sonst mehrfach giebt, er- läutert die in wenigen Worten aus- gesprochene Behauptung, die dahin geht, dass die refractäre Phase und die compensatorische Pause ganz den Ver- hältnissen beim Herzen entspricht! Lei- der sind diese Angaben mehrfach in der Litteratur wiederholt worden. Nicht viel besser steht es mit den Beobachtungen von Row? am Froschmagen, auf die sch Magnus ebenfalls beruft. Row spricht zwar davon, dass man, um von einem Reiz Wirkung zu erhalten, die refractäre Phase vermeiden müsse; was er aber Fig. 7. " Arch. ital. de biol. 1897. Vol. XXVII. p. 61. ” Journal of physiol. 1904. Vol. XXX. p. 461. = u a uam I v Au N Ann, MAR ——— ALL N {NA \ Ai hy u a YG VAURN = Kr) A EN SEN NERENZ & % PAUL SCHULTZ: darunter versteht, bleibt für mich wenigstens völlig unklar. Jedenfalls geht aus der Beschreibung so viel hervor, dass es sich nicht um eine Periode der Unwirksamkeit gegen Extra- reize handelt, die mit der Verkürzungsphase zusammenfällt. Ich habe mich selbst noch durch beson- dere Versuche überzeugt, dass auch bei den. Muskeln des Froschmagens, wenn ein solches Präparat spontane Bewegungen zeigt, es keine refractäre Phase während der Verkürzung giebt. Das Vorkommen einer solchen für die Magenmusculatur des Frosches hat übrigens schon früher Wordworth nach seinen Versuchen be- stritten. Er giebt an, dass während der Decrescente wohl eine herabgesetzte Er- regbarkeit bestehe, die sich gegen das Ende der Erschlaffung ausgleiche; aber er ‘ hebt ausdrücklich hervor, dass diese Er- scheinung nichts mit einer echten refrac- tären Phase zu thun habe. Mit der behaupteten refractären Phase hat Magnus eine andere Erschei- nung in Zusammenhang gebracht. Es gelingt nach ihm nicht mehr, an einem spontan sich bewegenden Längsmuskel- streifen durch wiederholte (tetanisirende) oder durch Dauerreizung einen Tetanus hervorzurufen. Vielmehr tritt daraufhin stets rhythmische Bewegung ein, bezw. es dauert die vorhandene rhythmische Be- wegung trotz des vorgenommenen Reizes, nur beschleunigt, fort. Ja, da unter ge- wissen Umständen die spontanen Bewe- gungen schon an Sich so schnell sind, als der refractären Phase entspricht, so findet nicht einmal immer eine Beschleu- nigung unter dem Reiz statt. Auch diese Angaben kann ich durchaus nicht bestätigen. Immer ist der Erfolg einer frequenten oder einer Dauerreizung eine vollständige Veränderung in der Frequenz und der Höhe der bisherigen spontanen Contractionen. Es REFRACTÄRE PERIODE DER DARMMUSCULATUR DER WARMBLÜTER. 31 findet Beschleunigung und meist Superposition statt; es entsteht aller- dings gewöhnlich kein glatter, vollständig verschmolzener Tetanus, son- dern auf der Höhe der Zusammenziehung treten kleine Wellen auf (Figg. 9, 11). Es kommt also zu einer ganz ähnlichen Kurve, wie man sie bei der Synthese des Tetanus aus einzelnen Zuckungen beim quergestreiften Muskel als ‚„incompleten Tetanus‘“ darstellt, und wie Fig. 10. ich sie auch für den längsgestreiften Muskel abgebildet habe. In diesen beiden Fällen entspricht jede kleine Welle einem Reiz, die Zahl der Reize ist nicht ausreichend, um vollständige Verschmelzung herbeizuführen. Im vorliegenden Fall sind aber die Reize sehr viel frequenter, als die kleinen Erhebungen. Man könnte 'nun meinen — und das ist auch die Ansicht von Magnus —, dass die Wirksamkeit nur einzelner Reize aus der sehr grossen Zahl derselben gerade die refractäre Phase beweise. Ein Blick auf die beigebrachten Figuren lehrt aber, dass dies nicht der Fall sein kann. In Fig. 11 zeigen die vorhergehenden Einzelreize, dass sie in sehr kurzen Intervallen wirksam werden. Würde die Frequenz der rhythmischen Be- wegungen während einer Dauerreizung durch die refractäre Phase bestimmt, so müssten auch in Fig. 11 bei der darauf folgenden Dauerreizung die auf- tretenden rhythmischen Bewegungen mindestens so frequent sein, . wie die auf die Einzelreize ausgelösten Bewegungen. Das ist aber durchaus nicht 32 PAUL ScHULTZ: REFRACTÄRE PERIODE DER DARMMUSCULATUR UV.S.W. der Fall. Auf die ersten beiden an sich schon langsameren, aber zu ein- ander doch regelmässigen Contractionen folgt eine dritte mit weithin sich erstreckender Decrescente Aehnlich liegen die Verhältnisse in Fig. 9. Nimmt man an, dass hier in der ersten spontanen Contraction (am Anfang der Figur) der künstliche Reiz gerade an das Ende der refractären Periode fiele, so müssten die (gegen das Ende der Figur) auf frequente Reizung auftretenden Contractionen viel frequenter sein, wenn sie durch die refrac- täre Periode bestimmt würden, die Curve müsste viel weniger tief ein- geschnitten verlaufen, als es in Wirklichkeit der Fall ist. Solche regel- mässigen Curven hat Magnus von seinen Längsmuskelstreifen überhaupt nicht abgebildet. Ich habe sie absichtlich hier wiedergegeben, weil, wenn überhaupt die refractäre Phase an dem Nichtzustandekommen des Tetanus unter tetanisirender oder Dauerreizung bethätigt sein sollte, allein. solche Curven beweiskräftig sein können, Immerhin ist auffallend genug, dass Dauerreizung und frequente Reizung einen solchen unvollkommenen Tetanus und solche wellenförmige Curven ergeben. Aber bemerkt muss gleich werden, dass so regelmässig “ wie in Fig. 9 die Curve durchaus nicht immer verläuft. Im Gegentheil finden sich viel häufiger als Erfolg der Dauerreizung Curven mit sehr un- regelmässigem Rhythmus. Ferner kommen, wenn auch seltener, Ourven vor, wo die Verschmelzung der einzelnen Contractionen viel weiter geht, wie z. B. Fig. 6, wo es fast zu einem vollkommenen Tetanus gekommen ist. Am besten gelingt es eine solche Curve zu gewinnen von einem Präparat, das gut erregbar ist und regelmässige spontane Bewegungen zeigt. In Fig. 8 ergiebt an einem centrenhaltigen Längsmuskelstreifen frequente Reizung einen echten completen Tetanus, der keine Spur einer Zusammen- setzung aus Einzelcontractionen zeigt. Auch Fig. 10 ist in dieser Hinsicht belehrend. Es handelte sich ebenfalls um einen centrenhaltigen Längs- muskelstreifen, der spontane Bewegungen zeigte. Auf: der Höhe einer solchen wurden frequente Reize angebracht: die Curve stieg an und sank danach trotz fortgesetzter Reizung gleichmässig ab. Darauf wurde der Strom dauernd geschlossen: es folgt ein erneuter Anstieg und darauf allmähliches Absinken, allein auch hier weder bei frequenter, noch bei Dauerreizung rhythmische Bewegung. Nachwort. Ehe der Verfasser die vorstehende Abhandlung zum Druck geben konnte, ward er — am 18. Juli d.J. — der Wissenschaft durch den Tod entrissen. Das fertige Manuscript fand sich im Nachlass. Es ist hier — die letzte Arbeit des ausgezeichneten Forschers — unverändert ab- gedruckt. E. Ueber Assımilation der Kohlensäure durch chlorophylifreie Organismen. Nach einem am 15. Juni 1905 in Wien beim II. internationalen botanischen Congresse gehaltenen Vortrage. Von Ferdinand Hueppe. Als ich vom Organisationscomite des internationalen botanischen Con- gresses aufgefordert wurde, neben einem botanischen Fachmanne, meinem Prager Collegen Professor Molisch, der die Assimilation der Kohlensäure durch das Chlorophyll besprechen sollte, über die Assimilation der Kohlen- säure durch chlorophylifreie Organismen zu sprechen, befand ich mich in einer heiklen Lage, als botanischer Aussenseiter in der Lage eines Forschers, dem es nur einmal vergönnt war, den grossen Kreis pflanzenphysiologischer Probleme in einer Tangente zu streifen. Aber ein Vortrag, den unser ver- ehrter Präsident, Herr Wiesner, im vorigen Jahre in St. Louis gehalten hat, gab mir einigen Muth an die Sache heranzutreten. Hat doch Herr Wiesner damals ausführen können, dass die Pfanzenphysiologie durch die Forschungen von Vertretern anderer Disciplinen in die Erscheinung ge- treten ist und dauernd Anregungen von Aussenstehenden, besonders von Medicinern, erfahren hat. Wenn ich von der von Herrn Molisch eingehend auseinander gesetzten Chlorophyllfunetion ausgehe, so können wir bei derselben zwei Wirkungen auseinander halten, die früher einem phylogenetischen Verständnisse unzu- gänglich waren. Solange man die bahnhrechende Entdeckung von Ingen- Housz nur auf das Chlorophyll anwenden konnte, musste dieser grüne Farbstoff als der erst erschaffene organische Körper erscheinen, eine Vor- stellung, die aber schlechterdings mit den entwickelungsgeschichtlichen Er- mittelungen über die Pflanzen nicht in Einklang zu bringen war. Indem Archiv f, A. u. Ph, 1905. Physiol. Abthig. Suppl. 3 34 FERDINAND HUEPPE: die Pflanze durch das Chlorophyll Kohlensäure redueirt, bildet sie einerseits kohlenstoffhaltige höhere Körper, die zum Aufbau der Leibessubstanz dienen, während andererseits dabei Sauerstoff frei wird, der zur Athmung fremder Organismen, vielleicht aber auch der eigenen Körpersubstanz dienen kann. Der erste Process der CO,-Reduction ist Aufbau und Assimilation, der zweite ist gerade im Gegentheil Abbau, Dissimilation, und man darf wohl vermuthen, dass diese beiden Processe in irgend welchem causalen Connex stehen. Das würde also eines der Probleme sein, welches die all- gemeine Biologie der Pflanzenphysiologie verdankt. Deshalb will ich nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, dass die moderne Physiologie 'thatsächlich Assimilation und Dissimilation mehr und mehr in ursächlichem Zusammen- hange erkennt, indem wir in dem labilen Aufbau und dem dadurch herbei- geführten Vorgange der Aufstapelung potentieller und kinetisch-labiler Energie die chemischen Ursachen des Lebens wahrnehmen. Pflanzen und Thiere bilden in dieser Beziehung keine prinzipiellen Gegensätze, sondern zeigen nur dieselben Vorgänge in quantitativ verschiedener Entwickelune. Man muss somit erwarten, dass schliesslich im Protoplasma selbst irgendwie Reduction und Oxydation verknüpft sind oder, wenn wir dies materialistisch ausdrücken und die Wirkung an bestimmte Substanzen, an Protoplasma- splitter, gebunden denken wollen, an Reductasen und Oxydasen ge- knüpft sind. Bei der Pflanze ist am auffallendsten die Anpassung an das Licht. Licht ist aber für uns nur der Ausdruck für Strahlen von bestimmten Wellenlängen, an die das menschliche Auge angepasst ist. In diesem Sinne müssen wir erwarten, dass keine von uns als Farbe empfundene Substanz in der Welt zwecklos ist, sondern dass jede Farbe sich mit den uns sicht- baren Wellenlängen aus einander setzt, dass aber dem Protoplasma in einem viel weiteren Sinne die Fähigkeit zukommt, sich mit Strahlen bestimmter Wellenlängen aus einander zu setzen, auch mit solchen, die vielleicht nicht mehr für uns sichtbar sind, aber chemische oder thermische Wirkungen ausüben. Eine solche Anpassung von Farbe und Licht kann vielleicht mit der Kohlensäureassimilation in Beziehung stehen, sie kann aber auch eine andere sein. So finden wir z. B. bei gefärbten Bakterien die eine Seite der Chlorophylifunetion, nämlich die Sauerstoffausscheidung, bezüglich die Sauer- stoffanhäufung von Arten ausgeführt, die die Fähigkeit der Kohlensäure- reduction nicht besitzen. So haben Pfeffer und Ewart nachgewiesen, dass einzelne Farbbakterien die Fähigkeit, Sauerstoff locker zu binden und ihn dann für die eigene Athmung oder die von anderen Lebewesen ab- zugeben, ähnlich, zum Theile in höherem Maasse besitzen, als das Blut mit seinem Hämoglobin. KOHLENSÄURE-ASSIMILATION. 35 Die Farbbakterien sind aber für die Entwickelung ihrer Farbstoffe mit Ausnahme des anaöroben Spirillum rubrum, welches ich aber vor vielen Jahren bereits auch zur Aörobiose bringen konnte, an das Luftleben ge- wöhnt. Wir haben also hier bereits Beziehungen zwischen Luftsauerstoff und Farben. In diesem Zusammenhange wird in noch viel höherem Maasse die Thatsache interessant, dass auch der Blutfarbstoff selbst, das Hämoglobin, welches der Dissimilation dient, die nächste chemische Verwandtschaft zu dem assimilatorischen Chlorophyll hat. Nach vorbereitenden Arbeiten von Hoppe-Seyler, Neneki und Sieber haben Schunek und March- lewski festgestellt, dass das Phylloporphyrin C,,H,;,N;s0 und das Hämato- porphyrin 0,,H,,N>0, nahe verwandte Pyrrolproduete sind, und March- lewski ermittelte ausserdem die Identität der Hämatinsäure mit dem ent- sprechenden Chlorophyllproducte. Wenn im thierischen Organismus ein solcher Eiweisskörper Träger für ÖOxydationswirkungen und im Pflanzenreiche sein nächster Verwandter Ver- mittler gewaltiger Reductionswirkungen ist, dass man früher geradezu das Thier einen Oxydations-, die Pflanze einen Reductionsmechanismus nannte, so darf man erwarten, dass oxydirende und reducirende Wirkungen, Abbau und Aufbau im nicht oder wenig differencirtem Protoplasma in inniger Be- ziehung zu einander stehen. / Das konnte man nicht in Betracht ziehen, so lange man die Wirkung des Chlorophylis nur darin sab, dass es für die Pflanze den Aufbau be- sorgt, aber Sauerstoff abgiebt, der dem Thiere zur Athmung dienen kann, eine Vorstellung, die in dem Ausdrucke „Kreislauf des Stoffes“ einen sehr schönen, aber vermuthlich nur theilweise richtigen Ausdruck gefunden hat. Ich habe wenigstens schon vor längerer Zeit dem Zweifel Ausdruck ge- geben, dass man nicht in dem früheren Sinne von einem Kreislaufe sprechen kann, indem die Pflanze etwa gerade so viel Sauerstoff produeirt, wie das Thier gebraucht und umgekehrt mit der Kohlensäure. Ebenso hat später Ostwald diesen Zweifel für den Stickstoffkreislauf ausgesprochen, und ebenso hat Boltzmann die Summe der Lebenserscheinungen von Thieren und Pflanzen mit den Entropieprocessen in Verbindung gebracht. Um mich nicht einer Unterlassung schuldig zu machen, wollte ich wenigstens diese Seite des Problems erwähnen, welche durch die Chlorophyllfunction angeregt wurde. Das Auffallendere, für die Pflanzenphysiologie sicherlich auch Wichtigere, ist die photosynthetische Assimilation der Kohlensäure, d. h. die Erfahrungs- thatsache, dass eine den Thieren schädliche Anhäufung von Luftkohlensäure dadurch verhindert oder gemindert oder hinausgeschoben wird, dass die Pflanze Kohlensäure der Luft unter Freimachen von Sauerstoff redueirt ox% Oo 36 FERDINAND HUEPPE: und zum Aufbau organischer Substanz verwendet. Man hatte sich zunächst seit dieser Feststellung gewöhnt, die übrigen Pflanzenfarbstoffe mit irgend welchen hypothetischen Funetionen zu betrauen, die aber Niemand nach- weisen konnte, ihnen aber einen directen Einfluss auf die 'Kohlensäure- assimilation abzusprechen. Es ist nun Engelmann schon 1885 gelungen, in Arbeiten, die weitere Vertiefung erfahren und zu manchen Untersuchungen angeregt haben, nach- zuweisen, dass bei blaugrünen, gelben, braunen, rothen Farbstoffen, welche bei niederen Pilzen, Algen, Diatomeen, Florideen vorkommen, die neben dem Chlorophyll vorhandenen und dasselbe manchmal verdeckenden Farben sich an der Kohlensäureassimilation betheiligen. Eine sehr feine biologische Methode hierzu ist die sogenannte Bakterienmethode, bei der der unter dem Einflusse der Farbstoffe freigemachte Sauerstoff entweder nach Engelmann ruhig liegende Bakterien zur Bewegung oder nach Beijerinck Leucht- bakterien zum Aufleuchten bringt. Wenn man in dieser Weise vorgeht, so sieht man, dass das Assimi- lationsmaximum für das Chlorophyll zwischen den Linien 3—C liest und roth entspricht — Herr Molisch nannte vorhin das Chlorophyll geradezu eine Fabrik für rothe Farbe —, beim Phyocyan der blaugrünen Algen über C hinausliegt, bei dem Phycoerythrin der rothen Florideen aber hinter der D-Linie im Grün liegt,‘ d. h. genau der complementären Farbe ent- spricht. Nun haben in den letzten Jahren Engelmann und Gaidukov diese Thatsache einer „complementären chromatischen Adaptation“ noch erweitert, indem sie fanden, dass derartige Pflanzen mit Aenderung der Beleuchtung sich durch Aenderung der Farbe den neuen Bedingungen anpassten, was natürlich nur möglich ist, wenn die Pflanzen die im einwirkenden Licht durchgelassenen Strahlen absorbiren oder wenn die Pflanzen sich der Farbe im complementären Sinne anpassen. Die beiden Beobachter haben dabei, wie nebenbei bemerkt sei, gefunden, dass die einmal erzielten neuen Farben sich eine Zeit lang halten, also dass eine Vererbung erworbener Eigen- schaften vorhanden ist, wie Schottelius und ich selbst Aehnliches früher für die künstlich beeinflussten Pigmentbakterien ermittelt hatten. Dass eine solch’ vollkommene Anpassung auf der einen Seite, eine relative Constanz auf der anderen Seite neben einander möglich sind, liegt wohl darin, dass in dem weissen Lichte alle Arten von Strahlen vorhanden sind, so dass also da, wo z. B. die vollkommene Anpassung rothe Farben verlangt, auch grüne Färben in weniger vollkommener Weise noch existenz- fähig sind. Damit erklärt sich die Beobachtung der Systematiker, dass in der Natur die Entwickelung der Farbanpassung in sehr verschiedenem Grade erfolgt ist. KOHLENSÄURE-ASSIMILATION. Br Nachdem von G. Nadson gefunden war, dass gewisse Cyanophyceen und Chlorophyceen in oberflächlichen Meeresschichten durch grüne und blaugrüne, in tiefen durch rothe Individuen vertreten sind, während man bis dahin nur wusste, dass im Allgemeinen an der Oberfläche der Gewässer und am Strande grüne und blaugrüne, in der Tiefe aber braune und rothe Arten vorkommen, konnten Engelmann und Gaidukov bei derselben Art direct experimentell bei längerer Einwirkung von rothem Lichte das Ent- stehen grünlicher Färbung hervorrufen, bei gelbbraunem Lichte von blau- erüner, bei grünem von röthlicher und bei blauem Lichte von braungelber Färbung. Damit ist wohl ganz eindeutig festgestellt, dass die Farbänderung der Pflanze eine Anpassung an die jeweils vorhandene oder an die sich ändernde Lichtart für die Kohlensäureassimilation ist und dass die neben dem Chlorophyl! vorhandenen Farben ganz eindeutig sich an. der Assi- milation betheiligen. Immerhin handelt es sich noch um Wirkungen von Farbgemischen, unter denen das Chlorophyll mitvertreten ist. Mit diesen Feststellungen hat sich Engelmann das grosse Verdienst erworben, den Begriff des Chlorophylis erweitert zu haben zu dem Begriffe des Chromophylis, wodurch die Phylogenese des am mächtigsten entwickelten Pflanzenfarbstoffes, des Chlorophylis, erst verständlich wird als eine An- passung an jene Wellenlängen des Lichtes, mit denen die Pflanze in der Tagesbeleuchtung sich besonders auf dem Erdboden und an der Oberfläche des Wassers aus einander zu setzen hat. Molisch hat nun Phycoeyan und Phycoerythrin krystallinisch dar- gestellt und damit neben Chlorophyll und Hämoglobin gestellt. Wenn nun zwei derartige organische eiweissartige Körper neben einander wirken und quantitativ beeinflusst werden können, dass der eine zu-, der andere ab- nimmt, so wird man weder von einer Deckung des Chlorophylis durch den anderen, noch von einer molecularen chemischen Verbindung sprechen können, sondern mit A. Hansen von einem Nebeneinander, einer Mischung, sprechen müssen, was auch den morphologischen Differenzirungen von Zelle und Protoplasma besser entspricht. Aber nicht erst die Mischung macht die blaugrünen und rothen Farben zu Chromophyllen, sondern ihre chemische Individualität stempelt sie schon dazu. So möchte ich die gegenwärtigen Kenntnisse deuten. Dass damit die Frage nicht erschöpft ist, hat uns vorhin Herr Molisch gelehrt, wenn er darlegte, dass das braune Phycophaein kein derartiges Chromophyll ist, sondern eine Modification des Chlorophylis, ein Phaeophyll darstellt. Mit der phylogenetischen Auffassung des Chlorophylis als einer von vielen Möglichkeiten wird auch begreiflich, dass andere Sonnengeschöpfe wie der Mensch für ihre specielle Thätigkeit in einer Hauptfunetion an-. knüpfen konnten an einen Körper, das Hämoglobin, der chemisch dem 38 FERDINAND HUEPPE: Chlorophyll am nächsten steht. Für die einheitliche Betrachtung der bio- logischen Processe ist dies gewiss eine hochinteressante Thatsache. Gräfin Linden und Pictet bringen die Farben von Schmetterlingen und Raupen in Beziehungen zu den von ihnen aufgenommenen Pflanzen- farbstoffen. An derartige Dinge wird man aber wohl auch denken dürfen, wenn wir ganz heterogene Organismen ähnlich gefärbt finden und manche Fälle von Mimicry sind wohl nichts anderes als derartige farbphoto- graphische Versuche der Natur auf Grund „chromatischer Assimilation“. Aus der Thatsache, dass im Lichte nur Chromophylle die Reduction der Kohlensäure vermitteln, kann man nicht schliessen, dass dies im Chromo- phylikorn selbst geschieht. Das könnte hier geschehen, so gut wie hier auch Eiweisssynthesen vor sich gehen könnten. Aber nothwendig ist dies nicht, da, wie ich zeigen werde, auch chromophyllifreies farbloses Proto- plasma dies alles kann. Das Chromophyli kann in der Anpassung an das Licht diese allgemeine Protoplasmafunction vielleicht mit enthalten, vielleicht sogar besonders ausgebildet haben, dürfte aber wohl noch eher als ein Sensibilisator oder vielleicht noch besser als ein Transformator der Licht- energie aufgefasst werden, wie im Thiere das Hämoglobin nicht den Ort der Oxydation bezeichnet, sondern als Sauerstoffträger dient. Aber alle die bis jetzt betrachteten Chromophylle sind an die sicht- baren Strahlen gebunden. In unserer Zeit, in der nach Hertz, Lenard und Röntgen schon im gewöhnlichen Leben mit X-, Y- und Z-Strahlen wie mit etwas ganz Bekanntem gearbeitet wird, darf der Naturforscher erst recht nicht vergessen, dass die dem menschlichen Auge sichtbaren Strahlen doch nur eine kleine Gruppe von Strahlen umfassen, und es ist von vorn- herein wahrscheinlich, dass, wie chemische Wirkungen im Ultraviolet nach- weisbar sind, es vielleicht sogar Pigmente giebt, die ihr Maximum der Assimilation nicht in den sichtbaren Strahlen, sondern in den unsichtbaren Wärmestrahlen ausführen, ja weiter, dass es Protoplasma. geben könnte, welches eine analoge Assimilationsthätigkeit zu entfalten vermag ohne Pigment überhaupt. Was ich jetzt als Frage und Möglichkeit hinstelle, war aber nicht a priori deducirt und als heuristisches Princip verwerthet worden, sondern es wurde die eine Reihe von Engelmann, die andere von mir selbst aus ganz überraschenden Thatsachen indueirt und erst nachträglich durch die phylogenetische Betrachtungsweise ergänzt. Die Pigmente der Bakterien gehören ganz verschiedenen chemischen Gruppen an, soweit schon frühere Untersuchungen von J. Schröter und mir ein Urtheil gestatten. Es wird auch angegeben, dass unter den grün- gefärbten Bakterien ein oder zwei Arten schon echtes Chlorophyll haben. Ich habe nur ein Mal eine solche Art unter den Händen gehabt, von der KOHLENSÄURE-ASSIMILATION. 39 ich aber jetzt vermuthe, dass sie nur eine Wuchsform einer höher pleo- morphen Art ist, die wohl zu den Spaltalgen gehört. Ich will hierzu nur bemerken, dass wir unter dem, was wir in Bezug auf Form und methodischen Nachweis Bakterien nennen, ganz heterogene Dinge vor uns haben und dass die Bakterienformen sowohl zu den Spalt- aleen, als zu den niedrigsten Pilzen, als zu den niedrigsten Thieren, den Flagellaten, herüberleiten. So sind z. B. die Tuberkelbazillen nur die para- sitäre Wuchsform eines pleomorphen Organismus, der den Pilzen nahe steht. In diesem Sinne scheint mir das Bacterium viride mehr zu den Spaltalgen zu gehören. Ob echte Bakterien wirklich Chlorophyll haben, scheint mir nicht ganz sicher, hat aber auch keine wesentliche Bedeutung. Bei den Flagellaten, bei denen sich der thierische und pflanzliche Typus differenzirt, finden wir bekanntlich Formen, die nur Chlorophyll enthalten (Euglena, Chlamydomonas), oder die blaues (Cryptoglena), braunes (Öhrysomonas) oder rothes (Rhodomonas) Chromophyll entalten. Unter den Bakterienpigmenten sind von Zopf Lipochrome nachgewiesen worden, und es ist nun interessant, dass ein von Ray Lankester Bakterio- purpurin genannter Farbstoff der Schwefelbacterien mikrochemisch sich wie ein Lipochrom verhält. Engelmann hat nun in wichtigen Untersuchungen nachgewiesen, dass die Purpurbakterien mit Hülfe ihres Farbstoffes im ganzen Spectrum assimiliren, dass sie durch völlige Entziehung des Lichtes sogar einer Dunkelstarre verfallen können, dass aber ihr Assimilations- maximum im Ultraroth liegt. Bei einer Art der Purpurbakterien, Monas Okenii, hat Bütschli mit Alkohol eine grüne Beimischung gelegentlich erhalten, die allerdines dem Roth gegenüber ganz zurücktritt, aber vielleicht als eine Beimischung von Chlorophyll gedeutet werden könnte, welches aber, wie das quantitative Verhältniss der Spectraluntersuchung lehrt, für den Gesammteffect ganz bedeutungslos ist und die ausschlaggebende qualitative Bedeutung des Bakteriopurpurins nicht alterirt. In anderen Fällen liess sich keine grüne Beimischung erkennen, wohl aber aus dem rothen Farbstoffe mit Hülfe eingreifender chemischer Agentien eine grüne Componente erhalten, welche mit Chlorophyll gar nichts zu thun hat. Da die ungefärbten Schwefelbakterien die Energie der Lichtstrahlen nicht zur Kohlensäurereduction verwerthen können, andererseits die Purpur- bakterien ebenso wie die ungefärbten Schwefelbakterien in gewissen Ent- wickelungsstadien Schwefelkörner enthalten, so liegt in dieser Gruppe der Purpurbakterien vermuthlich der Fall vor, dass sie nicht nothwendig auf die Lichtenergie angewiesen sind, dass sie ihr Leben ohne diese Form der Energie bestreiten können oder aber daneben oder statt derselben über eine Energiequelle verfügen, welche sie unabhängig von der Lichtenergie 40 FERDINAND HUEPPE: macht, deren herabgesetzte Bedeutung schon aus der Arbeit im Ultraroth erkennbar ist. Aber bei einige Arten ist thatsächlich die Möglichkeit vorhanden, mit Hülfe eines besonderen Pigmentes auch Strahlen bestimmter Wellenlänge zur ‘Energiegewinnung zu verwerthen. Dieser Farbstoff ist eindeutig ein wirkliches Chromophyll, welches chemisch gar nichts mit Chlorophyll zu thun hat. Ich möchte das so ausdrücken, dass bei dieser Gruppe die Energiegewinnung für Dunkel- und Lichtleben im Prineip noch nicht differenzirt und phylogenetisch in der ersten Scheidung begriffen ist. Dass niedrigste Pflanzen in der Anpassung an gegebene Energiequellen sebr viel unabhängiger sind als die höheren chlorophylihaltigen Pflanzen, hat Krüger in einer Untersuchung im Laboratorium von Zopf bewiesen. Er fand einen neuen Pilztypus, Prototheka, der morphologisch der Chlorella unter den Algen äusserst ähnlich war, nur mit dem Unterschiede, dass die Algen als Träger des Chlorophylis Chlorophoren entwickelten. Die Aus- bildung dieser Chlorophoren, aber schliesslich die Bildung des Chlorophylis selbst konnte bis zur Ununterscheidbarkeit von den Pilzen unterbleiben, wenn Krüger diese Algen so eultivirte, dass sie keine Kohlensäure zu assimiliren brauchten, wenn sie höhere Kohlenstoffquellen zur Ernährung hatten. Diese Algen waren also nach den Ernährungsbedingungen bald echte Pflanzen, bald aber verhielten sie sich wie gewöhnliche Saprophyten. Etwas Aehnliches ist der Fall bei den oben genannten Schwefelbakterien, wenn die einen sich der Kohlensäureassimilirung durch das Licht gelegent- lich bedienen können, während aber alle Gruppen derselben, gefärbte und ungefärbte, auch ohne Photosynthese ihre Leibessubstanz aufzubauen ver- mögen. Diese Bakterien führen den Namen Schwefelbakterien, weil man in ihnen Körnchen findet, die ©. Müller zuerst als Schwefel erkannte. F. Cohn, der sie zuerst bei Purpurbakterien gefunden hat, schrieb ihre Bildung der Reduction von Sulfaten zu, während Hoppe-Seyler umgekehrt und richtig erkannte, dass diese Organismen im Innern Schwefelwasserstoff zu Schwefel zu oxydiren vermögen. Winogradsky, der sich 1887 dieser Ansicht anschloss, erweiterte sie noch dahin, dass er annahm, dass diese Oxydation von Schwefelverbindungen zu Schwefel und dieses schliesslich zu Schwefelsäure die Energiequelle sei, mit deren Hülfe die Bakterien ihre Substanz aufbauen können. Eine Vorstellung, wie das möglich, hat er aber nicht geäussert und besonders fehlt jeder Hinweis, dass dabei etwa eine Assimilation von Kohlensäure in Betracht kommen könnte. Dazu musste erst: etwas vorausgehen, nämlich der Nachweis, dass farb- freie Organismen im Stande sind, eine chemosynthetische Assimilation von Kohlensäure zu bewirken, ein Nachweis, der mir 1887 zuerst gelungen ist. KOHLENSÄURE-AÄSSIMILATION. 41 Dass chlorophylifreie Organismen niedrigste organische Verbindungen zum Aufbau ihrer Leibessubstanz verwerthen können, wissen wir, seit 1841 Dujardin oxalsaures Ammoniak erfolgreich für Pilzeulturen verwendete. Man hat seit dieser Zeit eine ganze Reihe von niedrigsten organischen Verbindungen, wie Weinsäure, Asparaein, verwendet, und ich selbst habe mit .der einfachsten derartigen Lösung, die jemals verwendet worden ist, sogar die Synthese von Bakterienpigment, nämlich dem der blauen Milch, erreicht. Nur freie Kohlensäure und Carbonate versagten vollständig, so dass es ein Axiom der Botanik war, dass für die Kohlensäure nur Photosynthese möglich ist. Da machte 1386 einer meiner Schüler, Heräus, in einer Arbeit über Oxydationen und Reductionen im Wasser, die für meine damalige Thätigkeit besonderen Werth hatten, die Beobachtung, dass in einigen Fällen Culturen wuchsen, bei denen als Kohlenstoffquellen nur Carbonate vorhanden zu sein schienen. Die Sache wurde zunächst nur registrirt und blieb uns selbst noch unklar. Bei Untersuchungen über Wasserbakterien war nämlich ziemlich gleichzeitig von Cramer in Zürich und von mir in Wiesbaden beobachtet worden, dass im sogenannten destillirten Wasser der Laboratorien Bakterien leben und sich vermehren können. Die geringen - Spuren organischer Substanz, welche von dem Wasser selbst herrühren oder aus der Luft des Laboratoriums stammen konnten, mussten, da specielle Umsetzungen im destillirten Wasser ausgeschlossen waren, in der gewöhn- lichen Weise des Saprophytismus das Leben dieser anspruchslosesten Organismen ermöglichen. Dieser Fehler musste also ausgeschlossen werden, und das habe ich zum ersten Mal in Aufnahme eines Punktes der Untersuchungen von Heräus 1886/87 gethan und das Resultat im Sommer 1887 dutzendemal in meinem Laboratorium demonstrirt. Es gelang mir damals unter Ver- meidung der aus dem Wasser oder der Luft des Laboratoriums stammenden Verunreinigungen einen Aufbau organischer Substanz durch farblose Bak- terien zu erreichen, wobei als Stickstoffquelle nur Ammoniak, bezüglich eine Ammonjakverbindung, als Kohlenstoffquelle ein lockeres Carbonat oder freie Luftkohlensäure vorhanden waren. Es gelang mir damals, mit Ammonium- carbonat positive Versuche zu erzielen, während ich bei Verwendung von Ammoniumchlorid als Stickstoffquelle positive Resultate nur dann erreichte, wenn die zutretende Luft Kohlendioxyd enthielt, dagegen nicht, wenn die- selbe von Kohlensäure befreit war. Ich muss das ausdrücklich nochmals erwähnen, weil manche späteren Untersucher und Nachprüfer diese Momente nicht genügend beachtet haben. Da aus dem Ammoniak in meinen Versuchen Salpetersäure entstand, habe ich einerseits die Oxydation des Ammoniaks als Energiequelle für die 42 FERDINAND HUrPpPE: CO,-Assimilation betrachtet, andererseits aber darauf hingewiesen, dass der bei diesem Process biologisch in der CO,-Reduction freiwerdende Sauerstoff in statu nascenti sofort zur Oxydation von Ammoniak verwendet werden könnte, und habe dieses Moment deshalb betont, um darauf hinzuweisen, wie wir auf diese Weise das Entstehen von Oxydationsgährungen verstehen können. Diese Processe verlaufen nämlich nur bei Zutritt von Sauerstoff, aber im Dunkeln sogar besser als im diffusen Tageslichte, während Be- sonnung den Process aufhebt. | Winogradsky hat später, indem er mir so ziemlich das gerade Gegen- theil unterschiebt von dem, was ich gesagt habe, behauptet, dass nach meiner Auffassung dann Nitrification bei Sauerstoffabschluss verlaufen könne, und das sei ein Unsinn. Da ich dies nie behauptete, so ist die ganze Kritik von Winogradsky, die das positive und grundsätzlich Neue ganz ignorirte, dafür aber einen chemischen Fehler einführte, hinfällig. Um so sonderbarer musste es berühren, wenn Winogradsky 18% erst auf Grund eines voll- ständigen und groben Missverständnisses meine Ansicht herunterriss, dann aber kurz darauf in demselben Jahre 1890, also volle 3 Jahre nach mir, dieselbe Thatsache und Ansicht noch einmal äusserte. Was 1837 von mir entdeckt und zum ersten Mal klar und eindeutig ausgesprochen ein grober Irrthum sein sollte, war nun, nachdem es von - Winogradsky mit voller Kenntniss alles dessen, was dazu gehört, noch- mals gefunden war, etwas ganz anderes, nämlich: „une verite nouvelle, d’une importance physiologique generale, est des maintenant e&tablie par mes experiences: c’est qu’ane synthese complete de la matiere organique par l’action d’etres vivants peut s’accomplir sur notre planete ind&pendam- ment des rayons solaires. Une des doctrines fondamentales de la physio- logie n’a done desormais qu’une valeur limitee.“ In überaus erfreulichem Gegensatze hierzu haben einige der verdienst- vollsten Forscher über die Chlorophyllfunetion sowohl die von mir gebrachten neuen Thatsachen als Ansichten gewürdigt, wie Pringsheim, Engelmann, Wiesner, Reinke, Löw, später auch Pfeffer, was ich gerade an dieser Stelle gern vermerke. Während Winogradsky aber damals die Arbeit von Heräus, die von anderen urtheilsfähigen und verdienten Forschern, wie Frankland und Beijerinck, mit Recht höher gewerthet wird, nur abfällig beurtheilte und meine Arbeit nur schlecht machte, um sich meine Entdeckung zu- schreiben zu können, hat er 1904 in seiner letzten zusammenfassenden Veröffentlichung vorgezogen, mich einfach ganz zu ignoriren, eine Art des Vorgehens, so ungewöhnlich und unqualifieirbar, dass ich sie bedauerlicher Weise nicht ganz unerörtert lassen konnte. Ich bin nicht gewillt, mir diese klare Priorität von irgend Jemand streitig machen oder escamotiren KOHLENSÄURE-ASSIMILATION. 43 zu lassen. Da ich die Rechte Anderer achte und stets anerkenne, bestehe ich auch auf meinem Rechte des zuerst Gekommenen. Winogradsky hat direet über Nitrification im Boden gearbeitet, und ich bin der Erste, der gern anerkennt, dass Winogradsky auf diesem Gebiete uns ganz bedeutende Fortschritte gebracht hat. Die Aufhellung der Erscheinung, dass bei der Nitrification im Boden Nitritbildung aus Ammoniak und Nitratbildung aus Nitrit in der Regel in zwei Phasen verlaufen und durch zwei verschiedene Mikrobien veranlasst werden, ist von grosser Bedeutung, jedoch erschöpft sie die Thatsachen der Nitrification noch lange nicht, so dass diese Ansicht von Winogradsky neuerdings ganz entschiedene Einschränkungen erfahren hat. So haben Beijerinek und van Iterson gezeigt, dass die Nitrification auch von der gleichzeitigen Denitrification beeinflusst und vom Zustande der Luftzufuhr abhängig ist. Löhnis zeigte ausserdem, dass die Bildung des Nitrats im Boden unabhängig von den vorkandenen Ammoniumverbindungen verläuft; es findet nach ihm schon Salpeterbildung statt, wenn auch noch nicht alles Ammoniak in Nitrit verwandelt ist; die Nitrit- und Nitratbildung müssen nicht nach einander, sondern können neben einander verlaufen, und die Anwesenheit organischer Stoffe für die Hemmung der Nitrification als eines prototrophen Vorganges wird vielfach überschätzt. Trotz dieser gewichtigen Einwände sind die über die Nitrification im Boden von Winogradsky erhobenen Thatsachen im Versuche richtig, aber für die Frage der Kohlensäureassimilation sind das mehr nebensächliche Dinge, während mir gerade die Aufhellung dieses biologischen Punktes von Interesse war. Ich habe deshalb auch nicht von Nitrification gesprochen, sondern um zu zeigen, dass ich mir der vollen Tragweite der von mir erhobenen Thatsache sofort, geradezu intuitiv bewusst war und als erster die chemosynthetische Assimilation der Kohlensäure erkannt habe, den von mir ermittelten Vorgang genannt „Chlorophyliwirkung ohne Chlorophyli“. Ich habe in der Auffassung, in der der Botaniker im speciellen Sinne von Assimilation spricht, thatsächlich als erster die photosynthetische Assi- milation der Kohlensäure ergänzt durch die Thatsache der chemosynthetischen Assimilation der Kohlensäure und damit auch die letzte noch bestehende prineipielle physiologische Grenze zwischen thierischem und pflanzlichem Stoffwechsel als nicht existirend erwiesen. Gerade dieser auffallende Aus- druck, dessen ich mich absichtlich bediente und den, wohl wegen der voll- ständigen Neuheit der Thatsache, sogar Pfeffer zunächst bemängelte, zeigt ganz eindeutig, was ich damals festgestellt habe, und an dieser Priorität kann eine 3 Jahre später mit Kenntniss aller dieser vorher festgestellten Dinge gemachte Bestätigung nichts ändern, auch wenn sie sich noch so selbstbewusst in ein sonderbares Gewand kleidet. 44 FERDINAND HUEPPE: Beijerinck war vor Kurzem sogar der Ansicht, dass Winogradsky durch Nichterkennen eines verunreinigenden Organismus getäuscht worden sei, eines Organismus, von dem er zugiebt, dass er Heräus bekannt war, und der mir ausserdem von meinen Wasseruntersuchungen damals schon bekannt war. In diesem Punkte glaube ich aber Winogradsky in Schutz nehmen zu müssen. Beijerinek und van Delden haben 1903 von Neuem gefunden, was Heräus, Cramer und ich selbst bereits 1886 ermittelt hatten, dass die geringen Spuren von organischer Substanz in der Laboratoriumsluft Bakterien als Energiequelle dienen können. Beijerinck meint nun dabei einen Organismus zu erkennen, der Winogradsky getäuscht habe, nämlich einen „eben für die in Nitratbildung begriffenen Culturflüssigkeiten charakteristi- schen Mikroben (Bacillus oligocarbophilus), welcher sich mit den organischen Kohlenstoffverbindungen der Laboratoriumsluft ernährt“. Es wäre aber gar zu sonderbar, wenn dieser Organismus allen Beob- achtern, welche sich nach Winogradsky mit der Nitrification beschäftigten, entgangen wäre, und thatsächlich hat auch Winogradsky einige Versuche gemacht, dis sich auf diese Fehlerquelle beziehen. Godlewski, der die Kohlensäureassimilation bei der Nitrifieation ebenfalls 1892 bestätigte, hat die Luft durch Schwefelsäure und übermangansaures Kali von Luftstäubchen befreit und die Kohlensäure durch Kalilauge absorbirt, und Rullmann hat auf Spuren von salpetriger Säure in der Luft von Laboratorien als eine mögliche Fehlerquelle hingewiesen. Ich glaube also, dass Beijerinck in dieser Kritik über das Ziel schiesst und dass diese Kritik meine Unter- suchung gar nicht treffen kann, weil bereits darauf geachtet war. Im Jahre der hundertjährigen Todesfeier Schiller’s darf ich mir viel- leicht gestatten, auf eine Aeusserung dieses grossen Denkers hinzuweisen. Als einer der grössten Förderer der Botanik, Goethe, ihm seine Anschauungen über die Urpflanze und Metamorphose der Organe aus einander zu setzen suchte und dieses in einer Form that, als handelte es sich nur um directe Beobachtungen, unterbrach ihn Schiller mit den Worten: „Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.“ Der gewaltige Aufschwung der biologischen Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte des vorigen Jalırhunderts war aber nicht an das blosse Sammeln von Thatsachen, sondern an die methodische Ermittelung derselben und an ihre Durchdringung mit leitenden Ideen geknüpft, und kein Natur- forscher kann sich der Pflicht entziehen, das Thatsachenmaterial zu durch- denken, da uns nur Thatsachen und heuristische Hypothesen wirklich fördern. Blosse Thatsachen in der Naturwissenschaft können, in Compendien ge- sammelt, einem solchen schliesslich den Werth eines Raritätenkastens ver- leihen, wie wir dies in manchen Zweigen bedauerlicher Weise gesehen haben. KOHLENSÄURE-ASSIMILATION. 45 Die Thatsachen müssen auch geordnet werden, nur dann können sie zum wissenschaftlichen Bau beitragen und diesen immer wieder um ein Stück dem angestrebten Ziele näher führen. Dazu muss der Naturforscher etwas von einer Künstlernatur haben, und er muss in der Verwerthung der Thatsachen einen gewissen Tact entfalten, ohne den er mit den nackten Thatsachen nur Handlangerdienste beim Herbeischleppen der Bausteine zu leisten vermag. _ Für unsere Frage handelt es sich dabei um die äusserst heikle Art, wie man chemische Ermittelungen und biologische Processe in Einklang zu bringen vermag. Der Chemiker, wenn er mit hohen Temperaturen, mit stärksten Säuren oder Alkalien arbeitet, bedient sich solcher Mittel, die dem lebenden Protoplasma nicht zur Verfügung stehen, und arbeitet unter Bedingungen, die dem Biologen nicht zur Hand sind. Für den Chemiker stehen Körper, wie Kohlenoxyd, schweflige, salpetrige, Blausäure u. s. w. jenseits von Gut und Böse und üben einfach irgend welche Reaction aus, zersetzen oder verbinden. Für den Biologen sind diese Körper aber auch Gifte, welche das Leben des Protoplasmas bedrohen, und doch werden wir überlegen müssen, ob diese Körper nicht trotzdem im Organismus fundamentale Functionen aus- zuüben vermögen. Der Thierphysiologe hat dem Pflanzenphysiologen gegen- über in diesen Fragen einen kleinen Vorsprung, und deshalb möchte ich besonders darauf hinweisen, dass der Organismus thatsächlich eine ganze Reihe von solchen Körpern unschädlich zu machen oder sogar als Nähr- material zu verwerthen vermag, die bei irgend einer Anwendungsweise von aussen für denselben Organismus schwere Gifte sein können. Ja die Pflanze kann Gifte, welche, als solche von aussen auf sie einwirkend, tödtlich für- ihr Protoplasma sind, wie z. B. die Blausäure, in bestimmten Organen an- häufen, wie z. B. bei Pangium edule. Die Aufgabe des Organismus ist, sich potentielle Energie zu beschaffen, um seine Arbeit zu leisten. Aber um dieses zu können, muss er in vielen Fällen das gebotene Material auch entgiften, und dies leistet er durch Oxydationen und Reductionen, durch Synthesen, Polymerisationen und Condensationen. Dadurch können Körper, die, von aussen gebracht, Gifte sind, in statu nascenti sofort entgiftet und für den Aufbau verwerthet werden. Bei dem Aufbau des Protoplasmas wird aber die potentielle Energie in Form von so ungeheuer complicirten und labilen Molekeln aufgebaut, die Hemmung, welche das vorzeitige Einreissen verhindert, eine so labile, dass in der Explosivität dieser complexen organischen Molekel ein reicher Ersatz dafür gefunden wird, dass das Protoplasma unter den Bedingungen höherer Temperaturen, starker Säuren und Alkalien nicht existenzfähig ist. Indem das Protoplasma so labil aufgebaut wird, bedarf es zur Beseitigung der 46 FERDINAND HVUEPpPpE: Hemmung seiner potentiellen Energie nur geringer Energiezufuhr, die als quantitativ auslösender Reiz so gross sein muss, um diese Hemmung zu überwinden, eine Erscheinungsreihe, auf die ich in Aufnahme und weiterer Ausbildung einer Vorstellung von Pflüger auf der deutschen Naturforscher- Versammlung schon 1893 hingewiesen habe. Inzwischen sind aber durch Ostwald die Erscheinungen der Katalyse studirt worden, und hierbei handelt es sich darum, dass durch irgend eine Bewegungsübertragung ohne Energie- eintritt ein Vorgang eingeleitet wird, der spontan, aber dann langsam oder zu nicht gewollter Zeit eintreten kann, demnach durch den Katalysator nur beschleunigt wird. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Gruppen mag im einzelnen Falle recht schwer sein. Aber durch den so gereinigten und definirten Begriff der Katalyse als der Beschleunigung spontan möglicher Vorgänge wird die Verbindung gewonnen zu einer Auffassung, die John Fletcher schon 1837 äusserte, wenn er zwischen Eiweiss in „living and in dead cells“ unterschied. Pflüger fand diesen ganz vergessenen Gedanken selb- ständig 1875 wieder, und O. Löw hat ihn dahin präcisirt, dass actionsfähige Aldehydgruppen unbedingt zum Leben nöthig sind, und O. Löw und ich selbst haben später noch hinzugefügt, dass ausser der potentiellen Energie als Arbeitsvermögen im Sinne der anorganischen Naturvorgänge, die auch das todte Eiweiss bietet, im lebenden Eiweiss auch potentiell-kinetische Energie vorhanden sein muss durch Anwesenheit von nicht abgesättigten Aldehyd- und auf der anderen Seite von Cyan- oder Amidogruppen. Damit verstehen wir chemisch, dass das Eiweissmolekel durch diese Gruppen thätig ist und lebt, aber auch, da diese Gruppen unter bestimmten Bedingungen spontan auf einander zu wirken vermögen, inactiv werden und auf das Niveau todten Eiweisses herabsinken kann. Wenn das spontan möglich ist, so kann dieser Vorgang katalysatorisch beeinflusst, d. h. be- schleunigt werden. Damit dürfen wir wohl eine Vorstellung gewonnen haben, wie die potentielle Energie von todtem inactiven Eiweiss stets und nur durch Beseitigung der Hemmung und durch quantitativ verfolgbare Reize, die vom lebendigen activen Eiweiss aber auch durch Katalysatoren ausgelöst werden kann. Wir können also jetzt einmal ganz allgemein den labilen Aufbau von organischer Körpersubstanz beurtheilen, dann aber auch die besonderen Verhältnisse der lebenden Körpersubstanz in die Betrachtung und zum Theil schon in die Untersuchung ziehen, dass wir ermitteln, ob potentiell- kinetische Gruppen, wie Aldehyd-, Amido- oder Cyangruppen in eine Ver- bindung eintreten können oder in einer solehen vorhanden sind. Wenn man die ausserordentliche Vielheit der chemischen Körper in Betracht zieht, welche sich bei der Lichtsynthese aus Kohlendioxyd zu KOHLENSÄURE-ÄSSIMILATION. 47 bilden scheinen, so kann man zwei Ansichten haben. Einmal, dass von vorn herein ganz verschiedene Producte aus Kohlensäure gebildet werden. So haben Erlenmeyer die Ameisensäure, Liebig organische Säuren über- haupt, Bayer Formaldehyd und Winogradsky für die Chemosynthese sogar den Harnstoff als erste chemische Producte angesprochen. Wenn wir aber berücksichtigen, dass es im Grunde immer dieselbe schwer actionsfähige Kohlensäure ist, welche unter sehr ähnlichen Bedingungen zur Synthese reducirt werden muss und immer ein Kohlenhydrat als Assimi- lationsproduct auftritt, so liegt chemisch und biologisch eine andere Möglichkeit näher, nämlich dass das erste Product dasselbe ist und die Vielheit dadurch entsteht, dass dieser Körper secundär durch die weiteren Veränderungen, die er selbst erfährt, und dadurch, dass in verschiedenen Stadien seines Aufbaues andere Stoffe, z. B. verschiedene stickstoffhaltige, eingreifen können, die Vielgestaltigkeit: herbeiführt. Wenn wir uns unter Beachtung derartiger Gesichtspunkte die möglichen primären Prodücte der Kohlensäurezerlegung ansehen, so ist das einzige, das allen Bedingungen der Synthese entspricht, das Formaldehyd (H—COH). Formaldehyd als solches ist aber ein ausserordentlich heftiges Gift und ist auch unmittelbar nicht nachweisbar, sondern kann nur indirect durch das 0) Eintreten seiner Aldehydgruppe Lg erschlossen werden. Aber Form- aldehyd kann z.B. durch Sulfite entgiftet und zu einem Nährstoff werden. Z.B. ‚oe 0 OH HERR Falle EC Wine H SO,Na NS0,Na formaldehydschweflig- saures Natrium Formaldehyd kann aber auch sofort polymerisirt werden, ehe es Gift- wirkung auszuüben vermag, und als Zucker zu Nährstoff werden; es con- densirt sich so leicht, dass es sich gar nicht anhäufen kann, was seine Entdeckung so verzögerte. Der moderne Chemiker vergisst eben nicht, dass der Ausdruck Polymerisation nur den Schein einer Multiplication vor- täuscht, dass aber in Wirklichkeit dabei gewaltige Umsetzungen eintreten. Zucker, z. B. Fruchtzucker, ist eben nicht 6-.H—COH, sondern CH,OH— (CHOH),—CO—CH,OH, und die Erfahrung lehrt, dass die Aldehydgruppe 0 Ag ebenso wie die Ketongruppe CO für die Nährfähigkeit ge- eignet ist. Dagegen können wir aus allen Untersuchungen über Ernährung der niedrigsten Örganismen schliessen, dass die Carboxylgruppe —COOR für 48 FERDINAND HUEPPE: Ernährung und Aufbau direct ungeeignet ist. Oxalsäure und Ameisensäure müssen deshalb erst redueirt werden zu Formaldehyd, z. B. Oxalsäure: COOH-COOH +H, = H-COH +C0, + H,0. Löw und ich selbst. haben weiter gezeigt, dass auch die anderen für die Ernährung von Bakterien und Pilzen benutzten Körper, wie Asparagin, Weinsäure u. s. w. sowohl für das anaörobe wie für das aörobe Leben stets davon abhängig sind, dass in ihnen durch einfache Umlagerung oder Re- duction, eventuell auch Oxydation die Formaldehydgruppe gebildet werden kann, so dass thatsächlich biologisch ein und dieselbe Möglichkeit umfassend erwiesen ist, die chemisch allein realisirt ist, nämlich dass das Formal- dehyd als Reductionsproduct der Kohlensäure in die Synthese kohlenstoff- haltiger organischer Körper eintreten kann. Bei der ungeheueren Menge von organischen Körpern und uns viel- leicht noch unbekannter Reactionen will ich mich a priori nicht gegen andere Möglichkeiten wehren und später einige andeuten. Aber wenn man auf so festem Boden steht, hat man wohl ein Recht, einer solchen Möglich- keit zunächst den Vorzug zu geben. Bekanntlich hat Butlerow schon 1861 durch Condensation von Trioxy- methylen oder Metaformaldehyd (CH,0), eine zuckerartige Verbindung Methylenitan erhalten. Nachdem dann A. W. Hofmann das Formaldehyd selbst entdeckt hatte, gelang es O. Löw 1885 durch Behandeln des Formal- dehyds mit Kalkmilch die «- Akrose = [d + /] Fructose darzustellen, die in E. Fischer’s Händen der Ausgangspunkt der berühmten Kohlenhydrat- synthesen wurde. Es ist wohl nicht schwierig, sich vorzustellen, dass im thierischen Körper mit seiner ungeheueren Menge von labilen Atomgruppen das auch möglich ist, was in der Retorte die Kalkmilch vermag. Tollens ist mit demselben Formaldehyd — wobei er dasselbe als zur Zeit noch hypothetisches Methylenglykol on in die Reaction ein- führte — die Herstellung mehrwerthiger Alkohole gelungen, und Piloty hat darauf hingewiesen, dass das aus dem Formaldehyd ableitbare Dioxy- aceton ebenfalls zur Fructose führen kann. 0 CH,OH-CHOH-C{ + CH,OH-CO-CH,0H Glycerinaldehyd H Dioxyaceton = CH,OH.(CHOH),.00.CH,OH. Wir kommen demnach jetzt von demselben Formaldehyd als erstem Reductionsproduct der Kohlensäure auf verschiedenen Wegen zu ähnlichen complieirten organischen Körpern, die also unter verschiedenen Bedingungen KOHLENSÄURE-AÄSSIMILATION. 49 möglich sind, was auf jeden Fall mit Rücksicht auf die Verschiedenartigkeit des Protoplasmas der einzelnen Gattungen ‘und Arten bedeutungsvoll ist. Der Chemiker dürfte bei Beachtung dieser Erfahrungen geneigt sein, sich der von A. Bayer 1870 geäusserten Ansicht anzuschliessen, nach der man von Kohlendioxyd zum Ameisensäurealdehyd kommen könnte: 00, 0.00 II. CO+H, = H.COH. Das intermediäre Auftreten eines Giftes, von Kohlenoxyd, brauchte uns nicht zu stören, weil die Giftwirkung durch die Reduction sofort beseitigt würde, also gar nicht in Wirkung treten könnte. Dagegen mussten die Botaniker an der Einführung des Wasserstoffes Anstoss nehmen, weil für dessen auch nur vorübergehende Bildung nichts zu sprechen schien. Aber auch darüber könnte man vielleicht wegkommen. Im Organismus ist stets Wasser vorhanden, das bei Luftabschluss, wie er im Gewebe möglich ist, nach Nencki mit seinem Hydroxyl (H,O = HO + H)oxydiren kann, während Wasserstoff als solcher auftreten oder wasserstoffreichere Reductionsproducte bilden könnte, da im Organismus Oxydations- und Reductionsprocesse neben einander verlaufen. Aber diese Bedingungen sind bei Annahme der Vor- stellung von Bayer nicht gegeben. Möglich wäre auch, dass bei An- wesenheit von Ammoniak oder Ammoniumsalzen- sich Wasserstoff bildet, NH, = NH, +H, weil die an sich nicht existenzfähige Amido- oder Amino- gruppe sofort in Synthese zur Bildung von Condensationsproducten Ver- wendung fände, wie in den Fettsäuren z. B. ein Wasserstoff des Kohlen- wasserstoffradicales zur Bildung von Aminosäuren durch NH, ausgetauscht werden kann. Die Bayer’sche Hypothese erklärt scheinbar allein die Einführung einer so gewaltigen Energie, wie sie die Sonnenstrahlen zur Verfügung stellen, und sucht dies in Parallele zu bringen mit der hohen Temperatur von 1300° C., die zur Dissociation von CO, erforderlich sind. Sie geht ebenfalls von einer Thatsache aus, wenn sie von Kohlendioxyd ausgeht, welches die Pflanze mit der Luft aufnimmt. Aber das alles sind Dinge, die ausserhalb des Protoplasmas vor sich gehen. Die Assimilation erfolgt aber im Proto- plasma. Im Protoplasma ist aber CO, nicht existenzfähig, sondern wird, wie wir bei der Athmung sehen, direct entfernt. Das Protoplasma ist auf gasförmiges CO, gar nicht eingerichtet, es würde dessen Spannungen er- liegen. Aus CO, muss in der Pflanze erst etwas dort Existenzfähiges, das Protoplasma nicht direct Zerstörendes werden, d. h. es muss durch Um- setzungen mit Basen oder Wasser zu Carbonaten oder — wie ich der Ein- fachheit annehmen will — zu Hydrat, H,CO,, werden. Archiv f. A.u. Ph. 1905. Physiol, Abthlg. Suppl. 2 50 FERDINAND HUueEppE: Die nach Kasso witz’ Ausdruck katabolische Zerlegung des CO, ausser- halb des Protoplasma, von der Bayer ausging, existirt nicht, sondern die Assimilation oder Reduction erfolgt in der Pflanze ebenso wie im Thiere metabolisch, wie der in England schon längst geprägte Ausdruck lautet, eine fundamentale Erhebung, deren erste Feststellung wir Pflüger ver- danken. Die Pflanze nimmt also wohl CO, aus der Luft auf, aber sie macht daraus erst durch einfache Umsetzung H,CO,, und das haben die Botaniker früher instinetiv richtig erkannt, wenn sie zunächst mit dieser Annahme auch nun die Einführung von Wasserstoff umgehen wollten. Die thatsächlich metabolische Verarbeitung der Kohlensäure im Protoplasma bezw. im Chromophylikorn zeigt aber, dass diese Berichtigung der Bayer’- schen Hypothese tiefer begründet ist und zwar chemisch und biologisch: H,C0, = H-COH + 0,. Ist Wasserstoff irgendwie vorhanden, so würde man bei Anwesenheit von Kohlendioxyd aber selbst katabolisch zu einer anderen Reduction der- selben kommen, nämlich zur Ameisensäure: I. CO, + H, = H-COOH. Aus dieser könnte man wieder durch weitere Einwirkung von Wasser- stoff katabolisch zu Formaldehyd kommen: II. H-COOH + H, = H-COH + H,0. Aber man könnte auch nach einem von König in Pflanzen als vor- kommend nachgewiesenen Vorgange durch eine metabolisch mögliche Um- lagerung über Glyoxylsäure, also ohne Wasserstoffreduction zu Formaldehyd gelangen: I. 2H-COOH COH.COOH + H,0. II. COH-COOH = H.COH + CO,. Eine Reduction von Kohlendioxyd durch Wasserstoff ist demnach in der Pflanze sehr unwahrscheinlich. Doch leugne ich die Möglichkeit für andere biologische Processe nicht und bin zur Zeit mit derartigen Ver- suchen beschäftigt, durch Wasserstoff eine Assimilation von CO, und Carbo- naten zu erzielen. Da CO, im Organismus erst umgesetzt werden muss: Ö H OH Ö x 0 _ 0X oder eventuell = 0OH—0X (0) H OH OH so kommt man zu einbasischen organischen Säuren, zu organischen Carbonsäuren oder man könnte im letzten Falle das Kohlensäurehydrat als Oxy-Ameisen- säure auffassen. In diesen Fällen, die durch die Reactionen der Salze als ’ KOHLENSÄURE-ÄSSIMILATION. Si richtig erwiesen sind, wird die überflüssige Annahme eines Eintrittes von Wasserstoff vermieden und durch einfache Atomumlagerungen ersetzt, die - metabolisch, d. h. im Protoplasma selbst oder im Chromophylikorn möglich und nachgewiesen sind. Der „Contact mit dem lebenden Assimilations- protoplasma“, wie sich Bokorny ausdrückte, wirkt dann katalysatorisch beschleunigend, vielleicht bei Chlorophyll auch noch, nach Wiesner, der durch die Sonnenstrahlung bewirkte reichliche Zufluss der Mineralstoffe bei der Transpiration. Es wurde nämlich 1876 von Wiesner nachgewiesen, dass die Transpiration durch das Chlorophyll im Lichte eine enorme Steigerung erfährt, und Brown und Escombe fanden 1899, dass bei der Sonnenblume 28 Proc. von der Gesammtenergie des auf die Blätter auffallenden Sonnenlichtes absorbirt und verwerthet wurden, von denen nur 0.5 Proc. für die Assimilation verbraucht wurden, während 27 5 Proc.der Transpiration dienten. Bei den Chromophylien der Wasserpflanzen kommt ferner in Betracht, dass das Wasser selbst enorme Mengen der Sonnenenergie absorbirt und den Pflanzen entzieht. Man erkennt daraus, dass der der CO,-Assimilation oder -Zerlesung dienende Theil der Sonnenenergie früher stark überschätzt wurde, dass das Chlorophyll und die Chromophylle noch wichtige andere Functionen zu erfüllen haben, man weiss, dass farbloses Protoplasma durch die Sonnen- strahlen direet getödtet wird, während nach meinen Ermittelungen das gegen Sonnenstrahlen geschützte farblose Protoplasma auch allein im Stande ist, CO,-Assimilation zu bewirken. Nachdem ich dies vorausgeschickt habe, kann ich jetzt den von mir ermittelten Fall der chemosynthetischen Assimilation von Kohlensäure bei der Nitrification noch einmal kurz besprechen, weil die das erste Mal von mir gebrachten Formeln, die nur eine kurze Orientirung sein sollten, von Einzelnen missverstanden wurden, trotzdem ich mich durch den Wort- laut gegen solche Missverständnisse im Voraus gesichert hatte. Es macht dabei übrigens keinen Unterschied, ob die Kohlensäure frei als Anhydrit vorhanden ist oder dem Ammoniumcarbonat entnommen wird, ob das Ammoniak im kohlensauren Ammonium vorhanden ist oder von einem anderen Ammoniumsalze stammt. 12.7760, — H-COHrFF®.: I. I 6H-COH = C,H ,0.- 20.4.0, —H,07—6,H 0% Hiermit habe ich mich 1887 bereits eindeutig auf den metabolischen Standpunkt gestellt und versuchte und versuche auch jetzt die Thatsache zu erklären, dass ich in meinen Versuchen als Kohlenstoffquelle nur den Kohlenstoff der Kohlensäure (als Carbonat oder frei) und als Reductions- product einen der Cellulose ähnlichen, mikrochemisch nachweisbaren Körper 4* 52 FERDINAND HUEPPE: hatte. Im Prineip verläuft diese Phase bei Photosynthese und Chemo- synthese gleich und darf nicht ignorirt werden. Die Annahme eines Ein- trittes von Wasserstoff für die Reduction kann demnach bei I. entbehrt werden. 1. NH, +20, = HNO, + H,0. In. a) 2NH, +30, = 2HNO, + 2H,0. ns HNO, +0 = HNO. Dieses sind die beiden Fälle, die bei der Nitrification als Energiequelle in Betracht kommen können. Damit wird eine wichtige biologische That- sache mit der physikalisch-chemischen Ermittelung von Landolt verknüpft, dass Ammoniak durch Platinschwarz in Salpetersäure übergeführt wird. Aber das kommt nicht allein in Betracht. Ich habe die Gleichung Ili1. damals bereits ausdrücklich erwähnt, um auch zu zeigen, „wie sich nicht nur die Synthese von Kohlehydraten aus dem Kohlenstoff der Kohlensäure, sondern auch die Fähigkeit der Sauerstoffübertragung, die sogenannte Oxy- dationsgährung, gleichfalls als eine einfache Anpassungserscheinung der Er- nährung darstellt“. Es ist geradezu erstaunlich, wie Winogradsky hieraus mir das directe Gegentheil der thatsächlichen Erfahrung, nämlich dass die Nitrification reichlich Sauerstoff erfordert, zuschreiben und die Behauptung unterschieben konnte, dass damit die Nitrification bei Sauerstoffabschluss vor sich gehen müsse. In Wirklichkeit handelt es sich um gar nichts anderes, als dass bei dem Processe der Nitrification unbedingt Sauer- stoff in statu nascenti entstehen muss (l.), der im Protoplasma und durch die Protoplasmathätigkeit frei geworden, dem Protoplasma auch sofort, ehe er nach aussen frei austritt, zur Verfügung steht. Ich erkläre aus dieser wichtigen Thatsache gar nichts anderes als die Sauerstoffübertragung. Das aber ist eine Sache, die ganz eindeutig durch die späteren Arbeiten von Pfeffer und Ewart ergänzt wurde. Ich glaube auch, dass man nur auf diese Weise zu einem Verständnisse der vom Gesammtleben der Zelle ab- trennbaren Function der. Sauerstoffübertragung und damit zu dem Begriffe der Oxydase kommen kann. Hätte Winogradsky seinen eigenen Versuch nur bis zu Ende durchgedacht, so würde er aus den hierzu erforderlichen Gleichungen haben erkennen müssen, dass auch bei. der Zweitheilung des Vorganges (I. und III, 2a und b) dieses Stadium eintreten muss. Nur da- durch wird es verständlich, dass die Intensität der Nitrification geradezu in einem Missverhältnisse steht zur Vegetation der nitrifieirenden Bakterien. Geht man von der ursprünglichen Auffassung von Bayer aus, so müsste man bei Gleichung I als Zwischenstadium die Reduction mit Wasser- stoff annehmen. Die Bildung von freiem Sauerstoff wird dadurch nicht alterirt, darf also unter keinen Umständen übersehen werden, ebenso wenig KOHLENSÄURE-ASSIMILATION. 53 wie die Bildung von Kohlehydraten. Woher könnte aber bei der Nitri- fication Wasserstoff kommen? Löw meinte, „dass bei unvollständiger Oxy- dation des Ammoniaks Wasserstoff disponibel wird, der zur Reduction der Kohlensäure dient: I. 2NH, +20, = 2HNO, +4H. I. CO, +4H = H,0 + CH,0.“ Da der Process aber nur bei ungehindertem Zutritt von Sauerstoff vor sich geht und deshalb stets vollständige Oxydation möglich ist, muss man in Bezug auf den Wasserstoff eher umgekehrt an eine Feststellung von Hoppe-Seyler denken, nach der nascirender Wasserstoff in Folge seiner Affinität zu Sauerstoff bei Anwesenheit von indifferentem Luft-Sauerstoff dessen Molekel zerreisst, activirt und damit Ammoniak zu salpetriger Säure oxydirt: 220. 1.0.20, TUNH, #0, "HNO, + H,O: Hier handelt es sich aber um etwas ganz anderes, da der Wasserstoff irgendwie gebildet und irgendwo hergenommen werden muss, um Ammoniak zu salpetriger Säure zu oxydiren, während nach Löw das Ammoniak selbst den Wasserstoff liefern müsste. Bei der Zweitheilung der ganzen Nitrification müsste man dann aber noch weiter folgende Möglichkeit annehmen: HNO, + H,O = HNO, +H,, weil für diese Phase der Nitrification, d. h. für die Oxydation von Nitrit zu Nitrat für die Reduetion von CO, nur salpetrige Säure als Quelle für den Wasserstoff in Betracht kommen könnte Mit Rücksicht auf die ge- waltigen Oxydationswirkungen der salpetrigen und Salpeter-Säure scheint mir eine solche Entstehung von Wasserstoff aus Ammoniak und salpetriger Säure wegen der sofortigen Oxydation derselben, die eine andere Wirkung derselben kaum zulassen dürfte, äusserst unwahrscheinlich. Bei meiner oben dargelegten biologischen Auffassung der Kohlensäure- assimilation, die mit den chemisch zulässigen Auffassungen über die Constitu- tion der Kohlensäure in vollem Einklange steht, ist die Annahme einer Reduc- tion durch Wasserstoff auch vollständig überflüssig. Sehlösing und Müntz, welche das Verdienst haben, die Nitrification im Boden als Lebensvorgang erkannt zu haben, konnten sich nicht erklären, woher chlorophylifreie Mikrobien den Kohlenstoff nehmen, da CO, aus- geschlossen sei. Sie bemühten sich deshalb einen überall vorhandenen nähr- fähigen organischen Körper nachzuweisen und ergänzten die Vorstellung unserer Bierdichter, nach der die ganze Natur trinkt, durch die Annahme und den angeblichen Nachweis, dass überall Alkohol zur Verfügung stehe. Das war durch meinen Nachweis 1887 als überflüssig und unrichtig er- 54 FERDINAND HUEPPE: wiesen, aber erst 1890 gab Müntz zu, dass die nitrificirenden Mikrobien Teetotaler sind und sich des Alkohols enthalten. Die nitrifieirenden Mikrobien können sich als prototrophe Organismen an den Umsetzungen der Erdrinde betheiligen. Aber man darf sowohl für frühere Perioden als für die Gegenwart diesen Einfluss gegenüber dem überwältigenden Antheil der grünen Pflanzen vermuthlich wohl nur mässig einschätzen. Nachdem 1903 Nathanson im Meere Bakterien ermittelt hatte, welche aus Natriumthiosulfat Schwefel abspalten, hat Beijerinck 1904 mitgetheilt, dass er im Schlamme von Süsswasser aus Gräben und Canälen einen „Thio- bacillus thioparus“ gezüchtet hat, der aus verschiedenen Schwefelverbindungen, aus Natriumthiosulfat, Tetrathionat, Ammoniumrhodanat und Schwefel- wasserstoff Schwefel freimacht. Dieser Process ist, wie der der Oxydation von Ammoniak und salpetriger Säure bei der Nitrification, exothermisch und soll nun nach Nathanson und Beijerinck dazu dienen, die Kohlen- säure von Natriumbicarbonat zu reduciren. Beijerinck sagt darüber wörtlich: „dass dieser Erreger thatsächlich für die Kohlensäurereduction des Natriumbicarbonates, d. h. also für die Bildung der organischen Stoffe der Bakterienkörper, verwendet wird, ist unzweifelhaft.“ Angaben, wie er sich gegen Verunreinigungen geschützt hat, giebt er nicht, so dass man nur aus der meiner Ansicht nach überscharfen Kritik der Versuche von Winogradsky schliessen darf, dass er sich gegen die kohlenstoffhaltigen organischen Stoffe des destillirten Wassers und der Luft geschützt hat. Irgend welche Vorstellung, wie bei diesem Vorgange die Reduction verlaufen könnte oder ob er irgend ein Product ermittelt habe, giebt er nicht. Auch schriftlich äusserte er sich mir gegenüber nicht, als ich ihm meine Ansicht mit einer Bitte um eine Gegenäusserung mittheilte. Ich muss deshalb versuchen, den Vorgang auf Grund der Thatsachen, dass Kohlensäure verbraucht und Schwefelsäure gebildet wird, verständlich zu machen: I. 2NaHCO, +8 = H-COH + SO, + Na,C0, = H-COH+Na,S0, + CO,. II. Na,SO, + 0 = Na,80,. Es ergiebt sich also, dass die sich intermediär bildende schweflige Säure, deren Giftwirkung durch die sofortige Umsetzung paralysirt werden dürfte, die Ursache der Reduction sein muss, und dass wir ebenso wie bei der Nitrification auf dasselbe Ausgangsmaterial, das Formaldehyd, verwiesen werden. Die von Nathanson uud Beijerinck erhobene Thatsache bietet also ein mehrfaches Interesse. Sie stellt einmal die erste principielle Erweiterung der von mir erhobenen Thatsache der chemosynthetischen Assimilation der KOHLENSÄURE-ASSIMILATION. 2) Kohlensäure dar. Dann ergiebt sich bei einem Durchdenken der Beob- achtungen, dass sie im vollen Einklange mit den zur Zeit theoretisch mög- lichen Vorstellungen stehen und demnach zu derselben Gruppe von Er- scheinungen gehören. Wir sind demnach in der Lage, mit einer fast an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit die Ansicht aufstellen zu können, dass für die Photosynthese und Chemosynthese die Reduction von Kohlen- säure denselben Weg geht. Dann aber ist die Arbeit von Beijerinck noch deshalb interessant, weil sie uns jetzt die Möglichkeit giebt, die Verhältnisse bei den Beggiatoen auf dasselbe Phänomen zurückzuführen, was bisher unmöglich war. Da bei den Beggiatoen die Oxydation des Schwefelwasserstoffes zu Schwefel im Innern des Protoplasmas, also ganz sicher durch die Lebensthätigkeit meta- bolisch erfolgt, so muss auch hier die Bildung von Formaldehyd in oben angegebener Weise möglich sein. Da die Purpurbakterien mit Hülfe ihres Chromophylis dasselbe im Ultraroth machen, so ist es ganz eindeutig, dass die Kohlensäurereduction bei den Schwefelbakterien photosynthetisch und chemosynthetisch in gleicher Weise verlaufen kann, und da die Purpur- bakterien im geringeren Maasse dieselbe Chromophyllfunction im weissen Lichte ausüben, so ergiebt sich, dass die Kohlensäureassimilation thatsäch- lieh Protoplasmasynthese ist und dass die Chromophylle eine besondere Entwickelung und Anpassung zur Sensibilisirung oder Transformation dieser Functionen durch das Licht darstellen. Damit hoffe ich festgestellt zu haben, dass diese scheinbar so hetero- genen Processe auf eine einheitliche chemische und biologische Form zurück- geführt werden können. Als chemische Energiequellen sind bis jetzt nachgewiesen die Oxydation von Ammoniumverbindungen und von Schwefelverbindungen. Von Wino- gradsky wurde auch behauptet, dass Eisenverbindungen dazu tauglich seien. Nun hatte schon Zopf nachgewiesen, dass Eisenbakterien während des Lebens Ferriverbindungen in ihren Scheiden ablagern, und Winogradsky hat behauptet, dass diese Bakterien, indem sie Ferrosalze zu Ferrisalzen, speciell Ferrobicarbonat zu Ferrihydroxyd oxydiren, die Energie für ihre Lebensthätigkeit gewinnen. Doch wurde die Sache von Molisch widerlegt durch den Nachweis, dass diese Bakterien in eisenfreien Lösungen ebenso gut wachsen und dass die Einlagerung der Ferrisalze nur in den Scheiden erfolgt, die das Eisen wie ein Filter zurückhalten, und dass die Oxydation von Eisen- und Manganverbindungen in den Scheiden, aber nicht in dem Protoplasma erfolgen kann. Auch Beijerinck konnte die Oxydation von Ferroverbindungen nicht als Energiequelle verwerthen, wie er mir kürzlich mittheilte. Ueber etwaige Beziehungen zur Kohlensäure hat keiner dieser Forseher eine Beobachtung oder Aeusserung gemacht. 56 FERDINAND HUEPPE: Ob andere chemische Energiequellen für die Reduction von Kohlen- säure existiren, ist zur Zeit noch unbekannt. Die Kohlensäure kann bei den Ohemosynthesen als freies Kohlendioxyd verwerthet werden, ‚ferner sicher in der lockeren Verbindung mit Ammoniak im Ammoniumcarbonat, sicher für andere Fälle in Form von Alkalibikar- bonaten, während die Carbonate der Erdalkalien, wenigstens soweit ich mir ein Urtheil gestatten darf, dazu ungeeignet zu sein scheinen. In meinen Versuchen wenigstens hatten die Carbonate der Erdalkalien nur den bei Gährungsversuchen längst erkannten Werth, dass sie Säuren binden und dadurch die Culturen begünstigen. Ich muss jetzt noch kurz auf die Verbindungen mit Stickstoffsalzen eingehen. Winogradsky meinte, dass bei Anwesenheit von Ammoniak und Kohlensäure primär ein Amid entstehen müsse, aus dem die Leibes- substanz der Bakterien sich bilde. Dass unter allen Umständen ein Kohlen- hydrat aus der Assimilation hervorgeht, hat er vollständig ignorirt. Da aber diese letztere Synthese gerade das ist, was die Botaniker als Assimilation und als das wahre Wesen der Chlorophyliwirkung betrachteten, so habe ich gerade diesen Punkt speciell hervorgehoben und deshalb von „Chlorophylil- wirkung ohne Chlorophyll“ gesprochen. Winogradsky’s Hinweis, dass man auch das Ammoniak berück- sichtigen müsse, hätte bei richtiger Deutung einen Fortschritt über mich hinaus darstellen können. Ich hatte mich darüber nicht geäussert, weil ich damals nicht erkannte und auch heute noch nicht weiss, was für ein N-haltiger oder eiweissartiger Körper in den nitrificirenden Bakterien sich bildet. Aber auch Winogradsky weiss davon ebenso wenig, wenigstens hat er nie etwas darüber mitgetheilt. Er meinte trotzdem, man müsse zu einem Amid und zwar zu Carbamid, Harnstoff, CO Verhältnissen zu bilden; vielleicht wird man aber doch auf Grund ver- ein wenn auch sehr reservirtes Urtheil zu begründen. Von Tagvögeln untersuchte ich Mäusebussard, Haushuhn und Taube, Raubvögel stellte in sehr entgegenkommender Weise Herr Dr. Heck, Fig. 3. Fig. 4. Fig. 5. Fig. 6. Director des Berliner Zoologischen Gartens, zur Verfügung, dem hierfür Sehr geeignet für die Untersuchung erwies sich der Mäusebussard, und da mir von dieser Art eine ganze Anzahl Exemplare zur Verfügung standen, studiren können. Die Figg. 3 bis 7 veranschaulichen schematisch den Stromablauf, wie er sich nach Beobachtungen am Galvanometer darstellt. gleichender Versuche an einem grossen Material den Versuch wagen dürfen, von Nachtvögeln Schleiereule, Sumpfohreule, Steinkauz und Waldkauz. Die N | il = i 4 4 N ‚III Fig. 7. meinen aufrichtigen Dank auszusprechen mir eine angenehme Pflicht ist. so habe ich hier die Belichtungsreaction der Netzhaut am eingehendsten Fig. 3 zeigt die Verhältnisse, wie sie in der Regel bei den ersten 12 bis ELEKTROMOTOR. VERHALTEN DER NETZHAUT BEI WARMBLÜTERN. 161 20 Netzhautreizungen unmittelbar nach der Operation zur Beobachtung kommen. Man sieht, dass bei Belichtung eine negative Schwankung des Dunkelstromes mit kleinem positivem Vorschlag eintritt und dass bei Ver- dunkelung eine abermalige negative Schwankung mit positivem Vorschlag . und dann Rückkehr zur Dunkelstromgrösse erfolgt. Die negative Schwankung bei Verdunkelung hatte in der Mehrzahl der Versuche ganz dieselbe Grösse wie die auf Belichtung einsetzende Stromschwankung. Wenn man so will, kann man, einem vielfach geübten Brauche folgend, die Rückkehr zum Werth des ursprünglichen Dunkelstromes als eine positive Schwankung be- zeichnen, indessen ist hierbei im Auge zu behalten, dass diese nicht über den Werth des Dunkelstromes hinausführt. Ob unter diesen Umständen die bei den meisten Autoren gebräuchliche Bezeichnung „positive Schwankung“ sinngemäss ist, scheint mir allerdings sehr fraglich. Belichtet man die Netzhaut längere Zeit (10 Secunden und mehr), so sieht man auf die erste negative Schwankung, nach deren Ablauf die Galvanometernadel eine Zeitlang die erreichte Einstellung beibehält, eine erneute Abnahme der Stromstärke folgen, welche sich in ganz ähnlichem zeitlichem Ablauf und Umfang vollzieht, wie die erste Schwankung (Fig. 4). Verdunkelt man dann, so tritt die typische negative Verdunkelungs- schwankung, eventuell mit positivem Vorschlag, und darauf die Rückkehr der Nadel zum Dunkelstromwerth ein. Die doppelte Schwankung bei länger dauernder Reizung haben auch Himstedt und Nagel (13) am Auge des Huhnes festgestellt, bei dem auch ich die gleichen Verhältnisse wiederfand. Bald nach Beginn der Versuche ändert sich der Typus des Strom- ablaufes. Zuerst bleibt der positive Vorschlag der negativen Verdunkelungs- schwankung aus (Fig. 5); dann wird die negative Schwankung auf Licht- entziehung immer kleiner und fällt schliesslich ganz fort; der Strom kehrt also bei der Verdunkelung einfach zu dem Werth zurück, welchen er vor der Reizung hatte (Fig. 6); hat man dann mehrere Stunden lang die Reiz- versuche fortgesetzt, so kann auch der positive Vorschlag der negativen Belichtungsschwankung ausbleiben, und die ganze Erscheinung besteht dann, wie Fig. 7 zeigt, nur in einfacher negativer Schwankung bei Belichtung, Rückkehr zur früheren Stromgrösse bei Verdunkelung. Ist dieses letzte Stadium erreicht, so vollziehen sich die Ausschläge der Galvanometernadel meistens träger und werden gleichzeitig kleiner und kleiner, ein Zeichen, dass die Reactionsfähigkeit des Organes allmählich erlischt; eine Erholung nach längerem Aussetzen der Reizungen habe ich dann nie mehr beob- achtet. Registrirt man photographisch die Capillarelektrometerausschläge, welche auf Lichtreizung der Netzhaut erfolgen, so zeigt sich, dass die erhaltenen Curven von dem aus den Galvanometerbeobachtungen abgeleiteten Bilde in Archiv f. A. u. Ph. 1805. Physiol. Abthlg. Suppl. 11 162 Hans Piper: demselben Sinne, wenn auch nicht in gleichem Maasse, abweichen, wie es bei der Aufzeichnung der elektromotorischen Vorgänge im Froschauge der Fall war. Nach einem Stadium der Latenz, dessen nähere Besprechung unten folgen soll, fällt die elektromotorische Kraft schnell bis zu einem Minimum, welches nach durchschnittlich !/, bis ?/, Secunde erreicht ist. Für die Registrirung des sehr kleinen positiven Vorschlages vor der nega- tiven Belichtungsschwankung war das Capillarelektrometer zu unempündlich, und ich glaube auch nicht, dass sich die Empfindlichkeit bis zur Reaction auf so kleine Aenderungen der elektromotorischen Kraft treiben lässt. Nach der negativen Schwankung steigt die elektromotorische Kraft ein wenig wieder an, und dieses Factum liess sich am Bussardauge ebenso wenig feststellen, wie die analoge Erscheinung am Froschauge; bei letzterem war allerdings die Stromriehtung der photoelektrischen Reaction umgekehrt, so dass hier positive Schwankung mit unmittelbar folgendem, geringem Wieder- absinken des Stromwerthes die Lichtreaction kennzeichnete. Im Bussard- auge hält sich während der Dauer der Belichtung nach der ersten nega- tiven Schwankung und dem geringen Rückschlag derselben die elektro- motorische Kraft auf einem ziemlich constanten Niveau und scheint den Anweisungen des Capillarelektrometers zu Folge bei Verdunkelung langsam zu dem Werth zurück zu kehren, den sie vor der Reizung hatte. Es ist mir trotz zahlreicher Versuche nicht gelungen, eine deutliche negative Ver- dunkelungsschwankung, so wie sie das Galvanometer nachwies, mit dem Capillarelektrometer zu registriren. Dass diese in den Versuchen that- sächlich fehlte, ist wohl nicht anzunehmen; sie dürfte wohl so schwach gewesen sein, dass die Empfindlichkeit des Capillarelektrometers zur Regi- strirung nicht genügte. Da, wie gesagt, auch die sehr kleinen positiven Belichtungs- und Verdunkelungsvorschläge vor der eigentlichen Reaction mit diesem Instrument nicht verzeichnet wurden, so habe ich die Correetions- rechnung der Capillarelektrometereurven als werthlos erachtet und unter- lassen und diese Methode in erster Linie zur exacten Ausmessung der Latenz zwischen Reiz und Reaction ausgenutzt. Und in der That ist es von Interesse, gerade diesem Punkte nachzu- gehen und an der Hand von Capillarelektrometercurven die Latenz der Belicktungsreaction unter Umständen, die vermuthlich nicht allzusehr von der Norm abweichen, und unter stark abnormalen Bedingungen des Präparates zu beachten. Die Latenzzeit ändert sich nämlich im Laufe des Versuches in sehr erheblichem Maasse, und zwar wird sie immer länger. Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, dass die hierin sich documen- tirende zunehmende Trägheit der Netzhautreaction auf die fortschreitende Schädigung des freigelegten Auges durch Austrocknung, unvermeidliche Quetschung, Ernährungsstörungen durch Ciliargefässdurchtrennungen, Ab- ELEKTROMOTOR. VERHALTEN DER NETZHAUT BEI WARMBLÜTERN. 163 kühlung u. s. w. zurückzuführen ist. Die kürzeste in meinen Versuchen registrirte Latenz beträgt 0-02 Secunden, die längste ungefähr das 15fache nämlich 0-357 Secunden. Die fortschreitende Ausdehnung des Intervalles zwischen Reiz und Reaction wird durch die Zahlenreihe der Tabelle I ge- kennzeichnet. Es sind die Latenzzeiten angegeben, welche in auf einander folgenden Reizversuchen an ein und demselben Thiere gefunden wurden. Zwischen je zwei Registrirungen vergingen (durch Entwickeln und Neu- aufspannen des photographischen Papieres u. dgl.) etwa 15 Minuten, zwischen den beiden letzten Aufnahmen 20 Minuten. Tabelle I. Zeit der Messung Latenz Etwa 15 Minuten nach der Operation 0024 Secunden 830 3 es »> 0.036 ER} 45 ss PR ee} „ 0:071 „ LE 65 ’ Er) er) ” 0:143 Lässt schon die Zunahme der Latenz mit der Dauer des Versuches die Annahme sehr wahrscheinlich werden, dass es sich um ein Symptom der fortschreitenden Ermüdung und des allmählichen Rückganges der Reactionspräcision und der Leistungsfähigkeit der Netzhaut handelt, so wird dies fast zur Gewissheit durch die Thatsache, dass man durch einen die Ernährung des Organes stark schädigenden Eingriff, wie es die Enucleation des Bulbus ist, eine erhebliche Verlängerung der Latenz willkürlich herbei- führen kann. Die Messung der Latenz an einem in situ befindlichen Bussardauge ergab 0-06 Secunden, nach der Enucleation betrug sie mehr als das doppelte, nämlich 0-14 Secunden. Das Auge blieb noch 10 Minuten lang reactionsfähig, doch wurden die Stromschwankungen bis zum Erlöschen immer kleiner und träger ablaufend. Immerhin ist die Ueberlebenskraft der Netzhaut des enucleirten Auges bemerkenswerth, und Kühne und Steiner (14 und 15) machen mit Recht darauf aufmerksam, dass wir die photoelek- trischen Vorgänge nach allen sonstigen Erfahrungen über die Ueberlebungs- kraft der Ganglienzellen nicht auf diese eigentlich nervösen Gebilde der Netzhaut, sondern mit weit grösserer Wahrscheinlichkeit auf die Sinnes- epithelien, die Stäbchen und Zapfen, beziehen müssen. Nicht nur die Latenzzeit nimmt im Laufe der Versuche continuirlich zu, sondern auch der Ablauf der folgenden Stromschwankung erfährt Ver- änderungen. Der Abfall der elektromotorischen Kraft bei Belichtung, welcher sich in den ersten Versuchen relativ schnell vollzog, wird in dem- selben Verhältniss träger, in dem die Latenzzeit sich auszieht. Der Minimalwerth der Latenzzeit, welchen ich bei den Messungen am Bussardauge fand — 0-02 Seeunden —, dürfte wohl in grösster An- 11* 164 Hans Piper: näherung den normalen Verhältnissen entsprechen. Vergleicht man diesen Werth mit den am Froschauge gefundenen Reactionszeiten, so zeigt sich, dass die letzteren durchschnittlich um das Zehnfache die Latenz des Vogel- auges an Ausdehnung überragen. Gotch folgert aus den Latenzbestim- mungen am Froschauge, dass die elektromotorisch wirksamen Vorgänge sicherlich nicht auf Erregungsprocesse in den Nerven und Ganglienzellen der Netzhaut zu beziehen seien; denn Latenzzeiten von ?/,, bis ®/,. De- cunden kennen wir für diese Gewebe nicht. Wahrscheinlicher, meint Gotch, sei die Annahme, dass die photoelektrischen Lichtreactionen Begleit- erscheinungen photochemischer Umsetzungen in den Stäbchen und Zapfen sind, wobei als conditio sine qua non für das Zustandekommen der Netz- hautströme ausserdem die Lebendigkeit des Zellsubstrates voraus zu setzen ist. Ich halte diese Anschauung über die Ursache der Netzhautströme ebenfalls für wahrscheinlich richtig und glaube, dass die grosse Latenz ein wichtiges Argument dafür bildet, dass wir die Erregungsvorgänge in den nervösen Elementen von den Möglichkeiten ausschliessen müssen, welche als wesentlich für die Ausbildung der elektromotorischen Netzhautphänomene in Betracht zu ziehen sind. Allerdings, wenn die am enucleirten Frosch- auge festgestellte Latenz von ?/,, bis ®/,, Seeunden wirklich die für die Norm zutreffende ist, dann könnte man wohl Verdacht fassen, dass die zu Grunde liegenden Vorgänge mit der dem Sehact dienenden Netzhauterregung über- haupt nicht in direeter Beziehung stehen, denn aus einer so grossen Latenz "müsste eine Langsamkeit der Reactionen resultiren, welche mit der sonst beobachteten Lebhaftigkeit der Frösche in Widerspruch steht und manche factisch vorhandenen Leistungen der Thiere (Fliegenschnappen u. dgl.) fast unmöglich erscheinen lassen müsste. “ Indessen, nachdem ich am in situ belassenen Warmblüterauge sehr viel kürzere Latenzzeiten nachgewiesen und gezeigt habe, dass hier die Latenz nach Schädigungen, Ermüdunge, vor allem aber nach der Enu- cleation des Bulbus erheblich zunimmt, ist eine erneute Prüfung der Latenz- zeit am Froschauge wohl am Platze. Allerdings müsste dieses dann eben- falls in situ und unter möglichst normalen Bedingungen untersucht werden. Die Latenzzeiten des Warmblüterauges sind so kurz, dass hier gar kein Bedenken gegen die Annahme zu finden ist, dass es die dem Sehact dienende Netzhauterregung selbst ist, !welche sich durch elektromotorische Vorgänge kenntlich macht. Vielleicht stellt sich doch noch beim Froschauge eine ähnliche Sachlage heraus. | Die Grösse der Actionsströme, welche nach Belichtung in der Netzhaut auftreten, hängt von der Intensität und von der Wellenlänge des Reizlichtes und ferner von dem Empfindlichkeitszustand der Netzhaut ab. Die Bedeutung der Wellenlänge des Reizlichtes soll weiter unten näher be- ELEKTROMOTOR. VERHALTEN DER NETZHAUT BEI WARMBLÜTERN. 165 sprochen werden. Die Netzhautempfindlichkeit wechselt beim Bussardauge nur in geringem Umfange, so lange eine normale Reactionsfähigkeit er- halten ist. Man kann die Netzhaut durch länger fortgesetzte Belichtung zu ermüden suchen, ohne bei den unmittelbar folgenden Messungen eine nennenswerthe Beeinträchtigung der Stromwerthe constatiren zu können. Erst im Laufe eines lange fortgesetzten Versuches werden die Actionsströme allmählich kleiner und kleiner; das ist aber offensichtlich eine Folge der langen Versuchszeit selbst und nicht der Ermüdung durch Licht, und die dann zum Vorschein kommende Abstumpfung der Empfindlichkeit ist, wie es scheint, einer Reparation kaum fähig. Jedenfalls habe ich eine solche kaum beobachtet, auch dann nicht, wenn durch längeres Aussetzen der Lichtreizungen die Gelegenheit zur Erholung geboten wurde. Im Vergleich zu den elektromotorischen Kräften, welche die Retina der Nachtvögel bei gleich intensiven Lichtreizungen entwickeln, sind die im Auge des Bussards sowie auch in denen anderer Tagvögel, Huhn und Taube, auftretenden Ströme von auffallend geringem Werthe. Die hierdurch ge- kennzeichnete Minderempfindlichkeit und die minimal ausgebildete Fähig- keit der Dunkeladaptation, welche in der geringen Verstärkung der elektro- motorischen Belichtungsreaction nach längerem Dunkelaufenthalt zum Aus- druck kommt, sind typische Merkmale, durch welche die fast nur Zapfen enthaltenden Retinae der Tagvögel sich von den Stäbchenaugen der Nacht- vögel unterscheiden. Ganz ähnlich, wie beim Bussard, gestaltet sich der Ablauf der Netz- hautströme bei der Taube. Bei Belichtung tritt eme negative Schwankung des Dunkelstromes mit positivem Vorschlag auf, und bei Wiederverdunkelung der Retina erfolgt eine abermalige negative Stromschwankung und dann Rückkehr der elektromotorischen Kraft zu dem Werth, welchen sie vor der Liehtreizung hatte. Die negative Schwankung auf Verdunkelung bleibt nach länger fortgesetzten Reizversuchen an ein und demselben Präparat in der Regel aus und die ganze photoelektrische Reaction besteht in negativer Schwankung mit positivem Vorschlag auf Lichtreiz, Rückkehr zum vor- herigen Stromwerth auf Verdunkelung. Etwas abweichend hiervon liegen die Verhältnisse beim Huhn. Hier tritt bei Belichtung zuerst eine schnell ablaufende positive Schwankung des Ruhestromes auf; hat diese ihren Maximalwerth erreicht, so bleibt die Galvanometernadel bei den einzelnen Präparaten verschieden lange ruhig stehen; nach 3 bis 10 Secunden aber beginnt die elektromotorische Kraft in der Regel langsam zu sinken (Fig. 8) und fällt während der Dauer einer länger fortgesetzten Belichtung (30 Secunden) unter den Werth des Dunkel- stromes, verwandelt sich also in eine negative Schwankung (Fig. 9). Bei Verdunkelung tritt zunächst eine schnell ablaufende negative Schwankung 166 Hans Piper: ein, dann aber stellt sich die Galvanometernadel langsam auf den Scalen- theil ein, durch welchen sie vor der Lichtreizung die Grösse des Dunkel- stromes anzeigte. So beobachtet man den Ablauf der Actionsströme in der Mehrzahl der Fälle und namentlich ziemlich regelmässig bei solchen Versuchs- thieren, welche sich bei tiefer Curaresirung ruhig verhalten und sich für die Versuche als geeignet erweisen. Das ist nun nach meinen Erfahrungen nicht gerade bei vielen Hühnern der Fall; sehr häufig, oder, man kann sagen meistens, sind die Thiere entweder unruhig oder halten bei Appli- cation grösserer Dosen Curare nicht lange aus; in beiden Fällen merkt man an der Unregelmässigkeit der Stromschwankungen, an dem Wechsel der Richtung wie der Grösse und der Trägheit des Ablaufes oder dem Er- ER l |! i = | ı Fig. 8. Fig. 9. | \) löschen der elektromotorischen Belichtungsreaction, dass man von normalen Versuchsbedingungen weit entfernt ist. Während ich als normale Reaction auf Belichtung positive Schwankung mit langsam folgendem Wiederabfall des Stromes beim Huhn in einer ganzen Reihe von Fällen beobachtet habe, gestaltet sich nach den Befunden von Himstedt und Nagel (13) der Stromablauf ganz ähnlich, wie es von mir für das Auge des Bussards geschildert wurde: bei Belichtung fand negative Schwankung mit positivem Vorschlag, beim Entziehen des Lichtes Rückkehr zum Dunkelstromwerth statt. Dieser Befund, zusammengehalten mit dem meinigen, zeigt, dass der Ablauf der Netzhautströme gerade beim Huhn in gewissen Grenzen wechselnd zur Beobachtung gelangt. Nach Allem, was ich gerade in gut gelungenen Versuchen beobachtet habe, halte Fig. 10. ELEKTROMOTOR. VERHALTEN DER NETZHAUT BEI WARMBLÜTERN. 167 ich die in der Mehrzahl der Fälle auftretende positive Belichtungsschwankung für das Normale und bin zu der Ueberzeugung gelangt, dass reine nega- tive Schwankungen oder solche mit positivem Vorschlag sich typisch ein- stellen, wenn das Organ bei der Operation mehr oder weniger alterirt ist oder im Laufe fortgesetzter Reizversuche seine normale Reactionsfähigkeit allmählich eingebüsst hat. Wie sich die Umwandlung des in meinen Ver- suchen hervortretenden Stromablaufes in den von Himstedt und Nagel beobachteten durch Veränderung der Grössenverhältnisse der einzelnen Theile der ganzen Schwankung vollziehen mag, ist ja leicht zu denken: wird die positive Schwankung bei Belichtung so klein, dass sie nur als positiver Vorschlag imponirt und der folgende Abfall des Stromwerthes als die Hauptsache erscheint, so hat man den von Himstedt und Nagel be- schriebenen Belichtungseffect. Sehr einfach und regelmässig gestalten sich die photoelektrischen Er- scheinungen in der Netzhaut der Nachtvögel (Fig. 10. Wie schon Him- stedt und Nagel fanden, besteht hier die Reaction auf Lichtreizung in einer kräftigen positiven Schwankung des Dunkelstromes Während der Dauer der Reizung sinkt die elektromotorische Kraft zunächst wieder ab, hält sich aber dann bei vielen Versuchsthieren auf vollständig constantem Werth, bei anderen fällt die Stromstärke continuirlich und ganz langsam manch- mal bis auf die Hälfte des bei Belichtung eingetretenen Stromzuwachses, aber auch im Laufe mehrere Minuten währender Reizung nicht bis auf den Dunkelstromwerth. Bei Verdunkelung des Auges erfolgt eine ausserordentlich starke negative Schwankung; die Nadel schnellt mit grosser Geschwindigkeit über die Dunkelstromeinstellung um annähernd eben so viele Scalentheile hinaus, wie sie bei der positiven Belichtungsreaction nach der anderen Seite ausschlug.. Dann geht sie langsam zur Dunkelstromeinstellung zurück. In diesem Verhalten stimmen alle von mir untersuchten Nachtraub- vögel, Schleiereule, Sumpfohreule, Steinkauz und Waldkauz, vollkommen überein. Bei diesen Thieren gelingt es nun auch ohne Schwierigkeit, die Netzhautströme zu messen, ohne dass man die normalen Ernährungsver- hältnisse des Auges durch operative Freilegung der hinteren Bulbuswandung zu stören genöthigt ist. Die hinteren und lateralen Theile der ausser- ordentlich grossen Augen des Waldkauzes und der Sumpfohreule nämlich ragen unmittelbar vor dem Gehörgang derart aus der Orbita hervor, dass man hier die Elektrode direct an die bedeckende Haut der hinteren Bulbus- wand nahe dem Knochenring der Sclera ansetzen kann. Der bei dieser Anordnung beobachtete Stromablauf ist völlig identisch mit dem nach operativer Freilegung des Auges beobachteten; es ist also mehr als wahr- scheinlich, dass der normale Typus der photoelektrischen Phänomene bei diesen Thieren zur Beobachtung kam. 168 Hans Piper: Abgesehen von dem Typus des Ablaufes stimmt das Verhalten der Actionsströme bei allen untersuchten Nachtvögeln noch in einem weiteren Punkte überein, dessen Beachtung im Zusammenhang mit den im folgenden Abschnitt zu besprechenden Erregbarkeitsverhältnissen der Netzhaut von besonderem theoretischem Interesse ist. Die Augen der Nachtraubvögel nämlich, deren fast ausschliesslich Stäbchen und kaum Zapfen enthaltende Netzhäute nach längerem Dunkelaufenthalt tiefpurpurroth durch massenhaft angehäuften Sehpurpur aussehen, sind einer ausgiebigen Dunkeladaptation fähig, die aus der ganz erheblichen Zunahme der Actionsstromwerthe nach längerem Dunkelaufenthalte zu erschliessen ist. Ermüdet man z. B. die Netzhaut durch ziemlich intensive und länger fortgesetzte Belichtung und beobachtet darauf die bei Lichtreizung auftretenden Actionsströme, so zeigt sich, dass schwache Reize jetzt überhaupt keine Reaction wachzurufen vermögen und dass bei starker Reizung nur relativ geringe Ausschläge der Nadel eintreten. Gönnt man jetzt der Netzhaut durch 10 Minuten langes Aussetzen der Lichtreizungen Zeit zur Dunkel- adaptation und zur Regeneration des vorher durch Ausbleichung stark re- dueirten Sehpurpurvorrates, so reagirt sie bereits auf schwaches Licht mit recht kräftigen Strömen, und stärkeres Reizen lenkt die Nadel mit grosser Vehemenz so erheblich ab, dass der Reflex des Galvanometerspiegels über das Ende der Scala hinauseilt. Die in der Zunahme der photoelektrischen Reaction sich kennzeichnende Empfindlichkeitssteigerung der Netzhaut kann in ganz ausserordentlichem Maasse (ca. um das 100fache) stattfinden, und es scheint, dass der Schwellenwerth des Lichtes, bei dem überhaupt eine minimale Reaction sich bemerkbar macht, wohl von geringerer Grössen- ordnung ist als derjenige, welcher das dunkeladaptirte menschliche Auge zur Auslösung einer Lichtempfindung zu veranlassen vermag. Die Fähigkeit der Dunkeladaptation ist den Sehpurpur enthaltenden Stäbchennetzhäuten in exquisitem Maasse eigenthümlich und unterscheidet diese typisch von den Zapfennetzhäuten der Tagvögel, welche einer durch Zunahme der Actionsströme gekennzeicheten Empfindlichkeitssteigerung bei Dunkelaufenthalt nur in minimalem Maasse fähig sind. Wollte man die gleichen Stromwerthe, welche das gut ausgeruhte Auge der Tagvögel bei intensiver Reizung gab, unter ungeänderten Widerstandsverhältnissen im äusseren Stromkreis von den dunkeladaptirten Augen der Nachtvögel erzielen, so mussten sehr schwache Lichtreize applieirt werden, andernfalls erhielt man Ströme, durch welche der Galvanometerindex weit aus der Scala ge- trieben wurd. Man wird kaum mit der Annahme fehlgehen, dass die Sehpurpurregeneration für die Sensibilisirung der Netzhaut wesentlich ist, welche in der Dunkeladaptation zum Ausdruck kommt. ELEKTROMOTOR. VERHALTEN DER NETZHAUT BEI WARMBLÜTERN. 