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VONRICra^DEHMEL

ÜBER KUNSTGOTTuDE WELT

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S.FISCI-1ER. /VERLAG/BERLIN

Drittes Tausend Sämtliche Rechte vorbehalten

BETRACHTUNGEN

RICHTSPRUCH

Am Anfang war der Genius, am Ende kommt der Kritikus. Zuguterletzt: wer macht den Schluß? zieh Du ihn, Genius Publikus!

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AUTOBIOGRAPHIE

JEme Traumdeutung-

Autobiographie gehört zu den Vorstellungen, bei denen sich mir die Därme im Leib umdrehn. Wenn die japa- nischen Rittersleute sich vor versammelter Mannschaft aus einem sonderbaren Ehrgeiz eigenhändig den Bauch auf- schlitzten, muß ihnen ähnlich zumute gewesen sein.

Neulich träumte mir, ich hätte meine Autobiographie in Gestalt einer Erbsensuppe aufgetischt: LöfFelerbsen mit Speck, in einer goldenen Suppenschüssel. Mein Leben vi^ar die Erbensuppe; und zugleich saß ich davor und mich gleichsam selbst auf und ließ meine Freunde mit- essen. Im Traum geht das bekanntlich sein: gut; und manche Leute halten deshalb das Träumen für die höhere Wirklichkeit. Es kann aber auch die tiefere sein; und das Höhere mit dem Tieferen zu verwechseln, ist nur den naiven Seelen erlaubt, die mit Bewußtsein fürs Unbewußte schwärmen. Die dürfen auch das liebe Vieh um jenen göttlichen Geisteszustand beneiden, in dem sich die Schein- gebilde dieser Welt, von keiner Selbstbetrachtung getrübt, noch mit so grenzenloser Klarheit durcheinanderwurschteln, daß man ohne jeglichen Apparat auf mindestens hundert Kilometer Entfernung oder wo sonst das wahre Jen- seits beginnt eine brünstige Hirschkuh vrittern kann. Sie haben freilich sehr Recht, diese Herren Unbewußtler:

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leben läßt sich auch ohne Vernunft, sterben noch leichter, die Wissenschaft ist „im Grunde nur" Irrsinn, die Kunst „im Grunde nur" höherer Wahnsinn, im Grunde ist über- haupt Alles nur Wahnsinn, im Grunde ist auch der Wahn- sinn vernünftig, im Grunde ist Alles Einerlei, im Grunde ist Gott und der Lehmkloß das Selbe, im Grunde ist nichts als seelenvoller Dreck, im Grunde ist jeder Gründling ein Wundertier, und an Naivität ist jeder Ochse dem größten Genius überlegen.

Also in jenem götthchen Seelenzustand befand ich mich in meinem Traum. Es war ganz naiv, obgleich nicht ganz einfach. Die Erbsensuppe war, wie gesagt, mein Leben; sie war aber auch zugleich das Leben der Menschheit. Die einzelnen Erbsen, die in der lehmigen Brühe schwam- men mit ihren unverdaulichen Hülsen es waren wie- gesagt Löffelerbsen und die meisten Hülsen schon ziem- lich ausgekocht, manche sogar ganz leer : das sollten natürlich, wie mir sofort oluie Nachdenken klar war, die einzelnen Menschenseelen sein, und die Speckbrocken waren meine Freunde. Bei näherem Zusehn schien mir aller- dings, als seien auch Feinde unter den Speckbrocken. Und vor dieser Brühe saßen wir nun, ich mit meinen Freunden und Feinden, und ringsherum noch viele andere Menschen, und wollten oder mußten sie ausessen. Aus einer gol- denen Schüssel wiegesagt, mit einem goldenen Suppen- löffel. Das sollte gewiß den Kunstgenuß bedeuten-, oder auch blos den Lebensgenuß. Ich dachte aber im Traum nicht nach darüber. Denn die Sache war sowieso schon genußreich genug; man mußte sich blos auf die Kunst

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verstehen, die schönsten Brocken herauszufischen und die leeren Hülsen den Andern zu lassen.

So saßen wir also und verzehrten uns uns selber und uns gegenseitig und die Brühe wurde nicht alle. Denn wenn ich den Löffel zurücktat und weitergab, dann schwammen die Erbsen und Speckbrocken, die ich soeben meinte verschluckt zu haben, schon wieder lustig darin herum; und ebenso ging es den anderen Mitessern. Viele schnitten ein böses Gesicht dazu, und die Mahlzeit schien ihnen ekelhaft; aber sobald sie den Löffel ergatterten, schluckten sie grade am gierigsten, wie um den Ekel zu ^ ersticken, oder aus unbewußtem Neid. Die krigten, weil

sie sich immer bemühten, so tief wie möglich vom Grunde zu schöpfen, natürlich die meisten leeren Hülsen.

Da schwamm obendrauf ein herrhcher, merkwürdig rundgeratener Brocken, nachdem fast Jedermann angelte; das war mein Nachbar Liliencron. Ich hatte ihn schon unzählige Male mit Wohlbehagen zu mir genommen, und er schmeckte mir immer besser; der richtige Kemspeck, kräftig und süß, sehr zart durchwachsen und derb ge- räuchert, sodaß ich ihn grade den ai*men Ekelpriestem am allerherzlichsten gönnte. Sie schöpften aber immer daneben, immer zu tief, und taten dann, als verschmähten sie den köstlichen Brocken, der sich nicht untertunken Keß. Und viele Andere schöpften zu flach und krigten ihn ebenso wenig zu fassen; er wutschte dann plötzlich von selbst in die Tiefe, kam aber immer gleich wieder hoch, wie eine Boje in der Brandung, das reine Wunder- männchen StehauP, mit einer riesigen Wupptizität.

AUTOBIOGRAPHIE 13

Da waren auch noch zwei fernere Kernbrocken, die immer wieder obenauf schwammen und mir vorzüglich mundeten; sie scliillerten in den sublimsten Regenbogen- farben, aber durchaus verschieden, der eine mehr ins Kometenspektrum, der andre Orion-nebelhaft, und wurden sonderbarerweise nur von Wenigen begehrt. Das kam da- her, weil sie den Ekelpriestern ausnehmend leicht in den Löffel gingen; die meinten dann, die ewige Sehgkeit ge- fischt zu haben, aber sobald sie den Nachgeschmack spürten, schnitten sie ein noch übleres Gesicht, imd das schreckte die übrigen Tischgäste ab. Der üble Nachgeschmack kam aber garnicht von den beiden Speckbrocken selbst, sondern blos von der Erbsensuppe, in der sie nun mal herum- schwimmen mußten. Denn das war ja, wie ich im Traum deutlich ahnte, die große Erbsensuppe der Menschheit; aber wenn sie auch manchem EkeJpriester im tiefsten Grunde zuwider war und meinen übrigen werten Gästen ziem- lich gewöhnhch vorkam, schmeckte sie mir und meinen Freunden doch ungewöhnhch gut im Traum. Und die zwei seltsamen Kosthappen, die hießen Scheerbart und Mombert.

Ich wollte die Beiden, die so vereinsamt in der riesigen Schüssel herumschwammen, grade einmal zusammenbug- sieren und auch noch Conrad Ansorge und Wilhelm Schäfer, Meier-Gräfe und Peter Behrens zum so-und-so- vielten Male mitausschöpfen: da kam mir ein unrechter Brocken in den Löifel. Es war ein eigentümhch dick- licher Brocken, ein förmhcher Klooß von einem Brocken, der eine wahre Speckschwarte hatte, mit einer aufge-

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schwemmten Fettschicht, die jeden aufs rosigste anlachte; einen Namen will ich hier lieber nicht nennen, denn ich schreibe keine Steckbriefe und lege keine Prinz-Kuckuks- Eier. Zwei der grundsätzUchsten Ekelpriester, die den Löffel so gewaltig handhabten, daß ich sie stets bewun- derte, Strindberg und Przybyszewski, hatten mich schon vor ihm gewarnt; er sei im Grunde selber ein Ekelprie- ster, wenn auch durchaus kein gewaltiger, und sie mußten's doch eigentlich wissen. Aber ich hielt ihn für meinen Freimd; und er war mir auch anfangs glatt eingegangen, bis mir schUeßlich doch übel danach aufstieß. Seitdem vermied ich ihn vorsätzlich; und nun glitt mir der Bursche doch wieder in den Löffel, und ich sollte ihn wohl oder übel herunterschlucken. Und das war doch meine Erbsen- suppe, in meiner goldenen Schüssel, die ich mir selber erträumt hatte! Und nun wollte mir dieser dickschwartige Fettklooß, der noch dazu mitaß aus meiner Schüssel und mir in corpore gegenübersaß und mich immer noch rosig anlächelte, die ganze Mahlzeit verderben? Ich fand das em- pörend und wurde wütend. Ich schmiß ihm, nun plötzUch ebenfalls vom Ekel übermannt, mit aller Gewalt den Löf- fel zu: er solle gefälligst sich selbst aufessen und fühl- te, wie mir die gelbe Timke mit voller Wucht ins Gesicht spritzte. Ich rieb mir die Augen und wachte auf.

Der theosophisch gebüdete Leser möge verzeihen, daß ich mich einigermaßen erleichtert fühlte nach diesem be- deutungsvollen Traum. Denn wenn ich auch Löffelerbsen mit Speck für einen veritabeln Götterschmaus halte, war mir die grenzenlose Mitesserei allmählich doch etwas pein-

AUTOBIOGRAPHIE 15

lieh geworden, was ich erst nachher, als ich wieder wie ein gewöhnlicher Mensch nachdenken konnte, im vollen Umfang nachfühlte. Ich besann mich mit wahrem Hoch- gefülil auf meinen beschränkten üntertanenverstand. Ich erinnerte mich mit Vergnügen, daß ich am 18. November 1863 geboren war und ohne Zweifel immer noch lebte, nicht etwa im Reich der freien Geister, sondern im deut- schen Königreich Preußen. Ich dachte dankbar dem My- steriimi nach, daß ich der älteste Sohn eines Försters bin, nicht etwa eines königlichen mit einem vergoldeten Adler am Diensthut, sondern blos eines vogelfreien Revierjägers, worauf ich stolz bin wie ein dummer Junge. Ich zog mir das Nachthemd aus und wusch mir den Kopf.

Als ich diesen darauf im Spiegel besah, diesen welt- anschauenden Auswuchs von mir, den jeder Hans Narr mir mal abhacken kann, schien mir der Traum mit einem Mal doch wieder gamicht so unvernünftig. Nur über Eins vermochte ich nicht ins Klare zu kommen:

Ich hatte noch manche anderen Freunde unter den Speckbrocken schwimmen sehen, wahre Freunde und gute Freimde, und unglaubhch wahre und gute Freunde so z. B. die Brüder Hart nebst Genossen, Peter HiUe, Fidus und Karl Henckell; Wilhelm Bölsche, Bruno Wille und Willy Pastor, Moeller van den Brück und Herrn Doctor Franz Servaes; Franz Oppenheimer und Carl Ludwig Schleich; Johannes Schlaf und Arno Holz; Max Dauthendey, Gustav Falke, Franz Evers; Ernst Kreidolf und J. A. Beringer, M. G. Conrad und Wilhelm Weigand; die tapferen Kameraden Anna Croissant-Rust,

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Hedwig Lachmann und die Geschwister Marschalk; Emil Strauß, Emil Gott, Jakob Wassermann, Emil Ludwig und Herbert Eulenberg; Roger de CampagnoUe und Florens Rang, den Grafen Keßler imd Frau Förster-Nietzsche; Kurt Hezel, Papa Heilmann und Otto Erich, Sor Rodolfo und Signor Ludovico; auch jenen naiven Menschenfreund, der sich mir eines stürmischen Tages auf einem Dampf- schiff zwischen den griechischen Inseln vorstellte, sich einen Freund meines Dichtens und Denkens nannte, mii* kate- gorisch den vernünftigen Willen als monistischen Grund alles Daseins nachwies imd sich dann plötzhch umdrehen mußte, weil ihn die Seekrankheit anwandelte und seinen vernünftigen Willen zum Ausbruch brachte. Sie Alle mid noch ganz andere Namen, auch manchen „großen Toten" darunter, hatte ich auf der Oberfläche der lehmgelben Brühe schwimmen sehen, auf dieser Brühe, die mein Leben sein sollte : nur nicht den Namen jenes Mannes, der mich liebte wie kein anderer Mensch und der sich nur den Menschensohn nannte. Und auch die Namen meiner alten Eltern nicht, die doch mit ihren je siebenzig Jaliren mein Leben viel gründlicher kennen und heben, als ich selbst mit meinen eben erst vierzig. Und auch das Weib nicht, das mich hebt. Und auch die Frau nicht, die mich einst hebte imd der ich meine Kinder verdanke. Und diese meine drei Kinder auch nicht. Was mochte das zu bedeuten haben?

Ob sie „im Grunde" vielleicht doch Eins mit mir sind? im Grunde der großen Erbsensuppe? Wie sagte doch jener Alte aus Indien, dessen Name der Menschheit ent-

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fallen ist? „Jener eine Einäugige, der den Weltraum bewacht im Bodenlosen, Der mag es wissen; aber viel- leicht weiß auch Er es nicht!" So sagte er; oder so ähnlich.

Wer aber an diesen Einen nicht glaubt, dem will ich ein anderes Liedlein singen:

O Phantasie,

allwissende Lügnerin,

Dich liebe ich,

ich Menschengeist,

ewig! Und den Herren Unbewußtlem empfehle ich, sich lebens- länglich chloroformieren zu lassen.

NAIVITÄT UND GENIE

Spiritistischer Dialog-

„Das ist naiv" . . . Wenn wir das hören, wissen wir nicht ohne weiteres, soll das ein Lob, ein Tadel oder ein- fach eine Aussage sein. Besonders Künstlern passiert das oft; da ist irgend etwas in ihren Werken, das hält der eine Betrachter für „recht naiv", der andere für „voll- kommen naiv", wieder ein andrer für „gar zu naiv", und ein abermals andrer für „nicht naiv genug". Wenn man dann jeden von ihnen fragt, was er mit diesem be- liebten Fremdwort eigentlich habe sagen wollen, erhält man regelmäßig eine Belehrung über das unbewußte Ge-

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müt. Und wenn man hierauf zaghaft bemerkt, daß nach menschlichem Wissen noch kein Gemüt in bewußtlosem Zustand ein Kunstwerk verfertigt habe, auch daß sich über das Unbewußte füglich doch wohl nichts wissen lasse, dann wird man mit neuen Fremdwörtern heimgeschickt. Vornehmlich die Wörter „Instinkt" und „Genie" spielen da eine kräftige Rolle; und wenn der Deutsche mit wuch- tigster Schlagkraft auf die Tiefe seines Gemüts pochen will, dann spricht er das W^ort „Naturgenie" aus. Bleibt dem Instinkt des erschütterten, teils ganz naiven, teils mehr als naiven, teils nicht ganz naiven Fragestellers anheim- gestellt, ob er sich für ein schlechtweg natürliches oder ein etwas übernatürliches oder ein ziemlich unnatürliches Naturgenie ästimieren soll. Denn sein bißchen Talent steht ja außer Zweifel; nur scheint es ein wenig zu kul- tiviert, sonst würden jene wohlmeinenden Leute doch wohl nicht um seine Natürhchkeit hadern.

Merkwürdigerweise kann aber kein Künstler umhin, sein Talent nach Kräften zu kultivieren; und manches Genie, das mancher Kunstfreund für nicht ganz stark genug er- klärt, weil es leider nicht naiv genug sei, ist manchem ebenso klugen Gönner blos leider nicht kultiviert genug. Also kam ich eines Tages auf die Vermutung, daß jenes rätselhafte Fremdwort wohl etwas Andres besagen müsse als den sogenannten genialen Instinkt, diesen angeblich unbewußten Naturtrieb, der doch so sonderbar selbst- bewußt auftritt, so eigensinnig in sich befangen; und ich suchte mir auf gut Deutsch zu sagen, was denn „naiv" klipp imd klar bedeute.

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Da fiel mir zunächst ein: unbefangen. Dann: unwill- kürlich, triebhaft, ursprünglich, urwüchsig, freimütig, un- rerstellt, ungezwungen. Dann ungekünstelt, ungelehrt, unberechnet, unverbildet, unverdorben, unschuldig, treu- herzig, harmlos, bieder, gesund, frisch, lauter, wahrhaftig, schlicht, gemeinverständlich, einfach, einfältig; aber da kam ich schon in die Brüche. Einfältig: das konnte ganz nach Belieben „tumb" im guten altdeutschen Sinne oder „dumm" im neudeutschen schlechten bedeuten, konnte kindisch so- wohl wie kindlich heißen, unvernünftig wie un vernünftelt. Und freimütig, unverstellt, wahrhaftig: kann das nicht un- verschämt und frech, ungeschlacht, grob und plump er- scheinen? Unwillkürlich: ist das nicht unter Umständen richtiger unfreiwillig zu nennen, in einem recht lächer- lichen Sinne? Unberechnet richtiger unüberlegt, unbesonnen, unbedacht, unverständig? Hat nicht jegUches Tun etwas Triebhaftes, auch die durchtriebenste Künstelei?! Wird nicht gemeinverständlich und schlicht genannt, was oft schlechterdings nur gemeinplätzig ist! Kann das Unge- künstelte nicht das Kunstlose sein, und das Kunstlose das Un- kimstlerische ! Und der Unverbildete: ist er nicht meistens oder der Biedermann wohl stets auch ungebildet, un- gesittet, ungeschickt, unfein, täppisch, verlegen, also durchaus nicht ungezwungen, sondern eher verbohrt, beschränkt, befangen! etwa was die Franzosen bete titulieren.

Das Alles also, sagte ich mir, kann hinter dem Naiven stecken. Ich war ausgegangen von unbefangen und war bei befangen angelangt ; das grenzte doch arg ans bewußte Unbewußte. Ich war naiv genug gewesen, meinen ge-

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sunden Menschenverstand zu befragen, und war anscheinend auch noch naiv genug, mich nun von ihm genarrt zu fühlen; ich kam mir ein bißchen als deutscher Michel vor. Natürlich begann mein Instinkt nun erst recht nach der Erkenntnis zu begehren, bis zu welchem Grad ein Genie sich erlauben darf, naiv zu sein oder aber zu bleiben; denn es könnte ihm ja der Kulturberuf obhegen, oder vielleicht sogar der Naturberuf, sich selber gewisse Naivi- täten um des menschlichen Selbstbewußtseins willen ver- nünftigerweise abzugewöhnen. Und da ich mich trotzdem, wie gesagt, von meiner bewußten Vernunft genasführt fiihlte, so mußte ich wohl oder übel nun doch versuchen, das Unbewußte zu Rate zu ziehen.

Also beschloß ich, auf spiritistischem Wege ein von der kultivierten Menschheit offiziell als naiv anerkanntes Genie aus der Geisterwelt herbei zu zitieren, sei es nun aus der Unterwelt oder aus einer Überwelt. Am liebsten hätte ich selbstverständlich den Vater Homer heraufbeschworen; aber der war schon so lange tot, daß womöglich auch sein Geist nicht mehr lebte oder sich schon in irgendeine un- erreichbare "Welt verflüchtigt hatte. Wer blieb da übrig als der Altmeister Goethe, der von sämtlichen deutschen Pro- fessoren als das Non-plus-ultra moderner Naivität wie klas- sischer Kultur deklariert war, überhaupt als ein Muster an Harmonie; bei Shakespeare war die schon zweifel- haft. Also ließ ich mir den Geist Goethe kommen.

Es ist das bei weitem nicht so schwierig, wie man ge- meinhin zu meinen geneigt ist. Man braucht nur ein gewisses Wissen von einem solchen Geist zu besitzen.

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wenigstens dem Namen nach, dann ist man bereits be- sessen von ihm; man braucht dann dies Wissen nur zu vergessen, d. h. das Bewußtsein dieses Wissens, sodaß nur das Unterbewußtsein noch weiß, von welchem geistigen Überbewußtsein man selbstvergessen besessen ist, und dann läßt man sozusagen im Schlaf diesen überbewußten Geist aus sich reden, der dadurch natürlich vollkommen er- wacht. Die Wissenschaft nennt das Somnambulismus oder autosuggestive Hypnose und läßt es gewöhnlich durch ein Medium hysterischen Charakters besorgen. Das ist aber erstens sehr umständlich, denn man muß dem Me- dium immer erst die zweckentsprechende Suggestion zur Autosuggestion beibringen; zweitens auch sehr unzuver- lässig, denn das Medium naiv wie es ist verwechselt leicht sein hysterisches Unterbewußtsein mit dem genialen Überbewußisein und schwindelt dann dummes Zeug zu- sammen; drittens auch noch recht kostspielig, von wegen der Nervenheilanstalten. Man kommt bequemer, besser und billiger weg, wenn man sich selber auf einige Zeit seines Selbstbewußtseins im Geiste entäußert; nötigenfalls durch etwas Weingeist. Man darf dabei nur nicht unter- lassen, die Autosuggestion darauf einzurichten, daß man sich an die Äußerungen seiner geistvollen Selbstentäuße- rung nachträglich noch zu erinnern vermag.

Das tat ich denn auch und merkte alsbald, yne sich Goethens Geist auf mich niederheß. Oder vielmehr: zu mir herabließ. Denn er schwebte vor mir in einem so- lennen, bis an die Kravatte zugeknöpften, goldgestickten Ministerfrack, mit einem großen Stern auf der Brust, und

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ließ ein höchst unwirsches Räuspern vernehmen. Ich, tief benommen, räuspre mich gleichfalls. Darauf ER, mit gänzlich tonloser Stimme: Ich bin zur Stelle; was wün- schen Sie?

ICH, mit ganz ebenso tonloser Stimme : Euer Excellenz wollen gütigst verzeihen, daß ich mir so im Geist unter- stehe, Ihre erhabene Ruhe zu stören. Aber es handelt sich um die Entscheidung einer ungemein bedeutenden Frage, nämlich ob die geniale Natur eine im Sinne Euer Excellenz wie der übrigen Wirklichen Geheimen Räte der ewig bildungsbeflissenen Menschheit harmom'sche Kultur zu erlangen vermag, sobald sie nur ihren produktiven Instinkt, speziell das poetische Talent, völlig naiv gewähren läßt.

ER, merklich seinen Unmut bezähmend: Da müssen Sie unsem höchst schätzbaren Freund, den Herrn Hofrat Professor v. Schiller befragen.

ICH: Euer Excellenz wollen gütigst glauben, daß ich des Herrn v. Schiller unsterbliche Werke, insbesondere seinen berühmten Traktat über naive und sentimentalische Dichtung, mit meinen bewußten Geisteskräften fast ebenso sorgfältig durchstudiert habe wie Euer Excellenz eigene Schriften. Allein ich hojBFe mir unbewußt eine klarere Aufklärung zu erwirken, als ich aus diesen Erzeugnissen eines weiland vernünftigen Seelenlebens zeitweilig zu ge- winnen vermochte. Denn es werden in gegenwärtiger Zeit, was Euer Excellenz verewigtem Geist vermutlich nicht bewußt sein wird, die Begriffe „naiv" und „senti- mental" nicht mehr so gegensätzlich empfunden, wie Herr Professor Schiller sie nahm. Vielmehr erscheint den

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Geistern von heute diese heftige Gegeneinanderstellung als triebhafter Ausdruck einer Zeit, die ungleich gefühl- voller war als die jetzige und deshalb auf eine heilsame Selbstzucht wider ihre Empfindsamkeit überaus scharf be- dacht sein mußte. Jetzt ist als Gegensatz zum Naiven eher das Raffinierte verrufen, das Problematische, Mystische, Kapriziöse, Preziöse, Bizarre, Ironische; und wo der Herr Hofrat V. Schiller beinahe geneigt war, das Graziöse für das Naive zu nehmen, wird heute von manchem höchst treflFlichen Volkserzieher das Brutale an dessen Statt ge- schätzt.

ER, etwas weniger an sich haltend: Es scheint, die Be- griffsverwirrung in Deutschland ist bis zur trübesten Gä- rung gediehen.

ICH: In der Tat befinden sich seit Jahrzehnten alle Be- griffe in solcher Gärung, daß gemäß den natürlichen Bildungsgesetzen wohl endlich die Klärung eintreten wird. Euer Excellenz dürfen überzeugt sein, daß dieser gedeih- liche Prozeß, der nach Meinung der vorgeschrittensten Geister von Excellenz selber inauguriert ist, zugleich auch den unterbewußten Beweggrund meines überbewußten Anliegens bildet. Es kann sich wohl Niemand mehr ver- hehlen, daß Herrn v. Schillers gestrenge Begriffsscheidung, so sehr sie auf wirklichen Unterschieden zwischen gewissen Kunstwerken ruht, ihre ausschließende Geltung einbüßt, sobald sie auf die volle Natur eines ganzen Künstlers be- zogen wird. Wie Excellenz selbst schon in den Ge- sprächen mit dem jungen Herrn Eckermann bemerkten, daß keinerlei sentimentale Dichtung irgendwelchen Bestand

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haben kann, die nicht aus einem naiven Gefühlsgrund gleichsam hervorgewachsen ist, so dürfte auch kein im Sinne Schillers naiver Dichter zu finden sein, der ohne senlimen talische Mitgift ein menschliches Herz zu erobern vermöchte. Weswegen denn Schillers sentimentalstes Ge- dicht — „seid umschlungen, MiUionen" heute für sein naivstes gilt, manchem Renner sogar für allzu naiv; und daß bei Homer die Pferde weinen, gar aus Trauer um den Tod eines Menschen, das ist eine solche Naivität, wie kein moderner Poet verlautbaren dürfte, ohne von sämt- lichen Rezensenten als ein lächerlich hypersentimentaler Naturverlälscher gebrandmarkt zu werden.

ER, immer mehr aus seiner Zurückhaltung tretend: Also erfrecht der gemeine Verstand sich bereits, den griechischen Edelmut zu bekritteln?

ICH: Der kritische Disput um die Griechen ist aller- dings im letzten Jahrhundert dermaßen gemeinverständ- lich geworden, daß ihre überaus edle Gemütsart nun den weitesten Kreisen zur Kenntnis liegt und mehr denn je- mals gepriesen wird. Aber zugleich ist bekannt geworden^ daß die Antike zu keiner Zeit so idealiter naiv war, wie Herr Professor Schiller noch mutmaßen durfte, daß ins- besondere neben Homer der Dichter Archilochos gleich hochgeschätzt war, den man nach aller Forschung durch- aus für einen SentimentaHker ansprechen muß, einen elegischen Ironiker vom dämonisctien Schlage des JLords Byron, des erlauchten Freundes Euer Excellenz. Auch hat sich bestätigt, was Excellenz ahnten, daß nämlich der Dichter, der die Balladen der homerischen Tradition in

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die zwei großen Epen organisierte, kein plötzlich empor- geschossener Sprößling eines kindlich urwüchsigen Zeit- alters war, sondern der langsam gereifte Früchtling einer freilich noch primitiven, aber schon äußerst regulierten Kultur. Und wer den Homer einmal daraufhin lesen will, wie deutlich in seinem epischen Kosmos menschliche Ordnung und göttliche Willkür allenthalben kontrastiert sind, der wird auch bei diesem beschaulichen Ahnherrn ein gut Teil Ironie entdecken und denselben merkwüi'digen Hintersinn gegen eine verblühte Naturreligion zu Gunsten neu keimender Humanität, der einige Jahrhunderte später in den Tragödien des Aschylos mit sentimentalster Leiden- schaft auftrotzt. Ist das nun blos naiver Instinkt, oder ist es intelligente Tendenz? Spricht nicht aus allen Kon- flikten der Griechen ein problematischer Auf klärungskampf um Freiheit und Gerechtigkeit, der sich schließlich bei Euripides zum raffiniertesten Pathos zuspitzt und zugleich bei Aristophanes zur kapriziösesten Persifflage?

ER, sichtlich zur Erwägung geneigt: Im Ernst eine un- gemeine Frage. Und da denn alles Ungemeine auch all- gemeine Bedeutung hat, verlohnt sich wohl eine ernste Betrachtung.

ICH: Haben Euer Excellenz annehmen können, ich wollte mir zum Spaß unterstehen, Ihren verewigten Geist zu zitieren?

ER, mit gelassener Laune lächelnd: Ich habe den Me- phisto geschrieben

ICH: Und wenn ich Excellenz recht verstehe, haben Sie dennoch auch den Faust schreiben können, samt Gret-

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chen und dem Famulus Wagner, imd die Einen so naiv wie die Andern

ER, von unendlicher Heiterkeit leuchtend: Wie bereits unser höchst vortrefflicher Schiller zu seiner naivsten Ver- wunderung wahrnahm.

ICH: Aber was ist alsdann das Naive, wenn es weder das Sentimentalische noch auch das Problematische aus- schließt? Und wie verträgt sich das Raffinierte damit?

ER, von erhabenstem Wohlwollen strahlend: Wie sich Alles in der Natur verträgt, was mit reinem Willen ein Ganzes fördert. Wie denn auch Einfalt gern die Berech- nung heranzieht, sobald sich der natürliche Sinn in Hin- sicht auf sein Gesamtbefinden nur irgend Vorteil davon verspricht, ob das der kultivierte Geist nun Bauernschlau- heit oder Indianerlist schilt. Und wenn in objektivem Be- tracht das Naive das durchaus Klare ist, in subjektivem das Lautere, wie sollte es dann mit dem Raffinierten, das doch auf deutsch sowohl das Geläuterte wie auch das Ab- geklärte heißt, nicht rein und willig zusammenwirken!

ICH: Inzwischen hat freilich das Raffinierte einen Übeln Nebensinn angenommen und heißt jetzt eher das Abge- feimte, Durchtriebene, Geriebene.

ER, mit erheblicher Ungeduld: So mag es denn auch noch ausgefeimt heißen, sofern es nur nicht betrüglich ist!

ICH: Doch scheint mir dies alles zwar unzweideutig das Naive der Natur zu bezeichnen, aber noch nicht das Naive der Kunst; während doch die geniale Natur, wenn anders mein unterbewußter Verstand meine überbewußte Vernunft nicht betrügt. Beides in sich vereinigen und

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irgend wodurch bemessen muß, um harmonisch und kul- turell zu wirken. Denn etwa zu sagen, daß jeder Künstler auf seine besondere Art naiv sei, das würde doch fast schon nichtssagend sein.

ER, den obersten Knopf seines Frackes lüftend: Da dürfte denn wohl das Problema stecken. Indessen war es nie meine Art, mich mit abstrakten Spekulationen um widerspruchsvolle Begriffe zu plagen; wir wollen lieber ein Beispiel betrachten, das auf das Naive ein zwiefaches Licht wirft. Es ist da unlängst in der Geisterwelt ein Herr Professor Nietzsche erschienen, der mir mit über- aus gütigem Eifer eine Aufmerksamkeit erweisen wollte, indem er zuvörderst auf die Autoren des Neuen Testa- mentes schmähte, dann über Martin Luther herzog und zuletzt auch meinen Freund Schiller angriff, und dies in einem höchst würdigen Stil, der sich teils an dem Evan- gelisten Johannes, teils an dem Apokalyptiker, mehr noch vielleicht am Apostel Paulus, doch zumeist an Luther ge- bildet hatte, und mit einem äußerst gewalligen Pathos, das mich stark an den jüngeren Schiller gemahnte. Das, mein werter Herr Doktor, sehen Sie wohl: das war in beidem Betracht naiv, und war zugleich doch raffiniert.

ICH: Wenn es nicht etwa allzu naiv war. Denn es dünkt mich eine Art Selbstbetrug, war also vielleicht nicht genug raffiniert.

ER, die rechte Hand in den Busen steckend: Ich sehe, Herr Doktor, mein werter Freund Nietzsche hat mich außerdem auch noch trefflich berichtet, indem er mir von der Eindringlichkeit gewisser neuester Dichter sprach.

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Indessen muß wohl alles Naive in einer Art Selbstbetrug beruhen, ohne welche der Anschein entstehen würde, als wolle der welterfahrene Künstler mit seiner Einbildung Andre betrügen. Wie denn auch schon dem kindlichen Spiel eine Lust zur Verstellung innewohnt, die jeder Er- wachsene leicht durchschaut, doch welche ihn umso reizen- der anmutet, je inniger sich die kindhche Seele über diese ihre Schauspielerei in eine artige Täuschung wiegt. Nur ist freilich das Reizende nicht das Bedeutende.

ICH: So müßte denn wohl das höchste Genie, insofern es die klarste Erfahrung bedeutet, über solchen naiven Selbstbetrug in jedem Betracht erhaben sein, ob nun ge- läutert durch Kultur, ob aus natürlicher Lauterkeit.

ER, mit entschiedener Ablehnung: Ich weiß von keinem höchsten Genie! Ich weiß nur von einigen würdigen Geistern, die jeder in seiner Art sich bestrebten, irgend ein Hohes heranzubilden. Wer aber vollkommen erhaben wäre, der dürfte sich wohl erst recht so gefallen, wie die Natur ihn gebildet hat, und sogar auch seine Verblendungen mit ähnlichem Gleichmut in Vogelschau nehmen wie Na- poleon auf Sankt-Helena.

ICH: Doch ist mir an Kunstwerken aufgefallen, daß grade die bedeutendsten Künstler diese Art Selbstanschau- ung nicht pflegten, vielmehr nach einer freien Klarheit über das menschliche Innere strebten, die den blinden Trieb der naiven Natur zum mindesten einschränkt, wenn nicht ausschließt.

ER, mit gemessener Zustimmung: Es könnte sein, daß der blinde Naturtrieb durch Küustlergeist sehend werden möchte.

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ICH: Jedenfalls kann alsdann das Naive nicht den Wert der genialen Natur ausmachen. Sonst müßte, scheint mir, ein Bui'ns einen Byron, ein Claudius einen Goethe aufwiegen.

ER, die Hand aus dem Busen nehmend: Ich muß bitten, mein sehr werter Herr Dehmel, das Persönliche aus dem Spiele zu lassen.

ICH: Doch wird ein erhabener Geist mir nicht wehren, nur des Beispiels halber noch zu bemerken, daß auch bei den anderen hohen Persönlichkeiten der vornehmsten Kulturnationen bei Sophokles wie bei Kalidasa, bei Dante wie Calderon, Shakespeare wie Rabelais, Cervantes wie Swift, Lionardo wie Dürer, Michelangelo wie Rubens wie Rembrandt, Palestrina wie Bach wie Mozart wie Beet- hoven — das Naive überall höchstens die Rolle des rüh- rigen Mägdleins im Königsschloß spielt, wo nicht blos des handlichen Prügelknaben, und meistens zu garkeinem Vor- schein tritt; wohingegen es sich bei vielen sehr reizenden, jedoch nicht eben bedeutenden Künstlern mit breitestem Behagen ergeht und oft ihr ganzes Gedinge beherrscht. Allein den einzigen Vater Homer nennt man immer wieder als Gegenbeispiel, indessen wohl lediglich aus dem Grunde, weil die patriarchalen Kulturprobleme, um die sich die naiven Konflikte seiner merkwürdig sinnreichen Helden drehen, der heutigen Menschheit nichts mehr be- deuten und deshalb gern übersehen werden. Es müßte auch, deucht mir, um die Menschheit unglaublich wider- sinnig bestellt sein, wenn grade die stärksten Künstler- seelen, die doch von dem ewig währenden Kampf zwischen

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Menschenvernunft und blindem Naturtrieb am allerheftig- sten mitbewegt werden, ihre Kraft an ein kindlich ein- fälliges Spiel der trüglichen Sinne verschwenden sollten, anstatt mit männlichem Eigenwillen einen redlichen Aus- gleich jener Zwiespältigkeit wenigstens zeitweilig zu er- wirken. Oder denkt ein hoher Geist anders darüber?

ER, das zweite Knopfloch des Frackes öffnend: Sie sind sich offenbar nicht bewußt, daß aller zeitweilige \^'ert eines Kunstwerkes dessen dauernde Fortwirkung nicht er- klärt, daß folglich nach vernünftiger Schätzung sein löb- licher Inhalt an Kultur dem natürlichen Gehalt wohl bei- geordnet, jedoch nicht übergeordnet werden kann.

ICH: Ich befinde mich allerdings zur Zeit in einer Art unbewußtem Zustand; und ich weiß nicht, ist es unter- bewußte oder überbewußte Sinnentäuschung, daß ein deut- scher Klassiker hier so romantisch redet?!

ER, befremdet: Was für ein Klassiker?

ICH: Dessen Geist mir soeben erst gebot, das Persön- liche aus dem Spiele zu lassen; wohl weil es das vollauf Natürliche ist.

ER, aufs höchste erstaunt: Ich ein Klassiker??

ICH: Von der ganzen Nation heute so genannt! Sollte das in der Geisterwelt unbekannt sein?

ER, mit Mühe seinen Verdruß beherrschend: Da habe ich nun den deutschen Barbaren zeit meines Lebens ins Ohr geblasen, daß klassische Nationalautoren in Deutsch- land ein Ding der Unmöglichkeit sind, solange sich dieses unglückselig zerstreute und zerfahrene Volk nicht in allen Stücken zu einer sohden nationalen Kultur gesammelt hat;

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habe wieder und wieder nachgewiesen, daß inzwischen das originale Talent nur auf internationaler Basis eine sichere Haltung gewinnen könne, daß überhaupt die Epoche der Weltliteratur die einzige übrige Möglichkeit für eine glück- liche Bildung sei; und nun kommt diese widerspruchsvolle Horde literarischer Sanskülotten, die mich ehemals an den Schandpfahl wünschte, und will mich zu ihrem Klassiker stempeln! Als ob durch solchen armseligen Selbstbetrug nur irgend ein Wahres gefördert würde!

ICH: Das ist freilich naiv; doch hat sich Deutschland

ER, ohne Achtsamkeit weiterwetternd: Da habe ich mich von Jugend auf durch tausend ungereimte Begriffe und widrig abstrakte Meditationen zu einiger Klarheit hindurchplagen müssen; und statt wahrhafte Anerkennung zu finden, muß ich hier die reizende Botschaft vernehmen, daß ich eitler Prahlhansigkeit zum Deckschild diene! Das ist äußerst unerfreulich, Herr Doktor!

ICH: Euer Excellenz haben zwar vorhin beliebt, ein Gegenteiliges auszusprechen; indessen könnte das W^ider- spruchsvolle, obwohl es gewiß nicht das Wahre ist, doch grade das eigentlich Währhafte sein.

ER, merklich betroffen: W^ie meinen Sie das?

ICH: Wenn Excellenz sich nicht leider verbeten hätten, Ihr Persönliches zu berühren

ER, an dem untersten Frackknopf nestelnd : Es hat mich von jeher nur wohl berührt, wenn mir Jemand gehörig die Wahrheit sagte; das will heißen, mit dem gehörigen Anstand.

ICH: Nun, der Name Goethe gilt eben heute als In-

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begriff deutschen Strebens nach Bildung, nach innerer Sammlung zu äußerer Einheit, nach einer persönhchen Hiirraonie mit dem sozialen Kulturinstinkt.

ER, mit vollständig aufgeknöpftem Frack: Man rede mir nur nicht von Harmonie, bevor man nicht alle Disso- nanzen vernommen und begriffen hat!

ICH: Man hat sie alle so fleißig begriffen, daß heute im neuen Deutschen Reich kein Skribilax zu finden sein dürfte, der seinen absurdesten Feuilletonwitz wie seine banalste Kathederweisheit nicht mit irgend einem bei- läufigen Satz aus Goethes widerspruchsvollen Schriften belegt und sich feierlich auf das Genie beruft.

ER, mit einer Mi( ne leid voller Dumpfheit: So hat man mich eben schlecht begriffen.

ICH: Oder vielleicht nur gar zu gut, nämUch ein wenig zu naiv.

ER, erleichtert, mit einem belustigten Lächeln : Sie scheinen mir recht raffiniert, mein wertester Freund.

ICH: Oh, mein teuerster Gönner, auch ich bin ein Deutscher. Denn inzwischen hat sich unser Volk immer- hin doch auf einen gewissen Grad poHtischer Einheit zu- sammengerafft; und wenn dennoch seine soziale Kultur so zerstückelt wie jemals geblieben ist, so blickt drum jeder Gebildete, und mehr noch der Bildungsbedürftige, mit naivster Ehrfurcht auf eine Persöidichkeit, die ob sie im Einzelnen noch so triebhaft von natürlichen Disso- nanzen bewegt war doch im Ganzen als ein beharr- hches Vorbild für den nicht minder natürlichen Trieb nach harmonischer Kultur vor der Welt steht. Das aber,

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scheint mir, ist eben die Wirkung, die von jedem er- habenen Künstler ausgeht und allen erhebenden Kunst- werken beiwohnt. Mag der Bildungsstand, den sie ent- halten, ein überall zeitlich bedingter sein, so ist doch der ewige Fortbildungstrieb, der diesen Inhalt zusammenhält, ein unbedingt Natürliches, ein allgemein menschlich Not- wendiges, von innerstem Grund aus Wirksames, über Zeit und Volk hinaus Wertvolles. Und ein solcher Wert, so mysteriös und problematisch er immer ist, wird demj doch wohl selbst dem löblichst naiven Spieltriebe überzu- ordnen sein, der sich an seinem jeweiligen Zustand trüg- lich-vergnüglich genügen läßt. Was den Zeitgenossen wie bloßes Stückwerk eines widerspruchsvollen Geistes deuchte, wird der strebsamen Nachwelt den vollen Gehalt einer wahrhaftigen Seele bedeuten, zumal da noch niemals eine Nation ihre jeweils erreichte eigne Kultur für vollkommen harmonisch befunden hat und wohl auch niemals befinden wird, so wenig wie der einzelne Mensch, am wenigsten aber der geniale. Sollte dies nicht, so wahrhaft menschlich es ist, doch vielleicht auch ein gölthch Wahres sein?

ER, mit hellstem Lächeln: So sei es denn! Nur gebe man auch dem Teufel sein Recht; und der war von jeher ein dummer Teufel.

ICH: In welchem Sinne soll ich das nehmen?

ER, schalkhaft nickend: In keinem Sinne! Wohl aber in einem gewissen Verstände, der sich verteufelt betrieb- sam zeigt und den edelsten Bildungstrieb ausarten macht, sofern er nicht im Naiven wurzelt. Man hüte sich vor dei- Reflexion, die den Wurzelboden zerwülilt wie ein Maulwurf!

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ICH: So sollte es wirklich das Nachdenken sein, wo- durch das ursprüngliche Gefühl, das jeden Künstler zum Werke treibt, zuweilen so unhold befangen wird, daß ein Unwirksames daraus entsteht?

ER, immer noch schalkhaft: So könnte es sein.

ICH: Indessen ist mir von einem Dichter, der heute für den naivsten gilt, weil erst Wenige seine originellere, höchst ironische Bedeutung hinlänglich schätzen, von meinem Freunde dem Freiherrn von Liliencron, zu öfteren Malen anvertraut worden, daß er gründlichst über sein Dichten nachdenkt. Ja, ich weiß von einem seiner Gedichte, worin das gewiß recht naive Gefühl einer starken Betrunkenheit dargestellt ist, daß er es sieben Jahre lang in Gedanken herumgetragen hat, bevor es ihm reif zur Abfassung war.

ER, ernsthaft: Dergleichen geschah auch mir oft genug, und wird wohl jedem Dichter geschehen. Nur verkenne man nicht, daß es Zweierlei ist, über Gefühle nachzu- denken oder über die Darstellung von Gefühlen! Das Eine ist die Reflexion des ästhetisierenden Philosophen, das Andre die technische Logik des Künstlers. Die mag und soll er nach Kräften üben; nur behüte ihn eine fromme Scheu, jene Kraft holdseliger Dumpfheit zu stören, womit sich die Seele den Sinnen hingiebt, und wodurch zuweilen ein klares Gebilde so rasch aus dem willigen Geiste hervorspringt wie die Pallas aus dem Haupte des Zeus. Er verharre in seinem bewußtlosen Drange, bis sich das klügelnde Bewußtsein dem sinnreichen Willen unterwirft.

ICH: Also sollte wirkhch der Dichter des Faust, des

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Tasso und der Iphigenie, des Werthers und des Wilhelm Meisters, von den Wähl Verwandtschaften nicht zu reden, nie über Wesen und Art der Gefühle, ihren Wert und Unwert nachgedacht haben? Und wo hängt die Wage zwischen Sinn und Verstand, zwischen Klugheit und Klügelei, zwischen künstlerischer und menschlicher Weis- heit, zwischen Geist und Vernimft, zwischen Dichtung und Wahrheit?

ER, scheu, wie vor sich selbst erschauernd: Bei den Müttern

ICH: Noch aber ragen leuchtend in den Äther die Marmorhäupter der verklärten Väter...

ER, frostig wehrend: Dies Licht ist kalt.

ICH: Und sollte allein die dunkle Wärme dem Wachs- tum des Geistes gedeihlich sein?

ER, das unterste Knopfloch wieder schließend: Doch wird kein Geist die Grenze entdecken, wo Licht und Dunkel einander durchdringen.

