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H, LOWDERMILK & CO., | Standard,Choice and Rare Law and | Miscellaneous Books, Government Publications, WASHINGTON, D. C. BOOKS BOUGHT. Greifswald. i SR erlag and A Dre von Fulius Abel. en, Biologische Studien. I. Das biologische Grundgesetz. f Dr, Rudolf Arndt, Professor an der Universität Greifswald. ’ExX ndvewv Ev nal 2E Evo navee. Heraklit. Greifswald. Verlag und Druck von Julius Abel. 1822. Vorrede. Den sich für biologische Vorgänge interessierenden Kreisen übergebe ich hiermit eine Reihe von Abhandlungen, welche bestimmt sind, Licht über etliche der ersteren zu verbreiten. Ein Paar dieser Abhandlungen sind in kürzerer Form, gewisser- massen als vorläufige Mitteilungen, schon in medizinischen Zeitschriften erschienen, so die unter 3 und 6 aufgeführten in der Berliner Klin. Wochenschrift 1889 No. 44 und 1890 No. 8, und die unter 4 stehende in der Wiener mediz. Presse 1890 No. 14 und ı5. Um sie, beziehentlich ihren Inhalt auch Nicht- Medizinern bekannt zu machen, habe ich sie danach noch ein- mal überarbeitet und dabei durch Heranziehung neuer That- sachen das, was sie beweisen sollten, noch mehr zu erhärten gesucht. Mit einer Anzahl anderer, doch denselben Gegen- stand behandelnder, zu einem Ganzen verbunden erscheinen sie nun wieder. Die etwaigen alten Bekannten mögen desshalb nicht aufdringlich erscheinen und darum von vornherein ungünstig aufgenommen werden. Dem erwähnten Ganzen, das aus den in Betracht kommenden Abhandlungen besteht, ist gleichsam als Einleitung zu ihm der Aufsatz: „Leben und Lebensäusserungen“ voraufgeschickt worden. Er soll den Standpunkt darlegen, welchen ich zu dem fraglichen Gegenstande einnehme oder auch, wie derselbe gerecht- fertigt werden kann. Ich gebe mich nicht der Hoffnung hin, dass ich da gleich viel Beifall finden werde; im Gegenteil, ich bin darauf gefasst, dass man mir mehr als genug vorwerfen werde, ich bewege mich zu sehr im Reiche der Hypothesen; allein wenn ich das zunächst auch werde hinnehmen müssen, so vergesse doch niemand, dass Thesen, Lehrsätze, welche sich noch Einwürfe gefallen lassen müssen, trotz aller gegenteiligen Versicherungen, doch auch noch nicht Thesen in wissenschaft- II lichem Sinne sind, sondern ebenfalls nur als Hypothesen gelten können. Sollte mir nichtsdestoweniger doch jemand zu sehr das Hypothetische meiner Ansichten zum Vorwurf machen, so kann er das nur auf Grund von Hypothesen thun, auf denen er fusst, ohne es zu wissen. Er hält sie für Thesen. Aber all’ unser biologisches Wissen ist nur ein hypothetisches. Es beruht auf Wahrscheinlichkeitsrechnungen, welche von einem gewissen Stand- punkte unserer Erkenntnis aus unternommen worden sind. Mit der Änderung dieses müssen sich daher auch jene ändern. Vieles, was heute noch von dem gerade eingenommenen Standpunkte aus gültig ist, muss morgen hinfällig werden. Vieles indessen 3 wird auch an Stützen und damit an Wahrscheinlichkeit, beziehent- - lich Gewissheit gewinnen. Denn je mehr sich unsere Erkennt- nis mit der Vermehrung unserer Kenntnisse, unseres Wissens, erweitert, um so mehr werden sich die jeweiligen Hypothesen festigen und Thesen nähern. Sie werden zwar damit noch keinen strengen Beweis auszuhalten vermögen; allein je mehr sie erklären und wahrscheinlich machen, um so mehr nähern sie sich bewiesenen oder des Beweises fähigen Sätzen. Je grösser dar- um der Umfang einer Hypothese wird, je reichhaltiger ihr Inhalt sich gestaltet und gliedert, je mehr in Folge dessen durch sie, beziehentlich bereits bekannte Dinge und Vorgänge erklärt wird, - um so mehr Anspruch auf Gültigkeit kann sie wenigstens für so lange machen, bis sie durch eine andere, namentlich um- fassendere ersetzt worden ist. Ich gehöre darum auch keines- wegs zu den Leuten, welche der Hypothese so feind sind, dass sie immer und überall gegen dieselbe eifern. Ich weiss eben, dass unser Wissen ein zumeist nur hypothetisches ist, und kann mich darum auch nicht zu der Ansicht bekennen: Was wir wissen, wissen wir; wir brauchen bei Hypothesen keine An- leihe zu machen. Im Gegenteil, weil unser Wissen, namentlich unser biologisches Wissen ein blos hypothetisches ist, müssen wir bei weiter gehenden, natürlich auf Thatsachen beruhenden, durch Induction gewonnenen Hypothesen viele Anleihen machen, damit wir nur weiter kommen, nicht sitzen bleiben und ver- sumpfen. Viele der bisherigen biologischen Anschauungen sind nun aber durchaus unhaltbar geworden; ja sie sind geradezu als widerlegt zu betrachten. Nichtsdestoweniger sind sie noch immer II im Schwange und spielen sogar eine grosse, selbst massgebende Rolle. Vor Allem gilt dies von der Spontaneität des Lebens, beziehentlich der Automatie seiner einzelnen V orgänge. Allein es giebt keine Automatie, jedenfalls keine räumlich begrenzte. Jede hierher gehörige Thätigkeit ist als eine reflektorisch er- folgende und damit als eine bedingte erkannt worden. Die Lebens- thätigkeit an sich kann deshalb auch nur eine solche sein, und von einer Spontaneität derselben, wie des Lebens überhaupt zu reden, ist ein Unding. Das Leben ist etwas von der ganzen übrigen Welt Abhängiges, durch sie Vermitteltes. In welcher Weise die fragliche Abhängigkeit sich macht, die bezügliche Vermittelung stattfindet, das soll der in Rede stehende ein- leitende Aufsatz darzuthun suchen. Es wird das dem Aufsatz, wie ich schon ausgesprochen habe, fürs erste wohl kaum gelingen. Wenn neue Wege er- öffnet und angebahnt, alte verlassene erneuert und wiederher- gestellt werden, so sind sie selten gleich bequem zu benutzen. Hier und da ist es vielleicht sogar beschwerlich, auf ihnen fort- zukommen, weil sie nur notdürftig hergerichtet, wohl gar fehlerhaft ausgeführt worden sind. Erst mit der Zeit werden sie besser gang- und fahrbar. Sie müssen erst gehörig betreten und befahren, mit diesen und jenen Bequemlichkeiten versehen werden, hier eine Erhöhung, Aufdämmung, dort eine Vertiefung, Abtäufung erfahren, ja an einem dritten Punkte Geländer, Mauern, festere Brücken erhalten, an einem vierten wohl gar verlegt und zugleich mit Stufen und Treppen versehen werden; trotzdem und alledem führen sie doch immer schon in erträglicher Weise in ein bisher oder doch wenigstens zur Zeit noch unbekanntes, weil unnahbares Land und verstatten vielleicht gerade an den misslichsten, dem Anscheine nach gefährlichsten Stellen Aussichten und Einblicke in dasselbe, welche bisher kaum geahnte Förde- rungen nach den verschiedensten Richtungen hin erhoffen und selbst schon erkennen lassen. Mit der Zeit, so hoffe ich, werden denn auch trotz der zu- nächst erwarteten vorläufigen Ablehnung der Ansichten, welche der einleitende Aufsatz bringt, dieselben doch mehr und mehr Geltung bekommen, und die Biologie selbst wird in richtigere und dazu festere Bahnen geleitet werden, als die sind, in denen sie sich jetzt bewegt. Man wird sich mit den besagten Ansichten IA nur erst näher zu befreunden, mit ihnen bis zu einem gewissen Grade einzuleben haben, wird sich ihnen bequemen oder auch sie sich bequem machen, d.h. nach seinem jeweiligen Bedürfnis ver- bessern müssen. Eine Anzahl von Lebenserscheinungen wird dann aber auch verständlicher werden und an die Stelle heute noch unbegreiflich erscheinender Geschehnisse werden mechanische Vorgänge treten, welche zum Wenigsten einen allgemeinen Einblick in ihr Zustandekommen gestatten. Die Mechanik des Lebens, der Mechanismus seiner Träger wird klarer und durchsichtiger werden, und viele Einrichtungen derselben werden begreiflicher, ja in einem ganz anderen, zumal helleren Lichte erscheinen. Unter Annahme der fraglichen Ansichten wird sich so z.B. ergeben, dass alle höheren Lebewesen, Pflanzen wie Tiere, nicht Körper sein Können, welche sich durch das Zusammentreten einzelner Zellen aufgebaut haben, von denen jede mehr oder weniger autonom ist; sondern dass jedes derselben vielmehr ein Ganzes ist, das sich bei seiner Entwickelung zu einer höheren Einheit in Zellen gegliedert hat, deren jeder eine besondere Aufgabe zum Wohle und damit zur Erhaltung und Weiterent- wickelung des Ganzen zugefallen ist. Es wird sich ergeben, dass alle diese Zellen, wenn auch in der verschiedensten Weise, unter einander in Zusammenhang, wie sie wirklich stehen, so auch stehen müssen, und dass, wie bei den höheren Pflanzen und niederen Tieren einfache Protoplasmafäden, so bei den höheren Tieren und dem Menschen "die Nerven es sind, welche diesen Zusammenhang vermitteln. Es wird sich ergeben, dass jedes höhere Lebewesen so zwar einen Zellenstaat darstellt, wie das bis jetzt gelehrt worden ist, indessen nicht bestehend aus gleich- wertigen, selbstständigen, autonomen Zellen, sondern vielmehr aus Zellen, welche alle unter sich in Verbindung und damit von einander in Abhängigkeit stehen, je nach ihrem Ursprunge und ihren näheren, beziehentlich nächsten Verbindungen, engeren Ver- bänden, von sehr verschiedenem Wert und sehr verschiedener Würde sind, und demgemäss auch Aufgaben von sehr ver- schiedener Bedeutung und sehr verschiedenem Gewicht zu er- füllen haben, dass sie diese Aufgaben jedoch nur unter dem Einfluss ihrer Verbindungen, beziehungsweise des Ganzen aus- zuführen vermögen, dem sie angehören, und dass dieser, der jeweilige Zellenstaat, den das betreffende Lebewesen bildet, - v nicht etwa ein sogenannter Freistaat ist, in welchen die Indi- viduen gleichsam aus sich heraus willkürlich thun und lassen können, was sie gerade für erspriesslich halten, sondern dass im Gegenteil ein jedes aus einer Anzahl von Zellen bestehende Lebewesen einen auf ausgesprochen aristokratischer Gliederung beruhenden, straffen Polizeistaat verwirklicht, in welchem jeder Angehörige seiner Stellung, seinem Wert und Range gemäss selbst gegen seine augenblickliche eigene Ansicht das thun und lassen mus, was das Ganze, der Staat gerade von ihm fordert. Die Nerven und ihre Verbindungen, Verknüpfungen zu einem Ganzen, das Nervensystem, dienen dazu, haben wohl auch heute den Zweck, die entsprechenden Forderungen zum Austrag zu bringen. Das Nervensystem jedoch entwickelt sich, wie Phylo- genese und Ontogenese beweisen, von den beiden sogenannten Grenzblättern des höheren Tierleibes oder seines Embryo her. Es nimmt damit denn auch seinen Ursprung aus denselben, und eine ganz falsche Lehre, welche noch aus den Zeiten stammt, wo man es nicht besser wusste, ist es in Folge dessen, dass die Nerven, das Nervensystem, gewissermassen aus seinem centralen Teile, dem Centralnervensysteme, entspringen. Dessenungeachtet rechnet man doch mit dieser Annahme noch immer ganz allgemein wie mit einer feststehenden, wohl bewiesenen Thatsache. Natür- licherweise müssen die Ergebnisse der bezüglichen Rechnungen durchaus unzutreffend, ja hier und da, besonders in gewissen Cardinalfragen, wie hinsichtlich der Spontaneität des Lebens, den sonstigen alltäglichen Erfahrungen geradezu widerstreitend sich gestalten. Auf derartigen Ergebnissen und daraus entsprungenen weiteren Ansichten beruhen indessen doch noch immer die haupt- sächlichsten der heutigen Tages noch herrschenden biologischen Anschauungen. Allein wenn die Nerven, das Nervensystem, in den soge- nannten Grenzblättern des sich entwickelnden Tierleibes und den sie bildenden Zellen ihren Ursprung nehmen und folgerichtig denn auch in den fertigen Gebilden dieser letzteren beim er- wachsenen Tiere wurzeln, so können Teile, wie bei den Wirbel- tieren Gehirn und Rückenmark, von denen ersteres nachweis- lich erst aus dem letzteren hervorgeht, und die beide zusammen das Centralnervensystem ausmachen, nicht Centralnervensystem, Centralorgane der Nerven in dem Sinne sein, dass sie die ein- VI zelnen Nerven aus sich heraus automatisch, spontan beeinflussen und zu ihrer gerade erforderlichen Thätigkeit veranlassen; sondern nur insofern können sie als solche Centralorgane an- gesehen werden, als sie gleichsam in Mitten aller Nerven liegen und dieselben aus sich scheinbar hervorgehen lassen, wie ihnen zum Ursprunge dienend. Thatsächlich sind Rückenmark und Gehirn, die Centralorgane des Nervensystemes der Wirbeltiere, ihrer ganzen Entstehung nach denn auch blos Durchgangspunkte der Nerven, die in den erwähnten Grenzblättern und deren Ab- kömmlingen ihren Ursprung nehmen und in den sogenannten Mittelblättern und den aus ihnen entstandenen Organen endigen. Rückenmark und Gehirn sind so nur eine Art von Central- stationen, an und in denen die sie durchziehenden Nerven in die tausendfältigen Verbindungen mit einander treten, in Folge deren wir die eben so viel tausendfältigen Beziehungen zur Erschei- nung kommen sehen, welche durch das Nervensystem vermittelt werden. Nicht vom Gehirn und Rückenmark und ihren Zellen laufen willkürlich Befehle aus nach den verschiedenen Organen und deren Zellen; sondern in Rückenmark und Gehirn werden nur die aus den Grenzblättern und deren Gebilden ankommenden Erregungen seitens der Aussenwelt, des Alls, Weltalls, in die betreffenden Befehle nach den Mittelblättern und deren Gebilden so umgesetzt, wie es die Einrichtungen der jeweiligen Lebe- wesen mit sich bringen. Nicht das Gehirn und Rückenmark an und für sich arbeiten die betreffenden Befehle aus; sondern durch Gehirn und Rückenmark als Instrumenten erlässt sie die Aussenwelt, das grosse All, das sich jene geschaffen hat, um, sit venia verbo, bestimmte seiner Zwecke zu erreichen. Der straff geordnete, auf aristokratischer Grundlage beruhende Polizeistaat, der in den höheren Tieren, im Menschen seine Spitze, sein Verwal- tungscentrum, im Centralsysteme, zumal im Gehirn hat, wird darum von diesem aus auch nicht regiert nach Laune und Lust; sondern so wie es muss, wie es die Welt in ihrem Gange verlangt, die eiserne Nothwendigkeit der Umstände mit sich bringt. Das Centralnervensystem, und damit auch das Gehirn, regiert nach dem Ratschlusse der ewigen Mächte, welche das unendliche All bis in die kleinsten Teile beherrschen. Bei der näher dargelegten Arbeit des Centralnervensystemes kommen die Erregungen seitens der Aussenwelt, des Alls, im vo grossen Gehirn, und hauptsächlich in der grauen Rinde seiner grossen Hemisphären, zum Bewusstsein. Wie? Ignoramus, igno- rabimus! Das mechanisch zu begreifen, halte ich mit du Bois- Reymond für unmöglich. Das müssen wir als etwas Gegebenes, einmal Vorhandenes hinnehmen, ohne uns weiter den Kopf dar- über zu zerbrechen. Es gehört das in das Reich des Metaphy- sischen, des Transcendentalen, das wesentlich aus ihm besteht, und das wissenschattlich irgendwie zu erkennen, ich auch für unmöglich halte.e Denn unserer Erkenntnis sind Schranken gesetzt. Wo es mit der Mechanik zu Ende ist, treten sie ihr unübersteigbar entgegen. Hinter ihnen liegt nur noch, gerade so wie vor dem Gebiete der Erkenntnis, ein solches des Ahnens, Wähnens, Meinens, Glaubens, nach welchem die Kreatur, je nach ihrer Geartung, zwar ebenso mächtig hingezogen wird wie nach dem der Erkenntnis, und durch das sie gar nicht selten erst hindurch muss, um rückkehrend zu diesem zu gelangen, auf dem sie aber niemals zur Klarheit kommen kann, sondern stets nur in einem mystischen Dunkel befangen sich zu bewegen vermag. Unter Annahme der fraglichen Ansichten, namentlich der letzt erwähnten, sowie der geeigneten Verwertung der Forschungsresultate, welche ich soeben in Kurzem mitgeteilt habe, wird sich endlich ergeben, dass jedes Lebewesen, wie das auch schon alle naiven Beobachter erkannt haben, nur einen Teil des Alls darstellt, in welchem und durch welches dieses sich äussert, wie Zeit und Urnstände es gerade verlangen. Das Leben selbst, der Lebensvorgang, stellt sich damit aber nur als einen räumlich und zeitlich beschränkten Teil des all- gemeinen grossen Weltvorganges dar. Die Seele eines Lebe- wesens ist deshalb auch nur ein Teil der Weltseele und sein Geist ein solcher des Weltgeistes. Daraus jedoch ergiebt sich dann aber mit Notwendigkeit die Wahrheit sowohl des alttesta- mentlichen Wortes: „In ihm leben, weben und sind wir“, wie auch des neutestamentlichen Ausspruches: „Es fällt kein Sper- ling vom Dache ohne den Willen ‘eures himmlischen Vaters.“ Die Sätze uralter Weisheit sind eben nur die Zusammenfassung einer Reihe von Vorgängen, die Dichtung, Verdichtung derselben zu einem einheitlichen Ganzen, einem einzigen Gedanken, welche dem Menschen im Laufe der Zeit bewusst geworden sind. Hier- vm mit ist, denn weiter aber auch die sogenannte sittliche Weltordnung gerettet, von welcher in der Gegenwart vielfach behauptet wird, dass die Naturwissenschaften und vornehmlich die Biologie sich gegen sie auflehnen und sie in ihrem Einflusse auf den Menschen bedrohen und untergraben. Denn die sittliche Weltordnung besteht zuletzt doch nur darin, das alles Einzelne sich zu einem harmonischen, fast möchte ich sagen, zu einem organischen Ganzen fügt, das mit der Erhaltung dieses Ganzen selbst erhalten wird und damit seinen Lohn erhält, während alles Einzelne, was dem, aus welchem Grunde es immer auch sei, störend entgegenwirkt, wieder in dem Ganzen, das es aus sich entstehen liess, früher oder später untergeht und damit seine Strafe erleidet. Alles Gute, d. i. Erhaltende, Bejahende wird belohnt; alles Böse, d. i. Zerstörende, Verneinende, wird bestraft. „Der Tod ist der Sünde Sold!“ Wenn also auch den Vorwurf ich nicht von der Hand zu weisen vermag, der mir in Betreff des einleitenden Aufsatzes „Leben und Lebensäusserungen“ gemacht werden kann und gemacht werden wird, ich bewegte mich zu sehr im Reiche der Hypothesen, so beruhen dieselben doch auf viel festerem Boden, sind ungleich sicherer begründet und erklären viel mehr, namentlich auch mit aus der sittlichen Welt, welche man den Natur- wissenschaften bis jetzt für unzugänglich hielt, als das von den bis zur Zeit vielfach für wohl bewiesene Thesen ausgegebenen, in Wahrheit jedoch viel hinfälligeren Hypothesen geschieht, auf denen die Biologie noch heutigen Tages beruht. Ja, einige von diesen letzt erwähnten Hypothesen müssen geradezu, weil den sonstigen Thatsachen widersprechend, als falsch angesehen werden. Die Abhandluugen selbst, denen der in Rede stehende einleitende Aufsatz voraufgeschickt ist, werden dafür Zeugnis mancherlei Art ablegen. Rudolf Arndt. Au +» 0 . Riesen, Zwerge und das biologische Grundgesetz . IX Inhaltsangabe. TBeben@undeolebensäusserungen ss A. yo er Seite . Die Elementarorganismen und das biologische Grundgesetz . Der gehaubte Kanarienvogel, die Möwchen-, Perrücken- und Pfauentaube und das biologische Grundgesetz . Die Heilkunst und das biologische Grundgesetz . . » . Plattfuss, Klumpfuss und das biologische Grundgesetz . Schwarz und Weiss bei Tier und Mensch und das biologische Grundgesetz . . Die Körperwärme, besonders das Fieber, und das biologische Grundgesetz 2 wo. . Die Psyche und das biologische Grundgesetz . © 2 2 2.» 174. 185. IRRN Leben und Lebensäusseruugen. Schwarz und weiss, kalt und warm, still und laut sind, wie wir wissen, nur Bewegungsformen im All, beziehungsweise des Alls, welche von uns in ihrer Eigenart empfunden werden. Das- selbe gilt auch von hart und weich, starr und flüssig, fest und locker. Es gilt von jeder Form, jeder Gestalt, jedem Zustand. Alles was ist, ist das, was es ist und wie es ist, auf Grund von Bewegung, von Bewegung der es zusammensetzenden Teile, und zwar kleinsten Teile, zu einander und von einander. Je stärker, je kraftvoller sich diese Teile zu einander bewegen und dadurch auf einander drücken, pressen, um so fester, härter, stärker ist der Körper, der Stoff, den sie bilden; je stärker und kraftvoller sie sich von einander fortbewegen, auf andere, dritte, vierte hindrängen, um so lockerer, weicher, flüssiger, flüchtiger ist er. Die Art und Weise, in der die bezüglichen Bewegungen vor sich gehen, giebt die Form, in welcher die durch ihre Ver- mittelung gebildeten Stoffe erscheinen, als Gestein, Metall, Holz, Fleisch, Wasser, Luft u. s. w. Die alle sinnlich wahrnehmbaren Stoffe bildenden Atome erzeugen durch ihre vieltausendfältigen Bewegungsformen, welche sie zu 2, 3, 4, IO, 20, 50, 100 und noch mehr zu einander haben können, die Moleküle der verschiedenen Stoffe, und die Be- wegungen. dieser Moleküle, die Resultanten aus den Bewegungen ihrer Atome, haben die vieltausendfältigen Erscheinungen, in denen uns die verschiedenen Stoffe entgegen treten, zur Folge. Je stärker die Atombewegung zu einander ist, um so stärker ist es auch die Molekularbewegung, und je stärker diese ist, um so fester, dichter, aber auch um so härter, spröder oder zäher ist der Stoff. Die Atombewegung aber ist der Chemismus, die Molekularbewegung schliesst. in sich das Sichtbare, Greif- bare, Wägbare. Die Bewegung des Sichtbaren, Greifbaren, Wägbaren ist die Mechanik. 2 Wie die Mechanik in zwei besondere Gebiete zerfällt, die Mechanik im engeren Sinne und die Statik, und jene die Be- wegung, die Fortbewegung der Körper in Bezug auf einander und unter einander, diese das Verharren und damit die Ruhe derselben in den nämlichen Verhältnissen begreift, so lässt sich auch die Molekularbewegung, die Molekularmechanik, in eine Molekularmechanik im engeren, die Dynamik im älteren Sinne, und eine Molekularstatik zerfällen. Jene stellt die Bewegung und zwar wieder Fortbewegung der Moleküle in Bezug auf sich und unter sich, diese das Verharren und damit wieder die Ruhe derselben in Bezug auf sich und unter sich dar. Und ebenso lässt auch die Atombewegung eine entsprechende Bewegung, be- ziehungsweise Fortbewegungder Atome und ein Verharren dersel- ben, ihre Ruhe, in Bezug auf sich und unter sich unterscheiden. Jene offenbart sich uns als Atomomechanik, die wir sonst schlechtweg Chemismus nennen, diese als Atomostatik. Der Chemismus, die Atomomechanik, besteht in der Fortbewegung der Atome, dem chemischen Ausgleich aktiv; der chemische Ausgleich passiv, die chemische Ausgeglichenheit, ist die Atomostatik. Eine völlige Ruhe aber giebt es nicht. Was wir Ruhe nennen, ist nur etwas Relatives. Es ist das eben das gleich- mässige Verharren einer Anzahl von Körpern in derselben Lage zu einander und unter einander, dessen wir schon gedacht haben, weil dieselben eine wirklich oder doch annähernd unveränder- liche Bewegungsrichtung inne halten. Die bezügliche Bewegung selbst kann freilich eine unmerkliche sein, weil Hindernisse einer stärkeren entgegenstehen und sie hemmen; allein der Druck, den die in ihrer Bewegung gehemmten Körper gegen die frag- lichen Hindernisse und diese wieder gegen sie ausüben, sowie die Folgen davon, die Druckmarken, die Temperaturverhältnisse, legen für sie Zeugnis ab. | Alle Körper streben nach einem gewissen Mittelpunkte, die irdischen Körper nach dem Mittelpunkte der Erde. In ihrem Streben, den Mittelpunkt zu erreichen, werden sie indessen durch Körper von gleicher oder grösserer Dichte, beziehentlich gleicher oder grösserer Widerstandsfähigkeit, welche sich dem Mittel- punkte bereits näher befinden, zwischen diesem und ihnen ein- geschaltet sind, gehindert. Diese Bewegung der Körper nach 3 = einem Mittelpunkte, ihr Streben, an denselben zu gelangen, kann nach dem Erörterten nur das Resultat der Bewegungen ihrer Moleküle und deren Atome sein. Denn schliesslich ist die Erde auch nur ein Körper, auf dem, in dem sich alle seine Teile verhalten wie die Moleküle und deren Atome zu dem einzelnen Körper, welcher einen ihrer Teile ausmacht. Ja, mit der Erde in Bezug auf die Sonne, mit jedem Planeten in Bezug auf diese, mit der Sonne und den sie umkreisenden Planeten zu einer et- waigen Centralsonne unseres Fixstern-, d. i. des Milchstrassen- systems, in Bezug auf welche Centralsonne unser ganzes Planeten- system nur einen einzigen Stern darstellt, wie etwa die Sterne, welche erst durch die Spektralanalyse als Doppelsterne erkannt worden sind, endlich mit dem Milchstrassensystem und den gleichwertigen Fixstern- oder Sonnensystemen in Bezug aut Mittelpunkte, nach denen sie streben, und die sie deshalb umkreisen, verhält es sich nicht anders. Die Gravitation ist eine Concen- tration und beruht auf einer Contraction. Die Involution des Weltalls, in der wir uns befinden, und die, wie seine Entropie einem Maximum entgegenstrebt, diese Involution des Weltalls hat zur Ursache den chemischen Ausgleich, beziehentlich die chemische Ausgeglichenheit zwischen den kleinsten seiner Teile, d. i. die Atomostatik, bezüglich ihre Verhältnisse, die Atomo- stasen, überhaupt. Das Sichtbar-, Greifbar- Wägbarwerden seiner selbst ist der Anfang dazu. Das erste wägbare Stoff- molekül, ein Ausdruck der den Weltenstoff, den sogenannten Weltenäther beherrschenden Atomostatik, nach W. Thomson ein Ätherwirbel, giebt den Anstoss dazu. Also Ruhe ist nirgends! Was wir Ruhe nennen, ist nur der Ausdruck des Verharrens und zumeist auch blos des scheinbaren Verharrens einer Anzahl von Körpern, welche dieselbe Bewegungs- richtung haben, in ihren Beziehungen zu einander und unter einander. Die Sterne am Himmelszelt, welche in festen Gruppen, ‚Sternbildern, geordnet erscheinen, bewegen sich, und zwar nicht blos in den immer nahezu gleichen Abständen von einander um ‚einen gemeinsamen Mittelpunkt, sondern auch um sich selbst und dabei vielleicht sogar noch wieder ein oder das andere Mal um einen zweiten Stern, vielleicht auch mit diesem zusammen vereinigt, um einen ihnen gemeinsamen Mittelpunkt; indessen da ‚die Sterne seit Jahrtausenden dieselbe Bewegungsrichtung und 1* 4 in dieser dieselbe Lage zu einander haben, oder aber auch zu weit von uns entfernt sind, um ihre Bewegung um sich, be- ziehentlich um andere Sterne noch so ohne Weiteres erkennen zu lassen, und wir uns ausserdem mit unserer Erde, unserer Sonne in der gleichen Weise mitbewegen, erscheinen sie uns ruhend, fix. Erst die sorgfältigsten Beobachtungen, die scharf- sinnigsten Verwertungen des Beobachteten haben diesen Anschein als das, was er ist, kennen gelehrt und Bewegung, ja die ge- waltigste Bewegung, die es überhaupt giebt, auch dort erkennen lassen, wo nur Ruhe zu herrschen schien. - Die Protuberanzen der Sonne erreichen in einer halben Stunde eine Höhe von 3—400000 km (18000, 36000, 63000 Meilen, Young, Trovelot, Fenyi) und Young will selbst eine solche beobachtet haben, welche in derselben kurzen oder auch noch kürzeren Zeit auf 500000 Km und darüber angewachsen ist (76000 Meilen). Nach Fenyi, wie fmir Prof. W. Holtz mitteilt, wachsen manche Protuberanzen, wenn auch nicht zu einer solchen beispiellosen Höhe, so doch mit einer Schnelligkeit von 40 Meilen also 300 km in einer Sekunde an. Ich sitze an meinem Tische und arbeite. Es liegen auf demselben eine Anzahl von Gegenständen umher; warum fallen dieselben nicht herunter? Warum nicht ich selbst durch den Stuhl? Warum vermag ich überhaupt einige Meter hoch über dem festen Erdboden an meinem Tische zu sitzen und zu arbeiten? Weil feste Unterlagen das ermöglichen, der feste Fussboden meiner Stube, der feste Stuhl, auf dem ich sitze, der feste Tisch, auf den ich mich stütze. Allein, was macht diese Körper fest? Nichts Anderes als die "kraftvolle Cohäsion ihrer kleinsten Teile, der Moleküle, welche die Stoffe bilden, aus denen sie gefertigt, in zweckmässiger Weise herausgehauen oder zusammengesetzt sind. Die Cohäsion der Moleküle aber ist nichts weiter, als der Ausfluss der Bewegung, beziehungsweise des Bewegungsdranges, welchen dieselben zu einander haben, des dadurch bedingten Druckes, den sie auf einander ausüben. Je energischer dieser Druck, diese verhaltene Fortbewegung der Moleküle auf ein- ander ist, um so fester ist, wie schon gelegentlich hervorgehoben worden ist, der Körper, welchen sie bilden, und damit denn auch der Widerstand, den er selbst einer anderen Bewegung, einem sich auf ihn, d. h. mehr oder weniger senkrecht auf die Bewegungsrichtung seiner Moleküle, sich bewegenden Körper entgegensetzt. So lange diese letztere, beziehentlich die Grösse derselben geringer ist, als jene und die aus ihr entspringende Bewegungsgrösse, so lange tritt sie, beziehungsweise der durch sie zu Stande gebrachte Körper als Hemmnis derselben, und dann wieder gelegentlich als Stütze, Unterlage, Ruheplatz für den betreffenden Körper auf, so der Tisch und in Sonderheit seine Platte, so der Stuhl, der Fussboden für die darauf befind- lichen, dem Anscheine nach ruhenden, in Wahrheit jedoch fallen- den und in ihrem Falle nur durch sie aufgehaltenen, gehemmten Körper. Ist dagegen die Bewegung des z. B. fallenden Körpers grösser als die, welche den seinen Fall hemmenden Körper, also das jeweilige Hemmnis, die jeweilige Unterlage, bildet, so wird diese überwunden. Die Folge ist, dass das Hemmnis, die Unterlage, bricht, und der zumal auf dieser letzteren schein- bar ruhende Körper seinen lediglich gehemmten, aufgehaltenen, aber nicht aufgehobenen Fall fortsetzt. Die Bewegung, welche das in Betracht kommende Hemmnis, die Unterlage, bedinget, bleibt in den bezüglichen Bruchstücken erhalten. Wie dieselbe aber sich macht, ob die betreffenden, auf einander drängenden Moleküle vibrieren, oscillieren, rotieren, wollen wir nicht erörtern; indessen ruhig können sie sich nicht verhalten, ebensowenig wie die Moleküle der Gase und Flüssigkeiten, welche einen Druck auf die Wände des sie enthaltenden Gefässes und damit wieder auf sich selbst ausüben. Ganz gleich verhält’ es sich auch in den Molekülen der ver- schiedenen Körper oder Stoffe mit den Atomen, welche selbige zusammensetzen. Denn auch die Atome dieser, wenn sie sich auch in bestimmter Lage zu einander befinden und, indem sie in dieser verharren, die verschiedenen Stoffmoleküle und durch diese wieder die verschiedenen Stoffe bedingen, welche wir kennen, liegen nicht ruhig da, sondern sind ebenfalls, wie das auch schon gesagt worden ist, in einer fortwährenden Bewegung. Mag dieselbe auch noch so klein sein, mag sie auch blos einen Drang, Druck darstellen, den die einzelnen Atome auf einander ausüben, da ist sie, da sein muss sie. Wie aber auch sie sich gerade macht, ob eben auch blos als ein einfaches Drängen, ob wieder als ein gleichzeitiges Vibrieren, Oscillieren, Rotieren, wollen wir gleichfalls nicht untersuchen. Allein wie beschaffen ea ee Rain sie immer ist, aus ihr geht die betreffende Molekularbewegung, die betreffende Molarbewegung hervor, wie wir das seiner Zeit auch schon kennen gelernt haben. Einen Beweis dafür liefern insbesondere die Temperaturverhältnisse und die Vorgänge, welche bei Temperaturschwankungen beobachtet werden. Wärme dehnt aus, Kälte zieht zusammen. Durch jene wer- den die Körper, von denen dabei nur die Rede sein kann, grösser, umfangreicher, durch diese kleiner, indem sie an Um- fang abnehmen. Zugleich werden sie im ersten Falle spezifisch leichter, im zweiten spezifisch schwerer. Wie hängt das zu- sammen? Die Atome, die Weltstoffatome, aus welchen die einzelnen Moleküle der verschiedenen Körper gebildet werden, liegen in diesen nicht so dicht zusammen, dass zwischen ihnen nicht immer noch ein Zwischenraum wäre. Ist dieser auch unendlich klein, so muss er doch, da die fraglichen Atome, soweit das zu er- schliessen möglich gewesen ist, nie mit einander verschmelzen, vorhanden sein. Dieser Zwischenraum ist aber nicht leer, son- dern wieder mit Weltstoffatomen, die aber beim Aufbau der Welt als solcher keine eigentliche Verwendung gefunden haben und, gewissermassen als Üperbleibsel, in ihrer Gesammtheit eine jetzt interstellare Masse, den sogenannten Äther oder Lichtäther bilden, erfüllt. Die stoffbildenden Atome wären danach also, wie immer sie auch in Bezug auf einander lägen, drängten und drückten, doch noch jedes von Ätheratomen, den sogenannten Redtenbacher’schen Dynamiden, umgeben, welche zwischen den einzelnen Atomgruppen, den Molekülen, in den Zwischen- räumen derselben am zahlreichsten lägen, und in der Masse der Ätheratome, des Äthers, Lichtäthers selbst, durchsetzt und durch- tränkt von ihm bis in ihre kleinsten Teile, schwämme die Welt, das ganze Weltall mit Allem, was sich in ihm, in und auf seinen einzelnen Welten befindet. Es würde das allerdings dafür sprechen, dass die einzelnen Weltstoffatome nicht gleich sein können, dass daher auch die verschiedenen stoffbildenden Atome verschieden sein müssen, was indessen den gäng und geben An- nahmen bis zu einem gewissen Grade widerstreitet; allein es würde das doch Manches erklären, was sonst unerklärlich er- scheint, wie namentlich die Kant-La Place’sche Ballungstheorie, welche ohne eine Präponderanz gewisser Atome anderen gegen- über undenkbar ist, oder die W. Thomson ’sche Ätherwirbeltheorie zur Frklärung des Wägbaren, welche ohne eine grössere gegen- seitige Anziehung zweier oder mehrerer Atome den übrigen gegenüber, unbegreiflich erscheint. Doch dem sei, wie ihm wolle! Wir halten uns zunächst an die Redtenbacher’sche Dy namidentheorie, nach welcher alle stoffbildenden Atome von Ätheratomen, dem Äther schlechtweg, umgeben sind, weil eine Reihe der für uns wichtigsten Vorgänge in der Welt für sie sprechen und durch sie ihre einfachste und mithin annehmbarste Erklärung finden. Der Äther, in dem das Weltall schwimint, und der Alles, was in ihm ist, durchsetzt, vermittelt die Beziehungen, welche zwischen den einzelnen Welten bestehen, und erklärt die Ab- hängigkeit, in welcher selbst die einzelnen Teile dieser von jenen überhaupt sich befinden. Er vermittelt auch die Wärme, von der wir wissen, dass sie wie der Chemismus, das Licht, die Elektri- zität auf seinen Schwingungen beruht oder auch blos in ihnen besteht. Je stärker die betreffenden Schwingungen, je grösser die entsprechenden Schwingungsbogen sind, um so stärker der etwaige Chemismus, um so stärker das etwaige Licht, um so stärker die entsprechende Elektrizität, um so stärker und damit grösser, höher die entsprechende Wärme. Wenn die Redten- bacher’'schen Dynamiden um die stoffbildenden Atome und namentlich die aus ihnen bestehenden Moleküle stärker schwingen, so müssen sie zuerst die Moleküle auseinander treiben und darum schon den betreffenden Körper umfangreicher machen, vergrössern. Es dehnt sich derselbe aus und auf einen grösseren Raum ver- theilt wird seine Masse specifisch leichter. Je länger und stärker die Redtenbacher’schen Dynamiden schwingen, je höher als Ausdruck davon, wie wir sagen, die Tem- peratur wird, um so mehr nehmen an diesen ihren Schwingungen in den Zwischenräumen der Moleküle auch die in den Zwischen- räumen der die Moleküle bildenden Atome Teil. Die Atome werden auf Grund dessen und dadurch, dass die Zahl der be- sagten Dynamiden von aussen her zunimmt, indem immer mehr Ätherteilchen in die erweiterten Zwischenräume zwischen ihnen eindringen, auch auseinander getrieben. Die Folge davon ist, dass sich auch die Moleküle vergrössern, aber sich zugleich auch lockern, und der aus ihnen bestehende Körper sich noch 2 mehr ausdehnt, spezifisch noch leichter wird. Werden die Schwingungen der Redtenbacher’schen Dynamiden und ihre von aussen eindringende Zahl noch grösser, werden die ersteren noch stärker, ausgiebiger, wird die Wärme immer mehr erhöht, so wird das Molekular-, das Atomgefüge noch lockerer. Die Moleküle fangen an, sich untereinander zu verschieben, bekommen ein anderes Aussehen. Der betreffende Körper wird weicher und weicher, ändert dabei oft seine Farbe: er fängt an zu leuchten, fängt an zu zerfliessen, schmilzt. Steigert sich die Anzahl und Bewegung der Redtenbacher’schen Dynamiden noch weiter, wird die Wärme zu grosser Hitze, so werden die Moleküle aus einander getrieben, erst in Gruppen, dann einzeln: der Körper verdampft, verflüchtigt, wird gasförmig. Endlich werden auch die jeweiligen Atome aus einander gerissen, aller- dings meist nur um sich bald wieder mit anderen zu verbinden, mit denen sie unter den gegebenen Verhältnissen verbunden bleiben können, und der Chemismus, die Atomomechanik, ist damit wieder in vollen Gang gebracht, nachdem er, beziehentlich sie, eine Zeitlang durch atomostatische Zustände, d. i. Atomostasen ersetzt war. Nehmen darauf wieder die Bewegungen der Redten- bacher’schen Dynamiden ab, werden ihre Schwingungsaus- schläge kleiner und kleiner, so kehren auch die verflüchtigten Moleküle, wenn ihre Atome nicht andere Verbindungen einge- gangen sind, nach und nach in den alten Zustand zurück. Sie sammeln sich wieder zu flüssigen Massen, zuerst in Tropfen; die Tropfen, wenn sie nicht vorzeitig erstarren, fliessen zusammen, bilden einen Fluss, d. h. eine fliessende Masse. War bei der voraufgegangenen Verflüssigung der festen Masse eine Farben- veränderung eingetreten, so verliert sich diese wieder allmählich. Die alte Farbe des Körpers kehrt zurück und mit ihr auch seine alte Festigkeit. Indem die Atome seiner Moleküle immer mehr auf einander eindrängen, nähern sie sich soweit, als sie können. Mit ihnen thun das die Produkte ihrer Verbindungen, die Moleküle, selbst. Der bezügliche Körper zieht sich zusammen, sein Umfang wird kleiner und kleiner, sein spezifisches Gewicht dagegen grösser und grösser. Dabei werden die Redten- bacher’schen Dynamiden, die von aussen als blosse Äther- teilchen in ihn eingedrungen waren, wieder ausgestossen, und 2) da sie sich in dem Grade von erhöhten Schwingungen befinden, den sie noch so eben im Innern des sie ausstossenden Körpers hatten, so werden sie als die diesem eigene oder doch wenigstens ‚als eine dieser nahe stehende Wärme empfunden. Darauf beruht, dass Körper, die sich zusammen ziehen, Wärme ausstrahlen, die, welche sich ausdehnen, Wärme aufnehmen, oder, dass beim Übergang der Körper aus einem weniger dichten in einen dichteren Zustand Wärme frei, umgekehrt Wärme gebunden wird. Es ist das um so verständlicher, wenn wir erwägen, dass alle Wärme dem Körper von aussen her zugeführt wird und nicht, mit wenigen scheinbaren Ausnahmen, etwa in dem Körper selbst entsteht, ohne dass ein Anstoss dazu von dorther gegeben wäre. Wir haben bei unserer obigen Darstellung der einschlägigen Verhältnisse keine Rücksicht darauf genommen, weil sie für den beabsichtigten Zweck nicht nöthig erschien. Werfen wir nun noch einmal einen Blick auf das Gesagte, so ergiebt sich, dass die verschiedenen Zustände, namentlich Aggregatzustände, in denen uns die verschiedenen Körper er- scheinen, von den Bewegungsverhältnissen abhängen, welchen ihre kleinsten Teile, ihre Moleküle, ihre Atome, unterstehen. Am lebhaftesten, ausgiebigsten sind diese Bewegungen, wenn die betreffenden Körper gasförmig erscheinen. Sind dieselben flüssig, tropfbar flüssig, so sind die fraglichen Bewegungen, ich will einmal sagen, mittelstark. Am geringfügigsten sind sie, stellen sich die in Betracht kommenden Körper als feste dar. Aber mag ein Körper noch so fest sein, sie fehlen nimmer. Sie können unendlich klein sein, gemeinhin nicht zu bemerken; indessen da sein müssen sie, und auf mannigfache Weise, durch ihre Farbe, ihre Durchsichtigkeit, ihre Anziehungs- und Ab- stossungsfähigkeit, legen die Körper davon auch Zeugnis ab. Das Wasser in seinen verschiedenen Formen als Eis, Schnee, Wasser schlechtweg, als Dampf, Nebel, Dunst und in grosser Hitze als Wasserstoff und Sauerstoff, die bei der Abkühlung, wenn sie inzwischen nicht anderweitige chemische Körper, nament- lich Kohlensäure und Ammoniak oder zusammen kohlensaures Ammoniak gebildet haben, sich wieder zu Wasser verbinden, liefert unter Anderem einen Beleg dafür. Solche geringfügigen Bewegungen, die zu keinen in gewöhnlicher Weise wahrnehm- baren Ortsveränderungen führen, nennt man stehende Be- 10 wegungen. Sie beschränken sich auf ein Drängen, Drücken, Vibrieren, Oscillieren, Rotieren u. dgl. m. Die stärkeren, aus- giebigeren Bewegungen, welche deutlich zu erkennende Orts- veränderungen nach sich ziehen, heissen im Gegensatze dazu tortschreitende Bewegungen. Alle Mechanik, die Atomo- mechanik, d. i. der Chemismus, die Molekularmechanik oder Dynamik im älteren Sinne, die Mechanik im engeren Sinne, haben es mit fortschreitenden, alle Statik, die Atomostatik, die Molekularstatik, die Statik im hergebrachten Sinne mit stehen- den Bewegungen zu thun. Bewegung ist Kraft! Jede Kraft besteht nur in Bewegung. Die fortschreitende Bewegung ist sogenannte lebendige Kraft, motorische, kinetische Energie; die stehende Bewegung ist Spannkraft, Druckkraft, virtuelle, potentielle Energie. Lebendige Kraft und Spannkraft sind darum nicht so sehr verschieden, wie vielfach angenommen wird, als ob sie eine Art Gegensätze zu einander bilden; sondern sie sind nur gradweise von einander verschieden. Die Spannkraft, Druckkraft, beziehentlich die Spannkräfte, Druckkräfte, stellen den niedrigsten Grad von Bewegung dar; in den lebendigen Kräften erreicht die letztere: den höchsten, den es giebt. Wie stehende Bewegung in fort- schreitende, diese wieder in jene übergeführt werden kann, so kann auch Spannkraft in lebendige Kraft, und lebendige Kraft wieder in Spannkraft übergeführt werden. Vermittelt wird das durch die sogenannten auslösenden Kräfte, und zwar je nachdem sie zur Wirkung oder in Wegfall kommen. Diese: auslösenden Kräfte aber sind die Bewegungen, welche von aussen: her auf die jeweiligen Körper, d. h. also aus der Umgebung dieser, auf sie selbst einwirken und die stehende Bewegung in: ihrem Innern so steigern, dass selbige zu einer fortschreitenden: wird, oder aber auch, ist sie eine fortschreitende, so diese derart mässigen, hemmen, dass'sie endlich zu einer stehenden wird. Ein mässiger Luftzug steigert den Verbrennungsprozess, ein starker‘ stört, hemmt ıhn und hebt ihn zuletzt auf. Die fortschreitende Bewegung des Verbrennens wird in die stehende, welche die: Kerze, der Holzspahn, das Öl, das Gas darstellt, verwandelt. In letzter Reihe wirken so nach unseren Auseinandersetzungen: als auslösende Kräfte immer nur die Bewegungen, Schwingungen des Äthers, die anscheinend mit gleicher Geschwindigkeit wellen- a förmig sich durch den Raum sowie Alles, was er enthält, fort- pflanzen. Die kürzesten und darum sich am schnellsten folgenden der betreffenden Wellen bedingen den Chemismus, die in Anbe- tracht ihrer Länge nächst folgenden das Licht, die in Bezug darauf folgenden die Wärme; die längsten und demgemäss sich auch am langsamsten folgenden Ätherwellen sind das Substrat der Elektrizität. Darum finden sich einerseits Chemismus, Wärme Licht und Elektrizität so regelmässig zusammen und gehen selbst _ in einander über; darum aber haben sie auch andererseits die ungeheuren, umwälzenden Wirkungen, welche wir unter ihrem Einfluss, wenn auch zuerst kaum merklich, sich in der Körper- welt vollziehen sehen. Es ist halb und halb modern, die Elektrizität bis zu einem gewissen Grade als die das All beherrschende Grundkraft an- zusehen, die, so zu sagen, elektrische Bewegung als diejenige zu betrachten, aus welcher die anderen genannten Bewegungs- formen erst hervorgehen. Doch hat man auch die Schwere, ohne indessen über ihr Wesen sich weiter Rechenschaft zu geben, als diese Grundkraft betrachtet wissen wollen, zumal weil Wärme und Licht mit Leichtigkeit sich .aus ihr ableiten lassen. Allein sollte man nicht vielmehr von all’ den zu berücksichtigenden Bewegungsformen, die von den kleinsten Bewegungen bis jetzt allein bekannt sind, den Chemismus, die chemische Bewegung, als diejenige bezeichnen dürfen, welche der Urquell aller übrigen ist? Die Schwere entspringt erst aus ihm, beruht auf ihm, wie wir gesehen haben. Auf dem Chemismus, der Atomomechanik, beziehungsweise der chemischen Ausgleichung beruht aber auch das Sichtbar-, Greifbar- und Wägbarwerden des Stoffes; auf der chemischen Ausgeglichenheit, der Atomostatik oder auch Atomostase, beruht die Körperwelt schlechthin. An diese aber ist, was wir Licht und Wärme an sich nennen, nachweislich ge- bunden. Ohne Körper kein Licht, ohne Körper keine Wärme! Und mit der Elektrizität verhält es sich kaum anders. Strahlendes Licht leuchtet nicht;strahlende Wärme wärmt nicht, und strahlende Elektrizität? Nicht die bezüglichen Ätherbewegungen an sich werden als Licht, Wärme, Elektrizität empfunden; erst die Molekularbewegungen, zu denen sie in den Körpern geführt haben, rufen diese Empfindungen in uns hervor. Die chemische Bewegung, der Chemismus, scheint danach die Urkraft, Grund- IRRE EN kraft des Alls zu sein, und jede andere sich erst aus ihm zu entwickeln. Wie von dem Punkte aus, an dem ein Stein in das Wasser geworfen worden ist, sich erst nur kurze, hohe, dann immer länger, aber gleichzeitig flacher werdende Wellen auszu- breiten scheinen, welche langsamer und langsamer dahin zu fliessen den Anschein erwecken, so breiten sich scheinbar auch von dem Orte eines chemischen Vorganges zuerst blos kurze hohe, sich rasch tolgende, dann immer länger, aber niedriger werdende und sich langsamer folgende aus. Die ersten derselben werden als Licht, die letzten als Elektrizität und die zwischen beiden auf und nieder wogenden als Wärme empfunden. Ist der Chemismus, die Atomomechanik, die Grundkraft, welche das All beherrscht, seine Folge, die Atomostatik oder Atomostase die Ursache seiner Sichtbarkeit, Greifbarkeit, Wäg- barkeit, oder auf uns und unseres Gleichen bezogen, der‘ sinn- lichen Wahrnehmbarkeit überhaupt, so ist es nach unseren Aus- einandersetzungen auch die Umwandlung der das All durchwo- genden lebendigen Kraft in Spannkraft, Druckkraft, welche dieses bewerkstellist. Alle Werke der Natur sind nur An- häufungen von Spannkräften in besonderer Form, und die Form wird bedingt durch die Art und Weise, wie die besagte Um- wandlung, welche unter gleichen Verhältnissen immer und immer die gleiche ist, vor sich geht. Man hat schon vor langer Zeit die Steinkohle als umgewandelte Sonnenwärme, als umge- wandeltes Sonnenlicht bezeichnet und hält das auch noch gegen- wärtig für durchaus zutreffend. Mit demselben Recht, jedenfalls in demselben Sinne, kann man jedoch auch alle andern ent- sprechenden Körper der Erde, ja die ganze Erde selbst als umgewandelte Sonnenwärme, umgewandeltes Sonnenlicht ansehen. Durch die Contraction, die Concentration ihrer kleinsten Theile, ihrer Atome, ihrer Moleküle, durch welche die Cohäsion, die gelegentliche Adhäsion derselben bedingt wird, und durch welche sie selbst noch immer zur Sonne gravitiert, von der sie sich einst abgelöst hat, ist sie das geworden, was sie ist. Und stürzt sie einstmals auf Grund ihrer Gravitation wieder in die Sonne hinein, wie das, wenn auch erst nach unendlichen Zeiten und mannigfaltigen Veränderungen, welche sie selbst erst noch durch- zumachen hätte, der Fall sein dürfte, so wird sie wieder in demselben Sinne Sonnenwärme und Sonnenlicht. Endlich wird u... aber auch in Folge der Contraction ihrer Teile die Sonne erkalten, dicht und fest werden. In Folge auch ihrer Gravitation nach dem Mittelpunkte ihrer Bahn, einer etwaigen Centralsonne, wird auch sie wohl einstmals an denselben mit all’ der Grösse ihrer endlichen Bewegung gelangen. Sonne auf Sonne gelangt dann dahin. Dort stürzen sie zusammen und unter der Wucht des gewaltigen Sturzes, unter Umwandlung der sie zusammen- haltenden Kräfte in Wärme und Licht lösen sie sich dabei wieder aufin den Weltenstoff, aus dem sie sich gebildet haben. Das ist dann eine Evolution des Weltalls, beziehentlich des Teiles desselben, dem unsere Sonne, unsere Erde angehört, die Evolution des Milchstrassensystems oder einzelner seiner Teile, die Evolution, welche notwendiger Weise eintreten muss, wenn die gegen- wärtige Involution desselben ihr Maximum erreicht hat. Ein Weltendasein geht damit zu Ende, aber da Ruhe niemals und nirgends vorkommt und vorkommen kann, so beginnt auch gleich wieder eine neue Involution, und eine neue Welt nimmt aus den Trümmern der alten ihren Anfang. Wie viele solcher Welten mögen der unseren, also dem Milchstrassensystem, wie es heute ist, schon voraufgegangen sein? Wie viele werden ihr noch folgen? Die Welt an sich ist nur eine und ist ewig, der Welten sowohl dem Raume wie der Zeit nach aber sind unendlich viele. Jede dieser letzteren hat ihren Anfang gehabt, jede wird ihr Ende haben. Allein der Anfang der einen und das Ende der anderen sind nicht scharf geschieden; während die eine vergeht, entsteht schon wieder die andere. Involution und Evolution sind in unaufhörlicher Wechselwirkung, und daher ist es sehr wohl verständlich, dass während in dem uns erkennbaren Teile der Welt Involution herrscht, in einem anderen Teile’ derselben eine Evolution vor sich geht. Involution ist Einwärtswendung, Verdichtung, Gestaltung, Evolution ist Auswärtswendung, Lockerung, Auflösung. Von dem Vorherrschen des einen vor dem anderen wird die Benennung gebraucht. Herrscht die Involution vor, so heissen wir den Zustand kurzweg Involution, herrscht Evolution vor, so Evolution. So viel Weltkörper, Sternschnuppen, Cometen, Planeten, vielleicht Sonnen sogar in ihm mit anderen bereits zusammengestürzt sein mögen und sich dabei aufgelöst haben, das Milchstrassensystem als Ganzes be- findet sich gegenwärtig im Zustande der Involution, unsere Sonne 14 mit ihren Planeten, wenigstens vom Neptun angefangen bis zu unserer Erde, also mitsammt den sogenannten oberen Planeten, desgleichen. Die Erde mit Allem, was sie erfüllt, ist Produkt .dieser Involution. Auch das Leben, beziehentlich die lebenden Wesen sind als ein solches Produkt zu betrachten. Das Leben ist eine Be- wegung, wie Virchow sagt, eine eigenartige Bewegung, und nur, wo wir diese oder gewisse ihrer Äusserungen gewahren, aber auch überall, wo wir dieselbe gewahren, nehmen wir Leben an und nennen das Wesen, das sie uns zeigt, ein belebtes, lebendes oder lebendiges. Und was für Bewegungen sind das, die wir als Ausdruck des Lebens ansehen? Alle solche, für deren Entstehung wir keinen Grund, keine Ursache erkennen können, welche uns hinreichend erscheinen, um namentlich ihre Grösse zu erklären. Wir betrachten die fraglichen Bewegungen deshalb als den Ausfluss eines besonderen Etwas, das den Wesen, an denen wir sie beobachten, zukommt, das sie von den übrigen Wesen, an denen wir gleiche oder ähnliche Bewegungen nur in Folge der Einwirkung entsprechender äusserer Gewalten auftreten sehen, unterscheidet, und nennen daher dieses Etwas eben Leben. Alle Wesen, welche ein solches Leben zeigen, heissen, wie bereits gesagt, ganz allgemein belebt, lebend; alle welche dessen entbehren, leblos oder, mit Rücksicht auf die scheinbare Ruhe, in der sie ohne äusseren Anlass unabänderlich verharren, tot. Die lebendige Welt unterscheidet sich von der toten dadurch, dass jene scheinbar aus sich selbst, automatisch, sich bewegt, diese nur in Folge äusserer Veranlassung. Nun wissen wir aber, dass der Chemismus und insbesondere wenn er zu Verdichtungen führt, Licht, Wärme, Elektrizität er- zeugt, beziehentlich in sie übergeht, indem die jenen darstellende Atombewegung sich in eine Molekularbewegung fortsetzt. Wir wissen, dass diese in eine molare übergeführt werden kann und dass aus chemischen Vorgängen so mechanische Arbeit zu er- wachsen vermag. Jede der zeitigen Dampfmaschinen, jeder Gasmotor, jede Elektrizitätsmaschine, jede Wind-, jede Wasser- mühle beweist das alle Tage. Je weniger ein Mensch mit diesen Vorgängen bekannt ist, je weniger. er weiss, dass es zuletzt die chemischen Vorgänge und Verdichtungen auf der Sonne sind, in Folge deren unsere Schiffe den Ozean durchziehen, 15 unsere Maschinen die Gebirge durchtunneln, unsere Bauwerke zum Himmel sich erheben können, um so mehr wird er allent- halben Leben sehen. Je besser und in je grösserer Ausdehnung, d. h. je genauer, intensiv wie extensiv, ein Mensch sich dagegen mit den genannten Vorgängen vertraut gemacht hat, um so mehr wird er überall nur Mechanismus erblicken, das Leben selbst sich ihm endlich als eine einfach mechanische Thätigkeit offen- baren. Der Wilde hält, den Mittheilungen fast aller Reisenden zufolge, eine Taschenuhr für ein lebendes Wesen. Als die ersten Eisenbahnen in Deutschland aufkamen, hat manches alte Mütterchen es sich nicht ausreden lassen, dass die Lokomotive auch ein solches lebendes Wesen sei oder doch wenigstens lebende Wesen in sich berge, durch welche sie getrieben würde. Und auf der anderen Seite verkündet du Bois-Reymond die mechanische Weltauffassung und mit ihr natürlich, dass das Leben nichts Anderes als ein blosser mechanischer Vorgang sei. Jeder urtheilt nach dem, was und wie er etwas versteht. Wem der genügende Einblick in das Wesen und Walten der Natur fehlt, der wird leicht überall Leben im hergebrachten Sinne in ihr sehen, ja sie leicht ganz und gar für diesem Leben ent- sprechend belebt halten; wer sich Rechenschaft über jenes Wesen und Walten zu geben im Stande ist, der wird dagegen an Stelle des Lebens in diesem Sinne einfach mechanische Vorgänge er- blicken, die ganze Natur für einen Mechanismus erkennen, der allein durch die atomistischen Vorgänge in ihr in die ent- sprechende Bewegung gesetzt wird. Die Welt, die Natur scheint ihm zwar unbelebt, in des Wortes gewöhnlicher Bedeutung, aber durchaus nicht tot. Überall in ihr herrscht Bewegung; überall schieben in ihr sich die verschiedensten Bewegungsformen durch- einander, wie die sichtbaren Wellen im Wasser, die hörbaren in der Luft, und, da wir rege Bewegung in einer gewissen Mannigfaltigkeit auch Leben nennen, wohl weil das die charak- teristischste Eigenschaft des Begriffes Leben überhaupt ist, so herrscht damit auch Leben, aber freilich in einem andern als dem landläufigen Sinne, für ihn durch die ganze Welt. Die Welt, die Natur ist ihm belebt. Das Leben ist also eine eigenartige Bewegung, bei welcher die Ursachen derselben in keinem Verhältnis zu ihrer nament- lich zeitweise bedeutenden Grösse zu stehen scheinen, die aus- 16 lösenden Kräfte dieser mithin so klein sind, dass selbige als kaum vorhanden, jedenfalls in Bezug auf den Erfolg als gleichgültig erscheinen, und die fragliche Bewegung, Lebensbewegung, somit gleichsam unvermittelt, automatisch, spontan erscheint. Die Grundlage dieser Bewegungbilden wie überall chemische Vorgänge. Atome, Weltstoffatome, drängensich in mannigfaltiger, aber in ıhrer Mamnigfaltigkeit doch immer recht bestimmter Art zu entsprechen- den Molekülen und damit zu’mannigfaltigen, aber in ihrer Mannig- faltigkeit auch wieder recht bestimmten Stoffen zusammen; der das bedingende Chemismus, die entsprechende Atomomechanik, geht in die entsprechende Atomostatik über; eine Involution als. teilweiser Ausdruck der Involution unseres Sonnen-, des Milch- strassensystems, macht sich geltend. Dann erfolgt durch Hin- zutritt anderer Atome, wieder Weltstoffatome, eine Lösung der beregten Moleküle; ihre Atome fahren aus einander; es erfolgt eine Evolution, ebenfalls als örtlich beschränkter Ausdruck der auch im grossen All vorkommenden evolutionistischen Vorgänge, und, kaum dass dieselbe eingetreten ist, bilden sich unter den auseinanderfahrenden Atomen der verschiedenen Stoffmoleküle und den zu ihnen eben erst hinzugetretenen Weltstoffatomen neue Beziehungen aus. Der Chemismus, die Atomomechanik, tritt wieder ein; ihr folgt wieder eine Atomostatik; eine Involution anderer Art, deren Produkte von grösserer Dauer sind, hat Platz gegriffen. Dieser rege Wechsel zwischen Involution und Evolution dürfte aber das sein, was wesentlich das Leben aus- macht. Eingeleitet und unterhalten wird der Wechsel durch den Äther, der sich auch hier als Redtenbacher'sche Dyna- miden in die Zwischenräume zwischen den Molekülen, den Ato- men des lebenden Körpers einschiebt, und als Licht, Wärme, Elektrizität zur Wirkung bringt, und die dabei von aussen her in den Körper eindringenden Weltstoffatome, welche die zur Sprache gebrachte Evolution, wohl nachdem sie sie erst be- schleunigt haben, wieder in eine Involution umwandeln, sind der Hauptsache nach die Combination derselben, welche wir Sauerstoff nennen, der Sauerstoff schlechthin. Die durch den- selben herbeigeführte Oxydation ist demnach vorzugsweise eine Involution, wenn sie vielleicht auch, so zu sagen, um sich zur Geltung zu bringen, die Evolution, welche notwendiger Weise ihr voraufgehen muss, beschleunigt oder gar auch erst hervorruft. 