169 2. Die Verteilung der Reizwerthe im Dispersionsspectrum des Nernstlichtes. Von specifischer Bedeutung für die Grösse der Actionsströme ist die Farbe bezw. die Wellenlänge des Reizlichtes. Die überhaupt wirksamen Strahlen nehmen ungefähr den gleichen Bereich des gesammten Spectrums ein, welchen die unsere Netzhaut erregenden und Liehtempfindungen aus- lösenden Strahlenarten innehaben. Es fragt sich aber, welche Strahlen maximal erregend wirken und in welchen quantitativen Verhältnissen die übrigen Lichter an relativem Reizwerth zurücktreten. Für das menschliche Auge liegen bekanntlich nach Untersuchungen, bei denen die Intensität der ausgelösten Helliskeitsempfindung als Indicator für die Wirkungsgrösse des Reizes diente, die Verhältnisse so, dass bei verschiedenen Eigenzuständen der Netzhaut die Reizwerthrelationen der homogenen Lichter sehr verschieden sind; hier weist nämlich die helladaptirte Netzhaut, mit intensiven Reizen geprüft, maximale Erregbarkeit gegenüber langwelligem Licht, geringere gegenüber Strahlen mittlerer und kurzer Wellenlänge auf. Dagegen zeigt sich, dass die dunkeladaptirte Netzhaut bei Untersuchung mit schwachen Reizen durch langwelliges Licht fast überhaupt nicht erregbar ist, dass da- gegen Lichter mittlerer Wellenlänge maximale Helligkeitsempfindungen aus- lösen, dass die Netzhaut also jetzt durch diese Strahlen maximal erreebar ist. Die Beobachtung, dass die Netzhaut einerseits bei Hell-, andererseits bei Dunkeladaptation auf die homogenen Lichter eines Spectrums verschieden selectiv. reagirt, hat zu der auch durch mannigfache andere Beweise ge- stützten Theorie geführt, dass unsere Netzhaut mit zweierlei Apparaten von abweichenden Erregebarkeitsverhältnissen ausgerüstet ist, deren einer als Tagesapparat bezeichnet wird und dem als anatomisches Substrat die Netz- hautzapfen zuerkannt werden, während der zweite, der Dämmerungsapparat, in die sehpurpurenthaltenden Stäbchen localisirt wird. Dass also verschiedene Möglichkeiten der selectiven Strahlenabsorption und der Reaction der Netzhaut in der Natur verwirklicht sind, geht bereits aus diesen, nach subjectiven Beobachtungen gewonnenen Feststellungen der menschlichen Netzhautphysiologie ziemlich klar hervor; die Frage liest nun nahe, ob nicht die Feststellung der quantitativen Verhältnisse der Actions- ströme, welche bei Reizung mit den homogenen Lichtern eines Spectrums am Thierauge zu messen sind, eine brauchbare Handhabe bietet, um über die Erregbarkeitsverhältnisse der untersuchten Netzhaut etwas Objectives zu ermitteln und womöglich vergleichend-physiologische Kriterien für die Zu- verlässigkeit jener aus der subjectiven Beobachtung der eigenen bewussten Empfindungen abstrahirten Anschauung über die Functionsweise der ver- schiedenen Netzhautelemente beizubringen. Diesen Weg der Untersuchung 170 Hans Piper: haben zuerst Himstedt und Nagel (12) in Versuchen am Froschauge, dann ich durch Strommessungen am Öephalopodenauge mit Erfolg beschritten. Was die Methode und die Art der Darstellung der Resultate aller solcher Untersuchungen betrifft, so muss sich diese an die Begriffe und Anschauungen der physikalischen Optik anschliessen. Hiernach ist die Reactionsweise einer lichtreagirenden Substanz oder Einrichtung zwar nicht erklärt, aber eindeutig charakterisirt, wenn festgestellt ist, in welchen quantitativen Verhältnissen dieselbe auf die einzelnen homogenen Strahlen- arten eines bestimmt definirten Speetrums reagirt. Trägt man die Wirkungs- werthe der homogenen Lichter dann als Function ihrer Wellenlänge in ein System rechtwinkliger Coordinaten ein, so erhält man Curven, welche das untersuchte System anschaulich bestimmen und von anderen, in gleicher Weise untersuchten und dargestellten Systemen unterscheiden. Auch bei der Netzhaut handelt es sich um eine lichtreagirende Vorrichtung, deren Funetionsweise nach den angedeuteten Gesichtspunkten zu bestimmen ist. Für die vorliegende Untersuchung sollen die Werthe der Actionsströme das Maass für die Wirkungsgrösse der homogenen Lichter abgeben. Die Messung der relativen Reizwerthe, mit welchen die homogenen Lichter des Nernstlichtspectrums auf die Netzhäute der von mir untersuchten Thiere zu wirken vermögen, erfolgte unter Benutzung des oben beschriebenen Apparates. Die verschiedenen Farben des Spectrums wurden der Reihe nach auf den „Ocularspalt“ (Fig.1 S) eingestellt und der Stromwerth durch die Aus- schlaggrösse der Galvanometernadel bei Lichtreizung festgestellt. Da die Breite des „Ocularspaltes“ constant war, so wurden durch denselben bei den Messungen gleich grosse schmale Bezirke aus allen Theilen des Specetrums ausgeschritten und zur Reizung verwendet. Diesen Bezirken entsprechen ja keineswegs in allen Theilen des Spectrums gleich grosse Bereiche von Wellen- längen, da ein Dispersionsspectrum, nicht aber ein Interferenzspectrum benutzt wurde. Indessen dies ist für die vorliegende Untersuchung gleichgültig, da es sich hier nur darum handelt, verschiedene Sehorgane oder verschiedene Umstände eines Sehorganes durch Beobachtung unter genau identischen äusseren Versuchsbedingungen eindeutig zu charakterisiren und zu vergleichen. Diese Aufgabe ist aber erfüllt, wenn die Vertheilung der Reizwerthe in ein und demselben Spectrum, in diesem Falle im Dispersionsspectrum des Nernst- lichtes, für alle Netzhäute nach ganz gleicher Methode bestimmt ist. Stellt man in dieser Weise die Stromwerthe fest, welche bei Reizung mit den homogenen Farben des Nernstlichtspectrums auftreten, so erhält man eine Reihe zusammengehöriger Werthe, welche die Beziehung zwischen Wellenlänge des Reizlichtes und elektromotorischem Effect in der Netzhaut kennzeichnen. Die Grösse des elektromotorischen Erfolges bildet ein Maass für den Reizwerth des betreffenden Lichtes, und die Verhältnisszahlen der ELEKTROMOTOR. VERHALTEN DER NETZHAUT BEI WARMBLÜTERN. 171 Tabelle I. 10 | I. IV. | Tagvögel | Nachtvögel Se. De Mäuse- Schleier- Sumpfohr- | | bussard | Haushuhn Taube an Waldkauz En 1 Le || Er an ek Be Zur ER 2 — — 7 (28) - m 2 (5) ud 3 670 23 (69) — - — — a: 4 657 — 14 (56) = 1 (5) 3 (7-5) 2 (5) 5 644 27 (81) — 10 (60) — = — 6 632 — 20 (80) — 4 (20) 6 (15) 4 (10) 7 620 31 (93) — 16 (96) —_ — — 8 609 — 24 (96) — 8 (40) 12 (30) 12 (30) 9 | 599 34 (102) — WAS) | — .- = 10. Be 24 (96) — 11.655) 19 (58) 22 (55) ie 581 32 (96) _ 16 (96) || —_ — _ 12 574 — 22 (88) — 16 (80) | 32 (80) 30 (75) 13 567 ED). Ir are ae a 14 560 Be 7600.80) SE 1 EE) 34 (85) 15 554 29 (87) a 13a — — 16 547 — 19 (76) — || 20100) | 42 (105) | 38 (95) 17 541 27 (81) — 12 (72) — — ar 18 | 585 _ 17 (68) — || 22 (110) | 44(110) | 42 (105) 19 530 —_ an 2 IN as Si 20 || - 525 _ 15 (60) - ' 18 (90) 43 (108) | 40 (100) 21 520 Da) | 964) | — = = 22 515 — 13 (52) = ' 16 (80) 40 (100) | 37 (92) 23 511 — — —. |, — — 24 506 u = | 14 (70) _ 34 (85) 25 502 20 (60) — BR 30 (75) — 26 498 — 10 (40) 10260) — 30 (75) 27 494 — — _ | 26 (65) —_ 28 490 — = -— | —- — 24 (60) 29 486 16 (48) — — mi — x 30 |. 482 — 7 (28) —_ | 10 (50) 21 (52) — 31 || 478 —_ = BED) TE — = 32 474 _ — | = 20 (50) 33 470 Mas — — - Ze 34 467 — 6 (24) ' 6.(80) 17 (42) — 35 464 -— |. —_ — 36 461 -_ | —- — | = = 16 (40) 37 || 458 12 (36) er 318) | — Ei 383 | 455 _ 5 (20) | 4(20) == es 39 | 452 N — — — = 40 | 449 a u 10 (25) 10 (25) 4l 446 10 (30) — 2 (12) — _ # 42 | 443 — 4 (16) — — a. 43 — - = — || .2(10) = 44 — = — —..ı _ — Au) ii 8 (24) ei 1 (6) | r " Er AG. || — — — — = ad) en 47 — — = — iu = — 48 — = 2 (12) m | — — 4 (10) Actionsströme charakterisiren die Reizwerthverhältnisse der homogenen Lichter bezw. die Erregbarkeitsverhältnisse der betreffenden Netzhaut. Es 172 Hans Piper: liegt dann allerdings nahe, aus der Kenntniss von der Vertheilung der Reizwerthe im Spectrum auf die für das betreffende Sehorgan gültige Ver- theilung der Helligkeiten zu schliessen; indessen begiebt man sich hierbei in das problematische Gebiet der thierischen „Empfindungen“ und in die Thierpsychologie, eine Disciplin, deren Daseinsberechtigung ja von mancher Seite mit dem berechtigten Hinweis sehr energisch bestritten wird, dass wir hiervon nichts wissen „können“. In Tabelle II sind im ersten Stabe die Scalentheile angegeben, auf welche der als Collimatorspalt dienende Nernstfaden eingestellt wurde, und im Stabe II sind die Wellenlängen verzeichnet, welche bei der betreffenden TOR SEEN RER N ERTERZEITNENIRE ENGEN Fig. 11. Vertheilung der Reizwerthe (Ordinaten) im Dispersionsspectrum des Nernstlichtes Ab- seissenaxe), —— für Tagvögel (Zapfennetzhäute), - - -- für Nachtvögel (Stäbchennetzhäute). Einstellung auf den als Ocularspalt dienenden Spalt in der Vorderwand des das Versuchsthier beherbergenden Kastens fielen und somit die Netzhaut reizten. Im dritten und vierten Stabe findet man die Stromwerthe, welche bei Reizung mit den zugehörigen spectralen Lichtern abgelesen wurden. Die Werthe geben in Millimetern die Ausschläge an, um welche der Galvanometerindex auf der Scala abgelenkt wurde. Für die Curvencon- struction wurden die einzelnen Zahlenreihen durch Multiplication mit je einem constanten Factor so umgerechnet, dass der maximale Stromwerth jeder Reihe ungefähr 100 wurde. Diese Werthe sind in Klammern neben die dierect abgelesenen gesetzt. ELEKTROMOTOR. VERHALTEN DER NETZHAUT BEI WARMBLÜTERN. 173 Die Tabellen und die Curven (Fig. 11), in denen die Stromwerthe als Function der Wellenlänge des zugehörigen Reizlichtes eingetragen sind, lehren nun das interessante Factum, dass die Erregbarkeitsverhältnisse der Netzhäute von Tagvögeln (ausgezogene Curven) typisch verschieden von denen der Nachtvögel (punctirte Curven) liegen. In der Netzhaut der Tagvögel treten maximale Stromwerthe auf bei Reizung mit den langwelligen Strahlen des Nernstlichtspectrums, erheblich geringere dagegen bei Reizung mit den stärker brechbaren grünen und blauen Strahlen. Die Curve, welche die Vertheilung der Reizwerthe und die Erregbarkeitsverhältnisse der Netz- haut veranschaulicht, erreicht dementsprechend maximale Ordinatenhöhe über einem Abseissenort, welcher einer Wellenlänge von ca. 600 vu entspricht; x x x x N N N NER S B S N N R RN N S N x N IS NE N EIS N 8 SS SS N NEE SEEN DD S ORDER NIT IT I SEDERUISES Fig. 12. ---- Vertheilung der Reizwertbe im Dispersionsspectrum des Nernstlichtes für die Stäbchenaugen der Nachtvögel, —— Curve der Energieabsorption im Sehpurpur (nach den Messungen Trendelenburg’s construirt). nach rechts fällt die Öurve von diesem Punkt aus stark ab, da die als Ordi- naten eingetragenen Reizwerthe der Lichter des mittleren und am stärksten brechbaren Spectralbereiches mit abnehmender Wellenlänge kleiner werden. Ganz anders stellen sich die Erregbarkeitsverhältnisse der Nachtvogel- augen dar. Hier haben die Lichter grosser Wellenlänge relativ geringen Reizwerth, die Strahlen von 535 vu aber etwa, welche uns grün erscheinen, rufen maximale Actionsströme in der Netzhaut wach. Die Curve, welche die hier zutreffenden Erregbarkeitsverhältnisse und die Vertheilung der Reizwerthe als Ordinaten über dem Spectrum als Abseisse veranschaulicht, 174 Hans PIPpER: steigt bis zu ihrem über dem 535 uw entsprechenden Abseissenort gelegenen Gipfel und fällt von hier nach dem kurzwelligen Ende des Spectrums hin ab. Man sieht aus Tabellen und Curven, dass sich nach diesen Gesichts- punkten die Augen aller untersuchten Tagvögel, Bussard, Haushuhn und Taube, von denen aller Nachtvögel, Schleiereule, Sumpfohreule, Steinkauz und Waldkauz, ganz typisch unterscheiden, und man wird sich die Frage nach dem Grunde für diese Differenzen vorlesen Die Antwort liegt nahe. Wir haben es hier wohl sicher mit den Beleneten Unterschieden der Erregbarkeitsverhältnisse zwischen Netzhautstäbchen und Zapfen zu thun. Sind diese functionellen Differenzen zwischen beiden Arten von lichtpereipirenden Netzhautgebilden in der menschlichen Physio- logie und durch die subjective Beobachtung der Helligkeitsempfindungen erschlossen worden, so ist am Vogelauge der objective Beweis erbracht, dass die Erregbarkeitsverhältnisse der Zapfennetzhaut des Tagvogels und die der Stäbchennetzhaut des Nachtvogels dieselben Unterschiede erkennen lassen, mit welchen der Tages- oder Zapfenapparat unserer Netzhaut dem Dämmerungs- oder Stäbchenapparat gegenübersteht. Es ist zur Zeit kaum möglich, über die speciellen physikalisch-chemischen Grundlagen für die Erregbarkeitsverhältnisse des Zapfenapparates eine Ver- muthung auszusprechen. Die qualitative Mannigfaltigkeit der Zapfenerreg- barkeit, welche wir nach Analogie unseres farbenpercipirenden Zapfenapparates auch für die Vogelnetzhaut vorauszusetzen geneigt sind, fordert den Nach- weis einer ebensolchen Mannigfaltigkeit des reizbaren Substrates.. Nun kennen wir zwar die farbigen Tropfen in den Zapfen der Vogelnetzhaut und können ja auch vermuthen, dass diese mit der qualitativ differenzirten Lichtperception mehr oder weniger viel zu thun haben. Indessen directe Beobachtungen über die functionelle Bedeutung dieser Gebilde liegen noch nicht vor, und es ist bisher nicht gelungen, die farbigen Substanzen rein darzustellen und über die absorptiven und photochemischen Eigenschaften derselben Genaueres festzustellen!; so lange dieses nicht der Fall ist, muss es als müssiges Unterfangen bezeichnet werden, wenn man sich auf Specu- . lationen über die Grundlage der aus den Actionsströmen nur quantitativ erschlossenen Erregbarkeitsverhältnisse der Zapfen verbreiten wollte. Die Curve, welche die Reizwerthe der homogenen Lichter der Intensität nach angiebt, kann die Resultante mehrerer Curven sein, deren jede einer Com- ponente des farbenpercipirenden Apparates entspricht. Wir dürfen wohl annehmen, dass wir unter geeigneten Bedingungen vom menschlichen Auge ! Einen Anfang in dieser Richtung hat Waelchli gemacht in seinen „Mikro- spectralanalytischen Untersuchungen der gefärbten Kugeln der Vogelretina‘“. (Onderzoek. ged. in het physiolog. labor. der Utrechtsche Hoogschool. Bd. Reeks VI. p. 297 — 314. Taf.) ELEKTROMOTOR. VERHALTEN DER NETZHAUT BEI WARMBLÜTERN. 175 die gleiche Curve der Actionsstromwerthe als Function der Wellenlänge des Reizlichtes erhalten würden, wie wir sie am Vogelauge feststellten. Und doch würde hier Niemand zweifeln, dass die Stromwerthe nur als Maasse für die Helligkeitswerthe der Lichter betrachtet werden können und als Resultanten mehrerer unbekannter Grössen gelten müssen, deren jede den Reizwerth eines der qualitativ einheitlichen Bestandtheile des farbentüchtigen Zapfenapparates repräsentiren würde. Erheblich bestimmter als über die physiologischen Grundlagen für die Erregbarkeitsverhältnisse der Zapfen und für die Wirkungsweise des Lichtes in diesen Gebilden können wir uns über die der Stäbchen äussern. König! zeigte zuerst, dass die Curve der Helliskeitswerthe der homogenen Lichter für das dunkeladaptirte Auge mit der Curve übereinstimmt, welche die aus den homogenen Strahlen vom Sehpurpur absorbirten Energiemengen als Function der Wellenlänge darstellt. Abelsdorff und Köttgen? und neuerdings Trendelenburg?® bestätigten dies; letzterer zeigte gleichzeitig, dass, wie zu erwarten, auch die Curve der „Bleichungswerthe“, d. h. der Grade, in welchen die homogenen Lichter den Sehpurpur in gleichen Wirkungszeiten photochemisch zersetzen bezw. seine Absorption herabdrücken, einerseits mit der Curve der absorbirten Energiemengen, andererseits auch mit der Curve der Dämmerungswerthe zusammenfällt. Bereits aus diesen Versuchen ist zu schliessen, dass zwischen den absorptiven und photochemischen Eigen- schaften des Sehpurpurs und den Erregbarkeitsverhältnissen der Stäbchen die engsten Beziehungen bestehen, und man darf wohl behaupten, dass die als Dämmerungswerthe bezeichneten Reizwerthe der homogenen Lichter einfache Functionen der Werthe sind, in welchen die Energie der betreffenden homogenen Strahlen im Sehpurpur absorbirt wird. Aus den hier mitgetheilten Versuchen lässt sich schliessen, dass die Grösse der Netzhauterregung, gemessen durch die Actionsstromwerthe, welche bei Reizung mit homogenen Lichtern im Stäbchenauge der Nachtvögel auftreten, in gleicher Weise eine einfache Function der Energieabsorption dieser Lichter im Sehpurpur sind. In Fig. 12 sind die von Nachtvogelaugen erhaltenen Curven der Reizwerthe mit der Curve zusammengestellt, welche die Energieabsorption der homogenen Lichter im Kaninchensehpurpur nach den Messungen Trendelenburg’s veranschaulicht. Da nach den Unter- suchungen von Abelsdorff und Köttgen das absorptive Verhalten des ! König, Ueber den menschlichen Sehpurpur und seine Bedeutung für das Sehen. Bericht der Berliner Akademie der Wissenschaften. 1894. ® Köttgen und Abelsdorff, Absorption und Zersetzung des Sehpurpurs bei den Wirbelthieren. Zeitschr. für Psychol. und Physiol. der Sinnesorgane. 1896. Bd. XI. ® Trendelenburg, Quantitative Untersuchungen über die Bleichung des Seh- purpurs im monochromatischen Licht. Zbenda. 1904. Bd. XXXVII. 176 Hans PIPER: Sehpurpurs von Säugern, Vögeln und Amphibien in grösster Annäherung übereinstimmt, so kann die in die Figur eingetragene Absorptionseurve das typische Verhalten des Sehpurpurs aller drei Thiergruppen umfassend dar- stellen und speciell für die Vögel Gültigkeit beanspruchen. Die Ueberein- stimmung der Reizwertheurven und der Absorptionscurve des Sehpurpurs ist ersichtlich. Würden die Dämmerungswerthe der menschlichen Netzhaut gleichfalls in der Curvendarstellung mit aufgenommen sein, so würde ein Zusammenfallen ihrer Curve mit den anderen in gleicher Annäherung zu constatiren sein, und man würde sehen, dass die Reizwerthe der homogenen Lichter, an den Helligkeitsempfindungen bestimmt, ebenso ausfallen, wie wenn man die objeetiv aufzeigbaren Actionsströme als Indicatoren der Reiz- wirkung benutzt. Man wird durch diese Uebereinstimmung der Curven wohl die Ueberzeugung verstärkt finden, dass die Erregbarkeitsverhältnisse der Netzhautstäbehen thatsächlich durch die physikalischen und photochemischen Eigenschaften des in den Stäbchen enthaltenen Sehpurpurs bestimmt sind. Man könnte fragen, ob sich die Erregbarkeitsverhältnisse des Zapfen- apparates und die des Stäbchenapparates in ein und demselben Auge bei Vögeln nachweisen lassen, und würde nach Analogie der menschlichen Ver- hältnisse vermuthen, dass bei Helladaption des Auges sich ein überwiegendes Functioniren des Zapfen- oder Tagesapparates durch das Auftreten maximaler Stromwerthe bei Reizung mit langwelligem Licht verrathen würde, dass aber bei Dunkeladaptation die Functionen der Stäbchen mit ihrer maximalen Erregbarkeit durch grüne Strahlen in den Vordergrund treten müssten. Ein solches Verhalten constatirten zuerst, wie einleitend erwähnt, Himstedt und Nagel (12) für das Froschauge. Ich habe nun zunächst versucht, ob sich die relativen Reizwerthe der homogenen Lichter für die längere Zeit: ver- dunkelten Augen von Tagvögeln im Sinne einer Dunkeladaptation durch ein Hervortreten der für den Stäbchenapparat gültigen Reizwerthvertheilung im Spectrum ändern würden, habe dieses aber niemals constatiren können, auch nicht bei Reizung mit möglichst lichtschwachen Spectralfarben. Ebenso wenig ist es mir gelungen, an den Augen der Nachtvögel nach Ermüdung durch starke Belichtung und Reizung mit intensiven spectralen Lichtern die Reizbarkeitsverhältnisse des Tages- oder Zapfenapparates herbeizuführen. Vielmehr erwiesen sich die relativen Reizwerthe für die Augen der Tagvögel ebenso constant, wie es mit den hiervon typisch abweichenden der Nacht- vögel der Fall war. Man wird sich hierüber nicht wundern dürfen, denn die Augen der Tagvögel enthalten fast ausschliesslich Zapfen und sind nicht in merklichem Maasse der Dunkeladaptation durch Sehpurpurbildung fähig; andererseits ermangeln die Augen der Nachtvögel so gut wie voll- ständig der Zapfen, können also auch deren Erregbarkeitsverhältnisse unter keinen Umständen annehmen. ELEKTROMOTOR. VERHALTEN DER NETZHAUT BEI WARMBLÜTERN. 177 Wir haben also die interessante Erscheinung, dass die beiden licht- pereipirenden Apparate, welche sich in unserem Auge neben einander vorfinden und sich nur durch besondere Versuchsmethoden in ihren von einander abweichenden Functionsweisen durchschauen lassen, bei den Vögeln in der Regel nicht bei ein und derselben Art vereinigt vor- kommen, sondern dass in den Augen der Tagvögel nur der eine, nämlich der Zapfenapparat, und in den Augen der Nachtvögel nur der andere, der Stäbchenapparat, vorhanden ist. Dass diese Differenz zwischen den Netz- häuten von Tag- und Nachtvögeln sich nicht nur anatomisch, sondern auch functionell durch die galvanometrische Feststellung der verschiedenen Erresbarkeitsverhältnisse nachweisen lässt, ist ein vergleichend-physiologischer Befund, welcher die Duplieitätstheorie der menschlichen Netzhautphysiologie gut zu stützen geeignet ist. III. Versuche an Säugeraugen. 1. Richtung, zeitlicher Ablauf und Grösse der Netzhautströme. Von Säugern habe ich Kaninchen, Katze und Hund untersucht und zunächst festgestellt, dass der Dunkelstrom hier in fast allen Fällen die gleiche Richtung hatte, welche am Froschauge und an den Augen der Vögel gefunden wurde, dass er also im äusseren Stromkreis von der Cornea zum hinteren Augenpol floss. Im Laufe des Versuches sank der Stromwerth langsam ab, erreichte aber in der Regel auch nach dreistündiger Versuchsdauer nicht Nullwerth. Nur in einem Falle, bei einem Hunde, war nach etwa ein- stündiger Versuchsdauer der Nullpunkt passirt, und man hatte jetzt einen Dunkelstrom, welcher vom hinteren Augenpol zur Cornea im Galvanometer- kreis, also umgekehrt wie normal floss. In diesem Falle aber bewahrheitete sich bezüglich der photoelektrischen Schwankungen das Kühne’sche „Gesetz der constanten Spannungsänderungen“. Trat nämlich die Belichtungsreaction in Form einer positiven Schwankung des Dunkelstromes auf, so lange dieser die ursprüngliche normale Richtung hatte, so verwandelte sie sich in eine negative Schwankung, nachdem der Dunkelstrom umgekehrte Richtung an- genommen hatte. Richtung und Ablauf der photoelektrischen Schwankungen erwies sich also als unabhängig von der Richtung des unterliegenden Dunkel- stromes. Die Actionsströme, welche bei Belichtung und Verdunkelung auftraten, zeigten, galvanometrisch beobachtet, ein höchst regelmässiges einfaches und bei allen untersuchten Arten übereinstimmendes Verhalten. Bei Belichtung trat (Fig. 13) eine positive Schwankung des Ruhestromes ein, welche während der Dauer der Belichtung ein wenig zurückging, aber nur bei mehrere Minuten fortgesetzter Reizung unter den Werth des Dunkelstromes sank. Bei Verdunkelung erfolgte eine kräftige und schnell ablaufende Archiv f, A. u, Ph, 1905. Physiol, Abthlg. Suppl. 12 178 Hans Piper: negative Schwankung, bei welcher die Nadel erheblich über die Ruhe- einstellung hinaus getrieben wurde; war der Minimalwerth erreicht, so trat ein langsames Wiederanwachsen der elektromotorischen Kraft ein, bis sie den Werth wieder erreicht hatte, welchen sie vor der Belichtung zeigte. Der Ablauf der photoelektrischen Schwankungen modifieirt sich, wenn das Auge nach längeren fortgesetzten Reizversuchen irreparable Alterationen erfährt oder auch durch starke Blendung hochgradig ermüdet wird. Die Actionsströme sind dann nicht nur kleiner und die Schwankungen träger ablaufend, sondern man constatirt auch vor dem Einsetzen der positiven Schwankung das Auftreten eines negativen Vorschlages (Fig. 14). Gönnt man der Netzhaut Zeit zur Erholung, so fällt diese Erscheinung wieder hi ; | |) | 1 il IN Fig. 13. Fig. 14. Fig. 15. fort, und man beobachtet wieder, wie früher, die einfache positive Schwankung als Belichtungsreaction. Auch die Verdunkelungsreaction gestaltet sich am ermüdeten Präparat anders als an frischen. Hat man es durch lange fortgesetzte Belichtung erreicht, dass der Strom nach der ersten positiven Schwankung bis unter den Dunkelstromwerth, welcher den Ausgangspunkt der positiven Belichtungs- schwankung bildete, wieder abgesunken ist, so bleibt bei Verdunkelung die negative Schwankung meistens aus, und der Stromwerth steigt einfach langsam, bis die ursprüngliche Dunkelstromeinstellung erreicht ist (Fig. 15). Die eigentliche negative Verdunkelungsschwankung, durch welche normaler Weise die Galvanometernadel schnell und erheblich über die Dunkelstrom- einstellung hinaus abgelenkt wurde, bleibt auch dann aus, wenn die Reac- ELEKTROMOTOR. VERHALTEN DER NETZHAUT BEI WARMBLÜTERN. 179 tionsfähigkeit der Netzhaut abnimmt. Der Strom sinkt dann von dem Werth der positiven Belichtungsreaction einfach langsam wieder ab, bis der ursprüngliche Dunkelstromwerth erreicht ist; die gewöhnliche rapide Ab- lenkung der Nadel über diese Einstellung hinaus aber fehlt (Fig. 14). Diese galvanometrisch gewonnenen Feststellungen erfahren nach Beob- achtungen am Capillarelektrometer wiederum manche Vervollständigungen und Berichtigungen. Die Curven, bei deren Aufnahmen Katzen als Ver- suchsthiere benutzt wurden, lassen folgendes Bild vom Ablauf der photo- elektrischen Stromschwankungen entwerfen. Etwa */.,. Decunden nach Auftreffen des Reizes setzt die positive Stromschwankung ein, erreicht sehr schnell ein Maximum (etwa nach !/,, Secunde) und fällt in erheblichem Maasse sogleich wieder ab. Während der Dauer der Belichtung ändert sich dann die elektromotorische Kraft nicht in einem Maasse, welches das be- nutzte Capillarelektrometer anzugeben vermöchte. Verdunkelt man, so er- folgt die negative Schwankung mit einer Latenz von ®/,,0 Bis "/oo Se- cunden. Die elektromotorische Kraft erreicht hierbei sehr schnell ein Minimum und nimmt sogleich ein wenig wieder zu, um den vor der Reizung innegehabten Werth wieder anzunehmen. Die Grösse der photeelektrischen Reaction hängt bei den Säugern ebenso wie bei den Vögeln von der Intensität und der Wellenlänge des Reizlichtes und von dem Empfindlichkeitszustand der Netzhaut ab. Der letztere ist sehr ausgiebiger Veränderungen fähig, und man kann ebensowohl durch längeres Dunkelhalten des Auges eine durch starke Actionsströme ge- kennzeichnete, hohe Lichtempfindlichkeit oder Dunkeladaptation erzeugen, wie es gelingt, die Reactionsfähigkeit der Netzhaut durch längere Belichtung temporär abzustumpfen und einen Zustand der Helladaptation herbeizuführen. Ehe ich in einem besonderen Abschnitt den Einfluss der Wellenlänge des Reizlichtes auf die Grösse der Actionsströme und die Erregbarkeits- verhältnisse der Netzhaut bespreche, möchte ich hier einen Nebenbefund erwähnen, der den vom Katzenauge aufgenommenen capillarelektrometrischen Curven zu entnehmen ist. An einem Versuchsthier wurde die Lähmung der Irisfunction durch Atropin unterlassen, und es zeigte sich nun, dass nach einem ersten Ausschlag des Elektrometers, welcher mit kurzer Latenz (0-04 Secunden) auf den Reizeinfail folgte und die typische elektromotorische Reaction der Netzhaut selbst darstellte, eine zweite, langsam ablaufende, positive Schwankung zur Ausbildung gelangte. Da die zweite Schwankung an den von atropinisirten Augen aufgenommenen Öurven vollständig fehlt, so handelt es sich dabei wohl sicher um die elektromotorischen Begleit- vorgänge der Contraction der Irismuskeln; die dieser entsprechende Strom- zunahme betrug mehr als zwei Millivolt und hatte somit einen Werth, welcher die von der Netzhaut bei Belichtung entwickelten elektromotorischen 12 150 Hans Piper: Kräfte (0-3 Millivolt) erheblich überragt. Es braucht kaum gesagt zu werden, dass in diesem Falle die ausgiebigen Irisbewegungen bei Licht- reizungen auch leicht zu beobachten waren. Es lässt sich nun an den Zeitschreibungen der Aufnahmen leicht aus- zählen, welche Zeit vom Auftreflen des Lichtreizes, bezw. vom Augenblick der Netzhauterregung bis zum Beginn der Iriscontraction vergeht, wie lange Zeit also nöthig ist, damit die Nervenerregung den ganzen Reflexbogen von der Netzhaut durch den Opticus, die Centra der Pupillenbewegung und durch den Oculomotorius zur Iris zurücklegen kann. Dazu gehören 0-4 bis 0-5 Secunden. Die Berechnung ist ohne Correction richtig, weil das Quecksilber in den Capillaren sich ohne merkliche Trägheit, also vollkommen im gleichen Moment, in welchem Wechsel der durchgeleiteten Stromstärken stattfinden, in Bewegung setzt. Das elektrische Zeichen des Beginnes der Netzhauterregung und der reflectorisch bewirkten Iriscontraction registrirt sich also capillarelektrometrisch ohne Zeitverlust. Es ist hier nun von Interesse festzustellen, dass die Reactionszeit von etwa 1/, Secunde, welche nach der hier angewandten Methode für den Lichtreflex der Pupille gefunden ist, vollkommen mit dem neuerdings von Fuchs für das menschliche Auge angegebenen Werth übereinstimmt. Fuchs! untersuchte allerdings nach ganz anderer Methode. Er photo- graphirte auf bewegter Platte direct die Schwankungen der Pupillenweite. Gleichzeitig wurde der Moment des Lichteinfalles mit Zeitschreibung regi- strirt. Seine Anordnung machte es nothwendig, das der Registrirung ent- nommene Messungsresultat um die persönliche Reactionszeit des Experi- mentators zu verkürzen, um die Latenz zwischen Lichtreiz und Beginn der Iriseontraetion richtig zu erhalten, und es ergab sich nach dieser Correction 0.5 Secunde. Die Uebereinstimmung dieses Werthes mit meinen nach ganz anderer Methode für das Katzenauge gefundenen ist vollkommen be- friedigend. Piltz? allerdings giebt in einer ganz kürzlich erschienenen Publication 0-3 Secunden als Reactionszeit an; soviel aus den Beschreibungen zu ersehen ist, war seine Anordnung und die Methode der Reiz- und Zeit- registrirung besser als die von Fuchs. Eine Entscheidung, welcher Werth nun richtig ist, können natürlich meine Beobachtungen am Katzenauge für die Vorgänge beim Menschen nicht geben, zumal die Möglichkeit nicht zu bestreiten ist, dass der Lichtreflex in Folge der Operation beeinträchtigt wurde und unter ganz normalen Verhältnissen vielleicht nach kürzerer Latenz ! Fuchs, Die Messung der Pupillengrösse und Zeitbestimmung der Licht- reaction der Pupillen bei einzelnen Psychosen und Nervenkrankheiten. Eine klinische Studie. Wien. Deuticke 1904. ® Piltz, Ein neuer Apparat zum Photographiren der Pupillenbewegungen. Neuro- logisches Centralblatt. 1904. Nr. 17 und 18. ELEKTROMOTOR. VERHALTEN DER NETZHAUT BEI WARMBLÜTERN. 181 eingesetzt hätte. Indessen schien mir die capillarelektrometrische Methode hier doch zu exacten Messungen wohl brauchbar und der Vergleich der damit festgestellten Reactionszeit des Lichtreflexes der Pupille mit anderen Beobachtungen erwähnenswerth zu sein. 2. Die Vertheilung der Reizwerthe im Dispersionsspectrum des Nernstlichtes. Die Erregbarkeitsverhältnisse der Netzhaut wurden bei Hund, Katze und Kaninchen in ähnlicher Weise wie beim Vogelauge dadurch geprüft, dass die relativen Reizwerthe, welche den homogenen Lichtern des Nernst- lichtspeetrums zukommen, durch Messung der ausgelösten Actionsstrom- grössen aufgesucht wurden. Beim Vogelauge führten diese Versuche ja zu eindeutigen und auch theoretisch durchsichtigen Ergebnissen, Dank der Thatsache, dass die beiden functionell verschiedenen Arten von lichtperci- pirenden Retinaelementen, die Stäbchen und Zapfen nicht wie im all- gemeinen in der Säugernetzhaut beisammen und durcheinander stehend vorkommen, sondern dass jede Thierart im wesentlichen nur eine Sorte dieser Endorgane hat, derart, dass die Netzhäute der Tagvögel fast nur Zapfen, die der Nachtvögel fast nur Stäbchen enthalten. Es ergab sich, dass sich die aus der menschlichen Physiologie bekannten Unterschiede der Stäbehen- und Zapfenerregbarkeit leicht wiederfinden liessen. So günstig ist man nun bei der Untersuchung der Säugernetzhaut nicht gestellt, denn hier sind fast immer Stäbchen und Zapfen promiscue vorhanden. Da die Stäbchen wohl stets bei weitem in der Ueberzahl sind, so werden wohl immer die Erregbarkeitsverhältnisse dieser Endorgane sehr in den Vorder- grund treten müssen, und die Wahrscheinlichkeit, dass die objective Demon- stration der Zapfenfunction gelingen kann, wird von vornherein nicht allzu hoch zu veranschlagen sein. Immerhin aber erschien der Versuch der Mühe werth, und der Erfolg nicht ausgeschlossen, wenn die aus der menschlichen Physiologie bekannten Bedinsungen für die Stäbchenfunctionen von denen der Zapfenthätigkeit sorgfältig gesondert in die Versuche eingeführt wurden. Es war also darauf zu halten, dass die Erregbarkeit der Stäbchen bei Dunkeladaptation nur mit schwachen Reizen, die der Zapfen bei Helladaptation nur mit starken Reizen geprüft wurde. Himstedt und Nagel (12), welche derartige Ver- suche zuerst an Froschaugen anstellten, kamen thatsächlich zu dem Er- gebniss, dass bei Reizung des helladaptirten Auges mit starken Lichtern das heizwerthmaximum den gelben Strahlen des Spectrums (etwa 589 un) zukam, während für das dunkeladaptirte Auge das Reizwerthmaximum etwa bis zur Wellenlänge 544 u» nach dem brechbaren Ende des Spectrums verschoben lag. Hier gelang es also, die Erregbarkeitsverhältnisse der Hans PIPER: 182 Tabelle III. OZIoy ON.LEIS | ‘uorzegdepe]oH Bee SIrS al a a De) [0 ) 9ZIa aypemuos ‘uoryegdepejoyund Ehen 1! Kaninchen II Kanin- Katze 11 | Katze I Hund II az oyıes | ‘uaoryeydepejppH OZtay] 9y.1ejSs ıyos | ‘uolyegdepeppH Besen Dr vl Feel lee Breeze ee eelalnarn ee | [e>) [ng} az aypemyas | ‘aoryeydepejpyung | B Ye) ee onen an 9ZIoN] YES ‘uoryegdepel[od | 9210] oy.ıeys zig oqdemgas | ‘uoryegdepeppyung | uogegdepeipm | 9ZIOY ayoemyos ‘noryegdepefoyundg 9zıay ayU9emyds ‚ ‘uorgegdepepoyundg 16 1.0 Ye) lsl#121% an - a al» 1) Ye) [e) elE le || Fark 2.5 ER Faaker nee Erle Fe Iıalal a | a [o7) - - 9ZIOyT a.LeIS ‘uoryeydepeipH | II | |MTınwwor nn | ELEKTROMOTOR. VERHALTEN DER NETZHAUT BEI WARMBLÜTERN. 183 Stäbchen und der Zapfen, sowie sie nach der Duplieitätstheorie liegen müssen, isolirt darzustellen; dieselbe Möglichkeit ist also für das Säugerauge nicht a limine zu bestreiten. Die Ergebnisse der Messungen, welche unter diesen Gesichtspunkten unternommen wurden, sind in Tabelle III niedergelegt. Im ersten Stabe sind wie früher die Scalentheile angegeben, auf welche der an Stelle eines Collimatorspaltes angebrachte Nernstfaden eingestellt wurde; im zweiten Stabe sind die bei der entsprechenden Collimatoreinstellung wirksamen spectralen Reizlichter eingetragen und in den folgenden Columnen finden sich die Werthe der Actionsströme, ausgedrückt in Millimetern der Ablenkung, welche der optisch projieirte Galvanometerindex auf der Scala durch den Ausschlag der Nadel erfuhr. Die Curven der Figg. 16 bis 18, bei welchen wiederum das Spectrum als Abseisse genommen ist und die Reizwerthe als Ordinaten eingetragen sind, veranschaulichen die am Kaninchen-, Katzen- und Hundeauge unter den Bedingungen der Hell- und Dunkeladaption festgestellten Erreebarkeitsverhältnisse. Bei den Versuchen wurde in der Regel zuerst dem Auge durch etwa viertelstündige völlige Verdunkelung unmittelbar nach der Operation Gelegenheit gegeben, sich dunkel zu adap- tiren. Da das Thier vor dem Versuch einige Stunden lang bereits dunkel gesetzt war und die Operation in ziemlich schwach beleuchteten Räumen vorgenommen wurde, so dürfte durch viertelstündige Ruhepause vor den Reizwerthmessungen eine ziemlich vollständige Adaptation herbeigeführt gewesen sein, deren Constanz sich im Uebrigen dadurch verrieth, dass sechs bis zehn im Zeitabstand von etwa 2 Minuten auf einander folgende Reizungen mit demselben Licht fast vollständig identische Stromwerthe auslösten. Jetzt wurden die Reizwerthe der lichtschwach einwirkenden, homogenen Strahlen des Nernstlichtspeetrums der Reihe nach bestimmt, indem die von diesen ausgelösten Actionsstromgrössen gemessen wurden. In der Regel wurde hierbei wie auch bei den Vögeln mit den langwellisen Strahlen be- gonnen und mit Pausen von 2 Minuten zur Reizung mit mehr und mehr brechbaren Strahlen weiter gegangen, bis das ganze Spectrum durchunter- sucht war. Dann wurde in umgekehrter Reihenfolge, also von den kurz- welligen Strahlen ausgehend und zu den langwelligen fortschreitend, noch- mals die Wirkungsgrösse der spectralen Lichter gemessen und die jetzt erhaltenen Werthe mit den ersten verglichen; bei den manchmal vor- kommenden kleinen Ungleichheiten wurde der Mittelwerth in die Tabelle aufgenommen. In den meisten Versuchsreihen wurde endlich nochmals durch Reizversuche mit Lichtern aus der kritischen Gegend des Spectrums geprüft, welche Strahlenart maximalen Reizwerth hatte, und zugleich be- achtet, ob gleiche Lichter gleiche Stromwerthe gaben, was in grosser An- näherung fast immer der Fall war. 720 700 20 70° AO 184 Hans Piper: % SISERSEN SISTENIRIESTENDSSIERNSIEN NEN BSEERRSSSDSERRERSESSS Fig. 16. Vertheilung der Reizwerthe im Dispersionsspectrum des Nernstlichtes für das Katzenauge. ------ Helladaptation, starke Reize. -.-.-.-.- Dunkeladaptation, schwache Reize. Curve der Energieabsorption im Sehpurpur. Ir S ESS ST BEREIT NIRNSENEEUTE EUR DEZZSZIITESZIZIIIEN Fig. 17. Vertheilung der Reizwerthe im Dispersionsspectrum des Nernstlichtes für das Hundeauge. ------ Helladaptation, starke Reize. --.-----.- Dunkeladaptation, schwache Reize. Curve der Energieabsorption im Sehpurpur. ELEKTROMOTOR. VERHALTEN DER NETZHAUT BEI WARMBLÜTERN. 185 Waren so die Reizwerthe der speetralen Lichter für das dunkeladap- tirte Auge durchgemessen, so wurde durch etwa 10 Minuten dauernde intensive Belichtung mit weissem Auerlicht Helladaptation herbeigeführt, und von neuem, jetzt aber mit starken Lichtern, die Vertheilung der Reiz- werthe im Spectrum festgestellt. Hierbei musste man sich darauf be- schränken, die Lichter der vorwiegend in Frage kommenden und inter- essirenden Spectralregion, also zwischen Gelb und Grün, in verschiedener Reihenfolge zur Reizung gelangen zu lassen, und zwar mussten die Reizungen möglichst schnell nacheinander erfolgen, weil sonst die Grössen der Reiz- Zi un 44Buu N Ss’ S an SEHR SEI BIS » Dos Fig. 18. Vertheilung der Reizwerthe im Dispersionsspectrum des Nernstlichtes für das Kaninchenauge. = Helladaptation, starke Reize. -.-.-.-.- Dunkeladaptation, schwache Reize, — — — Curve der Energieabsorption im Sehpurpur. erfolge wegen der inzwischen eintretenden Dunkeladaptation in zunehmend geringerem Grade vergleichbar gewesen wären. Wie die Curvenbilder lehren, ergiebt sich für das Katzen- und Hunde- auge eine Vertheilung der Reizwerthe, welche mit den Aenderungen des Adaptationszustandes der Netzhaut und der Reizstärke nicht wechselt. Die Curven zeigen in ihrem Verlauf, insbesondere in der Gipfellage über dem 580 up entsprechenden Abseissenort, die Merkmale der aus der menschlichen Physiologie bekannten Vertheilung der Stäbchenreizwerthe oder Dämmerungs- werthe und stimmen auch mit den Reizwertheurven überein, welche die Erregbarkeitsverhältnisse der Stäbchenaugen der Nachtvögel kennzeichnen. In die Figuren sind die Absorptionscurven des Kaninchensehpurpurs, nach 186 Hans PIPpER: den Zahlen Trendelenburg’s! berechnet, miteingetragen, und die Ueber- einstimmung dieser Curve mit denen der Reizwerthe bestätigt nochmals die Vermuthung, dass die hier festgestellte Reactionsweise von den absorptiven Eigenschaften des Sehpurpurs abhängig ist, dass wir es also wohl mit den Erregbarkeitsverhältnissen der Stäbchen, welche ausschliesslich diese photo- chemisch zersetzte Substanz enthalten, zu thun haben. Es ist mir in vielfach wiederholten Versuchen bei Hunden und Katzen nicht gelungen, durch Einführung der Helladaptation und hoher Reizstärken die Erregbarkeitsverhältnisse des Zapfenapparates, so wie sie nach den Er- gebnissen der menschlichen Physiologie und nach den Strommessungen an den Zapfenaugen der Tagvögel liegen müssten, darzustellen. Nur beim Kaninchenauge (Fig. 18) habe ich in einem Falle das für die Zapfenerreg- barkeit charakteristische Reizwerthübergewicht der langwelligen Strahlen bei Helladaptation des Auges und Application hoher Reizstärken nachweisen können, aber wie gesagt nur in einem Falle. Bei allen weiteren Versuchen an Augen derselben Species habe ich immer wieder die für die Stäbchen- erregbarkeit charakteristische Vertheilung der Reizwerthe im Spectrum gefunden, und es dürfte deshalb kaum Neigung bestehen, der einmaligen Feststellung abweichender und zwar den Zapfen eigenthümlicher Reizver- hältnisse allzu viel Gewicht beimessen. Vielleicht lag bei diesem Versuche die Elektrode zufällig an einer günstigen Stelle der Sclera, von welcher die Ströme einer grösseren Anzahl innen gegenüber stehender, functionstüchtiger Zapfen zur Ableitung gelangen konnten. Man wird sich die Frage vorlegen, woran es liegen mag, dass die Bemühungen, die Zapfenfunctionen darzustellen, erfolglos geblieben sind. Wohl sicher ist hierfür das ausserordentliche Uebergewicht der Stäbchenzahl verantwortlich zu machen. Die Katze, als ein vorwiegend nächtlich oder in - gedämpftem Licht sich aufhaltendes Thier, hat nach den Untersuchungen Max Schultze’s? relativ wenig Netzhautzapfen, und die Zapfen der Kaninchenretina sollen nach Schultze nur rudimentär ausgebildet und verkümmert vorhanden sein. Auch beim Hunde wird man wohl meist die Stäbchen in weit überwiegender Zahl reizen oder doch mit grösster Wahr- scheinlichkeit die in den Stäbchen entstehenden Actionsströme ableiten, weil man die Elektrode wohl immer an einer Bulbusstelle anlegt, welche mehr oder weniger peripher von dem stärker zapfenbesetzten centralen Netzhautgebiet entfernt ist. Ist man geneigt, der Lichtreflection im Tapetum Bedeutung ! Trendelenburg, Quantitative Untersuchungen über die Bleichung des Seh- purpurs in monochromatischem Licht. Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. Bd. XXXIV. ° M. Schultze, Zur Anatvumie und Physiologie der Retina. Archiv für mikro- skopische Anatomie. 1886. Bd. Il. ELEKTROMOTOR. VERHALTEN DER NETZHAUT BEI WARMBLÜTERN. 187 für den Sehact zuzuerkennen und anzunehmen, dass die zwei Mal die Netz- haut durchsetzenden Strahlen eine erheblich intensivere Reizwirkung entfalten, so kann man darauf hinweisen, dass durch die grünliche Farbe des Tapetum beim Hunde und bei der Katze nur für die Lichtstrahlen mittlerer Wellen- länge eine beträchtliche Reflexion ermöglicht ist, und man würde vermuthen, dass durch diese Einrichtung die grünen Lichter hinsichtlich ihrer Wirkungs- grösse in der Netzhaut bevorzugt sind. Zusammenfassung. Theoretisches. Die vorstehende Untersuchung hat zunächst ergeben, dass der vom Warmblüterauge entwickelte Dunkelstrom in der weit überwiegenden Mehr- zahl der Fälle von der Cornea zum hinteren Augenpol im äusseren Strom- kreis fliesst, dass er in der Regel langsam sinkt, aber auch vorläufig nicht analysirbare, ausgiebige und sehr plötzlich ablaufende Verstärkungen erfahren kann, dass er in seltenen Fällen nach Passiren des Nullwerthes umgekehrte Richtung annehmen kann, dass dabei aber für die Belichtungsströme das von Kühne und Steiner bei Untersuchungen am Froschauge gefundene Gesetz der constanten Spannungsänderung zu Recht besteht. Dieser letzte Umstand beweist, dass die Actionsströme, welche die Netzhaut in Folge von Lichtreizung entwickelt, gegenüber dem unterliegenden Dunkelstrom, als dessen Schwankungen sie erscheinen, ein selbständiges Phänomen bilden und dass auch die dem Dunkelstrom und die den Belichtungsströmen ent- sprechenden Netzhautvorgänge nicht viel mit einander gemein haben. Die elektromotorische Belichtungsreaction der Netzhaut trat im all- gemeinen in Form einer schnell ablaufenden positiven Schwankung des normal gerichteten Dunkelstromes auf. Unmittelbar nach Erreichung des Maximalwerthes erfolgte ein Wiederabsinken der elektromotorischen Kraft, in einigen Fällen in solchem Grade, dass die positive Schwankung in eine negative überging. Das Grössenverhältniss des positiven zum negativen Theil dieses doppelphasigen Actionsstromes konnte sich derart verschieben, dass die Gesammterscheinung als negative Schwankung mit positivem Vorschlag imponirte. Dieses war in der Regel bei den Zapfen- netzhäuten einiger Tagvögel, Bussard und Taube, der Fall, während bei den Nachtvögeln und Säugern typisch nach einer ausgiebigen positiven Schwankung während der Dauer der Belichtung ein zuerst schnelles, dann aber langsames, unter Umständen bis unter den Dunkelstromwtrth führendes Wiederabsinken des Stromes beobachtet wurde. Schon Kühne beobachtete, dass auf Lichtreizung negative Schwankungen mit positivem Vorschlag am Froschauge auftreten, wenn der Bulbus stark beschädigt und im Absterben begriffen ist. Dieser Stromablauf wird regelmässig bei Belichtung aus dem 188 Hans PIPER: Bulbus heraus präparirter Froschnetzhäute beobachtet, und sowohl Kühne (14 und 15) wie Waller (20), der diese Erscheinung systematisch durch- untersuchte, sind sich darüber einig, dass es sich hierbei um eine Modification des normalen, in positiver Schwankung bestehenden Stromablaufes handelt, welche durch die Läsionen des zarten Organes bedingt ist. Es liest nahe zu vermuthen, dass auch für das Warmblüterauge ganz allgemein die positive Stromschwankung bei Belichtung die Norm bildet und dass negative Schwankungen mit positivem Vorschlag auf mehr oder minder hochgradige Alterationen schliessen lassen. Dann wäre bei dem überwiegend häufigen Auftreten negativer Schwankungen in den Tagvogelaugen allerdings anzu- nehmen, dass die Zapfennetzhäute erheblich empfindlicher gegen Eingriffe aller Art sind als die Stäbchennetzhäute; die Annahme hat indessen bei dem feiner differenzirten Bau und den wahrscheinlich auch feineren Functionen der Zapfen kaum etwas Befremdliches. Bemerkenswerth ist jedenfalls, dass auch hier fast immer das Rudiment einer positiven Schwankung in Form eines positiven Vorschlages erhalten bleibt. Auch die Beobachtung der auf Schädigung und beim Absterben eintretenden Veränderungen des. Stromablaufes bei Warmblüteraugen stützt die Annahme, dass negative Belichtungsschwankungen nicht der Norm entsprechen. Es sei diesbezüglich hervorgehoben, dass man im Laufe einer lange fortgesetzten Versuchsreihe, während deren das freigeleste Auge durch Austrocknen u. s. w. zunehmend leidet, den Uebergang von positiver zur negativen Schwankung mit positivem Vorschlag, ja zu einfacher negativer Schwankung beobachten kann, und man wird nach alledem die Ansicht gerechtfertigt finden, dass die positive Schwankung als die normale Belichtungsreaction zu gelten hat. Waller (20) denkt sich, dass gleichzeitig nach der Lichtreizung zwei entgegengesetzte Processe in der Netzhaut sozusagen wettstreitend ablaufen, deren einer positive, deren anderer aber eine negative Schwankung des Ruhestromes herbeizuführen strebt. In der Norm hat von vornherein der Process, welcher in der positiven Schwankung sein elektrisches Correlat hat, das Uebergewicht über den entgegengesetzt elektromotorisch wirksamen. Dieses Verhältniss kehrt sich aber um, sobald Schädigungen die Netzhaut- reaction modificiren. Dabei scheint es, dass die Latenz des negative Schwankung bedingenden Vorganges grösser ist als die seines Antagonisten, so dass letzterer immer noch die Ausbildung des positiven Vorschlages vor der negativen Schwankung herbeiführen kann. Diese Ansichten Waller’s sind, wie ich glaube, durch die Beobachtungen zwar nicht bewiesen, aber immerhin einigermaassen begründet. Die Latenz zwischen BKeizmoment und Beginn der photoelektrischen Reaction erwies sich in ausgesprochenem Maasse von dem allgemeinen Zu- stand und der ganzen Reactionsfähigkeit der Netzhaut abhängig. Es liess ELEKTROMOTOR. VERHALTEN DER NETZHAUT BEI WARMBLÜTERN. 189 sich zeigen, dass stark schädigende Einflüsse, wie Austrocknung, Abkühlung und die Enucleation die Latenzzeit erheblich in die Länge auszogen. In grösster Annäherung dürfte die kürzeste in den Versuchen festgestellte Latenz der Norm entsprechen. Der Werth dieser Zeiten betrug bei Vögeln 2/00 bis ®/)00 Secunden, bei Säugern etwa das Doppelte. Diese Zeiten sind im Vergleich zu den an Nerven gefundenen relativ gross und lassen ver- muthen, dass als Sitz der elektromotorischen Netzhautvorgänge nach Be- liehtung in erster Linie die Sinnesepithelien, die Stäbchen und Zapfen, in Frage kommen. In gleichem Sinne spricht die Thatsache, dass die Ueber- lebenskraft des enucleirten Auges nach den photoelektrischen Netzhaut- phänomenen beurtheilt, eine erheblich grössere ist, als wir sie von eigentlich nervösen Zellen des Warmblüterorganismus sonst kennen. Die Reaction der Netzhaut auf Verdunkelung erfolgte entweder in einer meist ziemlich langsam ablaufenden Rückkehr des Stromes zu dem vor der Lichtreizung innegehabten Werthe oder — und das war häufiger der Fall — in Form einer ausgesprochenen negativen Strom- schwankung und darauf foigendem Wiederanwachsen der Stromgrösse bis zum ursprünglichen Dunkelstromwerth (Bussard, Huhn, Eulenarten, Säuger). In diesem Punkte verhalten sich also die Warmblüter anders ais der Frosch, bei dem ja positive Stromschwankung als Verdunkelungsreaction typisch ist. Eine Andeutung für ein dem Frosche analoges Verhalten kann man vielleicht in dem positiven Vorschlag der negativen Verdunkelungsschwankung beim Bussardauge sehen, indessen der Umstand, dass diese Beobachtung nur an diesem Versuchsthier zu Recht besteht, verbietet es, allgemeinere Schlüsse daraus zu ziehen. Als Thatsache also, deren Deutung in suspenso gelassen werden muss, ist vorläufig nur hinzunehmen, dass beim Frosch positive, bei den Warmblütern aber negative Stromschwankung auf Verdunkelung der Netzhaut eintritt. Nach dieser nimmt der Strom dann langsam bis zu dem Werth wieder zu, den er vor der Lichtreizung hatte. Ergebnisse von erheblichem, theoretischem Interesse brachte die ver- gleichende Messung der Stromwerthe, welche durch die homogenen Lichter ausgelöst wurden. Es fand sich hierbei für das Zapfenauge der Tag- vögel eine Vertheilung der Reizwerthe im Dispersionsspectrum des Nernst- lichtes, welche von der für das Stäbchenauge der Nachtvögel typisch verschieden war, und zwar wichen die hiernach zu erschliessenden Erreg- barkeitsverhältnisse der Stäbchen und die der Zapfen in ganz derselben Weise von einander ab, wie dieses von Kries an der Hand subjectiver Beobachtungen für die Stäbchen und Zapfen der menschlichen Netzhaut nachwies und beim Ausbau seiner Duplicitätstheorie begründete. Es fand sich nämlich, dass für das Zapfenauge der Tagvögel die langwellisen, für das Stäbchenauge der Nachtvögel aber die Strahlen mittlerer Wellenlänge 190 Hans Piper: maximalen Reizwerth aufwiesen. Die Feststellung, dass diese Unterschiede zwischen Stäbchen- und Zapfenfunctionen durch die ganze Wirbelthierreihe durchzugehen scheinen, hat, wie mir scheint, erhebliches vergleichend- physiologisches Interesse. Dass die Zapfennetzhäute der Tagvögel kaum, wohl aber die Stäbchen- netzhäute der Nachtvögel einer nennenswerthen, durch Zunahme der Reactionsgrösse gekennzeichneten Empfindlichkeitszunahme bei Dunkelaufent- halt fähig sind, ist eine weitere, mit den Feststellungen der menschlichen Physiologie übereinstimmende Thatsache, welche die darauf aufgebauten theoretischen Schlüsse wohl zu stützen geeignet ist. Die Curve, welche die Vertheilung der Reizwerthe für das Stäbchenauge der Nachtvögel kennzeichnet, fällt in vollständig befriedigender Annäherung mit der Absorptionscurve des Sehpurpurs (Curve der absorbirten Energie- mengen) zusammen; daraus ist zu schliessen, dass die Erregbarkeitsverhältnisse der Stäbchen in directer Abhängigkeit von den absorptiven Eigenschaften des in ihnen enthaltenen Sehpurpurs stehen. Dasselbe ist von König und später von Trendelenburg in Bezug auf die subjectiv eruirten Reizwerthe der homogenen Lichter für den menschlichen Stäbchenapparat, also hinsichtlich der Dämmerungswerthe, nachgewiesen. Da der Sehpurpur nur in den Stäb- chen vorkommt, so stützt die Feststellung der erwähnten Uebereinstimmung zwischen Curve der Reizwerthe und der Energieabsorptionscoefficienten die Ansicht, dass diese Gebilde beim Dämmerungssehen die lichtpercipirenden Elemente und Sitz der photoelektrischen Vorgänge sind. Im Säugerauge liess sich nur in einem Falle und nicht mit hinläng- licher Sicherheit bei einem Kaninchen zeigen, dass bei Helladaptation die Netzhaut und Untersuchung mit starken homogenen Reizlichtern die Erreg- barkeitsverhältnisse der Zapfen in den Vordergrund treten, dass aber die dunkeladaptirte Netzhaut die für die Stäbchen typische Erregbarkeit aufweist. Bei allen anderen Versuchen ergab sich unter den Bedingungen der Hell- wie der Dunkeladaptation eine Vertheilung der Reizwerthe, wie sie für das Stäbchensehen charakteristisch ist. Dies ist bei der colossalen Ueberzahl der Stäbchen über die Zapfen wohl verständlich. Im Ganzen rechtfertigen alle angeführten Versuchsergebnisse den auch durch frühere Beobachtungen begründeten Schluss, dass die bei Lichtreizung auftretenden Netzhautströme Begleiterscheinungen für die Reizwirkungen in der lebendigen Substanz der lichtpereipirenden Endorgane, der Stäbchen und Zapfen sind, und dass sie ein Maass für die Grösse dieser Reizwirkung abgeben. Herın Geheimrath Engelmann und Herrn Professor Nagel bin ich für vielfache Anregungen, Berathune und Hülfe bei dieser Arbeit zu grösstem Danke verpflichtet, den hier abzustatten mir eine angenehme Pflicht und Bedürfniss ist. ELEKTROMOTOR. VERHALTEN DER NETZHAUT BEI WARMBLÜTERN. 191 Litteraturverzeichniss, 1. Beck, Ueber die bei Belichtung der Netzhaut von Eledone moschata ent- stehenden Actionsströme. Pflüger’s Archiv. Bd. LXXVIL. 2. Chatin, Sur la valeur comparee des impressions monochromatiques chez les Invertebrees. Compt. rend. de l’ Acad. des Sciences. T. CX. 8. 41. 3. Dewar und M’Kendrick, On the physiological action of light. Trans- actions of the Royal Society of Edinburgh. 1876. Vol. XXVII. 4. Th. W. Engelmann, Ueber elektrische Vorgänge im Auge bei reflectorischer und direeter Erregung der Gesichtsnerven. Beiträge zur Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. Festschrift für H. v. Helmholtz. 1891. 5. Fuchs, Untersuchungen über die im Gefolge der Belichtung auftretenden galvanischen Vorgänge in der Netzhaut und ihren zeitlichen Verlauf. 1u.2. Pflüger’s Archiw. Bd. LVI und LXXXIV. 6. Gotch, The time relations of te photo-eleetric changes in the eyebali of the frog. Journal. of Physiology. 1903. Bd. XXIX. 7. Derselbe, The time relations of the photo-electric changes produced in the eyeball of the frog by means of coloured light. Fbenda. 1904. Vol. XXXI. 8. de Haas, Lichtprikkels en Retinastroomen in hun quantitatief verband. Dissertation. Leiden 1902. 9. Holmgren, Ueber Sehpurpur und Retinaströme. Untersuchungen aus dem physiologischen Institut der Universität Heidelberg. 1882. Bd. II. 10. Derselbe, Ueber die Retinaströme. Zbenda. 1880. Bd. 11. 11. Himstedt und Nagel, Ueber die Einwirkung der Becquerel- und der Röntgen- strahlen auf das Auge. Annalen der Physik. 1901. 4. Folge. Bd. IV. 12. Dieselben, Die Vertheilung der Reizwerthe für die Froschnetzhaut im Dis- persionsspectrum des Gaslichtes, mittels der Actionsströme untersucht. Berichte der naturforschenden Gesellschaft zu Freiburg i. Br. 1901. Bd. XI. 13. Dieselben, Versuche über die Reizwirkung verschiedener Strahlenarten auf Menschen- und Thieraugen. Hestschrift der Universität Freiburg zum 50 jährigen Regierungsjubiläum seiner Königl. Hoheit des Grossherzogs Friedrich von Baden. Frei- burg i. Br. 1902. 14. Kühne und Steiner, Ueber das elektromotorische Verhalten der Netzhaut. Untersuchungen aus dem physiologischen Institut der Universität Heidelberg. 1880. Bd. II. 192 Hans PıpEeR: ELEKTROMOTOR. VERHALTEN DER NETZHAUT D.S.w. 15. Dieselben, Ueber elektrische Vorgänge im Sehorgan. Zbenda. 1881. Bd. IV. 16. H. Piper, Das elektromotorische Verhalten der Retina bei Eledone moschata. Dies Archiv. 1904. Physiol. Abthlg. 17. Waller, On the retinal currents of the frog’s eye exeited by light and exeited electrically. Proceedings. Royal Soc. LXVI und Philosoph. Transactions. Roy. Soc. Vol. CXCHIl. 18. Derselbe, Points relating to the Weber and Fechner law. Retina, musele, nerve. Brain. Vol. XVII. 19. Derselbe, On the „Blaze-currents“ of the frog’s eyeball. Proc. Roy. Soc. Vol. LXVII. Philos. Transact. Roy. Soc. Vol. CXCIV. 20. Derselbe, Die Kennzeichen des Lebens vom Standpunkte elektrischer Unter- suchung. Uebersetzt von E. P. und R. du Bois-Reymond. Berlin 1905. Zeitschriften aus dem Verlage von VEIT & U0MP. in Leipzig. Skandinavisches Archiv für Physiologie. Herausgegeben von Dr. Robert Tigerstedt, 0.0. Professör der. Physiologie an der Universität Helsingfors. Das „Skandinavische Archiv für Physiologie“ erscheint in Heften von 5 bis: 6 Bogen mit Abbildungen im Text und Tafeln. 6 I ‚bilden einen Band. Der‘ Preis des Bandes beträgt 22 #. Centralblatt für praktische AUGENHEILKUNDE Herausgegeben von Prof. Dr. J. Hirschberg in Berlin. Preis des Jahrganges (12 Hefte) 12 .#; bei Zusendung unter Streifband direkt von der Verlagsbuchhandlung 12 .#% 80 2. Das „Centralblatt für praktische Augenheilkunde‘ vertritt auf das Nachdrück ‘ liehste alle Interessen des Augenarztes in Wissenschaft, Lehre und Praxis, vermittelt den Zusammenhang mit der allgemeinen Medizin und deren Hilfswissenschaften und giebt jedem praktischen Arzte Gelegenheit, stets auf der Höhe der rüstig fortschrei- tenden Disziplin sich zu erhalten. DERMATOLOGISCHES- CENTRALBLATT INTERNATIONALE RUNDSCHAU AUF DEM GEBIETE DER HAUT- UND GESCHLECHTSKRANKHEITEN. Herausgegeben von Dr. Max Joseph in Berlin. Monatlich erscheint eine Nummer. Preis des Jahrganges, der vom October des einen bis zum September des folgenden Jahres läuft, 12 #. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes, sowie direet von der Verlagsbuchhandlung. Nenrologisches Centralblatt. Übersicht der Leistungen auf dem Gebiete der Anatomie, Physiologie, Pathologie und Therapie des Nervensystems einschliesslich der Geisteskrankheiten. Herausgegeben von Professor Dr. E. Mendel in Berlin, Monatlich erscheinen zwei Hefte, Preis des Jahrganges 24 %#. Gegen Einsen- dung des Abonnementspreises von 24 .# direkt an die Verlagsbuchhandlung erfolgt regelmäßige Zusendung unter Streifband nach dem In- und Auslande. Zeit 6 hrift ' Hygiene und Infectionskrankheiten. Herausgegeben von Prof. Dr. Robert Koch, Geh, Medicinalrath, und Prof. Dr. G. Gaffky, \ Prof. Dr. C. Flügge, Geh. Medicinalrath und Director Geh. Medicinalrath und Director des Hygienischen Instituts der des Instituts für Infectionskrankheiten zu Berlin, Universität Breslau, Die „Zeitschrift für Hygiene und Infectionskrankheiten“ erscheint in zwanglosen Heften. Die Verpflichtung zur Abnahme erstreckt sich auf einen Band im durchschnitt- liehen Umfang von 30—35 Druckbogen mit Tafeln; einzelne Hefte sind nicht käuflich. ARCHIV. für ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE. Fortsetzung des von Reil, Reil und Autenrieth, J. F. Meckel, Joh. Müller, Reichert und du Bois-Reymond herausgegebenen Archives, hei jährlich in 12 Heften (bezw. in Doppelheften) mit nie im 4 Text und zahlreichen Tafeln. 6 Hefte entfallen auf die anatomische Abtheilung und 6 auf die physiolo- gische Abtheilung. | ‘ Der Preis des Jahrganges beträgt 54 M. Auf die anatomische Abtheilung (Archiv für Anatomie und Ent- wickelungsgeschichte, herausgegeben von W. Waldeyer), sowie auf die physio- logische Abtheilung (Archiv für Physiologie, herausgegeben von Th. W. Engel- mann) kann besonders abonnirt werden, und es beträgt bei Einzelbezug der Preis der anatomischen aumeluns 40 A, der Preis der ee Abtheilung 26 MW. Bestellungen auf das vollständige Archiv, wie auf die einzelnen Ab- theilungen nehmen alle Buchhandlungen des In- und Auslandes entgegen. Die Verlaesbuchhandlune: Veit & Comp. in Leipzig. Druck von Metzger & Wittig in Leipzig. f Ns le, ARCHIV FÜR ANATONIR UND PHYSIOLOGIE. FORTSETZUNG DES von REIL, REIL v. AUTENRIETH, J. F. MECKEL, JOH. MÜLLER, REICHERT vw. DU BOIS-REYMOND- HERAUSGEGEBENEN ARCHIVES. HERAUSGEGEBEN voN Dr. WILHELM WALDEYER, PROFESSOR DER ANATOMIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN, UND Dr. TH. W. ENGELMANN. PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN. JAHRGANG 1905. —— PHYSIOLOGISCHE ABTHEILUNG. —- SUPPLEMENT-BAND. =— ZWEITE HÄLFTE. —= MIT ACHTUNDZWANZIG ABBILDUNGEN IM TEXT UND VIER TAFELN. “' LEIPZIG, VERLAG VON VEIT & COMP, 1905 Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes. (Ausgegeben am 28. December 1905.) IN Physiol. Abtheilung. 1905. Supplement-Band, II. Hälfte. Inhalt. B. DANILEWSKY, Versuche über die postmortale Reizbarkeit der hemmenden Nervenapparate im Herzen der Säugethiere. (Hierzu Taf. XL). WILHELM STERNBERG, Die stickstoffhaltigen Süssstoffe . IE WirıBALD A. NAceı, Ueber Contractilität und Reizbarkeit des Samenleitere: "Erste Mittheilung F.H. Quiz und H.F. Me Die Em pindlichkei des Olires für one ver- schiedener Sehwingungszahl E F. H. Quıx, Die Empfindlichkeit des inenschlalen: Ohne Antwagt an Hexen Prof. Max Wien i R. pu Boıs-ReymonD, Zur Pry sologıe de en : GEORG Fr. NıcotAs, Ueber Ungleichförmigkeiten in der ann digkeit des Nervenprineips, nach Untersuchungen am marklosen Riech- nerven des Hechtes. (Hierzu Taf. XII—XIV.). EB J. Dewırz, Untersuchungen über die Verwandlung der Tnseelenlärsen. 112% Verhandlungen der physiologischen Gesellschaft zu Berlin 1904—1905. N. Zuntz, Ueber die Wirkungen des Sauerstoffmangels im Hochgebirge. — Rawırz, Ueber das Auge der Wale. — R. nu Boıs-ReymonD, Zur Demon- stration der Aufhellung des Blutes. — N. Zuntz, Besonderheiten eines von ihm nach dem Prineip von Regnault und Reiset gebauten Respirations- apparates. — M. BoRcHERT, Ueber die Hirnrinde der Selachier. — R. ou Boıs- REyMmoxD, Zur Physiologie des Springens. — LeEvy-Dorn, Projection kine- matographischer Röntgenbilder. — W. VöLtz, Ueber die Bedeutung des Betains für die thierische Ernährung. — N. Zuntz, Zur Kritik der Blut- körperchenzählung. — Max MüLter, Ueber die eiweisssparende Wirkung des Asparagins bei der Ernährung. — Pınkus, Ueber den zwischen Ol- factorius- und Opticusursprung das Vorderhirn (Zwischenhirn) verlassenden Hirnnerven der Dipnoer und Selachier. — M. Roramann, Ueber combinierte Ausschaltung centripetaler Leitungsbahnen im Rückenmark. — SOMMER- reLD, Zur Kenntniss der Secretion des Magens beim Menschen. — Kon- RAD HeLLy, Demonstration über einen Hund mit Gallenfistel. — NAGEL, Ueber das Niesen. — NAGEL, Contractilität und Reizbarkeit des Samen- leiters. — lAEwANnDowsKy, Zur Anatomie der Vierhügelbahnen. Seite 193 201 287 305 320 329 341 389 416 Die Herren Mitarbeiter erhalten werzig Separat-Abzüge ihrer Bei- träge gratis. Beiträge für die anatomische Abtheilung sind an Professor Dr. Wilhelm Waldeyer in Berlin N.W., Luisenstr. 56, Beiträge für die physiologische Abtheilung an Professor Dr. Th. W. Engelmann im Berlin N.W., Dorotheenstr. 35 portofrei einzusenden. — Zeichnungen zu Tafeln oder zu Holzschnitten sind auf vom Manuscript getrennten Blättern beizulegen. Bestehen die Zeich- nungen zu Tafeln aus einzelnen Abschnitten, so ist, unter Berücksichtigung der Formatverhältnisse des Archives, eine Zusammenstellung, die dem Lithographen als Vorlage dienen kann, beizufügen. Versuche über die postmortale Reizbarkeit der hemmenden Nervenapparate im Herzen der Säugethiere. Von Prof. B. Danilewsky in Charkow. (Hierzu Taf. XI.) Die Untersuchungen der letzten Zeit über das Ueberleben, bezw. die „Wiederbelebung“ des Herzens und anderer muskulösen Organe der Warm- blüter (Langendorff, Locke, Kuliabko, Porter, H.E. Hering, Hedon, Fleig u. A.) haben die Schranken der Methodik bedeutend erweitert im Vergleiche damit, wie sie in dieser Richtung von C. Ludwig und seinen Mitarbeiter grundlegend ausgearbeitet worden war; zu gleicher Zeit ist es den genannten Autoren gelungen, solche hervorragende Resultate zu erzielen, die sich noch vor Kurzem kaum ahnen liessen. Dies bezieht sich besonders auf die Versuche von Prof. Kuliabko über die Wiederbelebung des mensch- lichen Herzens. Selbstverständlich gestatten diese Fortschritte der physiologischen Me- thodik das Gebiet jener Probleme zu erweitern, die sich auf die Physio- logie der überlebenden Organe beziehen. Die Eigenschaften der Letzteren bieten, im Vergleiche mit dem normalen Zustande, einen gewissen Grad von Erniedrigung bezw. von Reducirung des „Biotonus“, nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Beziehung. Eine solche ,„Ver- einfachung“ im vergleichend-physiologischem Sinne bietet ein hohes wissen- schaftliches Interesse, da hier ein hoher Grad der Organisation mit einer allmählichen Reduction der functionellen Thätigkeit combinirt ist. Aber auch unabhängig davon ist diese Methode schon wegen der Möglichkeit der Unter- suchung der isolirten Organe bei allen möglichen künstlichen Bedingungen sehr werthvoll. Archiv f. A, u. Ph, 1905. Physiol. Abthlg. Suppl. 13 194 B. DANILEwSKY: Eine der Aufgaben, die gegenwärtig einer Lösung harren, besteht in der Untersuchung der physiologischen Eigenschaften des überlebenden Nervensystems. Das Studium der topographischen Reihenfolge dieses Ueberlebens beim allmählichen Uebergange zum vollkommenen Absterben, sowie auch das Studium der Einzelphasen dieser functionellen „Redueirung“ bei verschiedenen physikalischen, chemischen und physiologischen Be- dingungen, die Untersuchung der Grundeigenschaften des überlebenden Nervensystems, welche wahrscheinlich nicht gleichzeitig und ungleichmässig erlöschen, sammt den parallel verlaufenden morphologischen Veränderungen desselben — das sind einige der Probleme, die Dank den modernen Fort- schritten der experimentellen Methodik, gegenwärtig zum Gegenstande der Untersuchung werden können.! Schon die vorläufigen Versuche, die ich im Januar 1903 in der an- gedeuteten Richtung über die „postmortale Innervation“ des Herzens beim Kaninchen (nach Langendorff) angestellt babe, haben positive Resultate ergeben, wodurch die Rechtzeitigkeit des Problems dargethan wurde Es handelt sich nun um den postmortalen Einfluss des gereizten N. vagus, bezw. seiner intracardialen Gentra auf die Contrac- tionen des überlebenden Herzens 24 Stunden nach dem Tode des Thieres. In der vorliegenden Mittheilung will ich mich bloss auf eine kurze Darlegung der am Kaninchenherzen gewonnenen Resultate be- schränken. Das Thier wurde durch Verbluten getödtet und in der Kälte etwa bei 0° 24 Stunden gelassen.” In einigen Versuchen wurden die Coronargefässe des Herzens sofort nach dem Verbluten mit einer erwärmten Ringer’schen oder Locke’schen Nährflüssigkeit ausgespült; in anderen Fällen wurde dies unterlassen. Das Herz wurde in situ gelassen. Zur Registration wurde die Herzspitze mittels Häckchen und Faden mit einem kleinen Schreibhebel verbunden. Am anderen, bezw. am dritten Tage wurde eine solche Transfusion mit einer erwärmten und mit Sauerstofi gesättigten Nährflüssigkeit nochmals vorgenommen; beim Wiedererscheinen des Herzschlages wurde eine Reizung ! Die von Fr. Müller und A. Ott in den Versuchen über Wiederbelebung der Gehirncentra bei Kaninchen (Pflüger’s Archiv. 1904. Bd. CIII. 8.493) gewonnenen negativen Resultate sollen, meiner Meinung nach, von weiteren Versuchen in derselben Richtung nicht abschrecken. Eine der Hauptaufgaben besteht darin, eine solche Nähr- flüssigkeit zu erfinden, die nach ihren chemischen und physikalischen Eigenschaften speciell für die Nervensubstanz geeignet wäre. — Interessante Angaben über die Dauer der postmortalen Erregbarkeit des Herzens und der Muskeln finden sich im Artikel von Jul. Rothberger, Pflüger’s Archiv. 1903. Bd. XCIX. S. 441 u. fl. ? Wird der Cadaver bei einer niedrigeren Temperatur conservirt, z. B. bei — 6° oder -- 8°C., so wird das Gelingen der Wiederbelebung unsicherer. ÜBER POSTMORTALE REIZBARKEIT. 195 des N. vagus an verschiedenen Abständen vom Herzen mittelst eines inter- mittirenden Inductionsstromes vorgenommen. Ein positives Resultat, das sich in einer deutlichen, ja sogar zuweilen in einer scharf ausgesprochenen Verlangsamung der Herzcontractionen äusserte, wurde jedoch entfernt nicht in allen Versuchen gewonnen; überhaupt boten die Resultate hinsichtlich der Stärke der Verlangsamung bedeutende Schwankungen dar. Diese Ver- änderlichkeit wird begreiflich, wenn man berücksichtigt, dass die Wieder- herstellung der Contractionen des überlebenden Herzens nach 24 Stunden entfernt nicht immer in der gleichen Weise und im gleichen Maasse vor sich geht: die Belebung des rechten Ventrikels gelang häufiger als die des linken; zu allererst traten die Systolen der Vorhöfe, an den Mündungen der Hohlvenen beginnend, auf. In gelungenen Versuchen bewirkte der Strom von einem Schlitten- induetorium, - welcher von der Zungenspitze vollkommen frei ausgehalten werden konnte, bei einer Entfernung von 4—6"” zwischen den Elektroden und bei einem Rollenabstande von 12—15°”, eine vollkommen deutliche Verlangsamung der Herzschläge bei Reizung des Halstheiles des N. vagus sogar in einer Entfernung von 4°“ vom Herzen. In anderen weniger günstigen Fällen musste behufs Erzielung eines positiven Effeetes für die Schaffung günstiger Bedingungen für das Auftreten von Stromschleifen gesorgt werden, man musste nämlich die Stromstärke be- deutend erhöhen oder das obere Ende des durchschnittenen, zu reizenden Vagus in Berührung mit der Halsmusculatur lassen, oder beide Vagi auf Elektroden nehmen; es genügte übrigens statt dessen die Elektroden dem Herzen näher zu bringen, um wiederum eine deutliche Verlangsamung der Herzschläge zu bekommen. Die Zahl der Systolen verminderte sich um 25 bis 50 Proc. und mehr; in einem Versuche gelang es in 24 Stunden nach dem Tode, einen Stillstand in Diastule während 5 Secunden und mehr zu erhalten, während vorher die Zahl der Herzschläge 90 pro Minute betrug. Eine Verlangsamung der Systolen der Vorhöfe und Ventrikel machte sich während einiger Secunden auch bereits nach der Reizung geltend; bald nach dieser nachfolgenden Verlangsamung wurden die Contractionen für eine gewisse Zeit frequenter, wobei aber die Höhe der Systolen geringer wurde. Wenn aber die Reizung der Nn. vagi eine kurzdauernde war, während einer Secunde z. B., so stellte sich die normale Frequenz sehr schnell nach der deutlichen Verlangsamung wieder her. In denjenigen Fällen, wo das Durchleiten eines reizenden Stromes durch den Stamm der Nn.vagi eine Verlangsamung der Herzschläge bereits nicht mehr zu bewirken im Stande war, konnte letztere doch erzielt werden durch Anlegen der Elektroden an die Aortenwurzel, an die hintere Wand der Vor- 13* 196 B. DANnILEwSsKY: höfe, in der Nähe des Septums derselben oder in der Nähe der Hohlvenen- mündung. Eine Reizung in der Nähe der Wurzel der Art. pulmonalis und weiter nach links von derselben bewirkte eine regelmässige rhythmische Be- schleunigung, welche auch bei direeter Reizung en masse der Nn. accele- rantes entfernt vom Herzen erhalten werden konnte. Es ist von Interesse, dass eine directe unmittelbare — oder durch Stromschleifen bewirkte — Reizung der Herzmusculatur immer eine Beschleunigung lieferte, aber sozusagen eine ungeordnete, partielle, ungleichmässige für die gesammte Musculatur des Ventrikels. Dies spricht offenbar dafür, dass es sich im vorher erwähnten Falle um eine Erregung der beschleunigenden Nerven- apparate und nicht um eine directe Reizung der Musculatur handelt. Nachdem auf diese Weise die Thatsache der Verlangsamung der Herzschläge unter dem Einflusse einer elektrischen Reizung der nervösen Apparate des Warmblüterherzens in 24 Stunden nach dem Tode zweifellos festgestellt worden war, entstand natürlich die Frage, ob man nicht ein ähnliches Resultat auch nach einer längeren Frist, z. B. nach 48 Stunden, erhalten könnte. Leider haben wir in dieser Rich- tung vorläufig wenig Beobachtungen. Am dritten Tage, also nach 48 Stunden nach dem Tode, bewirkte die Reizung der Nn. vagi bei keinen Bedingungen der Stromanbringung eine Verlangsamung der Contraction des rechten Auriculum und des rechten Vorhofs (die übrigen Herztheile con- trahirten sich fast gar nicht); wenn ich aber die Elektroden an die Wurzel der Aorta anlegte, da bekam ich eine vollkommen deutliche Verlang- samung dieser Contractionen; verschob man dagegen die Elektroden nach der Wurzel der Art. pulmonalis und weiter nach links von derselben, so konnte man eine Beschleunigung hervorrufen; dies konnte auch durch eine unmittelbare Reizung der Musculatur erzielt werden. Sofort nach dieser Beschleunigung erfolgte eine langsame, dauernde und starke Contraction, dann stellte sich wieder der vorherige Rhythmus ein. Eine Beschleunigung der Contractionen konnten bei der Reizung zweifellos leichter und in ausgesprochener Weise erzielt werden, als eine Verlangsamung. Die beschleunigenden nervösen Apparate er- hielten sich offenbar länger und stabiler als die hemmenden (vergl. unten — H. E. Hering). Zu gleicher Zeit mit den oben erwähnten Ergebnissen hatte ich Ge- legenheit in diesen Versuchen auch manche Eigenthümlichkeiten zu beobachten, die im Vergleiche mit den normalen Eigenschaften des Herzens und seiner Nerven ein gewisses Interesse darbieten. In der vorliegenden Mittheilung will ich mich bloss auf eine einfache Erwähnung mancher dieser interessanten Eigenthümlichkeiten der „postmortalen‘“ Innervation des überlebenden Herzens beschränken; eine systematische Untersuchung derselben, sowie auch der ÜBER POSTMORTALE REIZBARKEIT. 197 Wirkung mancher Gifte! auf das Warmblüterherz in 24 Stunden und mehr nach dem Tode soll später in meinem Laboratorium vorgenommen werden. A. — In manchen Beobachtungen 24 Stunden nach dem Tode be- wirkte ein starker und häufiger durch die Nn. vagi geleiteter inter- mittirender Inductionsstrom, einen geringeren Grad von Verlangsamung der Herzschläge, als eine schwächere Reizung (e. Erscheinung des „Reizungspessimum‘“).? B. — In anderen seltenen Fällen liess sich eine Verspätung des Effeetes — der Verlangsamung der Herzschläge beobachten; diese trat nicht sofort nach Anfang der Reizung auf, wie dies gewöhnlich der Fall ist, sondern erst nach etlichen Secunden, ja selbst nach 5 bis 6 Systolen, welche fast mit der ursprünglichen Frequenz und Höhe vor sich gehen! €. — Wurde dieselbe Reizung (während 4 bis 6 Secunden) mit Inter- vallen von 8 bis 10 Secunden periodisch wiederholt, so konnte man eine ziemlich rasche Abschwächung der nachfolgenden Effecte der Reizung eintreten sehen, welche sich darin äusserte, dass jede folgende Reizung der Nn. vagi eine immer schwächer ausgesprochene Verlangsamung der Herzschläge hervorbrachte; es trat also das Bild der „Ermüdung“ ein. D. — Nicht selten rief eine Reizung der Stämme der Nn. vagi und der Wand des rechten Vorhofs eine scharf ausgesprochene Verlangsamung der Herzschläge hervor, wobei die Contractionen der Ventrikel einen deut- lichen tetanischen Charakter annahmen, während gleichzeitig die Systolen des rechten Aurieculums und des rechten Vorhofs sogar an Frequenz zu- nahmen. E. — Während der Reizung der Nn. vagi in 24 Stunden nach dem Tode hatte man Gelegenheit ein Sinken der Systolenhöhe zu beobachten, wobei die Frequenz der Herzschläge sich wenig verminderte oder sogar un- verändert blieb. Es ist jedoch zu bemerken, dass die negative inotrope Wirkung in dieser Form relativ sellen zur Beobachtung kam; gewöhnlich eombinirte sie sich mit einer Verlangsamung der Herzschläge. Ein solcher Effect — eine Verminderung der Systolenhöhe — kommt manchmal auch als Nachwirkung nach Beendigung der elektrischen Reizung der Nn. vagi zu Stande. Es ist überhaupt zu bemerken, dass die Wieder- herstellung der Amplitude der systolischen Contractionen nach der Reizung ! Die vorläufigen Versuche haben ergeben, dass diejenigen Herzgifte, welche auf die nervösen Apparate des Herzens wirken (z. B. Atropin in kleinen Dosen), auf das überlebende Herz nach Ablauf von 24 Stunden eine etwas andere Wirkung ausüben, als auf das normale oder auf das frisch ausgeschnittene Herz. ?2 Vgl. meine demnächst in Pflüger’s Archiv erscheinende Mittheilung über den Herztetanus in Folge der elektrischen Reizung. 198 B. DANILEwSKY: dieses Nerven (oder des Herzens selbst) sehr langsam, allmählich, entfernt nieht so schnell, wie im normalen Herzen oder im frisch ausgeschnittenen vor sich geht. Die Versuche also ergeben, dass ein Zeitraum von 24 Stunden nach dem Tode des Warmblüters, wenn dieser in der Kälte con- servirt wird, die Erregbarkeit der hemmenden Apparate des Herzens nicht gänzlich vernichtet. Wenn man annehmen wollte, dass der Stamm des Vagus in diesen Versuchen, aller Wahrscheinlichkeit nach, nur die Rolle eines physikalischen Leiters für den elektrischen Strom! spielte, so müsste man doch eine Erhaltung der Erregbarkeit seiner intracardialen Endapparate in 24 Stunden nach dem Tode, ja sogar noch länger, bis 48 Stunden, zugeben, oder genauer gesprochen — man müsste die Möglich- keit einer Wiederherstellung der Erregbarkeit annehmen. Selbstverständlich ist die Restitution dieser Erregbarkeit nur bei solchen Bedingungen möglich, welche für das überlebende Organ günstig sind, d.h. es ist eine geeignete Nährflüssigkeit, ein Sauerstoffvorrath, eine genügend hohe Temperatur er- forderlich. Was die Frage von der Wirkung anderer Reize, ausser dem elektrischen ?, auf den überlebenden N. vagus betrifft, so habe ich in dieser Richtung keine Beobachtungen. Es drängt sich nun von selbst die Frage auf, ob die angeführten Re- sultate als Beweis dafür zu betrachten sind, dass eben die Nervenzellen, die einen Bestandtheil der intracardialen regulatorischen Apparate bilden, ihre vitalen Eigenschaften, bezw. ihre Lebensfähigkeit während 24 bis 48 Stunden nach dem Tode beibehalten. Diese Frage bietet ein vielfaches Interesse, allein die Beantwortung derselben auf Grund der oben angeführten Versuche wäre nur dann eine bestimmte und positive, wenn wir sicher wüssten, dass die hemmenden Einflüsse auf die Frequenz des Herzschlages nur durch Vermittelung der intracardialen Ganglienzellen zu Stande kommen können. Da wir jedoch der letzten Annahme nur einen gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit beimessen, so können wir eben dadurch auch das Ueberleben, bezw. die Wiederbelebung der intracardialen Ganglienzellen-Apparate in gleichem Maasse für wahrscheinlich halten. ! Controlversuche mit Durchschneidung dieser Nerven am Halse scheinen dafür zu sprechen. ° Ausser dem intermittirenden Inductionsstrome wendete ich auch den constanten Strom und den magnetoelektrischen Inductionsstrom an; das Wesen der Wirkung ist dieselbe; letztere bewirkten ebenfalls eine deutliche Erregung der hemmenden nervösen Apparate im Herzen, ÜBER POSTMORTALE REIZBARKEIT. 199 Im October 1903 erschien eine Mittheilung von H. E. Hering!, in der er eine „Vaguswirkung“ auf’s Herz bei Reizung des Nerven nach Ablauf von 6 Stunden nach dem Tode des Warmblüters und eine „Accelerans- wirkung“ nach fast 54 Stunden (Affenherz) beschreibt. Dieser Autor kommt zum Schlusse, dass, aller Wahrscheinlichkeit nach, der Accelerans seinen Ein- fiuss auf die Musculatur ohne Vermittelung der intracardialen Ganglien- zellen ausübt; was dagegen den Vagus betrifft, so ist die Meinung von Hering in dieser Hinsicht unbestimmt. Hinsichtlich des Ueberlebens des N. vagus während einiger Stunden nach dem Tode des Warmblüters sind noch vorher von P. Kaufmann (in St. Petersburg) positive Resultate erhalten worden; dieser Autor erzielte durch Reizung dieses Nerven nicht nur eine Verlangsamung, sondern auch einen Stillstand des Herzens, welches im lebenden Zustande mittels der Locke’schen Flüssigkeit (nach Langendorff) erhalten wurde. Meinem Assistenten Hrn. Dr. J. P. Michailowsky will ich nicht ver- säumen, für die mir bei der Ausführung einiger der oben angeführten Ver- suche geleistete Hilfe hier meinen Dank auszusprechen. ! Pflüger’s Archiv für die gesammte Physiologie. Bd. XCIX. S. 245. 200 B. DANILEWSKY: ÜBER POSTMORTALE REIZBARKEIT. Erklärung der Abbildungen. (Taf. XI.) Kardiogramme von Kaninchenherzen in situ gelassen; 24 Stunden nach dem Tode „wiederbelebt“ nach O. Langendorff; a, b, ce... Perioden der elektrischen Reizung der Nn. vagi; $., Sec. = Secunden; der Pfeil deutet die Richtung der Bewegung der kardiographischen Curven. Fig. 1. — a starke Reizung der Vagi. Fig. 2. — a,b, ce und d dasselbe; ziemlich rasche Wiederherstellung der normalen Herzeontraetionen nach den Reizungen; grosse Reizbarkeit der hemmenden Nerven- apparate; schwache Nachwirkung. Fig. 3. — Schwache Reizbarkeit dieser Nervenapparate; der Vergleich von a, b und g zeigt eine Art von Ermüdung — die Abnahme der hemmenden Wirkung bei einer und derselben Reizstärke. Fig. 4. — Dasselbe Phänomen von Ermüdung — Schwächerwerden des hem- menden Einflusses eines und desselben Reizes. Fig. 5. — a, b Reizung an der hinteren Wand des rechten Vorhofes; negativ inotrope Wirkung — Abnahme der Systolenhöhe fast ohne Frequenzänderung. Fig. 6.. — Reizung des N. vagus mit einem sehr schwachen Strom (vom rothen Lippenrand kaum fühlbar), in einem Abstande von 4°” vom Herz. Fig. 7. — Starke Reizung des N. vagus; eine deutliche Verspätung der hem- menden Wirkung; starke Abnahme der Systolenhöhe als Nachwirkung. Fig. S. — Direete elektrische Reizung an der hinteren Wand des rechten Vorhofs; a schwache Reizung, b starke, welche tonische Contraction des Ventrikels hervorrief (Stromschleifen in die Herzmusculatur). Die stickstoffhaltigen Süssstoffe. Von Dr. med. Wilhelm Sternberg, Speeialarzt in Berlin. Unter den chemischen Geschmacksreizen ist die Anzahl derjenigen eine begrenzte, welche einen adäquaten specifischen Reiz für die Sinnesempfin- dung der süssen Geschmacksqualität darstellen. Darum sind gerade diese Süssstoffe einer erschöpfenden Zusammenfassung und Vervollständigung am ehesten zugänglich. Von ihnen wiederum sind die beiden ersten Classen am leichtesten vollkommen abzuschliessen, nämlich die der mineralischen Sub- stanzen, die dem „Blei-Zucker“, Saccharum Saturni, entsprechen, und sodann die erste der beiden organischen Gruppen von Süssmitteln, die stickstoflfreien, meist aliphatischen Substanzen, zu denen auch die echten „Zucker“ gehören. Eines grösseren Zuwachses fähig ist nur noch die letzte Classe, die dritte Reihe aller Süssmittel, die schon aus diesem Grunde als die wichtigste angesehen werden kann; dies sind die stickstoffhaltigen, dem „Leim-Zuck er“ entsprechen- den Süssstoffe. Sie werden in der Technik allgemein ebenfalls „Zucker“ und auch in der Wissenschaft von den Franzosen „les sucres“ genannt, wie ja auch in der Pharmacie die versüssten Nichtzucker allgemein Zucker ge- heissen sind, z. B. „Chinazucker“, „Eisenzucker“, „Kalkzucker“. Der Begriff der „Zucker“ hat in der Wissenschaft, ebenso wie der Begriff der „Kohlehydrate“, zu welchen die Zucker jetzt zuzuzählen sind, mehrfache Wandlungen erfahren. Früher benannte man „Zucker“ ohne Unterschied alle süss schmeckenden Substanzen von einer gewissen Zu- sammensetzung, man entnahm also den Begriff von der physiologischen Eigenschaft der Süssigkeit, welche ja überhaupt erst die Aufmerksamkeit des Menschen auf den Zucker gelenkt hatte. In der Technik spricht man all- gemein von den „Nichtzuckern“, von „Entzuckerung“, der Ausnützung der Melasse auf ihren Zuckergehalt. Seitdem es der Forschung gelungen 202 WILHELM STERNBERG: ist, durch die Synthese die Zucker darzustellen und somit die Einsicht in die chemische Zusammensetzung unserer gewöhnlichen Süssmittel zu er- schliessen, unterscheidet man „natürliche“ und „künstliche Zucker“, unter letzteren die „künstlichen echten Zucker“ und die „künstlichen aromatischen Zucker‘, welche einen aromatischen, d. h. ringförmigen Rest enthalten. Die natürlichen Zucker wurden bis Ende des vorigen Jahrhunderts als die Träger des höchsten Grades von Süssigkeit angesehen und demgemäss an- gewandt. Milchzucker, Traubenzucker und vor Allem der Rohrzucker wurden als alleemeines, unentbehrliches Geschmackscorrigens, in der Pharmacie aller Länder, für sämmtliche Arzneimittel von unangenehmem Geschmack verwandt. Von der grundlegenden Erkenntniss ihrer Zusammensetzung aus Kohle und Wasser (Vdwo), welche ihnen den Namen der „Kohlehydrate“ eingetragen hat, bis zur Auffindung der ersten Synthese dieser natürlichen Süssmittel hat es eines Zeitraumes von einem Jahrhundert bedurft. Die Hälfte dieser Zeit ver- ging von der Erkenntniss jener fundamentalen Synthese, welche die allererste organische überhaupt war, bis zur Entdeckung und künstlichen Synthese des ersten nicht zu den Kohlehydraten gehörigen, stickstoffhaltigen Süssmittels. Im vorletzten Decennium des vorigen Jahrhunderts erstaunte die gesammte wissenschaftliche Welt durch die Nachricht, dass es dem deutschen Chemiker Constantin Fahlberg an der John Hopkin’s Universität zu Baltimore gelungen sei, aus dem Steinkohlentheer einen stickstoffhaltigen Süssstoff von ganz eminenter, bisher überhaupt nicht im Entferntesten geahnter Süsskraft darzustellen, das Saccharin, das alsbald für die Pharmacie und auch für die Industrie und Medicin eine hohe Bedeutung erlangte. In eben derselben Zeit wurde Dulein, kurz darauf das dritte Ersatzmittel des Zuckers, Glucin, entdeckt. In die nämliche Zeit fällt auch die Erkenntniss der für die Physiologie des Geschmackes so interessanten Körper, des Cocains! und der Gymnemasäure.? Dennoch haben die Kenntnisse und Untersuchungen dieser Stoffe nicht zur Lösung der fundamentalsten Probleme der Physiologie des Geschmacksinnes beigetragen. Wer eine dieser Fragen in dem Zusammenhange des süssen Geschmackes mit der chemischen Constitution sieht, wird am ehesten Be- ziehungen in einer Zusammenfassung der dritten Classe aller Süssmittel finden dürfen. Denn an Zahl übertreffen sie jetzt schon bei Weitem die beiden übrigen Gruppen der süssen Geschmacksobjecte. Ueberdies kann aber auch nur hier die Zahl noch stetig wachsen. Denn unter allen Süssstoffen ist gerade ihre chemische Zusammensetzung vielfach eine derartige, dass sich, ihrer ringförmigen chemischen Constitution zu Folge, ausserordentlich zahl- 1 1880. B.v. Anrep, Ueber die physiologische Wirkung des Cocain. Pflüger’s Archiv. Bd. XXI. S. 47. b) Oertliche Wirkung des Cocain auf Zungennerven. ” 1886. Capitain Edgeworth. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 203 reiche Derivate von je einem einzigen Süssstofl sogar voraussehen lassen, so dass diese überhaupt erst zu einem Theil dargestellt sind. Alle anderen süss schmeckenden Gruppen lassen eine derartige Mannigfaltigkeit auch nicht an- nähernd zu. Es ist daher gewiss kein Zufall, wenn die drei Ersatzmittel des Zuckers, die fast zu gleicher Zeit entdeckt sind, sämmtlich gerade dieser einen Reihe angehören; ebenso ist es sicher mehr als ein Zufall, dass jeder neue Süssstoff, der fortan bekannt wird, regelmässig derselben Reihe angehört. Schliesslich ist aber auch die Süsskraft dieser stickstoffhaltigen Süss- stoffe der aromatischen Reihe die allergrösste, ihre Süsse erreicht eine Intensität, wie sie bei Weitem nicht ein einziger Süssstoff aller aliphatischen oder aller mineralischen Verbindungen besitzt. Die Süssmittel dieser Reihe kommen daher nicht allein als Ersatzmittel des echten Zuckers für Zucker- kranke in Anwendung, sondern sogar als Mittel zur Erhöhung der Süss- kraft der gewöhnlichen natürlichen Süssmittel, welche jeder Gesunde jeden Tag zum Süssen anwendet. Das Element selbst, Stickstoff, N, ist ohne Geruch und Geschmack. Der Geschmack erfordert neben dem Stickstoff die Gegenwart von mindestens noch einem anderen Element. Im elementaren Zustande ist Stickstofl ein träges Element, wie schon seine Stellung im periodischen System andeutet, er verbindet sich direct nur mit sehr wenigen Elementen und geht über- haupt auch nur schwierig chemische Reactionen ein. Um so mehr erweist er sich reactionsfähig in Verbindung mit anderen Elementen. So kommt es, dass man neben anderen Elementen den Stickstoff in zahlreichen süss und auch bitter schmeckenden Verbindungen antrifft. Die einfachste stickstoffhaltige Verbindung der Fettreihe ist Cyan, so benannt, weil es mit Eisen blaue (zvevos) Verbindungen liefert. C,N,, Nitril der Oxalsäure, ist ein farbloses, ausserordentlich giftiges Gas, das eigen- thümlich riecht. Der Geruch erinnert an bittere Mandeln, der Geschmack ist bitter. Cyanwasserstoff HCN, Blausäure, (= Säure des „Berlinerblau“). Die Dämpfe besitzen schon einen an Bittermandelöl erinnernden, stechenden Geruch, der im Schlunde heftig reizend wirkt und daselbst unangenehmes Kratzen erzeugt. Auf Zusatz von alkalischen Basen oder von Alkalicarbo- naten verschwindet der Geruch. Diese Säure reagirt nicht sauer gegen Pflanzenfarben und schmeckt auch nicht sauer. Schon 1 bis 2 ”& schmecken intensiv bitter. Die Nitrile sind die Cyanide der Alkoholradicale, sie haben einen nicht unangenehmen, ätherischen, schwach lauchartigen Geruch. C,H,-CN Propionitril, C,H,-CN Butyronitril, C,H,-CN Valeronitril riechen angenehm, bittermandelartig. 204 WILHELM STERNBERG: Die Isocyanide, Isonitrile, Carbylamine haben einen unerträglichen, furchtbaren Geruch. Isoeyanäthyl, 0,H,—NC, ist eine widerlich bitter riechende Flüssigkeit. Ein aromatisches Cyanid, Cyanid der Benzolreihe, des aromatischen Kohlenwasserstoffrestes ist Benzonitril, Phenyleyanid, 0,H,-CN. Es riecht wie Bittermandelöl, ebenso Chlorbenzonitril und Jodbenzonitril. m-Oxybenzonitril schmeckt intensiv süss, OH-C,H,-CN, OH an en während das Amid bitter schmeckt: m-Oxybenzo&säureamid Das Nitril der süss schmeckenden m-Amidobenzo&säure NH, NB, EDS | ist m-Amidobenzonitril: | | _C00H SE ZEN ein süss schmeckender Farbstoff. Die Stickstoffbasen der Alkoholradicale. Durch Einführung von Alkoholradiealen an Stelle von H in das NH, entstehen die N-Basen der Alkoholradicale, die Amine der Fettreihe, die in physikalisch und chemischem Sinne dem NH, sehr ähnlich sind. Diejenigen Amine, welche niedrige Alkoholradicale enthalten, sind dem NH, äusserst ähnlich und stärker basisch, da ja der positive Charakter des Alkyls den- selben erhöht. Sie besitzen ammoniakalischen Geruch, indessen nimmt bei zunehmendem C-Atomgehalt die Flüchtigkeit ab, so dass die höchsten Glieder dieser Reihe geruchlos sind. Der erste Repräsentant, die einfachste organische Base, CH,NH, Methyl- amin, riecht ammoniakalisch und zugleich fischartig. Der Geruch ist zum 2 DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 205 Verwechseln dem des Ammoniak ähnlich, dennoch ist eine Differenz erkenn- bar; es ist der organische Alkylbestandtheil, wie auch in den übrigen Homo- logen, schon durch den Geruch herauszumerken. (CH,),N riecht ammoniakalisch und durchdringend fischartig. Die wässerige Lösung von Trimethylamin N (CH3), schmeckt bitterlich, ebenso Tetraäthylammoniumhydroxyd (C,H,),NOH. C,H,NH, Aethylamin riecht stark ammoniakalisch und hat einen ätzenden, keinen echten Geschmack. N(CH,),J Tetramethyl-Amonium-Jodid hat bitteren Geschmack. Hydroxylamin NH,-OH ist dem Ammoniak NH, sehr ähnlich, hat aber nicht mehr den Geruch. Hydroxylaminderivat der Alcohole ist das tertiäre Isobutylglykol-P- Hydroxylamin = 2-Methyl-2-Hydroxylamino-Propandiol (1,3) = C,H, ,0;N = [(OH)-H,C],-C-(CH,)-NH-OH, es reagiert alkalisch und schmeckt süss. Tertiäres Isobutylelyceryl-#-Hydroxylamin = 2-Methylol-2-Hydroxylamino-Propandiol (1,3) UHREN = [(OH)-CH, ],-C-NH(OH) schmeckt süss. Das Oxim des süss schmeckenden Dioxyaceton CH,(OH)-CO-CH,(OH), entsprechend der Formel (OH-CH,),-C = N-OH schmeckt auch süsslich. Diese Aminbasen sind integrirende Bestandtheile von vielen in der Natur weit verbreiteten Körpern. Ein Derivat des Methylamins ist Kreatin, der regelmässige Bestand- theil des Fleisches und der Fleischbrühe, deren belebende Wirkung auf seiner Gegenwart beruht. ‚“B; GEN | NNH,. COOH NH, Der eine Rest ist der Rest des Guanidins CENH, so dass Kreatin als NH, Methylguanidin-Essigsäure aufgefasst werden kann. Diese Verbindung 206 WILHELM STERNBERG: schmeckt bitter; p-Methyl-phenyl-guanidin-Nitrat ist zwar in kaltem Wasser schwer löslich, zeichnet sich aber doch durch einen intensiv bitteren Ge- schmack aus. ! Phenylguanidin schmeckt scharf laugenhaft.? Theobromin, Dimethylxanthin G,H;N,—0, = C,H, (CH,),—N;O, NH N ZINN co © CH N(CH,) & „ NZ 60 N(CH,) schmeckt bitter. Essigsaures Theobromin-Natrium, Agurin, C,H,N,0,-Na, CH,COONa soll von salzig bitterem Geschmack und alkalischer Reaction sein. Es schmeckt allen Versuchspersonen sehr bitter, der salzige Geschmack wurde niemals wahrgenommen. Diuretin ist eine Combination von Theobromin-Natrium mit salieylsaurem _ Natrium. Der Geschmack ist süsslich bitter. Theoein, 1, 3-Dimethylxanthin 0,H,N,O,. Seiner chemischen Zusammensetzung nach ist das Theocin ein Re- präsentant der drei möglichen isomeren Dimethylxanthine: Theobromin, Theophyllin und Paraxanthin, deren Verwandtschaftsverhältniss zu einander und zu dem grundlegenden Purinkern sich in folgenden Formeln zur Dar- stellung bringen lässt: IN—6C HN—CO CH, — N—CO | | Is el 20 56—’N CO C—NH CO C—N—CH, ao), I na | Den | Som 3sN_4C_9N HN—C-_N/ H—N—C-N/ Purinkern 2, 6-Dioxypurin 1, 7- Dimethylxanthin = Xanthin = Paraxanthin CH,—_N--CO HN--CO CH,—N-—-C00 ke | es] CO C—NH CO C—N—CH, CO C—N—CH, | RN IN als BR S CH—N-C-NZE om No NH cn nn 1, 3-Dimethylxanthin 3, 7-Dimethylxanthin 1, 3, 7-Trimethylxanthin = Theoein = Theobromin = Coffein ' 1904. Adolf Kaempf, Ueber Darstellung aromatisch substituirter Guanidine aus Cyanamid. Berichte der Deutschen Chemischen Gesellsch. Bd. XXXVI. S. 1684. ? Ebenda. S. 1682. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFF. 207 Sehr anschaulich lassen sich die Formeln der Xanthinderivate nach einem Vorschlage von Krüger und Schmid! in der Weise wiedergeben, dass man unter Weglassung der den methylirten Xanthinen gemeinsamen Atomgruppen die drei in 1-, 3-, 7-Stellung befindlichen Stickstoffatome durch die Ecken eines Dreiecks ersetzt denkt. Beim Xanthin sind die drei Ecken mit Wasserstoff, bei den Methylderivaten entsprechend der Constitu- tion mit Methylgruppen ersetzt. H CH, H H TH 7>H 7H 7ZCH, MB -.. en ie Xanthin 1-Methylxanthin 3-Methylxanthin 7-Methylxanthin (Heteroxanthin) CH, N CH;n = ee . CH ." H H CH, N >>CH, >CH, 7 CH, eT a sole 1, 3-Dimethylxan- 1,7-Dimethylxanthin 3, 7-Dimethylxanthin 1,3, 7-Trimethyl- thin, Theophyllin Paraxanthin Theobromin xanthin, Coffein ES Theocin löst sich bei gewöhnlicher Temperatur in 180 Theilen Wasser. Es schmeckt sehr bitter. Theoein-natr. acetic. schmeckt bitter. Methyltheobromin, Trimethylxanthin, das Alkaloid Coffein oder Thein, der wirksame Bestandtheil des Kaffees, schmeckt bitter CH,- C,H,N,—0, N(CH,) N Coffein ist nur schwach bitter. Der bittere Geschmack des Kaffees und auch des Thees rührt nur zum Theil von diesen Verbindungen her. Der Geruch des Kaffees ist aber jedenfalls nicht von der Anwesenheit dieser Verbindungen abhängig, denn Coffein ist durchaus geruchlos. Allein die belebende Wirkung der Getränke beruht auf ihrer Gegenwart. ! Hoppe-Seyler’s Zeitschrift für Physiologische Chemie. Bd. XXXVI. Heft 1. 1902. 8.3. M. Krüger u. J. Schmid, „Der Abbau des T'heophyllins, 1, 3-Dimethyl- xanthins in Organismus des Hundes.“ 208 WILHELM STERNBERG: Es ist gewiss nicht ein blosser Zufall, dass die Menschen allüberall auf den verschiedensten Punkten der Erde auf die verschiedenen, aber ein und denselben wirksamen Bestandtheil enthaltenden, Materialien gestossen sind, die sie zu ihren Genussmitteln gemacht haben. Die Salze aller Ammoniumbasen haben häufig schon in minimalen Mengen einen ausserordentlich bitteren Geschmack. Die Hydrazine sind den Aminen ähnliche Basen. CH,—NH NH, Methylhydrazin riecht ähnlich wie Methylamin. C,H,—NH-NH, ist von ätherischem und schwach ammoniakalischem Geruch. Von den Aminen der zweiwerthigen Alkohole besitzt Aethylendiamin C,H,(NH,), ammoniakähnlichen Geruch. Pentamethylendiamin CH,(NH,)—(CH,),—CH,(NH,) hat in ausserordentlichem Maasse den charakteristischen Sperma- und Piperidingeruch. Diäthylendiamin C,H,,N, besitzt eine ringförmige Atombindung und hat die Gonstitutionsformel NH RD Identisch mit Piperazin ist Hexahydropyrazin in Wasser leicht löslich. Die wässerige, nicht ätzende Lösung zeigt stark alkalische Reaction und bitteren Geschmack. Hexamethylentetramin hat einen ausgesprochen süssen, hernach aber etwas bitteren Nachgeschmack. Diese Geschmacksqualität veranlasste Cohn!, die Constitution dieser chemischen Verbindung, im Gegensatz zu den früheren Forschern, mit der der Zuckergruppe in Verbindung zu bringen. Deshalb leitet er die Formel von einer Methylenarabinose ab CH, =C—CH—CH—CH—CH NG | | | NH NH, NH, NH Tannopin (Bayer & Cie.), Hexamethylentetramintannat, . (CH,),N, : (C,,H,005)3 ! Ueber die Constitution des Hexamethylentetramins. Journal für praktische Chemie. 1897. Bd. LVI. (N. F.) S. 346. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 209 ein Condensationsproduct von Tannin und Hexamethylentetramin, ist un- löslieh und geschmackfrei. Saliformin (J. D. Riedel), salicylsaures Hexa- methylentetramin, C,H,;N,- C,H,‘ OH-COOH, in Wasser löslich, soll säuer- lich schmecken. Ein neues Derivat des Hexamethylentetramins ist Hetralin, von der chemischen Fabrik von Möller & Linsert in Hamburg dargestellt. Das Hetralin, nach seiner chemischen Zusammensetzung ein Dioxybenzolhexa- methylentetramin, eine Verbindung des süss schmeckenden Resoreins mit Hexamethylentetramin, ist ein 60 Proc. Hexamethylentetramin enthaltender nadelförmiger Körper, der in heissem Wasser im Verhältniss von 1:4, in kaltem Wasser im Verhältniss von 1:14 löslich ist. Es besitzt einen stark süsslichen, nicht unangenehmen Geschmack. Helmitol, anhydromethyleneitronensaures Hexamethylentretramin, C,H,0,(CH,),N, ist das Hexamethylentetraminsalza der Anhydro-Methylen -Citronensäure, deren Structurformel wahrscheinlich CH,—CO0H 0—CH, 0-4 CH,— COOH ist. Helmitol reagirt sauer und ist in Wasser im Verhältniss von 1:10 löslich, der Geschmack ist angenehm säuerlich. Diesen angenehmen Ge- schmack zählt Heuss! zu den Vorzügen dieser Verbindung gegenüber dem Hexamethylentetramin. Den Alkoholaminen stehen die aromatischen Amine gegenüber, sie sind jenen sehr ähnlich, besitzen basischen Geruch und sind schwächere Basen, da ja die Phenylgruppe C,H, negativen Charakter besitzt. Sie haben einen nicht unangenehmen, schwach basischen Geruch. Anilin C,H,.NH, hat schwach eigenthümlichen, faden aromatischen, honig- ähnlichen Geruch und einen sehr scharfen, brennenden Geschmack. Methylanilin, C,H,-NH.(CH,), riecht anilinähnlich, aber etwas stärker und aromatischer. Dimethylanilin, C,H.N(CH,),, riecht scharf basisch. Diphenylamin, (C,H.),NH, riecht angenehm blumenartig und schmeckt brennend, aromatisch. Die quaternäre Base Trimethylphenylammoniumhydroxyd, C,H;N - (CH,),OH ist stark alkalisch und schmeckt wiederum bitter. _ 2 Henss-Zürich, Monats. f. prakt. Dermat. 1903. Nr.3. Bd. XXXVI. 8.126. Archiv f. A. u. Ph. 1905. Physiol, Abthlg. Suppl. 14 C 210 WILHELM STERNBERG: C,H;-NH-NH,, Phenylhydrazin, der Geruch erinnert an Anilin. Glycose-Phenylhydrazon CH,(OH).[CH(OH)], CH: N,H-C,H, schmeckt bitter. Glycoso-o-Diamidobenzol NH HK, 20 sehr bitter schmeckt das Anhydrid: Anhydro-Glycoso-o-Diamidobenzol. Sehr bitter schmeckt Glycoso-m- und Glycoso-p-Diamidotoluol NH CH; i CH, 12000: Ebenfalls sehr bitter schmeckt Biglycoso-o-Diamidobenzol Glycoso-y-Diamidobenzo&säure C,H, „COOHX IH,,0 ist geschmacklos. Sehr bitter schmeckt auch Glycosido-Guajacol 0.C,H. ‚0; CH, & Orlleid 0.CH,,. Glycosotoluid schmeckt bitter. Das Ammoniakderivat des Bittermandelöls, Hydrobenzamid (C,H, -CH:),N, schmeckt schwach süss, das isomere Amarin sehr bitter. Amarin (Triphenyldihydroglyoxalin) ist geruch- und geschmacklos, in Wasser unlöslich 0,,H,sN» C,H,-CH.NH | SCH:C.H. Oo oder ! CH,-0: NH DCH-C,H,. G,H,.C-NH ISBAtRüscher, AO, 917. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 211 Allerdings ist Amarin unlöslich in Wasser, leicht löslich in Alkohol und Aether. Anfangs fast geschmacklos, schmeckt es hernach doch schwach bitter. Die Salze sind meist schwer löslich, schmecken dennoch intensiv bitter. Trinitroamarin, C, H,,N,O,, ist nur wenig löslich in siedendem Wasser, schmeckt dennoch stark bitter. Die Salze sind wenig löslich, schmecken aber stark bitter. Einen fünfgliedrigen Ring, mit einem Stickstoff- und vier Kohlen- stoff-Atomen stellt Pyrrol C,H,.N=C,H,(NH) vor: Pyrrol (rvooog feuerroth) riecht wie Chloroform süss. Sein Hydroderivat ist Pyrrolidin C,H,(NH) = Tetramethylenimin HC C.H, CHIL:cH) % NH N NH Die 1-«-Pyrrolidincarbonsäure C,H,NO, NH-CR, COOH-CHX | CH,— CH, schmeckt stark süss. Von den sechsgliedrigen Ringsystemen mit einem Stickstoffatom be- ansprucht die Chinolingruppe ein besonderes Interesse als Muttersubstanz einer Reihe von wichtigen pflanzlichen Basen. Chinolin selbst C,H,N 4H Hy Ö Ä BAND SA 3H-C SL € | c Hß a ae. ıH hat einen eigenthümlichen charakteristischen Geruch. Chinolingelb C,,H-N(CO),C,H, soll (Roser) süss schmecken. 14* 212 WILHELM STERNBERG: Von Fünferringen mit zwei Stickstoffatomen kommt die Pyrazolgruppe in Betracht Die bekannteste der Pyrazolonverbindungen ist das Antipyrin, Di- methylphenylpyrazolon C,H,,N,0 — 1,2,3- (oder nöy-) Phenyldimethyl-5- oder «-Pyrazolon. In etwa 200 Theilen kalten Wassers löslich, schmeckt es bitter. Riedel giebt an, dass es schwach süsslich schmeckt. CH, -C°—=CH—CO CH,.N__ NH, Antipyrinsalieylat = Salipyrin Riedel (Salazolon, Salipyrazolin) C,H,,N;0-C,H,O, soll herb süsslich schmecken. Sechserringe mit 2 Stickstoff-Atomen sind die Pyrazine. Hexahydropyrazin ist das Piperazin. Ganz entsprechend den Aminen sind die ihnen in chemischem Sinne so ähnlichen Phosphine. Das Aethylphosphin hat einen wahrhaft bewältigenden Geruch und erzeugt auf der Zunge und bis tief in den Schlund hinab einen intensiv bitteren Geschmack. Tetraäthylphosphoniumhydroxyd (C,H,),POH schmeckt ebenfalls bitter. Tetramethylstiboniumjodid (CH,),-SbJ schmeckt bitterlich. Die Terpene sind Kohlenwasserstoffe von der Formel C,,H,,, die Campher C,,H,,0 enthalten ausserdem Sauerstoff und sind mit den Ter- penen eng verwandt. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 213 Der Japancampher, der gewöhnliche ie C, 0A, 0 = CH. L, „hat brennenden bitteren Geschmack“. ! Der olefinische Terpenalkohol, Rhodinol (. Citronellol) C,.H;00 = (CH,),0:CH.CH,.CH,.C(CH,)H.CH,.CH, (OH) „recht angenehm süsslich und rosenartig“.? Die olefinischen Terpenalkohole sollen sämmtlich süss riechen. Ein Aminocampher? hat süssen Geschmack CH, CH——CH.NH, | | CH, 20. -CH, CH, ———-C(CH,) — CO Beilstein giebt an: Aminocampher C,.H,,NO = C,0H,;(NH,)O „wachsartig, riecht durchdringend“. P. Cazeneuve* giebt von einem o-Aminocampher an: „il a une saveur, legerement amere, une odeur vireuse rappelant le vieux tabac. 11 est insoluble dans l’eau. Ce corps est e&videmment de nature basique“. CHAzH? CsH\4 | (Ü Bitter schmeckt Camphoramate d’ammonium C!°H1!8(AzH?)AzO°® + H,O, ebenso schmeckt eine andere Campherverbindung bitter: „laeide-phenol d’amethylcamphoph£nolsulfone“ ! B. Fischer, Zehrbuch der Chemie für Pharmaceuten. 1900. S. 460. ® Ferd. Tiemann und R. Schmidt, Ueber die Verbindungen der Citronellal- reihe. Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. 1896. Bd. XXIX. 8. 923. ® Association frangaise pour l’avancement des sciences. Seance du 14 aoüt 1889. Compte rendu de la 18 me session Paris, premiere partie, p. 278. „M. Cazeneuve a obtenu un amidocamphre & saveur franchement suceree. Discussion.“ * Sur de nouvelles bases derivees du Camphre, les Camphamines. Bulletin de la societE chimique de Paris. 1889. T. II, [3]. p. 715. 5 Wurtz, Le camphoramate d’ammonium a une saveur legerement acide, amere, tres fugace. Dictionnaire de chimie pure et appliquee. T.1, 2. p. 718, 214 WILHELM STERNBERG: C°H!? SO2)(OH)?O „lacide qui est incolore, A saveur acide, amere et adstringente.“' 4% Dihydrobenzaldehyd C,H,O, CHX CS. cHo Fe SOUL riecht intensiv stechend, affieirt die Schleimhaut stark und reizt zu Thränen. er C,H,NO = C,H,-CH(N- OH)ß-Derivat schmeckt unangenehm süss.? 2-Aethylphendiol (4,5)-Methylal (1) Be C,H,00; = C,H, -C,H,(OH),.CHO Hydrastinin C,H,,N0, = Cu YCH,CHO) -CH, -CH, NH(CH,), C,H,,NO,-HC] die wässerige Lösung schmeckt sehr bitter und reagirt stark alkalisch. Zu den Aminen gehört die grosse Klasse der bitter schmeckenden Ver- bindungen, welche die Eigenschaft des Geschmackes überhaupt in höchster Intensität besitzen. Die organischen Pflanzenbasen, die Alkaloide, sind fast sämmtlich tertiäre Amine von ringförmiger Anordnung, sie schmecken in ausserordentlich hohem Masse bitter, so schwerlöslich oder unlöslich sie auch sind. Sie sind chemisch nicht indifferent, sondern besitzen die charakte- ristischen alkalischen Eigenschaften; ebenso stellen sie auch physiologisch und pharmakologisch höchst differente Substanzen, äusserst gefährliche Gifte, zumal Muskel- und Nervengifte dar. Im Gegensatz zu den zahlreich bitter schmeckenden Basen muss die geringe Anzahl der bitter schmeckenden Säuren aulfallen. Bitteren Geschmack haben auch nur organische Säuren, und auch von ihnen nur wenige, wie die Cetrarsäure, Stietinsäure, Colombo- säure, Hopfenbittersäure (Lupulinsäure), Gymnemasäure und die derselben nahestehende Chrysophansäure, Bittersäure. Werden die organischen Basen, die Amine, mit der entgegengesetzten Gruppe, der Säuregruppe COOH, combinirt, so entstehen die Aminosäuren. Einestheils noch Aminbase, anderentheils Säure, vereinigen sie in sich den Charakter der Säure und Base im selben Molekül, so dass sich beide ent- gegengesetzte Gruppen in manchen Reactionen aufheben. Denn vergeblich sucht man nach saurer oder alkalischer Reaction, vergeblich nach saurem ! Note de M.P. Cazeneuve, Sur un acide-phenol derive du camphre. Kbenda. Comptes rendus. p. 743. ? 1890. Arthur Eichengrün u. Alfred Einhorn, Ber. d. Deutsch. Chem. Ges. Bd. XXI, S. 2885: „Ueber den Dihydrobenzaldehyd“: „Das «-Oxim bildet ein farb- loses oder schwach gefärbtes Oel, von stark oliven ölartigem Geruch; es ist in Alkohol, Aether, Essigäther, Eisessig leicht löslich, in Benzol u. Ligroin unlöslich. Das -Oxin ist in den beiden letzten Lösungsmitteln löslich, besitzt den gleichen Geruch wie die isomere Verbindung: süssen, aber unangenehmen Geschmack“. ee ee EEE EEE DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 215 Geschmack, diese Verbindungen reagiren neutral. Im Geschmack und der Reaction auf Pflanzenfarben gleichen sie daher den Salzen und stellen gewissermaassen intramoleculare Salze dar. Im Gegensatz zu den bitter schmeckenden Aminbasen, den organischen Basen oder Alkaloiden, schmecken die Aminosäuren süss. Unter den Aminosäuren mit offener C-Kette schmecken,. wie bereits! angegeben, die a-Aminosäuren der zweiten bis zur sechsten Reihe süss. Fränkel’ giebt jedoch an: „Für den süssen Geschmack der Amido- essigsäure giebt es keine Erklärung und auch keine Analogie.“ Nochmals wiederholt er diese Annahme, indem er behauptet: „Die höheren Amidofettsäuren besitzen diesen Geschmack nicht mehr.‘‘ Freilich bald darauf? giebt er doch das Gegentheil der kurz zuvor aufgestellten Behauptung zu: „Die Amidosäure der zweiten bis zur vierten Reihe in der Alphastellung sind daher süss.“ Für den süssen Geschmack der zweiten Amidosäure giebt es also sehr wohl Analogie. Wenn dieselbe noch nicht über die sechste Reihe hinaus- reicht, so ist einmal zu bedenken, dass die weiteren Glieder noch gar nicht erforscht sind, und dass sämmtliche physikalischen Eigenschaften in den höheren Gliedern allmählich sich verändern. Wenn Fränkel behauptet, dass es für den süssen Geschmack der zweiten Amidosäure keine Erklärung giebt, so ist dies nicht zutreffend, da bereits drei Jahre zuvor nicht nur die Erklärung des süssen Geschmackes dieser einen Amidosäure, sondern sämmtlicher «-Amidosäuren gegeben wurde. Wenn diese Erklärung auch noch nicht für alle stickstoffhaltigen Süssstoffe zutrifft, so begründet sie doch den süssen Geschmack gerade der «-Amidosäuren am allereinfachsten und ungezwungensten. Cohnheim* giebt an: „Das Glyeocoll, das daher seinen Namen hat, und die anderen &-Aminosäuren schmecken süss, während die 5- und y-Aminosäuren geschmacklos sind.“ Emil Fischer’ giebt, an der auch von Cohnheim herangezogenen Stelle, über den süssen Geschmack dieser Verbindungen Folgendes an: „Der Geschmack steht bei den Aminosäuren in einer gewissen Ab- hängigkeit von der Structur, und da er manchmal auch zur Unterscheidung ! Beziehungen zwischen dem chemischen Bau der süss und bitter schmeckenden Substanzen und ihrer Eigenschaft zu schmecken. Archiv für Physiologie. 1898. S. 467. — Geschmack und Chemismus. Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnes- organe. 1899. 8. 394. ® Siegm. Fränkel, Die Arzneimittelsynthese auf Grundlage der Beziehungen zwischen chemischem Aufbau und Wirkung. 1901. 2. Aufl. 8. 95. 2252101. * Cohnheim, Chemie der Kiweisskörper. 1904. S. 13. ° Emil Fischer, Ueber eine neue Aminosäure aus Leim. Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. 1902. Bd. XXXV. S. 2662 und 2663 Anm. 216 WILHELM STERNBERG: dieser sonst so ähnlichen Stoffe dienen kann, so erscheint es mir nützlich, meine Erfahrungen über diese Eigenschaft zusammenzufassen. Süss schmecken alle von mir geprüften einfachen «-Aminosäuren der aliphatischen Reihe.! Kostet man die festen Substanzen, so ist die Empfindung, wie leicht begreiflich, schwächer bei den schwerer lösbaren Produeten. Bekannt ist der süsse Geschmack beim Glycocoll, Alanin, Leucin. Ich führe dann weiter noch als von mir geprüft an: Synthetische &-Amino-buttersäure, «-Amino- n-valeriansäure, &-Amino-isovaleriansäure und &-Amino-n-capronsäure. Bei den %-Aminosäuren tritt der süsse Geschmack zurück, denn die 8-Aminobuttersäure ist fast geschmacklos und die %-Amino-iso-valerian- säure schmeckt sehr schwach süss und hinterher schwach bitter. Die einzige „-Aminosäure, die mir zur Verfügung stand, die „-Amino- buttersäure, ist gar nicht mehr süss, sondern hat nur einen schwachen, faden Geschmack. Aehnlich liegen die Verhältnisse bei den Oxyaminosäuren, denn das Serin («-Amino-$-Oxypropionsäure) und die a-Amino-7-oxyvaleriansäure sind recht süss, während dem Isoserin (#-Amino-«-Oxypropionsäure) diese Eigen- schaft gänzlich fehlt. Die «-Pyrrolidincarbonsäure schliesst sich den aliphatischen Verbin- dungen an, denn sie schmeckt stark süss. Anders liegen die Verhältnisse der aromatischen Gruppe. Die Phenyl- aminoessigsäure C,H.-CH(NH,)COOH und das Tyrosin sind nahezu ge- schmacklos, sie schmecken ganz schwach fade, etwa wie Kreide. Im Gegensatz dazu steht das Phenylalanin C,H,-CH,-CH(NH,)-COOH, welches süss ist. Bei den zweibasischen Aminosäuren zeigen sich ebenfalls Unterschiede. So schmeckt die Glutaminsäure schwach sauer und hinterher fade, während die Asparaginsäure stark sauer ist, ungefähr wie Weinsäure. Der angenehme Geschmack der meisten «-Aminosäuren steht offenbar in gewissem Zusammenhang mit ihrem Vorkommen in den Proteinstoffen, und diese Beziehung erinnert ferner an die Beobachtungen von OÖ. Emmer- ling? über das Verhalten der verschieden constituirten Aminosäuren gegen- über einigen Schimmelpilzen.“ 0. Emmerling® hatte den Nachweis geführt, dass selbst die chemisch so sehr nahe stehenden Körper wie die isomeren « bezw. $ u. s. w. ami- dirten Säuren in physiologischer Hinsicht nicht gleichwerthig sind, sondern sich ausserordentlich verschieden verhalten in Bezug auf ihre Assimilations- fähigkeit seitens niederer Pilze. Von «- und 5-Aminosäuren sind nur die ! Vgl. W. Sternberg, Chemisches Centralblatt. 1899. Bd. II. S. 58. ? Diese Berichte. Bd. XXXV. S. 2289. » 0. Emmerling, Aminosäuren als Nährstoffe für niedere Pflanzen. Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. 1902. Bd. XXXV. 8. 2289. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 217 ersteren als Nährsubstanzen für manche Pilze anzusehen. Ebenso ver- schieden war das Verhalten der entgegengesetzt gerichteten Zucker, der enantiomorphen Configurationen, den Hefepilzen gegenüber. Wie der Unter- schied im Gährungsvermögen regelmässig war, genau so regelmässig macht sich keinerlei Unterschied im Geschmack aller dieser Formen geltend. Als die eine einzige Ausnahme, die auch nur ein Mal beobachtet ist, bleibt immer noch Asparagin ohne jedes weitere Beispiel. Gohnheim! behauptet, indem er auf die eben angeführte Angabe von Emil Fischer hinweist: „Die beiden Stereoisomeren schmecken nicht ver- schieden.“ Eine derartige Angabe von Fischer findet sich jedoch an der angeführten Stelle nicht. Ein Abkömmling der ersten Aminosäure, Carbaminsäure, ist der zweite Süssstoff, Dulein, der im Zusammenhang mit dem ersten Süssstoff, Saccharin, behandelt werden soll. Glyecocoll?® (Glyein, Leimsüss) schmeckt süss, wenn auch nicht so intensiv süss wie Zucker, der saure Geschmack der Essigsäure ist durch die neutralisirende Kraft der stark basischen NH,-Gruppe aufgehoben. Alkylderivate des Glycocolls sind folgende: Methylglycoll, Sarkosin: CH,—NH(CH,) ‚3 | =NÜCH, C0O-0H CH,— COOH. Der Name (o«o£) deutet den physiologischen Ursprung an; Spaltungs- product des Kreatins, das in jedem Fleische vorhanden ist, geht es beim Kochen in die Suppe über, wo es auch von Liebig entdeckt worden ist. Der Geschmack ist süss, wenn auch nur schwach süss. Sarcosinanhydrid schmeckt bitter. Trimethylglycocoll, Oxyneurin, Betain, das in der Beta vulgaris ent- halten ist, CH,— [N (CH,), OH] —COOH schmeckt süsslich, riecht moschusartig. Phenylaminoessigsäure, C,H, -CH-NH, COOH, ist nahezu geschmacklos. Ein weiteres Derivat des Glycoll COOH | H CH,-NX H ! Cohnheim, Chemie der Eiweisskörper. 1904. 8. 13. ?2 E. Fischer, Ber.d. Deutsch. Chem. Gesellsch. 1902. Bd. XXXV. Ill. S. 2660. ® H. Braconnot, Ann. de Chim. et de Physigque (Gay-Lussac u. Arago). 1820. [2] Bd. XIIL. S. 113. 218 WILHELM STERNBERG: ist das Kreatin COOH | CH, LEN CN. NH Kreatin, Methyleuanidinessigsäure NH, (NH)C(NH,)-N(CH,)-CH,-COOH, CCNH N(CH,)- CH, - COOH schmeckt bitter. Von den Glycocolläthern! ist Glycinäthylester stark basisch, von eigenthümlich aminartigem Geruch, Glycinmethylester ist in allen Eigen- schaften dem Aethylester so ähnlich, dass beide kaum von einander unter- schieden werden können. Glyeocolläthyläther NH,-CH,:C00-C,H,, mit Wasser mischbar, besitzt eigenthümlichen aminartigen Geruch, der an frischen Cacao erinnert. Die Dämpfe riechen stechend. ? Eine Verbindung des Glycocoll mit der Cholsäure Q,,H,,O, ist die Glycocholsäure C,,H,,NO,, eine der beiden, die Hauptmasse der Galle darstellenden, Gallensäuren. Die Glycocholsäure ist in Wasser fast unlöslich, reagirt sauer und schmeckt süss. Die zweite in der Menschengalle vorkommende Gallensäure ist die Taurocholsäure, eine Verbindung der Cholsäure C,,H „O0, mit dem Taurin. Taurin, Aminoäthansulfosäure NH,-CH,—CH, -SO,H, vereinigt in sich die Eigenschaften eines alkoholischen Amins und einer Sulfosäure, ist daher zugleich Base und Säure und vermag mit Alkalien unbeständige Salze zu bilden, hingegen nicht mit Säuren; die Amid- und die Sulfogruppe im Molekül neutralisiren sich gewissermaassen gegenseitig, daher hat auch Taurin neutrale Reaction. Doch ist Taurin geschmacklos, freilich auch nur in heissem Wasser leicht löslich. Die in der Schweinegalle vorkommende Hyoglycocholsäure (,,H,,NO, bildet in Wasser lösliche Alkalisalze, welche bitter schmecken. Die dritte aliphatische Säure ist die Propionsäure (ze®rov, rzov d.h. die erste ölige, fettige Säure). Methylaminopropionsäure schmeckt süss, Phenylalanin C,H,"CH,-CH(NH,)- COOH schmeckt süss. 11888. Journ. f. prakt. Chemie. |2]) Bd. XXXVI. S. 150—181. Theodor Curtius und Franz Goebel, „Ueber Glycoeolläther.‘“ ® Curtius und Goebel, Ueber Glycocolläther. 1888. 8. 167. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 219 p-Oxyphenylalanin ist Tyrosin, die Verbindung, die Liebig im Käse (tvoos) fand: B-para-oxy-phenyl-«-Aminopropionsäure 1,4-C,H,(OH)- CH, - CH(NH,)COOH ist nahezu geschmacklos. Freilich ist die Verbindung auch nicht leicht löslich. Tyrosin löst sich bei 20° in 2450 Theilen, bei 100° in etwa 150 Theilen Wasser, in Alkohol kaum, in Aether gar nicht löslich. Aus Tyrosin C,H,(OH)-CH, - CH(NH,)COOH wird jedoch durch Hinzutritt einer zweiten NH,-Gruppe ein Süssstof. Denn G,H,(NH,)-CH, -CH(NH,)-COOH p-Aminophenyl-a-Aminopropionsäure NIE J- Cu. Cnsi, con = 1?,4-Di-Aminohydrozimmtsäure schmeckt süss.! C,H,(NO,)-CH, -CH(NH,)COOH schmeckt bittersüss. p-Nitrophenyl-«-Aminopropionsäure = 4-Nitro-1?- Aminohydrozimmtsäure no, )-oin-cna)-cooi. Die vierte fettige Säure, die Buttersäure, ist von unangenehmem Geruch. So unangenehm aber die freie Säure riecht, so angenehm riechen ihre salzartigen Verbindungen mit den gewöhnlichen Alkoholen, die Ester. Ein wirkliches Aromaticum entsteht, wenn der schlecht riechende Amyl- alkohol sich mit der schlecht riechenden Buttersäure zum Salz Amylen- hydrat vereinigt. Das reine Buttersäurehydrat CH,—CH,—CH,COOH soll beissend sauer, hintennach süsslich wie Salpeteräther schmecken. CH, -CH,CH(NH,)-COOH o-Aminobutitersäure schmeckt süss, (CH,),C(NH,)— COOH «-Aminoisobuttersäure süss, 3-Aminobuttersäure NH, :CH,-CH,. COOH "1885. Liebig’s Annalen der Chemie. Bd. CCXXXIX. 8. 228. 220 WILHELM STERNBERG: ist „fast geschmacklos“ nach Fischer. Nach meinen! Untersuchungen hat es einen bitteren Nachgeschmack. y-Amidobuttersäure ist nach E. Fischer gar nicht mehr süss. CH,.CH,-CH(NH-CH,)COOH Methylaminobuttersäure schmeckt süss, Trimethylaminobuttersäure OH - N(CH,),- CH(C,H,)-COOH ist geschmacklos, das Anhydrid schmeckt bitter. Amino-oxybuttersäure schmeckt süss CH, -CH, -(NH,)-CH.- (OH). COOH. ? Amino-oxy-iso-buttersäure?® schmeckt nicht mehr süss CH, -C(OH)- (CH, - NH,)COOH. Die fünfte Fettsäure, die gewöhnliche Baldriansäure ist nicht die nor- male Verbindung. Die normale Pentylsäure ist schwieriger darzustellen und unwichtiger. Die in der Natur vorkommende Baldriansäure, die einzige natürliche anormale Fettsäure, d. h. mit verzweigter Kohlenstoffkette, COOH | CH, | CH EA CH, CH, besitzt einen charakteristischen Geruch. Der bezeichnende Geruch der Baldrian- wurzel kommt allein der Baldriansäure zu. Es findet sich häufig die Angabe, dass die baldriansauren Salze süss schmecken. Pinner* giebt an, dass selbst Zincum valerianicum Zn(C,H,O,),, so schwer löslich es auch in kaltem Wasser ist, süss schmeckt. Ja sogar vom Chininum valerianicum wird angegeben, dass es süssen Beigeschmack hat. Gorup-Besanez’ gab an, dass Amidovaleriansäure (Butalanin) GE NO 0, HEN, = COOH von bitterlich scharfem Geschmack sei. ! Chemisches und Experimentelles zur Lehre vom Coma diabetieum. Zeitschrift für klinische Medicin. 1899. Bd. XXXVII. ° P. Melikoff, Untersuchungen über die Glycidsäuren. Liebig’s Annalen. Bd. CCXXXIV. 1886. S. 208. „Ihre wässerige Lösung schmeckt süss.“ ® Ebenda. Bd. CCXXXIV. S. 217. „Ihre wässerige Lösung hat keinen süssen (seschmack.“ SBinmnter.1831.28:2128: ® Gorup-Besanez. 1873. 8. 210, DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 221 o-Amino-iso-valeriansäure (CH,),- CH’CH(NH,)- COOH schmeckt süss. o-Amino-n-valeriansäure CH,—CH,—CH,—CH(NH,)-COOH schmeckt süss. $-Amino-iso-valeriansäure, 2-Amino-2-Methylbutansäure (CH,),- C-(NH,)-CH, COOH schmeckt nach Emil Fischer „sehr schwach süss und hinterher schwach bitter“. Wenn Cohnheim mit Hinweis auf die Angabe von Emil Fischer behauptet, dass „die #- und „-Aminosäuren geschmacklos sind“, so verdient gerade diese von Emil Fischer an der citirten Stelle vom süss- bitteren Geschmack dieser $-Aminosäure ein erhöhtes Interesse. CH, - CH, -CH, - CH(NH.-CH,)COOH schmeckt bitter. Der Geschmack der o-Amidophenylvaleriansäure! NH, < YCH, - CH, CH,- CH, COOH ist nicht angegeben. Das Anhydrid der ö-Amidovaleriansäure CH,- NH- Cu, Cu, Cm, | co | \ = NH-CH,-CH,-CH,-CH,.C0, a-Piperidon = a-Oxypiperidin ist eine giftige Base, in jedem Verhält- niss löslich in Wasser. Die Derivate des Piperidins CH, CH,- CH, CH,- CH, NH sind Körper von exquisit bitterem Geschmack. ? %-Oxy-a-Piperidon = 0o—NH,—y(OH,) Valeriansäure-Anhydrid OH-CH-CH,: CH, | | =T% C,H,0,N CH,-NH-CO schmeckt süsslich. ! Ludwig Diehl und Alfred Einhorn. Aachen 1887. Bd. XX. S. 377. 2 Archiv für erperim. Pathologie. 1900. Bd. XLIV. 8. 278. „Ueber einige Synthesen im Thierkörper.“ H. Hildebrandt. 222 WILHELM STERNBERG: Die Fettsäure der sechsten Reihe ist die Capronsäure, sie ist schon wenig flüchtig, die Bezeichnung deutet auf den Bocksgeruch. Die Ester dieser und der höheren Fettsäuren sind sehr geschätzte Aromatica, sie bilden den Bestandtheil des Bouquets der feinen Weine. Je feiner die Marke, desto reichlicher die Menge an diesen Estern. Tritt Verseifung ein, so macht sich der Bocksgeruch bemerkbar. Die Capronsäure kommt in der Natur sehr verbreitet vor, wie alle Fettsäuren mit gerader Kohlenstoffatomzahl. Es ist eine merkwürdige Thatsache, dass die Natur im Thier- und auch im Pflanzenreich vorzugs- weise die Fettsäuren mit gerader Kohlenstoffatomzahl, in den Fetten fast ausschliesslich die normalen Fettsäuren mit gerader Kohlenstoffatomzahl herstellt. Die Aminosäure der sechsten Reihe ist die vom glänzenden (Asvxos) Aussehen Leucin benannte Verbindung CH, ‚20H, - CH— CH—COOH. CH, | NH, Die Angabe, der man noch vielfach begegnet, dass Leuein die in der o-Stellung amidirte normale Capronsäure sei, ist unrichtig. Sämmtliche Leueine sind anormal. Die Leucine, d-, l-, i-Leucin, sind erst in neuester Zeit von E. Fischer! chemisch rein erhalten worden. Daher kommt es, dass eine Geschmacks- probe, die von J. Munk (27. VI. 1900) und mir ausgeführt wurde, den süssen Geschmack nicht ergab. Wir hielten die Verbindung für ge- schmacklos?, von leicht bitterlichem Nachgeschmack. In dem Ausfall dieses nicht süss schmeckenden Gliedes aus der Reihe erblickte J. Munk das Gezwungene meiner Annahme von der Regelmässigkeit des süssen Ge- schmackes in dieser Reihe. Eine Geschmacksprobe des von Neuberg dar- gestellten Leucins (29. X. 1904) ergiebt deutlich süssen Geschmack. a-Amino-n-Capronsäure CH,—CH,— CH,—CH,—CH(NH,)— COOH schmeckt ebenfalls süss. Methylaminocapronsäure CH,—CH,—CH,—CH,—CH(NH - CH,)— COOH schmeckt bitter. Das Leuein und das schon längst vermuthete, doch vergeblich gesuchte natürliche Isomere des Leueins hatte F. Ehrlich in den letzten Abläufen ! Berichte der Deutsch. Chem. Gesellschaft. 1900. Bd. XXXII, II. S. 2370. °® Dies Archiv. 1898. Physiol. Abthle. 8. 471. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 223 der Zuckerfabrikation gefunden.” Diese beiden Aminosäuren stellen also „Nichtzuckerstoffe‘“‘ der Rübe vor. Ueber den Geschmack des Isoleueins macht Ehrlich? folgende An- gabe: „Die wässerigen Lösungen auch des reinsten d-Isoleueins zeigen ebenso wie die Verbindung selbst einen schwach adstringirenden, bitteren, kreide- ähnlichen Geschmack.“ Ich empfand mit Ehrlich deutlich, wenn auch nicht intensiv, den bitteren Geschmack (28. X. 1904). Die Constitution dieser Verbindung, die Ehrlich auch erforscht hat, ist noch nicht bekannt l-«-Pyrrolidin-Carbonsäure C,H,NO, schmeckt ebenfalls süss. Von der Aminotridekansäure NH,(CH,),,. COOH = (0 ;H,,0, N schmeckt der Aethylester C5H,,0,N = (,,H,,NO,- C,H, intensiv bitter. Von der Cetrarsäure C,,H,,0, wird angegeben, sie stelle in Wasser wenig lösliche, intensiv bittere Krystalle dar. Von den zweibasischen Säuren kommen für den süssen und bitteren Geschmack nicht viel Verbindungen in Betracht. Oxalsäureäthylester schmeckt bitter. Von der ungesättigten zweibasi- schen Säure Fumarsäure wird mitunter angegeben, dass sie bitter schmeckt. Das ist aber nicht richtig. Die Fumarsäure C,H,O, trans-Butendisäure HO-0C0—C—H | H—C—CO0H schmeckt rein sauer. Die stereoisomere Maleinsäure (cis-Butendisäure) H—C—COOH H-6-C00H schmeckt auch sauer, aber kratzend sauer, ekelerregend. ! F. Ehrlich, Vortrag auf dem V. Internationalen Congress für angewandte Chemie. Section V für Zuckerindustrie. 3. VI. 1903. — Zeitschrift des Vereins der deutschen Zuckerindustrie. 1903. Bd. LIII. S. 809—829. ? F. Ehrlich, Ueber das natürliche Isomere des Leueins. Berichte der Deut- schen Chemischen Gesellschaft. 1904. Bd. XXXVII. S. 1824. — Ueber den neuen optisch-activen Nichtzucker, das Isoleuein. Zeitschrift des Vereins der Deutschen Zuckerindustrie. Bd. LIV. Heft 581. S. 786. 224 WILHELM STERNBERG: Die Aminosäure der vierten Dicarbonsäure, der Bernsteinsäure COOH CH, p4 | CH, | COOH, ist die Asparaginsäure C,H,NO, = Aminobernsteinsäure CO(OR) | CH, CH(NH,) | COOH Diese Säure schmeckt stark sauer, aber nicht süss. Die Amidoverbindung ist Asparagin Asparagin, wie es in den Spargeln, dem Süssholz und in den Keimen vieler Pflanzen vorkommt, ist in Wasser löslich und verbindet sich sowohl mit Säuren, wie mit Basen. Kahlenberg! macht über den Geschmack dieser Verbindung folgende Angabe: „Asparagin C,H,.NH,.CO.NH,.COOH which dissolves easily in water, is almost perfectly tasteless even im its strongest solutions.“ Allein Piutti? giebt an, dass die eine, die rechtsdrehende Form, süss schmeckt. ! Louis Kahlenberg, The action of solutions on the sense of taste. Bulletin of the University of Wisconsin. 1898. p. 26. ? Sur une nouvelle espece d’asparagine. Note de M. A. Piutti, presentee par M. Pasteur. Compt. rend. 1886. T. CI. p. 137. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 225 „En effet, les isomeres physiques connus sont doues de la m&me saveur; or, tandis que l’asparagine ordinaire possede une saveur indecise, l’asparagine dextrogyre est doue d’une saveur nettement sucr&e, analogue A celle qu’on observe chez beaucoup d’acides amides.“ Von den Dicarbonsäure-Derivaten der IV. Reihe schmeckt die Methyl- asparaginsäure =2-NH,-2-MethylbutansäureCO0OH-—CH,.C(CH,)- NH, - COOH süss säuerlich. Iminosuceinaminsäureäthylester schmeckt süss C00. C,H, | CHN | JSH. CH | CO.NH, Iminobernsteinsäureester ! schmeckt bitter C00C,H, | CH | nm. CH/ | COOH Das nächst höhere Homologe ist die entsprechende Amino - Dicarbon- säure der fünften Reihe, d-Glutaminsäure C,H,NO, = «-Amino-n- Glutar- saure (Glutarsäure = normale Brenzweinsäure COOH—CH,—CH,—CH,— COOH) — a-Amino-Brenzweinsäure COOH -CH(NH,)-CH, -CH, - COOH. l-Glutaminsäure = Amino-normalbrenzweinsäure schmeckt schwach sauer und „hinterher fade“. Jedenfalls ist der Geschmack nicht der süsse. Dem Asparagin homolog ist die Verbindung Glutamin, Amidoglutar- säureamid (COO-NH,)-C,H,(NH, COOH. Hinsichtlich des Geschmackes der Oxy- oder Alkohol-Säuren ergiebt sich Folgendes. Die Glycolsäure, Oxyessigsäure CH, -OH | COOH ! Theodor Lehrfeld, Ueber die Einwirkung von Ammoniak auf Bibrom- bernsteinsäure und auf Bibrombernsteinsäureäthylester. Berichte der Deutschen Che- mischen Gesellschaft. 1881. Bd. XIV. S. 1823. Archiv f. A, u. Ph, 1905, Physiol, Abthlg. Suppl. 15 226 WILHELM STERNBER@G: schmeckt zwar noch sauer wie Essigsäure, aber der Geschmack ist nicht mehr so unangenehm, der saure Geschmack ist mehr angenehm sauer, erinnernd an den sauren Geschmack der Früchte, der Birnen. Das kann nicht überraschen, weil in den Früchten sehr ähnliche Säuren enthalten sind. Besonders ist die Glycolsäure in unreifen Weintrauben, die durch sie, wie alle unreifen Früchte, ihren stark sauren Geschmack haben. Die Oxypropionsäure, die Milchsäure, schmeckt sehr sauer, aber durchaus nicht mehr so kratzend wie ihre Fettsäure, sondern angenehmer sauer, wie etwa eine Fruchtsäure, z. B. Citronensäure oder Weinsäure. Der Geschmack der Fettsäuren, der ein hässlicher, unangenehmer ist, wird also durch den Hinzutritt des Hydroxyls gemildert. So können auch die Oxysäuren, die so verbreitet in der Natur vorkommen, ohne jeden Schaden genossen werden, ohne auf Magen oder andere Theile des Verdauungsapparates ätzend einzuwirken. Die Oxybernsteinsäure COOH | CH, | CH(OH) ] | COOH ist die Aepfelsäure, die Dioxybernsteinsäure ist die COOH GEKOM) | CH(OH) COOH Weinsäure. Sie schmecken angenehm säuerlich. In den unreifen Früchten die unangenehm sauer und bitter schmecken, ist die sauerstoffärmere Aepfel- säure, in den reifen, süss und angenehmer sauer schmeckenden Früchten ist die sauerstoffreichere Weinsäure nebst dem Zucker enthalten. Von den vier Weinsäuren besitzen sämmtliche, auch die beiden inactiven Formen, die Eigenschaft des Geschmackes, ja sie besitzen sogar dieselbe Geschmacksmodalität. Mit den activen Formen besitzen also auch diejenigen Modificationen, die ihre optische Wirksamkeit eingebüsst haben, doch noch die gustische Wirksamkeit, wie dies ja auch bisher regel- mässig bei allen anderen stereoisomeren Gliedern beobachtet ist. In DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. DON diesem Falle tritt aber noch eine für die Theorie höchst wichtige Be- sonderheit auf. Neben der racemischen inactiven Form, welche also im Molekül die beiden inactiven Glieder in sich vereinigt und daher in diese beiden auch wieder spaltbar ist, giebt es hier noch eine zweite inaetive Form, die Meso- weinsäure. Diese inactive Modification der Weinsäure ist nicht spaltbar, sondern das Molekül bleibt in sich geschlossen, trotzdem es zwei asymme- trische Kohlenstoffatome enthält. COOH Da die eine Hälfte der Atomanordnung im Molekül die optische Wirkung auf die polarisirten Strahlen im entgegengesetzten Sinne, aber im selben Grade, wie die andere Hälfte äussert, so ist die optische Wirkung des Moleküls aufgehoben. Trotzdem besitzt es aber doch noch den Ge- schmack, ein weiterer Grund gegen die allgemeine oft wiederholte Ansicht dass die geometrische Anordnung der Atome im Molekül einen bestimmen- den Einfluss auch auf den Geschmack ausübe. Noch angenehmer als die Weinsäure schmeckt die vierwerthige drei- basische Citronensäure C,H,0,=CH, - COOH—C(OH)-CO0H—CH, (COOH). Was die Zuckersäuren betrifft, so schmecken sie nicht mehr süss. d-Glucoheptonsäure-Lacton schmeckt zu allererst etwas süss, zu allerletzt aber bitterlich (Versuch 5. VII. 1900). Der Geschmack von Serin = a-Amino-3-oXy-propionsäure CH,(OH)-CH(NH,)COOH ist ein recht süsser. Fischer giebt an, dass Serin „recht süss“ schmeckt.! „Der Geschmack war bei beiden Präparaten“ — natürliches und ! Emil Fischer, Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. Bd. XXXV. S. 2663 Anm. 152 228 WILHELM STERNBERG: synthetisches Serin ist gemeint — „süss“1, hingegen ist Isoserin = ß-Amino- «-Oxy-propionsäure CH(NH,)-CH,(OH)-COOH „so gut wie geschmacklos“!, „dem Isoserin fehlt diese Eigenschaft gänzlich“.? Eine Zusammenstellung ergiebt daher Folgendes: CH, —CH(NH,) —-COOH süss CH(NH,) —CH, — COOH nicht süss CH(NH,) —CH,-(OH) —COOH nicht süss CH(OH) -—-CH,-(OH) —COOH nicht süss CH(OH) -—-CH(NH,) -—COOH sehr süss CH,(NH,) —CH-(OH) —-COOH nicht süss a-Amino-B-Oxy-Buttersäure schmeckt süss, CH, -CH(OH)-CH,(NH,)- COOH. Aminooxyisobuttersäure soll nicht mehr süss schmecken. CH, -C(OH).(CH,-NH,)- COOH. o-Amino-ß-oxy-valeriansäure soll süss schmecken. CH, -CH(OH)-CH,.CH(NH,). COOH. o-Amino-y-oxy-valeriansäure® reagirt neutral und schmeckt süss; „recht süss‘‘ (Emil Fischer®). B'-Oxy-a-Piperidon = d-NH,— y(OH)— Valeriansäure-Anhydrid, C,H,0,N = OH-CH -CH,-CH, C,H .co schmeckt süsslich. Eine neue Oxyaminosäure giebt Fischer an, C,H,O,N, 1-Oxy-a-Pvrro- lidinkarbonsäure, sie schmeckt stark süss. Sie ist die aus dem Leim dar- gestellte, äusserst leicht lösliche Oxyaminosäure. „Die neue Oxyaminosäure ist in Wasser äusserst leicht löslich. Die wässerige Lösung schmeckt stark süss.“ Interessant sind auch in dieser Hinsicht die stickstoffhaltigen Kohle- hydratsäuren. Die Chitaminsäure, 1-Glucosaminsäure schmeckt, wie Neuberg® an- ' Emil Fischer u, Hermann Leuchs, Synthese des Serins, der I- Glucosamin- säure und anderer Oxyaminsäuren. Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. Bd. XXXV. 8. 3792, ” Emil Fischer, Zbenda. Bd. XXXV. S. 2663 Anm. ® Emil Fischer u. Hermann Leuchs, Synthese des Serins, der 1-Glucosamin- säure und anderer Oxyaminsäuren. Kbenda. Bd. XXXV. S. 3798. * Dieselben, Zbenda. Bd. XXXV. S. 2662. ° Emil Fischer, Ueber eine neue Aminosäure aus Leim. Kbenda. 1902. Bd.XXXV. S. 2662. ° Carl Neuberg, Ueber d-Glucosamin und Chitose. Zbenda. 1903. Bd. XXXV. S. 4013. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 229 giebt, „süss, angenehm kuchenartig, wie es für eine «-Aminosäure und gleich- zeitig mehrwerthigen Alkohol zu erwarten ist.“ Has ee OHR OL | RR #9) 00H 0 0 5 20 05,04 2 CH NO, NH, OH HH Die Chitaminsäure COOH -CH(NH,)*[CH(OH)],-CH,(OH) bildet sowohl mit Basen als auch mit Säuren Salze. „Sie scheint! eine Amidooxycapron- säure zu sein, über deren Structur aber erst weitere Versuche Aufschluss geben können.“ C. Neuberg und H. Wolff? haben eine neue a-Oxy-B-Aminosäure dar- gestellt. Da bei ihrer Bildung ein Kohlenstoffatom zum asymmetrischen Kohlenstoffatom wird, so musste nach der Theorie die 2-Aminoglucohepton- säure in zwei isomeren Formen auftreten. In der That haben die Autoren auch diese zweite isomere Säure erhalten.® Diesen beiden Oxyaminosäuren legen die Darsteller unter Benutzung des von E. Fischer und H. Leuchs gegebenen Symbols für d-Glucosamin folgende Formeln zu: eh OH OH | | | | CEROm 00 GE CHNH, (Coon, | | | | 0 H OH H H H H 60H OH CE,(0M6__6__6- CHE.) —C-CooH. du dm u OH B-2-Amino-d-gluco-heptonsäure schmeckt süss und zwar deutlich süss. Die schon früher beschriebene a-2-Amino-d-gluco-heptonsäure schmeckt deutlich süss, „und zwar bei gleicher Öoncentration erheblich stärker‘ als die ß-Verbindung, und hinterlässt einen faden Nachgeschmack.“ ! Emil Fischer und Ferd. Tiemann, Ueber das Glucosamin. Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. 1894. Bd. XXVII. S. 145. ®2 C. Neuberg und H. Wolff, Zbenda. 1902. Bd. XXXV. S. 4018. ® Dieselben, Ueber «- und $-2-Amino-d-glucoheptonsäure. Zbenda. 1903. Bd. XXXVL S. 618. * E. Fischer und H. Leuchs, Zbenda. 1903. Bd. XXXVI. 8. 25. 56. Neuberg und H. Wolff, Ebenda. Bd. XXXVI. 38. 620. 6 Dieselben, Fbenda. Bd. XXXVI. S. 620, 230 WILHELM STERNBERG: Was nun die aromatischen Säuren betrifft, so ist die erste und ein- fachste die einbasische Benzoösäure, Phenylcarbonsäure, Acidum benzoicum C,H,-COOH. Ihren Geschmack bezeichnet Ewald! „süsslich“. Ihre Dämpfe besitzen einen eigenthümlich reizenden Geruch. Auch das Salz Lithium benzoicum Li-C,H,O, soll süsslichen Geschmack nach Liebreich? haben. Nach meinen Versuchen schmeckt es nicht süss. Von den Oxysäuren schmeckt die o-Verbindung, Salicylsäure, süss. OH COOH Vom Natriumsalz der Salicylsäure giebt Tappeiner? an, es schmeckt „salzig bitter“. Nach meinen Versuchen schmeckt es weder salzig noch bitter, sondern süss. Die Salicylsäure löst sich leicht in Boraxlösung. Diese Lösung be- sitzt intensiv bitteren Geschmack. Sulfosalieylsäure (Merck) OH-C,H,(SO,H)COOH — ——-C00H HS0,— )-08 schmeckt süsslich. 587 Die m-Hydroxylbenzoösäure schmeckt auch süss, Die para-isomere Säure ist geschmacklos. o-2-Aminobenzoösäure, Anthranilsäure COOH NH, schmeckt süss. Das Anhydrid der Anthranilsäure ist Anthranil y ON ' Ewald, Handbuch der Arzneiverordnungslehre. 1887. 8. 132. ® Liebreich u. Langgaard, Compendium der Arzneiverordnung. 1887. 8. 478. ® Tappeiner, Lehrbuch der Arzneimittellehre. II. Aufl. 1895. 8. 249. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 231 Ein Derivat dieser Säure ist der bekannte Süssstofl „Saccharin“. m-Aminobenzoösäure = Benzaminsäure soll auch süss schmecken. COOH p-Aminobenzoesäure ist geschmacklos: NB, CooH Der Geschmack der drei isomeren Sulfaminbenzoösäuren C,H,(SO,.NH,)COOH ist sauer, nur die o-Sulfaminbenzoösäure bildet ein Anhydrid. Dies ist das Saccharin | | 1,2 C0—C,B,.80,.NH. Trimethyl-m-Aminobenzoösäureanhydrid = Benzbetain Lu schmeckt bitter. Aethyl-m-Aminobenzoösäure NH.(C,H,) AUS SAN: | ist fast geschmacklos, freilich auch schwer löslich. Von den Amidosalieylsäuren C,H,(OH)(NH,)COOH schmeckt die o-Ver- bindung nun ) | | COOH OH schwach süss, die beiden anderen isomeren Amidosäuren sind geschmacklos. p-Amido-m-Oxybenzoösäuremethylester C,H,-OH-NH,.COO-CH, NH, en I 7 C00:CH, 232 WILHELM STERNBERG: ist Orthoform, in Wasser schwer löslich, von schwach bitterem Geschmack. Die Lösung lähmt die Geschmacksnerven. m-Amido-p-Oxybenzoösäure-Methylester ist ,„Orthoform neu“ von J. D. Riedel. Die Lösung, auf die Zunge gepinselt, lähmt die Geschmacksnerven. Ein anderer Ester, p-Diazo-imido-benzoösäure-Methylester C0O.CH, riecht süss. Salithymol (J. R. Riedel) ist Salicylsäurethymylester CH, -C,H,-C,H,-0-CO0C,H,(OH), in Wasser unlöslich, von schwach süsslichem Geschmack. Ein Derivat des Benzoösäure-Thymylesters soll Pyrenol sein. Nach meinen Versuchen schmeckt es süss, nicht intensiv, und hat süsslichen Nach- geschmack. Pyrenol ist ein „leicht hygroskopisches Pulver von aromatischem Geruch und süsslichem, leicht prickelnden Geschmack.“ ! Seiner chemischen Zusammensetzung nach soll es eine Verbindung von Salieylsäure, Benzoösäure und Thymol zu einem Natronsalz sein, von der Formel Durch Einwirkung von Benzoösäure (0,H,COOH) auf Thymol (= Phenol des Cymols OH — ESCHE C,H, wurde der Benzoösäure-Thymylester erhalten, welcher an Benzoösäure ge- bunden und durch Natrium neutralisirt wurde. ' Dr. Fritz Loeb, Berliner klinische Wochenschrift. 1904. S. 1086. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 233 m-Oxybenzoösäure-Amid m-OH-C,H,-CO-NH, ji .NH, OH schmeckt bitter, o-Oxybenzo&säure-Amid ( )—CO-NB, ÖH ist geschmacklos. Hingegen schmeckt süss. m-Oxybenzonitril = m-Cyanphenol OH-C,H, -CN schmeckt intensiv süss. &-4-Diamidohydrozimmtsäure (Para-amido-phenylalanin) 0,H,(NH,)-CH,- CH(NH,)-COOH schmeckt süss.! I CH, C,H,!(2) NH.C,0,-OH (4) NH-0;0.-0H nz NH-CO-COOH Toluylendiaminoxamsäure? ertheilt ihren Salzen intensiv süssen Geschmack, speciell das Ammoniumsalz schmeckt sehr süss. Die m-Phenylendioxaminsäure NH-C0—COOH = S__TNH-—C0.C00H CH, N —NH-C0-C0OH | ist von Richard Meyer’ und Alb. Seeliger dargestellt und untersucht worden. Doch erwähnen die Autoren nichts vom Geschmack. ı A. 229, 227, 228. ® 1891. Hugo Schiff und A. Vanni, Berichte der Deutschen Chemischen Ge- sellschaft. Bd. XXIV. S. 1316. ® 1896. Richard Meyer u. Alb. Seeliger, Ueber die Einwirkung von Oxaläther auf aromatische Amidokörper. Ebenda. Bd. XXIX. S. 2640, 2642, 2643. 234 WILHELM STERNBERG: Von Herrn Geheimrath Prof. Meyer war mir freundlichst eine Quantität der Säure zur Geschmacksprobe (19. XI. 1904) zur Verfügung gestellt, Das Präparat wurde erst durch Auswaschen gereinigt, um der Reinheit der Verbindung für die Geschmacksprobe ganz sicher zu sein. Ich benutze auch hier die Gelegenheit, um meinen ergebensten Dank auszusprechen. Die Säure ist in Wasser ziemlich schwer löslich und schmeckt sauer, nicht süss, nicht bitter. Auch in alkalischer Lösung tritt weder ein süsser noch ein bitterer Geschmack hervor. Den Amidosäuren stehen die Säure-Amide gegenüber. Die Säure- Amide sind Carbonsäuren, deren Hydroxylgruppe durch eine Amidogruppe ersetzt ist; ebenso können die Säure-Amide als Ammoniake aufgefasst werden, deren Wasserstoffatome durch Säureradicale ersetzt sind. Die Amide sind, ihrem chemischen Charakter nach, „zwieschlächtige‘“!, zwischen den Basen und den Säuren stehende Formen. Sie sind, obschon Derivate des Ammoniaks, kaum basisch, der stark positive Charakter der Ammoniak-Wasserstoffatome ist also durch den Eintritt des negativen Säure- radicals aufgehoben. Dennoch besitzen sie die Fähigkeit, mit Säuren salz- artige Verbindungen zu bilden. Andererseits enthalten sie aber auch noch das Säureradical und gehen auch mit Metalloxyden salzähnliche moleculare Verbindungen ein, die allerdings sehr unbeständig sind. Formamid NH,-COH schmeckt bitter. CHCI],, CCl,-CH, schmeckt süss. CCl,-CH(OH),, Chloralhydrat, Hydrat des Trichloraldehyds, schmeckt bitter. ‚OH CC]; CHXyH .COH Chloralformamid, fälschlich vielfach Chloralamid genannt, schmeckt bitter. CH,-CO-NH,, Acetamid, schmeckt sehr bitter. (CH,-CO),NH, Diacetamid besitzt auch bitteren Geschmack und auf- fälligen Geruch. ? Propionamid schmeckt bitter. Butyramid C,H, CO-NH, Die Verbindung repräsentirt farblose Krystallblätter und soll von süssem, hinterher bitterlichem Geschmack sein. ! Gorup-Besanez. 1873. $. 203. ® 1890. W. Hentschel, Berichte der Deutsch. Chem. Gesellschaft. Bd. XXI. 8. 2396. „Ueber Diacetamid.“ DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 235 Das Amid der süssen Salieylsäure ist geschmacklos. m-Oxybenzoösäureamid NS schmeckt süss. Acetanilid — Antifebrin ist in 3,5 Weingeist löslich. CH,-C0O—C,H,NH ( \NH-Co-CH, eh Filehne! giebt an, dass Antifebrin „ohne Geschmack“ sei. Die alkoholische Lösung (1:5,0) schmeckt jedoch unverkennbar bitter, selbst wenn man von dieser Lösung nur einige Tropfen zu einer grossen Menge Wasser fügt, so ist der bittere Geschmack noch deutlich wahrnehmbar. Phenacetin = para-Acetphenetidin, p-Acetamidophenetol = p-Oxyäthyl- acetanilid COCH GH,-0- Nenc ; Er) NH ist in 16 Theilen kalten Alkohols löslich. Phenacetin schmeckt in alkoholischer Lösung bitter. Der bittere Ge- schmack ist unverkennbar deutlich und wird von sämmtlichen Versuchs- personen ohne Ausnahme mit Bestimmtheit angegeben. Natürlich wurden Controlversuche mit Alkohol angestellt. Dagegen sagt Mayr?, der die Schmeckfähigkeit nach Phenacetingebrauch studirte, von Phenacetin und zwar der 3 °/,igen alkoholischen Lösung: „Einen besonderen Nachgeschmack hinterlässt die an und für sich schon wenig schmeckende Lösung nicht“. Die dem Phenacetin CH 7 0. C,H, (1) °4NNH(CH,-C0) (4) entsprechende Verbindung “\NH-(CH,-C0) (4) wurde unter der Bezeichnung ‚„Methacetin“ von den Farbwerken Mühl- heim a. M. vorm. A. Leonhardt & Co. in den Handel gebracht und von t Filehne, A. Cloetta’s Lehrbuch der Arzneimittellehre. 4. Aufl. Freiburg 1878, 8. 109. * Mayr, Beiträge zur Physiologie und Pathologie des Geschmackssinnes. Habilı- tationsschrift. Würzburg 1904. 8. 45. 236 WILHELM STERNBERG: Mehnert! geprüft. Derselbe giebt an, dass die Verbindung „salzig bitter“ schmeckt. Also auch Acet-para-anisidin y0.CH, GELSNH. (CH, - CO) schmeckt jedenfalls bitter. Zur Geschmacksprüfung konnte ich von den Vereinigten Chininfabriken Zimmer & Co., Frankfurt a. M., eine Probe (25. XI. 1904) erhalten. Der Geschmack ist schwach bitter, sicher nicht salzig. Laetophenin = Lactylphenetidin Zu )-L, NC0--CH(OH)—-CH, löst sich schwer in Wasser (1:500), in Alkohol 1:8,5 und schmeckt scharf bitter. Phenosal (J. Riedel) ist salicylessigsaures p-Phenetidin C,H, -0C,H, -NH-CO-CH,0-C,H,-COOH. In Wasser schwer löslich, soll es sauer und bitter schmecken. Stereamid ist unlöslich und geschmacklos. Zwei Amide von Aminosäuren haben deutlichen Geschmack: das Carb- amid, das Amid der Carbaminsäure en schmeckt bitter: der ersten Aminosäure, /NB, y Die vierte Dicarbonsäure, Bernsteinsäure COOH | CH, | CH, | COOH bildet die Aminosäure Asparaginsäure ! Dr. Franz Mehnert, Ueber die antipyretische Wirkung des Methacetins. Wiener klinische Wochenschrift vom 28. März 1889. Nr. 13. Aus der Klinik des Prof. Dr. Jaksch in Graz. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 237 CO(OH) | CH, , CH(NH,) | COOH , deren Amid das Asparagin ist CO(NH,) | CH, | CH(NAH,) | COOH Ein Imid einer Aminosäure ist der süss schmeckende Iminosucein- aminsäure-Aethylester COO-C,H, C00.-C,H, hingegen soll bitter schmecken. Imide mit ringförmiger Kohlenstoffkette sind die beiden höchsten Süssstoffe: Dulein und Saecharin 238 WILHELM STERNBERG: Von den vielen Oxyden des Stickstoffs hat nur die niedrigste Oxydations- stufe N,O Stiekoxydul, Nitrogenium oxydulatum, die Fähigkeit zu schmecken. Diese Verbindung, die den Namen „Lustgas“, „Lachgas“ führt, seit 1799 Davy gefunden hat, dass sie eingeathmet eine fröhliche Stimmung und heitere Laune hervorruft, ist ein farb- und geruchloses Gas, das süss schmeckt. Zahlreich sind die organischen Stickstoffoxydverbindungen, die Nitro- verbindungen. Diese sind die Substitutionsproducte der Kohlenwasserstoffe, in welchen Wasserstoffatome durch die Nitrogruppe, den einwerthigen Rest —NO, der Salpetersäure OH—NOÖ,, ersetzt sind, indem der Stickstoff der NO,-Gruppe direet an Kohlenstoff gebunden ist. Was die Nitroderivate der Kohlenwasserstoffe anlangt, so schmecken die der Fettreihe, die Nitroparaffine, noch nicht süss, sie riechen ätherisch. Erst die Nitroverbindungen der aromatischen Kohlenwasserstoffe schmecken süss. Ebenso schmecken umgekehrt die Halogenderivate der Paraffine süss, hingegen die entsprechenden eyclischen Derivate schmecken nicht, sondern sie riechen. Freilich wird angegeben, Dinitroäther CH, | _NO CH No soll eigenthümlich süssen Geschmack haben und schwach alkoholischen Geruch. 2-Nitroäthylalkohol, 2-Nitroäthanol (1) C,H,0,N = HO.CH, - CH, - NO, hat stechenden Geruch und Geschmack. Trimethylen-monojodhydrin, 3-Jod-propanol (1) OH-CH,- CH, - CH, -J hat schwachen Rettiggeruch und scharfen Geschmack. 3-Nitropropanol (1) CH,(NO,)-CH,-CH,-OH hat schwach stechenden Geruch und Geschmack. Bromnitropropanol = (,H,0,NBr = 2-Br-2-Nitropropanol = CH, - Br(NO,)-CH,OH hat scharfen Geschmack. Nitrobutan (CH,),- CNO, riecht ebenso wie Nitroisobutan (CH,),-CH -CH,(NO,) pfefferminzartig. Dinitrobutan C,H(NO,), hat eigenthümlich süsslichen Geruch. Tertiares Nitrobutan CH, CH, % C-.NO, e ist von scharf ätzendem Geschmack und eigenthümlich säuerlichem, pfeffer- minzartigem Geruch, die Dämpfe reizen die Augen. term. BEE Tee nn en u en u m m nn mn nn nn nn Sn nam am DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 239 2-Nitropentanol CH, -CH(NO,)-CH(OH)-CH,-CH, hat schwachen Al- dehydgeruch und bitteren Geschmack. Nitroisopentanol = 4-Nitro-2-Methylbutanol (CH,),-CH-CH(OH)-CH, «NO, hat schwachen Aldehydgeruch und bitteren, zum Brechen reizenden Geschmack. Dinitrohexan C,H,,0,N,, 1,1-Dinitrohexan = C,H, ,:CH(N0,), ist ein süsslich riechendes Oel von saurem Charakter. CHCl, Chloroform schmeckt süss, CCl,-NO, Nitrochloroform ist eine farblose, bei 112° siedende durchdringend riechende Flüssigkeit, deren Dampf zu Thränen reizt. CC1,(NO,) Chlorpikrin riecht stechend. CH(NO,), Nitroform ist eine starke Säure von unangenehmem Geruch und bitterem Geschmack. ’ Isomer mit den Nitroparaffinen sind die entsprechenden Ester der sal- petrigen Säure. Die Isomerie tritt aus folgenden Formeln hervor: CH,—O—NO Methylnitrit (von OH-NO abgeleitet), CH,—NO, Nitromethan (von OH-NO, abgeleitet). Beide Körperclassen unterscheiden sich dadurch, dass in den Nitroderi- vaten der Stickstoff direct an Kohlenstoff gebunden ist, während in den isomeren Salpetrigsäure-Estern die Bindung von Stickstoff und Kohlenstoff durch ein Brückenatom Sauerstoff vermittelt wird: H CH u | H CH „u CH ee NS N 10) SH—N— Nitroäthan Aethylnitrit Die Ester der salpetrigen Säure sind gewürzig riechende Flüssigkeiten von neutraler Reaction. Aethylnitrit,‚versüsster Weingeist“ riecht durchdringend ätherisch, nach Borsdorfer Aepfeln, und schmeckt eigenthümlich stechend süss, die weingeistige Lösung wird daher als „Spiritus aetheris nitrosi“ offieinell als Geschmackscorrigens angewandt, Spiritus nitrı duleis versüsster Salpetergeist. Dieser süss schmeckenden Verbindung Aethylnitrit CH, —CH,—0—NO = (,H,NO, ist 1 \ {2 1 ) CH,—C NOT C,H,.NO, isomer. 240 WILHELM STERABERG: Die Ester der Salpetersäure haben angenehmen Geruch und süssen Geschmack, haben freilich mitunter auch bitteren Nachgeschmack. Wie die neutralen anorganischen Ester der einwerthigen Alkohole, z. B. (CH,),Cl, und (CH,),(NO,),, schmecken auch die neutralen anorgani- schen Ester der mehrwerthigen Alkohole süss. Ebenso wie der neutrale salpetersaure Ester des einwertbigen Alkohols nämlich Amylnitrat CH, | CH,—0—NO, süss schmeckt, ebenso schmeckt auch der neutrale salpetersaure Ester des dreiwerthigen Alkohols, des Glycerins CH,—OH CH—OH, | CH,—0OH nämlich Glycerintrinitrat, fälschlich Nitroglycerin genannt, CH, -0—.N0, | CH-0—NO, | CH, 0. NO, süss. Fränkel bestreitet!, dass dieser Verbindung der süsse Geschmack zu- kommt: „So ist das Glycerin, wie wir wissen, mit drei Hydroxylgruppen schon ein recht süsser Körper. Doch verschwindet der süsse Geschmack völlig, wenn man die drei Hydroxyle verschliesst (Nitroglycerin, Triacetin).“ Bald darauf? giebt er es aber selbst wieder zu: „Aethylnitrit und Nitro- glycerin schmecken süss.“ : ı Siegm. Fränkel, Die Arzneimittelsynthese auf Grundlage der Beziehungen zwischen chemischem Aufbau und Wirkung. 1901. 8. 94. 2 8. 108. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 241 Triehlorisopropylalkohol, Isopral, CCl,—CH (OH). —CH,, hat einen aromatischen, etwas stechenden Geschmack und kampferartigen Geruch. o-Monochlorhydrin CH,0H | CH.C1 ) CH,-OH „le «-monochlorhydrine est un liquide incolore, inodore, d’une saveur sucree.‘® „ß presente & peu pres les"mömes proprietes physiques que l’«-mono- chlorhydrine.“! CH,-OH CH-OH | CH,C1 Glycerinmononitrat, OH-CH, -CH(OH)-CH,-0-NO,, ist sehr leicht lös- lich in Wasser, ohne Geruch, von scharfem aromatischen Geschmack.? Epichlorhydrin 0,H,0 -Cl=CH,01l- CH. CH, - 0, eine dem Monochloraceton isomere, in Wasser unlösliche Flüssigkeit, riecht süss wie Chloroform. Der Schwefelsäure-Ester (C,H,),SO, ist von angenehmem, pfefferminz- artigem Geruch. C,H,-0.S0,H bildet sich aus Alkohol und H,SO,; daher schmeckt Hallersches Sauer, Mixtura acidi Halleri, wenn man sie einige Zeit stehen lässt, süss; sie ist das beste Geschmackscorrigens für Baldrian. Die Ester schmecken süss, die Nitroparaffine nicht. Werden jedoch die primären Nitroparaffine, die also die Gruppe —CH,-NO, enthalten, durch salpetrige Säure in Nitrolsäuren verwandelt, so erlangen auch sie yN—OH Co ” den süssen Geschmack. t Nitrolsäuren sind Nitro-iso-nitrosokörper: 1. CH,(NO,)(NO), Methylnitrolsäure® sehr leicht löslich, aber leicht zersetzlich. !M. Hanriot, Derives de la glycerine,. Annales de chimie et de physique. einquieme serie. 1879. Tome XVII. p. 73. ® A.Ch. (5) 17, 118. „La mononitroglycerine est un liquide jaunätre, tres soluble dans l’eau et l’aleool, tres peu soluble dans l’&ther.“ ® B. XIII. 114. A. 180, 166. A. 214, 334. Archiv f. A.u. Ph. 1905, Physiol. Abthlg. Suppl. 16 242 WILHELM STERNBERG: % nn N: 0H 2. CH,-CH(NO,)(NO) = CH, — \xo, Aethylnitrolsäure! schmeckt intensiv süss, reagirt sauer und hat schwache Fluorescenz. 3. CH,-CH,-CH(NO,)(NO), Propylnitrolsäure?, auch fluorescirend, schmeckt süss, zugleich aber beissend, während der süsse Geschmack der Aethylnitrolsäureverbindung von dem des Zuckers gar nicht zu unter- scheiden ist. Butylnitrolsäure. ® Isobutylnitrolsäure. ! Oktylnitrolsäure.° C,H,(OH), schmeckt noch nicht süss, ebenso wie CH,(OH), noch nicht süss schmeckt. Dagegen schmeckt aber C,H,(NO,), Nitrobenzol süss, wie ja auch CH,-Cl, schon süss schmeckt; aber nicht (,H,Cl. Nitrobenzol 0,H,NO, ist unlöslich im Wasser und schmeckt doch süss. Der Geruch ist dem des Bittermandelöls sehr ähnlich. Lässt man nun einen einzigen Tropfen in ein grosses mit Wasser gefülltes (17. VlI. 1900) Gefäss fallen, schüttelt und rührt man um, lässt man der geringen Quantität Nitro- benzol lange Zeit, sich zu Boden zu senken, so schmeckt doch das Wasser intensiv süss.® o-Nitrophenol ” schmeckt süss. Dinitrobenzol schmeckt bitter (17.V 11.1900). Trinitrobenzol schmeckt bitter (17. VIL 1900). Chlordinitrophenol (C,H,CINO,),OH: a) 6-Chlor-2,4-Dinitrophenol schmeckt sehr bitter OH-C1-NO,-NO, = 1,2,4, 6. b) 4-Chlor-2,6-Dinitrophenol schmeckt bitter. 11875. Vietor Meyer, A. 175. „Ueber die Nitroverbindungen der Fettreihe.“ S. 96. ZEN ELTDEIS LIG: ® 1897. Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. Bd. X. 8. 2085. Jul. Züblin, „Ueber Normalnitrobutan.“ Normalbutylnitrolsäure gleicht in ihren Eigenschaften völlig der Isobutylnitrolsäure. * A. 175, 146. A 5 Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. Bd. XlI. S. 1885. 6 Wohl, Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. 1884. Bd. XXVL. S. 1817 Note: „Ich weiss nicht, ob die Thatsache allgemeiner bekannt ist, dass sehr verdünnte wässerige Nitrobenzollösungen einen stark süssen Geschmack haben; in den mir zugänglichen Handbüchern habe ich eine Angabe darüber nicht gefunden.“ — Gorup-Besanez erwähnt bereits 1873 S. 473 die intensive Süsskraft des Nitrobenzols. ’ Vom 1, 2, 3-Trihydroxylbenzol, Pyrogallol, giebt Emil Fischer und zwar zwei Mal (i. J. 1889 und 22. Juli 1890) an, es schmecke süss. Der Geschmack ist aber deutlich bitter. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 243 Trinitrophenol: a) 2,4, 6-Trinitrophenol schmeckt sehr bitter. b) 3,4, 6-(%)-Trinitrophenol schmeckt sehr bitter. o-Nitrobenzotsäure schmeckt intensiv süss. Das Baryumsalz schmeckt auch süss. Dinitrobenzoösäure schmeckt sehr bitter. Trinitrobenzoösäure soll auch bitter schmecken. Metanitrobenzoylaminsäure NO, NO, (8 | 00-COOH EU on (1) ENT Die Säure und ihre Salze schmecken stark bitter. Nitrooxybenzo6säure. 2-Nitro-m-oxybenzoösäure schmeckt intensiv süss. CH ©: 00H Alle die anderen Nitro-m-oxybenzoösäuren schmecken süss, ebenso 4-Nitro- m-oxybenzo&säure. Trinitro-m-oxybenzo&säure schmeckt intensiv bitter: OH-C,H(NO,),- COOH. p-Nitrophenyl-s-aminopropionsäure, 4-Nitro-12-aminohydrozimmtsäure !, C,H,(NO,)-CH,-CH(NH,)COOH schmeckt bitter-süss, während C,H,(NH,)-CH,-CH(NH,)- COOH süss schmeckt. p-Aminophenyl-a-aminopropionsäure = 1?, 4-Diaminohydrozimmtsäure. 4-Nitro-2-sulfamidbenzo&säure ist geschmacklos: NO, -S0,-0,H,(NH,)COOH. Dagegen schmeckt das Anhydrid sehr bitter, p-Nitrobenzoesulfinid CH,(NO,)NH m-Nitroanilin 1 A. 229, 228. 16* 244 WILHELM STERNBERG: schmeckt intensiv süss. Meine Versuchspersonen bemerken einen unverkenn- baren, intensiven, anhaltenden Süssgeschmack. o-Nitroanilin schmeckt nicht süss, p-Nitroanilin ist fast geschmacklos. Trinitroanilin, 1,2,4,6—0,H,(NO,),(NH,) ist Pikramid, Amid der Pikraminsäure, löst sich nur wenig in Aether. h Dinitroamidophenol 1,3,5,6—C,H,(NO,),(NH,)(OH) ist Pikraminsäure. Zwei Aminosäuren erfordern eine gesonderte Betrachtung, da die beiden ersten synthetischen Süssstoffe, Saccharin und Dulein, Derivate der- selben sind: die erste aliphatische Aminosäure, die Carbaminsäure, und die erste aromatische Aminosäure, die Anthranilsäure. Die drei isomeren Sulfaminbenzo&säuren sind: Orthosulfaminbenzoösäure, en ee „00A (1) __ 00H N 80,.NH, (2) Meta-sulfaminbenzoösäure SO,-NH, c nn ‚C00H (1) ooon ” So, .nH, und Para-sulfaminbenzoösäure Sa} 90H (1) — (al boomt ° #Ng0,-NH, (4) Alle diese drei Säuren schmecken weder süss noch bitter, sondern schwach säuerlich. Die Intensität dieses sauren Geschmacks der drei Sulfamin- benzoösäuren ist durch ihre Löslichkeit in Wasser bedinst. Darnach schmeckt die Orthosulfaminbenzoösäure am sauersten; der Geschmack der o-Benzamin- sulfosäure, wie diese Verbindung von Fahlberg und Barge! bezeichnet wird, ist ähnlich wie der der Citronen- oder Weinsäure. Die schwerlösliche meta-Säure schmeckt schon weniger sauer, und die in Wasser sehr schwer- lösliche para-Sulfaminbenzoösäure sehr schwach sauer. o-sulfaminbenzoösaures Ammonium? ist geschmacklos. Geht Saccharin in dieses Salz über, so geht der Geschmack vollkommen verloren. - COO-NH, ee | NG 1 1889. Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. „Ueber die o-Sulfo- benzoösäure und einige Derivate derselben.“ Bd. XXI. S. 760. ?2 C. Fahlberg und R. Barge, Ebenda. Bd. XXI. S. 754. — Ira Remsen, Ebenda. Bd. XXI. 8. 1185. — Ira Remsen und W. M. Murton, Amer. Chem. Journal. Vol. XI. p. 403. h DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 245 Beschrieben sind: o-sulfaminbenzoösaures Kali! Necook N 80,-NH, Ester? der o-Sulfaminbenzoösäure 2 c00:.CH. | N, «NH, Anilid® der o-Sulfaminbenzo&säure MNcoNH:C,H, lee 0-Cyanbenzolsulfochlorid*® ER NE Chlorid & nn Su > o-Chlorbenzonitril ann I _ N Von den drei isomeren Sulfaminbenzoösäuren ist nur eine einzige be- fähist, ein Anhydrid, ein „Sulfinid“ zu bilden, aus allgemein bekannten chemisch wissenschaftlichen Gründen kann nur die Orthoverbindung ein Anhydrid liefern. ı C. Fahlberg und R. List, Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. Bd. XXI. S. 245. — W. A. Noyes, Amer. Chem. Journal. Vol. VII. p. 176. — C. Fahlberg und R. List, Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. Bd. XX, S. 1603. ®C. Fahlberg und R. List, Zbenda. Bd. XX. S. 1601. — Ira Remsen und A. R. L. Dohme, Amer. Chem. Journal. Vol. XI. p. 332. ® Ira Remsen und A.R.L.Dohme, Amer. Chem. Journal. Vol.XI. p.332, 346. * A. Jesurun, Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. Bd. XXVI. S. 2286. — Paul Fritsch, Zbenda. Bd. XXIX. 8. 2295. — R. List und M. Stein, Ebenda. Bd. XXXI. S. 1648. — Ira Remsen, Ebenda. Bd. XXVI. S. 2634. 246 WILHELM STERNBERG: „Jedenfalls ist es von Interesse,“ sagt Fränkel!, „bei Saccharin zu sehen, dass nur die Orthoverbindung süss ist, die para-Verbindung keinen süssen Geschmack zeigt.“ Allein vergleicht man die einzelnen Verbindungen, so kann nur die para-Säure in Betracht kommen, mit welcher die o-Isomere zugleich geschmacklos ist. Eine der o-Verbindung entsprechende para-Ver- bindung von Anhydrid aus giebt es aber überhaupt gar nicht und kann es auch gar nicht geben. Saccharin repräsentirt den ersten Süssstoff, der auf rein chemisch- synthetischem Wege dargestellt ist. Er ist auch der erste und sogar einzige, der im ausserordentlich grossen Maassstabe technische Darstellung und dauernde Verwendung gefunden hat. Saccharin ist das Anhydrid der COOH Neo o-Sulfaminbenzoösäure | | ,‚ nämlich: | INH N 80,-NH, 50, Das o-Benzoösäuresulfinid ist 1879 entdeckt und zuerst von IraRemsen und C. Fahlberg beschrieben worden; 1884 erhielt die Verbindung den Namen „Saceharin“. An der Entdeckung des Saccharins will sich ausser Fahlberg und Remsen auch noch F. Witting betheiligt haben. Nach einer kurzen Mittheilung über das Saccharin ? glaubt er, das Saccharin eben- falls im Jahre 1879 bereits dargestellt zu haben. Bei der Oxydation des Paratoluolsulfamids erhielt er nämlich neben der para-Sulfamidobenzoäsäure ein intensiv süss schmeckendes Oxydationsproduct. Doch gelang es ihm bei mehreren nachfolgenden Versuchen nicht mehr, diesen Süssstoff aufzufinden. Dadurch, dass die Saccharinfabrik sich im Jahre 1884 die Bezeichnung „Saccharin“ als Wortzeichen in Deutschland und anderen Staaten schützen liess, sahen sich viele der später zur Fabrication des gleichen Süssstoffes übergehenden Fabrikanten genöthigt, für ein und denselben Süssstoff andere Bezeichnungen zu wählen, um sich diese neuen Worte ebenfalls für dasselbe Product als Waarenzeichen schützen zu lassen. So entstand eine Mannig- faltigkeit in der Nomenclatur für einen und denselben Körper, wie sie grösser gar nicht gedacht werden kann. Dabei hatte im selben Jahre bereits Peligot eine von ihm entdeckte, bei der Einwirkung von Kalk auf siedende Lösung von Dextrose und von anderen Zuckerarten entstehende organische Verbindung Saccharin genannt, weil sie mit dem NRohrzucker (Saccharose) die gleiche procentische 1 Sigm. Fränkel, Die Arzneimittelsynthese. 1901. 8. 95. ? American Chemical Journal. Vol. I. p. 170. Vol. II. p. 181 und zusammen mit Ira Remsen, Ebenda. Vol.I. p. 426. — Prioritätsstreit. Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. Bd. XX. S. 2275 und 2928. 7 K 94 DIE STICKSTOFFHALTIGEN NÜSSSTOFFE. 247 Zusammensetzung hatte. Freilich erwies die Verbindung sich später als Laeton der Saccharinsäure, CH,(OH)-CH(OH)-CH(OH)-C(OH)(CH,)- COOH. Dieses Saccharin hat keinen süssen, sondern bitteren Geschmack.! Zur Unterscheidung von dem Peligot’schen wird das Fahlberg’sche Saccharin zuweilen auch Pseudosaccharin genannt. Peligot hatte für sein Saccharin die Formel C,,H,,0,, angenommen, Scheibler? wies nach, dass das Peligot-Scheibler’sche Saccharin die Zusammensetzung C,H,,0, hat. Dieser Körper steht somit den Kohlehydraten nahe, ohne mit ihnen den süssen Geschmack zu theilen. Aus diesem Grunde hat auch H. Hager für den Fahlberg’schen Süssstoff die Bezeichnung Saccharinin vorgeschlagen. Doch versteht man allgemein unter dem Namen „Saccharin“ jetzt das ÖOriginalproduct der Saccharinfabrik Actiengesellschaft, vormals Fahlbere, List u. Co. in Salbke-Westerhüsen a. Elbe, der alleinigen staatlich concessionirten Süss- stofffabrik. Aber auch schon längst vor dem Peligot’schen Saccharin war die Bezeichnung Saccharin für einen gewissen Süssstoff üblich und eingebürgert. Wie jeder Brauer aus praktischer Erfahrung seit Jahrzehnten weiss, hat er stets „Saccharin“ zum Bier genommen, ja in den Preisverzeichnissen für Biersurrogate ist seit langer Zeit „Saccharin“ verzeichnet. Doch dieses „Saccharin“ war das „chemisch reine Glycerin.“ Die Chemie bezeichnet sogar noch heute eine ganze Gruppe von Körpern mit der Bezeichnung „Saccharine“, die Pharmacologie wiederum wendet dieselbe Bezeichnung „Saccharina“ für eine noch ganz andere Gruppe von Körpern an. Die Synoyma des Saccharins sind: Aoucarina, Benzoösäuresulfinid, Crystallose, Garantose, Glucuosimid, „Glu- sidum‘“ (England) Glycophenol, Glycosine, Glykosin, Krystallose v. Heyden, Saccharinol, Saccharinose, Saccharol, Saccharum arteficiale, Saxin ?, Stein- ! Eug. Peligot, Sur quelques proprietes des Glucoses. Compt. rend. vom 1. de- cembre 1879. T. LXXXIX. p. 920. „C'"?H?°O!! sa saveur n’est nullement sucree; elle est presque nulle, avec un arriere-goüt d’amertume qui rappelle celui du sel de Glauber.‘“ — 1879. T. LXXXIX. p. 918. — 1880. T. XC. p. 1141. „Sur la saccharine“. — 1879. T. XII. p.196. Nr. 22. ? Scheibler. 1880. Beriehte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. Bd. XII. S. 196. 2216. Scheibler’s neue Zeitschrift für Rübenz.-Indusrtie. Bd. IV. 8. 37, 340.95.1.Bd.V. 8. 19. ® Borroughs, Wellecome u. Co., London, geben an, dass ihr „Saxin ein dem Saccharin ähnliches Präparat sei“. Dr. med. Arnold Lorand giebt brieflich (29. I. 1903) an, dass das Saxin ein Kohlentheerproduct sei und 600 Mal süsser als gewöhnlicher 248 WILHELM STERNBERG: kohlenzucker, Sucre de houille, Sucrin Friedr. Bayer u. Co. „Süssstoff Monnet“, „Süssstoff Höchst“ (Farbwerke vorm. Meister, Lucius u. Brü- ning, Höchst a. M.), „Süssstoff Sandoz“, Sulfinidum absolut, Sulfinid von Heyden, „Sykorin“ (Stassfurter Chem. Fabrik, vorm. Vorster u. Grüne- berg), „Sykose“ (Farbenfabriken, vorm. Friedr. Bayer u. Co., Elberfeld), Toluolsüss, „Zuckerin‘“ (Chem. Fabrik von Heyden, Actiengesellschaft), „Fahlberg’s Saccharin“! u. a. m. Saccharin wurde zuerst auf der Ausstellung in Antwerpen 1883 gezeigt und darauf den ärztlichen Kreisen als unschädliches Ersatzmittel des Zuckers für Zuckerwaaren durch A. Stutzer? und Brieger bekannt. Der Süssstoff stellt chemisch eine Säure dar, reagirt demgemäss sauer. Er riecht nach bitteren Mandeln, ist wenig löslich und schmeckt dabei sogar intensiv, selbst in einer Lösung von 1:70000, süss. Die erste Angabe Seitens der Entdecker lautet: „Die Anhydro-ortho-sulfaminbenzoösäure’® a 2 67480, NH Sie schmeckt angenehm süss, sogar süsser als der Rohrzucker. In sehr verdünnten Lösungen ist ihre Gegenwart leicht durch den Geschmack zu erkennen.“ In seinem chemischen Charakter zeigt Saccharin grosse Aehnlichkeit mit dem Phtalimid ON oz . Zucker, in seiner äusseren Form soll es noch handlicher als Saccharin sein. Saxin wird auch der Süssstoff der Lipia graveolens Mexico bezeichnet = Yerba dulce, als Ex- pectorans und Emmenagogum angewandt. Yerba dulce sollte ein ganz neuer Süssstoff sein, der in den Blättern einer Pflanze enthalten und bei den Indianern in Gebrauch ist. Hugo Mentzel-Dresden, Verzeichniss der neuen Arzneimittel, nach ihren im Handel üblichen Namen sowie nach ihrer wissenschaftlichen Bezeichnung. Pharmaceut. Centralblatt. 1902. 2 In einer Arbeit 1887 ‚Ueber die Sulfinide“ weist Ira Remsen, indem er die Priorität der Entdeckung für sich in Anspruch nimmt, darauf hin, dass der Ausdruck „Fahlberg’s Saccharin‘ nicht berechtigt sei. ° A. Stutzer, Ueber Fahlberg’s Saccharin. Deutsch-Amerikan. Apotheker- zeitung. 1885. Nr. 14. Ref. — Salkowski, Centralblatt für die med. Wissenschaft. 1886. Nr.4. 8.53. — Leyden und Brieger, Sitzung des Vereins für innere Mediein in Berlin am 15. März 1886. Deutsche medieinische Wochenschrift. 1886. 8. 245. ® C. Fahlberg und Ira Remsen, Ueber die Oxydation des Orthotoluolsulfamids. Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. Bd. XII. S. 470. Baltimore, Ver. St. Amerika, 27. Febr. 1879. — Prioritätsstreit. Zbenda. Bd. XX. S. 2275 und 2928. * Chemiker-Zeitung. 1887. Nr. 22. S. 314. . DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 249 Auch diese Verbindung hat einen „eigenartigen Geschmack“, wie Cohn! angiebt. Doch zeigt die Verbindung nicht im geringsten einen süssen Geschmack, wie Dr. Georg Cohn mir brieflich auch noch (13. IX. 1904) bestätigt. Das Imid der Benzoldisulfosäure ist noch nicht dargestellt worden. Während o-Benzoösäuresulfinid C,H, -SO,-NH.-CO süss schmeckt, ist 0,H,-SO,-NH-CO-C,H, Benzolsulfon- benzamid geschmacklos. Die Ringbildung ist somit für die physiologische Wirksamkeit des Saccharins auf unsere Süssempfindung von bestimmender Bedeutung, wie dies auch für den Geruch Cohn? angiebt. Während Cumarin AS ame | SP CH CH ein Riechstoff ist, ist Zimmtsäurephenylester C,H,-CH = CH-CO-0C,H, völlig geruchlos. Die Salze des Saccharins mit anorganischen Basen schmecken sämmt- lich süss.? „Das Natronsalz®? des Benzo&säuresulfinids VERORDS.ND + 2H,0 ist ausserordentlich leicht löslich in Wasser, es ist intensiv süss.“ Dieses krystallisirte Natriumsalz des absolut reinen Benzo&säuresulfinids ist von der Chemischen Fabrik von Heyden in Radebeul unter dem Namen „Krystall- lose“ eingeführt und wird in grossem Maasse technisch dargestellt. Diese Krystallose ist ein 440fach süssendes Mittel. ! Georg Cohn, Apotheker-Zeitung. 1898. Nr. 91. S. 797. ®? Georg Cohn, Zur Kenntniss des o-Amidophenetidins. Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. 1899. Bd. XXXIII S. 2239. 8 1879. Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. Bd. XII. S. 471. „Alle Salze der Orthosulfaminbenzoösäure schmecken sehr süss.“ K-, Na-, Ba-, Mg-, Pb-Ammonium-Salz. 250 WILHELM STERNBERG: Das Kalisalz des Saccharins, ebenso das Ammoniumsalz des Fahl- berg’schen Saccharins CON EL so, >NH-NH, schmeckt intensiv süss. Auch die Alkyl-Ammoniakderivate des Saccharins schmecken süss, z.B. CON\ GH so, INH—NH, -CH,. Das Salz HKS ZNH—NHIGH,), | ist m Wasser äusserst leicht löslich. Diese neuen Ammoniakderivate des Saccharins zeichnen sich vor den anderen Salzen dadurch aus, dass ihnen der metallische Geschmack nicht eigen ist. Da sie überdies auch in Wasser und Alkohol besser löslich sind, so eignen sie sich besonders zur Herstellung flüssiger Süssmittel. Ihre Darstellung! erfolgt (Franz. Patent 322096 vom 14. Juni 1902 Givaudan) dureh Einwirkung von Saccharin auf die Aminbasen. Im Jahre 1899 brachte die Gesellschaft Trust. Chimique in Lyon unter dem Namen „Sucramine‘“ „Sucre de Lyon“ einen neuen Süssstoff in | den Verkehr, der 700 Mal süsser als Zucker sein und alle Vorzüge vor dem Saccharin, nämlich reinen Geschmack, keinen Bei- oder Nachgeschmack besitzen sollte. Dieser angeblich durch den I,yoner Chemiker Leon Üerf entdeckte Süssstoff ist in Frankreich? und in England? (unter Nr. 20102) patentirt* worden. Der Chemiker Chicaudard gab dem neuen Süssstoff die Constitutionsformel gab aber auch die Möglichkeit zu, dass es „eine tautomere Form sein könne“. ı Chemiker-Zeitung. 1903. Nr. 18. S. 206. ® Französisches Patent Nr. 292203 vom 2. September 1899 auf die Gewinnung einer Ammoniakverbindung — 1, 2-Oxymethylsulfonimid von Leon Cerf. — Anmerkung des Uebersetzers: Vermuthlich ist ein Körper von untenstehender Constitution gemeint: OH € ı SO,-NH-OCH, N 3 Englisches Patent Nr. 4455 vom 21. Februar 1902 „Trust. Chimique“, Societe anonyme Lyon. Chemiker- Zeitung. * Chemiker-Zeitung. 1901. 3. 138. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 21 Mit seinem chemischen Namen wurde die neue Verbindung als eine ‘ Ammoniakverbindung des Phene-1,2-methyloysulfonimide bezeichnet. Diese Bezeichnung wurde zuerst irrthümlich!' als Ammoniakderivat des Phenol- 1,2-oxymethylsulfonimid aufgefasst (= Phöne-1,2-möthyloxylsulfonimide). So wurde das Ammoniumderivat des Phenyl-1,2-methanoylsulfonimid BRERCUNIEN GES SH als Süssmittel bekannt.” Thatsächlich ist aber der zutreffende Name, nämlich Phenylen-1,2-methyloylsulfonimid, lediglich eime umständliche chemische Umschreibung des Namens Saccharin. Die Saccharinfabrik Fahlberg, List u. Co. stellte fest, dass das angebliche „Sueramin“ thatsächlich nichts anderes darstellt, als das Ammoniumsalz des Saccharins 160) GEL 2 -NH,. Die Untersuchung seines Süsswerthes ergab beim Vergleichen mit Zucker- lösung einen Süsswerth von 500, Zucker = 1 gesetzt. Zum nämlichen Resultat gelangte der Verein schweizerischer analytischer Chemiker.® Derselbe ermittelte, dass das neue Versüssungsmittel „Suere sucramine“ aus Zuckerwürfeln besteht, welche Saccharinammonium ent- halten. Den exacten Nachweis des Sueramins in Nahrungsmitteln führte Bellier.“ Endlich gelang es Ehrlich’, im Laboratorium des Vereins der Deutschen Zuckerindustrie, das Ammoniaksalz des Saccharins darzustellen und mit dem Sucramin zu identificiren. Das Ammoniumsalz löst sich ausserordentlich leicht, schon in wenig kaltem Wasser, wodurch es sich noch viel bequemer zum Versüssen eignet als das Saccharin, das ziemlich schwer in Wasser löslich ist. Der Schmelzpunkt ist bei etwa 220°, es besitzt das Salz also denselben Schmelzpunkt wie die zugehörige Säure, auch das Sucramin von Leon Cerf hat denselben Schmelzpunkt, ein Beweis, dass beide Körper identisch sind. ! Ehrlich, Die Deutsche Zuckerindustrie. 1901. Nr. 28. S. 1337. ? Chemiker-Zeitung. 1900. Bd. XII. 3 Schweizer Wochenschrift für Chemie und Pharmacie. 1901. S. 215. * J. Bellier, Ueber das Sucramin, ein neues Versüssungsmittel und dessen Nach- weis in Nahrungsmitteln und Getränken. Ann. de Chim. analyt. appl. VI, 7—8. 15./l. Chemisches Centralblatt. 1901. I. S. 4283. 5 Dr. F. Ehrlich, Ueber den neuen Süssstoff „‚Sueramin‘“ und über das Ammoniak- salz des Saccharins. Die Deutsche Zuckerindustrie. 1901. Nr. 28. 8. 1337. 252 WILHELM STERNBERG: Doch giebt Defournel, der ein Ammoniaksalz! des Saccharins dargestellt und beschrieben hat, an, dass der Schmelzpunkt des Salzes, das sonst ganz ähnliche Eigenschaften wie das von Ehrlich dargestellte aufweist, schon bei 150° liest. Der Grund für diese Differenz im Schmelzpunkt konnte nicht aufgeklärt werden. LiA ist löslich in kaltem Wasser. Das Silbersalz? AgA, ist schwer löslich in kaltem Wasser. MgA, ist sehr leicht löslich in Wasser. CaA, ist löslich in Wasser, ebenso SrA,, HgA, ist schwer löslich in kaltem Wasser. ZnA, ist leicht löslich in heissem Wasser. CdA, schwer löslich. PbA, ist sehr wenig löslich in heissem, leichter in kaltem Wasser. MnA, ist schwer löslich, ebenso FeA,, CoA,, NiA,, CuA, fast unlöslich in kaltem, schwer in heissem Wasser. Die Salze der mir von der Saccharinfabrik, vorm. Fahlberg, List u. Co. (27. X. 1904) freundlichst zugesandten Salze Ammoniumsalz, Magnesium- salz, Kupfersalz sind von mir untersucht worden, ebenso noch einige andere. Diese Salze sind alle süss, haben aber daneben, namentlich die Schwer- metallsalze, den specifischen Metallgeschmack, besonders das Kupfer-, Blei- und Silbersalz. Ebenso haben auch die Salze des Saccharins mit den organischen Basen, mit den Alkaloiden (Fahlberg, List, D.R.P. 35933. I, 594) den süssen Eigengeschmack der Säure. Die alkoholische Lösung von Sulfamiinbenzoösäuresulfinid ? co c,H,/so, NH SI 2] SO,NH, schmeckt intensiv süss. ! Ueber einige neue Metallsaccharinate. Bull. soc. chim. 1901. 3. Ser. p. 329. ? Ira Remsen und A. G. Palmer, Amer. Chem. Journ. 1886. Vol. VIII. p. 223. „Investigations on the sulphinides. — II. On benzoie sulfinide.“ Silver anhydro-sulph- amine-benzoate CH, NAg. Ebenso auch K-, Ba-Salz. 3 C.Fahlberg und R. List, Ueber die Aether des Benzo&säuresulfinids und der o-Sulfaminbenzoösäure. Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. XX. Band. 1857. 8. 1603. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 253 Das dem Saccharin nahestehende Methylsaccharin, das Homologe des Saccharins oder para-Methylsaccharin, Sulfotoluylsäure-Imid CH, CH, (4) Be — ELSSO,. [C8 N m 007 (4) zeichnet sich ebenfalls durch seinen süssen, sogar recht intensiv süssen Geschmack wie Saccharin aus. Es wurde von der Badischen Anilin- und Sodafabrik zu Ludwigshafen a. Rh. in den Handel gebracht und sollte angeblich sogar noch intensiver süss schmecken als das Fahlberg’sche Saccharin, so sehr wenig löslich es auch in kaltem Wasser ist.! „Das Methylbenzo&säuresulfinid ist in kaltem Wasser sehr schwer, in heissem bedeutend leichter löslich und schmeckt gleich dem Benzoösäure- sulfinid (Saccharin) intensiv süss. Es soll als Methylsaccharin für dieselben Zwecke Verwendung finden.“ Nach einer Mittheilung der Badischen Anilin- und Sodafabrik an O0. Weber? hat Prof. H. Kreis in seiner damaligen Stellung als Chemiker der genannten Fabrik das Methylsaccharin entdeckt. Methylsaecharin ist später genauer von O0. Weber? untersucht worden. Methylsaecharin konnte sich jedoch neben dem Saccharin nicht be- haupten, da es, dem Saccharin zwar im Geschmack ähnlich, aber nur 200 Mal so süss wie Zucker, also noch nicht halb so süss wie Saccharin ist; somit war auch sein Preis im Verhältniss zum Süsswerthe bedeutend höher als der des Saccharins. Die beiden theoretisch noch möglichen isomeren Methylsaccharine ! Zu diesem Zwecke wurde auf seine Darstellung ein Patent genommen: Patent- schrift Nr. 48583 Cl. 12 (Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. Bd. XX1. 3. Ref. 1889. S. 719) D. R. P. vom 12. II. 1889; „p-Methylsaccharin“; „Verfahren zur Darstellung des Methylbenzoösäuresulfinids (Methylsaccharin)‘“, Badische Anilin- und Sodafabrik in Ludwigshafen a. Rhein; E. R. Savigny, Engl. Patent 4467 vom 19. II. 97. * 0. Weber, Hbenda. 1892. Bd. XXV. S. 1737. „Ueber Sulfotoluylsäureamid (Methylsaccharin)“. ® „La methylsaccharine possede un fort goüt de sucre comme la simple saccharine.“ Oscar Weber de Zürich. Dissertation de Geneve. 1892. ‚„‚Recherches sur la Methyl- saccharine et sur quelques derives de Pacide...“ — OÖ. Weber, Berichte der Deutsch. Chemischen Gesellschaft. 1892. Bd. XXV. S. 1737. 254 WILHELM STERNBERG: die o-Form CH, 7 sol el Da: WW und die m-Form CH, N ale Son sind noch nicht dargestellt. Die Herstellung dürfte nur auf complicirtem Wege möglich sein. Das Ammoniumsalz COOH C,H,(CH,)( 6 a( 3X S0,-NH, hat seinen süssen Geschmack verloren.! Ebenso schmeckt nicht süss! die Verbindung CH, (1) C,H,NA, wobei A=CH,, C,H,, C,H, u. s. f. bedeutet, schmecken nicht süss. Als Derivate? des Sulfinids, in denen der Wasserstoff der Imidgruppe besetzt ist, sind z. B. das Methylsaccharin, Benzylsaccharin, Benzoylsaccharin, Pikrylsaccharin zu betrachten. ! H. Kreis, Annalen. Bd. CCLXXXVI. S. 377. ? 1887. „Ueber die Aether des Benzo&säuresulfinids und der o-Sulfaminbenzo&- säure.“ ©. Fahlberg und R. List, Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. Bd. XX. 8. 1596. — R. N. Brackett, Amer. Chem. Journal. Vol. IX. p. 406. „Investigations on the sulphinides. VI. On the ethers of benzoie sulphinide.“ 1887. 1896. Hugo Eckenroth und Karl Klein, Berichte der Deutschen Chemischen Ge- sellschaft. Bd. XXIX. 8. 329. „Ueber die Einwirkung sauerstoffhaltiger Halogenverbin- dungen auf Benzo&säuresulfinidnatrium“ Hugo Eckenroth und Georg Koerppen, Ebenda. Bd. XXIX. 8.1048. „Ueber einige Derivate des o-Benzoösäuresultinids (Saccha- rin). 1896 und Bd. XXX. 8.1265. 1899. „Ueber einige Derivate des o-Benzoösäure- sulfinids (Saccharin). II.“ DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 257 Das Methylderivat! GES, >N.CH, ist geschmacklos. Das Aethylderivat? Ei >N-G,H, ist geschmacklos. „Während das Benzoösäuresulfinid sowie alle Salze des- selben stark süss sind, ist der Aether vollständig geschmacklos.“ In Aether und Alkohol ist er sehr leicht löslich. Phenylsaccharin GEL N-C,H, ist geschmacklos, nach Fahlberg. Tolylsaccharin GH,N-C,H,-CH, Diese am Stickstoff substituirten Aether des Saccharins sind also sämmtlich nicht süss, farblos, in Wasser schwer lösliche, aus Alkohol krystalli- sirenden Substanzen, welche sich nicht wieder in Saccharin zurückverwandeln lassen. N-Acetonylsaccharin el, >N-CH,-COCH, schmeckt nicht süss. ; N-Methylenbisaccharin, Methylendi-o-benzo@säuresulfinid co CORR Com (GH, N— CH, = OH, N-CH,-NC;H, ist in allen Lösungsmitteln unlöslich.* N-Aethylenbisaecharin®, Aethylendi-o-benzo&säuresulfinid (GE,N-CH,),, löslich in siedendem Essig, nahezu unlöslich in Alkohol, Aether und Benzol. ! Journ. of the American Chemical, Society. Vol. IX. p. 406. ” 1887. C. Fahlberg und R. List, Berichte der Deutschen Chemischen Gesell- schaft. Bd. XX. S. 1598. 1898. R. List und M. Stein, Zbenda. Bd. XXXI. S. 1658. * Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. 1897. Bd. XXX. 8. 1266. 8 Ebenda. Bd. XXX. S. 1265, Bd. XIX. S. 1390. Archiv f. A. u. Ph. 1905. Physiol. Abthlg. Suppl. 17 258 WILHELM STERNBERG: N-Phenylsaccharinanil, Anilsaccharinphenyläther CG:N-C,H GHy0,H ENERER I? Benzyl-o-benzoösäuresulfinid GE >N-CH,C,.H, „ist in den bekannten Lösungsmitteln ziemlich leicht löslich. Es schmeckt nicht süss“.! Benzyl-o-amidosulfobenzoösäure COOH CH, NCH,C,H,NO, ist unlöslich in Wasser, sehr schwer in kaltem, leichter löslich in heissem Alkohol, in siedendem Eisessig und Benzol.’ p-Nitrobenzyl-o-amidosulfobenzoösäure co C,H,N-CO-CH, ist in siedendem Wasser und Alkohol ziemlich löslich. ! Hugo Eckenroth und Georg Koerppen, Ueber einige Derivate des o-Benzo&- säuresulfinids (Saccharin). (Mittheilung aus dem Chem. Institut zu Ludwigshafen a. Rh.) Berichie der Deutschen Chemischen Gesellschaft. 1896. Bd. XXIX. S. 1048. ® Ebenda. S. 1049. ® Ebenda. Bd. XXIX. S. 1049. * Ebenda. 8. 1050. 5 Ebenda. 8. 1050. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 259 Bromäthyl-o-benzoösäuresulfinid! co CH,N-C,H,Br in Wasser unlöslich, leicht löslich in den bekannten Lösungsmitteln. Ameisensäureäthylester-o-benzoösäuresulfinid? co CH,N-C0-OC,H, in Wasser nicht löslich, dagegen löslich in Alkohol und Aether. Essigsäuremethylester-o-benzoösäuresulfinid’, Essigsäureäthylester-o-benzo&säuresulfinid?® CH, N-CH,-C0OCH, GH ‚N- CH, -COOC,H, sind in Wasser unlöslich, in den gewöhnlichen Lösungsmitteln leicht löslich. Benzoyl-o-benzoösäuresulfinid® GE, N- CO.C,H, in Wasser, Aether, Benzol unlöslich, in heissem Alkohol sehr schwer löslich. Phenoxäthyl-o-benzoösäuresulfinid° ZEON HL go, YN-CH, -CH,-0C,H, in Wasser und kaltem Alkohol unlöslich, in heissem Alkohol, Benzol und Eisessig löslich. Phenoxäthyl-o-amidosulfobenzoösäure® ‚C00H “\S0,-NH.CH,-CH,-OC,H, in Wasser unlöslich, in den bekannten Lösungsmitteln leicht löslich. | Pikryl-o-benzoösäuresulfinid’ G Era G,H,(NO,), C,H, ! Berichte der Deutschen Chemischen ee Bd. XXIX. S. 1051. ” Ebenda. Bd. XXX. S. 1267. ® Ebenda. Bd. XXX. S. 1267. * Ebenda. 8. 1267. ® Ebenda. 8. 1268. % Ebenda. S. 1268. ? Ebenda. S. 1269. nur 260 WILHELM STERNBERG: bildet gelbe Würfel, die bei 262° schmelzen und in kaltem Eisessig, Alkohol und Benzol unlöslich sind, sich aber in viel heissem Eisessig lösen. N-Oxymethylsaccharin [OS C,H H,< so, N -CH,-OH, N-Bromoäthylsaccharin co GH,N-CH,-CH, .OH = Nil IN -C,H,-OH, in Alkohol, Benzol und Eisessig sehr leicht löslich. Unsymmetrisches o-Sulfobenzimid C:NH C-OH GEKDO .oder CELKDN SO, So, sehr leicht löslich in Wasser und Alkohol, schmeckt nicht süss. Der zweite Süssstoff ist ein Derivat der Carbaminsäure. Von den Estern dieser Säure wurden folgende einer Geschmacks- prüfung unterzogen. Der Aethylester = Urethan, schmeckt sehr bitter. ! Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. Bd. XXX. S. 1266. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 261 Euphorin = Phenylurethan schmeckt bitter. Neurodin = Oxyphenylacetyl-Urethan (D.R.P. 69 328) 0,H,-OH 2 oc co 3 OSCHH} schmeckt bitter, der bittere Geschmack ist noch lange nachher anhaltend. Der Geschmack von Thermodin = Aethoxyphenylacetyl-Urethan en NO-C,H, ist. bitter. Hedonal = Methylpropylearbinolurethan LO S 0.0. 20m 20H) schmeckt bitter. Angeblich ist der Geschmack des Hedonals in Lösung ein charak- teristischer pfefferminzartiger. Daher wird eine besondere Darreichungsform des Hedonals empfohlen, nämlich das Pulver trocken auf die Zunge zu legen und es alsdann mittels kalten Wassers hinabspülen. Der Erfolg dieser Modification zeigt sich angeblich darin, dass so der Geschmack kaum merkbar auftritt, keinesfalls aber mehr Anlass zur Beanstandung bietet. Doch berichtet W. Sternberg! aus der Klinik aus Halle, dass der schlechte Geschmack der Einführung des Präparates in die Praxis hinderlich ist. Carbaminsäure-m-Tolylhydrazid ( )—NH-NH—CO-NH, , | CH, ' W. Sternberg, Zeitschrift für Krankenpflege. Berlin 1901. Bd. V. 3. 187. — F. Goldmann, Ueber ein neues Hypnoticum aus der Gruppe der Urethane, das Hedonal, Berichte der Deutschen Pharmaceut. Gesellschaft. 1900. Heft 4, 262 WILHELM STERNBERG: Maretin (Farbenfabrik vorm. Fr. Bayer u. Co., Elberfeld), ist geschmacklos, freilich in kaltem Wasser fast gar nicht (zu 0-1 Procent) löslich. Das Amid der Carbaminsäure, Harnstoff, schmeckt bitter. Der symmetrische Dimethylharnstoff a -CH, CH, schmeckt angeblich „fade, kühlend, salzig“. Die Versuche mit der von den Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer u. Co. Elberfeld, mir freundlichst zugesandten Verbindung ergaben, dass dieselbe durchaus nicht salzig schmeckt, dagegen wird der Geschmack als intensiv und deutlich bitter von allen Versuchspersonen, ohne Ausnahme, angegeben. In der Litteratur wird all- gemein angegeben, dass diese Verbindung geschmacklos ist. Das ist nicht richtig. | Der unsymmetrische Dimethylharnstoff schmeckt süss. Wie Harnstoff bitter. Di-para-Phenetolearbamid „ZH -C,H,-0:C.H, (p) in. C,H,:0-C,H, (p) ist geschmacklos. Eine von Hrn. Prof. Thoms, der zuerst diese Verbindung dargestellt hatte, mir freundlichst überlassene Geschmacksprobe wird von mehreren Versuchspersonen ungelöst in Substanz geschmeckt, sodann auch in alkoholischer verdünnter Lösung, selbst in concentrirter Lösung von absolutem Alkohol. Doch keine der Versuchspersonen konnte der Verbin- dung irgend welchen Geschmack abgewinnen, sie ist geschmacklos. Das Monosubstitutionsproduet hingegen, p-Phentolearbamid, schmeckt sehr süss, es ist der Süssstoff Dulein. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 263 Noch bevor das patentirte Verfahren zur Herstellung von. p-Phenetol- carbamid, genannt „Sucrol“, durch Berlinerblau bekannt wurde, gelang es Thoms, das symmetrische p-Diphenetocarbamid!, NH-C,H,-0C,H, NNH-C,H,-0C,;H, darzustellen, und bald darauf, aus diesem Disubstitutionsproduct auch den neuen Süssstoff? zu gewinnen. Nach diesem patentirten Verfahren wurde p-Phenetol- carbamid in der chemischen Fabrik J. D. Riedel in Berlin im Grossen largestellt und mit der Bezeichnung „Dulein“ in den Handel gebracht. Sucrol und Dulein sind also identische Körper, die nach verschiedenem, Verfahren dargestellt und unter verschiedenen Namen in den Handel ge- bracht wurden. Der Name Dulcin war früher schon im Gebrauch zur Bezeichnung des Alkohols, der allgemein Duleit heisst, dessen Synonyme Duleose, Dulein, Duleit, Melampyrit, Evonymit sind. Der synthetische Süssstoff Dulein wurde auch „Suerol“, „Valzine“® genannt. * Der süsse Geschmack des Duleins ist so intensiv und so charakteristisch, dass da, wo es sich um den Nachweis dieser chemischen Verbindung handelt, die chemische Analyse allen chemischen, selbst den physiologischen Reactionen, wie der Farben-Reaction und jeder anderen optischen Probe, die Geschmacks- Probe vorzieht. Auch p-Anisolecarbamid NH, co NNH:C,H,:0:CH, schmeckt sehr süss. Während Dulein sehr süss schmeckt, soll sucrolsulfosaures Natrium, das der Formel NH,—CO—NEH\ _ Na-80,/ ° a-S0, entspricht, nicht mehr süss schmecken. H,—0—0,H, ! Pharmakol. Centralblatt. 1892. S. 165. 2 Berichte der Pharmaceut. Gesellschaft Berlin. 1893. Bd. III. S. 136, 137. ® Medecine moderne. 1893. * A new substitution for sugar. At a recent meeting at Hanover of the Brunswick-Hanoverian Branch Union for the manufacture of beetroot-sugar, some interesting remarks were made on a new sub- stance called „Valzin“, which is expected to entireley supplant saecharine, and which may create a not unimportant competition which the sugar industry generally. This new substance was discovered by the Berlin chemist Blau, and is now being manu- factured by Riedel, of Berlin, according to a patented process. It is about 200 times sweeter than sugar, but does not possess several unpleasant qualities which saccharine has. 264 WILHELM STERNBERG: In CO-NH, C,H,-0— ENG NH steht chemisch das bitter schmeckende Phenacetin nahe CO-CH, C,H,-O a. NZ Bu Auch p-Tolylharnstoff Dem Süssstoff NH c/o ’ Ba iin NNH-C,H,.CH, 0% Dan NH, schmeckt süss. Der Geschmack der Isomeren und ist nicht bekannt. | Die Toluylendiaminoxamsäure | NH—CO-CO0OH ( y-0- COOH CH, bildet süss schmeckende Salze. GEL, TEN HAT COENHG Diäthyl-malonyl-Harnstoff, auch Diäthylbarbitursäure genannt, schmeckt bitter, die Verbindung entspricht der Zusammensetzung | 2 CH.N,0, = (00 0 DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 265 Süss schmeckt noch ein Nitroderivat!, nämlich Nitro-pyruvin-uröid CH,(NO,) Ben | > co CO—NH „Mono-ureide pyruvique nitree C?H°(AzO2)Az?0? Ce compose se presente en belles lames brillantes, d’un jaune päle, rappelant la teinte de l’acide pierique. Il est peu soluble dans l’eau froide, soluble dans environ 25 parties d’eau bouillante. Sa saveur est fortement sucree.* „Chauffe a 160 degres, il se transforme en une poudre amorphe qui, redissoute dans l’eau bouillante, regenere le corps primitif. Il se dissout dans les alcalis avec une belle couleur jaune, qui dis- parait par l’addition des acides“. Acide malylureique.? C5H$A2?0% „Sa solution rougit le papier de tournesol et decompose les carbonates avec eflervescence. Excepte le sel d’argent, tous les malylureates sont solubles. Traite a l’Ebullition par l’acide azotigue ordinaire, l’acide n’est que tres- faiblement attaque. Par l’action prolongee de l’acide azotique fumant, il fournit de tres-petites quantites d’un derive nitre, formant de fines aiguilles d’un jaune päle, se colorant en jaune par les alcalis, d’une saveur sucree, se decomposant ä 188 degres avec explosion; mais la plus grande partie de l’acide malylureigue est detruite par l’acide azotique fumant, et la pro- duetion du corps nitre est si faible qu’il n’a pas ete possible de le purifier suffisamment pour arriver & des analyses concordantes.“ Die Derivate, die bereits? behandelt sind, ordnen sich bezüglich ihrer chemischen Constitution folgendermaassen: 'M. E. Grimaux, Recherches synthetiques sur la serie urigue. Memoire cou- ronne par l’Academie royale des Sciences de Belgique. Annales de chimie et de physique. Cinquieme serie. 1877. Tome XI. p. 379. ? Ebenda. S. 403. ® Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. 1905. Bd. XXX VII. 8. 259—304. „Irrthümliches und Thatsächliches aus der Physiologie des süssen Ge- schmackes“. 266 WILHELM STERNBERG: bitter: bitter: bitter: süss: süss: geschmacklos: süss: geschmacklos: geschmacklos: N: \_0-cH -CH. C A 0 Atoh- „ 2 3 NNH, SH x 001,0, oo ur A NH— on NH, 0.CH,:CH, DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 267 u -0.0n.cn bitter: CB — NH, NH— ) bitter: e NNH | 24 0..0H5 CH, Pe 3-0 -CH,-CH, geschmacklos: nn EN nu y2-CH,-CH, Sl \_0 -CH, - COOH geschmacklos: 0 NZ NH, Von Sulfocarbamiden kommen folgende Verbindungen in Betracht: S EB es yYaHı NH, NH.C,H, NH bitter äusserst bitter äusserst bitter er er NNH:C,H, NNH:C,H, bitter sehr bitter Ditolylsulfoharnstoff = Ditolylsulfocarbamid C,H,.N,8 = CS- (NH), (C,H, -CH,), schmeckt auffallend bitter. bi NH, tter. won 0£8 SLNın, bitter. N 0-C,H, 268 WILHELM STERNBERG: NH-CH, —CH—CH, (=8 NNH, Allylsulfocarbamid (Thiosinamin) bitter. Thio-Biuret (Biuret = Allophansäure-Amid) /NH, co NNH.CS-NH, sehr bitter. NH.CH, co \NH.0S-NH, intensiv bitter. /NH-C,H, co \NH-CS-NH, intensiv bitter. Dem Saccharin und Dulein schliesst sich als dritter Süssstoff von hoher Intensität das Glucin! an. Ebenso wie Saccharin schwefelhaltig, hat dieser Süssstoff die complizirteste chemische Constitution, so dass einige chemische Betrachtungen zunächst vorausgeschickt seien. Als Azo-Verbindungen bezeichnet man diejenigen, welche eine zwei- werthige Gruppe NINZEN SS in Verkettung mit zwei aromatischen Kohlenwasserstoffresten enthalten. Azokörper sind Verbindungen von der Formel C‚H,-N=N-.CH,, Azobenzol. NN rn BT re Für die ringförmigen Diazoverbindungen nimmt man die Formel C,H,—N—N-R! an, wobei R! = Säurerest, Hydroxyl u. s. f. bedeutet. . Diazoamidobenzol INNEN C,H; N—N—NH.C,H, = | | NG I ' Mit Gluein, Glycium wird auch heute noch in Frankreich das Beryli bezeichnet. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 269 Chrysoidjne sind nun Diamidoazokörper Azine (Diazole, Diazine) sind Verbindungen von Ringen mit zwei Stick- stoffatomen: N Ur Triazine sind Ringsysteme mit drei Stickstoffatomen: EN N \n/ Bei der Condensation des Chrysoidins par excellence ty SP EENN VS NER COH el | BT ‚ erhielt M. Wegelin' das Triazin CHENININ \ mit Benzaldehyd | | GE-N INN H, H Behandelt man dieses Triazin mit Schwefelsäure H,SO,, so entsteht eine Sulfosäure oder vielmehr ein Gemisch mehrerer dieser Sulfosäuren SO,H-C,H,—N/ ne (50,H- BL EN N N: H ı These. 1896. p. 15. 270 WILHELM STERNBERG: Die Salze dieser Säuren haben nun die bemerkenswerthe Rigenschaft, so ausserordentlich süss zu schmecken, dass die Intensität dieser Qualität an die des ersten Süssstoffes erinnert.! Das Natriumsalz ist das „Glucin“. Die näheren Angaben über die Darstellung und die Eigenschaften dieses in- teressanten Süssstoffes finden sich in der gesammten Litteratur zuerst und ausführlich einzig und allein in der Patentschrift Nr. 76491 Cl. 12. (Pa- tentirt im Deutschen Reiche vom 17. October 1893 ab. ‚Verfahren zur Darstellung von Amidotriazinen aus Chrysoidinen durch Aldehyde.“ Aktien- Gesellschaft für Anilinfabrication in Berlin.) Unter Chrysoidinen, geben die Bewerber hier an, wollen sie diejenigen Producte verstehen, welche durch Einwirkung der Diazoverbindungen von Aminen oder deren Sulfo- und Oarbonsäuren auf m-Diamine entstehen: basische Körper, denen, zu Folge ihrer Entstehung, ihrem Verhalten und der gefundenen procentischen Zusammensetzung, folgende typische Constitution beigelegt wurde: RING Y I | Aueh H, | N In Folge der Anwesenheit einer Amidogruppe im Molecül starke Basen, lassen sie sich durch Sulfuration in Sulfosäuren verwandeln, die sich gleich- falls diazotiren und kuppeln lassen. „Einige von diesen besitzen nun aber noch die Eigenschaft, stark süss zu schmecken.“ Es ist nicht des Näheren angegeben, welche von diesen Gliedern den süssen Geschmack haben, welche nicht. So gelangen sie zu einer basischen Verbindung, wie es in der Patent- schrift heisst, von folgender Constitution: Q,H,-N/ INT > N el H Diese Base schmeckt noch nicht süss, auch noch nicht ihr Chlorhydrat, wie mir Dr. Herzberg freundlichst mittheilt. Die Sulfurirung der Base führt je nach den Sulfurirungsbedingungen entweder zu einer Mono- oder einer Disulfosäure, also zu einer Verbindung: ! Webanck, p.38: „Les sels de ces acides ont la propriete d’etre fortement sueres. L’intensite de ce goüt rappelle celui de la saccharine.“ DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 271 STERN @eH: ö am H oder zu folgender Verbindung: udn Zi RT SO,H-GH-ENy/ N Dr H Diese Monosulfosäure ist in Wasser schwer löslich, hingegen sind ihre Alkalisalze leicht löslich. Die Disulfosäure ist jedoch als freie Säure in ‚Wasser leicht löslich. Der Patentanspruch ging daher darauf: „die nach vorliegendem Ver- fahren hergestellten neuen Körper sollen zur Darstellung von Azofarbstoffen bezw. als Süssstoff Verwendung finden.