ICH: Sollte nicht eben des Künstlers Geist diese Grenze wieder und wieder entdecken? Sollte jenes geisterhaft kalte Licht, das wie ein unfaßbarer Eishauch jedem be- deutenden Kunstwerk entstrahlt, nicht grade das Offen- barende sein, das den dumpfen StoflF erst zum klaren Gebilde, die drangvolle Glut erst zur schaffenden Wärme läutert? Und mag immerhin das Unbewußte der uner- gründliche Mutterboden aller schöpferischen Fülle sein, was tut das über den Künstler dar, über Art und Wert seiner Fähigkeit? Entspringt nicht jegliches menschliche Schaffen, ja die alltäglich gewöhnlichste Arbeit, aus solchem

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geheimnisvollen Antrieb, trotz allem ästhetischen Aber- geschwätz?! Klopft doch sogar der geringste Schuster das Leder mit einer bewußtlosen Kraft; nur wird eben ein schlechter Schuh daraus, sobald er es nicht zugleich recht bewußt über den passenden Leisten schlägt.

ER, mit gleichgiltigem Achselzucken: Es würde wohl auch kein guter Schuh werden, wenn der schlechte Schuster bewußter drauflos schlüge.

ICH : Wenn er besser Bescheid ums Zuschlagen wüßte, wäre er dann nicht ein besserer Schuster?! Und um wie- viel mehr erst der sinnreiche Künstler, der unzählige ein- zelne Schlagfertigkeiten auf ein bedeutendes Ganzes ver- anschlagt! Mag er durch Übung so sicher geworden sein, daß er in rascher Entschiedenheit kaum noch um all seine Kunstgriffe weiß; aber was lenkte ihn bei der Übung, was sichert seinem Griff die Bestimmtheit, wenn nicht der herrschende Gedanke, der all die behebigen Bild- gefühle auf irgend ein sinnvoll Notwendiges richtet! Liegt da nicht einfach die Folgerung nahe, daß sich jeder Künst- ler und sonstige Schöpfer vor andern Menschen nur da- durch auszeichnet, in welcher Art und in welchem Umfang das bisher Unbewußte bei ihm bewußt wird! Warum gelingt keinem unreifen Künstler ein Werk von wahrhaft voller Bedeutung, wohl aber manchem Wunderkind manch allerliebstes reizendes Ding von wirklicher Vollkommen- heit? Ich glaube, weil sein Geist noch nicht ausgebildet, sein Gemüt aber schon durch geistige Erbschaft für klare Gefühle vorgebildet ist. Da mag ihm denn in holdsehger Dumpfheit auch wohl einmal etwas Sinniges glücken, das

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er höchst naiv seinem eigensten, blos sogenannten Mutter- witz zuschreibt; ist aber in Wahrheit Väterweisheit, tiefst raffiniert im Liebeskampf mit der gern empfängÜchen Mutter Natur.

ER, halb gelangweilt, halb gereizt: In diesem Verstände könnte es hingehen. Nur erspare alsdann die brave Ver- nunft sich erst recht die überflüssige Mühe, dem Gemüt in sein Tiefstes dreinzureden! Mag der Gedanke sich hinter das Sinnliche stecken, damit jedes scheinhaft Ein- zehie planvoll aufs ganze Wesen deutet; aber er macht sich unerträglich, sobald er die Gefühle belästigt, die dieses Ganze tragen und halten.

ICH: Doch scheint es mir schwach um Gefühle bestellt, die keinen starken Gedanken aushalten. Bei Shakespeare strotzt selbst der Narr von Gedanken.

ER, ganz gereizt: In der Tat, er strotzt! Das dürfte denn wohl das Närrische sein!

ICH: Und der weise Hamlet, der doch nur halb ein Narr ist? hängt nicht sein ganzes Gefühl von Gedanken ab? Ja, ich getraue mich nachzuweisen, daß das gesamte Kunstwerk „Hamlet" auf einem bestimmten Gedanken- grund steht, um den der Dichter gewußt haben muß.

ER, stutzig: Da wäre ich aber warlich gespannt. Sie sind überaus eigensinnig, Herr Doktor!

ICH: Nur in Euer Excellenz eigenem Sinne. Denn wie Excellenz selbst einmal kommentierten, wollte Shake- speare hier eine Seele schildern, die eine große notwendige Tat pflichtbewußt auf sich nehmen will, ohne der Tat gewachsen zu sein; kurz, einen edelmütigen Menschen,

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der nur leider Gottes durchaus kein Held ist. Nun liegt es jedoch, wie Excellenz gleichfalls und mehr als einmal dar- gelegt haben, nicht im Wesen des bedeutenden Dichters, ein lediglich Negatives zu zeigen; wenn sich also das Posi- tive hier nicht in dem sogenannten Helden des Dramas findet, muß man es wohl in dem Drama selbst, d. h. in dem Ausgleich der andern Personen mit dem unheldischen Helden suchen. Und in der Tat sehen wir jeden Charakter, der neben Hamlet die Handlung fördert, auf diese Er- gänzung hin angelegt: zu Anfang den Geist des heldischen Vaters, zum Schluß den lebendigen Helden Fortinbras, in der Mitte den verbrecherischen Dreiviertelshelden Claudius, den echten Mann Horatio, das unreife Übermännlein Laertes, und als den Nullpunkt für diese ganze Skala positiver Energie den wohlweisen Schwächling Polonius, gegen welchen selbst der passive Hamlet zu einem ge- wissen Grade aktiv wirkt. Da muß sich denn wohl der Gedanke aufdrängen, der Dichter habe in dieser Tragödie das dem vornehmen Sinn seiner Zeit gemäße Problem der heroischen Tendenz vom Grunde aus behandeln wollen, nach Art wie Abart, Wert wie Unwert, zumal wenn wir auch seine anderen Werke auf solche seinen Zeitgenossen erbauHche Grundgedanken gestellt sehen, auf die Probleme des Aristokratismus, Nationalismus und Humanismus, von den psychologischen ganz zu schweigen. Nur war er freilich raffinierter Künstler genug, uns derlei interessante Tendenzen nicht mit solchem naiven Pathos ins urteils- lose Gemüt zu schleudern, wie dem populären Genie unsers Schillers beliebte; sondern als feinerer Menschen-

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kenner sehr oft bis zum Cynismus fein blieb er sich überall bewußt, daß diese geistigen Rätselfragen die Seele umso nachhaltiger fesseln, je unlöslicher sie dem Verstände scheinen, verfädelt unter ein buntes Gewebe Ton dunkeln und hellen, dumpfen und klaren Gefühls- und Sinnestäuschungen. Mag es schon halbwegs echte Verrücktheit sein, wenn man wie Hamlet Wahnsimi heuchelt, so wäre es sicherUch ganzer IiTsinn, wollten wir drum auch dem Dichter zutrauen, er habe sich ebenso selbstbetrogen und nicht vielmehr genau gewußt, warum er uns über diesen Zustand seines problematischen Prinzen in deutungsvollem Dunkel läßt. Sollte er das nicht ein- fach gewollt haben, um uns recht sinnfällig anzudeuten, wie durch einen launenhaft unklaren Willen selbst die klarste Vernunft der edelsten Seele in grausige Unvernunft zu entarten droht?!

ER, wieder die Hand in den Busen steckend : Ich sehe, mein Freund, Sie verstehen es, eine Sache von vielen Seiten zu nehmen. Und freilich tut es, wie im Leben, so auch in der Kunst unter Umständen gut, wenn man Andere über sein Innerstes täuscht. Doch was einem Geist wie Shakespeare bewußt war, ohne daß es ihm Schaden tat, könnte minder kräftige Geister behindern, ihre Gefühle wirksam von sich zu geben.

ICH: Es wäre wohl kein sehr schlimmer Schaden, wenig- stens nicht für andere Leute, wenn solche Geister ihre Gefühle ganz und gar für sich behielten.

ER, mit ergetztestem Behagen: Das war äußerst naiv geurteilt, mein Teurer!

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ICH: Wenn man sieht, wie sogar der simple Homer gegen den naiv brutalen Achilleus den raffiniert dolosen Odysseus ausspielt, wie er diesen Kontrast zwischen In- telligenz und Instinkt noch mit allerlei Paralielpersonen durch beide Epen hindurch unterstreicht, vom rasenden Ajax und weisen Nestor bis zum ochsenhaft rohen Poly- phem und hündisch verschlagenen Thersites, von den toll- dreisten Lustweibern Helena und Circe bis zu den sittig klugen Frauen Andromache und Penelope: kann da irgend ein geistvoller Kopf noch glauben, das sei alles blos aus bewußtlosem Drange so auf gut Glück zusammengedichtet?

ER, sichtlich des trockenen Tones satt: Credo quia ab- surdum est.

ICH: In der Tat, dieses mystische Mäntelchen um den Busen des gottbegnadeten Sängers rührt wohl noch aus den dunkeln Zeiten her, wo sich der Dichter in Einer Person mit dem Priester oder König zusammenbefand. Da mußte der Volksredner, der er war, wohl nolens volens darauf bedacht sein, die Menge durch einiges Zauberwesen in ein dumpfes Staunen vor seiner Kunst zu versetzen; war wohl auch selber noch dumpf genug, sich abergläubisch darob zu bewundem.

ER, den Stern auf seiner Brust zart berührend: Wie denn auch dieser Orden, Freund, nur eitel Tand und Blendwerk ist, und bedeutet doch ein höchst Würdiges. Ein barbarischer Putz aus rohester Zeit her, und hängt nun als Mahnzeichen zuchtvollen Strebens auf dem Ge- wände der feinsten Gesittung.

ICH: Und wenn denn die löblich gläubige Menschheit

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nicht ohne etlichen Hokuspokus auf ihrer Wurde bestehen kann, warum dann die seeUsche Dumpfheit vergöttern, warum nicht die geistige Erleuchtung? Als ob unser hochbestrebtes Bewußtsein nicht zum mindesten ebenso rätselhaft, geheimnisvoll und wunderbar wäre, wie das tiefste drangvollste Unbewußte, das uns mit jedem Kohl- kopf gemein ist! Als ob nicht dieses erst durch jenes in seiner besonderen Fülle erfaßt, ins Eigentümliche durch- gebildet, ins allgemein Wertvolle ausgestaltet, ins mensch- lich Bedeutsame umgeformt würde! Was hat denn dem Menschen seine Bedeutung vor Tier und Pflanze und Stein erschlossen, wenn nicht die Entwickelung des Be- wußtseins, mag sich das nun Vernunft oder Geist, Ver- stand oder Sinn, Gedanke, Witz, Intellekt, Idee, Reflexion oder Logik taufen! Und zeigt nicht die ganze mannig- fache Formenfolge der Lebewesen ein stetes Stufen- streben der Geisteskraft, sich immer wahrnehm- barer auszugestalten?!

ER, bedächtig den untersten Frackknopf drehend: So meinen Sie denn, der naive Impuls sei nur etwa der Pulverkraft vergleichbar, die hinter einem Feuerwerk steckt?

ICH: Allerdings, ohne Pulver kein Feuerwerk; aber in unverständiger Hand verpufft das Pulver und blendet blos.

ER, in Gedanken den Knopf abdrehend: Hm unter solcher Beleuchtung betrachtet, läuft freilich das löbliche Gerede über den dunkeln Drang des Künstlers am Ende auf den Gemeinplatz hinaus, daß eine Schöpferkraft da- sein muß, wenn eine Schöpfung werden soll.

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ICH: Auch scheint mir dieser dunkle Drang, wenn anders mich die Erfahrungen aus meinem bewußten Da- sein nicht täuschen, in seinem jeweihgen Denkzustand durchaus nicht so holdsehg zu sein, wie er sich später in unserm Gedächtnis ausnimmt, das jeden vergangenen Zu- stand geistig verklärt ; sonst würde der Künstler wohl kaum geneigt sein, sich diese Dumpfheit jedesmal so rasch wie möglich vom Halse zu schaffen. Ich wenigstens fühle mich in der Regel durch solche holde Gedankendrangsal so un- ausstehhch bedrückt und befangen, wie der Homunkulus in der Retorte oder Helena im Hochzeitsgewand.

ER, wieder vollständig aufgeknöpft, steckt lachend den Knopf in die Westentasche: Es freut mich. Teuerster, wie Sie das sagen, mit solchem holden Eigensinn. Indessen ist mir doch aufgefallen, daß Sie fortwährend in überaus freundlicher, jedoch nicht eben ganz glücklicher Weise bei unserm Gespräch darauf bedacht sind, nach Art meiner späteren Schriften zu sprechen ; und es war mir von jeher das höchste Vergnügen, wenn sich ein eigen wiUiger Geist auch einer eigenen Sprache bediente.

ICH: Und darf ich dann fragen: Heinrich v. Kleist??

ER, augenbhcks heftigst die Stirn runzelnd: Ich sprach vom beherrschten Eigenwillen!

ICH: Sein Leben mag haltlos gewesen sein; aber wohl nur, weil er alle Kraft an die Selbstbeherrschung als Künstler setzte.

ER, voller Zorn auf den Fußboden stampfend: Dieser junge Mann war unbedenklich genug, sich dem Dämon in die Arme zu werfen, dem ich selber zeitlebens behutsam auswich!

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ICH: Das hat der Lord Byron auch getan! und Goethe hat ihn dafiir bewundert!

ER, herrisch auf meine Tischplatte klopfend: In Byron war's Kraft, ihn riß Heldenmut fort; der Andre erlag seinem mystischen Drang wie ein ungesund schwächliches Frauenzimmer.

ICH: Er hat uns als Dichter Helden enthüllt, an die keine Heldentat Byrons heranreicht.

ER, mit noch stärkeren Klopflönen: Er hätte euch wohl noch mehr enthüllt, wenn man ihm Mannszucht hätte ein- treiben können. Er hatte das Zeug zu einem Shakespeare, wenn er kein Hamlet gewesen wäre. Er strebte nur heldisch, sobald man sein Selbstbewußtsein mit härtestem Stachel zum Trotz aufreizte; er war nicht über sein Schicksal erhaben.

ICH: Er war es immerhin bis zu dem Grade, daß er das alles im Prinzen von Homburg mit klarster Erkenntnis dargestellt hat.

ER, immer noch mit umwölkter Stirn: Und da hatte der Dämon sich erschöpft!

ICH: So wäre denn dieser bedeutende Künstler seinen Instinkten allzu naiv gefolgt?!

ER, mit verteufelter Anerkennung: Sie sind wirklich gründlichst raffiniert, werter Freund!

ICH: Ich bin in der Tat über derlei Dämonen ein wenig durch eigne Erfahrung gewitzigt. Ich wurde in meinen unreifen Jahren von allerlei krampfhaftem Spuk heimge- sucht, wie man das fast jedem ki*aftvollen Geist mit biederem^ Gi-useln als krankhaft nachsagt, und wie ja auch Sie, ver-

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ehrtester Genius, mehrfach von sich berichtet haben. Ich entdeckte jedoch, daß sich diese Visionen, Somnambulismen und Katalepsieen immer nur einzustellen pflegten, wenn meine Vernunft nicht bei vollen Kräften war, infolge von Geldnöten, Katzenjammer, Liebesgram und dergleichen mehr, oder weil ich als naiver Fant meine poetische Phan- tasie leider oft zu holdselig faullenzen ließ; also gleichsam wie mahnhaft anpochende Boten aus einer ratlosen Unter- welt, die über ihr Bestes bewußt werden wollte. Ich habe mir dann durch Selbstbeobachtung, Willensgewöhnung und Kunstausübung all das gespenstisch aufdringliche Wesen nach und nach vom Leibe geschafft, ohne jede medizinische Quacksalberei; und jetzt besuchen mich solche Klopfgeister nur noch, wenn ich sie eigens herbeizitiere.

ER, aufgeräumt: Zu Befehl, Euer Liebden; ich danke für die lange Audienz.

ICH: Während ich aber in jenen Jahren ein dumpf verdüsterter Jüngling war, dessen Haar sich dunkler und dunkler färbte, und der zumeist nichts weiter tat als sich und Andre gefühlvoll betrügen, seine GeHebte obenan, bin ich nun, wo ich grau zu werden beginne, wieder so emsig und wohlgemut wie in meiner hellblondlockigen Kindheit.

ER, wunderlich durch mein Zimmer blickend : Da mache ich Ihrer jetzo Frau Liebsten mein allerartigstes Kom- pliment.

ICH: Ich habe durchaus nicht im Spaß gesprochen!

ER, von reinster Beschaulichkeit verklärt: Auch ich nicht, "Verehrter; ganz mid gar nicht. Es muß wohl ein

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jeder ki-äftige Künstler zu einer zweiten Naivität erwachsen, die sich zu seiner ersten verliält wie das aufmerksam hin- gebungsvolle V\eib zur unbequemlich kopfscheuen Jung- frau. Wie nun freilich die gewöhnliche Frau nie von ihrer beschränkten Eitelkeit läßt, so verharren auch die meisten Künstler bei ihrer ersten Naivität und verflachen in eine triviale Manier. Noch um vieles halsstarriger aber benimmt sich die dämonisch okkupierte Natur, die denn auch besser dem Helden ansieht, dem Abenteurer und Volksführer, dem poUtischen oder religiösen Redner, als dem künst- lerisch aufwärts strebenden Dichter, dem freien Eroberer des Lebens, der dem Wandel der Welt wie der eigenen Seele unbefangen willfahren muß, mit einer überlegenen Ruhe. Da wird denn natürlich, um diese Ruhe bis ins drangvolle Innerste auszudehnen, auch die Vernunft je tiefer je stärker manch tüchtiges Wort mit dreinreden müssen; und wenn da dem männlich ringenden Geiste noch ein vernünftiges Weib beispringt und ihm gleichsam als ein artiges Vorbild willfähriger Herrschaft zu dienen weiß, da darf man ihm wohl im Ernst gratulieren.

ICH: Und er darf sich mit heiterem Dank bewußt sein, daß dieser Glückwunsch ins Centrum des Lebens trifft, und somit auch unseres Kunstgespräches.

ER, immer verklärter um sich blickend : Wir sprechen wohl einst noch gewisser darüber

ICH: Doch ist uns schon jetzt zu Bewußtsein gekommen, daß zwar das naive Gemüt die Axe ist, an die auch die genialste Natur mit allen Trieben gebunden bleibt, und deren einer Pol ins Dämonische, der andre ins Triviale

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verläuft; daß aber die geistige Reflexion die form- bestimmende Triebkraft ist und umso harmonischer auf die Kulturwelt einwirkt, je energischer der gestaltende Sinn das Tiefste der Persönlichkeit auf ein centrales Gleich- gewicht ordnet

ER, geisterhaft in die Höhe wachsend: Und rings um ihn kreisen die Himmelsbilder und die Planetensysteme des Äthers samt allen Meeren und Inseln des Erdballs

ICH : Und die Menschheit wird endlich jeglichen Genius so natürlich dankbar entgegennehmen, wie er aus voller Natur sich giebt, auch wenn er nicht erst ein Alter wie Goethe erreicht, sondern jung wie Kleist zu den Vätern dahin muß

ER, spukhaft aus weiter Feme lachend; Sie sind in der Tat höchst naiv, lieber Dehmel

Und mit diesen Worten versetzte er mir einen väterlich derben Nasenstüber, der mich aus meiner hypnotischen Situation in jenen bewußteren Zustand zurückbugsierte, worin die Dichter zu arbeiten pflegen. Seitdem aber bin ich von allen Skrupeln über das wahrhaft Naive kuriert.

DAS RÄTSEL DES SCHÖNEN

Ein Dohtorihema

„Das Rätsel des Schönen" ist bekanntlich bis zum heutigen Tage noch nicht gelöst; und einem armen Mann wie Hamlet macht es darum wirklich Freude, daß die

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Gelehrten sich noch immer die Köpfe darüber zerbrechen. Diesmal freute ich mich ganz besonders, denn das Opus, das mir unter jenem rätselvollen Obertitel eine „Studie über die Prinzipien der Ästhetik" verhieß, war nicht zu dick, und neben dem Verfassernamen er tut hier nichts zur Sache stand die Bemerkung: Doctor Philosophiae, Assistent am physikalischen Institut der Universität. Da gab es also hoffentlich etwas „Exaktes".

Meine Hoffnung wuchs durch die Vorrede. Zwar schwor sich der Herr Doktor auf die Systeme von Kant und Spencer ein und fühlte sich gedrungen, auch sonst noch „viel Bekanntes" vorzutragen, aus Aristoteles, Lessing, Schiller, Fechner, Helmholtz usw. Aber es ist ja stets erfreulich, gute Bekannte zu begrüßen, und obendrein verhieß der Herr Verfasser doch sehr viel Eigenes, z. B. eine „tiefgehende Unterscheidung" im Bereich der Asso- ciationen, eine „neue Einteilung der Künste" und ein „Fundamentalgesetz" über die Verbindung mehrerer Künste zu einer Gesamtwirkung. Und das alles nur zu dem Zweck: „die Künstler, Kritiker und Kunstliebhaber zu weiterem, eigenem Nachdenken anzuregen, gleichgiltig ob in zustimmendem oder widersprechendem Sinne". Wirklich höchst erfreulich!

Das Buch regte mich in der Tat zu eigenem Nach- denken an über seine Einleitung. Sie ist gradezu mustergiltig für die Kunstgelahrtheit unsrer Zeit, und vielleicht sogar aller Zeiten.

Da wird zunächst der metaphysischen Spekulation heim- geleuchtet, mit ihren „allumfassenden Theorieen", ihren

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„weitgreifenden Hypothesen". Die seien nur „dogmatisch formuliert, ohne das Bewußtsein ihrer Willkürlichkeit"; sehr richtig! Ein Hauptkennzeichen ihrer Methode, ins- besondere auch in Dingen der Ästhetik, sei die „unberech- tigte Trennung von zusammengehörenden Begriffen und Erscheinungen"; abermals sehr richtig! Schelling, Hegel, Vischer werden kaltgestellt; sehr tüchtig! Selbst Goethe wird als Metaphysiker entlarvt; abermals sehr tüchtig! Nur Schopenhauer wird umgangen; sehr vorsichtig!

Jene Ästhetiker alten Schlages hätten in dem Wahn gelebt, ein Kunstwerk könne, ja müsse gesondert von seiner A^ irkung auf den Genießenden betrachtet und er- forscht werden ; die Kunst sei in und an sich selbst voll- kommen wie die Natur, die Wirkung nach außen sei nur etwas Zufälliges. Ganz anders die (Verzeihung, deut- scher Leser! das Wort ist nicht von mir) „positivisti- sche" Wissenschaft. Sie weiß, daß eine Betrachtung, ge- sondert vom Betrachter, unmöglich ist, und daß wir über ein natürliches Ding, also auch über ein Kunstwerk, im Grunde stets nur aussagen können, wie es auf und in uns wirkt, nicht was es an und für sich ist. Demnach sei auch die Erforschung des „Schönen" das Wort ist stammverwandt mit „schauen" ohne Voraussetzung eines Zuschauers unbewußte Selbsttäuschung.

Und nun überfällt uns der positivistische Herr Doktor mit folgenden Sätzen: „Unter dem Zuschauer ist zu ver- stehen ein Durchschnittsmensch, begabt mit normalen Geisteskräften und der einer bestimmten Epoche eigen- tümlichen Bildung; es gibt viele solche, und an sie

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wendet sich der Künstler (sie!) mit seinen Schöpfungen. Die für ein Kunstwerk charakteristische Wirkung auf diesen Normalzuschauer tritt mit Notwendigkeit ein; sie ist bei allen Zuschauern die gleiche." Ich habe nichts am ^Vbrtlaut geändert; nur die Sperrungen sind von mir.

Hand aufs Herz, Herr Doktor, Philosoph und Physiker: ist dieser Ihr Normalzuschauer nicht „dogmatisch formu- liert"?! Ist er vielleicht gar ein Abkömmling der Schopen- hauerschen Einbildung vom genialen Normalmenschen? Bios: Schopenhauer hatte das „Bewußtsein ihrer Will- kürlichkeit", und das scheinen Sie nicht zu haben.

Oder sollten Sie sich wirkHch unter Ihrem Durch- schnittsmenschen, da Sie doch behaupten, daß es „viele solche" gibt, den großen Haufen der sogenannten Ge- bildeten mit ihrem sogenannten gesunden Menschen- verstand vorstellen? Glauben Sie tatsächlich, daß es einen Menschen mit „normalen Geisteskräften" gibt, der die ganze „seiner Epoche eigentümhche" Bildung besäße, sie überhaupt sich anzueignen vermöchte? Nein, Herr Doktor: solchen Durchschnittsmenschen hat es nie gegeben, solche Geisteskräfte waren stets sehr unnormal!

Oder stellen Sie sich etwa unter der eigentümlichen Bildung einer bestimmten Epoche ganz etwas Anderes vor als ich? Etwa gar die jämmerliche Zweifünftelbildung, die dem Normalzuschauer unserer Epoche eigentümlich ist?! Und an diese „Vielen" Vielzuvielen, sagt Nietzsche wende sich der Künstler mit seinen Schöpfungen?? Sie scheinen nette Begriffe vom Künstler zu haben.

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Aber ich will christlich sein; vielleicht hat sich der „tief- gehende" Herr nur oberflächlich ausgedrückt. Vielleicht hat er nur sagen wollen, auf diese vielen Normalzuschauer wirke der Künstler mit seinem Werk, und die Art dieser Wirkung kennzeichne das Werk, weil so meint der Herr Doktor weiter die dem Kunstwerk eigentüm- liche Wirkung bei „allen" Normalzuschauem „mit Not- wendigkeit die gleiche" sei. Meinen Sie das positiv, Herr Positivist? Nun, dann freilich müssen Sie den Künstler, der sich mit seiner Schöpfung nicht an die Vielen wendet, obwohl er eine Wirkung (nach dem Gesetz der Kraft- erhaltung) auf die ganze Welt ausübt, für einen kom- pleten Narren halten. Solange Sie aber einem solchen Künstler nicht mindestens zwei ganz bestimmte Menschen zu präsentieren vermögen, auf die ein ganz bestimmtes Kunstwerk ganz bestimmt gleichartig wirkt: solange wird er Ihren Normalzuschauer bestenfalls für eine jener „weit- greifenden Hypothesen" halten, die Sie den Metaphysikern aufs Konto setzen.

Sie müssen nun nicht etwa glauben, ich hätte selber metaphysische Absichten. Die habe ich unter Umständen freilich, aber nicht in Sachen der Wissenschaft; die Meta- physik ist Sache des religiösen Erkennens und vielleicht noch mehr des poetischen Denkens. Ich bin durchaus mit Ihnen einverstanden, daß im Sinne der Wissenschaft keine Naturkraft, also auch keine menschhche Schaffens- kraft, anders als aus ihren Wirkungen erkennbar ist. Sie sollten daraus nur die richtigen Schlüsse ziehen!

Also mit dem Normalzuschauer ist es nichts; er kommt

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nicht Tor in der Natur. Jedwedes Kunstwerk wirkt, wie jede Naturerscheinung, jedes menschhche Erzeugnis, auf jeden Einzelnen verschieden, je nach dessen Sinnlichkeit, Gemüts- und Geistesbildung, ja sogar nach seiner augen- bhcklichen Stimmung, seiner örtlichen Umgebung, seinem wirtschaftlichen Zustand usw. Dies ist nicht blos wie der Herr Doktor uns später einreden will „zum Teil" der Fall, sondern in jeder Beziehung, auch was die so- genannte Bildlichkeit (Anschaulichkeit) des Kunstwerks betrifft. Denn auch diese ist nicht „unabhängig von dem genießenden Subjekt", so wenig wie es „Bewegungen von Ätherteilchen" gibt, „wenn jedes empfindende Auge fort- gedacht wird" (oh, oh, Herr Philosoph!) sondern ein Kunstwerk ist nur insoweit anschaulich, als es unmittel- bar die Sinne reizt; Sinne aber ohne ein „Subjekt" und Subjekte ohne „subjektive" Sinnhchkeit sind nur für den Metaphysiker denkbar. Wenn jedes empfindende Auge weggedacht wird, dann gibt es höchstens noch allerlei Kraftstoff, oder eigentlich blos noch die Weltmasse x; und ob die bewegt oder unbewegt, teilbar oder unteilbar, ätherisch oder fäkalisch ist, dafür fehlt dann eben jede Empfindung.

Daß es „anerkannte" Kunstwerke gibt, ändert daran nicht das Geringste. Denn auch diese wirken, selbst auf anerkannte „Kenner", höchst verschieden; und mancher Kenner hält manch anerkanntes Kunstwerk überhaupt nicht für ein solches, sondern für ein Machwerk. Und wie kommt die Anerkennung zustande? Nicht dadurch, daß ein großer Haufe von Normalzuschauern eine Wir-r

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kung bejubelt, die bei allen sofort die gleiche ist; solche Wirkungen pflegt nur die Afterkunst zu erzielen. Son- dern ein sehr kleines Häuflein, teils von außerordentlich gebildeten, teils von ungewöhnlich veranlagten Leuten, nämlich Leuten, die ein anerworbenes Verständnis oder angeborenen Geschmack für Kunst besitzen, Leute von sehr unnormaler, eigenartiger Empfänglichkeit: diese suchen sich selbst und Andre über die empfangene, sehr verschiedenartige Wirkung durch Meinungsaustausch auf- zuklären, und so übertragen sie allmähUch, meistens sehr allmählich, die Wirkung auch auf all die vielen viel nor- maleren Menschenkinder, die vorläufig leider noch sehr wenig eigenen Kunstsinn im Leibe haben.

Aber auch an dieses kleine Häuflein „wendet sich" der Künstler nicht mit seiner Schöpfung: er wendet sich an Alle Alle ohne Ausnahme! an den „Zulukaffern", dem der tiefgehende Herr die Empfänglichkeit für Beetho- ven etwas weitgehend abspricht, so gut wie an den Über- menschen, der da kommen soll. Gemeinhin nennt man das: er wendet sich an die Menschheit. Die aber wird zu jeder Zeit in jedem Volk nur durch die oft zitierten „Besten seiner Zeit" vertreten, und deren gibt's bekannt- lich niemals „viele"; für den Allerbesten dber hält der Künstler mit Verlaub sich selber, weil eben er es ist, der aus den Besten das Beste, auch das bestialisch Beste, schöpferisch zusammenfaßt. Und weil der Allerbeste ihm grade gut genug ist, sich an ihn zu wenden, so wendet sich der Künstler an sich selbst, an Alle imd an Keinen. Sein Werk zwar wirkt auf Alle (verschiedenthch

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natürlich, auf die meisten scheinbar garnicht, d. h. nur mittelbar und unbewußt) aber der Zuschauer, auf den er seine Wirkungen berechnet, ist keiner als er selber: der Mensch in ihm, der Mitmensch wie der Übermensch, Tier so gut wie Gott. Da sind wir schon mitten im Metaphysischen drin, im mystischen Einklang von Ich und All.

Und dieser Zuschauer, dieser einzige „Normalzuschauer", den es für den Künstler gibt, dieses unnormal normale Exemplar der Gattung „Mensch" denn nichts wird Norm, Herr Doktor, was nicht Anfangs gegen eine Norm war womit nun nicht gesagt sein soll, daß alles Ab- norme Norm zu werden vermag : also dieser Selbst- zuschauer ist der Künstler nicht blos, wie Sie meinen, bei der „Conception", sondern während seiner ganzen Schaffensarbeit, vom ersten unwillkürlichen Anstoß an, der ihm das Urbild seiner Schöpfung über die Schwelle des Bewußtseins hebt, bis zum letzten überlegten Kunstgriff, mit dem er den Eindruck dieses Urbildes möglichst voll- kommen auszudrücken sucht. Ja, noch darüber hinaus bleibt er sein einziger „Normalzuschauer", denn nur Er kann wirklich ermessen, in welchem Grade sein Werk vollendet ist, d. h. die Wirkung des Urbildes von sich gibt; nur ihm ist diese Wirkung ja bekannt.

Nun wird der Herr Doktor der Philosophie mich wohl fiir einen rohen „Subjektivisten" erklären, am Ende gar für einen „Nietzscheaner", der keine Ahnung von dem Unterschiede zwischen „universalen" und „partikularen", geschweige zwischen „apodiktischen" und „assertorischen",

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Urteilen habe. Aber nur Geduld: wir werden uns auch ohne philosophischen Jargon verständigen! Ich liebe näm- lich die Fremdwörter nicht, die aus der „klassischen Epoche" stammen; es stecken mir zu viel „überlebte Begriffe" da- hinter, zu viel „allumfassende Theorie", zu viel „unbe- rechtigte Trennung zusammengehöriger Erscheinungen". Eine Wahrheit läßt sich für Deutsche auf gut Deutsch am verständlichsten sagen, und was mir „subjektiv" ein Unsinn scheint, kann mir auch „objektiv" nicht imponieren; das sind mir sehr zusammengehörige Begriffe.

Genau so unberechtigt wie deren Trennung scheint mir aber auch die Mischung un zusammengehöriger Begriffe, die in den Fremdwörtern der deutschen Schriftgelehrten seit Alters gäng und gäbe ist. Da wird ein solches Wort, z. B. Norm, zuerst in einer sehr normalen, d. h. gewöhn- lichen Bedeutung gebraucht, und eh man sich's versieht, ist ihm auf einmal eine normative, d. h. gesetzliche Be- deutung untergeschoben. Das ist aber keine Wissenschaft, Herr Physiker: das ist Schulmeisterei! schlimmere, als sie sich je ein Metaphysiker erlaubt hat; denn der macht seine Kunstgebote doch nur von seiner allerhöchsteigenen Weis- heit abhängig, Sie aber (selbstverständUch gleichfalls blos in „unbewußter Selbsttäuschung") von der Weisheit des Bildungspöbels.

Betrachten wir einmal recht gründlich Ihren eigenen Satz, Herr Doktor: „ein jedes Kunstwerk hat, auch wenn es von seinem Schöpfer noch keinem andern Menschen mitgeteilt ist, schon einmal die es charakterisierende (zu deutsch: ihm eigentümliche) Wirkung ausgeübt, nämlich

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auf den Künstler selbst". Damit bin ich, wie Sie sahen, völlig einverstanden. Ich gebe Ihnen auch noch weiter zu, daß diese \^lrkung im Künstler „mit wahrscheinlich viel stärkeren Gefühlen als bei dem nachempfindenden Zuschauer" vor sich geht. Auf den „ähnlichen Gedanken- verlauf" im Künstler und im Zuschauer kommt es zu- nächst noch garnicht an; Gedanken macht man sich be- kannthch erst auf Grund von Vorstellungen in Folge von Empfindungen. Und wie gesagt: nicht blos „wahrschein- lich", sondern ganz unzweifelhaft, und nicht blos während, sondern auch noch nach der Schaffensarbeit wird der ganze Ablauf von Empfindungen, Vorstellungen und daraus sich ergebenden Gedanken, die ein bestimmtes Kunstwerk er- zeugt haben und dessen eigentümhche Wirkung ausmachen, ia Keinem so vollkommen wiederauftreten wie im Er- zeuger selbst. In jedem Andern wird sich die Wirkung, je nach seiner sinnHchen und geistigen Beschaffenheit, nur teilweise oder in verändertem Verhältnis der Bestandteile wiederholen. Würden sich sonst wohl die Gelehrten noch immer über „Hamlet" in den Haaren liegen?

Will also Jemand die Frage „Was ist schön" beant- worten, und glaubt er, daß die schöne Wirkung gleich- bedeutend mit der Kunstwirkung sei, so muß die Antwort zu allererst die Tatsache berücksichtigen, daß ein bestimmtes Kunstwerk niemals „mit Notwendigkeit" als solches wirkt, sondern nur auf jeden Einzelnen in andrer Weise eigentümlich, in seiner vollen Eigentümlichkeit nur auf den Schöpfer des Werkes. Nun aber hält der Einzelne nur solche menschlichen Erzeugnisse für wirkliche und echte

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Kunst, die grade ihm den Eindruck einer durchaus ein- zigen, unnachahmlich eigentümlichen Vollkommenheit beibringen; „das" Kunstwerk und „die" Kunst sind ja be- kanntlich nur Begriffsgötzen. Genauer müßte ich sagen: Erzeugnisse, deren Form mir diesen Eindruck der Voll- konmaenheit beibringt. Das ist aber selbstverständlich, da bekanntlich kein Naturgebilde, also auch kein menschliches Erzeugnis, anders als aus seiner Form begreifbar ist; wenigstens nicht für „Positivisten".

Will demnach Jemand etwas Wahres über die Wirkung aussagen, die ein (nicht „das") Kunstwerk erst als Kunst- werk bezeichnet („charakterisiert"), d. h. die unter Um- ständen einem bestimmten Menschen ein bestimmte» Menschenwerk als ganz besonders formvollkommen er- scheinen läßt, so hat er zu untersuchen: 1) Unter was für Bedingungen, 2) durch was für Reize, 3) aus was für Empfindungen setzt jener Eindruck der Vollkommenheit sich zusammen? Und selbst wenn Jemandem gelingen sollte, hierfür eine Formel von allgemeiner Giltigkeit zu finden, hat er sich immer noch bewußt zu bleiben, daß damit nur erst ein Bestandteil der ganzen, einem Kunst- werk eigentümlichen, es voll kennzeichnenden („charak- terisierenden") Wirkung (ja ja, die Fremdwörter!) er- klärt ist.

Um es kurz zu wiederholen: die Art-und-Wertbegriffe „das Kunstwerk" und „die Kunst" macht jeder Einzelne sich langsam erst zurecht aus den Kunstwerken, die ihm nach seiner Vorstellungs-und-Urteilskraft den Ein- druck einer imnachahmhch eigentümlichen Vollkommen-

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heit gemacht haben. Ob dieser Eindruck sich mit dem der „Schönheit" deckt, ob er ihn als Bestandteil enthält, ob Schönheit überhaupt ein unentbehrlicher Bestandteil all und jeder Kunstwirkung ist, darüber wissen wir vor- erst noch nichts. Wir wissen nur: „vollkommen" ist uns alles, was nichts zu wünschen übrig liäßt! und „eigentüm- lich" alles, was dem Durchschnitt nicht entspricht! und „unnachahmlich" alles, was unergründHch scheint wie die Natur!

Was aber diese „Natur" wohl ist, von der die Einen sagen, die Kunst sei ihre Nachahmung, die Andern, ihre Umgestaltung darauf kann ich nur mit einem Dichter- wort antworten, obwohl es heute, wo ich es schreibe, noch nicht zu den „anerkannten" Worten zählt: Natur, Natur! o leerer Schall, o seelenvollster Widerhall!

NATUR, SYMBOL UND KUNST

JEin Beitrag zur reinlichen Scheidung der Begriffe

Aristoteles und Gefolge in Ehren aber wenn die Kunstwissenschaft nicht ewig leeres Stroh dreschen will, dann muß sie endlich bis auf den Grund mit dem alten Aberglauben aufräumen, als wolle oder könne die Kunst, d. h. der Künstler im Kunstwerk, die Natur nachahmen. Weder die sogenannte äußere Natur, die Welt der Dinge,

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noch auch die innere, die Welt der Gefühle, will oder kann er zum zweiten Mal, zum immer wieder zweiten Mal, in die bestehende Welt setzen, in diese Welt der Wirklichkeiten. Er will überhaupt nicht nachahmen; er will schaffen, immer wieder zum ersten Mal. Er will einen Zuwachs an Vorstellungen schaffen, Verknüpfungen von Gefühlen und Dingen, die vorher noch auseinanderlagen, in der werdenden Welt unsrer Einbildungen. Und will man etwa dagegen erklären: das eben, was die Gefühle und Dinge zu neuen Vorstellungen verknüpft, das sei die Natur, die er nachahmen wolle so treibt man Taschenspiel mit Begriffen. Denn diese Naturkraft, die hinter oder unter, zwischen oder über den Kräften der Dinge und Gefühle ihr Wesen treibt, ob nun als unbewußte Bewegung oder als bewußte Empfindung, und die wir bezeichnender das Leben oder die Seele des Lebens nennen: das grade ist ja das Schaffende selbst im Künstler, das Unwillkürliche in seinem V^illen, das eigenthch Wirksame seines Werkes, das reinweg UnnachahmÜche.

Ich möchte das Gelächter der Denkenden hören, wenn irgendeine andere Wissenschaft eine Erscheinung der Natur durch das Wort „die Natur" erklären wollte. Aber in der Kunstwissenschaft glaubt man noch immer etwas zu sagen, wenn man mit allerlei mehr oder minder modernen Ver- klausulierungen die ehrwürdige Weisheit ausspricht, die Kunst wolle die Natur wiedergeben, oder wenigstens doch „ein Eckchen Natur", oder strebe „wie die Natur zu wii'ken", oder habe gar die göttUche „Tendenz, wieder die Natur zu sein", also wahrscheinlich auch wjder die Natur, denn

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es gibt ja in unsrer gottvollen Welt auch unnatürliche Naturen genug. Deshalb vermeiden die Weisesten die Klemme dieses W^iderspruchs, indem sie temperamentvoll verkünden, im Grunde natürhch gebe die Kunst nur die Natur des Künstlers wieder, also „im Grunde" ihre eigne Natur, was sich freilich durchaus nicht leugnen läßt. Sie scheinen allesamt die Natur für das Einfachste von der W^elt zu halten, womit man Jedwedes erklären könne. Leider aber ist die Natur niemals und nirgends so fabel- haft einfach, weder als wirkende noch als seiende; sondern nur Wir vereinfachen sie, teils dui-ch die Wissenschaft, teils durch die Kunst, um sie uns langsam ein bißchen begreiflicher zu machen, als sie im Grunde wie obenhin ist. Die Natur ist der allseits umfassendste, vielsinnigst zu- sammengesetzte Begriff, den sich die Menschheit bis heute erfunden hat; und es dürfte wohl ewig ein Widersinn bleiben, den beträchtlich engeren Begriff „die Kunst" durch jenen weiten bestimmen zu wollen. Eher schon hätte es wirklichen Sinn, unser Begriffsbild von der Natur aus Kunstbegriifen abzuleiten; ob konkrete Form, ob abstrakte Formel, ob aus künstlerischer oder wissenschafthcher oder religiöser Intuition, jeder klar geformte NaturbegrifF ist schUeßlich doch künstliches Gebilde des eigenwilligen Men- schengeistes und kann nur durch abermals künsthche Klärung auf Art und Wert hin abgeschätzt werden.

Daraus folgt: auch das Kunstwerk selbst, als natürUcher Gegenstand aufgefaßt, also nicht mehr vom W^illen des Künstlers aus, ist erst recht nicht als Nachbildung eines andern natürlichen Gegenstandes schätzbar sonst wäre

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ja jede genaue Abbildung, jede richtige Zeichnung einer Pflanze, jedes exakte Modell einer Muskelpartie, ein un- vergleichlich viel besseres Kunstwerk als irgend ein RafFael oder Praxiteles. Und ebensowenig kann es als Wieder- gabe eines natürlichen Zu Standes gelten, mag der nun sinnliche oder geistige oder gemütische Bewandtnis haben; sonst wäre jeder Parfümfabrikant der feinste Künstler des Blumenlebens, jede Schilderung eines Gedankenganges die reinste Dichtung menschlichen Wesens, jeder Freuden- schrei der schönste Gesang. Man sagt dann wohl, die Nachahmung solle nur „das Organische" wiedergeben, und meint damit alles Mögliche, was sich nur leider nie feststellen läßt; denn was organisches Dasein ist, hat noch keine Wissenschaft ausstudiert. So kommt's, daß bei aller Rechtgläubigkeit die Ästhetik dieser Naturphilosophen doch am Ende stets auf den teuflischen Zweifel stößt: kann die Kunst die Natur denn wirklich nachahmen? die unendliche, unergründliche, ungeheure U-U-Umatur! Und dann wird rasch ein heiliges Kreuz geschlagen, in Gestalt eines X vor oder hinter dem U, entweder + oder X. Denn natürlich: vollkommen nachmachen läßt sich nichts: man muß oder soll oder will oder kann da immer allerlei ab- oder zutun, von wegen der allgemein menschlichen Ohn- macht wie der ungemein künstlerischen Vollmacht des Machers. Und wer dann immer noch nicht begreift, was das Künstlerische nun eigentlich ist, dem wird in Gnaden zuguterletzt das AUerheihgste ofienbart: das Orakel vom Wesen und vom Schein. Danach bedeutet „Nachahmung"^ keineswegs Nachäffung der gemeinen und stets nur schein-

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baren Wirklichkeit, sondern nachschafFende Verkörperung der wahren Wesenheit der Erscheinungen, was wiegesagt ein ungemeines, ein schier gottgleiches Stück Arbeit ist. Das eben unterscheide die wahre Kunst vom trügerischen Kunststück sowohl, wie von der blos wirkHchen Kunst- fertigkeit, die jedem menschlichen Machwerk eigne. Auch das echte Kunstwerk sei freilich nur Schein, aber eben Erscheinung des Wesenhaften, und dadurch eben erscheine es „schön". Es sei also nicht so sehr richtiges Bildnis als vielmehr Gleichnis der wirklichen Welt, nicht sowohl Abbild vergänglichen Daseins als eher Abzeichen ewigen Seins, nicht grade unmittelbares Bild des Lebens, aber immerhin mittelbares Sinnbild, kurz symbolische Natur- nachahmung.