17 Überblicken wir das nun noch einmal im Ganzen, so ergiebt sich: Es drängen unter bestimmten Verhältnissen, Kraftentfal- tungen der Natur, eine Anzahl von Atomen zu bestimmten Be- ziehungen zu einander. Dadurch entsteht zuletzt eine Atomostase, schlechthin chemische Verbindung genannt, welche bestimmte, zusammengesetzte Stoffe darstellt. Durch die Veränderung der Verhältnisse, unter denen das $eschah, namentlich durch An- wachsen des Lichts, der Wärme, der Elektrizität und natürlich auch gewisser Folgen davon, tritt wieder, je nachdem, eine Lockerung der bezüglichen Verbindung, eine Überführung der Atomostase, Atomostatik, in Atomomechanik, der durch jene erzeugten Spannkräfte, Druckkräfte, in lebendige Kräfte ein, und während dessen bilden sich vornehmlich unter dem Hinzu- tritt von Sauerstoff, neue Atombeziehungen, d. h. neue Atomo- stasen, chemische Verbindungen, Stoffe, und mit ihnen Umwand- lungen von lebendiger Kraft in Spannkraft aus. Die neuen Stoffe und die alten Stoffe stossen sich ab. Die alten Stoffe durch die ihnen innewohnende Bewegung reissen aus ihrer Umgebung, welche an ihren Atomen gleichen Atomen mehr oder.minder reich ist, solche an sich, indem sie selbige in die gleiche Bewegung versetzen. Sie ersetzen dadurch, was sie durch Einwirkung zumal des Sauerstoffes auf sie,.also durch Oxydation, vorher verloren hatten und, wenn auch gleich wieder, ja schon während dieses Vorganges neue Oxydationen vor sich gehen, so werden sie doch, wenn diese letzteren nicht in zu aus- giebigem Masse und zu jäh erfolgen, dadurch erhalten, ja selbst in ihrer Masse vermehrt. Die durch die Oxydationen neu ge- bildeten Stoffe sammeln sich zuerst in den grösseren Zwischen- räumen, welche sich zwischen den Bestandteilen der alten finden, bleiben in diesen liegen oder werden endlich aus ihnen, da die besagten Bestandteile einen. Druck auf einander ausüben, aus- gestossen. | Das Vermögen gewisser Atomostasen auf Grund der ihnen innewohnenden stehenden Bewegungen, beziehentlich der ihnen innewohnenden Gesammtbewegung, ihnen gleiche oder wenigstens nahe verwandte Atome ihrer Umgebung heranzuziehen und in ihre eigene, beziehentlich eine dieser sehr ähnliche Bewegung zu ver- setzen, damit ihnen gleiche oder doch ähnliche Atomostasen zu schaffen und sich durch diese gelegentlich zu vermehren, zu den 2 ad 18 durch sie bedingten Molekülen neue, gleichartige in das Dasein zu rufen, dieses Vermögen wird als das Assimilationsvermögen und seine Bethätigung als Assimilation bezeichnet. Das Unter- worfensein dieser Atomostasen, unter dem Einfluss stärkerer Ätherbewegungen, stärkeren Lichts, grösserer Wärme, ver- mehrter Elektrizität und ihrer Folgen, wieder in Atomomechanik, Chemismus, und unter dem Hinzutritt von Sauerstoff in anders- artige Atomostasen, andersartige Moleküle übergehen zu müssen, die von den alten Molekülen und ihren Komplexen abgestossen und endlich ausgestossen werden, das hat man in seinen ver- schiedenen Erscheinungsweisen Sekretion, beziehentlich Ex- kretion genannt. Die Assimilation wie die Sekretion sind Involutionen, welche durch eine Evolution vermittelt werden; die Exkretion hat damit nichts zu thun, sie ist ein mechanischer Vorgang, zu welchem die Sekretion erst Veranlassung giebt. Die Drüsen z. B. secer- nieren; die Ausstossung des Sekrets ist die bezügliche Exkretion. Bei der Excretio alvi handelt es sich um Ausstossung von Massen, die der Hauptsache nach, streng genommen, dem Körper nie angehört haben und nur zum kleinsten Theile Sekrete bei- gemengt enthalten. Aus Assimilation und Sekretion, welche sich so ununterbrochen folgen und deshalb so in einander greifen, dass man nicht sagen kann, wo jene aufhört und diese anfängt, setzt sich der sogenannte Stoffwechsel zusammen. Von dem Gange desselben hängen die Lebenserscheinungen ab. Sie sind gleichmässig, ist er gleichmässig; sie zeigen Schwankungen, Abwegigkeiten, wenn er in entsprechender Weise vor sich geht. Allein wenn auch dieser Stoffwechsel die Grundlage der Lebens- erscheinungen abgiebt, so sind es doch nicht gerade die Assi- milation und Sekretion, durch welche sich jene zu erkennen geben, — denn das sind Involutionen, also Umwandlungen in Spann- kraft, beziehentlich Anhäufungen von Spannkraft —, sondern die zwischen beiden liegenden Evolutionen, die Umwandlungen der vorhandenen Spannkräfte in lebendige Kräfte. Gehen dieselben mehr oder weniger langsam und ganz allmählich vor sich, das eine Mal rascher, das andere Mal langsamer, so wird von den fraglichen Lebenserscheinungen zunächst nur wenig, ja vielleicht gar nichts wahrgenommen werden können; erst nach und nach werden sie sich bemerkbar machen. Sie beschränken sich dann, da nach dem bereits Angeführten die Assimilauon in solchen Verhältnissen das Übergewicht über die Sekretion hat, auf Ver- mehrung, Anhäufung der Assimilationsprodukte. Es findet Bildung neuer Moleküle, Vergrösserung der jeweiligen Molekularkom- plexe, also Grössenzunahme des bezüglichen Stoffes, Körpers statt. Das Wachstum dieses ist vermehrt, der demselben zu Grunde liegende Anbildungsprozess erhöht. Von ihnen beiden aber wissen wir, dass das in sehr verschiedenem Grade sein kann und dass beide sich das eine Mal beschleunigter, das andere Mal weniger beschleunigt vollziehen können. Erfolgen dagegen jene Evolutionen rascher, jäher, dazu vielleicht auch in grösserem Umfange, so gehen die betreffenden Atom- und Molekularbewegungen gemäss der Eingangs gemachten Ausein- andersetzungen in molare über. Es kommt zu fortschreitenden Massenbewegungen, mechanischen Vorgängen im engeren Sinne des Wortes, und das sind eben die, welche wir vorzugsweise als Lebenserscheinungen, Lebensäusserungen ansehen, wenn wir nicht ihre Ursachen in der Umgebung des gerade in Betracht kommenden Körpers gleich zu erkennen vermögen. Das Leben ist eine Erscheinung der allgemeinen Involution des Weltalls, die zwar durch eine sich stetig folgende Reihe von Evolutionen in ihrer Eigenart unterbrochen wird, aber ledig- lich nur, um dann in eine um so stärkere und dauerndere über- zugehen. Seine charakteristischen mechanischen Vorgänge, welche, wie man sagt, von Wärme, Elektrizität, vielfach auch Licht sich begleitet zeigen, in der That aber aus diesen molekularen Vor- gängen erwachsen, sind den entsprechenden Evolutionen in der grossen Welt zu vergleichen: den Lichterscheinungen des St. Elmsfeuers, den Licht- und Wärmeerscheinungen, zündenden Blitzen mit gleichzeitigen oder unmittelbar nachfolgenden ander- weitigen Elektrizitätsäusserungen in unserer Atmosphäre bei Verdichtungen von Wasserdunst zu Nebel, Regen, Schnee, Hagel, Schlossen, dem Aufleuchten und Verpuffen der sogenannten Sternschnuppen in derselben, dem Heller-, Lichterwerden, Sich- aufblähen, Teilen der Kometen in der Sonnennähe, dem Auf- flammen von bis dahin matten oder noch nicht gesehenen Sterner bei einem mutmasslichen Zusammenstoss derselben u. s. w. Es klingt das vielleicht sonderbar, ja vielleicht hier gar richt hergehörig, ist aber doch zum Verständnis dessen, was wir 28 Leben nennen, und der Beziehungen desselben zu anderen Vor- gängen in der Welt nicht‘ ohne Belang. Man vergegenwärtige sich immer: Das Leben stammt aus dem grossen All; die Lebens- bewegung ist nur eine Sonderbewegung in der grossen Allbe- wegung; auch das edelste Leben hat sich nur aus der Atom- bewegung des Alls gebildet, aus der die Sonne, die Planeten und mit ihnen die Erde hervorgegangen ist. . Man erinnere sich, dass vom Menschen es heisst: Von Erde bist du genommen, zu Erde sollst du wieder werden, und wir finden es bestätigt. Was die Erde beherrscht, beherrscht auch die lebenden Wesen, und auf der Erde vollzieht sich nichts, was nicht im grossen All, wenn auch in anderer Form, seinen Vollzug hätte. | Man hat gesagt — ich will etwas vorgreifen —: Das Leben ist an das Organische gebunden, so als ob dieses das erste und jenes «das zweite wäre. Würde es indessen nicht vielleicht richtiger sein zu sagen: Das Leben, wenn wir es nun einmal doch nur als eine eigenartige, räumlich beschränkte Bewegung des Alls anerkennen können, bringt das Organische hervor, be- ziehungsweise macht den Stoff zu etwas Organischem? Die eigenartige Bewegung ist nicht Leistung des Organischen, sondern das Organische ist sinnlicher Ausdruck dieser Bewegung. Eine fortschreitende Bewegung des Weltenstoffs,. der Atome, .die be- zügliche Atomomechanik, der bezügliche Chemismus, ist das Erste; die daraus hervorgegangenen sogenannten chemischen Verbindungen, die bezüglichen Atomostasen, die bezügliche. Atomostatik selbst, die Masse stehender Bewegung, welche die Atome greifbar, sichtbar, wägbar macht, das Zweite. In diesem Sichtbaren, Greifbaren, Wägbaren vollziehen sich allerdings dann, für uns allein bemerkbar, die fraglichen Bewegungen in der oben geschilderten charakteristischen Weise; aber immer ist der durch seine Sichtbarkeit, Greifbarkeit, Wägbarkeit sinn- lich wahrnehmbare Körper nur der Träger dieser Bewegung, beziehentlich der Vermittler dafür, dass sie in gröberer und darum für uns deutlicher Weise in dynamischen und mecha- nischen Vorgängen sich zur Erscheinung bringt, nie jedoch ihre Ursache. | Übrigens giebt es eine Menge von organischen Wesen, Organismen, welche zu Zeiten kein Leben zeigen, deshalb für schon leblos, tot, also nicht mehr für organisch im Gegensatz zum Unorganıschen gehalten werden, bis mit einem Male sich dieses Leben wieder zu regen, zu bewegen anfängt. Zu diesen Wesen gehören so ziemlich alle Pflanzen der kalten und kälteren Zonen während des Winters, und nur die Erfahrung, dass sie mit erwachendem Frühling sich wieder belebt zeigen werden, lässt ihren winterlichen Zustand anders beurteilen. Umgekehrt verhält es sich mit vielen Pflanzen der wärmeren und warmen Zonen, namentlich der Wüsten und Steppen der östlichen, der Pampas, Llanos, Prairien der westlichen Halbkugel. In der regenlosen Jahreszeit erscheinen sie verdorrt, tot, aus dem leicht zerstäubenden Boden herausgerissen, ein Spiel der Winde; wenn aber dann die kühlere, regenreiche Zeit folgt, so frischen sie sich wieder auf und ergrünen zu neuem Leben. Die soge- nannte Mannaflechte, die Sphaerothallia esculenta, die bekannte Rose von Jericho, die Anastatica hierochuntica, mögen als be- sonders bemerkbare Zeugnisse dafür angeführt werden. Nur die Erfahrung, dass das sein werde, wenn die fraglichen Pflanzen in der heissen Zeit noch so trocken, noch so dürr, wie todt, also dem Unorganischen gleich aussehen, lässt auch ihren Zustand demgemäss beurtheilen. : Und doch welche Täuschungen kommen dabei vor!? Ferner gehören zu diesen Wesen die keimungs- fähigen Samen der Pflanzen, welcher Art sie auch sein mögen, die jahrelang, wie wir von den aus ägyptischen Mumiensärgen ‚stammenden wissen, Jahrtausende lang ihre Keimkraft bewahren können, inzwischen wie tot aussehen und, was namentlich die letzteren anlangt, auch dafür lange galten. Alle Eier von Tieren, namentlich von Gliedertieren und Würmern, welche sich Wochen und Monate hindurch in eisiger Winterskälte und sengender Sommershitze, in sonst Alles austrocknender Dürre oder zer- weichender Nässe entwickelungsfähig erhalten, sind andere Gruppen dieser Wesen. Selbst ausgebildete und zum Teil hoch entwickelte Tiere kommen sodann unter ihnen vor. Es giebt ihrer solche, welche vollständig gefrieren, welche voll- ständig, ich möchte sagen, gebacken werden können, in diesem Zustande spröde und zerbrechlich sind und nichtsdestoweniger wieder zu einem Leben zu gelangen vermögen, welches dem vollständig gleich ist, das sie vordem besassen. Verschiedene Krebse, namentlich Copepoden, verschiedene Spinnen, wie Hydrachniden, Tardigraden, verschiedene Würmer, vorzugsweise 22 f Gordiaceen, Anguillulideen, liefern dafür die meisten Belege. Im Jahre 1856 sammelte ich mit Prof. Münter im Anfang des Monats Juli ein Phleum Böhmeri mit monströsen Fruchtknoten. Das sehr nasse Wetter des ganzen Sommers liess die für das Herbarium bestimmten Pflanzen nicht zur Trockenheit kommen. Um diese letztere dennoch zu erzielen, wurden die betreffenden Pflanzen in einen Trockenofen gebracht, der immer doch mit einer Wärme von einigen 50° C. und darüber auf sie wirken mochte. Die Pflanzen wurden denn auch vollkommen trocken in ihm, ja selbst spröde. Im November oder December des- selben Jahres wurden gelegentlich die monströsen Fruchtknoten untersucht. In jedem derselben befand sich ein kleines Würmchen, das leicht zerbrach und zu Staub zerrieben werden konnte. In einem Tropfen Wasser unter das Mikroskop gebracht, zeigte es aber sehr bald lebhafte Bewegungen, und ich erinnere mich noch sehr wohl der grossen Verwunderung, welche ich darüber empfand, dass ein unter meinen Augen gedörrtes Tier, nachdem es wenigstens fünf Monate tot dagelegen zu haben schien, sich wieder zu neuem Leben erhob. Wir wissen, dass in allen diesen Fällen nicht neues Leben in die betreffenden Wesen hineinfährt, dass sie nicht zu neuem Leben erwachen, sondern dass ihr noch immer vorhandenes nur so ausserordentlich schwach und geringfügig war, dass wir es nicht an irgend welchen Äusserungen wahrzunehmen vermochten. Sein Bestand war für uns verborgen; es war latent. In der That bezeichnet man denn auch ein Leben, das sich durch längere Zeit für uns nicht äussert, durch einen Scheintod, so zu sagen, vertreten wird, als ein latentes. Die Wesen, welche nach mehreren Jahren noch ein Leben besitzen, nur dass es bis dahin latent war, erscheinen uns starr. Sie erscheinen uns da- mit wie leblos, tot, der Welt des Unorganischen anheimgefällen. Denn die Form an sich macht ja nicht das Organische aus, sondern lediglich die Art und Weise, in welcher sie auf uns wirkt, d. h. sich äussert, bethätigt. Wir unterscheiden dem oben Erörterten gemäss vorzugsweise eine Starrheit aus Kälte, die Kältestarre, und eine Starrheit aus Wärme, die Wärmestarre. Wir unterscheiden zwar neben dieser und jener Starre auch noch insbesondere eine Totenstarre, die Starr- heit, welche in Folge des Todes eintreten soll; allein das Jetztere ist nicht ganz richtig. Die Totenstarre tritt nicht ın Folge des Todes, sondern des Ablebens, des Absterbens, ein. Sie ist die letzte Lebensäusserung, an die sich der Tod der Regel nach anschliesst, indessen nicht gerade anschliessen muss. Auch aus der Totenstarre kann eine Rückkehr zu voller Lebensäusserung noch erfolgen, wenn auch wohl kaum in so zahlreichen Fällen, wie die Erzählungen vom Wiedererwaechen aus dem Scheintode "glaubhaft machen wollen. Was bedingt nun die fragliche Starre? Doch nichts Anderes als die Starrheit des bezüglichen Mole- kulargefüges auf Grund einer sehr weit gediehenen Atomostase, einer sehr starken Concentration beziehentlich Contraction der betreffenden Atome um einen bestimmten Punkt. Dass die Kälte zu einer solchen führt, haben wir schon erfahren; dass es auch die Wärme vermögen soll, die sonst das Gegenteil bewirkt, ist für uns neu. Allein wir brauchen uns blos zu denken, dass die Wärme die allen lebenden Wesen innewohnende Feuchtigkeit austreibt, un das dennoch ganz 'begreiflich zu finden. Denn ’ı. vertreibt sie die sogenannte interstitielle, intermolekulare Flüssig- keit, wodurch wenigstens die Moleküle zusammenrücken und deshalb urbeweglicher werden müssen, und 2. zerstört sie auch die in den Molekülen selbst vorhandene, welche eine Art von Constitutionswasser darstellt und da sein muss, damit der bereits erwähnte Stoffwechsel vor sich gehen kann, indem durch diese Flüssigkeit die zu demselben erforderlichen Bestandteile den einzelnen Atomen nahe gebracht und die durch denselben erst hervorgegangenen Körper aus ihrer Nähe wieder entfernt werden können; es müssen aber dadurch auch die Atome noch zusammen rücken und ebenfalls in ihrer Beweglichkeit beeinträchtigt werden, und das Ganze muss sich mithin noch mehr verdichten, muss noch unbeweglicher werden, mehr oder weniger erstarren. Was Kälte, was Wärme in verhältnismässig hohem Grade vermögen, die Lebensthätigkeit latent zu machen, indem sie’dieselbe hemmen, die durch sie zum Ausdruck gebrachte lebendige Kraft in Spann- kraft umwandeln, das vermögen auch alle sonstigen gleich- wertigen Momente: das Licht, die Elektrizität, die entsprechenden mechanischen Vorgänge, Druck, Stoss. Jede stärkere, jede starke Krafteinwirkung, oder, wie wir in Bezug auf organische Körper sagen, jede stärkere, jede starke Reizung, beziehentlich jeder stärkere oder starke Reiz, hat eine Hemmung der Lebensthätig- keit zur Folge. Wir werden hierauf später zurückkommen. 24 In Anbetracht nun all’ dessen lässt sich doch wohl nicht so ohne Weiteres behaupten, das Leben sei an das Organische ge- bunden, gleichsam einen Ausfluss desselben darstellend. Das latente Leben ist eigentlich kein Leben mehr, ebenso wenig wie die latente Wärme noch Wärme, wenigstens im gewöhnlichen Sinne des Wortes, ist. Das latente Leben wird darum auch .oft, und um so häufiger, je länger seine Latenz dauert, für ein schon erloschenes gehalten. Es ist nur noch, ich möchte sagen, die Möglichkeit zum Leben. Es ist nur noch ein potentielles, ein virtuelles Leben, und der Körper, in welchem es steckt, ist ab- gesehen von der Form, eigentlich kein Organischer mehr; uns fehlt das Kriterium dafür; er nimmt vielmehr eine Mittelstellung zwischen Organischem und Unorganischem ein und wird un- zweifelhaft zu letzterem, wenn sein latentes Leben sich nicht zu | einem aktiven, effektiven erhebt. Damit es sich aber zu einem solchen erhebe, bedarf es der Zufuhr von Reizen, durch welche die es bindenden Reize in ihrer Wirkung gemässigt, gehoben, oder auch durch welche gewisse, es noch unterhaltende Reize so verstärkt werden, dass andere, es niederhaltende dadurch überwunden werden. Es ergiebt sich hieraus, dass, wenn auch nach unseren Erfahrungen das Leben an das Organische ge- bunden erscheint, es doch noch durchaus nicht an dasselbe ge- bunden zu sein braucht. Das aktive, effektive Leben scheint allerdings immer nur mittelst desselben uns zur Wahrnehmung zu kommen; das latente jedoch, warum sollte es sich nicht auch in Atomverbindungen, Molekularkomplexen finden, die als organisch in der herkömmlichen Bedeutung noch nicht bezeichnet werden können? — Wenn das Leben nur eine von der grossen Allbe- wegung räumlich und zeitlich ausgesonderte ist und in dieselbe wieder zurückkehrt und zwar allmählich, — die Totenstarre ist der Ausdruck dieses allmählichen Überganges —, so ist es doch auch mehr als wahrscheinlich, dass sie sich nur allmählich aus der grossen Allbewegung ausgesondert hat und in Stoffen und Körpern anwesend sein muss, welche noch nicht organisch genannt werden können, aber die Möglichkeit besitzen, es zu werden, welche gewissermassen eine Mittelstellung zwischen dem Organischen und Unorganischen, dem Belebten und Unbelebten oder Leblosen, Toten, einnehmen. Die Angelegenheit ist hinsichtlich der Frage: Was ist Leben, 25 wie äussert sich Leben und welchen Gesetzen zeigt es sich unterthan? von grösserem Belang als es im ersten Augenblick scheinen dürfte. Sie hängt in Anbetracht dieser Frage auch auf das Innigste mit der nach der Generatio aequivoca oder Abio- genesis zusammen, über welche zwar wiederholt ein Anathema sit ausgesprochen, deren Nicht-Vorhandensein auch in der Gegen- wart indessen nicht im Geringsten erwiesen worden ist. Männer wie Charlton Bastian, Huizinga sind erst in den letzten Jahr- zehnten noch für sie eingetreten, und ich kann nicht einsehen, warum sie nicht noch vorhanden sein soll. Ich will sie nicht behaup- ten, denn ich habe keine Unterlagen dafür; allein alle, die sie ab- leugnen und behaupten: Omne vivum nisi ex ovo, haben ebenso wenig Unterlagen hierfür. Behauptung steht da gegen Behauptung. Aller Stützen entbehrt keine. Die Neigung und der Geschmack der Behauptenden entscheidet allein, zu welcher sie sich selbst bekennen und welche sie stützen wollen. Endgültig beweisen jedoch kann weder der eine noch der andere, was er behauptet. Als das Organische, beziehungsweise als die Grundlage alles Organischen gilt heut zu Tage das von Hugo v. Mohl ım Jahre 1846 in seiner wahren Bedeutung zuerst erkannte Proto- plasma, das heute auch vielfach Bioplasma genannt wird. Es ist das eine sehr zusammengesetzte chemische Verbindung, welche der Hauptsache nach aus Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Sauer- stoff besteht, etwas Schwefel und Phosphor, gelegentlich aber auch noch manche andere Stoffe enthält. Vornehmlich durch den letztgenannten Umstand wird sie in ihrer Zusammensetzung mehr oder weniger abgeändert, zeigt sich in Folge dessen auch in ihrem sonstigen Verhalten mehr oder weniger andersartig; büsst aber niemals wesentlich an ihrem eigentlichen, ihrem Haupt- charakter ein. Das Protoplasma erscheint bei genügender, etwa 1000 maliger Vergrösserung als eine glasig helle, stark lichtbrechende, in ihrem Zusammenhange leichter oder schwerer verschiebbare und darum mehr dünn- oder mehr dickflüssige Masse. Man kann dieselbe schlechtweg als zähflüssig bezeichnen. Da sie bei nachlassendem Druck, durch welchen sie auseinander _ getrieben worden, leicht wieder in die alte oder doch eine dieser ähnliche Form zurückkehrt, so erweist sie sich auch als elastisch, und man kann sie deshalb auch zäh-elastisch oder elastisch-zäh nennen. Dabei ist sie contractil, d. h. sie zieht sich auf Reize, welche sie treffen, zusammen und dehnt sich, kommen dieselben in Wegfall, wieder aus. Es gilt das für ihre charakteristischste Eigenschaft; es ist dieselbe aber wohl kaum etwas Anderes, als die sehr gesteigerte, namentlich in Betreff der Schnelligkeit ihres Vollzuges gesteigerte entsprechende Eigenschaft aller übrigen Körper, auf gewisse Kraftwirkungen hin sich zusammen zu ziehen und nach Aufhören derselben wieder auszudehnen. Die gedachte Contractilität kann wie alle Eigenschaften des Protoplasmas sehr verschieden sein. Sie kann sehr auffällig, sie kann nur schwer zu erkennen sein; aber vermisst wird sie im aktiven Leben wohl niemals! Sie vermittelt den das Leben ausmachenden Chemismus mit den mechanischen Vorgängen, welche wir als bezeichnend für jenes ansehen. Bei genauerer Besichtigung erscheint die Masse des Proto- plasmas wie aus bald mehr geraden, bald mehr gewundenen, einen mannigfachen Verlauf einhaltenden Fäden zusammengesetzt. Die Fäden, an welche die Contractilität gebunden erscheint, werden einesteils durch Spalten, Risse, Klüfte auseinander ge- halten und stehen andernteils vielfach mit kleinen, eben erst sichtbar werdenden, aber auch eine Grösse von I , d. i. 0,001 Mmtr. im Durchmesser besitzenden, recht verschieden gestalteten Körnchen in Verbindung. Die die Fäden trennenden Spalten, Risse und Klüfte sind mit einer Flüssigkeit erfüllt, welche wohl das Material enthält, das der Ernährung der Fäden und Körnchen erst noch dienen soll oder auch bereits gedient hat. Die Fäden selbst würden so, wenigstens grossen Teils und insoweit sie nicht durch andere Verhältnisse vorgebildet worden, nur dadurch entstehen und entstanden sein, dass die einst mehr homogene Masse durch Aufnahme von Ernährungsmaterial, Ausscheidung von Ver- brauchsmaterial von Lücken durchsetzt wurde, welche sich nach- her zu Spalten, Rissen und Klüften verbanden. Es wäre damit dann aber auch ein Kanalsystem zu Stande gekommen, in welchem sich die erwähnten Materialien bewegten, das schliesslich die ganze Protoplasmamasse durchzöge und sie in das Fadennetz um- wandelte, als welches es vornehmlich von einem gewissen Alter ab erscheint. Die erwähnten Körnchen sitzen in den Knotenpunkten sich anscheinend kreuzender Fäden. Sie sind deshalb auch vielfach 27 lediglich als der Ausdruck der blossen Kreuzung dieser letzeren angesehen worden und werden auch noch vielfach dafür weiter an- gesehen. Die Körnchen sitzen aber auch im Zuge der Fäden selbst und zwar wie in sie eingebettet, manchmal auch so, als ob sie ihnen blos anhafteten, einfach anklebten oder auch mit einem Stiele auf- sässen, und in einigen Gebilden scheinen sie sogar blos lose neben ihnen und damit zwischen ihnen zu liegen. Dass es wirklich frei zwischen den Fäden, also in den besprochenen, dem Ernährungs- material dienenden Kanälen liegende Körnchen giebt, erliegt kaum noch einem Zweifel. Indessen dieselben dürften vielfach dem Er- nährungsmaterial allein zugehören, und sind durchaus von den in Rede stehenden getrennt zu halten. Diese letzteren, in ihrem Vorhandensein am entschiedensten von M. Schultze, danach von Boll, mir und neuestens von Altmann behauptet, im Allge- meinen indess durchaus bestritten, sind meiner Meinung nach Bläschen oder Kapseln, da sich an ihnen ein Inhalt und eine diesen umschliessende Hülle unterscheiden lassen. Von den Pathologen sind mir diese Körnchen vielfach als Kokken, Bakte- rien gezeigt worden, und ich erinnere mich noch sehr wohl, wie ein eifriger Kokken- und Bakterienforscher vor Jahren in einem entzündeten Knorpel die in denselben hinein wachsenden Gefäss- sprossen sowie an dem z. T. in lebhafter Cellulation begriffenen Inhalte der bezüglichen Knorpelkapseln, welche beide, wie alles jugendliche Protoplasma, sehr reich an den besagten Körnchen waren, als massenhafte Einwanderungen und Ansiedelungen von Kokken in dem Knorpel nachzuweisen suchte. Die Pathologen haben diese Körnchen im Allgemeinen immer als Körnchen auf- gefasst, wenn sie dieselben auch zumeist als etwas dem Proto- plasma an sich nicht Zukommendes, ihm Fremdartiges, erachteten, sie eben für eingewanderte Kokken oder Bakterien erklärten. Die Physiologen dagegen, und unter diesen in Sonderheit die für gewöhnlich nur normale Gewebe untersuchenden Histiologen haben, wie schon gesagt, dieselben blos für Kreuzungs- oder ' Knotenpunkte der sich mannigfach verflechtenden Fäden ange- sehen, bis sie in der neuesten Zeit durch ihr Chromatin, das körnchenartig in den Fäden liegt, oder diesen anhängt, ihnen als Körnchen bis zu einem gewissen Grade doch auch gerecht geworden sind. Die fraglichen Körnchen besitzen in der Regel eine grosse 28 Anziehungskraft für Farbstoffe, während den Fäden eine solche nur in beschränktem Masse zukommt. Manche Körnchen scheinen manche Farbstoffe ganz besonders gern aufzunehmen, und au- deren gegenüber sich mehr indifferent zu verhalten, und, da etwas Gleiches bei den Kokken und Bakterien vorkommt, scheinen die Pathalogen sie gerade darauf hin für Kokken und Bakterien erklärt zu haben. Die Form der Körnchen ist, wie schon erwähnt, eine sehr verschiedene. Sie ist rundlich, eckig, eiförmig, -birnförmig, keulenförmig. Ihr Inhalt, beziehentlich Inhaltskörperchen, zeigt sich ebenfalls recht mannigfaltig. Meist sieht es schwärzlich aus, bald mehr mit einem Stich in das ein- fach Graue, bald mehr mit einem solchen in das Braune. Es kann aber auch anders gefärbt sein und rötlich, grünlich, gelb- lich erscheinen. Manchmal ist es das Licht doppelt brechend. Die Körnchen liegen in der übrigen Masse des Protoplasmas, welche herkömmlich ziemlich allgemein Grundsubstanz desselben geheissen wird, einzeln oder zu mehreren, in dichteren oder loseren Gruppen. Dieselben erscheinen als Reihen, kleinen Perlenschnüren vergleichbar, oder als kleinere oder grössere Häufchen, drusenartigen Gebilden nicht unähnlich. Wo die Körnchen dichter zusammenliegen, ist die Grundsubstanz an und. für sich auch dichter: sie ist glänzender und nimmt die Farb- stoffe leichter und in grösserer Menge auf, als wo jene weniger dicht an einander liegen. Die Körnchen sind häufig und nament- lich da, wo sie mehr vereinzelt liegen, in lebhafter, vibrierender, oscillierender oder auch selbst fortschreitender Bewegung, wie insbesondere bei Pflanzen. Die Bewegung pflegt um so aus- giebiger und darum deutlicher zu sein, je weniger Widerstand ihr von Seiten der Grundsubstanz entgegengesetzt wird, also je weniger dicht, je flüssiger, je zerfliesslicher sie ist. Zerfliesst sie einmal wirklich, werden die Körnchen dabei frei, so schwir- ren dieselben auseinander. Unter vibrierenden, oscillierenden, rotierenden Bewegungen tanzen sie unter einander herum, fahren ° plötzlich in weiten Bogen durch einander, nähern sich, stossen sich ab, nähern sich wieder, stossen sich wieder ab, bis sie mit einem Male zusammenschiessen und sich zu eigentlichen Gruppen verbinden, was Brücke an.den Körnchen der Speichelkörperchen schon vor Jahren gesehen und von Impulsen abhängig gemacht hat, welche möglicher Weise von den Körnchen selbst oder ihrer 29 Umgebung ausgingen. Reste der ehemaligen Grundsubstanz, in die sie eingebettet waren, scheinen sie in diesen Gruppen zu- sammen zu halten, mit einander zu verkleben. Die bezüglichen Gruppen bestehen aus 3—4, auch 5—6 oder noch mehr der beschriebenen Körnchen, sind drusenartig, oder fadenförmig, schnurartig, Öfter verzweigt, kurz im grossen Ganzen in ihrem Wesen durchaus ähnlich den in noch wohler- haltener Grundsubstanz gelegenen. Die fraglichen Körnchen erweisen sich danach als eine Art selbstständiger Lebewesen, lassen sich jedenfalls nicht ohne Weiteres von gewissen solcher unterscheiden. Sie gleichen Kokken und Bakterien und unter ihnen günstigen Verhältnissen, passendem Nährboden, gehöriger Wärme, scheinen sie in solche geradezu überzugehen. Sie ver- grössern sich, teilen sich, vermehren sich damit und gemäss der Verhältnisse, unter denen das geschieht, in sehr verschie- dener Weise. Sıe werden zu Monokokken, Diplokokken, Torula- und Zoologlöa-Formen derselben, zu Bakterien, Bacillen, Bakte- ridien und den verschiedenen Formen, unter welchen dieselben überhaupt vorkommen. Es ist das, wie es A. Bechamp seiner Zeit beschrieben und v. Nencky bis zu einem gewissen Grade als richtig anerkannt hat. Ich habe darüber schon im Jahre 1880 in Virchow’s Archiv für pathol. Anatomie und Physiologie und für klin. Med. eine Reihe von Aufsätzen veröffentlicht. Allein ‘dieselben haben nur wenig Beachtung gefunden: und sind jetzt wohl ganz vergessen. Die darin entwickelten Ansichten entfern- ten sich zu sehr von den gemeingültigen und schienen in keiner Weise mit denselben in Einklang gebracht werden zu können. Zudem war die breite Entwickelung, welche die Bakteriologie unter R. Koch genommen hatte, diesen Ansichten nichts weniger als günstig. Diese Ansichten waren ein Ausfluss Darwin- Haeckel’scher Lehren. Sie stützten sich auf Anschauungen, welche in das Gebiet der Transmutationstheorie schlagen, und Herr Koch wie seine ganze Schule huldigt wenigstens in der Bakteriologie der Stabilitätstheorie. Die Species ist für ıhn und die Seinigen ständig und wenigstens als solche auch unverän- derlich. Ein Kokkus zeugt immer nur denselben Kokkus, ein Bakterium giebt immer nur demselben Bakterium das Dasein. Es ist das bisher wenig oder gar nicht beachtet worden; aus ihm aber erklärt sich gar Manches. Ist die Transmutations- 30 theorie ıudessen überhaupt richtig, so muss sie es auch für die Bakteriologie sein; die Stabilitätstheorie aber ist unter allen Umständen unhaltbar. Und hieran leidend werden die Kochschen Theorien sich wohl noch manche Einschränkurgen gefallen lassen müssen. Ganz zu Grunde gehen werden sie wohl kaum, wie von manchen Seiten erwartet wird. Die Kokken, die Bakterien, welche hier in Frage kommen, sind nun einmal da und entfalten erwiesener Massen ihre unheilvolle Wirkung bei Menschen, Tieren, Pflanzen, in welche sie geraten sind; allein kaum werden sie, namentlich in ärztlicher Beziehung, in Anbetracht der Heilkunde und Heilkunst, die Bedeutung, den Wert behalten, den man ihnen gegenwärtig zuschreibt, und den man in noch höherem Masse von ihnen für die Zukunft erhofft. Die Ptomaine, durch welche die eingewanderten Kokken und Bakterien den betreffenden Organismen schaden sollen und, wie nachgewiesen ist, auch wirklich schaden, stammen in vielen Fällen ursprünglich wohl ganz wo anders her. Einfach chemische Vorgänge bei der Fäulnis, der Zersetzung organischer Körper unter besonderen Verhältnissen dürften ihnen gar oft allein den Ursprung geben. Wo sie aber vorhanden sind, werden geeignete biegsame Körper sich an sie gewöhnen, sich den durch sie ver- änderten Lebensbedingungen, wie es heisst, anpassen, sich damit selbst verändern und Träger, Fortpflanzer, ja Bereiter jener Ptomaine werden. Sie werden danach als solche verharren so lange, als die Bedingungen fortwirken, unter denen sie wurden. Fallen diese jedoch weg, so werden auch die durch sie er- haltenen Eigenschaften hinfällig werden und verschwinden. Die betreffenden Körper arten dann aus, passen sich wieder den veränderten Verhältnissen an, oder, sind sie dazu nicht im Stande, gehen zu Grunde. Buchner fand, dass bei lang fortgesetzter geeigneter Züch- tung des Milzbrandbacillus die Infectionsfähigkeit desselben all- mählich abnahm, bei der 36. Züchtung schon stark veringert und nach einem halben Jahre vollständig erloschen war, ferner dass die Bacillen dabei sich auch sonst stark verändert hatten und dem natürlich vorkommenden unschuldigen Heubacillus ähn- lich geworden waren. Auf der anderen Seite fand er aber auch, dass Heubacillen durch Züchtung in arteriell gehaltenem Blute Formen bildeten, welche zwar noch nicht wie gewöhnliche al Milzbrandbacillen sich verhielten, indessen doch, in grösserer Menge Tieren beigebracht, bei diesen eine Art langsam ent- stehenden Milzbrandes hervorriefen. Impfungen mit den dann in dem betreffenden Tierkörper gewucherten Bacillen brachten jedoch schon in kleinen Mengen geimpft den gewöhnlichen Milz- brand zur Erscheinung. Es sind diese Angaben freilich vielfach bestritten worden; sie sollten auf Täuschung beruhen; allein merkwürdig ist doch, dass Pasteur und nach ihm auch R. Koch selbst gefunden haben, dass, wenn Milzbrandbacillen bei einer Temperatur von 42— 43°C. in neu- tralisirter Bouillon gezüchtet werden, sie zwar Milzbrandbacillen bleiben, d. h. ihre morphologischen und gewisse andere Eigen- schaften beibehalten, dass sie indessen allmählich ihre Giftigkeit verlieren und schon nach einigen Wochen sich als ganz unschäd- lich erweisen. Von W. Löwenthal ist sodann mitgeteilt worden, dass Cholerabakterien in Bouillon oder Pepton-Gelatine gezüchtet, ebenfalls rasch ihre Giftigkeit verlieren, dass sie dieselbe jedoch gleichfalls bald wiederbekommen, wenn sie unter den Einfluss von Pankreassubstanz oder auch blos Pankreatin gebracht werden Löwenthal hat daraus gefolgert, dass das Pankreatin bei der Cholera eine grosse Rolle spiele. Besonders von Hüppe ist ihm dieses letztere als ein Irrtum nachgewiesen worden; allein darin, dass die Cholerabakterien ihre Giftigkeit verlieren und wiederbekommen können, je nachdem ihr Nährboden wechselt, scheint er doch Recht behalten zu haben. Unter dem Einfluss der verschiedenen Ptomaine nun, welche von Brieger bekanntlich mit vielem Glück künstlich dargestellt worden sind, so dass obiger ‘Ausspruch über ihre Entstehung und ihr Herkommen wohl gethan werden konnte, gehen aus den überlebenden Protoplasmakörnchen der bezüglichen Cadaver die entsprechenden Ptomaine tragenden und bereitenden Kokken und Bakterien. hervor. Unter ihrem Einfluss, und dabei ist zu erwägen, dass es auch flüchtige Ptomaine giebt, dass feste ver- flüchtigen können und dass, da die meisten Ptomaine wohl die letztgenannte Eigenschaft besitzen, sie auch durch den Atmungs- prozess in andere lebende Organismen gelangen können, gehen dann in diesen, zumal wenn ihre Widerstandsfähigkeit gering ist, aus den Protoplasmakörnchen ihres eigenen Körpers die Kokken und Bakterien hervor, welche unter bestimmten Ver- hältnissen in ihnen gefunden werden. Die Kokken und Bakterien, welche wir gelegentlich in lebenden Wesen antreffen, brauchen deshalb gar nicht von aussen in sie hineingekommen zu sein; sie können es; allein nötig ist es durchaus nicht. Sie können sich auch in ihnen gebildet haben, indem sie sich gewissermassen in ihnen und aus ihnen selbst züchteten und vermehrten. Und was die von aussen stammenden Ptomaine zu leisten im Stande sind, das leisten ein ander Mal auch die ihnen entsprechenden Stoffe, welche im eigenen Körper entstanden, die sogenannten Leuko- maine, und mit ihnen alle schädlichen Stoffwechselsergebnisse, deren es eine ganze Menge giebt, überhaupt. Denn indem diese "sämmtlich als Reize. wirken, Steigerung der Körperwärme bis, zur Fieberhitze und unter deren Einfluss Veränderung des Nähr- bodens, der Protoplasmakörnchen herbeiführen, leisten sie auch der Umbildung derselben in eigentliche Kokken und Bakterien Vorschub. Es können darüber allerdings, ehe es zu solchen kommt, nach den beregten Beobachtungen von Buchner, Pasteur, Koch viele Wochen, selbst Monate und in diesen wieder viele Generationen der sich umbildenden Körper vergehen, inzwischen aber krankt der in Betracht kommende Körper ganz in derselben Weise, als wenn in ihm bereits Kokken und Bakterien hausten, von denen man glaubt, dass sie allein ihn in der entsprechenden Weise krank zu machen im Stande seien. Die Erfahrungen, welche man bei den Einspritzungen von Tuberculinum Kochii gesammelt hat, dass sich nach denselben Miliartuberkulose entwickelt, auch ohne dass Tuberkulose über- haupt bis dahin bestanden zu haben schien, die man indessen bis jetzt ganz anders gedeutet hat, sind in dieser Beziehung gewiss nicht ohne Belang. Ebenso wenig sind es aber auch die Erfahrungen, welcheBeumer und Peiper hinsichtlich des Typhus, Loeffler hinsichtlich der Diphtherie, Nicatiund Rietsch sammt ihren Nachfolgern hinsichtlich der Cholera, Brieger u. A. hin- sichtlich desStarrkrampfesgemacht haben, nämlich dassdie von den bezüglichen Bakterien gelieferten Ptomaine schon an und für sich die entsprechenden Krankheitszustände hervorzurufen vermögen, d.h. ohne dass dabei nachweislich auch nur eins der zugehöri- gen Bakterien zur unmittelbaren Mitwirkung zu gelangen brauche. Ja nach Behring und Kitasato sind es in Bezug auf die 33 Diphtherie und den Tetanus nur die von den betreffenden Bak- terien erzeugten Ptomaine, welche die einschlägigen Krankheits- erscheinungen hervorrufen, da sich die Bakterien selbst von der jeweiligen Impfstelle aus der Hauptsache nach nicht weiter verbreiten. Sie senden blos ihr Gift aus, welches dann den ganzen Körper durchsetzt und die diphtherischen und tetani- schen Erscheinungen hervorruft. Es verhält sch also mit den Ptomainen ganz ähnlich wie mit den flüchtigen. Arsenik-, Phos- phor- oder auch Kohlenstoffverbindungen, die jäh töten, wenn sie in grösseren Mengen eingeatmet werden, indessen zu mehr akuten oder chronischen Krankheiten, chronischem Siechtum mit allerhand Veränderungen in den verschiedenen Organen führen, wenn sie nur in geringerem Masse, aber durch mehr oder weniger lange Zeitin entsprechender Weise aufgenommen wurden. Die in letzterem Falle sich etwa vorfindenden Bakterien werden jedoch Jabei in keinen, wenigstens keinen näheren Zusammen- hang mit den ursächlichen Momenten der einschlägigen Organ- veränderungen gebracht, weil die bezüglichen Arsenik-, Phosphor-, Kohlenstoffverbindungen bis jetzt als keine Produkte bakterieller Thätigkeit erkannt worden sind. Sind jedoch die in Rede stehenden Kokken und Bakterien einmal rla, so führen sie, ihrem erworbenen Naturell gemäss, auch zu all’ den Uebelständen und Schäden, welche ihnen, als : von vornherein gegebenen spezifischen Körpern, von Koch und seinen Anhängern, beziehentlich allen exklusiven Bakteriopatho- logen allein zugeschrieben werden. Die Koch’schen Lehren, in ihrer Grundanschauung vielfach im Widerspruch stehend mit den sonstigen auf umfassenden Beobachtungen und Experimenten beruhenden Anschauungen der modernen Biologie, sind in ihren Consequenzen unhaltbar. Mögen immerhin einige oder selbst eine ganze Anzahl von aussen her in die verschiedenen Organismen eingedrungener Kokken und Bakterien, wie vor Allem die Milzbrandbacillen, die Strahlen- pilzkörner, also der Bacillus anthracis und der Actinomyces Bollingeri, den vernichtenden Einfluss ausüben, der ihnen zuge- schrieben wird, mögen andere, wie vornehmlich die Wurzel- bakterien der hülsenfrüchtigen Pflanzen, der Leguminosen, mit denen diese eine Symbiose eingegangen zu sein scheinen, zu ihrem Lebensunterhalte beitragen; die Hauptmasse der Kokken 3 . 34 und Bakterien, beziehungsweise kokken- und bakterienähnlichen Wesen, welche in einem Organismus überhaupt gefunden wird, stammt wohl aus ihm selbst, gehört ihm von Hause aus an. Die betreffenden Kokken und Bakterien sind Umbildungen der vielbesprochenen Körnchen des ihn bildenden Protoplasmas oder diese Körnchen in der ihnen jeweilig zukommenden Form selbst. Die Wurzelbakterien der Leguminosen sind vielleicht auch nur solche durch Anpassung umgewandelte Körnchen des Protoplasmas gewisser ihrer Zellen. Die fraglichen Körnchen wurden von M. Schultze als Produkte der formativen Thätigkeit des Protoplasmas, nämlich der Grundsubstanz, welche er als den wesentlichsten Bestand- teil desselben betrachtete, angesehen. Boll u. A. sind ihm gefolgt. Ich auch, und in Anbetracht des Umstandes, dass die Körperchen die ersten Leistungen dieses Protoplasmas darstellten, aus denen die meisten anderen desselben erst wieder hervor- gingen, habe ich sie als Elementarkörperchen, Corpuscula primi- genia protoplasmatis, bezeichnet. Bereits im Jahre 1879 habe ich ın dem Artikel: Etwas über die Axencylinder ders Nervenfasern — Virchow’s Archiv für pathol. Anat. und Physiol. und klinisch. Med., Band 78. 1879. S. 355 — sie dann für die vornehmsten Werkzeuge erklärt, deren sich die Natur bedient hat und noch fort und fort bedient, um aus dem ein- fachsten Protoplasma, dem Plasson Edouard van Beneden’s, Organismen zu schaffen, die auf Grund der unendlich mannig- fachen Art, wie sie sich in ihren kleinsten Teilen bewegen, so auch empfinden, wahrnehmen, fühlen, denken, streben, thun. Schon in demselben Artikel, noch mehr in einem späteren, im Jahre 1880 ebenfalls in Virchow’s Archiv Band 82 veröffent- lichten: „Untersuchungen über die Entstehung von Kok- ken und Bakterien in organischen Substanzen“ habe ich dann, auf die Ergebnisse derselben gestützt, erklärt, dass aus diesen Körperchen, die indifferent angelegt erschienen, im Laufe der Zeit, natürlich je nach den: sonstigen Verhältnissen, denen sie unterstellt wären, sowohl Stärke wie Chlorophyll nebst seinen Verwandten, als auch die Bowman'’schen Sarcous Ele- ments oder Brücke’schen Disdiaklastengruppen, die Schmidt- schen Nervous Elements, die Dotterkörperchen, eine Anzahl von Pigment- und Fettkörperchen hervorgingen, dass sie sich selbst 35 teilten, durch Teilung vermehrten und dabei Gebilde produ- zieren könnten, welche den verschiedensten Formen von Kokken und Bakterien ganz gleich aussähen (S. 132). Die Annahme verschiedener Forscher, zu denen vornehmlich auch Bechamp und v. Nencki gehörten, dass in den gesunden lebenden Zellen gesunder lebender Tiere Bakterien und Bakterienkeime vor kämen, worauf hin man dann weiter annehme und das auch meiner Meinung nach anzunehmen gezwungen wäre, dass alle lebenden Wesen und wir mit ihnen zum grossen Teil aus solchen beständen, die nur darauf lauerten, uns aufzuzehren, um im Kampfe um das Dasein ihre Rasse zu erhalten, würde damit ihre Erklärung finden (S. 130). Denn die Bakterien und Bak- terienkeime, welche alle gesunden Gewebe durchsetzen sollten, und die nur den Bakterien zu Liebe überhaupt vorhanden wären, welche sich gelegentlich aus anscheinend ganz gesunden Geweben, ohne dass sie von aussen her in diese hinein gelangt sein könnten, entwickelten, diese Bakterien und Bakterienkeime würden danach im grossen Ganzen nichts Anderes als die Ele- mentarkörperchen des Protoplasmas der verschiedenen Zellen sein, denen sie ja auch sonst physikalisch wie chemisch voll- kommen gleichen. Heutigen Tages sehe ich die Sache jedoch noch etwas anders an. Wiederholt habe ich mich verschiedenen Orts schon geäussert, dass die Thätigkeit und Leistung des Protoplasmas auf einer Wechselwirkung zwischen den in Rede stehenden Körnchen, den Elementarkörperchen, und der Grundsubstanz, in Sonderheit deren fädigem Anteil, beruhen dürfte. In dem Aufsatz: Über trophische Nerven in du Bois-Reymond’s Archiv für Anat. und Physiol. physiol. Abth. 1891 habe ich Seite 69 u. ff. dies, wie es sich mir durch die Beobachtung in: Bezug auf den quergestreiften Muskel allmählich aufgedrängt hatte, des Breiteren aus einander gesetzt. Danach ist es der Chemismus in den Elementarkörperchen, welcher mit seinen Folgen auf die fädige Substanz einwirkt, die dann wieder auf jene zurück wirkt, der das Leben des Protoplasmas überhaupt bedingt und unterhält. Die Elementarkörperchen sind somit das Hauptsächlichste, das Wesentlichste am Protoplasma, wenigstens in der Art, als wir bis jetzt seinen Begriff gefasst haben. Schon vor Jahren hat auch A. Bechamp eine ähnliche Ansicht ge- EV UWERETG, 36 äussert. Er stellte die Körperchen als notwendige Bestand- teile der organischen Zelle hin und gab sie als Faiseurs des cellules aus, welche die chemischen Vorgänge in diesen entfachten und unterhielten. Unter den neueren Autoren ist es Altmann, der ihnen eine ähnliche Stellung anweist. Die Elementar- körperchen können deshalb nicht wohl erst Produkte des Proto- plasmas, Produkte seiner formativen Thätigkeit, sondern müssen im Gegenteil mehr ursprünglich sein. Es dürfte vielleicht die fädige Substanz sogar erst als Produkt ihrer Thätigkeit zu be- trachten sein, indem sich dieselbe unter Anderem, teleologisch ausgedrückt, von ihnen aus gebildet hätte, um ihr etwaiges Zusammenwirken zu ermöglichen. Es fehlen die Elementarkörperchen in keinem entwickelteren Protoplasma. Wo sie zu fehlen scheinen und später sich doch zeigen, dürtten sie wenigstens der Anlage nach schon vorhanden sein, als eine Art Same, als eine Art Spore, als eine molekulare Masse, die blos ihrer Kleinheit oder Lichtbrechungsfähigkeit wegen nicht von der übrigen Masse zu unterscheiden wäre. Dass aus ihnen, die, wenn sie sichtbar werden, ziemlich gleich aus- sehen, gegen die verschiedensten äusseren Einflüsse sich ziemlich gleich verhalten und darum unter sich auch ziemlich gleich, indifferent erscheinen, nachher alles mögliche in dem Protoplasma Vorkommende werden kann, Chlorophyll, Erythrophyll, Xanto- phyll;, Amylum, Aleuron, Fette, Bowman’sche Fleisch-, Schmidt’sche Nervenkörperchen, Dotterkörperchen und Dotter- plättchen, Pigmente, wieder Fette, endlich die verschieden- artigsten kokken- und bakterienähnlichen Körperchen, das spricht nur dafür. Doch ist nicht ausgeschlossen, dass nicht auch noch andere Ursachen, Anpassungsvorgänge gewisser Grundsubstanz- "teile an die Umgebung, das bedingen möchten. Immerhin, wenn die Elementarkörperchen einmal da sind, spielen sie im Protoplasma und seiner Thätigkeit die Hauptrolle. Aus ihrem Zusammenwirken insbesondere bei ihrer Verschiedenheit, und zwar wohl in Folge ursprünglicher verschiedener Abstammung, kommt erst die grössere und verschiedenartige Wirkung des Protoplasmas zu Stande, wobei die fädige Substanz der Haupt- sache nach blos der Kraftübertragung zu dienen .scheint. Die Körperchen unterstützen sich dabei gewissermassen gegenseitig; es ist als ob sie eine Symbiose unterhielten. Sie verdienen den 37 Namen Elementarkörperchen des Protoplasmas, Corpuscula primigenia protoplasmatis, damit erst recht, wenn auch aus an- deren Gründen, als aus denen er ihnen einstmals gegeben worden ist. Es kommt diesen Körperchen damit in Wahrheit auch jene Art von Selbständigkeit zu, auf welche wir schon einmal hin- gewiesen haben, und die sich namentlich in ihrem Selbständig- fortlebenkönnen zeigt, wenn das Protoplasma als Ganzes zu Grunde gegangen ist, dem sie angehörten. Die einen dieser Protoplasmakörperchen erzeugen Farbstoffe in sich, und bleiben dieselben, weil für gewöhnlich. unlöslich, in ihnen liegen, so entsteht das Chorophyli, Erytrophyll, Xantho- phyli der Pflanzen, das Chromatin, Melanin wie Xanthin u.ä Körper der Tiere; sind die betreffenden Farbstoffe indessen löslich, so treten sie an die Ernährungsflüssigkeit in den Spalten, Rissen und Klüften zwischen den Fäden der Grundsubstanz, und der betreffende Saft, Zellsaft, erscheint gefärbt, wie das z. B. bei allen blauen und rosaroten Blüten der Fall ist. Andere Kör- perchen erzeugen in sich die Elemente des Stärkemehls und werden dadurch zu Stärke- oder Amylumkörperchen, die sich in Zucker umwandeln können. Wie durch die löslichen Farbstoffe die gefärbten Zellsäfte, so entstehen durch den gelösten Zucker die süssen. Die Fleischkörperchen kann man während ihrer Thätigkeit ebenso wie die sie verbindende Zwischensubstanz, — die Muskelfibrille, Muskelprimitivfaser, dürfte nichts Anderes als ein Protoplasmafaden sein, ein Element der fädigen Grund- substanz, mit in denselben der Reihe nach eingelassenen Ele- mentarkörperchen —, beobachten. Aus den an ihnen deutlich wahrnehmbaren Veränderungen gehen die Umsatzprodukte der Muskelsubstanz, Inosit, Kreatin, Kreatinin, Milchsäure u. s. w. hervor, welche in die Räume zwischen den Fibrillen treten und aus diesen darauf nach aussen geschafft werden. Die Elementar- körperchen liefern also je nach ihrer Natur auch Gifte und, wo wir solche auftreten sehen, dürften sie nur Produkte ihrer Thätigkeit sein. Die Elementarkörperchen verhalten sich danach jedoch nicht blos morphologisch, sondern auch physiologisch ganz gleich den Kokken und Bakterien. Es giebt chromogene, es giebt, amylo- beziehentlich saccharogene, mit anderen Worten also auch alkohologene, denn der Zucker ist ein Alkohol, oder kann wenigstens dafür angesehen werden; es giebt toxogene, 38 mithin auch pathogene u. s. w. Manche Forscher haben ja die im Schlangengift, das der Drüse frisch entnommen war, vor- kommenden entsprechenden Körnchen, offenbar Körnchen des Epithels, für die das Gift produzierenden Kokken der Drüse ange- sehen, ganz so wie andere Forscher die in der Lymphe der Vaccine sich findenden Körnchen, meiner Meinung nach Körnchen aus zerfallenen Epidermiszellen, in denen diese das übertragene Vaccinegift weiter entwickelt haben mögen, für die das Vaccine- gift produzierenden Kokken erklärt haben, nur mit dem Unter- schiede, dass erstere von aussen an die betreffende Stelle ge- rathen wären, letztere der Drüse durchaus eigneten. Selbst die Verdauung und die Keimung der Samen hat mam von Kokken und Bakterien abhängig gemacht und will ganz bestimmte körnige Gebilde bei beiden Vorgängen in Thätigkeit haben treten sehen. Das, was man gesehen hat, war gewiss ganz richtig; allein wie man es gedeutet hat, das kann beanstandet werden. Die jeweiligen fraglichen Gebilde waren wohl nicht eigenartige Kokken und Bakterien, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach blos Protoplasmakörperchen, Elementarkörperchen des Proto- plasmas von Zellen der in Betracht kommenden Organe und Samen. Es liegt aber gerade damit auch kein Grund vor, die Elementarkörperchen des Protoplasmas, die Corpuscula primi- genia, nicht auch wenigstens für eine Art Kokken und Bakterien halten zu dürfen. Das Protoplasma würde demgemäss denn aber in der That eine Symbiose von Kokken und Bakterien darstellen, wie etwa die Syncytien, Synamöbien, des weiteren die Flechten, welche eine solche von Pilzen und Algen, oder gewisse Infusorien, wie Stentor, Ophrydium, welche eine solche von Tieren und Algen bilden. Die Kokken, Bakterien aber würden dem entsprechend wieder als die ersten, einfachsten der bis jetzt bekannten Lebewesen anzusehen sein, aus denen alle übrigen sich erst entwickelt haben. Das Protoplasma selbst jedoch würde dann weiter folgerichtig ein Synkokkium oder besser klingend ein Symbakterium sein, und Alles, was sich aus ihm entwickelt hat, Zellen und Zellenverbände, würde, wie man es bis jetzt als Zellen, Syncytien, Synamöbien betrachtet hat, einschliesslich unserer selbst, als Symbakterien zu gelten haben. Warum zumal der tierische Körper so von Bakterien durchsetzt ist, wie viele Autoren wollen, warum die Elementarkörperchen des Pro- toplasmas seiner Zellen, nachdem diese als solche, aber nicht schlechthin abgestorben sind, in Kokken, Bakterien übergehen können, wird hiernach ersichtlich. Die Zellen eines Syncytium, Synamöbium hängen unter ein- ander zusammen, um so ihre Verbindung zu wahren und ihr Zusammenwirken zu ermöglichen. Feine Fäden der Grund-, also tädigen Substanz vermitteln den Zusammenhang. Haben sich die Zellen, in sich abgeschlossene Protoplasma- oder, wie Virchow sagt, Lebensheerde, mit einer Hülle, Membran oder Kapsel, einem Erzeugnisse ihrer sekretorischen Thätigkeit, um- geben, so geschah das immer mit aller Schonung dieser Ver- bindungsfäden.. Die Membranen, Kapseln wurden deshalb lückenhaltig. Am schönsten zeigen das die Zellenlager des Holzes der Coniferen und Cycadeen, des Knochen- und Knorpel- gewebes, von letzerem z. B. besonders schön das der Cephalo- poden. Dieselben Verbindungen nun stellt die fädige Masse, wie schon berührt, auch zwischen den einzelnen Kokken oder Bakterien dar, um durch sie das Zusammenwirken zu ermög- lichen, zu dem sie sich ursprünglich zusammengefunden haben, und das nun ihre Gemeinschaft auf die Nachkommenschaft ohne weiteres und, ich möchte sagen, in sehr abgekürzter Weise vererbt. Die ächten Kokken, Bakterien, die man gegenwärtig viel züchtet, sind unregelmässig kugel- oder stäbchenförmige Gebilde. Dieselben bestehen aus einem oder mehreren an einander gereih- ten, sehr kleinen rundlichen Körperchen, welche von einer in sich anscheinend vollständig geschlossenen Hülle umgeben sind. Öfters freilich scheint es auch, als ob diese Hülle eine oder mehrere Öffnungen hätte, durch welche der Inhalt sich fadenförmig ver- längern und geisselartig hervorzustrecken vermöchte. Umschliesst die fragliche Hülle nur ein Körperchen der letzt geschilderten Art, so stellt der bezügliche Körper einen einfachen Kokkus dar. Enthält sie mehrere, an einander gereihte, so ist er ein Diplokokkus, ein Bakterium oder Bacillus. Ich kenne kein Bak- terium, keinen Bacillus, in welchem sich nicht mehrere solcher rundlichen Körper unterscheiden liessen. Es ist mir das eine Zeit lang bestritten worden; allmählich aber hat man sich von ihrem Vorhandensein doch so ziemlich überzeugt. Allein man sieht sie gemeiniglich nicht für ursprünglich an, sondern für f EEE EHE TE Zn" ae a = 5 ee BE ge => NEE Re) 40 Produkte der formativen Thätigkeit des sonst diffus erscheinenden Inhalts der betreffenden Hüllen, Kapseln. Man giebt sie z. T. für Sporen aus, indem man dabei an die Pilze denkt, zu denen als Spaltpilze Kokken und Bakterien, weil sie doch im Systeme irgendwo untergebracht werden ınussten, auch gestellt worden sind. Die Kokken und Bakterien haben aber nicht viel mehr mit den Pilzen zu thun, als mit Palmen und Elefanten. Sie sind :Konstituenten‘ der Pilze wie . der Palmenwzund Elefanten; aber Pilze selbst sind sie nicht. Diese sind Zellen- pflanzen, also bereits Symbakterien, während jene als solche nicht angesprochen werden können. Eher wären sie gewissen Algen gleich zu stellen, insbesondere den Protococcus-Arten, und möglicher Weise bestehen auch Beziehungen zwischen beiden. — Die Kokken-, die Bakterienhülle ist oft deutlich mit einem schleimigen, gallertartigen Mantel umgeben. Die beregten Geisseln scheinen vielfach in einem innigen Zusammenhange mit ihm zu stehen. Durch denselben verkleben leicht die gleich- artigen Kokken und Bakterien samt ihren etwaigen Geisseln mit einander, und es entstehen dann die Zooglöaformen derselben, die ersten und, wenn wir wollen, niedrigsten Symbakterium- erscheinungen. Manchmal ist der betreffende Mantel beweglich, was grossenteils von den mit ihm verklebten Geisseln ab- hängen mag, und was unter Anderem besonders die vortreff- lichen Photogramme erkennen lassen, welche Loeffler auf dem X. internationalen medizinischen Kongresse zu Berlin 1890 aus- gestellt hatte. Wenn nun durch solch Zusammenkleben sich Symbakterien bilden, was ebenfalls nach den Loeffler'schen Photogrammen durchaus annehmbar erscheint, so bekommen wir ein bewegliches Symbakterium, ein Stück diffusen Protoplasmas, wie wir das seit Leydig nennen. Bildet sich danach durch den engeren Zusammenschluss gewisser Kokken ein festerer Kern, der durch den Einfluss der Kokken auf die Grundsubstanz, in der sie nun als ihrem zusammengeflossenen Mantel liegen, sich in stärkerer Weise geltend macht, so verdichtet sich dieselbe in ihm und in seiner nächsten Umgebung, verändert sich vielleicht auch sonst noch, und es entsteht eine festere und in dieser oder jener Richtung veränderte Grundsubstanz in der Grundsubstanz. Wir bekommen einen wohl markierten Kern, der aus einer festeren 41 als der gewöhnlichen Protoplasmasubstanz, die man ihm zu Ehren Nuklein genannt hat, besteht und besonders reich an Protoplasmakörnchen ist. Eins oder ein Paar dieser letzteren, welche sich vorzugsweise dicht an einander schliessen, werden in ihm zum Kernkörperchen, beziehentlich Kernkörperchenkorn, zum Nucleolus und Nucleolulus. Der fragliche Kern wirkt auf einen. Teil des Protoplasmas, aus dem er sich gebildet hat, als lebens- regulierendes Centrum; das von ihm beeinflusste Protoplasma grenzt sich von dem von ihm nicht mehr beeinflussten ab, und eine Zelle ist fertig. Dass danach in dieser selbst es noch zu weiteren Ausbildungen, zur Entstehung einer Attraktionssphäre mit einem Centrosoma kommt, ist eine Sache für sich. Nur so viel will ich noch sagen, das Centrosoma scheint, ganz abgesehen von den Pigmentkörnchen, die, wie B. Solger gezeigt hat, es umgeben, auch eine Elementarkörperchen-Verbindung zu sein, in mancher Beziehung vergleichbar dem Nucleolus oder Nucleolulus, zu welchen es ja auch bei der Zellteilung in besondere Be- ziehungen zu treten scheint. Doch lassen wir das! Dagegen sei noch ausdrücklich betont, dass ich Unterlagen für das beregte Werden einer Zelle durch meine Jahre langen Protoplasmauntersuchungen gefunden zu haben glaube. Aus ihnen hat sich erst die vorgetragene Ansicht gebildet. Sie lehnt sich an die Ansicht von der freien Zellbildung der früheren Autoren an, die allerdings jetzt bei uns in Deutschland wohl ganz verlassen ist, die aber wo anders z. B. in Frankreich in Robin bis zuletzt ihren Vertreter gefunden hat. Ich habe mich in meinen jüngeren Jahren unter dem Einfluss der mir gewordenen Lehren auch ablehnend gegen die freie Zellbildung verhalten; allein ich habe geglaubt, auf die im Laufe der Jahre gewonnenen eigenen Erfahrungen hin diese meineHaltung modifizieren zu müssen. So lange nun das Organische, beziehungsweise das Proto- plasma blos in Form grösserer, in sich gegliederter Wesen, Organismen, bekannt war, von denen die Erfahrung gelehrt hatte, dass sie sich nur durch ihre Früchte fortpflanzten, konnte Harvey seinen ganz allgemein gehaltenen Ausspruch: Nullum vivum nisi ex ovo thun, derselbe auch für viele Jahrzehnte trotz aller Ein- würfe und Bekämpfungen in Geltung bleiben. Nachdem die organische Zelle entdeckt, als der einzige Lebensträger erklärt, durch Schleiden und Schwann sodann festgestellt warden > =7 42 war, dass alle, auch die grössten, in mannigfachster Art zusammen- gesetzten Organismen nur aus Zellen hervorgegangen wären und aus Zellen beständen, und als dann noch erhärtet worden war, dass diese Zellen lediglich durch Teilung einer Mutterzelle, beziehungs- weise einer befruchteten Eizelle sich herausgebildet hätten, konnte Virchow auch den Satz aufstellen: Nulla cellula nisi e cellula. Es konnte danach sogar mit einem gewissen Recht gelehrt werden: Nullus nucleus nisi e nucleo, oder auch, wie das thatsächlich geschehen ist, Nullus nucleolus nisi e nucleolo u. s. w.; allein, nachdem man auch ein diffuses, oft zu mächtigen Lagern entwickeltes Protoplasma kennen gelernt hatte, wie es unter anderem in bestimmten Lebensphasen die Myxomyceten und Palmellaceen in hervorragender Weise zeigen, ohne dass eine Spur von Zellenabgrenzungen in ihnen wahrgenommen werden könnte, dass wohl aber, wie de Bary zuerst für die Myxomyceten nachgewiesen hat, aus diesen diffusen Protoplasmen sich z. B. unter dem blossen Einflusse der Trockenheit Zellen zu bilden vermöchten, die nach Zufuhr der nötigen Feuchtigkeit wieder verschwänden, um erst nach längerer Zeit, ich will einmal sagen, unter dem Einflusse der Reife und wohl aus ganz anderen Elementen hervorgegangen, wieder und dann für die Dauer zu erscheinen, seitdem das Alles bekannt geworden ist, lassen sich jene Aussprüche wenigstens in vollem Umfange wohl kaum mehr aufrecht erhalten. Wenn nun gar das Protoplasma ein Symbakterium ist, wofür die Zooglöaformen der ächten Kokken und Bakterien und die diffusen Protoplasmalager namentlich auch wieder der Myxomyceten und Palmellaceen ein sehr gewichtiges Zeugnis abgeben, wenn dann in diesem Protoplasma die Kokken das Erste, die Grundsubstanz erst das Zweite, von ihnen Er- zeugte, ist, so erhebt sich die Frage, ob nicht die kleinen un- ansehnlichen Kokken und Bakterien, welche letztere auch wieder als unvollkommen geteilte Kokken, also als Synkokkien ange- sehen werden können, durch eine Generatio aequivoca oder Abiogenesis noch immer wieder neu zu entstehen vermöchten? Die Frage erhebt sich um so leichter, als Haeckel in die Biologie ein ganz neues Element, das bis dahin nicht im Geringsten gewürdigt worden war und doch ohne Zweifel von der grössten Bedeutung ist, die Plastidula, das Protoplasmamolekül, einge- führt hat. Wir hätten uns blos zu denken, das unter gewissen 43 Umständen noch heutigen Tages, wie einst zu Anfang der organischen Schöpfung überhaupt, Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff, Schwefel beziehentlich Phosphor in einer bestimmten Atomenzahl in bestimmte Beziehungen träten, eine sogenannte chemische Verbindung eingingen, und das Proto- plasmamolekül, die Plastidula, wäre fertig. Es wäre dabei denkbar, dass eine ganze Reihe derselben nicht gleich geriete, so zu sagen, mehr oder weniger unfertig bliebe und über kurz oder lang wieder zu Grunde ginge, ohne je eine Lebensäusse- rung an den Tag gelegt zu haben, dass andere zwar eine weitere Entwickelung erführen, aber zunächst auch noch zu keiner Lebensäusserung kämen, weil die eine solche bedingenden Be- wegungen der Aussenwelt denen gegenüber, welche in ihnen selbst herrschten, zu schwach wären, um sie in die Erscheinung treten zu lassen. Erst wenn jene durch Häufung eine genügende Stärke erfahren hätten und dadurch diese zu überwinden im Stande wären, könnte endlich das Leben zum Durchbruch kommen. Bis «dahin bliebe es latent, die bezüglichen Körper wären starr und machten den Eindruck toter, beziehentlich unorgani- scher Massen, trotzdem ein gewisses Leben in ihnen doch steckte. Wir sehen etwas Entsprechendes denn auch ganz gewöhn- lich an dem Sporeninhalte der Myxomyceten. Wenn derselbe seine Reife erhalten hat und aus seiner Hülle ausgeschlüpft ist, liegt er zunächst ruhig da. Mancher bleibt, was er ist, und wird über kurz oder lang Ausgangspunkt einer Kokken- und Bakterienwucherung; ein anderer fängt an nach einigen Secunden sich zu regen und der bekannte Geissler zu werden; ein dritter und vierter lässt erst Minute auf Minute, ja Stunde auf Stunde verstreichen, ehe er so weit gelangt. Ohne weiteres schlüpft aus der Spore wohl selten ein Geissler aus; ohne weiteres mag wohl auch nicht leicht eine neu entstandene Plastidula aktives Leben erkennen lassen. Ein Stadium der Latenz desselben möchte sie wohl der Regel nach immer erst durchzumachen haben und, da sie überhaupt sinnlich nicht wahrnehmbar ist, erst im Verein mit anderen zur Anschauung kommt, könnte über sie und das Herkommen des ganzen Vereins, in dem sie uns endlich entgegenträte, kein bestimmtes Urteil gefällt werden. Kein Mensch wäre im Stande zu sagen, ob er ein epigenetisches oder abiogenetisches Wesen vor sich hätte. Dieses Wesen jedoch, 23 der besagte Plastidulaverein, Plastidulacomplex, würde bei starker Vergrösserung in Gestalt eines Körnchens sich zur Wahrnehmung bringen. Es könnte unter ihm günstigen Um- ständen alsdann der Ausgangspunkt einer neuen organischen Geschöpfreihe werden, was indessen durchaus nicht der Fall zu sein braucht, — es könnte zu Grunde gehen, wie die beregte einfache Plastidula —, und nach Myriaden von Jahren, das ist nach unseren sonstigen heutigen biologischen Anschauungen nicht undenkbar, wäre es möglich, dass, da die bezüglichen Ge- schöpfe unter denselben Verhältnissen sich bildeten, unter denen die bereits vorhandenen geworden waren, diesen ähnliche aus ihrer Nachkommenschaft erwüchsen. Wir würden damit zwar verschiedene Schöpfungsperioden und verschiedene Schöpfungs- centren auch für die gegenwärtige Schöpfung nicht ganz von der Hand weisen dürfen, obgleich zunächst nur wenig Neigung zu einer solchen Annahme vorhanden sein möchte; allein so’ manches scheint doch dafür zu sprechen und C. Vogt tritt hin- sichtlich der Equiden Europas und Amerikas, deren Parallel- entwickelung er für vollständig unabhängig von einander hält, bis zu einem gewissen Grade sogar schon dafür ein. Nichtsdestoweniger sind die zuletzt angestellten Betrach- tungen doch eben nur blosse Betrachtungen, Erwägungen, und für die Mehrzahl meiner Leser gewiss sogar recht unfruchtbarer Natur; allein was bei ihnen doch herausgekommen sein dürfte, ist, dass eine Generatio aequivoca oder Abiogenesis auch für die heutige Zeit nicht so unbedingt in Abrede zu stellen ist, wie die Verfechter einer gegenwärtig allein noch bestehenden Epigenesis und durch dieselbe bedingten Continuität des Lebens es ver- meinen behaupten zu können. Weder das Bestehen einer zur Zeit noch vorkommenden Generatio aequivoca oder Abiogenesis, noch das einer zur Zeit blos noch vorhandenen Epigenesis lässt sich beweisen. Sämmtliche in dieser Beziehung beigebrachten Beweise sind nicht stichhaltig, weil bei den bezüglichen Unter- suchungen oft die allerersten Lebensbedingungen übersehen worden sind. Denn wenn die zu solchen Versuchen erforder- liche Luft erst durch Schwefelsäure, dann durch Kalilauge, zuletzt durch ein Glührohr gejagt und so alles Ammoniaks, aller Kohlensäure, alles Wassers beraubt wird, dann ist es wohl nicht zu verwundern, wenn kein Leben erscheint, da vorhandenes 45 zu Grunde gehen müsste. Und wenn bei minder irrationell an- gestellten Versuchen sich dennoch wider Erwarten neues Leben zeigt, aber dann behauptet wird, dass trotz aller Vorsichts- massregeln selbiges nur von aussen gekommen sein könne, kurz, wenn nur die Versuche gelten gelassen werden, welche negative Resultate ergeben und ergeben müssen, so ist nicht zu ver- langen, dass die Gültigkeit derselben von allen Seiten anerkannt werde. Abiogenesis überhaupt und Epigenesis allein sind daher nur Glaubenssätze, und da der Glaube Gefühlssache ist, so hängt es blos von dem Gefühl des einzelnen ab, ob er sich für jene oder für diese entscheiden will. Ich für meine Person halte eine Abiogenesis auch heut zu Tage noch für nicht ausgeschlossen, allein beschränkt auf die niedrigsten Lebewesen, beziehentlich ihre Elemente, die Plastidulen. Die Kokken, die Bakterien in ihren einfachsten Formen würden nach unserer jetzigen Kenntniss vielleicht als die Wesen anzusehen sein, in deren Bereich sie noch vorkommen möchte. Für alle entwickelteren Wesen dagegen, vom eigentlichen Protoplasma, insbesondere der Zelle an auf- wärts, aus denen aber wieder Kokken hervorgehen können, also für die ganze heutige Schöpfung im hergebrachten Sinne, halte ich die Epigenesis allein für massgebend. Allen denjenigen aber, welche diese Ausführungen trotzdem und alledem für blosse, und zwar ganz unfruchtbare Spekulationen und darum wieder für nicht weiter beachtenswerth halten, möchte ich aber entgegen halten, dass das Omne vivum nisi ex ovo u. S. w. auch nur Produkt der Spekulation war und ist. Die Spekulation hat ihre Berechtigung in allen Wissenschaften, auch in den Naturwissenschaften, und wenn sie von Thatsachen ausgeht, auf ihnen fusst, entdeckt sie neue Welten, neue Kraftverhältnisse, neue Lebensbeziehungen. Die Entdeckung des Planeten Neptun durch Le Verrier, die Entdeckung des mechanischen Wärme- äquivalents durch J. R. von Mayer, die Entdeckung des Ge- setzes von der Erhaltung der Kraft durch H. von Helmholtz, des Entwickelungsprinzips der Welt der Organismen durch Charles Darwin und Ernst Haeckel legen dafür die be- redtesten Zeugnisse ab. Alle Erfindungen sind zuletzt auch nur, allerdings in Verbindung mit der Phantasie Produkte der Speku- lation. Denn jede Kombination ist nur eine Spekulation. Ohne Spekulation daher kein Newkomen, kein Frederic Sauvage, 46 kein Oersted, Morse, Bell, kein Faraday, kein Siemens, kein Edison, auch kein Dreyse, kein Krupp und zuletzt auch kein Moltke. In welcher Weise nun auch das Leben entsteht, in welcher Weise es sich danach verhält, damit es ein für uns wahrnehm- bares, ein aktives, effektives werde, ist es notwendig, dass Reize von aussen her auf dasselbe einwirken, es anfachen und unterhalten. Die fraglichen Reize sind, wie schon erwähnt, die fortschreitenden Bewegungen des Äthers, Licht, Wärme, Elek- trizität und die mechanischen Vorgänge, in welche dieselben sich umgesetzt haben. Was wir Nahrung nennen, gehört zu der Umgebung, welche es in sein Bereich zieht, um ihre eigentüm- lichen Bewegungsformen in seine eigenen herüberzuführen und sich zu assimilieren. Die Nahrung als solche, als Anhäufung von Spannkräften, hat somit nichts mit den Reizen an und für sich zu thun, wohl aber können solche ihr beigemengt, in ihr. enthalten sein; oder sie selbst sind auch schon in einem solchen Zustande der Lockerung, dass sie leicht unter dem Einfluss lebendiger Kräfte selbst in solche übergehen. Je mehr’sie dabei geneigt sind, sofort in die Lebensbewegung einzutreten, um so bessere, zweckmässigere Nahrung stellen sie dar, um so bessere, zweckmässigere Nahrungsmittel sind sie. Das Leben, die Lebens- bewegung ist an und für sich eine sehr energische, und je ener- gischer sie ist, um so leichter versetzt sie die ihrer Umgebung in die eigene, assimiliert sie sich; deshalb sehen wir denn auch starke Leben mit einer minder guten, d.h. minder leicht assimilierbaren Nahrung und allem, was dazu gehört, fertig werden. Je weniger energisch sie ist, um so mehr muss diese für die Assimilation geeignet sein, damit sie selbst nicht vorzeitig erlischt. Wir sehen deshalb auch, dass durch Zufuhr von Reizen, durch welche die Lebensbewegung eine Steigerung erfährt, dieselbe ihre Umgebung, insbesondere die durch die Nahrung im engeren Sinne dargestellte, noch assimiliert, wo sonst die Assimilation kaum noch statt hat, erfahrungsgemäss kaum noch statt haben kann. Kurzum das Leben bedarf zu seinem Entstehen, seinem Bestehen der Reize. Reize erwecken es, Reize unterhalten und steigern es. Reize machen es aber, wie wir gesehen haben, auch erstarren, machen es latent; sie können es endlich sogar aufheben, vernichten. 