“ Doch sind niemals weitere Süssstoffe ausser Glucin gefunden, dargestellt oder je fabrieirt worden. Gluein ist ungefärbt und kein Farbstoff, wie ja umgekehrt der bei Weitem grösste Theil der Azofarben geschmacklos ist. Was den Geschmack der Farbstoffe betrifft, so schmecken die Safranine bitter, ebenso die gewöhnlichen Ammoniumbasen (Nietzki). Man muss mit chemisch reinen Farbstoffen diese Versuche änstellen, technische Producte eignen sich zu diesen Versuchszwecken nicht, da sie sehr häufig, wenn nicht gar ausnahmslos, Verunreinigungen enthalten; man mischt sie mit Dextrin, Zucker, Glaubersalz, Kochsalz u. a. m., um sie auf constante Stärke zu stellen. Das Originalproduet „Gluein“ ist einer brieflichen Mittheilung (26. VIII. 1898) seitens der Fabrik an mich zu Folge, seiner chemischen Constitution nach, die Monosulfosäure der Base GH2-NA IS | ee ner H Doch ist diese Angabe! irrthümlich gemacht. Diese Verbindung schmeckt zwar auch süss, ist aber schwer löslich. Der „Zucker“ — so ı Daher ist auch die in meiner ersten Arbeit gemachte Angabe nicht zutreffend. Dies Archiv. 1898. Physiol. Abthlg. S. 474. DD WILHELM STERNBERG: drücken sich die technischen Fachleute! stets aus — ist das Natriumtriazin- sulphonat. Es ist vielmehr der Süssstoff, der den Handelsnamen „Glucin“ führt, das Natriumsalz mehrerer Sulfosäuren, also ein Gemisch der bi-, tri-sulfo- sauren Natriumsalze von der Formel af En Ce Se CENT C,H, So geben Nölting und Wegelin? noch an: „Der Süssstoff, das Natriumsalz der Sulfosäuren wird von der Berliner Actien-Gesellschaft für Anilinfabrication“ dargestellt, woselbst Dr. Herzberg die Darstellungsmethoden im Grossen ausgearbeitet hat.“ Die Fabrication dieser Süssstoffe wurde bald eingestellt, da Gluein sich so leicht zersetzt. Der Liebenswürdigkeit des Entdeckers habe ich eine Probe zu verdanken. Meine Geschmacksprüfungen ergaben, dass der Süssstoff 150 Mal süsser als Raffinadezucker schmeckt. Das mir von Herrn Prof. Nölting in Mülhausen freundlichst zugesandte Präparat schmeckt kuchen- artig süss. Die erste Litteraturangabe ist ausschliesslich die von E. Nölting und F. Wegelin. Später sind die Versuche, die E. Nölting in Gemeinschaft mit Dr. W. Herzberg begonnen hat, in Verbindung mit F. Wegelin von Nölting zu Ende geführt worden. Zuerst wurde festgestellt, dass die Salze der Sulfosäuren? die interessante Eigenschaft besitzen, ausserordentlich süss zu schmecken. ! „Le sucre, tel que nous l’avons recu de la fabrique“ sagen E. Nölting und F. Wegelin (Sur quelgues nouvelles triazines. p. 21) vom Glucin aus der chem. Fabrik und „Analyse du sucre‘“. ® E. Nölting und F. Wegelin, Berichte der Deutschen Chemischen Gesell- schaft. 1898. Bd. XXX. S. 2598. „Ueber einige Triazin-Derivate des Chrysoidins und des o-Amidoazotoluols.“ Mühlhausen i. E. Chemie-Schule. ® Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. Bd. XXX. 8. 2595. — E. Nölting und F. Wegelin, Ueber einige Triazin-Derivate des Chrysoidins und des o-Amidoazotoluols. Mülhausen i. E., C’hemieschule 1897. — Dieselben, Sur quel- ques nouvelles triazines. Bibliothegue de la Revue generale des matieres colorantes et des industries qui s’y sattachant. Paris, Masson et Cie. — Paul Webanck, „Sur les derives bromes des orthoxylidines. Sur quelques nouvelles triazines.“ Inaug.- Diss. Basel 1903. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 2ild Ebenso zeigte es sich aber auch bald, dass bei Anwesenheit einer! einzigen Sulfogruppe der süsse Geschmack bereits entwickelt ist. Die Natriumsalze der drei isomeren Triazine sind süss, die man aus o-Sulfochrysoidin, Fe 5 u n INCH, (NB,), SS, 50H H,NN NE nr GH ’ aus m-Sulfochrysoidin rear Se EN IT NH, EA SO,H So,H aus p-Sulfochrysoidin eNan IN, -6H,(NH,), laden See nit aha 2] ne SO 07 UNS NH, SO,H erhält. „Ces sulfochrysoidines condensees avec la benzald&hyde ont egalement donne des sucres“.? Diese isomeren Triazinmonosulfosäuren, die alle drei? den süssen Geschmack zeigen, sind: die p-Triazın-monosulfosäure: er S0,HX ya | EV RE NIE ze CH, „Die freie Säure schmeckt in Folge ihrer geringen Wasserlöslichkeit nur schwach süss, die Salze ebenso stark, wie die der Polysulfosäuren.“* 1 Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. Bd. XXX. S. 2599. ®2 Webanck, p. 38. 8 Ebenda. Bd. XXX. S. 2599. * E. Nölting und F. Wegelin, Zbenda. Bd. XXX. 8. 2600. Archiv f. A.u. Ph. 1905. Phyxiol. Abthlg. Suppl. 18 274 WILHELM STERNBERG: Az-p-sulfophenyl-ald-phenyl-p-aminobenzotriazine won an — AZ “ Ja ee „Ce corps est sucre, mais tres peu, vu son insolubilite presque complete. Ses sels, par contre, sont aussi sucres que la base polysulfonde“.! Die m-Triazin-monosulfosäure: NN RN (e) Ne Ne —_ N—N— NH, — EN Na As u er | Some Se ne C,H, CH, Herr Prof. Nölting hatte die grosse Liebenswürdigkeit, eine Quantität dieser Verbindung mir zuzusenden: Mehrere Versuchspersonen erklären, einen Geschmack nicht herausfinden zu können, andere wieder sagen mit Bestimmtheit, dass der Geschmack der süsse ist. Az-m-sulfophenyl-ald-phenyl-p-aminobenzotriazine „Ce compose, en tous points analogue au derive para.“? „Ce deriv6 est plus difficile a obtenir pur que les isom£res ortho et: para“.® Die o-Triazinmonosulfosäure: ee Zn Beosnenloi ag Sal S0,H u; 5 > SO,H win"; CH; C,H; „Alle drei Isomeren sind unlöslich in Alkohol und kaltem Wasser. Sie ! E. Nölting und F. Wegelin, Sur quelgues nouvelles triazines. pP. 26. ® Dieselben, Abenda. p. 27. ® Dieselben, Zbenda. p. 28. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 275 sind fähig, sowohl mit Basen als mit Säuren leichtlösliche Salze zu bilden, von denen die Alkalisalze einen hervorragend süssen Geschmack besitzen.‘“! Az-o-sulfophenyl-ald-phenyl-p-aminobenzotriazine a mag NZ — H? SOsH Fa = s „Ces trois acides monosulfoniques sont en tous points analogues. Ils sont fortement sueres tous les trois.“? Eine vierte, isomere Triazinmonosulfosäure, die aus m-Sulfobenzaldehyd und Chrysoidin erhalten wird, Be Ge Fe si H ke a H „scheint? dagegen bitter zu schmecken. Dieselbe soll noch näher unter- sucht werden.‘ „Nous avons fait un essai afin de preparer un autre acide sulfonigue contenant le groupe sulfo dans le noyau de la benzalde&hyde. La solution neutralisee fut goütee, mais ne r&evela pas de goüt sucre, elle nous parut plutöt ame£re.“® e ann 504 IA N H,___ NH, NN, C,H, (NH,),(80;H) So,H St B.: 7 N A .SO,H Pe: Se BEIN. N: C,H, C,H: 1 Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. Bd. XXX. S. 2600. — Les trois bases monosulfondes sont suerees. p. 24. 20. 2%: 3 Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft. Bd. XXX. S. 2599. * Une autre |base monosulfonee], faite en petite quantite, ne nous a pas paru sucree, mais plutöt amere. p. 24. 29.229. 18* 276 WILHELM STERNBERG: Jedenfalls musste man aber bisher annehmen, dass diese isomere Ver- bindung nicht mehr süss schmeckt. Neuerdings ist diese Verbindung nun nochmals von Webanck! in Mülhausen unter Nölting’s Leitung unter- sucht worden. Az-phenyl-ald-phenyl-p-amido-m-sulfobenzötriazine. ne Sa a „Cette triazine n’est pas sucree, son sel de sodium ne l’est pas d’avantage.“ Wie mir Nölting auf eine briefliche Anfrage freundlichst (4. X. 1904) mittheilt, ist diese Verbindung geschmacklos, der bittere Geschmack bei der ersteren Darstellung könne wohl von einer Spur einer Verunreinigung (Glaubersalz?) hergekommen sein. Als Resume geben die Autoren Folgendes an: „La chrysoidine se condense avec la benzaldehyde pour former une base triazinique diazotable. Par sulfonation, on obtient des sulfoconjuges dont les sels alcalins possedent un goüt suere rappelant celui de la saccharine. Par condensation des trois sulfochrysoidines contenant le groupe sulfo dans le noyau de l’aniline, on obtient egalement des sucres. Lorsque le groupe sulfo est place en meta dans le noyau de l’aldöhyde, la triazine n’est par sucree.°“ Webanck“ untersucht nun den Einfluss, welchen die eine Sulfogruppe bezw. die einzelnen Sulfogruppen ausüben, je nachdem sie sich an dem einen oder anderen der drei Benzolringe befinden. Dabei hat er nun noch weitere Triazine untersucht: Az-phenyl-ald-m-sulfophenyl-p-amidobenzotriazine. a ae HC—_N/ | = | _50,H ! Paul Webanck, Sur les derives bromes des orthoxylidines. Sur quelques nouvelles triazines. Jnaug.-Diss. Basel 1903. ? Derselbe, Zbenda. p. 41. ® E. Nölting und F. Wegelin, Mulhouse, Ecole de chimie. p- 44. * Webauck, p. 39—4T. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 277 „Le preeipite n’est pas suere, la solution de son sel de sodium ne l’est pas d’avantage“.! Az-phenyl-ald-o-sulfophenyl-p-amidobenzotriazine. “em HÜ_N/ | fr Pe III, „Le nouveau corps est insoluble dans l’eau.“? Az-p-sulfophenyl-ald-phenyl-p-amido-m-sulfobenzotriazine. ae SO N NE, HC—N/ 2 wer Le residu est un sucre? „Cette substance est un sucre, elle est soluble dans l’eau‘.* Ferner hat Webanck noch Derivate hergestellt, über deren Geschmack er nichts angiebt. Jedenfalls schmecken sie nicht süss, auch nicht bitter. Es sind dies folgende Verbindungen: ı Webanck, p. 43. 2 Derselbe, p. 44. ® Derselbe, p. 42. * Derselbe, p. 45. 278 WILHELM STERNBERG: Az-p-aethoxyphenyl-ald-phenyl-p-amidobenzotriazine! Oral, K- N Gm HO_N/ „La triazine est insoluble dans l’eau.“? Webanck? fasst seine Beobachtungen in folgenden Sätzen zusammen: „Lorsque le groupe sulfo est dans le noyau de l’aniline, nous obtenons un sucre quelque soit la position de ce groupe. Avec un sulfo dans le noyau de la meta phenylendiamine ou dans celui de la benzaldehyde la triazine n’est pas sucree. Il etait a prevoir que dans le cas d’une triazine polysulfonee avec un groupe dans le noyau de l’aniline nous aurions un sucre, c’est bien ce que nous avons trouve pour le cas oü le deuxieme sulfo est dans le noyau de la diamine. Enfin dans le cas oü tous les noyaux contiennent un groupe sulfonique la triazine est, sucree.“ „Es erschien nun interessant zu untersuchen“, — so führen die Autoren aus, — „ob der süsse Geschmack durch die Anwesenheit der Amidogruppe bedingt sei. Die Amidogruppe wird deshalb nach Sandmeyer durch Jod? ersetzt: der Geschmack blieb.“ Diese Jodverbindung entspricht also der Triazinverbindung, in der NH, durch J ersetzt ist, Dieser Körper hat dem- nach folgendes Gerüst in seiner Constitution: DE ee Gen ae N, ug a HN 7 CH, | CH; ! Webanck, p. 46. 2 Derselbe, p. 47. ® E. Nölting und F. Wegelin, Berichte der Deutschen Chemischen Geesell- schaft. Bd. XXX. S. 2599 und Sur quelgues nouvelles triazine. p. 24. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 279 Dieser Körper erlangt nun die Süssigkeit, sobald er sulfonirt ist; und - zwar ist es ein Gemisch der Bi- und Trisulfosäure, das süss schmeckt, wie auf eine briefliche Anfrage Nölting mir mittheilt. Es wäre eine dankbare Aufgabe, die verschiedenfachsten Derivate kennen zu lernen und deren Geschmacksqualitäten. Der Süssholz- ‚Zucker‘, der Glycyrrhizin-Süssstoff, ist ebenfalls ein stickstoffhaltiges Süssmittel. Der süsse Geschmack in der Süssholzwurzel kommt dem Süssholz- „Zucker“ oder Glycion oder Glycyrrhizin zu, der in beiden Varietäten der Süssholzwurzel den wesentlichsten Bestandtheil bilde. Ob der kratzende Beigeschmack, der die Süssholz-Süsse begleitet, dem. Süssholz an sich eigen ist oder einem ihn begleitenden kratzenden resinösen Extractivstoff, ist noch nicht erwiesen. Glyeyrrhizin, der sogenannte Süssholzzucker, wurde, seiner chemischen Constitution nach, für ein Glycosid gehalten. Das Glycosid jedoch ist an sich nicht von süssem Geschmack, sondern geschmacklos; nach Filehne! ist Glyeyrrhizin von saurer Reaction und von bittersüssem Geschmack. Es zerfällt in die chemische Verbindung Zucker einerseits und Glycyrrhin andererseits, ein bitter schmeckendes Harz. Nach Roussin? (1876) ist aber das Glycyrrhizin kein Glycosid, sondern eine Säure, deren NH,-Salz erst süss schmeckt, während die Säure noch nicht den süssen Geschmack besitzt. Deshalb trüben sich Lösungen von Süssholz-Extract auf Zusatz einer Säure und verlieren ihren süssen Geschmack.’ Glyeyrrhizinsäure ist eine dreibasische N-haltige Säure 0,,H,,NO,.. Von ihren Salzen zeichnen sich das saure Ammoniak- und Kalium-Salz durch intensiv süssen Geschmack aus: Das neutrale Salz (NH,)-0,,Hs0NO,; schmeckt sehr süss, aber widerlich süss. K.C,,H,;NO,, schmeckt noch viel süsser als Rohrzucker und das saure glyeyrrhizinsaure Ammoniak. Den Grad der Süssigkeit der’glycyrrhizinsauren Salze hat R. Kayser* bestimmt. ı Clötta-Filehne, Zehrbuch der Arzneimilttellehre. 1887. 8. 291. 2 Chemisches Centralblatt. 1885. 8. 779. ® Note de M. E. Guignet, De l’existence de la glycyrıhizine dans plusieurs familles vegetales. Comptes rendus. T. C. p. 151. | * R. Kayser, Die Verwendung von Süssholz in der Bierbrauerei. Mittheilungen des bayrischen Gewerbemuseums. ZInd.-Bl. Bd. XXII. 8.54. — D. Chemisches Central- blatt. 1885. 8. 173. 280 WILHELM STERNBERG: Damit ist diese Reihe der Süssstoffe erschöpft. Die Süssstoffe sind nicht häufig Gegenstand der wissenschaftlichen Be- trachtung geworden. Berlinerblau,! der Entdecker des Duleins, Cazeneuve, Franchi- mont, Grimaux und Erdmann erörtern stets nur einzelne Glieder ein- zelner Reihen. Erdmann? fügt nicht neue Verbindungen hinzu. Eine vollständige Zusammenfassung sämmtlicher mit dem süssen Ge- schmack begabter Verbindungen ist noch gar nicht einmal versucht worden. Eine solche ergiebt drei Ülassen von süssschmeckenden Substanzen. Die erste ist die der anorganischen Verbindungen von süssem Geschmack, welche zum Theil Gifte, jedenfalls Heilmittel sind. Nahrungsmittel sind die Körper der zweiten, Genussmittel die der dritten Classe. Die beiden letzteren setzen die organischen Süssstoffe zusammen: Die stickstofffreien, fetten Süssstoffe mit offener Kohlenstoffkette, zu denen die natürlichen Süssmittel, die Zucker, gehören, und die stickstoffhaltigen aromatischen Süssmittel mit geschlossener Kohlenstoffkette, welchen die pharmakologische Gruppe der „Daccharina et Dulcia“ „Versüssungsmittel“, „Geschmackscorrigentia“ ent- stammt. Die Intensität des süssen Geschmacks ist in der ersten Gruppe am schwächsten entwickelt, selbst das Maximum an Süsskraft ist kein erhebliches, die Verbindungen besitzen daher den ersten Grad der Süsse. Die Intensität des süssen Geschmackes ist in der zweiten Gruppe schon stärker entwickelt, jedoch ist selbst das Maximum an Süsskraft auch noch nicht ein ausserordentlich hohes, die Verbindungen besitzen den zweiten Grad der Süsse. Die Intensität des süssen Geschmackes ist in der dritten Gruppe am stärksten entwickelt, das Maximum der Süsskraft überhaupt wird lediglich von Gliedern dieser Gruppe erreicht. Was die „Reinheit“ des Geschmackes oder den Beigeschmack der Süsse betrifft, so ergiebt sich auch ein Unterschied in den einzelnen Gruppen. Die erste Gruppe weist nicht einen einzigen Körper von rein süssem Geschmack auf, sämmtliche Süssstoffe dieser Gruppe haben einen Bei- geschmack, wie sich dies schon in dem Sprachgebrauch der Bezeichnung ! M. Berlinerblau, Prof. a Univ. de Berne, Compte rendu de la 18 me session (1889 — 90), premiere partie, p. 278. Association francaise pour ’avancement des sciences, fusionne avec Passociation seientifigue de France (fondee par le Verrier en 1864). Paris Seance du 14 aoüt 1889. ° Hugo Erdmann, Die neuere Entwiekelung der pharmaceutischen Chemie mit besonderer Berücksichtigung der synthetisch gewonnenen Heilmittel. Hauptversamm- lung der Deutschen Gesellschaft für angewandte Chemie zu Freiberg im Mai 1893. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 281 „süsslich“ für diese Glieder ausdrückt. Die Verbindungen üben eben nicht den einen einzigen Sinneseindruck der einen Qualität allein aus. Hingegen ist der rein süsse Geschmack Gliedern der zweiten Gruppe eigen. Die Süssmittel der dritten Gruppe schmecken sämmtlich nicht ganz rein süss, allein der Beigeschmack ist doch nicht so erheblich wie in der ersten Gruppe. In jeder Hinsicht machen sich die nämlichen Beziehungen zwischen den einzelnen Gruppen der bitter schmeckenden Substanzen geltend. Eine vollständige Zusammenfassung sämmtlicher mit dem bitteren Ge- schmack begabter Verbindungen ist ebenfalls noch gar nicht einmal ver- sucht worden. Eine solche ergiebt ebenfalls drei ÜÖlassen von bitter schmeckenden Substanzen. Die erste umfasst wiederum die der anorganischen Verbindungen von bitterem Geschmack, die pharmakologische Gruppe der „Amara salina“, deren Repräsentant „Bittersalz“ ist. Pharmakologisch sind sie ebenfalls nicht indifferent, sind somit auch Heilmittel. Die beiden weiteren Ulassen setzen wiederum die organischen Verbindungen von bitterem Geschmack zusammen: Die stickstofffreien, fetten Verbindungen, mit offener Kohlenstoffkette und die stickstoffhaltigen bitter schmeckenden Verbindungen der aromatischen Reihe (nicht die pharmakologische Gruppe der „Amara aromatica“). Zur ersten von beiden Gruppen gehören die wiederum den Süssmitteln par excellence, den Zuckern, entsprechenden und chemisch ihnen auch so nahestehenden Glycoside („Avzvs süss) und die „Bitterstoffe“, welche die Chemie als besondere Gruppe von Verbindungen mit unbekannter Con- stitution zusammenfasst. Sie gehören nicht wie die entsprechende Gruppe der Süssmittel zu den Nahrungsmitteln, doch dienen sie, physiologisch in- different, gewissermaassen als Gewürz und regen den Appetit, die Lust zur Nahrungsaufnahme an. Sie sind die „Bittermittel“, „die bitteren Mittel“ der „Pharmakologie“. Die „Amara pura“ der Pharmacie entstammen der letzten Gruppe, welche pharmakologisch nicht indifferent, Gifte, Heilmittel und Genussmittel liefert. Die Intensität des bitteren Geschmackes ist in der ersten Gruppe am schwächsten entwickelt, selbst das Maximum an Bitterkeit ist kein erheb- liches, die Verbindungen besitzen daher den ersten Grad der Bitterkeit. Die Intensität des bitteren Geschmackes ist in der zweiten Gruppe schon stärker entwickelt, jedoch ist selbst das Maximum an Bitterkeit auch noch nicht ein ausserordentlich hohes, die Verbindungen besitzen den zweiten Grad der Bitterkeit. Die Intensität des bitteren Geschmackes ist in der dritten Gruppe am stärksten entwickelt, das Maximum der Bitterkeit überhaupt wird lediglich 282 i WILHELM STERNBERG: von Gliedern dieser Gruppe erreicht, ja die höchste Intensität des Ge- schmackes überhaupt wird von diesen Geschmacksobjecten erreicht. Strychnin ist unlöslich oder doch ausserordentlich schwer löslich und schmeckt trotzdem ausserordentlich bitter. Es giebt nichts, das so bitter schmeckt wie Strychnin. Nimmt man von einer Lösung 1:1000 nur einen einzigen kleinen Tropfen in den Mund, so hat man den bitteren Geschmack während vieler Stunden im Munde. Die Bitterkeit ist derartig, dass der Nachweis mittels dieser physiologischen Geschmacks-Probe geführt wird. Bezüglich der „Reinheit“ des Geschmackes oder des Beigeschmackes der Bitterkeit ergiebt sich auch ein Unterschied, der nämliche in den einzelnen Gruppen: Die erste Gruppe weist nicht einen einzigen Körper von rein bitterem Geschmack auf, sämmtliche Bittermittel dieser Gruppe haben einen Bei- geschmack, wie sich dies schon in dem Sprachgebrauch der Bezeichnung „bitterlich“ für diese Glieder ausdrückt. Die Verbindungen üben ebenfalls nicht den einen einzigen Sinneseindruck der einen Qualität allein aus. Hingegen ist der rein bittere Geschmack wiederum der zweiten Gruppe eigen. Die Bittermittel der dritten Gruppe schmecken wiederum nicht ganz rein bitter, allein der Beigeschmack ist doch auch bei Weitem nicht so erheblich wie in der ersten Gruppe. An Zahl übertreffen die Bitterstoffe die Süssstoffe bei Weitem. In allen Punkten zeigt sich also vollkommene Uebereinstimmung in den Geschmacksobjecten süsser und bitterer Qualität. Ebenso zeigt sich auch eine gewisse Uebereinstimmung in den Ge- schmacksobjecten salziger und saurer Qualität. Der rein süsse und der rein bittere Geschmack, ebenso die höchste Intensität dieser Qualitäten ist auf die organische Gruppe beschränkt. Der salzige Geschmack hingegen findet sich ausschliesslich in den an- organischen Verbindungen. Die stärksten Säuren von höchster Acidität sind ebenfalls die minera- lischen. Säuren sind sehr zahlreich, alle schmecken sauer. Noch zahlreicher sind die Salze. Um so auffallender ist es, dass der salzige Geschmack eine so singuläre Eigenschaft ist. Die Objecte der extremen Geschmacksqualitäten, süss und bitter einerseits, salzig und sauer andererseits, stehen sich also in mannigfacher Beziehung sehr nahe. Andererseits stehen sich die Objecte der diametral entgegengesetzten Geschmackspaare gegenüber; nämlich die von süss und bitter gegenüber denjenigen von salzig und sauer. Dass die diametral entgegengesetzten Geschmacksqualitäten „süss“ und „bitter“ sich in einem Molecül vereint vorfinden, ebenso die entgegen- gesetzten Qualitäten von „salzig“ und sauer“, kann nicht verwundern. Denn DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFEE. 283 einerseits giebt es Säuren von süssem und bitterem Eigengeschmack, freilich nur organische, wie z. B. die Säure von hochgradigster Süsse: Saccharin, ferner giebt es aber auch Basen von süssem und bitterem Eigengeschmack, wie z. B. die bitteren organischen Basen von hochgradigster Bitterkeit: die Alkaloide. Andererseits ist es aber auch bekannt, dass in den Salzen der | Eigengeschmack der Säure sich mit dem Eigengeschmack der Base verbindet, und ferner steht es fest, dass es von der einen Geschmacksqualität zur anderen, von „süss“ zu „bitter“ keinen Uebergang in der subjectivischen Empfindung giebt. Daraus folgt, dass es sogar sehr viele Verbindungen von süss-bitterem Geschmack geben muss. In der That lassen sich auch solche leicht aus ‘organischen Säuren mit organischen Basen, selbst mit anorganischen Basen herstellen. Dabei kann man sowohl das bittere wie das süsse Princip dem Mineralreich entnehmen. Freilich eine bittersüss schmeckende anorganische Verbindung giebt es nicht, da es eine anorganische Säure weder von bitterem noch von süssem Eigengeschmack giebt. In weit engeren Grenzen trifft die Analogie für das andere Geschmacks- qualitätenpaar zu. Es giebt keine einzige Säure, welche zugleich den salzigen Eigen- geschmack hat. Es giebt auch kein neutrales, neutral reagirendes Salz, das sauer schmeckt. Unter den Basen sind es nur die anorganischen, die den Salzen den „salzigen‘‘ Geschmack geben, und selbst von diesen anorganischen sind es auch nur recht vereinzelte. Dennoch giebt es „saure Salze‘, von denen aber nur diejenigen, die aus anorganischen Säuren zusammengesetzt sind, sauer und salzig zugleich schmecken. Wie es also keine bitter-süsse anorganische Verbindung giebt, giebt es keine sauersalzig schmeckende organische Verbindung. Für den „sauer-bitteren“ und „sauer-süssen“ Geschmack sind die Grenzen nicht so eng gezogen wie für den „sauer-salzigen“ Geschmack. Die einzige Combination, die nicht m einem Molecül vorkommt, ist die „salzig-süsse“. Was nun die Erklärung der Süssigkeit betrifft, so hatte sich bisher Folgendes ergeben: Allen! süss schmeckenden Verbindungen ist gemeinsam die chemische Doppelnatur. Diese ist daher die Bedingung für das Zustandekommen des süssen Geschmackes. Bei Vervollständigung der ersten Gruppe der Süss- mittel erwies es sich jedoch, dass diese Bedingung eine aber nicht die einzige ! Beziehungen zwischen dem chemischen Bau der süss und bitter schmeckenden Substanzen und ihrer Eigenschaft zu schmecken. Dies Archiv. 1398. Physiol. Abthlg. S. 452. 284 WILHELM STERNBERG: ist. Eine zweite! Bedingung war an das Hervorbringen der Süssigkeit ge- knüpft. Ebenso zeigte sich auch bei Ergänzung der zweiten Gruppe aller Süssstoffe, dass auch hier noch eine zweite? Bedingung für das Entstehen dieser Qualität erforderlich ist, und dass diese zweite Bedingung die nämliche ist wie in der ersten Reihe. Schwieriger sind die Verhältnisse in der dritten Gruppe, weshalb eine theoretische Betrachtung an anderer Stelle versucht werden soll. Jedenfalls reichen die beiden nämlichen Voraussetzungen, welche den süssen Geschmack der beiden ersten Gruppen von Süssmitteln bedingen, auch für die Erklärung einer sehr grossen Anzahl von Süssmitteln und Bittermitteln der dritten Gruppe aus. „Die Sternberg’schen Erklärungen,“ sagt Fränkel?, „können wohl kaum den süssen Geschmack gerade der süssesten organischen Körper des Duleit, des Saccharins und der Amidotriazinsulfesäure erklären“. Nochmals* wiederholt Fränkel diese Behauptung, indem er sagt: „Auch für die intensiv süssen Eigenschaften des Saccharins und Dulcins fehlen uns theoretische Erklärungen.“ „Duleit“ der ersteren Stelle, die dem Alkohol gewöhnlich zukommende Bezeichnung, soll wohl wie Dulcin, die an der zweiten Stelle genannte Sub- stanz, ein und denselben Körper, den Süssstoff, bezeichnen. Ebenso wiederholt Fränkel nochmals? dieses Urtheil bezüglich des bitteren Geschmackes der Alkaloide: „Eine Erklärung über dieses Verhalten bleibt Sternberg schuldig.“ Dass meine Erklärungen noch nicht ausreichen, ist richtig, ebenso aber auch verständlich. Sind doch diese Körper ganz vereinzelte Glieder ausser- ordentlich grosser Gruppen, deren Homologe und Derivate noch nicht im Entferntesten erforscht, ja zu einem grossen Theil noch gar nicht einmal be- kannt, selbst noch gar nicht einmal dargestellt sind. Der Grund dafür, dass eine Erklärung überhaupt noch nicht abzugeben ist, bildet zugleich den Grund für die Nothwendiekeit einer möglichst vollkommenen Zusammen- stellung aller Schmeckstoffe. Denn die gesuchte Erklärung besteht doch lediglich darin, aus der Zusammenfassung den sämmtlichen Süssstoflen ge- meinsamen allgemeinen Satz abzuleiten. Die physikalische Chemie giebt uns ja auch noch nicht einmal eine Erklärung für die besterforschte Qualität der Verbindungen, für das optische Verhalten, weder für die Drehkraft, noch auch für die Drehrichtung. Denn ! Ueber das süssende Princip. Zbenda. 1903. Physiol. Abthlg. 8. 113. ° Le prineipe du goüt doux dans le second groupe des corps sucres. Archives internationales de pharmacodynamie et de therapie. 1894. T. XIU. ® Siegm. Fräukel, Die Arzneimittel-Synthese. 1901. S. 108. * Derselbe, Zbenda. 8. 95. 5 Derselbe, Ebenda. S. 103. DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. 285 ob eine neue Verbindung rechts oder links drehen wird, und warum eine gewisse Verbindung rechts und nicht links dreht, dafür giebt die physikalische Chemie noch nicht im Mindesten irgend eine Erklärung. Dieselbe be- schränkt sich vielmehr einzig und allein auf die Wirksamkeit, die ein Körper überhaupt auf den polarisirten Lichtstrahl ausübt. Lediglich für die Thatsache, ob eine Verbindung überhaupt optisch wirksam ist oder nicht, lediglich dafür haben wir theoretische Erklärungen. Dementsprechend hätte man zunächst sich auch hier zu beschränken und nach einer Erklärung dafür zu suchen, dass manche Körper ganz geschmacklos sind, andere hin- gegen die Fähigkeit besitzen, überhaupt irgendwie zu schmecken. Auf diesem Gebiete häufen sich überdies noch die Schwierigkeiten. Nicht allein, dass die für eine theoretische allgemeine Erklärung unerlässlich erforderliche umfangreiche Zusammenstellung vordem fehlte, so fehlte über- dies noch oft die richtige Angabe der wahren Geschmacksqualität, ja oftmals ist die Qualität des Geschmackes durchaus irrthümlich bestimmt, sogar die diametral entgegengesetzte Qualität angenommen. Dass aus so unrichtigen Angaben sich nicht die richtige Erklärung ergeben wird, ist ersichtlich. Dennoch finden sich in der Litteratur Beispiele dafür, dass aus ganz irrigen Angaben über die Geschmacksqualität von wenigen, ganz vereinzelten Ver- bindungen allgemeine Erklärungen und Schlussfolgerungen gemacht sind, die sich auf alle Schmeckstoffe beziehen sollten. Es gilt daher, diese Er- klärungen erst zu widerlegen und zunächst einmal das Thatsächliche fest- zustellen. Die irrige Annahme, dass ein echter Zucker, d-Mannose, nicht süss, sondern bitter schmeckt, musste widerlegt werden, um die von dieser unrichtigen Voraussetzung ausgehende unrichtige Hypothese! zu widerlegen. Ebenso mussten auch erst die thatsächlichen Irrthümer bezüglich der Derivate des Dulcins festgestellt werden, um die ebenfalls auf diesen unrichtigen Voraussetzungen begründete Schlussfolgerung Ehrlich’s® zu widerlegen. Es gilt also, nicht allein die Erklärung zu geben, sondern zunächst einmal das thatsächliche Material, das die Voraussetzung zur Erklärung abgeben soll, zu sammeln und zu sichten. Neuerdings meint F. W. Drake’, dass die schmeckenden Substanzen an den peripherischen Endigungen der Geschmacksnerven „nervöse Energie entbinden, welche die Geschmacksempfindungen hervorruft“, Wenn Lefferts* die Ansicht vertritt, dass die Chemie des Zuckers ! Zur Physiologie des süssen Geschmackes. Zeitschrift für Psyehol. und Physiol. der Sinnesorgane. 1904. 8. 81. ? Ebenda. 1905. ® Lefferts, The properties of odor and taste. M. Y. Med. Journal. 23. VI. 1900. * @. W. Drake, The simplest explanation of the fonctions of the nervous system..- Journal American Medical Association. 9. III. 1901. 286 WILHELM STERNBERG: DIE STICKSTOFFHALTIGEN SÜSSSTOFFE. einen Fingerzeig in der Frage giebt, warum Zucker süss schmeckt und worin die Süssigkeit begründet ist, so kann man anderer Ansicht auch sein. Denn einmal ist die Chemie der Zucker schon längst erforscht, ohne dass diese Probleme dadurch wesentlich gefördert wären. Sodann scheint mir aber auch, dass der Vergleich gerade derjenigen Süssmittel, welche dem Zucker chemisch gar nicht mehr nahe stehen, am ehesten zur Lösung des Problems führen wird. Diese Substanzen sind aber die stickstoffhaltigen Süssmittel der dritten Reihe. Daher ist es für die theoretische Erklärung der Süsse überhaupt von der grössten Bedeutung, gerade diese Süssstoffe zu sammeln, gerade diese Reihe zu ergänzen und möglichst zu vervollständigen. Ueber Contractilität und Reizbarkeit des Samenleiters. Erste Mittheilung. Von Wilibald A. Nagel in Berlin. In Bezug auf die Art-und Weise, wie der Samenleiter seinen Inhalt vom Nebenhodenausgang in die Harnröhre befördert, ist unsere Kenntniss zur Zeit noch recht ungenügend. Die nicht zahlreichen Angaben der Autoren, die sich . mit der Physiologie dieses Organs beschäftist haben, widersprechen sich in mehr als einem Punkte. Die ausserordentliche Lebhaftigkeit, mit der sich der Samenleiter bei directer oder indirecter Reizung zusammenzieht, war mir schon vor einer längeren Reihe von Jahren aufgefallen und ich hatte mir auf Grund dieser gelegentlich gemachten Beobachtungen die Vorstellung gebildet, dass eine eingehendere Beschäftigung mit der Physiologie des Samenleiters allerlei Interessantes zu Tage fördern dürfte. Eine Reihe von Versuchen, die ich in diesem Frühjahre ausfübrte, haben diese Erwartung vollauf bestätigt. Da meine Laboratoriumsräume in Berlin sowie deren Instrumentarium für derartige Versuche wenig geeignet sind, erbat und erhielt ich von Herrn Professor Langendorff die Erlaubniss, die Versuche in seinem wohl aus- gestatteten Institut in Rostock auszuführen. Für diese Gastfreundschaft und manchen guten Rath bei der Ausführung meiner Versuche möchte ich Herrn Collegen Langendorff auch an dieser Stelle herzlichst danken. Auch Herrn Privatdocenten Dr. J. Müller bin ich für seine Hilfe zu Dank verpflichtet. 288 WILIBALD A. NAGEL: 1. Allgemeines über die Contractionsvorgänge am Samenleiter. Die Frage der Peristaltik, Der Hauptzweck meiner Untersuchung war, festzustellen, ob der Samenleiter sich peristaltisch bewegt oder nicht. Dabei ergaben sich einige merkwürdige Eigenheiten in der Reactions- und Contractionsweise des Organs, über die ich im Folgenden ebenfalls berichten will, obgleich ich die Versuche in gewisser Hinsicht noch nicht als abgeschlossen betrachte, sie vielmehr bei erster Gelegenheit fortzusetzen beabsichtige. Dass der Samenleiter sich peristaltisch contrahire, hat zuerst Budge! angegeben. L. Fick? pflichtete ihm dann bei, soweit es das Kaninchen betraf, bei dem nach Fick die Peristaltik deutlich wahrzunehmen sein sollte, während beim Hunde nach Fick die Peristaltik fehlt und nur eine Ver- kürzung des ganzen Organs eintritt. Dasselbe gaben auch Kölliker? und Virchow? für den menschlichen Samenleiter an, der sich bei einem Hin- gerichteten auf elektrische Reizung kräftig verkürzte. M. Loeb* konnte übrigens auch beim Kaninchen die Fick’sche Angabe nicht bestätigen; er fand keine Peristaltik. Ich bin, um das Resultat gleich vorwegzunehmen, zu der Ueberzeugung gekommen, dass weder bei der Katze ‚noch beim Kaninchen, meinen Versuchsthieren, eine ausgeprägte Peristaltik vorhanden ist, die Entleerung vielmehr durch starke Verkürzung unter gleichzeitiger Contraction der Ringmuskellage erfolgt. Legt man beim Kaninchen den Samenleiter bloss und sucht in der Bauchhöhle den motorischen Nerven auf, der neben der Wirbelsäule als ganz zarter Faden gefunden wird, so kann man eine lange Zeit hindurch selbst am getödteten Thiere noch directe und indirecte Reizwirkungen beobachten. Trotz seiner ausserordentlichen Zartheit ist der Nerv von einer auffallenden Widerstandsfähigkeit; man kann ihn frei präpariren, anschlingen und oben abschneiden und nun am lebenden narkotisirten Thiere Stunden lang, am todten gegen eine halbe Stunde lang den Effect faradischer Reizung studiren. Es sieht nun in der That die Bewegung, die auf solche Reizung wie auch auf directe Reizung hin auftritt, auf den ersten Blick einer peristal- tischen ähnlich. Man sieht zwar nicht das Hingleiten einer Einschnürungs- welle über den Samenleiter, dagegen sieht man diesen sich rasch winden wie ein heftig gereizter Regenwurm oder wie ein in Ringer’scher Flüssig- keit aufgehängter Dünndarm, nur sehr viel schneller und lebhafter wie letzterer. Die Windungen spielen sich so schnell ab, wie man es bei einem I Archiv für pathol. Anatomie. Bd. XV. 8. 115. ® Dies Archiv. 1856. Physiol. Abthlg. S. 473. 3 Mikroskopische Anatomie. 1852. Bd. II. 8. 423. * Beiträge zur Bewegung der Samenleiter. JInaug.- Dissertation. Giessen 1866. | ÜBER (CONTRACTILITÄT UND REIZBARKEIT DES > LUNLETLEBE 289 glattmuskeligen Organ kaum erwarten sollte. Eben deshalb ist es auch ganz ausgeschlossen, eine etwa vorhandene peristaltische Einschnürungswelle über das Organ hingleiten zu sehen, wenn sie nicht etwa sehr stark aus- geprägt wäre. Ich hatte zunächst geglaubt, in diesen Windungsbewegungen eine Be- stätigung der Budge-Fick’schen Annahme einer Peristaltik sehen zu sollen, oder zum mindesten in ihnen den Ausdruck eines periodisch von einem Ende zum anderen laufenden, irgendwie beschaffenen Contractions- vorgangs suchen zu müssen. Systematische Beobachtungen zeigen indessen sogleich, dass es sich um einen solchen periodischen Vorgang nicht handelt. Der Samenleiter liegt nämlich, in eine Art Mesenterium eingebettet, im _ Ruhezustand in zahlreichen Windungen und Verschlingungen. Reizt man das Organ nicht nur ganz kurz, sondern etwa 1 bis 2 Secunden lang, so sieht man, dass die Windungen einfach durch die Entwirrung der Schlingen zu Stande kommen und der Endeffeet stets die Streckung des Samenleiters in möglichst kurzer Linie ist. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass die früheren Autoren, die von Peristaltik sprachen, so wie ich es Anfangs auch that, nur ganz kurze Zeit reizten, weil schon dabei so heftige Reaction eintritt, und dass sie dann annahmen, bei anhaltender Erregung laufe auch an- dauernd eine Erregungs- und Contractionswelle über den Samenleiter hin. Präparirt man den Samenleiter im grössten Theil seines Verlaufes frei, lässt ihn aber mit Nebenhoden und Ampulle in Verbindung, so legen sich die Schlingen des nach der Präparation wieder zur Ruhe gekommenen Organs wieder in zufälliger Regellosigkeit auf die Unterlage und man sieht nun deutlicher als am nur freigelegten, aber nicht isolirten Organ die Gerade- streckung bei Reizung. Das Winden und Krümmen des nicht präparirten Organs beruht also zum Theil auf den mesenteriumartigen Bindegewebs- platten, die, wie es scheint, der Geradestreckung einen gewissen elastischen Widerstand entgegensetzen. Direete faradische Reizung des Samenleiters hat die gleiche Wirkung, wie Reizung vom Nerven aus. Auch die Schwelle ist von gleicher Grössen- ordnung: an beiden Stellen genügt im Allgemeinen faradische Reizung von einer Stärke, bei der sie auf der Zunge noch nicht fühlbar ist. Bemerken möchte ich schon hier, dass der Reizerfolg stärker oder zum mindesten auf- fälliger ist, wenn am unteren (der Samenblase zugekehrten) Ende gereizt wird, als am oberen (Nebenhoden-)Ende Ich werde der Kürze halber im Folgenden das erstere Ende das „vesicale“, das andere das „testiculare“ nennen. Wenn der Samenleiter schon etwas geschädigt ist, sei es durch häufige Reizungen, sei es durch Aufhebung der Blutzufuhr, so wird die Reaction im Ganzen träger und schwächer und bleibt unter Umständen auf das Archiv f,A.u. Ph, 1905. Physiol. Abthlg. Suppl. 19 290 WILIBALD A. NAGEL: gereizte Ende beschränkt. Auf die Frage der Reizleitung komme ich später zurück. Für jetzt sei nur bemerkt, dass ich auch bei dieser verlangsamten Reaction und ebenso am isolirten überlebenden Samenleiter niemals auch nur die geringste Andeutung einer peristaltischen Welle gesehen habe. Um mich hierüber noch besser zu informiren, registrirte ich die Dicken- änderungen in der Nähe der beiden Enden des Samenleiters graphisch. Zu diesem Zwecke wurde das Organ freipräparirt, an beiden Enden abge- schnitten und auf einem Korkstreifen an beiden Enden festgesteckt, ohne Dehnung. Der Korkstreifen konnte durch eine passende Vorrichtung leicht und schnell in ein Bad von Ringer’scher Flüssigkeit eingetaucht bezw. aus diesem herausgehoben werden. Die Flüssigkeit wurde durch ein Wasserbad auf 38 bis 40° erhalten. Auf dem Korkstreifen waren zwei Paare von Platinelektroden so angebracht, dass sie etwa !/,°® von den festgesteckten Enden des Samenleiters unter diesem lagen und ihn hier mit blanker Oberfläche berührten, während sie im Uebrigen mit nichtleitendem Firniss überzogen waren. Zwischen den beiden Elektrodenpaaren, die also Reizung am einen oder anderen Ende gestatteten, lag ein Stück des Samenleiters von 7 bis 8°® Länge. Auf dieses Stück waren nun zwei ganz leichte, aus Strohhalmen ge- bildete und nahezu ausbalancirte Schreibhebel in der Weise aufgelegt, dass sie sich mit kleinen Pelotten unter ganz geringem Druck auf den Samenleiter aufstützten, je etwa 1°“ innerhalb von den Reizstellen. Jede Verdickung oder Verdünnung des Organs musste also von den Schreibhebeln mit starker Vergrösserung registrirt werden. Verdünnung des Samenleiters, also eine Einschnürung, wurde in keinem Falle gefunden, wohl aber regelmässig Verdickung an den Stellen, die in Erregung geriethen. Da Verdiekung bei der getroffenen Anordnung auch durch die blosse stärkere Längsspannung vorgetäuscht werden konnte, welche dann an beiden Enden gleichzeitig bemerkbar werden musste, suchte ich mich gegen diese Fehlerquelle zu schützen, indem ich an einer oder mehreren Stellen quer über den Samenleiter feine Gummistreifehen spannte, die, wie sich zeigte, die Erregungsleitung nicht störten, aber die passive Spannung des einen Endes durch die Contraction am anderen Ende verhinderten. An Präparaten, die ohne diese „Brücken“ zur Registrirung der Dicke verwendet wurden, ergab sich häufig eine Verdickung an beiden Enden, gleichviel an welchem Ende gereizt wurde. Wenn dagegen durch eine oder zwei Gummibrücken die Fortleitung der Spannung verhindert wurde, ergab sich regelmässig Folgendes: Wenn am oberen, testicularen Ende mit Inductionsströmen gereizt wurde, verdickte sich nur dieses Ende; wenn am unteren, vesicularen ÜBER CONTRACTILITÄT UND REIZBARKEIT DES SAMENLEITERS. 291 Ende gereizt wurde, verdickte sich zwar bei ganz schwachen Strömen auch nur dieses allein, bei sehr mässiger Steigerung der Reizintensität aber auch das testiculare Ende fast gleichzeitig mit. Diese einsinnige Reizleitung erscheint zunächst sehr auffallend, da man eher geneigt sein müsste, zu erwarten, dass die Erregung vom Hoden aus sich nach unten fortpflanzt, im Sinne der Fortbewegung des Inhalts. Doch ist daran zu erinnern, dass die Nervenfasern an das Organ am vesicularen Ende heran- treten. Ein Samenleiter, der vom Nebenhoden ab- geschnitten und bis zur Ampulle freipräparirt ist, reagirt auf Reizung vom Nerven aus noch prompt, während ein vor der Ampulle durchschnittener in diesem Falle nicht mehr reagirt, auch wenn er mit dem Nebenhoden in Zusammenhang ist. Ueber die Geschwindigkeit, mit der sich die Contraction fortpflanzt, kann ich keine Angaben machen. Bei blosser Beobachtung mit dem Auge schienen sich die beiden Schreibhebel gleichzeitig zu bewegen. Genaue Registrirung des zeitlichen Eintrittes der Verdiekung war bei meiner Versuchsanordnung unmöglich, weil eine geringe seitliche Verschiebung der Schreibhebel selbst bei Anwendung der Gummi- brücken nicht auszuschliessen war und Fehler gröbster Art bei jeglichem Versuch, die sehr kleinen Zeiträume zu messen, bedingen musste. Ob die einsinnige Erregungsleitung, wie sie sich bei diesen Versuchen darstellt, auch dem intacten, von keinen Schädigungen getroffenen Samenleiter in gleicher Weise zukommt, möchte ich auf Grund der bisherigen Versuche bezweifeln. Legt man den Samenleiter am lebenden Thiere nun vorsichtig frei, ohne etwas daran zu präpariren, so bewirkt allerdings directe Reizung am testicularen Ende eine so kräftige ausgiebige Verkürzung des Organs, dass man geneigt sein muss, eine über den ganzen Ductus sich fortpflanzende Contraction anzunehmen. Doch spielt sich an dem ganz frischen Organ die Bewegung zu schnell ab, als dass man sie genügend sicher beobachten könnte. An dem schon etwas ermüdeten oder eben aus dem Körper ausgeschnittenen Samenleiter habe ich dagegen wiederholt mit 19* AN RT S S S u 292 WILIBALD A. NAGEL: Bestimmtheit erkannt, dass kräftige Reizung am testicularen Ende auch noch Verkürzung am vesicularen Ende bewirkt. Bei der umgekehrten An- ordnung freilich pflanzt sich die Erregung viel leichter und wie es scheint auch schneller fort; der Schwellenwerth des faradischen Reizes liegt dagegen durchaus nicht immer niedriger am vesicularen Ende. Leidet die Erregbarkeit und Contractilität in höherem Grade, so bleibt die Reizwirkung immer mehr und mehr auf den Reizort beschränkt und schliesslich sieht man nur noch die den Elektroden unmittelbar anliegenden Stellen sich langsam zusammenziehen, so dass eine circumscripte weissliche Anschwellung des Samenleiters entsteht, die noch eine halbe Stunde nach der letzten Reizung sichtbar sein kann. 2. Die Wirkung des Kältereizes. Die hier beschriebenen Versuche sind nach mehr als einer Richtung wesentlicher Vervollkommnung fähig. Ich verliess sie aber, als ich eine sehr beträchtliche Fehlerquelle entdeckte, die meine Aufmerksamkeit zunächst auf eine andere Seite lenkte. Wenn man beim Kaninchen oder Kater einen Samenleiter sorgfältig freipräparirt und an beiden Enden losschneidet, so bemerkt man meistens, dass das Organ, das sich schon während der Präparation etwas zu verkürzen pflegt, sich an der Luft bald noch bedeutend weiter zusammenzieht, etwa bis auf die Hälfte seiner Länge, die es im Thierkörper hatte. Bringt man den Samenleiter in körperwarme Ringer’sche Flüssigkeit, so erschlafft und verlängert er sich fast augenblicklich wieder vollständig. Es ist nur zum allerkleinsten Theil der Reiz der Präparation, der die Verkürzung auslöst, im Wesentlichen vielmehr Einfluss der Abkühlung. Befestigt man an den beiden Enden des isolirten Samenleiters feine Häkchen oder ganz feine Klemmen, und spannt mittels dieser das Organ vertical so aus, dass es an einem entsprechenden Drahtgestell mit dem einen Ende befestigt ist, während das andere Ende mit seinem Häkchen an einem zweiarmigen Schreibhebel angreift, so lässt sich die Längenänderung leicht registriren. Es empfiehlt sich, bei der Registrirung eine nur geringe Vergrösserung (2:1 bis höchstens 3:1) anzuwenden, da die zu beobachtenden Bewegungen an und für sich schon mehrere Centimeter betragen können. Abgesehen von vereinzelten Fällen, auf die ich noch besonders ein- gehen muss, beobachtet man nun alsbald eine beträchtliche Verkürzung des Samenleiters, die in der Regel ganz plötzlich einsetzt. Lässt man den Schreib- hebel auf langsam gehender Trommel (0.5 bis 1” per Sec.) schreiben, so zeichnet er eine steil ansteigende Öurve, die gewöhnlich bald in weniger : steilen Anstieg übergeht. Die Curve kann, unter immer weniger steil ÜBER CONTRACTILITAT UND REIZBARKEIT DES SAMENLEITERS. 293 werdendem Anstieg mehrere Minuten lang ansteigen und dann asymptotisch in die horizontale Gerade übergehen. Die Curve kann fast glatt sein; in der Regel aber sieht sie mehr oder weniger deutlich wellig aus. Es können sogar wirkliche Remissionen mit Wiederverlängerung vorkommen. Auch bleibt die Curve nicht immer auf dem erreichten höchsten Niveau stehen, sondern geht zuweilen auch hier noch wellenförmig weiter, mit mehr oder weniger grossen und mehr oder weniger schnell sich folgenden Schwankungen um ein bestimmtes Niveau. Die Schwankungen pflegen besonders gross zu sein, wenn die maximale Verkürzung, die erreicht wurde, unbedeutend ist (s. die Figg. 2, 4, 7). Die „spontane Periodik“ wird einer besonderen Besprechung zu unter- ziehen sein; hier sei sie zunächst nur kurz erwähnt. Die Gesammtverkürzung, die unter den erwähnten Umständen eintritt, ist, wie gesagt, beträchtlich; der Samenleiter kann bis auf weniger als die Hälfte seiner Ruhelänge heruntergehen. Das sonst durchscheinende glatte Organ wird dabei etwas trübe und erhält eine fein gerunzelte Oberfläche. Schiebt man, während der Samenleiter noch in der fortschreitenden Verkürzung begriffen ist, von unten her über den Halter, der den vertical gespannten Samenleiter trägt, ein Reagenz- oder Becherglas mit körper- warmer Ringer’scher Flüssigkeit, so dass der Ductus ganz oder grössten- theils in die Flüssigkeit eingetaucht wird, so erfolgt eine schnelle, nur eine Secunde dauernde, noch weiter gehende Verkürzung, auf die eine rapide Verlängerung folgt, die in wenigen Secunden mindestens °/, der bisher er- folgten Verkürzung rückgängig macht. Die Curve stürzt also nach der kurzen Erhebung bei Application der Wärme steil herab. Das letzte Viertel bis zur Nulllinie wird langsamer durchlaufen. (Vergl. eine typische Curve, wie sie in Fig. 2 reproducirt ist). Lässt man das Präparat in der körperwarmen (38 bis 40°) Flüssigkeit verweilen, so bleibt es auf seiner Maximallänge, soweit ich bis jetzt gesehen habe stets ohne periodische Contractionen. Setzt man das Präparat wieder der Zimmerluft aus, so bleibt es zunächst in seiner Ruhelänge, bis nach 10 bis 40 Secunden (meist ganz plötzlich) wieder eine Contraction der vorhin beschriebenen Art erfolgt. Ersetzte ich jedoch die körperwarme Flüssigkeit schnell durch zimmer- warme, so blieb in dieser die Verkürzung entweder gänzlich aus, oder sie trat nur in kleinen Andeutungen auf. Diese Thatsache spricht nicht gegen die Annahme, dass die Verkürzung bei Einwirkung der Luft von der Abkühlung herrühre, denn in diesem Fall kommt zu dem Temperaturabfall von 38° auf etwa 15° noch die sehr be- trächtliche Wirkung der Verdunstungskälte hinzu. Wenn man Ringer’sche Flüssigkeit in Eis auf wenige Grad über Null abkühlt, wirkt das Eintauchen 294 WILIBALD A. NAGEL: in sie genau so wie die Einwirkung der Zimmerluft, d. h. es tritt in gleicher Weise starke Verkürzung ein. Austrocknung kann also nicht die Ursache der Contraction in der Zimmerluft sein. Aus diesen Erfahrungen geht meines Erachtens mit Bestimmtheit hervor, dass Kälte, auch relativ langsam eintretende Abkühlung als kräftiger Verkürzungsreiz für den Samenleiter wirkt, nach beträchtlicher Latenzzeit. Körperwärme wirkt, wenn sie einen stark contrahirten Samenleiter trifft, momentan als Verkürzungsreiz, lässt aber dann den Samenleiter vollkommen in Erschlaffung übergehen. Wird ein Präparat, das einige Minuten in zimmerwarmer Ringer’scher Flüssigkeit sich befand, plötzlich in körperwarme Flüssigkeit getaucht, so wirkt diese Erwärmung nicht als Reiz. Steigt die Temperatur auf 41° bis 42°, so sieht man häufig eine gewisse Unruhe am Schreibhebel, es werden, ohne dass das Organ im Ganzen sich verkürzte, ganz kleine unregelmässige Wellen von kurzer Dauer geschrieben. Auffallend und auf Grund meiner bisherigen Erfahrungen noch nicht erklärlich ist nun die Thatsache, dass nicht alle Präparate die beschriebene Reaction auf Kältereiz zeigen. Zufällig war es gerade das erste Samen- leiter-Präparat, das ich zur Verkürzungsregistrirung benutzte, bei dem jegliche Verkürzung ausblieb, wenn ich das Präparat aus warmer Ringer’scher Flüssigkeit an die Zimmerluft brachte. Darum gelangen bei diesem Thiere die elektrischen Reizversuche, auf die ich unten eingehen werde, sehr gut, ÜBER CONTRACTILITÄT UND REIZBARKEIT DES SAMENLEITERS. 295 bei den 10 oder 12 nächsten Thieren aber nicht. Dann kam plötzlich wiederum ein Thier (Kaninchen), bei dem sie gelangen, weil die Kälte- verkürzung ausblieb. Der Grund ist mir, wie gesagt, noch nicht klar geworden. Ich habe allerdings die Präparate nicht ganz übereinstimmend hergestellt, nämlich bald den Ductus deferens möglichst schonend und reinlich isolirt, bald ihn auch mit anhängenden Gefässen und Bindegewebssträngen zusammen ausgeschnitten. Dies macht, wie ich mich überzeugt habe, für die Reactions- fähigkeit gegenüber dem Kältereiz nichts aus. Nicht systematisch unter- sucht habe ich dagegen bis jetzt die Bedeutung der beiden Schnittstellen, an denen der Ductus losgeschnitten wird. Bemerkenswerth ist jedenfalls, dass bei den beiden Kaninchen, bei denen die Kälteverkürzung ausblieb, sie gleich bei beiden Samenleitern ausblieb, bei den zahlreichen Thieren aber, bei denen sie überhaupt auftrat, auch stets beiderseitig zu finden war. Selbst graduelle Unterschiede zwischen den beiden Seiten fielen mir nicht auf, wohl aber zwischen verschiedenen Thieren der gleichen Art. 3. Die Wirkung elektrischer Reize. Die Bemühungen, die Wirkung directer elektrischer Reizung am Samenleiter zu studiren, stiessen, wie nach den oben erwähnten Beobachtungen leicht erklärlich ist, auf die Schwierigkeit, dass die meisten Präparate so kräftig auf Abkühlung durch Contraction reagirten, dass die Wirkung der stärksten elektrischen Reize hiergegen zurücktrat und jedenfalls nicht in einwandfreier Weise zu demonstriren war. Nur die wenigen Präparate, welche, wie oben bemerkt, die Reaction auf Abkühlung aus unbekannter Ursache vermissen liessen, waren für elektrische Reizversuche ohne Weiteres zugänglich. Um auch an den anderen Präparaten mit elektrischen Reizen arbeiten zu können, gebrach es mir an den nöthigen Vorrichtungen. Weitere Untersuchungen hierüber beabsichtige ich in nächster Zeit aus- zuführen. Eine Mittelstellung nehmen die Samenleiter der Kater ein, die (wenigstens in den von mir benützten Individuen) keine so beträchtliche Kälteverkürzung aufweisen und daher auch an der Luft noch für elektrische Reize erregbar sind. Hierüber Näheres unten. Prüft man die directe elektrische Reizbarkeit eines auf Kälte nicht reagirenden Samenleiters vom Kaninchen mit Inductionsschlägen, so ergiebt sich eine für ein glattmuskeliges Organ auffallend hohe Erregbarkeit schon den einzelnen Inductionsöffnungs- und Schliessungsschlägen gegenüber. Die Wirkung des Oefinungsschlages ist merklich stärker. Das frische und 296 WILIBALD A. NAGEL: nicht zu stark abgekühlte Samenleiterpräparat reagirt auf Inductionsschläge, die auf der Zunge kaum fühlbar sind, schon kräftig. Die meisten Versuche habe ich mit rasch hinter einander folgendem Schliessungs- und Oeff- nungsschlag angestellt, indem der primäre Strom etwa !/,, Sec. ge- schlossen wurde. Fig. 3a zeigt den allgemeinen Verlauf einer durch derartigen Reiz ausge- lösten Contraction bei einem Präparat, das sich vorher in körperwarmer Ringer ’scher Flüssigkeit befunden hatte und 8 Secunden vor der Reizung aus der Flüssigkeit herausgehoben worden war. Die Zeitregistrirung giebt Doppelsecunden an. Den einzelnen Punkten der untersten Linie, die die Reizmarkirung enthält, entsprechen zeitlich genau die darüber liegenden Punkte der Contractionscurve. Die Latenzdauer ist also direct ablesbar und beträgt hier etwa 0.5 Secunde. Fig. 3b zeigt die Contrac- tionscurve des gleichen Präpa- rates unter sonst völlig gleichen Bedingungen, aber nach etwa 3 Minuten dauerndem Aufenthalt an der Luft. Die Latenz ist auf mehr als 2 Secunden gestiegen, der Verlauf der Curve ge- streckter, die erreichte Verkür- zung geringer. Die Gesammt- dauer der Contraction (vom Beginn der Verkürzung bis zur Wiederverlängerung auf die An- fangslänge) ist bei dem frischen oder kurz zuvor erwärmten Präparat nicht geringer als bei dem abgekühlten, trotz des viel steileren Anstiegs. Regel- ÜBER CONTRACTILITÄT UND REIZBARKEIT DES SAMENLEITERS. 297 mässig dauert beim frischen Präparat die Verkürzung nur etwa den vierten bis fünften Theil der Zeit, der zur Wiederverlängerung nöthig ist, während beim abgekühlten Präparat Anstieg und Abstieg nahezu gleichlange dauern. Bei denjenigen Prä- paraten vom Kaninchen- Samenleiter, die ausge- prägte Kälteverkürzung zeigten, konnten elek- trische Reize nur in dem Falle voll wirksam sein, wenn sie sogleich nach dem Herausheben des Samenleiters aus der warmen Ringer’schen Flüssigkeit einwirkten, also bevor die Kältever- kürzung eintrat. Fig: 4 bringteine derartigeCurve zur Darstellung, in der zuerst die durch elektri- schen Reiz (#Z) bewirkte . Verkürzung und nach deren fast vollständigem Rückgang die Kältever- kürzung (mit „spontanen“ Wellen) erkennbar ist. Erfolgt der elektrische Reiz erst, nachdem die Kälteverkürzung schon begonnen hat, so setzt sich die durch ihn be- wirkte Contractionswelle auf die Curve der Kälte- verkürzung, ohne deren Ablauf mehr als vorüber- gehend, d. h. für die Dauer einer normalen Verkürzung auf elektrischen Reiz, zu modificiren. Auf der Höhe der Kälte- verkürzung pflegt beim Kaninchen-Samenleiter der elektrische Reiz gar nicht mehr oder kaum merklich zu wirken. Anders ist es beim Kater, bei dem ich meistens in Folge der Kälte- 298 WILIBALD A. NAGEL: einwirkung nur mässige Verkürzungen des Samenleiters sah. In dem Zustande dieser Verkürzung spricht das Organ auf elektrischen Reiz (der hier allerdings ziemlich stark sein muss) noch gut an. Fig. 5 giebt ein Bild einer solchen Reaction auf elektrische Reizung des durch Kälte verkürzten Samenleiters Folgen sich eine Anzahl von Inductionsschlägen (Schliessungs- und Oefinungsschlag unmittelbar nach einander) in so kurzen Zwischenräumen, dass das Organ nicht Zeit zur Wiederverlängerung hat, so erhält man richtige Summationserscheinungen. Fig. 6 zeigt die Summationswirkung von einer Anzahl von Inductionsschlägen, die sich in Zwischenräumen von 6 Secunden folgten. Der Erfolg ist, wie man sieht, ‘noch kein völlig glatter Tetanus. Ich bezweifle nicht, dass bei einem ganz frischen, bei Körper- temperatur gehaltenen Samenleiter noch die Reizfolge von 10 fach grösserer Frequenz nicht zu glattem Tetanus führen würde. ÜBER CONTRACTILITÄT UND REIZBARKEIT DES SAMENLEITERS. 299 4. Die spontane Periodik der Contraection. Oben wurde schon erwähnt, dass der unter der Einwirkung von Kälte sich verkürzende oder verkürzte Samenleiter meistens eine gewisse Periodik der Verkürzung erkennen lässt. Die Launenhaftigkeit und scheinbare Regel- losigkeit, die die Reactionen des Samenleiters überhaupt kennzeichnet, macht sich auch bei dieser Erscheinung bemerklich. Es ist mir nicht gelungen, die Gesetzmässigkeiten für die Umstände festzustellen, unter denen die Periodik überhaupt auftritt; ebenso wenig klar ist es, warum die Periodik sich bald in kurzen Wellen von 8 bis 10 Secunden Dauer, bald in bedeutend längeren Wellen zeigt. Die Figuren 2, 4 und 7 zeigen einige Fälle, in denen sich die Periodik deutlich zeigt. In Fig. 7 ist auf die grossen Wellen von etwa 60 Secunden Dauer stellenweise ein System von kleinen Wellen von 6 bis 10 Secunden Dauer aufgesetzt. Es handelt sich hier um einen Samen- leiter vom Kaninchen, der sich bei Zimmertemperatur (an der Luft) nur mässig verkürzt hatte und nun diese starken periodischen Schwankungen seiner Länge zeigte, wie ich sie bei keinem zweiten Präparate so ausgeprägt wieder gesehen habe. Fast regelmässig sieht man dagegen während des Eintrittes der Kälte- verkürzung Wellen auf den aufsteigenden Curventheil aufgesetzt. Die Periodenlänge bewegt sich hierbei um den Werth von 15 Secunden herum. Auf die Wirkung des Nicotins auf die Periodik wird sogleich einzu- gehen sein. 300 WILIBALD A. NAGEL: 5. Einige Beobachtungen über die Wirkung des Nico- tins und Atropins auf den Samenleiter. Ganz im Allgemeinen kann man sagen, dass das Nicotin auf die Erregbarkeit und Con- tractilität des Kaninchen-Samen- leiters modificirend, aber nicht eigentlich schädigend einwirkt, während es auf den Samenleiter des Katers in hohem Grade schädigend wirkt. Atropin im Gegentheil schädigt den Samen- leiter des Kaninchens viel stärker, als den des Katers. Ueberraschende individuelle Unterschiede dereinzelnen Präpa- rate fehlen aber auch hierbei nicht. Diese zeigen sich schon beim ersten Einbringen des Präparates in die Nicotinlösung. Ich verwendete stets dasselbe Präparat, Nicotinum tartaricum, meistens in !/,procentiger Lö- sung in Ringer’scher Flüssig- keit von 38 bis 40°. Ein Theil der Präparate reagirte nun auf das Eintauchen in diese Flüssig- keit in der Weise, dass der Samenleiter im Allgemeinen auf seiner maximalen Länge blieb und nur statt einer glatten Hori- zontallinie eine zittrige Linie zeichnete, wie etwa ein Muskel, der ganz feine fibrilläre Zuckun- gen aufweist. Andere, in gleicher Weise behandelte Präparate zeigten da- gegen beim Einbringen in die Nicotin-Ringer-Lösung nach einer Latenz | | | | I | 1 1 | f I \ 1 | I} ÜBER CONTRACTILITÄT UND REIZBARKEIT DES SAMENLEITERS. 301 von 10 bis 20 Secunden eine sehr beträchtliche, über mehrere Minuten an- haltende Verkürzung; an den hierbei aufgeschriebenen Curven ist ebenfalls der zittrige Verlauf der Linie bemerkenswerth. Beim Kater habe ich eine derartige Reizwirkung der Nicotinlösung nicht bemerkt. Eine ganz constante Wirkung der Nicotinisirung besteht in einer be- trächtlichen Steigerung der Erregbarkeit des Samenleiters. Genau studiren konnte ich diese nur bei Kältereizen, da die Untersuchungen mit elektrischen Reizen, wie oben bemerkt, bei den meisten Präparaten auf Schwierigkeiten stiessen. Bei den zwei Thieren, deren Samenleiter auf Abkühlung nicht durch Contraction reagirten, habe ich zufällig gerade Nicotin nicht in An- wendung gebracht. Fig. 8 zeigt in typischer Weise die Wirkung des Nicotins auf den Samenleiter des Kaninchens. Vor der Nicotinisirung eine durch kalte Luft (XZ) ausgelöste mässige Verkürzung mit stark ausgeprägten periodischen Re- missionen im, Contractionsprocess. Nach der Nicotinisirung eine viel höher- gradige Verkürzung, mit Anfangs ziemlich genau gleich steilem Anstieg, aber nur schwach angedeuteten wesentlich kürzeren Wellen. Die Latenzdauer des Kältereizes ist auf etwa '/, der früheren herabgesetzt. Beim Eintauchen in warme Ringer’sche Flüssigkeit (W %) ohne Nicotin schneller Rückgang zur Ruhelänge, nachdem vorher die durch das Spitzchen am oberen Ende der Curve angedeutete kleine Wärmeverkürzung eingetreten war. Diese Wärmeverkürzung fehlt bei der vorhergehenden Curve vom nichtnicotinisirten Präparat. In der That findet man sie bei Weitem regelmässiger und ausgeprägter nach Nieotineinwirkung. Doch findet man sie gelegentlich auch bei nicht vergifteten Prä- paraten. Am allerstärksten sah ich sie, wie nebenbei bemerkt werden mag, an einem Präparat, das 6 Stunden bei Zimmertempe- ratur in Ringer’scher Flüssigkeit auf- bewahrt worden und dann durch Körperwärme wieder erregbar (für den Kältereiz) gemacht worden war (s. Fig. 9). Charakteristisch für die Nicotinpräparate vom Kaninchen ist die grosse Gleichmässigkeit und Regelmässigkeit, mit der bei ihnen im Gegensatz zu den nicht vergifteten Präparaten die Kälteverkürzung eintritt. Man kann Dutzende von ganz gleichen Verkürzungscurven nach einander zeichnen lassen, wenn man nur die jedesmalige Wiederverlängerung nicht durch Ein- tauchen in reine Ringer’sche Flüssigkeit, sondern in eine schwach nicotin- haltige Lösung bewirkt. Es lässt sich nämlich die Nicotinwirkung an dem 302 WILIBALD A. NAGEL: isolirten Samenleiter durch blosses Eintauchen in warme Ringer’sche Flüssigkeit wieder theilweise beseitigen, und die Reactionsweise wird dann wenigstens insofern wieder der des nicht vergifteten Präparates ähnlich, als die spontane Periodik wieder deutlich auftritt (s. Fig. 10). Ein Herunter- gehen der Erregbarkeit, bezw. Niedrigerwerden der Curven und Längerwerden der Latenz habe ich allerdings nicht beobachtet. Bemerkt möge noch werden, dass die hier beschriebenen Wirkungen des Nicotins ebensowohl an denjenigen Präparaten zu constatiren sind, bei denen das erste Eintauchen in die Nicotinlösung als kräftiger Verkürzungs- reiz gewirkt hatte, wie bei denjenigen, bei denen in diesem Falle nur die erwähnten kleinen fibrillären Zuckungen eingetreten waren. Beim Kater-Samenleiter habe ich bis jetzt nur an vier Präparaten Er- fahrungen über Nicotinwirkung sammeln können. Directe Reizwirkung blieb aus, der Verlauf der Kälteverkürzung wurde nur insofern verändert, als die Verkürzung kaum die Hälfte der früheren Grösse erreichte, — also gerade umgekehrt wie beim Kaninchen. Meine bisherigen Versuche zur Orientirung über die Wirkung des Atropins auf den Samenleiter haben nur ergeben, dass beim Kaninchen die Reaction auf den Abkühlungsreiz schnell in beträchtlichem Grade ge- schädigt wird, während die elektrische Erregbarkeit zunächst weit weniger beeinträchtigt erscheint. Beim Kater habe ich entsprechende Versuche bis jetzt nur an einem Exemplar gemacht und gefunden, dass hier selbst eine längere Einwirkung einer lprocentigen Lösung auffallend wenig an der Reactionsweise des Organs ändert. ÜBER CONTRACTILITÄT UND REIZBARKEIT DES SAMENLEITERS. 303 Schluss. Aus den mitgetheilten Beobachtungen ergiebt sich vor Allem, dass der Samenleiter namentlich des Kaninchens ein Organ ist, an dem die Gesetze der Wirkung glatter Muskeln beim Warmblüter sehr gut studirt werden können. Anderen röhrenförmigen musculösen Organen gegenüber zeichnet sich der Kaninchen-Samenleiter dadurch aus, dass bei der Reizung eigentlich ausschliesslich der Erfolg der Längsmuskelcontraction zum Ausdruck kommt. In der Deutung der Reactionen wird ja solange eine gewisse Vorsicht anzuwenden sein, als man noch nicht in der Lage ist, anzugeben, wieviel von den Reizerfolgen und von den sogenannten spontanen Contractionen durch Nerven bezw. Ganglienzellen vermittelt wird, wieviel auf Eigenschaften der Muskulatur selbst beruht. Hierzu wird systematische Weiterführung ähnlicher Versuche nöthig sein, wie ich sie als mehr gelegentlich angestellt oben beschrieben habe. Soviel zeigen schon diese, dass es sich jedenfalls um complicirte Verhältnisse handelt. Zweck dieser Untersuchungen war in erster Linie die Lösung der Frage, ob der Samenleiter seinen Inhalt durch Peristaltik entleert, oder auf andere Weise. Die Versuche entschieden mit Bestimmtheit für letztere Eventualität. Die Austreibung erfolgt durch schnelle kräftige Verkürzung des musculösen Rohres, während höchst wahrscheinlich gleichzeitige Contraction der Ring- muskellage Erweiterung des Lumens verhindert, oder gar die lichte Weite des Samenleiters verkleinert. Da der Samenleiter in frischem Zustande sich schon bei schwacher Reizung mindestens bis auf die Hälfte seiner Länge verkürzt, muss auch der Binnenraum des Rohres sich mindestens auf die Hälfte vermindern. Wenn man einen weichen Gummischlauch, der an einem Ende ver- schlossen ist, in der Längsrichtung dehnt und das offene Ende dann mit einem Manometer verbindet, so zeigt dieses alsbald ein beträchtliches Steigen des Druckes im Schlauch an, sobald man den Schlauch entspannt und er seiner Elasticität folgend sich verkürzt. Diese Drucksteigerung erfolgt, obgleich bei der Verkürzung des Schlauches der Querschnitt be- trächtlich vergrössert wird. Bringt man in einen Kaninchen-Samenleiter einen Tropfen farbiger Flüssigkeit, so sieht man an diesem bei der Contraction nicht nur keine Zunahme des Binnendurchmessers, sondern eher eine Abnahme desselben. . Ueber weitere Beobachtungen, die sich an solchen eingeführten Tropfen an- stellen lassen, berichte ich später. Bei Hunden und beim Menschen ist bekanntlich der Samenleiter ein sich hart anfühlender, viel derberer Strang als beim Kaninchen und auch beim Kater. Es ist vor Allem die stärkere Lage von Ringmuskelfasern, die 304 WILIBALD A. NAGEL: ÜBER ÜONTRACTILITÄT U. S. w. der Hund- und Menschen-Samenleiter voraus haben. Bei beiden ist das Lumen recht eng, beim Kaninchen beträchtlich weiter. Seiner ganzen Be- schaffenheit nach ist also der Kaninchen-Samenleiter einem Organ mit ty- pischer Peristaltik, wie dem Ureter, weit ähnlicher, als dem menschlichen Samenleiter. Hält man einen Wahrscheinlichkeitsschluss auf Grund der anatomischen Beschaffenheit dieser Organe für zulässig, so muss man wohl sagen, dass, da beim Kaninchen-Samenleiter kein Anhaltspunkt für das Be- stehen von Peristaltik gegeben ist, die entsprechende Annahme auch für den Samenleiter von Hund und Mensch sehr wenig für sich hat. Es dürfte auch beim Menschen im Wesentlichen die beträchtliche Verkürzung des Ductus sein, die die Verkleinerung des Binnenraumes bewirkt. Es ist zu bedauern, dass ausser der oben angeführten vereinzelten Beobachtung von Kölliker und Virchow keine weiteren Erfahrungen über den Samenleiter des Menschen vorliegen. Es dürfte nicht unmöglich und jedenfalls ganz unbedenklich sein, das Organ elektrisch zu reizen, wenn man es einmal bei einer Operation zu Gesicht bekommt. I j N f 7 Die Empfindlichkeit des Ohres für Töne verschiedener Schwingungszahl. Von F. H. Quix und H. F. Minkema in Utrecht, Bei dem heutigen Stande der Untersuchungsresultate über die Em- pfindlichkeit des Ohres von Max Wien einerseits und Zwaardemaker und Quix andererseits, ist eine neue Versuchsreihe, mit einer anderen Ton- quelle als der von diesen Untersuchern angewendeten und unter anderen Bedingungen als sich dort vorfanden, wünschenswerth. Sowohl über die Stimmgabel wie über das Telephon als Tonquelle hat man sich leider in den oben genannten Arbeiten noch nicht geeinigt. Daher wurde jetzt die Orgelpfeife als Schallquelle gewählt, gegen die auch Wien nichts Wesentliches eingewandt hat. I. Bestimmungen im Freien. Damit die Schallausbreitung sich so gut wie möglich theoretisch über- sehen lasse, sind die Versuche in der ersten Untersuchungsreihe im Freien angestellt. Dazu wählten wir die flache ausgedehnte Haide in der Nähe des Lagerplatzes Millingen. Der Ort, wo das Instrumentarium aufgestellt wurde, war ganz frei von Gebüsch und bewachsen mit dichtem Haidekraut. Der Boden war flach, das nächste Haus war mehr als 600” entfernt, während die Landstrasse ungefähr einen Kilometer abseits lag. Es wurde 1. dieselbe Serie gedackter Orgelpfeifen, welche schon in der ersten Publication von Zwaardemaker und Quix erwähnt wurde, angewendet. Die Maasse der verschiedenen Pfeifen, alle von derselben Holzart und Construction, sind Folgende: Archiv f. A. u. Ph. 1905. Physiol, Abthlg. Suppl. 20 306 F. H. Quıx uno H. F. Minkema: Mranbreiilier Tonhöhe | Länge | Tiefe | Breite | Wanddicke in cm | in cm | in cm | in cm C 110 10-5 s5 709 (e 70 8-3 6-7 0-7 e 31 1-3 So q 32-2 5-8 4+7 0.7 ce 23-2 | 4-8 4 0-6 g! 15-2 3.9 3.4 :0+6 e? a Ben 2-9 0-6 g? Bed | 2:6 0-5 c3 329, 2.8 2-3 0-45 g® Des 0 20025 2 0-4 e& 1°5 2 1-7 0-4 g* 1-2 1:6 1-4 0-3 Ausser diesen Pfeifen kamen noch zur Anwendung: 2. eine gedackte Orgelpfeife aus Palmholz, deren Tonhöhe durch Ausschieben des Stempels von g?— c® geändert werden konnte. Die Maasse sind die Folgenden: Tabelle I. Tonhöhe ee Länge | Tiefe | Breite | Wanddicke | in cm | incm | incm in em ß jr ana j 2°5 2-2 0-45 3. die bekannten Edelmann’schen Pfeifen, welche in der Ötologie allgemein verwendet werden, die tiefere umfasst das Gebiet e’—a°, die höhere das von a’—.at; 4. die nach oben anschliessende Galtonpfeife Edelmann’s, mittels welcher die Töne von a'—c’? hervorgebracht werden konnten. Wir sind ab- sichtlich nicht höher hinauf gegangen, weil uns die Stimmung nicht ein- wandsfrei vorkommt. Die zum Anblasen nöthige Luft wurde von einem Hutchinson’schen Spirometer geliefert, der gerade für Untersuchungen im Freien die grossen Vortheile hat, leicht transportabel zu sein und unter gewissen Bedingungen einen constanten Luftstrom genügenden Druckes zu geben. An der Quer- schiene zwischen den beiden Rollen dieses Instrumentes wurde ein kupferner Ansatz befestigt, in dessen conischer Bohrung die Pfeifen leicht luftdicht eingeschlossen werden konnten. Nur die schwereren tieferen Pfeifen brauchten zur festen Haltung eine leichte Stütze mittels einer eisernen Stange eines EMPFINDLICHKEIT DES ÜHRES. 307 sonst freien Stativ. Das Innere der Spirometerglocke stand durch ein Gummirohr mit der conischen Bohrung des Ansatzes in Communication, während ausserdem seitwärts ein Manometer mit derselben Bohrung in offene Verbindung gesetzt werden konnte. Als empfindliches Manometer wählten wir ein knieförmig gebogenes enges Glasrohr mit Ligroinfüllung, mittels dessen wir noch einen Druck von 0:1" Wasserdruck ganz genau ablesen konnten. Das Quantum verwendeter Luft wurde gemessen, indem mit einer Stopfuhr die Secundenzahl bestimmt wurde, während welcher die Spirometer- slocke über ein bekanntes Stück der Scala hinuntersank. Immer wurde die Senkung zwischen denselben Theilstrichen gewählt und zwar zwischen solchen, bei denen die Senkung gleichmässig und der Druck constant blieb. Der Druck, unter dem die Luft ausströmte, konnte leicht geändert werden durch Eingiessen oder Ausheben von Wasser in eine bezw. aus einer Schale, welche die Spirometerdecke symmetrisch belastete. Die ganze Vorrichtung war auf dem Boden aufgestellt, so dass die Pfeifenlippe sich immer ungefähr 1” oberhalb des Bodens befand. Beim Anblasen der Pfeife wurde mit peinlicher Sorgfalt darauf geachtet, dass dieselbe so günstig wie möglich ansprach und nur der Grundton hervor- klang. Einer von uns fungirte als acustischer Wahrnehmer, während der andere sich mit dem Anblasen und Ablesen des Drucks sowie der Secunden- zahlbestimmung der Senkung beschäftigte. Sehr oft bestimmte auch dieser optische Wahrnehmer seine eigene Schwelle, um die Empfindlichkeit der beiden Untersucher festzustellen. Unser beider Empfindlichkeit differirte nur unbedeutend. Nach einigen orientirenden Versuchen wurde zu den definitiven Bestimmungen übergegangen. Die erste Reihe fand statt am Nachmittag des 19. October 1904. Das Wetter war sehr günstig, sehr helle Luft, nur dann und wann ein leichter Wind. Die Lauschriehtung war jedoch senkrecht zur Windrichtung, während ausserdem bei einem schwach fühlbaren Windstoss nicht wahr- genommen wurde. Nur selten war ein schwaches Geräusch aus der Ent- fernung hörbar. Bezüglich der Berechnung der zugeführten Energie sei auf die früheren Publieationen verwiesen. Es wird im Anschluss an Rayleigh angenommen, dass der Boden allen Schall reflectirt, so dass die Energie sich über eine halbe Kugelfläche ausbreitet. Das Areal der Ohröffnung wird wieder zu 0-33 «m genommen. Tabelle III giebt nun die Resultate dieser Tagesbestimmung. Die Bestimmungen wurden wiederholt und ausgedehnt am Abend und zwar am 19. und 27. October 1904, Das Wetter war sehr schön, kein Wind 20* 6 9-1 999, “ 00889 001 6.610867 | 1%. G-61 sL08 ‚d “ 6 G8°6 1.6162. “ 00889 001 L.66667 | F6+1 8.85 870% »? x 6 Lr-F 708601“ 00839 001 L-901.99 | #61 123 g8EGT eb x G 76-46 seI6 | “ 00829 001 | 8-898L$ IL (oa 29 FOL e% = 6 G9-6 20077 | 00829 001 15169 G9-1 L-67 891 I .6 = R 83-11 1.7298 “ 00839 00T 19174 LE*1 8-0 aıc „? 5 = 6 G-GT 9.0868 | “ 008839 001 L-88096 | 80-1 GGG 7S8 d 2 2 6 04-8 6-79 |“ 008171 0€L 6-9P197 08:0 8.84 94% 12 >= 5 3 6L-TE LeI6 | “ 00889 001 2.908214 80 | 98 | 261 b & = 6 69-111 rrrIs “ ooLEI 04 619988 99-0 9-7L 851 9 = eh 3 <-08L osLeoı 2 “ ooLeı | 09 C88791 80-1 191 | 9% 9 opaydfodıg = 3 7081 O6SEIL | »OLXO0OLEI 08 GEFIS FL-0 0 | 9 10) 9479ep93 9UL19ZIOH nom Ber | Ser A uosund |SIMg_OT U | » : wob ur Zıg u uodung | AUS | mob and ; da: A Iq®Z snıpey s[e wur 186 X > Be 5 ueIs S 9 nid X wo u Fe @: - T9WU9U I I %z = uodıpuem | MU Ad | ag aad N \ a gpar] Bi ayoy “= ; yyLıy 1107 wep u -IgeM SON || Spiikin -SZUnd orpnbuo, -uJ0U -[ommorz | SI AydS 2 | ayıynpaSnz -UOJ, & en SED OUOM| ap yog SnyqleH sap 9a dad | -19sseM und -ULMUOS IPMUIS ® 19p puegsqy | oISlouf gez | ap ıeq 913.19U9 ordıauo eo AydeHIIgO | ııqnjasnz | itendS | | TWOYyJUIM pun xınd TPwypumgeM ayosısnoYy -uosunwwmmsogsesg], "FOGT I2I0PO '6I we uasurpjim ur ogonsıay Aop eyernsoy II oII24®eL 308 d | 082186 31ca 03 120971 a8 8-CH ssegı | 0 | 08 8-73 asFcH 2LL08 01 r96el | Sa-E 8-87 BBa0l d | 5 03 91-F EEG FrEISE 008 1C8EH1 IE | L-9 ZI 00 = en GG L6*0 oe 00gz65 | 08 | E6ELRL- | 20-E 2 aa = © 0.3 64-0 768% Ga6rLr ale | sSYFLEl 20. 9607 | “ Se & F8-0 gell SBBEI8 | 098 | EIEIFL Asse oz | Sana opeJd UoNEH 8 L7+0 g0rZ 6889 0 SIEHT 89-2 9:39 | heine |,m | 2 3 38-0 S6Hl zLII91L 085 Heel 6L°% 8-89 3108 |,d | uueupop opoFd ouraıy 3 67-23 I ar 89806 06 99E8sE | 89-7 Bo | ae feJq PU122]0H (d LE-0 | 26HT 00L1LaL| 0% aLeg8I | 16-2 | 6-99 0945 |»? | = 3 g8-0 EGor LSSTO9L | COC e6sELl #L-2 1-79 8703 |; | uuBwjepY apeJd SuLaıy 3 99-3 | .09€L 00839 N 3 °-#7 708 || ope}d SULZIOH 3 64-0 FIcT 0087001 | 008 | Erlacı | 2 8.89 | 9027 |s9 | UUemMpM AFOFA SUTOLNT 3 68-1 gc8F gaerEll Gar 086044 86-8 6-7#l z90LT |89 | x 3 97-7 1898 28268 | 083 “31613 19-3 | 9-81 gECL |;d | umempopı PFleJg 9SSO1M) 2 3 FE 9808 00839 001 Fsg6l 08-0 Bote | See 12 - oploJq PULDZIOH = ° 6L-T 6r87 BIICCO1 | OTF 9LEZFZ 29-2.| 876 | 081 | | = ie} ° LL-Z 9g3# L16898 | 08 FEEZIl g9-1 7-69 FZOT | 9 , amguppm oejJg Pssord (=) 3 8-8 1368 008183 | 00% BELBFI 08.7 2-8: | - 701 | ooFg ULOZIOyweT r 3 86-3 gsgF 00839 001 16183 g0-1 0.82 | 701° | 82 = A 3 93-8 33%6 a 30863 80-1 | | opleJq PUNZIQH ° 89-P 968€ 180381 | CHI GHall gl | 18 | 89 |, | uuempopm epeyd assor) = 3 #79 LEPL ECHFIL GEIL 68TE8 Ze Erna Ed re opraJg PULDZIOqULT s Ra 69-8 8408 eLr802 | 081 18001 | 18.T | 6°9G 099 ‚> | uuewmjop] oflojJq 9sso1r) = 3 GE-G SoLF 00889 | 001 6 = | 10) 68 | 278 a? 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Mmkema: und fast absolute Stille, nur sehr selten war das Geräusch eines in Entfernung von einigen Kilometern vorüberfahrenden Zuges zu hören. Am 19. wurden die hölzernen Pfeifen durchgearbeitet, am 27. die Pfeife aus Palmholz, die Edelmann’schen Pfeifen und die Galtonpfeife. Die Resultate unserer Be- stimmungen werden wieder in derselben Weise in Tabelle IV gegeben. Bevor wir die Schlussfolgerungen geben, welche wir uns erlauben aus diesen Bestimmungen zu ziehen, wollen wir noch die Resultate anderer Untersuchungsreihen mittheilen. Nachdem einmal die Resultate im Freien bekannt waren, hatte es für uns grosses Interesse zu verfolgen, wie sich die Ausbreitung des Schalles in geschlossenen Räumen verhielt und zwar in Localitäten, welche wir öfters für acustische Untersuchungen benutzt haben, die Universitätsbibliothek in Utrecht und das acustische Zimmer, welches ganz neu im hiesigen Physio- logischen Laboratorium eingerichtet ist. IL. Bestimmungen in der Universitätsbibliothek. Die Bibliothek besteht aus einer Reihe von neun in einer Flucht liegenden Zimmern, die durch 2-02” breite und 3.92” hohe offene Bogen miteinander in Verbindung stehen. Jeder Raum ist 9.97” breit, 6.50% lang und 8.90% hoch. (Siehe weitere Beschreibung und Skizze dieser Localität bei Reuter, Z2.£.0. Bd. XLVI. 8.94.) Dieselbe Aufstellung wie in der ersten Untersuchungsserie befand sich in der Nähe einer Wand, welche völlig mit Büchern besetzt war, während der acustische Wahrnehmer sich in der Flucht der Säle aufhielt. Durch die Nähe der Wand wurde der Schall nicht merkbar reflectirt, wie durch vorhergegangene Bestimmungen constatirt wurde. Von den verschiedenen Serien, die wir auf diese Weise erhielten, werden wir nur eine, bei welcher als acustischer Wahr- nehmer Prof. Zwaardemaker fungirte, hier mittheilen (Tabelle V). 1li. Bestimmungen im acustischen Zimmer des hiesigen Physiologischen Laboratoriums. Das Zimmer befindet sich im ersten Stockwerk und ist umgeben von kleinen Zimmerchen und einem breiten Gange, während seine Wände nicht in unmittelbarer Verbindung mit den Hauptwänden des Gebäudes stehen. Die inneren Maasse sind: Höhe 2.28", Breite 2.28”, Tiefe 2.20 ”. Der Boden, die Decke und die Seitenwände bestehen aus schalldämpfenden Lagen. Von aussen nach innen besteht der Boden aus einer Blei- platte, Filzpappe und einem dicken Teppich; die Decke aus Gipspflaster, Bleiplatte, Trichopiese; die Seitenwände, bei welchen besonders acustische Vorsorgen getroffen worden, aus Gips-Cementpflaster, Korksteinlage von 6 ® Dicke, Lage Sand und Korkpulver von 2°“, hölzerne Wand von 2!/, ©® Dicke, sll EMPFINDLICHKEIT DES ÖHRES. | 08 d 088118 s1Es 8-5G86L 86-6 1-68 78891 DI 08 S-LL 0aFarl G368 6 99-8 1:9861 88495 cI | 9-68112 80-1 08 9851 sb 6 gg IP18 88498 GI ' 9-00913 160 L°66 rcol 8) 6 &L-8 719001 0F178 6I | 861596 16-0 6:16 891 zd 6 69-6 681561 95118 81 \ L>08FS1 89-0 gs 614 > {9 IL 8.1996 LILel Gr 1L-88561 7.0 IE 788 1b 6 68:89 70908 8LoLI ta I-71158 19-0 rc 983 m 6 FL LV0EF SLOLI cr 8.814997 19-0 8.68 s6l b 6 916 068181 8LC9 LS +-78148 16-0 1-96 sol 9 6 EICH 001879 1966 6L L-6G0L#1 I! 89-881 96 19) 6 8.1687 OISLCH »01 X 480 sI L-659186 LG-O 9-991 r9 10) F a Zum 0L ur) mob ur wur a e: a a U0> 1qe7 931ıpuo aygou pum -09g od u ad REN yanıq X wo ut ar [gezsSung | oyoy uosIpuaMm od “rag [joow orToAAOg puegsqy wop | -ıqeM BIN yonıp a aa ae ©: -gou u sep 9yoJoM 1op wg u [osnygreH sop es ad | os | no es) ıL 1op Tyez N euog ALZLUa[[EUIg Op oypep.togo Purysqy oa nr Une I N A | | SpeFg-uoneH “ [73 37174 9Y9EP -95 OUIDZIOH orpnbuof, AOJEWIPIBLANZ JoLT :aowyouıgey\ Jogasısnoy 'NOyorgtqspepsiarup dp ur oyonsıoy ep oyeynsoy 2A 38 TTROIQFEIT, RZ T-G 13-4 se Bi | 80673 16-0 6-13 2/3889 24 = 3 g-Q OT-S & & \ 89878 16-0 8-18 0#9 2 > Fa 6-F r3.F e 81308 FL-0 6:13 914 pP = 3 L+F 69-8 . © SFILI 89-0 1:82 zıg .? = Rd 6-8 61-7 2 “ 17881 97:0 9.63 08F X) & Ne 9.8 62-7 3 S SF6OL 220) 6-13 298% ‚D £ 3 18 81-3 5 2 19821 95:0 G-88 788 | 16 & 3 GC L19°3 x “ 36131 07:0 9.78 Shire 1F 2 3 CF 81:2 = S 30301 F8-0 9-08 038 1? 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EMPFINDLICHKEIT DES ÖHRES. in) 10) a aaa Hi ha no eiete) a a a ca ca au “. [13 “ [13 “ [13 [23 [27 [17 [13 [23 [2 “ [12 [13 [7 [43 “ “ “ “s sc‘ « “ “ “ “ “. “ “ “ “ * “ LL618% 609803 STI64T O9TSLI G1008T FS6rlT GSILOT 98618 988081 81638 8109 LIPFEL 19099 81884 G681G 17099 17099 crL98 r0L83 I0LIE 81408 I16F1 OF0LI 893ET 856L6 0FL58 18918 > co ie) a - a nn om SO an oo oO m © ya Di Oorcco9 or D Ds - [oz] . file DD . H-MnrnMnMnMartaaıaaı aaa an nm u [2 > . = in co 1 SO 9-9 rn „m, + . Be} an an mn 1-8 FSE9T 1-8G 098<1 G.9F hesget 68 88781 G:9# 163601 G-9# OFZ0L G:9# 9156 6-F8 3618 8-1# 089L 1-88 7129389 9-18 #719 g Drac)ze L+PE 0718 L+PE s09F 9-68 960F L+#8 oF8E L+FE "heise »+G1 3L08 ug Jyoru gorıds 61 0983 2:08 708% 2-03 8703 61 0561 3-08 /290L1 2:08 9E | ge u | Töpler und Bolzmann 9900 | Rayleigh-Pfeife | | Rayleigh-Stimmgabeln 9090| 43 43 Wead 7950 295 | 260 1100 | 1590 Zwaardemaker u. Quix 5894 | 9900 2707 | 469 1306 | 3727 Wien 1888. 8-57 6-12 | | Wien 1903. 140 1-2 0-016 0-0008 Webster!1904 °. . , 6144 Quix und Minkema 1904 12045 | 2395 1238 | 4982 | 4108 5396. Tabelle Vergleichungstabelle der absoluten (per Trommelfellläche und per nothwendige Zahl - Tore uU oder 200 | ec! |\Jdera! Töpler und Bolzmann | 36-6 Rayleigh-Pfeife Rayleigsh-Stimmgabeln 0°23 |, 0.7 Wead 41-4 0-72) 0-45 Zwaardemaker u. Quix 30:7 | 36-6 71 110.6 Wien 1888. 0:026 0.0092 | | Wien 1903. . 0-7 .0-007 000003 .0-0000007 Webster 1904 | 8 | | Quix und Minkema 1904 62-7 8-3 3.2 8-7 | 5-4 [47 | h | | | | EMPFINDLICHKEIT DES ÜHRES. 315 ® Erg pro Secunde und per Quadratcentimeter. AR, 4 ; 4 I 3 5 5 6 1600 oder fi 2300 | c g 6400 ec g 12800 | 4500 | 3486 | 3652 6564 | 8214 11124 18336 0-00025 0-00025 0.0008 0.009 1075 | 1492 | - 2894 | 3170 5113 | 45485 na perceptibilia in 10-° Erg ngsungen nach Abraham und Brühl). RO ;3 | 4 g* 3 5 6 6 g | 1600 Ce: fi De ce g 6400 Be 9° | 12800 0-9 1-1 | 0-79 1-33 2-45 9 9-94 0-00000005 0-0000003 0-000005 r, { 12-5 10-4 0:3 10-6 |1 4 |24-8 316 F. H. Qvıx unn H. F. Minkema: Luftlage von 2°”, Tufstein von 7!/, °”, Trichopiese. Auch die Thüre besteht, vom Tufstein abgesehen, aus derselben Lage wie die Seitenwände, während ausserdem eine zweite Thür an der Aussenseite angebracht ist. In einer Seitenwand befindet sich zur Ventilation ein kleines Fenster, welches an der Aussenseite verschlossen werden kann durch eine Thüre von Korkstein und: Holz, und an der Innenseite mit einer Lage Trichopiese. Die Leitungen für elektrische Beleuchtung und elektrische Triebkraft führen auch durch dieses Fenster. In den Seitenwänden sind ferner Oeffnungen zum Durchlass von Schall zu acustischen Versuchen angebracht. Diese Oefinungen sind folgendermaassen hergestellt. Die verschiedenen Lagen sind durchbohrt durch ein kupfernes Rohr von 4-5“ im Lichten, welches durch zwei Marmorplatten mit dem Tufistein solide befestigt ist. Das Rohr hat keinen Contact mit der hölzernen Wand. Dieses Rohr kann mit einem Stopfen (Kupferrohr mit Bleifüllung) genau verschlossen werden. Die dritte Versuchsreihe wurde nun in diesem Zimmer in folgender Weise eingerichtet: Die Orgelpfeife wurde auf einem Stativ aufgestellt; das Anblasen geschah durch einen Orgeltisch, welcher im Nebenzimmer mittels eines durch das Fenster geleiteten Bleirohres mit der Pfeife in Verbindung stand. Das Fenster war geschlossen. Das Quantum Luft wurde gemessen durch Einschaltung einer Windfahne in die Röhre. Der knieförmig ge- bogene Manometer mit Legroinfüllung war unmittelbar unter der Pfeife angebracht. Acustischer und optischer Wahrnehmer konnte dieselbe Person sein, indem sie die Pfeife durch den Orgeltisch mit beliebigem Druck anblasen und den Schall durch ein Gummirohr belauschen konnte, welches sich in eine Bohrung von 1-5°“ im Bleistopfen fortsetzte. Es zeigte sich jedoch, dass die Schallstärke der meisten Pfeifen, durch diese kleine Oeffinung in der Wand des acustischen Zimmers belauscht, zu gross war, um das Minimum perceptibile derselben feststellen zu können. Daher wurde die innere Oefinung der Bohrung noch verkleinert bis auf 7m Durchschnitt und ausserdem die ganze Bohrung mit Daunen gefüllt. In dieser Weise wurde die Tonleiter mittels der hölzernen Pfeifen und der Galtonpfeife von derselben Person durchgearbeitet und zwar mit ganzen Tönen aufsteigend von C—c’. Zur Berechnung der Schallenergie, welche in das Ohr des Wahrnehmers gelangte, setzen wir voraus, dass im Innern des Zimmers keine Reflexion stattfindet und nur die Schallenergie, welche das Areal der Bohrung trifft, in das Rohr eindringt.! Die Resultate findet man in Tabelle VI. ! Die Berechtigung einer Abwesenheit der Reflexionen liest in der Bekleidung mit Trichopiese; die Berechtigung, dass in der Oeffnung keine beikommenden störenden. Beugungen stattfinden, darin, dass die Weite der Oeffnung ungefähr mit jener der äusseren Ohröffnung übereinstimmt. EMPFINDLICHKEIT DES ÜHRES. 317 Wir wollen zur Vergleichung die Resultate der drei Versuchsreihen in den folgenden Öurven graphisch vorführen (Fig. 1 und 2). fe Ef Hu] 02 c® IE 6? | i Fig. 1. ji Acustische Energie pro Quadratcentimeter und per Secunde bei der Reizschwelle. Im a a me 0 0 mem men ge er gegen ee Tege 2 Fig. 2. Acustische Energie, welche das Trommelfell trifft bei der Reizschwelle und in der nothwendigen Zahl Schwingungen. 318 F. H. Qvıx uno H. F. Mmekenma: In der ersten graphischen Darstellung ist die Schallstärke bei der Schwelle pro Quadratcentimeter und pro Secunde verzeichnet, und zwar die Bestimmungen im Freien aus Tabelle IV durch eine ausgezogene Curve in 10-5 Erg, die in der Bibliothek erhaltenen aus Tabelle V, durch eine punctirte Curve in 10-* Erg und schliesslich die des acustischen Zimmers (Tabelle VI) durch eine punctirt-gezogene Curve in 10-2 Erg. Die zweite Graphik stellt die absoluten Minima perceptibilia dar, also das Quantum Schall, welches unser Trommelfell trifft, in der zur Perception nothwendigen Zahl Schwingungen. Die Resultate im Freien und in der Bibliothek sind in 10°, die des acustischen Zimmers in 10-° Erg angegeben. Zur weiteren Vergleichung mit allen anderen bis jetzt in der Litteratur niedergelegten Resultaten werden wir eine Uebersicht in Tabellenform folgen lassen (Tabelle VII und VIII). Zu den unter Wien II vorgeführten Werthen ist zu bemerken, dass dieselbe 100 Mal kleiner sind, als in unserer vorigen Publication, weil in der Wien’schen Dissertation sich ein Rechnungsfehler eingeschlichen hat. Resume. Wenn man die Resultate der drei Versuchsreihen übersieht, so zeigt sich eine grosse Uebereinstimmung, welche in dem relativen Verlauf der Curve zu Tage tritt. Die Bestimmungen im Freien kommen uns einwandsfrei vor, da wir alle bekannten Ursachen, die einer freien Ausbreitung des Schalles im Wege stehen, möglichst umgangen haben. Die Werthe in der Bibliothek waren unerwartet höher als im Freien. Wir schreiben dies dem Umstande zu, dass die verschiedenen Räume die freie Ausbreitung des Schalles verhindern. Die Resultate im acustischen Zimmer sind tausend Mal höher als im Freien, was auf Rechnung der Schalldämpfung durch die Daunen und die Verkleinerung der Lauschöffnung kommt. Aus dem ähnlichen Verlauf der drei Curven ergiebt sich, dass diese Dämpfung für die verschiedenen Töne ungefähr dieselbe gewesen ist und keine merkbare Resonnanz im Zimmer auftritt. ; Die Schwellenwerthe bei der Tagesbestimmung sind etwas höher wie diejenigen der Abendbestimmungen, bleiben jedoch von derselben Ordnung. Wir haben im Anschluss an Rayleigh keine Correctur für die „efficiency“ der Pfeife eingeführt, zumal da ohne diese eine unmittelbare Vergleichung mit den Resultaten früherer Untersucher möglich ist. Mit Bezug auf Energieverlust bei einer Pfeife konnte man Webster folgen, der die „efficiency“ für hölzerne Pfeifen auf 0-0013, für metallene Pfeifen auf 0-0038 stellt, also in beiden Fällen ungefähr auf 1 Tausendstel. EMPFINDLICHKEIT DES ÜHRES. 319 Will man diese Correctur bei unseren Zahlen anbringen, so ist dies sehr einfach, indem man statt 10°, 10-1! setzt. Durch diese Correctur bekommt man die kleinst möglichen Werthe für das Minimum verceptibile Es braucht wohl nicht besonders gesagt zu werden, dass durch diese Correctur der Curvenverlauf, welcher die Empfindlichkeit vorstellt, sich nicht ändert. In unseren Untersuchungen zeigte sich in Uebereinstimmung mit Webster, dass die „efficiency“ der metallenen Pfeife etwas grösser ist, wie diejenige der hölzernen. Schlüsse. 1. Die Empfindlichkeit unseres Ohres steigt sehr rasch von O—g!, behält bis 9° mit einigen geringen Schwankungen denselben Werth und fällt von da an zur oberen Grenze wieder sehr rasch ab. 2. Unser Ohr hat nur ein Empfindlichkeitsmaximum welches sich in der vier Mal gestrichenen Octave befindet. 3. Von g!—g? sind die Werthe der Minima perceptibilia derselben Ordnung. 4. Der empfindlichste Punkt der Tonleiter liegt bei y* und hat einen Energiewerth von ungefähr 1 x 10-3, nach Correetur nach Webster von 1 x 10-1! Erg. Die Empfindlichkeit des menschlichen Öhres. Antwort an Herrn Prof. Max Wien von F. H. Quix in Utrecht, 1. Aus der vorangehenden Arbeit von Dr. Minkema und mir, welche in Folge der Controversen über die Empfindlichkeit des menschlichen Ohres zwischen Zwaardemaker und Quix einerseits und M. Wien andererseits! entstanden ist, werde ich hier allein die Bestimmungen im Freien auf der Haide zu Millingen herausgreifen und einige Punkte, welche in unseren Meinungsdifferenzen von Bedeutung sind, hervorheben. Der relative Curvenverlauf in den Ergebnissen der Pfeifenversuche von der Millinger Haide stimmt überraschend mit dem der Stimmgabel- und Pfeifenversuche überein, die wir früher im physiologischen Laboratorium angestellt haben. Der Schwellenwerth ist fast für jeden Ton in beiden Versuchsreihen der- selben Ordnung. Hierzu muss bemerkt werden, dass in den letzteren Ver- 1 1. Schwellenwerth und Tonhöhe von H. Zwaardemaker und F. H. Quix, Dies Archiv. 1902. Physiol. Abthlg. Suppl. (Diese Arbeit wird im Folgenden unter A. angeführt.) 2. Ueber die Empfindlichkeit des menschlichen Ohres für Töne verschiedener Höhe. Max Wien, Archiv für die gesammte Physiologie. 1903. Bd. XCVI. 8.1 (B). 3. Ueber die Empfindlichkeit des menschlichen Ohres für Töne verschiedener Höhe von H.Zwaardemaker und F.H. Quix, Dies Archiv. 1904. Physiol. Abthlg. 8.25 (C). 4. Bemerkungen zu der Abhandlung der Herren Zwaardemaker und Quix über die Empfindlichkeit des menschlichen Ohres für Töne verschiedener Höhe von Max Wien, Ebenda. 1904. Suppl. 8. 167 (D). F. H. Quıx: Die EMPFINDLICHKEIT DES MENSCHLICHEN ÖHRES. 321 suchen die Schwellenwerthe ohne Correction für den Nutzeffect der Pfeife gegeben und auch nicht einer der Bestimmungen früherer Untersucher gleichgesetzt sind, während in den Stimmgabel- und Pfeifeversuchen unserer ersten Arbeit der Schwellenwerth für Ton g mit demjenigen von Töpler und Boltzmann gleichgesetzt ist. Die Thatsache der Uebereinstimmung hat einen um so grösseren Werth, weil wir verschiedene Pfeifen verwendet haben. Für unsere Streitfrage mit Herrn Wien ist zweitens der Umstand von Bedeutung, dass auch wieder die Schwellenwerthe für die Töne von g! bis g° derselben Ordnung sind. Der Curvenverlauf in unserer ersten Publication und der der voran- gehenden Arbeit zeigt ferner eine werthvolle Uebereinstimmung. Früher hatten wir für die c-Töne geringere Werthe gefunden als für die g-Töne, was Herr Wien auffasste als einen Hinweis auf Resonnanzwirkung in den Gummiröhren, die bei unserer Methode verwendet wurden (A. 8.57). Die Möglichkeit dieser Erklärung der grösseren Empfindlichkeit der c-Töne gegenüber den g-Tönen haben wir nicht abgeleugnet, aber als nicht zu- treffend bewiesen, indem wir mit anderen Röhren, welche andere Töne durch Resonnanz verstärken mussten, dieselbe Erscheinung fanden. Bei unseren Pfeifenversuchen im Freien tritt nun dieselbe Erscheinung zu Tage bei c!, c® und ce? und zwar sowohl für das Ohr des Herrn Minkema als für das meinige. Die Erklärung der grösseren Empfindlichkeit der c-Töne will ich auf eine spätere Publication verschieben, möchte jedoch hier gegen- über Herrn Wien betonen, dass diese Empfindlichkeit nicht durch Fehler in dieser Versuchsanordnung verursacht sein kann, sondern eine Eigenschaft des menschlichen Ohres sein muss, und dass das Auftreten derselben Er- scheinung bei den Stimmgabelversuchen uns in dem Vertrauen auf die Genauigkeit dieser Versuche bestärkt. Der einzige Einwand von Wien gegen die Pfeifenmethode (A. S. 52), dass die Tonintensität einer Pfeife nicht proportional der Energie des zu- geführten Luftstromes gerade wie die Leistung einer Maschine nicht proportional der verbrauchten Kohlenmenge sei, ist auf die Versuche im Freien nicht anwendbar, weil wir jede Pfeife auf möglichst günstige Weise, d. h. mit dem geringst möglichen Druck und frei von Obertönen ansprechen liessen. Bei diesen Versuchen wurde also der Abstand, bei dem der Schwellenwerth erreicht wurde, abgeändert, während bei unserer ersten Methode umgekehrt der Abstand (wenigstens in dem grössten Gebiete der Tonleiter) constant gehalten und die Tonintensität geändert wurde. II. Herr Wien giebt zu, dass eine Nebenleitung vom Telephongehäuse durch das Ansatzrohr und Knochenleitung unzweifelhaft besteht. Für g? Archiv f. A.u. Ph, 1905. Physiol, Abthlg. Suppl, 21 322 F. H. Qux: wurde jedoch höchstens !/,,, der Gesammtleitung durch die Knorpelleitung bewirkt. Aehnliche Werthe ergaben sich auch bei anderen Telephonen und anderen Schwingungszahlen. Wie gerne wir auch für die anderen Töne, besonders des empfindlichsten Gebietes c? bis g%, Zahlenwerthe für den Ein- fluss der Knochenleitung gesehen hätten, so geben wir doch zu, dass in den Versuchen von Dr. Pirani die Fehler durch Knochenleitung klein gewesen sind. Hiermit ist jedoch unser Einwand nicht erschöpft. In Folge der Be- wegungen des Telephongehäuses ist die Voraussetzung unrichtig, auf der die Berechnung der Schallenergie bei der Telephonmethode beruht, nämlich: dass ein abgeschlossenes kleines Luftvolumen durch die Bewegungen der Telephonplatte vergrössert und verkleinert wird. Das Luftvolumen wird nicht bloss durch die Bewegungen der Telephonplatte vergrössert und ver- kleinert, sondern auch durch die Bewegungen des Gehäuses Weiter folgt aus der Anwesenheit der Bewegungen des Gehäuses, dass die Telephonplatte sich nicht in der von Wien vorausgesetzten Weise be- wegt, nämlich nicht derart, dass der Ausschlag der Ränder, mit denen die Platte im Gehäuse befestigt ist, = 0 ist (B. S.43). Eine kleine dicke Platte wird sich wohl mehr in toto bewegen. — Der ganze Apparat ist also gar nicht zu vergleichen mit einem abgeschlossenen Raum in dem ein von aussen hereinragender Stempel hin- und hergeht, wie sich dies Wien bei der Telephonmethode vorstellt, sondern mehr mit einem Ballon, der abwechselnd ausgedehnt und zusammengedrückt wird. Es ist hier jedoch noch ein anderer Umstand von Einfluss. Die Be- wegungen des Gehäuses müssen auch nothwendig eine Rückwirkung auf die Bewegung der Telephonplatte haben, gerade wie die Bewegungen des Stiels einer Stimmgabel einen Einfluss ausüben auf die Bewegungen der Stimmgabelzinken, aus denen dieser seine Energie bezieht. Wenn die Telephonplatte bei einer gewissen Stromstärke sich zu be- wegen anfängt, wird sich bald im ganzen Telephon eine constante Schwingungs- weise etabliren. Die an jedem Punkte anwesende Energie wird dann durch die Differenz von Zufluss und Abfluss gemessen und muss sich sofort ändern, nicht nur durch Aenderung des Zuflusses (Strom), sondern ebenso des Ab- flusses. Auf diesen Abfluss haben nun verschiedene Factoren Einfluss, u. A. die Befestigung, Beschwerung u. s. w. Die Bewegung der Telephonplatte wird also bei constanter Stromstärke eine andere werden, sowohl durch Ver- grösserung und Verkleinerung des Gehäuses (Anbringen von Ansatzröhren), als auch durch die Art der Befestigung (loses Halten in der Hand, An- drücken an den Kopf, Hineinstecken des Ansatzrohres in den inneren Gehör- gang, Befestigung an einem Stativ). Bei dicken Platten haben diese Fac- toren einen verhältnissmässig grösseren Einfluss als bei dünnen. Wien DIE EMPFINDLICHKEIT DES MENSCHLICHEN ÜHRES. 