Das hört sich nun schon viel sinniger an, und außer- dem viel seelenvoller; und in der Tat kann man nach dieser Zeichenlehre verschiedene schöne Grenzlinien ziehen^ je nachdem sich nämlich der Zeichendeuter aus den emp- fundenen Bildwirkungen das seelische Verhältnis der sinn- lichen zu den geistigen Wesensteilen zurechtlegt. Da wäre zunächst das vollkommene Sinnbild, das die sinn- lichen und die geistigen, die deutlichen und die deutsamen Gefühlsreize des wirklichen Lebens in ein klares Gleich- gewicht übersetzt: das reahstische Symbol, das sich nur bei den besten Klassikern findet. Dann die mehr oder weniger unvollkommenen: Erstens das vorwiegend geistige, das idealistische Symbol, das einen bedeutenden Gedanken durch eine Reihe figürlicher Reizmittel gemütvoll aus- einandersetzt, gemeinhin Allegorie genannt, sanktioniert

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nur durch einige wenige, schwer klassifizierbare Klassiker. Zweitens und drittens das phantastische und impressio- nistische Symbol, das einen vorwiegend sinnlichen, geistig recht vieldeutigen Stimmungseindruck aus allerlei wirk- Hchen oder erträumten Nervenreizen zusammensetzt, ge- flissentlich Symbolismus getauft, von der modernen Roman- tik ausgebildet und dem platten Naturalismus verwandt. Denn gibt nicht auch dieser, bei konsequentem Begriffs- gang, mit seiner eindeutig stimmunghaften Abkonterfeiung der Außennatur das lebendige Vorbild nur sinnbildlich wieder? Und verkörpern nicht all die andern Symbole, mit denen der menschliche Gemeinsinn auf Grund ge- mütvoller Tradition bestimmte Lebensverhältnisse andeutet, gleichfalls natürliche Wesenheiten? Dann wäre also jede Kokarde, die eine reale Korporation mit ihrer gesamten sinnlichen und geistigen Machtfülle repräsentiert, ein pla- stisches Meisterwerk ersten Ranges, jedes kirchliche Abend- mahl ein wunderschön idealistisches Drama, jeder Sand- palast von Kinderhand eine phantastische Architektur, und das Bleistiftschmierakel des kleinen Moritz, das einen Soldaten bedeuten soll, in der Tat ein impressionistisches Kunstwerk. Ja, das gewöhnlichste A'Verkzeug würde, so- bald man von seinem Gebrauchswert absieht, ein künst- lerisches Sinnbild sein: die Schaufel, die Schale und der Teller als Nachahmungen der flachen Hand, die Gabel und Harke als gefingerte Hand, die Zange und Säge als Gebiß, der photographische Apparat als Auge, die Loko- motive als ganzes Arbeitstier, usw. usw. Nachdem man sich so zur Genüge im Kreise gedreht

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hat, wird man endlich vielleicht dahinter kommen, daß jeder Gedankengang um das Wesen der Kunst, der die Natumachahmung zum Mittelpunkt nimmt, immer wieder nach dem Begriff der wahren, echten, reinen, vollkommenen Kunst tappt, dessen Sinn sich jedoch fortwährend ver- schiebt, ganz nach dem Gefallen der Völker und Zeiten und sogar nach Belieben der einzelnen Menschen, von Lebensalter zu Lebensalter, Bildungsstand zu Bildungs- stand. Für den Begriff der Vollkommenheit sind eben nur Neigungsgefühle maßgebend, oder wenigstens aus- schlaggebend; er schwebt freilich selbstsicher jedem Künstler und erst recht dem Kunstliebhaber vor, aber da sich mit selbstischen Vorurteilen keine Allgemeinwerte nachweisen lassen, kann er der Wissenschaft nicht als Grundlage dienen, sondern kommt nur als Umstandswert in Betracht. Es mag wohl sein, daß die Ehrfurcht des Urmenschen vor der wundersamen Erfindung des Werkzeugs den Ver- fertiger eines Beils oder Topfes wirklich als wahren Künstler empfand; der egyptische Priester und Schriftgelehrte maß seinen symbohschen Hieroglyphen sicher noch vollen Kunstwert bei, wie noch jetzt der chinesische Poet den Schriftzeichen seiner lyrischen Verse. Die Kunstleistungen des kleinen Moritz werden von seinen Freunden und Tanten zuweilen gleichfalls für voll genommen ; und was man einst- mals ohne Sentimentalität unter „wahrer Natur" verstand, das hatte damals für die Erforschung der Kunst wohl in der Tat noch greifbaren Sinn. Man kann sich nun zwar auch heute noch mit der kindlichen Wahrnehmung be- gnügen, daß in jedem Kunstwerk mancherlei Einzelheiten

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natürlicher Gegenstände und Zustände teils ziemlich deut- lich nachgebildet, teils ziemlich undeutlich angedeutet sind; aber ob jemals ein Künstler damit den wahnwitzigen Zweck verfolgt hat, es der Natur in irgend einem, auch nur dem sinnbildlich oberflächlichsten, geschweige gründlichen Sinne gleichzutun? Diese Ähnlichkeiten mit der Natur müssen also wohl lediglich Ausdrucksmittel zu einem anderen ^Vesenszweck sein, oder was innerst dasselbe sagt, für einen anderen Willenstrieb. Wir Kreaturen der Natur können uns eben stets blos natürlicher Außerungs- und Förde- rungsmittel bei unserm Menschenwerk bedienen; das ist die ganze Pfennigweisheit, die sich aus all den Betrach- tungen der sogenannten Nachahmerei seit zweitausend Jahren herausmünzen läßt.

Was ist es nun, das die Kunst ausdrücken will? oder anders gesagt: gestalten muß? oder nochmals anders: schaffen willmuß? Da liegt wieder die Antwort ver- führerisch nahe: eine menschlichen Sinnen faßbare Vor- stellung des geistig bewußten Bestandteils von Lebens- eindrücken, die durch unfaßbare Naturvorgänge in einer Künstlerseele bewirkt worden sind. Aber auch Das ver- mag keine Kunst auf Erden; es ist die berüchtigte Mär von dem „Urbild" des Künstlers, dem er zeitlebens ver- geblich nachtrachte. Und übrigens: auch alle sonstigen Vorstellungen, selbst die des geistlosesten Philosophasters, bedeuten ja menschlich bewußtes Leben und werden gleich- falls nur durch die Sinne von einer Seele zur andern ver- mittelt. Bleibt also wieder die Frage offen : eine Künstler- seele, was heißt das denn eigentlich? Da muß man doch

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wohl vor allem ergründen, was die Kunst kann, nicht was sie nicht kann! Es liegt nachgerade zu flach auf der Hand, daß sie weder die wirkenden noch die bewirkten Eindrücke des Lebens darstellen kann, mag auch von beiderlei Wirklichkeit Etwas jedwedem menschlichen Werk anhaften; wer es lediglich daraufhin untersucht, findet immer und überall nur ein Chaos teils übermäßig deut- licher, teils maßlos deutsamer Einzelreize. Tatsache aber ist und bleibt doch, daß manches Menschenwerk uns nö- tigt, eine ungewöhnlich reizvolle Gesaratwirkung darin zu entdecken, ein sonderbar kraftvolles Maß Verhältnis zwischen jenen zwiefachen Wirkungsmitteln, eine merk- würdig übersichtliche Einheit, wie sonst Nichts in der Welt sie uns Topfguckern zeigt, und daß wir ein solches Werk Kunstwerk nennen. Das also, diesen planvollen Kosmos aus chaotischen Lebenseindrücken, kann die Kunst unter Umständen wirklich herstellen; und also wird es auch dies wohl sein, was jeder Künstler gern können will. Wer's nicht will, ist eben drum kein Künstler, mag er ein noch so reizender Schönfärber oder sonstiger Tausend- künstler sein. Bleibt demnach nur noch zu untersuchen, unter welchen Umständen und von welchem Gesichts- punkt aus jenes übersichtüche Kräfteverhältnis der mannig- fachen Wirkungsmittel jedesmal zustande kommt, d. h. durch was für Bewertungen es sich von anderen plan- vollen Schöpfungen des Menschengeistes unterscheidet. Und da ist, wie bei jeder richtigen Fragestellung, auch schon die Richtung zum Hauptpunkt der Antwort ge- wiesen.

VIII

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Die Wirkungsmittel sind der Natur entnommen zu einem lediglich menschlichen Zweck; folglich steht hier der Begrifi „Natur" im Gegensatz zur Menschennatur, und man verzeihe die logische Wortklauberei, aber es geht hier leider nicht anders, wo jeder Begriff vom Rost alter Meinimgen starrt das Kunstwerk dient wie all unser Wirken zur Befriedigung von Kulturinstinkten, von ausschheßlich menschlichen Bildungstrieben, deren Haupt- eigenschaft die Einbildungskraft ist. Die Umstände, unter denen es wirkt, sind wandelbar von Mensch zu Mensch, aus naturellen wie kulturellen Ursachen und Beweggründen; folglich können sie nicht den Hauptwert der Wirkung, s ondem nur Unterwerte bestimmen. Der Gesichtspunkt, von dem aus das Einheitsverhältnis der einzelnen Wirkungs- mittel gestaltet und dann als Kunstschöpfung empfunden wird, muß demnach unter allen Umständen unabhängig sowohl von bestimmten Naturmotiven wie von besondern Kulturintressen sein. Da er aber doch vom Kulturinstinkt angesetzt wird, so kann er nur jenem allgemeinsten Trieb unsrer vielfachen Bildungsgelüste entspringen: der selbst- bewußten Einbildungskraft. Und da er auf keinem be- stimmten Wirkungsgebiet dieser Hauptbewegkraft zu suchen ist, z. B. auch nicht auf dem der Erfindungslust, der spezifisch figürlichen Phantasie, so kann er sich stets nur da befinden, wo die verschiedenen Reizgefühle sich gegenseitig aufheben und zum gemeinsamen Selbstgefühl des Menschengeistes steigern, d. h. im Bezirk unsers Frei- heitstriebes. Das also ist das Grundwesen jeglicher Kunst: maßvolle Anordnung teils natureller, teils kultureller Ein-

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bildungsreize zur Befriedigung von Freiheitsgelüsten. Das gibt dem Kunstwerk jene wirkliche Übersichtlichkeit, die alle Willkür und Zufälligkeit der wahren Natur zu be- seitigen scheint, und zugleich jene wahrhafte Unbegreif- lichkeit, die jeder Naturerscheinung eignet, kurz seine selbstbedingte Gesetzmäßigkeit, die der Liebhaber dann Vollkommenheit nennt. Man wird sagen, diese BegrifiFs- bestimmung sei der Schlange gleich, die sich selbst in den Schwanz beißt. Nur solche Begriffe aber sind richtig und bilden die Grundlage jeder Erkenntnis, während falsche gewunden wie Schlangen sind, die sich selber den Kopf abbeißen wollen, z. B. die Kunst der Natumachahmung. Es kommt eben immer noch darauf an, den gewonnenen Grenzring des Grundbegriffes mit genaueren Kennzeichen auszufüllen.

Vorerst steht folgende Wahrnehmung fest: Sobald wir in einem menschlichen Werk eine eigenmächtige Ver- wendung gewisser Vorstellungsreize entdecken, aber dabei an irgendeinen oder auch einige dieser Reize unmittelbar gefesselt bleiben, dann empfinden wir es zwar als ein Kunstwerk, lehnen uns aber über kurz oder lang gegen die sinnliche Fesselung auf, aus einem geistigen Unbehagen an der unzulänglichen Vorspiegelung lebendiger Gefiihls- eindrücke. Erst wenn uns diese Erinnerungszeichen einen andern Gefühlszustand vermitteln, in dem auch wir nun eigenmächtig dem Leben bildsamen Geist beimessen, erst dann gelangen wir zum Genuß der künstlerischen Schaffens- kraft, der Befreiung vom unstäten Augenschein um be- ständiger Anschauungsformen willen, der sogenannten

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ubersinnlichkeit. Es ist dasselbe Freiheitsgefiihl, das Ari- stoteles „Reinigung" nannte und als hauptsächliches Wir- kungsmerkmal der attischen Tragödie ausgab; es ist aber Kennzeichen jeglicher Kunstwirkung. Gleichviel ob das Kunstwerk gemächliche Lustbarkeiten oder die heftigste Unterwerfung unter furchtbare SchicksaLsgewalten in den Kreis seiner Darstellung zieht: nachhaltig befriedigt es nur dann, wenn durch den überlegenen Wert der mensch- hchen Umgestaltungskraft der natürliche Rohstofi: ent- wertet wird. Das ist es wohl auch, was Kant ziemlich fraglich mit der „Zwecklosigkeit" des Kunstwerks meinte, wohl im Hinblick auf andere menschliche SchafFenszwecke gegenüber der Natur. Denn in der Tat unterscheiden sich diese von der Kunst vor allem durch das Eine: sie wollen dem Dasein selbst Werte abdingen, sie befreien den Geist nicht vom Spiel des Zufalls, sie weisen durch ihre Naturbehandlung ob nun durch rehgiöse Beschwö- rung oder wissenschaftliche Erforschung oder soziale und industrielle Benutzung immer wieder erst recht auf die unbezwingbaren, unerklärbaren, unverwendbaren Will- kürlichkeiten der StofFkräfte hin. Ihr Zweck ist wirkliche Naturbeherrschung, und infolgedessen stoßen sie stets auf den Tiefpunkt der menschlichen Machtvollkommenheit; die Kunst begnügt sich mit Feststellung unsrer eingebil- deten Naturbeherrschung, schafft aber dadurch den Höhe- punkt, von dem aus all unsre übrigen Schöpfungen über- haupt erst Richtung und Ziel empfangen. Sie schafft nicht Abbilder des natürlichen, sondern Vorbilder mensch- lichen Daseins und Wesens; daher die Gefahren schlechter

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Kunst für unsre Gesinnung und Gesittung, für unser ganzes Bildungsleben.

Von diesem Gesichtspunkt aus wird sich nicht leugnen lassen, daß auch der Kunst ein Zweck innewohnt; wie könnte sie sonst einen Wert für uns haben? Sie erstrebt einen unvergänglichen Zuwachs von immer neuen Frei- heitsgefühlen, die selbstbewußte Eroberung von unwill- kürlich zusammenpassenden , bisher zwecklosen Vor- stellungsgebieten, welche der Wissenschaft und der Reli- gion, wie erst recht der praktischen Kultur, entweder noch nicht zugänglich oder überhaupt unbeschreitbar sind. Da- durch stellt sich die ganze Kunstgeschichte als ein gradezu notwendig hochgestuftes, fortwährend im Bau befindliches Befestigungswerk des Geistes dar, das die Kultur gegen die Natur errichtet, gegen die Menschennatur wie die Weltnatur, um nicht in ihre bodenlosen Tiefen und Weiten zu zerschwanken. Und dadurch auch erklärt sich erst, warum wir die einzelnen Kunsterzeugnisse immer wieder verschieden hoch bewerten. Denn jedes Kunstwerk ist nur ein Baustein auf der Grundlage sehr vieler früheren; sein Wert läßt sich also genau nur schätzen durch Ver- gleich mit vorher gebildeten Werten, und bestimmt sich überdies noch dadurch, auf welcher Höhenstufe der Bil- dung der Abschätzer jeweils selber steht. Deshalb ent- wickeln die kräftigsten Kunstzeitwenden auch jedesmal eine neue Methode der ästhetischen Reizbewertung, wenn sie nicht etwa so selbstgewiß schaffen, daß sie dies zweifel- hafte Vergnügen lieber den Nachkommen überlassen. Es ist demnach Sache der Kunstwissenschaft, immer von

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neuem zu ergründen, aus was für Unterwerten sich regel- mäßig der Oberwert der Kunstwirkung aufbaut. Den Oberwert zeigt die Vernunft uns von selbst, da sie maß- bewußtes Empfinden ist. Wesen der Kunst oder Willen des Künstlers: Darstellung reizvoll geordneter Gefiihls- und Gedanken- Vorstellungen, durch die unsre Einbildungs- kraft befreit wird vom verwirrenden Druck des sinnUchen Lebens. Zweck jeder Kunst oder Trieb des Künstlers: Unterwerfung von immer neuen Eindrucksgruppen unter Standpunkte der Einbildungskraft. Hauptwert des ein- zelnen Kunstwerks und Künstlers: nachhaltig wirksame Umgestaltung der jeweils bedingenden Lebensumstände, der kulturellen wie naturellen. Das gilt auch für die Freunde des kleinen Moritz, die sein Schmierakel nämlich nicht deshalb bewundern, weil sie so dumm oder über- schlau sind, einen Soldaten darin zu erkhcken, sondern weil sie ein paar Minuten lang in eine der wüsten Zick- zackhnien hunderttausend Soldaten nebst allen Blitzlichtem ihrer Bajonette hineinsinnen können. Durch was für Gliedwerte nun wird dieser Hauptwert regelmäßig zu- stande gebracht?

Offenbar ist da Dreierlei maßgebend. Erstens der Um- fang, Schwerpunkt und Beweglichkeitsgrad der selbstän- digen Einbildungskraft des Künstlers, zweitens der Bil- dungsstand des Gesellschaftskreises, auf den sich die V^irkung des Kunstwerks gründet, und drittens die aus- reichende Vereinigung und nötigenfalls Bereicherung der innerhalb dieses Bildungskreises bisher entwickelten Wir- kungsmittel; das bietet dann auch den künftigen Zeiten

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die Anhaltspunkte der Bewertung. Also spitzt sich die Frage darauf zu: durch was für Maßempfindungen wird die kulturelle Auswahl und Abwägung der natürhchen Ausdrucksmittel bestimmt? Das weist von selbst auf die Rhythmodynamik der psychomotorischen Nervenfunk- tionen, die sich nur in der Angemessenheit der spezifisch technischen Darstellungsmittel an die ästhetischen Vbr- stellungsreize ausprägt; und es wäre demnach vor allem zu untersuchen, durch welche Spannungs- und Steigerungs- Merkmale das unwillkürUche Einheitsverhältnis zwischen dem Kunstzweck und der Kunstfertigkeit, d. h. die stilisti- sche Harmonie der nervösen und substanziellen Energieen, zur zweifellosen Wahrnehmung kommt. Oder, da sich hier starre Regeln in keiner Hinsicht begründen lassen, so wären die Reizgrenzen festzustellen, die Maxima imd die Minima, innerhalb deren die Spannung aufs Ganze durch die einzelnen Steigerungsmitlel erreicht wird. Jeden- falls ist ohne weiteres klar: je mehr neue rohe Natur- substanz ein Künstler zu bewältigen strebt, umso kräftiger muß seine Einbildungskraft, umso feinsinniger seine Sinn- lichkeit sein, sonst wirkt jeder Fehlgriff der rhythmischen Reizanordnung sofort als plumpe Nachahmung oder grobe Yortäuschung der Wirklichkeit. Deshalb behelfen sich schwache Künstler, die übrigens sehr starke Träumer oder auch Kopfrechner oder Beides sein können, gern mit phantastischen Motiven, besonders mit altgeheiligten, und meinen dadurch vonvornherein die angestrebte Gesamt- wirkung in übernatürliche Sphären zu heben; dann aber, da ja solche Motive selbst bereits Kulturprodukte, doch

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im Falle künstlerischer Verwertung eben auch nur na- türliches Material sind, steigern sich nachträglich unsre Ansprüche an die ästhetische Zulänglichkeit der techni- schen Beglaubigungsmittel, und die naive Selbsttäuschung solcher Künstler wirkt leicht wie ein sehr raffinierter Schwindel. Es gibt sogenannte poetische Motive, beson- ders mythisch sanktionierte, die mancher Artifex noch immer für besonders wertvoll und wirksam hält, trotz- dem kein Mensch mehr recht an sie glaubt; sie gleichen der Mistel, die für ein Wunder galt, solange sie nicht als Schmarotzergewächs erkannt war, und nun von gefühl- vollen Engländerinnen noch immer heilig gehalten wird. Wie lange noch?

Man wende nicht ein, das hänge alles vom bloßen Ge- schmack des Betrachters ab, oder von dem seines Bildungs- kreises; eben weil der Geschmack veränderlich ist, können wir Werte sichten und sammeln, die jeden Geschmacks- wechsel überdauern. Früher oder später wird immer ent- deckt, ob und wo und inwieweit Kunst oder Künstelei geherrscht hat, der Rhythmus gemeisterter Ergriffenheit oder nur der Takt geschulten Begreifens. Irgend ein augenblicklicher Kunstwert kann freilich in jeglicher Hand- fertigkeit, selbst in der stümperhaften stecken; es kommt aber überall darauf an, was für Dauerwerte gewonnen werden. Wen die seelischen Schwingungsverhältnisse, aus denen die Kunstgriffe entspringen und irgend ein W^erk zusammenfügen, in triebhafte Mitschwingung versetzen, weil sein Nervensystem von Hause aus oder durch aner- zogene Bildung mit einer ähnlichen Rhytlimik beseelt ist.

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der wird diese elektrochemische Sympathie natürlich auch auf das Werk übertragen, wird es liebreizend finden, d. h. „schön"; ob aber das W^erk macht vollkommen genug ist, auch widerstrebende Nervenfunktionen in seinen rhythmi- schen Bann zu ziehen und seelisch nach und nach um- zustimmen, das ist eine wesentlich andere Frage, die nicht auf ererbte oder erworbene Bildung, sondern auf ursprüng- liche Umbildungskräfte, auf zukunftschaffende Werte zielt. Die W issenschaft könnte der strebsamen Mensch- heit diese Abschätzungsarbeit wirklich erleichtern; wo bis- her der persönliche Instinkt notabene wenn er vom kritischen Rang eines Diderot oder Meier -Graefe ist von Fall zu Fall entschieden hat, könnte sie intelhgible Normen aus bestimmten Zeitläufen, Landstrichen und Volksklassen sichten. Man müßte z. B. momentphoto- graphisch an fliegenden Vögeln, windbewegten Bäumen, auffällig beleuchteten Baulichkeiten, gestauchten Gewand- falten u. dergl. festzustellen suchen, durch welche stilisti- schen Proportionen sich die vorgebliche Naturgetreuheit mancher altdeutschen und japanischen Bilder von den wirklichen Naturmoliven typisch unterscheidet, und daraus Rückschlüsse auf die Geschmacksgrenzen ziehen. Auf alle Fälle hat sich endlich die Aufgabe herausgestellt, eine rela- tive Ästhetik zu schaffen statt der bisherigen absoluten, biologische Kategorieen zu suchen statt der verewigten ideologischen, eine graduelle Methode zu finden statt der gottsehgen prinzipiellen, dynamische Maßstäbe zu er- langen statt der dynastischen Anmaßungen. Die Her- ren Gelehrten werden auf diese Weise mehr „Natur"'

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zu schöpfen bekommen, als mit den bodenlosen Bechern aus „Wesen und Schein" oder „Inhalt und Form".

KÜNSTFORM UND RHYTHMUS

Grundzüge einer Kritik des Kunstwertes

Ein nachdenklicher junger Dichter Julius Bab hat einmal die Forderung aufgestellt, die poetische Kritik müsse endlich lernen, von den rein sprachkünstlerischen Werten der Dichtung auszugehen, wenn anders sie sich nicht immer mehr in das Bockshorn dilettantischer oder tendenziöser Wertung verrennen wolle. Das wird jeder echte und reife Dichter ohne weiteres unterschreiben. Nur daß Bab es als „Sache des Dichters" hinstellte, „neue Worte und Wortordnungen zu schaffen", und daß er als Element der poetischen Sprache kurzweg „das Wort" figurieren läßt, das bedarf durchaus einer Ergänzung. Auch mancher Redner ist ein Meister des Wortes, schafft neue Worte und Wortordnungen, aber ein Dichter ist er drum keineswegs; von der Sprachkunst im Allgemeinen bleibt die dichterische Sprachkunst erst abzusondern. Es genügt da nicht etwa, flacherhand dem Dichter das „sinn- liche" Wort zuzuschieben, dem Redner aber das „gei- stige" ; mancher Hymnus Goethes stammt aus der reinen Vernunft, manches Lied Heines aus dem baren Verstand, und manche Predigt Luthers wie Nietzsches strotzt von.

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sinnlichster Wbrtgewalt und ist dennoch kein Hymnus, kein Lied, keine Dichtung. Auch mit dem „seelischen'' oder „beseelten" Wort ist nicht das Geringste anzufangen; beseelt oder seeUsch ist schließlich Alles, selbst das sal- badrigste deutsche Gemüt.

Es hilft nichts: so abgegriffen diese Begriffe auch sind: es bleibt nichts übrig als der „Aufbau", die „Gestaltung", der „ganze Wurf", oder was sonst noch für gangbare Floskeln den ausschlaggebenden Kunstgriff der echten Künstlerhand andeuten sollen. FreiUch hat Bab vollkommen Recht, wenn er die sogenannte Komposition der psycho- logischen Motive als ebenso unwesentlich für den Kunst- wert nachweist, wie etwa die Einverleibung sozialer, reli- giöser, philosophischer oder sonstwie kultureller Tendenzen ; aber nicht Recht hat er mit der Behauptung, Komposition oder Aufbau bedeute „nichts als Anordnung der psycho- logischen Wirkungen". Es kann sehr wohl noch etwas viel Gründlicheres, Ursprünglicheres bedeuten als diese zweckmäßige Berechnung der Effekte; und wenn auch nicht von Kunstgelehrten, so doch von Künstlern wird unter Komposition tatsächlich meist etwas Andres ver- standen, nämlich die instinktive Organisation, die trieb- hafte Gestaltung. Erst die aber macht das logische W^ort zum ästhetischen W^ort, den psychologischen Begriff zum psychischen Inbegriff, das rhetorische Wortgefüge zum poetischen Wortgebilde. Grade im künstlerischen Sinne ist das Wort als solches noch kein „Element", die Ord- nung der Worte noch keine „Form", sei das einzelne Wort noch so sinneberückend, die Wortverbindung noch

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so begeisternd. Daraus wird ebenso wenig ein Gedicht, wie die stärkste Farbe und reichste Palette je ein Gemälde erschaffen haben oder die edelsten Marmorquadern den Adel eines Gebäudes ausmachen; man kann aus denselben schönen Steinen ein andres und häßliches Haus errichten. All das ist lediglich technisches Material: physikalischer oder chemischer Stoff, akustisches oder optisches Rüstzeug für den mystischen Akt der Transformation.

Die Elemente dieser Transformation, da sie nicht in dem Werkstoff und Werkzeug selbst liegen und ihm doch vom Künstler beigelegt werden, müssen also zwischen den Reizen der Worte, der Farben, der Töne, der Flächen schweben, können nur reine Verhältniswerte sein, die sich nirgends unmittelbar ausmessen lassen, sondern nur mittelbar abschätzen; zur ewigen Nasführung aller Beck- messer. Die Worte und Wortfolgen dienen dem Dichter gleichsam nur als Schaltapparate für die elektrischen Wechselströme jener Elementarproportionen. Denn keinem noch so feststehenden Wort haftet ein fester Verhältnis- wert an, oder was dasselbe besagt eine wirklich un- mittelbare Bedeutung ; es steht nicht blos zu seiner nächsten Umgebung, sondern vermittelst der zugehörigen Wort- folge (Satzordnung) noch zu den entlegensten W^orten und Wortfolgen in immerfort wechselnder Beziehung. Erst diese vielfältigen Beziehungswerte deuten das Leben des Kunstwerkes an, die psychische Vibration der Materie, die seelische Bewegtheit des Wortstoffes; und schließlich bleibt noch die Hauptsache zu betrachten, das absolute Mysterium, die Zusammenfassung all der Bewegungsteile

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zu einer in sich ruhenden „Einheit", die Schließung des elektrischen Stromkreises. Erst da sitzt der Punkt, der den reinen Dichter vom Redner und Prediger unterschei- det; jener will eine in sich selbst lebendig gestaltete Sprach- schöpfung schaffen, dieser will über sein Wortwerk hin- aus fremde Lebensgestaltung bewirken. Gewiß meinte auch Julius Bab nichts Andres, wenn er „W^ort" und „Sprache" als gleichbedeutend und als poetisches Element hinstellt; aber hier tut deutlichste Klarstellung not, sonst geben wir nicht blos der flachsten Kritik, nämlich der Silbenstecherei , sondern noch mehr der plattesten Wort- kunst, nämlich der Phrasendrescherei, einen allzu unbe- schränkten Spielraum.

Als dichterisches Wirkungsmittel läßt sich allenfalls die Sprachlichkeit hinstellen, im Sinne von selbständiger Sprach- behandlung ; wie als malerisches die Farbigkeit , d. h. die eigentümliche Farben Verwendung. Es bleibt dann aber immer noch klarzustellen, was die elementare Funktion dieses Mittels ist, der eigentliche Gestaltungswert; denn nach Außen hin mag eine Farbenverbindung, eine Wort- ordnung noch so reizvoll wirken, noch so verblüffend neu oder alt vertraut, dadurch erweist sie sich noch nicht als Gleichnis lebendiger Zusammen Wirkung nach ihrem eigenen Innern hin, als deutsames Zeichen reiner Kunst. Was ist nun die elementare Funktion, die dem künstlerischen Wirkungsmittel den Schein selbständigen Lebens eintreibt? Es ist (materialistisch geredet) Andeutung von Gewichts- verhältnissen zwischen räumlich wie zeitlich wechseln- den Druckkräften, oder (spiritualistisch) Bezeichnung von

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Spannungsverhältnissen zwischen sinnlich wie geistig wandelbaren Eindrücken, und die ganze Kunst besteht eben darin, diese wechselseitig sich immerfort verändernden Einzel Verhältnisse in ein eigentümlich beständiges, durch keine Kritik erschütterliches Gesamtverhältnis zu setzen, in ein Gleichgewicht, einen Spannungsausgleich; das eben ist die „organische Form", notabene auch in der Natur. Das formbildende Element ist also (objektiv betrachtet) der gegenseitige Steigerungswert der Worte, Töne, Farben, Flächen, Linien, Geberden usw. zu einem gemeinsamen Schwerpunkt hin oder (subjektiv) das Maßgefühl des Künstlers für die Beweglichkeit und Stetig- keit solcher Werte oder {unio mysticd) der rhythmo- dynamische Instinkt; er erzeugt jene „Harmonie der Kräfte", über die sich maßlos orakeln läßt, bis zur Be- wußtheit des ünbe\vußten.

Eine rein sachliche Kunstkritik müßte demnach vor allem Zweierlei abschätzen; erstens die stoffliche Ange- messenheit der einzelnen baulichen Steigerungswerte, zweitens den maßgebenden Schwerpunkt all dieser Spannungsverhältnisse. Sie müßte zunächst die Frage entscheiden, ob der Aufwand mechanischen Materials durch- weg den darin eingefaßten organischen Funktionen gemäß ist, ob kein Zuwenig oder Zuviel spürbar ist. Und zwar gilt dies Prinzip der organischen Ökonomie gleichermaßen für das motivische wie für das technische Material; denn dieses ist von jenem nicht trennbar, eins geht fortwährend ins andre über, beides ist Last und Stütze zugleich in dem mechanischen Gerüst. Wie dem Tonsetzer jede

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Folge beliebiger Töne zum Motiv und dann Thema werden kann, wie sich dem Baumeister, Bildhauer, Maler jede zu- falligste Flächenverbindung oder Linienverschlingung oder Farbenverknüpfung in ideelle Affekte umsetzt, so gibt es keine einzige Wortreihe, sei sie die sinnigste oder wahn- sinnigste, in der nicht innigst neben den spezifisch poe- tischen Komponenten zugleich schon irgend ein philo- sophischer, moralischer, sozialer, patriotischer, kosmo- politischer, humaner, erotischer, religiöser, heroischer, satirischer, elegischer, idyllischer, phantastischer, gi'otesker, dämonischer, pathologischer oder sonstwie psychologischer Koeffizient enthalten wäre. All diese teils sinnlichen (rea- listischen) teils geistigen (idealistischen) Reizmiltel deuten letzterdings auf Druckkräfte teils räumlicher teils zeitHcher Spannungsverhältnisse hin, auf treibende oder hemmende Schwingungszustände in der künstlerisch umgeformten Substanz; in allen Künsten sind Raum und Zeit die unent- ziehbaren Grundbedingungen für die Herstellung des Gleich- gewichtes zwischen Vorstellungs- und Empfindungsreizen, nur ist in der einen Kunst die räumliche, in der andern die zeit- liche Wahrnehmungsart mehr oder weniger mittelbar.

Hieraus ist auch sofort ersichtlich, daß von Hause aus keinerlei Art der Motive, weder der simpelste Naturimpuls noch die komplizierteste Kulturtendenz, irgend etwas für oder wider ihren ästhetischen Wert beweist; jeglicher geistige Beweggrund läßt sich künstlerisch einverleiben, rhythmodynamisch organisieren. Wohl aber beweist es viel für das „Können" des Künstlers, wieviel solch diver- gentes Material (Dissonanzen, Kontraste, Konflikte etc.)

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er harmonisch zu transformieren vermag, und in diesem Sinne ist auch die SlofFwahl durchaus nicht gleichgiltig für das Kunsturteil; ganz sicher bedeutet ein vollkommener Tasso beträchtlich weniger Concentration, d. h. Sammlung mannigfaltiger Spannkräfte, als ein nur dreiviertels ge- glücktem Faust. Doch es kommt eben veeiter noch darauf an, ob all die Einzelbewegungs werte (Steigerungen wie Hem- mungen) einen gemeinsamen Schwerpunkt haben, und ob dieser Schwerpunkt selbstbeharrlich innerhalb des Kunstwerkes liegt oder aus der rein rhythmischen Form- tendenz in eine andre Intressensphäre hinausfällt oder zu fallen strebt, freiwiUig oder unfreiwillig. Erst daran kann die Kritik abmerken, ob es sich um ein poetisches oder rhetorisches Sinngedicht handelt, um ein echt koloristisches Sittenbild oder ein blos illustratives, um ein wirklich musi- kalisches Heldensingspiel oder ein hlteratürliches, um ein architektonisches Hochschulgebäude oder ein akademisches, um ein plastisches National-Denkmal oder ein theatralisches, um dramatische und mimische Kunst oder um wirksame Possenreißerei.

Es kann nämlich Vieles sehr kunstvoll wirken, was durchaus noch kein volles Kunstwerk ist; je nach Talent und Material können in der konstanten Proportion der variabeln Elementarfunktionen mehr die sinnlichen (raum- bezüglichen) oder mehr die geistigen (zeitbezüglichen) Potenzen ein gefährliches Übergewicht erlangen. In den „bildenden" Künsten wirkt die erste Gefahr auf Künstler wie Laien verführerisch (artistischer Sport) in den „tönenden" die zweite Gefahr (belletristische Tendenz)

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in allen Künsten die Zwittergefahr, willkürlich mit Zeit und Raum umzuspringen (phantastischer Dilettantismus); da also hätte der Kritiker als getreuer Eckart aufzutreten. Ob die Kritik dann fruchtbarer walten würde als die heut- zutage landläufige? Es gibt gute Gründe, das zu be- zweifeln. Vom grünen Tisch aus ist freilich denkbar, daß ein Kritiker alle Verhältniswerte in einem bestimmten Kunstwerk abschätzen und durch Nachweis vermeidlicher Mißverhältnisse denn unvermeidliche gibt es auch (siehe Michelangelo) dem Künstler wertvolle Finger- zeige für seine Entwicklung geben könnte, dem Laien für seine Urteilsbildung; es ist vielleicht sogar nicht unmög- lich, die einzelnen Elementarproportionen vermittelst der höheren Mathematik und physiologischer Meßapparate aus ihrer Wirkung auf eine große Anzahl typisch verschie- dener Personen durchschnittsmäßig zu analysieren. Nur fragt sich, ob Irgendwer Zeit dazu hat; es würde wohl jahrelanger Arbeit bedürfen, um sämtliche rhythmodyna- mischen DifFerentialquotienten der akustischen oder opti- schen Curven auch nur des kürzesten Stimmungsliedes oder der knappsten Porträtskizze auszurechnen. Wenn aber auch nur ein einziger all der wechselseitigen Stei- gerungswerte vom Kritiker nicht berücksichtigt würde, könnte der Künstler mit vollem Recht die Richtigkeit der Kritik bestreiten.

Und selbst angenommen, die Analyse der sämtlichen einzelnen Formelemente sei restlos auf jedes kleinste Wort, jeden winzigsten Farbenfleck ausgedehnt, so wären doch damit immer erst die ghedhaften Unterwerte bezeichnet,

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noch nicht ihr gestaltlicher Oberwert, die Beziehung jeder rhythmischen Spannung auf den harmonischen Ruhepunkt; für diese mystische Integralfunktion ist wohl selbst die höchste Mathematik eine unzulängliche Wissenschaft. Kurz: der Kunstrichter wird sich, genau wie der Künstler, wohl bis zum Tage des Jüngsten Gerichts auf sein instink- tives Maßgefühl, d. h. sein Genie, verlassen müssen. Je genialer aber ein Kritiker ist, umso mehr ist er selber ein Sprachkünstler; nur setzt sein Instinkt ihm immerfort einen wesentHch anderen Schwerpunkt des Wirkens, als der dem Dichter maßgebend ist. Der Kritiker will, je begabter er ist, umso eigensinniger eine Meinung diu*ch- setzen, irgend ein ideahsches Vorurteil, ein Naturprinzip, ein Kulturdogma, eine ästhetische Theorie, eine Welt- anschauung, ein Lebensgesetz, einen Ewigkeitswert und dergleichen mehr; vergleiche Lessing gegen Corneille, Voltaire gegen Shakespeare, Goethe gegen Kleist, Nietzsche gegen Wagner usw. überhaupt die ganze Poetenbande, sobald sie anfängt zu kritisieren!

Durch solche Vorurteile kann sich der Kunstrichter freilich auch für einen Künstler einnehmen lassen, was natürhch bei aller Ewigkeit rein Nichts für dessen Kunst- wert dartut. Meist jedoch wird der kritische Eigensinn, imd zwar grade der redemächtigsten Kenner, weil ge- witzigt durch den steten Zwang einer skeptischen Selbst- erkenntnis, die künstlerischen Wirkungsmittel auf einen kunstfremden Zweck hin beargwähnen, also unter dem Schein der Gerechtigkeit aus ehrhchstem Antrieb unge- recht sein; denn wer dem geheimen Leben des Kmist-

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Werks nicht mit ganzem Gemüt entgegenkommt, hat es schon halb zum Tode verdammt. Und schließlich: wenn nun z. B. jemand unwiderlegbar das Urteil rechtfertigte, daß Nietzsches Zarathustra-Figur von Grund aus undich- terisch gebaut ist, trotzdem sie einige wundervolle poetische Hymnen im Munde führt, und weil sie mit wahrhaft berauschender Sprachkraft auf eine verschwiegne Ge- meinde lospredigt, die das herrische Heilands werk des Propheten erst durch ihr \Mrken vollenden soll: was wäre mit diesem Nachweis gewonnen? Bleibt drum das Wbrt- werk des großen Redners, eine so unechte Dichtung es sein mag, nicht doch eine echte Schöpfertat, die ihre Maßstäbe in sich selbst trägt, mögen sie einigen anmaßen- den Leuten noch so zwiefach vermessen scheinen?! Der Füllkrug des Lebens trägt keinen Aichstrich; an der Elle der Ewigkeit gemessen, schrumpft jeder Maßstab auf NuU zusammen. Item: nur das Genie ist vollkommen maßvoll, und erst recht in seiner Maßlosigkeit. Daher allen Kri- tikern unermeßlich, mögen sie noch so maßgebend sein für zeitgenössische Talente.

LICENTIA POETICA

JEin Zwiegespräch über die Sprache

Eine liebenswürdige junge Dame, die leider mehr für meine Gedichte als für mich selber zu schwärmen geruht, deklamierte mir gelegentlich ein paar Verse aus

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meinem Erstlingsbuch. Mit einem Augenaufschlag, der die Engel des Himmels hätte berücken können, dekla- mierte sie:

Ich hasse dieses Mittelstraßenleben, ich spei auf eure wohlgemeinten Reden; ich passe nicht in euer Alltagsstreben, ich will den Preis nicht, der da feil für Jeden. Und so weiter bis zum Schluß:

Ich lege eher nicht das Schwert von Händen, bis Wunden oder Kronen mich ermatten; und eher nicht entgürt ich meine Lenden, bis im Olymp ich oder bei den Schatten. Da die junge Dame selbst zu dichten pflegt, konnte ich mich nicht enthalten, sie zu fragen: Und das finden Sie wirklich schön? Himmlisch! beteuerte sie.

Aber finden Sie die letzte Zeile nicht ein bißchen un- deutsch? fragte ich weiter. Bis im Olymp ich so spricht doch kein Mensch.

Darauf SIE (sehr überlegen): Nun, in Versen spricht wohl überhaupt kein Mensch.

ICH: Und darum meinen Sie, der Dichter dürfe mit der Sprache Unfug treiben?

SIE (noch überlegener): Wenn sein Gefühl ihn treibt, darf der Dichter Alles! Licentia poetica!

ICH: Hm Möchten Sie mir dieses Latein nicht ins Deutsche übersetzen?

SIE (verstimmt) : Ach Sie Pedant ! (Dann schnippisch:) Dichterische Freiheit!

ICH: KLtn Willkür wäre richtiger; Freiheit hieß auf

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lateinisch libertas. Aber, um auf Ihr Gefiihl zurück- zukommen

SIE: Gefühl des Dichters, bitte!

ICH: Sehr richtig auf Ihr sogenanntes Gefühl des Dichters. Wenn Sie also, mein sehr Gnädiges, mir er- lauben wollen, Ihnen nach meinem jetzigen Sprachge- fühl, das doch wohl auch ein Gefühl des Dichters ist und, liebe Freundin, die Gefühle der Dichter sind bekannt- hch sehr wandelbar : also wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, die von Ihnen so entzückend vorgetragenen Verse nach meinem heuligen Sprachgefühl zu wieder- holen —

SIE (ganz glückhch): Ach bitte, ja!

ICH: Aber Sie dürfen mich nicht unterbrechen.

SIE (beleidigt): Greuhg sind Sie.

ICH: Na dann dann also die Schluß verse blos: Ich lege nicht eher das Schwert aus den Händen, als bis mich \^nden oder Kronen ermatten; und nicht eher entgürt ich

SIE (entrüstet): Nein! Wirkhch! Das

ICH: Pst ! meine Lenden,

als bis ich auf dem Olymp bin oder

SIE (empört): Nein! Sein Sie still! Das ist ja einfach abscheuHch!

ICH: Ja. AbscheuHch.

SIE (mit Wurde): Und das sagen Sie von Ihrem eignen Gedicht?

ICH: Oh das ist ja garkein Gedicht.

SIE (mit offenem Mäulchen): Waas ?

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ICH: Das ist unreifer Redeblumenkohl.

SIE (gekränkt): Sie wollen mich wohl los sein!

ICH: Sie wollen wohl das Gegenteil hören! Aber im Ernst, verehrtes Fräulein Eva

SIE (mir ihre Hand entziehend): Nein, verehrter Herr Doktor.

ICH: Dann also liebes Evchen

SIE: Nein wirklich, Herr Richard, sein Sie doch nett zu mir!

ICH: Also, hebes Fräulein Eva lassen wir einmal zunächst das Sprachgefühl beiseite und sprechen von der Sprache des Gefühls! Dann, nicht wahr: dann würde ein Mensch, der einfach aussagt, was er fühlt, jene vier Zeilen etwa so ausdrücken: Ich kämpfe, bis ich siege oder falle!

SIE (das Naschen rümpfend): Das würde recht gewöhn- lich klingen.

ICH: Jawohl. Und wer sich im gewöhnlichen Leben beredter über seinen Mut ausließe, den würden Sie in Ihrem zarten Busen für einen grünen Jungen halten, oder für ein altes Großmaul; ich bitte um den jüngeren Ehrentitel.

SIE (sanft lächelnd): Tun Sie nur nicht so erhaben über sich! Der Dichter ist doch eben kein gewöhnlicher Mensch.

ICH: Der Dichter ist ein sehr gewöhnlicher Mensch; alle Menschen tichten.

SIE (ungnädig): Das steht schon in der Bibel

ICH: Ganz recht. Und wer den Andern mitteilt, was er dichtet, wird dadui'ch noch nicht ungewöhnlich; das tun sehr Viele.

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SIE (gereizt): Na ja, wir Dilettanten!

ICH: Oh der Künstler dichtet auch nur, weil's ihn dilettiert, d. h. ergötzt. Das Ungewöhnliche ist blos, daß sein Gedicht auch Andern dies Ergötzen beibringt, und nicht blos Einmal, sondern auf die Dauer.

SIE (mit Arglist): Sie denken wohl sehr eifrig an die Andern?!

ICH: An die Andern, liebe Freundin, denkt man stets, wenn man etwas verbrochen hat; z. B. ein Gedicht. Und wer es fertig brächte, alle Andern bis in alle Ewigkeit mit seinem Dichten zu ergötzen: wer also noch gewöhn- hcher würde als die gewöhnlichsten Bibelsprüche: der wäre zugleich der Ungewöhnlichste, der einzig Ungewöhn- liche, der ganz Vollkommene. So ungewöhnHch gewöhn- hch dichtet aber nur die Sprache selbst.

SIE (verwirrt): Dann sollte eigentlich kein Mensch mehr dichten?

ICH: Ja, wir sind Alle Verbrecher und mangeln des Ruhms, den wir vor Gott haben möchten.

SIE: Ist das Ihr Ernst?

ICH: Mein voller Ernst.

SIE (erleichtert): Nun, dann braucht sich doch der Dichter erst recht nicht an die Menschen zu kehren

ICH: Oh ! mein Gott ist sehr menschlich. Er offen- bart mir seine Gesetze nur durch die Sprache der Menschen, und die gebietet mir: du sollst dich nicht verstellen wie ein Affe und dich nicht spreizen wie ein Pfau im Liebes- rausch. Nicht, liebe Eva?