47 Dass das J,eben von Reizen abhänge, welche auf eine reiz- oder erregbare Substanz, die Lebenssubstanz, als welche wir heute das Proto-, beziehentlich Bioplasma kennen, wirke, ist schon vor langer Zeit erkannt worden. Der bekannte schottische Arzt John Brown lehrte schon in den sechsziger und siebenziger Jahren des vorigen Jahrhunderts diese Abhängigkeit und suchte sie zu weiterer Kenntnis durch seine Elementa medicinae zu bringen, welche er 1780 zu Edinburg erscheinen liess. Das Leben ist nach ihm die Eigenschaft der Körper, durch Reize erregt zu werden. Körper, welche diese Eigenschaft besitzen, seien lebende. Sie unterscheiden sich durch dieselbe von den leblosen oder toten, zu denen sie auch werden, wenn jene verloren gehe. Was die Erregbarkeit sei, worin sie bestehe, obwohl sie an das Nervensystem schlechthin geknüpft erscheine, darüber spricht Brown sich indessen nicht aus, und das hat seine Lehre niemals zur rechten Geltung kommen lassen. Man hat ihm vorgeworfen, dass seine Reizbarkeit, Erregbarkeit nichts Anderes als ein ganz inhaltsloses Wort sei, und dass deshalb sein ganzes System, das auf dieselbe erbaut worden, keinen Anspruch auf Geltung haben könne. Richtig ist, dass er seine Excitabilitas nicht näher bestimmt hat; allein dass er darunter kaum etwas Anderes begriffen hat, als was wir heut zu Tage Erregbarkeit, Reizbarkeit, Irritabilität, Excitabilität nennen, ohne ebenfalls bis jetzt das Wesen derselben erkannt zu haben, das darf wohl als richtig angenommen werden. Brown fasste ge- wisse, erst seit Haller in ihrer Bedeutung erkannten Erscheinungen an lebenden Wesen, deren Sensibilität und Irritabilität als Aus- fluss einer allen jenen Wesen zukommenden Grundeigenschaft, ihrer Fxcitabilitas, auf und liess durch diese Excitabilitas, welche Reize erst zur Bethätigung brächten, zur Irritation, Excitation machten, das Leben der bezüglichen Körper entstehen und unter- halten werden. Ein mittleres Mass von Reizbarkeit, Erregbarkeit, bedingte nach ihm das gesunde Leben; Verminderung oder Vermehrung derselben verursachten vorzugsweise die Krank- heiten; ihre Erschöpfung durch Übermass von Reiz führte zum Tode. Daher, wenn die lebenden Körper ihre Excitabilität ver- loren hätten, sie zu leblosen, toten würden, von denen sie sich überhaupt nur durch jene unterschieden! Man hat Brown sehr unrecht gethan, ihm in Bezug auf 48 seine Excitabilitas Vorwürfe zu machen; man ist über ıhn bis jetzt noch nicht hinausgekommen; und eine Reihe seiner zum Teil sehr berühmt gewordenen Kritiker haben sich dadurch, dass sie ihm Widersinnigkeit in seinem ganzen Prinzip vorge- worfen, weil er die Spontaneität des Lebens leugnete, eigentlich geradezu des Fehlers schuldig gemacht, dessen sie ihn zeihen. Die Fehler, welche er gemacht hat, und die ihm wohl vorgeworfen werden können, liegen ganz wo anders: in der nicht glücklichen Verwertung seiner Theorie für die Praxis und dem ungeschickten, z. T. recht groben, plumpen Ausbau derselben. Doch hat auch in dieser Beziehung die Welt mehr gescholten, als ihr zu- stand. Denn sie verfuhr und verfährt heute auch nicht besser. Wenn der Arzt einen Kranken symptomatisch behandelt, das Fieber durch Chinin, Antipyrin, Antifebrin, den Collaps durch Alkohol, Kampfer, Äther, die Schmerzen und Krämpfe durch Morphin, Hyosein, die Lähmungen durch reizende Einreibungen und ihre Äquivalente, die Schlaflosigkeit durch Chloral, Sulfonal, Acetal, Paraldehid, Urethan u. dgl. zu bekämpfen sucht, so bewegt er sich ganz und gar in Brown’schem Fahrwasser. Zu Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts lehrte etwas. ganz Ähnliches und in offenbarem Zusammenhange mit dem Brownismus der französische Arzt Broussais. Er erklärte das Leben als eine Wirkung von Reizen und lässt es lediglich durch die Reize der Aussenwelt unterhalten werden. Wirken anomale Reize ein, so entstehen Krankheiten. Krankheiten seien deshalb auch nichts Anderes als Abänderungen des physiologischen Verhaltens durch anomale Reize. In den fünfziger Jahren war es sodann Virchow, der Ent- sprechendes vortrug. Denn nur so sind wohl seine, wenn auch anders klingenden Worte aufzufassen, welche sich in seinen ge- sammelten Abhandlungen, Frankfurt a/M. 1856 S. 26 finden: „Halte man nur das fest, dass überall“, nämlich im Raume, „eine mitgetheilte mechanische Bewegung vorhanden ist, deren Anfang keine Untersuchung zulässt, welche aber, 'nachdem sie einmal da ist, sich auf erregungsfähigen Stoff fortpflanzt und an diesem Stoft eine höchst verwickelte, zu immer neuen Umsetzungen führende Bewegung hervorruft, welche die gewöhnlichen chemi- schen und physikalischen Eigenschaften der Stoffe in einer ebenso ' 49 ungewöhnlichen Weise hervortreten lässt, als die erregte Be- wegung selbst ungewöhnlich, nur auf eine bestimmte Reihe er- regungsfähiger Stoffe beschränkt ist. — Das Leben ist also, gegenüber den allgemeinen Bewegungsvorgängen in der Natur, etwas Besonderes; allein es bildet nicht einen diametralen, dualistischen Gegensatz zu denselben, sondern nur eine besondere Art der Bewegung, welche, von der grossen Constante der all- gemeinen Bewegung abgelöst, neben derselben und in steter Beziehung zu derselben hinläuft.*“ Durch letzteres wird eben, wie ich oben nachzuweisen gesucht habe, die Reizbarkeit, Erreg- barkeit, und die Reizung, Erregung, bedingt. Ob es mir ge- lungen ist, damit das Wesen derselben Anderen auch so klar zu machen, wie ich es zu haben glaube, muss ich dahin gestellt sein lassen. Dass ich aber mit der entsprechenden Ansicht der Hauptsache nach nicht allein stehe, werden die angeführten Eideshelfer, unter denen ein Virchow, genugsam bekunden. Die Wirkung der Reize in Bezug auf die durch sie herbei- geführte Reizung oder Gereiztheit, d. i. den Reizzustand, zeigt ganz bestimmte Verhältnisse. Die Qualität der Reize bedingt verschiedene Qualitäten der Reizung, der Reizzustände, die Quantität der jeweiligen Reize hat quantitativ verschiedene Reizungen und Reizzustände zur Folge. Im Allgemeinen kann man sagen: Je stärker der Reiz, um so stärker die Reizung; denn die Wirkung ist proportional der Ursache; allein die Er- scheinung, durch welche sich das an den Tag legt, kann dem geradezu zu widersprechen scheinen. Brown hatte ganz recht gesehen: Starke Reize können die Reizbarkeit beeinträchtigen, vernichten, — warum? haben wir oben gesehen —; sie scheinen deshalb gerade die entgegengesetzte Wirkung von schwachen zu haben, welche jene immer steigern; für die Praxis in gewisser Richtung ist das vielfach auch als eine beherzigenswerte Thatsache in Betracht zu ziehen; indessen für das Verständnis der bezüglichen Vorgänge, wodurch doch auch wieder die Praxis im Allgemeinen allein erfolgreich beeinflusst wird, ist es nötig festzuhalten, dass es nur Schein ist. Ende der fünfziger und Anfang der sechsziger Jahre hat E. Pflüger (vergl. hierüber seine Untersuchungen über die Physiologie des Elektrotonus Berlin 1859, seine Untersuchungen aus dem physiologischen Laboratorium zu Bonn 1865 und seine 4 50 Disquisitiones de sensu electrico, Bonn 1865) gezeigt, dass schwache galvanische Ströme, ob sie den gereizten Nerven in absteigender oder aufsteigender Richtung durchflössen, in dem zugehörigen Muskel nur beim Kettenschluss Zuckungen, also Schliessungszuckungen, hervorriefen, dass stärkere, sogenannte mittelstarke derartige Ströme, ebenfalls unabhängig von ihrer Richtung, sowohl beim Schluss als auch bei der Öffnung der Kette solche Zuckungen, also Schliessungs- und Öffnungszuckungen, auslösten, dass aber starke galvanische Ströme, wenn sie abwärts flössen, nur Schliessungs-, wenn sie dagegen aufwärts flössen, nur Öffnungszuckungen in den bezüglichen Muskeln bewirkten. W.Wundt hat das bestätigt und ausserdem gefunden, dass sehr starke der genannten Ströme, wie sie auch den betreffenden Nerven durchfliessen mögen, lediglich Öffnungszuckungen in den zugehörigen Muskeln zur Folge hätten. Dass solche sehr starke, stärkste Ströme Lähmung, be- ziehentlich den Tod des betreffenden Nerven herbeizuführen im Stande sind und auch oft genug herbeigeführt haben, ist all- bekannt. Seitdem ist das auch von anderen Seiten mannigfach als richtig befunden, und der ganze gesetzmässig erscheinende Hergang als das Pflügersche Zuckungsgesetz bezeichnet worden. Pflüger hat dann weiter gezeigt, dass etwas ganz Ent- sprechendes auch in Bezug auf die Empfindungen statt hätte, dass schwache galvanische Ströme Empfindungen nur beim Kettenschlusse, mittelstarke solcher Ströme Empfindungen sowohl beim Kettenschlusse als auch bei der Kettenöffnung verursachten, dass starke Ströme dagegen, indem sich die durch sie bedingten schon vorhandenen Empfindungen verstärkten, eine solche Ver- stärkung nur beim Kettenschlusse oder bei der Kettenöffnung zeigten, je nachdem sie abwärts oder aufwärts flössen. Wir sehen danach also bei schwachen Strömen allein beim Kettenschlusse Empfindungen und Zuckungen auftreten, bei etwas stärkeren, sogenannten mittelstarken Strömen dieselben und zwar verstärkt sowohl beim Kettenschlusse als auch bei der Ketten- Öffnung, d. i. also in grösserer Häufigkeit erscheinen; bei starken Strömen treten dagegen, wenn auch wieder verstärkt nur Schliessungsempfindungen und Schliessungszuckungen, wenn jene abwärts fliessen, und nur Öffnungsempfindungen und Öffnungs- Sl zuckungen, wenn sie aufwärts fliessen, in die Erscheinung, und bei verhältnismässig sehr starken Strömen kommen sogar blos Öffnungsempfindungen und Öffnungszuckungen vor, mögen die Ströme auch gerade fliessen, wie sie wollen. Starke Ströme vermindern also die Häufigkeit der bezüglichen Erscheinungen, setzen die Zahl derselben herab, hemmen also die jeweiligen Nerven in ihrer Bethätigung und das um so mehr, je stärker sie sind. Sind die Ströme gar zu stark, so führen sie leicht zu Lähmungen, beziehungsweise zum Tode. Es werden keine Empfindungen, keine Zuckungen mehr ausgelöst; die beziehentlichen Thätig- keiten sind aufgehoben, vernichtet. Der galvanische Strom ist ein Reiz. Ihm entsprechend wirkt jeder andere Reiz. Schwaches Licht z. B. erlaubt gerade zu sehen, facht die Sehfähigkeit, das Sehen an; helles Licht erlaubt von derselben den weitgehendsten Gebrauch zu machen, fördert das Sehen; grelles Licht blendet, beschränkt, hemmt die Seh- fähigkeit, beziehentlich das Sehen; sehr starkes Licht, langes Sehen in die Sonne, kann beide aufheben, vernichten. Etwas Salz an die Speisen erhöht die Schmackhaftigkeit derselben, beziehungsweise unsere Geschmacksfähigkeit für dieselben; etwas mehr Salz an sie, eine gewisse scharfe Salzung, erhöht ihre Schmackhaftigkeit, unsere Geschmacksfähigkeit noch mehr; eine zu starke Salzung, Versalzung der bezüglichen Speisen beein- trächtigt ihre Schmackhaftigkeit, unsere Geschmacksfähigkeit für dieselben und zwar in um so höherem Grade, je mehr sie ver- salzen sind; endlich in lauter Salz gehüllt, besitzt nichts mehr einen eigenen Geschmack. Vor lauter Salz sind wir unfähig ge- worden noch etwas Anderes zu schmecken. Bei Personen mit sehr erregbarem Nervensysteme, Neurasthenikern, Hysterikern, rufen mechanische Reizungen sogenannter sensibeler Nerven, namentlich solcher der Geschlechtsorgane, leicht Muskelactionen hervor. Ein Klopfen, ein Druck aufjene Nerven bewirkt Husten oder Zuckungen in den Armen, in den Beinen, in der Blase u. dgl. m. Wird der mechanische Reiz, das bezügliche Klopfen, der bezügliche Druck stärker, so nehmen die entsprechenden Muskelactionen zu, der Husten wird ärger, die Zuckungen in Armen und Beinen, in der Blase werden ausgiebiger: es kommt unter dem Einfluss der letzteren zu Harnabgang, und zwar ohne dass der betreffende Kranke ihn aufzuhalten vermöchte. Nehmen 4*F 52 die fraglichen Reizungen noch mehr zu oder halten sie zu lange an, wodurch ihre Intensität, ohne dass sie sonst eine Steigerung erfahren hätten, vermehrt wird, so treten zuerst lähmungsartige Zustände ein: Heiserkeit, Lahmheit in den Armen und Beinen, in der Blase, welch’ letztere das Harnen erschwert oder ganz un- möglich macht; endlich entwickeln sich wirkliche Lähmungen, welche für kürzere oder längere Zeit, nicht selten für die Lebenszeit anhalten, deren Beseitigung indessen oft auch gelingt, wenn es gelingt, die sie verursachende Reizung, beziehungs- weise den sie bedingenden Reiz, rechtzeitig ebenfalls zu besei- tigen. Die Geschichte der hysterischen Krämpfe und Lähmungen! ]- Lister, der seiner Zeit, als die Lehre von den Flem- mungsnerven aufkam und einen zu weit gehenden Umfang anzu- nehmen schien, einschlägige Untersuchungen anstellte, kam des- halb zu dem Schluss, dass ein und derselbe Nerv, je nachdem er mässig oder stark gereizt würde, die Funktionen des Organes, auf das er wirke, erhöhe oder vermindere, d. h. fördere oder hemme, und W. Wundt, der fast um dieselbe Zeit nach- wies, dass jede starke Hemmung der Thätigkeit eines Nerven die Erregbarkeit desselben herabsetze, — natürlich! denn dieselbe ist ja auch blos eine solche Thätigkeit oder doch ein Ausfluss derselben — , erklärte, dass damit bewirkt werde, dass etwaige Reize auf einen solchen Nerven nur einen geringen oder gar keinen Einfluss mehr ausüben. Ein stark erregter Nerv wird so unfähig, noch andere, zumal schwächere Reize aufzunehmen und fortzuleiten und erscheint deshalb, so obenhin betrachtet, wie gelähmt. Die vorhin geschilderten Vorgänge erhalten damit zum wenigsten der Hauptsache nach ihre Erklärung. Im Jahre 1864 wies W. Kühne nach, dass die Reizbarkeit, Erregbarkeit des Nerven dem Protoplasma überhaupt, von dem der Nerv ja blos eine bestimmte Form darstellt, zukomme, und in den achtziger Jahren, speciell im Jahre 1885 in meinem Buche „Die Neurasthenie“, S. 32 u. ff., habe ich, auf meine durch lange Jahre angestellten Untersuchungen gestützt, geradezu aus- sprechen zu dürfen geglaubt, dass alle protoplasmatischen Kör- per, alle einschlägigen tierischen und pflanzlichen Gebilde, diese Reizbarkeit oder Erregbarkeit besitzen und zwar in um so höherem Grade, je näher sie noch dem ursprünglichen, gewisser- massen idealen Protoplasma stehen, d. h. je weniger sie sich im ng 53 Laufe der Zeit von ihm entfernt, differenziert haben. Ja, dem Nerven im Besonderen komme seine ihn auszeichnende Erreg- barkeit vornehmlich oder auch blos darum zu, weil er ein im Allgemeinen und zumal anderen Gebilden, wie den Epithelien, dem Knorpel und Knochen gegenüber nur wenig differenziertes Protoplasma sei. Das Pflüger’sche Zuckungsgesetz, am Muskel gefunden, nachher aber auch als gültix für die Empfindung erkannt, müsse darum auch für alles Protoplasma Geltung haben. — Und in der That, wird das berufene Gesetz in der schon mehrfach berührten Weise verallgemeinert, für galvani- schen Strom, Reiz überhaupt, für Zuckung, Empfindung, Lebens- äusserung, Lebensthätigkeit schlechthin gesetzt, so ergiebt sich mit Berücksichtigung alles Vorausgeschickten: Schwache Reize fachen die Lebensthätigkeit, d.h. die, an welcher wir dasLeben erkennen, also die evolutionistischen Vorgänge während desselben, an, stärkere, mittelstarke beschleunigen, fördern sie, starke hemmen und stärkste heben sie auf. Da nun von den fraglichen Reizen alles Leben wie überhaupt, so auch in seiner besonderen Gestaltung abhängt, so ist das Gesetz in dieser Form von mir als das biologische Grundgesetz bezeichnet worden. Alle anderen gesetzmässigen Vorgänge ordnen sich ihm unter. Die Richtigkeit des biologischen Grundgesetzes des Näheren, d.h. seine Gültigkeit für den einzelnen Fall zu beweisen, dazu sind die nachfolgenden Abhandlungen bestimmt. Das Leben erkennen wir an seinen Äusserungen, Bethäti- gungen, Ergasien. Die Trophieen oder Nutritionen, die Aesthesien oder Sensationen, die Plasien oder Formationen, die Ekkrisien oder Sekretionen, dieKinesien oder Motionen bilden die hauptsächlichsten Kategorien derselben. Die Thermosien, Elektrosien u. dgl. m. sind andere, doch nicht so auffällig in die Erscheinung tretende. Die in bestimmten Grenzen sich haltenden, den Durchschnitt ausmachenden und darum für normal erklärten Ergasien sind die Euergasien, die Eutrophien, Euästhesien, Euplasien, Euek- krisien, Eukinesien u. s. w., alle davon abweichenden, auf einen abnormen Grundvorgang hinweisenden die Dysergasien, die Dystrophien, Dysästhesien, Dysplasien u. s. f. Die Dysergasien können sich durch Beschleunigen oder Förderung, durch Verlangsamung oder Hemmung, oder endlich 54 auch durch gänzliches Ausbleiben der einschlägigen Vor- gänge an den Tag legen. Je nachdem entstehen so ı. dieHyper- ergasien, die Hypertrophien, Hyperästhesien, Hyperplasien, Hyperekkrisien, Hyperkinesien, Hyperthermosien,' 2. die Hyper- gasien, die Hypotrophien, Hypästhesien, Hypoplasien, Hypek- krisien, Hypokinesien, Hypothermosien und 3. die Anergasien, die Atrophien, Anästhesien, Aplasien, Arekkrisien, Akinesien, Athermosien. Es können aber auch die besagten Dysergasien durch eine sonstige mehr oder minder fremdartige Erscheinungs- weise sich zu erkennen geben und dann kommen die Par- ergasien zu Platz, die Paratrophien, Parästhesien, Paraplasien, gewöhnlich Heteroplasien genannt, die Parekkrisien, Parakinesien, Parathermosien u. s. w. *) *) Wie die Hauptkategorien der Dysergasien ihre Unterkategorien haben, so umfassen diese natürlich auch wieder solche; ja gegebenen Falles lassen auch sie dann noch Unterkategorien unterscheiden, und erst unter diese oder gar ihnen noch folgende ordnen sich die Einzelerscheinungen unter, welche gerade in Betracht kommen. Es verhält sich damit wie in der ganzen Natur. Die gesetzmässig er- folgenden Erscheinungen bilden grössere oder kleinere Gruppen, und diese stellen sich für unsere Erkenntnis als Familien, Genera, Species dar. Da die Ernährungsvorgänge, Nutritionen oder Trophien, die Grundlage aller anderen sind, so kommt es, dass öfters manche dieser letzteren von den ersteren nicht scharf geschieden erscheinen, Namentlich zwischen den Tropbien, Plasien, Ekkrisien drängen sich die Beziehungen, welche unter ihnen bestehen, häufig dergestalt auf, dass es nur schwer und von vornherein blos dem Er- fahrenen möglich ist, die trennenden Punkte gehörig aus einander zu halten. Und dennoch ist das durchaus notwendig, um in das Wesen der einzelnen Lebensvor- gänge einen Einblick zu gewinnen und die mannigfachen Verhältnisse, in welchen sie sich zur Darstellung bringen, zu verstehen. Zur weiteren Klärung der Ange- legenheit ‘erlaube ich mir darum für die aufgestellten Hauptkategorien der Dysergasien einige Unterkategorien anzuführen, Die Hauptkategorien lassen damit erkennen, was jede einzelne von ihnen als Inhalt umfasst, und dass die Einzelheiten dieses Inhalts sich zu einander verhalten wie die bezüglichen Kategorien selbst. Diese sind erst aus jenen abgeleitet hervorgegangen und nicht etwa umgekehrt, dass letztere in erstere hineingepresst worden. Es ordnen sich also unter die Hypertrophien, Hyper- Hyper- Hyper- Hyper- die Hyper- aesthesien, plasien, ekkrisien, kinesien, trichosie oder die Hyper- die Hyper- die Hyper- die Hyper- Derbhaarigkeit, aesthes. op- trichosie, hidrosie, das kinesie, dieHyperodon- tica, die Ge- hier aber als starke, über- des tosie oder sichtsreizbar- Vielhaarigkeit, mässigee Herzens, Grosszahnigkeit, keit, über- die Hyper- Schwitzen, Herzklopfen, Das biologische Grundgesetz offenbart sich in der Einhal- tung der Reihenfolge der drei erstgenannten Dysergasien, in welcher sie soeben angeführt worden sind. Die Hyperergasien die Hyper- megethie*, der Riesenwuchs und zwar sowohl in Betreff des jeweiligen ganzen Individuums als auch .einzelner seiner Teile, ein- zelner seiner Glie- der. In der Tier- welt die grossen Glieder, die grossen Flossen einzelner Fische, diegrossenlangen Extremitäten, zu- mal Hände und Füsse, Nasen und Ohren einzelner höherer Tiere, die grossen Schnäbel mancher Vögel, in der Pflanzenwelt die Riesenbildungen der Spargel, der Kohlrabi, Rettige, der Zwiebeln, Rosen, Stief- mütterchen, der Erdbeeren, Johannis- und Stachelbeeren, der Kirschen, Pflaumen, Äpfel und Birnen, der Gurken und Kürbisse geben eine Menge von Beispielen dafür ab. mässige Ge- sichtsthätigkeit und Empfind- lichkeit, die Hypera- kusie,dieüber- mässige Gehörs- empfindlichkeit, die Hyper- geusie, die übermässige Geschmacks- empfindlichkeit, die Hyperos- mie, über- mässige Ge- ruchsempfind- lichkeit u. s. w. daktylie, die Viel- fingrigkeit, die Hyper- chrosie, die Starkfarbig- keit, Dunkel- oder Tief- farbigkeit. die Hyper- dakryosie, die übermässige Thränen- abscheidung, die Hyper- galaktosie, die überreiche Milchbereitung, Milchabsonde- rung, die Hyper- steatosie, die überreiche Talgbereitung, Talg-, Fettab- sonderung. die Hyper- kinesie sonstiger Muskeln, Krämpfe. 56 FRE bilden Sden Anfang der Hyp- und Anergasien, mit denen sie enden, und die gemeinhin als ihr Gegenteil betrachtet werden. Doch ist das letztere nicht richtig. Das wirkliche Gegenteil derselben bilden nicht die Hyperergasien, die immer schon in Hypotrophien, die Hypo- trichosie, Zart- haarigkeit, die Hyp- odontosie, Kleinzahnigkeit, die Hypo- megethie*), der Zwergwuchs und zwar ebenfalls in Bezug auf ein Wesen im Ganzen als in Bezug auf einzelne seiner Reile: Atrophien, die Atrichosie, Haarlosigkeit, Kahlheit, die Anodon- tosie, Zahn- losigkeit, dieAmegethie*) das Fehlen, Aus- bleiben von nor- malen Gebilden. Paratrophien, die Paratrichosie, der abweichende Haarwuchs, die Haarkrankheiten, die Parodontosie, die abweichende Hypaesthesien, die Hyp- aesthesia op- tica, gewöhn- lich Amblyopie, die Schwach- sichtigkeit, die Hyp- akusie, Schwerhörig- keit, die Hypogeusie, Geschmacks- stumpfheit, die Hyposmie, Geruchs- schwäche u.s.w. Anaesthesien, die Anaesthe- sia optica, Amaurose, Blindheit, die Anakusie, Taubbheit, die Ageusie, die Schmeck- unfähigkeit, die Anosmie, die Riechun- fähigkeit u.s.w. Paraesthesien, die Paraesthesia optica, das abweichende Sehen, z.B.nach Vergiftungen, die Photopsien, Chromatopsien, Hypo- plasien, die Hypo- trichosie, aber hier als Dünnhaarig- keit, Spärlich- keit des Haares, die Hypo- daktylie, Mangelhaftig- keit der Finger, die Hypo- chrosie, Schwach- farbigkeit, Bleichheit. Aplasien, die Atrichosie, Haarlosigkeit, die Anodon- tosie, Zahn- losigkeit, die Achrosie, Farblosigkeit, der Albinismus. Paraplasien, die Paratri- chosie, die abweichende Haarbildung, das Krause, rote, weisse Haar, die Parodonto- Hypekkrisien, (die Hyphi- drosie, die Schweiss- armut, die Hypo- dakryosie, Thränenarmut, die Hypo- galaktosie, Milcharmut. Anekkrisien, die Anhidrosie, Schweisslosig- keit, Adakryosie, Thränenlosig- keit u. s. w. Parekkrisien, die Pari- drosie, die abnorme Schweiss- absonderung z.B. die Osmi- drosie, Abson- derung riechen- Hypo- kinesien, die Hypo- kinesie des Herzens, Herz- schwäche, die Hypo- kinesien sonstiger Muskeln, Muskelträg- heit. Akinesien, die Lähmungen der bezüg- lichen Muskeln. Parakinesien, die Parakinesie des Herzens, der Eingeweide, dieabwegigen Bewegungen einer abnormen Richtung sich zum Ausdruck bringen, mitsamt den Hypergasien immer schon mehr oder weniger Parergasien sind, sondern die Akro- oder Oxyergasien, welche eine blosse einfache Verstärkung der Euergasien darstellen und sich Zahnernährung, die Halucinatio- sie,dieabwei- der, Bromi- des Herzens, die nen, die Para- chende Zahn- drosie, Abson- der Zahnkrankheiten, kusie, das bildung, Spitz- derung stinken- Eingeweide die Para- abwegigeHören, zähne statt der, u.S.w. megethie*), Akusmata, Schneidezähne Hämathidrosie, z.B. die Verhält- Halucinationen, u.s. w. die Absonderung nisse, welche bei die Paraes- Parachro- blutiger der sogenannten thesia tactus, sie, Anders- Schweisse, Akromegalie das fremdartige farbigkeit, die Paraga- vorkommen, und Fühlen, das dieNeoplas- Jaktosie, die die wohl immer Jucken, Krib- mata,nament- Absonderung Paramegethien beln, Prickeln, lich die soge- einer z. B. zu darstellen. Ameisen- nannten hete- wässerigen oder kriechen, roplastischen, zu fetten Milch Würmerwinden die Teratome u. s. w. u. Ss. w. u.S. w. *) Nach Professor Susemihl's Vorschlag gebildet. Es giebt keinen Vorgang in der belebten Natur im gebräuchlichen Sinne des Worts, welcher sich nicht den angeführten Kategorien überhaupt, und keinen vom Gewöhnlichen abweichenden Vorgang in ihr, welcher sich nicht den letzten fünf allein unterordnete. Wir brauchen nur von diesem Gesichtspunkte aus die Einzelvorgänge betrachten und ihre bisherigen Benennungen dem entsprechend verändern, und es ergiebt sich das auf das bündigste. Ptyalismus, eigentlich Spucksucht, beruht auf einer vermehrten Speichelab- sonderung, einer sogenannten Sialorrhoe; daraus machen wir Hypersialosie, und der Beweis ist da. Hyposialosie, Asialosie, Parasialosie bezeichnen sodann das Verhältnis, in welchem die scheinbar entgegengesetzten und zum Teil wenigstens sehr abwegigen Vorgänge entsprechender Art zu ihr stehen. Polyuresie wird so zu Hyperuresie, die Suppressio urinae zuHypuresie und Anuresie; die Uraturie, Albuminurie, Glykosurie, Meliturie u. s. w. sind Paruresien. In gleicher Weise wird die Menstruatio nimia zur Hypermenorrhoe, die Menostase oder Suppressio mensium zur Hypomenorrhoe oder auch Amenorrhoe, je nach- dem sie unvollkommen oder vollkommen ist; die Amenorrhoe bleibt Amenorrhoe; sie alle sind Ausdruck von Dysmenorrhoeen; die heute kurzweg als Dysme- norrhoeen bezeichneten Störungen sind eigentlich Paramenorrhoen; die Menses praecoces, die Menstruatio difficilis, die Menstruatio vicaria, die Menorrhoea oder Dysmenorrhoea intermenstrualis, die Menorrhoea oder Dysmenorrhoea membra- nacea beweisen es. Ebenso wird die Polysarkie, die Fettsucht, zur, was sie in Wahrheit ist, Hyperliposie (Lipomatosie, Lipom); ihr schliesst sich in ent- sprechender Weise die Hypoliposie, die Aliposie, die Paraliposie an. Ferner wird so aus der Polypragmosyne, der Polypraxie, die Hyperpraxie, 58 in der nämlichen Richtung wie diese bewegen. Es sind, wenn ich mich so ausdrücken darf, die normalsten der normalen Er- gasien oder Euergasien. Die Hyperergasien haben eben, wie erwähnt, schon etwas von den Parergasien an sich und ebenso auch die Hypergasien. Beiden kommt deshalb auch schon etwas Fremdartiges, Anomales zu. Die Parergasien dagegen besitzen wieder bald mehr bald weniger von den Hyp- oder Hyper- ergasien. Hyperergasien, Hypergasien, Parergasien gehen deshalb auch vielfach in einander über und, was noch blosse Hyper- oder Hypergasie, was schon Parergasie ist, hängt ganz und gar von dem jedesmaligen Beobachter ab. A potiore fit denominatio. Es ist wichtig, das Alles im Auge zu behalten, um etwaigen missverständlichen Auffassungen in den folgenden einzelnen Ab- handlungen zu entgehen. Die bezüglichen Ergasien lassen zwei Phasen unterscheiden, eine vorbereitende, gleichsam proergastische, und eine eigent-- liche, etioergastische oder auch ergastische schlechtweg. Die erste beruht auf dem Eindringen des Reizes, der Reizbe- wegung in den jeweiligen Körper, einem Vorgange, den man sich meistenteils mehr aktiv, als von innen heraus erfolgend gedacht und deshalb die Reizaufnahme genannt hat; die zweite gründet sich auf die Wirkung des Reizes, welche sich als Lösung der in Betracht kommenden Moleküle und deren Folgen, also der in das Dasein gerufenen Evolutionen, zu erkennen giebt. Die proergastische Phase umfasst die Perceptionen, die ergastische selbst die Reaktionen. Bei den höheren Tieren, doch schon von den Würmern an aufwärts, haben sich besondere Organe gebildet, durch welche diese beiden Phasen als solche zum Austrag gebracht werden, die receptiven und reaktiven Nerven, welche gemeinhin: centripetal- und centrifugalleitende, oder auch sensibele und. mit Allem was darum und daran hängt, und aus den entsprechenden Zuständen verminderter oder abweichender Thätigkeit die Hypopraxie, Apraxie Parapraxie. Wer kennt nicht die Polyphrasie, Logorrhoe oder Logodiarrhoe? Sie wird zur Hyperphrasie. Die Mutitas, der Mutacismus wird zur Aphrasie, beziehungsweise Hypophrasie u. s. f. Dass dabei die Wortbildung erleichtert, das Gedächtnis weniger beschwert wird, weil die ganze Nomenklatur, die doch. nun einmal international sein muss, auf eine natürliche Grundlage zurückgeführt,. vereinfacht wird, liegt auf der Hand, Ki 39 motorische, beziehentlich motorische, sekretorische, trophische genannt werden. Indessen es liegen den letztgenannten Bezeich- nungen viele unzutreffende Vorstellungen zu Grunde, und die Namen bezeichnen aus diesem Grunde keineswegs das in richtiger Weise, was der Unbefangene erwarten dürfte. Der gegebene» Reiz, die ihm zu Grunde liegende Bewegung, dringt in die obersten Schichten, Zellenlagen des gegebenen Körpers ein und setzt sich durch die aus ihnen hervorgehenden, jedenfalls mit ihnen in innigster Verbindung stehenden centripetalleitenden Nerven, als dem noch ursprünglichsten und deshalb auch leicht beweglichsten Protoplasma des Körpers angehörig, nach dem Inneren desselben fort, um im Centralnervensysteme, Rückenmark und Hirnstamm, auf diese und jene centrifugalleitenden, welche gerade am leichtesten beweglich in ihrem Molekulargefüge sind, überzugehen und in den sie aufnehmenden Zellen und Zellencomplexen die Reaktionen zu veranlassen, welche wir vorzugsweise als Lebens- äusserungen, Lebensthätigkeiten, ansehen. Zwischen dem Beginn einer Perception und dem Abschluss der bezüglichen Reaktion ist eine lange Reihe stetig sich folgender Evolutionen eingeschaltet. Jede derselben führt zur Auslösung der ihr folgenden und wird damit zu dem Reize, welcher diese in das Leben ruft. Sie verhält sich deshalb auch in Bezug auf diese, als Reaktion gedacht, in ihren unmittelbarsten Folgen wie eine Perception. Aus einer ununterbrochenen Kette von mit einander regelmässig abwech- selnden Perceptionen und Reaktionen, die, ich möchte sagen, in chemischen Explosionswellen fortschreiten, besteht nach allem dem der Vorgang, welcher zwischen der ersten Reizeinwirkung auf einen Körper und der Gegenwirkung von Seiten desselben stattfindet, oder in Anbetracht des Nerven selbst, der die Nerven- leitung ausmacht. Es ist bekannt, dass die Nervenleitung im Centralnerven- system und zwar durch die graue Substanz desselben eine Hemmung erfährt. In Folge dessen werden die die Reize bildenden lebendigen Kräfte in Spann- oder Druckkräfte umgewandelt, um, gelegentlich wieder in lebendige Kräfte zurückgeführt, als erhöhter Reiz beziehentlich der endlichen Reaktion wirken zu können. Aus der grauen Substanz des Rückenmarkes und init ihm des Hirnstammes, und zwar aus den hinteren Hörnern jenes und ihren Modificationen in diesem, welche beide vor- 60 zugsweise den Perceptionen dienen, geht das Gehirn selbst, gehen die Hemisphären desselben hervor. Es ist darum das Gehirn, wie gross und umfangreich es zuletzt auch erscheinen mag, doch nichts Anderes als die über dem Hirnstamme ganz ausserordentlich entwickelte Masse der Hinterhörner der grauen Substanz des Rückenmarkes. Wenn die graue Substanz, der graue Kern des Rückenmarkes, was ja bewiesen ist, den Übergang der Percep- tionen in die Reaktionen vermittelt, und wir uns das ganze Nervensystem, hier also das eines Wirbelthieres, als einen Leitungs- apparat denken für Kräfte, welche von der Aussenwelt her ihn von den ersten Perceptionsstellen an bis nach den letzten Reaktionsstellen hin durchfliessen, und der zu bestimmten Zwecken eine die Leitung hemmende Masse, also die graue Substanz des Rückenmarkes, eingeschaltet enthält, so stellt sich das Gehirn als eine Art von Nebenleitung heraus, in welche ebenfalls zu bestimmten Zwecken leitungshemmende Massen eingeschaltet sind. Die das Gehirn mit dem Hirnstamme verbindenden Fasermassen entsprechen den eigentlichen Leitungen, die in dasselbe eingestreuten Heerde grauer Substanz, die es umhüllenden Massen solcher, seine Rinden, den eingeschalteten Apparaten. *) *) Stellen wir uns die Sonne als eine Art von grossem Elektrizitätswerk vor, von dem allseitig Leitungen ausgehen, auf welchen die von ihr ausstrahlenden Kräfte sich weiter verbreiten, so entspricht das den Raum zwischen ihr und den übrigen Weltkörpern ausfüllende Medium, der Äther, den von ihm unmittelbar nach allen Richtungen hinziehenden Hauptleitungen. Der Äther zwischen der Sonne und der Erde entspricht der Hauptleitung nach einem bestimmten Orte. Der Äther in der Erde, welcher alle ihre Zwischenräume erfüllt, entspricht der Nebenleitung, welche sich in dem Orte von ‚der Hauptleitung abzweigt, in ihm wieder durch Nebenleitungen verteilt, sich durch dieselben gewissermassen auflöst, sich aber auch wieder sammelt und hinter dem Orte wieder in die Hauptleitung einmündet. Zum Zweck. der Abzweigung der Nebenleitungen ist die jedesmalige bezügliche Hauptleitung unterbrochen, eine die Kraftleitung hemmende Masse ist eingeschaltet, ein bestimmter Apparat in ihr angebracht. Von der Nebenleitung, welche durch den fraglichen Ort als Hauptleitung zieht, gehen wieder, wie erwähnt, unter Einschaltung von Apparaten, also zunächst blos leitungshemmenden Massen, abermals Nebenleitungen ab. Es sind das die in die Häuser führenden, durch welche die in dieselben geleiteten Kräfte bestimmten Zwecken dienstbar gemacht werden sollen. Je nachdem sind nun in den Häusern wieder die Leitungen unterbrochen und in den Unterbrechungen leitungshemmende Massen, beziehentlich Apparate eingeschaltet, hier Kohlenstifte, Kohlenfäden zur Erzeugung von Licht, dort eine Glocke, ein Telephon, ein Phonograph, eine Leier, in Amerika selbst Klaviere, da ein Telegraph, eine Uhr, eine Nähmaschine, Dreh- 61 In der grauen Rinde des grossen Gehirns, werden die Per- ceptionen bewusst; es entstehen Gefühle. Die Gefühle in ihren verschiedenen Beziehungen als Gefühle schlechthin, als Empfindun- gen, Wahrnehmungen, als Strebungen, Triebe, Wille, Gedanken, sind darum in Anbetracht des Ortes ihres Zustandekommens ein bank, ein Ventilator, u. s. w. Zu bestimmten Zwecken sind bestimmte leitungs- hemmende Massen, Apparate, in die Leitungen selbst eingelassen. Nehmen wir nun das Nervensystem eines Tieres, inbesondere eines Wirbel- tieres und des als solchen zu betrachtenden Menschen, so ist dasselbe als eine Nebenleitung für die Kräfte anzusehen, welche von der Sonne zur Erde, beziehentlich über dieselbe hinaus in den Raum und durch denselben zu anderen Sonnen wogen. Durch die centripetalleitenden Nerven dringen die bezüglichen Kräfte in den Körper ein, durch die centrifugalleitenden treten sie wieder, wenn auch verändert, aus. Zwischen die centripetal- und centrifugalleitenden Nerven, welche zwei streng geschiedene Abteilungen bilden, ist die leitungshemmende Masse des grauen Kernes des Rückenmarkes eingeschaltet, — es werden dadurch die Per- ceptionen zu Wege gebracht —, und als eine weitere Ausbildung dieses Kernes, ja sogar blos einer Abteilung desselben, das Gehirn und insbesondere die An- häufungen von grauer Substanz in demselben. Der graue Kern des Rückenmarks, die grauen Ganglien des Gehirns, die grauen Rinden des letzteren entsprechen den Apparaten und Combinationen derselben, welche in elektrischen Leitungen angebracht sind. Sie wandeln die ihnen zugeführten Kräfte der Aussenwelt ihrer Einrichtung gemäss in ganz bestimmte andere um, der graue Kern des Rücken- marks, wohl auch noch die Ganglien des Hirnstammes in blosse Nisus, die Gross- hirnrinde in Sensationen und zwar in ihrem hinteren, dem Scheitel- und Hinter- hauptslappen zugehörenden Teile, in welchen die centripetalleitenden Fasern ein- treten, in blosse reine Gefühle, Empfindungen, Wahrnehmungen, im vorderen, dem Stirnlappen angehörigen Teile, aus dem die centrifugalleitenden Fasern aus- treten, die vorhandenen reinen Gefühle in Strebungen, Triebe, Willen, Gedanken, also sich thätig machen wollende Gefühle. Das Gehirn als Ganzes ist danach in Bezug auf das gesamte Nervensystem als eine Nebenleitung, Nebenschliessung, anzusehen, die wie ich in meinem Lehr- buch der Psychiatrie gesagt habe, sich zu der Hauptleitung verhält, wie ein mit einer galvanischen Batterie verbundenes Galvanoskop. Das Gehirn und nament- lich insofern es Organ der Sensationen, also des Bewusstseins, der Psyche, ist, ist darum auch dem Galvanoskop einer solchen Batterie durchaus zu vergleichen. Wie wir durch dieses die Ströme kennen lernen, welche die Batterie durchlaufen, ihre Richtung, ihre Stärke, Constanz oder Inconstanz, Continuität oder Disconti- nuität, so lernen wir durch unser Gehirn und mit uns jedes mit einem solchen oder einem entsprechenden Organe ausgestattete Tier, die Kräfte kennen, welche von der Aussenwelt her auf uns wirken oder auch, mit denen die Aussenwelt auf uns wirkt, und mit denen wir uns, je nachdem sie stärker oder schwächer sind, da- nach Lust oder Unlust bereiten, zuneigen oder abneigen, die wir darum begehren oder abwehren. 62 Mittelding zwischen den eigentlichen Perceptionen und Reaktionen. Sie stellen gewissermassen den Anfang dieser letzteren dar und um so mehr, je mehr sie aus blossen Gefühlen zu Strebungen, Trieben, Willen, Gedanken werden. Sie sind der Ausdruck des Anfangs der Molekularbewegung, die auf ihrer Höhe die Evolution darstellt, als deren endliche Wirkung wir die bezügliche Reaktion gewahren. Sie entsprechen also der Wärme, welche anderwärts unter analogen Verhältnissen entsteht. Es sind Äquivalente derselben und es fragt sich, ob nicht in der bei weitem grössten Mehrzahl der Fälle auch blos Wärme selbst, welche nur in ihren verschiedenen Farben und Tönen von dem bezüglichen, besonders gearteten Protoplasma in besonderer Weise empfunden wird. Sie gehören als solche dann entschieden schon der ergastischen Phase an, mag man sie in der Regel auch, wie ich es einst selbst gethan habe, noch als Apperceptionen zu den Perceptionen und mit diesen zur proergastischen Phase rechnen. Weil Ersteres jedoch wohl mehr der Fall sein dürfte, so ist auch die Möglichkeit vorhanden, sie nach dem Pflüger'schen Zuckungsgesetze und mit diesem wieder nach dem biologischen Grundgesetze überhaupt .zu betrachten und zu behandeln. Unter den nachstehenden Ab- handlungen findet sich daher auch eine, in welcher wieder ein- mal der Versuch gemacht worden ist, die bewussten, die psychi- schen Vorgänge, das psychische Leben überhaupt mit dem biologischen Grundgesetz in Einklang zu bringen, wie ich es bereits bei Abfassung meines Lehrbuches der Psychiatrie ge- than habe. 63 jk Die Elementarorganismen und das biologische Grundgesetz. Bacterium Termo ist wohl eins der gemeinsten Lebewesen, die es giebt, und die Formen, unter denen es vorkommt, sind mannigfach. Erscheint es einzeln, ein jedes für sich, so ist es oft recht beweglich und, wenn man Gelegenheit hat, es auf einem heizbaren Objecttisch zu untersuchen, so wird man bald erkennen, dass seine Beweglichkeit mit der Temperatur in Zusammenhang steht, unter welcher es sich befindet. Bei gewöhnlicher Zimmer- temperatur, d. h. einer solchen von 16—20°C. bewegt es sich nur sehr träge; bei einigen 20° C. bewegt es sich lebhafter, noch lebhafter bei einigen 30° C. Die grösste Beweglichkeit scheint es zwischen 35—38° C. zu besitzen. Steigt die Wärme höher, unter welcher es sich befindet, so lässt seine Beweglichkeit nach. Bei 40° C. verfällt es nach Ed. Eidam der Wärmestarre, aus welcher es indessen sich immer wieder erholen und zur alten Beweglichkeit zurückkehren kann; bei 50°C. doch wird dieselbe für immer vernichtet. So weit die Beweglichkeit des Bacterium Termo von der umgebenden Temperatur abhängig ist, sehen wir also, dass eine für das besagte Bacterium verhältnismässig geringe Steigerung dieser letzteren jene auch in einem geringen Masse steigert, ge- wissermassen nur anfacht, dass eine stärkere Steigerung der Temperatur eine stärkere Steigerung der Beweglichkeit zur Folge hat, dass über einen gewissen Grad der Temperatur- steigerung hinaus aber gerade das Gegenteil eintritt, die Be- weglichkeit nachlässt, erst gehemmt und endlich ganz auf- gehoben wird. 64 Was vom Bacterium Termo gilt auch vom Bacterium Lineola, von Bacillus subtilis, Ulna, von Spirilla und Spirochaete, sowie all’ den beweglichen Wesen hierher gehöriger Art. Mit steigender Wärme nimmt die Beweglichkeit derselben, die über- haupt erst bei einer gewissen Höhe der ersteren bemerkbar wird, zu. Hat die Wärme indessen wieder eine gewisse Höhe erreicht, welche zwischen 35—40 °C. liegt, so nimmt die Beweg- lichkeit auch wieder ab und hört endlich ganz auf. Dieselbe wird erst gehemmt und dann ganz aufgehoben, vernichtet. Wie die Beweglichkeit, so erweist sich auch die Fort- pflanzungs- beziehentlich die Vermehrungsfähigkeit der Bakterien und ihresgleichen in dem nämlichen Grade abhängig von der Temperatur, unter welcher sie leben. Nach Mitteilung des Herrn Loeffler vermehrt sich der Tuberkelbacillus nicht mehr unter 28° und nicht über 42° C. Am besten gedeiht, am raschesten vermehrt er 'sich bei Brutwärme, also bei 37—38° C. Von 28° C. aufwärts nimmt also seine Vermehrung beziehungsweise Vermehrungsfähigkeit mit Vermehrung der Wärme stufenweise zu. Hat die Wärme jedoch 37—38° C. erreicht, so nimmt darüber hinaus seine Vermehrung wieder allmählich, doch un- gleich schneller ab; sie wird gehemmt und, hat die Wärme 42% °C. erlangt, so wird sie ganz aufgehoben, ver. nichtet. Der Cholerabacillus vermehrt sich zwischen ı5 und 42°C. Bei ı5° fängt er‘-überhaupt erst an, Vermehrung zu zeigen. Mit zunehmender Temperatur nimmt auch diese seine etwaige Vermehrung zu. In der Brutwärme von 37—38° C. ist auch sie am regsten. In einer Temperatur darüber hinaus nımmt sie ebenfalls wieder ab, und bei 42 ° C. hört sie ganz auf; sie wird aufgehoben, wird vernichtet. Die Milzbrandbacillen vermehren sich nicht unter 14, nicht über 43 ° C. Ihre stärkste, beziehungsweise schnellste Vermehrung findet, wie die der vor- scenannten Bakterien, auch bei 37—38° C. statt. Was sich von diesen sagen liess, lässt sich auch von ibnen sagen. Zunehmende Wärme regt zuerst die Vermehrung, die Fortpflanzung an, fördert, beschleunigt sie sodann; hat sie aber ein gewisses Maximum, die sogenannte Brutwärme von 37—38° C., erreicht, so hemmt sie zuvörderst die Vermehrung und, endlich auf 43 °C. gekommen, hebt sie dieselbe vollständig auf. Ähnlich liegt es mit dem Diphtheriebacillus. Seine etwaige fer) Si Vermehrung fängt erst bei 18—20°C. an. Bei zunehmender Wärme nimmt dieselbe zu; bei Brutwärme erreicht sie ihren höchsten Grad. Dann zeigt sie sich gehemmt und bei einigen 40°C. endlich erloschen, aufgehoben. Globig*) ist bei seinen Untersuchungen über Bacterium -Wachstum bei ;o bis 70°C. auf ein Bakterium gestossen, dessen Vermehrung zwischen rund ı5 und 68—70°C. vor sich ging, aber bei etwa 60° am schnell- sten und üppigsten erfolgte. Von ı5 bis etwa 60°C. nahm die Vermehrungsthätigkeit zu und erreichte da ihr Maximum; von 60—65— 70°C. nahm sie wieder ab und erlosch dann gänzlich. Die fragliche Vermehrungsfähigkeit dehnte sich, so zu sagen, über ein Temperaturgebiet von 55°C. aus, zeigte sich aber gegen das Ende seiner Ausdehnung am energischsten. Dann sind Globig aber auch wieder Bakterien begegnet, deren Ver- mehrung nur innerhalb ı0"C. lag, erst bei 54°C. anfing und nicht über 65°C. hinausging, aller Wahrscheinlichkeit nach je- doch erst gegen diese letztere hin, bei 61—63°C., am kraft- vollsten sich machte. Kurzum die Vermehrungfähigkeit der Bakterien, soweit dieselbe von dem Einfluss der Wärme ab- hängig ist, aber gleichgültig; sonst, ob jene höher sein muss oder niedriger sein kann, zeigt ebenso wie ihre Beweglichkeit, dass geringe Wärmemengen sie um ein Geringes, grössere Mengen beide um ein Grösseres vermehren, dass verhältnismässig grrosse Wärmemengen sie aber wieder herabsetzen, hemmen, und dass verhältnismässig ganz grosse, grösste Mengen beide aufheben, vernichten. Durch Virchow ist gezeigt worden, dass Spermatozoen ganz gleich den Wimpern der Flimmerepithelien, welche in Folge von Ermüdung oder Wassereinwirkung zur Ruhe gekommen waren, wieder in Bewegung gerathen, wenn verdünnte Alkalien auf sie Einfluss gewinnen; und zwar lässt sich wieder nachweisen, dass ein gewisser Prozentsatz der Lösung die Bewegung gerade ins Leben ruft, sie anfacht, ein grösserer sie beschleunigt, fördert, ein noch grösserer sie wieder mindert, hemmt, und ein abermals vergrösserter sie aufhebt. Schwache Alkalien regen die Be- wegung der Spermatozoen ebenso wie die Flimmerbewegung an, starke vernichten sie. Ganz analog verhalten sich Lösungen von Salpeter und Kochsalz und nach Engelmann auch Säuren, *) Globig, Zeitschrift f. Hygiene v. Koch u. Flügge II. 1888 S. 295 u. ff. 5 Ber Alkohol und Ather, nur dass die bezüglichen Wirkungen der letzteren auf unendlich viel kleinere prozentische Lösungen der- selben eintreten. Wenn man einen Tropfen infusorienhaltiger Flüssigkeit, die längere Zeit in einem kalten Raume gestanden hat, unter dem Mikroskop beobachtet, so sieht man die verschiedenen Enchelys-, Colpoda-, Trachelius-, Paramecium-Arten, die etwa vorhandenen Rotatorien mehr oder minder zusammengezogen daliegen, nur von Zeit zu Zeit flimmern oder auch verhältnismässig träge, kurz- dauernde Bewegungen ausführen. Erwärmt sich die Flüssigkeit, in welcher sich diese Wesen befinden, so werden die Bewegungen derselben lebhafter, ausgiebiger. Das Flimmern ihrer Ober- fläche nimmt zu, ihre Ortsveränderungen erfolgen rascher, jäher, und bei einer Zimmertemperatur von 18—2o°C, kann das Alles schon so bedeutend sein, dass die genauere Beobachtung der Einzel- wesen dadurch eine sehr erhebliche Störung erfährt. Wird der Objekttisch durch eine passende Flamme erwärmt, so nehmen die beregten Bewegungen zu. Das genannte Flimmern wird stärker und stärker, die Ortsveränderungen erfolgen häufiger und häufiger, jäher und jäher. Colpoden und Paramecien insonders fahren wie wild durch einander, schiessen hin und her, und in dem Masse als die Temperatur des Objekttisches anwächst, wachsen zunächst auch noch diese Erscheinungen an. Im Gesichtsfelde des Mikroskopes findet eine wahre wilde Jagd statt. Dann auf einmal, wenn die Temperatur des Objekttisches eine noch höhere geworden ist, mässigen sich die genannten Bewegungser- scheinungen. Die einzelnen Wesen kommen zur Ruhe, das eine früher, das andere später, in grossem Ganzen doch zu gleicher Zeit; sie ziehen sich zusammen, wimpern langsamer und langsamer, werden zum Teil kugelig; einzelne machen noch eine Art krampf- hafter Zuckungen; dann liegen sie starr und regungslos da, meist um sich nie wieder zu bewegen. Ganz dieselben Vorgänge bekommt man an ihnen zu sehen, wenn man auf sie mehr oder minder differente Stoffe, kaustisches, beziehentlich kohlensaures Natron oder Kali, Kochsalz, Salpeter, Essigsäure, Salzsäure, Alkohol, Essigäther, Karminammoniak, einwirken lässt. Bringt man diese Stoffe gelöst oder ungelöst an den Rand des Deck- gläschens, so gewahrt man, dass in demselben Masse, als sie sich der Flüssigkeit unter diesem letzteren beimischen, was die 67 farbigen Mittel besonders leicht festzustellen gestatten, die frag- lichen Wesen unter demselben erst rascher und rascher mit ihrer gesamten Masse sich bewegen, in eine wahre Hatz geraten, dann langsamer und langsamer werden, blos noch wimpern und endlich, nachdem sie jedoch vielfach erst noch einen Teil ihres Inhalts entleert und eine vorübergehende Auflösung erfahren zu haben scheinen, mehr oder weniger kugelig zusammengezogen daliegen. Vorticellen erscheinen auf dieselben Wirkungen hin erst unruhig; sie schwanken hin und her, wirbeln lebhafter, dann ziehen sie häufiger und kraftvoller ihren Stiel zusammen und lassen, nachdem das geschehen ist, denselben rasch wieder er- schlaffen, so dass sie beinahe noch schneller, als sie sich zu- sammenzogen, wieder emporschnellen. Danach jedoch werden all diese Bewegungen langsamer und oberflächlicher; es findet blos noch ein Wirbeln statt; es erlischt auch dieses Wirbeln; die Wimpern stehen gerade aus; der ganze Körper ist wie auf- gebläht. Endlich ziehen sich die Wesen als Ganze kugelig zusammen, reissen dabei häufig vom Stiel, beziehentlich auch blos vom halben Stiel ab, und erscheinen im letzteren Falle als kugelige Körper mit einem schraubentörmigen Anhängsel. Eine ein gewisses Mass nicht übersteigende Wärmezufuhr, eine ein gewisses Mass nicht übersteigende Zufuhr von chemisch wirkenden Stoffen, gleichgültis welcher Art, steigert die Beweglichkeit der bezüglichen Wesen, fördert sie, erst mässig, dann stärker; über- steigt die Wärmezufuhr, die Zufuhr an den bezüglichen Chemikalien ein gewisses Mass, so wird die Beweglichkeit vermindert, ‚gehemmt, endlich aufgehoben und vernichtet. Amöben, Flagellaten zeigen ganz dasselbe Verhalten. Die untersuchten einschlägigen Wesen stammten aus der Nord- und Ostsee, aus Süsswasser, aus Gartenerde und Myxomyceten- sporen, welche in ein mit Wasser angefülltes Uhrglas aus- gesät worden waren. Eine aus der Ostsee erhaltene, der Amöba porrecta M. Schultze’s sehr ähnliche Amöbe zeigte bei der Einwirkung von Kalilauge eine sehr merkwürdige Abänderung in ihren Bewegungsverhältnissen. Die erwähnte Amoeba por- recta ist ausgezeichnet durch ihre Anfangs lappigen, später sich teilenden und endlich in lange feine Fäden weit hinaus er- streckenden Pseudopodien. Sie ist der Amoeba radiosa Ehrenb. ähnlich; aber die Pseudopodien dieser sind niemals in so lange, 5* 68 feine, nadelähnliche Spitzen ausgezogen, sondern, wenn auch spitz, so doch mehr keilförmig mit verhältnismässig breiter Basis. Der Amoeba radiosa Ehrenb. nicht unähnlich ist die Amoeba verrucosa Ehrenb. Dieselbe aber hat in ihrer charak- teristischsten Form sehr viel kürzere, mehr abgerundete Pseudo- podien und nähert sich damit der Amöba guttula Perty’s, deren Pseudopodien wie Tropfen aus ihrem Leibe hervorquellen und den- selben auf grössere oder kleinere Strecken, indessen immer nur wenig sich ausbreitend, umfliessen, beziehungsweise randartig um- geben. Die besagte Am. porrecta gelangte in Seewasser zu meiner Beobachtung. Sie sandte langsam ihre langen nadel- förmigen Pseudopodien aus breiten Ursprungslappen aus, zog sie wieder ein, sandte sie wieder aus und vollzog dies wech- 'selnde Spiel mit anscheinend stets gleicher Kraft. Da setzte ich dem Seewasser etwas Kalilauge zu. Die Amoebe fing an, ihre Pseudopodien rascher und anscheinend stärker zu bewegen. Sie zog dieselben rascher ein, streckte sie rascher wieder aus, allein nicht mehr bis zu der vorigen Länge und als dünne, feine Fäden oder Nadeln, sondern in den kürzeren und mehr keilförmigen Zipfeln, welche die Am. radiosa auszeichnen. Nachdem ich dann noch etwas Kalilauge der Präparatflüssigkeit zugesetzt hatte, ver- ringerte sich wieder die Beweglichkeit der Pseudopodien. Die- selben wurden nicht mehr so rasch vorgeschoben und zurück- gezogen wie bisher; sie wurden auch nicht mehr so weit und so spitz vorgeschoben, sondern blieben kürzer und stumpfer, mehr abgerundet. Nachdem ich dann abermals etwas Kalilauge zugesetzt hatte, wurden die Pseudopodien noch langsamer und noch weniger weit vorgeschoben; sie traten als kleine Buckel, Tropfen hervor, die sich dicht um den Rand des Leibes hin- zogen, ihn blos säumend, und endlich hörte das Pseudopodien- spiel ganz auf. Die Amöbe lag zu einer Kugel zusammengezogen, wohl totenstarr, da. Die sich mässig rasch bewegende Amoeba porrecta hatte durch wenig Kalilauge sich in eine sich schneller bewegende Am. radiosa, durch etwas mehr Kalilauge in eine sich wieder langsamer bewegende Am. verrucosa, durch noch mehr der Lauge in eine träge Am. guttula verwandelt, endlich ihre Wandlungen eingestellt, weil ihre Bewegungsfähigkeit auf- gehoben war. Solche und ähnliche Beobachtungen hat auch Czerny ge- 69 macht. Derselbe fand nämlich, dass die von ihm in einer Koch- salzlösung gezüchteten Amöben ihre Art sich zu bewegen änder- ten, wenn durch Verdunstung oder Zusatz von Wasser die be- treffende Kochsalzlösung stärker oder schwächer wurde. Amöben von dem Charakter der Am. diffluens Ehrenb., welche ihren Namen davon hat, dass sie zeitweise ganz zu zerfliessen scheint, nahmen den Charakter der Am. verrucosa an, wenn die Lösung durch Verdunstung stärker wurde; diese aber nahmen wieder den Cha- rakter der Am. radiosa an, sobald die fragliche Lösung durch Zusatz von Wasser verdünnt und damit schwächer geworden war. Bei an- deren Amöben salı er, dass nach Zusatz von Kochsalz zu der sie enthaltenden Flüssigkeit sich die Pseudopodien verlängerten und in ungleich lebhaftere, z. T. spiralige Bewegungen übergingen. Czerny hat also auch wahrgenommen, dass eine gewisse Reiz- zunahme die Bewegungsfähigkeit beschleunigt, eine stärkere ver- mindert, dass diese aber wieder abgeschwächt jene, nämlich die Bewegungsfähigkeit, auch wieder erhöht. Aus einer Am. diffluens wurde durch zu viel Salzzusatz in Folge der Verdunstung des Wassers eine Am. verrucosa, und als der betreffende Salzgehalt durch Zusatz von Wasser verringert wurde, ein Am. radiosa, von denen beiden, wie oben mitgetheilt worden, die erstere sich langsamer, die letztere etwas rascher bewegt. Den Amöben sehr ähnlich und bis zu einem gewissen Grade gleiche Körper sind die weissen Blutkörperchen, die Lymph-, Eiter-, wandernden Bindegewebskörperchen, welche bekanntlich alle zusammengehören und, wenn auch nicht gerade ein und dasselbe sind, so sich doch gewiss in mannigfacher Weise ver- treten und ersetzen können. Werden nun weisse Blutkörperchen oder Eiterkörperchen des Menschen, die am leichtesten zu haben sind, in einer möglichst indifferenten Flüssigkeit, Serum, Jod- serum, physiologischer Kochsalzlösung, unter dem Mikroskop auf einem heizbaren Objekttische untersucht, so wird man bei gewöhnlicher Zimmertemperatur, solcher von 18—20°C., kaum irgend welche Bewegungserscheinungen zu Gesicht bekommen. Erst wenn die Temperatur über 20°C. steigt, bemerkt man bei anhaltender Aufmerksamkeit sich langsam vollziehende ober- flächliche Formänderungen an ihnen. Dieselben werden zwar mit zunehmender Temperatur immer deutlicher; allein erst wenn die letzere 33°C. überschritten hat, werden sie so bedeutend 70 dass sie auch zu Ortsveränderung führen. Doch sind diese letzteren zunächst noch geringfügig. Erst jenseits 35°C. nehmen dieselben, mögen sie auch immer noch sehr träge erfolgen, einen unverkennbar amöboiden Charakter an. Es werden, wenn auch kurze, knopfförmige, so doch wohl gekennzeichnete Pseudo- podien vorgestreckt und an ihnen, nachdem dieselben grösser und grösser geworden sind, zieht sich das bezügliche Körper- chen wie an einem ausgeworfenen Ankertau langsam vorwärts. Bei 37—38°C. werden diese Bewegungen lebhafter. Die knopf- förmigen Pseudopodien werden zu langen fädenförmigen, die sich vielfach verästeln, mit den Verästelungen benachbarter zu- sammenfliessen und dadurch Plaques, Flecken, bilden, auf die sich danach die Körperchen hinziehen. Zwischen 33—40°C. geht das Alles noch lebhafter vor sich. Die fraglichen Pseudopodien und ihre Verästelungen und Verbindungen entwickeln sich zu einer verhältnismässig grossen Länge; die Körperchen ziehen sich an ihnen ebenfalls verhältnismässig rasch fort und kommen so-auch verhältnismässig rasch vorwärts. Nach 40°C. lassen dagegen die Bewegungen an Grösse und Energie wieder nach. Doch sind dieselben bei 47—48° C. noch immer ganz ansehnlich. Dann aber werden sie langsam, träge, und endlich hören sie auf. Bei 50o—zı°C. dürften die weissen Blutkörperchen nach M. Schultze ihre Widerstandsfähigkeit gegen höhere Tempera- turen verlieren, und das entspricht dem, was wir durch W.Kühne über die wandernden Bindegewebskörperchen wissen: bei 50— 52°C. starben die betreffenden Körperchen ihm ab. Die weissen Blutkörperchen, Eiterkörperchen und ihre Ver- wandten, zumal die von mir vorzugsweise untersuchten des Menschen, sind sehr empfindliche Wesen. Der leise Druck schon, den. ein auf der sie enthaltenden Flüssigkeit halb schwimmendes Deckgläschen auf sie ausübt, lähmt sie. Die bezüglichen Deck- gläschen müssen, um den besagten Druck hintan zu halten, mit Leisten oder Füsschen von Wachs, Staniol u. dgl. m. versehen sein. Ebenso beeinflusst sie auch schon die wachsende Dichtig- keit des sie enthaltenden Serums ganz ausserordentlich. Wenn nicht besondere Schutzmassregeln getroffen sind, so verdunstet an den Rändern des Deckgläschens fortwährend etwas von ihm, und es selbst wird dadurch dichter, zäher. So wie sich das nun geltend macht, verändern die in Rede stehenden weissen 2a: Blutkörperchen, Eiterkörperchen ihre Bewegungsformen, obgleich Temperatur, Licht und sonstige Verhältnisse unverändert geblieben sind. Auf kurze Zeit werden dieselben gefördert. Die Pseudo- podienänderung wird lebhafter; die Pseudopodien selbst werden länger; die Körperchen ziehen ihnen schneller nach; allein bald werden alle Bewegungen langsanger, träger, weniger ausge- sprochen. Die in Betracht kommenden Pseudopodien erscheinen dann dicker und umfänglicher, werden langsamer und weniger weit vorgestreckt; langsamer schleppt sich -das übrige Körper- chen ihnen nach. Wird das Serum durch Verdunstung noch dichter, so werden die beregten Bewegungen noch langsamer, noch träger, noch weniger ausgiebig. Die Pseudopodien werden in Knopf- oder Tropfenform und dem entsprechend natürlich nur auf ganz kurze Entfernungen hervorgestreckt; die ganze Körpermasse wölbt sich wohl auch einmal gleichzeitig, wie ein Buckel, hervor und das Alles geht so langsam, ich möchte sagen, so bedächtig vor sich, dass man sich Zeit und Mühe nicht verdriessen lassen darf, um es ordentlich zu sehen. Schreitet die Verdunstung und mit ihr die Verdichtung des Serums noch weiter fort, so kommen nur noch Ausbuchtungen der betreffenden Körperchen zu Stande und endlich bleiben auch diese aus. Die Körperchen runden sich ab, nehmen mehr oder weniger deutliche Kugelform an. Verhielten sich somit die Körperchen zuerst bis zu einem gewissen Grade einer Am. porrecta nicht unähnlich, so wurden sie danach zu einer Art Am. verrucosa, dann zu einer Art Am. guttula und endlich zu dem runden Körper, den auch die Am. porrecta aus der Öst- see bildete, nachdem sie mit zu viel Kalilauge behandelt worden war. Wird nun das verdickte Serum wieder verdünnt, so be- kommen wir, wie zuerst Thoma berichtet hat, die nämlichen Erscheinungen in umgekehrter Reihe zu sehen. Ist aber das Stadium erreicht, in welchem sich die weissen Blut- und Eiter- körperchen einer Am. porrecta ähnlich verhalten, und es wird nicht mit der Verdünnung des Serums aufgehört, so werden die einschlägigen Bewegungen bald wieder gehemmt. i Die Körper- chen werden gleichsam gelähmt, quellen auf, lösen sich auf; die sie mehr oder weniger erfüllenden Elementarkörperchen gerathen: dafür, jedes für sich, in eine immer lebhafter werdende Be- wegung; sie werden endlich frei und führen für eine längere oder kürzere Zeit ein eigenes Leben besonderer Art. An den Speichelkörperchen hat Brücke schon vor drei Jahrzehnten etwas ganz Ähnliches beobachtet. Es ist daran ge- legentlich schon in dem einleitenden Artikel Leben und Lebens- äusserungen S. 28 erinnert worden. Dass auch die roten Blutkörperchen eigener Bewegungen fähig sind, darf als eine wohl bewiesene Thatsache gelten. Die roten Blut- körperchen des gesunden Menschen lassen, wie zuerst M. Schultze nachgewiesen hat, eine Contractilität unter gewöhnlichen Verhält- nissen indessen nur schwer erkennen; werden sie dagegen auf einem heizbaren Objekttisch untersucht, so zeigen sie, wie ich fand, schon bei45°C.,*) wieM.Schultze fand, bei 50°C. deutlich amöboide und damit ortsverändernde Bewegungen. Bei 50—52°C. fangen sie an, längere Fortsätze zu treiben, die bei Steigerung der Wärme oft eine bedeutende Länge erreichen und mehr oder minder deutliche Schlangenbewegungen machen. Anden Fäden steigen Teilchen der übrigen Blutkörperchenmasse in Kügelchen- oder Tröpfchenform in die Höhe; es kommt zu einer übermässigen Expansion und daraufhin selbst zur Zerbröckelung und zum Zerfall der Körperchen. Nähert sich die fragliche Temperatur 537—58°C., so ziehen die Blutkörperchendie Fortsätze mitsamt den ihnen anhängenden Kügel- chen und Tröpfchen wieder ein; ihre sonstigen amöboiden Bewe- gungen werden langsamer und langsamer, zugleich oberflächlicher und oberflächlicher, und noch weiter, bis zu 60° C. erwärmt, nehmen sie Kugelgestalt an und bilden keine wechselnde Form mehr. In einer Wärme darüber hinaus sterben sie ab. Wird ein Blutstropfen eines gesunden Menschen unter dem Mikroskop mit Harnstoff behandelt, indem man Krystalle desselben an den Rand des Deckgläschen legt und sie daselbst in dem sie berührenden Teile der Blutflüssigkeit schmelzen lässt, so zeigen die Blutkörperchen dieser letzteren ein verschiedenes Verhalten und zwar ganz nach dem Masse, dass sie von jenem beeinflusst werden. Sie werden zuvörderst alle blasser, dabei kleiner und runder und deutlich amöboid. Fortwährend wechseln sie ihre Form. Hier treiben sie Höcker, dort buchten sie sich aus; in der einen Richtung spitzen sie sich zu; in der anderen verdicken sie sich, indem sie wie kolbig anschwellen. Bei vielen gleitet eine Art Wellenbewegung über ihre Oberfläche hin. *) Siehe Beobachtungen an roten Blutkörperchen der Wirbeltiere. Virchow’s Arch. für pathol. Anat. u.s. w. Bd. 78, 1879. S. 17. 