323 hat in seinen Untersuchungen zum Zwecke der mikroskopischen Amplituden- ablesung (B. S. 14) und in der zweiten Versuchsanordnung (B. S. 21) den oberen Theil des Holzgehäuses des Telephons entfernt. Aus dem Voran- gehenden geht nun hervor, dass die unter diesen Umständen gemessenen Amplituden ceteris paribus nicht dieselben sind, wie wenn das Gehäuse wieder angebracht ist und das Telephon in anderer Weise befestigt wird. Bezüglich einer anderen Bemerkung gegen die von Wien angestellte theoretische Schallenergieberechnung, nämlich bezüglich der Gleichstellung der Luftamplitude in der unmittelbaren Nähe der Telephonplatte mit der Bewegung der Telephonplatte selbst, welche Voraussetzung bei der absoluten Schallberechnung nothwendig ist, hat Wien einfach auf den physikali- schen Usus verwiesen, wo diese Annahme allgemein üblich ist. Nun hat Wead schon hervorgehoben, dass es eine oft vorkommende, aber nicht be- wiesene Annahme ist, die Luft- und Tonquellenamplituden mit einander zu identifieiren. Unsere Pfeifenmethode braucht eine solche Annahme nicht und hat dadurch gewiss einen Vorzug. Ich hebe also noch einmal hervor, dass in den Versuchen Wien’s die wahrgenommene Schallenergie eine andere ist wie die berechnete und dass beim Telephon die Schallbewegung sich theoretisch nicht übersehen lässt. III. Da die neuen Versuche mit Pfeifen, gegen deren Methode Wien keine wesentlichen Bedenken anführen kann, sich mit den Resultaten der Stimm- gabelversuche vollkommen decken, hat es für uns als Physiologen wenig Interesse, alle physikalischen Einwände Wien’s gegen die Stimmgabel- methode zu widerlegen. Für die auf unseren Wunsch angestellten Versuche über die Propor- tionalität von Stimmgabel- und Luftamplitude sind wir dem geehrten Autor dankbar. Bei tieferem Eindringen kommt es uns jedoch vor, als ob auf diese Weise die Frage nicht gelöst se. Wie Wien (C. S. 175) selbst be- merkt, hat der Resonator Rückwirkung auf die Luftbewegung. Wenn wir uns vorstellen, dass der Resonator seine Schallenergie aus der Umgebung bezieht, so muss bei seiner Anwesenheit die Ausbreitung des Schalles in der Umgebung der Gabel eine andere sein als bei seiner Abwesenheit. Dazu kommt, dass der Resonator selbst als Schallquelle auftritt und sogar als viel stärkere Schallquelle als die klingende Gabel. Bei den kurzen Ab- ständen, in welchen die Versuche angestellt sind — 9, 15 °® bis 50 ®® — muss dies die Schallbewegung der Gabel stark beeinflussen. Ein Analogon zu diesem Auftreten einer neuen Schallquelle hat man in einer reflectirenden Fläche, welche bekanntlich grossen Einfluss auf die Schallverbreitung und 21* 324 F. ‘H. Qu: die Lage der Interferenzflächen ausübt. Der Resonator schafit ganz andere Verhältnisse wie unser Ohr und meine Versuche über die Intensität des Schalles als Function der Zinkenamplitude können durch die Versuche Wien’s, so interessant sie an sich sind, nicht widerlegt werden. Ich will noch bemerken, dass auch Stefanini in früheren Versuchen !, welche viele Aehnlichkeit mit den meinigen haben, gefunden hat, dass die Intensität proportional der 1. Potenz der Stimmgabelamplitude ist. Wenn der Autor auch diese Resultate anders deutet wie ich, so folgt doch auch aus diesen Bestimmungen, dass die Intensität mehr der 1. wie der 2. Potenz der Gabelamplitude proportional ist. In einer neulich erschienenen Arbeit hält Stefanini unsere Einwände gegen die Telephonmethode von Wien für berechtigt.? Bevor ich diesen Abschnitt schliesse, muss ich noch einen eigenthüm- lichen Widerspruch zwischen der von Wien an unserer Methode geübten Kritik und seinen eigenen Versuchen hervorheben. In seiner ersten Arbeit (A. 8. 57.) werden die Ungenauigkeiten in den Stimmgabelversuchen breit ausgemessen und unter Anderem bemerkt, dass die Reflexion an den Wänden des Zimmers Maxima und Minima hervorruft, wodurch die regelmässige Ausbreitung des Schalles ebenfalls verhindert wird. Nun habe ich selbst allerdings vorsichtshalber die Reflexion an den Wänden durch Anbringen von Watteschirmen zu vermeiden gesucht. In seinen Stimmgabel-Resonator-Versuchen beachtet aber Wien seinen eigenen Einwand nicht. Zwar stand die Gabel in der Mitte des Zimmers, aber wie gross dies Zimmer ist wird nicht bemerkt. Es werden keine Maassregeln ergriffen um der Reflexion vorzubeugen. Nichtsdestoweniger sollen die Ver- suche zur Widerlegung der meinigen dienen. IV. Gerade wie wir, legt auch Herr Wien grossen Werth darauf, die eigenen Resultate in Uebereinstimmung zu bringen mit denjenigen früherer berühmter Untersucher. Wie wir früher betonten, stimmen diese gar nicht mit den neueren Wien’s, dagegen viel besser mit den unsrigen überein. Unsere Curve ist sogar der verbindende Draht. Was zuerst unsere eigenen Bestimmungen anbetrifft; so finden wir für g in der letzten Pfeifenbestimmung 2395 x 10° Erg pro Sec. und pro OD ®. Töpler und Boltzmann fanden ! Stefanini, Sulla Legge di Oscillazione del Diapason. Pisa 1890, und Adti della R. Ac. Lucchese. Vol. XXV. p. 351. ? Derselbe, Sulla mesura dell’ intensita del Suono e del potere uditivo. Arch. italiano di Otologia. 1905. Vol. XVI. p. 25. D1iE EMPFINDLICHKEIT DES MENSCHLICHEN ÖHRES. 325 9900 x 10-°. Wir horchten unter den günstigsten Bedingungen, und indem die Pfeife so günstig wie möglich ansprach, haben jedoch keine Correetur für den Nutzeffect der Pfeife vorgenommen. Töpler und Boltzmann dagegen horchten am Tage an nicht geräuschloser Stelle. Dagegen sind ihre Bestimmungen absolut. Beide Bestimmungen können also auch nach Correction nicht weit auseinander gehen. Für g* fanden wir den Werth 1492 x 10°, welcher mit demjenigen Rayleigh’s 4500 x 10° so übereinstimmt, wie man dies nur wünschen kann. Die Methode der beiden Bestimmungen ist denn auch die gleiche. Die Stimmgabelresultate (c!, g!, c?) von Rayleigh geben Werthe welche ungefähr 100 Mal kleiner sind wie die unserigen. Die Stimmgabelbestim- mungen Wead’s sind für (GC, c!, g!, c?) ungefähr eine Grössenordnung kleiner wie die unserigen, für c? und g? sind sie derselben Ordnung. Die Unterschiede dieser Stimmgabelbestimmungen und unserer Pfeifen- bestimmungen sind aber der Art, dass sie aus den verschiedenen - Be- dingungen der Untersuchung oder dem verschiedenen Nutzeflect der In- strumente völlig erklärbar sind. Betrachten wir nun die Resultate von Wien. Dass die Bestimmungen Töpler’s und Boltzmann’s zu hoch ausgefallen sind in Folge Hörens am Tage, wollen wir gerne zugeben. Aber wenn Wien auch so viel wie möglich verkleinert!, so bleibt die Zahl doch noch 20 Mal grösser wie die von ihm für denselben Ton gefundene Energie. Nun nimmt Wien an, dass diese Differenz völlig verschwindet wenn man den schlechten Nutzeffect der Pfeife berücksichtigt (D. S. 179). Er verweist dazu auf Webster, der für den Nutzeffeet der hölzernen Pfeife 0-0013, für metallene Pfeife 0.0038 setzt, also nicht weniger wie ein Tausendstel. Der Werth wurde in diesem Falle kleiner wie der Wien’sche und stimmt gar nicht besser wie ohne Correetur. Die Correction wegen schlechtem Nutzeffects ist jedoch auf die Methode von Töpler und Boltzmann nicht anwendbar, weil diese Unter- sucher direct die Verdichtungen im Inneren der Pfeife bestimmten und aus diesen Daten die Schwellenenergie am entfernten Punkte berechneten. Diese Untersucher konnten also direct die Luftamplitude aus der gemessenen Luftverdichtung berechnen, und aus diesem Grunde hatten wir zu den Be- stimmungen von Töpler und Boltzmann das grösste Vertrauen und haben es auch noch. Nehmen wir den Rayleigh’schen Werth g* = 4500 x 10-° und bringen die Webster’sche Correction an (00038); so erhalten wir 17x 10°. ! Wir fanden den Wien’schen Werth für N = 181; 12000 Mal grösser als den von Töpler und Boltzmann, indem wir die Schwelle für Ton 181 gleich derjenigen für Ton 200 stellten; während Wien diesen durch Interpolation zwischen 100 bis 200 redueirt auf 2000 Mal. 326 F. H. Qu: Nun will ich Wien noch etwas entgegen kommen, noch !/,, für den Verlust durch Reibung an der Oberfläche des Bodens u. s. w. und noch !/,.o für die Tagesbestimmung in Rechnung bringen; dann wird der Rayleigh’sche Werth so viel wie möglich verkleinert, 0.017 x 107°, Dagegen fand Wien fürden vorangehenden Ton1600sowie für den folgenden 2300=0-00025 x 108 also einen noch etwa 100 Mal kleineren Werth. Meiner Ansicht nach ist es nicht gestattet, den Werth Rayleigh’s so viel zu verkleinern, weil wir mit derselben Methode unter den günstigsten Bedingungen mit einer me- tallenen Pfeife 1492 x 10-3 fanden, welche Zahl nach der Correction nach Webster den Werth 5-7 x 10° hat. Wenn nun auch durch Reibung noch etwas verluren geht, so ist hier doch die Grenze ungefähr erreicht. Die Stimmgabelversuche von Rayleigh, Wead und uns sind in ihrer Art ganz verschieden. Bei der Methode Rayleigh’s wurde die Stimm- gabel vor dem Resonator aufgestellt, bei Wead auf den Resonator, und in unserer Methode ohne Resonator verwendet. Dennoch stimmen die Werthe dieser Bestimmungen unter einander befriedigend überein und diffe- riren von den Wien’schen und es geht nicht an, allen diesen Methoden das Zutrauen zu verweigern. Was ich für besonders wichtig halte ist, dass die Wien’schen Werthe, besonders in den höheren Üctaven, so klein, ausgefallen sind. Ich erachte dies für einen Hinweis darauf, dass bei den dicken Telephonplatten die Fehler in der Berechnung der Schallenergie verhältnissmässig gross sind. In einer Note auf S. 178 (D) bemerkt Wien, dass die in neuerer Zeit von Ostmann und Struycken veröffentlichen Werthe für die relative Em- pfindlichkeit ebenfalls gut mit den seinigen übereinstimmen. Nun habe ich im Arch. für Ohrenheilkunde Bd. LXIII S. 118 bewiesen, dass die von Ostmann berechneten Schwellenamplituden unrichtig sind. Weiter lässt sich aus den blossen Angaben von Amplituden bei verschiedenen Stimmgabeln, wie es in diesen Arbeiten geschieht, nicht auf die Luft- amplitude schliessen und also auch nicht auf die Schallintensität. Da bei Gabeln die Erregungspunkte von Verdichtungen und Verdünnungen sehr nahe bei einander liegen, geht in Folge Interferenz ein grösserer Theil der Schallenergie verloren. Dieser Theil ist bei tieferen Gabeln wegen der geringeren Dieke und verhältnissmässig grösseren Wellenlänge grösser als bei höheren Gabeln. Ausserdem bemerkt Wien in einer Note auf S. 169 (D), dass die das Ohr treffenden Luftamplituden mit denjenigen der Stimm- gabel ohne Weiteres nicht identificirt werden dürfen. Der Widerspruch zwischen den älteren und neueren Versuchen Wien’s, die in unserer vorigen Arbeit unter Wien I und Wien lI vorgeführt werden, hat sich nachher als nicht so gross herausgestellt, wie wir anfänglich glaubten, denn wie Herr Wien an Prof. Zwaardemaker freundlichst mit- DIE EMPFINDLICHKEIT DES MENSCHLICHEN ÜHRES. 327 theilte, hat sich in seiner Dissertation ein Rechnungsfehler eingeschlichen, wodurch die Werthe 100 Mal zu gross ausgefallen sind. Wir sind in folgender Weise zu dem Werth 612 x 10-° Erg für Ton a! (Wien I) gekommen: | In der Wien’schen Dissertation finden wir auf S. 46 für die Energie auf das Trommelfell in der Zeiteinheit angegeben 2.2pumg genauer 2-244 un m g (aus 0-068 un m g x 33). Stellt man Ipuu m g=1x 107 Erg so ist 2.244un m g = 22-44 x 10° Erg. Nach S. 45 der Dissertation hat ein constanter Ton einen 3 Mal grösseren Ausschlag also 9 Mal grösseren Energiewerth, so dass wir für a! continuirlich berechneten pro DJ® und sec. al = 22.44 x 102 x 9 x 3-03 Erg = 612 x 10° Erg. Nach S. 49 ist das Verhältniss der Intensitäten der Schwellenwerthe für a! und a als 1:1-7, woher für a der Werth 812 x 10=® Erg. Wie man leicht einsieht, hat Wien das Trommelfell anstatt 33 um, 33 gem genommen, weil als Flächeneinheit vorher der Quadratcentimeter ge- nommen ist, woher die Werthe 1640 Mal zu gross ausgefallen sind. Die Wien’schen Werthe corrigirt ergeben also: Wien I a! =6-12 x 108 Erg a 80 1023 Wien II 1,400, =11=6 X710=10, 200) E20, Aus diesen Angaben geht nun hervor, dass in Wien I die Werthe für a und a! unter sich fast gleich gross sind, dagegen in Wien II N (200) 75 Mal grösser ist als N (400). Der Widerspruch zwischen Wien I und Wien II bleibt also bestehen. — Die Uebereinstimmung der älteren und neueren Resultate nach der Darstellung von Wien auf S. 181 seiner letzten Arbeit ist nur scheinbar, und zwar dadurch, dass die älteren Resultate bei intermittirendem Ton, die letzteren bei constantem Ton gegeben sind, und besonders, weil die Zahlen nur in Quecksilberdruck verzeichnet sind, während die Energiewerthe den Quadraten proportional sind. — Schlüsse. 1. Die Pfeifenbestimmungen im Freien unter den günstigsten Be- dingungen haben Resultate ergeben, die sich mit den von uns früher ge- fundenen vollkommen decken. 328 F.H. Quiıx: Die EMPFINDLICHKEIT DES MENSCHLICHEN ÜHRES. 2. Das menschliche Ohr ist für die c-Töne in der 1., 2. und 3. Octave empfindlicher als für die g-Töne aus diesen Octaven. 3. Wenn wir den Nutzeffect der Pfeife nach Webster in Rechnung bringen, haben unsere Bestimmungen im Freien auch absoluten Werth. 4. Bei der Telephonmethode von Wien ist die wahrgenommene Schwellenenergie eine ganz andere wie die berechnete. 5. Bei dem Telephon als Schallquelle lässt sich die Schallbewegung theoretisch, nicht übersehen. 6. Meine Versuche über die Abhängigkeit der Intensität des Schalles von der Amplitude der Zinken einer Gabel können durch die Stimmgabel- Resonator-Versuche Wien’s nicht widerlegt werden. 7. Die Resultate unserer Bestimmungen stimmen viel besser mit den- jenigen früherer Untersucher überein als die Wien’schen, welche besonders in den höheren Octaven viel zu klein ausgefallen sind. 8. Der augenscheinlich so grosse Widerspruch in dem ersten und zweiten Versuche Wien’s (in unserer früheren Publication unter Wien I und Wien II vorgeführt) ist entstanden durch einen Druck- bezw. Rechen- fehler in der Wien’schen Inaugural-Dissertation.e Ohne diesen Rechen- fehler bleibt jedoch der Widerspruch, wenn auch nicht in so grossem Maasse, bestehen. Zur Physiologie des Springens. Von Dr. R. du Bois-Reymond. 1. Vorbemerkung. Was die heutigen Lehrbücher der Physiologie über die Theorie des Sprunges bringen, beschränkt sich auf die Ergebnisse, die schon Borellius! mit völliger Klarheit hinstellt: Durch die Streckung der stützenden Extremitäten wird dem Schwerpunkt eine Beschleunigung nach oben ertheilt, die grösser ist als die Beschleunigung in umgekehrter Richtung, die er durch die Anziehungskraft der Erde erfährt, so dass er eine gewisse Strecke weit emporgeworfen wird. Während des Fluges bewegt sich der Schwerpunkt nach den bekannten Grundsätzen der Wurflinie. Dieser allgemein gefassten Darstellung lassen sich bei eingehenderer Untersuchung eine Reihe von Einzelheiten zufügen, die zugleich verschiedene auffällige Beobachtungen über den Sprung des Menschen erklären. 1 Borellius, De motu animalium, Lugduni Batavorum 1710, I, Cap. XXI, De Saltu. Die Berechnung der wirkenden Kräfte ist bei Borellius falsch, ebenso die Angabe, dass durch Bewegung der Körpertheile gegen einander die Bahn des Schwer- punktes verändert werde. Dagegen enthält die Darstellung von Borellius den be- rühmten Satz, dass die kleineren Thiere und Menschen verhältnissmässig höher springen können als die grossen, der in der Ueberschrift in folgende Worte gefasst ist: „Ani- malia minora et minus ponderosa maiores saltus effieiunt, respectu sui corporis, si caetera fuerint paria.‘“ Muybridge in seiner grossen Sammlung „Animal Locomotion“, Marey in mehreren seiner Werke, insbesondere in „Rapports“ der „Commission internationale d’hygiene et de physiologie“ der Pariser Weltausstellung, herausgegeben vom Ministe- ıium des Handels, dor Gewerbe und des Post- und Telegraphenwesens, Paris 1901, haben Beobachtungsmaterial dargeboten, das aber bisher nur in sehr geringem Masse ausgenutzt worden ist. 330 R. pu Boıs-Reymonxp: 2. Bei einem Sprung von 1-5” Höhe nach der gebräuchlichen Angabe wird der Schwerpunkt nur etwa um 0-5” gehoben. Die Lehre vom Sprunge hat mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass eine ganz bestimmte, höchst unwissenschaftliche Auffassung des Sprunges uns durch die Erfahrung des täglichen Lebens in Fleisch und Blut über- gegangen ist. Diese Auffassung muss beseitigt werden, ehe man sich die mechanischen Bedingungen des Sprunges klar vor Augen stellen kann. Der praktische Zweck des Sprunges ist im Allgemeinen ein Hinderniss zu über- schreiten, und offenbar aus diesem Grunde wird ganz allgemein die Höhe eines Sprunges gemessen nach der Höhe des Hindernisses, das durch den Sprung überwunden worden ist oder hätte überwunden werden können. Ein Turner giebt an, er könne einen Meter hoch springen, wenn er über eine Springschnur ohne sie zu berühren hinwegspringen kann, die einen Meter hoch über dem Erdboden hängt. Diese Art der Angabe ist so allgemein gebräuchlich, dass sie uns ganz selbstverständlich erscheint. Sobald man aber den Sprung vom physikalisch-mechanischen Standpunkte betrachtet, wird man bemerken, dass diese Art, die Höhe eines Sprunges anzugeben, eine rein conventionelle, vom wissenschaftlichen Standpunkte aus völlig un- brauchbare ist. Es ist nämlich aus dieser Angabe gar nicht zu ersehen, wie hoch der Sprung eigentlich gewesen ist, das heisst, wie hoch der Schwerpunkt geworfen worden ist. Im Allgemeinen wird beim Sprung über eine Schnur natürlich der Schwerpunkt eine gewisse Höhe über der Schnur erreichen müssen. Wollte man aber auch diese Höhe als eine Constante betrachten, die aus der Angabe fortgelassen wird, so bleibt immer noch der Ausgangspunkt der Schwerpunktsbahn unbestimmt, so dass die eigentlich erreichte Höhe nicht zu ermitteln ist. Es ist klar, dass, um über eine meterhohe Schnur zu kommen, ein kleiner kurzbeiniger Mensch bedeutend „höher springen“ muss als ein langaufgeschossener Mensch, dessen Schwerpunkt schon beim Stehen höher liegt als die Schnur. 3. Die Wurfbahn des Schwerpunktes. Aus diesen Bemerkungen geht hervor, dass die erste Bedingung für die mechanische Analyse des Sprunges die ist, dass die Sprungbewegung ausschliesslich nach der Bewegung des Schwerpunktes beurtheilt werde Die Parabel, die der Schwerpunkt be- schreibt, ist maassgebend für die gesammte Mechanik des Sprunges. Die Form der Parabel ist bedingt durch die Lage ihres Anfangspunktes und durch Grösse und Richtung der Geschwindigkeit, die dem Schwerpunkt zu Beginn der Flugbahn ertheilt ist. Solange der Körper noch mit irgend einem Theile den Boden berührt, kann die Bahn des Schwerpunktes noch durch Abstoss vom Boden verändert werden. Der Anfangspunkt der para- bolischen Bahn wird also auf der Stufe der Sprungbewegung erreicht sein, ZuR PHYSIOLOGIE DES SPRINGENS. 331 auf der die Fussspitze den Boden verlässt. Da, um möglichst hoch zu springen, die Streckung der Beine möglichst gut ausgenutzt werden muss, geschieht dies im Allgemeinen in äusserster Streckstellung. Mithin liegt der Anfangspunkt der Parabel bei maximalem Sprung in der Höhe, in der der Schwerpunkt sich bei äusserster Streckung des Beines befindet, d. h. bei Individuen mittlerer Grösse und Proportion in etwa 1” Höhe. Die steile und hohe Flugbahn, an die man bei einem Sprung ‚von über anderthalb Meter‘ Höhe zu denken geneigt ist, verwandelt sich durch diesen Umstand in eine ganz flache und gestreckte. 4, Es ist denkbar, dass eine Schnur übersprungen wird, ohne dass der Schwerpunkt darüber hinweggeht. Die Höhe, bis zu der der Schwer- punkt geworfen werden muss, damit ein Hinderniss von bestimmter Höhe übersprungen werden kann, ist, wie oben angedeutet, keine bestimmte Grösse, weil einerseits die Stellung, die der Körper dem Hinderniss gegen- über einnimmt, verschieden sein wird, zweitens die Lage des Schwer- punktes zum Körper mit dessen verschiedener Stellung wechselt. Da der Sehwerpunkt unter Umständen überhaupt ausserhalb des Körpers liegt, so wäre der paradoxe Fall denkbar, ‘dass ein Mensch über eine Springschnur wegsetzt, ohne dass sein Schwerpunkt überhaupt bis zur Höhe der Schnur gehoben wird. Der Körper kann nämlich in dem Maasse gekrümmt werden, dass der Schwerpunkt ın den von der Concavität der Krümmung um- schlossenen Luftraum fällt. Schematisch lässt sich der Körper in dieser Stellung einem offenen Ringe vergleichen, dessen Schwerpunkt annähernd in der Mitte des Ringes, aber {rei liegt. Man kann sich nun den Ring so gegen die Springschnur geworfen denken, dass diese durch die Oeffnung in das Innere des Ringes schlüpft, und zugleich eine derartige Drehung des Ringes in seiner eigenen Ebene annehmen, dass im richtigen Augen- blick, wenn der Schwerpunkt unter der Schnur hindurchgegangen ist, wiederum gerade die Öefinung des Ringes vor der Schnur steht, so dass die Schnur hinausschlüpfen kann. Es kann auf diese Weise jeder einzelne Theil des Ringes über die Schnur gegangen sein, während der Gesammt- schwerpunkt des Ringes unter ihr hindurchgegangen ist. - 5. Die Hebung des Schwerpunktes über die Schnur ist am kleinsten beim „schottischen‘ Sprung. Dieser Fall dürfte sich beim Sprunge eines Menschen allerdings kaum verwirklichen lassen, doch kommen ihm die englischen und amerikanischen Meisterschaftsspringer recht nah, indem sie sich in wagerechter Lage mit herabhängenden Extremitäten gleichsam rücklings oder bäuchlings über die Schnur hinwälzen. Diese Stellungen erfüllen die Forderung, bei möglichst geringer Erhebung des Schwerpunktes über das Hinderniss, den ganzen Körper frei hinüber zu bringen. 332 R. pu Boıs-ReymonD: Die aufrechte Haltung beim Sprunge, die sich aus der aufrechten Stellung überhaupt als die natürlichste ergiebt, ist in dieser Beziehung unzweckmässig, weil der Oberkörper so hoch gehoben werden muss, dass unter ihm auch noch die Beine über das Hinderniss hinüber kommen. Diese Schwierigkeit wird zum Theil vermieden, wenn, wie bei der Haltung der deutschen Turner, die Beine zuerst und erst nachher der Körper über die Schnur gleiten. 6. Der einbeinige Sprung mit Anlauf ist zweckmässiger als der gleichbeinige „‚Schlusssprung“. Diese Betrachtung erklärt auch die Ueber- legenheit, die der gewöhnliche Sprung mit Anlauf und einseitigem Abstoss vor dem Schlusssprung mit gleichbeinigem Abstoss zeigt. Warum kann man nicht mit beiden Beinen höher springen als mit einem, und auf welche Weise unterstützt der Anlauf, der doch nur wagerechte Geschwindigkeit giebt, den Höhesprung? Diese Fragen würden wahrscheinlich gar nicht gestellt werden, wenn die reine Sprungbewegung, d. h. das blosse Empor- werfen des Schwerpunktes, in Frage käme. Vermuthlich würde ein Springer, der sich auf dieses Endziel einübte, mit dem gleichfüssigen Sprung aus dem Stand ebensoviel erreichen, wie mit dem Anlaufsprung. Aber es ist ganz etwas anderes, wenn es sich darum handelt, den Körper über ein Hinderniss fortzubringen. Der Schlusssprung ist hierfür äusserst ungünstig, weil im Augenblick, in dem der Körper den Boden verlässt, beide Beine nach unten gestreckt sind und erst bis zur Höhe des Oberkörpers gehoben werden müssen. Dadurch rückt der Schwerpunkt im Körper in die Höhe, oder in demselben Maasse die untere Grenze des Körpers herab. Ferner muss natürlich der Körper, um über die Schnur zu kommen, auch vor- wärts bewegt werden, der Sprung muss also schräg vorwärts gerichtet sein. Damit die Beine noch Platz haben sich vor der Schnur zu heben, muss diese Neigung der Sprungeurve noch flacher werden, und es geht dadurch Höhe verloren. Beim Anlaufsprung dagegen stösst nur das eine Bein ab, während das andere schon zur Höhe der Schnur emporgehoben ist. Ein Theil der Anlaufsgeschwindigkeit kann durch schräges Anstemmen des Abstossbeines in Aufwärtsbewegung umgesetzt und im Uebrigen alle Kraft des abstossenden Beines in der Richtung nach oben ausgenutzt werden, weil die wagerechte Geschwindigkeit vom Anlauf her der Flugbahn schon den Grad von Flachheit giebt, der es erlaubt, dass erst die Beine und dann der Körper nach einander über die Schnur gebracht werden. 7. Die Uebertragung des Anlaufs in Verticalgeschwindigkeit ist als ein sehr wesentliches Hülfsmittel aus Augenblicksbilderreihen nach- zuweisen. Bei einiger Aufmerksamkeit wird man beim Springen mit An- lauf an sich selbst gewahr, dass das abstossende Bein nach vorn auf den ZUR PHYSIOLOGIE DES SPRINGENS. 333 Boden gestemmt wird, und in ähnlicher Weise wirkt, wie beim Stabhoch- sprung die vorgesetzte Springstange. Die Richtung des Abstosses ist, so- weit sie allein auf der Streckung des Beines beruht, geradezu nach hinten geneigt. Dies lässt sich auf Bilderreihen sicher nachweisen: Auf Muy- bridge’s Aufnahme Nr. 152 befindet sich im Augenblick des Abstosses die Schulter des Springers volle 55°” hinter dem stemmenden Fussgelenk. Auf der bekannten, in viele Lehrbücher übergegangenen Aufnahme eines Hochsprunges von Marey besteht ungefähr dasselbe Verhältniss, und es ist zu erkennen, dass sich die Horizontalgeschwindigkeit während des Ab- stosses um ein volles Drittel vermindert. Bei diesem Vorgang wird Kraft allerdings nur soweit gespart, als das schon fast oder ganz gestreckte Bein für eine ohne oder mit geringer Muskelthätigkeit steifgehaltene Stütze gelten kann. S. Die Bahn des Schwerpunktes kann durch Eigenbewegungen während des Sprunges nicht verändert werden. Sprung mit Halteren. Für alle im Vorhergehenden betrachteten Verhältnisse gilt der allgemeine Satz, dass der Schwerpunkt eines freischwebenden Systems, wie es der Körper beim Sprunge darstellt, durch innerhalb des Systems wirkende Kräfte seine Lage nicht ändern kann. Der Schwerpunkt verfolgt also seine parabolische Bahn, gleichviel welche Eigenbewegungen der Körper während seines Fluges macht. Man kann, abgesehen vom Gebrauch der Sprunggewichte (Halteren), die vor dem Absprung in die Höhe geworfen, während des Sprunges herab- gerissen und dann losgelassen werden, den Schwerpunkt nicht nach oben oder unten ablenken, so wenig wie nach rechts oder links. Der Sprung mit Halteren ist nur eine scheinbare Ausnahme von diesem Gesetz, denn da die Halteren beim Gebrauch fortgeworfen werden, gehören sie und die von ihnen abgegebene Energie nicht zu dem Bestande des bewegten Systems. 9. Drehung um den Schwerpunkt. Dagegen können Eigenbewegungen des frei schwebenden Körpers die wichtige Bedeutung haben, dass sie ihn um beliebige, durch seinen Schwerpunkt gehende Axen drehen. Diese Möglichkeit ist vielfach bezweifelt worden, unter Anderem auch mit Be- ziehung auf die bekannte Thatsache, dass sich eine Katze, die man mit dem Rücken nach unten fallen lässt, in der Luft selbstthätig umdreht. Dieser Zweifel findet anscheinende Bestätigung in der strengwissenschaftlichen Fassung der mechanischen Lehrsätze, die sich auf diesen Punkt beziehen.! In diesen wird ausgeführt, dass jeder Drehung, die ein Theil des Systems ' Vgl. W. Schell, Theorie der Bewegung und der Kräfte. Leipzig 1870. 334 R. pu Boıs-Reymonp: um dessen Schwerpunktsaxe ausführt, eine gleiche entgegengesetzte Drehung entspricht, so dass die Summe der Drehungen stets gleich Null bleibt. Es ist aber hier unter „Drehung“ nicht wie im täglichen Leben bloss eine Winkelgrösse zu verstehen, sondern ein Product aus Winkelgrösse und Trägheitsradius, dessen Maass die vom Trägheitsradius bestrichene sectoren- förmige Fläche ist. Sieht man von der Grösse der Trägheitsradien ab, und versteht unter Drehung allein die Aenderung der Winkelstellung der ein- zelnen Theile oder des ganzen Systems, bezogen auf irgend einen festen Punkt ausserhalb der Drehungsaxe, so erscheint "Drehung in diesem Sinne keineswegs ausgeschlossen. 10. Die Drehung der fallenden Katze. E.J. Marey hat denn auch mit Hülfe der Augenblicksphotographie sowohl die Thatsache bewiesen, dass die fallende Katze sich auf die Füsse dreht, als auch den Mechanismus dieser Bewegung verständlich gemacht.’ Die mit dem Rücken nach unten fallen gelassene Katze streckt zuerst Hinterbeine und Schwanz weit von sich, so dass deren Trägheitsmoment, d. h. ihr Widerstand gegen Drehungen um die Körperaxe möglichst gross wird, und macht dann eine Wendung mit dem Vorderkörper in dem Sinne, dass die Vorderbeine nach unten zeigen. Dies kann zwar nur auf Kosten einer entgegengesetzten Drehung des Hinterkörpers stattfinden, aber dessen Drehungsmoment ist durch die vorher eingenommene Haltung so gross geworden, dass diese Gegendrehung auf einen verhältnissmässig kleinen Winkel beschränkt ist. Nun werden Kopf und Vorderbeine weit vom Körper abgestreckt, Schwanz und Hinter- beine dagegen angezogen, so dass das Verhältniss der Trägheitsmomente umgekehrt ist wie vorher, und in dieser Haltung findet wiederum eine Drehung, diesmal des Hinterkörpers gegen den relativ ruhenden Vorder- körper, statt, durch die auch die Hinterbeine die Richtung nach unten er- halten. Je weiter ein Körpertheil von der Drehungsaxe entfernt wird, desto grösser ist sein Trägheitsmoment bezogen auf diese Axe, und eine um so stärkere Gegendrehung (das ist eine Gegendrehung um einen desto grösseren Winkel) wird seine Drehung um diese Axe um einen gegebenen Winkel hervorrufen. Wird innerhalb eines Systems ein Körper durch die inneren Kräfte des Systems zum Kreisen um einen seitlich vom Gesammtschwer- punkt gelegenen Punkt gebracht, so kann dadurch das ganze System in Winkeldrehung versetzt werden, weil die Masse des kreisenden Körpers an ! E.J. Marey, Des mouvements que certains animaux ex&cutant pour retomber sur leurs pieds, lorsqu’ils sont preeipites d’un lieu &leve. Compt. rend. de I’ Acad. 1894, T. CXIX. p. 714. ZUR PHYSIOLOGIE DES SPRINGENS. 335 den äusseren, d. i. an der Drehungsaxe des ganzen Systems abgekehrten Punkten in Bezug auf diese Axe einen grösseren Radius hat, als an den inneren, d. i. ihr zugekehrten Punkten der Kreisbahn, und daher das Ge- sammtsystem zu einer grösseren Gegendrehung zwingt, wenn er den äusseren Theil seiner Bahn durchläuft. 11. Nach E. Kohlrausch gehört zu jedem Sprung des Menschen Drehung um die Frontalaxe. Diese Möglichkeit der Drehung ist deswegen von Bedeutung, weil, wie E. Kohlrausch gezeigt hat,! zu jedem Sprung der nicht genau senkrecht nach oben gerichtet ist, eine gewisse Drehung um eine transversale Axe als zur Erhaltung des Gleichgewichts nothwendige Ergänzung hinzutritt. Die Richtung des Abstosses muss so genommen werden, dass der Körper in der Richtung des Sprunges fortgeschleudert wird, und zu diesem Zwecke wird im Alleemeinen der Körper in der Rich- tung des Sprunges geneigt. Behielte der Körper diese Neigung bei, so würde er im Moment des Niedersprunges, sobald die Füsse den Boden be- rühren, vornüber fallen, oder zum mindesten stolpern. Um nach dem Sprung zum ruhigen Stand kommen zu können, muss vielmehr der Körper im Augenblicke des Niedersprunges nach Maassgabe der vorhandenen Ge- schwindigkeit rückwärts geneigt sein. Hieraus folet, dass der Körper im Allgemeinen vorwärts geneigt abspringt und rückwärts geneigt ankommt, also eine Drehung um eine quere Axe ausführt, die in der Seitenansicht von rechts dem Sinne des Uhrzeigers entgegengesetzt ist. Von dieser Drehung sagt E. Kohlrausch, sie könne entweder schon beim Abstoss dadurch hervorgebracht werden, dass der Stoss nicht genau in der Richtung auf den Schwerpunkt, sondern in einer Richtung schräg unter dem Schwerpunkt hindurch gegeben werde, oder dadurch, dass der Körper im Fluge seine Stellung verändere. Ob der erstere Fall vorkommt, erscheint mir zweifelhaft. Beim Sprung über ein erhöhtes Hinderniss auf einen tiefer gelegenen Standpunkt hinab macht sich allerdings eine gewisse Unsicherheit bemerkbar, die darauf be- zogen werden kann, dass die Grösse der Drehung, die während des durch den Fall in die Tiefe verlängerten Fluges eintritt, nicht genau vorher ab- zuschätzen ist. Aber dies würde ebenso gut für den zweiten Fall zutreffen, und für diesen spricht der Umstand, dass bei der beschriebenen Art des Sprunges auf einen tieferen Standort der Körper nicht zu weit rückwärts, sondern zu weit vorwärts geneigt anzukommen pflegt. Dies erklärt sich nämlich am einfachsten dadurch, dass die Bewegungen nicht ausreichen, die durch die verlängerte Flugzeit vermehrte Winkelstellung zu corrigiren. ' E. Kohlrausch, Physik des Turnens. Hof 1887. 8. 45. 336 R. pu Boıs-REyMmonp: 12. Drehbewegung der Arme beim Sprung. Ueberdies ist auf der Aufnahme! seines Weitsprunges von Marey, wie Marey selbst angiebt, wahrzunehmen, dass die Arme emporgehoben, dann vorwärts geführt, dann gesenkt, dann rückwärts gestreckt werden, und dann diese Bewegung noch- mals ausführen, das heisst, dass sie einen Kreisschwung beinahe zweimal ausführen, der in dem Sinne der von Kohlrausch geforderten Drehung auf den Rumpf zurückwirken muss. Die Beine machen während dieser Zeit eine einfache Beugung und Vorwärtsstreckung. Eine andere Aufnahme eines mittelmässigen Weitsprunges lässt nur erkennen, dass durch Zurück- schwingen der Arme die Vorwärtsstreckung der Beine compensirt wird. 13. Der Sprung als Maass der Muskelkraft. Der Absprung geschieht von der ganzen Sohle. Die Eigenthümlichkeit der Sprungbewegung, dass während des Fluges durch die Luft der Körper den einfachen Gesetzen der Wurflinie folgen muss, legt den Gedanken nahe, die Sprunghöhe als ein Maass der Körperkraft zu verwenden. Diese Anschauung dürfte auch der Sage vom „Königssprung‘‘ des Teutonen-Königs Teutobod über sechs Pferde zu Grunde liegen. Nach dem oben Gesagten wird aber einleuchten, dass die Höhe des übersprungenen Hindernisses nur einen ganz unbestimmten Schluss auf die Höhe der Wurflinie und mithin auf die aufgewendete Muskelarbeit gestattet. Man müsste also, um die Kraftleistung beim Sprunge richtig schätzen zu können, die Bahn des Schwerpunktes bestimmen, was selbst mit Hülfe der Augenblicksphotographie schwierig und umständlich ist. Ohne hierauf einzugehen, kann indessen versucht werden, abzuschätzen, ob die Muskelkraft des Beines beim Springen bis zur Grenze beansprucht wird. Man darf als sicher annehmen, dass beim Sprung über eine 1.5“ hohe Schnur die Parabelhöhe mindestens 0.5” beträgt. Die Grösse, um die der Schwerpunkt beim Abstoss durch die Streckung des Beines gehoben wird, beträgt, wie man aus Augenblicksaufnahmen und durch sub- jeetive Beobachtung ermessen kann, nicht viel mehr als 0.15". Durch diese Streckbewegung muss dem Schwerpunkt eine Geschwindigkeit ertheilt werden, die ihn 0.5” hoch aufsteigen lässt. Nach den Gesetzen der Wurf- bewegung ist die Geschwindigkeit der Aufwärtsbewegung auf jedem Punkte der Parabel gleich der der Abwärtsbewegung auf dem Punkte des absteigenden Parabelastes, der dieselbe Höhe hat. Es muss also beim Beginn des Auf- steigens der Schwerpunkt dieselbe Geschwindigkeit haben, die er beim Fall von dem höchsten Punkte der Parabel bis zur Höhe des Anfangspunktes erlangen würde. Diese Geschwindigkeit erreicht er beim freien Fall vermöge der Schwere, die auf der ganzen Parabelhöhe = 0-5" wirkt. Damit er in ' Vgl. Anm. auf Seite 329 Absatz 2. ZUR PHYSIOLOGIE DES SPRINGENS. 337 der Strecke von 0-15” die gleiche Geschwindigkeit erlangt, muss eine Kraft auf ihn wirken, die sich zur Schwere umgekehrt verhält wie die Strecken, also wie 50:15 = 3-3. Für ein Körpergewicht von 70*s würde also die Kraft des Abstosses, wenn sie gleichmässig durch die ganze Streckung des Beines wirkte, 231*® betragen müssen. Dies wäre gerade die Grösse, die nach den mehrfach wiederholten Versuchen über die maximale Kraft der Wadenmusculatur für die Wade angenommen werden muss. Da nun ein Sprung wie der angenommene durchaus nicht als Maximalleistung gelten und die Kraft auch unmöglich gleichmässig während der ganzen Streckung einwirken kann; leuchtet ein, dass beim Sprung eine grössere Kraft als die der Wade in Thätigkeit sein muss. Thatsächlich findet der Abstoss aus- nahmslos von der ganzen Sohle mit Hülfe der Oberschenkelmuskeln statt. Beim Springen von einem Sprungbrett oder vom gedielten Boden einer Turnhalle aus ist dies deutlich am Schall des Trittes zu erkennen. 14. Hüpfen mit gestreckten Knieen als Kraftmaass für die Waden- muskeln. Hiermit fällt die Möglichkeit fort, aus der Höhe eines gewöhn- lichen Sprunges ein Maass der Muskelkraft abzuleiten, weil Zahl und Grösse der mitwirkenden Muskeln nicht festgestellt werden kann. Dagegen lässt sich eine Art des Springens finden, bei der eine solche Berechnung ganz einfach ist. Man braucht nur den ganzen Körper starr und steif zu halten, insbesondere die Kniee durchzudrücken, und dann durch Strecken des Fuss- gelenkes, „auf den Zehenspitzen“ wie man zu sagen pflegt, obgleich es heissen müsste: „auf den Fussballen“, emporzuhüpfen. Der so ausgeführte Sprung ist dann ausschliesslich Ergebniss der Wadenmuskelcontraction, und seine Höhe im äussersten Fall muss das Maass der Kraft der Wadenmuskeln geben. Dabei tritt allerdings eine Schwierigkeit en. Es ist nicht gut möglich, aus dem ruhigen Stand ohne Weiteres in der beschriebenen Weise zur maximalen Höhe zu hüpfen, vielmehr lässt sich die maximale Hüpfkraft erst beim wiederholten periodischen Hüpfen erreichen. Dabei stellt sich dann heraus, dass man unwillkürlich vermeidet, zwischen den einzelnen Sprüngen mit der ganzen Sohle auf den Boden zurückzufallen, sondern sich dauernd auf den Zehen hält, und die Fersen nur bis auf etwa 4m über dem Boden hinabsinken lässt. Da die maximale Erhebung des Körpers bei der Streckung der Fussgelenke zum Stand auf den Zehen nur etwa Tem beträgt, bleibt für die Strecke, auf der der Körper seine Beschleunigung aufwärts erhält, nur 3°= übrig. Auf dieser kurzen Strecke vermögen die Wadenmuskeln dem Körper eine Geschwindigkeit zu ertheilen, mit der er sich 24°” über seine gewöhnliche Länge erhebt, so dass eine reine Wurf- höhe von 17® erzielt wird. Die Kraft der Wadenmuskeln muss sich zur Schwere des Körpers umgekehrt wie die Strecken, also wie 17 zu 3 ver- Archiv f.A,u. Ph, 1905. Physiol. Abthlg. Suppl. 22 338 R. pu Boıs-Reymonp: halten, wonach sich für ein Körpergewicht von 85*s eine Kraft von rund 480*E berechnet, die gut mit den bekannten Messungen übereinstimmt. Man ersieht aus diesem Beispiel, dass mit geeigneten Bedingungen die Messung der Sprunghöhe ein brauchbares Verfahren zur Bestimmung der Muskelkraft sein kann. 15. Der günstigste Absprungswinkel für den Weitsprung ist kleiner als 45°. Ein überraschendes Ergebniss hat die Anwendung der Lehre von der Wurfbewegung auf die Mechanik des Weitspringens. Um mit einer gegebenen Anfangsgeschwindigkeit eine möglichst grosse Wurfweite zu erzielen ist bekanntlich die günstigste Richtung für die An- fangsbeschleunigung unter 45° gegen den Horizont geneigt. Man könnte deshalb glauben, dass auch der Mensch dann am weitesten springen können würde, wenn er seinen Abstoss unter 45° Neigung nähme. Dies trifft aber nicht zu. Für den oben erwähnten, von Marey aufgenommenen Sprung beispiels- weise wird eine Dauer von 0.75sec angegeben. Man darf annehmen, dass während dieser Zeit der Schwerpunkt des Körpers um annähernd gleiche Strecken steigt und fällt, da der Niedersprung, um den Körper sanft auf- zufangen, mit fast wie beim Absprung gestreckten Beinen geschieht. Aus der Dauer des freien Falles, die die Hälfte der gesammten Flugdauer aus- macht, ergiebt sich die Höhe der Erhebung zu A = 2, wo h die Erhebung, g die Fallbeschleunigung, 2 die halbe Dauer des ganzen Sprunges ist. Mit- hin 7 Sur oder rund Ah = —— —.5. 0-14 0272 Um den Schwerpunkt so hoch zu werfen, muss ihm dieselbe Geschwindigkeit nach oben ertheilt worden sein, die er beim Fallen von derselben Höhe er- langt, nämlich v=gt, wo v die gesuchte Geschwindigkeit, g die Fall- beschleunigung, ? die Dauer des freien Falles, oder hier die halbe Flugdauer ist. Demnach » = 9.8.0-375 oder rund 3-75”. Wenn der Abstoss unter 45° erfolgt, wird offenbar die Geschwindigkeit, die der Körper in horizontaler Richtung erhält, gerade ebenso gross sein, wie die in verticaler. Unter diesen Bedingungen würde die Sprungweite, bei der gegebenen Dauer des Sprunges von 0-75 Sec. unter 3” bleiben müssen. Es würde ausserdem die Ge- sammtbeschleunigung die der Körper beim Abstoss erfährt, sich auf 5-3” belaufen, was augenscheinlich viel zu wenig ist. Die wirklichen Bedingungen des Sprunges sind also ganz andere. Die maximale Beschleunigung nach oben, die sich der Springer ertheilen kann, hält sich in sehr engen Grenzen und dürfte in dem erwähnten von Marey aufgenommenen Sprung, bei dem der Schwerpunkt sich mehr als 1-5” über den Erdboden erhebt, nahezu erreicht sein. Dagegen ist es dem Springer ZuR PHYSIOLOGIE DES SPRINGENS. 339 vermöge des Anlaufs verhältnissmässig leicht, ungleich grössere Horizontal- geschwindigkeit zu erlangen. Für den erwähnten Sprung lässt sich die zurückgeleste Sprungweite nicht genau ermitteln, doch muss die Länge der Wurfbahn des Schwerpunktes über 5" betragen haben. Hier ist einzu- schalten, dass nach der gebräuchlichen Art, die Länge des Sprunges nach der Entfernung zwischen Ort des Abstosses und Ort der Ankunft der Füsse zu messen, der Sprung um fast einen Meter länger gerechnet werden würde. Da diese Strecke in 0-75 Sec. zurückgelegt worden ist, betrug die Horizontal- geschwindigkeit mindestens 5:0-75 = 6-6”. Die Horizontalbeschleunigung beim Abstoss muss also nahezu doppelt so gross gewesen sein, wie die Vertiealbeschleunigung, das heisst die Richtung des Abstosses ist gegen den Horizont um wenig mehr als 30° geneigt gewesen. 16. Die Geschwindigkeit beim Weitsprung ist geringer als beim Scehnelllauf. Bei obiger Rechnung ist die Geschwindigkeit eher zu klein als zu gross geschätzt. Aber selbst wenn man die Schätzung weit überschreitet und eine Horizontalgeschwindigkeit von 7.5°® annimmt, die für die an- genommene Dauer des Sprunges eine Wurfweite von 5-6" also eine Sprung- weite von gegen 6.6” ergeben würde, ist die Gesammtbeschleunigung, die der Körper erhält, auffällig klein gegenüber den Geschwindigkeiten, die im Schnelllauf auf ungleich längere Zeit innegehalten werden. Aus der Verticalgeschwindigkeit von 3-75 und der Horizontalgeschwindigkeit von 7.5" setzt sich eine Gesammtgeschwindigkeit von 8-35” zusammen. Diese stellt für den Springer schon eine Maximalleistung vor, während der Läufer die gleiche Geschwindigkeit dreiviertel Minuten lang innezuhalten und während dieser Zeit 400” zurückzulegen vermag. Der Grund dieses Unterschiedes ist leicht einzusehen: Der Läufer hat bei seiner horizontalen Bewegung nur die erlittenen Verzögerungen auszugleichen und den Luftwiderstand zu überwinden, und kann dazu etwa auf je 2” einen neuen Abstoss nehmen, so dass sich seine an sich kleinere Arbeitsleistung auf eine Reihe einzelner Stösse vertheilt. Führt er jeden dieser Stösse mit der grössten möglichen Kraft aus, so erlangt er die maximale Geschwindigkeit von fast 10”. Es ist klar, dass der Springer, der auf einen einzigen Abstoss angewiesen ist, nur eine geringere Gesehwindigkeit erzielt. Der Unterschied würde noch grösser sein, wenn der Läufer bei jedem Schritte die volle Sprungkraft des Beines entfalten könnte, was ihm aber nicht möglich ist, weil er nicht mit der vollen Sohle auftritt. Immerhin ist die Thatsache auffallend, dass ein Schnellläufer, der bei höchster Geschwindigkeit plötzlich an einen 2” hohen Absturz käme, ehe er den Boden erreichte weiter geflogen sein würde als der beste Weitspringer springen kann. 22” 340 R. pu Bois-ReymonD: ZuR PHYSIOLOGIE DES SPRINGENS. 17. Die Einwirkung des Luftwiderstandes.. Im Vorhergehenden ist die Wirkung des Luftwiderstandes nicht berücksichtigt worden. Nach der vorausgegangenen Berechnung der maximalen Geschwindigkeiten lässt sich zeigen, dass der Luftwiderstand auf die Sprungbewegung keinen merklichen Einfluss hat. Die Grösse des Luftwiderstandes für ebene Flächen ist nach Ö. Lilienthal nach der Formel W=0.13.f.v?” zu berechnen, wo W der gesuchte Widerstand, f die Oberfläche 0-13 ein empirischer Factor und v die Geschwindigkeit ist. Die Oberfläche des menschlichen Körpers beim aufrechten Stehen wird zu etwa 0.54% angenommen. Setzt man diesen Werth und die erhaltene Geschwindigkeit von 7-5” in die Formel ein, so erhält man W=0-13.0-.5.56-2=3-65. Da nun beim Sprung der Körper stets eine viel kleinere Stirnfläche bietet als im Stehen, und der Luft- widerstand an der convexen Oberfläche des Körpers viel kleiner sein muss, als an einer ebenen Fläche, darf man diesen Werth sicher um wenigstens ein Drittel herabsetzen, und annehmen, dass der Luftwiderstand beim Sprung etwa 2 bis 2.588 gleichkommt. Auf eine Strecke von 6” würde also die Gesammtarbeit, die der Luftwiderstand verrichtet, 12 bis 18"&s betragen. Die Energie, mit der sich der Körper vorwärts bewegt, bemisst sich nach der Formel k = en, in der k die Energie, m die Masse, v die Geschwindig- keit für einen Körper von 80% und eine Geschwindigkeit von 7.5” zu 80 . 56 2 zurückgelegten Meter Weges 2 bis 2-5®= abzuziehen sein. Man sieht, dass dies keinen merklichen Unterschied in der Flugbewegung hervorbringen würde. Thatsächlich ist auf den Augenblicksbildern an dem Theil der Horizontalbewegung, der frei in der Luft stattfindet, keinerlei Verzögerung erkennbar. —= 225%. Von dieser Anfangsenergie würden auf jeden im Sprunge Ueber Ungleichförmigkeiten in der Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Nervenprineips, nach Untersuchungen am marklosen Riechnerven des Hechtes. Von Georg Fr. Nicolai, Assistent am physiologischen Institut der Universität zu Berlin. (Hierzu Taf. XII—XIV.) I. Einleitung und Rechtfertigung gegen Hermann. Schon bald, nachdem Helmholtz (1850) gezeigt hatte, dass das Nervenprincip sich überhaupt mit messbarer Geschwindigkeit fortpflanze, begann man sich mit der Frage zu beschäftigen, ob denn diese Geschwindig- keit gleichförmig oder ungleichförmig sei, indem man sich der Bedeutung wohl bewusst war, welche die Beantwortung dieser Frage für unsere Kenntniss vom Wesen der Erregung hat. Wohl der Erste, der experimentell sich mit der Angelegenheit beschäftigte, war Hermann Munk (1860), der eine Ungleichförmigkeit zu finden glaubte, wobei er es unentschieden liess, ob seine Versuche mehr für eine Beschleunigung oder mehr für eine Ver- zögerung zu sprechen scheinen. Fast alle späteren Forscher, die sich mit dieser Frage beschäftigten — Rutherford (1868), Rosenthal (1883), Efron (1885), Cousot (1897) — fanden ähnliche Unterschiede und deuteten sie in verschiedener Weise; doch kann ich diese Arbeiten wohl mit Recht übergehen, weil sie, was die Versuchstechnik anlangt, von zwei jüngst er- schienenen experimentellen Untersuchungen — von R. du Bois-Reymond (1599, 1900) und Engelmann (1901) —, die zu dem entgegengesetzten Resultat kommen, durchaus übertroffen werden und damit wohl als erledigt gelten dürfen. 342 GEORG Fr. NIcoLar: Im Jahre 1900 versuchte R. du Bois-Reymond am Ischiadicus des Frosches mit Hilfe der Pouillet’schen Zeitmessung zu zeigen, dass die Erregung sich mit gleichförmiger Geschwindigkeit fortpflanze. Diese Resultate wurden von Engelmann bald darauf mit Hülfe seines Pantokymographions und der graphischen Methode bestätigt. Ich selbst hatte für den Olfactorius als wahrscheinlich angegeben, dass die centralen Partien besser leiten, als die peripheren, und dass bei Reizung mit dem constanten Strom an der Kathode eine Zone verminderter Leitungsfähigkeit entsteht, eine Vermuthung, die sich im Ganzen als richtig erwiesen hat. Doch sind die so gefundenen Unterschiede so klein, dass sie mit unseren Hülfsmitteln am Froschnerven nicht hätten nachgewiesen werden können, auch wenn sie dort vorhanden wären. Ueberhaupt erscheint es wohl ausgeschlossen, dass — nach den exacten Arbeiten du Bois’ und Engelmann’s — durch weiteres Ex- perimentiren am Nervmuskelpräparat eine irgendwie nennenswerthe Förderung unseres Wissens in dieser Hinsicht zu erwarten sein könnte. Vor Allem erscheinen die Curven Engelmann’s in ihrer unmittelbaren Anschaulich- keit ungemein beweisend. Es ist kein Zweifel, dass Erregungen, welche verschiedenen Stellen des Nerven zugeführt sind, am Muskel nach Zeiten, welche diesen Strecken annähernd proportional sind, eintreffen. Aber schon 1901 habe ich aus theoretischen Gründen gezeigt, dass, abgesehen von der Unmöglichkeit, an dem viel schneller reagirenden Froschnerven feine Unter- schiede zu beobachten, auch dann, wenn wir voraussetzen, dass die Messungen mit absoluter Genauigkeit angestellt seien, mit diesen experimentellen Er- gebnissen keineswegs gesagt ist, dass nun auch wirklich die Geschwindigkeit eine gleichförmige sei, und ich habe ferner gezeigt, dass es überhaupt un- möglich ist, am Nervmuskelpräparat die Frage zu entscheiden, ob die Erregung sich mit wachsender oder verminderter Geschwindigkeit fortpflanzt, weil es unzulässig ist, bei Reizung in A und 2 (Fig. 1) die Differenz der Latenzzeiten allgemein gleich der Zeit zu setzen, welche die Erregung im zweiten Falle zur Zurücklegung der Strecke zwischen den beiden Reiz- punkten gebraucht hat. Wenn nun Hermann (1901, S. 189). sagt, dass die Ausmessung nach Latenzzeiten „auch dann zulässig sei, wenn die Leitungsgeschwindigkeit un- gleichmässig ist, aber an jeder Stelle nur von der Beschaffenheit jedes durch- laufenen Nervenelements abhängt“, so ist dies ohne Weiteres als selbst- verständlich zuzugeben. Es ist sogar zu bemerken, dass die Methode, was Hermann leugnet, auch zulässig wäre, wenn die Geschwindigkeit nur von der Länge der durchlaufenen Strecke abhängt. Auch dann genügten die durch das Experiment gegebenen Daten völlig, um die wirkliche Ge- schwindigkeitscurve zu construiren; denn wenn z. B. in dem Falle, dass die Geschwindigkeit nur von der Länge der durchlaufenen Strecke abhängt, ÜNGLEICHFÖRMIGKEITEN IN DER FORTPFLANZUNGSGESCHWINDIGKEIT, 343 die Latenzzeiten nach Reizung in den Punkten A, B und C (s. Fig. 1), die gleich weit von einander entfernt liegen mögen, bezw. 4. = 9, 4, =8 und %e = 4 betragen, so ist die Strecke AB allerdings nicht in der Zeit Aa — A, = 1 durchlaufen, und BC nicht in der Zeit A, — A. =4; aber es lässt sich zeigen, dass die wirkliche Leitungszeit zwischen A und B = 4 und zwischen B und C = 1 ist. In keinem Falle aber erlauben uns die experimentellen Daten zu entscheiden, ob die Geschwindigkeit sich nach dem Ort oder nach der Länge der durchlaufenen Strecke ändert. Das aber ist es ja vornehmlich, was wir durch das Experiment erst zu erfahren wünschen, und so lange Hermann den — meiner Meinung nach nicht möglichen und von ihm auch gar nicht versuchten — Nachweis dafür erbringt, dass die Daten des Froschexperimentes uns auf irgend eine Weise eine Ent- scheidung darüber ermöglichen, . ob die wechselnde Geschwindig- keit eben an jeder Stelle nur von der Beschaffenheit des durch- laufenen Nervenelements ab- hängt oder ob sie an sich mit wachsender oder verminderter Geschwindigkeit erfolgt, so lange muss meine frühere, angegriffene Bemerkung bestehen bleiben, dass wir aus dem Experimente am Froschnerven an sich es nicht ersehen können, welche von den beiden Möglichkeiten die thatsächlich zutreffende ist, und dass die Methoden daher für diesen Zweck durchaus unbrauchbar sind. Aber nicht einmal dann giebt uns die Methode der Differenzbestimmung nach dem Helmholtz’schen Princip Aufschluss über die thatsächliche Ge- schwindigkeit, wenn die einzelnen Differenzen im Experiment gleich sind. Die gegentheilige Ansicht, welche Hermann! mir zuschreibt, habe ich schon 1901 zurückgewiesen, wie aus meiner Besprechung der du Bois’- schen Resultate? deutlich hervorgeht. Die Kritik Hermann’s wird meinen Ausführungen insofern nicht völlig gerecht, weil er dabei von dem Gesichts- punkt ausgeht, als habe ich nachweisen wollen, dass man überhaupt aus den Daten einer Differenzbestimmung keine Geschwindigkeitscurve aus- Fig. 1. RO S.189: ZU TSHII: 344 GEORG FR. NIcoLAr: rechnen könne. Davon steht jedoch nicht das Geringste in meiner Arbeit. Ich wollte nur zeigen, dass man die Curve nicht berechnen könne, ohne noch irgend ein anderes Datum zu besitzen. Ein solches Datum (z. B. dass die Geschwindigkeit abhängig vom Ort sei) haben wir nun bei den Nerven nicht, und daher ist die Curve auf alle Fälle völlig unbestimmt. Haben wir aber einmal auf andere Weise ein solches Datum erhalten, dann sind Schlussfolgerungen aus den Differenzbestimmungen allerdings wohl möglich (vgl. was ich weiter unten auf Seite 367 über die Arbeiten du Bois-Rey- mond’s und Engelmann’s sage). So dankenswerth also der von Her- mann erbrachte allgemeine analytische Beweis ist, so ist doch zu betonen, dass dadurch etwas prinzipiell Neues meinen früheren Ausführungen kaum hinzugefügt ist.! Wir sehen also, dass wir auf keinen Fall mit der Differenzmethode weiter kommen können. Um unseren Zweck wirklich zu erreichen, d. h. um etwaige Ungleichförmigkeiten in der Leitung nachzuweisen, müssen wir, wie auch Hermann angiebt, entweder die Fortpflanzungsgeschwindigkeit in beiden Richtungen zu messen, oder aber eine und dieselbe Erregungswelle während ihres Fortschreitens an verschiedenen Punkten zu beobachten ver- suchen. Das eine wie das andere Verfahren führt zum Ziel, aber weder das eine, noch das andere ist am Nervmuskelpräparat ausführbar, und eine Nachprüfung der an diesem Object gewonnenen Resultate mit einwands- freien Methoden dürfte daher erwünscht sein. Unter der jetzt wohl allgemein zugegebenen Voraussetzung, dass das Nervenprineip wenigstens in der Weise mit dem Actionsstrom verbunden sei, dass sie beide gleich schnell vorwärts schreiten, haben wir ein solches Mittel, denn wir können an jeder beliebigen Stelle des Nerven den Beginn des Actionsstroms als Indicator für die fortschreitende Erregungswelle an- sehen und nun sowohl die Helmholtz’sche Methode in beiden Richtungen anwenden, als auch den Actionsstrom an jeder Stelle des Nerven nach Durehschneidung als Längsquerschnittstrom oder besser ohne Verletzung des Nerven als zweiphasischen Actionsstrom am Längsschnitt ableiten. Natürlich könnte man diesen Versuch auch am Froschnerven anstellen, ! Ich möchte hier gleich anfügen, dass die auf Seite 78 gegebenen Zeichnungen, die eben nur Schemata sein sollten, in den Verhältnissen durchaus nicht correct sind; es wäre richtiger gewesen, die für gleichförmige Beschleunigung gültige Geschwindig- keitscurve entweder nicht als gerade Linien, oder aber die mittlere Geschwindigkeit (Totalgeschwindigkeit) nicht in die Mitte zu zeichnen. Durch beide Hülfsmittel war die Gefahr bedingt, den mathematisch nicht Geschulten eventuell nur zu verwirren. Als Schemata scheinen die vier Zeichnungen als möglichst einfach zu genügen. Nur gegen die Schemata, nicht aber gegen den zu Grunde liegenden Text kann sich Her- mann’s Polemik (Seite 190 #.) richten. Auch hier kann — wie ich erwarten darf mit Zustimmung Hermann’s — alles Gesagte aufrecht erhalten werden. UNGLEICHFÖRMIGKEITEN IN DER FORTPFLANZUNGSGESCHWINDIGKEIT. 345 doch empfiehlt sich die Verwendung eines marklosen Nerven durchaus, weil dann die abgeleiteten Ströme grösser sind und der Nerv auch viel lang- samer (beim Riechnerv von Esox lucius etwa 150Mal langsamer) als der Froschnerv leitet, so dass wir unter sonst gleichen Umständen die in Be- tracht kommenden Zeiten auch etwa 150 Mal genauer bestimmen können. Die folgenden Versuche sind zum grössten Theil im Leipziger physio- logischen Institut am Riechnerven von Esox lucius angestellt. Ich konnte mich dabei des wohl allgemein bekannten Garten’schen Capillarelektro- meters bedienen, wofür ich mich sowohl bei Herrn Professor Hering be- danken möchte, als auch bei Herrn Professor S. Garten, der mir durch seine Hülfe den experimentellen Theil in liebenswürdigster Weise erleichterte. Einige weitere Versuche sind hier in Berlin ausgeführt; Herr Dr. H. Piper war so freundlich, mich zum Theil bei den Ausführungen zu unterstützen, wofür ich auch ihm zu Dank verpflichtet bin. Die Berechnungen habe ich dann ebenfalls hier in Berlin ausgeführt, wo ich am 10. Juni 1904 die Resultate in der Physiologischen Gesellschaft vortrug. Dass sich die Publication dann so lange verzögert hat, liegt zum grossen Theil daran, dass die druckfertige Arbeit mir im vorigen Sommer durch einen Diebstahl abhanden gekommen ist. Leider ging dabei auch ein Theil der Original- eurven, und zwar gerade alle diejenigen, welche zur Reproduction bestimmt waren, verloren. Ich musste daher auf die Reproduction grösserer Curven- reihen verzichten und gebe auf Tafel XII und XIII nur einige Beispiele, wobei ich bemerken möchte, dass sie aus dem oben angegebenen Grunde durchaus nicht als Mustercurven, sondern nur eben als „Durchschnitt“ gelten können. Da im Folgenden der von mir 1901 constatirte, sehr ausgesprochene Einfluss der Temperatur auf die Leitungsgeschwindigkeit als sichergestellt angenommen ist, und darnach unter Umständen, um vergleichbare Werthe zu bekommen, Temperaturcorrectionen ausgeführt sind, muss ich mit wenigen Worten auf die Einwände eingehen, welche neuerdings G. Weiss (1903, S. 36) gegen meine damaligen Resultate erhoben hat. Er leugnet be- kanntlich den Einfluss der Temperatur auf die Fortpflanzungsgeschwindigkeit. Wenn .nun auch sein wesentlichster Einwand, dass man immer den Muskel mitgewärmt habe, für die meisten der bisherigen Untersuchungen zutrifft, so sind doch vor Allem die Arbeiten Verweij’s (1893) auch in dieser Be- _ ziehung einwandsfrei zu nennen, und ich glaube daher, dass auch für den ' Frosehnerven der Einfluss der Temperatur nicht geleugnet werden kann, zumal ich die Versuchsanordnung von Weiss, wie ich auch 1901! aus _ einander gesetzt, nicht für besonders glücklich gewählt halte. Auch wenn man bedenkt, was R. du Bois-Reymond (1900, S. 92f£.), nachdem er ı A.2.0.8.67 und 68. 346 GEORG FR. NIcoLar: Hunderte von Versuchsreihen über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit ge- macht, von dem Werthe einzelner Beobachtungsreihen nach der Pouillet’- schen Methode sagt, wird man den Weiss’schen Einzelbeobachtungen keinen ausschlaggebenden Werth beilegen können. Wie dem aber auch sei, für die Fortpflanzungsgeschwindigkeit im Riech- nerven haben die Weiss’schen sachlichen Einwände keine Bedeutung; hier ist der Einfluss der Temperatur ein so markanter und so leicht nachzu- weisender, dass ein Zweifel überhaupt ausgeschlossen erscheinen muss. Wenn Weiss sagt, dass meine Resultate wahrscheinlich dadurch bedingt seien, dass der Nerv durch Einwirkung tiefer Temperaturen geschädigt war, so ist dem gegenüber auf die in der früheren Arbeit publieirten Protokolle zu verweisen, wonach ein und derselbe Nerv zuerst warm, dann kalt und dann wieder warm untersucht wurde und immer wieder die für die be- treffende Temperatur normalen Werthe gefunden worden sind. Um eine Schädigung kann es sich also unter keinen Umständen handeln oder man müsste unter „Schädigung durch niedere Temperatur“ einen Zu- stand verstehen, der durch Erhöhung der Temperatur wieder ausgeglichen wird; das käme aber auf dasselbe hinaus, was man allgemein unter „Ein- fluss der Temperatur“ versteht, und es bliebe dann nur noch ein über- flüssiger Streit um ein Wort, wobei es ganz zweifellos ist, dass die hier vorliegenden Verhältnisse durch den Weiss’schen Ausdruck weniger gut präcisirt werden. Der Einfluss der Temperatur konnte übrigens auch bei den dieser Arbeit zu Grunde liegenden Versuchen jedes Mal, wenn darauf geachtet wurde, leicht und deutlich wahrgenommen werden. II. Versuchsanordnung, insbesondere die Gabelmethode. Der in üblicher Weise präparirte Nerv lag in einer feuchten Kammer bei einigermaassen constanter Temperatur, die aber vor jeder Reizung be- sonders notirt wurde. Registrirt wurde die negative Schwankung auf photo- graphischem Wege. Auf dem Film, auf dem die Zeit in der üblichen Weise verzeichnet war, markirte sich der Reizmoment ohne jede. merk- liche oder hier in Betracht kommende Latenz (vgl. Garten 1901). Der Beginn der negativen Schwankung, der sich im Bilde als Herauf- oder Heruntergehen der Curve markirte, ergab dann den Moment, in welchem das Nervenprineip den Punkt passirte, welcher der betreflenden ableitenden Elektrode auflag. Der Abstand zwischen beiden Punkten ergab die Leitungszeit und der Quotient dieser Leitungszeit in den am Nerven gemessenen Weg ergab sodann die Totalgeschwindigkeit. Da die Total- geschwindigkeit im Hechtnerven eine Function der Temperatur ist, und ‚die Temperatur um weniges, meist höchstens um einen Grad schwankte, ÜNGLEICHFÖRMIGKEITEN IN DER FORTPFLANZUNGSGESCHWINDIGKEIT. 347 wurden von vornherein die so ermittelten thatsächlichen Geschwindigkeiten, um sie in brauchbarer Weise mit einander vergleichen zu können, für jeden Versuch auf eine gemeinsame mittlere Temperatur reducirt. Die Berechtigung und Nothwendigkeit dieser Methode habe ich schon früher nachgewiesen (Nicolai 1901, S. 74). Der Reiz wurde zum Theil durch Inductionsöffnungsschläge, zum Theil durch Schliessungen des constanten Stromes, beide Male in absteigender \ IQIIIIISE Fig. 2. Schema der Elektrodenanlage. A, B, N, O = unpolarisirbare Elektroden; ©—M = Platinelektroden mit Hg-Näpfen; BR = Rand der feuchten Kammer, der ein Glasdeckel aufliegt; S = Olfactorius (mit bindegewebigem Theil); 7 = Thermometer. Richtung, erzeugt. Im ersteren Falle wurden entweder unpolarisirbare Thon- elektroden oder Platinelektroden verwendet, letztere jedoch nur dann, wenn die grosse Gesammtzahl der Elektroden (bis zu 14) die Anbringung von Thonstiefeln unmöglich machte. Bei der Applicirung des constanten Stromes wurden immer unpolarisirbare Elektroden verwendet, doch konnte dann die Gesammtzahl der Elektroden nicht über acht gesteigert werden. Abgeleitet 348 GEORG ER. NIcoLAL: wurde immer mit unpolarisirbaren Elektroden. Bei den Reizungen mit Inductionsströmen, bei denen für die Reizung Platinelektroden angewendet wurden, konnten daher Reiz- und Ableitungselektroden nicht mit einander vertauscht werden. Die Platinelektroden lagen dabei meist, wie Fig.2 zeigt, in der Mitte, während vier unpolarisirbare Elektroden an beiden Enden des Nerven zur Ableitung dienten. Der Wechsel wurde in allen Fällen so vollzogen, dass der Nerv in seiner feuchten Kammer von vornherein auf der betreffenden Anzahl von Elektroden auflag und die zum Reizapparat oder Capillarelektrometer führenden Leitungen ausserhalb der Kammer an die betreffenden Elektroden durch geeignet angebrachte Commutatoren an- geschlossen wurden. Als Commutatoren dienten, wie in der Figur schematisch angedeutet, für die Platinelektroden kleine Quecksilbernäpfchen, in welche die amalgamirten Kupferdrähte gesteckt werden konnten. Für die un- polarisirbaren Elektroden wurde der Wechsel dadurch vollzogen, dass der am Kupferdraht befestigte amalgamirte Zinkstab in die Zinksulphatlösung der betreffenden Elektrode eingetaucht wurde. In Folge dessen blieb der Nerv während eines ganzen Versuches unverrückbar seinen Elektroden auf- gelagert und es war nur eine am Schlusse vorzunehmende Wege- messung nöthig. Es ist daher selbstverständlich, dass die während des Versuches auftretenden Aenderungen in der Leitungszeit von etwaigen Fehlern in der Wegemessung unabhängig sind. Es wurden daher für alle derartige Fragen immer nur die jedes Mal an ein und demselben Nerven und in ein und derselben Versuchsreihe gewonnenen Resultate verwendet. Wenn hierdurch auch eine der Fehlerquellen ausgeschlossen ist, so ändern sich doch manche anderen Umstände in ungewollter zufälliger Weise, während man eine photographische Curve nach der anderen aufnimmt. Und man muss die Curven successive aufnehmen, weil man nach der bisher geschilderten, üblichen Methode durch jede Curve nur einen einzigen für eine bestimmte Strecke gültigen Zeitwerth erhält. : Es wäre jedoch ausserordentlich wünschenswerth, wenn es gelänge, das Fortschreiten ein und derselben Erregungswelle auf einer einzigen Curve durch mehrfache Ausschläge direct beobachten zu können. Dies wäre nicht nur ausserordentlich viel einfacher und anschaulicher, sondern würde auch die Fehlermöglichkeiten, die durch die unvermeidliche Aenderung der Leitungsgeschwindigkeit in Folge von Absterben, Ermüdung (?), Tempe- raturänderung u. s. w. bedingt sind, in wesentlicher Weise einschränken. Eine solche Methode, die der Einfachheit halber als Gabelmethode bezeichnet werden mag, soll in Folgendem kurz in ihren Bedingungen entwickelt werden. UNGLEICHFÖRMIGKEITEN IN DER FORTPFLANZUNGSGESCHWINDIGKEIT. 349 Wenn die von den Stellen € bis 7 abgeleiteten Elektroden in der Weise gut leitend unter einander verbunden werden, wie es Fig. 3 zeigt, so stehen, wenn der Actionsstrom nach Reizung in 5 während seines wellenförmigen Fortschreitens beispielsweise zwischen C und D eine Potentialdifferenz er- zeugt, fünf äussere Leitungsbahnen zur Verfügung, auf denen sich die Potentialdifferenz ausgleichen kann. Hierfür kommen unter Vernachlässigung des Widerstandes in den gut leitenden Verbindungen im Wesentlichen für den einen Weg der Galvanometerwiderstand, für die vier anderen die Nerven- strecken DE, EF, FG und G@ H sammt ihren unpolarisirbaren Elektroden in Betracht. Da aus leicht ersichtlichen Gründen die Elektroden wohl meist in beziehungsweise gleichen Abständen angeordnet sein werden, kann man die Rechnung bedeutend vereinfachen. Bezeichnet man den Widerstand, der der Länge der Nervenstrecke proportional anzunehmen ist, in den Strecken EF und GH mit a und in den Strecken DZ und #@ mit 5, so ist der innere Widerstand in der die Potentialdifferenz schaffenden Strecke dann ebenfalls gleich a. Nennt man den Widerstand im Galvanometer c, so kann in elementarer Rechnung gezeigt werden, dass die Stromintensität im Galvanometer Pr e*b — ab+2ac+3be beträgt. Setzt man nun den Widerstand des gesammten Nervenstückes CH gleich 1, und berücksichtigt, dass: ist, so kann die Formel nach 5 aufgelöst werden also: ei er3b bi +5c0)— 2b? +2c € oder, wenn der Widerstand im Galvanometerkreis gleich dem Widerstand des in Betracht kommenden Nervenstückes angenommen wird: e-35 ER =a2 350 GEORG FR. NICOoLAT: Die nach dieser Formel in Fig. 4 gezeichnete Curve bleibt auch dann noch ihrer allgemeinen Gestalt nach annähernd richtig (natürlich abgesehen von der anderen Intensitätseinheit), wenn der Galvanometerwiderstand in nicht gar zu weiten Grenzen varürt wird. Es ergiebt sich aus dieser Curve, die nur für 5 von O bis 0-5 thatsächlichen Möglichkeiten entspricht, dass die Intensität wächst, je grösser 5 und je kleiner mithin « wird. Dieser Befund erscheint auf den ersten Blick paradox, weil für den Grenzfalld = 0-5 und mithin «a = O0 man eigentlich annehmen sollte, dass gar nichts durch’s Galvanometer fliesst, da ja zwei Nebenschlüsse von unendlich kleinem Wider- stand vorhanden sind. Eine kurze — hier jedoch zu weit vom Thema ab- führende — physikalische Ueberlegung zeigt jedoch, dass in diesem Falle thatsächlich, wie es die Rechnung ergiebt, das Maximum der unter den gegebenen Bedingungen überhaupt möglichen Strommenge durch’s Galvano- meter fliesst. Stromstärke 0.1 02 .0.3 04 0.5 Fig. 4. Da in den durch das Galvanometer und die Strom erzeugende Strecke gebildeten Theil des Kreises keine weiteren Widerstände eingeschaltet werden, so ist die Klemmenspannung am Galvanometer durchaus proportional der durchfliessenden Stromintensität und wir können, unter passender Wahl der Einheiten auch setzen die Potentialdifferenz am Galvanometer 35 = 05-20°+2 was wesentlich erscheinen könnte, da es sich um Capillarelektrometerversuche handelt, bei denen, wie man sich auszudrücken pflegt, nicht Stromstärken, sondern Spannungen gemessen werden sollen; doch sind die rechnerischen Ergebnisse nur am Galvanometer nachgeprüft. Es geht also aus diesen Auseinandersetzungen hervor, dass wir in jedem Falle im Stande sind, aus der Elektrodenvertheilung die Grösse der Capillar- elektrometerausschläge zu berechnen. Es ist zu bemerken, dass unter UNGLEICHFÖRMIGKEITEN IN DER FORTPFLANZUNGSGESCHWINDIGKEIT. 351 normalen Versuchsbedingungen und verhältnissmässig günstiger Vertheilung von sechs Elektroden die Ausschläge gegegenüber den Ausschlägen bei der üblichen Ableitung mit nur zwei Elektroden auf etwa !/, ihrer Grösse reducirt werden. Die mehrfachen und verschieden gerichteten’ Stromimpulse, die — beim Fortschreiten der Welle — sich in unübersichtlicher Weise über einander addiren und subtrahiren, lassen sich nun gemäss der obigen Rechnung redueiren und übersichtlich gestalten. Wenn, wie in Fig. 3 angedeutet, die a-Strecken klein, und die 5-Strecken gross angenommen werden, so wird dieselbe Potentialdifferenz beispielsweise zwischen C und D einen be- deutend grösseren Ausschlag im Capillarelektrometer geben, als zwischen D und #. Wählt man a = I" und 5 = 10”, so sind die von der Strecke a gelieferten Capillarelektrometer Ausschläge (proportionale Ausschläge voraus- gesetzt) 6 Mal grösser als die von 5 herrührenden; die letzteren werden also im photographischen Curvenbilde nur in unbedeutender Weise zum Ausdruck kommen und unter Umständen vernachlässigt werden dürfen. Fig. 5. Wir können nun allerdings a nicht beliebig klein machen, denn da die Anstiegszeit des Stromes, wie wir seit den Untersuchungen Garten’s (1903, S. 19f.) genau wissen, im Mittel 0-02 bis 0-04” beträgt, so werden wir erst bei Strecken, deren Länge etwa in 0-03” durchlaufen wird, das ist bei kühler Temperatur, bei Strecken von etwa 3 "= Länge, das Maximum des Ausschlages erwarten können. Nun wird aber bei Verkürzung der zwischen den Elektroden liegenden Strecke, wie schon Garten hervor- gehoben hat, die zweite Phase flacher, und was hier hauptsächlich in Be- tracht kommt, die Curve nähert sich nach sehr kurzer Zeit wieder einer Geraden. Fig. 5 zeigt dies Verhalten bei abnehmender Elektrodenzwischen- strecke in den Bildern I bis IV. Die Elektrodenzwischenstrecken verhalten sich in Curve I wie 1:1, in der Öurve II wie 1:4, in der Curve III wie 1:8, in der Curve IV wie 1:16 und wir sehen, dass trotz der Grösse des Ausschlages in I das Einsetzen ‚ der dritten Phase bei 3 sich durchaus nicht scharf in der Curve abhebt; je verschiedener man dann die Länge der Elektrodenzwischenstrecken macht, desto deutlicher und schärfer setzt die dritte (ebenso wie auch die zweite) 352 GEORG FR. NICOLAT: Phase ein. Trotz der verhältnissmässigen Kleinheit der Ausschläge sind solche Curven für Geschwindigkeitsbestimmungen natürlich viel besser zu benutzen. T'hatsächlich können wir praktisch mit den Elektroden so nahe an einander rücken, als es technisch überhaupt möglich ist, etwa auf die Entfernung von 1 "=, Es ist des Weiteren nicht zu vergessen, dass jedes Mal, wenn die Er- regungswelle eine Elektrode passirt, sie ausser dem Stromimpuls, der die gezeichnete Curve veranlasst, noch einen umgekehrten Stromimpuls aus- sendet, dessen Intensität im Capillarelektrometer der Länge der an die betreffende Elektrode angrenzenden Nervenstrecke umgekehrt proportional ist (proportinal gemäss der in Fig. 4 dargestellten Function). Da diese Ströme nur die Grösse, nicht aber die Form der Curve verändern, war es nicht nöthig, sie bei der Curvenconstruction in Fig. 5 zu berücksichtigen. Wir sehen also, dass, falls die Elektroden etwa in der angedeuteten Weise angelegt sind, sich die Momente, in denen die Erregung C, E und @ passirt, in der Curve durch Hinaufgehen (in unserem Falle), wenn sie D, # und # passirt, durch Hinabgehen deutlich markiren. Wir haben also sechs Zeitmessungen und können durch nachfolgende Wegemessungen aus einer Curve sechs Geschwindigkeiten ausrechnen. Da zwei Elektroden immer sehr nahe an einander liegen, kommen praktisch immer nur drei Geschwindigkeits- messungen in Betracht. Auf Tafel XII ist eine solche mit der Gabelmethode gewonnene Curve in photographischer Reproduction wiedergegeben. Darunter sind die drei Curven, aus denen sie zusammengesetzt ist und in die sie zu analysiren wäre, einzeln verzeichnet, die ersten beiden Längs-Längsschnittströme, die dritte ein Längs-Querschnittstrom. Die Curven sind so angeordnet, dass die Reizmomente (an der Stelle der durchgehenden Linie) genau über einander liegen. Der Film lag auf dem Engelmann’schen Pantokymo- graphion und die Zeitabseissen sind, wie die (nur auf der untersten Curve reproducirte) Stimmgabelcurven beweisen, bei allen vier Curven, so weit man messen kann, absolut gleich. Die beiderseits mit Pfeilspitzen ver- sehenen Linien weisen darauf hin, dass sich die Abhebungsmomente bei der Gabelmethode thatsächlich im richtigen Augenblick markiren mit Ab- weichungen, die an Grösse die Fehler kaum übertreffen, die bei der photo- graphischen Registrirung des Actionsstroms überhaupt unvermeidlich sind. Im Uebrigen zeigt die Curve, um wie viel der Capillarelektrometerausschlag bei der Gabelmethode verkleinert ist. Leider sind diese Berechnungen erst angestellt, nachdem bereits ein grosser Theil der Curven gewonnen war. Aus Furcht vor der scheinbar schädlichen, guten Nebenschliessung in den beiden nicht gerade von der Stromwelle durchflossenen a-Strecken (vgl. oben 8. 350) waren sehr kleine ÜNGLEICHFÖRMIGKEITEN IN DER FORTPFLANZUNGSGESCHWINDIGKEIT. 353 Elektrodenabstände immer vermieden worden, und in den so gewonnenen Photogrammen überschneiden sich die einzelnen Wellen zum Theil nicht unbeträchtlich; für absolute Messungen sind diese Curven daher nur mit Vorsicht zu verwenden, und sie sind diesmal auch nur als Controle benutzt und bei den später mitzutheilenden Resultaten überhaupt nicht berück- sichtigt. Dass dagegen gerade diese Curven über andere Fragen einen recht brauchbaren Aufschluss geben, wird in Abschnitt V, (8. 371 u. 377) aus einander zu setzen sein. Man kann übrigens unter allen Umständen für jeden Zweck brauchbare Curven erhalten, wenn man nur zwei Elektroden- paare verwendet, denn dann ist es möglich, die zwischen den Elektroden- paaren liesende 5-Strecke so gross zu machen, dass die beiden Curven durchaus unabhängig von einander auftreten. (Vgl. die Reproduction einer solchen Curve auf Taf. XII, Fig. 2.) Man kann diese Gabelmethode in verschiedenartigster Form modificiren. Eine für manche Fälle recht brauchbare Form ist die in Fig. 6 abgebildete, wobei drei Elektroden eine Gabel bilden und eine Elektrode einzeln liest. Man erhält drei einphasige Ströme, deren Anfangspunkte recht deutlich zu er- kennen sind. Schliesslich mag gleich hier darauf hingewiesen werden, dass sich die Gabelmethode offenbar sehr gut dazu eignet, um das Decrement des Actions- stromes zu demonstriren. Alle Figuren auf den Tafeln XII und XIII zeigen die Erscheinung des Kleinerwerdens im ausgesprochensten Maasse, vor Allem sieht man aber auch in den Üurven, bei denen nur 2 Paar Ableitungselek- troden verwendet wurden, ausserordentlich deutlich, dass die zweite Phase an der entfernteren Elektrode regelmässig nicht mehr nachweisbar ist. III. Fehlerquellen. In Bezug auf die Grösse und Ausmessung der Fehlerquellen kann im Allgemeinen auf das in meiner früheren Arbeit! Gesagte verwiesen werden; nur in Bezug auf die Wegemessung ist einiges nachzutragen. WieR. du Bois- Reymond (1900, S. 76) ganz richtig bemerkt, kommt wahrscheinlich als 1A. 0:18:70. Archiv f. A.u, Ph, 1905. Physiol, Abthlg. Suppl. 23 354 GEORG FR. NICcoLAI: Weg nicht die Länge des Nerven, sondern die der Nervenfibrillen in Be- tracht. Diese Länge ist aber nicht ohne Weiteres proportional der Länge des Nerven, sondern hängt auch noch von seiner Spannung ab, welche beim markhaltigen Nerven auch die Fontana’sche Bänderung, beim mark- losen zwar nicht diese, aber — s. Bethe (03, S. 357) — die Länge der Neuro- fibrillen beeinflusst. Da es nun ganz unmöglich ist, bei Verwendung einiger- maassen zahlreicher Elektroden — es wurden deren bis zu 14 an dem 3 cm langen Nerven angebracht — die Spannung in genügender Weise zu reguliren, so genügt es nicht, wie es Anfangs geschah, den auf seinen Elektroden aufliegenden Nerven vergrössert zu photographiren, und dann die einzelnen Strecken im Projectionsbilde auszumessen. Es wurde daher meistens, später immer, sofort, nachdem der Versuch beendet war, mit einem in chinesische Tusche getauchten, feinen Pinsel der Nerv an den Stellen, an denen er den Elektroden auflag, punktförmig bezeichnet und dann in physiologischer Kochsalzlösung schwimmend entweder direct oder photographisch ausgemessen. Doch genügt die direete Ausmessung schon vollkommen, denn seit Einführung dieser Methode sind die Einzelresultate weitaus exacter und unter sich übereinstimmender geworden, was ein durchaus genügender indirecter Beweis dafür zu sein scheint, dass in der That die in den Fibrillen durchlaufenen Wege und nicht die makroskopische Länge des Nervenstückesin Betracht kommt!; dabei ist aber weiter zu bedenken, dass jüngst P. Weiss (1899) gezeigt hat, dass die Reizbarkeit direct von der Spannung abhängig ist. Wäre die Reizleitung ebenfalls von der Spannung abhängig, so könnten die Resultate durch die Ausgleichung der Spannung bei der Längenmessung durchaus nicht besser werden, und dies Ergebnis berechtigt uns beiläufig noch zu der Annahme, dass die Reizleitung von der Spannung unabhängig ist und dass auch in dieser Beziehung Erreg- barkeit und Leitungsvermögen etwas durchaus Differentes sind. IV. Methodik. Mit dieser Versuchsanordnung können wir die Totalgeschwindigkeit in jedem beliebigen Stück des Nerven mit Fehlern bestimmen, die entsprechend der genaueren Wegemessung. im ungünstigsten Falle 6 Proc. für die absoluten \Werthe nicht überschreiten dürften. Für die relativen Werthe eines Ver- suches sind wie früher die höchsten möglichen Fehler mit 2 bis 3 Proc. zu veranschlagen.” Welche Strecken wir zur Messung auswählen, ist an sich gleichgültie. Man kann beispielshalber bei Verwendung von 8 Elektroden (siehe Fig. 7) entweder ! Vgl. die von Jenkins und Carlson an den Nerven von Ariolimax bei Deh- nung gewonnenen Resultate. Viel. N160la1.1901,. 18. 72: ÜNGLEICHFÖRMIGKEITEN IN DER FORTPFLANZUNGSGESCHWINDIGKEIT. 8355 1. von 4B ableiten und dann nach einander inDC, ED, FE, GEF, HG (und zur Controle noch einmal rückwärts) reizen, dann von @ H ab- leiten und dann nacheinander in AB, BC, CD, DE, EF (üund zur Controle noch einmal rückwärts) reizen, oder aber 2. in AB reizen und dann nach einander von DG, ED, FE, GEF HG (und zur Controle noch einmal rückwärts) ableiten, darauf in 7@ reizen und dann nach einander von AB, BC, OD, DE, EF (und zur Controle noch einmal rückwärts) ableiten, oder endlich: 3. in AB reizen und von CD ableiten, darauf in 3C reizen und von DE ableiten, in C.D reizen und von Z F ableiten, in DZ reizen und von 7@ ableiten, in #F reizen und von GH ableiten, darauf auch hier jedes Mal Reiz- und Ableitungselektroden mit einander vertauschen. Man sieht also, zu einer in dieser Weise systematisch durchgeführten Versuchsreihe hätten 50 Einzelversuche gehört, doch sind z. B. niemals alle Controlversuche angestellt worden, da ein Controlversuch über die gesammte Strecke an sich genügte, und weil es andererseits meist darauf ankam, von jedem Nerven möglichst vielseitige Resultate zu erhalten. Die grösste Fig. 7. Zahl der an einem Nerven ermittelten Werthe beträgt 23. In Bezug auf die Totalgeschwindigkeit konnten also nach Methode 1 oder 2 mit 8 Elek- troden 10 verschiedene Zeit- und Wegbestimmungen vorgenommen werden. Bei Verwendung von bis zu 14 Elektroden war es möglich an einem Nerven 22 verschiedene Werthe zu gewinnen, von denen je 11 bei Reizleitung nach ein- und derselben Richtung erhalten und daher direct unter einander vergleichbar sind. Die erste dieser Methoden entspricht dem Muskelversuch, nur dass hier die Leitung in beiden Richtungen untersucht werden konnte. Die zweite Methode erlaubt, die Erregungswelle selbst während ihres Fort- schreitens an verschiedenen Stellen abzufangen, und die dritte Methode stellt die Leitfähigkeit verhältnissmässig kurzer Strecken direct fest. Endlich ist als prineipiell verschieden hiervon die Seite 348 ff. geschilderte Gabel- methode zu erwähnen. Auf diese Weise sind für verschiedene Strecken des Nerven, deren Länge und Lage bekannt ist, die Zeiten ermittelt, welche zwischen dem Moment der Reizung und dem des Beginns der negativen Schwankung ver- flossen sind. Dividiren wir den Weg durch die Zeit, so erhalten wir die 23* 356 GEORG FR. NICOLAT: mittlere, oder besser gesagt, die Totalgeschwindigkeit. Wenn wir die wirk- liche Geschwindigkeit in jedem Moment daraus ableiten wollen, so müssen wir uns Folgendes überlegen: einmal ist es möglich, dass der Reiz sich seiner Natur nach Anfangs langsamer und dann immer schneller aus- breitet, bezw. umgekehrt; wir werden dann für die längeren Strecken un- verhältnissmässig kleine Zeiten erhalten. In schematischer Weise zeigt dies Nr.Ia des gegenüberstehenden Schemas, in dem AZ den Nerven und die über demselben stehenden Zahlen die Zeiten bezeichnen, in denen die betreffen- den Strecken thatsächlich durchlaufen werden, wenn in A bezw. B bezw. C bezw. D gereizt und jedes Mal in # abgeleitet wird. In der zweiten Columne sind dann die jedesmaligen Summen verzeichnet, welche den bei den Versuchen ermittelten Zeiten entsprechen würden. Nr.lla erläutert den Fall, dass die Geschwindigkeit in jedem Nervenstück nur von der Beschaffenheit der Leitfähigkeit desselben abhängt. Wir sehen, dass, obgleich auch hier die Leitung thatsächlich mit beschleunigter Geschwindigkeit erfolgt, umgekehrt wie im vorigen Falle bei längeren Strecken unverhältnissmässig viel grössere Zeiten gemessen werden. Es fragt sich nun nur, ob, wenn wir bei der Messung Zeiten finden, die den bezüglichen Strecken proportional sind, dies mit. Nothwendigkeit ein Ausdruck dafür ist, dass die Geschwindigkeit eine gleichtörmige sei. Es ist aber leicht einzusehen, dass sich die beiden oben genannten Factoren, welche die Leitungsgeschwindigkeit beeinflussen können, unter Umständen sehr wohl so combiniren werden, dass eine gleichmässige Geschwindigkeit vorgetäuscht wird. An einem groben Schema ist dies in Nr. IIIa des Schemas dargestellt; darin bezeichnen die unterhalb des Nerven angegebenen Zahlen die verhältnissmässigen Zeiten, in denen an den be- treffenden Stellen des Nerven ein Reiz sich über die gleiche Strecke fort- pflanzt (also den reciproken Werth der Leitfähigkeit), während die ganz oben stehenden Zahlen die Zeiten bezeichnen, welche der Reiz seiner Natur nach braucht, um nach einander gleich lange Strecken zu durchlaufen (dies sind also die reciproken Werthe der Ausbreitungsgeschwindigkeit). Aus der Combination dieser beiden Grössen ergeben sich, wie leicht nach- zurechnen, die jedes Mal rechts hinter den Gleichheitszeichen stehenden thatsächlichen Leitungszeiten, deren Summe die rechts in der zweiten Columne stehenden Zahlen darstellen, die sich verhalten wie 1:2:3:4, was den Befunden du Bois-Reymond’s und Engelmann’s entsprechen würde, trotzdem sich die thatsächlichen Geschwindigkeiten im ersten und im vierten Stück verhalten wie 1:20. Bedenken wir nun, dass die Ge- nauigkeit, mit der die Zeiten am Froschnerven ermittelt werden können, eine nicht gar zu grosse ist (bei du Bois-Reymond schwanken die Einzel- bestimmungen um über 100 °/,), so müssen wir zugeben, dass die gegen- seitige Compensirung der beiden Factoren nicht einmal eine durchaus genaue UNGLEICHFÖRMIGKEITEN IN DER FORTPFLANZUNGSGESCHWINDIGKEIT. 357 wirkliche Leilungszeiten in den einzelnen abgelesene Latenzen graphische Strecken = Summe der Zeiten Darstellung Fortpflanzungsgeschn'indigleit: I I nur ı.d.durchlaufenen. Strecke abhängig (Beschleunigung ) 772) Pliysiologischer Richtung 7 A mphysiol.R. r 7 15 8 Db in unphysiol.R. 12 2 14 1 2 15 E D (5 B A! l 178 somohl von der Strecke [+ Beschleunigung) \ als auch vom Ort abhängig [central schneller )i (8) (#) (2) (1) 16 = 1.16 aA inphysio.R. 29222: ° 4-6=32 48 = 3-16 [5-8 = #0 | #-4#=16 64= 4 16 Pe (3) B (H Ge (TE 40 b in unphystol.R. 52 50 41 358 (GEORG FR. NICOLAL: zu sein brauchte, um uns über selbst beträchtliche Aenderungen der Leitungsgeschwindigkeit zu täuschen. Die Möglichkeit einer Täuschung fällt aber fort, wenn wir in beiden Richtungen untersuchen. | In dem Falle von Nr. I (wenn die Geschwindiekeitsänderung durch die Natur der Ausbreitung bedingt ist) werden wir — in welcher Richtung wir auch die Leitfähigkeit bestimmen — für gleiche Strecken gleiche Zeiten bekommen. Dies ist dargestellt in Schema Nr. Ia und b. Ist aber die Leitfähigkeit an verschiedenen Strecken des Nerven eine verschiedene, so bekommen wir durchaus andere Werthe, wenn wir in der einen Richtung untersuchen, wie wenn wir in der anderen Richtung untersuchen. In Schema Nr. IIb sind die Zahlen dargestellt, die wir finden würden, wenn wir den Nerven AE in der Richtung 2A prüften. Dasselbe gilt für Nr. IIIb. In der dritten Columne sird dann die Schemata in der Weise graphisch dargestellt, dass die Abscissen die bei der Differenzmethode in Betracht kommenden Nervenstrecken, die Ordinate die für die zugehörigen Strecken ermittelten Zeiten bezeichnen. Ein Vergleich mit den zugehörigen Zahlenschematen zeigt gleichfalls sehr anschaulich, dass man aus der Form der Curve durchaus nicht ohne Weiteres auf Beschleunigung oder Ver- langsamung oder Gleichförmigkeit schliessen kann. Wenn nun Hermann (1902, S. 193) sagt, dass sich die Verhältnisse nicht vollständig ermitteln liessen, falls die Geschwindigkeit sowchl vom Ort, als auch von der Länge der zurückgelesten Strecke abhängt, so möchte ich nur ganz kurz darauf hinweisen, dass man am bequemsten mit Hilfe der dritten Methode (siehe oben S. 355f.) die Abhängigkeit vom Ort er- mitteln kann. Denn wenn man die einzelnen kleinen Intervalle gleich gross macht, so sind die gewonnenen Leitungszeiten direct proportional den reciproken Werthen der Leitfähigkeit in der betreffenden kleinen Strecke. Hat man aber einmal diese Curve erhalten, so kann man mit ihrer Hilfe _ aus den nach der ersten und zweiten Methode gewonnenen Zahlen natur- gemäss sehr leicht die Abhängigkeit von der Länge der durchlaufenen Strecke berechnen. V. Resultate. Um die Resultate anschaulich zu machen, sind sie in ein Coordinaten- system eingetragen, wobei die Abscisse immer den Weg und die Ordinate immer die jedes Mal gemessene Zeit bezeichnet. Die so gefundenen Punkte sind dann, soweit sie am selben Nerven, in derselben Richtung und zeit- lich direct hinter einander ermittelt worden sind, unter einander verbunden. Aus diesen Einzelwerthen ist die Durchschnittscurve in der Weise ermittelt, dass — von Millimeter zu Millimeter — aus den graphisch interpolirten Werthen der jedesmalige Durchschnitt berechnet wurde. ÜUNGLEICHFÖRMIGKEITEN IN DER FORTPFLANZUNGSGESCHWINDIGKEIT. 359 Wenn wir in Taf. XIV, Fig. 17 die Linien betrachten, welche die directen Resultate von zehn mit dem Inductionsstrom angestellten Experimenten . darstellen, so sehen wir, dass dieselben in ausserordentlich verschiedener Höhe über der Abscisse verlaufen und dass sie nicht unbeträchtlich von der Durchschnittscurve abweichen. Noch auffälliger tritt dies bei den auf Taf. XIV, Fig. 18 eingezeichneten Curven hervor, welche die mit dem constanten Strom angestellten Versuche darstellen. Es könnte unter diesen Umständen auffällig erscheinen, dass die Durchschnittseurve dennoch eine fast gerade Linie darstellt, was bei so grossen Abweichungen nichts als Zufall wäre. Aber diese Streuung der Curven ist ja gar nicht etwa ein Ausdruck der Ungenauigkeit für die Methode, sondern nur dafür, dass die Experimente unter verschiedenen Bedingungen angestellt worden sind, z. B. bei Tempe- raturen von 8° und 18°. Ich habe aber früher gezeigt, dass die Leitungs- geschwindigkeit durchaus von der Temperatur abhängig ist, und da anderer- seits die Nerven verschiedener Hechte auch etwas verschieden schnell leiten, so darf uns diese Verschiedenheit in der absoluten Grösse nicht \Wunder nehmen, und wenn wir die wirklichen Messungsfehler erkennen wollen, so müssen wir die einzelnen, an je einem Nerven und bei gleicher Temperatur gewonnenen Curven mit einem passend ausgewählten Coefficienten multi- plieiren und sie dadurch auf eine mittlere Leitungsgeschwindigkeit reduciren. Auf Taf. XIV, Fig. 17, in der oberen Gruppe sind dieselben Curven wie in Fig. 18, aber nach dieser Reduction graphisch dargestellt und zwar wurde dabei der Reductionsfactor so gewählt, dass die Verbindungslinien von Anfangs- und Endpunkt je einer Curve sich in einem einzigen Punkte, der natürlich auf der Durchschnittslinie liegen muss, schneiden. Die jetzt noch vor- handenen Abweichungen bedeuten in der That zufällige Messungsfehler, und man sieht, dass sie verhältnissmässig klein sind. Weichen schon alle diese Einzeleurven nicht beträchtlich von der Geraden ab, so sehen wir, dass die Durcehschnittseurve aller Versuche mit dem Inductionsstrom praktisch so gut wie ganz mit einer Geraden zusammenfällt; die Abweichungen betragen durchschnittlich weniger als 1°/,, ein Werth, der etwa mit den berechneten wahrscheinlichen Fehlern übereinstimmt, so dass wir mit genügender Sicher- heit sagen können, diese Curve ist in Wirklichkeit durchaus eine Gerade. Aehnlich liegen die Verhältnisse für die anderen Curven: Die Durchschnitts- curve aller Versuche mit dem constanten Strom auf Taf. XIV, Fig. 18, weicht allerdings etwas stärker von einer Geraden ab und zeigt eine merkliche Con- cavität nach unten. Ob dies wirklich eine geringe Geschwindigkeitszunahme bedeutet, muss dahingestellt bleiben. Die Abweichung ist zu gross, um mit Sicherheit als zufälliger Fehler, zu klein, um mit Sicherheit als Aus- druck realer Verhältnisse angesehen werden zu können. 360 GEORG FR. NICOLAI: 1. Die Leitung in physiologischer und unphysiologischer Richtung. Die Frage, ob die Leitung in physiologischer (centripetaler) und un- physiologischer (centrifugaler) Richtung gleich schnell erfolgt, wird am ein- fachsten entschieden, wenn man nach einem Versuch die Reizungs- und Ableitungselektroden mit einander vertauscht, von neuem reizt und zusieht, ob die gebrauchte Leitungszeit in allen Fällen die gleiche ist. Dies ist der Fall; als Beweis mögen folgende Versuchsergebnisse dienen, bei denen die angegebenen Leitungszeiten schon für jeden Versuch auf eine einheitliche Temperatur redueirt sind. (Siehe Tabelle auf folgender Seite.) 150\ Leitungszeu in © b | a 100 | Constanter 2 "| Durchschnitts Werte 0 \urin physiologischer Rıchturg | b: in unphysiol. durchlaufene Nervenstrecke 3 10 IJ5mm Fig. 8. Man sieht, dass die Leitungszeiten — ausser in dem letzten Versuch — continuirlich zunehmen, dass also die Leitfähigkeit allmählich geringer wird. Ein Einfluss der Richtung, in welcher die Leitungsgeschwindigkeit unter- sucht wurde, ist kaum zu erkennen, denn der Unterschied von 3 Proc. fällt noch in die wahrscheinliche Fehlergrenze. Die Ursache dieser continuirlichen Zunahme der Leitungszeiten wird auf Seite 375f. erörtert werden, sie liegt in einer Ermüdung oder Schädigung des Nerven. Diese Thatsache wird uns auch die Curve in Fig. 8 erklären. Hier sind die Durchschnittswerthe aller Versuche in physiologischer und aller Versuche in unphysiologischer Richtung, die mit dem constanten Strom ange- ÜUNGLEICHFÖRMIGKEITEN IN DER FORTPFLANZUNGSGESCHWINDIGKEIT. 361 | Durch Leitungszeit in Verlang- Zeit ‚Temperatur laufene physiol. | unphysiol. samung | Strecke Richt. Richt. in Proc. 14. III. 1903 Hecht + St 45 | const. Strom 992455 P1223% OL LE 1500 9 38 | 12-2 — a lalla; +7 Proc. 10 40 Nerv reagirt nicht mehr | | Ä 14. 1II.1903 Hecht + 10% 8 | | | konstz Strom 11 3) 113% ||, 16-.Tme || 180 | 1109 | | 198 11 10 | 12.8 | 203 1 2 = 218 Bee 20, = 208 11 42 || . 12-2 u +20 Proc. 11 46 Nervreagirt nicht mehr, | | 26.1II.1903 Hecht + 9#50 | | | const. Strom 10 8 | 17-5° | Le Io Dezgl 97 | 10 30 | 18.0 _ | 117 |+21 Proe. 10 38 Nerv en nicht mehr | | | | 28.111. 1903 Hecht+ 7? 0 | | Induction 7 35 | 1325)0 | TS 131 ae as — 136 a sl eke in as \ +6 Proc. 8 23 Nerv reagirt nicht mehr | 2. IV. 1903 Hecht+ 7? 8 | a RED ale 158 7 29 | 142 | 150 7 50| 14-5 — | 15 | es) Tao 144 | — 9. Proc. 8 28 ‚Nerv nieht mehr | | | |! | | | |Unterschied Im Durchschnitt) 17-2mm | 1480 | 153.0. ||, 37’ Proc. stellt sind, graphisch verzeichnet nnd wir sehen, dass die Curve der letzteren bis zu 10 Proc. höher verläuft und demnach das Leitungsvermögen in Dieser Unterschied, der sicher ausserhalb der Fehlergrenze liegt, ist aber dadurch bedingt, dass fast stets die Versuche in der unphysiologischen Richtung nach denen in physiologischer angestellt sind. Da jedes Mal mit den längsten Strecken angefangen wurde, so lief bei den zuerst angestellten Versuchen der Reiz niemals über Stellen hinweg, die schon vorher gereizt waren, während bei centrifugaler Richtung ein schlechteres zu sein scheint. 362 GEORG FR. NICoLAr: der darauf folgenden Untersuchung in umgekehrter Richtung der Reiz immer Stellen zu passiren hatte, die vorher schon oft mehrfach gereizt waren, und da auf Seite 379. gezeigt werden wird, dass die Reizung an der Reiz- stelle eine Schädigung hervorruft, welche eine Verringerung der Leitungs- fähigkeit bedingt, so erklärt diese Thatsache den Unterschied in durchaus senügender Weise. Diese Thatsache dürfte wohl auch die Erklärung für den Versuch vom 26. III. 1903 in sich bergen. Die Verlangsamung erreicht hier auffallend schnell einen sehr hohen Grad: in 22 Minuten 21 Proc. Aber gleichzeitig sehen wir, dass auch in anderer Beziehung Ermüdung bezw. Schädigung in diesem Falle schneller eintreten als gewöhnlich. Bereits 48 Minuten nach der Tödtung des Hechtes versagt der Nerv völlige. Man sieht aus der obigen Tabelle, dass sonst der Nerv immer länger brauchbar war, mindestens 80 Minuten, im Durchschnitt 94 Minuten. Für den letzten Versuch, bei dem die Leitungs- zeit dauernd kürzer wurde, und der völlig einzeln dasteht — nicht nur unter den hier zusammengestellten Versuchen mit langer Leitungsstrecke, sondern überhaupt —, vermag ich keine Erklärung zu geben. Manchmal schien es, als ob die Leitungszeit im Anfang ein wenig kürzer wurde. Möglich, dass diese Fähigkeit bei diesem Nerven excessiv entwickelt war, möglich aber auch, dass es sich um einen Beobachtungsfehler handelt. Eine Zusammenstellung der Resultate mit Inductionsschlägen ergieht, die ich hier nicht ausführlich mittheile, eine sehr viel geringere Abweichung in derselben Richtung, was dadurch bedingt sein mag, dass die Inductions- schläge den Nerven in dieser Beziehung weniger schädigen als die constanten Ströme. Dies würde mit den Versuchen von Brodie und Halliburton (1902) am marklosen Milznerven des Hundes durchaus übereinstimmen, die dort gefunden haben, dass die Leitfähigkeit! durch schwache constante Ströme für eine Zeit lang schwer geschädigt, durch Inductionsschläge und faradische Ströme aber nur in geringem Maasse beeinflusst wird. (Warum die Curven convergiren siehe $. 382 ff.) Das Ergebniss dieser Versuche ist also, dass die Leitung des Nervenprinzipes in physiologischer und unphysiologischer Richtung gleich schnell erfolgt. Ein möglicher Unterschied wäre, zum Mindesten von durchaus anderer Grössenordnung als die Fortpflanzunes-. geschwindigkeit selbst. ! Die Fähigkeit, Reize einer gewissen Stärke zu befördern, ging verloren, es handelte sich nicht etwa, wie hier, um die Leitungsgeschwindigkeit; es handelte sich also um zwei verschiedene Processe, 'nur liegt es nahe, von vornherein anzunehmen, dass dieselbe Schädigung die verschiedenen Fähigkeiten organischer Substanz im All- gemeinen in demselben Sinne beeinflusst. ÜUNGLEICHFÖRMIGKEITEN IN DER FORTPFLANZUNGSGESCHWINDIGKEIT. 