yL:ı A a; r BT “ > A u > x % . n Me .+# m 2) RER Eu Ber N Pr Br SE Er gr, een en en nz Er hf *,*No book or pamphlet is to be removed from the Lab- oratory without the permission of the Trustees, = cz je) Pr = [= — ] ==] ni — —d =z. = 5 = — _ oa [ii ._ oz —z = Received Accession No. Given by Place, ... EAN LE N a € RZ Ba VER RE IE ERE HER er HR I N SR 3 g N a > \ “ 2 S = x Biologisches Oentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Professor der Botanik Professor der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Professor der Physiologie in Erlangen. Fünfter Band. 1885 — 1886. Mit 5 Abbildungen. Erlangen. Verlag von Eduard Besold. Pr rar N n,% Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Inhaltsübersicht des fünften Bandes. A. Sachliche Inhaltsübersicht nach der Reihenfolge der Artikel. I. Botanik. Molisch, Ueber die Ablenkung der Wurzeln von ihrer normalen Wachs- tumsrichtung durch Gase (A&rotropismus). Nr. 1 h Stahl, ge des Lichtes auf den Geotropismus einiger Phanzenorgane, Nr. Löw, et über den Elunienbesieh von Tmeeeier an Freiland: pflanzen. Nr. 2 Schwarz, Beitrag zur ER Ener ekchichre 2 nidahahen Zelikerms nach der Teilung. Nr. 3. kr Fisch, Ueber die systematische Stellung der Ben Ar 4 Strasburger, Neue Untersuchungen über den Befruchtungsvorgang bei den Phanerogamen als Grundlage für eine Theorie der Zeugung. Nr.5 . Miliarakis, Die Verkieselung lebender Elementarorgane bei den Pflanzen. Nr. 6 RE Kreuzhage und Wolff, Badeenme der Bibrelsrure für die Ka vicklung der Haferpflanze nach Versuchen in Wasserkultur. Nr. 6 . Zopf, Die Spaltpilze. Nr. 6 are : Hüppe, Die Methoden der Bakterien - Dorschunk.. Nr. 6 : Zacharias, Ueber den Nukleolus. Nr. 7. Hansen, Die Farbstoffe der Blüten. Nr. 7. un, Heinricher, Ueber isolateralen Blattbau mit besonderer Berücksichtigung der europäischen, speziell der deutschen Flora Nr. 7 ‚N. Baumert, Untersuchungen über den flüssigen Teil der Alkaloide von Lupinus luteus Nr.7. 3 ; Bütschli, Kirchner und En Die mikrsskopiiehe Bias nd Tier- welt des Süßwassers. Nr. : - Ludwig, Die Pilze als ie baherer Gewächer Nr 8 Mayer, Kleine Beiträge zur Frage der Sauer a Re in den Crassu- laceenblättern Nr. 8 ü Molisch, Ueber den mikrochemischen Nechsis von Nikaten mil Nitriten in der Pflanze mittels Diphenylamin und Brucin. Nr. 9 Seite 1 256 286 IV Inhaltsübersicht. Seite Hauser, Ueber Fäulnisbakterien und deren Beziehungen zur Septicämie — Ferran, Ueber die Morphologie des Kommabaeillus. Nr. 11... . 321 Wiesner, Elemente der wissenschaftlichen Botanik. Nr. 1 . . ..... 826 Hoffmann, Ueber Sexualität. Nr. 11 . . . .» 349 Planta, Ueber die ne na nenerzen des FBlleenaanher Haselstaude. Nr. ee ee De ru ae Re ne Re ee Ueber EN N ee . 351 Klebs, Ueber Bewegung und Schleimbildung Be Dosmidienen) Nr 12 =2:398 Cohn, Ueber Schimmelpilze als Gärungserreger. Nr. 14 a ee 417 Hoffer, Beobachtungen über blütenbesuchende Apiden. — Mac Leod, Be- fruchtung einiger phanerogamer Pflanzen der Belgischen Flora. Nr. 16 481 Ludwig, Die Gallenblüten und Samenblüten der Feigen, eine neue Kate- ei von verschiedenen Blütenformen bei Pflanzen der nämlichen Art. SSH. e 561 Hüppe, ee die Dauerform ne en Ko Eacilten, u Kudl, Ueber Bacterium Zopfü. Nr. 19 . . . . Li a a Me EEE Ray Lankester, Pleomorphismus der Bakterien N 19 ee 588 Klebs, Kritische Bemerkungen zu der Abhandlung von Re Ueber den Polymorphismus der Algen. Nr. ?1 . ... RA A. Meyer, Ueber die Assimilationsprodukte der omneee angiospermer Pilanzen. NEI23% %. 1 711 Schimper, Ueber es Bildung ana eaasne Een Kohlehydrate in den Laubblättern. ERSTE HERE . 14 Arnaud u. Pade, ee der Salpetee ante und der Nie in Ben Pflanzen. Nr. 232 u 20% % ; 138 Arnaud, Quant. Bestimmung der Balpetareinne dreh Fällung 2 Bonn von Cinchonamimnitrat. Nr. 23 . . ... er 15755 Brasse, Ueber die Gegenwart der „Amylase“ in den Blättern. Nr.)234 22 736 Vöchting, Ueber die Regeneration der Marchantieen. Nr. 24 . .. . .. 737 Johow, Die chlorophylifreien Humusbewohner Westindiens. Nr. 24. . 742 Ludwig, Neue Beobachtungen über blumenthätige Hymenopteren. Nr. 24 744 Fritz Müller, Wurzeln als Stellvertreter der Blätter. Nr. 24 . . . . . 765 II. Zoologie. Salensky, Follikuläre Kospung der Salpen und die Polyembryonie der Pdanzen! Nr Mm na, BERUR GN style: 6 Selenka, Zur Befruchtung des een, Bien. Nr. Mi ERS . 8 Hiltner, Ueber die Entwicklung des Nervus opticus der Sn No 20438 Marshall, Die Taubheit des Auerhahns beim Balzen. Nr.2 .. . 40 Retzius, Das Gehörorgon der Wirbeltiere. II. Das a der Bei tilien, der Vögel und der Saugetiere Nr.? . .. . BE: 7 Zacharias, Zoologische Untersuchung zweier Biocheetiugeeeh im Risen! gebirger „Nr. 3:17 VE RT EEE GE Spengel, Bastardbildung bei Aen ie 3 N, Behrens, Die Fortpflanzung der Schnabeltiere. Nr.3 . . 75 Wilckens, Die Rinder des Diluviums und der Pfahlbauten. Nr. 3, 4 "9, 109 Inhaltsübersicht. V Seite Lampert, Ueber Variationsfähigkeit der Seewalzen nebst Bemerkungen über das System. Nr. 4. RN IR LEER ZART EDe SARA R Ta ER EN Behrens, Die Luftbehälter der nee besonders von Calao BRhinoceros. NT#A\. ar: : 128 Gruber, Ueber Künstliche Teilung bei Tann. Nr. E . 137 Marshall, Ueber Sinnesorgane in den Schalen der Chitonen. Nr. 5 141 Hertwig, Das Problem der Befruchtung und der Isotropie des Eies, eine Theorie der Vererbung. Nr. 6 161 Beneden, Untersuchungen über Reifung des He Befruchane en) Zell- teilung. Nr. 6. } i 166 Marshall, Ueber die Tsetse - liege: Nr. 6 e 183 Sanson, Ueber die quaternären Equiden. Nr.6. BET HRS}: Wilckens, Paläontologie der schweineartigen Tiere. Nr. 7, 8, 9, 10, 11 208, 233, 263, 295, 332 Zacharias, Ueber die Bedeutung des Palmform-Stadiums in der Entwick- lung von Rotatorien und Nematoden, Nr 8 i 228 Zacharias, Experimentelle Untersuchungen über onen Nr 9 259 Selenka, Ueber die Entwicklung des Opossum. Nr. 10 . 294 Fritsch, Fauna der Gaskohle und der Kalksteine der Pormtoralien Böh- mens. Nr. 11 : Se 328 Ueber das Ei der oma, Nr. 11 332 Behrens, Farbstoffe der Aktinien. Nr. 11. EEE EUR 02 VS Haacke, Ueber die Farbe der Tiefseekrabben, gekochten Krebse und Paguren. Nr. 12. LINE 367 Möwes, Honigsaugende Papageien. Nr. 12. 384 Wilckens, Paläontologie der kamelartigen Tiere. Nr. 14 eeRr. > Wilekens, Die hundeartigen Tiere des Tertiärs. Nr. 15, 16, 17 459, 489, 518 Crampe, Gesetze der Vererbung der Farbe. Zuchtversuche mit zahmen Wanderrattense Nr219,2200 > A, el Fiealbi, Untersuchungen über die Ban ee de Vögel, Ni. 43)% 468 Danilewsky, Zur Parasitologie des Blutes. Nr. 17. 4 529 Salensky, Zur Entwicklungsgeschichte von Vermetus. Nr. 18 . 564 Carriere, Einiges über die Sehapparate von Arthropoden. Nr. 19 989 Wilckens, Die hundeartigen Tiere des Diluviums. Nr. 19, 20. . 597, 621 Weber, Ueber das Zentralnervensystem der Cetaceen. Nr. 20 609 Behrens, Die Hybridisation von Salmoniden. Nr. 20 - 639 Möbius, Die Niere des männlichen Seestichlings, eine Se. Nr. A 647 Emery, Ueber Phylogenie und Systematik der Insekten. Nr. 21 648 Dahl, Die Fußdrüsen der Insekten. Nr. 21 : 0.2 0264696 Thorell und Lindström, Ueber einen Silurskorpion von Sotland. Nr. 217 1657 Zograff, Ueber den sogenannten Labyrinthapparat der Labyrinthfische. Nr. 22 5 = :609 BG Ueber imorghö es fügellose Miinchen bei Iymenopteren Nr. 22 He: 686 Emery, chiunsseegchichte der Manlwurfsgrille ur der Bone Nr. 22 689 Curley, Differenzierung des Bienenvolkes. Nr. 23 . 717 Wilckens, Die vorgeschichtlichen und die Pfahlbauhunde. Ne 93 24 719, 71 Leydig, Haller, Ueber das Blau in der Farbe der Tiere. Nr. 24 746 Chun, Kosmopolitische Verbreitung pelagischer Tiere. Nr, 24 749 - VI Inhaltsübersicht. III. Anatomie, Anthropologie, Histologie, Entwick- lungsgeschichte. Seite Kölliker, Eine Antwort an Herrn Albrecht. Nr. 1. . . . tel Hermann, Ueber einige neuere Arbeiten zur Morphologie und Prrielosie der Geschmacksorgane. Nr. I... . 11 Leche, Das Vorkommen und die norpholorikche anna den Praneh: knochens: SNT.!SU ta N. ur) ar Ba eek 5, Bardeleben, Anleitung zum en er Hamm ara Ar Ser Pe Prinz Ludwig Ferdinand, Zur Anatomie der Zunge. Nr. 4 .... 123 Albrecht, Ueber die Chorda dorsalis und sieben knöcherne een im Nasenseptum eines erwachsenen Rindes. Nr. 5, 6.8 . 144, 187, 256 Vogt und Yung, Lehrbuch der praktischen vergleichenden Anatomie. Nr.6 192 Tarenetzky, Beiträge zur Kraniologie der großrussischen Bevölkerung der nördlichen und mittleren Gouvernements des europäischen Russ- lands: -aNT+ Ir, UHR, er A ae ee PS List, Ueber Wanderzellen im n Epithel. RN 12 sr a) Kölliker, Zur Odontologie der Kieferspalte bei der ERenScharke, Nr: 120 Edinger, Zehn Vorlesungen über den Bau der nervösen Zentralorgane. Nr. 13 414 Dalla Rosa, Das postembryonale Wachstum des menschlichen Schläfe- muskels und die mit demselben zusaumenhängenden Veränderungen des knöchernen Schädels. Nr. 14 . . . . 434 List, Ueber m Drüsen (Becherzellen) in kom Blasenepithe de Amphibien. I Ta, ee ee ee AR , 499 Krause, Die ER, Literatur in Italien. Nr. 16, 17, 21. 508, 537, 669 Zuckerkandl, Beitrag zur Lehre von dem Bau des hyalinen Knorpels. Nr. 17 543 Paneth, Die Entwicklung von quergestreiften Muskelfasern aus Sarko- plasten., Nr. 21 m. . 661 Solger, Ueber das verschiedene Verhalten ine Nnsanlare leer nend normalen Gelenkknorpels nach Einwirkung von absolutem Al- Kohol-: Nr. 21. 1 672 List, Ueber den Bau, die Sekretion en den Untergang v von Drüsenzeilen. NEY2DR Le . 698 Merk, Ueber die Anbedande hier een st im nase system und in der Retina bei Natternembryonen. Nr. 23 . . . . 729 Hoffmann und Rauber, Lehrbuch der Anatomie des Menschen. Nr. 23 . 730 IV. Physiologie. Exner, Kritischer Bericht über die neueren physiologischen Untersuchungen, iR Großhirnrinde betreffend. Nr. 1,2 ... re SE ST Lustig, Die Degeneration des Epithels der Biechschlahkhäur der Kaninchens nach Zerstörung der Riechlappen derselben. Nr. 4. . . ...... 427 Einfluss des Magnetismus auf die Entwicklung des Embryos. Nr.5 . . 160 Nasse, Giftige Wirkung des roten Phosphors. Nr. 9 . . . 287 Imm. Munk, Neuere Untersuchungen über die Resorption, Bildung en! N lagerung des Fettes im Tierkörper. Nr. 10% m Eee Inhaltsübersicht. VII Seite Graber, Vergleichende Grundversuche über die Wirkung uud die Auf- nahme chemischer Reize bei den Tieren. Nr. 13, 15, 16 . 385, 451, 483 Dubaux, Die Milch und ihre chemische Zusammensetzung. Nr. 13. . . 399 Christiani, Zur Physiologie des Gehirns. Nr. 15 . . .. ae Nasse, Ueber primäre und sekundäre Oxydation im ierkörger Nr. 19 . 607 Biedermann, Ueber antagonistische a bei elektrischer Muskel- TORZUNEL ANENATN ERSTEN RE EN 027 Spengel, Schwerkraft und Zeiltsdung- Nr. SRRLIRENE . 662 Oskar und Richard Hertwig, eng ne uber ke Be- dingungen der Bastardbefruchtung. Nr. 22. . 2 2 .2.2.2.2.20.692 Strasser, Ueber den Flug der Vögel. Nr..22 .. 4 1095 Hermann v. Helmholtz, Handbuch der en en Optik. Nr. 24 7%. 2168 V. Verschiedenes. Der 4. Kongress für innere Medizin. Nr.3 ... „0 GR Frommann, Untersuchungen über Struktur, VeheiRemete un Et Real tionen tierischer und pflanzlicher Zellen. Nr.5 . . 2. .2.2..2..159 Zacharias, Das Mikroskop. Nr.6 . . . . I Behrens, Die amerikanischen a onmerahlonen Nr, 607.42 2191 Hennum, Ueber Zellformen. Nr. 7. . . U A ER REF) Zacharias, Biologische ee in den Nr. & i .. 256 Tollin,, Andreas Vesal. Nr. 8, 9, 11, 12,13, 14, 15 BAD 2NL, 336, 373, 404, 440, 471 Peter Ludwig Panum. :Nr.9. .... Me a Veröffentlichungen des Kaiserlichen Beine ı zu Berlire Nr. 97277,288 Jakob Henle. Nr. 10. ... . „©. a a a! Behrens, Die biologische Station in en anch Nr. 13473 9.775, 0416 Die 12. Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheits- pileeos Nr 14.20.00, 0% ME NEAR Lehmann, Die Cholera und die ron lan Nr. 17, 48,419 515, 545, 577 Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamt. Nr. 18 . . 2 .2.....568 Pasteur’s Methode, Den Biss ae Hunde unschädlich zu machen. Nr 18:0 10 7, Ko NE Ve area erde OA Wiedersheim, Zur Notiz. N 20 Men a, A Sitzungsberichte Rn Gesellschaft für Mealdze nd ER oe in München. Nr. ne: rl Weismann, Ueber m Bedeutung der eh ehehen eek re > die Selektionstheorie — und: Virchow, Ueber Akklimatisation. Nr. 22, 23 673, 705 Fränkel und Simmonds, Die ätiologische Bedeutung des Typhus-Bacillus. Nu 2A yame rn: Seat rd m 0D7 Sir John Lubbock, ee Kahngkeiten Ass andes EN PIE Sl James Eisenberg, Bakteriologische Diagnostik. Nr. 4 . 2. .2..2..2...764 Weber. vegetabilische, Ernährung. Nr. 24, 2. u... Dee 766 VIII Inhaltsübersicht B. Inhaltsübersicht, alphabetisch geordnet nach den Namen der Verfasser der einzelnen Artikel. Seite Albrecht, P., Ueber die Chorda dorsalis und sieben knöcherne Wirbel- zentren im knorpligen Nasenseptum eines erwachsenen Rindes. (Ori- ginalmitteilungen und Notizen in Nr. 5, 6, 8) . 2... .. 144, 187, 256 Behrens, H., Die Fortpflanzung der Schnabeltiere. (Essay in Nr. 3) . 7 3ehrens, H., Die Luftbehälter der Vögel. (Notiz in Nr.4). . . . .. 128 Behrens, H., Der Einfluss des Magnetismus auf die Entwicklung des Embryos (Notiz ea . 160 Behrens, Die amerikanischen zoologischen een (Notiz in NH) ner ee Behrens, H,, Tepe Fnteroctorsnh nl aa in Ne 1 Wi Re a aa Dar ens, H., Die biologische Station in Granton, Ren (Notiz in a ER ae WA A ens, H., Die Hybridisatton w von Solmaniken: (Wotiz in Nr. 20.) 722.639 lernen K., Ueber antagonistische Polwirkungen bei elektrischer ne (Essay; inu.NT. 20) Nee Et Bohr, Christ., Peter Ludwig Panum. abanemant in Nr. ee | one) J., Einiges über die Sehapparate von Arthropoden. (Essay in NT. 19) N ET ER ER En N Chun, Carl, Kosmopolitische Verbreitung pelagischer Tiere. (Nr. 24.) 749 DallaRosa, Das postembryonale Wachstum des menschlichen Schläfe- muskels und die mit demselben zusammenhängenden Veränderungen des knöchernen Schädels. (Originalmitteilung in Nr. 14.) . . » . .. 454 Danilewsky, B., Zur Parasitologie des Blutes. (Originalmitteilung in Nr. 17.) 529 Emery, C., Ueber N und Systematik der Insekten. (Essay in N a ee PN ASERN 1 Me Emery, C, Referat über: Dahl, Die Fußdrüsen der Insekten. (Nr. 21.) 656 Emery, E., Ueber dimorphe und ae Männchen bei Hymenopteren. PESSayaıInaNT 22) 2. 5 MEN BSG Exner, S., Kritischer Bericht über die neueren Kenne hen Unter- een. die Großhirnrinde betreffend. (Essay in Nr. 1,2) . . 17, 47 Exner, S., Referat über: Aless. Lustig, Die Degeneration de Epithels der Riechschleimhaut des Kaninchens nach Zerstörung der Riech- lappen ‚derselben, (Nrr 4) 0. an a 2. a ne det Exner, $., Besprechung von: Christiani, Zur Physiologie des Gehirns. (NTIASN IE NL TEN ER RER PR BA ANA Fisch, C., Referat Hide Hauser, Ueber die Entwicklungsgeschichte und pathogenen ee einer fäulniserregenden Bakterienart. Nr. 2), . . a Fisch, C., Referat Hber. a Beitrag zur Pan des Pilanzliehen Zellkerns nach der Teilung. (Nr. u 6 Fisch, 6. Ueber die systematische Stellung der ak: in Nr. d. Sr Fisch, C., Referat über: Frommann, Untersuchungen über Struktur, Lebenserscheinungen und Reaktionen tierischer und pflanzlicher Zel- lenA(NTH use: yet ee I EN Fisch, C., en von: w. Zopf, Die Spaltpilze, 3. Aufl. (Nr. 6.) 189 Fisch, C., Referat über: Hoffmann, Ueber Sexualität. (Nr. 11.) . . . 349 Inhaltsübersicht. IX Seite Flemming, W., Besprechung von: Ed. van Beneden, Recherches sur la Maturation de l’Oeuf, la F&condation et la Division Cellulaire. (Nr. 6.) 166 Flemming, W., Jakob Henle. (Lebensskizze in Nr. 10). . . . par} Graber, V., Vergleichende Grundversuche über die Wirkung und die Aufnahmestellen chemischer Reize bei den Tieren. (Originalmittei- lungenmtinYNr 1315446.) 7; Ban he 12380, AAI WAS] Graser, E,, Referat über: Arbeiten aus de Kaiserlichen Gesundheits- amte, (Nr. TS EREEET. - DENIED SRORE, DES RL ERDOS Graser, E., ige von: lanaltn der Ges. f. Morph. u. Physiol, ini München (Nr. 21723) 8. Mn: N) Graser, E, Referat über: Fränkel und Simmonds, Die ätolo Frische Be- deutung des Typhus-Baeillus. (Nr. 24) . . . 757 Gruber, A., Ueber künstliche Teilung bei Infusorien. "OHemalnteins in Nr. 5.) Na 137 Haacke,”W., Deber die en len Tiofskokrahhen Fokscitan Krebee und Paguren. (Originalmitteilung iu Nr. 12). . . . 367 Hermann, F., Ueber einige neuere Arbeiten zur Morphoioele und Physio logie ar Geschmacksorgane. (Eissay?in NrY 4.) 220% 12 Hermann, F., Literaturanzeige von K. Bardeleben, Anleikönstr zum Prä- parieren anf dem Seziersaale. (Nr. 3). . .. 96 Hiltner, Lor., Ueber die Entwicklung des Nervus ae der Säuge- tiere. (Originalmitteilung in Nr. 2.) . . . . 38 Karsch, F., Besprechung von: Thorell und ger On a kan Bedrhion from Gotland. (Nr. 21.). . 697 Kellermann, Referat über: Miliarakis, Die Merkikeehie tabander Ele- mentarorgane bei den Pflanzen. (Nr. 6.). . . 181 Kellermann, Referat über: Kreuzhage und Wolff, en der Klone: säure für die Entwicklung der Haferpflanze nach Versuchen in Wasser- KUltULEUNDO NN ee ee ee OeN Kellermann, Referat über: Hansen, Die Farbstoffe der Blüten. (Nr.7.) 197 Keilermann, Referat über: G. Baumert, Untersuchungen über Lupinus luteus. (Nr. 7.). . - NE N 1 Welke PR REN 6) 22 Kellermann, Referat aber Aa Mayer, Sauerstoffausscheidung in den GLESSDIATBENDLALEOTL. RENTE 7 RE EL N I EEZDO Kellermann, Referat über: Molisch, Nachweis von Nitraten und Nitriten InFderkPilanzertNT, GES De RE ET EFT ER ERN EWLOD Kellermann, Referat über: A. von Planta, Chemische Zusammensetzung des Bliihensbaubes der Haselstaude. (Nr. 11.) -. . . 350 Kellermann, Referat über: A. Meyer, Ueber die laneprodte der Laubblätter angiospermer Pflanzen. (Nr. 23.) . -. . . 711 Kellermann, Referat über: Schimper, Ueber die Bildung id Wandel rung der Kohlehydrate in den Laubblättern. (Nr. 23.) . . . .» 724 Kellermann, Notizen über: Arnaud u Pade, Bestimmung der ae säure und der Nitrate in den Pflanzeu — und: Arnaud, Quantitative Bestimmung der ee durch u von Cinchonaminnitrat. (NER ZONE Tee ee SIENERERREN ;NOSEEE BEER OL SD MD Kellermann, Notiz über: Bene Plane in ah Blättern. (Nr723:)22736 Kiesselbach, Besprechung von: Retzius, das Gehörorgan der Wirbel- tiere. II. Das Gehörorgan der Reptilien, Vögel und Säugetiere, (SR EU RE DL LRTIES RNARL ARELORNELRN RES ENG RO NEL ieh AD x Inhaltsübersicht. Klebs, Gg., Besprechung von: Strasburger, Befruchtungsvorgang bei den Phanerogamen. (Nr. 5.) e Klebs, Gg., Ueber Bewegung und Schleinbildung ar en (Essay in Nr. 12.) ; Klebs, Gg., Kritische Bemerkungen zu: Bares eben den Be mus der Algen. (Nr. 21). . . . Klebs, Gg., Referat über: Vöchting, Deber die Hozesanıadn der a chantieen. (Nr. 24.) = ; z 5 Klebs, Gg., Referat über: aba. Die Shloropkuiikreien Hummsbewetner Westindiens. (Nr. 24.) : Kölliker, A. von, Eine Antwort an an Alpeechr (Nr, ao TR: Kölliker, Th., Zur Odontologie der Kieferspalte bei der Hasenscharte. ne ineNr 122): ; Kollmann, J., Besprechung von: Weismann, Be die Bedeiree ne echelichen Fortpflanzung für die Selektionstheorie. — Virchow, Ueber Akklimatisation. (Nr. 22, 23.) . - N 2 Krause, W., Die anatomische Literatur in Tealien. (Easayi in Nr.16, 17, 21.) 503, 537, Lampert, K., Ueber Variationsfähigkeit der Seewalzen nebst Bemer- kungen über das System. (Originalmitteilung in Nr. 4.) Lehmann, K. B., Die Cholera und die modernen Choleratheorien. (Essay INDINLSI EIS a ee ee net, List, J.H., Ueber yerskrilent im Epithel. aanerhne: in Nr. 12.) List, J. H, Ueber einzellige Drüsen in dem Blasenepithel der Amphi- bien. mails in-Nz 169% EEE List, J. H., Ueber den Bau, die Sekretion and een Dneyeane a Derrellen (Originalmitteilung in Nr. 22.) Ludwig, F., Referat über: E. Löw, Beobachtungen über den Blumen. besuch von Insekten an aeminkrnen des botanischen Gartens zu Berlin. (Nr. 2.) RE EEE Een Ic Ludwig, F., Besprechung von: Hoffer, Beobachtungen über blütenbe- suchende Apiden — und: Mac Leod, Befruchtung einiger phanero- gamer Pflanzen der Belgischen Flora. (Nr. 16.) - Ludwig, F., Die Gallenblüten und Samenblüten der Feigen. (Nr. 18) Ludwig, F., Neue Beobachtungen über blumenthätige Hymenopteren. (Hasay in Nr. 24) ae Nr Ne N er: ne F., Notiz über: F. Müller, Wurzeln als Stellvertreter der Blät- (Nr. 24) - Mar W., Die Taubheit des Rn enhahng. Den Balzen, (Nr. 2) Mar aanık W., Ueber Sinnesorgane in den Schalen der Chitonen. (Nr. 5.) Marshall, W., Ueber die Tsetse-Fliege. (Nr. 6.) . & ä : Möbius, K., Die Niere des männlichen a eine Spinndiiae (Antoreforat in-NE 21T: . Möwes, F., Honigsaugende en (Notiz in Nr. 2). Möwes, F. Reha Curley, Differenzierung des Bienenvolkes. (Nr. 93.) Munk, Mir ‚ Neuere Untersuchungen über die Resorption, Bildung und een des Fettes im Tierkörper. (Essay in Nr. 10.) . Nasse, 0., Giftige Wirkung des roten Phosphors. (Antoreferat in Nr. 9.) Nasse, 0, Ueber primäre und sekundäre Oxydation im Tierkörper. een in Nr. 19.) Seite 131 396 Inhaltsübersicht. xI Seite Obersteiner, H., Besprechung von: Merk, Ueber die Anordnung der Kernteilungsfiguren im Zentralnervensystem und in der Retina bei Natternembryonen. (Nr. 23.) . . - 729 Öbersteiner, H., Besprechung von: Hogan, u. Bauber, Hehrbuch der Anatomie das Mo chen. Bd.II. Abt.2, Abschn.6: Nervenlehre. (Nr.23.) 730 Ochsenius, Carl, Notiz über vegetabilische Ernährung. (Nr. 24.) . . . 766 Paneth, Die Entwicklung von quergestreiften Muskelfasern aus Sarko- plasten. (Antoreferat in Nr. 21.) . . . . : .. 661 Ray Lankester, Pleomorphismus der Baktexion (Notiz | in Ne 19) 588 Rosenthal, J., Literaturanzeige von H. von Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik. (Nr. 24) . ... 765 Rosenthal, J., Literaturanzeige von: James aber Bakteriologisce Diagnostik. (Nr. 24.) . . 764 Salensky, W., „Follikulare Knempungt den Salpen und die Eehenbeo nie* der Pflanzen. (Essay in Nr. 1.) . . . 6 Salensky, W., Zur Entwicklungsgeschichte von Vermelhs Originahnit- teilung in. 'N7.:48.)1.. 21. 564 Selenka, E., Zur Befruchtung des Kerischen Bien, (Omemalmien in N al. 8 Selenka, E., Ueber die Entwicklung des Opossum. (Originalmitt inNr.10.) 294 Solger, B.. Referdt über: Leche, Vorkommen uud Bedeutung des Pfanuen- Knochens. (Nr..3.j. 2 24: Sch) Solger, B, Referat über: Prinz as Herdinand, Analönie dr Ze (NE=2.)0 2 ; 123 Solger, B., Beet we Ficalbi, EHastolbeizehe, Untersuchungen über die Luftsäcke der Vögel. (Nr. 15.) . . . 2 468 Spengel, J. W, Bastardbildung bei Amphibien (Eikay in Nr. 3) N) Spengel, J. W., Schwerkraft und Zellteilung. (Essay in Nr. 21.) . . . 663 Spengel, J. W., Besprechung von: Oskar u. Richard Hertwig, Experi- mentelle N A über die Bedingungen der Bastardbefruch- tung. (Nr22)) 2200, 692 Stieda, L., Besprechung von: en Gestalt der Zeukeren (Nr. 7) 199 Stieda, 1. Referat über: Tarenetzky, Kraniologie der all, Bevölkerung. (Nr. 9.) 2°... 278 Tollin, H., Andreas Vesal. iktosiech- kehitischen ana) in Nr. 8, 9, 4 12913, 14,719 nn RAR, 271, 256,373, 404,440, 474 Weber, M., Ueber das Zeutraluervensysten der Cetaceen. (Essay in NLE2O ER ve 609 Wiedersheim, Referat über: Fritsch, Bauıa der GaaHohIe nd Ei: Kalksteine der Permforation Een (Nele ne 328 Wilckens, M., Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete en Paläontologie der Haustiere. 4. Die Rinder des Diluviums. (Nr. 3,4) . . . EN BLUE LU) 5. Die schweineartigen Tiere. (Nr. 7, 8, 9,10, 11.) . . 208, 233, 263, 295, 332 6. Die kamelartigen Tiere. (Nr. 14) . .. . . 418 7. Die hundeartigen Tiere des Tertiärs. (Nr. 15, 16, 17) © 459, 489, 518 8. Die hundeartigen Tiere des Diluviums. (Nr. 19, 20.) . . . 597, 621 9. Die vorgeschichtlichen und die Pfahlbauhunde. (Nr. 23, 24.) 719, 751 Wilekens, M., Referat über: Sanson, Die quaternären Equiden. (Nr.6.) 184 Wilckens, M., Referat über: Crampe, Die Gesetze der Vererbung der Farbe. Zuchtversuche mit zahmen Wanderratten. (Nr. 15, 20.) 465, 615 XH Inhaltsübersicht. Wilhelm, K., Besprechung von: Wiesner, Elemente der wissenschaft- lichen Botanik. (Nr. 11.) . TRIER E EOS FISHER Wortmann, Besprechung von: Molisch, Ueber die Ablenkung der Wur- zeln von ihrer normalen Wachstumsriehtung durch Gase, A&rotropis- mus. (Nr. 1.) s ee Er N IS ER .INE.G N OT ORERRPENR Wortmann, Besprechung von: Stahl, Einfluss des Lichtes auf den Geo- tropismus einiger Pflanzenorgane. (Nr. 1.) AR - Zacharias, O., Ueber die Bedeutung des Palmform- Stadfıms in de Ent- wicklung von Rotatorien und Nematoden. (Originalmitt. in Nr. 87.) Zacharias, O., Experimentelle Untersuchungen über a dung. ee in Nr..9.) Zograff, N., Ueber den sogenannten babyrintappasit dos Lahyrndı: fische. (Originalmitteilung in Nr. 22.) 5 Zopf, W., Besprechung von: Hauser, Ueber Häuluiebaldesien az ‚dsten Beziehungen zur Septicämie — und: J. Ferran, Ueber die Morpho- logie des Kommahaecillus. (Nr. 11)". 1 ers ee en: Zopf, W., Besprechung von: Hüppe, Ueber die Dauerform der soge- nannten Komma-Bacillen — und: Kurth, Ueber Bacterium Zopfi. (Nr. 19.) 321 985 Biolögisches Üentralblatt unter Mitwirkung von M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der wa in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden. einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. V. Band 1. März 1885. Nr. k Inhalt: Moliseh, Ueber die Ablenkung der Wurzeln von ihrer normalen Wachstums- richtung durch Gase (Aörotropismus). — Stahl, Einfluss des Lichtes auf den Geotropismus einiger Pflanzenorgane. — Salensky, Follikuläre Knospung der Salpen und die Polyembryonie der Pflanzen. — Selenka, Zur Befruchtung des tierischen Eies. — Kölliker, Eine Antwort an Herrn Albrecht. — Her- mann, Ueber einige neuere Arbeiten zur Morphologie und Physiologie der Geschmacksorgane. — Exner, Kritischer Bericht über die neueren physiologi- schen Untersuchungen, die Großhirnrinde betreffend (Erster Teil). Hans Molisch, Ueber die Ablenkung der Wurzeln von ihrer normalen Wachstumsriehtung durch Gase (A&rotropismus). Aus dem XC. Bande der Sitzungsberichte der kais. Akademie der Wissen- schaften. Wien. I. Abt. Juli-Heft. 18834. In dieser Arbeit macht uns der Verf. mit einer neuen Art von Reizerscheinung bei Wurzeln bekannt, insofern er zeigt, dass in ana- loger Weise wie durch einseitigen Einfluss der Schwerkraft, des Lichtes ete. auch die Wurzeln zu ganz bestimmten Richtungsbe- - wegungen veranlasst werden, wenn sie an zwei entgegengesetzten Seiten von gewissen Gasen in ungleichen Mengen umgeben werden. Als Einleitung zu den. folgenden Hauptversuchen werden einige Sehilderungen über das vom Verf. noch näher geprüfte Verhalten von Mais- und Erbsenwurzeln gemacht, wenn sie oberhalb eines Wasser- spiegels so befestigt werden, dass sie nur mit ihren Spitzen ein- tauchen. Der durch diese Manipulation hervorgerufene Eintritt un- regelmäßiger Nutationen, sowie die Erscheinung, dass die Wurzeln oft auch dem Wasserspiegel sich wieder zuwenden, um an der Grenze zwischen Luft und Wasser oft tagelang weiterzuwachsen, wird ab- normen Einflüssen, besonders aber mangelhaftem Sauerstoffzutritt zu den niederen Wasserschichten zugeschrieben. Diese Erscheinungen bewogen den Verf., der Frage nach dem Verhalten der Wurzeln zunächst bei ungleichem Sauerstoffzutritt durch 1 2 Molisch, Ablenkung der Wurzeln von ihrer normalen Wachstumsrichtung. exaktere Versuche nachzugehen und zu entscheiden, ob eine Wurzel, welcher an zwei entgegengesetzten Seiten verschiedene Mengen von Sauerstoff geboten werden, von ihrer normalen Wachstumsrichtung abgelenkt wird oder nicht. Die Versuche wurden zunächst so ange- stellt, dass die eine Wurzelhälfte mit reinem Sauerstoff, die andere Hälfte mit gewöhnlicher atmosphärischer Luft in Berührung gelangte. In diesen sowohl als auch in den ferneren Versuchen ging die Ver- suchsanstellung im Prinzip darauf hinaus, dass ein weites zylindri- sches Glasgefäß mit Sauerstoff bezw. mit anderen zu untersuchenden Gasen gefüllt und mit einer Platte aus Hartkautschuk verschlossen wurde, welche 1—2 spaltenförmige Oefinungen von 2 cm Höhe und 1,5—2 mm Breite und Tiefe hatte. Vor diese Oeffnungen wurden nun die Wurzeln (das Glasgefäß in horizontaler Lage gedacht) so angebracht, dass sie (die Spitzen nach abwärts gerichtet) unmittelbar vor den jetzt vertikalen Spalten sich befanden. Wird der Zylinder mit reinem Sauerstoff gefüllt, so krümmen sich die Wurzeln „entweder gleich vom Spalte weg, oder sie wenden sich meist schon innerhalb der ersten zwei Stunden etwas in denselben hinein, werden aber als- bald grade und wachsen sodann von der sauerstoffreichern At- mosphäre weg.“ In seltneren Fällen allerdings kann es auch ge- schehen, dass die anfängliche Zukrümmung zum Sauerstoff eine so bedeutende ist, „dass die Wurzel durch die Oeffnung in das Gefäß hineingelangt und bei ihrem fernern Streben, die sauerstoffreiche Luft zu fliehen, die Spalte nicht mehr findet und im Gefäße gewisser- malen gefangen bleibt.“ Wird die Wurzel mit einer Seite wiederum mit der atmosphäri- schen Luft, mit der entgegengesetzten Seite dagegen mit einer im Glaszylinder durch Einbringen einer alkalischen Lösung von Pyro- gallussäure sauerstoffärmer gemachten Luft in Berührung gebracht, so zeigen sich dieselben Erscheinungen wie oben hervorgehoben: also zunächst temporäres Eindringen in den Spalt, und daraufhin ein Wegwenden von demselben. Diese durch ungleiche Sauerstoffspannung hervorgerufenen Wurzelbewegungen aber sind, wie Verf. ausdrücklich hervorhebt, gewöhnlich nicht sehr prägnant und häufig nur vorüber- gehend. Aehnliche schwache Krümmungen der Wurzeln konnten beobachtet werden, wenn das Glasgefäß mit reinem Stickstoff gefüllt wurde. Bei diesen Versuchen trat zwar in den meisten Fällen die anfängliche Zukrümmung der Wurzel ein, die Wegkrümmung aber unterblieb entweder ganz, oder machte sich nur in sehr schwachem Grade und auch nur für sehr kurze Zeit bemerkbar. Dieses geschilderte eigentümliche Verhalten der Wurzeln, bei ein- seitiger Einwirkung gewisser Gase bestimmte Richtungsbewegungen zu vollführen, bezeichnet Verf. mit dem Ausdruck des A&rotropismus und nennt die Wurzel, je nachdem sie sich dem wirksamen Gase zu- oder abwendet, positiv oder negativ a&rotropisch. Molisch, Ablenkung der Wurzeln von ihrer normalen Wachstumsrichtung. 3 Dieselben a&@rotropischen Bewegungserscheinungen lassen sich nun viel energischer durch Anwendung anderer Gase hervorrufen, von denen Verf. den Einfluss von Kohlensäure, Chlor, Chlorwasser- stoffsäure, Leuchtgas, Ammoniak, Chloroform, Aether, Lustgas, Kam- pher und Terpentinöl untersuchte. In allen diesen Fällen wurde immer eine anfängliche (positive) Zukrümmung zu dem schädlichen Gase und eine darauf folgende (negative) Wegkrümmung beobachtet. Auf grund der soeben erwähnten Thatsachen macht der Verf. nun einen Versuch, die Erscheinung des Aörotropismus zu erklären, was ihm aber nicht gelingt. Der Versuch, den A&rotropismus als einen Spezialfall der sogenannten Darwin’schen Krümmung hinzustellen, miss- lingt aus dem Grunde, weil auf 1 mm dekapitierte Wurzeln, den er- wähnten Versuchsbedingungen ausgesetzt, sich ebenfalls, wenn auch nicht so energisch, a@rotropisch krümmten, demnach die angewandten Gase „nicht zuerst die Wurzelspitze und durch diese die darüber liegende wachsende Region beeinflussen, sondern direkt auf die letz- tere wirken.“ Der Verf. versucht nun von einer andern Seite her eine Erklärung zu geben, indem er die Resultate einer von Wieler!) veröffentlichten Arbeit heranzieht, aus denen sich ein Einfluss ver- schiedener Sauerstoffspannung auf das Längenwachstum pflanzlicher Organe derart ergibt, dass dieselben in verdünnter und komprimierter Luft innerhalb gewisser Grenzen beschleunigt wachsen. Hiernach könnte eine gewisse, in der atmosphärischen Luft enthaltene Menge eines Gases bei einseitiger Berührung das Längenwachstum der Wurzel auf der berührten Seite fördern. Allein Versuche, welche Verf. unter der Wieler’schen Fragestellung mit Wurzeln unternahm, ergaben ein negatives Resultat, in keinem Falle konnte eine Be- schleunigung des Wachsens konstatiert werden. „In anbetracht dieses Resultates verliert die Vermutung, dass eine negativ aörotropisch sich- krümmende Wurzel an der konvex werdenden Seite deshalb stärker wächst, als an der Gegenseite, weil hier gewissermaßen ein Optimum der Gasspannung vorhanden sei, alle Wahrscheinlichkeit.“ Dass solche Erklärungsversuche aber scheitern mussten, ist dem Ref. sehr einleuchtend, da es sich bei den vom Verf. aufgefundenen gewiss- interessanten Thatsachen eben um eine spezifische Reizer- scheinung handelt, welche dem Geotropismus, Heliotropismus u. s. w. an die Seite zu stellen ist, und bei welcher die durch allseitigen gleichmäßigen Einfluss dieser Kräfte und Agentien erzielte Beschleuni- gung bezw. Verlangsamung im Längenwachstum in gar keiner Be- ziehung steht zu den durch ihren einseitigen Angriff hervorgebrachten ungleichen Wachstumsgrößen der beiden antagonistischen Seiten des betreffenden reizbaren Organs. Um hier ein passendes Beispiel an- 1) Siehe Wieler, Untersuchungen aus dem bot. Institut zu Tübingen. l. Bd 2. Heft. 1* 4 Stahl, Einfluss des Lichtes auf den Geotropismus einiger Pflanzenorgane. zuführen, mag an negativ heliotropische Organe erinnert sein, welche bekanntlich an der beleuchteten Seite ein stärkeres Wachstum zeigen als an der entgegengesetzten, welche aber, ins dunkle gebracht, dennoch gleichmäßig stärker wachsen als im Lichte. Desgleichen mag hier eine von mir!) konstatierte Erscheinung des Thermotro- pismus angeführt sein, welche sich darin zeigt, dass Pflanzenteile, einseitig bis über das Wachstumsmaximum erwärmt, grade an dieser gewissermaßen überwärmten Seite das stärkste Wachstum zeigen. Aus dem Gesagten aber wird hervorgehen, dass über diese Fragen eine Verständigung mit dem Verf., welcher nach seinen misslungenen Erklärungsversuchen nun den A&rotropismus als eine paratonische Nutation auffasst, wohl nicht erzielt werden dürfte. Als Anhang teilt der Verf. dann noch einige Versuche über den Einfluss des Leuchtgases auf das Wachstum der Wurzeln mit, aus denen sich, wie- vorauszusehen war, ergibt, dass das Leuchtgas schäd- lieh auf die Pflanze wirkt, und zwar weniger deshalb, weil es Sauer- stoff verdrängt, als weil es direkt giftig ist. Ferner konstatiert Verf., dass auf 1 mm dekapitierte Wurzeln in emer 2—4°/, Leuchtgas ent- haltenden Atmosphäre stärker in die Länge wachsen als unversehrte Wurzeln. Was zum Schluss der Arbeit über den Nutzen des A&rotropismus gesagt ist, mag eventuell im Originale selbst nachgesehen werden. Wortmann (Strassburg i/E). E. Stahl, Einfluss des Lichtes auf den Geotropismus einiger Pflanzenorgane. ;erichte der deutschen Botanischen Gesellschaft. II. Bd. VIII Heft No- vember 1884. In dieser interessanten Arbeit macht uns der Verf. mit einer sehr bemerkenswerten Einwirkung des Lichtes auf den Geotropismus von Rhizomen und Nebenwurzeln (1. Ordnung) bekannt. Die nicht heliotropischen Ausläufer von Adoxa moschatellina wachsen bei allseitigem Zutritt des Lichtes mit der Spitze immer senkrecht oder nahezu senkrecht abwärts, so dass sie, willkürlich in eine be- stimmte Lage zum Horizont gebracht, in dieser aufgenötigten Riehtung nicht weiter wachsen, sondern unter Bildung eines mehr oder weniger weiten Bogens schließlich, nach Verlauf einer kürzern oder längern Frist, wieder schief oder senkrecht abwärts wachsen. Bei Beleuch- tung sind demnach diese Rhizome positiv geotropisch. Ein ganz an- deres Verhalten legen dieselben aber bei Lichtabschluss an den Tag. 1) Vergl. Wortmann, Ueber den Einfluss der strahlenden Wärme auf wachsende Pflanzentheile. Bot. Ztg. 1883. 5. 474. Stahl, Einfluss des Lichtes auf den Geotropismus einiger Pflanzenorgane. 5 insofern sie sich jetzt bei senkrecht aufwärts oder abwärts schauen- der Spitze so lange abwärts bezw. aufwärts krümmen, bis eine hori- zontale Lage erreicht ist, sich also diageotropisch erweisen. Diese Eigenschaften zeigen abgetrennte Ausläufer ebenso gut als noch mit der Mutterpflanze in Zusammenhang befindliche. Diese verschiedenen geotropischen Eigenschaften im dunkeln und bei Lichtzutritt lassen sich nun experimentell durch beliebige Aen- derung der Beleuchtungsbedingungen an einem und demselben Aus- läufer beliebig oft herbeiführen. Bei Lichtabschluss horizontal ge- wachsene Rhizome verändern, ans Licht gebracht, schon in kurzer Frist ihre Wachstumsrichtung, indem bei günstigen Bedingungen schon wenige Stunden genügen, eine vollständige Abwärtskrümmung herbeizuführen; diese jetzt angenommenen positiv geotropischen Eigen- schaften aber werden bei Lichtentziehung nicht ebenso schnell in diageotropische übergeführt, sondern es macht sich hier eine Nach- wirkung geltend, insofern es erst einer länger andauernden Verdun- kelung (in einem Falle etwa 36 Stunden) bedarf, um die Ausläufer durch entsprechende Krümmungen wieder in die horizontale Lage zu bringen. Die Ausläufer von Adoxa, welche schon frühzeitig im Sommer ihr Längenwachstum einstellen, können dureh Liehtzutritt wieder zu erneutem Längenwachstum angeregt werden. „Werden im Laufe des Sommers oder Herbstes solehe (nicht mehr wachsende) Gebilde aus dem Boden entnommen und aufrecht in feuchten Sand oder Garten- erde gesteckt, so fangen bei Liehtzutritt die Endknospen wie auch die Achselknospen der Niederblätter an, sich zu fadenförmigen Ausläufern zu strecken, die abwärts wachsen und so lange sich verlängern, bis sie mit ihrem Ende mehr oder weniger tief unter die Erdoberfläche sich eingebohrt haben.“ Darauf tritt dann eine Krümmung ein, wodurch das Ende in wagerechte Lage gebracht wird und das Längen- wachstum erlischt. Dieselben durch das Licht hervorgerufenen Umstimmungen des Geotropismus zeigten die Rhizome von Circaea lutetiana und Trien- talis europaea, deren Wachstumsweise durch Abtrennung von der Mutterpflanze ebenfalls nicht wesentlich beeinflusst wird. Die Rhi- zome der erstern Pflanze führen bei Liehtzutritt ebenfalls energische geotropische Krümmungen aus, durch welche die vorher senkrecht aufwärts oder horizontal befindliche Spitze nach abwärts getrieben wird; doch erfolgt das Abwärtswachsen hier nicht in senkrechter, sondern in einer mehr oder weniger schiefen Richtung, auch ist zum Hervorrufen desselben schon ziemlich intensives Licht notwendig. Durch wiederholten Wechsel von Licht und Dunkelheit konnten auch hier entgegengesetzt verlaufende Krümmungen zu stande gebracht werden. In ähnlicher Weise wie auf Rhizome wirkt nun das Lieht auch 6 Salensky. Follikuläre Knospung der Salpen. auf den Geotropismus von Nebenwurzeln erster Ordnung beeinflussend. Verf. untersuchte daraufhin die Nebenwurzeln von Phaseolus multi- florus, Vieia Faba, Zea Mays, Zweigwurzeln von Salix alba und Rhi- zomwurzeln von Hydrocotyle bonariensis, und fand in diesen Fällen eine dureh Lichteinfluss hervorgerufene Verringerung des Grenzwin- kels, d. h. desjenigen Winkels, welchen die Seitenwurzeln, unter dem richtenden Einfluss der Schwerkraft, mit der vertikal abwärts wachsen- den Hauptwurzel bilden. Diese Winkeländerungen können recht be- deutend sein, in einem bei Phaseolus konstatierten Falle betrug die Differenz des Grenzwinkels im dunkeln und desjenigen bei diffuser Beleuchtung 105°. Außer in dieser Verringerung der Grenzwinkel macht sich der Einfluss des Lichtes auf den Geotropismus der Nebenwurzeln auch noch darin geltend, dass das Einleiten der geotropischen Krümmung durch Lichtzutritt überhaupt beschleunigt wird, so dass also, da das Licht das Längenwachstum der Nebenwurzeln in sehr bemerklicher Weise retardiert, Wachstumsintensität und geotropische Kraft hier einander nicht proportional sind. Zum Schluss wendet sieh Verf. gegen den etwa zu machenden Einwand, dass die Grenzwinkeländerungen nieht auf den Einfluss der 3eleuehtung, sondern auf die damit verknüpfte Temperaturerhöhung zurückzuführen seien. Hiergegen stellt Verf. fest, „dass die durch Beleuehtung bedingte Verringerung der Grenzwinkel auch dann noch hervortritt, wenn die im dunkeln bei höherer Temperatur kultivierten Pflanzen an einen beleuchteten Ort von bedeutend niedrigerer Tem- peratur gebracht werden.“ Wortmann (Strassburg i/E). „Follikuläre Knospung“ der Salpen und die „Polyembryonie“ der Pflanzen. Von Prof. W. Salensky in Odessa. Die von mir bei der Entwicklungsgeschichte der Salpen!) mitge- teilten Thatsachen weichen von allem bis jetzt über die Entwicklung der Tiere überhaupt Bekannten so sehr ab, dass sie fast unglaublich erscheinen. Ohne mich in die Erklärung dieser Erscheinungen näher einzulassen, wollte ich in dem letzten Kapitel meiner Arbeit nur die Fälle zusammenstellen, wo die Zellen des Follikelepithels bei der Reifung des Eies thätig sind, um damit eine Analogie mit der Salpen- entwicklung auffinden zu können. Leider begnügte ich mich damals nur mit den Entwicklungsvorgängen der Tiere, ohne mich bei meinem 1) W. Salensky, Neue Untersuchungen über die embryonale Entwieklung der Salpen. Mitt. der zool. Stat. zu Neapel. Bd. IV. = Salensky, Follikuläre Knospung der Salpen. 7 Vergleiche der Pflanzenwelt zuzuwenden. Wie ich später durch Prof. Cienkowsky erfuhr, wurden eben bei den Pflanzen Entwick- lungsvorgänge beschrieben, welche die meiste Analogie mit der folli- kulären Knospung darbieten. Es sind die Fälle der sogenannten Poly- embryonie, die von Strasburger!) besonders genau untersucht wur- den und auf welche ich nun verweisen möchte, um zu zeigen, dass die Vorgänge der follikulären Knospung mehr verbreitet sind, als man ohnedem glauben könnte. Die Eigentümlichkeit der von mir als follikuläre Knospung be- zeichneten Fortpflanzungsart besteht darin, dass der Embryo nicht, wie gewöhnlich, aus den Furchungszellen bezw. aus den Derivaten des be- fruchteten Eies sich entwickelt, sondern aus den Zellen des umgeben- den Gewebes, aus den Follikularzellen entsteht. Durch dieselben Merkmale zeiehnen sich auch die von Strasburger bei den polyem- bryonischen Pflanzen (Funkia ovata, Nothoscordum fragrans, Citrus) beschriebenen Entwicklungsvorgänge aus. Die Eizelle wird auch hier befruchtet und „erst nach vollzogener Befruchtung“, sagt Stras- burger, „pflegt ein merkwürdiger Vorgang sich abzuspielen, ein Vor- gang, der ganz unglaublich scheint, von dessen Existenz man sich trotzdem leicht überzeugen kann.“ Die Merkwürdigkeit des Vorgangs besteht darin, dass die Embryonen nicht ausschließlich aus dem Ei, sondern in der Nähe des befruchteten Eies aus dem Nucleargewebe auf un- geschlechtlichem Wege sich entwickeln. Ob aus dem Ei ebenfalls ein Embryo entsteht, ist aus Strasburger’s Werke nicht zu er- mitteln. Es scheint sogar, dass in dieser Beziehung bei den verschiedenen polyembryonischen Pflanzen eine gewisse Mannigfaltig- keit herrscht. Bei Funkia ovata sah Strasburger nirgends das Ei sich entwickeln; er meint aber, dies „mag nur Zufall gewesen sein“ und fügt hinzu, „dass die Weiterentwicklung des Eies nicht ausge- schlossen ist, falls die Adventivembryonen nicht zu nahe am Ei ent- stehen und die Embryosackwand an dieser Stelle nicht zurückdrängen.“ Bei Nothoscordum hat er doch „Fälle beobachtet, wo dasselbe (das Ei) sich auch weiter entwickelt“ (S. 66). Die Bildung des Embryos aus dem befruchteten Ei war aber bei Strasburger nirgends be- schrieben. Nur bei Citrus bemerkte Strasburger „außer der augen- scheinlich aus dem befruchteten Ei hervorgegangenen Embryonalanlage noch eine Anzahl anderer in größerer oder geringerer Entfernung von derselben“ (S. 67). Die Adventivembryonen scheinen sich von den nor- malen aus dem Ei hervorgegangenen gar nicht zu unterscheiden (S. 66). Wenn wir die Hauptsache der von Strasburger beschriebenen Vorgänge bezw. die Bildung des Embryos in der Samenknospe auf ungeschlechtlichem Wege ins Auge fassen, so finden wir eine un- verkennbare Analogie zwischen diesem Entwicklungsprozess und dem 4) Strasburger, Ueber Befruchtung und Zellteilung. Ss Selenka, Zur Befruchtung des tierischen Eies. von mir als follikuläre Knospung der Salpen bezeichneten. Hier wie dort vollzieht sich eine Befruchtung des Eies, nach welcher nicht das Ei, sondern das dasselbe umgebende Gewebe zur Entwicklung und zum Aufbau des Embryos dient. Bei den Pflanzen wird dieses proli- ferierende Gewebe durch Nucleargewebe, bei Salpen durch das Folli- kularepithel dargestellt. In beiden Fällen gehört die Hauptrolle bei der Entwieklyng nicht der Eizelle, sondern den Nebenteilen des Eies, während die gewöhnlich thätige Eizelle in den Hintergrund tritt. Von einer Erklärung dieser, wie Strasburger richtig sagt „un- glaublichen“ Vorgänge kann jetzt kaum die Rede sein. Die Erschei- nung selbst ist so neu, weicht so sehr von den allgemein angenom- menen Ansichten über die Befruchtung und Entwicklung ab, dass sie noch eingehenderer Erforschung bedarf, um mit den allgemein an- erkannten Thatsachen in Einklang gebracht zu werden. Man muss einstweilen mit der Konstatierung dieser Vorgänge sich begnügen und das Thatsächliche möglichst genau erforschen. Die Analogie, welche in dieser Beziehung zwischen den Pflanzen und der Tierwelt exi- stiert, zeigt jedenfalls, dass der Vorgang nicht so isoliert in der Na- tur steht, wie es auf den ersten Blick erscheint. Müssen wir die „follikuläre Knospung“ bezw. Polyembryonie.der Pflanzen als einen palingenetischen oder als einen cönogenetischen Pro- zess betrachten? Die von Strasburger mitgeteilten Thatsachen lassen diese Frage mehr zu gunsten der Cönogenie entscheiden. Erstens sind die von Strasburger beobachteten Pflanzen solche, welche unzweifelhaft von Vorfahren entstanden sind, bei denen der Sexualprozess bereits vorhanden war; und das kann gewiss auch in bezug auf die Salpen gesagt werden. Zweitens treten in den von Strasburger angeführten Fällen verschiedene und aufeinander- folgende Stufen von der Abnahme der Thätigkeit einerseits und der Zunahme der Thätigkeit des Nucleargewebes anderseits ziemlich deutlich hervor. Bei Citrus verliert das Ei keineswegs seine Ent- wicklungsfähigkeit vollständig, während die Nuclearzellen auch dabei proliferationsfähig sind; bei Nothoscordum kommen noch Fälle vor, wo die Eizelle sich weiterentwickelt; bei Funkia ovata endlich hat Stras- burger nirgends das Ei entwickelt gesehen. Aus dieser Stufenreihe können wir schließen, dass der ganze Prozess in einem allmählichen Verlust der Eithätigkeit besteht, an deren Stelle die Zunahme der Proliferationsfähigkeit der eiumgebenden Gewebe hervortritt. Zur Befruchtung des tierischen Eies. Von Emil Selenka. Die Vorrichtungen, welche das tierische Ei in stand setzen, ein Spermatozoon in sich aufzunehmen d. h. befruchtet zu werden, sind in der Regel von zweierlei Art. Selenka, Zur Befruchtung des tierischen Eies. 9 Zuerst soll dem raschen Anhaften der Spermatozoen auf der Oberfläche des Eies Vorschub geleistet werden; denn je leichter die das Ei umschwärmenden Samenfäden vom Ei festgehalten werden, um so günstiger ist die Chance für die Befruchtung. Die gallertige Beschaffenheit der Eihülle begünstigt häufig diesen Vorgang in ganz evidenter Weise. Zweitens soll von all den anhaftenden Spermatozoen doch nur ein einziges in das Eiinnere gelangen können. Die Ausschließung und Abhaltung der überzähligen Spermatozoen wird vielfach dadurch bewirkt, dass sich sofort von dem Protoplasma des Eies (dem „Dot- ter“), nachdem dasselbe von einem Samenfaden angestochen ist, ein dünnes festes Häutehen, die sogenannte Dotterhaut, abhebt, welche den Stoß- und Bohrbewegungen der übrigen Spermatozoen ein unüber- windliches Hindernis darbietet. Gesichert scheint dieser Vorgang oft noch dadurch, dass nur eine einzige, warzenartig vorspringende Stelle des Dotters, die sich während der Reifung des Eies als eine Art weicher Narbe herausbildet (Dotterhügel) für den Samenfaden weg- sam ist. Das Eiplasma ergreift dann bisweilen den Kopf des heran- getretenen Samenfadens mittels heller beweglicher Protoplasmafäden und zieht denselben ins Eiinnere hinein. Wenn bei dem tierischen Ei — was nicht selten der Fall ist — solehe Vorrichtungen zum Abfangen der Spermatozoen mangeln, so wird durch andere Mittel das gleiche Ziel erreicht, z. B. durch starke Verdünnung des Spermas, durch Trägheit und damit gepaarter Zäh- lebigkeit der Samenfäden und so fort. Eine Ausnahme von dieser Regel machen die Eier einer Nemer- tine, welche ich unlängst in Triest zu beobachten Gelegenheit hatte. Hier treten nämlich immer zahlreiche, 5—30 Spermatozoen an die Eizelle heran, bohren alle zugleich den.Dotter an, und ge- langen darauf sämtlich in die Dotterhaut‘, welche sich infolge davon langsam abhebt. In das Innere des Dotters dringt freilich vor- läufig noch keines der Spermatozoen; dieselben umschwärmen den Dotter nach allen Richtungen, vermögen aber nicht, mit ihren stilet- artig zugespitzten Köpfchen den letztern anzustechen. Dies ist erst etwas später möglich, nachdem eine „Narbe“ in folgender Weise ent- standen ist. Die Abhebung der Dotterhaut bewirkt nämlich die sofortige Rei- fung des Eies, welche darin besteht, dass binnen einer halben Stunde zuerst einer, dann ein zweiter sogenannter Richtungskörper an dem (animalen) Pole des Eies austritt, ein Prozess, welcher als eine Zell- teilung aufzufassen ist und die Verkleinerung („Verjüngung“) des Keimbläschens zur Folge hat. Beide Richtungskörper bleiben nun an der Entbindungsstelle postiert, indem sie einen schmalen Zapfen hellen weichen Dotterplasmas zwischen sich fassen, die oben erwähnte Narbe, an welcher baldigst das erste beste Spermatozoon mit dem 10 Selenka, Zur Befruchtung des tierischen Eies. Kopfe hängen bleibt, rasch von büschelförmigen Ausläufern des Dot- terhügels umklammert wird und durch aktive und passive Bewegung ins Eiinnere gelangt. Sogleich nach diesem Ereignisse lösen sich die beiden Richtungs- körper vom Eipole los, um von den überzäbligen Spermatozoen, wel- che noch 3—6 Stunden lang beweglich bleiben, innerhalb der Dotter- haut umhergepeitscht zu werden und endlich, wie diese selbst, zu grunde zu gehen. Auch bei marinen Planarien (aus der Klasse der Strudelwürmer, welche mit den Nemertinen nahe verwandt sind) habe ich früher eine ähnliche Art des Befruchtungsaktes wahrgenommen; auch hier scheint die Ausstoßung der Richtungskörper als eine Folge der Abhebung der Dotterhaut, deren Entstehung wiederum durch die Thätigkeit des Spermatozoons veranlasst wurde; aber mit dem Ei dieser Seeplanarien kommt stets nur ein einziges Spermatozoon in Berührung. In wel- cher Weise dies bewerkstelligt wird, entzog sich der Beobachtung, da bei diesen Tieren eine wirkliche Begattung stattfindet. Der Fall, dass zahlreiche Samenfäden den Dotter anbohren und in die Dotterhaut aufgenommen werden, steht bisher einzig da. Als nächste Ursache dieses Vorgangs ist der Umstand anzusehen, dass sich bei der erwähnten Nemertine die Dotterhaut auffallend langsam abhebt und daher viele Spermatozoen Zeit finden, dieselbe zu durch- breehen. Kompensiert wird dieser Nachteil wieder durch die außer- ordentliche Schnelligkeit, mit weleher sich die Befruchtung, d. h. das Eindringen des Spermatozoons in das Ei, vollzieht! Das Eigentümliche des beschriebenen Prozesses besteht also darin, dass das Ei anfangs zwar auf allen Seiten von den Samenkörpern angebohrt werden kann, dass aber, nachdem dann die Dotterhaut ab- gehoben worden, die.Peripherie der Eizelle den steehenden und bohren- den Bewegungen der Spermatozoen ein Hindernis entgegensetzt; erst durch die Ausstoßung der Richtungskörper wird eme Narbe, der Dotterhügel, gebildet, welche für die männliche Samenzelle passier- bar ist. Im vierten Hefte meiner Studien über Entwicklungsgeschichte der Tiere, welches die Entwieklung der Nemertinen zum Vorwurf hat, habe ich die verschiedenen auf die Befruchtung abzielenden Vorrich- tungen der tierischen Eier zusammengefasst und ausführlicher be- sprochen. Die Arbeit wird binnen kurzem veröffentlicht werden. Kölliker, Eine Antwort an Herrn Albrecht. 1 Eine Antwort an Herrn Albrecht in Sachen der Entstehung der Hypophysis und des spheno-ethmoidalen Teiles des Schädels. Von A. Kölliker. P. Albrecht hat im Jahre 1884 in einer Abhandlung betitelt: Sur les spondylocentres Epipituitaires du eräne ete., Bruxelles, A. Manceaux S. 28 alles geleugnet und als nicht vorhanden bezeichnet, was bisher über die Entwicklung der Hypophysis, namentlich von Rathke, W. Müller, Mihalkoviez, mir und His ermittelt worden war, ohne auch nur eine Beobachtung anzuführen. Von diesem Verfahren er- laubte ich mir in meinem Grundrisse der Entwicklungsgeschichte 2. Aufl. S. 245 zu sagen, „dass es sich selbst richte“. Das nennt nun P. Albrecht im Biol. Centralblatte Nr. 23 vom 1. Febr. in einer No- tiz betitelt: „Ueber Existenz oder Nichtexistenz der Rathke’schen Tasche“ S. 724 „in heftigster Weise angegriffen werden“, bezeichnet aber doch den Angrıff als sachgemäß. Nun musste man nach dem Titel der besagten Notiz doch erwar- ten, es würden jetzt die den Fachgenossen bisher vorenthaltenen Al- breeht’schen Beobachtungen über die Entwicklung der Hypophysis zu tage treten. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn darum handelt es sich nach Albrecht zunächst nicht, sondern nur einerseits um Irrungen meinerseits in Deutung meiner eignen Präparate und Abbildungen, und zweitens um Albrecht’sche Deutung dieser Zeichnungen. Da nun Al- brecht mit Hinsicht auf die Fig. 308 meiner Entwiecklungsgeschichte 2. Aufl. (Grundriss 2. Aufl. Fig. 109) die kategorische Frage an mich stellt: „Ist (da zugegebenermaßen ms die primitive Sattellehne ist) die Strecke zwischen ms und h der spheno-ethmoidale Teil des Schädels, ja oder nein?“ so will ich ihm die Antwort nicht vorenthalten. Albrecht ist „überzeugt“, dass jeder Fachgenosse mit „Ja“ antworten wird, womit dann meine ganze Darstellung der Bildung des vordern Schädelendes, ebenso wie die von Gegenbaur gestürzt wäre und meine Angaben über die Bildung der Hypophysis aus dem Grübcehen bei h als unrichtig sich ergäben. Ich antworte nun aber mit „nein“ und verweise Albrecht auf meine ausführliche Schilderung der Entwicklung des prächordalen (prävertebralen Gegenbaur) Teiles des Schädels in meiner Entw. 2. Aufl. S. 431 und im Grundrisse 2. Aufl. S. 199, aus denen er im voraus hätte ersehen können, wie ich seine Frage beantworten würde. Außerdem mache ich ihn noch aufmerksam auf drei, wie es scheint, ihm unbekannte Abbildungen zur Entwicklung der Hypophysis und des Schädels (Kölliker, Embryol. Mitteilungen in der Festschrift der Hallenser naturforsch. Gesellschaft 1879 Taf. V. Fig. 1, 2, 3), die bei etwas gutem Willen hinreichende Aufklärungen über die Be- ziehungen der Chorda zur Hypophysis geben. Bei dieser Gelegenheit will ich mir nun aber doch auch erlauben, {? Hermann, Zur Morphologie und Physiologie der Geschmacksorgane. an Albreeht nicht eine Frage, aber eine Aufforderung zu richten und zwar die, den ausgebildeten Ochsenschädel, der im Septum narium in der ganzen Länge auf 15,5 em die Chorda dorsalis enthalten soll (S. Albrecht 1. e. p. 31 ff.), einem kompetenten Embryologen, ent- weder Lieberkühn oder Hensen oder His, zur Ansicht zu senden. Albreeht schlägt auch aus dieser von mir (Grundriss der Entw. 2. Aufl. $S. 213) angezweifelten Thatsache Kapital und verwertet die- selbe für die Behauptung, dass es keinen prächordalen Teil des Sehädels gebe. Kommt Albrecht dieser Aufforderung nicht nach, so werden die Fachgenossen wissen, wie es mit der Begründung der Hypothesen dieses Forschers steht. Würzburg den 15. Februar 1885. Ueber einige neuere Arbeiten zur Morphologie und Physio- logie der Geschmacksorgane. Im II. Bande des Biologischen Centralblattes, Jahrg. 1882, hat Gottsehau eine Zusammenstellung der Arbeiten gegeben, welche vom Jahre 1871 an über die Anatomie der Geschmacksorgane erschienen waren. Diesmal möchte ich zwei Arbeiten einer Besprechung unter- ziehen, welche erst neuerdings und zwar beide in den Sitzungsberich- ten der kais. Akad. der Wissenschaften zu Wien erschienen sind. Die eine derselben ist von A. Lustig und beschäftigt sich mit der Entwicklung der Geschmaeksknospen'!). Ich selbst habe über diesen Gegenstand Untersuchungen gemacht, deren Ergebnisse der Erlanger medizinischen Fakultät im Februar 1884 als Inauguraldissertation vor- gelegt worden und im letzten Bande des Waldeyer’schen Ar- ehivs für mikroskopische Anatomie erschienen sind. Ich freue mich, dass die Resultate, zu denen ich gelangt bin, im wesentlichen mit denen übereinstimmen, die Lustig mitteilt. Diese Mitteilungen von Lustig beziehen sich auf die Genese der Geschmacksorgane beim Kaninchen and beim Menschen. Beim Kaninehen erscheinen die Knos- pen erst sehr spät, erst innerhalb des ersten Lebenstages, und zwar sind sie nur an der freien, der Mundhöhle zugewendeten Fläche der Falten und dem obern Dritteile der seitliehen Wand nachzuweisen. Zugleich findet sieh eine verschieden weit vorgeschrittene Entwicklung der einzelnen Knospen: einzelne derselben sind schon scharf begrenzt und so den Knospen des ausgewachsenen Tieres ähnlich geworden, die Mehrzahl jedoch entbehrt noch der schützenden Hülle der soge- nannten Deckzellen und stellt radiär zu dem schon gebildeten Ge- 1) A. Lustig, Beiträge zur Kenntnis der Entwicklung der Geschmacks- organe. Sitzungsberichte der k. Akad. der Wissenschaften. Bd. LXXXIX. Ill. Abt Aprilheft Jahrg. 1884. Hermann, Zur Morphologie und Physiologie der Geschmacksorgane. 13 schmacksporus gestellte Gruppen von Sinneszellen dar, welche gegen das Stroma zu das Epithel der Papille durchsetzen. Am Ende der ersten Woche sind die Knospen schon zum größten Teile scharf abge- grenzt, sie erreichen aber erst am Anfang der dritten Woche jene An- ordnung und Form, wie wir sie beim erwachsenen Tiere vorfinden. Lustig hat nun auch bei verschieden alten Kaninchenföten nach Entwieklungsstadien der Geschmacksknospen gesucht, gibt aber an, dass dieselben den embryonalen Papillae vallatae und foliatae des Ka- ninchens gänzlich fehlen. Diesen Satz kann ich nun durchaus nicht anerkennen. Ich fand schon bei Kaninchenföten von 5 em Länge die ersten Entwicklungsstadien der Knospen in Form von einzelnen Grup- pen spindelförmiger Basalzellen des Epithels, welche ihren Sitz auf der freien, der Mundhöhle zugekehrten Fläche der Papilla vallata haben; an der Stelle des Wallgrabens ist allerdings noch nichts zu bemerken, ebensowenig an der ganzen Papilla foliata. Diese auf der freien Oberfläche der Pap. vallata sitzenden Geschmacksknospen er- reichen bei Föten von 7 cm Länge ihre höchste numerische Entfaltung, verschwinden aber wieder in demselben Verhältnisse, als sich an dem Wallgraben die Knospen entwickeln. In bezug auf nähere Einzelheiten erlaube ich mir auf meine Untersuchungen hinzuweisen. Ich weiß nun nicht, warum ich hierin zu anderen Resultaten gelangt bin als Lustig, jedenfalls aber muss ich in Hinblick auf meine Präparate daran festhalten, dass beim Kaninchen auch während des intraute- rinen Lebens auf der freien, der Mundhöhle zugewendeten Fläche der Papilla vallata Geschmacksknospen in be- trächtlicher Anzahl sieh vorfinden. Was nun die Genese der Knospen beim Menschen betrifft, so un- tersuchte Lustig zuerst einen Fötus aus dem 5. Monat und fand, dass in diesem Stadium des intrauterinen Lebens en oder Entwicklungsphasen derselben noch nicht zu finden sind. Bei Föten aus dem 7. Monat fanden sich Geschmacksknospen, und zwar lagen dieselben zum größten Teile auf der freien, der Mundhöhle zugekehrten Fläche der Papilla. Dieser Umstand scheint mir von en Gesichtspunkten aus großes Interesse zu bieten. Einmal scheint daraus hervorzugehen, dass gesetzmäßig, mit Berücksichtigung der von mir gefundenen vollkommen gleichen Verhältnisse beim Ka- ninchen, die Knospen zuerst auf der freien Papillenoberfläche, dann erst in den kapillaren Spalten des Ringwalles sich entwickeln, und zweitens dürfte dieses Verhältnis in phylogenetischer Beziehung nicht ohne Interesse sein. Dass die Knospen auf der freien Ober- fläche der Papille die primär entwickelten sind, bestätigt ja auch Lustig, wenn er sagt, „diejenigen Becher, welche der freien Ober- fläche der Papilla vallata aufsitzen, seien stets in der Entwicklung weiter gegangen als jene, welche an anderen Stellen das Epithel dureh- setzen.“ Lustig untersuchte weiter Föten aus dem 8. und 9. Monate, / ermann, Zur Morphologie un« ıysiologi " geschmacksorgane. 2 "H ‚ Zur Morphologie und Physiologie der Geschmacksorga sowie neugeborne Kinder, und fand an solchen die Knospen in immer srößerer Anzahl in dem Ringgraben der Papillen; wie sich bei sol- chen reifen Früchten die Knospen auf der freien Oberfläche an Zahl Beschaffenheit ete. verhielten, wird nicht mitgeteilt. Eine weitere Arbeit, deren Resultate ich besprechen möchte, ist von Dr. Otto Drasch und betitelt sich: histologische und phy- siologische Studien über das Geschmacksorgan!). Verf. gibt zuerst einen allgemeinen Ueberblick über den Bau der Papilla foliata des Kaninchens und erwähnt dabei eines jedes primäre Pa- pillenblatt der Länge nach durchziehenden Hohlraumes, den er aus dem Vorhandensein einer endothelialen Auskleidung als zentralen Lymphraum deutet. Diese Deutung dieses Hohlraumes, den übrigens schon Ranvier?) erwähnt, scheint mir vollkommen unrichtig zu sein. Ganz abgesehen davon, dass es wohl als Kuriosum anatomischer Be- weisführung betrachtet werden dürfte, allein aus dem Nachweis endothelialer Bekleidung einen Hohlraum als Lymphgefäß zu deuten, möchte ich gegen die Ansicht des Verf. einige, wie mir dünkt, ziem- lieh wichtige Beweise anführen. Einmal sieht man an der Papilla foliata eines frisch getöteten Kaninchens makroskopisch jedes Blatt der Länge nach von einem mit dem am hintern Pole des Organs be- findlichen Gefäßbündel in Zusammenhang stehenden Gefäße durch- zogen, und zweitens gelingt es, sowohl an Horizontal- als Vertikal- schnitten, den Hohlraum mit roten Blutkörperchen erfüllt zu sehen, ein Beweis, dass wir es nicht mit einem Lymphraum, sondern mit einem weiten Blutgefäß und zwar mit einer Vene zu thun haben. Nachdem Verf. im Schleimhautstroma der sekundären Blätter noch schalenförmige Vertiefungen beschrieben, denen die Geschmacksknospen unmittelbar aufsitzen, tritt er ein in die vielumworbene Frage nach dem Zusammenhange der Neuroepithelien mit Nervenfasern, bezw. dem Verlaufe der Nerven in der Papilla foliata überhaupt. Schon Ranvier (l. e.), Hönigschmied?°) und Sertoli*) gaben bekanntlich Abbildungen von Geschmacksknospen mit den 8 zutreten- den Nerven, jedoch geben diese sämtlichen Bilder, die unter der An- wendung der Goldmethode gewonnen wurden, keine vollständige Ein- sicht in die Verhältnisse. Einmal lässt sich nirgends ein direkter Zusammenhang einer Nervenfaser mit einer Zelle der Knospen nach- weisen, man sieht eben nur schwarze Faserbündel zu den gleichfalls schwarzen Knospen hinziehen, um in deren Innerem sich zu ver- lieren, und dann sind eben die beiderlei die Knospen zusammen- 1) Aus dem LXXXVIII. Bande der Sitzungsberichte d. kais. Akad. der Wissenschaften. III. Abt. Dez.-Heft. Wien. Jahrg. 1883. 2) Ranvier, Technisches Lehrbuch der Histologie. S 875 3) Zeitschr. f. wiss. Zoologie, Bd. 23. 1873. 4) Moleschott’s Untersuchungen zur Naturlehre des Menschen und der Tiere. 1876. Hermann, Zur Morphologie und Physiologie der Geschmacksorgane. 15 setzenden Zellenarten, die Stütz- und Stiftehenzellen durch das Gold- salz gleichmäßig geschwärzt, so dass sich aus diesen Bildern nicht ent- scheiden lässt, welehe der beiden Zellarten neuroepithelialer Natur ist. Nur dem Entdecker der Geschmacksknospen beim Säugetiere, Loven, war es gelungen, eine Stiftchenzelle mit einem feinen Fäserchen ver- bunden zu isolieren, ohne jedoch dessen nervöse Natur sicher beweisen zu können. Auch Drasch ist es nicht gelungen, diesen Zusammen- hang zwischen Neuroepithel und Nerv zu finden, dagegen gibt er eine ausführliche Beschreibung des Verlaufs der Nerven innerhalb der Papille. Er verfährt dabei so, dass er die Papille in toto vergoldet, dann die einzelnen Blätter, nach Ablösung des Epithels, abspaltet und nun die Anordnung der Nerven an Flächenpräparaten beobachtet. Der Nervus glossopharyngeus bildet in der Schleimhaut ein ziem- lich weitmaschiges, flächenhaft ausgebreitetes Netz, und von diesem erst steigen die Nervenstämmchen bündelförmig in die einzelnen Blät- ter empor. Beschäftigen wir uns zuerst mit den Nerven des primären Blattes, so bilden dieselben, teilweise aus markhaltigen, zum größten Teile jedoch aus marklosen Fasern bestehende Plexus, und zwar einen subepithelialen, von dem sich dann wieder ein intraepithelialer ablei- tet und dann noch einen Plexus, der den zentralen Hohlraum des pri- mären Blattes, Drasch’s Lymphraum, umspinnt. In den sekundären Blättern nun beschreibt Dr. äußerst reiche Plexus von Nervenfasern, welche allenthalben anastomotisch unter sich in Zusammenhang stehen und ebenfalls wieder ein intraepitheliales Netzwerk abgeben. Zahl- reiche mikroskopisch kleine Ganglien stehen in Verbindung mit dem im Blattstroma verlaufenden, diehten Nervenplexus, und von diesem sollen sich nun Fasern freimachen, welche „bei ihrer Annäherung an die Oberfläche, senkrecht zur Richtung abgeplattet, sich konisch verbrei- tern“ oder „nach einer knotigen Anschwellung mit einem zugespitzten Zapfen endigen“. Darin will nun Drasch eine eigentümliche Art der Nervenendigung innerhalb des Blattstromas sehen, ein Satz, der ge- wiss mehr als hypothetisch erscheinen muss. Einmal möchte ich dabei erinnern an die von allen Autoren zugegebene ungemeine Ka- priziosität der Goldmethode an und für sich, an die Thatsache, dass dabei ungemein leicht Trugbilder entstehen können, und dann scheint mir doch die Methode Drasch’s, die einzelnen Blätter der Papille un- ter dem Präpariermikroskope mit einem Skalpell aus freier Hand abzuspalten, bei der Kleinheit der Verhältnisse, — die Dicke des sekundären Blattes beträgt z. B. 0,025 mm — eine zu wenig sub- tile, um daraufhin nichts geringeres als eine vollständig neue Art der Nervenendigung nachweisen zu können. Wenn nun Drasch daraufhin den Satz aufstellt: „es kann kaum noch zweifelhaft sein, dass in der That die Mehrzahl der geschmack- empfindenden Fasern im Blattstroma selbst enden und nur eine geringe Menge derselben zu den Knospen umbiegen und in deren 46 Hermann, Zur Morphologie und Physiologie der Geschmacksorgane. Innerem ihr Ende erreichen“, so möchte dies doch allen Ansichten widersprechen, die man gegenwärtig über die Endigungsweise eines eigentlichen Sinnesnerven zu haben pflegt. Denn abgesehen davon, dass wir bis jetzt keinen eigentlichen Sinnesnerven kennen, der nicht sein Ende in Gebilden epithelialer Natur, den Neuroepithelien, finden würde, ist doch die erste Frage, welche man sich aufstellt, die, wie die Geschmackstoffe, also flüssige oder wenigstens im Mundspeichel lösbare Substanzen, auf die unterhalb der Epitheldecke gelegenen Nervenendigungen einwirken sollen. Diese Frage stollt sich Drasch auch selbst und gibt darauf die Antwort, dass er behauptet, die Ge- schmacksknospen seien alsKapillarvorriehtungen aufzufassen, und dazu auch durch die eigentümliche an die Blätter einer Zwiebel er- innernde Anordnung befähigt. Diese Auffassung der Geschmacks- knospen aber kann mir durchaus nicht einleuchten; ich kann mir nicht denken, dass Organe, die wie die Geschmacksknospen so alle Eigentümlichkeiten eines sensitiven Endorgans haben, nur dazu dienen sollten, den Geschmackstoffen den Durchtritt zu den geschmackempfin- denden Fasern zu gewähren. Denn es ist durchaus nicht richtig, dass, wie Drasch sagt, noch nicht einmal der eigentliche Typus der Ge- schmackszelle festgestellt sei. Wir haben es vielmehr in den die Achse der Knospen einnehmenden spindelförmigen Zellen, mag man sie nun Stiftchen- oder Stäbchenzellen nennen, mit Neuroepithelien zu thun, die so vollkommen homolog sind den in anderen Sinnesorga- nen, — ich verweise hier nur auf die bekannten M. Schultze’schen Abbildungen des Riechepithels!) — vorkommenden Nervenendzellen, dass man an ihrer Natur nicht wohl zu zweifeln vermag. Und auch die sogenannten Deckzellen der Geschmacksknospen erscheinen homo- log den bei anderen Sinnesorganen, vorzugsweise beim Geruchsorgan (ef. 1. e.) vorhandenen epithelialen Stützzellen. Gegen die Drasch’sche Auffassung der Geschmacksknospen spricht ferner das Vorkommen von im wesentlichen wenigstens ganz konform gebauten Endknospen, mag man deren physiologische Bedeutung nun mit F. E. Schultze in der Perzeption von Geschmaekseindrücken, oder mit Merkel von Tastempfindungen suchen, an Orten, wo gewiss von einer „Kapillar- vorrichtung“ nicht die Rede sein kann. Ich erinnere hier an das Vorkommen der Endknospen in der Epidermis des Kopfes ete. von Fischen und im Wasser lebenden Amphibien, und erst neuerdings hat Blaue?) in einer ausführlichen Arbeit bei Fischen diese Knospen als Endorgane des Olfactorius beschrieben und den Zusammenhang von Nervenendzelle und Nervenfaser direkt unter dem Mikroskop beobach- 1) Cf. Stricker, Lehrbuch der Gewebelehre (Geruchsorgan) und Ranvier, Lehrbuch d. techn. Histologie S. 864. 2) Arch. f. Anatomie und Physiologie. Anatom. Abteilung. Jahrg. 1884. Heft III und IV. Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. 17 ten können, lauter Thatsachen, die mir entschieden gegen die Meinung von Drasch zu sprechen scheinen. Drasch teilt weiter Beobachtungen mit, die er an der Papilla fo- liata bei direkter Reizung derselben, oder des N. glossopharyngeus gemacht hat. Er legte zu diesem Zweck die Papilla und den N. glossopharyngeus frei und ließ nun teils elektrische, teils chemische Reize einwirken. Die im Ruhezustand bläuliche Papille turges- ziert im Moment der Reizung, wird hellrot und augenblicklich von einer reichlichen, aus den Kapillarspalten hervortretenden Flüssigkeit überströmt. Diese ist wasserklar, fadenziehend und stark alkalisch. Im Anschluss an diese Beobachtung wirft Drasch noch die Frage auf, wie man sich wohl die „Reinigung der Papillenfurchen vom Sekrete“, also die Vorbereitung für neue Geschmackseindrücke zu denken habe. Als kapillare Räume bleiben natürlich diese Furchen auch während des Ruhezustandes der Papille von Sekret erfüllt; Drasch glaubt nun, dass dabei „die Knospen ebenfalls als Kapillarvorrichtungen wirkten, welche dazu dienen, die in den Spalten vorhandenen Flüssig- keiten weiter in die Tiefe zu befördern“, und hierin würden sie da- durch unterstützt, „dass der Strom in den größeren Lymphgefäßen, in welche die im Stroma unter den Knospen befindlichen kleineren ein- münden, den in den Spalten angesammelten Flüssigkeiten gegenüber etwa wie ein Injektor wirke; so sei es wenigstens denkbar, dass Spalten und Knospen fortwährend neu bespült und wieder gereinigt werden“. Dieser Vorgang lässt sich doch etwas einfacher, und wohl der Wirklichkeit mehr entsprechend erklären. Drasch gibt ja zu, dass der Erguss von Drüsensekret ein reflektorischer Vorgang ist, und eben dadurch wird ja nach jedem Reize, der die Papille trifft, die in der Papillenfurche vorhandene Flüssigkeitsmenge von selbst durch die neu eintretende abundante Sekretion entfernt werden; dadurch werden die Knospen für neue Geschmacksperzeptionen fähig gemacht, olıne dass es dabei nötig wird, die Knospen als Kapillarvorriehtungen aufzufas- sen und dem Lymphgefäßsystem die an diesem Orte doch etwas ge- künstelte Rolle eines Injektors aufzunötigen. F. Hermann (Erlangen). Kritischer Bericht über die neueren physiologischen Unter- suchungen, die Großhirnrinde betreffend. Von Sigmund Exner. Die im Jahre 1870 erschienene Abhandlung von Fritsch und Hitzig!) bildete den Ausgangspunkt eines bis auf den heutigen Tag fortgeführten Streites über die Frage, ob die verschiedenen Bezirke 4) Archiv f. Anatomie u. Physiologie. 18 Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. der Großhirnrinde physiologisch gleichwertig sind, oder ob sie sich in ihrer Funktion von einander unterscheiden. Während ein Teil der Forscher heute noch auf dem Standpunkte steht, welchen die Physio- logie in den mittleren Dezennien unseres Jahrhunderts und als Aus- druck der Reaktion gegen die Gall’schen Lehren allgemein einge- nommen hatte, indem sie eine Lokalisation der Funktionen in der Rinde nicht zugeben, hat ein anderer Teil ..der Gelehrten die Gehirn- oberfläche wieder landkartenartig in Distrikte geteilt, wie einst in den Zeiten Gall’s und seiner Schüler. Wenn ich es im folgenden unternehme über die Untersuchungen zu referieren, welche in den letzten Jahren in dieser Richtung ausge- führt worden!), so geschieht es in der Hoffnung zur Klärung des Gegenstandes selbst etwas beitragen zu können, denn ich werde zei- sen, dass der Widerspruch in den thatsächlichen Ergebnissen der Untersuehungen durchaus nieht so groß ist, wie man dies nach der Heftigkeit, mit welcher der Streit geführt wurde und noch geführt wird, erwarten sollte. Um den Stand der Angelegenheit ins Gedächtnis zurückzurufen, sei in Kürze erwähnt, dass Fritsch und Hitzig bei elektrischer Reizung der Gehirnoberfläche (hauptsächlich von Hunden) gewisse Punkte, ich nannte sie Rindenorte, gefunden haben, die dadurch charakterisiert waren, dass an jedem derselben schwächere Ströme ausreichten eine Bewegung in einer bestimmten Muskelgruppe aus- zulösen, als an jedem andern Orte der Rindenoberfläche. So konnten z. B. vom Orte a aus Ströme noch eine Bewegung der gegenüber- liegenden Vorderpfote hervorrufen, welche, auf andere Stellen der Rinde appliziert, diese Pfote nicht in Bewegung setzten. Ein anderer Rindenort hatte dieselben Eigenschaften für die Hinterpfote u. s. w. Durch diesen Versuch und den weitern Nachweis, dass bei dem- selben wirklich ein Bestandteil der Rinde (und wären es auch nur die an der gereizten Stelle in den Stabkranz eintretenden Nerven- fasern) und nicht irgend ein subkortikales Organ den Angriffspunkt des Reizes bildet, war meines Erachtens die Lehre von der Lokali- sation der Funktionen begründet, und die tausendfältige Wiederholung des Versuches hat dieses Fundament nur befestigt. Denn der Ver- such lehrt, dass verschiedene Rindenteile in gleicher Weise erregt verschiedene Effekte hervorrufen; es gibt also funktionelle Verschie- denheiten der Rinde. Dabei ist es für die Lokalisationsfrage im Prinzipe gleichgiltig, ob bei dem Versuche die Ganglienzellen oder 1) Ueber die früheren Arbeiten vergl. das kürzlich erschienene Werk: Histoire et eritique des progres r&alis&s par la physiologie exper. et la m&thode anatomo-elinique dans V’&tude des fonetions du cerveau par Levillain. Paris 1534. Es kann zur Orientierung über unsern Gegenstand empfohlen werden, obwohl es auffallende Lücken in der Literatur-Kenntnis des Autors verrät. Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde 49 die Nervenfasern direkt erregt wurden, ob letztere an der gereizten Stelle aus Ganglienzellen entspringen oder diese Stelle in ihrem Ver- laufe passieren ete. Der Versuch sagt weiter gar nichts darüber, in welcher Beziehung das zuckende Bein zu dem Rindenanteile steht, und er besagt gar nichts über die Beziehungen der übrigen Rinden- stellen zu dem betreffenden Bein. Es kann, obwohl der Versuch „einen Rindenort des gegenüberliegenden Vorderbeines“ kennen ge- lehrt hat, doch noch die ganze übrige Rinde zu demselben Bein in Beziehung stehen. Man kann eben bei einem Organ, wie die Hirn- rinde eines ist, nicht zu wenig Voraussetzungen machen, wenn es sich um die Deutung eines Versuches handelt; und das nicht immer gerechtfertigte Bestreben einen Versuch zu „verstehen“ leitet leicht dazu, bewusst oder unbewusst Voraussetzungen zu machen. Das sind die Gesichtspunkte, aus welchen ich Schiff!) und Goltz?) nicht beipflichten kann, wenn sie der Ansicht sind, dass „man Mühe hat, ein Lächeln zu bekämpfen denen gegenüber, die Nervenzentren mit Hilfe des galvanischen Stromes entdecken wollen.“ Ob man Nervenzentren entdeckt, hängt vor allem davon ab, was man ein Nervenzentrum nennt; Thatsachen aber kann man entdecken, z.B. die Ungleichwertigkeit verschiedener Rindengebiete. Aehnliche Auffassungen lassen sich für jene Versuche geltend machen, bei welchen nach Exstirpation von verhältnismäßig kleinen Rindenstücken Erscheinungen auftreten, welche je nach der Lokalität der Exstirpation verschieden sind. Ferrier?) hatte Reizversuche gemacht und die dabei erhaltenen Bewegungen in bestimmten Muskelgruppen im allgemeinen betrachtet als reflektorisch dadurch ausgelöst, dass der Reiz in dem Tier den Eindruck einer Empfindung hervorrief. Erst diese veranlasse das Tier zu einer Bewegung. So kam fär Hund, Affe und andere Tiere eine Zeiehnung der Hirnoberfläche zu stande, auf der die verschie- denen Territorien für die Sinnesorgane sowie für die einzelnen Mus- kelgruppen angegeben sind. Nach anatomischen Anhaltspunkten wurde dieses Schema dann vom Affen auf den Menschen übertragen. H. Munk *) hat hauptsächlich Exstirpationsversuche ausgeführt und die darauffolgenden Störungen im Gebiete der Sinnesorgane und der Motilität beobachtet. Er kam so zu Abgrenzungen von Rinden- territorien, welehe fast die ganze Hirnoberfläche einnehmen und welche ı) Pflüger’s Arch. f. d. ges. Physiologie Bd. XXX. Erregbarkeit des Rücken- markes. 2) Ebenda Bd. 34. Verrichtungen des Großhirns. 3) Die Funktionen des Gehirns, deutsch v. Obersteiner. Braunschweig 1879. 4) Die älteren Abhandlungen gesammelt in: Ueber die Funktionen der Großhirnrinde. Berlin 1881, die neueren Abhandlungen in den Sitzber. der Berliner Akademie d. Wiss. 2 20 Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. mit „Hörsphäre“, „Sehsphäre“, „Fühlsphäre des Vorderbeines“ u. s. w. bezeichnet werden. In einem solchen Gebiete, z. B. dem letztgenannten, sollen nun die Gefühlsvorstellungen abgelagert sein, welche das Tier in betreff seines Vorderbeines hat, oder haben kann. Munk beobachtete, dass auch nach vollkommener Exstirpation dieser Fühl- sphäre das Tier noch läuft, die gedrückte Pfote zurückzieht, das sollen aber Reflexe sein, welche ohne das Wachrufen der bezüglichen Vor- stellungen ablaufen. In den wichtigsten Thatsachen stimmen die ver- schiedenen Beobachter betreffend das Gebaren eines so verstümmelten Tieres überein, und ob die Differenz dieses Gebarens gegenüber einem normalen Tiere durch das Ausfallen der betreffenden Vorstellungen zu erklären ist, kann, scheint mir, kaum der Gegenstand eines wis- senschaftlichen Streites sein. Unser Urteil darüber ist doch zu un- sicher, in wieweit ein Analogon dessen, was die Psychologen beim Menschen eine „Vorstellung“ genannt haben, irgend eine direkt beob- achtete Muskelaktion auch eines normalen Hundes beeinflusst. Viel- leicht ist es vorzuziehen den Ausdruck zu wählen: die Tiere können diejenigen Aktionen, welche einen kompliziertern psychischen Prozess voraussetzen, nicht mehr oder nur unvollkommen ausführen. Die ein- zelnen Territorien liegen nach Munk neben einander, d.h. sie greifen nicht in einander, decken sich nicht teilweise oder ganz. Dem gegenüber hatten Brown-Sequard u. a. die Beweiskraft dieser Experimente für die Lehre von einer Lokalisation bestritten und Goltz!) bis in die neueste Zeit dieselbe wenigstens nicht aner- kannt. Wie Goltz jetzt denselben gegenübersteht, wird noch weiter besprochen werden. Vorläufig sei zur Klarlegung von dessen Stand- punkt nur folgendes hervorgehoben. Sein Widerstand gegen die Lo- kalisationslehre ist nicht gegen deren Prinzip gerichtet, sondern gegen die Art, wie sie insbesondere von Ferrier und Munk ausgeführt wurde. Zahlreiche Versuche haben ihn gelehrt, dass man große An- teile der Gehirnrinde entfernen kann, in welchen mehrere der Terri- torien der genannten beiden Forscher gelegen waren, ohne dass die Symptome aufgetreten wären, welche nach den genannten Territorial- einteilungen erwartet werden müssten. Ja wenn man die ganze Um- sebung des Suleus eruciatus eines Hundes, auf welchem die wich- tigsten „Fühlsphären“ liegen, exstirpiert hatte, so verhielt sich das Tier doch noch ähnlich einem normalen gegenüber den Tasteindrücken im Vorderbein, im Hinterbein ete., ja es lief auch noch, obwohl die „Zentren“ Hitzig’s mit entfernt waren. Goltz hat auf zwei medi- zinischen Kongressen je einen Hund, der geraume Zeit vorher operiert worden war, vorgewiesen, darauf getötet, es wurde ein Gehirn kom- missionell untersucht und die oben geschilderten Thatsachen auf diese 1) Die früheren Abhandlungen gesammelt in: Ueber die Verrichtungen des Großhirns. Bonn 1881. Die neueren in Pflüger’s Archiv f. d. ges. Physiologie. Bd. 23 und Bd. 34. Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. 2 Weise so erhärtet!), dass sie wohl binnen kurzem allgemein aner- kannt sein dürften. Doch darf daraus nicht gefolgert werden, dass jene Einteilung in Territorien gar keine Bedeutung mehr habe; sie hat noch Bedeutung sowie die Hitzig’schen Rindenorte noch Bedeutung haben, obwohl das Tier, dessen Rindenort für die vordere Extremität exstirpiert ist, diese noch gebrauchen kann. Hingegen muss notwendig die Vor- stellung von der scharfen Begrenzung und von dem nebeneinander dieser Territorien fallen, die Vorstellung, als wäre ein solches Terri- torium dazu da, die Bewegung und das Gefühl in einem bestimmten Körperteile ganz und vollständig zu besorgen, so dass kein anderer Rindenbezirk mit diesem Körperteil in Beziehung stünde; eine Vor- stellung, der man bisweilen sogar in der Form begegnet, als hätte dieser Rindenanteil überhaupt keine andere Funktion als eben die genannte. Mir erscheint dieses Bedürfnis, Rindenterritorien mit scharfen aneinanderstoßenden Grenzen abzuzirkeln, wie ein Bann, der aus der Zeit von Gall’s Schule noch auf der Lokalisationslehre lastet. Es ist, als hätten die Entdeckungen Hitzig’s das alte Gall’sche Gips- schema, das wir alle noch als historisches Altertum aus Gelehrten- stuben und Museen kennen, so lebhaft in Erinnerung gerufen, dass dieses Gedächtnisbild, sobald nur der Name „Lokalisation“ genannt wird, sich mit Gewalt vordrängt. Immer und überall stößt man auf die Schwierigkeit diese Vorstellung bekämpfen zu müssen. Ich be- daure, dass die Natur nicht solche Territorien gemacht hat, es wäre einfacher und vor allem würde die Darstellung dadurch wesentlich erleichtert. Nun es aber nicht so ist, müssen wir uns in dem kom- pliziertern Gebilde zurecht zu finden suchen. Ehe ich in das Referat der einzelnen Arbeiten eingehe, will ich meinen Standpunkt in der Frage etwas alu präzisieren, als dies im Vorstehenden geschehen ist. Wo immer man einen Schnitt durch die Gehirnrinde senkrecht zur Oberfläche macht, findet man tausende von (markhaltigen) Ner- venfasern, welehe durehschnitten wurden, d. h. welche zwei benach- barte Rindenanteile mit einander verbunden haben ?). Sie spielen bei der normalen Rindenfunktion zweifelsohne eine wesentliche Rolle, sie schwinden, wie Tuezek ?) gezeigt hat, in höherem oder geringerem Grade bei den verschiedenen Graden der Dementia paralytica. Nir- 1) Vergl. Klein, Langley and Schäfer: On the cortical areas remo- ved from the brain of a dog, and from the brain of a monkey. Journal of Physiol. Vol. IV. Eine weitere auf denselben Hund bezügliche Untersuchung von Langley und Sherrington ebenda. Vol. V. 2) Vergl. Sigm. Exner, Zur Kenntnis vom feineren Baue der Großhirn- rinde. Sitzber. d. Wiener Akad. d. W. Bd. 73. Abt. 3. 3) Beiträge zur pathol. Anatomie u. z. Pathol. der Dementia paralytica. Berlin 1884. 22 Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. sends findet man im Bau der Rinde eine Andeutung von abgeson- derten Territorien, im Gegenteil, wenn man nicht leugnen will, dass diese, mehr oder weniger parallel der Oberfläche des Gehirns, aber in allen möglichen Richtungen sich kreuzenden Nervenfasern die nebeneinanderliegenden Rindenanteile in eine funktionelle Verbindung bringen, so muss man die ganze Rinde als ein in gewissem Sinne einheitliches Ganzes auffassen, als das, was sie ist, ein nirgends un- terbrochener Filz von Nervenfasern, in deren Verlauf Ganglienzellen eingeschaltet sind. Aus diesem Filz gehen anatomisch längst bekannte, jetzt auch auf dem Wege der Reizung funktionell erkannte Fasern (Stabkranz- fasern) in die Tiefe, um sich, sei es direkt oder durch Vermittlung subkortikaler Nervenzentren, mit den peripheren Muskel- und Sinnes- nerven in Verbindung zu setzen. Da wo sie die Rinde verlassen, gehen sie aus fortsatzreichen Ganglienzellen hervor, d. h. sie stehen durch deren Fortsätze mit den benachbarten Rindengebieten in Be- ziehung. Alle willkürlich bewegten Muskeln, alle Sinnesorgane stehen durch diese Stabkranzfasern (dem Projektionssysteme erster Ordnung Meynert’s) mit der Rinde in Verbindung, und es fragt sich nur, sind die Fasern verschiedener Sinnesorgane und Muskelgruppen, ehe sie in die Rinde eintreten, bunt durcheinander gewürfelt, so dass z. B. die, welche das bewusste Sehen vermitteln, in gleichmäßiger Vertei- lung in die ganze Rinde eintreten und ebenso die jedes Muskels u. s. f., oder treten die funktionell zusammengehörenden Fasern als geschlos- sene Bündel ein, welche kein fremdes Element enthalten? Es ist noch ein dritter Fall möglich, nämlich ein Mittelding zwischen den beiden genannten, dadurch hergestellt, dass die Fasern zwar im all- gemeinen untermischt, aber nicht gleichmäßig verteilt sind, so dass funktionell vereinigte Fasern an gewissen Rindenstellen diehter, in der Umgebung weniger dicht in die Rinde eintreten. Der erste Fall ist schon auf anatomischer Grundlage lange vor dem Aufleben der Lokalisationslehre als nieht zutreffend erkannt wor- den (Meynert), und ich glaube kaum, dass jetzt noch jemand ernst- lich an denselben festhält. Er ist mit den Thatsachen unvereinbar. Ob der zweite oder der dritte Fall den wirklichen Verhältnissen ent- spricht, muss als eine noch unerledigte Frage betrachtet werden, doch halte ich es aus sogleich anzuführenden Gründen für wahr- scheimlich, dass die endliche Erledigung dieser Frage im großen Ganzen zu gunsten des dritten Falles lauten wird. Doch verweilen wir noch einen Moment beim zweiten Falle (er dürfte vielleicht, wie wir später sehen werden, an einzelnen Rinden- anteilen des Menschen verwirklicht sein), und nehmen z. B.-an, dass die sämtlichen Stabkranzfasern, welehe den Bewegungen des Vorder- beines dienen, als geschlossenes Bündel in die Rindenstelle R ein- treten. Es wird zu erwarten sein, dass nach Exstirpation dieser Stelle RE er TEEN en tn Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großbirnrinde, 23 die Motilität des Beines in hohem Grade gelitten hat, schon deshalb, weil die sämtlichen Stabkranzfasern, welche die Beziehung zwischen Bein und Rinde hergestellt haben, durchschnitten wurden. Was ist aber zu erwarten, wenn R unversehrt bleibt, doch in der Umgebung von R Zerstörungen der Rinde stattgefunden haben? Ich kann nieht daran zweifeln, dass jetzt (abgesehen von den Nebenwirkungen der Operation wie gestörte Zirkulation ete.) abermals Motilitätsstörung in derselben Pfote auftreten muss, denn es hieße der ganzen Masse von Nervenfasern, welche die Stelle R mit ihrer Nachbarschaft verbindet, jede Funktion absprechen, wenn man glaubte, die aus R entspringen- den Stabkranzfasern würden genau ebensolche Impulse von ihren Ur- sprungszellen erhalten, sei es dass die normalen Rindenverbindungen dieser erhalten sind, oder nicht. Man denke an den extremen Fall, dass um R herum ringförmig die ganze Rinde zerstört ist; es wird dann eine Erregungssumme, welche z. B. durch die das Sehen vermittelnden Stabkranzfasern der Rinde zugeführt wird, insoferne sie in der Rinde anderweitige Pro- zesse anregt, ohne jeden Einfluss auf die Leistungen von R sein. Dass dies auch beim normalen Tiere so ist, wird wohl niemand an- nehmen wollen, der mit dem anatomischen Bau der Rinde einiger- maßen vertraut ist. Es leuchtet aber auch ein, dass eine Rindenzer- störung von gegebener Größe im allgemeinen um so weniger von den normalen Verbindungen der Stelle R vernichten wird, je ferner sie von R liegt. Es gilt das von dem allgemein acceptierten Schema der Assoziationsfasern (zwei Stellen der Rinde verbindende Fasern belegt Meynert mit diesem Namen), wobei vorläufig von gewissen einzelnen mächtigen Bündeln derselben abgesehen werden mag, weshalb man eine solche Regel eben nur als „im allgemeinen“ zutreffend aufstellen kann. Die geschilderte Wirkungsart einer Rindenläsion durch Zer- störung der Assoziationsfasern eines unversehrten Rindengebietes kann als physiologische Fernwirkung der Läsion bezeichnet werden, zum Unterschied der pathologischen Fernwirkung, welche durch Entzün- dung, Zirkulationsstörungen u. dergl. zu stande kommt !). Wenn wir demnach denjenigen Rindenanteil, welcher die normalen Bewegungen einer Muskelgruppe merklich beeinflusst, das Rindenfeld dieser Muskelgruppe nennen, so hat es zum mindesten nichts unwahr- scheinliches, wenn dasselbe nicht mit scharfen Grenzen endet, son- dern am Rande allmählich ausklingt. Ich habe dieses „Ausklingen“ an der Hand von Thatsachen gefunden lange, ehe ich obige Betrach- tungen angestellt hatte ?), und muss mich darüber wundern, dass von mancher Seite immer noch an den scharfen Grenzen festgehalten wird. t) Vergl. Sigm. Exner, Zur Frage nach der Rindenlokalisation beim Menschen. Pflüger’s Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 17. 2) Untersuchungen über die Lokalisation der Funktionen in der Großhirn- rinde des Menschen. Wien 18831. 24 Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. Dieses Ausklingen der Rindenfelder wird noch viel plausibler, wenn man nicht den zweiten, sondern den dritten Fall als von der Natur verwirklicht annimmt. Die Ursache, aus welcher ich diese An- nahme für gerechtfertigt halte, liegt in der von mir!) nachgewiesenen Thatsache, dass außer von dem betreffenden „Rindenort“ noch von dem größten Teil der Rindenkonvexität beim Kaninchen Stabkranz- fasern abgehen, deren Reizung Bewegung der gegenüberliegenden vordern Extremität bewirkt. Hier sind diese Fasern also auf ein Gebiet verteilt, welches noch von anderen „Rindenorten“ okkupiert ist 2). Ein weiterer Umstand, der für diese Annahme spricht, legt in den Ergebnissen der ausgedehnten Rindenzerstörungen, welche Goltz an seinen Hunden bewerkstelligt hat. Wenn die Stabkranzfasern der vordern Extremität als geschlossenes Bündel in die Rinde treten würden, so müsste es doch eine gewöhnliche Erscheinung sein, dass nach Exstirpation der ganzen sogenannten motorischen Region alle jene Einflüsse auf die Bewegung der Pfote wegfallen, welche wir der Rinde zuschreiben. Das ist aber nicht ein einziges mal beobachtet worden. Endlich ist zu bedenken, dass beim Menschen z. B. das Rindenfeld der obern mit dem der untern Extremität zum großen Teile zusammenfällt. Keine Thatsache aber gibt es, die dafür spricht, dass die Stabkranzfasern für die beiden Extremitäten von den nicht gemeinschaftlichen Anteilen der Rindenfelder abgehen. Meine Anschauung geht also dahin, dass im allgemeinen die Rin- denfelder ohne scharfe Grenzen teils nebeneinander, teils ineinander liegen und wahrscheinlich die Stabkranzfasern zwar in ungleicher Verteilung, aber nicht als geschlossene Bündel in dieselben eintreten. Dass dieser Charakter der Rindenfelder von Muskelgruppe zu Muskel- gruppe und insbesondere für die Sinnesorgane manchen Schwankungen unterliegen kann, halte ich für selbstverständlich, es geht dies auch aus meinen eignen Untersuchungen hervor. Man kann jetzt als fast allgemein angenommen betrachten, dass das motorische Rindenfeld eines Körperanteils mit dem sensorischen desselben zusammenfällt, unter sensorisch sowohl taktile Empfindungen als Muskelgefühl verstanden. Bechterew?) leugnet allerdings in neuester Zeit diese Koinzidenz wieder und polemisiert über die Be- ziehungen der sensorischen und motorischen Impulse in der Rinde gegen eigentümliche hier nicht näher zu erörternde Anschauungen von Schiff®). Ich gehe auf die Auseinandersetzungen dieses Autors deshalb nieht näher ein, weil ich es für gleichgiltig halte, mit welchen 1) Zur Kenntnis der motorischen Rindenfelder. Sitzber. der Wiener Aka- demie der Wiss. 14. Juli 1881. 2) Vergl. Ferrier'l. e. pag.172. 3) Neurolog. Zentralblatt 1883 Nr. 18 und Pflüger’s Arch. f. d. ges. Phy- siol. Bd. 35 8. 137. 4) Pflüger’s Arch. Bd. 33, een Eee Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. 2 Namen wir diese Wechselwirkung von motorischen und sensorischen Impulsen in der Rinde belegen, solange wir über die Natur derselben nichts genaueres wissen. Endlich kann nicht unerwähnt bleiben, dass ein auf der rechten Hemisphäre gefundenes Rindenfeld nicht bloß zu dem betreffenden Körperteil der linken Seite in Beziehung stehen muss. Es kann auch derselbe Körperteil der rechten Seite von dem Rindenfeld aus inner- viert werden. Ich habe dies für eine Zahl von auf beide Körper- hälften verteilten Muskelpaaren des Menschen zu erweisen gesucht, welehe im Leben gewöhnlich oder zwangsweise gleichzeitig innerviert werden (z. B. Kaumuskeln, Augenmuskeln); Frangois Frank und Pitres!) zeigten es für die vordere Extremität des Hundes, und ich habe unabhängig von diesen dasselbe für Kaninchen und Hund gefunden?). Indem ich nun zur Besprechung der einzelnen Untersuchungen übergehe, teile ich dieselben der bequemern Behandlung wegen nach ihren Untersuchungsobjekten ein in solehe, welche das Tier, und solche, welche den Menschen betreffen. A. Untersuchungen an Tieren. Es ist wiederholt, besonders mit Rücksicht auf Geisteskranke, die Frage ventiliert worden, wo wir den Sitz von Halluzinationen anzu- nehmen haben. Die einen meinten, dieselben müssten da entstehen, wo auch jene bewussten Anschauungsbilder ihren Sitz haben, denen ein äußerer Reiz entspricht, also in der Großhirnrinde, die anderen verlegten sie, da sie gewissermaßen aufgezwungene Bilder, also je- dem Willen entzogen sind, in subkortikale Zentralorgane, vor allem in die Stammganglien des Gehirns ?). Danillo*) hat versucht diese Frage experimentell zu entscheiden. Es bekommen nämlich Hunde unter der Wirkung von Absinth heftige, augenscheinlich durch Hallu- zinationen bedingte Delirien. Zerstörte-Danillo den Sehhügel, zer- störte er den motorischen oder den sensorischen Anteil der Großhirn- rinde, so trat das Absinthdelirium doch ein, in den beiden letzteren Fällen freilich mit etwas modifiziertem Charakter; wenn aber die Rinde der ganzen Konvexität des Gehirns entfernt war, blieb das Delirium aus, und es trat nur ein epileptiformer Anfall auf. Verf. zieht aus diesen (in Vulpian’s Laboratorium angestellten) Versuchen den Schluss, dass der Sitz der Halluzinationen in der Rinde des Großhirns zu suchen ist. 1) Travaux du laboratoire de Marey 1878-1879. 2) Zur Kenntnis der mot. Rindenfelder. Wiener akad. Sitzber. 14. Juli 1881, und Wechselwirkung der Erregungen im Zentralnervensystem. Pflüger’s Arch. f. d. ges. Physiologie Bd. 28. 3) z. B. Meynert, Psychiatr. Zentralblatt 1877. 4) Compt. rend. 22. Mai 1882 und Arch. de Physiol 2. Ser. Vol X. Con- tribution & la Physiologie pathologique de la r&gion corticale du cerveau et delamoelle dans l’empoisonnement par l’alkohol öthylique et ’essence d’ absinthe, 6 lixner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. Mareacci!) kommt auf grund von Experimenten und von Krank- heitsfällen zu einer der Lokalisationslehre ungünstigen Anschauung. Von den Krankenfällen soll später die Rede sein; an Tieren fand er, was übrigens schon längst bekannt war, dass man analoge Wirkungen wie auf Rindenreizung auch erhält, wenn man die Rinde getötet hat. (Verf. thut dies durch Abkühlung.) Er schließt daraus, dass der An- griff des Reizes nicht in der Rinde liegen könne, und verwertet diesen Sehluss gegen die Lokalisationslehre. Thatsächlich ist dieser Gegen- stand schon vor Marcacei ausführlich studiert ?) und dahin aufge- klärt worden, dass nach Ausschaltung der Rinde eben die von der- selben abgehenden Stabkranzfasern durch den elektrischen Strom erregt werden. Dabei ist es prinzipiell gleichgiltig, ob bei intakter Rinde die kortikalen Enden der Stabkranzfasern oder andere Bestand- teile der Rinde direkt gereizt werden. Wichtiger wäre ein anderes Ergebnis Marcacei’s, wenn sich dasselbe bestätigen sollte. Es hat nämlich schon im Jahre 1875 Soltmann?) angegeben, dass neugeborne Tiere eine nicht erreg- bare Rinde haben. Es ist dies von Wichtigkeit, denn wenn die durch Rindenreizung ausgelösten Aktionen den willkürlich ausgelösten ent- sprechen, so war zu erwarten, dass da, wo das Organ des Willens noch nicht ausgebildet ist, auch die elektrische Reizung erfolglos bleibt. Dieser Angabe Soltmann’s wird nun von Marcacci wider- sprochen. Weiter macht dieser Autor die im ersten Momente auf- fallend klingende Angabe, dass, nach Durchschneidung der Pyrami- denbahnen einer Seite in der Medulla oblongata, die gegenüberliegende Pfote zwar auf Reizung des betreffenden Rindenortes nicht bewe- gungslos wird, aber die gleichseitige in Aktion tritt. Auch diese Er- scheinung dürfte sich sehr einfach aus Bekanntem erklären. Es ist ja oben schon hervorgehoben worden, dass das Rindenfeld einer He- misphäre mit beiden Extremitäten in Verbindung steht, nur bedarf es eines (bisweilen kaum nennenswert) stärkern Stromes, um auch die gleichseitige Pfote in Aktion zu versetzen. Es ist deshalb denkbar, dass, hat man erst das Rindenfeld aufgesucht, dann die Medulla ob- longata durehschnitten und dadurch etwa den Reiz für die gegenüber- liegende Seite unwirksamer gemacht, und man sucht neuerdings durch Reizung der Rindenstelle einen Effekt zu erzielen, zunächst die gleich- seitige Pfote zucken kann. Ich glaube deshalb mich auf die näheren Details dieses Versuches, der allerdings den Ausgangspunkt zur Er- mittlung der auf derseiben Seite bleibenden Rindenbahn bilden könnte, nicht einlassen zu sollen. 1) Etude eritique experimentale sur les centres moteurs corticaux (Labora- toire de Physiologie de la Sarbonne). Archiv. italien. de biologie Tom I. Fasc. II, und Centri motori corticali. Torino 1882. 2) Vergl. Biolog. Centralbl. 1883—84 8. 85. 3) Centralbl. f. d. med. Wiss. 1875 8. 209 und Jahrb. f. Kinderheilkunde. NIX. Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. 27 Munk’s Untersuchungen „über die zentralen Organe für das Sehen und Hören bei den Wirbeltieren“!) nehmen neuerdings die Frage in Angriff, ob und welche Wirbeltiere nach Abtragung der Ge- hirnrinde beziehungsweise des ganzen Großhirns das Sehvermögen gänzlich verlieren. Er hatte nämlich gefunden, dass Hunde und Affen nach Entfernung jener Rindenanteile, die er als „Sehsphäre“ bezeich- net, vollkommen erblindet waren, und dass es ähnlich mit der „Hör- sphäre“ steht. Es stimmt dies nicht mit älteren Angaben überein, nach welchen Säugetiere und Vögel, denen die Großhirnhemisphären exstirpiert waren, noch sehen und hören sollten, d.h. dass ihre Bewe- gungen noeh sichtlich durch die Eindrücke der höheren Sinne beein- flusst werden sollten. Schon im Jahre 1880 hatte Munk seinen Schü- ler Blaschko?) veranlasst, den Frosch in dieser Hinsicht neuerdings zu untersuchen; das Resultat war, dass für dieses Tier die älteren Angaben zutreffen, dass also der Frosch auch nach Ausschaltung der Hemisphären, Hindernissen im Sprunge ausweicht u. dgl. m. Munk nimmt zum Gegenstand der eignen Untersuchung die Klassen der Vögel und Säuger und als Repräsentanten der ersteren die Taube. Er fand, dass, wenn man wirklich das Großhirn der Taube vollstän- dig exstirpiert hatte, dieselbe so blind war, als wären ihr die Nervi optiei durchschnitten. Nur die Kontraktion der Pupille auf einfallen- des Licht verriet noch, dass das Auge mit einem nervösen Zentral- organ in Verbindung ist. Die Exstirpation der Rinde müsse aber, soll der Versuch gelingen, eine vollständige sein, denn Tauben, an deren Peduneuli ein Stückchen der Ventrikeldeecke hängen geblieben war, das in seiner größten Ausdehnung niemals die Größe von 2 mm erreichte, zeigten schon deutliche Symptome ihres Sehvermögens. Durch Exstirpation nur einer Hemisphäre konnte festgesetzt werden, dass jedes Auge mit beiden Großhirnhalbkugeln in Verbindung steht. Die rechte Rinde versorgt den größten Teil der Netzhaut des linken Auges, ausgenommen ist nur „die äußerste, laterale, (hintere) Partie“, welche mit der linken Rinde in Verbindung steht, und umgekehrt. Als Vertreter der Säugetiergruppe wählte Munk das Kaninchen. Er kam, abgesehen von Erfahrungen über das allgemeine Verhalten, zu dem Resultate, dass diese Tiere nach vollständiger Exstirpation des Großhirns vollkommen blind sind, und, abgesehen von dem Pu- pillenreflex auf Lichtreiz, durch niehts von Kaninchen sich unterscheiden, denen die Augen selbst funktionsunfähig gemacht wurden. Was diese Blindheit anbelangt, so gerät Munk hier in Konflikt mit einer vorher von Christiani gemachten Angabe), nach weleher Kaninchen, wel- chen mit besonderer Schonung das Großhirn genommen wurde, doch noch sehen, d. h. Hindernissen ausweichen ete. Es spinnt sich dieser 1) Berlin. akad. Sitzber. XXXIV 1883 und XXIV 1884. 2) Das Sehcentrum bei Fröschen. Dissertation Berlin 1880. 3) Berl. Sitzber. Febr. 1881. 28 Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. Konflikt durch mehrere Abhandlungen und Vorträge!) hindurch, die ich in diesem Berichte wohl übergehen kann. Es wird darüber ge- stritten, ob diese Versuchstiere an Hindernisse nicht anstießen, weil „einfach ihr Weg sie nicht auf solche führte“, oder weil sie Gesichts- eindrücke von denselben bekamen. Angeregt durch einen Krankenfall machte v. Monakow?) Ver- suche an Tieren, um die Lage des Rindenfeldes für das Sehen, und dessen Beziehungen zum Bulbus und zu den subkortikalen Zentren des Gesiehtssinnes zu ermitteln. Er exstirpierte bei einer Reihe von neu- gebornen Tieren den Bulbus und beobachtete die darauf eintretenden Veränderungen im Bau der Rinde; bei einer andern Reihe exstirpierte er die Rinde des Oceipitallappens und beobachtete die Veränderungen in den subkortikalen Zentren und dem N. opticus. Uns interessiert hier in erster Linie, dass, wie übrigens durch frühere Versuche schon bekannt war, nach Entfernung der Bulbi nicht etwa das Rindenfeld des Gesichtssinnes gänzlich entartet, oder, da die Tiere neu geboren waren, die betreffenden Rindenanteile in ihrer histologischen Struktur mehr oder weniger auf embryonalem Standpunkt bleiben. Man könnte das erwarten, wenn man die oben bekämpfte Ansicht hegt, dass das betreffende Rindenfeld keine andere Aufgabe hat, als die Gesichts- eindrücke zu empfangen und zu bewahren. Wohl aber gibt der Verf. an, histologische Veränderungen in gewissen Schichten der Rinde wirklich gefunden zu haben. Lueiani?) berichtet über Versuche, die er an Hunden und Affen angestellt hat, um die Rindenfelder der Sinnesorgane zu ermitteln. Die beigegebene Abbildung, welehe die ermittelten Felder für Gesicht, Gehör, Gefühl und Geruch darstellt, zeigt auf den ersten Blick, dass Verf. von dem Schema der scharfen Grenzen sich losgemacht hat, dass er vielmehr (nach meiner Nomenklatur) intensivere und weniger intensive Teile der Rindenfelder unterscheidet. Auch lässt er diesel- ben zum größten Teil ineinandergreifen. Was zunächst den Gesichtssinn anbelangt, so kann man Seh- störungen erzielen durch Läsionen des Oceipitallappens, aber auch durch solehe des Parietal-, Temporal- und Frontallappens, sowie des Ammonshornes. Ein Unterschied in den Sehstörungen je nach der Lo- kalität der Läsion besteht in folgendem: sitzt dieselbe im Stirn- oder Schläfenlappen, soist die Störung vorübergehend, indem sie allmählich, bisweilen erst nach Wochen, schwindet. Die Effekte von Läsionen des Scheitel- und Hinterhauptlappens bestehen fort „durch Monate, oder während der ganzen Dauer der Beobachtung.“ Ferner verursachen Verletzungen der erstgenannten Rindenteile nieht mit soleher Bestimmt- 1) Teils in den Berliner akad. Sitzber. (Christiani, Zur Kenntnis der Funk- tionen des Großhirns beim Kaninchen 29. Mai 1884, Munk, 19. Mai 1384) teils in den Sitzungen der Berliner physiol. Gesellschaft (Du Bois-Reymond Arch.). 2) Arch. f. Psychiatrie. XIV. 3) Brain, XXVI. Juli 1884 pag. 145. Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. 29 heit Sehstörungen, wie gleiche Verletzungen der letztgenannten. (Es ist dies ein vollkommenes Analogon des Verhaltens zu dem, was ich als charakteristisch für die relativen und absoluten Rindenfelder“ des Menschen bezeichnet habe)!). Diese Verhältnisse gelten im wesent- lichen für den Hund, wie für den Affen. Verf. konnte bilaterale homonyme Hemiopie (Sehstörung in den gleichseitigen Hälften beider Netzhäute) nieht nur durch Exstirpation eines Oceipitallappens, sondern auch nach Zerstörungen im Gebiete des Scheitel- und Schläfenlappens hervorrufen, wenn letztere nur aus- gedehnt genug waren. Auch anerkennt er Munk’s „Rindenblindheit“ nieht, d. h, er fand nach Ausrottung einer zirkumskripten Stelle des Oceipitallappens keine Netzhautstelle wirklich blind, sondern konnte nur Sehstörungen nachweisen; diese Störungen sowie auch jene, die nach ausgedehnter Exstirpation eines Occipito-Temporallappens ein- treten, verschwinden mit der Zeit wieder. Der intensivste Anteil dieses Rindenfeldes liegt also im Oecei- pitallappen, weniger intensive Anteile reichen auf den Schläfenlappen herab, und nach vorn allmählich ausklingend über das Scheitelhirn bis in die Nähe des Riechlappens. Was das Rindenfeld des Gehörsinnes anbelangt, so zeigt die Ab- bildung dessen intensivsten Teil in den unteren Enden der Schläfen- windungen und nach oben ausklingend bis auf den Scheitellappen reichend; nach vorn geht es über die Fossa Sylvii, nach hinten bis an den Oceipitallappen. Und zwar gehört, wie dies Verf. im Verein mit Tamburini schon früher gezeigt hat, jedes Rindenfeld des Gehör- sinnes beiden Ohren an, aber nicht in gleichem Maße. Mit dem ge- kreuzten Ohre steht es in engerer Beziehung. Das Rindenfeld des Geruches liegt hauptsächlich vor der Sylvischen Furche und er- streckt sich nach oben bis auf den Scheitel, natürlich auch mit ab- nehmender Intensität. Dauernde Gehörlosigkeit und Geruchlosigkeit konnte durch Exstirpation von Rindenstellen (vielleicht wegen der Aus- dehnung der Rindenfelder) nicht erzeugt werden. Auch hier ist eine Zweiteilung der Bahnen vorhanden, aber es steht hier im Gegensatze zum Gehörorgan die gekreuzte Nasenhöhle in weniger enger Beziehung zum Rindenfeld als die gleichseitige. Endlich lässt sich der Gefühlssinn nach Verf. nicht in scharf ge- trennte Regionen für die verschiedenen Körperstellen einteilen, wie dies Munk gethan hat, vielmehr konfluieren auch hier die Rindenfel- der für die verschiedenen Körperstellen, so dass sich nur von einem Feld des Gefühlssinnes sprechen lässt. Dasselbe nimmt mit seinem intensivsten Teil die exquisit motorische Zone ein und erstreckt sich ausklingend über den größten Teil der Rindenkonvexität. Es ist mit der gleichen Seite in engerer Beziehung als mit der gekreuzten. Das Stirnhirn des Hundes, d. i. die vor der exquisit motorischen 1) Lokalisation der Funktionen in der Großhirnrinde des Menschen. Wien 1881. 30 Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. Region gelegene Spitze des Großhirns, ist in neuerer Zeit von drei Seiten her Gegenstand der Untersuchung geworden. H. Munk!'), Kriworotow?) und Hitzig?) haben sich mit demselben beschäftigt. Ersterer findet, dass nach beiderseitiger Exsti’pation nicht nur der Rinde, sondern des ganzen Lappens die Tiere einige Zeit nach der Operation keinerlei Störungen im Gebiete der Sinne, der Intelligenz, ihres Benehmens überhaupt aufweisen, mit einziger Ausnahme der Bewegungsfähigkeit der Rumpfmuskulatur. Sie sind nicht mehr im stande, sich wie normale Hunde dadurch nach rechts oder links zu wen- den, dass sie die Wirbelsäule biegen; sie führen diese Wendungen zwar aus, aber indem sie sich „zeigerartig durch Drehung im Becken“ be- wegen. Dafür bekommen sie eine katzenbuckelartige Wölbung der Wirbelsäule, welche allerdings nur in der ersten Zeit stark entwickelt ist, spurweise bei gewissen Stellungen aber noch nach Monaten sich erkennen lässt. Ist der Stirnlappen nur auf einer Seite exstirpiert, so drehen sich die Hunde bei kurzen Wendungen stets nach der operierten Seite. Dieser Zustand bleibt Monate lang bestehen, und wird das Tier ein- mal veranlasst, sich nach der gesunden Seite umzudrehen, so geschieht dies zeigerförmig im Becken. Analoge Resultate ergaben Versuche am Affen. Es muss hervorgehoben werden, dass Munk Sensibilitäts- störungen im Gebiete des Rumpfes nicht nachweisen konnte, dass sich also diese „Rumpfregion“ wesentlich anders verhält als seine als Fühlsphären bezeichneten Regionen der übrigen Körperteile. End- lieh konnte Munk durch elektrische Reizung der Rinde (allerdings nur bei sehr starken Strömen) Muskelgruppen des Thorax in Aktion versetzen, und zwar verschiedene, je nach dem Angriffspunkt der Ströme. Kriworotow hatte unter der Leitung von Goltz denselben Ge- genstand in Angriff genommen, und seine Versuche waren schon be- endet, als die eben besprochene Arbeit von Munk erschien. Die Er- gebnisse beider Untersuchungen stimmen nicht gut zu emander. Auch dieser Autor beobachtete in den ersten Wochen nach der Operation Reitbahnbewegungen des Tieres nach der gesunden (nieht operierten) Seite. Doch war dies keine konstante Erscheinung. Auch war nicht jedesmal Schwäche der gekreuzten, ja bisweilen, wenn auch selten, solche der gleichen Seite vorhanden. „Bei allen Tieren war die Be- weglichkeit des Rumpfes, der Rumpfmuskeln und der Lende:wirbel vollkommen intakt, und war kein Buckel vorhanden, ohne Unterschied, ob ein oder beide Stirnlappen zerstört waren.“ Die Sensibilität hatte in der ersten Zeit nach der Operation an beiden Seiten des Rumpfes und an anderen Körperteilen gelitten, gleichgiltig, ob einer oder beide 1) Sitzber. der Berlin. Akad d. Wiss. XXXVI. 20 Juli 1882. 2) Ueber die Funktionen des Stirnlappens des Großhirms. Dissertation. Strassburg 1883. 3) Arch. f. Psychiatrie. Bd. XV. Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. 31 Stirnlappen abgetragen waren!). Nach Verlauf von einer Woche er- schien die Sensibilität überall normal. „Alle Hunde machten nach Abschluss der Wundheilung den Eindruck absolut normaler Tiere mit intaktem Gehirn.“ Es folgt dann weiter in der Abhandlung eine Anzahl von Ver- suchsprotokollen und eine kritische Besprechung der einschlägigen Untersuchungen. Bei dieser Gelegenheit wirft mir Kriworotow vor, dass ich auf meinen Untersuchungsresultaten fußend entschieden für die Lokalisationstheorie mich ausgesprochen habe, „die Thatsachen aber, (meint er) welehe Exner gruppiert und besprochen hat, sprechen eher dagegen als dafür.“ Ich bin nicht dieser Anschauung. Aller- dings wenn man die Lokalisationslehre an die scharf begrenzten Fel- der knüpft, dann sprechen meine Ergebnisse dagegen. Sie ist aber nicht daran geknüpft: sobald verschiedene Rindenstellen verschiedene Funktion haben, und wäre diese Funktion auch nur quantitativ ver- schieden (was ich nieht behaupten möchte), so ist von einer Lehre zu spreehen, welche die lokalen Unterschiede der Rinde behandelt. So gleichgiltig es mir übrigens scheint, ob man die Verteilung der Funk- tionen, die ich für die zutreffende halte, als „Lokalisation“ bezeichnet oder nieht, so erfreulich finde ich es anderseits, dass seit (wenn auch kaum infolge) dem Erscheinen meiner Untersuchungen eine thatsächliche Annäherung auch der entschiedensten Gegner auf diesem Gebiete zu bemerken ist. Goltz erkennt bereits eine Lokalisation an, welche mit meinen Anschauungen vollkommen vereinbar ist, und aus dem Laboratorium seines Gegners Munk ging eine Arbeit hervor ?), welche zur Erklärung für die Thatsache, dass man vom Oeceipitallap- pen aus Krämpfe in den Extremitäten hervorrufen kann, die Assozia- tionsfasern der Hirnrinde heranzieht. Es denkt also auch Munk an eine funktionelle (d h. im Leben funktionierende) Verbindung seiner verschiedenen Rindenterritorien. Nach dieser Abschweifung kehren wir zum Stirnlappen des Hun- des und der Arbeit Hitzig’s über denselben zurück. Er findet wie Kriworotow die Bewegungsstörungen des Rumpfes nieht konstant und hebt den Gegensatz hervor, der in dieser Beziehung zwischen diesem Rindenteil und den „Zentren“, die um den Suleus eruciatus liegen, herrscht. Anderseits beobachtete Hitzig erhebliche Sehstörungen auf dem gegenüberliegenden Auge, Störungen in der Bewegung der Extremitäten, und vor allem einen erhebliehen Intelligenzdefekt. Um letztern Umstand besser zu beurteilen, verwendete Hitzig Hunde, welche vor jeder Operation genau beobachtet und zu verschiedenem abgerichtet waren. Kunststücke waren nach der Operation vergessen 4) Ich habe schon im Jahre 1881 für den Menschen gezeigt, dass die Sen- sibilität beider Körperhälften in jeder Hemisphäre vertreten ist. 2) Danillo: Darf die Großhirnrinde der hintern Partie als Ursprungsstätte eines epileptischen Anfalles betrachtet werden? Du Bois-Reymond’s Arch, für Physiologie. 1884. 32 Exner, Nenere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. und ihnen auch nicht mehr beizubringen. Sie zeigten hochgradige Gedächtnisschwäche. In bezug auf die beobachteten Sehstörungen äußert Verf. dieselbe Deutung, die ich oben schon als die nächstlie- gende für verwandte Erscheinungen hervorgehoben habe, er bezieht sie auf „direkte Verbindungen zwischen den beiden Hirnteilen.“ In polemischen Bemerkungen, hauptsächlich gegen Schiff gerichtet, mit welchen die Abhandlung schließt, wird darauf hingewiesen, dass Hitzig schon in seinen ersten Publikationen diese Deutung urgiert hat. Zu den Arbeiten übergehend, welche speziell die Rindenfelder der höheren Sinne behandeln, ist eine schon aus dem Jahre 1881 stam- mende Untersuchung hervorzuheben, welche Munk!) ausgeführt hat, um seine ersten Angaben über die Hörsphäre zu ergänzen und zu vervollkommnen. Es war ihm nämlich ursprünglich nieht gelungen, Hunde durch Rindenexstirpation nicht nur seelentaub, sondern rinden- taub zu machen. Jetzt gelang dies. Nach Exstirpation beider Hör- sphären waren die Hunde so taub, wie nach Zerstörung der Gehör- schnecken. Interessant ist, dass sie zugleich auch stumm werden. Es scheint die Lust am Bellen verloren zu gehen, wenn das Tier seine Stimme nicht mehr hört. Andere Erscheinungen wurden nach dieser Operation nicht beobachtet. Während, wie oben mitgeteilt, nach Luciani jedes Ohr mit bei- den Hemisphären in Verbindung steht, ist dies nach den Versuchen Munk’s nicht der Fall. Abgesehen von anderen Anhaltspunkten, welche Munk zu dieser Anschauung brachten, musste folgender Ver- such entscheiden. Es wurde auf einer Seite die Hörsphäre und auf derselben Seite die Gehörschnecke zerstört. Der Hund wurde nach diesen Eingriffen als vollkommen taub befunden. Es wäre dies aller- dings nicht möglich, wenn nicht eine totale Kreuzung des Gehörnerven bestünde. Weiter versuchte Munk, so wie er es früher für Retina und Sehsphäre gethan hatte, eine örtliche Verteilung der verschiedenen Akustikusfasern in der Rinde zu ermitteln. Auch das gelang wenig- stens so weit, dass der Verf. angeben kann, ihm sei aus partiellen Exstirpationen der Hörsphäre „der Eindruck erwachsen, dass die schall- empfindenden zentralen Elemente etwa in einem nach unten konvexen Bogen um die Spitze der Fissura postsylvia (R. Owen) so angeordnet sein dürften, dass in der Richtung von hinten nach vorn ein Fort- schritt von der Empfindung tieferer zu der Empfindung höherer Töne statthat“. 4) Ueber die Hörsphären der Großhirnrinde. Monatsbericht der Berliner Akad. der Wissenschaften. Mai 1881. 2) Die Sehstörungen nach Verletzung der Großhirnrinde. Pflüger’s Arch. für d. ges. Physiol. Bd. 34. (Schluss folgt.) Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen Biologisches Gentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. V. Band. 15. März 1885. Nr Inhalt: Löw, Beobachtungen über den Blumenbesuch von Insekten an Freilandpflan- zen. — Hauser, Ueber die Entwicklungsgeschichte und pathogenen Eigen- schaften einer fäulniserregenden Bakterienart. — Hiltner, Ueber die Ent- wicklung des Nervus opticus der Säugetiere. — Marshali, Die Taubheit des Auerhahns beim Balzen. — Retzius, Das Gehörorgan der Wirbeltiere. II. Das Gehörorgan der Reptilien, der Vögel und der Säugetiere. — Exner, Kriti- scher Bericht über die neueren physiologischen Untersuchungen, die Großhirn- rinde betreffend. Zusatz des Herausgebers. E. Loew, Beobachtungen über den Blumenbesuch von In- sekten an Freilandpflanzen des botanischen Gartens zu Berlin. Jahrbuch des k. bot. Gartens zu Berlin III. 1834. 92 8. Nach dem Hinscheiden Hermann Müller’s hatte es fast den Anschein, als ob seine Blumentheorie über andere wichtige Fragen der Gegenwart von den Botanikern hintangestellt worden sei, wie einst die Forschungen seines Vorgängers C. Chr. Sprengel auf längere Zeit in Vergessenheit geraten waren; es schien niemand der mühevollen und doch so lohnenden Arbeit ihres Weiterausbaues sich widmen zu wollen. Die umfangreiche und noch mehr an Inhalt und mühsamen Beobachtungen reiche Arbeit E. Löw’s belehrt uns vom Gegenteil. Gleich Müller Entomolog und Botaniker hat er es un- ternommen, auf dem von H. Müller angebahnten statistischen Wege die wichtigsten Sätze der Müller’schen Blumenlehre zu prüfen und dieselbe weiter zu gestalten. Die Art und Weise, wie er dies gethan, brachte neue wichtige Fragen mit sich, die er der Entschei- dung wenigstens nahe gebracht hat. Löw hat auf dem nur etwa 0,5 Hektar großen Areal des botani- schen Gartens zu Berlin über 2000 verschiedene Blumenbesuche (etwa !/, der von H. Müller in seinem ersten Hauptwerke über die Be- fruchtung der Blumen durch Insekten ete. aufgeführten Arten) an 578 im freien kultivierten Pflanzenarten, also beiläufig derselben Zahl, die M. Müller im deutschen Tieflande beobachtete, notiert und sta- 3 34 Löw, Beobachtungen über d. Blumenbesuch v. Insekten an Freilandpflanzen. tistisch verwertet. Von den etwa 200 Insektenarten finden in der vorliegenden Arbeit, der weitere Mitteilungen folgen dürften, nur die 77 beobachteten Apiden Berücksichtigung. Während H. Müller seine Beobachtungen nach den Blumenarten geordnet hat, finden wir hier unter Zugrundelegung der Müller’schen Kategorien von Windblütlern, Pollenblumen, Honigblumen mit offenem und versteckt liegendem Honig, Blumengesellschaften, Fliegen-, Bienen-, Falterblumen ete. die einzelnen Apidenarten selbständig behandelt. Es treten hierbei die in der Lebensweise und Entwicklungsgeschichte der einzelnen Arten begründeten Faktoren, welche — von H. Müller nur in un- tergeordneter Weise berücksichtigt — bei der Blumenauswahl von Bedeutung sind, besonders hervor. So ergibt es sich, dass die Rüssel- länge nicht immer die Bedeutung bei der Blumenauslese hat, die ihr Müller zuschreibt, dass vielmehr innerhalb derselben Gattung selbst bei derselben Art die verschiedenen Geschlechter verschiedene Nei- gungen haben, manche nur wenig Blumenformen („Oligotrope“) oder gar nur einer Blumenart nachgehen („monotrope“ Arten), während andere vielseitige Neigungen verraten („polytrope Arten“). Bei An- thidium municatum wirkt z. B. die Art des Nestbaues bei der Blu- menauswahl evident mit, indem dieselbe der dabei unentbehrlichen Wollhaargewinnung nachgehend die filzig-blättrigen Labiaten: Stachys, Salvia, Ballota, Phlomis, Lamium, Marrubium aufsucht. Bei Osmia rufa und Anthophora pilipes bedingt dagegen die sehr frühe Flugzeit die Oligotropie. Die d' von Bombus besitzen eine ganz entschiedene Vorliebe für Blumengesellschaften, während die das Material für das Larvenfutter eintragenden 2 polytrope Neigungen haben. Durch Vererbung hat sich der gleiche Unterschied zwischen 2 und g' auf die Schmarotzergattung Psithyrus übertragen, ohne dass es bei der Lebensweise derselben notwendig wäre. Bei Bombus hortorum mit gleich langem Saugrüssel wie Anthophora pilipes (beide haben das längste Saugrohr unter den einheimischen Arten) bewirkt die lange Flugzeit eine charakteristisch unterschiedene Blumenauslese. Lang- dauernde ununterbrochene Flugzeit wie soziale Entwicklung bedingen bei der Honigbiene eine auffallend starke Polytropie (selbst zu Wind- blüten und Pollenblumen), während Osmia rufa einseitig auswählt (S' Blumen mit offenem und teilweise geborgenem Honig, 2 Blu- mengesellschaften und Bienenblumen). Bei der Lage des Pollensam- melapparates der Bauehsammler ist eine vorwiegende Ausbeutung der Blumengesellschaften und Bienenblumen, deren Pollenstreu von unten her wirkt, in der Körperausrüstung angedeutet. Aus diesem Grunde besucht Heriades truncorum entgegen der Farbenregel Müller’s be- sonders hellfarbige Blumengesellschaften. Durch Vererbung hat sich diese Gewohnheit auch auf die Kukuksbienen Stelis und Coelioxys (von sonst abweichender Lebensweise) übertragen. In der Gattung Cilissa ist eine monotrope nur fur Lythrum Salicaria gezüchtete Spezies Löw, Untersuchungen über d. Blumenbesuch v. Insekten an Freilandpflanzen. 35 ’ I L C. melanura (wie H. Müller bereits konstatiert hat). Bei Halietus sind die 2 polytrop, während die $ infolge ihrer späten Flugzeit für spätblühende Blumengesellschaften Neigung haben. Im übrigen bestätigen die Beobachtungen Löw’s im botanischen Garten zu Berlin die von Hermann Müller nach Beobachtungen im deutschen Tief- lande und den Alpen aufgestellte Blumentheorie in der überrasehendsten Weise Satz für Satz, so dass die statistische Methode des letztern, die zunächst von vielen, auch von Löw mit Misstrauen aufgenommen worden war, für die Zukunft als völlig berechtigt anerkannt werden muss. Wir heben aus den reichen Ergebnissen nur einige der wich- tigsten heraus. Eine Totalübersicht über die im botanischen Garten gesammelten Beobachtungen ergibt, dass die langrüsseligen Bienen (Bombus, Psi- thyrus, Anthophora, Melectu, Osmia, Megachile, Anthidium, Heria- des, Chelostoma, Stelis und Coelioxys) fast ausschließlich Bienen- und Hummelblumen, sowie Blumengesellschaften (erstere als die ihnen eigentümliche Anpassungsstufe doppelt so häufig) aufsuchen und die dunkeln Blumenfarben berücksichtigen; dass die kurzrüsseligen Gat- tungen Panurgus, Dasypoda, Cilissa, Andrena, Haliotus, Spherodes und Prosopis dagegen die Blumen mit flach geborgenem Honig ungefähr in gleichem Grade wie die Blumengesellschaften aufsuchen. Ihre Be- vorzugung der hellen Blumenfarben erfolgt ungefähr in demselben Verhältnis wie die der dunkeln Farben durch langrüsselige Bienen. Apis nimmt zwischen beiden Reihen infolge des nivellierenden Ein- flusses des hochgesteigerten Sozialismus eine Mittelstellung ein. Die Besuche an den verschiedenen Blumenformen bilden auf- und ab- steigende Reihen, die auf der Blumenanpassungsstufe der einzelnen Insektenkategorien ihren Maximalwert erreichen. Die niedrigsten Anfangs- und Endglieder bilden der Theorie völlig entsprechend die Besuche zu Pollen- und Falterblumen. Auch der Satz Herm. Müller’s, dass eine merkliche Dishar- monie zwischen der Anpassungsstufe einer Blume und ihrer Kreu- zungsvermittler auf eine nachträgliche Aenderung des Besuchskreises (sei es durch Ausbreitung der Pflanzen in einen neuen Bezirk oder durch Eindringen neuer oder Verschwinden der alten Kreuzungsver- mittler) schließen lasse, den Müller (abgesehen von der Umzüchtung der falterblutigen alpinen Primula farinosa in eine bienenblütige des Tieflandes) nur wahrscheinlich gemacht hatte, erhält durch die Beob- achtungen Löw’s eine thatsächliche Stütze. — Es waren die beobach- teten Pflanzen des botanischen Gartens nach ihrer geographischen Herkunft in drei Gruppen geteilt. Die erste derselben umfasste die Pflanzen des europäisch-asiatischen Waldgebietes, für deren Areal auch eine annähernde Verwandtschaft der Insektenfaunen an- genommen werden darf; die zweite enthielt die südeuropäisch- orientalischen Gebiete, deren Insektenfaunen von der des Wald- 3° 36 Hauser, Entwicklungsgesch. u. pathogene Eigenschaften einer Bakterienart. gebietes in bedeutenderem Grade abweichen als unter sich. Die dritte Gruppe umfasste die bezüglich der Insektenfauna am meisten abweichenden Gebiete Ostasiens (China, Japan) und Amerikas. Der Vergleich ergab, dass die im botanischen Garten fliegenden Apiden unter den fremdländischen Blumen eine andere Auswahl treffen als unter den einheimischen. Sie wählen zwar die Blumenkategorien der südeuropäisch - orientalischen Pflanzen in derselben Reihenfolge aus wie die der mitteleuropäisch - asiatischen, aber die Bevorzugung der Bienen- und Hummelblumen und dementsprechend auch der dun- keln Blumenfarben ist eine fast um 20°/, stärkere. Noch auffälliger ist das Verhalten zu den amerikanischen Pflanzen. Unter ihnen ziehen die hellfarbigen Blumengesellschaften unsere einheimischen Bienen am meisten an. Es kann somit — und bei einer Eiwanderung der amerikanischen Pflanzen in das europäische Waldgebiet würde dasselbe geschehen — durch künstlich gesteigerte Zahl der Vertreter einer bestimmten Blumenkategorie die von den Apiden sonst streng festgehaltene Art der Blumenauslese aus der gewohnten Bahn ge- bracht werden. Ludwig (Graz). G. Hauser, Ueber die Entwicklungsgeschichte und patho- genen Eigenschaften einer fäulniserregenden Bakterienart. Sitz -Ber. der phys.-mediz. Sozietät zu Erlangen. 1884. S. 156—171. Wenngleich es als eine wissenschaftlich wohl begründete und allgemein anerkannte Thatsache betrachtet werden darf, dass die eigentliche Fäulnis auf die Anwesenheit und Lebensthätigkeit von Mikroorganismen zurückzuführen ist, so ist doch das Wesen der Fäulnis noch viel zu wenig erforscht, um auch nur annähernd eine richtige Auffassung dieses Prozesses zu ermöglichen. Auch die Kenntnis der mitwirkenden Bakterienformen ist noch sehr weit zurück; um über sie Aufschluss zu erhalten, ließ Verf. ein tierisches Gewebe (Kalbsherz) bei 30° unter gewöhnlichen Bedingungen faulen. Die mikroskopische Untersuchung des dabei gebildeten Fleischwassers ergab nach 8 Tagen die Anwesenheit einer großen Menge von Bak- terienformen, die, nach bekannten Methoden auf Gelatine kultiviert, auf beiläufig ein Dutzend verschiedener sich herausstellten. Jedoch keine einzige von ihnen führte zu einer schnellen Verflüssigung des Substrates. Erst nachdem das Glas mit dem faulen Fleische. noch weitere 8 Tage bei Zimmertemperatur und offen gestanden hatte, gelang es aus dem Fleischwasser eine Stäbehenart zu isolieren, welche wegen ihres außerordentlich raschen Wachstums und der ihr im hohen Grade zukommenden Eigenschaft die Gelatine zu verflüssigen von vorn herein die Vermutung nahe legte, dass sie einen wichtigen Anteil an der fauligen Zersetzung haben möchte. Jedoch nicht nur als Fäul- Hauser, Entwicklungsgesch. u. pathogene Eigenschaften einer Bakterienart. 37 niserreger, sondern auch in ihrer Entwicklungsgeschichte bietet diese Form großes Interesse. Sie wurde durch Impfung sehr verdünnten faulenden Fleischwassers auf Nährgelatine in Reinkulturen gezüchtet. Nach 12 Stunden lässt sich an dem Impfstrich keine geschlossene Pilzkultur wahrnehmen, die Ränder desselben sind etwas eingesunken und verflüssigt, die ganze übrige Oberfläche der Gelatine zeigt ein mattes Aussehen. Die mikroskopische Untersuchung ergibt, dass im Impfstrich eine große Menge kleiner ovaler Bakterien, häufig zu zwei aneinandergereiht, umherschwimmen; weiter nach außen hin nimmt die Bewegung ab und die einzelnen Stäbchen strecken sich in die Länge. „Die ganze übrige Oberfläche der Gelatine aber ist vollständig be- deckt mit unregelmäßig gestalteten inselförmigen Plaques einschichtig aneinander gereihter, wohl entwickelter Stäbehen und kurzer Fäden. Diese einzelnen Stäbchenkolonien nun befinden sich in fortwährender lebhafter Bewegung, indem bald da bald dort ein Teil der Stäbchen in der Form einer meist lang gestreckten, aber geschlossenen Gruppe die Kolonie verlässt und in ziemlich rascher gleitender Bewegung über die freie Fläche der Gelatine hinkriecht, um vielleicht mit an- deren in dieser Weise schwärmenden kleinen Abteilungen sich zu ver- einigen, oder aber in eine benachbarte Insel einzuwandern. Häufig schiebt sich aus einer Kolonie ein langer Ausläufer heraus, ohne sich völlig abzutrennen, sondern er wendet sich in einem großen Bogen wieder zurück und verschwindet wieder in der Insel, von der er aus- ging.“ Die sich völlig ablösenden langgestreckten oder spindelförmigen Ausläufer bestehen aus 3—5 neben einander liegenden Stäbchenreihen, die nach den Enden hin sich bis auf eine vermindern. Ihre: Bewe- gungen sind höchst eigentümlich und jedenfalls nieht durch eine an der Oberfläche der Gelatine vorhandene Flüssigkeitsschicht bedingt. Sie tragen völlig den Charakter direkter Lebensäußerungen der Bak- terien selbst. — Die Verflüssigung der Gelatine durch diese Bakterien tritt äußerst schnell ein, nach 12—24 Stunden ist sie vollendet; gleichzeitig bildet sich ein weißlicher Bodensatz. In diesem Zustande finden sich keine Stäbehen mehr, sondern nur sehr kleine und kurze ovale, meist zu zwei an einander gereihte Bakterien, die große Aehnlichkeit mit Bact. Terımo zu haben scheinen und eine zitternde, tanzende Bewegung zeigen. Auf Gelatine geimpft erzeugen sie schon nach 3 Stunden die charakteristischen wandernden Stäbehenkolonien. Dabei konnte deut- lich und kontinuierlich der Uebergang beider Formen aus einander beobachtet werden. In den verschiedenen Schichten der verflüssigten Gelatine zeigten die Bakterien sehr verschiedene Gestalt und Größe, die Entwicklung der einzelnen Formen wurde nicht genauer verfolgt, wegen der schnellen Verflüssigung des Substrates. „Immerhin lässt sich aus den geschilderten Beobachtungen der Entwicklungsgang dieses merkwürdigen Spaltpilzes leicht übersehen. Die kleinen dem Bac- 39 Hiltner, Entwicklung des Nervus optieus der Säugetiere, terium Termo ähnlichen Pilze wachsen zunächst in Kurzstäbehen aus, welehe diehte geschlossene Rasen bilden. Diese Kurzstäbehen wachsen rasch zu längeren Stäbehen und kürzeren Fäden heran, welche als- bald über die ganze Oberfläche der Nährgelatine in der geschilderten Weise ausschwärmen und dieselbe bald verflüssigen. Aus diesen schwärmenden Kolonien entwickeln sich dann längere, lebhaft um- herschwimmende Fäden, welche sich allmählich wieder in kürzere Glieder abschnüren, schließlich zur Ruhe kommen und dann endlich wieder in jene bisquitähnlichen Formen übergehen, welehe zunächst jene eigentümlich gestalteten, soeben beschriebenen Kolonien bilden. Diese letzteren werden nach völliger Verflüssigung der Gelatine zu- sammenfließen und eben den weißlichen Bodensatz bilden.“ Nach längerem Stehen der Kulturen kommt an der Oberfläche die Bildung eines dünnen Kahmhäutchens zu stande, die ebenfalls aus solchen bisquitförmigen Bakterien besteht. Die Beziehungen dieses Spaltpilzes zur Fäulnis festzustellen machte Verf. mehrere Versuche, in denen frisch getöteten Tieren ganze Organe oder größere Stücke von solchen entnommen, in steri- lisierte Reagenzgläser gebracht und infiziert wurden. Ueberall trat energische Fäulnis ein, so dass trotz der geringen Anzahl der Ver- suche sieh mit großer Bestimmtheit sagen lässt, „dass der beschrie- benen Bakterienart in hohem Grade die Fähigkeit zukommt, frisches tierisches Gewebe unter Entwicklung stinkender Gase faulig zu zer- setzen.“ Die von dem Pilz erzeugten Zersetzungsprodukte scheinen eminent giftige Eigenschaften zu besitzen; Infektionsversuche an Ka- ninchen, die teils mit Jaucheflüssigkeit, teils mit der verflüssigten Gelatine angestellt wurden, ergaben heftige Störungen mit letalem Ausgang. Bei den ersteren Versuchen ist Jauche-Intoxikation als To- desursache anzunehmen; bei den letzteren bleibt es unentschieden, ob der Tod durch die in der verflüssigten Gelatine enthaltenen Zer- setzungsprodukte oder aber durch direkte pathogene Wirkung der Bakterien selbst bedingt war. C. Fisch (Erlangen). Ueber die Entwicklung des Nervus opticus der Säugetiere. Von Lorenz Hiltner. Aus dem zoologischen Institut in Erlangen. Die von His und Kölliker vertretene Ansicht, dass der Sehnerv der Wirbeltiere nicht als ein Nerv im gewöhnlichen Sinne, sondern als Hirnteil betrachtet werden müsse, da der Augenstiel sich zu in- differentem Stützgewebe umwandle und bloß als Leitgebilde für die aus dem Gehirne herein wachsenden Nervenfasern diene, begegnete Hiltner, Entwicklung des Nervus optieus der Säugetiere. 39 in letzter Zeit mehrfachen Zweifeln. So will ©. K. Hoffmann!) beobachtet haben, dass sich der Nervus opticus der Knochenfische durch Umwandlung der Zellen des Augenstiels bilde. Für die übrigen Klassen der Wirbeltiere ist aber bis jetzt die Anschauung von His die maßgebende gewesen, und auch Berg- meister, der sich in seiner Arbeit eingehend mit der Entwicklung des Nervus optieus beschäftigt, schließt sich vollständig an His an?). Da nun meine Untersuchungen, die ich an Embryonen der Hausmaus, der Waldmaus und des Meerschweinchens anstellte, zu einem völlig ab- weiechenden Ergebnis führten, so halte ich es für angezeigt, die ge- wonnenen Resultate hier in Kürze zu veröffentlichen. Die ausführliche Arbeit mit den nötigen Abbildungen wird in der nächsten Zeit er- scheinen. Bergmeister zeichnet in seiner oben zitierten Arbeit einen Horizontalschnitt durch Augenblase und Stiel eines 13tägigen Kanin- chenembryos (Fig. 1), in welchem ein zapfenförmiges Gebilde darge- stellt ist, das mit der innern Augenblasenwand in Berührung steht und in die Höhlung des Augenstieles hineinragt. Er nennt diesen Zapfen, der im Schnitt als eine mit Mesodermzellen gefüllte Röhre erscheint, „innere Lamelle des Augenstieles“, indem er sich, einer ebenfalls von His herrührenden Anschauung entsprechend, vorstellt, dasselbe sei durch seitliche Einstülpung des vordern Teils des Augen- stieles entstanden und habe sich erst sekundär mit dem Retinablatte verbunden. Demgegenüber kann ich folgendes anführen: Sehon während der Einstülpung der innern Augenblasenwand und der Linse wandert zwischen diesen beiden eine feine Schicht Meso- derm hinein. Diese setzt sich fort in den erwähnten Zapfen, welcher aber nicht durch Einstülpung des Augenstieles, sondern durch Aus- stülpung der Retina entsteht. Der Retinastiel, wie ich künf- tig dieses Gebilde nennen will, wuchert in Form eines sich ver- längernden Hohlzapfens tief in den Augenstiel hinein und legt sich immer seitwärts der Innenfläche des Augenstieles an, worauf das Mesoderm, welches in zahlreichen feinen Verästelungen die Retinaausstülpung erfüllt, Retina und Augenstiel seitlich durch- bohrend nach außen tritt. Sehr bald nehmen die einzelnen Zellen des Mesoderms die Gestalt embryonaler Blutkörperchen an, und die Um- wandlung in Blutgefäße vollzieht sich sehr frühzeitig. Zwischen den einzelnen Gefäßästen bleiben aber immer viele mit Ausläufern ver- sehene Mesodermzellen zurück, aus denen der Glaskörper sich bildet. 4) C K Hoffmann, Zur Ontogenie der Knochenfische, Archiv für mikro- skopische Anatomie, 23. Band, 1. Heft. 3) Dr. Otto Bergmeister, Entwicklungsgeschichte des Säugetierauges in Mitteilungen aus dem embryologischen Institut der Universität in Wien von Dr. Schenk. 1. Heft 1877. 40 Marshall, Die Taubheit des Auerhahns beim Balzen. Was nun die Hauptfrage, die Bildung der Nervenfasern des Seh- nerven betrifft, so kointe ich nie bemerken, dass aus dem Gehirne Fasern in den Augenstiel hineinwachsen; es ist überhaupt schwer, sich vorzustellen, wie ein derartiges Wachstum in die Länge vor sich gehen sollte. Ebenso waren niemals Stützzellen im Nervus optieus zu sehen, derselbe erwies sich vielmehr bei älteren Embryonen ganz ähnlich zusammengesetzt, wie die innere Körnehenschicht der Retina. Die Umwandlung von Zellen in Nervenfasern beginnt immer in der Innenschicht der Retina und des Retinastieles, dann aber erfolgt die- selbe aus Zellen des Augen- und Retinastieles ziemlich gleich- zeitig mit der Ausbildung des Chiasmas. Die Fasern des Nervus optieus entstshen demnach nicht durch Wucherung der Hirnrinde, sondern sind eine autochthone Bildung! Die Ausnahmestellung, welche dem Nervus opticus von verschie- denen Forschern vindiziert wurde, bleibt ihm aber doch erhalten, da sich an seiner Bildung zwei verschiedene Gewebe, das des Augenstieles und das des Retinastieles beteiligen. Die merk- würdige Entdeckung Engelmannst), dass der Sehnerv nicht bloß als lichtperzipierender zentripetal leitender, sondern auch als zentrifugal leitender motorischer Nerv funktioniere, findet vielleicht ihre anatomi- sche und histogenetische Erklärung in eben diesem Umstand, dass der Nervus optieus diesen zwei verschiedenen Bildungsherden ent- stammt. Engelmann gelangte zu seinen Schlussfolgerungen durch Experimente an Dunkeltauben und Dunkelfröschen. Eine andere Frage, die ich noch nicht bestimmt entscheiden konnte, ist die, wie weit die Zellen des Retinastieles bis zum Gehirn vordringen und ob sie in dasselbe hinein gelangen. Alle betreffenden Präparate scheinen dafür zu sprechen. Das Chiasma zeigt außer den sich durehkreuzenden Fasern eine mindestens ebenso dieke Partie von Nervenfasern, die bogenförmig ohne Durchkreuzung von einem Auge zum andern verlaufen, und es ist nicht ünwahrscheinlich, dass die Abstammung des Nervus optieus aus zweierlei Grundgeweben auf diese Weise zum sichtbaren Ausdruck kommt. Die Taubheit des Auerhahns beim Balzen. L. v. Graff, Zur Naturgeschichte des Auerhahns. Zeitschr. f. wiss. Zoologie Bd. XLI S. 167—175, Tafel 7. Während die Liebe den Menschen bekanntlich blind macht, macht sie nach alter Jägererfahrung den balzenden Auerhahn taub und zwar 1) Engelmann: Nieuwe uitkomsten beheffende de bewegingen von kegels en pigment in de retina onder den invloed van het licht, in: Onderzoekingen gedaan in het physiologish Laboratorium der Utrechtsche Hoogeschool. Uit- gegeven van Donders en Engelmann, Derde recks IX, 1884. Marshall, Die Taubheit des Auerhahns beim Balzen. 41 so taub, dass, wenigstens beim „Schleifen“, wie einige Takte seiner Morgenmusik genannt werden, selbst auf den Sänger abgegebene Fehl- schüsse häufig von diesem nicht gehört werden sollen. Aeltere Naturforscher und Jagdschriftsteller (auch noch A. E. Brehm) führen ziemlich allgemein diese Taubheit auf rein psychische Ursachen, tolle Geilheit ete. zurück, erst Wurm („das Auerwild“) suchte nach einer Erklärung in der Organisation des Vogels und glaubte sie besonders in der Beschaffenheit des Unterkiefers gefunden zu haben. Der Unterkiefer der Vögel zeigt bekanntlich nach hinten eine Verlängerung über seine Gelenkverbindung mit dem Quadratbein hinaus, den Processus angularis, der bei keiner andern einheimischen Vogelgruppe so stark wie bei unseren Waldhühnern, namentlich beim Auerhahn entwickelt ist. Wurm glaubte nun, dass beim Balzen, wäh- rend dessen der Vogel den Schnabel weit öffnet, jener Processus an- gularis durch den an ihn inserierenden vom Hinterhaupt entspringenden großen Oeffenmuskel des Schnabels in so hohem Grade nach vorn und oben d. h. nach der Ohröffnung zu gezogen würde, dass er auf die erektile und während der auf die Spitze getriebenen Leidenschaften des Vogels wirklich erigierte innere Haut des äußern Gehörgangs drücke und so den Zugang zum Ohr absperre. L. von Graff hat aber nachgewiesen, dass der Processus angu- laris bei der Taubheit des balzenden Auerhans gar keine Rolle spielt, sondern dass es lediglich jene erektile Haut ist, die den Gehörsinn temporär außer Thätigkeit setzt. Man bemerkt, wenn man nicht mit einem mazerierten Schädel, sondern, wie es natürlich das einzig Rich- tige ist, mit einen frischen Kopf des Vogels experimentiert, dass der Processus angularis bei möglichst großer Schnabelsperre immer noch 3—4 mm von der hintern Wand des häutigen äußern Gehörgangs ent- fernt bleibt. In dieser hintern Wand aber bildet die Haut einen schlaffen, faltigen Vorsprung in Gestalt eines hohen Dreiecks, dessen eine lange Seite angewachsen ist, dessen andere mitsamt der median- wärts gelegenen schmalen Basis frei in den Gehörgang hineinspringt. Das Innere dieses Vorsprungs besteht aus einem lockern schwammi- gen Bindegewebe durchzogen von vielverzweigten und geschlängelten, hin und wieder sinusartig erweiterten Gefäßen. Wenn man diese in- Jiziert, so schwillt der Vorsprung beträchtlich, legt sich der Vor- derwand des Gehörgangs und damit dem bintern Vorsprung des Quadratbeins auf eine lange Strecke hin dieht an und verschließt so den Zugang zum Ohre. Wenn diese Falte, ohne dass der Vogel grade balzt, erigiert ist, so wird sie seine Hörfähigkeit schon wesent- lich beschränken, wenn er aber im Balzen begriffen ist, wird sie neben der momentanen Ablenkung der Aufmerksamkeit und neben der be- täubenden Wirkung der eignen Lautäußerungen des Auerhahns ge- nügen, den Vogel fast vollkommen taub zu machen, denn ganz ist er 42 Retzius, Das Gehörorgan der Wirbeltiere. es auch dann noch nieht (vergl. die in Dr. A. Brehm’s Tierleben zitierten Beobachtungen von Gadamer). Beim Truthahn besitzt dieser Vorsprung eine noch weit mächtigere Entfaltung, so dass er, erigiert, die ganze innere Partie des äußern Gehörgangs bis zum Trommelfell herab ver- schließt. Der Haushahn und die Haushenne haben, wie die Henne des Auerwilds und die Truthenne, diese erektile Hautfalte nur im Rudiment. v. Graff hat es vermieden, eine mögliche Ursache dieser merk- würdigen Einrichtung aufzusuchen. Dass der Auer- und Truthahn Vorteil davon haben sollte, während des Balzens oder im Zorn taub zu sein, ist nicht wohl denkbar, es sei denn für das Fortpflanzungs- geschäft von Wichtigkeit, dass ihre ganze Aufmerksamkeit sich einzig und allein auf dieses konzentriert und sie für alles andere so gut wie tot seien. Doch dies scheint mir wenig wahrscheinlich und ich möchte lieber folgendes zu bedenken geben: sicher sind bei den höchst aufgeregten Vögeln so wie so schon die Gefäße des Kopfes»von Blut überfüllt, etwas, das durch anhaltende und bekanntlich sehr gewalt- same Lautäußerungen sicher nicht vermindert wird, und so könnten viel- leicht diese Schwellapparate gewisse Sicherheiten gegen eine Apoplexie (brünstige Vogelmännchen werden in Wahrheit manchmal vom Schlag getroffen) gewähren, was vielleicht auch der erste Grund oder wenig- stens ein beikommender Grund für die Entwicklung der erektilen Hautstellen am Kopf der Hühnervögel überhaupt sein könnte, so dass diese also nicht allein und nicht in erster Linie als Schmuck der ge- scehlechtliehen Zuchtwahl ihre Entstehung verdanken würden. Es wäre dann der Truthahn der am besten gestellte, da er, was Auerhahn und Haushahn einzeln besitzen, in Vereinigung zeigt. W. Marshall (Leipzig). Gustaf Retzius, Das Gehörorgan der Wirbeltiere. Morpho- logisch-histologische Studien. II. Das Gehörorgan der Reptilien, der Vögel und der Säugetiere. Gr. Fol. 368 Seiten mit 39 Tafeln und beigegebener Erklärung der Figuren. Stockholm 1884, Samson und Wallin. Nachdem Verf. im I. Bande (s. Ref. in diesem Blatte II. Bd., Nr. 13) die Gehörorgane der Fische und Amphibien geschildert, ist in diesem Bande die Beschreibung hauptsächlich des häutigen Laby- rinths der höheren Wirbeltiere gegeben. Derselbe enthält die Ge- schichte der bisherigen Forschungen und die Schilderung des Gehör- organs der Reptilien (4 Chelonier, 6 Ophidier, 13 Saurier, 1 Kroko- diline), der Vögel (2 Natatores, 3 Cursores, 6 Insessores), von den Säugetieren je eines Repräsentanten der Rodentia, Pecora, Belluae, Retzius, Das Gehörorgan der Wirbeltiere. 43 Carnivoren, sowie des Menschen; bei der Schilderung des Gehörorgans von Kaninchen und Katze auch entwicklungsgeschichtliche Unter- suchungen. Während bei den höheren Urodelen die erste Anlage einer von der Papilla lagenae abgetrennten Paplla acustica basilaris auftritt, die aber noch der Lagena angehört, findet sich bei den Anuren eine von der Lagena abgetrennte Pars basilaris cochleae mit Papilla acu- stica, und zwar besteht diese Pars basilaris auseiner Membrana basilaris, die von dem sogenannten Knorpelrahmen umgeben ist. Beiden Rep- tilien bildet zuerst die Pars basilaris mit der Lagena die eigentliche Schnecke (Ductus cochlearis), zunächst bei den Schildkröten und Schlangen als taschenförmige Ausstülpung des Saceulus. Die Ver- bindung von Sacculus und Cochlea, der Canalis saceulo-cochlearis (Canalis reuniens Henseni), welche bei den Schildkröten nur als weite Oeffnung besteht, wird bei den Schlangen zum kurzen Kanale. Die Lagena bildet bei beiden Ordnungen noch den Hauptbestandteil der Schnecke. — Auch bei einem Teile der Saurier ist die Schnecke noch nicht höher entwickelt. Den Uebergang zu der höhern Ausbil- dung bildet Iguana tuberculata, indem die Membrana basilaris mit ihrer Papille sich verlängert und der Ramulus basilaris stärker ent- wickelt ist. Bei den Lacerten und Psammosaurus wird die noch mehr in die Länge gezogene Membrana basilaris durch eine Brücke der Wand in zwei Abteilungen geteilt, deren jede eine gesonderte Papilla basilaris mit einem besondern Zweige des Ramulus basilaris erhält. Bei den höchsten Sauriern ist die wieder vereinigte Membrana basi- laris mit ihrer Papille schon schmal und sehr verlängert, der Ramulus basilaris bedeutend stärker; auch ist die Pars basilaris cochleae im Verhältnis zur Lagena weit mehr ausgebildet. Bereits bei den Lacerten ist die Scala tympani durch eine me- dianwärts von der Basilarmembran befindliche Rinne angedeutet — der lateralwärts von der lateralen Cochlearwand liegende Teil des perilymphatischen Raumes ist der Scala vestibuli homolog. Die me- diale Wand der Cochlea entspricht dem Tegmentum vasceulosum (Mem- brana Reissneri der höheren Tiere). Bei Egernia kommuniziert der Ductus perilymphaticus offen mit der Scala tympani. Am untern Ende dieser Scala tympani besteht eine Kommunikation mit dem an der Lagena befindlichen perilymphatischen Raume, so dass hierdurch der Uebergang zu dem Verhältnis bei Krokodilinen, Vögeln und Säuge- tieren, d.h. der bleibenden Kommunikationsöffnung der Scala tympani und Scala vestibuli der höheren Tiere am Ende (Lagena) des Ductus cochlearis dargestellt wird. Bei den Krokodilinen findet man einen lang ausgezogenen, etwas spiralig gebogenen Ductus cochlearis mit sehr langer und schmaler Membrana und Papilla basilaris, während die Lagena cochleae mit ihrer Papille nur eine kleine Endtasche bildet. Die obere vordere 44 Retzius, Das Gehörorgan der Wirbeltiere. Wand der Sehneeke stellt das Tegmentum vasculosum (Membrana Reissneri) dar. Scala vestibuli und Scala tympani sind deutlich an- gelegt. Die Schnecke der Vögel ist in den meisten Beziehungen derjeni- gen der Krokodilinen sehr ähnlich; das Tegmentum vasculosum ist noch mehr zur Gefäßmembran entwickelt. Die Papilla basilaris ist noch nieht zum echten Corti’schen Organ entwickelt. Bei den niedrigsten Säugetieren (Ornitorhynchus) ist die Pa- pilla basilaris zum wirklichen Corti’schen Organ geworden (Urban, Pritehard), dagegen ist bei den Monotremen die Papilla lagenae noch vorhanden, welche den höheren Säugetieren fehlt, ebenso wie die Macula acustica negleeta. Die Maecula neglecta tritt zuerst bei den Ganoiden auf, fehlt vielen Teleostiern, ist dann aber konstant vorhanden bis zu den Vö- geln und verschwindet wieder bei den Säugetieren. Der dazu gehörige Nerv, Ramulus negleetus, entspringt immer vom Ramulus ampullae posterioris, dagegen verändert die Macula neglecta selbst mehrfach ihre Lage. Bei den meisten Fischen liegt sie am Boden des Utrieulus dicht hinter dem Canalis utrieulo-saceularis, bei den Haien an der Wand des Kanals selbst, dagegen bei den Rochen größtenteils an der Wand des Saceulus. Bei den Amphibien liegt die Macula neglecta ebenfalls teils an der Wand des Canalis utrieulo-saceularis (niedere und ein Teil der höheren Urodelen), während sie bei einem Teile der höheren Urodelen z. B. Triton und den Anuren an der Innenseite des Sacenlus liegt. Bei Reptilien und Vögeln tritt sie wieder im Utri- eulus auf. Der Duetus endolymphaticus wurde (mit Ausnahme einiger Teleostier und der Dipnoi) bei allen untersuchten Tieren gefunden. Bei den Elasmobranchiern mündet derselbe offen in der Kopfhaut, bei den übrigen Wirbeltieren liegt die sackförmige Enderweiterung des- selben in der Gehirnhöhle, ohne mit den serösen Räumen derselben zu kommunizieren. — Der Ductus perilymphatiecus tritt zuerst bei den Amphibien auf und steht immer mit den serösen Räumen im In- nern der Schädelhöhle in Verbindung (beim Menschen mit dem Sub- arachnoidealraume). — Der Canalis utrieulo-saceularis ist bei den höheren Wirbeltieren immer vorhanden. Der Nervus acustieus teilt sich bei allen Wirbeltieren mit Ausnahme der Cyelostomen in einen Ramus anterior und einen Ramus posterior. Vom Ramus anterior entspringen konstant: 1) Ramulus ampullae anterior, 2) Ramulus ampullae exterior, 3) Ramulus recessus utrieuli; vom Ramus posterior: Retzius, Das Gehörorgan der Wirbeltiere. 45 1) Ramulus lagenae (fehlt den Säugetieren mit Ausnahme der Monotromen), 2) Ramulus basilaris (zuerst bei den höheren Urodelen), 3) Ramulus ampullae posterior, a) Zweig zur Ampulla posterior, b) Ramulus neglectus (fehlt u. a. den Säugetieren). Der Ramulus saceuli entspringt bei den niederen Wirbeltieren teils vom Ramus anterior allein (z. B. einige Teleostier, Anuren), teils allein vom Ramus posterior (Ganoiden, einige Teleostier, Elasmobran- chier, die meisten Urodelen). Bei den meisten Teleostiern gibt auch der Ramus anterior Bündel für den Ramulus sacceuli ab, ebenso bei den Schildkröten, während derselbe bei Schlangen, Sauriern, Vögeln und Säugetieren nur vom Ramus posterior, bei Alligator missisipense da- gegen vorwiegend vom Ramus anterior ausgeht. — Der von Reichert beschriebene Zweig des Nervus cochlearis, welcher zur Scheidewand der beiden Vorhofsäckchen gehen soll, existiert nicht. In bezug auf den feinern Bau der Schnecke, besonders derjeni- gen der Säugetiere, sind folgende Punkte hervorzuheben: Am Limbus spiralis sind auch die bindegewebigen Vorsprünge desselben (Warzen und Zähne) durch die oberen Enden der „interden- talen“ Zellen bedeckt, und diese Epithelbekleidung geht kontinuierlich in das Epithel der Membrana Reissneri und des Sinus spiralis internus über. Die Membrana basilaris besteht aus radiär angeordneten Fasern (wie bereits beim Krokodil). An der vestibularen Seite der Membran liegen nur Epithelzellen und Nervenfasern (Corti’sches Or- gan), ein bindegewebiges Stützfasersystem (Deiters, Lavdowsky) existiert nicht. Die Pfeilerzellen sind wirkliche Zellen, in deren Protoplasma sich die Pfeiler entwickeln. Jede Pfeilerzelle entsteht aus einer em- bryonalen Zylinderzelle. Die Deiters’schen Zellen gehören zu der- selben Zellengattung, sind in ihrer ganzen Länge durch einen (dem Pfeiler entsprechenden) Faden durchzogen. Bei allen Wirbeltieren sind überhaupt in den Maculae, Cristae und Papillae acusticae nur zwei Arten von Zellen vorhanden: 1) in- differente oder Stützzellen — Fadenzellen 2) die eigentlichen Sinnes- zellen— Haarzellen. Dieäußeren Haarzellen desCorti’schen Organs sind mit den Deiters’schen Zellen durchaus nicht organisch verbunden (wie Waldeyer, Gottstein, Lavdowsky annehmen), ein Fort- satz der Haarzellen nach der Basilarmembran existiert nicht. Im obern Ende jeder Haarzelle befindet sich der ovale Hensen’sche Kör- per, auf der Innenfläche der Zellenhaut liegen sehr feine, gleich große Körper. Die Katze hat drei Reihen äußerer Haarzellen, Kaninchen und Hund im obern Teil der zweiten, sowie der Spitzenwindung vier Reihen; die vierte Reihe tritt ebenso beim Menschen auf, mitunter 46 Retzius, Das Gehörorgan der Wirbeltiere. auch einzelne Haarzellen einer fünften Reihe. Die Lamina retieularis besteht aus den Phalangen (obere Endplatten der Deiters’schen Zellen) und den oberen Enden der äußeren Haarzellen. — Die inneren Haarzellen bilden eine Reihe, hie und da einzelne Zellen einer zweiten keihe. Sie ähneln mehr den Haarzellen der Maculae und Oristae acustieae. Die unter und nach außen von den inneren Haar- zellen befindlichen „Körner“ gehören nicht den Nerven an, sondern scheinen schmale Epithelzellen zu sein, welche feine protoplasmatische Fortsätze nach oben schicken. Die Hörhaare der Haarzellen sind bei allen Wirbeltieren aus dicht aneinander gelagerten feinen Fäden zusammengesetzt. Die Haare stecken an den Maculae acusticae in eigentümlichen Deekmembranen, welche mit Otolithenkrystallen versehen sind. Dagegen schließt sich Verf. in bezug auf die Cupula terminalis der Cristae acustieae der Ansieht von Hensen an, dass dieselbe nur dureh die frühere Art der Präparation entstanden sei: „Meiner Ansicht nach gibt es also hier eine besondere halbflüssige Substanz, welche die Haare umfasst, durch gewisse Reagentien verschieden stark erstarrt und oft schrumpft, wobei die Haare auch mehr oder weniger verändert werden.“ — Auch der Macula neglecta fehlt die Deekmembran. Es ist noch eine Art von Zellen zu erwähnen, die besonders in der Umgebungder Nervenendstellen vorkommen: diePlasma-Epithel- zellen (Zylinderzellen mit sternförmigem Querschnitt Max Schultze, stern- und flaschenförmige Pigmentzellen Hasse, protoplasmatische oder grobkörnige oder starkkörnige Epithelzellen Retzius). Diesel- ben liegen zwischen den gewöhnlichen hellen Epithelzellen, schieken kurze Ausläufer aus, welehe mitunter mit denen der Nachbarzellen verbunden sind. Sie ähneln den Plasmazellen (Waldeyer), und Verf. vermutet, dass sie, vielleicht als eine Art von Drüsenepithel, bei der Ausscheidung der Endolymphe beschäftigt sind. Außer dem eigentlichen Tunnel-Raum besteht noch ein Interzellu- larraum, der Nuel’sche Raum, welcher zwischen den äußeren Pfeiler- zellen und der ersten Reihe der Deiters’schen Zellen liegt. Tunnel- Raum und Nuel’scher Raum gehen zwischen den äußeren Pfeilerzellen in einander über. Die Nervenfasern teilen sich bei Fischen und Amphibien nach Abgabe der Schwann’schen und gewöhnliel auch der Myelinscheide (mit Ausnahme einiger Fische) in dem Nervenepithel dichotomisch oder senden feinere Seitenzweige aus, um die unteren Enden der Haarzellen zu umstrieken, doch konnte der direkte Zusammenhang mit den Haarzellen nicht unzweifelhaft dargethan werden. Auch beim Eintritt in den Duetus cochlearis der Säugetiere behalten die Nerven- fasern Myelinscheide und Schwann’sche Scheide bis zum Eintritt in die Habenula perforata. Die varikösen Primitivfibrillen bilden zu- nächst einen innern spiralen Zug zu den innern Haarzellen und dem Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. 47T spiralen Tunnelfaserzug. Von letzterem zweigen sich die radial ver- laufenden Fasern ab, welche je an der innern Seite einer Deiters’- schen Zelle wieder in spiraler Richtung abbiegen, um die 3—4 äuße- ren spiralen Faserzüge zu bilden. Bei höheren Wirbeltieren (Alligator, Taube, Kaninchen, Katze, Mensch) konnte unzweifelhaft nachgewiesen werden, dass die Nerven- fasern sich mit dem untern Ende der Haarzellen in der Weise ver- binden, dass ihre Primitivfibrillen das Protoplasma der Zellen schalen- oder mantelförmig umfassen, wodurch eine innige Vereinigung ent- steht. Einen direkten Uebergang der Nervenfasern in die Haarzellen konnte Verf. dagegen nie sehen. — Die Chelonier und Ophidier sind als phylogenetische Fortsetzung der Urodelen bezw. Posturodelen anzusehen. Die Entwicklung des häutigen Gehörorgans der niederen Saurier ist nieht merkbar höher als bei den Schlangen, während die höheren Saurier den Uebergang zu den Krokodilinen bilden. (Hatteria nimmt in der Entwieklungs- reihe eine Ausnahmestellung ein, so dass die Phylogenese unklar ist). Den Uebergang zu den Vögeln und Säugetieren bilden die Krokodi- linen, bei welehen der Grundtypus der Schnecke der Vögel und (trotz des Mangels eines eigentlichen Corti’schen Organs) auch der Schnecke der Säugetiere angelegt ist. Das Gehörorgan der Vögel stellt einen besondern Zweig der Entwicklungsreihe dar, welcher sich von den Postreptilien abgezweigt hat. Die Vermittlung der Postreptilien mit den Säugetieren findet durch die Monotremen statt. Kiesselbach (Erlangen). Kritischer Bericht über die neueren physiologischen Unter- suchungen, die Großhirnrinde betreffend. Von Sigmund Exner. (Schluss.) Ich komme zu einer aus dem Laboratorium von Goltz stam- menden Arbeit von Löb'). Nach einer historisch-kritischen Ein- leitung, welche ergibt, dass verschiedene Autoren „das Sehzentrum“ in sehr ungleicher Ausdehnung an ziemlich verschiedene Rindenlo- kalitäten verlegen, begrenzt der Verf. seine Aufgabe durch Aufwer- fung folgender beiden Fragen: „Erstens: gibt es eine Lokalisation der Sehstörungen in der Rinde, oder, mit anderen Worten, gibt es in der Großhirnrinde ein Gebiet, dessen Wegnahme notwendig und ausschließlich zu Sehstörungen führt, und zweitens: was ist das Wesen der Sehstörungen, die durch Verletzung der Großhirnrinde bedingt sind ?“ 4) Die Sehstörungen nach Verletzung der Großhirmrinde. Pflüger’s Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 34. 48 Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. Die erste Frage wird verneint. Diese Verneinung steht im grellen Widerspruche zu den Anschauungen Munk’s, weshalb sich der von Löb erbrachte Nachweis zu einer Art Polemik gegen Munk ent- wickelt. Dieser Autor hatte behauptet, dass seine Stelle A, im Oec- eipitallappen die Stelle des deutlichsten Sehens der Netzhaut reprä- sentiert, und dass Hunde, denen A, exstirpiert war, mit der Maecula lutea des gegenüberliegenden Auges nicht mehr sehen, dass diese „rindenblind“ geworden sei. Löb batte Hunden ein Auge und auf derselben Seite die Rinde von A, exstirpieit, und überzeugte sich an dem sichern Ueberspringen von Hindernissen 18 Stunden nach der Operation, durch das Fixieren der Objekte mit dem Auge u. dergl. m., dass das Tier mit derselben Netzhautstelle sieht wie ein normales. Auf grund vielfacher Versuche von Rindenexstirpationen, die bei- derseits oder einseitig, an verschiedenen Orten und in verschiedener Ausdehnung vorgenommen wurden, kommt Verf. zu folgenden Schluss- folgerungen: 1. „Jede Stelle der Rinde des Hinterhauptlappens, insbesondere die Stelle A, mit Umgebung, die mediale wie die laterale Partie der Munk’schen „Sehsphäre“, die „Sehzentren* Dalton’s, Ferrier's, Lueiani’s und Taburini’s!) können weggenommen werden, ohne dass die geringste Sehstörung darauf erfolgt. Die Behauptung der Autoren, dass die Wegnahme dieser Stelle notwendig zu Seh- störungen führen müsse, und erst recht die darauf basierte An- schauung, dass diese Stellen Zentren des Sehens seien, ist irrig. 2. Wenn eine Sehstörung bei einem operierten Tiere nach Ex- stirpation einer Stelle des Hinterhauptlappens eintritt, so präsentiert sich diese Störung, gleichviel an welcher Stelle des Hinterhaupt- lappens der Eingriff erfolgt ist, stets als eine homonyme, laterale Hemiamblyopie, die der Seite der lädierten Hemisphäre gegenüberliegt. 3. In allen Fällen einseitiger wie doppelseitiger Hemiamblyopie fixieren und sehen die Tiere am besten mit der Stelle des deutliehsten Sehens; sei es dass dieselbe bei den Operationen gänzlich intakt bleibt, sei es dass sie blos relativ am wenigsten geschädigt wird.“ Nach Löb fällt also die ganze von Munk gegebene Verteilung der Retinafasern auf der Rinde, es bleibt nur die Versorgung beider rechten Retinahälften ?) durch die rechte Hemisphäre, und entspre- chendes für die Iinke, es fällt aber wieder die Konstanz dieses Ver- haltens weg, und es wird die Region der Sehsphäre auf einen großen Teil der Rinde ausgedehnt. Löb spricht nicht von Blindheit, sondern von Amblyopie aus gleich zu erwähnenden Gründen. Er beobachtete nach den genannten 1) Vergl. auch Bianchi, Sulle compensazioni funzionali della corteceia cerebr. Napoli 1883. 2) Es sind nieht genau die Hälften, vielmehr ®/, der ganzen Retina auf der linken und !/, auf der rechten Seite, Ähnlich wie dies Munk angab. Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. 49 Operationen auch noch Störungen im Gebiete der Motilität und des Gehörsinnes, und anderseits erhielt er, wie schon andere beobachtet hatten, nach Exstirpationen im Gebiete des Scheitel- oder Schläfen- lappens Amblyopien, die sich so verhielten wie die vom Hinter- hauptslappen aus erzeugten, im allgemeinen aber von geringerer In- tensität waren. Was nun die zweite Frage, die nach der Natur der Sehstörungen anbelangt, so konnte Löb niemals eine wirkliche Blindheit seiner operierten Tiere nachweisen; immer war es nur eine Sehstörung, und wenn bei Operation einer Hemisphäre Hemiamblyopie vorhanden war, so bestand der Unterschied im Sehen für beide Gesichtsfeldhälften darin, „dass die Reizschwelle für alle Reize aus der vernachlässigten Gesichtsfeldpartie erhöht ist.“ „Es ist also die Ursache der Hemi- amblyopie in den Vorgängen bis zur Entstehung der Gesichtsvor- stellungen zu suchen.“ Weiter zeigt Verf., dass die Sehstörungen wenigstens teilweise als Reizerscheinung aufzufassen sind, und findet eine Bestätigung hiefür in der oft sehr raschen Besserung derselben; dass die Störungen aber nur teilweise Reizerscheinungen sind, folgert er daraus, dass sie bisweilen bleibend sind. Die Sehstörungen selbst schildert Löb als solche, wie sie früher schon von Goltz charakterisiert worden sind. Die Tiere sehen auch mit ihrer amblyopischen Netzhaut so, dass sie gehen können ohne an Hindernisse zu stoßen, sie halten dabei allerdings auffallende Gegen- stände für Hindernisse, auch wenn sie es nicht sind, benehmen sich dem entsprechend blöd in allem, was den Gesichtssinn anbelangt, kurz so, als hätten sie die geistige Verarbeitung der Sinneseindrücke') ihrer Augen eingebüßt. Endlich habe ich eine neuere Untersuchung von Goltz zu be- sprechen 2). Es handelt sich in derselben wieder um die Erschei- nungen, welehe Hunde nach Entfernung verschiedener Rindenpartien zeigen, und um die Deutung dieser Erscheinungen. Eingangs hebt Goltz neuerdings die Wichtigkeit hervor, zwischen den nach einer Rindenverletzung eintretenden „Ausfallserscheinungen“ und den Ne- benerscheinungen, die er hauptsächlich für Hemmungserscheinungen hält, zu unterscheiden. Erstere definiert er jetzt folgendermaßen: „Unter Ausfallserscheinungen verstehe ich das geringste Maß von Störungen, welches sich zu irgend einer Zeit und in irgend einem Falle nach einer bestimmten Hirnverletzung beobachten lässt. Diese Erscheinungen sind es, welche einen Schluss auf die Funktion der exstirpierten Rindenpartie gestatten; alle Erscheinungen, welche, wenn auch erst Monate nach der Operation verschwunden sind, dürfen zur Bildung eines solehen Schlusses nicht herangezogen werden, es sind I) Sigm. Exner in Hermann’s Handb. d. Physiol II. 2. S. 206. 2) Ueber die Verrichtungen des Großhirms. 5. Abhandlung. Pflüger’s Arch, f. d. ges. Physiol. Bd 34. A 50 Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. Nebenerscheinungen“ !). „Nach Verletzung der sogenannten motori- schen Zone“ sagt Goltz, „sind häufig Lähmungen in der entgegen- gesetzten Körperhälfte gesehen worden. Diese Beobachtungen sind unzweifelhaft richtig; aber sie beweisen nicht, dass die Rinde dieser Region unentbehrliches Organ für jede willkürliche Bewegung ist. Ein einziger Fall, in welchem ein Mensch oder Tier trotz eines großen Substanzverlustes in der motorischen Rindenzone noch alle seine Mus- keln willkürlich bewegen kann, würde schon genügen, um jene Lehre zu widerlegen.“ Ich bin im großen ganzen hiermit vollkommen einverstanden, will mir aber doch einige Bemerkungen über die hieraus gezogenen Folgerungen erlauben. Es scheint mir, dass heute kaum mehr darüber gestritten werden kann, dass Hunde nach Exstirpation dieser motorischen Zone sich noch so bewegen, dass man ihre Bewegungen für willkürliche halten kann. Höchstens darüber, ob sie willkürliche wirklich sind, dürften noch hie und da Zweifel aufstoßen. Ich halte den Streit hierüber für müßig, denn er ist ein Wortstreit, wenn, was wohl jeder thut, zugegeben wird, dass die Bewegungen durch die Eindrücke der ver- schiedenen Sinnesorgane in einer solchen Weise beeinflusst werden, wie wir es nur nach Ablauf von höchst komplizierten nervösen Pro- zessen, deren Verständnis uns entrückt ist, erwarten können. Aber etwas anderes ist es, ob wir uns deshalb um jene ver- gänglichen Erscheinungen gar nicht zu kümmern haben, welche nach der Exstirpation eines bestimmten Rindenteiles auftreten, nachdem wir wissen, dass dieser Rindenteil kein „unentbehrliches Organ für Jede willkürliche Bewegung ist.“ Ich glaube, wir haben uns um die- selben wohl zu kümmern. Wenn Hitzig die motorische Region bei einem Hunde freilegte, ihn dann losband und umherlaufen ließ, um sich zu überzeugen, dass das Tier keine motorischen Störungen zeigt, wenn er ihm darauf eine ganz zirkumskripte Rindenstelle skarifiziert, und sogleich zeigt das Tier bestimmte Bewegungsabnormitäten, wenn weiter diese Störungen bei Skarifizierung einer andern Rindenstelle nicht auftreten, so ist damit eine, wie mir scheint, hinlänglich wich- tige Thatsache aufgedeckt, um in das Archiv der Wissenschaft auf- genommen zu werden, ob das Tier diese Störungen nach Monaten noch zeigt oder nicht. Bei dieser Aufnahme bekam die betreffende Rindenstelle einen Namen, wie derselbe lautet, ist ziemlich gleich- giltig, ausdrücken will er nichts anderes, als das Ergebnis des Ver- suches, welches lautet, diese Rindenstelle steht zu der betreffenden Muskelgruppe in einem andern Verhältnisse als andere Rindenteile zu derselben Muskelgruppe stehen. Ueber die wahre Natur dieses 1) Vergl. auch, was Benedikt über die Erscheinungen, die nach Rinden- exstirpation auftreten, sagt, insbesondere über Krampf und Lähmung. (Zur Lehre von der Lokalisation der Gehirnfunktionen. Wiener Klinik 1883.) Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. 51 Verhältnisses wissen wir durch den Versuch kaum etwas nennens- wertes, und durch mannigfaltige Ergänzungsversuche, die seit jenem Experiment Hitzig's angestellt wurden, haben wir über dasselbe auch nicht viel erfahren. Wir wissen eben von dem funktionellen Mecha- nismus der Rinde noch sehr wenig. Mag das skarifizierte Stück nun Hemmungsmechanismus, mag es ein Reflexmechanismus, mag es der Angriffspunkt einer Seele sein, jedenfalls leidet die Motilität jener Muskelgruppe gleich nach der Verletzung grade dieses Stückchens Rinde. Die Lokalisationsversuche haben für den Hund verschiedene solehe Rindenstellen in ihrer Beziehung zu verschiedenen Muskelgruppen ausfindig gemacht. Dass der Hund nach Exstirpation aller dieser Rindenstellen seine Muskeln noch willkürlich bewegt, ist auch eine wichtige Thatsache, ändert aber an der erst genannten nichts, und ist für jeden, der vorurteilslos an die Verhältnisse herantritt, auch nieht auffallend. Man muss eben an das Hitzig’sche Experiment nieht gleich die Vorstellung knüpfen, es sei da ein Rindenkästehen gefunden, das niehts zu thun hat als einzig die Bewegungen jener Muskelgruppe unabhängig von der ganzen übrigen Rinde zu besorgen. Es wäre manche Kontroverse erspart worden, hätte man sich reeht- zeitig an den Gedanken der relativen Rindenfelder gewöhnt; man würde eben gesehen haben, dass die Pfotenmuskeln des Hundes, so- wie dies bei vielen Muskelgruppen des Menschen auch der Fall ist, gar kein absolutes Rindenfeld haben, dass überhaupt die Intensität der Rindenfelder in der Tierreihe mit der Intelligenz abnimmt und vielleicht kein einziges Tier ein absolutes motorisches Rindenfeld hat. Aehnlich nun, wie in dem angeführten Beispiele aus Hitzig’s Ex- perimenten, steht es mit vielen die Lokalisation betreffenden Ver- suchen, und in demselben Sinne wie jenes können auch diese von Wichtigkeit sein, auch wenn sie nicht Ausfallserscheinungen im Sinne von Goltz zutage förderten. Ja es wäre sehr wohl denkbar, dass auf diese Weise mit vollem Recht die ganze Rindenoberfläche landkarten- artig hätte in Territorien eingeteilt werden müssen. Dieselben wür- den dann eben scharf begränzte relative Rindenfelder sein. Ich habe schon vor Jahren für die relativen Rindenfelder des Menschen als charakteristisch bezeichnet, dass die auf Verletzung derselben eintretenden Störungen nicht nur leichter zurückgehen !) und von geringerem Grade ?) sind, als die durch Verletzung der ab- soluten Rindenfelder hervorgerufenen, sondern auch inkonstant sind). Die Verletzung einer bestimmten anatomisch charakterisierten Stelle bringt eben einmal ein Symptom hervor, ein anderes mal thut sie das 1) Lokalisation der Funktionen in der Großhirnrinde des Menschen. Wien 1881. 8. 3. 2) Ebenda S. 37. 3) Ebenda 8. 14. 52 Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. nieht. Auch das ist eine Thatsache, auf welche Löb und Goltz neuerdings bei ihren Experimenten an Hunden gestoßen sind; auch sie darf meines Erachtens nicht ignoriert werden. Würden wir bei Verletzung einer bestimmten Rindenstelle in der Hälfte der Fälle ein bestimmtes Symptom erhalten, welches durch Verletzung einer an- dern Stelle niemals oder nur seltener hervorgerufen werden kann, so wäre auch dies eine Thatsache, die sehr wohl der Bemerkung wert wäre. Soviel über meine Stellung den Goltz’schen Ausfalls- und Neben- erscheinungen gegenüber. Den vorgelegten Betrachtungen entzieht sich übrigens auch dieser Autor nicht vollkommen. Er meint, es müsse auch in bezug auf die Nebenerscheinungen eine Gesetzmäßig- keit anerkannt werden, die Aufdeckung derselben sei der Zukunft zu überlassen. „Für die nächsten Ziele unserer Forschung aber, d. i. für die Ermittelung der Verriehtungen der einzelnen Hirnabschnitte, ist die Feststellung der Ausfallserscheinungen unleugbar von weit srößerer Wichtigkeit als die Entwirrung der Gesetze, nach welchen die Nebenwirkungen erfolgen.“ Ich kann schließlich nicht umhin, noch auf eine Schwierigkeit aufmerksam zu machen, auf die man stößt, wenn man auf das Stu- dium der Goltz’schen Ausfallserscheinungen das Hauptigewicht legt. Sie treten um so reiner hervor, sagt Goltz, je länger das Tier am Leben bleibt. Nun hat aber Goltz selbst wiederholt auf das interes- sante Faktum aufmerksam gemacht, dass nach Exstirpation eines Rindenteiles das zurückgebliebene Hirn einer sehr auffallenden Atro- phie verfällt. Bei dem imnigen funktionellen Zusammenhange der verschiedenen Rindenanteile, für den ich oben eingetreten bin, war dies kaum anders zu erwarten. Ist man aber sicher, dass die Aus- fallserscheinungen nieht wenigstens teilweise auf dieser sekundären Atrophie kortikaler oder subkortikaler Elemente beruhen? Doch zurück zu den Untersuchungen von Goltz. Er fand neuerdings die schon bekannten Bewegungsstörungen an einem Hunde, dem die motorische Region auf der einen Seite exstir- piert war. Das Tier war mit der gegenüberliegenden Pfote unge- schickt, aber es lief nach einigen Tagen und war nach mehreren Mo- naten für den nicht unterrichteten Beschauer von einem normalen nicht mehr zu unterscheiden. Die Operation war in dieser Versuchs- reihe aber anders ausgeführt wie in früheren. Es war das ganze Vorderhirn bis an die Basis zerstört oder herausgenommen, also mit Einschluss des „vordern Streifenkörpers“ und unter Verletzung der Capsula interna. Die Beobachtung, dass die Zerstörung der letzt- genannten Organe keine dauernde Lähmung erzeugt, steht im Wider- spruch mit früheren Angaben, die als irrig bezeichnet werden. Gegen Munk wird hervorgehoben, dass ein solches Tier an keinem Muskel gelähmt und an keiner Stelle seines Körpers gegen Tastreize unem- Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. 55 pfindlich ist. Selbst das Auseinanderblasen der Haare wird überall empfunden. Sind dem Hunde beide „motorischen Zonen“ exstirpiert, so ist er in all seinen Bewegungen plump und ungeschickt. „Beim Gehen schleppt er die Hinterfüße etwas nach. Auf glattem Boden gleitet das Tier leicht aus, erhebt sich aber immer von selbst, um weiter zu laufen. Setzt man den Hund auf den Tisch, so springt er dreist, aber plump herunter. Am Rand des Tisches entlang laufend tritt er mit allen Pfoten leicht ins Leere.“ Kein Muskel ist gelähmt, und nirgends Unempfindlichkeit gegen Tasteindrücke. Im Gegenteil hat Goltz beobachtet, dass häufig infolge einseitiger oder doppelseitiger Operation Ueberempfindlichkeit auftritt. Zur Charakteristik der eigentümlichen Ungeschicklichkeit in Be- wegungen dieser beiderseits operierten Tiere führt Goltz folgendes an. Ein längliches Stück Fleisch wird an einem Faden mitten im Zimmer so aufgehängt, dass es das Tier leicht erreicht. Ein nor- maler oder einseitig operierter Hund nimmt den Streifen Fleisch, in- dem er den Kopf um seine Längsachse dreht. „Führt man dagegen ein Tier mit doppelseitigem großem Substanzverlust des Vorderhirns an den hängenden Fleischstreifen, so gelingt es ihm nicht, sich dessen zu bemächtigen. Er öffnet und schließt das Maul in der Richtung des vor dem Maule hängenden Streifens, ohne diesen fassen zu kön- nen, da das Fleisch schlüpfrig ist und eine ausweichende Bewegung bekommt. Der verstümmelte Hund findet nicht das einfache Mittel, den Kopf um die Längsachse zu drehen und sich das Fleisch ins Maul pendeln zu lassen. Er setzt die zwecklosen schnappenden Be- wegungen fort, bis er, wie seine Ohnmacht einsehend, sich fort- wendet.“ Gewisse Reflexe laufen beim operierten Hunde regelmäßiger (weniger gehemmt) ab, als beim normalen. Wichtig ist weiter, dass Tiere nach Wegnahme des Vorderhirns in der Regel einen reizbaren aufgeregten Charakter bekommen; harmlose Tiere können bösartig werden; und dass Exstirpation der Hinterhauptlappen umgekehrt bös- artige Tiere zu harmlosen macht. An jenen Hunden, denen ein Hinterhauptslappen genommen wor- den war, beobachtete Goltz, wie früher Löb, jene Hemiamblyopie für die dem Operationsfeld gegenüberliegende Hälfte des Gesichts- feldes. Eine eigentümliche, an diesen Tieren zu beobachtende Be- wegungsstörung besteht darin, dass sie, wenn links operiert, nach einem Fleischbissen springend regelmäßig zu weit links kommen und so das Stück verfehlen. Sind einem Hunde beide Hinterhauptslappen exstirpiert, so zeigt er nicht Blindheit, sondern eben jene Amblyopie für beide Hälften des Sehfeldes. „Wenn man ihm, während er friedlich und langsam im Zimmer umhergeht, entgegentritt und ihn mit der Faust oder Peitsche 54 Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. bedroht, so nimmt der Hund nicht die mindeste Notiz von der Be- drohung. Ebenso wenig beachtet er es, wenn man eine brennende Kerze plötzlich seinen Augen nähert. Ja man kann selbst das bren- nende Licht einer Magnesiumlampe in seine Augen senden, ohne dass das Tier Miene macht, auch nur seine Gangart zu ändern.“ Trotz- dem kann gezeigt werden, dass der Hund sieht, „vielleicht sogar ganz gut sieht und nur außer stande ist, die Dinge zu erkennen.“ Er stößt nämlich an Hindernissen nicht an, weicht aber einem auf dem Boden befestigten Streifen weißen Papiers aus, als wäre er ein unüberwindliches Hindernis. Er lernt auch nicht das eingebildete Hindernis als solches zu erkennen. Auch seinen Futternapf vermag er durch den Gesichtssinn nicht zu finden, wohl aber lernte ein spe- zielles Tier das Oeffnen seines Käfigs an dem einfallenden Licht zu bemerken. Goltz hebt hier wieder gegen Munk hervor, dass aus dem Verhalten des Tieres nicht etwa Blindheit eines Teiles der Netz- haut hervorgeht, dass das Tier vielmehr so bliekt und fixiert wie ein normales, und dass die Art seines Sehens nicht durch Wiedererlernen erklärt werden kann. Auch die Wahrnehmungen, welche einem solehen Tier durch die übrigen Sinne zufließen, sind schwer geschädigt, ebenso, wie es scheint, die Intelligenz. In eine Umzäunung von 27 cm Höhe, die es also leicht überspringen könnte, gesetzt, verrät es sein Unbehagen durch Winseln, verfällt aber nicht auf das Mittel herauszukommen. B. Untersuchungen am Menschen. Beim Studium jener Lokalitäten in der Rinde, an deren Intakt- heit die Funktion gewisser Sinne und Muskelgruppen beim Menschen gebunden ist, smd wir ausschließlich auf die Beobachtungen am Krankenbette und Vergleichung derselben mit dem Sektionsbefunde angewiesen. Es existiert in der Literatur schon seit Jahren eine nach Hun- derten zählende Anzahl von Krankheitsfällen, welehe mehr oder we- niger geeignet sind, in diesem Sinne verwertet zu werden. Nun wird allerdings von einer Seite !) behauptet, die Beobachtung und Beschrei- bung dieser Fälle sei im allgemeinen so unvollkommen, dass sie zur Aufstellung einer Lokalisation am Menschen nicht gebraucht werden können, und man bekomme hier sichere Resultate nur durch eigne Beobachtung und Verwertung einzelner Fälle. Ich glaube jedoch, dass dies Urteil über die Korrektheit der Beschreibungen, — sie rühren zum teil von den ersten lebenden Autoritäten auf diesem Ge- biete der Medizin her — doch zu pessimistisch ist, und dass man, wepn mit hinlänglicher Umsieht bei der Auswahl des vorliegenden 1) Vergl. Wernicke’s Referat über meine Arbeit in Fortschritte der Mediz. 1883. Nr. 2. Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. 55 Beobachtungsmaterials vorgegangen wird, ebenso sicher zu Fol- gerungen gelangt, wie man zu irgend einem andern allgemeinen Satz, der der Beobachtung am Krankenbette entsprungen ist, geführt wurde. Wenn ich z. B. aus einer Sammlung von nach gewissen Prin- zipien ausgelesenen Krankenfällen alle jene wähle, in welchen die Bewegung der obern Extremität nicht gelitten hatte, und die zerstörten Rindenstellen dieser Fälle auf eine Hemisphärenzeichnung auftrage, so zeigt sie sich überall mit solchen Zeichnungen bedeckt bis auf eine bestimmte Stelle. Verfahre ich nach demselben Prinzipe, wähle aber die Intaktheit einer andern Muskelgruppe, so bleibt mir eine andere Stelle leer. Habe ich da nicht ein Recht, diese leere Stelle im ersten Falle mit dem Bewegungsvermögen der obern Extremität in Verbindung zu bringen? Schlechte Beschreibung — eine große Anzahl von Krankheitsfällen vorausgesetzt — kann höchstens das gefundene Rindenfeld etwas kleiner erscheinen lassen, als es wirklich ist, ein Fehler, der angesichts des Umstandes, dass immer noch um die Existenz einer Lokalisation gestritten wird, unbedeutend genannt werden darf. Mir will es scheinen, dass aus dem vorliegendem Ma- terial allerdings manches noch nicht entschieden werden kann, dass wir aber einiges ganz wohl aus demselben folgern können. Wie steht es aber mit den einzelnen genau beobachteten Fällen? Sie können zweifelsohne von großem Werte sein. Aber zu allgemein siltigen Sätzen führt eine einzelne, oder auch eine beschränkte Zahl von Beobachtungen niemals. Und zwar thut sie es deshalb nieht, weil erfahrungsgemäß die Zerstörung einer bestimmten Rinden- partie bei verschiedenen Individuen verschiedene Symptome hervor- rufen kann. Es ist eben jeder einzelne Fall so enorm kompliziert, dass von einer wirklichen Erkenntnis aller ursächlichen Verhältnisse nicht die Rede sein kann; so kommt es, dass bei Verletzung ein und derselben anatomisch charakterisierten Rindenstelle ein Symptom, z. B. Lähmung einer Muskelgruppe einmal vorhanden ist, ein anderes mal nicht. Ich habe schon an anderem Orte darauf aufmerksam ge- macht, wie namentlich zu Beginn der Lokalisationsversuche in dieser Richtung geirrt wurde. In der That beruhen die neueren Arbeiten fast ausschließlich auf vergleichenden Zusammenstellungen einer großen Zahl von Kranken- fällen. Die bedeutendste derselben dürfte die vierte Sammlung sein, welche Charcot und Pitres im Jahre 1883 publizierten, nachdem die erste 1877, die zweite 1878, die dritte 1879 erschienen waren). Sie beschäftigt sich mit den von der Rinde ausgehenden motorischen Störungen und enthält 185 Fälle. Die physiologisch wichtigsten Resultate dieser Untersuchung sind: 1) In der Revue mens. de medicine. 56 Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. Der motorische Teil der menschlichen Rinde besteht aus den beiden Zentralwindungen und dem Lobulus paraeentralis. Ausgedehnte Zer- störungen in den Zentralwindungen verursachen vollständige, kleine Zerstörungen unvollständige Lähmung der gegenüberliegenden Kör- perhälfte. Unter den unvollständigen Lähmungen werden unterschieden: a) Lähmung des Armes und Gesichtes. Sie fällt zusammen mit der Zerstörung der unteren Hälften beider Zentralwindungen; b) Lähmungen des Armes und Beines ebenso mit der Zerstörung der obern Hälfte beider Zentralwindungen; ec) Lähmung des Gesichts und der Zunge fällt mit einer be- schränkten Zerstörung des untern Endes der motorischen Zone zu- sammen, speziell der vordern Zentralwindung; d) Lähmung des Armes allein mit einer beschränkten Zerstörung in der Mitte der motorischen Zone, speziell des mittlern Drittels der vorderen Zentralwindung; e) Lähmung des Beines allein mit einer beschränkten Zerstörung des Lobulus paracentralis. Ein wie mir scheint sehr wichtiges Resultat dieser Arbeit besteht weiter in dem Nachweis, dass die Zerstörungen innerhalb der Zen- tralwindungen immer dauernde Lähmung hervorrufen, und dass, wenn das Individuum mit der Läsion lange genug gelebt hat, eine „ab- steigende Degeneration“ d. h. eine Degeneration der Nervenbahnen eintritt, welehe sich bis in die Pyramiden und weiter verfolgen lässt. Eine solehe Degeneration tritt nie ein, wenn die Läsion außerhalb der genannten Zone ihren Sitz hat. Es ist diese Beobachtung deshalb so wiehtig, weil sie zeigt, dass beim Menschen die direkt von der Rinde in das Rückenmark eintretenden Nervenfasern grade aus den genannten Windungen in kompakten Massen austreten; ob aus den benachbarten Windungen gar keine derartigen Bahnen, oder ob solche nur in spärlicher Weise zum Rückenmark abgehen, ist freilich noch nicht zu entscheiden. Es würde dadurch auch die histologische Son- derstellung grade der beiden Zentralwindungen und des Lobulus para- centralis verständlich, in denen Betz und Obersteiner die mit dem Namen der Riesenpyramiden belegten auffallend großen Ganglien- zellen nachgewiesen haben. Was nun die Begrenzung der „motorischen Zone“ anbelangt, die Chareot und Pitres jetzt ausschließlich in die beiden Zentralwin- dungen und den Lobulus paracentralis verlegen (früher rechneten diese beiden Autoren auch noch die Nachbarschaft der genannten Windungen hinzu), so ist das genau dasselbe Gebiet, das ich seiner Zeit auf grund einer Sammlung von Krankenfällen in Hermann’s Handbuch der Physiologie als sicherlich motorisch beschrieb und ab- bildete; auch habe ich schon vor Jahren für wahrscheinlich erklärt!), 1) Lokalis. d. Funktionen in d. R. d. Menschen S. 78. Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. 57 dass die Stabkranzfasern von den intensivsten Teilen der motorischen Rindenfelder aus, die der größten Ausdehnung nach mit Chareot und Pitres’s motorischer Zone zusammenfallen, in die Tiefe ein- dringen; es wird also nicht den Anschein erwecken, dass ich pro domo spreche, wenn ich die Resultate der genannten beiden Forscher etwas anders auffasse, als sie selbst. Der Umstand nämlich, dass Charcot und Pitres ihre ursprünglich größere motorische Zone auf die genannten Windungen zusammen- gezogen, ich aber dieselbe von denselben Windungen aus in neuerer Zeit auch auf deren Umgebung ausgedehnt habe, scheint mir auf keinerlei thatsächliehen Widersprüchen, sondern nur auf verschiedener Auffassung der Thatsachen zu beruhen. Ich habe als motorische Zone den Inbegriff jener Rindenanteile aufgefasst, deren Funktions- störungen einen merklichen Einfluss auf das Bewegungsvermögen aus- üben; Charcot und Pitres aber sind, ich werde mich da kaum irren, zu ihrer motorischen Zone gelangt, indem sie die Rindenstellen auf- suchten, welehe gradezu den motorischen Stabkranzfasern ihren Ur- sprung geben. Deshalb sind die beiden Zonen an Größe so verschie- den. Ich habe seinerzeit ausführlich die Frage erörtert, wieso Motili- tätsstörungen auch von einer Rindenstelle hervorgerufen werden kön- nen, von der keine Stabkranzfasern direkt zu den betreffenden Mus- keln gehen; es war also ungerechtfertigt, hier eine Differenz der An- schauungen zu sehen. Ich habe z. B. das Rindenfeld der Sprache bis in den Schläfelappen ausgedehnt und selbst gesagt, dass die Sprachstörungen der Worttauben daher rühren dürften, dass sie ihre eignen Worte nicht verstehen, und nicht daran gedacht, dass etwa vom Sehläfelappen motorische Fasern zu den Sprechmuskeln gehen sollten. Und die genannten Autoren rechnen nun nicht einmal die Broca’sche Windung zur motorischen Zone, obwohl sie nieht daran zweifeln, dass ihre Zerstörung Sprachstörung hervorruft, augenschein- lich, weil sie keine sekundäre Degeneration von ihr ausgehen sahen. Als ein erfreulicher Fortschritt muss es weiter angesehen werden, dass auch Charcot und Pitres sich von dem Landkartenschema mehr und mehr losmachen. Wie aus der obigen Zusammenstellung ihrer Lokalisation zu ersehen, ist von einem scharf begrenzten Nebeneinan- derliegen der Rindenfelder, wie in früheren Abhandlungen, nicht mehr die Rede, und es wird einfach z.B. Lähmung von Gesichts- und Arm- muskeln, oder Arm- und Beinmuskeln als für eine Lokalität charak- teristisch angegeben. Ja es sind überhaupt nur zwei Lokalitäten in der ganzen motorischen Zone angeführt, die bei „sehr beschränkten“ Läsionen Lähmung nur einer Muskelgruppe (einmal der des Armes, das andere mal der des Beines) bedingen können. Als Beispiel dafür, wie wenig die Meinungen in bezug auf die thatsächlichen Verhältnisse auseinandergehen, mag angeführt werden, dass ich einen Teil des linken obern Scheitelläppchens mit zum ab- 58 lixner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. soluten Rindenfelde der reehten obern Extremität rechne, und in der That enthält auch die neue Sammlung von Charecotund Pitres keinen Fall, der dem widerspräche. Ja ich darf wohl behaupten, dass Char- cot und Pitres nun auch anerkennen, dass es Muskelgruppen gibt, die kein absolutes, wohl aber ein ziemlich ausgedehntes relatives Rindenfeld (mit mehr oder weniger intensiven Anteilen) haben. Denn das ist meine Ausdrucksweise für die Thatsache, die sie unter anderem für die Lidbewegung in folgendem Satz aussprechen: „le ptosis d’ori- gine eerebrale ne peut pas avoir de rapport constant avec le&sions d’une region determinde de l’Ecorce, on Vobserve quelquefois mais non toujours, & la suite des lesions du pli courbe. On peut V’ob- server aussi conseeutivement & des lesions corticales siegeant sur d’autres parties du cerveau“!). Während die eben besprochene Abhandlung sich ausschließlich mit den motorischen Rindenfunktionen beschäftigt, sucht Allen Starr?), auch auf grund einer Sammlung von (99) Krankenfällen, seine Auf- gabe etwas weiter zu fassen. Die Fälle seiner deshalb besonders wertvollen Sammlung stammen zum großen Teile aus uns Europäern schwer zugänglichen amerikanischen Zeitungen, und führen ihn zu folgenden Schlüssen: Die höheren Geistesfunktionen, Verstand, Urteil ete. sind an die Intaktheit des ganzen Gehirns, besonders aber der beiden Stirnlappen gebunden. Was die einzelnen Sinnesorgane anbe- langt, so sind Störungen des Gesichts durch Erkrankungen des Ocei- pitallappens, Störungen im Gebiete des Gehörs durch Erkrankung der obern Schläfenwindung hervorgerufen. Und zwar findet Verf., dass jedes Ohr nur mit der genannten Windung der gekreuzten Seite in Verbindung steht. Dieselbe ist linkerseits auch der Sitz des Ver- ständnisses gesprochener Worte, während das Vesständnis des ge- schriebenen Wortes an den Gyrus angularis gebunden ist. Der Geruchsinn wird an der basalen Fläche des Schläfelappens lokalisiert, für den Geschmack lässt sich noch keine bestimmte An- gabe machen. Die Empfindungen des Gefühls im weitesten Sinne des Wortes werden im allgemeinen in das motorische Gebiet verlegt. Als solches werden die Zentralwindungen angesprochen, und zwar diene das untere Drittel der Zunge und den Gesichtsmuskeln, das mittlere der obern, das oberste der untern Extremität. Der normale Gebrauch der Sprache ist an die Windungen gebunden, welche die Fissura Sylvii umgeben; es wird, wie schon früher geschehen, die 4) 1. e. S. 19. Wenn die Verfasser auf Seite 54 u. f. Einwände gegen meine Auffassungen erheben z. B. dass meine Methode der prozentischen Be- rechnung und die der negativen Fälle keine übereinstimmenden Resultate er- geben, so kann ich das nur als Folge von mangelhafter Kenntnis der deutschen Sprache betrachten. Die Einwände erledigen sich sämtlich bei aufmerksamer Lektüre des Buches. 2) Americ. Journal of the medie. sciences Juli 1884. Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. 59 Worttaubheit in den Schläfenlappen, die sogenannte ataktische Aphasie in die untere Stirnwindung und den untersten Teil der vorderen Zen- tralwindung verlegt. Und wenn ein Patient zwar mechanisch sprechen kann, auch das gesprochene Wort versteht, beim Gebrauche der Sprache aber die Worte verwechselt, dann sei anzunehmen, dass die Erkrankung in der Tiefe der Sylvischen Grube oder in der darunter liegenden weißen Substanz sitzt und die Assoziationsfasern zerstört, welche das Organ des Sprachverständnisses mit dem motorischen des Sprachvermögens verbindet. Marecacei (l. e.) zeigt durch eine Sammlung von Krankenfällen, dass sich die wirklichen Vorkommnisse mit der Lehre von den kleinen scharf begrenzten Rindenfeldern mancher Autoren nicht vereinigen lassen. Es kann nicht die Aufgabe dieses Berichtes sein, alle jene Ar- beiten zu besprechen, in welchen Krankenfälle zu den Zwecken der Lokalisationslehre verwendet werden!), erwähnen will ich nur, dass man in neuerer Zeit, wie es scheint mit Glück, den Versuch gemacht hat, diese Lehre chirurgisch zu verwerten, indem man aus den Symp- tomen einen Schluss auf die Lokalität der Erkrankung zog. Opera- tionen dieser Art wurden z. B. von Krönlein?) und Gussenbauer’°) ausgeführt. Doch über einzelne seltene Krankenfälle, welche dunkle Punkte der Rindenphysiologie einigermaßen aufzuklären geeignet sind, muss ich noch einige Worte sagen. Es war schon lange aufgefallen, dass die Kaumuskelu so selten in ihrem Bewegungsvermögen dureh Rindenläsionen beeinträchtigt werden. Ich bezog dies darauf, dass sie bilateral innerviert werden, d.h. dass jeder von ihnen (wie dies bei den meisten Muskelgruppen, welehe gewöhnlich gleichzeitig innerviert werden, aber auf beide Kör- perhälften verteilt sind, der Fall ist), mit jeder Hemisphäre in Ver- bindung steht. Vermutungsweise verlegte ich ihr Rindenfeld in die Umgebung des vordern Teiles der Fossa Sylvii. Lepine beschreibt nun einen neuen Fall von „Trismus d’origine cerebral“*). Die Er- krankung fand sich als ein unter der Vormauer sitzender Herd, ent- sprach also ungefähr der genannten Gegend, und, was wichtig ist, es fand sich ein symmetrisch gelegener aber alter Herd in der andern Hemisphäre. Verf. stellt die wenigen bekannten Krankengeschichten zusammen, in welchen Motalitätsstörungen der Kaumuskeln vorhanden war, in vier®) derselben fand sich die Erkrankung auch beiderseits, 4) Vergl. auch N. Weiss, Ueber kortikale Epilepsie. Wiener med. Jahr- bücher 1882. 2) Korrespondenzblatt der schweiz. Aerzte 1832. 3). Zeitschr. f. Heilkunde Bd. V 1884. 4) Revue de medecine 1882. 5) Mit Einschluss des eigenen. 60 Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. so dass man darin in der That eine Bestätigung der bilateralen In- nervation sehen kann. Denn es liegt auf der Hand, dass der Muskel nicht leicht eine Bewegungsstörung zeigt, wenn er eines seiner beiden Rindenzentren noch besitzt, dass aber bei Störung beider Zentren er sich so verhalten muss, wie ein Muskel der nur in einer Hemisphäre ein Rindenfeld hat. Le&pine spricht sich übrigens in dieser Beziehung dahin aus, dass er es nicht zu entscheiden wage, ob die beobach- teten Erscheinungen mit der Doppelseitigkeit der Läsion zusammen- hängen. H. Lissot) untersucht, angeregt durch Munk, die Ausbreitung der Fühlsphäre an der Hand von Krankenfällen. Er fand, wie andere vor ihm, dass dieselbe mit der motorischen Zone zusammenfällt. Sie erstreckt sich nicht nur auf die Zentralwindungen, sondern auch in deren Nachbarschaft nach vorn und hinten, in letzterer Richtung bis in die Nähe des Oceipitallappens. Als wahrscheinlich wird hingestellt, dass bei den oberflächlichsten Rindenläsionen zunächst das Hautge- fühl leidet, bei tieferen die Vorstellungen von der Lage der Glied- malen, bei den tiefsten werden „die Tast- und Bewegungsvorstellungen beeinträchtigt, deren vollständige Aufhebung mit einer motorischen Lähmung identisch ist.“ Eine auf demselben Wege ausgeführte Untersuchung von Ray- mond und Artaud?) versucht neuerdings das Rindenfeld des N. hypo- glossus zu ermitteln. Dasselbe wird im untersten Teile der vordern Zentralwindung gefunden, also näherungsweise an demselben Orte, den andere schon angegeben hatten. Die Stabkranzfasern dieses Rinden- feldes werden ebenfalls auf grund von Krankengeschichten bis zum Hypoglossuskern verfolgt. Bekanntlich verfügen wir noch über keine Erfahrungen, welche uns einen sichern Schluss über die Lage, Aus- dehnung und weiteren Beziehungen des Rindenfeldes gestatten, wel- ches dem Ohre als allgemeiner Hörapparat zukommt, abgesehen von seiner Beziehung zur Sprache. Es hat nın Strümpel?) einen Krank- heitsfall beschrieben, in welchem Taubheit eines Ohres imfolge einer Geschwulst auftrat, welehe im Schläfenlappen der gegenüberliegenden Hemisphäre saß und einen Teil seiner Umgebung zerstört hatte. Will man überhaupt auf einen einzelnen Fall Gewicht legen, so würde daraus zu folgern sein, dass erstens das Rindenfeid des Ohres in der genannten Gegend liegt, und dass zweitens jedes Ohr nur mit der entgegengesetzten Hemisphäre in Verbindung steht. Was ersteres an- belangt, so steht es im Widerspruch mit den obengenannten Tier- versuchen, auch müsste man ein relatives kleines absolutes Rindenfeld 1) Zur Lehre von der Lokalisation des Gefühls in der Großhirnrinde. Inaugdiss Berlin 1882. 2) Arch. de neurolog. II. 3) Neurolog. Centralbl. 1882. Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. 61 annehmen, oder voraussetzen, dass in allen jenen Fällen, in welchen bisher Verletzungen des Parietallappens beobachtet wurde, die Taub- heit übersehen worden ist; es ist dies schon deshalb nicht wahrschein- lich, weil wenigstens Gehörshalluzinationen, wie sie auch in dem Falle Strümpels in sehr intensivem Maße auftraten, bemerkt worden wären. Was den zweiten Punkt anbelangt, so steht er im Widerspruch mit den Versuchen Lucianis, und in Usbereinstimmung mit jenen Munk’s. Aus einer Reihe neuer Krankenfälle im Gebiete des Sprachver- mögens sei nur einer hervorgehoben, weil er ein besonders schönes Beispiel von Worttaubheitt) bildet. Burckhardt?) beobachtete einen Kranken, der in einem gewissen Stadium des pathologischen Prozesses (die ganze Krankengeschichte anzuführen ist bier nicht der Ort) fol- sendes Bild darbot, das ich am besten mit Burekhardts eignen Worten widergebe: „Patient äußerte große Freude mich zu sehen, hoffte baldige Besserung, daneben machte er, beständig lachend, sa- tyrische Bemerkungen über sich und mich. Er sprach langsam und gedehnt, hie und da gebrauchte er, ohne es zu merken, falsche Wör- ter. Doch drückt er sich im allgemeinen gut und ohne besondere Schwierigkeiten aus. Er sprach gern und viel, oft mit unmotiviertem Lachen. Er artikulierte gut und deutlich, doch nicht ganz ohne Accent. Höchst auffallend war nun, dass Patient kein Wort verstand, was ge- sagt wurde. Sein Gehör war gut, sogar rechts überempfindlich, wenig- stens war er über starke Geräusche ärgerlich. Er hörte das Tieken der Uhr gut. Sprach man zu ihm, so war es grade, als ob er da- durch selbst zum Reden, zum Erzählen ete. angeregt würde. Aber den Inhalt des Gesagten verstand er so wenig, als ein englischer Papagei chinesisch. Nur die Worte ja und nein versteht er manch- mal, wenn sie seine Frau sagt. Merkwürdigerweise hatte er von seinem Defekt keine Ahnung. Er schrieb ganz geläufig aus dem Kopfe und nach Vorschrift, die Schrift blieb sich dabei gleich. Er löste die ihm früher (d. h. in einem frühern Stadium der Krankheit) teilweise vergeblich gestellten arithmetischen Aufgaben richtig. Schrift- lich konnte man sich mit dem Patienten ganz wohl verständigen, auch lernte er, nach Art der Taubstummen, die Sprache nach den Mund- bewegungen verstehen.“ Während sich andere Symptome besserten, war die Worttaubheit nach Monaten noch unverändert. Es ist mir nieht bekannt geworden, ob Patient mit diesem Befund gestorben ist, und ob eine Sektion gemacht wurde; man muss nach den vorläufigen Erfahrungen erwarten, dass die Erkrankung im obern Teile des Schläfelappens ihren Sitz hat. Burckhardt hebt gewiss mit Recht hervor, dass Patient von seiner Worttaubheit nichts zu wissen scheint. Liest man die Krankengeschichten anderer Worttauber, so bekommt 1) Vergl. über den Begriff „Worttaubheit“ dieses Centralblatt Bd. I 8.29. 2) Korrespondenzblatt f. schweizer Aerzte. 15. Okt. 18832. 2 Exner, Neuere physiologische Untersuchungen der Großhirnrinde. man den Eindruck, dass dies in höherem oder geringerem Grade eine ziemlich allgemeine Erscheinung ist. Sollte sich das bei weiteren Beobachtungen bestätigen, so müsste man glauben, dass mit dem Wortverständnis auch die Erinnerung an Wortverständnis und der Wunsch nach solehem verloren geht, mit anderen Worten, dass der gewöhnlich Taubgewordene den Mangel des Wortverständnisses em- pfindet, weil jene Rindenregion noch da ist, welche die Verarbeitung der ihr zufließenden Erregungen zu akustischen Wortbildern besorgt hat, dass aber der Worttaube diesen Mangel nicht empfindet, weil keine Rindenregion mehr da ist, welche ihren normalen Erregungs- zufluss entbehren könnte. Es wäre das eine Analogie zu dem Sehen des Schwarz. Wir sehen, wie schon Helmholtz!) hervorhob, hinter uns oder an der Stelle des Sehfeldes, welche dem blinden Fleck ent- spricht, nicht etwa Schwarz und zwar deshalb nicht, weil unsere Netz- haut keine Möglichkeit hat, von den korrespondierenden Gegenden des Raums Licht zu empfangen; wir sehen nur die Stellen unserer Umgebung schwarz, von denen kein Licht ausgeht, und die doch so liegen, dass wir, ginge von ihnen Licht aus, dieses empfinden würden. Zusatz zudem vorstehenden Artikel. Vom Herausgeber. Im Anschluss an den vorstehenden Artikel erlaube ich mir, hier die Worte wiederzugeben, mit denen ich auf dem dritten Kongress für innere Medizin am 23. April 1883 die Diskussion über den Vor- trag des Herrn Goltz einleitete. Zum Verständnis habe ich nur noch zu bemerken, dass Herr Goltz einen Hund mit Zerstörung der motori- schen Zonen des Vorderhirns auf beiden Seiten vorgestellt hatte, wel- cher nach meiner, von mehreren anwesenden Sachverständigen ge- teilten Ueberzeugung Abstumpfung der Sensibilität und Motilitätsstö- rungen, besonders in den Vorderextremitäten zeigte. Wie aus dem folgenden hervorgeht, stimmt meine Auffassung in allem wesentlich vollkommen mit der des Herrn Exner überein. Meine Herren! Gestatten Sie mir, ehe wir diesen Gegenstand verlassen, einige Bemerkungen zu machen. Während sonst wir Phy- siologen wohl einigermaßen den Anspruch erheben, dass der Arzt, ausgerüstet mit den Kenntnissen, welche wir ihm mit auf den Weg geben können, an das Krankenbett tritt, und dann sieht, wie weit er damit kommt, um die Krankheiten zu erklären, verhält es sich auf dem Gebiete der Funktionen des Gehirns grade umgekehrt; d.h. wir Physiologen kommen als Schüler zu den Aerzten, und nicht aus Ex- perimenten an Tieren, sondern aus Beobachtungen an kranken Menschen lernen wir in der Gehirn- und (teilweise auch in der) Rückenmarkphysio- logie das meiste. Nun haben, wie allgemein bekannt, außerordentlich 1) Physiol. Optik 8. 577. Rosenthal, Hirnfunktionen 63 schöne und sorgfältige Beobachtungen in vielen Fällen dargethan, dass ge- wisse lokale Erkrankungen des Gehirns verbunden sind mit einzelnen Störungen der Funktionen, und ich glaube, wenn heute ein Physiologe käme und sagte, man könne diese und jene Exstirpation machen, ohne dass das irgend eine Einwirkung habe, so würde das unser Vertrauen auf die pathologischen Erfahrungen nicht erschüttern. Wir müssen die Thatsache, dass es lokalisierte Gehirnfunktionen gibt, auf grund der pathologischen Thatsachen anerkennen; wir können aus dem Ex- perimente am Hunde höchstens, wenn es gut geht, eins oder das an- dere von dem, was wir aus der Pathologie gelernt haben, bestätigen, aber dieses selbst nicht aus der Welt schaffen. Das ist der Stand- punkt, den ich als Physiologe in dieser Frage einnehme. Etwas an- deres aber ist es, nachdem diese allgemeine Thatsache zugegeben ist, nun die einzelnen Beobachtungen zu deuten und Hypothesen aufzu- stellen, wie sich die Widersprüche zwischen einzelnen Beobachtungen untereinander resp. zwischen Beobachtungen und den Erfolgen des Tierexperiments etwa ausgleichen lassen, und in dieser Beziehung möchte ich folgendes bemerken: Die Frage, ob es motorische Rinden- felder gibt, halte ich für eine vollkommen offene. Wir beobachten allerdings unter Umständen Lähmungen, wo nachher die Sektion eine lokalisierte Hirnrindeläsion ergibt; aber wir können niemals wissen, wie weit Fernwirkungen oder Nebenwirkungen platzgegriffen haben, und andererseits können wir in einer Mehrzahl von Fällen, wo Stö- rungen der Motilität auftreten, nachweisen oder wenigstens wahr- scheimlich machen, dass es sich zunächst um primäre Störungen in der Sensibilität handelt, und dass die Motilitätsstörung erst eine Folge der ersteren ist. Dass nun in dieser Weise die Sensibilitätsstörungen allerdings zu sogenannten ataktischen Erscheinungen führen, und dass dies an gewisse Hirnrindepartien gebunden ist, scheint mir durch den Hund des Herın Goltz nicht gerade inbezug auf die Vorderlappen widerlegt zu sein. Ich wenigstens habe den Eindruck bekommen, dass es sich hier um eine gewisse Störung in der Sensibilität, beson- ders der Vorderpfoten handelt, und die Folge davon die ataktische und unsichere Art, dieselben zu gebrauchen, ist, welche der Hund gezeigt hat, und ich glaube mich wohl der Zustimmung der Herren Nervenärzte versichert halten zu können, wenn ich meine, dass hier nicht alles ganz intakt ist in der Sensibilität dieses Thieres. Leider hat uns Herr Goltz keinen Hund vorgeführt, an welchem die Hinter- lappen exstipirt worden, denn über die Vorderlappen sind die Mei- nungen nur wenig verschieden; dagegen halte ich es für eine wichtige Frage, wie es möglich ist, dass solche Widersprüche vorkommen, indem ich mich vollkommen überzeugt habe, dass Hunde durch eine derartige Operation (an den Hinterlappen) vollständig blind wurden. Nun sind aber auch ferner noch zu unterscheiden die eigentlichen psychischen oder sensorischen Störungen, welche wahrscheinlich an Veränderungen der 64 Rosenthal, Hirnfunktionen. Hirnrinde gebunden sind und die mit ihnen sich komplizirenden, oder aus ihnen sich entwickelnden sekundären Störungen. Z. B. was die Aphasie anlangt, bin ich der Meinung, dass die eigentlich klassische Aphasie, wie sie bei Verletzung der Broca’schen Windung auftritt, zunächst nichts Weiteres ist als eine Störung des Gedächtnisses, dass die Menschen nicht sprechen können, weil sie sich der konventionellen Zeichen für die Begriffe, welche wir in der Sprache Wörter nennen, nicht erinnern, und dass also hier zunächst eine ganz rein psychische Störung unter der Maske auftritt, dass die Sprache verloren sei, während wir uns überzeugen können, dass einzelne Muskeln nicht blos funktioniren können, sondern dass sie auch passend mit einander kombinirt werden können; denn ein solcher Aphasischer spricht jedes Wort, das man ihm vorspricht, gut und vollständig nach, einige Minuten später aber kann er es nicht mehr wiederholen, eben weil es sich nicht um eine Störung des Sprechvermögens, sondern der Er- innerung handelt. Allerdings beobachtet man dies nur bei ganz reinen Fällen. Was endlich die Deutung sowohl des Thierexperimentes als der pathologischen Erfahrung anlangt, so kann man vollkommen überzeugt davon sein, dass eine Lokalisirung der Hirnrindefunktionen besteht, und trotzdem darf man nicht verlangen, dass das Experiment volle und bündige Erkläruugen gebe. Denn sowohl bei dem Ex- perimente als bei der lokalen Erkrankung ist es durchaus nicht immer so, dass nur eine einzelne bestimmte Hirnfunktion allein, aber diese vollständig, ausfallen muss. Es werden in der Regel Komplikationen von Störungen zur Beobachtung kommen. Und wenn eine Funktion nur theilweise zerstört ist, so wird uns ein intelligenter Patient wohl darüber Aufschluss geben können, der Thierversuch aber wird uns häufig ganz im Unklaren lassen. Angenommen, es gebe eine Gruppe von Nervenzellen, deren Funktion es ist, den Sehakt zu vermitteln, das heisst, dass durch ihre Thätigkeit das Bewusstsein von Seh- empfindungen zu Stande gebracht wird, während durch eine andere Gruppe die Gehörs-, durch eine dritte Gefühlsempfindungen vermittelt werden u. 8. f£ Wer kann voraussagen, ob diese einzelnen Länder, wenn wir sie so nennen dürfen, auf der Oberfläche des Hirns so ver- theilt sind wie die Staaten auf der Landkarte von Nordamerika, deren Grenzen durch Linien paralell den Längen- und Breitengraden von einander abgegrenzt sind. Oder werden dieselben nicht vielleicht aussehen wie eine Karte von Deutschland aus dem 17. Jahrhundert? J. Rosenthal. Die Herren Mitarbeiter, welche Sonderabzüge zu erhalten wün- schen, werden gebeten, die Zahl derselben auf den Manuskripten an- zugeben. Einsendungen für das „Biologische Centralblatt“ bittet man an die RR Erlangen, DL LE Institut‘ zu richten. Ver lag \ von Eduard Besold i in Erlangen. _ Druck von Junge & Sohn in n Erlangen. Biologisches Centralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 94 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. V. Band. 1. April 1885. Nr. 3, Inhalt: Schwarz, Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des pflanzlichen Zellkerns nach der Teilung. — Zacharias, Zoologische Untersuchung zweier Hochgebirgsseen “ im Riesengebirge. — Spengel, Bastardbildung bei Amphibien. -- Behrens, Die Fortpflanzung der Schnabeltiere. — Wilekens, Uebersicht über die For- schungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haustiere. 