73 Sodann, wo der Harnstoff bereits stärker eingewirkt hat, ver- kleinern sie sich noch mehr und bedecken sich vielfach mit Spitzen und Zacken, die eine sehr verschiedene Länge haben und bald sich zu strecken, bald sich zu verkürzen scheinen. Geschieht letzteres, so werden dieselben öfter wie geknöpft. Die be- züuglichen Knöpfchen können sich verlieren, indem sie in die Hauptmasse der jeweiligen Blutkörperchen zurücksinken; sie können aber auch abfallen, und das betreffende Blutkörperchen zerbröckelt und zerfällt damit. Bei noch stärkerer Einwirkung des Harnstoffes verkleinern sich die Blutkörperchen noch mehr; sie erscheinen als vollkommen runde, blasse, graue Scheiben, die sehr bald regungslos daliesgen und nicht selten ein ge- schrumpftes Aussehen an den Tag legen. Die geschilderten Vorgänge und Zustände an gesunden rothen Blutkörperchen des Menschen, welche sich unter ent- sprechenden Verhältnissen an den roten Blutkörperchen sämt- licher Wirbeltiere, der Säuger, Vögel, Reptilien, Amphibien und Fische, zeigen, treten in viel schärferer Weise und unter dem Einfluss viel weniger eingreifender Mittel an solchen her- vor, welche in krankhafter Weise beeinflusst worden sind und dadurch eine Schwächung ihres Bestandes erfahren haben. Die roten Blutkörperchen fiebernder Menschen fand schon M. Schultze von erhöhter Contractilität. Rommelaere beobach- tete sodann, dass dieselben zu leichten amöboiden Bewegungen auch schon bei einer Zimmertemperatur von 15—20°C. geneigt seien, und ich habe danach feststellen können, dass die roten Blutkörperchen von Typhuskranken, deren Körpertemperatur 39, bis 40,0°C. erlangt hatte, ebenfalls schon bei einer Zimmer- temperatur von ı5—20° C. all’ die lebhaften Bewegungen zu ‚erkennen gaben, welche gesunde, d. h. solche von gesunden Menschen, erst bei einigen 50°C. zur Erscheinung kommen lassen. Dasselbe zeigt sich bei den roten Blutkörperchen aus Extravasat- blut. W. Preyer, welcher die ersten einschlägigen Beobach- tungen gemacht hat, erklärt die absonderlichen Formen, welche solche Körperchen annehmen, für ganz gleich denen, die auch in mit Harnstoff behandeltem Blute vorkommen, .und ich habe dem immer nur beistimmen können. Die bezüglichen Extra- vasate müssen aber bei Fröschen z. B. mindestens 6—3 Tage alt sein, wenn die roten Blutkörperchen in ihnen die fraglichen 74 Bewegungen in charakteristiischer Form zeigen sollen. Sind die Extravasate erheblich älter, so erscheinen die Blutkörperchen wieder weniger beweglich, oder regungslos, zum Teil wirklich tot und in Zerfall. Die roten Blutkörperchen also, welche contractil und darum bewegungsfähig sind, zeigen unter gewöhnlichen Verhältnissen diese Eigenschaften nur ın geringem Masse, gleichsam nur ange- deutet; unter besonderen Umständen lassen sie dieselben jedoch in ganz ausgezeichneter Weise zu Tage treten. Werden die roten Blutkörperchen des Menschen erwärmt, so werden sie zwischen 45—50° C. amöboid. Zwischen 50—55° C. steigt die diesem amöboiden Wesen zu Grunde liegende Beweglichkeit; die Blutkörperchen treiben lange Sprossen, zerfallen dabei. Zwischen 55—60° C. beschränkt sich wieder mehr und mehr ihre Beweglichkeit; sie werden regungslos starr; Wärmestarre befällt sie, und um 60° C. herum sterben sie ab. Eine gewisse,, verhältnismässig geringe Wärme facht ihre grössere, . ortsver- ändernde Bewegungsfähigkeit an, eine stärkere vermehrt, steigert, fördert dieselbe; eine noch stärkere, um den Ausdruck zu ge- brauchen, eine starke Wärme beschränkt diese Fähigkeit wieder, hemmt sie, und eine noch stärkere, in Ansehung der Verhältnisse gewissermassen stärkste, hebt sie ganz auf, vernichtet sie. Das- selbe zeigt sich in Folge der Einwirkung des Harnstoffes. Kleine: Mengen oder schwache Lösungen desselben regen die Form- - veränderungen der roten Blutkörperchen an; etwas grössere: Mengen oder stärkere Lösungen davon vermehren, verstärken,, beziehentlich fördern die besagten Formveränderungen; noch. grössere Mengen aber, was dasselbe besagt, starke Lösungen. des Harnstoffes beschränken, mässigen, d. h. hemmen sie wieder, und verhältnismässig grösste Mengen oder stärkste Lösungen von Harnstoff heben sie. ganz auf. Sind die roten Blutkörperchen! geschwächt, weil in ihrer Ernährung beeinträchtigt, krank, wie z.B. durch fieberhafte Zustände der Personen, von denen sie stammen, oder durch den Ausschluss aus dem Kreislauf und des Teilnahme an der Oxydation, wie in Extravasaten, so treten alle die geschil- derten Bewegungen und Veränderungen in denselben schon früher‘ auf, bei einer Zimmertemperatur von 18—20°C. oder einer nur ge- ringen Steigerung derselben. Beiläufig gesagt: das Erregungsge- setz des ermüdeten, des kranken und absterbenden Nerven macht: 75 sich geltend, das eben darin besteht, dass alle Erscheinungen des Erregungsgesetzes des gesunden Nerven sich früher als ge- wöhnlich und damit auch wie verfrüht, beschleunigt, krampfhaft, einstellen. Kurzum wir sehen überall in der Welt der Elementarorga- nismen das biologische Grundgesetz sich geltend machen, das eine Mal deutlicher, das andere Mal weniger deutlich, hier früher dort später, aber allenthalben in derselben Weise. Ueberall zeigt sich: Kleine Reize fachen die Lebensthätigkeit an, mittel- starke fördern sie, starke hemmen sie und stärkste heben sie auf, aber durchaus, ich möchte schon hier sagen, individuell ıst, was sich als einen schwachen, einen mittelstarken, einen starken oder sogenannten stärksten Reiz wirksam zeigt. 76 2 Der gehaubte Kanarienvogel, die Möwechen-, Perrücken- und Pfauentaube und das biologische Grundgesetz. Es ist Jedermann bekannt, dass es gehaubte Kanarienvögel giebt, und dass die Nachkommenschaft derselben häufig Kahl- köpfigkeit zeigt. In Betreff ıhrer Züchtung sagt Rusz*): „Die Tolle des Zuchtvogels muss federweich und gleichmässig aufgerichtet, nicht aber an einer Seite niedergedrückt oder in der Mitte und am Genick dünn und kahl sein, sonst bekommen die Jungen zuweilen halb oder ganz kahle Köpfe. Ebenso soll man nicht zwei Ge- haubte paaren; weil sie nur selten schöne Vögel, sondern meistens blos kahlköpfige erzeugen. Doch haben die Züchter schon mehrmals abweichende Erfahrungen gemacht und z. B. von einem schön gehaubten Männchen und fehlerhaft gehaubten Weibchen gleicherweise wie von gut gehaubten Paaren prächtige Haubenvögel, allerdings neben einigen fehlerhaften mit kahlen Stellen, gezüchtet.“ Das Wesentliche davon ist, dass gehaubte Kanarienvögel, also solche mit stärker entwickelten Kopffedern, in ihrer Nach- kommenschaft häufig kahlköpfige zeigen, nur dass dies um so sicherer der Fall ist, wenn die fragliche stärkere Entwickelung der Kopffedern ı. an beiden Eltern sich findet, also wenn beide Eltern gehaubt sind, und wenn 2. die gedachte Haube, findet sie sich auch nur bei einem Teile der Eltern, nicht ganz regel- mässig gebildet ist; wenn die Federn derselben nicht weich und gleichmässig aufgerichtet, sondern mehr hart, struppig und durch einander gedreht erscheinen, oder gar wenn etliche derselben fehlen und dadurch zu kahlen Stellen Veranlassung gegeben haben. *) C. Rusz. Der Kanarienvogel. Magdeburg 1885. S. ı1ı2. 17 Wie kommt das? So viel ich weiss, haben bisher nur zwei Biologen das Vorkommnis zu erklären gesucht, Darwin und Hensen. Beide nehmen an, dass die Kahlköpfigkeit der Nach- kommen gehaubter Kanarienvögel die Folge accumulativer Wirkung bei der Vererbung sei. Jener sagt, die Federn in den Hauben der bezüglichen Vögel stehen weniger dicht als normal, fehlen selbst hie und da, so dass kahle Stellen in ihnen vorkommen. Die ausgesprochene Kahlköpfigkeit der Nachkommen gehaubter Kanarienvögel sei damit nur die Erbschaft der ange- deuteten Kahlköpfigkeit ihrer Eltern mit weiterer Entwickelung der- selben. Dieser, Hensen, führt die Angelegenheit auf eine Wirbel- bildung zurück. Die Haube der Vögel komme dadurch zu Stande, dass die Federn von dem Scheitel aus nach allen Seiten fortbiegen, dass also ein Wirbel entstehe. Sei nun auch noch die Neigung vorhanden, einen ausgesprochenen Wirbel zu bilden, und ver- stärke sich diese Neigung, so rücken die Federn weiter auseinander und es komme zu Kahlheit. Nach beiden Biologen ist also die Haube der Kanarienvögel mit einer gewissen Federarmut, einer verhältnismässigen Kahlheit des Kopfes verbunden. Werden zwei sehaubte Vögel gepaart, so vererbt sich mit der Neigung zur Haube auch die zur Kahlköpfigkeit, allein vor dieser kann jene nicht zur Ausbildung gelangen; sie kommt in Wegfall und die Kahlköpfigkeit zur Herrschaft. Es ist das wie mit der Erb- schaft von allen Tugenden und Fehlern, von allen Vorzügen und Schwächen. Sowohl diese wie jene werden von den Vorfahren ererbt, oft in verstärktem Masse; aber die Fehler und Schwächen lassen die Tugenden und Vorzüge nicht in gehöriger Weise zur Geltung kommen, überwuchern und erdrücken sie damit gleich- sam und richten so früher oder später die ganzen Individuen zu Grunde, obgleich diese auf ihre Tugenden und Vorzüge hin alles Zeug besassen, etwas Tüchtiges zu werden und zu leisten. Indessen ganz so liegen die Sachen doch nicht; namentlich die Wirbelbildung seitens der Federn, durch die Alles erklärt werden soll, bedarf der Richtigstellung. Dass viele Hauben- bildungen der Vögel dadurch zu Stande kommen, dass die Federn der letzteren am Scheitel nach allen Richtungen ab- biegen, mag bis zu einem gewissen Grade richtig sein; die Hauben der Hühner, der Enten scheinen dafür zu sprechen; allein dass den Hauben anderer, und zu diesen gehören die 78 der Kanarienvögel, sowie der Tauben, keine Wirbelbildung zu Grunde liegt, das darf als sicher angenommen werden. Bei den Kanarienvögeln geht mit der Haubenbildung allenfalls eine Scheitelbildung Hand in Hand; bei den Tauben fehlt aber auch diese in der Regel. Das, worauf es indessen in jedem Falle an- kommt, ist eine Vergrösserung der bezüglichen Federn. Die Federn des Kopfes, insbesondere des Hinterkopfes müssen hyper- trophieren, müssen dabei mehr oder weniger paratrophieren, wenn sich eine Haube bilden soll, und daraus erklärt sich Alles. Das Erste, was man nun bei einer Haubenbildung der Kanarienvögel gewahrt, ist, dass die Kopffedern sich zum Teil vergrössern, zum Teil anders gestalten. Jenes trifft vornehmlich die Federn um den Schnabel, den Hinterkopf; dieses zeigt sich bei fast allen Kopffedern. Beim ungehaubten, gewöhnlichen Kanarienvogel sind die Federn um den Schnabel herum ausserordentlich klein. Den Schnabel unmittelbar umgeben nur kurze, borstenähnliche Gebilde. Dieselben sind der Ausdruck in der Haut sitzen gebliebener oder die Haut nur wenig überragender, fahnenloser Kiele. Demnächst folgen etwas längere Kiele mit kurzen, wie verküm- merten, rudimentären Fahnen, und nach diesen erst kommen wohl- ausgebildete, mehr oder weniger rundlich-eiförmige Federn, welche den Kopf wie den ganzen Körper flach wie Dachziegeln, mit einer leichten Richtung nach aussen, bedecken. In der Nähe des Schnabels sind diese Federn auch noch sehr klein, kaum ı mmtr. lang und 0,75—0,80—0,90 mmtr. breit; nach dem Scheitel, dem Hinterkopf hin sich jedoch rasch vergrössernd messen sie an diesem selbst etwa ı cmtr. in der Länge und wieder ‚75—0,80—0,90 cmtr. in der Breite. Die einzelnen Federn erscheinen weich, leicht nach unten gekrümmt, ihr Schaft dünn, namentlich der Kiel saftig glänzend. Die Fahne ist bis etwas über die Mitte flaumweich, darüber hinaus starrer. Dort ist sie weiss oder grau, hier gelb oder gelbgrau, grünlich oder schwärzlich gefärbt. Die Strahlen der Fahne sind lang, die mittleren die längsten, etwa halb so lang wie der Schaft, manchmal wohl auch noch länger. Da sie aber nicht wagerecht abstehen, sondern empor streben, so wird dadurch in Verbindung mit den gegenseitigen Strahlen die Feder nie breiter als lang. Die untersten Strahlen stehen noch am meisten wagerecht ab, die mittleren nur unter einem Winkel 793 von 45°; die dann folgenden nähern sich immer mehr der Richtung des Schaftes, und die obersten liegen diesem selbst dicht an. Jeder Strahl ist gut gesondert und zumal die unter- sten weich und flatterig. Ihre Fäserchen verhalten sich ent- sprechend. An den untersten Strahlen sind sie lang und dünn, an den mittleren etwas kürzer, und an den oberen und ober- sten, am meisten genäherten, am kürzesten. Beim gehaubten Kanarienvogel nun mit schöner, gleich- mässiger, den ganzen Kopf bedeckender, fehlerloser Haube, die offenbar blos das Anfangsstadium der Haubenbildung überhaupt darstellt, haben sich die blossen, wenigstens dem Anscheine nach, blossen, kurzen Kiele sowie etwaigen borstenähnlichen Ge- bilde dicht um den Schnabel herum vergrössert. Sie sind länger geworden und zeigen den Ansatz zu einer Fahne, tragen rudi- mentäre Fahnen wie beim haubenlosen gewöhnlichen Kanarien- vogel die Federgebilde der nächst folgenden Zone. Der mittlere, die Stirn einnehmende Teil der darauf folgenden, kleinen, kaum mmtrlangen, flach niederliegenden Federn hat sich vergrössert, aufgerichtet, nach vorn über die Schnabelwurzel, also nach oben gekrümmt. Etwas Ähnliches zeigen die sodann folgenden, den Scheitel und Hinterkopf besetzenden Federn. Auch sie scheinen sich vergrössert und dabei wenigstens die Neigung angenommen zu haben, sich aufzurichten, d. i. mehr als gewöhnlich aufrecht zu stehen. Indessen die Vergrösserung ist wohl nur scheinbar. Ob die bezüglichen Federn länger geworden sind, lasse ich dahingestellt sein; breiter sind sie jedenfalls nicht geworden, sondern im Gegenteil, auffallend viel schmäler. Aber ganz so wie die die Stirn bedeckenden sind sie entschieden derber, starrer, steifer geworden. Ihr Schaft lässt das noch weniger erkennen; doch auffallend zeigen es die Strahlen desselben und 80 namentlich deren Fäserchen. Die Strahlen selbst erscheinen sämt- lich dicker. An die Stelle der untersten, weichen und flattrigen, fast horizontal abstehenden sind mehr harte, steife, unter einem Winkel von vielleicht 45° nach oben strebende getreten. Die mittleren Strahlen treten bereits unter einem sehr spitzen Winkel von vielleicht 30—25° ab, und die obersten liegen dem Schafte alle ziemlich dicht an. Die Feder hat sich zusammengezogen; dabei haben die Fäserchen der Strahlen dasselbe Schicksal wie diese selbst erfahren. Sie sind auch steifer, starrer ge- worden, liegen dem Strahl mehr an; aus Fädchen, die sie sonst darstellen, sind eine Art Stacheln geworden, welche der Ober- fläche der Strahlen anhaften. Bei diesem Derber- und zum Teil auch Grösser-Werden der Federn hat sich die Richtung derselben auch mehr oder weniger geändert. Die Stirnfedern haben sich nach vorn ge- krümmt, fallen auf die Schnabelwurzel; die Scheitelfedern haben ihre leichte Richtung nach aussen verstärkt. Dadurch entsteht zwischen den beiderseitigen Scheitelfedern eine Furche, ein Scheitel, und zwischen ihnen und den Stirnfedern ein trichter- förmiger Raum, ein Wirbel, von dem der besagte Scheitel seinen Anfang nach hinten nimmt. Der Wirbel ist aber nur selten eine wirklich kahle Stelle. Häufig stehen an ihm, beziehentlich auf ihm ein Paar Federn, die, weil sie gleichsam nicht wussten, wohin sie sich wenden sollten, senkrecht in die Höhe ragen. Der besagten Haube, beziehentlich Haubenbildung liegt dem Allen nach eine Hypertrophie der Kopffedern zu Grunde, eine Hypertrophie, bei welcher sich schon ein paratrophisches Mo- ment geltend macht wie bei den Säugetieren, zumal dem Men- schen bei der Hypertrophie der Haare und Nägel, die, während sie in Folge hypertrophischer Vorgänge an Dicke zunehmen, 8l gleichzeitig in Folge paratrophischer Zustände spröder und brüchiger werden als normal. Bei einer weiteren Entwickelung der fraglichen Haube er- scheinen die Stirnfedern zunächst noch ziemlich unverändert. Zwar machen sie einen etwas steiferen, struppigeren Eindruck; doch lässt sich eine augenfällige Ursache dafür nicht recht nach- weisen. Bei den Scheitel- und Hinterkopffedern, die ebenfalls steifer und struppiger geworden sind und deshalb mehr in die Höhe stehen, als sie es im Anfangsstadium der Haubenbildung zu thun pflegen, findet sich jedoch als Grund dafür, dass sich dieselben noch mehr zusammengezogen haben als im vorigen Stadium, so dass ihre Breite sich zu ihrer Länge nur wie 1:3,:4: 5 verhält, und dass sie selbst demgemäss teilweise sehr schmal und mehr oder minder nach einer Seite sichelförmig gebogen erscheinen. Als Grund hierfür wieder zeigt sich, dass ihre Strahlen, die etwas kürzer geworden zu sein scheinen, noch steiler in die Höhe steigen als vordem, unter Winkeln von 20°, ı0° und darunter, und dass sie darum ganz dicht sowohl unter einander als auch dem Schaft anliegen. Die zweite und nament- lich die dritte Fig. auf S. So werden das versinnbildlichen. Ein gleiches Schicksal haben auch die Fäserchen der Strahlen erfahren. Auch sie sind kürzer geworden und liegen dem Strahl beziehentlich der Strahlrippe so dicht an, dass sie selbst bei starker Lupenvergrösserung zu fehlen scheinen. Sie fehlen wohl auch wirklich einmal. Das ganze Verhalten der Federn deutet auf einen herabgesetzten Ernährungsvorgang, beziehungsweise Ernährungszustand in ihnen, auf eine Hypotrophie, die sie befallen hat, und zwar eine solche, bei der sich auch ein para- trophisches Moment geltend macht, ähnlich wie bei dem alternden Haar, das, während es dünner und dünner wird, sein Pigment verliert und an seiner Elastizität Einbusse erleidet. Während also die Stirnfedern, vielleicht auch noch die ersten Scheitelfedern sich noch stark hypertrophisch erweisen, sind die der hinteren Scheitelgegend und des Hinterkopfes bereits einer Hypotrophie verfallen. Denn jede Hypertrophie geht nach längerem oder kürzerem Bestande in eine Hypotrophie und durch diese endlich in eine Atrophie über, und zeigt sich das nicht an einem einzigen Individuum, so doch um so sicherer in einer durch Abstammung verbundenen Individuenreihe, welche in dem 6 82 Verhältnis von Vater, Sohn, Enkel, Urenkel u. s. w. steht. Die Züchtung und Geartung sowie die Verwilderung und Ent- artung beruhen darauf. Wo die Hypotrophie der Scheitel- und Hinterkopffedern in unseren Fällen schon eine vorgeschrittenere ist, da zeigt der Hinterkopf auch schon einen Mangel an Federn und in Folge dessen eine bald mehr bald minder grosse kahle Stelle. An derselben befinden sich öfters zerstreute, verkümmerte Federn; öfters indessen ist sie auch ganz kahl. Die fragliche Hypotrophie hat zugenommen, ist an den ganz kahlen Stellen in Atrophie übergegangen. In einem späteren beziehentlich weiter vorge- schrittenen Stadium des ganzen Vorganges finden sich auch kleinere oder grössere kahle Stellen auf der hinteren Scheitel- gegend ein; sie fliessen unter sich und mit der am Hinterkopfe zusammen und bilden eine einzige mitunter recht ansehnliche kahle Platte, welche gelegentlich bis tief in den Nacken, beziehungsweise bis auf den Hals hinabreichen kann. Wo die kahle Platte in so ausgedehnter Weise angetroffen wird, da sind nicht selten die ihr benachbarten Kopf- und Halsfedern, also die der Backen und des Halses in der von den eigentlichen Kopffedern mitgeteilten Weise verändert und zumal hypertrophiert. Dadurch entsteht denn aber eine Art steifer Kragen, welcher sich bis nach der Brust hin erstreckt und besonders bei lebhafteren Bewegungen des Vogels deutlich hervortritt. Im Folgenden werden wir bei einer ähnlichen Angelegenheit auf ein ganz gleiches Verhalten der betreffenden Federn zurückkommen. Hier genüge diese kurze Bemerkung. Bei Darwin*) finde ich, dass an solchen weit- gehenden kahlenPlattenauch wunde Stellenbeobachtet wordensind. Die berührte Atrophie würde in den entsprechenden Fällen sich nicht blos auf die Federn, sondern auch auf die übrige Epidermis ausgedehnt haben und vielleicht in Beziehung gebracht werden können zu der Widerstandslosigkeit der Epidermis und ihrer Gebilde, wie sie der Skrophulose des Menschen allem Anscheine nach zu Grundeliegt. Doch sehen wir im Augenblicke davon ab. Die Kahlköpfigkeit der Nachkommen gehaubter Kanarienvögel hängt jedenfalls nicht mit der Wirbelbildung zusammen, welche bei ihnen vorkommt. Denn diese findet sich am Vorderkopfe, und *) Darwin. Variiren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation. Deutsch von J. Victor Carus. II. Auflg. 1873. I. 328. 83 die entsprechenden Wirbel mit etwa vorhandenen Scheiteln er- halten sich, so lange überhaupt noch von einer Haube die Rede sein kann. Die Kahlköpfigkeit entsteht vielmehr am Hinterkopfe und breitet sich zunächst unbeschadet jener immer weiter nach vorn und hinten aus. Was schliesslich wird, darüber habe ich keine eigene Erfahrung. Darwin*) glaubt, dass der ganze Prozess auf einer Krankheit beruhe. Der Prozess fängt mit einer Hypertrophie an, geht in eine Hypotrophie über und endet mit einer Atrophie. Eine von Geschlecht zu Geschlecht immer tiefer greifende Er- nährungsstörung, die zuletzt zu Wundwerden, wie es scheint, also zu einer Verschwärung, d.h. zu molekularem Brand führt, liegt ihm jedenfalls zu Grunde. Dass diese Ernährungsstörung gemildert, gehoben, wie durch Vererbung verstärkt, so auch durch Vererbung beseitigt werden kann, sich nur bei einzelnen oder gar blos bei einem Individuum derselben Brut zeigt, während die anderen Glieder derselben mehr oder weniger normal er- scheinen, spricht nicht dagegen. Das ist ein Schicksal, das sie mit allen ähnlichen Zuständen und Vorgängen teilt. Ein diesbezüglicher Versuch lieferte für alles Das sehr be- achtenswerte Zeugnisse. Ich besorgte mir ein Paar gehaubter Vögel. Das Männchen hatte eine kleinere, das Weibchen eine grössere kahle Platte am Hinterkopfe. Doch war die letztere nicht so gross, dass sie sich ohne Weiteres bemerkbar gemacht hätte. Die Haubenfedern mussten erst umgebogen werden, um sie sehen zu können. Es wurden von dem Paare drei Junge ausgebrütet. Eins davon starb sehr bald; eins war nur mit ver- einzelten Härchen besetzt; das dritte hatte einen ziemlich dicht und lang behaarten, oder, wie die Züchter sagen, bedaunten Kopf. Jenes, das zu zweit erwähnte, entwickelte ein ganz nor- males Federkleid. Sein Kopf bedeckte sich mit glatt anliegen- den Federn und unterscheidet sich zur Zeit in dieser Beziehung durch nichts von dem eines gewöhnlichen, ungehaubten Vogels. Von einem Paar gehaubter Vögel ist mithin ein durchaus glatt- köpfiger Vogel erzeugt worden. Dieses dagegen, das drittge- nannte, entwickelte eine Haube, welche nach etwa vier Wochen als eine sehr kräftig entwickelte und stark ausgebildete bezeichnet werden musste. Bei der Mauser indessen verlor der Vogel die- Zialzc: 6* 84 selbe zum grössten Teil. Der Vorderkopf, der Hinterkopf bis tief in den Nacken und auf den Hals hinunter wurden kahl, der Vorderkopf dabei so verletzbar, dass er nach Stössen an das Gitter des Bauers leicht blutete und fast immer wie entzündlich geschwollen aussah. Nur der Scheitel war noch mit unregel- mässig stehenden, kurzen, krüppelhaften Federn besetzt. All- mählig jedoch verlor sich die Verwundbarkeit der Kopfhaut. Sie bedeckte sich bis auf eine verhältnismässig kleine Stelle am Hinterkopfe wieder mit Federn, und nach beendigter Mauser war eine, wenn auch nicht so üppige, Haube wie die erste, wieder die Zierde des Vogels. Das Daunenkleid, ein guter Teil auch noch des ersten Federkleides des Kopfes zeigte eine Hyper- trophie, Hyperplasie. Bei der ersten Mauser gingen dieselben - in eine Hypotrophie, beziehentlich Hypoplasie und teilweise Atrophie, beziehentlich Aplasie über. Zugleich wurde die Epidermis vornehmlich des Vorderkopfes so hinfällig, dass sie bei jedem einigermassen kräftigen Anstoss zerstört wurde und die von ihr bedeckte Cutis nicht mehr ordentlich schützte. Diese blutete darum leicht und befand sich dauernd in einem entsprechend entzündlichen Zustande. Nach der Mauser verlor sich das Alles zwar dem Anscheine nach wieder; allein eine gewisse, hier schwächer, dort stärker markierte Hypotrophie, zum Teil Atrophie, beziehungsweise Hypoplasie, zum Teil Aplasie war nichtsdestoweniger doch zurückgeblieben. — Weitere Versuche missglückten. Das eben erwähnte Paar starb während der zweiten Brut, nachdem das Weibchen eben das sechsteEi gelegt hatte. Andere Paare legten nur sogenannte Wind- eier oder, trotzdem sie lange zusammen gehalten wurden, gar keine. Einen dem geschilderten Vorgange durchaus ähnlichen bekommt man auch bei Tauben zu beobachten. Denn auch unter diesen kommen gehaubte vor, und manche Rassen, wie die Perrückentauben, haben davon ihren Namen. Auch bei den Tauben fängt die Haubenbildung damit an, dass sich gewisse Kopffedern, die Hinterkopffedern, zu vergrössern und aufzurichten beginnen, dass sie also hypertrophieren und dabei mehr oder weniger paratrophieren. Setzt sich der Prozess auf die Nach- barschaft fort, werden namentlich die Nacken-, etliche der seit- lichen Halsfedern, manchmal bis nach der Brust hin, von ihm 85 ergriffen, so entstehen die Perrücken, von denen die bezüglichen Tauben ihren Namen haben. : Den Perrückentauben stehen sehr nahe die Möwchen. Mir ist von verschiedenen Taubenzüchtern gesagt worden, die Perrückentauben seien wohl nur eine Möwchenart. Bei den Möwchen nun, besonders den sogenannten deutschen, vergrössern und richten sich die mittleren Halsfedern auf, so dass dadurch eine Art Jabot entsteht, das von der Brust bis zur Kehle reicht. Manchmal spaltet sich dasselbe, greift auf beide Seiten des Halses, den Nacken, den Hinterkopf über, und dann sieht das Möwchen wie eine Perrückentaube aus, ist am Ende auch eine; nur dass dieselbe auf umgekehrtem als dem gewöhnlichen Wege entstander ist. Schnabel, Füsse, Zehen sind bei beiden so gut wie gleich. Wenn das Jabot der Möwchen stärker ausgebildet ist, so zeigt sich in ihm nicht selten eine Art von Kräuselung; die Federn bilden an einer bestimmten Stelle eine Art von Wirbel, Trichter, auf dessen Grunde die nackte kahle Haut erscheint. Der Wirbel, Trichter, kann sich vergrössern; es erscheint dann an seinem Grunde eine mehr oder minder grosse Stelle, die statt Federn blos Kiele, Speilen oder Spulen mit sehr rudimentären Schaften, allenfalls noch sehr rudimentären Fahnen trägt. Während die peripherischen Federn des Wirbels oder Trichters hyper- trophisch sind, sind die centralen desselben hypotrophisch und selbst atrophisch, beziehentlich, weil der einschlägige Prozess schon bei ihrem Werden sich geltend machte, hypoplastisch, selbst aplastisch geworden. Bei sehr starkem, weit hinauf gehendem Jabot, bei stark entwickelter Perrücke, finden sich auch sonst noch federarme Stellen am Halse und sehr regelmässig um den Schnabel herum. Die sonst gut entwickelten, wenn auch kleinen Federn der Umgebung desselben sind ebenfalls durch Speilen oder Spulen ersetzt, indem sie hypo- oder auch aplastisch wur- den, weil ihre Matrix hypo- oder auch atrophisch geworden war. Weiter habe ich leider den beregten Vorgang nicht ver- folgen können, weil die Tauben- wie alle anderen Tierzüchter nur solche Tiere ziehen, welche die Reinheit der Rasse dar- stellen und sich durch dieselbe auszeichnen. Alle Tiere, welche die Rassencharaktere, beziehentlich die schönen Seiten der Rasse nicht mehr an sich tragen, statt derselben vielleicht das Gegen- teil aufzuweisen haben, werden als entartet oder ausgeartet bei Seite geschafft. Über die Weiterentwickelung der Rassen in ihrer Rassenrichtung ist darum so gut wie nichts bekannt und am allerwenigsten über die Ursachen, die das zur Folge haben. Aber auch aus dem wenigen, über die Möwchen- und Perrücken- tauben Beigebrachten ergiebt sich, dass zunächst die charakter- gebenden Federn hypertrophieren, später, d. ı. in der Nach- komnenschaft hypotrophieren und endlich selbst atrophieren. Beziehentlich der Pfauentauben habe ich mir von Züchtern sagen lassen, dass bei fortgesetzter Inzucht der Schwanz unan- sehnlich werde und verkümmere. Was die Pfauentaube ist, ist sie auf Grund der Vermehrung und Vergrösserung ihrer Schwanz- federn. Ihre Schwanzfedern, die bei der Gattung Columba über- haupt ı2 betragen, haben an Zahl zugenommen, das Doppelte ja das Dreifache der ursprünglichen erreicht;*) dazu sind sie länger und breiter geworden, nach meiner Schätzung bis um die Hälfte, und haben eine etwas anders geformte Fahne bekommen. Wenn der Schwanz verkümmert, sollen die Federn desselben zunächst an Zahl abnehmen, kürzer, schmäler und unregelmässig in ihrer Fahne werden; sie hypotrophieren also und paratrophieren zu gleicher Zeit. Eine Hypertrophie mit gleichzeitiger Paratrophie der Schwanzfedern bedingt also das Charakteristische der Pfauen- tauben, eine entsprechende nachfolgende Hypotrophie und anders- artige Paratrophie die Ausartung derselben. Fassen wir die besprochenen Erscheinungen zusammen und verfolgen sie, soweit sie bekannt sind, von ihrem Auftreten bis zu ihrem Erlöschen, so ergiebt sich, dass die in Betracht kom- menden Abweichungen in der Befiederung der beregten Vögel zuerst auf hypertrophischen, dann hypotrophischen, endlich atro- phischen Vorgängen beruhen, und dass den ersten beiden dabei noch ein gewisses paratrophisches Moment, durch das sie etwas Fremdartiges bekommen, beigemischt ist. Dieses para- trophische Moment muss aber auftreten. Denn jede Hyper- ergasie, jede Hypergasie ist immer zugleich auch eine Parergasie. Jeder chemische Prozess, zu sehr beschleunigt, zu sehr verlang- samt, verläuft gleichsam in anderen Bahnen uud führt zu anderen *) Darwin, Entstehung der Arten u. s. w. deutsch von Bronn II. Auf- lage 1863 S. 50; das Variiren der Tiere und Pflanzen u. s. w. deutsch von J. Victor Carus. II. Auflage 1873. I. S. 162. 87 Resultaten. Die Gährungsvorgänge vornehmlich legen davon die vollgültigsten Zeugnisse ab. Eine gewisse Widerstandslosigkeit, in gewissen ihrer Bezirke grössere Beeinflussbarkeit der Epidermis, beziehentlich des epi- dermoidalen Blattes dieser Vögel ist die Ursache davon. Und da kommt denn wieder das biologische Grundgesetz zur Gel- tung: „Schwache Reize fachen die Lebensthätigkeit an, mittel- starke fördern, starke hemmen und stärkste heben sie auf“ oder: „Dieselben alltäglichen Reize, welche bei Durchschnittsindividuen gerade die Unterhaltung und Durchschnittsentwickelung der Lebensthätigkeit bewirken, beschleunigen, d. i. fördern dieselben bei mittelstark reizbaren, weil widerstandsloseren, hemmen sie bei stark reizbaren, weil stark, d. i. sehr widerstandslosen, und heben sie auf, vernichten sie bei höchst reizbaren, weil höchst widerstandslosen Individuen.* Das auf die einschlägige Befiede- rung der in Frage gebrachten Vögel übertragen, heisst: „Die- selben Ursachen, welche auf Grund einer gewissen Widerstands- losigkeit, davon abhängigen Biegsamkeit, Anpassungsfähigkeit, z. B. an die Forderungen des Züchters, zuerst eine stärkere Aus- bildung gewisser Federn im Gefolge haben, dieselben Ursachen führen in der geschwächten Nachkommenschaft der bezüglichen: Vögel erst zu einer Verkümmerung dieser oder auch mit ihnen durch ernährungsvermittelnde Wege in Verbindung stehender Federn, endlich zu Entwicklungsmangel derselben und damit zu Kahlheit, Nacktheit der entsprechenden Körperstellen.“ ———m 0 88 a} Die Heilkunst und das biologische Grundgesetz. Bei meinem Streben, dem biologischen Grundgesetze die Anerkennung zu verschaffen, welche es meiner Ansicht nach verdient, bekam ich, bis dahin ganz allein für dasselbe ein- stehend, recht unverhofft von einer Seite Hülfe, von der ich sie am allerwenigsten erwartet hatte. Aus dem Gebiete der Pharma- kologie und Therapie kam sie. Hugo Schulz veröffentlichte zwei Arbeiten aus demselben, die so reich an Beweisen für die Richtigkeit jenes Gesetzes waren, dass sie demselben seitdem, wie ich glaube, eine wichtige Stütze geworden sind. Ihrer Wichtigkeit und der Art und Weise halber, wie Schulz die Sache begründet hat, muss ich indess etwas näher auf sie eingehen, zumal auch die weiteren Gesichtspunkte, welche sie eröffnen, nur dann gehörig verstanden werden können. Die erste dieser Arbeiten „Zur Lehre vonder Arzneiwirkung“ *) geht von folgenden Gesichtspunkten aus: Die Veränderungen, die ein Medikament in der Thätigkeit eines Organes hervorruft, können sich unter bestimmten Bedingungen in Wirkungsbildern dar- stellen, welche einander völlig entgegengesetzt sind. Ein und dasselbe Organ, von ein und demselben Agens beeinflusst, sehen wir entweder ausgeprägt vermehrte physiologische Leistungen verrichten, oder mit entschieden herabgesetzter Energie und verminderter Thätigkeit seine Existenz nach aussen hin deutlich machen. Wie die Erfahrung lehrt, steht diese Verschiedenheit der Wirkung zunächst in einem direkten Abhängigkeitsverhält- nisse zu der Dosis des angewandten Medikaments. Sie hängt davon ab, ob von irgend einem Arzneimittel viel oder wenig *) Virchow's Archiv für pathol. Anat. u. s. w. Bd. 108, 1887. 89 mit den Elementen eines Organs — den dasselbe constituierenden Zellencomplexen — in Berührung tritt. Es handelt sich dem- nach um die auffallende Thatsache, dass wir unter gewissen Umständen eine bestimmte Arzneiwirkung in ihr Gegenteil ver- kehren können. Boecker hat schon vor 30 Jahren auf diese interessante Erscheinung hingewiesen mit den Worten: „Wir sind gewohnt, von kleineren Dosen kleine, von grösseren be- deutendere Wirkungen der Arzneien zu erwarten, müssen aber bedenken, dass es Umstände geben könne, unter welchen kleine Arzneigaben das Umgekehrte von grösseren hervorbringen“. Rein theoretisch betrachtet gilt nun der Satz: „dass kleine Arzneigaben das Umgekehrte von grösseren bedingen“ eigentlich durchgehend, aber in der Praxis steht ihm der Umstand ent- gegen, dass die genannte Erscheinung nicht in allen Fällen mit gleicher Deutlichkeit wahrgenommen zu werden pflegt. Jegliche Veränderung in der Funktion und Beschaffenheit eines Organs in Folge der Einwirkung eines Arzneistoffes ist der Ausdruck einer Reizwirkung auf seine Bestandteile, seine zelligen Elemente. Die Physiologie lehrt, dass es im letzten Grunde nicht auf die Qualität des Reizes ankommt, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen, sondern dass es wesentlich die Quantität desselben ist, welche die Differenz nach aussen bedingt. Diese quantitative Wirkung in ihren wechselnden Ausdrucks- formen wird am deutlichsten erkannt an verschiedenen Phasen der Nerventhätigkeit, wie sie in dem Pflüger’schen Zuckungsgesetze sich darstellen. Bei ihm sehen wir klar, wie ein und dieselbe Ursache, der elektrische Strom, bei demselben Organ, den Nerven, je nach seiner Stärke scheinbar ganz entgegengesetzte Effekte hervorruft. In der Wirklichkeit ist der Gegensatz indessen nur bedingt durch die spezifischen, dem Nervensystem innewohnen- den Eigenschaften. Wird ein motorischer Nerv von einem auf- steigenden Strome durchflossen, so treten je nach der Strom- stärke bekanntlich folgende Erscheinungen auf: f Schliessung — Zuckung. \ Öffnung — Ruhe. f Schliessung — Zuckung. \ Öffnung — Zuckung. f Schliessung — Ruhe. l Öffnung — Zuckung. ı. Schwacher Strom 2. Mitttelstarker Strom 3. Starker Strom Vergleicht man ı und 3, so findet man eine völlige Um- kehrung des Wirkungsbildes. Warum? ist bekannt. Beim ab- steigenden Strom ist das Verhältnis durchweg dasselbe, nur muss bei ihm ebenfalls aus bekannten Gründen der Strom stärker gewählt werden. Eine gleiche Umkehr der Reaktion auf den gleichen, aber quantitativ verschiedenen Einfluss zeigt, wie man weiss, der Nerv auch bei thermischer und chemischer Reizung. Eine Modifikation erleidet dieses Gesetz aber bekanntlich beim pathologisch veränderten, beim kranken, beim absterbenden Nerven. Für den genügt schon ein verhältnismässig schwacher Strom, um je nach dem Stadium des Absterbens, in dem er sich befindet, sämtliche drei oben aufgezählten Reaktionsformen her- vorzurufen. Die dem Nerven durch den Prozess des Absterbens innewohnende Menge von Reiz summiert sich mit der Kraft des schwachen Stromes(?) und bringt dadurch ein Bild hervor als ob ein gesunder Nerv durch einen mittleren oder einen starken Strom gereizt worden wäre.”) Ausgehend von dem Gesagten sucht nun Schulz den Nachweis zu liefern, dass auch für die Wechselbeziehung zwischen Medikament und Organ Gesetze bestehen, welche direkt in Parallele gestellt werden können zu dem, was wir von dem Verhalten des Nerven bei elektrischer Reizung wissen. Denn der wechselnde Ausdruck, den arzneiliche Reize an den ver- schiedenen Organen hervorrufen, ist abhängig von der inneren Beschaffenheit und äusseren Anordnung einer im Ganzen und Grossen überall identischen Substanz, des Protoplasmas. Und ebenso, wie die Wirkung irgend eines Agens auf den Nerven, seiner Intensität entsprechend von Stufe zu Stufe fortschreitend im wechselnden Bilde sich darstellt, so zeigt uns auch jede andere Vereinigung von Zellen, jedes aus ihr hervorgegangene Organ, eine wechselnde Reaktion gegen den Eingriff der klein- sten, der mittleren und der grossen Dosis eines Medikaments. Der Satz: „Jeder Reiz bedingt auf eine einzelne Zelle oder die aus Zellengruppen zusammengesetzten Organe entweder eine Vermehrung oder eine Verminderung ihrer physiologischen Leistungen, entsprechend der geringeren oder grösseren Intensität des Reizes“, gilt deshalb auch in Bezug auf letztere. *) Vergl. S. 74 und 75. Schulz führt dann aus, Nasse habe gefunden, dass die Thätigkeit des Speichelferments durch Kochsalz in der Weise abgeändert werde, dass, setzt man die Fermententwickelung an sich —= 100, sich diese verhalte wie a) Kochsalz = o pCt., Fermentwickelung — 100 b) 5 NIT r — 130 bezw. 116 c) » SE [U er ” == 12 » 103 d) a Il, ” Sn er selbst habe dementsprechend gefunden, dass die Kohlensäure- menge bei der Vergährung von Zucker, wodurch die Energie des Gährungsvorganges selbst bestimmt werde, sich verhalte ı. bei Zusatz von Ameisensäure wie: pCt. ccm. a) Ameisensäure — O, Kohlensäure desselb. Quantums Zuckers = I, b) ® = 50.05 5 5 ah k: — 0,00 c) & —20,025 er R r a — 70,99 d) 5 —0,01 4 ke ® A — 1720 €) Y — 20,005 : 5 a ® — 71,08 2. bei Zusatz von Thallintartrat wie: pCt. ccm. a) Thallintartrat — O0, Kohlensäure desselb. Quantums Zuckers — 1, b) 5 — 16) = = e O2 c) 5 —12,5 5 “ % ner = 40382 d) 2 TO 4 & R Sr ==0,99 €) S — 05 : 5 5 Bu, 27 f) 33 —HOM 4 e n 2 = 2,38 g) 5 — 10:05 5 N 3 BR 2,02 und zieht daraus den Schluss, was ihm in ähnlicher Weise auch schon Arsen, Jod und Sublimat gelehrt haben, dass Stoffe, welche in grösserer Menge die Gährung zu beschränken im Stande sind, das Gegenteil bewirken, kommen sie in geringerer Menge zur Verwendung. Er sucht dann durch eigene sowie die Beobachtungen Anderer zu beweisen, dass es auch mit der Arzneiwirkung einer grossen Reihe anderer Stoffe z. B. des Alkohols, des Kampfers, der Digitalis, des Morphiums, der sogenannten Balsamica und Aethereo-Oleosa, z. B. des Copaiva- balsams und der Juniperuspraeparate, ferner des Arsens, Phos- phors und Quecksilbers sich gerade so verhalte. Die Arznei- wirkung überhaupt folge darum im grossen Ganzen dem Zuckungsgesetze vom normalen Nerven, d. h. sie folgt dem Nervenerregungsgesetze schlechtweg. Ist das aber der Fall, so wird das natürlich auch in krank- haften Zuständen stattfinden, und die Arzneiwirkung wird dem Zuckungsmodus des kranken oder absterbenden Nerven ent- sprechen, und wie bei diesem bereits schwache elektrische Ströme, schwache Reize überhaupt, Effekte hervorrufen können, welche der normale Nerv nur bei mittleren oder starken Strömen liefert, so werden auch kleine Gaben von Medikamenten auf kranke Organe dieselbe Wirkung ausüben, welche erst grössere oder ganz grosse auf gesunde haben. „Jedes kranke Organ zeigt gegenüber irgend welchem Arzneistoff, der über- haupt im Stande ist, auf dasselbe wirken zu können, eine veränderte Reaktion, denn seine Erkrankung be- dingt eine Schwäche seiner physiologischen Leistung.“ Schulz zeigt nun weiter, dass verschiedene Arzneistoffe zu verschiedenen Organen in ganz bestimmten Beziehungen stehen, so das Chinin zur Milz, das Arsenik zu den Drüsen, namentlich zu den Lymphdrüsen, das Cyanguecksilber zur Rachenschleim- haut, der Tart. stibiatus zur Lunge, speziell zur Bronchial- und Trachealschleimhaut, die Ipecacuanha, bezüglich das Emetin, zur Darmschleimhaut, das Eisen und Secale cornutum zum Ge- fässsystem, das Wismuth zur Magenschleimhaut; er zeigt, dass andere eine andersartige, sogenannte spezifische Wirkung aus- üben, indem sie den erkrankten und durch ganz bestimmte Gifte, die bekannten Ptomaine, in bestimmter Weise veränderten Nähr- boden für die Weiterentwickelung der entsprechenden patho- genen Bacillen in ungünstiger, für das bezügliche Individuum darum aber günstiger Weise beeinflussen, so das Calomel die durch das Typhusgift veränderte Darmschleimhaut, die Salicyl- säure die durch das Gift des akuten Gelenkrheumatismus affızierten Gelenke, das Chinin die durch das Gift des Wechselfiebers vor- nehmlich ergriffene Milz. Schulz tritt damit zwar als ein ganz entschiedener Vertreter der Lokaltherapie auf; aber er kämpft in Anbetracht des Besprochenen doch vornehmlich für die Darreichung kleiner Dosen der bezüglichen Arzneien. Denn diese wirken eben in dem erkrankten Organe nach Analogie der Reize im erkrankten und absterbenden Nerven. Während sie in einem gesunden Organe gar keine oder kaum bemerkenswerte 93 Wirkungen, ebenso wenig wie im übrigen Körper hätten, wirkten sie in diesem, nämlich dem erkrankten Organe, nach seiner noch vorhandenen Widerstandsfähigkeit, bald mehr, bald minder, wie sonst grössere Gaben. Schulz fasst deshalb zum Schlusse die Ergebnisse seiner Untersuchungen in folgenden Sätzen zusammen: ı) Die Wirksamkeit eines Medikaments hängt zwar in erster Linie von der engeren oder weiteren Beziehung ab, die zwischen ihm und irgend einem Organ besteht, 2) Die physiologische Wirkung lead eines Medi- kamentes auf ein Organ ist aber abhängig von der Quantität des Arzneimittels, in der Art, dass je nach der zur wirklichen Aktion gelangenden Menge Erschei- nungen auftreten, die in dem Zuckungsgesetz eine völ- lige Analogie finden. 3) Der letzte Satz unterliegt bei pathologischen Fostanden der Organe, also tür die Therapie, den nämlichen Modifikationen, die wir für das Zuckungs- gesetz vom absterbenden Nerven kennen. Ks bedarf unter bestimmten pathologischen Verhältnissen nur eines geringen Quantums eines Arzneimittels, um den Effekt zu erzielen, den man, vom normalen Organ aus- gehend, erst von grösseren Dosen erwarten müsste. In der zweiten der gedachten Arbeiten: „Ueber Hefegifte“,*) sucht Schulz nachzuweisen, dass das, was er in der vorigen in Bezug auf die tierische Zelle gezeigt hätte, auch für die Pflanzenzelle Gültigkeit habe. In einer grossen Reihe sorg- fältig angestellter Versuche, deren Ergebnisse durch Kurven verdeutlicht werden, zeigt er, dass dieselben Substanzen, welche in grösserer Menge als Gifte auf die Hefenzellen wirken und die Gährung hemmen oder gar autheben, in geringer Menge sich als Reize in Bezug auf jene erweisen und diese begünstigen. Von einigen Substanzen, z. B. Kupfervitriol oder Salicylsäure hatte schon die Erfahrung gelehrt, dass sie unter Umständen die Hefe zu energischerer Arbeit veranlassen könnten; warum? und dass dem ein allgemein gültiges Gesetz zu Grunde liegt, hat jedoch erst Schulz dargethan. Seine Versuche erstreckten *) Pflüger’s Archiv für die gesamte Physiologie, Band XLII, Bonn 1888. (25 S. mit 7 Tafeln). 94 sich auf die stärksten Gifte, Sublimat, Jod, Brom, arsenige Säure, Chromsäure, Salicylsäure, Ameisensäure; bei allen aber dasselbe Ergebnis! KleineDosen derselben vermögendie Thätigkeit der Hefe auf kürzere oder längere Zeit bedeutend über die Norm zu steigern, Sublimat z. B. bei einer Verdünnung von 1:700000 bis 1:500000, Jod bei einer solchen von 1: 600000 bis ı : 100000, Brom bei einer solchen von ı : 400000 bis I : 300000, arsenige Säure bei einer Verdünnung von 1: 400000, Chromsäure bei einer solchen von 1:6000 bis 1: 5000, Salicylsäure bei einer eben solchen von ı : 4000, Ameisensäure bei einer Verdünnung von 1:40000 bis 1: 10000, am stärksten bei ı : 30000. Noch stärkere Verdünnungen jedoch lassen nur geringen oder auch gar keinen Ein- fluss der bezüglichen Gifte mehr erkennen, und schwächere, bezüglich stärkere ihrer Lösungen setzen stufenweise die Energie der Gährung herab, bis sie selbige ganz aufheben. Schulz kommt deshalb zu dem Schlusse: „Was ich in meiner oben erwähnten Untersuchung für die tierische Zelle nachzuweisen suchte, trifft für die Pflanzenzelle ebenfalls zu und ich glaube ein Recht zur Aufstellung des Satzes zu haben, dass jeder Reiz aufjede lebendige Zelle eine Wirkung ausübt, deren Effekt hinsichtlich der Zellentätigkeit umgekehrt proportional ist der Intensität des Reizes. Von zwei Zellen wird diejenige am leichtesten auf einen Reiz von bestimmter Grösse reagieren, die vermöge ihrer inneren Beschaffenheit eine geringere Widerstandsfähigkeit besitzt, bei starker Reizwirkung erliegt sie früher, stirbt unter Umständen schneller ab, bei stark herabgesetztem Reiz wird sie eventuell eher eine deutliche Ver- mehrung ihrer Lebensenergie sichtbar werden lassen als eine durchaus normale Zelle, die unter derselben Bedingung scheinbar ganz unberührt bleibt.“ Was sich zunächst aus den beiden Arbeiten ergiebt, ist, dass das Nervenerregungsgesetz, wie ich das bereits wiederholt ausgesprochen hatte, in der That nicht blos für den Nerven seine Gültigkeit hat, sondern sich auch auf alle übrigen tierischen Gewebe, die Tiere selbst und dann auch auf die Pflanzen und ihre Elemente erstreckt, dass es somit nicht blos ein die Nerven und das Nervenleben, sondern das Leben überhaupt beherrschendes Gesetz ist und der ganzen Art und Weise nach, wie es sich äussert, als das biologische Grundgesetz bezeichnet werden 95 kann. Es ist das Gesetz, nach dem sich alle Lebensvorgänge regeln und vollziehen. Im weiteren ergiebt sich sodann aus den beiden Arbeiten, wie in gewissen Fällen sich diese Vorgänge regeln und vollziehen und, wird Gelegenheit geboten, was gerade den Arzt angeht, wie manche tiefe Einblicke in das Wesen der Arzneiwirkung und das zu thun sie erlauben, worauf es in der Therapie gerade ankommt. Auf die Widerstandsfähigkeit des Individuums und seiner Organe lenkt Schulz vorzugsweise oft das Augenmerk und hebt hervor, dass diese ganz besonders zu berücksichtigen sei, wenn es sich um therapeutische Eingriffe handelt. Er redet deshalb auch, in Anbetracht der in allen Krankheitszuständen gesunkenen Widerstandsfähigkeit, im All- gemeinen den kleinen Gaben von Arzneimitteln das Wort, indem er betont, dass in widerstandslosen, kranken Körpern, beziehungs- weise Organen, schon kleine Gaben der bezüglichen Mittel die Wirkung haben müssen, welche in widerstandsfähigen, gesunden Körpern oder Organen erst grössere Gaben derselben an den Tag legen. Obgleich nun das auch tagtäglich zu sehen ist, obgleich bis zu einem gewissen Grade davon auch schon seit Langem in der Praxis Gebrauch gemacht worden ist, indem für Erwachsene, für Halbwüchsige, für grössere, für kleinere Kinder, für Männer, für Frauen dieselben Arzneien unter denselben sonstigen Ver- hältnissen in verschieden grossen Mengen gegeben wurden, so ist das doch im grossen Ganzen noch nicht zum vollen Verständnis gekommen, und die Verabreichung der bezügliehen Medikamente im Allgemeinen noch kaum in den kleinen Gaben erfolgt, als das den Untersuchungen von Schulz nach sein könnte und häufig wohl sogar sein müsste. Von welch’ riesenhafter Bedeutung für die gesammte The- rapie, namentlich aber die durch Medikamente bedingte, das sein muss, liegt auf der Hand. Mit einer Reihe herkömmlicher Vor- schriften und Gebräuche wird vollständig zu brechen sein. Das Individualisieren bei der Behandlung wird noch viel mehr All- gemeingut der Aerzte werden müssen, als es bis jetzt schon der Fall ist, und die Verabreichung der gut gewählten Medikamente in kleinen Gaben wird viel öfter stattzufinden haben, als man für jetzt vielleicht noch glaubt. Sage man doch nicht: „Was soll solch’ ein Minimum wohl nützen?