363 2. Die Fortpflanzung des Reizes. Da die Curven, welche bei Reizung des Nerven in physiologischer und unphysiologischer Richtung gewonnen sind, unter einander übereinstimmen, wenigstens insoweit, dass die beobachtete Abweichung durch eine aufweis- bare Thatsache in durchaus genügender Weise erklärt wird, so können wir in der gemeinschaftlichen Curve einzig und allein den Factor wirksam finden, welcher von der Art der Reizausbreitung abhängig ist. Es ist in dieser Beziehung besonders zu beachten, dass die in Fig. 8 abgebildeten Curven der Versuche mit dem constanten Strom in physiologischer und unphysiologischer Richtung dieselbe schon erwähnte Concavität nach unten zeigen, die wir auch in Fig. 18 auf Tafel XIV erkennen können. Wie wirin Fig.17 auf Tafel XIV sehen, bildet dieDurehschnittscurve, welche die Mittelwerthe aus den Versuchen mit Inductionsströmen darstellt, eine durchaus gerade Linie; auch die dick ausgezogene Curve in Fig. 18, welche die Mittelwerthe aus den Versuchen mit constanten Strömen darstellt, bildet annähernd eine Gerade. Die Abweichungen betragen nur: bei den Inductions- strömen 2-5 Proc. im Maximum, bei constanten Strömen 4 Proc. im Maximum und fallen, wie die Rechnung ergiebt, in die wahrscheinliche Fehlergrenze, welche für die Inductionsströme durchschnittlich 2-2 Proc., für die Versuche mit constantem Strom 4-2 Proc. beträgt. Auf die Gründe, welche die ver- schiedene Richtung der beiden Linien bedingen, wird auf Seite 3821. näher ein- zugehen sein; jetzt ist nur zu bemerken, dass für die Strecke, für welche eine der Curven eine Gerade bildet, die Fortpflanzungsgeschwindigkeit eine gleich- förmige sein muss. Dies trifit, wie die Curven zeigen, für Strecken von über 2 "m Länge in genügend exacter Weise zu, für kürzere Strecken konnte es nicht nachgewiesen werden, denn es ergiebt sich aus der Natur der Sache, dass ein gewisser Zwischenraum zwischen Reiz und Ableitungs- elektrode bestehen bleiben muss, und zwar konnte dieser Zwischenraum aus technischen Gründen nicht kleiner gemacht werden als etwa 2 "m, weil sonst zu starke störende Stromschleifen in den Capillarelektrometerkreis ein- gebrochen wären. Dass auch bei der Anwendung von schwachen Strömen und bei einer Entfernung von 3 bis 5-3 =” zwischen Reiz und Ableitungs- elektrode derartige Stromschleifen vorkommen können, zeigt Fig. 9a und b. Allerdings sind bei diesen Nerven die Stromschleifen aus unbekannten Gründen ausserordentlich viel stärker, als gewöhnlich. Fig. 9e zeigt, dass bei einem anderen Nerven und stärkeren Strömen die Stromschleifen selbst in einer Entfernung von nur 2.9 == vjel geringer waren. Dies letztere Verhalten war das übliche, « und Ö sind die stärksten Stromschleifen aller meiner Versuche. Aber diese Figur zeigt gleichzeitig, dass diese Strum- schleifen nicht etwa reizend wirken, denn während die stark ausgeprägten 364 GEORG Fr. NIcoLar: Stromschleifen sich sofort im Moment der Reizung markiren, sehen wir erst bei dem kleinen eingezeichneten Pfeil die negative Schwankung einsetzen, und die Entfernung des Beginnes derselben vom Reizmoment ist nur um weniges kürzer als es der durch die dazwischen liegende Nervenstrecke be- dingten Zeit entsprechen würde. Aehnliche Unterschiede sind auch schon Garten aufgefallen. In seiner Arbeit findet sich die Angabe und der Be- E10%9. Hecht : . | Abstand der Reiz-und Zeit, welche die getödtet Zei Temperatur Ableitungselektroden Erregung gebraucht Een. sh 9 15-4° C. 5.3 mm 210 b) en lb 21959 3.0 12 OL 20 S7E6 13:0 2-9 IM weis, dass der Ölfactorius sich wie ein homogenes Gebilde verhält, und dass in Folge dessen die Elektrodenlage sehr leicht die Richtung und Stärke der abgeleiteten Stromzweige beeinflussen kann. Wir werden später (s. S. 375) auf die Möglichkeiten und Bedingungen von Stromschleifen näher eingehen, vorläufig aber daran festhalten, dass diese Curven wenigstens unter Einhaltung gewisser Cautelen noch sehr ÜUNGLEICHFÖRMIGKEITEN IN DER FORTPFLANZUNGSGESCHWINDIGKEIT. 365 wohl zur Messung verwendet werden konnten; bei 5 ist allerdings die Grenze des noch Brauchbaren fast erreicht. Meist trat diese Grenze erst bei 2 mm ein. Es braucht ausserdem eigentlich nicht hervorgehoben werden, dass die Stromstärke in allen Fällen so abgestuft worden ist, dass die Stromschleifen in merklicher Entfernung von der Reizstelle möglichst nicht mehr wirksam waren, ausser in den Versuchen, die gerade darauf abzielten, den Einfluss der Stromstärke zu studiren. Für die in mancher Beziehung interessantesten ganz kurzen Strecken fehlen uns also thatsächliche Angaben, und es ist fraglich, ob wir ohne Weiteres die Curven auch für das fehlende Stück geradlinig verlängern können, bis sie die Abseisse schneiden. Wenn gleich vom Momente der Reizung an die Geschwindigkeit eine gleichförmige wäre, so müssten jeden- falls aus leicht ersichtlichen Gründen die Curven durch den Coordinaten- anfangspunkt hindurchgehen. Dies ist auch bei den Versuchen mit Inductions- strömen annähernd der Fall, doch zeigen alle Curven deutlich die Tendenz, die x-Axe auf der positiven Seite zu schneiden, während bei den Versuchen mit dem constanten Strom die y-Axe auf der positiven Seite geschnitten werden würde. Das bedeutet, dass wir bei den Versuchen mit constantem Strom entweder eine Latenzzeit im gewöhnlichen Sinne des Wortes oder‘eine anfänglich sehr langsame Geschwindigkeit anzunehmen haben, die dann aber gleichförmig wird und bleibt (vgl. hierüber Abschnitt 6), während bei den Versuchen mit Inductionsströmen die Fortpflanzungsgeschwindigkeit anfänglich un- messbar gross ist, dann aber sehr bald gleichförmig wird. Auch auf diesen Punkt wird. in Abschnitt 6 näher eingegangen werden (vgl. aber auch Ab- schnitt 4). 3. Das Leitungsvermögen des Nerven. Aus der Geradlinigkeit der Curven zusammen mit der Thatsache, dass die in beiden Richtungen gewonnenen Curven zusammenfallen, ergiebt sich ferner (vgl. S. 356 u. 357), dass alle Partien des Nerven gleich gut leiten. Hier- von macht nur die stärkere, bindegewebige nasale Partie des Nerven eine Ausnahme. Dies würde die schon von Engelmann 1901 (S. 356) geäusserte Vermuthung bestätigen, dass bei auffälligen histologischen Differenzen in der Structur des Nerven wahrscheinlich auch das Leitungsvermögen ein anderes sein würde. Einen directen Beweis für die Gleichförmigkeit des Leitungsvermögens an den verschiedenen Stellen des Nerven kann man in der Weise erbringen, dass man successive die Leitungsgeschwindigkeit möglichst kleiner auf einander folgender Strecken bestimmt, wobei sowohl Reiz- wie Ableitungselektroden am Nerven entlang verschoben werden. Hier unten sind die Zahlen eines derartigen Versuches angeführt, wobei zu bemerken ist, dass dabei wie 366 © GEORG FR. NICOLAT: immer ausser in einigen speciellen Versuchen der bindegewebige Theil nicht mit untersucht wurde. 2. III. 1905. Hecht getödtet 1? 40. 3 bes Lage und Länge der Abgelesene | Geschwindig- en | Dep zen "Strecke Zeit | keit aha eranial T-2 nu | 44 16.3 em-See. 3 56 | Mitte 7-9 46 IT 2eh 4 13 | ss nasal 5-1 | 33 | 15.2 Die Versuche sind nicht gehäuft worden, weil das Resultat, dass der Hechtnerv in all’ seinen Partien gleich gut leitet, auf indirectem Wege, wie oben angegeben, viel exacter abzuleiten war. Es ist hervorzu- heben, dass, wenn schon streng genommen alle Resultate nur für den Ol- factorius des Hechtes gelten, dies in erhöhtem Maasse für den eben aus- gesprochenen Satz zutrifft. In der That, da wir wissen, dass es Nerven von verschiedenartigstem Leitungsvermögen (3 bis mehr als 3000 = pro Secunde) giebt, so wäre es an und für sich nicht weiter wunderbar, wenn auch die Nerven ein und desselben Thieres bezw. ein und derselbe Nerv an verschiedenen Stellen seines Verlaufes verschieden gut leiteten. Einen Hinweis hierauf sehen wir ja bereits darin, dass der bindegewebige Theil langsamer leitet und andererseits wäre es sehr wohl möglich, dass gerade der Olfactorius, der vollkommen homogen in seiner Knorpelrinne eingebettet liegt, nur aus dieser, an sich zufälligen Bedingung heraus, überall gleich schnell leitet. Jedenfalls muss die Frage an anderen Nerven nachgeprüft werden. Der directe Nachweis dürfte aber im Allgemeinen ausserordentlich schwer sein. Man müsste, wie oben auseinandergesetzt, gleichfalls mit den Actionsströmen arbeiten, die aber z. B. beim Froschnerven, im Capillar- elektrometer ausserordentlich viel kleinere Ausschläge hervorrufen. Dazu kommt, dass die Vorgänge etwa 150 Mal so schnell vor sich gehen und die Zeiten daher zu kurz sind, um eine directe Prüfung zu erlauben. Die messbare Latenz beim counstanten Strom z. B., welche beim Hechtnerv 2 bis 4 Hundertstel einer Secunde beträgt (s. S. 380 f.), würde beim Frosch- nerven nur 0-1 bis 0-2 o ausmachen, eine Grösse, die wir mit den uns hierfür zu Gebote stehenden Mitteln nicht mehr zu messen im Stande sind. Dagegen dürfte folgende Ueberlegung vielleicht nicht unangehracht er- scheinen. Wir haben gesehen, dass die Geschwindigkeit des Nervenprincips von zwei Factoren bedingt ist, von denen der eine Factor in der Natur und Leitfähigkeit des Nerven, der andere aber in der Natur und Aus- ÜNGLEICHFÖRMIGKEITEN IN DER FORTPFLANZUNGSGESCHWINDIGKEIT. 367 breitungsgeschwindigkeit des Reizes gegeben ist. Da in dem zweiten Factor der Umstand, dass es sich um einen Hechtnerven handelt, gar nicht vor- kommt, dürfen wir wohl annehmen, dass dieser Factor auch thatsächlich vom Hechtnerven unabhängig und für jedes organisirte Gebilde derselbe ist. Nehmen wir aber an — meiner Meinung nach sind wir berechtigt dazu —, / dass auch im Froschnerven sich der Reiz seiner Natur nach mit gleich- ) förmiger Geschwindigkeit fortpflanzt, so gewinnen die Resultate von du Bois- Reymond und von Engelmann eine erhöhte Bedeutung, weil ihre Resultate nunmehr direct und einzig auf die Leitfähigkeit des Nerven be- zogen werden müssen und dann in der That beweisen, dass auch für den Froschnerven dasselbe gilt, was für den Hechtnerven gefunden: dass nämlich auch der Froschnerv in all’ seinen Partien gleich gut leitet. Allerdings geht aus den beiden Mittheilungen, besonders deutlich aus der du Bois Reymond’s, hervor, dass nur die Durchschnittszahlen eine gleichförmige Geschwindigkeit ergeben, während die Einzelresultate ausser- ordentlich wechselnde sind. Wenn dies auch wohl im Grossen und Ganzen an der Methode liegen dürfte, so können wir doch die Möglichkeit nicht ausschliessen, dass ein Theil dieser Verschiedenheiten und Abweichungen durch die Natur des Objectes bedingt ist. Da wir wissen, dass die Er- regbarkeit in der Nähe von Querschnitten und auch an anderen Stellen sich ändern kann, so liegt die Vermuthung nahe, anzunehmen, dass mög- licher Weise derartige Verhältnisse auch einen Einfluss auf die Leitungs- geschwindigkeit besässen. Solche partiellen Aenderungen würden sich, da sie je nach der wechselnden morphologischen Lage und den Zufälligkeiten der Präparation und Elektrodenanlage jedes Mal an verschiedenen Stellen auftreten, in der That im Gesammtresultat ausgleichen. Die du Bois- Reymond’schen und Engelmann’schen Resultate schliessen also derartige Leitungsgesehwindigkeitsänderungen nicht aus. 4. Reizstärke und Leitungszeit. Es ist von verschiedenen Seiten angegeben worden, dass die Fort- pflanzungsgeschwindigkeit bei stärkeren Reizen eine grössere ist als bei schwächeren Reizen, und wenn auch Engelmann (1897) diese Ansicht mit thatsächlichen Befunden und mit guten Gründen bekämpft hat, so hat doch Bernstein (1897 und 1898) seine gegentheilige Ansicht ausdrücklich aufrecht erhalten und später hat Durig (1902) die schon von vornherein recht unwahrscheinliche Behauptung aufgestellt, dass die Fortpflanzungsgeschwindigkeit bei genügend starken Reizen sogar unend- lich gross werden könne, wobei er sich im Vertrauen auf seine Methode nicht einmal dadurch irre machen liess, dass er unter Umständen negative 368 GEORG FR. NICOLAT: Zeitwerthe erhielt. Diese negativen Zeiten, die auch du Bois-Reymond manchmal erhalten hat, sind — wie ich im Gegensatz zu diesen Autoren feststellen möchte — nicht etwa an sich etwas Unmögliches und daher auch nicht ohne Weiteres als Messungsfehler anzusprechen. Abgesehen von den von Engelmann (1901, 3.16) erwähnten Gründen, könnten ı theoretisch auch unter der Voraussetzung, dass die Latenzen durchaus richtig ı bestimmt sind, negative Werte gefunden werden; es wäre dies dann ein ı Hinweis darauf, dass die Erregung sich mit wachsender Geschwindiekeit fortpflanzt und dass die, dem Muskel näheren Partien schlechter leiten als‘ die dem Rückenmark zu gelegenen Theile des Froschnerven (vgl. Schema S. 357, IIIb, wo sich die Curve wieder zur Abseisse herunterkrümmt). Die geringere Leitfähigkeit der oberen Nervenabschnitte könnte im Einzelfall durch Verletzungen bei der Präparation oder durch partielle Ermüdung (Schädigung durch starke Reize) bedingt sein. Von ersterem (einer positiv beschleunigten Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Reizes) sehen wir eine Andeutung ja auch beim Olfactorius, wenigstens bei Reizung mit dem con- stanten Strom (vgl. S. 359). Jedoch bieten die bisherigen Resultate der Forschung keinen Anhalt dafür, derartig grosse Ungleichfürmigkeiten im ı der Leitung anzunehmen, und wir können daher nicht entscheiden, ob es’ hier nicht doch nur Messungsfehler sind, besonders da bei beiden Beob- achtern die Einzelwerthe sehr weit aus einander gehen. Durig’s Resultate, welche sich durch die auch vom Verfasser hervor- gehobene grosse individuelle Variabilität auszeichnen, scheinen daher eine Kritik herauszufordern. Durig sagt, dass eine strenge Localisation der Erregung im Nerven bei Leitungsgeschwindigkeitsbestimmungen (nach der Differenzmethode) kein unbedingtes Erforderniss sei, weil die Stromschleifen an der proximalen und distalen Elektrode sich etwa gleich weit dem Nerven entlang erstrecken und daher beide Male im selben Abstande wirksam sind. Dies scheint der Grund zu sein, warum er seine Versuche für be- weisend hält, nachdem er doch selbst die zum Theil sehr grosse Ausdehnung von Stromschleifen ausführlich besprochen hat. Dabei hat er aber einen wesentlichen Punkt übersehen, dass nämlich für so grosse Stromschleifen, | wie sie in seinen Versuchen offenbar vorkamen, an der distalen Elektrode ) gar kein Platz vorhanden ist: wenn hier die Stromschleife bis zum Muskel vorgeschritten ist, so hat sie das Maximum ihrer Ausbreitung erreicht, von ı jetzt ab wird jede Verstärkung des Reizes nur den physiologischen Erregungs- punkt der proximalen Elektrode influenziren, und somit wird die Elektroden- - zwischenstrecke von nun an kleiner werden. Da man, um eine möglichst lange Elektrodenzwischenstrecke zu bekommen, die distale Elektrode meist nahe an den Muskel legt — Durig macht keine Angaben über die ge- wählten Entfernungen — so wird dieser Zeitpunkt verhältnissmässig bald ee u UNGLEICHFÖRMIGKEITEN IN DER FORTPFLANZUNGSGESCHWINDIGKEIT. 369 eintreten. Hierdurch werden die Befunde Durig’s und Vintschgau’s (1883) erklärt, wonach Anfangs bei Verstärkung des Reizes keine Ver- erösserung der Geschwindigkeit stattfindet — hier werden eben noch die wirksamen Punkte gleichmässig verschoben — dann aber tritt eine sehr wechselnde Verkürzung der Leitungszeit ein, was meiner Meinung nach nicht etwa darauf beruht, dass, wie Durig annimmt, die Nerven ver- schiedener Frösche „ein ganz verschiedenes Prinzip der Erregungsleitung“ haben, sondern seine verständliche Erklärung darin findet, dass die directe Muskelreizung, die nunmehr in dem einen Falle statt hat, eben die Latenz in viel höherem Maasse beeinflusst, und dass neben den hierdurch pedingten Unterschieden der gesetzmässige Einfluss der Stromstärke auf den Aus- breitungsbezirk der Stromschleifen an der proximalen Elektrode durchaus zurücktritt. Zu diesen Einwänden, die speciell gegen die Methode Durig’s zu er- heben wären, kommen dann noch folgende allgemeine Ueberlegungen. Wir müssen festhalten, jede äussere Reizung organischer Substanz muss darin bestehen, dass eine gewisse zugeführte Energiemenge in eine bis jetzt nicht näher zu definirende vitale Energieform umgesetzt wird. ist eine gewisse Summe dieser Energie einmal vorhanden, so tritt Reizung ein. Dieser vitale Reizvorgang breitet sich nun nach ihm eigenthümlichen Gesetzen aus, und hat dann unter Umständen das zur Folge, was wir als Reizerfolg (Muskelzuckung, Drüsenthätigkeit, Actionsstrom u. s. w.) bezeichnen. Die Geschwindigkeit, mit der sich der einmal erzeugte Reiz in der gereizten Substanz ausbreitet, muss an sich unabhängig sein von der erzeugenden Ursache, ein Einfluss derselben könnte nur insoweit stattfinden, als etwa durch stärkere äussere Reize auch ein stärkerer (oder irgendwie anders. artiger) Reizvorgang im Nerven ausgelöst würde, der nun seinerseits die Tendenz hätte, sich nach anderen Gesetzen auszubreiten. Selbst diese Möglichkeit leugnet Hermann (1898, 8.585) und ist der Ansicht, die Fortpflanzungsgeschwindigkeit sei vollkommen unabhängig von der Grösse und Ausdehnung der initialen Veränderung. Aber wenn man auch an dieser postulirten, theoretischen absoluten Unabhängigkeit zweifeln möchte, praktisch ist die Möglichkeit einer verschieden starken Fortpflanzungs- geschwindigkeit bei verschieden grossen Actionsströmen gar nicht in Frage gekommen. Allerdings gilt auch für den Nerv das für die indirecte Muskelzuckung gültige Gesetz, dass von der Reizschwelle ab der Reizerfolg (Actionsstrom) mit wachsendem Reiz für ein kurzes Intervall ansteigt. Ob für dieses Intervall auch die Leitungsgeschwindigkeit zunimmt, kann ich nicht sicher sagen, weil hier die naturgemäss sehr wenig ausgesprochenen Curven minimaler Actionsströme zu flach sind, um eine genaue Bestimmung des Abbiegungspunktes zu ermöglichen. Bald aber nähert sich der Actions- Archiv f,A.u. Ph, 1905. Physiol. Abthlg. Suppl. 24 370 (FEORG FR. NICOLAr: strom einem Grenzwerth und nimmt nun bei steigender Reizgrösse nicht wesentlich mehr zu. Von diesem Moment ab aber kann die Reizausbreitung, die, wie wir 8. 366f. aus einander gesetzt, nur von der Beschaffenheit des Nerven und den Gesetzen der Reizausbreitung abhängt, sich schlechter- dings nicht mehr bei weiterer Verstärkung des Reizes ändern. Alle am Muskelpräparat bisher angestellten Versuche, also auch die Durig’schen, fallen aber durchaus in dieses Intervall, denn um überhaupt vergleichbare Werthe zu bekommen, muss man solche Reizstärken wählen, die eine maximale Zuckung auslösen. Eine andere Frage aber ist es, ob etwa der äussere Reiz die Be- schaffenheit des Nerven derartig verändert, dass auch seine Leitfähigkeit eine andere wird. Wahrscheinlich wird dies aber nur an den Stellen statt- finden, die vom Reiz direet beeinflusst werden, d. h. bei elektrischer Reizung in der Zone der physikalischen Stromschleifen. Da nun andererseits auch am ÖOlfactorius, wie ich schon früher gezeigt, der Einfluss der Reizstärke sicher nachweisbar ist, so lag es nahe, sich die Frage vorzulegen, ob diese Verlängerung bezw. Verkürzung der Leitungs- zeit in der That auf die Umgebung der Leitungsstelle localisirt ist. Dass überhaupt ein solcher Einfluss vorhanden, kann man an jedem Versuch deutlich sehen, bei dem die Reizstärke verändert wurde. Am markhaltigen Nerven haben dies nachgewiesen: Wittich (1868), Hirsch (1861), Fick (1863), Valentin (1868), Wundt (1870 und 1876), Durig (1902). Auch Engelmann (1897) findet diesen Einfluss, wenn schon er die Verkürzung der Latenz nicht mit einer Beschleunigung der Leitung, sondern mit physikalischen Stromschleifen zu erklären sucht. Nur Rosen- thal (1875) und Lautenbach (1877) leugnen diesen Einfluss. In Bezug auf den Olfactorius verweise ich auf die Angaben in meiner früheren Arbeit und führe hier die Protokolle zweier typischer Versuche an, einmal bei Reizung mit dem constanten Strom und das andere Mal bei Reizung mit einzelnen Inductionsschlägen. 26.111. 1903 Hecht getödtet 950. Reizung mit constantem Strom (1 Daniell). : | Reizstärke. Länge der Leitungszeit 2a | Temperatur Im N el Strecke in o 10% 16 17.60 10 32 | 1.9 mm 25 10 26 17.8 1 1108) | 49 10 50 tet 2 1:9 50 UNGLEICHFÖRMIGKEITEN IN DER FORTPFLANZUNGSGESCHWINDIGKEIT, 371 2.1V.1903. Hecht getödtet 6° 35. Reizung mit Inductionsschlägen (2 Daniell). ; | Reizstärke. Länge der Leitungszeit Zeit Temperatur | Rollenabstand | Strecke | in o 32220 130° 6 ı Go Bu 113 3 22 13-0 5 13-4 103 8 25 13-0 3 13.4 39 Ss 28 | 13.0 0 13-4 89 Diese Beispiele sind absichtlich so gewählt, dass einmal eine lange Strecke, das andere Mal eine kurze Strecke durchlaufen ist. Bei der kurzen Strecke haben wir eine Verlangsamung von etwa 100 Proc., bei der langen Strecke eine Verlangsamung von nur 25 Proc., aber in beiden Fällen be- trägt die Zeitdifferenz (hier zufällig fast genau) dasselbe, nämlich 24 bezw. 25 0. Diese regelmässig zu ceonstatirende Erscheinung weist uns schon da- rauf hin, dass die Verlangsamung bezw. Beschleunigung nur auf der An- fangsstrecke stattfindet. In der That, wenn wir annehmen, dass auch im zweiten Falle innerhalb der ersten 1.9 m die gesammte Beschleunigung sich vollzog und dann die Geschwindigkeit eine gleichförmige ist, stimmen die Resultate der beiden Versuche gut überein. Anschaulicher aber und zwingender lässt sich dies mit Hülfe der Gabelmethode zeigen. Wenn es richtig ist, dass die Leitungszeit sich nicht ändert und eine Beschleunigung bei stärkeren Reizen, nur an der Reizstelle, entsprechend den weiter sich ausbreitenden Stromschleifen, stattfindet, so werden die einzelnen Actionsströme je nach der Reizstärke gegen den Reizmoment verschoben erscheinen. Dagegen müssen die Abstände zwischen den einzelnen Actionsströmen gleich sein. Man sieht dies sehr deutlich an den drei Curven der Fig. 13 auf Taf. XIII. Das erste Mal ist mit schwachen, das zweite Mal mit mittelstarken und das dritte Mal mit sehr starken Strömen gereizt. Die Reizmomente, die sich in der Curve durch kleine Inductions- zacken markiren, sind (an der Stelle des senkrechten Striches) über einander geklebt. Die schwarzen Pfeile bezeichnen die Stellen, bis zu denen sich die Trommel während der gleichen Zeit bewegt hat, und beweisen, dass die Geschwindigkeit in allen drei Fällen die gleiche war. Man sieht nun deutlich, dass die Curven — unter sich, abgesehen von der Höhe, fast con- gruent — in toto um etwa 10 Scalentheile gegen den Reizmoment ver- schoben sind. Diese Differenz von 10 Scalentheilen findet man annähernd immer wieder, welche entsprechende Punkte man auch mit einander ver- gleicht. Dasselbe zeigt die Fig. 14 auf Taf. XIV, in der zwei Curven, die bei starker und schwacher Reizung gewonnen sind, über einander photo- graphirt sind, und zwar so, dass die Reizmomente zusammenfallen. 24* 372 GEORG FR. NICOLAT: R-A. 1.3, Hecht + 1070, untersucht n#32-1156, 1=13,3%, Jnduktionstrome 3,9 2 re. em A | ie 2 Mr ee a Tun ee er ET 6.1.4 LT 10%19-10%21 ie 0 2 6.1.4 108.30 ohsn3 - 1550. 4 SE % (es) 28.1.5 7% 30 216_3hz nnd 50.4 8%25 gRag _ 937 16,1° Je | w enl) 6.1.4 825 3leag- 937 16,72 JR 4 2 0 en | Von der Reizstelle bis zur | Von der proximalen bis zur ‚ proximalen Ableitungsstelle ' distalen Ableitungsstelle Bei schwacher Reizung 27 0 : 143 « „ starker ” 350 147 0 UNGLEICHFÖRMIGKEITEN IN DER FORTPFLANZUNGSGESCHWINDIGKEIT. 373 In der Tabelle auf voriger Seite sind dann weiter die Protokolle von sieben Versuchsreihen in graphischer Form dargestellt. Die Länge der Linien entspricht den Leitungszeiten und die kleinen Zacken daran bezeichnen die Momente, in denen der Actionsstrom an der betreffenden, in je einem Versuch nicht verrückten Elektrode anlangt. Die Länge der Leitungs- strecken ist nicht angegeben, weil es ja nur auf die relativen Werthe ankommt. i Nur die Versuchsreihen sind in die Tabelle aufgenommen, von denen sich die Originalphotogramme noch als Belege in meinen Händen befinden. Weitere fünf Versuchsreihen, von denen ich nur noch die Protokolle und Ausmessungen besitze, ergeben das gleiche Resultat. Leitungszeiten | 1716; o 11.4.3 Gabelmetihode Fig. 10. In Fig. 10 sind die Resultate des Versuches vom 11. IV. 1903 dann noch graphisch zusammengestellt. Die ausgezogene Linie bezieht sich auf die Leitungszeiten zwischen den ersten und zweiten bezw. den zweiten und dritten Ableitungselektroden; man sieht deutlich, dass bei wachsendem Rollen- abstand die Leitungszeiten bis zur ersten Elektrode zunehmen, die anderen Leitungszeiten sich aber gleich bleiben. Aehnliche Curven würden auch die anderen Versuche ergeben, aber auch ohnedies geht aus der Tabelle klar hervor, dass ausnahmslos bei wachsender Reizstärke die Leitungszeit zwischen Reizpunkt und nächstgelegener Ableitungselektrode abnimmt, während die Leitungszeit von der proximalen bis zur entfernteren Elektrode von der Reizstärke mehr oder weniger unabhängig ist. Während die Jdurchschnitt- liehe Leitungszeit bis zur proximalen Elektrode von 27 o auf 35 0, also um 30 Proc. steigt, wächst die durchschnittliche Leitungszeit von der proximalen bis zur entferntesten Elektrode nur von 143 o auf 147 0, also um nicht ganz 3 Proe. Ob diese letzten 3 Proc. durch Versuchsfehler be- 374 (GEORG FR. NICOLAT: dingt sind, oder auf eine wirkliche Aenderung der Leitungsgeschwindiekeit hindeutet (vgl. oben S. 369), lässt sich ohne Weiteres bei den kleinen Versuchsreihen nicht sagen; jedenfalls erscheint festgestellt, dass zum über- wiegenden Theile die Beschleunigung nur an der Reizstelle stattfindet, und es dürfte am einfachsten sein, anzunehmen, dass es sich um physikalische Stromschleifen handelt, die eben den Punkt der wirksamen physiologischen Reizung von dem Anlagepunkt der Reizelektrode gegen die nächstgelegene Ableitungselektrode hin verschieben. Dass aber auch hierbei physiologische Momente zum Mindesten modifieirend mitspielen, scheint daraus hervor- zugehen, dass, wie mehrfache Versuche ergaben, am ermüdeten oder ab- sterbenden Nerven bei Verstärkung des Reizes eine Verkürzung der Leitungs- zeit nicht mehr eintritt, während beim frischen Nerven diese Erscheinung mit Leichtigkeit und ohne Ausnahme zu constatiren ist. Folgender Versuch mag als Beispiel dienen, bei dem ich in Columne 4 die Höhe der negativen Schwankung als Zeichen der Ermüdung hinzufüge. Dieselbe hat gegen den Anfang um mehr als die Hälfte abgenommen; man sieht, dass die Stärke des Reizes eine Wirkung auf die Höhe der negativen Schwankung ausübt, dagegen so gut wie keine Wirkung auf die Leitungsgeschwindigkeit. Derselbe Nerv hatte vorher eine sehr deutliche Verkürzung der Leitungsgeschwindigkeit auf Verstärkung des Reizes hin gezeigt. 17.V.1905. Hecht getödtet 1% 59. Reizung mit Inductionsschlägen (2 V). = = <« | Höhe der N 2 | |neg. Schwank. 2h 17 150) 4m| 2.3 Senn Va am aan ng a Emo ons Va 4 31115 4 1e1 WrnaE Ware en Te A Are RER EEE 43911512 1:5 rer au Gegen lt. 4 51115 |O 1°6 V Y Das thatsächliche Vorkommen wirksamer Stromschleifen konnte dann noch direct durch graphisch nicht registrirte Unterbindungsversuche sicher- gestellt werden. Wenn die Reizelektroden der unterbundenen Stelle auf 1 bis 2mm genähert wurden, so riefein starker Reiz auch jenseits der Unterbindungs- stelle eine normale negative Schwankung hervor. Diese Entfernungen stimmen mit meinen Versuchen gut überein, wären aber nicht im Stande, die Durig’schen Resultate zu erklären. Nun sind aber, wie bekannt, bei markhaltigen Nerven Stromschleifen in grösserer Entfernung als 2 m nach- gewiesen; dazu kommt, dass die von Durig zum Schutz verwendeten ÜUNGLEICHFÖRMIGKEITEN IN DER FORTPFLANZUNGSGESCHWINDIGKEIT. 375 Tunnelelektroden bei Verwendung sehr starker Reize direct die PSDENLLE von Stromschleifen begünstigen. Dass die reizenden Stromschleifen beim Olfactorius einen kleineren Ausbreitungsbezirk haben, dürfte nicht nur in seiner der Ausbreitung weniger günstigen anatomischen Structur begründet sein, sondern auch darin, dass der marklose Nerv weitaus grössere Stromstärken zu seiner Reizung bedarf, als der markhaltige. Dass sich aber nicht reizende Stromschleifen auch im Olfaetorius weiter ausbreiten, sahen wir ja schon in Fig.9, wo nachweislich eine als Reiz unwirksame Stromschleife im Capillarelektrometer sichtbar wurde, während es für den markhaltigen Froschnerven doch in dieser Art unwirksame Stromschleifen nicht giebt, wir sie zum Mindesten kaum nach- weisen könnten, da wir ja noch immer der empfindlichsten Apparate be- dürfen, um einen Inductionsschlag anzuzeigen, auf den ein empfindliches Nervmuskelprineip nicht mehr reagirt. Die in Berlin verwendete Capillare z. B. zeigte Inductionsströme, welche für das Nervmuskelpräparat Schwellen- reize waren, nur eben noch an. Uebrigens waren naturgemäss geringe Stromschleifen unvermeidlich und immer vorhanden; sie stören dementsprechend die Resultate. In Taf. X1V, Fig. 17 kommt das dadurch zum Ausdruck, dass alle Curven die z-Axe auf der positiven Seite schneiden. Die Durchschnittscurve schneidet die z-Axe in einem Punkte $?, dessen Entfernung vom coordinaten Anfangspunkt 1.2 wm beträgt, und der mittleren Länge, in welcher Stromschleifen wirksam waren, entspricht. Wenn man also die wirkliche Leitungsgeschwindigkeit kennen lernen will, so muss man diese 1.2 =” jedes Mal von dem durch Messung ermittelten Wege abziehen und mithin die Curve um dies Stück parallel zur Abseisse zum coordinaten Mittelpunkt hin verschieben. Dies ist bei den unteren Öurven der Fig. 18 auf Taf. XIV geschehen (vgl. auch die Anmerkung zur Erklärung der Tafeln auf S. 388). 3. Aenderung der Leitfähigkeit durch die Reizung. Schon auf Seite 360f. hatte ich darauf hingewiesen, dass ein Nerv, der bereits gereizt worden ist, scheinbar ein weniger gutes Leitungsvermögen zeigt als vorher, und es liegt nahe, dabei an eine Ermüdung des Nerven zu denken, besonders nachdem Garten (1903) speciell am Olfactorius nach- gewiesen hatte, dass das von ihm beschriebene Kleinerwerden des Actions- stromes als eine Ermüdungserscheinung aufzufassen ist. Doch liegen die Verhältnisse hier nicht ganz klar, die Verlangsamung tritt nicht immer auf, und es scheint, als ob nach den ersten Reizungen das Leitungsvermögen des Nerven manchmal zunimmt, doch ist es bis jetzt nieht gelungen, die Umstände, unter denen dieses stattfindet, zu präcisiren. Die Beobachtung erinnert an die von Garten beschriebene Treppe am Olfactorius und das 376 GEORG Fr. Niconar: Wirksamwerden an sich zunächst unterschwelliger Schliessungsschläge. Jeden- falls, wenn man die Reizung so lange fortsetzt, bis die Actionsströme merklich kleiner geworden sind, so findet man unter allen Umständen für die gleichen Strecken längere Zeiten.” Als Beleg sei nochmals auf die Tabelle Seite 361 verwiesen. Hier unten sind ausserdem noch 12 Versuche an 11 Nerven zusammengestellt, unter denen im Gegensatz zur Tabelle auf Seite 361 nur Versuchsreihen aufgeführt sind, wobei die Leitungsgeschwindigkeit nur in einer Richtung untersucht ist, zwei von ihnen zeigen keine Verlangsamung (in der Tabelle durch fettgedruckte Zahlen hervorgehoben); doch ist zu bemerken, dass gerade bei diesen beiden auch die negative Schwankung während der Dauer des Versuches fast gar nicht kleiner geworden war. Die Versuche sind dann nicht bis zur totalen Erschöpfung fortgesetzt worden. Nr. Datum Nervenlänge | Ite | 2te | 3te | 4te | Ödte | Letzte Reizung 1 14. III. 083 2m Bolı8lıa | -| 175 0 2 14. III. 08 16-7 18051710841, 208. Balz | 217 3. 28. IH. 083 16-8 lısı 188 |1ı9| — | — | 139 4 28. III. 03 15-4 ML20n Az 147 5 1. IV. 08 19-4 Ksaaaa | BER NS VEROS [21-2 '158 150 | 145 14 — 144 a2 HV. 03 13-4 8282| u - | —-|-| 76 8 NTEERVEL03 22-6 20, zes ae 178 9 7. IV. 08 21-4 160 11616 — | 176 10 | 15. V. 052 23.7 165 | 165 | 170 | 180 | 180 180 I 0 25.0. 052 22-7 1652 1707 190,0 190 V2a0 ET V2.052 16-3 105 | 100 | 105 | 110 | 120 120 Mittelzahlen : | 191 el el | 158 0 Aus den Mittelwerthen würde sich also eine Verlangsamung um 7-5 Proc. ergeben (wahrscheinlicher Fehler + 4). Diese geringe und nur um Weniges über die Fehlergrenze hinaus- gehende Verlangsamung erklärt sich, wenn wir bedenken, dass wir einmal auch die Werthe mitrechneten, wo gar keine Verlangsamung auftrat, dann aber vor Allem daraus, dass, wie wir sehen werden, die Verlangsamung im ‘ Mit der einzigen Ausnahme des letzten Versuchs in der Tabelle Seite 361 bezw. des 6. und 7. Versuchs in dieser Tabelle. Die nur aus zwei Gliedern bestehende 5. Versuchsreihe kommt hierfür nicht in Betracht, weil eine eventuelle vorübergehende Besserung der Leitfähigkeit etwas anderes bedeuten würde. ° Die Art der Registrirung bei diesen Versuchen erlaubte eine weniger genaue Zeitmessung als sonst, was dadurch angedeutet wurde, dass immer nur 5 o geschätzt wurden. ® Bei Berechnung der Mittelzahlen ist das „Gewicht“ der beiden an einem Nerv ermittelten Reihen von Werthen mit je !/, angesetzt. ÜNGLEICHFÖRMIGKEITEN IN DER FORTPFLANZUNGSGESCHWINDIGKEIT. 377 Wesentlichen nur auf einer ganz kurzen Strecke stattfindet, während hier verhältnissmässig lange Strecken untersucht sind. Es handelt sich also darum, die Fortpflanzungsgeschwindigkeit möglichst kurzer und möglichst langer Strecken direct zu vergleichen und damit gleich den Ort zu be- stimmen, an dem die Verzögerung auftritt. Hierzu eignet sich offenbar ebenfalls, wie oben auseinandergesetzt, die Gabelmethode in ausgezeichneter Weise, die hier speciell auch noch andere Vortheile bietet, denn da die immerhin nicht gar zu beträchtlichen Aenderungen bei der gewöhnlichen successiven Methode durch schwer vermeidbare Zufälligkeiten complieirt werden können, ist es gerade hier wichtig, eine Methode zu besitzen, die mehrere Werthe gleichzeitig zu bestimmen gestattet. Ausserdem zeigt diese Methode in sehr anschaulicher Weise, an welcher Stelle diese Verzögerung auftritt. Unter & in Fig. 15 auf Taf. XIII ist eine Curve reprodueirt, welche an einem frischen, noch nicht benutzten Nerven gewonnen ist, unter $ eine Aufnahme, nachdem der Nerv 15 Mal in einer halben Minute gereizt worden ist. Man sieht deutlich eine Verkleinerung des Actionsstromes und gleichzeitig eine Verschiebung der ganzen Curve im Sinne einer Latenz an der Reizstelle. Fig. 16 auf derselben Tafel zeigt dann eine stärkere Er- müdung (Schädigung) mit darauf folgender Erholung. ‘«& ist die Aufnahme am frischen Nerv. Nachdem der Nerv dann 30 Mal in Abständen von je etwa 1 Secunde gereizt worden ist, wurde die darunterstehende Curve £ auf- genommen, und endlich wurde, nachdem der Nerv etwa 10 Minuten ruhig gelegen hatte, die dritte Curve (y) aufgenommen, welche mit der Curve « so gut wie identisch war. In der Curve # sehen wir nun die Leitungs- zeit deutlich verlängert. Im Wesentlichen ist nur der Abstand zwischen Reizmoment und der jedesmaligen ersten negativen Schwankung verlängert, während der Abstand der beiden negativen Schwankungen unter sich gleich- geblieben ist. Dasselbe Resultat zeigen auch die Zahlen der Tabelle auf der folgenden Seite, in der vier Versuche mit der Gabelmethode zusammengestellt sind. Auch hier sind nur die Resultate der Versuchsreihen zusammengestellt, von denen ich noch die Photogramme besitze. Zwei weitere Versuchsreihen ändern das Resultat nicht wesentlich. Rechnet man sie mit, so würde man statt 40 und 12 Proc. (vgl. weiter unten) 40 und 8 Proc. erhalten. Während in Folge der Ermüdung bezw. Schädigung die Leitungszeit zwischen der Reizstelle und der proximalen Elektrode im Mittel von 850 auf 49 0, also um etwa 40°/, steigt, steigt die Leitungszeit zwischen der proximalen und der distalen Elektrode im Mittel von 91 auf 102, also um etwa 12°),. Demnach erscheint die Leitungsgeschwindigkeit nicht in der ganzen Länge des Nerven gleichmässig herabgesetzt, sondern diese Herabsetzung findet im Wesentlichen in der Nähe der Reizstelle statt. 378 GEORG FR. NICOLAT: Zustand des Nerven: 2. IV. 1903. Frisch Ta Tee Eger 1 SoerrTRUrREHRER 3 SEAN EEE TE EEE Ermüdet FT FETT TLTRRIRERV TEN? IKEA TS TE PERL EEE SELONZERGTRSHEENHEEHENE Ausgeruht nn VRR V R: R TmarRREch EEE TREE 5. III. 1904. Frisch RT N TEN TEE TREE Ermüdet EB TATEN AR Rn SNRUTENEeT Ur TERRA ER ARENA EEE Ausgeruht ea n Re reg EI TFTGEITE NG, NIT Weg N/ Te Aa EEE TE 5. III. 1904. Frisch TITE GET TIE VON RRIGETERCRITTOETELUNNT RETTEN N Ermüdet Tre, OR ER TEEN. a RER ee ae Stärker sermüdeb) >> snrrzeran)d: TEr NEE GRERnA SGHE STE FNGGER DR EEE RENTE ER 8. II. 1904. Frisch ERBE Tran N UHREN GET Ermüdet N A AN... Stärkerermüdet: wm Dune nz ae OT RE a T ER VAR EEE Man ist nun wohl kaum berechtigt, hier von einer Ermüdungserscheinung zu sprechen, denn als Ermüdung darf man doch wohl einen Vorgang nur dann bezeichnen, wenn irgend ein Organ durch seine eigene Thätigkeit derartig beeinflusst wird, dass es eben diese Thätigkeit in weniger ausgiebiger Weise zu leisten vermag. Hier aber wird die Leitungszeit auf der Strecke, auf der das Nervenprincip nur fortgeleitet wird, fast gar nicht verändert, sondern nur dort, wo der Nerv durch den seiner Natur nach wahrscheinlich durchaus vom normalen Reiz verschiedenen elektrischen Reiz geschädigt wird. Dass eine Erholung wieder eintreten kann, ist kein Argument gegen den Ausdruck „Schädigung“, wenn auch vielleicht der physiologische Sprach- gebrauch in diesem Sinne herangezogen werden könnte. Aber an sich kann ein geschädigter Körper sich ebensowohl erholen, wie ein ermüdeter, ob- gleich es practisch auch richtiger wäre, dann von Besserung zu sprechen. Im Uebrigen ist das alles ja Definitionssache, aber es scheint mir wünschens- werth und brauchbar, wenn man die beiden Begriffe, die doch sicher zwei UNGLEICHFÖRMIGKEITEN IN DER FORTPFLANZUNGSGESCHWINDIGKEIT. 379 verschiedene Dinge bedeuten, in dem oben angedeuteten Sinne aus einander definirt. Eine eigentliche Ermüdung ist aber in dieser Beziehung auch dann nieht zu constatiren, wenn der Nerv so lange gereizt wurde, bis die negative Schwankung verschwindend klein geworden war. Doch wird auch hier bei zu kleiner negativer Schwankung die Messung naturgemäss ungenau. Die Verlängerung der Leitungszeit nach mehrfacher Reizung be- ruht also im Wesentlichen auf einer Schädigung an der Reiz- stelle. Dass daneben eine geringe Verlängerung der Leitungszeit auch auf der ganzen Nervenstrecke vorhanden ist, scheint aus den Durchschnitts- zahlen der Tabelle auf voriger Seite hervorzugehen. Nun werden ja aber nach mehrfacher Reizung die Actionsströme kleiner, und wir haben schon oben gesehen, dass kleine Actionsströme sich wahrscheinlich etwas langsamer tort- pflanzen als grosse. Ein Theil der Verlangsamung auf der vom Reiz nicht geschädigten Stelle dürfte sich jedenfalls in derselben Weise erklären wie die geringe Verlangsamung bei Anwendung schwächerer Reize, die einen nicht maximalen Actionsstrom zur Folge haben. Doch’ ist in allen diesen Fällen die Verlangsamung auf der Strecke zwischen der mittleren uod distalen Elektrode eine viel ausgesprochenere als in den Versuchen bei Verstärkung des Reizes, was darauf hindeuten würde, dass die ja sicher vorhandene Ermüdung doch einen merklichen Einfluss auf die Leitungsgeschwindigkeit ausübt. Nur bedürfte es, um diesen Einfluss sicherzustellen, weitaus grösserer Versuchsreihen, denn bei den gerade hier sehr flachen und deshalb weniger genau auszumessenden Curven fallen selbst Unterschiede von etwa 10 Proc. noch in die Nähe der Fehlergrenze. Aber jedenfalls beweisen die Zahlen, wenn wir sie mit den Garten’schen Ermüdungsversuchen zusammen betrachten, dass die dromo- trope und inotrope Fähigkeit des Nerven durch Ermüdung in verschiedener Weise beeinflusst wird. Es läge ja an sich nahe, anzunehmen, dass die Schädigung an der Reizstelle sowohl die Fort- pflanzung hinderte, als auch den Actionsstrom verkleinerte. Wenn die Erregung dann wieder auf normales Nervengebiet gelangte, könne zwar die gewöhnliche Schnelligkeit wieder erlangt werden, vergrössern könne sich der Reiz aber nicht. Diese einheitliche Deutung ist aber unmöglich, denn Garten hat ausdrücklich gezeigt, dass der Actionsstrom auch kleiner wird, wenn man die Probereizung nach der Ermüdung an einer nicht gereizten und nur von der Erregung durchlaufenen Stelle vornimmt. Die Thatsache, dass die dromotrope und inotrope Fähigkeit des Nerven durch Ermü- dung ungleich modificirt wird, beweist gleichzeitig die relative Selbstständigkeit dieser beiden Grundfunctionen auch im Nerven. 380 GEORG Fir. NICOLAT: Diese Beobachtungen scheinen auf den ersten Blick nicht völlig überein- zustimmen mit dem Boruttau’schen Localisationsgesetz in der vom Ver- fasser vorgetragenen Form (vgl. Litteratur bei Boruttau und Fröhlich 1904), hält man aber fest, dass eben Ermüdung und Schädigung zwei ver- schiedene Dinge sind, dass dieser Unterschied von den Verfassern aber ' offenbar nicht als wesentlich betrachtet und daher auch nicht scharf durch- geführt ist, so wird man leicht finden, dass meine Versuche nur eine Bestätigung und Erweiterung des thatsächlichen Inhaltes des Localisations- gesetzes bilden, unter das sie sich sehr wohl unterordnen. 6. Unterschied in der Wirkung des constanten Stromes und der Inductionsschläge. Schon auf Seite 365 ist erwähnt, dass auf Tafel XIV, Fig. 17 die dort abgebildeten Curven, welche aus den Versuchen mit Inductionsströmen ab- geleitet sind, einen anderen Verlauf nehmen als die unter Anwendung des constanten Stromes gewonnenen. Der wesentliche Unterschied beruht darin, dass die letzteren alle die y-Axe auf der positiven Seite, die ersteren alle die x-Axe auf der positiven Seite schneiden. Das bedeutet, dass nach Reizung mit Inductionsströmen die negative Schwankung zuerst mit un- messbar grosser Geschwindigkeit, und dann, da die Curve eine gerade ist, mit durchaus gleichförmiger Geschwindigkeit fortschreitet, während nach Reizung mit einem constanten Strom zuerst eine unmerkliche Fortpflanzung (Latenz) stattfindet, und dann erst eine nahezu gleichförmige Geschwindig- keit einsetzt. Diese Latenz ist durchaus sichergestellt. In allen Versuchen (selbst bei Anwendung verhältnissmässig starker Ströme, wo Stromschleifen vorkommen können) schneidet die Linie, welche die einzelnen ermittelten Punkte verbindet, die y-Achse in einer bestimmten Höhe, welche die Latenz darstellt. Diese ist im Mittel aus meinen Versuchen höchstens! gleich 46 o, ein Werth, der nicht unwesentlich höher ist als meine (14 0) und Garten’s ! Den Werth von 46 0 erhalte ich, wenn ich den Anfangs- und Endpunkt der ermittelten Durchschnittscurve aller Versuche mit constantem Strom verbinde und diese Linie bis zum Schnittpunkt mit der Anfangsordinate verlängere. Dieser Punkt ist in Fig. 18 auf Taf. XIV mit L. bezeichnet und seine Entfernung vom coordinalen Anfangs- punkt entspricht, wie leicht ersichtlich, der Latenz. Dabei ist dem schon Seite 359 besprochenen Umstand nicht Rechnung getragen, dass die Durchschnittscurve etwas concav gegen die Abscisse verläuft; berücksichtige ich dies, so erhalte ich unter allen Umständen kleinere Werthe, die je nach der Art und Weise der Berechnung bis zu etwa 30 o heruntergehen. Welcher Werth als der wahrscheinlichere anzusehen ist, hängt davon ab, ob man in der Concavität der Curve einen Ausdruck realer Verhält- nisse sieht oder dieselbe als durch Messungsfehler bedingt erachtet. Nimmt man die Concavität als erwiesen an, so ist zu bemerken, dass dann auch die Theilwerthe der Durehschnittseurve beim constanten Strom, die den Strecken von 2 bis etwa 5 ”” ent- sprechen, bereits ein wenig zu gross angenommen sind. . UÜNGLEICHFÖRMIGKEITEN IN DER FORTPFLANZUNGSGESCHWINDIGKEIT. 381 (9—42 0) frühere Werthe. Doch ist, wie ja auch Garten (1903, S. 36) erwähnt, die nachweisbare Latenz durchaus abhängig von der Stromstärke und den dadurch bedingten Stromschleifen. Ich habe nun verhältnissmässig ‚ schwache Ströme angewandt (meist 2 D., 1 Ohm in Nebenschliessung). . a ER a Als ich einmal eine Versuchsreihe am selben Nerven zuerst mit 1 Ohm, dann mit 10 Ohm im Nebenschluss ausführte, erhielt ich durch graphische Interpolation im ersten Fall eine Latenz von 410, im zweiten Fall eine Latenz von 13c. Der zweite Versuch ist in Tafel XIV nicht mit dargestellt, denn im Gegensatz zu den am Muskel bestimmten Latenzen dürften hier wohl nach dem Gesagten die längsten gefundenen Zeiten nicht die richtiesten — denn richtig gemessen sind die kurzen Werthe auch —, wohl aber die brauchbarsten sein, die uns am besten über die Vorgänge bei der Reizung mit dem constanten Strom aufklären. Da, wie schon erwähnt, die Curve nur bis 2"=® Entfernung bestimmt » werden konnte, so kann man natürlich nicht sicher sagen, ob die Curve wirklich die y-Axe in der angegebenen Höhe schneidet, oder ob sie nicht schon vorher mehr oder weniger steil zum Coordinatenanfangspunkt abfällt; es würde damit eben nur ausgedrückt werden, dass es sich entweder um eine wirkliche Latenz oder um eine Anfangs sehr langsame Leitung handelt. Es entsteht die Frage, ob nicht unter allen Umständen eine Latenz stattfindet und diese nur bei den Versuchen mit Inductionsströmen dadurch verdeckt bezw. übercompensirt wird, dass Stromschleifen des Inductions- schlages sich etwa bis zur ersten Ableitungselektrode ausgebreitet hätten. In diesem Falle wäre die Zeit, welche ich von der Reiz- bis zur Ableitungs- elektrode in Rechnung gesetzt habe, in Wirklichkeit für die Latenz ver- braucht worden. Diese Möglichkeit wird dadurch so gut wie ausgeschlossen, dass auch bei Anwendung schwächster überhaupt wirksamer Inductions- schläge eine Latenz nicht nachweisbar ist. Wir wären also gezwungen anzunehmen, dass ein Inductionsschlag, soweit er überhaupt wirksam ist, sich auch gleich 2"” extrapolar ausbreitet — eine Annahme, die vorläufig unwahrscheinlich erscheinen muss. Vgl. auch Garten (1905), der bei der Discussion der Latenz beim constanten Strom hervorhebt, dass, wenn ein Strom — Inductionsschlag oder constanter Strom — in Folge der durch ihn an einer Grenzschicht herbeigeführten Concentrationsänderung reizt, dann auch die Concentrationsänderung, falls überhaupt Reizung eintritt, beim Inductionsschlag schon am Ende des Schlages über der Schwelle liegen muss, dass dagegen beim constanten Strom wohl in der Regel die aus- reichende Concentrationsänderung erst eine merkliche Zeit nach Schliessung des constanten Stromes auftritt. Hiermit würde übereinstimmen, dass beim Ölfactorius, trotz der nachweislich geringen extrapolaren Stromausbreitung die Latenz bei sehr starken constanten Strömen mehr und mehr abnimmt. 382 GEORG FR. NICOLAT: Wir dürfen daher die Thatsache, die ich schon 1901 nachgewiesen, und die dann Garten 1903 zum Theil auf Grund meiner Zahlen syste- matisch durchgearbeitet hat, als erwiesen annehmen. Der Inductionsstrom ist. sofort wirksam, der constante Strom erst nach einer gewissen Zeit. Ehe wir die Gründe für dieses verschiedene Verhalten erörtern, muss noch auf eine andere Eigenthümlichkeit der Curven hingewiesen werden. Wir sehen auf Tafel XIV, Fig. 18, dass die Curven, welche die Mittelwerthe aus allen Versuchen mit Inductionsströmen und aus allen Versuchen mit constanten Strömen darstellen, eine verschiedene Richtung haben. Wenn eine solche Richtungsverschiedenheit darauf beruht, dass die einzelnen Linien sich in einem Punkte der y-Axe schneiden, wie das z.B. die Curven in Tafel XIV alle mehr oder weniger thun, so bedeutet das nichts weiter, als dass die Versuche eben an verschiedenen Nerven von verschieden gutem Leitungsvermögen bezw. bei verschiedener Temperatur angestellt sind. Hier aber eonvergiren die beiden Curven von der y-Axe aus gegen einen Punkt, der etwa der Nerven- ' länge von 4 ®® entspricht." Aber auch dies hat nicht nothwendig einen anderen Grund als die Convergenz gegen die y-Axe. Denn da die Leitungs- zeit als Function der längeren Nervenstrecke die Latenz als Constante ent- hält und diese Constante bei den Versuchen mit Inductionsschlägen gleich Null ist, so müssen wir, wenn wir die beiden Curven in dieser Beziehung vergleichen wollen, die Latenz auch für die constanten Ströme fortlassen, und die Curve daher parallel zu sich in die Lage der punktirten Linie in Fig. 18, Taf. XIV verschieben. Der Unterschied wäre also erklärt, wenn in beiden Versuchen mit dem constanten Strom besser leitende Nerven oder höhere Temperaturen in Anwendung gekommen wären. Ersteres ist unwahr- scheinlich, letzteres sicher nicht der Fall. Die durchschnittliche Temperatur betrug im Gegentheil bei den Versuchen mit constantem Strom 12-99 C., bei den Versuchen mit Inductionsschlägen 13-2°C. Auch eine sonstige .erklärende Fehlerquelle dürfte schwer zu finden sein. Dass bei den Ver- suchen mit Inductionsströmen der Nerv immer schwimmend gemessen wurde, kann auch nicht der Grund sein. Ich habe mehrmals den Nerv sowohl auf diese Art als auch mit dem Tasterwinkel bezw. photographisch gemessen, und dabei ergab die Messung im Schwimmen immer höhere Zahlen; ein diesbezüglicher constanter Fehler müsste also höchstens die Geschwindigkeit nach Reizung mit Inductionsschlägen grösser erscheinen lassen. Wir dürfen diese Convergenz der beiden Curven also wohl als den Ausdruck realer Verhältnisse ansehen. Dieselbe würde dann bedeuten, dass die durch den constanten Strom gesetzte Erregung, welche Anfangs in Folge ihrer Latenz hinter der durch Inductionsschläge gesetzten zurück- ! Bei Annahme der Concavität liegt der Convergenzpunkt entsprechend näher. ÜUNGLEICHFÖRMIGKEITEN IN DER FORTPFLANZUNGSGESCHWINDIGKEIT. 383 geblieben war, sich schneller fortbewegt als diese. Nun ist nicht einzusehen, warum die auf einem Wege zu Stande gekommene Erregung sich mit anderer Geschwindigkeit fortpflanzt als eine auf anderem Wege zu Stande gekommene Es müssen also, in gewisser Weise unabhängig von der Reizung, von dem constanten Strom ausserdem noch Impulse erzeugt werden, welche eine Beschleunigung, bezw. vom Inductionsschlag solche, welche eine Verzögerung bewirken. Das Erstere ist das Wahrscheinlichere. Und zwar dürften die Verschiedenheiten der Wirkung des constanten Stromes und der Inductionsschläge sich am Einfachsten unter eine Vorstellung sub- summiren lassen, wenn wir annehmen, dass während der Latenzzeit durch den constanten Strom bereits ähnliche Vorgänge wie die spätere Reizung ausgelöst werden, nur bedürfen sie einer gewissen Summirung, um zum Reiz bezw. zur negativen Schwankung anzuwachsen. Diese Vorgänge breiten sich mit derselben oder einer ähnlichen Geschwindigkeit aus wie das Nerven- prineip, und dieses findet daher seinen Weg gleichsam vorbereitet, bereits geebnet und kann aus diesem Grunde schneller fortschreiten. Entscheidend für diese Auffassung wäre es, wenn nach dem Schnittpunkt der beiden Curven dieselben gemeinsam weiter laufen würden, was nach den eben vorgeschlagenen Vorstellungen wahrscheinlich wäre. Zur experi- mentellen Prüfung dieser Frage sind aber die Nerven nicht lang genug. Welcher Art diese vorlaufende Erresung ist, dürfte schwer zu entscheiden sein. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es sich dabei um diejenigen Vor- sänge handelt, die man am markhaltigen Nerven als physiologischen Elektro- tonus zu bezeichnen gewohnt ist. Dass dieser Elektrotonus bei marklosen Nerven sehr viel schwächer ausgebildet ist, ist auch sonst beschrieben worden. VI. Zusammenfassung. Ich fasse im Folgenden die thatsächlichen Resultate der vorstehenden Untersuchung noch einmal kurz zusammen: 1. Die histologisch gleichartigen Theile des untersuchten Nervus Olfactorius des Hechtes (unter Ausschluss der stark mit Bindegeweben durchsetzten nasalen Partien) leiten die Erregung gleich schnell; auch pflanzt sich in ihnen das Nervenprineip in physiologischer (centripetaler) und unphysiologischer (centrifugaler) Richtung mit gleicher Geschwindigkeit fort. 2. Der Reiz als solcher breitet sich — abgesehen von einer eventuellen Latenz — mit gleichförmiger Geschwindigkeit aus. Diese Thatsache ist zwar nur am Hechtolfactorius nachgewiesen, dürfte aber ganz allgemein richtig sein. 3. Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Nervenprincips ist in hohem Grade abhängig: 384 (FEORG FR. NICOLAT: von der Temperatur, von dem mehr oder weniger intacten Zustande des Nerven (durch häufige elektrische Reizung geschädigte Nerven leiten schlechter); sie ist dagegen innerhalb der Fehlergrenze unabhängig: von der Leistungsfähigkeit (inotropen Fähigkeit) des Nerven (der Actionsstrom kann kleiner werden, ohne dass die Fortpflanzungsgeschwindig- keit geändert wird); von der Reizstärke, die nur insofern einen schein- baren Einfluss ausübt, als in Folge von (physikalisch bedingten) Strom- schleifen, bei stärkerer Ausbreitung derselben die von der Erregung zu durchlaufende Strecke verkürzt wird. 4. Die Fortpflanzung der Reizwelle nach Reizung mit In- ductionsschlägen beginnt, wenn diese überhaupt wirksam sind, sofort, nach Reizung mit dem constanten Strom setzt sie immer erst nach einer messbaren Latenz ein, die bis zu !/,, Secunde währen kann, also fünf Mal so lang ist, als die unter gewöhnlichen Umständen gemessene mechanische Latenz des Skeletmuskels. 5. Die Fortpflanzung nach Reizung mit dem constanten Strom erfolgt (nachdem die Latenz vorüber) schneller als nach Reizung mit Inductionsschlägen. Diese Thatsache weist darauf hin, dass während des Latenzstadiums Vorgänge im Nerven stattfinden, welche die spätere Reizausbreitung zu begünstigen im Stande sind. Ob diese Vor- gänge mit jenen Prozessen identisch sind, die man als physiologischen Elektrotonus bezeichnet, müssen spätere Untersuchungen ergeben. Inhalt. Seite I. Einleitung und Rechtfertigung gegen Hermann . . . 2 2 2 2 2.2... 84 II. Versuchsanordnung, insbesondere die Gabelmethode . . -. . 2 2..2..2...846 111 Eehlerquellen: np. nn Eu nl 5 nn a DE TV.2"Methodik.... 5 area MOM, EN NE Be 2 ANBRRLE AA NEE RER 3 SEE V. Resultate . . . a BUtE 1. Die Leitung in neaolosecher anal auphyeiologische Richtung 3 EC 2. Die Fortpflanzung des Reizes . . . LIES: [2 Ein: a DEAN 3. Das Leitungsvermögen des Nerven, „ u... vunun.d. go re 4. Reizstärke und Leitungszeit . . . EN EEE it. BET. “ 5. Aenderung der Leitfähigkeit durch ER Nsbrur; Be 375 6. Unterschied in der Wirkung des constanten Stromes Bud der Indnehonst schlage. DAN N A HT EN FREE VI. Zusammenfassung: 1... 1. 0 2 ar as ar. Se UNGLEICHFÖRMIGKEITEN IN DER FORTPFLANZUNGSGESCHWINDIGKEIT. 385 Litteraturverzeichniss. J. Bernstein, 1897. Zur Geschwindigkeit der Contraetionsprocesse. Pflüger’s Archiv. Bd. LXVII. S. 9. Derselbe, 1898. Gegenbemerkung zu der Engelmann’schen Abhandlung „über den Einfluss der Reizstärke“ u.s. w. Zbenda. Bd. LXX. S. 367. Bethe, 1903. Allgem. Anat. und Physiol. des Nervensystems. Leipzig. R. du Bois-Reymond, 1899, 1900. Ueber die Geschwindigkeit des Nerven- prineips. Centralblatt für Physiologie. 1899. Bd. XIII. 8.513. Dies Archiv. 1900. Physiol. Abthlg. Suppl. 8. 68. E. Boruttau und Fr. W. Fröhlich, 1904. Elektrophysiologische Unter- suchungen. Pflüger’s Archiv. Bd. CV. S. 444. . T.G. Brodie und W.D. Halliburton, 1902. Fatigue in non-medullated nerves. Journ. of Physiol. Vol. XXVIIL 3. p. 181. Cousot, 1897. Contributiona l’e&tude de la vitesse de propagation du courant nerveux. Bull. acad. med. de Belgique. (4) Vol. XI. p. 11. A. Durig, 1902. Wassergehalt und Organfunction. III. Pflüger’s Archiv. Bd. XCII. 6/7. S. 293. Efron, 1885. Beiträge zur allgemeinen Nervenphysiologie. Pflüger’s Archiv. Bd. XXXVI S. 476. Tb. W. Engelmann, 1897. Ueber den Einfluss der Reizstärke auf die Fortpflan- zungsgeschwindigkeit u.s. w. Pflüger’s Archiv. Bd. LXVL S. 574. Derselbe, 1898. Bemerkungen zu J. Bernstein’s Abhandlung. Pflüger’s Archiv, Bd. LXIX. S. 28. Derselbe, 1901. Graphische Untersuchungen über die Fortpflanzungsgeschwindig- keit der Nervenerregung. Dies Archiv. 1901. Physiol. Abthlg. 8. 1. Fick, 1863. Beiträge zur vergleichenden Physiologie der irritablen Substanzen. Braunschweig. Fuchs, 1894. Ueber den zeitlichen Verlauf des Erregungsvorganges in mark- losen Nerven. Sifzungsberichte der Wiener Akademie. Math.-naturw. Cl. 3. Abtblg. Bd. CIII. S. 207. S. Garten, 1901. Ueber rhythmische, elektrische Vorgänge im quergestreiften Skeletmuskel. Abhandlungen der kgl. sächs. Gesellsch. der Wissenschaften. XXVI. Math.-phys. Classe Nr. V. Garten, 1903. Beiträge zur Physiologie der marklosen Nerven. Jena. Helmholtz, 1850. Vorläufiger Bericht über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Nervenreizung. Dies Archiv. Physiol. Abthlg. 8. 71. Helmholtz und Baxt, 1867. Monatsberichte der Berliner Akademie. S. 228. Archiv f. A.u. Ph, 1905. Physiol. Abthlg. Suppl. 25 386 GEORG FR. NIcoLAr: L. Hermann, 1898. Zur Theorie des galvanischen Wogens. Pflüger’s Archiv. Bd. LXXIII. 10. S. 449. Derselbe, Zur Theorie der Erregungsleitung und der elektrischen Erregung. Ebenda. Bd. LXXV. 11/12. 8. 574. Derselbe, 1902. Zur Methode der Geschwindigkeitsmessung im Nerven. Zbenda. BASCXT. 13742. 82180: Jenkins und Carlson, Journal of comparative neurology. 1904. Vol. XIV. p.85. Lautenbach, 1877. Note sur V’effet de Pirritation d’un nerf parcouru par un courant constant. Arch. des sciences phys. et nat. H. Munk, 1860. Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. Dies Archiv. Physiol. Abthlg. S. 798. G. F. Nicolai, 1901. Ueber die Leitungsgeschwindigkeit im Riechnerv des. Hechtes. Pflüger’s Archiv. Bd. LXXXV. 1/3. 8. 65. J. Rosenthal, 1875. Fortsetzung der Studien über Reflexe. Monatsbericht der Berliner Akademie. 8. 419. Derselbe, 1883. Ueber ein neues Myographion und einige u.s.w. Dies Archiv. Physiol. Abthig. Suppl. S. 240. Rutherford, 1868. Electrotonus. Journal of anatomy and physiology. Vol. II. 8. 87. S. C. M. Sowton, 1900. Observations on the electromotive phenomena of non medullated nerve. Proceed. Roy. Soc. LXVI. 431. 8. 379. W. Stirling, 1875. Ueber die Summation elektrischer Hautreize. Valentin, 1868. Moleschott’s Untersuchungen. Bd. X. S. 526. Verwej, 1893. Ueber die Thätigkeitsvorgänge ungleich temperirter motor. Organe. Dies Archiv. 1893. Physiol. Abthlg. S. 504. Vintschgau, 1883. Untersuchungen über die Frage, ob die Geschwindigkeit u.s.w. Pflüger’s Archiv. Bd. XXX. 8.17 und Bd. XL. S. 68. G. Weiss, 1903. l’influence des variations de temperature et des actions meca- niques sur la condutibilite et l’exitabilit€ des nerfs. Journ. de Physiol. T.1I. p. 1. Derselbe, 1899. Sur l’influence de la tension sur lexcitabilitE des nerfs. Compt. rend. Soc. de biol. T. CV. W. Wundt, 1876. Untersuchungen zur Mechanik der Nerven und Nerven- centren. Stuttgart. UNGLEICHFÖRMIGKEITEN IN DER FORTPFLANZUNGSGESCHWINDIGKEIT. 387 Erklärung der Abbildungen. Tafel XII-XIV.: Tafel XII. Fig. 11. Analyse der Gabelmethode. « ist eine Aufnahme mit Hülfe der Gabelmethode; 3, y und ö sind Aufnahmen, die bei unveränderter Lage der Elektroden, aber nur unter Verwendung von je 2 Ableitungselektroden angefertigt sind. Die beiderseits mit Pfeilspitzen versehenen Linien weisen darauf hin, dass sich die Abhebungsmomente bei der Gabelmethode tbatsächlich im richtigen Augenblick markiren. ! Die Zeitabseisse ist bei allen 4 Curven, soweit man messen kann, durchaus gleich. Fig. 12a und b. Zwei Aufnahmen mit Hülfe der Gabelmethode unter Verwendung von je 4 Ableitungselektroden. Beide Curven sind durchaus von einander unabhängig und der Abhebungsmoment ist ebenso unzweideutig scharf zu erkennen, wie bei der Aufnahme gewöhnlicher Capillarelektrometercurven. Tafel XIII. Fig. 13. Einfluss der Reizstärke. Drei Aufnahmen mit Hülfe der Gabel- methode. Reizung im Moment des senkrechten Striches. Die kleinen Pfeile bezeichnen jedes Mal dieselbe Zeit, die vom Moment der Reizung verflossen. Ihre minimale Ab- weichung von einer senkrechten Linie bezeichnet also die minimalen Unterschiede der Zeitabseisse. Reizung mit Inductionsschlägen bei « Rollenabstand = 5 =, bei $ Rollenabstand = 3, bei y Rollenabstand = 1. Die beiden schrägen Linien, welche die Ausschlagsınaxima mit einander verbinden, geben ein ungefähres Maass für die Strecke, um welche die Curven gegen einander verschoben erscheinen. Abgesehen von dieser Verschiebung sind die Curven einander fast congruent. Fig. 14. Einfluss der Reizstärke. Die beiden Curven sind so über einander photographirt, dass die Reizmomente auf einander fallen, was man an den beiden senk- recht übereinanderstehenden Hebelausschlägen bei 9, die den Reizmoment markiren, erkennt. Reizung mit Inductionsschlägen bei « Rollenabstand = 5 ““, bei $ Rollenabstand — 5 .m 25* 388 GEORG FR. NICOLAI: ÜNGLEICHFÖRMIGKEITEN UT. S. w. Fig. 15. Einfluss der Ermüdung (Schädigung) (vgl. unter Fig. 14). « Auf- nahme am frischen Nerven; $ Aufnahme, nachdem der Nerv in einer halben Minute etwa 15 Mal gereizt worden ist. Man sieht bei £ eine Verkleinerung des IB ineeteemes und gleichzeitig eine Ver- schiebung der ganzen Curve im Sinne einer Latenz an der Reizstelle. Fig. 16. Einfluss von Ermüdung (Schädigung) und Erholung (vgl. unter Fig. 14). « Aufnahme am frischen Nerven; $ Aufnahme, nachdem durch wiederholte Reizung der Actionsstrom fast zum Verschwinden gebracht war; y Aufnahme, nach- dem sich der Nerv 10 Minuten wieder erholt hatte. Während « und y fast einander congruent verlaufen, sieht man bei $ eine starke Verkleinerung des Actionsstromes und eine bedeutende Verzögerung seines Einsetzens. Tafel XIV. Fig. 17. Die obere Gruppe von Linien bildet die Ergebnisse von 7 Ver- suchsreihen mit dem constanten Strom. Es sind dieselben Curven, die in Fig. 18 so dargestellt sind, wie sie sich aus der Messung direct ergeben. Hier sind sie auf mittlere Geschwindigkeit reducirt (vgl. S. 359), um auf diese Weise die Grösse der variablen Fehler übersehen zu können, und um daraus den wahrscheinlichen Fehler zu berechnen. Die untere Gruppe von Linien bildet die Ergebnisse von 10 Versuchsreihen mit Inductionsschlägen. Es sind die experimentell direct bestimmten Resultate (vgl. zur Erklärung S. 358£.). Die kleinen Kreuze bezeichnen die Durchschnittseurve aus allen Werthen. Diese Curve schneidet die Abseisse im Punkte $?, dessen Entfernung vom co- ordinalen Anfangspunkt 1-2” der mittleren Grösse der Ausbreitung von (reizenden) Stromschleifen entspricht. Fig. 18. Ergebnisse der Versuchsreihen mit constantem Strom. Es sind die experimentell direet bestimmten Resultate und die Durchschnittscurve aus allen Werthen. Diese Curve schneidet die y„-Axe im Punkte Z, dessen Entfernung vom Coordi- naten-Anfangspunkt = 46 o der mittleren Grösse der Latenz entspricht. S. Anm. zu 3.380. Die beiden der Abscisse am nächsten gezeichneten Curven sind die Durchschnitts- curven aller Versuche mit Inductionsschlägen (e—x) und aller Versuche mit constantem Strom (— — —). Sie sind beide senkrecht zur Abseisse soweit verschoben, dass ihre Verlängerungen beide durch den Coordinaten-Anfangspunkt verlaufen (vgl. S. 380 u. 382). Anm. Es wäre correcter gewesen, die Durchschnittscurve aller Versuche mit In- ductionsschlägen nicht senkrecht zur Abscisse, sondern parallel zu ihr um 1-2 == zu verschieben (vgl. 8. 375). Da die Linie fast genau eine Gerade ist, so macht dies prak- tisch jedoch gar nichts aus. Ich habe die Curven auf ein und demselben Blatt gleichzeitig gezeichnet und die beiden Curven wichen an keiner Stelle um mehr als die Breite des die Curve darstellenden Striches von einander ab. Da die Figur schon gestochen war, als ich das Versehen bemerkte, und da der dadurch entstehende Fehler den übrigen Fehlern gegenüber sicherlich verschwindend klein ist, so genügt es, auf das Versehen aufmerksam zu machen. Untersuchungen über die Verwandlung der Insectenlarven. II. Von J. Dewitz. Im Jahrgange 1902 (8. 327—340 und 8. 425—442) dieser Zeitschrift habe ich in eingehender Weise meine früheren experimentellen Untersuchungen über die Rolle von Enzym bei der Verwandlung von Insectenlarven mit- getheilt. Ich habe dann seit jener Zeit diese Untersuchungen fortgesetzt und die dabei erhaltenen Resultate im Zoolog. Anzeiger Bd. 28 8. 166—182 und S. 370— 312, 1904, kurz zusammengefasst. Ich möchte nun diese letzten Beobachtungen hier ausführlicher behandeln. Die gesammten von mir ge- machten Mittheilungen bezüglich der Verwandlung der Insectenlarven finden sich untenstehend! aufgeführt. 1. Zunächst darf ich auf die früher von mir mitgetheilte Verhinderung der Verwandlung von Fliegenlarven durch Verkorken in kleinen Glastuben zurückkommen. Ich habe ausgeführt, dass die Verfärbung des Larvenbreies bezw. des Blutes der Larven und die Verfärbung der sich verpuppenden Larven, bei denen ein oxydirendes Enzym wirksam ist, ebenso durch Luft- abschluss verhindert werden, wie die Verwandlung selbst. Man konnte ! Verhinderung der Verpuppung bei Insectenlarven. Archiv für Entwickelungs- mechanik. 1901. Bd. XI. S. 690—699. — Recherches experimentales sur la meta- morphbose des insectes. — Sur P’action des enzymes (oxydases) dans la metamorphose des insecetes. Compt. rend. Soc. Biol. Paris. T. LIV. Seance du 18 Janvier 1902. — Der Apterismus bei Insecten, seine künstliche Erzeugung und seine physiologische Er- klärung. Dies Archiv. 1902. Physiol. Abthlg. S. 61—67. — Untersuchungen über die Verwandlung der Inseetenlarven. Zbenda. S. 327—340. — Weitere Mittheilungen zu meinen „Untersuchungen über die Verwandlung der Insectenlarven“. Kbenda. S.425—442. — La suppression de la metamorphose chez les larves d’insectes. Compt. rend. Soc. Biol. Paris. T. LIV. Seance du 21 Juin 1902. — Zur Verwandlung der Insectenlarven. Zoologischer Anzeiger. 1904. Bd. XXVII. S. 166—182. — Künst- liche Verfärbung bei Inseeten. Zbenda. S. 370—372. 390 J. DEwITZ: jedoch bei diesen Versuchen auf den Gedanken kommen, dass sich in den verschlossenen Tuben in Folge der Athmung der Larven Feuchtigkeit an- sammele und dass diese der Verwandlung der Thiere hinderlich sei. Denn nach E. Bataillon! kann in einem eng begrenzten Raum die Transpiration von Raupen so stark werden, dass sich auf den Wänden des Raumes Wasserdampf in grosser Menge niederschlägt und dass die mit Wasserdampf sesättigte Luft die Verwandlung aufhält. Ich war daher bemüht, aus den zugekorkten Glastuben die Feuchtigkeit durch Chlorcalcium zu entfernen. Als Versuchsobject war wie früher Lucilia caesar gewählt, denn, wie ich erwähnt habe, braucht Musca erythrocephala zur Verwandlung nicht viel Sauerstoff und kann sich auch in verschlossenen Tuben verpuppen. Aber auch bei L. caesar darf man die Versuche nicht zu spät im Jahre vor- nehmen, da sich die Verwandlung dann lange hinziehen oder ganz aufhören kann. Diese neueren Versuche, bei denen Chlorcalcium in Anwendung kam, wurden in zweierlei Weise ausgeführt. In den zuerst angestellten Versuchen befand sich in der verkorkten Glastube eine kleinere, welche um soviel enger war, dass ein geringer Raum zwischen den beiden Tuben blieb. Die innere Tube war ausserdem bedeutend kürzer als die äussere. In die innere Tube wurde etwas Watte gesteckt, die Larven wurden in sie hineingesetzt und die Tube mit einem Stückchen klarem Stoff überbunden. Die Enden des Stoffes wurden dicht am umgebundenen Faden abgeschnitten. Theils auf dem Boden der äusseren Tube, theils höher zwischen den beiden Tuben befand sich fein zerstossenes Chlorcalcium. Schliesslich wurde die äussere Tube mit einem guten, weichen Korke zugekorkt. Von den von mir aus- geführten Experimenten führe ich das Folgende an: Der' Versuch begann Donnerstag, 23. Juni 1904, 4® p.m. (= 4 Uhr Nachmittags), und es wurden zu ihm kräftige, fette Larven von L. caesar verwandt. Als Zeugen dienten 60 Larven, welche sich in einem weiten Gefäss befanden, auf dessen Boden etwas lufttrockener Sand gestreut war. Dieser Sand bedeckte die Larven aber in keiner Weise Sie konnten auf ihm nur umherkriechen. Dieses die Zeugen enthaltende Gefäss wurde mit einem Stück klarem Zeug überbunden und stand neben den Versuchsthieren in einem weiten, geschlossenen Schrank. Von den beiden Tuben, in welchen die Versuchslarven eingeschlossen ı E. Bataillon, Recherches anatomiques et experimentales sur la metamorphose des amphibiens anoures. Annal. Univ. Lyon. T. II. Fasc.1. p. 1—123. 6 pl. 4 Fig. Paris 1891. — Derselbe, La metamorphose du ver & soie et le determinisme &volutif. Bull. scient. France- Belgique. 1893. T. XXV. p. 18—55. — Derselbe, Les meta- morphoses et l’ontogenie des formes animales. Zev. bourguignonne de l’enseignement superieur. 1893. p. 1—32. — Derselbe, Nouvelles recherches sur les mecanismes de /’evolution chez le Bombyx mori. Zbenda. T. IV. No. 3. p. 1—16, UNTERSUCHUNGEN ÜBER DIE VERWANDLUNG DER INSECTENLARVEN. 391 waren, hatte die äussere einen Inhalt von 11°” und die innere einen solchen von 21/, «m, Am Freitag, 6% p.m. (= 6 Uhr Nachmittags), waren von den 60 Zeugen noch 15 Exemplare unverpuppt und am Sonnabend, 8? am. (= 8 Uhr Vormittags), nur noch zwei. Die Doppeltube mit den Versuchthieren wurde daher geöffnet und es wurden in ihr gefunden: 2 Puppen und 20 un- verpuppte Larven. Diese bewegten sich gut und waren sehr frisch. Es waren also am Sonnabend von den Zeugen 3-3 Procent und von den Ver- suchsthieren 90-9 Procent unverwandelt geblieben. Bei der Verwendung einer solchen Doppeltube kann es leicht geschehen, dass die Larven, besonders wenn es heiss ist, ersticken. In dem folgenden Versuche habe ich daher die innere Tube durch ein Säckchen ersetzt. Als der Versuch angestellt wurde, vollzog sich die normale Verwandlung bereits etwas langsamer als im Juni und Juli. Er begann Dienstag, 16. August 1904, 11® a.m. Die 23 Zeugen wurden in eine kleine, offene Krystallisirschale gesetzt, auf deren Boden etwas lufttrockener Sand gestreut war. Die zum Versuche gebrauchte Tube hatte 11 m Inhalt, 8°® Höhe und 1!/,°= Weite. Auf dem Boden der Tube wurde etwas zerstossenes Chlorcaleium geschüttet. Die 18 zum Versuche bestimmten Larven wurden in ein Säckchen aus nicht dichtem weissen Baumwollenstoff gebracht, welches in die Tube gesteckt wurde. Das Säckchen wurde mit einem Faden zu- gebunden und das Ende des Fadens hing aus der verkorkten Tube heraus, so dass das Säckchen nicht auf den Boden der Tube und auf das Chlor- caleium fallen konnte. Der Kork, der regelmässig und weich sein muss, darf nicht zu fest in die Tube gedrückt werden. Zur Herstellung des Säckchens schnitt ich aus dem Stoff ein kreisrundes Stück aus, nahm es an der Peripherie zusammen und band es mit dem Faden zu. Donnerstag, 18. August, 9% a. m., waren alle Zeugen verpuppt. Die Tube wurde daher geöffnet und das Säckchen aufgebunden. Es befand sich in ihm eine braune, normal geformte, aber weichhäutige Puppe. Die übrigen 17 Exemplare waren unverpuppt. Die Larven waren sehr frisch und munter und suchten zu entfliehen. Sie waren in keiner Weise geschrumpft. Sie wurden sodann in die Krystallisirschale gelegt, in der sich die Zeugen ver- wandelt hatten. Freitag, 1lta.m., also nach 26 Stunden, waren von diesen Larven 8 und um 6" p. m. desselben Tages 15 Exemplare verpuppt. Es blieben noch 2 unverpuppte Larven übrig. Sonnabend, St a. m., waren auch sie verwandelt. Die Verwandlung vollzog sich bei diesen Versuchs- thieren nach der Befreiung also ebenso schnell wie bei den Zeugen. 2. In meinen früheren Arbeiten habe ich von Versuchen berichtet, in denen eine nicht zu hohe Schicht von Wasser oder von einer Lösung von Chlornatrium den Boden des die Fliegenlarven aufnehmenden Gefässes be- 392 J. DEwITZ: deckt. Die Larven hielten sich auf dem Boden, der aus gewaschenem Sande oder gewaschener Leinwand bestand, vorübergehend auf und krochen andererseits an den Wänden des Gefässes umher. Im Wasser verwandeln sich die Larven nicht oder bedeutend schwerer als im Trocknen. Und an den Wänden konnten sie nur insoweit ruhen, als sie sich, von der Capillar- kraft der ihrem Körper anhaftenden Wasserschicht unterstützt, an der Glas- oberfläche festhielten. Jedes Zusammenziehen des Körpers, wie es bei dem Uebergange der Larve in die Puppe stattfindet, lässt die Larve in das Wasser zurückfallen. Wie aus früheren Versuchen hervorging, eignen sich zu diesen Versuchen besonders die Larven von Sarcophaga carnaria. So hatte damals ein solcher Versuch mit Larven von S. carnaria am 11. August begonnen. Am 18. August waren 16 Larven lebendig. Am 25. August 14 Larven und am 1. September 8 Larven. Als dann die überlebenden Larven herausgenommen und in Sand gesetzt wurden, verwandelten sie sich am zweiten und dritten Tage. Diejenigen Larven, Welche in diesem Versuche als Zeugen fungirten, brauchten die gleiche Zeit zu ihrer Verwandlung, denn sie verwandelten sich nach dem 11. August, am zweiten und dritten Tage. Ich möchte nun noch neue in dieser Weise angestellte Experimente mit- theilen, die die früheren bestätigen werden. Der Boden einer grösseren Krystallisirschale von 11°® Höhe und 20 Durchmesser wurde mit einer Schicht von gewaschenem, grobem Sand bedeckt und Wasser in der Höhe einer Larve in die Schale gegossen. Die Schale wurde mit einer schweren, dicken Glasplatte bedeckt. Zwischen der Glasplatte und dem unebenen Rande der Schale waren grössere Zwischen- räume, welche den Austausch der Luft, aber nicht das Entfliehen der Larven gestatten. Am 21. August 1903 wurde eine Menge von zur Verwandlung reifer! Larven von S. carnaria eingesetzt, unter denen sich wohl einige von M. erythrocephala befanden. Die meisten Larven ertranken sehr bald, so dass am 25. August nur noch 15 Stück lebten. Diese Larven erhielten ! Um reife Larven der verschiedenen Arten (Lucilia caesar, Musca erythrocephala und Sarcophaga carnaria) zu erhalten, verfuhr ich in folgender Weise. In einen grösseren Blumentopf wird ein grosses Stück Fleisch gelegt und der Topf im Freien aufgestellt. Sind genug Fliegeneier vorhanden, so stellt man den Topf in einen Kasten oder in eine weite Schüssel, in denen sich eine hohe Schicht von feuchtem Sand befindet. Wenn sich die Larven verwandeln wollen, verlassen sie das Fleisch und fallen auf den Sand, in den sie sich hineinbohren. Im Allgemeinen verlassen die Larven, von welchen die Eier an darauffolgenden Tagen abgelegt sind, auch ziemlich zu gleicher Zeit das Fleisch. Wenn dann die Larven anfangen sich in grösserer Anzahl zu ver- puppen, so sind dieselben zur Verwandlung reif. Die Fliegen legen sehr gern auf einem Hammelkopf ihre Eier ab. Das an diesem haftende Fleisch genügt aber einer grösseren Menge Larven nicht. Man kann deshalb die Eier von dem Kopf abnehmen und sie auf anderes Fleisch legen. UNTERSUCHUNGEN ÜBER DIE VERWANDLUNG DER INSECTENLARVEN. 393 sich dadurch am Leben, dass sie an der Wand der Schale oder an der auf diese gedeckten Glasplatte umherwandelten oder sich in dem von der Glas- platte und dem Schalenrande gebildeten Winkel festhielten, wobei die Capillar- kraft des ihrem Körper anhängenden Wassers sie unterstützte. Sie stiegen dann auch auf den mit Wasser bedeckten Boden herab, wo sie allerdings zahlreich umkamen. Auf den etwas erhabenen Theilen des Grundes ent- standen in den letzten Tagen 2 Puppen. Der Bestand war am 2. September, also 12 Tage nach Beginn des Experimentes, der folgende: 4 lebendige Larven und 2 Puppen. Der Rest war todt. Die 4 Larven hatten sich also in Folge der Wirkung der äusseren Umstände 12 Tage erhalten, ohne sich zu verwandeln. Sie waren 12 Tage lang Larve geblieben. Als sie aber am 2. September in ein Gefäss mit angefeuchtetem Sand gelegt wurden, vollzog sich jetzt ihre Verwandlung und war am 4. September, d. h. nach 2 Tagen, beendet. In dem folgenden Experimente wurde die Wasserschicht noch erhöht. Auf dem Boden eines nicht kleinen Conservenglases mit abgeschliffenem Rande wurde eine Schicht gewaschener Sand gelest und auf diese Schicht Wasser in der doppelten Höhe einer Larve gegossen. Am 9. Juli wurden von reifen, in voller Verwandlung begriffenen Larven von carnaria, unter - denen sich wohl einige erythrocephala befanden, 56 Stück in dieses Gefäss gelegt und dasselbe mit einer Glasplatte zugedeckt. Im Zeitraum von einigen Tagen gingen 36 Larven zu Grunde Die übrigen 20 Larven blieben ziemlich lange am Leben. Ihre Zahl verminderte sich aber nach und nach. Am 25. Juli waren noch 2 Larven übrig. Am 27. Juli wurde eine dieser 2 Larven als Puppe an der Glaswand hängend gefunden. Das an der Larve haftende Wasser hatte ihr in Folge seiner Capillarität bei der Verpuppung einen genügenden Halt gewährt. Ein solcher Fall ist sehr selten. Die letzte Larve wurde am 29. Juli, also nach 20 Tagen, heraus- genommen und in feuchten Sand gesetzt, in dem sie am dritten Tage als Puppe von carnaria gefunden wurde. Bei Beurtheilung dieser Wasserexperimente kommen mehrere Momente in Betracht. Ursprünglich beabsichtigte ich in diesen Versuchen die Luft- zufuhr zu beschränken. Ich dachte mir, dass sich die Larven auf dem Boden aufhalten oder in den Sand einwühlen und nur dann und wann das hintere Leibesende mit den Athemöffnungen über den Spiegel des Wassers hervorstrecken würden, unter dem sie sonst von der Luft abgeschnitten wären. In Wirklichkeit aber gestalteten sich die Verhältnisse anders. Zu Anfang des Experimentes wühlen sich zwar die Larven unter der Wasser- schicht in den Sand; der Aufenthalt in diesem nassen Medium scheint ihnen aber unangenehm zu sein. Denn bald fangen sie an, an den Wänden des Gefässes umherzuirren. Sie fallen dabei häufig in das Wasser zurück. 394 J. DEwITz: Hier verweilen sie dann bisweilen einige Zeit, suchen aber im Allgemeinen möglichst bald die Gefässwand zu erreichen. Ist die Wasserschicht nur so hoch, dass der grösste Theil einer Larve aus ihr herausragt, so kann auf erhöhten Theilen des Sandbodens Verpuppung stattfinden. Liegt der Wasser- spiegel aber weit über der auf dem Boden befindlichen Larve, so kommt Verwandlung nicht vor; die allermeisten Larven gehen aber auch durch Ertrinken zu Grunde. Die Puppen, welche sich bisweilen unter so un- natürlichen Verhältnissen bilden, sind oft missfarbig und ihre Form ist oft nicht die Tönnchenform normaler Puppen, sondern mehr oder minder die langgestreckte Form der Larven. Unter solchen äusseren Verhältnissen kann nun zunächst die zeitweise be- schränkte Athmung von Einfluss sein, welche einer regelmässigen Verwandlung hinderlich ist. Da ferner die Larven von Zeit zu Zeit in das Wasser fallen, so tragen sie eine Wasserhülle mit sich, welche in ähnlicher Weise wie die Oel- hülle geölter Larven wirken könnte, von der ich früher berichtet habe. Ferner kommt die Feuchtigkeit in Betracht. Nach Bataillon wirkt bei Raupen mit Feuchtigkeit beladene Luft auf die Verwandlung schädlich. Ich selbst habe früher mitgetheilt, dass die Larven von Microgaster glomeratus auf feuchte Leinwandlappen gelegt weder ihren Cocon spinnen, noch sich ver- wandeln. Was aber diesen letzten Punkt angeht, so muss ich denselben dahin berichtigen, dass, sobald diese parasitische Larve die Raupe von Pieris brassicae verlassen hat, sie sich unter normalen Verhältnissen zwar mit dem bekannten schwefelgelben Cocon umhüllt, dass sie sich aber erst sehr viel später zu verwandeln scheint. Denn ich habe einige Jahre später die im Herbst erhaltenen Cocons im Winter in einem ungeheizten Zimmer ge- halten, sie Anfangs März in das Warme gebracht und nach 8 Tagen aus dem Cocon genommen. Die Larven waren aber selbst um diese Zeit noch nicht verpuppt. Aus dieser Beobachtung würde folgen, dass sich die Larven auch normaler Weise erst nach längerer Zeit verwandeln und dass daher die Feuchtigkeit nur das Spinnen verhindert hatte. Es sei dabei im Vor- übergehen bemerkt, dass, wenn unter solchen Verhältnissen dennoch ein kleines Gespinnststück von der Larve angefertigt wurde, dieses nicht wie gewöhnlich schwefelgelb, sondern sehr viel heller oder weiss ausfiel. Ferner”fand ich, wie ich ebenfalls früher erwähnt habe, dass Raupen von Pieris brassicae, welche in von Wasser triefende Leinwandlappen gehüllt waren, sich theils verwandelten, theils starben. Was die Fliegenlarven angeht, so sei schliesslich noch folgende Beobachtung erwähnt. Wenn sich im Sommer reife Fliegenlarven in trockenem Sand befinden, die Verpuppung bereits im Gange ist und man dann den Sand sehr stark, durch und durch, mit Wasser feucht macht, so kann in der Verwandlung ein vorübergehender, kurze Zeit anhaltender Stillstand eintreten. | UNTERSUCHUNGEN ÜBER DIE VERWANDLUNG DER INSECTENLARVEN. 395 Obwohl ich mir noch kein bestimmtes Urtheil über den Einfluss der " Feuchtigkeit auf die Verwandlung bilden kann, so glaube ich doch, dass ' sie in gewissen Grenzen und bei gewissen Objecten verzögernd wirken kann. Allerdings weiss ich dabei nicht, was hierbei auf Rechnung der durch Ver- dunstung herbeigeführten Abkühlung zu setzen ist. Denn Kälte wirkt ent- schieden hindernd auf die Verwandlung, wenigstens auf die der Fliegen- maden (erythrocephala), wie ich aus gelegentlich gemachten Beobachtungen ersehen konnte. Hierbei fand ich Folgendes: Ende November und im December giebt es in Villefranche (Rhöne), wo ich diese Beobachtungen angestellt habe, noch warme Tage. Wenn man dann im Freien Fleisch aufstellte und die erhaltenen Eier, welche in der Regel der Art erythroce- phala angehörten, im Zimmer aufzog, so erhielt man Larven, welche reif geworden waren, wenn es draussen schon kälter war. Wenn man dann solche reifen Larven in trockenen Sand legte und in das Freie setzte, so konnte man beobachten, wie sicher die Kälte auf die Verhinderung der Verwandlung wirkte Traten dazwischen warme Tage ein, so entstanden Puppen. Es wurden von mir ferner frisch gebildete, noch weisse Puppen bei O bis + 1°C. in das Freie gelegt. Unter diesen Umständen war die Verfärbung sehr verzögert und konnte sich über Tage hinziehen. Larvenbrei (mit etwas Wasser zerriebene Larven) färbte sich dagegen in der normalen Zeit vollständig schwarz, als ein daneben liegendes Thermometer — 0,5 ° anzeigte. Was andauernde Trockenheit angeht, so kann diese der Verwandlung entgegenwirken. Wie bereits früher erwähnt, beobachtete A. Giard, dass parasitische, in den Puppen von Epilachna argus befindliche Hymenopteren- larven trocken aufbewahrt, noch nach einem Jahre unverpuppt waren. Und ich selbst habe, wie ich ebenfalls bereits mitgetheilt habe, gefunden, dass, wenn man im Herbst: Larven von L. caesar, die sich zu dieser Jahreszeit nicht mehr verpuppen, in lufttrockenem Sande bis zum Frühjahr aufbewahrt, die Larven allmählich absterben, ohne dass es bei irgend einem Exemplar zur Verwandlung käme. Ein ferneres Moment, das bei der Beurtheilung der Wasserexperimente in Betracht kommt, ist die beständige Bewegung der Larven. Dieselben verlassen das ihnen unangenehme Element, irren an der Glaswand des Gefässes umher, fallen in das Wasser, verlassen dieses wieder u. s. w. Wenn sie sich, unterstützt von der Adhäsion der sie umgebenden Wasser- schicht, an der Glaswand festhalten, so kommt dabei wohl auch die Thätig- keit ihrer Musculatur in Anwendung. Welches könnte nun aber der physiologische Effect dieses Umherwanderns, dieser Mukelthätigkeit sein? Es würde vielleicht nicht unmöglich sein, dass der thätige Muskel etwas secernirt, was die Verwandlung verhindert oder verzögert. Bei dieser Be- 396 J. DEWITZ: trachtung fällt mir folgender von E. Yung! angestellte Versuch ein. Dieser Experimentator hat befruchtete Froscheier sich in durch bestimmte Vorrichtungen bewegtem Wasser entwickeln lassen. Die gesammte Wasser- masse des Gefässes befand sich in beständiger Bewegung und ihre Ober- fläche war von Wellen durchlaufen. Dieses Experiment hat folgende Resultate gegeben. 1. Frisch befruchtete Eier gehen zu Grunde 2. Werden Eier mit Embryonen der Behandlung unterworfen, so entwickeln sie sich unter grosser, besonders am Anfange stattfindender Sterblichkeit. Die unter solchen Umständen ausgekommenen Larven wachsen sehr viel langsamer als die Zeugen. Die Hinterfüsse zeigten sich erst 28 Tage später als bei den normalen Larven und die Vorderfüsse 42 Tage später. In 5 Serien mit je 100 ausgekommenen Individuen waren am ersteren Zeitpunkt nur 16 Procent, am letzteren nur noch 5 Procent am Leben geblieben. Diese Versuche wurden bis zum 15. November fortgesetzt. Bis zu diesem Datum hatte sich kein junger Frosch entwickelt. Die Zahl der überlebenden Larven war jetzt im Mittel auf 2 Stück für je eine Serie herabgesunken. Diese Exemplare waren damals fast 8 Monate alt, während die normalen Larven alle im Laufe des dritten Monats Frösche gegeben hatten. Die Bewegung des Wassers war also mit der Vollendung der Metamorphose unvereinbar. Die behandelten Larven unterschieden sich von den normalen Thieren durch die bedeutende Breite und Länge des Schwanzes, sowie durch die starke Entwickelung der Behornung des Mundes. Im Alter von 8 Monaten waren die behandelten Larven von aussergewöhnlicher Grösse und denjenigen Larven ähnlich, welche man durch Aufzucht bei niederer Temperatur während eines Jahres erhält. Die Bewegung des Wassers steht demnach nicht dem Wachsthum, wohl aber der endgültigen Metamorphose, der Resorption des Schwanzes entgegen. Ich möchte hierzu bemerken, dass die Angabe von Yung über die starke Entwickelung des Schwanzes der Larven mit den Beobachtungen übereinstimmt, welche Camerano an den in den Berggewässern der italienischen Alpen lebenden Amphibienlarven angestellt hat. ? Was uns hier besonders interessirt ist der Umstand, dass die beständige Bewegung der Froschlarve und die durch sie hervorgerufene Muskelbewegung der Metamorphose hinderlich ist. Denn es ist wohl anzunehmen, dass in dem fortwährend bewegten Wasser die Musculatur des schwimmenden Thieres ohne Unterlass in Thätigkeit erhalten wird. 3. Da erhöhte Temperatur im Stande ist die Enzyme abzuschwächen, so müsste sie in dem Falle, in welchem ein Enzym bei der Verwandlung ! E. Yung, Influence de mouvements de vague sur le developpement des larves de grenouille.. CO. R. Acad. Sc. Paris. 1898. T. CXXVI. p. 1107—1109. ® Vgl. J. Dewitz, Ueber den Rheotropismus bei Thieren. Dies Archiv. 1899. Physiol. Abthl. S. 234. UNTERSUCHUNGEN ÜBER DIE VERWANDLUNG DER INSECTENLARVEN. 397 der Insecetenlarven wirklich mitwirkt, auch dieser Verwandlung hinderlich sein. Es erscheint allerdings von vornherein schwierig, die Larven auf der Grenze einer solchen Temperatur längere Zeit am Leben zu erhalten, welche Enzyme abschwächt oder vernichtet. Und in der That gingen in mehreren Versuchen Fliegenmaden bereits zu Grunde noch ehe man ein einiger- maassen befriedigendes Resultat erhalten hätte. Dagegen gewann ich durch eine besondere Zuchtmethode verkümmerte Larven, welche mir in einem 'Wärmeexperiment einen guten Erfolg gaben. Da ich aber das Wärme- experiment unter diesen besonderen Verhältnissen zu wiederholen nicht Ge- ‚legenheit hatte, so möchte ich es nur mit ausdrücklichem Vorbehalt hier mittheilen. Gegen Ende October 1902 wurde ein Hammelkopf in das Freie ge- stellt, damit Fliegen auf ihm ihre Eier ablegten. Das Fleisch am Kopfe war im Verhältniss zu der grossen Anzahl der sich entwickelnden Larven nur in geringer Menge vorhanden und, da es in dünner Schicht die Kopf- knochen bedeckte, so vertrocknete es leicht. Die Zucht stand in einem ungeheizten Gewächshause, das sich am Tage stark erwärmte. Es wuchsen nun grosse normale Larven heran, daneben aber auch eine Unmenge kleiner und kleinster Larven. Die kleinen Individuen erschienen am Kopfende sehr zugespitzt. Die Larven, auch die kleinen, verpuppten sich im Gewächshause und im warmen Zimmer; doch starben auch sehr viele von den kleinen Larven auf der Oberfläche des Sandes ab. Die Puppen besassen ebenso wie die Larven verschiedene Grösse. Oft war ihre Färbung blass. Als die Verpuppung im vollen Gange war, wurden die Maden zum Wärmeexperi- ment benutzt. Hierzu eigneten sie sich sehr viel besser als normale Fliegenmaden. Die Larven wurden in ein weithalsiges Pulverglas gesetzt, in dem zu- sammengeballtes feuchtes Fliesspapier lag. Das Fliesspapier war in Wasser getaucht und dann lose ausgedrückt worden. Das Glas wurde mit Leinwand überbunden und in den Thermostaten gestellt. Vom 24. October 2% p. m. bis zum 25. October 10% a.m. war in ihm eine Temperatur von 89 bis 41° Es hatten sich 83 Puppen gebildet, welche die normale, tönnchen- förmige Gestalt besassen und später Fliegen gaben. Am 25. October wurden alle gebildeten Puppen entfernt und die Temperatur wurde auf 45° erhöht. Gleichzeitig wurde das Fliesspapier im Glasgefäss des eingetretenen Wasser- verlustes wegen etwas genässt. Die Larven blieben in dieser Temperatur bis zum 30. October Vormittags. Am Abend war die Temperatur aber meist auf 47° gestiegen. In diesem Zeitraum starb nun eine Anzahl von Larven; es hatte sich aber keine Puppe gebildet. Am 30. October Vormittags wurde das Feuer ausgelöscht und es trat allmählich Abkühlung des Thermostaten ein. Als dann am 3. November nachgesehen wurde, war wieder eine An- 398 J. DEwITz: zahl von Puppen gebildet. Am 6. November wurden 77 Puppen, 102 leben- dige und 7 todte Larven constatirt.! ! Im Sommer 1905 hatte ich Gelegenheit, in der Königl. Preussischen Lehranstalt für Wein- und Obstbau zu Geisenheim a. Rhein Wärmeexperimente an Raupen aus- zuführen, deren Resultate ich hier kurz anführen möchte, da sie im Zusammenhange mit obigen Experimenten von Interesse sind. Vor mehreren Jahren war ich in der Station de viticulture et de Pathologie vegetale in Villefranche (Rhöne) damit be- schäftigt (vgl. Dewitz, Beobachtungen, die Biologie der Traubenmotte Cochylis ambi- guella Hübn. betreffend, Zeitschrift für wissenschaftliche Insectenbiologie. Bd. I (10). S. 344), die Temperaturen festzustellen, welche für die Raupen von Cochylis ambiguella und von Tortrix pilleriana tödtlich sind. Ich fand dabei, dass beide Raupenarten dem Einflusse von ungefähr derselben Temperatur erlagen und dass diese Temperatur ver- hältnissmässig niedrig war, denn sie betrug nur 45°. Die Wirkung dieser Wärmegrade bei einer Dauer von nır wenigen Minuten war eine sehr entschiedene. Wenn sich das Quecksilber des Thermometers 45° näherte, so fielen die Raupen auf den Boden. Liess man sie da 10 bis 15 Minuten bei derselben Temperatur und nahm man sie dann heraus, so blieben sie todt oder sie waren sehr krank und starben nach einigen Tagen. Wiederholungen des Experimentes zeigten, dass die Wirkung der erhöhten Temperatur (45°) eine sichere ist. Diese Befunde haben dann die Herren G. Gastine und V. Ver- morel (C. R. Ac. Sc. Paris. T. CXXXV. p. 66—68. 7. juillet 1902) veranlasst, meine Experimente für die erwachsenen Raupen von T. pilleriana zu wiederholen und den Einfluss erwärmter Luft auf dieselben weiter zu beobachten. Sie machen für ihre Beobachtungen folgende Angaben: „Les pyrales (Raupen von T. pilleriana) exposees a une temperature de 48 a 50° meurent au bout de trois a quatre minutes. Elles sont tuees bien au dessous de ces temperatures, & 45°C. si l’exposition dure plus longtemps, dix minutes. Vers 40°C. elles s’agitent desesperement et sortent de leurs retraits.‘“ Da es auffällig ist, dass für die Raupen zweier verschiedener Lepidopterenarten die tödtlichen Temperaturen nahe bei einander liegen, so forderten diese Umstände zu weiteren Nachforschungen auf. Bei diesen kamen zur Verwendung junge, nuch im Ei befindliche Raupen von Eudemis botrana und mehr oder weniger grosse Raupen von Eudemis botrana, Cochylis ambiguella und Phalera bucephala. Die Resultate dieser an den drei Raupenarten und an verschiedenen Entwickelungsstadien der Raupen angestellten Versuche stimmten gut zu den früheren, für die Raupen von C. anbiguella und T. pilleriana von mir und G. Gastine und V. Vermorel erhaltenen Resultaten. Und ich glaube aus diesen Beobachtungen schliessen zu dürfen, dass die für Lepi- dopterenraupen verschiedener Art tödtliche Temperatur zwischen 40 und 45° C. liegt. Bei Einwirkung von 45° bedarf es einer nur geringen Expositionszeit, um die Thiere abzutödten. Eine Wärme von 40° vermag selbst bei 60 Minuten nicht immer ein solches Resultat herbeizuführen. Es scheint mir nun die Annahme berechtigt, dass die zwischen 40 und 45°C. liegenden Temperaturgrade im Organismus der Lepidopteren- raupen tiefgreifende Veränderungen bewirken. Da aber in den Versuchen dafür gesorgt war, dass sich die Versuchsobjecte in einer Atmosphäre von genügender Feuchtigkeit befanden, so kann man nur schliessen, dass diese Veränderungen durch die Wärme allein veranlasst wurden. Es fällt dabei auf, dass die für die Raupen tödtlichen Temperaturgrade verhältnissmässig niedrig sin. Was nun die Bestandtheile des Raupenkörpers angeht, welche durch die Wärme in Mitleidenschaft gezogen werden, so können auf den ersten Blick verschiedene Dinge in Betracht kommen. Mich haben meine früheren Untersuchungen über die Blutflüssigkeit der Insectenlarven an diese UNTERSUCHUNGEN ÜBER DIE VERWANDLUNG DER INSECTENLARVEN. 899 Aus den normalen und im Warmen entstandenen Puppen erhielt ich Fliegen von M. erythrocephala, S. carnaria und Lucilia, welche alle recht klein waren. letztere denken lassen und ich wollte zusehen, ob man in der Blutflüssigkeit von Raupen, welche jenen Temperaturen ausgesetzt waren, Veränderungen constatiren könnte. Leider sind die hierher gehörenden Beobachtungen noch unvollständig geblieben, da mir mit Eintritt der kalten Jahreszeit das Material ausging. Nach diesen Beobach- tungen verändert sich bei den Wärmegraden, welche den Tod der Raupen herbeiführen, die Blutflüssigkeit in der Weise, dass, wenn man die leblosen Raupen aus der Wärme herausnimmt und mit etwas Wasser zerreibt, keine Verfärbung mehr eintritt. Ich lasse die bezüglichen Versuche, welche ich noch ausführen konnte, hier folgen. Versuchsobjecte sind erwachsene Raupen von C. ambiguella. 1. 7. September 1905. Zwei Partien (a und b) je aus einer grösseren Anzahl von Raupen bestehend, wurden in verschiedener Weise erwärmt. a) Erwärmung =39°/25 Min. (d. h. 25 Minuten auf 39° erwärmt). b) Erwärmung = 45°/25 Min. Diese Partie b) besteht aus sehr vielen Exemplaren. c) Nicht erwärmte Raupen zur Controle. Diese drei Partien von Raupen werden gesondert mit etwas Wasser zerrieben und die Masse wird in ein Uhrschälchen gegossen. c) verfärbt sich kräftig. Bei a) (= 39°/45 Min.) ist die Verfärbung sichtlich geschwächt. Bei b) (= 45°/25 Min.) tritt keine Verfärbung ein. 2. 11. September 6% p. m. Zum Versuche werden je 20 Raupen und ein Uhr- schälchen voll Wasser gebraucht. Diese Raupen haben bereits aufgehört zu fressen. a) Erwärmung = 35°/35 Min. b) Erwärmung = 40°/35 Min. ce) Ungewärmte Raupen zur Controle. 12. September St a. m. Alle Proben sind verfärbt. Der Unterschied in der Verfärbung ist nicht gross; bei c) ist die Verfärbung etwas kräftiger. 3. 12. September Nachmittags. 19 Raupen werden auf 45°/30 Min. erwärmt. Bis 6® p. m. keine Verfärbung; am nächsten Morgen St a. m. ebenfalls keine Ver- färbung. 4. 9. October 4" p.m. Die Raupen haben sich bereits zur Verwandlung zurück- gezogen. Zwei gleich grosse Partien werden in gleicher Menge Wasser zerrieben. a) Erwärmung = 45°/30 Min. b) Ungewärmte Raupen zur Controle. 6" p.m. a) ist noch ganz unverfärbt; b) ist bereits verfärbt. 