4. Die Rinder des Diluviums und der Pfahlbauten (Erster Teil). — Leehe, Das Vorkommen und die morphologische Bedeutung des Pfannenknochens. — Bardeleben, Anlei- tung zum Präparieren auf dem Seziersaale. — Der vierte Kongress für innere Medizin. Fr. Schwarz, Beitrag zur Entwieklungsgeschichte des pflanz- lichen Zellkerns nach der Teilung. Aus Cohn, Beiträge zur Biologie der Pflanzen. IV. 1. 1884. Neben den vielen Untersuchungen über das Verhalten des Zell- kerns kurz vor, während und nach der Teilung bietet die Literatur nur sehr wenige Angaben über sein späteres Verhalten in der aus- gewachsenen Zelle, obgleich grade an die’ Kenntnis desselben die Ent- scheidung der Frage nach den physiologischen Funktionen des Zell- kerns während des spätern Zelllebens sich anschließen würde. Verf. verwendete zu seinen Untersuchungen in Alkohol gehärtete Wurzel- und Stengelspitzen von Keimpflanzen, die auf einander folgend alle Uebergänge von meristematischen zu völlig ausgebildeten Zellformen aufweisen. Aus ihnen wurden Serien von Längsschnitten angefertigt, die dann mit Beale-Karminlösung und anderen Färbemitteln gefärbt wurden. Bekanntlich besteht im fertigen Zellkern die Hauptmasse aus einer fein punktierten Grundsubstanz, die sich wenig oder gar nicht färbt und achromatische Substanz genannt wird. Ihr eingelagert sind körnige und fadenförmige Gebilde mit größerer Tinktionsfähig- keit. Flemming nennt sie Chromatinkörper (Kernfaden Strasbur- ger’s). Verf. fand nun zunächst, dass die Tinktionsfähigkeit der Kerne wesentlich differiert je nach ihrem Alter. Bis zu einer gewissen Entfernung vom Vegetationspunkt erhält sich die Färbung gleieh- 5 66 Schwarz, Entwicklungsgeschichte d. pflanzlichen Zellkerns nach d. Teilung. mäßig, wird aber dann allmählich schwächer und schwächer, was sowohl durch den verschiedenen Gehalt an Chromatin als durch die wechselnde Färbung der Grundsubstanz bedingt wird. Größe und Menge der Chromatinkörper nimmt in den älteren Stadien bedeutend ab, während die Grundsubstanz in alten Kernen fast gar nicht mehr sich färbt. Die ganze Erscheinung dürfte weniger auf einer chemi- schen Veränderung beruhen, als vielmehr darauf, dass die Substanz weniger dicht wird und zum Teil auch aus dem Kern verschwindet. „Um dies zu konstatieren ist es notwendig das Volumen des Zell- kerns zu messen, denn auch bei Vergrößerung des Kernvolumens durch Wasseraufnahme wird die Kernsubstanz an Dichtigkeit und sonach an Tinktionsfähigkeit verlieren.“ Die Form des Kernes ist dabei ebenfalls in betracht zu ziehen. In den jüngsten Zellen ku- gelig oder ellipsoidisch, wird er später unter stetiger Vergrößerung meist nach und nach flacher, bis er schließlich eine scheiben- bis linsenförmige Gestalt annimmt und auch wohl etwas unregelmäßig ausgebogen werden kann. Dabei nimmt hauptsächlich die Länge des Kerns zu, während die Dicke mit dem Alter immer geringer wird und die Breite in den einzelnen Stadien nur wenig differiert. Nach Verf. soll hierbei eine passive Dehnung des Kerns durch das Zell- plasma der sich streekenden Zelle mitwirken, wie denn auch in sehr schmalen und langen Zellen der Kern mehr oder weniger spindel- förmig wird. — Das Volumen der Kerne berechnete Verf.,, mit Ausnahme der kugligen, indem er sie als Ellipsoide mit drei ungleichen Achsen auffasste (4/3.a.b.e.r), die Resultate der Messungen sind in mehreren Tabellen mitgeteilt. Als wichtigste Thatsache stellt sich heraus, dass in allen Geweben die Größe des Zellkerns anfangs zunimmt, um dann später wieder abzunehmen. Die Zunahnie erfolgt rasch, während die Abnahme des Kernvolumens langsam geschieht (nur schnell bei Zellformen, die ihren Inhalt früh verlieren), und wiederum ist in den einzelnen Geweben die Größe des Kernwachstums verschieden, bei klein bleibenden Zellen geringer als bei den größeren. Wie bedeutend dieses Wachstum sein kann zeigen die Gefäßzellen von Zea Mays, in denen eine zehnfache, das Rindenparenchym der Luftwurzel von Oncidium suwave, in dem eine 7—Sfache Vergrößerung stattfindet. Uebrigens verläuft die Zu- und Abnahme des Kernvolumens bei Wurzeln schneller als bei Stengeln. Zwischen Kerngröße und Zellgröße ließ sich kein bestimmtes Ver- hältnis feststellen. Das Volumen der Kernkörperchen (die stets als Kugeln berechnet wurden) zeigte eine analoge Zu- und Abnahme wie das der Kerne; bei der Abnahme kann die Größe unter die ursprüngliche am Vege- tationspunkt herabsinken. Dabei lässt sich aber keine Verdichtung der Nucleolus-Substanz nachweisen, es muss also die Abnahme des Zacharias, Untersuchung zweier Hochgebirgsseen im Riesengebirge. 67 Volumens einen Austritt von Stoffen bedeuten, wie das auch noch aus mehreren anderen Daten folgt. Nur in den Zellen, die fort- währende Teilungen zeigen, findet keine Volumverminderung des Kern- körperehens statt. — Vergleicht man die Volumveränderungen des Kerns mit denen des Kernkörperchens, so ergibt sich, dass die Stoff- aufnahme und Stoffabgabe für beide nicht gleich sind. Aus dieser Thatsache, wie ferner daraus, dass in vielen Fällen dann die bedeu- tendste Verkleinerung des Nucleolus-Volumens eintritt, wenn das des Kerns sich am meisten vergrößert, folgert Verf., dass in dem Kern- körperchen Stoffe abgelagert werden, die in späteren Stadien dem Kerne wieder zu gute kommen. — Abnahme der Tinktionsfähigkeit und Gehalt an Chromatinkörpern stehen nicht in gleichem Verhält- nisse mit den Größenveränderungen des Kerns, vielmehr verringern sich die beiden ersteren erst, nachdem der Kern schon das Größen- maximum erreicht hat und im Abnehmen begriffen ist. Es handelt sich demnach bei der Vergrößerung des Zellkerns nicht bloß um eine Einlagerung von Wasser, sondern direkt um eine Aufspeicherung von Stoffen, ebenso beim Kernkörperehen. In bezug auf die Bedeutung des letzteren neigt sich Verf. der Flemming’schen Auffassung zu, in ihm Reproduktionsstellen des Ohromatins zu sehen. — Verf. glaubt durch die angeführten Beobachtungen nachgewiesen zu haben, dass ein Stoffaustausch zwischen Kern und Zelle einerseits, zwischen Kernkörperchen und Kern anderseits stattfindet, für welche Vorgänge in seinen Tabellen auch ein gewisses Mal ausgedrückt ist. Die in den Kern ein- und austretenden Stoffe fasst er als Nährstoffe auf, die in gewissen Entwicklungsphasen angesammelt werden und als Reservestoffe dienen. Gegen Schmitz’s und Strasburger’s Auffassung des Zellkerns als eiweißbereitendes Organ, sowie gegen die von Brass aus seinen Beobachtungen über gut genährte und hungernde Zellen gezogenen Folgerungen sprieht er sich entschieden aus. Auf die Ansichten von Roux über die Bedeutung des Chroma- tins wird nicht eingegangen. C. Zoologische Untersuchung zweier Hochgebirgsseen im Riesengebirge. In Band IV Nummer 10 des „Biolog. Centralbl.“ wurde in einer kurzen Notiz darauf hingewiesen, dass Herr Dr. O. Zacharias zu Hirschberg i./Schl. beabsichtige, eine faunistische Erforschung jener beiden Seen vorzunehmen, welche im schlesischen Riesengebirge in beträchtlicher Höhe (westlich an der Schneekoppe) auf dem Grunde tiefer Felsenkessel gelegen sind. In Turistenkreisen sind diese Was- Bis 68 Zacharias, Untersuchung zweier Hochgebirgsseen im Riesengebirge. serbecken unter dem Namen des Großen und Kleinen Koppen- teiches wohlbekannt, und durch ihre höchst romantische Umgebung üben sie einen großen Reiz auf die Besucher des Riesengebirges aus. Zahlreiche Naturforscher sind im Laufe der Jahre an diesen Seen vorübergewandert, aber eine Untersuchung derselben hatte sich bisher niemand zur Aufgabe gemacht. Der Grund davon liegt in der Besehwerlichkeit, mit der die Realisierung eines derartigen Vor- habens verknüpft ist. Das empfand seiner Zeit auch der österrei- chische Zoolog B. Hellich, der im Jahre 1872 eine Exkursion an den Gr. Koppenteich unternahm, um die Entomostrakenfauna dessel- ben festzustellen. Der treffliehe Kenner der böhmischen Cladoceren musste unverrichteter Sache zurückkehren, weil es, ohne ein Fahrzeug zur Verfügung zu haben, nicht möglich ist, auf dem Landwege am Uferrande vorzudringen. Dichte Knieholzbüsche und dazwischen ge- lagerte Gesteinstrümmer bilden einen fast undurchdringlichen Wall. Dr. Zacharias hat nun — wie uns aus dem jüngsten Hefte des 41. Bandes der „Zeitschr. f. wiss Zoologie“ bekannt wird !) — bei seiner Untersuchung der Hilfe eines Bootes sich bedient und ist auf diese Weise im stande gewesen, die Bewohnerschaft jener beiden Wasserbecken genau kennen zu lernen. Der größere der beiden Seen, der sogenannte „Große Teich“, hat einen Flächeninhalt von 663 Ar und stellenweise eine beträchtliche Tiefe (27 bis 23m). Der sogenannte „Kleine Teich“ ist 255 Ar groß und durchschnittlich 7 bis Sm tief. Die Temperatur des Wassers in beiden Seen beträgt auch während des Hochsommers im Mittel nur 10—12° Reaumur. Nach der Ansicht des Breslauer Geologen Prof. J. Partsch wären die Felsenhöhlungen, in welchen diese „Meeraugen“ liegen, als die Firnbecken vorzeitlicher Gletscher zu betrachten ?). Sie liegen beide etwa 1250 m über dem Spiegel der Ostsee. Ihren Wasser- inhalt empfangen sie zum größten Teil durch Rinnsale, welche vom Gebirgskamm herabkommen, und direkt durch Regengüsse. Jeder See hat einen deutlich wahrnehmbaren Abfluss, und aus der Vereini- gung beider entsteht der Lomnitzfluss. Das Abfischen des Großen Teichs mit dem Schwebnetz ergab die Anwesenheit einer zwar artenarmen, aber an Individuen außer- ordentlich zahlreichen Entomostrakenfauna. Das größte Kontin- gent zu derselben stellte (im Sommer 1884) Daphnia magna. Das Vorkommen dieser Cladocere war aber auf die zentrale Zone des Wasserspiegels beschränkt, und selten fand sich in der Uferregion ein versprengtes Exemplar dieses Krebschens vor. Außerdem wurde die I!) Studien über die Fauna des Gr. und Kl. Teichs im Riesengebirge. 1885. 2) Cf. J. Partsch, Die Gletscher der Vorzeit in den Karpaten und den Mittelgebirgen Deutschlands. Breslau 1882. . Zacharias, Untersuchung zweier Hochgebirgsseen im Riesengebirge. 64 Anwesenheit von Cyelops agilis, Cyclops rubens und Lynceus striatus konstatiert. Diese Tierchen hielten sich in einem Bezirk auf, der zwischen der Uferregion und der mittlern Zone (mit Daphnia magna) gelegen war. Alle diese Entomostraken waren in ungeheuern Massen vorhanden. Dazu gesellte sich noch (aber nur in Buchten an der Südseite des Sees) Polyphemus pediculus in großen Schwärmen. Davon wurden auch zahlreiche Männchen erbeutet; die Weibchen waren bereits im August mit Dauereiern trächtig. Zwischen dem Algengestrüpp erschienen mancherlei Protozoen, vorwiegend Peridinium fuscum und Difflugien. Von Rädertieren war das sehr häufige Vorkommen der Notommata tardigrada Leydig zu konstatieren, und von Turbellarien erschien in großer Anzahl das anderwärts seltene Mesostomum viridatum in Gesellschaft von Vortex truncatus und Stenostomum leucops. Als für Botaniker von Interesse ist zu erwähnen, dass auf dem Grunde des Großen Teichs der Karpfenfarn (Isoötes lacustris) sehr üppig wuchert. An faulenden, im Wasser schwimmenden Knieholz- ästen wurde die schöne Alge Batrachospermum vagum Ag. sehr häufig angetroffen. Auf dem Gebirgskamm oberhalb des Gr. Teichs gelang es, in einem Graben mit schnellfließendem Wasser eine neue Planarie (Pl. abscissa) aufzufinden, deren Charaktaristikum ein scharf abgestutztes Kopfende ist. Die Entomostrakenfauna des Kleinen Teichs besteht aus den- selben Arten wie die des Großen, nur Polyphemus pediculus fehlte. Auch war hier nieht Daphnia magna vorherrschend,, sondern Cyelops rubens. In diesem kleinern Wasserbecken wurde von Dr. Zacharias kurz vor Schluss der Exkursion (September 1884) ein besonders wichtiger Fund gemacht. Derselbe bestand in der Auffindung einer Turbellarie, welche, ihrer ganzen Organisation nach und insbesondere auch wegen des Besitzes eines Otolithen mit Spuren von Nebenstein- chen, als ein Monotus des süßen Wassers betrachtet werden muss. Namhafte Forscher (wie v. Graff, Duplessis-Gouret u.a.) haben sich dieser Ansicht angeschlossen, und somit haben wir aus jenem kleinen Hochsee des Riesengebirges den ersten Süßwasserrepräsentan- ten der (sonst nur marine Formen umfassenden) Familie der Monoti- den zu verzeichnen. Aus Gründen, die in der Zacharias’schen Ab- handlung selbst nachzusehen sind, hat Dr. Zacharias diese neue Turbellarie Monotus relictus genannt. Dieser Fund hat aber noch einen andern im Gefolge gehabt. Es entstanden nämlich bei einem Vergleiche des Riesengebirgs-Monotus mit Abbildungen des vor einem Jahrzehnt im Genfer See entdeckten Otomesostoma morgiense berechtigte Zweifel, ob die damals nur flüch- tig untersuchte Schweizer Turbellarie nicht vielleicht ebenfalls ein 70 Spengel, Bastardbildung bei Amphibien. Süßwasser-Monotus gewesen sei. Prof. Duplessis schickte zum Zwecke des Vergleichs wohlkonservierte Exemplare seines Otomesostoma an Dr. Zacharias ein, und die Untersuchung ergab, dass die Be- wohner des Lae L&öman durchaus keine Mesostomen, sondern in der That ebenfalls Monotiden seien. So besitzen wir demnach jetzt zwei den marinen Monotiden sehr nahe stehende Alloiocölen, während bis vor kurzem. noch be- zweifelt werden konnte, ob es überhaupt außermeerische Vertreter der Gattung Monotus gebe. Diese von Dr. Otto Zacharias erzielten Ergebnisse sind gewiss dazu angethan, um zu zeigen, wie mannig- fache wichtige Funde gemacht werden können, wenn jemand sich damit befasst, die Tierwelt unserer Tümpel und Seen einer gründ- lichen Durchforschung zu unterziehen. Exkursionen, deren Dauer nur auf Stunden oder Tage sich erstrecken, reichen nicht hin, um er- folgreiche Untersuchungen durchzuführen. Dazu gehört vielmehr, dass man alle Möglichkeiten des Wetters, der Temperaturverhältnisse, des Be- leuchtungsgrades und ähnliches berücksichtigt. Nur unter Ausnützung und Berücksichtigung aller dieser Faktoren darf man hoffen, bisher nicht bekanntes aufzufinden und zu beobachten. — Die Untersuchungen im Riesengebirge sollen übrigens in diesem Sommer fortgesetzt werden. -1. Bastardbildung bei Amphibien. 4) Arthur de l’Isle, De l’hybridation chez les Amphibies. In: Ann. Se. Nat. Zool. (5) t. 17. 1873. Art. 3. — 2) Fernard Lataste, Tentatives d’hybridation chez les Batraciens anoures et urodeles. In: Bull. Soc. Zool. France, t. 3. 1878. p. 315—528. pl. VII. — 3) E. Pflüger, Die Bastardzeu- gung bei den Batrachiern. In: Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 29. 1882. S. 48 —75. Taf. I. — 6. Born, Beiträge zur Bastardierung zwischen einheimischen Anurenarten. Ebenda, Bd. 32. 1883. 8. 453—518. — 5) E. Pflüger und William J. Smith, Untersuchungen über Bastardierung der anuren Batra- chier und die Prinzipien der Zeugung. Ebenda Bd. 32. 1883. S. 519—5X0. — 6) H&ron-Royer, Note sur ’hybridation des Batraciens anoures et ses pro- duits congeneres et bigeneres. In: Bull. Soc. Zool. France, t. 8. 1834. p. 397 — 416. — 7) G. Born, Ueber die inneren Vorgänge bei der Bastardbefruch- tung der Froscheier. In: Breslauer ärztl. Zeitschr. 1884. Nr. 16. 10 8. Da im Laufe der letzten drei Jahre in rascher Folge mehrere Abhandlungen über Bastardbildung bei Amphibien erschienen sind (Nr. 3—7), so nehmen wir Veranlassung, über die Resultate, die in denselben niedergelegt sind, hier Bericht zu erstatten, obwohl von den durch die Untersuchung angeregten Fragen bis jetzt kaum eine in befriedigender Weise beantwortet worden ist, und greifen zugleich auf ein paar etwas ältere französische Beiträge zurück (Nr. 1 u. 2), welche bei dem gegenwärtigen Stande der Beobachtungen jedenfalls Spengel, Bastardbildung bei Amphibien. TA noch Berücksichtigung verdienen, wenn auch die Untersuchung noch nicht mit allen zur Erzielung eines einwurfsfreien Resultates erfor- derlichen Kautelen ausgeführt worden war. De l’Isle (Nr. 1) beginnt seine Darstellung mit dem Hinweise auf die Thatsache, dass die Verschiedenheit in der Laichzeit der ein- heimischen Frösche und Kröten allen Bastardierungsversuchen die größten Hindernisse bereite, ein Umstand, den auch die neuesten Experimentatoren als sehr beschwerlich zu empfinden gehabt haben. In besonders hohem Maße bestehen diese Schwierigkeiten bei den Arten der Gattung Rana. De 1’Isle stellte seine Versuche an Rana fusca Roes., R. agilis Thom. und Rana viridis Roes. (esculenta L.) an. Er führte teils kreuzweise Begattungen herbei, teils stellte er künstliche Befruchtungen an, und zwar für je zwei Spezies in zweierlei Weise, indem er das eine Mal den Samen der eimen Art, die Eier der andern entnahm, das andere Mal umgekehrt. In keinem seiner Versuche mit ARana kam aber je eine Befruchtung zu stande: die Eier blieben ungefurcht. Anders dagegen fielen die Versuche mit zwei Kröten-Arten, Bufo vulgaris und B. calamita aus. Bei fast jeder Anordnung- der Versuche wurden mehr oder minder zahlreiche Eier befruchtet und entwickelten sich; doch kam in kei- nem Falle die Entwieklung bis zum Ende: von 3500 Eiern von B. vul- garis, die mit Samen von BD. calamita künstlich befruchtet waren, fingen 600 an sich zu entwickeln, aber nur eine Larve ward 2t/, Mo- nate alt und brachte es in dieser Zeit nicht bis zur Bildung der Hin- terbeine; die übrigen starben sämtlich noch früher. Aus 2200 Eiern von B. calamita, die umgekehrt mit Samen von B. vulgaris befruchtet waren, zog der Verf. einige Larven bis zum Alter von ungefähr zwei Monaten; 75 waren aus den Eiern ausgeschlüpft. Es fand also bei diesen Kröten-Arten wirklich eine Bastardbefruch- tung statt, und es war dabei einerlei, welche von den beiden Arten dabei als Männchen benutzt wurde. Lataste (Nr.2) befruchtete Eier von Pelobates fuscus mit Samen von Pelobates cultripes; einige derselben begannen sich zu entwickeln, die Larven wurden aber monströs, erhielten namentlich dieke Bäuche und gingen früh zu grunde. Auch hier trat also Bastardbe- fruchtung ein, die Entwicklung verlief aber abnorm und geriet wie bei den von de l’Isle beschriebenen Kröten- bastarden frühzeitig ins Stocken. Einige Jahre später (1882) nahm dann Pflüger (Nr.3) in Bonn die Bearbeitung des Problems der Amphibienbastarde in seiner be- kannten umsichtigen Weise in Angriff. Pflüger bediente sich durchweg der Methode künstlicher Befruchtung, und zwar verschaffte er sich das Material dazu hauptsächlich dank der Anwendung des Kunstgriffes, brünstige Männchen und Weibchen von Rana fusca zu isolieren und in einem absolut dunkeln, tiefen, übrigens nicht sehr ix 1 Spengel, Bastardbildung bei Amphibien. kalten Keller aufzubewahren; darin laichten nur wenige Individuen ab; die übrigen konnten bis zum 7. Mai zu den Versuchen benutzt werden. Diese wurden angestellt mit Rana esculenta und Bufo ci- nereus, Triton alpestris, taeniatus und eristatus. Die Resultate weichen nun zunächst von denen de l’Isle’s darin ab, dass in verschiedenen Fällen eine Furehung eintrat, und zwar bei Eiern sowohl von Ranua esculenta als von Bufo einereus, die mit Samen von ER. fusca be- fruchtet wurden; aber die Furchung kam zum Stillstande, ehe die Embryonen anfingen sich zu strecken. Die Verbindung der Arten in umgekehrter Weise, also Eier von Rana Jusca mit Samen der beiden anderen, blieb ganz erfolglos. Anderseits hatte auf die Eier von R. fusca sogar der Same der Tritonen Einfluss. In diesem Falle jedoch war die Furchung schon von Anfang an abnorm und unregel- mäßig, und stets trat bald der Zerfall der Eier ein. Ueberdies er- folgte eine Befruchtung überhaupt nur vor dem 23. April, d.h. während der Höhezeit der Brunst der Tritonen. Eine Wirkung des Samens von R. fusca auf Eier von Triton wurde nie beobachtet. Das Resultat der Pflüger’schen Versuche würde also lauten, dass Bastarde unter den dazu verwendeten Amphibien - Arten zwar nicht erzielt werden können, dass wohl aber eine Furchung der Eier eintritt, die eine Weile einen ziemlich regelmäßigen Charakter haben kann — in gewissen Fällen aber auch von Anfang an unregelmäßig verläuft —, niemals jedoch bis zur Bildung eines Embryos fortgeht. Ferner ist „die Möglichkeit der Erhaltung von Bastarden von zwei gegebenen Arten nicht mit Reziprozität verbunden, sondern sie scheint fast immer nur in der Weise gegeben, dass die Eier der Art A von dem Samen der Art B befruchtet werden, nicht aber umgekehrt.“ Diese Versuche Pflüger’s haben um so mehr Wert, als sie stets von den unentbehrlichen Kontrolversuchen begleitet worden sind, durch welche in jedem Falle sowohl die Fruchtbarkeit der benutzten Eier für Samen der gleichen Art, als auch das Ausbleiben der Ent- wicklung bei Ausschließung jeglichen Samens konstatiert wurde, während de l’Isle’s Versuche in dieser Hinsicht anfechtbar waren, und Pflüger äußert daher auch Zweifel an der wirklichen Bastard- natur der von de I’Isle gezüchteten Larven (Bufo vulgaris - calamita). Nicht unerheblich abweichende Resultate erzielte jedoch kurz darauf Born in Breslau (Nr. 4). Seine Versuche sind viel ausge- dehnter als alle vorhergehenden und erstrecken sich auf fast alle in Nordeuropa einheimischen Anuren-Arten, nämlich Rana arvalis, R. Jusea, Bufo cinereus, B. variabilis, Pelobates fuscus, Bombinator iyneus. Um dieselben ausführen zu können ließ Verf. zum Teil die Tiere aus Gegenden sich schicken, in denen die Brunst in eine andere Zeit fällt als in Breslau. Mit größter Genauigkeit wurde darauf geachtet, dass die benutzten Männchen im Zustande vollkommener Reife sich befanden; die Folgen einer Ueberschreitung der Brunst- Spengel, Bastardbildung bei Amphibien. 13 periode treten deutlich hervor. Nieht minder macht sich ein Einfluss des Konzentrationsgrades der Samenflüssigkeit bemerkbar. Was nun die Resultate dieser Versuche betrifft, so ist daraus zunächst hervor- zuheben, dass es Born im Gegensatz zu Pflüger in mehreren Fällen gelang, aus Bastardbefruchtungen nicht nur Larven, sondern auch junge Frösche bezw. Kröten zu züchten, d. h. also einen vollstän- digen Erfolg zu erzielen. Born zog Bastarde von Rana ar- vlis 2 — R. fusca Z' und von Bufo einereus 2 — DB. variabilis J'. Diesen Versuchen steht eine große Zahl anderer mit partiellem Erfolge gegenüber, d.h. solche, in denen eine regelmäßige Furehung eintrat, aber ein vorzeitiges Ende erreichte: Bufo einereus 2 — FPe- lobates fuscus g, B. variabilis 2 — Bombinator igneus d', ana es- culenta 2 — Bufo einereus d *, Rana esculenta 2% — Bufo varia- bilis & *, Rana esculenta 2 — R. arvalis 5 *, Rana esculenta 2 — R. fusca & *. (Der * hinter & bedeutet, dass die Versuche mit nicht mehr brünstigen Männchen angestellt sind). In noch anderen Fällen hatte die eintretende Furchung einen ganz eigentümlichen Charakter, für den Born den Ausdruck „Barockfurehung“ gebraucht. „Dieselbe ist dureh gleichzeitiges Auftreten einer größern Anzahl von poly- gonalen Furchen begrenzter, ungleicher Felder ausgezeichnet und führt unter Erscheinungen, die auf unregelmäßiges Ineinanderfließen der weißen und schwarzen Substanz des Eies hinweisen, zur raschen Dekomposition desselben.“ Verf. stellt die Hypothese auf, diese Er- scheinung möchte in dem gleichzeitigen Eindringen mehrerer Sper- matozoen ihren Grund haben (siehe unten Nr. 7). Verhältnismäßig spärlich sind die Fälle, in denen die Bastardbefruchtung gar keinen Erfolg hatte: dies trat nur ein bei Befruchtung der Eier von Bufo variabilis mit Samen von Rana esculenta und der Eier von Rana es- culenta mit Samen von Bombinator igneus. Doch sei bemerkt, dass auch in den übrigen Fällen das positive Resultat stets nur auf einen mehr oder minder großen Bruchteil der angewendeten Eier sich bezog. Gleichzeitig mit Born unternahm Pflüger unter Mitwirkung von W. J. Smith eine erneute Untersuchung des Gegenstandes, zu der ein sehr umfangreiches Material benutzt wurde, nämlich Rana ar- valis, R. esculenta, R. fusca, Bufo vulgaris (= cinereus), B. variabilıs, B. calamita, Bombinator igneus, Pelobates fuscus und Hyla arborea. Die Resultate stimmen in der Hauptsache sehr vollständig mit denen Born’s überein, besonders auch insofern, als in einigen Fällen ein vollkommener Erfolg eimtrat: Pflüger und Smith zogen Bastarde von Rana arvalis 2 — R. fusca g, Bufo variabilis 2° — B. vulgaris g', Bufo vulgaris 2 — B. variabilis Q. Daneben treffen wir auch hier wieder partielle Erfolge, in denen eine regelmäßige Furchung eintrat, die Entwicklung aber vorzeitig zum Ende kam, bald früher, bald später (einigemal erst im Kaulquappenstadium) 74 Spengel, Bastardbildung bei Amphibien und ebenfalls ganz unregelmäßige („wüste“) Furchungen, während es auch nicht an gänzlich negativen Resultaten fehlt. Pflüger zieht nunmehr aus seinen Beobachtungen eine Reihe von Schlüssen, von denen ich folgende hervorheben möchte: Die Bastardbefruch- tung kann reziprok sein, d. h. beide Arten können sowohl als Weibehen wie als Männchen darin fungieren; der Regel nach aber ist die Bastardbefruehtung einseitig. Sehon Born hatte darauf hingewiesen, dass die Form der Spermatozoen von großer Bedeutung sei. Pflüger verfolgt diese Beobachtung noch weiter und gelangt zu dem Satze, dass „im allgemeinen diejenigen Spermatozoen am geeignetsten sind zur Vermittlung der Bastardzeugung, deren Kopf am dünnsten und deren vor- deres Ende am spitzesten ist“, bezw. dass „im allgemeinen die Eier der Bastardbefruchtung am zugänglichsten sind, wenn die zugehörigen Spermatozoen derselben Artdickere Köpfe haben.“ Demgemäß befruchtet der Same von Rana fuseca, deren Spermatozoen die spitzesten Köpfehen haben, fast alle Eier, dagegen derjenige von Rana arvalis und esculenta mit diekköpfigen Spermatozoen gar keine, und grade „die beiden Arten, welche Sper- matozoen mit gleich geformten und gleich großen Köpfen besitzen, zeigen vollkommen reziproke Bastardbefruchtung“* (Bufo variabilis und D. vulgaris). Dagegen waren Eier von Rana esculenta, einer Art mit diekköpfigen Spermatozoen, der Einwirkung fremden Samens besonders zugänglich. Nach Pflüger hat endlich noch ein Franzose, Heron Royer (Nr. 6), ohne jedoch Kenntnis von den neueren Untersuchungen der deutschen Gelehrten (Nr. 3—5) zu haben, Versuche über Bastardierung von Anuren gemacht, und zwar gleichfalls mit positivem Erfolg. Er erhielt Bastarde von Pelobates fuscus 2 — Rana fusca g, und zwar von einem in der Freiheit in copula gefangenen Pärchen, und von Bufo vulgaris 2 — B. calamita d. Die letzte Mitteilung über diesen Gegenstand, die mir bekannt geworden ist, rührt wiederum von Born her (Nr. 7), der seine früheren Versuche mit Rana arvalis 2 und R. fusca Sg, sowie mit Bufo ei- nereus 2 und B. variabilis S nochmals wiederholt hat, und zwar mit dem gleichen positiven Erfolge wie früher. Außerdem ist es Born aber gelungen, durch genaue mikroskopische Untersuchung den Nach- weis zu liefern, dass die von ihm sogenannte „Barockfurchung“ (s. oben) die Folge des Eindringens zahlreicher Sperma- tozoen in ein Ei ist. | J. W. Spengel (Bremen). Behrens, Die Fortpflanzung der Schnabeltiere. 75 Die Fortpflanzung der Schnabeltiere. Die etwa seit Anfang unseres Jahrhunderts vielfach diskutierte Frage nach der Fortpflanzung der Monotremen, also der Schnabel- tiere (Ornithorhynehus) und der Ameisenigel (Zechidna), scheint jetzt endlich ihre vollständige Lösung finden zu sollen. In der vorjährigen Versammlung der British Association zu Montreal konnte Prof. Mo- seley der Sektion für Biologie Mitteilung von einem allerdings kur- zen, aber höchst inhaltreichen Telegramm machen, das von Caldwell aus Australien eingelaufen war. Dieser junge Gelehrte, welcher als erster Stipendiat der Stiftung zum Andenken an den Biologen Balfour dort- hin geschickt ist, besonders um grade diese Frage ihrer Lösung ent- gegen zu führen, hatte die Resultate seiner Forschungen in die Worte: „Monotremes oviparous; ovum meroblastie“ zusammengefasst; und so kurz auch die Fassung des Telegramms ist, enthält sie doch eine der wichtigsten der genannten Versammlung zugegangenen Mitteilungen. Dass die Monotremata ovipar wären, behaupteten schon vor etwa 60 Jahren einige Forscher, bis jetzt hatte es jedoch an genügenden Beweismitteln für diese Behauptung gefehlt; die beiden merkwür- digen Tiergruppen, welche zu den Monotremen gezählt werden, ge- hören nur dem australischen Gebiet an, und ihre Lebensweise war bis- her wenig studiert worden. So hat denn die Frage nach der Fort- pflanzung dieser Tiere und der Ernährung ihrer Jungen länger als ein halbes Jahrhundert unentschieden bleiben können; größere Auf- merksamkeit haben derselben Geoffroy St. Hilaire, Meckel und besonders Owen gewidmet, daneben erschienen von Zeit zu Zeit kürzere Notizen zu dieser Frage in den Proceedings der London Zoologieal Society und im Journal der London Linndan Society. Im Jahre 1829 sprach Geoffroy St. Hilaire sich in einer der Pariser Akademie der Wissenschaften eingereichten Abhandlung dafür aus, dass die Monotremata von den Säugetieren zu trennen und so die Wirbeltiere in Säugetiere, Monotremata, Vögel, Reptilien und Fische einzuteilen seien. In dieser Arbeit gibt er auch einen ihm von dem Londoner Professor R. Grant zugegangenen Brief wieder, in welchem ausführlich die Auffindung eines Ornithorhynchus- Nestes mit neun Eiern am Hawksburgh-Fluss in Australien mitgeteilt wird; danach waren diese Eier länglich sphäroidal, 1?/, Zoll lang und hatten 6/; Zoll Durchmesser; sie waren mit einer dünnen, zerbrechlichen, etwas durchscheinenden, weißen, kalkigen Schale versehen, welche unter der Lupe ein äußerst feines Netzwerk auf der Außenseite auf- wies, trotzdem aber sich ziemlich glatt anfasste. Von diesen neun Eiern, von welchen Grant behauptet, dass sie an Form und Größe den Eiern von vielen Sauriern und Schlangen ähnlich seien, während Farrel, welcher sie auch sah, an ihnen weder große Aehnlichkeit mit Vogel- noch mit Reptilieneiern entdecken konnte, gelangten 4 76 Behrens, Die Fortpflanzung der Schnabeltiere. nach England, davon 2 ins Manchester-Museum, wo sie als „Eier des entenschnäbligen Platypus“ aufbewahrt worden sein sollen. In einer 1826 erschienenen Monographie des Ornithorhynchus paradoxus teilte dann Meckel die ihm gelungene Entdeckung von Saugwarzen an diesem Tiere mit; als Geoffroy St. Hilaire die Richtigkeit dieser Thatsache bezweifelte und meinte, die von Meckel gefundenen Warzen möchten wohl nicht zum Säugen der Jungen dienen, sondern entweder denen ähnlich seien, welche sich bei ge- wissen im Wasser lebenden Reptilien am Bauch zur Anfeuchtung der Haut finden, oder aber Drüsen zur Absonderung riechender Stoffe, wies Meckel weiter darauf hin, dass solche Warzen nur bei den Weibchen der Schnabeltiere vorhanden seien, den Männchen dagegen fehlten. Später (1832) erschien dann Owen’s Abhandlung über die Saugwarzen von Ornithorhynchus paradoxus, in welcher er unter an- derem auch darauf hinweist, dass Meckel die Schnabeltiere den Vö- geln und Reptilien viel näher stehend erachte als die Marsupialen und deshalb die Fortpflanzung der ersteren denen der Vögel und Reptilien in gewissem Maße analog halte. In einer 1834 erschienenen Arbeit teilte dann Owen noch mit, dass er auf dem Oberkiefer eines Ornithorhynchus-Fötus einen Vorsprung aufgefunden habe, welcher dem am Schnabel der Vögelembryonen vorhandenen, zum Oeffnen der Eischale dienenden Stiftehen entspreche, ohne dass er jedoch die Uebereinstimmung in der Verwendung beider Fortsätze für notwendig erachte; auch am Fötus von Eehidna hystrixc fand Owen später den- selben Fortsatz (Phil. Trans. 1865, S. 671); er hält jedoch immer noch die Gruppe der Monotremen für ovovivipar. Dagegen sprachen außer dem von Geoffroy St. Hilaire angeführten Nestfunde noch an- dere Daten für die ovipare Fortpflanzung dieser merkwürdigen Tiere. So teilte 1865 ein gewisser Dr. Nicholson in einem an Owen gerich- teten Briefe demselben mit, dass am Houlburn- Fluss in Vietoria ein Platypus gefangen worden sei und zwei weiße Eier ohne Kalkschale von der Größe von Kräheneiern gelegt habe; da jedoch Nicholson dieselben nicht näher untersucht hatte, legte Owen dieser Mitteilung wenig Wert bei und blieb bei seiner frühern Ansicht. Außerdem findet sich jedoch noch eine Mitteilung von einem Funde solcher Eier in der „Voyage de la Coquille* von Lesson und Garnot (Zool. Journal, Bd. V); dann wurden 1832 in einem Platypus-Nest von Leutnant Maule in Neusüdwales zwar nicht die Eier, wohl aber eierschalenartige Reste gefunden, ferner mehrfach in geschossenen Weibehen Eier von Erbsen- bis Flintenkugelgröße entdeckt; auch sollen die Burra - Stämme nach vertrauenswürdigen Nachrichten eines ihrer Häuptlinge von der oviparen Fortpflanzung der Schnabeltiere überzeugt sein. Als jüngste Stütze für Caldwell’s Behauptung können endlich die Mitteilungen des Dr. Haacke in der Royal So- ciety of South -Australia am 2. September v. J. gelten; derselbe legte Behrens, Die Fortpflanzung der Schnabeltiere, 717 dabei ein Echidna-Ei vor, welches er in der Bauchtasche eines Weibchens gefunden hatte, und sprach seine Ansicht dahin aus, dass dies Tier Eier lege und dieselben dann in der Bauchtasche aus- kommen lasse. So darf man denn wohl endlieh die endgiltige Lösung dieser interessanten Frage in Caldwell’s Telegramm gekommen sehen. Von besonderer Wichtigkeit in diesem Telegramm sind die beiden letzten Worte, denn in denselben ist ausgesprochen, dass das Ei der Schna- beltiere außer der zum Aufbau der Gewebe dienenden Protoplasma- masse noch so viel Nahrungsdotter enthält, dass bei eintretender Segmentation das Ei derselben nicht als ganzes unterliegt, sondern zwei Protoplasmaarten entstehen und aus einem Dottersack dem Embryo in seinen ersten Entwieklungsstufen die nötige Nahrung zu- fließt. Durch das Vorhandensein einer so bedeutenden Menge von Nahrungsdotter wird ein so enger Zusammenhang der Gewebe des Embryos mit denen des Muttertieres, wie man ihn bei den übrigen Säugetieren antrifft, unnötig, wenngleich selbst bei den höheren An- gehörigen der letzteren gewisse Anzeichen sich finden, die auf das Vor- handensein eines Dottersackes in einer frühern Periode ihrer phylo- genetischen Gesehichte hinweisen. In den Eiern der Säugetiere bildet sich im Gegensatz zu dem Dottersack der Vogel- und Reptilieneier der Nabelstrang, eine Struktur, welche dem Dotter im übrigen völlig homolog ist. Da jetzt von Caldwell gefunden ist, dass bei den niedrigsten Säugetieren ein Nahrungsdotter enthaltender Dottersack vorhanden ist, welcher den Nabelstrang der höheren Säugetiere vertritt, darf man wohl annehmen, dass die merkwürdigen Stufen in der allgemeinen Säugetierentwick- lung, auf denen der Embryo sich abtrennt und ein Nabelstrang sieh bildet, Hinweise sind, welche noch aus der Zeit sich erhalten haben, wo diese Tiere in ihren ersten Entwicklungsstadien nicht direkt durch engen Zusammenhang mit den Geweben des Muttertieres, son- dern aus Dottersäcken ernährt wurden; es weist dieser Umstand darauf hin, dass die Vorfahren aller Säugetiere wohl nicht vivipar, sondern ovipar gewesen sind, wie es heute bei den niedrigsten der uns bekannten Säugetiere der Fall ist. Ueber den Ursprung der Säugetiere sind in den letzten Jahren verschiedene Theorien aufgestellt. So stellte Balfour eine hypo- thetische Gruppe, die Pentadaetyloideen auf, in welcher die für alle höheren Wirbeltiere charakteristische Bildung von fünf Zehen sich gebildet haben sollte; aus dieser leitete er dann zwei Gruppen ab, von denen die eine die heutigen Amphibien umfasst, die andere eine hypothetische und etwas verallgemeinerte Gruppe ist, von der sich, allerdings in divergenten Reihen, die Säugetiere und die Sauropsiden entwickelt haben sollen. Nach dieser Ansicht sind die beiden letzt- genannten Gruppen Aeste eines Stammes, die Sauropsiden also nicht 15 Behrens, Die Fortpflanzung der Schnabeltiere. Vorfahren der Säugetiere. Andere Forscher haben sich dahin ge- äußert, dass die Säugetiere von amphibienähnlichen Vorfahren ab- stammen müssten, da sie mit den heutigen Amphibien die Fort- pflanzung durch ein holoblastisches Ei gemein hätten und bei beiden truppen sich zwei Oceipital-Kondylen vorfänden, während für die Reptilien nur ein Oceipital- Kondylus typisch ist. Gope hat übrigens unter den zahlreichen ausgestorbenen Formen von Reptilien, welche er in den letzten Jahren ans Lieht gezogen hat, eine beschrieben, die er als die der Theromorphen bezeichnet (Proe. Am. Phil. Soc. Bd. XIX. p. 38), in welcher er zwischen den Reptilien und den Säugetieren stehende Tiere sieht. Er sagt über dieselben folgendes: „Die Ordnung Theromorpha nähert sich den Säugetieren mehr als irgend eine andere Reptiliengruppe. Diese Annäherung zeigt sich im Schulterblatt und Oberarmbein, welche denen der Mono- tremen, besonders Echidna, sehr gleichen, sodann aueh im Becken, welches nacb Owen’s Ausführungen bei der Unterordnung der Ano- mondontien dem der Säugetiere, und, wie ich gezeigt habe, besonders dem von KEchidna außerordentlich ähnlich ist; ebenso steht es mit der Fußwurzel. Bei der Gattung Dimetrodon ist der Coracoid - Fort- satz kleiner als der epicoracoide, gradeso wie bei den Schnabeltieren. Das Schambein enthält die Oeffnung für die innere Femuralarterie.“ Endlich scheint Cope bei den Theromorphen auch einen ähnlichen Sporn an den Hinterfüßen entdeckt zu haben, wie ihn die Monotre- mata besitzen. An dem Skelet der letzteren finden sich anderseits mehrere charakteristische Merkmale, durch die sie sich einerseits von den typi- schen Säugetierenformen entfernen, anderseits den Reptilien mehr oder weniger nähern, während endlich Caldwell’s Entdeckung über die Natur des Eies der Sehnabeltiere zeigt, dass Säugetiere und Sauropsiden eng mit einander verwandt sind, und zwar weit enger, als die Naturforscher bisher allgemein annahmen. Wir haben also in den Schnabeltieren Tiere vor uns, welche charakteristische Attribute zweier Klassen besitzen, nämlich einerseits die Saugwarzen der Säugetiere und anderseits einen Dottersack, wie er bei niedriger stehenden Tieren auftritt. Man kann demnach wohl den Stammbaum von den Sauropsiden direkt zu den Schnabeltieren führen, zweifellos durch jetzt ausgestorbene Formen wie die Cope’schen Theromorphen; von den Schnabeltieren gelangt man dann zu den Marsupialen, die zwar lebendig gebären, deren Eier jedoch noch einen großen Dottersack besitzen, und deren Embryonen in keine enge Ge- fäßverbindung mit den Geweben des Muttertiers treten, und von diesen kommt man darauf endlich zu den höheren Säugetieren, deren Fötalentwicklung so ganz verschieden von derjenigen der niederen Wirbeltiere ist. H. Behrens (Gütersloh). Wilckens, Paläontologie der Haustiere. 79 Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haustiere '!). 4. Die Rinder des Diluviums und der Pfahlbauten. Aus den diluvialen Schichten Europas, Asiens und Amerikas sind zahlreiche Ueberreste von Rindern ausgegraben worden; im Diluvium Afrikas kommen Knochen von Rindern nur spärlich vor, und aus Australien sind diluviale Ueberreste nieht bekannt geworden. Zu den ältesten Funden, welche durch brauchbare Abbil- dungen erläutert sind, gehört das Schädelstück eines riesigen Ochsen, das in der Nähe von Dirschau in Westpreußen ausgegraben wurde. Jak. Theod. Klein berichtet über dasselbe in den „Philosophical Trans- actions“, 1732, Bd. 37, Nr. 426, Seite 427; er wagt es nicht, die Art des fossilen Ochsen zu bestimmen, aber er vermutet, dass der Schä- del den Tauroelephantes angehört, von denen Sir Hans Sloane im 34. Bande Nr. 397 derselben Zeitschrift ein Paar außerordentlich lan- ger Hörner beschrieben hat. Doch verneint Klein, dass der Dir- schauer Schädel zu den Zubrones (Uren) gehört, deren Gesner nach Münster’s Anschauung erwähnt. Die Abbildung aber, welche Klein seiner Mitteilung beifügt, lässt deutlich einen Wisentschädel erkennen. Die von Sloane beschriebenen Hörner, die Klein erwähnt, schreibt G. Cuvier einem Arni zu. Auch der von P. S. Pallas beschriebene, in Sibirien gefundene Schädel, den er („De ossibus Sibiriae fossilibus, eraniis praesertim Rhinocerontum atque Buffalorum observationes in Nov. Comment. Acad. Petropolit. T. XIII pro anno 1768, p. 41 und 436) einem Riesenbüffel zuschreibt, lässt sich nach seinen Abbildungen ganz gut als Bison- Schädel erkennen; er kam bei einer Ueberschwemmung der Ilga zum Vorschein. Pallas erklärte diesen Schädel später („Neue Nordische 3eiträge“ 1793, VI. S. 250) für den eimes Arni, wozu er durch die Beschreibung und Abbildung eines ähnlichen Schädels veranlasst wurde, worüber Anderson zu Edimburg in der schottischen Zeitschrift „Ihe Bee“ im Dezember 1792 Mitteilung gemacht hat. Einen andern fossilen Ochsenschädel, den Pallas auf seiner Reise in Sibirien bei Bereso am Ob fand, beschreibt und abbildet („De reliquiis animalium exoticorum per Asiam borealem repertis complementum“ in Nov. Comment. Acad. Petropolit. T. XVII pro anno 1772, p. 601), vermag er selbst nicht genau zu bestimmen. Er sagt: „Animal eui debentur, species est Tauri feri, quae connatis in frontem cornibus convenit cum Bubalo eapensi, vel potius cum Bisonte Americano !).— Nollem tamen pro certo affirmare ad posteriorem crania ista referenda esse; possent 1) Vgl. Bd. IV Nr. 24 dieser Zeitschrift. 2) Nach den Abbildungen auf Taf. 17 gehören die Schädel dem Bos mo- schatus an und Dekay zählt sie seinem später zu erwähnenden Bos Pallasii zu. s0 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. alii forte affıni, sed Indicae originis Bisonti deberi, qui cum multis aliis interioris Asiae quadrupedibus hucusque incognitus mansisse potuit. Itaque serioribus observationibus determinandum relinquo cujusnam animalis vere fuerint quae deseribo erania.“ Faujas Saint Fond („Sur les ceränes fossiles de deux especes de boeufs“ in Annales du Museum National, T. II, 1803, p. 196) fügt dieser Erklärung von Pallas, die er in französischer Uebersetzung wiedergibt, hinzu: „Je fus frapp&e moi-m&me de voir que ces ceränes et ces cornes fossiles de boeufs se trouvoient en Siberie avec des restes d’elöphans de l’espece que je regarde comme asiatiques (was er in seinen „Essais de geologique“ T. I. p. 279 u. ff. eingehender begrün- det). Je retrouvai les m&@mes depouilles de boeufs confondues pele- m&le avec des depouilles d’elephans et de rhinoceros que le Rhin met ä decouvert dans les grandes inondations.“ Faujas erwähnt dann noch, dass ihm Herr P&ales den Gipsabguss eines ähnlichen Schä- dels geschickt habe, der in Nordamerika gefunden sei in derselben Schicht, welche Elephantenknochen enthielt, und dass man auch in Italien die Hörner großer Wildochsen gefunden habe, zusammen mit den fossilen Ueberresten von Elephanten. Diese Angaben beweisen, dass an den genannten Orten Wild- ochsen und Elephanten zu gleicher Zeit gelebt haben, aber die zoo- logische Bestimmung der ersteren war zur Zeit von Pallas noch sehr ungenau, und selbst Faujas blieb ziemlich im unklaren über die An- gehörigkeit der beiden Schädel fossiler Rinder, die er in der oben er- wähnten Abhandlung beschrieben und abgebildet hat. Den einen Schädel, der am Rheinufer bei Bonn gefunden wurde, beschreibt Faujas unter der kennzeichnenden Ueberschrift: „Boeuf fossile & eornes disposees presque horizontalement, la partie superieure du eräne garnie d’une proeminence osseuse;* die Abbildung auf Taf. 43 lässt deutlich erkennen, dass wir es mit einem Wisentschädel zu thun haben. Die Beschreibung des andern Schädels führt die Ueberschrift: „Boeuf ä cornes coudees en dedans, ä front plat, dont la ligne est presque droite;* die Abbildung auf Taf. 44 zeigt den Schädel eines Ur (Bos primigenius), der damals schon häufig gefunden wurde und von dem das naturhistorische Museum zu Paris mehrere Exemplare besaß. Faujas gibt auch an, dass das kurfürstliche Museum zu Mannheim, das landgräflich hessische zu Darmstadt und die Samm- lung des Herrn Salzwedel (irrtümlich M. Salt-Zwedel geschrieben) zu Frankfurt (a. M.) Schädel der zweiten Art, d. h. vom Ur, besäße. Aber die Beziehung des zweiten Schädels zum Ur hat F. nicht er- kannt, denn er sagt (Seite 194): „Comme les cornes de P’une et ’autre espece de ces boeufs me paroissent differer sous plusieurs rapports de eelles de !’Urus, doit-on les eonsiderer comme ayant appartenu & des especes dont les races ont disparu, ou seroit-il possible d’en re- connaitre les analogues dans quelques parties du monde?“ 4. Die Rinder des Diluviums und der Pfahlbauten. 81 Erst George Cuvier brachte durch Vergleichung des Knochen- baues Klarheit in die Formen der lebenden und fossilen Rinder. In seinen „Recherches sur les ossemens fossiles“, 4. Ed. (1835) T. VI. p. 281 unterscheidet er nach dem Schädelbau drei Arten fossiler Rin- der, „dont une tres-voisine de V’aurochs!), lautre du boeuf com- mun, la troisieme enfin du buffle musqu& du Canada.“ Die ihm bekannten fossilen Rinder beschreibt C. in drei Artikeln; der erste führt die Ueberschrift: „Des cränes fossiles qui ne different presque en rien de ceux d’aurochs“; der zweite ist überschrieben: „Des eränes fossiles qui paraissent appartenir & lespece du boeuf, mais qui sur- passent de beaucoup en grandeur ceux de nos boeufs domestiques, et dont les cornes sont autrement dirigees“; die Ueberschrift des dritten Artikels ist: „Des cränes fossiles a cornes rapproches par leur base, que Von ä& trouves en Siberie, et qui paraissent analogues & ceux du Buffle Musqu& du Canada.“ Wie sich leicht erkennen lässt, enthält der erste Artikel die Beschreibung von Bison priscus, der zweite diejenige von Bos primigenius und der dritte die von Bos mo- schatus. Von den Schädeln des zweiten Artikels sagt C. „je ne doute pas qu’ils n’aient appartenu A une race sauvage, tres-differente de Vaur- ochs, et qui a &t& la veritable souche de nos boeufs domestiques: race qui aura &t& andantie par la eivilisation.“ Cuvier fasst seine Untersuchungen in folgendem „Resume“ zu- zusammen: „Les recherches nous prouvent que le genre des boeufs existait des Ja m&me Epoque que les El&phans et les rhinoeeros perdus. Qu’il avait des-lors au moins deux especes: ’une a membres gre&les, comme Jaurochs; l’autre & membres plus &pais, comme le boeuf ou me&me le buffle. Les cränes semblables & ceux du boeuf domestique n’ont &te trouves d’une maniere authentique que dans des tourbieres ou d’autres couches tres-superfieielles; il ne serait' pas impossible quils fussent d’une origine plus moderne que les os d’elephans et de rhinoeeros, et quiils eussent appartenu & l’original sauvage de notre boeuf d’au- jourd’hui. On n’a encore rien trouv& parmi les fossiles qui rappelait aucune variet€E du buffle des Indes, ni le buffle du Cap; par consequent si les fossiles venaient d’especes vivantes, ce ne serait pas d’especes de pays chauds, mais bien d’especes de pays froids. Les cränes semblables a ceux du buffle musqu& d’Amerique n’ayant ete vus que trois fois, et sur les cötes de Siberie, il reste des doutes ä leur egard, non-seulement sur leur identit& d’especee, mais encore sur la question de savoir s’ils &taient vraiment fossiles, ou s’ils n’etaient pas venus aceidentellement d’Amerique sur des glagons conduits, lors des degels, par les courans.“ 4) Unter Auerochs versteht Cuvier den Bison europaeus. 6 82 Wilekens, Paläontologie der Haustiere. Die eingehendste und durch vortreffliehe Abbildungen erläuterte Beschreibung des Skelets vom europäischen Wisent hat Ludw. Heinr. Bojanus im Jahre 1825 geliefert. Derselbe veröffentlichte seine Un- tersuchungen unter dem Titel: „De uro nostrate ejusque sceleto com- mentatio* in den Nova Acta Acad. Leop. Carol. XIII, p. 411—478. Den vier Tafeln von „urus nostras“ ist mit einer kurzen Beschreibung beigefügt eine fünfte Tafel mit der Abbildung des fast vollständigen Skelets von Bos prümigenius, welches sich im Museum zu Jena!) be- findet. Dem von B. gewählten Namen „Urus nostras“ ist gleichbe- deutend Bison europaeus, der Zubr der Polen, der Auer, Auerochs und Wisent der Deutschen; er lebt noch gegenwärtig unter dem Schutze des russischen Kaisers, im Walde von Bialowiezka in Lithauen. Von ähnlichen Formen wie dieser, aber mit größeren Hörnern versehen, ist der fossile Wisent, den B. Urus, später Bison priscus nennt. Von ihm unterscheidet sich Bos primigenius, der dem Hausochsen in der Form ähnlich ist, ihn an Größe aber weit übertrifft und gegenwärtig nur noch im fossilen Zustande vorkommt. Die Abbildung, welche B. von dem riesigen Bos primigenius des Jenaer Museums gibt, ist — auf Göthe’s Veranlassung — in einem Nachtrage zum Nekrologe von Bojanusin den Nova Acta Acad. Leopold. Carol. XV. 2 durch mehrere Schädelansichten vervollständigt worden. Nachdem die beiden, im Diluvinm Europas vorkommenden fos- silen Ochsen — Bison priscus und Bos primigenus — von G. Cuvier und Bojanus beschrieben und ihre unterscheidenden Merkmale na- mentlich an deren Schädeln festgestellt worden waren, sind zahlreiche Knochenreste beider Arten zutage gefördert worden. Es würde zu weit führen, die Namen aller Forscher und die Titel aller Abhand- lungen anzugeben, welehe mit der Auffindung von Knochenresten der beiden diluvialen Rinder im Zusammenhange stehen. Die vollständige Literatur über fossile Ochsen bis zum Jahre 1832 hat Herm. v. Meyer zusammengestellt in seiner „Palaeologica zur Geschichte der Erde und ihrer Geschöpfe“, Frankfurt a.M. 1832. Als Fundorte von Bos primi- genius Bo). (von Fischer Bos latifrons genannt) gibt Meyer S. 96 an: Diluvium Europas. — Knochenhöhlen: Salleles, Bize, Lunel-Vieil, Argou, Pondres, Souvignargues. — Knochenbreeeie. — Torfmoore. Als Fundorte von Bison priscus Boj. (Riesenbüffel, später Arni von Pallas, Bos latifrons Harlan’s, Broad-headed fossil Bison, Bison fossi- lis) erwähnt M. S. 97: Diluvium Europas und Nordamerikas. — Kno- ehenhöhlen (wie oben). — Knochenbreecie. — Torfmoore : Schonen. 1) Das Skelet wurde im Jahre 1821 unter Göthe’s Leitung bei Haßleben im Weimarischen aus feuchtem Moorland ausgegraben und zusammengestellt. Göthe (Werke, Ausgabe letzter Hand, 1834, Bd 55 $. 280) gibt als Maße (in Leipziger Fuß) dieses Skeletes an: „Länge von der Mitte des Kopfes bis zu inde des Beckens 8 Fuß 6'/, Zoll, vordere Höhe 6 Fuß 5t/, Zoll, hintere Höhe 5 Fuß 6!/, Zoll. 4. Die Rinder des Diluviums und der Pfahlbauten. 83 In seiner Abhandlung „Ueber fossile Reste von Ochsen, deren Arten und das Vorkommen derselben“ in den Nova Acta Acad. Leop. Carol. XVII. 1. 1835 S. 101—170 beschreibt HB. v. Meyer 20 Schädel von Bison priscus Boj. und 9 Schädel von Bos primigenius Bo)., von welehen er die Ausmessungen in einer Tabelle zusammenstellt; außer- dem besprieht er einen Schädel von Bos bombifrons Harlan’s und von Bos Pallasii Dekay’s, und er macht uns mit einer von ihm erforschten neuen diluvialen Art (von der ein Stirnstück mit Hornzapfen in der Gegend von Siena gefunden wurde) bekannt, die er Bos trochocerus genannt hat; Meyer sagt (S. 152) von ihr: „es schließt sich diese Art zunächst an Bos primigenius an, von dem sie, nachdem was da- rüber vorhanden ist, für nicht verschieden gehalten wurde.“!). Der Hauptunterschied zwischen diesen beiden, jedenfalls nahe verwandten Arten, liegt in der Form der Hornzapfen. „Die Hornkerne an keinem der damit näher verglichenen, oder von mir (Meyer) überhaupt an verschiedenen Arten untersuchten vielen Schädeln sind so groß, so zylindrisech geformt, so weit kreistörmig“ (daher der Name der Art), „so hoch über die äußerste obere oder hintere Schädellinie hinauf und sodann tief herunter und mit der Stirn unter einem spitzen Win- kel (so nahe zu ihr hin) gebogen, wie die des Bos trochocerus.“ Die Abbildungen des Stirnstückes von Bos trochocerus, die Meyer auf Taf. XII mitteilt, machen auf mich den Eindruck eines weiblichen Exemplars von Bos primigenius; insbesondere die Abbildung Fig. 12 mit der Vorderansicht des Schädelstückes gleicht vollkommen dem Schädel der fossilen Urkuh aus dem Diluviallehm bei Puszezyna in Galizien, der sich in der Sammlung der Geologischen Reichsanstalt zu Wien befindet; er ist abgebildet in Fig. 3 Seite 33 meiner „Rinder- rassen Mitteleuropas“, Wien 1876. Da mir die Annals of the Lyeeum of New-York T.II, in welchen Dekay seinen Bos Pallasi beschreibt, nicht zugänglich waren, so ent- nehme ieh der vorliegenden Abhandlung von H. von Meyer, dass Dekay diese Art begründet durch ein Schädelstück, welches zu Neu- Madrid am Mississippi gefunden wurde und sich im Besitze des na- turhistorischen Lyzeums in New-York befindet; diesem Schädelstück fehlt der ganze vordere Teil, und „nur das Hinterhaupt mit den sehr fragmentarischen Hornkernen und dem hohlen Raume zwischen beiden ist vorhanden.“ Dekay findet völlige Uebereinstimmung des von ihm beschriebenen Schädels mit den von Cuvier zunächst dem Dos mo- schatus verglichenen, in Sibirien (von Pallas — wie früher erwähnt — und von Ozeretskovsky) gefundenen fossilen Schädeln. Meyer aber meint, dass die Abbildungen, welche Dekay’s Aufsatz begleiten, 1) Meyer meint, dass die von Soldani, Saggio orittogr abgebildeten Schädelfragmente auch zu Bos trochocerus gehören. 6* 84 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. nieht geeignet sind, darauf weitere Entscheidung über Aehnlichkeit zu gründen. Unter den von H. v. Meyer angeführten gleichwertigen Namen von Bison priscus habe ich auch den Broad headed Fossil Ox (Bison) der nordamerikanischen Paläontologen erwähnt, den Rich. Harlan („Fauna Americana“ Philadelphia 1825, p. 273) Bos latifrons nennt; er ist in Wahrheit nichts anderes als Bison priscus, und Harlan selbst bekennt: „This skull (aus dem Diluvium Kentuckys) differs very little from that of the Aurochs, (Bos urus Boj., Pallas, Cuv.).“ Dagegen dürfen wir wohl nicht zweifeln, dass Bos (Bison) latifrons die fossile Form des lebenden nordamerikanischen Bisons ist, der sich von sei- nem europäischen Verwandten ja auch nur wenig unterscheidet. Eine andere fossile Ochsenart (von der ein Schädel im „Big-bone- lick“ nahe den Ohiofällen im Staate Kentucky gefunden wurde) be- schreibt Harlan a. a. ©. Seite 271 unter dem Namen Dos bombifrons. Sein „Charakter“: „Top of the head, between the horns, strongly arched and projeeting; facial line forming rather an acute angle with the oceipital surface; horns first projeet laterally from the sides of the head, then eurve downwards, they are placed on the skull at a eonsiderable distance anterior to the union of the facial and oceipital surfaces“ — lässt erkennen, dass wir es mit dem Schädel eines Bisons zu thun haben. Abbildungen sind in dem Werke von Harlan nieht enthalten. Außer ihm haben noch Wistar (Transact. of Philadelphia n. S. p. 379) und Dekay (Ann. of the Lyceum of New-York Il) über Bos bombifrons geschrieben; beide Schriften, die ich nach H. v. Meyer anführe, waren mir nicht zugänglich. Aus Meyer’s Palaeologiea S. 153 erwähne ich noch die beiden fossilen Ochsenarten aus Sibirien, die G. Fischer in dem (mir nicht zugänglichen) Bulletin de la Societe imp. des naturalistes de Moscou, 2. Annee, 1830, p.30 beschrieben hat; der eine, Bos latifrons Fischer’s, soll dem Auerochsen (Bos primigenius Boj.) sehr ähnlich, der andere, Bos canaliculatus Fischer’s, dem Bisamochsen Amerikas ähnlich sein. Meyer fragt: „Gehört Bos canaliculatus zu Bos Pallasii?* Dann führt Meyer endlich noch an den Bos velaunus aus dem Diluvium von Cussac (Haute-Loire), den Robert im Bulletin de science naturelle 1830, p. 48 beschreibt; Meyer sagt, dass B. velaunus noch viel größer als der Auerochs gewesen sein soll. Paul Gervais aber schreibt in seiner „Zoologie et Paleont. Frane.“ T. I. p. 70 „Les Bos giganteus Croizet, et BD. velaunus, F. Robert, regardes, par ces naturalistes, comme propres & certains diluviens ou meme post-diluviens de la Li- magne et du Velay, semblent ne pas differer du DB. primigenius. Auch den Bos intermedius, dessen Knochenreste Marcel-de-Serres in der Höhle von Lunel-Viel (Herault) gefunden und mit jenem Na- men belegt hat, rechnet Gervais zu Bos primigenius; er erkennt in ihnen die Knochen eines jüngern Individuums. 4. Die Rinder des Diluviums und der Pfahlbauten. s5 In England sind Knochenreste von Bison priscus und Bos pri- migenius zahlreich gefunden worden. Rieh. Owen äußert sich in seiner „History of British Fossil Mammals“, London 1846 p. 494 wie folgt: „The former existence of the great Aurochs (Bison priseus) in this island is unequivocally established by fossil remains of the eranium and horn-cores from various newer tertiary freshwater depo- sits, especially in Kent and Essex, and along the valley of the Tha- mes.“ Ferner mit bezug auf Bos primigenius!) p. 499: „In the same deposits and localities which have yielded remains of the Aurochs (Bison priscus) there have been found the remains of another bovine animal, its equal or superior in size, but differing from the Aurochs preeisely as the Roman poets and historians have indieated, by the greater length of its horns. The persistent bony supports or cores of the horns likewise demonstrate, by their place of origin and eur- vature, the subgenerie distinetion of the great Urus, from the Bison, and its nearer affınity to the domestie ox.“ Außer diesen beiden Arten beschreibt Owen (a. a. O. S. 508) eine besondere Form unter dem Namen Dos longifrons. Die Abbil- dung auf Seite 508 zeigt ein fast vollständiges, beinahe ganz flaches Stirnbein mit kurzen, an der Spitze nach vorn gekrümmten Horn- zapfen?) eines kleinen Ochsen aus einem Moore Irlands. ©. gibt aber noch andere Fundstätten an in den östlichen Grafschaften von Eng- land, wo Bos longifrons in Süßwasserablagerungen vorkommt, die reich sind an Ueberresten von Elephas und Rhinoceros. Auch in der Süßwasserablagerung zu Kensington sind Ueberreste von Bos longi- frons gefunden worden, zusammen mit denen vom Mammut, an ver- schiedenen Orten in Irland zusammen mit Megaceros Hibernicus und in den Brieklehampton-Lagern in Gesellschaft von Bison priscus und Bos primigenius. An einigen Orten in Irland sind die Ueberreste von Bos longifrons selbst im Torf gefunden worden, woraus sich schließen lässt, dass diese Art am Leben blieb, nachdem Megaceros ausgestorben war. Mittelfußknochen vom ausgewachsenen Rinde, kürzer als die eines gewöhnlichen Hausochsen, oder doch nicht größer, aber dieker im Verhältnis zur Länge, fand 0. im fossilen Zustande in den Höhlen zu Kirkdale und Oreston. Er vermutet, dass diese Knochen dem Bos longifrons angehören; jedenfalls bezeugen sie das gleichzeitige Vor- kommen eines Rindes von gewöhnlicher Größe mit den ausgestorbenen Fleischfressern jener fernen Zeit, denen sie mit größerer Wahrschein- 1) Ueberreste eines ungewöhnlich großen Schädels dieses Ochsen im Jahre 1838 im Flusse Avon bei Melksham in Wiltshire gefunden, beschreibt Henry Woods u. d. T. „Description of the fossil skull of an ox“, London 1839. 2) Wegen der Kürze der Hornzapfen wählte O. zuerst den Namen B. bra- chyceros, den er aber aufgab, nachdem Gray diesen Namen einem lebenden Büffel Afrikas beigelegt hatte. Sb Wilekens, Paläontologie der Haustiere. lichkeit eher zur Beute geworden sind als der vergleichungsweise riesige Bison und der Ur. ©. hält es für sehr wahrscheinlich, dass die Nachkommen von Bos longifrons von den britischen Ureinwohnern des schottischen Hochlands und von Wales in den Hausstand über- geführt seien, bevor die Römer in das Land einfielen. Wäre Bos pri- migenius die Stammform jenes eingebornen Rindviehes gewesen, so hätte sich das Hochlands- und wälsche Vieh einige der Eigentümlich- keiten ihrer großen Vorfahren bewahren müssen, und sie würden sich von anderen Hausrindern unterscheiden durch ihre größere Figur und dureh die Länge ihrer Hörner. Das eingeborne Rindvieh des schot- tischen Hochlands und von Wales („the kyloes and the runts“) aber ist im Gegenteil ausgezeichnet dureh die kleine Figur und durch die kurzen Hörner, wie bei Bos longifrons, oder durch die gänzliche Ab- wesenheit dieser Waffen. Die Ansicht von Owen, dass das Rindvieh der schottischen Hoch- lande — „the kyloes“ — und von Wales — „the runts“ — von Bos longifrons abstamme, möchte ich bezüglich der „kyloes“ bezweifeln), bezüglich der „runts“ aber entschieden in Abrede stellen. Die in der Grafschaft Wales einheimischen Rinder (deren provinzielle Bezeich- nung „the runts“ so viel bedeutet wie „verbuttete“ oder verkommene Tiere) sind allerdings kaum von Mittelgröße und schmal gebaut, aber ihr Kopf ist — ganz im Gegensatze zu Bos longifrons — kurz und mit sehr langen und dieken Hörnern versehen. Jedenfalls war Bos longifrons größer als ein wälscher „runt“; nach meiner auf eigner Anschauung beruhenden Kenntnis dieser kleinen Rinderrasse halte ich ihre Abstammung von dem fossilen Dos longifrons für sehr unwahr- scheinlich. Dagegen möchte ich dieses Rind als Stammform in An- spruch nehmen für die Rasse der englischen Kanalinsel Jersey und für alle Formen, welche Rütimeyer seinem Brachyceros-Typus un- terordnet. In der That ist das Torfrind der Schweizer Pfahlbauten, welches Rütimeyer Dos brachyceros genannt hat, nichts anderes als bos longifrons Owen’s?), nur kommt diese Form in England an- scheinend in älteren Erdschiehten vor als auf dem europäischen Fest- lande. In Schweden lebte, im südlichen und westlichen Teile desselben, Bos longifrons gleichzeitig mit dem Rentier, dem Ur und dem Wisent. 1) George Vasey sagt in seinem „Monograph of the genus Bos“, London 1857, p. 150, dass sich die schwarzen Kyloes von dem weißen Chillingham- Vieh nur durch ihre Farbe unterscheiden; letzteres aber rechnet Rütimeyer zu den Nachkommen von Bos primigenius. 2) In seiner „Fauna der Pfahlbauten“ S. 144 erklärt Rütimeyer, dass „der Name Bos longifrons nicht nur unpassend ist, weil er das wichtigste Merkmal der Art nicht enthält, sondern auch unrichtig ist“, weshalb R. zu dem früher von Owen vorgeschlagenen sehr passenden Namen Bos brachyceros zu- rückkehrt. 4. Die Rinder des Diluviums und der Pfahlbauten. 87 Nilsson beschreibt und bildet ein Schädelstück ab in seiner Abhand- lung (übersetzt aus dem Schwedischen) „On the extinet and existing Bovine Animals of Scaudinavia“ in „The Annals and Magazine of Natural History“. 1849, Vol. IV. sec. ser. p. 351. Er kennzeichnet seinen Zwergochsen (Dwarf Ox) wie folgt: „The forehead flattened, with a prominent edge standing up along the middle, and a smaller indenting backward; the horns round, small, and direeted outwardly upwards, and bent in one direction forwards“. N. meint, dass der Zwergochse als Wild überall in Europa ausgestorben sei vor der so- genannten historischen Periode. Nachdem Nilsson die Ansicht von Owen über die Abstammung des kleinen kurzhornigen Viehs des schottischen Hochlandes und von Wales von dem wilden Zwergochsen angeführt hat, meint er, dass, wenn dieser noch irgendwo in einer zahmen Rindviehrasse vorkomme, es der Fall zu sein scheine in dem sogenannten finnischen Vieh. Nilsson beschreibt (a. a. O. Seite 349) noch einen andern fos- silen Wildochsen Schwedens, den er Bos frontosus („Ox with high oceipital ridge“) nennt und wie folgt kennzeichnet: „The forehead convex at its upper part; below smooth rounded, the ridge of the oceiput rising high in the centre, convex; horns short, somewhat depressed at the roots, direeted outwards and backwards, then bent forwards“; durch seine konvexe Stirn und seine Hornstiele hat B. frontosus einige entfernte Aehnlichkeit mit dem Wisent; seine Größe ist die des gewöhnlichen Rindes; er ist viel kleiner als Bos primi- genius, jedoch beträchtlich größer als Bos longifrons. Seine Ueber- reste wurden gefunden im Torfmoor unter dem Jaravall in Südschwe- den und zwar in einem Zustande, der deutlich erkennen ließ, dass sie einer ältern Periode angehörten als der, in weleher Haustiere in die- sem Lande lebten; außerdem sind sie öfter in England gefunden und N. erwähnt eines Schädels, der im Britischen Museum aufbewahrt ist. Bos frontosus lebte in Skandinavien gleichzeitig mit Bos primigenius und Dison europaeus; er gehört zur ältesten diluvialen Fauna des Landes. N. meint, dass er von Deutschland herübergekommen sei während der Periode, in der beide Länder zusammen verbunden wa- ren; er müsse sich noch in Deutschland im fossilen Zustande finden, wenngleich er bisher hier nicht beobachtet sei. Wenn er jemals ge- zähmt sei und im Laufe der Zeit zur Form einer Rasse des Haus- rindes beigetragen habe, so müsste dies der Fall sein bei der wenig großen, feinhornigen und oft hornlosen Rasse, die in den norwegischen Gebirgen vorkommt und einen hohen Wulst zwischen den Hornansätzen trägt. Rütimeyer erklärt in seiner „Fauna der Pfahlbauten der Schweiz“ Seite 208, dass er unter den Resten vom Rind aus Torfmooren der Schweiz bisher ganz vergeblich nach Spuren von Bos frontosus ge- sucht habe; es sei dies um so auffälliger, als ja grade seine Genossen Ss Wilekens, Paläontologie der Haustiere. in Schweden — der Urochs und der Wisent — so reichlich auch in der Schweiz sich vorfanden, und als er seit langem wusste, dass der von Nilsson in Deutschland ursprünglich einheimisch vermutete Bos frontosus in der Schweiz durch eine der wichtigsten und berühmtesten heutigen Rindviehrassen reichlich vertreten sei; seine osteologischen Details finden sich bis in alle Einzelheiten wieder bei der großen, meistens rot mit weiß gefleckten Viehrasse, welche, in reinster Form in den hintersten Thälern des bernischen Saanenthales zuhause, sich von da durch das Simmenthal fast über alle ebnen Teile der Schweiz ausgedehnt und daher verschiedene Namen erhalten hat, allein doch im ganzen wesentlich Simmenthal-Saanen-Rasse genannt wird. Die- selbe Rasse findet sich mit schwarzer Farbe oder schwarz und weiß gefleekt im Kanton Freiburg. Der Umstand, dass dieselbe Art, in früherer Periode in Schweden fossil, heute in der Schweiz reichlich vertreten, in den Pfahlbauten gänzlich fehlt, sei also ein evidenter Beleg für ihre Einwanderung in die Schweiz. Rütimeyer erwähnt auch des Vorkommens des fossilen Bos Jrontosus in England. Ich füge hinzu, dass ich die Abstammung eimi- ger gegenwärtig lebender Rinderrassen von dem fossilen Dos frontosus für sehr wahrscheinlich halte; zu den Nachkommen desselben zähle ich — nach eigner Anschauung in England — u. a. die Longhorn-, die Hereford- und die Guernsey-Rasse. Wir haben also in Bos longifrons s. brachyceros und in Dos frontosus zwei fossile Formen kennen gelernt, welche aller Wahrschemlichkeit nach die Stammformen zweier noch lebender Haustierrassen waren, die zahlreich verbreitet sind in Skandinavien, England, Deutschland, Frankreich und in der Schweiz. Wir dürfen nun wohl die Frage stellen: was ist aus den Nachkommen des fossilen Bison priseus und des Dos primigenius geworden? Bezüglich des erstern sind wir um eine Antwort nicht verlegen: der gegenwärtig, im Walde von Bialo- wiezka in Lithauen und angeblich auch im Kaukasus noch lebende Zubr oder Wisent (Bison europaeus) ist der Nachkomme von Bison priseus. Der Wisent — fälschlich Auerochse genannt — ist der ein- zige Wildochse, der heute noch in Europa vorkommt; aber er ist nie- mals in den Hausstand übergeführt worden, weshalb wir uns hier mit ihm nicht weiter beschäftigen wollen. Was ist aber aus dem, jetzt nur noch im fossilen Zustande bekannten riesigen Bos primigenius — dem Ur oder eigentlichen Auerochsen — geworden, und dürfen wir eine noch gegenwärtig lebende Rinderrasse als seine Nachkommen- schaft betrachten? | Die Frage, ob neben dem Wisent noch ein anderer Wildochse in Europa gelebt habe, ist ein Gegenstand lebhaften Streites gewesen. Diejenigen, welche diese Frage bejahen — zu diesen gehört u. a. Buffon, G. Cuvier, J. v. Brinken, K. E. v. Bär, H. v. Meyer, Andreas Wagner und Rütimeyer — berufen sich auf das Zeugnis 4. Die Rinder des Diluviums und der Pfahlbauten. sg von Julius Cäsar!), des Nibelungenliedes?) und des Freiherrn von Herberstain?). Der letztgenannte hatte im Jahre 1526 als Gesandter 1) De bello gallico, VI. 283: „Tertium (in sylva Hereynia) est genus eorum, qui uri appellantur. Hi sunt magnitudine paulo infra elephantos, specie et colore et figura tauri. — Amplitudo cornuum et figura et species multum a nostrorum boum cormibus differt.“ 2) „Darnach sluoch er (Siegfried) schiere einen wisent und einen elch, Starker uore viere und einen grimmen scheleh“. Ausgabe von v d. Hagen, 1820, 8. 114. ,3761. 3) „Rerum Mosecoviticarum Comentarii*. Mir liegt die erste Ausgabe dieses Werkes vor, die mit der Vorrede des Verfassers datiert ist Viennae Austriae prima Matrij (Druckfehler statt Martij) MDXLIX. Ort, Name des Ver- legers oder Druckers ist auf dem Titelblatte und auch sonst nirgends ange- geben. Dagegen enthält das Titelblatt eine von Herberstain’s eigner Hand geschriebene Widmung an einen Herrn Paumgartner, unterzeichnet: „Sigismundus Liberbaro in Herberstain ete.m ppo.“ Diese, von Herberstain unzweifelhaft selbst herausgegebene, mit seinem gemalten Wappen gezierte Ausgabe — die wahrscheinlich gar nicht im Buchhandel erschienen ist — ent- hält auf Seite 2 Blatt 25 der 2. Abteilung folgende, auf wilde Rinder bezüg- liche Stelle, die ich wörtlich abschreibe: „Fere in Lithvuania preter eas quae etiam in germania reperiuntur Bisontes, Onagri, Et feri Equi, Bisons est, qui patrio nomine Suber vocatur, germanice Aurox“; (die folgende Stelle handelt vom Önager, dann heißt es weiter:) „Vri pariter quos indigeni Thur Germani Bisontes vocant, in sola Mazouia reperiuntur. Vrus autem est forma bouis nigri, habet longiora cornua quam Bisons, nec te moueat dietio germanica, que Vrum, Bisontem vocat, et Bisontem aurox, nam ex commentarijs cesaris habes, germanos Vrorum cormibus pro insignioribus poculis quondam vsos fuisse, quem vsum etiam hodie Samogithe obseruant. Vrorum porro cornua que etiam nostro tempore in quibusdam templis auro et argento exornata, veluti rara quedam monimenta reperiuntur, et longitudine et colore ä Bisontis cornibus aliquanto breuioribus poculisque minime aptis faeile discernuntur.* Diese Stelle enthält alles, was Herberstain über den Ur geschrieben hat. Dass er den Ur selbst lebend gesehen habe, geht aus dieser Stelle nicht hervor und eine Abbildung desUr ist dem Werke nicht beigegeben. Die nächste mir bekannte Ausgabe von Herberstain’s Commentarii ist 1551 bei Johann Oporinus in Basel erschienen nnd sie ist herausgegeben von dem Wiener Arzte Wolfgang Lazius. Auch diese mir vorliegende Ausgabe stimmt bezüglich der Stelle über den Urus genau mit jener ersten Ausgabe überein, und sie enthält ebenfalls keine Abbildung des Ur. Die mit Herber- stain’s Namen unterzeichnete Vorrede ist, wie jene und mit ihr vollkommen übereinstimmend, vom 1. März 1549 datiert. Dann liegt mir eine Ausgabe vor, die zu Antwerpen „in aedibus Joannis Steelsij* 1557 erschienen ist und die auch Herberstain’s Vorrede vom Jahre 1549 enthält. Diese Ausgabe ist an der betreffenden Stelle, Blatt 118 Seite 1, wesentlich vervollständigt durch eine weitere Beschreibung des Ur, namentlich durch folgenden Satz: „Vros sola Masowia Lithwaniae contermina habet: quos ibi patrio nomine Thur vocant, nos Germani proprie Vrox dieimus. Sunt enim vere boues syluestres, nihil a domestieis bobus distantes, nisi quod omnes nigri sunt, et ductum quendam 0 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. des damaligen Erzherzogs und kaiserlichen Statthalters Ferdinand, Polen und Russland bereist und unter anderem auch über die wilden Tiere Lithauens berichtet. Unter diesen erwähnt er der Uri, von den Eingebornen Thur, von den Deutschen „Bisontes“ genannt, welche nur in Masovien gefunden wurden; er sagt, dass der Ur die Form eines schwarzen Ochsen und längere Hörner habe als die Bisons. Das sind die einzigen Thatsachen vom Ur, die Herberstain in der ersten, von ihm selbst veranstalteten Ausgabe seines Berichtes über Russland anführt. In den späteren Ausgaben seiner „Commentarii“ — die offenbar nicht von ihm selbst herrühren — finden sich einge- schobene Sätze, welche sich beziehen auf die Farbe und Pflege des masovischen Urochsen, der damals nur noch in „vivariis“ (in Tier- parken) gehalten wurde, sowie die Erzählung von einem Geschenk, welches der König Sigismund August von Polen dem Gesandten mit einem getöteten und ausgeweideten Urochsen gemacht habe, dem die Stirnhaut abgezogen war. Nach diesem ausgeweideten Urochsen ohne Stirnhaut soll der Holzschnitt der späteren Ausgaben angefertigt sein, der die Ueberschrift trägt: „Urus sum, Poloni Tur, Germani Aurox, ignari Bisontis nomen dederunt.“ Jedermann, der Haustierformen zu beurteilen versteht, wird in dem fraglichen Holzschnitt der späteren Ausgaben des Herberstain’- schen Reiseberichts das Bild eines gemeinen Hausochsen erkennen, instar lineae ex albo mixtum per dorsum habent.“ Die Beschreibung schließt mit dem Satze „Sigismundus Augustus rex mihi apud se oratori donauit exen- teratum unum, quem venatores ejectum de armento semiuiuum confecerant: reeisa tamen pelle, quae frontem teget“. Auch diese Ausgabe enthält keine Abbildung des Ur. Eine vierte Ausgabe liegt mir vor unter dem Titel: „Mos- coviter wunderbare Historien“ ; sie ist ins Deutsche übersetzt von dem „Artzney doctorn Heinrich Pantaleon zu Basel“ und 1563 dort gedruckt, ebenfalls mit der Vorrede Herberstain’s vom Jahre 1549. Diese Ausgabe enthält auf Seite 125 den rohen Holzschnitt eines Ochsen, der sich von einem Hausochsen fast gar nicht unterscheidet; seine Hörner sind von mittlerer Länge und lyra- förmig, das Haar erscheint glatt und nur auf der Stirn ist ein längerer Haar- büschel vorhanden. Der Holzschnitt trägt die Ueberschrift: „Ich bin ein Vrus, so von den Polen ein Tur, von den Teutschen ein Aurox, auch bisher von den vnuerstendigen ein Bisons genennet worden.“ Eine fünfte Ausgabe, die mir vorliegt, ist in lateinischer Sprache 1571 zu Basel erschienen; sie enthält eben- falls die oben angeführte Einschaltung und den gleichen Holzschnitt mit ent- sprechender lateinischer Ueberschrift. Da Freiherr Sigismund in Herberstain 1566 gestorben ist, so ist diese Ausgabe nach seinem Tode erschienen, wie auch noch mehrere andere. Bojanus und Rütimeyer führen die Baseler Ausgabe an vom Jahre 1556 (auch mit der Vorrede Herberstain’s vom Jahre 1549), die mir nicht bekannt ist; diese Ausgabe aber enthält nach den Anführungen beider Forscher den eingeschobenen Text der späteren, nicht von Herberstain selbst heraus- gegebenen Ausgabe, und den sehr fragwürdigen Holzschnitt, der meines Er- achtens den späteren Ausgaben von fremder Hand zugefügt ist. 4. Die Rinder des Diluviums und der Pfahlbauten, 91 und zwar eines Ochsen im engern Sinne des Wortes, d.h. eines seiner Hoden beraubten Stieres. Die auseinander gespreizten und leicht ge- beugten Hinterbeine des fraglichen Tieres mussten einen Hodensack in der Zeichnung erkennen lassen, wenn derselbe im normalen Zu- stande, d. h. mit Hoden versehen gewesen wäre. Die Zeichnung zeigt ferner einen strangförmigen Körper, der hinter dem linken Ohr her- vorkommt und bis zum linken Maulwinkel verläuft und ganz das Aus- sehen eines Zügels hat. Die aufrecht stehenden lyraförmigen Hörner haben genau die Form und die Größe der Hörner der den späteren Ausgaben beigegebenen zweiten Abbildung, welche einen Wisent dar- stellt. Die Hörner des angeblichen Ur haben ferner nieht im ent- ferntesten die Form und Größe der Hörner der uns bekannten fossilen Schädel von Bos primigenius. Endlich entsprechen auch die Füße der fraglichen Zeichnung nicht denen des fossilen Bos primigenius, sondern jene sind viel feiner und kürzer im Verhältnis zum Rumpf. Pallas (Acta Acad. Petropol. pro anno 1777 ps. post. p. 233) hält den angeblichen Urus des Freiherrn v. Herberstain für einen verwilderten Büffel, was aber mit Rücksicht auf den fraglichen Holz- schnitt unrichtig ist. Die umfassendste Kritik „zur Geschichte des Auerochsen“ hat @. G. Pusch geübt in seinem Werke „Polens Paläontologie“, Stuttgart 1837. Er sagt S. 199: „Unser jetziger Auerochs (Zubr) hat im Win- ter ein kurzes, wolliges, ziemlich lichtbraunes Haar, bis auf die dunk- ler gefärbten Füße; im Sommer hingegen (in welchem Herberstain seinen Tur sah) kurze glatte, anliegende, dunkelbraune, glänzende Haare. Er sah also offenbar eine dunkle Varietät des Zubr im Sommerkleid“. Am Schlusse seiner kritischen Untersuchung :S. 209) kommt Pusch zu dem Ergebnis: „dass kein Mensch in der histori- schen Zeit in Europa eine vom heutigen Auerochsen verschiedene wilde Ochsenart gesehen habe, dass vielmehr Bonasus, Bison, Wisent und Zubr auf der einen, Ur und Tur auf der andern Seite nur zwei aus verschiedenen Dialekten abstammende Namen eines und des- selben Tieres sind, und dass unter den letzteren auch mithin nicht die wilde Stammrasse unseres zahmen Rindviehs verstanden werden könne.“ Auch Jarocki („Zubr oder der lithauische Auerochs“, Hamburg 1830, S. 23) erklärt: „Der Auerochs hat im der polnischen Sprache zwei verschiedene Namen, und zwar in Lithauen nennt man ihn Zubr, in Masovien aber wurde er Tur genannt. Dieses hat den Baron von Herberstain so irregeführt, dass er in seinem Werke, den zwei Namen gemäß, zwei Tiere aus einem gemacht hat und dieser Missgriff brachte viele spätere Schriftsteller m Verlegenheit.“ Da Julius Cäsar keine andere wilde Ochsenart aus Germanien anführt als den Urus, so ist es sehr wahrscheinlich, dass auch er den Wisent mit diesem Namen belegt hat. Bezüglich der erwähnten Stelle 92 Wilckens, Paläontologie der Haustiere, des Nibelungenliedes weist Nees von Eesenbeck (Nova Acta Acad. Leopold. Carol. T. X Ps. II p. 495) auf die Möglichkeit hin, dass die traditionelle Sage noch Erinnerungen an eine verschwundene Vorwelt bewahrt haben könne. „Wir dürfen“ — sagt er S. 502 — „auf die bis zu einem weiten Bildungsabschnitt unserer Gegenden hinaufrei- chende Sage, die mit der alten Geschichte der Nibelungen selbst auf den Dichter gekommen, einiges Gewicht legen, — nicht etwa, als habe der Dichter diese Namen in und mit dem Stoffe des Gedichtes als Teile desselben empfangen, sondern vielmehr als den frei hinzu- geschaffenen Ausdruck des, dazumal noch frisch fortlebenden, wenn gleich schon teilweise praktisch erloschenen Bildes uralter germani- scher Jagdlust und Jagdbeute. Die von Pusch vorgebrachten Gründe gegen das Vorkommen des Ur in historischer Zeit hat K. E. v. Bär (Bullet. se. de V’Acad. de St. Petersb. 1. ser. T. 14 n.8 und Wiegmann’s Archiv 1839, Bd. 1 S. 62 — nach Brandt) zu widerlegen gesucht, worauf Pusch unter dem Titel „Neue Beiträge zur Erläuterung der Streitfrage über den Tur und Zubr“ (in Wiegmann’s Archiv 1840, Bd. I. S. 47 — nach Brandt) neue Thatsachen für seine Meinung vorgebracht hat. Die Streitfrage — die hier weiter zu verfolgen zu viel Raum beanspruchen würde — fand einen gewissen Abschluss durch Joh. Friedr. Brandt, der in seinen „Zoogeogr. und paläont. Beiträgen“, St. Petersburg 1867, in der zweiten Abhandlung derselben 8.101: „die geographische Ver- breitung des Zubr oder bison, des Auerochsen der Neueren (Dos bison s. bonasus)“, und in der dritten Abhandlung 8. 153: die geographische Verbreitung des Ur oder wahren Auerochsen (Dos primigenius s. Bos taurus sylvestris)‘ sehr gründlich behandelt hat. Nachdem Brandt sämtliche bis zum Jahre 1867 bekannt gewordenen Fundorte des fos- silen Ur angeführt und die Literatur über dieselben angegeben hat, behandelt er in dem zweiten Kapitel S. 167 dieser Abhandlung die „Verbreitung”des Urstiers in der historischen Zeit“. Nach einer um- fassenden, vorwiegend geschichtlichen Beweisführung und nach Be- rücksichtigung aller Einwände von Pusch, kommt B. Seite 194 zu dem Ergebnis: „dass der Ur (Bos Urus s. primigenius) noch in histo- rischen Zeiten in Europa, namentlich in Deutschland, mit Einschluss Preußens und Böhmens, ferner in der Schweiz, England, Frankreich und Polen, vermutlich aber auch in Russland, Skandinavien und Grie- chenland lebte, in Polen selbst noch im 16. Jahrhundert sich fand, ja sogar in einem Parke Britanniens (dem Chillinghampark), wie es allen Anschein hat, noch jetzt direkte, wenn auch durch Hegung (ja viel- leicht Inzucht), vermutlich veränderte Nachkommen aufzuweisen ha- ben dürfte. — Für eine solche Annahme (des Vorkommens in histori- scher Zeit) spricht auch die Thatsache, dass man Knochen desselben mit Resten noch lebender, mit ihm zu derselben Fauna gehöriger Tiere gefunden hat. Die Skeletteile desselben lagen zuweilen in solchen 4. Die Rinder des Diluviums und der Pfahlbauten. 93 Torfmoorschichten, deren mutmaßliche Ablagerung — in die histori- sche Zeit zu versetzen sein dürfte.“ Ich gestehe, dass die Gründe, welche Pusch für seine Ansicht anführt — insbesondere die Unhaltbarkeit der Beschreibung und Ab- bildung des Ur von Freiherın von Herberstain — mir gewichtiger zu sein scheinen als die seiner Gegner, und dass ich nicht überzeugt bin, dass der Ur in historischer Zeit gelebt habe; er konnte daher auch nicht durch Zähmung die Stammform geworden sein irgend einer bekannten und noch lebenden Rasse des Hausrindes. Da die größeren Hausrinder der Gegenwart wenig mehr als die halbe Größe des Ske- lets von Dos primigenius erreichen, so müsste dieser sich durch die Kultur des Menschen verkleinert haben, ganz im Gegensatze zu allen übrigen Tieren, welche im Hausstande des Menschen größer ge- worden sind, als sie im wilden oder wenig kultivierten Zustande wa- ren. Es ist aber wohl auch nieht anzunehmen, dass der Mensch in vorhistorischer Zeit einen so mächtigen Wildochsen wie Bos primigenius gezähmt und als Haustier gehalten habe, zumal ihm ja — wie die Pfahlbaufunde zeigen — kleinere Formen von Hausrindern zu gebote standen. Die wirthschaftlichen Bedingungen: eine so gewaltige Na- turkraft wie den Urochsen in seinem Dienste zu verwenden — waren in der Periode des vorhistorischen Menschen gewiss nieht vorhanden. Aus dem häufigen Vorkommen von Pfahlbauknochenresten des Ur- ochsen, neben denen kleinerer Hausrinder, dürfen wir nur schließen, dass jener als Jagdtier erlegt worden ist. kütimeyer, der („Unters. der Tierreste a. d. Pfahlbauten der Schweiz“, S. 39) die berühmte Stelle bei Cäsar „mit Bestimmtheit nur auf den Ur“ bezieht und glaubt, dass Herberstain dieses Tier lebend gesehen habe, spricht sich über die Beziehung desselben zu den Haus- rindern des Pfahlbaues („Fauna der Pfahlbauten der Schweiz* S. 71) wie folgt aus: „aus der Gesellschaft aller der großen Pachydermen, die heute auf das tropische Afrika und Asien beschränkt sind, sehen wir den Urochs ohne alle Brücke und ohne Sprung in eine durchaus nicht kulturlose menschliche Gesellschaft treten, die auf ihn Jagd macht, allein gleichzeitig direkte oder Mischungsabkömm- linge dieses Zeitgenossen des Nashorns und Flusspferds im Stalle pflegt und melkt.“ Auchin seinem „Versuch einer natürlichen Ge- schiehte des Rindes“ 2. Abt. S. 127 sagt R. von Bos primigenius: „bis Jetzt der einzige fossile Vertreter dieser Gruppe in Europa, allein be- kanntlich einer weit jüngern Periode angehörig (als Bos namadieus), da er nicht nur als wildes Tier bis spät in die menschliche Geschichte, Ja vielleicht bis in die Gegenwart hinabreicht, sondern auch nament- lich mit seinen zahmen Nachkömmlingen in mehreren Rassen den größten Teil Europas und seiner Kolonien bevölkert hat.“ Im Anschlusse daran wiederholt er den schon in der „Fauna der Pfahl- bauten“ ausgesprochenen Satz: „Finden wir doch in manchen unserer 94 Wilekens, Paläontologie der Haustiere. Pfahlbauten die diluvialen Bos primigenius und trochocerus in einer Periode, wo Lein geflochten wird, als Haustier an die Krippe ge- bunden“. Und in seiner Abhandlung „Ueber Art und Rasse des zah- men europäischen Rindes“ im Archiv f. Anthropol. 1866 S.12 erklärt Rütimeyer bei der Besprechung der Primigeniusrasse des Hausrin- des: „Wie früher erwähnt worden ist und wie der Name dies aus- drücken soll, schließt sieh diese Rasse in anatomischer Beziehung so eng an die Form des diluvialen, allein noeh im Steinalter vertretenen, ja bis ins Mittelalter hinabreichenden wilden Urs, dass ich sie unbe- dingt als die gezähmte Form desselben hinstelle, so sicher, dass die zahlreichen Beschreibungen der fossilen Form auch die zahme charak- terisieren können.“ Ich habe die Ansicht Rütimeyer’s von der Abstammung der Primigeniusrasse des Hausrindes vom wilden Ur besonders hervorge- hoben, weil er der angesehenste Forscher ist auf dem Gebiete der Naturgeschiehte des Rindes. Aber Rütimeyer steht mit seiner An- sicht ja nicht allen. Die gleiche Anschauung von Cuvier habe ich bereits angeführt. Auch Nilsson (a. a. O. Seite 268) hält es für mehr als wahrscheinlich, dass die Rasse des großen, langhornigen Viehs vom wilden Ur abstammt. In seiner „History of British fossil Mammals“ Seite 500 gibt Owen an, dass Bell („British Quadrupeds“ p- 414) zu glauben geneigt sei, „that our domestie cattle are the de- generate descendants of the great Urus.“ Aber Owen fügt hinzu: „But it seems to me more probable that the herds of the newly con- quered regions would be derived from the already domesticated eattle of the Roman colonists, of those „beves nostri“, for example, by com- parison with which Caesar endeavoured to convey to his countrymen an idea of the stupendous and formidable Uri of the Hereynians for- ests.“ ©. betont, dass die Zähmung dieses Wildochsen ein schwieri- geres und weniger sicheres Verfahren sei zur Befriedigung der Be- dürfnisse der Landwirte, als die Einführung bereits domestizierter Tiere, und er verweist auf ähnliche Fälle neuerer Ansiedlungen. Die Hausrinder der Anglo-Amerikaner stammen nicht ab von den gezähm- ten Nachkommen des eingebornen Wildochsen Nordamerikas; im Ge- genteil, der Bison ist fast verschwunden, bevor die landwirtschaftlichen Ansiedler vorrücken; auch der Ur ist den Fortschritten der Kultur in Europa gewichen. „With regard to the great Urus“ — schließt O. diese Betrachtung — „I believe that this progress has caused its utter extirpation, and that our knowledge of it is now limited to de- duetions from its fossil or semifossil remains.“ Ich führe noch an zwei Sätze aus dem „Extrait des bulletins du Congres international d’Archeologie prehistorique A Copenhague“ en 1869, p. 161. Zu Ehren des Kongresses war im zoologischen Museum der Universität zu Kopenhagen eine Ausstellung veranstaltet von Tier- knochen aus Kjökkenmöddingern und Torfmooren. Zu dieser Ausstel- Leche, Morphologische Bedeutung des Pfannenkn ochens. 9 lung gehörten zwei Skelette und eine ganze Reihe von Schädeln des Bos primigenius. Der Bericht sagt über diese Schädel: „ces cränes qui sont plus ou moins bien conserves, demontrent des differences in- dividuelles assez notables et interessantes, car les rapports entre Purus et certaines races du boeuf domestique restent toujours une question des plus probl&matiques;“ und weiter 8. 163: „I existe non plus des transitions pour les boeufs, dont on avait place a cöte de P’Aurochs (Bos primigenius) toute une serie de ceränes, datant des plus anciens temps eivilises du pays, et appartenant aux deux varietes du boeuf, au Bos frontosus Nilss. et au Bos longıfrons Owen.“ (Schluss folgt.) W. Leche, Das Vorkommen und die morphologische Bedeu- tung des Pfannenknochens (Os acetabuli). Internat. Monatsschrift f. Anat. und Histol. 1884, Band I, Heft 6, S. 363— 383, 1 Taf. Verf. hat die in neuerer Zeit durch Gegenbaur und Krause wieder an- geregte und geförderte Frage nach dem Vorkommen und der Bedeutung eines vierten Beckenknochens (Os acetabuli) einer umfassenden Bearbeitung unter- zogen. Er findet den Pfannenknochen bei Repräsentanten fast aller Säugetier- gruppen, nur für die Monotremen und die Fledermäuse fehlt noch zur Zeit dieser Nachweis. Dieser vierte Abschnitt verknöchert viel später als die be- kannten drei anderen Beekenelemente Neben diesen zuletzt genannten Ossi- fikationen besteht daher unter Umständen noch lange bei jugendlichen Indivi- duen ein verkalktes Knorpelstück, und bei den Nagern verharrt dasselbe zeit- lebens in diesem Zustand geweblicher Differenzierung. Die Lage des Os ace- tabuli in der Pfannenregion ist insofern eine konstante, als es stets oralwärts von der Ineisura acetabuli sich findet. Dagegen wechselt der Grad seiner Ausbildung beträchtlich So kommt es. dass dasselbe bald nur einen der drei bekannten Abschnitte des Hüftbeins (das Os pubis) von der Pfanne abdrängt, bald deren zwei (Os pubis und Os ilium) davon ausschließt. Auch bezüglich seiner Verschmelzung mit den anderen Elementen des Os coxae tritt eine große Mannigfaltigkeit des Befundes zutage. Es kann nämlich der Pfannen- knochen sowohl dem Os ilium, als dem Os ischii und — allerdings am selten- sten — dem Os pubis sich anschließen. „Verschmilzt es mit dem letztern Knochen, so entsteht jene Bildung der Hüftpfanne, welche bisher als eine di- rekte Teilnahme des Schambeins an der Pfanne aufgefasst worden ist.“ Die- ses Os acetabuli als eine Epiphyse anzusehen, wie Kölliker vorschlägt, geht deshalb nicht an, weil dann ein und dasselbe Gebilde vermöge seiner verschie- denartigen Verschmelzung bald für das Darmbein, bald für das Scham- oder Sitzbein die Rolle einer Epiphyse spielen müsste. Es kommt demselben viel- mehr die gleiche Selbständigkeit zu, wie den längst bekannten übrigen Stücken. Zur Stütze dieses Satzes dient der Nachweis eines homologen Gebildes_bei niederen Wirbeltieren (Krokodiliern und sehr wahrscheinlich auch Amphibien). B. Solger (Halle a. S.). 96 Bardeleben, Anleitung zum Präparieren auf dem Seziersaale. K. Bardeleben, Anleitung zum Präpariren auf dem Seziersaale. Jena. Gustav Fischer. Das Buch, dessen II. Auflage vorliegt, soll keineswegs den Gebrauch eines anatomischen Lehrbuches bei den Sezierübungen ersetzen, sondern es soll dem Sekanten den Weg weisen, wie derselbe auf die einfachste und rationellste Art die einzelnen Körperbestandteile frei zu legen hat. Verf. bespricht die Methode der anzulegenden Hautschnitte, zeigt in welcher Reihenfolge die ein- zelnen Gebilde darzustellen und von einander frei zu machen sind, wobei allerdings einzelne Methoden — ich greife hier z. B. die Methode der Ab- lösung der breiten Bauchmuskeln heraus — sich nicht als besonders praktisch und konstruktiv erweisen möchten Der neuen Auflage sind einige Abbildun- gen beigegeben, die aber zum Teil an einem etwas bedenklichen Schematismus leiden. So z. B scheint mir die Durchschnittsfigur des männlichen Beckens doch zu schematisch gehalten zu sein, zudem entspricht die Darstellung der männlichen Harnröhre auf diese Figur durchaus nicht den anatomischen Ver- hältnissen F. Hermann (Erlangen). Der vierte Kongress für innere Medizin findet vom 8 bis 11. April 1885 zu Wiesbaden statt. Folgende Themata sollen zur Verhandlung kommen: Am ersten Sitzungstage, Mittwoch den 8. April: Ueber die Behandlung der Fettleibigkeit (Korpulenz); Referent: Herr Ebstein (Göttin- gen); Korreferent: Herr Henneberg (Göttingen). Am zweiten Sitzungstage, Donnerstag den 9 April: Ueber Bronchialasthma; Referenten: Herr Cursch- mann (Hamburg) und Herr Riegel (Gießen) Am dritten Sitzungstage, Freitag den 10. April: Ueber Antipyrese; Referenten: Herr Filehne (Er- langen) und Herr Liebermeister (Tübingen). Folgende Vorträge sind bereits angemeldet: Herr Liebreich (Berlin): Ueber Schlafmittel. Herr Binz (Bonn): Ueber neuere Arzneimittel. Herr Hack (Freiburg): Ueber chirurgische Be- handlung asthmatischer Zustände. Herr Edlefsen (Kiel): Zur Statistik und Aetiologie des akuten Gelenkrheumatismus. Herr Rossbach (Jena): Ueber die Bewegungen des Magens, des Pylorus und des Duodenums. Herr Flei- scher (Erlangen): Ueber Urämie. In Aussicht gestellt haben außerdem Vor- träge: Herr Heidenhain (Breslau): Ueber pseudomotorische Nervenwirkungen. Herr Knoll (Prag): Thema unbestimmt. Herr Edlefsen (Kiel): Ueber das Verhalten der chlorsauren Salze im Organismus. Herr Schultze (Heidelberg): Thema unbestimmt. Außerdem sind vorgesehen eine Ausstellung von Fleisch- konserven, Peptonen etc. durch Herın Kochs (Bonn) und verschiedene De- monstrationen. Die Herren Mitarbeiter, welche Sonderabzüge zu erhalten wün- schen, werden gebeten, die Zahl derselben auf den Manuskripten an- zugeben. Einsendungen für das „Biologische Centralblatt“ bittet man an die „Redaktion, Erlangen, physiologisches Institut“ zu richten. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Centralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. V. Band. 15. April 1885. Nr. 4. Inhalt: Fiseh, Ueber die systematische Stellung der Bakterien. — Lampert, Ueber Variationsfähigkeit der Seewalzen nebst Bemerkungen über das System. — Wilekens, Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haustiere. 4. Die Rinder des Diluviums und der Pfahlbauten (Schluss). — Prinz Ludwig Ferdinand, Zur Anatomie der Zunge. — Lustig, Die Dege- neration des Epithels der Riechschleimhaut des Kaninchens nach Zerstörung der Riechlappen desselben. — Die Luftbehälter der Vögel, besonders von Üa- lao Rhinoceros. Ueber die systematische Stellung der Bakterien. Literatur: De Bary, Morphologie und Biologie der Pilze, Mycetozoen und Bakterien 1884. — Bütschli, Die Mastigophoren. In Bronn’s Klassen und Ordnungen des Tierreichs. 2. Aufl. Bd I. Lief. 20—?27. — Zopf, Die Spalt- pilze. 3. Aufl. 1885. So zahlreich die Anzahl der Forschungen ist, die in neuester Zeit die morphologischen Verhältnisse der Bakterien aufzuklären unter- nahmen, und so wertvoll auch die Einzelresultate (ich sehe hier ganz ab von der praktischen Seite der Frage) sein mögen, so liegt doch immer nur eine kleine Reihe von Arbeiten vor, welche einen syste- matischen Anschluss dieser Wesen an die übrigen Organismenreihen versuchen. Nach den grundlegenden Arbeiten von Zopf hat in neuester Zeit de Bary in seinem berühmten oben angeführten Buche eine meisterhafte Zusammenfassung geliefert und unter Berücksichti- gung der Anschauungen von Bütschli auch diesen Punkt in geist- reicher, wenn auch reservierter Weise klarzustellen versucht. Im Folgenden soll versucht werden, an der Hand der Arbeiten dieser For- scher unser Wissen über die systematische Stellung der Bakterien darzulegen. Es ist fast zur Gewohnheit geworden, die Bakterien zu den Pil- zen zu zählen, wie das ja auch der Name „Spaltpilze“ involviert; und in der That lassen sich für diese Anschauung nach den alther- gebrachten Begriffen einige Eigentümlichkeiten deuten. Namentlich 7 98 Fisch, Systematische Stellung der Bakterien. ist es der Mangel an Chlorophyll, die Unfähigkeit Kohlensäure zu zersetzen unter Aufbau organischer Substanz, die für jene Auffassung spricht, dann aber auch eigentümliche Zersetzungsvorgänge, die in dem parasitisch oder saprophytisch bewohnten Substrat hervorgerufen werden (Gärung, Fäulnis ete.), und die mit den von eigentlichen Pil- zen herrührenden in eine gemeinsame Gruppe von Erscheinungen ge- hören. Es sind das aber alles physiologische oder, wenn man will, biologische Momente, während doch eine systematische Definition — und um eine solche handelt es sich hier lediglich — sich einzig auf morphologische und Eigentümlichkeiten des Entwicklungsgangs zu stützen hat. — Während man lange Zeit geneigt war, die einzelnen Gruppen der Pilze als chlorophylllose Formen morphologisch ähnlichen, chlorophyllhaltigen Thallophyten (den Algen) anzuschließen, hat sich neuerdings die Einsicht Bahn gebrochen, namentlich durch die For- schungen de Bary’s, dass wir es bei den Pilzen mit einem durch enge Verwandtschaftsbeziehungen untereinander verknüpften Formen- kreis zu thun haben, und dass jene morphologischen Analogien rein sekundärer, um nicht zu sagen zufälliger Natur seien. Ein kurzer Ueberblick über die morphologischen Eigentümlichkeiten derjenigen Thallophyten, die wir in diesem Sinne heute als Pilze zusammenfassen, einerseits, derjenigen der Bakterien anderseits wird am besten ge- eignet sein, die gegenseitigen Beziehungen hervortreten zu lassen. Es sei noch bemerkt, dass hier nur ganz flüchtige Umrisse gezeichnet werden können. Das Vegetationsorgan der eigentlichen Pilze, das sogenannte My- celium, stellt im allgemeinen (einige Abweichungen sollen weiter unten kurz berührt werden) ein vielfach verzweigtes und verflochtenes fä- diges System dar, das bald durch Querwände gegliedert, mehrzellig ist, bald der Querwände entbehrt und dann mit Sachs als „nicht zellulär“ zu bezeichnen ist. Letztere Form des Myceliums tritt uns namentlich entgegen bei den niederen Pilzen (Peronosporeen, Mucori- neen etc.), die erstere bei den höher organisierten Formen. Die erstere ist es sodann, die durch mannigfaltige Komplikationen (Verflechtung, Pseudoparenchym-, Strangbildung ete.) zur Formenverschiedenheit der Pilze beiträgt. Ueberall lassen sich in den Myecelfäden die gewöhn- lichen Zellenbestandteile leicht nachweisen, meistens sind die einzelnen Zellen mehrkernig. — Von diesem Mycelium nun, das übrigens seiner- seits auch schon häufig durch einfachere oder komplizirtere Zerteilungs- vorgänge eine „Vermehrung“ einleiten kann, werden die Propagations- organe erzeugt. Die ungeschlechtlich gebildeten schließen sich in vielfachen Uebergängen den einfachen Zerteilungsvorgängen des Ve- getationsorgans an. In den einfachsten Fällen werden einzelne, aber beliebige Zellen des letztern als Gonidien abgetrennt, um als Anfang eines neuen Entwicklungszyklus zu dienen; dann sehen wir die Par- tien des Myceliums, welche diese Gonidien erzeugen, als besondere Fisch, Systematische Stellung der Bakterien. 99 Organe sich heranbilden, als Gonidienträger, die in ihrer unüberseh- baren Formenmannigfaltigkeit die größte Beisteuer zum Kontingent der Schimmelformen liefern. In ihrer höchsten Entwicklung begegnen wir solehen Gonidienträgern in den Fruchtkörpern unserer Hutpilze. Aber nicht bloß durch Abgliederung einzelner Zellen wird die ungeschlecht- liche Vermehrung besorgt; bei den Mucorineen und anderen sehen wir den Inhalt besonderer Zellen (Sporangien) in viele Teilstücke zer- fallen, die dann als „Sporen“ ebenfalls einen neuen Entwicklungsgang einleiten; man hat lange diese beiden Formen der Gonidienbildung, die endogene und exogene, als etwas gegensätzliches einander gegen- übergestellt, erst die neuere Forschung hat auch hier das verbindende Element gefunden. Mit dieser ungeschlechtlichen Vermehrung geht nun Hand in Hand die geschlechtliche, nicht in regelmäßigem Generationswechsel, son- dern wie es scheint wohl überall in unregelmäßigen Zwischenräumen mit ihr abwechselnd oder neben ihr hergehend. Sie besteht in den einfachsten Fällen in der Kopulation zweier besonderer, aber gleich- artiger Sexualzellen und Erzeugung einer Spore, so bei den Muco- rineen. Bei höheren Formen sind die Sexualzellen verschieden aus- gestaltet und in eine weibliche und eine männliche differenziert. Immer aber besteht der Sexualakt noch in der Vereinigung der plasmatischen Inhalte beider Zellen, wobei nach neueren Forschungen das Wesen der Erscheinung in der Vereinigung der Zellkerne beruht, und der direkten Bildung eines oder mehrerer Sporen. Bei den Ascomyceten ist der Erfolg des Befruchtungsvorganges insofern von dem angedeu- teten Verhalten abweichend, als die weibliche Zelle zur Bildung eines besondern Fadensystems veranlasst wird, dessen Endauszweigungen (Asei) erst in ihrem Innern die Sporen in verschiedener, meist in 8-Zahl erzeugen. — Wenige sehr niedrig organisierte Pilze weichen von dem geschilderten Entwicklungsgange insofern ab, als das Vegetations- organ sehr reduziert erscheint oder auch in Form einer winzigen amöboiden Plasmamasse auftritt. Die Propagationsvorgänge tragen indess stets prägnant den angedeuteten Charakter. Die Vergleichung des Verhaltens der verschiedenen Pilzgruppen in den angedeuteten Punkten weist mit unabweisbarer Konsequenz auf einen phylogenetischen Zusammenhang hin; es lässt sich mit ziemlicher Sicherheit der Gang einer natürlichen Reihe andeuten, die mit den niedrigsten Formen beginnt und wahrscheinlich in unseren Hutpilzen abschließt. Dabei drängt sich dann noch eine andere That- sache der Wahrnehmung auf, die nämlich, dass die geschlechtliche Funktion beim Fortschreiten der Reihe immer mehr in Wegfall kommt; an ein bloßes Unterbleiben des Sexualaktes schließt sich ein Rudi- mentärwerden der Sexualorgane, bis diese endlich ganz schwinden, so dass bei den Hutpilzen von Sexualität keine Spur mehr wahrzu- nehmen ist. Diese regressive Entwicklung leitet dann anderseits 7 % 100 Fisch, Systematische Stellung der Bakterien. wieder eine um so ausgiebigere Ausbildung der vegetativen Teile und ungeschlechtlichen Vermehrungsorgane ein, wie wir sie bei der letzt- erwähnten Pilzgruppe finden. Diese wenigen Züge mögen genügen, um den Begriff „Pilze“ der heutigen Wissenschaft zu definieren. Dass auch hier bisher nur ein vorläufiges Schema vorliegt, an dessen Festigung und Ausbau im einzelnen noch unendlich viel fehlt, braucht nicht besonders hervor- gehoben zu werden. Vergleichen wir nun damit ebenso kurz das Ver- halten der Bakterien. Ihr Vegetationsorgan tritt uns in der Form von einzelnen Zellen oder Zellfäden, seltener kompakten Zellkomplexen entgegen. Aber abgesehen von den enormen Größendifferenzen treten noch manche und wichtige Unterschiede gegenüber dem Pilzmycel auf. Die Bak- terienzellen, die je nach ihren Dimensionen, Gestalt, Bewegung ete. als Kokken, Bazillen, Spirillen, Vibrionen ete. bezeichnet werden, sind von einer dünnen Membran, über deren Natur man noch nicht: im klaren ist, umgeben, deren äußerste Lamellen meist in eine dünne Gallerthülle aufgequollen sind. Der Zellinhalt stellt ein glänzendes Plasma dar, von einem Zellkern hat man bisher, vielleicht bloß wegen der geringen Größe, nichts nachweisen können. Manchen dieser Zellen kommt die Fähigkeit zu, einzeln oder zu kurzen Fäden verbunden, in flüssigen Medien autonom sich zu bewegen; als Bewegungsorgane fungieren feine Zilien. Die Vermehrung der Bakterien besteht in einem einfachen Zerfallen der einzelnen Zellen der Quere nach. Jedes Teil- stück wächst dann wieder zur normalen Größe heran, um dann sofort wieder zu zerfallen. Einzelnen Formen kommt sodann noch die Fä- higkeit zu in eigentümlicher Weise Sporen zu erzeugen, indem ein Teil des Zellinhalts sich zusammenballt, mit einer festen Membran sich umgibt, um später nach längerer oder kürzerer Ruhe wieder zur nor- malen Zelle auszukeimen. Namentlich durch Zopf’s Untersuchungen ist sodann für viele Formen noch eine Komplikation des Entwick- lungsganges nachgewiesen, die sich kurz so zusammenfassen lässt, dass die Bakterien in verschiedenen Vegetationsperioden morphologisch verschieden erscheinen, pleomorph sind, also bald in Fadenform, bald in Stäbchen, bald als Kokken oder Zooglöen auftreten, alles jedoch in einem regelmäßigen Gange, der wesentlich von den Ernährungs- verhältnissen abhängt. Die höchst entwickelten Bakterien treten als verzweigte Fäden auf und zeigen auch in Eigentümlichkeiten der Zellteilung höhere Differenzierung. Wie diese Andeutungen ergeben, liegen die Berührungspunkte zwischen den Bakterien und den Pilzen, abgesehen von den eingangs berührten physiologischen Gleichheiten, höchstens darin, dass beide ein- oder mehrzellige, niedrig organisierte Wesen sind. Keine Stufe des Entwicklungsganges bietet bei beiden irgend welche Beziehung, die zu einer vergleichenden Betrachtung dienen könnte. Nur mit Fisch, Systematische Stellung der Bakterien. 101 zwei Annahmen wäre noch ein Zusammenhang der Bakterien mit den Pilzen festzuhalten, man könnte nämlich noch die ersteren entweder als phylogenetische Vorläufer oder als reduzierte Abkömmlinge der letzteren betrachten wollen. Beide Annahmen erweisen sich bei näherer Betrachtung als unhaltbar. Gegen die erstere spricht vor allem der Umstand, dass die Gesamtheit unserer Kenntnisse darauf hindrängt, den Anschluss der Pilze bei den niederen Algen zu suchen, Ja einige Thatsachen scheinen schon jetzt einen solchen Anschluss als thatsächlich vorhanden anzuzeigen. Ohne hier auf Einzelheiten einzu- gehen, sei daneben nur angedeutet, dass selbst, wenn jene Thatsachen eine andere Erklärung erfahren sollten, was nicht unmöglich ist, ein so tiefes Herniedersteigen in der Organismenreihe, wie es der Anschluss an die Bakterien erfordern würde, eine große Menge von handgreiflich gegebenen Beziehungen unerklärt lassen würde, die zwischen den niedrigsten uns bekannten Pilzen und gewissen Algen bestehen. — Dagegen, dass die Bakterien reduzierte Nachkommen irgend einer Pilzgruppe seien, sprechen andere Erfahrungen. Es ist ebenfalls Zopf zu verdanken, die engen Beziehungen nachgewiesen zu haben, die zwischen den Bakterien, namentlich deren zooglöaartigen Zu- ständen und gewissen grünen Organismen bestehen, die man als Spaltalgen oder Cyanophyceen bezeichnet. Diese Spaltalgen, die als Nostoc, Oscillaria ete. bekannt sind, bilden mit den „Spaltpilzen“ zu- sammen eine einheitliche und natürliche Gruppe der Spaltpflanzen oder Schizophyten, eine Gruppe, deren Natürlichkeit auch heute noch von jedem kompetenten Beurteiler zugegeben werden muss, trotz Hueppe’s neuester gegenteiliger Bemerkung '). Inwiefern nun aber diese Zusammengehörigkeit der beiden Organismenreihen einen An- schluss an irgend eine Pilzgruppe abweist, braucht wohl nicht näher auseinandergesetzt zu werden. Die eigentümliche Form der Sporen- bildung bei den Bakterien würde dazu noch jeden derartigen Versuch in besonderer Weise erschweren. Es bleibt nach diesen Auseinan- dersetzungen nichts übrig, als den Gedanken von der Zugehörigkeit der Bakterien zu den Pilzen fahren zu lassen und anderswo nach Beziehungen zu suchen. Auf solche Beziehungen haben nun Bütschli und de Bary hin- gewiesen. Es ist die große und wichtige Gruppe der Flagellaten, die deren zu bieten scheint. Zwar sind grade hier die Untersu- chungen noch viel zu vereinzelt und lückenhaft, um sicher schließen lassen zu können, indess können Andeutungen Anlass zu genauerem Studium werden. De Bary drückt sich über diese Beziehungen fol- gendermaßen aus: „Die arthrosporen Formen, wie Beggiatoa, zeigen in ihren wechselnden teils ruhenden, teils zilientragend schwärmen- den Generationen zu den einfacheren Formen dieser mannigfaltigeu I) Methoden der Bakterienforschung. 102 Lampert, Variationsfähigkeit der Seewalzen. Gruppe unverkennbare Anklänge. Die charakteristische Sporenbil- dung der endosporen findet, soweit nach dem heutigen Stand der Kenntnisse ausgesagt werden kann, überhaupt ihr einziges Analo- gon in der Sporen- oder nach dem hier üblichen Ausdrucke Üysten- bildung der als Spumella vulgaris Cienk. und Chromulina beschrie- benen einfachen Flagellaten, insofern hier die Spore ebenfalls einzeln im Innern des Protoplasmakörpers der Zelle, aus einem Teile dieses entsteht — eine Erscheinung, welche im Gebiete der niederen Thal- lophyten sonst nirgends vorkommt. — In dieser zunächst nur ana- logen Erscheinung auch die Andeutung einer Homologie wenigstens zu vermuten, dagegen ist in den bekannten Erscheinungen kein Grund enthalten. Freilich muss bei solcher Betrachtung wohl hervorgehoben werden, dass das Gebiet der als Flagellaten zusammengefassten Or- ganismen grade mit Rücksicht auf den Entwicklungsgang der Spezies noch zu ungleichmäßig bekannt ist, um klare und sichere An- knüpfungen zu gestatten. Ueber die gegebenen Andeutungen soll daher hier auch nicht hinausgegangen werden.“ Neueste Unter- suchungen haben nun jene Cystenbildung bei Spumella, Chromulina und noch anderen Formen völlig bestätigt, auch in anderer Beziehung scheinen die Beziehungen zu den Flagellaten heute schon gesicherter zu sein, wie man denn überhaupt jetzt anfängt die ungeheure Wich- tigkeit dieser Organismengruppe für die Erkenntnis des Zusammen- hanges der Organismen überhaupt richtig zu würdigen. C. Fisch (Erlangen). Ueber Variationsfähigkeit der Seewalzen nebst Bemerkungen über das System. Von Dr. Kurt Lampert, Assistent am k. Naturalienkabinet in Stuttgart. Die Bearbeitung eines sehr reichen Materials an Holothurien hat mir die Gelegenheit verschafft, einen Einbliek in die Variabilität ein- zelner Organe bei diesen Tieren zu gewinnen und diese Resultate für die Systematik zu verwerten. Zu gebote standen mir die Holothurien des Stuttgarter Natura- lienkabinets, ferner diejenigen der Privatsammlung des Herrn Prof. Dr. Klunzinger, endlich die des Erlanger, Dresdener und Berliner Museums; letztere drei Kollektionen wurden mir durch meinen ver- ehrten Freund und Lehrer, Herrn Prof. Dr. Selenka in Erlangen (woselbst ich meine Untersuchung in Angriff nahm), zugewendet. Die größere Arbeit wird im Laufe des Sommers als ein Teil von Semper’s „Reisen im Archipel der Philippinen“ unter dem Titel „Die Seewalzen (Holothurioidea). Eine systematische Monographie mit Be- stimmungstabellen von Dr. Kurt Lampert, Assistent am k. Natura- Lampert, Variationsfähigkeit der Seewalzen. 103 lienkabinet in Stuttgart“ bei C. W. Kreidel in Wiesbaden erscheinen. An dieser Stelle mögen mir nur einige allgemeine, biologisches In- teresse beanspruchende Bemerkungen gestattet sein. Die Holothurien gehören zu denjenigen Tieren, deren genauere Kenntnis und streng wissenschaftliche Beschreibung der neueren Zeit vorbehalten war; erst mit den bekannten Arbeiten Selenka’s, Sempers und später Ludwig’s beginnt eine umfassendere Kenntnis dieser Echinodermenklasse, die seitdem durch zahlreiche, in Zeit- schriften verstreute Abhandlungen der verschiedensten Autoren, unter denen besonders v. Marenzeller und Bell hervorzuheben sind, fortwährend gefördert wird. Eine Schwierigkeit erwächst der scharfen Umgrenzung einer Art in der großen Neigung zum Variieren, die in der ganzen Klasse herrscht; es ist naturgemäß, dass hierdurch der subjektiven Auffassung, wo die Varietät aufzuhören und der Begriff der Art zu beginnen habe, weiter Spielraum gelassen wird und manche, auf ein einziges Exemplar ge- gründete Arten werden sich vielleicht in der Folge bloß als Varie- täten einer andern herausstellen; allein es lässt sich ein solches über- flüssiges Beschreiben schwer vermeiden. Denn so lange Mittelformen fehlen, ist es immer noch besser eine Art doppelt zu beschreiben, als zwei am Ende doch verschiedene Arten zu vereinen. Im Folgenden seien kurz die verschiedenen Variationserscheinungen bei den Holo- thurien betrachtet. Selbstverständlich ist, dass bei den Arten, denen eine geringe Kalkablagerung eine ziemliche Beweglichkeit der Haut gestattet, ver- schiedene Kontraktionszustände ganz verschiedenes Aussehen veran- lassen können; so können z. B. bei ziekzackförmiger Anordnung der Füßchen infolge starker Kontraktion die Füßchenreihen doppelzeilig erscheinen. Die Verteilung der Füßchen unterliegt aber auch thatsächlichen Schwankungen. Arten, bei denen die Füßchen über den ganzen Körper verstreut sind, zeigen oft in der Jugend eine sehr deutliche Reihenstellung längs der Ambulakren, während umgekehrt bei Arten, denen eine Anordnung der Füßchen in Reihen zukommt, sich diese im Alter verwischen kann. -Für den ersten Fall liefern Vertreter der Gattungen Thyone und Thyonidium, für den zweiten Stichopus-Arten die Beispiele. Andere Holothurien zeigen wieder in allen Altersstufen das gleiche Verhältnis, wie z. B. Holothuria Graeffei Semp. die Reihenstellung der Füßchen auch bei sehr großen Exemplaren auffallend scharf zur Schau trägt. Die Tentakel scheinen bloß beim Genus Phyllophorus in Zahl, Stellung und Größe etwas zu schwanken, während bei den anderen Gattungen solche Unterschiede gesstzmäßig sind. Von allen Organen variieren weitaus am meisten die Cuvier’schen Schläuche, die daher syste- matisch von sehr geringer Bedeutung sind; nicht genug, dass die Zahl], in der sie auftreten, völlig inkonstant ist, sie können auch gänzlich 104 Lampert, Variationsfähigkeit der Seewalzen. fehlen, während die übrigen Organisationsverhältnisse, die äußere Er- scheinungsform und der Fundort es nicht gestatten, solche Formen von anderen, die Cuvier’sche Organe besitzen, zu trennen. Die beiden wichtigen Anhänge des Wassergefäßrings, Poli’sche Blase und Stein- kanal, sind meist konstant, wenn sie in der Einzahl auftreten, in sel- tenen Fällen gibt es jedoch auch hiervon Ausnahmen; finden sich bei einer Spezies Poli’sche Blasen und Steinkanäle als Regel in der Mehr- zahl, so ist, wie a priori anzunehmen, das Auftreten dieser Organe an keine bestimmte Zahl gebunden, und hauptsächlich die Poli’schen Blasen zeigen in solchem Falle auch Größenunterschiede. Hie und da kommt es vor, wie ich es an einem neuen Stichopus fand und wie es sonst auch schon von einigen wenigen Spezies in der Literatur bekannt ist, dass eine Poli’sche Blase durch seitliche Ausbuchtungen Tochterblasen bildet. Der größten Konstanz erfreuen sich bei den Holothurien die Kalkablagerungen. Von einem Variieren des Kalkringes innerhalb derselben Spezies ist bis jetzt nichts bekannt geworden, höchstens ist bei zusammengesetzten Kalkringen bei dem einen Exemplar der Zerfall in einzelne Stücke deutlicher als bei dem andern und die Zahl der Stücke ist nicht bei allen Gliedern die gleiche. Ueber einen Wechsel der in die Haut eingelagerten Kalkkörperformen mit zunehmendem Alter liegt bis jetzt bloß eine sichere Beobachtung vor. Baur hat in der zweiten Abhandlung, die er der Naturge- schiehte der Synapta digitata Mont. widmete, den direkten Beweis geliefert, dass diese Art in der frühesten Jugend „Rädchen“ besitzt, an deren Stelle bei weiterem Wachstum die für die ganze Gattung charakteristischen „Anker“ treten. Für eine füßchentragende Holo- thurie macht Semper ein ähnliches Verhältnis wenigstens wahr- scheinlich, indem er 5 kleine Tiere fand, die in allen mit Holothuria erinacea var. pygmea Semp. übereinstimmten und von denen das kleinste zahlreiche „Stühlchen“ besaß, ein größeres derselben völlig entbehrte, während andere die Uebergänge zwischen beiden Extremen bildeten. Dies sind die einzigen bis jetzt bekannt gewordenen beiden Fälle, in denen die Kalkablagerungen je nach dem Alter des Tieres in ganz verschiedenen Typen auftreten. Diese große Konstanz der Kalkkör- per war für mich mitbestimmend, ihnen unter den in den Tabellen zur Anwendung kommenden Bestimmungsmerkmalen einen hervorragen- den Platz einzuräumen; außerdem ermöglichen die Kalkkörper auch bei ganz vertrockneten oder anderweitig verdorbenen Exemplaren immer noch eine zum mindesten annähernde Bestimmung und gestat- ten in nicht seltenen Fällen das sofortige Erkennen einer Art ohne irgendwie sichtbare Verletzung des Tieres. Bei der Aufstellung eines Systems für die Holothurien ging man von verschiedenen Gesichtspunkten aus, indem man teils auf das Vorhandensein oder Fehlen der Lungen, teils auf die als Füßchen be- kannten äußeren Ambulakralanhänge größern Wert legte. Brandt Lampert, Variationsfähigkeit der Seewalzen. 105 stellte in dieser Weise den unter dem Namen Pneumonophora zusam- mengefassten Lungenholothurien die Jungenlosen Formen als die zweite Ordnung der Apneumona gegenüber, und innerhalb dieser Ordnungen ward der Besitz oder das Fehlen von Füßchen zur Errichtung der Unterordnungen Pedata und Apoda verwendet. Selenka und Sem- per schlossen sichin ihren Monographien diesem Systeman. Schmarda unterschied, auf demselben Prinzip fußend, 3 Ordnungen: Apneumona identisch mit der gleichnamigen Brandt’schen Ordnung, Dipneumona gleich PneumonophoraBrdt.undTetrapneumona mit der einzigen Form Rhopalodina lageniformis Gray. Ludwig hat schon nachgewiesen, dass es thatsächlich falsch ist, bloß Rhopalodina zu den Tetrapneu- mona zu stellen, daes auch unter den anderen Lungenholothurien Formen mit mehr als zwei Lungen gibt; so besitzt Haplodactyla molpadioides Semp. deren drei, Psolus complanatus Bell vier. Die Lungen scheinen aber überhaupt nicht eine so wichtige Rolle zu spielen, dass sie in erster Linie beim System berücksichtigt werden müssen; Arten mit rudimen- tären Lungen, wie Eupyrgus scaber Lütken bilden einen Uebergang zwischen Lungenholothurien und lungenlosen Formen, und die durch die Challenger -Expedition bekannt gewordenen, die Ordnung Elasi- poda The&el umfassenden Holothurien besitzen weder Lungen, noch auch die den bisher bekannten lungenlosen Arten ausnahmslos zukom- menden Wimpertrichter; dagegen charakterisieren sie sich durch stark ausgebildete, in Füßchen und Papillen unterscheidbare äußere Ambu- lakralanhänge. Bei dem Umstande nun, dass die Elasipoden in man- chen Punkten ein embryonales Gepräge zeigen, z. B. in der geringen Aus- bildung des Kalkrings, der bloß in einer Familie, Elpidiidae Theel, 5 getrennte Stücke erkennen lässt, während er bei den anderen Fami- lien nur ein spongiöses Netzwerk bildet, sowie in der Lage des Stein- kanals, der bei den Elasipoden nie frei in die Leibeshöhle herabhängt, sondern sogar in den allermeisten Fällen direkt nach außen mündet, ein bei den übrigen Holothurien ausschließlich embryonales Vorkommnis — unter solchen Verhältnissen deutet das Auftreten von Füßchen und Papillen bei dem gleichzeitigen Mangel von Lungen oder Wimper- trichtern auf eine höhere phylogenetische Bedeutung der ersteren hin. Ich schließe mich daher Claus an, wenn er die Klasse der Holo- thurioidea in die Ordnungen der Pedata und Apoda einteilt, wozu nun durch Theel noch die Ordnung der Elasipoda getreten ist. Diese Einteilungsweise ist auch von Carus im Prodromus Faunae Medi- terraneae adoptiert. In der Ordnung Apoda tritt dann wieder die Frage nach dem Vorhandensein oder Fehlen der Lungen zur Bildung der Unterordnungen in ihr Recht. Bei der Errichtung von Familien ist bei den Elasipoden auf die Gestalt und Anordnung der Ambula- kralanhänge sowie die Ausbildung des Kalkringes Rücksicht genom- men; in den beiden schon länger bekannten Ordnungen Pedata und Apoda herrscht hierüber keine Meinungsverschiedenheit. Von allen 106 Lampert, Variationsfähigkeit der Seewalzen. Abteilungen des Systems der Holothurien ist die Familie Dendrochiro- tae Brdt. noch am meisten von einem völlig abgeschlossenen Ausbau entfernt; die weitaus größte Anzahl aller Holothurien, die durch die zahlreichen Expeditionen des letzten Jahrzehnts bekannt geworden sind (die Tiefseeforschungen des „Challenger“ ausgenommen) gehören den Dendrochiroten an; findet sich ja einmal eine aspidochirote Form, so ist sie entweder schon bekannt oder reiht sich ungezwungen den beschriebenen Gattungen ein, während die Dendrochiroten uns nicht selten zur Aufstellung neuer Gattungen zwingen. Im Verlauf meiner Arbeit drängte sich mir immer entschiedener der Gedanke auf, dass die heute giltige Einteilung der Dendrochirotae nicht am besten geeignet ist, die verwandtschaftlichen Verhältnisse der hieher gehörigen Formen zum Ausdruck zu bringen, und kurz vor Abschluss des Manu- skripts kam mir die neueste Arbeit Bell’s in die Hand, aus welcher ich zu meiner großen Freude ersah, dass dieser verdienstvolle For- scher die gleiche Ansicht hegt und deshalb für die Dendrochiroten ein neues System aufstellt, welches ich voll und ganz acceptiere, nachdem auch ich die Ueberzeugung gewonnen hatte, dass die Ten- takel sich besser zur Einteilung eignen, als die Füßchen. Semper unterscheidet je nach der Stellung der Füßehen Gastropoda, Sticho- poda und Sporadipoda. Die AbteilungGastropoda mit der ein- zigen Gattung Psolus ist allerdings durch die Beschränkung der Füßchen auf die Bauchseite scharf von den anderen beiden Gruppen getrennt; zwischen diesen aber lässt sich keine Grenze ziehen. Viele Arten, die zu der Stichopodengattung Cucumaria in ihrem heutigen Umfang gehören, besitzen außer den in den Radien gereihten Füßchen solche auch noch zerstreut in den Interradien, und in der Diagnose der Gattung Thyonidium, die zuden Sporadipoda gestellt wird, heißt es bezüglich der Füßchen: „bald weniger dieht und dann in den Radien gereiht.“ Das kommt auf das Gleiche hinaus. Nun hat sich aber auch noch herausgestellt, dass, wie auch bei den Aspidochiroten, ebenso bei vielen Dendrochiroten die Zahl der Füßchen mit dem Alter zunimmt. Bei Ocnus Kirchbergii Hell. fand ich gleich v. Marenzeller 5 ein- zeilige Füßchenreihen, teils in grader Linie, teils ziekzackförmig stehend; Heller fand bei größeren Exemplaren die Reihen zweizeilig, wie bei Cucumaria. Bei Gattungen, die nicht nur in den Radien Füßchen tragen, ist die Zahl der in den Interradien stehenden Füß- chen völlig vom Alter des Tieres abhängig; so liegen mir von Thyo- nidium parvum Ludw., welches in großen Exemplaren die Füßchen völlig gleichmäßig über den ganzen Körper verteilt besitzt, kleine Exemplare vor, bei denen sich nur spärlich Füßchen in den Interam- bulakren finden. Ein, wie mir scheint, besseres Einteilungsprinzip der Dendrochi- roten lässt sich auf grund der Verschiedenheit der Tentakel gewinnen. Betrachten wir die zu den Dendrochiroten gehörigen Holothurien nach Lampert, Variationsfähigkeit der Seewalzen. 107 Zahl, Größe und Stellung der Tentakel. 10 gleich große Tentakel finden sich bei Pso/us und einem, wahrscheinlich nur kleinem Teil von Cucumaria; bei der Mehrzahl des letztern Genus sind die zwei ven- tralen Tentakel kleiner, und wenn dies bei der Beschreibung nicht immer angegeben ist, so lässt es sich doch daraus schließen, dass die Autoren es extra hervorheben, sobald alle Tentakel gleich groß oder bloß einer derselben kleiner ist; letzteres Verhältnis bildet einen be- achtenswerten Uebergang zwischen den beiden anderen Fällen. Die zwei ventralen Tentakel unterscheiden sieh von den 8 übrigen durch ihre geringere Größe ferner bei den Gattungen Ocnus, Stereoderma, Colochirus und Thyone. Bei Echinoeucumis sind alle Tentakel an Größe ungleich. Von den Formen mit mehr als 10 Tentakel stehen durch die regelmäßige Größenverschiedenheit der Tentakel einander nahe Orcula (10 + 5), Thyonidium (10 + 10) und Pseudocucumis (10 + 10); das letztere Genus bildet wieder einen Uebergang. Wäh- rend bei den bisher angeführten Gattungen alle Tentakel in einem Kreise stehen, rückt bei Pseudocucumis ein Teil der kleineren Ten- takel nach innen zur Bildung eines zweiten innern Kreises; ein gleiches ist von Thyonidium Schmeltzii Ludw. bekannt, welche Art also nach Verteilung der Tentakel zu Pseudocucumis, nach Anordnung der Füßchen zu Thyonidium gehört und so eine Brücke zwischen bei- den Gattungen schlägt. Bei Actinocucumis sind alle Tentakel ungleich groß und unregelmäßig angeordnet; bei Phyllophorus haben sich die größeren Tentakel zur Bildung eines äußern, die kleineren zur Bildung eines innern Kreises vereint, aber bei beiden schwankt noch die Zahl, wenn auch die Tendenz zu 15 + 5 unverkennbar ist; bei Amphieyelus endlich ist, wenn ich so sagen darf, das Bestreben einen genau be- stimmten, zweiten innern Kreis zu bilden erreicht, indem die 10 in- neren kleinen Tentakel paarweise in den Radien stehen. Auf grund dieser Betrachtung halte ich es für gerechtfertigt, die Tentakel zur Bildung von Unterfamilien heranzuziehen und die Dendrochiroten in die beiden Unterfamilien Dekachirotae undPolychirotae zu teilen, Namen, die Bell in Anwendung bringt; unter den Polychiroten kann man dann auch noch durch die Aufstellung der Gruppen Monocyelia und Heterocyclia die nähere Verwandtschaft der Formen mit einem Tentakelkreis und derjenigen, bei welchen die kleineren Tentakel einen zweiten Kreis bilden, zur Anschauung bringen. Innerhalb dieser Gruppen basiert die weitere systematische Einteilung wieder auf der verschiedenartigen Anordnung der Füßchen. Nur zwei Gattungen gibt es unter den Dendrochiroten, bei welchen die äußeren Ambulakralan- hänge in der bei den Aspidochiroten so verbreiteten Differenzierung in „Füßchen“ und „Papillen“ auftreten; weitaus die Mehrzahl der dendrochiroten Holothurien trägt bloß Füßchen; entweder sind diese in regelmäßiger Reihenanordnung auf die Ambulakren beschränkt, oder sie finden sich zerstreut auch auf den Interambulakren vor, bei 108 Lampert, Variationsfähigkeit der Seewalzen. einigen Arten bloß in den Interambulakren des Triviums, bei anderen nur in denen des Biviums, bei den meisten aber in allen fünf Inter- radien. Wie schon oben bemerkt ist die Zahl der den Interradien zukommenden Füßchen völlig inkonstant, und es können sich im Leben eines Individuums alle Uebergänge finden bis zum äußersten Extrem, wo der ganze Körper gleichmäßig mit Füßchen bedeckt erscheint; dagegen scheint es selten vorzukommen, dass bei solchen Arten, bei denen die Beschränkung der Füßchen auf die Ambulakren Regel ist, mit zunehmendem Alter die Füßchen auch auf die Interambulakren übergehen; es sind wenigstens, obwohl grade solche Arten in zahlreichen Exemplaren bekannt sind und oft untersucht wurden (z. B. Cucumaria pentactes L.) keine Beobachtungen bekannt geworden, die darauf hin- deuten. Die Möglichkeit eines solchen Falles soll nicht ausgeschlos- sen sein; allein sicher ist die Grenze, welehe Formen, deren Füßchen nur in den Ambulakren stehen, von Arten mit Interambulakralfüßchen trennt, schärfer als die Unterschiede, welche sich bei letzteren auf grund der Häufigkeit der Interambulakralfüßchen finden lassen. Um so auffallender muss es erscheinen, im Genus Cucumaria Vertreter beider Richtungen vereinigt zu finden; diese Gattung setzt sich zu- sammen aus Arten, die nur in den Ambulakren Füßchen tragen und aus solchen, bei welchen auch in den Interambulakren verstreute Füßchen vorkommen; letztere Gruppe steht zu ersterer, den eignen Gattungsgenossen, augenscheinlich in einem entferntern verwandt- schaftlichen Verhältnis als zum Genus Thyone. Semper hat schon auf diese Ungleichheit hingewiesen und andeutungsweise die Abtren- nung einer Anzahl Arten vom Genus Cucumaria angeregt, und auch Bell erwähnt diesen Wink Semper’s, ohne ihn aber selbst zur Aus- führung zu bringen. Je mehr neue Arten mit und ohne Interambula- kralfüßchen in der Zukunft noch unter dem Namen Cucumaria be- schrieben werden, um so schwieriger ist eine Verwirrung zu vermei- den, wenn mit der, wie ich glaube, entschieden notwendigen Abtren- nung ohne Grund noch länger gezögert wird. Ich hoffe also, nicht den Vorwurf unnötiger Genusspalterei auf mich zu laden, wenn ich einen Teil der bisher zu Cucumaria gehörigen Arten von diesem Genus abtrenne und unter dem Gattungsnamen Semperia zusammenfasse. Die Diagnose der neuen Gattung lautet „Dendrochirote Holothurien mit 10 Tentakeln, die zwei ventralen (stets?) kleiner; Füßchen in den 5 Ambulakren in Reihen gestellt, außerdem mehr oder weniger zahlreiche, verstreute Füßchen in allen Interambulakren, oder in denen des Bi- viums, beziehungsweise Triviums allein.“ Die Beschränkung, welche die Diagnose des Genus Cucumaria zu erfahren hat, ergibt sich hie- nach von selbst. Ob bei dem Genus Semperia stets die beiden ven- tralen Tentakel kleiner sind, kann ich nicht entscheiden, da in den Beschreibungen hierher gehöriger Arten sich nicht immer eine Angabe über das Größenverhältnis der Tentakel findet, doch glaube ich es Wilekens, Paläontologie der Haustiere. 109 mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit, gestützt auch auf die Untersuchung mir vorliegender Exemplare annehmen zu können, da es, wie ich schon oben erwähnte, in den Artbeschreibungen des bisherigen Genus Cucumaria immer extra hervorgehoben wird, wenn alle Tentakel glei- cher Größe sind. Eine Vergleichung der Gattungen Ocnus, Cucumaria, Semperia und Thyone ergibt, dass dieselben je zwei und zwei eng zusammengehören. Zwischen Ocnus und Cucumaria, sowie zwischen Semperia und Thyone finden sich in der Anordnung der Füßchen alle Uebergänge; und Ocnus-Cucumaria einerseits, Semperia- Thyone ander- seits stehen einander viel näher, als dies Cucumaria und Semperia thun. Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haustiere. 4. Die Rinder des Diluviums und der Pfahlbauten. (Schluss). Es ist unmöglich, die zahlreichen Funde von Knochen diluvialer Rinder Europas — die den schon genannten Arten angehören — hier anzuführen. Die Literatur über diese Funde ist bis zum Jahre 1837 angegeben in Andr. Wagner’s „Naturgeschichte des Rindes“, bis zum Jahre 1847 in C. G. Giebel’s „Fauna der Vorwelt“, bis zum Jahre 1867 in Joh. Friedr. Brandt’s „zoogeographischen und palä- ontologischen Beiträgen“, in L. Rütimeyer’s „Versuch einer natür- lichen Geschichte des Rindes“ und für die englische Literatur auch noch in W. Boyd Dawkins Abhandlung „On the Fossil British Oxen“ in The quarterly Journ. of the Geolog. Soc. of London, 1866, p. 391. Später hat noch A. Pagenstecher in seinen „Studien zum Ursprung des Rindes, mit einer Beschreibung der fossilen Rinderreste des Heidelberger Museums“ (Fühling’s Landw. Zeitung, Februar 1878) eine Uebersicht gegeben, die sich hauptsächlich bezieht auf die fos- silen Rinder Europas. In diesen „Studien“ spricht sich P. über die Beziehungen des Ur zu zahmen Rindern dahin aus: „dass die Urreste in Europa aus Zeiten herrühren, in welchen das Rind schon gezähmt war und gezähmt anderswoher eingeführt war oder werden konnte, weniger in der Meinung, das gezähmte sei dann in Europa selbst ver- wildert, als dass das wilde herrühre aus einer Zeit vor der Umge- staltung des europäischen Festlandes, der Lösung der Verbindung mit Afrika und der Ausdehnung derer mit Asien, während welcher in einem indisch-afrikanischen Gebiete Herden großhörniger Rinder den Menschen bereits nutzbar waren. — Wir würden kaum im stande sein zu sagen, Asien habe Europa das Rind geliefert, weil das Asien und das Europa von heute damals gleich wenig bestanden. Die Verbrei- tung des Rindes bei kulturarmen afrikanischen Völkern kann vielleicht 110 Wilekens, Paläontologie der Haustiere. diesen Anspruch darauf geben, dem Ursprünglichen nicht ferner zu stehen als die asiatischen Steppen.“ Die Vermutung, dass Afrika als Urheimat des europäischen Haus- rindes in betracht zu ziehen sei, hat in A. v. Frantzius einen eifri- gen Vertreter gefunden. In seiner Abhandlung „Die Urheimat des europäischen Hausrindes“ (Archiv f Anthropologie X. Seite 129) be- zweifelt F. die Herkunft unserer Hausrinder aus Asien, weil dieser Weltteil keine wilden Taurinen besitzt!); da Australien und Amerika als Urheimat des europäischen Hausrindes nicht in Frage kommen, so bleibe nur Afrika übrig. F. verweist zunächst auf den bis dahin einzigen Fund fossiler Reste von Rindern durch Bayle, der auf der Ebene von Mansurah in der Nähe von Constantine einige Säugetier- reste sammelte, unter welchen sich auch ein Horn von Bos primigenius Boj. befand?). F. hält diesen Fund selbst für eine äußerst schwache Stütze seiner Ansicht, aber er meint, dass derselbe an Wert gewinnt, wenn wir zugleich auf die geographische Verbreitung von Bos primi- genius in Europa Rücksicht nehmen. Die Thatsache, dass die dilu- vialen Reste dieses ausgeprägtesten Typus der Taurinen ganz beson- ders häufig in Süditalien, sowie überhaupt in Südeuropa gefunden wurden, führt ihn zu der Annahme, dass die Verbreitung des Bos primigenius in Europa zu derjenigen Zeit erfolgte, als noch Landver- bindungen zwischen Nordafrika und Europa vorhanden waren. Frei- lich ist mit dieser Annahme nichts gewonnen, da F. selbst sich sehr entschieden gegen die Abstammung des Hausrindes vom Bos primi- genius ausspricht. Nachdem F. die Ansicht von Rütimeyer angeführt hat, dass die Pfahlbauern der Schweiz den wilden Primigenius zähm- ten und ihn als Haustier an die Krippe banden, fügt er Seite 136 hinzu: „Leider vermissen wir für diese Ansicht jeden Beweis. Das Einzige, was Prof. Rütimeyer zu gunsten seiner Ansicht beibringt, ist die auffallende Aehnlichkeit, welche jene in den jüngeren Pfahlbau- ten gefundenen Reste, die ohne Zweifel Haustieren angehörten, mit dem Urochs, dem wilden Bos primigenius, zeigten. Ich weiß, dass die Ansicht Rütimeyer’s gegenwärtig allgemein verbreitet ist, und dass dagegen noch kein Zweifel erhoben wurde; es geschieht daher mit einigem Bedenken, wenn ich hier meine von jener abweichende Ansicht darlege. Zunächst scheint es mir unwahrscheinlich, dass die Pfahlbauern sich der gewaltigen Mühe unterzogen, ein wildes Rind zu zähmen, während sie im Besitz eines zahmen Rindes, der Torfkuh, waren, welche nirgends, auch nicht in den ältesten Pfahlbauten, fehlt. Die Reste der gezähmten Primigeniusrasse treten ferner so plötzlich 1) Frantzius vergisst bei dieser Behauptung den fossilen Bos namadieus Falconer’s, sowie Lydekker’s Bos planifrons und B. acutifrons. 2) Ueber diesen Fund berichtet Paul Gervais in seiner „Zool. et Pal&ont. gen.“ 1. Ser. Paris 1867—69. p. 32. 4. Die Rinder des Diluviums und der Pfahlbauten. 144 und sogleich als unverkennbare Haustiere auf, dass man vergebens nach den allmählichen Uebergangsformen von Beginn des Zähmungs- prozesses bis zur Darstellung jener Rasse sucht. Unmöglich konnte doch das Resultat eines solchen Zähmungsprozesses in wenigen Gene- rationen erzielt werden.“ Frantzius löst zwar auch nicht die Frage der Abstammung der zahmen Primigeniusrasse, aber er führt triftige Gründe dafür an, dass die zahme Brachycerosrasse (die Torfkuh Rütimeyer’s aus der Pfahl- bauzeit) aus Afrika stammt, was auch Rütimeyer zugesteht, und dass eine gleiche Herkunft auch für die zahme Frontosusrasse wahrschein- lich sei. Die neuesten und ausführlichsten Mitteilungen über fossile Rinder in Afrika verdanken wir Ph. Thomas („Recherches sur les bovides fossiles de P’Algerie“ in Bull. de la soc. zool. de France pour l’annde 1881. p. 92). Von den algerischen Fossilien bespricht T. zunächst drei Schädel eines Büffels, von denen der erste (aus dem Diluvium von Setib in Algier) von Duvernoy beschrieben und Bubalus anti- quus‘) benannt worden ist. Duvernoy erkannte eine große Aehn- lichkeit zwischen dem indischen Arni und dem Bubalus antiquus und er betrachtete sie als zwei sehr nahe verwandte Arten. Dann be- schreibt Thomas (Seite 125 u. ff.) sehr ausführlich zwei Schädel — von einem ältern und einem jüngern Individuum —, sowie einige ver- einzelte Knochen einer „afrikanischen Varietät“ von Bos primigenius, der er den Beinamen „mauritanicus“ gibt, um anzudeuten, dass jene Ueberreste gefunden wurden auf dem Gebiete des alten Mauritanien, in bisher unberührten alluvialen Schichten in der Nähe von Constan- tine. Die Schädel des mauritanischen Ochsen hatten alle wesentlichen Merkmale der quaternären Form des europäischen Bos primigenius, und selbst die verschiedenen bekannten Teile seines Skeletes waren nach Form und Größenverhältnis dem letztern gleich. Die einzigen Unterschiede, welche T. zwischen den algerischen und europäischen Schädeln von Bos primigenius festgestellt hat, bestanden darin, dass 4) Rütimeyer, Verhandl. der Naturf. Gesellsch. in Basel, 1875. V. 2. S. 320 sagt mit bezug auf diesen Schädel: „es scheint sich doch wohl eher um den Ueberrest eines Haustieres zu handeln.“ Später, nachdem er diesen Schädel in Paris untersucht hatte, erklärt Rütimeyer („Die Rinder der Ter- tiärepoche* S. 146): „Die Form der Hörmer schließt von vorn herein alle Grup- pen der Rinder, die Büffel ausgenommen, aus, und die starke Abplattung des Schädels, sowie die rasche Zuspitzung des Gesichts weisen auf die afrikanische Gruppe derselben und zwar speziell auf die mittelafrikanische Form Brachy- ceros, mit welcher der fossile Schädel in allen wesentlichen Dingen überaus nahe übereinstimmt, wenn auch seine Größe derjenigen von Kapbüffeln gleich ist. Der fossile Schädel verhält sich, um ihn am sichersten zu charakterisieren, zu dem heutigen Bubalus brachyceros, wie Bubalus palaeindicus zu dem leben- den Bos indicus.“ 112 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. die Stirn des mauritanischen Ochsen ein wenig länger als breit war, mit Rücksicht auf seine Basis zwischen den Augenhöhlen, dass der Hinterhauptskamm viel schwächer, weniger vorragend und weniger in der Breite ausgedehnt war, wenigstens bei dem ältern Individuum, dass seine Hinterhauptsfläche einen spitzern Winkel bildete mit der Stirnfläche und dass seine Hörner an ihrem Ursprunge ein wenig mehr aufrecht gestellt waren. Thomas macht sich folgendes Bild von der Figur seiner mauri- tanischen Varietät von Bos primigenius: es war ein Tier von sehr großer Figur, seine allgemeinen Körperverhältnisse waren die näm- lichen wie bei unseren gegenwärtigen Rindern; es hatte am Widerrist eine Höhe von mindestens 190 cm und eine Länge, vom Kopf zum Hinterteil, von mehr als drei Metern, d. h. eine Figur gleich der der gegenwärtigen algerischen Dromedare und größer als die des Bubalus antiquus Duvernoy’s. Seine Stirn war lang und flach; sein Nacken war konkav oder kaum hervorragend; seine Augen, weit ab vom Ur- sprunge der Hörner gelegen, waren hervorragend und blickten seit- wärts, wie bei allen Rindern mit flacher und langer Stirn; seine lan- gen und mächtigen Hörner standen auf dem Gipfel des Kopfes, wand- ten sich anfangs nach oben und seitwärts, krümmten sich dann bald nach vorn, ihre Spitzen nach einwärts und abwärts senkend. Das Widerrist war sehr erhöht, was sich beurteilen ließ nach der Länge des Dornfortsatzes eines der ersten Rückenwirbel, der 41 cm maß ohne den Knorpelaufsatz. Die Stärke und die Krümmung einer obern Rippenhälfte ließ eine sehr breite und lange Brust erkennen. Thomas untersucht nun, ob unter den Haustierrassen der neo- lithischen Epoche sich einige mit seiner mauritanischen Varietät ver- gleichen ließen. Er erkennt, dass keine einzige derselben dieser Va- rietät vollkommen entspricht, aber er findet in den vereinigten Eigen- schaften zweier derselben, des Bos trochoceros!) und primigenius Rüti- meyer’s, alles das, was seine Varietat kennzeichnet. Er hält es für augenscheinlich, dass seine quaternäre Rasse den Platz einzunehmen habe zwischen den beiden neolithischen Rassen Rütimeyer’s. Die Wiege dieser drei Rassen scheint ihm demselben großen Mittelmeer- becken anzugehören. Er vergleicht dann auch die gegenwärtigen Rinderrassen Nordafrikas mit seiner quaternären Varietät von Bos primigenius und kommt zu dem Schluss: „Quoi qu'il en soit, la petite 1) Thomas hat bei diesem Vergleiche übersehen, dass Rütimeyer in seinem 1867 erschienen „Versuch einer natürlichen Geschichte des. Rindes“, 2. Abt. S. 149 erklärt hat, dass er, seiner frühern Anschauung entgegen, sich veranlasst gesehen habe, „auf dem Boden neuerer Erfahrungen der nicht mehr seltenen Trochoceros-Form wilder oder zahmer Rinder den Titel einer besondern „Rasse“ zu entziehen, und sie nur als individuelle Variation des Primigenius- Typus zu erklären; auch die Anerkennung einer selbständigen Stammform, Bos trochoceros H. von Meyer’s, fällt damit weg.“ 4. Die Rinder des Diluviums und der Pfahlbauten. 113 race algerienne actuelle ne rappelle par aucun caract£ere saillant notre variete mauritaine quaternaire.“ Außerdem fand Thomas in dem Lager von Ain Jourdel bei Constantine, das dem obern Tertiär angehört, eine Tibia und einen Astragalus, welche Knochen er, provisorisch, dem Bos primigenius zu- schreiben zu können glaubt; sie scheinen ihm von den bekannten Knochen seiner mauritanischen Varietät nicht verschieden zu sein. Die schon erwähnten Ueberreste von Dubalus antigquus, welche Duvernoy und Paul Gervais beschrieben haben, stammen aus al- gerischen Fundorten. In Europa sind im Diluvium von Danzig zwei Ueberreste gefunden worden, welche Rütimeyer („Ueberreste von Büffeln aus quaternären Ablagerungen von Europa“ in Verhandlungen der Naturf. Gesellschaft in Basel VI. 2. 1875 S. 320 und „Die Rinder der Tertiärepoche“ S. 143) einem Büffel zuschreibt, den er Bubdalus Pallasii nennt. Er erblickt darin eine geographisch allerdings von Nerbudda weit abgelöste Zwerggestalt von Bubalus palaeindiens. R. meint: „Wenn auch einstweilen auf dem weiten Zwischenraum zwi- schen beiden Stellen (den Fundorten an der Ostsee und der West- küste von Hindostan) keine Büffelüberreste gesammelt worden sind, so wird es mithin wohl keinem Zweifel unterliegen können, dass schon die pliocänen Büffel Indiens Ausläufer, vielleicht auf Zwerg- formen beschränkt, bis nach Nordeuropa aussandten, und dass auch das Wohngebiet der noch in Indien lebenden Büffel sich in vorhistori- scher Zeit bis nach Südeuropa ausdehnte, ohne von merklichen Ver- änderungen der Art begleitet gewesen zu sein.“ In der oben angeführten Abhandlung („Ueberreste vom Büffel“) erwähnt Rütimeyer noch einiger Büffelreste aus italienischen Samm- lungen; bezüglich eines Stückes in Bologna wie desjenigen aus Dan- zig möchte er den Gedanken an Einschleppung zu technischen Zwecken in vorhistorischer Zeit nicht ausschließen. Die Ueberreste von Ponte Molle bei Rom und von der Insel Pianosa aber lassen an einer alten einheimischen Quelle kaum mehr zweifeln und eröffnen insofern min- destens sogar die Möglichkeit, dass auch der Formenkreis für den Büffel einst sogar in Europa über das hinaus gegangen sein mochte, was dieMaremmen um Rom uns gegenwärtig noch vor Augen führen. In Asien ist Bison priscus sehr selten. Faleoner („Palaeont. Memoirs and Notes“, vol. II p. 567) berichtet über eine Sammlung fossiler Knochen, welche aufgedeckt wurden während der Aushöhlung der Folkestone Batterie; unter diesen befand sich ein Hinterteil vom Schädel, ein Bruchstück eines Hornzapfen, einige Gliederknochen und ein Atlas, welche Knochenreste F. dem Bison priscus zuschreibt. Von diluvialen Biboviden erwähnt Rütimeyer („Rinder der Tertiärepoche“ S. 154) ohne besondere Beschreibung ein Schädelstück des britischen Museums aus Nerbudda, bestehend aus der Maxillar- zone mit vortrefflich erhaltenem Gebiss; er gibt dem Tiere, dem es 8 114 Wilekens, Paläontologie der Haustiere, angehört hat, den Namen Bos (Bibos) Palaeogaurus Faleoner, findet aber keinen Unterschied von dem lebenden Bos Gaurus. R. meint, dass dieses Fossil also auch den Gaur zum mindesten in irgend einen Teil der postplioeänen Epoche hinaufführt. Ferner beschreibt R. (a. a. O. Seite 165) unter dem Namen Leptobos (Bibos?) Frazeri einen hornlosen Schädel des britischen Museums aus dem Nerbuddathale Indiens. Vorderhand scheint ihm die Aehnlichkeit mit den Bibovinen mehr nur eine physiognomische zu sein, während die tieferen Struk- turverhältnisse das Fossil näher an die Portacina knüpfen. Auf diese Betrachtung ist auch seine vorläufige Bezeichnung des Schädels be- gründet, die nicht ausschließt, dass endlich dieses hornlose Rind sich auch als Brücke zwischen Portacina und Bibovina einschalten könnte. Der einzige Taurine, der im Diluvium Asiens bisher gefunden wurde, ist Faleoner’s Bos namadicus. Falconer (a. a. O. Vol. I Seite 286 ff. und 545) beschreibt mehrere Schädelstücke dieses mäch- tigen Rindes aus dem Nerbuddathale. Rütimeyer hatte im briti- schen Museum Gelegenheit drei Schädel dieses Tieres zu untersuchen. Er erklärt (a. a. 0. S. 176): „Der erste Blick auf diese Schädel lehrt, dass sie den Plan der Primigeniusgruppe für das Pleistocän von In- dien vertreten. Die Stirnfläche ist platt und im allgemeinen viereckig und sie ragt sowohl seitlich über die Schläfe, wie nach hinten über die Hinterhauptfläche vor; der Hornansatz erfolgt im hintern Seiten- winkel der Stirn. Die Hörner stehen mit nach vorn gerichteter kon- kaver Kurve fast transversal zur Längsachse des Schädels; ihr Um- riss ist zylindrisch bis mehr oder weniger abgeplattet.“ Weiter er- klärt R., dass er nicht geneigt sei, diesem indischen säbelhornigen Vertreter des Primigeniustypus einen größern Wert als denjenigen einer lokalen Rasse beizumessen. R. Lydekker, der mehrere Schädel dieses indischen Ochsen aus dem Museum von Kalkutta untersucht hat, findet („Memoirs of the geolog. survey of India“ Vol. I, ser. X. 3. p. 95 ff.) einen auffallenden Unterschied zwischen den Schädeln von Bosnamadicus und B.primigenius. Er erkennt den Unterschied in folgenden Punkten: der kurze Zwischen- kiefer, welcher die Nasenbeine nicht erreicht; die niedrige Lage des Hinterhauptskammes im Verhältnis zu den Hornzapfen, der bogen- förmige Kamm zwischen den Hornursprüngen (der Zwischenhornlinie), das Eindrängen der Schläfengruben auf das Hinterhaupt, die konkave Fläche des letztern und die regelmäßige Krümmung des Hinterhaupts- kammes. Zu den meisten dieser Punkte, in welchen der Schädel von Bos namadicus sich unterscheidet von dem von Bos primigenius, nähert er sich den Schädeln der Gattung Bibos. Die besondere Vorwärts- krümmung der Hornzapfen dieser Art zeigte beträchtliche Aehnlich- keit mit der Krümmung der Hornzapfen vom Yak. Von den zahlreichen Gliederknochen dieses Ochsen aus dem Ner- buddathale, welche sich im indischen Museum befinden, bemerkt L., 4. Die Rinder des Diluviums und der Pfahlbauten. 115 dass es mindestens unmöglich sei zu sagen, ob sie dem Dos namadi- cus oder dem Bubalus palaeindieus angehören: die einzigen Knochen sind einige Exemplare von Mittelfußknochen, von denen er glaubt, dass sie, wegen ihrer Aehnlichkeit mit den Knochen von Bos primi- genius, dem Nerbuddaochsen angehören. Es ist insbesondere die platt- hornige Varietät von Bos namadicus, welche sieh unterscheidet von der typischen Form der Gattung Bos, und die übereinstimmt mit der Gattung Bibos. L. schließt: da gegenwärtig kein wilder Taurine in Indien lebt, und da die Gattung Bibos fast unmittelbar nach dem Un- tergange des Nerbuddaochsen gelebt haben muss, und jener gegen- wärtig unbekannt ist während der Periode, in welcher dieser gelebt hat — dass Bos namadicus der direkte Vorfahr ist der indischen Wi- sentrinder (Bibovinen), oder dass in irgend einem Falle beide von einem gemeinsamen Stamme entsprungen sind. L. hält den Nerbudda- ochsen während eines gewissen Zeitabschnittes für einen Zeitgenossen des vorgeschichtlichen Menschen in Indien; die Gattung Bibos — falls sie direkt von Bos namadicus abstammt — müsste also ihre eigentüm- lichen Abänderungen am Schädel in derselben Periode erworben ha- ben. Ob der Mensch die Ursache war des endlichen Verschwindens des Nerbuddaochsen, oder ob dieser unfähig war in Mitwerbung zu treten mit dem modernen Ochsen, oder ob das Verschwinden der Salz- wälder!) aus dem Nerbuddathale — was Kapitain Forsyth in den „Highlands of Central-India“ für die Ursache des Verschwindens von Bubalus palaeindicus aus der Gegend hält — verhängnisvoll war für das Dasein von Bos namadicus, ist L. unfähig gegenwärtig zu ent- scheiden; aber er ist geneigt anzunehmen, dass die zweite der drei Hypothesen die wahrscheinlichere sei. Von fossilen Ochsen Nordamerikas habe ich bereits angeführt Bos bombifrons und Bos latifrons Harlan’s, welche beide angeblich ?) der Gattung Bison angehören. Ein selbständiges Urteil über diese Formen kann ich mir nicht verschaffen, da sich die Musterstücke der- selben in nordamerikanischen Museen befinden und Harlan seiner „Fauna Americana“ keine Abbildungen beigegeben hat. Eine ausführliche Beschreibung mit vortrefflichen Abbildungen der fossilen Ueberreste des nordamerikanischen Ochsen hat Joseph Leidy geliefert in seinem „Memoir on the extinet species of American ox“ in den Smithsonian contributions vom Jahre 1852. Die erste unter- scheidbare Art eines untergegangenen amerikanischen Ochsen wurde bekannt durch Rembrandt Peale (im Philos. Magazine 1803, vol. XV. p. 325 — nach Leidy). Sie wurde begründet durch ein Schädelstück mit einem Teile eines Hornzapfens, welches gefunden wurde im Bette 4) Ich übersetze wörtlich „sal forests“, ohne die Bedeutung zu kennen. 2) Aus dem Folgenden wird sich ergeben, dass Harlan’s Bos bombifrons der Gattung Bootherium Leidy’s angehört. g# 116 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. einer Bucht des Ohioflusses. Cuvier, der einen Gipsabguss dieses Schädels durch Peale erhielt, erklärte ihn für der gleichen Art an- gehörig wie der europäische Wisent; Harlan aber unterschied ihn von diesem durch den Namen Bos latifrons. In der That handelt es sich hier um die nordamerikanische Varietät des europäischen Bison priscus Boj., für welche Leidy den Namen Bison latifrons annahm; es ist der diluviale Vorfahre des lebenden Bison americanus und Leidy erklärt (Seite 8): „The form of the eranial fragment (das er beschreibt und abbildet) with its attached portion of horncore is almost a repetition of the corresponding part of the skull of the Buf- falo.“ Bekanntlich nennen die Amerikaner ihren lebenden Wisent „Dufalo“, d. i. Büffel. Leidy gibt eine kurze und treffende Unter- scheidung der Schädel von Bos und Bison, aber nicht zwischen Bison europaeus und americanus, bezw. zwischen Bison priscus und latifrons. Alle Musterstücke (Schädelstücke und Zähne), auf welche Leidy seine Beschreibung von Bison latifrons stützt, sind aus der Nähe von Nat- chez, Missisippi; zwei derselben wurden gefunden in Gesellschaft von Ueberresten des Mastodon, Equus, Ursus, Cervus, Megalonyx und My- l!odon, die anderen mit Ueberresten von Mastodon, Equus Americanus und einem Unterkiefer von Felis atro«x. Die Art Bison antiguus gründet Leidy „mit einigem Bedenken“ auf den größern Teil eines rechten Hornzapfens mit einem kleinen Bruchstück vom Stirnbein; das Schädelstück wurde gefunden in der berühmten Fundstätte fossiler Knochen „Big-bone-lick“ in Kentucky, mit Ueberresten des gegenwärtigen amerikanischen Wisent. Leidy meint selbst, dass dieses Musterstück eigentlich zu klein sei, um es mit Bestimmtheit als eine verschiedene Art von Bison latifrons unter- scheiden zu können und er erklärte es später!) für die weibliche Form von B. latifrons. Als eine neue Gattung, gestützt auf zwei Arten untergegangener Ochsen Nordamerikas, unterscheidet Leidy Bootherium mit folgenden diagnostischen Merkmalen: 1. Das Stirnbein erhebt sich zu einem Höcker, oder es bildet einen hervorragenden Fortsatz zwischen den Ursprüngen der Horn- zapfen (from the sides of which arise the horn-cores). 2. Die letzteren entspringen über und hinter den Augenhöhlen, und sie krümmen sich in ihrem Verlaufe nach abwärts, ohne sich an der Spitze aufzurichten, wie bei Ovibos. 3. Die Art besitzt Tränengruben, so gut entwickelt wie bei den Hirschen. Bootherium ist nahe verwandt dem Moschusochsen, Ovebos mo- schatus Blainv.; das Tier war, gleich dem letztern, mit einem langen 1) „Contributions to the extinet vertebrate fauna of the Western Terri- tories*, 1873, p. 253. 4. Die Rinder des Diluviums und der Pfahlbauten, 117 Vließ bekleidet und bewohnte das große Missisippithal, kurz vor der Ueberschwemmungs (drift)-Periode. Die Gattung nimmt eine Mittel- stellung ein zwischen Bos und Ovis. Leidy unterscheidet zwei Arten: Bootherium cawifrons — ent- sprechend dem schon früher erwähnten Bos Pallasi! Dekay’s — und B. bombifrons, entsprechend Harlan’s Bos bombifrons, was wir jetzt durch Leidy erfahren und aus seinen Abbildungen der betreffenden Schädel ersehen. Da ich mit Rütimeyer („Versuch einer natürl. Gesch. des Rin- des“ 2. Abt. S. 16) den Moschusochsen — als dessen diluvialer Vor- fahr Bootherium betrachtet werden muss — der Gattung „Schaf“ zu- zähle, so will ich mir an dieser Stelle ein näheres Eingehen auf Leidy’s neue Gattung Bootherium ersparen und nur bemerken, dass die beiden Arten — die eine mit rauher und in der Mitte vertiefter Stirnfläche (cavifrons), die andere mit gewölbter glatter Stirn (bombi- frons) — im Diluvium des Missisippithales und dessen Seitenzweigen (Ohio, Missouri) nicht selten zu sein scheinen. Ihre Größe übertrifft diejenige des heutigen Moschusochsen nur um weniges. Der wesent- liche Unterschied zwischen Bootherium und dem heutigen Moschus- ochsen besteht in der großen Erhebung und Wölbung des Schädels in der Stirngegend, in der ausgedehntern Entwicklung der Scheitel- zone und in der großen Breitenausdehnung der Stirn zwischen den Hornansätzen. Allein alle diese Verhältnisse hält Rütimeyer für Merkmale jugendlicher Bildung, die sich an jüngeren Schädeln von Moschusochsen zum guten Teil wiederfinden. Das umfassendste Werk über lebende und ausgestorbene ameri- kanische Bisonten hat J. A. Allen geschrieben unter dem Titel „The American Bisons living and exstinet“ in den Memoirs of the Museum of Comp. Zoology, vol. IV. Nr. 10, 1876. In seiner Beschreibung von Bison latifrons erklärt Allen diesen für bedeutend größer als Bison priscus der alten Welt, und die Hörner der amerikanischen Art für doppelt so lang und verhältnismäßig dicker als die der europäischen Art; zwischen beiden aber scheinen andere Unterschiede nicht zu bestehen, nachdem Allen die Ansicht Owen’s berichtigt hat, dass die amerikanische Art ein Rippenpaar mehr besitze als die euro- päische Art; beide besitzen 14 Rippenpaare, wodurch sie sich von den Taurinen mit 13 Rippenpaaren unterscheiden. Die kleinere Varietät des amerikanischen Wisent, welche zuerst von Buckland Bos urus, dann von Leidy Bison untiguus, dann von Richardson Bison erassicornis benannt wurde, hatte nach Allen ungefähr die Größe von Bison priscus, aber er unterschied sich von diesem in wichtigen Charakteren (features) und war in manchen Punkten dem gegenwärtig lebenden Wisent Amerikas sehr ähnlich. Allen beruft sich hier auf das Zeugnis Leidy’s!), der mit Rücksicht auf einen 4) Contribut. to the Ext. Vert. Faun. 1873, p. 253. Das auf Taf. 28, Fig. 4 118 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. in Kalifornien gefundenen Schädel (den er der kleinern Form von Bison latifrons zuschreibt) erklärt hatte, dass der entsprechende Teil desselben dem des lebenden Bison americanus so genau gleiche, dass es unnötig sei, ihn in seinen Einzelheiten zu beschreiben. Auch Richardson meint, dass das Schädelstück seines in den Eisklippen der Eschscholtz-Bai in Alaska gefundenen Bison erassicornis in keiner wichtigen Einzelheit (außer in der etwas bedeutendern Größe) sich von den entsprechenden Teilen des Bison americanus unterscheide. Außerdem fand Richardson in der Eschscholtz-Bai noch ein Schä- delstück, welches er dem Bison priscus zuschrieb. Allen sagt aber, dass die Unterschiede, die zwischen B. priscus und B. crassicornis Ri- chardson’s bestehen, nicht größer seien als die zwischen den beiden Geschlechtern von Bison americanus, und es sei möglich, dass alle Bison-Ueberreste der Eschscholtz-Bai zu einer und derselben Art gehören; die größere Form sei das Männchen, die kleinere das Weib- chen von Richardson’s Bison cerassicornis, weleher sehr wahrschein- lieh die nämliche Art sei wie Bison antigquus Leidy’s, dem auch die Ueberreste des kalifornischen Bison vorläufig zuzuschreiben wären. Allen betrachtet diese unter dem Namen Bison antiquus ver- einigten Formen — die nicht wesentlich verschieden, wohl aber größer sind als die des lebenden amerikanischen Wisent — augen- scheinlichst (most evidently) als die direkten und nicht sehr ent- fernten Vorfahren des gegenwärtigen Bison americanus. Sollte diese Ansicht von Allen richtig sein, dann wäre es frag- lich: ob der riesige Bison latifrons ohne Nachkommen in der Gegen- wart geblieben ist. Allen beantwortet diese Frage (S.35) in seiner Betrachtung über die Beziehung der lebenden zur ausgestorbenen Art der Bisonten: der riesige B. latifrons, mit seinen gewaltigen, auf zehn bis zwölf Fuß ausgebreiteten Hörnern, ist die ältere Form, welche einerseits übergeht in Bison priscus der alten Welt, anderseits in Bison antiquus der neuen Welt; jener gibt dem lebenden Bison europaeus, dieser dem lebenden Bison americanus den Ursprung. Bei beiden Formen der alten und neuen Welt ist die ältere größer als die jüngere, und jene besitzt unverhältnismäßig längere und dickere Hornzapfen. Mit Rücksicht auf die amerikanischen Formen bestehen also drei Stufen; jede spätere Form ist nicht nur kleiner als die vor- hergehende, sondern die Verminderung der Größe der Hornzapfen ist verhältnismäßig größer als die der Körperform. Es scheint Herrn Allen: dass BD. americanus die am meisten abgeänderte Form ist, während B. bonasus (europaeus) in seiner mehr massigen Gestalt und mit seinen etwas längeren Hörnern die vorhergehenden Glieder der und 5 abgebildete Schädelstück mit vollständigen Hornzapfen wurde gefunden im Pilareitosthal in Kalifornien, in einem Lager von blauem Thon, 21 Fuß un- ter der Oberfläche. 4. Die Rinder des Diluviums und der Pfahlbauten. 419 Reihe Bison antiguus und B. priscus entschiedener zurückruft. Seit Jahrhunderten hat der europäische Wisent nur aus wenig Hunderten von Ueberlebenden bestanden, während seine gänzliche Vertilgung nur durch fürstlichen Schutz verhindert wurde; der amerikanische Wisent aber lebt in Millionen von Vertretern, welche noch vor weni- gen Jahrzehnten in ungeheuren Heerden umherschwärmten über nahezu ein Drittel des nordamerikanischen Festlandes. Als meiner gegenwärtigen Aufgabe nicht entsprechend übergehe ich die musterhafte Darstellung Allen’s, die sich auf die Körper- form, die Lebensweise, die geographische Verbreitung, die Erzeug- nisse (Products) und die Jagd des lebenden amerikanischen Wisents bezieht. Dagegen kann ich nicht unterlassen, den letzten Abschnitt !) des vorliegenden Werkes in betracht zu ziehen, welcher sich mit der Ueberführung des Wisents in den Hausstand des Menschen beschäftigt. Allen sagt (8. 215), dass die ersten Ansiedler des Missisippi- thales glaubten, der Wisent sei, abgesehen von dem Wert seines Fleisches und seiner Haut, berufen den Platz der Hausochsen einzu- nehmen im Ackerbau, er liefere überdies ein Wollvließ, welches mit Rücksicht auf Güte den gleichen Wert habe mit dem des Schafes. Zuerst habe Kalm 1750 angegeben, dass junge Wisente häufig in Quebek unter zahmem Vieh gehalten wurden, aber das dortige Klima schien ihnen zu streng zu sein, so dass sie gewöhnlich in drei oder vier Jahren starben. Auch in Carolina und in anderen Provinzen südlich von Pennsylvanien seien junge Wisente zusammen mit zahmem Vieh aufgezogen worden; sie waren im erwachsenen Zustande zwar vollkommen zahm, dabei aber doch sehr unbändig, so dass sie aus ihrer Umfriedigung ausbrachen. Kreuzungen zwischen Wisenten und Hausrindern sind häufig mit gutem Erfolge ausgeführt worden. Allen hält die Zähmung des amerikanischen Wisents — in anbetracht seiner nahe bevorstehenden gänzlichen Vertilgung — für eine Angelegenheit von großer Wichtigkeit, er erwartet davon ein vorteilhaftes Ergebnis und die Möglichkeit ein wertvolles Haustier zu gewinnen. Da der Wisent seit Jahrtausenden zugleich mit eingebornen Menschen in Nordamerika gelebt hat und bisher nicht in den Haus- stand übergeführt worden ist — ebensowenig wie der europäische Wisent —, so ist seine Zähmung zu einer Zeit, wo die Rindviehzucht so weit vorgeschritten ist wie gegenwärtig, wohl nicht mehr zu er- warten. In der That sind alle Bemühungen den Wisent zum Haus- tier zu machen bisher auf die Dauer erfolglos geblieben; die ihm zusagende Lebensweise scheint ihm im Hausstande des Menschen nicht geboten werden zu können ?). Nordamerika besitzt also — 4) Einen kurzen Auszug aus diesem Abschnitt hat Thaer veröffentlicht in der Beilage zur österr. Monatsschrift f. Tierheilk. 1880, Nr. 7. 2) J. v. Xäntus spricht im „Zoolog. Garten“, 1867, S. 95 die Ueberzeu- 120 Wilekens, Paläontologie der Haustiere. ebenso wie Südamerika!) und Australien — keinen eingebornen Taurinen, soweit sich dies aus den bisher aufgefundenen fossilen Knochen erschließen lässt. Wilde Vorfahren unserer gegenwärtigen Hausrinder haben — nach dem jetzigen Stande unserer Kenntnisse — in den Ländern der Neuen Welt demnach nicht gelebt. Zum Schluss wollen wir einen kurzen Rückblick werfen auf die bereits mehrfach erwähnten „subfossilen“ Formen des europäischen Hausrindes aus der Pfahlbauzeit. Die früher schon angeführten „Untersuchungen der Tierreste aus den Pfahlbauten der Schweiz“, 1860, „die Fauna der Pfahlbauten der Schweiz“, 1862, und „Versuch einer natürlichen Geschichte des Rin- des“, 1866, von L. Rütimeyer bilden die grundlegende Literatur für die „subfossilen“ Formen des europäischen Hausrindes; von die- sem unterschied Rütimeyer anfangs vier, später nur drei typische Rassen, die er benannte: Bos Taurus primigenius, B. T. brachyceros und B. T. frontosus ?); die vierte Rasse: Bos Taurus trochoceros er- klärte er („Versuch“ 2. Abt. S. 150) später für eine „individuelle Variation innerhalb des Primigeniustypus“ ®); Rütimeyer hält die Primigeniusrasse für den direkten Nachkommen des fossilen Bos pri- migenius (was meines Erachtens gänzlich unbegründet ist), die Fron- tosusrasse für einen „Abkömmling des Urochsen, der unter mensch- lichem Einfluss sich von seiner Stammform immer mehr entfernte und an manchen Orten gewissermaßen zu einer neuen Spezies konsoli- dierte“* („Versuch“, 2. Abt. S. 162), und die Brachycerosrasse — das Torfrind der Pfahlbauten — anfangs) für einen Abkömmling von Owen’s Bos longifrons, dann aber (Arch. f. Anthropol. 1866, „Ver- such“ S. 168) für eine selbständige Form, die an den Wert einer gung aus: „dass sich der Wisent leicht an die Herrschaft des Menschen ge- wöhnt, wenn er nur die seiner Lebensweise entsprechenden Verhältnisse findet.“ 1) Der Name Bos pampaeus wird von Ameghino als synonym gebraucht für Antilope Argentina (H. Gervais et Ameghino in „Les Mammiferes foss. de ’Amör. du Sud“, 1880 p 131); diese fragliche Art des südamerikanischen Ochsen stützt sich auf eine in der Provinz Buenos-Ayres gefundene Hornspitze. 2) Der Primigeniusrasse entspricht gegenwärtig das Niederungs- und Step- penvieh, der Brachycerosrasse — das Braunvieh der Schweiz, der Frontosus- rasse — das Fleckvieh der Schweiz. 3) An anderer Stelle (S. 156) heißt es: „Ueberall bilden solche Trochoceros- Schädel die Vorboten der Frontosusrasse, welche, ausschließlich innerhalb des Verbreitungsbezirks des Primigenius, an einzelnen Stellen eine auffallend rasche Ausbildung gewinnt, und nachweislich nur eine Weiterführung der Merkmale des Trochoceros darstellt “ f 4) In der „Fauna der Pfahlbauten* $. 144 sagt R., nach Anführung der Merkmale von Bos longifrons durch Owen und Nilsson: „Alle diese Angaben (von Bos longifrons) stimmen durchaus überein mit den Merkmalen, welche die als Torfkuh bezeichnete kleine und kleinhörnige Viehrasse des schweizerischen Steinalters charakterisieren.*“ 4. Die Rinder des Diluviums und der Pfahlbauten. 121 sogenannten Spezies streift und dessen Typus „bisher im wilden Zu- stande in Europa nirgends aufgefunden wurde“; unter den fossilen Rindern Europas findet R. nichts, „was als Stammform von Brachy- ceros betrachtet werden dürfte“. R. findet „einmal die am meisten ausgeprägten und die ältesten Spuren von Brachyceros an der atlan- tischen Küste Europas bis weit hinauf nach Norden und wieder am Nordrand des Mittelmeeres und auf beiden Abhängen der Alpenkette; gegenüber, auf dem Nordrand von Afrika, lebt noch heutzutage unter allen Schlägen von Braunvieh derjenige, welcher dem kleinen Haus- tiere der europäischen Steinperiode am ähnlichsten geblieben ist; der gleiche Kontinent beherbergt nebst Asien ein ebenfalls einstweilen nur im gezähmten Zustande bekanntes und auch dort in hohes Alter- tum hinaufreichendes Haustier, das Zebu, das in manchen Rassen mit unserem Braunvieh grade jene Details der Schädelbildung teilt, welche dieses vom Primigenius unterscheiden.“ Dass Rütimeyer später die Brachycerosrasse von dem fossilen Bos longifrons Ow. abgetrennt hat und geneigt ist Nordafrika!) als eigentliche Heimat für dieselbe in Anspruch zu nehmen, lässt sich wohl nur aus seiner Annahme (a. a. O. 8.162 Anm.) erklären: „dass kein Beleg vorliegt, dass die in der frühern Literatur „fossil“ ge- nannten Schädel vor die seither bekannt gewordene Ausdehnung menschlicher Geschichte zurückreicht“; R. scheint demnach anzu- nehmen, dass bos brachyceros als ältestes Hausrind nicht von Bos longifrons abstammen könne, weil dieses nicht älter sei als jenes und die „Fossilität“ des letztern nicht der Möglichkeit widerspräche, dass es ebenfalls Haustier gewesen sei. Diese Annahme findet eine Bestätigung durch W. Boyd Dawkins („die Höhlen und die Urein- wohner Europas“, übersetzt von Spengel 1876); er hat hier den Nachweis geliefert, dass Knochen von Bos longifrons Ow. zahlreich in englischen Höhlen angetroffen wurden, zusammen mit dolichoce- phalen Menschenschädeln, welche nach den Untersuchungen von Busk, Huxley, Broca und Dawkins den Basken oder Iberern ange- hören. Diese aus der neolithischen Zeit stammenden Knochen von bos longifrons Ow. sind unzweifelhaft fossil. Aber Dawkins meint, dass dieses Rind zur Zeit der baskischen Bevölkerung Eng- lands bereits Haustier gewesen, später aber wieder verwildert sei, grade wie in unserer Zeit die Pferde und Rinder in Amerika und Australien; man finde daher ihre Ueberreste häufig zusammen mit denen von zweifellos wilden Tieren (a. a. ©. S. 104). Herrn Dawkins erscheint es nun sehr wahrscheinlich, dass die Basken bei ihrer Verbreitung nördlich bis nach Schottland und we- 1) R. sagt a. a. O. Seite 162: „Ich weiß heute keine Stelle zu nennen, wo das Braunvieh seinen Vorfahren des Steinalters treuer geblieben wäre, als Nordafrika.“ 122 Wilekens, Paläontologie der Haustiere. nigstens östlich bis nach Belgien denselben Weg eingeschlagen haben, auf dem später die keltischen, belgischen und germanischen Stämme gekommen sind, nämlich von Osten her nach Westen vordrängend ; während ein Teil diesen Weg verfolgte, mag ein anderer Nordafrika!) erobert und in derselben Richtung wie die Sarazenen nach Westen gezogen sein. Nach dieser Hypothese wäre diese große vor-arische Wanderung von dem Plateau von Mittelasien ausgegangen. Diese Ansicht, dass die Basken östlicher Herkunft seien, findet nach D. noch ihre Bestätigung durch eine Untersuchung der Haustierrassen, die sie besessen haben. Der Bos longifrons, das Schaf und die Ziege, stammen von wilden Formen ab, die sich jetzt nur noch in Zentral- asien finden (a. a. O. S. 182). Diese Annahme von D. wird jedoch nicht durch die Thatsachen bestätigt, denn Zentralasien besitzt gegen- wärtig keinen wild lebenden Taurinen und fossile Knochen, welche denen von Bos longifrons Ow. oder brachyceros Rütim. ähnlich er- scheinen, sind bisher dort nicht gefunden worden. Auf grund meiner Untersuchungen von Schädelknochen des Rin- des aus dem Pfahlbau des Laibacher Moores (in den Mitteil. der Anthropol. Gesellsch. in Wien, 1877, VII. S. 165) habe ich — neben den oben erwähnten drei Rinderrassen Rütimeyer’s eine vierte auf- gestellt, welche ich die kurzköpfige (B.T. brachycephalus) nannte; sie kennzeichnet sich durch die kurze Nase, die Breite des Stirnbeins über den Augenhöhlen, die Länge der Hornstiele, am Hinterhaupte durch die starke Verengerung unter den Hornstielen (an den Schlä- feneinschnitten des Scheitelbeines), die große Ausdehnung des Hinter- hauptes zwischen beiden en die Lage des Wangenhöckers über dem ersten Molarzahn und die auffallende Breite des Gaumens, die größer ist als die Länge der Backenzahnreihe 2). Der Schädel bot nach meiner Annahme mehrere Anhaltspunkte dar für eine nahe Formenverwandtschaft mit dem Wisent, und ich vermutete „einen genetischen Zusammenhang zwischen diesen beiden Formen“. Rütimeyer (in den Verhandlungen der naturf. Ges. in Basel, VI, 3, 1877) hält meine Ansicht, „dass es sich hier um eine neue Form vom Rind von ähnlicher historischer und morphologischer Be- deutung wie bei Bos primigenius und B. brachyceros nebst den davon abgeleiteten Rassen handle“ — für eine durchaus verfehlte, und er erkennt einen Irrtum darin: „die kurzköpfigen Schläge von Rind in 1) Demnach erklärt sich die gleiche Form des kurzhörmigen Rindes von Bos brachyceros Rütim. in Nordafrika und von Bos longifrons Ow. in England, aus der Thatsache, dass es das Hausrind der Basken war, welches diese auf ihren Wanderzügen mitgenommen hatten. 2) Musterstücke dieser Rasse aus dem Pfahlbau des Laibacher Moores be- finden sich in der unter meiner Leitung stehenden zuotonunchen Sammlung der k. k. Hochschule für Bodenkultur zu Wien. ER Prinz Ludwig Ferdinand, Zur Anatomie der Zunge. 195 bezug auf Eigentümlichkeit des Schädelbaues und historische Zähig- keit als gleichwertig mit der Primigenius- und Brachyceros- Form hinzustellen.“ In einer Erwiderung !) habe ich auf grund von Messungen an Schädeln lebender Rinderrassen nachgewiesen, dass bei meiner Bra- chycephalus-Rasse die Sagittalaxe des Schädels (zwischen Stirn - Na- senbein - Verbindung und Hinterhauptshöcker) kleiner — im Verhältnis von 100 : 106 — sei als die Queraxe (zwischen beiden Außenrändern der Augenhöhlen), während die Sagittalachse bei jenen drei — do- liehocephalen — Rassen Rütimeyer’s größer ist als die Querachse, dass mithin die Benennung „brachycephal“ für die Pfahlbaukuh des Laibacher Moores eine berechtigte sei. Ich halte zwar nieht mehr die brachycephale Rinderrasse aus dem sehr alten Pfahlbau des Lai- bacher Moores für einen direkten Nachkommen des Wisent, wohl aber für einen Angehörigen desjenigen Stammes, der mit dem Wi- sent beginnt und sich durch die Wisentrinder (Bibovina) fortsetzt. Ich bin gegenwärtig noch nicht in der Lage für die „subfossile“ Form meines kurzköpfigen Rindes einen tertiären oder diluvialen Vorfahren namhaft zu machen — ebensowenig wie dies möglich ist für Rütimeyer’s Bos Taurus primigenius. M. Wilckens (Wien). Ludwig Ferdinand, Königlicher Prinz von Bayern, Zur Anatomie der Zunge. Eine vergleichend-anatomische Studie. München 1884; Fol., 108 S., 51 dop- pelte und 2 einfache Tafeln in lithographischem Farbendruck. Verf. veröffentlicht mit obigem Werke den ersten Teil einer aus- gedehnten Untersuchung, die er auf breiterer Basis weiterzuführen hofft. Er hat deshalb auch von einer Zusammenfassung der bisher erhaltenen Ergebnisse Abstand genommen. Die Darstellung eines für die reine Beschreibung ziemlich spröden Stoffes wird auf das wirk- samste unterstützt durch den reichhaltigen illustrativen Teil des Werkes, der eine große Anzahl in lithographischem Farbendruck vor- trefflich ausgeführter Tafeln umfasst. Der gesamte Stoff ist in vier Abschnitte (Zunge der Fische, der Amphibien und Reptilien, der Vögel, der Säugetiere) geteilt, aus deren Inhalt Ref. folgende Sätze hervorheben möchte. Die kompliziert gebaute Zunge der Cyelostomen, die als ein aus- 1) Ueber die Brachycephalus-Rasse des Hausrindes und über Dolichoce- phalie des Rinderschädels überhaupt“ in Mitt. d. anthrop. Ges. in Wien, 1880, IX. 82374; 124 Prinz Ludwig Ferdinand, Zur Anatomie der Zunge. gebildetes Saugorgan fungiert, verspricht Verf. in einer spätern Mit- teilung zu berücksichtigen. Was die Zunge der übrigen Fische an- belangt, so liegt hier, abweichend von dem Verhalten bei der Mehrzahl der übrigen Wirbeltiere, statt eines kontraktilen Gebildes ein muskel- freies Endstück des Kiemengerüstes vor, welches seine Bewegungen nur durch dieses empfängt. Die Zunge der Fische kann daher, mit der oben angeführten Ausnahme, nur ein Organ der Empfindung dar- stellen. Auf Querschnitten untersucht wurde die Zunge von Esox lueius, CUyprinus auratus, Anguilla vulgaris, Salmo fario und Perca lwviatilis; bei den zuletzt genannten Formen konnten deutliche Zungen- papillen nachgewiesen werden, bei Esox lueius wurden derartige Er- hebungen vermisst. Zwischen den Papillen lassen sich, besonders deutlich bei Salmo fario, Buchten erkennen, die auf Durchschnitten an gewisse Drüsenformen der Konjunktiva erinnern. — Aus dem Abschnitt über die Zunge der Amphibien und Reptilien sei hervor- gehoben, dass den niedersten Typen derselben durchaus nicht die einfachsten Formen der Zunge zukommen. So treffen wir bei Proteus anguineus schon eine ziemlich ausgebildete Zunge, wenn sie auch der selbständigen Muskulatur entbehrt, während das Organ von Pipa ganz rudimentär erscheint. Wie bei den Amphibien, so ist auch in- nerhalb der Gruppe der Reptilien weder in der äußern Form, noch in dem anatomischen Bau und ihrer Funktion eine successive Ver- vollkommnung zu konstatieren. Die Zunge einer Vipera ammodytes, einer Lacerta viridis, endlich eines Alligator selerops bilden bezüglich ihrer innern Organisation unvermittelte Gegensätze, und selbst bei Reptilien, die, wie Draco viridis und Chamaeleo vulgaris im System nicht allzu fern von einander stehen, herrschen bezüglich dieses Or- gans tiefgreifende Unterschiede. Sollen diese Unterschiede, fragt Verf., einzig und allein das Resultat des Gebrauchs, der notwendig Sewesenen „Anpassung“ sein? Er ist nicht geneigt, hierauf mit ja zu antworten, sondern erklärt vielmehr das Moment der Anpassung für sich allein als unzureichend, die verschiedenen Formen eines Organs zu erklären. — Von spezielleren Angaben sollen hier einige aufgeführt werden, welche ohne Begleitung von Abbildungen dem Verständnis keine besonderen Schwierigkeiten entgegensetzen. Die Salamandrinen sind bekanntlich ebenso wie die meisten Anuren im stande, die Zunge nach vorn umzuklappen und rasch wieder nach innen umzulegen. Als Retractor linguae fungiert der M. sternohyoi- deus, der mit einem Teil seiner Fasern in eine innerhalb der Zunge gelegene Sehnenplatte übergeht. Sein Antagonist ist der Genioglossus, der demnach als Protractor linguae bezeichnet werden kann. Bei den Bufonen fungiert vermöge seiner eigentümlichen Anordnung merk- würdigerweise ein und dasselbe Muskelpaar (die Mm. hypoglossi in- feriores s. majores) sowohl als Protractor, wie auch als Retraetor linguae. Dagegen scheinen die schwächeren Mm. hypoglossi su- Prinz Ludwig Ferdinand, Zur Anatomie der Zunge. 125 periores im Dienste der Respiration zu stehen, denn sie bewerk- stelligen das rhythmische Heben und Senken des Bodens der Mund- höhle, welches die Luftaufnahme begleitet. — Die Zunge des Cha- maeleon zeigt im ausgedehnten Zustand eine ganz andere Form, als bei der Retraktion und Ruhelage in der Mundhöhle. Im letztern Falle erscheint sie nach vorn und hinten konisch zugespitzt, auch oben mit einem stark gefalteten Aufsatz versehen, welcher vorn eine muldenförmige Vertiefung trägt. Erst nach vollständigem Ausziehen der Zunge aus der Mundhöhle erkennt man, dass dieselbe einen sehr langen, runden, ausdehnungsfäbigen Stiel besitzt, der von faltiger Schleimhaut umgeben in einer Scheide liegt. Als Protraetor linguae fungiert eine das Os entoglossum röhrenförmig umgebende musku- löse Hülle, deren Fasern, zwischen zwei Sehnenplatten eingeschlossen, in bogenförmigem Verlaufe von der äußern sehnigen Umhüllung schief nach der innern gelangen und hierbei ganz regelmäßig ab- wechseln mit ähnlich gebogenen Fasern, die eine entgegengesetzte Richtung haben. Diese Muskelröhre rückt während der Kontraktion größtenteils über das Os entoglossum hinaus und bringt auf diese Weise durch ihre Verengerung ein Längerwerden der Zunge, und zwar um etwa 121 mm zu stande. Als Antagonisten des Protraetor linguae wirken die Mm. hypoglossi. Neben diesen auf die ganze Zunge wirkenden Muskeln ist noch eine Binnen-Muskulatur zu unterscheiden, welche die Eigentümlichkeit darbietet, dass sie durch eine Schleimhauteinstülpung auseinander gedrängt wird. Diese schon erwähnte, an der Zungenspitze befindliche Nische zeichnet sich vor dem übrigen Dorsum linguae durch besondern Drüsenreich- tum aus. Im Gegensatz zu der Zunge der meisten Reptilien stellt das Or- gan bei den Vögeln ein muskelarmes Gebilde dar; man wird daher gut thun, die viel gebrauchte Bezeichnung „fleischige Zunge“ hier ganz fallen zu lassen. Wenn die Zunge, wie das bei manchen Formen der Fall ist, eine weiche teigige Beschaffenheit besitzt, so ist dieses Verhalten auf die größere oder geringere Entfaltung anderer Gewebe, (Fett, Gefäße, Drüsen) zurückzuführen. Im Bereich der Zunge und des Viszeralskelets lassen sich drei Muskelgruppen unterscheiden: 1) eine dünne, intermaxillare Muskelplatte, welche den Mylohyoideus re- präsentiert, 2) die Unterkiefer-Zungenbeinmuskeln (Hyomaxillaris trans- versus, H. superficialis — Retraetor linguae und H. profundus —= Pro- tractor 1.), endlich 3) eine Muskelgruppe, welche den einzelnen Teilen des Zungenbeins und somit der Zunge selbst angehört. Eigentliche Binnenmuskeln der Zunge sind übrigens keineswegs bei allen Vögeln vorhanden. Gut entwickelt zeigt sich dieselbe bei den Papageien und der Wachtel. — Außer bei der Ente kommen auch in der Zunge des Buntspechtes (Picus major) Vater’sche Körperchen vor und zwar hier in enormer Menge. Das Organ erscheint somit als ein jedenfalls un- 126 Prinz Ludwig Ferdinand, Zur Anatomie der Zunge. gemein fein reagierender Empfindungsapparat, welcher für die Auf- suchung der Nahrung von großer Bedeutung sein muss. Wie bei den Amphibien, Reptilien und Vögeln stellt auch bei den Säugetieren das Zungenbein den Hauptfixationspunkt für die Zunge dar. Ohne Verschiebungen der einzelnen Abschnitte dieses Skeletstückes wären die Bewegungen der Zunge sehr beschränkt. Trotz der Verschiedenheit der äußern Form des Organs herrscht in dem Verhalten der Muskeln, welche auf das Zungenbein, den Unter- kiefer und die Zunge selbst einwirken, bei der Mehrzahl der Säuge- tiere große Uebereinstimmung, denn die für den Menschen giltigen Einrichtungen treffen im allgemeinen auch hier zu. Nur in der Gruppe der Vermilinguia (Meyer) weicht die Binnenmuskulatur, wie aus Querschnitten durch die Zunge von Myrmecophaga und Dasypus (Taf. 39 u. 40) hervorgeht, von dem allgemein vorkommenden Ver- halten mehrfach ab. Bedeutsam für die Bewegung der Zunge des Ameisenfressers ist jedenfalls die sehnige Umhüllung, die in Form einer Scheide unterhalb der Submucosa alle Binnengebilde der Zunge umhüllt und als Angriffspunkt für alle transversalen und vertikalen Muskeln zu gelten hat. Durch ihre Wirkung verkleinert sich der Raum, der von der Scheide umschlossen wird, es verlängert sich also die Zunge in der Richtung von hinten nach vorn. Die Längszüge, welche von den Mm. hyoglossi abstammen, sind als ihre Antagonisten aufzufassen. — Bei verschiedenen Säugetieren (Hund, Katze, Maul- wurf, Igel) findet sich im Innern der Zunge, der Medianebene ent- sprechend, ein eigentümliches, teils bindegewebiges, teils muskulöses Gebilde, die sogenannte Lyssa, dessen hinteres fadenförmiges Ende beim Hund und der Katze mit dem Zungenbeinkörper zusammenhängt. Es kann kaum einem Zweifel unterliegen, dass in der Lyssa ein Ge- bilde von phylogenetischer Bedeutung vorliegt, welches auf das Ba- sihyale, resp. auf das Os entoglossum niederer Vertebraten, samt seiner mehr oder weniger entwickelten Muskulatur zurückzuführen ist. Vielleicht ist auch das Septum linguae, dessen stärkere oder schwächere Entwicklung von der Ausdehnung des M. transversalis direkt abhängt, mit dem Os entoglossum in Beziehung zu bringen. Uebrigens hängen beim Menschen nicht alle frontalen Muskelzüge mit dem Septum linguae zusammen. Vielmehr lässt sich über und unter dem Septum noch ein allerdings wenig entwickelter M. ceruciatus linguae superior und inferior nachweisen. Mit bezug auf die Topographie der Organe verdient hervorge- hoben zu werden, dass die Balgdrüsen die Grenze der Zungenwurzel nicht überschreiten. Die Zungenwurzel steht bei der Mehrzahl der Säugetiere, wie Rückert nachgewiesen hat, nieht mit der Vorder- fläche des Kehldeckels in Kontakt, sondern mit dem Gaumensegel. Der Kehldeckel befindet sich hier also mit andern Worten hinter dem weichen Gaumen. Nur beim Gorilla und dem Schimpanse legt > u u u TE A a Lustig, Riechschleimhaut des Kaninchens. 197 sich, wie beim Menschen, die Epiglottis, unter dem Velum palatinum stehend, an die Zungenwurzel an. B. Solger (Halle a/S.). Allessandro Lustig, Die Degeneration des Epithels der Riechschleimhaut des Kaninchens nach Zerstörung der Riech- lappen desselben. Wiener akadem. Sitzber. 31. Januar 1884. In Nr. 14 Bd. IV dieses Blattes wurde eine Arbeit von Christ- mar-Direkinck-Holmfeld referiert, welche sich dieselbe Auf- gabe gestellt hatte, deren Läsung Lustig beschäftigte, die aber zu anderen Resultaten gekommen war. Es handelt sich um die Entscheidung der Frage, ob beide Zellen- arten, welche das Epithel der Regio olfactoria zusammensetzen, mit dem Riechnerven in Verbindung stehen, oder nur eine Art, nämlich die von Max Schulze sogenannten Riechzellen. Der erste, der zur Entscheidung dieser Frage den Riechnerven durchschnitt und die konsekutiven Veränderungen des Epithels stu- dierte, war ©. K. Hoffmann. Er fand, dass beide Zellenarten samt dem „subepithelialen Netzwerke“ der fettigen Degeneration verfallen. Colosanti führte darauf analoge Versuche aus, konnte aber über- haupt eine Degeneration nicht erzielen. Referent fand, dass bei Fröschen beide Zellenarten merklich gleichzeitig fettig degenerieren, ja dass die ersten Spuren eintretender Entartung etwas früher an den „Epithelzellen“ als an den „Riechzellen“ zu erkennen sind. Christmar-Direkniek-Holmfeld gibt an, dass zuerst die „Riech- zellen“ und erst bedeutend später die „Epithelzellen“ entarten, so dass man berechtigt wäre, nur die ersteren als nervöse Endorgane anzusehen. Lustig nun, der die letztgenannte Untersuchung bei Ab- fassung seiner Abhandlung noch nicht kannte, kam wieder zu ähn- lichen Resultaten wie Referent. Seine Untersuchungen beziehen sich ausschließlich auf Kaninchen. Es wurden deren zwölf die Nervi und Bulbi olfactorii exstirpiert; drei von ihnen starben bald nach der Operation, die übrigen tötete Lustig nach Ablauf von 45—65 Tagen, behandelte die Schleimhäute mit Osmiumsäure und untersuchte deren Epithel an Zupfpräparaten. Verf. fand, wie 18 Jahre vor ihm Hoffmann, dass in beiden Zellenarten und im subepithelialen Netzwerke fettige Entartung auf- tritt. In welcher der beiden Zellenarten dieselbe zuerst sichtbar wird, konnte er nicht entscheiden; sie schien ihm in beiden gleichzeitig aufzutreten, jedenfalls kann von einer zeitlichen Differenz der Art, wie sie Christman-Dirckinek-Holmfeld angibt, schon wegen 428 Behrens, Luftbehälter der Vögel. der ganzen Versuchsdauer nicht die Rede sein. Die Degeneration zeigt sich nicht nur in einer Anhäufung von Fetttröpfehen innerhalb der Zellen, insbesondere ihres zentralen Fortsatzes, sondern es wer- den auch Formveränderungen derselben gefunden. Lustig sah näm- lich eine gewisse Zellform, welche wahrscheinlich als Endresultat der Fettartung zu betrachten ist. Es sind der Abhandlung Zeichnungen beigegeben, welche diese schwer zu beschreibenden Entartungsformen darstellen. Es sprechen also die Resultate des Verfassers dafür, dass beide Zellarten der Regio olfactoria mit dem Riechnerven in Verbindung stehen, wie dies auf grund histologischer Untersuchungen in neuester Zeit auch von Thanhoffer!) bestätigt hat. Sigm. Exner (Wien). Die Luftbehälter der Vögel, besonders von Calao Rhinoceros. Bekanntlich verlängert sich der Respirationsapparat der Vögel in die ver- schiedensten Teile des Körpers durch Luftbehälter, deren Größe, Form und Länge ganz bedeutend wechseln. Im Jahre 1865 fand A. Milne-Edwards, dass beim Pelikan die in der Lunge enthaltene Luft mit dem subkutanen Zellge- webe in Verbindung steht; will dieser Vogel auffliegen, so bläst er sich des- halb auf, sträubt seine Federn, und wenn man ihn dann drückt, so wird ein Geräusch infolge des Drucks auf die eingeschlossene Luft hörbar, deren Menge so groß ist, dass ein 5 Kilogramm schwerer Pelikan noch auf dem Wasser schwimmt, wenn man ihn mit einem Gewicht von 10 Kilogramm belastet. Später haben Paul Bert undMilne-Edwards ähnliche Verhältnisse auch bei anderen Vögeln gefunden, u. a. beim Marabu und Kranich. In einer der letz- ten Sitzungen der Pariser Akademie der Wissenschaften teilte Milne-Ed- wards hierzu noch mit, dass bei Calao Rhinoceros von Sumatra alle Knochen ohne Ausnahme mit Luft imprägniert sind, so dass dieser Vogel in einem wirklichen Luftbade sich befindet, das die Haut von seinem Körper trennt; der Hals umfasst drei Luftsäcke, die sich in den Kopf fortsetzen und zwar auch bis in den mächtigen Helm, der den Schnabel überragt; alle großen Federn befinden sich am Grunde in Luft, die selbst die Füße bis in die äußer- sten Spitzen durchdringt. Behrens (Gütersloh). 1) Grundzüge der vergleichenden Physiologie. Stuttgart 1885, 8. 568. Die Herren Mitarbeiter, welche Sonderabzüge zu erhalten wün- schen, werden gebeten, die Zahl derselben auf den Manuskripten an- zugeben. Einsendungen für das „Biologische Centralblatt“ bittet man an die „Redaktion, Erlangen, physiologisches Institut‘ zu richten. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Centralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. V. Band. 1. Mai 1885. Nr. 5, Inhalt: Strasburger, Neue Untersuchungen über den Befruchtungsvorgang bei den Phanerogamen als Grundlage für eine Theorie der Zeugung. — Gruber, Ueber künstliche Teilung bei Infusorien. Zweite Mitteilung. — Marshall, Ueber Sinnesorgane in den Schalen der Chitonen. — Albrecht, Ueber die Chorda dorsalis und 7 knöcherne Wirbelzentren im knorpligen Nasenseptum eines erwachsenen Rinde. — Frommann, Untersuchungen über Struktur, Lebenserscheinungen und Reaktionen tierischer und pflanzlicher Zellen. — Einfluss des Magnetismus auf die Entwicklung des Embryos. E. Strasburger, Neue Untersuchungen über den Befruch- tungsvorgang bei den Phanerogamen als Grundlage für eine Theorie der Zeugung. Jena 1884. 8°. 176 Seiten mit 2 Tafeln. Die Frage nach dem Wesen der geschlechtlichen Befruchtung, so lange von dichtem Schleier bedeckt, den nur ein wenig zu heben man kaum den Versuch gemacht hat, ist in neuerer Zeit lebhaft und ener- gisch von seiten der Botaniker wie Zoologen in Angriff genommen worden. Die vorliegende Arbeit des bekannten Verfassers gibt uns einen kühnen Versuch in das Dunkel der Probleme Licht hineinzu- bringen, ja selbst bis zu den innersten Ursachen aller der verwickel- ten Erscheinungen vorzudringen, welche mit der sexuellen Befruch- tung in engem Zusammenhang stehen. Die erste Hälfte des Buches legt diejenigen Beobachtungen dar, welche die Grundlage der theore- tischen Erörterungen der andern Hälfte bilden. Zuerst werden die männlichen Geschlechtsprodukte, die Pollen- körner, behandelt. Bei den meisten Coniferen teilt sich die ursprüng- liche Pollenzelle, welche als die progame bezeichnet wird, in eine größere und eine kleinere Tochterzelle; die erstere bildet die genera- tive, die letztere die vegetative Zelle, welche bisweilen durch weitere Teilungen sich zu einem kleinen Zellkomplex gestaltet. Die genera- tive Zelle ist es allein, welche bei der Keimung des Pollens den Pollen- schlauch bildet. In ihn wandert der Kern hinein und erfährt bei den 9 130 Strasburger, Befruchtungsvorgang bei den Phanerogamen. Abietineen nur eine Teilung, während bei den Cupressineen auf dieselbe noch eine zweite Teilung des einen der Tochterkerne erfolgt. Bei den Angiospermen findet eine entsprechende Teilung des ursprünglich einzelligen progamen Pollenkorns in eine größere und eine kleinere Zelle statt. Merkwürdigerweise ist aber die letz- tere die generative, die erstere die vegetative. Allerdings wird die trennende Scheidewand beider Zellen bald aufgelöst; doch ist es mög- lich, wegen des verschiedenen Verhaltens gegenüber Farbstoffen die Zellkerne der generativen und vegetativen Zelle zu unterscheiden. Während der vegetative Zellkern sich niemals mehr teilt, erfährt der generative noch eine Teilung, welche bei vielen Monokotylen z.B. Gramineen, Cyperaceen, Juncaceen etc. auch im Innern des ungekeimten Pollenkorns stattfindet. Die Pollenzellen bilden bekannt- lich auf der Narbe des weiblichen Geschlechtsorgans oder auch künst- lieh in Zuckerlösungen einen Schlauch, in welchen der vegetative und generative Zellkern hineinwandern, gewöhnlich in der Weise, dass der erstere vorangeht. Bei vielen Dikotylen geht erst im Pollenschlauch die Teilung des generativen Zellkerns vor sich und gleichzeitig damit wird der vegetative aufgelöst, welcher dagegen bei Monokotylen sich länger erhält. — Die Abtrennung der vegetativen Zellen bei Gymno- spermen wie Angiospermen hält der Verfasser nicht für die Bildung eines rudimentären Prothalliums, wie man bisher aus phylogenetischen Gründen angenommen hat, sondern vielmehr für eine „physiologische Aktion, durch welche bestimmte Substanzen von einander geschieden und der Befruchtungsakt vorbereitet wird“. Bei den verschiedensten Pflanzenfamilien der Mono- wie Dikotylen hat der Verfasser, wie im einzelnen dargelegt wird, die erwähnten Erscheinungen betreffs des Verhaltens der Pollenkörner bei der Reife und der Schlauchkeimung beobachtet. Für die Befruchtung ist es notwendig, dass die auf der Narbe gebildeten Pollenschläuche bis zum Ei vordringen. Die Pollenkörner werden teils durch Wind, teils durch Insekten auf die Narben ge- bracht und keimen in der von den Narbenpapillen ausgeschiedenen Flüssigkeit. Um von hier aus zu dem Ei zu gelangen, müssen die Pollenschläuche erst durch den meist stielartig verlängerten Griffel wandern. Dieses Eindringen verläuft in verschiedener Art und Weise je nach den Einzelfällen. Bei manchen Pflanzen ist der Griffel in der Mitte von einem Kanal durchsetzt, welchen die Pollenschläuche benutzen, um in die Fruchtknotenhöhle hineinzukommen, so z. B. bei Lilium- Arten. Bei Cereus speciosissimus ist zwar auch im Kanal ein Griffel vorhanden; die Pollenschläuche benutzen ihn aber nicht, son- dern dringen durch das ihn umgebende Gewebe in den Fruchtknoten hinein. In anderen Fällen z. B. beiden Gramineen ist die Narbe mit mehrzelligen Anhängseln besetzt. Die Pollenschläuche bohren sich in dieselben hinein und wandern von ihnen aus zwischen den Zellen des Strasburger, Befruchtungsvorgang bei den Phanerogamen. Tot Griffelgewebes zur Fruchtknotenhöhle. In ähnlicher Weise dringen die Schläuche in die langen kegelförmigen Haare, welche die Narbe der Kornrade Agrostemma Githago bedecken. Bei den Malvaceen findet gleichfalls ein entsprechendes Verhalten der Pollenschläuche statt; sind dieselben in das Gewebe der Griffel eingedrungen, so wird ihre Membran undeutlich, und ihr Plasma erscheint wie ein Plasmodium, welches zu dem Ei hinwandert. Der Befruchtungsakt selbst ist relativ am besten bei den Koni- feren zu verfolgen. Schon frühere Untersuchungen des Verfassers hatten die Hauptpunkte festgestellt, vor allem nachgewiesen, dass der generative Kern in das Ei eindringt und mit dessen Kern verschmilzt. Goroschankin hatte beobachtet, dass bei Pinus Pumilio beide im Pollenschlauch vorhandenen generativen Zellkerne in das Ei gelangen. Der Verfasser konnte diese Beobachtung bestätigen; jedoch fand er, dass nur einer der Kerne mit dem Eikern kopuliert, der andere aufgelöst wird. Für die Cupressineen hatte der erwähnte russische Forscher angegeben, dass der Spermakern aufgelöst wird, während der Verf. auch hier nachweisen konnte, dass die Befruchtung in typischer Weise vor sich geht. Hier befruchtet ein Pollenschlauch mehrere Eizellen, weshalb in ihm auch mehrere generative Kerne durch Teilung sich bilden; je ein Kern wandert in ein Ei und verschmilzt mit dessen Kern. Die Befruchtungserscheinungen bei den Angiospermen waren bisher viel weniger bekannt. Verhältnismäßig am leichtesten ließen sie sich bei Monokotylen erkennen; besonders die Orchideen boten ein günstiges Material dar. Der Eiapparat an der Spitze des Embryosackes besteht bekanntlich aus der Eizelle und den etwas höher liegenden beiden Gehilfinnen oder Synergiden. Der Pollen- schlauch dringt durch die Mikropyle der Samenknospe bis zu der Spitze der beiden Synergiden, welche allmählich sich desorganisieren und dadurch der Protoplasmamasse den Weg bahnen, welche durch die weiche Spitze des Pollenschlauches hervortritt und zwischen den Synergiden gegen das Ei hinwandert. Doch der Kern allein dringt in dasselbe ein und verschmilzt mit dem Eikern. Die beiden ursprüng- lich im Pollenschlauch vorhandenen generativen Zellkerne sind ein- ander ganz gleichwertig; derjenige von ihnen, welcher vorangeht, ge- langt allein in das Ei. Bisweilen allerdings wurde beobachtet, dass beide Kerne in das Ei eindrangen; in solehen Fällen kopuliert aber immer nur einer mit dem Eikern, der andere wird aufgelöst. Meistens bleibt der zweite Kern mit dem Protoplasma zwischen den Syner- giden zurück und wird samt jenem und diesen aufgebraucht. Ganz ähnliche Resultate wie bei den Orchideen ergab die Untersuchung bei verschiedenen anderen Monokotylen z. B. Lilium, Ornithogalum- Arten, Iris sibirica. Die dikotylen Pflanzen setzen der Untersuchung sehr viel größere Schwierigkeiten entgegen; doch gelang es bei einer Anzahl von Formen z. B. Monotropa Hypopitys, Torenia asiatica, 92 132 Strasburger, Befruchtungsvorgang bei den Phanerogamen. Gloxinia hybrida das Wesentliche festzustellen, d. h. das Vordringen des einen generativen Zellkerns bis in das Ei und seine Verschmel- zung mit dem Kern des letztern. Die zweite Hälfte des Werkes enthält die theoretischen Anschau- ungen des Verfassers, welche sich derselbe auf grund der von ihm dargelegten Beobachtungen über das Wesen der Befruchtung wie über die Lösung der mit jeder Theorie der Zeugung eng zusammenhängen- den allgemeinen Fragen bezüglich der Ursachen der Vererbung, des Generationswechsels u. s. w. gebildet hat. Der Verfasser geht bei seiner Theorie von drei Sätzen aus, deren Inhalt für ihn der Aus- druck evidenter Thatsachen ist. Dieselben lauten: 1) Der Befruch- tungsvorgang beruht auf der Kopulation des in das Ei eingeführten Spermakerns mit dem Eikern, ein Satz, der zuerst scharf von O. Hert- wig formuliert wurde. 2) Das Cytoplasma ist an dem Befruchtungs- vorgang nicht beteiligt. 3) Der Spermakern wie der Eikern sind echte Zellkerne. Der letzte der Sätze wird ohne weiteres allgemein anerkannt wer- den können. Beide Zellkerne, sowohl der männliche wie der weibliche, gehen, wie der Verfasser klar gezeigt hat, durch indirekte Teilung aus typisch gebauten Zellkernen hervor und unterscheiden sich wenig- stens bei den Phanerogamen in dem gröbern Bau und sonstigem Verhalten gegen Farbstoffe nur wenig von den gewöhnlichen Zellkernen. Selbst bei den niederen Pflanzen, bei denen in den Spermatozoiden der Kern eine be- sondere Modifikation erlitten hat, tritt die typische Zellkernnatur während der Befruchtung besonders nach dem Eindringen in das Ei wieder deut- lich hervor. Die beiden ersten Sätze hängen auf das engste zusam- men und behaupten, dass der Kern der allein wesentliche Faktor bei der Befruchtung ist, dass das Cytoplasma gar keine oder nur eine sekundäre Rolle dabei spiele. Gegen diese Behauptung läßt sich aber manches anführen, was genügt, um in den obigen beiden Sätzen weniger den Ausdruck von Thatsachen, als mehr den von Hypothesen zu sehen. Einmal kann man die allgemeine Geltung bestreiten; es erscheint unwahrscheinlich, dass auch bei den niederen Pflanzen, wo unzweifelhaft bei der Befruchtung Verschmelzung von Cyptoplasma stattfindet, das letztere nur von sekundärer Bedeutung sei. Selbst wenn wir vorläufig nur die vom Verf. angeführten Beobachtungen über die Befruchtung der höheren Pflanzen kennen würden, müsste man von vorn herein annehmen, dass bei den niederen Pflanzen sich der Vorgang in weniger differenzierter Weise abspielen werde, und diese Annahme würden wir machen, um uns eine Vorstellung von. dem phylogenetischen Entwicklungsgange des Befruchtungsprozesses zu bilden. Wir brauchen die Annahme nicht, weil die Thatsachen vorliegen; wir sehen, wie in den einfachsten Fällen die beiden Geschlechts-. elemente in Form von Schwärmsporen, die durch Teilung aus ein und Strasburger, Befruchtungsvorgang bei den Phanerogamen. 133 derselben Mutterzelle entstanden sind, sich einander so gleich ver- halten, dass von einem morphologischen Unterschied einer männlichen und einer weiblichen Zelle bisher nichts bemerkt werden konnte, obwohl ein physiologischer wohl schon vorhanden ist. Erst allmählich treten in der Reihe der niederen Algen die Unterschiede der beiden Ge- schlechtszellen in Größe, Bau schärfer hervor, und zwar nimmt im allgemeinen der Gehalt an Cytoplasma bei dem Ei zu, bei der männ- lichen Zelle ab. Schon bei den Characeen, dann weiter bei Moosen und Farnen sehen wir das erstere groß, sehr plasmareich, die letztere im Verhältnis dazu sehr klein und dem größern Teile nach gebildet aus Kernsubstanz. Aber außer dieser nimmt auch das Cytoplasma Teil an der Zusammensetzung der Spermatozoiden und bei der Be- fruchtung verschmilzt das ganze Spermatozoid mit dem Ei. Was nun die höheren Pflanzen betrifft, so geht aus den vorliegenden Beobach- tungen bei Gymnospermen und Angiospermen nicht mit Notwendig- keit hervor, dass nur der Kern des Pollenschlauchs in die Ei- zelle eindringt. Der Verf. hat nachgewiesen, dass Pollenschlauch- plasma mit Kern bis dieht vor die Eizelle gelangt; die Befruchtung selbst direkt zu verfolgen wie bei Algen, Farnen ist bisher nicht ge- lungen; es wurde nur beobachtet, dass in einem ältern Stadium in der Eizelle ein zweiter Kern vorhanden war. Ob aber außer dem Kern nicht auch Pollenschlauchplasma in das Ei eingedrungen ist, darüber sagen die Beobachtungen nichts aus und können auch nichts aussagen, da bisher die Methoden nicht ausreichten, das etwa einge- drungene männliche Cytoplasma von dem der weiblichen Zelle zu unterscheiden. Der Kern als ein deutlich sichtbarer, geformter Teil lässt sich relativ leicht auf seiner Wanderung verfolgen, das Cyto- plasma, in dem sich vielleicht auch später gewisse konstante morpho- logisch - charakterisierte Formelemente nachweisen lassen werden, er- scheint aber vorläufig mehr als eine homogene Masse, die gleich nach dem Eintritt in das Ei der Beobachtung sieh entzieht. Der Verfasser geht über diese Frage rasch hinweg; er sagt, dass bei der Ver- schmelzung der Zellen bei Spirogyra die direkte Beobachtung zeige, dass das Cytoplasma der Zellen, ohne dass seine morphologische Individualität bewahrt bleibe, sich vereinige, während bei der Ver- schmelzung der Kerne sich nur die Kernhöhlen durchdringen, die bei- den Kerngerüste sich aber nur aneinanderlegen. Abgesehen davon, dass letzteres doch auch eine Hypothese ist, da die Verhältnisse zu klein und zart sind — die trefflichen Zeichnungen nach den Präpa- raten schweigen darüber — so gibt auch für den ersten Punkt die direkte Beobachtung vorläufig keine Auskunft, und für denjenigen, welcher wie der Verfasser sich doch im wesentlichen auf den Boden der Idioplasmatheorie Nägeli’s stellt, dürfte auch die Annahme sehr viel wahrscheinlicher sein, dass die Formelemente des Oyto- Idioplasmas ihre Individualität in gewisser Weise bewahren; sonst 134 Strasburger, Befruchtungsvorgang bei den Phanerogamen. könnte man deren Wirksamkeit im Leben der Zelle nach den Nä- seli’schen Voraussetzungen nicht verstehen. Lassen wir einfach die Thatsachen reden, so kommt man vor- läufig nicht über den auch vom Verf. früher verteidigten Satz hinaus, dass das Wesen der Befruchtung in der Verschmelzung zweier Zellen zu einer einzigen beruht, wobei die beiden Cytoplasmakörper wie ebenso die beiden Kerne untereinander sich vereinigen. Diesem Satze ent- sprechen die- bisher am genauesten bekannten Fälle bei Algen und Farnen, und darnach sind die schwierigeren und verdeckteren Fälle bei den höheren Pflanzen zu beurteilen und nicht wohl umgekehrt. Die merkwürdige Thatsache, dass in den meisten Fällen das Ei so reich, das Spermatozoid im Verhältnis dazu so arm an Cytoplasma ist, wird nicht dadurch erklärt, dass man sagt, dasselbe spiele überhaupt nur eine sekundäre Rolle, vielleicht als Vermittler der Ernährung. Viel- mehr weist die Arbeitsteilung, welche im Laufe der Entwicklung des Pflanzenreiches zwischen den beiden Geschlechtszellen immer deut- licher hervortritt, darauf hin, dass die beiden Zellen sich gegenseitig ergänzen, dass der einen fehlt, was die andere besitzt. Ist die Eizelle reich an Albuminaten, so ist vielleicht die männliche Zelle arm daran, dafür speziell deren Kern reich an Nuklein. Dieses ist ja eine rein willkürliche Annahme, welche nur veranschaulichen soll, dass hier eine sehr wichtige Frage offen liegt. Der Verfasser betont mehrfach, dass die beiden kopulierenden Kerne gleichwertig sind, dass die wirk- same Substanz annähernd bei beiden auch in gleicher Quantität vor- handen ist; doch beruht diese Annahme hauptsächlich auf theoreti- schen Voraussetzungen; dem Referenten erscheint es sehr viel wahr- scheinlicher, dass der Eikern chemisch wesentlich anders organisiert ist, wie der Spermakern, und ob man nicht auch später sichtbare Strukturunterschiede finden wird, bleibt eineoffeneFrage. Zacharias!) weist schon darauf hin, dass der Eikern einen besondern, von anderen Kernen abweichenden chemischen Bau besitze. In dieser Frage wird die Mikrochemie eingreifen müssen und dieselbe hoffentlich der Lösung näher bringen können. Für den Verf. sind die Kerne, da sie allein bei der Befruchtung wirksam sind, infolge dessen auch allein die Träger der erblichen Eigenschaften und beherrschen außerdem auch den ganzen Stoff- wechsel der Zelle. Wie in früheren Arbeiten von ihm näher darge- legt ist, betrachtet er den Kern zusammengesetzt aus dem Kernge- rüst und der den Kernsaft enthaltenden Höhle; gegen das Cytoplasma ist der Kern durch eine Hautschicht, die Kernwandung, welche dem erstern angehört, abgegrenzt. Das Kerngerüst wird von einem Kern- faden gebildet, der aus glasheller Grundsubstanz, dem Nukleo-Hyalo- plasma und darin eingebetteten Körnchen, den Nukleo - Mikrosomen, I) Zacharias in Bot. Zeitung 1882 S. 658. ee ee eisen ee u ee eh nn en ee Bu Strasburger, Befruchtungsvorgang bei den Phanerogamen. 