“ Wie viel Schwefel ist in den Quellen von Aachen, Weilbach oder gar Landeck, Baden 96 bei Wien und Zürich enthalten, und ist erunwirksam? Wie viel Arse- nik findet sich in den Wässern von Baden-Baden und Cudowa, und gilt derselbe, namentlich mit Bezug auf gewisse Kachexien, nicht ge- rade als ein Vorzug derselben? Wie viel Jod, Brom trifft man in den Solen von Kreuznach, Tölz, Krankenheil, Adelheidsquelle oder selbst Hall in Ober-Österreich und Inowrazlaw an, und schreibt man nicht insbesondere ihnen die Wirkung auf die Skrophulose zu, welche von jenen so günstig beeinflusst wird? Wie viel Lithion ist in den Wässern von Baden-Baden, Ems, Bilin, Salzbrunn, selbst Radein vorhanden, und wird nichtsdesto- weniger gerade das Lithion als wirksamster Bestandteil derselben gegen Gicht und Rheumatismus gepriesen, gegen welche ganz ähnliche Wässer, aber ohne dasselbe sich indifferent erweisen? Einige Zahlen werden das noch besonders auffallend erscheinen lassen. Die Aachener Wässer enthalten in einem Liter, also 1000 Gramm Wasser nur 0,0056 Schwefel, die Wässer von Baden- Baden nur 0,007 dreibasisch arsenigsauren Kalk, die von Cudowa nur 0,0025 Arsen überhaupt, von den genannten Solen, Tölz-Krankenheil nur 0,117 Jodnatrium, Adelheids- quelle 0,030 Jodnatrium und 0,060 Bromnatrium, Hall in Ober- Östreich 0,040 Jodmagnesium und 0,060 Brommagnesium, und von den erwähnten Lithionwässern, Baden-Baden nur 0,002 bis 0,005, Ems 0,004— 0,006, Bilin 0,010, Salzbrunn 0,010— 0,015, Radein 0,040 des bezüglichen Lithion. Selbst die an ihm reichsten Quellen, Salzschlirf und Asmannshausen, besitzen davon auf 1000 Gramm nicht mehr als 0,2 —o,3, und was die Arsenwässer von Levico und Rocegno betrifft, welche in 1000 Teilen 0,001—0,01 arsenige Säure haben, so können dieselben hier nicht in Betracht kommen, da sie unverdünnt zu Heilzwecken innerlich gar nicht benutzt werden können. — Sodann aber denke man erst einmal an den Einfluss riechender Stoffe auf nervöse Individuen! Orangenblüten, Jasmin (Philadelphus coronarius), Tagetes-, Pyrethrum-, Allium-Arten, Oscillarien, Beggiatoen, trocknendes Gras, beziehungsweise frisches Heu rufen Kopfschmerzen, Übelkeit, selbst Erbrechen durch ihren blossen Duft hervor. Dasselbe gilt unter Anderem auch vom Tabaksrauch, namentlich dem von Cigarretten. Demnächst denke man an die Wirkung gewisser Nahrungsmittel bei Leuten mit sogenanntenIdiosynkrasien! dassmancheMenschen nicht Erdbeeren, namentlich nicht Walderdbeeren, nicht Pilze, auch nicht die indiffe- 97 rentesten derselben, wie Steinpilze, Pfifferlinge, nicht Krebse und insbesondere nicht Flusskrebse, oder gewisse Fische, wie Aale, Flundern, Quappen vertragen können. Sie erkranken, bekommen Darm- und Magenbeschwerden, Übelkeit, Erbrechen, Bauch- grimmen, Durchfälle oder auch allerhand, namentlich Nessel- ausschläge. Wie viel von den wirksamen Stoffen sind in den bezüglichen Nahrungsmitteln enthalten? Die Chemie hat sie wegen ihrer geringen Menge kaum noch nachweisen können, und dennoch wirken sie. Man denke an den Einfluss gewisser Farben, namentlich des Rot oder Gelb auf andere, ähnlich ge- artete Menschen, die davon Kopfschmerzen, Migräne, Übelkeit und Erbrechen bekommen und nachher noch Tage lang krank sein können! Man denke an die Erscheinungen der Photophobie! Das einfache Licht, das sonst nur beschränkte Bewegungen der Iris hervorruft, führt zu krankhaftem Schluss der Augenlider und selbst krampfartigen Bewegungen des ganzen Körpers. Man denke ferner an den Einfluss gewisser, namentlich schriller Töne auf verschiedene Individuen und dabei auch auf Hunde! Schwin- gungen der Luft von bestimmter Form rufen Schauern, rufen Schwindel, Schreien, Heulen, Ohrenzuhalten, Weglaufen, krampf- hafte Bewegungen hervor. Man denke endlich an den Einfluss auf die äussere Haut aufgelegter Metalle und die dadurch her- vorgerufenen Erscheinungen der Translatio aesthesis, des Trans- fert der Franzosen, an die Vornahmen zur Erzeugung des Hypnotismus, an die Suggestion, die mit dem sogenannten Be- sprechen ebenso zusammenfällt, wie die Massage mit dem einstigen Streichen der alten Weiber, und man wird genug Beweise für die oft grossartige Wirkung kleinster Reize in der Welt der Organismen bekommen! Diese Wirkung, wohl die einer auslösenden Kraft, entfalten die kleinsten oder auch nur die kleinen Reize allerdings blos, wie wir das bereits wiederholt gesagt haben, in abnorm widerstands- losen und darum krankhaften Körpern beziehungsweise Organen; aber darauf kommt es uns gerade an. Denn bei krankhaften, kranken, geschwächten Individuen überhaupt oder entsprechenden Organen wirken kleine Dosen so wie bei gesunden, starken, kräftigen grössere, grosse, selbst erst ganz grosse derselben. Ich habe Personen behandelt, erwachsene, welche zur Besänftigung ihres Hustenreizes drei- bis viermal täglich Morphium chloratum 7 38 0,005 erhielten und davon Intoxikationserscheinungen zeigten. Erst als sie den zehnten Teil davon — 0,0005 erhielten, blieben letztere aus. Der Hustenreiz aber wurde gedämpft, wie bei Durchschnittsmenschen, welche die übliche Dosis von 0,005 nehmen. Ich habe einem nervösen Herrn Chinin in kleinen Gaben gegeben. So lange er die von mir gewöhnlich verordnete Dosis von 0,05— 0,1 täglich nahm, wurde er aufgeregt, verlor den Schlaf, erfuhr überhaupt eine Steigerung seiner Nervosität; erst als die fraglichen Dosen auf 0,015 und 0,010 täglich herabgesetzt wurden, trat die gewünschte Wirkung, d. h. Beruhigung ein. Ich hatte einer jungen Dame als Zusatz zu einer expektorierenden Mixtur Syr. Ipecacuanhae im Verhältnis von 15,0:200 verschrieben, zweistündlich einen Esslöffel voll. In jedem Esslöffel war also ungefähr der Auszug von Radix Ipecacuanhae 0,05 und, da der Esslöffel sehr klein war und nicht voll genommen wurde, vielleicht nur 0,04 enthalten. Das ist aber etwa die Dosis, in welcher die Ipecacuanha von Budd, Hufeland, Niemeyer u. A. als Stomachicum gegeben wurde. Bei der erwähnten Dame bewirkte dieselbe indessen schon nach dem dritten Male Einnehmen eine solche Nausea, dass von dem weiteren Einnehmen Abstand ge- nommen werden musste. — Tuberculinum Kochii, das bei Gesunden bis zu 0,01 und darüber subkutan eingespritzt werden kann, ohne erhebliche Folgen nach sich zu ziehen, und in der genannten Grösse zu diagnostischen Zwecken wiederholt auch eingespritzt worden ist, rief_z. B. unter den Augen Leyden's, nur zu 0,001 in der besagten Art beigebracht, bei gewissen Nierenkranken, Schwangeren und chlorotischen Individuen recht unangenehme, selbst bedenkliche Zufälle hervor. — Es ist bekannt, dass nervöse Personen, zumal hysterische Frauen Opiate, und besonders Morphium, schlecht vertragen. Sie werden durch -die gewöhnlichen Gaben derselben, anstatt beruhigt, aufgeregt, ja sogar tobsüchtig gemacht. Um die gewünschte Beruhigung zu erzielen, müsse man darum, so wird vielfach gelehrt, das Morphium in grösseren Gaben als gewöhnlich ihnen verabreichen. Es ist die zu Grunde liegende Beobachtung an und für sich richtig. Allein was man mit grösseren als den gewöhnlichen Dosen bei den betreffenden Personen erzielt, erzielt man auch mit kleineren. Die gewöhnlichen Dosen, von 0,02 etwa, sind schon zu gross een für dieselben. Sie beschleunigen, fördern den bezüglichen bio- logischen Vorgang und häufig sogar zu sehr; deshalb muss zu noch grösseren Dosen 0,04—0,06 und darüber gegriffen werden, durch welche sie eine Hemmung erfahren. Fine anscheinend ganz gleiche Wirkung haben aber auch kleinere Dosen 0,01 — 0,007 — 0,005, da diese den in Betracht kommenden bio- logischen Prozess gerade nur so weit beeinflussen, um ihn beruhigt erscheinen zu lassen. Mit derhergebrachten, trotz alles scheinbaren Individualisierens im Allgemeinen doch recht kritiklosen Anwendung grosser oder auch nur grösserer Gaben von Arzneimitteln wird deshalb nicht mehr so schablonenmässig vorgegangen werden können, wie das jetzt so schlechthin doch für gewöhnlich noch immer der Fall ist; die grossen Dosen werden ja auch noch nach wie vor ihren Platz haben; aber mit kleinen, selbst kleinsten wird man in einer grossen Anzahl von Fällen entschieden weiter kommen. Mit Solut. Fowleri dreimal täglich 1—ı!/s Tropfen habe ich in einzelnen Fällen bereits viel mehr erreicht, als mit der gebräuch- lichen Verabreichung derselben in allmälig steigender Dosis bis zu dreimal täglich 5—6—8 Tropfen. Von vielen, vorzüglich weiblichen Patienten wird letzteres Verfahren gar nicht vertragen, während sie bei ersterem einer allmählichen Besserung entgegen geführt werden. — Rothe-Altenburg hat das Cyanquecksilber zu 0,01 auf 120,0 Aq. stündlich einen Thee- oder Esslöffel voll gegen Diphtheritis empfohlen. Ich weiss, dass hochangiesehene, viel beschäftigte Ärzte daraufhin es auch angewandt haben und mit dem erzielten Erfolge geradeso zufrieden gewesen sind, wie ihre betreffenden Patienten und deren Angehörige. Mit arsenik- saurem Kupfer zu 0,0003—0,0006 auf 120,0— 180,0 Ag. und da- von zuerst alle ro Minuten und danach alle Stunden einen halben oder ganzen Theelöffel voll, also ungefähr 0,0000006—-0,00002 p- d. wollen eine ganze Reihe amerikanischer Ärzte, und unter diesen Brougham u. Aulde, vornehmlich bei Darmerkrankungen der Kinder, die bemerkenswertesten Erfolge gehabt haben. — Das Viel hilft viel mag wo anders seine Richtigkeit haben, im gewöhnlichen Sinne in der Medicin, vornehmlich der Therapie, gewiss nicht. Gerade da, wo man alterierend, d.i. constitutions- verändernd einwirken will, und wo es vorteilhaft erscheint, die ‚einschlägigen Mittel lange gebrauchen zu lassen, dürften kleine Te 100 Dosen am Platz sein; in mehr akuten Fällen, in gelegentlichen Erkrankungen mehr robuster Naturen, wären die grösseren Gaben anzuwenden. Und dann ist eine sehr zu beachtende und doch nur wenig, meist gar nicht gewürdigte Thatsache: Es haben die Heilmittel in kleinen Dosen eine ganz entschieden andere Wirkung als in grossen. Von der Ipecacuanha z.B. ist das schon lange bekannt. Man hatte seit Decennien erfahren, dass ıo Gran derselben — 0,60 leichter Erbrechen herbeiführten als ı Skrupel = 20 Gran oder r,2. Dann aber erfuhr man noch weiter, dass sie in kleinen Gaben von 0,015—0,05 Appetit erregend, in etwas grösseren von 0,1—0,3 Appetit vermindernd oder gar Übelkeit verursachend wirkte, dass sie in mittleren Gaben von 0,5— 1,0 Erbrechen und Diarrhöen hervorrief und in grossen von 3,0—5,0 als Antidiar- rhoicum, oder wie in der Jacksch’schen Mixtur (Rad. Ipecac. 6,0—10,0— 15,0 auf 200,0 Flüssigkeit) auch ohne Zusatz von Moschus als Ereticum beziehentlich Analepticum sich bethätigte. Ricinusöl, das kinderlöffel- bis esslöffelweise gereicht, ein Ab- führmittel ist, verhält sich in Dosen von !/ı bis !/a bis ı Thee- löffel vielfach gerade umgekehrt. Anstatt durch ein paar kräf- tige Entleerungen die vorhandene Diarrhöe mit der Hinweg- räumung der sie bedingenden Schädlichkeiten zu beseitigen, be- seitigt es sie ‚in diesen kleinen Dosen häufig unmittelbar. Dasselbe gilt auch vom Crotonöl, wenn es nur zu !/ao—!/s Tropfen = 0,0012 bis 0,005, wie von Charles Bell gegen Neuralgien empfohlen, angewandt wird. Crotonöl ist deshalb in so kleinen Dosen auch schon gegen allerhand in Durchfällen sich zeigenden Darmleiden angewandt und gegen die Ruhr z. B. von Konop- leff auf das lebhafteste gepriesen worden. — Carlsbader Salz ruft in kleinen Dosen leicht Stuhlverstopfung hervor und muss in erheblich grösseren gegeben werden, damit es die abführenden Wirkungen entfalte, um deren Willen es gerade geschätzt wird. Daher komnit es auch, dass in einer Anzahl von Fällen, in denen es in Gaben genommen wurde, die gerade zur Erzielung einer Stuhlentleerung hinreichend waren, es seine Dienste auf einmal versagte und diese erst wieder leistete, wenn es in grösserer Menge genommen wurde. Die Natur hatte sich, wie es heisst, an dasselbe gewöhnt. Sie war durch den es darstellenden Reiz abgestumpft, der Reiz war dadurch für sie zu klein geworden, 101 um auf ıhn in der bisherigen Weise zu antworten, und da- ınit sie von Neuem auf ihn in derselben Weise antwortete, musste er verstärkt, das Carlsbader Salz in grösserer Menge genommen werden. — Man vergegenwärtige sich ferner die Wirkung des Alkohols, des Opiums, des Tabaks, die alle zuerst d. i. in kleinen Mengen, erregen, sodann aber, d.h. in etwas grösseren Mengen die Erregung steigern, darauf d. i. in grossen Mengen hemmen und dadurch anscheinend erschlaffen, endlich d. i. in relativ grössten Mengen lähmen, töten. — Das Tuber- ceulinum Kochii, das bei der Tuberkulose wirksame Ptomain, wirkt in den angewandten Gaben auf den tuberkulosen Prozess im Sinne der Heilbestrebungen günstig ein. Es ruft in dem tuberkulosen Gewebe, den tuberkulosen Entzündungs- heerden, eine solche Steigerung des bereits bestehenden Pro- zesses hervor, dass unter derselben das Gewebe sogar ab- sterben und brandig zu Grunde gehen kann. Die in ihm vor- handenen Bacillen haben unter solchen Umständen nicht mehr den geeigneten Nährboden, degenerieren und sterben über kurz oder lang ebenfalls ab. Allein ehe es so weit kommt, erliegt der Tuberkulose selbst sehr häufig, ganz abgesehen von anderen Ursachen, namentlich den Folgen der Wirkung, welche die Stei- gerung der örtlichen tuberkulosen Prozesse auf den Gesamt- organismus ausübt. Das Mittel, welches heilen sollte, führt zu einem früheren Tode, zumal wenn jene Prozesse sich in Organen entwickelt haben, welche einen stärkeren Eingriff in ihre Lebens- vorgänge nicht gestatten. Das Centralnervensystem, Gehirn und Rückenmark, die Lungen, der Darm, sind da ganz besonders empfindlich. In Folge dessen wird auch dem Tuberculinum Kochii besten Falls immer nur eine beschränkte Heilwirkung zukommen, welche sich nicht über die anderer Mittel erhebt. Die Tuberkulose wird durch dasselbe darum auch nicht aus der Welt geschafft werden, und der Tod an ihr wird nach wie vor die Geschlechter dezimieren. Wenn indessen das Tuberculinum Kochii auf die schon vorhandene ausgebrochene Tuberkulose den geschilderten Einfluss ausübt, wie verhält es sich da wohl in Bezug auf die Entstehung derselben? Die Tuberkulose soll nur durch den Tuberkeibacillus erzeugt werden. Allein der Tuberkelbacillus an sich soll das auch noch nicht thun, sondern erst das Ptomain, oder vielleicht auch die Ptomaine, welche er be- 102 reitet und absondert, also eben der wirksame Bestandteil des Tuberculinum Kochi. Ist das jedoch der Fall, und anders ist es den gegebenen Verhältnissen nach nicht wohl denkbar, so würde das Tuberculinum Kochii, das in grösseren Mengen, wenn dieselben auch nur einige Milligramm oder Centigramm betragen, das tuberkulose Gewebe zerstören, in kleineren, ja sogar unend- lich viel kleineren, dasselbe erzeugen. Es würden also sehr kleine Mengen des Tuberkulins, und unter Umständen vielleicht verflüchtigte und danach eingeathmete oder sonstwie inkorporierte, ohne dass wir gerade wüssten, woher sie kämen, die Tuberkulose hervorrufen, anfachen, etwas grössere sie in ihrer Entwickelung beschleunigen, fördern, relativ grosse sie hemmen, und noch grössere sie vernichten, wobei indessen das betreffende Indivi- duum selbst leider häufig mit vernichtet würde. Diese Erkennt- nis erklärt denn auch den Umstand, warum nach Einspritzungen von Tuberkulin wiederholt das Auftreten von akuter Miliartuber- kulose beobachtet worden ist. Das Tuberkulin erzeugte dieselbe, wie es die chronische Tuberkulose, wenn es sie erzeugt, über- haupt wohl erzeugt. — Die grossen Dosen haben that- sächlich so eine umgekehrte Wirkung wie die kleinen. Die Hemmung ist das Umgekehrte von der Anregung, die Lähmung das Umgekehrte von der Erregtheit. Dass so etwas bestehe, ist, wie bereits hervorgehoben wurde, auch schon lange bekannt. Warum? und dass dem etwas durchaus Gesetzmässiges zu Grunde liege, das Eingangs er- wähnte biologische Grundgesetz, das hat jedoch erst Schulz dargethan. Es ist nicht zu verkennen, er hat damit der Therapie und insbesondere, soweit sie durch die Pharmakodynamik be- dingt ist, erst einen festeren, einen sichereren Boden geschaffen, auf dem sich gründend sie nunmehr in wissenschaftlich rationeller Weise sich immer weiter und weiter entwickeln kann. Er hat aber auch die gesamte Biologie damit gefördert. Denn indem er die Arzneiwirkung auf das Nervenerregungsgesetz zurückzu- führen wusste, ermöglichte er erst die Betrachtung jener so mannigfaltigen Wirkungen unter einem einheitlichen Gesichts- punkte, bewies aber auch damit wieder die Gültigkeit dieses Gesetzes auch für andere Gebiete als blos das Nervensystem und damit denn auch die Richtigkeit des von mir verfochtenen Satzes, dass es überhaupt ein die Gesamtheit der Organismen, die ganze organische Welt beherrschendes Gesetz, ein biolo- gisches Grundgesetz in vollem Umfange sei. Was von der medizinischen Therapie im Besonderen, das gilt auch von den therapeutischen Vornahmen im Allgemeinen, vornehmlich auch von vielen ächt chirurgischen Vornahmen, von der Balneotherapie und der ihr sich unterordnenden Hydrotherapie, von der Elektrotherapie, der Klimato- therapie, der Massage, selbst dem zu therapeutischen Zwecken. verwandten Hypnotismus und der Suggestion. Heidenhain und Granville haben festgestellt, dass die Erregbarkeit eines bereits mechanisch erregten Nerven durch einen mässigen Druck gesteigert, durch einen stärkeren aber herabgesetzt und endlich selbst aufgehoben werde. Zu einem ganz gleichen Ergebnis gelangte Zederbaum, nach welchem eine gewisse, sagen wir mässige Belastung, eines blossgelegten Nerven die Erregbarkeit desselben erhöht, eine stärkere ver- mindert. Nach Schleich wird durch eine schwache Dehnung der Nerven die Reflexthätigkeit bis zu einem gewissen Grade gesteigert, und nach Valentin durch eine stärkere Dehnung diese Thätigkeit ebenso wie ihre Erregbarkeit überhaupt zuerst vermindert und dann vorübergehend aufgehoben. Eine starke Dehnung dagegen vernichtet diese dauernd. Von P. Vogt wurden diese Angaben zur Zeit der Nervendehnung zu Heil- zwecken durch seine in dieser Hinsicht gewonnenen Erfahrungen durchaus bestätigt. Ein schwacher Druck regt das Wachstum, die trophischen und plastischen Vorgänge in der Epidermis, im Corium an. Es kommt zu Wucherungen in denselben; beide verdicken sich. Ein etwas stärkerer, ein mittelstarker Druck steigert die frag- lichen Wucherungen und mit ihnen die entsprechenden Ver- dickungen; es kommt zu Schwielenbildungen, von denen die an Händen und Füssen die bekanntesten sind. Wird der Druck noch stärker, wird er ein sogenannter starker, so hat er das Gegenteil zur Folge: es entsteht Druckatrophie. Wird endlich der Druck ein sehr starker, stärkster, so werden die unter ihm leidenden Gewebe ertötet, und es kommt damit zu Druckbrand, Decubitus. Ein lauwarmes Bad wirkt caeteris parıbus, vornehmlich in Betreff der Zeit, mild anregend, ein warmes aufregend, ein 104 heisses erschlaffend, und ein überheisses kann wie siedendes Wasser überhaupt den Tod nach sich ziehen. Ebenso wirkt ein kühles Bad belebend, erfrischend, ein kaltes stark erregend, ein noch kälteres lähmend, und in Eiswasser hat schon manch! Einer, ohne dass er geradezu ertrank, seinen Tod gefunden. Die nasse Kälte macht erstarren und setzt schliesslich dem Leben ein Ende. Die Hydrotherapeuten haben längst und zwar schon die alten Empiriker, Piuty, Priessnitz, Vieck, von dieser Er- fahrung Gebrauch gemacht und, je nach der Individualität ihrer Kranken und der Widerstandsfähigkeit derselben, das kalte Wasser durch lauwarmes, z. B. durch Einwickelungen, die jähen Übergiessungen durch Bespülungen, wie ich es von Vieck bei der Behandlung von Typhuskranken in den fünfziger Jahren selbst gesehen habe, ersetzt. Dass der Tod unter der Douche erfolgen kann, habe ich ebenfalls gesehen, wenn auch nicht ge- rade in einer Kaltwasserheilanstalt, und dass nach ihr wie nach jähen kalten Übergiessungen überhaupt Krämpfe, eine Art Tetanus, eintreten, rasche Verblödung sich entwickeln Kann, habe ıch leider auch erfahren. Und doch ist die kalte Douche, sind die kalten Übergiessungen für Viele ein wahres Labsal. In Bezug auf die Elektrotherapie gilt, was zum Teil schon den Ärztendes vorigen Jahrhunderts bekannt war, dass schwächere Ströme schwächer, stärkere, sogenannte mittelstarke stärker er- regend wirken, dass starke Ströme zu lähmungsartigen Zuständen führen und sehr starke gleich den gewöhnlichen Blitzen dauernde Lähmungen, selbst den Tod zur Folge haben können. Kühlere Klimata, in denen eine leicht bewegte Luft herrscht, rufen ein Wohlbefinden als Ausdruck eines gesteigerten Lebens- prozesses, wie man sagt, des erhöhten Stoffwechsels hervor. Kühle Klimata mit etwas belebteren Winden steigern in der Regel dieses Wohlbefinden; rauhe mit stärkeren Winden ziehen leicht sogenannte Überreizungen, Zustände von Erschlaffung, Erlahmung nach sich, — die übel berufenen Erkältungszustände sind die bekanntesten Erscheinungen derselben —, und dass kalten, rauhen Klimaten vorzugsweise widerstandslose Individuen, und zwar nicht blos Menschen, sondern auch Tiere und selbst Pflanzen alljährlich zum Opfer fallen, ist männiglich bekannt. Mutatis mutandis wirken die wärmeren, warmen und heissen Klimate 1v5 ebenso, und darauf beruht es, dass Jahr aus Jahr ein so und so viele Leidende, welche durch ein Höhenklima, ein nördliches Seeklima Besserung erhofft hatten, dieselben, nur kränker ge- worden, verlassen und z. B. Pontresina, St. Moritz mit Gersau oder Beckenried, Sylt, Helgoland mit Glücksburg, Müritz oder Zinnowitz vertauschen, oder aber, nachdem sie den Winter in Egypten, Algier oder Sicilien verbracht haben, nach der Riviera, von da nach den italienischen oder insbesondere dem Genfer See übersiedeln müssen, um aber auch diesen im Monat Mai, weil es an ihm zu heiss geworden, wieder zu verlassen. Von der Massage weiss jedermann, und die alten Streich- weiber von vor vierzig, fünfzig Jahren haben schon davon den Gebrauch gemacht, der die Streich- oder Knetkur im Volke hochhalten liess, dass leises Streicheln, wie es die Hand der Mutter beim leidenden Kinde übt, eine ganz andere Wirkung hat, als ein starkes Streichen, Kneten, Klopften, Walken. Das leise Streicheln einer ruhigen Hand hat etwas Besänftigendes. Es setzt durch Gegenreiz eine vorhandene Reizwirkung herab, ohne selbst einen höheren Reizzustand, wenigstens fürs Erste hervorzurufen. Das stärkere Streichen bewirkt dies Alles im stärkeren Masse, ruft deshalb aber auch leicht einen stärkeren Reizzustand hervor, der, wenn er auch einen andersartigen, vor- handenen aufhebt, an und für sich doch nun fortbesteht. Starkes Streichen, Kneten, Klopfen, Walken hat Überreizung, lähmungs- artige Zustände zur Folge, und ganz starke entsprechende Einwirkungen können den Tod nach sich ziehen. Man kann Menschen zu Tode kitzeln, zu Tode kneten, zu Tode klopfen, - zu Tode hauen, zu Tode walken. Der Hypnotismus, die Suggestion, die im tröstenden Zu- spruch der Familienmitglieder, des Arztes, des Seelsorgers sich zunächst in wohlthätiger Weise zur Geltung bringt, kann, in Übermass angewandt, gerade die entgegengesetzte Wirkung haben. Beweisende Fälle auch dafür fehlen nicht. Ich habe sie selbst erlebt. Nach alledem macht sich das biologische Grundgesetz durch die gesamte Therapie geltend. Es giebt keinen Zweig der- selben, über welchen es nicht seine Herrschaft ausübte, und ganz besonders ist es die Form desselben, die als das Erregungs- gesetz des ermüdeten und absterbenden Nerven bekannt ist, in welcher es sich bethätigt. 106 Die Möglichkeit einer Verständigung der verschiedenen Richtungen in der Therapie, selbst der Homöopathie und Allopathie, ist damit gegeben. Man hat, das auszusprechen, mancherseits sehr anstössig gefunden und hart getadelt. Allein auch die Hydrotherapie und die Hydrotherapeuten hat man einst viel gescholten und über das Streichen und Besprechen. oder Stillen der alten Weiber sich lustig gemacht. Und heute? Die Hydrotherapie wird bis zu einem gewissen Grade von jedem Arzte geübt. Der Priessnitz'sche Umschlag wird alle Tage angewandt und des Weiteren? Die grössten Chirurgen massieren, und die berühmtesten Nervenärzte suggerieren. Man streicht und bespricht oder stillt ärztlicherseits allenthalben. Difficile est satiram non scribere! Die etwaige beregte Verständigung aber wird endgiltig herbeigeführt werden durch das biologische Grundgesetz: „Schwache Reize fachen die Lebensthätig- keit an, mittelstarke fördern sie, und stärkste heben sie auf!“ beziehentlich: „Schwache Reize — und jedes therapeutische Mittel ist ein Reiz — haben die umgekehrte Wirkung von starken!“ Was indessen ein schwacher, was ein starker Reiz ist, ist ganz individuell und hängt von der jeweiligen Reizbarkeit, beziehungs- weise Widerstandsfähigkeit des betreffenden Individuumsund seiner bezüglichen Organe ab. Was für den Einen schwach ist, ist für den Andern stark, selbst sehr stark. Und da kommt denn das Pflüger-Wundt’sche Erregungsgesetz vom ermüdeten und absterbenden Nerven zur Geltung, das Gesetz, das man wohl — ich wiederhole es — für ein begrenztes Gebiet in der Neurologie für stichhaltig erklärt hat, aber in seiner ganzen biologischen Bedeutung, und damit in seiner Gültigkeit für die gesamte Medicin noch immer nicht anerkennen will, obgleich, wie die Erfahrung gelehrt und Schulz für einen der wichtigsten Teile der Medizin experimentell nun nachgewiesen hat, es die Grundlage für alle unsere entsprechenden Handlungen zu bilden hat. ————— un 4, Plattfuss, Klumpfuss und das biologische Grundgesetz. Plattfuss und Klumpfuss werden seit Langem schon von einer Reihe von Anthropologen und Aerzten, namentlich Irren- ärzten, als Stigmata degenerationis, Zeichen einer Entartung an- gesehen, welche zum schliesslichen Untergange des Stammes, der Familie führt, welcher das betreffende Individuum angehört und insbesondere insofern, als es Ausgangspunkt eines neuen Zweiges derselben wird. Wie die Sache zusammenhängt, ist indessen bis jetzt im Ganzen unbekannt geblieben. Nur verein- zelte allgemeine Erwägungen haben ein Verständnis dafür an- zubahnen gesucht; doch hat man sich immer mehr bei der blossen Thatsache beruhigt, dass Platt- und Klumpfuss vorzugs- weise bei auch sonst mit Entartungszeichen behafteten Personen vorkommen, als dass man nach dem Zusammenhange dabei ernstlich geforscht hätte. Dazu kam, dass über die Entstehung des Platt- fuss wie des Klumpfus die sonderbarsten, grob mechanischen Auf- fassungen sich breit machten und zum Teil noch breit machen, die sich erst heranbildenden Aerzte beeinflussten und zum Teil noch beinflussen, so dass diese, einmal erzogen, für die grob mechani- schen Einflüsse, welche jene Missbildungen herbeiführen sollten, auch wenn sie in ihrer ganzen Annahme unberechtigt waren, dennoch mehr Verständnis besassen, als für die feineren biolo- gischen Vorgänge, trotzdem dieselben auch nur rein mechanische, allerdings molekular-mechanische sind, welche allein zu ihnen führen. Man denke nur daran, dass der Plattfuss, der {Pes valgus, beziehentlich die Pedes valgi nur dadurch zu Stande kommen sollten, dass die Last des Körpers den Fuss platt drückte, oder, wie man das klangvoller und möglichst überzeugend zu bezeichnen suchte, sein Gewölbe eindrückte, und dass der Klumpfuss, der Pes varus, beziehenjlich die Pedes vari, wenig- stens die angeborenen, dadurch zur Entwicklung kämen, dass Wahe hue Be vv 108 der gehörigen Ausbildung der Füsse im Uterinleben wegen Raumbeschränkung in Folge mangelnden Fruchtwassers zu grosse Hindernisse entgegengesetzt worden wären! Ich will keineswegs den mächtigen Einfluss leugnen, den gröbere mechanische Vor- gänge auf die Entwickelung unserer Körperformen ausüben — man braucht sich ja nur der Füsse der chinesischen Damen zu erinnern, der wunderbaren Kopfformen asiatischer und ameri- kanischer Völkerschaften, der Wespentaillen unserer Frauen höherer Stände —; allein dass die erwähnten von der Bedeutung für die Entwickelung der in Rede stehenden Missbildungen sein sollten, wie behauptet worden ist, das dürfte, von vereinzelten Fällen abgesehen, doch wohl noch sehr bestritten werden können. Wenn diese Bedeutung nämlich in der That so gewaltig und allein entscheidend wäre, wie sie es sein soll, warum zeigen sich da Plattfuss und Klumpfuss, trotzdem beide so häufig vor- kommen, nicht doch noch häufiger, da die fraglichen Einflüsse zum Teil ganz allgemein verbreitet, zum Teil viel öfter vor- handen sind, als ihre Bethätigung wahrgenommen wird? Warum sind beide doch blos mehr an vereinzelte Persönlichkeiten ge- bunden und warum da wieder besonders an solche, an denen auch noch andere Mängel und Fehler vorhanden sind, vor Allem entsprechende Missbildungen an den Knien, an den Händen und dem Antlitz, dessen Kiefer ja als die Homologa der Ex- tremitätenknochen zu denken sind, und demnächst Blutarmut, Feistigkeit, Plumpheit oder übermässige Zartheit, Nervosität, Hysterie, Epilepsie, Imbecillität, Idiotie? Die meisten und am weitesten entwickelten Platt- und Klumpfüsse findet man bei den Cretins, bei denen dadurch nicht selten das Gehen geradezu unmöglich wird, nun, und die Cretins sind eben im höchsten Grade degenerierte, nach allen Richtungen hin missbildete, weil missratene Menschen! Es gehört eben noch etwas. Anderes dazu, als blos die fraglichen mechanischen Einflüsse, um die einschlägigen Missbildungen herbeizuführen, und das weist auf eine besondere Anlage, Disposition zu ihnen hin, auf eine Widerstandslosigkeit der betreffenden Individuen, namentlich in Bezug auf die jeweiligen Gliedmassen und ihrer einzelnen Teile, in Folge deren erst die beregten äusseren, rein mechanischen Einflüsse die Macht gewinnen, welche man ihnen von vornherein zuschreibt, beziehentlich zuschrieb. Be - 109 Wie sehr das zutrifft, zeigt schon der Umstand, dass Platt- fuss vornehmlich bei mehr schmalen, schlanken Leuten mit langen Gliedmassen, bei denen sich besonders auch X-Beinbildung, Genu valgum, findet, angetroffen wird, dass dagegen Klump- fuss mehr bei breiten, untersetzten Leuten mit mehr kurzen Gliedmassen, von denen die unteren zur O-Beinbildung, Genu varum, neigen, vorkommt. Ueberhaupt ist der Idealfuss wohl nur im Reiche der Ideale und der Kunst zu finden; im gemeinen Leben sieht man wohl blos entsprechend dem sonstigen Wuchse des Körpers Füsse, die, je nachdem, zum Plattfuss oder Klump- fuss hinneigen. Der Plattfuss, der Klumpfuss schlechtweg wäre dann auch blos eine Ausschreitung dieses Verhaltens, ein Excess, wie Rokitansky gesagt haben würde, und die Art und Weise, wie die verschiedenen Menschen gehen und namentlich ihre Schuhe austreten und die Sohlen und Absätze derselben ablaufen, be- weist das. Langgliederige, schlanke Menschen neigen so kurz- weg mehr zu Plattfuss mit entsprechenden X-Beinen, untersetzte, stämmige mehr zu Klumpfuss mit entsprechenden O-Beinen hin. Sodann legt dafür der weitere, schon in Erwähnung gebrachte Umstand Zeugnis ab, dass, wo Plattfuss oder Klumpfuss vor- kommt, auch die Hand, das Antlitz in entsprechender Weise abgeändert zu sein pflegt. Die Hand ist eine Art Platt- oder Klumphand, das Gesicht ein mehr langes, schmales oder ein mehr rundes, breites, im ersteren Falle häufig mit mehr oder minder vorgestrecktem Unterkiefer, wie er für das sogenannte Cranium progenaeum charakteristisch ist. Es fragt sich nun: Wie hängt das Alles zusammen, und worin besteht die Disposition zu ihm, das nur auf sie hin zur Ausbildung kommen soll? Um hierauf eine genügende Antwort geben zu können ist es notwendig, weiter auszuholen und auf die Entstehung, die phylogenetische Entstehung, der Glied- massen näher einzugehen. Die Gliedmassen der Ringelwürmer, der Arthropoden, der Vertebraten, sowohl was sie als Fortbewegungs- wie anch als Ergreifungsorgane anlangt, stehen mit den Athmungswerkzeugen, namentlich, insofern dieselben Kiemen darstellen, in sehr inniger Beziehung. Aus den Gliedmassen entwickeln sich Kiemen wie bei den Krustern; aus den Kiemen entwickeln sich Gliedmassen, 110 wie z. B. die Flügel der Insekten aus den sogenannten Tracheen- kiemen, welche sich noch nachweislich bei den im Wasser leben- den Larven der Ephemeriden, Perliden, Phryganiden, zum Teil auch Culiciden u. s. w. finden. Aus Kiemen haben sich auch die Gliedmassen der Vertebraten entwickelt. Die Kiefer, also die Hauptmasse des Gesichtsskelets, gehen, wie die Embryologie lehrt, noch heutigen Tages daraus hervor; bei den Vorder- und Hinter- oder Ober- und Untergliedmassen, Armen und Beinen, ist dagegen abgekürzte Vererbung eingetreten. Die Gesichts- entwicklung stellt eine Palingenie dar; Arme und Beine haben- eine Känogenie eingeschlagen. Da der Kiemenapparat als ein Ganzes anzusehen ist, das von einem bestimmten Abschnitte des Centralnervensystems innerviert wird, so leuchtet ein, warum so’ häufig, wie das auch schon Tierzüchtern aufgefallen ist, Gesicht und Extremitäten in derselben Richtung geartet, beziehentlich abgeändert sind, warum, wenn die Extremitäten kurz gerathen sind, auch das Gesicht, insbesondere die Kiefer kurz sind, — der Kopf selbst, d. i. der Schädel, ändert sich wohl erst, nach- dem die Kiefer verändert sind —, warum dagegen, wenn jene ein grösseres Längenwachstunm erfahren haben, auch diese sich durch eine grössere Länge auszeichnen. Unter den Pferden die englischen Rennpferde und die schottischen Ponnys, unter den Rindern die holländische, die oldenburger und die schweizer, namentlich aber die hornlose schottische Rasse, unter den Schweinen die älteren deutschen, polnischen Hausschweine, die englische Berkshire-Rasse und die ungarischen, sowie manche englischen, z. B. die Suffolk-Rasse, unter den Hunden die Wind- hunde, Windspiele, die dänischen, die Ulmer Doggen und die Bullenbeisser oder Boxer, die Möpse, die King Charles- und Bologneser Hündchen, unter den Kaninchen die sogenannten weissen englischen und die wilden, unter den Tauben die Runt- taube, der Kröpfer und das Möwchen, unter den Hühnern das spanische, das japanische, vor allen aber das englische Kampf- huhn und das belgisch-holländische Bart- und Haubenhuhn, und endlich unter den Menschen, um nur einige wenige herauszu- heben, die Angeln, die Engländer, die Nordamerikaner auf der einen, und die Wenden der Lausitz, die Czechen, die Thüringer auf der anderen Seite beweisen das vollauf. Indessen, weil doch jeder Kiemenbogen auch wieder ein bis zu einem gewissen Grade für sich Bestehendes ist, das von einem besonderen Theile des gedachten Abschnittes des Centralnervensystems innerviert wird, ist auch wieder ersichtlich, warum die fraglichen Abänderungen nicht gerade immer Gesicht, beziehentlich Kiefer und Extremi- täten zugleich treffen müssen, sondern warum sie sehr wohl auch einmal nur auf diese oder jene, ja sogar blos auf eins oder das andere dieser letzteren beschränkt sein können. So erklärt sich z. B., dass der Dachshund trotz seiner kurzen Beine eine lange, und die Bracken trotz ihrer verhältnismässig langen Beine doch eine nur kurze Schnauze haben. Wie die Entwickelung des Gesichtes, beziehentlich der Kiefer aus dem ersten Kimenbogen sich macht, kann noch alle Tage beobachtet werden. Aus der Basis dieses letzteren wächst der Oberkieferfortsatz hervor, und der übrig bleibende. Teil wird damit zum Unterkieferfortsatz. An diesem entsteht durch Aus- wachsen der Meckel'sche Knorpel und an der Aussenseite des- selben als Beleg- oder Deckknochen aus den Flementen der Lederplatte der bleibende knöcherne Unterkiefer. Wie die Extremitäten aus den Kiemenbogen entstehen, ist nicht bestimmt festzustellen. Da muss Vieles erschlossen und namentlich durch Combination von Thatsachen ans der vergleichenden Anatomie und Embryologie wahrscheinlich gemacht werden. Über das blos Wahrscheinliche kommen wir deshalb hierbei nicht hinaus; allein es kann durch Umfang des Beobachteten der Wahrheit so genähert werden, dass wir selbiges mit der bekannten Ein- schränkung auch als solche ansehen können. Nach Gegenbaur*) wird aus dem betreffenden Kiemen- bogen selbst Schulter-, beziehentlich Beckengürtel, und zwar auch nicht unmittelbar, sondern ebenfalls erst, nachdem sich, wie beim Unterkiefer, Beleg- oder Deckknochen aus der Lederplatte gebildet haben. Diese Beleg- oder Deckknochen in ihren verschiedenen Verbindungen stellen dann der Haupt- sache nach Schulter- und Beckengürtel dar, und nur ein unbe- deutender Anteil dieser letzteren kann noch auf den ursprüng- lichen Kiemenbogen oder seinen Knorpel zurückgeführt werden, wie z. B. der Processus coracoides scapulae.. Arm und Bein dagegen gehen aus gewissen Anhängen oder Auswüchsen des * C. Gegenbaur, Grundriss der vergleichenden Anatomie, 2. Auflage, Leipzig 1878. S. 496 u. ff. 112 Kiemenbogens hervor, wie solche sich z. B. an dem Hyoidbogen des Barsches, des Zanders, des Dorsches u. a. m. finden, und die in Fig. ı, d—e, schematisch dargestellt sind. NZ RH s N a an I —G N Be i Ss 2 N Ne on So Ss U S Schemata zur Erläuterungen der Entwickelung des Extremitäten-Skeletes aus den Bier. Kiemen. « b c d Kiemenbogen von Selachiern; e Archipterygiumform. (Nach Gegenbaur.) An den Kiemenbögen entstehen nämlich eine Anzahl von strahlenartig angeordneten Stacheln oder Dornen, welche durch Häutchen mit einander verbunden sind. In Folge von fort- gesetzten Bewegungsversuchen werden diese Stacheln oder Dornen selbst beweglich, und zwischen ihnen und dem Kiemen- bogen bildet sich damit eine Art von Gelenk aus. Einer der Stacheln oder, wie wir sie hinfort nach ihrer Anordnung nennen wollen, Strahlen, entwickelt sich stärker, wird stämmiger und länger, zieht damit die andern, durch Häute mit ihm verbundenen seitlich an sich in die Höhe und entwickelt zwischen diesen noch neue, ihnen ähnliche Strahlen. Hierdurch entsteht die Grund- oder Urform der an den Schulter- und Beckengürtel angehefteten freien Gliedmassen, die Gegenbaur als Archipterygium bezeichnet hat, die Grund- oder Urform der Fischflosse, von der sich alle anderen Gliedmassenformen ableiten lassen. Bei den Selachiern, Haien, bei denen der Mittelstrahl sich stärker entwickelt und so zum Hauptstrahl der ganzen Bildung wird, lässt sich der Übergang von dem einfach stachelbesetzten Kiemenbogen bis zum Archipterygium ziemlich genau verfolgen. Die Stacheln oder Strahlen des Archipterygiums gliedern sich. Wohl in Folge der Bewegung zerfallen sie in einzelne immer kleinere, durch Häutchen unter sich verbundene Stücke, und so entsteht die eigentliche Fischflosse, die, trägt sie den vollständigen Charakter des Archipterygiums an sich, eine biseriale genannt wird. Als solche findet sie sich noch heutigen Tages bei dem Ceratodus Forsteri, einem in NT 115 Australien lebenden Überbleibsel einer ehemals zahlreicheren Gattung bis mehrere Fuss langer Fische (Fig. 2). Bie2. Brustflosse von Ceratodus Forsteri, a b Flossenstamm, cd Flossenstrahlen. (Nach Haeckel.) Wohl wieder in Folge von Bewegung, also auf Grund des Gebrauches, wanderten danach die Flossen samt ihrem Gürtel und rückten aus dem Bereiche des Kiemenapparates an Brust und Bauch, den ganzen Rumpf so in Hals, Rumpf im engeren Sinne und Schwanz teilend. Dass die Flossen wandern und in Folge dessen verschiedene Lagen am Körper einnehmen, erliegt wohl kaum noch der Frage. Namentlich sind es die Bauch- oder Beckenflossen, welche solche Wanderungen zeigen, und die deshalb als sogenannte Kehlflossen beim Meergrundel, Kabel- jau, Dorsch, der Aalquappe (Blennius) z. B. vor, beim Barsch, Zander unter und dicht hinter den Brustflossen, oder als soge- nannte Brust-Bauchflossen bei den Lippfischen, dem Harder, etwas weiter hinter denselben liegen. Doch das nur nebenbei, wenn auch für die Erklärung, wie Arme und Beine aus Kiemenbogen hervorgegangen sein sollen, wichtig! Die einfache biseriale Flotte wird zum Ausgang der Glied- massenbildung aller höheren Wirbeltiere. Bei Fischen kommen zwar noch Flossen vor, welche gewissermassen aus einer Zu- sammensetzung von mehreren, wenn auch sehr veränderten biserialen Flossen beruhen, indem sie neben dem Archipterygium aus den am Kiemenbogen sitzen gebliebenen Stachelstrahlen noch weitere archipterygienartige Gebilde entwickelten, die dann mit dem eigentlichen Archipterygium verschmolzen und so nun eine Art zusammengesetzter Flossen darstellen. Gegenbaur unterscheidet an solchen zusammengesetzten Flossen von vorn nach hinten, beziehentlich von unten nach oben oder auch von Bauch nach Rücken gezählt: das Propterygium, das Meso- pterygium und Metapterygium, von denen das letzte dem 8 114 eigentlichen Archipterygium entspricht; allein diese Flossen (Fig. 3, 4, 5), durch welche die mitunter sehr abwegig gebildet . Fig. 3. Fig. 4. Primäres Brustflossenskelet von Acipenser ruthenus nach Entfernung eines Teiles des sekundären Skelets. B Basale des Metapterygiums, RB knöcherner Randstrahl des nur teil- weise dargestellten secundären Flos- senskelets. (Nach Gegenbaur.) Brustflossenskelet von Acanthias vulgaris. p Basale des Propterygiums, mt des Meta- pterygiums, ms des Mesopterygiums, B medialer Flossenrand. Die durch mt gezogene Linie deutet die Stammreihe des Archipterygiums an. Die punktirten Linien entsprechen den Radien, die gröss- tenteils lateral (R R) und nur in Rudi- menten auch medial (Rl) angeordnet sind. (Nach Gegenbaur.) Fig. 5. Schema der Brustflosse eines Selachiers. bbb Basale des Pro- pterygiums pt, des Mesopterygiums ms und des Metaptery- giums mt. Der schraffierte Anteil des Metapterygiums stellt den in die Gliedmassen der höheren Wirbeltiere sich fort- setzenden Abschnitt dar. (Nach Gegenbaur.) erscheinenden Flossen der Rochen, Haie, Störe doch wieder auf ein und denselben Bildungsvorgang zurückgeführt werden, sind für die Entwicklung der Gliedmassen der höheren Wirbel- tiere von keiner Bedeutung. Diese stehen nur mit der biserialen FlosseinZusammenhang, wiesienochCeratodusForsteri besitzt. An der biserialen Flosse heisst der Mittelstrahl der Stamm der Flosse, der damit denn auch der Stamm des Archiptery- giums ist. Er ist wie auch die Seitenstrahlen vielfach gegliedert. Die betreffenden Glieder können mannigfache Veränderungen erleiden. Die Seitenglieder können ganz in Wegfall kommen, so dass nur knorpelige Fäden übrig bleiben, wie bei dem Lungen- 115 fiich Protopterus adnectens, oder starrere Stacheln ihre Stelle einnehmen, wie bezüglich der Bauchflossen beim Stichling, Gasterosteus, oder aber, was wichtiger ist, sie fallen nur teilweise fort, auf einer, und zwar der äusseren oder Rückenseite, und die Flossen werden dann uniserial. Demnächst können die einzelnen Glieder sich vergrössern, namentlich verlängern, mit anderen verschmelzen und dabei in die verschiedensten Formen übergehen. Das Glied des Flossenstammes, mit welchem derselbe dem zugehörigen Gürtel aufsitzt, heisst das Basale. Dieses ver- grössert sich zuerst und zumeist und wird, wie das die Glied- massen vonlchthyosaurus beweisen, zum Humerus, beziehungs- weise Femur. Doch dürfte mit Rücksicht auf das eben Gesagte aus dem ursprünglichen Basale allein kaum Humerus und Femur hervorgegangen sein, sondern vielmehr erst nachdem eine Ver- schmelzung desselben mit den nächstfolgenden, wenigstens zweien stattgefunden hatte. Aus den Basale selbst wurde dann die obere, aus dem äussersten oder letzten die untere Epiphyse und aus dem, beziehentlich den mittleren Stücken die Diaphyse. Wir werden sehen, dass durch diese Annahme, für welche auch die noch heute erfolgenden Össifikationen aus drei entsprechen- den Össifikationspunkten ein nicht unberechtigtes Zeugnis ablegen, mehr erklärt wird, als es sonst möglich ist. Das oder nach dem eben Gesagten, die nachfolgenden wenigstens drei Glieder, wur- den, wie ebenfalls Ichthyosaurus, mehr noch Plesiosaurus, lehrt, zu Ulna beziehentlich Fibula, und das, oder wieder viel- mehr die ersten Glieder des mit dem Basale verbundenen Seiten- strahles zu Radius, beziehentlich Tibia. An Ulna, Fibula schliesst sich dann, dem Stamme angehörig, das Os ulnare und fibulare, an Radius und Tibia, dem ersten Seitenstrahle angehörig, das Os radiale und tibiale an, und zwischen Ulna und Radius einer- seits und Fibula und Tibia andererseits, den zweiten Seitenstrahl darstellend, welcher von Ulna, beziehentlich Fibula ausgeht, schiebt sich das Os intermedium ein, Zwischen Os ulnare, be- ziehentlich fibulare, und Os radiale, beziehentlich tibiale, sind zwei Ossa centralia eingeschaltet, von denen das Oscentrale radiale und tibiale gleich dem intermedium ein Teil des zweiten Seiten- strahles ist, während das Os centrale ulnare und fibulare zu dem dritten Seitenstrahle zu rechnen ist, welcher von dem Ulnare seinen gr 116 Ursprung nimmt. Vor diesen in zwei Reihen angeordneten Knöchelchen, deren oberste von dem Intermedium allein gebildet wird, liegen in einer dritten Reihe fünf Knöchelchen: die Car- palia, beziehentlich Tarsalia primum bis quintum. Das erste, eigentlich fünfte, schliesst sich an das Radiale und Tibiale an und ist dem ersten Seitenstrahle zugehörig; das zweite, eigentlich vierte, steht im Anschluss an das Centraie radiale und tibiale und gehört zu dem zweiten Seitenstrahle. Das dritte oder mittlere steht im Anschluss an das Centrale ulnare und ist Glied des dritten Seitenstrahles; das vierte, eigentlich zweite, steht im Anschluss an das fünfte, von dem der vierte Seitenstrahl sich abzweigt, und den es somit als sein erstes Glied bildet, und das fünfte endlich, unmittelbar an das Ulnare beziehentlich Fibulare an- schliessend, gehört dem Stamme selbst an und ist somit eigentlich als das erste der ganzen fraglichen Reihe zu betrachten. Die genannten zehn Knöchelchen, in der geschilderten Weise im Allgemeinen noch bei den Amphibien vorhanden (Fig. 6, 7), bilden in ihrem Zusammenhange den Carpus, beziehungsweise Tarsus. An jedes ihrer dritten Reihe setzt sich dann ein Fig. 6. Schema der Vordergliedmasse eines Amphibiums. Die Punktlinien deuten die Radien an, welche am Stamm des Archipterygium ver- bleiben. (Nach Gegenbaur.) Big.7. Hintere Gliedmasse einer Larve von Salamandra maculosa. Die punktierten Linien sind durch die Radien gelegt, denen die einzelnen Stücke angehören. (Nach Gegenbaur.) Metacarpal-, beziehungsweise Metatarsalknochen mit zugehörigen Phalangen an, und diese, wahrscheinlich auch jeder aus mehreren, ER mit Berücksichtigung ihrer Össificationspunkte, wenigstens zwei ursprünglichen Flossenstücken entstanden, bilden so das Ende des Stammes und der beziehentlichen Seitenstrahlen. Die Glied- massen der Wirbeltiere, Arme und Beine sowie Flügel, sind also umgeänderte uniseriale Flossen, deren Stamm durch Humerus, Ulna, kleinen Finger, Femur, Fibula, Biene Zehe sche, unde deren andere, enesprechende Teile, natürlich mit zugehörigen Weichteilen, Nerven, Muskeln, Bändern, Gefässen, sich aus den entsprechen- den Seitenstrahlen gebildet haben. Nicht Daumen und grosse Zehe, nicht der innere Hand- und Fussrand sind, wenn ich mich so ausdrücken darf, die vornehmsten Teile an Hand und Fuss, sondern, obgleich am mächtigsten entwickelt, doch nur Gebilde zweiter Ordnung, und darin liegt der Schlüssel zur Lösung der uns beschäftigenden Angelegenheit. Die zehn Carpal- und Tarsalknöchelchen sind bekanntlich sehr grosser Veränderungen fähig. Auf denselben beruhen ja wesentlich mit die zahllosen Fuss-, beziehentlich Handformen, welche bei den Wirbeltieren vorkommen. Sie können sich hier vergrössern, eigene Gestalt annehmen, dort zurückbilden, rudi- mentär werden, ganz in Wegfall kommen; manche können auch verwachsen. Bereits bei den Amphibien ist dergleichen zu be- obachten, und im Hinterfusse schon der Larve von Salamandra maculosa erscheint daher nur ein Carpale centrale: beide sind mit einander verwachsen. Bei den Schildkröten ist das Inter- medium mit dem Tibiale und entsprechenden Centrale zu einem Astragalus verschmolzen, bei den Eidechsen sind es sogar die ersten beiden Reihen, d.h. das Intermedium mit den vier daran- stossenden, die dann zusammen noch mit der Tibia vereinigt sind. Bei den Vögeln liegt die Sache ähnlich, und bei den Säugetieren? Die verschiedenen Vorkommnisse sind da all- bekannt. Beim Menschen ist aus dem Intermedium das Os lunatum s. semilunatum manus und das Corpus tali s. astragali, aus dem Ulnare das Os triquetum und aus dem Fibulare das Corpus calcanei, aus dem Radiale das Os naviculare manus und aus dem Tibiale das Os naviculare pedis, vielleicht auch das Caput astragali geworden. Aus dem Carpale primum ging das Os multangulum majus, aus dem Tarsale primum das Os cuneiforme 118 primum, aus dem Carpale secundum das Os multangulum minus, und aus dem Tarsale secundum das Os cuneiforme secundum, aus dem Carpale tertium das Os cuneiforme tertium hervor. Das Carpale quartum wurde zum Os hamatum, vielleicht in Vereinigung mit dem Carpale quintum, das sonst, an das Os triquetrum herangedrängt, sich zum Os pisiforme gestaltete, und das Tarsale quartum ward Os cuboideum, vielleicht eben- falls in Verbindung mit dem Tarsale quintum, das anders aber, auch an den Calcaneus» gedrängt, nach seiner Verschmelzung mit demselben sich zu seiner Tuberositas umgestaltete. Diese letztere würde dann dem Os pisiforme entsprechen und die Homologie zwischen Hand und Fuss möglichst vollständig sein. Aus dem Carpale centrale radiale entstand, nach Verwachsung desselben mit dem Carpale tertium s. Os capitatum, das Capitu- lum desselben, und aus dem Carpale centrale tibiale, nach seiner Verwachsung mit dem Astragalus, das Caput dieses. Das Car- pale centrale ulnare verwuchs mit dem Os hamatum zu seiner Pars superior, und das Tarsale centrale tibiale mit dem Os cuboideum zu dessen Pars superior s. interna. Doch soll nach Gegenbaur das Caput astragali aus dem Tibiale hervorge- gangen sein und das Naviculare sich aus dem Centrale gebildet haben, sowie das Hamatum aus dem vierten und fünften Tarsale. Das Os pisiforme aber soll gar nicht den besprochenen zehn Carpalknochen angehören, sondern ein Überbleibsel aus einer Zeit sein, in welcher noch mehr als zehn Carpalknochen vor- handen waren, wie bei Ichthyosaurus, Plesiosaurus u. s. w. In- dessen das ist für unsere Zwecke nicht von Belang. Für diese genügt zu wissen, dass die einzelenen Knochen von Hand und Fuss mitsamt den zugehörigen Weichteilen einer uniserialen Flosse entsprechen, deren sämtliche nach innen von den unmittelbaren Ulnar- und Fibulargebilden, durch welche der Flossenstamm geht, gelegenen Teile aus den Seitenstrahlen dieser Flosse hervorgegangen sind. Sehen wir nun einmal die Verbildungen der Gliedmassen an Hand und Fuss, welche in Frage kommen können, näher an, so sehen wir, dass sie fast ausnahmslos der Radial- und Tibial- seite angehören, und dass selbst die, welche die Ulnar- und Fibularseite betroffen zu haben scheinen, sich doch meist auf jene zurückführen lassen. Fassen wir zunächst z. B. den Plattfuss in’s Auge, so finden wir, dass das Wesentliche desselben, der Verlust des Fuss- gewölbes und das Berühren des Bodens mit dem ganzen inneren Fussrande, auf eine Verlängerung dieses letzteren zurückzuführen i5t. Schon Hueter machte, und so viel ich weiss, als der erste, darauf aufmerksam, dass eine Verlängerung des Collum, beziehentlich Caput tali, als die Hauptursache des Plattfusses anzusehen sei, und schlug darum denn auch ein entsprechendes Operationsverfahren ein. Allein nicht blos das Collum, beziehent- lich Caput tali, sind verlängert; es sind es die sämtlichen Knochen des inneren Fussrandes und seiner Nachbarschaft, das Os naviculare, die Ossa cuneiformia, die entsprechenden drei inneren Metatarsalknochen und Phalangen, beziehentlich Phalangen- reihen oder Zehen. Wenn das Collum und Caput tali sich ver- längert, so muss, wenn der ganze Körper des betreffenden Individuums dadurch nicht gehoben wird, die Stellung des Collum zum Corpus eine weniger steile, eine flachere, mehr horizontale werden und das Fussgewölbe damit einsinken. Dass die Be- lastung des Fusses durch das Körpergewicht dies nur zu ver- mehren, zu beschleunigen geeignet sein wird, liegt auf der Hand, zumal wenn, wie das beim Plattfuss gewöhnlich ist, die Weich- teile und unter ihnen namentlich auch die Bänder, Gelenk- kapseln schlaff und nachgiebig sind; aber es gelangt das nur zur Wirkung, wenn jenes pathologisch vermehrte Wachstum als prädisponierendes Moment voraufgegangen ist, die bezügliche Disposition gesetzt hat. Dadurch jedoch, dass sich alle Knochen des inneren Fussrandes, beziehungsweise der inneren Fusshälfte, verlängern, während die des äusseren Fussrandes, der äusseren Fusshälfie mehr die dem gerade vorliegenden Falle zukömm- liche Länge behalten, muss ı. der innere Fussrand sich hervor- wölben, also eine mehr oder minder convexe Krümmung er- fahren, und 2. der ganze innere Fussrand und damit auch der ganze Fuss nicht blos länger, sondern auch der Winkel, welcher von den durch den inneren Fuss- und den vorderen Zehenrand gelegten Linien eingeschlossen wird, kleiner werden, als er sein sollte. Und darin liegt denn auch etwas durchaus Charakteristisches für den Plattfuss. Er erscheint auffallend lang, spitz, wenigstens verhältnismässig schmal und leicht nach aussen gebogen. Im Übrigen sind, wie bekannt, so gut als keine ihn be- 120 dingenden Abwegigkeiten bisher aufzufinden gewesen. Was sonst noch eigentümlich Fremdartiges bei ihm angetroffen worden ist, sind mehr Folgezustände als Ursachen gewesen. Beim Klumpfuss verhält es sich gerade umgekehrt. Der innere Fussrand, die innere Fusshälfte, beziehentlich ihre Be- standteile, sind verkürzt, mehr oder minder verstümmelt ge- blieben. Vielleicht alle Knochen eines Klumpfusses haben nicht die ihnen für den jeweiligen Fall zukommende Länge und Dicke erreicht, sind vielmehr kürzer und dünner geblieben, als sie sein sollten, allein die des inneren Fussrandes, der inneren Fusshälfte ungleich mehr als alle übrigen. Zunächst zeigt das wieder am auffallendsten der Astragalus. Sein Corpus ist, wie Bessel-Hagen*) gezeigt hat, abgeplattet; sein Collum, sein Caput sind kürzer, dünner und steiler, d. h. stehen mehr senkrecht, als es der Regel nach sein sollte.e Das Os naviculare ist kürzer, beziehentlich schmäler, der Calcaneus zeigt eine abnorme Höhe seines Processus anterior und einen Mangel seines Proc. lateralis; die Bänder, insbesondere die seitlichen des Sprunggelenkes, sind aussergewöhnlich kurz, und vornehmlich ist es das Lig. calcaneo-fibulare, welches kurz erscheint, aber wohl blos dem Lig. laterale internum gegenüber als ein Folgezustand. Wir wissen, dass ausserdem beim Klump- fuss Subluxationen zwischen Os naviculare und Caput astragali einerseits, sowie zwischen Corpus astragali und Calcaneus, be- ziehentlich Tibia andererseits stattgefunden haben, und eine Reihe von Autoren will gerade darin das Wesentliche des Klumpfusses sehen. Es ist etwas Wesentliches, das ist richtig, aber doch erst etwas mehr Secundäres. Es bildete sich erst aus und konnte sich auch erst ausbilden, nachdem die Bedingungen dazu gegeben, die Disposition dazu vorhanden waren, d. h. die Verkürzung des inneren Fussrandes sich geltend gemacht hatte. Denn dadurch, dass er verkürzt blieb, in Bezug auf den äusseren verkürzt wurde, musste der Fuss sich nach innen krümmen, die Fusssohle sich nach innen heben, der äussere Fussrand sich senken und dadurch notwendig der Astragalus sich gegen Os naviculare, Calcaneus und Tibia verschieben, sowie das ganze *) Bessel-Hagen: Ueber die Pathologie des Klumpfusses und über die Be- handlung hochgradiger Fälle mittelst der Talusexstirpation. Verhandl. d. deutschen Gesellschaft f. Chirurgie, 1885, Bd. I, p. 76. 121 Bein nach Innen drehen. Dadurch indessen wurden wieder Folgen hervorgerufen, die, auf den Fuss rückwirkend, die Uebel nur verschlimmerten, aus denen sie selbst entsprungen waren, und damit trat dann auch der Circulus vitiosus ein, welcher bei allen pathologischen Vorgängen, wie bekannt, überhaupt eine grosse Rolle spielt. Wenn der innere Fussrand sich dem äusseren gegenüber verkürzt, so muss die Linie, welche, durch ihn ge- zogen, sich mit der durch den Zehenrand gezogenen schneidet, dies unter einem grösseren Winkel thun. Der Klumpfuss erscheint deshalb kurz, relativ breit, nach innen gekrümmt, concav. Er ist also ganz das Gegenteil vom Plattfuss. Weitere seiner Eigentümlichkeiten sind wie beim Platt- fuss als Folgezustände zu betrachten, die aber in dem Circulus vitiosus, der sich ausbildete, auf ihre Ursachen, so weit die- selben ständig wurden, nicht ohne Einfluss und damit wieder ohne Folgen blieben. — In einzelnen wenigen Fällen von sehr ausgesprochenem Klumpfuss, aber auch immer nur in Verbindung mit diesem, hat man die Tibia nur mangelhaft entwickelt, z. B. ohne Knöchel, rudimentär, oder wieBillroth, Albert, Thümmel, Ehrlich, auch ganz fehlend gefunden. Der ursprünglich erste Seitenstrahl war also nicht zur gehörigen Ausbildung gekommen.*) Billroth nimmt an, dass eine frühzeitige Verrenkung mit nachherigem Schwunde an dem Mangel der Tibia Schuld sein dürfte; in dem einen oder anderen Falle warum nicht; aber, da die Tibia’ wie der: Radıus in den bezüglichen Fällen gewöhnlich vorhanden und nur mangelhaft und vor- zugsweise in den unteren Teilen mangelhaft entwickelt und ausgebildet ist, so ist die genannte Annahme für die Mehrzahl der einschlägigen Fälle wohl nicht zutreffend. In diesen muss der fragliche Mangel in anderer Art zu Stande gekommen sein. Plaftfuss, sowie Klumpfuss kommen aber dadurch zu Stande, dass sich die Teile des inneren Fussrandes, der inneren Fuss- hälfte anomal entwickeln, entweder im Wachstum excedieren oder zurückbleiben. Der äussere Fussrand, der Fibularteil des Flossenstammes, beziehungsweise die Abkömmlinge desselben, *) Franz Thiele, Ein Fall von angeborenem Defekt der rechten Tibia. Dissert. inaug. Greifswald 1890 und N. Ehrlich, Untersuchungen über die congenit. Defekte und Hemmungsbildungen der Extremitäten. Aus dem pathol. Institut in Strassburg. Virchow’s Arch. für path, Anat., Bd. C., S. 107 und ff. 122 erweist sich so als die beständige, der innere Fussrand, die Flossenstrahlen, beziehungsweise ihre Abkömmlinge, als die veränderliche Grösse. Und das zeigt sich auch an anderen, entsprechenden Teilen. Mit Plattfuss findet sich gewöhnlich X-Bein, Genu valgum, mit Klumpfuss O-Bein, Genu varum, vergesellschaftet. Zwar kommen auch die Verbindungen von Plattfuss und O-Bein vor, selbst diejenigen von Plattfuss und X-Bein; allein die Regel ist, dass Plattfuss und X-Bein, sowie Klumpfuss und O-Bein zusammen vorkommen. Die Mehrzahl der Forscher hat von jeher, seitdem man die pathologisch-anatomischen Ursachen für diese beiden Missbildungen zu erforschen gesucht hat, sich dafür entschieden, dass neben grob mechanischen Einflüssen, wie Belastung, die. nicht zu unterschätzen sind, vorzugsweise doch ungleiches Wachs- tum in den Epiphysenlinien des Femur und der Tibia dafür verantwortlich zu machen sei. Von deutschen Autoren sind da besonders Roser zu nennen, der schon im Jahre 1859 dafür ein- getreten ist*), demnächst Mikulicz, der vornehmlich heutigen Tages dafür streitet,**) und König, welcher sich dem letzteren der Hauptsache nach angeschlossen hat.***) Das Wesentlichste am X-Bein ist ı. die Verlängerung der inneren Seite des unteren Teiles des Femur und des oberen Teiles der Tibia, so dass die untere Fpiphyse jenes und die obere dieser wie unter einem Winkel an die Diaphyse angesetzt erscheinen, und 2. die wenn auch nur geringe Vergrösserung des Condylus internus femoris, welche freilich auch vielfach bestritten wird und nur da sein soll, weil der Condylus externus durch Druckatrophie kleiner geworden sei, die aber dennoch vielfach recht wohl festgestellt werden kann. Endlich wird auch noch angegeben, dass die Bänder an der Innenseite des Knies zu lang und darum zu schlaff und die auf der Aussenseite wenigstens verhältnismässig zu kurz und darum zu straff seien, weshalb sie denn auch durchschnitten werden müssten, sollten gewisse Fälle von X-Bein mit Erfolg operirt werden; allein es wird auch dieses nicht allseitig zugegeben. *) W. Roser, Handbuch der anatomischen Chirurgie, Tübingen 1859, S. 778. **) J. Mikulicz, Die seitliche Verkrümmung am Knie und deren Heilungs- methode. Langenbeck’s Archiv, 1879, Bd. XXIU, S. 596 u. ff. ***) O. F. König, Lehrbuch der speciellen Chirurgie. 4. Aufl. Berlin 1886, Bar 11,28. Agonu, tt 123 Beim O-Beine ist das gerade Gegenteil vorhanden. Die äussere Seite von Femur und Tibia sind verlängert und die bezüglichen Epiphysen wie unter entgegengesetztem Winkel an die Diaphyse angesetzt, der Condylus femoris externus in Rück- sicht auf den Condylus internus, allein nicht an und für sich betrachtet, wie vergrössert, und nur der internus, der aber ent- schieden, wie verkleinert; in Bezug auf die Bänder indessen ist nichts Entsprechendes zu sagen. Bei X-Bein wie O-Bein ist von den Oberschenkelknochen also nur die Tibia krankhaft verändert und von den Ober- schenkelknochen, wenigstens von vornherein, nur die innere Seite des unteren Endes, soweit es von Epiphyse und Epi- physenlinie beeinflusst wird. Denn die Veränderungen an der äusseren Seite sind alle nur beziehentliche und wohl nichts An- deres, als blosse Folgezustände. Die Epiphyse aber stellt, wie seinerzeit hervorgehoben worden ist, nicht unwahrscheinlicher Weise einen ursprünglich mehr selbstständigen Teil der Flossen- strahlen dar, der erst nachträglich mit der Diaphyse sich verbunden hat und bis dahin notwendigerweise Weise unter dem Einfluss stand, durch welchen, wo er sich findet, der bezügliche Seitenstrahl der Flosse hergevorbracht wurde. Wiewohl diese Angelegenheit noch sehr der Klärung bedarf, erklärt sie so die fraglichen Ver- hältnisse doch leichter als eine andere Annahme. Da auch sonst die anatomischen Verhältnisse dazu auffordern, ist es viel natür- licher, die langen Röhrenknochen aus mehreren, zum Mindesten drei sich folgenden festeren Flossenstrahlenteilchen entstanden zu denken, als blos aus einem. Der Fall III in der oben erwähnten Arbeit vonEhrlich, welcher unterv.Recklingshausenarbeitete, und namentlich die Besprechung desselben auf S. 123 und 124 a. a.O., bei welcher auf die Gegenbaur’sche Archipterygium- Theorie ebenfalls Rücksicht genommen worden ist, kann dafür nur als Beweis angesehen werden. Man hat als eine beim X-Bein sehr häufig vorkommende Veränderung des Oberschenkelbeines die Schlankheit seines Schaftes betont und davon eine geringere Widerstandsfähigkeit des Knochens überhaupt hergeleitet. Dem soll nicht wider- sprochen werden; aber wir erinnern daran, dass wir Eingangs angeführt haben, dass Plattfuss und X-Bein vornehmlich bei 124 langgliedrigen, schlanken, Klumpfuss und O-Bein bei mehr kurz- gliedrigen, untersetzten Individuen sich finden. Wo Plattfuss, Klumpfuss auch in den niedrigsten Graden vorhanden sind, da werden meist auch wenigstens Andeutungen von Platthand, wenn wir sie so nennen wollen, und Klumphand, Manus valga und Manus vara, gefunden, — nicht immer, es finden sich wohl öfter noch als die Verbindungen von Plattfuss und O-Bein, von Klumpfuss und X-Bein die von Plattfuss und Klumphand, von Klumpfuss und Platthand; allein die Regel ist auch hier, dass die gleichnamigen Störungen verbunden auftreten. Die Platthand weicht ausgestreckt mehr oder weniger nach der Ulnarseite, die Klumphand nach der Radialseite ab; doch ist in den gewöhnlich vorkommenden Fällen diese Abweichung nie eine erhebliche, dazu durch leicht krampfartige Bewegungen sehr verdeckte, und ist darum, wie es scheint, bisher vollständig übersehen worden. Die Kleinheit der sie bedingenden Carpal- knochen, in erster Reihe des Os lunatum und Os naviculare mag daran vorzugsweise Schuld sein. Bei der Platthand ist die innere Handhälfte, Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger, gegenüber den anderen verlängert, bei der entsprechenden Klumphand verkürzt. Die Platthand erscheint lang und schmal, langfingrig, die Klumphand kurz und breit, kurzfingerig. Die Fläche der letzteren ist verhältnismässig gross, rundlich, die Finger, nament- lich die äussersten Phalangen kurz, vielfach wie abgehackt, — Cretinenhand der Franzosen. Sehr bezeichnend ist, dass auch hier bei höheren Graden der Klumphand, der Talipomanus im eigentlichen Sinne des Wortes, der Radius, also wieder der ursprüngliche Seitenstrahl, oft nur unvollkommen vorhanden ist, oder auch ganz fehlt. Von Nicoladoni*) ist ein Cubitus varus, von v. Lesser**) ein Cubitus valgus beschrieben worden. In den niederen oder auch ersten Graden in ihrer Erscheinung namentlich durch die beziehentliche Hyperextension dem Genu valgum, und durch die leichte Flexion dem Genu varum entsprechend, kommen sie gar nicht so selten vor und scheinen ganz wie diese hauptsächlich auf Veränderungen der Innen-, also der Radialseite *), Nicoladoni, Zur Arthrotomie veralteter Luxationen. „Wiener med. Woch.