SIE (errötend) : Es glaubt doch aber mancher, daß man

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sich verstellt, wenn man's in Wahrheit ganz ehrlich meint. Die Andern sind nun einmal so.

ICH: Welche Andern?

SIE: Na, doch die meisten!

ICH: Sie denken wohl sehr eifrig an die meisten?!

SIE (hochrot): Sie sind ein Scheusal! Ich weiß schon selbst, daß ich nichts Besonderes bin; das brauchen Sie mir garnicht erst zu sagen!

ICH: Tun Sie nur nicht so erhaben über sich!

SIE (fast weinend) : Greulig sind Sie.

ICH: Licentiapoetica! Und, Hebe Freundin: mit den Andern ist es eine eigne Sache. Wenn man nämhch über sich erhaben tut, dann ist man " in der Tat nichts irgend- wie Besonderes, sondern stellt sich den Andern gleich, mit denen man sich Eins fühlt. Diese Andern sind das bessere Teil von uns; sie stellen unser Gewissen dar. Und darum sagte ich vorhin: man denkt an sie, wenn man etwas verbrochen hat, nicht während des Verbrechens leider.

SIE (hartnäckig): Also habe ich doch Recht, der Dich- ter folgt nur seinem Gefühl!

ICH: Leider.

SIE (verdutzt): Wieso?

ICH: Weil die Dichter sonst gewissenhafter mit der Sprache umgehn win-den.

SIE (mißtrauisch): Auch die wirklichen?

ICH: Auch die wirkhchen, die Künstler.

SIE (gespannt): Dann bleibt doch garkein Unterscliied mehr zwischen Dilettant und Künstler?

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ICH: Je nun, der Unterschied der Wirkung.

SIE: Wenn aber ein Gedicht schön auf mich wirkt, dann ist es doch auch schön.

ICH: Bis Sie dahinter kommen, daß es nicht mehr schön ist; und bei den meisten schönen Dingen kommt man sehr bald dahinter. Sobald man nämlich merkt, wie sie gemacht sind. Dann wirken sie gemacht! Dann ist der Reiz des Lebens weg, des ganz gewöhnlichen, ge- heimnisvollen Lebens, Fräulein Eva!

SEE (nachdenklich): Sie meinen also, daß sich ein Kimstwerk nm' durch die Lebensfülle von einem Mach- werk miterscheidet?

ICH: Ganz vortrefflich gesagt! Sogar die Kunstwerke gegenseitig: nur durch ihr dauerndes Maß an Lebensfülle übertreffen sie einander. Die Ehrfurcht, die wir auch vor toter Kunst empfinden, z. B. vor der egyptischen, ist eigentlich nur Furcht vor unserm eignen Tode, und der gehört ja mit zu unserm Leben. Daher das Wörtlein „unsterblich".

SIE (verstimmt): Sie sollen nicht spotten!

ICH : Nein, ganz im Ernst. Je mehr Beziehungen auf unser eigenstes Leben und mancher lebt ja blos dem Tod zu Liebe ein Kunstwerk für uns hat, umso ge- heimnisvoller, d. h. reizvoller, d. h. schöner wirkt es. Daher auch Liebesgedichte die unsterblichsten sind; nichts ist beziehungsreicher als die Liebe.

SIE (ganz Weib): Sie sind ein Cyniker.

ICH: Verzeihung, nein! Ich dachte sowohl an Penelope, die liebevolle züchtige Hausfrau, wie an die unzüchtig

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lustvolle Helena. Schön wirkt nämlich nichts an sich, sondern stets nur durch Beziehung auf sehr vieles Andre. Zum Beispiel auch das so gewöhnhche Gefühl: ich kämpfe, bis ich siege oder falle wird schön, wenn es in einer ungewöhnlichen Beziehung, zum Beispiel von Odysseus zu den Freiem, oder zwischen Hektor und Achilleus, auftritt. Nicht schön aber ist es, wenn einer, der wie Hektor fühlt, sich solo auf den Pegasus schwingt und seinen Mund vollnimmt wie FalstafF. Dann verstellt er eben sein Gefühl, d. h. entstellt es, und dafür gibt's nur eine Entschuldigung: seine Ungeschicktheit im Gebrauch der Muttersprache, seine jugendliche Anfängerschaft.

SIE (bedrückt): Dann sollte also wirklich kein Künstler mehr in Versen sprechen?

ICH: Oh wenn sein Gefühl ihn treibt?!

SIE (kleinlaut): Das soll wohl wieder eine Falle sein.

ICH: Nur für den Künstler selbst. Wenn er sich näm- lich nicht in sein Gefühl zu schicken weiß. Daher das "Wortlein „ungeschickt".

SIE (ehrlich): Jetzt kann ich nicht mehr mit.

ICH: Nun, hebes Fräulein Eva, es muß doch wohl in unserm Sprachgefühl begründet sein, daß sich der Mensch zuweilen, wenn ihm ganz eigen zu Mute ist, wenn sein Gesamtgefühl ganz unaussprechlich schön ist, ganz unaus- sprechlich lebensvoll: daß er sich dann in Versen aus- spricht.

SIE (sehr lebhaft): Ja!

ICH: Und wenn nun dies sein Sprachgefühl, das ihn den andern Menschen zugesellt, diesem seinem Gesamt-

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gefühl, das so absonderlich eigen ist, seine unaussprech- liche Lebensfülle nicht ganz abzuringen versteht, sich auch nicht zu beschränken versteht auf den noch niemals aus- gesprochenen Rest: dann greift er eben auf den Sprach- schatz Anderer zurück, und dann vergreift er sich. Dann spricht er nicht mehr seine Muttersprache, die er aus seinem lebendigen Gefühl bereichern möchte, sondern irgend eine Großvatersprache, die sein Verstand aus toten Büchern stahl; und auch diese nicht einmal verständig Verstand ist nämlich nur erstarrtes Gefühl sondern weil er eben ein Enkel ist, schlägt sein naseweises Grünjungengefdhl der Mumie Verstand ein Schnippchen, und statt aufgefrischter Schönheit entsteht ein exqui- siter Kehrichthaufen von verdorbenen Schönheitsmittel- chen.

SIE (ungläubig): Man dürfte also nicht in einem Vers- maß dichten, das schon ein Andrer angewandt hat?

ICH: Wenn das Gefühl uns zwingt?! Versmaße sind Gemeingut.

SIE (aufatmend): Versmaß und Reim vertragen sich doch aber nicht mit der gewöhnlichen Sprache.

ICH: Das ich nicht wüßte. Versmaße sind geduldig.

SIE: Die Sprache auch! Mit solchen Witzen imponieren Sie mir nicht.

ICH: Oh kein Witz. Die Reime sind doch wohl enthalten in der Sprache; und jeder Satz

SIE (vorschnell: der Tonfall ist doch aber anders! Und danach muß der Dichter doch den Satzbau umbauen! Ob mehi', ob weniger, das eben ist doch die

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ICH: Nun?

SIE (forsch): licentia poetica!

ICH: Also dichterische Unfreiheit

SIE (verlegen): Meinethalben! Wenn eben sein Gefühl ihn zwingt!

ICH: Ganz recht; der Tonfall, den mein eigenstes Ge- fühl mir aufzwingt das wollte ich vorhin zu sagen mir erlauben der ist in jedem Satz enthalten, den das ge- wöhnliche Leben mich aussprechen läßt.

SIE: Doch aber kein geregelter Tonfall!

ICH: Wodurch geregelt?

SIE: Na, durch den Rhythmus!

ICH: Ich spreche schon seit einer Viertelstunde nur vom Rhythmus.

SIE (verwundert): Sie?

ICH: Ja, ich. Rhythmus nämhch, Fräulein Eva, heißt ursprünglich nichts weiter als Wellenbewegung, regel- mäßiges Fheßen von Kräften; und alle solche Bewegung ist Leben. AUes Leben aber, das sich in uns selbst be- wegt und uns irgendwie bewußt wird, nennen wir Ge- fühl; und jedes Gefühl hat seine ganz bestimmte Be- wegung, die sich der Äußerung des Bewußtseins, d. i. der Sprache, mitteilt und ihren Tonfall ausmacht. Da aber Gefühle, sinnliche wie geistige, niemals einzeln auftreten, sondern immer in Verbindung mit allerlei andern, so haben im Lauf der Jahrtausende gewisse häufig wieder- kehrende, d. h. gewöhnliche Gefühls Verbindungen gewisse festgefügte Tonfolgen erzeugt, darunter auch die soge- nannten Versmaße. Da den Dichtern jedoch nicht darum

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zu tun ist, gewöhnliche Gefühlsverbindungen zu wieder- holen, sondern ungewöhnliche festzustellen, bis auch diese der Menschheit gewöhnlich werden: so fügen sie entweder neue Versmaße, oder aber sie lockern die alten.

SEE: Das Letzte ist mir nicht ganz klar.

ICH: Nun, eine vmgewöhnliche Gefühlsverbindung kann doch als Hauptbestandteil eine sehr gewöhnliche enthalten. In diesem Falle wird der Dichter unwillkürlich zu dem Versmaß greifen, dessen regelrechter Tonfall seinem Hauptgefühl entspricht. Da aber sein Gesamtgefühl noch starke Nebengefühle enthält, so wird er ebenso unwill- kürlich den Tonfall dieses Versmaßes durch den Tonfall seines Satzbaues übertönen müssen, und dieser Wettlauf der Bewegungen ist es, was den eigentlichen, eigentüm- lichen Rhythmus eines solchen Gedichtes ausmacht. Nicht also das Versmaß regelt den Satzbau, sondern umgekehrt ; und deshalb sterben die alten Versmaße aus, sobald sie nicht mehr fähig sind, den lebensvollen Tonfall und Satz- bau, den die Gefühle einer neuen Zeit in die gewöhnliche Sprache legen, zwanglos in sich aufzunehmen. Wen frei- lich sein Gefühl nur treibt, ihm einen ungewöhnlichen Aufputz zu geben und sakrosankte Kothurne unterzu- schnallen, der kann sich zwar naturgemäß allmählich recht prachtvoll verstellen lernen, aber seine Natur wird nie als machtvolles Leben weiterwirken, und wenn er seiner Muttersprache die Gliedmaßen noch so sehr verrenkt.

SIE (heldenmütig) : Ich werde niemals mehr in Reimen dichten!

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ICH; Aber nanu? Warum denn nicht?

SIE: Na, die verfuhren doch am meisten zu poe- tischen Licenzen.

ICH: unkünstlerischen Eigenmächtigkeiten.

SIE: Gibt es denn auch künstlerische?

ICH: Nun, jeder Rhythmus ist doch eigenmächtig. Wenn er nämlich eigen ist.

SIE: Wer also neue Rhythmen erfindet, der darf poe- tische Licenzen

ICH: dichterische Bequemlichkeiten

SIE: sich erlauben?

ICH: Der würde garnicht in die Lage kommen.

SIE (ganz starr): Was! Das begreif ich nicht.

ICH: In die Verlegenheit der Sprach Verdrehung, Fräu- lein Eva, kommt der Dichter nur, wenn sich der Tonfall, den sein eigenstes Gefühl ihm vorschreibt, mit irgend einem überlieferten kreuzt. Rhythmen nämlich erfindet man nicht: man findet sie. Erfinderisch macht nur die Notdurft, nicht die Fülle; und in der Lebensfülle des Gefühls sind alle Rhythmen, die es je gegeben hat und geben wird, enthalten. Wenn aber Ihr Gefühl sehr reich ist an Bewegungen, die früher niemand wahrgenommen hat, so wird auch Ihre Sprahe, die das Ergebnis der Gefühlswahrnehmung ist, sehr selten in Verwirrungen durch frühere Rhythmen geraten. Keiner freilich, liebe Eva, ist so reich, daß er nur neue Rhythmen spricht; wir haben allesamt den alten Adam im Leibe.

SIE (überzeugt): Dann darf man also in Reimen nur sprechen, wenn sie der Rhythmus mit sich bringt?!

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ICH: Vorausgesetzt, daß man den Rhythmus wahrzu- nehmen weiß.

SIE: Wie soll ich das verstehen?

ICH: Jedes Wort, das ein Gefühl mir eingibt, enthält die Elemente zu jedem beliebigen Rhythmus, je nachdem es in Verbindung tritt mit irgend einem andern Gefühls- wort; und ebenso die Sätze, die solchen Verbindungen entspringen. Zum Beispiel die so sehr gewöhnliche Ge- fühlsverbindung: ich kämpfe, bis ich siege oder falle wenn Sie nur recht hinhorchen wollen: es ist ein völlig regelrechter Blankvers. Ist diese gewöhnHche Gefühls- verbindung nun der Hauptbestandteil Ihres Sie so unaus- sprechlich treibenden Gesamtgefühls, so werden Sie ein jambisches Gedicht verbrechen, und zwar umso jamben- füßig glatter und platter, je weniger sich Ihre Sprache in die nur Ihnen eignen Nebengefühle zu schicken weiß, d. h. sie wahrzunehmen versteht. Da diese aber doch in Ihnen mitarbeiten, so wird Ihr ungeschicktes Sprachgefühl auf den hochtrabenden Jambenfüßen bald nicht mehr ganz so glatt weiterkönnen, und dann ergreifen Sie den Krück- stock der

SIE (schelmisch): dichterischen Faulheit.

ICH: Vortrefflich! Oder: um den Dilettanten nicht zu nahe zu treten ?

SIE (geknickt): künstlerischen Schwäche.

ICH: Hectissime, ftcc /ila\ Aber lassen Sie mich weiter reden; ich komme bald auch zu den Reimen. Nämlich jener so gewöhnliche Kampfesmut könnte doch auch nur ein nebensächliches Gefühl in Ihrem unaus-

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sprechlichen Gesamtgefühl vorstellen. Sie könnten bei- spielsweise eine bange Todesahnung als das Hauptgefiihl empfinden. Dann würden Sie wenn Sie noch einmal recht hinhorchen wollen den Satz in folgende zwei Tonfolgen trennen:

Ich kämpfe, bis ich siege oder falle! Und wenn Sie noch mehr Nachdruck auf das Fallen legen möchten und zugleich die allgemeine Gegnerschaft des menschlichen Lebens gegen Sie ausdrücken, so würden Ihnen unwillkürlich die Reime „unterliege gegen Alle" in den Sinn kommen, und Sie hätten ein vier- zeiliges Versmaß, dessen Tonfall ein schwankender wäre, nämlich zwischen Jamben und Trochäen oder vielleicht noch klapperbeiniger. Oder aber: wenn sich Ihr Haupt- gefühl das volle Gleichgewicht der Kräfte bestätigen möchte, dann brauchten Sie nur ein Bekräftigungswörtlein vor den Satz zu stellen, und aus dem einen regelrechten Blankvers würden drei nicht minder regelrecht trochäische Zeilen:

Ja! ich kämpfe, bis ich siege oder falle. Alldas indessen, Fräulein Eva, waren noch durchaus ge- wöhnliche Gefühlsverbindungen. Gesetzt nun aber den ganz ungewöhnlichen Gefühlsfall : Richard Dehmel, dieser greulige Pedant, möchte das entzückend grundsatzlose Fräulein Eva küssen

SIE (entsetzt): Um Gottes Willen!

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ICH: Oh, bitte, nur Geduld! die Hauptsache kommt erst : und sie wehrte sich dagegen : und es läge dieser persische Teppich unter ihren Füßen, über den be- sagter Dehmel leicht im Ringkampf der Gefühle stolpern könnte : dann würde ihn zwar auch auf einen Augen- blick das Nebengefühl befallen: ich kämpfe, bis ich siege oder falle aber wenn er trotzdem weiterkämpfte und nun wirklich fiele, und er möchte diesen lächerlichen Vor- fall, über den er sich ganz unaussprechlich schämen würde, gern aus seiner Seele reißen : dann, liebe Freundin, würde dieses pedantische Scheusal jenen Satz wohl kaum noch mit demselben Kampfesmut aussprechen, würde ihn wohl überhaupt nicht selber in den Mund nehmen, das entspräche doch zu wenig seinem verschämten Gesamt- gefühl, sondern würde sich wahrscheinlich sehr von sich befremdet fühlen

SIE (treuherzig): Gott sei Dank!

ICH : und würde also jenen unverschämten Kampfes- mut irgend einem andern greuligen Pedanten in den scheusäligen Mund legen. Dann aber, Fräulein Eva und jetzt erst kommt die Hauptsache würde mein ver- schämtes Gesamtgefühl mich zwingen, diesen unver- schämten fremden Pedanten in einem Rhythmus sprechen zu lassen, der zu dem Rhythmus meiner eigensten Ge- fühle in einem lächerlichen Widerspruch stünde. Dann müßte seine ganze Sprache von einer brünstigen Sieges- hoffnung überfließen denn, nicht wahr? auch das ent- zückend grundsatzlose Fräulein Eva hätte ja auf den Teppich fallen können

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SEE (ernst lächelnd): Sein Sie nicht so frech!

ICH: Es geht nicht anders; ich bitte aufzupassen! Also: einer lächerlich brünstigen Siegeshoffnung, die von der schlichten Sprache meines unaussprechlich verschämten, ihn beschämenden Tatberichtes recht beredt abstäche. Da würden dann, besonders wenn besagter Pedant ein sonst durchaus gesitteter Herr mit ehrwürdig grauem Haupte wäre, die Reime „Händen, ermatten Lenden, Schatten" schon weit eher dem Sachverhalt entsprechen, als in meinem von dem Fräulein Eva so entzückend deklamierten Grün- jungengedicht. Und da Pedant zu deutsch ein Herr ist, der auf Grundsätzen herumreitet, so würde dieser lenden- lahme Graukopf umso lächerlicher auf den Teppich fallen, je greuliger er im Überschwang seines, unverschämten Siegestonfalls etwa Walzergalopp gegen ein grund- sätzlich sauberes Sprachgefühl verstieße. Wenn also Richard Dehmel, getrieben durch die ungewöhnliche Verzwicktheit seines unaussprechlichen Schamgefühls, jenem fremden Biedermann gewisse altehrwürdige Sprachunsauberkeiten auf seine neuhochdeutsche Zunge legte, so wäre das zwar eine dichterische ?

SIE (belustigt): Frechheit!

ICH: Aber ?

SIE (ernst nickend): Aber sie würde künstlerisch wirken.

ICH: Auf wen?

SIE (zartsinnig): Auf jeden, dem der alte Pedant so greulig wie dem Dichter wäre.

ICH: Küß die Hand, mein Gnädiges! Nun aber, liebe Freundin: warum wohl dann die künstlerische Wirkung?

LICENTIA POETICA 99

SIE: Weil natürlich weil dann die Licenz die al- berne Dreistigkeit des Pedanten auch sprachlich mehr zur Anschauung brächte.

ICH: Und so zugleich die Lächerlichkeit; im Gegensatz zu der gewissenhaften und ernsthaften Sprechart des ehr- samen Tichters. Weil also die Beziehungen von der Ge- mütsbewegung des Einen auf die des Andern vielfältiger und für abermals Andre wahrnehmbarer würden; wodurch sich also ?

SIE (ganz Feuer und Flamme): die Lebensfülle des Ge- dichtes steigern würde.

ICH: Dagegen angenommen den Fall, dieses lebensvolle Gedicht ich will's mal „moralische Burleske" betiteln fiele einem deutschen Ästhetikus in die Hände, der übrigens kein Professor zu sein braucht, sondern z. B. Reserveleutnant, Gutsbesitzer und Auchdichter sein kann : und der risse denn deutsche Ästhetikusse haben be- kanntüch äußerst moralische Grundsätze die schmutzige Zunge des Pedanten der braven Burleske aus dem Leibe, um sie voll sittücher Entrüstung dem Staatsanwalt zu denunzieren: dann würde, glaube ich, die Wirkung dieses rausgerissenen Stück Lebens ganz gewiß nicht mehr burlesk sein, sondern für das Anstandsgefühl?

SIE (entrüstet): Schamlos!

ICH: Und für das Sprachgefühl?

SIE: Geschmacklos!

ICH: Also insgesamt?

SIE: Gefühllos! schändlich! gewissenlos!

ICH: Sie sehen also, liebe Freundin wenn wir den

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grundsatzvollen Denunzianten geziemend auf sich beruhen lassen : auch für den Künstler ist Gewissen das Gefühl, durch das er sein Stück Leben, sein begrenztes, kleines, dem grenzenlosen Ganzen, dem andern Leben verbunden weiß, und da wir Menschen sind, vor allem den andern Menschen. Und licentia, zu deutsch Willkür-, bezeichnet alle Grade des gewissenlosen, d. h. Andern unliebsamen Beliebens, von der Faulheit der schwächlichen bis zur Frechheit der starken Gefühle. Verzeihlich aber ist die Willkür nur, wenn sie notwendig ist als Ausbruch eines durch seine Lebensfülle unaussprechhchen Triebgefühls, d. h. wenn solch ein Willkürakt von Grund aus unwill- kürlich ist; und deshalb sagte ich vorhin, daß auch das künstlerische Sprachgefühl sich leider manchmal andern Zwangsgefühlen beugen müsse. Denn, Fräulein Eva: wenn die Lebensfülle des den Künstler treibenden Grund- gefühls nicht so unaussprechlich wäi'e, dann entstünde überhaupt kein Kunstwerk, sondern höchstens eine wohl- durchdachte Künstelei, ein saubres Machwerk.

SIE (böswillig) : Sie haben aber doch vorhin recht gründ- lich über Ihr verschämtes Grundgefühl gesprochen.

ICH: So? meinen Sie? Nun, deshalb wird auch kein Gedicht daraus. Soweit ich etwas noch genau zerlegen und beschreiben kann, weil ich genau Bescheid darüber weiß: soweit gehört es in die Wissenschaft! Erst wo mich ein Gefühl und überhaupt ein Lebensreiz durch seine unauflösliche Verbindung mit meinem eignen und dem ganzen Leben in Beschlag nimmt, erst da kann sich der Künstler schöpferisch erweisen; denn da erst kann

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uns seine Anschauungs-und-Einbildungskraft durch Dar- stellung und Deutung der geheimnisvollen Verbundenheit neue Lebensfiille offenbaren. Und einzig Das treibt auch den Dichter zum gebundenen Rhythmus, im Unterschied vom ungebundenen Tonfall: die Unauflöslichkeit, die Un- beschreiblichkeit, die Unaussprechlichkeit des treibenden Grundgefiihls für den nachprüfenden Verstand.

SIE (zögernd): Wenn ich recht verstehe, kann also der Künstler stets nur ahnen lassen, was er eigenthch aus- drücken will?

ICH: Ganz recht; weil er es eben selbst nur ahnt. Aber, Fräulein Eva: dieser künstlerische Ahnsinn, der keineswegs wie manche Irrenärzte meinen Wahn- sinn ist, hat eine sehr klarsinnige Mitgift: die Währ- nehmungsgabe. Er sieht, wenn solch ein unbeschreib- liches Gesamtgefühl ihn überfällt, aus der bewegenden Woge allerlei besonders bewegte Wellenbildungen, zu- gleich Gebilde des Innenlebens und Bilder äußeren Daseins, auftauchen; und je bezeichnender er deren Bewegtheit zu fassen und zu einen vermag, umso ergreifender wird die Bewegung der ganzen Woge auch andern Seelen zur Ahnung kommen. Nicht sofort natürlich, und nicht jeder Seele; denn alle neue Bewegung braucht Zeit, um die vorhandenen alten zu durchdringen, und je eigenkräftiger sie ist, desto bewegteren Widerstand erregt sie um sich her. Aber auch für die wenigen Andern, die im Inner- sten schon von gleichen Ahnungen wie der schöpferische Künstler bewegt sind, wird seine Schöpfung umso reichere Seelenreize, d. h. Lebenskräfte offenbaren, je weniger er

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sein Gesamtgefuhl nach Art der Schwätzer zu äußern versucht, sondern je mehr Beziehungen auf anderes Dasein er seinem eignen Zustand in knappster Fassung entnimmt; und in diesem Sätzchen, hebe Freundin, haben Sie das Grundgesetz der künstlerischen Stimmungskraft. Denn , hebe Eva : in der Lebensfülle des hingegebenen Gefühls hört jeder Unterschied von Mein und Dein, von Seele und Welt, von Innen und Außen vollkommen auf! Da ist Ihr reizender Mund so sehr mein Eigentum, wie hier mein ach so greuliger Schnurrbart; und Ihre Pulse fühle ich als die meinen, und Ihre Hand versagt mir keinen Dienst!

SIE (befangen): Sie sind sehr von sich eingenommen.

ICH: Oh! auch von Ihnen, liebe Freundin!

SIE (streng): Nein, verehrter Herr Richard, lassen Siel Bitte, erklären Sie mir heber: was hat das alles mit der poetischen Licenz zu tun!

ICH: Na, merken Sie denn nicht: indem der Dichter die Bilder des äußeren Lebens, die doch sein innerstes Gefühl andeuten, in der ihm eigensten, d. h. gewohntesten "Weise aussprechen will denn nicht wahr, mein Aller- gnädigstes: die Sprache, die Mir im Innersten gewöhnlich ist, ist es noch lange nicht für Hans Jedermann also in diesem Streben nach möghchst gewöhnhcher Feststellung der wahrgenommenen Einzelbilder ist er zugleich doch genötigt, sie zima Gesamtbild seines u n gewöhnUchen Ge- fühls zu einen, und dem entspricht natürÜch auch eine Einung der rhythmischen Glieder. Die aber stellt sieb dadurch her, daß die hauptsächlichst betonten Worte, je

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nach dem Zeitmaß der Gefiihlsbewegung, in einer Be- ziehung auf einander folgen, durch die sich ihr Sinnwert wie ihr Bildwert in ungewohntem Maße steigert, und dazu gibt die Sprache dem Künstler allerlei Hilfsmittel des An- klangs an die Hand, unter anderen auch den Reim. Neben- bei gesagt, geht schon hieraus hervor, daß für die deutsche Sprache die grundsätzliche Forderung des „reinen" Reims ein pedantischer Unsinn ist, den uns die Schulmeister aus mißverstandener NachäiFung romanischer Klangreize auf- gedoktert haben; das deutsche VolksUed und unsre deut- schesten Dichter wissen nichts von einer solchen Vorschrift, und oft z. B. wo es sich um Darstellung schmerzhafter, widerwilliger und überhaupt zwiespältiger Gefühle handelt ist natürhch grade der unreine Reim ein sehr reiz- volles Mittel zur Versinnlichung der seelischen Bewegung. Er also ist keineswegs den sogenannten dichterischen Frei- heiten beizuzählen, denn er ist im Wesen unsrer Mutter- sprache begründet, die solche halben und doch vollen An-» klänge reichlich zur Verfügung stellt, während z. B. der Itahäner vergebens danach suchen würde. Natürlich, wenn ein deutscher Dichter italiänische Versmaße aufgreift und leider sind das eine Zeitlang die landläufigsten bei uns gewesen dann übernimmt er damit auch die Pflicht des reinen Reims; aber darum ist er noch kein reinerer Dichter als sein verehrlicher Busenfeind, der üeber alt- deutsche Knüppelreime oder Verse a la Heine verbricht. Ahnlich verhält sich's mit dem sogenannten Hiatus, vor dem uns die Schulmeister ebenfalls nach mißverstandenen antiken Mustern warnen, was dann bei manchem Musen-

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söhn zu schauderhaften Abhackungen der wichtigsten deutschen Endungen führt, z. B. wenn uns einer sagen will, daß er ein Mädchen Wehte, und anstatt dessen drucken läßt: „ein Jüngling lieb^' ein Mädchen". Das hält er dann wahrscheinlich füi* eine dichterische Freiheit, ist aber nichts als Pfuscherei nach überliefertem Rezept. Und hiermit, Fräulein Eva, sind wir an den Punkt gelangt, wo sich die Sünde des Stümpers oder auch des Anfängers gegen sein gewöhnliches, d. h. lebendiges Sprachgefühl von der des reifen Künstlers unterscheidet. Auch den wirklich schöpfe- rischen Dichter wird jener Zwang, den Tonfall der ver- schiedenen Satzgebüde auf eine einheitliche Gesamtbewe- gung hinzuleiten, unwillkürlich zu einzelnen Verstößen gegen sein zwangloses Sprachgefühl verführen; nur wird, weil eben hier ein wahrhaft eigenes Grundgefühl den An- stoß gibt, die scheinbare Willkür der Satzbehandlung sich auch als wahrhaft eigenmächtige herausstellen, nicht wie beim Halbkünstler als Wiederholung altehrwürdiger Un- beholfenheiten. Ja, unter Umständen, Fräulein Eva, kann solche Eigenmächtigkeit, die also ihrerseits nur eine neue Unbeholfenheit vor dem allmächtigen Leben ist, so zwingend wirken, daß sie unreifen Geistern als eigent- lichster Reiz der neuen Sprachschöpfung erscheint und dann „fortzeugend Böses muß gebären" wie unser alter Schiller sagte statt „gebären muß"j das nennen die Leutchen dann Stil.

SIE (nachdenklich): Dann werden aber nur sehr wenig Gedichte den Sprachschatz auf die Dauer bereichern.

ICH: Selbstverständlich, liebes Kind! denn das Sprach-

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gefühl der Allgemeinheit ist natürlich gewissenhafter, als es das von iigend einem Einzelnen, auch dem klai'sinnig- sten, sein kann. Ja, man darf sagen: jeder neue Meister der Sprache ist nur ein Handlanger des allgemeinen Sprachgewissens, der die Unnatur der Väter aus der Welt schafft und selbst zum Sünder wider die Natur wird, um so die Enkel abermals zu reinerer Kultur zu reizen.

SIE: Und unsre Klassiker??

ICH: Die eben sind das beste Beispiel dafür. Nach jahrhundertlanger Verschnürung und Verknöcherung der deutschen Schriftsprache haben sie den deutschen Satz erst wieder kunstgelenkig gemacht; und wenn sie da noch nicht grundsätzlich dem Tonfall ihrer natürhchen Sprech- art Schritt zu halten suchten, ja sich sogar bei den antiken Meistern die rhythmische Gangart einstudierten, so stand eben ihnen die Entschuldigung der deutschen Ungeübt- heit zur Seite, die uns dank ihnen nicht mehr zu- steht. All die Verrenkungen des Satzbaues, für die es nur lateinische Bezeichnungen gibt, und die uns die ästhetischen Doctores als Licentia poetica auftischen: all diese Inver- sionen von Subjekt, Objekt und Prädikat, von Adjektiv, Pronomen und Adverb, diese Genitiv- Einschachtelungen zwischen Präposition und ihren Casus, diese Lüderlichkeiten in Anwendung des Artikels, diese Inkonsequenzen der Consecutio temporis, diese gehäuften Partizipial-Konstruk- tionen usw. usw.: all das ist nichts als klassischer Zopf, gymnasiale Verbildung, mißverstandene Antike, denn dem Römer und Griechen waren grade diese Sprachverbaste- lungen keineswegs licentia, sondern wirkliche alltägliche

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libertas der gebildeten Redeweise, oder gar grammatische Regel. Ist es nicht einfach unerhört entschuldigen Sie, Fräulein Eva, ich muß durchaus mal auf den Tisch hauen : ist es nicht tatsächlich empörend, daß dieselbe Satzverdrehung, die in einem deutschen Aufsatz jeder Lehrer seinem Schüler als groben Fehler anstreichen würde, von demselben Lehrer in einem deutschen Gedicht als klassisches Schönheitspflästerchen angepriesen wird?! Und selbst bei Künstlern findet man noch heute die Meinung, als sei bei ihnen im Vers erlaubt, was sie in Prosa kaum einem deutsch schreibenden Slovaken ver- zeihen würden ! Als ob der richtige Gebrauch der Mutter- sprache, soweit er im Bewußtsein einer Zeit klar feststeht, nicht das Mindeste wäre, was man vom Dichter verlangen kann!

SIE (ganz eingeschüchtert): Ich werde ganz wahrhaftig nicht mehr dichten. Wenigstens nicht öffentlich.

ICH: Nanu? Wieso denn plötzlich?

SIE (verstockt): Wenn selbst die Künstler meist blos Ramsch zusammendichten, dann ist das Dilettieren doch ganz wertlos.

ICH : Oh, liebes Herz, ganz wertlos ist wohl Nichts in der Welt. Die Leistungen der Dilettanten sind der beste Maßstab für die ästhetische Bildung eines Volkes.

SIE (verächtlich, sich erhebend): Bildung! Was ist Bildung?!

ICH: Bildung, Fräulein Eva, das kann ich Ihnen ganz genau sagen: Bildung ist eingefleischtes Bewußtsein, ist die sogenannte zweite Natur. Soweit ich über die Er-

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scheinungen des Lebens und ihre Beziehungen zu ein- ander ein unwillkürlich gründliches Wissen, d. h. Be- wußtsein habe, soweit bin ich darin gebildet.

SIE (achselzuckend): Das ist was rechts.

ICH: Das soll man freilich nicht überschätzen; aber auch nicht unterschätzen! Je umfassender die Bildung, umso inniger die Andacht vor dem Unbegreiflichen, umso lebhafter die Lust an neuer Lebensoflenbarung. Das Un- bewußte zeigt uns seine Kraft doch auch nur durch die Tätigkeit, die ich vorhin als Ahnsinn bezeichnete, d. h. durch einen abgekürzten Vorgang des Bewußtwerdens. Alles, was Menschen Entwicklung nennen, ist ja nur Er- weiterung ihres Bewußtseins. Auch die schöpferischen Künstler, Fräulein Eva, die stets urspiünglichen : was unterscheidet sie denn von den „stilvollen" Fachleuten: nur daß sie fiiiher oder klarer gewisse Grundbeziehungen in den Gefühls Verbindungen ahnen, die sich bewegter, stärker, lebensvoller in ihr Bewußtsein drängen. Es hält sich Mancher für einen Künstler, der nur ein fein ge- bildeter und sehr geschmackvoller Handwerker ist; und mancher „hochverehrte Meister" ist blos ein neunmal- kluger Dilettant. In der Tat, sie stecken voll von Stilen, drum finden sie niemals einen Stil. Das schadet aber ganz und gar nichts; denn ihre Leistungen zeigen eben, wie weit die Offenbarungen der wahren Schöpfer schon in das Allgemeinbewußtsein gedrungen sind, ins Fleisch und Blut der Gebildeten, und treiben die ursprünglicheren Geister zu weiterer Enthüllung der bildsamen Natur. Sie sehen, liebe Freundin, wie nahe das Gewissen verwandt

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ist mit dem AVissen. Und, liebe Eva Sie können mir Ihr Handchen ruhig lassen : manchem Dilettanten, der ehrlich nichts als ein hingebungsvoller Mensch sein will, gelingt mitunter ein ergreifenderes Lied als all den wort- gewandten Dichtern, die mehr verliebt in ihre paar fest eingeübten Kunstgriffe sind, als in die unbegreifliche Be- weglichkeit des Lebens.

SIE (ergriffen): Ja wirklich?

ICH: Ja wirklich, liebes Herz!

SIE (mir ihre Hand entziehend): Jetzt muß ich aber gehen. Ich danke Ihnen herzlich. Sie haben mir heute sehr viel gesagt.

ICH: Hm. Und was habe ich davon?

SIE (lächelnd): Nun, den Dank!

ICH: Und trotzdem immer noch keinen Kuß?

SIE (lachend): Frechheit!

ICH: Licentia poetica!

SIE macht in Gnaden die Augen zu . . .

SCHULBUCH UND KINDERSEELE

Einige Winke für Pädagogen

Was ich hier auseinandersetzen will, wird hoffentlich bald veraltet sein; aber dann möge es als ein Zeugnis fortwirken, aus was für Wirrnissen unsre Zeit eine neue Bildung zu entwickeln vermochte. Man hat sich in Deutsch-

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landnunJahrelangüber„Jugendschriften"und „Kinderkunst" mit heißem Bemühn die Köpfe zerbrochen, berufene und unberufene; und wenn auch die herrschende Geschmacks- verwirrung dadurch nicht grade geklärt worden ist, hat sich doch schon in einzelnen Bildungskreisen, besonders in der Lehrerschaft der sogenannten Volksschulen, wenig- stens das Bestreben gefestigt, die geistige Entwicklung der Jugend immer planvoller auf die reine Lust an der Anschauung des Lebens zu gründen. Aber merkwürdig unberührt von diesem Kampf gegen den toten Buchstaben ist ein kleines Buch geblieben, das wie kein andres ins Leben des Kindes eingreift: die Schulfibel! Gewiß, auch daran ist dutzendfach von Reformdoktoren herumkuiiert worden, und man plagt sich wohl in jeder Provinz mit iigendeinem neuen Fibel-Experiment; aber man scheint sich da durchweg blos ums Lesen-und- Schreiben lernen zu kümmern, um die dürre Schale, nicht um den Kern, die lebendige Muttersprache.

Es hegt mir fern, den Pädagogen in ihre „Methoden" dreinreden zu wollen. Der Dichter versteht sich auf die Sprache, nicht auf den Unterricht in der Sprache; da ist er ebenso sehr ein Laie, wie der Lehrer es in der Dicht- kunst ist. Aber jede Berufstätigkeit wirkt über die Grenzen ihres Handwerks hinaus; und da der Fachmann sein Augen- merk vor allem auf seinen engeren Kreis richten muß, entgehen ihm leicht die mittelbaren Wirkungen seiner Arbeit auf weitere Kreise, die der benachbarte Laie deut- licher wahrnimmt. Wenn also ein Dichter sich erlaubt, über den Unterricht in der Muttersprache mitzureden,

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so kann und soll es nur deshalb geschehen, weil er sie als das umfassendste Ausdrucksraittel für das Seelenleben aller Volkskreise, und also auch der Volksjugend, gewürdigt sehen will.

Allgemein wird wohl zugegeben werden, daß die Kinder aus ihrem ersten Schulbuch unauslöschliche Eindrücke für immer mitnehmen; ihr ganzes Wahrheits-und-Schönheits- gefühl, ihre ganze Lebens-und- Weltbetrachtung empfängt da maßgebende Grundlagen. Ist es nun wirklich das Richtige, um gleich mit dem gründlichsten Grund aufzu- räumen, daß alle Fibeln, ohne Ausnahme, sich einer grade- zu gähnenden Nüchternheit der Anschauungsweise be- fleißigen? Der Grundsatz, den Geist und die Sinne des Kindes für die \Virklichkeit zu schärfen und der Phan- tasterei zu entwöhnen, ist zweifellos der einzig gesunde; aber muß das auf Kosten der Phantasie geschehen? Diese bleibt doch schließlich die Quelle jeder selbständigen Geistestätigkeit, vor allem jeder freudigen Tätigkeit; soll die Schule diese Quelle noch verschütten helfen, die doch ohnehin von der Wirkhchkeit immer schonungsloser ein- gedämmt wird? Und ist nicht die Gefahr sehr groß, daß gerade die Phantasterei im Stillen hinter dem Gartenzaun ihre schädUchen Wildlinge treibt, wenn die Phantasie nicht freimütig von verständiger Gärtnerhand gepflegt wird?!

Zunächst im Hinblick auf den Lesestoff. Die Ver- bannung fast aller märchenhaften Elemente aus den Fibeln: welche gewaltsame Unterbindung der kindlichen Neigung, sich mit Gedanken und Gefühlen nur sinnbildlich, noch nicht begrifHich, zu befassen! Die religiösen Legenden

SCHULBUCH UND KINDERSEELE 111

und Parabeln bieten keinen genügenden Ersatz dafür; das Eand bringt diesen überirdischen Sinnbildern, deren Sinn sein Fassungsvermögen meist weit übersteigt, nicht die unmittelbare Teilnahme entgegen wie den weltlichen Gleich- nissen, empfindet sie bald nur als Unterrichtsgegenstand, als „Pensum" im drückendsten Sinne. Ja, hier werden sogar schon Zweifelskeime in das junge Gemüt gelegt; hier soll es gläubig Dinge für wirklich nehmen, die es im übrigen Unterricht nur für traumhafte Einbildungen halten darf, für Hirngespinnste, die mit der Lüge verwandt sind, und die das Schulbuch ihm abgewöhnen will oder wenig- stens vorenthält. Die beklagenswerte Verkrüppelung der religiösen Instinkte in unsrer Zeit geht zum sicherlich nicht geringsten Teil auf diese widerspruchsvolle Behand- lung der kindlichen Phantasie in der Schule zurück; auf der einen Seite panzert man ängstlich den jungen Geist gegen seine ursprüngliche Vorstellungskraft, auf der andern werden ihm unbedenklich dogmatische Illusionen einge- bläut, denen meist jede sinnliche Anknüpfung an das wirkliche Dasein mangelt und erst recht an das seelische Leben des Kindes.

Wie verträgt sich das mit dem gepriesenen Grundsatz der Allgemeinverständlichkeit, den die Pädagogen stets als Schild vorschieben, sobald man mit der Forderung kommt, die Aufmerksamkeit der Schulkinder durch originelle Phan- tasieen rein künstlerischer Art anzuregen? Wer weiß denn, was allgemeinverständlich, und gar was Kindern verständ- lich ist? Wie kurzsichtig da die Erwachsenen urteilen, das habe ich selbst einmal in drolliger und sehr bezeich-

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nender Weise erfahren: an meiner Harapelmannsdichtung „Fitzebutze". Fast alle Rezensenten, auch wohlwollende, nahmen Anfangs an der Babysprache der kleinen Detta gewaltigen Anstoß. Es sei unpädagogisch, Kinder in ihren Fehlern zu bestärken; es sei unpsychologisch, daß ein so mundfertiges Mädelchen noch solche kindische Aussprache haben solle. Man merkte vor lauter Logik garnicht, trotz- dem einzelne Worte des Gedichtes es gradezu faustdick andeuten, daß die Detta sehr wohl „richtig" sprechen kann und nur Spaß mit ihrem Hampelmann macht. Ich habe kein einziges Kind getroffen, dem das nicht selbstverständ- lich gewesen wäre; Ja, die meisten begriffen überhaupt nicht, daß man es anders „verstehen" könne. Kinder wissen eben noch von selbst, daß ein Kind dieses Alters nicht mehr falsch spricht, daß es unartig ist, so zu sprechen, und daß sie es nur im Spiel mit der Puppe oder mit jüngeren Geschwistern dürfen; genau so, wie sich's Er- wachsene erlauben, wenn sie mal Scherz mit Kindern machen, also aus einem Herablassungsgefühl. Von Kindern ist mir lediglich eingewandt worden, das sei ihnen zu dumm, solch Spiel mit dem Hampelmann ; das waren aber altkluge Kinder, die andern amüsierten sich einfach.

Die ganze Frage nach dem kindlichen Kunstverständnis muß zunächst doch wohl mit der Tatsache rechnen, daß sich die Kinder ebenso wenig, wahrscheinlich sogar noch weniger, über Einen Kamm scheren lassen als die hoch- wohlweisen Erwachsenen, daß auch da „die Geschmäcker verschieden" sind, daß also das Schlagwort „Kinderkunst" so vertrackt wie alle Schlagwörter ist. Freilich lassen sich

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die verschiedenen Einzelwesen stets in irgendwelche Gat- tungen ordnen, aber eben wiederum in verschiedene; es müßte daher, wenn die Pädagogen hier im Ernst auf Methode dringen wollen, vor allem erst einmal ausprobiert werden, auf was für Reize denn die verschiedenen Kinder- seelen — nach Alters- wie Charaktergruppen, auch nach Geschlechts- und Standesunterschieden am aufmerk- samsten reagieren, im Augenblick wie auf die Dauer. Erst daraus ließe sich dann aUraählich mit aller Vorsicht ein Urteil gewinnen, ob und inwieweit diese Reize auf künstlerische Werte zurückzuführen sind. Einstweilen aber überwiegt die Wahrscheinlichkeit, daß der Kunstwert bei dieser schwierigen Frage immer im Hintertreffen bleiben wird. Die große Masse der Kinder ist zwar noch nicht so verbildet wie die meisten Erwachsenen unserer Zeit und wird die natürlichen Reize des Kunstwerks (Stoffe, Motive, Affekte des Künstlers) drum mit naiverem In- stinkt nachfühlen ; aber alle kulturellen Werte, d. h. Alles was die natürlichen Reize erst zur eigentlich künstlerischen Harmonie vergeistigt und was nur gründliche Bildung ganz nachfühlen kann, aE das ist dem sogenannten Kinder- gemüt noch völlig ein Buch mit sieben Siegeln. In das A/ersländnis dieser rein geistigen Reize wächst der kind- liche Leser einer Dichtung stets erst mit reiferen Jahren hinein; umso mehr freilich ist es Pflicht der Erzieher, nur solchen Lesestoff auszuwählen, in den das Hinein- wachsen sich verlohnt!