135 besteht. Das Nukleo-Hyaloplasma bildet die eigentliche, das Leben gestaltende Substanz und besitzt vor allem die Eigenschaften des Nä- geli’schen Idioplasmas. Das Cytoplasma enthält ebenfalls Hyaloplasma und Mikrosomen. Im erstern ist auch ein Gestaltungsplasma vorhanden, aber dasselbe ist nur ein Idioplasma zweiten Grades und steht unter der Herrschaft des Kerns. Er ist es, welcher die spezifische Ent- wicklungsrichtung der Zelle bedingt, er leitet den Stoffwechsel, welcher in dem Cytoplasma vor sich geht, indem durch ihn die dabei er- zeugten Substanzen eine bestimmte Zusammensetzung erhalten. Wäh- rend der ontogenetischen Entwicklung erfährt das Kernplasma eine fortschreitende Veränderung, wodurch auch sein Einfluss auf das Cytoplasma sich verändert. Infolge dessen führt das letztere dem Kern andere Nahrungsstoffe zu und bewirkt seinerseits eine Verän- derung desselben. Die Wechselwirkung zwischen Cytoplasma und Kern geschieht auf rein dynamischem Wege, d. h. durch Fortpflan- zung molekularer Erregungen vom Kern zum Cytoplasma und um- gekehrt. Anderseits ist es das Cyto-Idioplasma, welches die erste Anregung zur Teilung des Kerns gibt. Man wird über die vor- stehenden theoretischen Betrachtungen nach mancherlei Richtung ver- schiedener Meinung sein können; nur auf einen bedenklichen Punkt möchte Referent noch hinweisen. Wenn man zugibt, dass der Kern der Leiter des Zellenlebens ist, wenn man ferner zugibt, dass die Leitung auf dynamischem Wege geschieht, kann man die Annahme des Verf. nicht anerkennen, dass der Kernfaden, damit das Kern- idioplasma, in keiner direkten Verbindung mit dem Cyto-Idioplasma steht. Beide müssen vielmehr in unmittelbarem Zusammenhange stehen, eine Einheit bilden. Die einzige Erscheinung, welche als Ana- logon und zur Veranschaulichung einer solchen Rolle des Kerns dienen kann, ist die Herrschaft des Gehirns durch das Nervensystem über die anderen Körperorgane. Man kann sich gleichsam das Kern- idioplasma als die Gehirnsubstanz, die Stränge des Cyto-Idioplasmas als Nerven vorstellen; aber ohne direkten Zusammenhang anzu- nehmen, schwebt man ganz im Dunkeln. Nägeli hat mit Recht hervorgehoben, dass die Idioplasmastränge der verschiedenen Zellen ein zusammenhängendes System bilden; das erkennt der Verf. für das Cyto-Idioplasma an, aber merkwürdigerweise ist der alles leitende Kernfaden vollkommen isoliert und steht erst durch eine flüssige Sub- stanz, den Kernsaft, mit der Hautschicht des Cytoplasmas in Verbin- dung. Allerdings, wenn Kern- und Cyto-Idioplasma eine Einheit bil- den, durch ihren Zusammenhang erst die Lebensvorgänge möglich sind, wird auch erfordert, dass beide bei der Befruchtung notwendig zusammenwirken müssen. Während der Entwicklung der Individuen vermehrt sich in den Kernen das Idioplasma; und dasselbe ist auch, wie schon hervorge- hoben, einer stetigen Veränderung unterworfen, welche schließlich 156 Strasburger, Befruchtuugsvorgang bei den Phanerogamen. eine rückläufige Bewegung einschlägt, insofern am Ende der Ent- wicklung die Örganismen wieder zu ihrem Anfangsstadium, den Keim- zellen, gelangen. Die Veränderungen, welche dahin führen, den Zell- kernen wieder den embryonalen Charakter zu verleihen, das Idio- plasma der Geschlechtszellen in den für die Befruchtung geeigneten Zustand zu bringen, bestehen darin, dass bei der Bildung der be- treffenden Zellen durch Teilung die stark herangewachsene Substanz des Kernfadens auf die Hälfte wieder reduziert wird, dass häufig dureh ungleiehwertige Teilung aus dem Cytoplasma gewisse Sub- stanzen ausgestoßen werden. Solche Vorbereitungen für den Ge- schlechtsakt treten uns auch in der Bildung der Richtungskörperchen entgegen, wie sie so häufig bei Tieren vorkommen, während bei den Pflanzen nur die Gymnospermen analoges darbieten. Durch solche vorbereitende Schritte werden die generativen Zellkerne relativ arm an Nukleo-Idioplasma. Spermakern wie Eikern besitzen aber ungefähr gleich viel von demselben, und zwar deshalb, weil der Satz gilt, dass das Kind gleich viel vom Vater und von der Mutter erbt. Bei der Ver- schmelzung der Kerne legen sich die beiden Kernfäden nur aneinan- der; bei der Teilung des Keimkerns erhalten die Tochterkerne ebensoviel vom väterlichen wie vom mütterlichen Kernfaden. Auch bei jeder folgenden Teilung findet als unmittelbare Folge der indi- rekten Kernteilung eine gleichmäßige Verteilung der beiden Kern- fäden statt, so dass alle Nachkommen des Keimkerns einen Kern- faden besitzen, welcher zur Hälfte mütterlichen, zur Hälfte väter- lichen Ursprungs ist; dasselbe ist natürlich der Fall bei denjenigen Nachkommen, welche wieder bei der geschlechtlichen Befruchtung thätig werden. Die Kernfadenhälften sind nun ihrerseits wieder zu- rückzuführen auf den Kernfaden des Großvaters und der Großmutter von väterlicher und mütterlicher Seite, dieser wieder auf die Urgroß- eltern und so fort. So ist demnach der Kernfaden jedes Kerns zu- sammengesetzt aus Stücken, welche von den früheren Generationen herrühren. Nach einer Anzahl derselben werden die Stücke so klein, dass sie keinen Einfluss mehr gewinnen; doch lassen sich die Rück- schlagserscheinungen wohl darauf zurückführen, dass bisweilen an solehen Stücken vergangener Generationen bis dahin latent gebliebene Anlagen zur Entwicklung kommen und das Cyto-Idioplasma zur Bil- dung von Merkmalen veranlassen, die früheren Generationen eigen- tümlich waren. Die beiden kopulierenden Kerne verhalten sich in funktioneller Beziehung auch darin gleich, dass beide die Anlagen für die Ausbildung der beiden Geschlechter enthalten. Welches von den- selben sich in der That entwickelt, hängt von Ursachen ab, die noch wenig bekannt sind; doch meint der Verf., dass innere Ernährungs- bedingungen hierbei eine wichtige Rolle spielen. Am Schluss geht der Verf. auch auf die Bastardbefruchtung ein und versucht zu zeigen, Gruber, Kinstliche Teilung bei Infusorien 137 wie die bekannten Thatsachen darüber durch seine Theorie sich er- klären lassen. In dem Vorstehenden sind nur einige Hauptpunkte aus den nach vielen Seiten ausstrahlenden, theoretischen Betrachtungen des Verf. hervorgehoben; über zahlreiche andere wichtige Fragen, welche der Verf. berührt, muss auf das Original verwiesen werden, in welchem auch die zoologische Literatur beständig in reichhaltigem Maße be- nutzt und ausführlich besprochen wird. Es ist natürlich, dass bei einem so dunkeln Gebiete wie dem der Sexualität dem freien Spiel der Gedanken ein weiter Raum gelassen ist, und sehr leicht die verschiedensten Meinungen selbst über die wesentlichsten Fragen sich kreuzen können. Vieles, was der Verfasser vorbringt, wird man anerkennen, vielem andern nicht beistimmen. Jedenfalls wird man ihm dankbar sein, nicht bloß für die wichtigen thatsächlichen Beobachtungen des ersten Teils seiner Arbeit, sondern auch für die geistige Anregung nach vielen Richtungen hin durch seine theore- tischen Erörterungen. Georg Klebs (Tübingen). Ueber künstliche Teilung bei Infusorien. Zweite Mitteilung. Von Dr. A. Gruber, Professor der Zoologie in Freiburg i/B. Seit meiner letzten Publikation über künstliche Teilung bei In- fusorien !) habe ich die Versuche in dieser Richtung fortgesetzt und bin dabei zu Resultaten gelangt, welche meine ersten Angaben we- sentlich ergänzen. Als Hauptversuchsobjekt diente mir immer noch Stentor coeruleus, doch habe ich auch mit mehreren anderen Infusorien experimentiert, worauf ich später einmal eingehen werde. — Was zunächst den Grad der Regenerationsfähigkeit betrifft, so ist dieser ein noch höherer, als man aus den früher von mir erwähnten Beob- achtungen schließen könnte. Ich habe schon damals in einer An- merkung mitgeteilt, dass es mir auch gelungen ist, bei Stentoren das Hinter- und Vorderende zu entfernen, den mittlern Abschnitt zu iso- lieren und denselben am andern Tage vollkommen regeneriert zu finden, ein Experiment, das bei einiger Vorsicht immer gelingen wird. Ein anderer Versuch ist folgender: Ein Stentor, den ich mit dem Buchstaben A bezeichnen will, wurde in der Mitte quer durehschnitten ; am andern Tage hatten sich beide Stücke zu vollkommenen Tieren, A‘, regeneriert; von diesen wurde eines abermals in zwei Stücke ge- 1) s. Biol. Centralbl. IV. Bd. Nr. 23. S. 717. 138 Gruber, Künstliche Teilung bei Infusorien. teilt, die am Tage darauf wieder vollkommene Individuen, A’, gewor- den waren; jetzt wurde eines der A‘ noch einmal halbiert und wie- der waren die beiden Hälften, A’, am folgenden Tage regeneriert; schließlich gelang es auch noch, aus einem der A‘ durch künst- liche Teilung zwei vollkommene Stentoren, A’, zu erzeugen. Da ein Wachstum zwischen den einzelnen Teilungen wegen der Kürze der Zeit und des Mangels an Nahrung nicht stattfinden konnte, waren schließlich die Stücke A’ so klein geworden, dass ein weiteres Zer- schneiden nicht mehr gelang; auch waren sie bereits am Absterben und deshalb nicht mehr zu gebrauchen. Ich habe absichtlich immer nur einen Deszendenten verfolgt, um den Gang des Experiments deut- licher zu machen, während selbstverständlich die künstlich erzeugten Nachkommen des Stentor A in mehrere Reihen auseinandergingen, die übrigens nicht alle gleich lange am Leben blieben. Ich habe ferner festzustellen versucht, ob sich verschiedene Ab- schnitte des Körpers bezüglich der Regenerationsfähigkeit verschie- den verhalten, also ob zum Beispiel die mehr nach vorn gelegenen Teile rascher im stande sind, das verloren gegangene Peristomfeld mit der Mundspirale zu ersetzen, als solche, die dem hintern Ende des Infusoriums näher liegen. Zu diesem Ende schnitt ich Stentoren zunächst der Länge nach auseinander und dann jede Hälfte noch einmal der Quere nach, oder, was leichter gelingt, zuerst das ganze Tier quer und die beiden Hälften in der Längsrichtung auseinander. Die einzelnen Stücke wurden dann isoliert, und es fand sich, dass, wenn die Bedingungen entsprechende waren, sich alle vier zu gleicher Zeit regeneriert hatten. Man kann daraus schließen, dass nicht etwa bloß am Vorderende Moleküle liegen, welche zur Herstellung der adoralen Wimperzone prädisponiert sind, sondern dass jedes Elemen- tarteilchen im Infusorium zu solehem Funktionswechsel befähigt ist. Auch solche Stentoren, welche eben in spontaner Teilung be- griffen, oder eben daraus hervorgegangen sind, haben die Regenera- tionsfähigkeit ganz in demselben Maße wie andere Individuen. Schließ- lich erwähne ich noch, dass auch sehr kleine Stückchen, die von irgend einem Teil des Körpers abgetrennt werden, zu vollkommenen kleinen Stentoren auswachsen, wenn sie einen Anteil des Kerns ent- halten. Dies führt mich auf die Betrachtung der Rolle, welche der Kern bei dem Vorgange der Regeneration zu spielen hat. Wie ich schon in meinem ersten Aufsatze erwähnt, ist Nuss- baum bei seinen Versuchen zu dem Schlusse gekommen, es habe den Anschein, als ob zur Erhaltung des Individuums ein Kern nötig sei; „es scheint somit, als ob zur Erhaltung der formgestaltenden Energie einer Zelle der Kern unentbehrlich sei.“ Da es Nussbaum nur in einem Falle gelang zwei Teilstücke unter Elimination des Kerns zu isolieren, mochte er diesen Schluss nicht mit voller Be- stimmtheit aufstellen, und es kam mir nun darauf an, an meinem Gruber, Künstliche Teilung bei Infusorien. 139 Objekte diesen Versuch womöglich öfter zu wiederholen. Da ich selbst früher kernlose Exemplare von Actinophrys sol und kernlose, aber sonst ziemlich vollkommene Splitter von Oxytricha beobachtet habe, da Balbiani Paramaecium aurelia manchmal ohne Kern ge- funden hat!), Nussbaum’s kernlose Stücke von Oxytricha erst am zweiten Tage starben und es mir gelungen war, ein kernloses Stück von Cyrtostomum leucas mehrere Tage am Leben zu erhalten, so war die Möglichkeit einer Regeneration auch ohne die Gegenwart eines Kerns immer noch nicht ganz ausgeschlossen. Der rosenkranzförmige Kern, der den ganzen Körper des Stentor durchzieht, erschwert es aber sehr ein kernfreies Stück abzutrennen, und so wählte ich zu- nächst Individuen, welche eben den Beginn der spontanen Teilung, d. h. in der Mitte des Körpers die Anlage des für das hintere Toch- terindividuum bestimmten Peristomkranzes aufwiesen, da bekanntlich um diese Periode der Nucleus sich zu einer runden oder bohnenför- migen Masse zusammenzieht. Gleich bei dem ersten in diesem Zu- stande befindlichen Exemplar, das ich durch einen Querschnitt hal- bierte, gelang es mir diese Kernmasse fast ganz zum Austritt zu bringen; ich isolierte die beiden Stücke und fand sie am andern Tage beide als ganz vollkommene, sich lebhaft bewegende Individuen wieder. Bei der Färbung auf dem Objektträger, die ich damit vor- nahm, stellte sich heraus, dass das eine keine Spur eines Kerns und das andere nur noch ein ganz kleines Restchen eines solchen enthielt ?). Ein zweiter Versuch war folgender: ich trug vom Vorderende eines Stentor ein kleines Stückchen so ab, dass kein Kernbestandteil mit abgetrennt wurde, isolierte den Abschnitt und fand jedesmal Tags darauf ein kleines Individuum mit einem runden Kranz von Peristom- wimpern vor, das auch bei der Färbung sich als vollkommen kernlos erwies. Man wäre nun auf den ersten Blick versucht, diese zwei Experi- mente als einen tadellosen Beweis dafür aufzufassen, dass eine Re- generation verloren gegangener Teile beim Infusorium auch stattfin- den könne ohne die Gegenwart eines Kerns. Bei näherer Betrach- tung aber ist der Beweis doch nicht stichhaltig: im ersten Fall war Ja wie gesagt ein neues Peristomfeld mit adoraler Wimperzone schon in Bildung begriffen, und der Schnitt, der dicht vor dieser Anlage 1) S. meinen Aufsatz: Ueber die Einflusslosigkeit des Kerns auf die Be- wegung, die Ernährung und das Wachstum einzelliger Tiere Biolog. Central- blatt Bd. II. Nr. 19. 1. Dez. 1883. 2) Ich bemerke, dass bei diesem wie bei den übrigen Versuchen die Fär- bung immer derart vorgenommen wurde, dass über genügendes Einwirken des Farbstoffs kein Zweifel obwalten konnte, gewöhnlich wurde zur Kontrole ein kernhaltiger Stentor auf demselben Objektglas mitgefärbt. Uebrigens ist grade der Kern von Stentor coeruleus äußerst befähigt, das Pikrokarmin, das ich immer anwandte, zu absorbieren, 140 Gruber. Künstliche Teilung bei Infusorien. durchgegangen war, trennte den Stentor in zwei Hälften, die sich später auch spontan voneinander gelöst hätten; bei dem Stück mit dem ursprünglichen Peristom brauchte sich nur die Wunde zu schließen und der Körper zum zulaufenden Hinterende zusammenzutreten, bei der Hälfte aber, welche das frühere Hinterende besaß, schloss sich die Wunde auch und das Anlage begriffene Vorderende ging ruhig seinen Entwieklungsgang weiter bis zur Bildung des vollkommenen Peristomfelds und der Mundspirale. Es geht also aus dieser Beo- bachtung hervor, dass zur bloßen Wundheilung beim Infusorium der Kern nicht erforderlich ist, und dass sein Fehlen auch den Neubil- dungsprozess eines Körperteiles nicht aufheben kann, wenn der An- stoß dazu einmal gegeben ist; wir haben es dabei mit einer Bewe- gung zu thun, die in ihrem Gange nicht mehr aufgehalten werden kann, auch wenn das bewegende Moment entfernt wurde. Ich habe diesen Versuch in ähnlicher Weise zum öftern wiederholt und immer mit demselben Resultat. Die zweite oben angeführte Beobachtung von der scheinbaren Regeneration kleiner, am Vorderende abgetragener Stücke ist auch nur ein Beweis für die Möglichkeit einer Wundheilung bei fehlendem Kerne. Bei diesen Abschnitten war ja immer ein Stück des alten Peristomkranzes mit abgetrennt worden und die Enden hatten sich zusammengeschlossen und so das Bild eines vollkommenen Infusoriums vorgetäuscht; bei näherer Betrachtung war aber die Vollkommenbheit nur eine scheinbare, denn verlorne Teile waren nicht ersetzt wor- den, ein neuer Mund, wo der alte abgetrennt worden war, hatte sich nicht gebildet. Somit war der oben angeführte Satz über das Verhältnis des Kerns zur Regeneration noch nicht umgestoßen; unwiderleglich be- stätigt wurde es aber durch folgende Versuche. Schneidet man von einer größern Zahl Stentoren aufs gradewohl die hinteren Enden ab, es dem Zufall überlassend, ob man einen Kernanteil mit abtrennt oder nicht, und bringt die letzteren in ein Uhrschälehen zusammen, so befinden sie sich, wenn man sie überhaupt am Leben erhalten hat, was mir immer gelang, etwa nach 24 Stunden in verschiedenen Zu- ständen: ein Teil davon ist zu vollkommenen kleinen Stentoren rege- neriert, bei einem andern ist die Regeneration noch nicht ganz ab- geschlossen, und bei einem dritten Teil hat sich nur die Wunde ge- schlossen, es zeigt sich aber, obgleich der Torso, wenn ich ihn so nennen darf, vollkommen lebendig ist, keine Spur von Regeneration. Färbt man nun die verschiedenen Stücke, so zeigt sich regelmäßig, dass die ganz Regenerierten einen normalen rosenkranzförmigen Kern besitzen, die verspäteten nur ein kleineres Bruchstück eines solchen und die nicht regenerierten keine Spur eines Kernes aufweisen. Dabei kommt es durchaus nicht auf den Umfang des betreffenden Teil- stückes an, denn wenn auch die Stücke, welche einen Teil des Kerns N Marshall, Sinnesorgane in den Schalen der Chitonen. 441 mitbekommen haben, meistens die größeren sein werden, so habe ich doch auch zu öfteren malen solche erhalten, die kleiner waren als kernlose und damit regenerationsunfähige Teile. Man kann letztere auch längere Zeit am Leben erhalten, ohne dass sich die verloren gegangenen Teile wieder ersetzen. Die eben erwähnten Versuche wären zwar beweisend genug, aber ich will doch noch einen erwähnen, da er ebenfalls recht lehrreich ist. Ein Stentor wurde in der früher angegebenen Weise in vier Stücke zerlegt und jedes des letzteren isoliert; am folgenden Tage hatten drei davon sich vollkommen regeneriert, das vierte aber, ob- gleich ungefähr ebenso groß als die anderen, hatte sich nieht wieder vervollkommnet; bei der Tinktion nun erwiesen sich die drei erst- genannten Stücke als kernhaltig, das vierte dagegen als kernlos. Es ist somit bewiesen, dass der Anstoß zur Neubildung verloren ge- gangener Teile vom Kerne ausgeht, dass ohne einen solchen die Zelle zwar eine Zeit lang fortvegetieren kann, aber keine „formgestaltende Energie“ mehr besitzt. Ebenso ist es der Kern, welcher bei der spon- tanen Teilung das Auftreten der für die Tochterindividuen bestimmten Teile („Organula“) veranlasst und deren Entwicklung in Gang setzt; ist dieselbe einmal in Fluss gebracht, so scheint seine Einwirkung aufzuhören, da der Prozess auch ohne seine Anwesenheit zu Ende geführt werden kann. Die hohe Bedeutung, welche in neuester Zeit dem Kerne als Ver- mittler der Befruchtung und Vererbung zugeschrieben wird, erhält durch diese Versuche, wie mir scheint, eine wichtige, weil auf em- pirische Thatsachen begründete Stütze. Ueber Sinnesorgane in den Schalen der Chitonen. Moseley, N.N., On te presence of eyes in the shells of certain Chitonidae ete. Quatr. Journ. Mie. Sc. 1885, pg. 26 Taf. 24—26. Im Jahre 1869 fand ich in den Schalen gewisser Chitoniden ein System eigentümlicher Kanäle, die mit stärkerem Kaliber beginnend unten vom Mantel her in die Schalstücke regelmäßig eindrangen, nach oben stiegen, sich dabei verzweigten und. mit feinen Endka- nälchen die Oberfläche gruppenweise durchsetzten; bevor die letzte Auflösung eintrat, zeigten die Kanäle Anschwellungen. Da ich in allen jenen Höhlungen feine Häutchen wahrzunehmen glaubte, hielt ich diese letzteren der Analogie nach für Respirationsorgane, für kiemenartige Ausstülpungen des Mantels und sprach mich in der kleinen Arbeit, die ich über diesen Gegenstand veröffentlichte, in die- sem Sinne aus. Später (1882) hat J. T. van Bemmelen unter Anwendung der mittlerweilen entstandenen modernen Technik meine Angaben be- stätigt und ganz wesentlich erweitert. Es gelang ihm namentlich zu 4142 Marshall, Sinnesorgane in den Schalen der Chitonen. konstatieren, dass der Inhalt der Kanäle keine hohlen Fortsetzungen des Mantels, sondern massive Fäden wären, die durch Pikrokarmin rosa gefärbt würden und hin und wieder stärker tingierte Körperchen, wahrscheinlich Zellkerne, zeigten. Diese Fäden schwollen dicht unter der Schalenoberfläche (entsprechend der von mir aufgefundenen Er- weiterung des Kanals) zu einer Art Papille an, die eine Anzahl stark gefärbter Kerne enthielt und von der die feinen Endfädchen aus- strahlten, die oben, wo sie die Schale durchbrachen, von einem hellen, wahrscheinlich chitinösen Käppchen überdeckt waren. Ueber die Be- deutung dieses Apparats entwickelt v. Bemmelen keine Ansicht. Es ist nun Moseley geglückt in diese bislang doch recht dunklen Verhältnisse Licht zu bringen und zu zeigen, dass wir es bei jenen in den Kanälen eingeschlossenen Fäden mit Nerven und bei ihren Endigungen an der Oberfläche mit Sinnesorganen zu thun haben. Sinnesorgane auf dem Rücken der Mollusken sind ja nicht neu für die Wissenschaft, Semper fand hier bekanntlich Augen bei Onchi- dium. Die Chitonen nun haben immer als stumpfe Tiere gegolten, die eine zum Teil wenigstens sessile Lebensweise haben und am Kopf weder Tentakel noch Augen aufweisen, obwohl sie im Larvenzu- stande ein augenähnliches Organ besitzen. Diese neuesten Unter- suchungen lehren uns die „Käferschnecken“ von einer andern Seite kennen. Die Oberhaut (Tegument) der Schalen fast aller Chitonen, wenn nicht in Wahrheit aller, ist von runden Oeffnungen von zweierlei Größe, den Megaloporen und Mikroporen durchsetzt, die von sehr verschiedenen Dimensionen und nicht durch Zwischenformen miteinan- der verbunden sind. Die Mündung jedes Megaloporus führt in einen zylindrischen Hohlraum, der sich in einen weiten Kanal fortsetzt. Dieser Kanal biegt da, wo das Tegment mit der übrigen Schale (dem Artikulament) sich verbindet, um und verläuft nach der Rand- zone des Tegumentes hin. Von dem Hohlraum entspringen seitlich noch feinere Kanäle in größerer Anzahl, die direkt nach oben steigen und die Oberhaut als feine Oeffnungen, eben die Mikroporen, durch- setzen. Nach Entfernung der Kalksubstanz aus der Schale mittels Säuern bleibt eine homogene, hornige (Conchiliolin) Substanz zurück, und man sieht in dieser Grundmasse solide Fortsätze, die vom Mantel herkommen, in die Schale eindringen und das Kanalsystem ausfüllen; sie zeigen eine feinfaserige Struktur mit zahlreichen eingelagerten Kernen und enthalten Nervenfäden, die wahrscheinlich von den großen Seiten- (Branchial) Nerven ihren Ursprung nehmen. In den Anschwellungen der Megaloporen bildet der weiche Inhalt der Kanäle entsprechende Verdiekungen, die ihrer Zeit von van Bemmelen ein- fach Papillen genannt wurden und von Moseley in „Megalaestheten“ umgetauft werden. Diese Megalaestheten, die bei den verschiedenen Chitonengruppen Modifikationen aufweisen, hält Moseley und, wie En Marshall, Sinnesorgane in den Schalen der Chitonen. 143 mir scheint, mit Recht für Tastorgane, also für analog den feh- lenden Tentakeln. In der Regel sind diese Gebilde mehr oder we- niger spindelförmig; oben wird die Mündung des Megaloporus nach außen von einer Art Stöpsel von der Form eines Würfelbechers und aus einer durchsichtigen stark lichtbrechenden Substanz bestehend überdeckt. Die Papillen selbst stellen ein Bündel zylindrischer Ge- websstränge dar, die fest aneinander haften, aber nicht regelmäßig angeordnet sind und von denen einige eine feine Querstreifung [wahr- scheinlich retraktile Muskeln, Ref.]| aufweisen, andere nicht. Die würfelbecherartigen Endkörperchen zeigen als Deckel eine runde Scheibe mit konzentrischer Streifung, der optische Ausdruck davon, dass derselbe aus einer Anzahl ineinandersteckender Hohlkegel ge- bildet wird, deren Ränder ebenso bei einer Seitenansicht als Quer- ringe imponieren. Die Außenenden der Megalaestheten scheinen vor- geschoben und zurückgezogen werden zu können. [Vielleicht durch jene erwähnten, quergestreiften Elemente in den Megalästheten, Ref.]. Von ganz ähnlichen, freilich weit kleineren Gebilden, von „Mikrästhe- ten“, sind die Mikroporen ausgefüllt; sie sind die Enden feiner Seiten- zweige der Megalästheten - Papille. Auf der Oberfläche der Schale bemerkt man nun weiter bei einer Anzahl, wie es scheint nur nichteuropäischer, Käferschnecken bei Be- trachtung mit schwacher Vergrößerung kreisrunde, ungemein stark lichtbrechende Flecke, die aussehen, als ob sie aus Glas oder Krystall gefertigt wären. Sie sind nach den Chitonengruppen in verschiedener Zahl vorhanden und verschieden angeordnet, aber stets so, dass sie sich auf den inneren freien Teilen der Schalen befinden und meist in Reihen, entsprechend den nach außen etwas hervortretenden Linien, die der Ausdruck von Verwachsungsnähten sind, unter denen die ein- zelnen sekundären Stücke, die jede Schalenplatte bilden, zusammen- treten. Diese glänzenden Flecken (Corneae) sind kalkhaltige, durchsich- tige, uhrglasförmige Modifikationen der oberen Kalklagen der eigent- lichen Schale, mit denen sie direkt zusammenhängen; umgeben ist ein jeder von einem schmalen dunkeln Pigmenthof und in dem Flecken selbst wird ein zweiter Ring (Iris) von kleinerer Dimension wahrge- nommen. Unterhalb dieser knopfartigen Gebilde liegt eine birnför- mige Höhlung, die mit einer dunkelbraun pigmentierten Haut von fester und, wie es scheint, horniger Beschaffenheit ausgekleidet ist. Sie springt als eine Art Diaphragma (Iris) unterhalb eines jeden oberflächlichen, durchsichtigen Fleckens vor und differenziert sich in ihrem zentralen oberflächlichen Teile zu einer bikonvexen durchsich- tigen Scheibe, zu einer Linse, die aus weicherem Gewebe besteht, eine faserige Struktur aufweist und von der untern Fläche der Kornea durch einen Zwischenraum (vordere Augenkammer) getrennt ist. Von unten her dringt in jede dieser Höhlungen ein Sehnerv in Gestalt 144 Albrecht, Chorda dorsalis im Nasenseptum eines Rindes. eines kompakten Strangs, dessen einzelne Fasern sich in dem hintern, von einer Fortsetzung der pigmentierten Chitinhaut ausgekleideten Abschnitt der birnförmigen Augenkammer zu feinen Fäserchen auf- lösen, die unmittelbar hinter der Retina noch weiter auseinander- weichen und ein Fasernetz darstellen. Die Retina, die, auffällig genug, nicht nach dem Typus der von Onchidium, sondern nach dem im Auge von Helix gebaut ist, liegt im Grund des erweiterten Vorderteils der Augenkammer und besteht aus einer einzigen Lage sehr scharf ge- trennter Sehstäbehen, die ihre fünf- oder sechseckigen Oberflächen direkt dem eindringenden Lichte zuwenden; jedes Stäbchen enthält einen Kern, und zwischen der Linse und der Retina-Oberfläche findet sich ein Zwischenraum (hintere Augenkammer) von bedeutenderen Dimmensionen als die vordere. Die Fasern des Sehnerven treten von hinten in diese Sehstäbehen, doch findet sich in diesem Teil des Seh- organs keine Spur von Pigment, was aber vielleicht nur an dem Er- haltungszustand des untersuchten Materials liegt. Nicht alle Fasern des betreffenden Nerven treten zur Retina, er gibt ganz wie diejeni- gen der Megalästheten Nebenfasern ab, welche die pigmentierte Horn- auskleidung der Augenkapsel durchbrechen, durch die Schale nach oben treten und hier als Mikrästheten enden. Diese Thatsache, ferner die Lage der Augen, ihr Zusammenhang mit dem Nervengeflechte, ihre ganze Beschaffenheit überhaupt veranlassen Moseley, in ihnen nur weiter entwickelte Modifikationen seiner Megalästheten zu sehen. Aus der im Obigen referierten Arbeit ergibt sich also, dass die Chitonen durchaus keine betreffs ihrer Sinnesorgane niedrig stehenden Tiere sind, und zweitens finden wir in den in ihr dargestellten That- sachen einen neuen Beweis des genetischen Zusammenhangs der ver- schiedenen Sinnesorgane, die durch Arbeitsteilung und Spezifizierung aus dem ursprünglichsten Sinne, dem Getast, hervorgegangen sind. W. Marshall (Leipzig). Ueber die Chorda dorsalis und 7 knöcherne Wirbelzentren im knorpligen Nasenseptum eines erwachsenen Rindes. Antwort auf die Aufforderung des Herrn Geheimrats Professor Dr. von Köl- liker in der Nummer dieses Blattes vom 1. März 1885. Von Professor Dr. Paul Albrecht z. Z. in Brüssel. Nachdem ich im Biologischen Centralblatte vom 1. März d. J. die von seiten des Herrn Geheimrats Professor Dr. von Kölliker an mich gerichtete Aufforderung, den ausgebildeten Ochsenschädel, der im Septum narium in der ganzen Länge auf 15,5 em die Chorda dorsalis enthalten soll (8. Albrecht l.e. S.31ff.), einem kompetenten Embryologen, entweder Lieberkühn oder Hensen oder His zur Ansicht zu senden, wi- Albrecht, Chorda dorsalis im Nasenseptum eines Rindes. 1445 drigenfalls die Fachgenossen wissen würden, wie es mit der Be- gründung der Hypothesen dieses Forschers stehe, gelesen hatte, begab ich mich sogleich zu Herrn Dr. Wehenkel, ordentlichem Professor der pathologischen Anatomie an der Universität Brüssel und Direktor der Ecole de Medeeine Veterinaire de l’Etat zu Cureghem und legte demselben den in Rede stehenden Artikel des Herrn von Kölliker mit der Bitte vor, mich gütigst im die Lage zu setzen, genannter Aufforderung nachkommen zu können. Ich hatte mich zu diesem Zwecke an Herrn Wehenkel zu wenden, da der be- treffende Schädel das Präparat 4875 der Sammlung der unter der Leitung des Herrn Wehenkel stehenden Tierarzneischule ist, wie ich übrigens auch in meiner ersten Schrift über diesen Gegenstand hervorgehoben habe). | Herr Professor Wehenkel schlug mir meine Bitte ab, wie er, bereits jede frühere von mir an ihn gerichtete Bitte, Gegenstände seines Museums auf Naturforscher- und Aerztekongresse mitzunehmen abgeschlagen hatte?). Wie hätte ich mir auch sonst wohl die Gelegenheit entgehen las- sen, den angeführten Rinderschädel auf den vorjährigen Kongressen von Breslau, Kopenhagen und Magdeburg den Fachgenossen zur Be- urteilung vorzulegen! Ich hatte doch meine sämtlichen Präparate epipituitarer Wirbelzentren mit und habe dieselben jedem der Herren, der sie sehen wollte, vorgelegt. Ich bat Herrn Wehenkel, hierauf mir, in anbetracht des von Kölliker’schen Schlusssatzes, wenigstens gestatten zu wollen, den in Frage stehenden Schädel nunmehr auf den im Sommer dieses Jahres bevorstehenden Kongressen von Karlsruhe und Strassburg vor- legen zu dürfen. Auch dieses Ersuchen ließ Herr Wehenkel unbe- rücksichtigt und ebenso die schließlich an ihn gerichtete Bitte, den fraglichen Schädel mit nach Gent zu nehmen, um ihn dort der Soeciete de Medecine de Gand zu demonstrieren. Hingegen versicherte mich Herr Wehenkel, dass jedem, sei es belgischen sei es nichtbelgischen Gelehrten, die Besichtigung des für mich so wiehtig gewordenen Stückes im Museum des unter seiner Direktion stehenden Institutes frei stehe. Um jedoch ein für allemal jeder Präsumtion, als scheue ich die Kritik meiner Fachgenossen, auch den Schein einer Berechtigung zu 1) P. Albrecht, Sur les spondylocentres &pipituitaires du cräne, la non- existence de la poche de Ratlıke et la presence de la chorde dorsale et de spondylocentres dans le cartilage de la cloison du nez des vertebres. Bruxel- les, Manceaux, 1884, p. 31. 2) Aus demselben Grunde war es mir unmöglich, dem 13. Kongresse der deutschen Gesellschaft für Chirurgie zu Berlin im Jahre 1884 den ebenfalls der Tierarzneischule zu Cureghem gehörenden neugebornen Hundekopf mit kongenitaler doppelseitiger Hasenscharte und doppelseitigem Kolobom der Ober- lippe sowie eine Reihe hochwichtiger Pferdehasenscharten vorzulegen. 10 146 Albrecht, Chorda dorsalis im Nasenseptum eines Rindes. entziehen, begab ich mich am folgenden Tage nach Gent und trug der Soeiete de Medecine de Gand die schwierige Lage vor, in die mich die abschlägigen Bescheide des Herrn Wehenkel gesetzt hät- ten; worauf die genannte Gesellschaft auf Antrag ihres Präsidierenden, Herrn Professor du Moulin, eine aus den Herren Professoren Lebouceg, Mae Leod und van Bambeke bestehende Kommission ernannte, mit der Weisung, bei der nächsten Anwesenheit in Brüssel ein Protokoll über den fraglichen Schädel aufzunehmen. Wenn ich also aus genannten Gründen zu meinem lebhaftesten Bedauern außer stande bin, der Aufforderung des Herrn von Kölli- ker, den Herren Hensen, His und Lieberkühn den betreffenden Schädel zuzusenden, nachzukommen, so glaube ich doch anderseits den Nachweis erbracht zu haben, dass die Hinderungsgründe nicht auf meiner Seite liegen. Was mir aber zu thun übrig bleibt, ist, den geehrten Lesern dieses Blattes eine Abbildung des betreffenden Nasen- septums zu geben. Schon seit längerer Zeit habe ich eine solche mit Abbildungen meiner Präparate epipituitarer Wirbelzentren auf Stein zeichnen lassen, Reisen und Polemik haben jedoch das Erscheinen dieser Arbeit bis jetzt verhindert. Da dieselbe noch nicht fertig ist, so publiziere ich hier aus vorgenanntem Grunde die Abbildung des Chorda dorsalis und 7 Wirbelzentren tragenden Nasenseptums eines er- wachsenen Rindes vorweg. Es ist die Figur 1 (Seite 152 und 153), die dank der Güte des Herrn Wehenkel dem Präparate gegenüber gezeichnet und in Holz geschnitten ist und die vorliegenden bemer- kenswerten Verhältnisse mit möglichster Genauigkeit wiedergibt. Es erreicht dieser Holzschnitt allerdings nicht die Weichheit der erwähnten, demnächst erscheinenden lithographischen Wiedergabe, doch habe ich mein möglichstes gethan und den Xylographen während des Schnittes kaum außer Augen gelassen. Ich gehe nunmehr zur Besprechung des Präparates Nr. 4875 der Staatstierarzneischule zu Brüssel über. 1) Anamnese. Die Geschichte des genannten Präparates, und wie ich zu demselben gekommen bin, ist folgende: Am 3. März 1884 abends waren Herr Dr. Gratia, Professor an der Tierarzneischule zu Cureghem, Herr Dr. Marique, Prosektor des St. Johannishospitals zu Brüssel und ich beisammen. Ich lobte die von Kölliker’sche Theorie, „das Sphenoidale anterius, die Lamina perpendicularis des Siebbeins und das Septum narium seien das vordere Ende der Wir- belsäule des Schädels!)“ oder, wie ich mich korrekter ausdrückte, Wirbelzentrenkomplexe, hob als Beweise hiefür hervor, dass die La- mina perpendicularis des Siebbeins metamer verknöchere?), dass die 4) von Kölliker: Entwicklungsgeschichte des Menschen und der höheren Tiere, Leipzig, 1879, S. 462. 2) Siehe die weiter unten folgende Figur 2. Albrecht, Chorda dorsalis im Nasenseptum eines Rindes. 147 Chorda dorsalis beim Embryo dort ans Ektoderm stoße, wo das spä- tere kraniale Ende des Septum narium liege !), und sprach die Hoff- nung aus, dass es mir eines Tages gelingen würde, noch bei weiter entwickelten Individuen Chordareste im Nasenseptum, eventuell kaudo- kranial liegende Ossifikationen in demselben zu konstatieren. Kaum hatte ich dieses gesagt, als Gratia bemerkte: „ich glaube, wir haben auf der Tierarzneischule, was du suchst.“ So bin ich also zu dem Schädel gekommen. Ueber die Geschichte des betreffenden Schädels hat mir Gratia folgendes berichtet, was ich hier in direkter Rede desselben anführe: „Im Jahre 1881 sollte ich für die Tierarzneischule zu Cureghem ein Präparat von Nasenseptum, Nasenmuscheln und Choanen eines Rindes machen. Ich ließ mir hierauf den Kopf einer erwachsenen Kuh kommen, ließ von demselben, ausgenommen an den Nüstern, die Haut und die unter derselben liegenden Weichteile abfleischen, entfernte Unterkiefer und Zunge und sägte den Rest des Kopfes nach links von der Mittellinie in sagittaler Richtung durch; in der Nasenhöble blieb die Schleimhaut stehen; Gehirn und Meningen wurden entfernt. Beide Hälften wurden hierauf getrocknet, schließlich gefirnisst und unter der Nummer 4875 in der Sammlung aufgestellt und katalogi- siert. Schon damals fielen mir der eigentümliche Strang und die auf demselben befindlichen Ossifikationen im Nasenseptum auf; da mein Interesse aber auf anderen Gebieten liegt, so habe ich mich weiter nicht um dieselben gekümmert, bis mir durch deine Auseinander- setzung der betreffende Schädel wieder ins Gedächtnis zurückgerufen wurde.“ 2) Status praesens. a. Makroskopische Untersuchung. Es liegen die beiden Teilhälften eines nach links von der Mittel- linie sagittal durchsägten erwachsenen Rinderschädels vor. Wir haben uns lediglich mit der rechten Teilhälfte zu beschäftigen, an der (da, wie gesagt, der Schädel nach links von der Mittellinie durch- sägt wurde) von allen paarigen Knochen ein medialer Teil des links- seitigen Knochens verblieb. Der Schädel ist völlig erwachsen, die Nähte weit in der Syn- ostose vorgeschritten; die Länge desselben, vom vordern Rande des linken innern Zwischenkieferkörpers bis zum Mittelpunkt der dorsalen Begrenzung des großen Hinterhauptsloches gemessen, beträgt 473], Zentimeter. Am ganzen Schädel besteht nicht die geringste sei es teratologische, sei es pathologische Veränderung. Figur 1 giebt uns ein Bild des Nasenseptums und der angrenzenden Körperteile, wie die rechte Teilhälfte des genannten Schädels sie uns vorführt. DR ist 1) Siehe meine Erklärung der von Kölliker’schen Fig. 308 im Biolo- gischen Centralblatt vom 1. Februar 1885 pag. 724. 10 148 Albrecht, Chorda dorsalis im Nasenseptum eines Rindes. das ganze knorplige Nasenseptum (Basirhinoid, Albrecht), BE die Lamina perpendiecularis des Siebbeins (Basiethmoid, Albrecht). Am Präparate sieht man diesen Abschnitt des Basiethmoides nur, wenn man den denselben verdeckenden medialen Teil der linken obern Nasenmuschel leicht vom Septum abhebelt. YV ist der Vomer, im (ec) der Schnabel des linksseitigen innern Zwischenkiefers, im (pp) der von ihm ausgehende Processus palatinus. Die Lücke zwischen beiden ist das von der Säge durchmessene, beim Menschen durch den vordern Abschnitt der Sutura interendognathica ersetzte Foramen interendognathieum (Albrecht) !); sm zeigt uns die Sägefläche des Gaumenfortsatzes des linken Oberkiefers, ssm eine pneumatische Höhle desselben, N ist die Sägefläche des linken Nasenbeines, an welcher sich bei ** die linksseitige Abbiegung des dorsalen Endes des knor- pligen Nasenseptums heftet, welche die Tierärzte als Seitenwandknorpel und ich als Ektorhinoid bezeichne. ER ist eben die Schnittfläche des stehen gebliebenen medialen Restes des linken knorpligen Ektorhi- noides; An sind knorplige und häutige Partien, medialwärts vom linken Naseneingang. Im knorpligen Nasenseptum (Fig. 1. BR) selbst befindet sich ein eigentümlicher, sowohl auf der linken wie auf der rechten Seite desselben 1!/;—2 Millimeter hervorragender Strang, der bei I beginnt und bei x an der das knorplige Nasenseptum noch teilweise be- deckenden Haut endet. Zwischen diesem Strange und der am weitesten vorgeschobenen Spitze der Lamina perpendicularis des Siebbeins (BE) befindet sich eine stranglose Strecke (*) des Nasenseptums von 14 Millimeter Länge. Der genannte Strang selbst trägt sieben höchst eigentümliche unter der Schleimhaut liegende Hervorragungen (I—VIID). Es sind drei größere (II, III und IV) und vier kleinere (Il, V, VI, VII) Her- vorragungen; die drei größeren sind stark abgeplattet, während die 4 kleineren rundlich sind. Die drei größeren (II, III, IV) überragen den genannten Strang um ein beträchtliches, I bedeckt ihn grade, VI und VII reichen nicht ganz so weit in dorsaler Richtung, und V liegt demselben ventralwärts und etwas seitlich an. Zwischen I und II, II und III, IV und V, VI und VII bleibt eine kleine Lücke (die zwischen VI und VII ist auf dem Holzschnitt etwas zu breit geschnitten), in der deutlich ein zwischen demselben liegender Abschnitt des seinem morphologischen Werte nach von uns zu deutenden Stranges zu erkennen ist; hingegen befindet sich zwischen III und IV ein 8 Millimeter («) und zwischen V und VI ein 9 Millimeter langer Abschnitt (#) des in Rede stehenden Stranges. 4) „Foramen palatinum inferius vel ineisivum“ der Tierärzte, nicht zu ver- wechseln mit der dem Canalis naso-palatinus des Menschen identischen „Fis- sura palatina“ derselben, Albrecht, Chorda dorsalis im Nasenseptum eines Rindes. 149 Auf VII folgt alsdann eine, im Bogen gemessene, 98 Millimeter lange Strecke desselben, welche keine spezifischen Hervorragungen besitzt und bei x an der Haut endet. Die sämtlichen Maße sind: Kaudo-kraniale Dorso - ventrale Richtung. Richtung. I 4 Millimeter 2!/, Millimeter 1 I D) She m II 9 5 6 h Strang zwischen Ill u. IV 6) n IV 8 1) 6 ” N 3 0) 2 D) Strang zwischen V u. VI 9 # VI 31, ” 3 ” VI 4 5 3 5 Strang zwischen VII u. x 97 5 Länge des ganzen Stranges 154!/, Millimeter!). Nimmt man den Schädel so in die Hände, dass man mit der linken Hand die Schnauze und mit der rechten das Hinterhaupt fasst, und sieht man jetzt in die rechte Choane hinein, so kann man, wenn man sich so stellt, dass das Licht grade auf die linke Seite des knor- pligen Nasenseptums fällt, dieses in durchfallendem Lichte untersuchen. Man sieht alsdann in überraschender und vorzüglicher Weise das ganze transparente knorplige Nasenseptum in einem hell -bräunlieh- gelben Farbenton, der bis auf die Strecke (*) in seiner ganzen Länge von einem völlig undurchsichtigen schwarzen, gegen seine Umgebung auf das schärfste abgesetzten Strang durchzogen wird, an dem man die vorher in auffallendem Licht untersuchten Hervor- ragungen als scharfe Vorwölbungen erkennt. Es gehört etwas Uebung dazu, den Schädel in die richtige Stellung zu bringen; gelingt es aber, so ist der Eindruck ein überzeugender. Gut thut man bei dieser Unter- suchung, einen Finger der linken Hand auf die linke Fläche des Nasen- septums zu legen, dessen Schatten man dann als Leitschatten benutzt. b. Mikroskopische Untersuchung. «. Die Hervorragungen I— VI. Die Hervorragung IV wurde zur mikroskopischen Untersuchung benutzt; es zeigte sich, dass dieselbe aus spongiösem Knochen besteht, der von der stark blutgefäßreichen Schleimhaut überzogen wird. Der 1) Die nieht mit absoluter Sicherheit zu messenden Abstände zwischen I und II, II und II, IV und V, VI und VII sind der Einfachheit halber auf die Maße der betreffenden Ossifikationen geschlagen. Aus demselben Grunde ist auch die Länge des ganzen Stranges auf 154!/, mm angegeben, obgleich dort, wo die Ossifikationen bestehen, der Strang als soleher nicht besteht. 150 Albrecht, Chorda dorsalis im Nasenseptum eines Rindes. Ossifikationsprozess ist völlig abgelaufen, denn es findet sich zwischen dem Knochen und der Schleimhaut keine Spur von hyalinem Knorpel. Die zahlreiehen Knochenkörperchen, die dem vorliegenden Präparat das charakteristische Bild der Knochensubstanz geben, schließen jeden Verdacht auf Verkalkung knorpliger Partien aus. Zwischen dem Knochen und der Schleimhaut befindet sich ein sich wenig scharf gegen die Schleimhaut absetzendes Periost. 8. Der das Nasenseptum durchsetzende Strang. Zur Untersuchung des Stranges wurden der Strecke VII—x, an einer 2!/, Zentimeter kranialwärts vom Buchstaben y liegenden Stelle, feine Schnitte, senkrecht auf den Strang und parallel zur Längsachse desselben ausgeführt, entnommen. Sie zeigen fibrilläres Bindegewebe, dessen Züge mit der Längsachse des Stranges parallel ziehen. Gegen die Schleimhaut hin, welche den ganzen Strang überzieht, liegen die betreffenden Faserzüge sehr viel dichter als gegen die Axe des Stranges. Herr Wehenkel gestattete leider nicht, dass ein Fenster aus dem Strange geschnitten wurde, um denselben alsdann auf dem Querschnitt untersuchen zu können. Weder befinden sich im Strange noch zwi- schen diesem und der Schleimhaut irgend welche Knorpelzellen. 3) Diagnose. Wir haben somit an dem vorliegenden Rinderschädel einen das knorplige Nasenseptum durchsetzenden aus fibrillärem Bindegewebe bestehenden Strang gefunden, der 14 Millimeter vor dem kranialen Ende der Lamina perpendieularis des Siebbeins beginnt, 154/, Milli- meter lang das knorplige Nasenseptum der Länge nach durchzieht, um schließlich am Punkte x an der Haut zu enden. Auf diesem Strange befinden sich 7 spongiöse Knochen, die in kaudo-kranialer Riehtung zu einander orientiert sind. Welchen morphologischen Wert kann dieser Strang, welchen morphologischen Wert können diese metameren Ossifikationen be- sitzen ? Die erste Frage ist, sind es nicht etwa pathologische Verände- rungen? Wie jeder sich diese Frage zuerst stellen wird, so habe auch ich mir dieselbe zuerst gestellt, und nicht nur mir, sondern allen den- jenigen Herren, denen ich die Ehre hatte diesen Schädel zu zeigen. Könnte man hier an eine pathologische Veränderung der Jacob- son’schen Organe denken? Gewiss nicht, der betreffende Strang liegt viel zu hoch über dem Vomer, und er biegt überdies nicht ventral- wärts, sondern dorsalwärts um. Könnte man an eine pathologische Veränderung des dorsalen Abschnittes des Centrum venosum Schwabii denken? Gewiss nicht; denn hier liegt der Strang an Stelle des Knorpels, ist ein nach allen Seiten scharf abgegrenztes Gebilde, das nach außen von der Schleim- haut mit ihren Gefäßen überzogen wird. Albrecht, Chorda dorsalis im Nasenseptum eines Rindes. 151 Könnte man an eine senile Verknöcherung der Nasenscheidewand wie sie bei Wiederkäuern vorkommt, denken? Auch das nicht; denn das Knochenstück I ist nicht von der Lamina perpendieularis des Sieb- beins als kontinuierliche Verknöcherung ausgegangen, sondern ist 14 Millimeter von derselben entfernt, überdies würde es auch dann höchst auffällig sein, wenn die senile Verknöcherung des Nasenseptums durch charakteristische, spongiöse, metamereOssifikationszentren erfolgte. Auch würde uns die Annahme einer senilen Verknöcherung nicht den fibrillär bindegewebigen, keine Knorpelzellen enthaltenden Strang erklären. Leisering und Müller erwähnen, dass man mitunter in der knorpligen Nasenscheidewand des Pferdes blasige, mit klarem schlei- migem Inhalt versehene Hervorragungen finde, die auf regressive Vor- gänge zurückzuführen seien!); könnten möglicherweise die Hervor- ragungen I—VII, die wir bei unserem Rinde gefunden haben, durch jene ihre Erklärung finden? Gewiss nicht; denn es handelt sich bei diesem um Hervorragungen, die durch und durch aus spongiöser Knochensubstanz bestehen; auch würde der Strang nicht durch sie erklärt. Ich vermute, dass die von Leisering und Müller erwähn- ten Cysten sogenannte Pseudoatherome der Schleimhaut des Nasen- septums sind. Könnte man an Parasiten denken? Gewiss nieht; denn wie sollten Parasiten 7 in kaudo-kranialer Riehtung liegende Ossifikationen her- vorgebracht haben, oder gar den 154!/, Millimeter langen Strang. Und Geschwülste? können aus dem normalsten Knochengewebe gebildete, weit ab vom nächsten Knochen im knorpligen Nasen- septum liegende Ossifikationen Osteome sein, Osteome, die noch dazu metamer liegen? kann der aus regulärem fibrillärem Bindegewebe be- stehende Strang ein das knorplige Nasenseptum der Länge nach durchsetzendes Fibrom sein? Unmöglich. Der Strang und die 7 genannten, ‘in kaudo-kranialer Richtung liegenden Ossifikationen können demnach nichts pathologisches sein. Wenn wir aber keine pathologisch-anatomische Erklärung für den genannten Strang und die 7 Ossifikationen zu geben vermögen, da die- selben offenbar nicht pathologischer Natur sind, so gelingt es viel- leicht, auf vergleichend-anatomischem Wege den morphologischen Wert derselben zu finden. Gegenbaur hat bekanntlich die Theorie vom vertebralen und prävertebralen Schädel der Wirbeltiere aufgestellt. Der vertebrale Schädel reicht nach ihm so weit, als, seiner Ansicht nach, die Chorda reicht, bis zum Dorsum ephippü, und ist aus Wirbeln konkresziert zu denken; der prävertebrale Schädel hingegen ist ein chordaloser, ist 4) Leisering und Müller, Handbuch der vergleichenden Anatomie der Haussäugetiere, 6. Auflage des Gurlt’schen Handbuchs, Berlin 1885, pag. 467. 152 Albrecht, Chorda dorsalis im Nasenseptum eines Rindes, Fig. 1. Linksseitige Ansicht des 154!/, Millimeter Chorda dorsalis und 7 Wir- belzentren enthaltenden knorpligen Nasenseptums und der angrenzenden Kör- perteile eines erwachsenen Rindes '/,. Präparat Nr. 4875 des Museums der Ecole de Me&decine v&t&rinaire de l’Etat zu Cureghem-lez-Bruxelles. BE Basiethmoid (Lamina perpendicularis des Siebbeins). N Linkes Nasenbein. BR Basirhinoid (Cartilago quadrangularis nasji). ER Linkes Ektorhinoid (plattenartige Abbiegung des knorpligen Nasenseptums oder Seitenwandknorpel) ** Ansatzstelle des linken Ektorhinoides an das linke Nasenbein. hn Haut und Knorpel medialwärts vom linken Naseneingange. im(c) Schnabel des linken innern Zwischenkiefers im(pp) Processus palatinus des linken innern Zwischenkiefers. *#* Sutura endo-exognathica sinistra (Naht zwischen den Gaumenfortsätzen des innern Zwischen- und des Oberkiefers). Albrecht, Chorda dorsalis im Naseneeptum eines Rindes. 155 mi = — am a ee ——n sm Processus palatinus des linken Oberkiefers. ssm Pneumatische Höhle im Processus palatinus des linken Oberkiefers. V Vomer. 1 Die Strecke I bis & ist die von der Chorda dorsalis durchsetzte Strecke des knorpligen Nasenseptums. * Chordaloser Abschnitt des knorpligen Nasenseptums. I, II, IIE, IV, V, VI, VII sind sieben aus spongiöser Knochensubstanz beste- hende basirhinoidale Wirbelzentren. « Chorda dorsalis zwischen dem 3. und 4. Wirbelzentrum. ß Chorda dorsalis zwischen dem 5. und 6. Wirbelzentrum. y Chorda dorsalis zwischen dem 7. Wirbelzentrum und der Haut. x Stelle, wo die Chorda dorsalis an die Haut stößt. Auf der Zeichnung ist, um die Lamina perpendicularis des Siebbeins zur Ansicht zu bringen, der am Präparat dieselbe verdeckende mediale Abschnitt der linken obern Siebbeinmuschel fortgelassen. Derselbe wurde zu diesem Zwecke sanft abgehoben und die hinter ihm liegende Pars perpendieularis des Siebbeins gezeichnet. 154 Albrecht, Chorda dorsalis im Nasenseptum eines Rindes. nicht aus Wirbeln konkresziert zu denken, sondern lediglich dureh Aus- wachsen des kontinuierlich gewordenen vertebralen Schädels in An- passung an die Riechgruben hervorgegangen!). Einen außerordentlichen Fortschritt über diese Theorie hinaus hat meiner Ansicht nach von Kölliker gemacht. Erstens nämlich hob er hervor, „dass zwischen den beidenSphenoidalia zurZeitderVerknöcherung derselben sich eine mehr faserige Zwischenlage, natürlich ohne Chorda, entwickle, die an die Lig. intervertebralia erinnert?). Da er im Texte eben vorher die Oceipito-sphenoidalsynehondrose für eine echte Zwi- schenwirbelscheibe erklärt hatte, so musste selbstredend die Aeuße- rung, dass die Spheno-sphenoidalsynehondrose an ein Ligamentum intervertebrale erinnere, in einem konsequenten Kopfe jeden Glauben an den niemals gegliedert prävertebralen Schädel Gegenbaur’s erschüttern. Weshalb? Nun einfach, weil die Spheno- sphenoidal- synchondrose vor dem Dorsum ephippii, vor dem vermeintlichen Ende der Chorda, sogar noch vor dem im hintern Keilbeinkörper liegenden Duetus eranio-pharyngeus, der der Rathke’schen Tasche einst zum Durchtritt gedient haben soll, liegt. Erinnerte also die Spheno-sphe- noidalsynchondrose nach von Kölliker an ein Ligamentum interverte- brale, so war der erste Nachweis einer Gliederung im sogenannten prävertebralen Schädel da. Aber von Kölliker ist weiter gegangen, er hat noch ein zweites großes Verdienst. Er sagt: „Ja selbst beim Verknorpeln und bei „der Verknöcherung zeigen sich noch Uebereinstimmungen genug, „welche keine Schädel deutlicher erkennen lassen, als die der Sela- „chier (S. die schönen Längsschnitte auf den Tafeln IV— VI von Gegenbaur), und es erscheint sicherlich nieht geraten, zwischen „den beiden Schädelabsehnitten eine zu tiefe Kluft zu ziehen. Ich „halte es daher für ganz erlaubt, das Sphenoidale anterius, die Lamina „perpendieularis des Siebbeins und das Septum narium als das vordere „Ende der Wirbelkörpersäule des Schädels anzusehen, und die Alae „orbitales, die Labyrinthe des Siebbeins und die Nasenflügelknorpel „den Alae magnae und Oceipitalia lateralia anzureihen, welche Auf- „fassung sowohl für die knorpligen als für die knöchernen Teile zu- „treffend erscheint ?).“ Herr von Kölliker hat hier also selbst das Basipräsphenoid, die Lamina perpendieularis des Siebbeins und das knorplige Nasen- {) Gegenbaur, Untersuchungen zur vergleichenden Anatomie der Wirbel- tiere, Leipzig 1872, 3 Heft, S. 295. 2) von Kölliker: Entwicklungsgeschichte des Menschen und der höheren Tiere, 2. Auflage, Leipzig 1879, S. 459. Schon früher, als ich nämlich die Epiphysen in der Spheno-sphenoidalfuge gefunden hatte, sprach ich mich für die Richtigkeit dieser Theorie aus. Zoolog. Anzeiger, 1879, S 447. 3) v. Kölliker |. ce. pag. 462. Albrecht, Chorda dorsalis im Nasenseptum eines Rindes. 155 septum für das vordere Ende der Wirbelkörpersäule erklärt. Nach ihm gibt es also nur noch einen chordalen und einen prächordalen Schädel, vertebral sind sie beide. Wenn nun aber Basipräsphenoid, Lamina perpendicularis des Siebbeins und knorpliges Nasenseptum nach von Kölliker’s Theorie das vordere Ende der Wirbelkörpersäule, korrekt ausgedrückt Wirbel- zentrenkomplexe sind, was könnte Herrn von Kölliker angenehmeres geschehen, als dass jemand ihm diese Theorie, die er ohne Beweis gelassen hat, bewiese? Was könnte ihm, um seine Theorie aus der Ungewissheit zur Gewissheit zu erheben, erfreulicher sein, als dass ihm jemand nachwiese, dass die Lamina perpendieularis des Sieb- beins, die er für einen Wirbelzentrenkomplex hält, durch metamere Ossifikationszentren verknöchert, dass sogar das knorplige Nasen- septum, das er für einen knorplig bleibenden Wirbelzentrenkomplex hält, unter Umständen metamere Ossifikationszentren erhält, dass schließlich das knorplige Nasenseptum, aas er, ich wiederhole es, für einen knorplig bleibenden Wirbelzentrenkomplex hält, unter Um- ständen noch Reste der Chorda dorsalis aufweisen kann? Denn wo Wirbelzentrenkomplex ist, da kann auch Chorda dorsalis, da können, da sollten sogar auch unter Umständen kaudo-kranial liegende Ossi- fikationszentren auftreten! Das muss Herr von Kölliker zugeben. Ich glaube, dass ich solche Beweise an der Hand habe. Das Basiethmoid verknöchert metamer. Schon Rambaud und Renault geben an, dass die Crista galli und die Lamina perpendieularis des Siebbeins gemeinschaftlich (mein Basiethmoid) von jederseits 5 Ossifi- kationszentren aus ossifiziert werden. Diese 5 Ossifikationszentren liegen in kaudo-kranialer Richtung medialwärts von den Foramina criberosat). Wer denkt hier nieht an die Hemizentren der Wirbelzentren, wie sie noch am Zentrum des Atlas der Säugetiere und an den Kreuzbein- wirbelzentren der Vögel getrennt auftreten, während das sonst im Wirbelzentrum auftretende unpaare Ossifikationszentrum den morpholo- gischen Wert eines rechten und eines linken hemizentrischen Ossifi- kationszentrums besitzt. 4) Rambaud et Renault, Origine et d&veloppement des os, Paris 1864, pag. 118. Vers la fin de la premiere annee on apercoit A la base de Vapophyse crista-galli de chaque eöte suivant la direction qu’ occupera la lame criblee, une serie de points; nous en avons compt& ceing paires, chacun d’eux a peu pres d’un demi-millimetre. Ces points se joignent sur la ligne mediane en arriere, et forment les deux tiers posterieurs de la crete, envahie ainsi de dehors en dedans. En mä&me temps ils s’etendent lateralement et par les inter- valles qwils laissent entre eux, forment la moiti& interne des trous de la lame eribl&ee. Und weiter unten auf pag. 119: Les granules apparus sur la limite de la cerete et de la lame verticale que nous avons vus se prolonger dans l’apophyse erista-galli s’e&tendent aussi en bas dans la lame verticale et l’en- vahissent peu & peu. 156 Albrecht, Chorda dorsalis im Nasenseptum eines Rindes. Aber Rambaud und Renault geben sogar in ihrem Atlas Tafel 10 Fig. 7 eine Abbildung eines knorpligen Siebbeins oder viel- mehr eines knorpligen Kraniostyls, der auf der uns zugewendeten Seite sieben in kaudo-kranialer Riehtung, demnach strikte metamer zu einander liegende Ossifikationszentren im Basiethmoid dort zeigt, wo die Crista galli in die Lamina perpendieularis übergeht. Fig. 2. Fig. 2: Linksseitige Ansicht des knor- pligen Kraniostyls!) eines ungefähr ein- Jährigen Kindes. (Unter teilweise ver- änderter Figurenbezeichnung nach Ram- baud und Renault, Origine et de- veloppement des os, Tafel 10 Fig. 7.) A, Ventraler Abschnitt des Kraniostyls, aus dem die spätere knöcherne Lamina perpendicularis‘ des Siebbeins und die Cartilago quadrangularis sich ableiten, während die Vomerhälften sich auf den untern und hintern Abschnitt der- selben legen. B, Dorsaler Abschnitt des Kraniostyls (knorplige Crista galli). 1—7. Sieben in kaudo-kranialer Richtung zu einander gelegene Ossiflkations- zentren, von denen aus die Lamina perpendicularis und die Crista galli des Siebbeins ossifizieren. Ihre Figur ist in obenstehender Figur 2 wiedergegeben. Da hätten wir also die gesuchte metamere Verknöcherung des Basiethmoides, da hätten wir also einen Beweis für die von Kölliker’sche Theorie, dass die Lamina perpendieularis des Siebbeins ein Wirbelzentren- komplex ist! kambaud und Renault haben die Wichtigkeit ihres Befundes nicht erkannt, da sie keine vergleichenden Anatomen waren; und so geschah es, dass, während Herr von Kölliker kein Faktum für seine Theorie hatte, Rambaud und Renault keine Theorie für das von ihnen gefundene Faktum besaßen. Und vergleichen wir nun das Rambaud und Renault’sche metamer verknöchernde Basiethmoid (Fig. 2) mit dem Basirhinoid oder der Cartilago quadrangularis nasi unseres Rindes (Fig. 1), wer- den wir nicht erschüttert sein angesichts der Uebereinstimmung, die sich in beiden Figuren ausspricht ?! Auch in dem Basirhinoide unseres Rindes befinden sich metamere, aus spongiöser Knochensubstanz bestehende Ossifikationszentren! Auch vom Basirhinoide hat Herr von Kölliker vermutet, dass es ein 1) Rambaud und Renault sagen: cloison mediane du nez. Es wäre gut den Namen „knorpliges Nasenseptum* ganz abzuschaffen, da es beim jungen Individuum aus Basiethmoid, Basirhinoid und Vomergrundlage, im erwachsenen nur aus dem Basirhinoid oder der Cartilago quadrangularis nasi gebildet wird. Albrecht, Chorda dorsalis im Nasenseptum eines Rindes. 457 Wirbelzentrenkomplex sei! Könnte er sich einen schönern, herrlichern Beweis als diese beiden Figuren für die von ihm vermutete Wirbel- zentrenkomplexnatur des Basiethmoides und des Basirhinoides wünschen ? Ich glaube nein. Und doch! Er könnte verlangen, dass auch noch Chordareste in diesen beiden, oder in einem dieser beiden Wirbel- zentrenkomplexe nachgewiesen würden. Und was kann denn der 154!/, Millimeter, 7 knöcherne Wirbelzentren tragende Bindegewebestrang im Basirhinoide unseres Rindes sein als die Chorda dorsalis, die sich durch einen besondern Zufall nicht völlig zurückgebildet, sondern zu einem charakteristischen aus fibril- lärem Bindegewebe bestehenden Strange entwickelt hat. Der Strang ist zu charakteristisch, zu sehr gegen das umgebende Gewebe mikro- wie makroskopisch abgesetzt, um eine andere Deutung zuzulassen. Fig. 3. Cliche der Fig 308, 5. 509 der Fig. 3. 2. Auflage der Entwicklungsgeschichte des Menschen und der höheren Tiere von v. Kölliker. Die von v. Kölliker gegebene Figurenerklärung lautet: Fig. 308: Längsschnitt durch Kopf und Herz eines Kaninchembryo von 9 Tagen und 2 Stunden. ph Schlund; vd vordere Darmpforte; r Rachenhaut; p Parietalhöhle; Ak vordere Wand der- selben (Herzkappe, Remak) aus dem Entoderma und der Darmfaserplatte bestehend; a Vorhof; vo Kammer; ba Bulbus aortae; kk Kopfkappe aus dem Entoderma allein bestehend; %ks Kopf- scheide des Amnion aus dem Ektoderma allein bestehend; mr Medullarrohr; v% Vorderhirn ; mh Mittelhirn; Ah Hinter- hirn; s Scheitelhöcker; ms mittlerer Schädelbalken Rathke’s; ch vorderstes Ende der Chorda, an das Ektoderma anstoßend; A leichte Einbiegung des Ektoderma, aus welcher später die Hypophysis sich bildet Vergr. 55mal. Nehmen wir daher jetzt wieder die Figur 308 der 2. Auflage der Entwicklungsgeschichte des Herın von Kölliker her, an der ich mir die gehorsamste Frage „Ist — da zugegebenermaßen ms die primitive Sattellehne ist — die Strecke zwischen ms und Ah der spheno- ethmoidale Teil des Schädels, ja, oder nein?“ an ihn zu richten erlaubte), so wird der geehrte Leser einsehen, wo ich hinaus will. Der 1) Biolog. Centralblatt IV pag. 724. 158 Albrecht, Chorda dorsalis im Nasenseptum eines Rindes. Punkt ch der Figur des Herrn von Kölliker (Fig. 3 ch), wo die Chorda ans Ektoderma stößt, ist dem Punkte x der Fig. 1 homolog. Denn hier wie dort stößt die Chorda ans Ektoderm! Da ms in Fig. 3 die primitive Sattellehne ist, so ist die Chorda auf der Strecke von ms bis ch der spheno-ethmo-rhinoidale Teil der Chorda dorsalis, deren rhinoidaler Abschnitt sich im Basirhinoide unseres Rindes Fig. 1 erhalten hat. Das Resume des Ganzen ist: Gegenbaur nimmt einen verte- bralen und einen prävertebralen, einen chordalen und einen prä- chordalen Schädel an; von Kölliker hält den ganzen Schädel für vertebral, leugnet den prävertebralen Schädel, teilt aber den ganzen vertebralen Schädel wiederum in einen chordalen und in einen prä- chordalen Schädel ein; ich schließlich halte den ganzen Schädel für vertebral und chordal. Als Beweise für von Kölliker’s Theorie habe ich metamere Ossifikation des Basiethmoides (Fig. 2), metamere Ossifikation des Basirhinoides (Fig. 1), als Beweise für meine Theorie Chorda im ganzen spheno-ethmo-rhinoidalen Absehnitt des Schädels beim embryonalen Kaninchen (Fig. 3), Chorda im rhinoidalen Abschnitt des Schädels beim erwachsenen Rinde (Fig. 1). Zum Schlusse erlaube ich mir noch die folgenden zwei Bemer- kungen. Herr von Kölliker sagte in seiner Antwort vom 15. Februar d. J.!), ich habe in meiner mehrfach genannten Abhandlung alles geleugnet, was Rathke etc. über die Entwicklung der Hypophysis gesagt hätte; dies ist nicht ganz richtig. Ich habe mit Rathke ge- leugnet, was Rathke gesagt hat; denn Rathke hat bereits 1847 alles, was er über die Entstehung der Hypophysis aus der nach ihm benannten Tasche in früheren Jahren veröffent- licht hat, für falseh erklärt?). Herr von Kölliker macht mich ferner auf drei, wie ihm scheint, mir unbekannt gebliebene Abbildungen zur Entwicklungsgeschichte der Hypophysis und des Schädels?) aufmerksam, die bei etwas gutem Willen hinreichende Aufklärungen über die Beziehungen der Chorda zur Hypophysis geben. Ich kenne diese Abhandlung wohl, und Herr von Kölliker durfte auch davon überzeugt sein, dass ich sie kenne; denn, nachdem er die Güte gehabt hatte, mir auf dem Kongresse in Kopenhagen zu raten, ich möge mir dieselbe beschaffen, wäre es doch ganz unverzeihlich gewesen, wenn ich sie mir nicht sofort besorgt haben würde. 1) Biolog. Centralblatt V pag. 11. 2) Rathke: Ueber die Entwicklung der Schildkröten. Braunschweig 1848. (bereits 1847 geschrieben) pag. 29. 3) von Kölliker: Embryologische Mitteilungen 1) Ueber das vordere Ende der Chorda dorsalis bei Kaninchenembryonen. Festschrift der Hallenser naturforschenden Gesellschaft, 1879, pag. 115. Frommann, Untersuchungen über tierische und pflanzliche Zellen. 159 Die Figuren selbst beweisen nicht Herrn von Kölliker’s An- sicht, sondern meine; seine eignen Bezeichnungen sprechen für mich: vs der Fig. 1 der genannten Schrift ist mit ms der vorstehenden Fig. 3 identisch; beide sind der mittlere Schädelbalken Rathke’s oder der vordere Schädelbalken von Kölliker’s. Wie in der vorstehen- den Fig. 3 ms zwischen Zwischenhirn und Mittelhirn liegt, so liegt in der Fig.1 der „Embryologischen Mitteilungen“ vs zwischen Zwischen- hirn und Mittelhirn. Der ganze spheno-ethmoidale Abschnitt des Schä- dels, der in unserer Fig. 3 vor ms, zwischen ms und %h liegt, liegt auch in Fig. 1 der „Embryologischen Mitteilungen“ vor vos unter Zwischen- und Vorderhirn, ist aber auf dieser Figur nicht durch Buchstaben be- zeichnet!). Eigentümlich ist nur, dass sich in Fig. 1 der „Embryolo- gischen Mitteilungen“ zwischen dem Epithel der vordern Wand der sogenannten Hypophysistasche und dem Gehirn deutlich gezeichnetes embryonales Bindegewebe befindet, während bei der ungleich. stär- kern Vergrößerung desselben Präparates in Fig. 2 das genannte Epithel dem Gehirn sehr viel näher und, ohne dureh embryonales Bindegewebe von demselben getrennt zu sein, anliegt?). Brüssel, den 22. März 1885. C. Frommann, Untersuchungen über Struktur, Lebens- erscheinungen und Reaktionen tierischer und pflanzlicher Zellen. Jena. Fischer. Sep.-Abdr. aus Jen. Zeitschr. f. Naturwissenschaft. Bd. XVII. Veranlassungen zu den vorliegenden Untersuchuugen geben „Beobachtungen über den überraschenden Einfluß, welchen induzierte Ströme auf den Ablauf der in Krebsblutkörpern sich vollziehenden Umbildungen ausüben“. Sie werden ausgedehnt auf tierische und pflanzliche Zellen und beschäftigen sich mit den Veränderungen, die sowohl spontan als Ausdruck der in ihnen thätigen Kräfte, als auch namentlich unter dem Einfluß induzierter Ströme und chemischer Reagentien eintreten. Unter den angegebenen Bedingungen untersuchte Ver- fasser von tierischen Objekten die Blutkörperchen des Krebses, die „Mus- kelkörner“ desselben, Blutkörper von Asellus aquaticus, Salamandra macu- lata, dem Frosche, Flimmerzellen und Körnerhaufen von der Rachenschleim- haut des letztern ete. Von pflanzlichen Objekten werden besprochen die Drüsenhaare von Pelargonium zonale, Epithelzellen der Kronenblätter von Corcopsis bicolor, Epidermis- und Mesophylizellen von Sanseviera carnea; an- geschlossen sind Bemerkungen über einige Vorgänge in Zellen mit Plasma- strömung und solche über Struktur der Zellmembranen und über Membran- lücken. — 4) Es ist eben die im Texte S. 115, 24. Linie von oben erwähnte „äußerst zarte Mesodermanlage* von Kölliker’s. 2) Anmerkung der Redaktion: Eine Nachschrift zu obigem Artikel erscheint in nächster Nummer. 160 Einfluss des Magnetismus auf die Entwicklung des Embryos. Als Beispiel dafür, in welcher Richtung diese übrigen, mit ungeheurem Fleiße angestellten Untersuchungen sich bewegen, sei die Beschreibung der „spontan und nach Einwirkung induzierter Ströme eintretenden Veränderungen des Inhalts der Köpfchen der Drüsenhaare von Pelargonium zonale* heraus- gegriffen. Nach Frommann besteht der Inhalt der Zellen wesentlich aus weißen oder gelblichen Körnern ungleicher Größe und Gestalt. Die letztere kann sein rund, oval, quadratisch, rechteckig oder polygonal, seltener sichel-, halbmond-, spindel- oder bimmförmig. Eine körnchenhaltige Flüssigkeit, oft von zahlreichen Fäden durchzogen, liegt zwischen diesen Körnern, zu denen sich noch stabförmige oder anders gestaltete Gebilde gesellen können, die hin und wieder netzartig miteinander verbunden sind ete. Dann folgt die Beschrei- bung der Veränderungen, welche sich innerhalb unversehrter Zellen (in Zucker- lösung liegend) abspielen, und die in einem Wechsel der Form und Größe jener erstgenannten Körner, ihres Brechungsvermögens bestehen, sowie in Teilungs- und Abschnürungsvorgängen, in ihrem Zerfall oder Verschmelzen ete. Aehn- liche Mitteilungen enthalten die anderen Abschnitte. Nachträglich seien übrigens zu der in Nr. 18 des vorigen Jahrganges in dem Aufsatz über „Protoplasmaverbindungen zwischen benachbarten Zellen“ ge- gebenen Literaturzusammenstellung angefügt die „Beobachtungen über Struktur und Bewegungserscheinungen des Protoplasmas der Pflanzenzellen* von From- mann 1879, in denen sich Beobachtungen dargestellt finden, die sich vielleicht zum Teil mit den besprochenen decken. C Der Einfluss des Magnetismus Se die Entwicklung des Embryos bildete kürzlich den Gegenstand einer Mitteilung von Prof. Maggiorani vor der Academia dei Lincei. Eine gewisse Anzahl von Eiern wurde von der ge- nannten Forschung während der künstlichen Brut dem Einfluss kräftiger Mag- neten ausgesetzt, die gleiche Anzahl von Eiern von jeder magnetischen Ein- wirkung ferngehalten ausgebrütet; es zeigte sich, dass, wie das schon früher beobachtet worden war (Natura. 1878), Amal mehr Eier der erstern Gruppe in ihrer Entwicklung gehemmt wurden als in der zweiten. Nach der Geburt der jungen Hühner war die Sterblichkeit unter den der ersten Gruppe ent- sprossenen dreimal größer als unter denen aus der zweiten Gruppe; während die letzteren sich sämtlich normal entwickelten, wiesen von 114 der ersten Gruppe nicht weniger als 60 bemerkenswerte Fehler auf, auch zeigten sie ab- norme Bewegungen. 6 dieser letzteren Hühner wuchsen voll auf, von densel- ben waren zwei Hähne von prächtiger Statur und mit einem unersättlichen reproduktiven Appetit ausgestattet, ganz anders stand es dagegen mit den 4 Hühnern; eins derselben legte überhaupt nie, die drei anderen legten fast nur ganz kleine Eier, von höchstens 30 Gramm Gewicht, ohne Dotter, Keim- bläschen, also vollständig unfähig zur Entwicklung von Jungen. Behrens (Gütersloh). Die Herren Mitarbeiter, welche Sonderabzüge zu erhalten wün- schen, werden gebeten, die Zahl derselben auf den Manuskripten an- zugeben. Einsendungen für das „Biologische Centralblatt“ bittet man an die „Redaktion, Erlangen, physiologisches Institut‘‘ zu richten. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Uentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Y. Band. 15. Mai 1885. Nr. 6. Inhalt: Hertwig, Das Problem der Befruchtung und der Isotropie des Eies, eine Theorie der Vererbung. — Beneden, Untersuchungen über Reifung des Eies, Befruchtuug und Zellteilung. — Miliarakis, Die Verkieselung lebender Ele- mentarorgane bei den Pflanzen. — Kreuzhage und Wolff, Bedeutung der Kieselsäure für die Entwicklung der Haferpflanze nach Versuchen in Wasser- kultur. — Marshall, Ueber die Tsetse-Fliege. — Sanson, Ueber die quater- nären Equiden. — Albrecht, Ueber die Chorda dorsalis und 7 knöcherne Wir- belzentren im knorpligen Nasenseptum eines erwachsenen Rindes. (Nachtrag.) — Zopf, Die Spaltpilze. 3. Aufl. — Hüppe, Die Methoden der Bakterien- forschung. — Zacharias, Das Mikroskop. — Behrens, Die amerikanischen zoologischen Sommerstationen. — Vogt und Yung, Lehrbuch der praktischen vergleichenden Anatomie, O. Hertwig, Das Problem der Befruchtung und der Iso- tropie des Eies, eine Theorie der Vererbung. Sep.-Abdr. aus der Jen. Zeitschr. f. Naturwissensch. Bd. XVII N. F. XI. Bd. 1884. 43 8. Fast gleichzeitig mit dem in der vorigen Nummer dieses Blattes besprochenen Buche von Strasburger erschien auch die vorliegende Arbeit, wie jenes ebenfalls ein Versuch, das Problem der Befruchtung unserem Verständnis näher zu bringen. Im eigentlichen Kernpunkt der Frage gelangen die Verf. zu ganz derselben Anschauung, welche in dem Satz: „Die Befruchtung beruht auf der Verschmelzung von ge- schlechtlich differenzierten Zellkernen“, schon früher von Hertwig in derselben Form ausgesprochen war. Implizite sind in diesem Satz die Behauptungen eingeschlossen, dass die Kernsubstanz und nicht das Protoplasma der befruchtende Stoff ist, und dass die Kernsub- stanz als ein organisierter Bestandteil zur Wirkung kommt, dass mithin die Befruchtung ein morphologischer Vorgang ist. Da nun mit der Befruchtung auch die Uebertragung von Eigenschaften verbunden ist, muss zugleich die Kernsubstanz Träger der Eigenschaften sein, welche von den Eltern auf ihre Nachkommen vererbt werden. Es schließt dem- nach die Befruchtungstheorie auch noch eine Vererbungstheorie in 441 162 Hertwig, Befruchtung und Isotropie des Eies. sich ein. Diese Andeutungen werden genügen, um die Uebereinstim- mung der Hertwig’schen Theorie mit der von Strasburger durch- geführten deutlich zu zeigen. Im ersten Kapitel geht Verf. daran, den Satz zu beweisen, dass die Kernsubstanz der Befruchtungsstoff ist, welcher die Entwicklungs- prozesse anregt. Zunächst soll der ganze Befruchtungsprozess selbst dafür sprechen. „Ein Samenfaden dringt in die Oberfläche des Dotters ein, hier bildet sich sein Kopf in ein kugliges Kernchen um, das allmählich durch Aufnahme von Kernsaft etwas anschwillt und sich vom kontraktilen Faden loslöst. Wie nun früher der Samenfaden das Ei aufgesucht hat, so wandert jetzt der Spermakern dem Eikern entgegen, welcher sich gleichfalls, wenn auch viel langsamer, in Be- wegung setzt. Beide Kerne, durch den Dotter einander entgegen- strebend, treffen sich nach einiger Zeit, legen sich fest zusammen, platten sich mit den Berührungsflächen gegenseitig ab und verschmel- zen nach einiger Zeit zu dem Keimkern“. Es genügt also nicht das Eindringen des Samenfadens in das Ei zur Befruchtung, sondern es ist dies nur die Einleitung zu derselben. Unterbleibt die Kernver- schmelzung, so unterbleibt auch die Eifurchung. Dass auch dem Protoplasma, das heißt der Geißel des Samenfadens, befruchtende Eigenschaften zukämen, ist höchst unwahrscheinlich. — Noch mehr offenbart sich die befruchtende Wirkung des Kerns in den Fällen, wo die Samenfäden in die Eizellen vor Abschluss ihrer vollständigen Reife eindringen, wie bei den Nematoden, Hirudineen, Mollusken und anderen. Am schönsten ist das bei den Nematoden zu sehen, wo von van Beneden und Nussbaum diese Erscheinungen studiert sind. Hier bleiben die großen Samenkörper, welche die Ge- stalt einer Spitzkugel haben, längere Zeit nach ihrem Eindringen ganz unverändert in ihrer ursprünglichen Gestalt in der Eirinde liegen. Trotz ihres Eindringens kann der embryonale Entwicklungsprozess noch nicht beginnen, weil der Eikern, mit dem der Spermakern ver- schmelzen muss, noch nicht gebildet ist. Dies geschieht erst nach dem Hervorsprossen der Richtungskörper; alsdann geht auch der eingedrungene Samenkörper als solcher zu grunde, der Spermakern setzt sich in Bewegung, die Kernverschmelzung erfolgt, die embryo- nale Entwicklung beginnt. Endlich wird noch die Thatsache ange- führt und für die vorliegende Theorie verwertet, dass häufig die embryonale Entwicklung sich in ihren Anfangsstadien nur in einer Vervielfältigung des Kerns äußert, wie das bei den Eiern sehr vieler Arthropoden der Fall ist. Das zweite Kapitel stellt dann die Behauptung auf: „Die befruch- tende Substanz ist zugleich auch Träger der Eigenschaften, welche von den Eltern auf ihre Nachkommen vererbt werden“. Von der Er- fahrung ausgehend, dass alle auf geschlechtlichem Wege erzeugten Organismen im allgemeinen beiden Eltern gleich viel ähneln, werden Hertwig, Befruchtung und Isotropie des Eies. 163 zunächst die beiderlei Geschlechtszellen der verschiedensten Organis- men einem Ueberblick unterworfen. Wie allbekannt, zeigt sich dabei, dass zwei an Masse durchaus verschiedene Elemente die gleiche Ver- erbungspotenz besitzen. Entweder muss also der männliche Keimstoff in demselben Maße, als er an Quantität geringer ist, eine größere Wirksamkeit als der weibliche Keimstoff haben, oder die Geschlechts- zellen bestehen aus verschiedenen Stoffen, von welchen die einen in bezug auf die Vererbung wirksam, die anderen unwirksam sind, die Größenzunahme der Eier beruht im letztern Falle auf Ansammlung unwirksamer Teile. Die erstere Annahme ist sofort fallen zu lassen, da sie Unterschiede gleichwertiger Substanzen voraussetzt, die sonst im organischen Leben nicht vorkommen. Bekanntlich hat Nägeli ein Idioplasma und ein Ernährungsplasma unterschieden; beide waren für ihn aus theoretischen Spekulationen gewonnene Begriffe. Hertwig versucht nun zu zeigen, dass die Kerne der Sexualprodukte den An- forderungen, welche die Nägeli’sche Hypothese stellt, vollkommen genügen. Eine Menge von Thatsachen, namentlich die neuerdings von vanBenedenan Ascaris megalocephala gemachten Beobachtungen spre- chen für die Aequivalenz von Ei- und Spermakern, deren Dimensionen zwar sehr verschieden sein können, im Moment der Verschmelzung aber sich meist gleichen. Ein großes Gewicht ist sodann auch darauf zu legen, dass die normale Befruchtung, welche eine regelmäßige Ent- wicklung anregt, stets nur durch ein einziges Spermatozoon ausge- führt wird. Dagegen, dass der kontraktile Faden des Spermatozoons etwa auch eine Vererbungspotenz besitze, lässt sich mit der Thatsache streiten, dass er nicht aus einfachem Protoplasma besteht, sondern ein Plasmaprodukt ist, er ist, wie die Muskelfibrille, ein zu einem bestimmten Arbeitszweck angepasstes und umgewandeltes Plasma, er ist einzig und allein ein Bewegungsorgan. — Nach allem ist es also sehr wahrscheinlich, dass das „Nuklein“ die Substanz ist, welche nicht allein befruchtet, sondern auch die Eigenschaften vererbt und als solches dem Idioplasma Nägeli’s entspricht. Das Nuklein ist aber auch vor, während und nach der Befruch- tung in einem organisierten Zustand, es ist deshalb die Befruchtung nicht nur ein chemisch-physikalischer Vorgang, wie die Physiologen meist anzunehmen pflegten, sondern gleichzeitig auch ein morphologi- scher Vorgang, insofern ein geformter Kernteil des Spermatozoons in das Ei eingeführt wird, um sich mit einem geformten Kernteil des letztern zu verbinden. Es stehen sich bekanntlich hier immer noch zwei Ansichten gegenüber, eine, nach welcher die Befruchtungsstoffe als morphologische Teile, das heißt im organisierten Zustande wirken sollen, die andere, nach welcher eine Auflösung und eine Neuorgani- sation der Befruchtungsstoffe stattfinden soll. Es würde hier zu weit führen, auf die Anschauungen der einzelnen Forscher, die dieser Frage 11% 164 Hertwig, Befruchtung und Isotropie des Eies. näher getreten sind, einzugehen. Es mag nur angedeutet werden, dass in neuerer Zeit sich mehr und mehr Stimmen für das Persistieren der Geschlechtskerne vernehmen lassen. Für die Pflanzen ist dies durch die Untersuchungen Strasburger’s eine unumstößliche That- sache. Dass die Geschlechtskerne echte Zellkerne sind, steht für die Pflanzen ebenfalls lange fest. Im Tierreich haben namentlich die Be- obachtungen von Flemming, Selenka, Nussbaum etc. auf die- selbe Richtung gewiesen. Verf. glaubt es nach allem für ein völlig gesichertes Ergebnis halten zu dürfen, dass der Kopf des Samenfadens direkt vom Nuklein der Spermatocyte abstammt, und dass er bei der Befruchtung direkt in den Spermakern übergehe. Auch der Eikern ist keine Neubildung; es ist die Kontinuität der Kerngenerationen in der Eizelle niemals unterbrochen, es finden wohl Kernumbildungen, aber keine Kernneubildungen statt. Omnis nucleus e nucleo. Nachdem Ref. so den Gedankengang des Verf. skizziert hat, möge es gestattet sein, mit des Verf. eignen Worten die Zusammen- fassung zu geben: „Die mütterliche und die väterliche Organisation wird beim Zeugungsakte auf das Kind durch Substanzen übertragen, welche selbst organisiert sind, das heißt welche eine sehr komplizierte Molekularstruktur im Sinne Nägeli’s besitzen. In der Entwicklung einer Organismenkette finden keine Urzeugungen statt, nirgends wird sie durch desorganisierte Zustände unterbrochen, aus welchen wie durch einen Akt der Urzeugung erst wieder Organisationen entstehen müssten. In der Aufeinanderfolge der Individuen vollziehen sich nur, in ihrem innersten Wesen uns freilich unverständliche Wandlungen der Organisation, wobei in gesetzmäßigem Rythmus Kräfte entfaltet und neue Spannkräfte gesammelt werden. Als die Anlagen von kom- plizierter molekularer Struktur, welche die väterlichen und mütter- lichen Eigenschaften übertragen, können wir die Kerne betrachten, welche in den Geschlechtsprodukten sich als die einzigen einander aequivalenten Teile ergeben, an welchen wir bei dem Befruchtungsakt allein außerordentlich bedeutsame Vorgänge beobachten und von denen wir allein den Nachweis führen können, dass von ihnen der Anstoß zur Entwicklung ausgeht. Während der Entwicklung und Reifung der Geschlechtsprodukte sowie bei der Kopulation derselben erfahren die männlichen und weiblichen Kernsubstanzen, wie eingehende Be- obachtung lehrt, niemals eine Auflösung, sondern nur Umbildungen in ihrer Form, indem Eikern und Spermakern, der eine vom Keimbläs- chen, der andere vom Kern der Samenmutterzelle abstammen“. Anhangsweise bespricht Hertwig die Bedeutung der Polyspermie für die Befruchtungs- und Vererbungstheorie, jene Fälle also, wo zwei Spermatozoen in ein Ei eindringen und sich in die Substanz des Eikerns teilen, sodass also statt eines Keimzentrums sich deren zwei bilden. Fol hat bekanntlich auf solche Vorkommnisse hin seine Theorie der Doppel- und Mehrfachmissbildungen aufgestellt. Auch Hertwig, Befruchtung und Isotropie des Eies. - 165 die Isotropie des Eies verwertet Verf. für seine Anschauung. Ich muss indess darauf verzichten ihm hier zu folgen, da eine Wieder- gabe seiner Gedanken in wenigen Sätzen unmöglich ist. Das letzte Kapitel des interessanten Aufsatzes beschäftigt sich mit dem Verhältnis, in dem Kernsubstanz und Protoplasma zu einan- der stehen. Das Protoplasma vermittelt den Verkehr mit der Außen- welt, indem sich in ihm die Ernährungsprozesse abspielen und es zur Gewebebildung in Beziehung steht; der Kern dagegen erscheint als das Organ der Fortpflanzung und Vererbung, das Nuklein ist eine Substanz, welche die Eigenschaften der Eltern auf die Kinder über- trägt, und während der Entwicklung selbst von Zelle auf Zelle über- tragen wird. Demgemäß kann man annehmen, dass der Micellarver- band im Protoplasma ein lockererer sei als im Kern, worauf schon die Protoplasmaströmung schließen lässt. Die Annahme einer festern Organisation der Kernsubstanz aber wirft wiederum ein neues Licht auf die embryonalen Prozesse, welche sich zunächst an die Befruch- tung anschließen. Das Wesentlichste und Wichtigste bei denselben sieht Verf. in der Vermehrung, Verteilung und Individualisierung der Kernsubstanz. Im ganzen genommen dürfte die bekannte Ro ux’sche Hypothese über die Bedeutung der Kernteilungsfiguren der Wahrheit ziemlich nahekommen. „Wenn sich die Kräfte, welche die Kern- und Zellteilung beherrschen, in den Kern selbst verlegen, will ich hierbei eine Mitwirkung des Protoplasma durchaus nicht ausgeschlossen haben, im Gegenteil glaube ich, dass ein sehr kompliziertes Wechsel- verhältnis vorliegt. Um die Vorstellung, welche ich mir hierüber gebildet habe, klar zu machen, finde ich sehr geeignet den Vergleich des sich teilenden Kerns mit einem Magneten, der in Eisenfeilspäne getaucht ist. Wie der Magnet aus regelmäßig angeordneten Teilchen zusammengesetzt ist, unter deren Einfluss auch die gewöhnlichen Eisenfeilspäne polarisiert werden, ebenso zeigt unserer Hypothese nach der Kern einen festern Micellarverband, welcher bei der Zell- teilung eine umlagernde Wirkung auf die nur locker gruppierten Micellen des Protoplasma ausübt. Wie der Magnet in seiner Stellung durch benachbarte Eisenmengen beeinflusst wird, indem er durch solche aus seiner Richtung bekanntlich abgelenkt werden kann, so wird auch die Lage des sich teilenden Kerns durch die Massenver- teilung des Protoplasma bestimmt, indem seine beiden Attraktions- zentren stets in die Richtung der größten Massenansammlung des Protoplasma zu liegen kommen.“ Mit diesem Gedanken schließt die Abhandlung. Von ihrem un- endlich reichen und wertvollen Inhalte habe ich in Vorstehendem nur ein flüchtiges Bild entwerfen können. Wenn auf der andern Seite dennoch eine gewisse Ausführlichkeit obwaltet, so geschieht es des- halb, um den Weg zu kennzeichnen, auf dem der Verf. selbständig zu einem Resultat gekommen ist, das fast gleichzeitig Strasburger 166 Beneden, Reifung des Eies, Befruchtung und Zellteilung. auf andere Weise sich ergab. Gemeinsam ist beiden, dass sie sich auf den Boden der genialen Nägeli’schen Idioplasmatheorie stellten; ob das Resultat als gesichert betrachtet werden kann, wird die Folge lehren. C. Eduard van Beneden, Recherches sur la Maturation de !’Oeuf, la Feeondation et la Division Cellulaire '). Besprochen von W. Flemming. Das Buch van Beneden’s nimmt unter den Fortschritten, welche die Lehre vom Leben der Zelle und speziell der Eizelle jetzt in raschem Tempo macht, eine besonders hervorragende Stelle ein. Begrenzt auf die Erforschung der Eireifung und Spermabildung, Befruchtung und Eiteilung bei einem Nematoden, Ascaris megolacephala des Pferdes, gibt es ein glänzendes Beispiel dafür ab, wie grade durch Vertiefung in ein einzelnes Objekt die Kenntnis dieser Vorgänge gefördert wer- den kann, wenn dies Objekt günstig gewählt ist und mit der Sach- kenntnis, dem Talent und Geschick bearbeitet wird, über die ein Forscher wie van Beneden verfügt. Das Objekt ist allerdings für die Untersuchung der erwähnten Fragen vorzüglich; nach van Beneden’s Ausspruch dürfte es bald ein klassisches werden. Von den Vorzügen sei nur erwähnt, dass in dem 15—20 cm langen Uterus, in welchem die Eier alsbald nach ihrem Eintritt mit den Spermatozoen gemengt und befruchtet werden, und weiter in der Vagina, ein massenhaftes Material an Eiern zu finden ist, die je am Orte alle im gleichen Entwicklungsstadium stehen; dass ferner die Spermatozoen durch Größe und eigentüm- liche Form besonders deutlich gekennzeichnet sind, dass man am überlebenden Ei das Eindringen des Spermatozoon in allen Phasen beobachten, und den anfänglichen Teil dieser Vorgänge auch mit verschiedenen Tinktionen kontrolieren kann; erst nach stärkerer Aus- bildung der Eimembran wird die Anwendung der letztern und über. haupt die Präparation schwieriger. — Es wurden teils die Eier aus den geöffneten Genitalschläuchen auf das Objektglas gebracht und hier fixiert und gefärbt; teils geschah dies mit den letzteren und ihrem Inhalt in toto. Die besonders benutzten Mittel waren: 3 °/, Salpeter- säure, Drittelalkohol, Osmiumsäure, Eisessig; Boraxkarmin, Fuchsin und Pikrokarmin. Auf die genaue morphologische Beschreibung des weiblichen Genitalapparats von Ascaris m., die den ersten Abschnitt des Buches 1) Archives de Biologie, Vol. IV, 1883 — 1884. Vollständig erschienen: April 1884. Beneden, Reifung des Eies, Befruchtung und Zellteilung. 167 bildet, soll hier nur verwiesen und dem Charakter dieser Zeitschrift gemäß nur über die Resultate, welche die Biologie des Eies betreffen, näher berichtet werden. Vom Eierstocksei von Ascaris m. gibt v. B. eine sehr genaue Beschreibung (S. 68—115), die vieles neue und wichtige enthält. Kurz vor der Befruchtungsreife hat das Ei nieht kuglige Totalform, sondern ist ellipsoid, dabei einem Bulbus oculi ähnlich geformt: die der Cornea entsprechende, vorgewölbte Partie nennt v. B. „region parapolaire“, die Furche um sie her „cerele parapolaire“. Das Ei zeigt im übrigen eine hellere periphere Schale („couche corticale“) und dunklere Zentral- masse („masse medullaire“), letztere aber exzentrisch, gegen die Parapolargegend hingerückt. Letztere enthält die Stelle, an der das Spermatozoon eintritt (Pöle d’impregnation; der gegenüberliegende Pol: „P. neutre“). Die dunkle Zentralmasse des Eies reicht in der Gegend des Cercle parapolaire nahe an die Eiperipherie. Die Eier aus dem untern Teil des Ovariums haben noch die Form einer Keule, mit sehr langem Stiel (Queue); mit der Reifung wird dieser Stiel immer mehr verkürzt, zugleich verdickt, und es tritt dabei eine schiefgedrückte Form des Eikörpers hervor, in der sich deutlich eine bilaterale Symmetrie ausspricht. Die Oberfläche des Stiel- endes wird zu der Parapolarregion. Hier tritt um die Zeit, wo der Stiel sich schon erheblich verkürzt hat, eine radiäre (zur Oberfläche senkrechte) Streifung auf; die so gebaute Stelle, von v. B. „Disque polaire“ genannt, enthält den Imprägnationspol. Weiter unterscheiden sich an diesem Disque zwei Lagen, nach ihrem Tinktionsverhalten: „Couche achromophile“ (die oberflächliche) und „chromophile“ (die tiefe). Später zieht sich die achromophile Substanz in das Zentrum des Polfeldes zusammen und bildet hier eine Hervorragung, den Impräg- nationspfropf („Bouchon d’impregnation“). Es liegt nahe, worauf auch v.B. hinweist, diese Hervorragung mit dem „Dotterhügel“ zu vergleichen, den Selenka und ich an Echinideneiern gefunden haben. — Eine eigentliche, auch nach innen scharf abgesetzte Membran (Membrane vitelline) existiert am unbefruchteten Ei noch nicht, aber die äußerste Schicht der Eizelle ist im Zustand vor der Befruchtung schon stärker liehtbrechend und von besonderer Resistenz; nur der Imprägnations- pfropf wird von dieser Schicht freigelassen, und beim Zerdrücken des Eies quillt seine Substanz an dieser Stelle heraus. Der Zellkörper des Eies enthält drei Arten von Einschlüssen: 1) hyaline Kugeln, leicht färbbar durch Pikrokarmin; 2) Vakuolen (gouttelettes homogenes), von ungleichmäßiger Form und Größe, und 3) kleine, stark-lichtbrechende Körperchen, von etwas eckigen Formen und wechselnder Größe, zuweilen von radiär gereihter Anordnung. Die Zellsubstanz, in welcher diese Dinge eingeschlossen sind, „das Protoplasma“, ist in Strängen und Fachwerken, oft von deutlich 168 Beneden, Reifung des Eies, Befruchtung und Zellteilung. radiärem Typus, angeordnet, deren Zwischenräume durch jene Tropfen und Kugeln eingenommen werden. Das Protoplasma selbst aber (v. B. p. 84) zeigt in sich noch eine Struktur aus Fäden und Inter- filarmasse, wie wir sie nun von so vielen Zellenarten kennen!); die Fäden („Fibrillen“) haben knötchenförmige Verdickungen, von v. B. als Mikrosomen bezeichnet. In dem Kern oder Keimbläschen des Eies findet v. B. neue und eigentümliche Bauverhältnisse. Im jungen, keulenförmigen Ova- rialei zeigt sich der Kern gerundet, mit glänzendem rundem Nukleolus (Keimfleck); in letzterem allein ist Chromatin in verdichtetem Zustand angehäuft (in gelöstem Zustand jedoch auch im übrigen Kern ent- halten, vgl. unten); v. B. findet kein chromatinhaltiges Kerngerüst, und überhaupt kein solches?). Für den Nukleolus schlägt er den Namen „Corpuscule germinatif“ vor: denn nach dem Verhalten bei der Richtungskörperbildung (s. u.) betrachtet v. B. diese Körperchen in der Eizelle nicht als homolog mit dem Nukleolus einer sonstigen Zelle. Das Keimkörperchen ist, an tingierten Salpetersäurepräparaten, 4) Die Verwirrung, die ich mir für den Fall vorauszusagen erlaubte, dass man bei heutiger Kenntnis der Zellstrukturen das Wort Protoplasma weiter gebraucht, ist in vollem Gange. Van Beneden, mit einigen anderen, nennt die ganze Zellsubstanz Protoplasma und unterscheidet darin Fibrillen und Zwischenmasse. Andere, jetzt wohl die meisten, nennen nach Kupffer die Fibrillen Protoplasma und die Zwischensubstanz Paraplasma. Es fehlte nur noch, dass man die letzteren Bezeichnungen umkehrte; und das ist denn auch durch Brass geschehen, welcher das „Paraplasma“ als das eigentliche Plasma, und die Fäden als ein nebensächlicheres Ernährungsmaterial auffaset. — Zur Vermeidung solcher Unsicherheit habe ich empfohlen und kann dabei nur bleiben, das Wort Protoplasma in morphologischem Sinne überhaupt nicht zu verwenden, sondern den ganzen Zellenleib Zellsubstanz zu nennen, und die Strukturen darin nach ihren Formen zu bezeichnen. Dieser Vorschlag war so einfach, dass er auf manchen Seiten gar nicht verstanden worden ist. 2) So muss ich wenigstens die Darstellung van Beneden’s p. 104—115 auffassen; die in dem Hyalosom auftretenden „Fibrilles achromatiques*, von denen alsbald die Rede sein wird, sind doch, so viel ich entnehme, eine Er- scheinung, die erst kurz vor der Maturation eintritt, im unreifen Ei noch nicht vorliegt. Dass die Kerne auch anderer Eizellen relativ arm an Chromatin sind und dieses größtenteils, oft fast ganz, in den Nukleolen (Keimflecken) angehäuft tragen, ist wohl bekannt. Aehnliche Verhältnisse existieren, wie ich a a. O. beschrieben habe, auch bei einzelnen anderen, ganz verschiedenen Zellenarten (z. B. Nervenzellen, Fadenalgen); auch hier ist der Nukleolus der Hauptsitz des Chromatins, aber es bestehen dabei doch zarte Kerngerüste. Ich bin nicht der Ansicht, wie dies v.B. anzunehmen scheint, dass Kerngerüste immer chro- matinhaltig sein müssten; ich verweise z. B. auf meine Beschreibung der Kerne von Spirogyra (Zellsubstanz, Kern und Zellteilung 8.159, 167, Fig. 30 Taf. Ib). — Aber sollten die Gerüststrukturen dem unreifen Ei von Ascaris wirklich ganz fehlen, so würde dies meines Erachtens ein Unicum sein. Beneden, Reifung des Eies, Befruchtung und Zellteilung. 169 umgeben von einer besondern, stärker tingierbaren Portion „Prothyalo- some“; diese nimmt den einen Pol des Kerns ein. Außer dem Keim- körperchen finden sich im Kern noch 1-3 kleinere Nebennukleolen (Pseudonuel&oles), von abgesetzten Höfen umgeben. Eine Membran umschließt den Kern. Das Keimkörperchen erscheint bei Salpeter- säure- oder Alkoholbehandlung und Tinktion nicht rund (wie frisch oder mit Osmiumsäure), sondern aus mehreren Teilen zusammengesetzt ; es ist nach v. B.’s Schilderung am reifen Ei gebaut: „de deux dis- ques quadrilateres juxtaposes; ces disques sont composes l’un et l’autre de quatre globules chromatiques, relies entre eux par une substance incolore“ (p. 110, 113). Das Prothyalosom ist deutlich begrenzt und hell. Vor der Befruchtung erscheint im Hyalosom ein Bündel achro- matischer Fäden, ausgehend von jenen „Disques“ des Keimkörperchens. Eine Anordnung der chromatischen Substanz des Keimkörperchens zu einer Knäuelfigur, als Vorbereitung zur Richtungskörperbildung, hat v. B. nicht gefunden. — Der übrige Teil des Kerns außer dem Hya- losom — „portion accessoire — enthält nach v. B.’s Ansicht Chromatin in einer gelösten oder aufgequollenen Modifikation, da er sich bei geeigneter Behandlung in einigem Grade färben lässt. Im befruch- tungsreifen Ei löst sich die Kernmembran und ein Teil der accesso- rischen Portion des Kerns zu feinen varikösen Fäden auf. Noch vor der Befruchtung erfolgt, wie es scheint aufgrund von Austritt flüs- siger Substanz, eine Verkleinerung der accessorischen Kernportion; die Kernmembran zerlegt sich ganz in variköse Fädehen, denen des Eikörpers ähnlich. Von zwei Seiten drängen sich dann neben dem Hyalosom vakuolisierte Portionen des Eikörpers in den Kern hinein, und die in vorerwähnter Art veränderte accessorische Portion des- selben wird dadurch in die Form einer Platte gebracht, die etwa rechtwinklig auf der Längsachse des Hyalosoms steht, wie der verti- kale Schenkel eines T auf dem horizontalen. Diese Veränderungen des Kerns spielen sich entweder noch ganz vor der Befruchtung ab, oder sind, wenn sie sich verspäten, doch von letzterer ganz unab- hängig. Offenbar enthalten diese Befunde, verglichen mit dem sonstigen, was wir bisher über den Bau von Eizellenkernen wussten, sehr viel Neues und Ueberraschendes und fordern von selbst zur Prüfung mit weiteren Reagentien, und zum Vergleich anderer Objekte auf. Es ist in neuerer Zeit wohl kaum an dem Ei eines Tieres so viel von Bauverhältnissen berichtet und so genau beschrieben worden, wie in diesem Fall!). Die Wichtigkeit solcher Verhältnisse hervorhebend (p. 70), bekennt sich v. B. voll zu demselben Gedanken, den ich vor 1) Verschiedene neue Arbeiten, welche sich auf axiale Orientierung und Bauverhältnisse beziehen, sind bei van Beneden zitiert. 170 Beneden, Reifung des Eies, Befruchtung und Zellteilung. zehn Jahren schon eben so ernstlich vertreten habe!) wie kürzlich ?): dass wir im Ei selbst nach einer morphologischen Differenzierung zu suchen haben, wenn wir in der Embryologie und Vererbungslehre gründlich weiter kommen wollen. Ich gebe diesem Gedanken hier absichtlich nochmals eine markierte Fassung, indem ich ihn in den Satz kleide: Die heute gangbare Theorie der Epigenese, ein so großer Fortschritt sie gewesen ist, genügt nicht: denn sie kann sich selbst nicht erklären. Die alte Theoria evolutionis enthält neben allem Un- sinnigen einen wahren und gesunden Kern, der nach heutigen Be- griffen heißt: Das Ei muss in sich einen differenten Bau und Struktur- verhältnisse haben, durch welche die Art seiner Entwicklung prä- destiniert ist. Sehr genau untersucht v. B. ferner die Spermatozoen, wie sie sich im Uterus verhalten. Diese entbehren bei den Nematoden be- kanntlich der Schwanzgeißel, und bewegen sich, wie Schneider fand, durch amöboide Formveränderung. Die in den Uterus einge- tretenen Spermatozoen machen daselbst eine Reihe von Veränderungen durch, und zeigen demnach verschiedene Formtypen; als gemeinsamen Bestandteil haben alle einen stark chromatischen, kompakten, relativ kleinen Kern, der aus dem Kern des Spermatocyts abzuleiten ist. Die verschiedenen Formen nennt v. B.: 1) Type spheroidal; das runde Körperchen besteht aus dem Kern, einem größern Teil mit reihen- förmig geordneter Granulierung — eigentlich variköse Fädchen ?) — und einem kleinern mehr homogenen Teil, der einseitig kalotten- förmig aufsitzt. 2) Type pyriforme: die Kalotte hat sich zu einem Zapfen verlängert; auch sie zeigt im Innern eine feine granulierte Streifung. Die Granulierung des andern Teils ist deutlich radiär angeordnet. 3) Type campanuliforme: die Kalotte ist noch stärker verlängert zu einem spitzigen Zipfel, einem Füllhorn ähnlich; im inneren dieses Zipfels ist ein dichterer Strang (bätonnet axial) auf- getreten. 4) Type conoide: der Zipfel ist verdickt und seine Spitze abgerundet, das Axialstäbehen verstärkt und gefaltet, um dasselbe her ist an der Oberfläche des Zipfels eine Membran ausgebildet. — Die Befruchtung kann dureh Spermatozoen aller drei letzteren Typen ausgeführt werden, meistens geschieht sie durch die konoiden Formen. Die Darstellung des Befruchtungsvorgangs leitet v. B. mit der Betrachtung ein, dass die bloße Anwesenheit eines Spermatozoon im Ei noch keine Befruchtung bedeute. Diese werde erst gesetzt durch 4) Studien in der Entwicklungsgeschichte der Najaden. Wiener Sitzungs- bericht, m. n. Cl. B. 71, 3. Abth., 1875, S. 120. 2) Zellsubstanz, Kern und Zellteilung S. 69—71. 3) Ich übersetze den Ausdruck v. B.’s „moniliforme* mit dem bei uns ge- läufigern und gleichbedeutenden „varikös“ ; ebenso weiter unten. Beneden, Reifung des Eies, Befruchtung und Zellteilung. 171: die Kopulation der Sexualprodukte, welcher Ausdruck als präziser dem Worte „Imprägnation“ vorzuziehen sei. — Bei Ascaris folgt, nach dem Eintritt des Spermatozoon, zunächst !) die successive Bildung der zwei Richtungskörper ?), die nur die Vorbereitung zur wirklichen Befruchtung darstellt; dann die Kopulation der Sexual- produkte, d. h. der Pronuclei, dann die Teilung der Eizelle. Die vom Verf. empfohlene Behandlung, auf die für das Studium der folgenden Prozesse sehr viel ankommt, ist S. 141— 142 nachzu- sehen. Es dringt in den bei weitem meisten Fällen nur ein Spermatozoon ein (wie dies auch bei einigen anderen Tieren sichergestellt ist). Die Eintrittsstelle ist der Imprägnationspfropf (s. 0); er nimmt das Sper- matozoon auf und senkt sich dann mit ihm in die Tiefe des Eies. Der Zellkörper des Spermatozoon zeigt dabei amöboide Bewegungen. Ist sein dickerer Teil durch die Oeffnung der Eimembran getreten, so verschmilzt diese mit der Membran, welehe den Zipfel des Samen- körpers umgibt (s. o0.), zu einer zusammenhängenden Schicht. Die Erscheinungen des Eindringens hat v. B. bis in sehr feines Detail verfolgt; aus der Beschreibung sei hervorgehoben, dass der Proto- plasmateil des Spermatozoon während seiner Einsenkung in den Imprägnationspfropf Veränderungen erleidet: er wird auffallend färb- bar, die Nodositäten seiner Fäden werden blasser, diese selbst er- halten zwei Hauptrichtungen, senkrecht und parallel zur Fixations- fläche. Ferner, dass der Kern des Spermatozoon nach der Einsenkung blasser und schwächer tingierbar wird. Endlich, dass seine Längs- achse, beim Eindringen senkrecht zur Oberfläche des Eies, nach dem- selben sich schräg stellt, fast parallel zu dieser Fläche. Der das Spermatozoon umgebende Teil des Eikörpers bleibt als differenziert erkennbar, es lässt sich aber ein Imprägnationspfropf und Disque polaire daran nicht mehr unterscheiden. Vorher treten aber an dem Pfropf Strukturveränderungen in Form von parallelen Streifungen hervor, welche darauf hindeuten, dass bei der Einsenkung des Samen- körpers nicht bloß dieser, sondern auch der Pfropf aktiv beteiligt ist. Von der Bildung der Richtungskörper hat man bisher ziem- lich allgemein angenommen, dass ihr Wesen das einer Karyomitose sei, d. h. einer Metamorphose des Kerns, wie sie bei der Zellteilung eintritt. Die sämtlichen bisher vorliegenden Arbeiten schienen dies 1) Bei anderen Tierformen, z. B. Echinodermen, tritt bekanntlich die Rich- tungskörperbildung schon lange vor der Befruchtung, im Ovarium auf, ein Beweis, dass die letztere keine Veranlassung zu ersterem Vorgang zu sein braucht. 2) van Beneden braucht die übliche französische Bezeichnung „Globules polaires*, die im Grunde besser ist als „Richtungskörper“; da aber letzterer Name jetzt bei uns der geläufigste ist, bleibe ich hier dabei. 172 Beneden, Reifung des Eies, Befruchtung und Zellteilung. zu zeigen, allerdings sind die Figuren so klein und ihre Spezialunter- suchung so erschwert, dass ihre volle Uebereinstimmung mit ge- wöhnlichen Kernteilungsfiguren mehr Wahrscheinlichkeitsschluss als Sicherheit war. Van Beneden findet nun aber bei Ascaris m. so erhebliche Abweichungen der Richtungsfigur gegenüber den letzteren, dass er den Bildungsprozess jener Figur als „Pseudokaryokinese“ der gewöhnlichen Teilungsmetamorphose des Kerns gegenüberstellt. Die Totalform der Richtungsfigur bei Ascaris m. ist in dem Namen ausgesprochen, den v. B. ihr gibt: „Figure Ypsiliforme“. Es ist, wie bei einer mitotischen Kernteilung, ein chromatischer und achromati- scher Teil der Figur vorhanden. Der chromatische entsteht aus dem Keimkörperchen (vgl. oben). Der achromatische Teil ist nicht, wie es der sonstigen Auffassung der Richtungsfiguren entspricht, eine grade Fädenspindel, sondern besteht aus drei Schenkeln: zwei davon, die gleichwertigen Schenkel des Ypsilon, entsprechen der Spindel, welche aber in der Mitte gebogen ist; an dieser Stelle liegt die chro- matische Figur. Der dritte Schenkel, der Fuß des Ypsilon, hat eigent- lich die Form einer Platte, die im Eikörper ausgebreitet liegt und mit seinen Zellstrukturen in Konnex ist. Sie entsteht aus des „acces- sorischen Portion“ des Kerns und seiner Membran, aber gleich von Anfang an in Verbindung mit dem Strangwerk im Eizellenkörper. Die achromatische Spindel bildet sich aus der Substanz des Prothyalosoms, das ja schon vorher fädig umgewandelt war (s. oben). Während aber die achromatische Spindel, bei der Richtungsfigur wie bei der sonstigen Kernteilung, von den meisten als ein von Pol zu Pol reichendes Fäden- bündel aufgefasst wurde, findet v. B, dass sie hier in der Mitte unter- brochen ist und gleich in zwei Hälften angelegt wird; die Fäden jeder Hälfte sind an der Knickungsstelle in jenen plattenförmigen Fuß des Ypsilon umgeschlagen. Einige axiale Fasern jeder Halb- spindel sind dicker als die übrigen. — Eine weitere Abweichung vom Bekannten liegt im der chromatischen Figur: ihre Elemente sind hier nach v. B. nieht Fäden, wie bei der gewöhnlichen Zellteilung, sondern Körner. V. B. verweist darauf, dass bei der spätern Tei- lung der Eizelle von 4scaris m. wohlcharakterisierte chromatische Fäden, und zwar mit Längsspaltung, durch dieselbe Behandlung dar- gestellt werden, welche hier nur Körner zeigt; es sei also der Ver- dacht nicht berechtigt, dass letztere nur durch die Reagentien ver- quollenen Fäden entsprechen könnten, eine Verwechslung, die ja früher bei der Untersuchung der Zellteilung vielfach ins Spiel ge- kommen ist. — Die chromatische Figur besteht hier aus zwei Halb- gruppen von je 4 rundlichen Körnern; sie liegt in einer hellen Sub- stanzportion, durch welche die axialen achromatischen Fäden noch hindurchreichen. — An jedem Pole der Spindel liegt granulierte Masse von etwa halbkugliger Form, von deren konvexer Seite eine Strah- lung von varikösen Fäden in den Eikörper zieht, in Verbindung mit dessen Strängen. — Beneden, Reifung des Eies, Befruchtung und Zellteilung. 173 Diese Richtungsfigur nun bewegt sich gegen die Oberfläche des Eikörpers, und zwar, wie es scheint, nach dem „neutralen Pol* zu — also gegenüber dem Imprägnationspfropf. Die Spindelpole kommen ganz an die Peripherie zu liegen. Der Kniekungswinkel der Spindel flacht sich ab, endlich erreicht die helle Mittelportion mit der chroma- tischen Figur auch die Oberfläche. Die Fußplatte des Ypsilon formt sich in der Art um, dass ihre Fasern gegen die Oberfläche des Eies zusammengedrängt, und Stränge des umgebenden Eikörpers an sie agglutiniert werden (v. B. p. 222); somit gewährt jetzt die Figur, beim Aufblick auf die Oberfläche des Eies, das Totalbild eines Kreuzes, dessen einer Arm durch die Spindel, dessen anderer durch die kantenständige und zusammengedrängte Fußplatte des Ypsilon dargestellt wird, und in dessen Mitte die achromatische Figur liegt (z. B. Taf. 15 Fig. 15, 20, 23). — Das Spermatozoon ist inzwischen in die Mitte des Eies gerückt und mit der Fußplatte des Ypsilon durch Stränge in Verbindung gesetzt. Es folgt nun die Teilung des Prot- hyalosoms und der chromatischen Figur, und damit die Bildung des ersten Richtungskörpers; für die sehr spezielle Beschreibung dieses und der vorhergehenden Prozesse sei auf p. 218—232 verwiesen. Wohl das Merkwürdigste dabei ist, dass die Teilung der Figur nach v. B. nicht, wie man bisher allgemein beschrieb, quer gegen die Axe der achromatischen Spindel erfolgt, sondern längs durch diese Axe, in einer Ebene, die der tangierenden des Eies nahezu parallel steht. Somit geben die beiden primären chromatischen Disques der Figur von je 4 Kugeln (s. o.) nicht je in eine der Tochterfiguren ein, son- dern jeder gibt die Hälfte seiner Elemente in je eine der letzteren. Als Richtungskörper wird hauptsächlich nur die Hälfte des Prothya- losoms mit der halben chromatischen Figur abgetrennt; es dürfte nur wenig, wenn überhaupt etwas, vom Zellkörper des Eies hinzukommen. Die zurückbleibende Hälfte des Hyalosoms mit seinem chromatischen Inhalt nennt v. B. das „Deuthyalosom“. Während der Bildung des ersten Richtungskörpers gibt das Ei eine homogene Schicht ab, die „erste Perivitellinmembran‘“, die sich an die Innenfläche der Membrane oospermatique (s. o.) anlegt. Wäh- rend dieser Vorgänge verkleinert sich der Zipfel des Spermatozoon, und dessen Axialstäbchen wird blass und verschwindet. Wenn im Innern des Eies lokalisiert, besteht das Spermatozoon aus dem blas- ser gewordenen Kern, einem hellen Hof um diesen her, und aus einer diesen umgebenden, dichter granulierten Schicht (aureole); beide letz- teren Portionen sind mäßig tingierbar. Eine radiäre Strahlung macht sich in der Umgebung des so veränderten Samenkörpers bemerklich (v. B.’s Fig. 2, 4 Taf. 16). Die Bildung des zweiten Richtungskörpers erfolgt unter Erscheinungen, die auffallenderweise von denen der ersten Richtungs- körperbildung erheblich abweichen. Das Deuthyalosom, das bei letz- 174 Beneden, Reifung des Eies, Befruchtung und Zellteilung. terem Prozess im Ei zurückgeblieben war und zwei chromatische Scheiben enthielt, teilt sich wieder in zwei Teile, den 2. Richtungs- körper und den definitiven weiblichen Pronukleus. Während dies ge- schieht, liegt das Deuthyalosom nahe der Oberfläche des Eikörpers; aber sein Ort steht sehr oft nicht gegenüber dem an der Membran haftenden ersten Richtungskörper, was v. B. auf eine inzwischen ge- schehende Rotation des Eies in seiner Membran bezieht. — An zwei opponierten Punkten des Deuthyalosoms entstehen nun Strahlungen; ein Teil dieser Strahlen verlängert und ordnet sich so, dass sie von beiden Seiten um die Mitte des Hyalosoms her eine rautenartige Figur bilden (was bei der ersten Richtungskörperbildung nicht der Fall war). Diese Strahlen schwinden später wieder. Das Hyalosom mit der chromatischen Figur, deren Elemente sich inzwischen wieder vermehrt haben, macht eine Drehung der Axe von 90°, so dass letztere etwa parallel der Eioberfläche zu stehen kommt, und teilt sich wiederum, wie bei der ersten Richtungskörperbildung, der Länge nach, nicht im Aequator seiner achromatischen Spindelfigur. Für das sehr genau verfolgte Detail muss ich wieder auf das Original verweisen. In dem zweiten Richtungskörper werden wiederum 4 chromatische Elemente ausgesondert, eine entsprechende Portion bleibt als chromatischer Teil des definitiven Pronukleus. Der zweite Richtungskörper bleibt am Eikörper sitzen; dieser scheidet eine zweite Perivitellinhülle ab, nach- dem seine periphere Schicht darauf bezügliche Strukturveränderungen erlitten hat. An die Schilderung dieser Vorgänge knüpft v. B. einen Zweifel gegen die bisherige Auffassung, dass die Richtungskörperbildung eine Zellteilung, und also diese Körper selbst Zellen zu nennen seien. Er glaubt dies nicht: denn wenn auch die Richtungskörperbildung eine gewisse Aehnlichkeit mit der Karyokinese habe, so zeige er doch den erheb- lichen Unterschied, dass bei ihm die Teilungsebene durch die Axe gehe, während sie bei der sonstigen Zellteilung dem Aequator ent- spricht. — Gegen diesen Schluss und gegen die ganze Darstellung, die v.B. von der Richtungskörperbildung gegeben hat, sind zwar be- reits von anderer Seite Zweifel ausgesprochen, und es wird gewiss darauf ankommen, durch genaue Prüfung an anderen Eiern zu ent- scheiden, wie und ob sich die bisherigen abweichenden Befunde an solchen mit der „Pseudokaryokinese“ vereinigen lassen; — vorderhand aber scheinen mir solche Zweifel nicht begründet. Zu ihrer Stützung würde vor allem erst eine Nachprüfung von van Beneden’s so äußerst eindringender Untersuchung an seinem eignen Objekt zu ver- langen sein. So viel Neues, Wertvolles und Seltsames das bis hier Berichtete auch enthält, so erscheinen doch die Befunde noch weit wichtiger und überraschender, die van Beneden über die folgenden Vorgänge: die Bildung, Veränderung und Kopulation der Pronuklei, Beneden, Reifung des Eies, Befruchtung und Zellteilung. 15 und die Teilung des daraus hervorgehenden Kopulationskerns mitgeteilt hat. Wir nahmen bisher an, dass der weibliche Pronukleus (Eikern Hertwig’s) mit dem männlichen Pronukleus (Spermakern) zu einem wirklichen Zellkern verschmilzt, und dass dann in diesem eine Mitose (Fadenmetamorphose) eintritt, wie in den Kernen anderer Zellen bei der Teilung. Die neue Wendung, die van Beneden dieser Auf- fassung gibt, lässt sich in kurzen Zügen so charakterisieren: die bei- den Pronuklei erfahren jeder für sich eine Mitose, bevor sie sich ver- einigt haben, und auch so verschmelzen sie nicht ganz. In jedem bildet sich eine chromatische Knäuelfigur. Der Fadenzug jedes Knäuels verkürzt sich zu je einer Fadenschlinge, diese segmentiert sich in jedem der beiden Pronuklei zu zwei V-förmigen Schleifen. Jetzt erst be- ginnen die schon zerlegten Kernmembranen beider Pronuklei zu einem Kontur zu konfluieren. Man hat also nun 4 getrennte Schleifen in dem Kopulationskern, zwei männliche und zwei weibliche. (Die Zahl derselben ist also viel geringer als bei anderen Zellen: bei Salamandra 24). Jede dieser Schleifen erfährt Längsspaltung (und zwar so, dass die Schwesterspaltfäden anfangs an den Enden noch zusammenhaften). Während dieser Längsspaltung hat die chromatische Figur die Sternform. Die Umordnung der gespaltenen Schleifen aus dieser Form zu den Tochterkernfiguren geschieht nach v. B. so, dass von je zwei Halbfäden der eine in diese, der anderein jene Tochterfigur geht, das heißt also: jeder Tochter- kern bekommt 2 männliche und 2 weibliche Faden- schleifen. Es ist klar, dass die Längsspaltung der chromatischen Fäden bei der Kernteilung, die ich vor acht Jahren auffand und gegen manche Anfechtung zu verteidigen gehabt habe, hierdurch ein beson- deres Interesse erhält. Was ich nur gemutmaßt, aber an meinen Ob- jekten nicht hatte zeigen können: dass die je zwei Spaltfäden in verschiedene Tochterfiguren einbezogen werden, ist inzwischen, schon vor dem Erscheinen von van Beneden’s Buch, aber ohne dass dieser bei der Abfassung bereits Kenntnis davon hatte, von E. Heuser an Fritillaria und anderen Pflanzen nachgewiesen, und seitdem von C. Rabl auch an Tierzellen bestätigt worden. Aber von ganz beson- derer Bedeutung und Tragweite ist es, dass van Beneden jetzt eine differente Sexualität der chromatischen Fädenschleifen bei der ersten Kernteilung im Ei nachweist und damit aufstellt, dass eine jede Zelle des künftigen Leibes auf dem Wege der Fädenlängsspal- tung einen männlichen und einen weiblichen Anteil in ihren Kern geliefert erhält! Wie mir scheint würde schon dies allein genügen, um dem Werke van Beneden’s einen der ersten Plätze in der Ge- schichte der zellularen Forschung zu sichern. Denn damit erhält die Befruchtungstheorie von O. Hertwig so- 176 Beneden, Reifung des Eies, Befruchtung und Zellteilung. wohl eine Befestigung, als einen ganz neuen Ausbau. Diese Theorie ist gestützt auf die positive Entdeckung Hertwig’s, dass männlicher und weiblicher Pronucleus im Ei existieren und sich vereinigen. Sie ist angegriffen worden von A.Schneider, und zwar grade aufgrund von Arbeiten an Ascaris megalocephala, und ist gegen diesen Angriff von mir !), und seitdem von Nussbaum, van Beneden und Eberth verteidigt worden. Schneider’s Zweifel kann man jetzt um so mehr als zurückgewiesen betrachten, als Nussbaum und van Be- neden am gleichen Objekt wie er gearbeitet haben. Nussbaum, dessen Publikationen ?) vor derjenigen van Beneden’s erschienen sind, gebührt vor diesem hierin sowie in mehrerem anderem die Priorität; er hat die Richtungskörperbildung verfolgt, die er aller- 4) Eine Besprechung darüber und Angabe der Lit. siehe in dieser Zeit- Behritt.. Bd. IU®NTT 21"W 22: 2) Vorläufige Mitteilung „Ueber Befruchtung“ : 5. August 1883, in Sitzungsber. d. niederrhein. Ges. f. Nat. u. Heilk.; die ausführliche Arbeit: Archiv f. mikr. Anat. B 23, 8. 155, ausgeg. d. 6. Februar 1884. — A. Schneider hat über das Werk van Beneden’s eine Beurteilung geäußert, die ich sehr wenig ge- recht finde. Er sagt, dass „dieses Werk ausschließlich Untersuchungen über die von Schneider entdeckten Erscheinungen der Befruchtung ete bei Ascaris m., und die von Nussbaum dazu gemachten Verbesserungen enthalte“, dass er „wesentlich, ja selbst unwesentlich Neues darin nicht gefunden habe*, und dass „die Untersuchungen van Beneden’s nur als solche angesehen wer- den könnten, die nach Schneider’s eignen und Nussbaum’s Arbeiten er- schienen seien, so, dass v. B. Kenntnis von diesen gehabt habe* (Zoologische Beiträge, 1, 2, Breslau 1834). — Der dritte Puukt trifft zu in Bezug auf das Buch Schneider’s: „Das Ei und seine Befruchtung“, erschienen Juni 1883, und auf die kurze vorläufige Mitteilung Nussbaum’s (August 1884); nicht aber für die ausführliche Arbeit des letztern „Ueber die Veränderungen der Ge- schlechtsprodukte ete.“, denn diese erschien am 6. Februar 1884, van Bene- den’s Buch im April 1884, es ist also nicht zu verlangen, dass Dieser schon während der Abfassung seines letzten Teils von jener Abhandlung Kenntnis haben sollte Nussbaum’s Priorität in denjenigen Punkten, welche hier oben im Text erwähnt sind, wird van Beneden gewiss nicht antasten; dadurch wird die Fülle von eignen neuen Befunden und die genaue Durcharbeitung, die er gegeben hat, in ihrem hohen Wert nicht im mindesten beeinträchtigt. Dass er das Buch Schneider’s nur in einer Schlussnote, und die vorläufige Mitteilung Nussbaum’s gar nicht besprochen hat, mag man unrichtig finden oder nicht, jedenfalls ist es ganz ausgeschlossen, darin eine Ausnutzung frem- der Resultate zu sehen. Denn wenn Schneider den Eindruck hat, „dass die Beobachtungen van Beneden’s mit den in seinem (Schneider’s) Buche niederlegten vollständig übereinstimmten“, so bin ich nebst anderen durchaus entgegengesetzter Meinung; Schneider’s wesentlichste Schlüsse und der größte Teil seiner Beschreibung standen in vollem Widerspruch mit dem, was van Beneden gefunden hat, und ich kann es verstehen, dass dieser von einer weitläufigen speziellen Widerlegung abgesehen hat, um lediglich seine äußerst genaue Schilderung sprechen zu lassen. Beneden, Reifung des Eies, Befruchtung und Zellteilung. akrarl dings in vielem anders als van Beneden, und lange nicht so genau beschreibt, hat die Pronuklei und ihre Vereinigung im Ascaris-Ei auf- gefunden, und die mitotische Figur des Kopulationskerns gesehen und kurz beschrieben; wobei die Längsspaltung der chromatischen Schleifen geschlossen, aher nicht gesehen, und von der Ueberlagerung der Spalt- fäden auf verschiedene Tochterkerne nichts bemerkt worden ist (am zweitzit. Ort S. 173—174). In Bezug auf das Wesen der Befruchtung it Nussbaum, wie vorher andere und ich selbst, nicht über den Satz hinausgelangt, der schon in Hertwig’s Befruchtungstheorie liegt, „dass die Befruchtung in der Vereinigung zweier Zellen und der Vereinigung ihrer Kerne besteht“ (S. 189 a. a. O.), mit anderen Worten, dass die Pronuklei sich kopulieren und ihr Chromatin sich vereinigt. Aber grade auf die Frage, wie es hierbei des nähern zugeht, beziehen sich van Beneden’s letztbesprochene Resultate. Er findet, dass nicht eime wirkliche Verschmelzung der Kernsub- stanzen erfolgt, sondern dass bei der ersten Mitose die männlichen und weiblichen chromatischen Kernbestandteile getrennt bleiben, er macht es damit annehmbar, dass das Gleiche auch bei den weiteren Teilungen der Fall ist, und dass somit jede Körperzelle in ihrem Kern männliche und weibliche Bestandteile, und zwar wirklich morpho- logisch gesondert bewahren könnte. Auf dieser Grundlage und mit Bezug auf die Richtungskörper- bildung stellt v. B. folgende „Theorie der Befruchtung“ auf: das Ei, bei seiner ersten Teilung, ist eine hermaphroditische Zelle, da es dann in seinem Kern, dem Kopulationskern, zwei männliche und zwei weibliche Schleifen besitzt. Durch die gleiche Verteilung beider Schleifenarten vermöge der Längsspaltung in die Tochterkerne wird (so kann man annehmen, wenn es auch nicht bewiesen ist) jede wei- tere Körperzelle gleichfalls hermaphroditisch sein. Das gilt also auch für die ovariale Eizelle. Diese wirft, wenn sie der Befruchtung entgegengeht, in Form der Richtungskörper einen Teil ihrer Sub- stanz, und zwar hauptsächlich Chromatin ihres Kerns ab. v. B. nimmt an, dass dieses der männliche Anteil ist, den sie bsi sich hatte, und unterscheidet die rein- weibliche Eizelle, wie sie durch die Rich- tungskörperbildung geworden ist, durch den Namen: „weiblicher Go- noeyt“. — Ferner: bei der Bildung der Spermatozoen wird, nach v. Beneden’s und Julin’s eignen Beobachtungen bei Ascaris sowie noch manchen anderen neueren Befunden, aus der samenbildenden Zelle, dem Spermatocyten, ein chromatischer Teil abgeworfen, ehe diese Zelle sich zum Spermatozoon umformt. v. B. schließt, dass der hier abgeworfene Körper vice versa der weibliche Teil des noch herma- phroditischen Spermatocyten, dass der Vorgang also homolog der Richtungskörperbildung ist, und der Spermatocyt erst hierdurch zu einer rein-männlichen Generationszelle, zu einem „männlichen Gono- eyten“ wird. — 12 178 Beneden, Reifung des Eies, Befruchtung und Zellteilung. Auch die sonstigen Erscheinungen der Teilung der befruchteten Eizelle, soweit sie nicht schon im Obigen erwähnt sind, hat v. B. sehr genau verfolgt und beschrieben. Diese Erscheinungen sind, wie schon das frühere ergibt, ihrem Hauptwesen nach die einer karyomitotischen Teilung; ich hebe aus der Beschreibung hauptsächlich nur heraus, was dabei gegenüber der bisherigen Kenntnis besonders neu oder abweichend erscheint. Namentlich betrifft dies die Veränderungen im Zellkörper während der Teilung. Eine Markierung der Pole findet v. B. erst in der Sternphase der Kernfigur ausgesprochen, dann aber auch in einer auffälligen, bisher nicht in dieser Weise beschriebenen Art. Am Ende der achromatischen Spindel erscheinen zwei relativ große, runde Portionen, von v. B. „spheres attractives“ genannt, in Karmin ziemlich stark färbbar; sie haben in sich eine radiäre Strei- fung, in deren Zentrum ein Körperchen oder eine Anhäufung von solchen, das eigentliche Polkörperchen, liegt. Die Strahlung setzt sich über die Grenzen der Spären in den Eikörper fort!). Noch an- dere, bisher nicht bekannte Gruppierungen der Zellsubstanz während der Teilung zeigen die Figuren 2—11 v. B’s auf Taf. 19 ter. — Die achromatischen Spindelfäden sowie die Strahlen im Eikörper sind nach seiner Darstellung mehr oder weniger varikös (moniliformes). Die achromatische Spindelfigur reicht nach v. B. nicht kontinuier- lich von Pol zu Pol (s. o. die gleiche Ansicht für die Spindel der Richtungskörperbildung); er beschreibt sie deshalb auch nicht als eine Spindel, sondern als zwei Kegel von Fasern, mit den Spitzen an den Polen. Diejenigen achromatischen Fäden, welche nach der Trennung der chromatischen Tochterfiguren zwischen diesen liegen, sieht er nicht, wie wir bisher, als Teile der ursprünglichen achromatischen Spindel an, sondern als Stränge nicht tingierbarer Substanz, die aus den chromatischen Fäden entwickelt wurde. Er hebt besonders her- vor und zeigt deutlich, dass die letzteren ein achromatisches Substrat ° haben, in welche das Chromatin nur eingelagert ist; was übrigens von ziemlich allen neueren Untersuchern der Zellteilung, und so auch von mir anerkannt ist?). v. B. stellt auch an seinem Objekt fest, dass die chromatischen Schleifen, wie ich fand, die achromatischen Fäden berühren; während aber ich und dann auch Strasburger annahmen, dass jene sich an diesen entlang verschieben, hängen die Fäden nach v.B. mit freien Enden an den Schleifen und ziehen diese gegen die Pole. — v.B. leitet die achromatische Figur teils aus den zerlegten Membranen der Pronuklei, teils aus den geformten Struk- 4) Man wird daran denken, dass die Spheres identisch sind mit den hellen Räumen, welche auch bei anderen Eiern die Polkörperchen umgeben und viel- fach (so von Hertwig, Fol, mir) abgebildet sind. 2) Im zit. Buch S. 227 u. a.; ich merke dies an, weil v. B. (S. 370) an- zunehmen scheint, dass ich anderer Ansicht sei. Beneden, Reifung des Eies, Befruchtung und Zellteilung. 179 turen des Zellkörpers, teils aus solchen des Kerns ab. Es würde sich dies mit dem, was wir bis vor einem Jahr über das Entstehen der Spindel wussten !), gut vereinigen; nach den beiden neuesten Arbeiten von Rabl?) und Pfitzner?) aber sieht es aus, als ob an den betreffenden Objekten das Entwieklungsgebiet der Spindel ganz in den Kern fallen müsste; und es wird also weiter festzustellen sein, ob bei diesem Gebilde überhaupt von einer konstanten Zugehörig- keit zum Kern, zur Zeilsubstanz, oder zu beiden die Rede sein kann. Ich füge hier an, dass v. B. aus der erwähnten Zerlegung der Pro- nukleusmembranen, aus dem Zusammenhang der daraus entstehenden Stränge mit denen des Zellkörpers, und aus der körnigen (monili- formen) Beschaffenheit der Membran darauf schließt, dass die achro- matische Kernmembran im allgemeinen durchbrochen und dabei mit den Zell- und Kernstrukturen in Verbindung sei (näheres im Orig. S. 376 f.). Für die Fäden der chromatischen Figur bestätigt v. B. die von Balbiani und Pfitzner gefundene Zusammensetzung aus (hier sehr groben) ehromatischen Körnern und einer nicht- chromatischen Grundmasse. Er beschreibt, dass die Fäden vor ihrer Längstrennung breit-bandartig abgeflacht sind, und dass nach dieser Längstrennung eine Lamelle die beiden Spaltfäden noch zunächst verbindet: diese Lamelle („Lame intermediaire“) ist tingierbar, aber schwächer als die Spaltfäden selbst. (Diese Erscheinung kann man auch bei Präparaten von Wirbeltierzellen finden; ob man sie als reine Natur nehmen darf, möchte ich bezweifeln). Sehr empfehlenswert scheint mir der Vorschlag v. B.’s, die noch ungespaltenen und die gespaltenen chromatischen Fäden durch die Namen „primäre und sekundäre“ zu unterscheiden. Die Formerscheinungen der chromatischen Figur, die ja hier sehr locker ist und nur 4 (primäre) Schleifen erhält, sind deshalb in vieler Beziehung sehr übersichtlich. v. B. nimmt, in Einklang mit meinen Benennungen, eine Knäuelform (der Pronuklei) und eine Sternform, bei den Tochterkernen wieder eine Sternform an; aber aus dem Grunde, weil eine deutliche Knäuelform der Tochterkerne bei As- caris m. nicht vorliegt, stellt er das von mir vertretene Gesetz von der umgekehrten Repetition der Mutterphasen durch die Tochterphasen in Abrede. Ich kann jenen Grund dafür nicht ausschlaggebend fin- den: es ist mir bekannt, dass auch bei anderen Eiern die betreffen- den Formen der Tochterkerne allerdings einen nur wenig gewundenen Habitus besitzen, und ich gebe gewiss zu, dass dies bei Formen, wie 4) S. im eit. Buch, und in den Arbeiten Heuser’s (Botan. Centralbl. Bd. 17, Nr. 1—5, 1884) und Pfitzner’s (Hydra, Arch. f. mikr. Anat. 1883). 2) Morpholog. Jahrbuch Bd. 10, 1884. 3) Ebenda Bd. 11, 1885 (eben erschienen). 12° 180 Beneden, Reifung des Eies, Befruchtung und Zellteilung. v. B’s Fig. 12 und 13 der letzten Tafel (vergl. mit der entsprechen- den Form des Mutterkerns Fig. 9 vorletzte Tafel) in besonders ge- ringem Grade der Fall ist; auch habe ich nie gemeint, dass die Tochterknäuel ganz genaue Abbilder der Mutterknäuel sein müssten. Wenn grade beim Ei diese Form besonders wenig knäuelähnlich aus- fällt, so muss das gewiss seine Gründe und seine Bedeutung haben; es kann uns aber doch nicht veranlassen, ein Formgesetz zu ver- kennen, das sonst bei allen Gewebszellen, bei Tieren wie bei Pflanzen so schlagend hervortritt. v. B. hebt hervor (8. 339 u. f.), dass die Längsspaltung der Fa- denschleifen und die Trennung der chromatischen Figur in die Toch- terfiguren ') beim Ascaris-Ei der Zeit nach als ein und derselbe Pro- zess zu betrachten sei. Ich erinnere aber daran, dass sich dies als allgemeiner Satz für die Kernteilung nicht durchführen lässt. Denn ich habe schon gezeigt und werde demnächst noch spezieller darthun, dass die Längsspaltung bei tierischen wie bei pflanzlichen Zellen sehr viel früher eintritt, nämlich schon in den Anfängen der Mutterknäuel- phase. Die Längsspaltung kann man daher überhaupt nicht in eine besondere zeitliche Phase verlegen. Wenn sie, wie es nach v. B.s Befunden erscheint, hier in der That erst in der Sternform eintritt, so bleibt nur die Annahme übrig, dass sie bei den einen Zellenarten früher, bei den anderen später beginnt. Aber es ist auch bei vielen anderen Zellen schon nicht leicht und verlangt eine glückliche Fixierung, die Spaltung bis in jene frühen Stadien zurück nachzuweisen; viel- leicht könnte es hier ebenso sein. Denn das Ascaris-Ei ist zwar gewiss für vieles ein vorzügliches Objekt, doch es scheint mir auch eine Schattenseite zu haben, näm- lich in Bezug auf seine Fixierungsfähigkeit. Die Konservationen seiner Teilungsfiguren, die sich mit v. B.’s Methoden erzielen lassen, sind zwar für das wesentlich Neue, das er beschreibt, vollkommen ausreichend zu nennen; aber seine Abbildungen, die deutlich demon- strieren, dass sie sehr naturgetreu und von Schematisierung möglichst frei gehalten sind, zeigen grade dadurch auch, dass jene Konser- vierung doch keine ganz genaue Fixierung der Natur sein dürfte. Solche Fixierung fällt ja überhaupt bei Eiern in manchem schwieriger, als bei anderen Zellenarten, und so kann es auch beim Ascaris-Ei sein. Die vielfach unregelmäßigen, angeschwollenen Gestalten der chroma- tischen Fäden in v. B.’s Zeichnungen kontrastieren mit den reinen, fast mathematisch scharfen Formen, die wir von Gewebszellen hin- reichend kennen, für die ich auf meine und andere Abbildungen ver- 1) Letztere ist identisch mit dem, was jetzt nach meinem Vorschlag Me- takinese genannt wird. v. B. bezeichnet die Tochterfiguren, die durch die- sen Prozess auseinandergruppiert werden, solange sie noch nahe dem Aequator liegen, als „Plans subequatoriaux*. Miliarakis, Verkieselung lebender Elementarorgane. 481 weisen kann und von denen ich Präparate in Menge bewahre. Man wird also daran denken können, dass bei den Teilungsfiguren von Ascaris, die v. B. jetzt beschreibt, doch einige Quellung und Sehrumpfung im Spiel sein kann; und man wird deshalb Bedenken tragen können, dieselben in allen feinsten Einzelheiten auch dort als typisch zu nehmen, wo sie sich mit den sonst bekannten Formen der Karyomitose nicht deeken — Die allgemeinen Betrachtungen, die v. B. in seinem letzten Ka- pitel über die Symmetrie im Baue des Eies und Spermatozoons, die Struktur der Zelle und des Kerns, die Zellteilung, die Richtungskörper und die Befruchtung gibt, werden jedem, der in allgemein - zellularen Problemen arbeitet oder daran Interesse hat, die vielfachste Anregung und Belehrung bieten. Die Auslese ihres Inhalts habe ich den Haupt- sachen nach in die obige Besprechung einbezogen, habe diese sehr kurz gehalten und bitte, sie nur als einen Hinweis auf das Werk selbst zu nehmen; denn es ist ein Buch, das in besonderem Grade beansprucht und verdient, selbst gelesen zu werden. Spyridion Miliarakis, Die Verkieselung lebender Elemen- tarorgane bei den Pflanzen. Inauguraldissertation. 8°, 29 S. Würzburg 1884. Der Verfasser stellt die Ergebnisse der in der letzten Zeit über die Verkieselung der Pflanzen erschienenen Arbeiten zusammen. Er sucht ferner die Frage zu entscheiden, ob verkieselte Zellen noch wachsen. Den von verschiedenen Autoren angegebenen Methoden zur Auffindung der Kieselskelette haften mancherlei Mängel an; am besten bewährte sich eine von dem Verfasser aufgefundene Modifikation des Verfahrens von Pollender. Die Pflanzenteile werden zunächst mit konzentrierter Schwefelsäure behandelt bis zum völligen Schwarz- werden, sodann wird eine 20prozentige wässerige Lösung von Chrom- säure zugegeben. Unter heftigem Aufbrausen oxydiert sich die or- ganische Substanz, während alle Mineralstoffe mit Ausnahme der Kieselsäure in Lösung gehen. Man verdünnt schließlich die Lösung stark mit Wasser und untersucht die auf dem Boden des Glases sich ansammelnden Kieselskelette mikroskopisch. Ist der Niederschlag durch Chromsäure dunkel gefärbt, so verdünnt man nochmals mit Wasser. Nach dieser Methode wurden die Blatthaare verschiedener Pflanzen in der Weise untersucht, dass entweder von zwei gleich alten Blättern das eine früher, das andere einige Monate später vorgenommen, oder dass das nämliche mit den beiden Hälften eines und desselben Blattes ausgeführt wurde. Es ergab sich, dass die Verkieselung der Haare schon in einem sehr frühen Alter des Blattes beginnt, lange bevor 182 Kreuzhage und Wolff, Entwicklung der Haferpflanze. es seine volle Größe erreicht, dass aber die einmal verkieselten Haare regelmäßig nicht mehr wachsen; dagegen erwiesen sich die noch wachsenden Epidermis- und Parenchym-Zellen jüngerer Blätter regel- mäßig frei von Kieselsäureablagerungen. Beiläufig bemerkt der Verfasser, dass er in dem Lumen der Haare von Broussonetia papyrifera und Morus alba Kieselsäureab- lagerungen beobachtete. Bei den Cystolithen vieler Pflanzen, insbe- sondere der Ficus- und Urtica-Arten findet sich eine den Klumpen der Kalksalze überziehende Kruste von Kieselsäure, welche nach der Einwirkung von Säuren deutliche Schichtungen aufweist. Kellermann (Wunsiedel). C. Kreuzhage und E. Wolff, Bedeutung der Kieselsäure für die Entwicklung der Haferpflanze nach Versuchen in Wasser- kultur. Die landwirthschaftlichen Versuchs - Stationen, 30. Band, H. 3, S. 161 — 197. Durch Anstellung ausgedehnter Versuchsreihen sollte die Frage entschieden werden, zu welchem Zwecke die Körner tragenden Halm- früchte unter normalen Wachstumsverhältnissen beträchtliche Kiesel- säuremengen aus dem Boden aufnehmen. Ohne auf die Art und Weise der Durchführung der Versuche und die zahlreichen analyti- schen Daten einzugehen, hebe ich hier nur die wichtigsten Resultate hervor. Durch eine Zugabe von gelöster Kieselsäure zur Nährstofflösung wurde die Ausbildung der Körner nach Zahl und Gewicht mit zu- nehmender Konzentration der Kieselsäurelösung eine vollkommenere, gleichzeitig nahm das Gewicht der Wurzeln etwas ab. Der Kiesel- säuregehalt der Asche wuchs mit dem erhöhten Gehalt der Nährstoff- lösung an dieser Substanz. Die Beigabe der Kieselsäure verminderte nicht die gleichzeitige Aufnahme der übrigen Nährstoffe; dagegen fand eine geringe Vermehrung der organischen Substanz, wohl her- vorgerufen durch eine bessere Ausnützung der aufgenommenen Mineral- substanz, statt. Es betrug der Gehalt an Reinasche bei Abwesenheit der Kieselsäure 4,5°/, der Trockensubstanz, mit Beihilfe der Kiesel- säure 5,36 und 5,51°/,, nach Abzug der vorhandenen Kieselsäure 3,64 und 3,47 °/,. Anscheinend bewirkt die Kieselsäure ein recht- zeitiges Ausreifen der Pflanzen und nach der Blütezeit eine lebhaftere Wanderung der Stoffe nach den Fruchtteilen. Bei einseitiger Steigerung der Stiekstoffzufuhr durch Caleium- nitrat wurde mehr an Stroh, aber weniger an Körnern produziert. Kellermann (Wunsiedel). Marshall, Ueber die Tsetse -Fliege., 185 Ueber die Tsetse- Fliege. In dem eben erschienenen Bericht der 18. Winterversammlung der niederländischen entomologischen Gesellschaft findet sich eine Mitteilung über die Tsetse-Fliege, die, einmal weil sie einen so in- teressanten und so populären Gegenstand behandelt, dann aber auch, weil sie von einem so ausgezeichneten Dipterologen wie van der Wulp herrührt, wohl verdient allgemeiner bekannt zu werden. Van der Wulp hatte schon bei einer frühern Gelegenheit (Be- richt der 17. Winterversammlung 1884) seine Zweifel darüber ge- äußert, ob nicht in den Erzählungen der Afrikareisenden über die tödlichen Eigenschaften der Tsetse-Fliege einige Uebertreibungen mit unterliefen. Namentlich war es ihm nicht recht einleuchtend, dass die Stiche der Fliege auf gewisse Tiere, wie auf Pferde und Rinder, eine tödliche Wirkung ausüben sollten, für andere hingegen und auch für den Menschen nicht gefährlicher sein sollten als die Stiche unserer Oulex- und Tabanus- Arten. Nach näherer Ueberlegung, namentlich auch nach einem ein- gehenden Gespräch, das van der Wulp mit dem berühmten Ento- mologen Baron Osten-Sacken hatte, ist ihm sein Zweifel immer begründeter vorgekommen, und er führt eine Anzahl Angaben anderer, namentlich in Afrika längere Zeit sesshaft gewesener Männer an, die der Tsetse gleichfalls so hochgradig gefährliche Eigenschaften ab- sprechen und sie ins Reich der Fabel verweisen: 1) Schon im 5. Teil von Newman’s Entomologist (1870/71) ist auf S. 217 ein Auszug aus dem Bericht einer südafrikanischen Zei- tung, dem „Natal Mereury“, vom 31. Mai 1870 gegeben, den diese über eine Sitzung der naturwissenschaftlichen Gesellschaft von Natal erstattet. In dieser Sitzung hielt S. Vincent Enskine einen Vor- trag über die Tsetse, in dem er die allgemein verbreiteten Erzäh- lungen über die Schädlichkeit dieser Fliege als einzig und allein aus Vorurteil entsprungen darstellt und die Mitteilungen besonders Li- vingstone’s einer scharfen Kritik unterzieht. Dass diesem soviel Vieh gefallen sei, hätte seinen alleinigen Grund in der Veränderung von Futter und Klima. 2) In den Sitzungsberichten der Gesellschaft naturforschender Freunde in Berlin XIX (1877) S. 205 u. 206 behauptet Hartmann bestimmt, dass, obwohl amZambese und an der Loangoküste die Tsetse- Fliege vorkäme, doch kein Fall bekannt sei, dass ein Haustier durch ihren Stich getötet worden sei. 3) Der bekannte Afrikareisende Marno bespricht (nach Peter- mann’s Mitteilungen 1873 XIX Heft VII S. 246) dieselbe Frage und sagt, dass die Eingebornen das im Sommer eintretende Sterben ihres Viehes einer Fliege, die sie „Surreta“ nennen und die wahrschein- lich mit der Tsetse identisch ist, zuschrieben. Aber auf seinen Wunsch 184 Sanson, Ueber die quaternären Equiden. dergleichen Fliegen zu sehen wurden ihm die verschiedensten Arten, darunter auch von Tabanus gebracht. Er ist daher der Meinung, dass die erwähnte „Surreta“ ganz unschädlich ist oder höchstens die nach- teiligen Einflüsse, denen in Afrika in manchen Jahreszeiten das Vieh unterliegt, vermehren hilft. 4) Schließlich findet sich im „Journal de Geneve“ vom 3. De- zember 1883 ein Aufsatz über die Tsetse, welcher die Mitteilungen eines gewissen H. F. Gros, der lange Jahre in Südafrika lebte, ent- hält. Auch dieser behauptet fest, dass der Glaube an die Schädlich- keit der Tsetse-Fliege auf einem Vorurteil beruhe. Er selbst verlor in den ungesunden Gegenden östlich von Transvaal ein Gespann von 12 Ochsen. Seine Neger versicherten sofort, dass die Tsetse die Ursache des Todes dieser Tiere wäre, waren aber sehr überrascht, als sie vernahmen, dass diese Fliege in jenen Gegenden überhaupt nicht vorkäme. Gros schreibt das Sterben seiner Rinder sehr be- stimmt klimatischen Einflüssen zu, oder aber giftigen vom Boden auf- steigenden Miasmen, die für den Menschen, infolge seiner aufrechten Haltung, weniger gefährlich wären. Zufolge dieser Angaben kommt van der Wulp zu der Ansicht, dass, wenn auch die Ursache des häufigen Sterbens unter dem Vieh in Afrika noch nicht klar ist, sie doch ganz gewiss nicht einzig und allein der Tsetse zugeschrieben werden darf. Diese ist wahrschein- lich nicht giftiger als unsere europäischen blutsaugenden Dipteren auch. In der an diese Mitteilung anknüpfenden Debatte zwischen Pro- fessor Veth, van der Wulp und dem berühmten Spinnenforscher General van Hasselt einigte man sich dahin, dass wahrscheinlich durch die Tsetse, wie bei uns durch Tabaniden ete., der Milzbrand und andere ansteckende Seuchen verbreitet würden, die vielleicht in dem tropischen Klima einen akutern Verlauf nehmen könnten. W. Marshall (Leipzig). Andre Sanson, Sur les Equides quaternaires. Bull. de la soc. d’Anthropologie de Paris, VII, 1884, p. 371). Herr Chauvet, der Vorsitzende der archäologischen und histori- schen Gesellschaft der Charente, hatte in einer mit Thonerde aus- gefüllten Spalte in der Tour-Blanche (Dordogne) eine Anzahl von Knochen (einige Wirbel, Kieferstücke mit Zähnen, hauptsächlich aber Gliederknochen) gefunden, welche er der Gattung Eguus zuschrieb. Er schickte dieselbe zur Beurteilung an Herrn Sanson mit der Be- 4) Diese Mitteilung ist leider meiner Beachtung entgangen, als ich in dieser Zeitschrift Bd. IV Nr. 10 u. 11 die Forschungen über die Pferde des Diluviums besprach. Erst nachdem meine „Uebersicht“ erschienen war, machte mich Herr Sanson in Paris auf seine Mitteilung über quaternäre Equiden aufmerksam. Sanson, Ueber die quaternären Equiden. 185 merkung, dass der ganze untere Teil des Fußes einem großen Esel angehöre, die übrigen Reste aber einem andern, viel stärkern Equiden, wahrscheinlich einem Pferde; diese in einem quaternären Lager ge- fundenen Knochen scheinen ihm das gleichzeitige Vorkommen von zwei Equiden verschiedener Art zu beweisen. Sanson, der diese Knochen untersucht hat, erklärt, dass es un- möglich sei, allein nach Gliederknochen, einzelnen Wirbeln und Kiefer- stücken mit Zähnen die Frage zu beantworten, ob sie einer Pferde- oder einer Eselart angehören. Dieser Fall gibt Herrn Sanson Veranlassung zu allgemeinen Be- merkungen über Größen- und Altersunterschiede von fossilen Knochen. Sanson hat seit 20 Jahren eine recht große Zahl von Backen- zähnen fossiler Equiden untersucht, insbesondere in der reichen Sammlung des Britischen Museums. Er erklärt (p. 41), dass ihm Eg. sivalensis von Faleconer und Cautley, Eg. arcidens, Eg. pli- cidens und Eg. curvidens von Owen, Eg. jossilis von Herm. v. Meyer, Eg. spelaeus und Asinus fossilis von Owen — welche haupt- sächlich durch Zähne und Kieferstücke repräsentiert sind — keine Kennzeicheu darzubieten scheinen, wodurch jene Equiden mit Sicher- heit von gegenwärtig lebenden unterschieden werden können. Es besteht nirgends eine Sammlung von so zahlreichen Skeleten oder selbst nur von Schädeln der Equiden, um ausreichende Ver- gleichungen den Forschern zu ermöglichen, welche sie zum Gegen- stande ihrer besonderen Studien gemacht haben. Anderseits tragen die Werke über Veterinär-Anatomie oder über Anatomie der Haustiere in ihren Beschreibungen des Backenzahngebisses — welches sie nach einer sehr allgemeinen Form in betracht ziehen — kaum Rechnung den individuellen Abänderungen oder den Unterschieden des Alters. Man kann daher die oben erwähnten erloschenen Arten von Eg. arcidens, E. plicidens und E. curvidens für nicht thatsächlich bestehende halten. Die erste und die letzte Art sind aufgestellt, indem man ver- kannte oder vergaß, dass die oberen Backenzähne der Equiden immer mehr oder weniger gekrümmt oder gebogen sind; die zweite Art ist nach Stücken aufgestellt, an denen es augenscheinlich war, dass die Elfenbeinfalten sich in nichts von denen unterscheiden, die wir alle Tage an den gegenwärtig lebenden Arten wahrnehmen. Sanson unterzieht dann Nehring’s „Fossile Pferde aus deutschen Diluvialablagerungen“ (in den Landw. Jahrb. XIII S. 81) einer Kritik ; er macht darauf aufmerksam, dass Nehring eine große Zahl von Messungen gibt von der Mehrzahl der Skeletknochen quaternärer Equiden, welche er vergleicht mit denen gegenwärtig lebender Arten. Nehring habe so Dokumente angehäuft, welche — nach gewissen Rücksichten — ihren Wert haben können; aber es genüge einen Blick auf seine Tabellen zu werfen, um sofort zu bemerken, dass man daraus nichts ableiten kann, was sich auf spezifische Diagnose bezieht. Man 186 Sanson, Ueber die quaternären Equiden. sieht dort in Wahrheit dieselben Maße für den oder den Knochen bei bekanntermaßen verschiedenen Arten. Es genüge zu wissen, dass es in allen Rassen immer ein Maximum und Minimum der Größe gibt, die oft sehr voneinander abweichen. So erreichen z. B. innerhalb der irländischen Rasse die Bretagner Pferde von Leon ein Maß bis zu 160 em, während die Shetland-Ponies unter einer Höhe von 1 m bleiben. Außerdem besitzen verschiedene Rassen dieselbe Größe und dieselben Abweichungen (&carts). Das genüge, um Beweisen dieser Art jeden spezifischen Wert zu entziehen. Sie können — bis zu einem bestimmten Punkte — uns zeigen, ob wir es mit einer großen oder einer kleinen Art zu thun haben, das sei alles. Die Anwendung dieser Methode habe Nehring zu dem sonderbaren Schlusse geführt: dass der Hemionus in Norddeutschland zur Quaternärzeit gelebt habe. Sanson erklärt, dass die spezifischen Formen, welche unver- änderlich durch Erbschaft übertragen würden, die Schädelformen seien. Um diese zu kennzeichnen, habe er die in der Anthropologie üblichen Typen der Brachycephalen und Dolichocephalen auch auf die Schädel der Haustiere, insbesondere der Pferde, in Anwendung gebracht. Die Schädelformen gestatten jedoch nur eine erste Ein- teilung, eine erste Aussonderung. Nur die Formen des Gesichts sind wirklich spezifisch, denn man begegnet niemals gleichförmigen bei allen Individuen von gleichem Schädeltypus. Weder die Stirnbeine, noch die Nasenbeine, noch die Thränenbeine u. s. w. haben die glei- chen Formen bei zwei Brachycephalen oder bei zwei Dolichocephalen verschiedener Abstammung. Durch Schädelmessungen allein könne der spezifische Typus einer Rasse nicht festgestellt werden, am we- nigsten wenn Mittelzahlen aus Maßen gewonnen sind von Schädel- reihen, deren ähnliche Formen man zuvor nicht in betracht gezogen hatte. Man müsse doch wohl einsehen, dass die absoluten Zahlen oder die Indices nicht so viel Wert haben wie die Ergänzung durch den Stift des Zeichners, wenn man nicht die Originalstücke vor Augen hat, um sie mit schon bestimmten und bekannten Typen zu ver- gleichen. Mit den Zahlenwerten allein komme man meist auf sehr auffallende Annäherungen (rapprochements), welche die Ueberein- stimmung zwischen Typen feststellen, die durch ihre Formen be- kanntermaßen sich unterscheiden. Es seien daher die Formen jedes Kopfknochens im besondern und keineswegs die allgemeinen Größenverhältnisse bezeichnend für die Art oder für den natürlichen Typus der Rasse, und zwar deshalb, weil diese Formen sich unfehlbar erblich erweisen unter den ver- schiedenartigsten Verhältnissen. Mit Rücksicht auf die Knochen der Equiden aus der Dordogne schließt Sanson diese Mitteilung mit der Erklärung, dass es in Er- mangelung eines ganzen Schädels unmöglich sei deren Art zu be- stimmen. Aber alle jene Knochen gehören bestimmt nur einer einzigen Albrecht, Chorda dorsalis im Nasenseptum eines Rindes. 187 Art an, und sie unterscheiden sich nur durch das Alter der Individuen. Ich will hier nicht entscheiden, ob die Kritik Sanson’s über die angeführte Arbeit von Nehring eine berechtigte ist oder nicht. Aber darin teile ich vollkommen die Ueberzeugung Sanson’s, dass die Schlüsse, die man allein aus Schädelmessungen gezogen hat, nicht ausreichen, um Arten oder Rassen von Haustieren zu bestimmen, die so außerordentlich wandelbar in ihrer Form sind. Ich glaube sogar, dass solche Messungen auch für die Bestimmung anderer Tierarten und selbst für Menschenrassen nicht ausreichen. Es ist höchst auf- fallend, dass alle neueren paläontologischen Untersuchungen förmlich strotzen von Zahlen, welche Knochenmaße darstellen, aus deren Uebereinstimmung oder Nicht-Uebereinstimmung mit anderen von schon bestimmten Formen der Untersucher die Grundlage gewinnt für die Anreihung an eine schon bekannte Art oder für die Aufstel- lung einer neuen Art. Auf die unsichere Grundlage der paläontolo- gischen „Artenmacherei“ hingewiesen zu haben dürfen wir Herrn Sanson zum Verdienst anrechnen. M. Wilckens (Wien). Ueber die Chorda dorsalis und 7 knöcherne Wirbelzentren im knorpligen Nasenseptum eines erwachsenen Rindes'). Antwort auf die Aufforderung des Herrn Geheimrats Professor Dr. von Köl- liker in der Nummer dieses Blattes vom 1. März 1885. Von Professor Dr. Paul Albrecht z. Z. in Brüssel. Nachsehrift. Die in vorstehendem ausgesprochene Ansicht, die Leisering- und Müller’schen mit klarem schleimigem Inhalt versehenen Hervor- ragungen, welche zuweilen im Nasenseptum des Pferdes auftreten ?), seien Pseudoatherome der Nasenschleimhaut, muss ich nach Rück- sprache mit Herrn Professor Karl Müller von der Königl. Tierarz- neischule in Berlin zurücknehmen. Herr Professor Müller, den ich mehrfach während des diesjährigen Chirurgenkongresses zu Berlin zu sehen die Ehre hatte, versichert mich, dass die betreffenden Höhlungen nicht etwa ausgebuchtete Schleimdrüsenfundi, deren Ausführungsgang verschlossen, sind, sondern dass sie im knorpligen Nasenseptum selbst, allseitig von hyalinem Knorpel umgeben, liegen. Ja, nach einer Rücksprache mit Herrn Professor Leisering, der zu dieser Zeit ebenfalls in Berlin eingetroffen war, versicherte er mich, dass auch die- ser die intrakartilaginöse Lage der betreffenden Höhlungen bei Pferd und Rind bezeugen könne; aus diesem Grunde habe auch Franz Müller in seinem Lehrbuch der Anatomie der Haussäugetiere, 3. Aufl., 4) Vergl. vorige Nr. dieses Blattes. Red. d. Biol, Centralbl. 2) Leisering und Müller, |, c. S. 467. 188 Albrecht, Chorda dorsalis im Nasenseptum eines Rindes. Wien 1885, S. 92 sich dahin geäußert, dass eine von ihm in der Mitte der knorpligen Nasenscheidewand eines Rindes gefundene, mehrere Zentimeter lange, mit einer klaren Flüssigkeit gefüllte Höhle nur durch das Auseinanderweichen der beiden ursprünglichen Blätter des Nasenseptums erklärlich sei. Wenn auch diese Erklärung Franz Müller’s irrig ist, denn das knorplige Nasenseptum geht nicht aus zwei Blättern hervor, so ist doch sein Befund von höchster Wichtigkeit. Herr Professor Müller versicherte mich ferner, dass alle derartigen längeren Höhlungen in kaudo-kranialer Richtung durch das Nasenseptum ziehen, dass zuweilen eine Reihe solcher Cysten in der genannten Richtung in der knorpligen Nasenscheidewand liegt, ja dass sogar eine einzige lange Höh- lung, die einzelne rosenkranzartige Anschwellungen besitzt, an genannter Stelle bei Rindern auftritt. Die Flüssigkeit, die in diesen Höhlungen ist, wird selbstredend so bald als irgend möglich der genauesten mi- kroskopischen Untersuchung unterzogen werden müssen, — eine da- hin gehende Bitte richte ich an alle Herren Tierärzte — aber auch bis dahin ist es im höchsten Grade wahrscheinlich, dass diese intra- kartilaginösen Höhlungen des Nasenseptums Reste der Chorda dorsalis desselben enthalten!). Dies ist, nach meiner Ansicht, die einzig mög- liche Erklärung. Aus den Untersuchungen, die ich durch Güte des Herrn Professor Müller in der königlichen Tierarzneischule zu Berlin anzustellen Gelegenheit hatte, geht ferner hervor, dass dort, wo bei dem Brüsseler Präparate (Fig. 1) der 154!/, Millimeter lange bindegewebige Strang im Nasenseptum liegt, sich beim Rinde ?) im allgemeinen jederseits dasjenige Organ befindet, das Franck als Kamm des Nasenseptums bezeichnet); nur beginnt dieser Kamm bereits an der Lamina per- pendicularis des Siebbeins, während der Strang an dem beschriebenen Brüsseler Präparate erst 14 Millimeter vor demselben beginnt *). Die mikroskopische Untersuchung der zwischen den beiderseitigen Kämmen des Nasenseptums liegenden Knorpelpartie wird, sobald ich in Brüssel zurück sein werde, unternommen werden, denn es scheint, 1) Es wäre eben der Inhalt dieser Höhlungen in dem Basirhinoid, was der Nucleus pulposus in den Intervertebralligamenten ist. 2) Auch bereits beim neugebornen Rinde. 3) Franck, Handbuch der Anatomie der Haussäugetiere, 2. Aufl., Stutt- gart 1883, 8. 598. Nach diesem Forscher ist jedoch der betreffende Kamm nur im kranialen Dritteil des Nasenseptums, was nach meinen Untersuchungen nicht richtig ist. 4) Ob der Franck’sche Kamm des Rindes dem Morgagni’schen Wulst des menschlichen Nasenseptums (siehe Zuckerkandl, normale und pathologische Anatomie der Nasenhöhle und ihrer pneumatischen Anhänge, Wien 1882, S. 44 und Tafel 11 b, Fig. 3) homolog ist, bleibt noch zu entscheiden. Zopf, Spaltpilze. 3. Aufl. — Hüppe, Methoden der Bakterienforschung. 189 dass ebenso wie die sieben Ossifikationszentren des Brüsseler Prä- parats, so auch die verschiedenen genannten intrakartilaginösen Cysten des Nasenseptums auf der Höhe des betreffenden Kammes liegen. Berlin, den 22. April 1885. W. Zopf, Die Spaltpilze.. Nach dem neuesten Standpunkt bearbeitet. 3. Aufl. Breslau 1885. Ed. Trewendt. Diese neue Auflage der vortrefflichen Schrift schließt sich in Form und Einrichtung ganz den früheren an. Durch Aufnahme und Berücksichtigung der genannten neuern Literatur ist die Vollständigkeit eine fast absolute ge- worden; namentlich hat das Literaturverzeichnis sehr wesentliche Ergänzungen erfahren. Eine Aenderung ist insofern eingetreten, als Verf. die früher als „unvollständig bekannte Formen“ bezeichneten Bakterien den einzelnen Ab- teilungen der systematischen Anordnung eingereiht hat. Gegenüber manchen, von nicht ganz sachverständiger Seite gemachten Einwänden gegen seine Auf- fassungen äußert sich Verf. folgendermaßen: „Man hat mir von jener Seite, die einen extrem-monomorphistischon Standpunkt vertritt, extrem-pleomorphisti- sche Anschauungen zugeschrieben, allein mit Unrecht. Ich bin allerdings der Ansicht, dass für gewisse Spaltpilze ein Pleomorphismus sicher erwiesen ist, und habe mit dieser Auffassung die hervorragendsten Botaniker auf meiner Seite, anderseits aber steht es fest, dass für gewisse andere Spaltpilze ein Pleomorphismus nicht konstatiert werden konnte. An diesen letztern That- bestand knüpft sich aber die Vermutung, dass dieser und jener für morpho- logisch konstant gehaltene Spaltpilz bei noch weiteren Untersuchungen sich vielleicht doch als variabel erweisen könne. — Eine solche Vermutung ist wissenschaftlich berechtigt, denn auf der einen Seite alteriert sie den Stand der positiven Kenntnisse in keiner Weise, auf der andern aber bewahrt sie vor dem Glauben, dass letztere bereits abgeschlossen sind, vermag also An- regung zu weiteren Untersuchungen zu geben“. C. Fisch (Erlangen). F. Hueppe, Die Methoden der Bakterien - Forschung. Wiesbaden 1885. 174 S. 2 Taf. Kreidel’s Verlag. Die überaus reichhaltige Literatur über Untersuchungs- und Kulturmethoden der Bakterien hat in dem vorliegenden Buche eine ebenso vollständige wie glückliche Zusammenfassung erhalten. Wie es von einem Schüler Koch’s zu erwarten war, sind natürlich namentlich die von diesem im Reichsgesund- heitsamt eingeführten und ausprobierten Verfahren berücksichtigt, indess ist immerhin auch anderen Erfahrungen gegenüber eine ziemliche Gleichmäßigkeit der Behandlung zu konstatieren. Namentlich ist die Auseinandersetzung mit abweichenden morphologischen Auffassungen stets eine kritische und reser- vierte geblieben. Der Stoff selbst zerfällt in eine Anzahl größerer Abschnitte, deren Titel hier folgen mögen: I. Generatio spontanea und die Prinzipien der Sterilisation. II. Form der Bakterien und mikroskopische Technik. IH. Kultur- Methoden; Reinkulturen. IV. Uebertragungen zum Nachweise der kausalen Beziehungen der Bakterienvegetation zu Zersetzungen und Krankheiten, V. All- 490 Zacharias, Das Mikroskop. — Behrens, Amerikanische Sommerstationen. gemeine biologische Aufgaben. VI. Spezielle hygieinische Untersuchungen. VII. Die Bakteriologie als Lehrgegenstand. — Die Darstellnng leidet oft etwas unter dem Bestreben, praktische Handgriffe und Verfahren physikalisch zu er- läutern nnd zu färben. Im einzelnen ließen sich manche Ausstellungen machen, so ist z. B. vom Verf. die Aeußerung gethan, dass arthrosporen Bakteriaceen früher wegen ihrer Formen den Spaltalgen näher gestellt wurden, was auf ein nicht grade richtiges Verständnis des Thatbestandes hindeutet. Solche Einzel- heiten thun aber dem Ganzen keinen Abbruch, und das Buch kann für alle bakteriologischen Fragen und Untersuchungen auf das wärmste empfohlen werden. C. Fisch (Erlangen). Dr. Otto Zacharias, Das Mikroskop und die wissenschaft- lichen Methoden der mikroskopischen Untersuchung in ihrer verschiedenen Anwendung von Dr. Julius Vogel, 4. Auflage, vollständig neu bearbeitet von Otto Zacharias. unter Mit- wirkung von Prof. Dr. E. Hallier in Jena und Dr. E. Kal- kowsky ebenda. Leipzig 1884. Denicke’s Verlag. Bereits im IV. Bande Nr. 17 S. 544 haben wir Gelegenheit genommen, die ersten Lieferungen des „Mikroskops“ kurz zu besprechen. Wenn wir dort sag- ten, dass die Gesichtspunkte, welche die Verfasser bei der Ausarbeitung dieses Buches leiteten, geschickt gewählte sind, und dass es eine glücklich vermit- telnde Stelle einnimmt zwischen den Werken für den Fachmikroskopiker und den populär geschriebenen Anleitungen zum Mikroskopieren, so können wir auch für die letzten Lieferungen diesen Ausspruch voll und ganz gelten lassen. Nicht nur einzelne Kapitel, wie man dies sonst so oft findet, sind mit beson- derer Liebe ausgearbeitet, sondern durchweg merkt man, dass der bezw. die Bearbeiter mit Eifer und darum auch mit Erfolg sich ihrer Aufgabe gewidmet haben. Ganz besonders möchten wir auf das X. Kapitel hinweisen, welches über die mikroskopische Behandlung tierischer Gebilde berichtet, da hier in Kürze dasjenige, was die mikroskopische Technik der letzten Zeit bestes an Methoden hervorgebracht hat, leicht fasslich dargestellt worden ist. Im XI. Kapitel wird die Anwendung des Mikroskops in der Minerologie und Geologie besprochen und im XI. Kapitel noch eine Anleitung zum Untersuchen von Nahrungsmitteln, und Handelswaren gegeben. Wir empfehlen namentlich An- fängern im mikroskopieren dies kleine Werk. C. B. Die amerikanischen zoologischen Sommerstationen. Während der letzten 10 Jahre ist in den Vereinigten Staaten das Studium der Zoologie nicht bloß auf den Universitäten, sondern auch durch Einrich- tung zoologischer Sommerstationen an der Meeresküste ganz wesentlich ge- fördert worden. Nach einer in „The Nature“ 25. Dezember v. J. veröffentlichten Zusammenstellung sind am atlantischen Ozean 5 Stationen errichtet, in denen Studierenden Gelegenheit zu Forschungen geboten wird; es sind diese Labora- torien teils solche, in denen die Studierenden höherer Semester selbständige Behrens, Amerikanische Sommerstationen. 191 Untersuchungen ausführen können, teils solche, in denen jeder, der ein wesent- liches Interesse an der Natur hat, die Meeresfauna studieren kann; letztere zerfallen wieder in solche Institute, in denen ein regulärer Unterricht auf diesem Gebiet erteilt wird, und in solehe, in denen die Studierenden unter der Leitung eines Lehrers selbständige Arbeiten ausführen. Das mit der John Hopkins - Universität verbundene Laboratorium in Beau- fort in Nord-Karolina ist zur Aufnahme von Studierenden höherer Semester bestimmt und steht wegen der in ihm bereits ausgeführten Arbeiten unter allen Instituten seiner Art oben an. Obgleich Beaufort nicht hervortretend reich an Formen ist, so gibt es doch dort eine Menge äußerst interessanter Tiere, zu deren Studium kaum ein besser geeigneter Ort vorhanden sein dürfte. Da der Golfstrom an der Küste hergeht, finden sich im Wasser viele interessante Embryonen. Für Sammelzwecke ist ein Dampfboot und ein Segelboot im Gebrauch. Das Laboratorium, in dem jeden Sommer einige tüch- tige Spezialisten arbeiten, steht unter der Leitung des Prof. Brooks, der dies Institut besonders zu fördern gewußt hat. Weiter nördlich in Newport, Rhode Island, ist ein Laboratorium mehr privaten Charakters; dasselbe steht unter der Direktion des Prof. Alexander Agassiz, der dort mit einigen Assistenten und einer beschränkten Zahl von Studierenden von Harvard College arbeitet, jedoch ist diese Lokalität ziem- lich arm. In Wood’s Holl im südlichen Massachusetts ist die Hauptseestation der Vereinigten Staaten; dort ist das Laboratorium der Fischerei- Kommission der Vereinigten Staaten. Seit 1871 hat die Fischerei-Kommission an jeder Stelle der Küsten von Neu-England den spezifischen Charakter der Meeres- fauna studiert; Prof. Baird, welcher die Kommission seit ihrer Bildung ge- leitet hat, hat in ihrem Auftrag und in Gemeinschaft mit anderen bedeutenden amerikanischen Naturforschern wie Bean, Goode, Smith, Sanderson Smith und Verrill die Kenntnis der Fauna an den Küsten Neu- Englands wie der Meeresfauna gewisser Teile der nordatlantischen Tiefsee wesentlich gefördert. Viele Jahre lang sind diese Arbeiten von im Dienst der Regierung stehenden Spezialisten in einem äußerst spärlich ausgestatteten Laboratorium ausgeführt werden, jetzt soll ein neues Gebäude zu diesem Zweck aufgeführt und mit allen neueren Hilfsmitteln zu zoologischen und mikroskopischen Forschungen ausgestattet werden. Außer den dauernd beschäftigten Gelehrten sollen auch Studierende zeitweilig zugelassen werden. Es stehen für die Küstenforschung dem Laboratorium ein Dampfboot und viele kleine Segelboote, für die Tiefsee- forschung die durch ihre Arbeiten bereits rühmlich bekannten Dampfer „Alba- tross“ und „Fish Hawk“ zur Verfügung. So dürfte denn die künftige Thätigkeit dieses Laboratoriums eine äußerst erfolgreiche sein, zumal Klima wie Arten- und Individuenreichtum der Tierformen von Wood’s Holl diesen Ort ganz besonders zu einem solchen Instistut qualifizieren. Unter den Laboratorien, welche nicht bloß für Studierende mit weiter gehenden Kenntnissen bestimmt sind, ist zunächst das von Cottage City in Massachusetts zu erwähnen, wo nur Anfänger arbeiten und zugleich Vor- lesungen, besonders über Naturgeschichte, hören. Von ähnlichem Charakter war die früher unter Direktion des Prof. Morse in Salem Massachusetts be- stehende, jetzt leider wegen Mangel an Fonds eingegangene Anstalt. In Annisquam besteht dann noch ein zoologisches Institut ganz andern Cha- rakters unter Leitung des Prof. Hyatt. Dort arbeiten Anfänger und fortge- schrittene Studierende unter Leitung eines besondern Instruktors, spezielle 192 Vogt und Yung, Lehrbuch der vergleichenden Anatomie. Vorlesungen werden jedoch nicht gehalten. Es ist dies Institut besonders zur Ausbildung von Lehrern und Spezialisten bestimmt und war im vorigen Som- mer von 15 Studierenden beiderlei Geschlechts besucht. Mehrere kleinere Boote und ein Schooner dienen zum Sammeln der Versuchstiere. Leider steht es auch hier mit dem Geldpunkt nicht zum besten, was um so mehr zu be- dauern ist, da kaum ein Punkt an der Ostküste der Vereinigten Staaten besser zur Ausführung naturwissenschaftlicher Sammlungen sich dürfte finden lassen, denn die Mannigfaltigkeit der Tierformen ist hier eine ungeheure, und die Fülle ist gleich groß. Das letzte erwähnenswerte Laboratorium dürfte das des ältern Agassiz sein, das jedoch mit seinem Begründer längst dahin ist; es lag auf der Peni- kese-Insel in Massachusetts, der letzten Insel der unter dem Namen der Elisa- beth-Inseln bekannten Reihe. Wenngleich die Fauna dort nur armselig und die Verbindung mit dem 20 Meilen entfernten Kontinent nur höchst unregel- mäßig war, so hat dies Laboratorium doch zahlreiche bedeutende Forscher wie Fewkes, Faxon, Brooks, Whitman, Alexander Agassiz u. a. hervorgebracht, die dort von ihrem großen Lehrer in die naturwissenschaft- liche Forschung eingeführt wurden. Leider ist, wie bereits oben erwähnt, dies Institut mit seinem Begründer zu Grabe getragen. H. Behrens (Gütersloh). Carl Vogt und Emil Yung, Lehrbuch der praktischen ver- gleichenden Anatomie. Braunschweig. Vieweg und Sohn. 1885. In dem Werke, dessen erste Lieferung uns vorliegt, beabsichtigen die Verfasser in erster Linie dem Studierenden einen Leitfaden bei seinen zooto- mischen Arbeiten an die Hand zu geben, einen Leitfaden, aus dem er eine methodische Untersuchung der einzelnen Tierformen erlernen und sich ein Bild von den aus den beobachteten Thatsachen gewonnenen Ergebnissen der bis- herigen Forschung machen soll. Und damit erhebt sich das Werk weit über einen bloßen „Wegweiser bei zootomischen Arbeiten“ und verspricht ein Lehr- buch der gesamten vergleichenden Anatomie ersten Ranges zu werden. Von jeder Klasse des Tierreiches sollen einzelne Typen ausgewählt und an der Hand dieser Monographien die makroskopische und mikroskopische Anatomie Organ für Organ behandelt werden. Die erschienene Lieferung enthält eine Angabe der gebräuchlichen Unter- suchungsmethoden, die sich dadurch vorteilhaft auszeichnet, dass in knapper Form nur der notwendigsten Methoden Erwähnung gethan wird, ohne sich zu sehr in die Einzelheiten der histologischen Technik einzulassen. Von den Protozoen sind die Amöben, Foraminiferen und Heliozoen behandelt. Ein jeder Monographie beigegebenes Literaturverzeichnis bietet die Quellen für ausführ- lichere Studien. Der Text ist erläutert durch treffliche Illustrationen, die hinsichtlich ihrer Reproduktion sich dem Besten anschließen, was man in ähnlichen Lehrbüchern zu sehen gewohnt ist. Eine ausführliche Besprechung behalten wir uns bis zum Schlusse des Werkes vor. F. Hermann (Erlangen). Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Üentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. V. Band. 1. Juni 1885. Nr. 7. Inhalt: Zacharias, Ueber den Nukleolus. — Hansen, Die Farbstoffe der Blüten. — Hennum, Ueber Zellformen. — Wilekens, Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haustiere. 5. Die schweineartigen Tiere (1. Teil). — Heinricher, Ueber isolateralen Blattbau mit besonderer Berücksichtigung der europäischen speziell der deutschen Flora. — Baumert, Untersuchungen über den flüssigen Teil der Alkaloide von Lupinus luteus. — Bütsehli, Kirchner und Blochmann, Die mikroskopische Pflanzen- und Tierwelt des Süßwassers. E. Zacharias, Ueber den Nukleolus. Botanische Zeitung, 1885, Nr. 17—19. Die vielen Untersuchungen der neuern Zeit über den Zellkern haben den Nukleolus in nur untergeordnetem Maße behandelt. Sowohl über seine chemische Beschaffenheit, als auch über sein Verhalten bei der Teilung liegen bisher nur unvollständige, jedenfalls keine abschließenden Angaben vor. Verf. behandelt in vorliegender Arbeit zunächst ausführlich die chemische Beschaffenheit des Nukleus. Schon früher hatte er gefunden, dass die Nukleolen im wesentlichen aus Plastin bestehen, hingegen kein Nuklein, wie die Chromatinelemente, enthalten. Auch Flemming gab ein verschiedenes Verhalten der Nukleolen und des Kernfadens gegenüber Farbstoffen an, ebenso Pfitzner, Brass, Tangl und Schorler. Gleichartiges chemisches Verhalten der Nukleolen und Mikrosomenscheiben des Kernfadens da- gegen hat in neuester Zeit Strasburger angenommen, ebenso auch Juranyi, Heuser und Schmitz. Letzterer sprach sich sogar für die Gleichheit der Natur der Nukleolen und der Pyrenoidsubstanz in den Chromatophoren der Algen aus; es fehlt jedoch für diese An- nahme eine chemische Begründung, und die schon früher publizierten Untersuchungen von Zacharias stehen sogar mit ihr im Wider- spruch. Selbst wenn auch die Nukleinnatur der Chromatinkörner durch dieselbe nicht bewiesen sein sollte, so beweisen sie doch sicher die chemische Verschiedenheit von Nukleolen und Chromatinkörnern. — 15 194 Zacharias, Ueber den Nukleolus. Carnoy hat in seiner „Biologie cellulaire* drei Formen von Nu- kleolen unterschieden. 1) Nuel&oles nuel&iniens. „Sie sind entweder freie Kugeln, welche durch den Zerfall des Kernfadens entstehen, wie sie in tierischen Eiern vorkommen, oder einfache Verdiekungen und Knoten, wie sie in den Kreuzungspunkten der Windungen des Kernfadens sich zeigen. 2) Nucl&oles noyaux. Kleine Kerne, welche alle Elemente des normalen Kerns einschließen. Die Substanz, welche den übrigen Kernraum erfüllt, zeigt die Beschaffenheit des Zellproto- plasmas. So bei den Gregarinen, Radiolarien und Rhizopoden, angeb- lich auch bei Spirogyra und in den Asci der Ascomyceten. 3) Nuel&oles plasmatiques, die kein Nuklein enthalten“. Nur diese letzteren scheinen im Pflanzenreich vorzukommen und sollen fernerhin abclonse als Nukleolen bezeichnet werden. Verf. benutzte zu seinen Untersuchungen die Ran ihre Größe ausgezeichneten Nukleolen der inneren Schichten der Fruchtknoten- wand von Galanthus nivalis. Unter Wasser erscheint in unverletzten, noch Plasmaströmung zeigenden Zellen der Nukleolus völlig homogen gegenüber der fein granulierten übrigen Kernmasse. In zerrissenen Zellen dagegen quillt die ganze Kernmasse außerhalb des Nukleolus stark auf, und der letztere bildet einen glänzenden scharf umschrie- benen Körper, der meistens bald aus dem platzenden Kern ausge- stoßen wird. Im Nukleolus selbst nimmt man das Vorhandensein zweier Substanzen von verschiedenem Aussehen wahr, eine zentrale Masse von stärkerer Lichtbrechung und blasiger Beschaffenheit in einer homogenen Grundsubstanz. Hauptsächlich die erstere wird mit Karmin gefärbt. Absoluter Alkohol bewirkt ungefähr dasselbe Bild. Nach Behandlung mit Blutlaugensalz-Eisenchlorid bildet sich um den blau gefärbten Nukleolus ein von der Kernmasse umschlossener Hohl- raum, der seine Entstehung einer Kontraktion des Nukleolus verdankt. Die Durchmesser von Nukleolus, Hohlraum uud Kern verhalten sich durehschnittlich wie 3:4:10, ersterer ist also ein durchaus nicht un- wesentlicher Teil des Kerns. Es scheint in ihm ein feinmaschiges Gerüst mit gefärbten Balken vorhanden zu sein. — In künstlichem Magensaft nimmt das Kernkörperchen ein blasses gequollenes Aus- sehen an, während im übrigen Kern deutlich hell-glänzende Nuklein- körnchen hervortreten. Längere Einwirkung dieses Reagens lässt den Nukleolus scheinbar verschwinden, doch wird er in Blutlaugensalz- Eisenchlorid wieder deutlich und blau gefärbt, wenn auch ungefähr auf ?/, seiner ursprünglichen Größe reduziert. Karmin färbte diesen Ueberrest nicht, und auch 10 prozentige Kochsalzlösung brachte keine Veränderung hervor. — Frische mehrere Tage hindurch mit dieser Salzlösung behandelte und nachher in Alkohol untersuchte Gewebestücke ließen die Nukleoli äußerst blass erscheinen, und es zeigte sich, dass ein großer Teil der Nukleolarsubstanz dabei entfernt war. Auch werden sie durch Karmin Zacharias, Ueber den Nukleolus. 4195 durchaus nicht intensiver gefärbt, wie an bloß mit Alkohol behandel- ten Präparaten. Uebrigens ist für den Erfolg der Färbung die Reak- tion der Farbstofflösung von ausschlaggebender Wichtigkeit. Eine neutrale Karminlösung wirkt auf Alkoholmaterial in der Weise, dass die Nukleolen sehr rasch und sehr intensiv gefärbt werden. In mit Essigsäure stark angesäuerter Lösung dagegen treten die Nuklein- körper intensiv gefärbt hervor, während der Nukleolus sieh zunächst gar nicht färbt und blass und gequollen aussieht. Später nimmt er etwas Farbe auf, bleibt aber immer heller als die übrigen Teile des Kerns. In verdautem Material bewirkt neutrale Lösung zunächst keine Färbung, sondern nur eine Quellung der Nukleinkörner, wäh- rend der Nukleolarrest sehr deutlich wird um dann auch zu quellen. Setzt man Essigsäure zu, so gehen die Quellungen zurück und die körnigen Teile färben sich stark, in minderem Grade dann auch der Nukleolarrest. Neutrale Lösung färbt deshalb besonders diejenigen Teile des Nukleolus, welche das Verhalten der Eiweißkörper zeigen, während auf saure Lösung vorzüglich die nukleinhaltigen Teile des Kerns reagieren. Alle diese Reaktionen ergeben, dass die in Rede stehenden Nu- kleolen der Hauptmasse nach aus Eiweißstoffen bestehen, außerdem Plastin, aber kein Nuklein enthalten. Verf. fand auch bei den Nukleolen einer großen Menge anderer Pflanzen ganz dieselben Ver- hältnisse. Die Kernkörperchen von Spirogyra und in den Aseis von Sehlauehpilzen (Periza einerea und P. vesiculos«) verhalten sich auch ebenso, entsprechen also nicht den von Carnoy angegebenen Eigen- schaften von Nucl&oles noyaux. Was Verf. über die Pyrenoide und Stärkebildner sagt inbezug auf deren Verhalten in den angegebenen Reagentien, glaubt Ref. hier übergehen zu können. Es genüge anzu- deuten, dass sich scharfe Unterschiede gegenüber den Nukleolen kon- statieren lassen. In einem zweiten Abschnitte wird das Verhalten der Kernkörper- chen bei der Kernteilung besprochen. Nach den Angaben aller Au- toren sollen sie bei diesem Vorgang verschwinden. Strasburger nimmt an (nach Untersuchungen am Embryosack von Fritillaria), dass sie dabei nicht in den Kernfaden aufgenommen werden, sondern sich im Kernsaft lösen. Er hält die Vorstellung nicht für unwahrschein- lich, dass aus ihrer Substanz während der Prophasen die Spindel- fasern entstehen. Bei der Neubildung in den Tochterkernen soll die Nukleolarsubstanz aus den Verbindungsfäden sich wieder in den Kernen ansammeln. Verfasser diskutiert die Thatsachen, auf welche Strasburger diese Vermutung aufbaute, und kommt zu dem Schluss, dass dieselben völlig unzureichend sind um die letztere zu rechtfer- tigen. Flemming, Juränyi und Heuser sprechen sich für die Aufnahme der Nukleolarsubstanz in den Kernfaden aus, nach Pfitz- ner soll der Nukleolus bei der Bildung der Chromatinfigur allmäh- 13* 1965 Zacharias, Ueber den Nukleolus. lich aufgezehrt werden. Verf. konnte das Verschwinden der Nu- kleolen und deren Wiederauftreten in den Tochterkernen in lebenden Zellen von Chara beobachten. Bei Beginn der Kernteilung verliert der Nukleolus an Deutlichkeit und erfährt langsame, zuletzt amöboide Gestaltveränderungen. Er wird sodann entsprechend der Längsaxe des Kerns verzerrt, dabei immer undeutlicher werdend, bis man ihn schließlich nicht mehr zu erkennen vermag. Später werden in den Tochterkernen wieder mehrere kleine Nukleolen beobachtet, deren Verschmelzung zu einem einzigen in mehreren Fällen direkt verfolgt wurde. Auch während der Verschmelzung nimmt die Deutlichkeit dieser Gebilde stark ab, um erst nachher wieder zu steigen. — Die verschiedenen Angaben über das Auftreten der sogenannten Paranukleolen und deren Ausstoßung aus dem Kernraum weist Za- charias ab. Sie beruhen auf Irrtum. Es geschieht nicht selten, dass der Kern bei Behandlung mit Reagentien platzt, worauf dann Nu- kleolus und sonstige Bestandteile in das Zellplasma ausgestoßen werden. Da namentlich Strasburger fast immer nur mit gehär- tetem Materiale arbeitete, so kann ihm dieser Vorgang leicht ent- gangen sein. „Als allgemeines Resultat ergibt sich demnach, dass die Nukleolen im Beginne der Kernteilung verschwinden, um später in den Tochterkernen wieder zu erscheinen. Zu bestimmten Schlüssen inbetreff des Schicksals der Nukleolarsubstanz nach dem Schwinden des Nukleolus, insbesondere ihrer Beziehungen zu den Kernplatten- elementen und Spindelfasern, berechtigen die beobachteten Thatsachen nicht. Uebrigens liegt die Möglichkeit vor, dass eine Auflösung der Nukleolen nicht stattfindet, dass vielmehr nur das Eiweiß aus ihnen entfernt wird, das Plastingerüst aber erhalten bleibt, Teilungspro- dukte desselben in die Tochterkerne gelangen, um hier wieder Eiweiß aufzunehmen. Für eine Abnahme des Eiweißgehaltes der Nukleolen vor dem Verschwinden spricht die Verminderung der Fähigkeit, sich mit neutraler Karminlösung zu färben, denn der Gehalt an Eiweiß ist es, der die intensive Färbung der Nukleolen im ruhenden Kern bedingt. Dass man in den späteren Teilungsstadien des Kerns ein Plastinresiduum des Nukleolus nicht nachzuweisen vermag, kann da- mit zusammenhängen, dass der etwa vorhandene zarte Plastinrest sich inmitten anderer plastinhaltiger Gebilde der Beobachtung ent- zieht.“ In den Sexualzellen zeigen die Nukleolen ein verschiedenartiges Verhalten. Während sie in den weiblichen Zellen stets vorhanden sind, können sie in den männlichen vor deren definitiver Ausbildung schwinden. Verf. untersuchte Chara, Marchantia und verschiedene Farne und fand überall die gleichen Verhältnisse. Auch die genera- tiven Zellkerne in den Pollenschläuchen der Phanerogamen lassen nach den neuesten Untersuchungen dasselbe beobachten. — In al- ternden Zellen sind Gestaltsveränderungen, Kleinerwerden und Schwin- Hansen, Die Farbstoffe der Blüten. 197 den des Nukleolus beobachtet worden. Es sind namentlich die An- gaben von Johow, mit denen sich Verf. hier auseinandersetzt. Verf. untersuchte selbst eine ganze Anzahl von Objekten und konnte in mehreren Fällen eine Verkleinerung und ein Schwinden in älteren Zellen nachweisen, ja sogar bei Galanthus dies durch Verdunklung beschleunigen. Andere Fälle ließen ein gleiches Verhalten nicht wahrnehmen, so dass ein allgemeiner Schluss nicht zu ziehen ist. — Strasburger hält bekanntlich den Nukleolus nicht für lebendige Substanz des Zellkerns, sondern vielmehr für einen Reservestoff des Zellkerns; ebenso Carnoy und Pfitzner. Die Begründung dieser Anschauung „durch das allem Anschein nach passive Verhalten der Nukleolarsubstanz während der Ruhezeit im Zellkern, ihren schein- baren Mangel an Organisation, die kleinen runden Vakuolen, die in derselben häufig auftreten, sowie das anscheinend passive Verhalten der Nukleolen während der Teilung“ hält Verf. für gänzlich unzu- reichend. „Die physiologische Bedeutung des Nukleolus ist noch völlig unbekannt; alle bisher inbetreff desselben aufgestellten Hypo- thesen entbehren der genügenden Begründung.“ c. A. Hansen, Die Farbstoffe der Blüten. Verhandlungen der physikalisch-medizinischen Gesellschaft zu Würzburg. N. F. 18. Bd. N. 7. 8% 19 S. Mit zwei Spektraltafeln.. Würzburg 1884. Stahel. Die außerordentlich mannigfaltigen Farben der Blüten und Früchte lassen sich auf drei Gruppen von Farbstoffen zurückführen, nämlich auf gelbe, rote und blau-violette Farben. Das Blumengelb ist in der Regel an geformte Protoplasmakörper gebunden, während die übrigen Farbstoffe im Zellsaft gelöst sind. Das erstere findet sich in Form einer Fettverbindung; es zeigt die größte Aehnlichkeit mit denjenigen Farbstoffen, welche Krukenberg im Tierreiche nachwies und als Lipochrome bezeichnete. Behufs Gewinnung des reinen Farbstoffes wird die alkoholische Lösung mit Natronlauge gekocht, wobei das Fett verseift. Der in Freiheit ge- setzte Farbstoff kann mit Petroläther extrahiert werden; er ist, so dargestellt, völlig frei von dem der ursprünglichen alkoholischen Lö- sung etwa beigemengten Chlorophyli. Das Blumengelb krystallisiert in Nadeln, welche in Wasser unlöslich, dagegen in Alkohol, Aether, Chloroform, Petroläther und Schwefelkohlenstoff löslich sind; mit Schwefelsäure färbt es sich wie die Lipochrome blau und mit Jod- Jodkalium grün. Das Spektrum der aus den verschiedensten gelben Blüten gewonnenen Farbstoffe zeigt zwei Absorptionsbänder zwischen den Linien F und G; merkliche Verschiebungen der Bänder kommen vor, Fluoreszenzerscheinungen fehlen. Pringsheim’s und Tschirch’s 198 Hansen, Die Farbstoffe der Blüten. abweichende Beobachtungen erklären sich aus dem Umstande, dass diese Forscher dureh Chlorophyll verunreinigte alkoholische Extrakte vor sich hatten. Der nämliche Farbstoff, welcher den Ranunculus- und Cytisus- Blüten ihr sattes Gelb verleiht, lässt in dichterer Einlagerung die Frucht der Apfelsine tieforange erscheinen. In einigen blassgelb gefärbten Blüten und Früchten findet sich ein in Wasser löslicher gelber Farbstoff. Hansen extrahierte ihn aus Zitronenschalen. Das in Wasser lösliche Gelb wird durch Schwe- felsäure nicht blau, sondern braun gefärbt; dem Spektrum fehlen die Bänder; gegen das blaue Ende hin zeigt sich eine diffuse Absorption. Durch Alkalien wird der Farbstoff dunkler. Petroläther nimmt nichts davon auf. Der Farbstoff verhält sich ähnlich wie der von Kruken- berg in Aethalium septicum aufgefundene. Das Blumenrot wird durch einen einzigen Farbstoff, den Farb- stoff der Rosen, Nelken, Päonien hervorgebracht. Durch Eindampfen und völliges Trocknen unter dem Exsikkator erhält man den Farb- stoff als einen festen, karminroten, zerreiblichen, in Wasser und Al- kohol löslichen Körper. Alkohol wirkt — wahrscheinlich durch Was- serentziehung — entfärbend; durch Säurezusatz wird die Farbe momentan wieder hervorgerufen. [Bekanntlich verhält sich das Blumenrot analog gegen Schwefeldioxyd. D. Ref.| Ammoniak und kohlensaure Alkalien färben das Blumenrot grün, Aetzalkalien gelb; durch Säuren wird der rote Farbstoff regeneriert, durch kochende Natronlauge aber zersetzt. Möglicherweise ist das Blumenrot eine Säure, deren Salze grün sind und deren Anhydrit farblos ist. Das Spektrum des Blumenrots ist durch ein breites Absorptionsband zwi- schen D und F charakterisiert. Die ziegel- oder feuerrote Farbe mancher Blüten entsteht da- durch, dass neben dem roten, gelösten Farbstoff der gelbe, an Chro- matophoren gebundene vorhanden ist. Die rote Farbe der Früchte entsteht ebenfalls durch Blumenrot oder durch eine Kombination von rot und gelb. Die blauen und violetten Farbstoffe können durch Alkohol eben- falls extrahiert werden, verblassen aber wie der rote; durch Säure- zusatz wird Blumenrot hervorgerufen. Das Blumenrot der Päonie lässt sich durch Zusatz kleiner Mengen von Eisensalzen oder von Dinatriumphosphat in ein schönes Violett umwandeln. Durch größere Mengen von Dinatriumphosphat wird das Violett in Blau übergeführt. Die Früchte von Atropa belladonna enthalten einen ähnlichen Farb- stoff. Die Spektren der blauen und violetten Farbstoffe besitzen zwei Bänder zwischen D und b. [Der violette, durch Säuren rot, durch Alkalien grün sich färbende Farbstoff des Rotkohls dürfte mit den violetten Blütenfarbstoffen identisch sein. D. Ref.]| Auch der Hennum, Ueber Zellformen. 199 violette Farbstoff tritt kombiniert mit gelbem Lipochrom z. B. in den Ampelopsis-Beeren auf. Mit dem Chlorophyll haben diese Farbstoffe anscheinend keinerlei genetischen Zusammenhang. Die Gelbfärbung der Blätter im Herbste wird nach Zerstörung des Chlorophylis teilweise durch Lipochrom, mehr aber noch durch körnige, bräunliche Zerfallprodukte des Zell- inhaltes bewirkt. Die Stengel etiolierter Bohnen werden im Lichte rot, ehe Chloro- phyll gebildet wird. Das farblose Parenchym von 4loö socotorina liefert beim Kochen mit Wasser einen prachtvoll roten Farbstoff; hier ist eine Umwandlung des Chlorophylis völlig ausgeschlossen. Achn- lich mag es sich mit den roten Farbstoffen der Früchte und herbst- lichen Blätter verhalten, welche zwar, während das Chlorophyll ver- schwindet, entstehen, aber durchaus nicht aus demselben gebildet werden. Kellermann (Wunsiedel). J. O0. Hennum, prosektor ved universitetet i Kristiania, Til Belysning of cellernes former. Separataftryk af Archiv for Mathematik og Naturvidenskab, udgivet af Sophus Lie, Worm Müller og G. 0. Sars IX. Bind p. 301—404. Kristiania, Cammer- meyer. 1834. Mit 7 Tafeln. Anden meddelelse, Archiv for Mathem. u. s. w. X. Bind. p. 1—46. Der Verfasser versuchte, die interessante und für alle Morpho- logen, für Botaniker wie Zoologen gleich wichtige Frage nach der Gestalt der Zellen experimentell zu lösen. Er versuchte von mathe- matisch-physikalischem Standpunkt aus die Zellenformen zu erklären. Die erste Abhandlung beschäftigt sich mit den zur Lösung der Frage angestellten Experimenten und den dabei sich ergebenden Resultaten. Die zweite Abhandlung prüft die bisher an der Hand der Mikro- skopie der Organe gewonnenen Thatsachen der Zellenformen. Der Verfasser formte aus feuchtem Thon Kugeln, rollte sie in Lycopodium, legte sie teils neben, teils über einander und ließ dann in regelmäßiger Weise einen Druck auf sie wirken. Die dabei ent- standenen Formen wurden mathematisch geprüft, sowohl was die Flächen als was den Inhalt betrifft. Der Verfasser ging dabei von fol- genden Voraussetzungen aus: 1. alle Kugeln sind gleich groß; 2. die Substanz der Kugeln ist absolut nicht zusammendrückbar; die einzelnen Teile der Substanz sind so leicht beweglich, dass sie infolge eines Drucks nach beliebiger Richtung ausweichen, aber nach Aufhören des Drucks ruhig liegen bleiben; 200 Hennum, Ueber Zellformen. 3. die Kugeln liegen in einer, oder in zweien, dreien und mehr Schichten; 4. der Druck wirkt auf die Kugeln entweder in senkrechter Richtung, d. h. senkrecht auf die Ebene, in welcher die Kugeln lie- gen, oder m horizontaler Richtung, d.h. in einer Richtung, welche mit der Ebene der Kugeln parallel ist, wobei der Druck so vielseitig sein wird, als eine Zelle sich mit anderen berührt; oder der Druck wirkt gleichzeitig in senkrechter und horizontaler Richtung, d. h. gleichmäßig: die Kugelzentren nähern sich einander mit gleicher Ge- schwindigkeit. Danach ist zu unterscheiden: der senkrechte, der horizontale und der gleichmäßig von allen Seiten wirkende Druck. Die sich ergebenden Grundformen sind außer den Kugeln: der Würfel, das grade regelmäßige vierseitige Prisma, dessen Höhe gleich der Seite der Grundfläche ist; das grade regelmäßige sechsseitige Prisma, dessen Höhe gleich dem doppelten Radius des in die Grundfläche einge- schriebenen Kreises; das Rhombendodekaeder, welches von zwölf gleich großen Rhomben begrenzt wird; das Tessarakaidekaeder, welches von acht sechsseitigen Flächen, von zwei Quadraten und vier Rhomben begrenzt wird. I. Zuerst werden die Grundformen mathematisch behandelt (5. 304 — 324), es werden die Flächen und der Inhalt berechnet und ver- glichen. II. Die Anordnung der Kugeln (S. 324—326) kann verschieden sein, je nachdem die Kugeln in einer Schicht, oder in zweien, dreien oder mehreren Schichten über einander liegen. A. Die Kugeln liegen in einer einzigen Schicht in quadratischer, in dreieckiger (triangulärer) Ordnung. Mit dem Ausdruck „quadratische Ordnung“ wird der Fall bezeichnet, wobei durch Vereinigung der Mittelpunkte von vier an einander stoßenden Kugeln durch Linien ein Quadrat entsteht, mit dem Ausdruck „trianguläre Ordnung“ der Fall, wobei durch lineare Vereinigung der Mittelpunkte dreier an einander stoßender Ku- geln ein Dreieck entsteht. — B. Die Kugeln liegen in zweien oder mehreren Schichten über einander. In diesen Fällen können die Kugeln in vertikaler Richtung entweder quadratisch oder triangulär angeordnet sein, d. h. eine grade Linie, welche von dem Kugelzentrum einer obern Schicht senkrecht auf die untere Schicht geführt wird, trifft entweder wiederum ein Kugelzentrum (quadratische Anordnung) oder die Berührungsstellen der Kugeln (trianguläre Anordnung), wobei es einerlei ist, ob die Kugeln in horizontaler Ebene quadratisch oder triangulär angeordnet sind; oder die vom Kugelzentrum einer obern Hennum, Ueber Zellformen. 201 Schicht herabfallende senkrechte Linie trifft die Mitte des Zwischen- raums von vier Kugeln (vierseitig pyramidale Anordnung) oder die Mitte des Zwischenraums von drei Kugeln (tetraedrische Anordnung), je nachdem eben die Kugeln in horizontaler Richtung quadratisch und triangulär angeordnet sind. Danach haben wir durch Kombination der horizontalen mit der vertikalen Ord- nung: Die Kugeln sind in horizontaler Richtung quadratisch geordnet: 1. quadratisch-quadratische Ordnung, 2. quadratisch-trianguläre Ordnung, 3. die vierseitig-pyramidale Ordnung. Die Kugeln sind in horizontaler Richtung triangulär geordnet: 4. triangulär-quadratische Ordnung, 5. triangulär-trianguläre Ordnung, 6. die tetraedrische Ordnung. III. Erörterung der stereometrischen Figuren, welche entstehen, wenn man die Kugeln einem Druck aussetzt (S. 324—371). a. Die Kugeln liegen in einer einzigen Schicht «@) inquadratischer Ordnung; der Druck wirkt vertikal, es entstehen grade regelmäßige vierseitige Prismen, deren Grundfläche ein Quadrat ist. Der Druck wirkt horizontal: die Kugeln werden in ihrer Aequatorial-Ebene von den 4 Nachbarkugeln gedrückt; es entstehen grade regelmäßige vierseitige Prismen, deren Höhe gleich dem Durchmesser der Kugel ist. Der Druck wirkt allseitig: es entstehen aus den Kugeln Würfeln oder Kubus. ß) in triangulärer Ordnung. Der Druck wirkt vertikal: es entsteht ein regelmäßiges grades sechsseitiges Prisma, dessen Grundfläche ein regelmäßiges Sechseck ist, eingezeichnet in einen Kreis, dessen Radius dem Kugelradius gleich ist. Der Druck wirkt horizontal: es entsteht ein grades regelmäßiges Prisma, dessen Höhe gleich dem Durchmesser der Kugel ist, dessen Grundfläche ein regelmäßiges Sechseck ist. Der Druck wirkt allseitig: es entsteht das grade regelmäßige sechsseitige Prisma, dessen Höhe doppelt so groß ist als der Radius des in die Grundfläche eingeschriebenen Kreises. b. Die Kugeln liegen in zwei Schichten 1. in quadratisch-quadratischer Ordnung, in horizontaler wie vertikaler Richtung quadratisch. Die einzelne Kugel berührt mit dem einen Pol die Ebene, mit dem andern Pol eine Kugel der zweiten Schicht und ist in ihrer Aequatorial-Ebene von 4 Kugeln umgeben. Bei Wirkung des Drucks entstehen grade regelmäßige vierseitige Prismen und zwar: 202 Hennum, Ueber Zellformen. bei vertikalem Druck flache (vierseitige) Prismen, deren Höhe rar 39 deren Grundflächen - Seite 2r ist; bei horizontalem Druck hohe Prismen (vierseitige), deren Höhe 2r ist und deren Grundflächen - Seite r a ist; & oe ; Ä ; 3 4 bei allseitigem Druck kubische Prismen, deren Seite Be ist. 2. Die Kugeln in 2 Schichten in quadratisch-triangulärer Ordnung, in horizontaler Richtung quadratisch, in vertikaler trian- gulär. Die Kugeln berühren mit dem einen Pol die Ebene, mit dem andern Pol die Kugeln der andern Schicht und sind in der Aequa- torial-Ebene von 4 Kugeln umgeben. Beim Druck entsteht ein sieben- eckiges Polyeder, nämlich ein vierseitiges Prisma mit einem dach- förmig zugeschärften obern Ende und zwar bei vertikalem Druck: die Seite der Grundfläche des vierseitigen “ Prismas ist 2r, der Inhalt des dachförmigen Endstückes = bei horizontalem Druck und bei allseitigem Druck sind die berechneten Formeln viel komplizierter. 3. Die Kugeln liegen in 2 Schichten in vierseitig-pyrami- daler Ordnung, inhorizontaler Richtung quadratisch, in verti- kaler vierseitig pyramidal. Die Kugeln berühren mit dem einen Pol die Ebene, mit dem andern Pol aber berühren die 4 Kugeln die an- dere Schicht; in der Aequatorial-Ebene ist die einzelne Kugel von 4 anderen umgeben. Beim Druck entsteht ein von 9 Flächen begrenztes Polyeder: das Polyeder hat eine Grundfläche, 4 Seitenflächen und 4 rhombische Flächen an dem der Grundfläche entgegengesetzten Ende, — das heißt es ist ein vierseitiges Prisma, welchem oben die vierkantige Ecke eines Rhombendodekaeders aufgesetzt ist. — Jenach- dem nun der Druck vertikal, horizontal oder allseitig wirkt, werden die Flächen des Polyeders einen andern Inhalt haben und durch ver- schiedene Formeln zu berechnen sein. 4. Die Kugeln liegen in 2 Schichten in triangulär-qua- dratischer Ordnung, in horizontaler Richtung triangulär, in verti- kaler quadratisch. Die einzelne Kugel berührt mit dem einen Pol die Ebene, mit dem andern Pol eine Kugel der andern Schicht, in der Aequatorial-Ebene 6 Nachbarkugeln. Beim Druck wird ein grades regelmäßiges sechsseitiges Prisma entstehen: beiverti- Ä 5 ar. kalem Druck ein flaches Prisma, dessen Seite FR YV>3, dessen 2rır . ’ B ? 5 i 2 ist; bei horizontalem Druck ein Prisma, dessen Seite Höhe 3Y: Hennum, Ueber Zellformen. 203 : Dre 73 dessen Höhe 2r ist; bei allseitigem Druck ein ku- 2 3 Sl) TE boides Prisma, dessen Seite ıUm dessen Höhe u EZ: ist 5. Die Kugeln liegen in 2 Schichten in triangulär-triangu- lärer Ordnung, in horizontaler wie in vertikaler Richtung triangulär. Die Kugeln berühren mit einem Pol die Ebene, mit dem andern Pol zwei Kugeln und in der Aequatorial-Ebene 6 Kugeln. Beim Druck entsteht ein Polyeder mit 11 Flächen, von denen eine an einem Pole, vier an dem andern Pole und sechs in der Aequatorial-Ebene liegen — das ist ein sechsseitiges Prisma, dem ein dachförmiges Ende (Tessarakaidekaeder) aufgesetzt ist. Die komplizierten Formeln der Berechnung der Seitenflächen und des Inhalts, welche, je nachdem der Druck verschieden ist, auch verschieden sind, lassen wir hier bei Seite. Die Kugeln liegen in zwei Schiehten in tetraedrischer Ordnung (in horizontaler Richtung triangulär, in vertikaler tetraedisch). Die ein- zelne Kugel berührt mit einem Pol die Ebene, mit dem andern Pol 3 Kugeln, in der Aequatorial-Ebene 6 Kugeln; es entsteht durch Druck ein Polyeder mit 10 Flächen: eine Grundfläche, sechs senk- rechte Seitenflächen und drei schräge rhomboidale Endflächen, d. i. ein sechsseitiges Prisma, dem oben eine dreikantige Rhombendode- kaeder-Ecke aufgesetzt ist. ec. Die Kugeln liegen in drei Schichten. Die Kugeln liegen in drei horizontalen Schichten, welche sich nach allen Seiten ins unendliche erstrecken, zwischen zwei unend- lichen Ebenen. Die Anordnung der Kugeln ist dieselbe wie früher bei zwei Schichten; nur die mittelste Schicht kommt ausschließlich mit anderen Kugeln in Berührung. 1. Quadratisch-quadratische Ordnung: in horizontaler wie vertikaler Richtung quadratisch. Die obere und untere Lage der Kugeln berührt sowohl die Ebene als auch die mittlere Kugelschicht, wie früher bei zwei Schichten; die Kugeln der mittlern Schicht dagegen berühren mit je einem Pol eine Kugel und vier Kugeln in der Aequa- torial-Ebene. Durch Druck entsteht das grade regelmäßige viersei- tige Prisma, wie bei der Lagerung der Kugeln in zwei Schichten. 2. Quadratisch-trianguläre Ordnung, in horizontaler Richtung quadratisch, in vertikaler triangulär. Die Kugeln der obern und der untern Lage berühren mit einem Pol die Ebene, mit dem an- dern Pol zwei Kugeln der mittlern Schicht und vier Kugeln in der Aequatorial-Ebene; die Kugeln der mittlern Schicht berühren mit je- dem Pol zwei Kugeln und ebenfalls vier Kugeln in der Aequatorial- Ebene. Durch Druck entsteht ein grades regelmäßiges vierseitiges Prisma, das entweder an einem oder an beiden Enden dachförmig zugespitzt ist. 204 Hennum, Ueber Zellformen. 3. Die vierseitig-pyramidale Ordnung (in horizontaler Richtung quadratisch, in vertikaler vierseitig pyramidal). Die Kugeln der obersten und der untersten Schicht zeigen dieselben Beziehungen, wie die in zwei Schichten gelagerten Kugeln in gleicher Ordnung; nur in der mittelsten Schicht berührt die einzelne Kugel 12 Nachbarkugeln, nämlich 4 Kugeln in der Aequatorial-Ebene und je 4 Kugeln der Nachbarschicht. Durch Druck entsteht ein Polyeder mit 12 Flächen, das ist ein vierseitiges Prisma, welchem an beiden Enden eine vier- kantige Rhombendodekaeder-Ecke aufgesetzt ist. 4. Triangulär- quadratische Ordnung. Die Kugeln liegen in der horizontalen Richtung triangulär, in vertikaler Richtung in drei Schichten quadratisch übereinander, sie verhalten sich so wie die Kugeln in zwei Schichten; durch Druck entsteht das grade regel- mäßige sechsseitige Prisma. 5. Triangulär-trianguläre Ordnung. Die Kugeln liegen in hori- zontaler, wie in vertikaler Richtung triangulär und zwar in drei Schichten; die Kugeln der beiden äußersten Lagen berühren in der Aequatorial-Ebene 6 Kugeln, mit dem einen Pol die Ebene, mit dem andern Pol anfangs zwei Kugeln, später bei fortgesetztem Druck 4 Kugeln. Die Kugeln der mittleren Lagen berühren in der Aequa- torial-Ebene 6 Kugeln, mit jedem Pol anfänglich 2, zuletzt 4 Kugeln. Durch Druck entsteht ein grades (regelmäßiges) sechsseitiges Prisma; In den beiden äußersten Lagen (d. h. der obern und der untern) ist das Prisma an dem einen Ende, in der mittlern Lage an beiden Enden dachförmig zugespitzt; das dachförmige Ende gleicht dem End- stück eines Tessarakaidekaeders. 6. Tetraedrische Ordnung. (Die Kugeln liegen in horizontaler Richtung triangulär, in vertikaler Richtung tetraedrisch.) Die einzelnen Kugeln der obersten und der untersten Lage berühren mit einem Pol die Ebene, ferner 9 andere Kugeln, 6 Kugeln derselben und 3 Kugeln der benachbarten Schicht; in der mittelsten Schicht berührt Jede Kugel 12 andere, nämlich 6 in derselben und 3 in der benach- barten Schicht. Durch Druck entstehen sechskantige Prismen, welche entweder an einem oder an beiden Enden dreikantige Rhombendode- kaeder-Ecken tragen. d. Die Kugeln liegen in unendlich vielen Schichten überein- ander. Die Kugeln können in den 6 verschiedenen Ordnungsweisen geschichtet sein, wie bei 2 oder 3 Schichten, wobei die zwischen der obersten und untersten Schicht befindlichen Mittellagen sich so ver- halten werden, wie die mittlere Schicht bei drei Lagen. Unter der Voraussetzung der quadratischen Anordnung in horizontaler Richtung werden durch Druck überall grade regel- mäßige vierseitige Prismen, höhere oder niedrige entstehn, und zwar werden dieselben Hennum, Ueber Zellformen. 205 bei der quadratisch-quadratischen Anordnung an beiden Enden von parallelen Ebenen begrenzt sein, bei quadratisch-triangulärer Anordnung an beiden Enden ein dachförmig zugespitztes Stück tragen, bei vierseitig-pyramidaler Anordnung eine grade abgekürzte vierkantige Rhombendodekaeder- Ecke tragen. Unter der Voraussetzung der triangulären Anordnung in horizontaler Richtung entsteht durch Druck ein grades sechssei- tiges Prisma mit wechselnden Flächen, dessen Enden begrenzt sind bei triangulär-quadratischer Anordnung von flachen Ebenen, beitriangulär-triangulärer Anordnung von Endflächen, welche Tessarakaidekaedern gleich sind, bei tetraediseher Anordnung von dreikantigen Rhomben- dodekaeder - Ecken. Man kann demnach alle so gebildeten Polyeder auffassen als vierseitige oder sechsseitige Prismen, welche an den beiden Enden entweder flach oder in anderer Weise begrenzt sind. Danach kann man 3 Zonen unterscheiden: die eine (prismatische) mag Aequa- torialzone heißen, die beiden anderen Polarzonen. Die Gestalt der Aequatorialzone des Körpers wird abhängen von der Ordnung der Polyeder in horizontaler Richtung; je nachdem es sich um eine quadratische oder trianguläre Ordnung handelt, wird die Aequatorialzone vierseitig oder sechsseitig prismatisch werden. Die Gestaltung der Polarzonen aber wird abhängen von der Anordnung der Polyeder in vertikaler Richtung; da die Ordnung hier eine dreifache sein kann, so muss es auch dreifach verschieden geformte Polarzonen geben. Die Aequatorialzone des graden regulären vierseitgen Prismas gibt in Verbindung mit den verschiedenen (3) Polarzonen: 1) Würfel — mit ebenen Polarzonen, 2) das grade regelmäßige vierseitige Prisma mit dach- förmig zugespitzten Polarzonen, 3) das Rhombendodekaeder, dessen Polarzone vierkantige von Rhomben begrenzte Ecken sind. Die Aequatorialzone des graden regulären sechsseitigen Prismas gibt in Verbindung mit den (3) verschiedenen Polarzonen: 4) das senkrecht stehende sechsseitige Prisma mit ebenen Polarzonen, 5) das Tessarakaidekaeder, dessen Enden zugespitzt sind zu einem dachförmigen Stück mit abgestutzten Ecken, 6) das Rhombendodekaeder mit Polarzonen, welche dreiseitig und von drei Rhomben begrenzt sind. 206 Hennum, Ueber Zellformen. Es können nun weiter durch Kombination folgende 6 Formen gebildet werden, nämlich durch Zusammensetzung von 1) Würfel und liegendem sechsseitigem Prisma, 2) Würfel und Rhombendodekaeder, 3) liegendem sechsseitigem Prisma und Rhombendodekaeder, 4) stehendem sechsseitigem Prisma und Tessarakaidekaeder, 5) stehendem sechsseitigem Prisma und Rhombendodekaeder, 6) Tessarakaidekaeder und Rhombendodekaeder. Wenn man durch den Aequator des liegenden sechsseitigen Prismas, des Tessarakaidekaeders und des Rhombendodekaeders (mit sechssei- tiger Aequatorialzone) einen Horizontalschnitt legt und das obere Stück so dreht, dass nach einer Drehung von 90°, bezw. 60° die Seitenkante des obern Stücks mit der Seitenkante des untern (stillstehenden) Stücks eine grade Linie bildet, so entstehen die sogenannten gedreh- ten Formen (S. 170) nämlich 1) das gedrehte sechsseitige Prisma, 2) das gedrehte Tessarakaidekaeder, 3) das gedrehte Rhombendodekaeder. Somit sind im ganzen 15 verschiedene Formen, welche weiter dadurch verändert werden können, dass entsprechend einem in ver- schiedener Stärke wirkenden Druck sie höher (länger) und niedriger (kürzer) werden. — Wenn nun weiter die Anordnung der Kugeln bezw. Polyeder in horizontaler Richtung nicht in allen Lagen oder Schichten dieselbe ist, wenn man sie sich z. B. abwechselnd, quadratisch und triangulär denkt, so werden wiederum neue Formen gebildet werden. Ebenso kann man durch Variieren der Größe der Kugeln, durch verschiedene Konsistenz der Kugeln, durch verschiedenartig wirken- den Druck noch zahlreiche Formen konstruieren. Wenn man dabei nur stets die genannte Grundform als Ausgangspunkt benützt, so wird man die Bedeutung und Entstehung der mannigfaltigen Formen begreifen können. — Weiter (S. 371—404) beschreibt der Verfasser die verschiedenen Bilder, welehe bei Schnitten durch die Kugeln, sowie durch die Grund- formen erscheinen; die Scehnittrichtung kann dabei horizontal, frontal und sagittal sein. Schließlich sehildert der Verfasser die Bilder bei Schnitten durch regelmäßig geordnete Haufen von Kugeln oder von sogenannten Grundformen. Wir müssen es uns versagen, diesen Abschnitt im Auszuge wiederzugeben, weil ohne gleichzeitige Reproduktion der dazu gehörigen Figurentafeln ein Verständnis nicht zu erreichen ist. In der zweiten Abhandlung wendet sieh der Verfasser der tieri- schen Zelle, speziell dem Epithel zu, um an der Hand der bisher in der Literatur niedergelegten Arbeiten zu untersuchen, inwieweit die Resultate seiner Experimente sich in der Natur bestätigen, inwie- Hennum, Ueber Zellformen. 207 weit seine experimentell konstruierten Formen am Epithel sich wie- derfinden lassen. Als Ausgangspunkt dieser Erörterung dient die Behauptung, dass alle verschiedenen Formen der Epithelzellen in befriedigender Weise durch rein mechanische Bedingungen, durch Zuhilfenahme von Druckkräften erklärt werden können. Mit Rück- sicht hierauf werden zunächst die Arbeiten von Arnold, Pflüger, Stricker, Flemming, Lott, Drasch, Vossius in Auszügen wiedergegeben (I. Ueber die Regeneration der Epithelzellen S. 12—15), um zu dem Resultat zu gelangen, dass die Regeneration aller Zellen in den tiefsten Zellenlagen vor sich geht. Ferner wird (II. Ueber die Kugel als Grundform der Epithelzelle S. 15—21) auseinandergesetzt, dass die Grundform der Epithelzellen eine Kugel sei, weiter (II. S. 21) über die verschiedene Größe der Zellen gesprochen. Dann wird wei- ter dargethan (IV. Ueber die elastische Kraft der Zelle S. 22—23), dass allen, namentlich den noch wachsenden Zellen eine Elastizität innewohnt, welche modifizierend auf die polyedrische Zellenform ein- wirkt. (V. Ueber die Anordnung der Epithelzellen S. 23—24.) Die Epithelzellen liegen in einer oder in mehreren Schichten in quadrati- scher oder triangulärer Ordnung: die quadratische Anordnung kommt in der Natur nicht selten vor (Amphioxus-Ei, Hatschek), ebenso die trianguläre Anordnung (Linse, Pigmentschicht der Re- tina, Henle’s und Huxley’s Schicht der Haarscheide). Was das mehrschichtige Epithel betrifft, so findet man, dass in vertikaler Rich- tung die quadratische Anordnung die labilste ist, dagegen die pyra- midale oder tetraedrische Anordnung die stabilste (Froschei), und dass die trianguläre Ordnung zwischen beiden steht. (VI. Ueber die Wirkung des Drucks auf die Zelle S. 24—32). Dass durch den Druck die Zellenformen wirklich verändert werden können, daran ist nicht zu zweifeln; der Verfasser weist auf die Arbeiten Kölliker’s in- betreff des Lungenepithels, auf die Arbeiten Paneth’s und London’s inbetreff des Blasenepithels hin. Der Druck kann von den Zellen selbst ausgehen: die Zellen drücken sich gegenseitig; der Verfasser verweist auf die Arbeiten von Lott, Drasch und Vossius. Es kann durch Faltung einer aus Epithelzellen zusammengesetzten Platte ein Druck auf die Zellen geübt werden (His). Es kann von außen her ein Druck auf die Zellenkomplexe stattfinden (Ebner, Detlefsen). (VO. Versuch die Zellenformen mit Zuhilfenahme des Druckes zu erklären S. 32—43). Wo Epithelzellen in einer Schicht liegen, da kann man je nach den verschiedenen Durchmessern unterscheiden : 1) platte Zellen, bei welchem der senkrechte Durchmesser hinter den beiden anderen zurückgeblieben ist; 2) kubische Zellen, wo alle 3 Durchmesser einander gleich sind und 3) zylindrische Zel- len, wo der senkrechte Durchmesser länger ist als die beiden anderen. Als Repräsentant des Plattenepithels kann das Retinalpigment gelten. Die triangulär geordneten Zellen sind einem Druck in vertikaler 208 Wilekens, Paläontologie der Haustiere. Richtung ausgesetzt; es sind kurze (niedrige) und zwar sechsseitige Prismen, weil die Zellen sich auch gegenseitig drücken. Kubische Zellen sind die Zellen an der Oberfläche des Eierstocks; die Zellen wachsen stark; durch gegenseitigen Druck werden die triangulär ge- ordneten Zellen zu sechsseitigen Prismen, deren Basalfläche eben, deren Außenfläche konvex ist. Zylindrische Zellen entstehen, wo auf einer bestimmten Oberfläche die triangulär geordneten Zellen- kugeln dicht gedrängt stehen und nun sehr energisch wachsen; durch gegenseitigen Druck werden sechsseitige Prismen daraus, mit platten Basal- und ebensolchen Seitenflächen, aber konvexen Außen- flächen. — Die Zellen werden umsomehr aus der „kubischen“ Form in die „zylindrische“ übergehen, je mehr sie wachsen, d. h. je größer die Unterschiede zwischen der ursprünglichen Größe der Zellen- kugeln und die endliche Größe der fertigen Zelle ist. Was schließlich die Formen des geschichteten Epithels betrifft, so knüpft der Verfasser hierbei an Rollet’s Schema an, nach welchem in der obern Schicht platte Zellen, in der mittlern Schicht ebenmäßig nach den 3 Dimensionen des Raums entwickelte Zellen, in der untersten Schicht in der Richtung von innen nach außen verlängerte Zellen sich finden. — Die Auseinandersetzungen des Ver- fassers darüber sind leider nicht von Abbildungen begleitet und des- halb nicht leicht verständlich. Wir verzichten deshalb auf eine Wie- dergabe und sprechen den Wunsch aus, dass der Verfasser demnächst — auf diesem Wege fortschreitend — uns in einer durch Abbildungen erläuternden Schrift seine interessanten und weittragenden Theorien — wo möglich in einer deutschen Zeitschrift auseinandersetzt. — L. Stieda (Dorpat). Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haustiere '). 5. Die schweineartigen Tiere (Suiden). Die paarzehigen Huftiere trennen sich in eine halbmondzähnige (Paridigitata selenodonta) und in eine höckerzähnige Gruppe (Paridigitata bunodonta), jene gipfelt in den Wiederkäuern, diese in den Schweinen der Jetztzeit. Die Trennung geschah wahrschein- lich im untern Eocän, wenigstens finden wir hier Mittelformen, welche mit gleicher Berechtigung der einen oder der andern Gruppe der Paarhufer zugeteilt werden können. Auf diesem eocänen Grenzgebiete treffen wir sogar Formen, welche 4) Vgl. Bd. V Nr. 3 und 4 dieser Zeitschrift. 5. Die schweineartigen Tiere. 2309 die den Unpaarhufern angehörende Familie Lophiodon‘) mit den Familien unzweifelhafter Schweine zu verbinden scheinen. Diese der Familie Lophiodon nahestehende Form hat Gervais?) Lophiotherium genannt und sie als besondere Unterabteilung von Lophiodon auf- gestellt. Rütimeyer („Eocäne Säugetiere aus dem Gebiet des Schweizerischen Jura“, 1862, S. 60) aber hat die Gattung Lophiotherium von Lophiodon abgetrennt; er rechtfertigte diese Ablösung dadurch, dass bei Lophiotherium nicht nur die Querjoche der Backenzähne dureh diagonale Kämme stärker verbunden seien als bei den übrigen Lophio- donten, sondern dass überhaupt der ganze Zahntypus dieser letzteren hier sehr wesentlich abgeändert erscheine; hiezu gehöre auch die Erhebung der beiden Enden der Querkämme in kleine Spitzen, welche längere Zeit besondere Reibungsflächen tragen. Es scheint Herrn Rütimeyer, dass Lophiotherium hiedurch mit Aphelotherium und Rhagatherium in nähere Berührung trete als mit Lophiodon; er hält daher Lophiotherium für eine Zwischenstufe zwischen Lophiodon und den Paläochöriden. Die von Pietet („Mem. sur les anim. vert. trouves dans le ter- rain siderolitigue du Canton de Vaud, 1855—57, p. 43) aufgestellte Gattung Rhagatherium?) — die nach Rütimeyer ebenfalls die Ver- bindung herstellen soll zwischen den tapirartigen Lophiodonten und den sechweineartigen Paläochöriden — zeigt nach den von Piectet abgebildeten Zähnen (es wurden nur Kieferstücke mit Zähnen gefun- den) eine nahe Verwandtschaft mit den Wiederkäuern; P. bezeichnete diese Gattung als „voisin des Anthracotherium et des Hyopotamus“ — die beide den halbmondzähnigen Paarhufen angehören — obgleich er die von ihm Rhagatherium Valdense genannte Art in die Gruppe der Schweine setzte. Doch machte P. selbst darauf aufmerksam, dass die vorragenden Eckzähne und die große Zahulücke, welche sie von den Baekenzähnen trennte, sowie die quer gestellten Hügel der Molaren des Unterkiefers, etwas an die Organisation der Gattungen erinnern, welche den Tapiren näher gestellt sind unter dem Namen Lophiotherium, Pachynolophus u. s. w.; die Bildung der oberen Molaren sei fast übereinstimmend mit derjenigen von Anthracotherium und Hyopotamus, aber die Form der scharfen Prämolaren — welche der- jenigen der Fleischfresser ähnlich sei — in beiden Kiefern ließ P. nicht daran zweifeln, dass seine neue Art ein Omnivor sei, von naher Verwandtschaft mit den Schweinen. Aber nachdem Pietet neues 1) Lophiodon (von Aogpiov kleiner Hügel und odovs Zahn) ist der eocäne Vorfahr der miocänen Tapire. 