10. October 8® a. m. dasselbe. Nach diesen Versuchen unterbleibt bei Raupen, welche auf 45°/25 Min. and 45°/30 Min. erwärmt waren, bereits die Verfärbung. Das Enzym muss also abgetödtet worden sein. Dagegen genügt das Erwärmen auf 35°/35 Min., 390/35 Min., 40°/35 Min. noch nicht, um diesen Efiect zu haben. Diese Resultate sind denjenigen parallel, welche für die Abtödtungstemperatur der Raupen erhalten wurden. Es mögen aus den von mir in Geisenheim ausgeführten Untersuchungen hier noch folgende Angaben Platz finden. Von 11 grossen Raupen von €. ambiguella, welche bei 40° 20, 45 und 47 Minuten lang erwärmt und dann, als sie sich erholt hatten, weiter gezogen wurden, gelangten nur 3 zur Verwandlung. Ferner ist folgende Erscheinung bemerkenswerth. Zwei Raupen von P. bucephala, von denen die eine 60 Minuten auf 40° und die andere 4'/, Minuten auf 45° erwärmt wurde, erholten sich und wurden ganz normal. Sie starben aber nach 3 bezw. 6 Tagen und ihr Organismus hatte dem äusseren Anschein entgegen so tiefe Veränderungen erfahren, dass die Raupen nach der Erwärmung bis zu ihrem Tode keine Nahrung mehr berührten. 400 J. Dewitzz: Abgesehen von dem Resultat, dass die unter den erwähnten Verhält- nissen erzogenen Larven in diesem Wärmeexperiment gegeben haben, sind sie auch aus anderen Gründen beachtenswerth. Wie auch aus folgenden Beobachtungen hervorgeht, hatten an ihnen unter der besonderen Zucht- methode verschiedene Erscheinungen zu gleicher Zeit gelitten, nämlich die Verwandlung, die Verfärbung der zerriebenen Larven, die Verfärbung der Puppen, die Chitinisirung der Puppen und die normale Form derselben. Im November wurde dann ein zweiter Hammelkopf für die Eiablage in das Freie gestellt und die Larven wieder in der obigen Weise erzogen. Es entstanden wieder viele kleine und sehr kleine Larven. Als die im Sande befindlichen Larven in das warme Zimmer gebracht waren, verpuppten sich von Hunderten von Larven nur wenige Exemplare. Die Puppen waren ganz blassgelb und die Chitinhaut war vollkommen weich. Die mit etwas Wasser zerriebenen Larven zeigten kaum eine Spur von Verfärbung. Im Thermostaten erhielt ich bei 33 bis 37° von etwa 450 Larven in einer Woche 25 Puppen. Hier in der Wärme hatten sich die Puppen auch mehr gefärbt. Ihre Form war aber gestreckt, eigarrenförmig und die Seg- mente hatten sich nicht verwischt wie bei normalen Fliegenpuppen. Die Haut war sehr dünn, lederartig, wenig chitinisirt. Schliesslich war in einem anderen Jahre im November ein drittes Mal ein Hammelkopf zur Eiablage in das Freie gestellt, dem das Gehirn, die Zunge, sowie der grösste Theil der Backenmusculatur entfernt worden waren. Er wurde von M. erythro- cephala besucht. Die Larven wurden wieder in dem ungeheizten Gewächs- hause aufgezogen. Sie bestanden aus grossen, mittleren, kleinen und sehr winzigen Exemplaren. Im Sande verwandelten sich viele Larven. Die An- fangs gebildeten Puppen waren kleiner als normale Puppen, aber von regel- mässiger Form. Die Farbe war braun, aber nıcht wie gewöhnlich dunkel oder schwarzbraun. Später bildeten sich Puppen, welche klein und wenig gut ausgebildet und eingefallen waren und nur eine gelbe Farbe besassen. Eine grössere Anzahl der kleineren Larven wurde mit etwas Chloroformwasser zerrieben. Es stellte sich bald eine geringe Verfärbung ein, die Farbe blieb aber schmutzig braun (48 Stunden Beobachtungsdauer). Vom 16. November 11® a.m. bis zum 18. November 9" a. m. befanden sich die Larven in einem Pulverglas, das mit Stücken feuchtem Fliesspapier angefüllt war, im Thermostaten bei einer Temperatur von 37 bis 40°. Es waren am 18. No- vember 50 Puppen gebildet. Sehr viele waren mit eingefallener Chitinhaut. Andere hatten nicht die Form von Puppen, sondern von Larven. Die Farbe war meist braun gegenüber der gelben Farbe der im Gewächshause entstandenen Puppen. 4. Die Untersuchungen von J. Geppert! über die Wirkung der Blau- ı J. Geppert, Ueber das Wesen der Blausäurevergiftung. Berlin 1889. UNTERSUCHUNGEN ÜBER DIE VERWANDLUNG DER INSECTENLARVEN. 401 säure auf die warmblütigen Thiere, welche mir theils aus der Publication des Autors, theils aus seinen persönlichen Mittheilungen bekannt waren, veranlassten mich schon bei Gelegenheit meiner ersten! Untersuchung über die Verhinderung der Verwandlung der Insectenlarven durch Luftabschluss die Wirkung des Blausäuregases auf die Verwandlung zu beobachten. Das Resultat solcher Experimente habe ich auf dem 6. internationalen Congress (1900) für Ackerbau, Abtheilung Pflanzenpathologie (schädliche Insecten) mit kurzen Worten mitgetheilt.” Ich sagte dort, dass das Blausäuregas hindernd auf die Verwandlung der Raupen von P. chrysorrhoea wirkt. Für Fliegenlarven hatte ich, wie in einer meiner früheren Publicationen erwähnt?, keine entscheidenden Resultate erhalten, vielleicht wegen der von mir dort angewandten Methode. Dem Brei zerriebener Fliegenmaden wird seine Fähigkeit sich zu ver- färben genommen, wenn die Larven in einer 0-2 procentigen Lösung von Cyankali zerrieben werden. Die frisch gebildeten, weissen Fliegenpuppen, welche sich in Blausäuregas aufhalten, werden hier nicht nur gehindert sich zu verfärben, sondern sie haben auch diese Eigenschaft, wenn sie nach 12 Stunden aus einer solchen Atmosphäre herausgenommen werden, gänzlich eingebüsst. Ich habe nun meine Experimente mit P. chrysorrhoea-Raupen wieder aufgenommen, dabei aber die Anordnung des Experimentes geändert. Da man nämlich bei der gemeinschaftlichen Behandlung einer Anzahl von Raupen auf Schwierigkeiten stösst und das Experiment nicht genügend überwachen kann, was wieder sein Resultat unsicher macht, so habe ich dieses Mal jede Raupe einzeln behandelt. Ich will sogleich von vornherein bemerken, dass diese Experimente eine so bedeutende Aufmerksamkeit und Mühe verlangen und wegen der Brennhaare so grosse Unannehmlichkeiten mit sich bringen, dass vielleicht nicht jeder gewillt sein wird, sie auszu- führen. Zu diesen Experimenten wurden diejenigen Raupen von P. chrysorrhoea verwandt, welche vollkommen reif für die Verwandlung waren. Um mich in dieser Hinsicht nicht zu täuschen, nahm ich solche Individuen, welche gerade anfingen für den anzufertigenden Cocon die Blätter zusammen- zuspinnen oder über die ersten Anfänge in der Bereitung des Cocons nicht hinausgekommen waren. Weiter vorgeschrittene Raupen, das heisst solche, welche sich bereits in einem vollkommenen oder weit vorgeschrittenen Cocon ! J. Dewitz, Verhinderung der Verpuppung bei Insectenlarven. Archiv für Entwickelungs-Mechan. 1901. Bd. XI. S. 690—699. ® VI. Congres internat. d’agrieult. Compt. rend. T. II. p. 304. Paris 1900. ® J. Dewitz, Untersuchungen über die Verwandlung der Insectenlarven. Dies Archiv. 1902. Physiol. Abthlg. S. 333. Archiv f, A.u, Ph. 1905. Physiol, Abthlg. Suppl. 26 402 J. DEwITz: befinden oder gar eine dunkle Farbe angenommen und sich zusammen- gezogen haben, sind für Blausäure zu empfindlich. Sie sterben sehr bald, so dass man mit ihnen kein Resultat erhält. Die zur Verwandlung bereiten Raupen von P. chrysorrhoea wurden nun je eine in ein hohes Pulverglas mit weitem Halse gebracht. Ich ver- wandte zu diesem Experiment zwei Grössen von Gläsern, ohne dass das Resultat dadurch geändert wurde. Bei den grösseren Gläsern betrug der Inhalt 1 Liter; der Durchmesser des Bodens 8!/,°®, die Weite des Halses 4m, die Höhe des Halses 6°“ und die Höhe des übrigen Theiles des Glases 18°”. Bei den kleineren Gläsern betrugen die bezüglichen Maasse 600m; 64/,, 3%/,, 5 und 14°=. In die Pulvergläser wurde an einem Faden eine kurze Glastube gehängt, in der ein Stückchen Cyankali lag und dessen Oefinung mit einem Stückchen Musselin überbunden war. Das Pulverglas wurde mit einem Kork zugekorkt, in dem an der Seite ein tiefer und breiter senkrechter Spalt geschnitten war, so dass in beschränkter Weise ein Austausch zwischen der Luft innerhalb und ausserhalb des Pulverglases sich vollziehen konnte. Wenn man fürchtet, dass die Raupen durch den Spalt entfliehen könnten, so kann man den Kork mit einem Stück Musselin umhüllen. Das directe Licht wurde von den Raupen da- durch fern gehalten, dass ich ein gefaltetes Stück dunkles Papier um das Glas stellte oder andere Gegenstände um das Glas herum aufstellte. Man muss jedoch vermeiden, dass sich über dem im Korke befindlichen Spalt oder in zu grosser Nähe desselben ein Gegenstand befindet, welcher dem freien Luftaustausch im Wege steht. Sodann muss man die Raupe nach Möglichkeit überwachen und zu vermeiden suchen, dass sie sich auf dem Boden oder in dem unteren Theil des Glases festsetzt. In einem solchen Falle muss man sie jedes Mal herausnehmen und auf die untere Fläche des Korkes setzen. Diejenigen Raupen, welche sich an oder nahe an dem Kork einspinnen, werden meist brauchbare Objecte, da sie entweder der Wirkung des Blausäuregases für längere Zeit widerstehen oder eine unvollkommene Puppe liefern. Sehr häufig gingen die Raupen schon nach 1 bis 3 Tagen zu Grunde und hatten daher für das Experiment keinen Werth. Ich musste daher die gestorbene Raupe jedes Mal durch eine neue ersetzen. Da sich in einer bestimmten Gegend die Verwandlung von P. chrysorrhoea längere Zeit hinzieht, so gelingt es trotz der Empfindlichkeit der für die Verwandlung reifen Raupen gegen Blausäuregas eine kleinere Anzahl von Raupen so lange am Leben zu erhalten, als die Controlraupen zur Ver- wandlung brauchten. Die einen dieser längere Zeit am Leben gebliebenen Raupen starben. ab, ohne zur Verwandlung geschritten zu sein; andere thaten dieses letztere. Diese so entstandenen Puppen waren aber von normalen Puppen sehr verschieden. UNTERSUCHUNGEN ÜBER DIE VERWANDLUNG DER INSECTENLARVEN. 403 Im Sommer 1903 an Raupen von P. chrysorrhoea ausgeführte Ex- perimente. A. Controlraupen: 1. Eingesetzt am 2. Juni, verpuppt am 11. Juni. 2. ” „ 11. 99 5 ” 22. ” 3. ” „ 24. 9 ” ae Die Controlraupen wurden unter Weglassung des Cyankalis ebenso be- handelt wie die dem Blausäuregas ausgesetzten Individuen. Da sich diese drei Raupen ohne jede Schwierigkeit verwandelten und normale Puppen gaben, obgleich sie sich in den unteren Theilen des Pulverglases festgesetzt hatten, so wurde von weiteren Controlversuchen Abstand genommen. B. Mit Blausäuregas behandelte Raupen. 1. Eingesetzt am 5. Juni; bewegt sich noch am 11. Juni; am 16. Juni wird das Glas aufgekorkt und ihr Tod festgestellt. 2. Eingesetzt am 2. Juni; giebt am 13. Juni eine unvollkommene Puppe. 3. Eingesetzt am 5. Juni; bewegt sich noch am 10. Juni; am 16. Juni, als das Glas aufgemacht wurde, ist sie vollständig todt. 4. Eingesetzt am 2. Juni; todt am 15. Juni. 5. Eingesetzt am 2. Juni; giebt am 13. Juni eine unvollkommene Puppe. 6. Eingesetztam 11. Juni; giebt am 22. Juni eine unvollkommene Puppe. 7. Eingesetzt am 26. Juni; giebt am 1. Juli eine unvollkommene Puppe. Die zahlreichen Raupen, welche bald nach dem Einsetzen gestorben sind, sind hier nicht aufgeführt. Die unter diesen Verhältnissen entstandenen Puppen waren und blieben auch nach dem Herausnehmen aus dem Glase vollkommen weich. Die Chitinbedeckung war nur von einem zarten Häutchen gebildet. Die Farbe war schmutzig und hell und änderte sich nicht, so lange (24 Stunden) die Puppen in der Blausäureatmosphäre verweilten. Die Flügelscheiden waren ganz farblos und vollständig durchsichtig. Nachdem aber die Puppen aus dem Glase herausgenommen waren, färbte sich die Chitinhaut im Laufe mehrerer Tage dunkelbraun; sie blieb aber so zart wie am Anfange. Die Form der Puppen war cylindrisch und an den Enden abgerundet; die Puppe hatte die Gestalt einer Wurst. Der Öremaster am Ende der Puppe war vorhanden. Die Segmente waren deutlich abgesetzt, gerundet und nicht in einander geschoben. Die Flügelscheiden waren kürzer, bei gewissen Exemplaren sehr viel kürzer als an den normalen Puppen. Sie bedeckten nicht die für sie bestimmte und deutlich begrenzte Stelle an der Bauchseite. Bei zwei Exemplaren war diese Stelle gar nicht mehr angedeutet und die Flügelchen waren ganz klein. 26* 404 J. DEwITZ: In zwei anderen Fällen habe ich früher Puppen erhalten, welche zwischen Raupe und Puppe standen. Die nach Einspritzung von verdünnter Essigsäure in die Raupe erhaltenen Puppen waren eher gepanzerte Raupen als Puppen zu nennen. Nur der hintere Körperabschnitt hatte ungefähr die Form des betreffenden Theiles einer normalen Puppe. Die Chitinisirung hatte sich aber bis auf eine Stelle an der Bauchseite, welche unter normalen Verhältnissen von den Flügelscheiden bedeckt wird, vollzogen. Bei Luft- abschluss in verkorkten Fläschchen, Glastuben u. s. w. erhielt ich aber von Raupen von P. rapi und P. brassicae öfters Puppen, welche den in der Blausäureatmosphäre entstandenen sehr glichen. Was die Ausbildung bezw. Unterdrückung der Flügel und ihre Beziehung zu im Organismus vor- handenen Enzymen angeht, so verweise ich auf meine früheren Angaben. Ferner möchte ich hinsichtlich der gestreckten Form der Puppen auf die gestreckte Körperform oder Organform bei solchen Thieren hinweisen, die sich an Orten aufhalten, welche eine schlechte Sauerstoffversorgung haben oder mit redueirenden Agentien erfüllt sind (Binnenparasiten; Tiefseethiere; Schlammbewohner; Thiere, die sich unter Steinen, unter Laub oder Moos, in der Erde, in Höhlen u. s. w. aufhalten). Es giebt gewiss andere Schmetterlingsraupen, die im erwachsenen Zu- stande noch besser Blausäuregas vertragen als die Raupen von P. chry- sorrhoea. Diese Arten werden wohl kaum unter den Tagschmetterlingen, sondern unter den Nachtschmetterlingen oder Kleinschmetterlingen zu suchen sein. Ich habe gefunden, dass die Raupe von T. pilleriana, des auf der Rebe lebenden Springwurmes, Blausäuregas verhältnissmässig gut verträgt und habe daher mit diesem Thiere sowohl im Sommer 1902 als auch im Sommer 1903 in diesem Sinne eine Anzahl von Experimenten angestellt. Die Raupen bieten aber eine andere Schwierigkeit, welche im Stande ist das Experiment unsicher zu machen. Sie halten sich nämlich in den von ihnen gerollten und gefalteten Blättern auf und verpuppen sich auch hier. Man kann daher eine vollkommen erwachsene Raupe nicht mit Sicherheit erkennen. Auch sind die Grössenunterschiede beträchtlich und die Ver- wandlung der Art kann sich in einer Gegend 6 bis 8 Wochen hinziehen. Schliesslich giebt es zahlreiche in der Entwickelung zurückgebliebene Raupen, die bei kleinem Körper ein altes Aussehen haben und die sich vielleicht gar nicht verwandeln. Ich habe daher bei meinen Experimenten mit dieser Art so lange gewartet, bis die Verwandlung in einem Weinberge in vollem Gange war, und habe solche Raupen gewählt, welche gross und fett waren und in vertrockneten, zusammengesponnenen Blättern sassen. Die Raupen, welche sich verwandeln wollen, lieben nämlich mehr die trockenen als die feuchten Blätter. So sehr sich also diese Raupenart wegen ihrer relativ grossen Widerstandsfähigkeit gegen Blausäuregas empfiehlt, so halte ich sie UNTERSUCHUNGEN ÜBER DIE VERWANDLUNG DER INSECTENLARVEN. 405 doch nicht für ein günstiges Versuchsobject. Trotzdem will ich die er- haltenen Resultate hier folgen lassen, weil sie dazu dienen werden die oben mitgetheilten Ergebnisse bei den Raupen von P. chrysorrhoea zu bestätigen. Es wurden wieder die oben beschriebenen Pulvergläser verwandt und zwar die grösseren. Die Anordnung der Experimente war dieselbe wie bei P. chrysorrhoea. Im Sommer 1902 und 1903 an Raupen von T. pilleriana angestellte Experimente. A. Controlraupen. 1902. a) Am 29. Juli wurden 6 Raupen eingesetzt. Am 6. August (9 Tage) wurden constatirt 5 Puppen, die sich bis zu diesem Datum gebildet hatten, und eine todte Raupe Am 11. August erster Schmetterling. 1903. b) Am 20. Juli wurden 3 Raupen eingesetzt. Am 24. Juli (4 Tage) 2 Puppen. Am 27. Juli 1 Raupe war vertrocknet. Ausserdem wurden Controlraupen in Schachteln gesetzt und ergaben folgende Resultate: c) Am 21. Juli wurden 4 Raupen eingesetzt. Am 28. Juli (7 Tage) wurden 4 Puppen constatirt, die sich bis zu diesem Datum gebildet hatten. d) Am 20. Juli wurden 3 Raupen eingesetzt. Am 24. Juli (4 Tage) wurden 2 Puppen und am 25. Juli (5 Tage) 1 Puppe gefunden. e) Am 21. Juli wurden 2 Raupen eingesetzt. Am 29. Juli (8 Tage) wurde 1 Puppe und am 2. August (12 Tage) 1 Puppe gefunden. B. Raupen in Blausäureatmosphäre. 1902. a) Am 29. Juli wurde eine kleine Anzahl von Raupen eingesetzt, von der 1 Raupe am Leben blieb. Sie starb am 8. August (11 Tage). b) Am 29. Juli wurde eine kleine Anzahl von Raupen eingesetzt, von der 1 Raupe am Leben blieb. Am 18. August ist sie noch Raupe. Am 22. August (25 Tage) bildet sich eine unvollkommene Puppe. 1903. ce) Am 21. Juli wurde 1 Raupe eingesetzt. Am 30. Juli (9 Tage) starb sie. d) Am 24. Juli wurde 1 Raupe eingesetzt. Am 29. Juli (5 Tage) wurde eine nieht gut ausgefärbte Puppe erhalten. Flügeldecken hellgrün. Herausgenommen färbten sich die Flügeldecken in einigen Tagen. e) Am 27. Juli 1 Raupe eingesetzt. Am 1. August (5 Tage) todt. f) Am 31. Juli 1 Raupe eingesetzt. Am 6. August (6 Tage) todt. Sie hatte zuletzt das Aussehen einer Raupe, welche sich ver- puppen wollte In diesem Stadium ist sie zu Grunde ge- gangen. g) Am 20. Juli 1 Raupe eingesetzt. Am 3. August (14 Tage) ent- stand ein vollkommen missgestaltetes Gebilde, welches nur ent- fernt an eine Puppe erinnerte und zum Theil in der Raupenhaut stecken blieb. [Y 406 J. DEwITZ: h) Am 23. Juli 1 Raupe eingesetzt. Am 1. August (9 Tage) todt. Die Raupe hatte zuletzt das Aussehen, als ob sie sich verwandeln wollte In diesem Stadium ist sie gestorben. Diese Versuche mit Raupen von T. pilleriana haben demnach folgende Resultate gegeben: 1. Controlraupen: 5 Raupen verwandeln sich nach je 9 Tagen 2 ” ” ” ” ” 4 ’> 4 ” „ ” ” ” U ” 2 ” ” „ ” ’ 4 ” 1 ” ” „ , 2 5 2) 1 ” ” ” ” ” 6) ” 1 ” ” ” ” 2) 12 ” 2. Raupen in Blausäureatmosphäre: 1 Raupe todt nach 11 Tagen, 1 , giebt eine unvollkommene Puppe nach 25 Tagen, ee stodtznachegpTasen 1 „giebt eine Puppe nach 5 Tagen, 177,2 Stodtinach@h Tagen, 1 1 1 6 ” ” ” ” ’ „ giebt ein missgestaltetes Gebilde nach 14 Tagen, „ todt nach 9 Tagen. Nach den Untersuchungen von J. Geppert erfährt bei Säugethieren die Bindung des Sauerstoffes an das Blutroth in Folge der Blausäure- vergiftung keine Veränderung. Wenn daher, wie dieses der genannte Verf. zeigt, die Gewebe dem Blut den Sauerstoff nicht zu entziehen vermögen, so liegt dieses an der gestörten Function der Gewebe. Nach Geppert’s Untersuchungen wirkt die Blausäure hinsichtlich der Gewebe oxydations- hemmend und die Blausäurevergiftung stellt eine innere Erstickung der Organe bei Gegenwart von überschüssigem Sauerstoff dar. Was nun meine früheren und jetzigen Versuche über den Einfluss des Blausäuregases auf die Insecten angeht, so ist dieses Gas hinderlich der Verfärbung des Larven- breies, der Verfärbung der frisch gebildeten weissen Puppen und der Ver- wandlung. Die beiden 'ersten Vorgänge sind, wie von mir direct gezeigt worden ist, von der Wirkung eines oxydirenden Enzymes abhängig. 5. Ich habe nun schliesslich noch eine letzte Serie von Experimenten an- gestellt. Nach C. Gessard! wird die Wirkung der pflanzlichen Tyrosinase auf Tyrosin durch das Serum verschiedener Säugethiere verlangsamt, so dass die Rothfärbung des Tyrosins 3 bis 9 Tage verzögert werden kann, je nach der Thierart, von der das Serum stammt. Die Reihenfolge für die 1 C.Gessard, Etudes sur la tyrosinase. Ann. Inst. Pasteur. T.XV. p. 593—614. ee a UNTERSUCHUNGEN ÜBER DIE VERWANDLUNG DER INSECTENLARVEN. 407 Serumarten ist Serum vom Kalb, Hammel, Schwein, Pferd und von der Stärke, wobei das Serum des Kalbes die längste Verzögerung bewirkt. Ich untersuchte nun, welche Wirkung das Hammelserum einerseits auf die Ver- färbung des Larvenbreies von Fliegenmaden und andererseits auf die Ent- wickelung der Larven ausüben würde. Da ich mich nicht jedesmal selbst nach dem Schlachthof begeben konnte, von dem ich das Serum bezog und mir dasselbe mit dem Fibrinkuchen gebracht wurde, so erhielt ich häufig Serum, das etwas roth gefärbt war. Später ging ich selbst nach dem Schlachthofe, um das Serum mit einem Heber zu trennen. Ich erhielt aber mit beiden Sorten von Hammelserum die gleichen Resultate. Es handelt sich nun zunächst darum, den Einfluss des Serums auf die Verfärbung des Larvenbreies zu studiren. Zu diesem Zwecke wurden mit ihm Verdünnungen hergestellt: Versuch I. 12. September 2? p. m. Hammelserum etwas blutig: 1. 1ı°°@ Hammelserum + 11°® ag. dest. chloroform. 2. b) „ ” AR I ” ” ” 2 ®% 6 „ 2) Ir 6 „ „ „ ” Von diesen drei Verdünnungen wurden am 12. September 2" p. m. je 6° m mit 20 Larven von Lucilia caesar zerrieben. Nr. 1 und Nr. 2 fingen sehr bald an, sich an der Oberfläche zu verfärben. Nach 4 Stunden war Nr. 1 noch mehr verfärbt; Nr. 2 war etwas bräunlich geworden; Nr. 3 war ohne sichtbare Veränderung. — 13 September 11® a.m.: Nr. 1 schwärzlich; Nr. 2 bräunlich; Nr. 3 wenig verfärbt. — 14. September 8® a. m.: dasselbe. Da das Serum etwas roth war, so waren die Farbenveränderungen nicht so sichtbar wie mit reinem Serum. Versuch II. 17. September 5® p.m. Reines (nicht blutiges) Hammelserum: 1. Controlprobe, enthält nur ag. dest. chloroform. 2. 1°® Serum + 11°® ag. dest. chloroform. 3. 3 2” ” 37 Re) 2] „ 2) ” 4. 6 „ „ + 6 „ „ „ „ Zwischen 5 und 6° p.m. werden von diesen 4 Flüssigkeiten je 6°" mit 20 Larven von Lucilia caesar zerrieben. Nr. 1 fing sehr bald an sich zu verfärben; etwas auch Nr. 2. — 18. September 8Sta.m.: Man nimmt eine Abstufung zwischen Nr. 1 und 4 wahr, wobei Nr. 1 noch nicht voll- kommen schwarz und Nr. 4 sehr wenig verfärbt ist. — 6" p.m. (d. h. nach 24 Stunden seit Beginn des Versuches): Der Unterschied zwischen Nr. 3 und Nr.4 hat sich mehr ausgeglichen; die beiden Proben sind bräunlich. Nr. 1 ist schwarz, Nr. 2 etwas heller. — 19. September 8% a.m.: Keine weitere Veränderung. Der Zustand bleibt derselbe im Laufe des Tages. Versuch III. 18. September 8® a. m. Hammelserum von derselben reinen Probe wie bei Versuch II: 1. Controlprobe, enthält nur ag. dest. chloroform. 2. 6° Serum + 6°" ag. dest. chloroform. 408 J. Dewıtz: Von diesen beiden Flüssigkeiten werden je 6°” mit 20 Larven von Lucilia caesar zerrieben. Nr. 1 fängt sogleich an sich zu verfärben und ist um 6? p. m. schon vollkommen dunkel, noch nicht gänzlich schwarz. Nr. 2 ist fast ganz unverändert. — 19. September 8® a. m.: Nr. 1 noch nicht voll- kommen schwarz. Nr. 2 wenig verfärbt, fast wie am 18. September 6" p.m.; wird im Laufe des Tages bis 6° p.m. bräunlich. Aus diesen Beobachtungen darf man schliessen, dass auch hier die Wirkung des Enzymes bis zu gewissem Grade verzögert wird. Ich will dabei darauf aufmerksam machen, dass die Zahl der Larven (20) den 6” Flüssigkeit gegenüber ziemlich gross war. Es wurden darauf Versuche angestellt, um den Einfluss des Hammel- serums auf die Entwickelung der Larven festzustellen. Zu diesem Zwecke | | wurden frisch gelegte Eier von Lucilia caesar in ein Gefäss gelegt, in dem | sich bei einigen Versuchen defibrinirtes Hammelblut, bei anderen Serum desselben Thieres befand. Dieses letztere war aus obigem Grunde etwas roth. Anfangs wurde in das Gefäss, welches das defibrinirte Blut oder das Serum enthielt, einige gefaltete Lappen reiner Leinwand gelegt. Später wandte ich gewaschene Watte an. Dieselbe war natürlich nicht irgendwie präparirte Watte, wie man sie kaufen kann, sondern reine, gewöhnliche Watte. Sie wurde nach dem Waschen ausgedrückt und von ihr eine zwei bis drei Finger hohe Schicht auf den Boden einer kleinen Krystallisir- schale gelegt. Das defibrinirte Blut oder Serum wurde in solcher Menge in die Schale gegossen, dass die Watteschicht mit Flüssigkeit vollkommen durchtränkt war und die Flüssigkeit aus der Oberfläche der Watte hervor- kam. Im einigen Experimenten habe ich vom Anfange bis zum Schlusse des Experimentes dieselbe Serumflüssigkeit gelassen. In anderen habe ich sie alle 3 Tage gewechselt. Es wäre natürlich besser gewesen, das Blut unter antiseptischen Vorkehrungen aufzufangen und die Larven unter eben- solchen Bedingungen aufzuziehen. Dabei wäre man aber auf bedeutende Schwierigkeiten gestossen. Die Larven wandern beständig umher nach der Suche eines Ausweges, durch den sie entschiüpfen könnten. Sie würden die zum Abschlusse dienenden Wattepfropfen unfehlbar durchbrochen oder sie würden sie so sehr mit Serum beschmutzt haben, dass sie für die Luft schliesslich undurchlässig geworden wären. Die Eier wurden nun auf hervorragende Punkte der Watteschicht ge- lest und kamen nach 1 bis 1!/, Tagen aus. Die jungen Larven fingen sofort an, sich vom Blut oder Serum zu nähren. Sie nahmen theils von den Maschen der Watte oder den Falten der Leinwandlappen Besitz, theils irrten sie an den Wänden des Gefässes umher. Dieses letztere thaten die Larven während der ganzen Zeit, während welcher sie sich in dem Gefäss mit Serum oder Blut befanden. Man musste daher das Gefäss mit einem UNTERSUCHUNGEN ÜBER DIE VERWANDLUNG DER INSECTENLARVEN. 409 Stück Leinwand überbinden. Da dieses aber von den auf ihm umher- kriechenden Larven, die eine Schicht von Blut oder Serum an. ihrem Körper mitschleppten, vollkommen durchtränkt wurde und in Folge dessen für die Luft wenig durchlässig wurde, so musste das Leinwandstück gewechselt werden. That man dieses nicht oft genug, so konnte es vorkommen, dass die Larven erstickten, besonders wenn sie in grosser An- zahl vorhanden waren. Ich anderen Fällen setzte ich das offene Gefäss in einen Kasten und überband diesen mit einem Leinwandstück. Da ich eine sehr grosse Menge von Eiern eingelegt hatte, so schwärmten in solchen Fällen die Larven in Masse umher und setzten sich häufig wie ein Bienen- schwarm an einer Stelle des Gefässes fest, wo dieses den Kasten berührte. Will man Larven mit Fleisch aufziehen, so setzen sie sich in diesem fest, irren nicht umher und suchen nicht zu entfliehen. In solchen Fällen thuen sie es nur dann, wenn der Luftzutritt irgendwie beschränkt ist. Hierbei ist es nicht ohne Interesse, dass, wie wir sehen werden, das Serum die Bildung des oxydirenden Enzyms beeinflusst. Während nun die mit Fleisch aufgezogenen Larven vom Lucilia caesar nach 6 Tagen vollkommen ausgewachsen waren und zur Verwandlung in den Sand gingen, zeigten die mit Blut oder Serum aufgezogenen Larven ein anderes Verhalten. Sie blieben im Wachsthum vollkommen zurück. Nach 10, nach 14 Tagen hatte eine Anzahl von Individuen die Länge von nur wenigen Millimetern; andere waren etwas grösser, etwa wie die nor- malen, 2 Tage alten Larven; andere waren nach 10 bis 14 Tagen ungefähr so gross wie die ausgewachsenen normalen Larven. Zwischen ilınen und den wenige Millimeter langen gab es verschiedene Abstufungen. Etwa nach einer Woche wuchsen einige Larven stärker und gaben die grossen Exem- plare, deren Anzahl mit der Dauer des Experimentes zunahm. In einem Experiment, in dem defibrinirtes Blut angewandt wurde und in dem sich die Larven von Lucilia caesar in den Falten von Leinwandstücken aufhielten, waren die Eier am 17. Juli auf die Lappen gelest. Von den Larven, welche schliesslich ungefähr die normale Grösse erreicht hatten, verliessen die letzten am 5. August d. h. nach 19 Tagen das Gefäss, um zur Verpuppung in den Sand zu gehen. Im Verlauf der Aufzucht in Blut oder Serum starben sehr viele von den kleinsten und kleinen Larven nach und nach weg. Diejenigen, welche schliesslich zur Verwandlung gelangten, gaben normale Fliegen. Es war nun interessant festzustellen, ob und in wieweit sich der von solchen Larven gewonnene Larvenbrei verfärbt. Bei einer mit defibrinirtem Blut ausgeführten Zucht von Lucilia caesar, bei der die Eier am 6. August eingelegt wurden, wurde am 17. August, also nach 10 Tagen, eine kleine Anzahl der kleinsten Larven ausgelesen und ebenso eine Anzahl der grössten, welche letztere den kleineren Individuen von normalen erwachsenen Larven 410 J. Dewız: an Grösse gleichkamen. Diese beiden Partieen wurden je in ein Glas ge- setzt, dessen Boden mit von Wasser durchtränkter Watte bedeckt war und das mit einem Stück Leinwand überbunden war und das mit einem Stück Leinwand überbunden wurde. Hier blieben die Larven ohne jede Nahrung 14 Stunden lang, damit sie den Darm- und Mageninhalt entleerten. Dann wurden die beiden Partieen gesondert mit etwas destillirtem Wasser zer- rieben. Die grossen Larven gaben einen Brei, der sich sehr hald verfärbte und schwarz wurde, aber nicht das tiefe Schwarz des Breies normaler er- wachsener Larven hatte. Die Beobachtungsdauer war 12 Stunden. Der Brei aber, den die kleinen Larven lieferten, verfärbte sich kaum; er wurde höchstens ein wenig bräunlich gelb. Beobachtungsdauer 40 Stunden. Darauf wurden aus derselben Zucht nochmals grosse und kleine Larven ausgelesen und 2 Tage lang ohne Nahrung unter den erwähnten Verhältnissen ge- halten. Beide Gruppen wurden sodann zerrieben. Der Brei der grossen Larven nahm wieder sehr schnell eine schwarze Farbe an, welche aber auch dieses Mal nicht so tief wie bei normalen erwachsenen Larven war. Der durch Zerreiben der kleinen Larven enthaltene Brei veränderte kaum seine Farbe. Beobachtungsdauer 15 Stunden. Schliesslich wurden aus der gleichen Zucht zum dritten Mal kleine Larven ausgelesen, abgewaschen und, ohne dass sie vorher gehungert hatten, sogleich zerrieben.. Das Resultat war das- selbe wie vorher. Man kann demnach sagen, dass das Hammelblut, als Nahrung genossen, einerseits das Wachsthum der Larven aufhält und einen Theil derselben auf die Grösse junger Larven zurückhält. Auf der anderen Seite aber scheint diese Nahrung die Bildung des Enzymes zu verhindern. Das Wachsthum der Larven und die Bildung des Enzyms scheint Hand in Hand zu gehen. Ich habe schon früher darauf aufmerksam gemacht, dass der von frisch ausgekommenen normalen Larven gelieferte Brei sich kaum verfärbt, und ich werde weiter unten zeigen, dass die Fähigkeit des Breies sich dunkel zu färben, mit dem Wachsthum der Larve zunnimmt. Aehnliche Resultate habe ich erhalten, wenn ich die Larven von Musca erythrocephala und Lucilia caesar anstatt mit Serum oder defibrinirtem Blut mit Schnecken fütterte. Hierzu wurde das Haus der Schnecken zertrümmert, die Schnecke aus der zerbrochenen Schale genommen und durch einige Scherenschnitte in den Fuss und den Kopf getödtet, bezw. am Fortkriechen gehindert. Ich führe im Folgenden die von mir angestellten Experimente auf. Eier, die zu M. erythrocephala und zum Theil zu S. carnaria gehörten und auf Ziegenfleisch abgelegt waren, werden in zwei Theile getheilt. Ein Theil wurde mit Helix hortensis, der andere mit Ziegenfleisch aufgezogen und zwar in kleinen cylindrischen Gläsern von 8-5°m Höhe und 3.5" Lichtung, die mit einem übergestülpten Glasschälchen zugedeckt waren. Die Eier waren am 30. April 1904 eingelegt und die Larven wurden ge- UNTERSUCHUNGEN ÜBER DIE VERWANDLUNG DER INSECTENLARVEN. 411 füttert bis zum 5. Mai. Die Larven, welche Ziegenfleisch als Nahrung er- hielten, wuchsen vielleicht nicht so schnell als mit Rindfleisch genährte Larven; sie waren aber wahre Riesen gegenüber den mit Helix hortensis aufgezogenen Larven, von denen einzelne Individuen seit dem Auskommen überhaupt nicht gewachsen waren. Vorher war eine andere Serie, bestehend aus sehr vielen Eieren der gleichen Fliegenarten auf Helix hortensis in einem weiten Glasgefäss auf- gezogen, das mit Leinwand überbunden war. Anfangs wuchsen die Larven wenig. Dann aber etwa nach 8 Tagen, gewannen sie dieOberhand und wurden so gross wie erwachsene normale Larven von M. erythrocephala oder S. car- naria, die eine mittlere Grösse erreicht haben. Schliesslich verwandelten sie sich; ein: sehr grosser Theil der Larven war aber vorher zu Grunde ge- gangen (Mai 1904). Eier von L. caesar und einige von M. erythrocephala wurden auf Helix hortensis und H. aspera gelegt und die Larven mit diesen Schnecken aufgezogen. Die Erscheinung war dieselbe wie vorher. Das Wachsthum war anfangs langsam. Dann gewannen einige Larven die Oberhand. über die Wirkung der Nahrung und wuchsen, während andere noch ganz klein waren. Der grösste Theil der Larven starb ab wie früher. In diesem Ex- perimente aber, in dem es sich fast allein um Larven von L. caesar handelte, war die Sterblichkeit noch grösser als in den vorigen Experimenten. Es blieben nur wenige Exemplare übrig und der grösste Theil der aus dem Ei ausgekommenen Larven gelangte nicht zur Verwandlung. Nach 8 Tagen wurde eine Anzahl der kleineren Larven dieser Zucht in einem Porzellantiegel- chen mit etwas Wasser zerrieben. Es trat keinerlei Verfärbung der zer- riebenen Masse ein. Darauf wurde dieselbe unter Zusatz von etwas Chloro- formwatte 24 Stunden lang aufbewahrt. Es war aber auch nach dieser Zeit keine Verfärbung eingetreten. Vor dem Zerreiben hatten die Larven 24 Stunden in einem Gefäss zugebracht, dessen Boden mit Wasser bedeckt und das lose mit Leinwand angefüllt war. Indem die Larven ohne Nahrung blieben und auf der feuchten Leinwand umherkrochen, entleerten sie einerseits ihren Darmkanal und streiften die sie umgebende Schicht des verwesten Schneckenfleisches ab. In einem weiteren Versuche (Juni 1904) wurden in grosser Zahl Eier, die hauptsächlich der Art L. caesar angehörten, auf Schnecken gelegt. Die Schnecken, die fast alle zu H. aspera gehörten, befanden sich in einer kleinen Krystallisirschale. Dieselbe war mit einer matten Glasscheibe bedeckt, um das Fleisch u. s. w. am Vertrocknen zu hindern, und zwischen Scheibe und Glasrand war des Luftaustausches wegen ein diekerer Gegenstand gelegt, der die Scheibe etwas aufhob. Das Resultat der Zucht war wie vorher. Die Larven wuchsen sehr langsam. Die meisten starben ab und nur ein 412 J. DEwITZ: geringer Theil verlies schliesslich die Nahrung, um in den Sand zu kriechen, auf dem die Krystallisirschale stand. Diejenigen Larven, welche in den Sand gingen, waren klein und eine Anzahl recht klein. Viele von den kleinen verwandelten sich nicht; andere gaben Püppchen, aus denen normale, kleine Fliegen von L. caesar auskamen. Auch in den voraufgehenden Versuchen waren die Fliegen (M. erythrocephala), welche man erhielt, normal gebaut. In dem vorliegenden Experiment wurde darauf eine kleine Anzahl der kleineren Exemplare von den in den Sand gegangenen Larven von L. caesar mit etwas Chloroformwasser zerrieben. Die flüssige Masse blieb sehr klar und schwärzte sich nur ein wenig. In allen Versuchen wurde das Schneckenfleisch zuerst dunkelbraun und später, wenn die Larven das Fleisch in einen Brei verwandelt hatten, schwarzbraun. Ich möchte hier auf Erscheinungen in der freien Natur hinweisen, welche auf die Verhinderung des Wachsthums bei Insectenlarven Bezug haben. Die Schmetterlinge von P. chrysorrhoea legen im Sommer Eier, aus denen sehr bald Raupen auskommen. Diese Räupchen wachsen wenig während der zweiten Hälfte des Sommers und während des Herbstes. Mit Beginn der kalten Jahreszeit spinnen sie an den Zweigen Nester aus dichter Masse vom Aussehen von grauem Löschpapier und überwintern in diesen. Im Frühjahr kommen sie aus diesen Nestern hervor, leben im Allgemeinen gemeinschaftlich, verwandeln sich im Sommer und geben bald Schmetter- linge Man kann nun im Sommer neben grossen und fast ausgewachsenen Raupen kleine und ganz kleine Exemplare bemerken, die nach der Ueber- winterung wenig gewachsen sind. Da der Schmetterling nur eine Generation im Jahre hat, so muss etwas in so sichtbarer Weise das Wachsthum der Raupe aufgehalten haben. Diese kleinen Raupen erinnern mich an die im Wachsthum zurückgebliebenen Fliegenmaden, von denen ich soeben ge- sprochen habe. Bei P. chrysorrhoea wirkt vielleicht die Winterkälte auf die noch kleinen Räupchen in der Weise ein, dass eine Anzahl derselben sich nur unvollkommen entwickelt. Die Kälte kann auch Eier von Schmetter- lingen (Seidenspinner) in der Weise beeinflussen, dass, wenn sie in gewissen Grenzen bleibt, die Entwickelung des Eies und das Auskommen der jungen Raupe beschleunigt wird; dass aber höhere Kältegrade diese Vorgänge ver- langsamen (Duclaux). Ich glaube nun aber, wie ich dieses schon früher ausgesprochen habe, dass die Kälte auf die im Organismus befindlichen Enzyme oder Proenzyme und deren Entstehung wirkt. Sodann hat die Schmetterlingsart T. pilleriana, deren Raupe auf der Rebe lebt, einen ähnlichen Entwickelungsgang wie P. chrysorrhoea. Die winzigen Räupchen überwintern unter der Borke und die Verwandlung findet im Juni oder Juli statt. Der Schmetterling lest dann in dieser UNTERSUCHUNGEN ÜBER DIE VERWANDLUNG DER INSECTENLARVEN. 413 Jahreszeit die Eier, aus denen in einigen Tagen die Räupchen ausschlüpfen. Man findet nun auch bei dieser Art im Sommer neben grossen Exemplaren sehr kleine. Da alle Raupen von dem voraufgegangenen Sommer stammen, so kann man hier ebense wie bei P. erysorrhoea die Grössendifferenz wohl kaum damit erklären, dass ein Theil der Individuen etwas früher, selbst ein paar Wochen früher gelegt und ausgeschlüpft war. 6. Es bleibt schliesslich in meinen Ausführungen noch übrig, einen wichtigen Punkt zu erörtern. Wenn das Enzym wirklich auf die Ver- wandlung der Insectenlarve von Einfluss sein soll, so muss sich seine Gegen- wart dann am meisten documentiren, wenn die Verwandlung der Larve nahe ist, und, je weiter wir in der Entwickelung oder im Alter der Larve zurück- gehen, desto schwächer muss es sich äussern. Die Stärke der Wirkung des Enzyms bemessen wir nach der Intensität und der Schnelligkeit der Verfärbung des von den zerriebenen Larven erhaltenen Breies. Es ent- steht mithin die Frage, ob die Verfärbung des Larvenbreies zur Zeit der Verwandlung am stärksten ist. Ich habe mich zuerst überzeugen wollen, ob zerriebene Fliegeneier einen Brei liefern, der die Eigenschaft besitzt sich zu verfärben. Man kann sich zu diesem Zwecke Eier von L. caesar leicht in grosser Menge ver- schaffen, wenn man einen Hammelkopf in der Mitte durchsägt, die beiden Hälften zusammenklappt und in einem Blumentopf im Sommer in das Freie, z. B. in einen Garten, stellt. Alle Höhlungen des Kopfes sind dann mit Eiern ausgefüllt. Es wurden dann zwei Mal Eier von dieser Art mit etwas Chloroformwasser zerrieben. Die so erhaltene Masse zeigte aber nach 15 und im zweiten Falle nach 24 Stunden keine Spur von Verfärbung. Das Gleiche wurde für das fertige Insect, die Fliege, constatirt. Kürzlich, vor 1—3 Tagen, ausgekommene Fliegen von L. caesar und in anderen Ver- suchen von M. erythrocephala, welche noch keine Nahrung zu sich genommen hatten, wurden mit etwas Chloroformwasser zerrieben. Die Flüssigkeit, welche man in dieser Weise erhielt, ist schon an und für sich röthlich. Sie wurde abgegossen, um sie von den zerriebenen Fliegenresten zu trennen, und 15 und in einem anderen Falle 24 Stunden aufbewahrt. Sie zeigte keine Veränderung der Farbe. Ich habe schon früher gesagt, dass der Brei ganz junger Larven keine Farbenveränderung zeigt und dass bei solchem von etwa älteren Larven die Braunfärbung nur einen gewissen Grad erreicht. Ich habe nun diesen Versuch an Larven von M. erythroce- phala wiederholt und es will mir scheinen, dass sich das Enzym in diesen Larven schon früher als bei denen von L. caesar bildet. Aus den Ver- suchen, welche ich hier mittheile, geht sodann hervor, dass die Verfärbung des mit den zerriebenen Larven erhaltenen Breies gegen die Verpuppung hin zunimmt und nach derselben wieder abnimmt. 414 J. DEwITZ: Eier von M. erythrocephala waren im Laufe des 26. September 1903 auf Fleisch abgelest. Am 27. September 8% a. m. waren die Larven ausgekommen. Am 2. October 8° a. m. hatten die Larven bereits an- gefangen, das Fressen einzustellen, um zur Verpuppung in den Sand zu gehen. Am 5. October 8% a. m. war ein grosser Theil von ihnen verpuppt (Partie a). Von dieser Zucht wurde nun am 29. September 8% a. m. (Partie. d) eine grosse Menge von Larven zerrieben (5!) und eine ebenfalls grosse Menge von Larven in feuchten Sand gesetzt (5?). Am 30. September 8b a. m. wurden beide Maassnahmen wiederholt (Partie c; ce! und c?). Diese Larven c hatten seit dem Tage vorher an Grösse ausserordentlich zugenommen. Der Brei 5! war erst am 1. October, 8® a. m., tief dunkel- braun. Zu derselben Zeit war der Brei c! auf der gleichen Stufe angelangt, also 24 Stunden früher. Der Brei 5! färbte sich am ersten Tage sehr wenig; der Brei c! färbte sich sehr bald. Am 1. October 6° p. m. war Brei 5! und c! ungefähr von gleicher Färbung, d. h. tief dunkelbraun. Am 2. October 8® a. m. hatten Brei 5! und c! in der Verfärbung kaum noch Fottschritte gemacht; sie blieben auf dieser Stufe der Verfärbung stehen. Am 5. October wurden Puppen von Partie a, welche sich durch ihre helle Färbung als vor Kurzem entstandene Puppen zu erkennen gaben, zerrieben. Die so erhaltene Masse röthete sich sofort und wurde in 25 Minuten ganz schwarz. Denselben Verlauf in der Verfärbung beobachtete man an dem Brei, welchen man von Larven von M. erythrocephala erhält, welche auf- gehört haben zu fressen und sich vor der Verpuppung befinden. So habe ich des Vergleiches halber am 6. October von einer anderen Zucht von Larven von M. erythrocephala reife Larven, welche sich 1—2 Tage im Sande befanden, zerrieben. Der Brei färbte sich sogleich roth und nach !/, Stunde war er gänzlich schwarz. Am 12. October wurde eine weitere Anzahl von Puppen der Partie a zerrieben, bei denen jetzt im Innern die weisse Nymphe schon geformt war. Der Brei fing zwar sogleich an sich zu verfärben; aber nach 1!/, Stunde war er erst gut chocoladenfarbig. Nach 24 Stunden war er bei dieser Stufe der Verfärbung geblieben. Am 17. October wurde schliesslich eine dritte Probe der Puppen von Partie a zerrieben, in der die Nymphe anfing grau zu werden. Die Zerreibung dieser Puppen fand am 17. October 9!/,® a. m. statt und um 10® 10 Min. a.m. war auf dem Brei äusserst wenig von einem röthlichen Schimmer wahrzunehmen. Um 1!p.m. war die Färbung hell und bräunlich; um 5» p. m. hellbraun; am 19. October 10% a. m. chocoladenfarbig; am 19. October, 9% a. m., kaum verändert. Von den Larven (6° und c?) der beiden Partien 5 und c, welche in - feuchten Sand gesetzt wurden, geben die ersteren (5?) keine Puppen. Von den Larven c? wurden am 5. October 8” a. m. fast alle verpuppt gefunden. UNTERSUCHUNGEN ÜBER DIE VERWANDLUNG DER INSECTENLARVEN. 415 Sie waren wahrscheinlich schon am 4. October verpuppt gewesen, an welchem Tage keine Controle stattgefunden hatte. Diese Larven ce? waren also ge- waltsamer Weise am 30. September vom Futter getrennt worden, während die normalen Larven a erst am 2. bis 3. October aufhörten zu fressen und in den Sand gingen. Jene Larven c? wurden also 2 bis 3 Tage vor ihrer Reife gezwungen sich zu verwandeln. Die ganze Larvenperiode vom Aus- schlüpfen der Larve bis zum Einstellen des Fressens dauerte bei den nor- malen Larven a vom 27. September bis zum 2. October, d. h. 5 Tage. Schliesslich wurden in einem anderen Versuche Eier von erythrocephala am 28. September auf Fleisch abgelegt. Die Larven kamen erst am 30. September 8% a.m. aus. Von diesen Larven wurde am 1. October St a.m. eine grosse Menge in einer Probe zerrieben und eine andere, ebenfalls grosse Menge von Larven in feuchten Sand gesetzt. Am 2. October 8" a.m. war der Brei gelblichblond gefärbt. Am 3. October in der Färbung kaum verändert. Die in dem feuchten Sand gesetzten Larven verwandelten sich nicht. Aus diesen Beobachtungen’ können wir nun folgende Schlüsse ziehen: Das Ei besitzt noch nichts vom Enzym. Dieses bildet sich erst in der Larve und nimmt mit dem Wachsthum und der Entwickelung der Larve zu bis zu dem Punkte, wo die Larve vor der Verpuppung steht. Eine zum Verpuppen reife Larve sowie eine kürzlich gebildete Puppe zeigen am stärksten die Wirkung des Enzyms. Nach der Verpuppung fällt die Wirkung des Enzyms wieder und ist bei dem ausgebildeten Insect schliess- lich wieder Null wie bei dem Ei. Der Höhepunkt der Wirkung des Enzyms fällt also mit der Verpuppung zusammen. Eine gewisse Ungewissheit bleibt allerdings noch bestehen. Denn es ist nicht nöthig, dass das Enzym selbst bei den verschiedenen Entwickelungsstadien fehlt bezw. in geringer oder weniger wirksamer Form vorhanden ist; es kann dieses auch von demjenigen Körper der Fall sein, auf den das Enzym wirkt, um die Verfärbung hervor- zurufen. Dieses erscheint aber wenig wahrscheinlich. Es wäre auch denkbar, dass das Enzym in seiner Wirkung durch die Gegenwart eines anderen Körpers gehindert wird. Ferner ersehen wir aus den obigen Beobachtungen, dass die vorzeitige Verwandlung erst dann stattfinden kann, wenn die Wirkung des Enzyms im Larvenbrei einen bestimmten Grad erreicht hat. Verhandlungen der physiologischen Gesellschaft zu Berlin. Jahrgang 1904—1905. X. Sitzung am 7. April 1905. 1. Hr. N. Zunzz, zugleich im Namen der übrigen Theilnehmer an der Hochgebirgsexpedition von 1901 als 2. Mittheilung!: „Ueber die Wir- kungen des Sauerstoffmangels im Hochgebirge.“ Seit P. Bert die Krankheitserscheinungen, welche im Hochgebirge und bei Ballonfahrten auftreten, als Folge des Sauerstoffmangels charakterisiert hat, wird bis heute immer wieder darüber gestritten, wie weit diese Er- klärung zutreffend sei. Von mancher Seite wird noch immer behauptet, dass in den für Europa noch bedeutungsvollen Berghöhen von 4000 bis nahe 5000” der Sauerstoffmangel nicht wesentlich in Betracht komme, dass die in diesen Höhen vielfach beobachteten Störungen auf anderen Ursachen beruhen. Wir selbst haben stets den Standpunkt vertreten, dass zwar neben dem Sauerstoffmangel noch andere Momente im Hochgebirge wirksam sind, dass dieser aber wesentlich an dem Zustandekommen der Störungen betheiligt sei. Wir werden im Folgenden, ohne die Bedeutung der anderen Reize abstreiten zu wollen, auf Grund unserer Erfahrungen und der vorliegenden Unter- suchungen anderer darlegen, dass auch schon in geringen Berghöhen wirk- samer Sauerstoffmangel auftreten kann und factisch oft auftritt. Als Argument gegen die Richtigkeit dieses unseres Standpunktes wird angeführt, dass die so vielfach angewendeten Inhalationen von Sauerstoff meist keine oder doch nur ganz vorübergehende Besserung der Beschwerden der Bergkrankheit be- wirkt haben. Man kann ferner in diesem Sinne gewisse Erfahrungen Löwy’s beiLuftverdünnung im pneumatischen Cabinet verwerthen. Löwy fand deutliche Zeichen von Sauerstoffmangel erst dann, wenn der Partiardruck dieses Gases in den Lungenalveolen auf 30—35”% abgesunken war. Bei dieser Grenze machte sich Benommenheit des Kopfes, Schwindel, gelegentlich Ohnmacht geltend — es war also in erster Linie das Hirn, welches unter dem Sauer- stoffmangel litt. So niedrige Partiarspannung haben wir aber während unseres Aufent- haltes auf dem Monte Rosa-Gipfel niemals beobachtet, und ebenso wenig bei den Ballonfahrten von Schrötter und Zuntz, bei welchen doch unverkenn- ' Vgl. Müller, Energieaufwand beim Schwimmen. Dies Archiv. 1904. Physiol. Abthlg. 8. 565. VERHANDLUNGEN DER BERLINER PHYSIOL. GESELLSCH. — N. Zuntz. 417 bare chemische Zeichen von Sauerstoffmangel auftraten. Chemisch docu- mentirt. sich nämlich der Sauerstoffmangel bei Luftverdünnung und Athmung sauerstoffarmer Gasmischungen in einem Steigen des respiratorischen Quo- tienten, welches in der Art zu Stande kommt, dass die Kohlensäureaus- scheidung wächst, während die Sauerstoffaufnahme nahezu unverändert bleibt. Bei noch hochgradigerem Sauerstoffmangel, welcher rasch zum Tode führt, fanden Friedländer und Herter!, ein enormes Sinken der Sauerstoff- aufnahme bei nahezu unveränderter. Kohlensäureausscheidung. Es kommt also in diesem Falle beim Warmblüter in ähnlicher Weise, wie es Pflüger für den Frosch gezeigt hatte, zu einer wahren Anaörobiose. Die gleiche Beobachtung haben Zuntz und Goltstein? gemacht, Bei langsamer Ver- minderung des Sauerstoffgehalts der Athemluft wurde der Sauerstoffverbrauch der Thiere immer geringer, während gleichzeitig die Tiefe der Athemzüge erheblich zunahm. Wenn so der Sauerstoffverbrauch etwa auf !/, des Normal- werthes gesunken war, wurden die Athembewegungen seltener und nahmen periodischen Charakter an. Dabei können alle "heftigen Reizerscheinungen fehlen, häufiger allerdings geht dem Tode noch eine von Krämpfen begleitete Athemnoth vorher. — Ganzähnlich wie Löwy im pneumatischen Cabinet fanden nun Zuntz und v. Schrötter®? im Luftballon ein vorwiegendes Steigen der Kohlensäureausscheidung, während die Sauerstoffaufnahme gleichzeitig auch noch, aber weniger anstieg. Als wir uns im Ballon von 3000 % Meereshöhe bis zu etwa 5000” erhoben, nahm dieses Ueberwiegen der Kohlensäure- ausscheidung über die Sauerstoffaufnahme bei Zuntz stetig zu, während es bei v. Schrötter erst in fast 5000” Höhe deutlich in die Erscheinung trat, Derartige individuelle Unterschiede bei gleicher Einwirkung der Luft- verdünnung sind auch sonst mehrfach beobachtet — namentlich die für unsere Expedition von 1901 als Vorbereitung ausgeführten Versuche im pneumatischen Cabinet lassen sie deütlich erkennen. Löwy hat ein wichtiges Moment, auf welchem diese individuellen Unterschiede beruhen, aufgedeckt in den Verschiedenheiten der Athemmechanik verschiedener Menschen. Er konnte zeigen, dass bei gleicher Grösse der Lungenventilation die Dichte des Sauerstoffes in den Alveolen um so geringer ist, je häufiger, d. h. also, je flacher geathmet wird. In der That waren die (damals beobachteten Unterschiede im Verhalten verschiedener Versuchs- personen aus ihrer Athemmechanik vollkommen befriedigend zu erklären, und es war auch die in Folge von Muskelthätigkeit eintretende Aenderung eben dieser Mechanik, welche das Paradoxon verständlich machte, dass manche Menschen bei Arbeit und dadurch auf’s Mehrfache gesteigertem Sauerstoffverbrauch eine grössere Luftverdünnung vertragen als in körper- licher Ruhe. Die Athemmechanik ist aber nur eines der Momente, welche die Toleranz für Luftverdünnung bestimmen. Ebenso wichtig ist offenbar das Verhalten des Kreislaufapparates. Für gewöhnlich ist ja die Sauerstoffversorgung der Capillargebiete des Körpers eine überreichliche. Das Blut kehrt, wie die Versuche von Cl. Bernard, von Schöffer, von Zuntz und Hagemann und vielen \ Zeitschrift für physiologische Chemie. Bd. II. ® Goltstein, Ueber die physiologischen Wirkungen des Stickoxydulgases. Pflüger’s Archiv. Bd. XV. S. 343. ® Ergebnisse zweier Ballonfahrten zu physiologischen Zwecken. Pflüger’s Archiv. Bd. XCII. 8. 479. Archiv f, A.u. Ph. 1905. Physiol. Abthlg. Suppl. 27 418 VERHANDLUNGEN DER BERLINER Anderen erwiesen haben, mit einem grossen Vorrath von Sauerstoff durch die Venen in’s rechte Herz zurück. Normal wird weniger als die Hälfte des im Arterienblut vorhandenen Sauerstoffes in den Capillaren verbraucht. Dass dies bei Menschen ebenso der Fall ist, wie bei den früher untersuchten Säugethieren, ist aus den in dieser Gesellschaft vorgetragenen Versuchen der Herren Löwy und von Schrötter bekannt. Aus den ebenfalls hier besprochenen Untersuchungen, welche ich mit Löwy über die Dissociationscurve des Sauerstoffhämoglobins angestellt habe, folgerten wir, dass bei einer etwa der Monte Rosa-Höhe entsprechenden Luftverdünnung immer noch der Sauerstoffgehalt des arteriellen Blutes hoch genug bleibt, um den Organen mehr als den durchschnittlichen Bedarf zu- zuführen. Es ist aber ohne Weiteres klar, dass diese Folgerung nicht mehr zutrifft, wenn der Blutumlauf ein verlangsamter ist, oder wenn der Hämo- globingehalt des Blutes wesentlich unter der Norm liegt. Auf diesen beiden Momenten scheint es in der That neben der vorher besprochenen Athemmechanik zu beruhen, wenn bei vielen Individuen schon in Berghöhen von etwa 3000” Störungen durch Sauerstoffmangel auftreten. Diese Störungen brauchen aber durchaus nicht mit denen, welche Löwy im pneumatischen Cabinet gefunden hatte, übereinzustimmen. Es braucht nicht immer das allerdings gegen Sauerstoffmangel besonders empfindliche Hirn der Ort zu sein, an welchem er zuerst bemerkbar wird. Wissen wir doch aus den Untersuchungen von Alexander Schmidt, Falloise, Hill und Nabarro und Anderen, dass das Venenblut verschiedener Körperprovinzen in sehr ver- schiedenem Maasse an Sauerstoff verarmt sein kann. So fanden Hill und Nabarro! im Mittel zahlreicher Bestimmungen, in welchen das arterielle und venöse Blut von Hunden gleichzeitig entnommen wurde: Im arteriellen Bute . . . . . ...... 18,25Proc. O und 37,64Proc. CO, „ venösen „ des Hirns, dem Torcular entnommen... ua au ven 1 19,20, N. 0, or OD Blut:der Schenkelvene . . . 634 „ „ „ ABlD » » „ ” Bei der Thätigkeit der Organe nimmt zwar normaler Weise ihre Blut- durchströmung erheblich zu, aber meist ist doch diese Zunahme dem Ver- brauche nicht entsprechend. So fand ich mit Hagemann den Gehalt des dem rechten Herzen entnommenen Blutes bei Muskelarbeit wesent- lich niedriger als bei Ruhe. Da aber das Blut des rechten Herzens nur zum Theil aus den thätigen Muskeln entstammt, da gerade bei Arbeit auch eine sehr lebhafte Cireulation in der wenig Sauerstoff verbrauchenden Haut zu Stande kommt, muss die Minderung in dem Blute der thätigen Muskeln. noch sehr viel bedeutender sein, als sie sich im Blute des rechten Herzens. ausspricht. Unter diesen Umständen kann schon eine Abnahme des Sauer-. stoffgehaltes im Arterienblut um wenige Procente, ja schon eine solche um, ein Procent, local zu einem vollkommenen Aufbrauchen des Blutsauerstoffes und damit zu den Erscheinungen des Sauerstoffmangels an den betreffenden Orten führen. Wir wissen durch die Versuche am ausgeschnittenen Muskel, dass gerade dieses Organ lange Zeit ohne Sauerstoff unter Kohlensäurebildung Arbeit leisten kann. Wir wissen aber auch, dass bei derartiger Arbeit ab- norme Zersetzungsproducte entstehen und dass namentlich erhebliche Mengen. ı Journal of physiology. Vol. XVIII. ps 218. PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — N. ZuNTZz. 419 organischer Säuren in den Muskeln gebildet werden.! Mit dieser Säure- bildung aber haben wir wieder ein neues Moment, welches die Kohlensäure- ausscheidung erhöht, und zum Anwachsen des respiratorischen Quotienten bei Sauerstoffmangel beiträgt. Angesichts dieser Ueberlegungen ist es von hohem Interesse, dass Galeotti bei sich und Anderen nach mehrtägigem Aufenthalt auf dem Monte Rosa- Gipfel eine Abnahme der Blutalkalescenz um etwa 40 Proc. gefunden hat. Eine allerdings geringere Abnahme konnte er bei Thieren, welche eine Reihe von Stunden ein sauerstoffarmes Gasgemisch geathmet hatten, feststellen. Der von Galeotti gefundenen Abnahme der Alkalescenz entspricht die vonMosso und Marro bei Thieren gefundene Minderung des Kohlensäuregehaltes im Blute, an welcher freilich auch die Mechanik der Athmung betheiligt sein kann. Die Wirkung der Alkalesceenzabnahme des Blutes auf die Kohlensäure- abgabe kann natürlich nur eine vorübergehende sein. Würde die Alkalescenz- abnahme in der Höhe stetig fortschreiten, so müsste sie zum Tode führen. Bleibt sie nach einiger Zeit stabil, indem die Oxydation oder secretorische Elimination der Säuren ebenso gross wie die Bildung in den sauerstoffarmen Geweben wird, so muss die Kohlensäureausscheidung durch die Athmung wieder gleichen Schritt mit der Bildung in den Geweben halten. So wenig wie die Austreibung der Blutkohlensäure durch neugebildete Säuren kann aber auch die anaörobiotische Kohlensäurebildung unbegrenzt weiter gehen. Wir wissen namentlich durch die Untersuchungen von Kühne?, von Verworn?, von Jaeques Loeb* u. A., dass bei Andauer von Sauerstoffmangel die eine thierische Zelle früher, die andere später ihre Funktionen einstellt. Es ist deshalb eine Fortdauer des Lebens unter solchen Verhältnissen der Luft- verdünnung, dass es an einzelnen Stellen des Körpers zur Anaörobiose kommt, nur dann möglich, wenn diesen Stellen zu anderen Zeiten wieder so viel Sauerstoff zugeführt wird, dass die Zellen sich regeneriren können. Es ist daher bei lange dauerndem Aufenthalt im Hochgebirge nicht zu erwarten, dass der Sauerstoffmangel andauernd in einer Erhöhung des respiratorischen Quotienten sich ausspricht. In der That haben wir denn auch, und das tritt namentlich in den sehr zahlreichen von Durig und Zuntz ausgeführten Versuchen hervor, bei längerem Aufenthalt auf der Monte Rosa-Spitze voll- kommen normale respiratorische Quotienten gehabt. — Ebenso unverkennbar wie durch die Abnahme der Blutalkalesceenz kommt der Sauerstoffmangel in gewissen Veränderungen der Zusammensetzung des Harns zum Ausdruck. Im Verhältniss zum Stickstoff enthielt der Harn von uns allen auf dem Monte Rosa mehr brennbare organische Substanz und es waren Aminosäuren in grösserer Menge in ihm nachweisbar. Die Anfänge dieser Veränderungen waren übrigens bei einigen von uns schon auf dem Brienzer Rothorn in 2200 Höhe vorhanden; dort wurde vorübergehend auch schon leichte Dyspno& beobachtet. Ueber die Veränderungen des Harns im Hochgebirge soll demnächst hier im Zusammenhange berichtet werden. ! Vgl. Spiro, Zeitschrift für physiologische Chemie. Bd.]. S. 111 und v. Frey, Versuche über den Stoffwechsel des Muskels. Dies Archiv. 1885. Physiol. Abthlg. 8.533. ®” W. Kühne, Die Bedeutung des Sauerstoffs für die vitale Bewegung. Zeitschrift für Biologie. Bd. XXXV. 8.43 und Bd. XXXVI. S. 1. ® Verworn, Dies Archiw. 1900. Physiol. Abthlg. Suppl. S. 152. * Jacques Loeb, Untersuchungen über die physiologischen Wirkungen des Sauerstoffmangels. Pflüger’s Archiv. Bd. LXIL S. 249. 277 420 VERHANDLUNGEN DER BERLINER Bis zu einem gewissen Grade schafft übrigens der Sauerstoffmangel selbst auch die Hülfsmittel zu seiner Bekämpfung. Bekanntlich führt Sauer- stoffmangel ebenso wie Anhäufung von Kohlensäure zu einer Erregung des Athemecentrums, also zu verstärkter Athmung. In seinen bekannten Unter- suchungen über die Ursachen der Athembewegungen (sein Archiv Band I Seite 105) hat Pflüger die Vermuthung ausgesprochen, dass nicht das nega- tive Moment des Fehlens von Sauerstoff die Athemcentra reize, sondern dass diese Reizung erst durch die abnormen Stoffwechselprodukte, welche der Sauerstoffmangel erzeugt, zu Stande kommt. Er sagt wörtlich: „Muthmaasslich wirkt der Mangel an Sauerstoff deshalb so positiv giftig, weil er eine Anhäufung der sich fortwährend im Körper bildenden leicht oxydir- baren Stoffe zur nothwendigen Folge hat, welche das respiratorische Centralorgan in der Medulla oblongata und viele motorische Ganglienzellen heftig erregen.“ Diese Erregung durch Sauerstoffmangel wird in helleres Licht gesetzt, wenn wir die Athemmechanik von Thieren betrachten, welche längere Zeit sauerstoffarme Luft athmen. Ist die Sauerstoffarmuth der Athemluft nur eine mässige, so ist Anfangs die Athemgrösse nicht merklich verändert. Erst bei etwas längerer Fortdauer der Einathmung sauerstoffarmer Luft macht sich eine verstärkte Athmung bemerkbar und ebenso eine Steigerung des Blutdruckes. Namentlich die vorher schon eitirten Versuche von Fried- länder und Herter zeigen den höchst charakteristischen Unterschied zwischen der Wirkung des Einathmens einer kohlensäurereichen Luft und einer sauer- stoffarmen. Bei ersterer tritt binnen einer halben Minute die stärkste Wir- kung auf Athembewegung und Blutdruck zu Tage. Bei letzterer kommen diese Wirkungen erst allmählich im Laufe einer Reihe von Minuten zur vollen Entwickelung. Das entspricht durchaus der Auffassung, dass bei mässigem Sauerstoffmangel erst allmählich die das Centrum reizenden Stoffe in grösserer Menge gebildet worden. Noch charakteristischer ist die Thatsache, dass eine besonders starke Erregung der respiratorischen und vasomotorischen Centra nach Aufhören eines längere Zeit andauernden Sauerstoffmangels eintritt, sobald wieder normale Luft geathmet wird. Diese von mir und Goltstein!, von Friedländer und Herter (a.a.O.) und anderen gefundene Thatsache ist dadurch verständlich, dass bei längerem Sauerstoffmangel die Erregbarkeit der Centra allmählich sinkt, so dass die in grösserer Menge im Blute vorhandenen reizenden Stoffe wenig Effect haben. Wird dann wieder sauerstoffreiche Luft zugeführt, so erholt sich das Athemcentrum und rea- girt nun heftig auf die im Blute noch cireulirenden reizenden Stoffe. Viel- leicht hängt mit dieser herabgesetzten Erregbarkeit der Centra bei gleich- zeitiger Anwesenheit von abnorm viel Reizstoffen im Blute die im Hochgebirge so leicht zu Stande kommende Periodieität der Athmung und die ihr ent- sprechenden Wellen des Blutdruckes zusammen. Bekanntlich kommt auch sonst solche periodische Athmung da zu Stande, wo die Erregbarkeit des Centrums vermindert und gleichzeitig die Menge der erregenden Stoffe erhöht ist. - Das ist z. B. der Fall bei Vergiftung durch Morphium. Mosso hat bekanntlich diese Erscheinungen der perio- dischen Athmung im Hochgebirge eingehend studirt; er erklärt sie aber in etwas anderer Weise, als wir dies eben versucht haben. Er meint, es sei im Gegentheil ein Mangel an Reizen, der durch die Verminderung des Kohlen- ı Pflüger’s Archiv. Bd. XVII. S. 331. PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — N. ZUNTZ. 421 säuregehaltes des Blutes zu Stande kommt (Akapnie), welcher zur periodischen Athmung Anlass giebt. In Wirklichkeit sind aber beim Höhenaufenthalt unzweifelhaft neben der Kohlensäure andere ausgiebig wirksame Reize an der Unterhaltung der Athmung betheiligt. Es lässt sich dies in der Art, wie ich es zuerst mit v. Schrötter gethan habe, zahlenmässig zur An- schauung bringen, wenn man das Verhältniss der Lungenventilation zur Spannung der Kohlensäure in der Lungenluft berechnet. Dieser Spannung in der Lungenluft muss ja die Tension der Kohlensäure im Blute und damit wieder der Kohlensäuregehalt der die Ganglienzellen des Athemcentrums umspülenden Gewebsflüssigkeiten parallel gehen. Wir fanden nun unter gewöhnlichen Verhältnissen in Ruhe beim Menschen etwa 120— 170°“ Lungen- ventilation pro Minute aufjedes Millimeter Kohlensäurespannung in der Alveolen- luft. Bei Muskelthätigkeit, wo bekanntlich andere Reizstoffe, im wesentlichen wohl nach Lehmann’s Ausführungen Säuren, reichlich gebildet werden, steigt dies Verhältniss auf 400—600 °“” Ventilation pro 1" Kohlensäurespannung. Eine ähnliche Steigerung fanden Durig und ich während der ganzen Dauer unseres Aufenthaltes auf dem Monte Rosa-Gipfel. Im Durchschnitt kam hier bei absoluter Bettruhe 356 °@ Ventilation auf 1% Kohlensäurespannung. Bei Arbeit im Hochgebirge stieg dasselbe Verhältniss bis über 2900 «m, Hier tritt also die Kohlensäure als Erreger des Athemcentrums schliesslich ganz in den Hintergrund. Es liegt nahe, Sauerstoffmangel und Muskel- thätigkeit, welch’ letztere ja die Wirkungen des Sauerstoffmangels steigert, als die wirksamen Agentien anzusehen, durch die organische Säuren und vielleicht noch andere Reizstoffe erzeugt werden. Es können aber auch die physikalischen Besonderheiten des Hochgebirgsklimas, die intensive und an chemisch wirksamen Componenten besonders reiche Sonnenstrahlung, die Kälte, Luftbewegung und die elektrischen Eigenschaften der Höhenluft an der stärkeren Erregung des Athemcentrums mitbetheiligt sein. Dass solche Momente die Athmung verstärken können, zeigen unter anderem die Er- fahrungen von Löwy und Müller beim Aufenthalt an der See. Hier wo die Sauerstoffdichte der Luft maximal ist, ist die Lungenventilation auch in absoluter Ruhe Morgens im Bette gegen Berlin bei den 3 Versuchspersonen um 18, 13 nnd 2 Procent gesteigert. Es ist nun zu erörtern, wieweit die physikalischen Reize des Hoch- gebirgsklimas als Erreger der Athmung in Betracht kommen, wieweit es sich um neu auftretende im Blute circeulirende Reizstoffe handelt, deren Bildung durch Sauerstoffmangel einerseits, durch Muskelthätigkeit andererseits ja er- wiesen ist. Zur Beurtheilung der Tragweite der physikalischen Reize können uns die Studien von Löwy und Müller! „Ueber den Einfluss des Seeklimas und der Seebäder auf den Stoffwechsel des Menschen“ als Anhalt dienen. Hier kommt noch als steter Reiz für Haut und Schleimhaut der Salzgehalt der Luft in Betracht; „Brillengläser und Bart waren sehr bald von einer dünnen Salzschicht überzogen“, andererseits ist die chemische Wirkung der Sonnenstrahlung, wenn auch durch die Reflexe vom Meer und den weissen Sanddünen gesteigert, weniger gross als im Hochgebirge. Das starke Ueber- wiegen der positiven Ionen tritt in der Luft am Meere ebenso wie im Hoch- gebirge zu Tage. Schliesslich ist zu bedenken, dass wir im Hochgebirge oft mehrere Tage lang durch die Unbill der Witterung in der Hütte fest- ı Pflüger’s Archiv. Bd. CI. S. 1. 422 VERHANDLUNGEN DER BERLINER gehalten waren, wo weder Wind noch Strahlung, noch Unipolarität der atmo- sphärischen Elektrieität zur Geltung kommen, während bei den Versuchen am Meere täglich möglichst viele Stunden am Strande verbracht wurden. Trotzdem erreichte die Steigerung der Athmung an der See kaum jene Werthe, welche schon in mässigen Berghöhen auftreten. Folgende Tabelle lässt dies erkennen: Steigerung der Lungenventilation in Procenten des Werthes am erstgenannten Orte. SI lie &n ee ae ee keleis = ae ee ee ee Seele Seren See a= Be ke = 2, el oA|53 = . — KA S . erlıe, . © SE rer Oz SRsrtr “= - BE E < EB | | 100) | Berlin-Sylt . .1—4018| 2 | 13 Berlin-Brienz 5000 |—15 -9 —14 —-3 |-18 | —3 | Basel-Chasseral 11330 | —6| Zürich -St. Moritz 1400 181 Berlin-Zermatt 1600 9 13 Brienz-Rothorn . 1700 10 | 17 8 4 18 14 Berlin-Col d’Olen 2830 15! 44 19! 25.1032 —All Berlin-Betempshütte 2850 33 24 Berlin-Gnifettihütte 3700 47 (13% 36 50 Berlin-Monte Rosa |4500 802 War BRogLES met 76", 56588 In vorstehenden Zahlen ist zu bemerken, dass die Steigerungen, welche bis zur Höhe des Brienzer Rothorns auftreten, diejenigen nicht übersteigen, welche an der See beobachtet wurden. Andererseits ist bemerkenswerth, dass alle Theilnehmer der Expedition von 1901 in Brienz eine geringere Lungen- ventilation hatten, als vorher in Berlin. Dies und die geringe Abnahme bei Jaquet auf dem 1600” hohen Chasseral, erklärt sich wohl aus der Aus- schaltung der durch die Berufsgeschäfte bedingten Unruhe. Dazu kommt, dass unsere Versuche in Brienz nach dem Aufwachen im Bette, die in Berlin meist nach vorgängiger Zurücklegung des Weges zum Laboratorium ausgeführt wurden. Uebrigens beobachtete ich an mir selbst in verschiedenen Jahrgängen in Berlin ähnliche Schwankungen, wie sie bis zu Höhen von 2300” stattfanden. In der Höhe von 2900” (Col d’Olen, Bötempshütte) zeigen einige Versuchspersonen schon stärkere Wirkungen; von 3750” ab treten sie bei allen hervor und dauern auch bei Durig und mir auf dem Monte Rosa-Gipfel trotz guter äusserer Bedingungen (genügende Bettwärme, normale Ernährung) auch bei mehrtägigem Ausschluss der klimatischen Reize durch ruhigen Aufenthalt in der Hütte unverändert an. Dass aber auch in dieser Höhe ‚bei einzelnen Menschen sich noch keine neuen Athemreize entwickeln, das zeigen die Beobachtungen von U. Mosso ! Brienz statt Berlin als Ausgangspunkt. ° Wien statt Berlin als Ausgangspunkt. ® Waldenburg sehr bergkrank. * Im Jahre 1901. ® Im Jahre 1903. PHYSIOLOGISLHEN GESELLSCHAFT. — N. ZUNTZ. 423 an den Bergsoldaten der Expedition von 1894. Bei einigen dieser kräftigen und trainirten jungen Männer war die Athemgrösse auf dem Monte Rosa- Gipfel unverändert, bei einem sogar vermindert; im Durchschnitt aller ge- messenen Personen beträgt die Steigerung 17 Procent, nur bei einem (Camozzi) war sie = 62 Procent. — Unter unseren Mitarbeitern zeigt Waldenburg die geringste Steigerung, aber zugleich auch schwere Erscheinungen der Bergkrankheit, was darauf hindeutet, dass gerade bei geringer Erzeugung von Athemreizen die Sauerstoffversorgung des Gehirns eine besonders mangel- hafte sein kann. Im pneumatischen Cabinet, wo ja die Luftverdünnung der wesentlich wirksame Factor ist, in einigen Fällen allerdings auch abnorm hohe Temperatur und die Enge des Raumes das Behagen störte, haben wir bei einigen unserer Versuchspersonen bei gleicher Luftverdünnung geringere Aenderungen der Athmung als im Gebirge, bei Anderen, so bei mir selbst ebenso starke Wirkungen wie auf dem Monte Rosa. Hier tritt auch bei Mehreren die Erhöhung des respiratorischen Quotienten als Zeichen der ungenügenden Sauerstoffversorgung einzelner Gewebsgruppen deutlich in die Erscheinung. Wenn bei einigen von uns die Wirkung der Luftverdünnung im pneumatischen Cabinet geringer ist, als die einer entsprechenden Höhen- lage, darf man doch nicht ohne Weiteres folgern, dass an der stärkeren Wirkung des Hochgebirges Sauerstoffmangel nicht betheiligt sei. Der Aufenthalt im pneumatischen Cabinet dauert nur wenige Stunden. In dieser kurzen Zeit werden die Producte mangelhafter Oxydation sich noch nicht in maximaler Menge anhäufen. Ein direeter Beweis hierfür sind die vorher erwähnten Versuche Galeotti’s. Derselbe fand zwar auch im pneumatischen Cabinet bei einer der Monte Rosa-Höhe entsprechenden Luftverdünnung eine Abnahme der Blutalkalescenz, aber bei Weitem nicht so stark wie auf dem Monte Rosa. Es ist darum doch sehr wahrscheinlich, dass die durch Sauerstoffmangel im Blute erzeugten Reizstoffe die Hauptursache der Verstärkung der Lungen- ventilation in den eigentlichen Gebirgsregionen sind. Dafür spricht auch, dass in den Versuchen von Durig und Zuntz die während des Gipfelaufent- haltes ständig erhöhte Lungenventilation nur in mässigem Grade bei stärkster Einwirkung von Luft, direeter Besonnung, und der in einem Falle sehr aus- gesprochenen einseitig positiven Jonisation der Atmosphäre gesteigert wurde. Bei Zuntz erhöhten diese Momente die Lungenventilation von 7613 auf 9270°®, also um etwa 22 Procent, bei Durig aber war die Athmung unter diesen Umständen sogar etwas unter dem Durchschnitte der Morgens im Bette ausgeführten Versuche. Im Bette kurze Zeit nach längerem Aufent- halt im Freien angestellte Versuche ergaben auch bei Zuntz keine nennens- werthe Steigerung gegen die Nüchternversuche morgens früh. Angesichts. dieses raschen Abklingens der Wirkung der physikalischen Reize des Hochgebirges werden wir doch wohl für die Erklärung der an- dauernden Veränderung der Athmung in grossen Höhen die chemischen Reize als das Wesentliche ansehen müssen. Wir wollen deshalb die hier in Betracht kommenden Gesichtspunkte etwas eingehender erörtern. Wir wissen, wie ausserordentlich fein das Athemcentrum unter normalen Verhältnissen auf ganz geringe Anderungen der Kohlensäurespannung reagirt. Deshalb habe ich mit Cohnstein bei unseren Untersuchungen über die Apno& des Fötus die Kohlensäure als Maass der Erregbarkeit des Athem- centrums benutzt. Wir konnten durch Zufügung dosirter Kohlensäuremengen zur Athemluft leicht nachweisen, dass bei Neugeborenen gleiche Erhöhung der 424 VERHANDLUNGEN DER BERLINER Kohlensäurespannung die Athmung viel weniger anregt als bei älteren Thieren, dass also die Erregbarkeit des Athemcentrums nach der Geburt wächst. In ähnlicher Weise hat Löwy die Einwirkung narkotischer Mittel auf die Erreg- barkeit des Athemcentrums studirt und nachgewiesen, dass nur einzelne der- selben speciell das Morphium die Erregbarkeit erheblich herabsetzen. Aus den Eingangs erwähnten Versuchen, speciell aus der Zunahme der Lungen- ventilation, wenn wieder normale Luft nach längerer Einwirkung von Sauer- stoffmangel geathmet wird, darf man wohl schliessen, dass auch ungenügende Sauerstoffzufuhr die Erregbarkeit des Centrums herabsetzt, und diese Herab- setzung nur durch die gleichzeitige Anhäufung von Reizstoffen im Blute compensirt, ja übercompensirt wird. — Wir können nun auch auf Grund vorhandener Versuche die Frage erörtern, ob unter normalen Verhältnissen beim ruhenden Menschen die Kohlensäure allein als Athemreiz in Betracht kommt oder ob hier auch etwa jene anderen bei Muskelthätigkeit und bei Sauerstoffmangel sich bildenden Stoffe merklich an der Auslösung der Athembewegungen betheiligt sind. Wir haben zu diesem Behufe eine Anzahl von Speck! mitgetheilter Ver- suche berechnet, in welchen er gemessene MengenKohlensäure dereingeathmeten Luft beimengte. Da er die Athemgrössen nur auf 0° und 760 ""% redueirt, die Barometerstände aber gar nicht mittheilt, können wir die auf 1%% Kohlen- säurespannung in der Athemluft kommende Ventilationsgrösse nicht wie bei unseren Versuchen direct angeben. Da aber die reducirten Werthe unter sich vergleichbar sind, thut das den Schlussfolgerungen keinen Eintrag. Zur Bestimmung der Kohlensäurespannung haben wir für Speck’s Wohnort Dillen- burg einen mittleren Barometerstand von 740" und 46" Wasserdampf- spannung angenommen, also 694% Gasdruck in den Lungenalveolen. So berechnen sich aus Speck’s Tab. 39 folgende Daten: (Siehe die Tabelle S. 425.) Es fällt bei Betrachtung der Tabelle auf, dass die Athemgrösse stärker wächst als die CO,-Spannung, dass also die in Col. 7 berechnete Wirkung pro 1"m CO,-Spannung um so bedeutender erscheint, je höher die absolute Spannung ist; das ist vollkommen verständlich, wenn wir bedenken, dass die Schwelle des wirksamen Reizes nicht bei der Spannung 0, sondern bei einer noch ziemlich hohen Spannung liegt. Wir wissen, dass in der Apnoö noch ein ziemlich hoher Kohlensäuregehalt des Blutes also auch eine noch beträchtliche Kohlensäurespannung in den Alveolen besteht und Aug. Ewald? fand nach 15—55 Minuten lang durch sehr kräftige Lungen- ventilation unterhaltener Apno& noch bis zu 17.5 Procent CO, im arteriellen Blute. Da mit der langen Fortdauer der übermässigen Athmung ständig der Kohlensäuregehalt des Blutes erniedrigt wird, liegt die Grenze, bei welcher Apno&ö eintritt, erheblich höher. Auch in Speck’s Versuchen mit willkürlich stark foreirter Athmung war diese Grenze sicher erheblich überschritten, denn man kann sich leicht an sich selbst überzeugen, dass nur eine geringe Zahl rasch folgender tiefer Athemzüge ja schon ein einziger genügt, um sich für kurze Zeit in Apno& zu versetzen.” Speck findet aber I Physiologie des menschlichen Athmens. Leipzig 1892. S. 129. ® Pflüger’s Archiv. Bd. VII. 8. 575. > Sehr beweisend sind in der Hinsicht die Curven, welche Mosso in seiner Arbeit über die Apno& beim Menschen mitgetheilt hat (Archiv ital. de Biologie. T. XL. p.1). PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — N. ZUNTz. 425 1 St 5 6 ERS 9 | 5 Du ’ IIs> Athemgrösse || en S,» 23 : se ıs 2 | e sa. 3 |sa&% | & |..a)38 8=El57 335 realer een ee Versuchs-Nummer = EI) ee | 2Rl383 2238 ze) = = a So |d So am Rz) ES © = SER MELDE KS ae os 1379 = — D OH a ,o| so ve) = 2 a| 5 Selle le. e ie ARE EM EREN SRR|eRe 117 7190 1272| 3-31| 3-73||25-89|| 278 | 0-03 || 1064 Mittel aus 2 Nüchternvers.| 5 | | 5, ' (Tab. VI, 8. 29) ‚| 7015 1021| 8-61 | 4.181 29.03 242 | 0.03 | 709 Mittel aus 3 Versuchen vor | On IE en II SR Beiktägessen \ 7324 10.1 3 2 4 = 31 250 0.03 719 Mittel aus 4 Versuchen nach|| a | | Ian Ha Mittagessen \ 1805| 955 4.09 4 68 32-51 | 240 0-03 | 583 118 \ 9060| 1266| 3-89 | 4-26 29-53 307 || 0-95 | 871 119 11194 |1614 | 4-83 | 5-02|34-84 | 321 | 2-83 | 713 120 | 11459 |1616 | 4-88 | 5-05 |35-08 | 327 | 3-11 || 721 121 | 15981 |1542|| 6-04| 6-1042-35 | 377 | 5-40 || 688 122 | 24817 2030| 7-35 | 7-36 51-08|| 486 || 7-22 | 123 | 28382 1978| 7-32 | 7-34 150.92 || 458 | 7-10 ||| °” 124 | 31463 2029 | 10-20 10-11 170.16 448 |11-51 | 617 l | ıl beim foreirten Athmen, welches mehr als ausreichend zur Erzeugung von Apno& ist, den Kohlensäuregehalt der Exspirationsluft nur um etwa !/, ver- mindert. Wir dürfen daher annehmen, dass bei etwa ?/, der normalen Alveolarspannung der Nullpunkt für den Kohlensäurereiz liegt. Wir können auch diesen Nullpunkt aus dem Effect von 1 "” Zuwachs an CO, berechnen, indem wir auf Grund des annähernd geradlinigen Verlaufes der von Löwy für eine Anzahl Menschen unter verschiedenen Bedingungen ermittelten Curven der Athemgrösse als Funetion des Kohlensäuregehalts der Lungenluft ‚annehmen, diese Curve verlaufe auch nach rückwärts geradlinig bis zum Null- punkt der Athemgrösse, d. h. bis zum Zustand der Apno@. Für die Rechnung verwenden wir die 6 Normalversuche der Tabelle mit 7198 °® Minutenventilation und 28-65” Alveolarspannung, sowie das Mittel der CO,-Versuche Nummer 122 und 123 mit 24100 °““ Minutenventilation und 51-00”" Alveolarspannung. Nennen wir nun die Alveolarspannung, bei welcher Apno&ö eintritt =x und den Zuwachs der Athemgrösse für 1”” Alveolarspannung = y so haben wir die Gleichungen (28-65 — x)y = 7198 und (51-00 — x)y = 24100 Hieraus x = 19-13 "" als Spannung, bei welcher die Athembewegungen beginnen. y = 756.2 "= Minutenventilation auf 1" Kohlensäurespannung. 426 VERHANDLUNGEN DER BERLINER Wir erhalten also die für die Athmung wirksame Kohlensäurespannung in den Alveolen, wenn wir von der wirklichen Spannung 19-13 "® abziehen, und indem wir diese wirksame Spannung in die Athemgrösse dividiren, finden wir die auf 1”® wirksamer Spannung entfallende Minutenventilation; diese Werthe giebt Col. 9 der Tabelle. Ihre Abweichung von dem berechneten Durch- schnittswerthe 756 °® ist nur mässig und zeigt keine weitere Gesetzmässig- keit. Wir dürfen daraus schließen, dass unsere Art der Berechnung der Wirkung der Kohlensäure als Athemreiz annähernd zutrifft. — Ein reichhaltiges Material, welches mit den Ergebnissen von Speck’s Versuchen zu vergleichen ist, liefern die oben schon erwähnten Versuche Loewy’s.! An sechs ver- schiedenen Menschen wurde der Einfluss der Kohlensäure auf die Athemgrösse sowohl unter normalen Verhältnissen als auch unter der Einwirkung ver- schiedener narkotisch oder exeitirend wirkender Medicamente studirt. Ich habe aus den Angaben über den CO,-Gehalt der Exspirationsluft und über die Athemgrösse die in Betracht kommende alveolare Spannung berechnet unter der Annahme, dass 15-6 Athemzüge pro Minute gemacht wurden. Wir haben dann bei Athmung atmosphärischer Luft und 6.54 Liter Athemvolum 3.07 Procent CO, in der Exspirationsluft, 4-6 Procent — 32.7 "m Spannung in der Alveolarluft, das macht 200 °@ Ventilation auf 1 mm Kohlensäurespannung. Bei den höchsten Kohlensäuregehalten der eingeathmeten Luft lauten die entsprechenden Werthe: 18-06Liter Athemvolum 6-4 Procent CO, in der Exspirationsluft, 6,6 Procent — 46.9” Spannung in der Alveolarluft; hier kommen also 385 °® auf 1% Kohlensäurespannung. Berechnen wir, wie vorstehend, aus diesen Daten die der Apno& ent- sprechende CO, Spannung, so finden wir diese hier = 24-6"" und die einem Millimeter Spannung entsprechende Minutenventilation = 811 °®. Beide Zahlen kommen den aus Speck’s Versuchen berechneten nahe genug, um als Stütze derselben zu dienen. Beide Versuchsreihen zeigen auch, dass innerhalb der untersuchten Grenzen die Wirkung der Kohlensäure als Athem- reiz ihrer Spannung sich proportional verhält. Erst an der obersten von Speck untersuchten Grenze von über 10 Procent CO, in der Exspirationsluft scheint der erregende Effect abzusinken, wie das ja für noch höhere Beimischungen des reizenden Gases durch Thierversuche hinreichend bekannt ist. Die von. Speck angewandten Variationen im CO,-Gehalt der Athemluft sind gross genug, um die Möglichkeit auszuschließen, dass hier wesentlich andere Be- ziehungen als die vorher entwickelte, einfach lineare maassgebend wären. Man könnte z. B. an eine Analogie mit der Fechner’schen Beziehung zwischen Intensität des Sinnesreizes und der Sinnesempfindung denken, dann müssten also die Reizerfolge sich wie die Logarithmen der Reizgrösse verhalten. Dass dies nicht der Fall ist, sieht man ohne Weiteres. Nehmen wir die wirk- samen Kohlensäurespannungen als Maass des Reizes, so hätten wir für die er die Zahlen... 9.5 :31.8 deren Logarithmen: 0-98: 1-50 für den Erfolg: 7.2 :24-1 Wir haben also hier, wo wir den Erfolg eines im Centralorgan sich ! A. Loewy, Zur Kenntniss der Erregbarkeit des Athemcentrums. Pflüger’s Archiv. Bd. XLVI. S. 601. PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — N. ZUNTZ. 427 abspielenden Vorganges genau messen können und auch für den Reiz einen guten Zahlenausdruck haben, ein vom Weber-Fechner’schen Gesetz durch- aus abweichendes Verhalten. Eine Consequenz der besprochenen That- sachen ist es nun, dass wir nicht berechtigt sind, andere Reize als neben der CO, wirksam bei der normalen Athmung des ruhenden Menschen an- zunehmen. So bedeutungsvoll sich der Sauerstoffmangel als Reizerzeuger erweist, wo eine sauerstoffarme Luft geathmet wird, so sicher können wir sagen, dass er bei der Athmung normaler Luft durch ruhende gesunde Menschen keine Rolle spielt. Wäre es der Fall, so müsste Athmung sauer- stoffreicherer Luft die Athemgrösse herabsetzen, das ist nur ausnahmsweise und dann nur in geringem Maasse beobachtet worden. Dohmen! beobachtete allerdings bei Kaninchen das Herabgehen der Athemgrösse von 1004 auf 930 °®, wenn er statt atmosphärischer Luft reinen Sauerstoff athmen liess. Die Versuche Löwy’s? am Menschen aber ergeben bei Athmung normaler Luft 5-2 Liter Minutenventilation; bei einem Sauerstoffgehalt der eingeath- meten Luft von 31—49 Procent, 5°7 Liter Minutenventilation, endlich in ver- dünnter Luft bei etwa 440 "® Barometer 5-6 Liter; also bei weiten Differenzen der Sauerstoffspannung über und unter der Norm nur kleine Schwankungen, die sogar bei Athmung sauerstoffreicher Luft gerade den entgegengesetzten Sinn haben, als sie zeigen müssten, wenn hier schon Minderung des Sauer- stoffes die Athmung steigerte. Ganz in gleichem Sinne sprechen die Ergeb- nisse von Speck sowohl bei Athmung von sauerstoffreicher wie von in mässigem Grade daran verarmter Luft. Erst wenn der Sauerstoffgehalt der Inspirationsluft auf die Hälfte gesunken ist, macht sich Erhöhung des Athem- volums bemerkbar. Wir dürfen daher sagen, dass in der Ruhe unter normalen Verhältnissen die Kohlensäure des Blutes allein die Athmung regulirt. Anders bei Muskel- thätigkeit, hier steigt die Lungenventilation enorm, ohne dass die Kohlen- säurespannung erhöht ist. Geppert und Zuntz haben nachgewiesen, dass dann im thätigen Muskel gebildete Producte als neuer Reiz für das Athem- centrum auftreten; Löwy hat gezeigt, dass diese Producte nicht durch Secretion ausgeschieden, sondern im Stoffwechsel verhältnissmässig rasch zerstört werden. Lehmann endlich hat wahrscheinlich gemacht, dass die wirk- samen Substanzen Säuren sind, welche bei der Muskelthätigkeit gebildet werden. Durch Sauerstoffmangel aber kommt es ebenfalls zur Bildung orga- nischer Säuren im Blute, wie Hoppe-Seyler, Araki u. A. dargethan haben. So dürfte die bei Sauerstoffmangel sich einstellende Erregung des Athemcentrums durch dieselben Substanzen zu Stande kommen, wie die Er- regung durch Muskelthätigkeit, eine Annahme, die in Galeotti’s Befund der Säuerung des Blutes im Hochgebirge und in sauerstoffarmer Luft eine gute Stütze findet. Bei der grossen Feinheit, mit der das Athemcentrum auf die Blutreize reagirt, haben wir, wenn äussere Reize nicht mitwirken, in der verstärkten Athmung beim ruhenden Menschen das feinste Reagens dafür, dass irgendwo im Körper Mangel an Sauerstoff besteht. Von diesem Gesichtspunkte verstehen wir die bei Chlorotischen und Anämischen beobachtete abnorm starke Athmung. In gleichem Sinne deutet uns die im Verhältniss zur Kohlensäure- ! Dohmen in Pflüger’s Untersuchungen auf dem physiol. Laboratorium zu Bonn. Berlin 1865. 8. 83. ®2 Löwy, Untersuchungen über die Respiration und Circulation u, s. w. Berlin, Hirschwald 1895. S. 144. 428 VERHANDLUNGEN DER BERLINER spannung zu starke Athmung in verdünnter Luft oder beim Aufenthalte im Hochgebirge an, dass irgendwo im Körper Sauerstoffmangel herrscht und seine Producte als Athemreiz wirken, soweit nicht die oben erörterten physikalischen Momente als solcher in Betracht kommen. So ist es denn bedeutungsvoll, dass man schon in Berghöhen unter 3000 % eine Zunahme der Lungenventilation im Verhältniss zur Kohlensäure- spannung nachweisen kann. So lange irgend welche Muskelbewegungen in Betracht kommen, die ja an sich grosse Mengen von Reizstoffen erzeugen, ist natürlich ein soleher Nachweis immer zweideutig. Wichtig sind deshalb die Versuche, welche wir in mässigen Berghöhen von 2300 bis 2900 % Höhe in absoluter Bettruhe bei Ausschluss aller sonstigen etwa im Hochgebirge wirkender Reize angestellt haben. Bei mir entfällt unter solchen Umständen in Berlin auf jedes Millimeter Kohlensäurespanung eine Lungenventilation von 116-5 °®%, in Brienz 123 cm, auf dem Brienzer Rothorn in 2200 % Höhe betrug dieselbe 168 “®, auf Col d’Olen, 2900” Höhe, 248°”, Diese Zahlen wurden auf dem Gipfel des neben dem Olen-Pass noch etwa 150" aufragenden Gemshorns bei starker Besonnung nicht wesentlich gesteigert (255 °®). Daraus geht hervor, dass die Reize der Besonnung und die etwa auf dem Gipfel besonders stark wirkenden elektrischen Verhältnisse der Atmosphäre als Reize für das Athemcentrum viel weniger in Betracht kommen, als der Höhenaufenthalt an sich, d.h. doch wohl die Lufiverdünnung. Bei Durig trat die Erregung der Athmung in Col d’Olen-Höhe noch nicht so deutlich hervor. Er hatte in Wien eine Ventilation von 187.8 m pro Millimeter Kohlensäure, auf Col d’Olen 213 *®. Durch einen bereits. seit 11/, Stunden beendeten angestrengten Marsch kamen allerdings auch bei ihm Werthe von 272 bis 281°“ zu Stande. Mit dem zeitweiligen grösseren Sauerstoffmangel und dem dadurch be- dingten Auftreten von Produeten der Anaörobiose hängt wohl eine von uns. auf dem Monte Rosa-Gipfel beobachtete Erscheinung zusammen, welche in striktem Gegensatz zu dem Befunde steht, den man bei kurz dauerndem Sauerstoffmangel gemacht hatte. Während in letzterem Falle Erhöhung des respiratorischen Quotienten auftritt, finden wir in einzelnen Versuchen auf dem Monte Rosa, und namentlich in solchen, welche bei Ruhe nach voran- gegangener grösserer Muskelanstrengung gemacht wurden, abnorm niedrige: respiratorische Quotienten. Wir sagten vorher schon, dass die Erhöhung des Quotienten bei Tage und Wochen dauerndem Aufenthalt in verdünnter Luft unmöglich andauern kann, dass die durch Anaörobiose erzeugten, unvollkommen verbrannten Stoffe, da sie nur in geringer Menge in den Ausscheidungen nachweisbar sind, zu anderen Zeiten und eventuell an anderen Stellen des Körpers doch wieder zur Verbrennung kommen müssten. Bei der Verbrennung dieser Stoffe ist aber natürlich die Kohlensäurebildung gering im Verhältniss zum Sauerstoffverbrauch — der respiratorische Quotient muss unter die Norm sinken. Ohne uns über die Natur der in Betracht kommenden Stoffe in Vermuthungen zu verlieren, wollen wir nur erwähnen, dass bei der Verbrennung von Alkohol der respiratorische Quotient 0.67, bei der von Aceton der Quotient 0-5 zu erwarten ist. Noch niedrigere Quotienten ergeben die Fettsäuren von geringem Moleculargewicht, bei deren Verbrennung ein Theil der gebildeten Kohlensäure zunächst von dem Alkali festgehalten wird, womit die Säuren bis dahin verbunden waren. PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — N. ZUNTz. 429 Als Beleg für das Gesagte seien aus den Monte Rosa-Versuchen folgende an mir beobachtete Quotienten genannt: 2.September, nach Marschversuchen auf dem Schneefelde 0-71 und 0-66. 31. August, nach vielstündigem Marsch auf dem Schneefelde 0-68. Bei Durig nach 2stündigem Schneefeldaufenthalt und sehr anstrengen- dem Aufstieg 0-67 und 0-65. Nach Besteigen der Zumsteinspitze, wobei von Durig durch Stufen- schlagen erhebliche Arbeit geleistet wurde, 0-68. Diese Quotienten sind nicht tiefer, als man sie auch sonst nach an- strengenden Arbeiten bei Menschen und Thieren gefunden hat, es dürfte aber auch in beiden Fällen dasselbe ursächliche Moment, nämlich un- genügende Sauerstoffzufuhr bei grossem Bedarf, maassgebend sein. Wir haben früher zur Erklärung soleher abnorm niedriger Quotienten besonders daran gedacht, dass bei Muskelarbeit der Glycogenvorrath des Körpers ver- braucht wird und dass dieser Vorrath in der nachfolgenden Ruhe, falls keine Nahrung zugeführt wird, aus den Beständen des Körpers, also aus Eiweiss oder wie wir nach Pflüger’s neuesten Untersuchungen annehmen müssen, aus Fett, regenerirt wird. Bildung von Kohlehydrat aus diesen Stoffen muss aber ebenfalls den Quotienten unter den der Fettverbrennung ent- sprechenden Werth, also unter 0-69 erniedrigen. In der That fand ich ja auch, wie ich früher hier mittheilte, beim hungernden Hunde, dem ich durch Phlorhizin Zucker entzog, respiratorische Quotienten von 0-66 bis 0.63. Man sieht aus diesen Darlegungen, dass es nicht an Ursachen fehlt, welche uns auch unter den Bedingungen des Hochgebirges niedrige respira- torische Quotienten finden lassen. Eine andere Thatsache, welche schon in den ersten Arbeiten von mir und Sehumburg frappirte, war die Steigerung des Sauerstoffverbrauches im Hochgebirge; eine Steigerung, welche sowohl den Verbrauch bei Arbeit, und zwar diesen in besonders deutlichem Maasse, als auch den in der Ruhe betraf. So paradox es auf den ersten Blick erscheint, dass der in zu geringem Maasse vorhandene Sauerstoff dennoch in abnorm grossen Mengen gebraucht wird, so verständlich wird das Paradoxon, wenn wir die Verhält- nisse genauer analysiren. Bei Arbeit kommt wohl zunächst in Betracht, dass die mangelhaft mit Sauerstoff versorgten Muskeln weniger leistungsfähig sind und dass deshalb, wie immer bei zu starker Beanspruchung von Muskeln, weniger zweckmässig gearbeitet wird. Es werden eben Hülfsmuskeln mit für die Arbeit beansprucht, welche normal nicht mitzuwirken brauchen. Es würde also die Steigerung des Sauerstoffverbrauches und natürlich auch der Kohlensäurebildung bei Sauerstoffmangel auf denselben Ursachen ‚beruhen, wie die Steigerung bei ermüdeten und überangestrengten Menschen. Wenn wir aber auch eine Steigerung des Verbrauches in der Ruhe, diese allerdings nicht so constant, und erst in grösseren Höhen als die Steigerung bei Arbeit finden, so erklärt sich dies zum Theil aus dem Umstand, dass ja auch in der Ruhe ständig Muskelarbeit stattfindet, und dass diese Muskelarbeit, z. B. die der Herz- und Athemmuseulatur, auch unter ungünstigeren Um- ständen erfolgt, als bei reichlicherer Sauerstoffzufuhr. Für die Athem- musculatur kommt ja auch in Betracht, dass sie, wie vorher schon erwähnt, mehr zu leisten hat, dass wir im Hochgebirge in Folge der durch den Sauerstoffmangel erzeugten Reize dauernd verstärkt athmen. Die Athem- arbeit wird auch durch die stärker ausgedehnten Darmgase, welche einen 430 VERHANDLUNGEN DER BERLINER Druck auf das Zwerchfell ausüben, erschwert. Es kommt aber weiter in Betracht, dass die während der Arbeit erzeugten Producte unvollkommener Verbrennung, welche im Blute circuliren, schliesslich doch oxydirt werden und hierfür ein Mehrverbrauch an Sauerstoff nöthig ist. Hieraus erklärt sich die Beobachtung, dass nach Anstrengungen im Gebirge nicht, wie sonst nach Muskelthätigkeit, der Sauerstoffverbrauch schon nach drei bis vier Minuten wieder normal wird, sondern stundenlang um ein sehr Erhebliches gegen die Norm gesteigert ist. Wir erinnern.in der Hinsicht an die Zahlen, welche Leo Zuntz einige Stunden nach Auf- stieg zur Monte Rosa-Spitze beobachtete. Als ein letztes Moment kommt vielleicht auch noch die erregende Wirkung der mehrfach besprochenen Producte der unvollkommenen Oxy- dation auf die motorischen Centren des Rückenmarkes in Betracht. Wir wissen, dass diese Producte bei acutem Sauerstoffmangel derart reizen, dass es zu heftigen Krämpfen kommt. Hier, wo sie nur in mässigem Grade dauernd die Athmung verstärken, mögen sie zugleich durch tonische Erregung der Rückenmarkscentren den Stoffwechsel in der gesammten Körper- musculatur ein wenig anregen. Angesichts der entwickelten Gesichtspunkte werden wir uns nun nicht mehr wundern über die grossen Unterschiede in der individuellen Reaction auf das Hochgebirge. Die Höhen, wo es zu zeitweiligem Sauerstoffmangel kommt, werden sehr verschieden sein. Der Sauerstoffmangel wird, wenn wenig lebenswichtige Organe hauptsächlich Producenten der anaörobiotischen Abbauproducte sind, für den übrigen Körper durch Verstärkung der Athmung ausgeglichen. Andererseits verstehen wir aber auch, dass in Bezug auf die Cireulation schlecht versorgte Organe schliesslich erkranken können und verstehen so die Fälle schwerer Erkrankung der Lunge, des Centralnerven- systems, welche im Hochgebirge mehrfach beobachtet wurden. 2. Hr. Rawırz: „Ueber das Auge der Wale.“ Vortr. wies besonders darauf hin, dass das Corpus ciliare des Cetaceen- auges ein grosses Blutreservoir geworden sei, da die Processus ciliares Gefäss- schlingen sind. Die Arbeit erscheint in der Internationalen Monatsschrift für Anatomie und Physiologie. 3. Hr. R. pu Boıs-Reymoxp: „Zur Demonstration der Aufhellung des Blutes.“ Bei der Aufhellung des Blutes ist zu beachten, dass einerseits die Ver- dünnung, andererseits das Homogenwerden der Flüssigkeit Veränderungen im Aussehen des Blutes hervorbringen. Um diese anschaulich zu demon- striren, muss man eine nicht aufgehellte Blutprobe von gleichem Verdünnungs- grade mit der aufgehellten Probe vergleichen. Um zu zeigen, dass der Unterschied darauf beruht, dass das aufgehellte Blut eine homogene Lösung darstellt, kann man es mit Xylol oder besser Paraffinöl schütteln, und zeigen, dass die Emulsion: wie normales Blut aussieht. Die Ausdrücke Lackfarbig und Deckfarbig sind zu vermeiden, da es sich nicht um verschiedene Farben handelt. Durchsichtige Farben heissen Lasurfarben. Ausführliche Mittheilung im Centralbl. für Physiol. Bd. XIX. 3. 8. 65. PHYSIOL. Ges. — Rıwızz. — R. pu Boıs-Reymond. — N. Zuntz. 431 XI. Sitzung am 12. Mai 1905. 1. Hr. N. Zuntz demonstrirt an der Hand einiger Abbildungen die Besonderheiten eines von ihm nach dem Prineip von Regnault und Reiset gebauten Respirationsapparates, der ursprünglich für menschliche Säuglinge gedacht, bis jetzt zu Versuchen an kleineren Säuge- thieren, Hunden und Kaninchen gedient hat. * Der Apparat ist im Wesentlichen von der Firma Christ & Co. gebaut worden; die vorliegenden Skizzen haben die vereinigten Fabriken für Labo- ratoriumsbedarf für ihren wissenschaftlichen Katalog anfertigen lassen. Die Hauptarbeit der Ausprobirung und Controle des Apparates hat Hr. Dr. Carl Oppenheimer geleistet, der auch eine Vereinfachung der Ventilationseinrichtung bewirkt hat und an Stelle der von mir Anfangs ein- gerichteten Sauerstofferzeugung aus chlorsaurem Kali die Verwendung käuf- lichen reinen Sauerstoffes gesetzt hat. Ferner hat er statt der anfänglich an- gewandten Messung des eintretenden Sauerstoffes durch eine kleine Gasuhr die viel genauere Wägung nach Durig! eingerichtet. Ihr dient der Glas- ballon A und das aus Zinkblech hergestellte Druckgefäss 5. Der an einem Flaschenzuge -hängende Thierbehälter wird während des Versuches in eine grosse Wasserwanne versenkt, deren Wasser durch einen Luftstrom ständig durchmischt wird. Die genaue Beherrschung und möglichste Constanterhaltung der Tempe- ratur während des ganzen Versuches ist die wesentlichste Bedingung zur Er- zielung exacter Resultate. Werden Fehler in der Bestimmung der Durch- schnittstemperatur der Luft im Thierbehälter gemacht, so bedingen sie vor allem entsprechende Fehler in der Berechnung des am Ende des Versuches vorhandenen Stickstoffes, täuschen Ausscheidung oder Absorption desselben vor. Wir benutzen deshalb zur Temperaturbestimmung ein Thermobarometer in Form eines den Thierbehälter in mehreren Windungen durchziehenden Rohres aus innen versilbertem Messing, das mit einem Manometer verbunden ist, welches die Druckschwankungen der eingeschlossenen Luft misst. Ein zweites Manometer misst die Spannung der Kastenluft. Die Manometer, welche durch die Niveaukugeln k und iso eingestellt werden, dass das Gasvolumen constant bleibt, sind mit Chlorcaleiumlösung, deren specifisches Gewicht genau !