Was nun aber den Stoff als solchen betrifft, da steht es mit der Verständlichkeit bei den Kleinen erst recht wie

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bei den Großen: dem Einen kommt dies, dem Andern jenes mehr oder weniger zum Verständnis, teils schwer teils leicht, teils von selbst teils durch Nachhilfe, und es sind nicht die dauerndsten Wirkungen, die sich gleich Jedem handgreiflich aufdrängen. Welches Kind kann z. B. schon verstehen oder auch nur von ferne ahnen, daß Andersens Märchen vom häßlichen jungen Entlein die typische Entwicklungsgeschichte jedes abnormen Charak- ters enthält und in Sonderheit die des jungen Genies; dennoch lesen fast aUe Kinder dies Märchen mit reinster Befriedigung und glauben es völlig zu verstehen. Grade das sinnreich Geheimnisvolle, dessen Vorwalten sie empfin- den, ohne einstweilen dahinter zu kommen, macht einen Teil der dauernden Wirkung aus und hält das Entzücken an solchen Phantasmen bis in das reifere Alter frisch. Das ist auch der Reiz der meisten Volksmärchen, deren eigentliche Bedeutung und Absicht (vulgäre Maskierung altpriesterlicher Naturmythen und Kultursymbole) ja erst die Gelehrten wieder entdeckt haben. Und dasselbe gilt von der Gottesweisheit, die der böse Fitzebutze zu raten aufgibt; den Großen ist das natürlich die Hauptsache, aber die Kleinen kümmern sich den Teufel darum, sondern haben einfach ihr Heidenvergnügen an dem merkwürdigen Hampelmann. Das sei allen Christen ins Ohr gesagt, die das „ahnungslose Kinderherz" vor den teuflichen Ver- führungskünsten der poetischen Phantasie glauben schützen zu müssen.

Einen ganz unfruchtbaren Ersatz dafür bieten jedenfalls die sogenannten Gedichte, in denen auf die Gefühle der Kleinen

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zur Aufmunterung ihrer Gottesfurcht, Menschenliebe und sonstigen Tugenden mit empfindsamen Begriffs- worten eingeredet wird, statt ihnen durch greifbare Bild- lichkeiten die einfache Lust an der Tugend ins Herz zu pflanzen. Erst ganz vereinzelt sind die Versuche, die Lesebücher von dieser abstrakten Salbaderei, die durch und durch unkindlich ist, aber aufs engste zusammenhangt mit der charakterlosen Nüchternheit des übrigen Anschauungs- stoffes, einigermaßen zu reinigen. Selbst in den besten Fibeln sind noch Ergüsse zu finden, die Zeilen wie fol- gende enthalten: „Hab Dank, im Himmel du Väter mein, daß du hast wollen bei mir sein!" Ich frage Jeden, der über diese gottsjämmerliche Prosa (ach nein, es sollen Verse sein, es reimt sich nämlich ,,sein" und „mein") gestolpert ist: Was soll ein Kind damit anfangen? Was soll es sich vorstellen bei diesen Worten, deren Satz- bau es nicht einmal fassen kann! Und als ein wahres Parademonstrum solcher törichten Empfindsamkeit und superklugen Vernünftelei findet sich in verschiedenen Lese- büchern folgendes „Gedicht" von Dieffenbach:

Das kranke Kind. Kindlein liegt so matt und müde Mütter! ein in süßer Liebe In dem kleinen Bettchen da; Ihren Liebling treu bewacht,

Ach, es ist so krank geworden, Und sie betet für Helenchen,

Das sonst fröhlich umi sich sah. Sorget für es Tag und Nacht.

Springen kann es nicht und singen, Gott erhöret gern ihr Beten,

Wie es sonst so gern getan; Freundlich er zum Kind sich neigt;

Seine Puppen, seine Bilder Neues Leben, neue Kräfte

Mag es gar nicht sehen an. Schickt er, und die Krankheit weicht.

8*

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Hast du das auch schon erfahren, Liebes Kind, so deuke dran! Danke Gott für das \on Herzen, Was er hat an dir getan!

Ob das in irgend einem Kinde eine lebendige Vor- stellung von göttlicher Gnade und menschlicher Güte weckt? All diese gegenstandslosen Floskeln „in süßer Liebe'' „treu bewacht" „sorget für es" „freund- lich er (Gott!) zum Kind sich neigt" (auf das haarsträu- bende Deutsch komme ich später!) „neues Leben, neue Kräfte" „schon erfahren, denke dran" „was er hat an dir getan" das ist doch lauter leeres Geschwätz für ein Kind! Das kann es freilich nachplappern und auf Befehl auswendig lernen, nie aber entspringt ihm daraus ein inwendiger Antrieb zur Andacht vor diesem Lebens- vorgang, zum eigenen Nachsinnen und Nachlühlen. Es ist eben nichts darin vorhanden, was ihm Sinne und Ge- fühle antreiben könnte. Das Kind, weil es Kind ist, will „dran denken", wie die Mutter „für es sorgt"; daß sie sorgt, ist ihm selbstverständlich und stellt ihm die liebe- volle Bemühung durchaus nicht als etwas Besonderes hin. Und es will „erfahren", wofür es „Gott danken" soll; für Krankheit und Gesundheit dankt kein Kind, die Krank- heit ist ihm einfach unangenehm, und die Gesundheit merkt es garnicht. Aber man führe ihm einen ergreifen- den Traum vor, wie Fieberkranke ihn manchmal haben, und erinnre es an den erquickenden Fruchtsaft, den es vor dem Einschlafen trinken durfte, dann wird es ganz von selbst dankbar sein. Dann wird es Gott für die

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Träume danken und der Mutter für das süße Getränk, und wird auch dankbar an all die guten Dinge denken, die es bei Gesundheit verschnabulieren darf, und an die Spiele des wachen Lebens, die ihm doch noch lieber als Traumspiele sind. Dagegen mit der „süßen Liebe" und ähnlichem weibischen Gerede wird man grade den lebens- tüchtigsten Kindern auf die Dauer nur lästig und lächerlich; selbst die kleinen Mädchen lachen darüber. Oder aber man schürt in dem jungen Geschlecht eine rührselige Selbstbe- spiegelung, die durchaus untüchtig fürs Leben macht.

Nicht anders steht es mit den meisten Gedichten, die das sogenannte Naturgefühl in den Kindern ausbilden sollen; ja, hier steht es vielleicht sogar schlimmer. Den Verfertigem der moralischen und religiösen Fibelverse kann man allenfalls noch zugute halten, daß es da mehr auf den wohlgemeinten „Inhalt" als auf die übelgeratene „Form" ankomme. Aber bei Versen, die ganz ausschließ- lich auf ästhetische Wirkung zielen, wo also Form und Inhalt sich decken, da wird durch die mhrsam geschminkte Nüchternheit dieser alltäglichen Anschauungsstoffe jeder echte Natursinn des Kindes, jede eigne Entdeckungslust, gradezu systematisch vernichtet. Man schlage nur in den Fibeln nach, womit da die üblichen „Gegenstände" den Kindern in ein „verklärtes Licht" oder ins „reine Gefülü" gerückt werden! wie es da wimmelt von „reizen- den" Ausrufen: so lieblich, so selig, so still und so rein wie herrhch, wie fröfilich, gar lustig und fein! Durch solchen Woitschwall wird bestenfalls garnichts erreicht, indem er die kindliche Aufmerksamkeit lediglich ablenkt

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vom Naturbild. Besonders dies emphatische „so" weist den Betrachter stets auf sich selbst zurück, auf die Fülle (oder Leere) seiner eignen Gemütsverfassung; und es wird immer von schlechten Dichtern gebraucht, wenn sie nicht darzustellen wissen, wie! Kinder woUen aber grade wissen wie, und sollen's auch wissen, und so deutlich wie möglich, denn nur dadurch erweitert sich ihr An- schauungskreis. Die bloße Entzücktheit vor der Natur, die sich in „oh" und „ach" und „so schön" und „wie schön" und ähnlichen Stottereien äußert, ist Kindern über- haupt noch nicht eigen und sollte ihnen nicht erst ein- geimpft werden, denn sie stammt auch bei Erwachsenen wie jene abgedroschenen Eigenschaftswörter zur Genüge beweisen dürften meistens nur aus der schlechten Ge- wohnheit einer platten Gefühlsduselei.

Natürlich wird man nun wieder einwenden, das sei vom künstlerischen Standpunkt aus wohl alles mit Recht zu verurteilen, nur leider vom erzieherischen aus garnicht anders möglich, denn die kindliche Einfalt begreife eben eine kompliziertere Technik nicht, sondern gebiete solche Einfachheit der sprachlichen Darstellungsmiltel. Das ist aber keineswegs Einfachheit, das ist zehnfache Nichtig- keit! Eine Vorstellung, die sich mit klarer Prosa bequem in einem einzigen, einfach gebauten Satz sagen ließe, wird da in 20 bis 30 Verszeilen zu einer logisch verschachtelten Gefühlsangelegenheit aufgetakelt. Das mag ja vielen Er- wachsenen, die ihre Gefühle nach und nach in Begriffs- schubfächer verpacken lernten, in der Tat äußerst „ein- fach" erscheinen; aber grade auf unverbüdete Kinder

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wirkt solche redseL'ge Simpelei viel komplizierter und raffinierter, als wenn man ihnen mit drastischer Technik einen ganzen Wirbel von Luftgeistern vorführt, die hundertfach ihre Gestalt verwandeln. Der lebendigen Phantasie des Kindes leuchtet eben noch ohne weiteres ein, was die Intelligenz der meisten Erwachsenen längst unter abstrakte Kategorieen (Realismus, Idealismus, Natu- ralismus, Symbolismus, Klassik, Romantik etc.) wie unter Blendlaternen gerückt hat. Man lerne nur endlich unter- scheiden zwischen kurzweg vielsagender und lang und breit nichtssagender „Einfachheit"; jene sagt Kindern wie Männern zu, diese aber alten Weibern. Ein Dichter, der uns erst vorreden muß, daß ein Natureindruck „gar lustig" ist, verrät sofort, daß er sich unfähig fühlt, ein vollkommenes Bild dieser Lustigkeit (oder Herrlichkeit oder Lieblichkeit usw.) mit den einfachsten, d. h. spar- samsten Gestaltungsmitteln herzustellen.

Von diesen banalen Geschwätzigkeiten, besonders wenn sie zum Überfluß noch mit dem sentimentalen „so" auf- trumpfen, müßten also die Fibeln grundsätzlich gesäubert werden; denn sie verderben erstens den gesunden Natur- geschraack der Kinder, dem ein einziges Gänseblümchen mehr ist als hundert allgemeine GefühlsbegrifiFe, und zweitens verunreinigen sie auf Jahre hinaus, vielleicht auf Lebenszeit allen Kunstgeschmack, ja alle wahre Gefülils- fähigkeit. Wie sollen solche Drillgedichte, die lediglich zu Unterrichtszwecken vom kalten Verstand verfertigt sind, die rebellischen Herzen der Kinder erwärmen? Zur Schulung ihrer moralischen Logik mögen einige dieser

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Machwerke nötig sein; aber umso mehr müßte ihnen das Gleichgewicht durch echte Gedichte gehalten werden, die alle Seelenkräfte beschäftigen. Der Kliigling, der die kindliche Tonart blos um des Kindes willen anschlägt, bringt sicher nur Halb- oder Unkunst zustande; die Art der Motive muß dem Dichter diesen Ton aufnötigen. Und deshalb verkindlicht der echte Dichter am liebsten grade die verpönten „sublimen" und „exaltierten" Motive, mit denen sich übrigens viele Kinder viel angelegenthcher beschäftigen, als leider die meisten Erwachsenen ahnen, die diese Beschäftigung längst verlernten. Grade solche Motive nämlich nehmen in Künstlerhand durch die Technik der kindlich versonnenen Sinnfälligkeit eine viel konkretere Außenform an, als mit den abstrakteren Ausdrucksmitteln des entwickelten ßildungsmenschen. Dann meinen freilich die klugen Leute, die von Innenform keine Ahnung haben, in diesem Reizmittel der poetischen Technik bestehe die ganze „Kinderkunst". Das tut sie aber ganz und gar nicht; denn ein Gedicht kann die kindüchste Sprache reden und trotzdem schmählichste Unkunst sein, ein läppischer Schmachtfetzen schlimmster Güte. Wozu also in den Lesebüchern jene kunstlos künstliche Einschränkung auf das hausbackenste Alltagsleben? Warum greift man nicht wenn die neueren Dichter dem pädagogischen Ziel- bewoißtsein nicht „naiv und einfach" genug erscheinen zurück auf den unverwüstlichen Schatz der alten volks- tümlichen Kinderreirae, Balladen, Schnurren und Rätsel- späße? Sollte diesen zielbewußten Naivilätslheoretikern das Kind unsrer Zeit schon so altklug erscheinen, daß es

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fiir jene Wunderwerke vogelfreier Bänkelsänger kein natür- liches Versländnis mehr mitbringt?

Und hiermit rührte ich schon an den wundesten Punkt der ganzen Fibel-Literatur: die Verballhornung unsrer Muttersprache durch dilettantische Künstelei. Dem echten Dichter können natürlich alle die nützUchen Betrachtungen, zu denen der Schulmann das Kind ab- richten will, nur selten eine Anregung geben; so werden denn seit dem seligen Hey, der wenigstens das Muster erfand und deshalb noch etwas UrsprüngUchkeit aufweist, derartige Bedarfsartikel von poetisch angehauchten Ma- gistern, Rektoren, Pastoren etc. aus eigenem Schaffens- trieb fabriziert und von den Kollegen patentiert. Aber bei so prosaischem Stoff stellt sich die volle poetische Form, die Harmonie von Instinkt und Logik, Motiv und Technik, Rhythmus und Metrik kurz alles, was der dichtende Künstler unter „naiver" Form versteht natürlich nicht von selbst mit ein; sondern diese Triviali- täten werden erst mit der Klappermaschine in irgendeine vorgefaßte übHche „Versform" hineingezwängt, und dabei werden dann unbarmherzig besonders wenn sich's reimen soll dem natürlichen Satzbau unsrer Sprache all jene Schandtaten angetan, die als „poetische Licenzen" bei allen Sonntagsnachmittagsdichtern in ungeheurer Hochachtung stehen. Man vergegenwärtige sich nur einmal, wie einem u n geschulten Kinde in seinem gesunden Menschenverstand nach einer Krankheit zumute sein vmrde, wenn es z. B. die folgenden Verse (vergl. das schon citierte Carmen) mit gefalteten Händen „aufsagen" müßte:

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Gott erhöret gern ihr Beten, Freundlich er zum. Kind sich neigt.

Das Papierdeutsch mit der veralteten, hier nur aus \'er8- fußnöten verwendeten Form „erhöret" (statt „erhört") und mit dem substantivierten Infinitiv „ihr Beten" (statt „ihr Gebet") überhaupt die schriftdeutsche Wendung „etwas erhören" statt der volkstümHch sinnHchen „auf etwas hören" : all das ist Kindern schon böhmisch genug. Nun aber gar noch (aus Reimverlegenheit) die Inversion des Verbs und Läsion des Artikels: „freundlich er zum Kind sich neigt" statt „freundlich neigt er sich dem Kind zu" (ganz abgesehen von der Unsichtbarkeit dieser göttlichen Zuneigung) wie soll da irgendein Kindergemüt zu einem gläubigen Gefühl der Hingebung kommen, wenn es in einem fort aufpassen muß, daß es nur ja den unglaublichen Satzbau „richtig" behält und nachplappert! Von solchen und schlimmeren Sprach- verrenkungen strotzen unzählige Fibelgedichte; und grade diese Naturwidrigkeiten, an die sich die Kleinen (ich habe das Jahrelang und an den verschiedensten Kindern beob- achtet) nur mit Widerwillen gewöhnen lernen, prägen sich ihnen dann natürlich aufs schärfste ins Gedächtnis ein und verwirren so mit aller Gewalt ihr ursprüngliches Sprachgefühl. Wie arg aber dieses verbastelte Versdeutsch selbst größere Kinder noch verdutzt, dafür ein sehr be- zeichnendes Beispiel. Ein zehnjähriger, ebenso harmloser wie aufgeweckter Schuljunge fragte mich nach einer Schillerfeier, bei der er von einem Schützenverein die „Wacht am Rhein" hatte singen hören: „Was soll das

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eigentlich bedeuten: fest steht und treu die Ai\'ächt am Rhein?" Ich habe ihm darauf blos erwidert: „Das soll bedeuten: fest und treu steht die Wacht ami Rhein!" Und ich möchte allen Dichtern und Lehrern wünschen, sie hätten da sein „Ach so " gehört und seine ver- blüfften Augen gesehen.

Ich komme wohl nicht in den Verdacht der patriotischen Maultrommelei, wenn ich nach alldem das Gutachten aus- spreche: Die Schulbehörde, die endlich gründlich mit diesem Kauderwälsch aufräumen wollte, die würde sich ums deutsche Volk einen wahren Gotteslohn verdienen! Wir werden uns der Lutherschen Schöpfung einer einigen Muttersprache nicht eher vollkommen würdig erweisen, als bis von Lehrern und Künstlern gemeinsam eine Muster- übel geschaffen wird, die für die Schule dasselbe leistet und ebenso von Nöten ist, wie der Katechismus für die Kirche. Haupterfordernis: wenn schon Hausbackenheit, dann wenigstens vom richtigen Schrot und Korn! All diese verstellten Atlributiva nimmt kein deutsches Kind von selbst in den Mund, gamicht zu reden von den ver- schränkten Partizipialkonslruktionen, verschleppten Infini- tiven, verschobenen Nebensätzen, vertauschten Objekt- und Subjekt-Plätzen, falsch folgenden Umstands- und Bindewörtern, verkehrt gebrauchten Artikeln, apostrophier- ten Endungen das sind lauter verbildete Latinismen oder mißverstandene Klassikerposen. Jeder einzige dieser dilettantischen Schnitzer ließe sich aus sonst brauchbaren Versen mit ein bißchen Mühe herauskorrigieren; und wenn's auch ein bißchen viel Mühe wäre, sie ist war-

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lieh nicht der Rede wert gegenüber dem unermeßlichen Schaden, der durch die jetzige Sprachverlotterung in der kindlichen Geisteswelt angerichtet wird. Mindestens würde diese Liebesmüh die Schuljugend etwas gescheidter machen als die idiotische Schurigelei mit der jeweils neuesten Orthographie. „Poetische Licenzen" sollte das Schulkind überhaupt erst kennen lernen, wenn sein Sprachgefühl ganz gefestigt ist; das hängt aufs innigste zusammen mit der Festigung des ganzen Charakters. Kinder dürfen noch garnicht wissen, daß Fehler unter Umstanden zu- lässig sind; solch Wissen macht das Gewissen fahrlässig. Die seelische Wahrhaftigkeit geht in die Brüche, wenn sich das natürliche Sprachgefühl immerfort auf Befehl verstellen muß. Freilich, in einem „Kulturmilieu", wo man bei jeder Gelegenheit, bei der es offizielle Toaste zu schwingen gilt von der Kindtaufe bis zum Leichen- schmaus, vom Schützenfest bis zur Schillerfeier schlechte Verse für grade gut genug hält, das verlogene „Hochge- fühl'"' einzukleiden, da begegnet die Wahrheit wohl tauben Ohren.

Aber vielleicht nicht blinden Augen. Denn dieser ganze Alarm wäre halber Lärm, wenn nicht auch noch die Bilder der Fibeln, durch die der Lesestoff leichter ein- leuchten Süll, die gebührende Würdigung fänden. Da ist durch alle Reformtendenzen der schlimme Zustand nur schlimmer geworden, und die meisten Neuerungen zeugen von einer wahrhaft verbiesterten Ratlosigkeit des reichlich vorhandenen guten Willens. In den früheren Fibeln wollte man eigentlich das kindhche Gehörsgedächtnis nur

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durch einfach konturierte Figuren an die Gesichtserinne- rung anlehnen. Dagegen ist durchaus nichts zu sagen, denn aus der Gegenseitigkeit der Sinneswahmehmungen wächst die natürliche Phantasie. Allmählich ging man jedoch dazu über, die Figuren selbständiger zu behandeln, sie zum Lokalbild zu erweitern und perspektivisch zu komponieren. Auch dagegen ließe sich nichts einwenden, wenn die Größenverhällnisse dieser Bildchen ungefähr den gleichen Gesichtswinkel hätten, wenn die Zeichnung so sparsam wie möglich wäre und mit künstlerischer Phantasie komponiert.

Ich meine nicht etwa, man solle den Kindern phan- tastische Dinge im Bilde zeigen; zwar die völlige Ab- wesenheit solcher Motive scheint mir auch hier allzu be- hutsam, aber fraglos würde ein Übermaß illusionärer Darstellungen die Kinder zur Phantasterei verführen und ihre Vorstellungskraft eher lahm hetzen als auf selbst- sichere Sprünge bringen. Ich meine grade im Gegenteil die künstlerische Behandlung der Wirklichkeit. Künst- lerisch ist sie doch nur dann, wenn sie die kindliche Phantasie zu eigentümlicher Auffassung der Dinge und zur selbsttätigen Gefühlsbefassung auch mit dem Bilde zu reizen vermag. Für die Mehrzahl der konturierten Figuren hat irgendein tüchtiger Dutzendzeichner vielleicht die genügende Fähigkeit; denn es hegt ohnehin schon im A^'esen der Kontur, die Phantasie zur lebendigen Er- gänzung der angedeuteten Gegenstände oder Vorgänge anzuregen. Und wenn die Schulbehörden darauf be- stünden, daß auch die ausgeführteren Abbildungen in

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einfachsten Grenzen gehalten sein müßten, würde im Notfall wohl auch noch hierfür ein geschmackvoller Hand- werker ausreichen. Dann allerdings müßten, da es sich dann blos um sachliche Richtigkeit handeln könnte, die Größenverhältnisse des wirklichen Daseins viel genauer beachtet werden als in allen jetzt gebräuchlichen Fibeln. Es wird wohl freilich nicht möglich sein, sämtliche Bilder im ganzen Buch auf vollkommen gleichen Maßstab zu bringen; aber mindestens dürfte nicht auf zwei gegen- überliegenden Seiten eine Pflaume größer sein als ein Igel, ein Kachelofen kleiner als eine Uhr, eine Tulpe ebenso groß wie ein Storch. Am Verhältnis der Dinge zu einander lernt doch der Mensch seine Urteilskraft üben; und der Grundsatz, den Geist und die Sinne des Kindes vor allem an der alltäglichen Wirklichkeit auszubilden, wird durch so krasse Unwahrscheinlichkeiten schlechtweg über den Haufen geworfen.

Immerhin sind diese Mißstände nicht sehr schlimm, weil sie eben nur den Verstand der Kinder, nicht ihr Gefühlsleben betreffen und durch die Erklärungen des Lehrers ziemlich beseitigt werden können. Ganz schlimm aber sind die Gruppenbilder, die nach dem Muster der lehrhaften Wändbilder (nur eben kleiner und ohne Farben) je länger je mehr in die Fibeln eingeschleppt wurden, und die natürlich nicht von Künstlern, oft nicht einmal von geschickten Handwerkern, sondern meist von Stümpern gewöhnlichster Art mit schrecklichem Fleiß verfertigt sind. In minutiösester Abschattierung sind da die üblichen Rührszenen, Familienfeste und Straßen-

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ereignisse, auch etliches "Wäld-und-W^iesen vergnügen, als Illustrationen zu den geistesverwandten „Gedichten" und „Erzählungen" aufgetischt, wahrscheinlich um die ganze Plattheit dieser banalen Lebensbetrachtung den Kindern noch deutlicher zu machen. Der Gipfel aber des pädagogischen Zielbewußt seins wird erreicht, wenn zwischen derlei „naiven" Pfuscherkrara einige Bilder von wirklichen Künstlern respektlos mittenein rangiert werden, noch dazu in schlechter Reproduktion. Vermutlich will man die deutsche Jugend so früh wie möglich daran ge- wöhnen, gut und schlecht für gleichwertig anzusehen, so- bald es von Oben herab verabreicht wird; es ist wirklich schwer, hier höflich zu bleiben. Und vielleicht was ist nicht aEes möglich hat manchen armen Mannes Kind, das Besseres leider nie kennen lernte, selbst am schlechtesten Schund ein bißchen Vergnügen.

Aber diese Genügsamkeit der Unmündigen ist keine Entschuldigung für die Mündigen. Es ist ein Vergehen am ganzen Volk, den niedern Geschmack noch gemeiner zu machen; es ist ein Verbrechen am werdenden Volks- geist. In jenen Bildern steckt rein Nichts, was das Seelen- leben des Kindes befruchten, seine Anschauungskraft auf die Dauer entwickeln, sein Naturgefühl regsamer machen oder sein Formgefühl ausbilden könnte. Durch die pedan- tische Strichelei der Schattierung, die für Kinder völlig zwecklos ist, weil sie solche Nuancen noch garnicht be- merken, wird alles Leben der bewegten Linie getötet, alles Fiächenspiel langweüig verwischt. Die Körper und Räume haben nirgends eine persönliche Physiognomie, sind

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leere Gemeinplätze, gezeichnete BegrifFswörter, phrasen- hafte Schablonen, kurz Abstracta im ödesten Sinne. Und dieses falsche nichtige Zeug müssen die Kleinen nun Tag für Tag ansehen, gewöhnen sich bis ins Herz daran, ent- nehmen daraus die Maßstäbe für ihr unentwickeltes Schön- heitsgefühl: ja, merkt denn Niemand in deutschen Landen, daß dadurch jeder ursprüngliche Bildungstrieb, jeder naive Kulturinstinkt, jedes natürliche Kunslbedürfnis in Grund und Boden verwirtschaftet wird?! Wahrhaftig, bei solchem Anschauungsunterricht ist es für Künstler sehr begreiflich, weswegen Deutschland das Land der Familienblätter und aller andern Geschmacklosigkeiten in Kunst wie Leben geworden ist; für all den entnervenden Schnelldruckquark, mit dem unser Volk heut gepäppelt wird, für diese Garten- lauben-Illustrationen nebst obligater Daheim-Lyrik, diesen bunten Mischmasch der „Kunst für Alle" und farblosen Kuddelmuddel der „Woche", diese Übeln Kolportage- Romane und übleren Lesezirkel- Novellen, für all diese glorreiche „Heimatskunst" sind solche Fibelbilder und Lehrbuchgedichte die allervorzüglichste Vorschule.

Man meine nur nicht, das sei Übertreibung. Warum grassiert denn in den Ländern, die solches Schulwesen noch nicht haben, diese schmähliche Unkunst- Seuche nicht?! In Skandinavien beispielsweise, das außer Japan und vielleicht Holland den gebildetsten Volksschlag der Erde beherbergt, weil einen vorwiegend autodidaktisch gebildeten, ist man unzugänglich für den Tand der Familienjoumale; da lesen selbst Bauern Ibsen und Strind- berg und sehen sich lieber garkeine Bilder an als solchen

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niedertrachtigen Dreck! Ich will nun nicht etwa das Kind mit dem Bade ausschütten und unser theoretisch höchst entwickeltes Schulwesen in das berühmte PfefiPer- land wünschen. Ich bin im Gegenteil der Meinung: je logischer die Theorie, desto besser auch für die Praxis! Und zumal uns Deutschen, die wir noch immer als das Volk der verrückten Genies dastehen, tut eine vernünftige Schulzucht innerst not. Aber grade deshalb soll sich die Lehrerscliaft noch bei weitem klarer darüber werden, daß alle erfolgreiche Pädagogik auf praktische Ästhetik hinausläuft, sogar auch die Moralpädagogik. Nm* durch sinnlich wohltuende Wirkungen wird das Kind vom wirk- lichen Lebenswert der sittlichen Triebe überzeugt, und nicht blos das Kind, sondern jeder Mensch, wenn auch die meisten zu faul oder feige sind, sich das nachdenklich einzugestehen.

Also weg mit den nur zur Belehrung ausgetiftelten Zweckbildern, wo es warlich genug ursprüngliche Kunst- werke gibt, die für Kinder vollkommen faßbar sind und vor jedem Richtersluhl standhallen! Wozu von Pfuschern durchaus etwas Neues machen lassen, wo wir von älteren und jüngeren Meislern, einheimischen wie ausländischen, ganze Museen voll einfacher Zeichnungen aus Natur wie Menschenleben [besitzen! Und wenn es besonders auf Slillleben aus der Tier- und Pflanzenwelt ankommen sollte, da bietet der japanische Holzschnitt so unerschöpf- liche Reichtümer schlichter Beseeltheit, daß die ganze Welt damit auskommen könnte. Zu diesen Bildern mache man dann (wenn's die „Methode" durchaus „erheischt")

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die Prosatexte der Leseübungen; nicht umgekehrt! Doch es werden sich auch genug Bilder finden lassen, zu denen irgendein echtes Gedicht, ein Volkslied, ein Märchen, eine Fabel, schon innerst passend vorhanden ist, wie eigens für einander geschaffen. Eine solche wirklich kunstsinnige Auslese und Zusammenordnung von Wort und Bild würde freilich etwas mehr Mühe kosten, als ein paar Verse zusammenzudrechseln und einem mittelmäßigen Zeichner einen Auftrag in Bausch und Bogen zu geben; aber die Mühe würde sich lohnen. Welcher Genuß schon, das Material zu sichten, alle die Mappen und Buchwerke von Leuten wie Teniers und Ostade, Chodowiecki, Runge, L. Richter, Schwind, Thoma, Menzel, Liebermann, Busch, Oberländer, T. T. Heine, Kreidolf, Freyhold usw. und welche Belebung des Unterrichts!

Oder hat man etwa Angst vor Busch und den andern „gewagten" Humoristen? Dann erlaube man, daß ich den Schulzopf belächle, über den sich die Kinder hinter- rücks umso unbändiger lustig machen, je steifer er im Nacken baumelt! Man habe nur mal ein bißchen Mut! Man mache mal endlich den Anfang damit! Man wird sich wundern, wie bald die Früchte kommen, wenn man den dürren Boden der Schule mit frischem Blut zu düngen wagt. Ich lernte als dreijähriger Knirps schon lesen, aber freilich in keiner Fibel, sondern in einer groß- mächtigen Bibel und in den Bilderbogen von Busch, und noch heute leben mir diese Lehrstunden bei meiner un- methodischen Großmutter wie Weihnachtsfreuden in der Erinnerung.

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DICHTUNG UND VORTRAGSKUNST

Prinzipien lyrischer Dehlamation

Eine öffentliche Gesellschaft von Kunstfreunden hatte mich einmal eingeladen, Gedichte von Goethe zu dekla- mieren. Da ich kein Vbrtragskünsller von Fach bin, hielt ich es für erforderlich, mich zunächst ein wenig zu ent- schuldigen, daß ich ausnahmsweise andre Gedichte als meine eignen vortragen wollte, und suchte also dies Ex- periment in einer Vorrede zu rechtfertigen. Allerdings so etwa lautete meine Rechtfertigung wird meine Vortragsart, wie ich weiß, von manchem Kunstliebhaber mehr geschätzt, als mancher Kritiker für gut hält. Ich weiß aber auch, sie entbehrt der technischen Ausbildung, ist also dilettantisch, mag sie auf noch so starken natür- lichen Anlagen fußen; und obendrein läuft sie auffällig der deklamatorischen Tradition zuwider. A'V^rum hat man mich trotzdem zu hören gewünscht? Warum werden auch andere Dichter, die keine Vortragskünsller von Fach sind, immer bereitwilliger angehört und wohl gar den Fachleuten vorgezogen? Macht das allein der Eifer der Liebhaber und die Neugier der übrigen Leute?

Daß den Dichtern die Zeit zur Stimmübung fehlt, zur jahrelangen täglichen Übung, und somit die deklama- toiische Technik, das ist begreiflich und verzeihlich. Aber daß wir auch gegen die Tradition verstoßen, gegen fast alle Regeln der Klangbehandlung, in der Betonung der Einzel-

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heilen wie im gesamten Tonfall des Verses: warum wird uns auch Das verziehen? und grade von Kunstfreunden verziehen! Mag sein, weil die Eigentümlichkeit reizt. Aber es gibt doch Dutzende vollkommen geübter Re- zitatoren, die jedes Gedicht ganz eigentümlich, ja oft ganz sonderbar eigentümhch, mit allen möglichen Accen- ten ausstatten und sich dabei doch musterhaft an die herkömmliche Phrasierung halten. \^eswegen tun das die Dichter nicht? Etwa durchweg aus Unfähigkeit? Aber woher dann auf einmal die Mode, daß man uns mehr und mehr hören will, und nicht blos wie wir uns selbst deklamieren, sondern nun sogar schon den klassischen Goethe!

Vielleicht ist es doch keine bloße Mode. Vielleicht lebt in der Gegenwart noch ein altvererbtes dunkles Ge- fühl, daß im lyrischen Vers Geheimnisse stecken, die ganz nur der Dichter verlautbaren kann. Vielleicht ahnen grade die Kunstfreunde, daß eine natürliche Nötigung obwalten muß, wenn wir durchweg mit unsrer Vortragsart gegen das Herkommen verstoßen. Das nämhch tun wir keines- wegs aus dilettantischer Fahrlässigkeit, sondern mit einer zwar unwillkürhchen, aber sehr kunstbewußten Absicht, die aus denselben Instinkten stammt wie die lyiische Poesie urselbst. „Verstoßen" sollte ich überhaupt nicht sagen, sondern lediglich unsre Abweichung von der Gewohnheit feststellen. Und von deklamatorischer Tradition läßt sich hier eigentlich auch nicht reden; denn für Lyrik ist sie noch garnicht vorhanden, wenn auch vielleicht in der Bildung begriffen. Vorhanden sind zwar mehr als genug

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Deklamatoren und Deklamatrizen, die sich einbilden, eine Tradition zu befolgen; es ist aber höchstens eine Kon- vention, kaum älter als ein knappes Jahrhundert, und überdies eine Pseudokonvention, denn sie ist nicht aus der lyrischen Poesie entsprungen, sondern ein Bastardkind der dramatischen Muse. Das läßt sich geschichtlich leicht nach- weisen; und Mancher, glaube ich, wird sich dann wundern, ein wie modernes Exlraprodukt die heute übliche Rezi- tation von lyrischen Gedichten ist.

Die Antike, wenigstens die hellenische, hätte sich gar- nicht vorstellen können, daß ein poetischer Vortrag ohne musikalische Begleitung je als vollkommener Kunstgenuß gelten würde; sie hätte ihn wahrscheinlich als barbarisch «mpfunden, mindestens als böotisch, allerdings keineswegs mit Recht, denn grade die barbarischen Völker können sich eine Verswirkung ohne musikalischen Rhythmus auch heute noch nicht vorstellen. Nicht allein der lyrische Vers, auch der epische und dramatische, ja sogar das didaktische Epigramm, das wir kaum noch als Poesie empfinden, offenbarte sich dem griechischen Ohr nur in getragenen Tönen würdig, in einer gesanglich gedehnten Deklamation, mehr oder weniger gesanglich, je nach der poetischen Gattung eben, aber immer ganz und gar ge- tragen von einer instrumentalen Komposition. Das sind ziemlich bekannte Dinge; weniger bekannt jedoch ist die Talsache, daß auch das ganze Mittelalter, bis über die Renaissance hinaus, den Vortrag lyrischer Verse ohne Musik nie und nirgends gepflegt hat. Bei den romani- schen Völkern blieb die antike Tradition im christlichen

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Kirchengesang lebendig und trieb allmählich auch die weltliche Dichtung zur Erfindung neuer Singweisen an; und bei den germanischen Stämmen war ja, ganz wie im alten Griechenland, der Dichter von jeher zugleich der Tonselzer, der Barde, der Sänger und Harfen- spieler.

So kam es, daß seit der Blütezeit der mittelalterlichen Dichtung bis in das 17. Jahrhundert hinein die Lyrik überall in Verbindung mit einem musikalischen Tonsatz auftrat, Gedichte öfientlich immer nur als Gesänge vor- getragen wurden. Bis öfi'enlUch nichts davon übrig blieb als der gewöhnhchsle Bänkelsang. Denn nun folgt das bekannte dürrste Kapitel in der Geschichte der lyrischen Poesie. Zuerst die allgemeine Brachzeit nach der Er- schöpfung der Gemüter durch die kirchhchen Reforma- tionskämpfe. Dann die vernünftelnde Aufklärungszeit, die zwar die feineren Geister mit klüglicher Kunst für die politischen Revolutionen stählte, die poetische Pro- duktion aber nur zu allerlei Spitzfindigkeiten reizte: die Zeit der witzigen Fabeln, der Lehrgedichte, der bloßen Betrachtung der Gefühle, in zierlicher oder schwülstiger Art. Und als endlich Genies und Talente kamen, die aus dieser geistreichen Prüfung des Seelenlebens neuen StofF für echte Gefühlsdichtung schöpften, als schließlich Goethe den Sturm und Drang in sinnlichster Fülle harmonisierte : da hatte sich eben zugleich die Lyi'ik selbstherrUch von der Musik getrennt, war ihre eigenen Wege gegangen, und die nicht minder selbstherrliche Schwester vermochte ihr vorerst nicht zu folgen. Das musikahsche Lied, selbst

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die Arie, war auf einer verhältnismäßig sirapeln Gefiihls- bahn weitergeschritlen, auf der sogar Beethoven noch verharrte; und es dauerte beinahe fünfzig Jahre, bis sich die Tonkunst hinlänglich später vielleicht auch allzu hinlänglich den komplizierteren Motiven der neuen Worlkunst anbequemte.

Inzwischen aber war das lyrische "Wort doch gleichfalls für die Wirkung aufs Ohr bestimmt, war seiner rhyth- mischen Natur gemäß nicht blos fürs geistige Ohr ge- schrieben, wollte nicht blos im Stillen gelesen sein wie irgend ein prosaisches Schriftwerk, sondern als sinnlich klangvolles Wbrtwerk in seiner ganzen Schönheit erhört werden; und so geriet es, nach einiger Frist, von den eifrigen Lippen der Dilettanten in den zünftigen Mund des Schauspielers. "War er allein doch damals im öffent- lichen Besitz einer rein poetischen Vortragskunst, nach- dem sich die dramatische Dichtung schon in der Re- naissance, zum Teil auch schon im alten Rom, von der Musik geschieden hatte. Und so ist es fast bis heute ge- blieben; denn auch die Rezitatoren, die nicht Berufs- schauspieler sind, kamen bis in die neueste Zeit bis eben wir neuesten Dichter begannen, uns öffentliches Gehör zu verschaffen durchweg aus der dramatischen Schule.

Was aber ist für den l3n['ischen Vortrag aus dieser mimischen Adoption im Lauf des Jahrhunderts heraus- gekommen? Hat sich aus jener eigenwilhgen Scheidung der Schwesterkünste eine selbständige Gattung der Vor- tragskunst für die poetische Lyrik entwickelt, wie etwa

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der Konzertgesang für die musikalische Lyrik? Haben wir einen deklamatorischen Stil für den lyrischen Satz- bau, wie etwa der dramatische Satzbau von einem per- fekten Deklamator auf seinen harmonischen Rhythmus hin angepackt wird, meist harmonischer als auf der Bühne ? Mir scheint, nein! Mir scheint, der Schauspieler trägt uns lyrische Harmonieen so vor, als waren es lauter dramatische Monologe: momentane Affekte, sentimentale Fragmente, einzelne Stücke einer einzelnen Rolle. Und wenn er das noch wirkUch recht täte! Dann würde er sich, ki'aft seiner mimischen Natur, vielleicht in die Stimmung des Dichters hineinfühlen, aus der heraus die lyrische Harmonie, wenn auch nicht geboren, so doch erzeugt wird; er würde, wenn auch noch nicht die Kunst- form, doch wenigstens die Naturform erfassen, die in der gesamten lyrischen Gattung als musikalische Inbrunst steckt, und die Goethe einmal ganz kategorisch nota- bene in seiner reifsten Zeit, in den Noten zum West-Ost- lichen Divan als die „enthusiastisch aufgeregte" bezeich- net hat.

Aber das grade tut der Schauspieler nicht. Er hat eine blasse Ahnung davon, daß die wahre Natur noch nicht wahre Kunst ist; und so deklamiert er uns lyrische Verse mit einer schwungvoll gespreizten Gemütsruhe, die ver- mutlich die Erhabenheit des dichterischen Geistes über die Welt der Gefühle andeuten soll, tatsächlich aber nichts weiter ausdrückt als die schnöde Überhebung des Dekla- mators, meist schlechterdings rhetorisch wirkt und besten- falls für epischen Vortrag passen würde. Das ist inde»

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noch nicht Alles. Denn diese pseudopathetische Phra- sierung, die bei völlig konsequenter Technik das lyrische Gedicht als Ganzes ganz und gar totschlagen würde, muß er doch nun im Einzelnen irgendwie beleben; und so durchsetzt er die Strophen und Verse mit allerlei drama- tischen Accenten, psychologischen Pointen, markierten Charakterposen, frappanten Gesten und SituationsefFekten, bis schließlich jode rhythmische Harmonie, jede organische Komposition des Vortrags, selbst jene rhetorische oder epische, durch und durch zersetzt ist.

Ich leugne selbstverständlich nicht, daß sich auf diese Weise recht starke Wirkungen erzielen lassen, zuweilen sogar echt starke, gewissermaßen natürliche Wirkungen. Es gibt ja mancherlei Gedichte, in denen die lyrische Naturform mit der epischen und dramatischen organisch zusammengegliedert ist, z. B. in vielen Balladen; und selbst rhetorische Elemente können sich mit poetischen durch- aus harmonisch verbinden, besonders in Strophen mit „freiem" Rhythmus. Aber grade daran ist schon zu merken, daß es hier eine Kunst form zu wahren gilt, ein stilistisches Prinzip zu begreifen, eine deklamatorische Norm zu schaffen; denn selbst die dramatisch drang- vollste oder episch wuchtvollste Ballade bleibt doch im Grunde ein lyrisches Werk. Nun bringt selbstverständ- lich der Schauspieler eine wertvolle Vorbildung des Stimm- klanges mit, die ihm für jede Art von Sprechkunst sehr woiil zustatten kommen könnte; nur müßte er eben darauf bedacht sein, aus diesem technischen Material eine spe- zifisch lyrische Form der Klangbehandlung auszubilden,

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im Unterschied von der dramatischen. Der dramatische Darsteller darf und muß seine Einzelrolle in jedem Moment so drastisch wie möglich verlautbaren, und nur der Re- gisseur nötigt ihn zu einigen wenigen gnädigen Rücksichten auf das Gesamtgefüge der Dichtung; der lyrische Vortrags- künstler dagegen darf grade die einzelnen Momente nicht mit vollem Effekt in Szene setzen, er muß sich in jedem Augenblick als sein eigener Regisseur erweisen, der hinter den Kulissen mit aller Macht aufs dichterische Ganze geht. Hauptgrund dieses Unterschiedes ist: die dramatische Spannung geht überwiegend auf Wirkung durch sichtbare Reize aus, die lyrische wirkt durch Un- sichtbares.

Diesen lyrischen Grundton wollen wir hören! Er darf nicht übertönt werden von vorlauten Betonungen einzelner Motive, und erst recht nicht von unmotiviertem Pomp des äußeren Gesamtklanges. Wir wollen den innersten Zustand der Seele wahrnehmen, der all die natürlichen Motive, die diesen Zustand angeregt haben, zum rhythmischen Kunstwerk zusammenfaßt: jene ek- statische Vibration, die in jeder Kunst ihr organisches Spiel treibt, die aber nur im lyrischen Rhythmus alle Organe der Seele gleich stark spannt, gleichermaßen Gefühl wie Vernunft, Auge wie Ohr nach innen ver- knüpft. Das ist das Wesen der lyrischen Harmonie, und das vor allem wollen wir wahrnehmen. Es herrscht selbst über die Phantasie; es ist nicht etwa der sogenannte schöpferische Rausch des Künstlers, nicht dieser phanta- stische Aufruhr der Sinne, den die Wissenschaft mit dem

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Wahnsinn vergleicht. "Wir sind keine raffinierten Bar- baren, die mit grausamer Wißbegier die Geburtswehen des Dichters belauschen wollen; uns fesselt grade im Gegen- teil die unerforschliche Energie, die aus diesen per- sönlichen SchafTensnöten ein allgemeines Genußding formt.

Von ihr vor allem, mag man sie übersinnlich oder gött- lich oder sonstwie nennen, wollen wir einen Hauch ver- spüren. Wir wollen nicht von Affekt zu Affekt, von Situation zu Situation in ein Chaos deklamatorischer Kontrast-Kunststücke gestürzt werden; selbst beim laute- sten Aufschrei der Empfindung woUen wir noch an die Stille gemahnt sein, die unter der tiefsten Leidenschaft wie über der höchsten Seligkeit zittert, an den ätherischen Kosmos in uns. Wir wollen im gesprochenen Wort den geheimen Gesang der Inbrunst vernehmen, der hinter all den Einzelgefühlen als Akkord des ganzen Gemütes er- braust. Und wenn dies Brausen so innig ist, daß es nur noch wie ein scheues Echo zu den äußeren Sinnen sprechen darf: „Über allen Wipfeln ist Ruh" dann wollen wir ein solches Gedicht überhaupt nicht in großen Sälen hören, es sei denn in Musik umgestaltet. Denn jener Gesang im gesprochenen Wort soll nicht in verstellten Singsang ausarten, nicht in ein scheinbar gefühlvolles, gänzlich ge- mütleeres Laut geschwelge; es soll uns ja aus dem Schwärm der Gefühle in eine klarere Sphäre entrücken, in jenen Bannkreis rein rhythmischer Kräfte, der den aufgeregten Geist des Dichters in künstlerisch lauschende Spannung versetzte. Diese rhythmische Spannung wollen wir

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spüren, die fiir jedes Gedicht eine andere ist, die eigens zwischen dem A^'brtlaut schwebt, die den ganzen Satzbau der Strophe bestimmt wie das Silbenmaß des einzelnen Verses, bis in die feinste Schwankung des Tonfalls, bis aufs Klanggewicht des flüchtigsten Taktteils. Kurz, wir wollen im Ganzen mehr Hingerissenheit, im Einzelnen mehr Verhaltenheit spüren, als der dramatische Dekla- mator in seine Stimme zu legen gewohnt ist. Wir, d. h. wir Dichter!