2) Zool et Pal&ont. france 1859 p. 114. 3) Abgeleitet von dayeas Spalte und 9notov Tier, weil Pietet die Knochen- reste dieses Tieres in Felsspalten des siderolithischen Lagers von Mauremont im Waadtlande fand. 14 210 Wilekens, Paläontologie der Haustiere. Material aus dem Museum von Lausanne kennen gelernt hatte, erklärte er in einem 1869 erschienenen „Supplement“ p. 170: dass er veran- lasst sei „provisorisch“ drei Arten zu unterscheiden; die kleinste der- selben sei Ahagatherium Valdense, die folgende Hyopotamus oder khagatherium Gressiyi (von Herm. v. Meyer Tapinodon Gressiyi genannt), die größte Hyopotamus erispus. P. vereinigte also die Arten Rhagatherium und Hyopotamus zu einer Gattung. Bei der Beschrei- bung der zweiten Art bekannte er seine Verlegenheit zu entscheiden, ob diese Art ein Hyopotamus oder ein Rhagatherium sei; aber selbst bei Hyopotamus crispus sei die Form der Zähne ganz dieselbe wie bei Rrhagatherium Valdense, nur erscheinen sie auffallend viel größer. Aus dem Eocän von Egerkingen bei Solothurn beschrieb Rüti- meyer (a. a. O. S. 63) vier Unterkieferzähne, welche er einer be- sondern Gattung Chasmotherium Rütimeyer zuwies, die in zoolo- gischer Hinsicht unmittelbar neben Aphelotherium Gervais und Rhaga- therium Pictet zu stellen wäre. Aber Pietet, der nichts mit diesen Zähnen übereinstimmendes in Mauremont gefunden hat, erklärte, dass es ihm unmöglich sei ihre Bedeutung als Gattung anzuerkennen. Eine nahe verwandte Gattung — von der ein nur an der Nase abgebrochener Schädel im Londonthon am Abhange des Studd Hill im Westen der Herne Bay gefunden wurde — nannte R. Owen („British Fossil Mammals“ p. 419) Hyracotherium. Die allgemeine Form des Schädels hatte wahrschemlich ein Gepräge, welches die Mitte hielt zwischen Schwein und Klippschliefer (Hyrax). Die be- deutende Größe des Auges, erkennbar an der Weite der Augenhöhlen, musste dem Tiere ein Aussehen gegeben haben ähnlich dem Hasen; aber jener kleine Diekhäuter war näher verwandt dem Klippschliefer als eine Gattung derselben Ordnung, auch diesem ähnlich an Größe. Ö. stellte diese Gattung nach Form und Struktur der Backenzähne zu derselben Familie der Schwein-Gruppe wie der Choeropotamus !); er unterschied zwei Arten: Hyracotherium leporinum und H. ceuniculus. Eine dritte Art, A. siderolithicum, beschrieb Pictet (a. a. O. S. 53) aus dem Lager von Mauremont; er stellte sie sehr nahe seinem Rhaga- therium, von dem sie sich nur durch unbedeutende Verschiedenheiten unterscheiden soll. Eine den vorigen verwandte Gattung ist Dichobune?), unter wel- chem Namen G. Cuvier („Rech. s. 1. ossem. fossiles“, 4me ed. T. V p. 433) drei Arten kleiner Anoplotherien aus dem Pariser Becken vereinigte, von denen Anoplotherium oder Dichobune leporinum die Größe 1) Später hat Owen diese Ansicht berichtigt und Hyracotherium unter die Unpaarhufer verwiesen, wohin es in Wahrheit gehört. Kowalevsky stellte Hyracotherium zunächst dem Lophiodon. 2) Der Name weist hin auf die Molaren mit 2 Paar Hügel, von diy« in zwei Teile getrennt und ßovvos Hügel. 5. Die schweineartigen Tiere. 211 und die Form eines Hasen hatte. Owen (a. a. O. S. 440) beschrieb Unterkieferstücke einer größern Art aus dem eocänen Mergel von Binstead, welche er Dichobune cervinum nannte und sie dem Moschus- tiere nahestellte. Pietet (a. a. O. S. 57) sagte von seiner neuen Art, Dichobune Campichiü, aus dem siderolithischen Lager von Maure- mont, dass sie die wesentlichen Kennzeichen der Anoplotheroiden !) darbiete: die Zähne in einer fortlaufenden Reihe, fast ohne Zahnlücke, mit wenig vorragenden Eckzähnen; aber die Form der Molaren er- innere zugleich ein wenig an die tapirähnlichen Tiere (Tapiroides) und an die Schweine; sie haben aber auch Beziehungen zu seiner Gattung Rhagatherium und noch mehr zur Gattung Mierochoerus von Wood. Den Mamen Microchoerus hat Wood (Annals and Magazine of Natur. History, vol. XIV, 1844, p. 350) dem unvollständigen Schädel eines Diekhäuters beigelegt, der in der eocänen Schicht von Hord- well gefunden wurde; das allgemeine Aussehen der Molarzähne kam sehr nahe dem von Hyracotherium, aber seine Größe konnte kaum die des Igels überschreiten. Die Zahnformel ist nach Waterhouse: Sehneidezähne 2; Eekzähne" 0; Prämolaren“—; Molaren er 1—1' 0—0' 4—4' 3—3' Unter den Anoplotheroiden unterschied Pietet nach der Form der Molaren des Unterkiefers zwei Typen. Der erste Typus umfasst die Gattungen, deren Molaren scharfe Erhabenheiten haben und Halb- monde bilden; diese Gattungen (Xöphodon, Oplotherium, Microtherium u. Ss. w.) bilden eine Uebergangsreihe zu den Wiederkäuern. Der zweite Typus ist gekennzeichnet durch tapirartige Molaren, welche in mehr oder minder regelmäßige, quer gestellte Hügel geteilt sind; diese Gruppe enthält die Gattung Dichobune, und wahrscheinlich auch Adapis, Aphelotherium u. 8. W. Den Namen Adapis parisiensis gab G. Cuvier (a. a. O. 8. 460) einem fast vollständigen Schädel aus dem Gips des Montmartre, des- sen Form im ganzen fast die des Igels gehabt zu haben schien, nur war sie um ein Drittel größer. C. fand in jener Kieferhälfte zwei scharfe und ein wenig schiefe Schneidezähne, einen kegelförmigen, etwas vorragenden Eekzahn und sieben Baekenzähne A. Gaudry („Les enchainements du Monde animal“, p. 227) meint, dass Adapis derselben Gattung angehöre wie die Halbaffen (Lemuren)?) der Phos- 4) Unter „Anoplotheroiden* versteht Pietet die den Anoplotherien nahe- stehenden Formen. 2) Gaudry bemerkt (a. a. 0. S. 230), dass in den westlichen Ländern Nordamerikas mehrere Arten gefunden seien, welche — wie Adapis — Ueber- gänge darstellen zwischen den Lemuren und den Pachydermen. In seiner Be- schreibung der eocänen Fossile von Neu-Mexiko sagt Cope (Report upon Unit. St. Geogr. Surveys, 1877, vol. IV, Paleont. ps. II, p. 81), dass Laurillard 1208 212 Wilekens. Paläontologie der Haustiere. im phorite; er hält diese Meinung für wahrscheinlich, weil sie von Ger- vais und Filhol angenommen sei. Aber in seiner „Zool. et Pal&ont. frane.“ p. 172 kennzeichnete Gervais den Adapis parisiensis als kleines Tier von der Gestalt der Klippschliefer (Damans), doch mit omnivorem Gebiss von einiger Aehnlichkeit (analogie) mit dem des Igels; sein Gebiss soll auch dem des Mierochoerus ähnlich sehen, einem kleinen fossilen Tiere des Eocäns von England, beschrieben von Wood. Die dritte Gattung, welehe Pietet neben Dichobune und Adapis dem zweiten Typus der Anoplotheroiden unterordnete, ist Aphelotherium, welche Gervais (a. a. OÖ. S. 170) nach Zähnen des Unterkiefers aufgestellt hat, die gefunden wurden in den Gipsgruben der Umgegend von Paris und in den Kalksteinen der Höhen von Perreal bei Apt (Vaucluse); G. hielt die Aphelotherium Duwvernyi genannte Art für ein wenig kleiner als der Klippschliefer. G. zählte Adapis und Aphelo- therium zur Familie der Anoplotheroiden, aber Gaudry hielt auch das letztgenannte Tier für eine Art von Halbaffe, und er behandelte beide in seinem 10. Kapitel über die Vierhänder. Nach wenigen Ueberresten von Zähnen aus den Ligniten der Debruge und den Höhen von Perreal beschrieb Gervais (a. a. O. S. 188) unter den Namen Acotherulum Saturninum ein kleines Tier, welches er für einen Paarhufer hielt, ziemlich nahestehend dem Schwein und dem Hypotherium, aber von der Gestalt der Dichobunen, bezieh- ungsweise der Klippschliefer. Gaudry erwähnt auch Acotherulum in seinem Kapitel über die Vierhänder, aber er sagt, dass der Schädel desselben, den Filhol in seinem Werke über die Phosphorite von (Querey abbildet, sehr verschieden sei von dem der Affen; er habe noch mehrere Merkmale der Schweine, aber seine Molaren haben eine Richtung (tendance) zur Form der Affen. Aus eoeänen Lagern erwähnt Gervais noch zwei schweineartige Gattungen, welche er nannte Cebochoerus und Heterohyus. Von der erstgenannten stammt die Art ©. /acustris aus dem Paläotheriumlager von Souvignargue (Gard), die Art ©. anceps aus den Süßwasserkalken der Höhen von Perreal oder St. Radegonde; . jene ist etwas kleiner als der Pekari, diese hat fast die Größe eines Klippschliefers. ©. la- und Blainville den Adapis für verwandt den Insektenfressern halten. Aber Gaudry und Gervais seien nach weiterer Nachforschung zu dem Schlusse gekommen: dass Palaeolemur der Adapis Cuv. sei, und dass Aphelo- therium Gerv. und (aenopithecus auch damit übereinstimmen. Später habe Filhol für diese Gattung und eine neue, welche er Necrolemur genannt, die Familie der Pachylemuridae aufgestellt, der er eine; neue Art, Adapis magnus, angeschlossen habe — Da Copea..a. O. keine Literatur angegeben hat, so habe ich mich von der Richtigkeit der den Herren Gaudry, Gervais und Filhol zugeschriebenen Ansichten und Aussprüchen nicht selbst überzeugen können. In den von mir oben angeführten Schriften von Gaudry und Ger- vais ist Palaeolemur nicht erwähnt. 5. Die schweineartigen Tiere 213 custris beruht auf einem Oberkieferbruchstück mit fünf Backenzähnen, welche Aehnlichkeit haben mit denen von Hypotherium (Palaeochoerus) und Choeropotamus — die wir später kennen lernen werden. Diese Zähne haben je drei Wurzeln und vier abgesonderte Warzen und zwischen den beiden vorderen eine Spur der Nebenwarze der Chöro- potamen. Von ©. anceps standen G. vier hintere Backenzähne zu gebote; er meint, dass es schwer sei die wahren Verwandtschaften des Tieres zu bestimmen, dem sie angehören. Die vier Backenzähne von ©. anceps haben Aehnlichkeit mit denen gewisser omnivorer Dick- häuter, welche den Schweinen verwandt sind, namentlich mit Acothe- rulum, aber auch mit denen gewisser Affen'), insbesondere mit dem schweineschwänzigen Macacus nemestrinus; aber auf den ersten Blick unterscheide sich das Knochenstück von Cebochoerus anceps durch die vier Wurzeln der drei letzten Backenzähne von den Affen, den Dick- häutern oder Wiederkäuern, die nur drei Wurzeln haben. Die Ver- einigung von Ü. anceps mit O©. lacustris — dessen Backenzähne nur drei Wurzeln haben — in einer und derselben Gattung bezeichnet G. nur als vorläufige. Die Gattung Heterophyus stützte Gervais (a. a. OÖ. S. 201) auf vier Backenzähne des Unterkiefers, von denen die drei hinteren Mo- laren Aehnlichkeit haben mit denen fleischfressender Omnivoren und mit denen der Gattung Porcus. Die wahre Verwandtschaft des zuge- hörigen Tieres — dessen Reste im Lophiodontenkies zu Buschweiler im Elsass gefunden wurden — vermochte G. nicht zu bestimmen; ob- gleich es zweifelhaft ist, ob diese Gattung unter die fleischfressenden Sohlengänger oder unter die omnivoren Paarhufer gehört, so will er sie doch so lange bei den letzteren belassen, bis sie besser bekannt sein wird. Die Gattung Choeropotamus wurde zuerst von G. Cuvier (a.a.0. S. 452) aufgestellt aufgrund einiger Backenzähne, eines Unterkiefer- stückes und einer unvollständigen Schädelbasis aus dem Pariser Gips. Die Zähne der Oh. parisiensis genannten Art zeigen einige Beziehungen zu denen von Babirussa und hauptsächlich vom Pekari; aber außer dem Unterschiede in der Größe sind sie verhältnismäßig viel breiter und sie haben einen deutlichen Hals, der jenen beiden Gattungen fehlt. C. stellte Choeropotamus der großen Gattung der Schweine näher als den Anoplotherien. Owen fand im eocänen Mergel der Insel Wight ein Unterkiefer- stück mit abgebrochenem Schneidezahnteil. Er beschreibt (a. a. O. S. 413) die Zähne sehr genau und nannte das zugehörige Tier Choe- ropotamus Cuvieri. Owen meint, dass dies dem Pekari ähnlich, I) Wegen dieser Aehnlichkeit mit den Affen nannte Gervais die in Rede stehende Gattung Cebochoerus, abgeleitet von x7ßos — bei Aristoteles eine Art geschwänzter Affen — und xoigos junges Schwein. 214 Wilekens, Paläontologie der Haustiere. aber etwa um ein Drittel größer gewesen sei; er hält es für die früheste Form der Schweinegruppe, die auf der Erde erschienen. Als die wichtigsten Kennzeichen des von O. beschriebenen Unter- kieferstückes sind anzuführen: der Gelenkfortsatz bei Choeropotamus steht höher über dem Unterkieferwinkel als bei den eigentlichen Fleisch- fressern, und er ist weniger konvex als beim Schwein oder Pekari; der Schnabelfortsatz (Praeeoronoideus) ist mehr entwickelt, in Ueber- einstimmung mit der größern Masse des Schläfenmuskels, der letzte Molarzahn zeigt dieselben hinteren Nebenwärzchen wie beim Pekari, alle Prämolaren sind einfacher in Vergleich mit ‘den Molaren, von denen jeder die Größe von zwei Prämolaren hat und deren innere Warzen mit den äußeren gleichmäßig entwickelt sind; sie haben auch zwei kleine Nebenwärzchen und einen wohl entwickelten Kragen (eingulum); der Eekzahn (Hauer) hat mehr die Form und die Größen- verhältnisse desjenigen der Fleischfresser; die Zahl der Prämolaren beträgt jederseits drei, der vierte (vorderste) ist nicht entwickelt. O. macht darauf aufmerksam: es sei wichtig zu bemerken, dass die lebende Untergattung der Schweine (die Pekaris), welche dem Choero- potamus am ähnlichsten seien, beschränkt sind auf das Festland von Südamerika, wo die Llamas und Tapire — die lebenden nächsten Verwandten der Anoplotherien und Paläotherien, den Gefährten des Choeropotamus — noch vorkommen, und der früher bewohnt war von der Gattung Macrauchenia, welche die Llamas mit den Paläotherien verbindet. Gervais, welcher a. a. O. S. 195 vollständigere Unterkiefer und Gebisse beschrieben und abgebildet und zahlreiche eocäne Fundorte von Ohoeropotamus angegeben hat, unterschied zwei Arten: Ch. pari- siensis, etwa von der Größe eines siamesischen Schweins, und Oh. affinis (aus den Ligniten der Debruge) von etwas geringerer Größe. Die von Esquerra del Bayo nach zwei oberen Backenzähnen auf- gestellte Art Ch. matritensis (aus den älteren Tertiärbecken von Madrid) scheint Herrn Gervais eher eine Art der Gattung Schwein zu sein. Die wesentlichen Kennzeichen der Gattung Choeropotamus sind nach G.: Schneidezähne Eckzähne - Backenzähne — die Prämolaren 3 = sind ziemlich diek, die hinteren Molaren des Oberkiefers bilden auf der Krone zwei Reihen von Warzen oder von abgestumpften Pyra- miden, deren drei vorn und zwei hinten stehen; der Winkel des Unter- kiefers ist vorragend. Herm. v. Meyer („Die fossilen Zähne und Knochen von Geor- gensgmünd“, 1834, S. 51) stellte nach einem Unterkieferstück und der 1) Nach Pietet „Trait& de Pal&ont.* 1853 p. 329 ist die Zahl der Backen- \ 7 3 zähne 7 die Form eine mittlere zwischen denen des Pekaris und der Heippo- potamen. 5. Die schweineartigen Tiere. 315 Krone eines obern Backenzahnes, aus der Molasse der Rappenfluhe bei Annaberg in der Schweiz, eine neue Art auf, welche er Choero- potamus Meissneri‘) nannte; später aber reihte er sie in die Gattung Hypotherium ein, die wir weiter unten kennen lernen werden. Von den sämtlichen hier erwähnten den Schweinen nahestehenden Formen sind bisher nur wenige Bruchstücke vom Schädel, zahlreiche Zähne, aber keine Rumpf- oder Gliederknochen gefunden worden. Der Reichtum der eocänen Schichteu — hauptsächlich im Gips des Mont- martre — an so verschiedenartigen Gattungen schweineähnlicher Tiere wäre, angesichts der spärlichen Formen des spätern Tertiärs und der Gegenwart, wohl erstaunlich, wenn wir nicht den Verdacht hegen dürften, dass die so zahlreichen Formen von Backenzähnen — im Eifer neue Arten aufzustellen — bezüglich ihrer Altersverschiedenheit und ihrer Abnutzung nicht scharf genug geprüft sind. Die Zweifel — welche u. a. Pietet offen bekannt hat — ob ein Gebiss der Gruppe der halbmondzähnigen oder der Gruppe der höckerzähnigen Paarhufer angehört, die Ungewissheit, ob wir es mit dem Gebiss eines Schweins oder mit dem eines Affen zu thun haben, lässt wohl ver- muten, dass den Forschern häufig verschiedene Entwicklungszustände desselben Gebisses vorlagen, welche sie für selbständige Formen an- nahmen. Es ist doch kaum denkbar, dass fossile Lager, welche so fleißig durchforscht sind — wie der Pariser Gips, der Londonthon und die siderolithische Schieht von Mauremont — wenige Schädel- bruchstücke und Zähne fast immer nur von einer einzigen Art ent- halten haben sollten, und dass alle die zahlreichen Gattungen und Arten schweineähnlicher Tiere, die wir kennen gelernt haben, ihre spärlichen Ueberreste so häufig nur von einem einzigen Individuum der Nachwelt hinterlassen haben. Jeder neue Entdecker fossiler Ueber- reste aus jenen berühmten Fundstätten der ältesten Tertiärschicht glaubte die ersten Musterstücke neuer Arten gefunden zu haben, denen andere Stücke derselben Arten nachfolgen würden. Aber jeder nach- kommende Entdecker eröffnete seine Forschung mit einem neuen Blatte und wieder mit einer neuen Art. So kommt es, dass alle die zahlreichen Formen schweineähnlicher Tiere neben einander stehen und dass zwischen ihnen weder eine Bluts-Verwandtschaft, noch irgend welche Stammeslinien erkennbar sind. Selbst ein so eifriger Syste- matiker wie W. Kowalevsky traute sich nicht, das eocäne Grenz- 1) Nach Studer (Beiträge zu einer Monographie der Molasse, 1825, S. 294) hielt Meissner das von ihm gefundene Unterkieferstück mit drei Zähnen nach Größe und Form vollkommen übereinstimmend mit den entsprechenden Zähnen von Babirussa, und er glaubte sie einem Anoplotherium von der Größe einer Fischotter zueignen zu können. Studer findet aber — die Größe ab- gerechnet — weit mehr Aehnlichkeit mit der von Cuvier aufgestellten Gat- tung ÜUhoeropotamus. 316 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. gebiet zwischen den halbmondzähnigen und höckerzähnigen Paar- hufern durch Stammbaumlinien der systematischen Erkenntnis zugäng- licher zu machen. Seine Stammtafel der Huftiere zu Seite 152 der Palaeontographica N. F. Il. 3 zeigt, ausgehend von der noch nicht bekannten gemeinsamen Form der Paarhufer — die wahrscheinlich in dem Grenzgebiete zwischen der Kreide und dem Eoeän gelebt hat — nur zwei Linien, von denen die eine zu Rhagatherium führt auf der Seite der halbmondzähnigen Paarhufer, die andere zu Choeropotamus auf der Seite der höckerzähnigen Paarhufer; auf jener Seite finden wir die Anoplotherien, die Hyopotamiden (denen er auch die Gattung Rhagatherium beizählt) und die Anthracotherien, anf der andern Seite die eocänen Suiden mit fünfhöckerigem Molaren (Adapiden), sowie die Gattungen Hippopotamus und Entelodon. Aber selbst über die Stellung von Choeropotamus — die den Schweinen ähnlichste Form im Eoeän — ist K. zweifelhaft; obwohl seine Unterkieferzähne den höckerzähnigen Paarhufern sehr nahe stehen, entfernt sich der C'hoero- potamus von den Schweinen doch durch seine oberen Molaren, die ein Anthracotherium-ähnliches Gepräge haben. Die Ineisura palatina, die bis zum zweiten Molar vordringe, scheint auch nicht ganz für die Angehörigkeit zu den Suiden zu sprechen, da sich dieselbe bei diesen weit hinter die letzten Molaren erstrecke, obwohl es nach K. schon möglich sei, dass ältere Suiden in dieser Hinsicht verschieden von den gegenwärtigen sich verhielten. Soviel aber sei gewiss, dass der Choeropotamus so dieklobige Zähne besitze, dass man bei deren Be- zeichnung schwankend werde, ob es Loben- oder Höckerzähne sind. Je ältere Vertreter der Suiden wir auffinden — sagt K. — desto un- gewisser werde dieser Unterschied, und es unterliege keinem Zweifel, dass beide, jetzt so scharf verschiedene Zahnformen — die Halb- mondzähne und die Höckerzähne — durch die vollständigsten Ueber- gänge mit einander verbunden sind und nur Extreme ein und der- selben Urform darstellen. Bei der Beschreibung von Choeropotamus (a. a. O. S. 255) bemerkt K. nochmals: seine oberen Molaren tragen noch ein so entschieden halbmondförmiges Gepräge, dass wir nach ihnen allein eher berechtigt wären den Choeropotamus zu den Halb- mondzähnern zu stellen und vielleicht als einen Vorläufer der Anthra- cotherien zu betrachten. Jedenfalls ist aber ein Verbindungsglied zwischen der Form von Choeropotamus einerseits und den Formen der eigentlichen Schweine und der Gattung Entelodon anderseits bisher nicht bekannt geworden. Der Stammbaum der Schweine — dessen Wurzeln vielleicht auf jenem Grenzgebiete zwischen den halbmondzähnigen und höckerzähni- gen Paarhufern ihren Ursprung nehmen — beginnt für die euro- päischen Formen erst im Miocän mit Choerotherium und setzt sich durch Palaeochorus fort bis zu den Schweinen der Gegenwart. Neben dieser Hauptlinie aber besteht eine Nebenlinie, welche im untern 5. Die schweineartigen Tiere. IA Miocän in Entelodon ihren Gipfel erreicht und dann erlischt. Jene Hauptlinie bezeichnet Kowalevsky (Palaeontographica N. F. II. 3) als die Linie der „adaptiven Reduktion“, die andere, mit Entelodon endende, als die Linie der „inadaptiven Reduktion“. Was K. unter „adaptiver Reduktion“ versteht, erläutert er (a. a. O. S.168) an dem Fuße des gewöhnlichen Schweins wie folgt. Die zwei Mittelzehen des Schweinefußes sind im Vergleiche zu den seitlichen bedeutend entwickelt, auf sie fällt hauptsächlich die ganze Last des Körpers, während die seitlichen den Boden kaum berühren. Um diese Last besser zu tragen, haben sich die Mittel- zehen (III u. IV) nicht nur verdickt, sondern sie haben sich an die untere (distale) Fläche aller Karpal- und Tarsalknochen angepasst. — Dabei hat das Metacarpale III erst die 2. Vorderzehe von ihrer ty- pischen Gelenkfläche am Os magnum verdrängt, dann aber, immer weiter wachsend, sich auf das Trapezoid ausgebreitet, so dass von nun an die Hälfte des Trapezoids der 3. Vorderzehe als Stütze dient. Das Metacarpale IV hat sich entsprechend am Uneiforme ausgebreitet und die seitliche (5.) Vorderzehe auf den äußern Rand dieses Kno- chens geschoben. Dasselbe ist in noch höherem Grade am Hinter- fuße geschehen, wo das sich ausbreitende Metatarsale III fast das ganze Cuneiforme II eingenommen hat. Die zweite Zehe hat an diesem Knochen nur eine kleine Gelenkfläche und wird von dem Cuneiforme I getragen. Dabei bleiben aber Magnum und Trapezoi- deum, sowie Cuneiforme III und II frei, unverschmolzen. Einen weiter ausgebildeten Zustand finden wir beim Pekari (Dicotyles), wo die dritte Zehe am Vorder- und Hinterfuße das ganze Trapezoid und Cuneiforme II eingenommen hat. Die beiden Mittelzehen haben sich auf diese Weise an die ganze untere Fläche des Carpus und Tarsus angepasst. Es stellt sich somit in der Gruppe der Paarhufer ein Gegensatz heraus zwischen solchen Formen, deren Füße ungemein hartnäckig an den typischen Verhältnissen halten, und die selbst bei der größten Vereinfachung (Reduktion) nie vom Typus abweichen, und solchen, die keine solche Treue zum Typus bewahren, sondern je nach den Bedürfnissen des Organismus in die veränderten Ver- hältnisse sich fügen und sich an die Bedingungen einer Bewegung auf zwei Zehen anpassen. K. hat nun nachgeforscht, welche Gat- tungen eigentlich diese Starrheit und welche diese Bildungsfähigkeit der Organisation bekunden, und da stellte sich ihm das merkwürdige Verhalten heraus, dass alle ausgestorbenen Gattungen, die keinen direkten Nachkommen hinterlassen haben, auch diese Starrheit, diese Niehtanpassung in ihrem Knochenbau zeigen, während alle diejeni- gen Gattungen, welche eine direkte Nachkommenschaft hinterließen, sich in der beschriebenen Weise anpassen. Zu der Gruppe der höckerzähnigen Paarhufer, deren Füße die nichtangepasste Vereinfachung zeigen, gehört allein die unter- miocäne Gattung Entelodon. 218 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. Die Entelodon magnum genannte Art wurde von Aymard!) im mergligen Kalk der Paläotheriumschicht zu Rougon bei Puy (Haute Loire) entdeckt; es scheinen zuerst nur Zähne gefunden zu sein, welche das vollständige Gebiss ?) eines Schweines bilden: Sehneide- « B) 1 7 zähne 39 Eekzähne > Backenzähne 7 Pomel („Catalogne des Vertebr. foss. decouverts dans le Bassin hydrographig. sup. de la Loire“, 1854, p. 88) beschrieb dieselbe Art unter dem Namen Elo- therium Aymardi; und außerdem noch eine zweite Art: El. Ronzonii, aber er beschränkte sich bloß auf die Kennzeichnung der einzelnen Zähne. Gervais (a. a. O. S. 194) sagt: Entelodon magnum sei ein Tier größer als der Tapir, beinahe so groß wie ein Flusspferd; die Zahnformel und die Anordnung der Zähne sei ähnlich wie bei Choero- potamus; die Molaren des Oberkiefers haben weniger gesonderte, so zu sagen unregelmäßigere Warzen; die Molaren des Unterkiefers seien tapirähnlich (subtapiroides), und sie haben sehr niedrige uud sehr stumpfe Hügel. Der Fuß, den Aymard sich verschafft habe, zeige vier paarhufige Zehen. Leidy beschrieb 1850 in den Verhandlungen der naturwissen- schaftlichen Akademie zu Philadelphia einen der gleichen Gattung angehörenden Unterkiefer mit zwei Prämolaren aus der tertiären Schicht der Mauvaises Terres unter dem Namen Archaeotherium Mor- toni. Nachdem er aber Kenntnis von den Arbeiten Aymard’s und Pomel’s erhalten hatte, nannte er das betreffende Tier Klotherium Mortoni. Im Journ. of the Academy of Nat. Sc. of Philadelphia ?), vol. VII. sec. ser., 1869, p. 175, pl. XVI hat Leidy einen fast voll- ständigen Schädel beschrieben und abgebildet. Der ausgewachsene Schädel hatte ungefähr die Größe desjenigen vom Wildschwein, und er ist um etwa ein Drittel kleiner als der von Entelodon magnum Aym., oder Elotherium Aymardi Pom. In der abgebildeten Seiten- ansicht zeigt der Schädel einige Aehnlichkeit mit dem des Schweins, aber er ist hinten weniger erhöht, so dass sein oberer Teil nicht so schräg erscheint. Der Schädel ist länger und niedriger und ihn über- ragt ein hoher sagittaler Kamm. Die Schläfengrube ist geräumiger 1) Mem. soc. agrie., sc. et bell. lett. du Puy, t. XII. p. 240. 1848. Da mir diese Schrift nicht zugänglich war, so berichte ich darüber nach Gervais (a. a. O0. S. 194). Aus derselben Schrift erwähnt G. noch Aymard’s Gattung Bothriodon, welche dem Anthracotherium Cuv. entspricht, also unter die Gruppe der halbmondzähnigen Paarhufer gehört, trotzdem die Schädelform Beziehungen (rapports) zu der der Phacochönen haben soll. Pomel nennt diese Gattung Aymard’s Ancodus. 2) Der Name Entelodon ist abgeleitet von 2vzeins und odovs — vollkom- menes (Gebiss. 3) Die als Sonderausgabe erschienene Abhandlung führt den Titel „The extinet Mammalian Fauna of Dakota and Nebraska“. 5. Die schweineartigen Tiere. 219 und der Jochbogen mehr auswärts gekrümmt. Die Augenhöhle ist mehr nach vorn gerückt und hat einen vollständigen Knochenring. Die Form des Gesichtes von der Seite entspricht einem Zylindroid, das sich gegen die Schnauze regelmäßig zuspitzt. Die Nasenbeine ragen nur wenig vor. Der aufsteigende Ast des Unterkiefers ist kurz und sein hinterer Rand mehr senkrecht gestellt. Die Grenzlinie seiner Basis ist unterbrochen durch ein paar knöcherne Knoten und die Symphyse steht wenig schräg. Die Eckzähne ragen wenig vor und gleichen mehr denen der Fleischfresser als der lebenden Schweine. Uebrigens scheinen die Zähne des Elotherium von gleicher Zahl ge- wesen zu sein und die gleiche Stellung zu einander zu behaupten wie beim Schwein; dies ist wenigstens der Fall bei dem Musterstück, welches Leidy jener Gattung zugeschrieben hat. Der Schmelz an allen Zähnen ist diek und stark gerunzelt und ist insbesondere uneben auf den Molaren; die Kuppen der Kronen sind mehr oder weniger wellenförmig. Die Milchzähne und die Regelmäßigkeit des Aufeinanderfolgens der bleibenden Zähne scheinen bei Elotherium so wie beim Schwein gewesen zu sein. Die Milch-Prämolaren des Ober- kiefers gleichen den bleibenden Molaren, doch ist der innere Teil ihrer Krone verhältnismäßig schwächer entwickelt. Die Milch - Prä- molaren des Unterkiefers unterscheiden sich — wie bei den entspre- chenden Zähnen der gegenwärtigen schweineartigen Tiere — von den bleibenden Molaren durch den Besitz von einem Paare Nebenwärzchen an der Queraxe der Krone. Der Schmelz der Milchzähne ist dünner und glatter als der von bleibenden Zähnen. — Diese Beschreibung des Milchgebisses stützt sich auf den Unterkiefer eines jungen Tieres, der jetzt aufbewahrt ist in dem Museum von Smithsonian’s In- stitut; außerdem standen zahlreiche andere Kieferstücke verschie- denen Alters Herrn Leidy zu gebote. Von Gliederknochen des Elo- therium Mortoni hat L. untersucht: ein verstümmeltes oberes Ende vom Oberarm, zwei untere Enden desselben, zwei obere Enden der verbundenen Speiche und Elle, zwei untere Enden des Oberschenkels u. Ss. w., aber keine Fußknochen; diese Knochen waren ähnlich denen des Schweins oder des Pekari. — Gestützt auf einige Kieferstücke, einzelne Zähne und den mittlern Teil des Gesichts, stellt L. noch eine zweite größere Art auf, welche er Elotherium ingens genannt hat. Eine dritte Art, bestehend aus drei Bruchstücken einzelner Zähne aus der Tertiärschicht von John Day’s River in Dakota, nannte Leidy (Contrib. to the ext. vertebr. Fauna of the West. Territ., 1873, p- 217) Elotherium imperator; die Zähne sind von bedeutender Größe. In derselben Schrift S. 124 erwähnt L. die auf einem Molarzahn er- richtete Art El. lentus von Marsh — halb so groß wie El. Mortoni. Später beschreibt auch Kowalevsky (a. a. 0. S. 258) die Zähne von Entelodon Aymardi wie folgt. Die Ober- und Unterkiefermolaren sind — wie bei den Suiden überhaupt — einander sehr ähnlich; nur 220 Wilckens, Paläontologie der Haustiere, sehen die oberen nahezu quadratisch aus, während die unteren mehr in die Länge gezogen sind. Die Krone ist viereekig und mit sehr diekem getüpfeltem Schmelz bedeckt. Die einzelnen Höcker sind sehr abgerundet und so niedrig, dass sie fast nicht über den Horizont der Krone sich erheben. Der letzte obere Prämolarzahn ist stark ver- kürzt; er besteht nur aus zwei großen stumpfen Höckern, einem äußern und einem innern. Die Milchzähne des Oberkiefers folgen der allgemeinen Regel, indem der letzte wie ein Molar gestaltet ist, während der vorletzte eine dreieckige Form hat. Die unteren Prä- molaren sind kegelförmig; sie erinnern an die Prämolaren des Hippo- potamus; der letzte untere Milchzahn ist wie bei allen Paarhufern aus drei Paar Höckern zusammengesetzt. Die in Puy gefundenen Gliederknochen von Entelodon magnum sind ebenfalls von Kowalevsky untersucht worden; er sagt (a. a. 0. S. 189), dass der Entelodon nicht vierzehig war, wie ihn alle Autoren beschrieben, sondern zweizehig wie Anoplotherium, und dass er bloß Reste der zweiten und fünften Zehe hatte. Nach K. ist der zwei- zehige Fuß von Entelodon in nicht angepasster Weise vereinfacht. Das Metacarpale III stützt sich nur auf das Os magnum und hat keine Fläche für das Trapezoid, welches zur Stütze des Restes der zweiten Zehe dient; das Metacarpale IV nimmt nur seinen Teil der vergrößerten untern Fläche des Uneiforme ein, außen hängt noch ein Rest der fünften Zehe. Die Knochen der vordern und hintern Fußwurzel haben eine gewisse, obwohl entfernte Aehnliehkeit mit denen des Schweins und zeichnen sich durch ihre schlanke und hohe Gestalt aus. Das Wadenbein ist sehr dünn, obwohl noch in seiner ganzen Länge vorhanden. Die Vorderfläche der Mittelfuß- knochen erscheint glatt. — Mit dem Entelodon, der nach K. die einfachste (zweizehige) Form der Suiden darstellt, welche eine nicht angepasste Vereinfachung befolgen, ist der Gipfel dieser Gruppe er- reicht. Eine weitere Vereinfachung durch Verwachsung der zwei getrennten Mittelfußknochen konnte nicht geschehen, weil bei der damit eintretenden Verengerung des Mittelfußes die nicht angepassten Füße keine sichere Stütze für die Last des Körpers zu bieten ver- mochten — die Gattung hätte wohl weiter leben und vielleicht bis auf die Gegenwart sich erhalten können, wenn nicht mitwerbende Gattungen gekommen wären, deren Organisation besser angelegt war. Als der Familie der Entelodontiden angehörig beschrieb Ly- dekker (Siwalik and Narbada bunodont Suma, 1884, p. 65) einige Molaren und einen unvollständigen Unterkiefer aus den Siwaliks, die er einer besondern Gattung und Art zuerkennt: Tetraconodon mag- nus!); der Unterschied von Zntelodon besteht in den größeren Prä- 1) Diesen Gattungs- und Artnamen gab zuerst Faleoner wahrscheinlich demselben Fossil. Aber F. erklärte es später für eine Choerotherium - Art, 5. Die schweineartigen Tiere. 3 070 molaren und in der regelmäßigern oblongaten Form der Molarkronen. Die indische Gattung ist nach L. von Osborn sehr nahe verwandt der amerikanischen Achaenodon, diese Gattung aber ist dieselbe wie Parahyus Marsh. Die Stammlinie der Suiden, deren Füße die angepasste Verein- fachung zeigen, lässt Kowalevsky ausgehen von den Formen mit fünfhöckerigen Molaren des mittlern und obern Eocäns, welche er unter dem Familiennamen der Adapiden vereinigt. Seine Kenntnis von dieser Familie stützt sich auf ziemlich zahlreiche Reste (haupt- sächlich von Ober- und Unterkiefern) in schöner Erhaltung aus den mergligen Sandsteinen von Castres in Südfrankreich. Die Tierwelt von Castres enthält zahlreiche Reste von Lophiodon, Hyracotherium und Anchilophus; K. stellt sie aus diesem Grunde gleich der Tierwelt von Mauremont im Waadtlande. Wie hier, so fanden sich auch dort drei Formen von Suiden verschiedener Größe, welche alle drei in die Nähe von Adapis Cuv. zu gehören schienen. Die kleinste Art, welche durch einen vollständigen Schädel vertreten ist, scheint vollkommen übereinzustimmen mit dem von Cuvier beschriebenen Schädelstück des Adapis parisiensis. Dieser kleine Schädel von Castres hatte etwa Kaninchengröße. K. meint, dass das Schädelstück, welches Gervais dem Coebochoerus lacustris zuschrieb, dessen Original K. in Mont- pellier besichtigt hat, mit der kleinsten Suidenform aus Üastres und Mauremont übereinstimme. Alle drei Formen der Suiden aus diesen Fundstätten scheinen sich nach K. in einer nahen Verwandt- schaft mit Choeropotamus zu befinden, und es sei die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass Choeropotamus vielleicht nur eine vierte und größte Art oder Untergattung dieser Swiden darstelle. K. hält es sogar für wahrscheinlich, dass auch Aecotherulum Gerv. hieher gehöre. | So mangelhaft auch bis jetzt unsere Kenntnisse über diese alt- eoeänen Höckerzähner sind — sagt Kowalevsky (a.a.0.8.257) —, dennoch können wir darauf hinweisen, dass sie ein wichtiges ge- meinschaftliches Merkmal besitzen, nämlich die fünfhöckrigen oberen Molaren. Für sich allein möchte K. diesem Merkmale kein so großes Gewicht beilegen; wenn man sich aber erinnere, dass in der andern großen Abteilung der Paarhufer — bei den Halbmond- zähnern — dasselbe merkwürdige Verhalten vorkomme, indem alle älteren (alle eocänen und die meisten miocänen) Formen fünffaltige Zähne besitzen, während bei den neueren Formen die Zahl der Falten oder Halbmonde auf vier beschränkt ist, so könne man eine ähnliche Vereinfachung in den Höckern der oberen Molaren bei den Suiden nicht außer acht lassen. Es scheint somit, dass bei den höckerzähnigen während Lydekker dasselbe Fossil in die Familie der Entelodontiden einreihte, 222 Heinricher, Ueber isolateralen Blattbau. Paarhufern auch alle älteren eocänen Formen fünfhöckrige obere Molaren besessen haben, welche dann in der Miocänzeit zu vier- köckrigen umgestaltet wurden, wie sie bei Choerotherium, Palaeo- choerus und selbst bei den heutigen Schweinen vorkommen, bei denen aber die vier Haupthöcker der Grundform durch eine Wucherung von Nebenhöckern verdeckt werden. M. Wilekens (Wien). (Fortsetzung folgt.) E. Heinricher, Ueber isolateralen Blattbau mit besonderer Berücksichtigung der europäischen, speziell der deutschen Flora. Pringsheim’s Jahrb. f. wissensch. Bot., XV, 1884, 65 S., 5 Tafeln. — Bot. Centralbl., 1885, Nr. 11. Gegenüber den bisher wenig zahlreichen Beispielen für isolateralen (d. h. nach allen Radien hin gleichartigen) Blattbau bei Dikotylen, zeigt Verf. in der vorliegenden Arbeit, dass solche Fälle durchaus nicht selten sind. Unter 17 von ihm untersuchten Familien konnte er ihn bei 14 nachweisen; namentlich zahlreiche und schöne Beispiele weisen die Kompositen auf. Isolaterale Blätter sind orthotrop, d. h. sie werden von äußeren richtenden Einwirkungen grade so beeinflusst wie radiär gebaute Organe. Entweder Krümmung oder Torsion allein bewirken ihre vertikale Stellung oder ein Zusammenwirken beider Mo- mente. Krümmung der unteren Partien des Blattes allein prägt den betreffen- den Pflanzen ein eigentümliches Aussehen auf, dadurch, dass sich die Blätter der Axe dicht anlegen; axelständige Knospen bringen allerdings Abweichungen von dieser Stellung häufig hervor. — Fast alle Pflanzen mit isolateralem Blattbau haben sitzende oder scheidig sitzende Blätter, und Verfasser sucht hierin den Ausdruck einer Anpassung, wohl weil es so den Blättern möglich gemacht wird leicht in der vertikalen Stellung zu verbleiben, indem jede Lage- veränderung durch die breite Basis des Blattes erschwert und auch dem Eigen- gewicht des Blattes leicht das Gegengewicht gehalten wird. Für nicht vertikale Sprosse ist allerdings in dieser Einrichtung, wie leicht ersichtlich, ein Nach- teil gegeben, indess verzweigen sich die in betracht kommenden Pflanzen normaler Weise vor der Blütenbildung nicht, und diese nachteilige Folge wird also nicht praktisch. Ein deutlicher Unterschied zwischen den Epidermen der Ober- und Unter- seite isolateraler Blätter ist nicht nachzuweisen. Auf Ober- und Unterseite ist das sogenannte Pallisadenparenchym ausgebildet, und häufig besteht auch das Mesophyll aus lauter Pallisadenzellen. Häufig ist indess auch zwischen den beiden Pallisadenschichten noch Schwammparenchym vorhanden, dessen Zellen dann meist parallel zur Oberseite des Blattes ausgezogen sind. Im erstern Falle zeigen die Pallisadenzellen deutlich die Tendenz sich an die Gefäßbündelscheiden anzuschließen, im zweiten ist dies weniger evident. Verf. schließt mit Haberlandt daraus, dass man das Schwammparenchym als stoff- zuleitendes, die Parenchymscheiden als stoffableitendes Gewebe aufzufassen habe. Er geht sodann auf die Frage ein, ob das Licht auf Form und Lagerung Baumert, Untersuchungen über Zupenus luteus. 3953 der assimilierenden Zellen Einfluß äußere; er gibt mit Stahl zu, dass eine Einwirkung des Lichtes auf die Massigkeit und den Bau des Assimilations- parenchyms bestehe, bestreitet jedoch einen direkten Einfluss desselben auf die Form der einzelnen Zellen. Auch auf die Orientierung der Pallisadenzellen soll das Licht keinen Einfluss üben, wie dies Pick behauptet hatte; es ist nicht nur die Lage dieser Zellen infolge der verschiedenen Blattstellung zum Lichteinfall eine sehr variable. sondern man findet auch in den Kotyledonen mancher Pflanzen schon Pallisadengewebe. Nach Verf. ist es das Anschluss- bestreben nach den Scheiden und die Aufgabe der Stoffleitung, welche jene Orientierung bedingt. Durch das Studium der Gattung Centawrea namentlich ist Verf. zu der Anschauung gekommen, dass „der isolaterale Blattbau für die Mediterran- und Steppenflora, desgleichen für das amerikanische Präriengebiet charakteristisch ist, und ferner, dass in manchen Floren der isolaterale Blattbau vielleicht ebenso häufig sein dürfte wie der dorsiventrale“. Vor allem ist für die Ausbil- dung solcher Blätter intensive Beleuchtung Bedingung. „Die früheren Angaben einiger Forscher (Stahl, Vesque, Hertig), dass die senkrechte Stellung der Blätter eine Schutzeinrichtung gegen allzu intensive Beleuchtung und Transpiration sei, ergänzt Verf. mit der Bemerkung, dass die Pflanze auch be- strebt ist, das, was ihr durch eine für die Assimilation nun mindergünstige Lage entginge, durch eine Vermehrung und Vervollkommnung des Assimila- tionsgewebes wieder einzubringen“. c. Georg Baumert, Untersuchungen über den flüssigen Teil der Alkaloide von Lupinus luteus. Die landwirtschaftlichen Versuchsstationen, 30. Bd., H. 4 u. 5, 8. 295 — 330. Derselbe, Weitere Untersuchungen über den flüssigen Teil der Alkaloide von Lupinus luteus. Lupinidin. Ebenda 31. Bd., H. 2, S. 139— 153. Nach den Angaben von Siebert und H. Schulz sollen außer dem bis Jetzt bekannten Lupinin in Zupinus luteus noch zwei Alkaloide vorhanden sein; dazu kommt ein von Liebscher aufgefundenes krystallisierbares Alkaloid. Der Verfasser vermochte weder durch partielle Fällung mit Platinchlorid, noch durch fraktionierende Destillation den flüssigen Teil der Lupinenalkaloide in der Weise zu zerlegen, dass Platinsalze mit verschiedenem Gehalt an Wasser und Platin resultierten. Die Unterschiede, welche in der Farbe und in der sonstigen Beschaffenheit der Platinniederschläge hervortreten, sind rein morpho- logischer Art. Aus der salzsauren Auflösung der Basen soll nach H. Schulz durch Ammoniak die eine und durch Natronlauge die andere Basis frei gemacht werden; aber die Platinsalze beiderlei Ursprungs lassen keine Verschiedenheit erkennen. In all den genannten Fällen resultierten immer ein Platinsalz mit (im Mittel) 5,32%), Wasser und 29,95 °/, Platin. 224 Bütschli, Kirchner und Blochmann, Mikroskopische Pflanzen- u. Tierwelt. Die Umwandlung der von Liebscher aufgefundenen Krystalle in das Platinsalz hatte das nämliche Ergebnis. Der Gewichtsverlust, den das Platinsalz bei 135° erleidet, ist wahrschein- lich auf eine Abspaltung von Wasser aus der ursprünglichen Basis, nicht aber auf die Austreibung von Krystallwasser zurückzuführen. Das Platindoppelsalz hat die Zusammensetzung O,4H,5N,PsA, + 2 H,O. Auch der Versuch, das fragliche Aal deerniiich mit Hilfe der Chloride und Sulfate zu zerlegen, hatte einen negativen Erfolg. Die Analysen des Platinsalzes und des Sulfates, welchem die Formel C,H,„NSO, zukommt, führen übereinstimmend auf eine Basis von der Zusammensetzung C,H,,N. Die von Siewert aufgestellte Formel C,H,-NO dürfte in C,H,,N + H,O umzuwandeln sein, und das sogenannte flüssige Alkaloidgemisch ist wahrschein- lich eine Auflösung des krystallisierenden Hydrates C,H,,„N + H,O in einem flüssigen Anhydrid C,H,,N. Für die Existenz zweier Modifikationen einer Basis spricht auch der Mangel eines charakteristischen Siedepunktes; der Siedepunkt steigt nämlich von 270 bis 310° C. Demnach ist die destillierende Substanz als ein in fortwährender Wasserabspaltung begriffenes Hydrat aufzufassen. Das flüssige Alkaloid aus Zupinus luteus bezeichnet der Verfasser als Lupinidin. Aus den eingehenden, durch zahlreiche Analysen belegten Untersuchungen geht hervor, dass in dem Alkaloidgemisch von Lupinus luteus nur zwei Alka- loide enthalten sind: Lupinin C,,H,,N,0,, ein gut krystallisierendes tertiäres Diamin, und Lupi- nidin C,H,,N ein flüssiges, aber mutmaßlich ein krystallisierendes Hydrat C,H,,„N + H,O bildendes Monamin. Kellermann (Wunsiedel). Bütschli, Kirchner und Blochmann, Die mikroskopische Pflanzen- und Tierwelt des Süßwassers. Teil I. Kirchner, Die mikroskopische Pflanzenwelt des Süßwassers. Braunschweig, 4, 56 S., 41 Taf., 1885. Gebr. Häring. Nach einer allgemeineu Einleitung und Anleitung zum Sammeln und Prä- parieren etc. der bezüglichen Objekte folgt eine kurze übersichtliche Bearbei- tung der Algen und Pilze (einschl. Bakterien) des Süßwassers. Da das Buch für Laien und Liebhaber bestimmt ist, wird neues kaum geboten. Seiner Bestim- mung, die Laien mit der mikroskopischen Tier- und Pflanzenwelt bekannt und vertrauter zu machen, wird es in der schönsten Weise gerecht. Für den be- zeichneten Zweck ist es auf das angelegentlichste zu empfehlen. Die Herren Mitarbeiter, welche Sonderabzüge zu erhalten wün- schen, werden gebeten, die Zahl derselben auf den Manuskripten an- zugeben. Einsendungen für das „Biologische Centralblatt“ bittet man an die „Redaktion, Erlangen, physiologisches institut‘ zu richten. Verlag: von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge &: Sohn i in Erlangen. biologisches Gentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess wnd Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je ? Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Inhalt: Ludwig, Die Pilze als Ernährungsvermittler höherer Gewächse. — Zacharias, Ueber die Bedeutung des Palmform -Stadiums in der Entwicklung von Rota- torien und Nematoden. — Wilekens, Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haustiere. 5. Die schweineartigen Tiere (Fortsetzung). — Tollin, Andreas Vesal. — Mayer, Kleine Beiträge zur Frage der Sauerstoffausscheidung in den Crassulaceenblättern. — Zacharias, Biologische Forschungen in den Sudeten. — Albrecht, Ueber die Chorda dorsalis und 7 knöcherne Wirbelzentren im knorpligen Nasenseptum eines er- wachsenen Rindes, 15. Juni 1885. Nr. 8. Die Pilze als Ernährungsvermittler höherer Gewächse. Kamienski, Fr, Die Vegetationsorgane der Monotropa hypopitys L. Bot. Ztg. 1881 Nr. 29 p. 457-461. — Delpino, Federico, Vita della Monotropa hypopitys. Rivista Botanica dell’ Anno 18831, Milano 1882 p. 103 — 104. — Frank, B., Ueber die auf Wurzelsymbiose beruhende Ernährung gewisser Bäume durch unterirdische Pilze. Berichte d. Deutschen Bot. Gesellsch., 1885, Heft 4, p. 128-145. Mit Tafel x. Nachdem von Solms-Laubach gefunden hatte, dass der Fichten- spargel, Monotropa hypopitys, obwohl sich dessen Wurzeln zwischen denen der Waldbäume verbreiten und mit denselben oft dicht be- rühren, doch kein Parasit, sondern ein Saprophyt ist, hat Kamienski die Lebensweise dieser Pflanze näher zu ergründen versucht. Er kam dabei zu dem eigentümlichen Resultate, dass alle von ihm beobach- teten Wurzeln, die im Gegensatz zu denen aller Parasiten hausto- rienlos sind, in den lebenskräftigen Teilen von einer Pilzmycel- schicht umhüllt werden, die dem Wachstum der Wurzel immer in dem Maße nachschreitet, dass sie nur einige zerstörte Zellen der Wurzelhaube unbedeckt lässt. Dieser Pilz wuchert nur auf der Ober- fläche der Epidermis und sendet keine Hyphen oder Haustorien ins Innere der Wurzelgewebe, überhaupt sind alle Exemplare von Monotropa so vollständig gleich gesund, dass diese Pflanze nicht als eine für den Pilz dienende Nährpflanze, sondern vielmehr nur als eine Unterlage für denselben angesehen werden darf. Kamienski kommt zu dem 13) 296 Ludwig, Pilze als Ernährungsvermittler. Schlusse, dass, da bei allen von ihm beobachteten Monotropa-Exemplaren die Nahrung aus der Humuserde nur durch die Mycelschicht geschehen konnte, letztere die Rolle eines Vermittlers in der Nährstoff- aufnahme spielt. Delpino hat sodann die Beobachtungen von Kamienski bestätigt und glaubt auch der Neottia nidus awvis eine ähnliche Ernährungsweise zuschreiben zu sollen. „Anche noi“, sagt derselbe am aufgeführten Orte, „a Vallombrosa fino dal 1874 studiammo, benche di volo, lo stesso soggetto. Notammo constante- mente un bianchissimo micelio diffuso attorno alle radiei di Monotropa, e ci venne in pensiero che potesse esistere una correlazione tra dette radiei e detto micelio. La stessa cosa ei sembra di aver notato anche per la Naeottia nidus avis, specie pur saprofitica che prospera negli stessissimi luoghi“. |Referent untersuchte 1882 zahlreiche Monotropa- Exemplare um Greiz und fand ihre Wurzeln gleichfalls sämtlich von dem beschriebenen Pilzmycelium umhüllt|. — Kamienski hatte be- reits bemerkt, dass die parasitischen Verbindungen der Monotropa mit den Tannenwurzeln, welehe Drude beschrieben und abgebildet hat, nichts anders sind als kleine durch einen parasitischen Pilz defor- mierte, stark dichotomisch (!) verzweigte Tannenwurzeln, die mit den Monotropa- Wurzeln zusammengeflochten und letzteren habituell sehr ähnlich sind, und vermutet, dass der Ernährungsvermittler der Mono- tropa mit jenem an Tannenwurzeln wachsenden Pilze identisch sei. In der dritten anfangs zitierten und umfangreichsten Abhandlung hat nun Frank (anscheinend ohne die Kamienski’sche Entdeckung zu kennen) die wichtige Entdeckung gemacht, dass gewisse Baum- arten, vor allen die Cupuliferen, ganz regelmäßig sich im Boden nicht selbständig ernähren, sondern überall in ihrem gesamten Wurzelsystem mit einem Pilzmycelium inSymbiose stehen, welehes ihnen Ammendienste leistet und die ganze Ernährung des Baumes aus dem Boden übernimmt. „Wenn man von irgend einer unserer einheimischen Eichen, Buche, Hainbuche, Hasel oder Kastanie die im Boden gewachsenen Saug- wurzeln, welche die letzten Verzweigungen des Wurzelsystems sind und die eigentlich nahrungsaufnehmenden Organe darstellen, unter- sucht, so erweisen sie sich allgemein aus zweierlei heterogenen Ele- menten aufgebaut: aus einem Kern, welcher die eigentliche Baum- wurzel repräsentiert, und aus einer mit jenem organisch verwachsenen Rinde, welche aus Pilzhyphen zusammengesetzt ist. Dieser Pilzmantel hüllt die Wurzel vollständig ein, auch den Vegetationspunkt derselben lückenlos überziehend, er wächst mit der Wurzel an der Spitze weiter und verhält sich in jeder Beziehung wie ein zur Wurzel gehöriges und mit dieser organisch verbundenes peripherisches Gewebe. Der ganze Körper ist also weder Baumwurzel noch Pilz allein, sondern ähnlich wie der Thallus der Flechten eine Vereinigung zweier ver- Ludwig, Pilze als Ernährungsvermittler. DT schiedener Wesen zu einem einheitlichen morphologischen Organ, welches vielleicht passend als Pilzwurzel, Mycorrhiza, bezeichnet wer- den kann“. Die Verpilzung tritt nach der Keimung erst an den Seitenwurzeln erster und folgender Ordnung auf. Bei Carpinus geht sie am raschesten vor sich; einjährige Pflanzen haben bereits ihr ganzes Saugwurzelsystem zu Mycorrhizen umgewandelt. Bei Quercus erfolgt sie relativ am langsamsten; manchmal sind ein- und zweijährige Pflanzen oder wohl auch einzelne Wurzelpartien älterer Pflanzen nur erst partiell verpilzt. Diese pilzfreien Saugwurzeln sind dann wie die anderer Gewächse mit Wurzelbaaren bekleidet, die den Mycor- rhizen ausnahmslos fehlen. DieMycorrhiza zeigt ein sehr verlang- samtes Längenwachstum, nimmt aber größere Stärke an und zeigt größere Neigung zur Verzweigung (die öfter zu korallenähnlichen Wucherungen führt), die Verzweigung geschieht aber ebenfalls endogen und die Verzweigungsform ist monopodial. Wie die Saugwurzeln überhaupt, so haben auch die Mycorrhizen eine beschränkte Lebens- dauer, und kräftigere zu dauernden verholzenden Zweigen des Wurzel- systems erstarkende Triebe derselben verlieren ihre Pilzhülle. Der Pilzmantel ist nur den jüngeren bei der Nahrungsaufnahme in betracht kommenden Wurzelpartien eigen. Frank konstatierte ein regelmäßiges Vorhandensein des Pilzes in allen Lebensaltern (bis zu 120 jährigen Eichen und Buchen, 100 Jäh- rigen Hainbuchen und 40jährigen Haseln) an allen Wurzeln, in allen Bodenarten und in allen Gegenden. Auf Anordnung des Ministers für Landwirtschaft, Domänen und Forsten erhielt derselbe aus einer großen Anzahl Oberförstereien der preußischen Monarchie entsprechend möglichst verschiedenen Bodenverhältnissen aus geographischen Lagen Wurzeln aller in der betreffenden Gegend vorkommenden Cupuliferen- spezies von 1—3jährigen Pflanzen und älteren Bäumen zur Unter- suchung, fand aber nirgends wurzelpilzfreie Cupuliferen (wobei natürlich krankheitserzeugende Pilze, wie der Eichenwurzeltöter, Ro- sellinia quereina, ausgeschlossen werden). Der Wurzelpilz wählt im Boden genau nach Spezies aus, in Buchenbeständen sind z. B. nur Buchenwurzeln, nicht die von Hedera, Acer, Anemone, Oxalis ete. be- fallen. Verfasser fand nie Wurzelpilze der erwähnten Art an Betula, Alnus, Ulmus, Morus, Platanus, Juglans, Pirus, Crataegus, Prunus, Robinia, Tilia, Acer, Rhammus, Cornus, Fraxinus, Syringa, Sambueus, dagegen fand er sie ausnahmslos bei Carpinus Betulus, Corylus avel- lana, Fagus silwatica, Quercus pedunculata und sessiliflora, Castanea vesca, Quercus rubra. Diese Symbiose ist der Oupuliferengruppe so treu, dass sie fast als systematisches Kriterium gelten kann. Von Salix, Populus, Kiefern, Fiehten, Tannen waren die Wurzeln dagegen nur an einzelnen Lokalitäten verpilzt. Die Wurzelpilze bereiten den Bäumen (wenigstens im Mycelium- zustand) keinerlei Nachteil, sind dagegen als das alleinige Wasser- 15 298 Zacharias, Palmform -Stadium bei Rotatorien und Nematoden. und Bodennahrung aufnehmende Organ der Cupuliferen zu betrachten. (Verfasser bezeichnet diese Fremdernährung als Heterotrophie im Gegensatz zu den autotrophen Bäumen.) In den Fällen, wo ein Zusammenhang der Mycelien unserer Wurzelpilze mit Fruchtkörpern erwiesen werden konnte, gehörten dieselben den Tuberaceen an. Bei der Frage nach der Spezies der Wurzelpilze wird man daher durch die gleichen anatomischen Befunde bei allen Mycorrhizen zunächst auf diese und die gleichfalls sub- terranen Hymenogastreen geführt. Freilich steht dem ubiquistischen Vorkommen der Wurzelpilzmycelien eine gleich allgemeine Verbrei- tung der genannten Fruchtkörper nicht gegenüber, doch würde damit die Zugehörigkeit der Wurzelpilze zu den Hypogäen nicht ausge- schlossen sein. Einmal sind nämlich die Hypogäen (Tuberaceen und Hymenogastreen) viel weiter verbreitet und häufiger als man ge- wöhnlich glaubt |es wird dies u. a. besonders ersichtlich sein aus einem von Dr. Hesse in Marburg verfassten Werke über die Hypo- gäen Deutschlands, das mündlicher Mitteilung zufolge in Kürze er- scheinen dürfte. Herr Dr. H. sammelte von bisher in Deutschland selten angetroffenen Hypogäen: 10 Hymenogastreen, 8 Tuberaceen, von ganz neuen Arten: 6 Hymenogastreen, 2 Tuberaceen. Derselbe fand überall, wo er danach suchte, die Trüffelpilze verbreitet]. Ferner braucht die Anwesenheit des Myceliums eines Pilzes nicht immer notwendig auch das Auftreten seiner Früchte im Gefolge zu haben; vielmehr bleiben bei verschiedenen Pilzen die Mycelien lange Jahre steril und wachsen weiter ohne je Fruchtkörper zu bilden, wenn nicht gewisse äußere Bedingungen erfüllt werden. Jedenfalls sind weitere Versuche und Beobachtungen erforderlich, um die systematische Stellung des so wichtigen Wurzelpilzes der Cupuliferen zu eruieren. F. Ludwig (Greiz). Ueber die Bedeutung des Palmform-Stadiums in der Ent- wicklung von Rotatorien und Nematoden. Von Dr. Otto Zacharias. Es ist, meines Wissens, noch niemals mit Nachdruck darauf hin- gewiesen worden, dass Nematoden und Rotatorien in ihrer Embryogenese — zumal in den ersten Stadien derselben — einen merkwürdigen Parallelismus bekunden. Die Aehnlichkeit zwischen dem Embryo eines Rädertiers und dem eines Fadenwurms ist wäh- rend der frühesten Entwicklungsphasen so groß, dass es unter Um- ständen schwer oder ganz unmöglich sein kann, mit Sicherheit anzu- geben: ob ein Keimesstadium der einen oder der andern von beiden Würmerklassen zugehört. Zacharias, Palmform - Stadium bei Rotatorien und Nematoden. 229 Ich habe vor etwa Jahresfrist die Entwicklungsgeschichte der Philodinäen unter den Rotatorien genauer verfolgt!) und mich neuerdings in gleicher Weise mit der Embryologie eines vivi- paren Nematoden, der Anguwillula aceti (Leptodera oxophila Schneid.) beschäftigt, so dass ich in der Lage bin, die eingangs ausgesprochene These (von dem ontogenetischen Parallelismus zwischen Rotatorien und Nematoden) durch ein näheres Eingehen auf die bezüglichen Thatsachen zu begründen. Was zunächst den Furchungsvorgang betiifft, so habe ich an eben erst in den Uterus eingetretenen Eiern (bei lebenden Leptodera- Weibchen) beobachten können, dass die erste Teilung des Keimbläschens und die Gruppierung des Dotterplasmas um die beiden primären Furchungskerne zum Verwechseln genau so verläuft, wie bei den Philodinäen, nämlich so: dass der gesamte Ei-Inhalt zuerst in ein größeres und ein kleineres Teilstück zerfällt, wovon sich das letztere alsbald wieder teilt. Hierdurch wird unter Verkleinerung der bisher ungefurcht gebliebenen Eihälfte eine Umwachsung eben dieser, und somit die Bildung einer sogenannten Haubengastrula herbeigeführt. Ganz ebenso wie bei den Philodinäen lassen sich auch bei Leptodera in der Nähe des Blastoporus zwei kleinere abgerundete Furchungs- segmente wahrnehmen, welche die Uranlage des Mesoderms darzu- stellen scheinen. Ich will das aber nur als Vermutung aussprechen. Zu stützen wüsste ich meine Diagnose nur durch Anführung der That- sache, dass jene beiden Furchungssegmente völlig den „hochroten Zellen“ gleichen, welche ich bei Philodina roseola ständig auftreten sah, und deren Bedeutung als Mesodermanlage wohl kaum in Zweifel zu ziehen sein wird, wenn man ihr weiteres Schicksal bei diesem Rädertier verfolgt. Hauptsächlich ist es nun aber das bekannte Palmetten-Sta- dium, welches von Nematoden- und Rädertier- Embryonen in ganz gleicher Weise durchlaufen wird. Im optischen Längsschnitt betrachtet erinnert dasselbe an jene übliche Arabeskenform (Palmette), die so vielfach zur Ausschmückung von Tüchern und Teppichen ver- wandt wird. Der Ausdruck „Palmstadium“ rührt von Meißner her, der damit eine geläufige Bezeichnung für die entsprechende embryo- nale Phase bei Gordius aquaticus aufbrachte. Für den denkenden Naturforscher ist es nun keineswegs selbst- verständlich, dass der langgestreckte drehrunde Körper des Faden- wurms ein Keimesstadium durchläuft, in welchem ein blasenartig auf- getriebenes Vorderende den Kopf, und ein verschmälertes Hinterteil den Rumpf, bezw. die Abdominalregion, darstellt. Ganz dieselbe Form des Embryos finden wir auch in der Entwicklung der Rotatorien vor. Dort ist das Aussehen des Keims noch etwas plumper, insofern 1) Zeitschr. f. w. Zoologie, XLI. Bd., Heft 2. 230 Zacharias, Palmform - Stadium bei Rotatorien und Nematoden. der Kopfteil im Verhältnis zum Rumpfe größer und massiger ist, als bei den Fadenwürmern. An trächtigen Exemplaren von Rotifer vul- garis kann man sich leicht von der Richtigkeit des Gesagten über- zeugen. Dass übrigens das Palmstadium nicht bloß auf die Philodinäen beschränkt ist, geht aus den Abbildungen hervor, welche Salensky seiner Arbeit über die Embryonalentwieklung von Brachionus wrceo- laris beigegeben hat). Nach den bisher bekannt gewordenen Beobachtungen unterliegt es nicht dem geringsten Zweifel, dass jene eigentümliche Palmetten- Form in der Nematoden- und Rotatorienentwicklung permanent wieder- kehrt, und es ist ein merkwürdiger Vorgang, wenn man sieht, wie sich der junge Fadenwurm, bezw. der junge Rotifer, allmählich aus jener plumpen Form durch Auswachsen des Rumpfteils (unter Ver- minderung der Kopfanschwellung) herausbildet. Auch bei Cucullanus, dessen Entwicklung so abweichend von derjenigen anderer Nematoden verläuft, ist das Palmformstadium noch deutlich erhalten. Es fragt sich nunmehr, was das Auftreten einer so eigentümlichen Embryonalform in zwei Würmerklassen, deren erwachsene Repräsen- tanten sich so erheblich von einander unterscheiden, zu bedeuten hat. Wir wissen, dass annähernde Konformität in der Keimesentwicklung ge- meinsame Abstammung von einem Urerzeuger, bezw. mehr oder we- niger nahe phylogenetische Verwandtschaft bekundet. Das ist ein einfaches Korollarium aus den Fundamentalsätzen der modernen Ent- wicklungslehre. Auf grund jenes bei Rotatorien und Nematoden in gleicher Weise wiederkehrenden Palmformstadiums sind wir daher berechtigt, auf einen gemeinsamen, wenn auch sehr weit zurückliegen- den Ursprung beider Würmergruppen zu schließen, so wenig wahr- scheinlich dies auch klingen mag, wenn wir einen erwachsenen Nema- toden mit einem kotifer oder einem Brachionus vergleichen. Es muss selbstverständlich bei Aufstellung solcher Genealogien große Vorsicht obwalten, wenn Prof. Du Bois-Reymond mit seinem bekannten Verdikt, dass derartigen Stammbäumen keine größere wissenschaftliche Bedeutung beizumessen sei, als denjenigen der ho- merischen Helden, nicht vollständig recht behalten soll. Aber auch bei der größten Vorsicht und bei thunlichst gewissenhafter Benutzung der vorhandenen Thatsachen wird keiner genealogischen Betrachtung der vorliegenden Art der naturphilosophische Beigeschmack fehlen, den die strengen Systematiker so stark perhorreszieren. Es liegt das in der Natur der Sache. Gegenbaur hat in seinen „Grundzügen der vergleichenden Ana- tomie* (2. Aufl. S. 157) die Meinung ausgesprochen, dass die Klasse der Nematelmirthen „fast ohne alle nähere Verwandte dastehe“ und nur von Formen abgeleitet werden könne, welche eine noch tiefere Stufe einnehmen, als die gegenwärtig bekannten Plattwürmer. 4) Zeitschr. f. w. Zoologie, XXI. Bd., 1872. Zacharias, Palmform - Stadium be Rotatorien und Nematoden. 231 Das klingt sehr hoffnungslos. Aber dem gegenüber können wir mit B. Hatschek geltend machen, dass eine Vergleichung des Körper- querschnitts von Rotatorien und Nematoden der Annahme einer nähern Verwandtschaft beider Würmergruppen zweifellos günstig ist. Ins- besondere dürfen wir uns auf die ganz übereinstimmende Anordnung der Muskelfelder und der Exkretionskanäle berufen!). Wollte man hiergegen das Fehlen jeder Spur von Flimmereilien bei den Nematoden urgieren, so könnte man das Gewicht, welches ein solcher Einwand für den ersten Augenblick zu haben scheint, auf seinen wahren Wert zurückführen, indem man daran erinnert, dass wir in dem von Meeznikow entdeckten Apsilus lentiformis ein Rädertier vor uns haben, dessen Hauptmerkmal grade darin besteht, dass ihm jede Andeutung eines Wimperorgans abgeht. Mit Anführung dieser Thatsachen wird der Boden für eine Ver- gleichung des Rotatorien- mit dem Nematodenorganismus schon etwas geebnet, und es wird infolge dessen möglich sein, noch einigen anderen Argumenten Gehör zu verschaffen, deren Geltendmachung darauf abzielt, eine wirkliche Verwandtschaft beider Würmerklassen wahrscheinlich zu machen. Es wird sich dabei hauptsächlich um Beantwortung der Frage handeln, was denn jene unförmliche blasenartige Kopfanschwel- lung bedeute, die wir an dem Palmettenstadium der bezüglichen Embryonen kennen gelernt haben, und aus welcher der Rumpfteil des heranwachsenden Nematoden (bezw. Rotifer) seine Entstehung durch eine Art von kontinuierlicher Sprossung nimmt. Bei Leptodera- Em- bryonen habe ich an dem embryonalen Rumpfteil mit Hilfe einer aus- gezeichneten Oelimmersion aus dem Atelier von E. Seitz (Wetzlar) auch Andeutungen einer oberflächlichen Segmentierung deutlichst er- kannt. Die Spuren einer solchen verschwinden aber gänzlich, wenn die Abdominalregion im Wachstum fortschreitet. Letzteres scheint auf kosten des kolbigen Kopfendes zu geschehen, denn dieses ver- kleinert sich zusehends und wird schließlich zum definitiven Vorder- teil des Nematoden - Körpers. Wie erklären wir uns nun einen derartigen Entwicklungsverlauf? Gibt es, so müssen wir fragen, irgend eine Analogie innerhalb des Würmertypus, welche uns ein annähernd ähnliches Verhalten vor Augen stellt? Ich denke, ja. Und zwar ist es, wie mich dünkt, die Larve von Polygordius, welche uns zeigt, wie sich aus einem blasen- förmigen Entwicklungsstadium, aus der frei lebenden Trochophora, durch Sprossung der Rumpf eines Wurmes hervorbildet, dessen Wachstum von Segment zu Segment (unter Verkleinerung der ur- sprünglich riesigen Kopfblase) fortschreitet. Das ist, meiner Ansicht nach, ganz der nämliche Vorgang, der uns in einem sehr verblichenen 1) Studien über Entwicklungsgeschichte der Anneliden, 1878, S. 101. 232 Zacharias, Palmform - Stadium bei Rotatorien und Nematoden. Bilde auch durch die Embryogenese der Nematoden und Rotatorien vorgeführt wird. Das kolbenartig angeschwollene Kopfende der Em- bryonen dieser Würmer würde sonach als das Homologon der Kopfblase der freilebenden Polygordius-Larven zu be- trachten sein, und diese Auffassung erhält noch eine wesentliche Stütze durch die Wahrnehmung, dass in der Embryonalentwicklung der Rotatorien auch der Flimmerapparat lediglich im Bereiche dieser blasenartigen Anschwellung und zwar außerordentlich früh auftritt. Durch diesen Umstand scheint mir die Aehnlichkeit mit der Trocho- phora, welche (wie schon der von Hatschek gewählte Name besagt) gleichfalls Wimperkränze besitzt, noch frappanter zu werden. Ich sehe in dem obigen Versuche, die merkwürdige Ueberein- stimmung der ersten Embryonalstadien bei Nematoden und Rotatorien phylogenetisch zu erklären, nichts unwahrscheinliches oder erzwungenes. Das Palmformstadium erheischt eine morphologische Interpretation, und diese wird durch den Hinweis auf den Sprossungsvorgang an den Polygordius-Larven gegeben. Ein anderer Erklärungsversuch ist bisher von niemand versucht worden, und so möge der meinige so lange geduldet werden, bis die Unhaltbarkeit desselben durch die Aufbringung neuer Thatsachen ersichtlich wird. Zum Schluss gestatte ich mir noch einige kurze Bemerkungen. Der oder jener Fachgenosse könnte vielleicht geneigt sein, dem Kopf- kolben des Nematoden-Embryos nur eine physiologische (tro- phische), keine morphologische Bedeutung beizumessen, so zwar: dass in demselben lediglich Material zur Ernährung und zum Aufbau des embryonalen Rumpfteils aufgespeichert wäre. Diese Deutung wird indess, soviel ich urteilen kann, vollständig durch die Beob- achtung von entsprechenden Stadien bei Rotatorien ausgeschlossen, weil hier die morphologische Wichtigkeit der betreffenden Region durch das Auftreten der Wimperkränze an derselben sich ganz von selbst ergibt. Wenn es übrigens gestattet ist, wie aus Hatschek’s umfassen- der Darlegung zur genüge erhellt, den Organismus der Rotatorien „als im wesentlichen der Trochophora gleich gebaut zu erachten“, so muss es aueh erlaubt sein, in der Keimesentwicklung der Rädertiere denjenigen Körperabschnitt des Embryos, an dem die Konturen des Flimmerapparats zuerst er- scheinen, als einen morphologisch (nicht bloß trophisch) an der Entwicklung des Rotatorien-Organismus betei- ligten anzusehen. Derselbe Schluss gilt auch für die Nematoden. Nach meiner Auffassung würden also die jetzt lebenden Fadenwürmer und Rädertiere auf eine gemeinsame Stammform von hohem zoolo- gischem Alter zurückzuführen sein, welehe einen blasenartigen Kopf- teil mit Wimperkränzen und einen damit verbundenen langgestreckten Anhang (Rumpf, Schwanzende) besaß, also im wesentlichen den Bau Wilekens, Paläontologie der Haustiere. 239 der Loven’schen Larve zeigte. Der Mangel an Cilien, der für die jetzt lebenden Nematoden charakteristisch ist, würde hiernach für eine Rückbildung anzusehen sein, und möglicherweise noch bei irgend einer Spezies in der frühesten Embryonalentwicklung ange- troffen werden können. Gelänge es, Flimmereilien an einem Nema- todenkeim nachzuweisen, so würde das der stärkste Beweis für die nahe Verwandtschaft der Fadenwürmer und der Rädertiere sein. Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haustiere. 5. Die schweineartigen Tiere (Suiden). (Fortsetzung. In der Gruppe der Suiden mit angepasster Vereinfachung des Fußes stellt Choerotherium die älteste gut bekannte Form dar von unzweifelhalt schweineähnlicher Gestalt. Die ersten Knochenreste dieser von Ed. Lartet („Notice sur la Colline de Sanson“, 1851, p- 32) benannten Gattung wurden gefunden im miocänen Lager zu Sanson (Gers) im niederpyrenäischen Becken. L. beschrieb drei Arten: Ch. Dupuwii, Ch. Nouleti und Ch. Sansoniense, die erste nach einem Unter- kiefer, die zweite nach einem Schädelstück mit Ober- und Unterkiefer, die dritte nach Kieferstücken; Abbildungen liegen der Beschreibung nicht bei, aber aus der Kennzeichnung des Gebisses der ersten Art ergibt sich, dass in jeder Kieferhälfte vorhanden waren 3 Schneidezähne, 1 Eckzahn, 4 Prämolaren und 3 Molaren; die letzteren waren ähnlich denen des Schweins, nur war ihre Krone aus weniger Höckern oder Warzen zusammengesetzt. Die beiden anderen Arten waren kleiner als die erste. Gervais beschreibt (a. a. O. S. 185) diese Gattung unter dem Namen Choeromorus und gibt Abbildungen von Kieferstücken mit Zähnen von zwei neuen Arten, welche er nannte Ch. mamillatus und Ch. simplex. Beide Arten, deren Gestalt kleiner gewesen sein soll als die des Pekari, stammen aus den miocänen Süßwasser - Ablagerungen zu Sanson. Die erste Art hat ihren Namen von zwei kleinen Warzen (mamillae) am 3. Molarzahn, welche in der Mitte stehen je zwischen dem 1. und 2. Joch, und dem 2. Joch und dem Sporn (talon); G@. zweifelt übrigens, ob dieses Vorkommen wirklich regelmäßig sei. Die zweite Art unterscheidet sich von der ersten nur durch das Fehlen jener kleinen Warzen. Auch G. hat hauptsächlich nur die Zähne in betracht gezogen, welche er von Palaeochoerus sehr wenig verschieden hält; von Gliederknochen erwähnt er nur das „osselet“, das grader sei als bei den Schweinen, und den Oberarm, der in seiner Ellen- bogengrube durchbohrt erscheine. Uebrigens bezweifelt G. die Selb- ständigkeit der Gattung Choeromorus, worin ihm Peters beistimmt. 234 Wilekens, Paläontologie der Haustiere. Faleoner (Palaeont. Memoirs I p. 149) errichtete auf dem Teile eines rechten Unterkiefers mit zwei Molaren aus den tertiären Hügeln des Muskundathales in Indien die Gattung Tetraconodon, deren Mo- laren — wie der Name andeuten soll — aus vier kegelförmigen Warzen bestehen. Die Struktur seiner Molaren verbindet es mit dem Flusspferd, dem Schweine und Anthracotherium; die Größe der Tetra- conodon magnum genannten Art scheint nahezu die von Hippopotamus und vom indischen Rhinoceros erreicht zu haben. Später nannte F. das Tier Choeroterium grandis, nachdem er sich von der Ueberein- stimmung der indischen Art mit der europäischen überzeugt hatte. Wie früher erwähnt, hält Lyddeker an dem Namen Tetraconodon fest, und er versetzt wahrscheinlich dasselbe Fossil, welches F. Choero- therium nannte, in die Familie der Entelodontiden. Pictet („Supplement“ p. 177) beschrieb vier Unterkieferstücke mit Molarzähnen aus Mauremont, welche er einer neuen Art, Choero- morus helveticus, zuschrieb; außerdem glaubte er einen, aus vier ver- wachsenen Knochen bestehenden Metacarpus (abgebildet Taf. XXV Fig. 12) einer Art des Choeromorus zuteilen zu können. Kowalevsky (a. a. ©. S. 187) aber bestritt die Zugehörigkeit dieser Ueberreste zu Choeromorus, dagegen behauptet er S. 190 — gegen Gervais und Peters — dass die Selbständigkeit dieser Gattung über jeden Zweifel erhaben sei. Verschiedene Reste von C’hoeromorus (aus Sanson, Orleans und den älteren Kalken der Auvergne), welche Kowalevsky in vielen Sammlungen gesehen und von denen er Abgüsse genommen hat, haben ihn in stand gesetzt, den Vorder- und den Hinterfuß dieses Tieres vollständig zusammenzusetzen. Wenn wir das Carpometacarpal- und Tarsometatarsal-Gelenk vom Ohoerotherium betrachten — sagt Kowalevsky (a. a. O. S. 190) — so finden wir, dass dieser Suide noch ganz typisch gebaute Füße hatte; alle Vorderzehen gelenken mit dem Carpus fast in derselben Weise wie beim Hippopotamus, d. h. wie in einem typischen Fuß; nur am Hinterfuße ist etwas sehon eingebüßt worden: das Metatar- sale II ist nur auf das Cuneiforme II beschränkt und hat seine Gelenkfläche an dem Cuneif. III verloren; das Metacarpale II aber, obwohl ziemlich verkürzt, gelenkt noch — wie im typischen Fuß — mittels einer kleinen Gelenkfläche mit dem Os magnum und stützt sich dabei auch auf die ganze untere Fläche des Trapezoideum. Die sich verdiekenden Mittelzehen haben somit die Seitenzehen am Hinter- fuße ganz, am Vorderfuße teilweise von ihren typischen Knochen ver- drängt und einen Teil ihrer Stützfläche für sich eingenommen. In der folgenden Stufe (bei Palaeochoerus) wurde diese Verdrängung der Seitenzehen noch entschiedener. Die unteren Enden der Mittelfuß- knochen von Choerotherium zeigen eine große Verschiedenheit von den heutigen Suiden und etwas, was an altertümliche Formen erinnert: es ist nämlich die Vorderseite des untern Endes glatt, die Rolle für 5. Die schweineartigen Tiere. 235 das erste Zehenglied aber bleibt noch ganz auf die hintere (palmare) Seite der Metakarpalien beschränkt. Da der Hinterfuß immer mehr vereinfacht ist als der Vorderfuß, so besitzen die Metatarsalien eine sehr schwache Spur von einer Verlängerung dieser Rolle auf der Vorderseite (etwa in dem Grade wie bei Anchitherium). Somit be- steht in der Familie der Suiden dasselbe Merkmal wie bei Gelocus, Hyaemoschus und Anchitherium, sowie — ohne Ausnahme — bei allen ausgestorbenen Typen; bei allen drei Gruppen greift, mit einer be- deutenden Vereinfachung des Fußes, die Rolle auch auf die Vorder- seite des untern Endes der Mittelfußknochen über. Da K. bei Choerotherium schon einen ersten Schritt zur ange- passten Vereinfachung des Fußes in dem Umstande findet, dass das sich vergrößernde Metacarpale und Metatarsale III fast das ganze Os magnum und Cuneiforme III eingenommen haben — das Metac. und Metat. II von denselben verdrängend — so bezeichnet er diese Form als die erste Stufe der angepassten Gruppe der Suiden. Da die Entwicklung der Suiden überhaupt viel langsamer geschieht als die der Halbmondzähner, so ist auch diese erste Form in einer spä- tern Periode aufgetreten als bei den ersten, im Fuße vereinfachten Halbmondzähnern. Diese angepasste Vereinfachung im Fuße der Suiden, welche erst im Untermiocän anfängt, hat selbst in der Gegenwart ihren Gipfel noch nicht erreicht. Als zweite Stufe der angepassten Gruppe der Suiden bezeichnet K. die Gattung Palaeochoerus Pom. (Hyotherium Herm. v. Meyer). Die Ueberreste dieser Gattung wurden in den miocänen Schichten der Auvergne (zu Langy und Perignat) aufgefunden und zuerst von Pomel (Catalogue p. 85) beschrieben. Das Gebiss ist ein vollstän- diges Schweinegebiss, die Füße haben vier Zehen, der Kopf ist kurz für einen Suiden. P. unterschied vier Arten: Pal. major (der um ein gutes Drittel kleiner war als das heutige Wildschwein), P. Waterhousi, P. typus und P. suillus, die — abgesehen von der größern Gestalt des ersten — nur geringe Verschiedenheiten zeigen. | Gervais (a. a. O. S. 182) stellte Palaeochoerus mit Choeromorus oder Choerotherium unter die Gattung Hyotherium. Dieser Name!) wurde von Herm. v. Meyer („Die fossilen Zähne und Knochen von Georgensgmünd in Bayern“, 1834, S. 43) eingeführt; er bezeichnet dieselbe Gattung, welche Pomel Palaeochoerus genannt hat. Aus der Untersuchung eines Unterkieferstückes mit Backenzähnen, die Meyer dem Hyotherium Soemmeringii zuschrieb, ergibt sich, dass das Tier wenigstens sechs Backenzähne in einer Reihe hinter einander besessen hatte. In Struktur glichen sie keiner von den leben- den Schweinegattungen vollkommen; die größte Aehnlichkeit besteht mit den Molaren von Dabirussa, von dem sich aber das fossile Tier 1) Von ös, vos und $nodov — Schweinstier. 236 Wilekens. Paläontologie der Haustiere. auffallend unterscheidet, nicht bloß durch die Struktur der Prämolaren, sondern hauptsächlich dadurch, dass es einen Prämolarzahn mehr besaß. Man rechnet auch das früher erwähnte C'hoeropotamus Meissneri zur Gattung Hyotherium. Außer diesen beiden Arten errichtete M. später noch eine dritte, Ayotherium medium genannt, auf Backen- und Schneidezähnen von Ober- und Unterkiefern, sowie auf dem Sprungbein aus dem Tertiärbecken von Weisenau bei Mainz (Neues Jahrb. von Leonhard und Bronn, 1843 S. 385 u. 1846 S. 466). G. F. Jäger (Fossile Säugetiere Württemberg’s, 1839, II, S. 76) beschrieb einen Molar- und einen Prämolarzahn, die bei dem Sigma- ringischen Dorfe Langen-Enslingen an einem Bergabhange gefunden wurden, wo sich die Molasse anzulehnen beginnt; sie sollen den ent- sprechenden Zähnen von Sus babirussa gleichen, aber größer sein. J. schrieb sie einem schweineartigen Tiere zu, das er Hyotherium sidero-molassicum majus nannte. Ganz dieselbe Form zeigte ein klei- nerer verletzter Molarzahn der linken Seite, den Jäger dem Hyo- therium sidero- molassicum minus zuerkannte. Auch das von Oskar Fraas („Die Fauna von Steinheim“, 1870, S. 22) beschriebene Unterkieferstück mit 3 Molaren, 3 Prämolaren und 3 Schneidezähnen, von denen die Molaren und die Schneidezähne schweineartig waren, gehört wohl dem Hyotherium an, obwohl es F. einem Choeropotamus Steinheimensis zuschrieb. Karl F. Peters („Zur Kenntnis der Wirbeltiere aus den Mioeän- schichten von Eibiswald in Steiermark im 19. Bd., 1868, der Denkschr. der k. Akad. d. Wiss. in Wien) hat die Gattung Hyotherium Meyer ausgedehnt auf die Gattungen Choerotherium Lartet, Choeromorus Gervais, Palaeochoerus Pomel, und er hat ihr auch untergeordnet Anthracotherium minutum Cuv. — was auch Gervais (a. a. 0. S. 187) gethan hat, der außerdem noch Anthracotherium Gergovianum Croizet der Gattung Hyotherium anschließt. Peters beschrieb nach Ober- und Unterkieferstücken mit wohlerhaltenen Zähnen und einigen Glieder- knochen aus den Miocänschichten von Eibiswald in Steiermark die Art Hyotherium Soemmeringii‘!) H. v. Meyer, mit der er überein- stimmend hält Palaeochoerus major Pom., Choerotherium Sansoniense Lart., Choeromorus mamillatus Gerv. und die von Blainville be- schriebenen Arten Sus antediluvianus de Y’Orleanais, Sus choerotherium de Sanson und Choeropotamus (?) de Y’Orleanais (Avaray); außerdem erkannte P. an als selbständige Arten: H. Meissneri — Choeromorus simplee Gerv. und Palaeochoerus typus Pom., H. typus — Pulaeo- choerus typus Pom., H. Cwieri — Anthracotherium minutum Cuv. 1) Die erste Mitteilung über die in Eibiswald gefundenen Ueberreste der so benannten Art hat Ed. Süeß gemacht in der Sitzung der k. k. geolog. Reichsanstalt zu Wien am 15. Januar 1867 (Verhandlungen, 1867, 8. 7). 5. Die schweineartigen Tiere. 237 und A. medium H. v. Meyer. Nach seiner Zahnformel = (?), = E 3, schließt sich Hyotherium inbetref? des Zahlen- Verhältnisses der Bezahnung an die echten Schweine der nördlichen alten Welt an, von denen es sich aber in seiner Zahnform wesentlich unterscheidet. Die Sehneidezähne sind von denen der lebenden Schweinearten nur wenig verschieden, der Eeckzahn des männlichen Unterkiefers ist ein schlanker, unregelmäßig vierseitiger Hauer, der aus der Ebene viel weniger ausweicht als die Eckzähne der gegenwärtigen Schweine. Die Prämolaren des Oberkiefers zeigen einen allmählichen Uebergang vom Prämolartypus der Fleischfresser zum Molartypus der Pflanzenfresser. Der 1. (hinterste) Prämolarzahn hatte schon ganz das Ansehen eines Molaren mit vierseitiger Krone und quergestellten Höckerreihen; er ist dreiwurzelig. Von den Prämolaren des Unterkiefers hatte der 4. (vorderste) das Merkmal eines Fleisch- fresser-Lückenzahnes, der 3. und 2. stellen den eigentlichen Typus der Vordermahlzähne dieses Tieres dar, der 1. (hinterste) hat seinen Sporn (Talon) zum Range eines Gratgipfels erhoben, der sich in der ge- schlossenen Zahnreihe nicht zu junger Weibehen wie ein Gebirgs- kamm ausnimmt, den Gipfel dieses Zahnes mit dem vordern Höcker- paar des ersten Molaren verbindend. Von den Molaren des Unter- kiefers ist der erste und zweite einwurzelig; ihre vier Hügel sind niedrig, die Vorderhügel aber stärker als die Hinterhügel, die von jenen durch ein tiefes Querthal getrennt sind, aus dessen Mitte sich ein sie verbindender breiter Zwischenhöcker erhebt. Der dritte fünf- wurzelige Molarzahn ist ausgezeichnet durch seine zahlreich entwickel- ten Höcker, die mit jungen Zähnen vom Wildschwein zum verwundern übereinstimmen; die Nebenhöcker desselben sind stärker entwickelt, und der ungemein mächtige Sporn (Talon) verändert die Form der Krone, die einem unregelmäßigen Dreiecke gleicht. An den Molaren des Oberkiefers treten die einzelnen Hügelpaare weniger als solche, denn als Massenerhebung hervor; in Uebereinstimmung damit sind auch die Zwischenhöcker schwach entwickelt und, ohne abge- rieben zu sein — im Vergleich zu denen der Unterkiefermolaren — wie verstrichen. Der Sporn (Talon) des sechswurzeligen dritten Molar- zahnes ist weniger ausgedehnt und weniger höckerig als des dritten im Unterkiefer. Von Gliederknochen beschrieb Peters den größten Teil des Ellenbogengelenkes vom rechten Oberarm; die innere breitere Ab- teilung der Rolle habe eine verhältnismäßig weit größere Breite, eine viel geringere Wölbung und demzufolge eine geringere Ausdehnung nach abwärts als bei Dicotyles und Sus. Nach einigen Knochen vom Hinterfuß, welche mit einander vollkommen gelenken, urtheilt P., dass der Mitelfuß aus getrennten Metatarsen gebildet sei, also 238 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. keineswegs die bei Dicotyles so ausgezeichnete Verschmelzung zeigt. Der vorliegende Rest des Mittelfußes lässt sich nur den schlanksten Gliedermaßen von Sus beiordnen; in Uebereinstimmung damit steht die schlanke Beschaffenheit des Zehenknochens. Das Sprungbein trägt den allgemeinen Charakter der Schweinefamilie ziemlich unver- mischt an sich; die Rollgelenke sind dureh scharfe Konvexitäten und tiefe Rinnen nicht minder ausgezeichnet, wie das Mittelfuß-Zehengelenk ; selbst die hintere, mit dem Fersenbeine gelenkende Fläche hat eine ziemlich tiefe Rinne. Dagegen sind die beiden Konvexflächen (für das Kahn- und Würfelbein) sanft gerundet, ohne Leistenbildung, sowie durch eine mäßig tiefe, durchaus rundliche Rinne von einander ge- trennt, worin eine wesentliche Abweichung vom Suidentypus (und vom Flusspferd) erkannt werden möge. Entsprechend dem schlanken Bau des ganzen Fußes ist der Längendurchmesser im Verhältnis zur Quere groß zu nennen. Noch eine Eigentümlichkeit liegt darin, dass das Sprung-Schienenbein, entsprechend dem Charakter der Rollgelenke dieses Tieres, an der innern Seite des Sprungbeines eine sehr schmale Fläche für sich in Anspruch nimmt. Das vom Schienbein erhaltene Stück zeigt stark ausgetiefte Rollgruben und einen ziemlich langen, aber flächenarmen Stielfortsatz. Die beschriebenen Knochen- reste sind durch gute Abbildungen erläutert. Ueber die systematische Stellung von Ayotherium spricht sich Peters dahin aus, dass es eine jener fossilen Sippen sei, welche im innigsten Anschlusse an Sus, zunächst an S. scrofa und 8. penicillatus, einerseits den Uebergang der Schweine der alten Welt zu dem ab- geschlossenen amerikanischen Typus Dicotyles, anderseits zu den pflanzenfressenden Diekhäutern vermitteln hilft, wie sie in der jetzt lebenden Tierwelt, viel reichlicher aber in den einzelnen Tiergruppen der Tertiärzeit gegeben sind. Kowalevsky (a. a. O. S. 191) erklärt — im Gegensatze zu Peters — das Gebiss von Palaeochoerus (welcher Gattung er Hyo- therium gleichstellt) für so schweineähnlich, dass man auf dieses allein schwerlich berechtigt wäre, eine selbständige Gattung zu gründen; die unteren Prämolaren sind etwas schneidender als bei Sus, die Kiefer kurz, nieht zur langen Schnauze ausgezogen; deswegen be- steht auch keine Barre (Zahnlücke zwischen Eek- und vorderstem Prämolarzahn); die Eckzähne sind sehr klein. Die Füße erscheinen durchaus schweineähnlich gebaut; wenn wir aber seine Carpometa- carpal- und Tarsometarsalgelenke genau mit dem des Schweines ver- gleichen, so finden wir einen Unterschied, der im Sinne der Entwiek- lung von großer Wichtigkeit sei. Die zwei mittleren Metacarpalien und Metatarsalien (III und IV) sind bedeutend vergrößert, aber sie bleiben doch den typischen Verhältnissen nahezu treu. Das Meta- carpale III gelenkt bloß mit dem Os magnum; obwohl sein stark in die Höhe wachsender radialer Rand das Metac. II von dem Os magnum 5. Die schweineartigen Tiere. 239 ausschließt, so ist es doch nur auf sein typisches Os magnum be- schränkt und lässt das ganze Trapezoideum für die zweite Zehe. Wenn man — K. erläutert dies durch Abbildungen — Choerotherium mit Palaeochoerus vergleicht, so sieht man den radialen obern Rand des Metaec. III verändert: er hat, indem er in die Höhe gewachsen ist, das Metac. II von dem Os magnum abgetrennt; manchmal stößt er vielleicht selbst an den Rand des Trapezoideum. Genau dasselbe sehen wir am Hinterfuße: das Metatarsale III ist nur auf das Cunei- forme III beschränkt und es lässt das ganze Cuneif. II die 2. Zehe tragen; die typische Gelenkung des Metat. II mit dem Cuneif. III ist schon unterbrochen. Noch einen weitern Schritt hat aber der Palaeochoerus über das Choerotherium hinaus gethan: die unteren Enden des Mittelfußes sind nicht mehr glatt, sondern sie haben eine starke Rolle, welche das ganze Unterende umzingelt; dem entsprechend sind auch die oberen Flächen der ersten Zehenglieder verändert: sie haben eine tiefe Rinne, die über ihre ganze obere Fläche sich erstreckt, während bei Choero- therium die Rinne — der beschränkten Rolle entsprechend — nur auf die untere (Paimar-) Seite der untern Fläche des Zehengliedes be- schränkt ist. Dieses Auftreten der Gelenkrolle für die Zehenglieder ist auf die bedeutende Verkürzung der Seitenzehen gefolgt, die von nun an sehr unvollständig den Boden berühren; als Ersatz für diese Verkürzung tritt die Gelenkrolle auf, welche eine festere Gelenkver- bindung sichert mit den ersten Zehengliedern. Offenbar ist Kowalevsky durch ein reicheres und vollständi- geres Material von Fußknochen berechtigt die Gattungsselbständig- keit von Choerotherium neben Hyotherium oder Palaeochoerus!) zu behaupten, während Peters, hauptsächlich gestützt auf das Gebiss, diese beiden und noch mehrere andere Gattungen zu einer einzigen vereinigte, womit allerdings die Uebersicht erleichtert wird. Der Un- terschied in den systematischen Anschauungen von Peters und Ko- walevsky erklärt sich durch die Verschiedenheit der ihrer Syste- matik zugrunde liegenden Organe: dort das Gebiss, hier der Fuß. Gaudry (a. a. O. S. 71), der den Vorschlag von Peters er- wähnt: die Gattungen Hyotherium und Palaeochoerus zu vereinigen, hält doch einen Unterschied fest zwischen diesen beiden Gattungen; er kennzeichnet das Gebiss von Palaeochoerus durch die weniger un- bestimmten und mehr umschriebenen Höcker, sowie die Hinneigung zu den Pekaris der neuen Welt, während Hyotherium sich mehr den Schweinen der alten Welt zuneigt; außerdem unterscheiden sich die Zähne von Palaeochorus durch ihren größern Querdurehmesser; doch erwähnt G. Palaeochoerus-Zähne (wahrscheinlich von P. swillus Pom.) 1) Es dürfte sich empfehlen den Gattungsnamen Palaeochorus fallen zu lassen, weil er zugleich Name einer Art der Gattung Sus ist. 240 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. aus den Sanden von Orleans, welche eben so verlängert sind wie bei Hyotherium. Eine neue Art, Hyotherium sindiniense, hat Lydekker (Siwalik and Narbada bunodont Suina, 1884, p. 61) errichtet auf zwei Unter- kiefer-Molaren aus den unteren Siwaliks von Sind; sie sollen denen von H. Soemmeringii ähnlich sein. Neben der Stammlinie der angepassten Gruppe der Suiden kom- men im mittlern Miocän die Ueberreste eines schweineartigen Tieres vor, welche anfangs von Nicolet — bezüglich der von ihm gefun- denen Backen- und Schneidezähne aus dem Tertiär von La- Chaux- de-fonds —, sowie von Lartet und Blainville — bezüglich der Kieferreste mit Zähnen aus Sanson und Nanterre — dem Lophiodon zugeschrieben wurden. Allein Herm. v. Meyer, der die Zähne von La Chaux-de-fonds untersucht und mit denen von Sanson und Nan- terre verglichen hatte, erklärt (Neues Jahrb. von Leonhard und Bronn, 1846, S. 165): die hinteren Backenzähne des Ober- und Un- terkiefers besitzen einfachere parallele Querkämme, der hintere An- satz des letzten obern und untern Backenzahnes gleicht auffallend Hyotherium und nähert sich also mehr den schweineartigen Tieren, als dem wirklichen Lophiodon, dessen letztem obern Backenzahne, der überhaupt kleiner sei, der Ansatz (Talon) fehlt; im untern Backenzahne ist der Ansatz kürzer und anders gestaltet; in den hin- teren oberen Backenzähnen sind die Querkämme durchaus auf der ganzen Breite der Zahnkrone vollkommen getrennt, also auch an der Außenseite, wo sie nur zwei Spitzen darbieten, während in Lophio- don die Außenseite geschlossen ist und sieh überdies durch eine Reihe von drei deutlich entwickelten Spitzen auszeichnet. Die vorderen oberen Backenzähne sind im beiden Tieren ebenfalls merklich ver- schieden; dasselbe gilt auch von den Schneidezähnen, so dass eine durchgängige Abweichung besteht, welche M. bestimmten, die Dick- häuter von La-Chaux-de-fonds unter dem Namen Listriodon !) von dem wirklichen Lophiodon zu trennen und der Art die Benennung L. splendens zu geben. Gervais (a. a. 0. S.200) gibt von Listriodon die Zahnformel an: 3 zangenförmige Schneidezähne, 1 vorragender Eckzalhın, l Backen- zähne. Die Schädelform ist im allgemeinen ziemlich ähnlich der des Wildschweins. Die Zahl und Anordnung der Zehen ist noch zwei- felhaft, ebenso wie die Form des Sprungbeins und des Oberschenkels; man vermutet, dassihre Merkmale die nämlichen seien wie bei den Suiden. Oskar Fraas („Fauna von Steinheim“ S. 24) erwähnt aus den Steinheimer Funden einen letzten Molarzahn des Unterkiefers, den er dem Listriodon splendens zuschrieb; das ganz Eigentümliche der 1) Der Name — von Aioroov Schaufel und odovs Zahn — weist hin auf die schaufelförmigen Schneidezähne. 5. Die schweineartigen Tiere, 941 Listriodon-Zähne sei der schiefe Steg, der von einem Querhügel der Molaren zum andern über das Thal hinüberführt. Lydekker (a.a.0. S. 66) beschrieb drei Molaren aus den Siwa- liks von Pendschab, die er zwei neuen, übrigens mit der europäischen Form sehr ähnlichen Arten zuweist: L. pentapotamiae und L. Theobaldi. Kowalevsky, der die Ueberreste von Listriodon teils nach den Originalen (aus Simorrn bei Sansan stammend) im Londoner Mu- seum, teils nach Stücken aus der Molasse von La-Chaux -de-fonds untersucht hat, erklärt (a. a. O. S.258) Listriodon nach dem Schädel und der ganzen Gestalt für einen vollständigen Suiden, obwohl seine Bezahnung so eigentümlich ist, dass man auf den ersten Blick fast gar nichts schweineähnliches darin erblicken könne. Auf der Krone der oberen und unteren Molaren sind nämlich derartige Querkämme ausgebildet, dass die meisten Paläontologen diese Zähne gewöhnlich mit den jochförmigen Zähnen des Tapirs verglichen haben. Die Be- trachtung der ganzen Bezahnung ergebe aber, dass bei Listriodon nur die zwei unteren Molaren (Mol. I und II) den Tapirzähnen ähn- lieh sind, obwohl diese Aehnlichkeit in keinem Falle im Sinne einer Verwandtschaft aufzufassen sei, die gar nicht bestehe, weil beide Tiere ganz verschiedenen Entwieklungsreihen angehören, welche un- zweifelhaft — seit der Spaltung der Urhuftiere in Paar- und Un- paarhufer — ganz verschiedene Bahnen verfolgen. Die Aufstellung solcher Verwandtschaften, die nur auf ein unbedeutendes äußeres Merkmal gestützt sind, sei die traurige Erbschaft, die uns die rein beschreibende Richtung der Naturwissenschaften hinterlassen habe und von der wir uns noch lange nicht befreien werden. Der ganze Bau des Schädels, fast die ganze Bezahnung spreche entschieden gegen irgendwelche Verwandtschaften mit dem Tapir. Der beschrei- benden Richtung genüge es aber, auch ein paar Höcker ähnlich zu finden, um gleich darauf Verwandtschaften aufzustellen, ohne jegliche Berücksichtigung, dass alle anderen Merkmale einer solchen wider- sprechen. Die Hervorhebung von nichtssagenden äußerlichen Aehn- lichkeiten und die Vernachlässigung der wahren Uebereinstimmungen, das sei es hauptsächlich, was den Fortschritt der Paläontologie der Säugetiere bis auf die jüngste Zeit so sehr gehemmt habe !). 1) Obwohl die letzten Bemerkungen Kowalevsky’s streng genommen nicht mehr zur Sache gehören, so konnte ich mich doch nicht entschließen sie — im unmittelbaren Anschlusse an eine vielgedeutete paläontologische Form — hier auszulassen, weil ihre Wahrheit unverkennbar ist angesichts der so außer- ordentlich schwankenden Urteile über die Verwandtschaften und Aehnlich- keiten schweineartiger Formen. Die reformatorischen Bestrebungen von K. auf dem Gebiete der Paläontologie, die einen so viel versprechenden Anfang genommen haben, sind leider durch seinen frühzeitigen Tod unterbrochen worden. Ref. M. Wilckens (Wien). (Fortsetzung folgt.) 16 249 Tollin, Andreas Vesal. Andreas Vesal. Von Lie. theol. Dr. med. hon. Henri Tollin, Prediger in Magdeburg. $. 1. Von einem Zeitgenossen Luther’s wird erzählt, er habe sich anheischig gemacht, mit verbundenen Augen jeden menschlichen Knochen, den man ihm vorhalten möchte, zu unterscheiden. Der Berichterstatter nennt das eine bewundernswerte Probe anatomischer Wissenschaft. Zur Beglaubigung führt er die Erzählung ein mit den Worten: „Ich habe Vesal in Paris gesehen“. Wer ist der Berichterstatter? Es ist jene berühmte Sammlung pikanter Mitteilungen aus den Salons, welche den Namen trägt Thuana. Alles darin wird auf den ausgezeichneten Geschichtsschreiber und Parlamentspräsidenten Jac. Aug. de Thou zu Paris, der sich in seinen lateinischen Schriften Thuanus nennt, zurückgeführt. Allein Thuanus starb am 17. Mai 1617. Die Thuana erschienen 1669. Die beste Ausgabe, die wir benutzten (I, S. 57), ist die von des Mai- zeaux (1740). Nun aber wurde Jac. Aug. de Thou in Paris erst 9. Oktober 1553 geboren und Vesal verließ Paris auf Nimmerwie- dersehen spätestens 1537. Die einleitenden Worte (J’ai vu Vesale a Paris), welche der Erzählung die Farbe der Augenzeugenschaft geben sollten, schwächen sie. — Se non & vero, & ben trovato. Wer will beweisen, dass es nicht wahr gewesen sein könne? Allgemeiner geglaubt, unwahrscheinlicher, nicht gradezu unmög- lich aber ist die Erzählung über die Ursache von Vesal’s Pilger- fahrt nach Jerusalem. Ein spanischer Grande — nach anderen eine Donna — den Vesal in Kur gehabt, starb. Vesal hielt ihn für tot. Er erbat sich die Erlaubnis der Sektion. Da schlug dem Toten das Herz. Den Mörder wollte die Inquisition hinrichten. Der König be- gnadigte ihn zu einer Wallfahrt nach Jerusalem. Wie die erstgedachte Erzählung uns des Niederländers bewunderns- werthe Kenntnis des menschlichen Gliederbaues, so sollte die letztere jenen leidenschaftlichen Durst schildern, seine anatomische Kenntnis zu erweitern. Haller (Bibl. anatom. I. 186) glaubt an die Geschichte, Boerhave, Albinus. Allein in Spanien war die Zeit nicht, wo sich Granden sezieren ließen. Der Mann, welcher einen Verbrecher vivisezierte, war in Italien Faloppi, Vesal’s Widersacher. Den niederländischen Zergliederer hat man angeklagt, wo seine Medizin und sein Messer sich fern genug gehalten hatten. Eine Ur- sache hat uns De Thou erzählt, aber diesmal nicht der posthume Salondichter, sondern der lebende Geschichtsschreiber. Beim Jahre 1548 meldet er den Fall (Historiar. I. fol. 164 B... Andreas Ve- sal, ein höchst gelehrter und scharfsinniger Arzt, sagt er, habe Tag und Stunde und fast Minute (ac paene momentum) des Todes eines Tollin, Andreas Vesal. 243 gewissen Buranus vorhergesagt: und zu Stunde. und Minute, die Vesal vorhergesagt, sei der Mann gestorben. Zwischen der Weis- sagung und dem Eintreffen muss geraume Zeit gelegen haben: sonst wäre das nicht etwas so merkwürdiges gewesen, um in einer Welt- geschichte niedergeschrieben zu werden. Ob es aber auf einer scharf- sinnigen ärztlichen Diagnose, auf lebhafter Einschüchterung !), oder auf zufällig eintreffender astrologischer Vorhersagung ?) beruhte, lässt sich, die Richtigkeit der Thatsache zugegeben, heute nicht feststellen. Auch diese Sage also spiegelt uns nur den Eindruck wieder, den Vesal’s Erscheinung in der Weltgeschichte zurückließ, ohne eine bestimmte Seite seiner Praxis klar zu stellen. In allen drei Er- zählungen aber tritt Vesal als ein Mann auf, dessen Wirksamkeit an das Wunderbare grenzte. Demselben Gedanken will auch wohl Harvey Ausdruck geben, wenn er seinen Wegebahner den Gött- lichen nennt ?). Das Leben Vesal’s hat durch den Herausgeber seiner Gesamt- werke ?) das Dauer-Gepräge erhalten, wie Harvey’s Leben durch den anonymen Vorredner zur Prachtausgabe von 1766. Und doch bedarf die Albinus- Biographie Vesal’s gradeso der Richtigstellung, wie Lawrence’s Leben WilliamHarvey’s’). Burggraeve®) hat das versäumt. Er geht keinen Schritt über Albinus hinaus. Unpar- teiische Prüfung der Quellen ist es, was auch in der Geschichte sich allein im stande zeigt, fabulierende Ansätze zu beseitigen, welche, wenn sie geistreich klingen, als unumstößliche Dogmen von einem Katheder zum andern weiter gesprochen werden. $.2. Andreas Vesal meldet uns”), dass seine Vorfahren, deren Grabdenkmäler er in Nymwegen und Wesel zu finden sich freute, den Familiennamen Witing geführt, ursprünglich zu Wesel®) 1) Wie bei Papst Paul V. Erst als seine Verwandten alle Astronomen Roms zusammenriefen und diese aussagten, der böse Einfluss der Gestirne sei vorüber, wich sein Tiefsinn (s. Bianchi Giovini, Biogr. di Fra Paolo Sarpi 1. 202). 2) Auch seinen beiden Studien-Kameraden Servet und Jean Thibault waren mehrere solche astrologisch-meteorologisch merkwürdige Voraussagungen geglückt. 3) Vgl. meine Abhandlung über Harvey in Virchow’s Archiv. 1830. Bd. 81. S. 119. 4) Herrmann, Boerhave et Bernh. Siegfr. Albini, Lugd. Batav. 1725 fol. T. I. Praefatio qua et vita auctoris eontinetur. 5) S. meine kritische Bemerkungen in Pflüger’s Archiv 1882. Bd. 28. S. 589 fg. 6) Etude sur Andr& Ve&sale. Gand 1841. 438 Seiten. Ihm folgt Hae- ser, Gesch. der Medizin. Jena 1881. II. Bd. 3. Ausg. $. 30-48. 7) De radice Chynae. 1537. Lugdun. p. 281 sg. 8) Dass er drei Wiesel, niederländisch Wezel in sein Wappen aufnahm — de eorporis humani fabrica — war eine naheliegende Spielerei. 16.7 244 Tollin, Andreas Vesal. im ehemaligen Herzogtum Clewe gewohnt haben und durch vier Generationen Aerzte gewesen sind. Daraus hat sich in einige me- dizinische Geschichtswerke der Irrtum verbreitet, als wäre Andreas, in Wesel geboren, Deutscher. Schon des Andreas Urgroßvater aber, Peter’s Sohn, Johannes Witing, hat sich Johannes de We- salia genannt, da er 1429 Wesel verlassen hatte. Leidenschaftlicher Handschriftensammler, Leibarzt Kaiser Maximilian’s, Lehrer, Pro- fessor und Rektor an der Universität Löwen, starb er 1472. Des Johannes Witing de Wesalia Sohn, Eberhard de Wesalia, des berühmten Anatomen Großvater, schrieb einen Konımentar über die Aphorismen des Hippokrates, sein erstes Buch aber über des Rhazes neuntes Buch ad Almansorem. Es bereitete dem Andreas Freude, auch über denselben Gegenstand sein erstes Buch heraus- geben zu können wie sein Großvater, auch zweimal auf derselben Universität zu studieren, wo sein Urgroßvater als Rektor gewirkt hatte. Des Eberhard Sohn, unseres Andreas Vater, Andreas de Wesalia, Verfasser einer Schrift in quartam Fen Avicennae, war Hofapotheker der Tante des fünften Karl, der Statthalterin der Niederlande, Prinzessin Margarete und nachher des Kaisers selbst. Nennt ihn doch unser Vesal in der Widmung seiner Hauptschrift an Karl V. den kaiserlichen Hofapotheker. Auch unseres Vesal Bruder Franz, früher Jurist, dann Arzt, früh verstorben, ist bekannt durch Veröffentlichung von De Chynae radice seines Bruders An- dreas mit einer von Franz geschriebenen Widmung an Herzog Cosmo Mediei von Toskana, aus Ferrara, tertio Idus Augusti 1546 gezeichnet. Dass Andreas Vesal 1514 geboren ist !), erhellt aus der Wid- mung seiner Hauptschrift an Kaiser Karl V. Dort sagt er im Jahre 1542, er sei nun 28 Jahre alt. Und auch sein Bildnis vor de humani corporis fabriea trägt die Unterschrift: im 28. Lebensjahre 1542 2). Sein Vater, der Hofapotheker des Kaisers, suchte des Sohnes Laufbahn zu Wissenschaft und Ehren zu ebnen. Die 1538 erschie- nenen 6 anatomischen Tafeln des Andreas überreicht der Vater (aliquando intuendas obtulit) seinem kaiserlichen Herrn, und berichtet dem Sohne, der Kaiser habe sie mit sichtlichem Vergnügen (cum vo- luptate) betrachtet: eine erfreuliche Thatsache, auf die der Sohn sich in der Widmung des Werkes von dem menschlichen Körperbau zu- rückbezieht. Dennoch nennt er als den, der ihm das Studium ermöglicht habe, 1) Athenae Rauricae 232 geben an 1500. Gemeinhin nennt man 31. Dez. 1514. Andere den 30. April 1513. Rob. Willis: Harvey 1878 p. 61 nennt 1512. 2) Daneben das Motto Oeyus, jucunde et tuto. Tollin, Andreas Vesal. 245 (mihi autor exstiteris) nicht seinen Vater, sondern den Leibarzt Kaiser Karl V., Dr. Nicolas Florenast). Ihm als seinem Herrn und Beschützer widmet er seine Erstlingsschrift, die Paraphrase des Rhazes (1537), ihm seine Abhandlung vom Aderlass (1. Januar 1539). In der erstern Widmung ehrt er ihn als einen in der Phi- losophie selten, ja fast unerhört bewanderten, gelehrten und be- währten (peritissimus) Arzt, der durch seine reiche und herrliche Begabung die Feinde der edlen Hippokratischen Kunst in Schranken halte, und der ihm sowohl zu den besseren Wissenschaften als insbesondere zum Studium der Medizin den mächtigsten Antrieb gegeben habe. Diesem Vorspiel (hoc meorum studiorum praeludium) schloss Vesal zwei Jahre später jene Epistel an, in welcher er dem Florenas schreibt (8. 3 ff.): „Du allein von allen bist es immer gewesen, dem ich nicht nur, was irgend in mir an Gelehrsamkeit oder sonstiger Geschicklichkeit ist, schulde, sondern dem eine solche Fülle von Verdiensten (meritorum magnitudo) um mein Le- ben zusteht, dass, wenn jemand über Einnahmen und Ausgaben eine spezielle Rechnung fordern wollte, mein Name aus deinem Tage- buch (e diario tuo) kaum auszulöschen wäre, so dass ich dich mehr noch als einen Vater, denn als einen Freund schätzen muss.“ Bei den Kennern der Werke Vesal’s unterliegt es keinem Zweifel, dass Andreas in Brüssel geboren ist; denn er nennt sich Bruxel- lensis, wie oftmals, so gleich auf dem Titel und im Nachwort seiner ersten Schrift (Paraphrasis Rhazes 1537). Ganz in der Nähe von Brüssel liegt Löwen. Von seinem zehnten Jahre an (1524) lässt man ihn daher die Löwener lateinische Schule besuchen. Auch schreibt Vesal 1542 an den Kaiser in der Widmung seiner Hauptschrift, vor 18 Jahren hätten die Löwener Aerzte nicht einmal im Traum an Anatomie gedacht. Es ist etwas viel verlangt von dem zehnjährigen Brüsseler Knaben, dass er sich, wenn er damals in Löwen war, um die Anatomie und die Träume der Löwener Aerzte bekümmern sollte. Auch liebt man es, von diesem ersten Löwener Aufenthalt Vesal’s Freundschaft für den Friesen Reinerus Gemma herzuleiten, der, damals Student der Medizin, später Dozent und Günstling Kaiser Karl V., sich als Mathematiker, Astronom und wegen seiner Kleinheit später einen Namen gemacht hat. Ging Gemma (7 26. Mai 1555) in Löwen mit seinem Freunde, dem riesigen Professor der Medizin, Jeremias Triverius, so riefen ihnen die Studenten nach: Lowa- nensium par impar (Jöcher). In Löwen soll Andreas Vesal sich die gründlichsten Kennt- 1) Nicht zu verwechseln mit Nieolaus Florentinus, dem Verfasser der 7 medizinischen Reden. Venet. !491. 1533 (ef. Haeser II. 209), dem gründ- lichen Kenner des arabischen Idioms (Vesal, Chirurgia magna f. 91a. 92a. 104 a. 111). 246 Tollin, Andreas Vesal. nisse gesammelt haben in der Mathematik!) sowie in der la- teinischen, griechischen und arabischen Sprache. Darin ist die Ueberlieferung einig von Albin bis auf Burggraeve (S. 17) und Haeser (8. 30). Nun aber erwarb sich Löwen schon in dem Streit gegen Reuchlin den Namen des Vororts aller Dunkel- männer. Und gegen Luther trat Löwen, der Hauptsitz des Ultra- montanismus und des Mönchtums, so blind rechthaberisch auf, dass Luther 1520 in seiner Schrift „Wider die Löwener Esel“ erklärte, um die Verdammungsurteile der Löwener Professoren kümmere er sich so wenig wie um das Fluchen eines betrunkenen Weibes (Köst- lin, Luther I. 317). In weniger finstern Städten, als damals Löwen war, galt überdies, wer griechisch lernte, für einen lutherischen Ketzer; wer hebräisch, für einen verstockten Juden; wer arabisch, für einen heuchlerischen Maranen. Zu Albinus Zeit (1725), wo niemand mehr die Schriften der arabischen Aerzte las, kam der in Verdacht, arabisch zu wissen, der einen Araber zitierte. Averro&s, Avicenna, Rhazes, Mesue und die anderen zitiert aber Andreas Vesal oft und gern. Albinus scheint keine Ahnung zu haben, dass alle diese Araber längst vom Mittelalter her ins Lateinische übersetzt und zu Anfang der Buch- druckerei lateinisch herausgegeben waren. Begehrte man doch noch zu Anfang des XVI. Jahrhunderts viel mehr nach den arabischen wie nach den griechischen Aerzten. Was nun aber Vesal’s Paraphrase jenes 9. Buchs des Rhazes ad Almansorem betrifft, über das 1340 zu Montpellier regelmäßig gelesen wurde?), so war dies 1511 zu Lyon in mittelalterlich barbarischer lateinischer Uebersetzung er- schienen: eine Uebersetzung, nach der im Manuskript schon Vesal’s Ahn gearbeitet hatte. Vesal selber scheint den arabischen Text nie gesehen zu haben. Auch müht er sich ab es zur Wahrschein- lichkeit zu bringen, dass es einmal ein arabisches Original gegeben habe. Dafür, meint er, sprächen manche den Griechen unbekannte Medizinen, auch der Styl und jener schrecklich ungebildete Charakter ?), der fern von jener Knappheit und Eleganz der Griechen so schwer in Latein und Griechisch übersetzbar sei. Nach seiner eignen Vorrede zur Paraphrase des Rhazes klagt er, dass in der ihm vorliegenden alten Uebersetzung manche Medizinen falsch benannt (vieiate seripta) oder in dunklen arabischen Ausdrücken belassen seien. Er habe sich deshalb daran gemacht, die Rhazes-Uebersetzung in der Art 1) Mathematische Kenntnisse sind mir bei Vesal niemals aufgefallen, nur sein Eintreten für die mathematisch-astronomisch geschulten Aerzte, als welche er (z. B. Gabriel. Cunei Examen 1564 p. 70): Jo. Ferel, Cardanus, Achill Gasser, Gemma Phrisius, Anton Gogavinus rühmt. 2) S. meinen Aufsatz in Virchow’s Archiv 1880 8. 64. 3) Quemadmodum est Arabum universus geht ebenfalls auf die Ueber- setzungen im mittelalterlichen Latein. Tollin, Andreas Vesal. 247 zu verbessern (Rhazae versionem castigare agressus sum), dass er mittels freier Umschreibung die fremdländischen !) Ausdrücke be- seitigte, die dunklen aufklärte, praktische Randglossen hinzufügte, unbekümmert, ob der Wortlaut stimme. Und in der That, das La- tein ist nunmehr plan, gut verständlich, ja bisweilen elegant, wie meist bei dem Landsmann des Erasmus. Ich wüsste aber keine Stelle, wo Vesal auf den arabischen Urtext rekurrierte, den alten Uebersetzer aus dem Arabischen korrigierte, auf arabische Konstruk- tionen oder auch nur Buchstaben bezug nähme. Kurz die allgemeine Tradition, Vesal habe arabisch verstanden, scheint mir haltlos. Auch mit dem Griechischen Vesal’s muss es nicht weit her gewesen sein. Brocken, nichts als Brocken bringt er aus dem Grie- chischen vor, wie ein ABC-Schütz, der sich mit Vokabeln spreizt. Niemals zitiert er einen griechischen Satz. Nie argumentiert er aus der griechischen Grammatik. Männern wie Kolumbus, Valverde und dergleichen gegenüber spielt er den Gebildeten, Gelehrten. Und in den Hofkreisen Franz I., Karl V., Margarete’s von Navarra, Re- nata’s von Ferrara und anderen gab ein griechisches Wort, zur rechten Zeit eingeflochten, Ansehen. Dass ihm Junta in Venedig den Auf- trag erteilt hätte, den Galen nach dem Urtext herauszugeben, wie Burggraeve ohne einen Schatten von Beweis behauptet (S. 17. 60), hat viel gegen sich (s. unten). Auch spricht Vesal, der den Ga- len unzählig mal zitiert, nie von einer eignen Ausgabe des Perga- meners. Ja seine Bemerkungen zu Galen hat er so wenig 1524 bis 1537 zu einem Erstlingswerke gestaltet, dass er 1546 meldet, er habe sie den Flammen übergeben. Und hinwiederum bei der neuen Aus- gabe der anatomischen Institutionen nach Galen, des berühmtesten Werks von seinem Lehrer Günther, liegt des Andreas Verdienst ganz und gar nicht auf dem Gebiet des Griechischen, sondern auf dem der Anatomie. Günther von ‘Andernach selbst, den der Spanier Michael Servet den fleißigsten Hersteller des Galen, einen um die Medizin hochverdienten Arzt, der zu Paris den Galen griechisch vorgetragen habe, nennt (cum Graece loquentem Galenum publice apud Parisios enarraret) ?), Günther von Andernach, der geschickte Herausgeber so vieler Galenischer Schriften, lobt seine Schüler Michael Servet und Andreas Vesal. An Servet lobt er veben dem anatomischen Geschick die umfassende allgemeine Bildung und große Kenntnis des Galen. An Vesal lobt er sein großes anatomisches Geschick und sein Bekenntnis zur rei- nern Heilkunde. Wenn daher (S. 19) Burggraeve es opportun findet, bei Gelegenheit der Viersprachenkenntnis Vesal’s den mo- 1) Im Nachwort entschuldigt er sich wegen der mancherlei stehen geblie- benen Arabica. 2) Syrupor. univ. ratio fol. 61 b. 248 Tollin, Andreas Vesal. dernen Medizinern ihre Einseitigkeit vorzuwerfen (etudes unilat6- rales), so müssen wir, wenigstens für unsere deutschen Mediziner, daran erinnern, dass sie als Primaner mehr Griechisch gewusst ha- ben, als Vesal in seinem ganzen Leben. Rob. Willis (Harvey 1878 S. 55) lässt Vesal zu Leyden des Günther von Andernach Schüler werden, ohne uns weder seine Quelle anzugeben, noch auch die Möglichkeit zu zeigen, wie ein solches Datum in das Leben Vesal’s oder auch nur das Günther’s einge- reiht werden könnte. $S.3. Ums Jahr 1532 wird der achtzehnjährige Vesal nach Montpellier geschickt durch seine Biographen. Wie viele Mediziner sind durch ihre Biographen nach Montpellier geschiekt worden! Und warum? Einfach, weil Montpellier für Medizin damals die beste Uni- versität der Welt war. Auch Burggraeve (8. 19) weiß für Ve- sal’s Aufenthalt in Montpellier nichts anzuführen, als dass Montpel- lier!) 1376 durch Karl den Schlimmen, König von Navarra, 1396 durch Karl VI., König von Frankreich, 1496 durch Karl VIII. die Bestätigung der Erlaubnis erhielt, Jahr aus Jahr ein einen, sage einen von den in Montpellier hingerichteten Verbrechern sezieren zu dürfen. Wie feierlich das herging bei einer solchen Sektion ?2)! Im Jahre 1530 z. B. wird in Montpellieur ein Verbrecher gehängt. Der Bevollmächtigte der Studenten (procurator studentium), begleitet von einigen Bakkalauren und Scholaren, begibt sich zum Obermarschall (praepositus marechalorum) und bittet ihn um den Leichnam. Man gewährt die Bitte. Nun wird die Glocke geläutet. Zusammenströmen der Studenten. Beim Eingang in den anatomischen Lehrsaal (introi- tus theatri anatomici) sind die Eingeschriebenen (matrieulati) frei, die Hospitanten (extranei) müssen zahlen. Darauf wird unter der Zahl der Professoren der Erklärer der Zergliederung (interpres seetionis, auch interpres historiae humanae) gewählt. Der Chirurge (seetor) vollzieht die Sektion. Nach deren Vollendung wird der Hörsaal (theatrum) mit Weihrauch gereinigt. Lieferten die Galgen nicht Verbrecher genug, so holte man sich Leichen, wo man sie fand. Man hielt förmlich Jagd. Ganz besonders durchforschte man Brunnen, wo gefallene Mädchen ihre Frucht verborgen hatten. War der Raub gelungen, so kündigte dreifaches Geläut das Ereignis an. Und kaum war es anders im Dezember 1554, wo Felix Platter in Montpellier studierte ?). Er suchte mit seinen Freunden dabei zu sein, wo man 1) Seit mindestens 1340 wurden mit Galen’s De usu partium dort Sek- tionen verbunden. 2) Anleitung zum medizinischen Studium, in Virchow’s Archiv 1880 Ss. 75 fg. 3) Felix Platter’s Erinnerungsblätter. Gütersloh 1832. Durch Rud. Heman neu herausgegeben 8. 141. Tollin, Andreas Vesal. 249 etwa heimlich einen Körper aufschnitt, auch selbst anzugreifen, ob- wohl mir, schreibt er, solches anfangs sehr abscheulich war. Gab mich auch, aus Begier, darin andere zu übertreffen und corpora zu bekommen, mit anderen welschen Studiosen etwa in Gefahr. Dazu half, fährt Platter fort, ein baccalaureus medicinatus (Gallotus), so eine Frau hatte, gebürtig von Montpellier, ziemlich reich, der in seinem Hause sol- ches eine Weile pflegte zu verrichten. Dazu er mich und etliche andere auch berief, tote Körper, so erst an dem Tage begraben, heimlich mit bewehrter (!) Hand vor der Stadt auf den Kirchhöfen bei den Klöstern auszugraben und dann in die Stadt in sein Haus zu tragen und daselbst zu anatomieren. Hatten bestellt etliche so aufpassten, wo und wann etliche begraben wurden, um dann in der Nacht uns dahin zu verfügen. Im Augustiner Kloster da war ein verwegener Mönch, der sich verkleidete und half uns dazu. Wir thaten heimlich im Kloster einen Schlaftrunk, der währete bis Mitternacht. Dar- nach zogen wir in aller Stille mit den Waffen vor das Kloster St. Denys auf den Kirchhof. Da scharrten wir ein corpus heraus, nur mit den Händen: denn der Grund noch locker war, weil es erst am Tage begraben. Als wir auf das corpus kamen, legten wir ein Seil daran und rissen es gewaltsam heraus, schlugen unsere Flassadenröcke darum und trugens auf zwei Bengelein bis an das Stadtthor; war um drei Uhr in der Nacht. Da thaten wir die corpora an einen Ort, und klopften an ein kleines Thürlein, dadurch man etwa ein und aus- lässt. Es kam ein alter Pförtner hervor im Hemd, that uns das Thürlein auf. Wir baten ihn, er wolle uns einen Trunk geben: wir stürben vor Durst. Während er den Wein holte, zogen ihrer drei die corpora hinein und trugen’s hinauf in des Galoti Haus, das nicht fern vom Thor, dass also der Thorwächter nichts gewahr wurde. Wir zogen nach, und als wir die Linnen, darein sie vernäht war, öffneten, war es ein Weib; hatte krumme Füße von Natur, so ein- wärts gegeneinander sahen. Die anatomierten wir und fanden u. a. auch etliche Adern als vasorum spermaticorum, die nicht abwärts gradeaus, sondern auch krumm und seitwärts gingen. — Weil nun uns die Sache geraten, ließen wir nicht nach. Und als wir fünf Tage hernach inne wurden, dass ein Student und ein Kind auf St. Denys Kirchhof begraben war, zogen wir abermals zum Thor hinaus in das Augustiner Kloster. In einer Zelle zechten wir ein gutes Huhn, mit Kohl, den wir aus dem Garten holten, gekocht, und guten Wein, womit er uns versah. Zogen darnach wieder mit Waffen: denn die Mönche zu St. Denys waren die vorige Entwendung gewahr ge- worden und hatten uns gedroht. Myconius trug sein bloßes Schwert, die Welschen Rappiere auf den Kirchhof. Schoben dann die aus- gegrabenen corpora unter dem Thore durch, schlüpften nach; wobei ich, auf dem Rücken liegend, meine Nase verletzte. War das eine ein Student, der uns wohlbekannt: hatte faule Lungen; fanden 250 Tollin, Andreas Vesal. Steinlein darin. Das Kind war ein Büblein. Machten ein Skeleton daraus. — Hernach haben die Mönche zu St. Denys den Kirchhof bewachen müssen, und, wenn Studenten gekommen, haben sie mit Flitzbogen auf sie geschossen“. Solche Abenteuer aus Montpellier würde Vesal aufbewahrt haben, wenn auch er dort gewesen wäre. Aber er meldet nirgend davon. Ueberdies ist man in Montpellier liebenswürdig. Warum hat denn keiner der Vesal-Forscher dortselbst nachgeforscht? Wird doch keinem zuverlässigen Gelehrten der Einblick in jenes Register der Immatrikulierten vorenthalten, das ohne Lücken die Zeit von 1502 bis 10. Mai 1561 umfasst. Und wenn nun gar schon um 1532 Vesal von Montpellier wieder nach Paris gezogen wäre, wie Burggraeve meint (p. 20), wäre solch ein aufs kürzeste zugemessener Aufenthalt von höchstens einem Semester nicht eine Schande für den großen Niederländer, eine Schande für die weltberühmteste Universität, rich- tiger für beide gewesen? War Vesal 1532 in Montpellier, so ist er nicht vor 1534 oder 1555 nach Paris gezogen. Aber warum wissen sämtliche Vesal-Biographen das Datum seiner Immatrikulation in Paris nicht? Warum sind alle den reichen Pariser Quellen aus dem Wege gegangen? Ist man etwa in Paris weniger liebenswürdig, als in Montpellier? Gewiss nicht. Leider dachte ich im Winter 1858—59 noch nicht an eine Vita Vesalii: auch war damals meine Zeit durch Servet-Studien so vollbesetzt, dass ich nicht abschweifen konnte. Aus den Registern der Ernennungen zu Pfründen (rotulus nominationum), dem Verzeichnis der Ernannten (Catalogus nominatorum), dem der Graduierten (liber graduatorum), aus den Tagebüchern der deutschen Nation (Commentarii nationis Germaniae) '), aus den Rektoratsakten (Acta recetoria oder juratorum registra) ?) möchte manches, aus den Fakultätsakten vieles über Vesal zu ersehen sein. Sind doch diese letzteren, welche aus der Zeit von 1395—1777 so ungemein viel interessantes urkundlich uns entgegenbringen, noch lange nicht genug benutzt?). So würde doch endlich erhellen, unter welchem Rektor und Dekan Vesal immatri- kuliert wurde, wen er sich zu seinem Studien-Patron (pater) er- wählte, wann und unter wem, wenn überhaupt, er in Paris Bakka- laureus, Lizentiat oder Doktor der Medizin geworden, ob er wegen Leichenraubes bestraft oder sonst mit dem Parlament in Konflikt ge- kommen ist u. dgl. m. Solehe urkundlich feststehende Daten sind für den Geschichts- forscher von anatomischem Interesse. Und aufgrund einer unrichtigen 4) Ministere de l’instruction: Archives de l’ancienne universit& de Paris. Reg. Ser. II Nr. 54, 55; Reg. 16. 2) Bibliotheque nationale de Paris. 3) Commentarii facultatis medicinae Parisiensis in der Bibliotheque de l’ecole de Medecine. REIT Tollin, Andreas Vesal. 251 Anatomie lässt sich auch keine gesunde Physiologie oder Biologie konstruieren. So sind alle Biographen Vesal’s einig, dass er nur einmal in Paris war, von 1537 aber Paris verlassen und von spä- testens 1539 an in Padua gewirkt hat. Ebenso weiß jedermann und auch Haeser berichtet ausdrücklich (II, 28), dass erst 1542 Guido Guidi(Vidus Vidius)!) aus Italien nach Paris gerufen worden ist. Dennoch berichtet zwei Seiten später (II, 30) derselbe Haeser, Burggraeve blindlings folgend, Guido Guidi sei in Paris Vesal’s Lehrer gewesen. Auf solche Weise lässt sich keines Toten Leben wieder aufbauen. $S. 4 Mag nun Vesal seine medizinischen Studien in Löwen, in Montpellier oder, wie ich glaube, erst in Paris 1534 zwanzig- jJährig begonnen haben, er hat dabei, wie er in der Widmung seiner Paraphrase des Rhazes?) berichtet, genau?) den Studiengang be- folgt, den ihm sein Gönner, der kaiserliche Leibarzt Dr. Nicolaus Florenas, ein ebenso gewandter Philosoph wie geschickter Arzt und großer Kenner der gesamten griechischen und arabischen Medizin (de vena secanda p. 10), vorgeschrieben hatte. Und noch am 1. Fe- bruar 1537 preist er sich darüber glücklich. Genoss er doch dadurch den wunderbar großen Vorteil (mirum dietu quanto meo commodo) ohne Umschweif (nullis ambagibus) von den niedersten Stufen bis zu der höhern Heilkunde (curativa), um deretwillen alle anderen da sind, aufzusteigen. Anfangs wunderte er sich freilich, dass gemeinhin sämtliche Aerzte seiner Zeit, den griechischen, den barbarischen und arabischen Aerzten Spurfolge (vestigiis) leisteten *). Bald aber gehorchte auch er dem Rat der Pariser Autoritäten, dass man am meisten lernen könne durch Vergleich der Araber mit den Griechen, indem dadurch Hoffnung erwachse auf Wiedererweckung der alten hippokratischen Kunst. Auch Florenas, sein Gönner, den Griechen den Vorzug gebend, hatte ihn das Gleiche geraten (tuo et meorum clarissimorum praeceptorum consilio obseguutus). Und da nun der höchst gelehrte medizinische Professor Dr.’) Jacobus Sylvius obenan für höhere Heilkunst den Rhazes stellte als der gewissermaßen den Stein der Weisen erfunden habe, so begann Vesal seine Bücherstudien mit dem Araber und ging von diesem erst zu den Schriften der Griechen über, insbesondere zu Galen. Rhazes 1) Chirurgia magna fol. 81a sagt Vesal: Vidius toto coelo aberrat: cf. fol. 81b; fol. 82a deeipitur Vidius. 2) Praeclarissimam quandam longeque utilissimam studendi in arte Hippo- cratica mihi praescribere rationem (Ep. nune. I. vor der Paraphrasis Rhazes). 3) Summa qua potui diligentia semper insistens. 4) Communem nostri temporis plurimorum medicorum rationem. 5) Vesal nennt ihn immer Doktor. Die Geschichte aber meldet, er habe nie promoviert. 252 Tollin, Andreas Vesal. empfahl sich zum Anfangsstadium, da er in gedrungenster Kürze fast sämtliche örtliche Krankheiten behandelt, anderseits von den Griechen nur in wenigen Stücken abweicht. Und da auch während der Pariser Studien Vesal’s Florenas nicht aufhörte ihn zu unter- stützen, zu empfehlen und zu fördern, so trug Vesal dem kaiser- lichen Leibarzt') seinen Dank dadurch ab, dass er ihm 1537 seine Paraphrase des neunten Buches des Rhazes ad Almansorem (hoe meorum studiorum praeludium) und 1539 seine Schrift „über den Aderlass bei Seitenstichen“ widmete: beides ein Beweis, dass er auch im lateinischen Styl gute Fortschritte gemacht hatte. Vom geistigen Studienleiter liegt der Uebergang nahe zu Vesal’s Pariser medizinischen Lehrern. Es sind Jacob Sylvius, Johann Fernel, Winter vom Andernach und Johann Tagault. Oder müssen wir auch jene beiden Namen hinzufügen, die Vesal als von Paris her ihm befreundet nennt (De Chynae radice p. 56), den Vas- seus und den Oliverus? Beide Namen fehlen bei Burggraeve wie bei Haeser. Und doch erscheint Ludwig Levasseur (Vassaeus) aus Chälons sur Marne bei Kurt Sprengel Ill. 56. 116 als Verf. eines galenistischen Handbuchs; bei Flourens?), als Portal’s Günstling für die Ent- deckung des Blutkreislaufs ?); bei Jöcher (Gelehrten-Lexikon) als einer der ersten Widerleger des Jacob Sylvius*): ein Umstand, der ihn, wie wir gleich sehen werden, für Vesal wichtig erscheinen lassen musste). Oliverius hingegen scheint jener premier president du Parle- ment de Paris, Jacques Olivier, sieur de Leuville, gewesen zu sein, der damals so mutig für alle freie Forschung auftrat und dessen Familie in der Geschichte des französischen Pretestantismus eine so ehrenvolle Rolle gespielt hat ®). Obenan zu nennen ist unter Vesal’s Pariser Lehrern Jean Tagault, als derjenige, den er in der Chirurgia magna am häufigsten zitiert, bald ausschreibt, bald kritisiert, eine aus der Geschichte von Michael Servet’s Pariser Prozess traurig berühmte Gestalt”). Die 1) Nach Beendigung der Pariser Studien, von Brüssel aus. 2) Hist. de la d&couverte de la circulation du sang. Paris, 1857, p. 39. Auch Ceradini berührt ihn. >) Er spricht aber nur vom Luftkreislauf. 4) Ep. de Sylviano humore triumvirali. — Sylvius confutatus. Paris, 1673, 12°. 5) Postridie festi omnium sanetorum (2. Nov.) 1532 und 1533 wurde Joh. Vasses zum Dekan der Pariser medizinischen Fakultät erwählt. (Com. face. med. Paris.) Ob dieser mit unserem Vassaeus zusammenhängt? 6) France protestante. Art. 7) S. meinen Aufsatz in Heinr. Rohlf’s Archiv 1880 8. 198 ff. 8. 333 ff. Vgl. meine Ausgabe Mich. Villanovani Apologetica disceptatio bei H. B, Mecklenburg. Berlin 1880. Tollin, Andreas Vesal. 255 merkwürdigsten sind aber das Pariser Dreigestirn: Sylvius, Fernel und Günther von Andernach. Jacob Sylvius (Du Bois), 1478—1555, aus Amiens gebürtig, Junggesell mit weißem Haar, ein Sonderling durch und durch, ebenso berühmt als französischer Grammatiker wie als Anatom, im Kolleg unübertrefflieh durch die Mannigfaltigkeit und Neuheit seiner Vor- führungen, im Hause bewundert wegen seiner naturwissenschaftlichen Museen; als Schriftsteller in zwei Tagen ausverkauft, in seinem Zorne maßlos, auf dem Totenbett gestiefelt und gespornt, im Leben ge- fürchtet, auf dem Leichenstein wegen seines Geizes verspottet. Fernel (1506—1558) sein Landsmann, Mathematiker, Philologe und Astronom, Denker und Systematiker, geistreich und tief, von seinen Studenten selten verstanden und deshalb gemieden !), ein inniger Freund der Sterndeutung, welcher Jac. du Bois und ihr gemein- schaftlicher Landsmann Tagault eine tödliche Feindschaft geschworen hatten; zu den geliebten Büchern fliehend von den närrischen Menschen, wo er sie nicht belehren oder sie nicht heilen konnte, unermüdlich und uneigennützig am Krankenbett des Aermsten wie des Reichen, als Schiedsrichter gewählt in dem berühmten Streit zwischen Petrus Ramus und dem Rektor der Universität, nach wunderbarer Herstel- lung der Katharina von Medici widerwillig und widerstrebend zum Leibarzt des Dauphin, spätern Königs Heinrich Il., berufen, aus Gram über den Tod seiner Frau dahinsterbend, von Guy Patin als Hersteller der Denkfreiheit in der Medizin und als größter Arzt nach Galen gefeiert: noch vor einigen Jahrzehnten durch wissenschaftliche Neuausgabe seiner gesamten Werke geehrt, von Harwey oft zitiert, von 27 Biographen angesungen. Günther von Andernach (1484—1574), begeisterter Galenist wie jene, aber freier denkend als jeder von beiden, Protestant und doch Leibarzt König Franz 1., in Straßburg Erzieher des Sohnes vom Landgrafen Philipp von Hessen und zum Testamentsvollstrecker des Reformators Martin Butzer ernannt und doch in den Adelstand erhoben durch Kaiser Ferdinand I: so autoritätenfrei, dass er noch im hohen Alter Schüler des medizinischen Revolutionärs und Freundes der Frachtfuhrleute Paracelsus wurde, alle seine Schüler mächtig anregend zu eignen Beobachtungen und Experimenten. $S. 5. Das waren in den Pariser medizinischen Studien die Lehrer Andreas Vesal’s. Es fällt ihm sichtlich schwer, ihnen zu danken. Er lobt sie meist nur, um den angefügten Tadel desto greller hervor- treten zu lassen. Am meisten schont er den Fernel, der sich stets aller Persönlichkeiten zu enthalten pflegte. Er nennt ihn seinen Lehrer, rühmt seine großen mathematischen Kenntnisse, empfiehlt, 4) Hilarion de Coste sagt, kein Mensch in Paris ahnte, dass es solch ein Wesen gab. 254 Tollin, Andreas Vesal. in der praktischen Verbindung von Astronomie und Medizin (dies eritiei) ihm zu folgen. Weit mehr Grund hatte Vesal den Günther zu loben. Denn kein Dozent damals hielt so hoch von der Anatomie. Früher frei- lieh, so klagt 1536 der Andernacher in der Vorrede seiner anato- mischen Institutionen, früher habe die Anatomie vernachlässigt im Staube glegen. Und doch sei anatomische Kunde nicht bloß den Aerzten und den Philosophen notwendig, sondern auch allen Menschen- klassen ehrenvoll und schön (honesta et pulchra). Ja durch Mangel an anatomischer Kenntnis werde bald der Sinn, bald die Bewegung gehindert, bisweilen sogar der Tod herbeigeführt. Darum sei jeder- mann zum Studium der Anatomie zu ermahnen. Er wisse wohl, dass er damit der heutigen Mode nicht huldige. Denn all die medizinischen Rabbiner unserer Tage, die sich als Hippokratiker, Galenisten oder Nachfolger des Avicenna brüsten, verstehen nicht einmal anatomische Lehrbücher, geschweige dass sie selber sich an Sektionen heran- gewagt oder sie anderen gezeigt hätten (aliis ostenderint). Wollte man ihnen den Titel nehmen, würde nichts übrig bleiben als Syru- pisten und Zulapisten, mehr bedacht der Menschen Gaumen zu kitzeln, als sie von Krankheiten zu heilen. Darum halte er es für seine Pflicht, den Jüngern der Medizin, die durch Galen’s Weitschweifig- keit!) und innere Widersprüche (Galenus tam prolixus variusque) verwirrt werden könnten, kurz und bündig das vorzutragen, was er beim Sezieren (inter secandum) als das Wissenswerteste erprobt habe ?). So sehr war das im Sinne Vesal’s, dass er nicht anders konnte, als dem Standpunkt seines Lehrers zu huldigen. Das that er, indem er die 1536 in Basel?) erschienenen anatomischen Institutionen des Günther von Andernach mit einer Widmung an Jo. Armen- terier zu Venedig 1538 neu herausgab. Er nennt Günther’s ana- tomische Anleitung die beste, die es gebe. Danken doch diesem geistig so reich begabten Manne (vir profeeto multis ingenii dotibus praeditus) nicht nur die Studenten, sondern alle Professoren der Me- dizin außerordentlich viel (plurimum), darum weil er die medizinische Wissenschaft mehr als andere (omnium maxime) gefördert habe. Statt nun aber seine anatomischen Kenntnisse anzuerkennen, hebt er seine wunderbare Geschicklichkeit in der Uebersetzung (admiranda vertendi promptitudo) und seine bunte Mannigfaltigkeit in den Ausdrücken rühmend hervor. Und sogleich schilt er die vielen aus Uebereilung 1) Vesal sagt in seiner Vorrede zu Günther: in etwa 40. Büchern Galen’s. 2) Nach der alten Schulsitte begann er die Sektionen mit dem Unterleib, ging dann zum Thorax über nebst seinen äußeren und inneren Teilen, darauf zum Gehirn, zuletzt zum Bau der Glieder. So 1536, 1538, 1539 und noch 1585 Anatomic. Institut. 3) Balthasar Lasius und Thomas Platter, August 1536. Tollin, Andreas Vesal. 255 hervorgegangenen Druckfehler und meint sich um die Studenten verdient zu machen, indem er des um die Studien so hoch verdienten Manne Bemühungen reinige und fortsetze (emaculatiores auctioresque). Der edle Mann werde ihm das nicht übel deuten, da Vesal ja einen großen Teil seiner Kenntnisse dem Günther danke (magnam stu- diorum meorum partem illi acceptam fero) als seinem ebenso freund- lichen wie gelehrten Lehrmeister. Inzwischen habe er, Vesal selber, sich eine große anatomische Erfahrung angeeignet, wie zahlreiche Zeugen beweisen könnten, da ich, sagt er, auf drei in ganz Europa so hochberühmten Akademien — er meint wohl Paris, Löwen, Pa- dua — die ich der Studien wegen besuchte, anatomische Hilfe ge- leistet habe !). Man merkt schon 1539, dass er, der 25 jährige Schüler, sich in der Anatomie weit über seinen 52 jährigen Lehrer stellt. Und auch 1564, wo er den ihn noch zehn Jahre überlebenden lobt, erkennt er nicht Günther’s Anatomie an, sondern seine glücklichen Konjekturen bei Herstellung des griechischen Galen?). Ja, während er 1539, wo er Günther’s Werk herausgibt, mit dem Urteil über dessen anatomische Kenntnisse noch weise zurück- hält, fröhnt er schon 1546 der ihm angebornen Neigung zum Spotte und erklärt, von Anatomie verstehe Günther nichts. Wolle doch er, Vesal, sich am eignen Leibe gern so viel Schnitte beibringen lassen, als er es mitangesehen habe, dass sein hochverehrter Lehrer an der Menschen oder Tiere Leibern gemacht habe, es wäre denn etwa über Tische ?). Alles, was in der Anatomie Günther neues vorbringe, verdanke er ihm, dem Vesal. Sollte es sich bloß um einen Witz handeln, immerhin. Allein jedweder, der auch nur die Erstlingsausgabe von Günther’s anato- mischen Institutionen liest, sieht, dass theoretisch wenigstens der Andernacher jedes anatomische Instrument wohl zu handhaben, stets an richtiger Stelle es einzusetzen und durchzuführen, überall den Zweck und den Nutzen der Sektion klar darzulegen verstand. Wenn Günther das nicht that, was bis auf Vesal keiner that, dass er vom Demonstrator zum Sektor wurde, oder, wie man es damals auf- fasste, vom Arzt zum Barbier herabsank, so durfte man ihm daraus keinen persönlichen Vorwurf machen, noch gar, wie Vesal thut, be- haupten, sein Lehrer habe von Anatomie nicht das geringste ver- standen. 1) Quum in tribus academiis totius Europae celeberrimis, quas studiorum gratia invisi, Anatomen administraverim, 2) Examen Faloppii p. 145. 3) Verum tot mihi modo sectiones infligi cupio, quot illum aut in homine aut alio bruto, praeterguam in mensa, tentantem vidi: De Chynae radice 255, (Fortsetzung folgt.) >56 Albrecht, Chorda dorsalis im Nasenseptum eines Rindes. Adolf Mayer, Kleine Beiträge zur Frage der Sauerstoff- ausscheidung in den Crassulaceenblättern. Die landwirthschaftlichen Versuchsstationen, 30. Band, Heft 3, S. 16 — 226. Im Anschluss an frühere, in den „landwirtschaftlichen Versuchsstationen“, Band 21, Seite 277, veröffentlichte Untersuchungen stellte der Verfasser Ver- suche an zur Entscheidung der Frage über die Erstlingsprodukte des Reduk- tionsprozesses in den Crassulaceenblättern. Gleichaltrige Blätter von Bryophyllum calycinum wurden über Natron- lauge 24 Stunden lang im dunkeln gelassen und dann teils sofort, teils nach längerer Belichtung im kohlensäurefreien Raum untersucht. Bei allen Ver- suchen ergab sich eine erhebliche Verminderung des Säuregehaltes bei den isolierten Blättern. Eine Vermehrung des Rohfasergehalts ließ sich nicht mit Sicherheit feststellen; ebensowenig trat eine Vermehrung der dextrinartigen Stoffe ein, dagegen wurde die Menge des Zuckers und die der Stärke ver- größert. Demnach liefert der bei Ausschluss von Kohlensäure stattfindende Reduktionsprozess die nämlichen Produkte, wie der gewöhnliche. Im toten Blatte findet keine erhebliche Verminderung des Säuregehal- tes statt. Kellermann (Wunsiedel). Biologische Forschungen in den Sudeten. Von Dr. Otto Zacharias zu Hirschberg i/Schl., der im vorigen Sommer eine faunistische Untersuchung der Riesengebirgs-Hochseen vorgenommen hat, wird in diesem Jahre eine ähnliche Exkursion beabsichtigt, welche die zoolo- gische Erforschung gewisser Moorflächen in der Grafschaft Glatz zum Zwecke haben soll. Die königl. preuß. Akademie der Wissenschaften zu Berlin hat Herın Dr. Zacharias die Mittel zur Ausführung seines Planes bewilligt. Paul Albrecht, Ueber die Chorda dorsalis und 7 knöcherne Wirbelzentren im knorpligen Nasenseptum eines erwachsenen Rindes. Mit Bezugnahme auf die Antwort des Herrn Prof. Albrecht in Brüssel (Biol. Centralbl. Bd. V Nr. 5 u. 6) auf die Aufforderung von Herrn Geheimerat von Kölliker in Würzburg (Biol. Centralbl. Bd. V Nr. 1) geben wir nach- stehend auf Ersuchen von Herrn Prof. Albrecht in wörtlichem Abdruck den Bericht der Kommission wieder, welche die „Soci6t& de Medecine de Gand“ zur Untersuchung des Chorda dorsalis und Wirbelzentren im Nasenseptum ent- haltenden Schädels eines erwachsenen Rindes ernannt hatte (erschienen in „Bull. de la Soc. de M&d. de Gand“, s&ance ordinaire vom 5. Mai 1885). Derselbe lautet: Dans sa s&eance du mois de mars dernier, la Societe avait nomm& une commission composee de MM. Van Bambeke, Leboucq et Mac Leod, chargee d’examiner un cräne de boeuf adulte du mus&e de l’&cole v6terinaire de Cureghem, ayant fait l’objet d’une communication de M. Albrecht. Deux membres de cette commission, MM. Van Bambeke et Leboucq, ont examine la piece en question lors d’un voyage ä Bruxelles (M. Mac Leod n’a pas encore eu l’occa- sion de faire ce voyage). Leur avis unanime est que la description que M. Albrecht a faite de ce cräne est exacte, et que la fig. 1 de l’article publie par lui dans le „Biologisches Centralblatt“ (n® du ir mai 1885) est conforme & la r&alite. Ils font toutefois leurs r&serves quant & l’interpr&tation de l’auteur. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 34 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. V. Band. 1. Juli 1885. Nr. 9. Inhalt: Peter Ludvig Panum. — Zacharias, Experimentelle Untersuchungen über Pseudopodienbildung. — Wilekens, Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haustiere. 5. Die schweineartigen Tiere (Fort- setzung). — Tollin, Andreas Vesal (Fortsetzung). — Tarenetzky, Beiträge zur Kraniologie der großrussischen Bevölkerung der nördlichen und mittleren Gouvernements des europäischen Russlands, — Molisch, Ueber den mikro- chemischen Nachweis von Nitraten und Nitriten in der Pflanze mittels Diphe- nylamin und Bruein. — Nasse, Giftige Wirkung des roten Phosphors., — Veröffentlichungen des Kaiserlichen Gesundheitsamtes zu Berlin. Peter Ludvig Panum. Peter Ludvig Panum ist am 19. Dezember 1820 in Rönne auf Bornholm, wo sein Vater Arzt war, geboren; als der Vater später in Schleswig als Regimentsarzt eingestellt wurde, besuchte Panum das Gymnasium in Flensburg und bezog in 1840 die Universität Kiel. Nach einem Jahr siedelte er nach Kopenhagen über, setzte dort das Studium der Medizin fort und absolvierte die Staatsprüfung in 1845. Als in 1846 eine bösartige Masernepidemie auf den Färöern aus- brach, welche Epidemie über 6000 von den 7 700 Einwohnern ergriff, wurde Panum, dessen hervorragende Fähigkeiten bereits Aufmerk- samkeit erregt hatten, von der Regierung als Arzt nach den Inseln geschickt. Hier machte er seine bekannten Beobachtungen über das Masernkontagium, welche in Zusammenhang mit vielen anderen Be- obachtungen über das soziale Leben und die hygieinischen Zustände auf den Färöern 1846 veröffentlicht wurden; als er 1847 auf einer Reise nach Berlin mit Virchow zusammentraf, welcher letztere eben im begriff stand, den ersten Band seines berühmten „Archivs“ herauszugeben, wurden die Studien über das Masernkontagium in diesen Band aufgenommen. — Nachdem Panum 1848—49 als Mili- tärarzt fungiert hatte, wurde ıhm 1850 eine neue offizielle Sendung als Arzt anvertraut, und zwar diesmal nach Korsoer, wo eine kleine Cholera-Epidemie ausgebrochen war; der sehr energischen und tüch- tigen Administration Panum’s gelang es die Epidemie zu begrenzen. 17 358 Peter Ludvig Panum. Schon früh hatte Panum eifrig und eingehend mit den Natur- wissenschaften sich beschäftigt, wofür einige kleine Lehrbücher, welche er schon als Student herausgab, Zeuge sind; und so habilitierte er sich mit einer Abhandlung über Fibrin und reiste dann nach dem Ausland, um sich, besonders in der physiologischen Chemie, weiter auszubilden. Er hielt sich bei dieser Gelegenheit längere Zeit in Würzburg auf, wo damals Kölliker, Scherer und Virchow lehrten, studierte in Leipzig unter der Leitung Lehmann’s und arbeitete endlich 10 Monate in Paris als Assistent bei Claude Bernard. 1853 wurde er nach Kiel berufen, um dort Physiologie, physiologische Chemie und allgemeine Pathologie zu lehren. In dem von ihm in Kiel eingerichteten physiologischen Laboratorium wurden mehrere seiner besten Arbeiten ausgeführt; auch für die Verbesserung des Unterrichts war er bemüht: er führte physiologisch - chemische Uebungen für die Mediziner ein und stiftete einen physiologischen Verein. Im Jahre 1864 übernahm er die bei dem Tode Esricht’s in Kopenhagen ledig gewordene Professur für Physiologie, in welcher Stellung er ungefähr 20 Jahre mit rastloser Thätigkeit wirkte. 1884 war er Präsident des achten internationalen medizinischen Kon- gresses in Kopenhagen. — Am 2. Mai 1885, als er noch in ungetrübter Kraft mit seinen Arbeiten beschäftigt war, traf ihn plötzlich der Tod, ohne vorausgehende Krankheit. Die Autopsie zeigte eine Ruptura cordis. Die Arbeiten Panum’s umfassen bekanntlich große Gebiete der Biologie. Sowohl in der Medizin (Putride Intoxieation 1856), wie in der Physiologie der Sinnesorgane (Sehen mit zwei Augen 1858) und in der Entwicklungsgeschichte (Entstehung der Missbildungen 1860) hat er hervorragendes geleistet; die meiste Zeit und größte Kraft aber hat er auf Fragen aus der Physiolgie des Stoffwechsels verwendet. Ich erinnere hier nur an seine fundamentalen Arbeiten über Blutmenge und Transfusion, sowie an die Studien über Fibrin und Atmung in komprimierter Luft; ferner an die ganze Reihe von Versuchen über Verwertung verschiedener Nahrungsmittel im tierischen Organismus. Noch im letzten Jahre war er mit Untersuchungen dieser Art be- schäftigt, und seine letzte Abhandlung, nach seinem Tode erschienen, enthält experimentelle Studien über Darmfisteln. Neben diesen bedeutenden wissenschaftlichen Leistungen verlieh die außergewöhnliche Energie Panum’s ihm auch Zeit zur Arbeit auf verschiedenen praktischen Gebieten, welehe mit der Wissenschaft in Verbindung stehen; nur wer mit den diesbezüglichen dänischen Verhältnissen bekannt ist, wird seine Bedeutung in dieser Richtung genügend zu würdigen wissen. Hier sei nur sein Bestreben erwähnt, billigen und guten Nahrungsmitteln Eingang im Volke zu verschaffen, und sein Einfluss auf die Verbesserung der Milchkontrole in Kopen- hagen; weiter sein erfolgreiches Streben, das medizinische Studium in Dänemark zu reformieren und die Schöpfung eines wohleingerich- Zacharias, Untersuchungen über Pseudopodienbildung. 259 teten physiologischen Laboratoriums in Kopenhagen (1867), was er trotz der mannigfachsten Schwierigkeiten durchzusetzen wusste. Hat die Wissenschaft und die Universität Kopenhagen bei dem Tode Panum’s einen großen Verlust erlitten, wie viel haben durch seinen Tod erst seine Schüler verloren! Ihnen war er nicht allein der begabte erfahrene Lehrer, sondern auch der aufopfernde väter- liche Freund. Sie werden mit dankbarer, erfurchtsvoller Anerken- nung sein Andenken verehren. Christian Bohr (Kopenhagen). Experimentelle Untersuchungen über Pseudopodien-Bildung. Von Dr. Otto Zacharias in Hirschberg i/Schl. Zu Versuchen über Pseudopodienbildung bin ich durch das höchst auffällige Verhalten der Spermatozoen des Polyphemus pediculus ver- schiedenen Flüssigkeiten gegenüber angeregt worden). Besonders erwähnenswert ist der Einfluss einer 5prozentigen Lö- sung von phosphorsaurem Natron (in destilliertem Wasser) auf die betreffenden Gebilde. Ich gebe davon eine kurze Schilderung. Die ursprünglich zylindrischen Spermatozoen bleiben zuerst eine kurze Zeit hindurch scheinbar unempfindlich gegen das umgebende Medium, und machen keine Miene auf die Natronlösung zu reagieren. Nach einiger Zeit fangen sie jedoch an sich in die Länge zu ziehen, und man bemerkt, dass an jedem Pole des spindelförmig gewordenen Gebildes zwei kurze Pseudopodien hervortreten. Dieselben werden allmählich länger und spalten sich während ihrer Größenzunahme mehrfach, so dass das Spermatozoon an beiden Enden wie mit Fransen besetzt aussieht. Nach Erreichung dieses Stadiums beginnt dasselbe sich wieder zu kontrahieren; dies geschieht aber ziemlich langsam und das Schwingen der Pseudopodien wird dabei immer lebhafter. End- lich erhält das ursprünglich spindelförmige Spermatozoon vollkommene Kugelgestalt und ist dann über und über mit kurzen wimpernden Fortsätzen bedeckt, die man nun eigentlich nicht mehr Pseudopodien nennen kann, da sie genau mit schwingenden Cilien übereinstimmen. Dieses Experiment scheint mir deshalb ein ganz besonderes wis- senschaftliches Interesse darzubieten, weil durch dasselbe klar erwiesen wird, dass Pseudopodien und Cilien keine grundverschiedenen Bil- dungen sind, sondern dass zwischen beiden ein innerer Zusammen- hang besteht, der bisher nur nieht genügend ins Licht gesetzt wor- den ist. 1) Anmerk.: Vergl. „Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie“, Bd. 41, Heft 2. IR 260 Zacharias, Untersuchungen über Pseudopodienbildung. Für den Crustaceenforscher wird dieser Versuch noch dadurch interessant sein, dass es durch denselben gelang, den Pseudopodien der Polyphemus-Samenzelle auf künstliche Weise eine Beweglich- keit zu erteilen, welche den fadenartigen Anhängen des Spermato- zoons von Evadna schon von Natur aus innewohnt. Ich habe 30 Minuten lang den Lebenserscheinungen, welche meine Objekte darboten, zugeschaut, ohne dass auch nur im geringsten eine Abnahme in der Kraft derselben zu bemerken war. Neuerdings habe ich nun meine Versuche fortgesetzt und mit den (bekanntermaßen) amöboiden Zellen des Darmepithels von Stenosto- mum leucops experimentiert. Diese Zellen haben eine kuglige Form und tragen an der dem Lumen des Darmsacks zugekehrten Seite einen Büschel langer Flimmereilien. Ihre Größe variiert von 0,01 bis 0,012 mm. In ihrem Innern enthalten sie gewöhnlich zahlreiche Fett- tropfen und eine Anzahl brauner Konkremente, die mir die gleiche Bedeutung zu haben scheinen, wie die von J. Barrois bei den Ner- mertinen wahrgenommenen „granules hepatiques“. Diese Epithelzellen habe ich nun gleichfalls mit : ozentiger Lösung von phosphorsaurem Natron behandelt und damit ein recht überraschendes Ergebnis erzielt. Dasselbe bestand darin, dass sich die kugligen Gymnocytoden an einer gewissen Stelle in eine lange, den Durchmesser der Zelle 2—3mal übersteigende Cilie auszogen, welche alsbald lebhaft wellenförmige Bewegungen machte, sodass die Epithelzelle wie ein Geißelinfusorium aussah; nur dass sie sich durch die Dieke der wimpernden Geißel von einem echten Flagellaten un- terschied. Es geschah manchmal, dass die Hervorstülpung des ten- takelartigen Protoplasmafortsatzes grade an der Stelle erfolgte, wo das ursprüngliche Cilienbüschel stand. Da kam es öfters vor, dass 2—3 einzelne Cilien mit auf den Fortsatz gerieten und nun ihrerseits im alten langsamen Tempo weiterschlugen, während der dickere und längere Fortsatz im raschen Rhythmus undulierte. Das sind bemer- kenswerte Thatsachen, welehe — wie mich dünkt — zu weittragen- den Schlussfolgerungen berechtigen. Zunächst ergibt sich daraus eine innigere Beziehung zwischen dem amöboiden Verhalten einer Zelle und den Bewegungen, welche an stärker differenzierten Protoplasmafortsätzen (wie Cilien, Wim- pern u. dergl.) wahrzunehmen sind. Dies regt aber sofort weiteres Nachdenken über die Verwandtschaftsbeziehungen der amöbenartigen Lebewesen zu den Geißelinfusorien an und lässt uns die Frage auf- werfen, ob wir aus dem morphogenetischen Verhältnis, welches wir zwischen Pseudopodium und Cilie bestehen sehen, nicht auch einen Rückschluss auf die systematische Stellung, beziehungsweise auf die Phylogenesis der Flagellaten ziehen können. Wer sich etwas eingehender mit der Beobachtung der (ungepan- zerten) Geißelinfusorien befasst hat, weiß, in wie hohem Grade man- Zacharias, Untersuchungen über Pseudopodienbildung. 261 chen Formen das Vermögen, sich amöboid zu bewegen, zukommt. Ich erinnere hauptsächlich an Cercomonas ramulosa St., welche zahl- reiche Pseudopodien auszusenden im stande ist und davon ihre Be- zeichnung erhalten hat. Ich weise ferner darauf hin, dass Haematococeus plwialis Fltw. (= Chlamydococcus pluv. A. Braun), jenes eigentümliche, auf der Grenzscheide zwischen niederen Algen und Flagellaten stehende Wesen, unter Umständen — z. B. im abgestandenen Wasser alter Kulturen — eine sehr abweichende Form annimmt, welche v. Flo- tow seiner Zeit unter dem Namen Haematococcus porphyrocephalus beschrieben hat. Diese sehr bewegliche und kontraktile Form do- kumentiert eine starke Annäherung an amöbenartige Organismen und ist ein sonderbares Mittelding zwischen letzteren und den Astasieen. Durch solche Thatsachen wird, meiner Ansicht nach, die An- nahme einer nähern Beziehung zwischen den niedrig stehenden Geißelinfusorien und den (eilienlosen) Amöben wesentlich unterstützt. Rekurrieren wir nun auf das oben mitgeteilte Experiment, wonach es durch Behandlung der Epithelzellen des Darms von Stenostomum leu- cops mit phosphorsaurer Natronlösung leicht gelingt, eilienartig schla- gende Protoplasmafortsätze hervorzutreiben: so spricht nicht mehr die vage Möglichkeit, sondern eine ziemlich große Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich die Flagellaten aus den primitivsten der tierischen Organismen, den Amöben, entwickelt haben. Aus demselben Ex- periment gewinnen wir auch die Ueberzeugung, dass der Einfluss des umgebenden Mediums auf der Stufe niederer Organismen (der großen Imbibitionsfähigkeit wegen, welche letztere im Vergleich zu den höheren besitzen) ein viel stärkerer sein muss, als wir gewöhn- lich annehmen. Es käme jetzt nur daraufan, die Wirkungen, welche jener Einfluss im Gefolge hat, dauernd zu fixieren; dann würden wir ziemlich nahe daran sein, auf künstlichem Wege Unterschiede von so großem Betrag hervorzubringen, dass sie in der Systematik dazu dienen könnten, die Aufstellung von besonderen Klassen und Ord- nungen zu motivieren. Im Anschluss an das Vorstehende will ich nicht unerwähnt lassen, dass Experimente ähnlicher Art, wie ich sie mit den Spermatozoen von Polyphemus und den Darmepithelzellen von Stenostomum angestellt habe, schon vor Jahren von Prof. A. Schneider (Breslau) an einem andern Objekt, nämlich an den Samenzellen von Nematoden, vor- genommen worden sind. Schneider berichtet darüber in seiner be- kannten Monographie (Berlin 1866), und ich halte es für geboten, die bezügliche Stelle aus dem zitierten Werke wörtlich anzuführen. Es heißt a. a. ©. S. 280 u. ff. wie folgt: „Die Form der eigentümlichen Bewegungen hängt in gewisser Beziehung von der umgebenden Flüssig- keit ab. In Eiweiß treten amöbenartige Fortsätze und eine scheinbar feinkörnige Beschaffenheit der Oberfläche ein; in Salzlösung, nament- 262 Zacharias, Untersuchungen über Pseudopodienbildung. lich in etwas konzentrierterer, ist die Oberfläche der Spermatozoen glatt, aber mit einzelnen Höckern besetzt, welche sich schnell wie Wellen darüber hinbewegen. In Eiweiß habe ich die Bewegung 8 Stunden lang erhalten, und es ist das vielleicht noch länger mög- lich. In Salz- oder Zuckerlösung werden die Bewegungen durch die schneller eintretende Konzentration langsamer und hören schließlich ganz auf. Sowie die Konzentration der Flüssigkeit einen gewissen Grad erreicht, werden die Samenzellen homogen, fettartig konturiert und unbeweglich; durch Zusatz von Wasser kann man aber die frühere Konsistenz und Beweglichkeit sofort wieder herstellen. Verdünnt man die Flüssigkeit noch mehr, so tritt die Gestalt wieder ein, die wir als die normale (ruhende) betrachten können, die der hyalinen Kugel mit der peripherischen Stellung des Kerns und der Körnchen. In reinem Wasser endlich platzen die Kugeln, und es bleibt ein körniges Körperchen übrig, welches gewöhnlich mit dem einen Ende an dem Objektträger festhaftet“. Soweit Prof. Schneider, dem somit das Verdienst gebührt, der- gleichen Versuche an organischen Elementargebilden mit zuerst an- gestellt zu haben. Auch von Braß (Biolog. Studien, Heft I, S. 68) sind hierher ge- hörige Experimente mit Amöben augestellt worden. Er behandelte diese Organismen mit verschiedenen Flüssigkeiten und fand z. B,, dass schwache Alaunlösung zur Bildung von sehr langen und dünnen Pseudopodien anregte. Einige Untersuchungen von Kühne gehören gleichfalls hierher. Dieser Forscher fand, dass stark verdünnte Zuckerlösungen, sowie O,1prozentige Lösungen von Kochsalz, phosphorsaurem Natron u. dgl. die Plasmodien von Mycetozoen dünnflüssiger (wasserreicher) machten, und die einzelnen Pseudopodien zu großer Veränderlichkeit bestimmten. Wir lernen durch Untersuchungen dieser Art, wie schon oben be- tont, den außerordentlich großen Einfluß würdigen, den das umgebende Medium auf elementare Organismen ausübt, und wir finden es auf- srund solcher Erfahrungen begreiflich, dass ursprünglich wenig von einander differierende Lebewesen, wenn sie verschiedenen Lebens- bedingungen unterworfen wurden, sich allmählich nach sehr divergen- ten Richtungen weiter bilden mussten, vorausgesetzt, dass der ab- ändernde Einfluss lange Zeit hindurch gleichmäßig und gleichartig wirksam war. Natürlich ist es zur Zeit unmöglich, den Einfluss eines bestimmten chemisch-physikalischen Agens für die Formbildung genau abzuschätzen, aber es ist doch schon von Wert, wenn wir uns im allgemeinen eine Idee davon machen können, dass ein solcher Ein- fluss vorhanden ist, wenn wir auch nicht einmal ungefähr angeben können, wie weit er geht. Wilckens, Paläontologie der Haustiere. 26 os Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haustiere. 5. Die schweineartigen Tiere (Suiden). (Fortsetzung.) Der regelmäßige Fortschritt auf der Linie der angepassten Gruppe der Suiden führt uns nun zu der durch die Gattung Sus vertretenen dritten Stufe. Kowalevsky kennzeichnet (Palaeont. N. F. II. 3, S. 192) diese Stufe wie folgt. An den Füßen eines der jetzt lebenden Suiden bemerken wir, dass die Mittelzeken im Vergleiche zu den Seitenzehen sehr überwie- gend entwickelt sind; die Seitenzehen berühren fast gar nicht oder nur sehr wenig den Boden und die Mittelzehen haben die ganze Last des Körpers zu tragen. Diese Mittelzehen aber haben sich — ent- sprechend ihrer gesteigerten Arbeit — auch besser an die untere Fläche des Carpus und Tarsus angepasst, als es bei den Paläochöri- den der Fall war. Das sich vergrößernde Metacarpale III hat bei Sus nicht nur das Metacarpale II auf die Seite gedrängt, sondern es hat sich auch eines Teils des Trapezoids als Stütze bemächtigt, so dass das Metacarpale II nur die Hälfte der untern Fläche des Tra- pezoids für sich behält. Dementsprechend hat sich auch die Form der untern Fläche des Trapezoids von Palaeochoerus zu Sus geän- dert. Von einem unten flachen Knochen, wie er noch bei Palaeo- choerus ist, hat er bei Sus eine nach unten keilförmig zugespitzte Gestalt angenommen, wobei die ulnare Seite des Keils durch das Metacarpale III, die radiale durch das Metacarpale II eingenommen ist. Auf welche Weise dieser Vorgang des Uebertrittes des Meta- carpale III auf einen ihm fremden Karpalknochen zu denken ist, sei schwer zu entscheiden. Das Metacarpale IV ist bei den Schweinen auch bedeutend gewachsen im Vergleiche mit Choerotherium, so dass die 5. Zehe — anstatt wie bei Choerotherium an die untere Fläche des Uneiforme zu kommen — ganz auf dessen äußern Rand verdrängt ist. Am Hinterfuße kommen dieselben Verhältnisse vor wie am Vor- derfuße: das Metatarsale III ist nicht mehr auf das Cuneiforme II be- schränkt, sondern es breitet sich fast über das ganze Cuneiforme II aus; das Metatarsale 11 ist klein und hat den größten Teil seiner typischen Fläche vom Ouneiforme II eingebüßt; es wird hauptsächlich vom Cuneiforme I getragen. Die unteren Enden der Mittelfußknochen zeigen eine stark ausgebildete Rolle für die ersten Zehenglieder. Die Gattung Sus, welche unmittelbar der Gattung Hyotherium folgt, gehört der obermioeänen Schicht an; ihr Gebiss ist ausgezeichnet durch die schräg, fast wagrecht stehenden Schneidezähne des Unter- kiefers, durch die verlängerten und gekrümmten Eckzähne (Hauer) und durch die zahlreichen kleinen Nebenhöcker der Molaren, welche 264 Wilekens, Paläontologie der Haustiere. die Haupthöcker derselben umgeben. Die Zahnformel ist: Schneide- =: Eckzähne rn Prämolaren“ , Molaren = die Eckzähne sind von den Prämolaren durch eine Zahnlücke (Barre, diastema) ge- trennt. Die miocänen Formen von Sus setzen sich durch das Pliocän und das Diluvium unmittelbar bis zur Gegenwart fort; sie sind durch zahlreiche Arten vertreten, deren Geschlechtsfolge oder genetischer Zusammenhang jedoch keineswegs festgestellt ist. Cuvier (a. a. O. III 242) hat nur zwei oder drei Backenzähne vom Wildschwein kennen gelernt, die ihm versteinert zu sein schienen, ferner einen Hauer aus einer Anschwemmung der Seine; diese Zähne stammen aus einer sehr jungen Erdschicht und unterschieden sich durchaus nicht von den entsprechenden Zähnen lebender Schweine. Ueber die Zeichnung eines Unterkiefers vom Schwein, den Bourdet in einer sehr festen Molasse aus der Nagelfluh des Berges la Moliere am Neuenburgersee gefunden hatte, bemerkt Cuvier, dass die Molasse — ebenso wie die Ligniten der Schweiz — als eine beinahe zeitgenössische Bildung zu betrachten sei und den französischen Grob- kalken parallel erscheint, denn man fände in gewissen Molassen nur die Knochen sehr moderner Tiere. C. sagt: ihm sei nicht bekannt, dass Ueberreste von Schweinen jemals in Gesellschaft von solchen der Elefanten gefunden seien. Als Cuvier dies schrieb (in der 4. Auflage seiner „Ossem. foss.“ von 1834) hatte J. J. Kaup (Description d’Ossements foss. au Museum de Darmstadt, 1832, p. 8) bereits Kenntnis gegeben von drei fossilen Schweinearten, welche in dem tertiären Sande von Eppelsheim in Rheinhessen gefunden wurden, vermengt mit Ueberresten von Dino- therium, Tapir, Tetracaulodon, Rhinoceros u. a. Diese drei Arten nannte K. Sus antiguus, 8. palaeochoerus und S. antediluvianus. Von der ersten und größten Art kannte K., außer zahlreichen einzelnen Zähnen, ein Sprungbein und die fast vollständige rechte Hälfte eines Unterkiefers, dem ein Teil des dritten Molarzahnes und die Schneide- zähne fehlten. Dieser Unterkiefer unterschied sich von dem des Sus Serofa, des 8. priscus und S. Arvernensis durch seine bedeutende Größe, durch den Schnabelfortsatz (Proc. coronoid.), der sich senk- recht erhebt, während er bei $. Scerofa schräg ansteigt, sowie durch die Knochenfuge (Symphysis), die geformt ist wie bei Rhinoceros tichorhinus. Das Sprungbein war durchaus dem des heutigen Schweins ähnlich, nur viel größer ?). zähne 1) H. v. Meyer (Georgensgmünd S. 56) fügt dieser Beschreibung hinzu: dass in den drei hinteren Backenzähnen die Kronenteile ein weniger kompli- ziertes Ansehen haben und unter den lebenden mehr auf Dicotyles und Babi- russa kommen, worin die Haupthügelpaare, Nebenhügel und Thäler sich deut- licher unterscheiden. 5. Die schweineartigen Tiere. 265 Nach dem Ueberreste von S. palaeochoerus (bestehend aus der rechten Hälfte eines Unterkiefers mit fünf Backenzähnen) urteilt K., dass diese Art ein wenig größer gewesen sei als S. Scrofa und 8. Arvernensis; ihre Backenzähne unterscheiden sich von denen der letz- teren hauptsächlich durch ihre Größenverhältnisse. Von S. antedilu- vianus kannte K. nur zwei erste linke Molarzähne, je einen aus dem Oberkiefer und dem Unterkiefer; nach ihrer geringen Größe gehören sie einer Art an, welche kaum größer gewesen ist als Babirussa. In den Miocänschichten Frankreichs sind zahlreiche Ueber- reste von fossilen Schweinen aufgefunden worden, aus denen eine große Zahl von Arten gebildet ist; die meisten derselben sind als zweifelhafte oder ungenügend begründete anzusehen. Die bis zum Jahre 1853 in der Literatur bekannt gewordenen sind von Pictet (Paleont. p. 324) aufgezählt. Zu den in betreff ihrer Artselbständig- keit weniger bestrittenen Formen gehören: $. belsiacus Gervais (Pal&ont. frane. p. 179) aus dem Süßwasserkalk von Montabusard bei Orleans und Sus major Gervais (a.a. ©. S. 178) aus dem miocänen Hipparion-Lager von Cueuron (Vaucluse), sehr ähnlich, aber größer als der im folgenden erwähnte Sus provincialis aus dem Pliocän. Bevor wir aber die pliocänen Schweine Europas kennen lernen, haben wir in betracht zu ziehen die tertiären Formen der Gattung Sus aus den siwalischen Hügeln Indiens. Falconer hat (a. a. O. I S. 508 u. ff.) die siwalischen Schweine beschrieben und in der „Fauna antiqua Sivalensis“ abgebildet. Die älteste Form ist wohl Sus (Hippohyus) sivalensis. Ein fast vollstän- diger Schädel dieses Tieres, sowie das Gebiss, stimmen im wesent- lichen überein mit dem von Sus Scrofa, dessen Größe Hippohyus je- doch nicht erreichte. Zahlreiche Ueberreste wurden gefunden von Sus giganteus und S. Hysudricus, deren Gebiss dem von S. Serofa ähnlich zu sein scheint. Unter dem Namen Sus pusillus beschrieb F. ein Bruchstück von dem rechten Aste des Unterkiefers einer kleinen Schweineart von unbestimmter Gattung, die aber nicht Hippohyus war. In den Höhlen von Gower ist 8. Scrofa reichlich vertreten in Gesell- schaft von Elephas antiquus und Bhinoceros hemitoechus. Die siwalischen Schweine haben eine sehr ausführliche Beschrei- bung erfahren durch R. Lydekker („Siwalik and Narbada Bunodont Suina“ in Mem. of the geol. Survey of India, ser. X, vol. III, pt. 2, 1884). L. trennt innerhalb der Familie der Suiden die Gattung Hippohyus von der Gattung Sus. Die allgemeine Form des Schädels von Hippohyus ist- im wesentlichen die eines Schweines: die Stirn- beine sind jedoch ungewöhnlich flach und die Nasenbeine breit, wäh- rend der Umriss von der Kaufläche der Backenzähne mehr konvex ist als bei irgend einem Schwein; der Gaumen dehnt sich beträcht- lich aus hinter dem dritten obern Molarzahn. Der Vorderteil des Schädels ist sehr kurz infolge der geringen Größe der Eckzähne und 266 Wilekens, Paläontologie der Haustiere. der Abwesenheit einer Barre. Der Eekzahn gleicht einem kleinen Schneidezahn; er ragt nach außen von den Schneidezähnen nicht vor. Im allgemeinen ist die Form von Fippohyus verschieden von Sus. In gewissen Merkmalen des Schädels und in der Anordnung der Zähne zeigt jene Gattung starke Anzeichen der Verwandtschaft mit Hyo- therium. In der Struktur seiner Molaren ist sie jedoch sehr verschieden von dieser Gattung; Arten von Sus mit verhältnismäßig einfachen Molaren, wie $. titan (eine neue von L. aufgestellte Art), nehmen in dieser Beziehung eine mittlere Stellung ein zwischen Hyotherium und Hippohyus. Die Molaren zeigen eine sehr beachtenswerte Aehnlich- keit mit denen von Hippopotamus, aber sie unterscheiden sich gänz- lich dureh die gleichmäßige Entwieklung der Längs- und Querthäler, im Vergleiche zu der Verkleinerung bei ersterem und zu der Ver- größerung bei letzterem. In dieser Beziehung besteht eine entfernte Aehnliehkeit mit den Molaren des Pferdes der gegenwärtigen Gattung, die jedoch irgendwelche Verwandtschaft zwischen beiden nicht an- zeigen kann; wenn der Gattungsname von Hippohyus nach dieser Aehnlichkeit gegeben wurde, so könne man dagegen starke Einwen- dungen erheben. In anderer Richtung zeigen die Molaren von Hippo- hyus eine entschiedene Annäherung an diejenigen emiger halbmond- zähniger Paarhufer. So ist der Plan der Struktur der oberen Molaren im wesentlichen derselbe bei Hemimeryx oder Hyopotamus. L. hält Hippohyus für den Spross eines schweineähnlichen Stammes, der ohne Nachkommen ausgestorben ist. Sus giganteus Falc. trennt L. in zwei Arten; die größere, deren Schädel eine bemerkenswerte Achnlichkeit zeigt mit dem des javani- schen S. vittatus, belässt er unter gleichem Namen; von der kleinern Art beschrieb L. männliche und weibliche Schädel mit Zähnen unter dem Namen Sus Falconeri (a. a. ©. S. 32); er hält diese Art für ver- schieden von allen lebenden Arten der Gattung Sus (einschließlich Potamochoerus), sowohl in Rücksicht auf die äußerste Zusammen- gesetztheit (eomplexity) in der Struktur des Backenzahngebisses, wie auf die Form des Schädels, die außerordentlich verlängert ist. Sus hysudrieus Fale. und Caut. hält L. für so ähnlich dem Sus palaeochoerus Kaup’s, dass er die Uebereinstimmung beider Arten in wesentlichen Merkmalen für möglich hält. Sus pusillus F ale. beschrieb L. (a. a. ©. S. 57) unter dem Namen Sanitherium Schlagintweiti H. von Meyer!. Die Molaren (von dem Bruchstück eines rechten Unterkieferastes aus den siwalischen Hügeln 1) Eine von H. v. Meyer aufgestellte Gattung Sanitherium — die nur auf wenige Bruchstücke des Unterkiefers und unterer Molaren aus den siwali- schen Hügeln gegründet ist — habe ich in der deutschen Literatur nicht kennen gelernt. Lydekker selbst gibt keine Quelle an für die angeblich von Meyer benannte Gattung. 5. Die schweineartigen Tiere. 267 von Küshalghar) sollen eine größere Aehnlichkeit haben mit Hippo- hyus als mit Sus. Außer diesen schon von Faleoner aufgestellten Arten hat Ly- dekker noch zwei neue errichtet unter dem Namen Sus titan und S. punjabiensis. Die erste Art stützt sich auf einen fast vollständigen Schädel eines sehr großen Schweines, dessen Molaren auf eine Ver- wandtschaft hinweisen mit Sus antiquus Kaup, 8. erymanthius, 8. major und S. provincialis; es soll nach der Struktur seiner Prämolaren im Unterkiefer eine mittlere Stellung einnehmen zwischen jenen euro- päischen Arten und S. giganteus; die Besonderheit — gegenüber jenen europäischen Arten — besteht hauptsächlich in der stärkern Ent- wieklung der Eekzähne bei $. titan, die ein jüngeres geologisches Alter als bei jenen anzeigen. — Sus punjabiensis ist errichtet auf dem Unterkieferbruchstück eines kleinen siwalischen Schweines von der Größe eines Hasen; L. hält es für höchst wahrscheinlich, dass diese Art der Vorfahr von $. salvanius gewesen sei. Den Plioeänschichten gehört an die schon genannte Art Sus Arvernensis (sanglier d’Auvergne), die von Croizet und Jobert („Recherches sur les Ossem. foss. du Dep. du Puy-de-Dome“*, 1828, T. 1, p. 157) errichtet wurde auf dem rechten Ober- und Unter- kieferstück eines jungen Tieres aus einer Höhle der Umgegend von Montpellier. Diese Kiefer (mit vier oberen und fünf unteren Backen- zähnen) zeigen die größte Aehnliehkeit mit denen des lebenden Wild- schweines; aus der größern Annäherung der Zahnfächer der Schneide- zähne zu denen des Eckzahnes schließen C. u. J., dass die Schnauze dieses Tieres kürzer gewesen sei als die der lebenden Art; dagegen ist der Unterkiefer ein wenig höher gewesen. Die Kürze des Schä- dels ergibt sich noch deutlicher aus der Form des Oberkiefers; das Unteraugenhöhlenloch steht bei einem Schwein desselben Alters ober- halb des 4. Backenzahnes (des 1. Prämolaren) und rückt selbst ein wenig über den fünften, während es in dem Fossil aus den jüngsten Tertiärschiehten der Auvergne wohl erkennbar über dem dritten Backenzahne (des 2. Prämolaren) steht; auch hat bei dem letztern der Oberkiefer seine Anschwellung für den Ursprung des Jochbogens unmittelbar über dem 4. Backenzahne (1. Prämolaren), während am lebenden Schweine diese Anschwellung gegen den 5. Backenzahn (1. Molar) rückt. Aus dieser Anordnung ergibt sich, dass S. Arver- nensis, wie das Schwein von Siam, ein viel kürzeres Gesicht gehabt hat als das lebende Wildschwein; im übrigen scheinen die Größen- verhältnisse des Auvergner Fossils beinahe die gleichen gewesen zu sein wie die des heutigen Wildschweines. Zu den pliocänen Schweinen gehört noch Sus provincialis Ger- vais (a. a. OÖ. 8. 177) aus dem Meeressande von Montpellier, von zweifelhafter Stellung bezw. unklarer Aehnlichkeit mit anderen Formen, sowie Sus erymanthius, von dem J. Roth und A. Wagner („Die 268 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. fossilen Knochen-Ueberreste von Pikermi in Griechenland in den Ab- handlungen der k. bayr. Akad., 1854, S. 48) Unterkiefer-Bruchstücke mit Zähnen in Pikermi gefunden hatten; R. und W. vermuten in die- sen Ueberresten eine eigentümliche Art, die in nächster Verwandt- schaft mit Sus antiquus Kaup steht; nach einem später gefundenen Oberkieferstück aber bringen sie das erymanthische Schwein in nächste Verwandtschaft zum Warzenschwein (Phacochoerus). Gaudry („Animaux foss. et Geol. de l’Attique“, 1862, p. 235) hat von Sus erymanthius sechs Schädel gesammelt und eine große Zahl anderer Stücke. Die Gebissformel ist: Schneidezähne —, Eck- zähne : ; Prämolaren = Molaren — Die Schneidezähne gleichen denen der anderen Wildschweine. Alle oberen und unteren Eekzähne sind kleiner; G. fand auch keinen vierten Prämolarzahn im Unter- kiefer. Die Prämolaren gleichen denen von S. Serofa; die Molaren sind dicker im Verhältnis zu ihrer Länge und ihre Höcker sind viel- leieht ein wenig minder verwirrt als in dieser Art und weniger klar als beim Maskenschwein. Der Schädel ist um ein Drittel größer als der von $. Scerofa; er ist weniger verengt in der Scheitelgegend; die Scheitelfläche macht mit der Hinterhauptsfläche einen spitzern Winkel; die Oberkiefer bilden hinter dem Ursprunge der Eckzähne eine sehr starke Hervorragung. Der Jochbogen ist außerordentlich verdickt an seinem Wangenteil; sein Schläfenteil steigt nach hinten an und ist verdoppelt durch eine Ausbreitung des Hinterhauptsbeines. Der Gau- men ist breit; die Gaumenbeine sind kurz, die Oberkieferbeine und - die Nasenbeine erscheinen verlängert. Der Unterkiefer hat eine lange Knochenfuge (Symphyse) und ist oben ausgehöhlt; er ist so wenig nach vorn gekrümmt, dass er kein Kinn hat; es fehlt die Verbreite- rung an der Stelle, wo sich die Eekzähne einpflanzen. Die Glieder- knochen zeigen dieselben Eigentümlichkeiten der Form wie bei den gegenwärtigen Arten, aber sie sind dieker im Verhältnis zu ihrer Länge und sie zeigen Tiere an, die weniger groß sind als man nach den Maßen ihrer Schädel erwarten sollte. Das erymanthische Wild- schwein muss noch gedrungener gebaut (plus massive) gewesen sein als unsere lebenden Wildsehweine. Uebrigens bemerkt G., dass der fossile S. erymanthius keine Aehnlichkeit gehabt habe mit dem ery- manthischen Eber der griechischen Mythologie. Gaudry fügt — im Gegensatze zu Wagner — noch hinzu, dass das fossile erymanthi- sche Schwein ein wahrer Sus sei; man kann es daher nicht ver- einigen mit Phacochoerus, Babirussa und Dicotyles; G. betrachtet jenes als vermittelnden Typus, nieht nur mit Rücksicht auf sein Gebiss, sondern auf das Ganze seiner Eigentümliehkeiten, so dass er nicht zu sagen weiß, ob es mehr dem Sus Serofa oder den Maskenschweinen (Sus larvatus und 8. penieillatus) ähnlich sei. 5. Die schweineartigen Tiere. 269 Unter den Schweinen des Diluviums erwähne ich zunächst Sus priscus von Goldfuß („Osteol. Beiträge zur Kenntnis verschiedener Säugetiere der Vorwelt“ in Nova Acta Acad. Leop. Carol., T. XI, ps. 2, 1823, 8.449), errichtet auf einem Kinnstück ohne Zähne aus einem mergelartigen Letten der Sundwiger Höhle; die Schnauze des zuge- hörigen fossilen Schweines soll eine beträchtlichere Länge und eine viel geringere Breite gehabt haben als die jetzt lebenden Schweine. Giebel („Fauna der Vorwelt“, 1847, I, 173) bemerkt mit Recht zu dieser Schlussfolgerung, dass man den Berechnungen der Kiefer- und Schädellänge aus dem Kinnstück des Unterkiefers kein großes Zu- trauen schenken dürfe, weil dieser Teil innerhalb der Arten einer Gattung sehr verschieden entwickelt sei und selbst individuelle Eigen- tümlichkeiten darbiete. Ein diluviales Schwein ist auch Sus Serofa fossilis Herm. v. Meyer’s (Palaeologica S. 80), welches sich von dem gegenwärtigen Wildschwein kaum unterscheidet; Ueberreste desselben findet man in den Knochenhöhlen Europas, in Knochenbreceeien und Torfmooren. Buckland („Reliquiae Diluvianae“, 1824, p. 59) erwähnt aus der Höhle von Hutton in den Mendiphügeln Zähne und vier Zoll lange Hauer von einem großen Schwein, die zusammen mit Ueberresten vom Mammut, Höhlenbär u. s. w. gefunden wurden. Owen (British Foss. Mamm., p. 426) beschrieb den fossilen Schädel eines Wild- schweines aus der Spalte eines Sandsteinbruches der Insel Portland; er nannte dieses Schwein Sus Scrofa, wie das der Gegenwart, und er setzte diesem gleich: Sus Serofa fossilis H. v. M., Sus priscus Gold- fuß, Sus Arvernensis (?) Croizet und Jobert und das fossile Sehwein von Buckland. Der oben erwähnte Schädel von Portland erscheint nach der Abbildung ziemlich vollständig und O. erklärt ihn für unzweifelhaft gleich (identical) dem der lebenden Art des europäi- schen Wildschweines. An dieser Stelle möchte ich noch einreihen das fossile Zwerg- schwein Sus Scrofa nanus, von dem Nehring (Sitzungsber. d. Ge- sellsch. naturf. Freunde zu Berlin, 1884, Nr. 1) einen Schädel aus dem Torfmoor von Tribsees in Neu - Vorpommern beschrieb; er meint, dass es sich wahrscheinlich um eine dürftig genährte, verkümmerte Rasse primitiver Hausschweine handelt, welche ein halbwildes, von menschlicher Zucht und Pflege wenig beeinflusstes Dasein führte. Unter dem Namen Sus priscus beschrieben Marcel de Serres, Dubreuil und Jean-Jean (Rech. sur les ossem. humatiles des eavernes de Lunel-Vieil, 1839, p. 134) den fast vollständigen Schädel und zahlreiche Unterkiefer verschiedenen Alters, dessen zugehöriges Tier sie dem Maskenschweine (Sus larvatus) nahe stellen (nach Gie- bel und Pictet). Jäger beschrieb (a. a. O. S. 169) das Bruchstück eines fossilen Unterkiefers mit vier mittleren Schneidezähnen, dem rechten Eekzahn I70 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. und dem rechten vordern Prämolarzahn, welches im roten Lehm- boden am Sulzerrain bei Kannstadt zusammen mit Knochen vom Mammut gefunden wurde; die Größe und Form der Zähne stimmt ganz mit denen eines Wildschweines überein. Jäger erkannte das Bruchstück einem Sus primigenius zu, weil es ihm zweckmäßig schien diese Benennung denjenigen Tieren zu geben, welche als Stammrasse der gegenwärtigen Arten unter den untergegangenen Tieren der Vor- welt vorkommen und sich bis in die neueste Zeit behauptet haben. In einer Anmerkung zu S. 170 erklärte Jäger, dass er später noch Gelegenheit hatte jenen fossilen Ueberrest mit dem Schädel von Sus Aeliani und S. larvatus zu vergleichen, wobei nun die Aehnlichkeit mit letzterem größer erscheine, als mit irgend einem der anderen Schweine, mit Ausnahme des gewöhnlichen Wildschweines. Harlan (Silliman’s Amerie. Journ. of se. and arts, 1842, vol. 43, p- 143) erwähnt aus den Funden von Brunswick Canal in Georgia den linken Ast eines Unterkiefers mit 3 Backenzähnen und den Teil eines vierten, die stark abgerieben waren; das Bruchstück scheint ihm eine gewisse Uebereinstimmung zu haben mit dem entsprechen- den Teile von Sus babirussa, aber diese Art sei kleiner und komme auf dem amerikanischen Festlande auch nicht vor; H. nannte das zugehörige Tier Sus Americanus. H. v. Meyer (Neues Jahrb. von Leonhard und Bronn, 1846, S. 466) beschrieb aus Georgensmünd in Bayern sechs obere Eckzähne mit einem streifig rauhen Schmelzband (das sich von der äußersten Spitze bis gegen das Wurzelende hinzieht) und von verschiedener, aber ungewöhnlicher Größe; sie haben Aehnlichkeit mit denen von Sus larvatus und inbetreff der Stärke mit den oberen Eckzähnen von Phacochoerus. M. gab dem zugehörigen Tiere den neuen Gattungs- namen Calydonius und unterschied nach der Größe jener Eckzähne zwei Arten: CO. trux und tener. Ich erwähne diese Gattung hier wegen ihrer zweifelhaften Stellung; nach ihrem Fundorte würde sie sich den tertiären Formen anschließen. Ebenso zweifelhaft ist die Gattung Hyops von Leconte (Silli- man’s Journ. 1848, t. V. S. 102), die ich nach Pictet (Paleont. S. 326) anführe, der den Sehädel als mehr abgeplattet bezeichnet und von Verschiedenheiten in den Zähnen und Gliederknochen spricht im Vergleiche zu den Pekaris, denen die Gattung Hyops sich zunächst anschließt. Die Ueberreste der Art H. depressifrons wurden von L. in einer Art Breeeie von Illinois gefunden. Endlich erwähne ich hier noch nach Forsyth-Major („die Tyrrhenis“ im Kosmos XII. 1883, S. 3) Sus Strozzii Menegh. !) aus dem obern Arnothale; F. M. sagt, dass es wahrscheinlich „ganz identisch“ sei mit Sus göganteus Fale. M. Wilckens (Wien). 4) Die Literatur darüber war mir nicht zugänglich. (Schluss folgt.) Tollin, Andreas Vesal. 211 Andreas Vesal. Von Lie. theol. Dr. med. hon. Henri Tollin, Prediger in Magdeburg. (Fortsetzung.) Ueber Joh. Günther’s von Andernach Verhältnis zu seinem Pariser Schüler ist viel gefabelt worden. Vesal’s berühmter Heraus- geber Albinus behauptet, Günther lobe 1536 des kaiserlichen Apothekers Sohn als einen Jüngling, der zu den höchsten Erwar- tungen berechtige. Und das thue er in der ersten Ausgabe seiner anatomischen Institutionen. Albrecht von Haller schreibt dem Albinus nach, dass S. 30 der Vorrede zu der 1536. Ausgabe seiner anatomischen Institutionen, welche Haller in Paris statt in Basel herauskommen lässt, Günther den Andreas Vesal als seinen glück- lichen und auch geschiekten Assistenten hervorhebe!). Allein jene ganze Vorrede hat nicht 30, sondern nur 12 Seiten; Seite 30 steht schon in der Mitte des ersten Buches und handelt von den Mündungen der Arterien, vom Gebrauch der dicken Eingeweide, der Mesenterien, des glandulösen Körpers. Von Vesal kommt weder in der Vorrede noch im anatomischen Kompendium selber 1536 das geringste vor. Auch wäre es taktlos gewesen, wenn der königliche Pariser Professor Günther von Andernach eben in jener Vorrede, die er 1536 an den königlichen französischen Präsidenten Dr. Nicolas Quelain richtet, erst Franz I. als den auserwähltesten Kenner der Geister (exqui- situs ingeniorum aestimator p. 11) feiert, und dann als seinen eignen begabtesten Schüler einen Mann hervorheben wollte, der dem Lager des mit Franz grade damals im Kriege befindlichen Kaisers Karl V. angehörte. Erst musste der Krieg (1536—1538) beendet sein, ehe Günther zu jener öffentlichen Anerkennung eines „Franzosenfeindes“ schreiten konnte. Auch gab ihm den Anlass dazu erst Vesal’s Aus- gabe seines, des Günther’schen Handbuchs. Daher denn auch nicht in der Vorrede an Quelain, sondern 1539, nachdem er die Stellung in Paris aufgegeben, aus Metz, in der Widmung an Jacob Ebulin, den Leibarzt des Erzbischofs von Köln, rühmt der Andernacher den Niederländer Vesal neben dem Spanier Servet, beide Unterthanen des Kaisers. Und als dann Vesal auf das volle Lob aus dem Munde Günther’s mit Spott antwortet, was thut der Andernacher da? Mir ist nicht be- kannt geworden, dass er Scheltwort auf Scheltwort gesetzt hätte. Seine Rache war feiner und edler. In die späteren Ausgaben seiner anatomischen Institutionen nahm er Vesal’s empfehlende Vorrede zur 4) Bibl. anatom. T. I. 174. In der ed. 1774 T.1I 204 war Haller noch nicht der falschen Fährte gefolgt. 2372 Tollin, Andreas Vesal. 1538 ger Ausgabe ausdrücklich auf, aber an die Stelle der Widmung an Ebulin, die den Vesal so lobte, ließ er die Widmung an Que- lain treten, die den Vesal verschwieg. Und in dieser Zusammen- setzung treffen wir Günther’s Lehrbuch noch 11 Jahre nach seinem Tode, in der Ausgabe von 1585 an. Vesal hatte alles gethan, um seinen greisen Lehrer in die Arena zu locken. Günther aber verschmähte den Kampf mit dem Knaben. Anders gestaltete sich die Sache bei dem kampfesfrohen Jacob Sylvius. Hier artete das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler gradezu in eine öffentliche Fehde aus. Doch auch hier nicht also- bald. Der Verlauf war folgender: Wie alle Lehrer der Anatomie durch das ganze Mittelalter das beliebte Buch Galen’s über die Zweckmäßigkeit der Glieder (de usu partium) !) mit anatomi- schen Experimenten zu begleiten pflegten ?), so hat es Jacob Syl- vius auch gethan. Er begann mit der Sektion von Tieren, da mensch- liche Leichname nur spärlich und ausnahmsweise der Anatomie über- lassen wurden. Der Chirurge schnitt. Der Professor demonstrierte. Der Student Vesal ärgerte sich über der Barbiere Ungeschick. Die acht Muskeln des Unterleibes wurden vorgezeigt, aber schändlich zer- rissen und in verkehrter Reihenfolge). Der Student Vesal scheint laut seine Glossen losgelassen zu haben. Die Folge war, dass Syl- vius keine anderen Muskeln mehr vorzeigen ließ. Aber auch keinen Knochen mehr. Nerven, Venen, Arterien wurden demonstriert. Jedoch niemals in der genauen Reihenfolge (exactam seriem). Auch die Eingeweide ging man durch, aber nur oberflächlich. Gar zu un- erfahren zeigten sich die Chirurgen. Da riss Vesal die Geduld. Die Kommilitonen stachelten ihn an. Es war beim dritten anatomischen Experiment ®). Er vertrieb die Bartscherer vom Tisch 5), nahm das Seziermesser selbst in die Hand — der erste Mediziner, der das wie- der wagte — und suchte die inneren Teile sorgfältiger bloß zu legen. Das zweite mal versuchte er die Muskeln der Hand nachzuweisen. Es war zweifellos ein Uebergriff in die Rechte seines Lehrers, des berühmten und nie genug gefeierten Jacob Sylvius®): eine heil- same Revolution im Namen der Wissenschaft, eine Selbsthilfe, ohne welche die Anatomie niemals Erfolg gehabt hätte”). Aber es ist dem 4) Servet schreibt noch 1553 in den Restitutio p. 220: Excellentissima hujus figurae et singularium partium munera, lege apud Galenum in libris: de usu partium humani corporis. 2) S. meinen Aufsatz: „Anleitung zum medizinischen Studium“ in Vir- chow’s Archiv 1880 S. 63. vgl. 74 ff. 3) Oeto abdominis musculos turpiter perversoque ordine laceratos. 4) Tertiam, cui unguam mihi adesse obtigit seetionem. 5) Tonsoribus ab opere jam relegatis. 6) Sub celebri ac nunquam satis laudato viro Jacobo Sylvio versatus. 7) Id studium neutiquam successisset, si, quum Parisiis medieinae operam darem, huie negotio manus non admovissem ipse. Tollin, Andreas Vesal. 273 Sylvius nicht zu verdenken, dass er diese öffentliche Bloßstellung übelnahm. Sylvius weigerte sich, Galen’s Buch von den Teilen weiter zu interpretieren, da, was nun folgt, zu schwer sei, „als dass wir Kandidaten der Medizin es verstehen könnten: er würde also nur sich selbst und uns vergeblich damit quälen“ !). Im Jahre 1542 in der Widmung seines berühmten Buches an den Kaiser Karl V., der wir obige Thatsachen entnehmen, verallgemeinert Vesal das Benehmen seines Lehrers und berichtet, Sylvius, dem er durch sein ganzes Leben Achtung schuldig sei (mihi dum vivam observandus), begann (suo more legere) auf seine Weise uns die Bücher „von der Zweckmäßigkeit der Teile“ zu lesen. Sobald er nämlich in die Mitte des ersten Buches gekommen war, wo die Ana- tomie beginnt, brach er ab mit den Worten u. s. f. und begann das 4. Buch, was er bis zum 10. Teile durehnahm, ließ vom 10. bis 14. Teile aus, und las die anderen, je in 5—6 Tagen ein Buch“. Wenn Jacob Sylvius wirklich das immer so machte, dann wäre doch recht auffallend, dass all die anderen anatomischen Koryphäen, die mit Vesal zugleich damals bei Sylvius „de usu partium“ hörten — Michael Servet, Andreas Laguna, Konrad Gessner, Johannes Wier, Johannes Sturm, Charles Etienne, Jo. Perellus, Ludw. Levasseur, Hieronymus Montuus, Am- broise Par& u. a. — von jener seltsamen Mode des Sylvius völlig schweigen. Uebrigens hielt dieses plötzliche Abbrechen der einen Vorlesung des Sylvius unsern Vesal nicht ab, auch andere Vorlesungen bei Sylvius zu hören, z. B. Galen’s Bücher von den Muskeln. Auch hier ließ Sylvius nie einen menschlichen Leichnam zergliedern, wohl aber bisweilen Teile von Hunden in das Kolleg bringen. In drei Tagen war immer eine solche Sektion beendet. Auch hier nahm der Chirurge?) die Einschnitte vor, der Professor diktierte und er- läuterte das Vorgezeigte. Und auch hier bewies Vesal denselben rücksichtslosen Eifer. Waren die Schüler entlassen und der Professor nach hause gegangen, geschah es wohl bisweilen (aliquoties), dass Sylvius wieder umkehrte und den Vesal mit. seinen Freunden noch am Seziertisch beschäftigt fand (in dissecandi opere). Einstmals aber hatte Sylvius im Kolleg geäußert, er könne die feinen Häut- chen nicht finden, die sich der Oeffnung der Vena arteriosa und Aorta vorlegen (orificio praefectas). Als er andern Tages nach der Vor- 1) Atque ideo fore dixit, ut se pariter et nos frustra eruciaret. De Chynae radice p. 219. 2) Einer dieser Chirurgen des Jacob Sylvius war übrigens Ambroise Par&, von dem auch Vesal manches hätte lernen können. Dennoch verall- gemeinert er wieder und redet noch 1543 von den imperitissimis tonsoribus. 13 274 Tollin, Andreas Vesal. lesung zurückkehrte, zeigten ihm seine Schüler, und unter ihnen Vesal, jene vergeblich gesuchten (easdem ostenderunt) }). Es war ein reges Leben damals in Paris. Und diese Reg- samkeit stammte nicht erst von gestern. Vesal gewann vielmehr den Eindruck, als stamme die Neubelebung der medizinischen Wissen- schaft schon von dem Jahre 1525 2). Wäre Jacob Sylvius ein gutmütiger Mensch oder eine groß angelegte Natur gewesen, er hätte sich, grade wie Günther von Andernach, über seiner reichbegabten Schüler Fleiß, Eifer und Fortschritte innig freuen, ja sie öffentlich belobigen müssen ?). Statt dessen eifersüchtig bedacht auf seine Ehre und Vorteil, sah er in Vesal erst einen Rivalen, dann einen Feind, darauf einen Dummkopf und endlich, als er immer noch nicht schwieg, ein Ungeheuer. Alle Pietät eines klassischen Mediziners legte sich damals dem Galen zu Füßen. Als aber Vesal, in Konflikt mit seinem eidlichen Gelöbnis, von dem Bau des menschlichen Körpers (De corporis humani fabriea 1542) behauptete, Galen habe niemals (frische) mensch- liche Körper zergliedert, die Handvenen nur, wie sie bei den lebenden Menschen durchscheinen, gesehen und seine Bücher von dem Nutzen der Teile (de usu partium) aus anderen abgeschrieben, da er- srimmte Sylvius. Hielt er doch an der Ueberzeugung fest, die bis- her von allen als ein Evangelium beschworen wurde, dass Galen nichts irgendwie falsches überliefert habe (nihil a Galeno perperam esse traditum). Der Zorn des Sylvius brach jedoch in hellen Flammen aus, als der junge Vesal, übermütig, dem Sohne seines alten Freun- des Joachim Roelants, nebst anderen Empfehlungen, auch einen Brief „an die Zierde der Mediziner unseres Zeitalters“ (nostrae aetatis medicorum deeus) mitgegeben hatte, in welchem er an die gemein- samen Pariser Studien (de communibus studiis) erinnerte. Und da er unter Jacob Sylvius Medizin zu studieren begonnen hätte, so bat er den Professor, ihm doch schriftlich kund zu thun, falls ihm etwas in des achtundzwanzigjährigen Schülers Buch von dem Bau des mensch- lichen Körpers missfallen habe. Es lag ja in diesem Briefe, wenn nicht eine direkte Herausforderung gegen seinen Meister, so doch mindestens eine Unüberlegheit, da gleich in der Widmung seines Buches über den menschlichen Körperbau Vesal sich über Sylvius erlustigt hatte. Sylvius, der diese Widmung gelesen, gab dem jungen Roelants einen meisterhaften Brief mit, worin er es ab- 1) De Chynae radice p. 219.— Burggraeve p.21 verallgemeinert diesen einen Fall: reetifiait bien souvent les erreurs du maitre. 2) Paraphr. Rhazis Ep. nunc. schreibt er: Quod ferme duodeeim jam annos foelieissima quaeque medieorum ingenia etc. (1. Febr. 1537). 3) Die so oft und auch noch bei Häser II 31 sich findende Behauptung, Vesal habe „im Auftrage des Sylvius“ desselben Vorträge mit den Studie- renden wiederholt, ist nie bewiesen worden. Tollin, Andreas Vesal. 275 lehnte, Schiedsriehter zwischen Galen und Vesal zu sem — dazu besitze er weder Gelehrsamkeit noch Ansehen genug — es aber tief schmerzlich beklagte, in wie unwürdiger Weise (indignis modis) Vesal über den Galen herfalle (a me perstringi). Er wolle in seinen Vorlesungen zunächst keinen seiner Schüler etwas merken lassen, dass er mit Vesal nicht einig sei: denn er habe ihn sehr lieb und halte ihn hoch und möchte ihn sich als Freund be- wahren. Nur solle Vesal die falschen Anschuldigungen gegen Galen aufgeben. Auch habe er, Sylvius, Mühe, einige seiner in der Ana- tomie erfahrensten Schüler zurückzuhalten, die schon ihre Federn gegen Vesal vor Unmut spitzten, dass er den hohen Gönner aller Aerzte so durchhechle: deshalb er ihm dringend riete, doch so lange es noch Zeit sei, zu widerrufen. Vesal antwortet auf diesen ungestümen Angriff (nimio impetu) 1543 von Nymwegen aus, dass schon viele seiner Widersacher durch unermüdlich fortgesetzte eigne Beobachtungen auf seine, Vesal’s Seite getreten seien. Er hoffe ein gleiches von Sylvius. Jedenfalls sei er kein Knabe mehr, sondern Manns genug, um das, was sich ihm täglich neu als wahr bestätigt, aufrecht zu erhalten. Auch habe er nicht lügen gelernt noch seine Ueberzeugung zu verleugnen. Ferner seien die Italiener keineswegs, wie Sylvius vermute, geborne Feinde Galen’s, was doch schon die grade in Italien so zahlreich erschienenen Ausgaben Galen’s bewiesen. Auch sei es in Italien bei den Professoren grade so wenig wie anderwärts Sitte, selber Hand anzulegen, und er wisse dort keinen, den er seinen Lehrer oder auch nur seinen Helfer (neque praeceptorem neque adjutorem) nennen könne (De Chynae radice p. 56 seq.)!). Ebenso wenig freilich habe er seine anatomischen Kenntnisse entlehnt von dem (der Unfehlbarkeit Ga- len’s gewissen) Jacob Sylvius, wie dieser vorgeben möchte (p. 218). Ganz besonders aber musste es den Sylvius ärgern, dass Vesal ihm unterschob, auch er halte nicht alles für richtig im Galen (m Galeno non omnia esse sana): ein Trugschluss, den Vesal darum machte, weil Sylvius, um seinen Schüler wiederzugewinnen, ge- äußert hatte, er wünschte wohl, dass Vesal’s (ungedruckte) Bemer- kungen zum Galen sich in seinen (des Sylvius) Büchern befän- den (p. 277). Bei den Charakteren und den prinzipiellen Differenzen zwischen Jacob Sylvius und seinem Brüsseler Schüler kann es uns nicht wunder nehmen, dass keiner weichen wollte2). Der gestiefelte Pariser, 1) In dieser kleinen Schrift (290 Seiten) gibt Vesal p. 56—284 den Inhalt wieder von seiner Nymwegener Antwort an Jacob Sylvius. 2) Noch 156! in der Kritik des Faloppius (ed. 1564 p. 38) greift Vesal ihn als Fälscher (corruptionem libri Galeni) und blinden Nachsprecher Galen’s (p. 153 sq.) an. 18 * 276 Tollin, Andreas Vesal. in seiner Einleitung zu den anatomischen Büchern des Hippokrates und des Galen, 1551, vergaß völlig der alten Freundschaft und ge- meinsamen Arbeit und stellte seinen ehemaligen Schüler vor als ein Ungeheuer an Unwissenheit (monstrum ignorantiae), ein Beispiel der allergefährlichsten Gottlosigkeit, das mit seinem Pesthauch Europa zu vergiften drohe (impietatis exemplar pernitiosissimum, quod pesti- lentiali halitu Europam venenat), als einen vermessenen, unverschäm- ten, unwissenden, gottlosen, frechen Menschen, einen Esel (asellum), einen Widersacher der Wahrheit und der Natur (veritati naturaeque obstrepentem), einen höchst boshaften Verleumder, einen Hohnsprecher (momum), einen Wahnwitzigen ').. Vaesanus wurde bei den Gegnern die übliche Bezeichnung statt Vesalus..... $S. 6. Und in der That, wahnwitzig könnte es einem heute er- scheinen, wenn man Vesal und seine Schüler damals mit derselben Wut über die ausgegrabenen Leichen der christlichen Kirehhöfe herfallen sieht, mit der heute etwa die australischen Menschenfresser über ihre Beute herzufallen pflegen. Schon in Paris weiß er seine Mitschüler zu bewegen, nachts stundenlang mit ihm auf dem Fried- hofe der Unschuldigen (des innocents) Knochen auszugraben?). Oft hatten sie solche Haufen zusammengescharrt, dass sie nicht alles mit sich nehmen konnten. Auf dem Galgenberg aber (Montfaucon), wo die Gehenkten ?) hingen, galt es einst blutigen Kampf. Von einem einzigen Genossen begleitet, stritt er sich um die Leichen der Misse- thäter so heftig mit den wilden Hunden herum, dass er auf den Gedanken kam, die ganze Schar der sezierten Hunde wolle in diesem Augenblick Rache nehmen an seinem Leben. Und auch, als er 1536 Paris verlassen, auf der Universität Löwen*) und anderwärts, fuhr er in diesem an Wut grenzenden Eifer fort, der sich aus dem Mangel an Leichen bei den Anatomen der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts erklärt, grade wie in unseren Tagen der Hunger nach Menschenfleisch sich bei den Australnegern erklärt aus dem völligen Mangel an Fleischspeisen. Die Studenten beschwor Vesal, in den Kliniken auf die Aussprüche der Aerzte über die Krankheiten der Todeskandidaten wohl acht zu haben und sich genau Ort und Stunde ihrer Beerdigung zu merken, damit sie die 1) Luis Collado aus Valencia: In Galeni Pergameni liber de ossibus ad tirones. Valencia 1555. 8° ef. Morejon: Medieina espanola III. 51. 2) Und doch galt noch das salische Gesetz, welches den Ausgraber eines fremden menschlichen Leichnams so lange des Umgangs mit Menschen beraubt, bis ihn die Verwandten des Verstorbenen aufnehmen. 3) Einer sehr schönen Pariser Gehenkten erwähnt er Faloppii Examen p 145. 4) Chirurgia magna fol. 101b nennt er Grillus magister, als den Ver- treter der Heilmethode per potiones et nihil agit in loco affecto. Wahrschein- lich ist es Laurentius Gryllus 7 1561. Tollin, Andreas Vesal. ER, w Leiehname aus den Begräbnisstätten schnell ausgraben und zu ihrer Belehrung (suos in usus) ausnutzen könnten. Wie unbefriedigt m Paris noch sein Heißhunger nach mensch- lichen Leichen!) geblieben war, erhellt durch folgendem Vorfall aus dem Anfang seines zweiten Aufenthalts in Löwen. Schulter an Schulter mit seinem Freunde, dem berühmten Friesen Reinerus Gemma, lenkt er auch in Löwen seine Schritte zuerst nach dem Galgenberg. Als abschreckendes Beispiel für das. Volk hängen dort in langen Reihen die Missethäter, und der Wind spielt mit ihren Gebeinen. Da erblickt Vesal den Körper eines Räubers, der, vor einem Jahr am Strohfeuer leicht versengt, an den Pfahl geheftet war. Das gebratene Fleisch hatte den Vögeln so süß geschmeckt, dass das ganze Gefüge der Knochen entblößt und gebleicht auf das beste, nur durch die Zähigkeit der Ligamente zusammenhing. Solch einen Raub hatte Vesal sich lange schon vergeblich gewünscht. Von Gemma unterstützt, steigt er zum Galgen empor, reißt die Knochen der vorzüglichsten Glieder herunter und trägt sie verstohlenerweise (furtim) nach und nach in sein Haus. Zurück war nur noch mit dem Haupt die Brust geblieben und der Rumpf, mit eiserner Kette oben am Galgen befestigt, so fest, dass man sie ohne gewaltige Kraft- An- strengung nieht losreißen konnte. Auch reichte die Tageshelle nicht mehr hin, sie nach hause zu tragen. Der kühne Jüngling geht am Abend zum Thore hinaus, lässt sich die ganze Nacht über ausschließen. Und als die Mitternachtsstunde schlug, geht er allein, bei all den schrecklichen Schaustücken der von allen Seiten herunterhängenden Leichname vorüber (per horrida cadaverum undique suspensorum speetacula), steigt mit großer Mühe und außerordentlicher Geschick- lichkeit auf das Kreuz, reißt sämtliche Knochen mit Gewalt herunter, sammelt sie sorgfältig auf und begräbt sie fern ab in der Erde. Andern Tages trägt er sie heimlich, nach und nach, in sein Haus und macht ein Skelet daraus, das er sich angeblich von Paris mit- gebracht habe. Aus Furcht aber vor dem Präfekten vermachte er es darauf zum öffentlichen Gebrauch. Wahrlich, ein gefahrvolles Unter- nehmen, das er aber in Löwen selbst nieht zu wiederholen brauchte, da von der Zeit an der löwener Präfekt ihm die Leiehen der Hinge- richteten freigebig zur Zergliederung überließ. Vesal war es recht ernstlich darum zu thun, dass die Medizin aus dem Wahn befreit werde, als solle der Arzt bloß von inneren Zuständen heilen und brauche deshalb nur die inneren Teile zu kennen. Die Knochen, Muskeln, Nerven, Venen, Arterien und der ganze Zusammenhalt von Muskeln und Knochen ginge den Arzt nichts 1) Servet’s Standpunkt wird angedeutet Restitutio p. 241: Dolent enim animae sanctae, quando nos circa ipsarum cadavera idololatramus (Knochen abgöttisch verehren). Sancta res erat olim (einstmals) sepulchrum et invio- labilis (jetzt nicht mehr). 278 Tarenetzky, Kraniologie der großrussischen Bevölkerung. an, sondern den Chirurgen. Daher auch die Professoren der Anatomie die Leiber bloß aus Büchern und Abbildungen kennten und dann auf hohem Katheder sich spreizten mit großartigen Theorien, welche der Wirklichkeit nieht entsprächen. Und die Chirurgen anderseits seien so wenig der (lateinischen) Sprache mächtig, dass sie kaum verständen, was sie vorzeigen sollen und durch ihr Unge- schiek die Teile zerrissen. Die Aerzte sollten doch endlich aufhören, die Anfertigung der Medikamente dem Apotheker und die Sektion der Leichen dem wenig geachteten Barbier zu überlassen! So klagt Vesal dem Kaiser. Allein jene abscheuliche Mode (detestabilis ritus) blieb noch viele Jahrzehnte nach Vesal die allgemein herrschende. Und als später in Montpellier der berühmte Professor Rondelet es wagte, grade wie Vesal bei der Sektion selber Hand anzulegen, schrieb ihm Jean Canappe: „Sie wollen wirklich mit diesen behandschuhten schönen Händen, mit diesen Fingern voller Ringe Wunden verbinden u. =. f. Ueberlassen wir doch solche Praktiken den Chirurgen und den Bar- bieren!)“. In Paris galt die chirurgische „Fakultät“ für die ältere ?), für die Mutter der medizinischen. Aber der erste auch in gelehrten Kreisen hochgeachtete Chirurge war Vesal’s Pariser Mitschüler, des Jacob Sylvius Prosektor, Ambroise Pare. (Fortsetzung folgt.) A. Tarenetzky, Beiträge zur Kraniologie der großrussischen Bevölkerung der nördlichen und mittleren Gouvernements des europäischen Rußlands. St. Petersburg. 1384. 81 S. 8° (Memoires de l’Academie imp6riale des sciences de St. Petersbourg VII. Serie; Tome XXXII Nr. 13). Die vorliegende Arbeit bekundet einen bedeutenden Fortschritt auf dem Gebiet der Kraniologie Russlands, weil der Verfasser die aus bestimmten Gegenden des russischen Reichs herstammenden Schädel getrennt untersucht hat. Die jetzt russisch redende Bevölkerung des europäischen Russlands ist an vielen Orten stark gemischt; die koloni- sierenden Slaven fanden eine autochthone Bevölkerung vor. Dieser Umstand ist bisher zu wenig berücksichtigt worden. Als Material der Untersuchung diente die 600 Schädel umfassende kraniologische Sammlung der mediz.-chirurg. Akademie in St. Petersburg. Für die Einteilung und Ordnung wurde die administrative Einteilung des russi- schen Staats in Gouvernements und Kreise benutzt. Der Verfasser gibt zuerst eine kurze literarische Uebersicht über die bisher vorliegenden Leistungen auf dem Gebiet der russischen Kraniologie (S. 3—5), wobei er besonders hervorhebt, dass bei vielen 1) A. a. OÖ. Virchow’s Archiv, 1880, S. 76. 2) Chirurgos filios primogenitos nostrae facultatis, sagt der Dekan 1530. Tarenetzky, Kraniologie der großrussischen Bevölkerung. 279 der untersuchten Schädel die Herkunft nieht angegeben, und dass daher gar keine Möglichkeit vorliege, aus so unbestimmtem Material feste Schlüsse zu ziehen. Dann folgt ein Verzeichnis der vom Verfasser an seinen Schädeln genommenen Maße 58 (S. 5—11) und weiter die spezielle Beschrei- bung der Schädel (S. 11—39). Aus der Beschreibung der Maße hebe ich mit Rücksicht auf die später gegebenen Resultate hervor, dass der Verfasser seinen Bezeichnungen folgende Zahlenwerte zu grunde legt: I. Inbetreff des Breitenindex 1. dolichocephale Schädel bei einem Index bis zu 74,9 2. subdolichocephale Schädel bei einem Index von 75,0—77,9 3. subbrachycephale Schädel bei einem Index von 78,0—79,9 4. brachycephale Schädel bei einem Index von 80,0 und höher. II. Inbetreff des Höhenindex 1. hypsicephale Schädel bei einem Index über 75,0 2. orthocephale Schädel bei einem Index von 74,9— 70,0 3. platycephale (chamäcephale) Schädel bei einem Index von 69,9 u. darunter. III. Inbetreff des Nasenindex 1. leptorhine Schädel bei einem Index von 47,9 u. niedriger 2. mesorhine Schädel bei einem Index von 48,0—52,9 3. platyrhine Schädel bei einem Index von 53,0 und höher. IV. Inbetreff des Augenhöhlenindex 1. mikroseme Schädel bei einem Index von 82,9 u. niedriger 2. mesoseme Schädel bei einem Index von 83,0—88,9 3. megaseme Schädel bei einem Index von 89,0 und darüber. V. Inbetreff des Gesichtsindex (Kollmann) 1. chamäprosope Schädel bei einem Index von 89,9 2. leptoprosope Schädel bei einem Index von 90,0—100. Die spezielle Beschreibung der Schädel der einzelnen 9 Gouverne- ments müssen wir hier bei Seite lassen; jedoch ist dabei hervorzu- heben, dass keineswegs alle Schädel der oben erwähnten Kollektion untersucht worden, sondern im ganzen nur 184 (aus jedem Gouverne- ment 13—22), und zwar 160 männliche und 24 weibliche Schädel. Der Verfasser macht mit Recht aufmerksam, dass die Zahl von 13 bis 15 Schädel eines Gouvernements viel zu wenig sei, um die Schädel eines Gouvernements charakterisieren zu können, aber er führt wei- ter aus, dass es sich gar nicht um die Schädel der administrativen Distrikte (Gouvernements) handelte, sondern um großrussische Schädel im allgemeinen, und dass hiernach die Schädel eines Gouvernements nur Besonderheiten dastellen, welche einem bestimmten geographi- schen Distrikte angehörten. — Wir geben zuerst die Tabelle X im Auszuge (8.80 u. 81), Mittel- zahlen der Schädel aller 9 Gouvernements. hen Bevölkerung. I. Männliche Schädel. TUSSISC Tarenetzky, Kraniologie der groß 280 häd 3 | 8 des Schädels E 5 : E E — | E: | = | 2 | er) = e) © Sn Een 7 2 El :S o|'© nn In m En oo | ıM || © Gouvernement 5 za SB: 8 E 8 ze = | 3 a E $ e u | ei ® Ba lese az S eo le Le o\|o| 38 lo ke le ka een „I. a 3 El aoJale|5| = a 2|e oe | 2la82|4 SIE | 32|8|82 2 23 = > RS RE EN se al |o|2 | © ra jun a nn | © a | a © ® - fe] SS |: - © - 28 ea > | :©o = | :8 - R k . G Ei © © © N < elle ee | else ee re ee ee idee 1.| Archangel 18 18—50| 13721660 176 177 144 101 133) 5141 114 109 32\38|48 | 23 01 74,9 92,9 2.| Olonetz 45 18—51| 1403690 175.176 143 95 134 116 107 32 |38| 48 | 24 |80,5 175,4 [93,6 3.| Wologda 47 1741| 14581663 1751176 143 | 97 134 119,110 32 | 39 | 50 | 24 81,7 |76,1 |93,0 4.| Kostroma 232 18—44| 1416,639|1751177 142 1181108 33 | 39 | 50 | 23 181,1 175,4 [92,9 5.! Jaroslaw 22 18—46| 1413/67711761176 140 115109 32 !39| 50 | 24 179,5 175,5 195,0 6.| Twer 232 \18—48| 1450 659/174 175/144 11511091129) 33 ! 39 | 50 | 23 182,7 |75,8 191,6 7.| Nowgorod 47 118—50| 145116571175.1751142 1141109|128| 32 | 39 | 48 | 24 181,1 177,1 95,0 8. | St. Petersburg 14 17—52 1451'7031177/177144 447 110.129) 33 | 39 | 50 | 23 181,3 [75,7 193,0 9.| Pskow 13 |20—73, 1396 6611174 174/143 4491141129) 33 | 39 | 50 | 23 [82,1 [75,8 192,3 im Mittel | 1423 6681175.176.142' 11611091128| 32 | 39 | 49 | 23 81,1 |76,0 193,6 II. Weibliehe Schädel. Twer | 7120—83| 13041673 170 1711138 110105123] 32 | 38 | 48 | 24 181,1 Nowgorod 2 2551| 1366 655 179 1791138 9406/1041119] 32 | 39 | 45 | 23 77, 0 St. Petersburg 112 12 21—59| 1310597 17111711141 111/105 1124| 32 | 41 | 47 | 23 182,4 7 | 3123—28| 1400 675 174 175.139 1112\103 1121| 33 | 38 | 49 | 23 cd ‚8 im Mittel | 1345,650.173174,139 410/104 |122| 32 | 39 | 47 | 23 180,3 Tarenetzky, Kraniologie der großrussischen Bevölkerung. 281 Ein Blick auf diese Tabelle der Mittelzahlen lässt eine große Uebereinstimmung zwischen den Schädeln der angeführten Gouverne- ments erkennen; allein die Mittelzahlen haben nur einen relativen Wert (die Schwankungszahlen sind nicht berechnet. Ref.), sie dienen allenfalls zum Beweise, dass die Schädel einem und demselben Stamme angehören. Einen Aufschluss über die Unterschiede zwischen den Schädeln einzelner Gouvernements erhält man nur, wenn man die Schädel in Gruppen nach ihren hervorragendsten Eigenschaften ordnet). e= |d a | & 2 sl2lel: $l$lels else SEES Kor KORILe SRROH ESEL SETS e|=2 ss >»Is:S/H al2|23 3l2|s A| oo | SZ | als) & fe) S >. S = ee te ee Ben Eee ee Beireerejenne s|ı=:|22]>/3|°|=|°)=]|-|° 1. Archangel 1.2 1:51.21.90-2 1.13. 31 612.129) 09 2.| Olonetz le a ee ie az 3 3.) Wologda ı 111.610 2112| 4112| 3122112) .5 4.| Kostroma 20 3.842113.) 3 HOT Te 8 5.| Jaroslaw En 2 a Ah mon) 1 er 6. Twer —/— | 5/17] — |21| 1113| 9)—| 715 7. Nowgorod 3,212 3602 5 et 8.| St. Petersburg 1 2.101.210 .” 2 209 9.| Pskow —/— | 3/1101 - | 8/5 6 —[10| 3 Baer 8] 19 ]37] 96] ara 55 | 7193] 66 Wie ersichtlich, ist das Verhältnis der doliehocephalen Schädel zu den brachycephalen in den einzelnen Gouvernements ein sehr ver- schiedenes; je weiter vom Zentrum des russischen Reiches entfernt ein Gouvernement ist, um so mehr nimmt die Zahl der dolichoeephalen Schädel desselben zu. In den mittleren Gouvernements kommen dolicho- cephale gar nicht vor (Twer, Pskow), oder sind selten (Wologda, Nowgorod), dagegen ist die Zahl dolichoeephaler Schädel groß in Archangel. Nehmen wir an, sagt der Verfasser, dass der groß- russische Schädeltypus ursprünglich brachycephal war, so sind die erstgenannten Gouvernements diejenigen, in welcher der Typus sich am reinsten erhalten hat, in den nördlichen Gouvernements dagegen stark gemischt mit den Elementen der ansässigen (nicht slavischen) Bevölkerung. Die Schwankungen des Gesichtswinkels bestätigen das Gesagte: prognathe Schädel sind fast ausschließlich in Archangel, Olo- netz und St. Petersburg zu finden, orthognathe Schädel sind selten. — Weiter ist aus der Tabelle ersichtlich, dass ein hoch- 1) Die beiden Tabellen der Seite 41 u. 42 sind in eine vereinigt. 282 Tarenetzky, Kraniologie der großrussischen Bevölkerung. köpfiger Schädeltypus die Regel ist und zwar verbunden mit einem mehr oder weniger länglichen Gesicht. Orbital- Nasen- Index Index |S ala ls eBl°o|ıs|I5|2|> AIRIEISIET 1.| Archangel Bo ee ze el 2. Olonetz 81031244126 55.04 3. Wologda ru 8,65 4. Kostroma Sn Der ec Mel 5.| Jaroslaw 19 10) 7241 15.473 6.| Twer eh ol Maker sy at 7. Nowgorod Ta nen La Ra ao ee 82. 8%. Betersburg 1° 81, 44 2.1.1043 1 9.) Pskow 10:2 ae E 78|54|28 | 94 |44| 22 Geräumige Augenhöhlen sind selten, kleine und mittelgroße über- wiegen; durch Beständigkeit der Form sind die Gouvernements Twer und Pskow ausgezeichnet; die Nasenform anbelangend, so sind die meisten Schädel leptorhin. Darnach würden sich Twer und Pskow durch den reinsten und konstantesten großrussischen Schädeltypus auszeichnen: die Schädel brachycephal, hoch mit breitem oder mittelhoch mit schmälerem Ge- sicht. In absteigender Reihe in bezug auf die Reinheit des Typus würde Wologda, Nowgorod, Jaroslaw, Kostroma, Petersburg, Olonetz und Archangel folgen. Archangel weist die meisten Anzeichen einer Mischung des slavischen Typus mit fremden Elementen auf. Der Verfasser bespricht nun weiter die großrussischen männlichen Schädel (8. 44—54) und die großrussischen weiblichen Schädel (5. 54—60), wobei er die Resultate der oben (teilweise) reprodu- zierten Tabelle X mit den Resultaten derjenigen Forscher vergleicht, welche früher russische Schädel untersucht haben. Wir verweisen in bezug hierauf auf die oben mitgeteilte Tabelle und beschränken uns auf folgendes: der Verfasser sagt (8.54): eines der charakteristisch- sten Merkmale des weiblichen Schädels besteht in seinem im. Ver- gleich mit dem männlichen geringern Längenhöhenindex (bei Männern 76,0 — bei Weibern 73,4). Die Ursache dieses Unter- schiedes sieht er in der platten Form des Scheitels und der geringern vertikalen Höhe des weiblichen Schädels. Schließlich fasst er den Unterschied zwischen den männlichen und weiblichen (großrussischen) Schädeln zusammen: der weibliche Schädel besitzt eine etwas ge- vingere Kapazität als der männliche bei gleicher Schwere; das Ge- Tarenetzky, Kraniologie der großrussischen Bevölkerung. 