“, 1885, pP. 729. **) L. v. Lesser, Über Cubitus valgus, Virchow’s Archiv für path. Anat., 1833, Bd Xeli.p. 1. 125 der das Ellbogengelenk bildenden Knochen, welche herkömmlich, aber mit Unrecht, die äussere genannt wird, zu beruhen.*) Beide Formen der abwegigen Ellbogengelenkbildungen kommen am häufigsten da vor, wo entsprechende Missbildungen an den übrigen grossen Gelenken sich finden, also im Vereine mit diesen und den entsprechenden Miss-, oder doch wenigstens eigentümlichen Bil- dungen im Gesicht, besonders an den Kiefern; indessen sie finden sich und zwar noch öfter als die bereits erwähnten Gliedverbil- dungen, in allen möglichen einschlägigen Combinationen. Das Alles zusammengenommen weist aber -auf eine gemein- same Beeinflussung, ein gemeinsames Beeinflusstsein der fraglichen Teile hin. Diese Beeinflussung, dieses Beeinflusstsein kann bei dem weiten Auseinanderliegen der Teile indessen nur von einem Orte aus geschehen, an dem sie alle einen Vereinigungspunkt haben, und das wieder führt denn gleichsam von selbst auf das Nervensystem und in Sonderheit das Centralnervensystem. In diesem muss es dann eine umschriebene Stelle geben, ein soge- nanntes Centrum, von dem aus dieser Einfluss geübt wird, autonom oder functionär, automatisch oder reflectorisch, das ist für jetzt ganz gleichgiltig, von dem aus er aber statthat. Mit einem Wort: Es weist das auf nervöse Einflüsse hin, gleichviel wo und woher dieselben ausgelöst werden. Dass nervöse Einflüsse bei dem Zustandekommen der in Rede stehenden Missbildungen eine grosse Rolle spielen, ist auch seit Langem schon von den verschiedensten Seiten angenommen worden. In welcher Weise jedoch die nervösen Einflüsse sich geltend machten, darüber sind die Meinungen immer weit aus- einander gegangen. Am meisten wurde noch angenommen, dass sie durch Muskelwirkung sich zur Geltung brächten. Durch krampfartige Zustände derselben, Contracturen, oder durch mehr lähmungsartige, Relaxationen, und die dadurch hervorgerufenen Folgezustände käme es zu Knochenverbildungen und durch diese im Verein mit den anomalen Muskelwirkungen, durch welche auch noch der ernährende Blutumlauf gestört würde, zu den ausgiebigen Missbildungen, um die es sich handelt. Diese Annahmen sind sehr beachtenswert, erklären Vieles, aber nicht Alles, und sind deshalb auch immer wieder durch andere zu ersetzen oder wenigstens zu ergänzen SjeVierelave Besser, lc pe: 126 gesucht worden. Den rein mechanischen, von aussen her auf die bezüglichen Gliedmassen wirkenden Ursachen räumte man von Zeit zu Zeit ein mehr oder minder grosses Gewicht ein, und dann und wann sah man in ihnen sogar nur die einzigen überhaupt. Das Bäckerbein hat dem entsprechend seinen Namen erhalten. Der angeborene Klumpfuss soll danach bis auf die wenigen Ausnahmen, wo er von Vater und Mutter ererbt worden, nur durch uterinen Druck zu Stande kommen u. s. w. Die mechanischen Einflüsse sind nicht zu unterschätzen, als aus- schlaggebendes Moment in einzelnen Fällen gewiss sogar von hervorragendster Bedeutung, wie bei Bäckern, Schlächtern, Maurern, Kellnern zur Entwicklung eines hochgradigen Platt- fusses und X-Beines, aber erst dann, wenn, wie wir wiederholt betont haben, die Disposition dazu vorhanden ist, d. h. die inneren Bedingungen dazu gegeben sind. Denn wenn anders, warum ist das Bäckerbein selbst bei Bäckern doch immer nur verhältnismässig häufig, und warum findet es sich mitsamt dem Plattfuss auch bei Schlächtern, Maurern, Kellnern doch immer blos bei einem gewissen Prozentsatze derselben? Die fraglichen nervösen Einflüsse sind von vornherein rein trophische, die fraglichen Missbildungen dem zufolge Ausdruck rein trophischer Störungen auf Grund neurotischer Vorgänge, also Ausdruck von Trophoneurosen. Die fraglichen Einflüsse erstrecken sich von Anfang an nicht blos auf die Knochen, sondern auch auf die sie bedeckenden, namentlich ihnen zuge- hörigen Weichteile, also die bezüglichen Bänder und Muskeln, und diese, entsprechnd länger oder kürzer geworden, beein- flussen dann selbst auch noch wieder, bald stark, bald weniger stark die zugehörigen Knochen. Von jeher hat es Autoren gegeben, welche angenommen haben, dass Rhachitis bei der Entwickelung mancher der frag- lichen Missbildungen, zumal des O-Beines, eine grosse Rolle spiele; es ist das von anderen Autoren, wenn auch nicht ganz abgelehnt, so doch stark in Zweifel gezogen worden; jetzt kommt Mikulicz*) und erklärt, dass nicht blos die O-Beine, sondern auch die X-Beine rhachitischen Vorgängen ihre Entstehung ver- danken. Und da nun X-Bein und Plattfuss, O-Bein und Klumpfuss so häufig zusammen vorkommen, sich selbst eine Art Platthand * Mikuliczl. c., p. 620. mit jenen, eine Art Klumphand mit diesen vergesellschaftet zeigt, ja sogar Ellbogengelenke und Gesichtsknochen eine be- zügliche Abänderung ihrer Gestalt an den Tag legen, sollten da nicht auch hier immer die rhachitischen Vorgänge ihr Spiel treiben oder auch getrieben haben? Ich für meinen Teil sehe nicht ein, warum nicht. Unter Rhachitis versteht man einen Krankheitsvorgang welcher sich hauptsächlich durch einen Reizzustand im Knochen- bildungsgewebe, das verhältnismässig am mächtigsten in den Knochennähten und somit auch in den Epiphysenlinien ange- häuft ist, zu erkennen giebt. Eine beschleunigte Wucherung der betreffenden Gewebszellen ist Ausdruck jenes Reizzustandes. Von der Heftigkeit desselben und der Umwandlung des neuge- bildeten Knochenbildungsgewebes in Knochen selbst hängt es ab, ob vermehrtes Längenwachstum oder auffälliges Kurzbleiben der befallenen Knochen eintritt. Die langen Beine des Wind- hundes und die kurzen des Dachshundes haben in letzter Reihe den nämlichen Grund. Ist das Knochenwachstum auf Grund einer Reizung an seinen Wachstumsstätten zwar beschleunigt, aber nicht in dem Masse, dass die neugebildeten Knochen- elemente nicht noch rechtzeitig verknöchern könnten, so erfolgt ein vermehrtes Längenwachstum: die Glieder z. B. werden lang. Es geschieht das unter Anderem sehr allgemein zur Zeit des grössten Wachstums zwischen dem 2. und 5., sowie dem ı2. und 17. Lebensjahre, wofür auch Billroth, Delore und, wie es scheint, nicht minder wieder Mikulicz, eintreten. Ist dagegen jenes Wachstum so beschleunigt, dass die Verknöcherung mit ihm nicht Schritt halten kann, ist es darum dieser letzteren gegenüber auch nur verhältnismässig zu stark, weil es in Bezug auf sie vielleicht auch einmal blos darum zu stark ist, als sie selbst eine Verlangsamung erfahren hat, so entwickelt sich zunächst ein weiches, leichtzu verbiegendes und zu verkrümmendes Gewebe, das später mehr oder minder rasch verknöchert und die zum Teil durch Verkrümmungen bedingte, zum Teil mit ihnen blos ver- gesellschaftete Kürze der befallenen Knochen zur Folge hat. Das ist der rhachitische Prozess, die Rhachitis xat’ &Zoynv, welche als Ausdruck nervöser Affectionen durch die Erfahrungen namentlich Schiffs eine sehr kräftige Bestätigung erhalten hat. Werden nämlich die sämtlichen Nerven einer Extremität, also 128 an der unteren z. B. die Nn. ischiadicus und cruralis durch schnitten, so wird mit der Ernährung der Weichteile jener auch die der Knochen in Mitleidenschaft gezogen, und zwar werden bei ausgewachsenen Individuen sie im Verlaufe von einigen Monaten blos einfach dünner, indem sie an Umfang verlieren, während bei noch wachsenden sie geradezu entarten. Sie er- weichen, werden knorpelartig, verkrümmen in Folge dessen und, da ihr Periost unregelmässig zu werden anfängt, ungleich- mässig an Dicke und Umfang zunimmt, werden sie selbst auch ungleich dick und umfangreich. Sie erscheinen verkrümmt und an verschiedenen Stellen wie aufgetrieben. Endlich kann das besagte Wachstum und die besagte Verknöcherung gleichzeitig beschleunigt sein; die letztere ist es aber in höherem Grade; die Bildungszellen verfallen vorzeitig samt und sonders der fraglichen Verknöcherung; sogenannte Bildungshemmungen im engeren Sinne, Stehenbleiben auf früheren Entwicklungsstufen, die eine Kürze der Glieder, vielleicht Kleinheit und Zartheit des ganzen Körpers, Zwergwuchs, nach sich ziehen, sind dann die Folge. Dass der rhachitische Prozess immer zu argen Verbildungen, Verkrümmungen führe, ist darum nicht notwendig, und Miku- licz dürfte deswegen gar nicht Unrecht haben, wenn er die an- scheinend verschiedenartigsten Dinge auf denselben zurückführt. Allein was ist der schlechtweg sogenannte rhachitische Process? Doch nichts weiter als der Ausdruck eines Allgemeinleidens an bestimmten Orten. Und da diese Orte in Bezug auf den Gesamt- körper zumeist eine symmetrische Lage aufweisen oder in sonstiger bestimmter Beziehung stehen, wie Tibia und Radius, Fibula und Ulna, oder Hand- und Fussgelenk überhaupt, so ist es wohl nicht anders möglich, als dass das Leiden sich örtlich nur durch das Nervensystem, speziell durch einen beschränkten Raum im Centralnervensystem, von dem die bezüglichen peri- pherischen Nerven ihren Ursprung nehmen, zum Ausdruck bringt. Der rachitische Process, abgesehen von dem ihm zu Grunde liegenden Allgemeinleiden, würde damit zuletzt auch nichts Anderes als einen neurotischen Vorgang, eine neurotische Östeitis, kurzweg eine Trophoneurose darstellen. Auf Trophoneu- rosen würden die fraglichen Missbildungen, zumal also Plattfuss und Klumpfuss, auch aus diesen Gründen zurückzuführen sein, und ersichtlich wird damit wie von der Geartung dieser Neurosen, 129 ihrer Gleichmässigkeit oder Ungleichmässigkeit es abhängt, ob der bezügliche Gliederbau ein mehr gleichmässiger oder ungleich- mässiger wird, warum in der Regel die gleichnamigen Ab- weichungen in ihm zur Entwickelung kommen, warum das aber nicht gerade sein muss, warum also z. B. Plattfuss und O-Bein, Klumpfuss und Platthand, ja selbst die nicht so gar seltene Com- bination von Plattfuss und Klumpfuss sich ausbilden kann. Die einzelnen Glieder der einzelnen ursprünglichen Flossen-,beziehentlich Seitenstrahlen derselben erhalten in Folge ungleicher Beeinflussung eine ungleiche Ausbildung: Die Tarsalknochen bleiben kurz, ver- krüppeln, während die Metatarsalknochen, namentlich ihr vorderes Ende und die sich ihnen anreihenden Phalangen lang werden. Jeder dieser Knochen, beziehentlich jedes dieser Glieder hat ja seine besonderen Nerven und ist natürlich mittelst dieser im Central- nervensysteme besonders vertreten. Wenn dem nun in der That so ist, warum wird von den fraglichen trophoneurotischen Störungen gerade die Innenseite der Glieder, die Radial- und Tibialseite derselben befallen? Denn die Radialseite des Armes ist ja, wie die Tihialseite des Beines, die Innenseite geworden, und nur eine falsche anatomische Betrachtungweise, welche die durch Gebrauch entstandene Dreh- ung des Humerus ausser Acht liess, die wieder freilich erst nach Darwins Auftreten gewürdigt werden konnte, hat den Daumen, die grosse Zehe der Hand, und mit ihm den Radius an die Aussenseite des Armes gebracht. Entsprechend musste dann freilich der ursprüngliche Condylus internus humeri zu einem Cond. externus und der ursprüngliche Cond. externus zu einem internus werden. Praktisch ganz gleichgültig, hat das aber für die Beurteilung mancher Vorgänge Bedeutung, und es wäre deshalb vielleicht besser, statt von Cond. externus und internus von Cond. ulnaris und radialis, fibularis und tibialis zu reden. Doch das nur zur augenblicklichen Verständigung, sonst bleibt die Frage: Warum machen sich die fraglichen trophoneurotischen Störungen geradeander Radial- und Tibialseite der Glieder geltend? Weil die Gebilde dieser letzteren aus ursprünglichen Flossen- seitenstrahlen hervorgegangen sind, und diese als Äste des Flossenstammes, wie sie schon auf den ersten Blick schwächer und zarter als dieser selbst erscheinen, wirklich auch schwächer, zarter und darum widerstandsloser und leichter beeinflussbar 9 sind, als er oder die aus ihm hervorgegangenen Teile. Die Äste eines Stammes sind immer schwächer, darum biegsamer und veränderlicher als der Stamm selbst. Die Gliedmassen eines Tieres sind schon an und für sich veränderlicher als sein Stamm; es müssen so auch gewisser- massen die Gliedmassen der Gliedmassen veränderlicher sein als ihr Stamm. Der Stamm ist immer den Ästen gegenüber der stärkere, widerstandsfähigere und deshalb beständigere Teil. Zwar sind auch mangelhafte Entwickelung beziehentlich gänz- liches Fehlen der Ulna und Fibula bekannt geworden, — der Radius, die Tibia sollen dann fast immer, wie bei den Equiden, stärker ent- wickelt und hauptsächlich dicker gewesen sein —; allein das spricht nicht dagegen. Geht ein Baum der Spitze seines Stammes, d.i. seiner Axe verlustig, so erhebt sich einer der nächsten seiner Äste, wird stärker und übernimmt gewissermassen die Führung des Stammes als neue sekundäre Axe. Er wird aber damit eben Axe, Stamm, wenigstens Ersatz desselben, wenn auch nicht ohne Verkrüppelung, und in Bezug auf seine Äste wird er, was er selbst ursprünglich in Bezug auf den Stamm, die primäre Axe, war. Und nun kommt das biologische Grundgesetz zur Geltung: Kleine Reize fachen die Lebensthätigkeit an, mittel- starke fördern sie, starke hemmen sie, und stärkste heben sie auf. Eine gewöhnliche Reizung lässt die Glieder gewöhnlich lang werden; eine stärkere, sogenannte mittelstarke, hat die langen Beine des Windhundes, eine noch stärkere, sogenannte starke, die kurzen, krummen Beine des Dachshundes zur Folge; eine übermässig starke Reizung lässt, wie bei Talipomanus, den Radius, oder bei Pes varus den Processus lateralis calcanei, die Tibia rudimentär werden oder scheinbar auch ganz ausfallen. Drehen wir das biologische Grundgesetz aber um und lassen wir die Reizgrösse die stetige, die Beeinflussbarkeit der Indivi- dualität die veränderliche Grösse sein, so ergiebt sich: „Unter einer bestimmten, sagen wir der alltäglichen Reizein- wirkung entwickeln sich kräftige und auch blos kräf- tiger veranlagte Individuen in alltäglicher Weise, d.h. was wir normal nennen. Etwas schwächer veranlagte, mässig reizbare Individuen, auf welche die genannten Reize bereits als sogenannte mittelstarke wirken, ent- 131 wickeln sich zu grösserem Längenwachstum; ihre Gliedmassen strecken sich, und namentlich sind es bei einer geringeren Steigerung dieser Reizbarkeit die inneren Seiten der Glieder, welche, ein grösseres Wachstum zeigen. Pes valgus, Genu valgum, Manus valga, Cubitus valgus sind die Folge. Sind die be- treffenden Individuen noch schwächer veranlagt, daher sehr widerstandslos und im hohen Grade reizbar, so verhalten sie sich den gedachten Reizen gegenüber wie bereits starken; ihr Wachstum erfährt eine Hemmung, die Glieder bleiben kurz und namentlich wieder an ihrer Innenseite. Pes varus, Genu varum, Manus vara, Cubitus varus kommen zur Ausbildung. Sind endlich die Individuen sehr schwach, so sterben sie schon unter der Einwirkung der alltäglichen Reize, oder wenn sie nur in einzelnen Teilen diese Schwäche besitzen, so kommen diese nicht zur Entwickelung. Der Radius fehlt, die Tibia fehlt, der Processus calcanei lateralis fehlt.“ Fassen wir nun das Ergebnis unserer Untersuchungen zu- sammen, so ergiebt sich: Der Plattfuss und die ent- sprechenden Gliedverbildungen sind der Ausdruck einer allgemeinen, aber doch noch verhältnismässig ge- ringen Schwäche und Widerstandslosigkeit des Körpers überhaupt; der Klumpfuss und die ihm entsprechenden Gliedverbildungen dagegen sind der Ausdruck einer eben solchen, aber viel weiter gediehenen Schwäche, einer bereits mehr oder minder grossen Hinfälligkeit. Die Schwäche, Widerstandslosigkeit, Hinfälligkeit sind indessen das Hauptwesen der Entartung oder Degeneration. Plattfuss und Klumpfuss sind damit aber in der That, wie von einer Reihe von Anthropologen und Aerzten, namentlich Irrenärzten, behauptet wird, Degenerationszeichen, Stigmata degenera- tionis, jener je nach seinem Grade ein noch mehr oder minder leichtes, dieser ebenfalls je nach seiner Entwicklung ein schon mehr oder minder schweres. Das Zustandekommen beider erfolgt nach dem biologischen Grundgesetz, das auch hier seine Macht entfaltet: „Kleine Reize fachen die Lebensthätigkeit an, mittelstarke fördern sie, starke hemmen sie, und stärkste heben sie auf.“ — 0 9# 132 - d. Riesen, Zwerge und das biologische Grundgesetz, Auf dem X. internationalen medizinischen Kongress im Jahre 1890 zu Berlin hatte ich in der Abteilung für die Kgl. psychiatrische Klinik zu Greifswald eine Reihe von Gypsabgüssen, namentlich. von Händen, Füssen, Ohren, ausgestellt. Sie sollten dazu dienen, das Wesen der sogenannten Stigmata degenerationis erläutern zu helfen. Sie betrafen daher fast ausschliesslich Missbildungen,, beziehentlich Verbildungen, welche durch die Symmetrie, mit der sie an beiden Körperhälften aufgetreten waren, oder die Cor- relation, in der sie sonst nachweislich standen, darthaten, dass, nicht sowohl rein lokale Ursachen sie verschuldet haben könnten,, als vielmehr Umstände, Verhältnisse, welche mehr oder weniger gleichmässig durch den ganzen Körper, in Sonderheit das Nerven- system, namentlich das Centralnervensystem, auf sie gewirkt haben müssten. Vornehmlich waren es zwei Gruppen von zusammengehörigen Händen und Füssen einer Person, welche: dies zu beweisen schienen. Beide Gruppen stammten von Schwach- sinnigen, beziehentlich geistigen Schwächlingen mit allerhand Abwegigkeiten und selbst Verkehrtheiten her, welche beide in- dessen noch immer im Stande waren, der eine als Fischer-, der andere als Ackerknecht, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die beiden Gruppen sollten ebenso wie alle übrigen bezüglichen Abgüsse beweisen, dass der jeweilige Schwachsinn, die jeweiligen Abwegigkeiten und Verkehrtheiten nicht minder blosser Ausfluss. einer mangelhaften, zu abwegigen und selbst verkehrten Pro- duktionen geneigten Natur sei, wie diese letzteren selbst. Denn das ist eben das Wesen der Stigmata degenerationis, dass sie als. Ausfluss, Produkt, einer abwegigen, aus der Art geschlagenen, also entarteten, degenerierten Natur, diese selbst anzeigen, kenn- 133 zeichnen. Sie sind deshalb, seit B. Morel zuerst mit aller Ent- schiedenheit auf ihre Bedeutung aufmerksam gemacht hat, allein ohne sich des bezüglichen genaueren Zusammenhanges be- wusst geworden zu sein, noch mit viel grösserer Rücksicht in allen anthropologischen Fragen zu behandeln, als man dies zur Zeit noch im Allgemeinen zugestehen will. Die eine der besagten Gruppen bestand aus Händen und Füssen, an denen die vierten Metacarpal- und Metatarsalknochen zum Teil auffällig verkürzt waren. Der entsprechende rechte Metacarpalknochen war es nur unbedeutend; sein Köpfchen erschien, und zwar auch blos bei schärferem Zusehen, etwas schmächtiger. (Fig. 1.) Dagegen war der linke um ı,5 cm hinter den benachbarten zurückgeblieben, und eine tiefe Grube zwischen den Knöcheln beziehentlich Köpfchen des dritten und fünften Meta- carpalknochens war die Folge davon. Der vierte Finger selbst sowie seine Glieder liessen zwar keine einschlägigen Abweichungen stärkerer Art erkennen; doch waren alle ihre Masse knapp, a Fig. 1. Fig. 2. wo die der rechtsseitigen voll waren. (Fig. 2.) Die bezüglichen Meta- tarsalknochen erwiesen sich ebenfalls um ı,5 cm kürzer als die benachbarten. Die ihnen zugehörigen vierten Zehen waren dazu erheblich kürzer und krummer, als sie in ihrem Verhältnis zu den übrigen sein sollten, und sassen auf Grund dessen rund 1,5 cm hinter denselben wie auf dem Fussrücken. Sie lagen in Folge davonwieder auch grossen Teils auf den fünftenkleinen Zehen, diese zur Hälfte bedeckend, auf. Sie waren etwa 3,5 cm lang. Ungefähr ı cm kam davon auf ihr erstes Glied; während die ersten Glieder der benachbarten Zehen 2,o cm und darüber 134 massen. Was an den Händen schon bemerkt worden war, zeigte sich auch an den Füssen. Der linke Fuss war hinterdem rechten in der Ent- wickelungein wenig zurückgeblieben. Namentlich erreich- ten seine etwas schmächtigeren Zehen nur knapp das Mass, das jene voll besassen. Auch befanden sich dieselben anhaltend in einer krampfigen Stellung, leichten Flexion, und waren deshalb krummer als die des rechten Fusses. Sie befanden sich also offenbar in einem erhöhten Reizzustande denen der rechten Seite gegenüber. SonstwarenHände und Füsse gut ge- bildet u. konnten, namentlich die ersteren, ohne ir- gend welche Be- hinderung ge- braucht werden. Bei den letzteren wirkte nur das Schuhzeug angeblich öfters recht störend ein. (Fig. 3. 4.) Die andere der bezeichneten Gruppen wurde aus Händen und Füssen zusammengesetzt, welche bei sonstiger, in Ganzen guter Ausbildung einige merkwürdige Fehler an den Fingern und Zehen aufwies. Die rechte Hand hatte nur einen Stummel- daumen (Fig. 5.), die linke gar keinen (Fig. 6.). Es versteht sich von selbst, dass danach geforscht worden ist, ob derselbe etwa erst im Laufe der Zeit verloren gegangen; aber nein; er hat von Geburt an gefehlt. Der Stummeldaumen rechterseits, um ungefähr 1,0 cm kürzer, als er der Hand nach hätte sein müssen, war sehr schmächtig; namentlich sein letztes Glied war dünn, ausgesprochen kegelförmig, zitzenförmig. Eine ähnliche, nur nicht so scharf hervortretende Form hatten auch die beiden letzten und vornehmlich wieder das letzte Glied des linken Zeige- fingers (Fig. 5. 6.). Die Füsse waren leichte Klumpfüsse, zeigten wenigstens den Übergang dazu. Am rechten Fuss (Fig. 7.) waren die Nagelglieder der Zehen, insbesondere das der grossen Zehe kurz. Am linken Fusse (Fig. 8.) fehlte das Nagelglied der grossen Zehe ganz, und ihr erstes war verkürzt, stummelig. Dre, 5 Von seiner zweiten Zehe war nur das erste Glied vorhanden, von der dritten und vierten ebenfalls nur dieses und zwar in Sonderheit von der letztgenannten dieses, sogar blos sehr rudimentär. Die fünfte, kleine Zehe fehlte vollständig. Bis 7: Fig. 8. Wenn wir nun die beiden Gruppen unter einem Gesichts- punkt betrachten, so ergiebt sich zunächst, dass die sämtlichen Fehler und die durch sie bedingten Missbildungen, beziehentlich Verbildungen, welche in ihnen zur Anschauung kamen, sich vornehmlich stark ausgebildete an den Gliedern der linken Körperseite fanden. Es entspricht das ganz dem, was ich u. A. schon im Jahre 1885 in meinem Buche „die Neurasthenie* S. 99—101 gesagt habe, dass alle Dystrophien und aus ihnen hervorgehenden sonstigen Dysergasien, ihren Sitz vorzugsweise links haben, und der Grund davon sei, dass erfahrungsmässig die linke Seite die schwächere, widerstandslosere, darum aber 136 reizbarere, veränderlichere und mithin auch zu abwegigen, krank- haften Vorgängen und Bildungen geneigtere sei. Sodann sehen wir, dass die bezüglichen Missbildungen, Verbildungen in einem offenbaren Zusammenhange, in Correlation, stehen. In der ersten Gruppe sind es hauptsächlich die vierten Metacarpal- und Me- tatarsalknochen, sowie die beiden vierten Zehen, welche das zu erkennen geben, in der zweiten entsprechende Teile der Hände und Füsse überhaupt. Das letztere weist darauf hin, dass von einem gemeinsamen Mittelpunkte aus die Bedingungen zu den fraglichen Missbildungen oder Verbildungen gewirkt haben müssen, und das erstere, dass das nur vermittelst des Nerven- systemes, und in Sonderheit der Teile desselben geschehen sein kann, welche durch den bedeuteten gemeinsamen Mittelpunkt die miss- beziehentlich verbildeten Teile mit einander in Beziehung, Verbindung, in Correlation, setzen. Der fragliche Mittelpunkt selbst kann danach auch blos ein Teil des Nervensystemes und zwar des Centralnervensystemes sein. Er muss in ihm das sogenannte Centrum darstellen, von welchem aus die Innervation der Gliedmaassen stattfindet oder auch, durch das dieselbe blos vermittelt wird. Von diesem Centrum aus oder, wohl richtiger gesagt, durch dieses Centrum hindurch wurde die Ernährung der sich bildenden Gliedmassen geregelt. Denn dass die Ernährung der einzelnen Körperteile‘ durch das Nervensystem geregelt wird, dass sie vielleicht sogar blos unter dem Einflusse desselben vor sich geht, ist eine nicht zu beanstandende Thatsache. Es giebt ganz entschieden tro- phische Nerven und, wie ich in du Bois-Reymond’s Archiv für Anatomie und Physiologie vom Jahre 1891 und zwar in seiner physiologischen Abteilung in der Abhandlung „Über trophische Nerven“ z. B. S. 67, 74, 75 u. a. m. glaube dargethan zu haben, ist jeder Nerv, unbeschadet seiner sonstigen Thätigkeit und im Besondern auch seiner Energie, in erster Reihe ein ernährungs- regelnder, trophischer. Die Innervation der Gliedmassen durch jenes fragliche Centrum würde so vorzugsweise für die Er- nährung jener von Bedeutung sein. Da aber die linke Seite, wie die Erfahrung gelehrt hat, die schwächere, widerstandslosere und reizbarere überhaupt ist, so müssen das auch ihre Nerven sein. Und in der That hat die Erfahrung auch dies gelehrt. Die Nerven der linken Körperhälfte, namentlich sogenannter 137 nervöser Menschen, zumal hysterischer, sind ungleich reizbarer, ungleich erregbarer, als die der rechten. Die von dem be- sagten Centrum nach den Gliedmassen ausgehenden, beziehent- lich auch blos durch dasselbe hindurch gehenden Reize, Er- regungen mussten danach denn auch, ganz abgesehen von anderen Verhältnissen, die linksseitigen Nerven anders, vor Allem viel stärker erregen, als die rechtsseitigen, und damit denn auch andere Ernährungsvorgänge und davon abhängige Bildungen zur Folge haben. Nun wissen wir jedoch: Kleine Reize, ehe nur zu schwachen Erregungen führen, fachen die Lebensthätigkeit blos an, unter- halten sie gerade, stärkere, sogenanntemittelstarke, welchestärkere, sogenannte mittelstarke Erregungen hervorrufen, verstärken dieselbe und fördern sie damit, noch stärkere, sogenannte starke Reize, die starke Erregungen setzen, beeinträchtigen und hemmen damit die Lebensthätigkeit, und stärkste heben sie auf. Da wir allen Grund haben anzunehmen, dass im Grossen und Ganzen immer dieselben Reize und zwar mit immer derselben Kraft aufdieinBetrachtkommenden Teiledes Nervensystemes und nament- lich desCentralnervensystemesgewirkt haben, so müssen die Erreg- barkeitsverhältnisse dieser Teile und namentlich wieder der des Cen- tralnervensystemes vorzugsweise hinsichtlich der Stärke von den ge- wöhnlichen sehr abweichend gewesen sein. Sie müssen ver- mehrte, gesteigerte gewesen sein und zwar in Bezug auf die linke Seite in ungleich höherem Masse, als auf die rechte; allein, was die Veranlassung dazu gegeben hat, das entzieht sich zunächst wenigstens noch unserer Erkenntnis. Eine Er- krankung jener Teile, in Folge deren sie widerstandsloser und damit reizbarer wurden, wird daran, wie wir sagen, Schuld gewesen sein. Die entsprechende Erkrankung jedoch war unter allen Umständen die Folge einer Überreizung durch stärkere oder auch starke Reize, und daraufhin mussten denn natürlich alle nachfolgenden Reize auf die betreffenden Teile immer stärker einwirken, als auf die anderen, nicht überreizten, weil nicht erkrankten Teile. Je nach dem Grade, dass die fragliche Überreizung statt- gefunden hatte, und an den Stellen des Centralnervensystemes, welche erfahrungsmässig der schwächeren linken Seite ent- sprechen, hatte sie entschieden einen höheren Grad erreicht, 138 hatten nun auch die von ihnen innervierten Gliedmassen ihre Ausbildung erfahren. Alle Reize hatten auf die fraglichen Stellen und Nerven als starke gewirkt. Die in Betracht kommenden Gliedmassen waren deshalb nicht zu ihrer gehörigen Ent- wickelung und Ausbildung gekommen; sie waren in ihnen gehemmt worden und je nachdem, waren sie kurz und dünn geblieben oder ganz ausgefallen. Aus diesem Grunde sahen wir in der zuerst besprochenen Gruppe vom rechten Os metacarpi quartum nur das Köpfchen etwas verschmächtigt, das ganze linke gleich- namige Os dagegen um ı,5 cm verkürzt, sowie den zugehörigen Ringfinger in allen seinen Massen knapper als den rechten; und an den Füssen erkannten wir, dass, wenn auch die näher be- zeichneten Missbildungen wohl so ziemlich gleich waren, doch die übrigen Teile der Füsse, namentlich ihre Zehen linkerseits. dünner, schmächtiger, in allen ihren Massen ebenfalls knapper sich erwiesen, als rechterseits. Auch hatten die letzteren eine Art Krampfstellung uud erschienen deshalb krumm. Aus dem nämlichen Grunde sahen wir dann weiter in der zu zweit be- sprochenen Gruppe am rechten Fusse nur die grosse Zehe in ihrem Nagelgliede etwas verkürzt, den rechten Daumen als einen blossen Stummeidaumen, an der linken Hand den Daumen ausgefallen, ftehlend, dazu den Zeigefinger namentlich in seinen Endgliedern verschmächtigt, und am linken Fusse die sämt- lichen Zehen teils nur halb, teils blos rudimentär, teils gar nicht vorhanden. Das oben angeführte biologische Grundgesetz hatte sich in seiner zweiten Hälfte, dass starke und stärkste Reize die Lebensthätigkeit hemmen und vernichten, die Entwickelung der Glieder beeinträchtigen, zurückhalten, oder gänzlich unter- drücken, sowie ich dieSache nuneinmalansehe, vollständig bewährt. Im Jahre 1889 habe ich einen Mann ärztlich zu behandeln gehabt, der mir als Alkoholist zugeführt worden war. Der Mann kam mit einem gebrochenen rechten Unterschenkel an. Der entsprechende Bruch heilte zwar; aber das Bein wurde da- bei immer krummer, zumal, seitdem kein Verband dauernd mehr an ihm geduldet, sondern nach ein paar Tagen immer und immer wieder abgerissen wurde. In Anbetracht aller sonstigen Verhältnisse musste eine ein- seitige stärkere Calluswucherung für dieses Kruimmmwerden ver- antwortlich gemacht und dem Patienten wegen seines unruhigen Verhaltens die Schuld daran zugeschrieben werden. Nach eini- gen Monaten stellte sich heraus, dass Patient ein beginnender Tabiker war. Gastrische Krisen hatten den ersten Verdacht dazu aufkommen lassen; nachdem sie ein paar Wochen in wech- selnder Stärke bestanden hatte, konnte er nicht mehr von der Hand gewiesen werden. Die beginnende Tabes, Tabes dorsualis, mit ihren Symptomen hatte den Mann bei einem Teil seiner Umgebung in den Geruch eines Alkoholisten gebracht. Es lagen sonst wenig Anhaltspunkte dafür vor, und von einem anderen Teile seiner Umgebung wurden auch diese durchaus bestritten. Es ist nun bekannt, dass im Verlaufe der Tabes dorsualis sehr weitgehende Knochenatrophien vorkommen. Charcot hat ja welche beschrieben, durch die ganze Gelenkenden, z. B. des Femur verloren gegangen waren. In unserem Falle dagegen handelte es sich um eine Knochenhypertrophie. Denn eine Calluswucherung ist doch am Ende nichts Anderes als eine Knochenhypertrophie oder auch Knochenhyperplasie, was in- dessen für den Fall ganz gleichgültig ist; sollte die Tabes, die beginnende Tabes dorsualis auch solche verschulden können? Dass die beginnende Tabes dorsualis sich durch allerhand Hyperergasien kund giebt, dass diese gewissermassen zu den Vorläufern derselben gehören, ist eine alte Erfahrung. Ganz abgesehen von den mannigfachen Hyperästhesien und Hyper- algien, den viel berufenen Hyperaesthesiae sexualis und urinaria, den berüchtigten Neuralgien, Myalgien, Arthralgien, legen die Hyperkinesien im Gebiete der Nn. erigentes penis, die zu qual- vollen Priapismen, die Hyperkinesien des M. Detrusor vesicae, welche zu der gefürchteten Incontinentia urinae führen, dafür Zeugnis genug ab. Dasselbe thun auch das nervöse Erbrechen, die nervösen Athembeschwerden, welche die sogenannten Crises gastriques, lanryngees etc. bedingen, sowie die Hyperkinesien in den Extremitätenmuskeln, auf welche hin die unheimlichen Zuckungen in denselben erfolgen. Nicht minder Zeugnis legen dafür aber auch ab die verschiedenen Hyperekkrisien, die Hyperuresis, Hyperhidrosis, Hypersialosis, die zeitweise alle Aufmerksamkeit erregen, und endlich auch manche Hypertrophien oder Hyperplasien. Unter den letzteren sind namentlich die der Gelenkenden der Knochen hervorzuheben. Sie bedingen eine 140 mehr oder minder grosse Anschwellung derselben, damit ein der Arthritis nodosa ähnliches Bild, und gehen mehr oder minder unmittelbar den atrophischen Zuständen vorauf, welche, wie er- wähnt, von Charcot bekannt gemacht und danach auch von Andern gesehen worden sind. Die Annahme, dass die besagte Calluswucherung mit der beginnenden Tabes dorsualis im Zu- sammenhang gestanden habe, ein Ausfluss der Reizzustände des Rückenmarkes oder einzelner seiner Teile gewesen sei, welche sich später auch sonst noch zu erkennen gegeben haben, war darum keineswegs ungerechtfertigt. Unter der mittelstarken Reizung vornehmlich einzelner, die gegebene Callusbildung vermittelnder Nerven kam es zu entsprechenden Wucherungen bei derselben und in Folge dessen zu ungleicher Entwickelung des Callus selbst. In Folge hiervon wieder wurden sodann die bezüglichen Bruch- enden in verschiedener und zwar einseitiger Weise auseinander gedrängt, und der Unterschenkel selbst musste damit krummer und krummer werden. Dass anhaltende Nervenreizung, z. B. des N. ischiadicus, zur Vergrösserung des Schenkels und Fusses führt, ist ja von Lewaschew experimentellnachgewiesen worden. Wir würden demgemäss aber auch für die Vorgänge bei der Tabes dorsualiss, und im Besondren für die die Knochener- nährung und mit ihr das Knochenwachstum betreffenden, die Gültigkeit des biologischen Grundgesetzes als erwiesen zu be- trachten haben. Im Beginne der Tabes, wenn die Widerstands- fähigkeit des Körpers und namentlich seines Nervensystemes nachzulassen beginnt, und daraufhin die alltäglichen schwachen Reize anfangen als stärkere, mittelstarke, zu wirken, kommt es zu Gelenkendenanschwellungen, zu gelegentlichen Callus- wucherungen und mit letzteren auch zu vermehrtem Längen- wachstum. Unter Anderm, z. B. wenn dieses vorzugsweise ein- seitig vor sich geht, vird dadurch Verkrümmung des bezüg- lichen Gliedes herbeigeführt. Wenn danach im weiteren Ver- laufe der Tabes die Widerstandsfähigkeit des Körpers und wieder namentlich seines Nervensystemes noch mehr sinkt und deswegen seine Reizbarkeit noch mehr gesteigert wird, wirken die alltäglichen Reize mehr und mehr als starke ein; es kommt zu Hypotrophien der Knochen und Knorpel, die sich auf Grund sogenannter rarifizierender OÖsteitiden in einer abnormen Brüchig- keit kund geben. Sinkt endlich die Widerstandsfähigkeit des Körpers und seiner Nerven auf das Tiefste herab, wird seine Reizbarkeit damit auf das Höchste gesteigert, so dass er sich wie man sagt, gewissermassen selbst verzehrt, so verzehren sich auch seine Knochen, und es kommt zu dem weitgehenden Schwunde an denselben, mit welchem uns Charcot bekannt gemacht hat. Im Jahre 1886 ist von Marie ein Krankheitsbild beschrieben worden, das er mit dem Namen Akromegalie belegt hat. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass einzelne Glieder, namentlich die Extremitätenenden, Füsse, Hände, der Unterkiefer, die Nase ein stärkeres Wachstum erfahren, beziehungsweise erfahren haben und in Folge dessen grösser als gewöhnlich, länger und haupt- sächlich dicker geworden sind. In den zuständigen Kreisen streitet man indessen noch immer darüber, ob die Akromegalie eine blosse einfache Wachstumsabweichung oder eine eigentliche Krankheit darstelle. dem Riesenwuchse zuzuzählen sei oder unter einem ganz eigenen Gesichtspunkte betrachtet werden muss. Nichtsdestoweniger neigen doch die meisten Kundigen zu der Ansicht, dass, wie dem auch immer sei, die die Akro- megalie hauptsächlich bezeichnende Vergrösserung einzelner Glieder als ein Ausfluss besonderen Nervenlebens, einer beson- deren Innervation dieser letzteren, der Riesenglieder, anzusehen sei, und namentlich ist es v. Recklinghausen*) gewesen, der sich in disem Sinne ausgesprochen hat. In Anbetracht des erst von der Tabes dorsualis Mitgeteilten hätten wir demnach in der akromegalischen Vergrösserung der betreffenden Glieder, welche erstere trotz aller Einwendungen doch immer einen auf diese letzteren beschränkten Riesenwuchs darstellt, den trophi- schen Ausdruck einer mittelstarken Nervenreizung zu sehen, die allerdings aus den verschiedensten Ursachen entsprungen sein kann, das eine Mal aus intercurrenten Nervenkrankheiten hervorging, wie in dem Fall von Holschewnikoff, das andere Mal durch die ganze Anlage des Individuums, eine ge- wisse Schwäche und Reizbarkeit seiner Teile bedingt war, wie Freund**) des haben will. Eine Verstärkung dieser Reizung führte dann zu entsprechenden Zwergformen, wie wir sie z. B. *) F. v. Recklinghausen. Ueber die Akromegalie. Vircow’s Archiv für pathol. Anat., Physiol. u. kl. Med. Bd. ıı19 S. 5ı. u. ff, **) V. A. Freund. Ueber Akromegalie. Volkmann’s Sammlung klin. Vor- träge. Serie IX., Nr. 329/30. 142 in den oben näher besprochenen Gruppen von Händen und Füssen kennen gelernt und endlich zu dem Ausfall sämtlicher Bildung, wie wir das ebenfalls daselbst in Erfahrung gebracht haben. Was von einzelnen Nerven, einzelnen Bezirken im Nerven- und besonders im Centralnervensysteme gilt, das gilt auch von dem Nervensysteme als Ganzem. Es kann einmal auch das gesamte Nervensystem, wenn auch vielleicht nicht erkrankt im landläufigen Sinne des Wortes, so doch schwächer, und damit widerstandsloser und reizbarer als gewöhnlich, d. h. beim Durch- schnittsindividuum sein. Die Neurastheniker, die Hysteriker, bei denen die einzelnen Nervenfasern, Nervenzellen, Ganglienkörper mehr oder weniger allgemein dünner, schmächtiger, zarter, un- fertiger, mit einem Worte hypoplastisch gegenüber denen gesunder, nervenstarker Individuen geblieben sind, liefern den Beweis dafür. An verschiedenen Orten z. B. Virchow’s Archiv f. patholog. Anat., Physiologie u. kl. Med. Bd. LXI in dem Artikel „Apho- rismen zur patholog. Anatomie der Centralorgane d. Nerven- systems“. S. 112; ın Bd. EXV Il Zinadem, Artikel; „Über die Bedeutung der Markscheiden der Nervenfasern“ S. 4r u. ff., in Bd. LXXII in dem Artikel: „Über einige bemerkenswerte Ver- schiedenheiten im Hirnbau des Menschen“, habe ich schon vor Jahren darüber des Genaueren berichtet und davon wenigstens teilweise die mannigfachen Verschiedenheiten hergeleitet, durch welche sich eben die einzelnen Individuen von einander unter- scheiden, indem gerade durch sie das ihnen Eigene, Individuelle, bedingt werde. Nehmen wir an, dass Individuen schwächer und reizbarer als gewöhnlich angelegt sind, weil ihre Bildungszellen schon die Bedingungen dazu in sich trugen, und dass dem entsprechend auch ihr etwaiges Nervensystem schwächer und reizbarer als gewöhnlich ist, so wird je nach dem Grade der jeweiligen Schwäche und der auf ihr beruhenden Reizbarkeit sich dies zuerst in allerhand Hyperergasien, vornehmlich auch Hyper- trophien und Hyperplasien und, sind dieselben mehr allgemein, so auch in einer mehr allgemeinen Hypertrophie und Hyper- plasie kund geben. Es kommt eine allgemeine Hypermegalie oder besser gesagt, Hypermegethie, der Riesenwuchs, die soge- nannte Makrosomie zu Stande. Zunächst wird dieselbe noch 143 gefördert, und wir sehen deshalb den Riesenwuchs sich in einer gewissen Breite bewegen, d. h. Leute, die wir Riesen nennen, in Bezug auf ihre Grösse um ein gewisses Maass schwanken, das sie zum Teil nicht erreichen, zum Teil aber auch bedeutend überragen. Ist die bezügliche Schwäche und Reizbarkeit aber grösser, so bringt sie sich unter sonst gleichen Verhältnissen in allerhand Hypergasien, namentlich auch wieder Hypotrophien und Hypoplasien zum Ausdruck und, sind dieselben ebenfalls mehr allgemein, so auch in einer mehr allgemeinen Hypotrophie und Hypoplasie, welche wir als eine Hypomegalie, oder wieder besser gesagt, als eine Hypomegethie bezeichnen wollen. Die bezüglichen Individuen sind klein, kleiner als der Durch- schnitt der Individuen gleicher Art, die Hauptmasse derselben, nämlich der ersteren, nur um ein Geringes, einige wenige jedoch so erheblich, dass sie oft ganz andere Wesen zu sein scheinen. Es sind das die den Riesen scheinbar schroff gegenüber stehenden Zwerge. Bei den ersteren, den blos kleinen Individuen ihrer Gattung, wurden sie das, was sie wurden, wenn auch auf Grund einer starken Reizbarkeit, so doch immer nur noch einer verhält- nismässig starken. Die Zwerge jedoch wurden Zwerge, weil ihre Reizbarkeit von Hause aus eine wirklich starke, eine sehr starke, war. Ist die in Rede stehende Schwäche und Reizbar- keit eine noch grössere, so gehen, weil die bezügliche Wider- standslosigkeit eine fast unbedingte zu nennen ist, die betreffenden Individuen schon früh zu Grunde. Jede Entwickelung bleibt aus; es findet in keiner Richtung eine Bildung statt; eine Amegalie, Amegethie, greift Platz, hat Platz gegriffen. Der Riesenwuchs, der Zwergwuchs bilden dem entsprechend denn auch ebensowenig wie die Riesen und Zwerge selbst Gegen- sätze. Sie werden zwar gewöhnlich dafür ausgegeben, und bei naiver Betrachtung erscheinen sie auch als solche; allein beide sind doch eigentlich nur Erzeugnisse der verschieden starken Reizung, welche gleichartige Individuen derselben Gattung er- fahren haben. Diese Reizung kann eine dem Grade nach wirklich ver- schiedene gewesen sein, wodurch die etwaigen gleich starken und widerstandstähigen Naturen eine allmähliche Abänderung in dem Sinne des oben angeführten Gesetzes erfahren mussten; oder sie war dem Grade nach zwar keine wesentlich ver- schiedene, im Gegenteil eine im grossen Ganzen sehr gleiche, indessen die bezüglichen Individuen waren von sehr ungleicher Stärke und Widerstandsfähigkeit, und da musste denn dessen ungeachtet doch ihr Beeinflusstwerden durch wenn auch immer gleich starke Reize ein sehr verschiedenes sein und cben- falls Abänderungen an ihnen im Sinne des nämlichen Gesetzes nach sich ziehen. Der Riesenwuchs erweist sich sonach auch nur gewissermassenals der Anfang, oder vielleicht treffender gesagt, als der Vorläufer des Zwergwuchses, indem in Geschlechtern, Familien, in denen Riesen auftauchen, sehr bald nach ihnen auch Zwerge zum Vorschein kommen werden. Zunächst werden auf grosse, Riesengestalten, wenn die Verhältnisse nicht gar zu un- günstig liegen, allerdings nur kleine folgen; im Weiteren jedoch, wenn nicht die gehörigen Rücksichten genommen werden, werden wirkliche Zwerge sich einstellen und das einstige Riesengeschlecht ersetzen. [Die Geschichte so manchen bekannten Geschlechts dürfte dafür, glaube ich, die nötigen Beweise liefern. Übrigens entstehen Riesen und Zwerge vielfach blos durch die entsprechende Entwickelung einzelner Teile ihres Körpers, vor allen derer, durch welche vorzugsweise ihre Grösse und namentlich Höhe bedingt wird. Was insbesondere den Menschen anlangt, so ist es hauptsächlich die Entwickelung seiner Beine, welche ihn, ich will nicht sagen geradezu zum Riesen oder Zwerge macht, aber ihm doch etwas Riesen- oder Zwerghaftes verleiht. Mancher für einen Riesen ausgeschrieene Mann ist nur langbeinig; mancher, der im Volksmunde als Zwerg geht, hat blos kurze Beine. Wenn beide neben einander sitzen, gleicht sich ihr auffallender Grössenunterschied häufig in wunderbarer Weise aus. Wenn Ajax und Odysseus standen, war Ajax der grössere; wenn sie beide sassen, so Odysseus. Wo nun riesenhaftes und zwerghaftes Wesen des Menschen auf der Länge beziehungsweise Kürze seiner Beine beruht, da kommt nach den einschlägigen Auseinandersetzungen in der Abhandlung Platttuss, Klumpfuss und das biologische Grundgesetz dieses letztere in der Weise zur Geltung, wie es daselbst gezeigt worden ist. Rhachitische Prozesse spielen dabei eine hervorragende, ich möchte sagen, unzweifelhafte Rolle. Sicher ist, dass bei der hierher gehörigen Art Riesen die Exiphysenfugen viel länger unverknöchert bleiben, als das dem Durchschnitt nach sein sollte und dass bei den hierher gehörigen Zwergen meist eine so grosse Reihe rhachitischer Folgeerscheinungen beobachtet werden, dass wenigstens über die nächsten Ursachen ihrer Zwerghaftigkeit eigentlich Kein rechter Zweifel mehr bestehen kann. Wie die langen Beine des Windhundes, die kurzen des Dachshundes aus im Allgemeinen gleichen, und nur in ihren Verhältnissen zu einander verschiedenen Zuständen hervorgehen, so nehmen auch die entsprechenden langen und kurzen Beine des Menschen und der durch sie be- dingte Riesen- oder Zwergwuchs aus den nämlichen und nur in ihren Verhältnissen zu einander verschiedenen Vorgängen ihren Ursprung. Die in Rede stehende Art von Riesen oder auch blos riesen- haften Gestalten, zum Teil auch die entsprechenden Zwerge oder blos zwerghaften Gestalten haben auch das mit dem Wind- und Dachshunde gemein, dass ihre Gesichtsknochen, vornehmlich die Nase und der Unterkiefer zumeist eine hervortretendere Ge- staltung erfahren haben. Nicht immer! Keineswegs! Ich habe Männer von mehr als 180 cm Grösse kennen gelernt, bei denen der Unterkiefer kurz geblieben war und infolge dessen das Kinn in kindlicher Weise auffällig zurücktrat; wie umgekehrt ich auch kleinen kurzbeinigen Leuten begegnet bin, deren Unterkiefer lang war und mit einem mehr oder weniger spitz hervortretenden Kinne endigte..e Doch das sind Ausnahmen, welche auf verhältnis- mässig stärkeren oder schwächeren Reizungen der bezüglichen Nerven beruhen und den Verbindungen von Plattfuss mit O-Bein oder Klumpfuss mit X-Bein an die Seite gestellt werden dürften. Die Regel ist, dass der Unterkiefer bei den riesenhaften Gestalten insbesondere lang geraten ist. Seine Schneidezähne stehen deshalb vor denen des Oberkiefers. Es ist damit eine Art von Cranium progenaeum entstanden, auf das überhaupt, als eine abwegige Bildung, welche mit psychischen Unzulänglichkeiten in Beziehung steht, Ludwig Meyer schon vor mehr als zwei Jahrzehnten aufmerksam gemacht hat*), und merkwürdig, im Plattdeutschen wird ein langer, hoch aufgeschossener, schlaffer, leistungsunfähiger Mensch ein langscheniger Kerl geschimpft, um damit seine Unbrauchbarkeit und Unzuverlässigkeit auf Grund geringer An- *) L.Meyer, Archiv für Psychiatrie u. Nervenkrankheiten Bd.I. 1868 —69. S. 96. 10 146 stelligkeit, geringer Dauerhaftigkeit in wegwerfender, verächt- licher Weise zu bezeichnen. Das Zusammentreffen der Beobach- tung Ludwig Meyer’s, dass mit Cranium progenaeum, und die des plattdeutschen Volkes, dass mit Langschenigkeit, d. i. Langschienigkeit, Langbeinigkeit, welche beide wieder gemeinhin zusammentreffen, psychische Mangelhaftigkeit, Widerstandslosig- keit und damit Neigung zum psychischen Erkranken verbunden sind, ist jedenfalls auffallend. Allein das Verständnis der Be- ziehungen, welche zwischen Cranium progenaeum schlechthin und Langbeinigkeit an und für sich obwalten, erklärt dasselbe vollkommen. Wo das Riesenhafte, Riesenmässige, das Zwerghafte, Zwerg- mässige, zumal des Menschen, jedoch nicht auf der entsprechen- den hauptsächlichen Entwickelung der Gliedmassen, besonders der Beine, beruht, sondern in der mehr gleichmässigen Grössenzu- oder Grössenabnahme aller Körperteile seinen Grund hat, wo also das erstere durch eine allgemeine, nach allen Richtungen gehende Vergrösserung, das letztere durch eine ebensolche Ver- kleinerung des ganzen Körpers zu Stande gekommen ist, wo es sich bei Wahrung der im Allgemeinen herrschenden Proportionalität, ich möchte sagen, um ächte Riesen und ächte Zwerge handelt, da pflegt die Gesichtsbildung von dem landläufigen Typus nicht abzuweichen. Die einschlägigen Individuen haben deshalb auch oft sogenannte runde oder breite Gesichter mit kleiner, häufig etwas aufgestülpter Nase, mit wenn auch kräftig entwickeltem, so doch in der Regel kurzem, breitem Kinn. Jedem, der offenen Blicks in die Welt hinaus sieht, werden derartige Individuen begegnet sein. Ich kenne ihrer eine ganze Anzahl und darunter etliche, die 200,0 cm und darüber messen. Sıe sind wohl schon den eigentlichen Riesen zuzuzählen, wenn sie sich auch nicht für Geld sehen und an sich genauere Messungen vornehmen lassen; ich hebe das aber ganz besonders hervor, weil von mehreren und recht gewichtigen Seiten erst noch in jüngster Zeit die Meinung ausgesprochen worden ist, die Verlängerung des Unterkiefers sei für den Riesentypus etwas Charakteristisches. Das ist indessen, ich betone es ausdrücklich, durchaus nicht zutreffend. Nur wo das Riesenhafte auf der plattdeutschen Lang- schenigkeit beruht, hat es Geltung, sonst aber nicht im Geringsten. Im Gegenteil: das Cranium progenaeum Ludwig Meyer’s 147 findet sich vorzugweise bei kleinen vermissquiemten, freilich aber verhältnismässig langbeinigen Gestalten. Die spanischen Habs- burger von Carl I. (V) an haben ein solches in hohem Masse besessen; sie besassen aber auch entsprechende Gestalten. Eine so dürftige, kümmerliche und vermissquiemte Gestalt, wie sie die Statue Carls V. auf der Piazza Bologni zu Palermo zeigt, habe ich selten gesehen. Sie stimmt indessen zu allen Ab- bildungen und Beschreibungen, welche mir sonst von diesem bis in die neueste Zeit durchaus falsch beurteilten Manne der Geschichte vorgekommen sind. Die seines Sohnes Philipp I. war nicht anders, und die der Nachfolger dieses noch weniger günstig. Der lange Unterkiefer mit den die oberen nach vorn überragenden Schneide- zähnen, welcher vorzugsweise das Cranium progenaeum bedingt, kommt sehr oft bei kleinen, zwerghaften Menschen, ja selbst bei eigentlichen Zwergen vor und ist keineswegs für den Riesen- typus bezeichnend. Carls V. Bruder, Ferdinand I., war ein grosser, stattlicher Mann. Er scheint allerdings auch ein Cranium progenaeum ge- habt zu haben, jedenfalls doch nur ein sehr unbedeutendes. Immerhin würde das aber dafür sprechen, dass auch seine Grösse doch hauptsächlich nur durch eine gewisse Länge der Beine und weniger durch eine den ganzen Körper betreffende, ent- sprechende Ausbildung bedingt war. Allein wie dem auch sei, beide Brüder legen dafür Zeugnis ab, wie nahe sich Riesen- und Zwergwuchs stehen und, wie beide selbst in der nächsten Verwandtschaft sich zeigen können. Dasselbe beweisen auch Ferdinand Il. und seine Nachkommen. Denn dieser Ferdinandll. war wie sein Grossvater Ferdinand I. ebenfalls ein grosser, stattlIcher Mann, und wie es scheint, ebenfalls mit einem leichten Cranium progenaeum behaftet. Sehr erheblich war dies jedoch schon bei seinem Sohne, Ferdinand Ill, der auch sonst eine viel unansehnlichere Persönlichkeit gewesen zu sein scheint, und sein Enkel, Leopold I., ist, ein sehr beachtenswertes Zeug- nis für die sprungweise Vererbung und die Cumulation der Fehler und Schwächen durch Heiraten in zu naher Verwand- schaft, der reine Carl V. Durch Eleonore von der Pfalz, also durch das Haus Wittelsbach, findet eine Blutauf- frischung statt, und der schöne, stattliche Josef I. wird der Sohn dieses kleinen und unansehnlichen Leopold I1., des Enkels 10* und Urenkels grosser, stattlicher, dem Riesenhaften sich wenigstens nähernder Väter. Das Riesenhafte der Individuen einzelner Arten ist aber nur der Vorläufer des Zwerghaften in denselben, das sich in der Nachkommenschaft allerdings wieder verlieren kann, wenn die Umstände, unter denen es entstanden ist, sich gleich- falls verlieren und günstiger gestalten. Alle Riesen, selbst alle blos riesenhaften Individuen sind also, was sie sind, auf Grund einer gewissen Reizbarkeit und damit wieder auch einer gewissen Widerstandslosigkeit, durch welche sie sich von den Durchschnittsindividuen ihrer Art unter- scheiden. Eine gewisse Schwäche und Hinfälligkeit ist darum auch ihnen allen, wie sonderbar für's erste das auch manch Einem erklingen mag, demnach eigen. Alle Riesen und riesen- haften Individuen, und das ganz gleich, ob Pflanze, ob Tier oder Mensch, erkranken darum auch leicht und gehen im Allgemeinen leichter und früher zu Grunde, als die Durch- schnittsindividuen ihrer Art. Dass sie dabei zu gewissen, rasch vorübergehenden Kraftleistungen mehr befähigt sind, als die Durchschnittsindividuen, aus denen sie hervorragen, widerspricht dem nicht. Ihre Schwäche zeigt sich eben in dem Mangel an Nachhaltigkeit und Ausdauer, welche vorzugsweise der Aus- druck von Stärke sind. Es ist hier wieder einmal der Ort, auf den Unterschied von Stärke und Üppigkeit hinzuweisen, welche im gemeinen Leben nicht leicht unterschieden, sondern ganz ge- wöhnlich zusammengeworfen werden. Jene ist der Ausdruck einer Eu- oder gar Akroergasie, diese der einer Hyperergasie. Die letztere jedoch birgt bekanntlich schon den Keim einer Hyp- und Anergasie in sich, von welcher sie damit denn auch gleichsam den Anfang bilde. Alle Riesen und riesenhaften Individuen sind aber immer mehr üppige als starke Naturen. Der sogenannte geile Wuchs der Pflanzen, einzelner ihrer Teile, Äste und Früchte, die Neigung zur Fettleibigkeit bei den in Frage kommenden Individuen der warmblütigen Wirbelthiere z. B. des flämischen und des normännischen Pferdes, der sogenannten Percherons, bei denen das ganze Individuum eine Hypertrophie oder besser wohl Hyperplasie erfahren hat, beweisen das ebenso wie die ächten Riesen unfer den Menschen. Alle ächten Riesen sind fettleibig, sind mit einer Hyperlipomatosie behaftet, welche in der Jugend mehr erethischer, im Alter mehr torpider Natur ist und als solche eine Art paralytischer Fettbildung darstellt. Die unächten, mehr scheinbaren Riesen, bei denen die Grösse mehr durch die Entwickelung einzelner ihrer Teile, also bei den warmblütigen Wirbeltieren und dem Menschen mehr durch die Entwickelung ihrer Beine als durch die des ganzen Körpers bedingt wird, besitzen diese entschiedene Neigung zur Fettlei- bigkeit nicht. Ja sie fehlt ihnen oft ganz, und die betreffenden Riesen sind hager und bleiben hager, selbst wenn sie ein höhe- res Alter erreichen. Unter den Tieren die Windhunde, die englischen Rennpferde, unter den Menschen der lange Herzog von Alba mögen hierfür als Beispiele angeführt werden. Die bezügliche Reizbarkeit ist bei diesen Wesen schon so gross, dass es unter ihrem Einfluss nicht mehr zu Hypertrophien, wohl aber schon zu Hypotrophien und gelegentlich selbst Atrophien kommt. Im Fettgewebe, als dem leichtest gebildeten und leichtest verzehrten Bestandteile des Körpers, giebt sich das zuerst zu erkennen. Bei den, ich möchte sagen, kleinen Formen der unächten Riesen, bei den schon dem Zwerghaften sich zuneigenden, vermiss- quiemten, aber verhältnismässig langbeinigen Gestalten mit einem ausgesprochenen Cranium progenaeum fehlt die Fettleibigkeit, so- weit bis jetzt meine Beobachtungen reichen, ausnahmslos, und bei den Zwergen? Da trifft man sie bald; bald sucht man sie ver- gebens. Allein wo sie vorhanden ist, da scheint sie erst im Alter sich eingestellt zu haben, — Zwerge altern sehr früh —, oder von vorn herein auf einem gewissen Torpor, einer gewissen Paralyse, Parese, zu beruhen, wie bei den Cretins, vorzugsweise denen von alpinem Typus. Die allen Riesen zukommende grössere Reizbarkeit zeigt sich ganz besonders auch in ihrem psychischen Verhalten. Sie wird durch dieses gerade erst bewiesen. Alle Riesen sind melancholisch, d. h. ihr Selbstgefühl, Ichgefühl, Ich, ist über- reizt und stellt eine Hyperthymie dar, und zwar in um so höhe- rem Grade, je geringer die Reaktionsfähigkeit ist, welche sie selbst auf die sie treffenden Reize besitzen. Denn ihr langsames, bald mehr gemessen, bald mehr träg erscheinendes Wesen ist nur durch ihre Schwerfälligkeit, die grosse Masse, welche sich in ihnen zu bewegen hat, bedingt, nicht aber etwa durch einen Mangel an Erregbarkeit überhaupt oder auch blos eine daraus ent- 150 springende Gleichgültigkeit, wie man gemeinhin anzunehmen beliebt. Im Gegenteil, alle Riesen und zumal die von mir der Kürze halber als unächte bezeichneten, sind psychisch reizbar, und gerade aus dem Missverhältnis zwischen dieser Reizbarkeit und der durch ihre Masse verminderten Reaktionsfähigkeit ent- springt die ihnen eigene ernste, trübe, traurige oder ärgerliche, oft bösartige, d. i. eben die melancholische Stimmung, welche sie beherrscht. Jeder Melancholische ist zu gelegentlichen Ausbrüchen von sogenannter Heftigkeit, die als mehr oder minder schwere Raptus melancholici bekannt sind, geneigt. Es vermitteln die- selben den Übergang vom Melancholischen zum Cholerischen, zu welchem ersteres wird, wenn letzteres die Oberhand be- kommt. Daher denn die Riesen auch vielfach als leidenschaft- liche, jähzornige, wohl ungeschlachte Menschen gelten und durch Sagen und Mähren als böse, grausame Wüteriche gehen, wenn sie auch bisweilen von einer zarteren, sanfteren Hülle umgeben zu sein schienen. Der lange Herzog von Alba kann wieder als ein geschichtliches Beispiel für die Richtigkeit der ein- schlägigen Beobachtung angeführt werden. Das cholerische Wesen ist das eigentlich thätige, durch seine gewaltigeren, indessen der Dauer ermangelnden Äusserungen das zerstörende, durch seine massvolleren aber andauernden das erbauende und damit auch das schaffende, schöpferische. Riesen oder auch blos den Riesen sich nähernde Individuen sind selten schöpferisch, am ersten noch die den ächten Riesen zuzuzählenden. Die in jeder Beziehung ächte Riesen darstellenden Gestalten Kaiser Wilhelms I. und Bismarcks legen für letzteres Zeugnis ab. Die unächten, die blos langbeinigen und darum auch blos als Riesen erscheinenden Menschen sind von Ajax ab, wenn sie sich einmal stärker bethätigten, samt und sonders nur wahnsinnige Zerstörer gewesen. Es fehlt ihnen, um dort wieder etwas zu errichten, wo sie eingerissen haben, vielleicht um etwas Neues zu errichten, an nachhaltiger Kraft, dieses nun auch wirklich zu errichten, und so erscheinen sie uns denn, was sie in der That auch sind, als blosse Zerstörer. Es giebt auch da anscheinende Ausnahmen, von denen Schiller eine ist. Dieselben stellen gewissermassen den Anfang zu denkleinen, den Übergang zu den Zwergen vermittelnden Gestalten dar und 151 sind deshalb eben Ausnahmen, indessen doch nur solche, die sich der Regel immer noch bis zu einem gewissen Grade unterordnen. Nichtsdestoweniger tritt das cholerische Etwas im Ganzen doch in dem Wesen der Riesen zurück, und das Melancho- lische ist für sie kennzeichnend.. Mit dem Melancholischen verbindet sich leicht etwas Pathisches, das von Unkundigen häufig, ja vielleicht meist für etwas Apathisches gehalten wird und deshalb die Riesen in den Geruch gebracht hat, im Ganzen träge, gleichgültige Geschöpfe zu sein. Dass das jedoch nicht der Fall ist, haben wir bereits mitgeteilt. Sie können auch Choleriker, sogar arge Chloleriker sein, und einzelne der ächten Riesen sind es vorzugsweise. Das Cholerische bedingt stets etwas Pathetisches und zumal da, wo es sich aufbauend, schöpferisch, erweist. Aussprüche wie: „Und wenn so viel Beufelwie Zıeseln auf den Dächern wären, ich ginze doch“ — „Ich dien“ — „Rocher de bronze“ — „Erster Biiener des Staats“ — „Blut lund. Eisen“ —. .