Ich meine, wir haben hier etwas mitzureden, trotzdem wir nur Dilettanten der Vbrtragskunst sind. Und solange die Fachleute dieser Kunst ihre konventionelle Technik noch für ein Universalrezept halten, solange sie noch nicht begriffen haben, daß auf dem Podium des Zuhörersaals eine andere Stimmführung nötig ist als auf der Bühne des Zuschauerraums, solange nicht alle viel gründlicher, als es von einzelnen schon versucht wird, einen eigens der Lyrik angepaßten deklamatorischen Stil ausbilden: solange ist es auch wohl verzeihlich, wenn die Dichter nach Kräften mitdeklamieren. Und grade an Goethe, der die Lyrik gleichsam auf eigene Füße gestellt hat, uns aber selbst schon fern genug steht, daß seine da- mals neumodischen Harmonieen heute als altgewohnte erscheinen: grade an solchen bekannten Gedichten kann der waghalsige Deklamator ohne Gefährdung des Dich- ters erproben, ob er die instinktive Kraft hat, den Hörer mit diesen gewohnten Klängen wieder so un- gewohnt zu bewegen, wie sie wohl einst den Dichter be- wegten.

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HÖRER UND DICHTER

Faktoren epischer Komposition

Es war in einem Privatzirkel, und ich sollte mein Epos „Zwei Menschen" zum ersten Mal im ganzen Umfang rezitieren. Da die Vorlesung drei Abende zu je zwei Stunden in Anspruch nahm, war der Teilnehmerkreis noch etwas kleiner, als ich erwartet und auch gewünscht halte; und um den knapp 60 Subskribenten nicht im stillen enttäuscht zu erscheinen, schickte ich folgende An- sprache voraus.

Werte Anwesende, Sie sind nur AA^enige! Umso lieber danke ich Ihnen, daß Sie sich mitten im Groß- stadtgelriebe soviel Zeit absparen wollen, einen Dichter geduldig anzuhören. Denn ganz besonders der epische Dichter ist von der Vorstellung geleitet, daß sein Wort zunächst keinem Leserkreis, natürlich auch keinem Zu- schau eikreis, sondern einem Hörerkreis gilt, der willig und fähig ist, ihm zu folgen; und ein solcher Kreis kann niemals groß sein. Die im letzten Jahrhundert erst auf- gekommene Meinung, der Dichter und überhaupt der Künstler wolle vor allem sich selber genugtun und höch- stens noch einigen Wenigen, war aber dennoch nichts als ein Anzeichen von dem Zerwürfnis zwischen Genießen und Schaffen, an dem die ganze soziale Kultur jener Jahr- zehnte kränkelte; zum Glück erholen wir uns allmähHch davon. Die Losung l'art pour l'art kennzeichnet sich

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als echter Auswuchs einer Zeit voll prätenziöser Parvenüs, die es sehr nötig hatten, vornehm zu tun; die selbstver- ständliche Vornehmheit benimmt sich jederzeit leutselig, sie kann sich das erlauben. Es ist dem Dichter des Hohen Liedes oder der Odyssee nicht eingefallen, blos zu ihrem Privatvergnügen die alten Romanzen und Balladen ihrer kleinen Volksgemeinden in eine epische Harmonie zu- sammenzufassen; zahlreiche Stellen im Homer, sämtliche Strophen des sogenannten Salomonischen Fragmentes be- zeugen, daß sie zum Vertrag in der Halle irgend eines patriarchalischen Herrenhofes, am Marktbrunnen irgend eines Städtchens bestimmt waren, kurz daß der Dichter nur der berufenste Vormund des allgemein menschlichen Mitteilungsbedürfnisses ist.

Ein Kreis von Hörern, die dem Dichterwort folgen können: das umfaßt auch schon Alles, was dem Epos sein bleibendes Stilgesetz diktiert, mag sich auch je nach Zeit und Ort, Volk und Land, die Form aufs Verschie- denste modeln, bald ins chronistisch Objektive, bald ins rhapsodisch Subjektive. Die Sprechstimme eines einzelnen Menschen, die stundenlang ununterbrochen ihren fesseln- den Reiz behalten soll, erlaubt natürlich schon von selbst keinen so großen Hörerkreis wie etwa das gesungene Wort, das mit dem kurzen Text eines Liedes weite Räume zu beherrschen vermag, oder die Wechselrede im Schauspiel, wo mehrere Kräfte einander ablösen und den Laut mit Geberden unterstützen. Und damit nun dieser kleine Kreis auch unvermindert aushält beim Vortrag, muß die Dichtung notwendig so gebaut sein, daß sie die

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Hörer dauernd spannt und zugleich die Abspannung ver- hütet, die aus der Mühe des Zuhörens leicht entsteht.

Daraus ergibt sich Zweierlei. Erstens, wie Goethe es genannt hat, die retardierende Komposition des Epos, die uns mitten hinein in ein Abenteuer führt und so all- mähÜch an allerlei äußeren Vorgängen das innere Leben der handelnden Helden entwickelt; wesentlich anders als auf der Bühne, wo rasch mit einigen Worten und Gesten alle möglichen inneren Eigenschaften unmittelbar ausgedrückt werden können, die dann an einer einzigen Handlung die äußere Lebensprobe zu bestehen haben. Und zweitens nötigt der Hörerkreis und seltsamerweise hat diesen Zwang noch kein Ästhetiker recht gewürdigt den Dichter zur rhythmischen Struktur, durch die das Gehör willfähriger aufs innere Sinnbild hingelenkt, vom äußeren Bildwerk nachhaltiger gefesselt, also doppelt ans Wesen des Wortes gebunden wird; das ist der ganze Anlaß und Zweck der sogenannten gebundenen Rede, die also ebenso gut oder besser die bindende genannt werden könnte.

Diesen concentrativen Rhj^hmus hat freilich das Epos mit aller Dichtung gemeinsam, die Geist und Gefühl einer Hörerschaft über den bloßen Rohstoff des Werkes also Fabel, Motive, Ideen etc. zu einer starken Gesamt- empfindung der harmonischen Formkraft erheben will. Nur muß sich eben der epische Rhythmus, damit dem Sprecher nicht der Atem und dem Hörer nicht die Geduld vergeht, gleichmäßiger im Takt bewegen als selbst die längste lyrische Strophe, und dabei doch wechselreicher

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im Tempo als der dramatisch drängende Tonfall. Noch wesentlicher aber unterscheidet es sich ebendadurch vom Prosaroman, von diesem ungefügen Bastardprodukt, das aus Novelle und Biographie geboren und an den Dialogen der Philosophen genährt ist. Auch der Prosapoet kann harmonische Spannung durch einen gewissen Rhythmus erregen, einen stückhaflen Rhythmus von Satz zu Satz; aber niemals kann er im breiten Roman die Spannung von Anfang bis zu Ende auf das rhythmische Pathos selbst aufbauen, zu einem gründlichen Klanggefüge, wie es in einer knappen Erzählung oder in einem dramatischen Akt immerhin noch durchführbar ist. Er strebt nicht dem kleinen Hörerkreis zu, der sich auf ein Gesamtgefühl sammeln soll; er zielt auf unzählige einzelne Leser, die durch vielerlei Reize zerstreut sein wollen. Daher die Überladung unsrer Romane (ich rede natürlich nur von den besten) mit wissenschaftlichen Delikatessen aus Psy- chologie und Pathologie, mit kritischen Erörterungen aller möglichen Probleme, mit Details aus dem sozialen Miheu, mit landschaftlichen Ausführlichkeiten und heimatlichen Absonderlichkeiten, mit malerischen Schilderungen und rednerischen Beschreibungen der äußeren oder inneren Stimmung: lauter Dingen, die der Versroman, also das Epos im strengeren Sinne, kraft der concentrierenden Reize des Verses, einfach zwischen den Zeilen durch- blicken läßt. Dem Prosaisten wäre es beispielshalber, selbst wenn er wollte, garnicht möglich, mit etlichen stereotypen Floskeln, überhaupt mit Anklängen und Wiederholungen ich erinnere nur an den „vielverschlagenen herrlichen

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Vieldulder" bei Homer die verschiedensten Wirkungen auszulösen, je nach dem Zusammenhang, in dem die Worte wiederkehren; ohne die rhythmische Mnemotechnik würden sie auf der großen Fläche entweder ganz dem Gedächtnis entfallen oder den seelischen Nachhall ein- büßen, wenn sie nicht gar ins Falsche umschlügen.

So verfällt der Roman, je aparter er sein will, grade immer mehr darauf, sich der Neigung des Lesers anzu- bequemen, die das Poetische gern schon im Rohstoff sucht, um leichter in Spannung zu geraten; auf gewisse ausschließlich phantastische, romantische, archaistische Liebhabereien, die über das angebHch unpoetische Leben und Streben der Gegenwart vonvornherein hinweghelfen sollen. Einen Hörerkreis würde das bald abstumpfen wie jede andere Eintönigkeit. Man muß sich klar darüber sein, daß einst den Hörern Homers eine Seefahrt nicht eine Spur romantischer vorkam als etwa uns eine Gletscher- partie, daß ihnen ein „ehern dröhnender Rennwagen" kein poetischerer Gegenstand war, als uns ein stählern blitzendes Zweirad. Jene Abenteuer des Odysseus, die Rivalitäten der Helden vor Troja, die Haß-und-LiebesafiFären der Götter waren damals landläufige Alltagsgeschichten, und erst die rhythmische Kraft des Dichters gab ihnen welt- bedeutende Weihe. Auch Homer wird freilich manches Neue zum Altbekannten hinzu erfunden haben, und das Romantische, Mythische, Phantastische gehört natürlich mit zum Leben und unter Umständen also auch mit in die Kunst; aber man halte es nicht für das Wesentliche, es ist nur interessanter Rohstoff, und das Wesen der

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Kunst ist Behandlung des Stoffes, ist die rhythmische Umgestaltung des Lebens zu einem harmonischen Sinn- bild der Welt.

Ob der Dichter seinen Stoff aus der Zeitgeschichte oder aus Sage und Legende oder sonstwoher aus der wirklichen Welt nimmt, ist für dies oberste Kunstziel einerlei; es kommt überall nur darauf an, was der Mensch hinein - dichtet ins Dasein. Selbst auch der populärste Mythos ist nur dadurch populär geworden, daß einem Einzelnen ein Sinnbild allgemeinen Schicksals aufstieg, dem andre Einzelne im Lauf der Jahrhunderte die zwingende Gestalt verliehen, die für Jedermann begreifliche Form. In Zeiten, wo sich die Kulturgemeinschaft noch mit der natürlichen Stammgemeinde deckte, wo sich noch keine geistige Arbeits- teilung ausgebildet hatte und Eigentum noch kein emp- findlicher Begriff war, vollzog sich der Austausch solcher Seelenguter wohl mit einmütiger Leichtigkeit. Was so die Dichter der Urgemeinden durch Geschlechter hin mühelos vollbrachten, vollbringt der arbeitsame Berufs- kiinstler heute während eines Menschenalters. Dafür tritt die gesellige Wirkung, die damals nahezu gleichzeitig und ohne viel Aufhebens erfolgte, jetzt erst nach langen Mei- ungskämpfen bei den Nachgeborenen ein; je wesentlicher der Einzelne das überlieferte Dasein umgestaltet, umso geteilter sind naturgemäß die Meinungen der Zeitge- nossen über ihn. Eins aber steht fest: nur der Eigen- wille, der um gemeinsamer Zukunft willen das sinnlich Vorhandene sinnvoll umbildet, lebt über die Gegenwart hinaus, und umso wirksamer hinaus, je gründlicher sein

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VerwancQungstrieb im rhythmischen Pathos des Lebens selbst wurzelt.

Das ist es auch erst, was uns Kunst und Dichtung zum höchsten Inbegriff aller Kultur stempelt, zum Sinnbild unsrer Naturbeherrschung; was sie verschwistert mit jeglicher Geistesschöpfung, mit Rehgion, mit Wissenschaft, mit Privatmoral und Sozialpolitik und in unsrer Zeit der Großhandelsherrschaft sei es ausdrücklich ausgesprochen mit allem Handel und Wandel menschlicher Schaffens- kraft überhaupt. Es läuft Alles auf das Eine hinaus : Ausbeutung der Natur zu menschlichen Genußzwecken durch ümschaltung der natürlichen Kräfte. Denn selbstverständlich ist auch das Urprinzip aller Kunst, eben der rhythmische Ordnungstrieb, der Grundtrieb jeglicher Harmonie, in der Natur selbst schon enthalten; und so erklärt sich das Dürersche Wort, die Kunst sei schon drinnen in der Natur, man müsse sie nur herauszureißen wissen. Wohin wir blicken im Umkreis des menschlichen Wirkens, überall spüren wir dies Prinzip: in dem fast noch barbarisch monotonen Takt der ältesten religiösen Hymnen, in den hieroglyphischen Rudimenten des Eben- maßes unsrer Handschrift, in der einfachen Schwingung des Pendels, aus der die moderne Naturforschung die komplizierten Maße der Weltbewegung systematisch be- rechnen lernte, in den Schwebungsverhältnissen der Ton- und Lichtwellen, die uns sympathisch oder antipathisch berühren, ja in der simpelsten Einteilung menschlicher Tätigkeit nach Arbeitstagen, Kontorstunden, kostbaren Mi- nuten, und Gottlob auch im Pulsschlag des Herzens.

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Und daß die einzelnen Schaifenskreise dies natürliche Band wieder fühlen lernen und mit Bewußtsein inniger knüpfen : das ist es, was die Kultur eines Volkes wie jedes Einzelnen erst vollendet, und deswegen war's, daß ich Ihnen dankte, dem kleinen Kreis meiner Zuhörer. Denn in diesem Kreise darf ich es sagen: immer nur Wenigen teilt sich höchster Kunslwille sogleich bis lief ins Innere mit, aber auch diese Wenigen sind dem Künstler wertvoll nur insofern, als sie eine Allgemeinheit repräsentieren, als sie würdig sind, selber ein Sinnbild vorzustellen, ein Sinnbild gemeinsamen Menschenstrebens über die Not- durft der Natur hinaus. An ihnen lernen die Andern begreifen, daß vom Kunstwerk belebende Kräfle ausgehen, daß selbst der Zierrat des menschlichen Körpers mehr von der Seele des Trägers mitteilt und auf andre Seelen überträgt, als insgemein der Europäer ahnt, im Unter- schied von jedem Indianer; daß die Dichtkunst den un- entrinnbaren Lockruf zu allem übrigen Menschenwerk anstimmt, und daß man ihr nicht mit Ohrenschütteln als schnöder Laie begegnen soll, sondern daß Jeder zum Liebhaber berufen ist.

Ich weiß nicht, wann sich das Scheltwort „Laie" in die Kunstwelt eingeschlichen hat; ohne Zweifel aber erst, nachdem die zünftlerische Einpferchung der Künstler denselben Grad von Stickluft gezeitigt hatte, wie in der kirchlichen Welt die Überspanntheit des priesterlichen Kastengeistes. Erst als aus der Religion der Liebe ein Dogma der Knechtung geworden war, hat ja das Mönchs- latein sich erfrecht, dem edlen alten Griechenwort Xccoq^

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das einst das Volk der freien Mannen bezeichnete, den Stempel des profanum volgus aufzudrücken. Wieviel Unheil hat es seitdem gestiftet! In Kunst wie Wissen- schaft schiebt es sich zwischen Die, von denen der Geist ausgeht, und Alle, über die er kommen soll. Der Mensch ist das bedürftigste der Tiere; das adelt und veredelt ihn, das hat ihn auch zur Sprache beseelt. Und grade was sein menschlichstes Bedürfnis ist, was Jedermann sich aneignen kann, ohne daß nur Er es besitzt, und was mehr als alles „den Menschen zum Menschen gesellt": die Güter des Geistes: die grade sind durch solch ein Wortchen wie mit einem Bann belegt. Nichts hindert so die seelische Gütergemeinschaft und sie ist gleichbedeutend mit der Eintracht des Volkes, dem Sinn der Menschheit wie dieses Papsttum des „hehren Meisters", auf das der „blöde Laie" zuerst mit trotzig feigem Unglauben schmäht, um schließlich in Ehrfurcht davor zu ersterben, statt daß man in Liebe einander erlebt.

Ist Liebreiz nicht das Wesen der Schönheit?! Ob nun im Kleinen, ob im Großen : d i e Kunst allein hat Lebens- kraft, die uns das Leben lieb und wert macht. Man braucht von dem Eigenwillen der Künstler nicht gleich Gefahren fürs Gemeinwohl zu fürchten, weder Massen- morde noch Staatsumwälzungen, auch keinerlei Kriegs- brunst, Tollwut und Lustseuche; die Muse ist keine Venussin, und noch viel weniger eine Vandalin. Die menschhche Gesellschaft wird vom Kunstwerk stets nur insoweit lebhaft ergriffen, als es den reinen, unverstellten, lebens willigen Menschen enthüllt; alles Andre bleibt Zunft-

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krimskrams. Das nämlich ist es, was zu vernehmen uns immerfort von neuem gelüstet: der Mensch, dem mit Willen nichts Menschliches fremd ist, auch nicht das Allzumenschliche: der sich nicht übermenschüch stellt, und auch nicht übermenschenfreundUch : der vor dem Tier in seiner Brust dieselbe reine Andacht hat wie vor dem Gott: der seine Notdurft liebt als Quelle seiner Tugend, und seine Vergänglichkeit als Strombett der un- versieghchen Werdelust. Kurz: Jeder will sein Leben pulsieren hören, nicht das von irgendeinem Jesus, Zara- thustra, Napoleon oder Rockefeller.

KUNST UND PERSÖNLICHKEIT Perspektiven ins Unpersönliche

Wir leben seit der Betriebsamkeit der Lokomotive und des elektrischen Drahtes in einer Wiedergeburt der Künste, die der humanen Tendenz nach tiefer zu wirken und weiter um sich zu greifen bemüht ist, als irgend eine der früheren Renaissancen; nicht blos bemüht, auch berufen. Die moderne Kultur ist international geworden, und als gebildete Mensch- heit sieht man nicht mehr eine kleine Klasse von Bevor- rechteten an, wie einst in Indien und Attika oder in den Adelsländchen und Palrizierrepubhken der Reformations- zeit, sondern insgesamt all die Nationen, in denen die Leib- eigenschaft für unrecht gilt. Aus einem so viel weiteren

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Interessenkreis nimmt der Künstler unsrer Zeit seinen RolistoiF und hat lür die Verarbeitung den soviel weiteren Kreis von Interessenten. Tiefer als jemals fühlt sich das moderne Individuum im Gegensatz zur breiten Masse, die immer machtiger wird, die freier als jemals konkurrierende Individuen aus sich emporwerfen kann. Um soviel tiefer, mächtiger und freier muß jede Persönlichkeit, die sich zur Geltung bringen will, auch ihre wesentlichen Eigentüm- lichkeiten zum Ausdruck bringen. Sie muß, sie kann nicht anders; das ist das Schöpferische, das Gesunde, ür- natürhche, auch wenn es sich an einer Szene aus dem Krankenhaus oder an den verdrehten Gesten einer Salon- puppe ausläßt.

Und denselben Eigenwillen bekundet, oft bis zum ver- rannten Eigensinn, einstweilen auch noch unser Kunst- urleil, d. h. die Einsicht in die Ursachen der jeweils emp- fundenen Wirkung. Denn zu diesen Ursachen gehört zunächst der persönliche Geschmack des Genießenden, der sich aus allerlei Temperamentsqualitäten zusammen- setzt, die mit dem Gefühl für den bleibenden Kunstwert nichts oder wenig zu tun haben. Insofern freilich wird kein Kunsturteil seinen laienhaft subjektiven Charakter verleugnen können; selbst der Künstler dem Kunstgenossen gegenüber wird immer darin befangen bleiben. Aber aus dieser natürlichen Befangenheit grade entspringt das Ge- fühl der Unbefangenheit. Wer sich ganz dagegen sperren wollte, würde überhaupt nicht zum Genuß gelangen; und das hieße dem Künstler, solange er lebt, der Dienste schlechtesten erweisen. Eben das instinktive Geschmacks-

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urteil, sobald es nur offen als solches bekannt wird, ist dem Künstler mindestens ebenso wertvoll wie das so- genannte rein kritische, das in Wahrheit niemals rein sein kann. Denn es wird ihn am klarsten über die Wirkung seiner persönlichsten Ausdrucksmittel auf fremde Naturen unterrichten, sei es durch Zustimmung, sei es durch Widerspruch; wird also seine Eigenart schärfen und seine Schaffenslust kräftigen. Reine Objektivität des Urteils ist ja nichts als Bewußtsein der letzten Grenzen zwischen den Eindrücken von Außen her und ihrer Verarbeitung von Uns aus, also ein idealer Begriff wie Schönheit, Wahr- heit, Vollkommenheit, ebenso relativ und variabel. Denn wirkUch erkennen und begründen lassen sich diese Grenzen erst, wenn und nachdem wir den fraghchen Eindruck im.- befangen empfunden haben.

Es gibt nun freilich merkwürdige Leute, die zu keiner Zeit zufrieden sind, und heutzutage besonders viele, denn seit Lassalle ist Unzufriedenheit bekanntlich eine Tugend. Seit Nietzsche aber darf man zum Glück gegen die be- kannten Tugenden mißtrauisch sein; und wenn sich der weise Zarathustra nicht gar so tief in seine Höhle ver- krochen hätte, würde ihn wohl allmählich nicht blos das „erbärmliche Behagen", sondern mehr noch das viel er- bärmlichere Unbehagen gewisser Idealisten geekelt haben. In der Tat: merkwürdige Leute das! Da gibt es welche, die jammern über Gott und die Welt; und wenn nun Einer sich untersteht, ihren Jammer schön in Verse zu bringen, dann fallen sie eilends über ihn her mid schimpfen ihn einen Entarteten. Da gibt es Andre, die haben immer-

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fort eine laute Sehnsucht nach der inneren Ruhe; wenn aber einmal Einer auftritt, der sich diese Ruhe errungen hat, dann finden sie ihn fad und müd und werfen ihm noch Steine in seinen stillen Hafen. Wieder Andre regen sich drüber auf, daß die Eigentümlichen gar so unver- ständlich seien; gibt dann ein solcher Sonderling auch mal was Gemeinverständliches von sich, schelten sie ihn einen geistigen Schwindler. Und nochmals Andre lassen sich den Unverstand der Menge verdrießen, weil sie neugierig mit den Wenigen laufen, die den Vielen nicht gleich offne Briefe sind; läuft aber Einem dieser Wenigen dann auch sein Volk bei Zeiten zu, so ist er natürlich ein Über- läufer. Und so weiter: was so alles zum Vorschein kommt, wenn sich die Leute, die das liebe „man" ausmachen, mit einem Manne abzufinden haben.

Indessen diese merkwürdigen Leute haben trotzalledem nie ganz Unrecht: mit der bloßen Selbstherrlichkeit kann kein Mensch etwas Großes fördern, nicht einmal ein Staat oder Volk. Jede Wiedergeburt der Künste beginnt mit krampfhaften Wächstumsregungen, deren Eigenleben die neue wie alte Kultur von Natur aus gefährden würde, wenn nicht irgendein gemeinschaftliches Lebensbedürfnis sie zugleich doch bändigte. Auch die Renaissance vor 500 Jahren hat ihre Kulturmacht und Stilvollendung nur durch den weitverzweigten Zusammenhang der lokalen Schulen und Meister erlangt, der erst zerfiel, als sie reif genug war für den universelleren Barockstil und für so umfassende Einzelgeister wie Michelangelo, Shakespeare, Bach; und Hellas ist gleichfalls erst durch den Verkehr,

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mit Asien und Egypten gewachsen. Dies Bedürfnis schöpferischer Kräfte, einander möglichst zu durchdringen, ist auch jetzt wieder mächtig in der Kunst, eben weil wieder selbstbewußt genug geschaffen wird, daß die Eigen- art des Einzelnen nichts mehr daraus zu befürchten braucht. Kunst wie Dichtung dürfen wieder dran denken, sich dem Volk in ihrem allgemein menschlichen Lebenswert bemerk- bar zu machen, nicht nur den eigenwillig persönlichen und nationalen Geschmacks werten nach. Denn es gibt eine Art der Kunst Wirkung, die über jegliche Grenze selbst- süchtigen Schaffens und also auch Genießens hinausgeht, die überhaupt erst die höchste Kunstwirkung ist, und deren Mächtigkeit bei dem einzelnen Kunstwerk den Grad der bleibenden Schätzung bestimmt: das ist das befreiende Gefühl der Selbstvergessenheit, dasselbe Gefühl, das auch den Künstler im schöpferisch entrückten Augenbück packt, also die Wirkung grade der U n persönlichkeit.

Dies scheint nun fast im Widerspruch zu aller so er- bittert verteidigten Eigentümhchkeit des Künstlers zu stehen und jede Schätzung persönlichen Willens in Form wie Stoflfwahl auszuschheßen. Aber wie allenthalben im Leben bedingen auch hier die Gegensätze gegenseitig ihr Dasein. Ein Kunstwerk, das sich nicht vor andern durch irgendwelche Besonderheit auszeichnet, kann uns auch selbstverständlich m'cht zu besonderer Beachtung reizen. Aber was uns diesem Anreiz erst nachzugeben drängt und zwingt, das eben ist jenes Unpersönlichkeitsbedürfnis, das uns hinter der fremden Besonderheit etwas uns Allen Teilhaftiges vermuten läßt, jenes unwülkürliche Allgemein-

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gefühl, das uns mit jeder Kreatur, mit jedem Tier und Baum und Stein verbindet, das uns an jedem irdischen wie überirdischen Gegenstand nach immer neuen Eigen- schaften, d. h. Beziehungen zu uns selbst, suchen läßt, das eigentlich Schöpferische, Unerschöpfliche, ob vvir's nun Leben oder Natur, Gott oder Weltgeist, Allseele oder Seele der Menschheit, Ur-Ich oder sonstwie nennen mögen : wir wenden uns enttäuscht ab von dem Kunst- werk, sobald wir jene Vermutung des Allgemeinen hinter dem Besonderen nicht darin bestätigt finden. Und auch im Künstler selbst ist es so: erst dieses Allgemeine, Un- faßbare, Grenzenlose, wie es sich im Prisma seines persön- lich beschränkten Bewußtseins bricht, sei es durch sinn- liche oder durch geistige oder durch Gemüts- Wahrnehmung gleichsam die drei Flächen dieses Prismas : erst Das erzeugt den persönlichen Stil mit all seinen Zu- und Un- zulänglichkeiten, und einzig deswegen fühlt sich der Künstler niemals vollkommen selbstbefriedigt durch irgend eins seiner fertigen VSerke.

Demgemäß ist es auch ganz verkehrt, wenn eine super- moderne Ästhetik sich dagegen auflehnen will, nach all- gemeinen Maßstäben für künstlerischen Wert und Unwert zu suchen. Die kritische Methode, wie Lessing und Schiller sie für Deutschland begründet haben, nämlich die klar begrenzte Feststellung gewisser höchster Wertbegriffe auf Grund stets wiederkehrender Gefühlserfahrungen bei allen stärksten Kunstgenüssen, ist etwas, dessen sich die Menschheit niemals wird entschlagen können. Wenn eine neuere Ästhetik dies zu ersetzen, nicht etwa blos zu er-

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ganzen hofft, dadurch daß sie das Kunstwerk rein be- schreibend als eigen reizvolle Erscheinung, woniöghch gar als pathologische, bis ins Feinste zergliedern will, so ist sie schlechterdings in einer fortwährenden Selbsttäuschung befangen. Denn damit legt sie nicht das Geringste über die Kunstwirkung als solche dar, setzt vielmehr jene normative Methode im stillen immerfort voraus, indem sie eben nachprüferisch nur solche Werke untersucht, die nach Maßgabe irgend welcher Allgemeingefiihle schon als irgendwie wertvoll anerkannt sind. Daß solche allgemeinen Maßstäbe immer auf allerlei Querstriche von anderem Standpunkt aus stoßen werden, liegt nicht an einem Fehler der Methode, sondern ist im Wesen der Kunstwirkung einerseits, des menschlichen Verstandes anderseits be- gründet; denn jenes letzte unpersönliche Grundgefühl, auf dem der Kunstgenuß beruht, reicht eben immer weit hinaus über die Grenzen klarer Wahrnehmung, und von dieser ist ja unser Verstand obendrein nur ein Bestandteil. Daher ist der Künstler auch stets der Meinung, daß sein Werk am wirksamsten durch sich selbst spricht. Nicht blos am unwiderleglichsten , sondern sogar am gründ- lichsten; denn schließlich sind ja in dem Gefühl, das durch die Einwirkung des Kunstwerks ob für ob wider in uns erregt wird, alle Gedanken schon mit enthalten, die man sich über die Wirkung machen kann. So ist es nun einmal von Natur: das Gefühl erstreckt sich ins Grenzenlose, der Verstand ist stets auf Standpunkte be- schränkt.

Um jenes entrückenden Grundgefühls so gründlich

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wie möglich teilhaftig zu werden, muß man sich also immer wieder an die Kunslform selbst hallen, nicht etwa blos an die Erinnerung; und wer es unter dem Bann seiner Eigenart hinter der fremden Art des Künstlers nicht von selbst zu erlangen vermag, dem wird es kein Verstand der Kunstverständigen jemals zu Gemüte führen. Denn alle Kunstwirkung läuft schließ- hch auf das Wunder der Liebe hinaus, das sich be- grifflich nur umschreiben läßt als Ausgleichung des Widerspruches zwischen IchgefUhl und Allgefühl, Selbst- bewußlheit und Selbslvergessenheit. Ja, man kann grade- zu sagen: je mächtiger ein Kunstwerk in uns dieses allumfassende Gefühl erregt, umso ausdrücklicher darf und muß sich schon um des technischen Gleich- gewichts willen auch die persönliche Art des Künst- lers zeigen, während sich ohne jenes Unpersönliche die menschliche Selbsten iblößung der Schaffenden, diese völlig grundlose Ofi'enherzigkeit in seelischen oder leiblichen Dingen, die jedem ursprünglichen Kunstwerk eignet, nur als die mehr oder weniger unverschämte Aufdringlichkeit von Marktschreiern auswiese.

Es hat schon manchen Sittenprediger, auch manchen Schöngeist kopfscheu gemacht, daß oft grade Kunst- werke, die am stärksten auf Umfassung der Lebens- gewalien, auf Beherrschung der Naturkräfte ausgehn, obenhin fast den Eindruck machen, als handle sich 's um Verherrlichung brutaler persönlicher Instinkte. Das wäre fieilich das Gegenteil von einer Kunst der Natur- beherrschung. Aber man wird nicht leugnen können:.

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wo geherrscht werden soll, muß etwas da sein, das der Beherrschung wert und bedürftig ist. Der lenkende Geist ohne starke Triebe wäre ein Reiter ohne Pferd; wie hin wider selbst das edelste Vollblut nichtsnutzig wird und niederträchtig, wenn nicht ein ebenbürtiger Herr es mit Geschick zu bändigen weiß. Als oberste Aufgabe der Menschheit wird auch dem Künstler ewig vor- schweben: die Erringung jenes geistigen Allgemein- gefühls, das den vom Schicksal getriebenen Einzelmen- schen über sein Schicksal erhaben macht, über inneres wie äußeres Schicksal. Jede Überschätzung der Persön- lichkeit ist also gleichbedeutend mit ünterschätzung ihrer höchsten Schaffenskraft, wie auch des Kunstschaffens überhaupt.

Und demzufolge: je stärker sich in einer Zeit dies Unpersönlichkeitsbedürfnis regt, ob nun als soziale oder erotische oder sonstwie altruistische Hingebung, umso mehr wächst auch die Lust der Schaffenden, sich über die technischen Spezialitäten, die wiegesagt immer nur der Ausdruck des beschränkten Selbstbewußtseins sind, hinauszuheben zu überschauenden Zeit- und Welt- und Lebens -Sinnbildern, nicht mehr der bloßen Anschauung zu dienen durch eigentümlich stimmungsvolle „Natur- ausschnitte" und „Seelenzustände", die selbst den Einge- weihten anmuten wie Tempel wände voll Hieroglyphen, sondern wieder einmal Pyramiden zu bauen, von denen aus Jeder, der notabene die Mühe des Ersteigens nicht scheut, beseligt in den freien Himmel und über tiefes Land schauen kann. Ich will mit dieser bildlichen

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Floskel nicht etwa einer bodenlosen Himmelslürmerei das Wort reden, die sich auf Erden nicht zurecht zu finden weiß. Im Gegenteil: es ist ein Zeichen der Un- reife, wenn man noch glaubt, den Himmel erst erobern zu müssen. Wir sind ja jeden Augenblick ich meine das ganz wirklich und wahr mitten in allen Himmeln drin; die Erde ist im Unendlichen genau so hoch oder tief zuhause, wie etwa die Sonne oder ein anderer Stern.

Das wissen freilich heute schon Viele; aber fühlen, als etwas Selbstverständliches mitfühlen, mit Fleisch und Blut und allen Nerven, tun es erst recht Wenige. Und grade dieses selbstverständliche, genau so irdische wie überirdische Allgefühl, das jede andere Lebensempfindung, jede Einzelwahrnehmung, jeden Gedanken des SchaflPen- den stützt und trägt, das eben ist die wesentliche Basis, auf der sich die großen Werke der Kunst, die im bild- samsten Sinne vorbildlichen, immer wieder aufbauen. Das hat nichts zu tun mit dem Idealismus gewisser hu- maner Tendenzpoeten, der nur temporärer Kritizismus ist und meistens ein sehr barbarischer. Der künstlerisch bestrebte Dichter benutzt die humanen Ideen seines Zeit- alters nur, um seine Gefühlskraft daran zu erproben, nämlich als seelische Dissonanzen zwischen Menschheit und Gottnatur, die er harmonisch zu lösen hat. Er kann und will nichts weiter tun als eine bildliche Füh- lung zum Leben schaffen, die alle kritischen Wider- sprüche gegen die Schönheit und Herrlichkeit des ganzen Daseins ganz und gar ausschließt, also auch alle speziellen

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Tendenzen. Das ist der Idealismus des Künstlers; und der liegt jeglichem echten Kunstwerk zugrunde, auch wenn sein Rohstoff dem oberflächlichen Blick häßlich oder schrecklich erscheint. Wer sich dann durch dies bild- liche Werk in der Tat vollkommen befriedigt fühlt, den hindert freilich Nichts und Niemand, darin nach einem besonderen Richtziel für seine eigne Gefühlswelt zu fahnden. Und in diesem Sinne doch nur in diesem kann allerdings jede Kunstgestalt, vom ganzen Opus bis zur geringsten Teilfigur, als Vorbild der Lebens- führung aufgefaßt werden, selbst wider Absicht und Meinung des Schöpfers; Falstaff genau so gut wie Achi Ileus,

Wenn das erst wieder vollkommen begriffen ist, von den Genießenden wie Schaffenden, dann wird auch der Schauer vor dem Unerginindlichen, den jede gründliche Beschäftigung mit fremder Geistesarbeit in uns weckt, die Kunst weit wieder allgemein durchdringen; dann wird sich dies Gefühl, als eine neue Ehrfurcht vor der ewigen Schöpferkraft, auch bald durch die Alltagswelt verbreiten, und dann wird diese Welt wohl endlich merken, daß wir wieder einer religiösen, auf deutsch allverbind- lichen Kunst entgegenreifen. Die braucht nicht wie ein Sturm daherzufahren; auch im Säuseln des Windes kann man Erhabenes hören. Dürer's Gottvater auf dem Regenbogen über den sieben Leuchtern und dem knieen- den Johannes enthüllt in seinen bescheidenen Form- grenzen die Allmacht ebenso strahlend, wie Michelangelo's Apotheose der gesclüechtlichen Zuchtwahl, die den Hirn-

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mel der Sixtinischen Kapelle zu sprengen droht und in dem heilandsherrlichen Menschenpaar des Jüngsten Gerichtes gipfelt. Der ehemalige Sinn dieser Bilder mag heute schon halber Unsinn sein; aber ihr Geist wird weiter- wirken, solange die Sterne uns unerreichbar sind.

Es ist dem eindringlichen Kunstgefdhl auch völhg gleich und einerlei, ob jenes Tiefste und Höchste ihm durch naturale Anschauungsfreude oder symbolische Vorstellungs- lust vermittelt wird; das Eine ist so mittelbar und un- mittelbar wie das Andre. Der formgewaltige Phantast zeigt im Symbol Natürliches, der Realist in der Natur Symbolisches. Die rhythmische Flut des Sonnenhchtes, die durch den scheinbar wüsten Tanzknäuel der Rubens- schen Kirmeßbauern braust, erhebt den andächtig Schau- enden in eine nicht minder unendhche Seligkeit, wie der entschwebende Puttenreigen in dem Dämmerungsglanz und Fackelschimmer von Watteau's Abfahrt nach Cylhere. Und das will doch wohl der machtvolle Künstler: als ein Seher des allmächtigen Lebens betrachtet werden, nicht als Spezialartist einer Technik. Es gibt eben auch in der Kunstgeschichte Apokalyptiker und Evangelisten, und Mancher ist gar Beides zugleich. Wer sich bei einer künftigen Menschheit kanonisches Ansehn erringen wird, das zu entscheiden geht freihch zu allen Zeiten über die zeitgenössische Urteilskraft. Eins aber ist sicher: die Eigenart tut's nicht. Denn nur das Eine bleibt übrig von uns, wenn selbst unsre Werke längst verwest sind: Das, was den Andern Vorbild ward für ihre stete Fühlung zur Welt: die Tat uosrer Liebe.

VW II

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KULTUR UND RASSE

Ein Gespräch zwischen Künstlern

Ein deutscher Dichter und ein jüdischer Maler waren einander in Verehrung zugetan, trotz oder wegen ihrer sehr verschiedenen Begabung. Den Maler reizten simple Motive, die er mit räumlich packender Rhythmik in ver- wickeltem Lichtspiel zu zeigen verstand; der Dichter ließ sich umgekehrt meistens von komplizierten Impulsen an- regen, die er bei rhythmisch lebhaftestem Tempo in un- vermutet einfachen Zusammenklang zu setzen wußte. Gemeinsam war ihnen also nur, was allen vollkommenen Künstlern gemeinsam ist: ein stark beweglicher Scharfsinn bei gründlicher Gemütsruhe. Das gab dem persönlichen Charakter des Juden eine sprunghafte Schlagfertigkeit, die sich mit Vorliebe hinter der Maske berlinischer Fopperei versteckte; an dem Deutschen dagegen prägte es sich in einer hartnäckigen Spannkraft aus, die sich nach Art des märkischen Landvolkes gern etwas nückeboldig stellte.

Als Leute, deren Zeit kostbar war, sahen sie einander nur selten; aber jeder verfolgte des Andern Arbeiten mit angelegentlicher Aufmerksamkeit. Nun hatte der Maler ein Bild ausgestellt, dessen dramatisches Pathos beträchtlich von seiner sonst mehr lyrischen Verve abstach und infolge- dessen viel Kopfschütteln erregte; da konnte der Dichter nicht unterlassen, ihn doch einmal wieder zu besuchen,

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um ihm für diesen neuen Beweis seiner rastlosen Entwick- lungskraft ein respektvolles Kompliment zu sagen.

Das Gemälde zeigte ein nacktes Weib von mänadischer Gelenkigkeit, wie es sich auf verwühltem Lager über einem stiernackigen, wollustgeschwächten Kerl hochreckt, in der Rechten irgend etwas Blankes wie eine sieghafte Waffe hebend, bis zu den Hüften vom Zwielicht des Morgens und einer Kerzenflamme beglänzt, während sich der schlaftrunkene Mann an ihrem Schooß im Halb- schatten wälzt. So nahm sich die Geberde des Weibes wie ein geschmeidiger Hohn auf die rohe Kraft aus, wie ein Sieg wachsamer Geistesgegenwart über plump ver- schlafene Sinnlichkeit, ein fleischgewordener Triumph der raffinierten Intelligenz über den brutalen Instinkt, mit einfachster Wucht in feinste Beleuchtung gerückt. Der Maler hatte das große Werk „Judith und Holofernes" getauft, obwohl es lediglich durch die Idee auf die biblische Legende zurückwies. Kein orientalischer Teppich ver- liebreizte das Lager, und die Mänade konnte nach ihrem Typus irgendeine zigeunernde russische Fürstin oder deutsche Prinzessin sein, der Mann ein x-beliebiger braver Cirkusathlet. Der deutsche Dichter wollte jedoch von diesem Gesichtspunkt nichts merken lassen, sondern sprach vor allem seine Bewunderung über die schwungvolle Raumwirkung aus; worauf sich folgende Unterhaltung entspann.

Der Jüdische Maler: Na ja, sehr schön. Aber nicht wahr, die Hauptsache ist doch: das Ding hat Rasse von oben bis unten!

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Der Deutsche Dichter: "Wenn Sie also doch davon sprechen wollen, dann muß ich Ihnen ofi'en gestehen, ich sehe eher etwas allgemein MenschHches.

D. J. M. Sie sind wohl allgemein übergeschnappt! So 'was kann doch blos einer, der Jude ist, machen!

D. D. D. In der Tat blos Einer, nämhch Sie.

D. J. M. Na ja, weil ich eben noch Vollblut bin; die Andern sind schon meistenteils alle so ins allgemein Menschliche vermanscht.

D. D. D. Ich glaube nicht mehr an das Rassendogma; wenigstens nicht, soweit es seelische Werte und geistige Leistungen begründen soll. Bei den künstlichen Tier- rassen ist das von selbst ausgeschlossen, denn die züchtet ja erst der menschliche Geist. Aber auch die natürliche Rasse kann höchstens für körperbauliche Eigenschaften eine Grundbedingung sein, eine neben mancherlei andern ; vielleicht aber garkeine Grundbedingung, sondern immer nur ein Endergebnis aus langen seelischen Sonderbestre- bungen einer Gemeinschaft beliebiger Einzelkörper gegen die gefährliche Umwelt, eine Art Schutzmarke auf Gegen- seitigkeit, die dann wieder neue Arten herbeiführen kann, durch neue Anlässe zur Gemeinschaftsbildung. Wie soll denn durch Rasse, dies allerallgemeinste Merkmal ober- flächhcher Unterscheidung, die künstlerische Begabung erklärt werden, die allereigentümlichste Sonderlichkeit, die nur von den gründlichsten Kennern geistiger Werte voll- kommen erkannt und gewürdigt wird, gleichviel von welchem Rassekörper!

D. J. M. Sie haben sich da 'ne lauge Strippe von Geist

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und Seele zusammengedreht. Aber ich will Ihnen mal was sagen, ganz einfach, ohne Textilapparat: Dumm muß der Künstler sein, dumm und geil! und das kann blos ein Rassekerl! Ich meine, so richtig dumm und geil; cum grano salis^ wissen Sie!

D. D. D. Und wahnsinnig! Gleichfalls cum grano salis !

D. J. M. Und ein Frechdachs! Sie wollen mich wohl uzen, Verehrter?

D. D. D. Ich wollte Ihrer gesalzenen Weisheit blos einen rassepsychologischen Wink geben, aus welchem Pökelfaß sie stammt. Dumm, geil und verrückt das ist der Künstler, wie er heute bei allen Professoren der höheren Zoologie im Buch steht.

D. J. M. Na, ich meinte natürlich nur: während er Kunst macht! Im Leben kann er der klügste Geschäfts- mann und bravste Famüienvater sein; je klüger und braver, umso besser für ihn.

D. D. D. Also während er Kunst macht, soll er ge- wissermaßen seine besseren menschlichen Qualitäten an den Nagel der Theoretik hängen. Ich fürchte nur, daß er dann zugleich seine besseren Rassequalitäten mit weghängt.

D. J. M. Nanu, so plötzbch? Sie haben doch eben ganz deutlich gesagt, Sie glauben an solche Quahtäten nicht!

D. D. D. Ich nicht; aber Rassetheoretiker glauben, daß Familiensinn und Lebensklugheit die besonderen jüdischen Tugenden sind.

D. J. M. Ja natürhch! Was bUeb uns denn auch weiter übrig, solange wir im Ghetto hockten

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D. D. D. und nachdem in aller Herren Ländern aus einigen tollkühnen Nomadenstämmen, die wahrscheinlich auch bereits nur zur Hälfte echte Semiten gewesen sind, allmählich eine brave Sippschaft von allerlei Krethi und Plethi geworden war.

D. J. M. Also Karnickel- und -Hasenhecke. Na ja, das stimmt, da haben die Antisemiten ganz Recht: das ist heute genau solche jüdische SpeziaHtät, wie's auch deutsches Vettermichelpack gibt. Aber was hat das speziell mit Kunst zu tun? Die verdolmetscht doch eben das Generelle! Da entpuppt sich das ursemitisch Rassige wieder.

D. D. D. Merkwürdig nur, daß das alte Volk Israel, solange sein Hauptstamm wirklich noch reinrassig war, d. h. längstens bis etwa zur Zeit Samuelis, fast garkeine Kunst hervorgebracht hat; die spärlichen religiösen Psalmen, die vielleicht in die Zeit vor David zurückreichen, sind doch wohl erst embryonische Dichtkunst.