285 sicht der weiblichen Schädel ist schmäler, die Oeffnungen des Gesichts, ebenso wie das Hinterhauptsloch sind relativ geräumiger, der Gaumen ist relativ breiter und länger, der Winkel des Unterkiefers größer als der entsprechende Teil des männlichen Schädels. Der Stirnteil des weiblichen Schädels ist in der Breite und Länge relativ stärker ent- wickelt, die Stirn mehr senkrecht gestellt; der Scheitel flacher und länger; das Hinterhaupt mehr gewölbt als am männlichen Schädel. Der weibliche Schädel ist in der Gegend der Tubera parietalia relaliv breiter und die Basis der Schädel relativ schmäler, als am männlichen Schädel. Die hintere Hälfte des weiblichen Schädels ist im Vergleich zur vordern Hälfte mehr in die Länge entwickelt; der Längenhöhen- index und Breitenhöhenindex des weiblichen Schädels sind geringer als die des männlichen; beim weiblichen Schädel überwiegt die Neigung zur Orthognathie. Endlich erörtert der Verfasser die Frage nach dem Typus des sroßrussischen Schädels und nach der Reinheit des Typus (8. 61 bis 68). Kopernitzky fand, dass die kleinrussischen Schädel den slavi- schen Typus am reinsten bewahrt hätten, dass dagegen die groß- russischen Schädel deutliche Zeichen einer starken Abweichung dar- böten; die Abweichungen sind: die bedeutende Schmalheit der Schädel, die ungewöhnlich breite Stirn, die stärkere Konvexität des Hinter- haupts, die länglich ovale Umgrenzung des Schädels in der Norma verticalis, das mehr ovale Foramen oce. magnum und endlich das breite Gesicht. Landzert nahm drei verschiedene Formen des Großrussen- schädels an und schloss, dass der Großrussenschädel seinen reinen slavischen Typus nicht eingebüßt hat. Die Zitate Welcker’s, Schmidt’s u. s. w. übergehen wir. Der Verfasser macht nun darauf aufmerksam, dass, abgesehen von verschiedenen Widersprüchen der einzelnen Autoren untereinander, niemand diejenige Schädelform auf- stelle, welche als Grundform für slavische Schädel im all- gemeinen oder für die Großrussen im speziellen anzusehen wäre. Erst wenn man die rein slavische Schädelform hätte, so böte sich die Mög- lichkeit des Vergleichs und weiter die Möglichkeit, ein Urteil über die Reinheit der großrussischen Schädel oder über ihre Abweichungen vom slavischen Typus zu fällen. Der Verfasser deutet auf die His’sche Definition: eine typische Schädelform ist diejenige zu nennen, welche in regelmäßiger Wiederkehr einen Komplex nebeneinander vorhandener Eigenschaften aufweist. Für ein Volk, welches sich frei von der Mischung mit anderen Völkern hielt, wird es bei genügendem Material nicht schwer fallen, die typische Schädelform zu bestimmen, für die vielfach durch einander gemischten Völker Europas wird es sehr schwierig sein. Es muss, wenn die sich ver- mischenden Völker verschiedene Schädelformen haben, unbedingt eine gewisse Umgestaltung des einen wie des andern Typus eintreten. 254 Tarenetzky, Kraniologie der großrussischen Bevölkerung. Doch ist dabei zu erinnern, dass der ursprüngliche Typus des einen wie des andern Stammes ungemein resistenzfähig ist und sich trotz aller Vermischung Jahrtausende erhalten kann. Inbezug auf die großrussischen Schädel besteht nun die Hauptschwierigkeit darin, dass kein Grundtypus zum Vergleich da ist: unzweifelhaft slavische Schädel aus früheren Perioden, welche als großrussische zu beanspruchen wären, sind vollkommen unbekannt. Der Verfasser stellt nun die Behauptung auf, dass der ursprüng- liche slavische Schädel — von welehem der jetzige großrussische Schädel abzuleiten ist, — ein brachycephaler war. Schädelfunde aus prähistorischer Zeit sind in Russland selten, es finden sich dabei dolichocephale und brachycephale Schädel gleichzeitig wie im übrigen Europa. Die ältesten in Russland gefundenen Schädel sind offenbar die am Süd-Ufer des Ladogasees von Inostranzew entdeckten: von 10 Schädeln sind 6 dolichocephal und 4 subdolicho- cephal. Dagegen ist ein von Uwarow im Gouvernement Wladimir gefundener Schädel der Steinzeit brachyeephal. — Imbetreff der Kurganperiode liegen die bekannten Arbeiten Bogdanow’s vor: Unter 134 Schädeln sind im Gouvernement Moskau 56,4 °/, dolichocephal, 20,7°/, orthocephal und 22,7°/, brachycephal. Bogdanow schließt daraus, es handle sich um die Mischung zweier Stämme, eines dolicho- cephalen und eines brachycephalen, wobei der erstere überwiege; für beide Stämme existieren gewisse Zentren im Gouvernement Moskau. — Wolkenstein untersuchte Schädel, welche Gräbern des Gouverne- ments Nowgorod, Kreis Waldai entstammten und etwa dem X. bis XII. Jahrhundert angehören; die Schädel sind brachycephal, rein dolichocephale kommen nicht vor. Wolkenstein beansprucht die Schädel als die der alten nowgorodsehen slavischen Bevölkerung. Bogdanow nun hat aufgrund seiner umfassenden Untersuchungen die Behauptung ausgesprochen, dass in der Steinzeit ein Volk mit dolichocephalen Schädeln das mittlere Russland bewohnt hätte, das seien slavische Großrussen gewesen, welche nieht in späterer Zeit eingewandert seien; die Beimischung brachyeephaler Schädel, welche je näher der Jetztzeit um so stärker unter der russischen Bevölkerung werde, sei auf brachycephale uralo-altaische Sphären zurück- zuführen. Gegen diese Hypothese Bogdanow’s wendet sich der Verfasser mit großer Entschiedenheit: die doliehocephalen Schädel der Steinzeit und der Kurganperiode seien keine slavischenGroS- russen; die Großrussen hätten sich nicht aus Langköpfen durch Mischung mit fremden Elementen in Kurzköpfe verwandelt, sondern seien von Anfang an brachycephal gewesen und seien es trotz aller Kreuzung auch heute noch. Die Entscheidung, ob der slavische Großrusse als Autochthone des jetzigen mittlern Russ- land anzusehen sei, überlässt der Verfasser den Historikern. Der Vergleich der brachycephalen Schädel der jetzigen Großrussen mit Tarenetzky, Kraniologie der großrussischen Bevölkerung. 285 den brachycephalen Schädeln der Kurganperiode lässt kaum einen Unterschied erkennen — ist es vielleicht möglich, die brachycephalen Kurganschädel als die ersten eingewanderten Großrussen zu betrach- ten? Die Wolkenstein’schen Schädel sind entschieden slavische und brachycephal. — Dolichocephale Schädel sind unter den jetzigen Großrussen selten, sie können zum Beweise einer Kreuzung mit lang- köpfigen Stämmen dienen. Aber können nicht auch fremde brachy- cephale Völker sich mit den brachycephalen Großrussen gemischt haben? Der Verfasser bejaht die Frage mit Hinweis auf 2 gleich häufig vorkommende Formen. Zwei der Gouvernements sind zu nennen, deren Bewohner sich durch die größte Uebereinstimmung der Schädelform ausgleichen: Twer und Pskow. Die Uebereinstimmung zeigt sich darin, dass dolichocephale und subdolichocephale Schädel vollkommen fehlen und dass ebenso pro- gnathe Schädel vorkommen. Der Verfasser hält daher die Bewohner von Twer und Pskow für die Repräsentanten des reinsten groß- russischen Schädeltypus. Da die beiden Gouvernements in ihren Schädeln sich von einander unterscheiden, so veranlasst dies den Verfasser zwei Varianten des Typus anzunehmen, von dem jede Variante ein Gouvernement repräsentiert, aber auch in den übrigen Gouvernements mit fremden Elementen gemischt vorkommt: Erste Variante des großrussischen Sehädeltypus (Twer): die Schädel sind rein brachycephal mit einer Neigung zur Subbrachy- cephalie; hypsocephal mit starker Neigung zur Mesocephalie; mesognath. Das Gesicht ist breit und verhältnismäßig niedrig, die Augenöffnung mikrosem, bald horizontal, bald etwas schief ge- stellt, die Nasenöffnung leptorhin; die Nasenknochen stehen im Ver- hältnis zum vertikalen Teil der Stirn sehr wenig prominent. — Zweite Variante des großrussischen Schädeltypus (Pskow): die Schädelrein brachycephal mit einer Neigung zur Subbrachycepha- lie; an der Grenze zwischen Hypsocephalie und Mesocephalie; sind mesognath, aber mit starker Neigung zur Orthognathie. Das Gesicht schmal und verhältnismäßig hoch, die Orbita mikrosem, die Nasenöffnung leptorhin, die Nasenknochen etwas mehr prominie- rend als bei der ersten Variante. — Die Frage, welche Berufsklassen des großrussischen Volks den ursprünglichen Typus am meisten bewahrt haben, ist an der Hand des vorliegenden Materials nicht zu entscheiden; der Verfasser untersuchte Schädel, welche ausschließlich dem Bauernstande angehörten. — Die Großrussen sind ein Zweig des großen slavischen Volks- stamms. Mit ihnen mischten sich im Laufe der Zeit skandinavische und finnische Stämme. Es hätte, schreibt der Verfasser, nahe gelegen, Vergleiche mit den Schädeln dieser Volksstämme anzustellen, aber zwei Gründe hätten ihn abgehalten: einmal der Mangel an eignem I86 Molisch, Nachweis von Nitraten und Nitriten. Material und zweitens der Zweifel an dem Nutzen eines solchen Vergleichs, da die Gesetze der Kreuzung noch völlig unbekannt sind. — Referent knüpft an diese letzte Aeußerung des Verfassers einige Bemerkungen. Der Verfasser hat, indem er einen Vergleich der groß- russischen Schädel mit den Schädeln der skandinavischen und finnischen Völker ablehnt, doch nicht ganz recht — dass solche Vergleiche nur dann einen besondern Wert beanspruchen, sobald es sich um die Beobachtungen eines und desselben Autors handelt, muss Ref. unbedingt zugeben; aber die Vergleiche beiseite zu lassen, weil die Gesetze der Kreuzung noch unbekannt sind, scheint nicht statthaft. Im Gegenteil: durch den Vergleich hier der großrussischen Schädel mit finnischen würde — bei der unzweifelhaften Vermischung slavischer und finnischer Völker — nicht allein der Nachweis geliefert werden können, welche Eigenschaften des jetzigen großrussischen Schädels von der finnischen Beimischung abzuleiten sind, sondern es ließen sich bei derartigem Vergleich wohl gewisse Gesetze der Kreuzung finden. Ein Vergleich großrussischer Schädel mit finnischen würde, so scheint es dem Ref., daher nicht ohne Aussicht auf Resultate sein. Abgesehen hiervon aber muss unbedingt ein anderer Vergleich vorgenommen werden, den der Verfasser auffallenderweise nicht einmal erwähnt — der Vergleich mit anderen slavischen Schädeln, mit Kleinrussen, Polen, Ruthenen, Tschechen, Bulgaren u. s. w.— Referent hält einen solchen Vergleich für ein dringendes Postulat. Auf diesem Wege wird und muss jene Frage entschieden werden, welche der Verfasser mit Recht bisher als eine offene bezeichnet: Wie ist der slavische Schädeltypus? Aus einem Vergleich der großrussischen, polnischen, böhmischen Schädel muss das allen Gemeinsame als Charakteristikum des — meinetwegen theoretischen slavischen Typus zusammengefasst werden. Besonders von Interesse muss nach Ansicht des Referenten ein Vergleich der Bulgarenschädel mit Großrussenschädeln sein: bei letzteren sind — nach der Theorie Tarenetzky’s — finnische Ele- mente einem slavischen Stamme aufgepropft; bei den Bulgaren umge- kehrt, slavische Elemente einem finnischen Stamm. Was ist hier das Resultat der Kreuzung? Noch ein weites Feld ist der Untersuchung offen — wünschen wir, dass dem Verfasser Gelegenheit geboten wer- den, weiter zu arbeiten und zu forschen. L. Stieda (Dorpat). H. Molisch, Ueber den mikrochemischen Nachweis von Nitraten und Nitriten in der Pflanze mittels Diphenylamin und Bruein. Berichte der Deutschen Bot. Gesellschaft, 1. Jahrg., H. 3, S. 150—155. Ein Tropfen einer Lösung von 0,01—0,1 g Diphenylamin in 10 cem reiner Schwefelsäure ruft in Quersehnitten, welche ein salpetersaures oder ein salpetrig- Nasse, Giftige Wirkung des roten Phosphors. 387 saures Salz enthalten, eine tiefblaue Färbung hervor. Die durch eine Lösung von 0,2 g Brucin in 10 eem reiner Schwefelsäure hervorgerufene hochrote oder rotgelbe vergängliche Färbung ist bei geringem Nitratgehalt nicht besonders deutlich. Durch hohen Salpetergehalt zeichnen sich aus zahlreiche Schuttpflanzen: Amarantus Chenopodium, Urtica, Mercurialis, Solanum, Sinapis, Helianthus, Capsella. Eine im Topf kultivierte Rochea falcata, sowie die Zwiebel von Allium Cepa und viele Kartoffelknollen enthielten gar keinen Salpeter. Durch Versuche mit Keimpflanzen von Lepidium sativa ließ sich fest- stellen, dass der Salpetergehalt der Pflanzen von der Beschaffenheit des Sub- strates abhängt. Verschiedene Kıyptogamen zeigten mit Diphenylamin schöne Blaufärbung; dagegen blieb dieselbe bei den untersuchten Baum- und Strauchzweigen völlig aus. In krautartigen Stengeln nimmt die Nitrat-, beziehungsweise Nitritmenge von unten nach oben ab; Mark und Rindenparenchym sind an diesen Verbin- dungen reicher, als das übrige Gewebe. Kellermann (Wunsiedel). Nasse, Giftige Wirkung des roten Phosphors. In der naturforschenden Gesellschaft zu Rostock (Sitzung vom 16. Mai 1885) teilte Herr 0. Nasse die Resultate einer von Herrn cand. med. J. Neumann im Institut für Pharmakologie und physiologische Chemie daselbst angestellten Untersuchung über die Wirkung des roten Phosphors auf den Tier- körper mit. Die meist nicht genügend gewürdigte Thatsache, dass der rote oder amorphe Phosphor sich in feuchter Luft allmählich ebenso verändert wie der weiße Phosphor, dabei u. a. auch deutlich Ozon bildet, ließ vermuten, dass, wenn roter Phosphor in die Gewebe des Körpers selbst gebracht würde und in den- selben liegen blieb, schließlich eine „Phosphorvergiftung“ entstände. Die un- zweifelhaft richtigen Angaben, dass roter Phosphor nicht giftig sei — derartige Angaben beziehen sich zunächst stets nur auf die Einführung der betreffenden Substanz per os — standen mit solcher Vermutung nicht in Widerspruch, weil bei Fütterung mit rotem Phosphor derselbe nieht in die Gewebe eindringen kann und im Darmkanal selbst zu kurze Zeit bleibt, um hier Veränderungen hervorrufen zu können. So wurde denn möglichst reiner, fein gepulverter, in Wasser aufgeschlämmter roter Phosphor (0.2 g) von der Vena jugularis aus in die Blutbahn von Kaninchen gebracht. Die kleine Operation wird natürlich leicht überstanden, die Tiere verhalten sich in den ersten Tagen überhaupt vollkommen normal, dann werden sie aber matt, verlieren die Fresslust und sterben regelmäßig nach sechs bis acht Tagen. Die Sektion ergibt dann stets Verfettung der Leber, und zwar in Herden, in deren Mitte meist ein größeres oder mehrere kleine Stückchen Phosphor deutlich zu erkennen sind. Auch Verfettung der Niere ist zur Beobachtung gekommen. Der Folgerung aus diesen Versuchen, dass es sich in der That um „Phosphorvergiftung“ handle, könnte vielleicht der Einwand entgegengestellt werden, die Phosphorstückchen hätten nur als mechanischer Reiz gewirkt, und die Reizung allein genüge, um die bekanntlich sehr verschiedenartigen Eingriffen folgende fettige Degenera- tion zu erklären. Dieser Einwand ist aber leicht zu widerlegen: feinzerteilte Steinkohle, in die Vena jugularis injiziert, ruft so gut wie gar keine lokalen Erscheinungen in der Leber und absolut keine allgemeinen Erscheinungen hervor. 288 Veröffentlichungen des Gesundheitsamtes zu Berlin. Für Frösche scheint der amorphe Phosphor auch bei Einführung in die Gewebe ungiftig zu sein, vermutlich weil in der so beträchtlich niedrigern Temperatur die Umwandlung des Phosphors zu langsam vor sich geht. Es unterliegt nämlich keinem Zweifel, und grade die hier mitgeteilten Thatsachen unterstützen diese Anschauung, dass nicht der Phosphor als solcher das Zellen- leben beeinträchtigt, sondern Umwandlungsprodukte, und zwar wahrscheinlich Oxyde desselben. Veröffentlichungen des Kaiserlichen Gesundheitsamtes zu Berlin. Das Kaiserliche Gesundheitsamt beabsichtigt, die von ihm amtlich heraus- gegebene wöchentliche Publikation „Veröffentlichungen des Kaiser- lichen Gesundheitsamtes“ einer Umgestaltung zu unterziehen und zwar äußerlich wie inhaltlich. — Die Wochenschrift soll vom Juli d. J. ab in einem handlichen Quartformat erscheinen in einem Umfange von 8—12 Seiten. Sie wird unter Einschränkung des bisherigen statistischen Teiles in umfassenderer Weise, als dies bisher möglich war, fortlaufende Mitteilungen bringen über die auf dieEntwieklung und Veränderung der sanitärenGesetzgebung und Verwaltung bezüglichen Vorgänge des In- und Auslandes, über den Stand der Tierseuchen, die Maßnahmen zur Abwehr und Unterdrückung derselben. Außerdem sollen interessante Fälle aus der Rechtsprechung auf dem Gebiete des Sanitäts- und Veterinärwesens, Auszüge aus besonders wiehtigen Arbeiten etc. veröffentlicht werden. — Den Verlag der Zeitschrift hat die Verlagsbuchhandlung von Julius Springer in Berlin übernommen. Außerdem sollen die größeren wissenschaftlichen Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte in einzelnen, zwanglos erscheinenden Heften unter dem Titel „Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte* im gleichen Verlage erscheinen und den Abonnenten der Wochenschrift zu besonders ermäßigten Preisen wemetel gemacht werden. Bericehtigungen. Aus unbekannten Gründen ist die von der Redaktion des „Biologischen Centralblattes“ an Herrn Professor Wilekens abgesendete Revision der in Nr. 7 enthaltenen 1. Fortsetzung der „Paläontologie der schweineartigen Tiere“ nicht in dessen Hände gelangt. Es sind darum folgende Fehler stehen geblieben, welche wir hiermit berichtigen: Seite 211 Z. 12 v. u. lies jeder statt jener. 212222 V200: 213,02 2,V:50: lies Hyotherium statt Hypotherium. 219er, 24 v0. DDR DGEV.5O: lies Quercy statt Querey. „243,19v.0. „ Heterohyus statt Heterophyus. „ M4,„ 7v.0. „ Proc. coronoideus statt Praecoronoideus 945%.02 v.:0.' „, Aarberg statt, Annaberg. »„ 218,„.2v.0. „ Ronzon statt Rougon. „ 48. wu. „ Phacochören statt Phacochönen. HEINO a errn Osborn statt L. von Osborn. In Nr. 8 an es in der 2. Fortsetzung desselben Artikels überall heißen: Sansan ‚statt Sanson ne sansaniense statt sansoniense. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Diologisches Centralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 34 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark eu Inhalt: Jakob Henle. — Selenka, Ueber die Entwicklung des Opossum. — Wilekens, Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläonto- logie der Haustiere. 5. Die schweineartigen Tiere (Schluss). — Imm. Munk, Neuere Untersuchungen über die Resorption, Bildung und Ablagerung des Fettes im Tierkörper, Jakob Henle. (Gestorben am 13. Mai 1885.) Wir haben einen Mann verloren, den die Lehre vom Leben wie die ärztliche Wissenschaft unter ihre größten Vertreter zu stellen hat, und dem beide unvergänglichen Dank schulden. Das Folgende will nieht eine Beschreibung seines Lebens versuchen, sondern ein kurz gefasstes Gedenkblatt sein für das, was er besonders Großes in der Biologie und Morphologie gewirkt hat. Wenn ich damit vielen nur bekanntes sage, so doch nicht allen. Die wissenschaftliche Welt ist nicht dankbarer als die Welt über- haupt; sie behält oft nieht das volle Andenken für Leistungen, an die sie nicht stets durch die Praxis des täglichen Lebens erinnert wird. Obwohl Henle gestorben ist als ein hochberühmter Forscher und Lehrer, dessen Name bei jedem wissenschaftlich arbeitenden Volke bekannt und bei uns jedem Arzt wie jedem Anatomen oder Physiologen vertraut war, so wird man doch unter der jetzigen jüngern Generation nicht mehr überall ein volles Verständnis dafür finden, was im einzelnen die gerechten Grundlagen dieses Ruhmes waren, was alles dieser Mann zur Förderung der Menschen gedacht und gethan hat. Denn die ersten, besonders bahnbrechenden Forscherthaten Henle’s liegen von unserer Zeit schon weit zurück; was damals er und seine Arbeitsgenossen, die ersten Tierbiologen am Mikroskop, mit einfachem Handwerkszeug fanden, und was sie davon sagten und lehrten, wird heute fast überhört in dem regsamen Maschinenbetrieb der modernen histologischen Arbeit, obwohl es ihre Grundlage ge- 19 290 Jakob Henle wesen ist. Die wesentliche Erinnerung daran hat sich an einen Namen geknüpft und pflanzt sich mit ihm durch die Literatur fort: Theodor Schwann; gewiss gerechterweise, denn der Zeitgenosse und Berliner Kollege Henle’s hat das unsterbliche Verdienst, er- griffen und zusammengefasst zu haben, was damals „in der Luft lag“, es durcharbeitet zu haben in einer Weise, die nach damaligen Ge- sichtspunkten und Anforderungen bewundernswert ist, und damit die Grundzüge der heutigen Zellentheorie geschaffen zu haben. Aber er hat es nicht allein gethan. Mit ihm und schon vor ihm haben andere daran gearbeitet und nicht zum wenigsten ist es Henle gewesen, der in seinen Studien über die Epithelien !) die wichtigsten Hinweise für die zellulare Zusammensetzung tierischer Gewebe gegeben hat. Wie sehr er schon zur Zeit der Schwann’schen Arbeiten sich in die allgemeinen Probleme der Zellenlehre vertieft haben muss, geht wohl am deutlichsten daraus hervor, dass er zwei Jahre nach dem Erscheinen des Schwann’schen Buches (1839) bereits seine „Allge- meine Anatomie“ veröffentlichte: wie man wohl sagen darf, die erste wirkliche, rationelle Gewebelehre des tierischen Körpers, zugleich den besten Teil der damaligen biologischen Chemie umfassend, von einem Inhaltreichtum und einer Vielseitigkeit, dass es die biologische Welt seiner Zeit in volle Bewunderung versetzt hat, die es heute wie damals verdient. Es ist ein Buch, das wahrlich nicht in zwei Jahren gearbeitet sein kann; es zeigt — wenn ich mich anscheinend etwas paradox ausdrücken darf — dass Henle mit der gründlichsten Er- forschung der Tiergewebe im Sinne der Zellenlehre schon lange be- schäftigt war, ehe dieselbe proklamiert worden ist. Von den Resultaten dieser Arbeit ist, wie es nicht anders sein konnte, manches im Lauf der Zeit hinfällig geworden, manches neuen Deutungen unterlegen; aber wer heute Henle’s allgemeine Anatomie liest, muss bewundern, wie wenig das im ganzen ausmacht, und wie viel anderseits geblieben und unmerklich in unsere heutige Lehre übergegangen ist, so dass wir nicht mehr daran denken, woher es kam. Mit diesem Werke trat Henle wie von selbst an die Spitze der Bewegung, mit der sich damals die Histologie in rascher Arbeit ihren Platz in der Anatomie, Physiologie und Pathologie erwarb. Seine eigne nächste Thätigkeit dabei warf sich nicht so sehr auf Einzel- probleme, als sie vielmehr eine Kontrolarbeit im großen Styl war, die den gesamten Gang der Forschung im Auge hielt und ihre Er- gebnisse prüfte und sichtete. Der Ausdruck davon sind seine ana- tomischen Jahresberichte ?), eine auch heute fesselnde Lektüre für 1) Symbolae ad anatomiam villorum intestinalium, imprimis eorum epi- thelii et vasorum lacteorum. DBerol. 1837, und: Ueber die Ausbreitung des Epithelium im menschlichen Körper. Müller’s Archiv 1838. 2) In Henle’s und Pfeufer’s Zeitschr. f. rationelle Medizin; früher in Müller’s Archiv und in Canstatt’s Jahresberichten. Jakob Henle. 291 jeden, der sich für die Entwieklungsgeschiehte unserer Wissenschaft interessiert. Auch auf diese seine Thätigkeit haben wir mit dem größten Dank zu blicken. Durch sachkundige, oft strenge Kritik, und durch die bei aller Unparteilichkeit kampflustige und geistreiche Art, in der er sie übte, hat er mächtig dazu beigetragen, dass der Fortschritt in der mikroskopisch - biologischen Arbeit, zu der sich in der Hoffnung auf rasche Entdeckungen alles drängte, einen re- lativ so geordneten Gang eingehalten hat. In den letzten Jahrzehenten seines Lebens war Henle mehr an- deren Aufgaben als denen der histologischen Forschung zugewendet; eine erneuerte Bearbeitung seiner allgemeinen Anatomie unterblieb, und so ist in der Neuzeit wohl manchem diese Seite seines Wirkens nicht mehr nach Gebühr vertraut. Darum sollte hier vor allem daran erinnert werden, dass die heutige Histologie in ihm einen ihrer Be- eründer, und zwar einen der hervorragendsten zu ehren hat. Die Anerkennung dafür aber muss sich gewaltig erhöhen, wenn man daran denkt, was er zu gleicher Zeit in anderer Riehtung ge- than hat: für die Pathologie. Was heute kaum möglich scheint und schon damals nur den ersten Geistern gelingen konnte: als Forscher und Lehrer Pathologe und Anatom zugleich zu sein, hat er geleistet mit größtem Glanz und Erfolg. Kein besseres Zeugnis für seinen Erfolg als dies: dass die Prinzipien, die er als Pathologe aufstellte und verfocht, uns Heutigen in Fleisch und Blut gegangen sind; so völlig, dass wir zu vergessen anfangen, wie eine gegenteilige Rich- tung einst überhaupt möglich war, wie sie bestritten werden musste, und wie viel Gedanken, Sorge und Ausdauer unter anderen ein Mann wie Henle an diesen Kampf gesetzt hat. Denn wer weiß heute noch viel von den naturphilosophisch - medizinischen Systemen, die zu der Zeit, wo Henle jung war, die ärztliche Wissenschaft beherrschten ? Man muss dafür schon bei den Aelteren nachfragen; die Jungen haben jetzt nicht viel Zeit, Geschiehte der Medizin zu studieren, und viel Gelegenheit sie rasch zu vergessen. Dass jene alten Systeme heute alt heißen und der Historie angehören, ist zum nicht geringen Teil Henle’s Verdienst. Der Satz aus seinem pathologischen Hauptwerk, der heute die selbstverständliche Parole jedes Arztes ist: „Rationelle Pathologie und Physiologie sind identisch, ihre Methode ist die gleiche; es ist die Methode aller Erfahrungs- und insbesondere der Natur- wissenschaften“, war im Jahre 1846 noch ein Reformruf und wurde als soleher mit Begeisterung begrüßt; wie sein Werk „Handbuch der rationellen Pathologie“, das lange Zeit für Deutschland eime Grund- lage und Quelle der pathologischen Lehre gewesen ist. Mit dem Antritt der Göttinger anatomischen Professur überließ Henle anderen die Weiterbildung der pathologischen Physiologie und wandte sich der Aufgabe zu, die Hand in Hand mit seiner Lehr- thätigkeit den letzten Teil seines Lebens größtenteils gefüllt hat, und 197 292 Jakob Henle. für deren Lösung ihm die wissenschaftliche Anatomie und der medi- zinische Unterricht immer frischen Dank schuldet: eine erneuerte, vollständige Durcharbeitung des menschlichen Körpers und der ana- tomischen Literatur und ein großes Handbuch auf dieser Grundlage. Eine reiche Vorarbeit dafür lag wohl schon in seiner bisherigen aka- demischen Thätigkeit; aber wie viel und genau er während der Ab- fassung selbst geforscht und verglichen hat, davon geben die zahl- reichen kleineren anatomischen Arbeiten Zeugnis, die er in dieser Zeit veröffentlicht; und nicht minder thut es das Buch selbst, das vom Beginn zur Fertigstellung fast zwei Jahrzehnte beansprucht hat. Unter soleher beharrlichen Mühe ist es geworden was es ist: ein neues Fundament der Anatomie, eine reiche neue Beisteuer zu ihrem Inhalt und eine Reform ihrer Lehrmethode. Man möge daran zurück- denken, was vor ihm bestand: zum Teil wol gute Lehrbücher, von denen aber keines an den Versuch dachte, zugleich ein Atlas zu sein. Darin liegt, wie mir scheint, eins der Hauptverdienste des Henle’- schen Buches, dass es dies Problem aufnahm und glänzend gelöst hat: die Veranschaulichung durch das Bild nicht dem Folianten vor- zubehalten, der selten aufgeschlagen wurde, sondern es in das täg- liche Studium des Mediziners einzuführen, indem er fast nichts unab- gebildet ließ, was im menschlichen Körper zu sehen ist und diesen Bildern eine vortreffliche Anordnung und wahrhaft künstlerische Aus- führung gab. Wenn seitdem diese Methode allgemein geworden und durch die Fortschritte der darstellenden Technik sehr erleichtert wor- den ist, so soll man nicht vergessen, dass Henle der erste war, der sie bei uns in vollem Maß in ein Handbuch eingeführt hat. Die meisten seiner Bilder stehen übrigens auch den besten unter den modernen an Deutlichkeit und Schönheit nieht nach, vielfach noch immer voran; und wenn man nachsieht, woran dies liegt, so bleibt es fast überall die geniale Einfachheit der Darstellung, die ebenso geniale Auswahl des Dargestellten. Der mit diesen Bildern durchflochtene Text ist von einer stylistischen Schönheit, wie es von einem anerkannten Meister der Rede zu erwarten war; und wenn Henle in der Vorrede die Länge dieses Textes entschuldigend sagt, „er habe die Hoffnung, dass die Beschreibung in dem Maße, wie sie das Verständnis der Figuren fördere, sich selbst überflüssig machen werde“, so klingt dies fast wie eine feine Ironie gegen solche, die mit Vorliebe nur die Noten unter den Abbildungen lesen. Wer als angehender Anatom den Genuss gehabt hat, sich in die Lehre vom menschlichen Körper vorzüglich an der Hand des Henle’schen Buches hineinzustudieren und seiner Beschreibung bis ins einzelne zu folgen, weiß zu würdigen, wie tief durchdacht und sachlich gestützt diese ist, und wird die verwendete Mühe und Zeit zu den bestangelegten seines Lebens rechnen. — Die Reformen in der anatomischen Benennungsweise, die Henle einge- führt hat, sind in Deutschland nnd darüber hinaus schon so vielfach Jakob Henle. 295 in Aufnahme und ihr Nutzen so einleuchtend, dass es überflüssig scheint bei ihrem Lob zu verweilen. Man kann sich fast wundern, dass ein Lehrbuch von solchen Vor- zügen, das selbst der kritiklustigste Mitbewerber, Hyrtl, als vollstes, allen überlegenes Meisterwerk anerkannte, nicht noch weit größere Popularität und Verbreitung als Lernmittel erlangt hat, als es in der That besitzt. Die Ursache liegt wohl zum großen Teil in seinem Umfang, zum nicht geringen aber auch in einer Eigenart der Dar- stellung, die Henle’s ganzer didaktischen Schreibweise zukommt und für seine geniale Natur kennzeichnend ist. Er war ein Redner mit der Feder, wie er es auf dem Lehrstuhl war. Er liebte nicht nur eine schön geformte Sprache, er neigte auch zu einer fein und be- sonders gewählten, die alltägliche Wendung meidenden Ausdrucks- weise. Auch wo er rein deskriptiv ist, zeigt sich überall das Bestreben nicht nur den Dingen neue, ungewöhnliche Seiten abzugewinnen, son- dern auch der Schilderung des Bekannten irgend eine andere Form zu geben, als sie vordem üblich war. Darum haben seine Schriften für den, der sie genau liest, einen so besondern Reiz; darum sind sie aber auch nicht das bequemste Handwerkszeug für den, der in recht kurzer Zeit möglichst viel Material aufnehmen will. Und das fällt heute leider viel stärker ins Gewicht, als zu der Zeit, in welcher das Buch Henle’s erschien; die Abkürzung des medizinischen Studiums auf das notwendigste Minimum bedingt es, dass der Student sich immer weniger in umfangreiche Bücher vertiefen will und nach dem kürzesten greift, das sich bietet. Henle selbst hat dies nicht ver- kannt; gewiss sehr gegen seine Neigung hat er vor einigen Jahren den „Grundriss der Anatomie“ erscheinen lassen, eine kondensierte Bearbeitung seines Handbuchs, in der wenigstens dessen schöne Ab- bildungen größtenteils dem Handgebrauch des Studenten erhalten sind. Aber mag sein großes Werk auch heute und in Zukunft weniger all- gemein studiert werden als bisher: es darf sich dafür rühmen, eine Grundlage aller neueren anatomischen Lehrbücher gewesen zu sein. Was Henle direkt als Lehrer der Anatomie geleistet hat, im Besitz einer glänzenden Gabe des Wortes und unterstützt von einem eignen, durch lange Erfahrung ausgebildeten Demonstrationstalent, das bildet ruhmvolle Blätter in den Annalen der Universitäten, an denen er gewirkt hat, besonders der Göttinger Hochschule, und hat Frucht getragen in den Tausenden seiner Schüler, in deren Erinnerung es haften wird. Aber noch mehr Dank verdient, was er nieht nur per- sönlich für seine Schüler, sondern für alle Welt gethan hat, und was im Umriss zu zeichnen ich hier versucht habe. Unsere Wissenschaft kann ihm das schönste Denkmal setzen, das sie zu vergeben hat, indem sie ihm nachruft: ein großer Teil von allem besten, was in unserer Arbeit und Lehre heute wächst und künftig aufgehen wird, war von seiner Saat. W. Flemming (Kiel). 294 Selenka, Ueber die Entwicklung des Opossum, Ueber die Entwicklung des Opossum (Didelphys virginiana) von Emil Selenka. Seit einer Reihe von Jahren schon gehe ich mit dem Plane um, die Entwicklungsgeschiehte eines Beuteltiers genauer zu verfolgen. Versprieht doch das Studium dieser alten Tiergruppe die Lösung mehrerer Probleme, welche die Embryologie ver placentalen Säuge- tiere aufgeworfen hat, die sie selbst aber bisher nieht zu enträtseln im stande war, wie z. B. die Bedeutung der ganz eigentümlichen Keimblätterbildung bei den Placentalia, die Umformung der transi- torischen Atemorgane zu Nährapparaten des Embryos, ferner die höhere Differenzierung verschiedener Organe (Gehirn, Gehörwerkzeuge, Zwerchfell u. s. w.) — Fragen, durch deren Beantwortung zugleich die Herkunft der Säugetiere überhaupt zu entscheiden sein dürfte. Da ich während meines Aufenthalts in Brasilien (zur dortigen Winterzeit) zu meiner Enttäuschung keiner geschlechtsreifen Beutel- ratten habhaft werden konnte, und da mir aus den zoologischen Gärten in Holland und Deutschland nur sehr spärliches und nicht geeignetes Material im Laufe der Jahre zugeschickt wurde, so entschloss ich mich, ‘die Züchtung von Beutelratten in Erlangen zu versuchen. Vor zwei Jahren verschaffte ich mir acht junge brasilianische Opossums, die bei guter Pflege anscheinend wohl gediehen, aber doch eines nach dem andern abstarben, bevor sie ausgewachsen waren. Im vorigen Herbst erhielt ich dann durch die liebenswürdigen Be- mühungen des Herrn KarlHagenbeck in Hamburg eine große Zahl des zählebigen nordamerikanischen Opossums; in einem geheizten und ausreichend ventilierten Stalle überdauerten diese Tiere bei reich- liehem Futter den Winter ganz vortrefflich und wurden sämtlich, mit Ausnahme einiger leber- und milzkranker Individuen, im verflossenen Frühjahre brünstig. Sieben Weibchen lieferten binnen wenigen Wochen an hundert Embryonen der verschiedensten Entwicklungsphasen. Um zu diesem günstigen Resultate zu gelangen, bedurfte es jedoch mehr- facher künstlicher Eingriffe, welche hier zu schildern nicht der Ort ist. Auch möchte ich der ausführlichen Mitteilung, die noch im Laufe des Jahres erscheinen soll, nicht vorgreifen und hier nur einige Be- obachtungen über Brunst und über Entwicklung der Keimblase zur Sprache bringen. 1) In jeder Samenzelle des Männchens entstehen zwei Sperma- tozoen, die aber auffallend lange vereinigt bleiben. Die reifen Sperma- tozoen, welche man der Scheide des Weibchens unmittelbar nach erfolgter Begattung entnimmt, sind fast alle solche Zwillingszellen mit Doppelsehwänzchen; erst nach einiger Zeit trennen sie sich regel- mäßig infolge der außerordentlich heftigen und rapiden Vibrationen der Schwänzehen — sie reißen buchstäblich aus einander. 2) Die Brunst des Weibehens fällt in die Nacht- und Morgen- stunden und dauert nur einen halben Tag. Geschieht während dieses Wilekens, Paläontologie der Haustiere. 295 Termins die Begattung nicht, so kann die Brunst nach etlichen Wochen wiederkehren. Auch solehe Muttertiere, denen man die Jungen früh- zeitig aus dem Beutel nimmt, lassen sich bald darauf noch einmal belegen. — Zur Brunstzeit schwillt die Wandung des Uterus ganz bedeutend und zwar hauptsächlich infolge von Vergrößerung seiner Lymphräume, in denen die Uterindrüsen dann suspendiert erscheinen und flottieren. 3) Die Befruchtung der Eier geschieht stets fünf Tage nach der Begattung, und zwar im untern Ende des Oviduktes, da wo derselbe sich zum Uterus erweitert. In den geschlängelten Eileitern wurden keine Samenfäden angetroflen. 4) Die Trächtigkeit dauert genau acht Tage; denn dreizehn Tage nach der Begattung werden die Jungen in den Beutel über- geführt. Die Entwicklung geht demnach außerordentlieh schnell von statten. Erst am dritten Tage vor der Geburt schließt sich der Amnionnabel. 5) Die Eier halten die Mitte zwischen den meroblastischen und holoblastischen. Während der Furchung sammelt sich nämlich am aplastischen Eipole ein Nahrungsdotter an, welcher anfangs ganz außerhalb des Ektoderms liegen bleibt, drei Tage später jedoch durch benachbarte Ekto- und Mesodermzellen umwuchert und eingebettet wird, niemals aber in das Nabelbläschen (Darmhöhle, Entodermhöhle) gelangt! Reste dieses Dotters erhalten sich bis zum dritten Tage vor der Geburt. 6) Das befruchtete noch ungefurchte Ei hat einen Durchmesser von fast !/, Millimeter; nach 24 Stunden misst die Keimblase 1 mm, nach 36 Stunden 1’, mm, nach 60 Stunden 4 mm, nach 72 Stunden S mm, nach 96 Stunden 14 mm und am sechsten Tage nach Beginn der Furchung bis 20 mm im Durchmesser. 7) Die Keimblasen liegen anfänglich ganz frei und zerstreut im Uterus; erst im vierten Tage (nach Beginn der Furchung) verklebt die Keimblase im Bereiche des Fruchthofs sehr lose mit dem Uterus- epithel. 8) Im Beutel der Muttertiere wurden höchstens 6 Junge gefunden. Die Anzahl der Embryonen ist aber stets eine weitaus größere und schwankt je nach Größe und Stärke des Weibehens zwischen 9—27. Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haustiere. 5. Die schweineartigen Tiere (Suiden). (Schluss.) Der Reichtum an Formen der Gattung Sus in den jüngsten Ter- tiärschiehten und im Diluvium ist erstaunlich; aber wir begegnen 2395 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. wieder der bemerkenswerten Thatsache: dass fast jeder Forscher, der irgend einen Ueberrest eines Schweins gefunden oder zu be- stimmen gehabt hat, daraus eine neue Art macht. Wir kennen aus den tertiären und diluvialen Schichten Europas und Indiens bis jetzt etwa dreißig Arten der Gattung Sus, deren überwiegende Mehrzahl sich im wesentlichen von dem gegenwärtig lebenden Sus Serofa gar nicht unterscheidet. Einen Anfang, die Zahl der Arten fossiler Schweine zu verringern, hat — wie erwähnt — Owen gemacht. Etwas weiter ist Rütimeyer gegangen, der („Ueber lebende und fossile Schweine“ in Verh. d. naturf. Gesellsch. in Basel, 1857, S. 541) einen Teil der tertiären und diluvialen Schweinearten einer kritischen Musterung unterworfen hat. R. hält mit Giebel Sus pris- cus von Goldfuss für eine Spielart des lebenden Schweins; er stellt in Abrede die Annäherung von Sus priscus Marcel de Serres an das Maskenschwein und meint: alle Verhältnisse vereinen sich, um das Schwein von Lunel- Vieil von Sus Zarvatus weit abzutrennen und es so nahe mit dem gemeinen Schwein zu vereinigen, dass der einzige Unterschied — größere Verhältnisse und bedeutendere Stärke — besonders im Gebiss, von fraglichem spezifischem Wert wird. Sus Arvernensis von Uroizet und Jobert, das überall als dem Schwein von Siam ähnlich erklärt wird, scheint R. selbst in den Größenverhältnissen mit einem gleich alten Frischling des Haus- schweins ganz gut übereinzustimmen. Sus antiquus, 8. palaeochoerus und 8. antediluvianus von Kaup sind nach R. weit besser vom Wild- schwein abgegrenzt, und es darf wohl ihre Berechtigung als beson- dere Arten nieht in Zweifel gezogen werden. Sie folgen in dem all- gemeinen Gepräge ihres Gebisses gänzlich der Gattung Sus im engern Sinne, und zwar am treusten demjenigen des Wildschweins. Das gemeinschaftliche Merkmal dieser drei miocänen Arten bestehe we- sentlich in dem an die Paläochöriden erinnernden Zurücktreten der Zwischenwarzen und Kerben der Backenzähne und daheriger stär- kerer Ausprägung der vier oder fünf Haupthügel der Molaren und der Hauptzacken der Prämolaren; bezeichnend sei auch die Verein- fachung des Sporns (Talon) vom letzten Molaren, sowohl in seinem Kronen- wie Wurzelteile. Gleiches Zutrauen schenkt R. den drei von Gervais vorgeschla- genen Arten Sus belsiacus, S. major und 9. provincialis. Sie gehen in der an die Paläochöriden erinnernden und überhaupt die fossilen Schweine im Vergleiche zu den lebenden kennzeichnenden Verein- fachung des Zahnbaues, durch Zurücktreten der Zahnwarzen und be- gleitende Sporne (Talons), sowie durch Vorwiegen der Hauptelemente der Zahnkronen noch weiter als die drei Arten des Rheinthals (bei Eppelsheim). Sie finden in dieser Beziehung ihre nächsten Nachbarn an den zwei lebenden Maskenschweinen, mit welchen sie überdies durch ein noch auffälligeres Merkmal verbunden seien, nämlich durch 5. Die schweineartigen Tiere. 2397 die bei Sus penicillatus vorkommende, beim gemeinen Schweine gänz- lich fehlende Schiefstellung der Höckerpaare von oberen und unteren Molaren (von hinten und innen nach vorn und außen). Unter den hinlänglieh bekannten fossilen Arten von Schweinen würden sich nach Rütimeyer demnach neben die drei lebenden, im Hausschwein über den größten Teil der alten Welt, in den beiden Maskenschweinen über Südafrika verbreiteten Arten, drei nordische, zuerst im Rheinthale gefundene (miocäne) stellen, die trotz bedeuten- derer Größe im allgemeinen dem Gepräge des gemeinen Schweins folgen, doch schon weit treuer als dieses die bei den Paläochöriden vorgezeichnete einfache Anlage der Kronenbildung behalten, und ferner drei dem Süden von Europa bisher eigentümliche Arten (plio- cäne), welche, den heutigen Maskenschweinen näher stehend als dem gemeinen Wildschweine, in dem ganzen Reichtum und der Harmonie des Gebisses das rein omnivore Gepräge miocäner hornloser Paar- hufer weit ungetrübter tragen als ihre heutigen Verwandten. — Eine letzte Art endlich, von dem lebenden Schweine schwer unterscheidbar, allein von sehr bedeutender Größe, sei vielleicht durch die Reste aus den Höhlen von Lunel-Vieil und Sundwich und wohl auch ander- wärts angedeutet; hierher rechnet R. auch den von Owen (a. a. 0. S. 428) abgebildeten dritten Molarzahn emes fossilen Sehweims aus jung-tertiären Schichten, der sich durch seine drei schiefgestellten Hügelpaare mit einem Sporn (Talon) unterscheidet von den Masken- schweinen und den oben genannten sechs tertiären Arten. Die wiederholt erwähnte große Aehnlichkeit zwischen der dilu- vialen und der gegenwärtigen Form von Sus Scrofa lässt schließen, dass die diluviale Art des gemeinen Schweins, ziemlich unabhängig von abändernden Einflüssen des Klimas und der Lebensweise, seine Form bis zur Gegenwart erhalten hat. Die Verschiedenheiten, welche sowohl die Formen der lebenden Schweine unter sich, wie von denen des Diluviums und zum Teil des jüngern Tertiärs trennen, sind solche, welche in die Breite der Rasse fallen; sie sind größtenteils ab- hängig von der Art der Ernährung und der Lebensweise, wodurch insbesondere auch die Körpergröße beeinflusst wird. Als Uebergangsformen zwischen den Schweinen des jüngern Ter- tiärs und des Diluviums einerseits und den Schweinen der Gegenwart anderseits, dürfen wir die Schweine der europäischen Pfahl- bauten betrachten. In seiner „Fauna der Pfahlbauten der Schweiz“ (8.26) hat Rüti- meyer unter den zahlreichen Schweineresten der Schweizer Pfahl- bauten drei Formen bestimmt: das Wildschwein Sus Scrofa ferus, das Torfschwein Sus Serofa palustris und das Hausschwein Sus Serofa domesticus. Der erstgenannten Art, die noch heutzutage fast in ganz Europa wild lebt, entstammen unzweifelhaft die zahlreichen Rassen des europäischen Hausschweins. R. hält das Torfschwein für eine 298 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. von dem gemeinen Wildschwein durch einige wesentliche und sehr beständige Merkmale des Zahnsystems zu unterscheidende Form, welche im Steinzeitalter neben jenem in Europa wild gelebt hat und Ausgangspunkt für zahme Rassen geworden ist. Einige derselben, die heute noch nicht fern vom Schauplatze der Pfahlbauten sich er- halten haben, können mit vieler Wahrscheinlichkeit bis auf das Torf- schwein zurück verfolgt werden, andere auf das gewölnliche Wild- schwein. Die merkwürdigste Form unter den Schweinen der Pfahlbauzeit ist jedenfalls das Torfschwein, das als wildes Tier schon vor der historischen Periode ausgestorben ist. R. kennzeichnet das Gebiss des Torfschweins durch folgende Punkte: 1. Mögliehstes Vortreten des Zahntypus omnivorer Dickhäuter (Paläochöriden) durch Vereinfachung der Molaren und Prämolaren. 2. Massiver warzen- und faltenloser Schmelzüberzug selbst bei Jungen Zähnen. 3. Molaren an Größe kaum hinter denjenigen des Wildschweins zurückbleibend. 4. Prämolaren kurz, zusammengedrängt, daher auch die gesamte Backenzahnreihe beständig kürzer als beim Wildschwein 5. Schneidezähne ebenso zusammengedrängt; der Schneidezahn- rand des Zwischen- und Unterkiefers um !/, bis !/, kürzer als beim Wildschwein. 6. Eekzähne in Größe, Gestalt und Richtung auf der Stufe Junger Ersatz - Eekzähne des Wildschweins zurückbleibend; die Ausdehnung ihrer Zahnfächer und die Lücke zwischen Schneidezahn und Prä- molarreihe um !/, hinter dem heutigen, um !/, hinter dem gleich- altrigen Wildschwein zurückstehend. Diese Verhältnisse des Gebisses haben in starkem Maße auf die zahntragenden Knochen zurückgewirkt. Der Oberkiefer des Torf- schweins ist in seinem vordern Teile niedriger und — wie der Zwischenkiefer — sehr merklich kürzer als beim Wildschwein. Im höchsten Maße auffallend ist aber die nahezu vollständige Rückbil- dung der Knochenwülste auf dem Zahnfache des obern Hauers selbst beim männlichen Tiere. R. meint, dass der Rüssel beim Torfschwein kürzer und schwächer war als beim Wildschwein. Da an den Schä- deln vom Torfschwein, welche R. untersucht hat, immer das Gesicht vom Gehirnschädel abgeschlagen war, so konnte er nur noch fest- stellen den im Vergleich zum Wildschwein bedeutenden Umfang der Augenhöhlen, ein Umstand, der mit den bisher besprochenen mehr auf die Lebensweise eines Pflanzenfressers, vielleicht auch auf mehr nächtliche Lebensweise des Torfschweins schließen lässt. Reichliches Material boten dagegen der Unterkiefer des Torfschweins, dessen wesentliche Merkmale waren: geringe Längenausdehnung, Niedrigkeit des wagrechten Astes, sehr kurze Knochenfuge am Kinn, geringe 5. Die schweineartigen Tiere. 299 Größe des Schneidezahnteils, schiefe Richtung, geringe Höhe und Breite des senkrechten Astes. Das kennzeichnende Gepräge des Torfschweinschädels besteht in dem kurzen niedrigen spitzen Gesichtsteil, der neben den kleinen Eekzähnen, die kaum über die Lippen vortreten konnten, neben dem schwach ausgebildeten Rüssel und den großen Augen dem Tiere ein Aussehen gab, das von demjenigen des Wildschweins ebenso sehr abweicht, wie unter unseren Haustieren das Aussehen des halber- wachsenen Ferkels von demjenigen eines alten Keilers. In „Neue Beiträge zur Kenntnis des Torfsechweins“ (Verh. d. Naturf.-Gesellseh. in Basel, 1864, S. 135) kommt Rütimeyer auf- grund der Untersuchungen von Herm. v. Nathusius!) zu der Ueber- zeugung: dass das Torfschwein als ein Verwandter des romanischen (Bündner) und des Ungarschweins erscheint, als ob es ein Kreu- zungsprodukt wäre zwischen indischem und europäischem Schwein, allein mit reieherem Anteil von letzterem, als seine beiden genannten Verwandten. Diese Ansicht stützt R. auf Messungen des Thränen- beines an 10 Schädeln vom Torfschwein (5 Schädeln aus schwei- zerischen Pfahlbauten, 5 Schädeln aus Mähren); bei den schweizerischen Schädeln verhielt sich die Höhe des Thränenbeins im Augenhöhlen- ande zum Wangenbein- und Stirnbeinrande wie 1 : 1,31 : 2,16 im Durchschnitt; bei den mährischen Schädeln wie 1: 1,29 : 2,30 im Durchschnitt. Das Torfschwein erscheint R. wie eine wilde Form des romanischen und des kraushaarigen Ungarsehweins, und die Be- ziehungen des Torfschweins zu dem indischen stehen ihm außer Zweifel; ja er geht noch weiter und stellt das Torfschwein in das- selbe nahe Verwandtschaftsverhältnis zu dem Ungarschwein, das Nathusius mit dem indischenHausschwein gradezu zu identifizieren geneigt ist. Dieser für Europa fremde, asiatische Faktor am Torf- schwein scheint ihm selbst sicherer belegt zu sein, als eine Mit- wirkung vonseiten des gewöhnlichen europäischen Wildschweins. R. stellt hier den wilden Zustand des Torfschweins in Frage und er ist geneigt es als keltisches Hausschwein anzuerkennen. 4) In seinen „Vorstudien f. Geschichte u. Zucht d. Haustiere, zunächst am Schweineschädel“, 1864, hat Herm. v. Nathusius nach der Form des Thränenbeins zwei Rassen des Hausschweins unterschieden: bei dem in- dischen Hausschwein ist das Thränenbein ungefähr so hoch (im Augen- höhlenrande) wie es oben (am Stirnbeinrande) lang ist und unten (am Wangen- beinrande) halb so lang wie oben; dagegen ist beim europäischen Haus- schwein — ebenso wie beim europäischen Wildschwein -- das Thränenbein viel länger als hoch; die Höhe desselben im Augenhöhlenrande beträgt an- nähernd die Hälfte der untern, mit dem Wangenbein verbundenen, und ein Drittel der Länge der obern, mit dem Stirmnbein verbundenen Seite; beim indischen Hausschwein verhält sich die größte Länge des Thränenbeins zur Kopflänge wie 1:10, beim Wildschwein wie !:6. 300 Wilekens, Paläontologie der Haustiere. J. W. Sehütz („Zur Kenntnis des Torfschweins“, Inaug.-Diss. Berlin 1868) berichtet über Knochenreste des Torfschweins aus den Pfahlbauten des Daber-, Persanzig- und Soldiner-Sees, sowie aus einem Grabe bei Wutzig; er kennzeichnet zunächst das Gebiss dureh die große Einfachheit in dem Bau der Prämolaren !) und Mo- laren, sowie durch den Mangel an Nebenhöckern, woraus sich eine Kräftigkeit und Dauerhaftigkeit der einzelnen Zähne ergibt; ferner durch die Zusammendrängung der Schneidezähne mit der entspreehen- den Verkürzung des Schneidezahnrandes in beiden Kiefern, dureh die Aehnlichkeit der Eckzähne (Hauer) völlig ausgewachsener Torfschweine in Richtung und Größe mit den jungen Zähnen des gemeinen Wild- schweins, endlich dureh die auffallende Gleichmäßigkeit in der Größe der Backenzähne zwischen Torfschwein und gemeinem Wildschwein, trotz der sehr geringen Körpergröße des erstern (eine Ausnahme hiervon macht nur der 3. Molarzahn). Die Thränenbeine sind weit länger als hoch; sie lassen sich daher in ihren Größenverhält- nissen keineswegs mit dem indischen Schwein vergleichen. Der Un- terkiefer ist ausgezeichnet durch seine geringe Längenausdehnung sowie durch die geringe Höhe seines wagrechten Astes; der senk- rechte Ast desselben verläuft viel stärker nach hinten gebogen als beim Wildschwein. Schütz meint (S. 41), dass das Torfschwein einen vorn äußerst zugespitzten Kopf mit kleinem Rüssel gehabt habe, ferner habe es in der Gegend der Thränenbeine ein, wenn auch nur schwach aufgeworfenes Gesicht und große Augen besessen. Der Kopf habe höchstens die Größe eines halb erwachsenen Schweins gehabt und dementsprechend sei das Torfschwein wahrschemlich auch nur ein kleines, leicht bewegliches und hochbeiniges Tier gewesen. Das letztere schließt er aus den verhältnismäßig langen Füßen. Diese Hochbeinigkeit selbst lasse auch wieder den Schluss zu — wie er wenigstens bei unserem jetzigen Hausschwein genügend festgestellt ist — dass das Torfschwein niemals sehr fett geworden, sondern mehr mager geblieben sei. Ferner hat die Untersuchung von 8. noch gezeigt, dass auch in den nördlichen Pfahlbauten zwei verschie- dene Schweinerassen gelebt haben: das Torfschwein und das alte Wildschwein. S. hält es auch für ein Ergebnis seiner Untersuchung, dass der Schädel des Torfschweins aus älteren Pfahlbauten anders gebaut ist als der desselben Tieres aus den jüngeren Bauten dieser Art. Doch können diese Unterschiede nur als Züchtungsergebnisse angesehen werden. Selbst die Schädelknochen des Torfschweins aus 1) Mir ist aus der Beschreibung von Schütz nicht klar geworden, wie viel Prämolaren der Unterkiefer seiner Torfschweine wirklich besaß; er sagt S. 24: „Fast bei allen Unterkieferstücken von Sus palustris, die mir zur Unter- suchung vorlagen, fehlte Praemolaris 4, während ich dieselbe bei allen mir zu gebote stehenden Schädeln von Sus Scerofa nachweisen konnte“. 5. Die schweineartigen Tiere, »01 den Pfahlbauten der Ostseeländer sind nach S. keineswegs gleich- förmig gebildet; sie zeigen leicht nachweisbare, durch Züchtung her- vorgerufene Unterschiede, welche uns berechtigen, den genannten An- siedlungen eine verschiedene Periode ihrer Entstehung zuzuschreiben. Es sei keine Frage, dass die Pfahlbauten, in denen Tiere sich vor- finden, welche die meisten Züchtungsmerkmale an ihrem Skelet zei- gen, die jüngsten sein müssen und umgekehrt. Schütz findet — im Gegensatze zu Rütimeyer — nirgends einen Anhalt dafür, dass das Torfschwein neben den Pfahlbauten wild gelebt habe. Vielmehr ist nach seiner Ansicht — aufgrund der von ihm und R. Hartmann vorgenommenen Untersuchungen am Schädel des Sus Sennariensis — das Torfschwein, Sus palustris Rütimeyer’s — das Sennaarschwein, Sus Sennariensis Fitzinger's, was zu dem Schlusse führt: dass das Torfschwein der Pfahlbauten aus jenen Gegenden stammt, in denen das Sennaarschwein noch heute lebt, d. h. aus Mittelafrika. Das Sennaarschwein Mittelafrika’s sei zuerst in den älteren Pfahlbauten gezähmt worden und von diesen in die jüngeren übergegangen; daher die ausgezeichneten Zeichen der Züchtung am Torfschwein aus jüngeren Pfahlbauten. Ebenso steht nach S. fest, dass das Torfschwein mit dem Wildschwein, Sus Serofa ferus, nichts gemein habe, und dass jenes nicht als Züchtungsergebnis aus letzterem angesehen werden könne, sondern dass beide Rassen auseinandergehalten werden müssen. In seiner Abhandlung „Einige weitere Beiträge über das zahme Schwein und das Hausrind“ (Verhandl. d. Naturf.-Gesellsch. in Basel, 1877) schließt sich Rütimeyer vollkommen an die Ansicht von Herm. v. Nathusius (a.a.O. S. 146) an, dass das Torfschwein als wildes Tier nieht neben den Pfahlbauten gelebt habe. Der Schädel eines zahmen Schweins aus Saigun — den er erkennt als „eine durch Kultur verzerrte, aber nicht im mindesten verwischte, sondern grade zum Exzess gesteigerte Modifikation von Sus vittatus* — gibt R. Anlass zu dem Ausspruche: „dass, vorderhand in Kochinchina, Sus vittatus als eine Quelle zahmer und dem Anscheine nach nicht in kurzer Frist veränderter Schweine betrachtet werden darf“. R. ist geneigt jene Kulturform Sus vittatus als eine Quelle des indischen Hausschweins und damit auch des Torfschweins zu betrachten; er hält also Asien für die Heimat des Torfschweins — im Gegensatze zu Schütz und R. Hartmann, welche das Torfschwein vom mittel- afrikanischen Sennaarschwein ableiten. Ueber den Schädel des Sennaarschweins spricht sich Rüti- meyer in der zuletzt erwähnten Abhandlung gleichfalls aus. Er ver- gleicht den (weiblichen) Schädel desselben mit einem der romanischen Rasse angehörenden Urnerschwein; das Thränenbein des erstern ist gleich kurz wie bei dem Urner, aber merklich höher. „Es verhält sich hierin wie der Schädel von Sus vittatus, mit welchem überhaupt alles, 302 Wilcekens, Paläontologie der Haustiere. was vom Urnerschwein verschieden ausfällt, am nächsten überein- stimmt. — Eine Achnlichkeit mit dem Torfschwein liegt nur in der Form des Thränenbeins, während sonst die schmale gestreckte Schädel- form, die dünne Schnauze mit schmalem Gaumen, die lange Kinn- symphyse, das schwächliche Gebiss mit dem Torfsehwein nichts gemein hat !). G. Rolleston („On the Domestie Pig of Prehistorie Times in Britain“ in Transact. of the Linnean Soe. of London, see. Ser. vol. I 1879 p. 279) ist geneigt anzunehmen, dass Rütimeyer den von ihm Taf. 41 Fig. 2 abgebildeten Schädel einer Wildsau aus dem Alluvium des Themsethales als dem Torfschwein angehörig erklären wird, was Rütimeyer (Verh. d. naturf. Ges. in Basel, VI, 3, 1877) auch gethan hat, ebenso wie er den von Rolleston Taf. 41 Fig. 1 abgebildeten sogenannten keltischen Schädel aus Yorkshire auch für das Torf- schwein in Anspruch nimmt, was ich aber aufgrund des kurzen Thränenbeins in Zweifel stellen möchte. Eine der Ansicht Rütimeyer’s von der indischen Herkunft des Torfschweins günstige Anschauung vertritt Forsyth-Major („Stu- dien zur Geschichte der Wildschweine“ in Carus’ Zool. Anz., VI, 1883, S. 235); er vereinigt 16—17 in der zoologischen Literatur gangbare 4) Von drei Schädeln des Sennaarschweins, welche ich aus dem ägyptischen ’ © Sudan bezogen habe, behielt ich -— nach Abgabe des einen an Herın Rüti- meyer — den Schädel eines fast ausgewachsenen Ebers (der 3. Molarzahn war eben durchgebrochen) und eines Eberferkels mit vollständigem Milchgebiss für die unter meiner Leitung stehende zootomische Sammlung der k. k. Hoch- schule für Bodenkultur zu Wien. Ich finde die größte Aehnlichkeit zwischen dem Schädel des Sennaarschweins und dem des Torfschweins (von dem ich einige Musterstücke aus Schweizer Pfahlbauten besitze), nicht bloß inbetreff der Form des Thränenbeins, sondern auch bezüglich der Form des Unterkiefers und vor allem des Gebisses in beiden Kiefern. Ein vollständiges Ober- und Unterkiefergebiss von einem Torfschwein aus dem Pfahlbau des Bieler Sees zeigte folgenden Zahnbestand: Schneidezähne =. Molaren 3; genau 80 ist der Zahnbestand beim Sennaarschwein, wobei ich freilich bemerken muss, dass das mir vorliegende Exemplar eines ausgewach- senen Ebers in jeder Kieferhälfte nur je 2 Schneidezähne besaß, ohne jede Andeutung des fehlenden dritten, was ich aber als eine individuelle Unregel- mäßigkeit betrachte. Besonders wichtig ist, dass den beiden hier in Vergleich gezogenen Schweinen der vierte Prämolarzahn im Unterkiefer fehlt und keine Spur seine jemalige Anwesenheit verrät. Auch die Form der Höcker an den Molaren zeigt eine große Uebereinstimmung zwischen dem Sennaar- und dem Torfschwein. Ich bin daher geneigt mich der Ansicht von R. Hartmann und J. W. Schütz anzuschließen: dass das Torfschwein von dem mittelafrikani- schen Wildschwein abstammt. Ich nehme mit Hartmann an, dass das letztere nach Europa herübergekommen ist, als noch beide Erdteile zusammenhingen und dass es in Europa gezähmt wurde. ! 4 Ecekzähne p Prämolaren FR 5. Die schweineartigen Tiere. 303 Namen von gegenwärtig lebenden Schweinearten unter der einzigen Benennung Sus vittatus, unter jenen auch Sus sennariensis, d. h. er er- klärt diese mittelafrikanische Art für einen Abkömmling des Wild- schweins, „welches wir — mit geringen Abweichungen der Schädel- bildung — gegenwärtig von Sardinien bis Neu-Guinea, und von Japan bis Südwest- Afrika (Damara) verbreitet finden“. Der Schwerpunkt ihrer Verbreitung liegt nach F.-M. in der orientalischen und der äthiopischen Region, welche beide in ihrer ganzen Ausdehnung dieses Wildschwein zu beherbergen scheinen; außerdem aber greift dieselbe Form weiterhin über, einerseits auf die paläarktische Region (Sardinien und Japan), anderseits auf die australische Region (Neu-Guinea und umliegende Inseln). Auf der Insel Sardinien fand F.-M. ein Wild- schwein, das er zwar 8. Scerofa meridionalis nannte, das aber mit eben so viel Berechtigung als Varietät von S. vittatus aufgefasst zu werden verdient, außerdem aber auch „in mehreren Punkten Annäherung an das Torfschwein der Pfahlbauten zeigt (Kosmos XII, 1883, S. 11)“. — Wenn also das Torfschwein in der Form übereinstimmt mit 5. senna- riensis, und dieses mit S. vittatus, dann wäre die indische Herkunft des erstern erwiesen, aber auch die afrikanische nicht ausgeschlossen. Die schweineartigen Tiere, welche wir bisher in betracht gezogen haben, gehören — mit Ausnahme von Leidy’s Elotherium und den zweifelhaften Formen Sus americanus und Hyops depressifrons — der alten Welt an. Wir haben uns nun noch mit den Suiden der neuen Welt bekannt zu machen, beziehungsweise mit denen Amerikas, da aus Australien fossile Schweineformen bisher nicht bekannt gewor- den sind. Was zunächst Nordamerika betrifft, so verdanken wir Marsh („Introduetion and Suecession of Vertebrate Life in America“ in Amerie. Journ. of se. and arts, 1877, vol. XIV, p. 362) eine vortreff- liche Uebersicht über die Geschlechtsfolge- der schweineartigen Tiere in Nordamerika. In den untereocänen Coryphodon-Lagern von Neu-Mejiko — sagt Marsh — kommt der älteste bisher gefundene Paarhufer vor, von dem gegenwärtig aber nur aus Bruchstücken bestehende Muster be- kannt sind. Diese Ueberreste zeigen die deutlichen Merkmale der Suiden und sie gehören zu der Gattung Eohyus. In den Lagern darüber, möglicherweise in demselben Horizont, ist die Gattung Helohyus nicht selten und mehrere Arten derselben sind bekannt. Die Molarzähne dieser Gattung sind sehr ähnlich denen des eocänen Hyracotherium von Europa, von welcher Gattung man annimmt, dass sie ein Unpaar- hufer sei, während Helohyus es gewiss nicht ist, sondern augenschein- lich als ein wahrer gradliniger Vorfahr der gegenwärtigen Schweine Amerikas erscheint. Neben der Hauptlinie der Suiden, die sich bis zu den Formen der Gegenwart fortsetzt, kommen auch im Eocän Nordamerikas einige Seitenzweige vor, welche das Miocän nicht er- 304 Wilekens, Paläontologie der Haustiere. reicht zu haben scheinen, sondern früher ausgestorben sind; als solchen Seitensprössling führt M. an die Gattung Parahyus. Alle alten Suiden des Eocäns — mit wahrscheinlicher Ausnahme von Parahyus — scheinen vier brauchbare Zehen gehabt zu haben. Im untern Miocän kommt die Gattung Perchoerus vor, anschei- nend ein echter Schweinetypus, und mit ihr zahlreiche Ueberreste von Elotherium; diese Gattung — die wir bereits kennen gelernt haben — kennzeichnet M. ebenfalls als abweichenden Spross des Schweine- typus. Im obern Miocän von Oregon sind Suiden häufig; sie gehören zumeist der Gattung Thinohyus an, einem nahen Verwandten des gegenwärtigen Pekari (Dicotyles), von dem sie sich aber unterschei- den durch eine größere Zahl von Zähnen und einige wenige andere Merkmale. Im Pliocän sind Suiden zahlreich; alle bis jetzt entdeckten amerikanischen Formen sind nahe verwandt mit Dicotyles. Die Gat- tung Platygonus ist durch mehrere Arten vertreten, von welchen eine in den nachtertiären Schichten von Nordamerika sehr zahlreich ist; sie ist augenscheinlich das letzte Beispiel eines Seitenzweiges, bevor die amerikanischen Suiden ihren Höhepunkt in den jetztlebenden Pekaris erreichen. Die Füße dieser Art sind mehr vereinfacht als in den lebenden Formen; sie nähern sich einigen der eigentümlichen Merk- male der Wiederkäuer; so zum Beispiel haben sie eine starke Neigung die Mittelfußknochen zu verschmelzen. Die Gattung Platygonus starb in der nachtertiären Zeit aus; die späteren, sowie die noch jetzt lebenden Arten sind sämtlich echte Pekaris. Von den Gattungen Sus, Porcus, Phacochoerus, oder des verwandten Hippopotamus — den Suiden der alten Welt — sind keine unzweifelhaften Ueberreste in Amerika gefunden!), obgleich einige darauf bezügliche Mitteilungen gemacht geworden sind ?). In der Linie der Gattungsformen zwischen dem untereocänen Bohyus und dem gegenwärtigen Dicotyles haben wir offenbar die Stammlinie, welche in der Amerika eigentümlichen Form von Schweinen endigt. Das der Gattung Sus angehörende Hausschwein Amerikas aber ist aus der alten Welt eingeführt worden. Die Einzelbeschreibungen der von Marsh erwähnten tertiären und nachtertiären Schweineformen Nordamerikas sind mir nur zum Teile zugänglich gewesen, weshalb ich nur die folgenden Formen in betracht ziehen kann. 1) Fossile Formen der afrikanischen Gattung Phacochoerus und der in- dischen Gattung Porcus (Babirussa) sind mir nicht bekannt geworden. Giebel (a. a. O. S. 114) führt ein von Faleoner entdecktes Fossil von Porcus an, von dem ich aber in F.’s Memoirs nichts finde. 2) Mit diesem Ausspruche ist auch Harlan’s Sus americanus verurteilt. 5. Die schweineartigen Tiere. 305 Aus der eocänen Schicht der Rocky Mountains von Wyoming be- schrieb Marsh (Americ. Journ. of se. and arts, 1876, vol. XII, p. 402) einen fast vollständigen Unterkiefer mit Zähnen und einige andere Ueberreste, welche er einer neuen Gattung und Art, Parahyus vagus, zuerkennt. Der Unterkiefer zeigte eine nahe Verwandtschaft zu dem von Elotherium und Helohyus, aber er ist leicht von dem dieser Gat- tungen zu unterscheiden, weil er einen Prämolarzahn weniger hat; hauptsächlich aber unterscheidet er sich durch seinen Molarzahn, welcher einen gut entwickelten Hinterlappen hat. M. rechnet Parahyus auch zu den im Eocän erloschenen Seitenformen der Hauptstamm- linie; er schätzt die Größe von Parahyus gleich der eines lebenden Wildschweins, aber der Unterkiefer war verhältnismäßig kürzer und stärker, der Eckzahn groß und die drei zweiwurzligen Prämolaren erscheinen zusammengepresst (compressed). Von Perchoerus probus beschrieb Leidy (Ext. Mamm. Fauna of Dakota and Nebraska p, 195) zwei Bruchstücke von Unterkiefern mit Zäbnen aus den Mauvaises Terres. Die Zähne haben eine allgemeine Aehnlichkeit in Form, Struktur und Größe mit denen des gegenwär- tigen Pekari; sie ähneln aber auch denen von Palaeochoerus und Hyo- therium, und L. meint, dass sie vielleicht wirklich zu einer dieser Gattungen gehören (früher sind sie der Gattung Palaeochoerus zuge- schrieben worden unter dem Namen Pal. probus). Mit dem Namen Leptochoerus spectabilis bezeichnet Leidy (a.a. 0. S. 197) das kleine Bruchstück eines Unterkiefers mit dem ersten und zweiten Molarzahn aus demselben Fundort. Das Fossil zeigt augen- schemlich ein kleines schweineartiges Tier an, welches ungefähr die Größe hatte seiner vorangegangenen Verwandten derselben Familie, nämlich von Hyracotherium cuniculus und Microchoerus erinaceus aus der Eocänformation Englands. Die Molarzähne ähneln in der Form den entsprechenden des Pekari; sie erscheinen länglich viereckig bei seitlicher Ansicht, und länglich viereckig mit abgerundeten Winkeln und einer medianen Einschnürung (constrietion) bei der Ansicht von oben. L. hat später ein Bruchstück von der rechten Seite eines Ober- kiefers erhalten, welches er derselben Art zuschreibt. Zwei Molar- zähne des Oberkiefers haben quergestellte gleichdreiseitige (trihedral) Kronen und sie sind — wie L. angibt — sehr breit in dieser Rich- tung (d. h. im Querdurchmesser). Die Abbildung Taf. XXI Fig. 14 aber lässt ganz deutlich fünfhöckrige Molaren erkennen (wie bei den eocänen Suiden Europas), die mit den Molaren des Pekari gar keine Aehnlichkeit haben. Mit Rücksicht auf den stark gerunzelten Schmelz, wie auch auf die allgemeine Erscheinung der Ober- und Unterkiefer- zähne erklärt L., dass die Zähne von Leptochoerus einige Aehnlichkeit haben mit denen von Pliolophus aus dem Eocän Englands. Diese Aehnlichkeit indess — soweit sich dies aus Abbildungen erkennen lässt — erstreckt sich, abgesehen von den Schmelzrunzeln, bloß auf 20 306 Wilekens, Paläontologie der Haustiere. die Form und die Einzelstellung der Höcker, deren Zahl dort fünf, bei Pliolophus !) aber nur vier beträgt. Aus Hayden’s Sammlung von Niobrara-Fossilen erwähnt L. einen obern Eekzahn — den er auch abgebildet hat — von einem Pekari, von nahezu gleicher Größe mit dem entsprechenden Zahne von Platy- gonus compressus; er zeigt eine mittlere Längsrinne an der Außen- und Innenfläche; seine Zugehörigkeit zu einer besondern Art erscheint ihm ungewiss. Aus derselben Sammlung von Fossilen der Mauvaises Terres vom’ White River in Dakota erwähnt Leidy (S. 200) ein Bruchstück von dem linken Unterkieferrest eines kleinen schweineartigen Tiers, wel- ches er nannte Nanohyus porecinus. Die Zähne (der letzte Milchprämolar, zwei Molaren und der vor- dere Teil des dritten, teilweise zum Durchbruch gekommen) haben besondere Formen, die sehr umständlich beschrieben, aber nicht ab- gebildet sind. Obgleich L. die Bestimmung der Verschiedenheit seines Fossiles von den entsprechenden Teilen anderer bekannter Tiere schwer seworden ist, so erscheinen ihm dessenungeachtet die gefundenen Merkmale für ausreichend, um dasselbe einer besondern Gattung und Art zuzuschreiben. Ueber irgendwelche Aehnlichkeiten oder über die systematische Stellung von Nanohyus sagt L. nichts. In den „Contributions to the extinet Vertebrate Fauna of the Western Territories“, 1873, p. 216, behandelt Leidy einzelne Molar- zähne des Unterkiefers aus der Tertiärschieht von John Day’s River in Oregon; sie haben nahezu die Größe und die Beschaffenheit (con- stitution) derjenigen des Halsband -Pekari, obgleich sie stark abge- rieben und daher glätter erscheinen als in einem jüngern Zustande; aber abgesehen davon zeigen die Höcker ihrer Krone nicht die run- zelige Beschaffenheit wie bei den lebenden Pekaris. Das zugehörige Tier nannte L. Dicotyles pristinus; er hält es für ungefähr gleich groß und nahe verwandt mit dem lebenden Halsband-Pekari. L. er- wähnt ferner, dass Marsh einige Ueberreste von Pekaris aus dem- selben Fundorte beschrieben habe, welche er zweien Arten unter dem Namen Dicotyles hesperius und Platygonus Coudoni zuerkannt habe. Die erstere sei geschätzt als ungefähr von halber Größe des Hals- band-Pekaris, die andere als ungefähr von der Größe des gemeinen Schweins. Ueber die fossilen Schweine Südamerikas — die sämtlich der Gattung Dicotyles angehören — berichten H. Gervais und Ameghino („Les Mammiferes fossiles de ’Amerique du Sud“, 1880, p. 111); sie unterscheiden, außer einigen unbenannten, folgende Arten: 4) Nach Owen (Paläont. 1860 $. 325) gehört die Gattung Plolophus zu den Unpaarhufern, und zwar bildet sie — zusammen mit der Gattung Hyracotherium — eine wohl markierte Abteilung der Familie Lophiodon. 5. Die schweineartigen Tiere. 307 Dicotyles affinis torquatus Lund (= D.torg. foss. Blainville), gefun- den von Lund in Höhlen Brasiliens; D. affinis labiatus Lund, eine der gleichnamigen lebenden sehr nahe stehenden Art; D. stenocephalus Lund, deren Gestalt doppelt so groß war wie die der lebenden Art. Die beiden genannten Forscher haben offenbar die Ueberreste dieser fossilen Pekaris nicht selbst gesehen und daher auch nicht beschrieben; sie berufen sich bloß auf Lund, dessen Beschreibung dieser Ueber- reste mir nicht zugänglich war. Wir begegnen also in Nord- wie in Südamerika nur solchen fos- silen Formen von Schweinen, die mehr oder weniger übereinstimmen mit denen der lebenden Pekaris, in welchen jene ihren Gipfel in der Gegenwart erreichen. Die Gattung Dicotyles bildet nach Kowalevsky (a.a.0. 5.193) die vierte Stufe der angepassten Gruppe der Suiden. Bei ihnen ist die Verkürzung der Seitenzehen am weitesten vorgeschritten; sie be- ginnen selbst gänzlich zu schwinden, von dem Metatarsale V aus- gehend. Das Metacarpale III, welches sich schon bei Sus die Hälfte des Trapezoids angeeignet hat, nimmt bei Dicotyles diesen ganzen Knochen für sich ein, wobei das Metacarpale II gänzlich von jedem Zusammenhange mit dem Carpus ausgeschlossen bleibt; es hängt nur an einer seitlichen Fläche des Metacarpale III angehaftet und kann bei der Bewegung keine Dienste mehr leisten. Das Metacarpale IV hat die ganze untere Fläche des Uneiforme eingenommen, und das Metacarpale V hängt nur noch an einer kleinen äußern Gelenkfläche desselben. Die beiden mittleren Metacarpalien sind sehr fest anein- ander angeschweißt, und es lagK. ein Exemplar vor, an welchem sie schon völlig verwachsen waren. Am Hinterfuße der Dieotylinen be- steht dieselbe Anordnung; das Metatarsale III hat das ganze Cunei- forme III und II eingenommen, wobei das Metatarsale II fast nur von dem Cuneiforme I getragen wird. Bei Dicotyles labiatus ist das Metatarsale V gänzlich verloren oder auf einen länglich platten Ueber- rest verkürzt. Sowohl die zwei Metatarsalien wie die Rollen der unteren Enden aller Mittelfußknochen sind mit einander verwachsen. Somit haben wir in Dicotyles einen für unsere Periode am meisten vereinfachten Vertreter der höckerzähnigen Paarhufer. In vielen Ver- hältnissen sind seine Füße mehr vereinfacht als bei der ihm etwa parallelen Form in der Abteilung der Halbmondzähner — dem Hyae- moschus; anderseits ist er weniger vereinfacht, weil sein Os magnum mit dem Trapezoideum und das Cuboideum mit dem Naviculare noch nicht verschmolzen ist, obwohl sich dies bald ereignen muss, da am Vorderfuße das Magnum und Trapezoideum, die für zwei getrennte Metacarpalien bestimmt waren, nun beide einem einzigen (dem III.) zur Stütze dienen; am Hinterfuße muss das Cuboideum mit dem Naviculare auch verschmelzen, weil sie ja beide nur einen Knochen zu tragen haben — das verwachsene Metatarsale III und IV — und 20 508 Imm. Munk, Ueber Resorption u. Bildung des Fettes im Tierkörper. deswegen nicht getrennt zu werden brauchen. Wenn dies einmal, ver- bunden mit einer noch engern Verschmelzung der zwei mittleren Mittelfußknochen und noch größerer Verkürzung der Seitenzehen, ein- treten wird, dann ist ein derartiger Fuß von der Röhre (Canon) eines Wiederkäuers nicht zu unterscheiden; die fortschreitende Vereinfachung in dieser Familie aber geschieht nach K. so stetig und regelmäßig, von der untermiocänen Periode an, dass man über deren weitern Gang gar nicht in Zweifel bleiben kann. Wenn wir aber die Suiden der gegenwärtigen Periode auf dieser Stufe der Vereinfachung treffen, so haben wir nach K. kein Recht zu sagen, dass dies ihr bleibender Zustand sei. Die möglichst größte Vereinfachung des Skelettes ist bei den Huftieren ein Drang, dem alle Jetzt lebenden wie fossilen Formen folgen und dem keine entgeht. Die Vereinfachung wird immer bis zu ihrer letzten Möglichkeit durch- geführt, und jede Reihe von Formen, wenn sie einmal die Bahn der angepassten Vereinfachung betreten hat, befolgt dieselbe bis zu ihrem Gipfelpunkt, d. h. bis zu einem solchen Zustande, wo keine weitere Vereinfachung mehr möglich ist!). M. Wilckens (Wien). Neuere Untersuchungen über die Resorption, Bildung und Ablagerung des Fettes im 'T'hierkörper. Ueber die Form, in welcher die Resorption des Nahrungsfettes thatsächlich erfolgt, haben die Ansichten der Autoren, seitdem vor fast nun 30 Jahren Cl. Bernard im Bauchspeichel ein fettspaltendes Ferment gefunden hat und man später erkannte, dass auch die im Darmkanal nie fehlenden Fäulnisfermente einer analogen fettspaltenden Wirkung fähig sind, hin und hergeschwankt. Bald hat man ange- nommen, dass der größte Teil des Fettes der Spaltung anheimfällt, und dass die hierbei frei gewordenen Fettsäuren, von dem Alkali des Bauchspeichels und der Galle gebunden, als Seifen der Resorption zugänglich werden, bald hat man wiederum der Auffassung zugeneigt, dass das Nahrungsfett im Darm in weit überwiegender Menge unan- gegriffen bleibt und als Fettemulsion in den Chylus übertritt. Nun zeigt aber eine einfache Berechnung, die Ref. angestellt hat?), dass bei reichlicher Fettfütterung — ein mittelgroßer Hund kann 200-350 g Fett ohne Schwierigkeit im Tag resorbieren — zur Ueberführung der Fettsäuren von nur 200 g Fett etwa 39 g Natriumkarbonat erforderlich sind, während das Gesamtblut, die Lymphe nnd die alkalisch rea- gierenden Säfte und Gewebe eines mittelgroßen (25 kg schweren) Hundes, hoch gerechnet, 12 g Natriumkarbonat enthalten, sodass selbst unter der ganz unwahrscheinlichen Annahme, das gesamte Alkali des Körpers würde für die Zwecke der Fettverseifung mit dem Bauch- 1) Anm.: In nächster Nummer noch ein Nachtrag. Die Red, 2) Vgl. Virchow’s Arch., Bd. 95, 8. 408. Imm. Munk, Ueber Resorption u. Bildung des Fettes im Tierkörper. 309 speichel und der Galle in den Darm ergossen, damit nur ?/,, des Alkalibedürfnisses für die Verseifung des Nahrungsfettes befriedigt wird. Die eben berührte Schwierigkeit war beseitigt, wofern es gelang, einen andern Modus aufzufinden, mittels dessen das Fett bezw. die daraus abgespaltenen Fettsäuren in die Körpersäfte übertreten können, ohne einer vorgängigen Verseifung unterliegen zu müssen. Ref. konnte zeigen), dass die Bedingungen für die Emulgierung der festen Fett- säuren (Oel-, Palmitin- und Stearinsäure) durch Eiweiß- und Alkali- Lösungen sehr ähnliche sind wie beim Neutralfett; es brauchen nur etwa 5—13°/, der Fettsäuren in Seifen verwandelt sein, die übrigen 87—95 °/, der Fettsäuren werden als solche von der alkalischen eiweiß- haltigen Lösung emulgiert getragen. Solche Emulsionen von festen Fettsäuren unterscheiden sich weder makro- noch mikroskopisch von Emulsionen der Neutralfette, und eine Unterscheidung beider ermög- licht nur die chemische Analyse. Die Ausnutzung gefütterter fester Fettsäuren im Darm des Hundes erfolgt, wie die Bestimmung der danach mit dem Kot abgehenden Fettkörper ergab, wofern dieselben bei Körpertemperatur flüssig sind, wie das Gemenge der aus Schweinefett erhältlichen Fettsäuren, ebenso gut als die der entsprechenden Menge Neutralfett; bei Einführung der Fettsäuren aus 70 g Fett gingen 0,62 g Fettsäuren und etwa 0,6 g Seifen, nur 0,17 g Fettsäuren und 0,2 g Seifen mehr als bei Fütterung mit 70 g Neutralfett, mit dem Kot ab. Weiter haben auf die Feststellung des Eiweißzerfalls gerichtete Stoffwechselversuche an Hunden zu dem Resultat geführt, dass den festen Fettsäuren der gleiche Wert als Sparmittel für den Eiweiß- verbrauch im Körper zukommt, wie der ihnen (chemisch) äquivalenten Menge von Neutralfett. Und dass auch für längere Zeit die Fett- säuren die stoffliche Wirkung der Fette zu erfüllen vermögen, dies zu erweisen ist gleichfalls geglückt. Ein großer Hund von 31 kg, der mit einem Futter aus Fleisch und Fett im Stiekstoff- und Körper- gleichgewicht sich befand, verharrte auf seinem Eiweißbestande und seinem Körpergewicht, auch wenn Wochen hindurch statt des Fettes nur die in letzterem enthaltenen festen Fettsäuren gegeben wurden. Füttert man ausschließlich feste Fettsäuren, so findet man die Chylusgefäße mit einem milchigen Inhalt erfüllt, nicht anders als dies bei Einführung von Neutralfett der Fall ist, und zwar verläuft die Resorption der Fettsäuren, wie die Menge des zu verschiedenen Zeiten der Verdauung aus dem Duetus thoracieus aufgefangenen Chylus ergab, sehr ähnlich der Aufsaugung von verfüttertem Neutralfett: der Uebertritt der Fettsäuren erfolgt schon in der 3. Stunde nach ihrer Einführung in den Magen, erreicht gegen die 7. Stunde seinen Höhe- punkt, auf dem er noch in der 12. Stunde verharrt; weiterhin scheint die Resorptionsgröße wieder langsam abzunehmen. Es hat nun die 1) Virchow’s Arch,, Bd. 80, S. 10—39, 1880. 310 Imm. Munk, Ueber Resorption u. Bildung des Fettes im 'Tierkörper. chemische Analyse des nach Darreichung von Fettsäuren gewonnenen milchweißen Chylus das höchst bemerkenswerte Resultat geliefert, dass der Chylus, obwohl doch nur Fettsäuren zur Resorption ge- langen konnten, reichlich Neutralfette enthält, günstigenfalls 38 mal so viel als durch den Brustgang des hungernden, und etwa 20 mal so viel, als durch den Brustgang eines nur mit magerem Fleisch ge- fütterten Hundes hindurchströmt; daneben fand sich ein geringer An- teil an freien Fettsäuren, während die Menge der Seifen nicht erheb- lich größer war, als bei reiner Fleischverdauung. Aus allen diesen Befunden war zu schließen, einmal dass die Fett- säuren überwiegend als solche zur Resorption gelangen, und ferner, dass sie schon auf dem Wege von der Darmhöhle bis zum Brustgang einer Umwandlung zu Neutralfett, einer Synthese unterliegen. Bei ausschließlicher Darreichung von Fettsäuren muss das zur Synthese nötige Glyzerin — auf 11 Teile Fettsäuren ist etwa 1 Teil Glyzerin erforderlieh — in gleicher Weise wie das für die Hippursäurebildung (aus Benzo&säure) erforderliche Glykokoll, vom Körper geliefert werden. Außer als Neutralfett könnte danach das Nahrungsfett nach vor- gängiger Spaltung in Form einer Emulsion freier fester Fettsäuren der Aufsaugung zugänglich werden, ja es könnte diesem Modus selbst der überwiegende Teil des Nahrungsfettes unterliegen, ohne dass sich in bezug auf die stofilichen Zersetzungen im Tierkörper ein auffälliger Unterschied zu erkennen gäbe, weil eben die Fettsäuren annähernd vollständig im Darm ausgenutzt werden und dieselbe Bedeutung als Sparmittel für den Eiweißumsatz im Tierkörper besitzen, als die chemisch äquivalente Menge von Neutralfett. Das Verständnis für die stoffliche Gleichwertigkeit derselben war durch den Nachweis wesentlich gefördert, dass die Fettsäuren, unmittelbar nach ihrer Re- sorption und noch bevor sie ins Blut gelangen, zu Neutralfett werden. Bevor wir uns nun der wichtigen Frage zuwenden, inwieweit unter normalen Verhältnissen die Resorption des Nahrungsfettes in Form von Fettsäuren zutrifft, gilt es den vorher angeführten Befund der Synthese der Fettsäuren zu Fett über jeden Zweifel zu erheben, umsomehr als v. Voit jenen Befund anders zu deuten versucht hat. Nach Voit könnte der Chylus nach Aufnahme von Stoffen (d. h. der Fettsäuren), welche das aus dem Eiweiß abgespaltene Fett vor der weitern Zersetzung schützen, reicher an Fett werden. Ref. hat daher unter Erweiterung seiner eben besprochenen Ver- suche den bündigen Nachweis zu erbringen sich bemüht, dass bei Fütterung mit großen Mengen von festen Fettsäuren nicht diese, son- dern das entsprechende Neutralfett im Körper zum Ansatz gelangt. Eine notwendige Voraussetzung für eine solehe Versuchsmöglichkeit bildet die Thatsache des direkten Uebergangs von verfüttertem Neutral- fett, auch wenn dasselbe dem Körper des Versuchstiers heterogen ist, in die Zellen des Tierkörpers. Imm. Munk, Ueber Resorption u. Bildung des Fettes im Tierkörper. 311 Lebedeff!) war es zuerst gelungen, beim Hunde nach Fütte- rung mit reichlichen Mengen Leinöl bezw. Hammelfett ein dem Leinöl bezw. Hammelfett sehr ähnliches Fett zum Ansatz zu bringen, doch hatte, zumal eine eingehende chemische Untersuchung des angesetzten heterogenen Fettes nicht vorlag, v. Voit?) in einer neuerdings ge- haltenen und durch den Druck verbreiteten Rede bezüglich der An- gaben von Lebedeff einen leisen Zweifel ausgesprochen, umsomehr als früher weder Radziejewski°) nach Fütterung von Rüböl, nach Subbotin*) nach Fütterung von (stearinfreiem) Palmöl einen Ansatz der bezw. heterogenen Fette hatten konstatieren können. Um daher der Frage über den Ansatz des Nahrungsfettes als solchen eine weitere Stütze zu geben, hat Ref.) zunächst den Fütterungsversuch mit Rüböl, der Radziejewsky nicht geglückt war, wiederholt. Der zum Versuche dienende Hund erhielt, nachdem er durch 12tägige unzureichende Fleischfütterung und daran anschließenden 33 tägigen Hunger über !/, seines Körpergewichts und damit den größten Teil seines Körperfettes eingebüßt hatte, innerhalb 17 Tagen im ganzen 2260 g Küböl neben 5250 g Fleisch; dabei stieg sein Körpergewicht wieder um 13°], an. Durch Ausschmelzen des Fett- gewebes aus dem Panniculus adiposus, aus der Bauch- und Brust- höhle des (durch Chloroform getöteten) Hundes wurden 1,42 kg eines bei Zimmertemperatur flüssigen gelben Fettes erhalten. Auch die Muskeln und die Leber erwiesen sich sowohl nach der mikroskopi- schen als chemischen Untersuchung außerordentlich fettreich: der Fett- gehalt des ganzen Körpers betrug mindestens 2 kg. Das Fett, das sich schon äußerlich durch seine flüssige Beschaffenheit bei Zimmer- temperatur als durchaus verschieden vom normalen Hundefett kenn- zeichnete, enthielt nur ?/, soviel an festen Fettsäuren (Palmitin- und Stearinsäure) als normales Hundefett, dagegen 14°/, Oelsäure mehr als Hundefett; Ref. berechnete daraus, dass das abgelagerte Fettöl ein Gemenge von mindestens 3 Teilen Rüböl mit 2 Teilen normalen Hundefetts darstellt. Von besonderem Werte für den Nachweis, dass sich Rüböl im Körper abgelagert hatte, musste der Nachweis der dem küböl eigentümlichen Fettsäure, der Erucasäure, sein; es gelang in der That aus dem Fettöl eine Säure zu isolieren, welche in ihren Eigenschaften mit der Erucasäure nahe übereinstimmte. Weiter hat Ref. gezeigt, dass auch in Subbotin’s Versuch mit Palmöl ein Teil dieses an Palmitinsäure reichen Fettes zur Ablage- rung gelangt ist: hat doch Subbotin’s Bestimmung ergeben, dass 1) Centralbl. f. d. mediz. Wissensch., 1882, Nr. 8. 2) Ueber die Ursachen der Fettablagerung im Tierkörper, München 1883, 8. 5. 3) Virchow’s Arch., Bd. 43, S. 268, 1868. 4) Zeitschr. f. Biologie, VI, S. 73, 1870. 5) Virchow’s Arch.,, Bd. 95, S. 417, 1884. 312 Imm. Munk, Ueber Resorption u. Bildung des Fettes im Tierkörper. der Palmitingehalt des am Körper seines Versuchstiers angesetzten Fettes den des normalen Hundefettes um das dreifache übersteigt. Da somit der Uebergang auch von heterogenem Nahrungsfett, wofern es nur genügend reichlich aufgenommen wird, in die Zellen des Tierkörpers über jeden Zweifel sicher gestellt ist, so war es denkbar, dass bei reichlicher Fütterung mit dem von einem hetero- genen Fett gewonnenen Fettsäuregemenge, wofern die Umwandlung der resorbierten Fettsäuren zu Fett im Organismus vor sich geht, sich das so synthetisch gebildete heterogene Neutralfett im Körper des Versuchstiers ablagern kann. Zum Versuche wählte Ref. die aus Hammeltalg dargestellten Fett- säuren, weil, wofern danach das heterogene Hammelfett zum Ansatz gelangte, der Versuch um so beweisender war. Die Resorbierbarkeit des Hammelfettes und dessen Beitsanten im Darm des Hundes stellte sich als eine recht gute heraus, obwohl beide, insbesondere die Fettsäuren, erst oberhalb der Temperatur des Tierkörpers schmelzen; von 100 & Hammelfett erschienen etwa 10 g, von den Fettsäuren aus 100 & Hammeltalg etwa 12 g im Kot des Hundes wieder. Die Zusammensetzung der im Kot vorfindlichen Fettkörper war folgende: nach Hammel- nach Fettsäuren des talg Hammeltalgs Neutralfett 1,003 0,971 Freie Fettsäuren 1,886 2,519 Seifen 7,020 8,388 Verfüttert man größere Mengen von Hammelfettsäuren, so steigt der prozentische Verlust, analog wie bei Verfütterung von Hammel- fett. Bezüglich der stoffliehen Wirkung des Hammelfetts und dessen Fettsäuren, insbesondere in Hinsicht auf die dadurch bewirkte Ver- minderung des Eiweißverbrauchs im Körper, hat ein Stoffwechsel- versuch ergeben, dass sowohl das Hammelfett wie dessen Fettsäuren, andere leichter schmelzende Nahrungsfette, z. B. Schweineschmalz, in ihrer Einwirkung auf den Eiweißzerfall annähernd zu ersetzen ver- mögen. Ein Hund von 31 kg Gewicht, der mit 600 g Fleisch und 100 g Schweinefett nahezu im Stiekstoffgleichgewicht war, verharrte darauf auch, als ihm in Perioden von 5 bezw. 6 Tagen, anstatt des Schweinefetts, 100 g Hammelfett bezw. die daraus dargestellten Fett- säuren gereicht wurden. Die tägliche N- Ausscheidung durch Harn und Kot betrug im Durchschnitt: bei Fütterung mit Schweinefett . -. » . . . 20,06 & N 4 * n, Hammeltalo, 7... 22229 + B „ Fettsäuren des Hammeltalgs 20,44 „ Zu dem entscheidenden Fütterungsversuch diente ein Hund von etwa 17 kg, der nach Fütterung mit ungenügenden Fleischmengen und Imm. Munk, Ueber Resorption u. Bildung des Fettes im Tierkörper. 313 nach weiteren 19 Hungertagen 36°/, seines Anfangsgewichtes ein- gebüßt hatte. Innerhalb 19 Tagen wurden ihm dann, neben 3200 g Fleisch, 2360 g Hammeltalgfettsäuren beigebracht, wobei sein Körper- gewicht wieder um 17°/, anstieg. Das (durch Verbluten getötete) Tier zeigt ein sehr entwickeltes Fettpolster von weißer Farbe und fester Konsistenz, sowie reichliche Fettablagerungen in der Brust- und Bauchhöhle. Durch Ausschmelzen wurden etwa 1100 geines festen weißen Fettes gewonnen, das erst bei 40° C. zu schmelzen anfıng und bei 46° ganz flüssig wurde, somit die größte Aehnlichkeit mit Hammel- talg hatte; es bestand zu fast 99%, aus Neutralfett. Darin fanden sich an festen Fettsäuren (Palmitin- und Stearinsäure) fast 21/, mal so viel als im normalen Hundefett, während der Gehalt an Oelsäure auf ?/,, seines Normalwertes gesunken war. Daraus, sowie aus dem Schmelzpunkt von Gemengen von Hammel- und Hundefett hat Ref. abgeleitet, dass das angesetzte Fett etwa aus 3 Teilen Hammeltalg und 1 Teil Hundefett bestand. Die exquisite Fettleber des Tieres enthielt an Fett über '/, ihres Trockengewichts. Sonach ist mit wünschenswerter Schärfe die Synthese der Fettsäuren im tierischen Organismus zu Neutralfett und die Ablage- rung des so in umfangreichem Maße gebildeten Fettes am Körper nachgewiesen. Der Nachweis, dass ein Hund nach Fütterung mit den Fettsäuren des Hammeltalgs nicht Hundefett, son- dern Hammelfett ansetzt, widerlegt aufs schlagendste die oben er- wähnte, von V oit versuchte Deutung der früheren Versuchsergebnisse des Ref.; das zur Synthese der Fettsäuren zu Fett erforderliche Gly- zerin gibt offenbar der Körper selbst her. Der Ort der Synthese ist mit Wahrscheinlichkeit in die Darmzotten selbst zu verlegen, wie Ref. schon vor 5 Jahren ausgesprochen hat'!). Wie aus einer vor- läufigen Mitteilung von C. A. Ewald?) hervorgeht, ist selbst die aus- geschnittene „überlebende“ Darmschleimhaut im stande, bei Digestion mit Fettsäuren und Glyzerin aus diesen beiden Stoffen bei Brutwärme Neutralfett zu bilden. Auf die Frage, welche Elemente der Darm- schleimhaut es sind, die vermutlich bei dieser Synthese, ebenso wie bei der normalen Fettresorption direkt beteiligt sind, kommen wir später noch zurück. Bezüglich der Frage, inwieweit unter normalen Verhältnissen, wo Menschen und Tiere mit der Nahrung meist Neutralfette zu sich nehmen, innerhalb des Darmrohrs durch das Pankreas- und Fäulnis- ferment eine Spaltung des eingeführten Neutralfettes in Fettsäuren und Glyzerin und die Resorption in Form von Fettsäuren erfolgt, hat Ref. ermittelt, dass nach Einführung von Neutralfett beim Hunde um die 8. Verdauungsstunde, wo nach Ausweis der milchweiß injizierten 4) Virchow’s Arch.,, Bd. 80, S. 33, 1880. 2) Arch. f. (Anat. u.) Physiol., 1883. Suppl. Festschrift, S. 302, 914 Imm. Munk, Ueber Resorption u. Bildung des Fettes im Tierkörper. Chylusgefäße des Darms die Fettaufsaugung lebhaft erfolgt, im In- halt des Dünndarms, dessen Reaktion infolge des Hineingelangens von saurem Chymus im obern Teile stets sauer und frühestens im untersten Teile des Ileum neutral bis schwach alkalisch ist, von den gesamten darin vorfindlichen Fettkörpern sich rund 12°/, in Form freier Fettsäuren finden !). Da ferner die chemische Untersuchung des Kotes sowohl nach Fett- als nach Fettsäurefütterung dasselbe quantitative Verhalten der Fettkörper ergeben hat, nämlich auf 1 Teil Neutralfett rund 2 Teile freie Fettsäuren und 7 Teile Seifen, so ist wohl kein anderer Schluss möglich, als dass ein beträchtlicher Teil des Nahrungsfettes im Darm in Fettsäuren und Glyzerin gespalten wird und von den so abgespaltenen Fettsäuren eine mindestens den 8. Teil des Gesamtfettes betragenden Quantität in Form freier Fett- säuren zur Resorption gelangt, welche letztere dann weiterhin im Körper zu Neutralfett regeneriert werden. Aus den Untersuchungen von Röhmann?) und denen von (Voit und) Friedrich Müller?) ergibt sich weiter, dass nach Ausschluss der Galle vom Darmkanal die Fettspaltung in noch erheblich weiterem Umfange stattfindet, daher bei Gallenfistelhunden der Kot bei weitem überwiegend, nämlich "/, des Gesamtfettes als freie Fettsäuren, '/, als Seifen und nur !/,, als Neutralfett enthält. Gegenüber Lebedeff, der nach Fütterung von festen Fett- säuren in der Leber beträchtliche Mengen freier Fettsäuren gefunden und daraus geschlossen hatte, dass ein Teil der Fettsäuren, von den Pfortaderwurzeln resorbiert, der Leber zugeführt wird, hat Ref. ge- zeigt), dass das Vorkommen freier Fettsäuren in der Leber nichts für die Fettsäurefütterung charakteristisches ist, dass vielmehr auch die Leber mit Neutralfett gefütterter Tiere reichlich freie Fettsäuren und zwar 5—10°/, der gesamten darin vorfindlichen Fettkörper ent- hält, und dass somit der Schluss, die Pfortaderwurzeln bildeten die Abfuhrwege für die, sei es in den Darm präformiert eingeführten oder erst daselbst abgespaltenen freien Fettsäuren, bisher jeder that- sächlichen Basis entbehrt. Das Verständnis für die Aufnahme sehr schwer schmelzbarer Fette und Fettsäuren, wie z. B. des Hammeltalgs und dessen Fett- säuren, die erst oberhalb 40° schmelzen und bei 40° nur eine salben- 1) Hoppe-Seyler hat wohl zuerst (Virchow’s Arch., Bd. 26, S. 534, 1863) nach Fettgenuss sehr beträchtliche Mengen freier Palmitin- und Stearin- säuren im Dünndarmfett (von Kühen) nachgewiesen. Auch Cash (Arch. f. [Anat. u.] Physiol., 1880, S. 323) hat nach Fettfütterung schon im Mageninhalt neben Neutralfett geringe Mengen freier Fettsäuren gefunden, ebenso im Diünn- darminhalt, doch keine diesbezüglichen quantitativen Bestimmungen ausgeführt. 2) Arch. f. d. ges. Physiol., Bd. 29, S. 530, 1882. 3) Zeitschr. f. Biologie, Bd. 20, S. 367, 1884. 4) Virchow’s Arch., Bd. 95, S. 464, 1884. Imm. Munk, Ueber Resorption u. Bildung des Fettes im Tierkörper. 315 ähnliche, butterweiche Konsistenz annehmen, wird durch die neuesten höchst interessanten Beobachtungen von Zawarykin!) und Wie- dersheim?) wesentlich gefördert, denen zufolge die fettfreien Lymph- zellen aus dem adenoiden Gewebe der Darmmucosa sich nach dem Epithel zu bewegen und zwischen den Zottenepithelien auf die freie Oberfläche der Mucosa wandern, um dort Fett aufzunehmen und dann, mit Fett erfüllt, durch die Lücken zwischen den Basalsäumen der Zylinderepithelien in das Zottenparenchym zurückzukehren und in die Chyluskanäle zu gelangen. Th. Eimer hat vor kurzem den anatomischen Teil der Fett- resorption und seine Stellung zu dieser Frage in diesem Blatte?) aus- führlich erörtert, sodass dieserhalb auf jene Darstellung verwiesen werden mag. Für die mit amöboider Bewegung begabten und für aktive Stoffaufnahme befähigten Lymphzellen dürfte es von keinem wesentlichen Belang sein, ob das Fett bezw. die Fettsäuren flüssig oder nur von weicher Konsistenz sind. Vermutlich werden die Lymph- zellen der Dünndarmschleimhaut auch für die synthetische Bildung von Fett aus resorbierten Fettsäuren verantwortlich zu machen sein. Gegen die Zawarykin’schen Befunde hat übrigens O. Wiemer‘) Einspruch erhoben, insofern er bei Fröschen sowohl nach Fütterung mit fetthaltiger wie mit fettarmer Nahrung die Lymphzellen der Darmschleimhaut beide mal in gleicher Weise mit nur wenig Fett, dagegen die Zylinderepithelien mit Fett vollständig erfüllt fand und danach jede spezifische Affinität zwischen Fett und Lymphzellen leugnet, vielmehr die Fettaufnahme einzig und allein dem kontrak- tilen Protoplasma der Zylinderepithelien zuweist. Dem gegenüber hat neuerdings Zawarykin?) gezeigt, dass bei Fütterung von Fröschen mit Milch am Frosehdarm genau dieselben Verhältnisse zu beobachten sind, die er an der Darmschleimhaut der Säugetiere aufgedeckt hat, d. h. mit Fett gefüllte Lymphzellen und fettfreie Zottenepithelien. Preusse®), der diese Verhältnisse am Pferde- und Froschdarm nachuntersucht hat, bestätigt in seiner eben erschienenen Mitteilung für den Dünndarm des Pferdes die Beobachtungen von Zawarykin vollauf; bezüglich des Froschdarms ist er in der Lage, auch die ab- weichenden Befunde von Wiemer erklären zu können. Wird näm- lich ein Frosch mit mäßigen Mengen von Fett oder mit einer an Fett nur mäßig reichen Nahrung wie z. B. Milch gefüttert, so sind es aus- schließlich die Iymphoiden Zellen der Darmschleimhaut, welche sich 4) Arch. f. d. ges. Physiol,, Bd. 31, S. 231, 1883. 2) Ueber die Aufnahme der Nahrungsmittel in der Darmschleimhaut. Fest- schrift der 56. Vers. deutsch. Naturf. u Aerzte, 1883, 18 8. 3) Dies Centralbl., Bd. 4, S. 58 ff.; vgl. auch Brand, ebenda, S. 609. 4) Arch. f. d. ges. Physiol., Bd. 33, S. 123, 1884. 5) Arch. f. d. ges. Physiol., Bd. 35, S. 145, 1885. 6) Arch, f. wiss. u. prakt. Tierheilk., Bd. 11, Heft 3, 1885. 916 Imm. Munk, Ueber Resorption u. Bildung des Fettes im Tierkörper. aktiv an der Resorption des Fettes beteiligen. Gibt man jedoch größere Quantitäten Fett, wie sie bei den gewöhnlichen Ernährungs- verhältnissen der Frösche nicht in den Darm gelangen, so beteiligen sich auch die Epithelzellen an der Aufnahme desselben; man findet sie dann mehr oder weniger reichlich mit Fetttropfen und Körnchen erfüllt. Werden endlich die Fettmengen übermäßig groß, so werden die Epithelien und die interepithelialen Räume von Fett vollständig erfüllt; eine Beteiligung der Lymphzellen an der Fettaufnahme findet dann nur noch in untergeordnetem Maße statt. Die Frage, aus welchen Stoffen sich im Tierkörper das Fett bildet, hat seit den 40er Jahren eine verschiedenartige Beantwortung gefunden. Nachdem zumeist durch Liebig’s Autorität die Kohle- hydrate der Nahrung, weil bei deren reichlicher Zufuhr es zu ergiebigem Fettansatz kommt, für die vorzüglichste, wenn nicht ausschließliche Quelle für die Entstehung des Fettes im Tierkörper proklamiert waren, neben der die Ablagerung von Nahrungsfett einen zu vernachlässigen- den Faktor bilden sollte, verfiel man später, als durch die Beobach- tungen von Virchow und die Versuche von Pettenkofer und Voit die Entstehung von Fett aus Zwischenprodukten des zerfallenden Eiweißes im Körper wahrscheinlich gemacht worden war, ins entgegen- gesetzte Extrem und betrachtete das Gewebsfett nur als ein (synthe- tisch gebildetes) abgelagertes Spaltungsprodukt des zersetzten Eiweißes, welches dadurch vor der Zerstörung geschützt sein sollte, dass an Stelle desselben die Fette und Kohlehydrate der Nahrung zerfallen. Erst ganz allmählich ist es wieder gelungen, die Nahrungsfette in ihr Recht als Fettbildner einzusetzen; in vorliegender Besprechung sind eine Reihe stringenter Versuche angeführt, welche den Ueber- gang selbst heterogener Fette: Hammelfett, Lein-, Rüb- und Palmöl in die Zellen des Tierkörpers (S. 311) beweisend darthun. Die Bedeutung der Kohlehydrate für die Fettbildung glaubte Voit!) als eine indirekte ansehen zu müssen, insofern die Kohle- hydrate der Nahrung als leichter zersetzbare Stoffe vollständig zu Kohlensäure und Wasser zerfallen und durch ihre Zerstörung die aus anderen Quellen stammenden Fette, d. h. sowohl das Nahrungsfett als das aus dem zerfallenden Eiweiß gebildete vor der Verbrennung schützen, sodass letztere nunmehr zum Ansatz kommen können. Für die Herbivoren und Omnivoren, vorzüglich bei der Mast der Schweine und Gänse, sind nun in neuester Zeit bei sehr reichlieher Fütterung mit Kohlehydraten eine Reihe von Fällen bekannt geworden ?), bei 1) Ueber die Ursachen der Fettablagerung im Tierkörper, München 1883, S. 8; vgl. das Referat hierüber: dies Centralbl., IV, S. 88. 2) Für das Schwein die Versuchsreihen von Soxhlet (Zeitschrift des landwirthsch. Ver, in Bayern, 1881, Augustheft) und von Meißl u. Strohmer Imm. Munk, Ueber Resorption u. Bildung des Fettes im Tierkörper. 317 denen das Nahrungsfett und das aus dem zersetzten Eiweiß sich ab- spaltende, selbst unter der Annahme des vollständigen Ansatzes bei- der, bei weitem nicht genügen, um den thatsächlich erfolgten Fett- ansatz zu decken, sodass für diese Fälle eine direkte Bildung von Fett aus den Kohlehydraten angenonmen werden muss. Für den Fleischfresser und Menschen ist indess nach Voit, soweit bisher die Versuche aussagen, das aus der Nahrung resorbierte Fett mit dem bei der Eiweißzersetzung sich abspaltenden hinreichend, um das im Körper abgelagerte Fett zu decken. Ref. ist nun in der Lage, über eine von ihm ausgeführte Ver- suchsreihe zu berichten, welche auch beim Hunde die direkte Bil- dung von Fett aus Kohlehydraten in einer einwandsfreien Form be- weist!). Der Versuchsplan ging dahin, zuerst durch protrahiertes Hungern den Hund möglichst von seinem Körperfett zu befreien, und, wenn dies erreicht war, ihn alsdann mit möglichst wenig Fleisch und möglichst viel Kohlehydraten mehrere Wochen hindurch zu füttern, unter steter Kontrole des Eiweißumsatzes im Körper (durch Bestim- mung der Harnstoff- bezw. Stickstoffausscheidung sowie der Schwefel- ausfuhr durch den Harn); die Größe des Eiweißumsatzes muss, wie später gezeigt werden wird, bekannt sein, um die Frage entscheiden zu können, ob das gebildete bezw. zum Ansatz gelangte Fett aus dem zersetzten Eiweiß der Nahrung hervorgegangen sein kann, oder zum Teil den gefütterten Kohlehydraten seine Entstehung verdankt. Zum Versuche diente eine noch junge Hündin von 37,21 kg Kör- pergewicht, die durch 31 Tage hindurch nur Wasser bekam; im Durchschnitt nahm sie täglich etwa 240 eem Wasser auf; dabei sank ihr Gewicht um 11,5 kg oder 31°/, des Anfangsgewichtes. Die ab- solute Stickstoff- und Schwefelausscheidung war vom 12. Tage ab annähernd gleichmäßig, obwohl zwischen dem 12. und 30. Tage das Körpergewicht um mehr als !/, des Anfangswertes sank; am 31. Tage war die Stickstoff- und Schwefelausfuhr durch den Harn sogar noch größer als am 12. Hungertage. Dieses Beharren der Eiweißzersetzung auf der früheren Höhe ungeachtet des allmählichen Absinkens des Körpergewichtes und die schließliche absolute Zunahme desselben ist ein wertvolles Zeichen für die hochgradige Fettarmut des Körpers; sie tritt jedesmal ein, wenn kein Fett am Körper mehr schützend auf die Eiweißzersetzung wirkt und führt in wenigen Tagen zum Hunger- tod. Hand in Hand damit ging ein rapider Kräfteverfall und ein Absinken der Körpertemperatur auf 35°. Insgesamt hatte das Tier (Wien. akad. Sitz.-Ber., 1883, III, S. 205); für die Gänse die Fütterungsreihen von B. Schulze (Landwirthsch. Jahrb., 1882, S. 57) und von Chaniewski (Zeitschr. f. Biologie, Bd. 20, S. 179, 1884). 1) Die ausführliche Mitteilung ist vor Kurzem in Virchow’s Arch, Bd. 101, S. 91, erschienen, 318 Imm. Munk, Ueber Resorption u. Bildung des Fettes im Tierkörper. 6556 g Fleisch (= 1394 g trockenes Eiweiß) und einer annähernden Berechnung nach ca. 9kg Wasser und 2kg Fett während der Hunger- periode eingebüßt. Nunmehr erhielt der Hund pro Tag 200 g Fleisch und allmäh- lich ansteigende Quantitäten von Kohlehydraten, zuerst 250 g Stärke, dann je 150 g Stärke und 150 g Zucker und, da die Erfahrung ge- lehrt hat, dass Mästung leichter am eiweißreichen als am eiweißarmen Körper erzielt wird, 10 Tage hindurch noch je 100 g Leim (in Form feiner Gelatine); der Leim wird im Organismus vollständig zersetzt und dadurch der Eiweißumsatz im Körper so herabgedrückt, dass ein Teil des Nahrungseiweißes gespart und im Körper als Organeiweiß abgelagert werden kann. Vom 9. Tage ab wurde bis auf 400 g Kohlehydrate angestiegen, am 13. Tage der Leim fortgelassen und nun neben 200 g Fleisch täglich je 250 g Stärke und 250 g Zucker gegeben. Bei dieser Fütterung, die der Hund durch 23 Tage gut vertrug, stieg das Körpergewicht um 3!/, kg oder um 13°, an. Am 24. Tage traten diarrhöische Entleerungen auf, und da dieselben am 25. Tage noch zunahmen und zugleich das Körpergewicht an diesen beiden Tagen um 70 g abnahm, wurde der Versuch abgebrochen und der Hund getötet. Insgesamt sind 9,51 kg (trockne) Kohlehydrate (Stärke und Zucker) verfüttert worden. Nach Maßgabe der N-Auscheidung durch den Harn waren von den gefütterten 5 kg Fleisch nur 4,04 kg —= 808 g (trocknes) Ei- weiß zersetzt worden; abzüglich des mit dem Kot herausgegangenen Anteils vom Fleisch mussten rund 800 g Fleisch am Körper zum An- satz gelangt sein; es ist nun nicht denkbar, dass die zur Deekung des Gewichtsansatzes noch fehlenden 2!/, kg vorherrschend aus Wasser bestanden haben sollten, dann hätten alle Gewebe und Organe!) einen bei einem normalen Tier ungewöhnlich hohen Wassergehalt besitzen müssen; vielmehr war es schon danach wahrscheinlich, dass ein beträchtlicher Teil Fett sich am Körper abgelagert hatte. Und diese Vermutung wurde durch die Sektion und die chemische Untersuchung bestätigt. Das Tier zeigte ein mäßiges Fettpolster am Halse, am Gesäß, in der Schenkelbeuge u. s. w., um die Organe der Bauchhöhle herum nur wenig Fett; im ganzen ließ sich mit Messer und Schere eine beträchtliche Menge Fettgewebe gewinnen, das nach dem Auslassen 397 g Fett ergab. Die Leber enthielt etwa 40 g Fett, die blassroten Muskeln im Mittel 3,83°/,, im ganzen (das Gesamtge- wicht der Muskeln eines Hundes beträgt rund 55°/, des Körperge- wichts) etwa 499 g Fett; dazu der Fettgehalt der Knochen und der übrigen Organe zu nur 130 g angesetzt), ergibt einen Gesamtfett- 1) Sowohl die Leber als die Muskeln als auch das Blut besaßen einen normalen Wassergehalt; eher waren sie etwas wasserärmer als in der Norm. Der Wassergehalt betrug 69,2 bezw. 74,7 bezw. 78,3 %/o- 2) Fr. Hofmann hat in den Knochen eines mäßig fetten Hundes Fett Imm. Munk, Ueber Resorption u. Bildung des Fettes im Tierkörper. 319 bestand von ca. 1070 g. Da der Hund durch die vorausgegangene 3ltägige Karenz möglichst von Fett befreit war, so darf man jeden- falls zum mindesten °/,., also 960 g Fett als während der 2ötägigen Fütterung neugebildet und abgelagert ansehen. Aus welchem Material können nun jene 960 g Fett gebildet wor- den sein? Nach Pettenkofer und Voit wird aus dem zerfallen- den Eiweiß zumeist 12°/, an Fett gebildet. Da während der Ver- suchsdauer, nach Maßgabe der N-Ausscheidung durch den Harn, 808 g Eiweiß zur Zersetzung gelangt sind, hätten daraus etwa 97 g Fett entstehen können, dazu die in 5 kg verfütterten Fleisches ent- haltenen 75 g Fett, gibt zusammen 172 g als aus Eiweiß und Fett gebildet. Es bleiben also noch rund 780 g Fett, für deren Entstehung keine andere Quelle als die Kohlehydrate der Nahrung denkbar sind. Nun hat aber Henneberg!) abgeleitet, dass aus dem zersetzten Eiweiß in maximo 51°/, Fett hervorgehen kann. Schon Zuntz?) hat unter Benutzung des Henneberg’schen Schemas die chemische Un- wahrscheinlichkeit bezw. Unmöglichkeit einer solchen Größe der Fett- bildung dargethan. Setzt man in die Berechnung von Zuntz die in den exakten Untersuchungen von Stohmann gewonnenen Werte für die Verbrennungswärme von Eiweiß und Fett ein, so ergibt sich, wie Ref. zeigt, dass selbst nach Henneberg’s Schema höchstens 42,5], Eiweiß aus Fett entstehen können. Unter Benutzung dieses, nach- weisbar noch zu hohen Wertes (vgl. das Orig.) bleiben noch 542 g Fett aus anderen Quellen als aus Nahrungsfett und zersetztem Eiweiß zu decken. Nach Pettenkofer und Voit wird der Leim stets schnell und vollständig zersetzt und erspart durch seinen Zerfall Eiweiß und etwas Fett, dagegen ist er nicht im Stande, das Eiweiß ganz vor der Zer- störung zu schützen oder gar Organeiweiß zum Ansatz zu bringen; Zusatz von Leim zu großen Gaben von Fleisch bringt neben dem er- sparten Eiweiß auch Fett, wohl nur aus dem zersetzten Eiweiß abge- spalten, zum Ansatz. Dass der Leim als direkter Fettbildner fungiert, ist zwar noch durch keinen Versuch bewiesen oder auch nur wahr- scheinlich gemacht. Um indess jeden Einwand gegen die vorstehende bis zu 18°, des Gesamtfettbestandes gefunden; danach wären in unserem Falle allein in den Knochen 211 g Fett zu erwarten gewesen; den Fettgehalt der übrigen Organe: Herz, Lungen, Nieren, Fell ete. zu 50 g angesetzt, würde für Knochen und Organe 260 g Fett ergeben. Absichtlich ist, um niedrig zu greifen, nur die Hälfte dieses zu erwartenden Fettquantums für die Berech- nung angesetzt worden; offenbar wird dadurch das Versuchsresultat um so beweisender. 4) Henneberg’s Ableitung beruht nur auf theoretischen Erwägungen, nicht auf dem Tierversuch. Manche Forscher, z. B. Hoppe-Seyler, halten es für unmöglich, dass sich aus Eiweiß so erhebliche Mengen Fett bilden können, 2) Landwirthsch. Jahrbücher, VIII, S. 96, 1879. 320 Imm. Munk, Ueber Resorption u. Bildung des Fettes im Tierkörper. Versuchsreihe auszuschließen, wollen wir nicht nur annehmen, dass der Leim, obwohl des Ansatzes in Form von Eiweiß unfähig, doch direkt Fett bildet, sondern selbst die sicherlich zu weit gehende Kon- zession machen, dass er hinsichtlich der Fettbildung sogar dasselbe leistet wie Eiweiß. Unter der Annahme nun, dass auch aus dem Leim sich bis 42,5 °/, Fett bildet, könnten aus 797 & wasserfreien Leims (= 1000 g lufttrocken) 338 g Fett hervorgehen; letztere von obigen 542 g Fett abgezogen, bleiben noch immer 203 g Körperfett übrig, deren Quelle in den Kohlehydraten des Futters zu suchen ist. Demnach sind im allerungünstigsten Falle 203 g, in einem günsti- geren sogar rund 700 g Fett aus den reichlich gegebenen Kohlehy- draten gebildet und abgelagert worden; aus Kohlehydraten würden danach 2—6°/, Fett entstehen können, und da günstigenfalls 55°], des Nahrungsfettes in Körperfett übergehen können !), so würden die Kohlehydrate in Hinsicht der Fettbildung im besten Falle 9mal weniger leisten als das Fett der Nahrung. Ueber den Modus dieser Bildung dürfte die nachfolgende Vor- stellung zutreffen: bei den in den Geweben und Organen des Tier- körpers gleichwie im Darm ablaufenden fermentativen Prozessen, deren Produkte zumeist mit denen der Fäulnisgärung übereinstimmen, entstehen aus Kohlehydraten nach Hoppe-Seyler neben flüchtigen fetten Säuren, die weiterhin zerfallen, Milchsäure und höher konsti- tuierte feste Fettsäuren, welche sich längere Zeit unzersetzt erhalten. Wenn nun ein Bruchteil der reichlich gegebenen Kohlehydrate den Bedingungen der Zerstörung entgeht, so zerfällt er in den Geweben unter Auftreten von Milchsäure und festen Fettsäuren, welch letztere unter Paarung mit Glyzerin zu Neutralfett werden, gleichwie nach dem Fund des Ref. (S. 315) aus in den Darm eingeführten festen Fettsäuren im Organismus sich durch Synthese mit Glyzerin Neutral- fett bildet. Mit der eben berichteten Fütterungsreihe ist der Nachweis der direkten Fettbildung aus Kohlehydraten beim Fleischfresser zum ersten mal erbracht. Bei der mannigfachen Uebereinstimmung, die in Hinsicht des Ablaufs der chemischen Prozesse zwischen den Karni- voren und dem Menschen herrscht, dürfte die Fettbildung aus reich- lich gegebenen Kohlehydraten auch für den Menschen zutreffen. 4) Nach Fütterung eines Hundes mit 2200 g Rüböl (S. 314) fand Ref. (Virchow’s Arch., Bd. 95, S. 423) 2 kg Fettöl abgelagert, das zu ?/, aus Riböl bestand, also 1200 g Rüböl enthielt. Immanuel Munk (Berlin). Tollin, Andreas Vesal kann wegen Mangels an Raum leider erst in der nächsten Nummer dieses Biologisches Centralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 94 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. V. Band. 1. August 1885. Nr. 1. Inhalt: Hauser, Ueber Fäulnisbakterien und deren Beziehungen zur Septikämie; Ferran, Ueber die Morphologie des Kommabacillus. — Wiesner, Elemente der wissen- schaftlichen Botanik. — Fritsch, Fauna der Gaskohle und der Kalksteine der Permforation Böhmens. — Wilekens, Nachtrag zur Paläontologie der eocänen Suiden. — Ueber das Ei der Monotremen. — Tollin, Andreas Vesal (2 Fortsetzung). — Hoffmann, Ueber Sexualität. — Planta, Ueber die che- mische Zusammensetzung des Blütenstaubes der Haselstaude. — Behrens, Ueber Enterochlorophyll,. — Behrens, Farbstoffe der Aktinien. Hauser, G., Ueber Fäulnisbakterien und deren Beziehungen zur Septicämie. Ein Beitrag zur Morphologie der Spaltpilze. Mit 15 Tafeln in Lichtdruck. Leipzig bei F. C. W. Vogel, 1885. Ferran, J., Ueber die Morphologie des Kommabaeillus. Zeitschrift f. klin. Medizin, Bd. IX, Heft 3 u. 4, 1885. Die Spaltpilzforschungen des letzten Jahrzehnts haben sich zur Aufgabe gestellt die Lösung eines wichtigen morphologischen Problems, nämlich der Beantwortung der Frage, ob die in Rede stehenden Orga- nismen eine Wandelbarkeit ihrer Formen, einen Pleomorphismus besitzen oder nicht. Die Frage ist schon seit mehreren Jahren gelöst, denn es wurde für eine gewisse, wenn auch nicht große Anzahl von teils höher, teils niedriger organisierten Spaltpilzen der bestimmte Nach- weis erbracht, dass Kokken, Kurzstäbehen und Langstäbchen sowohl als auch Schraubenformen in einem und demselben Entwicklungsgange vorkommen können. Es glückte nämlich Spaltpilze aufzufinden, die jene Formen in so unmittelbarem Verbande, nämlich an verschiedenen Stellen ein und desselben Fadens oder (wie bei Oludothrix) eines und desselben verzweigten Individuums zeigen, so dass das Nebeneinander jener Formen durch direkte Beobachtung konstatiert werden konnte, also durch eine Methode, die an und für sich absolute Sicher- heit bietet, abgesehen davon, dass einige der untersuchten Spaltpilze, wie Orenothrix, Beggiatoa, Oladothrix velativ große Objekte darstellen. 21 322 Hauser, Fäulnisbakterien. Ferran, Kommabaeillus. Aber auch an minder hoch entwickelten, meist feinfädigeren Schizomyceten, wie dem Essigpilz (Bacterium aceti), dem im Hühner- darm gefundenen Bacterium Zopfii und anderen saprophytischen und pathogenen Spaltpilzen wurde der Nachweis geliefert, dass Kokken, Stäbehen und andere Formen in direktem Verbande stehen; und zwar geschah dies entweder auf dem Wege von Reinkulturen allein, oder durch gleichzeitige Anwendung der direkten entwicklungsgeschicht- lichen Beobachtung auf durch Reinkultur gewonnene Fäden (wie es 2. B. bei Bacterium Zopfii der Fall war). Nach allen diesen Untersuchungen muss, wie bereits bemerkt, die Frage, ob unter den Spaltpilzen pleomorphe Formen vorkommen, be- jaht und als im Prinzip entschieden betrachtet werden; und so fassen die hervorragendsten urteilsfähigen Botaniker und viele urteilsfähigen Mediziner die Sachlage in der That auf. Es bleibt aber noch eine weitere wichtige Aufgabe zu lösen: näm- lieh vorurteilsfrei und mit exakter Methode zu untersuchen, ob andere Spaltpilze sich in ähnlicher Weise oder anders verhalten, insbesondere ob unter den zahlreichen pathogenen Spaltpilzen pleomorphe Arten vorkommen. Diese Prüfung ist um so dringenderes Bedürfnis, als von bekannter medizinischer Seite her die Theorie des Pleomorphismus, selbst soweit sie rein saprophytische Pilze betrifft, nicht nur bekämpft, sondern sogar als nach gewisser Richtung hin für die medizinische Wissenschaft gefahrbringend verdächtigt wird. Ein wertvoller Beitrag zur Lösung der eben angedeuteten Aufgabe ist kürzlich in der erstgenannten Schrift geliefert worden. Der Verfasser hat drei Spaltpilze untersucht (Proteus vulgaris, P. mirabilis und P. Zenkeri), die bei jauchigen Prozessen vorkommen, und ist be- züglich der Morphologie derselben zu Resultaten im Sinne des Pleomorphismus gelangt, die er folgendermaßen formuliert: 1) „Die Arten der Gattung Proteus durchlaufen in ihrer Entwick- lung einen weitern Formenkreis, bei welcher es zur Bildung von kokkenähnlichen Körperehen, Kurzstäbehen, Langstäbehen, Faden- formen, Vibrionen, Spirillen, Spirulinen und Spirochäten kommt“. 2) „Die Mannigfaltigkeit dieses Formenkreises wird durch geeig- nete Modifikation des Nährsubstrates in hohem Grade beeinflusst, so dass z.B. auf saurem Nährboden nur noch kokkenähnliche Individuen und Kurzstäbehen zur Entwicklung gelangen“. 3) „Durch die Sätze 1 und 2 wird bewiesen, dass es in der That Spaltpilzarten gibt, welche im Sinne der von Zopf aufgestellten Theorie von der Inkonstanz der Spaltpilzformen einen weitern Formen- kreis durchlaufen; die von Cohn gegebene systematische Einteilung der Spaltpilze ist daher unhaltbar“. In Uebereinstimmung hiermit hält Verfasser den auch bereits von Hofmeister!) bekämpften Einwand Flügge’s, dass die Glie- 4) Prager mediz. Wochenschrift, 1884, Nr. 14. Hauser, Fäulnisbakterien. Ferran, Kommabaeillus. 393 derung der Baeillen, Spirillen u. s. w., welche Referent bereits vor 3 Jahren, teils aufgrund direkter Beobachtungen an lebenden Zu- ständen, teils durch Anwendung von Fixierungs- und Färbungsmitteln nachwies, nur als ein Kunstprodukt aufzufassen sei, für unhaltbar. Nebenbei ergab sich noch: „BDacterium termo Ehr. lässt sich nicht als eine einheitliche Bakterienart definieren, indem die demselben nach den Autoren zukommenden Eigenschaften auch andere Bakterienarten, wenigstens in gewissen Stadien der Entwicklung, besitzen“. Hinsichtlich der Biologie und Physiologie wurden folgende Ergebnisse gewonnen: 1) „Die Arten der Gattung Proteus gehen unter geeigneten Er- nährungsbedingungen ein Schwärmstadium ein, in welchem sie be- fähigt sind, sowohl auf der Oberfläche, als auch im Innern erstarrter Nährgelatine rasche Ortsveränderungen vorzunehmen“. 2) „Die Proteus- Arten gehören zu den fakultativen Anaärobien unter den Bakterien. Sämtliche Arten der Gattung Proteus sind Fäul- niserreger, und insbesondere Proteus vulgaris und P. mirabilis gehören wohl mit zu den wirksamsten und häufigsten Fäulnisbakterien“. 3) „Bei der durch die Proteus-Arten bewirkten Fäulnis wird kein unorganisiertes Ferment erzeugt, und die durch dieselben bedingte faulige Zersetzung der Eiweißskörper ist daher lediglich als eine direkte Arbeitsleistung der Bakterien selbst aufzufassen“. Wenn wir nun nach der Methode fragen, an deren Hand der Verfasser solche Resultate gewonnen hat, so dürfte man nach meiner Ueberzeugung den Eindruck gewinnen, dass er die bekannte Methode der Reinkultur lege artis angewandt. Es geht dies nicht sowohl aus der textlichen Darstellung, als auch aus den wohlgelungenen Mikrophotographien hervor, die in der Zahl von 26 beigegeben sind. In den allgemeinen Betrachtungen über die Morphologie der Spalt- pilze, die sich an die Morphologie und Entwicklungsgeschichte der Proteus-Arten anschließt, beleuchtet Verfasser historisch und kritisch die Ansichten von der Konstanz und Inkonstanz der Formen, und wenn ihm Referent auch nicht in allen Punkten beipflichten möchte, so lässt sich nicht verkennen, dass Verfasser nach beiden Seiten hin möglichst objektiv und gerecht zu urteilen bestrebt war, ein Moment, das ihm umsomehr zur Ehre gereichen dürfte, als neuerdings gewisse Kritiker auf dem Spaltpilzgebiet sich vom übereifrigen Parteigeist eine allzuspitze Feder in die Hand drücken ließen. Einen weitern Beitrag zu der oben skizzierten Frage liefert die zweite Schrift, die sich mit der Morphologie des Spirillum Cholerae asiaticae beschäftigt. Verfasser geht von der bis zu einem gewissen Grade ganz rich- tigen Idee aus, dass die vegetative Vermehrung (d. i. Vermehrung durch Teilung oder Spaltung) bei den Kryptogamen sowohl, als bei 2 324 Hauser, Fäulnisbakterien. Ferran, Kommabaeillus. allen anderen Wesen, die sie besitzen, nur eine untergeordnete Fort- pflanzungsweise darstelle, und dass die Reproduktion durch Sporen, Samen oder Eier „ein Erzeugungsgesetz von absolutem Charakter“ sei. Von diesem Gesichtspunkt aus war es dem Verfasser a priori höchst wahrscheinlich, dass der Cholerapilz die Fähigkeit besitzt Sporen zu bilden, und selbst der Umstand, dass Koch dergleichen Fortpflanzungsorgane nicht hatte finden können, konnte ihm den Glauben an ihre Existenz nicht rauben. Seine Prüfungen auf dem Wege der Kultur und Beobachtung führten ihn nun zu einem Resultate von doppelter Art: Der Verfasser fand nämlich Reproduktionsorgane sehr sonderbarer Natur. Die Entwicklung derselben ist nach Ferran folgende. Bei einer gewissen Art der Kultur bilden sich inmitten der spirillenartigen Fäden ein bis mehrere Kugeln, „aus einem nicht differenzierten Protoplasma von gleicher Brechungsfähigkeit als die übrige Pflanze bestehend“. Sie umgeben sich mit einer hyalinen Hülle (Periplasma‘, innerhalb deren sich das Plasma kontrahiert, und messen in ihren größten For- men 6—12 mikr. Der Inhalt dieser Kugeln bietet bezüglich seiner „Furehungsart“ eigentümliche Verschiedenheiten dar, „je nachdem sie in Fleischbrühe oder in Bindegewebe eines durch virulente Einspritz- ung getöteten Kaninchens untersucht“ werden. „Im letztern Falle ist die Differenzierung des Plasmas in Körnehen sehr auffallend, während dieselbe im erstern Falle sehr dunkel zu sein scheint“. Diese kugligen Körper bezeichnet Verfasser als An- theridien (männliche Organe). Außerdem hat F. „wahre aus dem fadenförmigen oder gewun- denen Thallus hkervorgehende Sporen“ beobachtet. Unter gewisser Kultur wachsen dieselben zu beträchtlicher Größe heran (6—12 mikr. Durchmesser). Wenn sie den Umfang eines Blutkörperchens erlangt haben, nehmen sie statt ihrer bisherigen platten !) Form höckerige Gestalt an, und dieses Stadium bezeichnet F. als maulbeerartige Körper oder Eier: „Sobald nun diese Gebilde ihre volle Reife er- langen, tritt ein auffallendes Schauspiel ein, mit dem der Evolutions- eyclus dieser interessanten Thallophyte abschließt, und das jeder leicht beobachten kann, der nur Geduld genug hat, sein Auge während einer Stunde nieht vom Oecular abzuwenden. Im betreffenden Augenblicke sieht man diese höckerigen Körper einen sehr langen dünnen Proto- plasmafaden ausstoßen, dessen Dicke zur Zeit seines Hervortretens 1), —Y, mikr. beträgt, und der besonders in seinem dem Ei zunächst gelegenen Teile so durchsichtig ist, dass es schwer hält ihn wahrzu- nehmen. Diese Strukturverhältnisse, welche die Beobachtungen sehr erschweren, machen sehr bald anderen weniger ungünstigen Platz: das zuerst hervortretende Ende wird dieker, verliert seine ursprüng- 1) Soll wohl „glatten“ heißen. Ref. Hauser, Fäulnisbakterien Ferran, Kommabaeillus. 325 liche liehtbrechende Kraft, und vermöge eines zweckmäßigen Kontrak- tionsvorganges verwandelt es sich rasch unter den Augen des Beobach- ters in eine Spirale. Alle diese die Entstehung jener Gebilde beglei- tenden Erscheinungen sind sehr flüchtiger Art, indem die rechte Beobachtungszeit nur sehr wenige Sekunden währt. Die so gebildeten Spiralen vermehren sich durch Teilung, wenn man sie auf das ur- sprüngliche alkalische Nährmittel überträgt; auf diese Weise kann man neuerdings den beschriebenen Cyelus verfolgen. Das Ei entleert zu verschiedenen Zeiten seinen Inhalt und, wenn einmal leer, reißt es ein und fällt zusammen und bildet so eine verschiedentlich einge- schnittene und unregelmäßig gezahnte Scheibe, die sich allmählich in der Flüssigkeit auflöst. Außerdem spricht der Verfasser von Oogonien und Oosphären. In welchem Verhältnis dieselben zu den oben betrachteten Formen stehen, ist für den Referenten aus der auch sonst an Unklarheiten leidenden Darstellung des Verfassers nicht ersichtlich. Aufgrund der vorstehenden Ergebnisse glaubt F., dass der Cholera- pilz aus der Gruppe der Schizomyceten herauszunehmen und in die Gruppe der höheren Pilze, und zwar zu den Peronosporeen, spe- ziell zur Gattung Peronospora zu stellen sei. Daher wird für den Pilz ein neuer Name — Peronospora Barcinonae — kreiert. Wenn man sich nun einen Maßstab für die Beurteilung der vor- stebenden merkwürdigen Resultate des Verfassers verschaffen will, muss man sich zunächst an die durch exakte Untersuchungen Koch’s und anderer sicher begründete Thatsache halten, dass der Cholera- pilz den Spaltpflanzen zugehört und zwar den Spaltpilzen. Dafür spricht nieht nur die morphologische Beschaffenheit und die Ent- wieklungsgeschichte, soweit sie durch Beobachtung und Reinkultur festgestellt ist, sondern auch die Art der Wirkung auf das Substrat. Die höheren Pilze (wohin ja auch die Gruppe der Peronosporeen gehört, zu der F. den Cholerapilz stellt) sind schon morphologisch von den Spaltpilzen weit verschieden. Man braucht sich nur der wichtigen Momente zu erinnern, dass jene ein Spitzenwachstum be- sitzen, dass sie kernhaltig sind u. s. w., um den Abstand zwischen beiden Gruppen zu ermessen. Den Cholera -Spaltpilz zu den höheren Pilzen zu stellen wird also nur derjenige wagen dürfen, der die tiefgreifenden Unterschiede zwischen Spaltpilzen und echten Pilzen verkennt. Selbst die Auffindung sexuell differenzierter Zellen bei Spaltalgen würde an jenem Abstand, der wesentlich auf vegetativen Charakteren begründet ist, nichts ändern. Aber eine solche Auffindung ist bisher nicht gelungen und wird aller Voraussicht nach, speziell im Hinblick auf die niedrige Organisationsstufe, überhaupt nicht gelingen. Zwar behauptet F., der Cholerapilz bilde „Antheridien“ (also männliche) und „Eier“ (also weibliche) Organe, aber diese Be- 326 Wiesner, Elemente der wissenschaftlichen Botanik. hauptung steht solange in der Luft, bis F. nachweist, dass wirklich eine sexuelle Beziehung zwischen beiden existiert, was er bis jetzt versäumt hat. Auch für die Behauptung, dass die „maulbeerartigen“ Körper oder Eier sich aus Sporen des Cholerapilzes entwickeln, hat F. nicht, wie man doch erwarten muss, beweisende Entwicklungs- reihen beigebracht. Ebensowenig finden sich für die Annahme F.s, dass aus den „Eiern“ Spirillen hervorgehen, irgend welche sichere entwieklungsgeschichtliche Anhaltspunkte. Alles in allem genommen ergibt sich also, dass der Verfasser zu den bisherigen gesicherten Kenntnissen über die Morphologie des Cholerapilzes nur unsichere, ja vom botanischen Standpunkt aus unhaltbare Angaben bringt. Ob nun der Verfasser sich durch etwa wirklich vorkommende, besonders große Involutionsformen zu jenen Auffassungen hat bestimmen lassen, oder ob ihm ganz fremde Dinge in seine Kulturen hineingekommen sind, dürfte im Grunde gleich- giltig sein. W. Zopf (Halle). Julius Wiesner, Elemente der wissenschaftlichen Botanik. 1.Band: Elemente der Anatomie und Physiologie der Pflanzen. 2. Band: Elemente der Organographie, Systematik und Biologie der Pflanzen. Mit einem Anhang: die historische Entwicklung der Botanik und zahl- reichen Holzschnitten. Wien, Alfred Hölder. Der Umstand, dass Wiesner’s „Elemente“, deren erster Band kürzlich in zweiter, vermehrter Auflage erschienen ist, der Biologie einen besondern Abschnitt widmen, mag eine kurze Besprechung des Werkes in diesen Blättern rechtfertigen. Es war gewiss eine zeit- semäße Idee des Verfassers, die Biologie, „diesen fast gänzlich der neuern Forschung zu dankenden Zweig der Botank“ einheitlich und übersichtlich darzustellen, — ein Versuch, der bis dahin noch nicht unternommen worden war. In das Gebiet der Biologie verweist Wiesner „alle Aeußerungen der lebenden Pflanze, die wir heute noch nicht auf dem Wege der chemisch- physikalischen Untersuchung erklärend zu behandeln vermögen“, und er stellt diese Vorgänge als „vitalistische“ denjenigen entgegen, welche auf physikalische und chemische Ursachen zurückgeführt sind und den Inhalt der Physiologie bilden. Diese Abgrenzung der beiden Gebiete, Biologie und Physio- logie, ist, wie der Verf. selbst hervorhebt, eine durchaus künstliche, erscheint aber im Interesse einer übersichtlichen Behandlung der Lebens- vorgänge geboten. Das Kapitel „Biologie“ gliedert sich in Wiesner’s Lehrbuch nun folgendermaßen: Erster Abschnitt. Das Leben des Individuums. I. Lebensdauer. Wiesner, Elemente der wissenschaftlichen Botanik. 337 II. Rhythmik der Vegetationsprozesse. Ruheperioden; Ablösung von Organen. Laubfall. Reife und Keimfähigkeit der Samen und Sporen. Triebfähigkeit anderer Organe. III. Abhängigkeit der Vegetationsprozesse von der Außenwelt. Parasiten. Symbiose. Anpassungserscheinungen. Schutzeinriehtungen. Spezifische Einriehtungen. Kletterpflanzen. Verbreitungsmittel der Samen und Früchte. Zweiter Abschnitt. Die biologischen Verhältnisse der Fortpflanzung. Hermaphroditismus. Monöcie, Diöcie, Polygamie, Triöcie, Gynodiöcie. Autogamie, Hilfsbefruchtung, Allogamie. I. Die verschiedenen Arten der Hilfsbefruchtung. Windblütige, Insektenblütige, Wasserblütler, Vogelblütler. II. Einrichtungen zur Selbstbefruchtung. IH. Die Wechselbefruchtung. Bastarde. Wechselbefruchtung gleicher oder scheinbar gleicher hermaphroditischer Formen. Dichogamie. Heterostylie. Pfropfhybriden. IV. Sehutzeinrichtungen der Blüten. V. Apogamie. Dritter Abschnitt. Entstehung der Arten. Darwin’s Des- zendenzlehre. Kampf ums Dasein. Einwände gegen die Darwin’sche Theorie. Dass es dem Verfasser gelang, diesen umfangreichen Stoff auf etwa 90 Oktavseiten zu bewältigen, zeugt für die Gewandtheit der Darstellung, welehe überall durch Kürze und Klarheit sich auszeichnet und von zweckmäßig ausgewählten Abbildungen begleitet wird. Von den übrigen Teilen des Buches zu reden, ist hier füglich nicht der Ort. Nur auf die Einleitung zur Organographie möge noch hingewiesen sein, in welcher sieh der Verf. zur „morphologisch - phy- siologischen“ Betrachtungsweise bekennt und in anziehender Weise die Einseitigkeit und Unzulänglichkeit des rein morphologischen Stand- punktes darlegt. Er verwirft dementsprechend die Begriffe „Glied“ und „Grundglied“, und betrachtet die Pflanze als eine Verbindung von Organen. „Wenn im Nachfolgenden“ — so schreibt der Verf. in dieser Einleitung — „die Ausdrücke Kaulom, Phyllom ete. gebraucht werden, so soll damit nichts anderes gesagt sein, als dass man es in denselben mit Organen zu thun habe, welche bezüglich ihrer morpho- logischen, namentlich auf die Entwicklung bezugnehmenden Eigen- tümlichkeiten sich mehr weniger dem Laubblatte, dem Stamme ete. der höheren Pflanzen nähern. Eine scharfe Abgrenzung dieser Be- griffe gegeneinander wird nicht angestrebt, ihre absolute Verschieden- heit auch nieht angenommen und der Uebergang eines dieser Typen in einen andern zugegeben“. Bei der vergleichenden Betrachtung höherer und niederer Pflanzenformen ergeben sich zwischen den Or- ganen in morphologischer Beziehung nur graduelle Unterschiede; die 328 Fritsch, Fauna der Permforation Böhmens. Aufstellung einzelner Typen bezweckt nur die Erleichterung der Uebersicht. Wesentlich den gleichen Standpunkt hat auch Sachs in seinen „Vorlesungen über Pflanzenphysiologie“ eingenommen, und in der „Morphologie der Phanerogamen“ spricht sich Drude ebenfalls in solchem Sinne aus. Diese Anschauungsweise bedeutet gewiss einen großen Fortschritt. Sie wird auch den Anfänger weit mehr fesseln und anregen, als es die trockene Aufzählung morphologischer Scha- blonen vermöchte, und man kann sie daher nur mit Genugthuung in einem Lehrbuche begrüßen, welches, wie Wiesner’s „Elemente der wissenschaftlichen Botanik“, durch viele glänzende Eigenschaften be- rufen scheint einen weiten Freundeskreis zu gewinnen. K. Wilhelm (Wien). A. Fritsch, Fauna der Gaskohle und der Kalksteime der Permformation Böhmens. Prag 1879—1885. Das erste Heft des obengenannten Werkes erschien im Jahre 1879 und vier Jahre später lag der erste Band (Groß-Quart) fertig vor. Er umfasst 182 Seiten Text mit 116 Holzschnitten und 48 chromo- lithographischen, meisterhaft ausgeführten Tafeln; letztere enthalten 356 vom Autor selbst gezeichnete Figuren. In diesem Frühjahr ist nun auch bereits das erste Heft des zweiten Bandes, von weiteren zwölf Tafeln begleitet, erschienen, und bei dem bekannten rastlosen Fleiße des Verfassers können wir einer raschen Förderung seiner Studien gewärtig sein. Gleichwohl dürfte bis zur Beendigung derselben noch einige Zeit verstreichen, und aus diesem Grunde halte ich es für angezeigt, jetzt schon die Aufmerksamkeit der Fachgenossen darauf zu lenken. Die ersten Kenntnisse von den aus dem Pilsener und Racko- nitzerBecken stammenden Versteinerungen erhielt Prof. Fritsch schon Ende der sechziger Jahre und im Jahre 1878 war bereits ein riesiges, aus den Resten von Mollusken, Crustaceen, Myriapoden, Arachniden, Insekten, Fischen, Lurchfischen und Amphibien bestehendes Material zusammengebracht. Alle diese verschiedenen Tiergruppen sollen im Laufe der Jahre monographisch behandelt werden, und in dem vor- liegenden Werke ist mit den fossilen Amphibien bereits ein sehr respektabler Anfang gemacht. Es handelt sich um die Reste von vielen hundert von Exemplaren, die der Verfasser in 43 Arten vereinigt und unter dem Namen der Stegocephalen beschreibt. Den sonst gebräuchlichen Namen Labyrinthodonten konnte er nicht als Kolleetiv-Ausdruck in Anwendung bringen, da bei zahlreichen Arten das charakteristische Merkmal, d. h. die labyrinthische Faltung der Zähne fehlt. NEN TEE Fritsch, Fauna der Permforation Böhmens. 929 Unter Stegocephalen versteht man gegenwärtig deutlich ge- schwänzte Amphibien!) mit zwei Össifikationszentren im obern Ab- schnitt des Hinterhauptbeins, sowie mit zwei, die Schläfengruben bedeckenden (or&yr-Dach, Decke) Knochen, welche sich bei den Jetzt- lebenden Amphibien nicht finden (Os postorbitale und Os supratem- porale). Dazu kommt noch ein Zizenbein (Epiotieum) und sehr oft ein knöcherner Augenring; die Scheitelbeine schließen zwischen sich das Foramen parietale ein. Kehlbrustplatten, dem Hautskelet zugehörig, können vorhanden sein, oder fehlen, und die Wirbelkörper sind bei jungen Exemplaren, sowie bei der Gattung Archegosaurus nicht ver- knöchert; wo sie verknöchert sind, erscheinen sie amphiecöl. Bei einigen Familien trifft man eine intravertebrale Erweiterung der Chorda an. Der in dem großartig angelegten Werk eingehaltene Gang der Darstellung ist folgender. Nach den einleitenden Bemerkungen gibt der Verfasser eine strati- graphische Skizze der Fundorte, sowie eine Uebersicht der bisher ge- fundenen Tierreste. Daran reiht sich eine Schilderung des gegen- wärtigen Standes unserer Kenntnisse über die Labyrinthodonten, und darauf wird in die Detailschilderung eingetreten. Der erste Band befasst sich nur mit derjenigen Abteilung der Stegocephalen, welche glatte Zähne besitzen; der zweite behandelt die eigentlichen Labyrinthodonten. Auf die Einzelheiten kann in anbetracht des außerordentlich großen Materials hier nicht eingegangen werden, und es seien deshalb nur die Hauptpunkte hervorgehoben. Abgesehen von den Familien der Archegosauridae, Chaulio- dontia und Melosauridae sind fast alle übrigen Formen von geringer Körpergröße, häufig nur vom Habitus einer Eidechse, eines Salamanders oder einer Salamanderlarve. Letzteres gilt z. B. für die breitköpfige Gattung Branchiosaurus, von welcher eine ganze Serie von verschie- denen Altersstadien, von 16—64 mm Länge, vorhanden ist. Hierzu gehört auch der in Frankreich aufgefundene, von Gaudry beschrie- bene Protriton petrolei, sowie gewisse von Credner beschriebene geschwänzte Batrachier aus dem rotliegenden Kalkstein in Sachsen. Ueberaus zierlich ist ein Vertreter der Familie der Hylonomidae; er gehört zu der von Prof. Fritsch aufgestellten neuen Gattung Seeleya und misst in ausgewachsenem Zustand nur 23 mm in der Länge. Von besonderem Interesse sind gewisse Stegocephalen von schlan- genähnlichem Körperbau, da sie als bereits modifizierte Formen auf das hohe Alter der ganzen Tiergruppe hinweisen. Der Verfasser be- 1) Anmerk.: Die Diagnose lautet in der Regel und so auch bei Fritsch: „deutlich geschwänzte Saurier“, eine unpassende Bezeichnung, da man mit dem Namen Saurier stets den Begriff des Reptils verbindet. 390 Fritsch, Fauna der Permforation Böhmens. zeichnet sie als Batrachierschlangen und stellt sie zur Familie der Aistopoda. Dahin gehört z. B. die Gattung Dolichosoma, welche bis in die allerfeinsten Details erhalten ist und nicht nur durch ihren schlanken Körperbau, sondern auch ganz besonders durch ihren zugespitzten Kopf an eine Baum- oder Peitschenschlange (Dendrophis) erinnert. Gleichwohl aber hat man es mit keiner wirklichen Schlange zu schaffen, sondern mit einem fußlosen Schleichenlurche, der wahr- scheinlich, ähnlich wie die Embryonen des schwarzen Bergsalaman- ders, mit sehr langen äußeren Kiemenbüscheln ausgerüstet war. Dass auch die Kiemensäcke der heutigen fußlosen Amphibien sich über einen großen Teil des Körpers nach hinten erstrecken, ist bekannt. Wenn bei Dolichosoma, welches wohl eine Gesamtlänge von einem Meter erreicht haben dürfte, ein Schuppenpanzer vorhanden war, so muss er sehr zart gewesen sein, da sich nichts davon erhal- ten hat. Bei der Gattung Ophiderpeton sind Hautschuppen sicher nachgewiesen; am Rücken tragen sie einen chagrinartigen Charakter, am Bauche dagegen bestehen sie aus haferkörnerähnlichen oder auch stäbchenartigen Gebilden. Darin liegt ein großer Unterschied mit dem Hautpanzer der heutigen Schleichenlurche; es ist aber von großem Interesse, dass die bei jenem in betracht kommenden Formverhält- nisse von Credner auch bei fossilen, mit Extremitäten versehenen Urodelen, so z. B. Discosaurus permianus, aus dem rotliegenden Kalk- stein in Sachsen nachgewiesen worden sind. In diesem Befund liegt eine wichtige Bestätigung der von mir schon vor einer Reihe von Jahren!) geäußerten Ansicht, dass wir in den Gymnophionen die ältesten, in ihrem Ursprung bis in die Kohlenperiode zurückreichenden Vertreter der heutigen Amphibien zu erblicken haben. Allein nicht nur in der Familie der Aistopoda, sondern auch bei einer langen Reihe anderer Stegocephalen existierte ein Schuppen- kleid, so z. B. in den Familien der Branchiosauridae, Nectridea, Limnerpetideae und Hylonomidae. Was das Kopfskelet betrifft, so ist es, so weit es aus Knochen bestand, häufig bis in die zartesten Details erhalten, und die vom Verfasser gegebene Schilderung und Auffassung der einzelnen Terri- torien ist sicherlich meist eine zutreffende. Viel ungünstiger liegen die Verhältnisse bei dem Extremitäten-Skelet, wie vor allem beim Sehulter- und Beekengürtel. Hier ist der Erhaltungsgrad häufig ein geringerer, und da obendrein noch hie und da eine starke Ver- werfung der einzelnen Teile stattgefunden hat, so muss die Schilde- rung zuweilen den Stempel der Unsicherheit tragen. Ganz im Dunkel bleibt die Organisation des Fuß- und Handwurzelskelettes, da diese Teile, ähnlich wie bei gewissen Formen der rezenten Urodelen, nur 1) Anmerk.: Vgl. R. Wiedersheim, Die Anatomie der Gymnophionen. Jena 1879. Fritsch, Fauna der Permforation Böhmens. 3ol knorplig angelegt gewesen sein müssen, so dass keine Konservierung möglich war. Es ist dies wegen der großen morphologischen Wich- tigkeit, welehe grade dieser Abschnitt des Skelettes auf Grundlage einer großen aus den letzten zwanzig Jahren stammenden Zahl von Abhandlungen zu beanspruchen hat, sehr zu bedauern. Was sich mit Sicherheit behaupten lässt, ist nur das, dass auch durch jene Formen die tiefe Lücke, welche die Extremitäten der luftatmenden Vertebra- ten von der Fischflosse trennt, noch nicht ausgefüllt ist, und dass die Zwischenformen in noch weiter zurückliegenden geologischen Epochen, d. h. jedenfalls noch vor der Kohlenperiode gesucht werden müssen (Ref.). Was nun die Beziehungen dieser untergegangenen Amphibien- geschlechter zu den heutigen Vertretern dieser Tierklasse betrifft, so erhellt daraus vor allem, dass die letzteren nur als ein spärlicher Ausläufer eines früher durch Zahl und Formenreichtum ausgezeich- neten Tierstammes zu bezeichnen sind. Im übrigen drückt sich Prof. Fritsch mit Recht sehr vorsichtig aus und will sich auf keine all- gemeinen Erörterungen einlassen, bevor er, zur Gewinnung einer breitern Basis, das ganze vorhandene Material durchgearbeitet haben wird. Gleichwohl ist es mir, aufgrund eigner ausgedehntener Studien über die Organisationsverhältnisse der heutigen Amphibien, vielleicht erlaubt, die Behauptung aufzustellen, dass wir in jenen untergegangenen Molchgeschleehtern keinesfalls die direkten Vorfahren der recenten Urodelen erblicken dürfen. Zwischen beiden besteht vielmehr eine gewisse Kluft, die, wie es scheint, bis vorderhand auszufüllen ist. So wenig bis jetzt bekannt ist, woher jene alten Formen gekom- men, in welchen geologischen Schichten also die ersten Ur-Amphibien aufgetreten sind, ebensowenig lässt sich bis jetzt nachweisen, was aus der langen Reihe jener, einst die Sümpfe der Kohlenperiode be- völkernden Mikro- Amphibien in der Trias-Zeit geworden ist. Dass während dieser Periode und speziell im Keuper und Buntsandstein der Stamm der Amphibien zu seiner größten Entfaltung gelangte, unter- liest keinem Zweifel, allein jene zum Teil gigantischen Labyrintho- donten können doch wohl kaum mit jenen zierlichen Molchen in direktem genetischem Zusammenhange stehen. Noch schwieriger wird die Frage nach ihrem Schicksal während der Jura- und vollends während der Kreideperiode. Erst im Mioeän, also in der mittlern Tertiärzeit, erscheinen die unmittelbaren Vorläufer der heutigen Am- phibien, und zwischen beiden bestehen so gut wie gar keine prinzi- piellen Unterschiede. Zugleich waren sie zu jener Zeit bereits in die zwei Gruppen der Anuren und Urodelen differenziert. Wenn sich nun auch nach allem diesem die Studien von Prof. Fritsch in phylogenetischer Beziehung schwerlich als sehr fruchtbar erweisen dürften, so setzt dieser Umstand doch ihren Wert keines- wegs herab, und wir dürfen nicht anstehen, das vorliegende Werk als 332 Wilckens, Nachtrag. — Ueber das Ei der Monotremen. eine der bedeutendsten Erscheinungen der neuern paläontologischen Literatur zu bezeichnen und ihm unsere vollste Anerkennung zu zollen. Zum Schlusse mag hier noch die Notiz Platz finden, dass der Verfasser eine große Zahl von galvanoplastischen Kopien der von ihm beschriebenen Stegocephalen angefertigt hat. Dieselben sind, wovon ich mich durch eigne Anschauung überzeugen konnte, so fein ausgeführt, dass sie bei zwanzigfacher Vergrößerung bis ins Detail studiert werden und so eine Zierde jeder Sammlung bilden können. Wiedersheim (Freiburg). Nachtrag zur Paläontologie der eocänen Suiden. (Zu Bd. V S. 212 dieser Zeitschrift.) H. Filhol („Recherches sur les Phosphorites du Querey“ in Ann. des sc. g&ol., VIII, 1877, p. 107) ordnet Cebochoerus einer Mittelform unter zwischen Schweinen und Affen, welche er nennt „Pachysimiens“. Er erklärt p. 111: „Je ne veux pas dire que les Cebochoerus fussent des Singes ou ressemblassent m&me de loin aux Singes de notre epoque. Ils devaient avoir des formes tout A fait speeiales, le eräne beaucoup plus abaisse, plus allonge. Mais de m&me que nous retrouvons des animaux, les Adapis, qui rappellent les Lemuriens, et que nous som- mes evidemment obliges, dans nos classifications, de placer ä cöte d’eux sans quiils en aient tous les caracteres, de mä&me il me parait probable que les animaux qui correspondaient & cette epoque aux Singes out eu des formes &loignees de celles qu’ils ont de nos jours; mais malgre cela ils en possedaient deja quelques caracteres“. F. unterscheidet zwei neue Arten von Cebochoerus: O. minor und Ü. cerassus; von der letztern Art fand er einen Teil vom Oberkiefer, dessen Merk- male sehr eigentümlich sind: „il semblerait que la distance qui a separ& les Poreins des Singes, fut moins grande autrefois quelle ne Vest aujourd’hui“, M. Wilckens (Wien). Ueber das Ei der \Monotremen. Zwar hat Gas „Biologische Centralblatt“ schon vor einiger Zeit (Bd. V Nr. 3 vom 1. April 1885) zusammenfassend über Caldwell’s Entdeekung von dem Ei des Ornithorhynchus und Haacke’s ent- sprechenden Fund bei Echidna berichtet, und es waren an derselben Stelle auch bereits einige Punkte berührt aus der Vorgeschichte dieser Entdeckungen, oder, besser gesagt, dieser Bestätigung gewisser früherer Angaben. Dennoch glauben wir bei dem großen Interesse, welches der Gegenstand für sich in Anspruch nehmen darf, noch einmal darauf zurückkommen zu dürfen, und zwar durch genaueres Eingehen auf die ersten Untersuchungen und Thatsachen, welche die Vermutung Ueber das Ei der Monotremen. 333 nahelegten, wenn nicht an sich schon den Beweis erbrachten, dass Ornithorhynehus ein eierlegendes Tier sei. Waren doch im Anfang dieses Jahrhunderts wenigstens die französischen Naturforscher allgemein davon überzeugt, dass die Schnabeltiere Eier legen. Es ist noch nicht hundert Jahre her, dass man die Monotremen überhaupt kennt. Die erste Beschreibung eines Ornithorhynchus, von einer Abbildung des Tiers begleitet, verdanken wir Shaw, welcher dieselbe in 1799 unter dem Namen Platypus anatinus in seinem „Naturalist's Miscellany“ (Bd. X Tafel 385) und in seiner „General Zoology“ (Bd. 1 Tafel 66 u. 67) gab. Im folgenden Jahre beschrieb und bildete Blumenbach das Tier ab unter dem Namen, welchen dasselbe dann auch behielt, nämlich Ornithorhynchus paradoxus (Hand- buch, 10. Aufl., S. 135, Tafel 41); der Name Platypus war nämlich bereits vergeben an eine Coleopteren-Gattung. Die Echidna war schon einige Zeit früher bekannt, seit dem Jahre 1792, und war, ebenfalls von Shaw, in „Naturalist's Miscellany“ zuerst als Myrmecophaga aculeata beschrieben worden. Shaw hatte die systematische Stellung des Tiers verkannt und geglaubt, es gehöre zu der sonst nur in Süd- amerika vorkommenden Edentaten-Gattung gleichen Namens. Der Name Echidna stammt von Cuvier (Tabl. element. du regne animal, 91423, 41797). Anatomisch untersuchte diese beiden neuen australischen Gat- tungen zuerst Everard Home und berichtete über diese seine Unter- suchungen in der Londoner „Royal Society“ in 1801; durch Druck veröffentlicht wurden dieselben im Jahre darauf in den „Philosophieal Transactions“. Home schienen die Monotremen ihren Geschlechts- organen nach den Haien und gewissen Reptilien verwandt zu seien, und er meinte, dieselben müssten, wie eben diese kaltblütigen Wirbel- tiere auch, ovovivipar sein. Später, in 1822, studierte E. Geoffroy de St.-Hilaire die Anatomie des Ornithorhynchus und gelangte seinerseits zu der Ueberzeugung, dass derselbe Eier legen müsse, während Meckel, als erster von allen Forschern, das Vorhandensein von Milehdrüsen konstatierte (Ornythorhynchi paradoxi deseriptio anatomica, 1826, mit 8 prachtvollen Tafeln). Geoffroy wehrte sich mit aller Macht gegen die Annahme, dass diese Drüsen wirklich Milchdrüsen sein sollten; denn er konnte platterdings sich nicht vor- stellen, dass ein Tier gleichzeitig Eier legen und mit Milchdrüsen aus- gestattet sein könne. In einer in 1826 in den „Annales des sciences naturelles“ veröffentlichten Abhandlung entwickelte er vielmehr die Ansicht, dass sie nur in ihrem Baue Milchdrüsen ähnelten, dass sie sonst aber den Drüsen gleich zu stellen seien, welche wir als Schleim- drüsen bei Fischen und wasserbewohnenden Reptilien kennen. Und drei Jahre darauf brachte er in demselben Journal einen Beweis für seine Behauptung, dass der Ornithorhynchus Eier lege. Dieser Beweis bestand in einem Briefe, welchen er von Professor Robert E. Grant 334 Ueber das Ei der Monotremen. in London erhalten hatte und welchen wir hier (nach der „Revue seientifique“, T. 35 Nr. 21 vom 23. Mai d. J.) wiedergeben wollen. Unumstößlich freilich war dieser Beweis nicht; enthielt der Brief doch nichts anderes, als eine (von Geoffroy in den „Annales“ wieder- gegebene) Zeichnung eines Eies, welches durch mehrere Hände ge- gangen und ursprünglich in einer Art Nest gefunden worden war, in dessen unmittelbarer Nähe man einen Ornithorhynchus gesehen hatte. Freilich werden die Gewährsmänner als durchaus zuverlässig bezeichnet. Wir führen folgende Stellen des erwähnten Briefes hier an: „Es ist mir — so schreibt Prof. Grant an Geoffroy — ein großes Ver- gnügen, Ihnen einige Aufschlüsse geben zu können, welche ich soeben von Herrn Leadbeater über die Eier erhalten habe, die man als Ornithorhynchus-Eier bezeichnet. Herr Holmes, bekannt als Sammler von naturwissenschaftlichen Gegenständen, hat sich mehrere Jahre in Neuholland aufgehalten. Eines Tages, als er an den Ufern des Hauks- burgh, eines Flusses im Innern des Landes, jagte, erkannte er sehr deutlich, nur wenige Fuß von ihm entfernt, einen Ornithorhynchus, welcher von einer Sandbank aufstand und in den Fluss entwich. Als Holmes die Stelle untersuchte, wo das Tier geruht hatte, fand derselbe eine Vertiefung im Sande von etwa neun Zoll im Durchmesser, und in dieser offnen Aushöhlung lagen einige kleine Zweige und die frag- lichen Eier“. „Er fand darin vier Eier, und alle vier wurden nach England gebracht. — — — Herr Holmes ist seitdem nach Neuholland zurück- gekehrt. Zwei der Eier befinden sich im Museum von Manchester, die zwei anderen erhielt Herr Leadbeater [von Holmes] als Ge- schenk ; aber er will sie um keinen Preis hergeben — — —“. „Trotz der merkwürdigen Beziehung, in der diese Thatsachen zu dem Ergebnis Ihrer sorgfältigen Untersuchungen stehen, werden Sie diesen Zeugnissen nicht mehr Wert beilegen können, als dieselben eben verdienen“. „Diese Eier scheinen mir, sowohl was Formals was Textur der Schale| anbelangt, von Vogeleiern abzuweichen. S8ie zeichnen sich aus durch eine regelmäßige länglich - sphäroidale Form, durch gleiche Dieke an jedem Ende; sie haben (englisches Maß) eine Länge von 1?/;, nnd eine Breite von 9%, Zoll, die Schale ist dünn, zer- brechlich und etwas durchscheinend und von einer gleichmäßig matt- weißen Farbe. Die Außenseite der Schale zeigt, mit der Lupe be- sehen, eine bewundernswürdig regelmäßig netzförmige Textur; die Kalbsubstanz lässt weiße Grenzlinien um diese unzähligen und sehr kleinen Zellen erkennen, was aber nicht hindert, dass die Oberfläche insgesamt immerhin ziemlich glänzend aussieht. Eines dieser Eier wurde geöffnet, so dass ich auch dessen Innenfläche genau besehen konnte, und auch diese schien mir aus einer Ablagerung sehr kleiner Kalkkörnchen gebildet“. Ueber das Ei der Monotremen. 3535 „Größe und Form dieser Eier erinnern mich an diejenigen vieler Saurier und Schlangen, Reptile, welche indess doch nicht den zehnten Teil so groß sind wie ein Ornithorhynchus“. „Mein Freund Yarell, welcher diese Eier ebenfalls untersucht hat, meint, dass sie von Vogeleiern ebenso sehr verschie- den sind, wie von Reptileiern. Uebrigens haben andere Reisende mir erzählt, dass der Hauksburghfluss, an dessen Ufer diese Eier ge- funden worden sind, allgemein übereinstimmenden Berichten zufolge von sehr vielen Sn nelnenen bewohnt ist — — — —. So weit Professor Grant in seinem Briefe an Geoffroy St. Hilaire, dem er noch eine Zeiehnung eines der Eier anfügt. In einer Anmerkung dazu weist letzterer noch darauf hin, dass die Ein- gebornen von Neuholland es als eine feststehende Thatsache betrach- ten, dass die Monotremen Eier legen. „Ein Häuptling des Stammes der Boorah-Boorah hat von dem Eierlegen und den Nestern der Schnabeltiere als von einer ihm und seinen Stammesgenossen wohl- bekannten Thatsache gesprochen“ — — — — und ein englischer Kapitän, der Sohn eines reichen englischen Ansiedlers in Neuholland, hat auf seiner Durchreise durch Paris Herrn Geoffroy versichert, dass dieser Häuptling ziemlich zuverlässig und einsichtsvoll sei, so dass man ihm Glauben schenken dürfe. Alle diese Angaben, welche mit Geoffroy’s Forschungsergeb- nissen über den Bau des Geschlechtsapparates der Monotremen überein- stimmten, ließen bei ihm keinen Zweifel mehr bestehen; er glaubte vielmehr, Ornithorhynchus und Echidna müssten von der Klasse der Säugetiere abgetrennt werden, um eine neue Klasse, ein Mittelglied zu bilden zwischen jenen und den Vögeln unter dem Namen Mono- tremen. — Diese neue Klasse wurde dann auch von Bonaparte angenommen in seinem „Saggio di una- Distribuzione metodica degli Animali vertebrati“. Dies war der Stand der Frage, als in 1835 E. T. Bennet, ein englischer Naturforscher, nach seiner Rückkehr von einer australischen Reise neue Mitteilungen über die Lebensweise und die Fortpflanzung vom ÖOrnithorhynchus veröffentlichte. Zuerst bestätigt derselbe die Behauptung Meckel’s von dem Vorhandensein von Abdominaldrüsen beim Weibehen, und auch er betrachtet dieselben als wahre Milch- drüsen, obwohl er daraus nur eine sehr kleine Menge Milch von einem Weibchen gewinnen konnte, das er mit zwei schon ziemlich entwickelten Jungen in seinem Bau gefangen. Weiterhin hat ein französischer Naturforscher, Jules Verraux, diese Tiere auf Tasmanien beobachtet und die Ergebnisse seiner Be- obachtungen in der „Revue Zoologique“ von 1848 niedergelegt. Nach ihm legt das Weibchen keine Eier, sondern ist wirklich ovovivi- par. Die Jungen saugen bald nach ihrer Geburt die Milch unmittelbar von der Mutter; sobald sie aber schwimmen können, lässt diese ihre 336 Tollin, Andreas Vesal. Milch ausfließen, und die Kleinen fangen dieselbe mit sehr lebhaften Bewegungen ihres Schnabels auf — ganz ähnlich, wie man dies bei den Cetaceen beobachtet hat. Nach Balfour (Embryology, vol. II, p. 198) fing man am 12. August 1864 ein Weibchen von Echidna hystrix, welches ein Junges bei sich führte, dessen Kopf in der Marsupialfalte des Bauches der Alten steckte. Das Tierchen war nackt, von heller Farbe und war im ganzen etwa zwei Zoll lang. Fast zu gleicher Zeit mit der Entdeckung von Mr. Caldwell bei Ornithorhynchus hat Dr. Haacke, Leiter des South Australian Museum in Adelaide, entsprechendes bei Echidna gefunden. In der Sitzung der Royal Society of South Australia am 2. September vorigen Jahres zeigte Herr Haacke ein Ei, „gefunden in der Tasche eines Echidna-Weibchens, als Beweis für die Thatsache, dass Echidna, ob- wohl mit Milchdrüsen ausgestattet, Eier legt und diese in der Abdo- minaltasche auskriechen lässt“. Das betreffende Ei wurde am 25. August vorigen Jahres der Mutter entnommen, und zwar nicht etwa aus dem Uterus, sondern aus der Abdominaltasche; leider aber war der Inhalt des Eies, wohl infolge von Krankheit der Mutter, verdorben. Allen diesen einander widersprechenden Angaben gegenüber wird man, ehe man zu einer bestimmten Stellungnahme in dieser Frage sich entschließt, abwarten müssen, bis Mr. Caldwell ausführlichere Mitteilungen seiner ersten kurzen folgen lässt. Er 1. Andreas Vesal. Von Lie. theol. Dr. med. hon. Henri Tollin, Prediger in Magdeburg. (2. Fortsetzung.) $.7. Vesal kannte von seinem früheren Aufenthalt her die Uni- versität Löwen genugsam, um zu wissen, dass dort alle damals der heilsamen Entwicklung der Anatomie entgegenstehenden Vorurteile sich weit schwerer beseitigen lassen würden, als in dem frei gerich- teten Paris, der Residenz des erleuchteten Franz I. und der geist- vollen Margarethe von Navarra. Auch hatte er in Paris noch keinen medizinischen Grad erworben. Wenigstens schweigt darüber die Ge- schichte. Warum ging er denn vorher fort, ehe er die ihm dort so lieb gewordenen medizinischen Studien zu irgend einem Abschluss gebracht hatte? Er führt selbst als Grund an, wegen der Kriegs- unruhen (ob belli tumultus). So schreibt er 1542 an seinen Herrn und Kaiser. Soll das nun heißen: er konnte in Feindes Land nicht bleiben; oder, er wollte es nicht? Doch wohl letzteres. Aus den sieben Königreichen, die dem Kaiser Karl V. gehörten, studierten 1536—38, wo der Krieg tobte, gar viele ruhig weiter in Paris. Niemand Tollin, Andreas Vesal. a focht sie an. Man war damals in der Beziehung weitherziger wie heute. Die Universität (universitas literarum) war eine Welt für sich, ein Universum der Wissenschaften, und darum international!). Selbst in den Akten der Bevollmächtigten für die treue deutsche Nation ?), deren Vertreter auf der Universität Paris 1537 William Bog, ein Magister aus Schottland?) war, treffe ich nichts, was auf eine Ver- treibung der Deutschen hätte schließen lassen. Auch die Spanier Michael Servet und AndreasLaguna studieren 1537 unbehindert weiter in Paris. Andere Spanier *) lassen sich grade damals immatri- kulieren. Im Jahre 1538 ist sogar ein Schotte — sie wurden zu den „Deutschen“ gerechnet — Robert Heriot aus Glasgov und dann (seit 16. Dezember) ein Portugiese Jacob a Govea der Rektor der Pariser Universität. In der medizinischen Fakultät beschreibt der Rektor Joh. Tagault die Angst der Pariser, als die Flanderer, Hennegauer und Burgunder von der Picardie aus auf Paris losrücken (metus enim magnus invaserat omnes) und Kaiser Karl’s Rede kund wird (o hominem impium atque inhumanum), bei seinem Eide werde er nicht eher ruhen, bis er den allerchristlichsten König Franz aus seinem Königreich verjagt hätte, und ihm nicht mehr Erde belassen, als sein Leichnam zur Bestattung nötig hätte und das Königreich selber in Grund und Boden umstürzen5). Aber den Unter- thanen des so fluchenden Kaisers rupft man in Paris kein Haar. Wenn also Vesal, der Niederländer, um des Krieges willen spätestens Ende 1536°) Frankreich verließ, so that er es freiwillig, um sich, des aktiven kaiserlichen Apothekers Sohn, beliebt zu machen bei seinem Kaiser. Denn der Kaiser, so erklärt er schon in der Widmung der 1537 zu Basel erschienenen Paraphrase, der Kaiser ist besonders zu dieser Zeit für die ganze christliche Welt von der größ- ten Unentbehrlichkeit (quo hoc praesertim tempore carere orbis 1) Mir lag in Paris z. B. vor vom Jahre 1537 Livre des nominations des nations r&unies, d. h. der Bewerber um geistliche Stellen, gleichviel welcher Nation sie angehörten. 2) Commentarii nationis Germaniae; Acta rerum memorabilium, magistro N. N., Germanorum nationis procuratore, gestarum; Commentarii fidelissimae Germaniae nationis: das sind die Titel des heutigen Livre des procurateurs de la nation allemande. 3) Der Stargarter Mag. Georg Roggov aus dem Sprengel von Kamin ist der erste procurator venerandae nationis Germaniae, der (1521) in diesem Buche genannt wird. 4) Z. B. Pet. Iruroz, Fortunatus Desparca und Michael Fran- eiscus aus Pamplona; 1538 Dionys Correa, France. Velho, Jac. Cola- res, Georg deLemos aus Lissabon, Fernando Gonzalvez de Camara, Gabrielde Guzman aus Toledo, Alvarus de Fonseca, Jo. de Gorris. 5) Quo quid diei potuit inhumanius, erudelius et prineipe christiano magis indignum. 6) Die Paraphrasis Rhasis datiert aus Brüssel Cal. Febru. Anno 1537. 22 358 Tollin, Andreas Vesal. ehristianus non potest) '). Dazu kam, dass Vesal sich sehnte, an Verwundeten die Probe auf seine anatomischen Voraussetzungen zu machen und statt der uralten, ausgetrockneten Körper, über deren notdürftige Zurateziehung er sich bei Galen so lustig macht, frische Leichen wissenschaftlich zu zergliedern. Dazu bot nichts so häufigen Anlass als eben der Krieg. Im Kriege aber durfte des kaiserlichen Hofapothekers Sohn, der Enkel des kaiserlichen Hofarztes nicht gegen seinen Kaiser zu Felde ziehen. Hat sich Vesal, wie wir nicht zweifeln wollen, um die Stelle eines Wundarztes bei der kaiserlichen Armee beworben, so muss er sie doch nicht alsobald erhalten?) haben. Denn in der Widmung seiner Hauptschrift an den Kaiser meldet er ausdrücklich, von Paris sei er nach Löwen gegangen. Dieser zweite Löwener Aufenthalt kann nicht lange ge- dauert haben, da wir schon am 1. Februar 1537 den Andreas Vesal in seinem heimatlichen Brüssel wiederfinden. Auch erwähnt er?) aus dieser Löwener Zeit nur von einer einzigen Sektion +); diese habe er unter dem Vorsitz jenes Dekans und mehrfachen Rektors, des Dr. Joh. Armenterianus vollzogen, dem er seine Ausgabe von Gün- ther’s anatomischen Institutionen widmet (1538). Er rühmt ihn als einen ebenso vollendeten Philosophen wie vollkommenen Arzt, der, durch seinen seltenen Fleiß, seine große Erfahrung in den Wissen- schaften, seine seltene Kenntnis in der Anatomie (ob singularem ana- tomes cognitionem) und durch mannigfaltige Gemütsanlagen, es wohl verdient habe, dass er mehrere Jahre hintereinander zum Dekan der Fakultät, auch mehrfach zur Würde des Rektorats berufen wurde. Ihm sei es zu danken, dass Sprachstudium und Philosophie auch auf der Löwener Akademie zur Blüte kamen. Als seine Löwener Studien- freunde (communes amiei) grüßte er aus Padua den ausgezeichneten Galenischen Professor Dr. Leonard Villemars und den zu großen Hoffnungen berechtigenden Jüngling Marcus Florenas (wahrschein- lich seines Gönners Niecol. Florenas Sohn). Zum Schluss der Wid- mung seiner Ausgabe der Günther’schen Institutionen bezeichnet er den Armenterianus als der Löwener Hochschule vorzügliehe Zier (Lovaniensis gymnasii praecipuum deeus). Auch versteht er aus der einen Löwener Sektion einer frischen Leiche Kapital zu schlagen. 1) 8. unten. 2) Die Heilungen von Wunden, Brüchen und Verrenkungen bei kaiserlichen Soldaten, von denen er Chirurgia magna redet z. B. fol. 73b, beziehen sich auf die weit spätere Zeit des Krieges gegen Soliman. 3) Praefat. seiner Ausgabe von Günther’s Institut. anatom. 1538 tertio Nonas Maji aus Padua, 4) Dominum Lovanii te praeside secarem, Vor dominum scheint eum zu fehlen. 39 ) Tollin, Andreas Vesal. In der Widmung seiner Hauptschrift nämlich an den Kaiser (1542) rühmt er, die Löwener Aerzte hätten noch etwa vor 18 Jahren (decem octo annis) nicht einmal im Traum an Anatomie gedacht. Jetzt aber habe er den Löwener Studenten den menschlichen Körper- bau (humanam fabricam) mit noch größerer Sorgfalt dargelegt, als in Paris; so dass die jüngeren Löwener Dozenten der Fakultät in der Kenntnis der menschlichen Teile gute Fortschritte gemacht und für ihr Nachdenken großen Nutzen daraus gewonnen hätten (egregiam philosophandi supellectilem). Welch ein unwissenschaftlicher, ja gradezu gehässiger Sinn aber auch damals noch in Löwen herrschte, erhellt aus einem Bei- spiel, das Vesal de vena secanda anführt. Ein reicher Löwener Arzt hatte eine andere Ansicht als Vesal über die Art des Ader- lasses bei Seitenstichen. Der junge Vesal flüchtete sich hinter die Autoritäten. Für seine Ansicht führte er Manard, Fuchs!), Cur- tius und Brissot an. Sein Gegner antwortete, vor jener großen Versammlung der gelehrtesten Männer (in frequentissimo eruditissi- ımorum virorum consessu), die angeführten seien ihm keine Autoritäten: denn das seien die Lutheraner?) unter den Aerzten (medicorum Lutheranos): solchen Ketzern (haeresim) Gehör zu schenken erlaube ihm seine Frömmigkeit (vir pius) nieht. Dass dieselben Männer es sich hatten viel Zeit, Mühe und Geld kosten lassen, um die alte Hippokratische Lehrmethode aus den Fesseln der Unwissenheit und Barbarei zu befreien, das achtete jener Löwener Traditionsheld nicht: perhorreszierte er doch schon jeden neuen Ausdruck, der von der barbarischen Gewohnheit der niedrigsten Hefe des Volkes (ex vulgi faece) abwich. In Padua konnte Vesal sich über dergleichen Löwener Beschränktheiten lustig machen (flocei pendo p. 5 sq.). In Löwen aber riskierte sein Leben, wer zu Luther stand. Luther's Lied von jenen beiden Brüsseler „Knaben“, welche von den „Löwener Sophisten“ angeklagt und 1. Juli 1523 zu Brüssel verbrannt wurden ®), gellte dem Brüsseler wohl noch in den Ohren. Und so mächtig war damals in Löwen noch der ultramontanen Aerzte Partei, dass Vesal’s niederländischer Landsmann, der dem großen Erasmus befreundete Arzt Hubertus Barland, Herausgeber des Dioscorides und von Galen’s Schrift De remediis, für sein treff- liches Werk gegen die Löwener Aerzte (justum volumen in Lovanien- sium medicos), das zu Paris, wo er es dem Joh. Günther mitge- teilt hatte, im Manuskript verbreitet und auch Vesal in die Hände gefallen war, weder in Löwen noch in Lyon noch in Paris, bei dessen Buchhändlern er sich viel Mühe gab (obnixe summoque studio expeti- 4) Auch hier (p. 5) wieder Fuschium, wie so oft bei Champier. 2) Leonhard Fuchs im Tübingen war allerdings einer der fanatischsten Protestanten des Jahrhunderts. S. Heinr. Rohlf’s Archiv 1885 8. 417 ft. 3) Köstlin: Luther’s Leben I 643 ff. 22° 340 Tollin, Andreas Vesal. visse cognoverim)!), einen Verleger fand: eine Thatsache, um deren- willen er von dem vornehmsten Löwener medizinischen Professor, dem Jeremias Triverius Brachelius?), öffentlich verspottet wurde. Aus derartigen Zuständen, wie sie uns Vesal selber kennzeichnet, liegt der Schluss nahe, dass Andreas sich in Löwen dies zweite Mal nicht länger als dringend nötig aufgehalten haben wird. Scheint ihm doch Löwen mehr die Station gewesen zu sein, auf der er seine Anstellung bei der Armee abwarten wollte. $S.8. Wann ist nun Vesal als Wundarzt in die Armee einge- treten? Alle Biographen melden, nach seinem zweiten Löwener Aufenthalt. Und in der That, Karl’s dritter Krieg gegen Franz fällt 1536 — 38; der zweite schon 1527—29, wo Vesal 13—15 Jahr alt war; der vierte 1542 —44, also in Vesal’s Paduaner Professorenzeit. Dennoch aber sprechen die Biographen einander nach, auch noch HaeserS.31 dem Burggraeve p. 23, Vesal habe damals 20 Jahre gezählt. Sie berufen sich dabei auf Vesal’s eigne Aussage in der Widmung der Institutionen des Andernach, in denen aber davon kein Wort steht, weder in der Ausgabe von 1538 noch in der von 1585. Auch war Andreas Vesal 1537 nicht zwanzig, sondern dreiund- zwanzig Jahre alt, während im Jahre 1534, wo er 20 Jahre alt war, Frieden blieb zwischen den beiden Rivalen. Burggraeve, der ihn p- 16 am 30. April 1513, resp. am 31. Dezember 1514 geboren sein lässt, rechnet auf nachlässige Leser und sagt nun dreist, 1535 sei Vesal 20 Jahr alt gewesen. Und um die Sache recht bunt zu machen, lässt er ihn erst beim Ausbruch des Krieges zwischen Franz und Karl Paris verlassen, — der Krieg brach aber 1556 aus —, dann nach Löwen ziehen, nunmehr im kaiserlichen Heere Wundarzt werden, und endlich 1535 mit dem Heere in Frankreich einbrechen. Darauf lässt er ihn zum ersten mal die Oeffnung eines menschlichen Leichnams vollziehen, denn in Paris hätte er nur 2 mal bei derartigen Operationen assistiert. Jedenfalls muss Vesal im Kriege vor Beendigung desselben. thätig gewesen sein. Der Krieg schloss aber ab schon vor Mitsommer 1537. 8. 9. Da nun nach dem Frieden vom 18. Juni 1537 der Kaiser den Pabst nach Genua begleitete, so zog auch des Kaisers Leibarzt Andreas Vesal mit nach Italien. Bald rief ihn der gegen die Gelehrten so überaus freigebige Senat von Venedig an seine Universität Padua, als ordentlichen Professor der Anatomie. Laut Brief über den Aderlass wohnte er am 1. Januar 1539 zu Padua im Hause der Söhne des erlauchtesten 4) Vesal: De vena secanda p. 7. 2) In dessen 2. Apologie gegen Leonh. Fuchs. Er setzte auf seine Schrift De securissimo vietu, Lovanii apud Servat. Zassen 1531 Mense Augusto das hübsche Motto: Non est vivere, sed valere, vita. Tollin, Andreas Vesal. 341 Grafen Gabriel von Ortemburg. Laut Widmung seiner Hauptschrift an den Kaiser erklärt er am 1. August 1542, dass er die chirurgische Medizin und Anatomie nun schon fünf Jahre auf der durch die ganze Welt berühmten Hochschule von Padua lehre. Laut Einleitung zu seiner Kritik (examen) der Schrift des Faloppio ist er in eben der dureh die ganze Welt hochberühmten (laudatissima) Paduaner Schule, in welcher jetzt Faloppio wirke, ungefähr sechs Jahre (annos fere sex) amtlich thätig gewesen. Das ergibt für seine amtliche Paduaner Thätigkeit die Jahre Sommer 1537 — 1543. Es ist also irrig, wenn die Biographen und zuletzt noch Haeser (11 32) den Vesal 1539 seine Paduaner Thätigkeit beginnen und 1546 abschließen lassen. Da Vesal selbst am Ende seines Lebens sagt, er sei fast ganz sechs Jahre, also fünf und ein Bruchteil in Padua Dozent gewesen, warum schreiben wir ihm sieben Jahre zu? Und wenn er in dem Werk vom Aderlass!), das er am 1. Januar 1539 beendet, frühestens also 1538 zu schreiben begonnen hat, einflicht, er habe jüngst (nuper) in Padua das Amt übernommen als anatomi- scher Sektor und Demonstrator, so stimmt das jedenfalls besser zu 1537 wie zu 1539 als Anfang seiner Paduaner Amtsthätigkeit. $S. 10. Vesal war Professor geworden, ohne Doktor zu sein. Man hat das oft übersehen. Nie aber vermochte jemand aus Montpellier oder Paris ein Doktor-Diplom Vesal’s aufzuweisen. Unter dem 12. März 1885 bestätigt mir die Negative auch für Löwen der dortige Herr Universitäts-Bibliothekar. Schon am 8. März 1885 hatte der Herr Dekan der Baseler medizinischen Fakultät, Herr Professor Dr. Miescher, mir gütigst mitgeteilt, dass |was auch Haeser II, 32. 33 schreiben mag] Vesal auch in Basel nicht promovierte. Die medizinischen Doktor-Promotionen damals waren in Verruf gekommen. In Frankreich z. B. war der medizinische Doktor käuflich auf den Hochschulen von Poitiers, Avignon, Toulouse, Bourges, Angers, Orleans, Orange, Lyon, Valence, Bordeaux, Nantes. Nur aus Paris und Montpellier wurde daher das medizinische Patent vom König Franz I anerkannt ?). In Pavia promovierte man zu Ehren des französischen Siegers ohne weiteres seinen französischen Leibarzt Symphorieu Champier aus Lyon und auf dessen Ersuchen auch den alles Lateins unkundigen, herzoglich lothringischen Barbier?). Auch war der weltberühmte Pariser Professor Jacob Sylvius unpromo- viert, obwohl ihn Vesal, sein Schüler, meist, wie selbstverständlich, Doktor tituliert. Unpromoviert war der Leibarzt und Hofastrologe, der geschickte niederländische Pestarzt Jehan Thibault; unpromo- 1) De venanda secanda p. 29. 2) Vgl. meinen Aufsatz in Virchow’s Archiv 1830 8. 66. 3) Die urkomische Scene Siehe in Champier’s Lunectes des Uyrurgiens bei Allut. Champier, Lyon, 1859, p. 22 sv. 342 Tollin, Andreas Vesal. viert höchstwahrscheinlich auch des erstern Schüler, beider letzteren Freund, der Entdecker des Blutkreislaufes Michael Servet!). So sehr die Könige auch dekretieren mochten, Fürsten und Grafen, Kar- dinäle und Erzbischöfe, Magistrate und selbst Universitäten fragten wenig nach der Promotion, wenn nur der Leibarzt und Hausfreund es verstand seine Patienten wieder gesund zu machen. $. 11. Zur Hauptaufgabe stellte sich Vesal in Italien dreierlei: 1) die lächerlich veraltete Methode der Schulen auszupochen; 2) das von den Alten uns überlieferte Gute fortzupflanzen; 3) jeden Teil des Leibes gründlich zu erklären ?). Da es nun aber in Padua nicht das ganze Jahr hindurch Sek- tionsobjekte gab, so nahm er die Einladungen des Großherzogs von Toscana, Cosmo de Medieis, nach Pisa und Bologna an. In Bologna fand er in der Person des Professors Matthaeus Curtius, spätern Leibarztes Clemens VII., einen scharfsinnigen Freund, Mitarbeiter und Rivalen ?). Vesal schlug es nirgend ab, wo man ihn aufforderte, an dargebotenen menschlichen Leichen einen anatomischen Kursus zu halten und dabei weiter zu studieren. So hatte er denn während desselben Jahres schon drei sieben- wöchentliche Kurse in Italien nach Galen gehalten, als er immer noch an der einmütigen Ueberzeugung des Mittelalters und aller seiner Zeitgenossen festhielt, dass Galen es sei, welcher alles wisse, was den menschlichen Körper betrifft *), und dass, wo in Wirklichkeit irgend eine Leiche in irgend einem Punkte dennoch der Beschreibung des Mannes von Pergamos nicht entsprach, solch ein Körper eben, wie schon Mundinus’) ausfand, ein Ungeheuer sei. Bald sah er in Italien nichts als Ungeheuer. Wie sich nun aber her- ausstellte, dass diese in allen Haupt - Differenzpunkten untereinander allerwärts gegen Galen übereinstimmten, er auch das Jahr über eine immer steigende Anzahl toter und lebendiger Tiere zergliederte, so ging endlich, angesichts der Ueberfülle seiner immer wieder gleich- artigen Beobachtungen in Vesal die Vermutung auf, Galen habe in 4) S. H. Rohlf’s Archiv f. Gesch. d. Medizin 1885: Servet in Charlieu. S. 88 ft. 2) De humani corporis fabrica: Praef.: ridieulo scholarum more exploso, a veteribus proditum etc. 3) Acerrimi judicii vir: Examen Faloppii p. 7 cf. 81. Curtius hatte vor Vesal de Secanda in internis inflammationibus vena geschrieben. Drei Exem- plare waren schon gedruckt. Da überholte ihn Vesal (1. Jan. 1539). 4) Galenum, sagt Vesal, ad nostra usque tempora nemo nec minimum quid in anatome deliquisse arbitratus est (fol. 5 Gabriel Cunei Examen. Ven. 1564). 5) In seiner Anatomia, die durch Jacob Berengar von Carpi (1527) (per Carpum castigata) zu Venedig wieder herauskam, wird p. 48ab das sep- tum cordis als mirabile opus gerühmt, weil non est una concavitas, sed est plures eoncavitates parvae, latae magis in parte dextra quam in sinistra. Tollin, Andreas Vesal. 349 den meisten Fällen bei seinen Beschreibungen nicht einesMenschen, sondern eines Affen Körper vor sich gehabt. Diese seine neu gewonnene, von allem bisher gehörten abweichende Ueberzeugung (paradoxon) äußerte Vesal bald öffentlich in seinen Vorlesungen. Heute kennt man sie und spricht sie nach aus der Widmung an Karl V.!). Aber wenige von denen, die an ihrem pikan- ten Wesen sich freuen, haben sie in ihrem ganzen Zusammenhang gelesen. Noch wenigere wissen es, dass der berühmte „Autodidakt“ Galenist war und Galenist blieb bis an seinen Tod. $S. 12. Was zunächst den Zusammenhang betrifft, so hat Vesal nicht behauptet, wie man das so oft hört und liest, Galen habe es nie mit menschlichen Leichen zu thun gehabt. Im Gegenteil grade an der Stelle, wo Vesal urteilt, Galen sei durch seine Affen irregeführt worden (deceptus suis simiis), gibt er zu, dass dem Galen auch zwei ausgetrocknete?) menschliche Leichen vorgelegen haben ?), und dass Galen auch sonst ausnahmsweise menschliche Körper zergliedert habe. Auch hier, wie so oft in der Medizin, klingt die Wahrheit der Geschichte weniger pikant als die kolportierte Fabel. Dennoch kon- statiert die Geschichte, Vesal habe Galen genug gekannt, um nicht erst den Versuch zu machen, ihn ins Angesicht zu verleumden. Spricht nun schon die oft zitierte, aber selten gelesene Widmung an Karl V. gegen die hergebrachte Ansicht über Vesal’s Stellung zu Galen, so noch mehr das Hauptwerk selber — De humani cor- poris fabriea. — Das Werk hat in der Baseler Ausgabe von 1543 532 Folio-Seiten. Und fast auf jeder Seite zitiert Vesal den göttlichen Mann (divinus vir), den er über alles bewundere (maxime Galenum miror z. B. fol. 639). Galen ist ihm, wie allen, nächst Hippokrates der Öbergebieter in der Medizin (medieinae princeps), der Vater der Heilkunde, der Fürst unter den Anatomen (anatomicorum princeps fol. 591), der größte Bewunderer der Natur (fol. 500), der Urheber aller nützlichen Kenntnisse (Galenus omnium bonorum autor) #). Wie 1) Auch im Werke selbst fol. 375: Galenus hominem nunquam seeuit. 2) Latronis cujusdam in agro relieti cadaveris et alterius humani corporis ad Nili ripas reperti ossium, von denen Galen sagt, miraculi cujusdam instar seien sie ihm anheimgefallen (p. 10: Gabrielis Cunei Examen). Bei der Sektion eines deutschen Soldaten, die er erwähnt, war er nicht selbst zugegen (De Chynae radice p. 63). 3) In plerisque — nicht in allen! — locis constat, ipsum nunquam rese- cuisse corpus humanum, licet duo ipsi arida hominum eadavera oceurrerint. — Dagegen humanum corpus nuper mortuum resecuisse leugnet er z. B. Ga- brielis Cunei Examen fol. 5. 4) Wie nimmt sich dagegen das Urteil Burggraeve’s aus, der Galen nicht kennt, wenn er 8. 3 sagt: „vor Vesal gab es eigentlich keine mensch- 344 Tollin, Andreas Vesal. viel verdanken wir dem Fleiße des Galen (Galeni diligentiae pluri- mum deberi fol. 68)! Wie viel treffliches hat Galen uns gelehrt (nos abunde doeuit fol.569)! Galen ist der beste und auserlesenste Deuter seiner eignen Werke (exquisitissimus interpres). Galen ist in der Anatomie der oberste Professor und die Koryphäe. Galen steht da als ein seltenes Wunder der Natur (rarum naturae miraeu- lum fol. 63). Allesamt, die wir Mediziner sein wollen, sollen und müssen auch die größte Sorgfalt darauf verwenden, Galen’s Werke zu studieren!). Und auch ich habe auf Galen’s Worte den Eid geleistet (et ego in Galeni verba juravi fol. 591). Vesal steht und bleibt in der Defensive: wollte er doch nicht als ein Meineidiger verrufen werden. Darum beugt er sich vor Galen, so oft er sich hören lässt 1537, 1538, 1539, 1542, 1546, 1555, 1561, 1564. In der Epistel über den Aderlass hat er es vornehmlich mit Hippokrates und Galen zu thun. Immer, sagt er, sei er gewohnt gewesen, diese Männer wie himmlische Wesen oder Gottheiten zu verehren (quos tanquam numina et deos quosdam colendos esse semper judicavi p. 6). In der Epistel über die Chinawurzel, deren eigentliches Thema es ist, gegen Jakob Sylvius seine Angriffe auf einzelne anatomische Dogmen Galen’s zu verteidigen, gesteht er von vorn- herein zu, dass man, außer in der Anatomie (praeter anatomen) bei Galen gar selten durch Fehler aufgehalten werde 2). In der Epistel an den Faloppius berücksichtigt er keinen Autor so häufig, als den Galen (1561). In der großen Chirurgie zitiert er gern und oft den Galen neben dem Hippokrates, Celsus, Paulus von Aegina, Erasistratus. In der Kritik des Puteus ist Vesal’s drittes Wort Galen. Du hättest, ruft er jenem 1564 zu (S. 5), dich nicht erst zu erhitzen brauchen, um Galen zu verteidigen, da ja Vesal selbst den Galen nicht nur in der Anatomie, sondern in der ganzen Arzneikunde als den nach Hippokrates Ersten anerkennt, ihn allezeit sehr fleißig studiert und als den allen gemeinsamen Lehrer (communis omnibus praeceptor), dem er hoch verpflichtet bleibe (devinetus), feiert (S. 4 und 5). Dennoch auch dem tonangebenden Meister gegenüber will Vesal kein blinder Nachbeter sein. Um seine Selbständigkeit zu wahren, brauchte er bloß gradeaus seinen eignen Weg zu gehen. Das hätte er vielleicht gethan, wenn er heute gelebt hätte. Im 16. Jahr- liche Anatomie“; S.8 wird er gerechter, wenn er sagt: Galien devina la struc- ture de ’homme dans celle des animaux, Gibt es doch der Analogien genug. 1) Sane omnes, qui Medicinae nomen dedimus, oportet esse Galeni stu- diosissimos. 2) ed. Lugdun. 1547 p. 60. Tollin, Andreas Vesal. 34) hundert genügte das nicht. Man musste schimpfen, fluchen oder spotten. Darum entblödet er sich nicht, über alle seine Lehrer, über den Jakob Sylvius, den Günther von Andernach, den Johann Tagault, und so auch über Galen, so oft sich ihm Anlass bietet, öffentlich zu spotten. Nur dass betreff Galen’s in allen Schriften genau ein und derselbe Spott stereotypisch wiederkehrt. „Alles, schreibt er 13. Juni 1546 aus Regensburg !), alles, was Galen in der Anatomie eignes besitzt, hat er von den Tieren ent- nommen, insbesondere von Hunden, Rindern, Schafen, vorzüglich aber von den geschwänzten und ungeschwänzten Affen“. Und 1564 in der Schrift gegen Franz Puteus sagt er, gesehen hat Galen ja ober- flächlich (obiter conspexit) des Menschen Knochen, aber wo er Kno- chen näher beschreibt, sind es vielmehr die der Affen, wo er Kenntnis vom Gehirn an den Tag legt, das der Rinder, wo er den Mutterleib und die Leibesfrucht prüft, hat er es besonders mit den Ziegen zu thun. Und dabei sucht Galen sich überall in den Schein zu setzen, als hätte er jene menschlichen Teile genau betrachtet und beschrieben; von all den zahlreichen (innumeris) Unter- schieden, die es zwischen Menschen und Affen gibt, hat Galen nur diejenigen beschrieben, welche ohne Sektion jedweder am voll- ständigen Körper erblicken kann. Und selbst der Affen Struktur, geschweige der Menschen, hat Galen an vielen Stellen unrichtig be- schrieben, den Zweck der Glieder verkannt, die Alten nur zu oft fälschlich angeklagt und sich selber widersprochen“. Vesal thut sich viel zu gut auf diese seine Position gegenüber dem Vorurteil seiner Zeitgenossen. Aber noch in seinem Todesjahre, in oben gedachter Schrift nennt er seine Theorie ein Paradoxon?), durch welches er bei allen älteren Aerzten großen Neid und Unruhe der Seelen (non absque summa seniorum ipso medieorum invidia et animi perturbatione) hervorgerufen habe. Dennoch bleibt er dabei, dass er auch in Italien stets Sorge ge- tragen, allen Anatomen als Anleitung die Bücher Galen’s in die Hände zu legen und für Galen’s volleres Verstandenwerden Sorge zu tragen (8. 5 ff.). Ja er hält dafür, dass bei der Nachwelt (apud posteros) ihm, dem Vesal (major gloria) ein größerer Ruf, als aus seinen Zurechtstellungen, daraus erwachsen werde, dass er unter allen Schülern Galen’s zuerst (primus omnium qui ipsum sunt secuti) an unzähligen Stellen auf dieses größten Anatomen Sorgfalt (diligentiam) hingewiesen habe; dass er, Vesal, nichts kenne, was ihm angenehmer sein könnte oder sollte, als Galen zu empfehlen (Galeni commendatione) und dass es keinen Menschen in der Welt 1) De Chynae radice. 2) 1539 de vena secanda verspürte er noch wenig Lust, aliorum conviciis me novis paradoxis exponere (p. 4). Vielleicht ein Seitenblick auf des Fuchs Paradoxa medicinal. Bas. 1535. 346 Tollin, Andreas Vesal. gebe, dem er, Vesal, Gott sei Dank (ita Dii me ament) in der hei- ligen Scheu (pietate) und Hochachtung (observantia) vor Galen nachstehe (nemini cedo). Er wolle keinen Kampf mit Galen (non autem quasi cum Galeno pugnam instituissem p. 60) "). Ich habe anderswo ?) gezeigt, wie der Chirurge aus der Schule des Antonio Leonieus, Vesal’s Schüler, Nebenbuhler und Nach- tolger in Padua, Realdo Colombo, dem Brüsseler Anatomen Ver- kleinerungssucht, Unabhängigkeitstick, Neuerungsdrang, Haschen nach Volksgunst vorwirft wegen seiner unaufhörlichen Zurechtweisungen des von Colombo selbst doch so oft sonst getadelten, unsterblichen Galen°). Leonhard Fuchs hingegen, Vesal’s, Servet’s und Colombo’s Tübinger Widersacher, sonst ein grimmer Mann, hier zeigt er sich gerechter. Während nämlich Vesal den Fuchs als einen immerhin sehr gelehrten und verdienten Freund des Jakobus Sylvius und Franz Puteus bekämpft, reehnet Fuchs den Vesal unter die Hersteller des Galen und sagt in seinen Paradoxen (III, 4. S. 158): „Dass heute in der Anatomie so viele Fehler be- gangen werden, das hat sicher keinen andern Grund als den, weil die Mediziner des vorigen Jahrhunderts jene Bücher der alten Grie- chen entbehrten (Graecorum veterum libris caruerint), welche heute, wo überall die guten Autoren wieder auftauchen, Vesal und andere sie durch Gottes Gnade wiederherzustellen (sareire) bemüht sind. Das Wort, welches der gelehrte Tübinger Arzt, Melanchthon’s Busenfreund, hier braucht, (sareire), ist hochbezeichnend. Es be- deutet flieken, ausbessern, wieder ganz machen. Es ist die Thätig- keit des Flickschneiders.. Und in der That, während der radikale Theophrastus Paracelsus alle gelehrten Aerzte verhöhnt, mit der Medizin eine Radikal-Reform vornimmt, alles Alte umwirft, überall neue Fundamente legt, unerhört neue Prinzipien aufstellt — „wie kann ein Arzt ein ander Buch haben, denn eben das Buch, das die Menschen krank macht und gesund macht? So ist vonnöten, dass er aus der Natur geboren werd und nit zu Leipzig oder zu Wien. Wenn in der ganzen Welt kein Lehrer der Arznei wär, wo 1) Rob. Willis: Harvey 1878 p. 62 sagt ganz richtig, gezwungen und widerstrebend (reluetantly) habe Vesal dem Galen widersprochen: gemeinhin halte er sich stets in Uebereinstimmung wit Galen (invariably in conformity with the views of Galen p. 63). 2) Virchow’s Archiv, Bd. 91, 1883, S. 43—46. 3) Den anzugreifen Colombo zu seinem Monopol machen möchte. Siehe meine Abh. in Pflüger’s Archiv für Physiologie, Bd. 22, 1880, S. 262—290. Uebrigens scheint auch De vena secanda p. 27 Vesal auf ihn zu pointieren: Novi equidem inter caeteros quendam, qui secundo de vena in dolore laterali secanda contra Galeni sententiam scribere haud veritus est, priusquam vel per somnium quidem Anatomen vidisset: quamquam hactenus unicae dumtaxat me perfunetorie administrante, astiterit. Tollin, Andreas Vesal. 347 würd ich die Kunst lernen? Nirgends als in dem offnen Buche der Natur mit Gottes Finger geschrieben. Doch welches ist die rechte Thür zu den Geheimnissen der Kunst? Galenus, Avicenna, Mesue, Rhases oder die offene Natur? Ich glaube das letzte“ !) — beschränkt sich der vorsichtige Vesal darauf, den anatomischen Bau des Galenistischen Systems zu prüfen, alle Lücken zu füllen ?), alle Risse zu verkleben, alle schadhaften Stellen auszubessern. Sobald seine Arbeit gethan ist, steht der aufgebesserte Galenismus fertig da, schöner und brauchbarer denn je. Vesal’s Feinde waren nicht die Galenisten, nieht die Araber, sondern die Infallibilisten?). Einen unfehlbaren Galen erkannte Vesal nicht an: er forderte, ihm solle, müsse alle Welt zugeben, dass in der Struktur des menschlichen Leibes Galen vieles nicht ge- wusst oder doch übergangen habe (quam multa in corporis humani fabrica a Galeno ignorata fuerunt et praeterita). Sem Paradoxon, dem anfangs von allen Seiten widersprochen wurde, ist zum Dogma geworden, was sich heute für jeden Mediziner von selbst versteht. Das war Vesals Größe, dass er zuerst dieses Dogma aufgestellt und bewiesen hat. Aber er hätte es hundertmal beweisen können im Mittelalter, man wäre über ihn zur Tagesordnung übergegangen, hätte ihn begraben und vergessen. Die Zeit, in der er lebte, war Vesal’s beste Bun- desgenossin. Man liebte und übte grade damals Neuerungen auf jedem Gebiet: Neuerungen im religiösen, politischen, sozialen, künst- lerischen, Neuerungen auf jedem wissenschaftlichen Gebiet. Nur mussten sie ohne Fanatismus durchgeführt werden. Die Radikalen unter den Neuerern wurden überall ausgerottet, die Bauerrebellen, die Wiedertäufer, die Bilderstürmer besiegt; Paracelsus von seinen Mitärzten überfallen und umgebracht, Michael Servet von seinem Bibelkollegen verbrannt, Gentile geköpft, Cardanus vergiftet. Luther hingegen und Calvin und Kopernicus und Pare und Vesal drangen hindurch. S. 13. Vesal konnte sich über die Italiener nicht beklagen. Jung, unbeweibt, ohne Kinder, frei von aller Familiensorge, unter sehr angenehmen Umgebungen (jueundissimo sodalium convietu) ganz den anatomischen Studien geweiht (S. 277), fand er überall in Italien Entgegenkommen. Die Richter nahmen es ihm nieht übel (non judi- cibus molestus ero), wenn er sie bat bestimmte Verbrecher auf diese oder auf jene Weise hinrichten zu lassen oder die Vollstreckung 1) Lessing; Leben des Paracelsus S. 62. — Den Hippocrates schätzt er am höchsten. Vgl. S. 64. 2) Plurimis quae a Vesalio im Galeno desiderantur, habe Faloppio beigestimmt, rühmt Vesal im Examen Putei. Venet 1564 p. 3. 3) Franz Puteus: humani corporis fabrieam tam integre a Galeno per- tractatam, ut post ejus libros nihil magis expetere debeamus (p. 57). 348 Tollin, Andreas Vesal. des Urteils bis zu einer für „unsere“ Sektionen günstigern Zeit auf- zuschieben. Er erhielt Leichen so viel er wollte, bald von den Krankenbetten !), bald aus den Beinhäusern, bald von den Richt- stätten (8. 278). Als ihm für eine wichtige Demonstration (de hy- menaeo) eine Leiche fehlte in Pisa, ließ ihm der Herzog Cosmo per Eilboot (celeri scapha — auf dem Arno abwärts) aus Florenz die Leiche einer Nonne schaffen, um sie als Skelett zu präparieren. Selbst seine Schüler erhielten die Schlüssel zu dem elegantesten Kirchhof von Pisa und zu jenen Leichenkapellen, in denen die Toten nicht durch die Binden und die feuchte Erde der Fäulnis (caries) litten, sondern, dem Regen und Wind ausgesetzt, sich zur Aufbewahrung vorzüglich eigneten (aptissima S. 203). Bildhauer und Maler wett- eiferten ihm ihre Dienste anzubieten. Wo er hinkam, sollte er ana- tomieren, was es auch immer sei. So viel Gelegenheit wurde ihm in Italien geboten, dass er noch 1561 in seiner Einleitung der Kritik des Faloppio schreibt, nie wieder in seinem Leben habe er so viele neue anatomische Erfahrungen sammeln können. Die Zahl seiner Zuhörer in Italien war groß; über seine Erfolge in Padua, Pisa?) und Bologna berichtet er uns selbst. Von denen in Pisa auch sein Bruder Franz. Mehrere Monate, schreibt er dem Herzog 1546, sei er Augenzeuge gewesen, wie Andreas in der von Cosmo di Medici so wunderbar schnell geförderten Universität vor sehr zahl- reicher Zuhörerschaft (frequentissimo coetu) Anatomie gelehrt habe. Der Herzog von Toskana hatte dem Andreas Vesal neben seinem Paduaner Gehalt 800 Kronen jährlich ?) gewährt. $S. 14. Und von Italien aus verbreitete sich Andreas Vesal’s Ruf weiter. In Basel, wo er behufs Herausgabe seines Hauptwerks 1543 verweilte, gestattete man ihm, obwohl er dort weder immatri- kuliert noch promoviert war, nicht nur sofort eine menschliche Sek- tion; sondern gleich bei dieser ersten, die dort vorgenommen wurde, füllte sich der Hörsaal bis zum letzten Winkel. Als Militärarzt in Geldern (Burggraeve 27) 1543 nach Nym- wegen gerufen, hat er sehr lange Zeit an dem Siechbett des er- krankten venetianischen Gesandten Navagerius zu thun ®). Kaum ist der Gesandte hergestellt, so zieht er mit ihm nach Regensburg, wo der Kaiser über seine Truppen Revue hält (1546) °). Dem an der Gicht erkrankten Beherrscher der halben Welt verschafft er große Erleichterung. Sein Mittel ist ein Chinadekokt. Da der Kaiser sich jetzt wohler wie je fühlt, wird bald die Nachfrage so 1) Z. B. eine nobilis puella der Gräfin Egmont, den berühmten Sienenser Juristen Belloarmatus, den Florentiner Patricier Prosper Marcellus. 2) Z. B. Cunei Examen p. 71. 3) De Chyrae radice. Lugd. 1547. p. 54. 4) De Chynae radice p. 11. 282. 5) Sleidani Commentar. de statu religionis. Argentor. 1621 p. 525. Hoffmann, Ueber Sexualität. 349 groß, dass selbst die Hofärzte unwillig wurden und man bis an des Kaisers Person sich wandte. Vesal selbst aber wurde am meisten bestürmt !,. Amatus Lusitanus, der sich um den Herzog Franz von Este bemühte ?), und der Oberarzt von Mecheln, Dr. Joachim Roelants, waren in Regensburg Zeugen dieses seltenen Zulaufs. Auch die Galen-Frage kam auf das Tapet. Und du hast dich, so schreibt er 1546 an Roelants, durch Augenschein überführt, dass meine jugendlichen Bemühungen (juveniles eonatus) von vielen der gelehrtesten Aerzte des Zeitalters weit über mein Verdienst (longe supra meritum) öffentlich empfohlen und durch dieser Herren selbst- gemachte Erfahrungen bestätigt worden sind (S. 55). H. Hoffmann, Ueber Sexualität. Bot. Zeitung, 1885, Nr. 10 u. 11. Der durch seine Kulturversuche bekannte Verfasser teilt in vorliegendem Aufsatze die Resultate mit, die ihm in bezug auf die Entstehung der Sexualität bei zweihäusigen Pflanzen sich ergeben haben. Diese Mitteilung ist um so willkommener, als grade jetzt infolge der bekannten Düsing’schen Arbeit die Frage nach der Entstehung des Geschlechts bei nicht hermaphroditen Or- ganismen zu einer der vielbesprochensten geworden ist. Hoffmann hat ge- funden, „dass der dichte oder lockere Stand, also vermutlich die dürftigere oder reichliche Ernährung gewisser zweigeschlechtlicher Pflanzen während ihrer ersten Entwicklung einen bedeutenden Einfluss auf die Ausbildung des einen oder des andern Geschlechtes zu haben scheint“. Die Resultate seiner Ver- suche sind in folgender Tabelle zusammengestellt, in der die Zahlen für die Männchen Verhältniszahlen bedeuten, diejenige der Weibehen zu 100 gedacht. Zahl | | | Zahl ı Dicht- | der \Locke-; der Ver- saat |Exem- Ver- rer |Exem- Name der Pflanze. such. (Topf).| plare. | such. | Stand. | plare. IR EAN B. ©. D. E. 1% | Männ- Männ- | chen. chen. Lyehnis diurna l 233 | 3U am lbs? " 2 200 | 44 b 77 39 Inychnis vespertina .» » ..., 1 150 30 q 73 — e 2 62 21 — _ —_ Mercurialis annua 1 100 327 a 90 612 c 2 112 212 _ — —_ Rumex Acetosella . 1 152 52 a 8 323 n 2 159 44 —_ — —_ Spinacia oleracea . 1 22700, 0131 a 70 1 n 2 | 154 33 b 103 128 n 3 367 84 G 56 265 „ 4 600 21 d TR 378 5 5 300 32 —_ — —_ k sr | Mittel 283 76 1 1 2138| a 78 | 2382 2 60 32 b 96 | 765 To _ Mittel — N EN 1) De Chynae radice p. 12 sq. 16 sq. 2) Examen Faloppii 33 sq. Gannabisrsatwann ss. 2a: | ” 350 Planta, Blütenstaub der Haselstaude. Indem ich die Bemerkungen übergehe, die Verf. an jeden einzelnen dieser Versuche knüpft, und die wesentlich die Anordnung des Versuches betreffen, sei noch kurz auf seine Schlussbemerkungen hingewiesen. Was zunächst den Hanf anbetrifft, so ist ein Einfluss des dichteren oder lockeren Standes nicht zu konstatieren, immer ist die Anzahl der Männchen erheblich geringer als die der Weibchen. „Danach wäre zu schließen, dass beim Hanf der Embryo im Samen bereits geschlechtlich ziemlich bestimmt ist, was man allerdings den Samen sicher nicht ansehen kann“, obgleich diesbezügliche Behauptungen von verschiedenen Seiten (Saccardo, Karstenete.) gemacht sind. Bei Mercurialis und noch mehr bei Lychnis ist eine Einwirkung der Dichtsaat bereits ent- schieden angedeutet, was deutlicher ausgesprochen ist bei Rumex Acetosella und bei Spinacia, wo die Anzahl der Männchen bei Dichtsaat in der Regel um das Doppelte gesteigert wird. „Es ist daraus zu schließen, dass hier der Embryo im Samen noch ungeschlechtlich ist, und das Geschlecht erst während der ersten Zeit des Keimlebens im Erdboden ausgebildet wird“. Den genaueren Zeitpunkt, wo dies geschieht, konnte Verfasser allerdings nicht ermitteln. Die Ursache dieser Erscheinung ist nach Verf. sicher in der mangelhaften Ernäh- rung zu suchen; die männlichen Individuen sind also in gewissem Sinne Kümmer- linge, indem sie auf einer gewissen frühen Stufe ihrer embryonalen Entwick- lung ungenügend ernährt werden. Als Analoga führt Verf. sodann verschie- dene Erfahrungen an, die Prantl, Pfeffer u. a bei Farnprothallien gemacht haben, auf die hier aber nicht eingegangen werden soll; auch die Meehan’sche Beobachtung, dass fasziierte Sprosse bei gewissen Bäumen leichter männliche als weibliche Blüten erzeugen, sucht er zu verwerten. In bezug auf „die groß- artige Bedeutung der Beziehung von Nahrung und Sexualität im Haushalt der Natur“, die von Düsing zuerst ins richtige Licht gestellt wurde, stimmt Verf. mit diesem überein. C. Fisch (Erlangen). A. von Planta, Ueber die chemische Zusammensetzung des Blütenstaubes der Haselstaude. Die landwirthschaftlichen Versuchsstationen, 31. Bd., H. 2, S. 97—114. Der Verfasser schickt eine Schilderung des mikroskopischen Befundes voraus. Ich führe im Folgenden die Resultate der chemischen Untersuchung an, ohne auf die in der Originalarbeit ausführlich besprochenen Untersuchungs- methoden einzugehen. Ueber Schwefelsäure getrocknet verlor der Pollen 4,21 0/,, im Wasser- trockenschrank weiter getrocknet noch 4,98 | ,. Die Substanz enthielt über Schwefelsäure im völlig trockenen getrocknet: Zustand: Wasser 4,98 9], _ Stickstoff AS, — N + 6,25 30,06 „ 31,63%), Stiekstofffreie Stoffe 61,15 „ 64,36 „ Asche Ballen 4,01 „ Die quantitative Bestimmung der näheren organischen Bestandteile wurde dadurch erschwert, dass die Cutieula des Pollenkormnes vielen Lösungsmitteln Behrens, Ueber Enterochlorophyll. 351 großen Widerstand entgegensetzte und ein Zerquetschen der Pollenkörner sich als nicht ausführbar erwies. An stiekstoffhaltigen Bestandteilen wurden nachgewiesen Globuline, Pep- tone (eirea 0,06°/,), Hypoxanthin (0,15°/,) und Amide. Bezüglich der Verteilung des Stickstoffes auf die verschiedenen Stoff- gruppen ergab sich folgendes: Stickstoff in den Eiweißkörpern und im Nuklein 3,94%), ® 20% Amıden 0530 Zusammen 4,310, Demnach kommen auf nicht näher bestimmte Bestandteile 0,509. Bemerkenswert ist das Fehlen der Glykose;-dagegen fänden sich 14,70%, Rohrzucker. Der in tafelförmigen Krıystallen gewonnene Zucker wurde von Groth kıystallographisch bestimmt und vom Verfasser im Polarisationsapparat untersucht. Die aus dem Rohrzucker gewonnene Menge Invertzucker stimmt mit der von der Theorie geforderten nahezu überein. Der Stärkegehalt des Pollens belief sich auf 5,26 /.. Es scheinen zwei gelbe Farbstoffe vorhanden zu sein, ein in Wasser leicht und ein in Wasser schwer löslicher; von dem letztern fanden sich 2,06 ,. Außerdem wurde gefunden: Cutieula 302% ein wachsartiger Körper 367 „ Fettsäuren 4,208 Cholesterin in geringer Menge ein harzartiger Bitterstoff 8,41, Kellermann (Wunsiedel). Ueber Enterochlorophyll und ähnliche Farbstoffe machte kürzlich Dr. Mac Munn der London Royal Society Mitteilung nach seinen neuesten Untersuchungen (The Nature, 21. Mai 1885). Danach ist der erstgenannte Stoff, welclier sich in der Leber und anderen inneren Teilen von verschiedenen Wirbellosen findet, nicht ein Produkt sym- biotischer Algen oder direkter Nahrungsprodukte, sondern er wird von den ihn enthaltenden Tieren selbst aufgebaut. Das Spektrum des Enterochloro- phylis zeigt zwar einige Uebereinstimmung mit dem von Kraus beschriebenen Spektrum des Pflanzen-Chlorophylis in alkoholischer Lösung, gewisse Streifen gehören dem gelben, von Hansen als Lipochrom bezeichneten Stoffe an, ohne dass sie jedoch immer mit den Streifen des im Pflanzen -Chlorophyll enthal- tenen Lipochroms zusammenfallen Während der Chlorophylligrün-Streifen von Pflanzen-Chlorophyll-Lösungen durch Verseifen dem Violett näher gerückt oder in zwei Streifen zerlegt wird, verschwindet beim Verseifen von Enterochloro- phyll derselbe ganz, oder er bleibt an seiner frühern Stelle. Morphologisch betrachtet kommt Enterochlorophyli in Oel-Kügelchen, Körnchen und aufgelöst im Protoplasma der Leberzellen vor; Stärke oder Cellulose fand sich in den betreffenden Schnitten nicht vor. Das Enterochlorophyli ist daher ein anima- lisches Produkt und ein Chlorophyll, von denen wahrscheinlich mehrere in Tieren vorkommen. Behrens (Gütersloh). 352 Behrens, Farbstoffe der Aktinien. — Darwin, Gemütsbewegungen. Die Farbstoffe der Aktinien bildeten den Gegenstand von Untersuchungen, über welche Dr. Mac Munn der London Royal Society Mitteilungen gemacht hat (The Nature, 21. Mai 1885). Danach enthält Actinia mesembryanthemum einen Farbstoff, das in Hämochro- mogen und Hämatoporphyrin überführbare Actiniohämatin, das durchaus nicht das von Prof. Moseley in den Tentakeln von Bunodes crassicornis gefundene Actinochrom ist; zwar lassen sich beide Stoffe mit Glyzerin extrahieren, jedoch bleibt das Actiniohämatin dabei unverändert, während das Actiniochrom in Hämochromogen überführbar ist; außerdem unterscheiden sich die Spek- tren beider Substanzen. Das Actiniochrom findet sich gewöhnlich in den Tentakeln und ist nicht respiratorisch, das Actiniohämatin dagegen kommt in Ektoderm und Endoderm vor und ist respiratorisch. Ein besonderer, von den oben genannten verschiedener, zudem noch in verschiedenen Oxydationsstufen auftretender Farbstoff findet sich bei Sagartia parasitica, der allem Anschein nach mit dem von Heider aus Cerianthus membranaceus erhaltenen nicht identisch ist. Im Mesoderm und auch in anderen Teilen von Actinia mesem- bryanthemum und anderen Arten kommt ein grüner Farbstoff vor, der allein und in Lösung alle Reaktion des Biliverdins zeigt. Anthea cereus, Bunodes ballii und Sagartia bellis liefern mit Lösungsmitteln behandelt einen dem Chlorofuein ähnlichen Farbstoff, und alle in ihnen vorkommenden dies Spektrum aufweisenden Farbenteile stammen aus den gelben Zellen, welche in den Ten- takeln und auch an anderen Stellen in ihnen in großer Menge auftreten; dieser Farbstoff ist mit keinem Tier- oder Pflanzen-Chlorophyll identisch, wie der Zusatz von Reagentien zur alkoholischen Lösung beweist. Wenn gelbe Zellen auftreten, scheinen die Farbstoffe, welche bei anderen Arten respiratorischen Zwecken dienen, verdrängt zu sein. Behrens (Gütersloh). Darwin, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen. Aus dem Englischen übersetzt von J. Vietor Carus Stuttgart, Schweizerbart. 4. Auflage. Das genannte Buch, welches in so hervorragender Weise ein Beweis ist für die Beobachtungsgabe Darwin’s und seinen unermüdlichen Fleiß im Sam- meln von Beobachtungen, ist kürzlich bereits in vierter Auflage erschienen — ein Zeichen, dass Darwin’s „Gemütsbewegungen“ auch bei der deutschen Lesewelt ein Buch geworden sind, das in keiner guten Bibliothek fehlen darf. Wir hoffen, es wird noch viele fernere Auflagen erleben und somit noch viele Freunde werben für ge geistvollen Beobachtungen des unsterblichen Forschers. Berichtigung. In Nr. 8 dieser Zeitschrift lies Seite 238 Z. 16 v o. Sprung-Schien- beingelenk statt Sprung-Schienenbein. Die Herren Mitarbeiter, welche Sonderabzüge zu erhalten wün- schen, werden gebeten, die Zahl derselben auf den Manuskripten an- zugeben. Einsendungen für das „Biologische Centralblatt“ bittet man an die „Redaktion, Erlangen, ‚physiologisches Institut“ zu richten. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Dr uck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Öentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. V. Band. 15. August 1885. Nr. 12. Inhalt: Klebs, Ueber Bewegung und Schleimbildung der Desmidiaceen, — Haacke, Ueber die Farbe der Tiefseekrabben, gekochten Krebse und Paguren. — J. H. List, Ueber Wanderzellen im Epithel. — Th. Kölliker, Zur Odontologie der Kieferspalte bei der Hasenscharte. — Tollin, Andreas Vesal (3. Fortsetzung). — Möwes, Honigsaugende Papageien. Ueber Bewegung und Schleimbildung der Desmidiaceen. Von Georg Klebs. Die Desmidiaceen bilden eine außerordentlich formenreiche Gruppe einzelliger grüner Algen, welche Bewegungserscheinungen zeigen, die allerdings nieht sehr auffallend und daher noch nicht sehr vollständig untersucht sind. Die wichtigsten Beobachtungen verdanken wir der interessanten Arbeit von Stahl!) „Ueber den Einfluss von Riehtung und Stärke der Beleuchtung auf einige Bewegungserscheinungen im Pflanzenreich“. Stahl untersuchte hauptsächlich den Einfluss des Lichts auf Closterium moniliferum und fand, dass die halbmondförmige, nach beiden Enden verjüngte Closterium-Zelle ihre Längsaxe in die Richtung der einfallenden Lichtstrahlen zu stellen sucht. Jedoch tritt die weitere Eigentümliehkeit hinzu, „dass die Closterien periodisch ihre Stellung der Liehtquelle gegenüber ändern, und zwar in der Weise, dass beide Hälften abwechselnd nach einander der Lichtquelle zu- streben“. Jedesmal, wenn die Alge die dem Boden aufsitzende Spitze wechselt, überschlägt sie sich und rückt bei jedem Ueberschlagen um ihre Körperlänge vorwärts, allerdings nicht in einer graden, sondern vielfach hin- und hergekrümmten Linie. Bei starkem Tageslicht nimmt die Alge dagegen für längere Zeit eine Querstellung ein, in der die Lichtstrahlen senkreeht zu ihrer Längsaxe fallen müssen, und bei intensivem Sonnenlicht entfernt sich die Closterie, in solcher Querstel- lung auf der Substratfläche gleitend, von der Lichtquelle. 1) Bot. Zeitung 1830. 23 354 Klebs, Bewegung und Schleimbildung der Desmidiaceen. Bei anderen Desmidiaceen konnten diese Bewegungen nicht in dem Maße beobachtet werden. Zellindividuen von Pleurotaenium stell- ten sich bei schwachem Licht in die Richtung der Lichtstrahlen, bei intensivem senkrecht dazu. Bei Micrasterias, Euastrum, Cosmarium traten wohl langsame Stellungsänderungen ein, aber ohne dass eine bestimmte Beziehung zum Lichteinfall sich hat nachweisen lassen. Unmittelbar an diese Beobachtungen knüpft sich die Frage, ob die Desmidiaceen überhaupt eine eigne, vom Licht unabhängige Be- wegung haben, und in welchem Verhältnis diese etwa zu der vom Licht beeinflussten bezw. veranlassten Bewegung steht. Stahl lässt diese Frage unberührt, sie wurde der Ausgangspunkt für die folgende Untersuchung. Als ein allgemeines Resultat derselben ist gleich her- vorzuheben, dass die allermeisten Desmidiaceen eine deutliche Eigen- bewegung besitzen, welche aber je nach den Arten mannigfach variiert erscheint. Wir können folgende Formen der Bewegung unterscheiden: 1) Ein Vorwärtsgleiten auf der Fläche, wobei das eine Ende der Zelle den Boden berührt, das entgegengesetzte mehr oder minder da- von absteht und während der Bewegung hin und her pendelt. Am ausgesprochensten tritt diese Art der Bewegung bei dem langgestreckten COlosterium acerosum auf. Das freie Ende ist nur wenig über dem Boden erhoben, so dass die Alge mit letzterem etwa einen Winkel von 10—30° bildet. Die Bahn, welche die Alge auf dem Substrat durchläuft, ist eine ziemlich grade Linie. Ebenso zeigt die Bewegung Tetmemorus granulatus, nur dass die Zelle stärker während der Bewegung erhoben ist; der Winkel beträgt etwa 30—70°. Ferner sind auch die Hin- und Herschwingungen des freien Endes lebhafter; die Bahnlinie ist vielfach hin- und hergekrümmt. 2) Ein Erheben senkrecht zum Substrat, dann allmähliches Auf- steigen über dasselbe, während dessen das freie Ende weite kreisende Schwingungen vollführt. Diese Bewegungsform zeigt sich besonders bei Closterium didy- motocum. Die langgestreckte Zelle erhebt sich senkrecht bezw. sehr häufig bloß in schiefer Lage auf der horizontalen Bodenfläche, macht aber mit dem freien Ende nach den verschiedenen Richtungen der Windrose kreisende Bewegungen, die ab und zu durch Ruhepausen unterbrochen sind, sei es dass die Alge einen kurzen Moment in mehr oder minder aufrechter Lage beharrt, sei es, wie es häufiger der Fall ist, dass sie sich abwärts auf den Boden senkt. Das Wichtigste ist, dass sich allmählich das anfangs den Boden berührende Ende mehr und mehr darüber erhebt und eine Strecke aufwärts steigt. Diese Art der Bewegung ist sehr verbreitet bei den verschieden- sten Desmidiaceen z. B. Pleurotaenium-, KEuastrum-, Cosmarium-, Penium-Arten. Jedoch treten auch hier noch mancherlei Modifika- tionen auf. 3) Ein Erheben auf dem Substrat, Kreisen des freien Endes, dann Klebs, Bewegung und Schleimbildung der Desmidiaceen. 