/,, von dem des Quecksilbers ist, gefüllt. Statt die Kalilauge in communieirenden Röhren auf- und absteigen zu lassen, wie dies Regnault that, zog ich es vor, wie Pflüger? zu verfahren und durch eine besondere Pumpe Luft durch Kali- ventile aus dem Apparat auszusaugen und wieder in denselben zurück- zutreiben. Die Ventilation besorgt eine einfache Kolbenluftpumpe, welche von einem Elektromotor getrieben wird. Man kann die Ventilation so lebhaft gestalten, dass die beim ursprünglichen Regnault’schen Verfahren lästige Wassercondensation im Thierkasten vermieden wird, indem die hoch con- centrirte Kalilauge die Ventilationsluft ausreichend trocknet. Wenn nöthig, wird noch ein Chlorcaleiumturm in den Ventilationsweg eingeschaltet. Wie die Figuren zeigen, sind alle Kautschukverbindungen unter Wasser versenkt. Die Verbindung des Thierbehälters mit den in der zweiten Wasser- wanne befindlichen Ventilen vermitteln passend gebogene Bleiröhren. ! Durig, Dies Archiv. 1903. Physiol. Abthlg. S. 209. ? Siehe Colasanti, Pflüger’s Archiv. Bd. XIV. 432 VERHANDLUNGEN DER BERLINER IM | INN) 1 Hiosgie Das aus dem Wasser der Wanne emporragende obere Ende des Pumpen- cylinders, durch welches die Kolbenstange eintritt, ist durch eine Quecksilber- schicht gesichert. PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — N. ZUNTZ. 433 Aus dem Sauerstoffreservoir A wird das Gas durch die Leitung 7, W, W, dem zur unteren Hälfte der Pumpe führenden Ventilationstrome beigemengt. (Im Ventil W, sind die Röhren unrichtig gezeichnet, das von V kommende reicht natürlich bis zum Boden, während das nach W, führende, von welchem die Nebenleitung X zur Entnahme der Analysenproben abzweigt, unter dem Stopfen beginnt.) N UML] il : % { ET Fig. 2. Pumpe und Ventile, | An der Hand der zwei Abbildungen dürfte Vorstehendes zum Verständnis ' des Apparates genügen. Eine Controle der Genauigkeit wird demnächst | von den Herren Dr. Oppenheimer und Dr. Schreuer, welche Unter- , suchungen mit dem Apparate ausgeführt haben, veröffentlicht werden. | 2. Derselbe beschreibt zwei einfache Versuche, welche er in der Vor- lesung benutzt um zu zeigen, dass ebenso wie durch die rothen Blutkörperchen Archiv f. A. u. Ph. 1905. Physiol. Abthlg. Suppl. 28 434 VERHANDLUNGEN DER BERLINER durch beliebige farblose das Licht aus der Blutlösung refleetirende Partikel die sogenannte Deckfarbe in die Erscheinung tritt. Zur durchsichtigen, im auffallenden Lichte schwarz erscheinenden Blutlösung wird in der von Pflüger angegebenen Weise ein wenig Milch gefügt und durchgeschüttelt, worauf das Blut im auffallenden Lichte hellrot erscheint. Den gleichen Effeet erzielt man durch Eintauchen einer Anzahl in eine Fassung eingekitteter Deckgläser, deren jedes von dem benachbarten durch einen capillaren Zwischenraum getrennt ist. 3. Ferner demonstrirt derselbe, dass die blaue Farbe des durch die Venen durchschimmernden Blutes zum Vorschein kommt, wenn man ein, redueirtes Blut enthaltendes, Reagensglas mit einer Schicht befeuchteten Papiers von passender Dicke bedeckt; arterielles Blut scheint unter gleichen Bedingungen roth durch das Papier. 2. Hr. M. BorcHert: „Ueber die Hirnrinde der Selachier.“ Eine am besten der Hirnrinde der höheren Wirbelthiere vergleichbare Bildung ist, wie erst nach Ankündigung dieser Mittheilung ersehen wurde, bereits von Rohon! für die eine Classe der Selachier, die Haie, beschrieben worden. Vortragender muss sich daher darauf beschränken, diesen Befund für die Rochen zu bestätigen und einige nähere Angaben über Topographie und Struetur dieser Hirnrinde zu machen. Die Structur derselben ist ver- schieden im vorderen und hinteren Theil des Vorderhirns. (Ausführliche Publication voraussichtlich im Archiv für mikroskopische Anatomie.) 3. Hr. R. pu Boıs-Reymonp: „Zur Physiologie des Springens.“ Seit Borelli ist die Lehre vom Springen nicht wesentlich vorge- schritten. Das Material, das Muybridge und Marey durch Augenblicks- aufnahmen beigebracht haben, ist bisher unbeachtet geblieben. Dem Verständniss der Vorgänge beim Springen steht hindernd entgegen, dass die Höhe des Sprunges allgemein nach der Höhe des Hindernisses ge- messen wird, das übersprungen werden kann, statt nach der Höhe der Wurf- bahn des Körperschwerpunktes. Diese Höhe ist verhältnissmässig klein, weil der Schwerpunkt zu Anfang des Sprunges schon etwa 1” hoch über dem Boden steht. Um bei gegebener Höhe der Wurfbahn ein möglichst hohes Hinder- niss frei zu überspringen, muss im Scheitel der Wurfbahn der Schwerpunkt möglichst tief im Körper gelegen sein. Hierfür gewährt der einseitige Ab- sprung mit Anlauf einen Vortheil, indem er gestattet, erst die Beine, dann den Körper über das Hinderniss zu bringen. Noch vortheilhafter sind die von Engländern und Amerikanern geübten Sprünge, bei denen der Körper sich mit horizontaler Längsaxe vorlings oder rücklings über die Springschnur hinüberwälzt. Ausserdem gewährt der Anlauf den Vortheil, dass ein Theil seiner kinetischen Energie durch Vorstemmen des abstossenden Beines in die Richtung nach oben abgelenkt werden kann. Dies ist an Muybridge’- schen Aufnahmen nachzuweisen. Die Wurfbahn des Schwerpunktes ist eine Parabel, aus der der Schwerpunkt nur durch äussere Kräfte abgelenkt werden kann. Der Körper vermag sich aber während des Sprunges durch eigene Kräfte um den Schwerpunkt zu drehen. E. Kohlrausch hat hervor- 1 Denkschriften der Kaiserl. Akademie der Wissenschaften. Wien 1878. PHYSIOL. GES. — M. BORCHERT. — R. Du Bois-ReymonD. — N. Zuntz. 435 gehoben, dass bei jedem Sprung eine Drehung um die Queraxe stattfinden muss, da der Körper vorwärts geneigt aufsteigt und rückwärts geneigt auf den Boden kommt. Die Frage, ob dies durch excentrischen Abstoss oder durch Eigenbewegung bewirkt wird, lässt sich durch die subjective Erfahrung beantworten, dass man beim Sprung über ein hohes Hinderniss und dann in die Tiefe nicht rückwärts, sondern vorwärts überzukippen pflegt. An einer Aufnahme von Marey ist ein doppeltes Kreisen der Arme wahr- zunehmen, das eine Drehung um die Queraxe bedingt. Der Sprung scheint besonders geeignet, ein Maass für die Körperkraft abzugeben. Beim Hochsprung treten die oben angeführten Bedingungen als störende Nebenumstände auf. Der Weitsprung beruht aber nur auf freiem Hochsprung, währenddessen der Körper mit der durch den Anlauf gewonnenen Geschwindigkeit vorwärts fliegt. Berechnet man aus der maximalen möglichen Parabelhöhe die Geschwindigkeit beim Weitsprung, so findet man sie kleiner als die durchschnittliche Geschwindigkeit beim Wettlauf über 100 oder 200". Berechnet man aus der maximalen Parabellänge beim Weitsprung die Höhe des freien Sprunges, oder misst sie auf Augenblicksaufnahmen, und misst ferner die Strecke, um die beim Abstoss die Beinlänge vergrössert wird, so kann man die Kraft, die beim Abstoss wirken muss, berechnen. Diese Kraft ist erheblich grösser, als die bekannten Messungen für die Streckkraft der Wade ergeben haben. Thatsächlich geschieht der Abstoss stets mit voller Sohle, also mit Hülfe der Oberschenkelmusculatur. Beim Hüpfen mit durchgedrückten Knieen auf den Fussspitzen erreicht man bei Plantar- flexionen von 3 ©“ Amplitude Wurfhöhen von 17 ®, woraus sich bei einem Körpergewicht von 85 == für beide Waden eine Kraftwirkung gleich 470 8 berechnet, was mit den früheren Bestimmungen über die Kraft der Waden- muskeln gut übereinstimmt. XII. Sitzung am 26. Mai 1905. 1. Hr. Levy-Dorn: „Projection kinematographischer Röntgen- bilder.“ Eine Reihe Ergebnisse lässt sich mit Hülfe des Röntgenverfahrens nur erzielen, wenn man verschiedene Röntgenprojectionen desselben Gegenstandes in riehtiger Weise mit einander verknüpft. Ich verweise in erster Linie auf die Methoden, den Ort von Fremdkörpern, die Lage von Knochentheilen und dergl. zu bestimmen. Im Jahre 1897 habe ich in dieser Gesellschaft und bald darauf auf dem Chirurgencongress die Verknüpfung zweier unter verschiedenen Gesichtswinkeln aufgenommenen Bilder zur einem Stereoskop- bild gezeigt — eine Demonstration, die zur Zeit auf recht fruchtbaren Boden fiel. Es ist mir nunmehr auch gelungen, von einigen beweglichen Körper- theilen die in verschiedenen Phasen der Bewegung aufgenommenen Röntgen- bilder so anzuordnen und vorzuführen, dass ein deutlicher kinematographischer Effeet entsteht. Im Vergleich zu den gewöhnlichen kinematographischen Aufnahmen bieten die mit Hülfe des Röntgenverfahrens hergestellten grössere Schwierigkeiten dar. Hier kann nicht, wie dort, das Object frei bewegt 28* 436 VERHANDLUNGEN DER BERLINER werden, sondern muss der Platte möglichst nahe aufliegen. Die Röntgen- bilder können nicht von vorn herein in genügend kleinen Dimensionen er- halten werden, da sich die Röntgenstrahlen nicht brechen lassen; die Strahlen- quellen sind für die meisten Fälle nicht reich nnd widerstandsfähig genug, um Momentaufnahmen zu erzielen, zumal man, um keine projeetiven Ver- zerrungen zu erhalten, das Rohr ziemlich weit vom Object abstellen muss. Endlich muss man auch berücksichtigen, dass ein Uebermaass von Röntgen- strahlen, das Dermatitis u. s. w. hervorrufen kann, bei schnell hinter einander vorgenommenen Radiographien relativ leicht erreicht werden kann. Das Wesen meines Verfahrens besteht darin, dass Röntgenbild nach Röntgenbild in möglichst geringem Phasenunterschied aufgenommen werden und dass die so gewonnenen Bilder später auf die für die gewöhnliche kine- matographische Projection gebräuchlichen Filmstreifen in verkleinertem Maass- stabe photographisch übertragen werden. Diese Uebertragung hat in dankens- werther Weise die Firma „Messter’s Projection“ übernommen. Das Object muss während der Röntgenaufnahmen so gelagert sein, dass die Platten gewechselt werden können, ohne dass das Object bewegt wird. Ich improvisirte mir eine Kassette, wie man sie z.B. auch für stereo- scopische Aufnahmen benöthigt. Der Werth der kinematographischen Röntgenbilder ist nicht allein ein wissenschaftlicher, sondern auch ein didactischer. Bisher vermochten wir die Bewegungen nur auf dem Fluorescenzschirm zu studiren, der aber den Nachtheil hat, weniger Details zu geben, als die photographische Platte. Ausserdem verlangt die Beobachtung auf dem Schirm jedes Mal die Anwesenheit des Objectes, es können zugleich nur wenige das Schirmbild sehen und das Sehen selbst erfordert nicht geringe Uebung und bringt Unvorsichtigen Gefahr. Alle genannten Uebelstände fehlen der kinematographischen Pro- jeetion. Sie empfiehlt sich daher besonders zur Vorführung schwer erfassbarer oder leicht unbeachtet bleibender Knochenstellungen vor Lernenden, wie z. B. der Bewegung der Patella mit derjenigen des Knies, der Ueberkreuzung der Ulna durch den Radius bei der Pro- und Supination. Auch die pro- jeetiven Verschiebungen in Folge von Bewegungen des Röntgenrohres oder des Objectives lassen sich leicht kinematographisch darstellen. Der wissenschaftliche Werth der kinematographischen Röntgenbilder ‚liegt in der Möglichkeit, durch sie die feineren Details der Bewegung studiren zu können. Eine gelungene kinematographische Vorführung ist die beste Probe, ob die Bewegungsphasen richtig aufgenommen und richtig ge- ordnet sind. Vorgeführt wurde die ulnare und radiale Beugung im Handgelenk, die Supination und Pronation des Radius, die Beugung der Knie. 2. Hr. W. Vöutz (a. G.):! „Über die Bedeutung des Betains für die thierische Ernährung.“? ! Aus dem zootechnischen Institut der Königlichen Landwirthschaftlichen Hoch- schule zu Berlin. ® Die ausführliche Publication dieser Arbeit erfolgte in der Zesischrift zum 70. Geburtstage von Geh. Regierungsrath Prof. Dr. A. Orth-Berlin. Verlagsbuch- handlung Paul Sarly. 1905. PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — W. VÖLTZ. 437 Unter den N-haltigen Stoffen der vegetabilischen Futtermittel überwiegen nächst den Eiweisskörpern die für die Ernährung ebenfalls wichtigen Amide. OH . Zu den Amiden ist auch das Betain N(CH,), zu rechnen. CH, | COOH Das Betain wurde aus der Zuckerrübe zuerst von Scheibler gewonnen. Das Betain kommt nicht frei in der Rübe vor, sondern es kann erst durch Kochen mit Salzsäure, oder Barythydratlösung aus einer complieirten Sub- stanz abgespalten werden. Saft unreifer Rüben enthält etwa 0,25 Procent, Saft reifer Rüben etwa 0,1 Procent Betain. Besonders reich an Betain ist die Melasse, dieselbe enthält nach Stanek bis zu 7 Procent der Trocken- substanz von diesem Körper. Aus der Melasse kann das Betain nach Ehrlich leicht durch Ausschütteln mit Alkohol gewonnen werden. Später ist das Betain in vielen Pflanzen nachgewiesen worden, z. B. in der Wicke (0,05—0,6 Procent) und anderen Leguminosen, in den Keimen der Gerste und des Weizens, in der Weizenkleie und im Weizenmehl ete. Brieger wies das Betain in Miesmuscheln und in giftigen Austern nach. Chemischen Eingriffen gegenüber ist das Betain sehr resistent. Es wird von Königs- wasser nicht angegriffen, ebenso wenig wird es von starker Schwefelsäure bis zu einer Temperatur von 140° C. zerlegt. Es liegen nun eine ganze Anzahl Versuche an Thieren vor, welche an- gestellt wurden, um die etwaigen toxischen Eigenschaften des Betains, sowie das sonstige Verhalten dieses Stoffes im Organismus zu studiren. Es hat sich dabei ergeben, dass das Betain auch bei directer Einwirkung auf das herausgeschnittene Froschherz und den isolirten Nerv toxische Erscheinungen nicht zur Folge hat. Gegentheilige Befunde sind, wie Velich einwandsfrei bewiesen hat, auf Verunreinigungen der verwendeten Präparate zurückzu- führen. Nach intravenöser Injection von 5°” Betain fanden Andrlik, Velieh und Stanek beim Hunde 77 Procent im Harn wieder. Von dem per os gegebenen Betain erschienen 17—28 Procent unverändert im Harn. Dagegen konnten die genannten Autoren in einem Versuch an einer Kuh, welche täglich 144®”” Betain in dem Futter erhielt, weder im Harn, noch im Kot, noch in der Milch Betain nachweisen. Magen- und Pankreassaft verändern das Betain nicht, ebenso wenig vermochte nach den genannten Forschern Bacterium coli commune in einer Nährlösung, die als einziges N- und C-haltiges Material Betain enthielt, diesen Stoff anzugreifen. In Versuchen an Hammeln schliesslich studirten Velich und Stanek den Ein- fluss des Betains auf den N-Umsatz. Die Forscher fanden in zwei Betain- perioden eine stärkere N-Retention, als bei den Versuchen, bei denen kein Betain verfüttert worden war und in der zweiten Betainperiode mit ge- ringerem N-, aber gleichem Betaingehalt der Nahrung einen stärkeren N-Ansatz, als in der ersten. Sie gelangen auf Grund dieser Befunde zu dem Schlub, „dass das Betain im thierischen Organismus in einem bestimmten Umfange Verwerthung finden kann.“ In den Harnen der betainfreien Perioden fanden die Autoren Monomethylamin, in den Harnen der Betainperioden 438 VERHANDLUNGEN DER BERLINER Monomethylamin und Dimethylamin, dagegen kein Trimethylamin. Aus der Abwesenheit des letztgenannten Körpers, des gewöhnlichen Zersetzungspro- ductes des Betains bei der Einwirkung von Säuren und Alkalien, sowie auf Grund des Auftretens von Dimethylamin in den Betainperioden, schliessen die Forscher, dass das Betain im Organismus in einen methylirten Harnstoff zerfallen dürfte, welcher bei der Hydrolyse mit Säuren in Dimethylamin, Kohlendioxyd und Ammoniak zerlegt wird. Bei der Anstellung meiner Versuche ging ich von folgenden Gesichts- punkten aus: Die Stoffwechselvorgänge sind beim Carnivoren weniger durch die Thätigkeit der Mikroorganismen complicirt, welche eine so bedeutsame Rolle beim Ernährungsprocess der Herbivoren spielen; ich wählte daher Hunde für meine Versuche, um ein möglichst klares Bild von dem Nährwerth des Betains zu erhalten. Sodann erschien es mir wünschenswerth, festzustellen, wie sich das Betain in Bezug auf den N-Umsatz und -Ansatz gegenüber dem Asparagin verhält. Die Nährwirkung des letzteren Amides kennen wir noch am besten, und basiren die Vorstellungen, welche wir über die Bedeutung der Amidstoffe in ihrer Gesammtheit als Nährstoffe haben, im Wesentlichen auf den Resultaten, welche durch Fütterungsversuche mit Asparagin gewonnen sind. Da ich früher gefunden hatte, dass das Asparagin im Organismus des Hundes verschieden verwerthet wird, je nachdem eine im N-Gehalt gleiche Menge Albumin oder Casein neben diesem Amid bei gleichem Caloriengehalt der Nahrung gereicht wird'!, so führte ich auch analoge Fütterungsversuche mit Betain aus, um festzustellen, ob der Ersatz des einen der genannten Proteine durch das andere, bei übrigens gleichen Versuchsbedingungen, eine verschiedene Ausnutzung dieses Körpers bewirkt. Aus diesen Erwägungen ergab sich folgende Versuchsanordnung: Eine kleine 4-58 schwere Hündin erhielt in vier Versuchen, von denen der erste Versuch nach mehrtägigem Vorversuche mit gleichen Ernährungs- bedingungen 5 Tage, die übrigen je 10 Tage durchgeführt wurden, eine Nahrung von genau gleichem N- und Caloriengehalt, nämlich 4-51 8m N und 619.19 Cal. Der Harn wurde täglich durch Katheterisiren abgegrenzt. Nach der Katheterisirung liess ich das Thier, um ihm die nöthigste Be- wegung zu verschaffen, täglich 3#% auf der horizontal gestellten Tretbahn zurücklegen. Die Stickstoffbestimmungen wurden im Harn, in den Epidermis- gebilden und im frischen Koth ausgeführt, um N-Verluste, die auch beim Trocknen des Kothes über Schwefelsäure im Vacuum unvermeidlich sind, aus- zuschliessen. Ausserdem ermittelte ich den Caloriengehalt im Harn und Koth. Denn ging das Betain, wie Velich, Stanek und Andrlik gefunden hatten, zum grösseren oder geringeren Procentsatz unverändert in den Harn über, so musste in den Betainperioden ein entsprechend höherer Calorien- gehalt der Harne gefunden werden. Schliesslich habe ich nach der Methode von Stanek das Betain direct im Harn bestimmt. Diese Methode ist nicht sehr genau, sie ermöglicht es nach Angabe des Autors, bis zu 80 Procent des zugesetzten Betains aus dem Harn wiederzugewinnen. Ich erhielt 66-63 Procent des direct zugesetzten Betains aus dem Harn wieder. Das Betain wurde mir für meine Versuche von der Actiengesellschaft für Anilin- 1 Pflüger’s Archiv. 1905. Bd. CVII. 8.360 und S. 415. PHYSIOLOGISCHEN GEESLLSCHAFT. — W. VÖLTZ. 439 fabrieation zu Berlin dankenswerther Weise unentgeltlich zur Verfügung gestellt. Bei sämmtlichen Versuchen erhielt die Hündin eine aus 80 8” Fleisch, 748m Reis und 203'” Schmalz bestehende Grundration. Dazu wurden ver- abreicht beim ersten Vers. 0-58"@ N in Form v. Albumin u. 0-58"U N in Formv. Asparagin, 2) zweiten „..0- ö Do oe) „ „ 0°5 VL ER RE Betain, ” dritten „ 0 5 2209) ” ” „ ” 0 x 5 200770 2,2) ” ” Asparagin, ” vierten ” 0-5 De) 3VREER 9 Casein „ 0.5 VRRDE yE Ee Betain, ” fünften ” 0 5 RE) „ ” ” 2 Durch Vergleich der N-Bilanzen des ersten bezw. dritten mit dem zweiten Versuch musste sich der Werth des Betains als N-haltiger Nährstoff gegenüber dem Asparagin bei gleichzeitiger Albuminzufuhr ergeben. Die Resultate des zweiten verglichen mit denjenigen des vierten Versuches mussten ein eventuell verschiedenes Verhalten der beiden Proteine bei gleichzeitiger Betainzufuhr erkennen lassen. Bei dem Vergleich der N-Bilanzen der beiden letzten Versuche 4 und 5 musste es sich schliesslich herausstellen, ob Betainstickstoff zum Ansatz gelangen, bezw. ob und in welchem Umfange das Betain andere N-haltige Stoffe vor dem Zerfall schützen kann. Die folgende Tabelle enthält die N-Bilanzen sämmtlicher Versuche und zwar im Mittel pro die: I ee (zZ2lFEldia Salsa 8 Bes au IST|3°| sa a8|58 SH leH|leE3 | Fee | zZ | -” 50 | | 1. Albumin-Asparaginperiode 5 4-51 3-66 10-44 | 0-04 |4-14 | 4-07 |0-37 | 4-288 2. Albumin-Betainperiode ı 10 4-51 3-87 10-49 | 0-04 | 4-40 | 4-02 | 0-11 |4-420 3. Albumin-Asparaginperiode | 10 4-51 3-75 10-39 | 0-03 |4-17 | 4-12 |0-34 | 4-613 4. Casein-Betainperiode 10 | 4-51 | 3-81 |0-48 | 0-04 | 4-33 14-03 | 0-18 | 4-835 5. Caseinperiode 10 |4-01 3-30 0-53 | 0-04 | 3-37 | 3-48 | 0-14 | 5-005 Die N-Bilanzen der beiden Albumin-Asparaginperioden (Versuche 1 u. 3) stimmten also nahezu überein. Der Ersatz von 0-5 2”” Asparaginstickstoff durch 0-58" N in Form von Betain (Versuch 2) bewirkt dagegen eine um 0.268” vermehrte N-Ausscheidung. Das Betain erhöhte somit gegenüber dem Asparagin den Eiweissumsatz erheblich. Die in den Betainperioden (Ver- suche 2 u. 4) dadurch bewirkte Variation der Nahrungszufuhr, dass in einem Fall 0.5°"% Albuminstickstoff, im anderen 0-5?" Caseinstickstoff verfüttert wurden, bedingte eine Veränderung des N-Umsatzes um 0-07 3" zu Gunsten der Casein-Betainperiode, also eine sehr geringe Differenz. Uebrigens ist der N-Gehalt der Fäces in den Betainperioden gegenüber den anderen Ver- suchen immer etwas erhöht, eine Thatsache, die auch von Velich bei Herbi- voren regelmässig constatirt worden war. Vergleichen wir schliesslich die Resultate der beiden letzten Versuche (4 und 5) mit einander, so zeigt es sich, dass dieselbe Menge N, welche in 440 VERHANDLUNGEN DER BERLINER Form von Betain zur Verfütterung gelangte, im Harn wiedererscheint. Die Erhöhung der N-Ausscheidung im Koth der Caseinperiode ist, wie auch durch Fortsetzung des letzten Versuches bestätigt wurde, offenbar darauf zurückzuführen, dass in Folge der langen Versuchsdauer ein geringer Reizzustand des Darmes bestand, der eine Vermehrung der Darmsecrete bedingte. Nunmehr wende ich mich der Besprechung der calorimetrischen Befunde zu. In der Nahrung hatte das Thier beim 2., 3. und 4. Versuche 619.19 Cal, beim 5. Versuche 592.08 Cal. erhalten. Es gelangten zur Ausscheidung: Im Harn Im Koth In der Betain- Albuminperiode 50-8Cal.=8.20Proe., 33-359 Cal.=5 -39Proc.der Einnahme In d. Asparagin- Albuminperiode 28-8 „ =4-66 „ 28.030 ,„ =4-52 „ u». ,% In der Betain- Caseinperiode 48-5. „ —=7:83 „ 33.785 „ =5-46 „ .,„ » u. in der Casein- periode 24.45, —4.13 38-380 „0-48 5, „ H Der Caloriengehalt der Harne ist also in den Betainperioden um nahezu den doppelten Werth erhöht. Aus der Differenz der Calorien der Harne in der Casein-Betainperiode und der Caseinperiode ergiebt sich unter der Annahme eines bei beiden Versuchen unveränderten Abbaues der übrigen Nahrungsbestandtheile, dass 88-71 Proc. der Calorien des Betains (das Betain lieferte eine Verbrennungs- wärme von 5-624 Cal.) im Harn wiedererscheinen. Somit finden die Re- sultate der N-Bilanzen durch die Calorienbefunde eine Bestätigung. Endlich habe ich noch das Betain nach der Methode von Stanek in den Harnen direct bestimmt. Es wurden in der Betain-Albuminperiode 69 Proc., » „ Betain-Caseinperiode 60 „, des verfütterten Betains wiedergefunden, während ich von einer abgewogenen Menge des einer Harnprobe zugesetzten Betains 66-63 Proc. wiedererhielt. Somit ergiebt sich auch aus diesen Resultaten der Schluss, welcher allerdings durch die Ungenauigkeit der Methode beeinträchtigt wird, dass das Betain unter den gewählten Ernährungsbedingungen so gut wie vollständig im Harn des Hundes wiedererscheint. Wie angegeben, fand ich in dem Harn der Betain-Caseinperiode etwas weniger Betain wieder, als in der Albumin-Betainperiode (60 gegenüber 69 Proc.). Ferner wurden im Harn der Betain-Caseinperiode 0-07 sU N und 2-3 Cal, täglich weniger ausgeschieden, als in der Albumin -Betain- periode. Schliesslich nahm das Thier in der Betain -Caseinperiode etwas mehr an Gewicht zu, als in der Betain-Albuminperiode, nämlich täglich 21 gegenüber 158%, Wenngleich diese Differenzen sehr gering sind und bei Wiederholung desselben Versuches vorkommen können, so wäre es doch möglich, namentlich auch in Anbetracht der Thatsache, dass die gewonnenen Daten die Mittel 10tägiger, also ziemlich langer Perioden sind, dass das PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — N. ZUNTz. 441 Betain, gleichzeitig mit Casein verabreicht, in ganz geringem Umfange im Körper des Hundes zerlest wird, bei gleichzeitiger Albuminzufuhr dagegen nicht. Selbstverständlich lassen sich auf diese geringen Differenzen keine Behauptungen aufbauen. Immerhin wollte ich in Uebereinstimmung mit Prof. Lehmann davon Notiz nehmen. Die Resultate meiner Untersuchungen lassen sich folgendermaassen zusammenfassen: 1. Das Betain ist in einer Menge von 1 8% pro Kilo Körpergewicht und Tag eine für Hunde vollständig ungiftige Substanz. 2. Nach Betainzufuhr wird die N-Ausscheidung im Koth im Allgemeinen um einen geringen Werth erhöht. 3. Das Betain besitzt für Carnivoren nicht die Bedeutung eines Nähr- stoffes. Der Betainstickstoff gelangt vollständig zur Ausscheidung im Harn, ebenso der grösste Theil der Calorien dieser Substanz. Eine Steigerung im N-Umsatz des Organismus findet nach Betainzufuhr nicht statt. Das Betain verhält sich also in Bezug auf die Erhaltung des Eiweissbestandes im Körper der Carnivoren als indifferente Substanz. Ob das Betain doch vielleicht bei gleichzeitiger Caseinzufuhr in ganz geringem Umfange im Organismus des Hundes zerlegt werden kann, muss einstweilen dahingestellt bleiben. 3. Hr. N. Zuntz: „Zur Kritik der Blutkörperchenzählung.“ In der Sitzung dieser Gesellschaft vom 24. Februar hat Hr. Liebreich einige Bedenken gegen die Zuverlässigkeit der Zählungen der rothen Blut- körperchen im Gebirge geäussert. — Augenblicklich mit den Collegen Löwy, Caspari und Müller bei einer Bearbeitung der physiologischen Wirkungen des Höhenklimas beschäftigt, mussten wir uns natürlich über die Tragweite dieser Bedenken klar zu werden suchen. Ich darf wohl recapitulirend daran erinnern, dass Hr. Liebreich auf die Bedeutung des von ihm vielfach untersuchten „todten Raumes“ für die Zählresultate hinwies. Die Oberflächenspannung verdrängt die Erythrocyten aus der Peripherie des Tropfens; diese Wirkung ist um so bedeutender, je grösser die Oberfläche im Verhältniss zur Masse des Tropfens ist. Da nun die Oberfläche mit dem Quadrat, die Masse mit der dritten Potenz des Radius wächst, wird die Oberflächenwirkung kleiner, wenn der Tropfen, welcher sich an der Zählpipette bildet, grösser wird. Daher wird man um so höhere Blutkörperchenzahlen finden, je grösser der Tropfen war, aus welchem die Zählprobe entnommen wurde. Die Tropfen sind aber um so grösser, je weiter man mit dem Zählapparat sich von der Oberfläche der Erde erhebt; denn die den Tropfen an der Ausflussöffnung festhaltende Oberflächenspannung bleibt unverändert, die Schwere aber, welche diese Spannung überwindet, nimmt ab — freilich in den in Betracht kommenden Höhen nur um sehr wenig —, für je 1000" um 0-000196 von dem Werthe auf der Erdoberfläche. Ob eine so geringe Aenderung in der Tropfengrösse das Resultat be- einflussen kann, wissen wir nicht. Es existirt aber eine thatsächliche Controle, welche die Frage, wie mir scheint, in dem Sinne entschieden hat, dass selbst eine zehn Mal grössere Aenderung der Schwere die Zählung noch nicht merklich beeinflusst. 442 VERHANDLUNGEN DER BERLINER Liebreich hat in der inzwischen erschienenen ausführlichen Publication seines Vortrages! selbst angeführt, dass die Schwere vom 45. Breitengrade bis zum Aequator um 0-0026, also 15 Mal mehr als bei Ersteigung von 1000 ® Höhe abnimmt. Er meinte aber, es lägen keine vergleichenden Zählungen in unseren Breiten und am Aequator vor. Ich habe nun aber doch eine Anzahl verwerthbarer Zählungen gefunden und zwar, wie mir scheint, vollkommen einwandfreie. Die meisten rühren von Eijkman? in Batavia (6° 11 Min. südl. Breite) her. Dieselben sind für uns um so werthvoller, als Eijkman neben den Zählungen immer Hämoglobin. bestimmungen mit dem Fleischl’schen Hämometer ausführte und Werthe fand, wie wir sie hier bei gleicher Blutkörperchenzahl zu finden pflegen. Damit ist der Einwand ausgeschlossen, Eijkman’s Versuchspersonen hätten etwa an Tropenanämie gelitten, abnorm wenig Blutkörperchen gehabt und nur in Folge des Messungsfehlers der Norm entsprechende Zahlen geliefert. Uebrigens sagt Eijkman ausdrücklich, er habe nur solche Personen unter- sucht, welche wenigstens im letzten Jahre an keiner fieberhaften Krankheit gelitten hatten. Er findet im Mittel: bei 15 Malayen . . 5.2 Millionen Blutkörp. u. 96.5 Proc. Hämoglobin „15 frisch zugereisten Europäern . 5-3 ja er Ibn; 4 „ 14 bis 2 Jahre in den Tropen Weilenden 5-18 ,, h 100207, 5 „ 21 langei.d. Tropen 5.36 . „ Mi 10020, .. Aehnliche Resultate theilt Glogner? mit, sowie Moreslang und Scheer (eitirt nach Eijkman)). Sehr überzeugend ist auch der Befund von Viault* an sich selbst. InvBaris - 2.0. .8-0 Mill. Blutkörperchen „ Lima (Peru) 120 südl. Br. im Meeresniveau 5-0 „ Morococha, 4200 % hoch, nach 15 Tagen 7.1 „ 5; „ ” ” ” „ 22 ” 8-0 ” „ PB Eine genauere Ueberlegung zeigt, dass die Zunahme der Tropfengrösse in der Höhe noch geringer ist, als sie sich aus der Abnahme der Schwere berechnet. Die Abnahme der Schwere wird nämlich in der Höhe zum Theil compensirt durch die gleichzeitige Abnahme der Luftdichte. Die Luft lässt jeden in ihr gewogenen Körper um so viel leichter erscheinen, wie die von ihm verdrängte Luft wiegt. 1°” Luft wiegt nun bei 0° + 760%" Druck in 45° Breite 1-29306 8. In 1000” Meereshöhe bei 670% Barometerdruck wiegt dasselbe Luftvolum nur noch 1-14041 "8. Der Auftrieb, welchen 1 °® Wasser erfährt, ist also um 0-15265 "8 kleiner geworden, um ebenso viel muss der sich bildende Tropfen kleiner werden. Festschrift für Georg Meyer, Berlin. Hirschwald. 1905. Eijkman, Virchow’s Archw. Bd. CXXVI. Glogner, Virchow’s Archiv. Bd. CXXVII. S. 160. Viault, Compt. rend. Vol. CXI. p. 917. » OD - PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — N. ZUNTZ. 443 Die den Tropfen vergrössernde Abnahme der Schwere in 1000 ® Höhe heträgt aber 0-196%s. Es werden also */, der Wirkung der Abnahme der ‚Schwere durch die gleichzeitige Abnahme der Luftdichte compensirt. In ‚der geringeren Höhe von Hermsdorf (340” über M.), das auch schon von Hrn. Liebreich in Betracht gezogen wurde, compensirt die Aenderung der => sogar °/, der Schwerewirkung. Wenn auch die vorstehenden Ausführungen genügen dürften, um zu zeigen, dass die Zählungen durch die von Hrn. Liebreich so geistvoll herangezogenen Gesichtspunkte in ihrer Genauigkeit nicht gefährdet werden, schienen mir doch diese Gesichtspunkte so interessant zu sein, dass es oh lohnte, sie noch in anderer Weise zu prüfen. Man kann ja viel gröbere Aenderungen der Tropfengrösse, als sie die "Schwere bewirkt, durch Aenderung der Oberflächenspannung der Flüssig- E: erzielen. Wenn man nun zur Verdünnung desselben Blutes im Thoma-Zeiss’schen Mischgefäss zwei Flüssigkeiten verwendet, von welchen die eine etwa doppelt so grosse Tropfen bildet, als die andere, so müssten die Zählresultate verschieden ausfallen, und zwar in sehr viel grösserem Maasse verschieden, als dies bei Aenderungen der Schwere geschehen kann. | Ich benutzte zur Verdünnung des zu zählenden Blutes ein Mal eine | 3 procentige Kochsalzlösung und dann eine eben solche Si unter Zusatz E etwa 20 Vol.-Procenten Alkohol. Im Traube’schen Stalagmometer geprüft, gab die erste Flüssigkeit 47 Tropfen, die zweite Flüssigkeit 70 Tropfen aus dem gleichen Volum. | Die Zählungen selbst hat mein Assistent Hr. Pächtner ausgeführt und zwar in der Weise, dass der Ohrvene eines Hundes, in einem Falle der Jugularis eines Kalbes, mit Hülfe einer Pravazspritze Blut entnommen _ wurde, welches in der Spritze selbst mit einem gleichen Volum Natrium- oxalatlösung gemischt wurde. Von diesem Blute wurden dann abwechselnd mit Hülfe der beiden Verdünnungsflüssigkeiten Zählproben bereitet. Die _ Ergebnisse zeigt folgende Tabelle: Thier \ Rothe Blutkörperchen in | 200 Feldern der Zählkammer | Kalb Hoona ame 3 Eve Hund 2156 | — | r 2132 | 2228 || x — | 2026 | a | = I 208 | ” 2088 2048 Das vorige Blut nach 24 Stunden gezählt. # 2424 2500 | Mittel (Hund) 2200 | 2206 Dürfen nun diese Resultate als Widerlegung der Liebreich’schen Hypothese angesehen werden? Man könnte dies bezweifeln, denn wenn die Tropfen der alkoholischen Lösung so viel kleiner sind als die der wässerigen, so ist dies doch nur deshalb der Fall, weil in ersterer die Oberflächenspan- nung geringer ist. Man kann also die Annahme vertheidigen, dass die Wirkung der relativen Oberflächenzunahme beim kleinen Tropfen durch die 444 VERHANDLUNGEN DER BERLINER geringere Kraft, mit welcher jedes Oberflächenelement die Blutkörperchen nach der Mitte hindrängt, compensirt wird. — Es wäre allerdings merk- würdig, wenn die beiden Wirkungen einander gerade aufheben würden. Die Frage liess sich aber noch in anderer Weise klären. Es ist ja gar nicht nöthig, dass man den aus der Pipette austretenden Tropfen sich | zur vollen Grösse entwickeln lässt. Ich wenigstens habe dies beim Zählen nie gethan. Hr. Pächtner hat nun die Zählung derselben Blutprobe ein Mal so ausgeführt, dass ein spontan abfallender grosser Tropfen auf die | Zählplatte gebracht wurde, dann so, dass die Beschiekung mit Hülfe einer Anzahl kleinster Tropfen erfolgte. Das Ergebniss war pro 100 Felder: Bei Anwendung eines grossen Tropfens 2114 Blutkörperchen, M m vieler kleiner 5 2180 n also innerhalb der Fehlergrenze gerade umgekehrt, als man es auf Grund der Deductionen Liebreich’s erwarten: sollte. Die Zählmethode ist also im Hochgebirge unbedenklich verwendbar, wenn man nur die nöthigen Cautelen, auf welche Bürker jüngst mit be- sonderer Prägnanz hingewiesen hat, beobachtet. Hrn. Pächtner sage ich für seine Mitarbeit besten Dank. 4. Hr. Dr. Max MüLter (a. G.): „Ueber die eiweisssparende Wirkung des Asparagins bei der Ernährung.“ Bekanntlich stellte sich eine sehr interessante Verschiedenheit in dem Verhalten der Amidstoffe bei der Ernährung der Herbivoren, insbesondere der Wiederkäuer, gegenüber den Carnivoren heraus. Während bei den Wieder- käuern, wie man sich ausdrückte, die Amide eiweisssparend wirkten, d.h. unter den günstigsten Bedingungen den Stickstoffumsatz wirklich zu erniedrigen vermochten, war bei den Carnivoren eine solche Stickstoffersparnis, mit einer einzigen Ausnahme, nicht zu constatiren. Auf Grund dieser Thatsache wies Hr. Geheimrath Zuntz darauf hin, dass in dem sehr langen und voluminösen Verdauungstractus der Wieder- käuer die bakteriellen Gährungsprocesse naturgemäss eine viel grössere Rolle spielen. Diese Processe müssen um so intensiver sein, je länger die Speise- reste im Verdauungstractus verweilen. Es muss nun sehr wohl verständlich erscheinen, dass die Bakterien für ihre Lebensthätigkeit zum Aufbau ihres Körpers vorhandene Amide verwenden, während sie bei Nichtvorhandensein der Amide die Eiweissstoffe angreifen. Es resultirt hiernach eine Schutz- wirkung für die Eiweissstoffe durch Amide. Auf Veranlassung von Hrn. Prof. Lehmann stellte ich Versuche ausser- halb des Thierkörpers an. Hierzu dienten sterile Nährflüssigkeiten von etwa 200°”, die ausser den nöthigen Nährsalzen Eiweisskörper mit und ohne Asparaginzusatz als stickstoffhaltiges Nährmaterial enthielten. Diese Nähr- Hüssigkeiten wurden mit Pansenbakterien geimpft, verschieden lange bei Brut- temperatur aufbewahrt und hierauf auf die Abbauproducte des Eiweisses bezw. der Amide untersucht. Hierbei wurde eine nicht unbeträchtliche Ei- weissersparung durch Amide festgestellt, die am besten durch folgende Zahlen- reihe zum Ausdruck kommt: PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — MAx MÜLLLER. Bei den 8 Versuchen sind gespalten worden: 445 Von Von Von Von] Von Von 1.799 rm] .182 8710-8347 80-6205 F@| 5 grm Mi " grm Mj i Nach Bhtt- Blut Blut- Bloß 5 Milchcasein | 5 Milchalbumin Stunden |albumin albumin | albumin | albumin mit ohne mit ohne mit As-||ohneAs- mit As- ohne As-| Aspara- | Aspara- | Aspara- Aspara- paragin | paragin | paragin | paragin gin gin gin gin 12 = == | 0.015? 0160 — — _ — 24 0-051 0.4831 0026 0256 0-087 0502 0.030 0-107 48 0-082 | 0-556 | 0-041 0-293 |: 0.739 0-877 0271 0.344 12 0-081 | 0.510 0-041 0-277 || 2-168 2.481 0-881 0-795 96 = = er — || 11-405 | 1-578 I Am grössten ist der Eiweissschutz bei den ersten vier Blutalbuminversuchen. Die Bakterien haben also in 24 Stunden ohne Asparaginzusatz! 48,8, mit Asparaginzusatz? nur 2-8 Proc. vom ursprünglich vorhandenen Eiweiss zer- schlagen. Diese Zahlen lassen über die eiweisschützende Wirkung der Amide wohl keinen Zweifel mehr bestehen. Dieser Eiweissschutz wurde auch noch nach der Methode des directen Nachweises der Enzyme festgestellt, indem die Bakterien auf Milchagar- und Milchagar-Asparagin- Nährboden bei Bruttemperatur gezüchtet wurden. Schützt das Asparagin das vorhandene Eiweiss, so müssen die Plattenculturen mit Asparaginzusatz bis zu einer Zeit ganz undurchsichtig bleiben, während die- jenigen mit nur Eiweiss durch Lösen desselben wenigstens in der Nachbar- schaft der Cultur mehr oder weniger klar, hell und durchsichtig werden. Auch dieser Versuch fiel positiv aus. Schon nach einigen Stunden konnte man auf den Milchagar- und Milchagar-Asparagin-Nährböden ein deutliches, aber zwischen beiden Versuchsböden sehr verschiedenes Verhalten konsta- tiren. Das Wachshtum auf den Milchagarplatten documentirte sich dadurch, dass der ganz undurchsichtige Nährboden zunächst am Impfstriche durch- sichtig, d. h. das Eiweiss gelöst wurde. Bei den Milchagar-Asparagin -Nähr- böden machte sich kein Durchsichtigwerden bemerkbar, obgleich die Bak- terien ein mindestens ebenso reges Wachsthum zeigten wie auf den Milch- agarböden. Da bei der ersten Versuchsanstellung nicht allein das noch vorhandene Eiweiss, sondern auch die Abbau- bezw. Bildungsproducte, wie Albumosen und Peptone, bestimmt wurden, so giebt sie uns noch genauen Aufschluss darüber, was aus den Amiden bei den Gährungsprocessen wird. Auch hier mögen einige Zahlen die Resultate erhärten. Versuch mit Milchcasein plus Asparagin. I Vom Gesammtstickstoff entfallen: Von 100m Milch- | As- Ge- Rein- casein . | | | eiweiss- enthalten| Paragin- | sammt- | nach Ba Be | auf auf | stickstoff an stickstoff stickstoff| weiss nosen Pepton Rest wurden Stickstoff | Stunden | | wieder- grım | grım grm | gım | grm | grm gm | gefunden 0-6155 | 0-1841 | 0-7996 | 24 | 0.6048 | 0.0202 | 0-0396 | 0-1350 98-26 | | 48 | 0.5245 | 0-0804 | 0-0503 | 0-1444 85-21 12 0-3486 | 0-0597 | 0-1576 | 0-2337 56-64 446 VERHANDLUNGEN DER BERLINER Diese kurze Zahlenreihe beweist, dass sich der Amidstickstoff in 24 Stunden von 184"& auf 135"® vermindert hat, d.h. um rund 27 Proe. Obgleich hieraus nur eine Bildung von Albumosen und Pepton konstatirt werden kann, so liegt doch die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit sehr nahe, dass die Pansenbakterien Asparagin auch zum Aufbau von Reineiweiss be- nutzen. Zur Beantwortung dieser Frage wurden weitere Versuche mit Nährflüssigkeiten, die ausser den nöthigen Nährsalzen entweder Asparagin oder weinsaures Ammonium als stickstoffhaltiges Nährmaterial enthielten, angestellt. Nach verschieden langer Zeit wurde der Gährungsprocess unterbrochen, die Nährflüssigkeit wurde theils durch Centrifugiren, theils durch Filtriren durch einen sehr dichten Wattebausch frei von Bak- terienleibern gemacht und das Filtrat auf noch vorhandenes Eiweiss, Albumosen und Peptone untersucht. Das Resultat war, dass die Pansen- bakterien schon nach 24 Stunden etwa den zehnten Theil des vorhandenen Stickstoffes in eine Form übergeführt hatten, die man nach Stutzer als Reineiweiss bezeichnet. Von diesem Reineiweiss war nur ein Drittel Körper- plasma der Bakterien, während zwei Drittel in dem von Bakterienkörpern freien Filtrate enthalten waren, also zur Zeit der Bestimmung kein Körper- plasma vorstellten. Die Resultate der verschiedenen Versuche sind: 1. Die Pansenbakterien ziehen als stickstoffhalitige Nahrung das Aspa- ragin den schwerer löslichen Eiweisskörpern anfangs vor. Asparagin wirkt eiweissschützend und erhaltend. 2. Die Pansenmikroben besitzen die Fähigkeit, wie aus allen Versuchen hervorgeht, sowohl Asparagin, als auch weinsaures Ammonium als stickstoff- haltigen Baustein zur Synthese höher molekularer Sue to u Körper wie Pepton und Reineiweiss, zu benutzen. 3. Das von den Bakterien aufgebaute Polypeptid ist nur zum kleinen Theile als Bakterienkörperplasma anzusprechen, während der weitaus grösste Theil wahrscheinlish als Stoffwechselproduct der Bakterien aufzufassen ist. 4. Diese ausserhalb des Thierkörpers gemachten Beobachtungen lassen sich wohl zum grössten Theile ohne Weiteres auf die Verdauungsvorgänge bei den Wiederkäuern übertragen. In Folge dessen ist hiermit der Beweis er- bracht für die sehr interessante Verschiedenheit in dem Verhalten des Asparagins bei der Ernährung der Herbivoren gegenüber der Carnivoren. Die Zuntz’sche Hypothese findet also ihre volle Bestätigung. 5. Wir finden also in dem Verdauungstractus der Herbivoren, besonders der Wiederkäuer, eine beträchtliche Eiweissfabrikation vor, welche die ganze Ernährung wahrscheinlich mehr oder weniger günstig zu beeinflussen vermag. In wie weit diese Polypeptide als Nährstoff in Betracht kommen, werden weitere Versuche lehren, die bereits im zootechnischen Institute in Angriff genommen sind. PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — PINLUS. 447 XII. Sitzung am 30. Juni 1905. 1. Hr. Pınkus: „Ueber den zwischen Olfaetorius- und Opticus- ursprung das Vorderhirn (Zwischenhirn) verlassenden Hirnnerven der Dipnoer und Selachier.“ Bei meinen Untersuchungen über die Hirnnerven des Protopterus annectens sah ich an der Unterseite des Gehirns, am Vorderende des vor dem Chiasma nervorum opticorum liegenden Recessus praeopticus jeder- seits ein dünnes Nervchen hervortreten, das sich in langem Verlauf vorwärts zum Olfactorius begab und mit ihm zusammen zum Dach der häutigen Nase zog. Es war also bei Protopterus ein Hirnnerv vorhanden, der zwischen ÖOlfactorius und ÖOpticus aus dem Gehirn hervorkam. Ich beschrieb den Nerven in einer vorläufigen Mittheilung! und in meiner ausführlichen Arbeit?, gab ihm aber keinen Namen, nur die Bezeichnung N und neuer Nerv, da mir die topographisch nächstliegenden Namen Nervus praeoptieus und Nervus postolfactorius nicht passend erschienen. Einige Jahre später beschrieb Locy” einen Nerven bei Haifischen, den er nur in Fritsch’s* Werk angedeutet gefunden hatte, und den er auf meinen Protopterusnerven beziehen zu können glaubte. In einer ganz neuer- dings erschienenen Arbeit? gelangte er, auf Grund eines ganz ausserordentlich grossen Selachiermateriales, zu dem Schluss, dass beide zu identifieiren seien. Allis® fand den Nerven bei dem nordamerikanischen Knochenganoiden Amia; Rud. Burckhardt beschreibt ihn bei einem Embryo von Callo- rhynchus (s. unten). Ich selbst fand meinen Nerven bei allen von mir untersuchten Exem- plaren des Protopterus (mindestens sechs, deren Länge ungefähr zwischen 15 und 30 ©” varüirte), und ich war über meinen Fund um so mehr erfreut, als der Nerv dem genauesten Durchforscher des Protopterusgehirns, Rud. Burekhardt’, entgangen war. Es wäre damals von der grössten Wichtigkeit gewesen, Vergleichsmaterial zu besitzen. Dass der Nerv bei den beiden anderen lebenden Gattungen der Dipnoer vorhanden sein müsse, haben Widersheim und ich bereits in meiner ersten Mittheilung vermuthet. Leider stand weder Lepidosiren, der erst später in grösserer Menge gefunden wurde, noch Ceratodus zur Ver- ! Ueber einen noch nicht beschriebenen Hirnnerven des Protopterus annectens. (Aus dem anat. Institut zu Freiburg i. B.) Anat. Anz. 1894. Bd. IX. Nr. 18. S. 562. ®2 Die Hirnnerven des Protopterus anneetens. Morphologische Arbeiten. 1894. ' Bd. IV. 2. S.275. Ich muss an dieser Stelle, an welcher ich zum ersten Male seit mehr als einem Jahrzehnt wieder auf meine früheren Untersuchungen zurückkomme, einen Fehler verbessern, auf welchen Hr. Professor G. Schwalbe (Strassburg) mich aufmerksam gemacht hat. Es ist in der genannten Arbeit S. 284, Anm. die kurze Be- schreibung des N. trochlearis von Salamandra maculosa gegeben worden. Dieser Nerv ist nicht von mir zum ersten Male gefunden worden, sondern seine genaue Beschreibung und Abbildung findet sich bereits in der Arbeit von G. Schwalbe, Das Ganglion oculomotorii. Jenaische Zeitschr. f. Naturw. Bd. XIU. S.199. Aus dem Jahre 1879. ® William A. Locy, New Facts regarding the development of the olfactory nerve. Anatomischer Anzeiger. 1899. Bd. XVI. 8. 273. * Fritsch, Untersuchungen über den feineren Bau des Fischgehirns. 1878. 5 On a newly recognized nerve connected with the fore-brain of Selachians. Anatomischer Anzeiger. 1905. Bd. XXVI. S. 33, 111. ® Allis, Journal of Morphology. 1897. Vol. XIJ. Citirt nach Locy. ” Rudolf Burckhardt, Das Centralnervensystem von Protopterus annectens. Berlin 1892. R. Friedländer u. Sohn. 448 VERHANDLUNGEN DER BERLINER fügung. Von Lepidosiren waren nur die beiden alten Exemplare von | Natterer! bekannt. Aus dem einen von ihnen hatte Hyrtl in seiner be- | rühmten Monographie” nichts meinem Nerven Entsprechendes gesehen. Trotz seiner vorzüglichen Nervenpräparation ist ihm der feine, an ungewohnter ) Stelle entspringende Nerv wohl entgangen: da aber die Nerven der Lepi- | dosiren denen des Protopterus völlig gleich verlaufen, wird er wohl auch |) bei ersterer gefunden werden. Bei Ceratodus ist der Nerv in genau || analoger Form und Verlaufsart durch Sewertzoff® beschrieben und mit ) dem Namen Nervus praeopticus belegt worden. Weiterhin haben ihn | K. Fürbringer* und ganz neuerdings Bing und Burckhardt° bei dem- selben Thier gefunden. Ich suchte nach dem Nerven bei Amphibien und fand genau dieselbe Configuration der Hirntheile, ganz besonders den Recessus praeopticus, aber keinen Nerv. Ich suchte bei Teleostiern, Cyclostomen und Selachiern, ohne den Nerv zu finden. Dass dieser negative Befund nichts beweist, lehrt die Arbeit von Locy (5), welcher den Nerv an 27 verschiedenen Haien und Rochen nachwies und damit seine Bedeutung von der eines zwar interessanten, aber absonderlichen Zufallsbefundes zu derjenigen eines constanten, weit- verbreiteten Gebildes erhob, welches vielleicht sogar experimenteller Er- forschung zugänglich sein wird. Ich habe geglaubt, dass es von Wichtigkeit sei, sowohl den Protopterus- nerv als auch den Nerven am Selachiergehirn zu demonstriren, und habe von ersterem Thier mikroskopische Präparate aufgestellt, von letzteren aber einen mir durch Dr. Borchert aus seiner reichhaltigen Sammlung über- lassenen Kopf von Raja clavata präparirt, an dem der Nerv von Locy sehr gut zu sehen ist. Ich verbinde mit dieser Darstellung die Absicht, meine vor 11 Jahren ausgesprochenen Ansichten über den morphologischen ‘Werth des Nerven gegenüber der von Burckhardt neuerdings gegebenen Darstellung aufrecht zu erhalten. ‘ Der Nerv von Locy entspringt gerade so wie der Nerv der Dipnoer ganz vorn am primären Vorderhirn der Rochen und Haifische. Die Aus- trittsstelle liegt in der vorderen Schlussplatte des Gehirns, einmal mehr dorsal, das andere Mal mehr ventral. Locy hat deswegen den Namen Nervus terminalis gewählt. Der Nerv liegt zwischen Gefässen und Binde- gewebssträngen eingebettet und ist ausserordentlich dünn und verletzbar. Locy empfiehlt, um ihn sicherer zu finden, den Schädel durchzufärben und dann erst die knorpelige Schädelkapsel zu eröffnen, was die Erkennung des feinen Fädehens und namentlich seiner ganglionartigen Anschwellungen er- leichtert. Sowie man die Umgebung des Vorderhirns und des Olfactorius freilegt, sieht man diese Anschwellungen innen am Olfactorius anliegen und braucht danu bloss vorsichtig die grossen Gefässstränge fortzunehmen. ! Johann Natterer, Lepidosiren paradowa, eine neue Gattung aus der Familie der fischähnlichen Reptilien. ® Joseph Hyrtl, Zepidosiren paradoxa. Monographie. Prag 1845. ® A. N. Sewertzoff, Zur Entwickelungsgeschichte des Ceratodus Forsteri. Ana- tomischer Anzeiger. 1902. Bd. XXI. S. 606. * Karl Fürbringer, Beiträge zur Morphologie des Skeletes der Dipnoer nebst Bemerkungen über Pleuracanthiden, Holocephalen und Squaliden. Semon, Zoologische Forschungsreisen. I. Jenassche Denkscehrift. IV. 1904. 5 Robert Bing und Rudolf Burckhardt, Das Centralnervensystem von Cera- todus Forsteri. Ebenda. 1905. PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — PINKUS. 449 Loecy ist auch das präparatorische Meisterwerk geglückt, den Nerven- austritt bei Protopterus zu präpariren. Er findet ihn mit zwei Fädchen aus der Gegend des Recessus praeopticus hervorgehen. Auch in der Fig. 2 meiner ersten Mittheilung sieht man auf der einen Seite zwei neben einander liegende Nervenbündel; der Austritt aus dem Hirn, seitlich vom Recessus praeoptieus, ist in meinen Präparaten in Gestalt einiger dünner Faserstränge zu erkennen. Ich habe mich anf die Untersuchung in der Schnittserie be- schränkt, und habe in meinen Arbeiten Quer- und Längsschnitte des Nerven abgebildet. Diese und ein horizontaler Schnitt sind unter den Mikroskopen ausgestellt. Ueber den intracerebralen Verlauf des Protopterusnerven habe ich zu meinem Leidwesen nichts Genaueres mitzutheilen, da ich nur meine alten Präparate, keine mit neueren Methoden bearbeiteten, besitze. Die dünnen Bündel ziehen in die Nähe der Commissura anterior hinauf und sind dann in den mit Hämatoxylin-Eosin und nach Kultschitzky gefärbten Schnitten nicht weiter verfolgbar. Der peripherische Verlauf liegt dagegen ganz klar. Das dünne Nervchen zieht zuerst, umgeben von Gefässen und den Binde- gewebslamellen der Hirnhäute, an der ventralen Seite der Hemisphären ent- lang vorwärts und schliesst sich dann dem ÖOlfaetorius erst ventral, dann innen, zum Schluss dorsal an: genau dasselbe Verhalten wie bei den Selachiern, trotzdem der Ursprung des Olfactorius bei Protopterus so sehr viel weiter von dem des Nervus terminalis abgerückt ist. Wenn der Nerv den Ölfaetorius erreicht hat, entsteht in ihm eine ganz erhebliche Anschwellung, welche dem von Sewertzoff beschriebenen.Ganglion entspricht, aber viel längere, keulenförmige Gestalt besitzt. Durch diese Anschwellung kann man den Nervus terminalis überall sicher von einem gewöhnlichen Olfactorius- bündel unterscheiden, mit welchem er im Uebrigen vollkommen überein- stimmt. Beiden fehlt die von Schwann’scher Scheide umhüllte Markscheide, welche die dicht daneben liegenden Lateralis- und Trigeminusfasern um- hüllen, so dass eine Verwechselung mit diesen unmöglich ist. Die Fasern des Nervus terminalis sind von denen des Olfactorius nicht zu unterscheiden. Zwischen seinen Fasern sind nun Zellen mit grossen, runden, stark färbbaren Kernen eingeschaltet, welche möglicher Weise Ganglienzellen vorstellen können; ich habe mich durch den Unterschied dieser Zellen von denen der Spinal- und Gehirnnervenganglien in meinen früheren Aufsätzen zurückhalten lassen, von einem Ganglion des Nervus terminalis zu sprechen und muss auch jetzt noch den Unterschied im Aussehen zwischen ihnen und gewöhnlichen Ganglienzellen hervorheben. Indessen halte ich es für sicher, dass es in der von mir vorsichtiger Weise nur als „kolbige Anschwellung mit Einlagerung grosskerniger Zellen“ bezeichneten Bildung um das- selbe handelt, was Sewertzoff „Ganglion des Nervus praeopticus“ nennt. Damit haben wir also eine weitere Uebereinstimmung mit dem Ver- halten, welehes Locy von den Selachiern schildert. Der Protopterusnery läuft ganz nach vorn, bis in die vordere Nasen- öffnung. Ab und zu glaubt man wohl, eine Abzweigung zur häutigen Nase schon vorher zu sehen, doch ist eine solche Feststellung mir nirgends mit Sicherheit gelungen. Der Nerv verläuft bis ans Ende mit dem Nervus olfactorius, von dem sich lateralwärts immer mehr Aeste abzweigen; zum Theil liegt er ganz in den Olfactorius eingebettet, drei Viertel bis ganz von dessen Bündeln umgeben. Zum Schluss endet er in dem Bindegewebe über Archiv f, A.u. Ph. 1905, Physiol. Abthlg. Suppl. 29 450 VERHANDLUNGEN DER BERLINER dem vorderen Nasenloch, das in die Mundhöhle sich öffnet. Ganz ebenso hat Verlauf und Ende Sewertzoff bei Ceratodus beschrieben. In ihrem jüngst erschienen Werk über das Centralnervensystem des Ceratodus Forsteri besprechen Bing und Burekhardt auch den Nervus praeopticus (8. 551 und 580). Sie fanden seinen peripherischen Lauf (Sehnittserien von Embryonen), konnten aber den Austritt aus dem Gehirn nicht feststellen. Sie widersprechen den Angaben von Sewertzoff, dessen Namengebung wohl darauf hindeutet, dass er als Ursprung die Gegend des Recessus praeopticus, gerade so wie ich, ansieht. Bing und Burckhardt sagen geradezu: „am allerwenigstens schien er aber da einzutreten, wo Sewertzoff vermuthet.“ Leider spricht sich Sewertzoff in seiner vor- läufigen Mittheilung über den Ursprung des Nerven recht unbestimmt aus. Er sagt: „Er entspringt von der ventralen Seite des Vorderhirns, zwischen den Vorderhirnhemisphären,“ und er entspringt „von der ventralen Seite des Vorderhirns, rostral von der Ausgangsstelle des Nervus opticus“ (8. 606). Die Fig. 4 (plastische Nachbildung eines embryonalen Hirns) seines Aufsatzes lässt wenig Genaues erkennen. Es lässt sich demnach aus den vorliegenden Beschreibungen der Ursprung des Nerven bei Ceratodus nicht genau angeben. Für Protopterus behaupte ich nach wie vor seinen Ursprung an der von mir 1894 angegebenen Stelle. Diese Behauptung ist für mich von um so grösserer Wichtigkeit, als Burckhardt bezüglich der morphologischen Bedeutung des Nerven zu einem anderen Resultat gelangt ist wie ich. Burckhardt fand bei einem Embryo von Callorhynchus „ventral- medial vom Bulbus olfaetorius, also an derjenigen Stelle, wo es zu erwarten stand, ein ziemlich ansehnliches Ganglion, bestehend aus einer grösseren Anzahl von Zellen. Dieses Ganglion entsendet in die Scheidewand der Riech- schleimhaut Nervenfasern in einem geschlossenen Bündel, das von Bündeln der Riechnerven ventral begleitet wird. Andererseits lassen sich in entgegen- gesetzter Richtung unter einem mächtigen Blutgefäss Fasern verfolgen .. .“ Der Nerv liess sich aber caudalwärts nur noch ein Stück weiter verfolgen, jedenfalls nicht bis zu einem Eintrittspunkt in das Gehirn. Burckhardt! betrachtet ihn vielmehr als Zweig eines der umliegenden Trigeminusäste. Er fährt fort: „Was nunmehr bei Dipnoern und Holocephalen als Nervus praeopticus nachgewiesen ist, scheint mir überhaupt nichts Anderes zu sein als derjenige Trigeminusast und sein Ganglion, den auch Rubaschkin beim Hühnchen als Nervus olfactorius beschrieben hat.“ Dieser Nerv Rubaschkin’s! ist eine directe Verbindung des Ganglion Gasseri mit einem der Riechschleimhaut dicht anliegenden Ganglienzell- haufen. Der erste Trigeminusast „nimmt seinen Ursprung aus dem Ganglion Gasseri als ein dieker Nervenstamm, und indem er die Richtung zur Riech- schleimhaut einschlägt, giebt er einen unbedeutenden Zweig von sich, der sogleich sich zur Membrana olfactoria wendet und an ihrer inneren Ober- fläche einen Nervenknoten bildet. Zum Unterschiede von dem Ramus eth- moidalis nervi trigemini, welcher zur Schleimhaut der Regio respiratoria geht, wäre es bequem, diesen Zweig Ramus olfactorius nervi trigemini, ! Ueber die Beziehungen des Nervus trigeminus zur Riechschleimhaut. Ana- tomischer Anzeiger. Bd. XXI. 8. 407. PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — PINKUS. 451 den Knoten aber, der von ihm gebildet wird, Ganglion olfactorium nervi trigemini zu nennen.“ Ich kann keinen Grund einsehen, diesen Trigeminusast hier als Vergleich heranzuziehen. Eher noch möchte ich, wie bereits in meiner Arbeit in Schwalbe’s morphologischen Arbeiten (S. 280), einen Zusammenhang mit dem Nery von Chiarugi, der Ektoderm und Zwischenhirn verbindet (Meer- schweinehenembryo) annehmen, ähnlich wie Johnston! in der Verbindung des Vorderhirns und des Lobus olfactorius mit dem Ektoderm, in der Gegend des Recessus neuroporieus, die Holm? bei Torpedo auffand, Beziehungen zum Nervus terminalis erkennen möchte. Ich kann bei Protopterus keine Verbindung des Nervus terminalis mit dem Trigeminus finden, und ebenso weist Locy eine Beziehung seines Nerven zum Trigeminus zurück. Ich finde vielmehr den Nerv bis zur Gegend des Recessus praeoptieus, und hier finde ich aus dem Gehirn ventralwärts herauslaufende Faserbündel, die in den Nerven sich umwandeln. Auch ich konnte den Ursprung des Nerven im Anfang nicht ausfindig machen, da durch ein Missgeschick (Abwischen der Schnitte auf einem ÖObjectträger meiner ersten Serie) gerade diese Stelle fehlte. In späteren Serien, von denen 2 nur mit Rücksicht auf diesen Punkt angefertigt wurden, fand ich dann an der genannten Stelle den Austritt des Nerven aus dem Gehirn. Den Beweis des Zusammenhangs mit dem Trigeminus haben Bing und Burckhardt nicht geliefert. Ich halte es für unmöglich, die von ihnen ausgesprochene Vermuthung durch Beweise zu erhärten. Ueber die Bedeutung des Nerven lässt sich nichts Sicheres aussagen. Das einzige Greifbare ist seine äussere Aehnlichkeit und seine constanten Verbindungen mit dem Ölfactorius. Wir haben 3 Beziehungen zwischen diesen beiden Nerven: 1) den gleichen Bau (Faserart), der für viele Nerven der Amphibien und Fische charakteristisch ist. So gelingt es, motorische, sensible, sensorische Nerven, den Nervus opticus, den Ölfactorius allein an ihrer Faserart aus einander zu halten und oft sogar direct zu erkennen. 2) den gemeinsamen Verlauf, der trotz weit aus einander liegenden Ursprung stets vorhanden ist. 3) den Ursprung beider aus dem Vorderhirn, doch mit dem Unterschied, dass der Nervus terminalis aus dem Reste des primären Vorderhirnbläschens (Zwischenhirn), der ÖOlfactorius aus dem secundär zu Hemisphären ausge- stülpten Vorderhirnabschnitt hervorgeht. Das sind 3 Beziehungen, welche auf einen nahen Zusammenhang zwischen Olfactorius und Nervus terminalis hindeuten. Von Johnston und auch von Locy wird der Nervus terminalis als ancestraler Nerv angesehen und in Analogie mit dem Nervus thalamicus von Miss Platt und Froriep gebracht; beide werden als segmentale Nerven, der hypothetischen Ursegmentirung des nervösen Centralorgans angehörig, betrachtet. Dass der bei so vielen Knorpelfischen, deren lebende Vertreter nur geringe Reste einer in entlegenen Zeiten unendlich weiter verbreiteten Fischfauna darstellen, bisher bereits aufgefundene Nerv ein constanter Hirn- ı J. B. Johnston, Das Gehirn und die Cranialnerven der Anamnier. Merkel und Bonnet, ‚Ergebnisse der Anatomie und Entwickelungsgeschichte. 1901. Bd. XI. AR. Holm, Some notes on the early development of the olfactory organ of Torpedo. Anatomischer Anzeiger. 1894. Bd. X. S. 201. 29F 452 VERHANDLUNGEN DER BERLINER nerv silurischer, devonischer und noch jüngerer Fischordnungen gewesen sei, glaube ich nach unseren jetzigen Kenntnissen wohl aussprechen zu dürfen. Der Nerv bietet uns eine zufällig erhalten gebliebene Eigenthüm- lichkeit jener längst ausgestorbenen Thierarten dar, er ist vielleicht als eines der wenigen Ueberbleibsel eines uralten, vom jetzigen Typus ab- weichend construirten Nervensystems zu betrachten. 2. Hr. M. Rothmann: „Ueber combinierte Ausschaltung centri- petaler Leitungsbahnen im Rückenmark.“ Die Lehre von der Leitung der Sensibilität im Rückenmark ist trotz zahlreicher experimenteller und klinischer Forschungen noch durchaus schwankend. Lange Zeit herrschte die von Brown-Sequard zuerst 1846 entwickelte Lehre, dass die Leitungsbahnen für Berührung, Kitzel, Schmerz und Temperatur sich im Rückenmark so gut wie völlig kreuzen bei un- gekreuztem Verlauf des Muskelsinns. Nachdem aber von mehreren Forschern, so von Schiff und Brown-Sequard selbst, die Erhaltung der Schmerz- empfindung bei zwei über einander gelegenen, gekreuzten Halbseitendurch- schneidungen des Rückenmarks festgestellt war, verliess Brown-S&equard diese Lehre und nahm nun an, dass die Anästhesie lediglich die Folge einer Hemmung, die Hyperästhesie ein dynamogener Act sei. Auch bei einfacher Halbseitendurchschneidung konnten fast alle späteren Untersucher, beim Hunde wenigstens, den Brown-S&quard’schen Symptomcomplex nicht fest- stellen; die Schmerzempfindung blieb auf beiden Seiten erhalten. Waren die alten Untersucher, so vor Allem Schiff, geneigt, die Leitung der Be- rührungsempfindung den Hintersträngen, alles Uebrige der grauen Substanz zuzuschreiben, so betonte Woroschiloff auf Grund von exacten Durch- schneidungsversuchen am Kaninchen, dass Hinter- und Vorderstränge sowie die graue Substanz für die Leitung von geringer Bedeutung sind, während die Seitenstränge und zwar speciell die innere Hälfte des mittleren Drittels derselben die wesentliche Leitung aller Empfindungsqualitäten besorgen. Borchert konnte dann nachweisen, dass eine totale Zerstörung der Hinter- stränge allein beim Hunde von keinen wesentlichen Ausfallserscheinungen gefolgt ist, dass Berührungs- nnd Lageempfindung dabei intact sein können. Andere Forscher, so Münzer und Wiener, wollen in den Hintersträngen Leiter centripetaler Erregungen sehen, die unbewusst die Bewegung reguliren. Was die Leitung der Schmerzempfindung betrifft, so lassen die einen dieselbe durch die graue Substanz, die anderen durch die Seitenstränge gehen. Die einen bezeichnen mit Gowers das Gowers’sche Bündel als die schmerz- leitende Bahn, andere die medialen Theile des Seitenstrangs. Lassen die einen Theile des Gowers’schen Bündels zum Thalamus opticus gelangen, so lassen andere Theile desselben in der Medulla oblongata enden; ja schliesslich wird sogar der grösste Theil der Schmerzempfindung auf dieser Bahn über das Kleinhirn geleitet. Auch der Drucksinn und der Muskelsinn werden bald den Hintersträngen, bald den Seitensträngen zugeschrieben. Dabei wurde bisher die Leitung durch den Vorderstrang so gut wie ganz vernachlässigt. Als es Vortr. daher gelungen war, beim Hunde die Vorderstränge allein im 1. Halssegment unterhalb der Pyramidenkreuzung auszuschalten, lag es nahe, diese Ausschaltung mit der Durchschneidung der anderen Rückenmarksstränge zu combiniren. PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — M. ROTHMANN. 453 1. Isolirte Vorderstrangsausschaltung (1. Halssegment): Die Berührungsempfindung ist Anfangs leicht herabgesetzt, später erhalten mit Be- rührungsreflex; Drucksinn, Schmerzempfindung normal. Das Lagegefühl ist zuerst etwas herabgesetzt, ebenso der Muskelsinn überhaupt; doch bilden sich diese Störungen rasch zurück. Zuletzt bleibt nur eine leichte Ataxie. 2. Isolirte Hinterstrangsausschaltung (3. Halssegment): Ausser einer rasch vorübergehenden geringen Störung des Lagegefühls und wohl auch der Berührungsempfindung, von der es fraglich ist, inwieweit sie auf geringe Nebenverletzungen zu beziehen ist, tritt keine Ausfallserscheinung ein. Besonders beweisend war ein beinahe ganz erblindeter Hund, bei dem also die Compensation durch den Gesichtssinn fortfiel. 3. Combinirte Ausschaltung von beiden Vordersträngen (1. Halssegment) und beiden Hintersträngen (3. Halssegment): Beide Operationen liegen zwei bis vier Wochen aus einander. Die Berührungsempfindung und der Berührungsreflex sind völlig auf- gehoben. Schwerere Störungen des Ortssinns, des Lagegefühls, des Muskel- sinns sind nur vorübergehend nachweisbar. Die Schmerzempfindung ist von Anfang an intact. 4. Combinirte Ausschaltung beider Vorder- und beider Hinter- stränge, wie oben, mit Ausschaltung eines Seitenstrangs im 1. oder 3. Halssegment. Bald zweizeitige, bald dreizeitige Operation im Verlauf mehrerer Wochen. Die Schmerzempfindung ist nicht aufgehoben, aber gekreuzt stark herabgesetzt, mitunter sogar in den ersten Tagen erloschen, mit weitgehender Restitution in der Folgezeit. Das Lagegefühl ist gleichseitig schwer gestört mit allmählicher Besserung; auch der zuerst gleichseitig schwer gestörte Muskelsinn zeigt Restitution (beim Versenkungsversuch werden die Extremi- täten wieder hoch genommen). Die Druckempfindung ist beiderseits nicht aufgehoben, während Berührungsempfindung und Berührungsreflex dauernd fehlen. Ist bei dieser Combination die Seitenstrangdurchschneidung keine totale, so dass Reste des Vorderseitenstrangs erhalten sind, so kommt es statt der Hypalgesie zur Hyperalgesie. 5. Combinirte Ausschaltung beider Vorder- und beider Hinter- stränge, wie oben, und doppelte Seitenstrangausschaltung (3. und 5. Halssegment), nicht vollkommen erzielt, da ventrale Reste der Seiten- stränge stehen geblieben sind. Drucksinn. Schmerzempfindung beiderseits erhalten, Muskelsinn stark herabgesetzt, Lagegefühl ufgehoben. Doch hält der Hund bei verschlossenen Augen das Gleichgewicht (Leitung durch die erhaltenen Theile der Gowers’- schen Stränge). Aus diesen Versuchen folgt: 1. Die Berührungsempfindung ist vom allgemeinen Drucksinn 'zu sondern und wird durch gleichseitigen Hinterstrang und gekreuzten Vorder- strang geleitet. Der Drucksinn hat seine Leitung vorwiegend im Seiten - strang. Doch ist ein gewisses Maass von Drucksinn für das Zustandekommen der Berührungsempfindung nothwendig.! ! Daher hat doppelseitige totale Seitenstrangsdurchschneidung im mittleren Brust- Ian neben fast völlig aufgehobenem Drucksinn Verlust der Berührungsempfindung zur Folge. 454 VERHANDLUNGEN DER BERLINER 2. Die Schmerzempfindung wird vorwiegend durch den Seitenstrang geleitet. Die Hinterstränge sind gar nicht betheiligt, obwohl sie selbst äusserst schmerzempfindlich sind. Eine geringe Nebenleitung geht durch den Vorderstrang. Völlige Zerstörung des Querschnitts der grauen Substanz hebt die Schmerzleitung nicht auf. Im Seitenstrang scheint die Leitung den langen endogenen Rückenmarksbahnen zuzukommen, die zum Theil den Fasern der dorsalen und ventralen Kleinhirnseitenstrangbahnen beigemischt sind. Die Gowers’sche Bahn, die ausschliesslich im Kleinhirn endigt, kann, vor Allem nach den Ergebnissen der Kleinhirnexstirpation und der doppelten Halbseitendurchschneidung des Rückenmarks, nicht in Betracht kommen. Die Leitung über die immer wieder in die graue Substanz zurücktretenden endogenen Fasern erklärt die vorliegenden Thatsachen am Besten. Jede Körperhälfte besitzt Leitung in beiden Rückenmarkshälften mit reichlicherer Vertretung in der gekreuzten. Diese Anschauung erinnert an die Schiff'- schen Ausführungen von den sich unvollkommen deekenden Kugelfasernetzen der grauen Substanz, nur dass die weisse Substanz, vor Allem der Seiten- stränge, bei der Leitung wesentlich mitbetheiligt ist. 3. Ortssinn, Lagegefühl, Muskelsinn sind, wie vor Allem Gold- scheider’s Untersuchungen gelehrt haben, complieirte Symptomencomplexe. Stets restituirt sich das Umlegenlassen der Pfoten, selbst bei nur partiellem Erhaltensein der Vorderseitenstränge und Zerstörung aller übrigen Leitungsbahnen. Der Versenkungsversuch der Extremitäten ist dauernd positiv, wenn lediglich die ventralen Reste der Seitenstränge erhalten sind, zeigt sonst fast immer Restitution, da das Lagegefühl doppelseitige Leitung hat. Das Verstellen der Glieder nach den Seiten ist bei Fort- fall der Kleinhirnseitenstrangbahnen und der Vorderstränge zusammen be- sonders stark ausgebildet. Störung der Gleichgewichtshaltung tritt vorübergehend bei Vorderstrangausschaltungen in Folge fehlerhafter Kopfhaltung auf, fehlt im Uebrigen, so lange noch Reste der Gowers’schen Stränge erhalten sind, selbst bei verschlossenen Augen. Die physiologische Leitung der Sensibilität durch das Rückenmark ist nicht ausschliesslich an die uns bekannten langen, centripetalen, cerebro- spinalen Bahnen geknüpft, sondern kann durch kürzere Bahnen mit Um- schaltungenin der grauen Substanz in mannigfaltiger Weise von statten gehen. Gelten diese Ausführungen für die Verhältnisse beim Hunde, so be- stehen demgegenüber beim Menschen, wie Verf. an anderer Stelle auf Grund klinischer und pathologisch-anatomischer Erfahrungen nachweisen wird, wohl beträchtliche Differenzen, die aber lediglich quantitativer, nicht qualitativer Natur sind. Die Experimente sind sämmtlich im Physiologischen Institut der Kgl. Thierärztlichen Hochschule zu Berlin ausgeführt worden. Hrn. Geheimrath H. Munk sage ich auch an dieser Stelle meinen verbindlichsten Dank. PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — SOMMERFELD. 455 XIV. Sitzung am 14. Juli 1905. Hr. SOMMERFELD (a. G.); „Zur Kenntniss der Secretion des Magens beim Menschen.“ Es wurde die Seceretion des Magensaftes, sowie die Beschaffenheit des Saftes bei einem 10 jährigen Mädchen untersucht, welches wegen völliger Undurchgängigkeit der Speiseröhre (in Folge von Laugenverätzung) gastro- tomirt war, und bei welchem durch eine Oesophagusfistel die Nahrung nach Belieben durch .die Fistel in den Magen oder nach aussen geleitet werden konnte. Es wurden Scheinfütterungen — nach Pawlow’s Vorbild — mit den verschiedensten Nahrungsmitteln vorgenommen, welche zu folgenden durchschnittlichen Ergebnissen führten: Die Saftsecretion begann fast un- mittelbar nach Beginn des Kauactes, was durch eine mit Congopapier ver- sehene eingeführte Magensonde festgestellt werden konnte. Beim Trinken von 1 Liter Wasser wurden innerhalb 1!/," 8° = Saft mit einem HCl-Gehalt von 1-6 pro mille secernirt, bei 1 Liter Milch (Trinkzeit 30’) 70 bis 90 °® Saft, HCl = 3-8 pro mille, bei Fleisch 150 °”®, HCI = 41 pro mille, bei Brod 85 bis 100 °®, HC] = 4-7 pro mille, bei Zucker 60 bis 80 m, HCI= 3-81promille Wurde gemischte Nahrung, gewöhnlich 250 bis 350 8"" gekaut, so erhielt man fast constant 110 bis 150°“ Saft mit einem Salz- säuregehalt von 4-2 pro mille, also einen weit höheren Werth, als man bisher angenommen hat. Innerhalb der einzelnen Versuche war der Salz- säuregehalt des Saftes sowohl wie der Gefrierpunkt der einzeln aufgefangenen Portionen ziemlich constant. Dasselbe war der Fall mit dem nach der Methode von Mett bestimmten peptischen Ferment. Labferment war stets vorhanden. Der Kausaft von gemischter Nahrung wurde näher untersucht. Er war wasserklar, von erfrischendem Geschmack und gut filtrirbar. Spec. Gew. bei 15° 1-0083 bis 1-0085. Er hält sich bei Temperaturen unter 10° Monate lang ohne Zersetzung zu erleiden, jedoch scheint die Stärke des peptischen Fermentes sich zu verringern. Der Gefrierpunkt schwankte zwischen —0-47 und —0-65°, lag aber in sehr vielen Versuchen bei —0.61° und Salzsäuregehalt 4-233 Procent. Gesammtacidität gegen Phenol- phtalein: 100 °® Saft brauchen zur Neutralisation 124 bis 128 ”/. Alkali. Die durch Titration mit Congo erhaltenen Salzsäurewerthe stimmten übrigens mit den nach Mörner’s Methode ermittelten überein. Beim Erwärmen bis auf 10° änderte sich der Salzsäurewerth nicht, beim Aufkochen gingen 20 Procent fort. Der Gesammtchlorgehalt betrug 5-34 bis 5-96 pro mille.. Es war das Chlor nur in Form von HCl und von Alkalichlorid, nicht in organischer Bindung vorhanden, wie sich aus der Bestimmung des Kaliums und Natriums ergab. Der Rest enthielt nie Milchsäure, zuweilen Rhodan in Spuren, redueirte nie Trommer’sche Lösung, gab stets Biuretprobe Er hatte 4.09 bis 4:70 pro mille feste Stoffe, von denen 40 bis 50 Procent auf mineralische Bestandtheile kamen (Ka, Na, Ca, Mg, Fe, Cl, P,O,, keine Ammonsalze, keine SO,). Bei 58° coagulirt der Saft unter Abscheidung eines sich gut absetzenden Niederschlages, welcher Nucleoproteid zu sein scheint. Er ent- 456 VERHANDLUNGEN DER BERLINER hält Phosphor und giebt beim Behandeln mit Salzsäure Pentose. Vom Ge- sammteiweiss waren ca. 70 Procent coagulabel, der Rest Albumosen. Es war weder amylolytisches, noch invertirendes, wohl aber — nur in alkalischer Lösung wirksames — fettspaltendes Ferment nachzuweisen. Auffallend war die geringe bakterieide Kraft des Saftes gegen Spalt- pilze; so waren Tuberkelbacillen noch nach 24stündigem Verweilen in demselben nicht abgetödte. Durch Behandlung von Kaninchen mit Saft- injectionen konnte ein praecipitirendes Serum erhalten werden, welches mit menschlichem und mit Hundemagensaft Fällungen gab, nicht aber mit dem Blutserum des Patienten, von welchem der Saft stammte. Sehr gross waren die bei den Scheinfütterungen beobachteten Speichel- mengen; beim Kauen von 150 &”% Zucker innerhalb 30° 200 &”, bei 1200 sm Milch innerhalb 60° 2008”, bei 200:”% Semmel innerhalb 30° 126 8m, bei 800 8" semischter Nahrung (Fleisch, Kartoffel, Bouillon) innerhalb 40’ 300 8, Es wurde dann noch die Aenderung der Concentration in den Magen eingeführter Lösungen mit und ohne Betheiligung des Speichels geprüft. In Bestätigung und Erweiterung früherer Versuche wurde gefunden, dass hypotonische Lösungen im Magen concentrirter, isotonische in der Regel hypotonisch werden. Hypertonische Lösungen verringern ebenfalls ihre Con- centration, verlassen jedoch stets den Magen, ohne die Blutisotonie erlangt zu haben. Dabei ist es gleichgültig, ob Speichel in den Magen fliesst oder nicht; es kann aber der — wie gezeigt — erhebliche Speichelzufluss, dessen Menge beim Trinken von 300 °® 10 procent. Zuckerlösung z. B. 76°“ be- trug, eine erhebliche Vermehrung der in den Magen eingeführten Flüssigkeit bedingen. XV. Sitzung am 28. Juli 1905. 1. Vor der Tagesordnung demonstrirte Hr. Dr. Kow&kAp HELLY aus Wien einen Hund mit Gallenfistel und gab dazu folgende Erläuterung: Der Hund, welchen Ihnen vorzustellen ich die Ehre habe, ist auf operativem Wege mit einer Gallengangsfistel versehen worden. Der Grund, dass ich das Thier zeige, liegt darin, dass ich bei der Operation, welche ich in der experimentell-biologischen Abtheilung des hiesigen pathologischen Institutes vorgenommen habe, nicht der von Pawlow für diesen Zweck an- gegebenen Methode gefolgt bin, wonach. die Mündung des Gallenganges dreiseitig umschnitten und über die vierte Seite nach aussen umgeklappt und, Serosa gegen Serosa, auf der Aussenseite des Duodenum fixirt wird, worauf Schluss der Darmwunde und Einnähung der Mündung in die Bauchhaut folgt. Ich habe mich vielmehr an die ebenfalls von Pawlow zur Herstellung der Pankreasfistel angegebenen Methode bedient und dabei, als ob es sich um eine solche handelte, die Gallengangsmündung mittels eines rhombisch dieselbe umfassenden Schnittes aus der Darmwand ausgeschnitten und sie nach querer Vernähung der letzteren in die Bauchwand eingepflanzt. Der Vortheil beider Methoden gegenüber anderen liegt darin, dass der M. sphincter, welcher, wie ich im Arch. f. mikr. Anat. Bd. LIV, 1899, beschrieben habe, sich sowohl an der Mündung des Gallenganges wie an der der Pankreas- u — o PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — KonRAD HELLY. — Nager. 457 gänge befindet, erhalten wird und demgemäss die Galle nicht ununterbrochen abfliesst, wie es bei der Gallenblasenfistel der Fall ist. Es lässt sich daher der Einfluss verschiedener Mittel auf ihre Absonderung genau verfolgen. Technisch bietet diese Herstellungsweise der Fistel keine wesentlicheren Schwierigkeiten dar, weshalb ich nicht anstehe, sie der erstgenannten Me- thode als gleichwerthig an die Seite zu stellen. 2. Herr NAGEu macht einige Mittheilungen über das Niesen. In den meisten physiologischen Lehrbüchern wie in rhinologischen Specialschriften ist das Niesen so beschrieben, als ob der Luftstrom nach explosionsartiger Sprengung eines Verschlusses zwischen Rachen- und Nasen- höhlen durch die Nase entweiche. Das ist nach den Erfahrungen des Vor- tragenden nicht richtig, es entweicht vielmehr durch die Nase nur ein kleiner Bruchtheil der Luft, und die Verschlussprengung durch den Haupt- theil der Ausathmungsluft erfolgt zwischen Rachen- und Mundhöhle Auf diesem Wege, durch den Mund und nicht durch die Nase, werden auch in der Regel beim Niesen Flüssigkeits- und Schleimtröpfehen herausgeschleudert. Man kann sehr wohl bei zugehaltener Nase, nicht aber bei geschlossenem Munde niesen. Die Drucksteigerungen und Luftstösse sind natürlich je nach der Art des Niesens verschieden. Wenn der Vortragende durch Niespulver einen kräftigen Niesact auslöste, zeigte ein an die Nasenlöcher luftdicht an- geschlossenes Wassermanometer (bei Ausschluss von Schleuderungswirkungen) eine Drucksteigerung in der Nase von wenigen Öentimetern Wasser. Wurde das Manometer dagegen an den Mund angesetzt (bei offener Nase), so zeigte das Manometer einen Druck von 80 bis 100°“ Wassersäule an. Diese Thatsachen stehen in einem scheinbaren Widerspruch mit der bekannten Erfahrung, dass Fremdkörper, die in der Nase steeken, beim Niesen herausgetrieben werden können. Dies erklärt sich dadurch, dass ja in der That ein allerdings geringer Bruchtheil des Luftstromes durch die Nase entweicht; die Hauptsache aber liegt wohl in der plötzlichen Ab- schwellung der Nasenschleimhaut beim Niesact. Gleichzeitig mit der Inner- vation, welche zur heftigen Exspiration und zur Verschlusssprengung im - Munde führt, muss eine ihrer Natur und ihrem Zweck nach noch nicht klargestellte Innervation der Nasenschleimhaut erfolgen, und zwar müssen Impulse sowohl zu den Gefässen der bekanntlich stellenweise ausgeprägt cavernösen Nasenschleimhaut wie auch zu den Schleimdrüsen gehen. Jedem ist das eigenthümliche Gefühl der Erleichterung bekannt, das oft nach dem Niesen auftritt, das Freiwerden der Passage in der vorher undurchgängigen Nase bei acuten Schleimhautschwellungen, und endlich das Auftreten eines dünnflüssigen, beinahe wässerigen Seceretes nach dem Niesact (beim gesunden, nicht mit Schnupfen behafteten Menschen). Sowohl der Mechanismus dieser Abschwellungs- und Secretionsvorgänge, wie ihr Zweck ist nicht klar; na- mentlich ist der unzweifelhaft bestehende Zusammenhang mit der sexuellen Erregung nieht ganz verständlich. Er dürfte vielleicht darauf beruhen, dass die Nase als Geruchsorgan für die Auslösung des Sexualtriebes auch beim Menschen noch von einer gewissen Bedeutung ist. Bemerkenswerth ist, dass manche Menschen das Niesen theilweise „unterdrücken“ können, indem sie den Exspirationsstoss anscheinend bei geschlossener Glottis und geschlossenem Munde ausführen. Es entsteht ein kaum hörbares Geräusch und keine Verschlusssprengung in der Rachen- 458 VERHANDLUNGEN DER BERLINER gegend. Trotzdem geben solche Personen an, von solchem Niesen fast das gleiche Gefühl der Erleichterung zu haben, wie vom richtigen ununter- drückten Niesen. 3. Hr. Nasen macht Mittheilung von einer Versuchsreihe, die die Contractilität und Reizbarkeit des Samenleiters betrifft. Die aus- führliche Mittheilung der Versuche erfolgt im Archiv für Physiologie. Der Vortragende findet sowohl beim Kaninchen wie beim Kater keine Peristaltik, sondern eine einfache, sehr bedeutende Verkürzung des Samen- leiters bei direeter oder indirecter Reizung. Das Präparat des ausgeschnittenen Samenleiters ist wegen seiner Haltbarkeit sehr geeignet zu Versuchen über die Art der Öontraction, zu deren graphischer Registrirung und zu toxi- cologischen Versuchen. Auffallend ist die ausgeprägte anhaltende Wirkung des Kältereizes auf den Samenleiter, während Wärme nur vorübergehend zur Verkürzung, dann zu völliger Erschlaffung führt. Die Fortpflanzung der Erregung bei elektrischem Reiz erfolgt am ausgeschnittenen Präparat nur vom urethralen Ende zum Hodenende, nicht umgekehrt. Einzelne Inductions- schläge sehr mässiger Stärke wirken schon erregend. 4. Hr. Luwanpowsky: „Zur Anatomie der Vierhügelbahnen.“ Der Zweck meiner Mittheilung ist im Wesentlichen der, Ihnen Präparate zu demonstriren, welche früher von mir gemachte Behauptungen erweisen, insoweit als diese Behauptungen neuerdings vonKohnstamm! bestritten sind. Wenn ich Ihnen dabei im Zusammenhang die Hauptthatsachen vortragen darf, welche über die nervösen Verbindungen der Vierhügel bekannt sind, so wissen wir, dass zunächst der hintere Vierhügel nichts anderes dar- stellt als eine Station auf dem Wege der centralen Hörbahn. Im hinteren Vierhügel enden mittelbar oder unmittelbar alle Bahnen, welche aus dem Tubereulum acusticum und dem Ganglion ventrale acustiei, dem Nucel. trape- zoides, der oberen Olive und dem Kern der lateralen Schleife stammen. Der Weg zum hinteren Vierhügel ist das Corpus trapezoides und die laterale Schleife. Vom hinteren Vierhügel entspringt das Brachium posterius zum Corp. geniceulatum internum, von wo die Bahn zum Schläfenlappen offen steht. So ist die Bahn des N. cochlearis eine der einfachsten und best gekannten im centralen Nervensystem. Im vorderen Vierhügel endet bekanntlich ein Theil der Sehnerven- fasern, und es entspringen weiter vom vorderen Vierhügel Fasern, welche, sich der Sehstrahlung anschliessend, die vom N. optieus zugeleiteten Impulse der Grosshirnrinde übertragen. Probst hat behauptet, dass auf diesem selben Wege in umgekehrter Richtung auch Impulse von der Grosshirnrinde dem Vierhügel vermittelt werden können. Ich halte die von Probst beobachteten Degenerationen mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit jedoch für retrograd. Vielmehr giebt es eine andere Bahn von der Rinde zum vorderen Vierhügel, welche, wie meiner Aufstellung nach alle motorischen Bahnen, durch den Hirnschenkelfuss geht, und von hier scharf dorsal zum vorderen Vierhügel umbiegt. Es ist mir nicht verständlich, wie Probst? neuerdings diese von \ Neurologisches Centralblatt. 1. Juli 1905. ? Ausführungen und Belege hierfür finden sich in meiner Arbeit: Ueber die Lei tungsbahnen des Truncus cerebri. Jena. G. Fischer. 1904. ® Sitzungsberichte der Wiener Akademie. 1905. Bd. CXIV. S8. 139. Re PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — LEWANDOWSKY. 459 Piltz gefundenen und sehr leicht nachweisbaren Fasern bestreiten kann. Auf die Bedeutung dieser Thatsache, dass nämlich diese Fasern nicht im Oculomotoriuskern, sondern im Grau des Vierhügels enden, habe ich an anderer Stelle hingewiesen. Durch sie dürfte jedenfalls die Rinde einen Einfluss gewinnen auf die Reactionen, die unter dem Einfluss des Optieus im vorderen Vierhügel ablaufen. Die wichtigste dieser Reactionen ist zweifellos der Pupillarreflex. Da der Optieus zum allergrössten Theile kreuzt und der Oeulomotorius gleichseitig entspringt, so muss die Verbindung des Vierhügelgraus mit dem Oculomotorius in kreuzenden Fasern gesucht werden. Eine doppelte Kreuzung dieser Bahn ist in diesem Sinne selbstverständlich. Bach hat in den letzten Jahren wieder dem Halsmark eine Bedeutung für den Pupillarreflex zu- schreiben wollen. Ich selbst habe im Laufe meiner Untersuchungen über die Leitungsbahnen des Hirnstammes wohl kaum eine Stelle des Halsmarkes und der Medulla oblongata unverletzt gelassen, und habe niemals eine dauernde Aufhebung des Pupillarreflexes gesehen. Demgegenüber kann auf die viviseetorischen Versuche Bach’s entscheidender Werth nicht gelegt werden, weil in ihnen erstens die plötzliche Reizung oder Lähmung des Sympathicuscentrums, vor Allem aber auch die plötzliche Herabsetzung des Blutdruckes eine unberechenbare Rolle spielt. Dauernd bestehen bleiben nach Verletzungen der Medulla oblongata oder des Halsmarkes nur die Erscheinungen der Sympathicusparese: eine Miosis bei erhaltener Pupillar- reaction. Das ist auch bei Herden der Medulla oblongata beim Menschen beobachtet worden (Babinski und Nageotte.)! Die zweite Bahn, die vom Vierhügel ‘entspringt und die also vom Opticus aus erregt werden kann, ist der Tractus tectospinalis oder die Vierhügelvorderstrangbahn. Ich habe angegeben, dass diese Bahn aus der Sehschieht des Vierhügels entspringt, ihre Fasern radiär gegen das tiefe Mark einstrahlen, hier rechtwinklig umbiegen, um dann auf dem bekannten Wege der Meynert’schen Kreuzung in den Tractus praedorsalis zu gelangen.? Kohnstamm, der früher nach Nisslpräparaten der Ansicht war, dass diese Fasern zwei Mal in dem Vierhügel kreuzen, hat neuerdings wiederum nach Nisslpräparaten — indem er seine früheren Resultate durch Nebenverletzungen erklärte, was mir nicht ganz einleuchtend ist — in sehr bestimmter Form erklärt, dass der Tractus teetospinalis nicht aus der Sehschicht des Vierhügels, sondern aus den grossen polygonalen Zellen, die zwischen den bläschen- förmigen Zellen der mesencephalen Trigeminuswurzel liegen, entspringe. Die Frage, ob das richtig ist, hat darum etwas mehr als akademisch-anatomisches Interesse, weil wir es in dem Gebiet der mesencephalen Trigeminuswurzel wohl doch mit einem dem vorderen Vierhügel eigenilich fremden Element zu thun haben, so dass wir den Tractus teetospinalis, wenn er hier ent- springt, nicht ohne Weiteres mit den durch den Opticus vermittelten Reac- tionen in Beziehung bringen dürften. Die Anschauung von Kohnstamm ist aber unrichtig. Sie sehen auf Fig. 1 den caudalen Theil einer Verletzung, die vom Thalamus ausgehend hier in der Gegend der hinteren Commissur die seitlichen Theile des vorderen Vierhügels medial vom Corpus geniculatum ! Nowelle Iconographie de la Salpetriere. 1902. ® Leitungsbahnen. 8. 52. 460 VERHANDLUNGEN DER BERLINER internum betroffen hat. Etwas weiter caudal in einer Frontalebene, die Fig. 2, wiedergiebt, sehen Sie nun mit absoluter Deutlichkeit, wie dicke, mächtige Schollenreihen, aus dem Inneren des Vierhügels ihren Ursprung nehmend, in das tiefe Mark umbiegen, um dann zur Meynert’schen Kreuzung zu gelangen. Das ist der Tractus tectospinalis, und dass er nicht aus dem Gebiet der mesencephalen Trigeminuswurzel kommt, ist ausser durch die Verfolgung der degenerirten Fasern in der Continuität auch dadurch sicher, dass die mesencephale Trigeminuswurzel selbst von jeder Degeneration absolut frei ist. Es entspringt also der Tractus tectospinalis aus der Seh- schicht des vorderen Vierhügels, er steigt zum grossen Theil in’s Rücken- mark herab, vor Allem aber giebt er sehr reichlich feine Fäserchen ab an beide Facialiskerne!; es dürfte sehr wahrscheinlich sein, dass wir hier ein Substrat für die Vermittlung des Lidschlussreflexes bei greller Beleuchtung vor uns haben. Fig. 1. Noch ein zweites System steigt von der Vierhügelregion zum Rücken- mark herab, der Tract aus dem Kern von Darkschewitsch, der mit dem Vierhügelgrau durch die hintere Commissur in Verbindung steht. Weiter kennen wir noch zwei aus dem Vierhügel absteigende Bahnen, es ist das erstens der Tractus tectopontinus Münzer. Er endet im Brückengrau. Es ist eine willkürliche Annahme Kohnstamms, dass dieser Faserzug zum sensibeln Trigeminuskern in Beziehung stehe, eine Annahme, die noch dazu nur durch eine zweifelhafte psychologische Hypothese, die der Localzeichen, eingegeben erscheint, freilich meines Erachtens auch nicht einmal im Stande wäre, diese Hypothese anatomisch zu fundamentiren.? ! Abgebildet in Leitungsbahnen des Truncus cerebri. Taf. X. * Auf das Bestimmteste muss ich auch widersprechen der Behauptung Kohn- stamm’s von der Verschmelzung des Endgebietes des Trigeminus mit dem des Vagus (vgl. auch Leitungsbahnen. 8. 58). PHYSIOLOGISCHEN GESELLSCHAFT. — LEWANDOWSKY. 461 Endlich entspringt, wie ich festgestellt habe, im vorderen Vierhügel noch die centrale Haubenbahn, die in der unteren Olive endet. Diese Bahn hat mit dem Münzer’schen Bündel das gemein, dass sie in einem Grau endet, von dem aus Bahnen nur in einer Richtung offen stehen, nämlich zum Kleinhirn. Vom Griseum pontis geht diese Bahn durch das Brachium medium cerebelli, von der unteren Olive durch das Corpus restiforme. Somit besteht eine doppelte Bahn zwischen Endstätte des Opticus im vorderen Vierhügel und Cerebellum. 2 Fig. 2. Für das Ursprungsgebiet der Radix mesencephalica trigemini bleiben noch übrig: erstens diese Wurzel selbst, welche bekanntlich mit der motorischen Trigeminuswurzel verschmilzt, und zweitens der von Probst entdeckte, von mir als Traetus Probsti bezeichnete Faserzug, der zuerst mit der Radix mesencephalica verbunden nach dem Austritt der motorischen Trigeminuswurzel caudal weiter zieht!, und ventral vom dorsalen Vaguskern ! Abgebildet in ZLeitungsbahnen. Taf. X. 462 VERHANDLUNGEN DER BERLINER PHYSIOL. GES. — LEWANDOWSKY. liegt, das Rückenmark aber nicht erreicht. Da für Kohnstamm die zwischen den bläschenförmigen Zellen der Trigeminuswurzel liegenden polygonalen Zellen (Nucl. intertrigeminalis tecti) bereits vergeben sind, so scheut er sich nicht, diesen Faserzug aus den motorischen Trigeminuszellen selbst hervorgehen zu lassen, ein Verhalten der Wurzelzellen, welchem die Anatomie kein einziges Analogon an die Seite zu stellen hätte. Da wir aber gesehen haben, dass der Tractus tectospinalis aus dem Vierhügel selbst hervorgeht, bleibt für uns der Nucl. intertrigeminalis als Ursprung des Traetus Probsti frei, über dessen physiologische Bedeutung wir übrigens nichts wissen. Zeitschriften aus dem Verlage von VEIT & CoNR. in Leipzig. ‚Skandinavisches Archiv für Physiologie. . Herausgegeben von Dr. Robert Tigerstedt, o. ö. Professor der Physiologie an der Universität Helsingfors, Das „Skandinavische Archiv für Physiologie‘ erscheint in ‘Heften von 5 bis 6 Bogen mit Abbildungen im Text und Tafeln. 6 Hefte bilden einen Band. Der . Preis des Bandes beträgt 22 #%. Er ahıblac für praktische AUGENHEILKUNDE. Herausgegeben von Prof. Dr. J. Hirschberg in Berlin. Preis des Jahrganges (12 Hefte) 12 4; bei Zusendung unter Streifband direkt von der Verlagsbuchhandlung 12 # 80 2. Das „Centralblatt für praktische Augenheilkunde‘ vertritt auf das Nachdrück- liehste alle Interessen des Augenarztes in Wissenschaft, Lehre und Praxis, vermittelt den Zusammenhang mit der allgemeinen Medizin und deren Hilfswissenschaften und giebt jedem praktischen Arzte Gelegenheit, stets auf der Höhe der rüstig fortschrei- tenden Disziplin sich zu erhalten. DERMATOLOGISCHES CRNTRALBLATT. INTERNATIONALE RUNDSCHAU AUF DEM GEBIETE DER HAUT- UND GESCHLECHTSKRANKHEITEN. Herausgegeben von Dr. Max Joseph in Berlin. Monatlich erscheint eine Nummer. Preis des Jahrganges, der vom October des einen bis zum September des folgenden Jahres läuft, 12 .4. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes, sowie direct von der Verlagsbuchhandlung. Nenrologisches Gentralblatt. Übersicht der Leistungen auf dem Gebiete der Anatomie, Physiologie, Patholpgie und Therapie des Nervensystems einschliesslich der Geisteskrankheiten. Herausgegeben von Professor Dr. E. Mendel in Berlin. Monatlich erscheinen zwei Hefte. Preis des Jahrganges 24 #. Gegen Einsen- dung des Abonnementspreises von 24 .% direkt an die Verlagsbuchhandlung erfolgt „zegelmäßige Zusendung unter Streifband nach dem In- und Anslande. Zeitschrift Hygiene und Infectionskrankheiten. Herausgegeben von Prof. Dr. Robert Koch, Geh, Medicinalrath, Prof. Dr. C. Flügge, und Prof. Dr. G. Gaffky, Geh. Medicinalrath und Director Geh. Medicinalrath und Director des Hygienischen Instituts der des Instituts für Infectionskrankheiten Universität Breslau, zu Berlin, Die „Zeitschrift für Hygiene und Infectionskrankheiten“ erscheint in zwanglosen Heften. Die Verpflichtung zur Abnahme erstreckt sich auf einen Band im durchschnitt- liehen Umfang von 30—35 Druckbogen mit Tafeln; einzelne Hefte sind nicht käuflich. ARCHIV für ANATOMIE UND PHYSIOLOGIE, Fortsetzung des von Reil, Reil und Autenrieth, J. F. Meckel, Joh. Miller, Reichert und du Bois-Reymond boransgegebenep Archives, erscheint jährlich in 12 Heften (bezw. in. Doppelheften) mit en im Text und zahlreichen Tafeln. 6 Hefte entfallen auf die anatomische Abtheilung und 6 auf die physiolo- gische Abtheilung. Der Preis des Jahrganges beträgt 54 M. Auf die anatomische Abtheilung (Archiv für Anatomie und Ent- wickelungsgeschichte, herausgegeben von W. Waldeyer), sowie auf die physio- - logische Abtheilung (Archiv für Physiologie, herausgegeben von Th. W. Engel- mann) kann besonders abonnirt werden, und es beträgt bei Einzelbezug der Preis der anatomischen Abtheilung 40 #, der Preis der physiologischen Abtheilung 26 MW. Bestellungen auf das vollständige Archiv, wie ‘auf die einzelnen Ab- 4 theilungen nehmen alle Buchhandlungen des In- und Auslandes entgegen. Die Verlagsbuchhandlung: Veit & Comp. in Leipzig. Druck von Metzger & Wittig in Leipzig. 1 Archir PAnat.u. Phys. 1905. Phys Abthlg.Suppl. Curventafel A. Tab.T. Vagt intact Druokcurve der Pleurakapsel H,0-Druck Constructioonscurve Tür den Alveolardruck Druekourve der Athen - Nlaschenkapsel Tab. IT. Vagotomia sin. Pleura Tafl Constructionscurve für den Alveolardruck Verlag Veit &Comp. Leipzig Archiv? Anat.u.Phys.1905. Phys. Abthig.Suppl. TH Curventafel A. Tab.IIT. Vagotomia. sinistra Vag. Reiz. - I3om Roll. Abst. Vagus Reizung - I3em. Roll-Abst. Lith Anst.vE.A Funke.Legerig Verlag Veit &Comp. Leipzig. Taf: I. Archiv K-Anat.u. Phys. 1905.Phys. Abthlg.Suppl. Curventafel B. Vagusreiz 12cm Rollen -Abstand 4-24 + Vagotomia sur. 14 Pleura Athernflasche LithAnst.vE Aflnkeleieig Verlag Veit &Comp. Leipzig Archiv R.Anat.u.Phys.1905. Phys. Abthig.Suppl. Curventafel C. Tab.T. Vagotomia sintsira Schwacher Strom (13cm Roll.- Abst. ) Vag.- Reizung + =. -- = -- - — = == - — = - 0.0. 5 Pleura 12 Te ZEN et Ce = m 2 10 Afhemflasche Siame ee 15 16 14 l 17 13 16 15 \ "14 17 Verlag Veit &Comp. Leipzig Taf. IV. Vag-Reiz. 13cm Roll.- Abst. +--- - -- - - ------- - — + 23 24 18 19 L 21 22 27 26 20 \ 25 +-------- - --- ------ + 5 74 | —_—— _ = l ee REES Zn Bu Tu 8 27 ee 21 \ 2 20 25 LithAust.v.E.AFunke Leipzig - —. — -l-— - -- — no - -- zo. -_- ._— _.-..._—— — — nn . .- -. .. - - - .-- . €; Archür [Anat.u.Phys. 1905. Phys. Abthig.Suppl. Tarı Curventatel D. 2. +9,0 cm H,0-Druck Reizung beider Vagi- Rol-Abst. Tem. 2 na + VE 1 _...... 2 ol B a 1 2 7 5 \ % 8 14 0 13 \ \ [4 ; 9 Verlag Veit &Comp. Leipzig harte Afeieli ae = rer a ee == Archörl-Anat. u.Phys.1905. Phys. Abthlg.Suppl + 16,5 0m: 718 2 Curventafol E, A,0 Druck)‘ >> = ” F 30 Vagotomia, beiderseits 22 37 F 29 Ba 32 35 29 Be 38 26 | 39 Pr 36 2) 20 37 ERRERN _ 33 F 12 43 34 8 9 \ 16 \ ” 17 \ 15 \ 2 ee Ra ne 27 30 32 “= 38 \ 18 2 2 \ - I 0 a / 3 Fr 29 | 9 26. Athemflasche . | n Verlag Veit &Comp. Leipzig Taf. Vo E74 Inh Anst vE Afınkelepeig Taf var Arohar Anal Phys. 105 Pıys Abthlg.Suppl Tab.H. 5Min. später (+ 8,1cm I, Druck ) Tab. U1. % Stunde nach Amwniak Curventatel F. Tab.l Vagotomin. beiderseits 3Min Pleura- Mars Miele - Verlag Veit &Comp. Leipzig, PERHRBHEEEEE E Beeren Tar IX, Archiv f‘Anat u.Phys.1905. Phys. Abthlg,Suppl Curventatel G. m, i Amoniak:. 5 Min (starkes Basseln) Pleura Attuomflasche 13 7 Verlag Veit &Comp. Leipzig LithAnst.rK.Afunkeleieig Archiv k-Anat. u.Phys.1905. Phys. Ihthlg. Suyyıl Verlag Veit &Comp. | Me — m APEUTITNUTHAINNITTTITTINHIN oa, ra van N on In TUN are Nu ee —— RE Fig.T. KAnana A LANA NU ar me an 2 WG N... lm MM | Mann Inu | 1 > GE Taf. Al. Abthlg. Suppl. 15.1905. Phys ‘ Archiv k. Anat. u.Ph ipzig. Anst.v.E.AFunkele Lith. Verlag Veit &Comp. Leipzig. Abthlg. Suppl. Taf Xi. 13. a ee en S_ S st.vE.AFunke,leit Taf. XIV. NS S| D S SQ R os Sa RN \ıS S a S SQ R N a : zien Seo. orıst. 8 Versukhsreiheh mit d Sun | 100 EEHEEFEEEN SSuRR) 10 Länge der Nervenstrecke. I5mm. RS x 3 I R NEIN SEEN \ SEN x Lith Anst.v.E. AFurike Leipzig. Verlag Veit &Comp. Leipzig. FEESEFERERE ll) 3 2044 093 332 294 P7