D. J. M. Nebbich! Das war ihnen doch verboten! Siehe Moses: Ihr sollt euch kein Bildnis noch Gleichnis ma- chen!

D. D. D. Mir deucht, in einem kunstfähigen Volk hätte solch Verbot garnicht erst laut werden können. Was meinen Sie wohl, was die Griechen gesagt hätten, wäre Solon ihnen mit so'was gekommen! Das haben sich nicht mal die Deutschen bieten lassen, die doch, solange sie reine Germanen waren, gleichfalls kein nennenswertes Kunst- volk gewesen sind; und dasselbe gilt von den alten Römern. Überhaupt: betrachten Sie's mal historisch! Die sogenannte reine Kunst entsteht überall erst in Mischvölkem, also wo

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mehrere Rassen einander kreuzten und mag man das nun einen günstigen Zufall oder „Ergänzung passender Anlagen" nennen eine neue zu bilden beginnen. Da tritt dann die Kunst gleichsam vorbildnerisch auf, aus Verlangen nach neuem Menschentum.

D. J. M. Meschugge ist Trumpf! Oder sind Sie wirklich verrückt ?

D. D. D. Ja, ich will wirkhch einmal so verrückt sein, die physische Rasse als Element für psychische Phänomene gelten zu lassen. Dann wüßte ich nicht, wodurch aus so einfacher Ursache ein so mannigfach lebensvolles Ding, wie es jedes starke Kunstwerk doch ist, auf natürhche Weise entspiingen sollte, es müßten denn mehrere solche Elemente in dem Künstler verbunden sein. Der machtvollste Künstler wäre dann der, in dessen Familie sich nach und nach alle Kulturrassen abgelagert hätten. Aber Sie sehn mich ja weiß-Gott an, als ob Sie mich für irrsinnig hielten.

D. J. M. Nein, dichten Sie nur ruhig so weiter! Ich habe mir blos Ihr Gesicht angesehn. Ich werde mal fix 'ne Skizze von machen; Sie sehn ganz apart aus, wenn Sie so dichten. Und das mit der Rassenablagerung, das kann ja auf Ihr Gesicht ganz gut stimmen.

D. D. D. Ahah, Sie meinen, ich rede pro domo?

D. J. M. Na, ich habe neulich mal wo gelesen, Sie sollen ja so'ne Art Slawe sein, aus Wendisch -Buchholz oder so her.

D. D. D. Da könnte ich Ihnen nun leicht beweisen, daß ich ein waschechter Deutscher bin, bis ins 17. Jahr-

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hundert zurück. Meine väterlichen Vorfahren waren niederschlesische Handwerker, ein paar Schmiede, ein Zinimermeister, ein Seiler, ein Tierarzt und ein Labo- rant; meine mütlerhchen teils märkische Bauern, teils thüringische Beamten und Fabrikanten, mit einem rheini- schen Nebenzweig. Die Familiennamen haben in allen Linien den sogenannten reinen Klang: außer meinem eignen deutschdämligen Namen noch Fließschmidt, Hill- mann, Zahn, Oehme, Eule und Eyle. Nur in dritter Linie, von Vaters Seite, kommt der slawisch klingende Name Tschorsch vor; doch ist er wahrscheinlich aus deutschem Georg oder Jörge vertschechisiert, oder viel- leicht aus französischem George verdeutscht. Ich könnte mich also vor jedem Teutobold mindestens ebenso gut als Germanen aufspielen, wie man Luthers böhmakisches Gesicht oder Bismarcks wendischen Rundschädel ins Ger- manische umdichten will; bin aber trotzdem überzeugt, daß ich wie mehr oder weniger jeder Deutsche seit der Völ- kerwanderung — nicht blos slawisches und keltisches, son- dern wahrscheinlich auch romanisches und vielleicht sogar mongolisches Blut in meinen werten Adern beherberge.

D. J. M. Da säße ich also da „mit's Talent", als so*n kümmerliches semitisches Inzuchtgewächs.

D. D. D. Ja, wenn Sie wirklich ein echter Hebräer wären?

D. J. M. Na, hören Sie mal, erlauben Sie mal, ich soll Sie wohl wegen Verleumdung verklagen?! Wollen Sie etwa meine leiblichen Urgroßmütter für lauter Herodiäser erklären?

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D. D. D. Oh, zwei bis dreie geniigen wohl schon; und wenn ihre Gatten Herodesse waren, werden Sie's ihnen wohl nicht verdenken.

D. J. M. Na, Spaß beiseite! Ihr Schädel wirkt propper; Sie sitzen faktisch briljant Modell. Sitzen Sie jetzt mal ein bißchen stille! Sehn Sie sich mal derweil meine Augenbrauen und Nasenwurzel und Stirnbogen an! Sehn Sie: so' was, das gibt's nicht bei allgemeinem Mensch- mansch, das ist ganz apartes Rasseprodukt!

D. D. D. Mag schon sein; die Oberstirn scheint mir vlämische Rasse, die Augenknochen spanische. Ihre Familie ist ja wohl zum Teil aus Spanien über Holland gekommen; imd der belgische Architekt Van de Velde hat einen ganz ähnlichen Gesichtsschnitt, obgleich er wahrhaftig kein Jude ist.

D. J. M. Nein, wahrhaftig nicht. Aber apart ist er auch. Faktisch 'n ganz famoses Kerlchen; rassig bis in die Fingerspitzen. Wer weiß, vielleicht ist er doch 'n Jude!

D. D. D. Sagen Sie mal, Sie Rassemensch: Sie haben doch englische Vollblutpferde gemalt. Halten Sie die etwa nicht für rassig?

D. J. M. Na, und ob! Ach so, Sie möchten mich wieder döppen?! Na aber, das hab ich doch gleich blos gemeint: da hat sich eben die angelsächsische mit arabisch- türkischer Zucht gekreuzt und schließlich 'ne neue Rasse gebildet. Aber sein Sie mal jetzt 'ne Sekunde lang stille; mir stimmt was nicht an Ihrer Stirn. Einen Moment blos, ich werd's gleich haben. Faktisch 'ne ganz verflixte Sürne; von vorne breit wie'n heraldischer Bulle, und im

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Profil schlank retour wie'n Lämmergeier Sie wollen gewiß auch 'ne neue Rasse gründen! Bitte, blos'n Mo- ment noch, dann bin ich so weit! So: jetzt los auf die Weltgeschichte! Dichten Sie bitte ungeniert weiter!

D. D. D. Also Tatsache ist doch Folgendes: Ob nun im alten Ägypten und Hellas, oder im mittelalterlichen China und Indien, oder im späteren Japan und Persien, oder in der europäischen Renaissance eingerechnet die Vorstufen, byzantinische wie maurische, romanische wie gotische überall sind die kurzen Epochen höchster künstlerischer Kultur erst dann reinlich hervorgetreten, wenn sich durch Kriegs- oder Handelszüge verschiedene Volksstämme oder Nationen innig miteinander befaßt und neue Staats- oder Standesformen, Herrschafts- oder Ge- sellschaftsklassen durch Mischheiraten angebahnt hatten. Sogar bei den verschollenen amerikanischen Kulturen ist von der Forschung festgestellt, daß die großen Tempel der Azteken und Inka erst nach langwierigen Eroberungs- kämpfen zwischen diversen indianischen Rassen entstanden. Und heute, wo sich in Nordamerika aus dem allgemeinen Menschmansch, wie Sie zu sagen belieben, eine neue weiße Rasse langsam herausschält: erst heute zeigen sich dort auch die Anfänge einer spezifischen Yankeekunst, recht respektabel bereits in der Poesie und in der profanen Architektur, passabel auch in der Malerei. Nun aber gar das moderne Europa! Woher denn auf einmal seit etwa 50 Jahren die Hochflut aller mögUchen neuen oder doch neu-sein-wollenden Kunstrichtungen, von Skandinavien und Rußland bis Frankreich und Spanien?! Sollte es bloßer

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Zufall sein, was auch hier wieder unverkennbar voraus- ging: die Durcheinanderwürfelung aller Nationen durch die Napoleonischen Kriege, die Entfesselung internatio- naler Tendenzen durch Handel, Industrie und Technik, die enorme Steigerung des Völkerverkehrs durch die Eisenbahnen und andre Transportreformen, und zu alledem noch als wahrer Rassenextrakt eine Fülle nie dagewesener Mischungsversuche durch die Emanzipation der Juden!

D. J. M. Sieht ja ungeheuer verführerisch aus, Ihre Destille von Menschenblut. Aber wissen Sie: Kunst- richtungen, unter uns gesagt, das sind doch wohl eigent- lich immer die Künstler. Na, und die Künstler, die Richtung machen, das sind eben die paar urigen Kerls, die sozusagen noch koscheres Blut genug haben. Sehn Sie sich doch mal selber im Spiegel! Haben 'ne richtige deutsche „Schusterneese". Brauchen mir garkeine Flappe zu machen; Goethe hatte auch solchen Zinken.

D. D. D. Und hatte außerdem Augen und Lippen, wie man sie sonst nur an italiänischen Frauen sieht.

D. J. M. Sie, sagen Sie das blos nicht zu laut! Sonst steigen Ihnen die Deutschen aufs Dach.

D. D. D. Wie kommt es denn aber, daß die Deut- schen, solange sie „sozusagen noch koscheres Blut ge- nug" hatten, also längstens bis etwa zur Zeit Karls des Großen, keinen einzigen namhaften Dichter gezeitigt haben, von anderen Künsten garnicht zu reden! A^'b doch die Griechen schon vor der geschichtlichen Zeit mit Amphion, Eumolpos und Musäos, Orpheus, Homer und Hesiod paradieren; die hatten sich nämlich damals

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schon mit allerhand fremdem Volk gemischt, von Illy- rien bis Asien und Ägypten. Und wie kommt es, daß all die winzigen Rassen, die wir heute noch wirklich rein nennen dürfen, entweder weil sie von Hause aus keine Anlage zur Vermischung hatten, vielleicht auch blos keine Gelegenheit, oder weil sie erstarrte Misch- rassen sind, also die sogenannten wilden Völker vom Pescheräh bis zum Eskimo, vom Australneger bis zum kapländischen Buschmann, vom indischen Paria bis zum Sioux- Indianer garkein Kulturgenie im Leibe haben, geschweige hohe Kunstbegabung?

D. J. M. Na, Sie! das liegt doch klar auf der Hand, ^^'b alles die reine Unzucht ist, kann keine reine Zucht draus werden. Natürlich muß mal erst Mischung kom- men, damit sich die bessere Rasse selbst auskennen lernt

D. D. D. und dann dieselbe reine Unzucht weitertreibt?

D. J. M. Nein, Sie müssen mich nicht für'n Bählamm halten. Natürlich kapert sie dann allmählich auch die besseren Elemente der andern Rasse.

D. D. D. Sehr richtig! Was ich vorhin schon sagte.

D. J. M. Nanu? Das ist doch nichts allgemein Menschliches! Allgemein menschlich ist leider Gottes, daß sich auch schlechte Elemente mit einmischen.

D. D. D. Das würde ich lieber allgemein hündisch nennen.

D. J. M. Auch recht! Meinthalben! Sie müssen's ja wssen. Sie sind ja wohl auf Erotik geaicht.

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D. D. D. Ja; von den Rasseschweinen nämlich. Eigentlich kommt's mir auf bessere Leser an.

D. J. M. Na, sein Sie nur friedlich! Ich meinte ja grade: wenn der viehische Kuddelmuddel zu doli wird, dann gibt's eben so'n paar bessere Menschen, wie die richtigen Künstler doch wohl sind, und in denen muckt was dagegen „ufF". \^as muckt denn da ufF, Sie Mann mit's Talent? Doch wohl das Tröpfchen stärkere Rasse, das Sie noch irgendwo im Gemachte haben! Das nenne ich Reaktion der PersönUchkeit gegen das allgemein Menschliche! Da zeigt sich eben die reine Natur !

D. D. D. Schön; immerhin sind wir schon einig darüber, daß man mehrere Rassen im Blut haben muß, damit sich eine davon als die stärkere fühlen und mit ilirer ,,reinen Natur" hervortun kann. Aber nun bitte, sagen Sie mal: es ist doch eine sehr seltsame „Reak- tion", daß z. B. Sie enragierter Jude die norddeutsche Landschaft samt ihrem Volksschlag, von Hamburg bis hinter Amsterdam, mit solcher natürlichen Kraft gemalt haben, wie bis jetzt noch kein holsteinscher oder friesi- scher Künstler. Warum hat denn Ihre Persönlichkeit, will sagen Ihre reine Natur, nicht lieber semitisch rea- giert? Und warum hat z. B. der Holländer Rem- brandt so wenig germanisch reagiert, daß er seine Motive und Modelle mit Vorliebe aus dem Judenviertel nahm?

D. J. M. Ja vvissen Sie, wenn ich ehrlich sein soll: das hab ich mich auch schon manchmal gefragt. Auch warum ich blos blonde Weiber liebe.

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D. D. D. Das ist nicht so sonderbar, wie es scheint; grade die sogenannten Kulturrassen sind seit jeher auf A^^eiberraub ausgegangen, offenbar weil eben nur durch Blutmischung Kultur entwickelt und fortgepflanzt werden kann. Übrigens ist Ihre Judith doch dunkelhaarig, wenn auch keineswegs von semitischem Typ.

D. J. M. Na, solch Biest, das soU man doch eben nicht lieben! das kann man meinthalben vor Haß bewundern!

D. D. D. Ja, und sehn Sie, mir geht's gerade umge- kehrt: Ich stamme aus durchweg blauäugigen und über- wiegend blonden Familien und liebe die dunkeln jüdi- schen Frauen. Ich finde bei keiner andern Art Weib so viel hellen Geist mit seelischer Glut verbunden. Es gibt ja freilich auch da böse Kreuzottern und allerhand gute Gänse und Schaf lein; aber die besseren sind doch geborene Heldinnen, Richterinnen und Priesterinnen, um nicht zu sagen Göttinnen.

D. J. M. Sie, jetzt schwärmen Sie aber, weiß der Herrgott, wie'n erotischer Muselmann!

D. D. D. Oder vielleicht, von christlichem Stand- punkt betrachtet, wie ein heroischer Jesuit blos daß ich keine himmlische Jungfrau, sondern möglichst viel irdische Musterweiber züchten möchte. Und da dürfte ein bißchen Menschenliebe doch vielleicht etwas frucht- barer sein als der beliebte Rasseninstinkt, der sich meistens doch recht zuchtlos geberdet und in der Regel nur als Vorwand dient, um den gemeinen Menschliclikeiten des Hasses und Neides nach Willkür zu frönen.

D. J. M. Nun, bei Licht besehn, wird wohl Jeder

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Künstler auf die Art Modelle versessen sein, die seinen Instinkt am kräftigsten auf sein Talent hindirigiert, also aufs rein Persönliche.

D. D. D. Und seine Phantasie aufs allgemein Mensch- liche; um nicht zu sagen Göttliche.

D. J. M. Ach was, Phantasie ist doch keine Kunst! Phantasie ist immer blos Notbehelf.

D. D. D. Sie wollen wohl sagen: noch keine Kunst, und auch blos immer ein Notbehelf! wie jeder natu- relle Impuls bloßer Notbehelf zur Kunstschöpfung ist, z. B. auch der Rasseninstinkt. Kunst ist eben nur als Kulturprodukt schätzbar; und als solches will sie uns seelische Reize, die von Natur sehr mannichfaltig und herz-und-sinne verwirrend sind, in geistig beherrschter Einheit zeigen.

D. J. M. Na ja, das ist ja wohl selbstverständlich. Aber sein Sie mal wieder 'n Moment lang stille; Sie nickköppen immer, wenn Sie reden. Ihre Nase ist doch nicht ganz so einfach, wie sie von vorne besehen aus- sieht. Von links, das ist ja freilich wahr, ist's 'ne rich- tige brave Schusterneese; aber von rechts, da könnte sie ebenso gut einen spanischen Torero zieren, oder 'nen polnischen Insurgenten, oder sonst so'was Mannich- faltiges So, bitte: phantasieren Sie weiter!

D. D. D. Mit der Nase, das wird wohl daran liegen, daß sie nicht mehr ihre natürliche Form hat; sie ist mir mehrmals in meiner Studentenzeit auf der Mensur zer- hauen worden. Aber das soll ja wohl ebenfalls ein germanisches Rassemerkmal sein.

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D. J. M. Sie, nun ulken Sie mal gefälligst nicht! Ich bin wirklich gespannt, ob Sie leugnen wollen, daß jedes Volk einen eignen Stil produziert; und den machen doch wohl die einzelnen Künstler, wenn auch jeder da- neben noch seine aparte persönliche Manier kultiviert. Übrigens, unter uns gesagt, imponiert mir die primitive Kultur von irgend so 'nem KafFernstamm verhältnis- mäßig millionenmal mehr als unser europäischer Knaatsch; so'n Maori oder Botokude hat im kleinen Finger mehr Stilgefühl als der ganze Michelangelo mitsamt der Six- tinischen Kapelle.

D. D. D. Verhältnismäßig ist das auch meine Mei- nung; nur taxiere ich, scheint's, die Verhältnisse anders. Zunächst ist Volk und Rasse doch wohl Zweierlei. Jene Volkshorden, die noch reinrassig sind, haben's leicht, einen reinen Stil zu bewahren, nicht wegen ihrer reinen Rasse, sondern bei ihren beschränkten Bedürfnissen, und weil wiegesagt in rein bleibenden Rassen die Nötigung zur Entwickelung ausbleibt. Lassen Sie solch ein simples Völkchen mit irgendeiner Kultumation in nähere Beiührung kommen: was geschieht? Sofort entsagt es seinem natürlichen Stilgefühl und behängt sich mit im- portiertem Tand, genau wie der Bauer bei uns mit Stadtkram. Warum denn, trotz allem reinen Instinkt? Doch wohl nur aus der dumpfen Empfindung heraus, daß ihm da, im großen Ganzen genommen, etwas wesentlich W^ertvoUeres zuteil wird; blos vermag seine Unbildung nicht zu erkennen, daß es an ihm ein wert- loses Einzelnes wird, zu seinem Wesen Unpassendes.

KULTUR UND RASSE 177

Sehr Ähnliches aber vollzieht sich auch in den ge- bildeten Schichten der großen Völker, die wiegesagt durch Rassenmischung und andre natürliche Nötigungen in einer fortwährenden Entwickelung ihrer kulturellen Bedüi'fnisse leben. Da wird grade selbst das genialste Talent, weil es den geistigen Bedarf seiner Zeit bis in alle Seelengründe begreift, immerfort zwischen über- lieferten und erst entstehenden Formtrieben pendeln, wird also wohl niemals im einzelnen Werk ein ganz vollkommenes Gleichgewicht zwischen traditionellem Stil und individueller Manier herstellen. Was soll uns da noch der Aberglaube, daß irgend ein besonderer Volks- geist diese fort und fort wechselnden Stile erzeugt, oder gar eine Extra-Rassenseele? Grade die Ornamentik der wilden Rassen zeigt ja sogar in getrennten Erdteilen eine oft auch Kenner täuschende Gleichförmigkeit; und die Stile der Kultumationen sind nirgends blos in Einem Land, sondern jedesmal zu gleicher Zeit bei mehreren Völkern Brauch gewesen. Daraus folgt einerseits: Stil entsteht aus einem allgemein menschlichen Anpassungs- trieb an bestimmte neue Lebensbedingungen, der sich am schnellsten, stärksten und deuthchsten eben immer in den Künstlern regt. Und andrerseits, mein verehrter Mitmensch: die stilistische Mißgeburt eines Michelangelo ist imlhonenmal wertvoller für die künftige Menschheit, d. h. geistvoller, seelenvoller, formvoller, als selbst die vollkommenste Tätowierung eines melanesischen Maler- meisters.

D. J. M. Na ja selbstverständlich; alles was recht ist. Aber ,

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sagen Sie mal: hab ich Dmen schon mal meine kleine Sammlung Nankingporzellan gezeigt?

D. D. D. Ja; es sind kostbare Stücke darunter.

D. J. M. Wunder! Hat auch ein kostbar Stück Geld gekostet. Aber was ich eigentlich sagen wollte: kennen Sie auch alte Delfter Fayencen?

D. D. D. Einigermaßen; und nun soU ich wohl ein- gestehen, der Holländer hab's dem Chinesen nachmachen wollen und wegen seiner Rasse nicht fertig gekrigt?

D. J. M. Ach was, Blech! Fayence ist natürlich kein Porzellan. Aber daß er bei der Nachmacherei ganz was Anderes aus den Mustern gemacht hat, was in seiner Art ebenso kostbar ist, und daß nachher, als die Delfter Muster dann in Japan weiter nachgemacht wurden, ditto was Anderes draus geworden ist was sagen Sie dazu, Sie deutscher Dichter?!

D. D. D. Darauf könnte ich erstens erwidern, daß es japanische Ornamente genug gibt, die man für holländische oder chinesische ansprechen würde, wenn man ihren ört- lichen Ursprung nicht wüßte oder aus Nebenumständen erriete. Wie man z. B. auch das Buch Ruth, wenn es nicht in der Bibel stünde und hebräische Nomenklatur an sich trüge, für ein wahres Schatzkästlein altdeutscher Treu- herzigkeit, RechtschafFenheit und Innigkeit ausgeben dürfte. Und der im Schädelbau sehr germanische Schiller könnte seinem gesamten Sprachbau nach viel eher ein Landsmann von Racine, Rousseau imd Victor Hugo sein, als von Hans Sachs, Grimmeishausen und Heinrich von Kleist. Über- haupt: wenn man ohne Vorurteil nachprüft, beruht die

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ganze Beweismethode der rassendogmatischen Kunstge- schichte auf dem bekannten Fehlschluß post propter^ oder sogar blos auf Tautologie. Eine konstant gewordene Ver- bindung gewisser Eigenschaften benamst man „Rasse", und im Handumdrehn wird dann die Benamsung zur innersten Ursache dieser Konstanz und womöglich auch noch der Eigenschaften; also etwa wie nach Onkel Bräsig die große Armut der kleinen Leute von der großen Povertee her- kommt.

D. J. M. Dadurch wird aber die Konstanz doch bestätigt, die Tatsache des Rassencharakters. Freilich gibt's überall Ausnahmen; die beweisen aber bekannthch die Regel.

D. D. D. Wenn sie nicht etwa auf anderweite, minder bekannte Regeln hinweisen! Und deswegen möchte ich zweitens einwenden: weil Fayence „natürlich kein Por- zellan" ist, und weil der menschliche Kunstsinn aus zweier- lei Stoff natürlich auch zweierlei Formen entwickelt, des- wegen hat sich den Delfter Töpfermeistern trotz ihrer asiatischen Vorbilder schließlich von selbst ein neuer Stil aufgedrängt. Aber nicht blos deswegen allein, sondern jetzt will ich drittens gern zugeben: wenn ich auch nicht an einen beständigen Volksgeist auf Grund einer Rassen- seele glaube, so doch an bestimmte zeitweilige Volksbe- dürfnisse, die sich auf die verschiedensten Ursachen, ideelle wie materielle, zurückführen lassen, z. B. moraÜsche, reh- giöse, poHtische, ökonomische, klimatische, territoriale. Es wird noch viel zu wenig beachtet, und selbst Taine hat es nicht bis zu Ende gedacht, was Himmel und Erde, Luft und Licht, Landschaft und Witterung, Arbeit und

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Müßiggang, Reichtum und Armut, Freiheit und Knecht- schaft aus der Menschenseele machen. Man verpflanze ein paar Millionen Britten nach Spanien oder Italien und pferche sie in die katholische Kirche, und in 100 Jahren schon wird ihr Rassecharakter bis zur ünkenntUchkeit ver- wandelt sein; die Assyrer und Babylonier haben ja diese Art PoHtik an den Juden recht gründlich praktiziert. Aber auch im Gebiet seiner Heimat verändert der Mensch fort- während den Erdboden, und der Boden rückwirkend ihn; wo einst Urwald war, ist heut Gartenland, oder wo Gärten waren, Wüste. Das geht freilich beträchtlich langsamer vor sich, als die seltene plötzliche Volksübersiedlung in ein ganz neues Wohngebiet; und da auf beständigem Heimats- boden auch die kulturelle Tradition beständiger bleibt, daher scheint das jeweilige Volksbedürfnis den Zeitge- nossen so wunderbar urwüchsig, als stamme es von einem besondern, durchs Blut vererbten Rasseninstinkt. So mag denn mancher Stil in der Tat, obgleich auch er nur dem menschlichen Anpassungstrieb einiger weniger Künstler entsprang, einem alten Volksbedürfnis entsprechen. Ich sage absichthch: mancher Stil, d. h. durchaus nicht all und jeder, der nachträglich eine populäre oder nationale Geltung erlangt. Denn in dem Kunstbedarf der Kulturnationen sind zwei sehr verschiedene Arten Kunst begehrt; da ist einerseits die große Masse aber ich glaube, ich langweile Sie!

D. J. M. O bitte, wieso denn! Ich male ja. Und Ihr Mund sieht allemal sehr forsch aus, wenn Sie sich so für die Menschheit aufregen. Sie sollen mal sehn, Ihr Porträt wird gut.

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D. D. D. Also einerseits, wollte ich sagen, die große Masse der allgemeinen Gebrauchsgegenstände, vom kleinsten Topf bis zum ganzen Wohnhaus: deren Formung unterliegt in der Tat mit ziemlicher Dauerhaftigkeit der populären Tradition. Und weil hier die Form ganz überwiegend von körperlichen Bedürfnissen abhängt, so mag dabei auch die physische Rasse einigermaßen merklich mitwirken, wenigstens in reinrassigen Völkern, oder wo vielleicht eine ältere Mischrasse noch die Oberhand hat über jüngeres Mischvolk, wie z. B. in Rußland und in Teilen von China. Ich freilich möchte auch das bezweifeln; denn wenn wirk- lich irgend eine Art Formtrieb auf spezifischem Rasse- talent beruhte, dann wäre völlig unbegreiflich, wieso dieser Trieb in manchem Volk abstirbt, trotzdem die Rasse im Volke noch fortlebt. Wie kurzlebig war die Kultur der Hellenen, und doch gibt es heute noch griechische Bauern genug, deren Körperbau ganz den antiken Typ hat!

D. J. M. Bios leider mit türkischem Blut verkleistert! Und schließlich wird Jeder mal altersschwach.

D. D. D. Das sagt man ja freilich auch Völkern nach, und es würde vielleicht sogar ganz vernünftig sein, wenn wirkhch jeder Grieche von heute schon als Greis aus dem Mutterleib käme. Aber dem Rassenelement soll doch seelische Urkraft innewohnen; und seit wann werden ür- kräfte altersschwach ? Der Kunsttrieb in einem Tizian ist erst zugleich mit ihm selber gestorben! Er hat mit 99 Jahren gewiß nicht mehr wie als Jüngling gemalt, aber gemalt hat er bis zuletzt.

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D. J. M. Ja gewiß ! Sehn Sie wohl ! "Was hab ich ge- sagt? Der war eben nicht vermuselm anseht!

D. D. D. Na, wer weiß! Venedig lag nicht so weit von den Hai'ems. Und er soll ja, unter uns gesagt, ein halb Dutzend Gattinnen totgeliebt haben; mehr dürfte wohl auch kein Türke leisten! Doch Spaß beiseite, und Schutt auf die Griechen! Aber die Araber und die Perser, die noch bis in die Renaissance hinein selbständige Kultur- formen schufen und sich seitdem nicht mehr wie früher mit anderen Rassen gekreuzt haben, sind heute gleichfalls barbarisiert. Es sind wirtschaftlich verlotterte Völker, in- folge der Unzulänglichkeit ihrer humanen Ideale, denn die rächt sich stets auch sozialpolitisch. Solche Völker vermögen dann nicht einmal in den gewöhnlichsten Kunst- gewerben ihre stihstische Tradition auf alter Höhe zu er- halten, geschweige daß sie die andre Art Kunst, die aus rein seelischen Bedürfnissen stammt, noch irgendwie schöpferisch betreiben. Und nun die Hauptsache: diese andre Art Kunst weist wiederum zwei durchaus ver- schiedene, zwar sinnHch vielfach verbundene, aber geistig ganz gesonderte Spielarten auf: die der Unterhaltung und die der Erhebung. Mag sein, daß die unterhaltenden Künste, die ja die eigentUch populären sind, noch Rück- schlüsse auf die Rasse erlauben, zwar kaum des Künstlers, doch vielleicht seiner Kundschaft. Denn auch diese Künste wurzeln noch halb im Gewerbe, vom Volkslied der alten Bänkelsänger bis zum modernen Familienroman, vom Nationaltanz bis zur Salon-Akrobatik, vom Rüpelspiel bis zum ehrsamen Rührstück, vom ungeschlachten Jahrmarkts-

KULTUR UND RASSE 483

bild bis zum allerleckersten Eßzimmer-Stillleben. Sie hängen direkt vom Bedürfnis des Alltags ab, sie betreiben den Zeitvertreib als Geschäft, sie behandeln das sinnliche Leben als Selbstzweck, sie müssen gemeinverständlich sein, sie zielen mit einfachsten geistigen Reizen auf körperliche Erregungen, auf Augenweide und Ohrenschmaus, auf Zwerchfell- und Tränendrüsenkitzel, auf Herz- und Nieren- und Rückenmarksgruseln; also wird ihre Form wohl auch zum Teil von denselben Naturkräften mitbe- stimmt, die dem menschlichen Körper den groben Stempel einer beständigen Rasse aufdrücken.

D. J. M. Na, was Anderes hab ich doch niemals be- hauptet!

D. D. D. Nun aber die freieren, reineren Künste, die ich vorhin die erhebenden nannte, weil sie höher hinaus- wollen als das sinnliche Dasein: was hat der Volkskörper damit zu schaffen? Er dient ihnen höchstens als Mittel zum Zweck; hier herrscht ganz und gar nur die Schöpfer- macht der begeisterten und begeisternden Seele. Diese Künstler bewerben sich nicht um Volksgunst, sie betreiben das innere Wachstum der Menschheit. Da will der Geist die Nerven des Leibes nicht blos mit flüchtigen Reizen liebkosen, sondern innigst mit seinem Liebreiz befruchten, bis in die feinsten Gehirnzellenfasem, die kein Vivisektor je auskennen wird, weil immer noch welche nachwachsen werden. Da empfängt die Form kaum noch indirekt von der populären Tradition ihren Stil; denn das durch und durch Maßgebende ist da nur die befreiende Leidenschaft, die neues Menschentum schaffen will, dieselbe göttliche

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Leidenschaft, aus der auch die religiösen Visionen, die sozialen und nationalen Phantome, kurz alle Ideale ent- springen. Sie tritt immer zuerst nur im Einzelgeist auf, ist nie und nirgends dem Volk gleich willkommen, muß überall erst im Kampf mit der \Velt ihre rätselhafte Kraft erweisen, die an jedem Widerstand wächst und reift. Ja, sie stammt sogar aus dem Widerstand: aus dem Zwiespalt zwischen Mensch und Natur, den die Kultur überbrücken möchte, und der sich im schaffenden Einzelgeist als Kon- flikt mit den Masseninstinkten auftut. Oder meinen Sie etwa, daß Ihre Judith, an der Sie sich Jahrelang abgequält haben, sofort begeisterten Zuspruch fände, wenn Ihr verehrh- ches Publikum aus lauter koscheren Juden bestünde?

D. J. M. Gott der Gerechte! Dann doch schon lieber aus lauter gemischten oUen Hellenen.

D. D. D. Ja, die hätten's Ihnen erst recht gesteckt; den Phidias wenigstens haben sie wegen Gottlosigkeit aus Athen weggegrault, und der Aschylos wurde so kujoniert, daß er ebenfalls ausgewandert ist. Die deutschen Schul- meister sind zwar der gütigen Meinung, daß jeder Spieß- bürger von Athen ein Zeitgenosse des Perikles war und begeistert in die Tragödie ging; er ging aber hin, weil's Staatspflicht war, weil ihm das Eintrittsgeld ausgezahlt wurde, weil er den berühmten Obolus krigte, durch den ein paar raffinierte Patrizier die primitive Kirmeßbühne zur sozialpolitischen Anstalt entwickelten. Begeistert war man vielleicht für den Chortanz, für die bachantische Satyrposse, für die religiösen Prozessionen, und was sonst noch an festlichem Schaugepränge mit dem Drama seit

KULTUR UND RASSE 185

Alters zusammenhing. Begeistert war man für alle Gym- nastik, wie man's heute für Cirkus und Variete ist, oder in Spanien fürs Stiergefecht. Das Volk begeistert sich immer blos für panis et circenses von selbst; das war im antiken Athen und Rom ganz wie im modernen Paris und Madrid. Die Plebs will sich einfach delektieren, zwar möglichst variabel, doch immer simpel. Das Erhabene, wenn es nicht altersgrau war, beschmiß der athenische Bildungspöbel mit genau solchem kritischen Schnodder- witz, wie heute der berlinische; Beweis die Aristophanische Posse, die diesen Witz mit genialer Selbstironie in die poetische Sphäre erhob. Die Kunst des geläuterten Menschengeistes, die sich aus instinktiven Konflikten zu ästhetischen Harmonieen hinaufringt, liegt urspininglich stets nur im Bedürfnis komplizierter Persönlichkeiten, schon dem Wesen der Motive nach; sie wird überall erst durch die Liebhaber dem Volksgeschmack allmählich ver- mittelt, und mit gründlichem Erfolg nur dann, wenn die Vermittler zur herrschenden Klasse gehören oder sonstwie in Amt und Würden sitzen, z. B. auf dem Schuhneister- thron. An Ihrer Judith hat sich's ja deutlich gezeigt; wer sieht denn da heute das geistige Pathos hinter der sinn- hchen Attitüde? Selbst der gebildete Durchschnittskenner hat einstweilen noch keine leise Ahnung von dem allge- mein menschlichen Wert dieser Geste; er besieht sich den naturalistischen Akt.

D. J. M. Ist mir ja ungemein schmeichelhaft alles; aber eigentlich muß ich ehrlich bekennen, ich hatte selber noch keine Ahnung davon. Ich denke beim Malen an nichts

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Allgemeines, ich will immer was ganz Besonderes machen. Sie sehn doch, ich zeichne hier Ihre Visage, und Sie reden das Blaue vom Himmel herunter. Kommt mir ja alles sehr gottvoll vor, und mein sogenannter Menschengeist denkt sich ja auch allerlei dabei; aber bilden Sie sich nun faktisch ein, davon soll was auf Ihr Porträt abfärben? Ich sage Ihnen, die Sorte Geist hat mir noch keinen Bleistift- strich machen helfen!

D. D. D. Sie scheinen das sehr genau zu wissen. Aber Ihre Kohlenskizze da würde doch vielleicht etwas anders ausfallen, wenn ich hier stumm wie ein Fakir säße oder tragische Verse deklamierte.

D. J. M. Alles was recht ist: Sie döppen mich wirklich gut.

D. D. D. Man weiß nämhch nachträglich nie so genau, was man bei jedem Bleistiftstrich denkt. Ich habe Sie übrigens im Verdacht, Sie legen's drauf an, sich döppen zu lassen; dann wäre also Ich der Gedöppte.

D. J. M. Ja, eigentlich geht*s ja auf keine Kuhhaut, was einem beim Malen so durch den Grips geht. Ich kab's auch wahrhaftig schon immer gesagt: ich pfeift aufs Geschäft, ich bin Idealist!

D. D. D. Das ist wohl schließlich jeder Künstler, und sogar jeder echte Kunsthandwerker, auch wenn er nicht so laut pfeifen kann. Und das allein schon beweist zur Genüge, wie wenig im Grunde das Talent mit einer be- stimmten Rasse zu tun hat. Der Rasseninstinkt, wenn er ehrlich ist, hat ja nicht das mindeste Interesse an irgend einem Ideal, das über die Reinrassigkeit hinausgeht; das

KULTUR UND RASSE 187

ist ihm ja gradezu gefährlich. Selbst schon das nationale Ideal, das sich vielleicht noch am ehesten auf primitive Instinkte stützt, muß seinem politischen Wesen nach von Hause aus darauf bedacht sein, sich mit mehreren Rassen abzufinden; denn es gibt kein einziges Staatsgebilde, dessen Volkskörper nicht aus wenigstens zwei verschiedenen Stammvölkern aufgebaut ist, aus Eroberern und Unter- worfenen. Und nun gar die humaneren Ideale: die ent- stehen doch eben aus der Sehnsucht, uns über die rohen Zwangsgewalten der Naturinstinkte hinwegzusetzen, und diese Sehnsucht stak schon im simpelsten Schnörkel, mit dem der Urmensch an seinem BeilgrifF oder am Rand seines Trinkgefäßes den Zweck der Notdurft verkleidete. Wenn man also unsern höchsten Kulturprodukten wirk- Uch noch Rassenelemente als Formki'äfte unterlegen wollte, dann könnten es immer nur Mischungsverhältnisse sein, die grade den harmonischen Stil in die originale Manier hineinbrächten. Denn nur aus vielfachen Blutmischungen ließe sich allenfalls die Zeugung jener komplizierten Temperamente erklären, die überhaupt das Bedürfnis empfinden, die Dissonanzen, Kontraste und Konflikte ihres persönlichen Seelenlebens um der Menschheit willen zu harmonisieren. Das gilt sogar von dem populärsten, dem ökonomischen Idealismus, den man heute speziell den sozialen nennt; auch dessen Formen und Reformen sind ursprünglich immer nur Hirngespinnste von einigen wenigen Menschenfreunden, die das Volk bekanntlich zu kreuzigen pflegt, bevor es sie vergöttern lernt. Und wec hat denn die nationale Idee, die von Biamarcks Gnaden

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realisiert und dann von seinen Kreaturen zur patriotischen Phrase verpöbelt wurde, dem deutschen Michel eingetrich- tert? Etliche vorschnelleBrauseköpf e des europäischen Völker- frühlings, ein paar Poeten und Philosophen, durch den Ty- rannen Bonoparte zu glühender Freiheitsliebe erregt, die von den hohen Obrigkeiten so rasch wie möglich abgekühlt wurde, während der sogenannte Volksgeist von selber kalte Füße krigte ! Oder wenn Sie noch mehr Beweise wünschen

D. J. M. Nein, Gott soll schützen, ich schwitze schon! Und überhaupt: ich bin nämlich fertig. Die Skizze ist wirklich gut geworden. Wenn Sie erlauben, möcht ich jetzt einpacken.

D. D. D. Na, darf man sie denn nicht erst mal sehen?

D. J. M. Ja, wenn sie fertig ist, wissen Sie! Ich wollte blos sagen: für heut bin ich fertig. Wenn Sie wieder mal herkommen, mach ich sie weiter. Sie ist wirklich nicht schlecht; Sie können mir's glauben! Na, wenn's sein muß: bitte, treten Sie näher!

D. D. D Da scheint imsre Disputation aber doch

etwas heftig abgefärbt zu haben. Ich sehe ja aus wie'n Federvieh, das Ihr Teckel zwischen den Zähnen gehabt hat. Aber ich sag's ja: schließlich bin Ich der Gedöppte.

D. J. M. Ja, nicht wahr? da merkt selbst 'n Kaffer die Rassenmischung! Man kann's auch von weiter weg be- sehn. „Is 'ne Nummer", wie sie im Cirkus sagen; der reine „Kraftmelange- Akt" !

D. D. D. Mir deucht aber: mehr Melange als Kraft. Sie woUen's wohl in den Papierkorb packen?

D. J. M. Was? Wieso denn? Sie sind wohl nicht von

KULTUR UND RASSE 189

hier, mein Herr?! Das verkauf ich an irgend ein Museum! Sie sollen mal sehn, Sie deutscher Dichter: wenn Sie erst in der Nationalgalerie hängen!

D. D. D. Nein, im Ernst : die Skizze scheint mir wirklich mißglückt. Sie haben zuviel an mein Geschwätz gedacht.

D. J. M. Ach ja richtig, Sie sind ja nicht liirs Natio- nale, und nun denken Sie einfach, ich mache Spaß, weil Sie meinen, ich sei ein Franzosenschüler!

D. D. D. So einfach pflege ich nicht zu denken.

D. J. M. Na, oder ein allgemein menschlicher Jude! Ich habe doch ziemlich deutlich gehört, daß Sie aufs Nationale pfeifen.

D. D. D. Da haben Sie ziemlich vorbeigehört.

D. J. M. Nanu? Sie haben doch deutlich gesagt

D. D. D. daß die Nation keine Kunst erzeugt. Damit ist doch aber durchaus nicht geleugnet, daß die Kunst nationalen Charakter annehmen kann. Selbst der weiseste Künstler bleibt der Narr seines Mitgefühls.

D. J. M. Die Logik ist mir etwas zu kringlig.

D. D. D. Nun, es ist doch dieselbe Leidenschaft, die- selbe schöpferische Begierde, derselbe göttliche Sinn oder Wahnsinn, woher die Menschennatur kulturelle Ideen und die Volksmasse nationale Tendenzen empfängt, überhaupt alle irgendwie universalen Illusionen und Phantasmen. Es ist immer wieder die ewig gleiche. Ungleiches einende Einbil- dungskraft, die auch im Kunstwerk dem Einzelwesen har- monischen Allgemein wert verleiht; nur die Intressensphä- ren liegen verschieden. Warum sollten sich die aber nicht berühren können und unter Umständen mit einander ver-

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binden? Vielleicht ist sogar zu gewissen Zeiten die eine der andern Nothelferin. Wenigstens zeigt die Geschichte der Menschheit, daß immer, wenn in den rührigsten Völkern neue humane Ideale entstehen, daß dann zugleich auch die nationalen am ungestümsten aufbegehren; womit ich natür- lich nicht sagen will, daß das nun ewig so bleiben muß.

D. J. M. Und da denken Sie also, die beiden Aale ver- wickeln sich so mit den Schwänzen zusammen, daß der Mensch die göttliche Sehnsucht krigt, einen einzigen Aal draus zu phantasieren?

D. D. D. Nein, so verwickelt denken wahrscheinlich blos Bandwürmer.

D. J. M. Na, wovon krigt man denn aber den dollen Gieper auf so'was allgemein Göttliches? Irgendwovon muß der doch kommen!

D. D. D. Ja, da müßten Sie mir schon wirklich er- lauben „das Blaue vom Himmel herunter zu reden". Von der Rasse kann doch wohl lediglich der Gieper auf all- gemein Tierisches kommen; und von irgend sonstweichen Formationen der irdischen Materie, ob's nun klimatische Ortsumstände oder soziale Zeitzustände sind, werden Sie diese ewige Sehnsucht nach harmonischer Umformung der Natur erst recht nicht hinreichend ableiten können. Wenn sich die überhaupt noch logisch ergründen und mechanisch begreifen läßt, dann müssen wir schon den mystischen Äther der Herren Physiker psychisch ausdeuten: unsre Abstammung von der Sonnenmaterie, die rhythmodyna- mische Struktur der kosmischen Centralsysteme, die soge- nannte Harmonie der Sphären, den Einfluß der schwin-

KULTUR UND RASSE 191

genden Sternenwelten auf unser eigenes kleines Gestirn, all die bewegten siderischen und planetarischen Konstel- lationen, die bis in den Erdball hinein vibrieren und sich als wechselnde Innervationspotenzen , als beseelende und begeisternde Kjäfte, den Erdbewohnern einverleiben. Oder halten Sie's etwa für Aberglauben, daß immer, wenn sich die Menschenwelt zu erhabenen Kraftanstrengungen auf- rafft, zu Völkerwanderungen, Staatsumwälzungen, Be- freiungskriegen, Entdeckungsfahrten, Glaubenskämpfen und andern Kulturekstasen, daß dann immer zugleich auch in der Naturwelt gewaltige Katastrophen ausbrechen, Erd- beben, Springfluten, Wirbelstürme, Heuschreckenschwärme, mikrobische Epidemieen, vulkanische Eruptionen und der- gleichen, begleitet von seltsamen Himmelserscheinungen, ungewöhnlichen Meteoren, Kometen, Nordlichtem, Sonnen- finsternissen?!

D. J. M. Da's faktisch so ist, wird's wohl so sein. Es nmaort ja auch jetzt wieder allenthalben.

D. D. D. Und also wird sich wohl auch kein Künstler, selbst wenn er's mit stärkstem Eigensinn wollte, den jeweils zeitbewegenden Kräften, die sich als Ideale äußern, ent- ziehen oder verschließen können. Und wenn in unserer ebenso stark nationalen wie internationalen Epoche ein schöpferischer Geist auf dem norddeutschen Weltteil mit seiner reichsdeutschen Staatsbürgerhand allgemein-mensch- liche Werte malt, und zwar aus rein malerischer Lust zur Sache: dann ist er nicht blos ein wertvoller Maler, sondern zugleich, auch wenn er ein Jude ist und in Paris auf die Schule ging, einer der reinsten deutschen Kunst-

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1er, die sich je in der Nationalgalerie aufhängen ließen.

Der Jüdische Maler: Na sehn Sie, das freut mich! Und offen gesagt: das hab ich von Ihnen blos hören wollen!

Der Deutsche Dichter: Oh meine Ahnung! Ich Michel! Sie Schurke! Das soll wohl heißen, der Mohr kann gehen?!

Der Maler: Bios, er muß versprechen wiederzu- kommen! Und das nächste Mal, da mal' ich ihn besser.

Der Dichter: Und ich singe ein Loblied aufs Rassige. . .

KUNST UND VOLK

Neun Selhstverstdndlichheiten die aber doch der Erklärung bedürfen

1. Die Kunst besteht in den Kunstwerken, die nicht fürs Volk geschaffen sind, sondern für Gott und die ^Velt, für die Seele der Menschheit oder auch der Blumen auf dem Felde, für Alle und Keinen, fürs ewige Leben oder für sonst eine grenzenlose Größe.