355 Abwärtssenken und Erheben auf dem vorhin festsitzenden Ende und so abwechselnd fort. Diese Bewegung ist charakteristisch für Olosterium moniliferum. Stahl hat, wie vorhin erwähnt, dieselbe zuerst beschrieben, schreibt sie aber dem Lichteinfluss zu. 4) Ein Erheben in Querstellung, so dass beide Enden den Boden berühren, seitliche Bewegungen in dieser Lage, dann Aufwärtsheben des einen Endes und Kreisen desselben und wieder Abwärtssenken zur frühern Querstellung oder vorher zur ausgestreckten Bodenlage. Diese Art der Bewegung findet sich bei den stark gekrümmten Olosterium- Formen z. B. von Cl. Dianae, Cl. Archerianum. Die stark gekrümmte Mitte der Zelle ist in der Querstellung erhoben, die kon- kave Bauchseite dem Boden zuwendend, welchen die beiden Enden berühren. Vor allem ist zu bemerken, dass die betreffenden Bewegungs- formen nieht den genannten Desmidiaceen ausschließlich eigen, son- dern nur besonders charakteristisch für dieselben sind. Vielmehr können viele Arten alle oder die Mehrzahl der Bewegungen zeigen, wohl oft in Abhängigkeit von bestimmten, meist noch wenig bekannten Ursachen. So gleitet Olosterium didymotocum häufig auf der Fläche wie Ol. acerosum, zeigt in seltenen Fällen auch das Umschlagen; so erhebt sich Tetmemorus vielfach in die Höhe; so zeigt nach Stahl Ol. moniliferum unter Umständen Querstellung und ebenso ein Gleiten auf der Fläche. Eine sehr wiehtige und merkwürdige Eigenheit, welche besonders bei den beiden ersten Bewegungsformen auftritt, besteht in der Schleim- bildung während der Bewegung. Das Emporsteigen über das Substrat, welches Cl. didymotocum zeigt, geschieht nur dadurch, dass das untere dem Substrat anfangs aufsitzende Ende der Zelle allmählich einen Schleimfaden ausscheidet, auf welchem sich die Alge erhebt. Ohne Schleimfaden ist nach meinen bisherigen Beobachtungen ein Empor- steigen im Wasser nicht möglich; ein freies Schwimmen habe ich noch von keiner Desmidiacee nachweisen können. Der Sehleimfaden ist zu erkennen nach Hinzufügen von färbenden Substanzen. Das beste Färbungsmittel für den Schleim ist Methyl- violett, welches, in verdünntem Zustande angewandt, die Closterien eine zeitlang am Leben lässt. Fuchsin färbt ebenfalls gut, schon weniger Cyanin, gelöst in schwach alkoholischem Wasser. Dagegen färben nicht oder schlecht Anilinblau, Methylgrün, Anilinrotviolett, Jodlösung, Saffranin, Nigrosin, Indigkarmin, Hämatoxolin, Eosin, Korallin, Karmin- präparate. Der Nachweis, dass die Closterien erst während der Bewegung den Schleimfaden bilden, wurde einmal durch die direkte Beobach- tung des allmählichen Emporsteigens und dann die Färbung mit Methyl- violett geliefert, aber auch noch in anderer Weise. Schüttelt man Dr [9] 356 Klebs, Bewegung und Schleimbildung der Desmidiaceen. Closterienschleim mit Wasser, so isolieren sich zahlreiche Individuen und sammeln sich am Grunde des Gefäßes. Ein Teil dieser schleim- freien Zellen wurde sofort getötet; ein anderer Teil auf dem Objekt- träger beobachtet. Nach einer halben Stunde schon, bei günstigem Material, ließen sich dann in der zweiten Partie die Schleimfäden nachweisen, die der sogleich getöteten fehlten. Dieselbe Art des Emporsteigens mittels solcher Schleimfäden zeigen auch sehr schön Euastrum verrucosum, E. ansatum, Cosmarium-, Pleurotaenium-, Staurastrum-Arten. Je nach Spezies und auch je nach Individuen ist die Form des Schleimfadens sehr verschieden. Der- selbe ist dünn fadenförmig bei Closterium didymotocum, während z. B. Cosmarium pyramidatum, deren Zellen fast stets von einer lockern Schleimhülle umgeben sind, am einen Ende während der Bewegung einen sehr weiten Schleimzylinder bildet. Aber auch während des Vorwärtsgleitens auf der Fläche wird von dem ihr anliegenden Ende der Zelle ein Schleimfaden ausge- schieden, welcher so den durchlaufenen Weg direkt bezeichnet. Be- sonders deutlich tritt dieses bei Tetmemorus granulatus hervor, welches, meist ganz von lockerer Schleimhülle umkleidet, an dem den Boden berührenden Ende einen sehr verschieden gestalteten, oft stark hin- und hergekrümmten Schleimfaden erzeugt. Die Schnelligkeit der Bewegung und damit auch der Schleim- fadenbildung hängt von sehr verschiedenen Faktoren ab und wechselt mit den Individuen mehr als bei anderen beweglichen Algen. Immer gibt es zahlreiche Individuen, welche keine Spur einer Bewegung zeigen, und bei leichten Veränderungen der äußeren Verhältnisse stellen die beweglichen Individuen ihre Bewegung ein. Andere Individuen z. B. von Olosterium didymotocum stellen sich wohl aufrecht, beharren dann aber längere Zeit ohne Veränderung in der Stellung. Bei Cl. acerosum betrug die am höchsten bisher beobachtete Geschwindigkeit im Vorwärtsgleiten 112 a m 30 Sekunden. Vor allem ist als wichtig hervorzuheben, dass die Geschwindigkeit periodisch wechselt, dass bei allen Formen die Bewegung durch Ruhepausen unterbrochen ist. Die Zeit zwischen solchen betrug bei den kreisenden Bewegungen des Cl. didymotocum im Mittel von einer durch mehrere Stunden fort- gesetzten Beobachtungsreihe 2 Minuten 39 Sekunden (bei 19° C.); die Schwankungen sind aber dabei sehr beträchtlich, zwischen einer halben Minute und 5!/, Minuten. Die Dauer der Ruhepause ist eben- falls sehr verschieden. Ueberhaupt sind bei Beobachtungen auf dem Objektträger oder in kleineren Kulturgefäßen die Bewegungen nur m den ersten Stunden sehr deutlich, sie verlangsamen sich nach und nach und hören schließlich ganz auf. Im Zusammenhange mit den eben geschilderten Verhältnissen steht die sehr wechselnde Ausbildung der Schleimfäden, welche aus genannten Gründen auf dem Objektträger nur eine sehr beschränkte Klebs, Bewegung und Schleimbildung der Desmidiaceen. 357 ist. Die längsten beobachtete ich in kleinen Kulturen einzelner Exem- plare bei mehrstündigem Aufenthalt in einer Temperatur von ungefähr 30°C. In Verbindung mit den Algen wurden Schleimfäden bis zu 3 mm gesehen, wobei zu bemerken ist, dass die wirkliche Länge be- trächtlicher ist, da die vielfachen Krümmungen der Fäden nicht be- rücksiehtigt wurden. Uebrigens ist es wahrscheinlich, dass bei einer solchen Länge nicht der ganze Schleimfaden aufrecht im Wasser stand, sondern zum größern Teile auf den Boden gefallen war und die Alge nur auf dem jüngsten Teil sich aufrecht erhob. Eine besondere Stellung nimmt Olosterium moniliferum ein, wie schon aus den Untersuchungen von Stahl hervorgeht. Leider stand mir wenig reichliches Material zur Verfügung, so dass bei der neuen Stellung der Frage manche Seite derselben nicht entschieden werden konnte. Das erste Erheben und Kreisen des freien Endes geht wie bei Olost. didymotocum vor sich; das festsitzende Ende klebt dabei in- folge geringer Schleimausscheidung dem Substrate an. Der Unterschied liegt darin, dass nicht von demselben Ende kontinuierlich ein Sehleimfaden gebildet wird, auf welchem die Alge in die Höhe steigt. Wenn viel- mehr in der Ruhepause die Alge sich auf den Boden senkt, klebt das bisher frei umherkreisende Ende sich daran fest, das andere wird losgerissen und hebt sich seinerseits in die Höhe. Dieses Umschlagen habe ich aber nur bei isolierten Exemplaren beobachtet; bringt man ein Schleimklümpehen, an welchem nach außen Zellen des Cl. moni- liferum frei heraushängen, unter das Mikroskop, so beobachtet man an solchen Individuen das Gleiche, was unter diesen Umständen von (1. didymotocum, Pleurotaenium truncatum, Tetmemorus granulatus zu sehen ist, nämlich lebhafte kreisende Bewegungen des freien Endes, die durch Ruhepausen unterbrochen sind. Es schien mir sogar, als wenn auch das festhängende Ende neuen Schleim ausschied, da die Alge sich dabei von der Hauptschleimmasse scheinbar entfernte. Kam nun das freie Ende bei dem Abwärtssenken in der Ruhepause zufällig mit dem Boden in Berührung, beobachtete ich in einigen, bisher aller- dings nur wenigen Fällen, wie jetzt das den Boden berührende Ende sich daran festklebte, das andere von der Schleimmasse abriss; nach der Trennung ging das abwechselnde Umschlagen regelmäßig vor sich. Uebrigens gibt es immer zahlreiche Individuen, welche, wenn isoliert, selbst bei längerer Beobachtung kein Umschlagen zeigen, sondern in ruhiger aufrechter Lage beharren; dieses beobachtete ich besonders bei Exemplaren einer sehr großen Varietät des 02. moniliferum. Sobald die Desmidiaceen in größerer Menge vorhanden sind, treten die Resultate der Bewegung auch in charakteristischer Weise vor Augen. Schüttelt man Desmidiaceenschleim mit Wasser und überlässt die Kultur ruhig im Dunkeln sich selbst, so zeigen sich nach 24 Stunden auf dem Grunde des Gefäßes zahlreiche, dicht nebeneinander stehende, grüne Schleimkegel, in denen die Algen, wie besonders an den Olosterien 358 Klebs, Bewegung und Schleimbildung der Desmidiaceen deutlich ist, meist in senkrechter Lage sich befinden. Vor allem sind aber die Algen an der Spitze der Kegel dicht zusammengedrängt, und zahlreiche Individuen hängen von derselben aus frei ins Wasser und vollführen ihre kreisenden Bewegungen, letztere sind natürlich erst bei stärkerer Vergrößerung zu beobachten. Die Schleimkegel werden gewöhnlich nur wenige Millimeter hoch, da sie bei größerer Höhe umfallen, sich mit einander vermischen und sich von neuem erheben. In Zimmerkulturen bewahren sie lange Zeit eine gewisse Höhe, weil die Teilungen der Zellen sehr langsam vor sich gehen. Bei höherer Temperatur (30°) werden die Schleimkegel gleich von vornherein höher, und finden sich längere Algenfäden vor, so zieht sich an denselben der Schleimkegel mehrere Centimeter hoch hinauf. Diejenigen Individuen, welehe in der Nähe der Glaswände sich befinden und mit denselben in Berührung kommen, steigen an diesen empor. Im Laufe von mehreren Tagen finden wir die Glaswände in verschiedener Höhe von solchen emporkriechenden Desmidiaceen be- deckt. Sowohl in den Schleimkegeln wie an den Glaswänden tritt also ein ganz bestimmtes Aufwärtsstreben der Algen auf, ein neues Moment in ihren Bewegungserscheinungen. Das Emporkriechen ist durchaus unabhängig von der Beleuchtung. Der Einfluss des Lichtes auf die.Bewegung. In dem Vorhergehenden ist schon mehrfach die Eigenbewegung der Desmi- diaceen hervorgehoben worden. Unabhängig vom Licht d. h. ebenso im Licht wie im Dunkeln findet die Gleitbewegung, das Erheben auf dem Substrat, das Emporsteigen über dasselbe mittels der Schleim- fäden statt, höchst wahrscheinlich auch die kreisenden Bewegungen sowie das Umschlagen von CI. moniliferum. Wenigstens ist für das Zustandekommen der beiden letzten Formen der Bewegung der Licht- einfall gleichgiltig; ob sie auch im Dunkeln vor sich gehen, ist schwierig nachzuweisen. Stahl schreibt allerdings das Umschlagen des Ol. moniliferum dem Einfluss des Lichtes zu, aber damit gibt er der richtigen Thatsache eine Deutung, welche nicht aus seinen Ver- suchen sich folgern lässt. Das Licht übt nun aber in entsprechender Weise wie auf die Schwärmbewegung von Algenzoosporen einen gewissen riehtenden Ein- fluss auf die Bewegung der Desmidiaceen aus. Schon Brebisson und später Stahl beobachteten, dass in den Kulturgefäßen die Algen sich an dem stärker beleuchteten Rande derselben ansammelten. Eigne Versuche ergaben dasselbe Resultat. Bekleidet man ein zylindrisches Kulturgefäß ganz mit schwarzem Papier und macht dann einen vier- eckigen oder sternförmigen Ausschnitt, der beleuchtet wird, so sam- meln sich im Laufe von mehreren Tagen die Desmidiaceen an dem Ausschnitt; man erhält grüne Vierecke oder Sterne. Jedoch abgesehen davon, dass die Ansammlung sehr langsam erfolgt, so geschieht sie auch sehr unvollständig. Selbst nach 14 Tagen befanden sich an den Klebs, Bewegung und Schleimbildung der Desmidiaceen. 359 dunkeln Stellen der Glaswände bis hoch oben zur Wasserfläche zahl- reiche Individuen, welche gar nicht für Licht gestimmt sind, während z. B. Oseillarien in einem entsprechenden Versuch sich sehr viel vollständiger in dem Ausschnitt ansammeln. Stahl meint nun, dass bei diffusem auffallendem Licht die Desmidiaceen an die Wasser- oberfläche steigen, bei intensivem nach dem Grunde zurückwandern. Hiermit stimmen meine bisherigen Beobachtungen nicht ganz überein, nach denen die am Grunde befindlichen Algen nicht vermögen, durch Eigenbewegung infolge des Lichteinflusses direkt an die Oberfläche zu gelangen. Sie können eben nicht schwimmen; die Oberfläche er- reichen sie auf verschiedene Weise, einmal vermöge der Sauerstoff- blasen, welche in dem Desmidiaceenschleim hängen bleiben und ihn spezifisch leichter machen, ferner mittels Emporkriechens an den Glaswänden. Ist der Wasserstand niedrig, so können auch die Schleim- kegel die Oberfläche erreichen. Ein unmittelbarer Lichteinfluss ist nur insoweit denkbar, dass er die emporkriechenden Algen veranlasst direkter und damit schneller die Oberfläche zu erreichen als es im Dunkeln geschehen würde. Ein solcher Lichteinfluss ist in der That wahrscheinlich, und dafür spricht ja auch die Wanderung der Olosterien nach der Lichtquelle hin. Ein Zurückwandern von der Oberfläche zum Grunde nachzuweisen ist mir bisher nicht gelungen; bei den von mir untersuchten Formen wie z. B. Cl. didymotocum ist dasselbe in- folge zu intensiven Lichtes auch unwahrschemlich, da sie wenig licht- empfindlich sind und anderseits ein so lebhaftes Aufwärtsstreben besitzen. Die mikroskopische Untersuchung der Bewegungserscheinungen hat bei den von mir genauer beobachteten Arten nur einen sehr ge- ringen Lichteinfluss kennen gelehrt. Das erste Aufrichten von (Cl. didymotocum, damit das scheinbare Sich-Stellen in die Richtung des vom Mikroskopspiegel her einfallenden Lichtes, ist unabhängig vom Lichteinfall, geht auch im Dunkeln ebenso vor sich. Die aufrechten Closterien weisen nach den verschiedensten Richtungen, mag das Licht konstant von unten oder von der Seite herkommen. Durch plötzliche Veränderungen des Liehteinfalls konnte ich keine bestimmten Aende- rungen in der Stellung der Closterien hervorrufen. Damit soll die Möglichkeit einer solcher Aenderung nicht geleugnet, nur gesagt werden, dass bisher die Eigenbewegungen sich nicht scharf von den etwa durch die Veränderung des Lichteinfalls veranlassten Bewegungen unterscheiden ließen. Stahl hat die Beobachtung gemacht, dass die Zellen des 02. moniliferum wit der Veränderung des Lichtseinfalls sich in die neue Richtung desselben zu stellen streben; da die freien Enden auch dieser Alge umherkreisen, kann diese Einstellung nur bis zu einem gewissen Grade stattfinden. Bei meinen spärlichen Material konnte ich die Frage bisher nicht zur Entscheidung bringen. Bei intensivem Licht nimmt nach Stahl Cl. moniliferum die Quer- 360 Klebs, Bewegung und Schleimbildung der Desmidiaceen. stellung ein, dieselbe, welche ganz normal bei diffuser Beleuchtung, unabhängig davon, C/. Dianae und Cl. Archerianum zeigen. In direktem Sonnenlicht (bei Benutzung des Abb&’schen Beleuchtungs- apparates, das Sonnenlicht konzentriert) fangen wohl einige Exem- plare von Cl. didymotocum an, sich zu erheben, fallen aber bald wie- der um, die schon erhobenen senken sich abwärts, die Zellen zeigen sehr unregelmäßige Hin- und Herbewegungen, Zuckungen, die bisweilen sehr lebhaft sind, bald aber aufhören, da die Closterien zu kränkeln beginnen, schließlich absterben. Diese Sonnenwirkung ist wohl we- niger eine bestimmte Reizerscheinung, sondern beruht auf pathologi- schen Prozessen, die in den Zellen durch das intensive Licht und die hohe Temperatur erzeugt werden. Der Einfluss der Schwerkraft auf die Br Die Frage liegt nahe, ob die Schwerkraft, welche das Wachstum und die Bewegungserscheinungen anderer Pflanzen beeinflusst, auch hier für die Desmidiaceen von Bedeutung ist. Nach dreierlei Richtungen könnte ein Einfluss in Frage treten, nämlich inbezug auf das Erheben und Emporsteigen auf den Schleimfäden, auf das Kriechen an senkrech- ten Wänden und auf die kreisenden Bewegungen der freien Enden. Die Untersuchung ergab, dass das Emporsteigen über das Substrat unabhängig von der Richtung der Schwerkraft ist. Das Wesentliche ist, dass dasselbe stets senkrecht zum Substrate erfolgt, welche Richtung auch dieses zum Erdradius einnimmt. So tritt die- selbe Erscheinung an Closterien ein, die auf horizontalen wie auf senkrechten Objektträgern sich befinden, ja ebenso auch an umgekehrt gehaltenen Glasflächen entfernen sich senkrecht davon die Algen, in diesem Falle also in der Riehtung der Schwerkraftswirkung. Wenn man dicke Glasstäbe von Desmidiaceen besetzen lässt und sie horizontal in Wasser stellt, so sieht man von ihnen nach allen Richtungen die Closterien sich erheben. Wir haben es hier mit einer ganz analogen Erscheinung zu thun, wie sie uns in der Substratrichtung gestielter Diatomeen oder festsitzender Algenfäden entgegentritt. Anders verhält es sich mit dem Emporkriechen auf senkrechten Glaswänden. Dieses müssen wir als eine besondere, von der Schwer- kraft abhängige Reizerscheinung auffassen, entsprechend dem Auf- wärtswachsen oberirdischer Stammteile oder dem Aufwärtsstreben schwärmender Algenzoosporen und Flagellaten, worauf Schwarz!) vor einiger Zeit aufmerksam gemacht hat. Diese Aufwärtsbewegung kann nicht durch Strömungen bewirkt werden, welche durch Tempe- aturunterschiede im Wasser entstehen. In einigen Versuchen, in denen durch einseitige Temperaturerhöhung jedenfalls viel lebhaftere Strö- mungen in dem Kulturgefäß hervorgerufen wurden, als sie gewöhnlich stattfinden, konnte keine deutliche Wirkung auf die Verteilung der 1) Fr. Schwarz, Ber. d. deutschen botanischen Gesellsch. II. Klebs, Bewegung und Schleimbildung der Desmidiaceen. 361 Desmidiaeeen an den Glaswänden beobachtet werden. Ebensowenig kann die Erscheinung eine Folge verschiedener Sauerstoffspannung im Wasser sein; denn im Dunkeln ist das Wasser über dem Grunde des Gefäßes, von dem die Algen ihre Wanderung antreten, sauerstoffärmer als in den oberen Regionen, im Licht dagegen sauerstoffreicher in- folge der Kohlensäureassimilation. Nun findet aber die Aufwärts- bewegung im Licht wie im Dunkeln statt, was ferner beweist, dass das Licht auch nieht die Erscheinung direkt hervorrufen kann. Dass wir es hier vielmehr mit einer Erscheinung zu thun haben, welche in bestimmter ursächlicher Beziehung zu der Schwerkraft steht, folgt aus Beobachtungen, welche an C2. acerosum gemacht wurden. Diese Alge bewegt sich gleitend auf horizontaler Fläche nach sehr verschie- denen Riehtungen. Stellt man aber den Objektträger senkrecht, so beginnen die beweglichen Individuen bald früher bald später mit einem Bogen die Richtung nach oben, der Schwerkraft entgegen einzuschlagen. Die bloße Veränderung in der Lage zum Horizont bewirkt also eine bestimmte Richtungsänderung in der Bewegung. Da andere Ursachen ausgeschlossen sind, so kann es nur die Schwerkraft sein, welche die Wirkung erzeugt. Bedeutungsvoll erscheint auch die jedesmalige Lage zur Richtung der Schwerkraftswirkung für Formen wie (7. didymotocum. Wir haben gesehen, dass bei ihm eine stark ausgesprochene Substratrichtung hervortritt. Anderseits ist es aber eine Thatsache, dass die Closterien auch an senkrechten Wänden emporkriechen. Wir müssen für diese Art deshalb annehmen, dass unter bestimmten Umständen d. h. an senkrechten Glaswänden die Substratrichtung, damit das Emporsteigen über dasselbe überwunden wird und die Alge längs der Fläche empor- gleitet. In der That habe ich diejenigen Individuen der Art, bei welchen ich überhaupt ein Gleiten bemerkte, an senkrechten Glas- wänden beobachtet, ebenso auch bei Pleurotaenium truncatum. Dass aber nun unter gleichen Umständen andere und zahlreiche Individuen auch an vertikalen Wänden sich senkrecht dazu auf den Schleimfäden erheben, erklärt sich wohl einmal daraus, dass es ebenso wie dem Licht so auch der Schwerkraft gegenüber viele Individuen gibt, die wenig empfindlich sind, und dass vielleicht auch die Substratrichtung erst allmählich überwunden wird, die Zellen sich erst nach einiger Zeit abwärts senken und dann aufwärts kriechen. In größeren Kulturen wie in der freien Natur bewirkt das Aufwärtsstreben, dass die Algen in den Schleimkegeln sich möglichst an der Spitze sammeln und über sie hinausstreben, in dem Maße aber neuen Schleim an den unteren Enden bilden und dadurch die Kegel erhöhen. Auch die dritte Form der Bewegung, das Kreisen der freien Enden der Closterien, scheint in gewisser Weise durch die Lage der Alge zum Horizont beeinflusst zu werden. Wenigstens beobachtete ich an Individuen, welche an senkrechten Glaswänden sich befanden, dass 362 Klebs, Bewegung und Schleimbildung der Desmidiaceen. dieselben viel konstanter schief nach oben geriehtet waren und hin und her kreisten, sehr viel seltener aber nach abwärts schwangen, wie es eigentlich von ihnen, die an und für sich spezifisch schwerer als Wasser sind, anfangs erwartet werden müsste. Die Ursachen der Bewegung. Nach meiner Anschauung liegt der wesentlichste Grund für die Bewegungen der Desmidia- ceen in der Schleimausscheidung. Wir können in der Betrachtung ausgehen von Olosterium didymotocum, welches auf Gallertfäden senk- recht zum Substrat aufsteigt. Aus nachher zu erwähnenden Gründen wird man zu der Ansicht gedrängt, dass durch Druckkräfte des Cy- toplasma am hintern, dem Boden näher liegenden Ende der Zelle der Schleim durch die Membran nach außen getrieben wird. Zur leiehtern Veranschaulichung stelle man sich vor, dass die Closterie vierkantig ist. Liegt die Alge ausgestreckt auf dem Boden, so be- ginnt an der dem letztern zugewandten Endkante zuerst eine Aus- scheidung von Schleim; die Alge wird ein wenig gehoben. Jetzt bildet die entgegengesetzte obere Kante den Schleim, der abwärts fließt, um mit der zuerst gebildeten Schleimmasse sich zu vereinigen, dabei einen kleinen Zug ausübt, der die Alge stärker erhebt. Dann tritt Schleim aus der rechten, der linken Kante hervor und stützt die Alge rechts und links. So geht es abwechselnd fort, die Alge erhebt sich mehr und mehr und steigt nun in dem Maße in die Höhe, als der Schleimfaden dureh fortwährende Ausscheidung verlängert wird, in entsprechender Weise wie eine Diatomee auf ihrem Stiel, nur dass die Schleimausscheidung und damit die Schnelligkeit des Emporstei- gens bei der Closterie relativ viel größer ist. Dass der Schleimfaden der Closterie in der That tragfähig ist, geht unmittelbar aus der Beobachtung hervor, dass die Zellenindividuen, wenn sie vorsichtig mit Osmiumsäure getötet werden, sich auf ihren Stielen aufrecht er- halten. Da die Ausscheidung des Schleimes nicht gleichmäßig er- folgt, sondern abwechselnd auf den verschiedenen Kanten, muss die Alge notwendigerweise nach den verschiedenen Richtungen der Wind- rose hin und her schwanken. Die Bewegungen des freien Endes auf Plasmafortsätze zurückzuführen, erscheint nieht berechtigt und erklärt wenig. Nachweisen lassen sie sich in keiner Weise und dieses ne- gative Resultat hat hier um so mehr Bedeutung, weil, wenn sie vor- handen wären, sie z. B. bei Teimemorus sehr lang sein müssten, da die Zellen fast stets mit einer weiten Schleimhülle umgeben sind, durch die erst die fraglichen Cilien oder Pseudopodien hindurch treten müssten, um außerhalb im Wasser zu wirken. Außerdem bieten die ruckweise stattfindenden, immer wieder durch Ruhepausen unter- brochenen Hin- und Herbewegungen der Closterien ete., nichts direkt analoges dar mit den regelmäßigen, durch Plasmafortsätze hervorgerufenen Bewegungen, erklären sich dagegen ungezwungen auf die vorhin berührte Weise. Ebenso sind die Ruhepausen verständ- Klebs, Bewegung und Schleimbildung der Desmidiaceen. 363 lich, als Zeitmomente, in denen das schleimliefernde Material an dem Ende verbraucht ist und dann von neuem aus den anderen Teilen der Zelle dorthin geschafft wird. Dem Emporsteigen von Ol. didymotocum schließt sich enge das Gleiten auf der Fläche von Cl. acerosum an. Der Unterschied liegt vor allem darin, dass der ausgeschiedene Schleim nicht tragfähig ist, schnell verquillt und am Boden kleben bleibt. Jede Ausstoßung von Schleim wirkt hier als ein Rückstoß, der die Zelle ein Stück weiter treibt; durch die Summierung zahlreicher solcher kleiner Rückstöße gleitet die Alge weiter und in dem Maße verlängert sich die am Bo- den klebende Schleimmasse. In der schiefen Lage der Alge während der Bewegung erkennt man noch die Versuche, sich wie Ol. didymo- tocum zu erheben, was infolge der Schleimbeschaffenheit aber nur selten gelingt. Abweichender verhält sich (2. moniliferum. Das erste Erheben auf dem Substrat, die Schwankungen des freien Endes erklären sich allerdings wie bei O2. didymotocum. Sowie aber bei der Ruhepause das bisher freie Ende die Fläche berührt, geht die Schleimausschei- dung auf dieses über; eine Folge davon ist, dass die Alge sich auf diesem Ende erhebt und das andere vom Boden losreißt. Die Eigen- tümlichkeit liegt also darin, dass die Schleimausscheidung periodisch zwischen den beiden Enden wechselt, eine Erscheinung, die analog wäre dem Wechsel der Betriebskraft an den beiden Enden einer Diatomee. Aus früher geschilderten Beobachtungen ergibt sich übri- gens, dass ein solcher Wechsel bei Cl. moniliferum nur unter be- stimmten äußeren Umständen zu erfolgen scheint. Ein sehr wichtiges, der Erklärung bedürftiges Moment in den Bewegungen ist das Emporklettern an senkrechten Wänden, besonders wie Cl. didymotocum es zeigt. Wir haben gesehen, dass bei den für Schwerkraft überhaupt empfindlichen Individuen die Substratrichtung überwunden wird und die Alge emporgleitet. Sehen wir ab von der Möglichkeit, dass die Schleimstiele selbst negativ geotropisch wären, so würde die Erscheinung etwa in folgender Weise zu verstehen sein. Sowie die Alge durch die Art ihrer Schleimausscheidung sich senk- recht zu dem Substrat erhebt, d. h. also in horizontale Lage gerät, veranlasst die Schwerkraft, dass die Schleimausscheidung an der jetzt dem Erdradius zugewendeten Seite des Endes bezw. der Endkante am lebhaftesten vor sich geht, infolge dessen die Alge nach oben herübergebogen, das schleimabscheidende Ende der Fläche angedrückt wird. Das Emporgleiten, wobei die Alge mit einem mehr oder min- der spitzen Winkel von dem Boden absteht, würde die notwendige Komponente sein aus der Substratriehtung und Schwerkraftswirkung. Die im Vorstehenden nur ganz kurz ihren Hauptzügen nach ge- gebene Erklärung beansprucht nichts mehr zu sein, als ein erster vorläufiger Versuch, sich eine Vorstellung über den Mechanismus 364 Klebs, Bewegung und Schleimbildung der Desmidiaceen. dieser eigenartigen Bewegungserscheinungen der zierlichen Algen zu machen. Die Schleimbildung der Desmidiaceen. Aus der Schil- derung ihrer Bewegungserscheinungen ergibt sich die große Bedeu- tung der Schleimbildung für die betreffenden Algen. Aber auch außerdem spielt in dem Leben derselben der Schleim eine wichtige Rolle, er wird in großer Masse erzeugt und tritt in mannigfachen Formen auf. Die wichtigste Frage besonders in Hinsicht auf den vorhin gegebenen Erklärungsversuch bezieht sich auf die Entstehung des Schleimes. Im allgemeinen herrscht die Anschauung, dass Pflan- zenschleime überhaupt und speziell die Algenschleime Umwandlungs- produkte der äußeren Zellwandschichten sind. Ohne leugnen zu wollen, dass ein solcher Vorgang stattfindet — genauere Untersuchungen liegen bisher nicht vor — so bin ich dagegen für die Desmidiaceen zu der Anschauung genötigt worden, dass bei ihnen der Schleim direkt vom Cytoplasma durch die unverändert bleibende Zellhaut an die Außenfläche derselben ausgeschieden wird. Diese Ansicht beruht auf folgenden, hier nur kurz zu schildernden Beobachtungen. Cl. didymotocum bildet im Laufe weniger Stunden einen die Zelle oft an Länge übertreffenden Schleimfaden, der meist direkt an der äußersten Endfläche ansitzt, bisweilen in zahlreiche Fädehen ausläuft, die mit dem Ende in Verbindung stehen. Dass ein solcher Schleim- faden nicht durch Verquellung der Zellhaut selbst entsteht, folgt schon aus der Thatsache, dass während der Ausscheidung nicht die geringste Veränderung an der Zellhaut zu beobachten ist, welche vielmehr stets nach außen wie innen gleich scharf begrenzt erscheint. Die Zellhaut des Closterium ist braunrot gefärbt infolge der Ein- lagerung einer Eisenoxydverbindung (wahrscheinlich Eisenoxydhydrat), so dass ein sehr deutlicher Unterschied dem farblosen Schleim gegen- über vorhanden ist. Wie man sich auch die Lagerung der Eisen- teilchen zwischen den Zellhautmicellen vorstellen mag, so wird man zugeben müssen, dass, wenn die Zellhaut in ihren äußeren Schichten verquillt, die darin vorhandenen Eisenteilchen in das Verquellungs- produkt d. h. den Schleim übertreten. Der Schleim müsste eisenhaltig sein, was er aber thatsächlieh nicht ist, obwohl sich außerordentlich geringe Spuren von Eisenoxydverbindungen durch Ferrocyankalium nachweisen lassen. Der Schleim muss also aus den genannten Grün- den durch die Membran unabhängig von ihr ausgeschieden werden. Dafür sprechen nun aber noch andere Gründe. Die vorzugsweise schleimbildenden Enden von Cl. didymotocum sind besonders organi- siert, sie heben sich als deutliche Kappen ab, besonders wenn sie sich in konzentrierter Schwefelsäure von der früher verquellenden übrigen Zellhaut loslösen. In ihnen ist die Membransubstanz dicker, widerstandsfähiger, sie enthalten mehr von der Eisenverbindung. Vor allem sind sie bei den allermeisten Individuen der betreffenden Art Klebs, Bewegung und Schleimbildung der Desmidiaceen. 565 die einzigen Teile der Zellhaut, welche durch deutliche Porenkanäle durchsetzt erscheinen. Ganz entsprechend gebaute Enden besitzen auch andere Closterien wie z. B. C/. Ralfsii, Cl. angustatum ete. Ohne Zweifel hängt die Or- ganisation der Endkappen mit der Schleimausscheidung zusammen. Bei Kontraktion mit Salzlösungen bleibt der zusammengezogene Plasmaleib mit der Zellhaut durch zarte Plasmafäden in Ver- bindung, welehe besonders zahlreich gegen die Enden hinlaufen; in manchen Fällen geht ein dicker Plasmastrang von der Innen- fläche der Endkappe zu dem kontrahierten Plasma. Solche Fä- den durch die Poren bis an die Außenfläche der Membran zu ver- folgen gelang bisher nicht, aber die Annahme liegt nahe, dass sie dieselben ausfüllen und die Leitungswege für den nach außen aus geschiedenen Schleim darstellen. Uebrigens besitzt die Fähigkeit, Schleim auszuscheiden, auch das Plasma an der ganzen Peripherie, nur dass bei der Bewegung die Enden die dafür besonders organi- sierten und bevorzugten Teile sind. Tetmemorus granulatus zeigt etwas veränderte Verhältnisse. Die spindelförmige Alge besitzt eine zarte, eisenfreie Zellhaut, welche mit zarten Körnchen zerstreut bedeckt erscheint, wie an abgestorbenen Zellen sichtbar ist. An lebenden Exemplaren sind diese Körnchen sehr viel größer und dicker, sie färben sich bei Behandlung mit Me- thylviolett zuerst tief violett. Von ihnen geht die Schleimbildung aus. Denn man kann je nach den Individuen mannigfache Stadien der Schleimbildung beobachten. Die Schleimmenge auf den Körnern nimmt an Höhe und Breite zu, es entstehen dieke Höcker, welche durch seitliche Verquellung in Berührung mit einander kommen und dann einen Schleimmantel erzeugen, der häufig noch lange Zeit seine ursprüngliche Zusammensetzung aus ‘einzelnen Schleimstücken be- wahrt, häufig aber sehr bald zu einer weiten, lockern, scheinbar homogenen Schleimhülle verquillt. Während der Bewegung findet dann am einen Ende die Schleimfadenbildung statt. Die Enden jeder Zelle haben bei Tetmemorus auch eine besondere Organisation; doch ist ein Zusammenhang derselben mit der Schleimbildung noch nicht klargelesgt. In wieder etwas veränderter Weise geschieht die Schleimbildung bei den langgestreckten, meist zylindrischen Pleurotaenium - Arten. Stets ist auch hier die Zellhaut fein punktiert. An den lebenden Individuen, die von einer gleichmäßigen Schleimhaut umgeben sind, sitzen auf den Körnern der Zellhaut Schleimhöcker auf, durch deren allmähliche Verquellung die Schleimschicht gebildet wird, während sie Immer von neuem vom Cytoplasma aus frische Zufuhr der Schleim- substanz erhalten. Das Eigentümliche liegt hier darin, dass bei Ein- wirkung verschiedenster Farbstoffe, aber auch von mechanischem Druck die Schleimhöcker von der Zelle abgestoßen werden, so dass 366 Klebs, Bewegung und Schleimbildung der Desmidiaceen. sie schließlich einen dichten Hof um dieselbe bilden. Dieses Ab- stoßen geschieht nur von lebenden Zellen, nicht von vorher getöteten, und erklärt sich wohl daraus, dass infolge des Eintretens ungünstiger äußerer Umstände das Cytoplasma sich zu schützen und die direkte Verbindung mit den Schleimhöckern und damit der Außenwelt zu lösen und sich mehr abzuschließen sucht. — Entsprechend wie bei Pleurotaenium beobachtete ich solehe Schleimhöcker an der punktierten Zellhaut von Micrasterias truncata; durch Druck konnte ich sie auch absprengen, durch Farbstoffe nieht. Hieran schließen sich die meisten Desmidiaceen an, wie die Euastrum-, Cosmarium-, Staurastrum-Arten, deren Zellhaut in mannigfachster Weise mit Punkten, Körnern, Höckern besetzt erscheint, welehe sich sehr häufig durch die beson- ders intensive Färbung mit Methylviolett schleimumhüllt erweisen und diejenigen Stellen anzeigen, an welchen die Ausscheidung des Schleimes erfolgt. Das geht auch besonders dann hervor, wenn der Schleim lange Zeit eine Zusammensetzung aus Stäbchen zeigt. Am auffal- lendsten beobachtet man dieses bei HAyalotheca dissiliens, einer faden- bildenden Desmidiacee. Die Zellhaut der von mir untersuchten Fa- den ist nicht glatt, wie gewöhnlich in den systematischen Werken angegeben wird, sondern an jeder Hälfte der Zelle mit 5 regelmäßigen Querreihen von Körnchen besetzt. Die Fäden sind stets von einer dicken Schleimschieht umhüllt, welehe aus Stäbchen zusammengesetzt ist, die in 5 den Körnerreihen genau entsprechenden Reihen an jeder Zellhälfte aller Zellen hervortreten. Diese Schleimstäbcehen divergieren gegen die Peripherie der Schleimschieht und verjüngen sich auch und sind durch ihre verschleimten Seitenränder einheitlich verbunden. Teilt sich eine Zelle, so erhält jede Tochterzelle eine alte Zellhälfte mit den schon vorhandenen Schleimstäben, die neue Hälfte muss sie neu bilden, und man sieht sie in solchem Falle zuerst als ganz kurze, sehr dieke Zylinder aus den Körnern hervorwachsen. Von Zeit zu Zeit bildet der ganze Faden eine neue Schleimschicht, indem unter der alten an allen Zellen neue Schleimstäbe hervortreten; bisweilen sah ich sogar Fäden mit 3 Generationen solcher Schleimstäbe. Eine entsprechende Zusammensetzung, die aber wohl zu unterscheiden ist von den zufällig häufig im Schleim sitzenden Bakterien, findet man auch bei anderen Desmidiaceen, besonders regelmäßig z. B. bei Cos- marium Phaseolus. Alle diese Beobachtungen erklären sich am einfachsten durch die oben ausgesprochene Anschauung über die Entstehung des Schleimes. Dieselbe wird auch noch gestützt durch Beobachtungen an anderen Algen z. B. den Zygnemen, ferner auch durch den von mir früher gelieferten Nachweis der direkten Schleimausscheidung durch die Membran bei den Euglenen, woran sich zahlreiche ähnliche Er- scheinungen bei Flagellaten !) anschließen, und es ist sehr möglich, 1) Vergl. Bütschli in Bronn’s Klassen des Tierreiches I Protozoa $. 682 u. w. Haacke, Ueber die Farbe der Tiefseekrabben. 367 dass auch bei den höheren Pflanzen solche Ausscheidungen, sei es nun von Schleim oder andern Sekreten, vom Cytoplasma aus durch die Membran geschehen. ‘Die vorstehenden Mitteilungen mögen nur als vorläufige betrachtet werden; ich hoffe bei späterer Gelegenheit ausführlicher darauf zu sprechen zu kommen und die vielen Lücken und Unvollständigkeiten ein wenig mehr auszufüllen und zu verbessern. “ Ueber die Farbe der Tiefseekrabben, gekochten Krebse und Paguren. Von Wilhelm Haacke. Ein überraschendes Ergebnis der Tiefseeuntersuchungen bildete die lebhaft rote Farbe der Tiefseekrabben. Man scheint erwartet zu haben, sämtliche Tiere der Tiefsee, in welche kein Sonnenstrahl dringt, nahezu farblos zu finden, und die Tiefseekrabben anlangend, so hat man jedenfalls eher eine den verschiedenen Arten und Körper- teilen entsprechende Verschiedenheit der Farbe als ein uniformes Rot erwartet. Bis jetzt stand man dieser roten Uniform der Tiefsee- krabben einigermaßen ratlos gegenüber; gleichwohl scheint mir die Erklärung derselben, die ich im Folgenden versuchen will, ziemlich nahe zu liegen. Jeder Krebsesser kennt die schöne Farbe des gekochten Fluss- krebses, das nach ihm so benannte „Krebsrot“, und wer nicht bloß Krebse im Binnenlande, sondern auch an der Seeküste verspeist hat, weiß, dass auch Hummer und Languste sowie die Taschenkrebse, in gekochter Gestalt auf die Tafel gebracht, dieses Krebsrot zeigen. Eine Reihe von Versuchen hat mich nun gelehrt, dass die mannig- fachsten Farben der verschiedensten Krebstiere durch das Kochen sich in Rot verwandeln oder wenigstens eine ausgesprochene Tendenz dazu haben. Der männliche Neptunus pelagieus aus St. Vincents Golf, der im Leben mit den lebhaftesten blauen und violetten, sowie mit satten grünen und braunen Farbentönen geschmückt ist, zeigt gekocht nur das uniforme Rot. Aber nicht nur die Siedehitze, sondern auch das Sonnenlicht führt die verschiedensten Krebsfarben in Rot über. Unter der südaustralischen Sonne am Strande bleichende Panzer unseres Neptunus nehmen vor dem gänzlichen Verbleichen die schöne rote Farbe an. Endlich ist es bekannt, dass die Einwirkung anderer Reagentien, z. B. Alkohol, ähnliches erzielt wie diejenige der Hitze und des Sonnenlichtes. — Ich bin kein Pbysiologe und noch weniger ein Chemiker; gleichwohl glaube ich zu dem Ausspruche berechtigt zu sein, dass den verschiedenen Farben der Krebse, unter denen ich vorläufig allerdings nur die Dekapoden verstehe, ein konstitutioneller Farbstoff zugrunde liegt, ein Farbstoff, den abzuscheiden das Krebs- 368 Haacke, Ueber die Farbe der Tiefseekrabben. plasma unter allen Umständen bestrebt ist, und den zerstörenden Ein- flüssen länger widersteht als andere bei Krebsen vorkommenden Farb- stoffe. Von diesem Farbstoffe, welcher, wie wir weiter annehmen müssen, ein roter ist, sind die andersfarbigen Krebspigmente wahr- scheinlich nur leicht reduzierbare Modifikationen. Ist dieses aber der Fall, so erklärt sich damit die ganz allgemeine rubripetale Farben- umwandlung der zerstörenden Einflüssen ausgesetzten Krebspanzer, aber auch bei einigen Nachdenken die rote Farbe der Tiefseekrabben. Bei der phyletischen Entwicklung der Krebsfarben muss das Rot, seiner typischen Natur zufolge, zuerst aufgetreten sein. Aber die rote Farbe konnte sich im Kampfe ums Dasein nicht überall bewähren; dieser erheischt möglichst genaue Farbenanpassung des Tieres an seine Umgebung. Die Verschiedenartigkeit der Umgebung und der Lebensweise erzeugte bei den Seichtwasserkrebsen nach Arten und Körperteilen verschiedene Farben. Da diese das Produkt einer spä- tern Entwicklung sind, so lässt sich annehmen, dass sie dort, wo sie überflüssig werden, verschwinden, um zunächst dem roten Farbstoffe, durch dessen Modifikation sie ursprünglich entstanden, platzzumachen, und dieses wird bei den Tiefseekrabben der Fall gewesen sein. Alles deutet darauf hin, dass die meisten Tiefseetiere und somit auch die Tiefseekrabben von Tieren des seichten Wassers abstammen. Für die Stammeltern dieser Krabben wurde beim Hinabsteigen in dunklere und dunklere Tiefen die Farbe allmählich nutzlos; sie verschwand indess nicht ganz. Das Krebsplasma machte keine überflüssigen Anstrengungen mehr, die weitläufige und kostspielige Synthese nutzlos gewordener und vordem ganz speziellen Zwecken dienender Farbstoffe vorzunehmen, sondern beschränkte sich auf die unschwere Synthese seines typischen Rot. So entstand die rote Uniform der Tiefseekrabben. Ist aber alles dieses richtig, so werden wir erwarten dürfen, auch sonst bei noch nicht ganz farblos gewordenen Krebstieren, denen die Farbe ihrer Vorfahren nieht mehr von besonderem Nutzen ist, die rote Farbe anzutreffen, und in der That sehen wir uns nicht getäuscht. Die Einsiedlerkrebse oder Paguren, die sich bei der geringsten schein- baren Gefahr vollständig in ihr schützendes Schneckenhaus zurück- ziehen und jedenfalls von freilebenden Krebsen abstammen, zeigen fast alle an den Hartgebilden die rote oder eine ihr sehr nahestehende Farbe. Wo meiner Erklärung scheinbar widersprechende Befunde vor- liegen, mache man sich die Umstände klar. Manchmal ist überhaupt kein Farbstoff vorhanden, folglich auch keine rote Farbe; insbesondere scheint Parasitismus der Entwicklung irgendwelchen Farbstoffes un- günstig zu sen. Imbezug auf die Farben parasitischer Krebse sollte aber vor allem nach der Färbung soleher geforscht werden, bei denen der Parasitismus noch kein vollständiger ist. So kenne ich in einem südaustralischen Schwamme, der von Dr. von Lendenfeld kürz- J. H. List, Ueber Wanderzellen im Epithel. 369 lich so benannten Spongelia rigida, eine lebende, wahrscheinlich noch unbeschriebene langschwänzige Dekapodenart, bei welcher der noch — freilich nicht im Ueberfluss — vorhandene Rest von Farbstoff blass-orangerot ist, somit eine Bestätigung meiner Theorie liefert. Findet man ferner, was indess erst festzustellen ist, dass die Onto- genie meiner Theorie der Krustenfarben nicht entspricht, so bedenke man, dass für die Sicherheit ganz besonders der jungen Krebstiere ein bestimmter Farbenton notwendig ist, dass deshalb der rote Farbstoff meist schon frühzeitig während der Ontogenese modifiziert werden muss. Im großen und ganzen glaube ich das Richtige getroffen zu haben. Fragen, wie die vorliegenden, lassen sich indess nur durch das Zu- sammenwirken von Fachleuten der verschiedensten Disziplinen voll- ständig lösen; in unserem Falle brauchen wir die Hilfe von mit offenen Augen im Felde arbeitenden Naturforschern, von vergleichen- den Physiologen, von Chemikern und Mikroskopikern, auch der Gastro- nomen dankbarst zu gedenken, die zuerst auf den Gedanken kamen, Krebse zu kochen. Ueber Wanderzellen im Epithel. ') Von Dr. Joseph Heinrich List in Graz. Seit Ph. Stöhr nachgewiesen, dass das Wandern der Leucoeyten durch das geschichtete Pflasterepithel der Balgdrüsen und Tonsillen eine normale Erscheinung sei, fand man auch in anderen Epithelien ein ähnliches Verhalten. So wurden von Bockendahl wandernde Leueoceyten im geschichteten Zylinderepithel der Trachea nachge- wiesen, und vom Darmepithel ist dies schon seit längerer Zeit bekannt. Ich teile nun hier auch diesbezügliche Beobachtungen mit, die ich an verschiedenen Epithelien gemacht habe. I. Wandernde Leucocyten in der Oberhaut der Barteln und der Oberlippe von Cobitis fossilis. Wenn man die Oberhaut der betreffenden Objekte, die aus einem geschichteten Pflasterepithele besteht, an mit salpetersaurem Rosanilin oder mit Weigert’schem Bismarekbraun tingierten Schnitten durch- mustert, so kann man in allen Schichten des Epithels, vom Corium angefangen, wo die Leucocyten ganze Infiltrationen bilden, bis zur Oberfläche Wanderzellen nachweisen. Sie liegen stets zwischen den Epithelzellen und haben gewöhnlich runde oder ovale Form?). Häufig 1) Auszug aus einer im Archiv f. mikr. Anatomie erscheinenden Arbeit. 2) An Chromsäurepräparaten findet man nur die Kerne tingiert, während das Protoplasma häufig als heller Saum um dieselben erscheint. 24 370 J. H. List, Ueber Wanderzellen im Epithel. kann man aber auch lang ausgezogene, gewundene oder hantelför- mige Leucocytenkerne finden. Die ersteren Formen lassen sich wohl erklären aus dem Widerstande, den die Epithelzellen den wandern- den Leucoeyten leisten; inwieweit die letzteren etwa auf Teilungs- stadien zurückzuführen seien, wie Stöhr will, kann ich nicht ent- scheiden. Solche Formen fand ich in allen Schichten des Epithels und auch im Corium. Ich bemerke, dass man an sehr dünnen Schnitten häufig solche Ausbuchtungen zwischen den Epithelzellen beobachten kann, wie sie Stöhr aus dem Tonsillenepithel beschrieben hat, und in wel- chen Leucoeyten lagen. I. Wandernde Leuceoceyten in der Oberhaut von Cobitis Fossilis. Wenn man Querschnitte durch die Oberhaut, die aus einem ge- schichteten Pflasterepithel mit zahlreichen Kolbenzellen besteht, mit obigen Farbstofflösungen tingiert, so kann man in allen Schichten vom Corium an bis zur Oberfläche Leucoeyten und zwar der mannig- fachsten Form nachweisen. Im Corium selbst fand ich oft ganze In- filtrationen von Leueocyten. II. Wandernde Leueocyten im Kloakenepithel der Pla- giostomen. Im Kloakenepithel sämtlicher von mir untersuchten Rochen und Haie fand ich an tingierten Querschnitten in allen Schichten des Epithels von der Mucosa an bis zur Oberfläche Leucoeyten. Sie haben meist rundliche oder ovale Form, doch findet man auch langge- streckte oder hantelförmige Leucocytenkerne. Besonders häufig fand ich sie aber im Kloakenepithel von Raja miraletus, welches von dem anderer Rochen einen etwas abweichenden Bau zeigt. Auch hier liegen die Leucoeyten stets zwischen den Epithel- zellen; ein Eindringen in letztere habe ich niemals beobachtet. Auch solche Ausbuchtungen, wie ich sie schon oben erwähnt, und in wel- chen Leucoeyten lagen, konnte ich bemerken. Da ich in allen von mir untersuchten Objekten Wanderzellen in allen Schichten der Epithelien und auch auf der Oberfläche fand, so stehe ich nicht an, das Wandern der Leucoeyten durch Epithelien als eine normale Erscheinung aufzufassen. Darauf wird man auch zum größten Teile jene Sehleimkörperehen, welche sich häufig in dem die Oberfläche der betreffenden Organe überziehenden Schleime vor- finden, zurückführen können. Th. Kölliker, Zur Odontologie der Hasenscharte, 31 Zur Odontologie der Kieferspalte bei der Hasenscharte. Von Th. Kölliker, Privatdozent der Chirurgie in Leipzig. In einem „Zur Zwischenkieferfrage“ betitelten Aufsatze !) habe ich meine in mehreren Arbeiten niedergelegten Ansichten über Zwischen- kiefer und Hasenscharte nochmals zusammengefasst und unter anderen über die Verhältnisse der Zähne bei der Kieferspalte folgende Thesen aufgestellt. Der Zwischenkiefer trägt bei der Hasenscharte in der Regel die ihm zukommenden vier Schneidezähne. Schneidezähne im Oberkiefer sind als überzählige Zähne zu be- trachten. Es gibt Kieferspalten ohne überzählige Schneidezähne, bei welchen die Eckzähne die ersten Zähne jenseits der Spalte im Oberkiefer sind. Weiterhin erklärte ich jene Fälle, in welchen nur der mediale Schneidezahn im Zwischenkiefer sich befindet, der laterale hingegen im Oberkiefer, durch die Unabhängigkeit der Zahnbildung von der Knochenbildung — unpaare Schmelzkeime, paarige Knochen ?). Diese Unabhängigkeit dürfte bei pathologischem Verhalten der betreffen- den Teile erst recht zur Geltung kommen. Zur Aufstellung dieser Thesen war ich durch die gegenteilige Meinung des Herrn Professor Albrecht in Brüssel genötigt. Dieser Forscher stellte nämlich die Ansicht auf, dass die über- zähligen Schneidezähne als atavistische Bildung anzusehen seien. Nach A. hat der Mensch ein hexaprotodontes Gebiss; ein Zahn, und zwar der mittlere Schneidezahn, Albrecht’s sogenannter Propara- symphysius, ist verloren gegangen, tritt aber bei der Hasenscharte wieder auf3). Es betrachtet daher Albrecht bei einer Hasenscharte mit überzähligem Schneidezahn im Oberkiefer diesen als den lateralen Schneidezahn, während er den wirklichen lateralen Schneidezahn im Zwischenkiefer als den atavistisch wieder auftretenden "mittlern Schneidezahn — Proparasymphysius — erklärt. Zu dieser Anschauung ist Albrecht durch den Umstand geführt worden, dass er die Kieferspalte, nicht wie es unserer Meinung nach das typische Verhalten ist, als inzisiv-maxillare, sondern als intra- inzisive Spalte anspricht. Er geht sogar so weit, das oben geschil- derte Verhalten, nach welchem Kieferspalten ohne überzählige Schneide- zähne mit dem Eckzahne als erstem Zahn jenseits der Spalte im Ober- kiefer beobachtet werden, ganz zu leugnen. I) Centralblatt für Chirurgie, 1884, Nr. 39. 2) Ueber das Os intermaxillare des Menschen und die Anatomie der Hasen- scharte und des Wolfrachens. Halle 1882, S. 27 u. 28. 3) Albrecht hat auf dem letzten Chirurgen - Kongresse auch hexaproto- donte Gebisse demonstriert, die nicht mit Hasenscharte kompliziert waren. DAR, 372 Th. Kölliker, Zur Odontologie der Hasenscharte. Albrecht äußert sich hierüber in seinem Aufsatze: „Ueber die Zahl der Zähne bei der Hasenschartenkieferspalte“!) folgendermaßen: „Wie gesagt aber, und damit schließe ich diesen kleinen Aufsatz: es gibt keine Hasenschartenkieferspalte, die nach außen von sich den Eckzahn hat; nach außen steht immer der präkanine Incisivus“. Diese Behauptung wurde aufgestellt, obgleich ich schon in meiner oben zitierten Monographie über das Os intermaxillare an mehreren von mir untersuchten Präparaten das von Albrecht geleugnete Ver- halten beschrieben hatte. Nach Erscheinen von Albrecht’s Aufsatze wiederholte ich meine Untersuchungen an den wenigen Schädeln mit Hasenscharte, welche das pathologisch-anatomische Institut zu Leipzig enthält, leider waren aber die vier untersuchten Fälle alle solche mit überzähligem Schneide- zahn im Oberkiefer. Erst kürzlich fand ich durch Zufall am Lebenden das, was ich nochmals beschreiben wollte: die Hasenscharte mit den beiden Schneide- 4) Centralblatt für Chirurgie, 1884, Nr. 32. Tollin, Andreas Vesal. 373 zähnen im Zwischenkiefer, und dem Eekzahn als ersten Zahn jenseits der Spalte im Oberkiefer. Die Abbildung stellt den Gipsabguß des Gaumens eines etwa 24 Jahre alten Mädchens mit durchgehender Lippenkiefergaumen- spalte dar. Bei s ist die Spalte, Jm ist der linke Tneisivus medialis, J! der linke Ineisivus lateralis, © jenseits der Kieferspalte der linke Oaninus. Das Mädchen hat daher eine inzisiv-maxillare Kieferspalte. Der Zwischenkiefer enthält die ihm zukommenden Schneidezähne, während im Oberkiefer der Ecekzahn der erste Zahn jenseits der Spalte ist. Quod erat demonstrandum. Andreas Vesal. Von Lie. theol. Dr. med. hon. Henri Tollin, Prediger in Magdeburg. (3. Fortsetzung.) $. 15. Es war ein großer Triumph für Andreas Vesal, dass der Mann, der sieben Kronen trug, sich von ihm, dem medizini- schen Ketzer, kurieren ließ, und dass er ihn in vierzehn Tagen herstellte. Vesal wusste, wie viel m der wirklichen Welt der Schutz der Mächtigen vermag, und dass die besten wissenschaft- lichen Argumente für sich allein oft wenig Ueberzeugungskraft haben. Duo si dieunt idem, non est idem. Darum widmet er sein Haupt- werk dem Kaiser, betont, dass sein Vater kaiserlicher Beamter (Oberapotheker) sei; erwähnt mit Genugthuung, wie er gehört habe, dass der Kaiser bei Betrachtung seiner anatomischen Tafeln Vergnügen empfunden (voluptate), und bittet ihn für seine jugend- lichen Studien (juvenile hoc meum studium) um seinen großmächtigen Sehutz. Er verweilt mit großer Freude und Ausführlichkeit dabei, wie der Kaiser, auf eignen Antrieb (suo potius Marte) vielmehr, denn etwa auf Rat (des Nachfolgers von Cavallus) seines Leib- arztes Dr. Cornelius das Chinapräparat genommen, die ganze Diät seines Leibarztes bei Seite gestellt (S. 13 fg.) und in den größten Strapazen sieh schmerzfrei und so wohl gefühlt habe, wie es ihm um des ganzen Erdkreises willen!) alle Guten mit inständiger Fürbitte wünschen sollten (supplieibus votis optare deberent S. 17). Auch geschah es im Einvernehmen, wenn nicht auf Anlass ?) des Andreas, dass sein jüngerer Bruder Franz Vesal des Andreas Epistelan Joachim Roelants, welche die Heilung des Kaisers 1) Der Lieblingsidee Karl V. von der Weltmonarchie huldigt Vesal mehr als ein mal. 2) Ratisponae, Idibus Junii 1546 ist Andreas Vesal’s Epistel; Ferrariae, tertio Idus Augusti 1846 des Franz Vesal Widmung der ersteren datiert. 374 Tollin, Andreas Vesal. durch Chinadekokt streifte und von den anatomischenIrrtümern und Mängeln Galen’s spricht, nicht also betitelt, sondern „von der Art und Weise jenes Chinadekokt zu nehmen, dessen sich Jüngst der stets unbesiegte (invictissimus) Kaiser Karl V. bedient habe“ oder kürzer: „Der Gebrauch der Chinawurzel.“ Wegen dieser Heilung des Kaisers, verbunden mit der Wid- mung seiner Hauptschrift an seine Majestät und mit der militärärzt- lichen Thätigkeit Vesal’s, haben ihn schon die Athenae Rauricae zum Oberhofarzt beim Kaiser Karl V. gemacht (archiater Caroli V. p.232 sq.). Und Ceradini setzt, einen Schritt weiter gehend, voraus, als kai- serlicher Leibarzt sei Vesal verpflichtet gewesen, den Kaiser stets auf seinen Reisen zu begleiten!). Ist es doeh Ceradini darum zu thun, den Vesal von Padua fern zu halten, um für seinen Lands- mann Realdo Colombo möglichst oft und lange Vesal’s Katheder frei zu machen. Nun aber hatte Karl der Leibärzte genug. More- jon nennt uns unter andern den Oberarzt (protomedicus) Lopez de Escurial (Il, 229. 258), die Unterärzte Nicolas Poll (II, 226), Enrique Martin (I, 273), Dionysio Daza (II, 274), Nicolas Florenas (Il, 281), den Mann, dem Andr. Vesal die 1537 zu Basel erschienene Paraphrase zum neunten Buch des Rhazes an Almansor widmet, als demjenigen, dem er die Anregung zur Medizin und zu den anderen höheren Künsten (et ad alias meliores diseiplinas) verdanke. Und, um von den bei anderen Zeitgenossen auftretenden zu geschweigen, Vesal selbst führt als Leibärzte des Kaisers an: den Cavallus, den der Kaiser abgelohnt ?), den Cornelius, nach dem er nicht hingehört?), den Anton Fossanus, der sich bitter be- klagt habe über die durch Vesal veranlasste Verminderung seiner Einnahmen am Hofe Karl V. und Philipp II. *), den Stephanus Sala, als den kaiserlichen Chirurgen 5), den Ludovicus Panizza, einen damals (nostrae aetatis) berühmten Arzt, von dem er sagt, dass er zu Mantua dem Kaiser den Gebrauch der Terebinthe und anderer Arzneien geraten ®) habe. Im allgemeinen urteilt Vesal ungünstig von den Hofärzten. Sie hätten, meint er, bisweilen Spezialitäten studiert und alles andere übersehen, meist aber bei grober Unwissen- heit (imperitissimi) nur durch Konnexionen sich den Weg an den Hof gebahnt, um diesen auszusaugen. Auch wurde Vesal seinerseits am Hofe so ungünstig aufgenommen, dass er am liebsten tot zu sein 1) Qualche appunto storico critico. Genova 1875 p. 78. 2) De Chynae radice p. 13: er habe den Kaiser veranlasst die klugen Theoretiker (sciolos) vor Gericht zu fordern, die so schöne Bücher schreiben, aber mit ihren Rezepten die Menschen in Gefahr bringen (p. 19). 3) Er hielt den Kaiser streng; verbot viel (p. 18). 4) Gabrielis Cunei Mediolan. Examen p. 4, 5) De Chynae radice p. 48. 6) Cl. p. 50. Tollin, Andreas Vesal. 375 wünschte !. In der Umgebung der Hofärzte, welche die Anatomie missachteten, wegen aller seiner Werke beim Kaiser und den Magnaten angeschwärzt?) (S. 279), schwankte der große Vesalhin und her zwi- schen der Sehnsucht nach seiner süßen italienischen wissen- schaftlichen Muße und dem ihm am Hofe blühenden Glück, nichts drucken und sich von den Schriftstellern nicht durchhecheln lassen zu brauchen (a dulei studiorum otio alienum in aula vivere ete. S. 54). Ganz besonders schadete ihm am Hofe, wo alles an Autori- täten hing (omnes sunt solis propemodum autoritatibus irretiti), seine Autoritätsfeindschaft, wie sie am Beispiel Galen’s in seinen Büchern zutage liege, woraus ihm viel Feinde erwuchsen (ut multos mihi infestos audiam S. 55). Hatten doch schon vor der Herausgabe des Hauptwerks bis auf zwei alle, denen er die Handschrift mitge- teilt, ihm dringend abgeraten, ein so autoritätsfeindliches Werk drucken zu lassen. Das war es wohl auch, was den Andreas Vesal hinderte, jemals Hof- und Leibarzt Kaiser Karl V. zu werden. Ueberdies würde er es nicht lange geblieben sein. Karl, eine selbständige, herrische, wetterwendische Natur, wechselte ja seine Beichtväter ?) und seine Leibärzte, wie man die Kleider wechselt. Ihm genügte zu finden, dass dieser oder jener auf ihn Einfluss zu gewinnen drohe, um ihm sofort den Rücken zu kehren. Ich glaube deshalb, dass im eigentlichen Sinne des Worts Vesal nie kaiser- licher Hofarzt gewesen ist. | Nicht so irrig wie Jourdan und Ceradini, aber doch auch missverständlich urteilt Morejou, wenn er es deswegen für eine Fabel erklärt, dass Andreas Vesal erster Leibarzt (protomedieus) des Kaisers gewesen sei, weil er, sagt Morejou, sonst sicher auf seinen Werken sich mit diesem Titel bezeichnet hätte und dem fünften Karl in das Kloster St. Yust gefolgt wäre, wie z. B. Matisio. Von Regensburg bis St. Yust gab es viele Schritte, und wer gestern Ober- arzt Kaiser Karl V. gewesen wäre, war es eben deshalb heute nicht mehr. Ich glaube auch nicht, dass dem Vesal jemals der Titel eines kaiserlichen Hofarztes, den ihm seine Schüler *) beilegen, oder gar Oberhofarztes zuteil geworden ist. Er wurde konsultiert und half. Auf mehr konnte der Verkleinerer Galen’s keinen Anspruch erheben. Er bekam Geld für seine Bemühungen und Ansehen, aber keinen Titel. 1) Quo se ipsum excruciet seque hac vita liberum eupiat. p. 54. 2) Quum enim aulam aditurus, Italiam relinguerem p. 279. 3) Magazin für die Literat. des Auslandes 1874 Nr. 14. 16. 18: Die Beicht- väter Karl V. 4) Z.B Prosper Borgarutius in seiner Widmung der Chirurgia magna: Andreas Vesalius Bruxellensis Medieus olim Regius ac Caesareus (1568). 376 Tollin, Andreas Vesal. Vesal, der spätere Leibarzt König Philipp II., liebte den Hof, aber er liebte ihn nicht um des Geldgewinnes noch um der Ehre und des Einflusses willen, sondern darum, weil er gegen seine zahl- reichen Feinde des königlichen Schutzes zu bedürfen, an der Quelle aller maßgebenden Gerüchte weilen zu müssen und am Hofe besser verborgen bleiben (bene latitare) zu können meinte, als etwa in Padua, wo des Senats von Venedig Freigebigkeit, oder in Pisa und Bologna, wo das Achthundert-Kronen-Gehalt des Herzogs von Toskana die öffentliche Aufmerksamkeit immer wieder auf ihn lenkte (S. 54). Denn so viel Feinde hatte er sich durch sein Hauptwerk erworben und so von allen Seiten bemängelt wurde jedes einzelne der von ihm gewonnenen wissenschaftlichen Ergebnisse, dass ihm, mehr als an Ruhm und Bücherschreiben, vor allen Dingen daran gelegen war, jede einzelne Abweichung von Galen immer wieder von neuem zu prüfen und zu bewahrheiten. Und da sich ihm in den Kriegen dazu häufigere Gelegenheit bot, als an den friedlichen Orten, wo nur hier und da eines Gehenkten Leiche ihm zufiel, so stellte er immer wieder sich seinem Kaiser und obersten Kriegsherrn zur Verfügung '). $. 16. Anderseits hatte der Baseler Professor der griechischen Sprache und Buchdrucker Johannes Operin sich um den Druck der Vesal’schen Werke so große Verdienste erworben und Vesal’s Ruhm hatte wiederum auf die Baseler Offizin so reichlich zurück- gestrahlt (S. 4), dass die zwischen beiden Männern erwachsene Freundschaft und das wohlverstandene Geschäftsinteresse den Vesal nöthigten, 1542, 1543, 1546, 1554 sich kürzere oder längere Zeit in Basel aufzuhalten. Das bewog den Senat von Venedig im Herbst 1542?) den Matteo Realdo Colombo, der oft und wieder bei Sektionen dem Vesal assistiert hatte, mit sehr bedeutendem Gehalt, nicht als Nach- folger, sondern als Stellvertreter Vesal’s zu berufen. Dieser Neuling (seiolus) ?) aber, in der Meinung, Vesal würde nach Ver- öffentlichung seines Hauptwerks nicht wieder nach Italien zurück- kehren, noch seine Bücher aus neuen Sektionen in Padua, Bologna und Pisa zu rechtfertigen wissen, setzte sich über seinen Lehrer hinweg, zieh ihn der Unwissenheit und suchte ihn vor dem großen Auditorium zu verspotten: eine Vergeltung des Schicksals für das, was Vesal an seinen eignen Pariser Lehrern gethan hatte. Schon als Vesal zum ersten mal von Basel zurückkehrte, hatte er sich 1) Uebrigens machte er auch in Regensburg anatomisch - chirurgische Ex- kursionen z. B nach Augsburg zu Herrn von Imersel und zu Herrn von Mol (Examen Faloppii p. 154). 2) S. meinen Aufsatz über Colombo in Pfüger’s Archiv, Bd. 22, 1880, S. 267. 3) Burggraeve p. 33 bezieht die Stelle fälschlich auf den berühmten römischen Dozenten Eustachi. Tollin, Andreas Vesal. 317 genötigt gesehen, seinen Substituten wissenschaftlich herauszufordern. Colombo erschien nicht (S. 197). Auch zog er, so lange Vesal in Italien weilte, andere Saiten auf. Aber den Groll behielt er im Herzen. Und so oft Vesal Italien verlassen musste, machte Co- lombo seinen frühern Lehrer zum Hauptziel seines Spottes !). Ueberall bekam Vesal Berichte über die bäurischen Angriffe seines einstigen Schülers, der mit besonderem Geschick die Vivisektionen auszu- beuten wusste 2). Von Vesal öffentlich wegen seiner scharfen Beob- achtungen anerkannt (non indiligens spectator), aber auch im Sommer 1546 (de radice Chynae S. 197 sq.) öffentlich als unreif (seiolus) und ungebildet?°) (literarum rudis) gebrandmarkt, ergrimmte Co- lombo immer mehr. Man kann wohl denken, dass, als Vesal 1546 im Herbst nach Padua zurückkehrte, mit dem Buch über Hans Naseweis (sciolus) in der Hand, als Vesal in Padua dem Colombo, seinem Substi- tuten *), öffentlich den Mund zu stopfen begann, die Stimmung zwi- schen beiden Männern den Siedegrad erreichte. Nichts entspricht daher so wenig der geschichtlichen Wirklichkeit, als wenn Haeser (II. 33) schreibt: „Im Jahre 1546 übergab Vesal das von ihm zu Padua verwaltete Lehramt an seinen Schüler Colombo“. Dem Teufel hätte er es lieber übergeben, als jenem Chirurgen, der sich über alle anderen hinwegsetzt, alles selbst gemacht und selbst entdeckt haben will und seinen Zorn und Geifer über ihn so reich ausschüttet, Matteo Realdo Colombo°). Dazu kam das mürrische Benehmen der Künstler, mit denen Vesal behufs seiner Abbildungen zu thun hatte. Mochte Armut und Habsucht, Stolz und vermeintliche Un- fehlbarkeit der „studierten“ Bildhauer und Maler die Ursache sein, genug Vesal hatte sich über die eigensinnige Verdrießlichkeit „dieser Leute“ so bitter zu beklagen, dass er die bisweilen benei- dete, die vor ihm auf dem Seziertisch lagen ®). Endlich begannen auch in der neuen italienischen Heimat Schüler des Jakob Syl- vius und des Vesal selbst, ein Johann Baptista Canani aus Ferrara, ein Johann Philipp Ingrassias aus Palermo, ein Bar- 1) S. meinen Aufsatz in Virchow’s Archiv, Bd. 91, 1883, S. 43 ff. 2) S. meinen Aufsatz in Pflüger’s Archiv, Bd. 21, 1880, S. 349—360. 3) 1561 im Examen Faloppi sagt Vesal: Colombo, sein Paduaner Schüler in der Anatomie, habe von Wissenschaft nichts verstanden (eitra literas) noch je einen Kommentar über Anatomie in der Hand gehabt (eitra eujusdam com- mentarios p. 73). 4) Burggraeve schildert p. 33 die Rückkehr von 1546 also, als gälte sie dem Eustachi. Erst 1552 trat aber dieser hervor. 5) S. meinen Aufsatz in Virchow’s Archiv, Bd. 91, 1883, S. 43 ff. 6) Ut saepius ob eorum hominum morositutem me illis infeliciorem esse putarem qui ad seetionem mihi obtigissent (De Chynae radice p. 278). 318 Tollin, Andreas Vesal. tolomeo Eustachi aus Sanseverino!), ein Gabriel Faloppia2) aus Modena, ein Francisco Pozzi aus Vercelli ?) aufgrund ebenso tüchtiger Kenntnis des Galen wie eigner anatomischer Erfahrungen die Aufstellungen Galen’s gegen Vesal zu verteidigen und des letz- tern anatomische Tafeln öffentlich zu kritisieren. Mir ist es nicht unwahrscheinlich, dass die vorgesetzte Behörde der Universität Padua, der Senat von Venedig, vor die Wahl gestellt, falls einer der Professoren gehen müsse, ob sie den sich ganz auf seine Vor- lesungen beschränkenden, durch die Prüfung keiner Korrekturbogen aufgehaltenen, durch keine Reisen seinen Zuhörerkreis zersprengen- den Landsmann, den Cremonesen Colombo, oder den durch Bücher, Reisen, anderweitige Verpflichtungen von Padua immer wieder ab- gezogenen Niederländer entlassen solle, dass der Senat von Venedig, sage ich, dem Matteo Realdo Colombo den Vorzug gegeben haben würde vor dem Andreas Vesal. Ob es der Brüsseler bis zur Entscheidung kommen ließ, ist mir unbekannt. Jedenfalls ging Vesal, und seinem frühern Schüler, jetzigen Widersacher, blieb die Beute. Bewiesen hatte Vesal durch sein häufiges und langandauerndes Verreistsein, dass ihm eine Professur nicht als das Höchste galt; durch seine unbestechliche Festigkeit am Hofe Karl V., dass er auch die Großen entbehren zu können meinte; durch das Verbrennen seiner liebsten Manuskripte in Regensburg mit eigner Hand, dass ihm an der Herausgabe von ein paar Werken mehr oder weniger nicht son- derlich liege. Noch im letzten Jahre in Pisa und Bologna gradeso gern aushelfend, lehrend und lernend wie in Padua selbst *), überall zuhause, wo es viel menschliche Leichen zu zergliedern gab, in der Fülle des Glücks und der Ehren unglücklich, wo er sich ab- gesperrt fühlte gegen die freie Luft der Wissenschaft, kannte er kein höheres Ziel, als alle seine Ergebnisse immer wieder an der Natur zu prüfen und auf welche Weise auch immer die ungeschminkte Wahrheit allen kund zu thun. Italiens müde, ging er wieder zu seinem Freund Oporin?’) nach Basel. Auch diesmal hielt er dort einige Vorlesungen und wurde so freundlich aufgenommen, dass er der Hochschule mit einem männ- lichen Skelet ein Geschenk machte, das dort noch heute in Ehren gehalten wird. Bis in das neunzehnte Jahrhundert bildete dies die 4) Ueber ihn S. Virehow’s Archiv, Bd. 60, 8. 151. 2) Inter Italos doctissimus disceipulus noster nennt ihn Vesal, Chirurgia magna, fol. 291 b. 3) Auch in Bologna zählt ein celeberrimus, ut ipse ait, medicinae Professor zu Vesal’s Gegnern S. De vena secanda p 24. Es ist wohl Curtius. 4) Gabrielis Cunei Examen p. 70. 5) Ueber den Jo. Oporin finden sich viel interessante und gemütliche Daten in der Selbstbiographie seines Doppel-Kollegen Thomas Platter. Gütersloh 1882. Tollin, Andreas Vesal. 319 ganze anatomische Sammlung der Baseler Fakultät neben einem „weib- lichen“) Skelet, das jener Felix Platter schenkte, der sich erinnerte als Knabe bei seinem Vater den Vesal gesehen zu haben (8. 12), seinen Freunden einen Vesal schenkte (S. 255) und über Vesal’s Vetter, den Drucker Michael Stella, mehrfach klagt (S. 161. 178). Wie übrigens Vesal in Basel damals (1546) zu seinem Skelet kam, wird beleuchtet durch Felix Platter’s Mitteilung, wie er zu dem seinigen gekommen ist, dreizehn Jahre später (1559). Im April sollte ein Gefangener wegen Diebstahls (Waschkessel) hingerichtet wer- den. „Als ich das vernahm, sprach ich meinen Schwäher, weil er des Rats war, an, mir zu dem Körper verhelfen. Als er aber ver- meinte, ich würde nichts ausriehten, das Corpus werde denn von der Universität begehrt, auch vielleicht, ich würde im Anatomieren nicht bestehen, bat ich selbst den Bürgermeister. Der verwunderte sich, dass ich allein das mich unterstehen wollte, erbot sich aber, morgen es vor den Rat zu bringen. Der Uebelthäter ward zum Schwert ver- urteilt. Gleich als der Rat aus war, zeigt mir mein Schwäher an, man habe mir das Corpus bewilligt und werde es nach St. Elisabeth — in die Kirche fahren. Da solle ichs anatomieren, auch die Dok- toren und Wundärzte einladen, falls sie dabei sein wollten. Sie er- schienen, sammt viel Volks, das zusah und mir großen Ruhm brachte — weil Jahre lang von den Unsern allein einmal von Dr. Vesalio eine Anatomie zu Basel gehalten worden. Ich ging drei Tage mit ihm (dem Corpus) um. Darnach sott ich die gesäuberten Gebeine und setzte sie zusammen, macht ein Skeleton?) daraus, das ich noch jetzt (nach 53 Jahren) bei Handen habe. Seine (des Diebes) Mutter war im Spital die Küchenmutter. Kam einmal zu mir, lang hernach, um Rat. Die hatte vernommen, dass ihr Sohn in Beinwerk in meinem Haus sei. Denn ich hatt’ ein schön Kästlein dazu bereiten lassen, worin er in meiner Stube stand ?). Sie saß auf der Bank dabei, sah es ernstlich an, durfte doch nichts sagen, bis sie hinwegging. Da sagte sie zum Volk: „Ach mochte man ihm die Erde nicht gönnen“ (S. 259). Da übrigens Platter’s Selbstbiographie so viele Auflagen erlebt hat, kann ich nicht umhin, meine Verwunderung auszusprechen, dass im Nachtrag 2, der sich auf Miesceher’s „Medizinische Fakultät in Basel“ 1860 beruft, nicht nur S. 296 ff. Andreas Vesal hinter Eustachio, Faloppio, Colombo gestellt, sondern gradezu behauptet wird, Sylvius, Hollerus, Fernel, Rondelet hätten die Galenische Schule bekämpft und auf die eigne Erfahrung zurückgewiesen, während doch grade das Gegenteil die Wahrheit ist. 1) Vielleicht umgekehrt. S. unten 2) Hiernach wäre das männliche Skelet von Platter, das weibliche von Vesal. 3) Für das Zeigen seines Kabinets und Gartens nahm er ein in elf Jahren 401° 18.16 2r7 10 Pf. (S. 286). 380 Tollin, Andreas Vesal. $S. 17. Bei der ganz außerordentlichen Begehrtheit der Vesal’- schen Schriften ist es auffallend, dass Thomas Platter’s bester Freund und Druckgenosse Dr. Joh. Oporin (Herbster 1507—1568), der berühmte Baseler Professor der griechischen Sprache und Dicht- kunst, Schriftsteller und Korrektor, Vesal’s hauptsächlichster Ver- leger bankrott gemacht, so dass „man zuletzt viel an ihm ver- loren hat“ }). Zwar erschienen in dem Kompagnie-Verlag zu Basel fast alle Schriften Vesal’s: 1537 seine Paraphrase zum Rhazes, 1539 seine Epistel über den bei der Pleuritis zu vollziehenden Aderlass der vena axillaris des rechten Ellenbogens; im Juni 1543 die erste, August 1555 die zweite Ausgabe seines Hauptwerks über den. menschlichen Körperbau; ebenfalls schon im Juni 1543 bei Oporin die selbständig das Hauptwerk einführende, dem Infanten Philipp (II) gewidmete Epitome; 1546 wieder im Juni die Epistel von der Chinawurzel. Als die erste der Vesal’schen Schriften nennt Burggraeve (p- 60 ef. 17) die Korrektur des griechischen Galen, welche Junta zu Venedig dem Jüngling aufgetragen hätte. Indess trotz Nachforschens in den verschiedensten und bedeutendsten Bibliotheken ist mir nie eme Vesal-Ausgabe des Galen zu Gesicht gekommen. Vielleicht beruht die Behauptung der Existenz einer solehen auf dem Umstand, dass Vesal kritische Bemerkungen zu Galen verfasst hat. Diese aber hat er 1546 im Unmut, ehe sie druckreif waren, zu Regens- burg verbrannt. In einem Briefe vom 22. April 1885 macht mich der Königliche Universitäts-Bibliothekar Dr. O. Gilbert in Göttingen gütigst aufmerksam, dass „die griechischen Ausgaben des Galen überhaupt nicht bei Junta erschienen sind. Die in Hoffmann’s Bibliographischem Lexikon Il, 130 aufgeführten lateinischen Jun- tinae datieren von 1541, 50, 56, 65, 76, 86, 97, 1600, 1609, 1625. Doch sollen vor diesen noch zwei andere Ausgaben vom Jahre 1522, als Vesal 8 Jahr alt war, und 1528, als Vesal 14 Jahr alt war, exi- stieren. J. Costaeus, der 1586 als Galen-Interpreten Mart. Rota, Guil. Copus, Joa. Vaseus, Jo. Andernaeus, Augustin. Ga- daldinus, Paulus Crassus, Bernardin Donatus u.a. anführt, BenneinichtadenyWVesalf... 2% Man hat bisweilen Vesal’s Paraphrase des 9. Buches des Rhazes ad Almansorem seine Doktor-Dissertation genannt. Indess nichts berechtigt uns dazu. Ob er überhaupt jemals zum Doktor promoviert ist, steht, wie wir oben sahen, dahin. Jedenfalls nennt Vesal selbst seine gedachte Schrift nur seinen ersten jugendlichen Versuch (primum hune juvenilem conatum), den er seinem hohen Gönner und Studienleiter, dem kaiserlichen Leibarzt Nieolaus Flo- renas zueignet. 1) Thomas Platter’s Selbstbiographie. Gütersloh, 1882, S. 119. Tollin, Andreas Vesal. 31 Es ist, wie wir schon oben sahen, nicht etwa eine Uebersetzung des arabischen Originals, sondern eine Umarbeitung der 1511 zu Lyon erschienenen alten elenden lateinischen Uebersetzung in ein lesbares elegantes Latein tl. Er gibt jene bekannte Schrift über die Heilung fast aller lokalen Krankheiten, welche Rhazes an den Statthalter Almansor gerichtet hatte, nur so weit wieder, als sie des Rhazes 9. Buch betraf?). Vesal hatte sich um so lieber (plurimum oblectatus eram) mit der Vergleichung der Griechen und der Araber beschäf- tigt, als schon sein Ahnherr über denselben Gegenstand geschrieben hatte. Dennoch gibt er (De Chynae radice p. 279 seq.) zu, dass grade diese Paraphrase des neunten Buches nicht so sorgfältig ausgefallen war, wie er es gewünscht hätte. Die Umschreibung der anderen Bücher hingegen (1—8 und 10) sei mit weit mehr Sorgfalt (multo diligentius) von ihm abgefasst worden. Und grade auch diese Bücher warf er zu Regensburg ins Feuer, als die Hofärzte ihn vor dem Kaiser und seinen Granden wegen seiner respektswidrigen auto- ritäten-feindlichen Schriften durchhechelten (pessimam feeissent cen- suram p. 279). Mehr als einmal hat Vesal später bereut (doluerim), nicht dem Rat der Freunde gefolgt zu sein. Sei doch dieses Schaden- feuer auch nur ein Ausfluss seines jugendlichen Uebermutes (petulan- tiae) gewesen. Ja er kam öfter mit Wehmut zurück auf diese Ueber- eilung (illam mihi periisse graviter fero p. 281). Dagegen freute es ihn nicht wenig (non mediocriter gaudeam), dass er zugleich jene schon zu einem starken Buche herangewachsenen (p. 279) Bemerkungen zur Anatomie Galen’s mitverbrannte (Annotationes in Galeni ana- tomica), die Jac. Sylvius, sein Lehrer, so gern in seine eignen Schriften eingereiht gesehen hätte, von denen Sylvius ihm aber riet, sie ja recht ausreifen zu lassen (diu et bene excoquerem p. 277). Denn, sagt Vesal, diese Bemerkungen zu Galen hätten nur Oel ins Feuer gegossen?), wenn schon das Wenige, was sich zufällig in meine Bücher dem Galen Widerstreitendes eingeschlichen hatte ®), so sehr vielen die Galle erregt hat (p. 280). Andreas Vesal’s zweite Schrift war die 1538?) zu Venedig erschienene neue Ausgabe der anatomischen Institutionen nach 1) Sordibus ereptus et elegantiori latini sermonis eultu eircumdatus. 2) Paraphrasis in nonum librum Rhazae mediei Arabis elariss. ad Regem Almansorem, de affeetuum singularium corporis partium curatione, Andrea Wesalio Bruxellensi autore. Basileae. o. D. Die Vorrede Bruxellis, Cal. Febru. Anno 1537 ist im März 1537 gedruckt bei Robert Winter, Oporin’s Schwager und Compagnon (S. Thomas Platter Selbstbiogr. S 114). 3) Mihi omnes infestos reddidissent. 4) Tam pauca, quae casu in meos libros Galeni placitis pugnantia irrep- serunt 5) Die Vorrede datiert Padua 3° Nonas Maji 1538. Nach Gessner Biblio- theca 1563 erschien Argentor. 1542 noch einmal dies Werk ree. et auct. per Andr. Vesalium. 382 Tollin, Andreas Vesal. Galen, welche sein Lehrer Günther von Andernach 1536 eben- falls zu Basel bei Balthasar Lasius und Thomas Platter, Oporin’s Geschäftsgenossen herausgegeben hatte. Vesal (De vena secanda p. 63) sagt, er habe Günther an vielen Stellen verbessert (quos |[libros] multis locis correctiores reddidimus). Und Günther selbst erklärt, in der dritten Ausgabe desselben Buches, welche er 1539 zu Metz veröffentlichte, der junge Vesal habe durch seine im Vorjahr erschienene venetianische Ausgabe sich ausgezeichnete Verdienste um die Anatomie erworben (egregiam operam prae- stitit). Des Günther von Andernach Institutionen bringen gleich in der Widmung an den königlichen Präsidenten Nicolas Quelain, bei aller Reverenz vor Galen, ein so begeistertes Loblied auf die Anatomie, dass es wirklich alle Kandidaten der Medizin für diese Kunst wieder begeistern musste. Anderseits ist die Schrift in der Ausgabe, an welche noch Vesal nicht gerührt hatte, fast auf jeder Seite, wie wir schon oben bemerkten, so durchwirkt von ana- tomischen Maßregeln und Ratschlägen, so durchtränkt mit Be- schreibungen der Art, wie man das Seziermesser halten, einsetzen, ziehen, wenden, herausbringen soll, dass, wenn auch wirklich Günther nach Art jener Zeit seine reichberingten und elegant behandschuten Hände nicht mit Leichenblut besudeln wollte, dennoch überall erhellt, wie sehr wohl der Andernacher Bescheid weiß. Die Schrift beruhte ebenso sehr auf Galenischen wie auf Günther’s eignen Stu- dien. Sollte daher, so schließt Günter 1536 die Widmung, jemand dies Werk darum erheben, weil alles von Galen stamme, und aus ihm wörtlich abgeschrieben sei, so wisse er, dass dies mein Werk ist (meum esse opus). Sollte aber wieder ein anderer es als mein Werk höchlich verachten, so wisse er, alles gehört dem Galen, und will er das meine verachten, so muss er den Galen mitverachten (S. 12). Die an D. Jo. Armenterianus, Professor in Löwen, ge- richtete Widmung Vesal’s, in der er seine Aenderungen als Ver- besserungen der Druckfehler bezeichnet, haben wir oben besprochen!). Bald nach seiner Ausgabe der Günther’schen Institutionen ließ Vesal auf Anraten des damals in ganz Italien wohlberufenen, na- turkundigen Philosophen Professor Mareus Antonius &enua?) eine Probe seines Hauptwerks, sechs anatomische Tafeln, zu Venedig ausgehen ?). Dem Kaiser und seinen Granden hatten diese 1) Auch hier wie bei Günther ist das septum eordis porös (1588) p. 50: Intus sunt sinus duo dexter et sinister, interstitio carnoso et crasso disereti, per cujus poros sanguis ex dextro ad sinistrum transfertur. Das in Vesal’s Ausgabe mit angebundene, mit p. 9a beginnende Büchlein Georgii Vallae: De corporis partibus unterscheidet p. I0la im Herzen noch einen sinus san- guinis und einen sinus spiritus: echt galenistisch! 2) De vena secanda p. 65. 3) Maxwell Stirling: Andr. Vesalii Tabulae anatomiecae und Choulant, Tollin, Andreas Vesal. 389 so wohl gefallen !), dass es leicht wurde, durch Vermittlung des kai- serlichen Hofarztes Nicolas Florenas einen Schutzbrief gegen den Nachdruck zu erlangen. Indess so wenig half dieser Brief, dass die auf kosten des Johann Stephan Calcar bei Vitalis Venetus gedruckten und in officina D. Bernardi feilgebotenen Ta- feln fast in allen Landen nachgedrucekt wurden. Die meisten Nachbildungen waren unwissenschaftlich gehaltene, jammervolle Ent- stellungen des Originals. Nur die drei in Paris erschienenen Tafeln bezeichnet Vesal als elegant. Die Strassburger Ausgabe verkleinerte die Figuren. Viel Schaden brachte der Wissenschaft die Augsburger Ausgabe, auch durch die Vorrede, in welcher ein Zungendrescher (rabula) sich gegen Avicenna und die anderen Araber ganz unnütz?) ereiferte (blaterans), um — nach dem damals bräuchlichen Schema: hie Gräcist, hie Arabist — den Vesal unter die gestiefelten Ga- lenisten einzugliedern. Noch schlimmer sei der Kölner Nachdruck (1539). Am elendesten aber sei das Marburger Gemächt 3). Um schmutzigen Gewinnstes willen (sordidi lucelli gratia) hatte Digan- der sie unter eignem Namen (ipsius nomine) herausgegeben *). Diese Fälscher (plagiarii), schreibt Vesal 1542 an den Kaiser, pochen darauf, dass ich fern von Deutschland ab bin (procul a Germania ab- sentem), um meine Arbeit als die ihre zu veröffentlichen (tanquam sua emiserunt. De humani corpor. fabrica, praef.). Umsomehr fühlte er sich gedrungen, die beiden Nerven- tafeln (duas nervorum tabulas ’), obwohl er sie schon vollendet hatte (jam quoque absolvimus), die erste über die sieben Nervenpaare des Gehirns, die andere über sämtliche Verzweigungen des Rücken- marks, zurückzuhalten, bis zur Vollendung sämtlicher Muskel- tafeln und derer über alle inneren Teile: eine Vollendung, welche ebenso sehr abhänge von dem glücklichen Zufall (opportunitas), dass Leichen zur Sektion geliefert werden, als von der Hilfe des so be- rühmten zeitgenössischen Malers Joh. Stephanus Calcar (De vena secanda p. 65 und 66). Geschichte der anatomischen Abbildungen 1852, sind mir leider nicht zu Ge- sicht gekommen. 1) De vena secanda p. 3 2) Vesal lobt den Avicenna fast in allen Werken: er konnte und wollte nicht Partei nehmen in dem hellentbrannten Kriege der Griechen wieder die Araber. 3) De humani corporis fabrica. Praefatio. 4) De Chynae radice. 254 sg. 5) Haeser II. 36 spricht nur von einer. 394 Möwes, Honigsaugende Papageien. Honigsaugende Papageien. Außer den Kolibris, den Meliphagiden, Nectariniden und Daenididen, ist eine Gruppe von Papageien, nämlich die Trichoglossiden oder Loris, als Honig- sauger bekannt. Ueber das merkwürdige Verhalten einer Spezies dieser Famile, des neuseeländischen Nestor meridionalis Finsch liefert Colenso folgende anziehende Schilderung, die wir einem Berichte in „Nature“ entnehmen. Nahe dem Dorfe (Waitanga in den Ruahine -Bergen) und sogar innerhalb desselben standen mehrere große Kewhai-Bäume (Kdwardsia grandiflora), welche mit ihren goldgelben Blüten bedeckt waren und meist der Blätter entbehrten. Die Sonne schien glänzend und die Papageien (Nestor meridionalis) schwärmten schreiend aus den umliegenden Wäldern hervor zu den Kdwardsia-Blüten; es war sonderbar anzusehen, wie geschickt sie nach Papageienart an das Ende der langen biegsamen Zweige kletterten und dort, sich abwärts schwingend, mit ihren dicken Zungen den Honig ausleckten, ohne die junge Frucht zu be- schädigen. Denn da ich nur wenige Blumenblätter (und zwar nur die Vexillen) herabfallen sah, so ließ ich einen Jungen auf die Bäume klettern und mir mehrere bezeichnete blühende Zweige bringen, welche von den Papageien be- sucht worden waren. Ich fand bei allen vollständig aufgeblüten Blumen den obern Teil des Kelches aufgerissen und das oberste Blumenblatt (vexillum) entfernt; dies hatten die Papageien gethan, um zum Honig zu gelangen. Da die Blüten in großen dieken Trauben stehen, so werden notwendigerweise einige herumgedreht und mit der Oberseite nach unten gewendet; auch hier war immer das obere Blumenblatt und der bezeichnete Teil des Kelches (frei- lich in solchen Fällen auch oft der unterste Teil) abgerissen. Hierdurch wurde der eingeschlossenen jungen Frucht kein Schaden zugefügt, was aller Wahr- scheinlichkeit nach der Fall gewesen sein würde, wenn eins der anderen Blumen- blätter abgebissen worden wäre. Man kann nicht sagen, dass das Vexillum wie bei so vielen Papilionaceen das größte Blumenblatt sei und deshalb von den Papageien erfasst und ausgerissen werde. Denn das ist bei diesem Genus nicht der Fall; die lange Frucht wird von den zwei untersten, kielförmigen, oft 2 Zoll langen Blumenblättern umschlossen und ist außerdem von den Alae, den beiden seitlichen Blumenblättern umschlossen, welche vier, da sie sich eng an einander anlegen, einen viel größern und festern Halt für den Schnabel des Vogels bilden. Da diese Papageien ferner große Vögel sind und mächtige Schnäbel haben, und da die Blüten sich immer an den Enden der dünnen Zweige befinden, die sich unter dem Gewicht ihres Körpers hin- und herbiegen, so wird man zu- geben müssen, dass es für die Vögel keine leichte Sache ist, überhaupt nur zum Beißen zu kommen und die geeigneten Oeffnungen herzustellen, durch welche sie ihre dicken Zungen hineinstecken und den süßen Inhalt auslecken können, ohne die jungen unreifen Früchte zu beschädigen, besonders, wenn wir weiter bedenken, dass dieser Papagei das zu Verzehrende gewöhnlich mit den Klauen erfasst. Bei keiner der von mir untersuchten Blüten hatte die junge Frucht gelitten, auch bemerkte ich keine Blumentrauben, wo die Blüten ganz abgerissen worden wären. Der blinkende Schnee, der helle Sonnenschein, die goldenen Blüten der Bäume und die zahlreichen Papageien, die so nahe dem Dorfe eifrig und furchtlos und mit vielem Geschrei ihrem Geschäfte ob- lagen, — es war alles zusammen ein sonderbarer und interessanter Anblick. F. Möwes (Berlin). Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Uentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. V. Band. 1. September 1885. Nr. 18. Inhalt: V. «raber, Vergleichende Grundversuche über die Wirkung und die Auf- nahmestellen chemischer Reize bei den Tieren. I und II. — Dubaux, Die Milch und ihre chemische Zusammensetzung. — Tollin, Andreas Vesal (4. Fort- setzung). — Edinger, Zehn Vorlesungen über den Bau der nervösen Zentral- organe. — Behrens, Die biologische Station in Granton, Edinburgh. Vergleichende Grundversuche über die Wirkung und die Aufnahmestellen chemischer Reize bei den Tieren. Von Prof. Veit Graber in Üzernowitz. I. Einleitung. Unbestritten ist ein Hauptmerkmal der Wesenheit und des Le- bens tierischer Körper dies, dass sie durch bestimmte Außenvorgänge erregt und bei einer gewissen Stärke der durch die gegebenen Reize erweckten Lust- oder Unlustzustände zur Ausführung von Annäherungs- bezw. von Abwehr- oder Fluchtbewegungen veranlasst werden. Wenn dem aber so ist, dann ist auch klar, dass es eine der ersten Auf- gaben der Zoologie sein muss, bei Mitgliedern der verschiedenen Tiergruppen zu erforschen und festzustellen, einmal auf welche Reize sich ihre Perzeptions- und Reaktionsfähigkeit überhaupt erstreckt, und dann auf wie vielerlei Arten und an welchen Stellen ein bestimmter Reiz den Tierkörper zu influenzieren vermag. Wie ich schon wiederholt — am eindringlichsten in einem Aufsatz in der Zeitschrift Humboldt!) — hervorhob, hat man aber grade in der letzten Zeit über der vorwiegenden Verfolgung ver- gleichend morphologischer Fragen das erwähnte Ziel fast ganz aus dem Auge verloren. Dies war denn auch der Beweggrund, der mich veranlasste, soweit es meine Mittel und die anderen Bestrebungen gestatteten, den Schwerpunkt meiner Studien vorläufig nach jener Richtung zu verlegen, und man wolle es mir nicht als Unbescheiden- 1) 1882? Märzheft S. 99—1!02 „Ueber das Gehör der Insekten“. 25 386 V. Graber, Wirkung und Aufnahmestellen chemischer Reize bei Tieren. heit auslegen, wenn ich, um die Tendenz und den Zusammenhang dieser experimentellen Studien zu erläutern, ehe ich mich dem in der Ueberschrift bezeichneten Gegenstande zuwende, auch noch ganz kurz auf meine früheren Arbeiten zurückkomme. Im Anschluss an vergleichend-anatomische Fragen hatte ich zu- nächst mit der genauern Prüfung des Gehörs der Insekten begonnen. Diese Experimente !) ergaben vor allem die bedeutungsvolle That- sache, dass gewisse Formen, wie z. B. Periplaneta, auch noch nach Entfernung des Kopfteiles auf Schallreize reagieren, dass also bei diesen Tieren die Perzeptionsfähigkeit für akustische Schwingungen nicht an bestimmt abgegrenzte Oberflächen-Teile oder - Organe ge- bunden, sondern mehr oder weniger der ganzen sensitiven Körper- peripherie eigentümlich ist. Dies Ergebnis machte es mir wahrscheinlich, dass sich die Haut- empfindlichkeit gewisser durch ein relativ zartes und überhaupt für Reize leicht permeables Integument ausgezeichneter Tiere auch noch auf andere als akustische Reize ausdehne. Um diese offenbar auch phylogenetisch hochwichtige Frage weiter zu verfolgen, unternahm ich zunächst meine nun über fast alle Klassen ausgedehnten vergleichenden Versuche über den Helligkeits- und Far- bensinn der Tiere überhaupt und der geblendeten und augenlosen insbesondere. In diesen inzwischen wohl allgemein bekannt gewor- denen Arbeiten ?) wird unter anderem zum erstenmal auf grund einer breiten Thatsachenbasis ein wenigstens annähernd mathematisch ge- nauer Ausdruck für die Stärke der durch verschieden helle und ver- schiedenfarbige Lichter erzeugten motorischen Reaktionen aufgestellt, und werden nebstdem gewisse fast mythologische Vorurteile über die Wechselbeziehung zwischen dem Farbengeschmack und der Eigen- färbung der Tiere, wie ich hoffe, für immer aus der Wissenschaft verbannt. Eine ganz besondere Wichtigkeit dürfte aber rücksichtlich der oben angedeuteten Frage den von mir festgestellten Thatsachen an geblendeten Tieren beizulegen sein. Unter den Wirbeltieren konsta- tierte ich beim Triton, dass er auch noch nach Ausschaltung der spezifischen Liehtempfindungswerkzeuge auf Helligkeits- und Farben- unterschiede reagiert, und unter den Wirbellosen wurde die gleiche überraschende Erscheinung bei Periplaneta, also bei jenem Tiere nachgewiesen, das im dekapitierten Zustand noch mäßig starke Schalle 4) Die chordotonalen Sinnesorgane und das Gehör der Insekten Archiv f. mikroskop. Anatomie XX. u. XXI. Bd. 2) Fundamentalversuche über die Helligkeits- und Farbenempfindlichkeit augenloser und geblendeter Tiere. Sitzungsber. d. kais. Ak. in Wien, 1833; Grundlinien zur Erforschung des Helligkeits- und Farbensinns der Tiere. Prag, Tempsky 1884; Ueber die Helligkeits- und Farbenempfindlichkeit einiger Meer- tiere. Sitzungsber. d. kais. Ak. in Wien, 1885. V. Graber, Wirkung und Aufnahmestellen chemischer Reize hei Tieren. 5387 perzipiert. Das Auge dieser Tiere ist somit inbezug auf das Objekt des Empfindens nicht alleiniges oderexklusivesLichtwahr- nehmungs- oder doch Aufnahmeorgan, sondern es ist dies nur ein gedachter Leistung in besonders hohem Grade angepasster Teil einer allgemeinern Lichtperzeptionsfläche, welche sich mehr oder weniger über die ganze Haut erstreckt. II. Wirkung von Riechreizen im allgemeinen und auf bestimmte Organe. Es kann wohl nicht wundernehmen, dass mich die vorerwähnten Erfolge bestimmten meine Studien auch auf andere Reizgattungen auszudehnen, und zwar stellte ieh mir zunächst die Aufgabe, die reaktive Wirkung und die Aufnahmestellen von Riechreizen bei mög- lichst vielen Tieren zu erforschen. Mit dieser Arbeit beschäftige ich mich nun schon über zwei Jahre, und das Thatsachen -Material, das sich während dieser Zeit anhäufte, ist bereits ein äußerst umfang- reiches. In folgendem will ich es versuchen, einige der wichtigsten Ergebnisse, soweit dieselben eine wesentliche Bereicherung unserer bisherigen Erfahrung enthalten, in Kürze mitzuteilen. Voran stelle ich zunächst eine Thatsache, die für die richtige Erkenntnis der Perzeption von Luft-Riechstoffen unter Wasser von Wichtigkeit ist. Bei Lymnaea, Paludina, Planorbis und anderen Wasserschnecken gelang es mir zu konstatieren, dass sie auf diverse ihnen über dem Wasserspiegel (an einem dünnen Glasstäbchen !) möglichst nahe gebrachte Riechmaterien wie z. B. Oleum Rosae, Thymi, Birnäther, Assa foet. ete. durch Zurückziehung ihres Weichkör- pers im Mittel schon nach !/, bis 5 Sekunden reagieren und zum teil auch dann, wenn zwischen dem Riechbaren und dem Per- zeptionsorgan eine Wasserschicht von 1—2 mm sich be- findet. Desgleichen werden die Fühler von Landschnecken (z. B. Helix-Arten) bei Annäherung von Rosenöl im frisch benetzten Zu- stand fast ebenso schnell (meist binnen !/,—!/, Sekunde) und ebenso stark wie im normalen oder trocknen Zustande eingezogen. Hierher gehören auch die zahlreichen Versuche mit den Blutegeln (Aulastoma), die durch gewisse stärkere Riechstoffe, wie z. B. Thymian-, Ros- marin- und Cajeputöl, unmittelbar nach dem Heraustreten aus dem 1) Die auch für die späteren Versuche angewendeten Riechstoff-Träger sind 4 mm diek und am Ende (auf einer Strecke von 4 cm) ein wenig zugespitzt. Sie werden nur mit der Spitze in die Riechflüssigkeit getaucht und vor der Applizierung abgestreift. Um bei einer und derselben Riechflüssigkeit die zur Einwirkung gelangende Quantität konstant zu erhalten, nahm ich gelegentlich auch Kapillarröhrehen zu Hilfe. Letztere dürfen aber i. a. nur für einen Riechstoff verwendet werden, da ihre gründliche Reinigung vor dem Gebrauch mit einem andern i. a. zu umständlich wäre. 25 * 388 V. Graber, Wirkung und Aufnahmestellen chemischer Reize bei Tieren. Wasser und zuweilen schon unterhalb desselben so regelmäßig und rasch abgestoßen werden, dass das Vorhalten einer der erwähnten Flüssigkeiten ein fast unfehlbares Mittel ist, sie wieder in ihr Medium zurückzuscheuchen. Als eine zweite das Verhalten gegen Riechstoffe im allgemeinen betreffende wichtige Erscheinung betrachte ich die, dass bei den ge- prüften Wirbeltieren die applizierten Riechreize im Durchschnitt viel später unzweideutige Fluchtbewegungen hervorrufen, als bei den wir- bellosen. In nachstehender Tabelle bezeichnen 1, 2 ete. die (mitt- lere!) Zeit, ausgedrückt in Sekunden, binnen welcher ein bestimmter Riechstoff unter sonst gleichen Verhältnissen (der Menge, Entfernung von der Reizstelle ete.) eine unzweifelhafte Reaktion (Bewegung des ganzen Tieres oder Bewegung des gereizten Teiles) hervorruft. Regenwurm !), Aulastoma?), Helix’?), Peripla- Triton‘), Bombina- Lacerta }). (jung) neta tor?) 1. Rosenöl: 2 6 0.5 a +60%) +60 2. Rosmarinöl: 1 ! 1.2 0.8 15 107) 50 3. Birnäther: 1 1 0.7 0.6 4 5 —+ 60 4. Senföl: 1 0.3 0.3 0.5 1 1 5 Als bezeichnend für die relativ auffallend geringe Empfindlich- keit gewisser Wirbeltiere gegen Riechstoffe mag noch angeführt wer- den, dass Eidechsen selbst auf so äußerst penetrante Gerüche wie Aethyläther, Nitrobenzol, Butylmercaptan und Chlorpikrin (letztere allerdings stark verdünnt) meist erst nach Verlauf von 50 und mehr Sekunden oder auch zuweilen gar nicht reagieren, während von den Vögeln unter anderen die Schwalbe wenigstens unter Einwirkung des letztgenannten Stoffes fast momentan unruhig wird. Sehr bedeutungsvoll erscheinen mir dann ferner die mit Hilfe einer auffallenderweise bisher noch gar nie angewandten einfachen Methode angestellten Versuche, bei denen gleichzeitig mit sehr vielen Objekten operiert und insbesondere auch die Wirkung zweier oder auch mehrererRiechstoffe untereinander verglichen wurde. 1) Riechstoff am Vorderende. Reaktion: Starke Einziehung des Vorderteils. 2) Aehnlich wie beim Regenwurm. 3) Einstülpung der Fühler. 4) Annäherung des Riechstoffes an den Kopf bezw an die Nase. 5) Fühlerbewegung. 6) Niedertauchen in das Wasser. 7) Keine Reaktion binnen 60 Sekunden. 8) Ganze Versuchsreihe: 35!, 4, 13, 7, 2, 3, 6, 60! 50! V. Graber, Wirkung und Aufnahmestellen chemischer Reize bei Tieren. 389 Die betreffende Methode ist im wesentlichen dieselbe, mit der ich seinerzeit fast alle meine Lichtwirkungsexperimente durchführte, und beruht darauf, dass man zwei oder mehrere miteinander kommuni- zierende Räume mit verschiedenen Riechstoffen füllt und dann nach Verlauf einer gewissen Zeit die Zahl der Individuen einer Tierart be- stimmt, die von ihrer Anfangsposition (in der Mitte der diversen Riechräume) aus nach den einzelnen verschieden riechenden Kammern übergewandert sind. Für die meisten dieser Experimente, die sich fast ausschließlich auf Insekten bezogen, wendete ich aus den bei meinen Lichtversuchen angegebenen Gründen das Zwei-Kammer-Prinzip an und bediente mich dabei nach längeren Vorversuchen folgender Einrichtung. Es ist ein Kästchen aus blankem Zinkbleech, 60 em lang und 4 cm breit und hoch. Oben wird es mit zwei 40 cm langen Streifen aus diekem Glas geschlossen, die in Nuten laufen und in der Mitte aneinander gestoßen werden. Dieser Verschluss gewährt unter anderem den Vor- teil, dass man die Tiere bequem zwischen den auseinander gezo- genen Glasschiebern in die Mitte des Gefäßes geben und zugleich auch, indem man beide Streifen in der gleichen Richtung verschiebt, die Endräume des Gefäßes behufs verschiedener Manipulationen be- quem zugänglich machen kann. Aus mehrfachen Gründen wurden aber die Riechstoffe nicht an den äußersten Enden des im ganzen einem gedeckten Gange ähnlichen Aufenthaltsraumes der Tiere un- tergebracht, sondern in je einem ganz mobilen auf einer Seite offenen kleinen Glas- oder Blechgefäß, das mit der offenen Seite voran in einen kleinen Zubau des Gefäßes hineinpasst, welches letztere an der dem Geruchsstoff- Träger zugewendeten Wand mit zahlreichen feinen Oeffnungen versehen ist, durch welche der Riechstoff und eventuell reine Luft zuströmen kann. Diese Vorrichtung ermöglicht auch eine leichte Vertauschung der beiden Riechquellen, der aber selbstverständlich jedesmal eine Geruchlosmachung des ganzen Gefäßes vorausgehen muss. Letztere bewerkstelligt man entweder (bei schwächeren Gerüchen) durch mehr- maliges Ausscheuern mit einem Tuch (wobei die Versuchstiere, wenn man sie alle in eins der beiden Enden bringt, im Gefäß bleiben können), oder aber noch gründlicher durch Erhitzung des geöffneten Gefäßes über einer Flamme. Ich verwendete immer, um Zeit zu er- sparen, mehrere solcher Kästchen. Um eine Art Skala für die reaktive Wirkung der verschiedenen Riechstoffe zu erhalten, teilte ich ferner jede Hälfte des Gefäßes in drei Unterabteilungen, die ich von der Mitte aus nach rechts und links mit 1, 2, 3 bezeichne. Aus der immensen Zahl der betreffenden Versuche teile ich nur einige wenige mit. Zunächst ein Paar bezüglich der Waldameise (Formica rufa). 390 V. Graber, Wirkung und Aufnahmestellen chemischer Reize bei Tieren. 1. Versuch. Ich gab in das eine Ende des Gefäßes 5 Blüten von Philadelphus coronarius, das andere Ende blieb ohne Riechstoff und erhielt durch die erwähnte Gitterwand reine Luft von außen. Ph. coronarius ohne Da! MENON GB Nach 5 Min. 230° 0.722 ee ONE 9) 45 > Von den 50 in die Mitte des Versuchsganges gebrachten Tieren hatten sich also 45 gegen die Riechquelle, und 5 von dieser weg- gewendet. 2. Versuch. Ol. Rosae ohne (1 Tröpfehen) Nach je /, Min. 0 0 Ola OR 0110 04 9.15 On 1 0 8 14 MARCO 3 LITE 0.107:,50 2.2 2 24 Der (im gegebenen Fall außerordentlich schwache) Duft des Ro- senöls wirkt somit ungemein energisch abstoßend, und es sei noch er- wähnt, dass in 50 Beobachtungsfällen die Zahl aller Besucher der Rosenduft-Kammer nie größer als 5 war. 3. Versuch. Wanzengeruch ?) ohne SE a ) x mn nn Nach7je>107Mm.,..07 73723 0% 85 DA UE) 0,7.,31,24 OR | 6 10210 ur Ze | 6 7 9 11 82 Von 93 Individuen waren demnach 82 in der geruchlosen (oder richtiger weniger riechenden) und nur 11 in der andern Kammer; der Wanzengeruch ist also unseren Ameisen gleichfalls sehr unan- genehm, aber merkwürdigerweise nicht so sehr wie der Rosengeruch. I) In der Mitte des Kästchens, wo der Riechstoff zuerst die entscheidende Wirkung ausübt, nimmt man nur einen äußerst schwachen Rosenduft wahr. 2) Drei zerstoßene Baumwanzen (Tropicoris). V. Graber, Wirkung und Aufnahmestellen chemischer Reize bei Tieren. 391 Ich mache noch ausdrücklich darauf aufmerksam, dass eine an- ziehende Wirkung gewisser Riechstoffe im Vergleich zu anderen überhaupt nur mittels der in Rede stehenden Methode nachweisbar ist. Sehr instruktiv ist in dieser Beziehung nachfolgendes Experiment mit Limburger Käse, da es uns zeigt, wie derselbe Geruch auf ein Tier anziehend und auf ein zweites abstoßend wirken kann. Limb. Käse ohne SED Jr Dr —_ m 1 U Periplaneta 75 4 14 3 16 142 (Summen aus 10 Beob.) 93 161 Pyrhocoris (Wanze) 101 14721 22 2 30 35 * 136 71 Analog ist der Gegensatz für die gleichen zwei Tiere unter an- derem auch bei Ammoniak, das auffallenderweise überhaupt, wie auch jüngst wieder Dahl!) bei den Spinnen zeigte, auf viele niedere (aber auch manche höhere!) Tiere nur eine geringe Wirkung her- vorbringt. Ammoniak (A) ohne (0) cone. Periplaneta 22 68 (Summe aus 5 Beobachtungen) Pyrhocoris 203 32 .. . IR: ° .. . Das Frequenzverhältnis 9; var somit fürs erste Tier 0.3, für das zweite 6.0. Einen merkwürdigen Fall von anziehender Wirkung seitens eines nichts weniger als angenehmen Riechstoffes entdeckte ich gleichfalls mittels der in Rede stehenden Methode beim Julikäfer (Anomala). Derselbe ist nämlich, wie nachstehendes Verhältnis lehrt, ein Freund sowohl der stark verdünnten als der konz. Buttersäure. Buttersäure ohne konz. 10 Tropfen. Di Im2 u Anomala 197074 vo a9) 1580,73 DEOA 37014 419 41 14 Diese Attraktionserscheinungen in geschlossenen Räumen sind speziell für die Insekten auch insoweit wichtig, als sie beweisen, dass 4) Versuch und Darstellung der psychischen Vorgänge in den Spinnen. Vierteljahrschrift f. wissensch. Philosophie, 1884, 84 ff. 392 V. Graber, Wirkung und Aufnahmestellen chemischer Reize bei Tieren. die betreffenden Reaktionen keineswegs immer mit dem Atemgefühl bezw. mit dem Respirationsapparat zusammenhängen. Ich komme nun zu den ausgedehnten und mannigfaltigen Ver- suchen, welche die bedeutsame Frage betreffen, inwieweit erstens die Wahrnehmung von Riechstoffen lediglich nur an die spezifischen Ge- ruchsorgane gebunden sei, und ob und inwiefern es bei den Wirbel- losen Aula: lokalisierte Aufnahmsorgane überhaupt gibt. Die betreffenden Ergebnisse waren mit hücksicht auf das, was man bisher über diese Frage wusste — und dies ist wenig genug! — mehrerenteils höchst überraschende, und es ist nicht zu viel behauptet, wenn ich sage, dass neben den von mir eruierten Thatsachenreihen die landläufigen Anschauungen, Vorurteile und Meinungen, mögen sie auch noch so tief eingewurzelt sein, nicht länger mehr bestehen können. An dieser Stelle kann ich indess nur einige wenige Hauptergebnisse mitteilen und muss betreffs der übrigen auf die in Vorbereitung be- griffene ausführliche Arbeit verweisen. Ich beginne mit dem Verhalten der Insekten, das, wie sich zeigen wird, in mehrfacher Beziehung ein besonders interessantes ist. Wäh- rend Ende der vierziger Jahre unter anderen noch von Ed. Perris!) in einer der besten Schriften, die wir über den Sitz des Geruchs- vermögens der Insekten besitzen, aufgrund gewisser freilich wenig exakter Experimente zugegeben wird, dass (S. 160) bei diesen Tieren außer den Fühlern bis zu einem gewissen Grade auch die in vieler Beziehung ähnlich gebauten Anhänge der Mittel- und Hinterkiefer, also die sogenannten Taster oder Palpen?), als Geruchsorgane dienen, eine ganz strenge Lokalisierung des Aufnahmeapparates also nicht angenommen wurde, werden in der neuern Zeit fast ganz allgemein uur die Fühler allein als spezifische Riechwerkzeuge betrachtet, und dies selbst von solehen Forschern, die, wie Hauser?) zugeben, dass die betreffenden Experimente, welche das angebliche Nichtperzipieren- können von Gerüchen ohne Fühler darthun sollten, „nicht alle beweis- kräftig“ sind. Wie misslich es aber ist, wie dies wieder Hauser gethan, aus der Natur der antennalen Nervenenden und Integument- einsenkungen einen Schluss auf die Funktion zu ziehen, erhellt schon daraus, dass, wie die Nachuntersuchungen von Kräpelin), 1) Siege de l’odorat dans les Articules, Ann. d. science. nat. 3. ser. Zool. Tom. 14, 1850, p. 149-178. 2) Die Nervenenden der Palpen sind vielfach ganz anderer Art als die der Fühler. In einer nächstens erscheinenden Arbeit werde ich zeigen, dass u. a. die Palpen-Nervenenden von Gryllotalpa schmale vielkernige Schläuche sind, aus denen eine in die Cut.-Anhänge eintretende feine Chorda hervorgeht. 3) Physiol. u. anat. Untersuchungen über das Geruchsorgan der Insek- ten. Zeitschr. f. wissensch. Zool., 1880. 4) Ueber die Geruchsorgane der Gliedertiere. Hamburg 1883. V. Graber, Wirkung und Aufnahmestellen chemischer Reize bei Tieren. 393 Bütscehli!), Sazepin?) und Aug. Forel?) zeigen, die betreffende anatomische Darstellung eine in mehreren Punkten ganz unrichtige war. Die Folge wird auch lehren, dass die lediglich auf Dön- hoff’s *#) Experimente an der Biene basierten Angriffe von Schie- menz5) gegen meine wiederholte Zurückweisung der herrschenden Anschaungen über die Geruchs-Aufnahmestellen der Insekten im all- gemeinen durchaus ungerechtfertigt sind. Auf meine Experimente übergehend erwähne ich zunächst einen zuerst von Lubbock ®) angestellten und von mir wiederholten Ver- such, um zu zeigen, wie leicht und arg man sich bei der Auslegung gewisser Reaktionen täuschen kann. L. hing, um den Geruchsinn der Ameisen zu prüfen über der Mitte eines längern (durch Aufstellung in Wasser z. B.) isolierten Kartonstreifens einen mit diversen Riech- stoffen imprägnierten Pinsel auf, unter dem hindurch die Ameisen ihren Weg zu nehmen hatten. Das Resultat war mit Lubbock’s eignen Worten folgendes: „Während manche Ameisen (unter dem Riechkörper) vorbeigingen, ohne sich darum (d. i. um den von oben kommenden Geruch) zu kümmern, blieben andere stille stehen, wenn sie in die Nähe des Pinsels kamen, und kehrten, offenbar, weil sie den Geruch wahr- nahmen, um. Bald jedoch kamen sie wieder und liefen am Pinsel vorbei. Nachdem sie dies zwei- oder dreimal gethan hatten, nahmen sie in der Regel weiter keine Notiz von dem Geruch“. Da L. noch hinzufügt, dass keiner, der das Benehmen der Ameisen unter diesen Umständen beobachten würde, den geringsten Zweifel an ihrem Geruchsvermögen haben könnte, wählte ich auch diese Methode, um zu erforschen, wie sich etwa der Fühler beraubte Ameisen verhalten würden. Ich war nicht wenig überrascht zu finden, dass auch diese (es handelt sich um Formica rufa) vor dem Riechobjekt umkehrten. Um ganz sicher zu gehen, versuchte ich’s aber noch mit dem gleichen Arrangement aber mit Weglassung des Riechstoffes, und siehe da! sie kehrten auch jetzt noch um! Bei genauerer Beobachtung der von einer Ameise vom Anfang an auf dem Papiersteg zurück- gelegten Strecke stellte sich auch bald heraus, dass es sich bei dem gewissen Umkehren lediglich um ein versuchsweises Abschreiten oder 1) Ueber die nervösen Endorgane an den Fühlern der Chilognathen ete. Dieses Blatt, IV. Bd., Nr. 4. 2) Ueber den histol. Bau und die Verteilung der nervösen Endorgane auf den Fühlern der Myriopoden. Leipzig, Voss. 1884. 3) Etudes Mirmecologiques en 1884. Bull. soc. Vaud. se. nat, XX, 91. 4) Eichstädter Bienenzeitung, Jahrg. 1854, S. 231 und 1855, S 44. 5) Ueber das Herkommen des Futtersaftes und die Speicheldrüsen der Bienen. Zeitsch. f. wiss. Zool., 38. Bd., 1883. 6) Ameisen, Bienen und Wespen. Internat.-wiss. Bibl., 57. Bd., 1883, S. 197 ft. 304 V. Graber, Wirkung und Aufnahmestellen chemischer Reize bei Tieren. Ausprobieren des unbekannten Weges handelt, oder dass sich die Ameisen ähnlich benehmen wie wir selbst, wenn wir etwa auf einem schwanken Brette eine tiefe Gebirgskluft überschreiten sollen. Die auf jeden Fall hochinteressante Erscheinung lässt sich nach meinen zahlreichen Versuchen hierüber folgendermaßen veranschaulichen. Nachstehende Reihe fettgedruckter Zahlen bedeuten den von den Ameisen überschrittenen Steg, von rechts, wo das Versuchsindividuum aufgesetzt wurde, nach links in Zentimeter eingeteilt. Die kleiner gedruckten Zahlen 1, 2, 3 ete. darunter (es sind dieses Journalformates wegen mehrere Zentimeter in eine Teil-Strecke vereinigt) deuten an, wo das Tier zum 1. zum 2. zum 3. mal u. s. w. umkehrte. je 4 cm ohne | Riechstoff je 2 cm 9 36 32 28 24 20 18 16 14 2 1086 4 20. Nr1—- — — — — — 16457 3 1 Nr.2— — — — 16 6..1.9, 19,15, 12.14. 11, 3,80 20 74 7,10 Nr.3— — . 92 :0.2.0,.0.8, 0, Ace Individuum Nr. 1 kehrte, wie man sieht, im ganzen 8 mal um und zwar immer auf der rechten Hälfte des Steges, wo sie (bei 0) aufgesetzt wurde. Das zweite (Nr. 2) 16 mal und zwar 15 mal auf der rechten Seite. Nr. 3 endlich 9 mal und zwar auch immer auf der rechten Seite. Man erkennt ferner, und meine übrigen Beobachtungen machen dies noch evidenter, dass das Verhalten große individuelle Unterschiede aufweist. Versuch 3 endlich ist besonders interessant, weil hier das successive Fortschreiten des Umkehrungs- Punktes vom Anfang gegen die Mitte sehr regelmäßig ist. — Weit lehrreicher für unsere Frage waren dagegen zunächst bei derselben Ameise die Versuche mit und ohne Fühler im Riechkästchen. Rosenöl (R) ohne (OÖ) Formica rufa 5 Tropfen BE 1 Re a —— —. 1..mit Fühlern 1413 15 19 54 442 (Summe aus 30 Beob.!) 42 515 - 1192, 2rohme, Kühler! 17. 297349777132 732 7133 Ö 165 299 ze ie): Da die fühlerlosen Ameisen «ie geruchlose Abteilung ganz kon- stant im Mittel nahezu zweimal stärker frequentierten als die nach Rosen duftende, ist wohl in der That jeder Zweifel ausge- schlossen, dass diese Tiere außer mit den Fühlern auch noch durch andere Teile Kunde von gewissen riechenden Substanzen erlangen, wenngleich Hauser ausdrücklich auch V. Graber, Wirkung und Aufnahmestellen chemischer Reize bei Tieren. 395 das Genus Formica unten den nur mit den Antennen riechenden In- sekten aufführt. Ganz analog war das im Riechkästehen erhaltene Resultat bei einer jener Fliegen (Lueilia Caesar L.), die durch den Geruch von faulem Fleisch angezogen werden. Faules Fleisch (R) ohne (0) Lucilia. a2 iE 7200 3 3 Tr mit Kühlern 47272 1) 058 a N), DIEBZ DEAN | Ve 0 a DIERDERKK) Be, OFF 70! 49 50 17 39 36! (Summe von 30 Beob.) R 169 92 ö — a 2. ohne Fühler 2 5 3 210 1 39 3:.D 1b 0 Tal DER 2 22.0.1 92 2030 50! 24 27 27 1 11! (Summe von 15 Beob.) ; R 101 39 o>= 2:6. Erwägt man, dass beim zweiten Experiment mit den fühlerlosen Fliegen in 15 Fällen ohne Ausnahme die nach faulem Fleisch riechende Abteilung stärker als die andere frequentiert wurde, und dass im ganzen auf 101 Besucher der ersteren nur 39 der letzteren kamen, so ist, glaube ich, der unumstößliche Beweis erbracht, dass hier die die Reaktionsbewegung bestimmende Empfindung des genannten Riechreizes nicht durch die Fühler, oder wenigstens nicht durch diese allein vermittelt wird. Anderseits gibt es aber auch Insekten, bei denen die Fühler zumal bei der Perzeption und Unterscheidung von relativ min- der starken Gerüchen (der Nahrung oder des gewöhnlichen Aufenthalts- mediums) eine hervorragende Rolle spielen. Indem ich mir die Mit- teilung der einschlägigen Studien über den Geruchsperzeptionswert der Antennen bei gewissen blumenbesuchenden Insekten für später vorbehalte, sei hier nur ein Parallelversuch bei einem in Kuhdung lebenden Aphodius erwähnt. 396 V. Graber, Wirkung und Aufnahmestellen chemischer Reize bei Tieren. Aphodius mit Fühlern. DZ 1 en Kuhdung nach je 20 Minuten 540,185, Du... 20. 0.439. ua 1,6 %A 49 Be 4 2 41 0,3 15 9 13 14 29 Das Experiment lässt keinen Zweifel, dass der (relativ schwache) Geruch dieses natürlichen Riechstoffes auf unsere Dungkäfer im höchsten Grade anziehend wirkt, und sei noch beigefügt, dass sie sich u. a. gegen unsere Fäces sowie gegen die des Schweines und des- gleichen gegen Assa foet. ähnlich verhalten. Aphodius ohne Fühler. a2 1 2) Kuhdung on 1 oa, Das Re) Assa foet. 3110.12 6.0 7.310 6 510 Hier ist, wie man sieht, in der That keine auffallende Ansamm- lung um das Riechobjekt zu erkennen. Ich wende mich nun zu jenen wichtigen Experimenten, die das Ziel verfolgten, die relative Geruchsempfindliehkeit der einzelnen Körper- abschnitte oder Oberflächenbezirke eines Insektes zu ermitteln. Die hierbei angewendete Methode war höchst einfach. Ich be- diente mich als Geruchsträger wieder des schon oben erwähnten zugespitzten Glasstäbehens, und näherte dasselbe mehrmals und an verschiedenen Punkten dem zu prüfenden Reaktionsobjekt. Die Haupt- bedingung zu einer erfolgreichen Untersuchung ist nur die, dass man Tiere (ich meine hier sowohl solche Arten als solche Individuen) aus- wählt, die sich entweder für gewöhnlich im Zustande völliger Ruhe befinden, oder die nach einer gemachten Bewegung mindestens ein paar Minuten wieder regungslos bleiben. Die meisten Versuchs- objekte befanden sich (selbstverständlich in Einzelhaft) in einer ziem- lich flachen runden Glasdose von 10 em Durchmesser, in der sonst keinerlei andere das Tier zerstreuende Gegenstände, wie etwa Futter- körper u. dgl. sich befanden. Zunächst prüfte ich die zum teil von hochberühmten Forschern wie u. a. vog Cuvier!), Dumeril?) und Burmeister?) vertretene 1) Legon natomie compar&e, t. II, p. 675. 2) Considef@tions generales sur les Insectes, p. 25. 3) Handbuch der Entomologie, Bd. I, S. 196 u. 277. V. Graber, Wirkung und Aufnahmestellen chemischer Reize bei Tieren. 397 Anschauung, nach welcher die den Geruch vermittelnden Aufnahms- organe der Insekten, analog wie bei den Wirbeltieren mit dem Re- spirationssystem bezw. mit den als Stigmen bekannten Eingängen zu diesem verknüpft sein sollten. Zu dem Behufe näherte ich das Riechstäbehen abwechselnd dem vordern (vor der Spitze der grade nach vorn gestreckten Fühler gelegenen) und dem hintern Ende des Körpers. Tritt die Reaktion bei der Vorderstellung stärker bezw. rascher ein als bei der Hinterstellung, so können die Tracheeneingänge unmöglich die Hauptgeruchsorgane sein, denn am Kopf sind bekannt- lich gar keine Stigmen und letztere liegen überhaupt meist alle hin- ter der Mitte der früher bezeichneten Vorder - Hinterdistanz. Vorerst nun einige Ergebnisse bezüglich eines feinriechenden Aas- käfers nämlich der Silpha thoracica. Die Zahlen geben an, nach wie viel Sekunden eine Ortsbewegung bewirkt wurde. uva Les. Bl ee Es ist evident, dass dies Insekt gegen den applizierten Geruch vorn bezw. an den Fühlern empfindlicher als hinten ist. Dasselbe Objekt erwies sich, wie nachstehende Versuchsreihen darthun, noch in anderer Beziehung höchst lehrreich. mir Buhlernoy ln ee ohne , le Vorstehende Zahlen (Reaktionsgeschwindigkeiten in Sek.) zeigen, dass hier die Fühler (bei der Wahrnehmung von Rosmarinöl) die em- pfindlichsten Teile sind. a Du EZ > ohne, |, 601) 60 60 60 60 60 60 60 60 60 60 Letzteres Verhalten im Vergleich mit dem frühern führt zu einer äußerst interessanten Konsequenz. Es beweist nämlich, dass der eine Geruchsstoff (Assa foet.), der nichts weniger als ein sehr feiner ist, nur durch das Medium der Fühler perzipiert Be- wegungen auslöst, während der andere (Rosmarinöl), ähn- liches auch ohne Vermittlung dieser angeblich spezifi- schen Geruchsorgane bewirkt. Ergebnisse von fundamentaler Bedeutung erhielt ich dann bei der genauen Prüfung der relativen Geruchs - Perzeptions- Potenz zwischen den Fühlern und Palpen. Es seien zunächst einige der betreffenden Thatsachenreihen bei der Werre (Gryllotalpa) angeführt. Rosmarinöl Assa foet. Annäherung Zahl der Sekunden, nach denen Bewe- Gryllotalpa. an die: gung des betr. Körperanhanges eintritt: Fühlerspitze 5, Dee 3.20.4393.3012.. 5. 9, 24.04 Rosenöl { Palpen lo Sn a a Ba Ve are Lee Afterfühler 60"), 60, 60, 60, 60, 60, 60, 60, > 60. aM Keine, Reaktion binnen 60 Sekunden. r - > 398 V. Graber, Wirkung und Aufnahmestellen chemischer Reize bei Tieren. Darnach sind die Palpen entschieden weit empfindlicher als die Fühler, und es rechtfertigt sich somit zum teil (!) die zuerst von Lyonet, und u.a. von Bonnsdorf!) und Marcel de Serres?) ausgesprochene Ansicht, dass erstere die eigentlichen Geruchsorgane seien. Dass aber die reaktive Bewegung aer Palpen nicht etwa durch die (im allge- meinen ohnehin später eintretende Empfindung) der Fühler bedingt ist, beweist nachstehender Versuch mit der Fühler beraubten Individuen >). Gryllotalpa ohne Fühler. Bloße Bewegung der Palpen. Bewegung des ganzen Körpers. Omas oe 1 9.1.1.6, 7210,78 710.103 Methylalkohol 9, 3, 1, 6, 6, 12 3,. 60,.60,71,.160, 60,723, 31 Aethydatheri seo las loc Los a, sl, de Det Birnäther ll 2], 2205 11:8... 10,8, 8, 9,.07218,,8. 000% Dagegen sind sich unter anderem beim Hirschkäfer Fühler und Palpen bezüglich der Geruchsperzeption ziemlich gleichwertig. Sekunden, nach denen Reaktion eintritt bei Annähe- Lucanus. rung an die: Fühler. I): 1, » 1, le, Palpen. Ol. Rosae 1,1 [1,1 1 2! 1 1, Io, 1 Orotoms 23,2, 1.,10,12,,197, 40.71, 4,1 711,05 „ Anisi a 2, Yo 1 '1,1,13,1,11 KAurant: alas Le a I ze Van rn ” Thymi 10! 1, 11, a 1 "la, a, "lo lg, !a nee et Butters. 603),,160, 60,.60,.60. -14,,.5,3,54, 3. verdünnt Nur beim Terpentinöl und noch weit auffallender bei der stark verdünnten Buttersäure ist die Wirkung auf die Palpen, wie man sieht, eine weit energischere als auf die Fühler, und diese Thatsache im Verein mit anderen macht es sehr wahrscheinlich, dass es ein absolut empfindlichstes Geruchsorgan bei gewissen Insekten überhaupt nicht gibt, indem die einen Organe (Fühler) für diesen, die anderen (Palpen etc.) für jenen Geruchsstoff am reizbarsten sind. 1) De fabrieca et usu palporum in Insectis. 2) Annales du Museum, t XVIIIL, p 426. 3) Die jüngst erschienene wichtige Arbeit Plateau’s Experience sur le röle des palpes chez les Arthropodes Maxilles (Bull. de la Soc. Zool. de France, t. X, 1885) konnte hier leider nicht mehr berücksichtigt werden. 4) Die gewöhnlichgedruckten Zahlen bedeuten hier und später die Zahl der Sekunden, nach denen bloß Bewegung der betr. Gliedmaßen, die fettgedruckten jene, nach denen zugleich Ortsbewegung des ganzen Tieres erfolgte. 5) Keine Reaktion binnen 20 Sekunden. Dubaux, Milch und ihre Zusammensetzung. 399 M. Dubaux, Die Milch und ihre chemische Zusammen- setzung. Revue scientifique, tome 35, Nr. 22, p. 685—690 !). Was man bis etwa vor einem Jahrhundert über die Milch wusste, kann man folgendermaßen kurz zusammenfassen: die Milch ist eine Lösung verschiedener Mineralsalze, des Milchzuckers und Kaseins und enthält Fettkörperchen suspendiert. Diese so kurze und, wie wir sehen werden, auch so genaue Definition ist mit der Zeit eine weit kompli- ziertere geworden. Die Fetttröpfehen z. B. sind nicht lange die ein- fachen Gebilde geblieben, als welche sie ihr Entdecker Leuwenhoek aufgefasst hat. Indem man sie mit Hilfe starker Mikroskope unter- suchte, fand man sie mit einer feinen glänzenden Hülle umgeben. Die einen erklärten dies als einfache Lichtbrechungserscheinung, während die überwiegend größte Zahl der Forscher daraus eine Mem- bran hat machen wollen, welche die Fettkugel nach Art der Zell- wände umhüllte. Jene sollte demnach den übrigen organischen Zellen ähnlich sein. Ganz vergeblich hat man eingeworfen, dass z.B. ein Blutkörper- chen, mit welchen die Fettkugeln am ungezwungensten verglichen wer- den konnten, innerhalb derselben Tierart ganz konstante Größen zei- gen, was bei jenen durchaus nicht der Fall ist, da sie zwischen dem Hundertstel und dem Tausendstel eines Millimeters schwankt. Man be- gründete die mikroskopischen Beobachtungen durch eimige andere, ziemlich verworrene, indem man auf die Widerstandsfähigkeit der Fettkügelchen hinwies, welche sie denjenigen Mitteln entgegensetzen, die sonst Fett zu lösen im stande sind. Man vergaß aber dabei, dass sie hier von einer Substanz umgeben sind, welche ihrer Natur nach von jenen verschieden ist. Ferner gaben namentlich die Er- scheinungen beim Buttern der Ansicht, dass eine Membran vorhanden sei, eine willkommene Stütze. Man weiß, dass die Fettkügelchen isoliert nm der Milch sich er- halten, auch dann, wenn sie infolge ihrer größern spezifischen Leich- tigkeit an die Oberfläche gestiegen sind, wo sie eine dieke und ziemlich widerstandsfähige Decke, Sahne oder Rahm genannt, bilden. Um ein Zusammenfließen zu veranlassen und aus ihnen Butter zu machen, muss man den Rahm schlagen, d. h. die Flüssigkeit wie- derholt häufigen Stößen aussetzen. Indess dies allein genügt noch nieht. Außerdem ist noch, wie Boussingault zuerst gezeigt hat, eine bestimmte Temperatur nötig, welche aber auch wieder ge- 1) Die nachstehende Abhandlung wurde in Form eines Vortrages in einer Sitzung der „Soci&t& chimique de Paris“ gegeben. Mit geringen Abänderungen und einigen Kürzungen geben wir ihn so wieder, wie er in der „Revue scien- „tifique“ veröffentlicht worden ist. 400 Dubaux, Milch und ihre Zusammensetzung. wisse Grenzen nicht übersteigen darf. Sogar dann, wenn man die günstigsten Bedingungen innehält, bedarf es doch noch einer Viertel- stunde bis zwanzig Minuten kräftigen Butterns, um das Zusammen- fließen zu veranlassen und den Rahm vollständig in Butter umzu- wandeln. Alle diese merkwürdigen Erscheinungen beim Buttermachen stehen ganz gut im Einklang mit der Hypothese von der vorhin erwähnten Membran. Die erhöhte Temperatur dehnt sie aus und macht sie zum Zer- reißen fähiger. Deshalb darf die Milch nicht kalt sein. Ebenso wird man verstehen, warum sie nicht zu heiß sein darf. Bezüglich der albuminösen Substanzen hatte man nicht so ein- fache Beobachtungen zur Hand. Nachdem man mit Hilfe einer Säure das Kasein von der Milch getrennt hat, findet man, dass die filtrierte Flüssigkeit durch Erwärmen einen Niederschlag gibt. Daraus zieht man den so natürlich erscheinenden Schluss, dass die Milch Albumin enthält. Nach abermaliger Filtration fällt Tannin oder Alkohol einen neuen Körper, der von Quevenne undBouchardat Albuminose ge- nannt worden ist. Dann kann man noch durch Zusatz einiger Tropfen von Millon’schem Reagens das Laktoprotein (vonMillonundCommail) niederschlagen. Und dies ist noch nieht alles, da man auch noch peptonartige Körper gefunden hat. Bei dieser Aufzählung lasse ich einige weniger bekannte Ver- bindungen ganz außer acht. Den Ziger, welchen ich zwischen Casein und Albumin hätte stellen müssen, das Galaetin Morin’s, welches zugleich dem Albumin und dem Laktoprotein ähnelt, das Protein des Serums von Hammersten u.s.w. Zu diesen Körpern sind durch die Untersuchungen von Danilewsky und Radenhausen noch eine ganze Reihe anderer hinzugekommen, welche mit Hilfe anderer Reagentien gewonnen wurden. So das Kaseoalbumin, und das Kaseo- protalbin, das Orvoprotein, das Laktosyntoprotalbin, das Syntogen, ein Pepton und selbst ein Pseudopepton. Entgegen diesem ist Ver- fasser der Ansicht, dass die Milch eine sehr einfache Zusammen- setzung hat. Zur Untersuchung muss man vollkommen reine Milch verwenden, wenn man unter „rein“ frei von Mikroben versteht. Diese für gewöhn- lich in der Milch sich vorfindenden Mikroorganismen stammen von den Zitzen der Kuh, den Händen des Melkers oder den Wänden des zum Auffangen dienenden Gefäßes. Man vermeidet sie dureh sorg- fältiges Waschen und Sterilisieren der Gefäße. Dann überlässt man diese aufgefangene reine Milch einige Wochen sich selbst und wird nun folgende Erscheinungen beobachten können. Der Boden des Behälters ist bedeckt mit einer dünnen Schieht von Caleciumphosphat, welche kaum den tausendsten Teil eines Milli- meters an Dieke überschreitet. — Darüber findet sich eine weiße Dubaux, Milch und ihre Zusammensetzung. 401 opake Masse vom Aussehen abgerahmter Milch; indess ist sie ein wenig transparenter und von porzellanartigerem Aussehen. Sie geht ganz allmählich über in eine weit durchsichtigere Schicht, die bei nor- maler Milch eine grauliche, bei einer Milch, welche auf 120° erhitzt worden ist, eine schwach bräunliche Farbe besitzt. Die beiden letzt- genannten Lagen zusammen bilden das Serum. Sie enthalten das durch Säuren fällbare Kasein, die untere indess bei weitem mehr als die obere. Daraus schließt man, dass Kasein in zwei Formen in der Milch enthalten ist. Ganz im obern Teil der Flüssigkeit findet man eine weiße un- durchsichtige Schicht; sie ist der Rahm und ihn wollen wir zuerst genauer untersuchen. Die mikroskopische Beobachtung dieser fetten Milchkügelchen ergibt, dass sie eine runde Gestalt besitzen und scharfe Konturen haben; ihre äußere Grenze ist fein und gleicht einer Membran, an deren Existenz zu glauben man noch eher geneigt ist, wenn man be- merkt, dass die Kügelchen, obgleich sie aneinander gepresst sind, doch nicht miteinander verschmelzen. Höchstens sind sie ein wenig unregelmäßig. Wenn eine fette Substanz, wie es die Butter ist, in viel Serum suspendiert wird, so ist die erste Bedingung, damit die einzelnen Kü- gelchen miteinander verschmelzen können, dass sie miteinander in innige Berührung kommen. Ihrer spezifischen Schwere wegen steigen sie an die Oberfläche der Flüssigkeit, indess nur sehr langsam, da das Serum fast ein gleiches spezifisches Gewicht hat wie jene. Dem Verschmelzen leisten nun aber die Flüssigkeitslamellen, welche sich zwischen den einzelnen ‚Lügelchen befinden, dann aber vor allem ka- pillare Anziehungskraft ‚inen beträchtlichen Widerstand; dazu kommt noch eine gewisse Oberflächenspannung‘ der Flüssigkeitskügelchen, welche z. B. bei einem Wassertropfen von 1 mm Durchmesser — 7,5 mg, für Oel und Butter — 3,5 mg ist. Wenn nun auch für eine isolierte Flüssigkeit die Oberflächen- spannung eine konstante Größe ist, so gibt es doch auch ein Mittel sie zu verringern, und zwar dadurch, dass man diese Flüssigkeit mit einer andern in Berührung bringt. Sie wird um so geringer werden, je ähnlicher diese der andern ist. Zwei Butterkügelchen, welche sich im Serum dicht nebeneinander befinden, werden deshalb nur durch eine ganz geringe Kraft veranlasst sich miteinander zu vereinigen, gesetzt den Fall, dass die Oberflächenspannung beider Körper fast dieselbe ist. Einige Experimente mögen diese Schlüsse veranschaulichen. Man nehme reines Wasser, welches mit einer Schicht Oel bedeckt ist, und schüttle kräftig; man wird kaum feine Tröpfehen erhalten können, da eben die Oberflächenspannung eine zu verschiedene ist. Sehr schnell auch steigt das Oel wieder in die Höhe, und die einzel- 26 402 Dubaux, Milch und ihre Zusammensetzung. nen Tropfen vereinigen sich wieder zu einer zusammenhängenden Schicht. Nimmt man dagegen Seifenwasser von einer Konzentra- tion von 1: 100, so genügt ein geringes Schütteln, um eine weiße Emulsion zu erzeugen. Die Tröpfchen sind sehr klein, weil eben alle Bedingungen für ihre Beständigkeit vorhanden sind. Anstatt des Oels kann man auch Butter anwenden: es genügt sie zu schmelzen und mit Seifenwasser, welches auf dieselbe Temperatur erwärmt wor- den ist, zu schütteln; man erhält eine milchige Flüssigkeit, in welcher der Rahm langsam in die Höhe steigt und hier eine halbfeste Masse bildet, ganz wie bei der natürlichen Milch. Bei mikroskopischer Un- tersuchung findet man dieselben Elemente von gleichem Aussehen und gleicher Größe wie in der Sahne, scheinbar ebenfalls von einer Mem- bran umgeben. Dass sie hier indess sicherlich fehlt, bedarf keiner Erörterung. Um die Kügelchen zum Zusammenfließen zu bringen, muss man durch eine äußere Kraft die zu schwach gewordenen inneren Kräfte ersetzen. Und dazu dient das Butterfass. Durch Stoßen werden die Lamellen des Serums durchbrochen und es verschmelzen die Fettkügelchen, vorausgesetzt, dass sie nicht zu hart sind. Deshalb eben darf die Flüssigkeit nicht zu kalt sein. Sie darf aber auch nicht zu warm sein, denn wenn die fette Masse zu flüssig ist, so trennen sich die schon vereinigten Fetttröpfehen durch den Einfluss der stoßenden Be- wegung aufs neue voneinander. Nach alledem werden wir von der Hypothese zurückkommen müssen, dass die Kügelchen von einer Membran umhüllt werden |was auch vollkommen erklärlich ist, wenn man sie als Zerfallsprodukte der Drüsenzellen auffasst]. Die weitere Untersuchung nimmt man am besten so vor, dass man die Milch unter Druck durch ein poröses gebranntes Porzellan- gefäß filtriert. Man erhält eine wasserhelle Flüssigkeit. In ihr findet man etwa ebensoviel Caleiumphosphat, wie sich dann abgesetzt hatte, als man die Flüssigkeit sich selbst überließ; wichtiger für uns sind indess die albuminartigen Substanzen. Jedoch ist im Filtrat etwa nur !/,, enthalten, die übrigen ?/,, der stiekstoff- haltigen Verbindungen widersetzen sich der Filtration durch das Por- zellangut. Man findet sie in Form einer gelatinösen Masse auf seiner Oberfläche; sie werden von der anhaftenden Flüssigkeit befreit, in- dem man sie ebenfalls unter Druck mit destilliertem Wasser wäscht. Wird die Masse dann fein zerrieben und mit wenig Wasser angerührt, so erhält man eine ganz homogene Mischung von grau-blauem Aus- sehen; sie läuft unverändert durch gewöhnliches Filtrierpapier, wird durch Säuren in Flocken ausgefällt, kurz sie zeigt alle Charaktere des Milchkaseins. Durch jene erste Filtration ist demnach unlösliches Kasein von einer Flüssigkeit getrennt worden, welche einen ähnlichen Stoff, wenn auch nur in geringer Menge gelöst enthält. Aus dem wasserklaren Dubaux, Milch und ihre Zusammensetzung. 403 ersten Filtrat kann man ihn durch Säuren niederschlagen. Nachdem man ihn getrennt hat, erhält man durch Hitze eine Abscheidung von Albumin und weiter durch Tannin Albuminose, durch Millon’sches Reagens Laktoprotein, so dass unser Versuch scheinbar keine neuen Resultate zutage gefördert hat. Die folgende Betrachtung kann jedoch unsere Anschauungen über diesen Gegenstand modifizieren. Filtriert man nämlich jene oben be- schriebene homogene grau-blaue Flüssigkeit nach geraumer Zeit durch ein Porzellanfilter, so kann man durch die schon angegebenen Rea- gentien abermals etwa eine gleiche Menge oder mehr Albumin, Al- buminose und Laktoprotein niederschlagen. Demnach müssen wir annehmen, entweder dass das eigentliche Kasein sich in jene drei Substanzen zu verwandeln vermag, oder dass diese nur verschiedene Formen jenes einen Körpers sind, wennschon sie durch verschiedene Reagentien erhalten wurden. Diese zweite Erklärung entspricht viel mehr den Resultaten, welche das Experiment ergab. Nur eins hat sie gegen sich, das Zutrauen nämlich, welches wir in die Reagentien setzen, die zur Unterschei- dung der verschiedenen albuminartigen Substanzen dienen sollen, und dies Zutrauen ist im Grunde genommen unberechtigt. Diejenige Ver- bindung, welche durch verdünnte Säuren aus der Milch niedergeschla- gen werden kann, wollen wir Kasein nennen, dazu haben wir ein Recht; nicht aber dürfen wir z. B. mit dem Namen Albumin eine Substanz be- legen, die durch Hitze zum koagulieren gebracht wird, bevor man nicht den unzweideutigen Beweis geliefert hat, dass alles Kasein durch die Säure niedergeschlagen worden war. Ganz dasselbe lässt sich von der Albuminose und dem Laktoprotein anführen. Es verhalten sich die Reagentien auf albuminartige Substanzen durchaus nicht so wie z.B. die Schwefelsäure inbezug auf Bariumsalze. Die einen wirken nicht erschöpfend, andere teilweise wieder lösend, kurz es sind noch eine ganze Reihe von Umständen zu berücksichtigen, wodurch eine abso- lute Ausfällung des Kaseins verhindert werden kann. Es ist ja in der anorganischen Analyse ganz ähnlich; werden nicht sorgfältig ge- wisse Bedingungen, die durch die minutiösesten Untersuchungen er- mittelt wurden, eingehalten, so gelingt eine vollkommene Aus- fällung eines bestimmten Körpers nicht; unter den grade obwalten- den Verhältnissen sind vielleicht andere Reagentien im stand den Rest oder auch nur einen Teil desselben niederzuschlagen. Ich will noch einen indirekten Beweis liefern. Man nehme Ei- weiß und löse es in destilliertem Wasser. Jene Substanz scheint ein wohl charakterisierter Körper zu sein. Wir unterwerfen sie nun der Filtration durch ein Porzellanfilter. Das wasserhelle Filtrat wird durch Wärme kaum koaguliert. Trennt man den Niederschlag von der Flüssig- keit, so kann man durch Tannin abermals einen solchen erhalten und später durch Millon’sches Reagens noch einen. Da könnte man dann 26 * 404 Tollin, Andreas Vesal. mit demselben Recht wie bei der Milch sagen, das Eiweiß enthält Albuminose und Laktoprotein. Andere tierische Flüssigkeiten ver- halten sich genau so. Nach alledem scheint es mir, dass wir berechtigt sind Albumin, Albuminose, Laktoprotein ete. für Kunstprodukte zu halten, welche durch die Methode der Arbeit geschaffen worden sind. Die Milch enthält nur Kasein in verschiedenen Stadien der Löslichkeit. Die Resultate dieser Untersuchung lassen sich kurz so zusammen- fassen: die Milch ist eine Flüssigkeit, welche gelöste und suspen- dierte Körper enthält. Die ersteren sind Milchzucker, alkalische Salze, die Hälfte alles phosphorsauren Kalkes und etwa ein Zehntel des Kaseins; die suspendierten Körper sind der Rest des Caleium- phosphats, des Kaseins und fein verteilte Fettkügelchen. C. B. Andreas Vesal. Von Lie. theol. Dr. med. hon. Henri Tollin, Prediger in Magdeburg. (4. Fortsetzung.) Ein ebenso heikles Gebiet betrat Vesal mit seiner Schrift über den Aderlass bei Seitenstichen !). Gab es doch damals kaum einen Mediziner von Bedeutung, der nicht über dieses Thema irgend einmal öffentlich sich geäußert hätte (de vena secanda p.4)?). In den sechs anatomischen Tafeln, die Vesal 1538 veröffentlicht hatte, fand sich eine Randglosse zu der Tafel von der Hohlvene, dass man bei Seitenstichen die Ader schlagen müsse. Diese vielen unklare Aeußerung bat Florenas den Vesal weiter zu erläutern. So entstand jene kleine Schrift von 66 Seiten, deren Bedeutung darin liegt, dass sie uns über Vesal’s Leben manchen Aufschluss bietet. Vesal tritt noch schüchtern auf. Er fürchet, dass ihn die Gegner durchbohren könnten (me confoderent p. 6). Er will ein reiferes Alter (aetatem) und eine größere Erfahrung (rerumque usum) ab- warten, ehe er sich in den öffentlichen Kampf einlassen könne (pu- blico certamini me committere sustinebo p. 8). Er beruft sich mehr- fach auf seine anatomische Erfahrung, aber die entscheidende Frage bleibt ihm doch die philologische, hat Galen mit seinen griechi- schen Ausdrücken in der Sache dies gemeint oder das? Von ärzt- licher Erfahrung überdies konnte er, der fünfundzwanzigjährige, nicht reden, da er selten Pleuritis beobachtet hatte und auch immer nur im 1) Ep. docens venam axillarem dextri eubiti in dolore laterali secandam. Basileae. o. V. Hirten Cal. Jan. v. 1537. 2) Vesal nennt z. B. Barlana, Curtius, Brachelius, Manard, Fuchs. Tollin, Andreas Vesal. 405 Gefolge seiner Lehrmeister!). Dicht neben diesem Bekenntnis seiner ärztlichen Unerfahrenheit nimmt sich ja der mit lauter großen Lettern gedruckte Satz des Vesal seltsam genug aus, dass bei sämtlichen Entzündungen der Seiten des Thorax oder der Gelenke zwischen den Schultern (metaphreni), so oft der Affekt einen Aderlass vorschreibt, die Vene der rechten Schulter zu schlagen sei: ein Satz, den er als von ihm zuerst erdacht (meam a nemini prius exeogitatam) be- zeichnet und doch aus Hippokrates und Galen?) über allen Zweifel erheben will (S. 56 ff.). Wohlthuend hingegen wirkt das offene Bekenntnis, dass er in Paris und Löwen, bei der Handhabung noch etwas ungeschickt (in administratione rudior), die hämorrhidalen Venen an unrichtiger Stelle gesucht, nachher aber durch genauere Forschungen (rem exactius aggressus) an einem morbiden Körper sich eines andern belehrt habe (S. 60). Er schließt die Schrift mit der Bitte an Florenas, sie nicht als ein sorgfältig vollendetes Buch, sondern vielmehr als einen so tumultuarisch und ohne rechte Ord- nung (confusanea) hingeworfenen Privatbrief zu betrachten, über den er seinen gelehrten Gönner um ein aufrichtiges Urteil ersuche (S. 64). Die Schriften des 23jährigen, 24jährigen und 25jährigen Jüng- lings lassen uns den Andreas Vesal, den die Geschichte kennt, kaum ahnen. Zu dem, was er geworden ist, wurde der Brüsseler Anatom allein durch sein im Juni 1543 zu Basel bei Joh. Oporin erschienenes Werk vom menschlichen Körperbau (de corporis humani fabrica libri VII). Und wiederum dieses Werk hatte seine Kraft teils in der mutigen Widmung an Kaiser Karl V., in der er die Galenischen Dogmen als Beobachtungen an Affen entlarvt, sowie in den Holzschnitten aus Titian’s Schule, die meisten von dem mehrerwähnten Johann Stephan aus dem Klevischen Kalkar. Berühmt und oft reproduziert ist das Titelblatt, welches den 28jährigen Vesal darstellt im Amphitheater (von Padua), eine weib- liche Leiche sezierend. Erst später beachtet wurden die künstlerisch schönen Initialen, die sich auf Sektionen und Vivisektionen beziehen). Eine eigentümliche Maßnahme Vesal’s war die, dass er in der Epistel vor dem Hauptwerk bat, seine Tafeln nicht wie jene sechs von 1538 zu entstellen: lieber wolle er jedem Buchdrucker, der ihm wohlwolle, die auf eigne Kosten hergestellten Tafeln zur Reproduktion in 1) Experientiam, ut ipse nosti, ad praesentis negotii corroborationem, nullam adferre debeo: quum hac mea aetate paucos haetenus eo morbo impli- eitos, nisi cum praeceptoribus inviserim. p. 55. 2) Auch Paulus Acgineta, A&tius, Alexander, Oribasius, Rha- zes, Avicenna und die andern Araber führt Vesal dabei für sich an. 3) Haeser: Gesch. d. Medizin II. 37. Für alles nähere über dieses Werk verweise ich auf Burggraeve. 406 Tollin, Andreas Vesal. kleinerem Maßstabe überlassen, als dass durch Verbreitung anato- misch unrichtiger Zeichnungen Irrtum verbreitet würde. Im selben Juni 1543 ließ nun Vesal gleichfalls bei Joh. Oporin in Basel jene Epitome veröffentlichen, welche, mit zahlreichen Mus- keltafeln und einigen im Hauptwerk fehlenden schönen Bildern ver- sehen, dem letztern als Einführung dienen sollte. Dennoch bemächtigte sich auch dieser Werke die Spekulation auf kosten der Wissenschaft. Andreas’ Bruder, Franz Vesal, in seiner Widmung an den Herzog Cosmo von Mediei, erinnert ver- geblich an seines ältern Bruders hochherziges Anerbieten. Dessen ungeachtet habe ein Engländer, der mit Andreas einst vertrauten Umgang genossen, durch seine ungeschickte Reproduktion die Arbeit des Andreas völlig verdorben (prorsus vitiata)'). Und Andreas Vesal klagt in dem Brief über die Chinawurzel, die Figuren seiner Epitome seien in England zwar nicht ohne Kosten, aber doch so dunkel und kunstlos in der Malerei wiedergegeben worden, dass, wenn jemand glauben sollte, sie stammten von ihm, er darüber scham- rot werden würde (S. 283). Berühmt durch jene Werke über den menschlichen Körperbau, aber auch angefeindet von allen Seiten, wartete Andreas Vesal 4 Jahre, ehe er wieder etwas veröffentlichte. Doch gleich sein nächstes Werk erfuhr wieder mehrfachen Nachdruck. Es ist der zu Basel Idib. Jun. 1546 fol. erschienene Brief über die China- wurzel. Noch im selben Jahre wurde Andreas Vesal’s Brief auch zu Venedig und zu Lyon, noch einmal 1547 zu Lyon, dann wieder 1566, 4° in Basel nachgedruckt. Und doch handelte er von der da- mals wenig bekannten Chinawurzel nur auf den ersten 52 Seiten. Aus zwei Gründen wurde dies Schriftchen viel gekauft: einerseits, weil der Kaiser (s. oben) mit Erfolg von dem China-Dekokt ge- nommen hatte, anderseits weil die beiden letzten Seiten das seltene und teure Rezept enthielten ?): Regime pour prendre l’eau de la racine appell&e Chyna: ein Rezept, welches Vesal selbst eigentüm- licherweise zweimal eine italienische Schrift nennt. Von der 52. Seite an beginnt eine systematische Polemik Andreas Vesal’s gegen den berühmten Pariser Professor, seinen ehemaligen Lehrer und Handleiter Jakob Sylvius. Burggraeve zitiert diese Schrift oft. Er muss sie nicht gelesen haben. Denn er behauptet, Vesal habe, auf die öffentliche Meinung vertrauend, sich von seinem ver- ehrten Lehrer stets ruhig angreifen lassen, ohne ihm je zu er- widern, die Rache der öffentlichen Meinung überlassend (laissant & Yopinion publique le soin de le venger p. 32 sv... Vesal wusste 1) p. 4. De Chymae radice. 2) Erbschaft eines derartigen Recepts galt wie ein sicheres Vermögen. S. Thom. Platter’s Selbstbiographie. Gütersloh. 8. 98. Tollin, Andreas Vesal. 407 nur zu gut, dass „die öffentliche Meinung“ in allen Landen auf des Sylvius, weil auf Galen’s Seite stand. Und deshalb hatte er kaum noch, durch seines Freundes Roelants aus Paris zurückge- kehrten Sohn, den Brief des Jakob Sylvius erhalten, als er diesem auch scharf und ausführlich antwortete; ebenso scharf und ausführ- lich seinem Freunde Joachim Roelants, dem Mechelner Oberarzt (Idib. Junii 1546), die Antwort skizzierte und seinen Bruder Franz Vesal beauftragte, diese polemische Schrift mit einer Widmung an den Herzog Cosmo Medici von Toskana herauszugeben (tertio idus Augusti 1546). Noch im Jahre 1546 hatte Vesal stolz behauptet, er habe von seinem Hauptwerk nichts zurückzunehmen, auch nach den seitdem so häufig vollzogenen Sektionen, nicht das geringste zu ändern (De Chynae radice p. 253). Thatsächlich aber ist in der Ausgabe, an der er jetzt in Basel arbeitete, die aber erst 1555 im Druck erschien, nicht bloß jedes Bild neu gezeichnet und verbessert, sondern auch der Text, wie wir an einem Beispiel unten sehen werden, wesentlich geändert. $. 18. Je weiter er arbeitete, je mehr überzeugte er sich, dass auch er nicht unfehlbar sei. Er bedurfte neuer Zergliederungen, um zweifelhafte Dinge festzustellen. Und von 1546 bis 5. April 1559 ist in Basel nie wieder eine Sektion gehalten worden. Aber wo sollte er hin? In Italien schossen die Widersacher wie Drachen- männer aus der Erde. In Frankreich war Jakob Sylvius ihm Feind und seine große Schule. In Deutschland standen gegen ihn die kaiserlichen Hofärzte und Leonhard Fuchs in Tübingen und Joh. Cornarius!) in Zwickau und Dryander zu Marburg. In England kannte er seinen mächtigen Rivalen. In Spanien aber konnte ihm die polizeiliche Bevormundung der Wissenschaft am aller- wenigsten behagen. Hat er doch schon am 1. Januar 1539 in seiner Schrift an den kaiserlichen Leibarzt, Nicolas Florenas, seinen hohen Gönner, diese spanischen Zustände gebrandmarkt. Durch ein Öffentliches Edikt, so berichtet er (de vena secanda p. 51), wurde in Spanien den Aerzten verboten, grade gegenüber der affizierten Stelle die Ader zu schlagen. Schreibst du mir doch selbst, dass nach langwierigen Disputationen über diese Sache zu Salamanca die Unterlegenen sich bei dem Senat von Spanien beklagt hätten, dass man durch einen direkten Aderlass den menschlichen Leibern einen gradeso großen Schaden zufüge, als den Seelen der Sterblichen zu- fügen die Spaltungen der Lutheraner (quam mortalium animis Lu- theranorum schismata p. 51). Ich erwarte mit großer Begierde den Ausgang des Streites und bin gespannt darauf, ob des Kaisers Ma- jestät den Spruch anerkennen wird (p. 52)? Denn als ihr (am kai- 1) S. Kurt Sprengel III, 149. 408 Tollin, Andreas Vesal. serlichen Hofe) in Genua mit Friedensunterhandlungen beschäftigt wart, haben jene mit ihren Vorurteilen den Uebeln entgegeneilen zu müssen gemeint, bis ihr, die spanischen Oberärzte, euer Urteil abge- geben hattet. Benachriehtigte euch doch schon mein Vater (pater meus), dass (in der Zwischenzeit) einige durch Bittschriften es bei der unbesiegbaren Milde des Kaisers durchzusetzen sich angelegen sein ließen, dass ihre Dekrete und Sentenzen mit dem Vorrecht der obersten Autorität wie mit einem unübersteiglichen Walle und Schutz- wehr gegen alle Druckschriften ihrer Widersacher versehen würden. Dennoch steht zu hoffen, dass der Kaiser keineswegs darauf ein- sehen wird, um so weniger als jene durch einen Aderlass an der entgegengesetzten Seite (in eubito oppositi lateris) den traurigen Tod des dem Kaiser so nahe stehenden Fürsten von Pi&mont verschuldet haben. Indem sie von einer einfachen Pleuritis auf eine doppelte schlossen, haben sie dem edlen Fürsten, der eines langen Lebens so würdig war, mehr geschadet, als wenn sie ihm die von ihnen so gefürchtete Ketzerei eingeflößt hätten (haeresim illi inspirassent): denn davon hätte ihn wohl irgend eines Priesters oder Mönches Ueberredungskraft (suadela), hiervon aber der ganze göttliche Chor (der Aerzte) nicht heilen können (S. 53). Ich bitte dich deshalb, gib dir alle Mühe, der Sentenz der spanischen Kollegen nicht zu weichen, sondern stelle des Kaisers Majestät vielmehr Italiens, Deutschlands und Frankreichs ausgezeichnetste Gelehr- ten vor, welche nach Ueberwindung der Finsternisse der alten Un- wissenheit, der Meinung huldigen, dass die Ader direkt gegenüber der affizierten Seite geschlagen werden müsse. Ich hege um so fester zu dir diese Zuversicht, als du von allen spanischen Aerzten der oberste und ein großer Liebhaber aller wahrhaft berühmten Spanier bist (Hispanorum illustrium amantissimus p. 53). Man sieht, der nach Wissenschaft durstende brüsseler Anatom wäre damals noch viel eher zu bewegen gewesen, Italien, Deutsch- land oder Frankreich als seinen Dauer- Wohnsitz zu wählen, als das Land, wo die Mönche und die Priester regierten, Spanien. So blieb ihm von der gebildeten Welt nur ein Reich über, seine Heimat, dieNiederlande. Und dorthin geht er in der That. In seiner Geburtsstadt finden wir ihn wieder. Der alte Junggeselle, der sonst in seinen Schriften sich rühmte, er sei so glücklich sich um nichts in der Welt Sorgen machen zu brauchen und ganz allein der Wissen- schaft leben zu können, heiratet in Brüssel des Hieronymus von Hamme, Rates in der Rechenkammer, Tochter Anna, gleich als wollte er es mit dem dritten Wege versuchen, dass der gut lebe, der sich gut verborgen hält. Denn nachdem er verheiratet ist und vom Hofe grade so fern lebt wie von der Professur, hören wir lange gar nichts von ihm. Endlich (1555) ist seine zweite umgearbeitete Ausgabe De humani Tollin, Andreas Vesal. 409 corporis fabriea erschienen. Das Jahr darauf hat auch Kaiser Karl V. dem Grundsatz nachgegeben: bene vivit qui bene latet. Der Beherrscher von sieben Königreichen ist (1556), mitten aus seiner kaiserlichen Pracht und Herrlichkeit, weltmüde ims spanische Kloster gegangen (St. Yust). Und — eine fast ebenso große Ueber- raschung — den „Lutheraner“ unter den Anatomen, plötzlich finden wir ihn unter den mönchischen Aerzten von Spanien wieder, am finstern Hofe des bigott-katholischen Königs Philipp II. Unter all dem Gold und den Diamanten Amerikas in Madrid freiwillig arm, unbekannt unter den überprächtigen Granden und Ambassadoren, ein- gegliedert in die Hofetikette, wie es die niedere Rangstufe eines Hofarztes unter so vielen mit sich brachte, vergräbt er sich so in seine Praxis, dass er selten einmal vernimmt, ob es noch wissen- schaftliche Bücher gibt, und die Welt der arbeitenden Gelehrten auch ihn zu den Toten legt. Berühmt wie sein einstiger Kaiser, lebte er fortan unbekannt wie er: kaum dass er selber noch seinen Schatten sah. Kein Werk von Vesal ist in Spanien herausgegeben worden. Was von ihm gedruckt wurde in dieser Reihe von Jahren, erschien unter fremder Firma. In den Schriften des Ingrassias, Mon- tanus, Scholtzius taucht hier und da einmal eine gedruckte Kon- sultation auf, die den Namen eines gewissen Vesal trägt, um den Herausgeber zu schmücken. Hier und da einmal fasst eine spanische Universität einen Beschluss, welcher Vesal gefallen konnte, wie 1556 der von Salamanca, dass Anatomie dennoch keine Teufelei sei (Burggraeve p. 34. 63). Hier und da einmal wird ein Großer ge- nannt, den Andreas Vesal behandelt hätte oder geheilt!). In seiner Wissenschaft aber konnte er wenig fortschreiten. Sektionen waren ver- pönt, ja unmöglich: nicht einmal einen Schädel sich zu be- schaffen, fand man in Madrid Gelegenheit?). Von den acht Jahren seiner Madrider Hofthätigkeit wissen wir fast nur, dass sie ihm je länger je mehr unerträglich wurden. Die Zahl seiner Gegner wuchs. Schon durch seine Parteinahme für den auf wissenschaftlicher Höhe einsam weilenden Nicolaus Flo- renas und für den in Spanien bei der Pleuritis andersartig gehand- habten Aderlass waren ihm dort schon mächtige Widersacher er- wachsen, ehe er noch den spanischen Boden betreten hatte. In Madrid selber hatte er u. a. dem kaiserlich königlichen Leibarzt Antonius 4) z. B. dem Herzog von Terranova operierte er ein Fistelgeschwür. S. Ingrassias p. 92--98. 2) Etsi nulla hie, ubi ne calvariam quidem commode naneisci possim, ad disseetionem aggrediendam incidere potest occasio. (In Gabr. Faloppii Examen p. 171.) Wenn also Luis Collado 1555 von sich sagt, in der Anatomie habe er keinen andern Lehrer gehabt, als den Vesal (bei Morejon Med. espan. I. 51), so muss er anderswo, z. B. in Italien, bei ihm studiert haben. 410 Tollin, Andreas Vesal. Fossanus eine so glückliche Konkurrenz gemacht, dass dieser vor Neid und Geldgier schäumte und die Feindschaft hell aufspritzte von beiden Seiten!). Auch war ein Schüler des Realdo Colombo von Padua nach Spanien übergesiedelt, ein ungelehrter Mann, der selber nie seziert hatte und weder in den schönen Wissenschaften noch in der Arzneikunst das geringste verstand: Juan Valverde, um in Spanien des Vesal Anatomie in spanischer Sprache zu lehren, aus- zulegen und öffentlich durehzuhecheln: eine Handlungsweise, zu der ihn, wie Vesal es auffasste, nichts weiter trieb als schändlicher Gewinn (turpis quaestus causa)?). Es steht dahin, ob bei dem Fall des Don Carlos, Prinz von Austurien, auf den Hinterkopf, des Vesal Rat auf Trepanierung befolgt worden ist oder nicht? °). Jeden- falls scheint auch diese Sache bei den Unkundigen ihm geschadet zu haben. $. 19. Vesal bat um Urlaub behufs einer Pilgerfahrt nach Jerusalem. Solch’ eine Pilgerfahrt durfte der zweite Philipp nicht abschlagen. Was ihn zu dem Entschluss bewog, Spanien für immer zu verlassen, hielt er geheim*). Nach der einen Nachricht hätte er sich in seiner nächsten Nähe nicht wohl und behaglich gefühlt. Sein Eheweib, die Mutter der Anna Vesal, der spätern Gattin des Königlichen Falkenjägers Jean Mol (Burggraeve p. 49), soll ihm durch Zanksucht, Eifersucht und Untreue das Leben zur Hölle ge- macht haben. Andere geben andere Ursachen an. Hubert Languet behauptet, Vesal sei schon zum Tode verurteilt gewesen: Philipp habe ihn begnadigt, die Mönche ihm die Bußfahrt nach dem hei- ligen Lande auferlegt’). Del&eluse, der am Tage von Vesal’s Abreise von Madrid dort ankam, nennt eine unheilbare Krankheit des großen Anatomen. Ambroise Pare&, der unsterbliche Chirurge, redet von einer Scheintoten, die unter Vesal’s zweitem Schnitt von ihrem hysterischen Starrkrampf erwachte (p. 38 sv.). Wieder andere sprechen von einem spanischen Granden, dessen Herz unter dem Seziermesser Vesal’s wieder zu zueken begann (p. 37). Was taucht nicht alles auf vor dem Seherbliek eines abergläubischen Volkes, dessen Vorurteile seine Phantasie aufblasen und verdichten! Was muss nicht da alles geschehen sein, weil es „gesehen“ worden ist. Und wenn es Vesal wirklich einmal gelang eine menschliche 4) Gabrielis Cunei Examen Venet., 1564, p. 4. 2) Examen Faloppii p. 72. Morejon ist Partei. Er möchte Valverde, Ximeno, Collado, Daza, Goevara, seine Landsleute, zu Freunden des großen Brüsseler Anatomen umstempeln. 3) Letzteres behauptet Morejon. 4) Gaschard: Don Carlos. Bruxelles 1863. 2. Tom. ist mir leider nicht zu Gesicht gekommen. 5) Weil pikant, wurde das oft nacherzählt und geglaubt, auch noch von Rob. Willis: Harvey 1878, p. 62 sq. Tollin, Andreas Vesal. 411 Leiche zu zergliedern: durchs Schlüsselloch, die Wirtin, die Magd, der Hausknecht, was hatten sie nicht alles „gesehen“! was konnten sie nicht alles, durch ihre mönchischen Beichtväter stark gemacht, beschwören! Angesichts von bigotten Aerzten, die wohl einen Galen brauchen, nie aber hineinzuschauen nötig haben in das offene Buch der Natur, welche Zeichen der göttlichen Strafgerichte mussten da eingetroffen sein, sobald ein Mensch sich erdreistete, nicht nur an heidnischen Autoritäten zu zweifeln, sondern sogar unsterbliche Christen- seelen zu peinigen durch Zerreißung ihrer auch nach dem Tode noch heiligen Wohnung!)! Im Lande der Inquisition, welche Foltern warteten da Vesal’s! 8. 20. Burggraeve meint, Vesal’s Leben war zu kurz, um sein System abzuschließen (p. 2). Wie viele Jahre aber waren Vesal verloren gegangen, wenn man da all die Monate zusammen- zählt, wo er blind glauben musste, weil dort das Vorurteil das heilige Buch der Natur unter die Füße trat. Vesal konnte nicht leben, ohne zu forschen, ohne zu zergliedern. Spanien, der Kerker, lag jetzt hinter ihm. Sein Weg nach Jeru- salem ging über Italien. Des sezierenden und vivisezierenden Ita- tiens Intrigengespinnste flößten jetzt Vesal keine Schrecken mehr ein. Von Spanien aus betrachtet, erschien ihm Italien als die wahre Mutter der genialen Geister, als das Land des frohen Genusses, als die Werkstatt freier, wissenschaftlicher Arbeit?). Ueberdies war inzwischen der Mund seiner hauptsächlichsten Gegner verstummt. Es hatte ihnen nichts geholfen, die Welt eine Zeit lang zu täuschen, indem sie mit des Meisters Federn sich selber schmückten, seine Waffen gegen ihn brauchten, ihn damit tödlich zu verwunden, zu ermorden und gewissermaßen aus der ganzen Welt zu vertreiben suchten (propriis armorum instrumentis nostris nos necare, trucidare et ex toto ut ajunt orbe exulem publicare). Die Sache war zu ihrem Ursprung zurückgegangen (sed res statim redeat unde discessit)3). Matteo Realdo Colombo, Vesal’s gröbster Gegner, war um 1559 gestorben. Gabriel Faloppio, Vesal’s feinster, genialster Gegner war 9. Oktober 1562 gestorben. Und der die ganze Welt gegen Vesal aufreizte, auch so manchen geschickten Italiener, 4) Der Spanier Michael Servet setzt in der Restitutio objektiv und religionsgeschichtlich die biblische Verbindung der Grabdenkmäler mit den Seelen auseinander. Dann aber stellt er diesen Standpunkt als einen nur im alten Testamente vollberechtigten dar: Hoc in lege maxime verum erat, quando animae nondum in coeleste regnum assumebantur ut nunc. 2) Suavissimae vitae illius, quae mihi Anatomen in Italia, ingeniorum vera altrice, tractanti obtigit, jucunda laetaque memoria: Gabr. Faloppii Examen p- 170. 3) Chirurgia magna fol. 103a. 412 Tollin, Andreas Vesal. Vesal’s Lehrer und dann wütendster Gegner, Jacob Sylvius, war gleichfalls vor ihm, kampfgerüstet und gestiefelt, 1555 gestorben. Noch hatte der Senat von Venedig Faloppio’s Stelle in Pa- dua, die einst Vesal 6 Jahre lang mit Ehren bekleidet, nicht wieder besetzt. Vor Vesal’s weiter strebendem Geist spiegelten sich nun aus der Jugendzeit jene glücklichen Tage wieder, wo er, noch von niemand angegriffen, von unzähligen staunenden Zuhörern um- geben, die Ergebnisse seiner anatomischen Entdeekungen veröffent- lichte und die von Galen abweichenden neuen Wege wies. Die Pa- duaner Professur wieder einzunehmen als Nachfolger desselben Fa- loppio, der einst sein Schüler gewesen, das dünkte ihm ein schöner Abschluss seines wissenschaftlichen Wirkens. Hatte er doch vor keinem seiner Schüler eine solche Hochachtung, als vor jenem bis zum Wahnsinn begeisterten Anatomen, der einen ihm überlassenen, zum Tode verurteilten Verbrecher während einer starker Opiat-Betäu- bung in grausiger Verblendung lebendig zergliedert hatte. Ihn nennt er den scharfsinnigsten (acutissimus) unter seinen Paduaner Schülern (Chirurgia magna fol. 103a), ihn, den Mutinenser, einen unermüdlich fleißigen, in seinen Entdeckungen höchst sorgfältigen (diligentissimus) ausgezeichneten Naturforscher (1. 1. fol. 56a sq.), ihn einen Anatomen, der nach der Wiederherstellung seiner Wissenschaft, mit allen Kräften es sich angelegen sein ließ, die Disziplin auf wunderbare Weise (miris modis) zu vermehren und zu zieren, so dass man alles größte (non nisi maxima quaeque) von ihm zu erwarten berechtigt sei (Faloppii Examen p. 1). Als daher er in Madrid durch den Brüsseler Arzt Aegidius Dux des Fallopio neu veröffentlichte Anatomische Bemer- kungen erhielt, da verschlang er sie mit solcher Wollust (avide laeteque exoseulatus), dass er schon nach drei Tagen eine wissen- schaftliche Widerlegung seines jungen genialen Freundes (amieissime) am Hofe selbst (ex aula regia) begann und 27. Dezember 1561 druck- reif vollendete. Alle anderen Arbeiten hatte er vor Heißhunger und Feuereifer so lange hintenan gestellt (posthabitis rebus omnibus), um schleunigst in der freundschaftlichen Kritik (amice examinaturus) der neuesten Paduaner Forschungen dem genialen Gegner gerecht zu wer- den. Den Brief an Faloppius — denn diese Form wählte Vesal wieder — wollte er gewissermaßen als einen Anhang zu seinem Hauptwerk betrachtet wissen (veluti mei de Humani corporis fabriea operis appendicem). Er spricht in diesem Briefe von der lieblichen Muße (suavi isto literarum otio) und dem angenehmen Gedankenaus- tausch mit gelehrten, für die Wissenschaft erwärmten Männern, deren sich ein Paduaner Professor erfreut; bedauert, aus dieser bevorzugten Stellung zur mechanischen Ausübung der Medizin, zu so vielen Kriegen (totque bella) und zu fortwährenden Reisen (continuas profectiones) fern von jener herrlichen Arena, die er noch immer als Tollin, Andreas Vesal. 415 gemeinsame Schule (communem scholam) ansieht und deren süßeste Erinnerung ihn durch sein Leben begleitet (eujus duleissima mihi perpetuo est memoria), schon als Jüngling abberufen worden zu sein. In Madrid kämen menschliche Zergliederungen nicht vor. Und doch biete grade die Erkenntnis vom Bau des menschlichen Körpers bei ihrer Wichtigkeit und Mannigfaltigkeit dem, der sich damit beschäf- tigt, immer wieder etwas neues dar (novi semper aliquid p. 1 sq. Examen Falloppi). Den so eingeleiteten, am 27. Dezember 1561 be- endeten Brief an Faloppio gab Vesal in Madrid dem nach Venedig zurückkehrenden Gesandten mit. Paolo Tiepolo (Teupulus Venetus) aber konnte viele Monate!) nicht abreisen, wegen des fran- zösisch-türkisch-afrikanischen Krieges. Inzwischen starb Faloppio. Und Vesal selber traf in Venedig ein. Niemand wußte hier, wohin Vesal’s Werk geraten war. Als man?) ihn kurz vor seiner Abreise nach Palästina zu Venedig im Buchladen des Sienensers Franeisceus de Franeiseis danach fragte, verwies er auf Tiepolo. Der Buch- händler holte es ab und so erschien es zu Venedig am 24. Mai 15642). Doch auch ein Franz Puteus, von dem uns Haeser (II, 39) nichts zu melden weiß, obwohl ihn schon Kurt Sprengel mehrfach berücksichtigt (III, 55. 102. 118. 120. 133), hatte zu Venedig 1562 eine Apologie der galenischen Anatomie gegen Vesal herausge- geben. Vesal mochte den Pozzi von Vercelli, der in Bologna seinen Sektionen beigewohnt hatte (p. 81), nicht persönlich angreifen. Und da es sich in dem Streit vornämlich um einen Knochen handelt, der einem Keile ähnlich sieht (cum cuneo assimilatum os), so nannte Vesal sich pseudonym Gabriel Cuneus (Keil) aus Mailand und ließ unter diesem Titel zu Venedig (1564. 8°) seine Kritik der Pozzi’- schen Schrift erscheinen ®). Er genoss dadurch den Vorteil, ohne sich selbst zu loben, den Vesal loben und verteidigen zu können. Als fingierter Mailänder nimmt er gegen Cuneus Partei für den Hiero- nymus Cardanus, als die größte Zierde unseres Vaterlandes (ela- rissimum nostrae patriae decus) und für die anderen „mathematischen“ Aerzte seines Zeitalters, Fernel seinen ehemaligen Lehrer (cf. p. 103), Achill Gasser, Gemma Phrisius, Antonius Gogavinus, welche alle die Sterne beobachtet haben, um die kritischen Tage zu bestimmen (p. 70). Er beruft sich auf den ferrarischen Professor und päbstlichen Leibarzt Joh. Canani, seinen Freund) (p. 11). Er 1) Multis mensibus in Cathalonia haerere cogeretur. 2) Augustin Gadaldinus und Andreas Marinus. 3) Anatomicarum Gabrielis Faloppii observationum examen. Venetiis, apud Franceiscum de Franeiseis, Senensem 1564. 4) Gabrielis Cunei Mediolanensis Apologiae Franeisei Putei pro Galeno in Anatome Examen, 5) Auch im Examen Faloppii p. 71 nennt er Jo. Canani den noster com- 414 Edinger, Bau der nervösen Zentralorgane. greift (p. 16) den Tübinger Leonhard Fuchs (7 1565) an, ferner einen ungenannten Spanier, unter dem wir vielleicht den kaiserlich- königlichen Leibarzt Antonius Fossanus, der durch ihn an den Höfen Karl V. und Philipp’s H. viel von seinen Einkünften eingebüßt habe (p. 4), verstehen können, ganz besonders energisch aber den Götzen der damaligen Mediziner, den Mann von Pergamos. Man erzählt, dass auch dieser letzte Besuch Italiens seitens Vesal’s einem wahren Triumphzuge geglichen habet). Dennoch konnte man betreffs der Wiederbesetzung der Professur zu keiner Entscheidnng kommen. Vesal reiste über Cypern mit dem General Malatesta de Remini nach Jerusalem. Erst hier soll ihn der Ruf des Senats von Venedig erreicht haben. Um die Stelle Faloppio’s einzunehmen, begab er sich alsbald auf den Heimweg. Allein am 2. Oktober 1564 erlitt sein Fahrzeug Schiffbruch an der Küste von Zante. Vesal erkrankte und starb in Hunger und Elend am 15. Oktober 1564. Haeser, welcher Burggraeve (p. 52 sv.) folgt, auch das Wieder- erkennen durch einen Goldschmied, der ihm in der Marienkirche zu Zante ein einfaches Grabmal setzte?), erwähnt, setzt hier (S. 35) fälschlich seinen Tod ein Jahr zu spät). L. Edinger, Zehn Vorlesungen über den Bau der nervösen Zentralorgane. Leipzig. F. W. Vogel. 1885. Hyrtl sagt in seinem Lehrbuche der Anatomie, der feinere Bau des Gehirns sei ein mit sieben Siegeln verschlossenes Buch und würde das auch für die Zukunft bleiben. Es ist ja richtig, gar vieles hat sich bis jetzt hartnäckig unserer Erkenntnis entzogen, aber in dieser Allgemeinheit möchte doch der Ausspruch des großen Wiener Ana- tomen gegenwärtig keine Giltigkeit mehr beanspruchen dürfen. Die bahnbrechenden Arbeiten von Stilling, Meynert, Schwalbe, Gudden, Charcot, Munk ete. haben uns manchen Einblick munis amicus; p. 83 freilich meint er, Cananus scheine sich über ihn lustig gemacht zu haben, da wo er dem Amatus (Lusitanus) beipflichtete. 4) In Padua führt Borgarutius unter Vesal’s besonderen Gönnern den Patrizier Jacob Antonius Cortusius an, der seiner Zeit dem berühmten botanischen Garten vorstand. 2) Die Inschrift lautet: Andreae Vesalii Bruxellensis tumulus. Qui obiit Idibus, Octobris anno 1564, aetatis vero suae quinquagesimo, quum Hieroso- lymis rediisset. 3) 1565, obwohl er Vesal 31. Dez. 1514 geboren werden und im fünfzigsten Lebensjahre sterben lässt. Behrens, Biologische Station in Granton. 415 in den feinern Bau dieses geheimnisvollen Organs eröffnet. Man hat die Nerven teilweise bis zu ihren Zentren zu verfolgen gelernt, man hat die Gesetzmäßigkeit der Gehirnwindungen und ihren Zusammen- hang erkannt, in dem sie sowohl mit tiefer liegenden Gehirnteilen, als auch ganz besonders mit physiologischen Prozessen des Indivi- duums stehen. Diese Kenntnisse sind die Frucht teils anatomischer Studien, teils physiologischer Experimente, teils aber auch patholo- gischer Beobachtungen gewesen, und grade letzterer Umstand macht es notwendig, dass der praktische Mediziner sich gegenwärtig mehr mit dem feinern Bau der nervösen Zentralorgane zu beschäftigen hat, als es früher nötig gewesen. Es ist daher gewiss das Erscheinen eines Buches zu begrüßen, das in kompendiöser Form die Summe der Erkenntnisse gibt, welche durch die umfänglichen Arbeiten der Autoren gewonnen wurden, und so dieselben einem ärztlichen Publi- kum — sit venia verbo — mundgerecht macht. Dieser Aufgabe hat sich Edinger unterzogen und damit, glaube ich, gewiss dem Arzte sowohl als dem Studierenden einen Gefallen erwiesen. Das Buch ist das Ergebnis einer Serie von Vorträgen, die Verf. vor einem Audi- torium von praktischen Aerzten gehalten und demgemäß auch in die Form von Vorlesungen gekleidet. Dabei musste natürlich vorausge- setzt werden, dass der Leser in der gröbern Anatomie der nervösen Zentralorgane sich schon einigermaßen zuhause fühlt, und es ist mehr darauf abgesehen, den Zusammenhang der einzelnen Teile unter einander, sowie die verschlungenen Wege zu zeigen, welche die Ner- venbahnen ziehen. Die komplizierten Verhältnisse, welche sich dabei vorfinden, werden durch die klare Darstellung möglichst verständlich und fasslich gemacht, und der Text wird darin unterstützt durch eine große Reihe sehr guter übersichtlicher, meist nach Originalzeich- nungen gefertigter Illustrationen. Der Leser wird also aus dem Edinger’schen Buche einen reichen Schatz von Kenntnissen sich zu eigen machen können und wir wünschen demselben deshalb eine weite Verbreitung. F. H. Die biologische Station im Granton, Edinburgh, ist durch die Aufstellung eines Systems großer Wasserbebälter, die mit einer konstanten Zirkulation von Seewasser versehen sind, kürzlich bedeutend er- weitert worden. Von diesen Behältern sind 5 flach, die beiden anderen tief; die letzteren sind vorn mit Glaswänden zur Beobachtung der in ihnen befind- lichen Tiere versehen. Einer der letzterwähnten Behälter ist zum Studium der bisher noch ziemlich wenig bekannten Lebensweise von Myzxine glutinosa bestimmt, von diesem Tiere sind jetzt etwa 150 Exemplare lebend in den Behälter eingesetzt. Da ein früherer Versuch zeigte, dass diese Spezies, wenn sie sich selbst überlassen ist, sich in die Schlammschicht, welche man auf dem 416 Behrens, Biologische Station in Granton. Boden des Aquariums anbringt, eingräbt und stundenlang nur das zum Atmen verlängerte Maul hervorstreckt, wobei dauernd ein Wasserstrom durch das Nasenloch in die Luftröhre ein und zu den beiden Kiemenöffnungen wieder heraustritt, wurden von dem Seeboden in der Gegend um St. Abb’s Head, wo die Tiere in großer Menge vorkommen, eine Quantität des dort befindlichen weichen, schwarzen Schlammes entnommen und in den Behälter zu Granton gebracht, wo die Tiere sich jetzt darin wie Regenwürmer in der Erde ver- teilt haben. Einige der flachen Behälter sind zu Studien über die Entwicklung der Austern bestimmt. Für die Monate Juli und August ist noch eine zeitweilige Abteilung des Instituts in Millport am Clyde-Busen organisiert. Das schwimmende Labora- torium der Station, die „Arche“, ist dort in ruhigem Wasser vor einer der kleinen Inseln der Millport-Bucht vor Anker gegangen und auch die Yacht „Medusa* ist dort stationiert, um Studienmaterial einzusammeln; mehrere Forscher werden die ganze Zeit oder wenigstens einige Wochen des Aufent- halts der „Arche“ in Millport arbeiten, so dass man der in Aussicht genom- menen Publikation ihrer Arbeiten, der zugleich weitere frühere Forschnngen über die Fauna des Clyde-Busens angeschlossen werden sollen, mit frohen Erwartungen entgegensehen kann. Behrens (Gütersloh). Verlag von Eduard Besold in Erlangen. Soeben erschien: Zoologisches Taschenbuch für Studirende. Dritte Auflage. 12°. in Leinwandband. Preis 3 Mark. Dieses Taschenbuch, sagt im Vorworte der Herausgeber, Professor Dr. E. Selenka, hat den Zweck, den Zuhörern während der Vorlesungen und prak- tischen Uebungen zur Eintragung von Skizzen und Notizen zu dienen und zu- gleich die systematische Uebersicht zu erleichtern. Verlag von AUGUST HIRSCHWALD in Berlin. Soeben erschien: Die Gasanalyse und ihre physiologische Anwendung nach verbesserten Methoden von Dr. J. Geppert. 1885. gr. 8. Mit 1 Tafel und 13 Holzschn. 4M. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. =: Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Uentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. V. Band. 15. September 1885. Nr. 14. Inhalt: Cohn, Ueber Schimmelpilze als Gärungserreger. — Wilekens, Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologte der Haustiere. 6. Die kamelartigen Tieree. — Dalla Rosa, Das postembryonale Wachstum des menschlichen Schläfemuskels und die mit demselben zusammenhängenden Ver- änderungen des knöchernen Schädels. — Tollin, Andreas Vesal (5. Fort- setzung). — Die 12. Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege. F. Cohn, Ueber Schimmelpilze als Gärungserreger. Jahresber. d. Schles. Gesellsch. f. vaterländ. Kultur zu Breslau. LXI. 1884. Verf. hatte Gelegenheit einige frische Körner von Tane Kosi zu untersuchen. Bekanntlich wird so die Mutterhefe des japanischen Reisweines (Sak&) bezeichnet. Es sind Reiskörner, die mit dem Mycel und den Conidienträgern (mit grünlich - gelben Conidienketten) des Aspergillus Oryzae Ahlburg überzogen sind. Die Gärung wird von dem Mycel des Pilzes eingeleitet, ehe noch von einer Fruktifika- tion etwas zu sehen ist. Zur Bereitung des Sak& wird der Reis zuerst „gedämpft“, so dass das Stärkemehl dabei verkleistert und dann mit den Körnern von Tune Kosi vermengt. Schon nach ver- hältnismäßig kurzer Zeit ist er dann mit einem weichen, weißen und glänzenden Mycel bedeckt, das dureh die ganze Reismasse sich hin- durchzieht und dieser einen apfel- oder ananasähnlichen Geruch mit- teilt. Um eine Fruktifikation des Mycels zu verhindern, bringt man zu dieser Masse wieder frischen gedämpften Reis und wiederholt diese Prozedur noch mehreremals in Zwischenräumen von je 2 bis 3 Tagen. Das Ganze wird sodann in einem Holzbottich mit Wasser zu einem zähen Brei angerührt und bei einer Temperatur von 20° der Alkoholgärung überlassen, welche nach 8—9 Tagen eintritt. Der Reisbrei, den die Japaner in diesem Zustande Moto nennen, steigt unter lebhafter Kohlensäureentwicklung in die Höhe, dabei von Tag zu Tag dünnflüssiger und süßer werdend. Nach wenigen Wochen (2—3) ist der Gärungsprozess beendet und der Reiswein, Sake, 27 418 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. trennt sich als schöne goldgelbe, Sherry-ähnlich riechende und schmeckende Flüssigkeit von dem Rückstand des Reisbreies. Der im botanischen Institut zu Breslau gewonnene Sak& enthielt 13,9%/, Al- kohol. Genauere Verfolgung des Prozesses ergab, dass das Asper- gillus-Mycel den Stärkekleister in Glykose umwandelt und also die Stelle der Diastase im Gerstenmalz vertritt. Das Ferment selbst ist nicht etwa in der lebenden Pilzzelle gegeben, sondern lässt sich aus den getöteten Mycelfäden ausziehen. Auch dieser Auszug bewirkt Verzuckerung und Gärung. Bei der Gärung stirbt mit steigendem Alkoholgehalt der Aspergillus allmählich ab, ohne dass jedoch der Verzuckerung Einhalt gethan wird. Wie bei anderen Alkoholgärungen wird auch hier die eigentliche Gärung durch einen Saccharomyces bewirkt, der in Japan stets schon in dem als Mutterhefe verwendeten Reisbrei sich findet, mit dem Aspergillus aber nichts zu thun hat. Es scheint sich diese Hefe von der gewöhnlichen Hefe in mehrfacher Beziehung zu unterscheiden. — Ein ebenfalls durch den Reis- Aspergillus entstandenes Produkt ist die sogenannte Sojasauce. Die zur Bereitung dienenden Soja- bohnen enthalten wenig Stärke, aber viel Fett und Kasein. Die weich gekochten Bohnen werden mit gerösteten Gerstengraupen vermengt, mit geröstetem Gerstenmehle bestreut und dann mit dem grünlich- gelben Conidienstaube des Aspergillus stark durchsetzt. Bei 30° fruk- tifiziert das sich entwickelnde Mycel binnen 4 Tagen, und dann wird die ganze Masse mit einer 16prozentigen Kochsalzlösung verrieben. In dieser stirbt der Aspergillus ab, es bildet sich aber dafür ein an- derer Pilz, eine Chalara, ähnlich demjenigen, der bei der Sauerkraut- gärung auftritt. Nach einer durch diesen eingeleiteten Gärung trennt sich die dunkelbraune, an Fleischbrühe erinnernde Flüssigkeit von dem Rückstande, die Sojasauce. C. Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haustiere '). 6. Die kamelartigen Tiere (Cameliden). Die Familie der Cameliden, die gegenwärtig nur noch in zwei Gattungen — Kamel und Llama — die Erde bewohnt, war zur Ter- tiärzeit und selbst noch zur Zeit des Diluviums in zahlreichen Formen verbreitet. Ihre ursprüngliche Heimat war Amerika. Ihre Abstam- mung ist heute noch nicht vollkommen aufgeklärt. Nach O. C. Marsh („Introduction and Succession of Vertebrate Life in America“ in Am. Journ. of sc. and arts, 1877, vol. XIV. p. 365) trennte sich im Eocän von der ursprünglichen Linie der halbmondzähnigen Paarhufer eine Nebenlinie ab, die durch die Gattung Purameryx zu den Kamelen 1) Vgl. Bd. V Nr. 1 dieser Zeitschrift. 6. Die kamelartigen Tiere. 419 und Llamas führt. Diese Gattung war nahe verwandt mit der Fa- milie der Helohyiden, die zu den Vorfahren der amerikanischen Schweine gehört. Der Ursprung der Cameliden liegt also auf einem Gebiete, das den Paarhufern gemeinsam war, und von dem einerseits die schweineartigen Tiere, anderseits die Wiederkäuer ihren Ausgang nahmen. Die Cameliden scheinen jedoch gleich anfangs eine andere Entwieklungsrichtung genommen zu haben als die übrigen Wieder- käuer, wenigstens kennen wir keine gemeinsamen Stammformen, welche die Cameliden mit den Hirschen und den Antilopen verbin- den; von einer Verwandtschaft der Cameliden mit den Rindern und Schafen kann demnach gar keine Rede sein. Die älteste bisher bekannt gewordene Form der Cameliden ist Poebrotherium Wilsoni, von der Leidy (Ext. mamm. fauna of Da- kota and Nebraska in Journ. of the Acad. of nat. sc. of Philadel- phia, 1869, p. 141) den Gesichtsteil eines Schädels beschreibt, der in der miocänen White-River-Schicht der Mauvaises Terres gefunden wurde; erhalten waren an demselben der größere Teil beider Kiefer, der mittlere Teil des Gesichtes, Teile der Augenhöhle und des Schä- delgrundes mit den Gehörblasen. Der übrig gebliebene Teil des Ge- siehtes ist lang, schmal und kegelförmig (tapering); von dem Vor- derrande der Augenhöhle schrägt er sich ab nach vorn und einwärts, ohne durch Thränengruben eingedrückt zu sein. Die Augenhöhle scheint die gewöhnliche Größe gehabt zu haben wie die der gegen- wärtigen Wiederkäuer; ihr Vorderrand liegt in einer Linie mit der Mitte der Vorderhälfte des zweiten obern Molarzahnes. Die Gesichts- fläche der Thränenbeine ist länglich-viereckig; sie beteiligt sich an der allgemeinen Schräge des angrenzenden Gesichtsteiles. Die Ge- hörblasen sind von ungewöhnlicher Größe, aber der äußere Gehör- gang erscheint als ein kleines Loch. Der Unterkiefer nähert sich am meisten der Form des lebenden Kamels; sein unterer Rand ist nahezu wagerecht wie beim Kamel, aber er ist etwas mehr gebogen; sein Körper ist sehr dick, in der Mitte am meisten gewölbt und hinten, unter den Prämolaren, am meisten senkrecht. Der hintere Teil des Unterkiefers ist von verhältnismäßig großer Breite, und der hintere Rand bildet einen hakenförmigen Fortsatz wie bei der Kamelfamilie. Soweit der Gelenkkopf des Unterkiefers erhalten ist, scheint er dem des Llamas zu gleichen; der Schnabelfortsatz (coronoid process) scheint ähnlich wie bei letzterem, aber nicht so lang zu sein. Das Kinnloch liegt unter dem Hinterteile des vordersten Prämolarzahnes, entspre- chend dem Hinterteile der Kinnfuge. Vom Gebiss waren erhalten jederseits drei Molaren und vier Milch-Prämolaren, mit Ausnahme des vordersten im Unterkiefer; der vorderste Prämolarzahn des Ober- kiefers stand von dem folgenden vier Linien entfernt. Die Milch- Prämolaren zeigen in Form und Bau dasselbe Verhältnis zum bestän- digen Gebiss wie bei den lebenden Wiederkäuern. Die Molaren 27 23 420 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. haben in beiden Kiefern die regelmäßige Bildung wie bei den Wie- derkäuern im allgemeinen. — Nach den in Naturgröße abgebildeten Backenzähnen kann Poebrotherium keinesfalls größer gewesen sein als ein Llama. Die Abbildung des Schädelstückes fehlt in dem vor- liegenden Werke, findet sich aber in desselben Verfassers „Ancient Fauna of Nebraska“ Taf. 1. Von Poebrotherium Wilson! Leidy’s beschreibt Edw. D. Cope (Rep. on the Stratigraphy and pliocene vertebrate Palaeont. of Nor- tbern Colorado in Bull. of the Un. St. geol. and geogr. Survey, 1874, Nr. 1, p. 24) außer dem Schädel auch noch Wirbel und Glieder- knochen. Die Gebissformel ist: Schneidezähne 3, Ecekzähne 1, Prä- molaren 4, Molaren 3 (wahrscheinlich gleich in beiden Kiefern); die Barre befindet sich nur zwischen dem vierten (vordersten) und dritten Prämolarzahn; der Eekzahn steht dem dritten Schneidezahn mehr oder weniger nahe. Der Atlas ist breiter als lang, der dritte und vierte Halswirbel, verbreitert und durchaus verlängert, zeigt die den Kameliden eigentümliche Lage des Kanals für die Wirbelarterie; er durchsetzt einen Teil der Basis des Wirbelbogens und nicht den Querfortsatz. Der Oberarm ist am untern Ende etwas verbreitert, und er ist abgestutzt von der innern Gelenkrolle ab. Der Unterarm ist lang und schlank und das Ellenbogenbein erscheint in seiner ganzen Länge verwachsen mit der Speiche, mit Ausnahme eines Loches nahe am untern Ende; das letztere zeigt drei Gelenkflächen, zwei seitliche und eine mittlere. Die Gelenkfläche für das Os lunare ist stark eingedrückt; das Scaphoid und das Uneciforme ragen gleich weit vor. Der Carpus besteht aus acht Knochen. Das Trapezium ist klein und rückwärts gelegen; das kleine Trapezoid hat eine fast ganz seitliche Stellung, und es bildet einen Winkel mit dem Magnum ; das letztere ist platt und quer gestellt (transverse), das Uneiforme ist fast ebenso breit, aber weniger platt. Der Metacarpus besteht aus zwei mittleren Haupt- und zwei seitlichen verkümmerten Knochen; der zweite und fünfte ist sehr kurz und keilförmig. Die ersten Zehen- glieder sind kurz und unten mit einer Rollfurche versehen; die zweiten Zehenglieder sind halb so lang. Aus dieser Beschreibung ergeben sich nach Cope einige wich- tige Beziehungen dieser Gattung. Die Halswirbel zeigen die Ver- wandtschaft zu den Kameliden an. Die Trennung des Trapezoids kommt vor bei den Kamelen und sehr wenigen anderen Wieder- käuern; im Trapezium zeigt Poebrotherium Verwandtschaften zu äl- teren Formen, wie den Anoplotheroiden und anderen. Die Verein- fachung der Zehen zu zwei und die Trennung der Metakarpalien weist nach derselben Richtung; in der That ist die Zahl der Kar- palien und Metakarpalien genau so wie bei Xiphodon. Aber die ge- genseitigen Beziehungen dieser Knochen sind gänzlich verschieden von denen dieser Gattung, sie gleichen eher denen der Kameliden 6. Die kamelartigen Tiere. 421 und anderer Wiederkäuer, in dem was Kowalewsky den „ange- passten Typus“ nennt. Poebrotherium ist ein mehr verallgemeinerter (generalized) Typus als Gelocus, und in seinem getrennten Trapezoid und den nicht verwachsenen Metakarpalien stellt es eine frühere Stufe dar in der geschichtlichen Entwicklung der Wiederkäuer. Es zeigt auch Verwandtschaft zu einem frühern Typus als die Traguliden, welche einst getrennte Metakarpalien hatten, bei denen aber das Tra- pezoid mit dem Os magnum verwachsen war. Poebrotherium als un- mittelbarer Vorfahr der Kamele zeigt an, dass die lebenden Wieder- käuer von den Linien abstammen, welche vertreten sind durch @elocus für die typischen Formen, durch Poebrotherium für die Kamele und Hyaemoschus für die Traguliden. Die erste dieser Gattungen kann nicht von der zweiten abstammen, mit Rücksicht auf die dem Kamel eigentümlichen Halswirbel, und alle drei Gattungen müssen auf die Quelle zurückgeführt werden, aus welcher auch die Anoplotheroiden ihren Ursprung nehmen, vielleicht auf die wenig bekannten Dicho- dontiden. Aus der White-River-Schicht der Mauvaises Terres stammt das Vorderteil eines linken Unterkiefers mit drei Schneidezahnfächern, dem Eckzahn, einem Teil eines eekzahnförmigen Prämolaren und zwei anderen Prämolaren, welche Fossilien Leidy (a. a. ©. S. 160) unter dem Namen Protomeryx Hallii‘) beschreibt. Im Vergleiche mit dem entsprechenden Teile des Unterkiefers vom Kamel oder Llama ist der des Fossiles von verhältnismäßig größerer Tiefe, äußerlich weniger gewölbt und in der Kinnfuge kürzer und schräger. Der Eekzahn hat nahezu dieselbe relative Stellung wie beim Kamel; er krümmt sich aufwärts, vorwärts und etwas auswärts; seine Wurzel ist kräftig und etwas höckrig (gibbous). Auch der eckzahnförmige (vierte) Prämolar scheint dieselbe relative Stellung zu haben wie beim Kamel; er steht 4'/, Linien von dem dritten Prämolaren entfernt. Die Zahnformel von Protomeryx (3 Schneidezähne, 1 Eekzahn, 4 Prämolaren und 3 Molaren) ist dieselbe wie bei Procamelus. Die Gattung Procamelus wurde errichtet auf zahlreichen Kiefer- stücken mit Zähnen, die aus der plioeänen Schicht des Niobrara River stammen. Das Gebiss von Procamelus unterscheidet sich von dem des Kamels durch den Mehrbesitz eines Prämolaren im Oberkiefer und zweier Prämolaren im Unterkiefer. Im Vergleiche zu den leben- den Mitgliedern der Familie stellt das Gebiss von Procamelus ihren frühern oder weniger reifen Zustand dar. Die Molaren und Prämo- laren, mit Ausnahme des vordersten Prämolarzahns, bilden eine ununterbrochene Reihe, wie bei der kleinern Zahl der entsprechenden Zähne der lebenden Mitglieder der Kamelfamilie. Die Molaren haben 1) Cope a. a.0. S.23 erwähnt diese Art unter dem Namen Poebrotherium Halii, und er sagt, dass sie in den Zahnmerkmalen sehr übereinstimmt mit P. Wilsoni und sich nur durch die etwas bedeutendere Größe unterscheidet. 422 Wilekens, Paläontologie der Haustiere. dieselbe Form wie beim Kamel, aber sie sind etwas kleiner im Ver- hältnis zur Größe des Kiefers. Der erste (hinterste), Prämolarzahn gleicht dem des Kamels; der zweite des Oberkiefers ist viel besser entwickelt, der dritte fehlt dem bleibenden Gebiss des Kamels und des Llamas in beiden Kiefern, und der zweite außerdem dem bleiben- den Gebiss des Unterkiefers. Der vierte (vorderste) Prämolarzahn des Unterkiefers von Procamelus ist eckzahnförmig und von dem fol- genden getrennt, wie beim Kamel, nur ist der Zwischenraum bei jenem kleiner; der entsprechende Zahn fehlt dem bleibenden Gebiss des Llamas. Der Unterkiefer zeigt stärkere Verhältnisse im Ver- gleiche zur Größe der Zähne als bei Kamel und Llama; sein Vorder- teil ist verhältnismäßig tiefer und die Kinnfuge viel kürzer; sein Hinterteil ist von verhältnismäßig größerer Breite und der aufstei- gende Ast kürzer. Procamelus stimmt mit der lebenden Kamelfamilie überein in dem Besitz eines Fortsatzes hinter dem Schnabelfortsatze (post-coronoid process) des Unterkiefers. Der aufsteigende Ast zeigt eine gut mar- kierte äußere Aushöhlung oder Grube, welche vergleichsweise schwach entwickelt ist beim Llama, aber dem Kamel und den übrigen Wieder- käuern fehlt. Leidy unterscheidet vier Arten von Procamelus: P. robustus, P. ocei- dentalis, P. gracilis und P. virginiensis; die letzt erwähnte Art stammt aus der Mioeänschicht von Virginien, und Leidy beschreibt sie in den Contributions to the ext. vert. fauna of the Western Territories, 1873, p- 259. Nur P. robustus hatte ungefähr die Größe eines lebenden Kamels, die übrigen Arten erreichten kaum zwei Drittel desselben oder sie gliehen an Größe dem Llama. Cope (a. a. ©. S. 20 und „Reports upon the extinet Vertebrata obtained in New-Mexico“ in Report upon Un. St. Geogr. Surveys, vol. IV. Paleontol. 1877, p. 325) beschreibt mehrere Fossilien von Procamelus aus der pliocänen Loup-Fork-Schicht Neu-Mexikos. Die Eekzähne Er Zahnformel gibt er an wie folgt: Schneidezähne — 1 3 4 3 Prämolaren ER Molaren 3 Der von ihm P. heterodontus genann- ten Art schreibt er drei Schneidezähne im Zwischenkiefer zu. In Neu-Mexiko fand C. einen nahezu vollständigen Schädel von P. ocei- dentalis, der an einer Seite ein kleines Zahnfach mit der kleinen Krone eines zweiten Schneidezahnes enthielt, während das Zahnfach der andern Seite seicht und leer war. Da der letzte Molarzahn noch nicht völlig durchgebrochen war, so hält C. jenen zweiten Schneide- zahn für einen Milchzahn, der vor der Reife des Tieres ausfällt. Procamelus unterscheidet sich von den lebenden Kamelen nur durch das längere Verweilen dieses vergänglichen Sehneidezahnes. P. he- terodontus aber unterscheidet sich durch die drei Schneidezähne in 6. Die kamelartigen Tiere. 425 einer Zwischenkieferhälfte von Procamelus, weshalb C. jenem einen besondern Gattungsnamen — Protolabis — beilegt; die typische und einzig bekannte Art ist Protolabis heterodontus aus der Loup-Fork- Schicht von Nordost - Colorado. In dem entsprechenden Horizont von Colorado stimmen die Ver- hältnisse der Kiefer und Zähne der Gattung Procamelus nicht überein mit denen der von Leidy benannten Arten; eine Art von Colorado steht an Größe in der Mitte zwischen P. gracilis und P. occidentalis, eine andere zwischen der letztern und P. robustus. Die ersterwähnte Art setzte C. vorläufig gleich mit P. occidentalis, aber er glaubt, dass sie sich von dieser unterscheidet (hauptsächlich durch die im Ver- hältnis zu den Prämolaren kürzere Reihe der Molaren); er gibt ihr den besondern Namen P. fissidens, die zweite Art nennt er P. an- gustidens. Die letztgenannte Art hat die Gestalt des P. robustus Lei- dy’s, aber sie unterscheidet sich von ihr durch die viel schmäleren Zähne, insbesondere des letzten Molaren und des ersten (hintersten) Prämolaren, des viel kleinern ersten Molaren, sowie durch die gänz- lich verschiedene Form des dritten Prämolarzahnes. Die Barre ist lang, und der vierte Prämolarzahn, von zusammengepresster Form, steht in gleicher Entfernung vom Eckzahn und dem dritten Prämo- laren. Die Lücke vor dem Eckzahn ist so breit wie ein Zahn. Die unteren Schneidezähne sind breit und schräg. Die untere hintere Grenze der Kinnfuge liegt fast unmittelbar unter dem vierten (vor- dersten) Prämolarzahn. In einem weichen Kalk -Sandstein bei Pueblo village of Pojuaque fand Cope den Schädel und einen beträchtlichen Teil des Skelets von Procamelus occidentalis Leidy’s; die Fossilien waren im guten Zu- stande. Der Schädel ist lang und vorn schmal; seine Breite gleicht ungefähr der desLlamas, aber er ist beträchtlich länger, hauptsäch- lich vor den Augenhöhlen. Von Wirbeln war eine Anzahl von Hals-, Rücken- und Lendenwirbeln erhalten. Die Halswirbel sind, wie bei den anderen Cameliden, breit, und sie zeigen das typische Merkmal der Gruppe in dem Mangel des Querfortsatzkanals !). Das — bis auf die zwei Paar Hufglieder — vollständige Vor- derglied ist erhalten mit dem untern Teile des Schulterblattes, dessen Gelenkgrube nahezu kreisförmig im Umrisse ist. Der Oberarm ist schlank, und er zeichnet sich aus durch die bedeutende Größe seiner Knochenhöcker (tuberosities); seine Gelenkknorren sind zusammen- gedrückt, und sie zeigen eine Spur eines Höckers nur an der Außen- seite über dem Gelenkknorren (epicondylar tuberosity). Die zusam- menverknöcherten Unterarmknochen (ulna und radius) bilden einen schlanken Knochen mit einer leichten Krümmung des innern Randes am obern Viertel, der aber übrigens nahezu grade ist. Das obere 1) Im Original S. 333 steht vertebral canal, d. h. Wirbelkanals, was wahr- scheinlich eine ungenaue Bezeichnung des Querfortsatzkanales ist. 424 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. Ende des Ellenbogens ist sehr zusammengedrückt und unten etwas scharf (subaeute below); der Ellenbogenhöcker (oleeranon) schließt sich unmittelbar an den Schnabelfortsatz (eoronoid process) an. Die Mittelhandknochen zeigen stets eine Spur der gewöhnlichen längs- verlaufenden Nath, aber sie ist an der Vorderfläche nicht rinnen- förmig; die Hinterfläche ist an den oberen zwei Dritteln konkav; Ge- lenkflächen für verkümmerte seitliche Mittelhandknochen sind nicht vorhanden. Wenn man das Schulterblatt und das Vorderglied (Knochen des Hintergliedes sind in der Beschreibung von Cope nicht erwähnt) von P. oceidentalis vergleicht mit denen vom Llama, so zeigen sich nach C. folgende bemerkenswerte Beziehungen: — die Knochen sind von derselben Länge, aber die der erloschenen Art sind schlanker. Der vorhandene Teil des Schulterblattes der letztern ist sehr ähnlich dem des Llamas, aber die Gelenkgrube ist schmäler. Der Oberarm ist sehr verschieden in seinem obern Teile. Die Röhre des Mittelfußes ist ähnlich, aber schlanker, die Fußwurzelknochen sind, obgleich weniger stark, nahezu ähnlich denen des Llamas. Die Zehenglieder unter- scheiden sich von denen des Llamas einzig durch die größere Her- vorragung des obern Bandhöckers und durch ihren etwas schlan- kern Körper (shaft). Als Ergebnis seiner Vergleiche gibt Cope an, dass P. occiden- talis augenscheinlich ein Tier war etwa so groß wie das Llama, aber von mehr symmetrischen Körperverhältnissen. Der Hals war nicht ganz so unverhältnismäßig lang, während die Glieder schlanker und Kopf und Schnauze mehr verlängert waren. Die Muskelansätze an den Knochen sind im allgemeinen mehr hervorragend, woraus sich schließen lässt: dass das Tier im Leben größere Muskelkraft und insbesondere größere Beweglichkeit besessen hatte. Nach der umfassenden Beschreibung dieser bekanntesten Art von Procamelus durch Cope dürfen wir wohl nicht daran zweifeln, dass diese Gattung eher der Vorfahr des kleinern Llamas als des größern Kamels der Jetztzeit gewesen ist. Mit dem Namen Homocamelus caninus bezeichnet Leidy (Da- kota und Nebraska $. 158) einige Kieferstücke mit Zähnen aus der Plioeänschieht des Niobrara River. Die Kieferknochen dieses Fossils haben nahezu dieselbe Form wie die entsprechenden Teile des Ka- mels. Der Vorderteil des Gesichtes zeigt wie bei diesem Tiere. eine schmale, rüsselartige Verlängerung. Der harte Gaumen ist stärker sewölbt als beim Kamel. Die eekzahnförmigen Schneidezähne, der Eckzahn und der vorderste (vierte) Prämolarzahn sind alle unter einander und von der folgenden zusammenhängenden Reihe der Prä- molaren und Molaren getrennt durch weite bogenförmige (arching) Zwischenräume. Die Lücke (hiatus) vor den Prämolaren ist scharf gerändert, aber weniger gewölbt oder grader als beim Kamel; ihre 6. Die kamelartigen Tiere. AR) Länge beträgt etwa 1'/, Zoll. Zwischen dem Eekzahn und dem letz- ten Schneidezahn — der jenem in Form und Größe gleicht — bleibt eine gewölbte Lücke von etwa !/, Zoll Länge. Mit dem Namen Megalomeryx Niobrarensis bezeichnet Leidy (a. a. ©. S. 161) einen untergegangenen großen Wiederkäuer, von dem er vermutet, dass derselbe der Kamelfamilie angehört. Diese Art wurde errichtet auf zwei Fossilien aus der pliocänen Niobrara- Sammlung des Dr. Hayden, bestehend aus unteren Molarzähnen, von denen einer in einem kleinen Unterkieferstücke saß. Die Zähne zeigen ein Tier an etwa von der Größe des Meryecotherium sibiricum‘). Einer der Zähne schien ein erster Molarzahn zu sein, der mit einem Paar kräftiger Wurzeln in dem Kieferstück befestigt war; der Zahn gleicht in Form und Struktur einem entsprechenden des Kamels, des Llama’s und Schafes, im selben Zustande der Abreibung. Der andere Zahn war ein erster oder zweiter Molar, gleich dem entsprechenden des Kamels. Später spricht Leidy die Vermutung aus, dass diese Zähne einer großen Art von Procamelus angehören. Der unter den Cameliden von Leidy (a. a. O. S.162) angeführte Merycodus necatus aus der White-River-Schicht der Mauvaises Terres scheint nach dem auf Taf. XIV Fig. 9 abgebildeten Unterkieferstück mit Zähnen ein Hirsch gewesen zu sein; Leidy selbst sagt, dass dieses Bruchstück „have nearly the same form and proportions as in the Deer“, während er von den Molaren behauptet: dass „the form and construction of the true molars is almost identical with those of the Sheep“, nur dass ihnen die Falte fehlt, welche das Schaf an der Innenseite des Vorderteils der Molaren besitzt. Cope (Bulletin 1874, Nr. 1. S. 22) unterscheidet noch eine zweite, Merycodus gemmifer genannte Art. In einem Unterkiefer waren die Molaren gut erhalten und in Form und Größe gleich denen von M. necatus Leidy’s, von denen sie sich aber unterschieden dureh den Be- sitz von verkümmerten Säulen zwischen den Haupt-äulen, an deren Basis sie saßen. Dieses Merkmal besaßen die Molaren der Leidy- schen Art nicht. In seinen 1873 erschienenen Contributions bildet Leidy einen beschädigten untern Molarzahn ab — der im Norden von Nebrask: gefunden wurde — den er ebenfalls der zweifelhaften Form Megalo- meryx Niobrarensis zuschreibt, ohne sich auch hier darüber zu ent- scheiden, ob diese Gattung als besondere festzuhalten oder mit der Gattung Procamelus zu vereinigen ist. In den bisher erwähnten Fossilien der nordamerikanischen Ter- tiärschichten haben wir es — abgesehen von der Gattung Merycodus — 1) Merycotherium wurde von L. H. Bojanus (Nova Acta Acad. Leop. Car., 1824, XII, 1 S. 253) auf drei obere Backenzähne — an einem unbestimm- ten Orte in Sibirien gefunden — gegründet als besondere Gattung der Kamel- familie. 426 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. höchst wahrscheinlich mit der gemeinsamen Stammform der ge- genwärtig lebenden Gattungen von Kamel und Llama zu thun. Diese Stammformen scheinen die Diluvialzeit nicht erreicht zu haben !) und sie sind auch bisher in Südamerika nicht gefunden worden. Dagegen treffen wir in Indien die tertiären Ueberreste zweier unzweifelhafter Kamelarten, während die in Europa angeblich von kamelartigen Tieren herrührenden Ueberreste durchaus zweifelhaft erscheinen 2). Falconer und Cautley beschreiben (Faleoner’s palaeontol. Memoirs, 1868, I. p. 227) die fossilen Ueberreste — Schädelstücke, Unterkiefer und Gelenkenden — eines dem heutigen Dromedar ähn- lichen Kamels aus den jüngsten Tertiärschichten der Siwalikhügel am Himalaya, welches sie Camelus Sivalensis nennen. Die Form des Schädels, die Lage der Nähte und die Zähne, beide an Zahl und 1) Leidy (Dakota and Nebraska p. 382) erwähnt in seiner Uebersicht der erloschenen Säugetiere Nordamerikas des Camelops kansanus, bestehend aus einem kleinen Oberkieferstück aus einem postpliocänen Kies von Kansas; aber er meint: „it is not improbable that this genus may on future discovery pro- ve to be the same as Procamelus“. Ausführlicher ist diese Gattung beschrieben in Proc. of the Acad. of nat. se. of Philadelphia, 1854, VII, p. 172. 2) Ueber die drei oberen Backenzähne, den einzigen Ueberresten des schon erwähnten Merycotherium Sibiricum Boj. (von E. F. Germar, Lehrb. d. ges. Mineral., S. 352, Merycotherium giganteum genannt) sagt G. Cuvier (Ossem. foss., 1824, V, 2, p. 508): dass ihre Größe, ihre Form — länger als breit — die Abwesenheit eines kleinen Kegels zwischen ihren Säulen nicht daran zweifeln lassen, dass sie den Kamelen angehören. Bojanus habe diese Aehn- lichkeit sehr wohl bemerkt, aber er habe auch einige Verschiedenheiten be- obachtet, die ihm gerechtfertigt erschienen dem zugehörigen Tiere einen neuen Namen zu geben, obwohl mit dem Zweifel, ob diese Zähne wirklich von einem Kamel stammen, oder von einem riesigen Schafe, oder von einer Antilope (den einzigen Gattungen — sagt Cuvier — denen die kleinen Kegel zwischen den Säulen der Molaren fehlen). Da Bojanus die fraglichen Zähne von einem Händler erworben, der ihm einen bestimmten Fundort nicht angeben konnte, so ist es sehr unwahrscheinlich, dass sie fossil sind (woran auch Cuvier zweifelt), und dass wirklich ein Kamel in vorgeschichtlicher Zeit in Europa gelebt habe. Cuvier (a. a. O.) erwähnt auch, dass ihm Marcel de Serres die Zeichnung von einem fossilen Oberschenkel aus der Umgegend von Montpellier mitgeteilt habe, der dem eines Kamels ähnlich sein soll. Er selbst beschreibt (Ossem. foss. 4. ed., 1835, VI, p. 379) nach eigner Anschauung den untern Teil von einem Oberschenkel mit dem ziemlich gut erhaltenen und noch durch Epiphysennath getrennten Gelenkknorren eines Wiederkäuers aus dem harten Zement einer Knochenbresche von Nizza; seine Schlussbemerkung über die Form des als „tete“ bezeichneten Gelenkendes: „sur ces divers points, cette t&te se rapprocherait davantage des formes du lama“ (que des cerf) — hat Bronn (Lethaea geogn., 1838, II, S.838) zu der Annahme geführt: dass in der Nizzaer Knochenbresche wirklich ein Ueberrest eines Llamas enthalten gewesen sei, woran doch wohl nicht ernstlich zu denken ist. Mir macht das von C. auf Taf. 176 Fig. 10 abgebildete untere Oberschenkelstück den Eindruck, als ob es von einem jungen Pferde herrührt. 6. Die kamelartigen Tiere. 42 Charakter, sind sehr ähnlich denen des gemeinen Kamels oder Dro- medars, das in den bengalischen Provinzen in Gebrauch ist. An dem Taf. 18, Fig. 1 abgebildeten Schädelstück erkennt man die drei von F. und €. angegebenen auffälligsten Merkmale, durch die das Kamel sich von allen anderen Wiederkäuern unterscheidet, nämlich die abstechende (contrasted) Breite der Stirnbeine und Gesichts. knochen, die außerordentliche Schmalheit des hintern Endes der Nasenbeine und die große Entfernung zwischen diesem Punkte und dem Vorderrande der Augenhöhlen. In dem Fossil besteht eine große Aehnlichkeit in allen diesen Punkten mit den jetzt lebenden Arten des Kamels; die Stirnbeule ist stark entwickelt und der tiefe Augen- brauen-Einschnitt ist wohl bemerkbar. Die Schmalheit der Nasen- beine an ihrer Verbindung mit dem Stirnbein ist gut markiert; die Augenhöhlen zeigen bei seitlicher Ansicht eine ungewöhnliche Länge von vorn nach hinten, während die Augenhöhlen des lebendigen Ka- mels entweder einen vollkommenen Kreis bilden, oder ihre größte Länge im senkrechten Durchmesser haben. Der Unterkiefer des lebenden Kamels scheint an dem Zahnfach des letzten Molaren, am Anfange des aufsteigenden Astes höher zu sein, was wahrscheinlich eine Folge des Altersunterschiedes ist und der vollkommenern Ent- wicklung der Zähne; in jeder andern Beziehung aber ist die Aehn- lichkeit auffallend (striking). Die Figur des (©. Sivalensis war etwa um ein Siebentel höher als die des lebenden Dromedars. Dagegen stand die andere Form des Kamels — Camelus antiquus — dessen Ueberreste an dem gleichen Fundorte vorkamen, an Größe dem Llama näher. Diese kleinere Art des siwalischen Kamels ist in Faleco- ner’s hinterlassenen Schriften nur beiläufig erwähnt, aber nicht be- schrieben und abgebildet; wir erfahren nur, dass der Schädel von ©. antigquus zwischen den Gelenkgruben für den Unterkiefer breiter war als der des lebenden Kamels, und dass in dieser Beziehung O. Sivalensis und C. antiguus übereinstimmen. Diese größere Breite an der bezeichneten Stelle des Schädels erklärt Cautley (in einem Nach- trage zu vorstehend erwähnter Beschreibung, a. a. O. S. 244) für die bemerkenswerteste Verschiedenheit zwischen den beiden siwalischen und den lebenden Kamelen. Außerdem erwähnt er noch, dass der Spalt (cleft) an dem untern Ende der vorderen und hinteren Mittel- fußknochen in dem Fossil etwas kleiner erscheint als in dem leben- den Kamel. Fast gleichzeitig mit den eben genannten Forschern fand Henri Durand im Sandstein am Rande des südlichen Abhanges des Unter- Himalaya ein Schädelstück, dessen Aehnlichkeit mit dem Kamel er erkannt hat. Nach einer von ihm nach Paris gesendeten Beschreibung und Zeichnung hat de Blainville (Comptes rendus de l’Acad. des Sc., 1836, 2. sem. p. 528) der dortigen Akademie darüber Mitteilung gemacht; Bl. hält es für unmöglich das Fossil — nach der Zeich- 428 Wilckens, Paläontologie der Haustiere nung — nicht auf ein einhöckriges Kamel oder Dromedar zu be- ziehen. Die einzige Verschiedenheit von diesem besteht nach Du- rand in der Form und noch mehr in der Reihenanordnung (dispo- sition seriale) der kleinen Zahl von Backenzähnen, welche in dem Musterstück noch geblieben waren. Am gleichen Orte fand Baker („Note sur le Chameau foss. du Sub-Himalaya“ in Ann. des sc. nat. ser. 2, t. VII. 1837. p. 62) einen Schädel mit Teilen zweier Reihen oberer Backenzähne und den beim Kamel so eigentümlichen Hinterhaupts- und Scheitelbeinen, ferner ein Oberkieferstück und zwei Unterkieferstücke mit Backenzähnen, das untere Ende einer Speiche und das obere und untere Ende eines Metacarpus, welche Teile keinen Unterschied erkennen ließen von denen des gemeinen inländischen Kamels, selbst nieht in der Größe. Später sind auf dem Gebiete der alten Welt angeblich fossile Kamelknochen noch gefunden worden von Newbold auf dem west- lichen Ufer des Roten Meeres. Pietet — dem ich diese Notiz entnehme — aber meint (Traite de Paleontol., Paris 1857, ], p- 345): es sei nicht bewiesen, dass die Fundstelle nieht modernen Ursprunges sei. Da in der alten Welt ältere Formen als die der siwalischen Ka- mele — die den Dromedaren so ähnlich erscheinen — bisher nicht gefunden sind, so hat die Ansicht von Marsh (Am. Journ. of se. and arts, 1877, vol. XIV. p. 365): dass Nordamerika vom Eoeän bis fast zur gegenwärtigen Zeit die Heimat zahlreicher Cameliden gewesen sei und sich nicht bezweifeln lasse, dass sie hier entstanden und nach der alten Welt ausgewandert seien — die höchste Wahrscheimlichkeit für sich. Diese Auswanderung aber muss in spättertiärer Zeit, be- ziehungsweise vor der Diluvialzeit geschehen sein, als Nordamerika noch mit Asien durch Festland verbunden war. Während aber ein Teil der plioeänen Kamele Nordamerikas nordwestlich nach Asien gewandert ist — dem einzigen Weltteile, in dem noch heute wilde Kamele vorkommen und wo es zuerst gezähmt worden ist!) —, wandte sich ein anderer Teil derselben nach Südosten und bevölkerte Südamerika mit den Vorfahren des heutigen Llamas. Die bisher bekannt gewordene älteste Form des Llamas (Au- chenia lama) ist die Gattung Pliauchenia, welehe zu gleicher Zeit mit Procamelus gelebt hat. Die Beschreibung dieser von Cope (Rep. up. Un. St. geogr. Surveys, vol. IV, Paleont. II. p. 340) aufgestellten *) Prschewalski (dritte Reise in Zentral- Asien, 1883, im Auszuge im „Globus“, 1884, Bd. 45, Nr. 17, S. 268) sah wilde Kamele in der tsungarischen Wüste, in den Wüsten am untern Tarim, am Lob-nor, dann in der südlichen Tsungarei, in den tibetischen Vorbergen im nordwestlichen Tzaidam u. a. O. Das wilde Kamel Zentralasiens ist jedenfalls schon in vorgeschichtlicher Zeit in den Hausstand übergeführt und von den alten asiatischen Kulturvölkern schon als Haustier nach Afrika eingeführt worden. 6. Die kamelartigen Tiere. 4929 Gattung wird von ihm eingeleitet mit einer Uebersicht über die bisher bekannt gewordenen fossilen Formen der Cameliden. Die Stamm- linie beginnt im Miocän mit Poebrotherium, welches 4 Prämolaren und 3 Molaren besaß wie die ursprünglichen Säugetiere im allgemeinen; das Tier hatte zwei lange Metakarpalknochen, die noch nicht zu einer Röhre verwachsen waren, die seitlichen Metakarpalknochen waren verkümmert, während die Karpalknochen in der typischen Zahl sie- ben vorhanden waren, wie bei allen Säugetieren mit zahlreichen Zehen. Bei Protolabis in der folgenden Schichtung bleibt jene Zahn- formel bestehen, aber die hinteren Zähne sind mehr prismatisch als in Poebrotherium. Die vollständigen Schneidezähne stellen das ur- sprüngliche Merkmal der Klasse dar; doch da diese Zähne leicht ausfallen, so zeigen sie eine Annäherung an den zahnarmen Zustand, der in diesem Maulteile beim Kamele besteht. In Procamelus tritt das Schneidezahngebiss der gegenwärtigen Cameliden zuerst auf, aber das Backenzahngebiss behält den ursprünglichen Charakter. In den Füßen ist die Annäherung an die lebenden Cameliden größer als im Gebiss. So verschwindet bei Procamelus !) mit den seitlichen ver- kümmerten Metakarpalknochen auch das Trapezoid des Carpus; das Os magnum bleibt getrennt, während die mittleren Metakarpalknochen sich im erwachsenen Alter des Tieres zu einer Röhre vereinigen. In der gleichzeitigen Gattung Pliauchenia ist eine fortschreitende Abän- derung des Gebisses beobachtet. Während die Backenzähne bei Pro- camelus die Formel haben bei Camelus 93: zeigen sie 4—3 4—3’ alas er, Bi ?4—3 ' bei Pliauchenia die mittlere Stellung ee und sie erreichen die 2—3 1—3 Cope erklärt die Entwicklung der lebenden Formen der Camel- den für ein gutes Beispiel der Wirkung der Gesetze der Beschleuni- gung und Verzögerung (laws of acceleration and retardation). Dies erweist C. an dem Llama, bei dem die zur Röhre (Canon) vereinigten Mittelfußknochen während eines längern oder kürzern Abschnittes des fötalen Lebens getrennt bleiben. Da diese Knochenteile beständig getrennt sind in der ältesten (miocänen) Gattung Poebrotherium, so ist es klar, dass die Beschleunigung des Verknöcherungsvorganges ihre Vereinigung in immer früheren Perioden bewirkt hat in den Gattungen späterer Epochen. Dies zeigt sich in der langen Dauer ihrer Trennung bei dem der Loup-Fork-Periode angehörenden Gat- tung Procamelus. Es ist seit Goodsir bekannt, dass die Embryonen von Wiederkäuern eine Reihe von oberen Schneidezähnen zeigen, welche früh verschwinden. Es ist wahrscheinlich, aber nicht gewiss, dass in der miocänen Gattung Poebrotherium die oberen Schneide- niedrigste Zahl bei Auchenia in der Formel 1) Im Original steht Poebrotherium, was offenbar ein Fehler ist. 430 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. zähne stehen bleiben, wie bei verschiedenen gleichzeitigen halbmond- zähnigen Paarhufern. In Protolabis ist diese Entwicklung verzögert, da sie nicht so gereift sind, um durch das ganze Leben in ihren Fächern befestigt zu bleiben. In Procamelus ist die Verzögerung noch größer, indem der erste Schneidezahn eine sehr geringe Größe er- reicht und mit seinem Zahnfach früh verschwindet, während der zweite allein groß genug wird und eine geraume Zeit ein seichtes Zahnfach einnimmt, ohne sich über dieses weiter auszudehnen. In dem ersten Schneidezahn hat der Vorgang der Verzögerung sein not- wendiges Ende erreicht, d. h. die Schwindung, während in den leben- den Cameliden der zweite Schneidezahn auf dieselbe Weise verküm- mert. Bei den übrigen Wiederkäuern ist der dritte oder äußere Schneidezahn demselben Vorgange unterworfen, während bei den Rin- dern die Eckzähne in ihrer Entwicklung bis zum Schwinden (atrophy) verzögert sind. Von Prämolaren besitzt die Gattung Auchenia (das jetzt lebende Llama) jederseits nur zwei; in Poebrotherium beträgt ihre Zahl vier. Der vierte (vorderste) Prämolarzahn ist vorhanden bei Poebrotherium, Protolabis, Procamelus, Pliauchenia und Camelus; er fehlt bei Auchenia und den anderen Wiederkäuern. Bei den letzteren ist er vorhanden im Fötus, aber er verschwindet bald; bei Auchenia erhält er sich nach Owen (ÖOdontography p. 530) etwas länger. Der dritte Prä- molarzahn ist vorhanden bei Poebrotherium, Protolabis und Proca- melus; er fehlt bei Pliauchenia, Camelus und Auchenia. In den bei- den letzten Gattungen zeigt er das Uebergangsmerkmal der Unreife, was vielleicht auch bei Pliauchenia der Fall ist. Es ist klar, dass Verzögerung in der Zufuhr von Nahrungsstoff für den Zahn die Ver- ringerung seiner Größe bewirkt und die Dauer seines Daseins beendet. Von der Gattung Pliauchenia unterscheidet Cope (a. a. Ö. Seite 344 ff. u. Proceedings of the Acad. of nat. Sc. of Philadelphia, 1875, II, p. 258 ff.) zwei Arten — P. Humphesiana und P. vulcanorum — die er selbst im Pliocän von Neu-Mexiko gefunden hat. Die erste Art besteht aus einem linken Unterkieferast mit fehlenden Schneide- zähnen, einem Eckzahn, drei Prämolaren und drei Molaren, d. h. einem Prämolarzahn weniger als in Procamelus und zweien mehr als in Auchenia. Der Eckzahn und der vorderste Prämolarzahn sind auf- fallend stark und durch eine sehr kurze Barre (diastema) voneinander getrennt; der Zwischenraum zwischen dem vierten (vordersten) und zweiten Prämolarzahn (der dritte ist nicht vorhanden) ist auch. kurz, aber weniger als zwischen dem vierten und dritten bei Procamelus occidentalis. Das Kinnloch mündet unter dem Vorderende des vierten Prämolarzahns. Das zugehörige Tier war ungefähr so groß wie Pro- camelus occidentalis oder etwas größer als das lebende Llama. Pliau- chenia vulcanorum, bestehend aus einem linken Öberkieferstück mit vier Prämolaren und drei Molaren, war ungefähr so groß wie das 6. Die kamelartigen Tiere. 