„Berst wägen, dann wagen“ — „Songez, que de la hauteur de ces pyramides quarantesiecles vous comtemplent“ und derartige mehr bestätigen das. Sonst ist das Cholerische und mit ıhm das Pathetische mehr Eigenschaft kleiner Leute, deren Reizbarkeit und insbesondere deren entsprechende Reak- tionsfähigkeit grösser, als die der Riesen ist, und die nach meiner Meinung eben auf diese grössere Reizbarkeit hin klein, beziehentlich kleiner geblieben sind. Mit der Reizbarkeit hängt die Intelligenz zusammen. Je grösser innerhalb gewisser Grenzen jene ist, um so grösser ist auch diese, und umgekehrt, je dürftiger diese sich zeigt, nm so geringfügiger erweist sich auch jene. Das Genie ist Genie wesentlich deshalb, weil es auf Grund seiner ausserordentlichen Reizbarkeit dort noch Wirkungen wahrnimmt, wo der gewöhnliche Mensch nicht mehr berührt wird, und der blödsinnige ist häuptsächlich darum blödsinnig, weil ihn nichts mehr von dem bewegt, in Erregung versetzt und seine Aufmerk- samkeit auf sich zieht, was dem Durchschnittsmenschen schon Freude oder Schmerz bereitet. Ein Blödsinniger kann in die Sonne sehen, ohne zu blinzeln, am Ofen sich verbrennen, ohne es zu merken; ein Genie dagegen wird leicht zu heftig gereizt. Es leidet darum auch leicht, und Schmerzen, selbst aus ihnen ent- stehende Krämpfe, sind seine tägliche Qual. 152 Diese Reizbarkeit des Genies, des intelligenten Menschen überhaupt, die ja beide allein die schöpferischen, weil that- kräftigen sind, ist wohl die Ursache, dass die Genies, die hervorragenden Intelligenzen, die hervorragenden Männer der That meist klein waren, meist klein sind. Wenn sie wohl auch niemals Zwerge waren, so näherten sie sich doch oft schon dem Zwerghaften. Die bei Weitem grösste Mehrzahl derselben war unter Mittelgrösse, die meisten schwächlich, kränklich, vielfach leidend, viele in der einen oder andern Art verwachsen, schief, buckelig, lahm, mit grossen, dicken Köpfen (Kephalonen) und hässlichen, affenartigen Gesichtern. Alexander d. Gr., Friedrich II. von Hohenstaufen, ‘Carl V., Philipps Spanien, Carl XII. v. Schweden, der Prinz Eugen v. Sa- voyen, der grosse Kurfürst, Friedrich Il. v. Pr., Friedrich d. Gr., sein Bruder der Prinz Heinrich, der alte Ziethen, Napoleon I. waren kleine, zum Teil sehr kleine Männer, des- gleichen Aristoteles, der Apostel Paulus, der Papst Gregor VI., Spinoza, Moses Mendelssohn, Voltaire, Kant, Schleiermacher, Schopenhauer, Herman Lotze, die beiden Humboldt, Schliemann, Lord Byron, Wieland, Ibsen, Gottfried Keller, Mozart, Beethoven, CzW7 Weber, Robert Schumann, Felix Mendelssohn-Bartholdi, Chopin, Meyerbeer, Richard Wagner, der jüngere Pitt, Talleyrand, der Fürst Clemens Metternich, Disraei Cavour, Thiers, Windhorst, Th. Mommsen, Rafael, van Dyck, Meissonier, Adolf Menzel. Unter diesen mehr oder weniger kleinen Männern, welche die Welt in der einen oder der anderen Richtung bewegt haben, waren einige mit dem Meyer’schen Cranium progenaeum be- haftet, Carl V., Philipp IL, wie es scheint auch Carl XII., und ebenso Robert Schumann, Richard Wagner. Einige waren, wenn auch schwächliche, so doch zierliche, elegante Ge- stalten mit wenigstens in ihrer Jugend auffallend schönen Ge- sichtern, so besonders Alexander d. Gr., Friedrich d. Gr. Wenn die mit dem Meyer’schen Cranium progenaeum behafteten kleinen, dürftigen Gestalten den Übergang von den unächten Riesen zu den Zwergen bilden, so bilden die kleinen mehr oder minder wohlproportionierten den Übergang von den ächten Riesen zu den Zwergen. Und wenn wir uns nun das ansehen, was die bezüglichen Individuen, welche diesen beiden Kategorien ange- hören, geleistet haben, und das sie zu den thätigen und thatvollen Männern gemacht hat, die sie waren, die sie sind, was ist aus den Thaten Carls V., Philipps I., Carls XII. geworden? — „Und jeder Ausgang ist ein Gottesurteil!“ — Der Ausgang der Thaten der beiden Karle, der Thaten Philipps verurteilt sowohl diese selbst, wie auch ihre Urheber; während die Thaten Alexanders d. Gr. und Friedrichs I. v. Hohenstaufen noch immer ihre segensreichen Früchte tragen, und die des grossen Kur- fürsten, sowie Friedrichs d. Gr. erst anfangen, ihre Früchte zu voller Reife zu bringen. Robert Schumann doch starb im Irrenhause, und Richard Wagner galt Zeit seines Lebens als problematische Natur. — Die Thaten, die wirklichen, Leben und Welt gestaltenden Thaten der kleinen progenäen Menschen gleichen denen der entsprechenden Riesen oder auch öfter blos riesenhaften Gestalten. Sie zerstören, wenn auch nur langsam, ohne dass sie jemals wieder das Fundament zu einem neuen, bleibenden Aufbau gewährten. Damit aber kennzeichnen sie sich als völlig ungeschickte, ungehörige, und wenn sie etwa gar in der Absicht unternommen waren, Glück und Wohlergehen zu schaffen, so als verkehrte, aller gesunden Logik bare. Und wenn das Sprüchwort wahr ist: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“, so wissen wir, was von den genannten, namentlich den drei erstgenannten Persönlichkeiten zu halten ist. Sie waren abwegig fühlende, abwegig denkende und daher auch abwegig handelnde Persönlichkeiten; sie waren mit einem Worte — Paranoiker. Ihr ganzes Leben hat das auch sonst bewiesen, und wenn sie, die ersten drei, nicht an der Stelle gestanden hätten, in die sie das Schicksal hineingeboren hatte, würden sie auch längst als solche beurteilt worden sein. Die kleinen progenäen Persönlichkeiten sind wie sie eigentlich niemals wirklich schöpfe- risch. Der schöpferische Genius, der Dauerndes in das Dasein treten lässt, scheint vielmehr an die kleinen Menschen gebunden zu sein, welche den Übergang der ächten Riesen zu den Zwergen vermitteln. Die Bedingungen, welche dem Genie zu Grunde liegen, in erster Reihe die verhältnismässig starke Reizbarkeit, haben auch die Kleinheit der jeweiligen Körper zur Folge. Dass dabei die mannigfaltigsten Verhältnisse obwalten, die mannig-’ faltigsten Cumulationen und Paralysierungen standfinden können liegt auf der Hand. Daher kommt es aber auch, dass einmal ein schöpferischer Genius in einem grossen, selbst riesenhaften Körper stecken kann, dass neben einem Windhorst, Thiers, Disraeli, Cavour ein Bismarck, neben einem Alexander, Friedrich, Napoleon ein Moltke, neben einem Mozart, Beethoven, C. M. v. Weber ein Haendl erscheint. Das Prinzip ist und bleibt indessen: Das Genie ist im Allge- meinen an einen kleinen Körper gebunden, und zwar in Folge der Ursachen, die es selbst bedingen, in Folge hauptsächlich der Reizbarkeit. für welche die gewöhnlichen Reize sich schon wie starke verhalten und, dann gereizt, eine stärkere Körper- entwickelung hemmen. Boveri*) will gefunden haben, dass bei künstlicher Be- fruchtung von Seeigeleiern Zwerglarven zum Vorschein kamen, wenn kernlose Abschnitte des jeweiligen Eies befruchtet wurden, und dass bei künstlicher Ausbrütung von Hühnereiern Zwerg- formen von Hühnchen sich einstellten, wenn die Ausbrütung bei verhältnismässig sehr hoher Temperatur und mangelhafter Zu- fuhr von Sauerstoff erfolgte. In beiden Fällen musste aber ganz notwendig das in abnormer, unzulänglicher Weise befruchtete und in abnormer, unzweckmässiger Weise ernährte Protoplasma. der Eier sich abnorm weiter entwickeln. Es musste unkräftiger,. widerstandsloser, erreg- oder reizbarer und damit auch beein- flussbarer werden und dieses Letztere in einer entsprechenden: Weise an den Tag legen. Je stärker die Reizbarkeit, um so stärker wirken natürlich die in Betracht kommenden alltäglichen, d. h. die gewöhnlichen Reize ein. Die bezüglichen Individuen werden, je nachdem, in ihrer Entwickelung gefördert oder gehemmt, und zwar zuerst weniger dann mehr und wie sie daraufhin erst zu Riesen, aus. Riesen zu mittelgrossen und kleinen Persönlichkeiten werden, werden sie endlich zu Zwergen; die grösste Mehrzahl geht in- dessen vorzeitig zu Grunde. Die Widerstandslosigkeit, aus welcher ihre Reizbarkeit entspringt, lässt sie leicht erkranken und den betreffenden Krankheiten unterliegen. Sie verkrüppeln deshalb auch so oft; es giebt nur wenig nicht missgestaltete Zwerge, *) Tb. Boveri. Ein geschlechtlich erzeugter Organism. ohne mütterl. Eigen- chaften. Münch. Wochenschft. Jahrg. XXXVI. 1889 Nr. 41. S. 704 u. ff. 155 und das erklärt, warum so viele der kleinen Genies sich eben- falls mehr oder weniger verkrüppelt zeigen. Der Apostel Paulus, der Papst Gregor VII, Spinoza, Moses Mendels- sohn, der Prinz Eugen, der Prinz Heinrich, welcher schielte, Lord Byron, Talleyrand, welche beide ein zu kurzes Bein hatten und hinkten, liefern dafür den Beweis. Auf Grund ihrer starken Entwickelungshemmung und der daraus sich ergebenden Unfertigkeit, sind Zwerge auch fortpflanzungs- unfähig, wenigstens der Regel nach, und das erklärt, warum so viele geniale Männer, Genies, kinderlos waren und kinderlos sind, beziehentlich eine fortpflanzungsunfähige Nachkommenschaft hin- terliessen. Dem Riesenwuchs, dem Zwergwuchs liegt nach alledem wie so vielem Andern lediglich das biologische Grundgesetz zu Grunde. Von der Reizbarkeit des Individuums hängt es auch ab, was ein starker, was ein schwacher Reiz ist; allein das be- rücksichtigt, gilt wie sonst auch hierbei: Kleine Reize fachen das Wachstum an, grössere fördern es, noch grössere hemmen es, und grösste verhindern es ganz, und gar. Und da das Wachstum Äusserung einer Lebensthätigkeit ist, gilt auch in Bezusss auf, dasselbe; Kleine Reize tachen die TLebens- thätigkeit an, mittelstarke fördern sie, starke hemmen sie und stärkste heben sie auf. — 0 u — 6. Schwarz und Weiss bei Tier und Mensch und das biologische Grundgesetz. Schwarz und weiss pflegen als Gegensätze angesehen zu werden und die schwarzen und weissen Tiere einer vielfarbigen Art als die Repräsentanten der beiden Enden der Farbenscala, unter welche sich die einzelnen Individuen einer solchen Art unterordnen. Man sieht die schwarzen Tiere derselben gewisser- massen als den Gegensatz, das Gegenteil der weissen an; man sieht in dem Rappen das Gegenteil vom Schimmel, in dem schwarzen Rinde, dem schwarzen Schafe das Gegenteil vom weissen, in dem schwarzen Hunde, der schwarzen Katze, dem schwarzen Kaninchen, den schwarzen Tauben und Hühnern das Gegenteil von den weissen Tieren der entsprechenden Art. Und beim Menschen? Der Neger gilt wohl allgemein als der Gegensatz des Kackerlacken. Vom psysikalischen Standpunkt aus ist das wohl auch ganz richtig und selbst vom anatomischen aus dürfte sich nicht leicht etwas dagegen einwenden lassen. Denn dem Schwarz der Tiere und Menschen liegt der grösste Reichtum intensivsten Pigments zu Grunde, und das Weiss hat seine Ursache in dem nahezu völligen Mangel an jedem Pigment. Wie verhält sich aber die Sache vom psysiologischen, beziehent- lich biologischen Standpunkte aus? Bis jetzt ist darüber noch nichts Näheres bekannt, und selbst einer der neuesten Bearbeiter des Gegenstandes, Herr Dr. Crampe, erklärt in seinem sehr ein- gehenden Aufsatz: Die Farben der Pferde von Trakehnen. I. Theil: Die Ergebnisse der Farbenreinzucht. Landwirthschaft- liche Jahrbücher, herausgegeben von Dr. Thiel, Bd. XVII, 1888, Heft 6, S. 834—835: Wir wissen es nicht! „denn,“ sagt er, „in nahezu allen Säugetier- und Vogelspecies kommen Farben- abänderungen vor. Dieselben haben mit einander gemein, dass sie gelegentlich und aus unbekannten Ursachen in die Erscheinung treten. Weshalb dies bei einigen Species häufiger geschieht, als bei anderen und weshalb beispielsweise in einem Wurf Hasen fünf Junge die Farbe der Species besitzen und eins weiss, ge- 157 scheckt, schwarz u. s. w. ist, das wissen wir nicht, und deshalb vermögen wir auch nicht die Species durch Mittel der Zucht zu zwingen, Abänderungen hervorzubringen..... Von zwei Pferden gleicher Farbe fallen Nachkommen, die den Eltern gleichen und ausserdem solche von anderen Farben. Welche Ursachen diese Eigenschaften bedingen, das wissen wir nicht.“ Ein Zufall führte mich auf eine Fährte, die weiter verfolgt» Licht in die fragliche Angelegenheit bringen zu können scheint. Ich hatte zu physiologischen Zwecken mir eine Kaninchenzucht angelegt. Ich wünschte die grossen weissen Kaninchen mit langem, eckigem Kopfe, roten Augen und langen, durch- scheinenden, die Blutgefässe in sehr klarer und deutlicher Weise bervortreten lassenden Ohren, mir als weisse englische bezeichnet, zu züchten. Ich musste sie mir von auswärts kommenflassen; das mir zugesandte Paar stellte sich aber als aus zwei Weibchen bestehend heraus. Ich suchte nach einem Männchen, konnte jedoch lange keins bekommen. Die beiden weissen Kaninchen- weibchen wurden indessen sorglicb gehütet, damit sie nicht mit an- dern Kaninchenmännchen zusammenkämen, und dadurch vielleicht ihre ganze Nachzucht bezüglich der Rassenreinheit verdorben würde. Ein Hasenkaninchenmännchen aus einer schon vorhandenen Zucht wusste nichtsdestoweniger den Weg zu ihnen zu finden. Beide Weibchen wurden tragend, und beide warfen — die Hasenkaninchen sind gelblich -braungrau, hasengrau — nur schwarze oder schwarze und blos hin und wieder mit einem kleinen weissen Flecken versehene zahlreiche Junge, kein einziges weisses oder auch nur vorwiegend weisses, kein einziges graues oder auch nur weiss und grau geflecktes. Alle hatten dem entsprechend schwarze Augen und dazu einen kürzeren Kopf, kürzere Ohren mit anscheinend weniger stark entwickelten Blut- gefässen als die Mütter. Sie glichen in dieser Beziehung, d. i. dem äusseren Bau, vielmehr dem Vater. — Warum im Bau so gleichsam zwischen Vater und Mutter stehend und in der Farbe von beiden vollständig abweichend? Der Vater grau, die Mutter weiss, noch mehr als weiss, Kackerlack, und sie selbst schwarz! Steht das Schwarz vielleicht auch in der Mitte zwischen dem Weiss der Mutter und dem Grau des Vaters? Sonderbare Frage! Aber ohne mich viel zu besinnen, beantwortete ich sie mir mit Ja! Das Schwarz in der Färbung der Tiere ist nicht 158 wie sonst der Gegensatz von Weiss, sondern es ist die Vorstufe von ihm, und in Folge dessen können auch von weissen oder anders gefärbten Tieren gelegentlich schwarze erzeugt werden. Um den raschen Schluss, den ich machte, zu verstehen, wolle man sich an das in dem einleitenden Aufsatze Leben und Lebensäusserungen S. 55 u. ff. Gesagte erinnern, nämlich dass die Hyperergasien der Organismen und ihrer Organe, also die Hypertrophien, Hyperästhesien, Hyperplasien, die Hyperek- krisien, die Hyperkinesien, u. s. w. nicht das Gegenteil der Hyp- und Anergasien seien, wie man gewöhnlich annimmt, sondern dass sie vielmehr blos den Anfang dieser letzteren darstellen und zwar so, dass sie den ersten Ausdruck einer Ernährungs- störung bilden, welche mit den letzteren ende, dass die Endigung dieser wieder aber keineswegs schon in dem nämlichen Individuum zu erfolgen brauche, sondern erst in seinen Nachkommen zum Abschluss kommen könne, worauf unter Anderem die Entartung beruhe, ferner, dass das wirkliche Gegenteil der Hyp- und Anergasien nur die Akro- oder Oxyergasien seien, einfache Steigerungen der Euergasien, d. h. der als normal angenommenen Durchschnittsäusserungen der jeweiligen Organismen, beziehungs- weise Organe, während die Hyperergasien dem Gesagten nach als krankhafte Steigerungen zu gelten haben, und dass das um so mehr anzunehmen sei, als sie auch sonst noch in verschiedener Richtung sich abwegig zeigen. Beide, die Hyperergasien und Oxyergasien werden indessen gemeiniglich mit einander ver- wechselt, wenigstens zusammengeworfen; aber daraus entspringe eben die Unerklärlichkeit mancher Lebensvorgänge und unter ihnen auch das „Warum schwarz, warum weiss“ in bestimmten Fällen. Die Akro- oder Oxyergasien zeichnen sich durch Nach- haltigkeit, Kraft und Ausdauer aus; das Zeichen der Hyperergasien sei rasche Erschöpfung, Schwäche und Widerstandslosigkeit. Die reizbare Schwäche schlechthin sei ihr Wesen. Die in ganz abwegiger Richtung erfolgenden organischen 'Thätigkeiten seien die Parergasien, für deren einzelne die schon längst gebräuchlichen Ausdrücke: Parästhesie, Parakusie, Parosmie, Parageusie, Paralgie und Paralgesie, sowie Parakinesie, Paralalie, Paraphasie, Para- graphie, Parhidrosie zur möglichst treffenden Bezeichnung dienen. Wenden wir das nun auf die Färbung vielfarbiger Tier- arten an, so haben wir in der schwarzen Farbe derselben den Ausdruck einer Hyperergasie, nämlich einer Hyperplasie von Pigment zu sehen, und in der weissen Farbe den einer An- beziehentlich Hypergasie, nämlich einer Aplasie oder Hypoplasie von Pigment, und warum von einem weissen Kaninchenweibchen, nachdem es von einem hasengrauen belegt worden ist, schwarze Junge geboren werden können, indessen nicht gerade müssen, liegt auf der Hand. Die Farbe des wilden Kaninchens, nennen wir sie die Grund- oder Urfarbe der Kaninchen überhaupt, ist ein sogenanntes Hasengrau. Das Hasengrau des Kaninchens ist danach für das jeweilige Individuum als Ausdruck einer Euergasie, einer Eu- plasie von Pigment, aufzufassen. Eine Akro- oder Oxyplasie von Pigment würde sich bei ihnen in einer grösseren Dunkelheit, einer tieferen Sättigung des Hasengrau bis an das Schwarz hinan, ohne aber wohl jemals ganz schwarz zu werden, zeigen. Die Ratten, bei welchen sich solche dunklere, in das Schwärz- liche hineinragende Varietäten vorfinden, liefern dafür die Beläge. Im Winter 1890/91 haben Herr Dr. W. Müller und ich auch entsprechend gefärbte, auf den ersten Blick schwarz aus- sehende Sperlinge hier in Greifswald beobachtet. Das Schwarz selbst aber ist der Ausdruck einer Hyper- mit einer gleichzeitig einhergehenden Paraplasie. Denn der Natur der Sache nach muss jede Hyperergasie auch eine Parergasie sein. Eine aus- gesprochene Paraplasie von Pigment bei den Kaninchen würden z. B. die falben, beziehentlich mehr oder minder ockergelben an den Tag legen. Die schwarze Farbe jedoch ist, wie gesagt, vorzugsweise bedingt durch eine Hyperplasie von Pigment. Wenn diese Hyperplasie nun nachlässt, in eine Hypoplasie über- geht, so tritt an die Stelle des Schwarz ein mehr einfaches Grau, bei dem sich das paraplastische Element in einem bläu- lichen Schimmer zu erkennen giebt. Tritt endlich an die Stelle der Hypoplasie von Pigment eine Aplasie oder doch relative Aplasie desselben, so werden die Kaninchen weiss. Zunächst be- halten sie dann noch schwarze Augen; das Tapetum nigrum ihrer Choroidea ist noch gut erhalten. Dann schwindet in Folge einer allgemeiner gewordenen Pigmentaplasie auch dieses; die Augen werden rot, und der Kackerlack ist fertig. Vermischt sich nun ein solcher Kackerlack, der erfahrungsgemäss, wenn auch gross, doch immer ein entarteter Schwächling ist, mit einem die Grund- oder Urfarbe der Art tragenden und darum überhaupt im Allgemeinen euergastischen Individuum, so findet für die bezüglichen Jungen eine Blutauffrischung statt. Die Individuen werden stärker, in- dem sie sich in ihren Eigenschaften denen des stärkeren Teils ihrer Eltern nähern. In der Farbe zeigt sich das, indem je nach der mitgeteilten Energie des stärkeren Teiles der Eltern das anergastische Weiss zunächst in das hypergastische Grau über- geht, das gewissermassen geteilt als weiss und schwarz oder, etwas weiter vorgeschritten, als schwarz und weiss gefleckt er- scheint, dann zum hyperergastischen Schwarz wird und danach end- lich erst dem euergastischen Hasengrau Platz macht, als der gleich- sam erst gesunden, vollkräftigen Hauptfarbe der Art. Es ist - ersichtlich, dass je nach dem Einfluss der Eltern oder eines Teiles derselben aber auch einmal ein weisses, ein hasengraues Junges neben sonst schwarzen oder schwarz und weissen in einem Wurf vorhanden sein kann, und manche der bis jetzt rätsel- haften hierher gehörigen Erscheinungen klärt sich ganz von selbst auf. Reicht die Kraft des die Ur- oder Grundfarbe tragenden Individuums, beziehentlich des in Betracht kommenden Eichens nicht aus, um auf das aus ihm hervorgehende Junge seine Farbe zu vererben, so wird dieses schwarz oder schwarz und weiss gefleckt oder auch ganz weiss; anderenfalls bekommt es die Grund- oder Urfarbe überliefert, rein oder zum mindesten doch in mehr oder minder grossen Flecken. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Pferden. Die Grund- farbe derselben ist braun.*) Das braune Pferd in den verschie- denen Farbentönen gilt auch ganz allgemein als das dauerhafteste, weil widerstandsfähigste und nachhaltig leistungsfähigste. Die Falben — es giebt solche mit schwarzen Mähnen und Schweifen und solche mit weissen Mähnen und Schweifen, welch’ letztere den Übergang zu Schimmeln zu vermitteln scheinen — die Falben also und die Füchse, Ausdruck einer Paraplasie des Pigments, Stehen ihnen am nächsten. Die Schimmel werden allgemein als die widerstandslosesten, als die am leichtesten erschöpfbaren und am wenigsten leistungsfähigen angesehen. Auch sonst zeigen sie noch manche Unzuverlässigkeiten. Sie sind scheu, launenhaft, *) Darwin, „Über Entstehung der Arten u. s. w.“ 2. deutsche Auflage von Dr. H.G. Bronn, Stuttgart 1868, S. 191 und Crampe a.a. O.S. 834. capriciös, jung lebhaft, ausgelassen, alt faul und schläfrig, und das Alles zum Wenigstens mehr und häufiger als andersfarbige Pferde. Die Rappen sind ihnen am ähnlichsten, doch entschieden, zumal in ihrer Jugend, kräftiger, ausdauernder und darum auch leistungsfähiger. Sie sind vor Allem stetiger, und darum wieder zuverlässiger, wenn auch wegen ihres Feuers immer noch viel weniger als die Braunen, die Füchse, die Falben. Im Übrigen sind, wie in anderer Beziehung, so auch darin viele Übergänge von den Rappen zu den Schimmeln vorhanden und umgekehrt — beide sind auch besonders leichte Durchgänger —, und Rappen und Schimmel verhalten sich deshalb zu einander etwa wie Neurastheniker und Hysteriker. Der Hauptübergang zwischen beiden liegt aber in der Farbe selbst. Der Grauschimmel in allen Schattierungen beweist das nicht blos an und für sich, sondern ganz besonders auch durch den Umstand, dassderbeiWeitem grösste Teil der Schimmel als Rappen oder doch ganz dunkle, den Rappen nahe stehende Grauschimmel geboren und erst im Laufe der Zeit, das eine Mal rascher, das andere Mal langsamer, zu eigentlichen Schimmeln werden. Junge, beziehentlich auch jugend- liche Greise! Das Schwarz der Rappen erweist sich damit so recht eigentlich als die: Vorstufe zum Weiss der Schimmel, ich will einmal sagen, als die physiologische Mittel- oder Zwischen- farbe zwischen dem Weiss und Braun der Pferde überhaupt, und vom Weiss aus betrachtet, als ein Zeichen kräftigerer Kon- stitution. Es ist bekannt, dass von allen noch so verschiedenartig gefärbten Pferden sowohl Rappen wie Schimmel erzeugt werden. Warum? Ist die Kraft der Erzeuger nicht so gross, um ihrem Sprössling die Grund- oder Urfarbe geben zu können, so wird dieser bei noch vorhandener grösserer Kraft derselben ein Rappe, bei geringerer ein Schimmel, erst Grauschimmel, dann ein echter Schimmel, oder auch einmal ein Rothschimmel, ein stichelhaariges Pferd überhaupt und wohl auch ein Schecke. Das Mysteriöse der Vererbung verliert so ausserordentlich viel von seinem Dunkel. Bei Rindern liegt die Sache ganz gleich. Die Grundfarbe des Rindes ist das bekannte Rot oder Rotbraun in seinen ver- schiedenen Abänderungen. Wird indessen eine weisse Kuh und ein solcher roter oder rotbrauner Stier zusammengebracht, so sollte man erwarten und hat es lange erwartet, dass das danach geborene Kalb rot, rotbraun, weiss oder wenigstens ent- 11 sprechend gescheckt wäre; allein es ist das gar nicht so selten, dass es schwarzscheckig ausfällt, vielleicht auch einmal ganz schwarz; doch ist mir darüber nichts Bestimmtes bekannt ge- worden. Das Schwarz erweist sich somit auch hier wieder als die physiologische Mittel- oder Zwischenfarbe zwischen weiss und rot, beziehentlich rotbraun. Wie aber da, wo von beiden ganz weissen Eltern ein schwarzes, oder wenigstens schwarzfleckiges oder graues Kind erzeugt wird, wie das bei den Schafen z. B. häufig der Fall ist? Nun, da verhält es sich ebenso. Man nimmt für gewöhnlich an, dass in einem solchen Falle unter den Vorfahren der Eltern sich ein entsprechend gefärbtes Individuum befunden habe, und dass so ein blosser Rückschlag auf dieses erfolgt sei. Gewiss ist das wohl in der bei Weitem grössten Zahl der Fälle anzu- nehmen; sicher jedoch ist es keineswegs. Ausserdem ist damit zunächst blos eine Erfahrung festgestellt, aber ein Verständnis für sie noch nicht gewonnen. Die Grundfarbe der Schafe ist aller Wahrscheinlichkeit nach wieder ein Braun, beziehentlich Graubraun oder Rötlichbraun, wie es die wilden Arten Ovis Ammon und Musimon, von denen ja auch das Hausschaf herstammen soll, an den Tag legen, und wie dieses selbst es mitunter, namentlich in einigen nördlichen Gegenden, Pommern, Rügen, Mecklenburg u. s. w. noch zeigt. Ovis Musimon ist braun, in einer Art rehbraun, im Gesicht, an den Füssen mehr oder weniger weiss und namentlich der Bock an Brust und Schultern schwärzlich, selbst schwarz. Die Hufe sind schwarz; das Kleid ist hären, das Haar kurz, straff. Ovis Aries var. Kamerunschaf ist Ovis Musimon im Bau ähnlich; die Farbe aber ist schwarz. Doch habe ich auch schwarz und weiss und selbst weiss und schwarz gefleckte gesehen, so dass die Annahme, es werde auch ganz weisse geben, gewiss nicht ungerechtfertigt ist. Bei den gefleckten, die mehr weiss als schwarz waren, fanden sich denn wohl auch vereinzelte weisse Hufe. Das Kleid des Ka- merunschafes wird auch noch durch ein kurzes straffes Haar gebildet, das beim Bock jedoch an Nacken, Brust und Bauch in Zotten übergeht, und damit den Anfang der Wollbildung dar- stell. Ovis Aries var. Heidschnucke ist im Bau den vorigen nicht unähnlich, schwarz, weiss, stichelhaarig, schwarz-weiss, weiss-schwarz gefleckt, und je nachdem sind auch seine Hufe 165 gefärbt. Das Kleid ist ein Zottenpelz in weit fortgeschrittener Wollbildung; die Wolle desselben ist jedoch noch grob, zottig und darum als Wolle schlecht. Der Übergang von Ovis Musi- mon zu Ovis Aries var. Merinoschaf, das uns nur zart und ge- meinhin auch nur weisswollig und dementsprechend mit weissen Hufen vor Augen kommt, würde demnach eine gewisse Klärung erfahren, zugleich aber auch ersichtlich werden, warum unter den gewöhnlichen Schafen, von denen das Merinoschaf doch blos eine Abart ist, neben weissen, schwarzen, auch braune vorkommen. Das Schwarz würde damit aber auch hier, d.h. bei den Schafen nur als die physiologische Mittelfarbe von der Entartungsfarbe Weiss und der Grund- oder Urfarbe Braun auftreten und eine Er- starkung der Art in dem betreffenden Individuum anzeigen, weil in dem Elternpaare, trotzdem beide weiss waren, doch die Beding- ungen zu Ausmerzung gewisser Entartungsursachen, zum Aus- gleich gewisser Schwächen und Fehler lagen. Ein mir bekannter Taubenzüchter zog unter anderen Rassen weisse Hochflieger. Um eine Blutauffrischung in seine Zucht hineinzubringen, liess er sich von weit her einen entsprechenden Täuberich kommen. Derselbe war ganz weiss ebenso wie die Taube, mit welcher er zusammengebracht wurde, und die ersten beiden Jungen dieses Paares, im Ganzen auch weiss, hatten schwarze Flecken an beiden Schultern und den Flügelspitzen. Die Grundfarbe der Haustaube, der sogenannten Feldtaube, welche, wie Darwin nachgewiesen hat, von der Felstaube ab- stammt, ist blaugrau, mit nach hinten weisslichem Rücken, einer schwarzen Endbinde am Schwanz und zwei schwarzen Binden über den Flügeln. Die schwarzen Flecke bei den erwähnten Jungen sassen also keinesweges entsprechend diesen schwarzen Binden; sie sassen vielmehr an Stellen, welche bei der Felstaube graublau gefärbt sind und erwiesen sich damit als physiologische Zwischenfarben zwischen Weiss und eben Blaugrau, als eine Vorstufe von diesem zum Weiss, oder umgekehrt, von diesem wieder zum Blaugrau. Wenn weisse Mäuse und Ratten in die Hauptart zurückzu- schlagen scheinen, so zeigen sie häufig erst schwarze oder wenigstens viel dunklere graue Flecke, als das Grau der Haupt- art ist; es treten auch ganz schwarze Tiere auf oder gescheckte, bei denen das Schwarz vorherrschend ist, nicht blos dunkler 11* 164 gefärbte, von denen oben die Rede war. Kurz, das Schwarz vielfarbiger Tierarten ist nur eine Vorstufe des endlichen Weiss derselben und nicht ein Gegensatz zu diesem. Es ist ein Zeichen einer schon weit gediehenen Entartung, welche endlich in dem reinsten Weiss, der grössten Pigmentarmut, wie sie bei den Kackerlacken vorkommt, ihren weitest gehenden Ausdruck findet. Um dahinter zu kommen, wie wohl der Zusammenhang zwischen dem Allen sein möchte, legte ich mir eine Ratten- und Mäusezucht an. Weisse Ratten, weisse Mäuse wurden mit wild eingefangenen grauen gepaart. Bis jetzt hat indessen nur ein Rattenpaar, ein wildes graues Männchen und ein weisses Weib- chen, befriedigende Ergebnisse geliefert. Die übrigen Ratten wie Mäuse haben sich entweder überhaupt noch nicht vermehrt, oder sie haben ihre Jungen bald nach der Geburt, oder aber sich selber unter einander aufgefressen. Besonders war ein wildes Rattenweibchen von einem hervorragenden Kannibalismus beseelt. Alle weissen Männchen, die mit ihm zusammengebracht wurden, wurden von ihm angebissen, todt gebissen und halb aufgefressen, so dass es, zur Zucht unbrauchbar, endlich ge- tötet werden musste. Von dem Rattenpaare jedoch, das sich vermehrt hat, sind bis jetzt fünf Würfe zu verzeichnen gewesen, und jeder Wurf bestand blos aus grauen, die Farbe des Vaters tragenden Jungen. Im ersten Wurf hatten dieselben alle eine ı—2 Mmtr. lange weisse Schwanzspitze, in den übrigen vier Würfen, bis auf ein Tierchen, dessen äusserste Schwanzspitze ebenfalls weiss war, waren alle samt und sonders wie die wilden Ratten grau, echte Kinder ihres Erzeugers. — Ich be- hielt mir von dem ersten Wurf einige Junge zurück; alle übrigen gab ich im Herbst 1890 an Herrn Loeffler zu seinen bakterio- logischen Untersuchungen. Herr Loeffler liess sie, da er an ihrer Zucht in einer bestimmten Richtung kein Interesse hatte, alle zusammen sitzen; doch blieben sie für sich allein; keine andere Ratte kam mit ihnen in Berührung. Im Frühjahr ı8gı liess mich Herr Loeffler rufen, um mir die Jungen zu zeigen, welche inzwischen geboren worden waren. Die sämtlichen älteren Ratten, welche Herrn Loeffler übergeben worden waren, waren grau. Einzelne waren fleckig ausgeblasst, grau und grau gescheckt. Von den Jungen aber war nur eins der Hauptsache nach grau, alle anderen waren grau und weiss ge- LS scheckt, 3 waren ganz weiss und 2 tief schwarz. — Von den vom ersten Wurfe zurückbehaltenen Ratten suchte ich ein Männchen und ein Weibchen, also Bruder und Schwester nächster Beziehung aus und brachte sie zur Zucht zusammen. Beide waren ächt rattengrau — die weisse Schwanzspitze war in- zwischen abgestossen worden —, und die zuerst geworfenen Jungen, elf an der Zahl? Keins ganz grau!‘ Eins grau mit mehr oder minder weiss an den Beinen, 5 grau und weiss, be- ziehentlich weiss und grau gescheckt, 3 weiss, ı weiss und schwarz gescheckt, ı ganz schwarz. Das Schwarz erwies sich somit hier in der That als die physiologische Zwischen- farbe zwischen weiss und der Grundfarbe grau, als welche sie nach den bisherigen Wahrnehmungen angenommen werden durfte und, wenn das auch nicht unmittelbar an den Kindern hervortrat, an den Enkeln zeigte es sich ausser Zweifel stehend. Später wurden ganz unter denselben Verhältnissen noch mehrere schwarze Tiere geboren. Sie alle waren Männchen, und wenn vielleicht auch stärker, kräftiger als die weissen, so doch ent- schieden schwächer als die einfach grauen, Ich versuchte in derselben Richtung auch Tauben und Hühner zu ziehen. Die Versuche mit Tauben schlugen fehl, weil es mir nicht gelang, ein gutes Zuchtpaar zu beschaffen. Es war mir bis jetzt unmöglich, eine ächte Feldtaube zu er- langen, welche bekanntlich von allen Taubenarten der Felstaube noch am nächsten steht. Doch ist immerhin interessant, dass von einem weissen Täuberich und einer Brieftaube, welche in ihrer Färbung der Feldtaube nahe kam und namentlich recht gute schwarze Binden besass, ein Täubchen gezeugt wurde, das weiss war und sepiafarbene Flügel, sepiafarbenen Schwanz und gleichfarbene Flecken an der Brust hatte, das Schwarz also wenigstens in einer gewissen Nüance enthielt. Dagegen waren die Versuche mit Hühnern von sehr be- stimmtem Erfolg. Vier rein weisse Hennen, italiener Rasse, Halbblut-Italiener und Halbblut-Brahma, wurden mit einem Hahn der alten Landrasse, ausgezeichnet durch seinen doppelten Kamm und sein bunt glänzendes Gefieder, in einer gut vergitterten Voliere zusammengebracht. Aus den bezüglichen Eiern wurden ausgebrütet und dann bis zur Fortpflanzungszeit aufgezogen neben einer Anzahl weisser Hennen, von denen einige später am Rücken einen kupferigen Schiller zeigten, ein kleines rebhuhnfarbenes Huhn, stark an die entsprechenden Italiener erinnernd, ein weisser, ein grauer (sogenanter Kuckuckssperber) und drei schwarze Hähne. Einer dieser letzteren war mit einem leicht goldigen Schiller am Halse versehen; die beiden anderen aber waren kohlschwarz. Beide waren ausserordentlich starke Tiere. Der eine hatte den doppelten Kamm des Vaters geerbt; der andere, dessen Mutter die Halbblut-Brahmahenne war, hatte das Aus- sehen eines Minorkahahnes. Von guten Hühnerkennern ist er auch von vornherein dafür gehalten worden und selbst, nach- dem denselben seine Abstammung behannt gemacht worden war, erklärten sie, trotzdem könne er als Minorkahahn auf jede Ge- flügel-Ausstellung gebracht werden und als solcher daselbst sogar einen Preis erhalten. Ich führe letzteres an, weil es mir auf die Rassenbildung ein Licht zu werfen scheint, unter welchem dieselbe bisher noch nicht recht betrachtet worden ist. Der Olm der Adelsberger Grotten, der Proteus anguineus, ist in der Regel gelbweiss mit einem bald schwächeren, bald stärkeren rötlich-grauen Anfluge, der im Lichte stärker und särker wird und zuletzt in ein förmliches Blauschwarz übergeht. Letzteres aber kann sich wieder verlieren und in das eigentümliche grauliche Gelbweiss zurückkehren, das vordem bestand. Es braucht dem Molch nur das Licht wieder entzogen, und er in dem anhaltenden Dunkel zu leben gezwungen werden, wie in den genannten Grotten, denen er entstammt. Das Schwarz be- ziehentlich Blauschwarz und das Weiss beziehentlich Gelbweiss stehen also auch hier in nächster Beziehung und gehen vielfach in einander über. Ja, hier ist sogar bekannt, was diesen Über- gang für gewöhnlich vermittelt: das Licht, und dass es von der Stärke desselben und der Dauer seiner Einwirkung abhängt, in welcher Weise der gerade in Betracht kommende Übergang sich macht und bis zu welchem Grade er gelangt. Viel Licht führt zu einer tiefen Schwärzung; aber auch schwaches Licht, wenn es nur Dauer hat, kann eine wenigstens verhältnismässig starke herbeifüren; schwaches Licht von keiner Dauer oder blosses trübes Dämmerlicht, das dazu noch häufig unterbrochen wird, lässt jedoch nur eine geringe Schwärzung, ein mehr oder minder lichtes Grau aufkommen. Das Schwarz ist so auch hier nicht der Gegensatz von Weiss, sondern nur eine Vorstufe 167 desselben, zu dem im übrigen zahllose andere allmählig hin- überleiten. Im Berliner Aquarium findet sich ein gelber Aal, an dem nichts Anderes als die Augen und zwar schwarz gefärbt er- scheinen. Neben diesem Aal in demselben Behälter tummelt sich ein anderer, der fast schwarz wie ein Meeraal, Conger, aus- sieht, aber einen ungleich breiten gelben Streifen am vorderen, beziehentlich oberen Teile des Rückens trägt und an verschie- denen Stellen des Rumpfes durch dessen Schwarz gewisser- massen ein gleiches Gelb durchschimmern lässt. Das Schwarz und Gelb dieser beiden Aale steht in offenbarer Beziehung zu einander. Die Urfarbe des Aales ist am Rücken und den Seiten olivengrün, olivenbraun und am Bauche weiss. Die Farbe der Seiten geht aber nur bei dem sogenannten Blankaal unmittelbar in dieses Weiss über; bei der ungleich grösseren, vornehmlich im Meere lebenden Anzahl von Arten dagegen findet sich zwischen ersterer und letzterer oft ein noch mehrere Milllimeter breiter gelber Streifen eingeschaltet, der sich in das Grün oder Braun der Seiten allmählig verliert, während er von dem Weiss des Bauches im Ganzen recht scharf abgesetzt ist. Dieser gelbe Streifen ist der Ausdruck eines ganz bestimmten Pigments, das sich von dem Weiss des Bauches aus über den ganzen übrigen Körper verbreitet und an diesem zum grössten Teil in das die olivengrüne oder olivenbraune Färbung bedingende übergeht. Nehmen die Bedingungen, unter denen das geschieht, zu, d. h. steigern sich die Vorgänge, unter denen die Pigmentbildung stattfindet, so tritt dieses quantitativ und qualitativ verstärkt auf. Die olivengrünen oder braunen Hautteile nähern sich dem Schwarz, erscheinen schwarz. Nehmen dagegen die Bedingungen, unter welchen diese Veränderungen vor sich gehen, ab, lassen die Vorgänge, die der Pigmentbildung zu Grunde liegen, nach, so tritt dieses auch sowohl der Masse, wie seiner Farbe nach verringert, geschwächt auf. Die oliven- grüne oder braune Farbe blasst ab, mehr und mehr kommt gelb zum Durchbruch. Anfangs schimmert es nur hier und da gleichsam durck; dann greift es an einzelnen Stellen, wie z. B. am Rücken, in einem mehr oder minder breiten Streifen Platz, der Aal ist gefleckt, gescheckt; endlich erstreckt es sich über die ganze, sonst dunkel gefärbte Hautdeeke und das gelbe Tier 168 ist fertig. Es entspricht dann etwa den Schimmeln unter den Pferden, wie da, wo das Gelb blos noch so durchscheint, den Grauschimmeln, den stichelhaarigen Tieren überhaupt. Das fragliche Schwarz geht somit auch hier dem das Weiss ver- tretenden Gelb vorauf, ist die physiologische Zwischenfarbe zwischen olivengrün oder braun und gelb, nicht aber etwa ein Gegensatz zu diesem. Und beim Menschen? Die sogenannten Weissen, d. h. die weissen Rassen sind keine Homologa der weissen Tiere oder weissen Tierrassen. Die sogenannten Weissen, welche ihren charakteristischsten Ausdruck in den Blonden finden, sind noch immer gefärbte, eigentümlich, wenn auch schwach gefärbte Menschen, vielleicht bis zu einem gewissen Grade gleich den rothaarigen, den Füchsen unter den Menschen, Erscheinungen einer Paraplasie des Pigments. Den weissen Tieren, den Kacker- lacken unter diesen, entsprechen allein die Kackerlacken unter den Menschen. Diese letzteren nun kommen zwar unter allen Menschenrassen vor, unter hell- und dunkelfarbigen, unter blonden Europäern, bräunlichen Asiaten und Amerikanern, allein nirgend häufiger als unter den mehr oder weniger schwarzen Bewohnern des Äquatorialgürtels, namentlich unter den Negern Afrikas und Centralamerikas. Unter diesen letzteren, unter denen sie über- haupt zuerst und zwar im vorigen Jahrhundert von Wafer in Panama gesehen worden sein sollen, sind sie wenigstens früher am öftesten beobachtet worden, vielleicht blos, weil die Gelegen- heit am öftesten sich darbot, vielleicht aber auch, weil die amerikanischen Neger unter ganz besonders ungünstigen Verhält- nissen, in einer drückenden Sklaverei lebten, dadurch sehr her- untergekommen und zu einer weit gehenden Entartung vorbereitet waren. Doch dem mag sein, wie ihm wolle; jedenfalls erweist sich hierdurch das Weiss auch beim Menschen erst als ein Folge- zustand des Schwarz, das unter allen Farben vorzugsweise zu ihm hinneigt, und damit denn wieder auch blos als eine Vorstufe und nicht als ein Gegensatz zum Weiss angesehen werden kann. Unter den Cretins, den Repräsentanten der weitest gehen- den Entartung der Menschennatur, giebt es zwei Arten, die Cretins im engeren Sinne und die Marrons, welche letztere hauptsächlich inSavoyen heimisch sind. Jene sind, mit Virchow zu reden, klein, missgestaltet, leukophlegmatisch, pastös; diese sind verhältnis- mässig gross, nicht auffallend ”ungestaltet, dazu trocken, hager. Die ersteren, wie es nach Rösch scheint, meist jung, sind blass, kreideweiss; die letzteren, nach demselben Gewährsmann meist älter, sind braun, woher sie denn auch Marrons, Marronen, heissen. Nach Virchov ist die Entartung der Marrons nie so weit ge- diehen, wie die der eigentlichen Cretins, vernehmlich auch ihre kleinen Köpfe nie so unförmig, wie diejenigen dieser. „Überall hier scheint die Schädeldifformität entweder eine mässigere zu sein, und man beschreibt die Leute als Halbcretinen, oder sie betrifft das Schädeldach“.*) Die weniger entarteten Marrons, die meist älter als die eigentlichen Cretins sind, wohl weil sie diese einfach überleben, indem sie widerstandsfähiger als diese, älter werden, die weniger entarteten Marrons also,sind braun, dem Schwarz sich nähernd, stärker pigmentiert; die, weiter ent- arteten ächten Cretins dagegen sind auffallend weiss, oft/an- scheinend kreideweiss, — daher denn auch nach Vieler Annahme überhaupt ihr Name Cretin, nämlich von cretinus,/ beziehentlich Creta, und nach Virchow’s Ansicht noch im Besonderen," um mit ihm zugleich den Gegensatz zu Marron auszudrücken —, die weiter entarteten Cretins also dagegen sind kreideweiss, ‚d. h. der Farblosigkeit sich nähernd und damit wenig oder so gut wie gar nicht pigmentiert. Das Schwarz, wenigstens relative Schwarz ist somit auch hier, in der Reihe der Entartungsformen, welche den Cretinismus darstellen, nur die Vorstufe des Weiss, nicht aber sein Gegensatz. Dasselbe zeigt sich endlich auch an verschiedenen Ver- färbungen der Haut und ihrer Anhänge, welche im Laufe des Lebens bei diesen und jenen Individuen auftreten und wohl immer durch Nerveneinfluss bedingt sind, vornehmlich an den Chloasmata und Vitiligines.. Jene zeigen sich als mehr oder minder grosse, dunkle, bisweilen sogar tief braunschwarze Flecken, welche eine sogenannte Nigrities partialis darstellen; diese erscheinen als entsprechende Stellen von hellerer Farbe, als sie die übrige Haut besitzt, häufig sogar weisslich, ja dem Anscheine nach selbst ganz weiss. Sehrmerkwürdig nun ist, dass die Chloasmata, die Nigrities partialis, den Vitiligines vor- aufgehen und zwar der Art, dass letztere sich an den Orten *) R. Virchow. Knochenwachsthum und Schädelformen, mit besonderer Rücksicht auf Cretinismus, Virchow’s Archiy f. pathol. Anat. u. s. w. Bd. XIIL.S. 355° 170 entwickeln, wo jene vor dem sich ausgebildet hatten, d. h. also, dass die Vitiligines gewissermassen die Chloasmata ablösen, verdrängen, indem sie sich an deren Stelle setzen. Ich habe einen Herrn zu behandeln gehabt, dessen Scrotum der Sitz grosser, unregelmässiger, schwarzer und weisser Flecken war, die anscheinend bunt durch einander wechselten. In Wahrheit aber sassen die weissen Flecke in mitten der schwarzen, indem sie von diesen wie von ungleich breiten Rändern, welche hie und da durch gesunde Haut, beziehentlich Hautfarbe getrennt erschienen, umgeben waren. Nach Aussage des betreffenden Herren sollen zuerst sich nur die schwarzen Flecken gezeigt haben und erst, nachdem dieselben eine Zeit lang bestanden hätten, in ihnen die weissen zum Vorschein gekommen sein. Anfangs seien diese letzteren nur klein gewesen; sodann aber haben sie sich mehr und mehr vergrössert, und in dem Masse, als das geschehen sei, haben sich dann die schwarzen Flecke selbst, in denen sie entstanden wären, vergrössert. Die schwarzen Flecke mit ihrer weissen Mitte haben sich mehr und mehr genähert, seien zusammengestossen, zusammengeflossen, und es habe zuletzt ausgesehen, als ob nicht blos die schwarzen Ränder, um die sich immermehr vergrössernden weissen Flecke breiter geworden und hie und da zusammengeflossen seien, sondern auch diese selbst. Übrigens wird von den Dermatologen ganz allgemein an- gegeben, dass die Vitiligines von bald breiteren, bald schmaleren, stärker oder schwächer pigmentierten Rändern umgeben sein, und dass diese in dem Masse centralwärts verschwänden und peripheriewärts neu entständen, als jene an Ausdehnung zunähmen. Eine stärkere Pigmentbildung, die gelegentlich bis zum Schwarz führt, geht also einer so schwachen Pigmentbildung, dass Weiss zur Erscheinung kommt, vorauf, und das Schwarz erweist sich damit auch hier wieder blos als eine Vorstufe, und nicht als ein Gegensatz des Weiss. Bei Leuten, die vorzeitig ergraut sind, was am häufigsten hei dunkel-, selbst scheinbar schwarzhaarigen der Fall sein dürftes welche in ihrer Jugend blond, in ihrer Kindheit vielleicht gar flachshaarig gewesen sind, kommt es vor, dass sie wieder dunkler werden, ihr Haupt-, ihr Barthaar sich wieder, wenn auch nur stellenweise, dunkel, tiefkastanienbraun bis schwarz färbt, in- dessen blos, wie es scheint, um nach einiger Zeit, und zwar in 171 je späterem Lebensalter um so sicherer, wieder rasch zu ergrauen oder gar weiss zu werden. — Bekanntlich lebt gegen das Alter, im Alter der Geschlechtstrieb, ehe er erlischt, noch einmal auf, in der Regel jedoch, um danach um so schneller völlig zu erlöschen: der Anergasie desselben geht eine zeitweilige Hyperergasie vorauf. So auch hier. Das alternde, alt gewordene Haar lebt gewissermassen noch einmal auf; es wird wieder dunkler, selbst schwarz, um danach jedoch, wie es den Anschein hat, desto schneller von Neuem zu ergrauen, selbst weiss zu werden. Das Schwarz geht dabei auch wieder nur dem Weiss vorauf, bildet keinen Gegensatz, sondern lediglich die Vorstufe zu ihm und ist damit denn auch in vielen Fällen offenbar nichts Anderes als die physiologische Mittel- oder Zwischenfarbe zwischen blond und weiss. Wir mögen so hinsehen, wohin wir wollen, das Schwarz und Weiss im Tierreich treffen wir nirgends im Gegensatz zu einander, sondern stets in den nächsten Beziehungen. Keine der zahlreichen Farben im Tierreiche haben so die Neigung in ein- ander überzugehen, wie gerade sie. Unter den vielfarbigen Arten zeigen sie Entartungszustände an, das Schwarz geringere, das Weiss weiter gediehene, zuweilen soweit gediehene, dass sie zum Erlöschen der Art führen, wie das namentlich unter den Kackerlacken der Menschen der Fall sein soll. Das Schwarz ist Ausdruck einer hyperergastischen, das Weiss solcher einer hypergastischen, um nicht zu sagen, anergastischen Konstitution. Halten wir das nun fest, so erklären sich endlich auch Vorkommnisse, wie die von Crampe erwähnten, warum z. B. ı) manche Arten mehr, manche weniger zu Farben- abänderungen neigen, und warum z. B. 2) in einem Wurf Hasen fünf Junge die Farbe der Art besitzen und eins weiss, gescheckt oder schwarz ist. Es sind nämlich einer Farbenveränderung, beziehentlich einer Vielfarbigkeit nur die Arten unterworfen, deren Individuen sich durch eine gewisse Widerstandslosigkeit, Impressionabilität, Vulnerabilität, und davon abhängige Bieg- und Schmiegsamkeit oder auch Anpassungsfähigkeit, welch’ letztere ja allein nur auf jenen ersteren beruhen kann, auszeichnen. Die zu Farbenänderungen geneigten Arten haben wir deshalb von vornherein als aus mehr oder minder schwächlichen Individuen bestehende anzusehen und dem oben Erörterten nach die schwarzen, udn die gescheckten, nb. weissgescheckten, die weissen selbst als beson- ders schwächlich geratene unter ihnen zu betrachten. Allerdings lässt sich das nur erklären, wenn wir das Leben nicht als etwas ganz Eigenes betrachten, sondern lediglich als eine in bestimmter Weise auf einen kleinen Raum konzentrierte Bewegung des grossen Alls, welche von ihrer Umgebung, d.i. von aussen her, unter- halten wird, wie etwa ein Wirbel in dem Gewoge eines mächtig dahiuflutenden Stromes; allein dann klärt sich auch die uns be- schäftigende Angelegenheit an der Hand des biologischen Grund- gesetzes wie von selbst auf. Dieses biologische Grundgesetz aber lautet: Kleine Reize fachen die Lebensthätigkeit an, mittelstarke fördern sie, starke hemmen sie und stärkste heben sie auf. Kehrt man den Satz um, insofern man die Reizgrösse ein und die- selbe, dagegen die Lebensthätigkeit, vertreten durch die ver- schiedenen Individuen, die veränderliche sein lässt, so lautet ' das Gesetz: „Dieselben Reize, welche bei gewissen, widerstands- fähigen, darum als stark und kräftig bezeichneten Individuen die Lebensthätigkeit gerade anfachen und unterhalten, fördern und ‚beschleunigen sie bei andern, widerstandsloseren und darum schwächeren, hemmen sie bei noch schwächeren und heben sie auf, vernichten sie bei ganz schwachen.“ Das tägliche Leben liefert dafür die zahlreichsten Beweise, vom Alkohol und Tabak angefangen, bis zum Ärger und zur Freude. Auf die Farbe übertragen heisst das aber: Dieselben Reize, d. h. dieselben, namentlich äusseren Verhältnisse und Umstände, welche bei widerstandsfähigen, kräftigen, sogenannten Durchschnittsindividuen zu der Entwickelung der Grundfarbe einer Art führen, führen bei schwäch- lichen, speciellschwächlicher und darumreizungsfähiger in ihrem Hornblatt veranlagten Individuen zur Ent- wickelung der schwarzen Farbe in Folge von Pigment- hyperplasie, bei noch schwächlicheren zur Entwicke- lung eines mehr oder minder reinen Weiss in Folge von Pigmenthypoplasie und bei den schwächlichsten zur Entwickelung eines durchaus reinen Weiss mit roten Augen in Folge einer mehr oder weniger voll- ständigen Pigmentaplasie. Die etwaigen abwegigen Fär- bungen dagegen beruhen auf einer abwegigen Konstitution des 173 betreffenden Individuums von Hause aus, auf einer Besonderheit in der Geartung des mütterlichen Eichens, des väterlichen Samens oder auch beider. An der Rothaarigkeit, der Fuchs- farbe unter den Tieren, soll ein, wenigstens ein verhältnis- mässig grosser Überschuss an Schwefel Schuld sein, ein etwas geringerer an der gelben Farbe der Haare. Was bedingt die bläuliche, beziehentlich die ins Blaue spielende Farbe, welche vornehmlich bei Rindern, Kaninchen, Hunden vorkommt? Doch dass sind Fragen, die noch kaum angeregt sind, zur Zeit auch kaum anzuregen sind. Für jetzt mag darum genügen, dass wir überhaupt nicht mehr in Unkenntnis darüber sind, was die Vielfarbigkeit mancher Tierarten und ihre leichte Varia- bilität in der Farbe bedingt, denn das biologische Grundgesetz: Kleine Reize fachen die Lebensthätigkeit an, mittel- starke fördern sie, starke hemmen und stärkste heben sie auf, giebt darüber genügenden Aufschluss. 174 M Die Körperwärme, besonders das Fieber, und das biologische Grundgesetz. Die Körperwärme ist das Ergebnis einer Verbrennung der Körperteile. Von der Art dieser Verbrennung, ob sie rascher oder langsamer vor sich geht, ob diese oder jene Stoffe, Ele- mentarverbindungen, dabei verbrannt werden, ob diese oder jene äusseren Verhältnisse sich dabei geltend machen, hängt es ab, ob die Körperwärme eine höhere oder niedrigere ist, ob sie einen allen gleichartigen Wesen mehr gleichen Charakter besitzt, oder sich davon abwegig zeigt. Denn auch die Wärme hat, wie das Licht ihre Verschiedenheiten. Der 'Thermanismus, die Thermochrosie ist wissenschaftlich nachgewiesen. Die dem gesunden Menschen zukommende Wärme bewegt sich zwischen 37,0 ° und 38,0 °C. Bei Einzelnen sinkt sie wohl auch ein wenig darunter, oder steigt auch ein wenig darüber. Als Durchschnittswärme, als sogenanntes Tagesmittel der be- züglichen Wärme für alle hat man daher 37,5 °C. angenommen; von derselben aus werden auch nunmehr alle Bestimmungen in Bezug auf Abweichungen und deren Grösse gemacht. Die Körperwärme von 37,5 °C. hat man deshalb als die normale bezeichnet. Sie stellt, als eine Euergasie des menschlichen Organismus, die Euthermosie desselben dar, und die Farbe, Chrosis, welche ihr zukommt, dürfte ebenso wie sie selbst als die normale angesehen werden. Steigt die Körperwärme über 37,5 °C., so ist sie Ausdruck einer Hyperergasie des jeweiligen Körpers, also eine Hyper- thermosie; sinkt sie unter 37,5 'C., so ist sie Zeichen einer Hypergasie desselben, also auch eine Hypothermosie. Hyper- thermosien über 38,0 °C. bezeichnet man als Fiebertemperaturen, Hypothermosien unter 37,0°C. als Collapstemperaturen. In- dessen ist dabei festzuhalten, dass nicht jede der bezeichneten Hyperthermosien als Ausdruck eines Fiebers und damit als eine Fiebertemperatur anzusehen ist. Es geschieht das freilich viel- fach; allein es ist auch vielfach davor gewarnt worden. Dem 175 Fieber, beziehentlich der Fieberwärme, der Fiebertemperatur, kommt noch etwas Anderes, Besonderes, zu. Ausser der Höhe ist auch die Farbe, die Chrosis, der normalen Wärme abgeändert. Die normale Thermochrosis ist eine anomale geworden, die Euthermosie in ihrer Steigerung zur Hyperthermosie eine Para- thermosie, und darin besteht das Wesentliche, Charakteristische der Fieberwärme. Jeder Verbrennungsvorgang wird, wenn sich die Bedingungen ändern, unter denen er sich vollzieht, ein anderer. Abgesehen davon, dass man dies schon, während er sich vollzieht, nach- weisen kann, liefern die Verbrennungsergebnisse vornehmlich dafür Beweise. Dieselbe Kerze, welche bei reichlicher Sauer- stoffzufuhr hell und licht brennt und fast nur Kohlensäure liefert, brennt bei ungenügender Sauerstoffzufuhr trüb und dunkel und liefert neben geringeren Mengen von Kohlensäure noch Kohlenoxydgas, Kohlenwasserstoffverbindungen, Kohle, in Form des Russes, überhaupt. Und dem entsprechend muss die Wärme, welche sie liefert, da die Beschaffen- heit derselben erwiesenermassen unter verschiedenen Um- ständen eine verschiedene ist, auch verschieden sein. Ihre Farbe, die jeweilige Thermochrose, muss einen anderen Charakter haben. Die Wärme, die ein eiserner Ofen ausstrahlt, ist eine andere als die, welche ein Kachelofen abgiebt, und empfindliche Personen behaupten, dass die aus einem glasierten Kachelofen stammende Wärme ihnen weniger angenehm sei, als die aus einem blos mit Tünche versehenen. Die letztere habe etwas Weicheres, sei weniger spitz. Dass die Wärme, welche glühende Metalle aus- strahlen, als eine andere gefühlt wird, als die, welche Gas- flammen oder gar das elektrische Licht verbreiten, ist allgemein bekannt. Die feuchte Wärme, die trockene Wärme, die als Gewitterschwüle bezeichnete Wärme u. s. w. sind ebenfalls in ihrer Verschiedenheit jedermann bekannt. Kurz die Thermochrose, die Farbe der Wärme, hängt gerade so wie die Farbe des Lichts von den Umständen ab, unter denen beide, Wärme und Licht, entstehen beziehentlich bestehen: von den Körpern, die verbrennen, von den Umständen, unter denen sie verbrennen, und von der Art und Weise, wie sie, Wärme und Licht, sich fortbewegen beziehungsweise sich fortbewegen können. Im Fieber nun, das, ich möchte sagen, die Fieberwärme liefert, ist der Stoffumsatz nicht blos der bezüglichen Temperatur gemäss beschleunigt, — sie beruht ja auf ihm —, sondern er ist auch verändert. Der Harnstoff, die Harnsäure sind, jedoch nur in dem Verhältnis, in welchem sie auch im gesunden Leben zu einander stehen, vermehrt; aber der Harnfarbstoff, das Urobilin, ist nach Jaffe, manchmal bis auf das gofache seiner normaler Weise ausgeschiedenen Menge gestiegen. Ebenso ist nach Salkowski die Kreatinin- und Kaliausscheidung durch den Urin, sowie nach Koppe der Gehalt des letzteren an Ammoniak, zum Teil sogar um ein ganz Erhebliches, grösser geworden. Auch die Kohlensäureabsonderung hat zugenommen, und zwar nicht selten, wie z. B. im Typhus, um ı13—15°/o. Statt 730-750 gr werden 800—850 gr davon in 24 Stunden ausgeatmet. Dagegen hat sich die Ausscheidung des Natrons, des Chlors in sehr auf- fälliger Weise, die der Phosphate wenigstens stark vermindert. Das Verhäitnis, in welchem die verschiedenen der genannten Ausscheidungsstoffe regelrechter Weise unter einander stehen, hat sich damit bald mehr, bald weniger verschoben. Woran das liegt, mag unerörtert bleiben; allein unter allen Umständen weist es darauf hin, dass der Stoffwechsel ein von der Norm abweichender, ein abwegiger und der ihm zu Grunde liegende, ihn ausmachende Verbrennungsprozess ein anderer, mehr oder weniger sich in fremden Bahnen bewegender geworden oder auch gewesen ist. Das Auftreten sonst nicht bemerkbarer Riech- stoffe im Harn, in der Ausathmungsluft, in den Hautausdünstungen, in den Darmgasen legt ein weiteres Zeugnis dafür ab. Die Fieberwärme, Fiebertemperatur ist danach aber nicht nur Ausdruck eines gesteigerten, sondern auch eigenartigen, d. h. von dem Gewöhnlichen abweichenden Verbrennungsvorganges der Körperbestandteile. Sie ist Ausdruck eines erhöhten, zu- gleich aber abwegigen und darum fremdartigen, darum aber auch wieder krankhaften Ernährungszustandes, einer Paratrophie des Gesamtorganismus, und ist darum endlich eine Parathermosie. Hierdurch unterscheidet sie sich eben von der einfachen Über- hitzung, der blossen der Hyperthermosie, und ist der Unterschied auch nicht haarscharf, so ist er doch immerhin so erheblich, dass in charakteristischen Fällen er deutlich wahrgenommen werdenkann. Jede Hyperergasie, jede Hypergasie enthält parergastische Beimischungen. Es ist undenkbar, und die Erfahrung hat es 177 gelehrt, dass eine Bewegung beschleunigt, dass sie verlangsamt werden kann, ohne dass sie sich dabei in ihrer Form veränderte: Die Wellen des Meeres, die Wellen des kochenden Wassers, die Wellen der Luft, die auf ein Blatt Papier verzeichnet werden, die Entwickelung der Chladni’schen Klangfiguren, jeder Kreisel, jede rollende Kugel, jeder Gährungs-, jeder Fäulnisprozess, die letzteren namentlich in ihren Produkten, von Brot und Kuchen, von Bier, Wein und Branntwein angefangen, bis zum eklen Fleisch, das im Eiskeller oder in der warmen Küche in Zer- setzung geraten ist, bezeugen dies zur Genüge. Jede Hyper- thermosie, jede Hypothermosie muss deshalb auch zugleich eine Parathermosie sein. Aber a potiore fit denominatio. Herrscht das hyper- oder hypergastische Moment vor, so Hyper- oder Hypothermosie; tritt besonders das parergastische Moment in die Erscheinung, so Parathermosie. In Folge dessen sehen wir denn auch insbesondere Hyperthermosien leicht in Parathermosien über- gehen. Die einfache Überhitzung wird zum Fieber, das wieder, wenn die Ursachen jener nicht in Wegfall kommen, sie nur steigert und so den bekannten Circulus vitiosus bilden hilft, der jede Krankheitsentwickelung gewissermassen beherrscht. Der Hitzschlag, nicht Sonnenstich, liefert dafür den besten Beweis. Ist die Fieberwärme dem Allen nach auch wohl eine eigen- tümliche, eine Parathermosie, so ist sie der Hauptsache nach doch eine Hyperthermosie, und das ist es, was mir am Herzen lag, erst festzustellen. Dasselbe lässt sich mutatis mutandis in Bezug auf die Collapstemperaturen sagen. Sind auch sie bald mehr bald weniger Parathermosien, das Wesentlichste an ihnen ist und bleibt doch, dass sie Hypothermosien sind. Ganz ab- gesehen von all den Erfahrungen und den etwaigen, daraus ent- springenden Bedürfnissen, welche zu den eben angestellten Er- örterungen geführt haben, sollen im Folgenden darum alle Temperaturen des menschlichen Körpers über 37,5° C. einfach als Hyperthermosien, alle unter 37,5° C. als Hypothermosien be- zeichnet werden. Für den beabsichtigten Zweck kann das nur zur Klärung der Sachlage beitragen. Die gesunde menschliche Körperwärme, die Euthermosie des Menschen von 37,5 C., ist, wie die Erfahrung gelehrt hat, im grossen Ganzen stets dieselbe. Der Mensch gehört wie die Hauptmasse der Säugetiere und Vögel zu den homöothermen 12 178 Geschöpfen Bergmann’'s. Es kann zwar bei Herrschaft hoher Temperaturen der Umgebung, die über die Körperwärme hin- ausgehen, diese selbst eine Steigerung erfahren; sie erfährt eine solche auch, und zwar um so sicherer, je höher jene sind, je besser diese selbst die Wärme leitet und die Verdunstung der Körper- ausdünstungen hindert. Ebenso kann auch die Körperwärme mehr oder minder tief unter die Norm sinken und sinkt auch ebenfalls um so gewisser unter dieselbe, je tiefer die Tempera- tur der Umgebung unter jener steht, je besser die Elemente derselben die Wärme leiten und die Entweichung der Körper- ausdünstungen befördern. Allein zunächst leistet die Körper- temperatur, so zu sagen, noch Widerstand gegen die Temperatur der Umgebung. Sie bleibt fürs erste immer noch niedriger als die höhere Temperatur der Umgebung, und höher als die niedrigere derselben, sich so viel als möglich um 37,5° C. haltend, obgleich das Gesetz der Wärmeausgleichung dabei seine volle Geltung behält. Ganz besonders zeigt sich dies bei den niedrigeren Temperaturen der Umgebung. Während bei den höheren derselben, wenn sie anhalten, die Körpertempera- tur sehr bald steigt und sich ihnen nähert, weil die dem letzteren zu Grunde liegende, stets neugebildete Wärme nicht entweichen kann und sich darum je länger je mehr häuft, so hält sich bei niedrigen Temperaturen der Umgebung die Körper- temperatur verhältnismässig lange auf wenigstens annähernd gleicher Höhe der Normaltemperatur. Eine Temperatur der Umgebung von 42,0° C.