Das soll heißen:

Es werden sehr viele Kunstwerke gemacht, aber recht wenige machen die Kunst aus. Kein Kunstwerk mehrt den Kunstbestand, durch das der Urheber irgend ein be- grenztes Volk zu irgend einer bestimmten Zeit für irgend ein bekanntes Ziel ausbilden will oder wollte. Die Volks- beglücker, die Volkserzieher, die Volksveredler und ver-

KUNST UND VOLK 193

bilder mögen ein solches Werk mit Fug und Recht zu ihrer Zeit den Leuten anpreisen; aber sobald jenes Ziel erreicht oder aber als irrig erkannt ist, verfällt solch Werk der Vergessenheit oder bestenfalls der Kunstgeschichte, ist überflüssig und leer geworden, hat keinen belebenden Inhalt mehr. FreiUch befaßt sich alle Kunst mit dem umgeben- den Vblks-und-Zeitgeist als einem Teil ihres StofFbestan- des; aber nicht Das ist ihr Lebensbestand, sie geht nur aus von dieser Umgebung, und ihr Ziel schwebt grade im Unfaßbaren. Beständiges Leben enthält nur die Kunst, die jederzeit und immerfort hinaus ins Unbekannte weist, wie die Blumen blühen ins Blaue hinein. Und solche Kunst schafft nur der Künstler, der fürs Volk ein ewiges Rätsel bleibt. Er kennt nur Eine Bestimmung des Schaffenden: die Gesetzgebung für das Unbestimmte. Er sieht nur Ei- ne Grenze des Schaffens: die Formlegung für das Unbe- grenzte. Denn er ahnt nur Ein Ziel der menschlichen Bil- dung: die Gestaltung eines vollkommenen W^esens.

2. Der Kunst gegenüber gibt es nur zwei Arten Volk: das menschenwürdige und das hundsgemeine.

Das heißt:

Vollkommene Kunst wirkt nicht auf Jedermann als voll- kommen, sondern höchstens auf solche Seelen, die selbst den Trieb zur Vollkommenheit haben und fremde Seelen- kraft mitfühlen können. Hierzu aber verhilft kein be- sonderer Bildungsgrad, kein Wohlstand oder sonstiger Vorrang, der einzelnen Ständen und Klassen des Volkes je nach dem Lauf der Zeiten vergönnt ist, mag auch durch alldas die Freiheit und Freude des mensch-

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194 BETRACHTUNGEN

liehen Mitgefühls leichter erblühen. Dies Mitgefühl eignet vollkommen nur solchen Seelen, denen das menschliche Dasein unendlich mehr ist als eine Laufbahn zum Wohl- befinden, zum Vomehmtun oder Neunmalklugsein, näm- lich ein steter gründlicher Antrieb zur Steigerung aller schaffenden Kräfte, ob für, ob gegen, ob durch einander. Das sind die menschenwürdigen Seelen, die auch die Kunst von Grund auf zu würdigen wissen. Sie pflanzen den Willen zur Menschheit fort, sie bilden in Wahrheit den Volksgeist und Zeitgeist und begeistern allmählich sogar die Halbwilligen; sie sind in jeder Volksschicht zu finden, wenn auch am meisten wahrscheinlich in jenen Schichten, die am eifrigsten für die Zukunft kämpfen. Wo sich der Sinn auf Vollkommenes richtet, ist „Volk" stets nur der Inbegriff der menschlich strebsamsten Volksgenossen, d. h. ein Unterbegriff der Menschheit; wer ein vollkommener Mensch sein könnte, der wäre natürlich auch im Besitz von jeder Vollkommenheit seines Volkes. Der Rest aber, der ewig rückständige, der wolilbestallte wie übelbestellte, der Bildungspöbel wie rohe Mob: je nun, der hält sich an die Art Kunst, die das Volk übers menschliche Dasein täuscht, mehr oder weniger hundsgemein. Doch ist auch diese Art Volk und Kunst im geistigen Haushalt der Menschheit von Nöten, denn eben ihr Widerstand reizt die andere Art zur beständigen Steigerung ihres Willens.

3. Keine Art Volk schafft jemals Kunst; jede Art Volk reizt die Künstler zum Schaffen.

Das will besagen:

Die Kunst, soweit sie nicht Handwerk und Machwerk

KUNST UND VOLK 495

ist, stellt eine unwillkürliche, unerklärliche Einsicht ins Leben vor, die stets nur "Wenigen innewohnt und sich nur durch eigentümlich geheimnisvolle, zwar den Sinnen vollkommen deutliche, doch dem Sinn vielfaltig deut- same Bilder Anderen mitzuteilen vermag. Auch was man gewöhnlich Volkskunst nennt, ist niemals durch die gemeinsame Macht irgend eines Volkswillens entstanden, sondern immer ursprünglich von Einzelnen aus reinem Eigensinn ersonnen und dann erst zu Gemeingut ge- worden. Aus einem natürlichen Mitteilungstrieb, der schon im Licht der Gestirne waltet, gibt der Einzelne sein einsames Sinnbild dem willigsten Empfängerkreis hin, oder dem mächtigsten Abnehmerkreis; der gibt es weiter und immer weiter, und dadurch schleifen sich imter Umständen zumal bei mündlicher Weitergabe die eigensinnigsten Züge des Bildes ins Allgemeinverständ- liche ab. In den kleinen Volksgemeinden der Urzeit be- sorgten wohl meist die Priesterkasten und Herren- geschlechter die erste Verbreitung; nachher vermittelten Fahrende Leute zwischen der Künstlerschaft und dem Volk, oder die Künstlerschaft wurde Beruf und ging also selbst auf die Fahrt nach Brot. So zog einst der Barde mit seinen Heldengesängen von Herrenhof zu Herrenhof, der Troubadour mit seinen Balladen von Ritterschloß zu Ritterschloß; und allerlei anderes Fahrendes Volk machte die vornehmen Gebilde fürs seßhafte schlichte Volk zurecht, und aus der erhabenen Heldensage wurde ein Volkslied, ein Bänkelsang. So sind auch die Märchen der Urgroß- mütter nicht von den Urgroßmüttern erfunden; sondern

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die alten Göttersagen, Naturmythen und Geistergeschichten einer von Priestern gelenkten Kultur sind später von sinni- gen Landstreichern, entlaufenen Mönchen, Scholaren und Schreibern, für das Verständnis der Spinnstuben-Insassen verweltlicht und vereinfacht worden, auch wohl versimpelt und verballhornt. So ist auch die sogenannte Bauern- kunst, wie sie in Hausrat und Volkstracht sich fristet, nirgends dem Heimatboden entsprungen, ist aus höfischen oder städtischen Kreisen von reichen Dörflern aufs Land verpflanzt, und da erstarrt sie durch Handwerksbrauch zu wunderlich ver wucherten Formen, bis wieder eine neue Stadtkunst kräftig und reif genug geworden ist, die ent- artete alte zu verdrängen. So ging auch die Kunst der wilden Völker seit jeher den Ermächtigungsweg über den Festplatz des Zauberpriesters, das Zelt des Häuptlings oder der Obmänner, um in alle Hütten des Stammes zu dringen. Denn der Künstler, der kein Strumpfwirker ist, will sein Werk nicht im Engen verkommen lassen; er will wie das Leben ins Leben wirken, ins unendlich weite belebende Leben, und heute wendet sich seine Kunst nur deshalb gleich ans breitere Volk, weil es mächtiger als die Macht- haber dem schaffenden Willen des Lebens dient.

4. Das Volk versteht nichts von der Kunst; das ist auch nicht nötig zum Kunstgenuß.

Das besagt:

Es gibt überall nur Wenige, die vollkommen fähig zum Kunstgenuß sind; die volle Genußkraft ist ebenso selten wie die vollkommene Schaffenskraft. Aber auch diese Wenigen, Jeder für sich allein genommen, verstehen nur

KUNST UND VOLK 197

wenig von den vielfältigen Reizen, die das geheimnisvolle Leben in dem bewunderten Werk bewirken. Selbst von den Handwerksgriffen des Künstlers versteht zuweilen sogar der Künstler nicht jeden einzelnen Wirkungswert, geschweige den ganzen Zusammenhang; und mancher nüchterne Kunstgelehrte sieht da schärfer als der scharf- sinnigste Meister. Nur sind die äußerst klugen Leute, die blos mit Verstand zu genießen verstehen, gewöhnlich die innerst seelendummen und begreifen oft weniger als ein Nigger von der begeisternden Gefühlswelt, die hinter den Reizen des Kunstwerkes lebt. Diese Kunstverständi- gen zwar entscheiden, ob ein Werk den besten Kennern des Handwerks auf absehbare Zeit zu genügen vermag, und schätzen seinen Sachwert ein; aber unabsehbar ist das Leben, und ein vollkommenes Kunstwerk enthält die Lebenshinterlassenschaft von hunderttausend Millionen an- deren Werken und das unschätzbare Vorvermächtnis für aber-und-abermals andre Millionen. Ein solches W^rk kann Jahrhunderte lang nach den Maßstäben aller Sach- verständigen, nach dem Urteil der Künstler wie Kunst- gelehrten, nach der Meinung der eignen wie fremder Volksart ein wertloses totes Unding sein: und auf ein- mal ist es nur scheintot gewesen und belebt tausend Geister zu neuem Gefühl, zu neuem Schaffen und neuem Genuß. Vor der unbekannten seelischen Macht, der das voll- kommene Kunstwerk entstammt, ist eben auch der Kenner „nur Volk". Über diese besländige Machtvollkommenheit, diesen eigensten Lebenswert der Kunst entscheidet keinerlei Kunstverstand, auch kein Kunstgeschmack und kein Kunst-

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gefühl, weder des Einzelnen noch einer Volksmasse ; denn es gibt und gab kein einziges Kunstwerk, an dem der Verstand nicht zu mäkeln fände, und Geschmack und Gefühl sind unbeständig, ob aus Verstand oder Unverstand, über den Lebenswert der Kunst entscheidet stets nur das Leben selbst, das wandelbare Leben der Menschheit, wandelbar von Volk zu Volk, ob durch Zufall, Notwendig- keit oder Gott-weiß-was, doch beständig zum W'eiterleben gewillt. Mit dem Genuß aber hat das wenig zu tun 5 den rohesten Kerl kann das scheußHchste Machwerk unver- gleichhch stärker und inniger freuen, als die reinste Schön- heit den feinsten Kenner. Wer Anderes lehrt, ist ein Fasel- hans, ob nun ein Schwarmgeist oder ein Nüchterhng.

5. Der Kunstgenuß jeder Art Volkes besteht in der Begeisterung durch das Unbegreifliche, in der Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen, in der Lust und Liebe zum Abenteuerlichen: in Glau- ben, Traum und Übermut.

Das bedeutet:

Wie das Wesen des Kunstschaffens unerklärh'ch ist, so auch das Wesen des Kunstgenießens; erklärlich ist nur der bewirkte Zustand. Er ist, und sei er noch so ver- geistigt, ein Zustand der sinnlich befriedigten Liebe, im weitesten und engsten Sinn, in der höchsten, tiefsten, flachsten Bedeutung: Liebe, Verliebtheit, Liebhaberei. Er gibt also nicht die geringste Gewähr für den Wertbestand des gehebten Dinges, für Schönheit, Naturwahrheit und so weiter. Wie dem liebenden Jüngling ein Gesicht, das er gestern noch für abschreckend hielt, heute ein Aus-

KUNST UND VOLK 199

bund aller Liebreize ist, ihm vielleicht sein ganzes Leben lang sein wird, vielleicht auch nur für ethche Wochen, so liebt und lebt auch der Kunstliebhaber; und nun erst gar ein Gemisch von Volk! Sogar das griechische Volk war kein Kunst volk, wie manche Leute es gerne ti'äumen; denn ein griechisches Volk hat es nie gegeben, es gab nur einige Stadtgemeinden mit wenigen, sehr machtvollen, kunstliebenden Patrizierfamilien und einem Haufen macht- siichtiger, vergnügungslustiger Spießbürger nebst einer bäurischen Sklavenheerde. Aber die Lust und Liebe zur Kunst ist selbst ein gewaltiger Lebenswert: sie legt den geliebten Dingen Vollkommenheit bei, auch wenn sie noch unvollkommen sind, und hebt alle Kräfte der liebenden Seele, auch wenn es nur schwache Kräfte sind. Das gilt für Männlein wie für Weiblein; denn in den höchsten Bezirken der Liebe hört der Geschlechtsunterschied glück- lich auf. Sie treibt den Geist in einen Traum, der ihm die stärksten Sehnsüchte seines Lebens durch das ange- gebetete Bild erfüllt zeigt; und je weniger Wissen den Geist beschwert, je weniger Kenntnis von Kunstmaß- stäben, umso leichter glaubt er seinem Traum. Dann braucht er keine Erklärungen mehr: dann wird ihm das Unbegreifliche klar, daß er Eins ist mit dem einsamen Künstler: dann erlebt er wie Dieser das Grenzenlose, ist mit ihm die Blume auf dem Felde, mit ihm der Held seiner Abenteuer , mit ihm ein ganzes mächtiges Volk und jauchzt im Stillen vor Übermut. Und wenn er aufwacht aus diesem Traum, der ihm das Winzigste riesengroß, das Furchbarste herrlich und lieblich machte,

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dann verehrt er die unerforschliche Kraft, die frei mit den eigenen Grenzen spielt •, und seine Aben- teuerlust, die einen Augenblick staunend gestillt war, gibt sich ermutigt dem unstillbaren, wandelbaren Leben hin. Ein ganzes Volk aber, das so träumt und nur kraft höch- ster Kunst so träumt, das ist ein schöner Zukunfts- traum.

6. Die höchste Kunst wirkt nicht unmittelbar, sondern mittelbar als Sage ins Volk.

Nämlich :

Nicht blos die Kunst der vorgeschichthchen oder spä- terer ungeschichtlicher Zeiten, wie sie uns in heroischen Fabeln, humanen Idyllen, religiösen Parabeln vom „Volks- mund" überliefert ist, sondern auch alle geschichtliche Kunst, die ein vollkommenes Sinnbild sinnlichen Lebens und zugleich des höchsten geistigen ist, dringt ins ganze Volk nur durch Hörensagen und lebt nur durch freie Erinnerung fort; auch der Buchdruck hat daran nichts geändert. Wer liest heute noch Cervantes und Swift, wie sie vollständig im Buche stehen, oder gar Dante und Homer? Ein zählbares Häuflein Gebildeler; und \iele von ihnen nur aus Zwang. Wer sieht heute noch ein Bildwerk von Phidias oder hört die zärtliche Sappho singen? Wer hat die Pyramiden besucht, wer den Peters- dom, wer den Park von Versailles? Wer kennt wirklich Lionardo vollkommen, wer Goethe, wer Mozart und Gluck, wer Bach? Aber man spreche von GulHvers Reisen, von Don Quijote, Don Juan, Helena, Faust, man nenne die Namen Prometheus und Orpheus, Michelangelo,

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Shakespeare, Rerabrandt, Beethoven: und ein Schauer gläubiger Einbildungskraft wird auch den Geist des geistig Annen mit Bildern schicksalreichsten Lebens, Gestalten vollkommener Menschlichkeit füllen. Unter hundert Kunst- kennern sind nicht zwei in der Deutung von Dantes Beatrice, der Erklärung von Shakespeares Hamlet einig, aber jeder Einzige fühlt sich im Klaren, sobald er im Leben sagen hört: jenes Mädchen scheint eine Beatrice, dieser junge Mann ist der reine Hamlet. Das eben ist das Kennzeichen höchster Kunst, daß sie Keinem ganz begreif heb wird, daß der Eine Dies, der Andere Jenes als ihr bedeutsamstes Merkmal herausgreift, daß sie die un- begrenzte Macht hat, über die eigene Bildwirkung weg durch fremde Vermittelung weiterzuwirken, bis sich aus all den begeisterten Meinungen ein allgemeines Erinner- ungsbild formt, oft nur ein Teilchen des Ursprungsbildes, aus dem der Volksgeist aber das Ganze und mehr als das zu begreifen glaubt. So genügt dem Liebenden eine Locke, um ihm die ganze Gestalt der Geliebten, den Duft ilu'es Haars, ihren Blick, ihr Lächeln, ihre ganze Seele heraufzubeschwören; ja, es genügt ihr bloßer Name.

7. Nie ist Kunst volkstümlich von Anbeginn; sie wird es kraft ihrer ursprünglichen, neube- lebenden Freiheitslust, und sie bleibt es kraft ihrer notwendigen, althergebrachten Ordnungs- liebe.

Denn:

Volkstümlichkeit ist das Endergebnis einer langen frei- willigen Gewöhnung allei einzelnen Volksmitglieder, oder

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doch der meisten und menschlich besten, unter Anleitung der geistig regsten. Man will sich aber an nichts erst gewöhnen, was von Hause aus schon gewöhnhch ist; und man gewöhnt sich auch an nichts, was durchaus blos un- gewöhnlich sein will. Nur solche Kunst wird und bleibt volkstümlich, die den Willen zum geistigen Miterleben, diesen allgemeinsten menschlichen W^illen, gleichermaßen bewegt und beruhigt, löst und fesselt, antreibt und bän- digt. Sie muß Reize enthalten, die immer wieder das schrankenlose Naturgefühl selbst des Eigensinnigsten er- regen; und sie muß andere Reize enthalten, die immer- fort die beschränkte Kulturvernunft auch des Freimütig- sten beschwichtigen. Sie muß alle diese zwiefachen Reize in einer so einfachen Form vereinen, daß sie zwingend wirkt wie ein neues Gesetz, zu dem die alten hingedrängt haben ; und es macht das innerste Schicksal des Künstlers aus, ob er die äußere Geschicklichkeit hat, sich mit seiner ursprünglichen Schaffenskraft in die Beschaffenheit der Welt, die notwendige Ordnung der Kjräfte, zu fügen. Dann ist sein Werk ein vollkommenes: ein Sinnbild des ziellos schaffenden Lebens, ein Abbild des freiesten Willens zum Dasein, ein Vorbild der willigsten Schickung ins Ewige. Solche Kunst mag man Anfangs für willkürlich halten, mag sie mißdeuten und mißachten, verlästern oder verlobhudeln: grade Das wird die Neugier der Menge reizen, grade Das selbst die ältesten Schlafmützen wecken, und endlich nimmt auch der Gleichgiltige die ernste Giltigkeit ihres Wesens hinter dem scheinbaren Gaukel- werk wahr. Dagegen die Kunst, die nach Volksgunst

KUNST UND VOLK 203

fahndet, indem sie sich in das Maskengewand volkstümlich gewordener Ahnenkunst kleidet: sie mag von den vor- nehmsten Autoritäten, von Obrigkeit, Schule und Zeitungen, mit aller Gewalt „populär" gemacht werden, eine Zeit lang „ungeheuer beliebt" sein, schließlich wird sie als eitel Blendwerk erkannt und dient bestenfalls zur Vermittelung einiger Kunstkenntnis ans Volk.

8. Alle Kunst, die nicht volkstümlich bleibt, wird Unkunst, Tand und Spreu im Wind.

Das ist so zu verstehen:

Kein Kunstwerk, und sei es noch so schlecht, ist von Anfang an ohne Lebenswert; es finden sich immer die vielen Dummen und manchmal auch nicht wenige Kluge, die ein schlechtes Werk für gut genug halten, die Lange- weile auszufüllen. Erst allmählich merkt man, was Un- kunst ist. Jeder Einzelne weiß das aus eigner Erfahrung, und die Erfahrungen der Völker wachsen noch viel all- mählicher, dafür freilich auch dauerhafter. Es lassen sich mancherlei Kunstwerke herzählen, die Jahrhunderte lang im Volk wie bei Kennern die höchste Wertschätzung be- saßen und heute für mittelmäßig gelten, vielleicht immer tiefer an W^ert sinken werden, vielleicht auch wieder zum höchsten steigen. Eine vollkommene Gewähr für die Nichtig- keit eines Kunstwerkes bietet allein der Tatbestand, daß es als StofFding untergegangen ist, ohne in irgend einer Form in Sage, Denkmal, anderen Werken als seelisches Wesen weiterzuwirken. Das mag sich von den besten Kennern für die ungeheure Mehrzahl der Kunstdinge mit aller Gewißheit voraussagen lassen; aber die Kenner

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vollstrecken ihr Urteil nicht. Nur die Menschheit selbst ist das Jüngste Gericht und sondert langsam die Spreu vom Weizen; und das Volkstum ist das große Sieb, durch das sie ihre Lebensfrucht worfelt. Da werden auch viele Dinge durchfallen, die vielen Kennern Kleinodien waren ; und der ordinärste Hintertreppenroman wird dann nicht tiefer im Kehricht liegen als manche exquisite Salonnovelle. Dann wird der namenlose Dichter, der dem Volk den Aber- witz bloßer Romantik durch das Bild des „geschundenen Raubritters" zeigte, in der menschhchen Sprache lebendiger leben als mancher romantische Schulpoet mit literarhisto- rischem Ruhm. Über die Geistesgebilde der Machtvollsten aber lebt noch ihr eigenes Bildnis hinaus. Es werden Zeiten kommen, wo unsre Kultur begrabener als die ägyptische daliegt; dann wird vielleicht kein Buch von heute, kein Notenblatt mehr in Ansehen stehn, aber das Seelenbild Dante, das Paradiese und Höllen umarmt, der Geist Beethoven, den die Verzweiflung zum Freudenschrei trieb, wird dann der Menschheit noch ebenso heihg sein wie Orpheus oder Prometheus.

9. Die Kunst geht ihren eigenen VV^eg; wohl ihr, wenn das Volk ihr zu folgen vermag.

Das ist so selbstverständlich

daß es selbst für die eingebildetsten Dickköpfe nicht der Erklärung bedürfen würde, wenn nicht manche Künstler von Zukunftswert einen wohlfeilen Afterstolz darein setzten, bei Lebzeilen nicht ins Volk zu dringen. Angewidert vom Afterruhm meinen sie, ihr Selbstgefühl sei die ganze Welt, die Menschheit ein Märchen der

DER WILLE ZUR TAT 205

Vblksverführer. Wie lange wird dieser Irrsinn dauern? Bis sie der Welt zum Opfer gefallen und dem Volk wie der Menschheit ein Leichenschmaus sind! Denn wir leben Alle nicht für uns selbst, mag es auch manchem Schein- weltweisen bei seiner Schreiblischlampe so scheinen ; selbst der selbstsüchtigste Geizhals muß ins Grab und hat seine Schätze für Erben gesammelt.

DER WILLE ZUR TAT JEin Mahnruf an einsame Geister

Der bekannteste lebende Dichter Italiens hat eines Tages ▼on seinen Landsleuten mit Berufung auf die Kraft seines Geistes „eine bürgerliche Macht verlangt", und die Bauern seiner Heiraatsgegend haben Vertrauen gesetzt in seine ungewöhnliche, erhabene und bilderreiche Rede und ihn ins Parlament gewählt. Und so stark war die bildliche Gewalt dieser Rede, daß ein lebender deutscher Dichter, der in eigenster Weise wählerisch mit dem öffentlichen Wort um- geht, sie hingerissen in unsere Sprache übertrug und einen Rahmen darum fügte, der ihren feuerblumigen Reiz noch glänzender und glühender erscheinen läßt.

Das Wort ist eitel, das nicht zur Tat begeistert so scheinen Gabriele d'Annunzio und Hugo von Hof- nannsthal den nüchternen Leuten ins Gewissen zu rufen, die „an den Dingen nichts sehen als das Vorderste",

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die um des trägen Wohlbehagens willen „den einzig noch anbetungswüi'digen Dingen Gewalt antun", die vor dem Marktlärm der Menge den unsichtbaren Geist der Völker nicht spüren. „Hier nun ist endlich Tat : die männliche Tat, nach der es unsre Seelen verlangt. Es ist nicht mehr die Zeit, einsam im Schatten des Lorbeers und der Myrte zu träumen. Es ziemt von nun an, jedem Zwiespalt zwischen Denken und Tun ein Ende zu machen. Die Geistigen müssen den Platz erringen, der ihnen gebührt zu oberst in der Ordnung der Stände. Den Waffen, den Religionen, dem Reichtum folge in der Herrschaft die Kaste, in der sich die Bedingungen des höchsten geistigen Daseins einen," Und mit Stolz und Unmut erfüllt es die beiden Dichter, daß „noch kein Name geprägt" sei für dieses neue Ziel.

Ist es wirklich so namenlos neu? Hörten wir nicht schon auf der Schulbank von einem Dritten Reich, von einem Geist des Heils und einer Gemeinschaft der Heili- gen? Lernten wir diese Worte seitdem nicht um viele Be- griffe wertvoller deuten, als die Scheinheiligen und geistig Armen ? Haben die Lehrer der Menschheit, die großen Zweifler wie Glaubensmänner, je etwas Anderes gewollt, als daß es endlich komme, das Reich des heiligen Gei- stes, der alle Triebe klar und einig macht, das Reich der Kraft und Herrlichkeit? Hat nicht schon Piaton einen Staat gepredigt mit einer Herrschaft der Geistigen? Hat er die Dichter nicht daraus verbannen wollen, diese heil- losen imklaren Träumer? Oder war's erhabene L'onie, und ist die sogenannte Utopie des weisen Atheners nur

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die entschleierte Wirklichkeit, die aller Orten hinter dem Selbstbetrug des Alltagstreibens vor sich geht?!

Doch wenn die Lehre nicht neu ist, die uns die beiden Dichter bringen, vielleicht ist umso mehr die Zeit ge- kommen, daß sie herabsteigt aus Jener höheren Wirk- lichkeit und sich in Tatsachen umsetzt, die auch den Niedrigsten erheben, \ielleicht war Dies das Neue in der Heilsbotschaft des italiänischen Dichters, dieser Wille zur zeitumwälzenden Tat, wodurch sich die dumpfen Seelen seiner heimischen Bauern und ein entwickelter Geist wie der des deutschen Dichters so einmütig ergreifen ließen. Es mag wohl sein, daß jenen einfachen Männern ein nie erlebter Schauer der Kraft durch ihre arbeitsamen Glie- der fuhr, als ihnen der Redner sein letztes Buch pries, worin er „mit grausamster Kühnheit" seinen entnervten Bildungsgenossen „das langsame Sterben eines der Liebe und des Lebens unwürdigen" Schwächlings vorgehalten hat. Und wer in unserer Zeit, wer besonders von uns Deut- schen, ist so gefühllos, daß er nicht erschüttert würde durch die Klage des Dichters über jene Vorkämpfer der italiänischen Freiheit, denen nach vollbrachter Einigung des Vaterlandes „ihr eigener männlicher Wille vor die trägen Füße fiel"! „Wärhch, es wäre besser gewesen, die Män- ner, die man Befreier nannte, zu nehmen und zu opfern, und aus den Falten der Berge die schwersten Blöcke über ihre Gräber zu wälzen: dann sähen wii* sie mit den Augen der Seele immerfort vom Flammenwirbel der Re- volution umgeben, und ihre schöne Geberde wäre uns von weitem eine heroische Mahnung fürs Leben!"

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O herrlicher Dichter: wie wurde meine Seele weit, als ich das las! O Mensch des Alltags, Redner vor der Menge: wie zog sich mir das Herz zusammen, als ich weiter las! Denn wohin mündet dieser feurige Strom des W^illens, dies überschäumende Lob der Tat ? In einen schillernden seichten Teich, mit blühenden Hecken am Rande, in deren Schatten sich sänfllich träumen läßt. Es mag den Bauern sehr süß geklungen haben, als ihnen der Dichter „ihre" Hecke pries, die „ihren" Acker umschließt und sie ermahnte, zäh „ihr" Eigentum festzuhalten, nichts Lieberes hört der Bauer, selbst seine Wucherer ködern ihn damit. Und mancher gute Europäer wird sehr behaglich gelächelt haben, als er die Worte las, die über diesem Teil der Rede der deutsche Nachdichter eingefügt hat: hier erwähnt der Redner „eine scheinbar neue, in Wahrheit uralte Lehre, die Kraft und Besitz des Einzelnen völlig dem Gemeinwesen unterordnen will, und verwirft sie." Ich aber fühlte mit Grauen: unter der blühenden Hecke hegt die giftige Schlange Selbst- betrug.

O ja, sie ist sehr alt, die scheinbai- neue Lehre vom Besitzrecht Aller auf den gemeinsamen Mutlerboden, wohl ebenso alt wie die Lehre vom Herrschaftsrecht der Geistigen. Aber sollte eben deswegen nicht die Zeit ge- kommen sein, daß endlich auch sie herabsteigt aus der Luft des Gedankens und zur handgreiflichen Talsache wird? Ist es nicht vielleicht derselbe unsichtbare Geist des Heils, derselbe Wille zur Tat, der den einsamen Dichter eine öffentliche Macht verlangen ließ und der

DER WILLE ZUR TAT 209

die Arbeitennassen Europas die Umwälzung der jetzigen Machtzustände fordern läßt? Sollte nicht Eines ohne das Andi'e unmöglich sein?! „um so viel tugendhafter ist ein Mensch, als er sich mehr bemüht, sein Dasein zu steigern." Was wollen die Tausende Anderes, als ihr verkümmertes Dasein steigern, wenn sie emporverlangen aus ihrer leiblichen Abhängigkeit vom Reichtum weniger Einzelnen! Wie will der Dichter „die Herrschaft des Reich- tums aufheben", wenn nicht durch Aufhebung des Reich- tums selbst, nämlich des Reichtums der Wenigen! Wie „den Kult des ungebrochenen Willens wiederherstellen", wenn nicht durch V^'egräumung der Lasten, die alle Volks- kraft zu zerbrechen drohen, sogar mit eigner Waffengewalt ! Wie kann der geistige Mensch zur Herrschaft kommen, wenn er umgeben bleibt von Menschen, die nicht einmal der Pflege des Körpers freie Zeit genug widmen können ! Kann denn das geistige Dasein sich steigern, wenn jeder- manns Sinne voll leibhcher Unlust sind? Und kann der Geist des Einzelnen wachsen, wenn kein gemeinsamer Boden sich bildet, der seine Seele zum Wachstiun anreizt?

Es zeugt nicht von Vertrauen in den unsichtbaren Geist der Völker, daß man vorsätzlich die Augen ver- schließt vor ihrem offenkundigen Willen. Es zeugt auch nicht von Glauben an die Tatkraft der Einzelseele, daß sie sich einpferchen soll in blühende Hecken, um sich nicht „völlig" dem Gemeinwesen „unterzuordnen". Wer will sie denn unterordnen? und wer gar völlig? Solches hat noch keine Lehre gewollt, keine alte noch neue. Solches vermöchte auch keine Lehre, denn es wäre wider

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die Natur. Solches befurchten nur die Leute, die auf dem Markte die Glocken läuten hörten und „an den Dingen nichts zu sehen wissen als das "Vorderste". E i n Ordnung will die Lehre der Gütergemeinschaft, ganz wie die Lehre der Gei- stesherrschaft, und alle Unterordnung werde freier Vertrag ! Dieser Dichter, der seinen Landsleuten „ihre" Hecke und „ihren" Acker pries: weiß er denn nichts von der schänd- lichen Unterordnung, in der die Bauern seines Vaterlands leben? In jedem volkswirtschaftlichen Handbuch kann er es nachlesen, daß diese Hecken und diese Äcker nicht ihr Eigen sind, daß sie den Pachtzins und die Steuern kaum erschwingen können, die ihnen die Großgrundbe- sitzer und der Staat aufbürden, daß kaum in Irland die Bevölkerung von solchem Schweiß und schmutzigen Elend trieft wie in dem Garten Europas. Ich bin zu Fuß durch dieses Land gereist und habe Felder gesehen, wo das Korn auf dem Halm und die Trauben am Stock verfaulten, weil die Pachtbauem lieber untätig hungern wollten, als keinen Heller aus ihrer Arbeit ernten; und Bürger dieses Landes, die hinter die Dinge zu sehen wissen, haben mir gesagt, daß dieses Bild der Verzweiflung kein seltenes sei.

Wohl klingt es hinreißend, wenn ein Dichter „des Lachens der Phihster mit großer Verachtung bewußt" den Willen zur Tat vor seinem Volke verherrhcht. Aber ist es Tat, wenn er nichts Anderes tut als jeder Philister und übel berüchtigte Bourgeois? Auch dieser preist, wenn er des Sonntags spazieren geht, den Schimmer der ländlichen Hecken, weil er die Knechtschaft nicht sieht,

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die hinter der Blütenpracht wuchert. Darf denn ein Dichter so sich selbst betrügen? Wie will er „die Schön- heit, deren Mutter Italien ist", in seinem Volk wieder auferwecken, wie „dem lateinischen Geist zum Heile der anderen Völker die Vorherrschaft zurückgewinnen", so- lange dies Volk noch in häßlichster Ohnmacht um ein notdürftiges Dasein ringt? „Es gibt kein Heil und keine Schönheit außerhalb des Ringens, worin ein Mensch, ge- badet in Freiheit, alle Kräfte seines ganzes Wesens her- gibt." Ist denn ein Arbeiter, der nur dem Wort nach kein Sklave ist, „gebadet in Freiheit"? Und wenn in der Heimat des Dichters, in seiner engeren Heimat, wirklich noch schuldenfreie Bauern auf eigenem Ackergrund sitzen sollten: weiß er nicht, daß jener Reichtum, dessen Herr- schaft er vernichten will, gefräßiger als ein Raubtier ist, und daß in wenigen Jahrzehnten, wenn die Gesetzgebung nicht vorbeugt, der Latifundienmoloch auch sie verschlingen wird?! War 's da nicht heilsamer gewesen, den einfachen Männern, deren Geist noch zu wenig selbständig ist, um dem Anprall gewaltiger Worte Stand zu halten, einst- weilen die Mahnung ans Herz zu legen: schließt euch zusammen mit euern städtischen Brüdern, sie arbeiten wie Ihr, sind Knechte des Reichtums wie Dir, in ihren Zu- kunftsträumen lebt die befreiende Tat! Und wäre es nicht geistesklarer, die Kräfte dieser Einzelnen selbst „völlig" dem Gemeinwesen einzuordnen, als sie den Ordnungs- gelüsten einer Kaste preiszugeben, deren „langsames Sterben" der Dichter „mit grausamster Kühnlieit" geschil- dert hat?

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Ich frage diesen Dichter: Sind es nicht „einzig noch anbetungswürdige Dinge": der Mut der Bedrückten und die Hoffnung der Betrogenen?! Fürchtet er ihnen nicht „Gewalt anzutun", wenn er an einem Wochentage die Armen des Geistes von der Arbeit ruft und ihre zer- schundenen Hände lobt? ! Fürchtet er nicht „den unter- irdischen Göttern zu verfallen", wenn er die Seelen der Hungernden mit einem Becher voll Wein berauscht, der nur ein Schlummertrunk für sie ist, imakränzt mit üppi- gen Redeblumen?! Tun solches nicht des Sonntags auch die Priester, deren Herrschaft er brechen will?! Warlich, es wäre besser, er bliebe „im Schatten des Lorbeers und der Myrte" und schriebe Bücher, die Taten sind. Dann wäre „seine schöne Geberde uns von weitem ein heroischer Weckruf fürs Leben", und sein Geist käme über uns, ob mit der Leuchtkraft belebender Träume, ob auf dem Umweg, lebensunwürdige Schwächen zu spiegeln. Niemand verdenkt es dem Dichter, wenn seine Wege nicht die der Menge sind; mengt er sich aber in ihren Lärm und strebt nach Macht auf dem Markte, so stimme er auch die Fanfare an, die auf dem Markte am weite- sten trägt, und kämpfe für Ziele der Herrschaft, die Allen gemeinsame Freiheit verbürgen! Sonst wird nicht blos Piaton, sondern das Leben selbst ihn verbannen aus jenem ewigen Staatsrat des Geistes, der die Geschichte der Menschheit lenkt. Es ist nicht mehr die Zeit, mit zweierlei Wirkhchkeit schönzutun; die Weltgeschichte geht nicht doppelt vor sich. Was dem Geiste recht ist, das ist dem Körper billig. Zu den „Bedingungen des höchsten geisti-

DER WILLE ZUR TAT 213

gen Daseins" gehört vor allen der höchste Wohlstand des Leibes; und was der leibliche Arbeiter ernstlich will, das muß- ten von je auch die geistigen wollen. Es hilft nichts, sich da- gegen zu sperren. Mit allen Kräften müssen wir es wollen, ob nun aus einsamer, ob aus gemeinsamer Not. ^Vir müssen es wollen selbst um den Preis, uralte Heihglümer einzel- ner Stände der neuen Heilstat für Alle zu opfern. „Es ziemt von nun an, jedem Zwiespalt zwischen Denken und Tun ein Ende zu machen"!

So möchte ich dem Dichter ins Herz rufen, der so bezaubernd zu reden weiß. Den Männern aber, zu denen er redete, möchte ich Folgendes sagen: Ihr Bauern eines fremden Landes, hört auch meine „wahrhaftige Rede!" Auch ich „bin ein Dichter" und „rühme mich", für alles Leben ein Herz zu haben. Und Euer Leben ist mir nicht fremd; denn ich bin eines Försters Sohn und habe seit frühester Kindheit gesehen, wie die Menschen in Wald und Feld sich plagen. Ich kenne die Tagelöhner, die scheu und gebückt und mit verbissenem Ekel zur Arbeit gehen; ich kenne die Bauern, denen ihr Tagwerk ein Freudenwerk ist, weil sie den eigenen Acker bestellen; und ich kenne auch die Bauern, die noch gebückter gehn als die Tagelöhner, weil sie samt ihrem Acker unnützen Wucherern dienstbar sind. Sie Alle ai'beiten mit gleichem Fleiß, aber mit ungleichem Lohn, und deshalb ist „Neid" zwischen den Menschen. Deshalb kann ihre Seele nicht aufrichtig werden und ihr Geist nicht aufrecht, und Einer „freut sich am Übel" des Andern. Helft dieses än- dern! Verhelft Jedwedem zu einem Eigentum, Jedem nach

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seiner Kraft; macht alles Land zum Gemeinbesitz, mid Jeder empfange sein Nötiges, als anvertrautes Ehrenpfand, womit er frei zum Überfluß schalten kann! Vertraut dem gemeinsamen Willen! Fürchtet nicht, daß alsdann eure Hecken verdorren! Immer wird der Mensch die frucht- bare Erde bestellen müssen, und wird der Nachbar vom Nachbarn sich scheiden, und wird der Sohn die Hecke des Vaters pflegen, mag das nun Erbbesitz oder Erbpacht heißen. Sehr Recht hat jener „längst verstorbene Dichter Hesiod", daß „manches Mal die Hälfte mehr wert ist als das Ganze"; dies aber gilt nicht Denen, die garnichts haben. Denn jener „längst verstorbene Ackersmann Perses", zu dem er diese Wahrheit sprach, war sein unehrhcher, habgieriger, ver- schwenderischer Bruder, mit dem er um sein Erbteil pro- zessierte — und es ist wenig angemessen, daß euer dichten- der Landsmann Euch diesem Bruder gleichsetzt. Fürchtet auch nicht, daß ihr „der Stimme eures Blutes, der Seele eures Stammes" durch solchen Vi^illen zuwiderhandelt! Denn jenes „tiefsinnige Fest der Grenzsteine", das eure Urväter feierten, das eben stammte aus einer Zeit, als noch kein Einzelner Eigenland hatte. Damals entschied noch die Gaugemeinde über die Grenzen der Feldmark, und im Besitz der Geschlechtsgenossen war nur ihr Haus und ihr Viehstand; wenn euer Dichter dies anders aus- malt, so kennt er die Geschichte seines eigenen Volkes nicht. Damals besaß kein Mensch mehr, als ihm zukam nach seiner Kraft. Damals lebte noch Jeder in Eintracht mit der Gewalt, die aller Tat und alles Willens Mutter ist: in Eintracht mit der Natur. Aber es war ein rohes

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Leben, roh wie das Leben der Tiere, und der Mensch hat den Willen zur Menschheit. So kam es, daß er mit der Mutter eine Tochter zeugte : sie heißt Kultur und Mutter und Tochter gerieten in Zwietracht. Denn um der Tochter willen begann der Mensch dem gemeinsamen Mutterboden Gewalt anzutun, und Bruder begann den Bruder zu knechten, und immer häßlicher wurde die Zwietracht. Und unter dieser Zwietracht leidet der Mensch, wie unter einer Blutschande; drum ward es der "Wille der Menschheit, mit reifster Kultur zurückzukehren ans Herz der Natur, um Mutter und Tochter auszusöhnen und all ihre Kräfte einig zu machen. Wenn demnach euer Dichter euch rät, vor einer Heilslehre Furcht zu haben, die ebenso alt ist wie jene schmähHche Zwietracht, so frevelt er wider den Willen der Menschheit, und seine Tat wird zur Untat. Das aber sage ich euch nicht, damit ihr ihm mißtrauen soUt; denn seine Seele ist edel und glüht vom Willen zur Tat. Es ist ein guter Wille, wenn auch ein blinder. Streckt also dem Dichter die Hände hin, und öiFnet ihm die Augen fiir eure Not, daß ihn die krasse Wirklichkeit mit eisig kaltem Schauer durch- fährt, daß seine glühende Seele nicht zerschmilzt und ihm sein „männlicher Wille" nicht „vor die trägen Füße fäUt"!

Dir aber endlich, mein deutscher Nachbar, Dichter wie ich, Dir rufe ich Dieses zu: Auch ich bin durch \^nedig gegangen und habe den „immerwährenden unsichtbaren Dogen" erlebt. Aber ich fand ihn nicht im stickigen Lärm der engen Gassen und Kanäle; da fand ich nur

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die „unsichtbaren Heiligen", und keine Heib'gen des Gei- stes, sondern einer sehr dumpfen Sinnlichkeit. Doch eines Abends stieg ich auf den Glockenturm, und in dem Augenblick, als ich hinauftrat und jenseit der Kuppeln des Markusdomes die sinkende Sonne über das Meer die sterbenskranke Farbenpracht herbststiller Wälder ausbrei- ten sah, und jenseit des Meeres die leuchtenden Säume der AVolkenberge aufsteigen sah: in diesem Augenblick fing unten auf der Piazza die Militärkapelle zu spielen an: den Trauermarsch aus der „Eroica" und Tränen überwältigten mich. Da sah ich ihn, den Geist des un- sichtbaren Dogen; aber es war kein lebendiger Geist, es war ein Spukgeist traurigster Art, kein „Herr" mehr des geflügelten Löwen. Nur den zu Einsamen erscheint er noch, nicht mehr der wimmelnden Menge dort unten, und Keiner hat ihn klarer geschaut als jener deutsche Dichter, der mit todsiecher Brust „das Herz Venedigs durch die Stille bluten" hörte: Graf Strachwitz in den klagenden Terzinen:

„Mich aber packt ein innerstes Erbeben, Seh ich um dieses wimmelnde Gewürme Die alte Pracht ihr fürstlich Haupt erheben. Wie dumpfer Vorwurf tönt der Mund der Türme, Und von dem Meere durch des Löwen Mähne Ergeht ein Wehen längst verbrauster Stürme." Seht zu, Ihr Dichter, die ihr eine bürgerliche Macht be- gehrt, daß ihr die Stürme wieder entfacht in der Menge ! Sie werden auch Euch die Flügel entfalten! Es ist nicht mehr die Zeit, einsam zu träumen!

218 BETRACHTUNGEN

ÜBERSICHT

Autobiographie Seite 10

Naivität und Genie » 17

Das Rätsel des Schönen 46

Natur, Symbol und Kunst 57

Kunstform und Rhythmus 74

Licentia poetica «...•. 83

Schulbuch und Kinderseele 108

Dichtung und Vortragskunst 131

Hörer und Dichter 141

Kunst und Persönlichkeit 150

Kultur und Rasse 162

Kunst und Volk 192

Der Wille zur Tat 205

DRUCK VON W. DRUGULIN IN LEIPZIG Deckelzeichnung und Titelmonogramme von Walter Tiemann

S. FISCHER- VERLAG' BERLIN

DEHMELS GESAMMELTE WERKE

IN ZEHN BÄNDEN

Bd. I: ERLÖSUNGEN, Gedichte und Sprüche. Bd. U: ABER DIE LIEBE. Zwei Folgen Gedichte. Bd. III: "WEIB UND WELT. Ein Buch Gedichte. Bd. IV: DIE VERWANDLUNGEN DER VENUS. Erotische Rhapsodie mit einer moralischen Ouvertüre. Bd. V: ZWEI MENSCHEN. Roman in Romanzen. Bd. VI: DER KINDERGARTEN. Gedichte, Spiele und Geschichten. Bd. VII: LEBENSBLÄTTER. Novellen in Prosa. Bd. VIII: BETRACHTUNGEN über Kunst, Gott und die Welt. Bd. IX: DER MITMENSCH. Tragikomödie. Nebst einer Abhandlung über Tragik und Drama. Bd. X: LUCIFER, Pan- tomimisches Drama. Mit einem Vorwort über Theaterreform und einem Reigenspiel: DIE VÖLKER BRAUTSCHAU.

Preis der zehnbändigen Gesamtausgabe:

geheftet 30 Mark,

gebunden in Halbpergament .... 40 Mark, in Ganzpergament 30 Mark.

Preis pro Band in Einzelausgabe:

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