4a lebende Dromedar. Das Musterstück ist gefunden bei Pojuaque, einem Dorfe der Pueblo-Indianer; zahlreiche Ueberreste dieser Art fanden sich in den Santafemergeln, darunter auch Stücke mit Wurzeln von Schneidezähnen und Eckzähnen und mit Milch - Prämolaren. Ueberreste von einem echten Llama aus einer Fundstätte Nord- amerikas — aus quaternären Schichten im Thale von Mexiko zusammen mit Ueberresten von Elephas und Mastodon — beschreibt R. Owen („On Remains of a large extinet Lama“ in Philos. Transactions, 1870, p- 65) nach Photographien und Gipsabdrücken von sechs Halswirbeln und Photographien von Backenzähnen und Ecekzähnen unter dem Namen Palauchenia magna; das zugehörige Tier stand der Größe nach zwischen Llama und Kamel. Die Zahl der Backenzähne betrug fünf (nach der Abbildung Taf. IV drei Molaren und zwei Prämolaren); außerdem stand ein kleiner eckzahnförmiger Prämolarzahn (der vierte) in der großen Barre zwischen dem vordersten Prämolar- zahn — der Entwicklung nach der zweite in der Reihe der Backen- zähne — und dem Eckzahn. Ueber die Schneidezähne hatte O. keine Mitteilung erhalten. Auffallend ist die verhältnismäßig bedeutende Größe des ersten (hintersten) Prämolarzahns, der mehr dem eines Kamels als eines Llamas ähnlich ist. Die sechs Haiswirbel (der 2. bis 7.) gehören einem und demselben Tier an; sie zeigen das, unter den lebenden Huftieren nur den Kameliden eigentümliche Merkmal des „intraneuralen Wirbelarterienkanals“. Die Wirbel stimmen im wesentlichen mit der Form des lebenden Llamas überein. Von Be- sonderheiten bei Palauchenia ist nur bemerkenswert, dass die Quer- fortsätze des vierten bis sechsten Halswirbels dieker, knorriger und mehr nach vorn gerichtet sind. Leidy (Proceed. of the Acad. of Nat. Sc. of Philadelphia, 1870, p- 125) beschreibt einige fossile Ueberreste (einen Metacarpus, Bruch- stücke eines andern, das obere Ende eines Oberschenkelknochens, einen Pfannenknochen und Teile eines Schienbeins) von Kalifornien, die er einem großen erloschenen Llama zuerkennt, das er Auchenia californica nennt; diese Art war viel größer als das Kamel. In einer fossilen Sammlung von Kalifornien, die dem Wabash College in In- diana gehört, fand Leidy (Contributions p. 255) eine wohl erhaltene Reihe von Backenzähnen des Unterkiefers, deren Größe und Beschaffen- heit einer Art von Llama anzugehören scheint, welche nicht allein das lebende Llama, sondern auch das Kamel und die Palauchenia Ow. an Größe übertrifft. L. nennt diese Art, die ein Zeitgenosse von Mastodon war, Auchenia hesterna. Die Backenzähne desselben zeigen keine be- merkenswerten Unterschiede von denen des Llamas und des Kamels. Die schmale Falte auswärts vor dem vordern äußern Lappen des letzten Molarzahns und im geringern Grade am zweiten Molarzahn des Llamas, ist in dem Fossil nahezu verwischt. Der erste hinterste Prämolarzahn zeigt einige Verschiedenheiten von dem des Llamas; 432 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. seine Krone ist sehr diek und hinten abgerundet; die Außenseite ist am Hinterteile nicht eingedrückt (impressed) wie beim Llama, am Vorder- und Oberteile aber ist sie schwach eingedrückt; die Innen- seite ist auch nur mäßig eingedrückt längs der Mitte, im Vergleiche mit ihrer Beschaffenheit beim Llama. Eine tiefe Schmelzgrube be- findet sich innen am Hinterteile der Krone, durchdrungen von der Reibefläche, wie bei letzterem; die Grube öffnet sich rückwärts mit einem beträchtlichen Teile ihrer Tiefe, und sie wird an dieser Stelle durch Anlehnung an den folgenden Zahn geschlossen, In Südamerika und zwar in Knochenhöhlen Brasiliens fand Lund fossile Ueberreste von Llamas. Aus seinem der Akademie der Wissenschaften zu Kopenhagen vorgelegten Berichte (der mir nicht zugänglich war) gibt er selbst einen kurzen Auszug in den Ann. des sc. nat. ser. 2, t. XI, 1839, p. 222, wonach die Gattung Auchenia zur Diluvialzeit in Brasilien in zwei Arten vorkam, von denen die eine das Pferd an Größe übertraf, die andere aber kleiner war. Eine ausführlichere Untersuchung über die fossilen Llamas in Südamerika verdanken wir P. Gervais, der in seinen Rech. sur les Mammif. foss. de ’Amer. meridion., 1855, p. 40 ff., die Ueberreste von drei Arten beschreibt, die er Auchenia Weddelii, A. Castelnaudii und A. intermedia neunt. Die Ueberreste derselben stammen aus dem diluvialen Pampasgebiete zu Tarija in Bolivia. Von der erstge- nannten Art fanden sich mehrere Gliederknochen, deren Größe die des lebenden Llamas beträchtlich übertraf; sie erreichten fast die Größe des Kamels und hielten etwa die Mitte zwischen ihm und dem Pako (der Alpaka) oder Guanako. Die zweite Art war kleiner, aber doch noch etwas größer als das Hausllama und die Alpaka; von der- selben fand sich ein Stück eines Oberkiefers mit vier Paar Backen- zähnen, zwei Stücke von Unterkiefern mit je vier Backenzähnen, von denen die zwei letzten Molaren die von Schmelz umgebene vordere Erweiterung (&largissement) in Form eines quergestellten Sporns (talon) zeigen, die eines der Merkmale der Gattung Llama ist; der vordere Molarzahn des Fossils ist stärker als der entsprechende des lebenden Llamas und seine vordere Falte ist mehr markiert; außerdem fanden sich von dieser Art noch ein Unterkieferstück von einem ältern Tiere, ein Sprungbein und ein Fersenbein, von welchen das letztere kürzer und stämmiger ist als beim lebenden Llama. Die dritte Art unter- scheidet sich am wenigsten von dem Hausllama, aber ihre Merkmale lassen sich doch nicht vollkommen vereingen, weder mit denen des echten Llamas noch mit denen des Vieunnas; mit Rücksicht darauf, dass das Fossil die Merkmale dieser beiden Arten vereinigt, gab G. ihm den Namen A. intermedia. Die Figur von A. intermedia war etwas kleiner als die des Hausllamas, aber größer als die des Vieunnas. Die Ueberreste dieser Art bestehen aus einem Unterkieferstück mit Zähnen, einem ganzen Schienbein, einem ersten und zweiten Zehen- 6. Die kamelartigen Tiere. 433 gliede von der eigentümlichen Form des Llamas und einem Sprung- bein. Zahlreiche Ueberreste von fossilen Llamas Südamerikas beschrei- ben H. Gervais und F. Ameghino („Les Mammif. foss. de l’Amer. du Sud“, 1880, p. 115 ff.). Sie unterscheiden unter diesen Ueber- resten drei Gattungen: Auchenia, Palaeolama und Hemiauchenia. Von Auchenia intermedia P. Gerv. fanden sie in der Provinz Buenos-Ayres ein Schädelstück, das mit allen Backenzähnen versehen war. Einen andern Schädel von einem kleinern Tiere aus derselben Fundstätte schreiben sie einer neuen, 4A. gracilis genannten Art zu; der erste Molarzahn steht bei diesem Tiere quer, und er kehrt seine innere Fläche gegen die vordere des zweiten Molarzahns. Die Art A. fron- tosa stützen sie auf einen Schädel aus der Provinz Buenos-Ayres, der sich von allen anderen derselben Gattung unterscheidet durch eine viel breitere und gewölbtere Stirngegend; der Hinterhauptkamm ist schwächer entwickelt, der Scheitelkamm kaum siehtbar, was der hin- tern-obern Region des Schädels eine auffallende Form gibt. Außer- dem erwähnen die genannten Forscher als besondere Arten: Auchenia minor Lund’s aus den Höhlen von Brasilien, A. lama Scherb’s aus den „Alluvions post-pampe&ennes“, entsprechend der lebenden Art, und A. diluviana, dessen Ueberreste Bravard (in dem mir nicht zugäng- lichen „Catalogue des Fossiles de la Republique Argentine“) aus den „Lerrains post-pampeens“ beschrieben hat. Die von P. Gervais aufgestellte Gattung Palaeolama!) ist gleichbedeutend mit Camelotherium Bravard’s, mit Palauchenia Owen’s und Camelus Lund’s. Diese Gattung unterscheidet sich nach H. Gervais und Ameghino von Auchenia dureh ihre Gebiss- formel: im Unterkiefer hat sie fünf Backenzähne, also einen mehr als die echten Llamas. Weiter ist über diese Gattung nichts angeführt. Zu derselben zählen G. und A. das Auchenia Weddelii P. Gerv. und außerdem drei neue Arten, die sie P. major, Owenii und mesolithica nennen. Die erste neue Art besteht aus einem Unterkiefer mit fünf Backenzähnen aus der Provinz Buenos-Ayres; das zugehörige Tier soll noch größer gewesen sein als P. Weddelii, aber von mehr unter- setzten Formen. P. Owenii steht nach seinen Körperverhältnissen zwischen Palauchenia magna Ow. und Palaeolama Weddelii P. Gerv. Die Ueberreste dieses Tieres bestehen aus einem rechten Oberkiefer aus der Provinz Buenos-Ayres; die Zähne dieses Kiefers sind sehr breit und von einer ziemlich verschiedenen Form von denen aller bis- her erwähnten Arten, insbesondere ist der dritte Lappen des dritten Molarzahns noch mehr entwickelt als in dem von Palauchenia magna. Die dritte Art, Palaeolama mesolithica, deren nicht bezeichnete Ueber- 4) In der mir zugänglichen Literatur habe ich — außer in dem vorliegen- den Werke von H. Gervais und Ameghino — über diese Gattung nichts gefunden; eine Quelle führen die letztgenannten Forscher nicht an. 28 434 Dalla Rosa, Wachstum des menschlichen Schläfemuskels. reste in einer mesolithischen Station am Ufer eines kleinen Baches, Canada de Rocha, gefunden wurden, ist kleiner als die beiden anderen; sie unterscheidet sich durch die Form ihrer Zähne und durch andere unbedeutende Merkmale, die aber nicht angegeben sind, wie denn auch das vorliegende Werk keine Abbildungen enthält. Die Gattung Hemiauchenia mit der einzigen Art A. paradoxa haben G. und A. errichtet auf einem Schädelstück mit beiden Kiefern, in denen alle Backenzähne und der rechte Eckzahn erhalten waren. Die Gattung unterscheidet sich von den benachbarten durch die Zahl von drei Prämolaren; die Gesamtzahl der Backenzähne ist sechs; diese Organe zeigen gewisse Eigentümlichkeiten der Form und der Beschaffen- heit, auf welche die genannten Forscher in einer besondern Arbeit zurück- zukommen beabsichtigen, die aber bisher noch nicht erschienen ist. Die einzige Art hatte eine größere Figur als die des lebenden Llamas. Von den gegenwärtig in Südamerika lebenden Arten oder Rassen des Llamas: Auchenia Huanaco, Llama, Paco und Viccuna, steht das Llama den diluvialen Arten der Gattung Auchenia an Größe offenbar am nächsten, und seine Form nähert sich auch der des Kamels am meisten. Die Alpaka und die Vieunna scheinen nur verkümmerte oder durch klimatische Einflüsse abgeänderte Llamas zu sein; diese Abänderung geschah ohne Zweifel in vorgeschichtlieher, aber doch in nachdiluvialer Zeit, da die im Diluvium, beziehungsweise in den Pam- passchiehten Südamerikas gefundenen fossilen Ueberreste von Auchenia sämtlich größeren Tieren angehört haben. Nach den über die Kame- liden vorliegenden, immerhin noch spärlichen paläontologischen Forschungen, dürfen wir annehmen, dass die Form des Llamas aus der Form des Kamels noch in tertiärer Zeit in Nordamerika entstan- den ist, und dass der Uebergang von Procamelus zu Auchenia der Jetztzeit vermittelt ist durch Pliauchenia, Palauchenia oder Palaeolama und durch die großen Formen aus der Pampasformation von Tarija in Bolivia. M. Wilckens (Wien). Das postembryonale Wachstum des menschlichen Schläfe- muskels und die mit demselben zusammenhängenden Ver- änderungen des knöchernen Schädels. Von Dr. L. Dalla Rosa, Prosektor und Dozenten für Anatomie an der Wiener Universität. Die Arbeit!), deren Hauptresultate ich mir hier mn kurzem mit- zuteilen erlaube, zerfällt in 3 Abschnitte: der erste behandelt den Schläfemuskel in den verschiedenen Altersstadien von der Geburt bis zur vollständigen Reife und schließt mit der Darstellung seines Wachs- 1) Die ganze ziemlich umfangreiche Arbeit wird als besondere Monographie im Verlage von Ferdinand Enke in Stuttgart demnächst erscheinen. Dalla Rosa, Wachstum des menschlichen Schläfemuskels. 435 tumsganges und Wachstumsmodus. Der zweite bespricht das Ver- halten der Schläfelinien von ihrem ersten Auftreten bis zu deren voll- ständiger Ausbildung und ermittelt unter gleichzeitiger Berücksich- tigung vergleichend anatomischer Verhältnisse die Beziehungen dieser Linien, namentlich der oberen, zu den Weichteilen des Schädels. Im dritten Absehnitte wurden einige Resultate zusammengefasst, die sich bei dieser Untersuchung gleichsam nebenbei ergeben haben, indem sie sich nicht ausschließlich auf das Wachstum des Schläfemuskels be- ziehen, sondern auch mit den Wachstumsvorgängen der Schädelkapsel eng verknüpft sind. Die Resultate der ganzen Arbeit lassen sich in folgenden Sätzen zusammenfassen. 1. 1) Das Flächenwachstum des menschlichen Schläfemuskels ist bis zum Beginne der 2. Dentitionsperiode ein dem Randwachstume der das Plan. temp. zusammensetzenden Knochen adäquates: im Laufe der 2. Dentitionsperiode erfolgt die Flächenausbreitung des Temporalis hauptsächlich in 3 Absätzen, entsprechend dem Erscheinen der 3 Mahl- zähne, während den großen Zeitintervallen, welche die beiden Denti- tionsperioden sowie den Durchbruch der Molarzähne von einander trennen, ein verhältnismäßig sehr geringes Wachsttum des Schläfe- muskels zukommt. 2) Die Flächenausbreitung des Temporalis nach dem Beginne des Zahnwechsels ist nicht auf eine entsprechende Vergrößerung seiner knöchernen Unterlage ausschließlich zurückzuführen, sondern beruht zum großen Teile auf einem selbständigen, progressiven Wachstum des Muskels selbst, welcher seine Insertionsgrenzen an der Seitenwand des Schädels immer weiter hinausschiebt. 3) Das progressive Muskelwachstum hält allem Anscheine nach namentlich beim Manne auch nach dem Abschlusse der 2. Dentitions- periode bis ins Alter der Reife noch an; beim Weibe findet es früher seinen definitiven Abschluss, und dieser Umstand bedingt in Verbin- dung mit den kleineren Dimensionen des weiblichen Schädels die im allgemeinen geringere Flächenausdehnung des weiblichen Schläfe- muskels. Demgemäß bleiben auch beim letztern gewisse, auf dem spätern progressiven Muskelwachstum beruhende Formveränderungen in der Regel aus, welche daher für den männlichen Schläfemuskel mehr minder charakteristisch werden: der weibliche Schläfemuskel bewahrt, ähnlich wie der weibliche Schädel, mehr als der männliche den kindlichen Typus. 4) Indem sich das adäquate und progressive Muskelwachstum miteinander kombinieren, erlangt der Schläfemuskel eine gewisse Un- abhängigkeit von der Vergrößerung der Schädelkapsel, welcher er aufliegt und verrät seine innige funktionelle Zusammengehörigkeit 28 * 436 Dalla Rosa, Wachstum des menschlichen Schläfemuskels. mit dem Kaugerüste, dessen Wachstumsgesetz von demjenigen des Hirnschädels wesentlich abweicht. I: 5) Beim Neugebornen ist die untere Schläfelinie am Scheitel- bein in der Regel mit ziemlicher Deutlichkeit wahrzunehmen, fehlt noch gänzlich am Stirnbein und in der großen Mehrzahl der Fälle auch an der Schläfenschuppe. — Nach der Geburt verwischt sich dieselbe auch am Scheitelbeine, und erst im Laufe des 3. Lebens- jahres tritt am letztern die eigentliche Lin. temp. inf. in schwachen Spuren auf: an der Stirnbeinschuppe erscheint sie in ihrem hintern Teile gegen das Ende des 2. Lebensjahrs als schwache rauhe Linie, während das Auftreten ihres vordern Anfangsstücks mit der Ausbil- dung des Proc. zygom. oss. front. eng verknüpft ist. — Im Laufe der 2. Dentitionsperiode prägt sich die untere Schläfelinie am Stirn- und Scheitelbeine allmählich schärfer aus, namentlich am vordern Ab- schnitte der Stirnbeinschuppe, wo sie oft einen kammartigen Charakter annimmt, infolge einer daselbst stattfindenden Usurierung des Stirn- knochens von Seite des wachsenden Schläfemuskels. — Im Bereiche der Schläfenschuppe tritt die Lin. temp. inf. am spätesten auf: sie erscheint hier anfänglich bloß als eine geringe Erhöhung eines das Muskelfeld nach rückwärts begrenzenden, glatten, nahezu planen, läng- lichen Streifens der Außenfläche der Schuppe, welcher über das Niveau der Außenfläche des Warzenfortsatzes mehr oder minder deutlich vor- springt. Indem sich diese Zone allmählich vorwölbt, gestaltet sie sich nach und nach zu der Crista retrotemporalis |m.] s. supramastoi- dea [Broca] des erwachsenen Schläfebeins, welche das Schläfemuskel- feld von rückwärts her begrenzt. 6) Die Veränderungen der untern Schläfelinie nach dem Ab- schlusse des Zahnwechsels beziehen sich, abgesehen von ihrer deut- lichern Ausbildung, auf das Auftreten eigentümlicher Kniekungen an der Ueberbrückungsstelle der Kranz- und Schuppennaht — Knick- ungen, welche von A. Török zuerst beschrieben und als die Folge einer Wachstumsverschiebung der an diesen Nähten zusammenstoßen- den Knochen gedeutet wurden. Diese Erklärung erweist sich indess als völlig unhaltbar, und die Ursache dieser eigentümlichen Erschei- nung ist lediglich in dem Hindernisse zu suchen, welches die zackige Kranznaht und die Cr. retrotemp. der gleichmäßigen, progressiven Aus- dehnung des Schläfemuskels entgegensetzen, wodurch dieser letztere genötigt wird, mit Umgehung dieser Hindernisse sich über die Schädel- wand auszubreiten, und die erwähnten Knickungen seiner Ursprungs- linie zu stande kommen. 7) Die von Kupffer zuerst beschriebeue Kniekung der Su- tura coronalis ist eine von der Knickung der Lin. temp. inf. an dieser Naht unabhängige Erscheinung, obwohl beim Vorhandensein einer Kranznahtknickung die untere Schläfelinie mit dem abgeknick- Dalla Rosa, Wachstum des menschlichen Schläfemuskels. 437 ten Nahtstücke in der Regel zusammenfällt. Diese Koinzidenz findet in dem Hindernisse, welches der abgeknickte Nahtabschnitt der pro- gressiven Ausbreitung des Temporalmuskels entgegensetzt, ihre unge- zwungene Erklärung. 8) Vor dem Beginne des Zahnwechsels ließ sich an keinem der untersuchten Schädel auch nur die Spur einer obern Schläfe- linie nachweisen: ihr erstes Auftreten fällt mit dem Beginne der 2. Dentitionsperiode zusammen. Bis etwa zum 12. Lebensjahre wird sie jedoch öfters vermisst, und ist, wenn auch vorhanden, mit seltenen Ausnahmen bloß schwach angedeutet. Sie entwickelt sich in der Richtung von hinten nach vorn und erscheint daher am Scheitelbeine früher, als am Stirnbeine, und am erstern in dem hintern Abschnitte früher, als im vordern. Ungefähr vom 12. Lebensjahre an ist sie eine regelmäßige Erscheinung: in deutlicher Ausbildung tritt sie aber erst von der Pubertätszeit an auf. — Die obere Schläfelinie erweist sich als der periphere Grenzrand einer durch kompakte Knochen- ablagerung geglätteten, mehr oder weniger glänzenden, meist durch eine hellere Farbennüanz, weit seltener durch rauhe, oder streifige Be- schaffenheit charakterisierten, das Muskelfeld umsäumenden Zone der exokranen Fläche des Stirn- und Scheitelbeins, welche von vorm nach rückwärts bis zum Tuber parietale allmählich, von da aber gegen die Lambdanaht rasch an Breite zunimmt, um sich oberhalb der Sut. parietomastoid. wiederum zu verschmälern. 9) Den so beschaffenen, das Schläfemuskelfeld umsäumenden Streifen der Schädelaußenfläche kann man füglich als die „zirkum- muskuläre Zone“ bezeichnen. Diese Zone erweist sich nach ihrer ganzen Beschaffenheit als ein integrierender Bestandteil des Planum temporale, welches somit nicht, wie vielfach angenommen, an der untern, sondern erst an der obern Schläfelinie seine natürliche Grenze findet. 10) In der Gegend des Tub. pariet. nimmt die obere Schläfelinie einen mehr gestreckten Verlauf an und nähert sich dadurch der mit gleichmäßigerer Bogenkrümmung verlaufenden Lin. temp. inf. ziem- lich beträchtlich. Dieser gestreckte Abschnitt der obern Schläfelinie ist auch in der Regel der am schärfsten ausgebildete Teil derselben. 11) Das hintere Endstück der obern Schläfelinie überschreitet niemals die Lambdanaht: in vielen Fällen fällt es mit dieser Naht auf einer längern oder kürzern Strecke zusammen und bewirkt dann häufig eine wulstige Verdickung des Margo lambdoid. des Scheitelbeins.. Wenn es die Lambdanaht nicht erreicht, so bedingt es in der Mehrzahl der Fälle, namentlich beim Manne, eine mehr oder weniger deutlich ausgesprochene Knickung an der Außenfläche des Scheitelbeins, wodurch ein kleines Feld der letzern vom Plan. temp. abgeschnitten und dem Hinterkopfe zugewendet wird. 12) Gewisse Formvarianten der Knochenauflagerung im Bereiche 438 Dalla Rosa, Wachstum des menschlichen Schläfemuskels. der zirkummuskulären Zone bedingen entsprechende Varietäten der Ausbildung der obern Schläfelinie, zu welchen die feinge- zähnelte, die drusig-streifige Beschaffenheit, die Vervielfältigung der Lin. temp. sup., bezw. die staffelartige Bildung der zirkummuskulären Zone gehören. 13) Die stärkere periostale Apposition, welche zur Bildung der zirkummuskulären Zone führt, pleibt an den Zacken des in diese Zone fallenden Kranznahtabschnittes aus: die Folge davon ist, dass dieses Nahtstück in eine thalartige Vertiefung zu liegen kommt, welche sich in den Fällen von gleichzeitiger Kniekung und wulstiger Auftreibung der Lin. temp. inf. zu einer beträchtlichen Einsenkung steigert. — Diese Unterbrechung der zirkummuskulären Zone lässt die Kranznaht- knickung der obern Schläfelinie für gewöhnlich minder auffallend erscheinen, als diejenige der untern: die Ablenkung tritt jedoch auch an der Lin. temp. sup. häufig genug deutlich zutage. 14) Die Ablenkung uud Unterbrechung, welche die obere Schläfe- linie an der Kranznaht erfährt, weisen schon auf ein Hindernis hin, welches diese zackige Naht der gleichmäßigen Ausbreitung der zirkum- muskulären Zone, ebenso wie derjenigen des Schläfemuskelfeldes ent- gegensetzt. Noch auffallender tritt aber der hemmende Einfluss zu- tage, welchen das zackige Endstück der Lambdanaht auf die Aus- breitung der zirkummuskulären Zone ausübt: er lässt sich schon an der Aufwulstung, welche die Lin. temp. sup. dieser Naht entlang häufig aufweist, erkennen. In seltenen Fällen wird selbst dieses Hindernis überwunden, und die zirkummuskuläre Zone breitet sich dann in Gestalt einer aufgelagerten Knochenplatte über das zackige Endstück der Lamdanaht bis zur völligen Verdeekung derselben aus. Leise An- deutungen dieser Exzessbildung kommen an dieser Stelle nicht selten vor, ebenso wie sich, wenn auch ungleich seltener, an dem muskel- tragenden koronalen Nahtrand des Scheitelbeins das Bestreben kund- gibt, die zackige Kranznaht zu überbrücken und dem Schläfemuskel zugänglich zu machen. 15) Das Zusammenfallen der Lin. temp. sup. mit dem vordern Abschnitte der seltenen Sutura parietalis erklärt sich ebenfalls durch den hemmenden Einfluss; welchen die abnorme Naht gleich anderen zackigen Suturen gegen die Ausbreitung des Plan. temp. aus- übt, wodurch dessen obere Grenzlinie sich dem Verlaufe der Naht anpassen muss. 16) An die Lin. temp. inf. setzt sich der bei weitem größte Teil der Sehnenfasern der Schläfemuskelfaszie fest, und nur schwache Ausstrahlungen dieser Faszie verlieren sich auf der zirkummuskulären Zone, ohne für gewöhnlich die obere Schläfelinie zu erreichen. Da- gegen findet am peripheren. Grenzsaume dieser Zone eine festere In- sertion der die lockere Verbindung der Galea mit der Schläfemuskel- faszie vermittelnden, subgaleotischen Bindegewebsschichte statt, indem Dalla Rosa, Wachstum des menschlichen Schläfemuskels. 439 sich die letztere im Umkreise des Plan. temp. mehr minder deutlich zu Lamellen gestaltet, welche von der Innenfläche der Galea zur Schädelwand aufsteigen und an derselben im Bereiche des peripheren Grenzsaumes der zirkummuskulären Zone festhaften. Nach unten findet die Galea an der untern Grenze des Plan. temp. bis etwa über der Gegend des Kiefergelenkes einen festern Ansatz: weiter vorn folgt ihre Insertion einer vom Kiefergelenke zur Wurzel des Proc. zygom. oss. front. aufsteigenden Linie, längs welcher sich die Galea mit dem oberflächlichen Blatte der Schläfemuskelfaszie innig verwebt. Dadurch wird ein zwischen Galea und Schläfemuskelfaszie bestehender, von sehr lockerem Bindegewebe erfüllter Spaltraum rings herum ab- geschlossen, welcher auch mit Rücksicht auf die Ausbreitungsweise von pathologischen Ergüssen eine gewisse praktische Bedeutung be- anspruchen dürfte. — Diese Verhältnisse sind schon durch zweck- mäßige Präparation beiläufig zu erkennen; am deutlichsten treten sie aber an Präparaten zutage, an welchen man mittels Injektion einer heißen Leimlösung in den subgaleotischen Spaltraum eine Aufquellung der lockeren Bindegewebeschichten erzeugt hat. Eine Reihe hinter- einander folgender, frontaler Durehschnitte durch die so entstandene Geschwulst ist zur Darstellung dieser Verhältnisse am geeignetsten. 17) Dieser festere, obere Abschluss des erwähnten, subgaleotischen Spaltraumes erweist sich als das Produkt einer innerhalb der ursprüng- lich in ihrer ganzen Ausdehnung gleichartig beschaffenen, lockern, subgaleotischen Bindegewebsschicht allmählich vor sich gehenden lamellösen Schichtung, welche zwar bereits in der Zeitperiode zwischen der 1. und 2. Dentition eingeleitet wird, aber erst im Laufe des Zahn- wechsels eine deutlichere Ausbildung erlangt, und, nachdem die zirkum- muskuläre Zone unverkennbar aufgetreten, vollständig zum Ausdrucke kommt. 18) Beim Hunde und Pferde gestaltet sich das der Schläfe- muskelfaszie unmittelbar aufliegende, subgaleotische Bindegewebe zu einem förmlichen Faszienblatte, welches im ganzen Umfange des Plan. temp. an der obern Schläfelinie bezw. der ihr entsprechenden Lippe des Scheitel- und Hinterhauptskammes eine feste Insertion findet. Man kann dieses Blatt als „Faseia temporalis“ der sehnigen Schläfemuskel- faszie entgegenstellen, welche man als „Aponeurosis temporalis“ füg- lich bezeichnen könnte — eine Unterscheidung, welche auch beim Menschen mit Rücksicht auf die unverkennbar bestehende Analogie nicht ohne Berechtigung aufgestellt werden könnte. 19) Die zirkummuskuläre Zone des menschlichen Schädels ist, wie schon v. Ihering und Joseph vermutet hatten, als ehemaliger, integrierender Bestandteil des Schläfemuskelfeldes zu deuten: sie er- weist sich bei Tieren als der Vorläufer des Scheitelkammes, an wel- chem oft noch lange nach seinem Auftreten die beiden ganz nahe aneinander gerückten Schläfelinien deutlich zu erkennen sind. Ueber- 440 Tollin, Andreas Vesal. haupt kommen die doppelten Schläfelinien vielen Säugetieren zu und sind keineswegs ein ausschließliches Attribut des Menschen und der Quadrumanen. II. 20) Am Stirn- und Scheitelbeine des Menschen lässt sich in der Periode von der Geburt bis zum Ende des 6. Lebensjahres eine Zu- nahme der Entfernung des obern Temporalisrandes von den ent- sprechenden Tubera, daher eine allem Anscheine nach vom Rand- wachstume unabhängige Vergrößerung dieser Knochen nachweisen, welche namentlich am Stirnbeine nicht unbeträchtlich ist. Ich begnüge mich damit, diese auffallende Thatsache einfach zu konstatieren und muss in Ermanglung einer genauern Untersuchung die Frage nach der Art und Weise des dieser Thatsache zugrunde liegenden Wachs- tumsvorganges unerledigt lassen. 21) Die glatte, schuppige Beschaffenheit des untern Kranznaht- abschnittes lässt sich beim Menschen nicht für diese ganze Nahtstrecke auf eine direkte Einwirkung des Schläfemuskels zurückführen, sondern muss vielmehr für den obern Teil dieses Nahtabschnittes, über wel- chen sich der Temporalis erst im Laufe der 2. Dentitionsperiode aus- breitet, als ein ererbter Zustand aufgefasst werden. 22) Die Furche, welche an der Temporalfläche der Stirnbein- schuppe des Fötus und Neugebornen nahe ihrem untern Rande vom Margo coronalis aus vorwärts absteigt, hat keineswegs die Bedeutung einer Nahtspur, welche ihr vielfach beigemessen wurde, sondern er- klärt sich aus dem eigentümlichen Wachstumsverhältnisse des Stirn- beinteils der lateralen Augenhöhlenwand. Andreas Vesal. Von Lie. theol. Dr. med. hon. Henri Tollin, Prediger in Magdeburg. (5. Fortsetzung.) $. 21. So starb der Begründer der modernen Anatomie. Manche seiner Biographen geberden sich, als hätten ihm seine Feinde den Schiffbruch bestellt. Man muss sie erst daran erinnern, dass, wenn er aller Welt Freund gewesen wäre, er gradeso Schiffbruch leiden konnte an irgend einer andern Stelle im Mittelmeer, etwa auf der Reise von Spanien nach Italien. Er ist nicht als ein Opfer seiner Liebe zur Wissenschaft umgekommen!). Auf der Insel Zante hatte der Anatom nichts zu suchen. Ueberhaupt kann den Vesal zum Märtyrer nur der machen, der das sechszehnte Jahrhundert nicht kennt mit seiner Rohheit und Intrigue, mit seinem Aberglauben und seiner Verfolgungssucht. Für einen Mann, der so bewusst und ent- 1) Ainsi perit vietime de son amour pour la seience l’homme prodigieux etc. p. 53 Burggraeve. Tollin, Andreas Vesal. 441 schieden von dem breit getretenen Wege abwich, hat Andreas Vesal in seiner Zeit merkwürdig viel Anerkennung, Ehren und Ruhm geerntet bei Belgiern, Deutschen, Schweizern, Franzosen, Ita- lienern und Spaniern; Hochachtung und Gönnerschaft beim Volk, beim Senat, bei den Gelehrten, bei den Herzögen, beim König und beim Kaiser. Selbst von seinen Gegnern sind nur zwei wirklich grob und unverschämt mit ihm umgegangen, sein Lehrer Jakob Sylvius und sein Schüler Realdo Colombo. Alle anderen Dissentierenden, die Fuchs und Dryander, Eustachi und Faloppio, die Ingrassia und Aranzio, die Canani und Franz Pozzi, die Varoli und Carcano, Volcher Koyter, Valverde und Guido Guidi: sie alle haben, auch da, wo sie von ihrem großen niederländischen Lehrer abwichen, ihn stets mit Anstand behandelt !). Solch eine Behandlung war der Niederländer wert. Er ist ein Charakter. Aus Begeisterung für die Wissenschaft, von der kuruli- schen Stellung eines medizinischen Professors zu den Sklavendiensten (wie man es damals ansah) eines Chirurgen und Barbiers hinab- steigend und dieser einfachen Handlangerarbeit selbst vor seinem Kaiser sich rühmend; entschieden kaiserlich gesonnen; frei von Hab- sucht, kleinlicher Eitelkeit, literarischer Manie; empfänglich für die Freundschaft eines Nicolas Florenas, Gemma Phrisius, Joh. Eck in Köln (De Chynae radice p. 254), Joachim Roelants, Dr. Johann Gerardus Weldwick?); selbständig bis zu der Höhe des Selbstbetruges, als hätte er in der Anatomie nie einen Lehrer gehabt (De Chynae radice p. 255); mutig, unerschrocken und zähe als Jüng- ling, wo es gilt, unter Männern der Wissenschaft einzutreten in die Bekämpfung des Vorurteils, frei von allem Grauen, so oft es darauf ankommt sich Mittel zu verschaffen zur Erkundung der Wahrheit, unermüdlich thätig bei Tag und Nacht in dem Einen Dienst; immer hoffend auf das Bessere im Guten und, wenn es nicht kommt, tief melancholisch und nach dem Tod sich sehnend;; langsam schaffend und doch nicht selten übereilt; je älter er wird, um so schüchterner, wo er riskiert durch freies Entgegentreten gegen das Vorurteil seine Praxis zu verlieren und mit seinen praktischen Kollegen zu brechen; an der Gunst der Großen hangend mit Bangigkeit und doch die offen verachtend, die keine größere Ehre kennen, als Hofärzte zu sein, musste Vesal nur zu oft über sich dieselben Vorwürfe ergehen las- sen, die er dem Galen gemacht, und blieb, mehr oder minder be- wusst, in Galen’s Schule, von seinem Urgroßvater her bis an 4) Haeser verrückt das Verhältnis, indem er, von Kurt Sprengel ab- weichend, II. 26. 28. 30. den Canani und Guido Guidi zu Vesal’s Vor- läufern, resp. Lehrern macht. 2) De radice Chynae p. 23. 50. 52, wo er ihn noster nennt und die Erfah- rungen aus dessen türkischer Reise rühmt. Er stammte aus Leiden und gab 1544 seine Descriptio terrae sanctae heraus. 449 _Tollin, Andreas Vesal. seinen eignen Tod. Man hat auch ihn, wie die meisten großen Naturforscher, zu einem Ungläubigen, Spötter und Gottesleugner machen wollen. Vesal blieb fromm, der Grenzen seines Wissens offenkundig. Noch in seinem Todesjahre schreibt er an Franz Pozzi (Puteus): „So reich und verschiedenartig ist des Menschen Körperbau (eorporis humani fabrica), dass er dem ihn mit eignen Händen emsig Durchforschenden (sedulo propriis manibus perlustranti) immer wie- der etwas neues zu bieten vermag, wodurch wir Gottes, des obersten Baumeisters aller Dinge, Fleiß und Geschicklichkeit immer mehr bewundern und einsehen lernen, dass noch viele Dinge übrig sind, in welchen wir uns noch zu schwach fühlen, die göttliche Weisheit zu verstehen und zu erreichen (intelligere et assequi non valemus)!). Und schon De humani corporis fabriea liebt es Vesal den unermesslichen Werkmeister unseres Leibes (im- mensus cor,poris nostri opifex) zu preisen. Bei der Kleinlichkeit, mit der bisweilen die Theologen, besonders jenes Zeitalters, um der aller- geringsten Abweichung von ihrer Lehre willen dem Andersdenkenden die Seligkeit absprechen, darf man es dem Vesal nicht so übel nehmen, wenn er hier und da gegen die Theologen, die ihm in der medizinischen Lehrfreiheit Hindernisse in den Weg legen, Ausfälle macht. „Das Dogma, nach dem gelehrt wird, dass aus einem kleinen Knochen der Mensch, dessen großartigen Bau (immensam fabricam) wir eben beschrieben haben, sich fortpflanzt, überlassen wir gern der Disputation der Theologen, welche, sagt Vesal, die freie Ueberzeu- gung von der Auferstehung und der Seelen Unsterblichkeit für sich allein in Anspruch nehmen. Und um ihretwillen wollen wir auch jetzt nichts hinzufügen über die geheimen Wunderkräfte (mirabilibus oceultisque viribus) des innern Knöchels vom rechten Daum“ (De humani eorp. fabriea fol. 126). Und wo er in demselben Werk von dem kleinen Gehirn spricht (cerebellum), meint er, nur ein von Al- bertus (Magnus), Thomas (Aquinas?), (Duns) Seotus und der- artigen Theologen Unterwiesener könne sich einbilden, dass diesem Durchgang (meatui) einer der beiden Würmer (alterum vermium) vor- gesetzt sei, um die Vorstellungen (phantasmata) in den Sitz des Ge- dächtnisses, den sie in dem kleinen Gehirn annehmen, einzulassen und hinwiederum die im Kerker des Gedächtnisses zusammengehaltenen Diebe (fures) in die mittlere Hirnkammer, die sie für den Sitz der Vernunft (rationis) ausgeben, hinüberzufördern. Vergeblich würde ja dann der Werkmeister der Dinge (rerum opifex), Gott der Herr, der- artige wurmförmige Gänge (vermiformes processus) dem Hunde, den Schafen und anderen Tieren der Gattung, denen jene doch keine Denk- 1) Gabr. Cunei Examen. Venet. 1564. p. 4. 2) Er war auch Servet’s Lehrer. Daher bei ihm ähnliche Phantasien. S. meine Abhandlung: Die Entdeckung des Blutkreislaufs, Jena 1876, 8. 11 u. ff. Tollin, Andreas Vesal. 445 kraft (nullam rationandi vim) zuschreiben, gespendet haben?). Mir aber gefällt es nicht, eine kleine und noch dazu untergeschobene Bemühung des Schöpfers (ereatoris industriam) zu beschreiben ?) und unterdessen fast das ganze übrige Kunstwerk des Gehirns zu zerstören (reliquum cerebri artifieium propemodum universum destruere fol. 532) ?). S. 22. Dass Vesal ein einzigartig bedeutender Anatom war, hat man bei Lebzeiten des großen Brüsselers wohl gewusst. Wie be- deutend aber er sich als Chirurge bewiesen hatte, das erfuhr erst die Nachwelt %). In dem 1561 fertig gestellten siebenteiligen Werke handelt er von allem, was zur Chirurgie gehört. Er beginnt mit den Luxationen (1), geht über zu den Brüchen (2), kommt auf die Wun- den (3), danach behandelt er die Geschwüre (4), im fünften Buche die Geschwülste, das sechste ist ein Antidotarium, das letzte (7) han- delt von der Materia Chirurgiea. In diesen sieben Büchern sind viel interessante und höchst scharf- sinnige Beobachtungen niedergelegt. Burggraeve, im letzten Teil seines trefflichen Werks über Vesal, gibt eine anschauliche Ueber- sicht nebst geschichtlich -kritischer Würdigung. Selbstredend hat er manches übergangen, was doch wieder geschichtlichen Wert hat. Zur Würdigung von Vesal’s chirurgischer Parteistellung möchte ich hier folgende Stelle der Chirurgia magna (fol. 101b) her- anziehen. Bei der Heilung von Brüchen, näher vom Bruch der Hirn- schale, unterscheidet Vesal die erste Behandlung durch Aderlass, Medizin u. s. w. und das, was zur völligen Herstellung des Kranken folgen muss. Zu der völligen Heilung der affiızierten Stelle (curatio loei affeeti) stellen sich vier Parteien (quatuor medieinorum sectae), sagt Vesal, einander gegenüber. Die erste Sekte bilden diejenigen, welche mit wassertriefenden oder mit Oel gebenedeiten oder trocken gebenedeiten Linnen heilen. Da nun aber dem die christliche Religion widerstrebt (cum abhorreat christiana religio) und vieler Schaden daraus entsteht, darum widerstreben dieser Methode auch wir als einem nutzlosen und schädlichen Verfahren. Die zweite Sekte heilt durch Tränke (potiones) und “thut garnichts an der verletzten Stelle. Das war wohl die Heilmethode meines Lehrers Gryllus. 1) Als ob der Hund nicht stiehlt, das Schaf kein Gedächtnis hat! Vesal bringt ein bloßes argumentum ad hominem. 2) Servet ruft nämlich bei dieser Beschreibung des Gehirns aus: das allergrößte Wunder ist die Zusammensetzung des Menschen. 3) Sollte hier 1542 Vesal gegen Servet polemisieren, so müsste jener berühmte physiologische Teil der Restitutio schon vor 1542 in Vesal’s Hän- den sein. 4) Auch sie ignoriert es zum Teil: z. B. lehrt noch 1878 Rob. Willis: Harvey p. 63: In the sphere of anatomy only did he shine or show himself independent. 444 Tollin, Andreas Vesal. That der Kopf wehe, wurden die Hinterbacken eingesalbt (laborat eaput, inungunt nates). Solche Mischungen sind von großer Bedeu- tung, was ich ja freilich beim Bruch der Hirnschale nicht erfahren habe. Aber bei andern Gelegenheiten gelang es auch mir. Die dritte Sekte ist die der Empiriker, welche nichts in den Mund geben und auf die Diät gar keine Rücksicht nehmen, sondern ohne Unterschied die edlen Medikamente wie künstlichen Balsam und die edelsten Wasser auf das Haupt träufeln lassen. Brav, wenn sie mit Auswahl diese Medikamente brauchen wollten. Ich habe sie auch gebraucht mit gutem Erfolg. Die vierte Sekte ist die des Hippokrates und aller rationellen Aerzte, welche bei dem Experiment die Vernunft brauchen. Sie reichen Tränke dar, wenn es nötig ist, legen Wasser auf, Essig, Linnen, Oel und die anderen heilsamen Medikamente. In dieser Sekte wird der Leib purgiert, die Ader geschlagen, Klystiere gebraucht, Tränke eingegeben, die Diät geregelt und an der verletzten Stelle die Wunde in Augenschein genommen. Man sieht nach, ob sie so breit ist, dass alles zutage liegt. Ist sie so breit nicht, dass man hineinsehen kann, muss man geschickt schneiden, um sie zu er- weitern. Ist sie aber offen, erweitert man sie nicht mehr. Dazu aber muss man erweitern und schneiden, dass der Knochen bloßgelegt werde. Darum muss man nicht bloß das Chorium, sondern auch das Perieraneum öffnen, insofern es nämlich selber vom Knochen getrennt werden muss. Wir trennen aber das Perieraneum, damit es nicht ge- stochen wird, wenn wir den Knochen scheren: denn es fühlt den Schmerz, und aus dem Schmerz kommt (fit) Entzündung und auf die Entzündung folgt der Tod (fol. 102a). Diesem rationellen Eklektizismus der Günther’schen Schule entspricht auch die Art, wie Vesal bei jeder praktischen Frage nicht zuerst das eigene Experiment befragt, sondern zuerst die Autoritäten. Die Griechen müssen wir-hören über jede chirurgische Frage, den Galen, Hippokrates, Aristoteles, den Celsus vor- nämlich und Paulus Aegineta. Die Araber müssen auftreten, Avicenna an der Spitze. Die mittelalterlichen Chirurgen werden durchgemustert, unter Führung des Guy von Cauliac. Die Modernen werden berücksichtigt, Fuchs, Colombo, Faloppio, am häufigsten Jean Tagault, Vesal’s Pariser Lehrer, aus dem er die Abbil- dungen von Skeletten, Wunden, Verbänden und Instrumenten ent- lehnt. Hintennach ganz zuletzt hinter den autoritativen Aufstellungen erklärt sich Vesal, welche davon er in der eignen Erfahrung bewährt sah und unter welchen Umständen? Ob Vesal die Herausgabe seiner Chirurgie jemals beabsichtigt hat, lässt sich heut nicht mehr bestimmen. Jedenfalls erschien sie bei seinen Lebzeiten nicht. Der venezianische Buchhändler Vincentius Valgrisius betraute mit der Durchsicht des Manuskripts einen Vene- zianer, der, Philosoph, Dozent in Padua und königlicher Leibarzt, mit Tollin, Andreas Vesal. 445 Vesal zusammengearbeitet hatte, bald getadelt!), bald gelobt?) von jenem großen Niederländer, den er stets wie eine menschliche Gottheit verehrte (semper velut humanum numen observavi). Dieser zu Padua in italienischer Sprache (italice) die Vesal’sche Anatomie vortragende Prosper Borgarutius huldigte gleichfalls dem Gün- ther-Vesal’schen Eklektizismus. Die Griechen, sagt er in der Widmung des Vesal’schen Werks, haben alle Teile der Medizin so wissenschaftlich treu durchforscht, dass sie denen, die nach ihnen kamen, scheinbar jede Hoffnung weiteren Fortschreitens raubten (ut posteris longius progrediendi spem ademisse videantur). Dennoch haben die Araber die Kunst weiter ausgebaut, die alten Lateiner wieder neue Beiträge geliefert, und auch wir alle sind noch bemüht, der Nachwelt wieder etwas Vollkommneres zu hinterlassen. Im Ge- folge des Hippokrates, Galen, Avicenna, Celsus habe nun- mehr auch der kaiserlich-königliche Leibarzt Andreas Vesal aus Brüssel vieles neu auseinandergesetzt. So habe er, Borgarutius, sich denn der Aufforderung des Buchhändlers nicht entziehen zu dürfen geglaubt, und bringt es aus Dankbarkeit dem Paduaner Pa- trizier Anton Cortusius dar, den er, ins Angesicht, als einen wahren Ausbund alles Wissens, aller Tugenden und aller Arten von Unsterb- lichkeit darstellt. Diese Widmung datiert aus Padua V. nonas Octo- bris 1568. Man hat diese posthume Ausgabe des Prosper Borgarutius für eine gewinnsüchtige Unterschiebung angesehen. Indess die besten Kenner Vesal’s, auch noch Burggraeve (p. 63), halten an der Eehtheit fest: ja letzterer meint, dass es wohl kein echteres Werk von Vesal gebe. S. 23. Der Brüsseler Anatom hatte in seinem Fach einen der- artigen Eindruck hinterlassen, dass sein-Ruf mit den Jahrhunderten stieg. Dass heute fast nie mehr ein Mediziner zu Galen’s Werken greift, wohl aber jeder des Andreas Vesal sich rühmt — natürlich ohne ihn zu lesen — ist ein Zeichen, wie sehr seine Erscheinung Epoche gemacht hat: denn die dreizehnhundert Jahre bis auf Vesal hatte Galen ohne Widerspruch beherrscht. Es war daher ein glücklicher Griff, dass im Jahre 1725 zu Ley- den (Lugd. Batavor.) Hermann Boerhave und Bernh. Sigfr. Albinus in zwei Bänden eine Gesamt-Ausgabe von Vesal ver- anstalteten. Fast alle die Irrtümer über Vesal, die wir durch Vesal selbst oben widerlegt haben, stammen aus der bis auf Burggraeve, Willis und Haeser maßgebenden Albinus’schen Biographie. Doch bei allen Ausstellungen im einzelnen, in dem einen Punkte — und 1) z. B. weil er mit Colombo, Valverde, Faloppio statt 7 nur 5 Augenmuskeln annimmt. fol. 159a. Chirurgia magna. 2) z. B. weil er betrefis der Durehbohrung des Herzens dem Vesal bei- trat gegen Colombo und Faloppio (l. e fol. 198b). 446 Tollin, Andreas Vesal. das ist der entscheidende — stimmen auch wir Boerhave und Albinus zu, dass Andreas Vesal der Mann gewesen ist, welcher die Anatomie aus der Bevormundung der Bücher-Autoritäten und von der gebieterischen Handreichung der Chirurgen und Barbiere endgiltig befreite und, nach einem Gängeln von fast anderthalb Jahrtausenden, endlich wieder auf eigne Füße stellte. Wer Vesal’s Entdeckungen auf dem Gebiet der normalen und morbiden Anatomie im einzelnen verfolgen will, der braucht nur den 3. Band von Kurt Sprengel, den 2. von Haeser (S. 39 ff.) oder die weit ausführlichere Darlegung von Burggraeve (Vesal S. 67—416) nachzulesent). Liegt doch grade in diesem kritisch- komparativen Abschnitt das Hauptverdienst des Burggraeve’schen Werks. Indess auch hier müssen wir in einem wesentlichen Punkte der allgemeinen Ueberlieferung entgegentreten. Die meisten Mediziner, Ja selbst medizinische Geschichtsforscher wissen von Vesal’s Spezial- Verdiensten nichts, als dass er die Konsistenz der mittleren Herzscheidewand entdeckte. Das kann man in allen Kompendien lesen. Und doch nicht Vesal ist darin der Vorläufer des großen Harvey, sondern Michael Servet. In sämtlichen Biographien Vesal’s, auch bei Burggraeve, wird Vesal’s Verhältnis zu Michael Servet übersehen. Wir müssen deshalb hier das Versäumte nachzuholen suchen. Erwähnt doch auch Burggraeve den Servet mit keinem Wort, ahnt (p. 291) nicht, dass Vesal die Undurchdringlichkeit der mittleren Herzscheidewand aus Servet entlehnt hat, kann seine Verwunderung nicht zurückhalten, wie sehr Galen den Vesal, diesen sonst so freien Geist in seiner Bezauberung festgehalten habe ?), meint aber dennoch, Vesal habe des Blutkreislaufs Entdeckung her- vorgerufen (provoqua), indem er alle Elemente des wichtigen Problems für Harvey vorbereitete (p.57): „Harvey brauchte nur zu kommen: der Niederländer hatte alles für ihn zurecht gelegt, die Frage war spruchreif“). Man sagt sich nur, wenn schon Vesal fest und sicher die Lage des Herzens und den wunderbaren Mechanismus der Herzklappen feststellte (p. 57) und dabei gleich in seinem Jahrhundert so ausgezeichnet geniale Schüler hatte, warum haben denn die Fa- loppia, Colombo, Varoli, Aranzi, Casserio, Canani, Van den Spiegel (p. 54) vom großen Blutkreislauf keine Ahnung ge- 1) Examen compar& de l’anatomie de V&sale p. 67—331 und Examen eritique de la Chirurgie de Vesale p. 335 —416. 2) Ainsi le r&formateur de l’anatomie ne put se garantir de l’espece de faseination que Galien exercait encore sur les esprits, lui qui dans les autres questions avait fait preuve d’une ind&penpance si entiere (p. 291). 3) La question &tait müre, et Harvey n’a eu que le m£rite de l’äpropos, puisqwil lui a suffi de tirer les consöquences des faits &tablis par l’anatomiste belge. Tollin, Andreas Vesal. 44T habt? Warum bleiben sie sämtlich in Galen’s Fesseln? Warum geht Harvey selber am Gängelbande Galen’s!)? Warum herrschte Galen’s Theorie von der Leber als Zentralorgan für die Blutberei- tung nach Harvey ruhig weiter, bis der Däne Thomas Bartholin mit feierlicher Inschrift Ihre Majestät die Leber bestattete (1655)? Andreas Vesal, der Gründer der modernen Anatomie und Michael Servet, der Gründer der modernen Physiologie, waren Zeitgenossen. Servet lebte von 1511—1553, Vesal von 1514—1564. Servet war Spanier: zu seinen intimsten Freunden und Leidens- gefährten aber gehörten Niederländer wie der Antwerpener Arzt Jean Thibault, Leibarzt und Hofastrologe König Franz I.?) Vesal war Niederländer; aber zu seinen intimsten Freunden und Leidensgefähr- ten gehörten Spanier wie Nicolaus Florenas, der Leibarzt des Kaisers Karl V. Wie Vesal war auch Servet Anatom. Nicht nur, dass er in der berühmten Stelle seines Buches „Von der Wiederher- stellung“, da wo er Galen entgegentritt, diejenigen für seine Ansicht anführt, welche in der Anatomie erfahren sind, sondern auch der Dekan der Pariser Fakultät berichtet selber in den Fakultäts- akten, dass, als er, wegen Servet’s astrologischen Vorlesungen, in dessen Auditorium geht, ihm eine amtliche Rüge zu erteilen, er ihn bei einer menschlichen Leiche trifft, welche er vor einer sehr großen Schaar von Studenten und vor zwei oder drei Dok- toren?) soeben mit Hilfe eines Chirurgen seziert hatte!®). Beide Vesal undServet waren medizinische Sehriftsteller. Ehe der drei Jahre jüngere Vesal etwas in den Druck gegeben, hatte Michael Servet-y-Reves, Villanovanus ab Arragonia drei theologische, ein geographisches und drei medizinische Werke drucken lassen. „Die gesamte Gebrauchsart der Syrupe“ (syruporum universa ratio), welche im selben Jahre mit Vesal’s Erstlingsschrift (1537) erschien, hatte fünf Auflagen erlebt (1548), sieben Jahre, ehe Vesal’s Hauptwerk die zweite Auflage erfuhr. Ist Vesal der bedeutendste moderne Vertreter der normalen und morbiden Anatomie und einer der tüchtigsten Lehrer der rationellen Chirurgie, so ist Servet der Entdecker des Blutkreislaufs durch die Lungen, der Erfinder der ver- 1) S. meinen Aufsatz über W.Harvey in Virchow’s Archiv, 1880, Bd. 81, Sy ER, 2) S. meinen Artikel in Virchow’s Archiv, Bd. 78, 1879, S. 302 ff. 3) Waren das etwa Joh. Thibault und Andreas Laguna, der erst 1540 von Paris nach Metz geht und den auch Vesal zitiert (fol. 59b Chirurgia magna. Ven. 1568)? 4) Non paret monitis; mihi etiam illum commonenti verbis acerbioribus minatur, praesentibus scolastieis plurimis et duobus tribusve doctoribus, in area nostrae scolae, post dissectum corpus humanum, quod illemet Villanovanus cum aliquo chirurgo dissecuerat. (S. meinen Aufsatz in Rohl fs’ Archiv, Bd. IH, S. 205). 448 Die 12. Versammlung d. Deutschen Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege. gleichenden Geographie, ein scharfsinniger astronomischer und meteoro- logischer Beobachter, ein Vorläufer von Harvey, Spinoza, Schleier- macher, Alex. von Humboldt. Beide gehören zu jener auser- lesenen Klasse von Geistern, die man Original-Genies nennen könnte, und von denen Burggraeve p. 1 sagt: „alle neuen Ideen haben sie schon gefasst, sie haben alle Entdeckungen gemacht oder doch vorbereitet: ihre Geschichte ist die der Wissenschaft selbst“. Beide haben dieselben Lehrer: Sylvius, Fernel, Ander- nach: beide zum Teil dieselben Gegner: Erasmus!), Fuchs?), Joh. Tagault°): beide dieselben Freunde Gentilis*), Cardanus. Wo haben diese beiden großen Geister einander getroffen? Sie sind in Spanien beide gewesen, beide in Basel, beide in Paris, vielleicht auch beide in Löwen. Indess in Spanien war Servet 1511—1529, Vesal 1556—1564; in Basel war Servet mehrfach, aber nur zwischen 1530 und 1532, Vesal 1537, 1542, 1546, 1555. Ob beide in Löwen waren, hängt vom Urteil über einen höchst interessanten, in den englischen Staatspapieren aufgefundenen und bisher noch nie gedruckten Brief ab. Die 12. Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege findet am 45., 16. und 17. September d. J. in Freiburg i. Br. statt. Die Sitzungen werden im Kornhaus-Saale am Münsterplatz abgehalten. Dienstag, 45. Sept.: Ueber Stadterweiterung, besonders in hygieinischer Beziehung. Referenten die Herren Stadtbaumeister Stübben (Köln), Oberbürgermeister Becker (Düsseldorf), Sanitätsrat Dr. Lent (Köln). — Mittwoch, 16. Sept.: Maßregeln bei ansteckenden Kinderkrankheiten in den Schulen. Refe- renten die Herren Medizinalrat Arnsberger (Karlsruhe) und Gymnasial- direktor Fulda (Saugerhausen).. — Donnerstag, 17. Sept.: Ueber Rauch- belästigung in Städten. Referenten die Herren Medizinalrat Flinzer (Chem- nitz), Prof. Rietschel (Berlin). — Wohnungen vermitteln die Herren Dr. A. Spieß, Frankfurt a. M., Neue Mainzerstr. 22 und Medizinalrat Reich, Frei- burg i. B, Rempartstr. 10. 1) De hum. corp. fabrica fol. 107, 140. 2) Fuchsius ea ex Manardo transsumpsit: De vena secanda p. 14. — cf. Chirurgia magna fol. 61a, fol. 8b: Fuchsius peritissimus medicus omnia de verbo ad verbum ab eodem Tagautio furtim suscepit. cf. fol. 162b, 165b. 3) Den Tagault, welcher im Namen der Fakultät 18. März 1538 dem Mich. Servet den Prozess macht (S. meinen Aufsatz in Heinrich Rohlf»’ Archiv, III, 1880, $S. 183 ff.), wird von Vesal (Chirurgia magna fol. 58a) an- gegriffen wegen seiner grundlosen, unordentlichen und konfusen Behauptungen, sowie wegen Eigensinns, Nachsprechens, Wankelmuts. 4) Chirurgia magna fol. 100a, 104b. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Uentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. V. Band. 1. Oktober 1885. Nr. 15. Inhalt: kraber, Vergleichende Grundversuche über die Wirkung und die Aufnahme- stellen chemischer Reize bei den Tieren. III. Wirkungen von Riechreizen auf die Haut. — Wilekens, Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haustiere. 6. Die hundeartigen Tiere des Tertiärs. — Crampe, Die Gesetze der Vererbung der Farbe. Zuchtversuche mit zahmen Wanderratten. — Ficalbi, Histologische Untersuchungen über die Luftsäcke der Vögel. — Christiani, Zur Physiologie des Gehirns. — MToliin, Andreas Vesal (Schluss). ) Vergleichende Grundversuche über die Wirkung und die Aufnahmestellen chemischer Reize bei den Tieren. Von Prof. Veit Graber in ÜUzernowitz. II. Wirkung von Riechreizen auf die Haut. Jeder weiß, dass das Licht gewisser Körper nicht bloß vom Auge als optischer Reiz, sondern zugleich auch von anderen mit entsprechen- den Nervenenden ausgestatteten Hautteilen ais Wärme empfunden wird. Eine analoge Doppelreizung ist nun auch, wie gleichfalls wenn auch minder allgemein bekannt, gewissen stärkeren Riechstoffen eigen- tümlich, ja manche derselben, wie z. B. Senföl, Ammoniak, Ameisen-, Essig-Osmiumsäure etc. wirken sogar auf zartere Hautteile z. B. jene der Augen rascher oder doch intensiver ein, als auf das spezi- fische Riechorgan. Leider ist der speziell bei uns selbst relativ leicht zu prüfende Gefühlsreiz-Wert anderer minder starker oder sogenannter „reiner“ Riechstoffe noch ziemlich wenig untersucht, und so wissen wir nicht, inwieweit die diversen Richstoffe bei uns den Gefühlssinn verschiedener Hautbezirke zu affizieren vermögen!). Erwägt man 1) Bezüglich der einschlägigen Daten in der betreffenden Literatur vergl. man u. a. die ausgezeichnete Bearbeitung dieser Kapitel von Vintschgau in Hermann’s Handbuch der Physiologie, III, 2, sowie die von Funke und Hering verfaßten Abschnitte ebenda. Auffallend ist es mir, dass ich im den mir zugänglichen Schriften gar keine Daten über die zum Teil ziem- 29 450 V. Graber, Wirkung und Aufnahmestellen chemischer Reize bei Tieren. aber betreffs anderer und zumal niederer tierischer Organismen, dass häufig ihre gesamte Hautbedeckung zum Teil noch zarter und nerven- reicher als etwa unsere Augenschleimbaut ist, so ist es a priori ge- wiss wahrscheinlich, erstens, dass manche dieser Tiere für gewisse stärkere doppeltwirkende Riechstoffe an ihrer ganzen Haut so em- pfindlich sind, wie an den Augen, und zweitens, dass andere mittels des Gefühlsinnes auch noch solche sogenannte reine Riechstoffe wahr- nehmen, von denen wir selbst nur mittels der Nase Kunde erlangen. Soviel glaubte ich den folgenden Experimenten über die Empfindlich- keit der Haut der Insekten und anderer Tiere gegen Riechstoffe vor- ausschicken zu müssen. Diese Versuche unterscheiden sich von den analogen Experimenten älterer Forscher z. B. Duge’s?) (bei Myrio- poden) abgesehen von der ungleich öftern Wiederholung ganz wesent- lich dadurch, das ich nieht nur, wie jene, mit ganz scharfen, sondern auch mit solchen feineren Stoffen operierte, die bei uns selbst, so viel man wenigstens bisher weiß, nur Geruchs- und keinerlei Gefühlsempfindungen verursachen. Bezüglich der Insekten beschränke ich mich hier ausschließlich auf die Mitteilung einiger bei Periplaneta gemachten Erfahrungen, die, wie ich gleich bemerke, im höchsten Grade überraschend sind und dieses Tier zu einem klassischen Objekt für derartige Untersuchungen machen. Der Leser erinnert sich der früher mitgeteilten Thatsache, dass des ganzen Kopfes be- raubte Periplaneten noch auf Schallreize reagieren. Dies bewog mich eben, es bei dekapitierten Individuen auch mit Geruchsreizen zu ver- suchen. Schneidet man einer größern Anzahl solcher Tiere den Kopf ab, verklebt die Wunde mit Gummi arab. und gibt die Rümpfe dann einzeln in eine nicht zu nasse gut ventilierte Feuchtkammer, so bleiben die meisten derselben mehrere Tage bewegungsfähig. Unter anderen fand ich eine, die, gewiss eine fabelhaft große Lebenszähigkeit, volle 20 Tage reaktionsfähig blieb. Auf dies Individuum beziehen sich auch nachstehende Ziffern, die wieder die Zahl der Sekunden angeben, nach deren Verlauf eine unzweideutige Reaktion (plötzliche Bewegung der Beine eventuell Einziehung und Krümmung des Hinterleibes, oder aber eine wirkliche Ortsveränderung) eintritt. Wo nichts anderes be- merkt ist, geschah die Annäherung des Riechstoffes von hinten bis auf |,.cm. lich bedeutende und mitunter sogar sehr schmerzhafte Wirkung gewisser stärkerer Riechstoffe auf die zarteren Teile der äußeren Genitalien des Menschen und der Säugetiere finde. Interessant wäre dann besonders auch eine nähere Erforschung der Wirkung von Riechstoffen auf die Schleimhaut des Mundes und der Zunge; mir kommt es so vor, als ob ich speziell mit letzterer gewisse stärkere Riechstoffe z. B. Rosmarinöl, Birnäther ete. einiger- maßen zu unterscheiden im stande wäre, 2) Trait& de physiologie compar6e, t. 1, p. 160. II. Wirkung von Riechreizen auf die Haut. 451 Zuerst zwei ganze Beobachtungsreihen behufs Vergleichung der Wirkung beim normalen und geköpften Tier. Periplaneta. Aceton (konz.) (Stellungsveränderung des ganzen Körpers.) Mittelwert normales T. (hinten) 60+ 1), 60+, 41, 7, 37, 60-+, 40, 51, 36, 60+ 27 geköpftes „ n T, Ze .. 12 A, a 2 (6. Tag) So überraschend es sein mag, ist es somit doch eine Thatsache, dass grade dieser Stoff auf den bloßen Rumpf ungleich stärker als auf das normale mit Fühlern, Palpen ete. versehene Tier wirkt. Karbolsäure (konz.) Mittelwert normales T. (bh) 18, 60-+! 60! 60, 27, 30, 20, 40 39 geköpftes „ (h) 7, 6, BEE A az 4! (6. Tag) Nicht minder auffallend ist die Erhöhung der Hautempfindlichkeit nach Entfernung des Kopfes bei dem letztgenannten Stoff. Ich erkläre mir dieselbe teils dadurch, dass durch Eliminierung gewisser wich- tiger Sinne, wie u. a. der Sehorgane, notorischerweise auch bei uns selbst die Empfänglichkeit der übrig bleibenden zunimmt, teils aber dadurch, dass mit dem Wegfall der zentralen Hauptganglien bezw. gewisser psychischer Vorgänge die Auslösung der motorischen Reak- tionen wesentlich vereinfacht wird, und dass letztere überhaupt einen mehr reflektorischen Charakter annehmen. Die Tiere behalten aber, was ausdrücklich erwähnt werden muss, eine gewisse Kenntnis vom Ort oder der Richtung, aus der der Reiz kommt, denn bei der An- näherung des Riechkörpers von hinten bewegt sich das Tier, und zwar oft so rasch und gradlinig wie im normalen Zustande, nach vorwärts, während es bei der Reizapplizierung von vorn, wegen des auch beim normalen Tier relativ schwach entwickelten Vermögens der retro- graden Bewegung, meist nur den Körper seitwärts dreht. Im folgenden gebe ich die Mittel der Reaktionszeiten (in Sekunden) eines und desselben Tieres bei verschiedenen Riechstoffen und an den einzelnen der Dekapitierung folgenden Tagen gerechnet vom 7. an?). 1) Nach 60 Sekunden keine Reaktion. Bei der Mittelwertbildung wird der reaktionslose Fall = 60 Sekunden gesetzt. 2) Bewegung äußerst heftig, Tier richtet sich krampfhaft auf. 3) In der Zeit zwischen der Operation und der ersten Beobachtung hatte ich eine Reise an den Dniester gemacht! 29% 452 V. Graber, Wirkung und Aufnahmestellen chemischer Reize bei Tieren. BE, ® BEREIT EFSE 2 Z | BBESSBFHS Bawdr | Ba2235 8 BH98y ee, N een Sieden [e) =, YO er © is © auto | AarBEseesse Bo ©45 Bi: ERr 252588 SEE SSR. Ekite) ATEo BagEn | eg Such = { B A u: S R a la ER ENE . & 5 E:2 3 ERS Bee => | ee le a RUE Ber =2 I PRUSSS ER ARN IE 0 ron Ie>) EHECHEDE 3 ar zn | © a B BESSERE a re Bo — = 328 5 le 2 ze = Zi li vwo 2 ER er es = on 8 = er Me RE ı |» z S PreröHmı! mn & Bun Ken av} re = u > = a | Ba .& + Ss = N IE < — Ben PR a ie En =} kz B 5 5 = ei A [21 EI 'S E zZ =. ellIllalse»s 2 ke = le au © = B | = = ee ee en ee E 5 _ er fer} . = S; = Sen ST =" Beilagen ? =. © le {a} En nn E= E 2. ee seen 5 5 + |# Von anderen Riechmitteln brachte konzentriertes Zimmtöl an einem andern dekapierten Individuum (am 4. Tage) in 6, Zitronenöl in 3, Majoran in 5 und Ol. macidis in 8 Sekunden (Mittel N, bei Annsheene von hinten, Stellungsveränderung hervor. — Da das Hinterende des Periplaneta-Leibes, wo die applizierten Riechreize die stärkste Wirkung äußern, bekanntlich mit einem Paar den Kopf-Fühlern ähnlichen An- hängen (sogenannten Afterborsten) versehen sind, schien es mir nicht unwahrscheinlich, dass die oben nachgewiesene große Empfindlichkeit dieser Region eben an diese Gebilde gebunden sei. Dies bestätigt auch in der That nachstehender Versuch. Geköpfte Periplaneta: 2. Tag. mit#Atertühlern ("2,72 9 A ae], 2, 2a ohne „ 60-+, 60+, 60-+, 60-+, 60-4, 60+ Ol. rorismor. III. Wirkung von Riechreizen auf die Haut. 453 Während nämlich Rosmarinöl in der Nähe der vorhandenen After- fühler im Durchschnitt schon nach 2 Sekunden Ortsbewegung erzeugt, kommt bei einem dieser Anhänge beraubten Individuum in der Regel selbst nach 60 Sekunden keine Wirkung zu stande und es bedarf, um ein solches Tier zu bewegen, der allerheftigsten Medien wie z. B. Senföl (36 Sekunden), Osmiumsäure (5 Sekunden) und Ameisensäure (1—4 Sekunden). Indess findet ein gewisses Wahrnehmen von stär- keren Riechstoffen am Rumpfe keineswegs etwa ausschließlich nur an den Afterfühlern statt, sondern es gelang mir zu konstatieren, dass auch gewisse andere gleichfalls vorwiegend als Tastorgane funk- tionierende Anhangsgebilde, nämlich die Endteile der Beine, durch intensivere Riechreize affıziert werden. Nachstehend gebe ich die Reaktionszeiten der genannten Gliedmaßen am 16. Tage, wobei zu bemerken, dass eine Reaktion (als von diesen Anhängen selbst aus- gehend) nur dann notiert wurde, wenn sich bloß jenes Bein bewegte, dem der Riechstoff näher gebracht wurde, als einem andern oder dem Rumpfkörper. Ol. eajeputi. Mittelbein 2, 1, 2, 3, 2,3, 4, Hinterbein 2, 10, — 1, 3, 3, — Mittelbein 2, 1, — 2, , — 2,3 Hinterben , 4 3, 3 4% 3 Der Ausschlag (dies Wort hier in seiner eigentlichen Bedeutung) ist fast ebenso regelmäßig wie in bezug auf die Fühler oder Palpen. Da bekanntlich beim Verdunsten flüssiger Riechstoffe Wärme gebunden wird und somit a priori die Möglichkeit besteht, dass auch dadurch eine Reaktion zu stande kommt, unterließ ich es nicht, einige entsprechende Kontrolversuche sowohl mit in Eis abgekühlten als mit erwärmten Probestäbehen vorzunehmen. Dieselben zeigten aber, dass der Periplaneta-Rumpf selbst gegen sehr große Wärme- extreme auffallend unempfindlich ist. Während nämlich beim betreffenden Objekt Rosenöl schon nach längstens 10 Sekunden eine Reaktion hervorrief, brachte ein mit 60° C. warmem Wasser gefülltes auswendig berußtes Probegläschen erst nach 20 oder mehr Sekunden eine Wirkung hervor, und ein auf 0° abgekühltes Bleistäbehen ließ das Tier ganz regungslos. Erst bei einer Erhöhung der Probegläschen- Temperatur auf 70—98° sank die Reaktionszeit allmählich von 30 auf 3 Sekunden herab, war also noch immer größer als bei den meisten stärker riechenden Oelen. Versuchen wir es nun, die hinsichtlich der Wirkung von Riech- reizen bei den Insekten eruierten Thatsachen kurz zusammenzufassen und einige Folgerungen daraus zu ziehen. Vor allem wichtig ist der gelieferte Nachweis, dass alle jene stärkeren Riechstoffe, wie z.B. Essigsäure, Terpentinöl, Karbolsäure ete., mit deren Hilfe u. a. Hauser und Dahl experimentierten, nicht nur, die: 5 Rechte Seite g Linke Seite 454 V. Graber, Wirkung und Aufnahmestellen chemischer Reize bei Tieren. wie diese Forscher glaubten, einzelne Organe, wie namentlich die Fühler, sondern mehr oder weniger die meisten zarteren Hautstellen affizieren. Daraus und aus dem Umstande, dass stärkere Riechstoffe fast durchgehends eine heftige abstoßende Wirkung hervorbringen, schließe ich aber, dass die betreffenden Reaktionen überhaupt nicht auf einer Geruchsempfindung, sondern auf einer im Anfang sehr schmerz- haften Erregung des Gefühlsinnes beruhen, welcher letztere bei diesen Tieren vielfach offenbar von ganz außerordentlicher Feinheit ist. Mit Rücksicht darauf, dass man aufgrund dieser Verhältnisse zur Annahme geneigt sein könnte, dass die Insekten überhaupt keinen eigentlichen Geruchssinn haben, möchte ich kurz folgendes zu be- denken geben. Der gesamte Perzeptionsapparat eines Tieres hat offenbar nicht bloß den Zweck, die mannigfaltigen äußeren Zustände und Vorgänge überhaupt nur zur Wahrnehmung zu bringen, son- dern letztere sollen mit Hilfe der spezifizierten Sinnesorgane vor allem leicht und sicher von einander unterschieden werden. Würden nun, sagen wir beispielshalber die Gerüche der Blumen, auf eine Biene un- gefähr nur so wirken, wie gewisse stärkere Riechstoffe auf unsere äußeren Augenhäute, so wäre eine Unterscheidung derselben, wie sie für die Aufsuchung der bezeichneten Nährobjekte notwendig oder doch höchst förderlich erscheint, ganz und gar unmöglich, denn wir wissen, dass ganz heterogene Riechstoffe, wie z. B. Kampher, Ros- marinöl ete. in unserem Auge bezw. in unserem Gefühlssinn nahezu eine und dieselbe Empfindung, nämlich ein gewisses Brennen erregen. Nicht übersehen darf man dann die Thatsache, dass, wie man weiß, und wie ich mich selbst vielfältig überzeugte, gewisse feinere Riech- stoffe, wie z. B. Honig, Vanille, Patschuli, Moschus ete. nur ein- zelne Anhänge oder Teile des Kopfes affizieren, während sie auf andere Hsutstrecken, anscheinend wenigstens, völlig wirkunglos bleiben. Dies spricht dafür, dass auch hier ganz spezifische Riechnervenenden vorkommen. Die Erörterung der weitern Frage aber, welche Organe die Träger der letzteren sind, gehört nicht in den Rahmen gegen- wärtiger Darstellung. Noch evidenter zum Teil wie bei gewissen Insekten ist die Riech- reiz-Empfänglichkeit der ganzen Haut bei den untersuchten Würmern und Weichtieren. Ich führe zunächst einige das Verhalten am äußersten Vorder- und Hinterende des Körpers vergleichende Experi- mente beim Regenwurm an, von dem Darwin), wie mich dünkt, nieht ganz mit Recht sagt, dass „der Geruchssinn allem Anschein nach auf die Wahrnehmung gewisser Gerüche beschränkt und schwach ist“. Nachstehende Zahlen geben wieder die Reaktionszeiten in Sekunden an. !) Ueber die Bildung der Ackererde durch die Thätigkeit der Würmer 1882. Die von Darwin gebrauchte Methode des Aufsuchenlassens riechbarer Speise- objekte (verwelkte Kohlblätter ete.} scheint mir zur Prüfung des Geruchssinns nicht frei genug von störenden Nebenumständen. III. Wirkung von Riechreizen auf die Haut. 455 Regenwurm (jung): z VOLL: 2 On RZ 25 2 u R R ä ’ ? ? ? ? e) ? . P) P} an | hinten 2,2013, 7403, 1.0009,.3,4,3 Dar VOrN 2,742 5,8.1,3.08, 405,3 Thymianöl | yinten: ee a. NOLn32 124,2), 2,25 272,1 2,522.12 vl alaetla | hinten: 2, 2,3,2,22,32232 Nach diesen Ergebnissen ist es eine Thatsache, dass der Regen- wurm gegen die applizierten Riechstoffe hinten ganz oder doch fast grade ebenso empfindlich als vorn ist. Aus dem gleichen Grunde wie bei den Insekten nehme ich aber an, dass auch hier die nach- gewiesene Reaktion auf die applizierten Riechstoffe nicht auf einer spezifischen Riech-, sondern auf einer (und zwar offenbar ziemlich heftigen) Gefühlsempfindung beruht. Aehnliche Resultate erhielt ich auch bei den Blutegeln (Aula- stoma). Die Prüfung der Empfindlichkeit des Hinterendes geschah dann, wenn das Tier die betreffende Saugscheibe außerhalb des Wassers oder nahe unter dem Wasserspiegel fixiert hatte. Mit stär- keren Riechstoffen, aber mitunter aueh schon mit Rosenöl, kann man die aus einem Glas herauszüngelnden Würmer leicht zurücktreiben. Fürs Hinterende wurde die Reaktionszeit erst dann notiert, wenn der Saugnapf losgemacht wurde. Mittelwert BER (vom 20,35, 3,2, 77,15, 10 1 ol inten 113,.22.530.:20,5 25, 10, 19 17 vom 14,2 hinten? 7.2, 71514, 9,514, 2,2411,,2 Die Empfindlichkeit gegen Rosen- sowohl als gegen Rosmarinöl ist geringer als beim Regenwurm, und ebenso die Empfindlichkeit des (meist als Stativ dienenden) Hinterendes etwas schwächer, als jene des vorwiegend als Spürorgan funktionierenden Vorderteiles. Ungemein groß ist die allgemeine Hautempfindlichkeit gegen Gerüche unter den Weichtieren, besonders bei unseren Landschnecken. Die allerempfindlichsten Geruchsaufnahmestellen, die Fühler, hat unter anderem Göthe in den bekannten Versen, in denen vom „Abriechen“ mit dem „tastenden Gesicht“ die Rede, richtiger bezeichnet als manche moderne Zoologen, die, wie z. B. Spengel?) in seiner morphologisch hochbedeutsamen Schrift über das Geruchsorgan der Mollusken, ohne ausreichende experimentelle Begründung den Geruchsinn in die soge- nannten Nebenkiemen verlegen. Der Schneckenfühler ist meiner An- Rosmarinöl | 4) Ich zähle wieder so lange Sekunden, bis starke und bleibende Kontrak- tion des betreffenden Körperabschnittes eintritt; Kontrolversuche mit einem nicht riechenden Stäbchen geben weit höhere Zahlen. 2) Zeitschrift für wissensch. Zoologie, Bd. 35. 456 V. Graber, Wirkung und Aufnahmestellen chemischer Reize bei Tieren, schauung nach im allgemeinen ganz genau so viel oder so wenig Geruchsorgan wie die Insekten- Antenne, und beiderlei Kopffortsätze zeigen in analoger Weise eine Vereinigung und zum Teil höchst merk- würdige Konzentrierung verschiedener Sinnesfähigkeiten. Wie überaus empfindlich die Schneckenfühler gegen Gerüche sind, zeigt unter an- derem folgendes in mehr als einer Beziehung lehrreiche Experiment. Man gibt eine Landschnecke in Wasser, das mit einem Tröpfchen Rosenöl versetzt ist. Indem das Tier unter Wasser dahinkriecht, um eine trockne Stelle zu erreichen, streckt es die Fühler aus; zieht sie aber jedesmal wieder zurück, weil ihr das genannte Parfüm im Wasser ebenso zuwider als in der Luft ist. Da sich in Schmarda’s Zoo- logie (I. A. S.236) die Angabe findet, „es ist nachgewiesen, dass bei unseren Landschneeken die unteren Tentakel diese Funktion (der Geruchsvermittlung) übernehmen“, machte ich nachstehenden Parallelversuch. Helix arbustorum. Rosenöl. Obere en, a lo Ya "ob Yo Yo 1 Ya "lo 1 Untere „ 1, Yo Yo Ya To bb Un Yo Yo Ur Er beweist, dass die Wirkung dieses Riechstoffes auf die oberen und unteren Fühler eine ganz gleiche ist. Die Empfindlichkeit anderer Abschnitte der Haut gegen Riech- stoffe ist bei den Schnecken sehr leicht zu erkennen. Nähert man den Riechstoff dem Hinterende oder auch dem Seitenrand des dahin- gleitenden Fußes, so wird der betreffende Teil meist sehr bald ein- gezogen, und man ist wie bei den Würmern leicht im stande, durch entsprechende Haltung des Geruchträgers das Tier von seiner einge- schlagenen Bahn abzulenken. Behufs Vergleichung der Empfindlichkeit an den Fühlern und am hintern Fußende führe ich aus meinem vielzifferigen Beobachtungs- Journal nur ein paar Ergebnisse an. Die Ziffern der dritten Horzi- zontalkolumne geben die Zeit an, während welcher der vorn appli- zierte Riechstoff einwirken muss, um eine vollständige Einstülpung des äußern Weichkörpers in das Gehäuse zu erzielen. Helix arbustorum. en. vorn Li, Sl Seen nee Rosmarinöl Ü hinten: 2, 1,°2,03,02, DPD. 2, VOR ae # vorn: 1, 15.01, le 2 Karbolsäure | |. 2 1.0. ie 2 a ale (konz.) hinten: 4,6, 30,7 2250, 7,06. RO Einstülpung: 40, 30, 40, 30, 35, 51, 28, 28, 27 Man sieht, dass im Anfang gegenüber dem Rosmarinöl die Em- pfindliehkeit des Fußes nicht viel geringer als die der Fühler ist, und man erkennt dann, was wichtig, zweitens, dass der reaktive Unter- schied zwischen Fühlern und Haut gegenüber verschiedenen Reizen ein sehr ungleicher ist, indem die Karbolsäure auf den Fuß nicht nur III. Wirkung von Riechreizen auf die Haut. 457 absolut, sondern auch relativ viel langsamer als das Rosmarinöl wirkt. Ich füge noch bei, dass Helix eines der wenigen Tiere ist, das sehr rasch auf Jodoform reagiert, während z. B. Moschus wirkungslos bleibt. Nieht minder interessante Ergebnisse betreffs der Hautreizung durch Luftriechstoffe wie bei den Wirbellosen erhielt ich bei mehreren der untersuchten Wirbeltiere; ich will aber nur einige wenige mit- teilen. Voran stelle ich die anscheinend paradoxe Thatsache, dass bei manchen Reptilien und Vögeln das Auge empfindlicher gegen gewisse relativ starke Riechstoffe als die Nase ist. Hält man z. B. einer Ei- dechse am bekannten Geruchträger ein Tröpfehen Rosenöl vor die Nase, so reagiert sie in der Regel gar nicht. Nähert man aber das- selbe Riechobjekt dem Auge, so tritt binnen 5 bis höchstens 20 Se- kunden ein Zwinkern der Augenlider ein; ferner wird teils vor- übergehend, teils, bei kontinuierlicher Anwesenheit des Riechstoffes, dauernd, die Nickhaut vorgezogen, was doch unzweifelhaft auf ein erregtes Schmerzgefühl schließen lässt. Von anderen Gerüchen bringt unter anderen Ol. Calami, das binnen 60 Sekunden mein Auge ab- solut nicht empfindet, innerhalb der Zeit von 3 bis 10 Sekunden Niekhautbewegung hervor, während das viel stärkere Rosmarinöl, das in meiner Cornea (resp. Conjunetiva) erst nach 10 Sekunden ein schwaches Brennen erregt, bei der Eidechse schon '/, bis 2 Sekunden dauernden Augenverschluss bewirkt '). Wird während des Versuches mit dem Geruchs- resp. Gefühls- reiz ein Induktionsstrom durch den Kopf geleitet, der aber noch keine merkliche Kontraktion der Augen-, Niekhaut- und Lidmuskeln her- vorbringt, so bleibt die Wirkung des .erst erwähnten Reizes unver- ändert. Ausdrücklich hebe ich dann noch die Thatsache hervor, dass speziell bei der Eidechse die Riechstoffe auf die Oberhaut stärker resp. schneller einwirken, als auf die bloßgelegte Unterhaut, oder aufinnere Weichteile. Noch empfindlicher erwies sich das Auge gewisser Vögel z B. der Schwalbe. An ihm konstatierte ich das Eintreten des Verschlusses durch die Niekhaut und eventuell durch die Lider bei konzentrierter Buttersäure im Mittel nach 1, bei Birnäther nach !/,, bei Cajeputöl nach 2, bei Rosmarinöl nach 3 Sekunden, während bei allen diesen Stoffen die Applizierung an die Nase binnen 20 Sekunden in der Regel gar kein Zeichen des Unbehagens hervorrief. 1) Dass der Geruchs- und desgleichen auch der Geschmackssinn der Eidechsen ein sehr stumpfer ist, mag man auch daraus entnehmen, dass ich ein solches immer reich mit Futter versehenes Tier einen in Terpentinöl getauchten Regen- wurm verschlingen sah! — 458 V. Graber, Wirkung und Aufnahmestellen chemischer Reize bei Tieren. Riechreize werden aber bei den Wirbeltieren nicht allein durch die zarten Augenmembranen, sondern, so gut wie ich das für viele Wirbellose nachwies, auch durch andere nicht spezifisch differenzierte Strecken der allgemeinen Haut aufgenommen. Dies beobachtete ich vor allem beim Triton, also bei jenem Tier, dessen Haut sich durch eine so wunderbar feine Empfindlichkeit gegen Licht- reize auszeichnet. Die betreffende Reaktion zeigt sich am allerdeut- lichsten am Schwanz, der sich, wenn man den Riechstoff einige Zeit demselben nahe hält, auf der entsprechenden Seite krümmt und schließ- lich, bei weiterer Einwirkung des Reizes, hakenförmig umsehlägt oder auch von der Spitze an aufrollt. Im Folgenden gebe ich wieder die Reaktionszeiten in Sekunden, und zwar zum Vergleiche sowohl bei der Nasen- als bei der erwähnten Schwanzposition des Riech- stoffes. Triton 15° R. Mittelwert RN Nase: 8,26, 6, 10, 18, 19,10, 7, 13,10... OSHAHESE Sehwanz: 4, 70, 21, 38, 80, 90, 12, 50, 31, 42..44 LU SEIRLFOR NASE: IR 22, N MITRDN ANEN EE EDSlhen as chan aid, ara, er Eraser wi Wie man sieht, ist die Wirkung des (uns so überaus angenehmen) Birnäthers auf den Schwanz des Triton beinahe ebenso stark wie auf das Geruchsorgan, und es sei noch beigefügt, dass hier die Schwanz- krümmung meist auch mit Ortsbewegung verbunden ist. Da man, wenn auch mit wenig Berechtigung, gegen die letzten Experimente einwenden könnte, dass die Bewegung des Schwanzes möglicherweise nur eine Folgeerscheinung einer Erregung sei, welche durch den von der Applizierungsstelle aus zur Nase sich verbreitenden Geruch bedingt werden könnte, so unterließ ich es nicht einen Kon- trolversuch mit Tieren zu machen, bei denen durch Verklebung mit Maskenlack sowohl die Geruchsorgane als die Augen ausgeschaltet waren. Nachstehende Zahlen beweisen, dass die Tiere im wesent- lichen ganz ebenso wie früher reagierten. Triton mit verstopfter Nase. Ol. Cajeputi Schwanz: 5, 10, 22, 12, 10, 14, 15, 3 Sek. QlSRoLLSMor. .;., 125..12,.14, 12,213 Birnäther 2 3 35 10 Da 360,12 Terpentinöl und konzentrierte Essigsäure brachten dagegen binnen 30 Sekunden auffallenderweise keine Reaktion hervor. Danach ist also kein Zweifel, dass auch bei gewissen Wirbel- tieren die Haut solehe Geruchsreize perzipiert, die wir nur mittels der Nase oder eventuell der Augenhäute wahrnehmen. Aehnlich wie bei den dekapitierten Periplaneten machte ich auch beim Triton Parallelversuche mit stärkeren Wärmereizen. Hierbei erwies sich der Schwanzteil als gradezu überraschend unempfindlich, indem Wilckens, Paläontologie der Haustiere, 459 beispielsweise die Annäherung des auf 70° C. erwärmten Probegläs- chens binnen 20 Sekunden gar keine Bewegung hervorbrachte. Eine solche trat innerhalb der genannten Zeit erst bei 80°C. ein. Jeden- falls wirken Wärmereize (von der angegebenen Höhe) viel langsamer als Riechstoffe. (Ein dritter Artikel folgt.) Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haustiere '). 7. Die hundeartigen Tiere (Caniden) des Tertiärs. Unter allen fleischfressenden Säugetieren ist der Haushund (Canis Familiaris) die einzige Art, welche ganz und gar in den Hausstand des Menschen übergegangen ist; er ist das älteste Haustier, das der Mensch erworben hat. Zugleich ist der Haushund das formenreichste aller Haustiere, d. h. er bildet die zahlreichsten Rassen, deren Zahl selbst die der Tauben übertrifit, wenn wir bei diesen von bloßen Farbenschlägen absehen. Die außerordentliche Mannigfaltigkeit in der Form der Hunderassen ist zwar größtenteils das Ergebnis der künstlichen Züchtung; aber die Zuchtwahl des Menschen hat doch nur vollendet, was die natürliche Züchtung im Verlaufe der Tertiär- periode vorbereitet hat. Wie bei den Suiden, so treffen wir auch die eocänen Vorfahren der Caniden auf einem Grenzgebiete, von welchem Bären, Hunde, Hyänen und selbst Katzen ihren Ausgangspunkt genommen haben. Eine eigentümliche Mittelform zwischen Bären und Hunden hat Du- erotay de Blainville?) Subursus (Petits-ours) genannt. Diese Form ist in der Gegenwart vertreten durch die Wickelbären, zu denen der in Brasilien einheimische Kinkaju (Cercoleptes caudivolvulus) ge- hört, sowie der in Hinterindien lebende Binturong (Arctitis Binturong). Diese Tiere sind hauptsächlich ausgezeichnet durch ihren Wickel- schwanz und durch die Kürze ihrer Kiefer. Fossile Ueberreste der- selben sind bisher nicht bekannt, aber Blainville (a. a. O. S. 73) glaubt ihnen eine fossile Form nahestellen zu können, welche er Palaeocyon, oder besser Arctocyon genannt hat. Dieser Name bezieht sich auf einen — mit Ausnahme des Unterkiefers — fast vollständigen Schädel und zahlreiche andere Knochen aus der ältesten der Molasse ähnlichen Tertiärschicht von La Fere?); diese Ueberreste wurden in 1) Vgl. Bd. V Nr. 12 dieser Zeitschrift. 2) Ost&ographie. Subursus. Paris 1841. 3) Diese Schicht, von d’Archiae „glauconie inferieure* genannt, ruht unmittelbar auf weißer Kreide und sie ist wahrscheinlich gleichzeitig mit der suessonischen Schicht von Meudon (Pietet, Pal. p. 193). 460 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. einem Steinbruche an der Straße nach Charmes gefunden, zusammen mit Resten von Süßwasser - Schildkröten. Die Gesamtform des Kopfes von Arctocyon gleicht nach Bl. der Form der im Wasser lebenden Fleischfresser, wie der Robben und der Otter; der Schädel ist breit, ziemlich flach, von dem Gesicht oder der kurzen Schnauze durch eine sehr starke Einschnürung abgesetzt; die Schläfengruben sind sehr groß infolge des stark nach außen ge- krümmten Jochbogens; die Augenhöhle ist sehr weit und sie ist hin- ten nur begrenzt durch wenig vorragende Fortsätze des Stirn- und des Wangenbeins. Die Schnauze ist sehr kurz, breit und nach vorn wie abgestutzt. Das Gaumengewölbe ist vor allem bemerkenswert durch seine große Breite. Das Zahnsystem zeigt ein ganz besonderes Gepräge in der Zahl und der Form der Zähne. In dem in Rede stehenden Fossil fehlen die Schneidezähne gänzlich und die Eckzähne sind an ihrem Halse abgebrochen; ihre Wurzeln stehen weit ausein- ander gespreitzt und ihr Querschnitt ist oval, aber ziemlich wenig verengert. Von Backenzähnen sind vorhanden: 3 kleine Prämolaren, 1 Fleischzahn mit sehr starkem Kegel an der innern Seite und 3 große, quergestellte, den entsprechenden Zähnen des Bären ähnliche Molaren. Ein linker Oberarmknochen ist bemerkenswert durch seine sehr große Stärke, seine S-förmige Krümmung, dureh die Breite und Ausdehnung des Kammes für den Ansatz des Deltamuskels, sowie durch die Klein- heit des untern Endes, das oberhalb des innern Gelenkhöckers von einem Loch durchbohrt ist und sich nach außen in Form eines schwachen Flügels ausbreitet. Bl. meint, dass der Oberarm von Arctocyon augenscheinlich die größte Aehnlichkeit mit dem des Dachses habe, vielleicht auch ein wenig mit dem der Otter. Dieser Knochen zeigt ein Tier an, das mit seinen Vordergliedern große Kraft an- wendet, sei es zum wühlen in der Erde, sei es zum schwimmen, aber er ist in seinen Maßverhältnissen um mehr als ein Viertel größer als der Oberarm des Dachses. Pictet (Paleontologie, 1853, t. I, p. 193) meint, dass die Arcto- cyon vielleicht Wassertiere waren, wahrscheinlich aber, je nach Ge- legenheit, Allesfresser oder Fleischfresser, mit gedrungenem Körper und niedrigen Beinen. Die einzige bekannte Art ist Arctocyon prim- aevus Blainv. Eine andere Form der den Binturongs nahestehenden Familie Subursus nannte Blainville (a. a.0. S. 78) Amphieyon; ihre Gestalt war gleich oder selbst größer als die der Bären und ihr Zahnsystem gleicht fast dem der gewöhnlichen Hunde. Die Schneidezähne haben eine einfache Krone, die Form der Eekzähne ist sehr zusammenge- drückt und kielförmig (carenee), die drei Prämolaren stehen in jedem Kiefer — wie bei Arctocyon — getrennt von einander, der Fleisch- zahn zeigt wie bei den Hunden einen kräftig entwickelten innern Höcker, die drei Molaren mit stumpfen Höckern sind bärenähnlich. 7. Die hundeartigen Tiere des Tertiärs. 461 Bl. meint, dass die Gattung Amphicyon unzweifelhaft mit fünf kurzen und fast gleichen Zehen versehen war, wenigstens am Vorderfuße; nach dem geringen Vorsprunge des Fersenbeinhöckers urteilt er, dass das Tier ein Sohlengänger gewesen sei, von denen man bisher keinen kenne der weniger als fünf Zehen habe. Bl. unterschied zwei Arten: A. major und A. minor. Lartet (Notice sur la Colline de Sansan, 1851, p. 16), der die Ueberreste dieser Gattung in den miocänen Schichten von Sansan entdeckt hat, sagt, dass die Form der Eckzähne von Amphicyon major, mit dem sägeartig gezähnten Rande, der des Waschbären (Raton) ähnlich sei, während die Backenzähne ganz und gar in den Grundriss des Hundes eintreten; doch trägt der Oberkiefer einen dritten Höcker- zahn, der — wie er glaubte — sich nur bei einer einzigen Art des Hundes wiederfindet: bei Canis megalotis. Als dem Amphicyon nahestehende Formen erwähnt Lartet (a. a. O0. S. 16) noch aus dem gleichen Fundorte: Hemicyon Sansaniensis und Pseudocyon Sansaniensis; jene Art war größer als der europäische Wolf, sie stand dem Hunde näher als Amphicyon und scheint sich durch einige Eigentümlichkeiten ihres Gebisses gewissen Arten der Familie Marder zu nähern, insbesondere dem Vielfraß (Glouton). Pseudocyon war ein fleischfressender Zehentreter, größer als Hemicyon, aber etwas kleiner als Amphicyon; er nähert sich am meisten dem Hunde durch sein Gebiss und durch die Form einiger seiner Glieder- knochen; jedoch bewahren seine Eckzähne noch die feingezähnelten Ränder wie sie bei Amphicyon und Hemicyon beobachtet wurden. Einen andern Fleischfresser, der sich von Pseudocyon durch die Ver- ringerung in der Zahl der Höckerzähne unterscheidet, nannte L. Hydro- cyon Sansaniensis; er hat jedoch noch vier Prämolaren im Unterkiefer. Die Zähne stehen nach ihren Merkmalen in der Mitte zwischen Hund und Otter. Das Tier war ein wenig größer als die Otter, aber kleiner als der Fuchs; vielleicht war es dasselbe Tier, welches Blainville Lutra dubia genannt hat. Pietet (a. a. OÖ. S. 194) sagt, dass sich Amphicyon mehr den Hunden nähert durch seinen Fleischzahn, dessen Sporn (talon) schwach ist und der keinem ähnlichen Zahn gleicht in der Familie der Bären; abgesehen von dem dritten Höckerzahn im Oberkiefer — dessen Vor- kommen dem Gebiss der Bären entspricht — sind die Aehnlichkeiten mit den Hunden größer als die Verschiedenheiten. Die Gattungen Pseudocyon und Hemicyon Lart. kannte Pietet nicht (a. a. 0. S. 196). In den alteocänen siderolithischen Knochenlagern von Mauremont im Waadtlande fanden Pietet, Gaudin und de la Harpe (Me&moire sur les anim. vert. du Terrain siderolithigue du Canton de Vaud, 1855—57, p. 69) wenig zahlreiche Ueberreste von Fleischfressern, die nur aus einigen Zähnen und Fußknochen bestanden, welche das Vor- kommen von mindestens drei Arten beweisen, die indess nur mit ge- 462 Wilekens, Paläontologie der Haustiere. ringer Sicherheit bestimmt wurden. Eine dieser Arten bezeichneten die genannten Forscher mit dem Namen Amphicyon helveticus. In einem von Pictet und Humbert verfassten, im Jahre 1869 erschie- nenen Supplement zu vorstehendem Werke, äußern sich diese beiden Forscher (p. 134) ebenso unbestimmt: „Nous possedons un certain nombre de dents et d’ossements qui prouve leexistence d’un ou plu- sieurs Carnassiers appartenant tres probablement ä la tribu des Amphi- cyon. Les uns presentent assez les caracteres connus des Amphiceyon proprement dits; les autres rappellent plutöt les Hyaenodon“. Das fragliche Tier, durch seine Formen den Amphieyon sehr nahe stehend, hat eine Gestalt, die etwas kleiner war als die halbe Größe von Amphieyon major. Als besondere Arten von Amphieyon führt Pietet (Paleontol., p- 195) noch an: A. dominans und A. Klipsteinii Herm. v. Meyer aus deutschen Miocänlagern, ferner A. intermedius H. v. Meyer und A. Eseri Plieninger, aus dem Eoeän bei Ulm. Pomel (Catalogue methodique et descriptive des Vertebres foss. ete., 1854, p. 69) erklärt den Kopf von Amphiceyon für sehr ähn- lich dem der Hunde und nicht dem der kleinen Bären. Der Oberarm ist sehr breit an seinem untern Ende und oberhalb seines innern Ge- lenkhöckers ist er von einem Loch durehbohrt; das Loch in der Ellen- bogengrube fehlt demselben. Alle Füße besitzen fünf kurze und kräf- tige Zehen. Der Schwanz ist sehr lang. Die Tiere waren wahrschein- lich Wassertiere, aber keine Sohlengänger, wofür man sie ausgegeben hatte. P. meint, dass die Gattung Amphicyon eine große Rolle ge- spielt habe in der tertiären Tierwelt, namentlich im Miocän, und dass ihre Arten noch wenig vergleichend untersucht seien. Er selbst stellt mehrere neue Arten auf, deren gleichbedeutende Namen er angibt wie folgt: A. giganteus Pom. — Canis giganteus Cuv.; A. cultridens Pom. = 4. major Blainv., A. Laurillardi Pom. — FPseudoceyon sansaniensis Lart., A. minor Blainv. — Hemicyon sansan. Lart.; A. diaphorus Pom. — Gulo diaphorus Kaup. Paul Gervais (Zool. et Paleont. frane., 1859, p. 211) zählt die Gattung Amphiceyon zur Familie der Caniden, wohin er auch die Gat- tung Arctocyon Blainv. stellt, ohne überzeugt zu sein, dass dort ihr richtiger Platz sei; auch führt er die Ansicht an von Laurillard (Diet. univ. d’hist. nat., t. IX, p. 400), der — in anbetracht der Klein- heit des Schädels, der großen Ausspreizung der Jochbogen und der Form des Oberarmes — zu glauben geneigt sei, dass Arctocyon prim- aevus einer Gattung von Beuteltieren; angehöre, die mehr omnivor sei als der Beutelhund ( Thylacinus) und der Beutelmarder (Dasyurus) ; diese Annahme scheint jedoch Herrn Gervais nicht begründet zu sein (a. a. O. S. 221). Von der Gattung Amphicyon unterscheidet G. folgende Arten: A. giganteus aus miocänen Süßwasserschichten zu Chevilly (Loiret) 7. Die hundeartigen Tiere des Tertiärs. 463 und Avaray (Loir-et-Cher), A. lemanensis (oder Blainvillii) aus dem Anthracotheriumlager zu Digoin (Saöne-et-Loire); von beiden Arten gibt G. weder Beschreibung noch Abbildung. Ausführlicher behandelt er A. gracilis aus dem mioeänen Süßwasserkalk („ealeaire ä indusies“ genannt) zu Langy bei St.- Gerand-le-Puy (Allier), wo er zusammen mit Cainotherium, Palaeochoerus, Stenofiber ete. gefunden wurde; ein Schädel dieser Art ist von länglicher Form, mit erhöhten Hinter- haupts- und Scheitel- Kämmen; seine Hirnhöhle ist sehr klein; der Vorkopf ist wenig erhöht und die Schnauze verlängert. A. brevirostris aus dem Süßwasserkalk von Gergovia bei Clermont (Puy-de-Döme) hat eine Gestalt, vergleichbar der von Canis canerivorus von Süd- amerika. Von A. Zibethoides (Viverra Zibeth. Blainv.) kennt man nur drei unbedeutende Bruchstücke von Unterkiefern, welche einen Fleisch- fresser anzeigen, beinahe so groß wie der Schakal. Außerdem er- wähnt G. die von Blainville ausführlich beschriebenen Arten 4A. major und A. minor und er stellt zu dieser Gattung auch das Agno- therium Kaup’s. H. v. Meyer („Uebersicht der fossilen Wirbeltiere des Mainzer Tertiärbeckens“ im Neuen Jahrb. f. Min. u. s. w. von Leonhard und Bronn, 1843, S. 379) fand zu Weisenau im Mainzer Tertiärbeeken Kieferstücke mit Zähnen, einzelne Eckzähne und Gliederknochen von mehreren Individuen, welche er einer neuen Art, Amphicyon dominans, zuschreibt. Im „Neuen Jahrbuch“, 1849, S. 548, erwähnt M. einen Höckerzahn des rechten Oberkiefers aus dem Süßwasserkalk bei Ulm, und daselbst 1851, S. 75 zwei Unterkieferhälften aus der Braunkohle der Molasse in der Schweiz, welche Ueberreste er einer ebenfalls neuen Art, A. intermedius zuerkennt; diese Art soll eine mittlere Stel- lung einnehmen zwischen A. major Blainv. und A. dominans Mey. Aus einem Tertiärmergel bei Tuchoritz in Böhmen beschreibt Ed. Sueß („Ueber die großen Raubtiere der österr. Tertiärablagerungen“ in Sitzungsber. d. math. naturw. Kl. d. k. Akad. d. Wiss., Wien 186!, Bd. 43, Abt. 1, S.224) 18 lose Zähne und Zahnbruchstücke, die einem großen Raubtiere angehören, das H. v. Meyer nach der Zeichnung der Zähne als Amphicyon dominans bezeichnet hat. Von der fast vollständigen Bezahnung dieses Tieres gibt S. folgendes Bild: Die mittleren Schneidezähne waren sehr flach, ohne innern Ansatz, der äußere obere eckzahnartig; die Eckzähne waren stark, mäßig ge- krümmt, von ovalem Querschnitte, mit je zwei starken senkrechten Leisten; die Lückenzähne sehr hoch, von unbekannter Zahl; die Fleischzähne im Verhältnis zum übrigen Gebiss und insbesondere oben klein, oben und unten mit stark ausgeprägtem omnivoren Charakter; die obern Höckerzähne, mehr als zwei an der Zahl, der letzte ein- wurzelig; — von den untern Höckerzähnen ist nur ein einwurzeliger (der letzte oder vorletzte) bekannt. Diese Daten — meint Sueß — reichen hin, um ein Tier erkennen zu lassen, welches, obwohl der 464 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. Familie der Hunde angehörig, sich doch durch sein weniger karni- vores Gebiss von der typischen Sippe Canis entfernt und in dieser Beziehung demselben noch ferner steht als die wenigen bisher durch Blainville näher bekannt gewordenen Arten der tertiären Sippe Amphicyon. Ja, die Höhe der Backenzähne deutet schon auf das am wenigsten karnivore Glied der heutigen Caniden, auf Otocyon!) hin, ohne dass doch eine generische Trennung von Amphicyon gerecht- fertigt wäre. Aus den Mioeänschichten von Eibiswald in Steiermark beschreibt Karl F. Peters (Denkschr. d. math. naturw. Kl. d. k. Akademie d. Wiss., Wien 1868) das Vorderteil eines Unterkiefers mit den drei hintern Backenzähnen und dem Fleischzahn, welche Ueberreste er ebenfalls dem Amphicyon intermedius Mey. zuerkennt, aber von einer größern Varietät, die einen Uebergang zu bilden scheint zwischen jener Art und der kleineren Rasse von A. major von Sansan. Unter den Tierresten des miocänen Beckens von Steinheim fand OÖ. Fraas („Fauna von Steinheim“, 1870, S. 6) auch das ganz voll- ständige Gebiss eines Unterkiefers von Amphicyon major Lart. und einzelne Zähne von A. giganteus Laurillard’s. In den obereocänen Phosphoriten von Querey ?) fand H. Filhol („Recherches sur les Phosphorites du Querey“ in Ann. des sc. g£eol., 1876, VII, p. 55) einen Unterkiefer, dessen vorderer und hinterer Teil zerbrochen war und dessen Mittelstück vier Prämolaren und den Fleischzahn enthielt. Die Spitze des letzteren ist bemerkenswert durch seine beträchtliche Erhebung über den Hals des Zahnes; er steht auf- fallend senkrecht und nicht nach hinten geneigt, wie bei Canis Palaeo- /ycos Gerv. und den ächten Hunden, bei denen er zugleich mehr niedergedrückt ist. F. nennt das zugehörige Tier Amphieyon ambiguus. A. Gaudry („Les enchainement du Monde animal“, 1870, p. 211) hält Amphicyon für eine der bezeichnendsten Fossilien des mittleren Tertiärs, das bestimmt zur Gruppe der Hunde gehört, obgleich er Sohlengänger und vielleicht Kletterer war wie die Bären. Seine Eck- 1) Auf die Beziehungen von Otocyon (dem südafrikanischen Löffelhunde) zu Amphicyon hat auch Huxley („On the Cranial and Dental Characters of the Canidae“ in Proceed. of the Zool. Soc. of London, 1880, p. 282) aufmerk- sam gemacht; er meint „that in the dentition of Otocyon we have a repren- sentation of the number and the kinds of teeth which existed in the earliest ancestors of the Canidae, and that the lobate mandible is similarly inherited from them, it becomes necessary to seek, for the primitive forms of the Car- nivora which probably stood in the same relation to Amphicyon as Otocyon does to Canis and Vulpes, in still older formations“. 2) Die Lager von Calciumphosphat auf der Hochebene von Querey bei Caylux (Tarn-et-Garonne) im südwestlichen Frankreich bilden eine erst im Jahre 1865 aufgedeckte Fnndstätte, die sehr reich ist an fossilen Knochen, namentlich von Caniden. Das Gebiet, welches die Phosphoritlager enthält, wird umgrenzt von den”Thälern der Lere, des Cel& und des Aveyron. Crampe, Vererbung der Farbe bei zahmen Wanderratten. 465 zähne waren wohl länger und grader als bei den Hunden; seine Prä- molaren und sein Fleischzahn waren kleiner, die Ausdehnung seiner omnivoren Höckerzähne aber verhältnismäßig größer, was ihn den Bären näher stellt. Auf einem in Caylux gefundenen linken Unterkieferstück gründet Filhol (a.a.0.S.63) eine neue Gattung, die er Brachyeyon Gaudryi nennt; das Tier entspricht einem Hunde von großem Wuchse und es steht wahrscheinlich dem Amphicyon nahe. Die Zahnformel dieses Unterkiefers ist: 3 Prämolaren, 1 Fleischzahn und 2 Höckerzähne, so dass also dieses Tier einen Prämolarzahn weniger besitzt als die Hunde. Der Körper des Unterkiefers ist bemerkenswert durch seine plumpe (massive) Form, die ein sehr starkes Tier anzeigt mit Kau- muskeln von großer Kraft. Der vorigen Form wahrschemlich nahe verwandt ist der schon oben erwähnte Canis palaeolycos, den Gervais!) auf einem in Querey gefundenen Unterkiefer errichtet hat; die vorhandenen Zähne, 3 Prä- molaren, der Fleischzahn und der erste Höckerzahn, sind von auf- fallender Stärke. Den oben erwähnten Namen Agnotherium gab Kaup (Descriptions d’Ossem. foss. de Mammif. ineonnus au Museum de Darmstadt, 1832, p. 28) einer „neuen Gattung, welche sich dem Hunde zu nähern scheint“, die sich aber bloß stützt auf einen Fleischzahn des rechten Unterkiefers und auf einen rechten obern Eckzahn, der die meiste Aehnlichkeit hat mit dem des Hundes; nach diesen Zähnen glaubt K dem Tiere die Gestalt des Löwen zuschreiben zu können. (Fortsetzung folgt.) M. Wilckens (Wien). Crampe, Die Gesetze der Vererbung der Farbe. Zucht- versuche mit zahmen Wanderratten. Landw. Jahrbücher, Berlin 1885. Bd. XIV. $. 379-399. Um eine Beobachtung Darwin’s zu prüfen, hatte der Verfasser weiße Hausmäuse mit gemeinen grauen gepaart. Die Ergebnisse dieses Versuches bestätigten diejenigen Darwin’s: sämtliche Kreu- zungsprodukte waren grau. Die Albinoform der grauen Hausmaus züchtet von Anfang an rein und sie ist somit eine beständige Abart der Art Mus musculus. In Reinzucht fortgepflanzt erweist sich die Abart beständiger als die Art; denn von weißen Mäußen fallen aus- schließlich weiße, niemals Nachkommen irgend einer andern Farbe. In der Kreuzung aber überwindet die Art die Abart. Die aus weißen und grauen Hausmäusen gezogenen Mischlinge gediehen aufs beste, 4) In den mir zugänglichen Schriften von Gervais habe ich diese Form nicht gefunden, weshalb ich hier anführe nach Filhol (a. a. O. S. 53). 30 466 Crampe, Vererbung der Farbe bei zahmen Wanderratten. sie wurden aber je älter um so unbändiger und entflohen sämtlich. Der Verfasser setzte seine Versuche nun mit weißen Wanderratten fort. Die Nachkommen weißer und gemeiner wilder Wanderratten waren ausnahmslos grau, wie die Art. Zuerst hatte C. wilde Männ- chen mit weißen Weibehen gepaart, dann wilde Weibehen mit weißen Männchen. Das Ergebnis war das gleiche; zwischen den auf zweierlei Weise hergestellten Mischlingen bestand keinerlei Unterschied in der Farbe. Die Kreuzung der weißen Abart und der Art hat zur Folge: Mischlinge der 1. Geschlechtsfolge, grau von Farbe und im allgemeinen der Art gleichend. Die einen haben keinerlei Abzeichen, die anderen weiße Abzeichen an den Füßen und auf dem Bauche. Die in Reinzucht bezüglich der Farbe gezogenen Nachkommen der grauen Mischlinge ohne Abzeichen sind: grau, ohne und mit weißen Abzeichen, weiß, schwarz, ohne und mit weißen Abzeichen, aber in keinem Falle gescheckt. Die grauen Mischlinge mit weißen Abzeichen sind: von denselben Farben und Abzeichen, außerdem weiß und grau gescheckt, weiß und schwarz gescheckt. Mischlinge der 2. Geschlechtsfolge., unter denen alle Farbenabänderungen vertreten sind, welche sich aus der Art Mus decumanus überhaupt gewinnen lassen. Die Ergebnisse der Reinzucht von Abarten sind in bezug auf die Farbe: 1. Aus der weißen Abart erhält man ausschließlich Nachkommen, welche dieser Abart angehören. 2. Die Abarten der schwarzen Farbe liefern Abarten der schwarzen Farbe und außerdem der weißen Farbe. 3. Aus den Abarten der grauen Farbe fallen Abarten aller Farben. Die weiße Abart ist also beständig von Anfang an, während alle übrigen Abarten abändern. Von entscheidender Bedeutung ist nun die Thatsache, dass der Abänderung der Abarten Schranken gezogen sind, die niemals über- schritten werden. Dieser Schranken gibt es zwei: 1) beschränkt sich die Abänderung der Abarten auf die Abarten grau ohne Abzeichen, grau mit Abzeichen, grau gescheckt, weiß, schwarz gescheckt, schwarz mit Abzeieben, schwarz ohne Abzeichen; andere Abarten kommen nicht vor; 2) liefert jede Abart nur ganz bestimmte Abänderungen und nie- mals andere. Crampe, Vererbung der Farbe bei zahmen Wanderratten. 467 Man kann also sagen: die weiße Abart ist beständig bezüglich der Produktion ausschließlich weißer Nachkommen, und Jede Abart ist beständig bezüglich derjenigen Abänderungen, in die sie sich spaltet bei Fortpflanzung in Farben-Reinzucht. Für die Vererbung der Abarten sind diejenigen äußeren Eigen- schaften ihrer Angehörigen maßgebend, auf welche ihre Zugehörigkeit zu der in Rede stehenden Abart begründet ist. Die äußeren Eigen- schaften stehen somit in Beziehung zu denjenigen den Beteiligten innewohnenden Eigenschaften, denen zufolge ihre in Farbenreinheit gezogenen Nachkommen bestimmten Abarten angehören. In diesem Sinne sind die äußeren Eigenschaften der Angehörigen von Abarten, also die Farbe und die Abzeichen maßgebend für die bezeichneten inneren Eigenschaften derselben, d. h. für die Vererbung. Verfasser fasst schließlich die Ergebnisse seiner Untersuchung in fünf „Vererbungs-Gesetze“ zusammen, welche lauten wie folgt. 1. Gesetz. Die Art Mus decumanus ändertin natürlicher Weise (spontan) ab und sie kann durch Kreuzung mit einer ihrer Abarten zum Abändern gebracht werden. Hierbei spaltet sie sich in sieben Abarten (die oben genannten Far- ben-Abänderungen). — Dazu erklärt Verf., dass die auf natürliche oder künstliche Weise zu stande gekommenen Abänderungen bestän- dig sind. Dieselben lassen sich durch Fortpflanzung in Farben- Reinzucht erhalten und sie gehen bei Fortpflanzung in Farbenkreuzung nicht verloren. 2. Gesetz. Die Abänderung von Mus decumanus bewegt sich innerhalb bestimmter und fester Grenzen. Diese Grenzen nach irgend einer Richtung hin zu erweitern ist unmöglich. 3. Gesetz. Die abgeänderten Abarten besitzen Bestän- digkeit hinsichtlich ihrer Abänderung, d. h. hinsiehtlich derjenigen Abarten, die jede derselben aus sich heraus zu erzeugen vermag. — Die Nachkommen der in Farben -Rein- zucht fortgepflanzten Abarten sind verschieden. In den Nachkommen, die den Eltern gleichen, macht sich das der Abart in bezug auf die Vererbung ihrer Farbe und Abzeichen zukommende Maß an Bestän- digkeit geltend; in den von den Eltern verschiedenen Nachkommen tritt das der Abart eigentümliche Maß an Veränderlichkeit in die Er- scheinung. Durch Fortpflanzung in Farben -Reinzucht lässt sich die Abart erhalten, aber Beständigkeit und Veränderlichkeit in den in Rede stehenden Eigenschaften bestehen dabei unverändert fort. Eine Aenderung hierin kann nur in der Weise bewirkt werden, dass Rein- zucht sich nicht allein auf die Farbe, sondern zugleich auch auf die Abstammung erstreckt. Die Mehrung der in ununterbrochener Reihe einander folgenden in Farbe und Abstammung einander vollkommen 30* 468 Ficalbi, Die Luftsäcke der Vögel. gleichen Vorfahren hat Minderung der Zahl aller in der Farbe mit den Vorfahren und Eltern nieht übereinstimmenden Nachkommen zur Folge. Von den Abänderungen, in welche sich die Abart spaltet, fällt in bestimmter Ordnung eine nach der andern aus. Damit zu- gleich mehrt sich die Zahl der in der Farbe den Vorfahren gleichen- den Nachkommen und schließlich failen ausnahmslos Nachkommen von der Farbe der an der Zeugung beteiligten Abart. Durch fort- gesetzte Reinzucht in Rücksicht auf Farbe und Abstammung ist also hinsichtlich der Vererbung der Farbe die der Abart eigentümliche Abänderung beschränkt und endlich vollständig gebunden worden. Die Abart züchtet von nun an rein. 4. Gesetz. Es steht uns kein Mittel zu gebote, die Grenzen der Abänderung zu erweitern; aber wir vermö- sen diese Grenzen zu verengern, die Veränderlichkeit zu binden und die Beständigkeit hervorzurufen. — Die Eigenschaft Beständigkeit zu behaupten, verdankt das eine Indivivi- duum der langen Reihe von Vorfahren ausschließlich seiner Farbe. Das andere, jenem in den äußeren Eigenschaften gleiche Individuum veranlasst Abänderung infolge der Verschiedenheit seiner Vorfahren betrefis der Farbe. Wenn also zwei Individuen derselben Abart zur Fortpflanzung zusammentreten, so vererben sich dieselben entweder wie die abändernde Abart oder wie die beständige. Ob das eine geschieht oder das andere, dafür sind nicht die an der Zeugung un- mittelbar Beteiligten, sondern deren Vorfahren verantwortlich. 5. Gesetz. Bei Fortpflanzung in Farben-Reinzucht wird die Vererbung der beteiligten Individuen bedingt: im all- gemeinen durch ihr Abänderungs-Merkmal, im beson- dern dureh ihre Abstammung. — Die ausführliche Abhand- lung der indivividuellen Eigenschaften verspricht Verf. an einer andern Stelle. Hier kam es ihm nur darauf an, der Vollständigkeit wegen festzustellen, dass individuelle Eigenschaften überhaupt vorhanden sind, dass dieselben aber auf die Art- und Abart-Eigenschaften keinen Einfluss besitzen und den Stamm -Eigenschaften gegenüber als Eigenschaften untergeordneter Bedeutung anzusehen sind. M. Wilckens (Wien). Eug. Ficalbi, Alcune richerche sulla struttura istologica delle sacche aerifere degli uccell. Sonderabdruck aus den „Atti della Societä Toscana di Scienze Naturali* in Pisa, Band VIII, Heft 2, 16 Seit., 1 Taf. Verf. beginnt mit einer Darstellung der historischen Entwicklung unserer Kenntnisse von den Luftsäcken der Vögel. Eine Uebersicht der Arbeiten von 26 Autoren, die über diesen Gegenstand geschrie- ben haben, ist beigefügt. — Die Luftsäcke stehen bekanntlich in offener Kommunikation mit den Luftwegen; sie entstehen, wie die Christiani, Zur Physiologie des Gehirns. 469 Entwicklungsgeschichte lehrt, als Ausstülpungen der Lunge und schie- ben sich, weiter wachsend, zwischen die Organe der Leibeshöhle und die benachbarten Muskelgruppen ein, ja sie dringen sogar vielfach in das Innere gewisser Knochen des Rumpfes und der Extremitäten. Die ungemein dünnen Wandungen derselben zeigen folgenden Bau: Eine zarte Bindegewebs- Membran bildet das Stroma des Sackes, in ihr verzweigen sich spärliche Blutgefäße und Nerven; Lymphgefäße wurden vergeblich gesucht. Die Innenfläche der Wandung überkleidet eine einfache Lage von Pflasterepithelzellen. Es sind dies niedrige, polygonale Elemente, die der Cilien entbehren. Hierin unterscheiden sie sieh von dem Flimmerepithel der Bronchien, welche zu den Luft- säcken führen. In den von Knochen umschlossenen Ausstülpungen der Luftsäcke verhält sich das Epithel abweichend von der Ausklei- dung des Hauptabschnitts derselben, indem hier zwischen größeren poly- gonalen Elementen hie und da kleinere Zellen sich einschalten, die nach Behandlung mit Arg. nitrie. dunkler erscheinen und nach Fär- bung mit Hämatoxylin ihren Kern deutlich hervortreten lassen. Ueber die Bedeutung dieser für die „diverticoli intraossei“ der Luft- säcke charakteristischen Gebilde vermag Verf. keine Auskunft zu geben. — An manchen Luftsäeken der Leibeshöhle ist, soweit die Wandung derselben eine freie, äußere Fläche besitzt, hier ein „Endothel“ nach- gewiesen. — Die Frage nach der funktionellen Bedeutung dieser eigentümlichen Hohlräume wird von F. nur kurz berührt. Man hat sie vielfach als aerostatische Apparate angesehen, welche es dem Vogel erleichtern sollten, sich in die Lüfte zu erheben. Diese Mei- nung ist, wie Cadiat an dem Beispiel des mit Wasser gefüllten Bootes zeigt, aus physikalischen Gründen zu verwerfen. F. folgt viel- mehr der Ansicht Hunter’s, wonach die Säcke Reservebehälter von respiratorischer Luft darstellen, die entweder dazu dienen kann, langgezogene Töne hervorzubringen oder die während des Fluges in die Lungen eingetrieben wird, wenn die Muskeln des Tieres schon in verschiedener Weise so in Anspruch genommen sind, dass Inspira- tionsbewegungen des Thorax nicht ohne Schwierigkeiten ausgeführt werden können. B. Solger (Halle a. S.). A. Christiani. Zur Physiologie des Gehirns. Berlin 1885. Schon einmal wurde im „Biologischen Centralblatt“ der Polemik gedacht, welche sich zwischen Munk und dem Verfasser des vor- liegenden Buches A. Christiani darüber entsponnen hat, ob ihres Großhirns beraubte Kaninchen noch sehen oder nicht. Unter „Sehen“ wird hier nicht ein Akt des Bewusstseins vorausgesetzt, vielmehr nur eine Einflussnahme der Gesichtseindrücke auf die Bewegungen des 470 Christiani, Zur Physiologie des Gehirns. Tieres. Christiani behauptet, dass enthirnte Kaninchen im Lauf noch Hindernissen ausweichen, weil sie dieselben durch die Augen wahrnehmen, Munk leugnet dies. „Zur Physiologie des Gehirns“ enthält die diesbezüglichen Ab- handlungen Christiani’s mit einer ausführlichen sich daran knüpfen- den Polemik gegen Munk, ferner eine Anzahl von Essays, welche sich teils auf allgemeine Fragen der Gehirnphysiologie, teils auf die Frage nach dem Rindenfeld des Auges im speziellen beziehen. Sie bilden die einzelnen Kapitel des Buches, welches demnach nicht so schr ein abgerundetes Ganzes, als vielmehr eine „Sammlung“ von Abhandlungen darstellt. Das erste Kapitel ist der Abdruck der im Jahre 1881 in den Monatsberichten der königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin erschienenen Abhandlung „Experimentelle Beiträge zur Physiologie des Kaninchenhirns und seiner Nerven“. In demselben sind zwei „Zentren“ für die Respiration beschrieben. Das erste liegt im Innern des Sehhügels in nächster Nähe der Medianebene und der Basis des dritten Ventrikels. Mechanische, thermische oder elektrische Reizung desselben bringt Stillstand des Zwerchfells in der Inspirationsstellung oder inspiratorisch vertiefte und beschleunigte Atmung hervor. Mit diesem „Inspirationszentrum“ innig verknüpfi ist ein pupillenerwei- terndes. Das zweite Respirationszentrum ist ein exspiratorisches und mit ihm assoziiert ein pupillenverengerndes. Es liegt in der Substanz der vordern Vierhügel, dicht unter und neben dem Aquaeductus Sylvü. Weiter enthält das Kapitel I Beobachtungen an Kaninchen, denen durch symmetrische Schnitte mehr oder weniger von ihrem Gehirn ge- nommen wurde. Kapitel II ist abgedruckt aus den Verhandlungen der physiolo- gischen Gesellschaft zu Berlin (Sitzung vom 20. Juni 1884); es be- handelt ein „Koordinationszentrum“, das vor dem Respirationszentrum des dritten Ventrikels gelegen ist, d. h. eine zirkumskripte Stelle, an deren Integrität die zur Ortsveränderung und zur Erhaltung des Gleich- gewichtes beim Sitzen und Stehen nötige Koordination gebunden ist. Die zwei folgenden Kapitel des Buches sind wesentlich polemi- scher Natur und gegen Munk gerichtet. Näher auf diese Polemik einzugehen scheint hier nicht der Ort zu sein; ferner enthalten sie die Beschreibung von der Operationsmethode des Verfassers,. und seine Anschauung über die Art des Sehens enthirnter Kaninchen. Dieselbe geht, indem sie sich an die Anschauungen früherer Forscher anlehnt, dahin, „dass in diesen Tieren optische Eindrücke noch zweckmäßig verwertet werden“. Christiani stellt sich vor, „dass die optischen Eindrücke auf das im Sehhügel gelegene Hauptreflex- und Koordina- tionszentrum so einwirken, dass die Tiere zu zweckmäßigen Reflex- bewegungen gelangen“. Tollin, Andreas Vesal. 471 Die Kapitel V, VI und VII bilden eine Geschichte der Lehre über die Vertretung, welche die Sehfunktionen im Zentralnervensystem finden. Sie beginnt mit Albrecht von Haller und reicht bis in die neueste Zeit. Jeder, der sich für diese Frage der Physiologie inte- ressiert, wird dem Verf. für die Zusammenstellung dankbar sein. Im letzten Kapitel werden die Resultate der Untersuchung zu- sammengefasst und einige allgemeine Betrachtungen über das Sehen mit und ohne Großbirn daran geknüpft. Sigm. Exner (Wien). Andreas Vesal. Von Lie. theol. Dr. med. hon. Henri Tollin, Prediger in Magdeburg. (Schluss. $. 24. Der königliche Archivbeamte (of the publie Record office) Herr James Gairdner, London, Chancery Lane, der Harvey- Biograph Dr. Robert Willis u. a. zweifelten keinen Augenblick, folgenden aus Löwen datierten Brief eines Michael Villanovanus auf den einzigen im 16. Jahrhundert berühmt gewordenen Namens- träger, den Entdecker des Blutkreislaufs durch die Lungen, Servet, zu beziehen und damit die Möglichkeit zu geben, dass die beiden großen Anatomen zur selben Zeit in Löwen gewirkt, in Löwen mit einander gearbeitet und in Löwen sich gegenseitig belehrt haben. Da bisher noch nie ein Geschichtsschreiber auf den Gedanken gekommen war, wie Vesal zweimal, so sei auch Servet einige Zeit, wahrscheinlich zur gleichen Zeit mit Vesal in Löwen gewesen, so möchte ich hier unter!) diesen sog. Löwener Servet-Brief 4) Martino Vietoriano, Mi. Villanovanus, amicus amico. S. Est mihi quam maxime gratum te frequenter literis visitare, quando aliter non datur: illudque laboris mihi opto evenire, ut quotidie calamo tecum agam; hoc praecipue e multis nomine, quod vel sie animo satisfaeiam meo. Seis enim illud Aristotelis: Distaneia loci non separat amieitiam sed operationem“, Tamen et hane mihi videor literis assequi posse; illa enim quando bonorum est honestorum, permanens est et stabilis atque intransmutabilis, quia amicus, secundum proverbium, alter ipse. Nune vero hoc experiar. Hune tibi tabel- larium comendo ac tuae mando fidei, ut quidquid in me benefieiorum conferre posses in eum conferas; est enim multis nominibus comendatus, sua praecipue, singulari virtute. Hune diligo, eumque, si alter Villanovanus es, charum habebis. Caeterum cura tuum in omnibus obtinere nomen, nee cuiquam in virtute cedas, viciorum omnium victoria fruens, ut brabium in vita assequi possis. Hoc liberius dixerim. Placet enim cum Augustino sentire: „Nescio“ inquit „utrum Chri- stianae amicitiae putandae sint, in quibus magis valet vulgare proverbium: „Obsequium amicos, veritas odium parit“, quam ecelesiastieum: „Meliora sunt vulnera diligentis, quam fraudulenta oscula odientis“.“ Vale, ac valetudinem tuam cura diligenter. Quibus scis me, meipsum debere, eos haud relinquas insalutatos obsecro. Vale iterum. Lovanii. Idus Junias, — Candido ac stu- dioso domino Magistro Martino Vietoriano, Luteciae. 472 Tollin, Andreas Vesal. an einen Pariser Freund Martin Vietorianus zur Beurteilung der Faehmänner einrücken. Ich bemerke zuvor, dass die Handschrift des Löwener Briefes mit der aus Genf mir wohlbekannten Handschrift Michael Servet’s nach dem mir gütigst von Herrn Gairdner mit- geteilten Facsimile so viel Aehnlichkeit aufweist, dass beide sicher aus derselben Schreibfamilie stammen, vielleicht auch identisch sein können, insofern nämlich jederman einzelne Buchstaben seiner Hand- schrift im Laufe der Jahre zu ändern pflegt. Aber auch inhaltlich wüsste ich in dem Löwener Brief des Michael Villanovanus nichts zu nennen, was nicht dem Styl, dem Studiengang, der Parteistellung, dem Berufe und dem Charakter Michael Servet’s entspräche. Den Aristoteles und den Augu- stin zitiert Servet oft und gern. Auch er hatte in Paris Bekannte und Freunde. Unter den zeitgenössischen Spaniern, die sich um die Einführung der Scholastik in Spanien Verdienste erworben, steht Petrus a Victoria (Vietorianus) obenan, der Prediger der Dominikaner in Burgos, ein Landsmann Michael Servet’s.. Und des Petrus Vietorianus Bruder studierte in der Sorbonne zu Paris. Jener Petrus a Victoria ist ein Hauptgegner des Erasmus, der englische Gesandte aber beim Kaiser, Eduard Lee, ist der Anstifter des sanzen Mönchsstreites gegen den Rotterdammer Gelehrten (1527) }). So würde sich erklären, wie ein an den Bruder des Petrus a Vietoria geschriebener Brief in die englischen geheimen Staatspapiere König Heinrich VIII. geraten konnte?). Schade, dass dieser Brief des Michael Villanovanus kein Datum trägt. Idus Junias, das ist alles. Nun aber haben wir zwei beschworne Aussagen über die Orte, an denen sich Michael Servet aufgehalten hat. Und in beiden fehlt Löwen. In der Zeit, wo nach diesem Briefe Louvain stehen müsste, steht immer Lyon, und zur selben Zeit erscheint auch immer zu Lyon wirklich die eine oder die andere Schrift Servet’s. Auch lässt sich kein Grund absehen, weswegen Michael Servet, der seinen Baseler, Straßburger, Lyonner, Pariser, Charlieu’er, Vienner Aufenthalt so ofien eingesteht, grade den Löwener verheimlicht hätte. Die einzige im Leben Servet’s freie Zeit, wo er könnte in Löwen gewesen sein, würde in die zweite Hälfte des Jahres 1532 oder die erste 1533°) fallen, d. h. er würde den Rhein herunter von Straß- burg*) nach Köln®), von da über Brüssel nach Löwen gegangen 4) Erasmi Epistolae. L. XIX, Ep. 71. 2) Ohne dass noch Lee selber, der Gesandte, der, wie Gairdner ver- mutet, empfohlene Ueberbringer des Briefes an Martin Vietorianus zu sein brauchte. 3) Servet’s Pariser Bekannten müssten ihm dann von Straßburg, Basel, Italien, Spanien her befreundet gewesen sein. 4) S. mein Buch Mich. Servet und Martin Butzer. Berlin 1880. 5) Jo. Gropper, der Legat des Erzbischofs von Cöln, konnte den Mar- Tollin, Andreas Vesal. 415 sein. Dann aber wäre er in Löwen zu einer Zeit angelangt, als es Vesal schon verlassen hatte, der neunzehnjährige Scholar. So lange daher aus den Staatspapieren König Heinrich VIII. oder von anderswo nicht neue Aufklärungen und Bestätigungen kommen, möchte ich daran zweifeln, dass jener Löwener Brief des Michael Villanovanus von Servet herrühre, da bekanntlich jeder Michael, welcher aus irgend einem der Villanueva, Vilanova, Villeneuve, Neu- stadt, Newtown, Neapel oder Nowgorod stammte, im Lateinischen das Recht besaß, sich Michael Villanovanus zu schreiben '). Ganz anders steht es mit Vesal’s und Servet’s Pariser Stu- dien. Ausdrücklich beschwört Servet zu Genf, dass er unter Jacob Sylvius, Johann Fernel und Günther von Andernach in Paris Medizin studiert habe und ihre Zeugnisse noch besitze, d. h. eben derselben Lehrer Zeugnisse, unter denen auch Vesal studierte; Jo. Tagault anderseits, Vesal’s Lehrer, berichtet in den Fakultäts- akten von seinem Streit mit Michael (Servet) Villanovanus. Mehr noch, Günther von Andernach, beider gemeinsamer Lehrer, erwähnt Vesal und Servet rühmend nach einander ?). „In der Be- dienung meiner anatomischen Sektionen und in der scharfen Beobach- tung der einzelnen Teile?) habe ich, sagt Günther, grade bei den schwierigsten Stellen, eine wesentliche Unterstützung erfahren zuerst (primum) seitens des Andreas Vesal, eines wahrlich (in der Ana- tomie) höchst fleißigen (diligentissimum) und für die reinere Medizin auf geschickte Weise eintretenden Jünglings (juvenem purioris me- dieinae professorem non poenitendum): der auch jüngst bei der neuen zu Venedig veranstalteten Ausgabe meiner anatomischen Insti- tutionen mir ausgezeichnete Hilfe gespendet hat. Nach diesem (post hune) hat mir bei den Sektionen freundlich (familiariter) bei- gestanden Michael Villanovanus, ein Mann (vir), der in jeg- licher Literatur hervorragt (omni literarum genere ornatissimus), in der Lehre des Galen aber kaum seines gleichen hat (in Galeni doctrina vix ulli seeundus). Unter dieser beiden, (tunc) damals bei mir den Galen hörenden Studenten Anleitung und Mühwaltung tin Butzer nicht genug loben. cf. Sleidani Comm. p. 397. Und mit Butzer verkehrte Servet. 4) S. meinen Aufsatz in Hilgenfeld’s Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie, 1878, S. 449 ff. 2) Institutiones anatomicae 1539 Metz auf der vorletzten und letzten Seite der Ep. nuncupat. 3) Commentariolum hune ante annos aliquot editum multis deinde con- seetionibus administratis et sedula partium inspectione recognovi, auxi et ab- solvi. Qua in re non admodum facili auxiliarios habui primum Andream Wesalium. Nimmt man dies Deinde streng, so müsste erst nach August 1536, wo die Institut. anat. erschienen, Vesal bei ihm begonnen haben zu assistieren. 4) Servet war 1511, Vesal 1514 geboren: 1538 also ersterer 27, letz- terer 24 Jahre alt. 474 Tollin, Andreas Vesal. (praesidio atque opera) habe ich der Glieder und aller anderen äußeren Teile sämtliche Muskeln, Venen, Arterien und Nerven an den Körpern selber geprüft und den anderen Studenten vorgezeigt (ostendi)“. Es ist klar, dass Günther hier seiner beiden Schüler praktische Geschiekliehkeit und sog. chirurgische Hilfeleistung bei seinen Sek- tionen rühmt'). Auch wenn er noch 1571 darauf hinweist, dass er, trotz seiner prinzipiellen Antipathie gegen Vivisektion?) zu Paris privatim oder vor ganz wenigen Zuhörern und Schülern (paueis aliquod auditoribus et diseipulis adhibitis) öfters (frequenter) lebendige Hunde zergliederte, weil man doch an ihnen (in eanibus vivis) einiges deutlicher (evidentius) erblicken könne, als am toten Menschen (in mortuo homine), so denke ich bei diesen wenigen, -in das Vivi- sektions-Geheimnis eingeweihten Günther’schen Schülern wieder un- willkürlich an Vesal und Servet: woraus sich erklären würde, wie letzterer dem Blutwege aus dem Herzen in die Lunge nachgehen konnte. Allein ein vollgiltiger Beweis für die Gleichzeitigkeit des Hörens bei Günther ist nicht erbracht. Jedenfalls wird bei der Assistenz dem jüngern Vesal die zeitliche Priorität, dem ältern Servet die Nachfolge zugeschrieben. 8.25. Das Verhältnis aber kehrt sich um betreffs des Blutkreis- laufs und der Undurehdringlichkeit der mittlern Herz- scheidewand. Man hat hier die Priorität Servet’s und Initiative Servet’s aus zwei Gründen allgemein übersehen, bis ich 1876 darauf hinwies?). Der eine Grund ist der, dass Vesal ebensowenig den Servet zitiert, wie Servet den Vesal. Beide Männer waren ja als Neuerer in ihrer Umgebung anrüchig genug, um sich nicht dadurch noch weiter zu kompromittieren, dass der eine den andern als Autorität anrief. Der zweite Grund ist der, dass alle Vesal-Biographen und deren Aus- schreiber es unterließen, beide Ausgaben De humani corporis fabrieca nachzuschlagen und untereinander zu vergleichen. Als ich mich dem unterzog, fand ich, dass 1542 Vesal mit Galen die Löcher in der mittlern Herzwand und dadurch des Blutes unmittelbaren Austausch von der einen Herzkammer in die andere behauptete). Und erst nachdem 1553 in der Restitutio Christianismi Servet die Undurchdringlichkeit der mittlern Herz- wand und den daher notwendigen Umweg des Blutes durch die 1) Gegen Ceradini, Difesa p. 9. 2) Crudelissima pestis nennt er sie, praesertim cum nihil ex ea pereipi queat, quod non etiam in cadavere cognoscatur: De medieina veteri et nova p- 260 sq. 3) S. meine Gesch. der Entdeckung des Blutkreislaufs. Jena bei Herrm. Dufft, 1876, S. 26 ft. 4) Gerade wie Jacob Sylvius, Joh. Fernel und Günther von An- dernach. Tollin, Andreas Vesal. 415 Lungen, um von der einen Herzkammer in die andere zu gelangen, festgestellt hatte, ließ sich auch Vesal 1555 auf die neue Hypothese schüchtern ein, ohne ihren Sinn zu verstehen und unter teilweiser Beibehaltung des Galenischen Dogmas. Weil aber der landläufige Irrtum, als hätte Vesal die Undurch- dringlichkeit des Septums entdeckt, sich immer wieder erneuert, setze ich hierunter die Stellen selbst, zunächst aus der Ausgabe von 1543, dann aus der von 1555). „Denn gleichwie die rechte Herzkammer“, schreibt Vesal im Hauptwerk 1543, „aus der Hohlvene Blut zieht, so zieht auch die linke Herzkammer die aus der Lunge in die arteria venalis angezogene Luft durch Erweiterung des Herzens an sich und benutzt diese Luft zur Abkühlung der eingebornen Wärme und zur Ernährung ihrer Substanz und zum Lebensgeist, indem sie diese Luft auskocht und so zubereitet, dass diese Luft gemeinschaftlich mit dem Blute, welches aus der rechten Herzkammer in die linke durch die mittlere Herzscheidewand reichlich hindurchge- schwitzt ist (cum sanguine, qui ex dextro ventrieulo in sinistrum per ventrieulorum septum copiosus resudavit), in die große Arterie und so in den ganzen Körper abgeführt werden kann. Wir müssen gestehen, dass, was für derartige Veränderungen eine Hauptrolle spielt (ejusmodi alterationibus praefieiatur), das Herzfleisch, soweit wir im stande sind die göttliche Einrichtung des menschlichen Leibes zu erkennen (quoad divinam hominis fabrieam cognoscere possimus), ganz gerecht hergerichtet ist von dem Schöpfer der Dinge zu einem ausgezeichneten Kunstwerk (insigni artifieio). Schwerlich aber würde es im stande sein zu solchen Veränderungen mitzuhelfen, wenn es nicht jenen zartern und seltenern Körper (corpus tenuius rariusque) aus den anderen Arterien erhalten hätte. Denn wenn diese Arterien auch denselben Dienst den übrigen Teilen des Körpers leisten, in welchem die venöse Arterie mit dem Herzen zusammenzustimmen scheint (censetur), so sollten doch nicht die Arterien um ihres eignen Gewichts willen (pro ipsarum tantum mole) so viel Luft, wie ihnen nicht durch verborgene Gänge, sondern durch die in ihnen deut- lichen Höhlungen (per patentes in ipsis cavitates) vom Herzen aus zugleich mit dem Blute zugeführt wird, annehmen und wieder von sich stoßen (assumere rursusque propellere), wie es die venale Arterie thut, die dazu notwendigerweise mit einem zartern und venenartigen Körper ausgerüstet werden musste. Obwohl bisweilen die Natur so sehr als nur irgend möglich für ihre Sicherheit sorgt, indem sie z. B. den, der venalen Arterie gefährlichen, langen Umweg aus der linken Herzkammer in die Lunge ver- meidet (longum ex sinistro ventrieulo ad pulmonem ductum [qui ipsi nocuus fuisset] praecavens) und gleieh im Ursprung selber sie 1) Vgl. meinen Aufsatz in Pflüger’s Archiv, Bonn 1884, Bd. 33, S. 489 ft. 4716 Tollin, Andreas Vesal. geteilt, und auf allerkürzestem Wege (brevissimo prorsus duetu) in die Lunge geführt hat, damit die Substanz der Lunge von allen Seiten sogleich unterstützt und befestigt, nicht Gefahr liefe zu zerbrechen“. Es erhellt, dass diese erste Darstellung des Blutweges durch Herz und Lunge bei Vesal, dank den Galenischen Voraussetz- ungen, dunkel genug gehalten ist, so dunkel, dass man von der Un- durchdringlichkeit des Septums keine Ahnung gewinnen kann. Ja, wenn nicht der Schein täuscht, wehrt Vesal 1543 sogar ausdrücklich den Umweg des Blutes aus der linken Herzkammer durch die Lungen als einen gefährlichen und darum von der Natur sehr weise ver- miedenen ab: eine Abwehr, die nur auf seinen Studiengenossen Servet gehen könnte, die aber damit beweisen würde, dass schon vor 1543, ja wohl vor 1536, wo Vesal Paris verließ, Servet, bei Gelegenheit von Günther’schen Vivisektionen, die Hypo- these des Blutkreislaufs durch die Lunge aufgestellt hatte. Nun kam Servet und lehrte 1546— 1553, dass die mittlere Herzscheidewand der Gefäße und Hilfsmittel entbehre, um das Blut aus der einen Herzkammer in die andere hinüberzuführen, und dass es deshalb genötigt sei einen langen Umweg durch die Lungen zu machen u. dgl. m. Offen tritt er dabei dem Galen gegenüber!?). Jetzt erst ändert auch Vesal seine Ansicht: (de humani corp. fabrica 1555 fol. 746b) aber wie schüchtern, wie vor Galen gebeugt, wie zweifelnd, was das Rechte sei! „Inbetreff des Baues und der Art des Herzens und seiner Teile habe ich meine Beurteilung größtenteils den Dogmen Galen’s an- geschlossen (magna ex parte Galeni dogmatibus sermonem accommo- davi): nicht deshalb, sicher, weil ich der Meinung wäre, als stimmte Galen völlig (undique) mit der Wahrheit überein, sondern weil ich in dem neuen Amt und Gebrauch der Teile (in novo partium usu offieioque) immerhin noch meinem Urteil nieht traue (adhuc mihi diffidam): auch wagte ich früher nicht (neque ita pridem ausus fuerim) von der Ansicht des Fürsten unter den Aerzten auch nur eines Nagels Breite mich zu entfernen. Recht genau freilich sollten die Studenten acht geben auf jene Zwischenwand des Herzens und auf die Wand der linken Herzkammer selbst, welche ebenso diek und fest und dicht ist als der übrige Teil des Herzens, der die linke Herzkammer umfasst (aeque erassum compac- tumque ac densum est atque reliqua cordis pars), so sehr, dass, was ich auch immer von den Gruben in diesem Sitze (de foveis hac in sede) erdenken und wie sehr ich mich daran erinnern möge, dass die Pfortader aus dem Magen und den Eingeweiden Blut einsaugt, ich nicht einsehen kann, wie durch die Substanz des Septums aus der rechten Herzkammer in die linke auch nur irgend etwas Blut 4) 8. Biol. Centrälblatt, 1883, Bd. III, 8. 466 ff. Tollin, Andreas Vesal. AUT (vel minimum quid sanguinis) aufgenommen werden könne: besonders da die Gefäße des Herzens mit so offenkundigen Mündungen nach der Weite ihrer Kammern hin aufklaffen (dehiscant), um noch den wirklichen Ursprung der Hohlvene aus dem Herzen zu geschweigen“. Und bei dem allen kommt Vesal, der sich selber nicht klar ist, immer wieder auf die Gruben im Septum zurück, weil er Servet’s eigentliche Tendenz vicht versteht. „Denn — sagt er — in denjenigen Tieren, welehe mit der Lunge auch eine rechte Herzkammer besitzen, zieht diese von der Hohlvene aus, so oft das Herz sich erweitert und ausdehnt, eine große Menge Blut an sich, welches sie, möglicherweise mit Hilfe der Gruben der Kammer (adjuvantibus forte ad hoc ventrieuli foveis) auskocht, seine Wärme mäßigt, es leichter macht und fähiger, um nachher mit Gewalt (impetu) dureh die Arterien ge- tragen zu werden. Und so lässt sie (die rechte Kammer) es zum größten Teil (maxima portione) durch der mittlern Herzwand Poren (per ventrieulorum cordis septi poros) in die linke Herzkammer hinüberschwitzen (desudare sinit): den Rest des Blutes aber weist sie, so oft das Herz sich zusammenzieht und einengt, mittels der arterialen Vene in die Lunge hinüber“). Den Grund fügt Vesal am Schluss der berühmten Stelle an: „Hier — meint er — bieten sich noch viele andere Beobachtungen dar, welche die landläufigen Ansichten der Anatomen in Frage stellen. Da es aber zu lang wäre, das alles zu berühren, und ich eben erst beschlossen habe, für meinen Teil keine Neuerungen an- zufangen (ipseque nihil privatim innovare modo statuerim), auch mir nicht in allen Dingen zugleich genügen kann, so schließe ich hier- mit die Geschichte ab, welche die zur Erneuerung der luftigen Sub- stanz (aereae substantiae) geschaffenen Teile betrifft“. Das ist, so bemerkten wir schon 1884 in Pflüger’s Archiv, S. 492, nicht die Sprache des Mannes, der sonst so mutig und frei- mütig eigne Wege wandelt, überhaupt nicht Entdeckersprache. Vesal sprieht anderen nach: er hinkt auf beiden Seiten und möchte es mit keiner verderben. So zwei Jahre nach dem Erscheinen von Michael Servet’s Wiederherstellung des Christentums. Aber noch 1564 im Jahre seines Todes ist er hierin nicht weiter gekommen. Lesen wir doch in seiner Schrift gegen Franciscus Puteus (Venet. 1564). Nachdem er sich zu der Leber bekannt als dem Zentralorgan der Blutberei- tung, was auch immer zugunsten des Herzens sprechen möge (p. 74), auch aus vielen eignen Beobachtungen (variis in sanguinis motu exem- plis) den alten Galenischen Satz bestätigt hatte, dass in den- selben Gefäßen verschiedene Materien hin- und herfließen (materierum fluxus et refluxus in iisdem vasis nos debere necessario admittere 4) De corpor. humani fabr., VI, 15 bei Haeser II, 46. 478 Tollin, Andreas Vesal. p- 75)'), kommt er auch hier wieder auf die Undurchdringlichkeit der mittlern Herzwand zurück. Wie viel Zweifel ihm noch immer aufsteigen, tritt auch aus dieser Auseinandersetzung deutlich zutage. Zuerst zwar hält er an seiner Behauptung fest, es sei nicht abzusehen, wie durch die Substanz des Herzens hindurch das Blut, welches wir in der linken Herz- kammer und in den Arterien beobachten, aus der rechten Herzkammer herüberdringen kann. Darauf betont er die aus der Verblutung bei Verwundungen ersichtliche Bedeutung der den 4 Herzmündungen vor- gesetzten Membranen. Er verweist auf die fötalen Veränderungen gegen Ende der Ausreifung an der Stelle, wo die venale Arterie mit der Hohlvene des Fötus und wieder, wo im reifern Fötus die große Arterie mit der arterialen Vene durch gemeinsame Oeffnung zusammen- hängt. Er bemerkt, dass, wenn man von dem Blute absieht, was mit Gewalt (impetum) bei den Gemütserregungen (in animi affeetibus) bald nach dem Herzen rollt und von ihm in die Extremitäten getragen wird (ad cor ruit ac ab illo in exteriora corporis fertur), man bei dem erwürgten Tier nirgends etwas Blut antreffe und beobachte außer in den Höhlungen des Herzens, ganz besonders in der linken. Auch in dem sonst unverletzten Körper finden wir bei der Sektion nirgends Blut, als in den Venen und Arterien und jenen Höhlungen des harten Membran, welche dem Gebrauch und dem Bau nach ihnen gleichen, und in den Herzkammern (cordis ventrieulis). Denn diese Kammern sind mit wunderbaren Gruben und Höhlungen geschmückt (Ven- trieuli enim isti miris foveis eavernisque ornati p. 76), und fassen das Blut in sich ohne Vermittlung eines membranenartigen Körpers wie in einem einfachen Gefäß: ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Herzen einerseits und anderseits der Lunge, Leber, Milz, Niere und den Hoden“. Nun aber schildert er (natürlich immer unter dem Pseudonym Gabriel Cuneus Mediolanensis) seine eigne bisherige Stellung zur Sache mit folgenden Worten: „Freilich (Immo) verwickelte sich (sese implieuit) Vesal in seiner eignen Rede (proprio sermoni) der- gestalt (ita) und nahm so sehr den Schein an, als wolle er denen, die von dem Herzen die erste Erzeugung des Blutes herleiten, (illis qui sanguinem primario a corde generari adstruunt ?), Gründe zu- führen, dass, ungewiss wo er selbst wieder auftauchen würde (quanam ipse emergeret ignarus), er gegen Ende seiner Rede nach Art eines Reuigen (penitentis in modum) hinzufügte, dass er, der doch von Galen und der ärztlichen Kunst leben müsse (se cui Galeni adeoque artis medieae beneficio vivendum erat)°), nicht im stande sei, 4) Universi in cava vena contenti sanguinis et urinae et bilis materiam p. 74. 2) So Servet. S. meinen Aufsatz: „Die Engländer“ bei Virchow Archiv 1884 8. 452. — Vgl. Biolog. Centralbl., 1883, III. Bd., S. 466 ff. 3) Ein schlimmes wissenschaftliches Argument! Tollin, Andreas Vesal. 479 sich so sehr den Anschauungen des Galen und seiner ärztlichen Kollegen entgegenzustemmen (contraire), dass er die Leber der Ehre berauben sollte, für die Blutbereitung die Hauptkraft zu liefern (ut primaria sanguifieationis vi jecur privandum duceret p. 76). Stän- den doch jenen Aristotelikern (Aristotelis professores) die anatomischen Augenscheinliechkeiten entgegen. Jetzt aber kommt er wieder auf eine öffentliche durch Buecaferreus veranlasste Sektion und Dis- putation zurück, die er mit Franz Pozzi, an den er schreibt, in Bologna hatte!), und in welcher Vesal bei Sezierung des Thorax den Ursprung der Hohlvene vom Herzen ableitete. In der auf diese Disputation folgenden schaurig kalten Nacht will Pozzi das gefun- den haben, was Vesal in dieser Sache bei Galen vermisste. Den- noch kommt Vesal hier darauf zurück, dass Galen von der Wahrheit abweiche, indem er der Leber mehr zuschreibe auf kosten des Herzens, als ihr gebührt, und dass die Hohlvene grade wie die arteriose Vene und die venose Arterie aus dem Herzen ihren Ursprung nehmen (p. 77). Und auch Vesal’s allerletztes Wort bleibt bei der Halbheit und Unklarheit stehen. In der 1568 also nach Vesal’s Tode — zu Venedig bei Valgrisius erschienenen Chirurgia magna sagt er (fol. 41a): „Die beiden Herzkammern werden getrennt durch eine Scheide- wand (septo), welche zwar recht dicht ist (impense crasso), aber wohl geeignet sich zusammenzuziehen und wieder auszudehnen (com- primi distendique apto) und mit einem Körper, der innen von zahl- reichen Gruben (grade wie auch die Herzkammern) strotzet, ver- sehen ist (foveis plurimis abundanti corpore extructo)“. . . Somit hebt Vesal noch am Ende seines Lebens das gradezu wieder auf, was er zwei Jahre nach dem Erscheinen der Restitutio von Servet übernommen hatte, nämlich eben jene Undurchdringliech- keit des septum eordis, als deren Entdecker er gemeinsam von allen Biographen gefeiert wird, weil alle Biographen sich nicht die Zeit nehmen, dessen Werke zu lesen, über den sie ein Buch schreiben. $. 26. So spricht sich auch hier wieder jener Charakterzug aus, der ihn von seinem spanischen Zeitgenossen scheidet: das Vorsichtige, Vermittelnde, Diplomatische — ein Zug, der dem Servet nicht fremd ist?2), der aber doch gegen seinen Radikalismus in den Hintergrund tritt. Darum ist Servet fast nie wissenschaftlich angegriffen, aber aller Orten persönlich verfolgt worden, bis man ihn verbrannte. Vesal hingegen wurde überall wissenschaftlich angegriffen, nie per- sönlich verfolgt, bis er zuletzt, auf der Vorstufe neuer Ehren, ver- unglückte. 1) Gabrielis Cunei Examen p. 70 sq. 2) S. Lehrsystem Mich. Servet’s. Gütersloh 1878. Bd. II S. 15. — Melanchthon und Servet. Berlin 1876. 8. 183 ff. — Servet’s Charakter- bild. Berlin A. Habel 1876 S. 31 ff. 480 Tollin, Andreas Vesal. „Vesal — sagt Robert Willis (Harvey: 1878 p. 62) — den Leichnam vor sich, wurde wider Willen gezwungen, dem Galen in mehreren Punkten betreffs des menschlichen Körperbaus zu wider- sprechen: so ist er der Schöpfer der modernen Anatomie geworden. Servet, mit mehr induktivem Genie und kühnerem Geiste begabt, nach seinem Bruch mit der Scholastik auf theologischem Gebiet und nachdem er der Griechen und Araber Ketten in der praktischen Medizin abgeworfen hatte, inaugurierte die rationelle Physiologie, als er den Blutweg durch die Lunge und die Blutveränderung auf diesem Wege proklamierte“. „Vesal, der Beobachter, ist interessiert in den Formen, Konnektionen, Relationen und der Struktur der Organe, die den Körper ausmachen, aber wenig geneigt, von der gebahnten Straße der Interpretation abzuweichen, sobald die Funktion in be- tracht kam; Servet, der Philosoph und Grübler, ohne jemals die Thatsachen zu vernachlässigen, zeigt sich geneigt, über die Absicht der Dinge, wie sie eben sind, zu spekulieren, wenig bekümmert um den Ausspruch der Autorität, sobald er ihn mit der sinnlich wahr- nehmbaren Thatsache nicht in Einklang fand“ (p. 57). Servet zeigte sich stets „reflektiver und selbständiger als Vesal“ (p. 60). Vesal hat auffallend „wenig (little) geleistet in der Interpretation der Funk- tionen (p. 68). Er scheint zu jener Menschenklasse gehört zu haben, die ihre Freude finden im Aufsammeln und Aufschütten (garnering) von Thatsachen, ohne sich zu erkühnen, über ihre Bedeutung nach- zugrübeln, recht verschieden in der Hinsicht von seinem Freund und Mitschüler Michael Servet, der offene Augen behielt für alles was er sah, aber weit mehr sich hingerissen fühlte zur Spekulation als zur Akkumulierung von Daten“. Darum ist ihm nicht Vesal, son- dern „Michael Servet der geistige und kongeniale Vorläufer der Baco, Newton und Harvey geworden“ (p. 69). „Servet allein unter den Anatomen und Physiologen der Renaissance steht als ein Denker da (as a reasoner p. 82)“. Rob. Willis hat recht in dieser Gegenüberstellung der beiden großen Männer: aber wir dürfen darum doch nicht vergessen, dass für die Chirurgie Servet nichts, Vesal viel; für die Anatomie Servet so gut wie nichts, Vesal riesiges geleistet hat. Vesal ge- noss den großen Vorzug vor Servet, dass der Spanier alles umspan- nen wollte und heute deshalb schwer zu bestimmen ist, auf welchem Gebiet seine wahre Größe lag: Vesal hingegen blieb eines und be- gnügte sich an dem einen, und darum wurde er jener unsterbliche Anatom. Der überaus geniale Spanier lebte weiter, weil ihn Calvin in Genf verbrannte. Der weit beschränktere Niederländer würde, auch wenn er nie nach Jerusalem gepilgert noch gescheitert wäre, einzigartig, epochemachend und unsterblich geblieben sein. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Gentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. vV. Band. 15. Oktober 1885. Nr. 16. Inhalt: Hoiffer, Beobachtungen über blütenbesuchende Apiden, Mae Leod, Befruch- tung einiger phanerogamer Pflanzen der Belgischen Flora. — Graber, Ver- gleichende Grundversuche über die Wirkung und die Aufnahmestellen chemischer Reize bei den Tieren. IV. Ueber die Empfindlichkeit der Tiere gegen den Salz- gehalt des Aufenthaltsmediums. — Wilekens, Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haustiere. 7. Die hundeartigen Tiere des Tertiärs. — List, Ueber einzellige Drüsen (Becherzellen) in dem Blasen- epithel der Amphibien. — Krause, Die anatomische Literatur in Italien (I). Hoffer, Eduard. Beobachtungen über blütenbesuchende Apiden. Kosmos, 1885. Bd. I Heft 2 S. 135—139. Mac Leod, Fabr. Untersuchungen über die Befruchtung einiger phanerogamer Pflanzen der Belgischen Flora. Vor- läufige Mitteilung. Bot. Centralbl., Bd. XXIII, 1885, S. 359—861, 365—367. Dass in verschiedenen Gegenden ein und dieselbe Pflanze sich anderen Bestäuberkreisen anpassen, überhaupt verschiedenes biologi- sches Verhalten zeigen kann, ist am evidentesten von H. Müller an Primula farinosa nachgewiesen worden, die, auf den Alpen ausgeprägte Tagfalterblume, in der norddeutschen Tiefebene seit der Glazialperiode (in der die Trennung der Standorte jedenfalls stattgefunden hat) durch Erweiterung des Blüteneinganges und des obersten Teiles der Blumen- kronenröhre auch Bienen zugänglich geworden ist (Cf. H. Müller, Alpenblumen S. 363—366). Es sind daher biologische Studien auch an Pflanzen, die vonH. Müller u. a. in einem Lande schon genauer untersucht worden sind, insofern sie nur in anderen Gegenden mit verschiedener Insektenfauna angestellt werden, von besonderem In- teresse. Solche Studien sind es, die in den beiden vorliegenden kleinen Abhandlungen niedergelegt worden sind. E. Hoffer fand Solanum Dulcamara, die nach H. Müller bei uns zu den Pollenblütlern zählt und nur spärlichen Insektenbesuch 31 482 Hoffer, Mac Leod, Befruchtung phanerogamer Pflanzen. aufweist, um Graz sehr stark von Insekten, besonders von Hummeln (8 Arten) besucht. Für die Arbeiter von Bombus hypnorum L., die Hoffer nur noch auf Epilobium angustifolium, Rubus Idaeus und Chelidonium majus beobachtete, schien Solanum Dulcamara neben Chelidonium die Lieblingsblume zu sein. Auch Bombus lapidarius legte an einzelnen Lokalitäten eine Vorliebe für die Dulcamara an den Tag, während es dieselbe anderwärts — bei anderer Konkur- renz — nicht besuchte. Unter den Besuchern war auch häufig ein Schmetterling, Argynnis Paphia, dessen Verhalten den Verf. zu der Ansicht brachte, dass die von ihm beobachteten lebhaft-grünen Fleck- chen wirkliche Saftmale seien. Polygala Chamaebuxus, in der Tiefebene gleichfalls schwach be- sucht, spielt nach den Beobachtungen desselben Verf. in den Alpen und Voralpen durch seine frühe Blütezeit und ungeheure Individuen- zahl eine hervorragende Rolle bei der Ernährung der Apiden im ersten Frühjahr. In dieser Zeit sind die gelben und gelbroten Flächen der Polygala für die Hummeln, Honig-, Pelz-, Erd-, Bürsten-, Glatt-, Horn-, Mauerbienen und Verwandte dasselbe wie später die Orchideen- wiesen und die Kleefelder. Von Hummeln verkehrten auf dieser wich- tigen Nährpflanze, gleichzeitig in der Eigenschaft als Liebesboten, allein 10 Arten in ungezählten Individuen. Die andere Abhandlung enthält Untersuchungen über die Be- fruchtung einiger belgischer Blütenpflanzen, die meist zu ähnlichen Resultaten geführt haben wie die früheren deutscher Botaniker (z. B. bezüglich des Gynodimorphismus der Caryophyllaceen, der beiden Blütenformen von Lysimachia vulgaris ete.). Doch sind auch hier eine Anzahl abweichender Resultate bemerkenswert. So scheint Stellaria Holostea nicht gynodimorph zu sein (hier können doch wohl die sel- tenen 2 Stöcke übersehen worden sein), Silene noctiflora und Silene Armeria zeigen von den bisher beschriebenen abweichende Einrich- tungen, von Ajugu reptans kommen in Belgien 2 Formen vor, von denen die eine lebhafter gefärbte größer ist, eine 11—12 cm tiefe Korolle (gegen S—9 em) und 8—9 mm breite Unterlippe (gegen 6 mm) besitzt ete. — Von allgemeinen Ergebnissen der letztern Arbeit sei noch erwähnt, dass in den Blüten von Sagma procumbens var. apetala und Alsine media var. apetala Ascariden (junge Trombidien) als Be- stäubungsvermittler beobachtet wurden, dass bei den streng diehogamen Caryophyllaceen der äußere, bei den auch autogamen Arten der innere Staubgefäßkreis zuerst sich entwickelt. Dass bei völlig autogamen, in der Regel durch Selbstbefruchtung sich fortpflanzenden Arten der innere Kreis der Staubgefäße aborbiert ist, sucht Verf. daraus zu er- klären, dass bei den Arten, bei denen gelegentliche Selbstbestäubung vorkommt, da sie proterandisch sind, nur der äußere zuletzt sich entwickelnde Staminalkreis bei der Selbstbestäubung in betracht kommt. — Die Entwicklung der Narbe von Viola canina und V. odorata V. Graber, Wirkung und Aufnahmestellen chemischer Reize bei Tieren. 483 hat es dem Verf. wahrscheinlich gemacht, dass beide Arten von einer Form mit angeschwollenem Narbenende, also einer der V. trioclor nahestehenden Form, abstammen. H. Ludwig (Greiz). Vergleichende Grundversuche über die Wirkung und die Aufnahmestellen chemischer Reize bei den Tieren. Von Prof. Veit Graber in ÜUzernowitz. IV. Ueber die Empfindlichkeit der Tiere gegen den Salz- sehalt des Aufenthaltsmediums. In Zusammenhang mit meinen Studien über die Perzeption von chemischen Reizen, deren Träger die Luft ist, machte ich auch eine Reihe von Versuchen, welche sieh auf solehe erregende Stoffe be- ziehen, die dem Aufenthaltsmedium der Wassertiere beigemengt sind. Einer der allerwichtigsten natürlichen Wasser-Reizstoffe — so nenne ich kurz diese Kategorie von Agentien — ist unstreitig das Chlornatrium, und auf die Wirkung dieser Substanz beschränken sich auch zunächst die folgenden Mitteilungen. Vor allem muss ich aber gegenüber früheren Bestrebungen das Ziel, das meine Experimente verfolgen, etwas genauer bezeichnen. Bei der hervorragenden theoretischen und praktischen Bedeutung, die den Schwankungen des Salzgehaltes des Meerwassers für das Ge- deihen der darin lebenden Tiere zukommt, lässt sich leicht erwarten, dass man dem Einfluss des in Rede stehenden Hauptbestandteils auf das Leben der betreffenden Organismen von jeher ein achtsames Auge zugewendet hat. Nichtsdestoweniger sind die bisherigen ein- schlägigen Studien ziemlich einseitiger Natur. Sehen wir von den durch Darwin’s Lehre angeregten der neuesten Zeit angehörigen hochinteressanten Untersuchungen über den umbildenden oder mor- phologischen Einfluss des Salzgehaltes im Aufenthalts- und Nähr- wasser ab, wie sie unter anderen von Schmankewitsch bei Ar- temia salina angestellt wurden, so handelte es sich bisher einzig und allein nur um die Frage, inwieweit Süßwassertiere im salzigen und umgekehrt Meerformen im süßen Wasser fortkommen können. In diesem Sinne experimentierten zunächst die vielverdienten Forscher Plateau und Sempert), von denen ersterer nachwies, dass z. B. die Wasserassel (Asellus aquaticus) bei allmählicher Gewöhnung schließ- lich in reinem Meerwasser leben und Eier legen kann, während letz- terer ermittelte, dass der Frosch vermöge der zuerst von Claude Bernard nachgewiesenen osmotischen Salzaufnahme durch die Haut kaum mehr als 1°/, Salz zu ertragen vermag. Dieselbe Tendenz haben dann unter anderen die auch praktisch höchst wichtigen aus- sedehnten Versuche von Beudant mit Meermollusken, der beispiels- 1) Vgl. dessen hochinteressantes Werk „Die natürlichen Existenzbedingungen der Tiere“ (internat. wiss. Bibliothek Bd. 39—40). 3 484 V. Graber, Wirkung und Aufnahmestellen chemischer Reize bei Tieren. weise fand, dass die Sterblichkeit der in Süßwasser versetzten ess- baren Miesmuschel im letztern nur um 3°], höher als in ihrem na- türlichen Elemente ist. Eine andere naheliegende Frage, die aber, soviel mir bekannt ist, trotz ihrer fundamentalen Wichtigkeit noch nie einer exakten experimentellen Prüfung unterzogen wurde, ist die, bis zu welchem Grade Wassertiere Differenzen im Salzgehalt des Aufenthaltsmediums, sei es durch die Geschmacksorgane, sei es durch die Haut wahrzu- nehmen oder zu unterscheiden vermögen, beziehungsweise um wie viel der Salzgehalt eines gewissen mit Wasser erfüllten Aufenthalts- raumes gegenüber dem eines andern, aber direkt angrenzenden ge- steigert resp. vermindert werden kann, um eine entschiedene an- ziehende oder abstoßende Bewegung der zwischen den zwei ungleich- salzigen Wahlmedien befindlichen Tiere hervorzurufen. Diese Frage nun, die, wie leicht zu erkennen, gleichfalls eine praktische Seite hat, ist es eben, welche ich in Arbeit nahm, und das Folgende wird lehren, dass wir in dieser Richtung noch viele interessante Aufschlüsse zu erwarten haben. Leider war ich bei meinen Experimenten, die in erster Linie doch der Salzwassertiere halber unternommen wurden, nur auf un- sere Süßwasserformen angewiesen; ich hoffe indess zuversichtlich, dass die von mir mit vielem Zeitverlust ausprobierte Methode und die gegebenen Winke künftigen Untersuchungen bei marinen Formen als Grundlage dienen können. Zunächst nun ein paar Worte über die technische Ausführung meiner Experimente. Das Beobachtungsgefäß bestand aus einem 40 em langen, 10 em breiten und ebenso hohen Blechkästchen, das inwendig zuerst mit Miniumkitt und dann mit Eisenlack und Wasser- glas überzogen wurde. Die Vorderwand bestand aus einer Glas- scheibe, und in der Mitte war ein Fallschieber, um bei besonders flüchtigen Tieren wie z. B. Fischen die Menge der in beiden Abtei- lungen befindlichen Individuen bequem bestimmen zu können. Um, worauf es hier vor allem ankommt, an allen Stellen der beiden un- gleichsalzigen Abteilungen oder Wahlräume kontinuierlich den Salz- gehalt in gleicher Höhe oder, mit andern Worten, zwei verschie- densalzigenebeneinander befindliche Wassersäulen mög- lichst unvermischt zu erhalten, wurden folgende Einrichtungen getroffen. Fürs erste hatte der Boden des Gefäßes in der Mitte, also unter dem Fallsehieber, eine flache Aushöhlung, die so tief war, dass die beiden Abteilungen durch Kautschukröhren zugeleiteten verschie- densalzigen Wässer!), ohne sich rechts oder links von dieser Rinne zu mischen, durch zahlreiche feine Oeffnungen abfließen konnten. Dieses Arrangement also zu Durchströmung beider Wahl- abteilungen mit ungleichsalzigen Wässern und mit Verhinderung ihrer 1) Der Gebrauch des Plurals vereinfacht hier wesentlich die Darstellung. IV. Empfindlichkeit der Tiere gegen Salzgehalt. 485 Mischung empfiehlt sich aber selbstverständlich nur bei solchen Tieren, die wie z. B viele Amphibien oder Würmer auch im Flach- oder Seichtwasser bewegungsfähig bleiben. Aber auch bei den Experi- menten mit den übrigen Tieren ließ ich das Wasser im Gefäß nur so hoch steigen (bis auf höchstens 40 mm), als es, ohne die Mobilität derselben zu beeinträchtigen, notwendig war. Um die oft ziemlich ausgiebige Mischung der beiden Wahlwässer durch die Eigenbe- wegung der Tiere möglichst auszugleichen, ließ ich ferner jedes der beiden Wässer nicht an einer Stelle in das Gefäß einfließen, son- dern bediente mich eines den Wänden des Kästchens oben anliegen- den U-förmig gebogenen und mit zahlreichen feinen Oeffnungen ver- sehenen Berieselungsrohres. Bei dieser Art der Wasserzuführung (von oben) wird auch der Ansammlung der (spez. schwereren) Salz- lösung auf dem Boden vorgebeugt. Im übrigen wurde durch ge- eignete Hähne der Zufluss der beiden Wässer in der Weise reguliert, dass jede der beiden Röhren binnen 30 Sekunden genau 1 Liter Flüssigkeit lieferte. Da die Vergleichswässer, was ich noch beson- ders betone, genau dieselbe Temperatur haben müssen, ist es ange- zeigt, dass man dieselben in genügender Quantität im Vorrat hält). Wie bei den Riechversuchen gab ich die Tiere in die Mitte des Ge- fäßes und vertauschte nach jeder Beobachtung die Lage der beiden Vergleichswässer. Ich teile nun kurz die erhaltenen Ergebnisse mit, und zwar zu- nächst beim Triton, den ich am eingehendsten prüfte. Nachstehende Ziffern geben die Zahl der Individuen an, die sich nach Verlauf einer gewissen Zeit in jeder der beiden Abteilungen vorfinden. Summe reines Wasser: 14, 8, 9, 10, 8, 8, 10 67 reines Wasser: 6, 16, 11, 10, 12, 12, 10 sı Diese erste Versuchsreihe wurde gemacht, um zu zeigen, dass bei gleicher Beschaffenheit des Wassers in beiden Wahlräumen i. D. kein nennenswerter Unterschied in der Frequenz derselben vorkommt. (je 200 Sek.) 1°), 8. Triton Trit | reines Wasser: 17, 10, 18, 19, 16, 18, 21 119 wor 101, Salzwasser: 13, 10, 12, 11,1,12, 9 8 W 119 kr ui Da unter 7 Fällen das 1°/, Salzwasser 6mal weniger als das rein süße besucht war, darf man wohl mit großer Wahrscheinlichkeit 1) Am zweckmäßigsten stellt man sich ein großes Gefäß mit reinem Wasser und ein zweites mit einer stark konzentrierten Salzlösung auf einer hohen Staffelei auf. Darunter kommen dann einige größere graduierte Flaschen, die man von oben je nach den gewünschten Prozentverhältnissen mit Wasser- und Salz- lösung füllt. Von letzteren leitet man die Flüssigkeit durch Heber in das Gefäß ab. 486 V. Graber, Wirkung und Aufnahmestellen chemischer Reize bei Tieren. annehmen, dass der Triton auf eine so geringe Salzgehaltdifferenz reagiert und umsomehr, dass er dieselbe und, wohl auch noch eine geringere wahrnimmt. je 200 Sek. 1.5°/, S. je 30 Sek. ı reines Wasser: 12, 14, 17, 15, 15, 16, 16, 17, 18 140 Triton \ 1.5 Salzwasser: 86,9,55 4 4 2 MM En DL., Se 2 40 {ZU i ; Da die 1.5°/, Salzlösung jedesmal und zwar im Mittel 3.5 mal weniger als das Süßwasser besucht war, unterliegt es keinem Zweifel, dass der Triton hochgradig salzscheu oder halophob ist. Aus dem Umstande, dass die ersten Fluchterscheinungen in der Regel schon nach wenigen Sekunden und nicht selten fast momentan ein- treten, ergibt sich ferner zur Evidenz, dass man es hier mit einer an die Körperperipherie gebundenen Berührungs-Em- pfindung zu thun hat, denn während der angegebenen kurzen Zeit kann das Salz unmöglich tiefer in das Innere eindringen und dort eine Gefühlsaffektion hervorrufen. Höchst lehrreich ist der folgende Versuch, bei dem jeder der Wahlräume wieder in zwei Unterabteilungen geteilt wurde. Triton 18° R. reines Wasser Mitte Salzwasser 1.5], 2 1! des Gefäßes 1 2 ——_ I Tann je 30 Sek. 8 8 8 0 10 6 4 0 12 3 5 0 Da hier, wie man sieht, die Tiere schon vor der äußern Ab- teilung des Salzwassers, also im gemischten (sagen wir i. D. t-5/, °/,) Wasser umkehrten und dem Süßwasser zustrebten, so darf mit großer Zuversicht angenommen werden, dass beim Triton gegenüber dem süßen Wasser auch schon Salzbeimengungen unter 1°/, ein heftiges Unlustgefühl erregen. Um zu ermitteln, ob der Triton auf so geringe Salzgehaltdiffe- renzen auch dann noch reagiert, wenn der Salzgehalt beider Ver- gleichsflüssigkeiten bezw. der objektive Reiz beträchtlich, aber um gleich viel erhöht wird, ließ ich ihm zunächst die Wahl zwischen einer 4- und einer 5°/, Lösung. nach je 40 Sek. 4.008... 10,12710, 14 Triton | 5%, 8:10, 8,10, 9. Danach ist also bei einem 1°/, Unterschied keine Reaktion nach- weisbar, bezw. die Tiere sind gegenüber dem mehr gesalzten Wasser Jedenfalls minder empfindlich, als wenn letzterem (bei sonst gleicher IV. Empfindlichkeit der Tiere gegen Salzgehalt. 487 Differenz) ganz süßes Wasser gegenübersteht. Anders ist es, wenn die Salzdifferenz noch um !/, °/, größer genommen wird. nach je 40 Sek. SEA TE LE IE 3 51, fo: 3 3, 3, 4. Hier ist die Salzscheu, wie man sieht, ebenso groß, wie beim Ver- gleich der !/,°/, Lösung mit Süßwasser, und sie nimmt, wie weitere Versuche lehrten, noch zu, wenn die erwähnte Differenz abermals um 1), 9, gesteigert wird. Analoge Experimente über die Zu- und Abnahme der Unterschieds- empfindlichkeit bei verschiedener Durchschnittshöhe des Salzgehaltes würden voraussichtlich bei gewissen Meertieren interessante Ergeb- nisse liefern. Weitere Versuche machte ich mit ganz jungen (3—4 em langen) einem Teich entnommenen Weißfischen (Aeburnus). 1% nach je 30 Sekunden Y., Wasser 722, 205.17,,20716, 23 17,,.1U:2.18% Salz=-W. 1.9/028,10,.213,210, 14,27, 13, 13 0.288 Sı 24,88 = Da diese Fische schon auf 1°/, Salzlösung stark reagieren, liegt ihre Empfindungsschwelle jedensfalls unter diesem Differenzniveau. 2% nach je 30 Sekunden Triton Koisch’(150-R.) | Fisch W. 24, 23, 20, 20, 20, 20, 20, 18 165 3.20 6.7.10, 10,10,.10,.10, 10,75 W 165 S, — 75 == 292. Die Reaktionstärke nimmt auch hier mit der Reizgröße zu. Ich machte nun wie bei Triton auch Versuche bei einem höhern Salzgehalt der Vergleichsmedien. a 3:54:01 :32.10, :8,.10,,12 nach | S. 51, °/,: 10, 12, 10, 8. Hier ergab sich keine Riehtungsbewegung, und da eine solche auch bei der Gegenüberstellung S. 1°%/, — 8. 4°/, nicht zu stande kam und die Tiere größtenteils ihre normale Gleichgewichtsstellung ver- loren und flach auf der Seite lagen, so darf man wohl mit Recht schließen, dass dieselben schon durch die zuerst angewandte niedrige Vergleichs-Salzlösung derart heftig affiziert werden, dass sie entweder gegen den Einfluss einer weitern Salzgehaltzunahme völlig abge- stumpft oder überhaupt reaktions- bezw. bewegungsunfähig sind!). 4) Wir selbst nehmen ja auch vielfach keine kleineren Reizunterschiede mehr wahr, wenn schon der zuerst applizierte Reiz eine große Intensität be- sitzt, und dies gilt insbesondere auch für Geschmacksempfindungen. 488 V. Graber, Wirkung und Aufnahmestellen chemischer Reize hei Tieren. Höchst überraschend mit Rücksicht auf den Triton und den Weiß- fisch war das Verhalten der Frosch-Kaulquappen. Diese zeigten näm- lich nicht nur gegenüber einer 1.5°, Salzlösung keinerlei Reaktion (127 Süß- und 123 Salzwasserbesucher), sondern sie schwammen, wie aus nachstehender Zahlenparallele zu ersehen, anscheinend ganz gleich- giltig aus dem Süßwasser auch in eine 8 bis 12°, Salzlösung. je 30 Sekunden Kaulquappe , Süßwasser: 23, 28, 30, 24, 23 Frosch | 80%, Salze: 23, 22, 20, 26, 27! Dagegen flohen die Larven von Bombinutor, wenn auch nicht sehr energisch, wenigstens ein 8°/, Salzwasser. Ebenso unempfind- lich erwies sich unter den wirbellosen Tieren u. a. der Rücken- schwimmer (Notonecia), der gleichfalls in einer 6- und 10°/, Salz- lösung seine Evolutionen fortsetzte. Von anderen Wasserinsekten reagierten dagegen Larven von Libellula depressa schon auf eine 2°), Lösung, indem das gegenüberstehende Süßwasser meist doppelt so stark besucht war. Erwähnenswert sind noch die Experimente mit dem Rossblutegel (Aulastoma). esta Süßwasser: 20, 21, 22,.20, 19 Salzwasser 2°,: 10, 9, 8, 10, 11. Dieser ist nämlich, wie man sieht, ziemlich salzscheu, jedoch bei weitem nicht in dem Grade, wie etwa der Wassermolch. Ganz besonders ließ ich mir aber grade betreffs der in Rede stehen- den chemischen Reize die Erforschung der Frage angelegen sein, an welchen Stellen die Aufnahme oder der Angriff derselben erfolgt, d.h. ob sie nur auf die Geschmacks- und andere Mundorgane wirken, oder ob zugleich auch die Haut davon affiziert wird. — Als Objekt für diese Versuche erwies sich vor allem wieder der Triton sehr günstig, und zwar deshalb, weil sich bei ihm die Geschmacksorgane verhältnis- mäßig leicht ausschalten lassen. Zu dem Zwecke band ich zunächst durch eine um den Kopf gelegte Schlinge den Unterkiefer fest und umgab dann den ganzen (früher gut abgetrockneten) Kopf mit einer successive aufgetragenen dieken Lage von Maskenlack. Bei dieser Zubereitung kann weder durch den Mund noch auch durch die Nasen- öffnungen eine Spur der Versuchsflüssigkeiten eindringen, und letztere können also nur auf die Haut allein wirken. Die Versuche müssen aber bald nach der vollendeten Adjustierung der Tiere gemacht wer- den, da die Kappen namentlich vorn an den Lippen meist bald ab- gestoßen werden. Erwähnen muss ich nur noch, dass man diesen Tieren, um ihre Wahl zu treffen, etwas mehr Zeit wie den normalen gönnen muss, da sie infolge der jedenfalls schmerzhaften Einpackung des Kopfes etwas minder bewegungslustig und wohl auch weniger aufmerksam auf die relativ schwächeren Reizungen des übrigen Kör- pers sind. Wilekens, Paläontologie der Haustiere. 489 In der Meinung, dass auf die Haut unserer Tiere nur eine stär- kere Salzlösung Eindruck machen würde, versuchte ich es zunächst mit einer 3°/, Solution; nach je 4 Minuten. Triton , Süßwasser: 9, 8, 7,9..833 (Haut) 30. Salzwee nd. 2: 8.0 Danach ist kein Zweifel, dass eine 3%, Salzlösung der Haut des Triton eine sehr schmerzliche Empfindung hervorruft. nach je 4 Minuten Triton , Süßwasser: 8, 8, 7,6,8..3 (Haut) ) 2°, Salzw.: 2, 2, 3, 4,2..18. Wie man sieht, bringt auch eine 2°, Lösung fast denselben Effekt hervor. Zuletzt versuchte ich noch mit einer 1°, Lösung, die ich außer- dem nur je 1 Minute einwirken ließ. Das Resultat war im ganzen dasselbe wie bei den normalen Tieren. Aufgrund dieser Thatsachen darf man somit behaupten, dass die Wirkung des Salzes auf die Haut, soweit sie sich in Richtungs- bewegungen äußert, nicht von jener zu unterscheiden ist, die sie im Munde hervorbringt. Welche Qualität aber diese so überaus inten- siven Hautempfindungen haben, darüber lässt sich wohl kaum ein sicheres Urteil geben. Ich selbst bescheide mich vorläufig damit, selbst den exakten Beweis erbracht zu haben, dass nicht nur bei den niederen, sondern auch bei gewissen höheren Tieren die Haut eine Perzeptionsfläche für viele jener Reize ist, die wir nur ganz lokal d. i. mit den spezifischen Sinnesorganen auf- nehmen. Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haustiere. 7. Die hundeartigen Tiere (Caniden) des Tertiärs. (Fortsetzung.) Ueber Gulo diaphorus, den Kaup in der Tertiärschicht von Ep- pelsheim in Rheinhessen fand und benannte, sagt Pietet (a. a. O. S. 195): dass er vielleicht auch nur eine Art von Amphicyon sei, in keinem Falle aber habe jenes Fossil die Merkmale vom Vielfraß (Gulo). Zu seiner Mittelform Subursus stellt Blainville (a. a. O. 8. 96) unter der Ueberschrift „Sivalours“ auch den Ursus sivalensis von Cautley und Falconer. Diese Forscher haben den siwalischen Bären beschrieben in den „Asiatie Researches“, t. XIX, 1836, p. 193 die mir nicht zugänglich sind; eine kurze Notiz über denselben aber entnehme ich Faleoner’s Palaeont. Memoirs and Notes, 1868, vol. ], p-. 321, wo die rechte Hälfte eines Unterkiefers und ein fast voll- ständiger, Taf. 26 abgebildeter Schädel beschrieben ist. Die haupt- 490 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. sächlichste Eigentümlichkeit dieses Fossils (welches früher den Namen Hyaenarctos sivalensis erhalten hatte) wurde in den Zähnen gefunden, die zusammengesetzt sind „more after the type of the higher Carni- vora“, als irgend eine andere Art dieser Gattung. Der Fleischzahn des Oberkiefers ist von sehr bedeutender Größe und er hat statt der zwei Spitzen der Bären deren drei; der vordere Lappen ist so gut entwickelt wie bei den höheren Fleischfressern und der Höcker der Innenseite ist, anstatt gegenüber dem hintern Lappen zu stehen wie bei den übrigen Arten, nach vorwärts gerückt gegenüber dem mitt- lern Lappen. Er hat insgesamt eine große Aehnlichkeit mit dem entsprechenden Zahn der Hyäne. Blainville meint nun, dass die Gesamtform des Kopfes von Ursus sivalensis mit keiner Art des Bären verglichen werden könne, wenn nicht vielleicht ein wenig mit der des Polarbären. Auf den ersten Anblick scheine der siwalische Bär Annäherungen an Amphi- cyon zu haben, dessen Gestalt der des fraglichen Bären sich nähere und dessen Gebiss auch einige Aehnlichkeit mit jenem zeige; aber die Zahl der Backenzähne im allgemeinen und die der Molaren im besondern, ebenso wie die Anordnung der Prämolaren, reiche hin zu zeigen, dass dies eine andere Sache ist, obwohl es sich wahr- scheinlich um eine benachbarte Gattung handelt. Bl. gibt diesem Fossil der Siwaliks den vorläufigen Namen Amphiarctos sivalensis. Blainville erwähnt unter seiner Mittelform „Subursus* auch die Gattung Hyaenodon (a. a. O. S. 102), aber er stellt sie in seinem zoologischen System unter die Caniden, während Pictet (a. a. O. S. 196) sie unter seinen bärenartigen Fleischfressern aufführt. Diese Gattung ist zuerst errichtet worden von de Laizer und de Parieu (Ann. des sc. natur., 2. ser., t. XI, 1839, p. 27) auf einem wohlerhal- tenen Unterkiefer, der im Paläotherienkalk zu Cournon (Puy-de-Döme), unmittelbar über Granit gelagert, gefunden wurde. Das Musterstück besaß nur zwei Schneidezähne, aber es war noch Platz für zwei an- dere Paare. Die Eckzähne sind lang und ziemlich gekrümmt. Die beiden vordern Prämolaren stehen vereinzelt und sie bilden eine kegel- förmige Spitze, die nach vorn gerichtet ist und hinten am Zahnhalse eine Verlängerung (d. h. einen Sporn) zeigt. Die beiden folgenden Prämolaren — nach der jetzt üblichen Zählung der zweite und erste — kehren ihre kegelförmigen Spitzen nach hinten; der hinterste (erste) Prämolarzahn ist der größte und er entspricht dem Fleischzahn der Fleischfresser. Dann folgen drei Molaren von mehr schneidezahn- artiger Form, die von vorn nach hinten an Größe zunehmen, seitlich zusammengedrückt, schneidend und in zwei scharf getrennte Lappen geteilt sind; alle drei sind mit einem Sporn versehen, der von dem vordern zum hintern Zahn kleiner wird; den beiden ersten Molaren verleiht der Sporn eine gewissermaßen dreilappige Gestalt. Die Kinnfuge ist sehr verlängert, wodurch sie die Schwachheit der feinen 7. Die hundeartigen Tiere des Tertiärs. 491 wagrechten Aeste des Unterkiefers ausgleicht; sie soll in dieser Be- ziehung, wie auch inbetreff der Gebissformel und insbesondere wegen der Abwesenheit von Höckerzähnen, dem Beutelhunde (Thylacyne) gleichen, dem die genannten Forscher ihre neue Gattung nahe stellen. Wenn man aber mehr die Form als die Zahl der Zähne in betracht zieht, dann kommt man dazu Hyaenodon eher mit den monodelphen Fleischfressern als mit den gegenwärtigen Beuteltieren zu vergleichen. Nachdem Blainville zuerst einen kurzen Bericht (in den Comptes rendus de l’Acad. des sc., t. VII, p. 1004) veröffentlicht hatte über jenen Unterkiefer, den Laizer und Parieu der Art H. leptorhynchus zuschrieben, gibt er (Osteogr. genre Canis, p. 111) eine ausführliche Beschreibung, die im wesentlichen mit der vorigen übereinstimmt; in betreff der systematischen Stellung von Hyaenodon leptorhynchus be- merkt Blainville: „que ce fossile remarquable indiquait peut-etre dans le genre Canis, la disposition dentaire la plus carnassiere; comme le ©. Megalotis!) offre la plus omnivore; toutefois il faut en convenir, dans une combinaison de nombre, de forme et de proportion tout & fait partieuliere, et ne pouvant entrer que fort diffieilement dans la serie des especes, telle que nous l’avons etablie plus haut“ (d. h. in der Reihe zahlreicher Arten der Gattung Canis). Einen Schädel (dem nur der Hinterhauptsteil und die Jochbogen fehlen) von einer zweiten Art fand Dujardin (Note sur une tete fossile d’Hyaenodon in Compt. rend., X, 1840, p. 134) in einem san- digen und glimmerhaltigen Mergel des mittlern Tertiärs am Ufer der Tarn, bei Rabastein; D. glaubt, dass dieser Schädel zu der Art ge- höre, welche man zurückführen müsse auf die Knochen eines Fleisch- fressers aus dem Gips des Montmartre, den G. Cuvier den Nasen- bären (Coatis) nahegestellt hat, was aber Blainville bestreitet, obwohl er eine gewisse Aehnlichkeit zugibt zwischen jenem Fossil aus dem Gips des Montmartre — das Bl. Taxotherium parisiense ge- nannt hat — und der Gattung Hyaenodon. Nachdem Bl. auch die Zugehörigkeit der Hyänodonten mit den Beuteltieren abgewiesen hat, stellt er die Frage: ob sie zu Subursus oder zu Canis gehören? Ob- wohl Bl. anzunehmen geneigt ist, dass sie eher Zehengänger als Sohlengänger, eher Fleischfresser als Allesfresser seien, wobei er sich stützt auf die Zahl und die Form der Backenzähne, glaubt er be- kennen zu müssen, dass die vollkommene Entscheidung dieser Frage eine größere Zahl von Elementen und Materialien erfordere als er sie besitzt. Blainville beschrieb (a. a. O. S. 113) den von Dujardin auf- gefundenen Schädel unter dem Namen Hyaenodon brachyrhynchus. Der Kopf ist länglich, leicht gebogen an seinem obern Rande oder der Nase, wie an seinem untern Kieferrande. Die mittlere obere Linie 1) Unter ©. Megalotis versteht Bl. den in Südafrika lebenden Löffelhund, Otocyon megalotis s. Lalandii, 492 Wilekens, Paläontologie der Haustiere. ist rinnenförmig vom Nasenrande bis zur Mitte der Stirn zwischen den Augenhöhlen, wohl eher infolge eines Druckes als durch natür- liche Anordnung; sie erhebt sich sodann zu einem ziemlich hohen Scheitelkamm. Das Scheitelbein ist fast dreieckig, das ausgedehnte Stirnbein ist durch seinen Augenfortsatz in zwei fast gleiche Teile getrennt, die Nasenbeine sind ziemlich breit, gewölbt und von mäßiger Länge. Der Oberkiefer, der den größten Teil des Gesichtes einnimmt, ist mäßig verlängert, aber sehr hoch an seinem Wangenteile; er zeigt im innern der runden und ziemlich kleinen Augenhöhle eine große Oeffnung als Anfang des Unteraugenhöhlenkanales und außen, an dessen Ausgange, ein ovales, zusammengedrücktes Loch von mittlerer Größe, das sich über dem zweiten (vorletzten) Prämolarzahn befindet. Der Zwischerkiefer ist von mäßiger Größe, sein aufsteigender Ast ist grade und sehr wenig vorgerückt zwischen Oberkiefer und Nasenbein. Der Unterkiefer ist ziemlich kräftig, von mittlerer Länge, seitlich zu- sammengedrückt, seine beiden wagrechten Aeste sind schmal und durch eine sehr lange Kinnfuge verbunden; er ist ziemlich gebogen nach der Richtung seiner beiden Ränder, ohne Spur eines Kinnhöckers, aber er besitzt zwei fast gleiche Kinnlöcher, von denen das hintere in der Höhe des zweiten, das vordere in der Höhe des vierten (vor- dersten) Prämolarzahns sich befindet. An den vollkommen zerbrochenen und verlorenen aufsteigenden Aesten des Unterkiefers kann man nur erkennen, dass der Schnabelfortsatz ziemlich breit, abgerundet und etwas schief war. Die Zähne dieser Art — in gleicher Zahl und Anordnung wie bei der vorigen — sind im allgemeinen stärker und enger stehend als bei A. leptorhynchus. Pietet (Paleont. S. 199) unterscheidet noch vier andere Arten von Hyaenodon, die in der obern Tertiärschicht von Paris gefunden sind: A. dasyuroides (entsprechend dem T’hylacine des plätrieres Cuv. und dem Pterodon dasyuroides von Gervais und Blainville), nur bekannt aus einem Oberkieferbruchstück, und A. Ouvieri Pom. (Car- nassier voisin des Coatis et des Ratons Cuv., Nasua parisiens. Herm. v. Meyer, Taxotherium parisiens. Blaiv., H.parisiens. Laurillard) von ähnlicher Gestalt wie der Beutelhund, T’hylacinus, beide aus den Pariser Gipsbrüchen stammend; ferner H. Reqwieni aus den ober- eocänen Lagern der Debruge und FH. minor Gerv. aus derselben Schicht von Alais (Gard). Gervais (a. a. OÖ. S. 232) stellt die Gattung Hyaenodon in die Familie der Feliden; er sagt, dass der letzte Molarzahn, der größer ist als seine beiden Vorgänger, fast dieselbe Form habe wie der von Felis, ja, er erklärt das ganze Gebiss der Hyänodonten für beinahe völlig gleich dem der Katzen. Der Oberarm ist mit einem Loch ver- sehen mitten in der Ellenbogengrube und mit einem Kanal oberhalb des innern Gelenkhöckers. G. hält die Hyänodonten für Fleisch- fresser, welche den Katzen, Hunden und Hyänen nahe stehen und 7. Die hundeartigen Tiere des Tertiärs. 493 nicht vergleichbar sind den wahren Beuteltieren, wie sie in Australien vorkommen. G. führt dieselben Arten von Hyaenodon an wie Pictet und er bemerkt zu H. parisiensis, dass die hintere Oeffnung der Nasen- höhle, die sehr weit ist, ein Tier anzeigt, welches ohne Zweifel im Wasser lebte. Filhol (a. a. O. S. 180 u. ff.) fand die Ueberreste von sieben Arten von Hyaenodon in den Phosphoritlagern von Quercy. Neben den schon aus anderen Fundstätten bekannten Arten: H. leptorhynchus deLaiz. et dePar., H. Requeni P. Gerv. und H. vulpinus P.Gerv.'), stellt er vier neue Arten auf: FH. Heberti, H. dubius, H. compressus und H. Cayluxi, welche jedoch nur auf wenigen Unterkiefer - Bruch- stücken mit Zähnen beruhen; sie unterscheiden sich nicht wesentlich von den früher erwähnten Arten. Von H. Cayluxi standen Herrn Filhol ein Unterkiefer- und zwei Oberkiefer-Bruchstücke zu gebote, welche noch einige Milchzähne enthielten, zugleich mit den in ihren Höhlen sitzenden bleibenden Zähnen. Die Vergleichung des Milch- und bleibenden Gebisses von Hyaenodon (a. a. ©. 8. 169) führt F. dazu — entgegen der Ansicht von de Laizer und de Parieu, Laurillard und Pomel, welche Hyaenodon in die Gruppe der fleischfressenden Beuteltiere stellten — diese Gattung, in Ueberein- stimmung mit Pietet und Gervais, den plazentalen Fleischfressern anzuschließen. Während bei den Beuteltieren, insbesondere an dem vom Gervais erforschten Gebiss junger Opossums (Didelphys virginiana) nur der letzte Prämolarzahn gewechselt wird, weist Filhol nach, dass das Milch-Gebiss junger Hyaenodon drei Prämolaren und drei Fleischzähne besitzt, von denen der erste der letzteren durch einen bleibenden Prämolarzahn ersetzt wird, während der zweite und dritte Milch- Fleischzahn auch im bleibenden Gebiss sich erhält; zur Zeit des Zahnwechsels erscheint bei Ayaenodon der dritte bleibende Fleischzahn. Pictet (a. a. ©. S. 201) reiht den Gattungen, welche eine vor- läufige Stellung einnehmen zwischen den Ursiden und den fleisch- fressenden Zehengängern, auch zwei unzureichend gekennzeichnete Formen an, welche Herm. v. Meyer Harpagodon und Acanthodon genannt hat. Der erste Name bezieht sich auf einen großen Fleisch- zahn des Oberkiefers, welchen Meyer (Neues Jahrbuch für Minera- logie u. s.w. v. Leonhard u. Bronn, 1837, S. 675) in der Bohnerz- Ablagerung der Altstadt bei Mößkirch im Großherzogtum Baden ge- funden hat; er meint, dass derselbe dem größten der bis jetzt be- kannten Fleischfresser angehört. Aus Weisenau bei Mainz erhielt M. ein Fossil, das er „nach der eigentümlichen Bildung des charakteristi- schen Querzahns“ (? soll wohl heißen Fleischzahns) Acanthodon, die Art A. ferox benannte. Der diesem Zahn angehörende Fleischfresser 1) Diese von Gervais begründete Art ist mir nur aus der Beschreibung von Filhol bekannt. 494 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. war nicht größer als Meyer’s Amphicyon dominans derselben tertiären Ablagerung. Außerdem fand M. unter den Fossilien aus Weisenau eine Zwischenkiefer-Hälfte von einem Fleischfresser, dessen Schneide- zahnfächer hintereinander sitzen; er vermochte sich nicht zu ent- scheiden, ob das Knochenstück zu Amphicyon oder zu Acanthodon oder zu einem andern Fleischfresser gehört. (Neues Jahrbuch, 1843, S. 701.) Bis jetzt stehen übrigens jene beiden „Gattungen“ Meyer’s noch einsam da und man hat seit ihrer ersten Erwähnung nichts weiter darüber vernommen. Die genannten Gattungen und Arten, welche den „kleinen Bären“ (Subursus) Blainville’s angehören, gewähren mit Rücksicht auf ihre bekannten Formen gar keine Anhaltspunkte für die Stammesgeschichte des Hundes. Sämtliche Paläontologen, welche auf diesem Grenz- gebiete zwischen den Familien der Bären und Hunde so zahlreiche neue Arten entdeckten, haben sich erschöpft in Einzelbeschreibungen von Gebissen und Schädelknochen, sie haben sich abgemüht Aehn- lichkeiten aufzufinden zwischen den neu entdeckten Fossilien und schon bekannten fossilen oder lebenden Arten, aber sie haben nicht die geringste Handhabe geboten für die Erkenntnis der paläontologi- schen Entwicklung des Hundes, ja sie haben nicht einmal.einen Ge- danken ausgesprochen, der sich für die Stammesentwicklung dieses Tieres verwerten ließe. Bevor wir uns nun zu den Formen wenden, welche den Gattungs- namen Canis führen, haben wir noch einige hundeartige Tiere in be- tracht zu ziehen, deren fossile Ueberreste andere Gattungsnamen er- halten haben, woraus wir schließen können, dass ihre Formen nicht vollkommen übereinstimmen mit denen des Hundes. Weiteres können wir leider aus den mit andern Gattungsnamen belegten Fossilien nicht schließen. Sämtliche zunächst in betracht zu ziehende Formen werden von allen Paläontologen zur Familie der Caniden gezählt. Mit dem Namen Cynodon belegte Aymard!) Kieferstücke mit Zähnen aus den untermioeänen Süßwassermergeln von Puy en Velay (Haute-Loire). Die Gattung kennzeichnet sich durch Zähne von gleicher Zahl wie die der Hunde, die aber im Verhältnis viel dieker sind und deren Formen an die der Rollmarder (paradoxures) erinnern. Der untere Fleischzahn ist vorn dreispitzig und hinten mit einem breiten zweilappigen Sporn (talon) versehen. Die Glieder zeigen einen Halb- sohlengang (marche semi-plantigrade) an und wahrscheinlich eine Lebensweise im Wasser. Ein fast vollständiger Schädel, den A. dieser Gattung zuschrieb, erinnert nach Pietet (a. a. O. S.207) so sehr an 1) Die „Monographie des Cynodon“ Aymard’s in den Ann. Soc. d’agr. du Puy, t. XV, 1850, p. 92 war mir nicht zugänglich, weshalb ich darüber nach Picetet und Gervais berichte. Die erste Mitteilung über Cynodon machte Aymard in seinem „Essai sur l’Entelodon“, p. 20. 7. Die hundeartigen Tiere des Tertiärs. 495 Viverra parisiensis, dass es nicht unmöglich ist, ihn mit dieser Art zu vereinigen, obgleich das Gebiss dem von Cynodon gleicht. A. unter- schied zwei Arten: O. velaunus und ©. palustris. Außerdem erwähnt Pietet noch drei Arten von Cynodon: pari- siensis (Viverra paris. Cuv.), lacustris Gerv. und martrides? (Elo- cyon martrides Aym.), von denen die beiden erstgenannten zur Tier- welt des Gipses gehören, die dritte aber an der gleichen Stelle wie die beiden oben erwähnten Arten von Aymard gefunden wurde. Unter den Zähnen und Fußknochen von Fleischfressern aus dem sidero- lithischen Lager von Mauremont im Waadtlande glaubt P. auch solche zu erkennen, welche der Gattung Cynodon oder einem Tiere ange- hört, das dem Amphicyon sehr nahe steht. Rütimeyer fand in Egerkingen einen Fleischzahn eines Raub- tieres, den er („Eocäne Säugetiere aus dem Gebiet des schweiz. Jura“ S. 86) der Gattung Cynodon zuschreibt von einer besonderen Art, die er O©. helveticus nennt; der Zahn entspricht einem Tiere, das zwischen der Größe der Zibethkatze und der Ginsterkatze stand. Im Phosphoritlager von Caylux fand Filhol (a. a. O. S. 120) einen halben Unterkiefer mit drei Schneidezähnen, ähnlich denen von Cynodietis, einen ziemlich starken Eekzahn, hinter welchem — durch einen Zwischenraum von !/, mm getrennt — das leere Zahnfach für den kleinen vierten Prämolarzahn und dann drei Prämolaren und ein Fleischzahn folgten; die Zahnfächer für zwei Höckerzähne waren leer. F. nannte das zugehörige Tier Cynodon gracilis. Die Unterschiede dieser Form von Cynodictis scheinen nur geringe zu sein. Gervais (a. a. ©. S. 218) vereinigt Cynodon mit der Gattung Oynodictis; er will, aber mit weniger Gewissheit, auch die Gattungen Elocyon und Cyotherium mit seiner Gattung vereinigen, obgleich er meint, dass sie vielleicht besser unter die Viverriden gestellt würden. Auch Bronn (Lethaea geognostica, 1853, III, S. 1086) zählt Oynodon und Elocyon zur Gattung Cynodietis. Diese Gattung wurde zuerst von Bravard und Pomel!) benannt und beschrieben. Der letztere kennzeichnet (Catalogue p. 66) diese Gattung durch eine Gebissformel gleich derjenigen der Hunde en Höckerzähne), aber er sagt, dass sie noch die anderen Merkmale der Viverriden besitzt. Pomel schließt der Gattung Oynodictis als Untergattungen an: Aymard’s Elocyon (gekennzeichnet durch einen obern Höckerzahn, der außen schmäler ist als innen, woraus er auf die Abwesenheit eines zweiten Höckerzahns schließt) und Cynodon; die letzterwähnte Untergattung kennzeichnet P. durch ihre dreieekigen Höckerzähne, die außen breiter sind als innen, sowie durch den ziemlich dicken Fleisch- zahn des Unterkiefers, der dem der Mangusten (Herpestes) gleich ist. 1) „Notice sur les Oss. foss. de la Debruge“, 1850, p. 5, angeführt nach Gervais, da mir nicht zugänglich. 496 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. Gervais (a. a. OÖ. S. 217) beschreibt Cynodictis lacustris (aus den Ligniten der Debruge und den Höhen von Perreal bei Apt, Vaueluse) nach einem Taf. 25, Fig. 1 u. 2 abgebildeten Unterkiefer- stück mit sieben Backenzähnen, als ein Tier von der Gestalt des Fuchses, das eine sehr große Aehnlichkeit hat mit den Hunden; die Zahl und Form der Prämolaren und Molaren von Uynodictis ist die gleiche wie bei den Hunden, aber der Fleischzahn des Unterkiefers gleicht mehr dem der Ginsterkatzen (Genettes) und der Mangusten, wegen der starken Entwicklung und der Stellung der dritten Spitze seines Vorderteiles. Dass von den beiden Höckerzähnen der zweite kleiner ist als der erste, erklärt G. für ein Merkmal des Hundes; die beiden Höckerzähne des Oberkiefers haben Aehnlichkeit mit denen des Hundes und auch mit denen der Mangusten, mit Rücksicht auf ihren Längsdurchmesser, der kleiner ist als bei den Hunden. Die Gattung Cynodictis hat in H. Filhol (Phosphorites du Querey, Ann. des se. geol., VII, p. 66—144) einen Monographen gefunden, der an siebenzehn von ihm neu geschaffenen Arten, mit staunenswerter Genauigkeit jede Spitze, jedes Höckerchen eines Zahnes gemessen, beschrieben und abgebildet hat. Die Mehrzahl seiner Arten beruht auf Bruchstücken von Unterkiefern; nur zwei, ©. Boriei und C. Gryei, haben mit zerbrochenen Schädeln die Gegenwart erreicht. In Herrn Filhol feiert die beschreibende Naturwissenschaft einen ihrer größ- ten Triumphe, denn jene 78 den siebenzehn Arten von Üynodietis ge- widmeten Druckseiten enthalten nur Beschreibungen und kaum einen einzigen sich über den Gegenstand erhebenden Gedanken. Es ist un- möglich an dieser Stelle auf die Einzelheiten der Beschreibung einzu- gehen; ich begnüge mich daher mit den Ergebnissen seiner Unter- suchungen, welche F. in den „Conelusions“ (Ann. des se. geol., 1877, VIII) zusammengefasst hat; er sagt hier S. 316 bezüglich der Gat- tung COynodictis: „J’ai dü, pour noter seulement les differences les plus importantes, les plus accusees, ereer dix-sept nouveaux noms d’especes. Des lors on doit se demander si toutes ces esp&ces ont la meme valeur, c’est-A-dire si nous n’avons pas la affaire & quelques rares especes types et & de nombrenses races s’etant etablies, puis ayant varie a leur tour sous l’influence de la selection naturelle. Pour ma part, jadopte cette maniere de voir, et je ne erois pas que seize especes differentes appartenant A un m@me genre aient vegu en m&me temps dans une m&me region, et je pense que les Oynodietis, ou Chiens viverriens, donnaient naissance ä de nombreuses races, comme l’ont fait les Chiens actuels“. Als Stammarten von Cynodictis betrachtet F. nur vier: ©. Cayluxi, Boriei, longirostris und exilis. Wenn man den Fleischzahn der ersten Art mit dem von Viverra angustidens ver- gleicht, so sieht man, dass diese beiden Zähne wesentlich in derselben Weise geformt sind: die innere Spitze ist rundlich (arrondie) und senkrecht. Dieselbe Anordnung findet sich bei ©. exilis, der ein ganz 7. Die hundeartigen Tiere des Tertiärs. 497 besonderes Merkmal hat in den von scharfen Spitzen umgebenen Höckerzähnen, eine Anordnung, die an die des Fleischzahnes erinnert. Die Höckerzähne der anderen Arten von Cynodictis tragen die Spur dieser Spitzen, welche unter dem Einflusse eines Nahrungswechsels verkümmert zu sein scheinen, der sie zu einer neuen Anpassung nötigte. Die beiden letzten Höckerzähne haben also ihre ursprüngliche Eigen- tümlichkeit verloren unter dem Einflusse einer Abänderung der Nahrung. Bei ©. Cayluxi ist die innere Spitze des Fleischzahnes weniger kegel- förmig, sein vorderer Rand steht nicht mehr senkrecht, der Zahn öffnet sich nach innen; das Merkmal der Viverren ist nunmehr ver- wischt und es neigt sich dem der Caniden zu. Bei ©. Boriei ist der Fleischzahn verhältnismäßig mehr verlängert, die innere Spitze ist an ihrer Basis mehr verbreitert, seine vordern und hintern Ränder sind sehr schief; nach diesen Merkmalen scheint es, dass das zugehörige Tier weniger fleischfressend war als die vorher erwähnten. Filhol glaubt, dass es möglich sein wird, um diese vier Formen von Cynodictis alle andern zu vereinigen, indem man sie als Rassen derselben betrachtet. Nach der Form des Knochenbaues unterscheidet F. zwei Gruppen von Uynodictis: die eine mit untersetzten massigen Formen, die andere mit schlanken und hohen Formen. In diesen beiden Gruppen begegnet man Knochen vom größten bis zum kleinsten Wuchs, ohne wesent- liche anatomische Abänderungen. F. erwähnt hier (S. 318), dass er eine sehr große Zahl von Gliederknochen in den Pliosphoriten ge- funden habe, von denen auf Cynodietis über 500 Musterstücke ent- fallen ?). Filhol hat auch zwei Arten von Canis in den Phosphoriten nach- gewiesen; die erste ist Canis Filholi, die Munier-Chalmas ihm zu Ehren benannt hat, die F. aber nicht für einen wahren Hund hält, weil der innere Höcker des Fleischzahnes viel zu stark entwickelt ist, weshalb er sie in die Gruppe von Oynodictis Cayluxi versetzt, in welcher sie die Form des Fleischzahnes von (©. intermedius erreicht. Die zweite Art ist Canis cadurcensis, bei der die Spitzen des Fleisch- zahnes getrennt sind; die hintere Spitze ist verkümmert und voll- kommen hinter die Hauptspitze zurückgesetzt, eine Anordnung, die viel stärker angedeutet ist als bei den Amphicyon der Phosphorite. Schließlich bemerkt F., dass die Cynodictis die Neigung haben, die Merkmale der Caniden anzunehmen, aber das Ganze ihrer Merk- male ist zu viverrenähnlich, um sie unter die Gattung Canis zu stellen ?\. Das einzige Skeletmerkmal, um die Cynodietis von den 1) Diese Knochen sind aber in der früher erwähnten, 78 Seiten langen Beschreibung nicht in betracht gezogen. 2) Dazu bemerkt Huxley (Proceed. of the Zool. Soc. of London, 1880, p. 281) „But the characters of the tooth to wich M. Filhol refers, cannot be regarded as suffieient to differentiate Oynodictis from the true Canidae, when 92 498 Wilekens, Paläontologie der Haustiere. Viverren zu unterscheiden, beruht bei den ersteren auf der Anwesen- heit von zwei Höckerzähnen im Unterkiefer an Stelle des einen bei den Viverren. Im Anschlusse an die Gattung Cynodietis hat Filhol (Ann. des sc. g6ol., VIII, p. 7 ff.) eine Mittelgattung aufgestellt zwischen den Cynodictis und den Hyaenodon; er nennt diese neue Gattung aus den Phosphoriten von Querey Oynohyaenodon, und er unterscheidet zwei Arten derselben: ©. Cayluxi und C. minor. Von der ersten Art hat F. zuerst einen Unterkiefer gefunden, in dem die Prämolaren an die Form von Hyaenodon, der Fleischzahn und die beiden Höckerzähne an die Form von Cynodietis erinnern. Später fand er mehrere ganze Schädel, die er sehr ausführlich beschreibt. Das auffallendste Merkmal dieser Schädel ist die übermäßige (excessif) Verlängerung, besonders am hintern Teile. Der ganze der Schädelhöhle entsprechende Teil ist in der Längsaxe sehr ausgedehnt; zugleich entwickelt sich das Hinterhauptsvein ungeheuer (&normement) gegen seinen Gipfel, so dass es ganz nach hinten zurückgeworfen ist. Das Gesicht erscheint verhältnismäßig kurz, die Schnauze ist zugespitzt und der Teil, der den Augenhöhlen entspricht, ist verhältnismäßig ziemlich breit. Von Cynohyaenodon minor hat F. nur einen einzigen Unterkiefer mit einigen Zähnen untersucht; diese Art unterscheidet sich von der vorigen nur durch den kleinern Wuchs, dureh die bedeutende Größe des dritten Prämolarzahns und die sehr beschränkte Größe der Höckerzähne. Eine eigentümliche Gattung von etwas stärkerer Figur als die Ginsterkatze (genette) beschreibt Gervais (a. a. O. 8.219) unter dem Namen Galethylax; sie stützt sich auf einen Unterkiefer aus den Mergeln des Gipslagers bei Paris; die zwei vorhandenen Schneide- zähne sind so schlank wie bei den Beuteltieren, der Eckzahn ist ein wenig zusammengedrückt und auf seiner Innenfläche durch eine Längs- furche gezeichnet; auf ihn folgen vier Prämolaren und drei Molaren, welche Anordnung bei den Beuteltieren nicht vorkommt. G. stellt diese Gattung nur mit Zweifel unter die Caniden; anfangs hatte er sie den Beuteltieren angereiht, denen sie sich durch die Form ihrer Unterkieferzähne nähert, aber sie hat einen Prämolarzahn mehr und einen Molarzahn weniger; jedenfalls ist Galethylax (von der nur eine Art @. Blainvillei benannt ist) eine Gattung von zweifelhafter Stel- lung, wie G. selbst bemerkt. Den Gattungsnamen Galecynus!) gab Owen (Quart. Journ. Geol. Soe. of London, t. III, 1847, p.55) einem Fossil aus den obermiocänen we have in Otocyon a lower seetorial which may be described in the same terms. In fact, apart from the number of the teeth, the dentition of Otocyon departs more widely from that of the more differentiated Canidae than that of Cynodietis does, the teeth of the latter taking a place alongside of those of the lower Thooids (Wölfen) and Alopecoids (Füchsen)“. 1) Abgeleitet von ya«An7 Wiesel oder Katze und xUo» Hund. List, Becherzellen in dem Blasenepithel der Amphibien. 499 Molassemergeln von Oeningen bei Konstanz. Die einzige Art, die Owen @. Oeningensis nannte, stimmt überein mit Canis Vulpes (com- munis) fossilis Murchison’s, Canis Vulpes des schistes d’Oeningen Blainv., Cunis palustris H. v. Meyer’s. Die Zähne dieses fossilen Hundes — the fossil Canis, wie Owen ihn a. a. O. S. 56 nennt — sind zwar an Größe gleich dem des gemeinen Fuchses, aber sie unter- scheiden sich von ihm und jeder bestehenden Art von Hund, Wolf und Schakal dureh die stärkere Entwieklung der vordern und hintern Höcker an dem Halse der Kronen der 3. und 4. Prämolaren; der Fleischzahn jenes Fossils hat an der Krone eine kürzere Ausdehnung von vorn nach hinten als bei irgend einer bekannten lebenden Art des eigentlichen Hundes. In der Form und den Größenverhältnissen der Prämolaren und der Molaren zeigt das Gebiss des Fossils eine größere Aehnlichkeit mit dem der nahe verwandten Gattung Viverra als mit einer bekannten lebenden Art des Hundes. Ferner sind die Zehen größer und es ist insbesondere die erste Zehe stärker ent- wickelt als bei den Hundearten, auch ist der Schwanz länger als bei Hund, Wolf oder Schakal, aber nicht so lang wie beim lebenden Fuchs; die Wirbel sind dieker im Verhältnis zu ihrer Länge. O. will die den Viverriden nahestehende Form von Galecynus als Untergat- tung von Canis anerkannt sehen. Im Anhange zu Murchison’s („On a Fossil Fox found at Oeningen“ in Transact. of the Geol. Soc. of London, sec. ser., vol. III, 1835) Beschreibung der Steinbrüche von Oeningen und den darin gefundenen fossilen Tieren und Pflanzen, gibt Gideon Man- tell (daselbst S. 291) eine anatomische Beschreibung und Abbildung des vollständigen, auf einem Stein haftenden Skeletes (das sich im Besitze Murchison’s befindet), nach welchem Owen seine oben er- wähnte Beschreibung des von ihm Galecynus Oeningensis genannten Tieres verfasst hat. Uebrigens bemerkt schon Mantell, dass der Schädel dieses Tieres im Vergleiche mit dem eines Fuchses zu tief sei im Verhältnis zu seiner Länge. (Schluss folgt.) Ueber einzellige Drüsen (Becherzellen) im Blasenepithel der Amphibien ). Von Dr. Josef Heinrich List. Im Anschlusse an meine Untersuchungen über das Blasenepithel des Frosches habe ich auch dasjenige anderer mir zugänglicher Am- phibien auf das Vorkommen von Becherzellen geprüft. Ich fand nun dieselben bis jetzt im Blasenepithel folgender Amphibien: Von Urodelen bei Triton cristatus. 1) Auszug aus einer größern Arbeit. a 500 List, Becherzellen in dem Blasenepithel der Amphibien. Von Batrachiern und zwar Oxydactylia bei Rana esculenta, R. temporaria, Bufo vulgaris, DB. variabilis, Bombinator igneus. Von Discodactylia bei Ayla arborea. Das Becherzellen führende Blasenepithel der von mir untersuchten Amphibien ist ein geschichtetes Pflasterepithel, das im allgemeinen dem Cornealepithel ähnlich ist. Die Becherzellen selbst, welchen ich besondere Aufmerksamkeit widmete, sind, was ihre Form betrifft, jenen von mir beim Frosche beschriebenen ähnlich. Der Inhalt besteht aus zwei differenten Sub- stanzen: eine in Form eines Gerüstwerkes die ganze Theca erfüllende, Farbstoffe sehr begierig aufnehmende Substanz, Filarmasse!), und eine zwischen den Strängen (Maschen) befindliche, Farbstoffe nur sehr gering oder gar nicht aufnehmende anscheinend homogene Sub- stanz, Interfilarmasse. Die Filarmasse selbst besteht aus dünnen homogen erscheinen- den Strängen, die zu einem polygonale oder auch mehr rundliche Maschen bildenden, die ganze Theca durchziehenden Gerüstwerke sich zusammenfügen. Von den aufwärts (in der Richtung der Längs- axe) ziehenden Strängen gehen Querbalken zur Verbindung benach- barter Stränge ab, an den Verbindungsstellen Knotenpunkte (An- schwellungen) bildend. Der Nucleus selbst liegt stets am Grunde der Becherzelle, der Theea anliegend, in der Profilansicht häufig nur als halbmondförmige Masse bemerkbar. Nach unten zu stets die Form der Theca an- nehmend, ist er oben entweder gewölbt, abgeplattet — oder tellerförmig vertieft. Er hat somit häufig Aehnlichkeit mit einer flachen Kuchenform. Am Rande erscheint er entweder glatt, oder häufiger etwas ausgezackt. Niemals ist es mir gelungen eine direkte Verbindung der Fi- larmasse mit dem Kern bezw. dem Netzwerk desselben nachzuweisen. Man kann die einzelnen Stränge bis zum Nucleus hinziehen sehen, um dort, ihn häufig berührend, ihr Ende zu erreichen. Am Grunde der Theca oberhalb des Nucleus kann man nicht selten eine dichtere Ansammlung der Filarmasse bemerken; die Maschen sind enger, häufig in die Länge bezw. Quere gezogen, und die ganze Masse ist so angeordnet, dass sie, ringsum an der Thecawand sich hinaufziehend, gegen den obern (dem Kern gegenüberliegenden) Teil derselben ausgebuchtet erscheint. Diese Verhältnisse sind nur an Schnitten mit gelungener Tinktion ?) zu beobachten. An Isolationspräparaten aus 4) Ich glaube mit dieser nichts präjudizierenden Bezeichnung den Forde- rungen Flemming’s Rechnung zu tragen. 2) Als Tinktionsmittel verwendete ich vorzugsweise salpetersaures Rosanilin, Weigert’sches Bismarekbraun und verdünnte Hämato- xylin-Glyzerinflüssigkeit (ef. Zeitschrift f. wiss Mikroskopie, Bd. II, Heft 2, 8. 148), nach Härtung in Müller’scher Flüssigkeit, Alkohol oder 1/, prozentiger Chromsäure. List, Becherzellen in dem Blasenepithel der Amphibien. 501 Müller’scher Flüssigkeit, Drittel-Alkohol oder Osmiumsäure erscheint diese untere aus Filarmasse bestehende Substanz als eine granulierte Masse, welche den Anschein hat, als sei sie ursprüngliche, den ge- wöhnlichen Epithelzellen entsprechende Zellsubstanz }). Die Interfilarmasse erscheint sowohl im frischen Zustande, als auch nach Einwirkung der gewöhnlichen Härtungsflüssigkeiten als eine homogene, diekflüssige zähe Masse, welche Tinktionsmittel nur in sehr geringem Maße aufnimmt. Diese Interfilarmasse verhält sich aber in verschiedenen Maschen verschieden. In manchen Maschen scheint dieselbe Farbstoffe begieriger aufzunehmen, infolgedessen er- scheint sie daselbst auch dunkler gefärbt. Namentlich beobachtete ich dieses Verhalten in dem dem Kern zunächst liegenden Teil der Interfilarmasse. Schon an den in den tieferen Schichten des Epithels vorkommenden geschlossenen Becherzellen kann man ein deutlich ausgebildetes Gerüstwerk wahrnehmen, welches allerdings an den an die Ober- fläche gekommenen am ausgebildetsten erscheint. Sobald sie an die Oberfläche gerückt sind, erhalten sie ein Stoma, aus welchem man sehr häufig einen Propf, „das Sekret“, hervorragen sieht. Dass dieser Propf aus Filar- und Interfilarmasse besteht, lehrt gelungene Tinktion. Ebenso kann man sich überzeugen, dass die Ausstoßung des Sekretes entschieden auf einem Quellungsvorgang beruht, der vorzugsweise die Interfilarmasse betrifft. Sehr schön kann man diesen Quellungsprozess an mit !/,‚prozentigem salpetersaurem Silberoxyd behandelten Blasen von Bufo vulgaris, in welchen massen- haft Becherzellen vorkommen, beobachten. Aus sämtlichen Stomata konnte ieh kuglige Pröpfe, in welchen ich hie und da noch ein deut- liches Gerüstwerk wahrnehmen konnte, hervorquellen sehen, deren Größe die der Becherzellen oft bei weitem übertraf. Solche Funktionsstadien aufzufinden, wie sie Schiefferdecker?) beschrieb, gelang mir nicht, obwohl ich dieselbe Methode verfolgte. Dass sich die Becherzellen einmal in einem protoplasmatischen, ein andermal in einem schleimerfüllten Zustande befinden, bezweifle ich nach meinen Erfahrungen. Die ganze Sekretion (und auch die Stomabildung) beruht auf einem Quellungsprozess, der 4) In meinen früheren Arbeiten über Becherzellen war ich selbst noch dieser Täuschung hingegeben. Mit der Verwendung neuerer Methoden (Celloidin- einbettung mit nachfolgender Tinktion) und nach Untersuchung anderer Becher- zellen, welche durch ihre Größe zum Studium besonders geeignet sind z. B. aus der Oberhaut von Torpedo oder aus dem Kloakenepithele der Plagiostomen, wurde ich eines bessern belehrt. (Vgl auch meine „Untersuchungen über das Kloakenepithel der Plagiostomen“. I. Teil: „Das Kloakenepithel des Rochen“. Sitzungsbericht der Wiener Akademie, Juliheft, III. Abt., 1885.) 2) P. Schiefferdecker: Ueber Schleimdrüsen. Archiv f.mikr. Anatomie, Bd. XXIII, 1884. 502 List, Becherzellen in dem Blasenepithel der Amphibien. den obern Teil der Becherzelle zuerst ergreift und diesen Inhaltsteil zur Ausstoßung bringt. Allmählich schreitet dieser Prozess nach unten zu fort. Es ist wohl einleuchtend, dass so die Becherzelle bei der einmaligen Sekretion nicht zugrunde geht, sondern im stande sein wird, öfter zu sezernieren. Bei dem Quellungsprozesse werden die Maschen der Filarmasse oft so ausgedehnt, dass die einzelnen Stränge voneinander reißen und so mit ausgestoßen werden. Was den Untergang!) der Becherzellen anlangt, so bin ich jetzt vollkommen überzeugt, dass ein solcher stattfindet. Die Becher- zellen werden, wenn sie eine Zeit lang funktioniert (sezerniert) ha- ben, von den nachrückenden Epithelzellen in die Höhe geschoben, während sich das Stoma erweitert und die Thecawand verschiedene Faltungen erhält, und gelangen so schließlich ins freie, wenn sie auch noch funktionsfähig wären. Was die Bedeutung der Becherzellen anlangt, so sind sie wie überall als selbständige Gebilde, als einzellige Drüsen an- zusehen, die mit den Drüsenzellen der Schleimdrüsen mannigfache Analogie besitzen, die aber nicht mit denselben einfach identifiziert werden dürfen, wie Schiefferdecker a.a.0. esthun zu können glaubt. Schließlich möchte ich mir noch etwas über die Verbreitung derselben in der Amphibienblase zu bemerken erlauben. Die wenigsten Becherzellen sind im Blasenepithel von Triton cristatus vorhanden. Solche Nester von Becherzellen, wie sie bei Rana und besonders bei Bufo zu finden sind, konnte ich nicht beo- bachten; ich fand sie im Gegenteil sehr zerstreut, hie und da wohl auch mehrere beisammen. Was die Verbreitung bei Rana esculenta und BR. temporaria betrifft, so habe ich schon früher?) darüber Mitteilung gemacht. Massenhaft aber kommen Becherzellen vor im Blasenepithel von Bufo vulgaris und Bombinator igneus. Die Menge derselben ist so bedeutend, dass man an mit 0,5prozentiger Osmiumsäure oder salpetersaurem Silber- oxyd behandelten Blasen an manchen Stellen Becherzelle an Becher- zelle, dann wieder ganze Nester von fünf bis noch mehr derselben treffen kann. Auch bei Hyla arborea fand ich eine bedeutende Anzahl, doch sind sie mehr zerstreut und nicht so massenhaft anzutreffen, wie bei Bufo. 1) Dieses Kapitel wird ausführlicher besprochen in meiner umfassenden Arbeit: Ueber den Bau der Becherzellen. 2) J. H. List: „Ueber Becherzellen im Blasenepithel des Frosches*. Sitzungsberichte d. k. Akademie d. Wissenschaften, Bd. LXXXIX, Abt. III, 1884 Krause, Die anatomische Literatur in Italien (I). 503 Die anatomische Literatur in Italien. Von W. Krause (Göttingen). Erster Artikel. 1) Romiti, G., Nuove osservazione sulla struttura dell’ ovaja umana. I, Il rivestimento epiteliale ed il suo significato. Estratto dai processi verbali della Societä Toscana di Scienze Naturali. Adunanza del di 22 marzo 1885. — 2) Romiti, G., Notizie anatomiche. N. IX p. 23— 25. Sulla struttura dei nemaspermi dell’ uomo. Estratto dal Bollettino della Societä tra i eultori delle scienze mediche in Siena. Anno II. 1884. — 3) Romiti, G., Una osservazione di terzo condilo oceipitale nell’ uomo e considerazioni relative. Estratto degli Atti della Societa Toscana di Scienze Naturali. Vol. VII. Fase. I. — 4) Ro- miti, G., Notizie anatomiche. N. XIII p. 37—39. Per la storia delle osse interparietali nell’ uomo. Estratto dal Bollettino della Societä tra i eultori delle scienze mediche in Siena. Anno II. 1884. — 5) Chiarugi, G., Delle omologie e dei rapporti reciproci della fossetta oceipitale media e del lobo mediano del cervelletto nell’ uomo e negli altri mammiferi. Estratto dagli Atti della R. Accademia di Fisioeritiei. Ser. III. Vol. III. 1885. Con una tav. — 6) Romiti, G., Notizie anatomiche. N. III p. 11—12. Duplieitä dol muscolo coracobrachiale. Estratto dal Bollettino della Societä tra i eultori delle secienze mediche in Siena. Anno II. 1884. — 7) Chiarugi, G., Varietä mus- colare combinata del grande dorsale e del gran pettorale. Costa sopranume- raria rudimentale. Estratto dal Bollettino della Soeietä tra i eultori delle scienze mediche in Siena. Anno II. N. 2 e 10. — 8) Romiti, G , La carti- lagine della piega semilunare ed il pellieccaio nel negro, Estratto dagli Atti della Societa Toscana di Scienze Naturali. Vol. VII. Tasc. 1.— 9) Romiti, G,, Notizie anatomiche. N. X p. 27 — 30. Rudimento di organo di Jacobson nell’ uomo adulto. Estratto dal Bollettino della Societa tra i cultori delle seienze mediche in Siena. Anno II. 1884. — 10) Romiti, G., Notizie anatomiche. N. XI. p. 31—34, Un caso di terza dentizione o iperodontogenia umana. Estratto dal Bollettino della Societä tra i cultori delle seienze mediche in Siena. Anno II, 1884. — 11) Romiti, G., Notizie anatomiche. N. V p. 15—16. Nota sopra la coesistenza di dita sopranumerarie e di una eccessiva divisione del fegato. Estratto dal Bollettino della Societä tra i cultori delle seienze mediche in Siena. Anno II. 1884. — 12) Romiti, G., Notizie anatomiche. N. II p. 7—9. Resti embrionali nel testicolo umano e loro significato. Estratto dal Bollettino della Societä tra i cultori delle secienze mediche in Siena. Anno II. 1884. — 13) Ficalbi, E., Di una particolare disposizione di alcuni vasi venosi del collo nelle seimmie e della possibilita di spiegare con essa aleune anomalie venose reperibili nell’ uomo. Estratto dagli Atti della Societa Toscana di Scienze Naturali. Vol. IV. Fasc. 3. — 14) Chiarugi, G., Varietä dell’ ansa dell’ ipoglosso. Estratto dal Bollettino della Societä tra i cultori delle scienze mediche in Siena. Anno II. N. 2 e 10. — 15) Valenti, G., Alcune generalitä sopra gli organi rudimentali del corpo umano e note anatomiche sopra l’Organo di Rosenmüller, i Cordoni midollari, il Paroophoron, le traccie del Canale di Gartner nella donna. Con una tavola. Estratto dagli Atti della R. Accademia di Fisioceritiei. Ser. II. Vol. III. — 46) Romiti, G., Notizie anatomiche. N. VI p. 17—18. Sulla morfologia dell’ osso ineisivo nell’ uomo. Estratto dal Bollettino della Soecietä tra i cultori delle seienze mediche in Siena. Anno II, 1884. 504 Krause, Die anatomische Literatur in Italien (I). Die moderne anatomische Literatur Italiens ist umfangreich, ge- wöhnlich geistreich geschrieben, geht ihre eignen selbständigen Wege. Vorzugsweise die wirklichen oder vermeintlichen Verdienste der Lands- mannschaft berücksichtigend, beschränkt sie sich häufig auf sporadische Berücksichtigung der auswärtigen Literatur, wie sie das Studium der Jahresberichte oder der gebräuchlicehsten, in das Italienische oder Französische übersetzten Handbücher gestatten. Anderseits wird diese massenhafte italienische Literatur im Aus- lande wenig gewürdigt. Daran ist nicht die ja leicht zu lesende Sprache schuld, sondern vor allem der Umstand, dass die Zerstreu- ung in einzelne lokale Gesellschaftsschriften und für die Praktiker bestimmte pathologische Journale eine allzugroße ist. Wünschenswert ist diese Sachlage gewiss nicht, Ref. wäre auch an seinem Teile geneigt, durch Aufnahme italienischer Artikel in die von ihm herausgegebene „Internationale Monatsschrift für Anatomie und Histologie (Th. Fischer in Kassel)“ Abhilfe zu schaffen, wenn es gewünscht werden sollte. Vorläufig mag daher eine Uebersicht einiger Leistungen der aller- letzten Zeit, wie sie hier versucht wird, nicht überflüssig erscheinen. Wie die meisten modernen anatomischen Untersuchungen, drehen sich die italienischen Arbeiten — von der Histologie abgesehen — am häufigsten um die Varietäten, die durch ontogenetische oder phylo- genetische Erörterungen illustriert werden, oder um Schädel und Ge- hirn, oder um halb-pathologische bezw. physiologische Angelegenheiten. In dieser Reihenfolge soll hier der Ueberblick geordnet werden. Romiti (7) diskutierte ausführlich die Epithelbekleidung des menschlichen Ovariums. Es standen ihm einige ganz frisch exstirpierte Eierstöcke zugebote: von einem Falle, in welchem wegen hysterischer Epilepsie die Ovariotomie gemacht war, ferner von einer Schwangern nahe vor der Geburt; außerdem zahlreiche Ovarien aus Kadavern, 6—10 Stunden nach dem Tode. Härtung in Müller’scher Flüssigkeit oder Alkohol, Einbettung mittels Chloroforms in Paraffin, Färbung der Schnitte mit Alaunkarmin waren die angewendeten Methoden. Das Epithel war teils kubisch bezw. zylindrisch und von 0,01 mm Dicke, teils niedriger, 0,004 mm dick; zwischen beiden Formen fand ein allmählicher Uebergang statt. Außerdem zeigten sich aber Züge von 0,022—0,023 mm hohen Zylinderzellen, die eben- falls allmählich in die benachbarten anderen Arten übergingen; Cilien wurden nirgends angetroffen. Als Anhänger der Hertwig’schen Cölomtheorie (1882) hebt Romiti die Bedeutung jener verschiedenen Zellenarten für die letz- tere hervor, grade wie bei Amphibien im Peritonealepithel Inseln von andersartigen Zellen (um die Stomata) vorhanden sind. Da das Cölom keineswegs eine ursprünglich geschlossene Höhle, sondern eine Aus- Krause, Die anatomische Literatur in Italien (I). 