—45,0° C., die also nur 5,0°—7,0° höher ist, als die normale Körpertemperatur, dürfte sich von dem Durchschnittsmenschen nicht über ein, zwei Stunden er- tragen lassen, ohne ihn in die grösste Gefahr zu bringen oder gar zu töten. Wird die Umgebung von Wasser gebildet, stellt sie z. B. ein Bad dar, so kann der Mensch eine Tempe- ratur von 45,0° C. sogar nur 10o—ız Minuten aushalten ohne in Lebensgefahr zu geraten. Denn steigt seine eigene Tempe- ratur über 42,0° C., so tritt bald Herzlähmung ein. Eine Tem- peratur der Umgebung, die 20,0 °—30,0° C. und noch niedriger ist, als die in Rede stehende Körpertemperatur, wird dagegen in der Regel ohne besonderen Nachteil ertragen und zwar weil die Körpertemperatur auf wenigstens annähernd 37,5 °, d.h. 36,0, 35,0, 33,0°C. erhalten wird und nur in ganz besonderen Fällen 179 tiefer sinkt. Selbst Temperaturen der Umgebung unter 0,0°C., können, wie die alltägliche Erfahrung lehrt, noch ganz gut aus- gehalten werden, natürlich aber nur um so kürzere Zeit, je niedriger sie sind, weil die Körpertemperatur auf einer die Lähmung der wichtigsten Körperorgane, namentlich des Nervensystems, aus- schliessenden Höhe erhalten bleibt. Eine grosse Rolle spielt dabei wieder die Natur der Umgebung, und in dem die Wärme gut leitenden Wasser tritt die bezügliche Abkühlung wieder leichter und früher ein, als in der die Wärme im Ganzen schlecht leitenden trockenen Luft. Allein auch in sehr kaltem, selbst Eis haltendem Wasser kann doch diese Abkühlung, wie vor- nehmlich die Geschichte Schiffbrüchiger in den späten Herbst- und Wintermonaten lehrt, erst nach ı0, ı2, 20 Stunden erfolgen. Das Alles weist darauf hin, dass im Körper des Menschen wie der homöothermen Tiere ein Apparat, ein Organ, thätig sein muss, welches die Temperatur desselben, beziehentlich den ihr zu Grunde liegenden Verbrennungsvorgang so regelt, dass jene trotz der mannigfach wechselnden Temperaturen der Umgebung immer auf wenigstens annähernd 37,5° C. erhalten wird. Es weist das darauf hin, dass durch diesen Apparat die Ver- brennungsvorgänge, also der Stoffwechsel überhaupt, erhöht, beschleunigt wird bei äusserer Kälte, dass er dagegen herab- gedrückt, verlangsamt wird bei äusserer Wärme. Dieser Apparat ist das Nervensystem und wohl das ganze Nervensystem, wenn auch seine Anfänge oder Ursprünge an der äusseren und inneren Oberfläche, beziehentlich in dem Paremchym der einzelnen Organe, als Anfänge oder Ursprünge seiner centripetalen Abteilung, d. i. seiner receptiven oder sensibelen Sphäre, und daneben der Über- gang dieser letzteren in seine centrifugale Abteilung, d. i. seine reactive oder trophische, mithin auch motorische und sekreto- rische Sphäre, am Ende die vornehmste Bedeutung in demselben haben mögen. Die Temperatur der Umgebung wirkt als Reiz und zwar in einer gewissen Breite, die zwischen + 45,0° C. und — 10,0, 15,0, — ?”C. liegt, als ein um so stärkerer, je niedriger sie ist. Dieser Reiz wird von den Aufnahme- oder Receptionsapparaten desNerven- systemes aufgenommen, recipiert, wird durch die aus ihnen ent- springenden centripetalleitenden Nerven nach dem Centralnerven- system geleitet, in dessen dem Bewusstsein dienenden Abteilung er 12* 180 zu einer Empfindung oder Wahrnehmung wird, um dann durch die centrifugalen Nerven nach den Bethätigungs- oder Reactions- apparaten geführt zu werden, in welchen, oder vielmehr besser gesagt, mit welchen sie enden. In diesen Organen, beziehungs- weise deren Zellen, wird dadurch zunächst eine der Reizstärke oder auch dem Wechsel in derselben entsprechende Veränderung im Gange ihrer Ernährungsarbeit, des sogenannten Stoffwechsels, hervorgerufen. Derselbe wird beschleunigt oder verlangsamt, und zwar jenes mehr bei Abkühlung, dieses mehr bei Erwär- mung der Umgebung. Der entsprechende Ernährungs- oder Stoffwechselsvorgang, ein atomistisch-molekularer, wächst in der Regel bald so an, dass er als molarer in die Erscheinung tritt, und mehr oder minder ausgiebige Muskelbewegungen, die sich in Zittern und Schauern des ganzen Körpers, in Zähneklappen, Schütteln, Stampfen, Springen, Laufen, an den Tag legen, so- dann beschleunigte Atmung, beschleunigte Absonderungen, namentlich seitens der Nieren, aber wohl auch der Leber, der Magen- und Darmdrüsen, wofür der gute Appetit und die treff- liche Verdauung in der Kälte zu sprechen scheinen, sind die Folgen davon. Bei all’ diesen Vorgängen wird nun, wie wir wissen, Wärme erzeugt und inumso höherem Masse, je energischer sie sich abspielen. Kälte steigert die bezügliche Energie; aber wie jedermann an sich selbst wohl erfahren hat, jedenfalls in strengem Winter leicht erfahren kann, geht sie über ein gewisses Mass hinaus, so bewirkt sie das Gegenteil. Strenge Kälte, zu- mal wenn sie längere Zeit ihren Einfluss ausübt, wirkt hemmend auf die genannten Vorgänge ein. Es entwickelt sich ein läh- mungsartiger Zustand, meist geradezu als Lähmung bezeichnet; die Wärmebildung lässt nach, die Körperwärme sinkt. Und wird die Kälte noch strenger, oder währt ihre Einwirkung noch länger an, so führt jener lähmungsartige Zustand in den Tod hinüber. Die näher bezeichneten Vorgänge werden, weil die ihnen zu Grunde liegenden Thätigkeiten aufgehoben werden, selbst auf- gehoben. Es tritt Ruhe ein, das Tier, der Mensch stirbt. Was die Temperatur der Umgebung, die Kühle, die Kälte derselben thut, das thut jeder andere Reiz. Ein mehr oder minder starker Schlag, Stoss, Druck, ein entsprechender Knall, Blitz, Duft, Geschmack, rufen je nach der Stärke, mit der sie einwirken, eine grössere oder geringere Wärmesteigerung ins Sein. Dunst Dasselbe haben damit natürlich auch alle sogenannten Schädlich- keiten zur Folge, welche gerade zur Wirkung gelangten, ins- besondere Gifte, die je nach der Menge, in welcher sie zur Wirkung kamen, die Lebensthätigkeit selbst erhöhen oder herab- setzen, die Körperwärme damit steigern oder erniedrigen und demgemäss sich als Heilmittel oder als Gifte im engeren Sinne des Wortes erweisen. Unter den Giften sind es wieder hauptsächlich die organischen und unter ihnen die die sogenannten Infections- krankheiten verursachenden, welche in dieser Beziehung vorzugs- weise die Aufmerksamkeit in Anspruch genommen haben, und nach den heute gäng und gäben Anschauungen von Mikrobien, aber wohl auch das eine oder das andere Mal von dem eigenen Körper bereitet werden. Es sind das die Ptomaine, Toxine, Leukomaine u. s. w. Werden diese Gifte in die Säftemasse des Körpers auf- genommen, so entstehen je nach ihrer Art verschiedene entzünd- liche Krankheiten, Scharlach, Masern, Pocken, Rotlauf, Diphthe- ritis, Typhus, Cholera, Ruhr, Lungen- und Leberentzündungen, Entzündungen der Knochen, Muskeln, des Unterhautzellgewebes u. dgl. m. und mit allen diesen eine für sie mehr oder weniger charakteristische Steigerung der Körperwärme, ein Fieber. Dieses Fieber, oder vielmehr blos diese Fieberwärme, Fieber- hitze, ist um so höher, je grösser caeteris paribus die Menge oder Stärke des aufgenommenen Giftes war, und je grösser nach Intensität oder Extensität oder auch beiden zusammen die entzündlichen Zustände wurden, welche sie nach sich zogen. Aus der Höhe des Fiebers und heutigen Tages vornehmlich aus der der Fieberwärme, zieht der Arzt, natürlich wieder caeteris paribus, seine Schlüsse in Bezug auf die Schwere der jeweiligen Vergiftung und ihrer Folgen. Ist das Fieber stark, seine Temperatur hoch, so war die bezügliche Vergiftung schwer und zu ausgedehnten entsprechenden Ernährungsstörungen führend; ist dagegen das Fieber nur,schwach, seine Temperatur niedrig, so war die in Betracht kommende Vergiftung auch nur leicht und die durch sie herbeigeführten Ernährungsstörungen unbedeutend. Die Erfahrungen, welche mit dem Tuberculinum Kochii gewonnen worden sind, bestätigen das vollständig, so gut wie ein Experiment. Kleine Dosen, von 0,0005—0,001, steigern unter Umständen auch bei gesunden Menschen die 182 Körperwärme; grössere, von 0,00I —0,0015—0,002, rufen bei Tuberkulosen mehr oder weniger heftiges Fieber hervor; noch grössere führen zu Collaps und selbst zum Tode. Die Vac- cination thut, mutatis mutandis, so ziemlich dasselbe. Das Fieber, die Fieberwärme der Infectionskrankheiten hat so eine doppelte Ursache, ı. Die Reizung des Organismus durch die eingeführten Gifte und 2. die durch diese letzteren hervorgebrachten Ent- zündungen. Denn jede Entzündung, und um so deutlicher je schneller sie sich entwickelt, je akuter sie auftritt und verläuft, ist von Fieber begleitet. Die nach einfach mechanischen Ver- letzungen, nach Quetschung, Druck, Stoss, Schlag, nach Ver- brennung, Erfrierung auftretenden beweisen das. Jede Entzün- dung, jeder Entzündungsheerd stellt einen die Körperwärme beeinflussenden Reiz dar, und, je nachdem, wird er wie jeder andere Reiz, also auch die Temperatur der Umgebung, sich in Bezug auf sie geltend machen. Von dieser letzteren jedoch wissen wir, dass sie die Wärmebildung des Körpers um so höher steigert, je stärker sie bis zu einem gewissen Grade auf den Körper selbst reizend einwirkt, dass sie danach indessen die gedachte Wärme wieder mehr und mehr herabsetzt, indem sie die Bildung derselben hemmt. Bringen wir das in eine bestimmte Formel, so würde die- selbe etwa lauten: Kleine Reize fachen die Wärmebildung des Menschen wie nachweislich jedes homöothermen Tieres oder Wesens an; grössere Reize beschlew- nigen die Wärmebildung, noch grössere dagegen setzen sie herab, und über diese letzteren hinausgehende vernichtensie ganz. Aufdas biologische Grundgesetz übertragen würde das aber nun heissen: Kleine Reize fachen die Lebens- thätigkeit an, mittelstarke fördern sie, starke hemmen sie, und stärkste heben sie auf. Auch die Wärmebildung, die Wärme der Organismen, namentlich des Menschen, wie der homöothermen Wesen schlechthin, würde somit blos zur Be- stätigung desselben beitragen. Natürlich ist auch hierbei ganz individuell, was als ein schwacher, was als ein starker Reiz zu betrachten ist. Für schwache, widerstandslose und darum mehr oder minder reiz- bare Persönlichkeiten, Kinder, Greise, sind schon Reize stark zu nennen, die für kräftige und darum widerstandsfähige Personen, Mh a 183 gesunde Männer, nur als schwache, vielleicht auch einmal als mittelstarke zu gelten haben. Auch ist die Widerstandsfähigkeit ein und desselben Menschen nicht zu allen Zeiten dieselbe. Die bei verschiedenen Menschen und bei den nämlichen zu ver- schiedenen Zeiten verschiedene Neigung zu sogenannten Er- kältungen, welche im Wesentlichen nichts Anderes als Über- reizungen durch Abkühlung sind, finden hierdurch ihre Erklärung. Reizbare Persönlichkeiten, Frauen, zarte junge Männer, sogenannte nervöse Individuen, pflegen vielfach eine grössere als die Durchschnittswärme zu besitzen. Das Tagesmittel ihrer Temperatur beträgt 37,6%, 37,7°, selbst 37,8° und leicht geht es einmal über 38,0°C. hinaus. Schwächliche, nervöse, reizbare Menschen fiebern leicht, und ihr Fieber nimmt auf den geringsten Reiz hin bald einen hohen Grad an; 40,0°, 41,0°, 42,0°C. treten zumal bei nervösen Persönlichkeiten rasch auf, freilich um in der Regel auch ebenso rasch wieder zu verschwinden. Bei eben solchen Persönlichkeiten führen darum auch stärkere Reize gar nicht selten zu einer auffallenden Temperaturerniedrigung, und derselbe Reiz, welcher vielleicht erst eine Temperaturer- höhung bis auf 40,0%, 41,0°C. und darüber herbeigeführt hat, bewirkt durch Hemmung ein Absinken derselben bis auf 31,0, 30,0°C. und darunter. Bei den an allgemeiner progressiver Paralyse leidenden Kranken, welche nach den leichtesten In- sulten, den oberflächlichsten Erkältungen, oft ein lebhaftes Fieber zeigen, dessen Temperatur bis auf 41,0°C. und darüber steigen kann, kommen bei schwereren Verletzungen, die sie er- fahren haben, ganz aussergewöhnlich niedrige Temperaturen vor. Bechterew beobachtete solche von 27,5°C., ich selbst solche von 27,0°C. und 25,5°C. in der Achselhöhle. In meinen beiden Fällen waren Lungenentzündungen, die zum Tode führten, die Ursache davon. Und dasselbe fand statt in einigen anderen Fällen, in welchen indessen die Temperatur nicht so tief, sondern Dur bis auf 73,02 220.@,, in, den letzten Tebenstagen «e- sunken war. Was eine Lungenentzündung macht, macht gelegentlich auch eine stärkere Darmreizung, machen Entzündungen, akute Verschwä- rungen, namentlich des Dickdarms. Die sogenannten subnormalen Temperaturen, welche dergleichen Zustände begleiten, sind dann auch nieht als Ausdruck einer Lähmung, sondern als einer zu 184 starken Reizung in einem heruntergekommenen, schwachen, widerstandslosen Organismus aufzufassen. Der betreffende Or- ganismus ist allerdings zur Erlahmung geneigt; aber er ist noch nicht erlahmt. Denn eine Erlahmung oder, des besseren Ver- ständnisses wegen, Erlahmtheit, schliesst all’ und jede Funktion aus. Allein auf Grund einer sich ausbildenden, einer beginnenden Lährnung, treten leicht krampfartige Zustände ein, welche jede energischere Funktion behindern, hemmen, und das hat in den bezüglichen Fällen wohl alle Mal statt. Die Temperatur- erniedrigung in der Cholera um 2,0° bis 3,0°C. unter die Norm wird so wohl nur durch die erwiesene starke Darmentzündung verursacht, welche den von den Kranken so viel beklagten innerlichen Brand bedingt, und der Umstand, dass bei Cholera- kranken kurz vor dem Tode, also wenn der Darm nicht mehr in der bisherigen Kraft auf den Gesamtorganismus wirken kann, und der von ihm eingeleitete und danach für einige Zeit gewisser- massen festgehaltene Verbrennungsprocess sich nunmehr gleich- sam von selbst macht, der Umstand, dass da wieder eine Temperaturerhöhung eintritt, spricht wohllediglich dafür. Alle so- genannten prämortalen und postmortalen Temperatursteigerungen lassen sich in gleicher Weise vielleicht am leichtesten erklären. Die voraufgegangene Hemmung der Wärmebildung lässt nach; der eingeleitete bezügliche Chemismus vollzieht sich von selbst. Die Körperwärme, Ausdruck der Lebensthätigkeit, wie immer sie sich auch zur Wahrnehmung bringt, folgt dem Allen nach lediglich dem biologischen Grundgesetze. Auch für sie gilt: „Kleine Reize fachen die Lebensthätigkeit an; mittelstarke fördernsie, starke hemmen sie, und stärkste heben sie auf.“ 185 8, | Die Psyche und das biologische Grundgesetz. Was die Psyche ist, wissen wir nicht. Wir verstehen dar- unter das Etwas, durch welches die Wesen, denen wir es zu- schreiben, sich ihrer bewusst werden, indem sie durch die Reize der sie umgebenden Welt getroffen, diesen entsprechend empfinden, fühlen, sich regen. Was wir Psyche nennen, ist also wesentlich das Etwas, das wir als Bewusstseinsträger schlecht- hin ansehen, das die mit ihm ausgerüsteten Wesen gleichsam aus der übrigen Welt heraushebt, über dieselbe erhebt. Dieser Bewusstseinsträger schlechthin entwickelt sich indessen mit jedem Individuum, dem er eignet, wie dieses selbst. Er ist ein Produkt seiner Entwickelung und damit denn auch offenbar Produkt der Thätigkeit seiner Substanz. Die Substanz der Bewusstsein besitzenden Wesen, all’ derjenigen also, welche be- fähigt sind, sich ihrer jemals bewusst zu werden, trägt demnach in ihren Bestandteilen wenigstens die Elemente, die Bedingungen dazu, dass sie sich ihrer bewusst werden können. Das Bewusst- sein oder auch blos die Möglichkeit sich ihrer bewusst werden zu können, muss darum wieder an diese Bestandteile, beziehungs- weise die Elemente, aus denen sich dieselben zusammensetzen, geknüpft sein. Das Bewusstsein, die Möglichkeit sich seiner jemals bewusst werden zu können, muss deshalb eine Eigen- schaft dieser Elemente, beziehentlich ihres Zusammenwirkens sein, ist darum als eine Funktion der Wesen anzusehen, welche aus ihnen und ihrem Zusammenwirken hervorgegangen sind. Ein besonderes Etwas als Träger dafür ist nicht erwiesen; es ist nur angenommen. Die Psyche ist somit als etwas Besonde- res, vom übrigen Sein der bezüglichen Wesen Getrenntes auch Dicht zu erachten; sie kann nur als eine Funktion derselben, wie 186 etwa die Wärme, welche jene Wesen auch bilden, angesehen werden. Und Wärme und Psyche stehen sogar in einem un- verkennbar nahen Zusammenhange. Ja, wenn wir die bezüg- lichen Wärmeäquivalente, Motionen und Sekretionen, ins Auge fassen, so ist dieser Zusammenhang sogar ein sehr inniger. Gewisse psychische Vorgänge werden geradezu in jene Aqui- valente umgesetzt und, werden diese in ihrer Art sich zu be-. thätigen verhindert, so in die Wärme, die ihnen äquivalent ist. Es ist allerdings schwer, ja kaum, es ist gar nicht zu be- greifen, wie die Bestandteile, aus denen Bewusstsein entwickelnde Wesen zusammengesetzt sind, dieses Bewusstsein hervorbringen sollen. Denn die fraglichen Bestandteile sind erwiesenermassen rein stoffliche, sind rein materieller Art, wie die Bestandteile aller sonstigen sinnlich wahrnehmbaren Wesen. Eine Reihe von Forschern hat deshalb auch angenommen, den materiellen Stoffen, aus denen die sinnlich wahrnehmbare Welt besteht, komme Bewusstsein, wenn auch nur in seinen allerersten An- fängen zu, und jedes materielle Atom enthalte in sich die Be- dingungen wie zur Schwere, zu der Elektrizität, der Wärme, dem Lichte, dem Chemismus, so auch zum Bewusstsein, bezie- hentlich der Psyche. Andere, denen das nicht wohl möglich erschien, und unter diesen Lotze, nahmen neben den materiellen Atomen noch Seelenatome an, aus deren Verbindung mit den ersteren das, was wir Leben nennen, entstehen sollte. Als Aus- druck desselben sollte dann nach einer gewissen Richtung hin das Bewusstsein oder auch die Psyche überhaupt entstehen, die, wenn das Leben bedeutungsvoll gewesen wäre, wohl auch nach demsel- ben erhalten bleiben könnte, sonst aber mit ihm zu sein aufhörte. Noch Andere, also Dritte, welchen auch die Lotze’sche Auf- fassung nicht Genüge schafft, und die den Begriff Psyche enger fassen, sehen- in ihr etwas von dem Materiellen, dem Körper des jeweiligen Wesens, durchaus Verschiedenes, wenn ihn viel- leicht auch gänzlich Durchdringendes. Kurzum, was die Psyche ist, wie sie, beziehungsweise das Bewusstsein aus der Materie ent- stehen sollen, entstehen können, wissen wir nicht und werden wir auch wohl niemals wissen. Es erscheint das Bewusstsein als Produkt der Materie uns geradezu unbegreiflich. Nichtsdestoweniger sind die Bewusstseinsvorgänge doch alle an das Materielle, den Körper der bezüglichen Wesen 187 geknüpft und bringen sich nur durch diesen sowohl subjektiv als auch objektiv zur Geltung. Die Gesetze, nach denen sich alle materiellen Vorgänge in den betreffenden Wesen vollziehen, müssen deswegen auch für sie massgebend sein, wenigstens in ihrer Bedeutung für uns. Um sie einigermassen richtig zu be- urteilen, haben wir wenigstens kein anderes Mittel als die materiellen Vorgänge, durch welche sie veranlasst werden, und welche sie selbst der herkömmlichen Auffassung nach veranlassen, durch welche sie sich also bemerklich machen, und nach denen sie auch von all’ und jedermann seither beurteilt worden sind. Alle Bewusstseinsvorgänge, alle Bewusstseinszustände lassen sich auf ein blosses Fühlen, und zwar ein Sich-fühlen, ein Sich- selbst-fühlen in Bezug auf etwas Anderes zurückführen. Jede Empfindung, jede Wahrnehmung ist ein Sich-fühlen, Sich-selbst- fühlen und darum ein Selbst- oder auch schlechthin Gemein- gefühlszustand, ein Selbstempfinden, ein Selbstbewusstsein gegen- über dem Reize, welcher es hervorgerufen hat und erhält, und zwarzunächst blos insofern, als er eshervorgerufen hat und unterhält. Jedes Streben und damit auch jeder Trieb, jede Absicht, jeder Wille ist aber darum auch nichts Anderes als dieser nämliche Selbst- oder auch blos Gemeingefühlszustand, dieses Selbstempfinden, dieses Selbstbewusstsein in Bezug auf den genannten Reiz, und zwar inso- fern als es von ihm angezogen oder abgestossen wird, als es ihn er- strebt oder abwehrt, haben oder nichthaben will. Jede Aeusserung, Bethätigung, Handlung, mithin aber auch jedes Wort und was diesem zu Grunde liegt, jeder Gedanke, jeder Begriff, ist nur der Ausdruck davon, die beiden letzteren der subjektive, die ersteren der objektive. Anziehend, weil angenehm, wirken alle sogenannten mittel- starken Reize, abstossend, weil unangenehm, belästigend, widrig, schmerzend, alle starken. Der Duft der Rose, eines ganzen Rosen- bukets, ist angenehm; reines Rosenöl wirkt belästigend, widrig. Der leichte Thrangeschmack des Kaviar macht diesen zum Leckerbissen; Thran selbst ist unausstehlich. Den zarten Gesang eines wohlerzogenen Kanarienvogels hören wir mit Vergnügen; vor dem wilden Geschmetter eines sogenanten Natursängers halten wir uns die Ohren zu. Dem milden Morgen- und Abend- licht, vornehmlich im Frühling und Herbst, kommt etwas Er- quickendes, Labendes zu; das grelle Mittagslicht im Hochsommer 188 lässt uns halb die Augen schliessen. Auch das sanfte elektrische Glühlicht hat etwas Angenehmes, während das starke Bogen- licht, das volle Sonnenlicht schmerzt. Das sanfte Streicheln, Drücken der Haut wirkt wohlthuend ein; starkes Reiben, Quetschen, Kneifen derselben thut weh. Liebe und Hass sind demnach auch nicht Gegensätze, sondern lediglich Stufen, Phasen in der Stärke einer bestimmten Erregungsrichtung. Daher geht die Liebe auch so oft in Hass über, und kehrt der Hass, wenn er eine Zeitlang ohne Nahrung geblieben ist, wieder in Liebe, wenn auch nicht von alter Stärke, zurück. Liebe und Hass sind somit auch kein Geheimnis mehr. Magnetes Geheimnis ist ge- schwunden und das von Liebe und Hass auch. Wenn jede Empfindung, jede Wahrnehmung nur ein Selbst- oder Gemeingefühlszustand und damit ein Gefühl überhaupt ist, wofür die, wie die älteren Psychologen sagten, sie begleitenden oder betonenden Gefühle, die durch sie erzeugten Lust- oder Unlustgefühle, sprechen, — in Wirklichkeit liegt es indessen wohl so: Ein Reiz ruft je nach seiner Stärke, seiner Quantität ein Lust- oder Unlustgefühl hervor, das je nach seiner Qualität zu dieser oder jener Empfindung oder Wahrnehmung wird, die wohl in der Betrachtung, nicht aber thatsächlich von jenen zu trennen ist, da sie beide immer nur zusammen, als ein untrenn- bares Ganze vorkommen, — wenn also jede Empfindung und Wahrnehmuug nur ein besonderes, durch den ihnen zu Grunde liegenden Reiz bedingtes Gefühl ist, so müssen auch die ab- strakten Vorstellungen es sein, welche von ihnen zurückbleiben, aus ihnen sich entwickeln. Denn im Grunde sind diese ab- strakten Vorstellungen nichts Anderes als solche Empfindungen und Wahrnehmungen minus des bezüglichen, ich will einmal zum besseren Verständnis sagen, adäquaten Reizes, während die Empfin- dungen und Wahrnehmungen selbst nichts als solche Vorstellungen plus eben desselben ‚Reizes sind. Alle Vorstellungen aber, wie beschaffen sie auch sonst sein mögen, sind mithin auch blosse Gemeingefühls-, Selbstgefühlszustände oder auch Gemeingefühle, Selbstgefühle schlechtweg und zwar in ihrer Beziehung zu dem Reiz, welcher sie in das Leben rief und dabei anziehend oder . abstossend wirkte, ein scheinbar aktives Streben nach ihm oder von ihm weg, d. i. ein Begehren oder Abwehren desselben bedingte. Das Wort jedoch, als Zeichen dafür, das auch durch 189 andere Zeichen, Schreie, Gesten, Minen, Marken an Steinen, Bäumen, Wegen, am Erdboden, auf Holz, Papier, ersetzt werden kann, ist nur, wie das ja auch zum Teil längst anerkannt wird, eine Aeusserung dieses Zustandes, um einem Anderen denselben in allen seinen Beziehungen zu erkennen zu geben.‘ Durch das Zu- sammenleben mit Anderen ist das Zeichen dann durch eine Art stillschweigenden Uebereinkommens gewohnheitsmässig geworden; zur Bezeichnung desselben Gemeingefühlszustandes ist es dann von sämtlichen Beteiligten gebraucht worden. In der weiteren Entwickelung ist darauf wieder zur möglichst genauen Bezeichnung des betreffenden Gemeingefühlszustandes, um ihn von sehr ähnlichen unterscheiden lassen zu können, das Wort gewissermassen auseinandergelegt, die durch dasselbe gege- benekomplexe Bezeichnung noch durch andere spezialisiert worden. Es entstand so die Sprache, Sprache in dem Sinne, wie der Begriff derselben von den Anhängern einer dualistischen Welt- anschauung gebraucht zu werden pflegt. Mit der Begriffsbildung von vornherein, so, als ob diese ihr erst hätte voraufgehen müssen, hat die Sprache wohl nichts zu schaffen. Denn dass sie erst möglich geworden sei, nachdem sich Begriffe gebildet hätten, beruht wohl auf irrtümlichen Beurteilungen einer Reihe von sprachlichen Vorgängen. Die Begriffe dürften sich im Gegenteil erst mit der Sprache entwickelt haben. Zuerst ist immer, wie das auch noch heut zu Tage jede individuelle Ent- wickelung lehrt, blos ein Concretum, ein durch dasselbe hervor- gebrachter Gemeingefühlszustand — auf den kommt es immer an — durch das Wort bezeichnet worden, und erst nach und nach sind mehrere solche gleichartige oder sich auch blos ähnelnde Concreta, beziehentlich Gemeingefühlszustände unter demselben Zeichen, d. i. demselben Worte, begriffen worden. Dass mit der entwickelten Sprache und deren Lehre es sich gegenwärtig anders verhält, ist dem nicht entgegen. In- dessen das Wort, obwohl es nach wie vor dasselbe Zeichen geblieben ist, hat auch seinen ursprünglichen Wert bedeutend verändert. Es stellt sich beim Sprechen ein, ohne dass nach ihm gesucht, geschweige denn der Begriff in das Auge gefasst wird, den es bezeichnet. Jeder, auch nur einigermassen ge- wandte Redner weiss das. Er hält seine Rede und, nachdem er sie gehalten, ist gegebenen Falls er ebenso wie seine Zu- 190 hörer mit dem in ihr Gesagten zufrieden und nicht selten sogar darüber erstaunt, wie er zu allen den Worten gekommen ist, die sich ihm einstellten. Sie kamen ihm eben von selbst. Ja sogar über die einzelnen Gedanken, welche er in diese Worte kleidete, weiss er sich nicht Rechenschaft zu geben, weder wie sie kamen, noch woher sie kamen. Sie waren auf einmal da, und er wurde sich ihrer erst beim Aussprechen bewusst. Nicht er hatte die Gedanken, sondern die Gedanken hatten ihn, habe ich einmal bei einem. modernen Schriftsteller gelesen, und das passt so recht eigentlich auf jeden Redenden, jeden Sprechenden, und um so mehr, je besser er redet, je besser, d. h. je schnellere, gewandter er spricht. Der unerwünschte Umstand, dass ein sogenanntes unbedachtes Wort entflieht, das, so zu sagen, gar nicht beabsichtigt war und doch sich gar nicht selten durch das ganze Leben rächt, spricht nur dafür. Allein, was dem Redner unter allen Umständen zum guten Sprechen notthut, das ist ein gewisser erregter Gemeingefühlszustand, ein in bestimmter Richtung, weil durch bestimmte Reize erregtes und damit ver- stärktes Ichgefühl, das sich in einem bestimmten Interesse zu erkennen giebt. Daher auch der alte Satz: Pectus est, quod disertum facit! Damit jedoch würde in der That alles bewusste Leben, das ganze psychische Sein und Wesen, auf nichts Anderem, als einem blossen Fühlen, einem Sich-selbst-fühlen, und zwar entsprechend den aus der Umgebung und ihren Verhältnissen wirkenden Reizen beruhen. Und in Wirklichkeit kann ich denn auch nichts Anderes in ıhm erkennen! Denn alles psychische Leben is‘ lediglich das Aeussern eines Selbsgefühls, eines sich fühlenden Selbst, eines Ich’s. Wie das in Folge der Einwirkung, sit venia verbo, materieller Kräfte möglich ist, wissen wir eben nicht, ist auch gar nicht einzusehen, und deshalb werden wir es auch nie zu wissen bekommen; allein es ist nun einmal so. Das Selbstgefühl, das Gemeingefühl, aus dem das psychische Leben hervorgegangen ist, das Persönlichkeitsgefühl oder Ich- gefühl, zu dem es geführt hat, die aber alle im Grunde das- selbe sind, wie die zum Teil scherzhaften Ausdrücke: „Ich, ich selbst“, „Ich für meine Person“, „Ich, was mein hohes Selbst anlangt“ u. s. w. bezeugen, das Selbstgefühl also in seinen verschiedenen Modifikationen und Relationen, die wir an der Art und Weise, wie sie sich äussern, erkennen, bildet den Inhalt des psychischen Lebens. Von dem Selbstgefühl in dem an- gegebenen Sinne wissen wir jedoch durch E. H. Weber, dass Ess m = einem senauen ‚Verhältnisse zu) den Reizen‘ steht, welche dasselbe bestimmen. Das sogenannte psychophysische Grundgesetz oder Weber’'sche Gesetz, wie Fechner es genannt hat, besagt, dass, wenn in einer gewissen Breite, der der mittleren Reizgrössen oder Schwellenwerte, die Intensität der Em- pfindung um gleiche absolute Grössen zunehmen soll, der relative Reizzuwachs konstant bleiben muss, oder auch, dass ein Unterschied zwischen je zwei Reizen nur dann als gleich gross empfunden werden wird, wenn das Verhältnis derselben unverändert ein und dasselbe bleibt. Das Weber’sche Gesetz besagt so kurz, dass in einer gewissen Breite jeder Empfindungszuwachs proportional dem Reizzuwachs ist, und dass das Selbstgefühl sich damit ähnlich einem Manometer, Barometer, Thermometer, Elektro- beziehungsweise Galvanometer, Photometer u. dgl. m. verhält. Es hat dies Weber’sche Gesetz, wie gesagt, allerdings volle Gültigkeit nur in der Breite der mittleren Schwellenwerte, der mittelstarken Reize; vornehmlich in der Region der grossen Schwellenwerte, der starken Reize, ist der Reizzuwachs nicht mehr ganz proportional dem Empfindungszuwachs; sondern um denselben Empfindungszuwachs zu bewirken, muss der Reizzu- wachs immer grösser werden, bis dann schliesslich überhaupt durch Zunahme der Reizgrösse keine Zunahme der Empfindung mehr erzielt wird; allein im Grossen und Ganzen behält das Gesetz darum doch seine Gültigkeit. Man kann daher schlecht- hin auch immer sagen: „Der Empfindungszuwachs ist propor- tional dem Reizzuwachs.“ Das Selbstgefühl verhält sich somit gleichsam wie die Flüssigkeitssäule oder die Spiralfeder in jedem Kraftmesser, nainentlich wie letztere, die auch in der Region der höheren Grade der zu messenden Kraft immer stärker be- lastet werden muss, um gleiche Ausschläge des bezüglichen Zeigers zu bewirken, und es zeigt sich damit in keiner Weise abwegig von Vorkommnissen, welche auch sonst in der Natur Statt haben. Das Selbstgefühl, Ichgefühl, Ich, ist also von der Aussen- welt und ihren Reizen in ganz bestimmter, gesetzmässiger Weise 192 abhängig. Es wird in ihr in ganz bestimmter, gesetzmässiger Weise beeinflusst. Es ist gewissermassen das Dynamometer, beziehungsweise die Skala an demselben, durch welches das betreffende Wesen erfährt, wie und welche Kräfte der Aussen- welt auf dasselbe wirken. Weniger von der Art dieser Kräfte, gemeiniglich Reize genannt, als von der Stärke derselben hängt es ab, wie das Selbstgefühl, das Ichgefühl, das Ich eines Wesens berührt wird. Dasselbe kann gesteigert, erhöht, es kann herabgesetzt, ver- mindert werden; es kann ebenso auch eine Förderung und eine Hemmung erfahren. Denn Steigerung, Erhöhung und Förderung sind hier, d. h. in Betreff des Selbstgefühls nicht etwa Eins, ebenso wenig wie Herabsetzung, Verminderung und Hemmung; im Gegenteil ein gesteigertes, erhöhtes Selbst- oder Ichgefühl ist in der Regel ein gehemmtes, ein herabgesetztes, vermindertes ein gefördertes. Das gesteigerte, erhöhte Ich nur fühlt sich leicht gehemmt, das herabgesetzte, verminderte gefördert. Das erstere erscheint deshalb in seinen Äusserungen wie bedrückt, belastet, mehr oder minder nach Befreiung von dem bezüglichen Druck, der bezüglichen Last strebend; das letztere erscheint frei und ungebunden, in Gleichgültigkeit, Behaglichkeit, Heiter- keit, selbst Ausgelassenheit geniessend, was der Augenblick bietet. Das erstere wird damit zum melancholischen, melan- cholisch-cholerischen, cholerischen Ich, beziehungsweise Tempera- ment desselben, dies, das ist das letztere, zum phlegmatiseuzu phlegmatisch-sanguinischen, sanguinischen. Steigern sich die charakteristischen Züge der angeführten verschiedenen Formen des Ich’s oder Selbstgefühls, d. h. treten die Temperamente des letzteren schlechtweg immer stärker hervor, überschreiten sie die Breite des Gewöhnlichen, des Masses, das der Durchschnittszahl der Wesen gleicher Art eigen ist, werden sie damit aussergewöhnlich, krankhaft, so entsteht die Melancholie im engeren, landläufigen Sinne des Wortes, die Melancholia passiva, activa, der Furor, die Manie, die Mania sensu strietiore, die Chaeromanie, der Stupor. Die Melancholie ist das gehemmte Ich in des Wortes vollster Bedeutung, die Manie das geförderte Ich in demselben Sinne und der Stupor das 'aufgehobene, das wvernichtete, zu Grunde sc 193 gangene Ich, soweit dies eben der Fall sein kann, ohne dass der Tod des betreffenden Wesens erfolgt ist. Was man im gewöhnlichen Leben, in der schönen Literatur ein vernichtetes, ein zu Grunde gegangenes Ich .nennt, ist etwas Anderes. Darunter wird ein verzweifeltes, tief niedergeschlagenes, zum Tode bedrücktes Ich verstanden, also ein melancholisches, das zwar leicht ein stuporoses werden kann, indessen es noch nicht ist. Die Melancholie, das gehemmte Ich oder Selbstgefühl, ist aber auch zugleich ein gesteigertes, erhöhtes, also hyperästhe- tisches Ich oder Selbstgefühl, weil, wie schon hervorgehoben worden ist, und die Erfahrung alltäglich lehrt, nur ein solches hyperästhetisches, also überempfindliches Ich oder Selbstgefühl sich immer zu stark berührt, beeinträchtigt, bedrückt, behindert, gehemmt fühlen kann. Die Melancholie ist darum auch wesent- lich eine Hyperthymie, eine krankhafte Steigerung, Erhöhung des Selbstgefühls, das leicht eine zu starke Reizung erfährt und dadurch zum Unlustgefühl wird, zum Gefühl des Bedrücktseins, des Gehemmtseins und damit des Sich -nicht-bethätigen-könnens in der angemessenen Form. Das melancholische Ich ist demnach auch kurzweg das unlustige Ich, das schmerzerfüllte Ich und zwar auf Grund seiner Hyperästhesie, d. i. der Hyperthymie, die es darstellt, und in der es sich, so zu sagen, weil erhöhter, erhabener, so nicht entsprechend berücksichtigt, vorkommt. Die Manie, das geförderte Ich oder Selbstgefühl, ist davon so ziemlich das Gegenteil. Sie ist das hypästetische Ich oder Selbstgefühl, das nur wenig, z. T. sehr wenig empfindlich ist, deshalb durch alle Einwirkungen nur schwach, vielfach auch gar nicht beeinflusst wird und aus diesem Grunde sich auch nur wenig oder selbst gar nicht gehemmt fühlt. Im Gegenteil, weil es sich nicht gehemmt fühlt, fühlt es sich frei und ungebunden und wie in seinem Streben, sich in ihm gleicher Form zu äussern, gefördert. Die Manie, das geförderte Ich oder Selbstgefühl ist das, was es ist, auf Grund einer gewissen Stumpfheit, Hypästhesie, die ihm eignet. Die Manie ist das lustige, das heitere, das aus- gelassene Ich, weil dieses die Hindernisse, die Hemmnisse nicht ordentlich fühlt, die es überall umgeben und sich ihm entgegen- stellen. Die Manie ist somit die Hypothymie, auf Grund welcher schrankenlose Ungebundenheit und damit sich allerdings auch eine gewisse Erhoben- oder Erhabenheit geltend macht, die aber 13 194 doch von der die Hyperthymie kennzeichnenden verschieden ist. Beide unterscheiden sich z. B. sehr charakteristisch als Selbstgefühl eines nervösen Aristokraten und Selbstgefühl eines angetrunkenen Protzen. In der Regel wird die Melancholie als ein blosser Depres- sionszustand, die Manie als ein reiner Exaltationszustand be- schrieben, jene als ein depressiver, dieser als ein expansiver Affekt bezeichnet.. Ich muss darauf hinweisen, um nicht in den Ruf zu kommen, mit meiner Auseinandersetzung Verwirrung an- gerichtet zu ‘haben. Nach dem schon Besprochenen ist es ja richtig, dass, wenn die Melancholie das gehemmte, die Manie das geförderte Ich ist, jene auch einen depressiven, diese einen expansiven Affekt darstellt, jene ein Depressions-, diese ein Exaltationszustand ist. Allein es geschieht das nur — ich wieder- hole es — weil jene vor Allem eine Hyperästhesie, die Hyper- thymie, und diese ein Hypästhesie, die Hypothymie, darstellt, Und darauf kommt es zum Verständnis, dem genetischen Ver- ständnis des Ganzen an. Ist die Melancholie die Hyperthymie, die Manie die Hypo- thymie, so ist der Stupor, der ächte wahre Stupor, die Athymie, wenigstens soweit als dies bei einem lebenden Wesen möglich ist. Auch hier zur Vermeidung von Missverständnissen, Athymie, im hier gebrauchten Sinne, ist nicht, was wir gewöhnlich Mut- losigkeit nennen; das ist ein melancholischer Zustand; sondern es ist auch wieder und zwar noch mehr als die Manie, das Gegenteil davon. Was hier aus Zweckmässigkeitsgründen als Athymie bezeichnet worden ist, entspricht dem, was man sonst in der Regel Apathie nennt, das in der That aber nur eine Selbstgefühlslosigkeit, Ichlosigkeit, und das ist eben die Athymie, anzeigt. Der physiologische, beziehentlich anatomisch-physiologische Grund für alle diese Verhältnisse liegt bei den höheren Wesen und vornehmlich beim Menschen, bei welchem bis zu einem ge- wissen Grade es nachgewiesen werden kann, in der Ernährungs- und den davon abhängigen Reizleitungsverhältnissen des Nerven- systems. Denn das Nervensystem und in diesem wieder das Gehirn, und in Sonderheit, das grosse Gehirn, ist der materielle Träger des Bewusstseins und damit des Selbstgefühls, des Ichs. Die Arbeit des grossen Gehirns, seine Funktion, ist, die ihm zugeführten Reize bewusst zu machen und die bewusst gemachten 195 in entsprechende Thätigkeiten, Handlungen, umzusetzen. Durch centripetalleitende Nerven und deren Reizaufnahme- Apparate werden sie ihm nach physikalischen Gesetzen zugeführt; durch centrifugalleitende Nerven und deren Reizumsatz-Apparate werden sie wieder von ihm auf gleiche Weise abgeführt. Während die Reize das Gehirn selbst durchwandern, empfindet es sie, nimmt es sie wahr, wird es sich ihrer bewusst. Was geht dabei vor? Das ist eben die Frage, die wir nicht zu beantworten vermögen, obwohl wir uns recht gut schon sagen können, was rein physika- lisch dabei geschieht, geschehen muss. Die centripetalleitenden Nerven leiten die sie erregenden Reize 2—3 mal so rasch als die centrifugalleitenden. Die Folge davon ist, dass die fraglichen Reize in dem zwischen beiden liegenden Gehirn, in welchem auch noch wieder eine Menge entsprechender Leitungsverschiedenheiten zwischen seinen Ele- menten vorhanden sind, aufgehalten, gehemmt werden. Dabei wird die lebendige Kraft, welche diese Reize darstellen, in Spannkraft, Druckkraft umgewandelt und so lange aufgestapelt, bis die vorhandene, durch immer wieder neu angekommene und in Spann- oder Druckkraft umgewandelte, lebendige Kräfte so verstärkt worden ist, dass sie die hemmenden Leitungswider- stände zu überwinden vermag und sich damit wieder in leben- dige Kraft umsetzend in die centrifugalleitenden Nerven entladen kann. In den mit diesen zusammenhängenden Endapparaten, den verschiedenen Äusserungs- oder Reaktionsorganen, treten sie dann als sogenannte auslösende Kraft auf. Aus diesem Gehemmtwerden, Gehemmtsein der einwirken- den Reize geht aber allem Anscheine nach das Selbstgefühl, das Ich in den verschiedenen Modifikationen hervor, weiche wir besprochen haben. Die vorhandenen Spannkräfte, ihr Druck auf das Hindernis, das ihre Umwandlung aus lebendigen Kräften bedingt und ihre Wiederumwandlung in lebendige Kräfte annoch verhindert, werden bewusst, und es tritt der jeweilige, eigenartige Selbstgefühlszustand in’s Leben, wie das seiner Zeit auseinander- gesetzt worden ist. Je grösser die Menge der vorhandenen Spannkräfte ist, um so grösser muss das Hindernis sein, unter dem sie entstanden; um so grösser jedoch muss auch das aus ihnen hervorgehende Selbstgefühl an sich, sowie der Druck, die Hemmung sein, welche dieses an oder von dem Hindernis her 13% empfindet, durch dessen Einwirkung es selbst erst entstand. Jedes stärkere Selbstgefühl, jedes regere Ich muss darum auch ein gehemmtes sein. Die Erfahrung lehrt es auch alle Tage. Die Unzufriedenheit, nämlich mit dem Gegebenen, ist der erkenn- bare Ausdruck davon. Umgekehrt, je weniger Spannkräfte in dem Gehirn angesammelt sind, um so geringfügiger kann auch nur das Hindernis sein, unter dessen Einfluss sie überhaupt entstehen. Die ankommenden, lebendige Kräfte darstellende Reize werden mehr oder weniger rasch weiter geleitet. Damit muss dann aber auch das aus den bezüglichen Spannkräften hervorgegangene, sie in gewisser Weise kennzeichnende Selbst- gefühl nur ein geringes, und der Druck, den es Seitens des in Betracht kommenden Hindernisses empfindet, ein unbedeutender, kaum zu bemerkender sein. Jedes schwächere Selbstgefühl, jedes trägere Ich muss deshalb auch ein gefördertes sein, und das tägliche Leben beweist auch dies. Die Zufriedenheit, die Wohligkeit, die Ausgelassenheit ist die Marke davon. Das un- zufriedene, verdriessliche, mürrische, nach Veränderung strebende Ich ist als solches immer ein starkes, bedeutendes; das zufrie- dene, gelassene, heitere und fröhliche, nach Genuss der Gegen- wart drängende ist immer ein schwaches, ein unbedeutendes. Dass jenes ein für Andere leicht unbequemes, dieses ein immer bequemes ist, ändert daran auch nicht das Geringste. Der Unterschied in den Leitungsverhältnissen zwischen centripetal- und centrifugalleitenden Nerven ist schon in gewöhn- lichen Zuständen, d. h. solchen, die wir als normal bezeichnen, ein marnigfaltiger. Die Thatsache, dass die ersteren 2—3 mal, also in einer nicht genau bestimmbaren Breite schneller als die letzteren leiten, beweist das. Es ist das bei den verschiedenen Individuen verschieden. Auch leiten nicht alle centripetal-, nicht alle centrifugalleitenden Nerven gleich rasch. Unter jenen dürften die höheren Sinnesnerven, besonders N. opticus und acusticus, unter diesen die Vasomotoren und vorzugsweise die Regulatoren des Herzens am raschesten leiten. Auf diesen mannigfachen, im Einzelnen ganz individuellen Verschiedenheiten beruhen die Temperamente und ihre krank- haften Ausschreitungen, die oben aufgeführten psychischen Störungen. Ist der Unterschied in der Geschwindigkeit der Leitung der centripetal- und centrifugalleitenden Nerven sowie 197 des zwischen beiden eingeschaltenen Gehirns nur ein geringer, so kommt es in diesem letzteren zu keinen sonderlichen Hemmungen und damit auch zu keinem recht gehemmten Ich. Ist die Erreg- barkeit des Nervensystems überhaupt dabei eine geringe, so entsteht vielmehr das lässige, behäbige Ich, das sich im phleg- matischen Temperamente zum Ausdruck bringt, und ist die ge- nannte Erregbarkeit eine grössere, so entsteht das heitere, fröhliche, ausgelassene Ich, das sich in den verschiedenen Formen des sanguinischen Temperaments an den Tag legt. Wenn da- gegen der Unterschied in der Leitungsgeschwindigkeit der centripetal- und centrifugalleitenden Nerven sowie des dazwischen liegenden Gehirns ein grösserer ist, so kommt es je nach der Grösse dieses Unterschiedes zu mehr oder weniger grossen Hemmungen in diesem letzteren und daraufhin auch zur Aus- bildung eines mehr oder weniger gehemmten Ich’s. Das melan- cholische, das cholerische Temperament kommt zur Erscheinung. Werden die in Rede stehenden Verhältnisse in der Leitungs- geschwindigkeit der verschiedenen Nerven-, beziehentlich Ab- teilungen des ganzen Nervensystemes durch krankhafte Zustände in ihm sehr verschoben, gleichen sich die betreffenden Leitungs- unterschiede mehr aus, wachsen sie mehr an, so entsteht der Stupor, der ächte, rechte Stupor — denn es giebt auch einen Stupor, der eigentlich eine Melancholie ist, die Melancholia stuporosa, cum stupore oder, wie man ihn sonst wohl noch nennt — und ferner die Manie, die Melancholie, der Furor. Da die betreffenden krankhaften Zustände aber auf entsprechenden Ernährungsvorgängen beruhen, welche im grossen Ganzen immer ein und denselben Gang einhalten, schwach anfangen und all- mählich erst an Stärke gewinnen, so treten auch die bezüglichen psychischen Störungen im grossen Ganzen immer in derselben Weise, hauptsächlich Reihenfolge, auf. Den Reigen eröffnet die Melancholie. Ihr folgt der Furor. Die Manie verdrängt diesen und an ihrer Statt tritt endlich der Stupor, häufig ersetzt durch eine Melancholia stuporosa, auf. Genesung oder unheil- barer Blödsinn bildet ‚das Ende beider. Nach diesen Auseinandersetzungen, welche hauptsächlich gemacht worden sind, um den scheinbaren Widerspruch zu lösen, der in der Annahme liegt, dass das gehemmte Ich ein an sich erhöhtes und das geförderte ein an sich herabgesetztes sein soll, 198 wenden wir uns wieder zu den Reizen und ihren Wirkungen auf das Selbstgefühl, Ichgefühl, das Ich selbst. Wenn jemand aufmerksam eine zechende Gesellschaft beob- achtet, so wird er leicht Gelegenheit bekommen, die allmählich sich steigernde Wirkung des Alkohols und seiner Verbündeten sowohl an und für sich, als auch in Bezug auf die einzelnen Persönlichkeiten wahrzunehmen. In letzterer Beziehung herrschen viele Verschiedenheiten. Sie sind so zahlreich wie die Individuen, die sie zu erkennen geben. Sie beruhen eben auf dem Indivi- duellen. Dessenungeachtet ordnen sie sich doch auch wieder einem allgemein Gültigen unter, das gewissermassen den Rahmen bildet, in dem sie alle erscheinen, und dies ist das Charakteristische der Alkoholwirkung. Dieses Charakteristische der Alkohol- wirkung in psychischer Beziehung zeigt sich nun zuerst, also nach einer geringen Einfuhr von Alkohol, in einer leichten Erhöhung des Selbstgefühls. Das betreffende Individuum kommt sich in sich gefestigter vor. Es zeigen alle seine Äusserungen mehr Zuversicht und Selbstvertrauen, daher auch mehr Haltung, selbst Würde. Danach tritt, nach weiterer Aufnahme von Alkohol, ein Zustand ein, in welchem das Individuum sich offenbar schon recht gehoben fühlt und das durch allerhand Überhebungen anzeigt. Es tritt aus sich heraus, drängt sich mehr und mehr hervor, zunächst noch in mehr rücksichtsvoller, sehr bald aber auch in mehr oder weniger rücksichtsloser Weise. Es ent- wickelt sich in ihm eine missmütige, ärgerliche Stimmung; es fängt an zu nörgeln, zanken, zu streiten und, wie man ja weiss, leider auch oft genug handgreiflich zu werden oder in Heulen und Elend zu verfallen. Wird nun noch mehr Alkohol aufge- nommen oder kommt der bereits aufgenommene zu stärkerer Wirkung, so schlägt die Stimmung jetzt in der Regel um. Das betreffende Individuum zeigt sich heiter, selbst ausgelassen, macht allerhand Scherze und Spässe und lässt solche mit sich treiben. Haltung und Würde, die eine Zeitlang zugenommen hatten, gehen mehr und mehr verloren. Das Individuum macht sich zum Narren, lässt sich zum Narren machen und dünkt sich zur Herrlichkeit geboren, ein halber Gott zu sein. Geht die Alkoholwirkung weiter, so fängt das Individuum an, unbesinn- lich zu werden, erst unvollkommen, zeitweise, vorübergehend, dann vollkommen und anhaltend. Zuerst percipiert und apper- 199 cipiert es wohl noch ganz leidlich; aber es vermag nicht mehr gehörig dagegen zu reagieren. Es stockt in der Rede, es wird verworren, redet Unsinn. Es kann nicht mehr sich recht halten; es wankt und schwankt beim Gehen, selbst Stehen, fällt nieder. Die bezüglichen Impulse erfolgen nicht mehr korrekt genug, im Ganzen oder theilweise verlangsamt, und daher die jeweiligen Störungen. Noch weiter und alle bewusste Thätigkeit hört auf. Schlaf, selbst Schlaf bis zum Tode stellt sich ein. Wer eine gute, kräftige Cigarre raucht, wird finden, dass schon mit den ersten Zügen aus derselben sein Daseinsgefühl, und das ist nichts Anderes als sein Selbstgefühl, ein gehobeneres, gesteigerteres wird. Das Gefühl etwaiger Ermüdung, Er- schöpfung, Schläfrigkeit schwindet; ein neuer, frischer Lebens- genuss greift Platz und tritt immer stärker hervor. Der Raucher fühlt sich gehoben, damit indessen doch auch bis zu einem ge- wissen Grade gehemmt; in Rede und Widerrede, im ganzen übrigen Denken, im Pläne- und Entwürfe-Machen, findet das seinen Ausdruck. Das nimmt eine Zeitlang mit jedem Zuge aus der Cigarre zu, und darauf gründet sich vorzugsweise der Genuss des Rauchens an sich. Allein nach einiger Zeit ändert sich das. Die Cigarre ist oft noch nicht aufgeraucht oder die zweite ist kaum erst angeraucht, so hört die Unterhaltung, das Pläne- und Entwürfe-Machen auf; eine beschauliche Ruhe tritt an seine Stelle. Bilder um Bilder ziehen, wie wir sagen, an der Seele des Rauchers vorüber, d.h. sein Selbstgefühl ändert sich ohne Unterlass, aber ohne jede tiefere Erschütterung. Eine be- hagliche Wonne, ein wonniges Behagen erfüllt ihn. Er fühlt sich in sich gefördert, zufrieden, glücklich. Indessen das dauert nicht lange. Abgesehen von den Zuständen der Nausea, die sich einzustellen beginnen, manchmal einen sehr hohen Grad erreichen, aber, nachdem sie zu Erbrechen und Stuhlgang ge- führt haben, die Lage meist rasch ändern, treten jetzt auch Zustände von Benommenheit des Bewusstseins auf, stellen sich sogenannte Bewusstseinspausen ein. Es scheinen diese um so bedeutender zu sein und um so mehr in den Vordergrund sich zu drängen, je weniger die Nausea mit Allem, was zu ihr ge- hört, ausgebildet ist. In der Regel hört jetzt aber der Be- treffende auf zu rauchen. Er hat sich beraucht; das Weiter- rauchen widert ihn an. Legt er die Cigarre nicht weg, raucht 200 er fort oder wirkt das Gerauchthaben weiter, so wird der Raucher immer weniger im Stande zu percipieren oder gar zu appercipieren; er hört auf, darauf zu reagieren und verhält sich ganz analog, dem in demselben Stadium befindlichen Trunkenen. Endlich verliert er wie dieser das Bewusstsein, sinkt oder bricht auf einmal jäh in sich zusammen und verfällt in einen tiefen, tiefen Schlaf. Der Zustoss eines angenehmen Freignisses, eine kleine Freude will ich sagen, deren Wesen ist, dass Hindernisse hin- weggeräumt, Hemmungen beseitigt und Spannkräfte in lebendige umgewandelt werden, ruft ein Gefühl der Behaglichkeit, des Wohlseins hervor. Eine grössere Freude bewirkt Hüpfen und Springen, Johlen und Singen, ganz Ausser-sich-sein vor Freude. Eine noch grössere Freude kann für Augenblicke stumm und starr machen. „Die Freude übermannte ihn.“ „Er konnte kein: Wort reden.“ „Es dauerte erst einige Zeit, ehe er sich zu fassen vermochte.“ Endlich kann die Freude, die übergrosse Freude, der freudige Schreck tödten. „Vor Freude rührte sie der Schlag.“ Ganz ebenso verhält es sich mit dem entgegengesetzten Zustande, der Trauer. Die Trauer entsteht durch das Eintreten von Hindernissen, welche die Bethätigung von Strebungen hemmen, unmöglich machen. Ein unbedeutendes entsprechendes. Vorkommnis macht missmutig. Ein Wehgefühl greift Platz, das in etwas höherem Grade sich durch Thränen oder einige heftigere Äusserungen Luft zu machen sucht. Ist das traurige Vorkommnis bedeutender, so äussert sich seine stärkere Wirkung durch verzweiflungsvolles Heulen, Schreien, Umherlaufen, Haare- raufen u. dgl. m. Eine noch stärkere Trauer macht auch hier stumm und starr. „Sie war vor Schreck wie gelähmt“. „Sie konnte vor Schreck kein Wort sagen“. „Sie war wie ver- steinert“. „Sie gab keinen Laut von sich, verlor keine Thräne“. „Sie war wie zu einer Bildsäule gewandelt“. Dass endlich Trauer auch tötet und viel leichter und öfter noch als Freude, ist auch bekannt. „Vor Schreck fiel er tot um“. „Die Trauer-- botschaft erschütterte ihn so, dass er tot vom Stuhle sank“. Les extremes se touchent. Süssigkeiten, Leckereien aller Art in kleinen oder mässig‘ grossen Mengen, beziehentlich nicht zu lange Zeit hintereinander em20l genossen, steigern das Wohlbefinden, fördern damit das Selbst- gefühl, das Ich. In grösseren Mengen oder durch zu lange Zeit hinter einander genommen, erzeugen sie dagegen Wider- willen gegen sie, Ekel, Übelkeit, Erbrechen. “Sie setzen das Wohlbefinden herab, erst in geringerem, dann in stärkerem Masse, heben es endlich auf, und indem sie das thun, schwächen und vernichten sie, wenigstens bis zu einem gewissen Grade auch das Selbstgefühl, das Ich. Jeder Genuss, wie beschaffen er auch immer sein mag, regt stets zuerst das Wohlbefinden an, steigert es bis zu einer bestimmten Höhe; dann setzt er dasselbe herab, hebt es auf, indem er Überdruss, Widerwille, Ekel bis zum Erbrechen erzeugt. Musik und farbenprächtige Bilder, die Erzeugnisse selbst der edelsten Literatur sind in ihren Wirkungen davon nicht ausge- nommen. Man ist im Conzert, in einer länger dauernden Oper. Die ersten Stücke jenes, der erste Akt dieser rufen eine gehobene Stimmung hervor. Durch die nächsten Stücke jenes, den zweiten, dritten Akt dieser wird dieselbe gesteigert; die dann folgenden Stücke, der vierte Akt, wirken schon auf Viele, nämlich die reizbaren, weil widerstandslosen Zuhörer, wie dafür der ge- wöhnliche Ausdruck ist, ermüdend. Die betreffenden Personen sind nicht mehr im Stande, alle Eindrücke in der bisherigen Schärfe und Gesondertheit aufzunehmen. Die schwächeren, zarteren Töne entgehen ihnen; nur die stärkeren, härteren ver- nehmen sie noch und dazuin vielfach veränderter, unreiner Weise. Sie sind unvermögend geworden, aufzumerken. Erst gehen ihre Gedanken spazieren; eine Art Ideenflucht bildet sich aus. Dann verwirren sich die Gedanken; ein Träumen, ein in sich Versinken stellt sich ein. Die betreffenden Personen hören nicht mehr, sehen nicht mehr. Der lange andauernde Gehörsreiz, anfänglich ein verhältnismässig schwacher, wurde durch seine Dauer erst ein mittelstarker, dann ein starker und wirkte als solcher hemmend. In Folge dessen wurden zuerst die schwächeren Töne nicht mehr percipiert und appercipiert, zuletzt aber so gut als keiner mehr. Die meisten in der Art berührten Zuhörer verlassen dann bei passender Gelegenheit das Conzert, die Oper. Geht das nicht und können sie sich nicht in den etwaigen Pausen gehörig erholen, so kann es sich ereignen, dass sie während der folgenden Musikstücke einschlafen und dass nach Be- endigung des betreffenden Finale der bezüglichen Oper sie müssen erweckt werden, um endlich nach Hause gehen zu können. Der starke Gehörsreiz wurde durch seine Dauer zu einem sehr starken, stärksten, und der lähmte, hob die Bewusstseinsfähigkeit auf und veranlasste damit das, was wir Schlaf nennen. In Ausstellungen, Gewerbe- und Kunstaustellungen, Ge- mälde- und Skulpturensammlungen, in Museen, überall, wo es viel zu sehen giebt und namentlich von einerlei Art, kann man etwas Ähnliches gewahren. Die Besucher treten ein. Man sieht jedem die Freude, das Entzücken an, das er empfindet, . und hört es ausserdem bestätigt. Freude und Entzücken nehmen zunächst noch mit jedem Saale, der neu beschritten wird, zu; danach aber macht sich, und zwar zuvörderst nur bei Einzelnen, sehr bald aber mehr allgemein eine gewisse Abspannung, wie wir sagen, bemerkbar. Je länger, je mehr tritt sie hervor. Die Leute sehen nicht mehr recht. Das, was sie sehen, verwirrt sich unter einander. Es sind nicht mehr einzelne Dinge, welche sie wahrnehmen, sondern ein Chaos von solchen. Sie ver- stummen, setzen sich, starren vor sich hin, starren ins Leere, ver- lieren sich in demselben und fangen an, einzuschlafen, schlafen wohl auch ein. Die ersten Eindrücke, beziehentlich Reize, waren noch verhältnismässig schwach und regten das bewusste, das Gefühlsleben blos in etwas stärkerer Weise an. Dasselbe nahm fürs erste durch immer neue Reize und Dauer der Einwirkung - derselben zu. Die Reize wurden dadurch zu stärkeren, mittel- starken. Dann wurden die folgenden und vornehmlich wieder auf Grund der schon bestehenden Reizung, zu starken, und eine Hemmung des bewussten Lebens trat ein. Endlich wurden die fort und fort wirkenden Reize, auf Grund der Zeit ihrer Wirkung, beziehungsweise ihrer Häufung zu sehr starken oder stärksten, und die in Rede stehenden Lebensvorgänge wurden mehr und mehr wenigstens auf Zeit vernichtet. Wer hätte nicht an sich selbst erfahren, dass ein anerkannt vortreffliches Buch, welcher Art es auch sonst war, zuerst blos ein gewisses Interesse erregte, dass dieses Interesse jedoch mit jeder Seite, die gelesen wurde, wuchs; bis mit einem Male es ‚nachliess, sich verlor, die Fähigkeit das Gelesene aufzunehmen und zu behalten erlosch, und schliesslich das interessante Buch 203 nicht blos nicht vor dem Einschlafen schützte, sondern geradezu einächtes, rechtes Schlafmittel wurde? Wer hätte dasselbe nicht an einem längeren, noch so guten Schauspiele, an einer längeren, im Übrigen ganz vorzüglichen, geistreichen Rede, zumal Jubi- läumsrede, oder entsprechenden Predigt erlebt? Jeder Genuss, wie beschaffen er. auch sein. wie sehr er auch von dem Materiellen losgelöst, geistig, hehr und erhaben erscheinen mag, regt eben immer zuerst blos das Wohlbefinden an, steigert es danach bis zu einem gewissen Grade; dann setzt er dasselbe herab und hebt es endlich auf. Die Neigung verwandelt sich in Liebe, die Liebe in Abneigung, Hass und zuletzt in Gleich- gültigkeit. Je stärker ein Genuss von vornherein wirkt, je früher tritt die entsprechende Phase auf, und man kann deshalb kurzweg sagen, dass, da jeder Genuss auf Aneignung eines Reizes beruht, kleine Reize das Wohlbefinden, beziehentlich das Selbst- Mesinls das Ich, ın irsend) einer Wieisel anreoen, an- fachen, mittelstarke es fördern, starke es hemmen und sfärkste es aufheben. Das biologische Grundgesetz hat somit auch für das psy- chische Leben, die Psyche kurweg, Geltung. Sobald wir uns nur mit ihm und seinem Wesen, mit dem Wesen der Psyche und ihren Aeusserungen bekannt gemacht haben, gewahren wir seine Herrschaft über sie allenthalben. Unser ganzes Fühlen und Denken, unser ganzes davon abhängigesStreben und Handelnist dem biologischen Grundgesetz unterworfen, wenn auch individuelle Verhältnisse, eine grössere oder geringere Reizbarkeit, eine grössere oder geringere Erschöpfbarkeit im Allgemeinen oder in besonderen Gebieten noch so viele Ausnahmen davon zu bilden scheinen. Schwächere Individuen lassen es in seinen Wirkungen auf sich früher und deutlicher erkennen; stärkere setzen ihm einen grösseren und längeren Widerstand entgegen, und namentlich sind es seine gewaltigen Wirkungen, die sie nur schwer an sich erkennen lassen; aber gebeugt werden sie zu- letzt doch alle durch dasselbe. — ann naar ne ARTRT ERARBEITET aan na a aa ORAL ANA NT Ryan Anh ag BR BU RER A an ANARRAF: RER Danan ÄRA WARRE TEN RN e R ah AR | r AAR / F ARAR N PNARANRAR AANAAA AA a NNAMRAAR Arne Ak nn ARTE IRRE AA BEN Er nfnan ap „nondaneanae AR BARARFARENEZ SI IRB 2 BESFARRIFAR, SEAk | king Na ART \ BASRRREN Reh Se et RAT ARÄRRAAR AAARARg, RR NR RATE S RR ar ARRR nn ArhaaN AR? P ARRARANBAA, Bu NAARA An ß nn SFREAENMEn Anaannn An KERARAARANDANAN ARAADMANAAN, ARr ANMARR RAM. N Namen Yan j NERRRA RER, AN a ERTDERRRTERER BES ; RL ERAFT TA r 1 a R | RRREAARNN VUREERRROS-ARRARET" gegBpgBBRBBRANEF nam 2nanfnnnt "777 ee RE en u AaMNARAAAAAA FR AANATARNRAN rn VRR As. 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