505 stülpung des Darmtraktus darstellt, so ist es auch begreiflich, dass dasselbe mittels der Tuba nach außen ausmünden kann, ebenso wie mittels der segmentierten Nierenkanälchen der Selachier. Also einen Rest der ursprünglichen Form hat sich das Keimepithel auf der Oberfläche auch des menschlichen Ovariums bewahrt. So bilden die Endothelien gleichsam eine einzige Familie mit den Epithelien und differieren nur graduell je nach der Konfiguration und Funktion ihrer Zellen. So erstreckt sich also das Peritonealepithel, wenn auch in modifizierter Form, über das Ovarium, und dessen Albuginea ist die Fortsetzung des Bindegewebes der Serosa. Der Ausdruck „Endothel“ aber würde nur noch eine konventionelle und morphologische, nicht aber entwieklungsgeschichtliche Bedeutung behalten. Derselbe (2) schließt sich der Darstellung von Retzius (1882) an, wonach die menschlichen Spermatozoen ein Mittelstück be- sitzen, welches von Brunn (1883) geleugnet hatte. Dasselbe besteht aus einem Axenfaden, der von mehr Protoplasma umgeben wird, als es im Schwanze der Fall ist; am Ende des letztern ragt der Axen- faden als feinste Endigung frei hervor. An Samenfäden, die mit Ueberosmiumsäure konserviert waren, konnte Romiti keinen Spiral- saum (vergl. dieses Centralhlatt, 1881, Bd. I, S. 25) entdecken. Varietäten. Romiti (3) wünscht die wahren anatomischen Varietäten von den falschen danach zu unterscheiden, dass die ersteren stets ihr Homologon bei irgend welchen Tieren haben und demzufolge in irgend einer frühen Entwieklungsperiode beim menschlischen Embryo reprä- sentiert sein müssen. Nach der gewöhnlichen Auffassungsweise wür- den dies also die Atavismen sein. Im Gegensatz dazu meint Ficalbi (13 — vergl. letztern), dass keineswegs alle homologen Anordnungen, die beim Menschen als Varietät, bei Tieren in der Norm vorkommen, ohne weiteres als Atavismen aufzufassen seien. — In betreff der übrigen Varietäten scheint Romiti geneigt, sie der Pathologie zuzu- weisen. Lassen wir zunächst außer acht (Ref.), dass schließlich auch das pathologische Geschehen denselben Gesetzen unterliegt wie das normale — man braucht nur an Hasenscharte und Wolfsrachen zu denken, die doch so pathologisch sind, wie sie nur sein können — so darf nieht übersehen werden, dass irgend eine embryonale Störung sekundäre Folgen nach sich ziehen kann, die durchaus nicht patho- logisch sind und trotzdem keineswegs ihr Homologon in der Tierreihe finden müssen. Wenn z. B. das vordere Ende einer wahren Rippe sich spaltet und doppelt am Sternum artikuliert, so ist das weder pathologisch, noch findet sich ein phylogenetisches oder ontogenetisches Homologon dazu, und doch ist diese Varietät beim Menschen nicht einmal so überaus selten: vergl. die Fälle von Srb, Luschka und 506 Krause, Die anatomische Literatur in Italien (I). dem Ref. (W. Krause, Handbuch der menschlichen Anatomie, Bd. III, 1880, S. 76 u. 80). Romiti beschreibt nun einen neuen Fall von drittem Pro- cessus condyloideus oss. oceipitis; zeigt, dass bei der Schild- kröte (testuggine di mare) der Processus condyloideus s. basilaris aus drei Fortsätzen zusammenwächst, welche bei den Vögeln und Ophidiern vollständig verschmolzen sind. Der dritte Processus condyloideus des Menschen ist also keineswegs dem ungeteilten Processus der letzt- genannten Klassen homolog, sondern nur dessen medianem obern Dritteil und ebenso dem dritten Processus bei der Schildkröte. Uebrigens waren an dem beschriebenen Schädel eines 70jährigen Mannes aus Siena zwei nach der Medianlinie konvergierende, vorn 3 mm, hinten 5 mm von einander entfernte accessorische Processus vorhanden; jeder derselben hatte 6 mm Länge auf 4 mm Breite und an seinem freien Ende eine Artikulationsfläche (für den vordern Bogen des Atlas). Romiti (Z) hält daran fest, dass das Homologon des Os inter- parietale der Wirbeltiere beim Menschen in dem ganzen obern, niemals kartilaginösen Schuppenteil des Os oceipitis zu suchen sei und durch das erste Os Incae repräsentiert werde. Die Sutura lambdoidea des Menschen und der Säugetiere wären einander also keineswegs homolog. Romiti will, wie es scheint, die Priorität dieser Angabe gegenüber Lucae in Anspruch nehmen, welchem letztern sie Ref. (s. d. Centralbl., 1884, Bd. IV, 8.347) zugeschrieben haben soll. („— — riossunto del Krause, dal qualo invece apparirebbe che Luceae abbia inteso render noto un fatto nuovo“.) Ref. hatte aber damals mindestens die Kenntnis seines Handbuches der menschlichen Anatomie (Bd. III, 1850, 5. 64) vorausgesetzt, wonach die Sache selbst denn doch eine erheblich kompliziertere ist, als sie nach Romiti zu sein scheint. Hagen (Monatsber. d. k. Akad. d. Wissensch. zu Berlin, 1879, S. 264) hatte nämlich bestritten, dass das Os Incae jenen niemals knorplig gewesenen Teil der Hinterhauptsschuppe repräsentiere, viel- mehr sei dasselbe nur dem obern größern Abschnitt (Squama superior) der genannten Pars squamosa oss. oceipitis homolog. Hier- von abgesehen, sind eine Anzahl ganz verschiedener Dinge (Ref. 1. ce.) aus einander zu halten. Die obere Spitze der Pars squamosa oss. oceipitis ist zuweilen von dem Rest der Schuppe abgetrennt und repräsentiert einen Schalt- knochen: Os interparietale. Dasselbe kann auch im hintern Ende der Sutura sagittalis zwischen den Scheitelbeinen (Os inter- parietale proprium) gelegen sein, oder der kleinen Fontanelle ent- sprechen (Os fonticeulare posterius). Es entsteht beim Embryo aus paarigen Knochenkernen, die unter einander und nach der zehnten Schwangerschaftswoche mit dem obern Rande der Pars squamosa Krause, Die anatomische Literatur in Italien (I). 507 088. oceipitis verwachsen. Mit einem solchen Os interparietale ist das weit größere Os Incae nicht zu verwechseln; die untere Be- grenzung (vgl. jedoch oben, Hagen), Sutura transversa s. Wormiana posterior des letztern, welches die ganze obere Hälfte der Schuppe repräsentiert, beginnt am Angulus mastoideus des Scheitelbeins und geht nahe oberhalb der Protuberantia oceipitalis externa hindurch. Das Os Incae ist bei alten Peruanern häufiger, konstant bei Neu- gebornen (v. Tschudi, 1844), bei Erwachsenen in 14—15°/, (Vir- chow, 1878) vorhanden — als bei anderen Rassen. Bei Deutschen findet es sich in 0,2—0,3 °/, (Welcker, 1862), bei den Bayern nach J. Ranke (1878) in 0,8°/,. Ohne Zweifel handelt es sich um eine Hemmungsbildung, um ein Stehenbleiben auf einer frühern Entwick- lungsstufe; ob aber das Os Incae den niemals knorplig gewesenen Teil der Hinterhauptsschuppe oder nur deren obern Teil (Hagen, 1879) repräsentiert, das ist, wie gesagt, nicht so ganz entschieden. Jener Teil ist beim Embryo der 10. Schwangerschaftswoche durch die erwähnte Sutura transversa und von den Scheitelbemen durch die Sutura lambdoidea getrennt. Gegenüber dieser schon 1880 veröffentlichten Beleuchtung seitens des Ref. dürfte die Prioritätskontroverse Romiti’s (1884) contra Lucae (1883) hinfällig geworden sein. Chiarugi (5) hält es für nötig, unter den als Fossa occipi- talis media bezeichneten Varietäten der Innenfläche der Squama oss. oceipitis zwei Arten zu unterscheiden. Die erste solle diesen Namen beibehalten oder „Fossetta del Lombroso“ nach ihrem Ent- decker (1871) genannt werden. Es ist ein dreieckiger Raum auf dem untern Teil der Hinterhauptsschuppe, der sich oft genug in eine wirk- liche, dreieckige Grube umbildet. Die zweite Art dagegen ist die Fossa vermiana, so genannt, weil sie mit einer Hypertrophie des Vermis inferior verbunden ist und derselben ihre Entstehung verdankt. Erstere Grube fand Chiarugi an 50 Schädeln von Gesunden und Geisteskranken in 32°/,, die letztere in 12°/,. Nach Lombroso e Bergonzoli ist die Existenz einer Grube an dieser Stelle in 60%, mit einer Hypertrophie des Vermis verbunden. Indess ist es nicht immer leicht, geringere Grade der Entwicklung der Fossa oceipitalis media zu unterscheiden, weil von einer scharfen Crista zu einem drei- eckigen Felde und einer dreieckigen Grube alle möglichen Uebergänge vorkommen. — Zwei Fälle einer Fossa vermiana werden genau be- schrieben, ihre Diagnose wird hauptsächlich durch die Entwicklung des Vermis gesichert werden. Dass eine solche Fossa vermiana bei vielen Säugetieren mit starker Ausbildung des Vermis zugleich vor- kommt, ist bekannt; erstere kann sich bis auf das Interparietale er- strecken. In betreff der Thatsache, dass das weiche Gehirn die Schädelknochen nach seiner eignen Konfiguration zu modeln vermag, 508 Krause, Die anatomische Literatur in Italien (I). genügt es an den Abdruck der Großhirngyri in den Impressiones digitatae zu erinnern. Romiti (32) beschreibt den Gesichtsschädel eines ausgetragenen Kindes, welcher eine Spalte zwischen Os maxillare superius und dem Zwischenkiefer darbot. An der medialen Seite der Spalte befanden sich zwei Schneidezähne und Romiti schließt daraus (unabhängig von Th. Kölliker, s. Nr. 12, S. 371 dieses Blattes), dass die Zwischen- kieferhasenscharte sowohl zwischen dem medialen und lateralen Os ineisivum als zwischen dem letztern und dem Oberkieferbein jeder- seits hindurchgehen könne. Derselbe (6) beobachtete linkerseits einen doppelten M. coracobrachialis; beide Muskeln entsprangen vom Processus coracoideus und inserierten sich getrennt: der laterale kleinere Muskel etwas höher, als es gewöhnlich die entsprechenden Bündel des normalen Muskels zu thun pflegen. Der mediale Muskel war natürlich der längere und setzte sich weiter abwärts an den Humerus; zwischen beiden Muskeln passierte der N. perforans brachii. Rechterseits war der Muskel normal. Romiti erinnert daran, dass Giacomini (1882) beim Neger einen M. coracobrachialis brevis (W. Krause, Hand- buch der menschlichen Anatomie, Bd. III, 1880, S. 102) s. eoraco- capsularis gesehen hatte, dass ferner der Schimpanse, nicht aber Gibbon und Gorilla, einen doppelten M. coracobrachialis besitzen. Jedenfalls deutet Romiti die Verdoppelung als Atavismus. Chiarugi (7) beschrieb zwei Varietäten an der linken Thorax- seite einer 50jährigen Geisteskranken, wobei die bekanntlich häufige Kombination mehrerer, anscheinend in keinem Kausalzusammenhange stehender Varietäten in derselben Leiche beachtenswert ist. Es war ein überzähliges, zwischen der 5. und 6. Rippe am Sternum arti- kulierendes Rippenrudiment von 8 cm Länge auf 1 cm Breite vorhanden, nach hinten endigte dasselbe frei, in einen kurzen fibrösen Strang auslaufend. An derselben Seite inserierte sich die Sehne des M. latissimus dorsi mittels eines 5 mm breiten fibrösen Stranges teilweise an dem Processus coracoideus zugleich mit dem Ursprunge des M. coracobrachialis. Mit diesem sehnigen Bogen verbanden sich vier von der 8.—11. Rippe kommende Bündel des M. latissimus dorsi, ferner einige vom M. pectoralis major sich ablösende Muskelstreifen. Ein anderes Bündel hatte seinen Ursprung an der Scheide des M. rec- tus abdominis mittels eines langen dünnen Sehnenstreifens, und end- lich trennte sich ein Bündel von der Masse des M. pectoralis major, um sich an der den M. coracobrachialis deckenden Faszie zu inserieren. Man übersieht ohne weiteres (Ref.), dass mehrfache Störungen wäh- rend der Entwicklung in der betreffenden Rumpfgegend eingetreten sein müssen. In der Plica semilunaris der Konjunktiva beschrieben die alten Anatomen bis etwa zum Jahre 1850 einen Knorpelstreifen, Krause, Die anatomische Literatur in Italien (I). 509 wie derselbe als hyaliner Knorpel sehr allgemein bei Tieren vor- kommt. Von Giacomini (1878) wurde ein solcher als Varietät in seltenen Fällen (0,6°/,) beim Menschen wiederum nachgewiesen. Daraufhin untersuchte Romiti (8) eine sechzigjährige geisteskranke Negerin, deren Gesichtsteile Lacchi zur Disposition gestellt hatte; beide Augäpfel waren atrophisch. Romiti hatte schon früher (1882) die Häufigkeit des Vorkommens bei Italienern weit beträchtlicher gefunden, zu 1,4°/, beim Manne und 1,18 °/, beim Weibe; beim Neger ist die Plica stärker entwickelt als beim Europäer, der Knorpel aber nach Giacomini nicht konstant. Romiti fand in seinem eignen Falle bei der geisteskranken Negerin eine feste dreieckige, mit der Spitze medianwärts gerichtete Faser- knorpelplatte von 6 mm Höhe und 5 mm Breite. Der M. reetus oculi internus setzte sich mit einem Bündel an die Sclera, mit einem andern an die Plica semilunaris und mit einem dritten an die Caruncula laerymalis. Mikroskopisch nach Alkoholhärtung und Färbung mit Alaun- karmin untersucht zeigt die Platte die ausgesprochenen Charaktere des Faserknorpels. Derselbe (9) konstatierte an Querschnitten beim Erwachsenen den bekanntlich nicht selten vorkommenden Jacobson’schen Kanal (Jaeobson’sches Organ). Die Angaben des Ref. (Handbuch der menschlichen Anatomie, Bd. II, 1879, S. 383) kennt Romiti offenbar nicht. Das Lumen betrug 0,14 mm, die Zylinderepithelzellen hatten 0,028 mm, also eine relativ beträchtliche Höhe. Romiti (10) beobachtete bei einem seiner Freunde, der 55 Jahre alt ist, den Durchbruch eines mittlern obern Molarzahnes der rechten Seite zwei Jahre, nachdem der definitive Molarzahn ausgefallen war (ecadde) und deutet dies als eine echte dritte Dentition oder Hyper- odontogenia. Ein abnorm in der Embryonalzeit entwickelter über- zähliger Zahnkeim fängt im spätern Leben an zu wachsen, wenn sein Vorgänger entfernt ist, und dies soll an den Zahnnachwuchs bei Selachiern u. s. w. erinnern. Derselbe (17) konstatierte einen neuen Fall der schon dreimal von Calori (1880) beobachteten Koinzidenz von überzähligen Leberlappen bezw. Furchen der Leber und sechsten Fingern oder Zehen. Bei einem 71jährigen Packträger mit geteilter kleiner Zehe rechterseits — die Beschreibung ihrer Muskeln und Sehnen ist im Original zu vergleichen — fand Romiti einen deutlich ausge- sprochenen Suleus am Lobulus caudatus, ferner einen starken trans- versalen Suleus auf der vordern (?) Oberfläche des linken Leber- lappens und nach dem vordern Rande des letztern hin noch zwei tiefe Einschnitte in Form eines Halbmondes. Die Beschreibung ist nieht genau genug, um den Verdacht pathologischer Furchungen der weichen Leber (bei Stenose der Valvula mitralis u. s. w.) auszu- schließen (Ref.). 510 Krause, Die anatomische Literatur in Italien (T). Romiti (72) unterscheidet zwei ihrer Entstehung nach verschie- dene Cysten an der Epididymis. Die eine oder das Ovarium masculinum (Fleischl, Ref.) zwischen dem Caput epididymidis und dem Testikel gelegene ist nicht gestielt, hat Flimmerepithel und eine mit Fimbrien besetzte Oeffnung; sie ist dem Tubentrichter nach Waldeyer homolog. Die andere, gestielte oder nicht gestielte Cyste ist öfters in mehrfacher Anzahl vorhanden, sitzt auf der Oberfläche der Epididymis, kann Samenfäden enthalten und geht aus Kanälen des Geschlechtsteils des Wolff’schen Körpers hervor. Ficalbi (13) erörterte die Beziehungen, welche zwischen gelegent- lich auch beim Menschen vorkommenden Varietäten und homologen Anordnungen in der Norm bei verschiedenen Tierklassen sich heraus- stellen. Nicht alle phylogenetisch entsprechenden derartigen Verhält- nisse seien ohne weiteres als Atavismen aufzufassen. [Nach Meinung des Ref. darf nicht übersehen werden, dass erst die Entwieklungs- geschichte über die Bedeutung solcher Formähnlichkeiten Aufschluss zu geben vermag. Findet man beim menschlichen Fötus z. B. ein Emissarium temporale als Anfang der V. jugularis externa normal und persistiert dies Emissarium bei manchen Säugetieren, so liegt die Sache, wenn dasselbe beim Erwachsenen als Varietät beobachtet wird, offenbar ganz anders, als wenn es beim Fötus in der Norm nicht nachgewiesen wäre. Aehnliche Beispiele ließen sich zu Dutzenden aufzählen.] Nun fand Ficalbi bei mehreren Affenarten, namentlich Cynocephalus und Lemuriden, dass die V. jugularis externa sich ab- steigend in zwei Aeste teilt. Der mediale verläuft ziemlich senkrecht, der laterale bildet einen lateralwärts konvexen Bogen, nimmt die V. cephalica auf und mündet nach Aufnahme der letztern mit dem medialen Ast zusammen in die V. subelavia. Durch die Vereinigung dieser beiden Aeste entsteht ein ovaler, die Clavieula umschlie- ßender Venenring. Dieses äußerst merkwürdige Verhältnis kehrt in einem schon 1849 von Nuhn abgebildeten Falle wieder (vgl. des Ref. Fig. 162 in Henle’s Gefäßlehre, 1868, S. 393; 1876, S. 414). In demselben kommunizierte die V. cephalica durch einen zwischen der Mitte der Länge der Clavicula und der Haut verlaufenden Ast mit dem untern Ende der V. jugularis externa. In der Norm sind keine kleinen venösen Plexus an dieser Stelle vorhanden. — Auch ist es bekannt, dass die V. jugularis externa sich beim Menschen vor der Clavieula in die V. subelavia einsenken kann, dasselbe sah Fi- calbi als Varietät bei einem Cercopithecus fabarus, indem der Venen- ring fehlte. Auch kann die V. jugularis externa unterhalb der Clavieula die V. cephalica aufnehmen und sich dann in die V. subelavia senken; ferner sind die erstgenannten sonst normal sich verhaltenden Venen nach Qain öfters (sovente) durch einen Kommunikationsast (Ramus cephalico- jugularis) verbunden, welcher Ast oberhalb der Clavieula verläuft. Endlich kann bei Affen, wie gesagt, wenn der Ring feblt, Krause, Die anatomische Literatur in Italien (T). 511 die V. jugularis gleichwohl vor der Clavieula verlaufen. Alle diese Fälle bilden offenbar eine Reihe oder Kette, deren Schlussstück eben der zirkumklavikulare Venenring darstellt. Chiarugi (14) beschrieb auch eine Varietät der sogenannten Ansa n. hypoglossi, welche hauptsächlich auf verwickelte Plexus- bildungen hinausläuft, die, vom Ganglion jugulare herstammend, einen feinen, den Stamm des Nerven unter fortwährenden und zahlreichen Anastomosen begleitenden Nervenfaden bildeten, welcher schließlich als R. descendens n. hypoglossi weiter verlief. [Weder die Beschrei- bung, noch die Varietät selbst sind besonders zur Aufklärung geeignet; sonst könnte man für diesen Fall einen Ursprung des Ramus des- cendens aus dem N. vagus oder eventuell dem N. accessorius abzu- leiten unternehmen, Ref.]. Valenti (15) gab eine Zusammenstellung der beim Menschen rudimentären Organe, die einiges Ueberraschende enthält: Nutritions-Apparat. Thymus. Gl. coceygea. Gl. interearotiea. Processus vermiformis. Weisheitszähne. Unterzunge. Man könnte noch die Glandula tympanica des Ref. hinzufügen (Handbuch d. menschl. Anatomie, Bd. II, 1879, S. 861, Fig. 521). — Ferner in den Apparaten der Bewegung und Empfindung: Conarium. Hypophysis. Filum terminale. Caruneula lacrymalis. Plica semilunaris conjunctivae. Steißbein. Muskeln des äußern Ohres. Jacobson’scher Kanal. Lig. suspensorium epistrophei. Verschiedene Muskeln, namentlich Hautmuskeln. Haare und Nägel. Ref. bemerkt dazu, dass hei manchen Tieren eine weit geringere Entwieklung der genannten Teile normal ist, als beim Menschen. Man sehe nur das Filum terminale des Frosches an. Wie viele Tiere haben glatte Haut, keine Haare und keine Nägel. Aber unbewusst steekt in solehen Vergleichen immer der Gedanke an die Anthropoiden als die eigentlichen Normalmenschen! 512 Krause, Die anatomische Literatur in Italien (T). Was die Geschlechtsorgane anlangt, so zählt Valenti auf: Männlich. Weiblich. Paradidymis. Parovarium. Vas aberrans Halleri. Markstränge des Ovariums. Ovarium maseulinum(Morgagni- Paroophoron. sche Hydatide). Gartner’sche Kanäle. Vesiecula prostatica. Corpora cavernosa vestibuli. Mammae viriles. Clitoris. Der Clitoris in dieser Aufzählung zu begegnen, muss denjenigen wundern, der nur einmal die Nervi clitoridis präpariert hat. Die Nerven wenigstens sind nicht atrophisch. Vielleicht macht sich eine der mikroskopierenden Damen ein Vergnügen daraus, die Nerven- fasern auf dem Querschnitt zu färben und zu zählen. Inbetreff der Markstränge des Ovariums bestreitet Valenti die alte Kölliker’sche Ansicht, dass das Follikel-Epithel von deren Zellen abstamme: sie sind vielmehr Reste des Wolff’schen Körpers, Abkömnmlinge des Parovariums. Nach den gewöhnlichen Angaben biegt sich der längslaufende Kanal des Parovariums, welcher dem Anfang des Wolff’schen Ganges entspricht, am distalen Ende des Parovariums zurück und geht in das am meisten medianwärts gelegene der transversalen Kanälchen über. Valenti fand aber in fast allen Ligg. uteri lata, die er unter- suchte, dass der erstgenannte Kanal sich weiter distalwärts fortsetzt und zugespitzt endigt. Vom Paroophoron meint Valenti, dass es oft vorhanden sein möge, wenn man es mit freiem Auge nicht wahrnehmen könne; ihm selbst sind, abgesehen von kleinen Cysten, nur zweimal im Lig. uteri latum 6—-8 kleine Körperchen am Hilus des Ovariums begegnet, die 2 mm Durchmesser nicht überschritten. Die von Kocks beim Weibe beschriebenen Blindsäcke an den lateralen Seiten und hinterem Rande des Meatus urethrae externus hat Valenti zwar gesehen und von Drüsenausführungsgängen unter- schieden, macht aber auf mehrere Unwahrscheinlichkeiten aufmerksam, welche es verbieten würden, in demselben Rudimente der Wolff’- schen Gänge oder Gartner’schen Kanäle beim menschlichen Weibe zu sehen. (Ein zweiter Artikel folgt.) Mit einer Beilage der Verlagsbuchhandlung von Friedrich Vieweg & Sohn in Braunschweig. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Oentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. V. Band. 1. November 1885. Nr. 17. Inhalt: Lehmann, Die Cholera und die modernen Choleratheorien. — Wilekens, Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haus- tiere. 7. Die hundeartigen Tiere des Tertiärs (Schluss). — Danilewsky, Zur Parasitologie des Blutes. — Krause, Die anatomische Literatur in Italien (II). — Zuckerkandl, Beitrag zur Lehre von dem Bau des hyalinen Knorpels. Die Cholera und die modernen Choleratheorien von Dr. Karl B. Lehmann, Assistent am hygieinischen Institut in München. Die Entdeckung des Kommabaeillus hat den Vertretern der Lehre, dass sich der Cholerakeim in den Entleerungen der Kranken in einem Zustande vorfindet, in dem er weitere Infektionen von Gesunden be- wirken kann, neue Stützen geliefert und ihnen einen Forscher von dem Range Robert Koch’s zugeführt!). Damit ist der seit den siebziger Jahren etwas zur Ruhe gekommene Streit über die Aetiologie der Cholera aufs neue heftig entbrannt; es stehen sich jetzt zwei aus- gearbeitete Theorien gegenüber, jede von ihren Anhängern mit der lebhaftesten Ueberzeugung vertreten und mit zahlreichen, durch müh- same Arbeit gewonnenen Thatsachen gestützt. Beruft sich Petten- kofer auf hundertfältig konstatierte Thatsachen, auf Erfahrungen in den verschiedensten Teilen der Erde, von den gewissenhaftesten Forschern gesammelt, so hält ihm Koch die durch Anwendung seiner geistvollen Untersuchungsmethoden gefundenen Ergebnisse über den Mikroorganismus der Cholera entgegen, und versucht, mit Hilfe der Entdeckung des Kommabacillus die ganze Aetiologie der Cholera in einfacher und bestechender Weise zu erklären. 1) Pettenkofer nennt seit langer Zeit die Vertreter dieser Ansicht: Kontagionisten, die Anhänger seiner Lehre von der Bedeutung örtlicher und zeitlicher Bedingungen für das Zustandekommen einer Choleraepidemie: Lokalisten. Es sei mir gestattet, mich dieser Bezeichnungen auch in dem- selben Sinne zu bedienen, 514 Lehmann, Die Cholera und die modernen Choleratheorien. Die siegesgewissen Aussprüche Koch’s auf der ersten Berliner Cholerakonferenz und die tiefgehende Meinungsverschiedenheit der beiden großen Forscher, die aus den bisher leider nur sehr unvoll- ständig bekannt gewordenen Verhandlungen der zweiten Cholera- konferenz in Berlin !) hervorgehen, lassen nicht hoffen, dass sobald eine Verständigung herbeigeführt werden wird; es muss deshalb jede gewissenhafte, auf sorgfältig gesichtetes neues Material gestützte Schrift über die Cholera mit Freuden begrüßt werden. Eine solche Arbeit liegt uns in dem kleinen Buche vor, in welchem James Cunningham?), der 33 Jahre seines Lebens im indischen Sanitätsdienst verbrachte und zwanzig Jahre an der Spitze des indi- schen Sanitätsdepartements stand, die reichen Erfahrungen, die er in dieser Zeit sammelte, niedergelegt hat. Pettenkofer hat das Werk in anbetracht seines hochwichtigen Inhaltes übersetzen lassen, und wir sind überzeugt, dass es jeder, der sich für die Cholera interessiert, mit dem größten Interesse lesen wird. Um aber den Wert und die Schwächen der inhaltsreichen Arbeit besser würdigen zu können, dürfte es sich lohnen zu versuchen in möglichst kurzen Umrissen zu skizzieren, was die heutigen Cholera- theorien lehren, und einen Blick auf den weiten und mühsamen Weg zu werfen, auf dem wir zu ihnen gelangt sind. 1. Die Choleratheorien bis 1854. Wenn man die älteste Literatur über Cholera, die Berichte von John Jameson und von der Medizinalbehörde von Bombay über die indische Epidemie von 1817 und 1818, ferner den Bericht über die Epidemie im Departement Orenburg 1830 von Lichtenstädt, Wagner’s Bericht über die Cholera in Preußen 1831—32, den Kopp’s über die erste Choleraepidemie in München 1836 u. a. durchliest, so lässt sich nicht verkennen, auf wie außerordentlich unsicheren Füßen alle damaligen, oft mit so großer Ueberzeugung ausgesprochenen Hypothesen, Erklärungsversuche und Theorien über die Cholera stan- den. Jameson’s Bericht, den ich unter den angeführten für be- sonders wichtig halte, enthält eigentlich schon fast alles, was bei der ersten europäischen Pandemie (1830 — 37) über die Cholera er- mittelt wurde. Das Bedeutsamste, was aus den indischen Berichten hervorgeht, lässt sich etwa in folgende Sätze zusammenfassen: 1) Es ist sehr zu wünschen, dass der stenographische Bericht über die zweite Berliner Cholerakonferenz, welche vom 4. bis 8. Mai tagte und welcher diesmal auch Pettenkofer beiwohnte, endlich der Oeffentlichkeit übergeben werden möchte. — [Ist inzwischen geschehen. Redaktion des Biol. Centralbl.] 2) Die Cholera. Was kann der Staat thun sie zu verhüten? von Dr. J. M. Cunningham, Generalarzt im indischen Medizinaldepartement und Medizinal- veferent bei der indischen Regierung. Mit einem Vorwort von M. v. Petten- kofer. Braunschweig, Vieweg und Sohn, 1885, XVI, 127, 16 Tabellen. so BA Due Lehmann, Die Cholera und die modernen Choleratheorien. 515 1) Die Cholera ist eine epidemische Krankheit; während aber der Verkehr mit einem Cholerakranken nur selten gefährlich erscheint, gibt es Orte, wo die Cholera nach Art der Malaria herrscht. Z. B. werden Truppenteile, die gewisse Choleragegenden durchziehen, be- fallen, wenn sie sich auch nur einige Stunden daselbst aufhalten, aber eine später mit ihnen zusammentreffende gesunde Abteilung wird nicht angesteckt, wenn beide dann zusammen an einem gesunden Orte lagern. 2) In manchen Fällen scheinen aber auch die Cholerakranken direkt ansteckend zu sein, da einzelne Kranke die Cholera in bisher von der Seuche freie Orte zu verschleppen scheinen. 3) Die Cholera folgt namentlich dem Laufe der Flüsse, hat eine Vorliebe für Mulden und Thäler, meidet aber hoch und auf Felsen gelegene Orte. 4) Der Infektionsweg ist noch unbekannt; schlechte Nahrung und schlechtes Trinkwasser sind wie Unreinlichkeit und Unmäßigkeit nur disponierende, keine ursächlichen Momente. 5) Ein Einfluss meteorologischer Faktoren auf den Gang der Seuche lässt sich nicht erkennen; Choleraausbrüche finden an heißen und kalten, nassen und trocknen, windstillen und windigen Tagen statt. Die oben aufgezählten späteren Veröffentlichungen in Europa streiten sich namentlich darüber, ob dieSeuche kontagiös oder miasmatisch sei, oder bei Lichte betrachtet eigentlich nur darüber, ob der Verkehr die Cholera verbreite, oder ob sie nicht, wenigstens zuweilen, autoch- thon an den befallenen Orten entstehe. Je weniger ins Detail die For- schung ging, um so öfter musste die autochthone Entstehung angenommen werden, doch waren, in der Mehrzahl der Fälle wenigstens, gegen Ende der Epidemien unter den beobachtenden Aerzten die Kontagio- nisten in der Mehrzahl. Und dies kam daher: die ersten Fälle einer Gegend betrafen gewöhnlich die größeren Städte, wenn aber einmal eine größere Stadt eine Zeit lang epidemisch ergriffen war, so schien es nicht schwer, die Einschleppung von hier aus in näher und ferner gelegene Dörfer nachzuweisen. Die Miasmatiker, die die ersten Fälle spontan aus dem Genius epidemicus des Ortes hatten entstehen lassen, halfen sich dann häufig mit der Annahme: das Miasma hat seine Wirk- samkeit so gesteigert, dass es jetzt auch kontagiös wirkt, es ist im Erkrankten in einer solehen Menge oder Intensität enthalten, dass es jetzt auch von ihm abgegeben wird. Gingen so die Kontagionisten meist als Sieger hervor, so blieb und bleibt zum Teil noch heute vieles bestehen, was zu erklären ihnen viel Mühe macht: z. B. das sprungweise Fortschreiten der Krankheiten, das Freibleiben so vieler Orte zwischen zwei Choleraherden, die zahlreichen, meist leichten, vereinzelten Fälle von sogenannter Cholera nostras, Sommerdiarrhöe, Choleradiarrhöet), die der eigentlichen Epidemie vorhergehend in den 1) So lange es sich nur um Diarrhöe und Magenkatarrh handelt, kann man 39° 516 Lehmann, Die Cholera und die modernen Choleratheorien. verschiedensten Teilen einer Stadt auftauchten. München hatte z. B. 1836 vom 12. August bis 14. Oktober 16 über die ganze Stadt zer- streute Fälle von sporadischer Cholera, von denen 9 starben; vom 23. bis 25. Oktober erkrankten 21 Personen in den verschiedensten Teilen der Stadt, ohne dass von einer ein Verkehr mit einem Cholera- herd oder Cholerakranken hätte nachgewiesen werden können. So hatten Miasmatiker und Kontagionisten einander Thatsachen entgegen- zuhalten; auch die von beiden Parteien nach ihren Ansichten gewähl- ten Hilfsmittel zur Bekämpfung der Seuche wirkten, nach den An- sichten der Parteiführer, immer gut. Wenn die Miasmatiker in der Wirkungslosigkeit der ausgedehnt angewandten Kordone einen Beweis für das autochthone Entstehen der Cholera erblickten, und in ihren allgemeinen humanitären Vorkehrungen für Arme und Kranke zu Epidemiezeiten die einzige rationelle staatliche Anordnung gegen die Cholera sahen, behaupteten die Kontagionisten durch streng durch- geführte Kordone wenigstens manche Lokalepidemie abgegrenzt und beschränkt zu haben und hielten deshalb, wenigstens theoretisch, ihr Mittel für die Panacee gegen die Seuche. Als 1836 die Cholera nach Bayern kam, wurde seitens der Regierung im ganzen Lande ein großes epidemiologisches Experiment durchgeführt. Offiziell wurde die Cholera als eine nicht kontagiöse Krankheit erklärt und auch so behandelt. Viele Aerzte und Laien überzeugten sich nicht bloß von Farbe und Geruch, sondern auch vom Geschmack der Cholera- stühle, und trotzdem verlief diese Epidemie viel gelinder als spätere (1854, 1873/74), wo man desinfizierte und isolierte. Es sei hier noch speziell betont, dass die Kontagionisten von 1830 eigentlich nichts über das Wesen der Ansteckung behaupteten und nur die Verschlep- pung durch den Verkehr betonten. Wie das Choleragift verschleppt werde, ob nur durch Kranke oder auch durch Gesunde, ob nur durch Menschen oder auch durch Sachen, ob der Verkehr mit Cholerakranken oder mit Choleraorten das Maßgebende sei, das war für die Konta- gionisten von damals noch ziemlich einerlei, galt es doch vor allem überhaupt die Verschleppbarkeit zu erweisen. Auch die uns jetzt scheinbar so naheliegende Idee von derLokalisation des Ansteckungsstoftfs in den Exkrementen ward damals noch selten geäußert, über die Natur und die Aufnahmewege des Giftes fehlten fast alle Anhaltspunkte; doch treten schon sehr früh die Vorstellungen von einem organisier- sich mit der Annahme helfen, dass dergleichen jeden Sommer vorkommen, aber nur zu Cholerazeiten beobachtet werden; die Cholera nostras gehört aber für die Anhänger aller Theorien zu den dunkelsten Krankheiten. Es besteht gewiss die Möglichkeit, dass diese scheinbar spontanen Fälle die Wirkung ge- ringer Mengen verschleppten Cholera -Infektionsstoffs gewesen sind, ehe die zeitliche Disposition ein epidemisches Auftreten der Seuche gestattete, neben der, dass sie als Cholera nostras gar nichts mit der Cholera asiatica zu thun haben. EL: ng) Lehmann, Die Cholera und die modernen Choleratheorien. 517 ten Infektionsstoff in den Vordergrund, den besonders kühne Geister sich ähnlich den Ehrenberg’schen Infusionstierchen vorstellten, die damals entdeckt wurden. — Die indischen Beobachtungen über die Bedeutung lokaler Ein- flüsse auf das Zustandekommen der Epidemie fanden bei dem ersten Einbruch der Seuche in Europa wenig Ergänzung und Erweiterung. Allerdings liefen bestätigende Berichte über die Verbreitung der Cho- lera in den Flussthälern, über das größere oder geringere Verschont- bleiben der höher gelegenen Landstriche (z. B. in Holland) und ge- birgigen Gegenden (namentlich in Steiermark), der hochgelegenen Stadt- - teile (z. B. in Königsberg) ein, aber nur selten wurde größerer Nachdruck auf diese Beobachtungen gelegt, selten wurden dieselben zu Schlüssen über das Wesen der Cholerainfektion verwendet. — Doch fehlte es auch in Europa nicht an einzelnen Beobachtern, die schon damals auf die Bedeutung der Lokalverhältnisse für die Epidemie aufmerk- sam machten. So enthält z. B. der Cholerabericht, den die Aerzte Franz Hergt und Karl Sommerschuh über ihre Beobachtungen in Posen und Berlin 1831 an die großherzoglich badische Regierung erstatteten, schon die Angabe, dass örtliche Verhältnisse („namentlich Effluvien faulender, vegetabilischer und animalischer Stoffe, eine Art Malaria“) in Verbindung mit einer unbekannten Veränderung der Atmosphäre, die über die Lande fortschreitet, zur Erzeugung der Cholera notwendig sind. Im Jahre 1838 spricht es Hergt sogar vollkommen klar aus: „Die Entstehung der Choleraepidemie an einem Orte fordert außer der Importation des Kontagiums noch eigne, lokale, atmosphärische und tellurische Verhältnisse. Diese Verhältnisse müssen an einem und demselben Orte sich erzeugen und verschwinden können“. Besondere Erwähnung verdienen auch aus dieser Zeit die Beobach- tungen Boube&e’s in Frankreich über den Zusammenhang der Cholera- ausbreitung mit den geologischen Verhältnissen der befallenen Gegen- den. Während Urgebirgsgegenden frei oder fast frei blieben, machte die Seuche auf dem Alluvium und Tertiärgestein überall die rapidesten Fortschritte. Boub&e vermutete damals schon, dass der Granit nicht aus chemischen Gründen vor der Cholera geschützt sei, sondern dass es die Undurchlässigkeit für Wasser sei, die ihm für die Cholera unempfänglich mache, da zerklüfteter oder verwitterter mit Erde be- deckter Fels keinen Schutz verleihe, wie er an Beispielen zeigte. Diese und andere ähnliche Beobachtungen blieben doch zu ver- einzelt, um einen wesentlichen Einfluss auf die Gestaltung der Cholera- ansichten haben zu können. Da ab und zu als gesund bekannte, luftig gelegene Orte ergriffen, niedrig und feucht gelegene verschont blieben, Sommerhitze und Winterkälte die Kraft der Epidemien bald zu brechen, bald zu vermehren schien, und sich die Krankheit vom heißen Gangesdelta bis ins nördliche Russland, vom Meeresstrand bis zu den Alpen, von China bis nach Deutschland, also unter den mamnigfaltigsten 518 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. örtlichen und klimatischen Verhältnissen ausgebreitet hatte, so ver- zweifelte die große Mehrzahl der Forscher daran, konstante Einflüsse als begünstigend oder störend für das Zustandekommen einer Epide- mie zu entdecken. — (Schluss folgt.) Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haustiere. 7. Die hundeartigen Tiere (Caniden) des Tertiärs. (Sehluss.) Blainville (a. a. O. S. 106) urteilt nach den aus Mantell’s Abbildung sich ergebenden Verhältnissen der Knochen des Metacarpus und des Tarsus, dass der fossile Fuchs von Oeningen einer stärkern Art angehöre, vielleicht einem Schakal. Obwohl ihn H. v. Meyer (Neues Jahrb., 1843, S. 701) Canis palustris nennt, so zweifelt er doch an der Zugehörigkeit zu Canis. Auch hat Meyer („Zur Fauna der Vorwelt“, 1845, S. 5) aus der Meersburg’schen Sammlung zu Karlsruhe einen Eekzahn beschrieben und abgebildet, der von Canis palustris herzurühren scheint; er kommt an Größe dem lebenden Fuchs ziemlich gleich, ist aber etwas kleiner, was den Eckzähnen des Skelets aus Oeningen entsprechen würde. Bronn (a. a. O. S. 1079) nennt Galecynus ein Untergeschlecht von Canis, das sich in den Backenzähnen Zycaon (C. pietus) und Viverra, im Fuße Viverra nähert, indem es in der Form der zwei ersten Prämolaren zugleich dem Milchgebiss der Hunde mehr als dem reifen entspricht. Das ganze Skelet zeigt in Größe und Form viele Uebereinstimmung mit dem der Hunde und insbesondere des Fuchses; nur die Zähne zeigen einige Verschiedenheiten. Der Metacarpus ist bei gleicher Länge breiter als bei den echten Hunden, und insbeson- dere die erste Zehe ist länger, obwohl noch nicht ganz so lang wie bei Viverra; die ganze erste Zehe überragt den Metacarpus der zwei- ten Zehe, während sie beim Fuchs dessen Ende nicht erreicht und bei Lycaon noch kürzer ist. Die Vorder- und Hinterbeine sind kräf- tiger als bei Hunden. Ich schließe die Reihe der den Hunden nahestehenden Formen aus den Tertiärschichten Europas mit der Erwähnung zweier ver- schiedenartiger Fossilien, denen Jäger die Gattungsnamen ZLycotherium und Galeotherium gegeben hat. Der erste Name bezieht sich auf das Bruchstück eines Eckzahnes, woran Wurzel und Spitze fehlen; das Bruchstück, aus den mioeänen Bohnerz-Gruben von Mößkireh im Großh. Baden, entspricht nach Bronn (a. a. O. S. 1089) einem Zahne, kleiner als der von Canis geganteus Cuv. von Avaray, aber bedeutend größer als der vom gemeinen Wolf. Der Name Galeotherium beruht auf zwei einzelnen Backenzähnen und einem Eckzahn. Jäger (Die fossilen Säugetiere Württembergs, 1839, II, 8. 71) schreibt den Eckzahn und den linken untern Fleischzahn — beide aus 7. Die hundeartigen Tiere des Tertiärs. 519 den Bohnerz-Gruben von Neuhausen — einem reißenden Tiere (@. ferreo- jurassicum) zu, etwas größer als ein Fuchs, welches eine Zwischen- gattung bildet zwischen der Familie der Marder und der Hunde; ein anderer linker Fleischzahn des Unterkiefers, aus der Molasse von Baltringen bei Biberach, merklich kleiner, wird einer andern Art, G. molassicum, beigelegt. Wir kommen jetzt zu den hundeartigen Tieren der europäischen Tertiärschichten, welehe den Gattungsnamen Canis führen, ein Name, der die eigentlichen Hunde, die Wölfe und Füchse einschließt. Im fossilen Zustande sind diese Arten der Gattung Canis kaum von ein- ander zu unterscheiden. Gemeinsam ist ihnen die Zahl und Form der Zähne; die Gebissformel ist: Schneidezähne — Eekzähne nr Prämolaren = Fleischzähne = Molaren — Bronn (a. a. ©. S. 1077) kennzeichnet das Gebiss wie folgt: Schneidezähne in ge- schlossener Reihe mit etwas dreilappiger Schneide, die äußeren etwas größer; Eckzähne wenig zusammengedrückt und innen platter, glatt, ohne Furche, der obere hinten etwas kantig; Lückzähne (Prämolaren) stark, zusammengedrückt, kegelförmig, die hintern größer, rund und hinten 1—2 Basalhöcker bildend; Fleischzähne: der obere mit einem in zwei schneidige Kegel breit getrennten Blatt, der vordere stärker, an seiner innern Basis mit einem Höcker; der untere mit einem nur durch einen engen Spalt in zwei Kegel getrennten Blatt, wovon der hintere viel größer und hinter welehem die Basis der Krone in einen niedern breit-quadratischen (innen 2—) 3 höckerigen Talon ausge- breitet ist; die Molaren oben: beide außen zweizackig, innen mit einem breiten höckerigen Talon, doch der letzte um die Hälfte kleiner; unten der 1. nicht so breit wie lang, vorn zweizackig und hinten mit einem langen Talon, der 2. der kleinste aller Zähne, rundlich, 3—2 höckerig. Bemerkenswert ist noch, dass die scharfschneidende Be- schaffenheit der Prämolaren und die stumpfhöckerige der Molaren dem Gebiss der Hunde eine Mittelstellung anweist zwischen den Fleischfressern und den Allesfressern. Der Schädel der Hunde hat eine mehr gestreckte Form als die der nächst verwandten Familien der Fleischfresser, auch sind die Jochbogen schwächer, die Schläfen- sruben seichter und in größerer Verbindung mit den Augenhöhlen. Die Zahl der mit fast graden Nagelgliedern versehenen Zehen beträgt fünf an jedem Fuße. — Diese Kennzeichen gestatten eine verhältnis- mäßig leichte Unterscheidung der fossilen Hundeformen von denen nahe verwandter Gattungen. Der wahrscheinlich älteste Ueberrest eines Hundes stammt aus der eocänen Schicht des Pariser Gipses; er besteht aus einem Bruch- stück des rechten Unterkiefers mit einem vollständigen Fleischzahn. G. Cuvier (Rech. sur les ossemens fossiles, 4me &d., 1835, t. V, 520 Wilekens, Paläontologie der Haustiere. p. 486) der dieses Bruchstück beschreibt und abbildet, glaubt, dass es einem Hunde oder einem Fuchse angehört, aber unter den verschie- denen Arten von Hund fand er keine vollständige Uebereinstimmung zwischen ihren Unterkiefern und jenem Bruchstück; er meint daher, es sei sehr wahrscheinlich, dass der jenem fossilen Unterkiefer ange- hörende Fleischfresser einer heute unbekannten Art angehöre. Benannt hat ©. diese Art nicht, wie er überhaupt sehr vorsichtig war mit der Aufstellung neuer Namen von Gattungen und Arten, selbst wenn die erste Entdeckung einer neuen Form für ihn nicht zweifelhaft war. Unter seinen Nachfolgern aber war der Name Canis parisiensis für jenes Bruchstück der gebräuchlichste, einige Paläontologen nannten es C. Montis- Martyrum (nach der Fundstelle am Montmartre) und Blainville (Osteographie, genre Canis p. 107) ©. Lagopus oder Blau- fuchs (Isatis), weil er der Ansicht ist, dass es mit diesem Tiere die srößte Aehnlichkeit hat, nur ist der Unterkiefer des erstern im all- gemeinen viel stärker und insbesondere der Schnabelfortsatz (l’apophyse coronoide) auffallend breiter; doch bemerkt Bl., dass er seine Ver- gleichung nur mit einer sehr kleinen Zahl von Individuen der leben- den Art machen konnte. Außerdem gedenkt Cuvier (a. a. O. S. 514) nach einer Zeich- nung von Adrien Camper eines Knochens vom Metacarpus mit einem ersten Zehengliede aus den Gipsbrüchen des Montmartre, dessen Maßverhältnisse die eines großen Hundes sind, obgleich das Zehen- glied zu kurz ist. In keinem Falle — meint ©. — kann er zu jenem Unterkiefer gehören; er sei dazu viel zu groß. Die Paläontologen haben diese Gliederknochen dem Canis gypsorum zugeschrieben. Blain- ville (a. a. ©. S. 108) hält den Metacarpus dieses Fossiles für einen Metatarsus und er ist geneigt, ihn einer Art von Katze zuzuschreiben, doch findet er das Zehenglied zu kurz für eine Katze, und er meint, dass es sich in seinen Maßverhältnissen mehr dem Knochen eines Hundes nähert; es habe einige Aehnlichkeit mit dem von ©. campestris. Der Unterkiefer und der Metacarpusknochen aus dem Gips des Montmartre waren die einzigen fossilen Ueberreste, welche Cuvier einem Hunde zugeschrieben hat. Die übrigen Schädelstücke und Gliederknochen aus den älteren Tertiärschichten des Pariser Beckens, welche C. als Teile von Fleischfressern ansah, hat er zuerkannt den Familien der Nasen- und Waschbären (Coatis et Ratons) und einem Tiere von der Gattung der Ginsterkatzen (genettes). Der letzterwähn- ten Gattung reihte C. (a. a. O. S. 496) ein rechtsseitiges Unterkiefer- stück an mit einem vollständigen Fleischzahn und einem Bruchstück des letzten Prämorlarzahnes, das er selbst in dem großen Steinbruche des Montmartre gesammelt hatte. Der große Fleischzahn hat drei sehr scharfe Spitzen, von denen die äußere beinahe um das Doppelte die vordere und die innere überragt, und doppelt so hoch wie breit ist; ihr hinterer Sporn (Talon), der in zwei Spitzen getrennt ist, be- a a A ne 7. Die hundeartigen Tiere des Tertiärs. 521 trägt nicht ein Drittel von der Gesamtlänge des Zahnes. Hinter diesem Fleischzahn befinden sich drei Zahnfächer, von denen die beiden ersten noch Wurzeln enthalten. C. hält es nicht für möglich einen großen Fleischfresser zu finden, der dem zugehörigen Tiere ein wenig ähnlich ist, als unter den Mangusten und Ginsterkatzen; doch haben diese die Spitzen weniger scharf und den Sporn im Verhältnis ein wenig größer als der fragliche fossile Fleischfresser; außerdem hat der kleine Molarzahn, welcher dem Fleischzahn folgt, bei diesem Tiere nur eine Wurzel und ein einziges Zahnfach, während er bei jenen zwei Wurzeln und selbst ein drittes Zahnfach hat. Von allen _ Ginsterkatzen hat bloß die „fossane“ (eine unter diesem Namen mir unbekannte Art) diesen Zahn mit einer Wurzel und einem Zahnfach, doch ist er länger. Ein anderes besonderes Merkmal des fossilen Unterkiefers ist, dass das Loch für den Eintritt des Unterkiefernerven weiter nach vorn gerückt ist als bei den erwähnten Tieren. Obwohl Blainville (a. a. ©. S. 109) nach einer sorgfältigen Untersuchung dieses Fossils die Vergleichungen Cuvier’s als richtig anerkennt, so meint er doch, dass dieses fossile Bruchstück eine Art von Hund anzeige, mehr viverrenartig als diejenigen, welche wir heute nach der Uebereinstimmung des Gebisses kennen. Bl. nennt diese Art Canis viverroides; sie stimmt wahrscheinlich überein mit Galecynus oeningensis O w. Die mioeänen und pliocänen Arten des Hundes sind nach Pietet (a. a. O. S. 202) noch wenig bekannt; sie sind hauptsächlich in der Auvergne gefunden worden. Ihre Beschreibungen sind noch sehr un- vollständig, und es ist selbst nicht immer leicht, sie einer bestimmten geologischen Epoche zuzuweisen. P. erwähnt nur eine miocäne Form: Canis issiodorensis Croizet’s, und eine pliocäne Form: C. borbonidus Bravard’s = 0. megamastoides Pomel’s. Blainville beschreibt zwei miocäne Formen: (©. brevirostris (a. a.0. 8. 122) und C. sssiodorensis (a. a. ©. S. 123). Die erste Art, die Croizet errichtet hat auf zwei Brüchstücken (einem kleinen Stück des rechten Oberkiefers mit drei ziemlich vollständigen Molaren und einem ziemlich großen Stück vom wagrechten Aste des linken Unter- kiefers mit allen Zähnen), stammt aus dem Gergovischen Gebirge. Das Unterkieferstück ist ausgezeichnet durch seine Kürze, die Form der Zähne erinnert an C. cancrivorus. Bl. hält C. bdrevirostris für eine Mittelform zwischen Schakal und Fuchs, die sich nähert den Hundearten mit kurzer erster Zehe. CO. issiodorensis beruht auf zwei Bruchstücken (einem Randstück vom rechten Oberkiefer mit 2 Prä- molaren, 1 Fleischzahn und 2 Molaren, und einem Stück des linken Unterkiefers mit den drei Backenzähnen, die vor dem letzten stehen), wovon das erste aus dem Gebirge von Perrier bei Issoire, das zweite aus dem Gebirge von St. Geran stammt. Das Unterkieferstück zeigt augenscheinlich einige Verschiedenheiten von dem des ©. brevirostris 522 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. durch seine kleinere Form, die höher ist und weniger gebogen an den Rändern; die Zähne sind merkbar stärker, sie nehmen einen weniger großen Raum ein als bei einem Wolfe, selbst von kleiner Gestalt, und sie gleichen denen eines kleinen Schakals oder des (©. brachyteles. Ein rechtes Schienbein, welches Croizet dieser Art zu- schrieb, fand Bl. ausgezeichnet durch seine Sehlankheit oder seine Länge; obgleich durch seine doppelte Krümmung gekennzeichnet, erinnert es etwas an das Schienbein des Schakals, nur ist es größer; Bl. bezweifelt übrigens die Zugehörigkeit dieses Knochens zu (©. issio- dorensis. Pictet (a. a. O. S. 203) meint, dass das Unterkieferstück von ©. issiodorensis wahrscheinlich zur Gattung Amphicyon gehört, das Oberkieferstück, aus dem pliocänen Gebiet der Auvergne, zeigt viel- leicht eine besondere Art an, welche den Namen (. issiodorensis be- halten oder mit C. borbonidus vereinigt werden könne. Canis borbonidus Bravard’s oder ©. megamastoides Pomel’s stammt aus dem pliocänen Gebiet von Issoire. Pomel (Catalogue p. 67) hält diese Art für etwas größer als den Fuchs. Bemerkenswert ist der ausgedehnte Ansatz des Kaumuskels (dilatation sous- masse- terine) des Unterkiefers, der ein sehr markiertes Kinn bildet an seinem untern Rande. Der Schädel ist an seinem Gehirnteile länger als beim Fuchs und viel weniger verengt hinter den Augenhöhlen, deren Oeff- nung weniger nach oben sieht. Die Schläfenfirsten vereinigen sich kurz bevor sie das Hinterhaupt erreichen. Die obern Höckerzähne sind innen sehr breit und rundlich; der Fleischzahn ist sehr kurz und sein zweiter Lappen ist wenig vorragend. Die Prämolaren stehen ziemlich weit auseinander, und die Schnauze muss wenig verschieden gewesen sein von der des Fuchses. P. hält C. megamastoides nicht nur übereinstimmend mit ©. borbonidus Brav., sondern auch mit ©. issiodorensis Cr 012. Ueber ©. drevirostris Croiz. bemerkt Pomel (a. a. O. S. 68): dass diese Art beinahe dieselbe Gestalt und viel Aehnlichkeit habe mit der vorigen in den Verhältnissen seiner Fleisch- und Höckerzähne, nur sind diese verhältnismäßig ein wenig stärker. Der obere Fleisch- zahn ist dicker, sein innerer Sporn größer und er steht mehr rück- wärts am vordern Rande. Die unteren Höckerzähne haben keine Kerben an der Firste, welche ihre Krone umsäumt. Die Glieder- knochen scheinen ihm sehr ähnlich zu sein denen von Amphicyon. Aus den pliocänen Schichten von Pikermi bei Athen beschreiben Joh. Roth und Andr. Wagner („Die fossilen Knochen - Ueberreste von Pikermi“ in Abh. d. k. bayr. Akademie d. Wiss., I. Kl, VII, Abt. 2, S.28) ein Schädelbruchstück mit den drei letzten, bereits be- schädigten Höckerzähnen, welches sie einer besondern Art — Canis lupus primigenius — zuschreiben; diese Art unterscheidet sich nur durch die geringere Breite des Gaumens von (©. spelaeus und C. lupus; 7. Die hundeartigen Tiere des Tertiärs. 525 sie nähert sich in der Größe dem Wolfe. Später fand sich von diesem Tiere ein ganzer Schädel mit Unterkiefer, den die genannten Forscher („Neue Beitr. z. Kenntnis der foss. Säugetier-Ueberreste von Pikermi“ in Abh. d. k. bayr. Akad., Kl. II, Abt. 1, S. 15) unter dem Namen Pseudocyon robustus beschreiben, weil dieser Schädel durch die Zahl und Form der Zähne, durch seine kräftige, gedrängte, im Schnauzen- teil sehr verkürzte Form, durch seinen breiten, aber kurzen Gaumen und die buckelige Wölbung der Stirngegend eine von dem Hunde- schädel sehr verschiedene Gestalt erlangt hat. Das Gebiss hat zwar Aehnlichkeit mit dem des Hundes, aber die Lückenzähne sind in ge- ringerer Anzahl (es ist im Ober- und Unterkiefer ein Lückenzahn weniger vorhanden) oder doch wenigstens in geringerer Ausbildung vorhanden. Pseudocyon robustus scheint am nächsten zu stehen Amphi- cyon minor de Digoin und R. und W. meinen, dass diese Art, welche sich von A. major wesentlich unterscheidet, zur Gattung Pseudocyon!) gehört. Die Caniden Nordamerikas treten in zahlreichen Formen erst auf im Mittelmiocän, in der sogenannten John Day-Epoche. Die älteste, bisher bekannt gewordene Form (aus dem Eocän von Wyoming) scheint Dromocyon vorax zu sein, ein Tier ungefähr von der Größe eines großen Wolfes, dessen fast vollständiges Skelet im Yale Museum zu New-Haven (Connectieut) aufbewahrt ist. O.C. Marsh (The Amer. Journ. of sc. and arts, 1876, XII, p. 403) sagt, dass die Form des Schädels und das allgemeine Merkmal der Kiefer und Zähne ähnlich sei denen der Gattung Hyaenodon. Die Zahl der Backenzähne im Unterkiefer ist sieben und der letzte ist klein. Die Oberfläche des Schädels trägt einen ungewöhnlich großen Scheitelkamm, das Gehirn war klein und zusammengedrängt (convoluted); der Unterkiefer ist lang und schlank und die Gelenkfortsätze desselben sind niedrig. Der Oberschenkel hat einen kleinen dritten Umdreher (trochanter) und das Sprungbein eine Gelenkfläche für das Würfelbein. Das Tier hat vorn und hinten vier Zehen. Jos. Leidy („The ext. mammal. Fauna of Dakota and Nebraska“ in Journ. of the Acad. of nat. sc. of Philadelphia, 1869) beschreibt mehrere Arten von Amphiceyon und Hyaenodon. Die Ueberreste von zwei Arten der erstern Gattung wurden gefunden, zusammen mit Resten von Oreodon, in den Kalkmergel-Lagern der Mauvaises Terres des White River von Dakota. Die eine Art, 4. vetus, bestehend aus einem unvollständigen Schädel und mehreren Unterkieferstücken, näherte sich an Größe dem Präriewolf, Canis latrans, doch hatte jene 1) Die Gattung Pseudocyon von Roth und Wagner aus dem Pliocän von Pikermi ist nicht zu verwechseln mit der oben erwähnten Gattung Pseudocyon Lartet’s aus dem Miocän von Sansan. Lartet scheint von dem Dasein eines Pseudocyon in den pliocänen Schichten von Pikermi keine Kenntnis gehabt zu haben. 524 Wilekens, Paläontologie der Haustiere. Art einen kleinern Schädel, stärkere Kiefer und kleinere und zahl- reichere Zähne, nämlich jederseits drei Höckerzähne. Die andere Art, A. graeilis, beruht auf einem kleinen Bruchstück vom Unterkiefer, dessen Form viel kleiner ist als der von der vorigen Art. Hyaenodon kennzeichnet Leidy als ein Tier, das die Merkmale in sich vereinigt von Wölfen, Katzen, Hyänen, Wieseln und den kleineren Zehentretern, und das außerdem noch Aehnliehkeit hat mit den fleischfressenden Beuteltieren; er beschreibt drei verschiedene Arten aus den Mauvaises Terres: H. horridus ist die größte Art, von der Taf. 3 ein gewaltiger Schädel mit sehr kräftigem Gebiss abgebildet ist, dessen Gesamtform irgend einem jetztlebenden Tiere durchaus unähnlich ist; ihrer Gestalt nach steht diese Art zwischen Wolf und Opossum; in Vergleich mit dem Schädel des schwarzen Bären von annähernd gleicher Größe ist dieser Schädel kürzer und schmäler, das Gesicht länger und schmäler, aber höher. Die Zahl der Zähne ist dieselbe wie beim Wolf; die Molaren sind bemerkenswert durch das Fehlen der sogenannten Höcker- form und der Fleischzahn steht jederseits hinter zwei kleinen Molaren. H. eruentus, bestehend aus einem Unterkiefer-Bruchstück, war zwischen einem Viertel und Drittel kleiner als die vorige Art, aber etwas größer als A. drachyrhynchus von Frankreich; die Zähne stammen in Form und Verhältnissen überein mit denen von H. horridus. Die dritte Art, H. erucians, war kleiner als H. leptorhynchus von Frank- reich, aber etwas größer als der lebende Rotfuchs, ©. fulwus; der Schädel dieser Art erscheint in seinem hintern Teile verhältnismäßig länger und geräumiger als von A. horridus, während der vordere Teil kürzer und weniger geräumig ist; Vorkopf und Gesicht haben dieselbe Form wie bei der ersten Art. Mit dem Namen Sinopa bezeichnet Leidy („Contributions to the extinet vertebrate Fauna of the western Territories“, 1873, p. 116) eine Gattung, die in Beziehung steht zur Familie der Caniden; sie hat ungefähr die Größe des Graufuchses (©. ceinereo-argentatus). Nach dem Gebiss nimmt sie eine Mittelstellung ein zwischen der lebenden Gattung Hund und Hyaenodon. Die Art S. rapax beruht auf einem Unterkiefer-Bruchstück mit zwei Zähnen und Teilen von zwei an- deren aus der Bridger Tertiärschicht von Wyoming; die beiden voll- ständigen Zähne scheinen übereinzustimmen mit dem letzten Prämo larzahn und dem Fleischzahn des Fuchses, und die beiden Zahnreste scheinen Höckerzähne zu sein, deren Kronenform mehr ähnlich ist der eines Hyaenodon als des Fuchses. Eine zweite kleinere Art, be- stehend aus einem Unterkiefer-Bruchstück mit zwei Zähnen, erhielt den Namen $. eximia. Eine neue Gattung, die auf zwei, verschie- denen Arten zugeschriebenen Unterkiefer - Bruchstücken beruht, nennt Leidy (a. a. O. S. 118) Uintacyon, die Arten U. edax und U. vorax. Die Unterkieferstücke und Zähne gleichen den entsprechenden Teilen des lebenden Fuchses, aber das zugehörige Tier war nur von etwa 7. Die hundeartigen Tiere des Tertiärs. 525 der halben Größe des gemeinen Fuchses und es besaß acht Backen- zähne (5 Prämolaren und 3 Molaren), weshalb L. es für „probably marsupial“ hält; in der That gleichen die Taf. 27 Fig. 6 und 11 ab- gebildeten Unterkieferstücke eher dem eines Beuteltieres. Von der Gattung Canis beschreibt Leidy (Dakota and Nebraska p- 28—30) vier Arten aus den pliocänen Sanden des Niobraraflusses. C. saevus ist ähnlich, wenn nicht der Vorfahr des lebenden ameri- kanischen Wolfes, ©. occidentalis; zwei Unterkiefer -Bruchstücke glei- chen in Form, Verhältnissen und Größe den entsprechenden Teilen der großen Varietät dieses Wolfes. C. temerarius ist eine unterge- gangene Art von Wolf oder vielleicht von Fuchs; zwei kleine Unter- kiefer-Bruchstücke stehen an Größe zwischen den entsprechenden Teilen des Prairiewolfes, C. latrans, und des Rotfuchses, ©. fulvus, und sie stimmen mit ihnen überein in Form und Verhältnissen. ©. vafer ist eine zweifelhafte erloschene Art von Fuchs; der größere Teil von beiden Hälften eines Unterkiefers ist ähnlich dem entspre- chenden Teile des Swift-Fuchses, ©. velox. Von C. Haydeni ist ein rechtsseitiges Unterkiefer-Bruchstück erhalten, das dieselbe Form hat wie der entsprechende Teil des amerikanischen Wolfes, ©. occiden- talis, oder des europäischen Wolfes, C. Zupus, nur sein aufsteigender Ast zeigt eine verhältnismäßig kürzere Entfernung von dem hintern Rande des Fleischzahnes; das zugehörige Tier war kräftiger als irgend eine der lebenden Arten. Eine fünfte Art von Canis beschreibt Leidy (Contributions p. 230) unter dem Namen ©. indianensis; von derselben wurde der rechte Ast eines Unterkiefers mit vollständigen Backenzähnen gefunden in den Tertiärschichten westlich vom Missis- sippi-Flusse (ohne nähere Angabe); das zugehörige Tier war ein Wolf, größer als irgend eine lebende Art in Nordamerika, kleiner als ©. Haydeni, aber größer als C. salvus, und es war vielleicht nicht verschieden von dem lebenden ©. occidentalis. Unter dem Namen Aelurodon fero«*) beschreibt Leidy (Dakota and Nebraska p. 68) einen einzelnen obern Fleischzahn von einem Tiere, das gleich, wenn nicht größer war als die größte Varietät des lebenden amerikanischen oder des europäischen Wolfes. Es gehört vielleicht zu demselben Tiere, wie der dem Canis Haydeni zugeschrie- bene Unterkiefer, doch erscheint seine Größe zu gering im Verhältnis zu dem Fleischzahn des letztern. Das Merkmal des Zahnes steht zwischen dem der Wölfe und Katzen. Größer als in der größten Varietät des lebenden Wolfes von Amerika oder Europa, nähert er sich an Größe dem der kleineren Individuen des bengalischen Tigers; seine Krone ist länger, aber nicht so breit wie bei diesem, die bei- den Maße haben mehr das Verhältnis zu einander wie beim Wolfe. Er besitzt ein Nebenläppchen vor der Hauptspitze, wie die Katzen, aber verhältnismäßig schwächer entwickelt als beim Tiger. 1) Der Gattungsname kommt von «ilovoos Katze und odovs Zahn, 596 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. J. A. Allen beschreibt (Amer. Journ. of se. and arts, 1876, XI, p. 47) die Ueberreste — bestehend aus den Knochen eines Ober- schenkels, zweier Schienbeine und eines Oberarmes — einer er- loschenen Art von Wolf, die er Ü©. Mississippiensis nennt, aus der „Lead Region“ des obern Mississippi. Das zugehörige Tier war nahezu, wenn nicht zweimal größer als der lebende große Wolf der nördlichen Halbkugel (Canis lupus) und es hatte eine Gestalt, völlig um ein Fünftel größer !); der Unterschied in der Größe zwischen bei- den war nahezu so groß wie zwischen €. lupus und ©. latrans. Die Form der Knochen unterscheidet sich nicht bemerkbar (appreeciably) von derjenigen des Canis lupus. Ueber die Caniden der untermioeänen White River- und der obermiocänen Loup Fork - Periode hat Cope berichtet in dem Bulletin of the Un. St. geol. and geogr. Survey 1881, vol. VI. Nr. 1. p. 177 und Nr. 2. p. 5387. Eine vollständige Uebersicht gibt er („On the extinet dogs of North- Ameriea“) im Amer. Naturalist, 1883, vol. XVII, p- 235. Cope unterscheidet hier neun Gattungen mit 25 Arten von nord- amerikanischen Caniden mit folgenden Hauptmerkmalen: I. Backenzahnformel { Prämolaren, -- Molaren. Oberarm mit Ellenbogengrubenloch (epitrochlear foramen) Amphieyon. II. Backenzahnformel - . a) Kein Vorderlappen am obern Fleischzahn. b) Oberarm mit Ellenbogengrubenloch. Unterer Fleischzahn mit scharfem Sporn (heel). . . . Temnocyon. Unterer Fleischzahn mit beekenförmigem Sporn . . . Galecymus. bb) Oberarm ohne Ellenbogengrubenloch. Unterer Fleischzahn mit beekenförmigem Sporn . . . Canis. aa) Vorderlappen am obern Fleischzahn. Sporn des untern Fleischzahns beckenförmig; kein Ellen- bBogengrubenloch in: 2 "BIN RR Aelnrodon: Ill. Backenzahnformel . 2 Sporn des untern Fleischzahns scharf; Prämolaren hin- tenfeelappt. ig: EEE Enhydrocyon. Sporn des untern Fleischzahns beekenförmig; obere Mo- larensunbekannt oa EBRERRRNN Tomareiue: IV. Backenzahnformel & — 1) Im Original lautet diese etwas unklare Beschreibung: „The remains — indicate a species of nearly if not quite twice the bulk of the existing large wolf of the northern hemisphere, and which had a stature fully one-fifth greater“. 7. Die hundeartigen Tiere des Tertiärs. 597 Sporn des untern Fleischzahns beckenförmig; innere Spitzesvorbandeni an. al na 20/2 gobumis, V. Backenzahnformel = 2 Prämolaren gelappt; vorderster unterer zweiwurzlig . . Hoyaenocyon. Von Amphicyon Lart. kommen in Amerika drei Arten vor: A. cuspigerus, klein, nicht größer als der Prairiefuchs (kit-fox); A. hard- shornianus, etwa von der Größe des Coyote; A. vetus Leidy’s, etwas größer als der vorige. Die Gattung Temnocyon Gope’s unterscheidet sich von Canis durch zwei Merkmale: erstens durch eine scharfe Schneide auf der Oberfläche des Sporns vom untern Fleischzahn, zweitens durch das Loch in der Ellenbogengrube, ein Merkmal, das allen bisher be- kannten nordamerikanischen Caniden des untern Miocäns gemeinsam ist. Unterschieden werden drei Arten: T. altigenis, so groß wie ein Wolf; T. wallovianus mit einem kürzern und breitern Kopf; 7. cory- phaeus, so groß wie der Coyote und sehr reichlich vertreten in der mittelmiocänen John Day-Periode in Oregon. Die Gattung Galecynus Owen’s ist in Nordamerika während der untermiocänen White River-Periode vertreten durch die Art @. gre- garius und während der mittelmiocänen John Day-Periode durch die Arten @. geismarianus, etwas kleiner als der Graufuchs (Vulpes ver- ginianus), V. latidens und V. lemur; die letztere Art ist ausge- zeichnet durch die sehr großen Augenhöhlen und Gehörblasen, woraus Cope auf ihre nächtliche Lebensweise schließt. Allen diesen Arten gemeinsam ist die geringe Größe der Fleischzähne. Zur Gattung Canis gehörig führt Cope als die älteste ihm be- kannte Art an: C. dbrachypus aus der Ticholeptus-Epoche des Terri- torium Wyoming; sie hat ungefähr die Größe des Coyote, aber die kleinsten Fleischzähne von allen primitiven Caniden; ihre Füße sind kleiner als die des Coyote und ihr Scheitelkamm ist mehr erhöht. Wahre Hunde sind zahlreich in den obermiocänen Loup Fork-Lagern. C. führt die von Leidy beschriebenen Arten an: C. vafer, C. teme- rarius und ©. Haydeni; die letztere könnte ein Aelurodon sein, denn die oberen Zähne sind nicht bekannt. Als eine besondere Art aus dem Pliocän von Neu-Mexiko führt C. an: C. ursinus‘); sie besitzt sroße Fleisehzähne und große untere Höckerzähne, welche den Ver- dacht erwecken, dass, sobald die obere Bezahnung bekannt sein wird, diese Art sich als Amphycion erweisen wird. Der Unterkiefer kenn- zeichnet sich durch die große Ausdehnung der Kaumuskelgrube (masseterie fossa), die sich nach vorn bis unter die Mitte des Fleisch- zahnes erstreckt. Canis lupus (der Wolf) und (©. latrans (der Coyote) 4) Diese Art ist von Cope zuerst ausführlich beschrieben in den Proceed. of the Acad. of nat. sc. of Philad., 1875, II, p. 256 u. Rep. up. Un. St. geogr, Surv., vol. IV, 1877, p. 304. 528 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. sind gefunden worden in Plioeän- oder Egwus-Schiehten. Von diesen Arten stammen nach C. mehrere Haushunde ab. Von Tomarctus ist es ungewiss, ob zwei oder drei Prämolaren vorhanden sind. Die einzige Art, 7. brevirostris, aus den Loup Fork- Lagern von Colorado, hat Zähne so groß wie der Coyote, aber ihr Unterkiefer ist kürzer und schlanker. Die Gattung Aelurodon unterscheidet sich von Canis allein durch das. Vorkommen eines scharfen Vorderlappens am obern Fleischzahn. C. unterscheidet drei Arten: A. saevus, A. wheelerianus (Canis C ope) und A. hyaenoides; bei der letztgenannten, von Cope aufgestellten kleinsten Art ist der Fleischzahn mehr dem der Hyäne ähnlich. In allen drei Arten sind die Prämolaren sehr kräftig wie bei den Hyänen; der zweite Metakarpalknochen hat nach seiner innern Oberfläche eine Muskelrauhigkeit — wie sie beim Hunde vorkommt, aber den Hyänen fehlt — welche fünf Zehen am Vorderfuße anzeigt, das all- semeine Merkmal der Caniden. Aerulodon ferox und Canis saevus Leidy’s gehören nach €. zur selben Art. Die Gattung Enhydrocyon Cope’s ist durch eine einzige, ziem- lich große Art vertreten, E. stenocephalus. Die Gesamtform des Schädels gleicht der eines Otters, er hat aber einen hohen Scheitel- kamm; der abgebildete, fast vollständige Schädel stammt aus den John Day-Lagern von Oregon. Die Ueberreste von Hyaenocyon von derselben Fundstätte zeigen viel mehr entwickelte Fleischzähne als die der vorigen Art; sie sind ähnlich denen der am meisten spezialisierten Caniden, denen auch der obere Höckerzahn größtenteils gleicht. C. unterscheidet zwei Arten: H. sectorius von der Größe des Coyote, aber kräftiger, und H. basilatus, größer als die vorige Art. Die Gattung Oligobunis Cope’s hat die Zahnformel der gegen- wärtig lebenden neutropischen Gattung Icticyon, aber sie unterschei- det sich von ihr durch die Form des untern Fleischzahnes, welche die der meisten miocänen Arten ist, während bei Ieticyon die innere Spitze fehlt und der Sporn scharf ist. Der Schädel hat ungefähr die Größe des Vielfraßes (Gulo luscus) und er ist von kräftiger Form. Die Eekzähne sind mächtig entwickelt und sie zeigen hervorragende Raubtier-Eigenschaften an. Die einzige bekannte Art ist O. erassi- vultus aus den John-Day-Lagern von Oregon. Cope hält Amphieyon und Gulecynus für die ältesten Caniden, welche das unterste Miocän und wahrscheinlich auch das obere Eocän kennzeichnen. Die Gattung Canis erscheint zunächst in Europa, wahrscheinlich im Mittelmiocän. In Amerika gehen die Gattungen der mittelmiocänen John-Day-Periode der Gattung Canis voraus; ©. zählt zu diesen Temnocyon, Enhydrocyon, Hyaenocyon und Oligobunis, welche Zeitgenossen waren. 4elurodon erscheint später als Canis im Obermiocän und im Loup Fork. Canis ist die herr- Danilewsky, Zur Parasitologie der Blutes. 529 schende Gattung in der Gegenwart, wie Galecynus im Miocän. Dass die letztgenannte Gattung mit ihren zahlreichen Arten, den gegen- wärtigen Arten von Canis den Ursprung gegeben hat, wie Filhol meint, ist ganz und gar wahrscheinlich. Im Verlaufe der paläontologischen Entwicklung zeigen die Cani- den eine Vereinfachung in der Zahl der Höckerzähne, während die Fleisch- und Eekzähne allmählich größer werden. Mit dieser Ver- einfachung ist nach Cope (On the genera of Felidae and Canidae in Proceed. of the Acad. of nat. se. of Philad. 1879, II. p. 193) eine Verkürzung des Gesichtsschädels verbunden, sowohl vorn wie hinten; Enhydrocyon ist ein Beispiel von vorderer, Jctieyon von hinterer Ver- kürzung des Gesichtsschädels. M. Wilckens (Wien). Zur Parasitologie des Blutes. Von Prof. B. Danilewsky in Charkow. Im Blute mancher Tiere kommen unter ganz normalen Verhält- nissen verschiedene Parasiten vor, welche vermutlich sämtlich (aus- genommen Bakterien-Formen und Würmer) zu den Sporozoen und Flagellaten gehören. Besonders bei Kaltblütern trifft man sie sehr häufig und mitunter sehr zahlreich vertreten an. Es ist wohl zu behaupten, dass die Hämatozoen oder ihre Keime auf dem Wege des Nahrungskanals in das Biut gelangen. Eine sehr wichtige Rolle dabei gebührt wahrscheinlich den Leukocyten (Amöbo- eyten, Lymphzellen), welche jene Keime aus der Darmhöhle in die Blutbahn zu übertragen im stande sind. Mit dieser Hypothese steht im vollen Einklange die Thatsache des Vorkommens der Hä- mocytozoa, d. h. von Parasiten, welche im Innern der roten Blut- körperchen sich entwickeln, und zwar vermutlich aus Keimen, die von den Leukoeyten als Vorstufen der betreffenden Hämocyten schon vorher aufgenommen wurden. Dabei wird vorausgesetzt, dass jene Keime erst nach der entsprechenden Umwandlung des Leukocytes (Entstehung des Hämoglobins, Verlust der biologischen Eigenschaften eines amöboiden Gebildes u. s. w.) günstige Bedingungen zu ihrer Entwicklung vorfinden. In der That habe ich bis jetzt fast gar keine „Leucoceytozoa“ (z. B. Drepanidien, Hämogregarinen) weder beim Frosch, noch bei den Schildkröten oder Eidechsen beobachtet. In Gegenteil, in weißen Blutkörperchen mit stark ausgesprochen amöboiden Eigenschaften („Hämamöboeyten“) findet man oft stark lichtbrechende gelbliche runde ziemlich große Körnchen oder stäbchen- artige Gebilde, welche zu den Keimen der parasitierenden Protozoen wohl eine enge Beziehung haben. Im Blute mancher Kaltblüter kommen rundliche helle mit oben erwähnten größeren Körnchen erfüllte „Leu- 34 530 Danilewsky, Zur Parasitologie des Blutes. koeyten“ mitunter mit einem deutlichen runden Kern vor, welche wahrscheinlich parasitäre Gebilde sind (siehe weiter unten). Als die „Wirt-Tiere“ für die unten zu beschreibenden Blutpara- siten sind hauptsächlich folgende zu bezeichnen: Frosch, Schild- kröte, Eidechse; weiter einigeFische, Vögel und Säugetiere (Hamster, Ratte u. a.). — Die wichtigsten bei ihnen aufgefundenen Hämatozoen sind: verschiedene Varietäten von Trypanosoma (inelus. Undulina, Haematomonas), Drepanidien, Hämogregarinen; weiter Herpetomonas, Hexamitus und andere vorläufig noch nicht näher definierbare Hämatozoen der Vögel und der Eidechse. In den folgenden Notizen seien einige wesentliche Ergebnisse meiner hämatozoologischen Studien über die oben erwähnten Blut- schmarotzer mitgeteilt; ausführlicher werde ich später darüber be- richten. Il. Trypanosoma sanguinis (Gruby). Dieser Parasit gehört zu den Flagellaten (Monadina — Bütschli); er kommt im Blute von Rana esculenta, R. temporaria, Hyla arborea, Froschlarven und von manchen Fischen vor, und zwar in verschie- denen Varietäten (mindestens 6). Der Unterschied zwischen den- selben bezieht sich hauptsächlich auf die Form und Größe des Leibes; aber die charakteristischen Merkmale (Nucleus, undulierende Membran und Geißel) treten mehr oder weniger deutlich bei sämtlichen Varie- täten hervor. Man kann auch mehr oder weniger entwickelte oder vollkommenere Formen unterscheiden je nach dem Grade der Dif- ferenzierung der undulierenden Membran vom Stamm des Körpers, je nach der Veränderlichkeit der Körpergestalt, je nach der Art der Vermehrungsvorgänge u. s. w. — Im allgemeinen erweist sich Try- panosoma als ein äußerst bewegliches, reges, nackt -protoplasmatisches Protozoon von einfachster Struktur: längs dem fast homogenen Körper seht eine hyaline undulierende Membran, deren eines Ende in eine Geißel sich fortsetzt; in der Mitte des Körpers befindet sich ein run- der Kern mit einem hellen Hof umgeben. Weiter kann als eine all- gemeine Eigenschaft, welche allen Trypanosoma-Arten zukommt, eine Neigung zu schraubig-welligen Bewegungen und Zusammen- drehungen des Körpers bezeichnet werden. Beim Frosche darf man folgende vier hauptsächliche Formen unterscheiden. 1) Die Grundform dieses Hämatozoons bildet die „einfachste — membranöse“; sie besteht aus einem homogenen hellen plattförmigen Körper, welcher ohne sichtbare Grenze unmittelbar in die undulierende Membran übergeht; seinerseits setzt sich die letztere in einer langen welligen Geißel fort. Diese Varietät ist äußerst beweglich und von veränderlicher Gestalt. — Der Nucleus bleibt meist unsichtbar. 2) Die zweite Form („platt-zusammengerollte“) besteht auch aus einer protoplasmatischen Membran, welche schnecken- Ar 3 Zi ch a Ted 2 " el a nme & 0. Zn Ze Sn Zu 4 2 U ern u ee ee u Ye ET Danilewsky, Zur Parasitologie des Blutes. 531 artig um ihre Queraxe herum zusammengerollt ist, so dass eine trich- terförmige (oder filterförmige) Form entstanden ist. Längs des obern breitern Randes zieht sich die undulierende Membran hin. — 3) Die dritte Varietät („Sach-spiralige“) hat einen etwas flachen zu- sammengedrückten lang-konischen Leib, welcher in ein hinteres steifes stark zugespitztes Ende übergeht; der ganze Körper ist beinahe in einer Fläche spiralartig gewunden; die undulierende Membran breitet sich nicht längs des ganzen Körpers aus, sondern nur am vordern breitern abgeplatteten Ende. — 4) Die vierte Form („kammartig- spiralig-gewundene“) besitzt als Charakteristikum eine kammartige Oberfläche ihres Körpers (wie die Schale einer Kammmuschel). Der Körper selbst besteht aus einer ziemlich abgeplatteten Substanz, welehe mehr oder weniger vollkommen um seine Längsaxe herum spiralig zusammengerollt ist. Dies Gebilde hat ein birn- oder sack- förmiges Aussehen; längs des einen Randes des Leibes resp. der Spalte zwischen beiden einander zugekehrten Rändern, welche in das Innere des Leibes führt, befindet sich eine ziemlich schmale undu- lierende Membran, welche ganz deutlich vom Leibe differenziert ist. Die Geißel ist verhältnismäßig wenig entwickelt. — Ist das Zusam- menrollen des blattartigen Leibes vollkommen, d. h. sind seine einan- der berührenden Ränder miteinander verschmolzen, so findet sich keine spaltförmige Lücke vor, und in diesem Falle verbreitert sich die ziemlich große undulierende Membran am vordern breiten Ende des Körpers. Diese letztbeschriebene Modifikation („Füllhornform“) gehört zu den schönsten Formen der Protozoen überhaupt. — Die geometrisch - genaue Wellenbewegung der undulierenden Mem- bran ändert ihre Richtung je nach der Lokomotion des ganzen Kör- pers: die Wellen beginnen stets am vordern Ende, unabhängig davon, ob dies das geißeltragende Ende ist ‘oder das entgegengesetzte freie. Alle oben beschriebenen Formen besitzen 1) eine hyaline fast ganz untingierbare sehr dünne undulierende Membran, 2) eine mehr oder weniger lange wellige Geißel, welche von ersterer abgeht, und 3) einen einzigen kugligen Nucleus mit Hof, welcher manchmal fast ganz unsichtbar ist. Ueber die morphogenetischen Beziehungen zwi- schen den oben beschriebenen Formen kann man vorläufig nur Ver- mutungen aufstellen. In keinem Falle gelang es, einen direkten Uebergang irgend einer Varietät in eine andere unmittelbar zu beo- bachten. Anderseits aber muss man beachten, dass man im Blute von Fröschen zuweilen einige nicht so typisch gestaltete Trypano- somen (wohl Uebergangsformen) trifft. Das bezieht sich besonders auf kleinere jüngere Gebilde (z. B. im Nierenblut). Vergleicht man nun die Trypanosomen von Fröschen mit denen der Fische und Vögel (s. unten), so kommt man zu dem sehr wahrscheinlichen Schlusse, dass die verschiedensten Trypanosoma-Arten eine gesonderte Gruppe 34* 532 Danilewsky, Zur Parasitologie des Blutes. Undulo-Flagellata (im'Anschluss an Choano-Flagellata) bil- den mögen. In Blutpräparaten, d. h. bei vollkommener Ruhe der Blutteilchen, zeigen die Trypanosomen sehr interessante Metamorphosen, welche bei den einzelnen Formen etwas verschieden verlaufen. Die „ein- fachste-membranartige“ nimmt allmählich eine kuglige Form an, wo- bei unter stetigen äußerst regen Bewegungen ohne Fortbewegung von der Stelle die undulierende Membran abnimmt und umgekehrt das Flagellum an Länge schnell und stark zunimmt. Schließlich ver- schwindet erstere vollkommen, und es bleibt nur eine protoplasma- tische rasch sich drehende Kugel mit außerordentlich langer, wellig- beweglicher Geißel (10—15 mal länger als der Durchmesser der Kugel). Nach mehr oder weniger Zeit wird das Flagellum abgerissen und abgeworfen, wobei es — natürlich schon regungslos — wellenartig sich hinlegt; die Kugel bleibt still stehen. Nach Verlauf von mehreren Minuten (5—10) bildet sich letztere zu einem eiförmigen Protoplasma- klümpehen um, welches jetzt ohne Pseudopodien sich zu rühren und sehr langsam vorzurücken anfängt (Amöboid-Stadium). Es kommt jetzt manchmal zur Bildung ziemlich langer sich verengernder Fort- sätze (1—2), so dass das metamorphosierte Gebilde eine birnförmige Gestalt annimmt. Gleichzeitig erscheint eine ziemlich große nicht kontraktile Vakuole, welche mit der Zeit langsam ihre Dimensionen ändert. Bei dem „kammartig-gewundenen“ Trypanosoma wurde die be- treffende Metamorphose viel weiter systematisch verfolgt. Sie fängt zuerst auch mit einer kugelförmigen Gestalt an, indem die undu- lierende Membran (und Geißel) allmählich eingezogen wird, ohne auf die Verlängerung des Flagellums verwendet zu werden, was hier überhaupt nicht geschieht. Jetzt tritt der Nucleus gewöhnlich sehr deutlich hervor. Das so metamorphosierte Haematozoon bleibt ganz regungslos liegen; seine Substanz sieht viel mehr körnig aus als bei der „einfachsten“. Nach Verlauf von 10—20 Minuten kommen sicht- bare Aenderungen zuerst im Kern vor: er wird mehr und mehr läng- lich, weniger deutlich (unter Verschwinden des Hofes) und teilt sich schließlich deutlich sichtbar durch quere Einschnürung in zwei klei- nere Nuclei. Nun schiebt sich das körnige Protoplasma zwischen diese ein, und auf diese Weise werden beide neu entstandene Kerne auseinandergetrieben. Dementsprechend geschieht demnächst die Zweiteilung der ganzen protoplasmatischen Kugel durch zwei ein- fache allmählich sich vertiefende Einkerbungen. Während der vollen Trennung beider Hälften werden die Kerne noch deutlicher und nun kommen auch ihre Höfe sichtbar zum Vorschein. — Nach einer Pause von mehreren Minuten folgt darauf die weitere ganz ähnliche Seg- mentation (auf 4—8—16 u. s. w), welche stets von den Kernen an- fängt, insoweit diese noch sichtbar waren. Auf diese Weise entsteht BD ed ar u ee nn ee [2 {2} Danilewsky, Zur Parasitologie des Blutes. 533 schließlich ein Haufen von zahlreichen (manchmal bis 64 und noch mehr) kleinen Kügelchen, welche aus Polio- und Hyaloplasma bestehen. Weitere Beobachtungen (unter günstigen Bedingungen) zeigen, dass jene Segmentationskügelchen bald eine Umformung be- kommen, indem sie unter deutlicherer Trennung der körnigen und hyalinen Substanzen etwas länglich und selbst spindelförmig werden; der hyaloplasmatische Theil scheint etwas abgeplattet zu werden, und schließlich mehr und mehr sich verengernd bildet er ein kleines bewegliches Flagellum. Das sind die jungen Trypanosomen — noch ohne sichtbaren Nucleus und undulierende Membran; sie zeigen sich als die einfachsten Monaden, so dass dieses Stadium, welches anscheinend ziemlich lange dauert, wohl mit der Bezeichnung als Trypanomonas ranarum belegt werden darf. — Die weitere Fortbil- dung besteht in einer allmählichen Differenzierung der undulierenden Membran aus hyalinem Teile des Körpers und in Vergrößerung der Körpermasse. Solche sich weiter entwickelnde Formen kann man besonders im Nierenblut manchmal zahlreich auffinden. Die ersten Bewegungen des Flagellums sind schon deutlich wellenförmige und sehr rege. — Die Trypanomonaden vermehren sich weiter und ziem- lich rasch durch Längsteilung, welche von der Geißel ab durch seine Längsspaltung deutlich beginnt. Daraus ist das Vorkommen von Ge- bilden mit zwei gleichwertigen Geißeln leicht erklärlich. Außer diesem Vermehrungsmodus findet noch eine direkte Zwei- teilung des Trypanosoma (des „einfachsten“), und zwar in querer Richtung statt, indem der abzuschnürende Teil vorerst eine halb- kuglige Form annimmt; die undulierende Membran wird dabei in diesem Teile eingezogen. Am entgegengesetzten Ende dieses Teiles bildet sich schnell ein zweites Flagellum. Das schon abgetrennte Gebilde besteht also aus einer fast homogenen birnförmigen proto- plasmatischen Masse mit einer welligen Geißel; undulierende Membran und meist auch Nucleus werden vorläufig nicht sichtbar. Durch seine äußere Gestalt, Struktur und rege schwankende Bewegungen ähnelt ein junges Aaematozoon sehr den einfachen eingeißeligen Monaden. Ich habe auch zuweilen Knospenbildung bei Trypanosoma beo- bachtet; die Knospen waren von derselben Gröfse und ähnlichem Aussehen wie jene Segmentationskügelchen und zeigten amöboide Gestaltsänderungen. Leider aber wurde ihre weitere mutmaßliche Umbildung in Trypanosoma, resp. Trypanomonas vermisst, sodass man vorläufig nicht behaupten kann, dass es hier in der That um eine echte Knospenbildung als Vermehrungsmodus sich handelt. In allen Stadien bezw. im Ruhezustande sämtlicher Trypanosoma- Arten, die in Blutpräparaten untersucht wurden, wurde keine zwei- fellose Cystenbildung z. B. vor der Segmentation bemerkt. Danilewsky, Zur Parasitologie des Blutes. ww rs nz Was nun das Trypanosoma piseium (Cyprinus Carpio, Cyprinus tinca, Cobitis fossilis und C. barbatula, Esox lucius, Perca fluviatilis und andere) betrifft, so bietet es hauptsächlich zwei Formen, welche besonders durch viel kleinere Dimensionen und selteneres Vorkommen von denen bei Fröschen sich unterscheiden: 1) die „einfache“, schmale längliche, aus ganz hyalinem Protoplasma bestehende, bandartige, außerordentlich rege, wellenförmig bewegliche, mit einer Geißel; dies Haematozoon sieht aus, als ob es bloß aus einem Streifehen von un- dulierender Membran mit Geißel bestände; (Nucleus unsicher); keine Differenzierung der undulierenden Membran vom Leibe. — 2) Die zweite Varietät („spindelförmige“) besteht aus einem mehr oder weniger steifen spindelförmigen Körper (grau-homogenen), welchen eine ver- hältnismäßig schmale undulierende Membran von einem Ende bis zum andern spiral-schraubenförmig umzieht. Sie geht direkt in eine wel- lige Geißel über, welche indess eine unmittelbare Fortsetzung des spindelförmigen Körpers (Stamm) zu sein scheint. In der Mitte liegt ein einziger runder Nucleus, von schmalem Hof umgeben. Die regen Bewegungen des Hämatozoons geschehen korkzieherartig, indem der Stamm steif bleibt oder auch eine größere oder geringere Undulation zeigt. Außer diesen typischen Formen treten auch andere, vermutlich Uebergangsformen auf. — Auch sie zeigen amöboide Gestaltsverän- derungen und vermehren sich durch Zweiteilung (wie oben), indem der jüngere Sprössling wie eine einfache Monade aussieht, während das andere ältere Hämatozoon alle biologischen Eigenschaften der ur- sprünglichen Form behält. — Die Vermehrung durch Segmentation im Ruhezustande wurde bis jetzt noch nicht beobachtet. Es sei noch eine interessante Bemerkung zur Biologie der Hä- matozoen überhaupt gestattet, nämlich dass die Trypanosomen (besonders die vierte Varietät beim Frosehe) eine höchst entwickelte „plastische, formbildende Kraft“ besitzen, welche besonders in mannigfachsten eigentümlichen Umgestaltungen ihres ganzen Kör- pers beim Leben in künstlichen Kulturen (verschiedene Eiweiß -Lö- sungen und andere), sowie auch in der Bildung der mitunter zahl- reichen veränderlichen Fortsätze sich kundgibt. — Von den ersteren werde ich in einer spätern Mitteilung ausführlich berichten. — Was nun die hyalinen, schmalen, zugespitzten Fortsätze betrifft, so erweisen sie sich als Verlängerungen einer bezw. mehrerer vorspringenden Leisten des kammartigen sphäroidalen Leibes, welche von den an- deren benachbarten sich ablösen und von verschiedenen Stellen des Leibes ziemlich weit hinterwärts nun gradlinig hervorragen. Sie scheinen ganz homogen, etwas steif und doch von wechselnder Ge- stalt zu sein. — Inwieweit diese Erscheinung mit dem Auftreten der Desintegration des Hämatozoons zusammenhängt, kann man vorläufig Danilewsky, Zur Parasitologie des Blutes. 535 nur vermuten. Die Fortsätzebildung kommt hauptsächlich bei nur noch schwach beweglichen Formen vor. II. Hämocytozoen der Eidechse. Die roten Blutkörperchen von Lacerta viridis enthalten eigentüm- liche Cytozoa, welche meist in ziemlich großer Anzahl vorkommen, während man bei anderen Eidechsen unter Umständen fast gar keine Blutparasiten antrifft. Diese Hämatozoen lassen sich auf folgende drei mit einander verwandte Grundtypen zurückführen: 1) im Blute finden sich meist größere, etwas blasse und innen körnige Hämocyten mit einem farb- losen hellen peripherischen Saum, welche im Innern dicht neben dem deutlich sichtbaren Nucleus ein würmcehenförmiges Cytozoon enthalten. Das letztere sieht der Haemogregarina Step. sehr ähnlich, hat einen runden Nucleus mit Hof umgeben und einige stark lichtbrechende Körnchen; es liegt ganz regungslos in der Hämocyte. Das rote Blut- körperchen selbst scheint in einen Desintegrationszustand geraten zu sein; sein Kern bietet oft eigentümliche Veränderung — er ist näm- lich stark verlängert und zeigt zuweilen eine quere Einkerbung in der Mitte (Teilungsvorgang). — 2) Die zweite Form erweist sich als ein kleineres helles beweg- liches Würmehen, welches auch im Innern der wenig veränderten oder anscheinend ganz normalen Hämoceyte neben seinem Kern liegt. Dies Cytozoon scheint keinen Nucleus zu haben; an seinen beiden Enden sieht man je 3—5 und mehr stark lichtbrechende runde Körn- chen; sein Leib besteht aus einer homogenen hellen Substanz. Seine ziemlich regen Bewegungen (6—10 in einer Minute) sind sehr ein- fach: es krümmt sich bogenartig und streckt sich wieder, ohne seine Lage im Innern der Hämocyte zu ändern.‘ Trotz dieser gleichförmigen stetigen Kontraktionen kommt das Cytozoon doch nicht aus dem Blutkörperchen heraus (nach den Beobachtungen während 24—48 Stunden). — Diese Varietät fand ich äußerst selten im Blutplasma frei schwimmend. — Dieses Cytozoon kann wegen seiner Durchsichtigkeit und kleinen Dimensionen sehr leicht übersehen werden, nur die glänzenden Körn- chen und besonders seine Kontraktionen bekunden seine Anwesenheit in der Hämocyte. 3) Die dritte größere Form unterscheidet sich von den beiden anderen hauptsächlich dadurch, dass sie sowohl intrazellular als auch ganz frei im Blutplasma desselben Individuums vorkommt. — Dieses Cytozoon ist auch ein „Blutwürmehen“, deutlich länger als das zweite und meist mit einem dickern Ende; im übrigen ähnelt es dem zweiten. Das freie Oytozoon bewegt sich langsam, indem es einen kleinern oder größern Teil des Körpers bogenartig oder selbst zu einer Spirale einrollt; man sieht auch gleichzeitige Schlängelungen an beiden Enden. 536 Danilewsky, Zur Parasitologie des Blutes. Zwischen diesen typischen Formen existieren allerdings auch Uebergangsformen (z. B. diekere, mit einem Nucleus, bewegliche; die Körpersubstanz — grau matt u. 8. w.). Der morphologische Unter- schied zwischen ihnen hängt höchst wahrscheinlich nur von der Dif- ferenz im Alter und in intrazellularen Ernährungsbedingungen ab. Die Störungen der letzteren hängen natürlich von der Anwesenheit des Cytozoons selbst ab; am deutlichsten sind sie resp. Desintegration des Blutkörperchens bei der erstern Form ausgesprochen. Bei der kleinern zweiten, welche die jüngste zu sein scheint, bleibt die sicht- bare Struktur der Hämocyte meist unverändert (der Nucleus ist fast unsichtbar, die Größe und Färbung normal) !). II. Die Hämatozoen der Vögel. Im Blute von manchen Vögeln (Aceipitridae, Laniadae, Corvini und anderen) war es geglückt, einige sehr interessante Blut- schmarotzer aufzufinden, welche teilweise auch bei anderen Tieren und namentlich bei Kaltblütern vorkommen. In dieser vorläufigen Notiz kann ich nur das Wesentliche kurz mitteilen, weil die betreffenden Untersuchungen zur Zeit noch nicht abgeschlossen sind. 1) In seltenen Fällen trifft man in ganz frischen Blutpräparaten ein „Blütwürmehen“ im Plasma freischwimmend, welches nach seiner äußern Form und schraubigen Bewegungen, sowie auch in seinen Größenverhältnissen Aehnlichkeit mit Haemogregarina bietet. Es ist nämlich ein ziemlich diekes Würmehen, meist mit einem abgerundetem und einem andern mehr zugespitzten Ende; sein monozellulärer Leib ist bläulich-grau, homogen, stark lichtbrechend, mit einem bläschen- förmigen Nucleus versehen. — Seine Länge übertifft wenig die des roten Blutkörperchens. Man könnte annehmen, dass dies Hämatozoon auch eine (junge) Gregarinide ist. 2) Das zweite Hämatozoon scheint äußerst ähnlich dem Trypano- soma fusiforme piscium zu sein. Es besteht auch aus einem (kurzen oder längern) spindelförmigen Körper, welcher an beiden Enden stark zugespitzt ist; das eine der letzteren trägt eine ziemlich lange wellige Geißel, von deren Wurzel bis zum hintern Ende des Leibes eine ziemlich schmale undulierende Membran spiralförmig um den Körper sich herum (1—2 mal) zieht. — Im Innern liest ein runder homogener Kern mit einem mehr oder weniger breiten Hof umgeben. Vor dem Absterben kommen auch kleinste Vakuolen zum Vorschein, welche unter Umständen zu einer größern sich vereinigen. — Die schraubigen Bewegungen dieses Trypanosoma avium sind sehr rege; I) Diese Untersuchungen (1) und (2) wurden von mir meistens gemein- schaftlich mit Herrn Al. Schalaschnikow ausgeführt. ey Ze ee 05V in Krause, Die anatomische Literatur in Italien (II). 537 unter spiralen Drehungen des Körpers rückt es meist mit dem geißel- tragenden Ende vorwärts. Bei größeren Trypanosoma (3—5 mal länger als die Hämocyte), die also verhältnismäßig etwas schmäler aussehen, sieht man gleichzeitige Undulation der undulierenden Membran und des ganzen Körperstammes. 3) Die dritte Form ist ein Hämocytozoon, welches nach „Ex- kapsulation“ auch im Plasma freischwimmend vorkommt. — Im Innern der roten Blutkörperchen sieht man oft eine Art von hellen, unge- färbten, durchsichtigen „Vakuolen“ von sehr variabler Gestalt und Größe, in welchen man mehrere, stark lichtbrechende, glänzend- schwarze Körnchen findet. Diese „Pseudovakuolen“ sind bei den untersuchten Vogelarten eine sehr häufige Erscheinung. Sie liegen neben dem Kern der Hämoeyte, mit einem stark ausgesprochenen Kontur ringförmig umgeben. Die mehr entwickelten größeren Formen nehmen eine kugelförmige Gestalt an; dementsprechend ändert sich der Umriss des Blutkörperchens, welches zugleich mehr und mehr desintegriert wird. Schließlich verschwindet das Zooid fast ganz, es bleibt ein farbloses Oikoid (Stroma) mit dem Kern und Cytozoon; das letztere fängt jetzt an sich zu rühren und kommt eventuell im Plasma frei in Form einer homogen protoplasmatischen Kugel mit einer wel- ligen Geißel und mit einigen der oben erwähnten Körnchen an seiner Oberfläche vor. Das Hämatozoon dreht sich stets sehr schnell mit Hilfe des Flagellums, was dank jenen Körnchen leicht zu sehen ist. Die Vorwärtsbewegung ist äußerst gering. Beim Abkühlen des Prä- parates stirbt das Gebilde bald ab. — Zuweilen kommt ein doppelt- kugliges Hämatozoon mit zwei entgegengesetzten Geißeln zum Vor- schein, was wahrscheinlich auf Zweiteilung zurückzuführen sein dürfte. Was die zoologische Aufklärung dieses eigentümlichen Hämato- zoons betrifft, so kann man einstweilen kaum etwas entscheidendes darüber aufstellen !). Die anatomische Literatur in Italien. Von W. Krause (Göttingen). Zweiter Artikel?). 17) Chiarugi, G., Osservazioni nella divisione della eirconvoluzioni fron- tali. Estratto dal Bollettino della Societä tra i Cultori delle Scienze mediche in Siena. — 18) Tartuferi, F., Sull’ anatomia minuta delle eminenze bige- 1) Ich kann nicht umhin zu bemerken, dass dies Gebilde eine Aehnlichkeit mit einem kugligmetamorphosierten Trypanosoma ranarum (s. oben) bietet. Ob dies auch eine Verwandtschaft bezeuge, werden weitere Beobachtungen auf- klären. 2) Vergl. d. Centralbl., Nr. 16, S. 503. 538 Krause, Die anatomische Literatur in Italien (I). mine anteriori dell’ uomo (Centro di riflessione e di irradiazione dell’ apparato centrale della visione). Archivio italiano per le malatie nervose etc. Fase. 1. Con tre tav. — 19) Tartuferi, F, Determinazione del vero corpo genicolato anteriore dei mammiferi inferiori, e studio comparativo del tratto ottico nella serie dei mammiferi. Estratto dall’ Osservatore, Gazzetta delle Cliniche di Torino. 1881. N. 17. — 20) Tartuferi, F., Contributo anatomico sperimentale alla conoscenza del tratto ottico e degli organi centrali dell’ apparato della visione. Con due tav. Torino. 1881. — 21) Tartuferi, F., Studio comparativo del tratto ottico e dei corpi genicolati nell’ uomo, nella scimmia e nei mammi- feri inferiori. Con due tav. Estratto dalle Memorie della Reale Accademia delle Scienze di Torino. Ser. II. Tom. XXXIV. — 22) Chiarugi, G., Contri- buto alla conoscenza dei tumori congeniti del collo e allo studio della loro genesi. Estratto dall’ Archivio Medico Italiano. 1883. Fasc. VI. — 23) Ro- miti, G., Notizie anatomiche. N. XIV p. 41-43. Un tumore dell’ ombellico, singolare per la sua genesi. Estratto dal Bollettino della Societa tra i cultori delle scienze mediche in Siena. Anno Il. 1884. — 24) Romiti, G., Notizie anato- miche. N. I.p. 1—5. Ricerche anatomo-patologiche sopra la placenta d’un aborto umano espulsa dall’ utero con un feto morto e macerato i e contributo alla conoscenza del normale rivestimento del villo. Estratto dal Bollettino della Societä tra i eultori delle scienze mediche in Siena. Anno II. 1884. — 25) Ro- miti, G., Notizie anatomiche. N. IV. p. 13. Esame del sangue d’idrofobo. Estratto dal Bollettino della Societä tra i cultori delle seienze mediche in Siena. Anno I]. 1884. — 26) Romiti, G, Notizie anatomiche. N. VIII p. 21—22. Indagini anatomiche sopra i visceri d’un morto per idrofobia. Estratto dal Bollettino della Societä tra i eultori delle seienze mediche in Siena. Anno II. 1884. — 27) Brigidi, Lo Sperimentale. 1876. !. p. 178. — 28) Chiarugi, G., Possibilita di scoprire i bacilli della tubereulosi negli sputi da lungo tempo dissecati. Estratto dal Bollettino della Societä tra i cultori delle Scienze mediche in Siena. Anno Il. 1884. — 29) Romiti, G., Notizie anatomiche. N. VI. p. 19—20. Estratto dal Bollettino della Societä tra i cultori delle seienze mediche in Siena. Anno II. 1884. — 30) Chiarugi, G., Un caso di atresis eongenita dell’ uretra. Estratto dal Bollettino della Societä tra i cul- tori delle seienze mediche in Siena Anno I. 1883. N. 3. — 31) Bonome, A., Intorno alla rigenerazione del tessuto osseo. Archivio per le seienze mediche. Vol. IX. Fase. 2. p. 131—190. Con tre tavole. — 32) Ughetti, G.B.edi Mattei, E., Sulla spleno-tiroideetomia nel cane e nel coniglio. Archivio per le scienze mediche, Vol. IX, Fase. 2. p. 235 —252. Gehirn. Chiarugi (77) untersuchte bei Gesunden und Geisteskranken die Stirnlappen auf das Vorkommen eines vierten Gyrus frontalis. Diesen hatte Benedikt (1876) für eine Aehnlichkeit mit dem Carni- vorengehirn und für besonders häufig bei Verbrechern ausgegeben. Bald ist der Gyrus superior (Benedikt), bald der Gyrus medius (Hanot, 1877) Sitz der Teilung in zwei Gyri. Aber wenn beides zugleich vorkommt, haben die dann entstehenden fünf Stirnwindungen keine Aehnliehkeit mehr mit dem Raubtiertypus. Als Resultat bei 74 Großhirnhemisphären von Gesunden und 26 von Irren ergab sich die Verdoppelung oder eigne Spaltung in Prozenten: Krause, Die anatomische Literatur in Italien (II). 539 PERIERTRTN SIT FESTE RT MODDORT “ Frauen Mittel Stirnwindung, | Gesunde | Irre | Gesunde | Irre | Gesunde | Irre Gyrus frontalis medius | IoTE GET | _ | 6,75 11,5 Gyrus frontalis superior | 7,9 | 11,6 6,6 3,8 14,9 15,4 Die Kombination von Spaltung des Gyrus superior und inferior kam an derselben Seite im ganzen in 2°/, vor, an den entgegen- gesetzten Seiten in 4°/,. Ueberhaupt aber zeigte sich Spaltung irgend einer Frontalwindung im Durchschnitt von Gesunden und Irren bei 34 °/, der Gehirne (nicht der Hemisphären, bei denen 23°/, als Mittel anzunehmen ist, vergl. oben), wobei jedoch die bloßen Andeutungen von Spaltungen mitgerechnet sind. Am häufigsten sind diejenigen des Gyrus frontalis medius, sehr selten, und an 50 Gehirnen nicht ein einziges mal beobachtet, diejenige des Gyrus inferior. Auch die vollständigen Verdoppelungen eines Gyrus von seiner Wurzel an sind höchst selten. Inbetreff der Verbrechergehirne bemerkt Chiarugi, dass Gia- comini an 56 soleher Gehirne dieselbe Proportion der Spaltungsziffern sefunden hat, wie an Gesunden. Sehr abweichend von Benedikt’s Angaben — wie es freilich nicht anders zu erwarten war (Ref.). Tartuferi (78) unterwarf in Fortsetzung seiner früheren Unter- suchungen (19, 20, 21) vom Jahre 1881 den Collieulus anterior eminentiae quadrigeminae des Menschen einer sehr genauen Durchforschung. Nach den von ihm selbst zusammengestellten Resul- taten der historischen, vergleiehend-anatomischen, experimentellen, makroskopischen und mikroskopischen Prüfung lässt sich folgendes aussagen. Die Optikusfasern, welche die direkte Sinnesempfindung (impres- sione retinica) in zentripetaler Richtung leiten, verlaufen in den ober- flächlichen Lagen des zentralen Endes des Tractus opticus, sie gelangen in das oberflächliche, aus grauer und weißer Substanz ge- mischte Stratum des Collieulus anterior. Von da wird die Erregung (impressione retinica) reflektiert oder irradiiert und gelangt auf dem Wege der unteren oder tieferen Fasern jenes oberflächlichen Stratums zu den Corpora genieulata, dem Thalamus optieus und zu anderen, inbezug auf den Collieulus anterior lateralwärts oder nach vorn und lateralwärts gelegenen Partien des Großhirns. Hierunter ist die graue Substanz, welche den dritten Ventrikel auskleidet, eventuell auch die graue Rinde der Großhirngyri zu verstehen. Die oberfläch- lichen Fasern des Tractus opticus verbinden sich mit den Ganglien- zellen des vordern Vierhügelganglions. Die tieferen Fasern des ober- flächlichen Stratums stammen wahrscheinlich teilweise von den ober- flächlichen ab (esso puö parzialmente considerarsi come una dipendenza). Abgesehen vom Bindegewebe oder der Neuroglia unterscheidet Tartuferi auf einem Sagittalschnitt des Collieulus anterior von oben nach unten: 1) die Lage peripherischer Nervenfasern; 2) das vordere 540 Krause, Die anatomische Literatur in Italien (I). Vierhügelganglion (cappa einerea); 3) das gemischte, aus grauer und weißer Substanz bestehende Stratum superfieiale; 4) das ebenso be- schaffene Stratum profundum, welches aber aus deutlicher gesonderten Bündeln markhaltiger Nervenfasern sich zusammensetzt; 5) die graue, den Aquaeduetus Sylvii umgebende Substanz; 6) endlich folgt letz- terer selbst. Die langen und verästelten, peripherischen Fortsätze (code) seiner Epithelialzellen sind es hauptsächlich, welche die Raphe konstituieren. Erwähnung verdient noch eine von Tartuferi häufig angetroffene Varietät, welche schon Stilling (1846) abgebildet hatte, ohne sie - näher zu erläutern. Die tieferen zu Bündeln geordneten Fasern des oberflächlichen Stratums bilden in Sagittalschnitten keine regelmäßige Kurve, sondern haben nach oben eine gezackte Begrenzung. Dadurch werde, meint Tartuferi, Raum für mehr Nervenfasern gewonnen, welche einem stärker entwickelten gangliösen Optikuszentrum ent- sprechen. Die Abhandlung ist wie die früheren mit sehr hübschen Chromo- lithographien, auch mit farbigen Holzschnitten ausgestattet. Parasiten etc, Physiologisches. Chiarugi (22) deutete eine angeborne, am untern Ende des linken M. sternocleidomastoideus eines 10 jährigen Mädchens befind- liche Geschwulst als Rest der beiden untersten embryonalen Kiemenbogen, weil zwei Knochenplatten die ursprüngliche vierte Kiemenspalte zu begrenzen schienen. Romiti (23) exstirpierte bei einer 60jährigen Frau ein nuss- großes Spindelzellensarkom des Nabels, welches durch den Biss einer Hundszecke (Ixodes ricinus) entstanden war. Fünf Jahre vor der Operation war das Tier einige Wochen getragen, dann entfernt wor- den; aus einem kleinen Geschwür entwickelte sich darauf nach und nach das Sarkom. Romiti hält die seltene Beobachtung mit Recht für sehr interessant, nur müsste man wünschen, dass der Kausal- zusammenhang exakter festgestellt wäre, als durch die Aussagen der Kranken selbst. Letztere bilden sich in dieser Hinsicht — wenigstens in Deutschland — nicht selten die wunderbarsten Dinge ein. Derselbe (22) beobachtete bei einem Abortus im vierten Monate einesteils Hyperplasie und zellulare Hypertrophie des Parenchyms der Plazentarzotten, anderseits Umwandlung derselben in fibröses Ge- webe, auch Hämorrhagie. Offenbar war das Ei selbst erkrankt. Aus dem Umstande, dass die Bekleidung der hyperplastischen Zotten eine doppelte war, schließt aber Romiti, dass die innere, fötale, in der Norm bald verschwindende erhalten geblieben war, was später sonst nur bei der äußern, mütterlichen Lage der Fall ist. Derselbe (25 und 26) hatte Gelegenheit, das Blut und einige Organe eines Hydrophobischen zu untersuchen, der infolge des Krause, Die anatomische Literatur in Italien (II). 54 Bisses einer Katze zugrunde gegangen war. Das Blut enthielt zahl- reiche Hämatoblasten. In feinen mikroskopischen Schnitten des N. vagus, der Speicheldrüsen, Lymphdrüsen aus der Leistengegend, auch in den Zentralorganen waren die Kapillaren weich und blutreich. Das Rückenmark und die Medulla oblongata wurden mit Palladium- chlorür gehärtet [Romiti übersieht, dass bei der von ihm benutzten Methode die freie Chromsäure das Wesentliche ist, Ref.]. Der Zentral- kanal des Rückenmarkes zeigte ein axiales Gerinnsel und die Sub- stantia gelatinosa centralis war erweicht und stärker granuliert, was schon Brigidi (27) beschrieben hatte. Romiti hält diese offenbaren Leichenerscheinungen (Ref.) für möglicherweise beachtenswert: Sul _ signifieato che questo risuliato puö avere, lascio ad altri lo studio. Chiarugi (28) hielt es für nützlich zu erforschen, ob die Tuberkelbaecillen dem Trocknen widerstehen. Er trocknete Sputa auf Glasplatten über freier Flamme, bewahrte sie in einer Schachtel bis zu 40 Tagen auf und erhielt noch schöne Färbungen der Baeillen nach Ehrlich’seher Methode. Dass die letzteren nach dem Trocknen noch wieder aufleben können, folgt aus dieser Reaktion selbstverständ- lich nicht, aber es ist möglich — wenn man auch nicht sagen kann, welche Rolle etwa den für gewöhnlich noch weit resistenteren Sporen soleher Schizomyceten etwa zugeschrieben werden muss. Romiti (29) legte der Societä tra i cultori delle seienze mediche in Siena Präparate vom Darm einiger Cholerakranken vor, welche von der Wiener Epidemie des Jahres 1873 herstammten. Der Dünn- darm war damals ganz frisch in absoluten Alkohol gelegt, mit Karmin oder Hämatoxylin waren die Schnitte gefärbt und hatten sich gut konserviert. Das Zottenepithel mangelte und in der Mukosa fand sich eine Infiltration mit Baeillen; vielleicht waren es die von Pacini angedeuteten (accennati), von Koch als spezifische der Cholera er- wiesenen. Von einer Kommaform sagt Romiti jedoch nichts (Ref.). Chiarugi (30) beobachtete bei einem drei Tage alten Knaben beiderseits einen angebornen Leistenbruch, und zugleich war die Glans nicht perforiert, die Urethra endigte innerhalb derselben blind. Letzteres stellte sich bei der Operation heraus, durch welche das Kind bis auf eine geringe Hypospadie geheilt wurde. Chiarugi weist nach, dass die eingetretene Entwicklungshemmung mit Rücksicht auf die mangelhafte Ausbildung des Präputiums in den vierten Schwanger- schaftsmonat [oder Sommermonat der Schwangerschaft, letztere zu neun Monaten gerechnet — briefl. Mitt. v. Ch. an den Ref.) zu setzen ist. Bonome (31) hat ausgedehnte Experimente über die Regene- ration des Knochengewebes mit transplantierten Perioststrei- fen u. s. w. ausgeführt. Da die mit schönen Tafeln ausgestattete Abhandlung zum Teil pathologische Tendenz hat, so muss hier auf das Original verwiesen werden. Von den Riesenzellen glaubt 542 Krause, Die anatomische Literatur in Italien (II). Bonome, dass sie bestimmt seien, den Detritus aufzunehmen, welchen die zugrunde gehenden Knochenzellen und Blutgefäße liefern. An- scheinend, weil Fetttröpfehen in den Riesenzellen vorkommen, jene färben sich mit Ueberosmiumsäure schwarz. Die Riesenzellen ent- stehen auf kosten der Knochenzellen und der sie umgebenden, chemisch modifiziert werdenden Grundsubstanz des Knochens. Ughetti und di Mattei (32) haben Experimente an Hunden und Kaninchen angestellt, denen die Milz und teilweise zugleich die Gl. thyreoidea exstirpiert wurde Was zunächst die Ka- ninchen betrifft, so wurden an 12 Tieren gleichzeitig die beiden Drüsen entfernt. Die Kaninchen zeigten keinerlei allgemeine oder lokale Erkrankung. Fünf starben einige Tage nach der Operation an Peritonitis u. dergl., die übrigen nahmen successiv an Gewicht zu, ein Weibchen wurde sogar trächtig und brachte Junge, die Milz und Schilddrüse besaßen, zur Welt. Die glücklich operierten Tiere wurden nach 15—30—35—40—50—60—110 Tagen getötet. Die Untersuchung des Blutes und der Organe ergab absolut negative Resultate. Bei einem jungen Kaninchen wurden freilich einige kernhaltige rote Blut- körperchen in der Milz und einige in Teilung begriffene Zellen im Knochenmark des Os femoris angetroffen, wie sie aber auch bei ge- sunden Kaninchen vorkommen. Auch bei den Hunden, welche der Operation rasch erlagen, waren die Befunde absolut negativ. Nach Exstirpation der Gl. thy- reoidea waren die Tiere ruhig, fraßen in den ersten beiden Tagen, dann verloren sie ihre Lebhaftigkeit, es trat Stupor auf, Neigung un- beweglich zu stehen oder in dunkle Winkel zu kriechen, Appetitlosig- keit, Parese der hinteren Extremitäten, Muskelzittern, Incontinentia urinae, rasches Sinken der Ernährung bis zu völligem Marasmus, Dyspnö, Konjunktivitis, Keratitis und Trismus. Die Temperatur stieg zeitweilig auf 42—43° C. Schließlich zeigte sich Sopor, nur von Seufzern unterbrochen; nach 4—15 Tagen erfolgte der Tod. Es machte keinerlei Unterschied, ob zugleich (je 10 Hunde) die Milz exstirpiert wurde oder nicht. Hunde, denen das defibrinierte Blut der operierten Tiere in die V. jugularis oder die Peritonealhöhle injiziert war, blieben gesund. Isolierung der Lappen der Gl. thyreoidea, also Ausführung der Operation bis auf die Exstirpation selbst, änderte nichts in dem Befinden der Hunde. Die Autopsie ergab bei den einfach thyreoidek- tomierten Tieren normale oder etwas anämische Milz mit kernhaltigen roten Blutkörperchen. Die Gl. mesentericae waren nach der Milz- Exstirpation und die Gl. trachealis nach der Thyreoidektomie ge- schwollen, gerötet, voll von Blut und zeigten Bindegewebsproliferation, aber alles dies gehört auf Rechnung der betreffenden Operation bezw. Verwundung. Die Leukocyten im Blut waren einige mal vermehrt, aber nur bei recht abgemagerten Tieren in auffälliger Weise. Bei den spelnotomierten Hunden war das Knochenmark hyperämisch, die Zuckerkandl, Bau des hyalinen Knorpels. 543 Markzellen waren vermehrt, eine gewisse Anzahl von roten Blut- körperchen kernhaltig und viele Zellen in Teilung begriffen. Gleich- zeitige Exstirpation der Schilddrüse veränderte diese Befunde nicht. Alle übrigen Organe erschienen ganz normal, das Gehirn allenfalls etwas anämisch. Ein einziger kleiner Hund, der 18 Tage die Schild- drüsenexstirpation überlebte und die heftigsten Wutanfälle zeigte, alles beißen wollte, was in seine Nähe kam, hatte ein sehr hyperä- misches Gehirn. So kann man also nicht sagen, dass Milz und Gi. thyreoidea in näherem Rapport ständen. Während Kaninchen den Verlust der beiden Organe ohne irgend welche Folgen ertragen, sterben die Hunde an der Schilddrüsenexstirpation in der geschilderten, durchaus rätsel- haften Weise. Die Funktion der Schilddrüse ist noch so unbekannt wie zu Galen’s Zeiten — eine Mahnung zur Bescheidenheit, falls jemand die Triumphe der anatomisch- physiologischen Forschung gar zu exorbitant vorkommen sollten! E. Zuckerkandl, Beitrag zur Lehre von dem Baue des hyalinen Knorpels. Sitzungsb. der kais. Akad. der Wissensch. in Wien, Bd. XCI, III. Abt., März- heft, 1885. In einer Knorpelplatte, welche beim Tapir die Höhle in der sehr stark entwickelten untern Nasenmuschel sowie die Oeffnung des Sinus maxillaris teil- weise verschließen hilft, fand Z. sehr eigentümliche Verhältnisse der Grund- substanz des hyalinen Knorpels. Derselbe wurde in Alkohol gehärtet, und darin wurden auch die Schnitte untersucht. Dabei fand nun Verf., dass die hyaline Grundsubstanz von einem Netzwerke durchzogen wird, welches aus zarten Faserbündeln besteht, die als Knotenpunkte Knorpelkapseln haben. Die garben- förmigen Bündel verlaufen von einer Knorpelkapsel zur benachbarten, so die- selben miteinander verbindend. Zwischen diesen ziemlich weitmaschigen Netzen befindet sich homogenes, manchmal schwach granuliertes Gewebe. So verhält sich der Knorpel im Innern; gegen die Oberfläche zu verändert sich das Bild, es werden die Fasernetze zahlreicher und dichter, und gehen nicht mehr als garbenförmige Bündel von den beiden Polen der länglichen Knorpelkapseln aus, sondern strahlen radienartig von deren Peripherie aus. Gegen Wasser sind diese Netze sehr empfindlich, bei Zusatz von solchem verschwindet das Netz plötzlich. Durch Anilinrot ist das Fasersystem färbbar. Eine Deutung dieser Verhältnisse gibt Verf. nicht, lässt aber durchblicken, dass es sich hier möglicherweise um Ernährungsbahnen des Knorpelshandeln könne und vergleicht die Fasersysteme mit einem Dochtwerke, welches das Knorpel- gewebe durchzöge und so die Fortleitung des Ernährungsstromes bewerkstellige. F. H. 544 Pasteur’s Untersuchungen über die Hundswut. Ernst Krause, Charles Darwin und sein Verhältnis zu Deutschland. Leipzig, Ernst Günther. 1885. Mit zwei Brustbildern Dar win’s, eines den Mann im mittlern Lebensalter, das andere den greisen Forscher darstellend, beginnt dieses in dem mit der bekannten schriftstellerischen Gewandtheit des Verf. goschriebene Buch. Das- selbe ist um so mehr mit Freude zu begrüßen, als die von Francis Darwin schon lange angekündigte Lebensbeschreibung seines Vaters bisher noch immer ausgeblieben ist. Wir finden in dem Buche neben altbekanntem vieles neue, oder doch wohl nur wenig bekanntes aus Lebensgang, Lebensgewohnheiten und Lebensansichten des unsterblichen Forschers, und niemand wird es bereuen, das treffliche Buch seiner Bücherei einverleibt zu haben. idn. Pasteur's Untersuchungen über die Hundswut. In der Sitzung der französischen Akademie vom 26. Oktober hielt Pasteur wiederum einen längern Vortrag über seine Untersuchungen über die Hundswut und brachte Beweise, dass er von der Krankheit befallene Menschen von dieser geheilt habe. — Im Anschluss an diese vorläufige kurze Notiz werden wir demnächst eine zusammenfassende Uebersicht über die dies- bezüglichen Pasteur’schen Untersuchungen bringen. Red. d. Biol. Centralbl. Berichtigung. In voriger Nummer sollte es heißen Seite 482 Zeile 5 von unten absortiert für absorbiert. Seite 483 in der Unterschrift F. Ludwig für H. Ludwig. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. Soeben erschien: Lehrbuch der Anatomie des Menschen in zwei Bänden von Dr. €. E. E. Hoffmann, und Dr. August Rauber, w. Professor in Basel. Professor an der Universität Leipzig. Dritte teilweise umgearbeitete und vermehrte Auflage. Zweiter Band zweite Abteilung. Die Lehre von dem Nervensystem und den Sinnesorganen. 1886. Mit 300 Holzschnitten. Preis 14 Mark. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Centralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark V. Band. Ludwig, Die Gallenblüten und Samenblüten der Feigen, eine neue Kategorie von verschiedenen Blütenformen bei Pflanzen der nämlichen Art. — Salensky, Zur Entwicklungsgeschichte von Vermetus. — Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamt. — Pasteur’s Methode, den Biss tollwütiger Hunde unschäd- lich zu machen. Die Cholera und die modernen Choleratheorien von Dr. Karl B. Lehmann, Assistent am hygieinischen Institut in München, (Schluss.) II. Die Lehre der Kontagionisten. In die zweite europäische Pandemie in den Jahren 1848 — 1856 fällt der Beginn vielseitiger gründlicher Studien über die Cholera nach streng naturwissenschaftlichen Methoden. Die englischen Arbeiten von John Simon, Snow und andern, die die Verbreitung der Cholera durch das Trinkwasser zu begründen suchten, enthalten im wesent- lichen schon die von den späteren Trinkwassertheoretikern aufgestellte und jetzt von Koch auch bakteriologisch ausgebaute Lehre. Sie suchen den Cholerainfektionsstoff in den Exkrementen der Kranken, von wo er entweder direkt dureh Unreinlichkeit, oder indirekt durch Vermittlung von Wäsche, in der sich derselbe gut hält, oder endlich durch Ingesta, namentlich durch Trinkwasser, in unseren Verdauungs- kanal gelangt und dort die Cholera erzeugt. Das größte Aufsehen machten damals die durch mühsame gründliche Forschung gefundenen Beispiele für diese Theorie: Der Choleraausbruch von Golden Square und namentlich die mit der Southwark- und Vauxhallwasserkompagnie zusammenhängende Epidemie; ich komme später auf letztere zurück. Hier sei gleich noch erwähnt, dass Snow in seiner Begeisterung s0- fort die Choleraepidemien einer ganzen Reihe von englischen Städten auf ihr durch Choleradejektionen verunreinigtes Trinkwasser zurück- 35 546 Lehmann, Die Cholera und die modernen Choleratheorien. führte und sogar versuchte, nicht nur für Typhus’und Gelbfieber, son- dern sogar für Malaria und Pest die Trinkwassertheorie wahrschein- lich zu machen. Der Widerspruch gegen viele von diesen Behaup- tungen blieb nicht aus; eine Reihe von ihnen widerlegte Letheby durch Thatsachen, aber fort und fort traten neue Verteidiger dieser Theorie auf, unter denen ich nurMacnamara und de Renzy in Indien, Forster, Proust und Burdon-Sandersont) in Europa nenne. In neuester Zeit dürfen die Anhänger der Trinkwassertheorie Robert Koch, den größten Bakteriologen der Jetztzeit, den ihrigen nennen, und wenn das Gewicht der von Pettenkofer und seinen Mitarbeitern, den sogenannten Lokalisten, gegen die Trinkwassertheorie vorgebrachten Bedenken, Einwänden und Beweisen im Laufe der Zeit manch einen von dem Glauben an die Bedeutung des Trinkwassers abgebracht hatte, so hat es nun den Anschein, als ob der Glanz des Koch’schen Namens mit einem Schlage der von ihm vertretenen Theorie, die sich durch große Einfachheit auszeichnet, wenigstens für den Augenblick zum Siege verholfen hätte. Die Koch’sche Lehre, wie sie sich aus den Berichten der ersten Berliner Cholerakonferenz und aus dem, was über die zweite bekannt geworden ist, ergibt, lässt sich etwa dahin zusammenfassen: Im Darme der Cholerakranken findet sich konstant, am reich- lichsten in den frischesten Fällen, ein charakteristischer gekrümmter Baecillus, der Kommabaeillus. Derselbe wurde bisher von Koch bei keinem Cholerafall vermisst, dagegen nie bei einem andern Kranken, deren etwa 100 darauf untersucht wurden, gefunden. Der Komma- baeillus gedeiht auch außerhalb des Körpers; jedoch nur bei Tempe- raturen, die nicht wesentlich unter 17° höchstens 16'/,° C liegen, auf Milch, Bouillon, Koch’scher Nährgelatine, feuchter Erde und feuchter Wäsche vorzüglich; auf den beiden letzten Medien überwuchert er die erste Zeit alle Fäulnisorganismen, unterliegt ihnen aber schon nach einigen Tagen im Kampfe. Niedere Temperaturen töten den Kommabaeillus nicht, verhindern nur seine Vermehrung; kommt er wieder unter günstige Temperaturverhältnisse, so wächst er wieder üppig. Der Pilz fand sich stets auf den Darm des Kranken beschränkt, Einwanderung in die Darmfollikel wurde auf Schnitten öfters beob- achtet. Das Blut und die innern Organe waren stets frei von Komma- bacillen. Eine Uebertragung auf Tiere wollte lange nicht gelingen, jetzt vermag Koch an Meerschweinchen, deren Magensaft er durch kohlensaures Natron neutralisiert und die er durch Opiuminjektion in die Bauchhöhle geschwächt hat, mittels Einfuhr der Kommabacillen 4) Burdon-Sanderson ist übrigens in neuester Zeit lebhaft für die Bedeutung des Bodens für das Zustandekommen von Choleraepidemien einge- treten. Contemporary Review, August, 1885. Lehmann, Die Cholera und die modernen Choleratheorien. 547 per os oder durch direkte Injektion mit der Pravaz’schen Spritze in den Darm, choleraartige Zustände, Diarrhöen, Injektion des Darms, Tod unter Lähmung der Hinterbeine, aber keine Krämpfe, Anurie ete. hervorzubringen. Auf diese Thatsachen gestützt hält Koch den Kommabacillus für den Erreger der Cholera. Der Cholerapilz reproduziert sich in Kranken in Menge, und es genügt nach Koch’s Ansicht eine Spur von den frischen Dejektionen einesCholerakranken, die in den Intestinaltraktus eines disponierten zweiten Menschen kommen, um einen typischen Cholerafall hervorzubringen. Unter Disposition denkt sich Koch wesentlich eine Schwächung der Magenfunktion, vor allem eine Störung der Säurebildung im Magen, da viele Säuren tödliche Gifte für die Kommabaeillen sind. Als Infektionsweg wird ganz ausschließlich der Intestinaltraktus angesehen und der Einfuhr des Pilzes durch Speisen und vor allem durch Trinkwasser die wichtigste Rolle in der Cholera- ätiologie zuerkannt. Nur in seltenen Ausnahmefällen beim Zerstäuben bacillenhaltiger Flüssigkeiten ist Koch geneigt Infektion durch die Luft anzunehmen. Z. B. durch Verspritzen von Waschwasser beim Reinigen von Cholerawäsche; aber auch hier findet die Infektion durch Magen und Darm statt. Im Darmkanal erzeugt der Kommabacillus ein Gift, dessen Resorption die Symptome der Cholerainfektion be- dingt. Eine Reproduktion des Kommabacillus im Boden anerkennt Koch, gibt auch zu, dass bei ungünstigen äußern Verhältnissen nament- lich bei niederer Temperatur ein latentes Leben des Pilzes im Boden möglich sei, bis günstigere Bedingungen für seine Vermehrung ein- treten. — Ueber eine örtliche Disposition für Cholera spricht sich Koch gar nicht aus; die Thatsache, dass einzelne Orte immun sind, wird im Bericht über die erste Berliner Cholerakonferenz gar nicht erwähnt. Auf die Frage der Schiffscholera, die ohne zahlreiche Beispiele nicht zu erörtern ist, kann ich hier leider nur hinweisen. Koch und die Kontagionisten erklären sich die Cholera auf Schiffen durch die von einem Cholerakranken ausgehende Infektion, Pettenkofer und die Lokalisten durch einen vom Lande stammenden Infektionsstoff. That- sache ist, dass, wenn man den von Choleraorten ausgehenden See- verkehr im ganzen statistiseh verfolgt und nicht einzelne Fälle her- ausgreift, Epidemieausbrüche auf Schiffen zu den größten Seltenheiten gehören, wenn auch öfter einzelne Erkrankungen nach Abfahrt darauf vorkommen. Das Verhalten der Cholera auf Schiffen wird ebenso von den Lokalisten wie von den Kontagionisten als Beweismaterial in Anspruch genommen. III. Pettenkofer’s lokalistische Theorie. Gegenüber der einfachen und scheinbar lückenlosen Theorie der Kontagionisten erscheint allerdings die Lehre Pettenkofer’s auf 3b, 548 Lehmann, Die Cholera und die modernen Choleratheorien. den ersten Blick als schwerverständlich und unfertig — eine genauere Betrachtung wird aber sofort ihre eminenten Lichtseiten aufdecken. AlsPettenkofer seine Cholerastudien 1854 begann, war seine erste Sorge die Verbreitung durch den menschlichen Verkehr unumstößlich zu beweisen und die Haltlosigkeit der autochthonistischen Theorie darzuthun; dies gelang ihm auf das vollkommenste sowohl für München durch die Verfolgung der mit den Erkrankungen von Angestellten der damaligen Industrieausstellung zusammenhängenden Fälle, als in vielen Dutzenden von Dorfepidemien; und soweit ist auch Petten- kofer mit Koch einig. Aber schon die zweite Frage, die sich Pettenkofer stellte, führte weit ab von der einfachen Anschau- ung der Kontagionisten. Es fiel ihm nämlich auf, dass die Cholera sich zwar mit dem Verkehr verbreitete, dass aber lange nicht in allen vom Verkehre der Menschen häufiger berührten Orten Epidemien ausbrachen, wenn auch eine Reihe von Kranken dahingekommen und zum Teil gestorben waren. Ferner beobachtete er, was nicht minder auffallend war: In einem Orte wurde irgend ein Stadtteil heftig be- fallen, während andere Teile trotz des freiesten Verkehrs frei blieben; während z. B. die Stadt Fürth trotz lebhaftesten, persönlichen und sachlichen Verkehrs mit dem verseuchten Nürnberg immun blieb, er- krankten eine Reihe von Dörfern in Nürnbergs Umgebung aufs hef- tigste. Außerdem bemerkte er, dass die Ortschaften durchaus nicht in der Reihenfolge erkrankten, in der sie ihrer Entfernung von München wegen etwa mit Wahrscheinlichkeit von infizierten Personen hätten besucht werden müssen, sondern dass einzelne früher, andere später für die Krankheit reif zu werden schienen. Aus diesen und andern Beobachtungen drängte sich Pettenkofer die Ueberzeugung auf (wie sie Hergt schon früher sich gebildet): Es kann nicht allein auf den Verkehr mit dem Cholerakranken ankommen, ob ein Ort befallen wird oder nicht, sondern es gehört dazu auch, dass in dem Orte selbst Faktoren vorhanden sind, die einer Entwicklung der Seuche günstig sind. Als Pettenkofer untersuchte, was in Orten, wo einzelne Teile befallen, andere immun waren, beiden gemeinsam und was jedem Ortsteile eigen sei, fand er, dass in der Luft und fast stets auch im Trinkwasser die Ursache des verschiedenen Befallenseins nicht liegen könne, denn dieselbe Luft wehte über beide Teile, das Wasser liefer- ten sehr oft die gleiehen Brunnen oder das gleiche Leitungsnetz, aber im Boden fanden sich sehr häufig charakteristische Differenzen. Als Bedingungen für ein epidemisches Befallenwerden ermittelte Petten- kofer!) nun in einer Anzahl von Einzeluntersuchungen 1) Die oben erwähnten Angaben aus Indien, diejenigen von Boub&e von 1832, 1848 und 1854, ebenso die interessanten Beobachtungen aus England und Frankreich, die Fourcault von 1849 an in der Gazette medicale de Paris publizierte, stimmen im Prinzip vollkommen mit denjenigen Petten- Lehmann, Die Cholera und die modernen Choleratheorien. 549 1) einen lockern für Wasser und Luft durehgängigen Boden, 2) eine Ansammlung von organischer zersetzungsfähiger Substanz in demselben und endlich 3) einen bestimmten nicht zu großen und nicht zu geringen Feuchtigkeitsgehalt. Nicht alle Orte, wo diese Bedingungen vorhanden waren, wurden befallen, wo aber eine derselben fehlte, fehlte auch die Cholera. Es sei hier nur an einige Beispiele erinnert: In Nürnberg und Traunstein verdanken die immunen Stadtteile ihr Verschontbleiben ihrer Lage auf Fels; eine schwerdurchlässige Lehmschicht, die durch eine darunterliegende drainierende Kiesschicht stets vor großen Schwankungen in ihrem Feuchtigkeitsgehalte ge- schützt wird, bewahrte einen Teil der münchner Vorstadt Haidhausen bisher noch jedesmal vor einer Epidemie, wenn auch die umliegenden auf Kies gebauten Straßen stark epidemisch ergriffen wurden. Wäh- rend in diesen Fällen der Boden nicht die nötige Feuchtigkeit er- langt, ist er in den niedrig gelegenen Teilen von Lyon, in den bay- rischen Mooren ete. stets zu feucht, als dass die Cholera sich epide- misch ausbreiten könnte. Zahlreiche Beispiele für diese Bedeutung des Bodens sind seitdem von anderen Forschern aufgefunden worden, ich nenne nur: Delbrück, Günther, Reinhard, L. Pfeiffer, Fourcault, Deceaisne und Douglas Cunningham. Die Gegner Pettenkofer’s hatten darauf hingewiesen, dass auf den nackten Felsen von Gibraltar und Malta sehr heftige Cholera- epidemien vorkommen, und dass in der Stadt Lyon nicht nur die hoch, teilweise auf Granit liegenden Teile, sondern auch die auf Rhonekies, im Inundationsgebiet des Flusses gelegenen Stadtteile immun bleiben. Das veranlasste Pettenkofer schon 1868, sich behufs ein- gehender Studien und Erfahrungen an diese Orte zu begeben. Es stellte sich heraus, dass die Cholera in Gibraltar sich stets in ver- schiedenen Teilen der Stadt sehr verschieden lokalisiert, und dass die epidemisch ergriffenen Teile an der steilen Abdachung des Berges auf muldenförmigem sehr porösem Boden stehen, in welchem sich sogar zahlreiche gegrabene Brunnen finden, ferner dass Felder von Malta so porös wie Berliner Sand sind, so dass daraus für die englische Marine Filter zur Klärung trüb gewordenen Trinkwassers auf Schiffen gemacht werden, und endlich dass die tief auf Rhonekies liegenden Teile von Lyon ihre Immunität den ausnahmsweisen eigentümlichen Grundwasserverbältnissen verdanken. Pettenkofer hat über diese Fälle sehr ausführlich in der Zeitschrift für Biologie berichtet, worauf wir verweisen müssen. In neuester Zeit soll auch Genua in auf kom- paktem Fels stehenden Stadtteilen epidemisch befallen worden sein, kofer’s, nur sind sie nicht so planvoll und ausgedehnt angestellt, und das zeitliche Moment ist nur sehr unvollkommen berücksichtigt. 550 Lehmann, Die Cholera und die modernen Choleratheorien. wie Koch dem Vernehmen nach bei der 2. Cholerakonferenz in Berlin mitgeteilt hat. Nähere Studien werden aber wohl auch diesen Fall aufklären, und es werden aller Wahrscheinlichkeit nach die Felsen von Genua bald das Schicksal der Felsen von Malta und Gibraltar erleiden. Pettenkofer begnügte sich aber von Anfang an nicht mit Be- tonung des örtlichen Moments, er hob stets hervor: da es vorkomme, dass ein Ort in mehreren aufeinanderfolgenden Landesepidemien bald epidemisch ergriffen sei, bald trotz einzelner eingeschleppter Fälle immun bleibe, da ferner die Choleraepidemien in Indien und außerhalb Indiens sehr regelmäßig nur zu gewissen Jahreszeiten gedeihen, so sei man gezwungen nach einem in der Zeit wechselnden Faktor zu suchen, der auf die Bodenverhältnisse von Einfluss sei. Es lag am nächsten, da Sommer und Winterepidemien beobachtet worden waren, die Temperatur also kaum eine hervorragende Rolle spielen konnte, nach allen oben mitgeteilten Beobachtungen in der wechselnden Feuch- tigkeit des Bodens die Ursache für die größere oder geringere Dis- position für eine Choleraepidemie zu suchen. Gleich als er diesen Gedanken zum ersten mal aussprach (1856), gab er auch schon ein Mittel an, das wenigstens für viele Orte in einfacher Weise einen Schluss auf die Durchfeuchtung der oberen Bodenschichten und deren Wechsel gestattet, die Beobachtung des Grundwassers. Dieser geniale Gedanke hat, weil er nicht ohne weiteres jedem einleuchtet und leider in manchen Orten auch Grundwasserbeobachtungen keinen Aufschluss über die Durchfeuchtung der oberen Bodenschichten geben, die Pettenkofer’sche Lehre für viele zu einem mystischen Phantasie- spiel gemacht. Erwägt man aber, dass unter normalen Verhältnissen das Grundwasser, d. h. das auf der ersten undurchlässigen Schicht des Bodens sich sammelnde Siekerwasser, nur dann steigt, wenn die darüber liegenden Bodenschichten soviel Wasser aufgenommen haben, als sie zurückhalten können, und dass es sinkt, wenn die Verdunstung aus den oberen Bodenschichten ein Nachrücken von Flüssigkeit aus dem Grundwasser durch Kapillarität hervorbringt, so ist ganz klar, dass Pettenkofer in dem Grundwasser einen Index für die Durch- feuchtung der oberen Bodenschichten erblicken durfte, wenigstens für Gegenden, in denen nicht der Flussspiegel höher als der Grund- wasserspiegel liegt, so dass ersterer stauend auf das Grundwasser wirkt. Im Jahre 1856 war nun die von Pettenkofer aufgestellte Theorie, dass ein rasches Steigen mit darauffolgendem, beträchtlichem, anhaltendem Sinken des Grundwassers ganz besonders disponierend für den Ausbruch einer Epidemie sei, bei der geringen Menge von Beobachtungen, mit der er seine Vermutung stützen konnte, in den Augen der Mehrzahl ein kühnes Wagstück. Die Theorie war nament- lich aus der Beobachtung entstanden, dass die Cholera sich 1854 in Lehmann, Die Cholera und die modernen Choleratheorien. 551 Bayern vorzüglich in einzelne Flussthäler zusammendrängte und aus der Ueberlegung, dass in Flussthälern namentlich im Unterlauf der Flüsse Gelegenheit zu Grundwasserschwankungen von besonderer Intensität gegeben sei. Pettenkofer hat sich aber nicht begnügt durch eine über- raschende Theorie zu blenden, sondern vom Augenblicke an, wo er die Hypothese aufgestellt, wurden von ihm, später auf seine Anregung hin auch von andern in verschiedenen Städten regelmäßige Grund- wasserbeobachtungen gemacht, die bald die glänzendsten Bestätigungen seiner Hypothese ergaben. Von Anfang an hatte Pettenkofer ausgesprochen, dass sich wie die Cholera wohl auch der Abdominaltyphus verhalten werde, und 1865 konnte Buhl nachweisen, dass ganz regelmäßig in Monaten mit steigendem Grundwasser die Zahl der im müncehner pathologischen Institut zur Sektion kommenden Typhusfälle ab- und bei sinkendem zunehme, dass die Typhusmortalität in Jahren mit niederem Grund- wasser ein Maximum erreiche und umgekehrt. Seidel, der berühmte Mathematiker, wies aus den Buhl’schen Zahlen nach, dass eine Be- ziehung von Grundwasserstand und monatlicher Regenmenge zur Typhusfrequenz in München mit einer Wahrscheinlichkeit von 36000 zu 1 bewiesen sei, welches Resultat andere Mathematiker nach andern Methoden bestätigten. Buhl verfügte damals erst über die Petten- kofer’schen Grundwasserbeobachtungen von 9 Jahren, als aber später auch die monatliche Zahl der Todesfälle der ganzen Stadt in ähn- licher Weise mit den Grundwasserständen von 30 Jahren verglichen werden konnten, trat wieder das gleiche Gesetz mit gleicher Schärfe hervor. Auch für Berlin ist durch Virchow’s Bemühungen das Pettenkofer-Buhl-Seidel’sche Gesetz, die regelmäßige Koinzidenz der Typhusmortalität mit den Grundwasserschwankungen bewiesen. Auch für die Cholera ließ sich in sehr vielen Epidemien nach- weisen, dass sie in trockne Zeiten fielen, die auf starke Bodendurch- feuchtung folgten, so bei den Epidemien in Sachsen des Jahres 1866, besonders aber bei der Epidemie des Jahres 1873/74 in München, wo die bei sinkendem Grundwasser im Juli ausgebrochene Epidemie durch die extremen Regengüsse des August zum Erlöschen gebracht wurde, um dann im November und Dezember, als das Grundwasser aufs neue: beträchtlich sank, mit erneuter Heftigkeit loszubrechen und trotz der Winterzeit mehr Opfer zu fordern als im Sommer. Dass auch in Indien, in der Heimat der Cholera, das zeitliche Moment eine ganz wesentliche Rolle spiele, ersah Pettenkofer zuerst aus dem 1865 erschienenen Buche Macpherson’s „Cholera in its home“ in deutlichen Zahlen. Als 1868 von der englisch -indischen Regierung zwei junge Aerzte, Douglas Cunningham und Timothy Lewis, zum Zwecke ätiologischer Studien;nach Indien geschickt wur- den, nahmen sie jihren Weg über München, wo sie Pettenkofer 552 Lehmann, Die Cholera und die modernen Choleratheorien. mit seinen Ansichten und Untersuchungen vertraut machte. Die nun folgenden Mitteilungen aus Indien bestärkten Pettenkofer in seinen Anschauungen immer mehr, wie aus seinem 1871 erschienenen Buche „Die Verbreitungsart der Cholera in Indien“ hervorgeht. Auch in Indien war den dortigen Beobachtern (Bryden, Mac- pherson, James Cuningham) schon immer aufgefallen, dass, wenn man die Zahl der Choleratodesfälle in den einzelnen indischen Distrikten nach Monaten zusammenstellt, für jeden Distrikt alljährlich ein gewisser charakteristischer Rhythmus im Anwachsen und Ab- nehmen der Cholerafregnenz hervortritt. Für diesen Rhythmus, der an den einzelnen Orten Indiens oft ein sehr verschiedener ist, ver- mochten die indischen Aerzte keinen Grund aufzufinden, trotz baro- metrischer, thermometrischer, hygrometrischer und anderer Unter- suchungen. Erst Pettenkofer gelang es zu zeigen, dass auch für Indien die variierenden Feuchtigkeitsverhältnisse des Bodens den Haupt- faktor in der zeitlichen Disposition bilden. Ich erwähne hier nur als Beispiele, dass der gleiche regenbringende Südwestmonsun, der von Juni bis September über das feuchte Gangesdelta (mit 62 Zoll Regen im Jahr) und das trockne Pendschab (mit 22 Zoll Regen im Jahr) hinweht, im ersteren stets die Cholera gegen Ende der Regen- zeit fast zum Erlöschen bringt, indem offenbar der Boden jetzt zu feucht für sie wird, während er im Pendschab und zwar nur in ge- wissen Jahren den nötigen Grad von Bodenfeuchtigkeit erzeugt, so dass die Cholera gedeihen kann. In Niederbengalen fällt jährlich das Choleramaximum nach Auf- hören der Regenzeit in die Monate Dezember und Januar, März und April (in die trockne Zeit), im Pendschab in den Monaten Juli und August (in die Regenzeit, in welcher in Niederbengalen das Choleramini- mum eintritt). So wie im Pendschab und in Niederbengalen die Regenzeit vom Südwestmonsun abhängt, steht die Stadt Madras unter dem Einfluss des Nordorstmonsuns; es fallen in Madras durchschnittlich 48 Zoll Regen, eine Menge, welche zwischen der von Caleutta und Lahore steht. Madras hat jährlich zwei Choleramaxima und Minima entsprechend der Menge und der Verteilung des Regens. Von April bis Juni gedeiht die Cholera in Madras wie in Lahore nicht wegen zu großer Trockenheit. Von Juli bis September fängt mehr Regen zu fallen an, und damit steigt wie in Lahore die Cholera- frequenz und erreicht sogar im August ein Maximum. Die Regen dauern nun fort, werden im Oktober und November sogar am kräf- tigsten, und dadurch sinkt wie in Caleutta die Cholerafrequenz auf ein Minimum im November und Dezember. Nach dem Aufhören des Nordostmonsuns steigt die Cholerafrequenz in Madras wieder ebenso an, wie sie in Caleutta nach dem Aufhören des Südwestmonsuns an- steigt, erreicht im Januar und Februar ein zweites Maximum, um dann wieder in den Cholerarhythmus von Lahore überzugehen und bei Lehmann, Die Cholera und die modernen Choleratheorien. 553 andauernder Trockenheit und Hitze von April bis Juni ein zweites Minimum zu zeigen. Nach allem gesagten ist also der Kern der Pettenkofer’schen Lehre: die Cholera wird durch den menschlichen Verkehr verschleppt, sie entwickelt sich aber nur an Orten zu Epidemien, die durch einen verunreinigten, porösen Boden und durch einen gewissen Wassergehalt disponiert sind!). Erst nachdem Pettenkofer diese epidemiologischen Gesetze klar erkannt, wendete er sich zu der Frage, wie der nähere Zusammen- hang zwischen dem menschlichen Verkehr und der disponierten Loka- lität beschaffen sein müsse, um eine Choleraepidemie zu erzeugen. Er fragte sich: (Verbreitungsweise der Cholera 1855 S. 266). „Was aber bringt der Mensch bei seinem persönlichen Verkehr in den Boden?“ Antwort „Harn und Kot, seine Exkremente, nichts anderes“. Petten- kofer stellte sich damals vor, dass in den Exkrementen des Cholera- kranken ein Organismus niederer Art vorhanden sei, der, ohne an sich die Krankheit erzeugen zu können, in den richtigen Boden gelangt eine Substanz bilde, die von da auf den Menschen und seine nächste Umgebung übergehe, sich aber nicht auf größere Entfernungen in der Luft wirkungsfähig verbreitet, und deren Einatmung in Konzentrierterer Form die Krankheit reproduziert (Hauptbericht S. 274 u. 75). Die Unsehädliehkeit der Exkremente, ehe sie in den Boden ge- langen, erschloss Pettenkofer namentlich aus der Immunität der Aerzte und Wärter in Choleraspitälern, wenn letztere sich auf immunem Boden befinden; darüber ob der im Boden entstehende Infektionsstoff ein Gift oder eine Metamorphose des ursprünglich im Darm vorhan- denen Organismus (im weitesten Sinne) sei, äußerte sich Petten- kofer immer nur mit der größten Reserve und mit dem vollkommen klaren Bewusstsein, dass zur Lösung dieser Frage Forschungen nach anderer Methode die seinen ergänzen müssten. Später, als immer zahlreichere Fälle vorkamen, bei denen man eine Verschleppung durch Gesunde oder leblose Gegenstände aus 4) Immer hat aber Pettenkofer zugegeben, in den von ihm ermittelten Faktoren für das Zustandekommen einer Epidemie erst einige der Haupt- bedingungen erkannt zu haben; als Delbrück z.B. auf die Bedeutung der Bodentemperatur aufmerksam machte, adoptierte er den Gedanken sofort, aller- dings ohne zu verkennen, dass gegenüber dem Wassergehalt die Bedeutung der Bodentemperatur stark zurücktritt. — Pettenkofer hat auch nie be- hauptet, dass unsere Kenntnisse über die Eigenschaften, die ein Boden haben muss, um vor der Cholera sicher zu schützen, im geringsten auf Vollkommen- heit Anspruch machen könnten; man lese nur sorgfältig nach, wie vorsichtig er sich über die Bedeutung des lehmigen Untergrunds für die Choleraimmunität an verschiedenen Orten ausspricht, und wie er stets zugibt, dass er weit ent- fernt ist mit Sicherheit jedesmal erklären zu können, warum einmal der Lehm- boden schützt, während der Schutz anderemale versagt. 554 Lehmann, Die Cholera und die modernen Choleratheorien. Choleraorten annehmen musste, fing Pettenkofer an zweifelhaft zu werden, ob die Exkremente überhaupt irgend etwas mit der Cholera- infektion zusammenhängendes enthielten. Es drängte sich mehr und mehr die Ansicht in den Vordergrund, der Pilz (als welchen Petten- kofer mit den Fortschritten der Kenntnis der Mikroorganismen den Choleraerreger sehr bald auffasste) lebt im Boden der durchseuchten Orte, gelangt von da in den Menschen, ohne dass er aber deswegen in dessen Dejektionen, sowenig wie der hypothetische Malariapilz in den Ausscheidungen der Malaria-Kranken enthalten, sein muss. Der aus der Lokalität stammende Cholerapilz kann durch Ge- sunde und Kranke sehr leicht in den Kleidern, in Wäschebündeln, vielleicht noch in andern Objekten des menschlichen Verkehrs ver- schleppt werden (wie z. B. Malaria durch Blumentöpfe voll Malaria- erde), und zwar in Mengen, die hinreichen, um einzelne Personen, die mit dessen Effekten in Berührung kommen, erkranken zu machen, dazu aber, dass eine Epidemie ausbricht, ist eine Vermehrung des Pilzes im Boden nötig. Ich möchte aber nachdrücklich betonen, dass Pettenkofer nie besondern Wert auf eine dieser Vorstellungen gelegt hat, es waren dies alles nur Versuche, die beobachteten Thatsachen der thatsächlich bestehenden örtlichen und zeitlichen Disposition und der Verbreitung der Cholera durch den Verkehr durch eine dem jeweiligen Stande unserer übrigen pathologischen und botanischen Kenntnisse ent- sprechende Hypothese vorläufig zu erklären. Nie hat Pettenkofer geleugnet, dass die Exkremente nicht doch, wie er anfangs vermutete, den Cholerakeim in irgend einer Form enthalten könnten, wenn man nur zugab, dass derselbe in ihnen aus irgend einem Grunde (zu ge- ringe Menge, abgeschwächte Virulenz ete.) nicht wirksam sei, und erst unter Mitwirkung des Bodens seine volle Malignität erlange. Was den Modus der Aufnahme betrifft, so hat sich Pettenkofer zwar stets mehr der Vorstellung einer Aufnahme durch die Lunge hingeneigt, aber nie die Möglichkeit der Aufnahme durch den Magen bestritten — nur eines hat er bekämpft, den Glauben, dass das Trinkwasser das gewöhnliche Vehikel für die Infektion sei. Nur ganz wenige Epidemien lassen sich ohne den Thatsachen die größte Gewalt anzuthun mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf Versorgung durch ein gemeinsames Trinkwasser zurückführen. Einige Fälle allerdings geben zu denken, so bleiben doch wohl trotz den Einwänden von Letheby die Ergebnisse der großen Unter- suchung von Snow und John Simon vom Jahre 1848 und 1854 im großen ganzen bestehen. Es wurde durch dieselbe nachgewiesen, dass in den gleichen Stadtteilen Londons, in den Häusern, die das unreine, unterhalb des Einflusses zahlreicher Kloaken geschöpfte Themsewasser der Southwark- und Vauxhallkompagnie hatten, 13°/,, an Cholera starben, während in den mit den ersteren untermischten von der Lehmann, Die Cholera und die modernen Choleratheorien. 555 Lambethkompagnie mit reinerem Wasser versorgten Häusern nur 3%/go der Bewohner starben. Auch für die Typhustrinkwasserepidemie vom Waisenhausberge zu Halle lässt sich die Bedeutung des Wassers nur unwahrscheinlich machen, nicht ausschließen. Die große Zahl der andern Wasserepi- demien aber haben sich fast stets als ungenaue Beobachtungen heraus- gestellt, wenn sie mit lokalistischem Augen geprüft wurden; ich erinnere bloß an die berühmte Epidemie in Eastlondon, an die vergeblichen äußert sorgfältigen Versuche Pettenkofer’s vom Jahre 1854 in München (das für solche Untersuchungen bis vor einigen Jahren wegen seiner komplizierten Trinkwasserverhältnisse besonders geeignet war), irgend einen Zusammenhang zwischen Cholera und Trinkwasser heraus- zubringen. Pettenkofer nimmt daher auch der bestbeglaubigten Londoner Epidemie von 1854 gegenüber einen skeptischen Standpunkt ein, und fragt, ob nicht vielleicht der Untergrund und die nächste Umgebung der mit dem sehr unreinen Wasser nieht nur zum Trinken, sondern auch zum Waschen und Putzen versorgten Häuser dem eingeschleppten Pilze einen bessern Nährboden geboten habe und deshalb die betreffenden Häuser stärker befallen worden seien. Endlich ist noch zu erwägen, ob nicht selbst für den Fall, dass Pilze in das Leitungswasser gelangt waren, die Epidemie zu stande kommen konnte, ohne dass ein Tropfen Wasser getrunken wurde? Nehmen wir an, dass von dem pilzhaltigen Wasser in den Untergrund der Häuser kam, dass sich in diesem die Pilze vermehrten und in einem konzentrierten Zustande in den Menschen gelangten, so wer- den wir das gleiche Bild erhalten, wie es jetzt bei den sogenannten Trinkwasserepidemien beschrieben wird. Suchen wir zum Schlusse die Hauptdifferenz der beiden Theorien herauszuheben, so lautet sie: Koch und die Kontagionisten nehmen in den Entleerungen des Menschen den Cholerainfektionsstoff fertig an und glauben ihn im Kommabaeillus gefunden zu haben; Koch leugnet einen mehr als nebensächlichen Einfluss von örtlichen und zeitlichen Bedingungen auf das Zustandekommen von Epidemien und betrachtet als häufigstes Vehikel für die epidemische Infektion das Trinkwasser. Nach Pettenkofer’s Anschauung sind die Cholera- dejektionen an sich ganz ungefährlich, der Infektionsstoff, der auch als Pilz gedacht wird, lebt im Boden und befällt den Menschen wahr- scheinlich durch Vermittlung der Luftwege. Ob die Dejektionen den Pilz gar nicht oder in einer ungefährlichern Form enthalten, ist noch unentschieden. Pettenkofer denkt sich also die Infektion bei der Cholera ähnlich wie bei Malaria, die Verschleppung der Cholera durch Verschleppung eines Teils oder eines Produkts der Cholera- lokalität. 556 Lehmann, Die Cholera und die modernen Choleratheorien. IV. Cuningham’s Buch. Cuningham spricht als seine Absicht aus, mit Vermeidung aller theoretischer Spekulationen bloß die „great facts“, die er in den 33 Jahren seines indischen Dienstes kennen lernte, mitzuteilen und sie zur Kritik der Mittel zu verwenden, welche bisher zur Bekämpfung der schrecklichen Seuche praktisch angewendet worden sind. Die Thatsachen, die er beibringt, sind ebensoviele Bestätigungen der Ansichten Pettenkofer’s, als Rätsel für die Kontagionisten. Pettenkofer hat sich im 3. Bande des Archivs für Hygiene (S. 129 bis 146) ausführlich über Cuningham verbreitet, ich habe im folgenden seine Ausführungen vielfach benutzt, und einen Teil der Sätze, die er aus Cuningham’s Schrift abgeleitet hat, wörtlich ge- geben. Die Cholera ist keine kontagiöse ansteckende Krankheit. Es gibt in Indien Gebiete, wo die Cholera das ganze Jahr nie erlischt, wenn auch ihre Heftigkeit in den einzelnen Monaten eine sehr verschiedene ist (endemisches Gebiet), in andern Gegenden herrscht sie nur in größeren Zeitintervallen (epidemisches Gebiet). Sowohl im endemischen, als im epidemischen Gebiete zeigen einzelne Orte und Distrikte eine sehr verschiedene Cholerafrequenz, im epidemischen Gebiete gibt es choleraimmune Orte, z. B. Montgomery und Multan, während die be- nachbarten Städte Amritsar und Lahore öfters sehr schwere Epide- mien hatten. Oertliche und klimatische Bedingungen spielen beim Zustandekommen einer Epidemie eine sehr wichtige Rolle. Zur Illu- stration dieser Facta teilt Cuningham eine Fülle von Tabellen mit, die nach Provinzen und Distrikten geordnet von den Jahren 1871—1882 angeben: 1) die durchschnittliche Bevölkerungszahl, 2) die Zahl der in jedem Monat dieser 12 Jahre registrierten Choleratodes- fälle, 3) die Gesamtsumme der Todesfälle, 4) die Durchschnittszahl der jährlichen Todesfälle auf je 10,000 Einwohner, 5) das Maximum der in irgend einem der 12 Jahre vorgekommenen Todesfälle, endlich 6) die Anzahl der Jahre, in welchen die Zahl der Todesfälle 1 per 10,000 überstieg. Diese Tabellen enthalten wirklich „great facts“, große Thatsachen, deren genaues Studium jedem Epidemiologen empfohlen werden muss, für welche die Kontagionisten keine Erklärnng haben, und die sie nur durch Ignorierung zu bekämpfen vermögen. Aus diesen Tabellen ersieht man, wie ungleich bei aller Gleichmäßigkeit des Verkehrs die Cholera sowohl auf verschiedene Gegenden, als auch in verschiede- nen Gegenden auf verschiedene Jahreszeiten sich verteilt. In den Zentraldistrikten des endemischen Gebietes starben von 1871 bis 1882 Jährlich durchschnittlich 18,1 pro 10,000 Einwohner an Cholera, im Pendschab nur 2,2. Auf die einzelnen Monate des Jahres verteilen sich prozentisch die Cholerafälle ganz anders in Niederbengalen, als im Pendschab. Lehmann, Die Cholera und die modernen Choleratheorien. 557 ES - =. @ - |098 „\s|/2|s 3 258 7 F-E- u: SE NEE SEN 2 ZU EFSDND Ben Sn een ee SunS Bi Bu NS sk | A << s» | rs << na|O IA |ıA ei Nieder- | | al bengalen 12,1 6,810,717,910,1| 3,3| 1,5) 1,1 1,1) 3,5 12,2119,7— 100 0,1 0,2) 0,1) 1,9) 7,6,12,9]14,0 25,824,311,2| 1,7) 0,2] 100 Kor) [0 e) Pendschab; Im westlichen Pendschab im Distrikte Multan mit 505,872 Ein- wohnern sind binnen 12 Jahren gar nur 37 Choleratodesfälle vorge- kommen, während in einem andern Teile des Pendschab, im Distrikte Lahore mit 849,828 Einwohnern in derselben Zeit 5037 vorkamen. Die Immunität von Multan war am auffallendsten im Jahre 1879, als der große Choleraausbruch unter den Pilgern in Hardwar erfolgt war, und als sich ein großer Pilgerstrom grade nach Multan zog, wo er die Eisenbahn erreichte, die von Lahore über Multan nach Karratschi führt. Aus diesen Tabellen ersieht man auch, dass das Pendschab trotz seiner so innigen und nahen Berührung mit Niederbengalen, dem endemischen Choleragebiete, weniger für Cholera disponiert ist, als das Königreich Preußen, wenn die Cholera in Europa herrscht. Im Königreich Preußen starben, wie die Tabellen von Brauser ergeben, von 1848 bis 1859, also in gleichfalls 12 Jahren bei einer Bevölkerung von 17,739,913 an Cholera 167,039 Personen, mithin durchsebnittlich in einem Jahre 7,84 pro 10,000, im westlichen Pendschab mit 13,350,741 Einwohnern nur 2,20. Diese wichtigen Ergebnisse der reichen indischen Erfahrung Cu- ningham’s harmonieren auf das vollkommenste mit dem, was nach Pettenkofer’s Theorie zu erwarten war, und soweit herrscht voll- ständige Uebereinstimmung zwischen beiden Forschern. Dagegen be- reitet Cuningham allen europäischen Choleraforschern mit ganz verschwindenden Ausnahmen eine außerordentliche Ueberraschung, indem er leugnet, dass die Cholera überhaupt durch den mensch- lichen Verkehr verbreitet werde. Es drängen ihn also seine Erfah- rungen auf den Standpunkt der Miasmatiker von 1830, und es könnte scheinen, dass die verflossenen 50 Jahre trotz- der Anstrengung so vieler Forscher unsere Erkenntnis in der Cholerafrage gar nicht ge- fördert haben. Wie erklärt sich das? Was hat Cuningham für Gründe, dass er es wagt, den einzigen Punkt, über den die europäische Cholera- forschung einig ist, zu bekämpfen? Seine Gründe sind zum Teil in der That schwerwiegend und verdienen ein ernstes Nachdenken, denn es sind Thatsachen, für die ihm die Statistik die Zahlen in die Hand gibt. Aegypten, das in fortwährendem Verkehr mit Indien steht, hat 558 Lehmann, Die Cholera und die modernen Choleratheorien. seit der ersten großen Pandemie von 1830 viel weniger an der Cholera gelitten, als sehr viele weit entfernte Länder, die mittel- und ost- europäischen Staaten, Russland, Oestreich und Deutschland waren viel öfter befallen. Die Thatsache, dass seit 1869, wo der Suezkanal eröffnet wurde, sich der ganze indo-europäische kolossale Verkehr fast ausschließlich über Aegypten bewegte, hat keine öfteren Epidemien in Aegypten entstehen lassen als vorher, von 1865—1883 war es sogar ganz cholerafrei. In Indien selbst ließ sich keine raschere Ausbreitung der Cholera, keine andere Richtung in den Hauptzügen der Seuche entdecken, seit ein Schienennetz das Land durchzieht. Die eirca 3 Millionen Pilger, die sich von Hardwar aus 1867 und 1879 über das Land nach allen Richtungen verbreiteten, verursachten nicht etwa eine ähnliche Invasion der Seuche im ganzen Lande, sondern die Cholera breitete sich beide mal nur nach einer Richtung aus. Cuningham geht soweit, die sporadische europäische Cholera nostras mit der sporadischen und epidemischen indischen zu identifizieren. Wie denkt sich Cuningham nun die Choleraätiologie? Eine bestimmte atmosphärische Veränderung, unmerklich für den Menschen, verbreitet sich meist mit mäßiger Geschwindigkeit bald mit, bald gegen den Wind, wer disponiert ist und in den Strich des Miasmazuges gerät, wird befallen. Ueber Land und Meer zieht die atmosphärische, verderbenbringende Veränderung, „the Cholera wave“, das Schiff, das sie streift, das Heer, das sie anweht, erkrankt. Dieses Miasma entsteht im endemischen Gebiete, mehr oder we- niger fortwährend, an andern Orten zu Zeiten autochthon und breitet sich von denselben weiter aus. Für die Art dieser atmosphärischen Veränderung fehlt jede Andeutung. Wie kommt Cuningham zu dieser seltsamen an die ältesten Zeiten der Medizin mahnenden Vorstellungen ? Er kennt wohl „the great facts“, die Resultate der Statistik, aber auf seiner hohen Warte scheint er kein Auge mehr zu haben für die vielen kleinen Thatsachen, deren Beobachtung für einen epide- miologischen Schluss unumgänglich nötig sind; es fehlt die Berück- sichtigung der Ausbreitung der Epidemie im einzelnen kleinen Distrikt, im einzelnen Haus. Außerdem mag Indien, wo die Cholera oft jahre- lang in größeren Teilen des epidemischen Gebietes (vom endemischen ganz abgesehen) mit größerer oder geringerer Intensität herrscht, kein günstiges Gebiet für epidemiologische Beobachtungen darstellen. Bei der Möglichkeit einer Einschleppung von den verschiedensten Orten her, der gewiss oft sehr schwer auszuschließenden Wahrschein- lichkeit, dass im Boden gelagerte Keime vom letzten Jahre her sich wieder aufs neue vermehren, dürfte die Konstatierung der für den Beweis einer Einschleppung nötigen Thatsachen oft sehr viel schwerer sein als bei uns. Lehmann, Die Cholera und die modernen Choleratheorien. 559 Die Verbreitung der Cholera durch den Verkehr ist von den sorg- fältigsten Beobachtern in Europa zu oft konstatiert worden, als dass daran gezweifelt werden könnte; ein besonders wertvolles und einwand- freies Beispiel von der Notwendigkeit des menschlichen Verkehrs, das Pettenkofer Cuningham entgegenhält, bildet die kleine hafen- lose Insel Gozo, die mit Europa und Aegypten nie direkt, sondern immer nur über das benachbarte Malta verkehrt, dafür auch stets und in allen Choleraepidemien erst mehrere Wochen nach Malta von der Cholera befallen wurde. Ebenso weist Pettenkofer auf die große Zahl tadellos konstatierter Beispiele hin, wo in einer Stadt nur die paar Personen, die mit einem Cholerakranken und seiner Wäsche ver- kehrt hatten, erkrankten — Fälle, die sich Pettenkofer nicht vom Kranken ausgehend, sondern so erklärt, dass er annimmt, der Kranke habe in seinen Kleidern oder Wäsche oder sonst irgendwo eine grade zur Infektion von einigen Menschen hinreichende Menge Infektionsstoff aus einem Choleraorte mitgebracht, in der betreffenden Stadt aber habe der Keim keinen günstigen Boden zu seiner Vermehrung gefunden. Hätte Cuningham die unumstößlichen in Europa gesammelten Detailerfahrungen über die Bedeutung des Verkehrs selbst mitgemacht, er würde nicht nur für die Choleraverhältnisse Indiens, sondern auch für das allerdings höchst auffallende lange Freibleiben Aegyptens von der Seuche lieber nach örtlichen und zeitlichen Faktoren gesucht, als die verschwommene Hypothese von der „Cholera wave“ adoptiert haben. Die Schutzmaßregeln, zu denen Cuningham nach seinen Erfah- rungen allein Vertrauen hat und die sich auch sehr vielfach bewährt haben, sind die stets auch von Pettenkofer gepredigten: rechtzei- tiges und methodisch durchgeführtes Reinhalten von Boden, Luft und Wasser, Drainage, Kanalisation, Wasserversorgung — kurz alle sani- tären Verbesserungen. Den Versuchen der Trinkwassertheoretiker, in der Art der Wasser- versorgung allein die Ursache zu finden, warum manche Städte be- fallen, andere immun sind, warum der Gesundheitszustand einzelner Städte sich in neuerer Zeit gebessert hat ete., tritt Cuningham mit dem Satze entgegen: „Der Trinkwassertheorie widerspricht die gesamte Geschichte der Cholera in Indien“; leider müssen wir uns versagen Cuningham in das Detail der Beweise zu folgen, durch die er scharfsinnig und schlagend die Behauptung widerlegt, dass z. B. die Stadt Caleutta, das Fort William, die Gangesauswanderer- schiffe ihre geringere Mortalität der Versorgung mit besserem Trink- wasser verdankten. Gegen Koch führt Cuningham eine sachliche, aber scharfe Polemik, in der er ihm Leichtfertigkeit in den Schlüssen, die er aus den von ihm beobachteten Thatsachen zieht, und mangelhafte Kenntnis der faktischen epidemiologischen Verhältnisse Indiens vorwirft; auch hierfür sei auf das Original verwiesen. 560 Lehmann, Die Cholera und die modernen Choleratheorien. Sehr energisch tritt Cuningham den Versuchen, durch Kordone und Quarantänen etwas gegen die Cholera auszurichten, entgegen: man könne ebensogut Schildwachen gegen die Monsune wie Kordone gegen die Cholera aufstellen. Die englische Regierung sei sogar dazu geführt worden, jede Art von Kordon zu verbieten, da sich diese an- geblich prophylaktische Maßregel als ganz nutzlos, ja schädlich heraus- gestellt hat. Ist die Cholera einmal ausgebrochen, so empfiehlt Cu- ningham möglichst wenig in die Wünsche der Kranken und ihrer Angehörigen einzugreifen, die Kranken nicht zwangsweise in Cholera- spitäler abzuführen, die Angehörigen der Kranken nicht in ihre Woh- nungen einzusperren, sie aber ebensowenig zum Verlassen ihrer Woh- nungen zu zwingen, sondern dafür zu sorgen, dass sie gut genährt und gekleidet seien und bei jeder verdächtigen Erkrankung sofort ärztliche Hilfe finden. Soldaten und Gefangene sollen dagegen -so rasch als möglich die ergriftenen Wohnplätze verlassen und immune Stationen aufsuchen, Privatpersonen, die es in ihrer Gewalt haben, sollen überhaupt einen Choleraort nicht betreten, oder ihn verlassen. Man sieht, die von Cuningham beobachteten Thatsachen bieten für ihre Erklärung den Kontagionisten unendlich viel mehr Schwierig- keit als den Lokalisten, die Maßregeln, zu denen diese Thatsachen die indische Regierung geführt haben, harmonieren auch vollkommen mit denen, die Pettenkofer stets empfahl; nur in der Theorie, die Cu- ningham eigentlich ganz hatte vermeiden wollen, liegt ein Unter- schied. Während Pettenkofer die Verbreitung durch den Verkehr annimmt, aber weder mit Sicherheit angeben kann, in welcher Form, noch durch welches Vehikel der Keim transportiert werde, noch wie lange der Keim nach seiner Einschleppung unter Umständen schlum- mern könne, bis er Infektionen bedingt — negiert Cuningham diese Verschleppbarkeit eines noch unbekannten Keimes grade zu. Es scheint mir, die verschiedene Uebersichtlichkeit der Verhältnisse in Europa und Indien erkläre diese theoretische Differenz genügend, deren praktische Bedeutung für die Prophylaxe gleich Null ist, da wir uns gegen einen unsichtbaren, durch den Menschen leicht verschlepp- baren Keim nur durch Abhaltung aller möglicherweise mit Cholera- orten in Verbindung gekommenen Objekte schützen könnten, was gradeso unmöglich ist, als die Abhaltung von Cuningham’s atmo- sphärischer Cholerawoge. Wenn wir auch Cuningham’s Theorie der autochthonen Ent- stehung der Cholera nie annehmen werden, so müssen wir doch immer die vielen unumstößlichen Thatsachen anerkennen und hochschätzen, die er gebracht hat, und welche deutlich zeigen, dass der ganze Choleraprozess unmöglich ein so einfacher sein kann, wie sich ihn die Kontagionisten gerne vorstellen möchten. Karl B. Lehmann (München). (Eine Nachschrift folgt.) Ludwig, Die Gallenblüten und Samenblüten der Feigen. 561 Die Gallblüten und Samenblüten der Feigen, eine neue Kategorie von verschiedenen Blütenformen bei Pflanzen der nämlichen Art’). Die Anpassungen der Blumen an die Bestäubung vermittelnde Tiere beruhen zumeist in der Darbietung und Augenstellung beson- derer Genussmittel, oder, für die Hymenopteren, Materialien zum Nest- bau (bei den meisten Honig- und Pollenblumen), in selteneren Fällen in der Darbietung eines wohnlichen Obdaches. |In einzelnen Fällen, wie bei unseren Lemna- Arten, besorgen an der Oberfläche des Was- sers umherschwimmende Insekten, wie ich selbst nachgewiesen habe?) — Schnecken, nach Delpino’s Vermutung — die Bestäu- bung, ohne eine besondere Gegenleistung zu empfangen. Diese Pflanzen bedurften daher keiner andern Anpassung als einer geeigneten ört- lichen und zeitlichen Entfaltung von Staubgefäßen und Stempeln und einer Umgestaltung der Pollenkörner. Die Exine der letzteren ist stachlig|. Zu den eigentümlichsten dürften jedoch die Anpassungen an Insekten gehören, welche die Blüte zur Eiablage und zur Wiege für ihre gefräßige Nachkommenschaft auser- sehen haben. So sonderbar es klingen mag, dass eine Pflanze ihre Feinde, die ihre Brutstätte in dem edelsten Teile der Blüte anlegen, besonders anlockt und dieselben als Bestäubungsvermittler willkommen heißt, so wenig lässt sich doch diese Thatsache leugnen. Die erste Pflanze, die hierher gehört, ist Yucca (Y. recurvata ete.), die nach den schönen und eingehenden Untersuchungen von Charles V. Riley?) in ihrer Heimat durch die Yucca-Motte, Pronuba Yuccasella Ril., be- stäubt wird. Die Motte legt ihre Eier in die Ovarien von Yucca, nachdem sie den Narbentrichter voll Blütenstaub gestopft und so die Pflanze befruchtet (und damit für die Entwicklung der Ovarien ge- sorgt) hat. Narbentrichter und Blume von Yucea sind nicht nur dieser Bestäubungsart angepasst, sondern auch die 2 Motte hat eine besondere (dem 5 fehlende) Anpassung, insofern ihr Kiefertaster zu 1) Vgl. Biol. Centralbl., 1884, IV, Nr. 8, S. 225—234. 2) Ludwig, Ueber die Bestäubungsverhältnisse einiger Süßwasserpflanzen und ihre Anpassungen an das Wasser und gewisse wasserbewohnende Insekten. Kosmos, 1881, V, 8. 7 ff. 3) Charles V. Riley. On a new Genus in the Lepidopterous Family Teneidae, with Remarks on the Fertilisation of Yucca. Transact. Acad. Sei. St. Louis, p. 55—69, 1873. — Supplementary Notes on Pronuba Yuccasella. Ibid. p. 178—180, 1873. — On the Oviposition of the Yucca moth. Ibid. 1875, Vol. Ill, Nr.2. — Further Remarks on Pronuba Yuccasella and the pollination of Yucca. Ibid. 1878, Vol. II, Nr. 4, p. 568. — Further Notes on the Polli- nation of Yucca and on Pronuba and Prodooeus. Proc. Amer. Assoc. Adv. Sci., 1880, p. 617—639. — Vgl. auch H. Müller, Fertilisation of Flowers, p- 551—552 u. Eneyclopädie d. Naturw., Breslau, Trewendt, Bd. V, Heft, 1879. 36 562 Ludwig, Die Gallenblüten und Samenblüten der Feigen. einem sehr voluminösen Pollen-Sammelapparat sich umgestaltet hat. Von den (wenigen) Larven verzehrt zwar jede 18—20 Samen, doch bleiben zur Fortpflanzung noch genügend viele übrig, da über 200 Sa- men in jedem Fruchtknoten gebildet werden. Eine weitere Anpassung an die Brutpflege der (Bestäubung ver- mittelnden) Insekten stellen die eigentümlichen Infloreszenzen und Blüteneinriehtungen der Feigen dar. Die Bestäubungsvermittler sind hier die gallbildenden Wespen aus der Gruppe der Chaleidier. Die Beziehungen dieser Insekten (des Cynips pienes L.) zur Befruchtung der Feigen waren schon den Alten bekannt, wenigstens wurde die Caprifikation — das Behängen der blühenden Essfeige mit den wes- penhaltigen Feigen der Ziegenfeige, Caprificus — schon im Altertum betrieben, so wie sie noch jetzt in einigen Ländern, z.B. in Griechen- land, in dem frühern Königreich Neapel ete. gebräuchlich ist. Und doch sind erst neuerdings diese Beziehungen völlig klargestellt wor- den. Wir gehen auf die umfangreiche Literatur über die Caprifika- tion hier nicht näher ein !), sondern unterwerfen nur die neuesten Entdeckungen des Grafen zu Solms-Laubach („Die Geschlechts- differenzen bei den Feigenbäumen“ Bot. Ztg. 1885 Nr. 33—36) einer kurzen Besprechung. Bei einer größern Anzahl von Feigenarten, die Graf Solms auf Java untersuchte, fanden sich neben den männlichen Blüten zweierlei wesentlich verschiedene weibliche Blüten, von denen die einen mit kurzem der Legröhre der Wespen angepassten Griffel ohne Narbenpapillen allein die Eier der Inquilinen aufzunehmen im stande sind, und deren Fruchtknoten ohne vorhergehende Be- fruchtung durch Gallbildung anschwellen und den Inquilinen die nö- tige Nahrung gewähren, während dieanderen, mit langem meist gebogenem Griffel und entwickelten Narbenpapillen ver- sehen, nieht angestochen werden können. Die ersteren werden Gall- blüten, die letzteren Samenblüten genannt. Bei der gewöhn- lichen Feige, Ficus Carica, deren Inquiline Blastophaga grossorum Grav. (= Cynips psenes L.) ist, wie bei einer größern Anzahl an- derer Arten, nämlich bei Ficus hirta Vahl (bestäubungsvermittelnder Inquiline Dlastophaga japonica G. Mayr), F. diversifolia Bl., (In- quiline Blastophaga quadripes G. M.), F. Ribes Migqg. (Inqu.: Dlasto- phaga crassipes G. M.), F. subopposita Mig. (Inqu.: BDlastophaga con- stricta G. M.), F. canescens Kurz (Inqu.: Bl. Solmsi G. M.), F. Cepi- carpa Miq. (Inqu.: Bl. bisulcata G. M.), kommen zweierlei Stöcke 1) Einige der wichtigsten neueren Arbeiten sind: Graf zu Solms-Laubach, Herkunft, Domestikation und Vaterland des gewöhnlichen Feigenbaums. Göt- tingen 1882. — Fritz Müller, Caprificus und Feigenbaum. Kosmos V, 3. Ref. hierüber, wie über Arbeiten von Mayr. Cohn, Rudow, Huth s. Bot. Centralbl. Bd. VIII u XI. Ludwig, Die Gallenblüten und Samenblüten der Feigen. 563 vor, von denen die einen in ihren Feigen nur weibliche Samenblüten, die anderen (männlichen Stöcke) in dem obern Teile unter der Ausgangsmündung männliche Blüten, darunter früher zur Entwicklung kommende Gal- lenblüten erzeugen. Die Inquilinen kommen hier also nur auf den g' Stöcken in den Gallblüten zur Entwicklung. Sie finden beim Verlassen ihrer Feigen reifen Blütenstaub vor, den sie nach den weiblichen Feigen anderer Stöcke tragen. In letzteren können sie aber nur Bestäubung vollziehen; die Versuche, Eier daselbst abzu- "legen, misslingen. Der Caprificus der Ficus carica ist nichts anderes als der männliche, die Essfeige der weibliche Baum. Bei ersterem kommen mehrere Generationen von Infloreszenzen vor, deren wich- tigsten die überwinternden „Mamme“ und die später sich entwickeln- den „Profichi“ sind. Die Mamme enthalten nur 2 Gallblüten (und die überwinternde Generation der Blastophaga), während die Profichi nur in ihrem untern Kessel (etwa ?/,) Gallblüten (für die befruch- tende Inquilinengeneration), darüber unter dem Ausgang zahlreiche, viel später (bis monatelang später) dehiszierende männliche Blüten erzeugen. Um die Zeit der Entwicklung der letzteren sind die Sa- menblüten der weiblichen Stöcke der Essfeige empfängnisfähig. Ueber die Entwicklung der eigentümlichen Geschlechtsanordnung und der Zwiegestalt der 2 Blüten der Ficeae scheinen einige andere Arten den erwünschten Aufschluss zu geben. Bei dem Gummibaum Fieus (Urostigma) elastica (Inquiline Blastophaga clavigera G. M.) und anderen Urostigma-Arten, die dem ältesten Feigentypus anzugehören scheinen, ist noch die „synöcische“ Geschlechtsanordnung vorhanden: in ein und derselben Infloreszenz stehen männliche und weibliche Blüten regellos durcheinander, und die letzteren scheinen alle gleich zu sein, so dass es zufällig erscheint, ob aus ihnen samenbergende Früchte oder Gallen werden. Bei anderen Ficus- und Urostigma- Arten (z. B. U. religiosum mit dem Inquilinen Blastophaga quadrati- ceps) hat sodann eine Scheidung in eine vordere g' und eine hintere 2 Blütenzone stattgefunden. Weiter findet erst eine Scheidung in langgriffelige (und damit dem Einstich der Inquilinen entzogene) Sa- menblüten und kurzgriffelige der nun überflüssigen Narbenpapillen entbehrende Gallenblüten statt, die aber zunächst noch regellos beisammen stehen (z.B. bei Ficus |Sycomorus| glomerata mit dem In- quilinen Blastophaga fuscipes G. M.). Aus der synöcischen Anordnung dürfte sich dann eine vollkommene Geschlechtstrennung herausgebildet haben, indem für die 2 Blüten durch gesteigerte Griffelverlängerung die Möglichkeit der Gallenbildung verloren ging u. s. w. — Uebri- gens hat sich bei den eine so hohe Anpassung an Insektenbefruchtung verratenden Ficeen in der Gattung Sparatosyce doch auch ein wind- blütiger Entwicklungszweig erhalten. Die Geschichte der Entdeckung dieser eigentümlichen mit weib- 36* 564 Salensky, Zur Entwicklungsgeschichte von Vermetus. lichem Dimorphismus verbundenen Diöcie bei den Ficeen ist von be- sonderem Interesse für die Biologie, indem sie eine neue Bestätigung der modernen Blumenlehre liefert. Die schönen und wichtigen Ent- deckungen des Grafen zu Solms-Laubach sind nämlich, kurz bevor sie wirklich gemacht wurden, aufgrund der neuen von H. Müller u.a. ausgebildeten Blumenlehre theoretisch abgeleitet und vorausgesagt worden von dem genialen Biologen Fritz Müller. Wie einst Le Verrier den Neptun vorausberechnete, bevor er wirklich entdeckt wurde, so hat letzterer die überraschenden höchst eigenartigen bio- logischen Verhältnisse theoretisch aufgefunden, die dann Graf zu Solms-Laubach in der Natur wirklich vorfand. F. Ludwig (Greiz). Zur Entwicklungsgeschichte von Vermetus. Von Prof. W. Salensky in Odessa. Die Eier von Vermetus werden bekanntlich in besonderen Säck- chen abgelegt, die an der innern Seite der Schale befestigt sind. Gewöhnlich trifft man bei einem und demselben Individuum Eier in den verschiedensten Entwicklungsstadien, die aber wegen ihrer Un- durchsichtigkeit für die Beobachtung im frischen Zustande ganz un- brauchbar sind; jedoch lassen sich dieselben gut konservieren und, bei der Beachtung gewisser Vorsichtsmaßregeln, in Schnitte zerlegen. Da der Dotter der gehärteten Eier sehr brüchig bleibt, die Zellen des Ektoderms aber ungemein dünn sind, so bedeckt man am besten die Schnittoberfläche mit einer dünnen Schicht Kollodium, bevor man den Schnitt macht. In den jüngsten, noch ungefurchten Eiern, kann man schon von außen einen kleinen protoplasmatischen und größern deutoplasmati- schen Teil unterscheiden. Die Ausscheidung der Richtungsbläschen wurde von mir nicht beobachtet. Die ersten Furchungsstadien sind denjenigen anderer Mollusken sehr ähnlich: auf die Zwei-Teilung folgt die Drei- und Vier-Teilung des Dotters, nach welcher am Bildungs- pole des Eies in bekannter Weise bezw. durch die Abschnürung der protoplasmatischen Teile der Makromeren die 4 Mikromeren entstehen. Die Mikromeren zweiter, dritter und vierter Generationen schnüren sich ebenfalls von Makromeren ab. Es. geschieht wahrscheinlich überhaupt keine Teilung der Mikromeren, bevor nicht die Zahl der- selben auf 16 gestiegen ist. Nach der Sechzehn - Teilung der Mikromeren fängt die Epibolie an. Die Mikromeren platten sich ab, breiten sich auf der Oberfläche des Eies bedeutend aus und fangen an, die Oberfläche der Makro- meren zu umwachsen. Die Zahl der an der Epibolie sich beteiligen- den Mikromeren ist ziemlich unbedeutend; deswegen glaube ich, dass Salensky, Zur Entwieklungsgeschickte von Vermetus. 565 « die Vermehrung derselben, nachdem ihre Zahl auf 16 oder 32 gestie- gen ist, sehr langsam vor sich geht. Nachdem ungefähr ?/, des Eies durch Mikromeren umwachsen ist, plattet sich cas Ei in seiner dorso- ventralen Axe ab und krümmt sich nach der ventralen Seite, so dass daselbst eine kleine, von Makromeren begrenzte Vertiefung entsteht, welche man vorläufig als Archenteron bezeichnen kann, obgleich die sie begrenzenden Makromeren nicht ein definitives, sondern ein pri- märes Entoderm darstellen. In der Mitte der ventralen Fläche des Bies, genau im Zentrum desselben, findet sich ein runder Blastoporus, welcher später immer weiter nach dem hintern Ende des scheiben- förmigen Eies rückt und eine ovale Gestalt annimmt. Die Rück- wärtsbewegung des Blastoporus fällt mit dem Beginn der Makro- merenteilung zusammen, welche letztere zunächst auf dem hintern Eiende auftritt. Die kleinen durch Teilung entstehenden Makromeren bilden die Anlage des sekundären bezw. definitiven Entoderms, wäh- rend die großen übrigbleibenden zum größten Teil als Nahrungsdotter funktionieren. Das Entoderm erscheint in Form eines kleinen aus polygonalen, protoplasmareichen Zellen bestehenden Haufens, welcher ziemlich rasch wächst, die Gastrulahöhle erfüllt und endlich die deutoplasma- tische Masse des primitiven Entoderms (Makromeren) verdrängt. Ursprünglich ragt dieser Entodermhaufen aus dem Blastoporus her- vor, später, wenn die Blastoporränder sich zur Bildung des Oeso- phagus nach innen hineinbiegen, stülpt er sich nach innen hinein. Der Blastoporus schließt sich bei Vermetus nicht, sondern geht unmittelbar in die Mundöffnung über! Das Mesoderm tritt viel später als das Entoderm auf. Es ent- steht am Rande des Blastoporus aus Ektodermzellen und besteht ursprünglich nur aus einer Zellenlage, bald wird es aber mehr- schichtig. Zur Zeit der Mesodermbildung erscheinen die ersten Anlagen des Fußes und des Velums. Die Anlage des Fußes ist durch eine axiale Reihe Wimperzellen angedeutet, die hinter dem Blastoporus nach hinten sich erstreckt und somit den axialen Teil des spätern Fußes bezeichnet. Zu beiden Seiten dieser Wimperleiste sind die Ektoderm- zellen etwas größer als in den übrigen Stellen des Körpers. Eine ähnliche Wimperleiste findet man auch am Kopfteile des Embryos, wo dieselbe zwischen den beiden Segeln liegt und auch in den spätesten Stadien sich erkennen lässt. Die Segel treten in Form von zwei aus großen Wimperzellen bestehenden bogenförmigen Leisten auf, die sich nach hinten krüm- men, niemals aber einen geschlossenen Ring bilden. Inbezug auf die Entwicklung der Organe will ich folgendes berichten. Die Kopf- und Fußganglien bilden sich unabhängig von ein- 566 Salensky, Zur Entwicklungsgeschichte von Vermetus. ander, und zwar tritt die Anlage der Kopfganglien viel früher als die der Fußganglien auf. Die Kopfganglien erscheinen zuerst in Form von zwei vor dem Velum liegenden ektodermalen Platten und sind von einander durch die erwähnte vordere Wimperleiste getrennt. Nachdem dieselbe etwas verdickt, stülpen sie sich in Form von kleinen flachen Grübchen nach innen hinein. Diese Einstülpungen dienen gleichzeitig als An- lagen für das Nervensystem sowie für die Augen; die letzteren stellen nichts anderes als Verdiekungen der hinteren resp. äußeren Ecken der Nerveneinstülpung dar und bleiben mit den letzteren während der ganzen Entwicklung verbunden. Die Augenanlagen werden hohl, auf ihrer Innenseite tritt ein schwarzes Pigment und in ihrer Höhle eine Linse auf. Sie bleiben in Form von zwei kugelrunden Blasen im Innern des Kopfes genau unter dem Ektoderm liegen und sind wäh- rend der ganzen Entwicklung mit den Kopfganglien aufs innigste verbunden. Was die Kopfganglien selbst anbetrifftt, so bilden sie in den mittleren Stadien zwei ziemlich große blinde Röhren mit engem Lumen, welches mittels einer schalenförmig erweiterten Oeffnung nach außen mündet. Sie richten sich schräg zum Oesophagus, wachsen an ihren blinden Enden in zwei Fortsätze, welche sich gegenseitig treffen und mit einander verwachsen. Bevor die Verwachsung stattfindet, verschwinden die Höhlen der Gehirnröhren; im Innern der letzteren bildet sich eine Punktsubstanz, während die zelligen Elemente die äußeren Teile der Ganglien einnehmen. Die Abtrennnng der Gang- lien erfolgt erst in den spätesten Entwicklungsstadien. Die Entwicklung der Gehörbläschen und ihre Beziehung zur Entwicklung der Fußganglien sind von denjenigen der Augen etwas verschieden. Die Gehörbläschen erscheinen schon zur Zeit, wo von Fußganglien noch keine Spur vorhanden ist. Sie treten an beiden Rändern des Fußes als kleine und flache Grübehen des Ektoderms auf, verwandeln sich aber durch Schließung ihrer Anlage in Blasen und schnüren sich vom Ektoderm ab. . Die Fußganglien bilden sich ebenfalls aus Ektoderm und zwar in folgender Weise. Zu beiden Seiten der Wimperleiste des Fußes findet man gleich nach der Bildung der Gehörbläschen zwei Ektodermverdiekungen, die durch ihre höheren zylindrischen Zellen von dem übrigen Teile des Fußektoderms sich unterscheiden. Da dieselben eine Art Platten bilden, so werde ich sie als Nervenplatten bezeichnen. Das Wachstum der Nervenplatten geht in den ersten Stadien ziemlich langsam vor sich: man erkennt kaum eine wahr- nehmbare Veränderung in ihrer histologischen Struktur bis zu dem Stadium, wo die Segel schon bedeutend gewachsen sind. Es tritt dann eine Vermehrung der Zellen der Nervenplatten ein; die letzteren werden an ihren Rändern zwei- und später mehrschichtig, ragen etwas in die Höhle des Fußes hervor und sind aus polygonalen Zellen Salensky, Zur Entwicklungsgeschichte von Vermetus. 567 zusammengesetzt. Die Bildung der Fußganglien muss sehr rasch vor sich gehen, indem bei den Embryonen, welche äußerlich sich wenig von einander unterscheiden, schon große Abweichungen in der Ge- stalt und in dem histologischen Bau der Ganglien bemerkbar sind. Nachdem die Wucherung der Nervenplattenränder weit vorgeschritten ist, geschieht die Abtrennung derselben vom Ektoderm. Die Gang- lien, welche zwei kleine Zellenhaufen darstellen, liegen hinter den Gehörbläschen und werden bald nach ihrer Scheidung vom Ektoderm durch Mesoderm umwachsen. Die Schlundkommissur entsteht in Form von zwei lateralen Fort- sätzen der Gehirnganglien, welche nach unten gegen die Fußganglien wachsen und endlich mit den letzteren sich verbinden. Die Hauptmomente in der Entwicklung des Nervensystems von Vermetus bieten interessante Beweise der Homologie zwischen den verschiedenen Teilen des Nervensystems der Mollusken mit denjenigen der Anneliden dar. Sie geben namentlich das Recht zu behaupten, dass die Kopfganglien der Mollusken denjenigen der Anneliden, und die Fußganglien der ersteren der Bauchganglienkette der letzteren homolog sind. Der Fuß von Vermetus ist der Sitz von ansehnlichen Drüsen, die erst gegen Ende der Entwicklung ihre vollständige Ausbildung er- reichen. Es sind nämlich zwei große Drüsen, welche man in den späteren Stadien bei den Embryonen von Vermetus wahrnimmt. Eine davon, die hintere, wurde schon von Lacaze Duthiers bei dem er- wachsenen Vermetus genau beschrieben. Sie stellt eine sackförmige Vertiefang des Ektoderms dar und nimmt den ganzen hintern Teil des Fußes ein. Die erste Anlage dieser Drüse trifft man schon in den jüngsten Entwicklungsstadien und zwar in Form einer kleinen Ektodermvertiefung, deren Zellen durch schleimiges Protoplasma von den übrigen Zellen sich auszeichnen. Die andere Drüse tritt am vor- dern Rande des Fußes auf. Sie erscheint erst in den späteren Ent- wicklungsstadien und unterscheidet sich von der oben erwähnten da- durch, dass sie aus einem kompakten Zellenhaufen besteht und mittels eines ziemlich langen zylindrischen Ausführungsgangs nach außen mündet. Ob diese letztere Drüse ebenfalls das ganze Leben hindurch persistiert, konnte ich nicht ermitteln. Das Mesoderm, welches bei seiner Entstehung nur eine Zel- lenschieht aufwies, wird später mehrschichtig und spaltet sich im Fuße in ein somatisches und ein splanchnisches Blatt, zwischen denen eine geräumige Leibeshöhle sich befindet. Hinter dem Fuße bleibt ein Teil des Mesoderms ungespalten; derselbe bietet die Anlage des Mus- culus collumelaris dar. Als eine Fortsetzung des letzterwähnten Teils des Mesoderms muss man die Anlage des Perieardiums betrachten, welche auf der rechten Seite des Embryos ziemlich früh erscheint. Dieselbe tritt zuerst in Form einer dünnen Mesodermschicht auf, die 568 Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamt. sich bald in zwei einschichtige Zellenlagen spaltet. Die zwischen den beiden Lagen sich befindende Höhle wird zur Pericardialhöhle und ist der Leibeshöhle vollständig homolog. Die äußere (somatische) Wand der Pericardialhöhle bleibt während der Entwicklung ziemlich unverändert; die innere (splanchnische) dient zur Bildung des Herzens. Die erste Anlage des Herzens entsteht dadurch, dass in der hintern Ecke der Perieardiumhöhle die splanchnische Wand vom Ento- derm sich abzuheben beginnt. Es entsteht in dieser Weise eine zwischen beiden Keimblättern liegende Höhle, die Herzhöhle. Indem die Ränder der Herzanlage zusammentreffen und miteinander ver- wachsen, verwandelt sich die rinnenförmige Anlage des Herzens in eine blasenförmige. In diesem Zustande verweilt das Herz ziemlich lange, bis in die späteste Zeit der Entwicklung, wo es bedeutend auswächst und sich weiter differenziert. Die Ausbildung des Mitteldarmes erfolgt nach dem Ausschlüpfen der Larve. Das Darmepithel, sowie wahrscheinlich auch das der Leber, bilden sich aus der peripheren Schicht des Entoderms. Der Hinter- darm entsteht dagegen schon in ziemlich frühen Stadien. Derselbe erscheint zuerst in Form einer kleinen aus zylindrischen Entoderm- zellen bestehenden Platte, die der Mantelverdiekung des Ektoderms anliegt. Später wächst diese Platte kugelförmig nach vorn aus, be- kommt eine Höhle und bricht mittels der Analöffnung nach außen hindurch. Oesophagus sowie der mit ihm verbundene Radulasack verdanken ihre Entstehung dem Ektoderm resp. den eingebogenen Rändern des Blastoporus. Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte. Ba. I Heft 1 und 2. Mit der Veränderung in der äußern Form der Publikationen aus dem Gesundheitsamte, wonach an Stelle der früher einmal des Jahres ausgegebenen „Mitteilungen aus dem kaiserlichen Gesundheitsamte“ nunmehr neben wöchentlichen regelmäßigen „Veröffentlichungen des kaiserlichen Gesundheitsamtes“ zwanglos erscheinende Beihefte unter dem obigen Titel herausgegeben werden, ist eine entschiedene Besse- rung zu begrüßen. Es ist dadurch eine frühere Veröffentlichung der Untersuchungen möglich, welche ja wegen des allgemeinen In- teresses, das die betreffenden Gegenstände zumeist bieten und dureh die Gediegenheit der Bearbeitung sich längst eine hervorragende Stelle in der Literatur errungen haben und dieselbe auch in der Zukunft behaupten werden. Aus dem Inhalt des ersten Doppelheftes sollen hier zunächst zwei zusammenhängende Arbeiten von Löffler und Schütz über den Rotlauf der Schweine besprochen werden. Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamt. 569 Nr. 3. Experimentelle Untersuchungen über den Schweine-Rotlauf, ausgeführt in der Zeit vom Juli 1882 bis Dezember 1883 von Stabsarzt Dr. Löffler. Löffler hatte im Juli 1882 in einem Stückehen Bauchhaut eines wegen Rotlaufs getöteten Schweines eine große Menge feinster Stäb- chen gefunden, welche in ihrer Form und Anordnung große Aehnlich- keit mit den Bacillen der Koch’schen Mäuseseptikämie zeigten. Den gleichen Befund konstatierte L. an Haut- und Organstücken, welche er von Geheimrat Koch zur Untersuchung erhielt, der sie vor einer Reihe von Jahren mehreren an Rotlauf gestorbenen Schweinen ent- nommen und in absolutem Alkohol gehärtet und konserviert hatte. Erst im November 1882 gelang es ihm frisches Material zu gewinnen und darin dieselben Stäbchen aufzufinden. Gleichzeitig wurde auch mit Organstücken dieses Tieres ein Infektionsversuch an einer weißen Maus und einem Meerschweinchen vorgenommen. . Letzteres blieb ge- sund, während die Maus nach 4 Tagen, während welcher sie ein der Mäuseseptikämie ähnliches Krankheitsbild geboten hatte, starb. Bei der Sektion fand sich neben beträchtlicher Rötung der Haut, rot- fleckigen Lungen, Milztumor, in fast allen Organen eine große Zahl der beschriebenen Bacillen. Dieselben wurden auch auf künstlichen Nährboden verimpft, und es entwickelten sich auf demselben ziemlich rasch Kulturen, die aus einer zarten den Impfstich wolkenartig um- gebenden Trübung bestanden und sich nur durch wenige Merkmale von dem Wachstum der Mäuseseptikämiebaeillen unterscheiden lassen. Sowohl die Weiterverimpfung von Blut als auch die Impfung mit Reinkultur hatte stets die gleiche Erkrankung der Versuchstiere zur Folge mit typischem Sektionsbefund und Nachweis der Baecillen in allen Organen. Mäuse wurden durch die Infektion stets getötet, Ka- ninchen erkrankten nicht so konstant und scheinen zum teil immun gegen diese Infektion zu sein. Meerschweinchen blieben stets ganz gesund. Obwohl nun nach diesen Befunden die größte Wahrscheinlichkeit dafür sprach, dass die feinen Baeillen die Erreger des Schweinerot- laufs seien, gelang es L. selbst nicht, bei Schweinen durch Impfung mit der Reinkultur die Krankheit zu erzeugen und dadurch den Be- weis für die spezifische pathogene Eigenschaft der Baeillen abzu- schließen. L. schreibt dies dem Umstande zu, dass, wie ja längst be- kannt, nicht alle Schweinerassen gleichmäßig empfänglich seien und er unglücklicherweise grade eine unempfängliche Spezies zu seinen Versuchen benützt hatte. Später bekam L. nochmals Gelegenheit, ein mit der klinischen Diagnose Rotlauf gestorbenes Schwein zu untersuchen, war aber er- staunt, nicht die bisher beschriebenen Bacillen zu finden, sondern eine andere den Baeillen der Kaninchenseptikämie vergleichbare von ovoider Gestalt. Die alsbald mit Blut und Organteilen vorgenommenen Infek- 570 Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamt. tionen hatten den sehr raschen Tod aller Versuchstiere, Mäuse, Ka- ninchen und auch Meerschweinchen zur folge. Sektionsbefund: blutig seröse Infiltration des Unterhautgewebes, geringer Milztumor, zahl- reiche ovoide Bakterien in den Körpertranssudaten und den Organen, besonders der Milz. Die Weiterzüchtung auf künstlichem Nährboden wurde bis zur XII. Kultur fortgesetzt, die Infektionskraft blieb die gleiche. Von 3 zu verschiedenen Zeiten geimpften Schweinen starb eines nach 2 Tagen, während die anderen nur wenig erkrankten. Tauben, Hühner und Ratten blieben nach Impfung ganz gesund. Es erhellt aus dieser Beobachtung, dass wohl unter dem Namen Schweinrotlauf früher zwei im Verlaufe und den Symptomen ähnliche aber ätiologisch verschiedene Krankheitsformen zusammengefasst wur- den. Es dürfte zweckmäßig sein, diese beiden scharf zu trennen, das eine als Schweinerotlauf, das andere aber als Schweineseuche oder Septikämie zu bezeichnen. Auch die erste Beschreibung, die Pasteur über den von ihm gefundenen Mierobe du rouget des pores gibt, passte besser für die zuletzt erwähnte Art; trotzdem glaubt aber L. annehmen zu müssen, dass P. den richtigen Rotlaufbaeillus vor sich gehabt und nur durch unzureichende Untersuchungsmethoden getäuscht worden sei. Der in Deutschland herrschende Schweinerotlauf sei wohl ohne Zweifel durch die feinen den Mäuseseptikämiebacillen ähnlichen Stäbchen bedingt. Nr. 4 Ueber den Rotlauf der Schweine und dieImpfung desselben von Prof. Dr. Schütz an der Tierarzneischule in Berlin. Die großen Verluste, welche die Landwirtschaft im Großherzog- tum Baden alljährlich durch den Schweinerotlauf zu erfahren hatte, veranlassten das dortige Ministerium neben anderen Maßregeln, auch die Schutzimpfung nach der Pasteur’schen Methode einer eingehen- den Prüfung zu unterwerfen, wozu Prof. Schütz von dem Gesund- heitsamte abgeordnet wurde. Die Impfungen wurden von einer Kom- mission unter Leitung des Medizinalrates Dr. Lydtin durch einen von Pasteur beauftragten Techniker Cagny ausgeführt, welcher den Impfstoff täglich aus dem Pasteur’schen Laboratorium in kleinen Glasröhrehen zugeschickt erbielt. Die Impfflüssigkeit war trübe, gelb- lich gefärbt; sie wurde mit einer Pravaz’schen Spritze am Hinter- schenkel der 2—3 Monate alten Schweine in einer Dosis von etwa 2!/, Tropfen eingespritzt. An der Impfstelle entstand eine leichte An- schwellung, die Temperatur ergab keine konstanten Differenzen gegen die Norm, im ganzen erschienen die Tiere wenig krank. Ueber den Verlauf dieser Impfungen wird später ein eingehender Bericht von dem Leiter der Versuche Herrn Medizinalrat Lydtin erstattet werden. Schütz hatte aber noch andere wissenschaftliche Probleme in der Frage zu lösen. Mit Rücksicht auf die eben referierten Löffler'- schen Untersuchungen war es zunächst notwendig zu konstatieren, Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamt. 71 welcher Art die in Baden herrschende Seuche war, ob es sich um den echten Rotlauf oder um Septikämie handelte. Dazu bot sich ihm Gelegenheit, indem ihm zur selben Zeit ein an typischem Rotlauf ge- storbenes Schwein zur Uutersuchung überlassen wurde. Es gelang leicht in den Organen feinste Stäbchen nachzuweisen, welche in allen Stücken mit den von Löffler beschriebenen übereinstimmten. So- wohl die Weiterverimpfung von Organstücken dieses Tieres als auch die Impfung mit Reinkulturen, welche sich ebenso entwickelten wie wir es oben beschrieben, töteten weiße Mäuse in 2—3 Tagen. Sek- tionsbefund: Rötung der Haut, Milztumor, reichliche Bacillen im Blut und allen Organen, besonders auch im Innern von Lymphzellen, welche dadurch oft stark vergrößert und zerstört wurden. Einzelne Ka- ninchen erlagen der Infektion, andere wurden nur unbedeutend krank. Meerschweinchen blieben ganz gesund; kurz ganz das gleiche Verhal- ten wie bei den Löffler’schen Versuchen. Aber es gelang Schütz auch, den noch ausstehenden Beweis, dass die fraglichen Bacillen bei Schweinen die typische Rotlauferkrankung erzeugen, zu liefern. Zwei gesunde 3 Monate alte Schweine englischer Rasse wurden mit einer Reinkultur in Fleischinfus geimpft. Beide Tiere wurden schon nach 2 Tagen schwer krank, fieberten, fraßen nicht mehr, die Haut des ganzen Körpers bekam einen rötlichen Anflug. Das eine stärker geimpfte starb am 4., das schwächer geimpfte am 5. Tage. Sektions- befund ganz wie bei den spontan erkrankten Tieren, sehr reichliche Bacillen besonders in Lunge und Milz. Weiterzüchtung und Weiter- verimpfung mit dem gewöhnlichen Erfolg. Nun folgte die Untersuchung des von Cagny benützten Impf- stoffes, wovon ihm die Reste überlassen wurden. Es fand sich, dass derselbe aus einem Bakteriengemenge bestand, welches unter anderen Kokken und Stäbchen auch feinste Baeillen enthieit, welche sich von denen des Rotlaufs nicht unterschieden. Infektionsversuche mit dem Gemenge hatten den Tod der Tiere (weißer Mäuse) nach 4-6 Tagen zur folge. Meerschweinchen blieben gesund. In den an der Infektion gestorbenen Tieren fand sich nur die eine Bakterienart, alle übrigen hatten sich nicht weiterentwickelt. Schütz isolierte aber auch mit Hilfe des Reinkulturverfahrens die verschiedenen Arten, darunter auch die pathogene, und konnte die völlige llebereinstimmung mit den gewöhn- lichen Rotlaufbaecillen in Form und Kultur konstatieren. Nichtsdesto- weniger erkrankten Schweine, welche mit dieser Reinkultur geimpft wurden, in einem viel leiehtern Grade, wenn auch die Erscheinungen der echten Rotlauferkrankung ziemlich ähnlich waren. Die Tiere er- holten sich nach einiger Zeit wieder und waren, nachdem sie fast alle Haare verloren hatten, nach einiger Zeit völlig gesund. Die gleichen Tiere nun, welche eine zweimalige Impfung mit den Vaceinbaeillen überstanden hatten, wurden nach Verlauf von 15 Tagen mit einer Kultur geimpft, welche von den durch Infektion mit viru- 572 Pasteur’s Methode, den Biss tollwütiger Hunde unschädlich zu machen. lenten Rotlaufbacillen getöteten Schweinen, entnommen war. Die Tiere blieben völlig gesund, auch als nach weiteren 18 Tagen die Infektion wiederholt wurde, so dass die Tiere durch die Präventiv- impfung immun gegen die Rotlaufinfektion geworden sind. Die Versuche selbst sind einwurfsfrei, wenn auch noch so manche Aufklärung und Bestätigung von einer öftern Wiederholung erwartet werden muss. Graser (Erlangen). Pasteur’s Methode, den Biss tollwütiger Hunde unschädlich zu machen. Pasteur hat in der Sitzung der Pariser Akademie vom 26. Ok- tober neue Mitteilungen gemacht über seine Untersuchungen über die Tollwut und über thatsächliche praktische Erfolge in der Behandlung solcher, welche von tollwütigen Hunden gebissen worden waren. Ob- gleich inzwischen die Tagespresse des Gegenstandes sich bemächtigt und kurze Mitteilungen über Pasteur’s Erfolge nach französischen Zeitungen gebracht hat, so dass die von Pasteur in jener Sitzung mitgeteilten Thatsachen an sich voraussichtlich nicht mehr ganz un- bekannt sind, so glauben wir doch wegen des allgemeinen Interesses, das der Gegenstand hat, an der Hand von Pasteur’s eignen Worten an dieser Stelle in ausführlicher Form auf denselben zurückkommen zu dürfen. Pasteur also teilte der französischen Akademie etwa folgendes mit: Was ich bisher über meine und meiner Mitarbeiter Untersuchungen über Prophylaxis der Tollwut früher hier mitgeteilt habe, bezeichnete ohne Frage einen Erfolg in der Erforschung dieser Krankheit; aber dieser Erfolg war mehr wissenschaftlicher als praktischer Natur. Er unterlag noch gewissen Zufälligkeiten, so dass ich z. B. von zwanzig von mir behandelten Hunden nur etwa bei fünfzehn oder sechszehn darauf rechnen konnte, dass sie gegen die Ansteckung der Tollwut widerstandsfähig geworden waren. Außerdem würde diese Methode nur schlecht sich eignen für unmittelbare schnelle Anwendung, wäh- rend diese grade infolge des plötzlichen und unvermuteten Eintretens von Tollwutbissen erforderlich ist. So handelte es sich also darum, eine schneller wirkende Methode ausfindig zu machen, eine Methode, welche mehr Sicherheit zu geben im stande und, wenn ich dies zu sagen wagen dürfte, vollkom- men wäre inbezug auf die Behandlung der Hunde. Wie auch hätte man, ehe dieser Fortschritt erreicht war, irgendwelche Probe am Menschen sich erlauben dürfen? Und zu einer solehen prophylakti- schen Methode, leicht anwendbar und zuverlässig, bin ich jetzt, nach — so zu sagen — Versuchen ohne Zahl, gelangt, eine Methode, deren Pasteur’s Methode, den Biss tollwütiger Hunde unschädlich zu machen. 575 Erfolge am Hunde hinlänglich zahlreich und zuverlässig sind, um von ihr Erfolge zu erwarten bei allen Tieren und auch beim Menschen. Diese Methode beruht im wesentlichen auf folgenden Thatsachen: Einimpfung unter die Dura mater eines Kaninchens nach voll- zogener Trepanation von dem Rückenmark eines wutkranken Hundes aus lässt die Tollwut nach einer Zeit von durchschnittlich 15 Tagen auch bei dem Kaninchen auftreten. Ueberträgt man dann von dem Virus dieses ersten Kaninchens auf ein zweites, von diesem auf ein drittes und so fort, und zwar auf die vorher angegebene Art und Weise, so macht sich bald eine mehr oder weniger ausgesprochene Tendenz der Verminderung der Zeitdauer bemerkbar, welche bei den nacheinander geimpften Kaninchen von dem Zeitpunkte der Einimpfung bis zum Ausbruche der Krankheit vergeht. Nach 20- bis 25 maliger Ueber- tragung von Kaninchen zu Kaninchen beträgt diese Zeitdauer etwa acht Tage und bleibt von gleicher Länge während weiterer 20- bis 25 maliger weiterer Uebertragung. Dann gelangt man auf etwa 7 Tage, welche man weiterhin mit auffallender Regelmäßigkeit wiederkehren sieht im Verlaufe einer neuen Reihe von Uebertragungen, etwa bis zur neunzigsten solchen — dies wenigstens ist die Ziffer, bis zu wel- cher ich augenblicklich gelangt bin. Man wird kaum anzunehmen haben, dass man weiterhin noch kürzere Fristen als diese 7 Tage erreichen könne. Diese Art der Versuche, begonnen im November 1882, habe ich nun drei Jahre ohne Unterbrechung fortgesetzt, ohne dass ich jemals genötigt gewesen wäre zu einem andern Virus meine Zuflucht zu nehmen, als zu dem, welchen mir die nacheinander gestorbenen wasserscheukranken Kaninchen lieferten. Nichts ist darum leichter, als beständig lange Zeit hindurch Tollwut-Virus von vollkommener Reinheit zur Verfügung zu haben, der dem ursprünglichen immer identisch ist oder ihm doch außerordentlich nahe steht. Und hierin liegt der praktische Kernpunkt der Methode. Das Rückenmark dieser Kaninchen ist in seiner ganzen Ausdeh- nung infiziert, mit Beständigkeit in der Ansteckungsfähigkeit. Schneidet man von solchen Rückenmarksträngen Stücke ab von mehreren Zentimetern Länge unter so großen Reinheitskautelen, als man sie nur immer zu beobachten im stande ist, und hängt man diese Stücke dann in trockner Luft auf, so verschwindet ihre Ansteckungs- fähigkeit allmählich, bis sie endlich ganz erlischt. Die dazu erforder- liche Zeit schwankt ein wenig je nach der Dicke der Rückenmark- stücke, besonders aber nach der Temperatur der Umgebung. Je niederer letztere ist, desto länger hält die Ansteckungsfähigkeit vor. Bewahrt man dagegen das infizierte Rickenmark in feuchtem Zustande, abgeschlossen von der atmospärischen Luft, in Kohlensäuregas auf, so erhält sich dieselbe mindestens einige Monate unverändert in ihrer 574 Pasteur’s Methode, den Biss tollwütiger Hunde unschädlich zu machen. Heftigkeit, vorausgesetzt nämlich, dass die Ansiedlung anderer Mi- kroben ausgeschlossen ist. Diese Ergebnisse machen die wissenschaftliche Seite der Methode aus. Nun wir diese Thatsachen festgestellt haben, haben wir das Mittel in der Hand, einen Hund in verhältnismäßig kurzer Zeit widerstands- fähig zu machen gegen eine Ansteckung durch die Toilwut. In einer Reihe von Flaschen, deren Luft durch Stücke von Aetzkali trocken erhalten wird, hängt man täglich ein Stück vom frischen Rückenmark eines an Wasserscheue gestorbenen Kaninchens auf, dessen Krankheit sieben Tage nach der Impfung sich entwickelte. Man gibt dem Hunde regelmäßig jeden Tag subkutan eine volle Pravazspritze sterilisierter Fleischbrühe, in welche man ein kleines Stück von einem der in Trocknung befindlichen Rückenmarke eingerührt, und zwar fängt man mit einem solchen an, dessen Einbringung im die Trockenflasche so lange Zeit vor der Injektion zurückliegt, dass man sicher vor einer Ansteckungsfähigkeit dieses Rückenmarks sein kann. Voraufgegangene Versuche müssen Gewissheit in dieser Beziehung gegeben baben. In den darauffolgenden Tagen operiert man mit immer frischerem Rücken- mark, dessen Alter um je einige Tage von einander abweicht, bis man schließlich zu einem frischen, heftig ansteckend wirkenden Rücken- mark gelangt, das erst einen Tag oder deren zwei in der Trocken- flasche sich befunden. Dann ist der Hund unempfänglich für die Ansteckung. Man kann ihm das Wutgift unter das Fell einimpfen, oder selbst auch, nach voraufgegangener Trepanation, unter die Hirn- haut, ohne dass die Wutkrankheit sich einstellt. Unter Anwendung dieser Methode war ich in den Besitz von fünfzig Hunden jeden Alters und jeglicher Rasse gelangt, welche ohne Ausnahme, und ohne dass ich einen einzigen Misserfolg gehabt hätte, immun gegen die Tollwut sich zeigten, als am letzten 6. Juli uner- wartet in meinem Laboratorium drei Leute aus dem Elsass sich mir vorstellten: Theodor Vone, Materialwarenhändler m Meißengott bei Schelstadt, am 4. Juli von seinem eignen tollwütig gewordenen Hunde in den Arm gebissen. — Josef Meister, neun Jahre alt, gleichfalls am 4. Juli früh 8 Uhr von demselben Hund gebissen. Dieses Kind, von dem Hunde zu Boden geworfen, trug zahlreiche Bisswunden an der Hand, an den Beinen, am Gesäß, einige davon so tief, dass sie ihm sogar das Gehen erschwerten. Die schlimmsten dieser Bisswunden waren von Dr. Weber aus Vill&e mit Karbol- säure ausgeäzt worden, allein erst 12 Stunden nach erfolgtem Biss. — Die dritte Person war die Mutter des kleinen Josef Meister, aber nicht gebissen. Bei der Untersuchung des von seinem Herrn erschlagenen Hundes erwies sich dessen Magen angefüllt mit Heu, Stroh und Holzstückchen; der Hund war sehr stark tollwütig. Josef Meister war unter ihm auf- gehoben worden bedeckt mit Geifer und mit Blut. Pasteur’s Methode, den Biss tollwütiger Hunde unschädlich zu machen. 575 Herr Vone hatte am Arm starke Quetschungen; aber er versicherte mir, dass sein Hemd nicht von den Reißzähnen des Hundes durch- bohrt worden sei. Da er aus diesem Grunde nichts zu fürchten hatte, ließ ich ihn in seinen Heimatsort zurückreisen. Den kleinen Meister indess und dessen Mutter behielt ich bei mir. An demselben Tage, am 6. Juli, hatte die Akademie ihre Wochen- sitzung, und dort teilte ich unserem Kollegen Herrn Dr. Vulpian mit, was soeben bei mir vorgegangen war. Dieser und ebenso Dr. Grancher, Professor an der Ecole de medecine, hatte die Liebens- würdigkeit, sogleich mit mir zu kommen, den Josef Meister anzusehen und die Zabl und den Zustand seiner Bisswunden festzustellen. Er hatte deren nicht weniger als vierzehn. Die Meinung beider ging dahin, dass Josef Meister durch Heftigkeit und Zahl der Bisse fast unvermeidlich der Tollwut verfallen sei. Ich teilte darauf beiden Herren die neuen Ergebnisse mit, welche ich bei meinen Uhnter- suchungen über die Tollwut seit jenem Vortrage erhalten hatte, den ich ein Jahr vorher in Kopenhagen hielt. Da nun der Tod dieses Kindes unvermeidlich schien, so entschloss ich mich, und zwar — ich bitte es wohl zu beachten — nicht ohne lebhafte und heftige Bedenken, an dem kleinen Josef Meister die Methode zu versuchen, welche mir bei Hunden ohne Ausnahme Erfolg gebracht hatte. Freilich waren meine vorerwähnten fünfzig Hunde nicht eher gebissen worden, ehe sie nicht immun gemacht waren gegen die Tollwut; aber ich hatte auch schon viele andere Hunde, nachdem sie bereits gebissen waren, mit Erfolg behandelt. Am 6. Juli, abends acht Uhr, sechszig Stunden also nach dem am 4. Juli erfolgten Biss, wurde in Gegenwart der Herren Vulpian und Grancher dem kleinen Meister unter eine Hautfalte am rechten Hypochondrium eine halbe Pravazspritze gegeben von dem Rücken- mark eines am 21. Juni an der Wasserscheu verendeten Kaninchens, das demnach 15 Tage in der Trockenflasche gehangen hatte. An den folgenden Tagen wurden neue Einspritzungen gemacht, immer in derselben Gegend, und zwar wie folgt: Eine halbe Pravazspritze Te En N 2 nn Juli 7 9 h morgens Rückenm. vom 23. Juni, 14 Tage alt al 6 h abends s IS art DR ne „8 9 h morgens . BE DEN ER ANETLT RES SUR a 6chsabends 2 a BE: ae a „ 9 At h morgens 5 U MSc ae „ 10 44 h b)] ” ” 2 21032 7 N ”„ Aa neh ns ” AKA, sAeu6 n n „12, 146 1 A ET, la lich R x A „ad Aakldln as ” 2 2 Re AT MlDeelzh A a Rurl3, ED 5 e och * = RD Ar er Ente 576 Pasteur’s Methode, den Biss tollwütiger Hunde unschädlich zu machen. Ich brachte somit die Zahl der Einspritzungen auf 13 und die Zahl der Behandlungstage auf 10. Ich werde später ausführen, dass eine kleinere Zahl von Einspritzungen hingereicht hätte; aber es ist einzusehen, dass ich bei diesem ersten Versuche mit ganz be- sonderer Vorsicht zuwerke gehen musste. Nach der Anwendung der verschiedenen Rückenmarke wurden mittels Trepanation je zwei neue Kaninchen geimpft, um den Grad der Virulenz dieser Rückenmarke zu kontrolieren. Die Beobachtung dieser Kaninchen führte zu dem Ergebnis, dass die Rückenmarke vom 6., 7., 8., 9., 10. Juli nicht ansteckend waren, denn sie machten die betreffenden Kaninchen nicht wasserscheu. Aber diejenigen vom 11., 12., 14., 15., 16. Juli waren es sämtlich, und der Ansteckungs- stoff war in ihnen in ansteigender Stärke enthalten. Die Krank- heit brach aus 7 Tage nach der Impfung bei den Kaninchen vom 15. und 16. Juli; nach 8 Tagen bei denen vom 12. und 14., nach 15 Tagen bei denen vom 11. Juli. In den letzten Tagen hatte ich also dem Josef Meister den kräftigsten Virus eingeimpft, denjenigen, welcher bei Kaninchen die Tollwut 7 Tage nach der Impfung, bei Hunden 8 oder 10 Tage nach derselben ausbrechen lässt. Und wenn dann der Zustand der Immu- nität erreicht ist, kann man ohne irgend einen Nachteil den am hef- tigsten wirkenden Virus und zwar in jeder Menge geben. Es schien mir stets, dass dies keine andere Wirkung als die hatte, die Widerstands- fähigkeit gegen die Ansteckung durch die Wasserscheu noch mehr zu befestigen. Josef Meister entging somit nicht allein derjenigen Tollwut, welehe die Bisswunden des Hundes bei ihm hätten hervor- bringen können, sondern auch jener andern, welche ich ihm ein- geimpft hatte zur Kontrole der durch die Behandlung bewirkten Im- munität, eine Tollwut, welche heftiger ansteckend war als die von dem Hunde auf der Straße. (Schluss folgt.) Verlag von Eduard Besold in Erlangen. Soeben erschien: Lehrbuch der Anatomie der Sinnesorgane von Dr. Gustav Schwalbe, 0. Professor der Anatomie an der Universität Straßburg. Zweite Lieferung erste Hälfte (Bg. 14—25). Preis 6 Mark. ke Schlussliefer ung erscheint binnen Kurz zem. Verlag ı von Eduard Besold in Erlangen. _ Dr uck von Junge & Sohn in n Erlangen. Biologisches Oentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. V. Band. 1. Dezember 1885. Nr. 19. Inhalt: Lehmann, Nachschrift zu der Abhandlung über Cholera. — Hüppe, Ueber die Dauerform der sogenannten Komma -Bacillen. Kurth, Ueber Bacterium Zopfüi. — Ray Lankester, Pleomorphismus der Bakterien. — Carriere, Einiges über die Sehapparate von Arthropoden. — Wilekens, Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haustiere. 8. Die hundeartigen Tiere des Diluviums. — Pasteur’s Methode, den Biss tollwütiger Hunde unschädlich zu machen (Schluss). — Nasse, Ueber primäre und sekundäre Oxydation im Tierkörper. — Anzeige der Academia dei Lincei. Nachschrift zu der Abhandlung über Cholera von Dr. Karl B. Lehmann, Assistent am hygienischen Institut in München. Seit Vollendung vorliegender Arbeit (Anfang August 1885) sind eine Reihe von Schriften erschienen, die sich mit der Aetiologie der Cholera befassen, deren Nichtberücksichtigung meine Darstellung schon Jetzt unvollständig erscheinen ließe. Vor allem enthalten die nun ausführlich publizierten Verhand- lungen der 2. Berliner Cholerakonferenz eine Fülle von Thatsachen und sind so recht geeignet, die großen Differenzen der Ansichten von Pettenkofer und Koch scharf hervortreten zu lassen. Die von Koch auf der Konferenz mitgeteilten Tierexperimente mit dem Kommabacillus, wobei er Cholera an den Tieren erzeugt zu haben meint, sind inzwischen auch von van Ermengem!) mit ähn- lichem Erfolge wiederholt, manchmal genügten ganz minimale Mengen (!/ı Tropfen einer Suspendierung von Kommabaeillen ins Duodenum injiziert), um die Tiere zu töten. Je rascher dabei die Tiere starben, um so weniger Kommabacillen zeigten sich bei der Sektion im Darm- inhalt, bei längerer Krankheitsdauer fanden sie sich dagegen meist massenhaft im Darme, daneben aber in zwei Fällen (mehr scheinen 1) van Ermengem: „Recherches sur le mierobe du chol&ra asiatique*. Paris u. Brüssel, 1885. an 578 Lehmann, Nachschrift zu der Abhandlung über Cholera. nicht darauf untersucht zu sein) sehr zahlreiche kleine grade Baecillen in den drüsigen Abdominalorganen, in der Pleurahöhle und im Blute. Weitere Untersuchungen über die Bedeutung dieser Organismen feh- len leider. Ein sehr auffallendes Gegenstück zu dem sehr spärlichen Vor- kommen der Kommabacillen bei sehr rasch nach der Einverleibung der Pilze gestorbenen Tieren bildet das sehr vereinzelte Vorkommen oder Fehlen dieser Organismen in den ersten Entleerungen Cholera- kranker |vanErmengem, Schotteliust)], ja das gänzliche Fehlen des Koch’schen Pilzes in etwa einem Dutzend von durch sorgfältige Forscher untersuchten Cholerafällen (Babes, Nicati, Rietsch, Emmerich und Schottelius), während allerdings nach van Er- mengem’s Zusammenstellung bei 184 Cholerasektionen von 11 ver- schiedenen Forschern an verschiedenen Orten die Pilze gefunden wurden. Auch im Stuhle von Cholerakranken fanden sich die Pilze nach dem übereinstimmenden Urteile der Untersucher in der sehr großen Mehrzahl der Fälle, so dass bis jetzt die diagnostische Bedeu- tung des Kommabacillus keine wesentliche Einschränkung gefunden hat. Von keiner Seite ist ferner bisher der echte Kommabaecillus bei einer andern Krankheit mit Sicherheit nachgewiesen. Ueber die Morphologie des Kommabaeillus oder richtiger des Vibrio der asiatischen Cholera haben Hans Buchner?) in München und Max Gruber in Graz gegenseitig sich kontrolierend interessante Untersuchungen angestellt, die sowohl für diesen Pilz als den davon deutlich aber nicht sehr stark abweichenden Vibrio von Finkler und Prior eine bedeutende Polymorphie ergab, wenn man die Lebens- bedingungen modifizierte. Sehr wenig gesichert erscheint bisher die Theorie von Koch, dass die Kommabacillen durch Erzeugung eines Giftes im Darme ihre deletäre Wirkung entfalten. Koch hat bisher kaum Thatsachen für diese Annahme angeführt, und auch die neuesten Publikationen sind derselben nicht sehr günstig. Pouchet?) und Villiers*) wollen allerdings aus dem Choleradarminhalt giftige Alkaloide dargestellt haben, die ersterer auch in Koch’schen Reinkulturen in geringer Menge auffand — Gauthier in Neapel stellte dagegen ein ungif- tiges Alkaloid aus dem Choleradarme dar, Nieati und Rietsch fanden eine Giftwirkung erst bei S Tage alten Kulturen, was natür- lich durchaus nicht im Koch’schen Sinne verwertbar ist. van Er- mengem tötete in einigen seiner sehr wenig zahlreichen Versuche über diesen Gegenstand Meerschweinchen durch Injektion sterilisierter 1) Sehottelius: Deutsche mediz. Wochenschrift, 1885, Nr. 14. 2) Hans Buchner: Sitzungsberichte der Gesellschaft für Morphologie und Physiologie in München, 1885, I, S. 1. 3) Academie des sciences. S&ance du 24 aoüt 1885. Semaine me&dicale N. 35. 4) Comptes rendus, 1885, 8. 9. Lehmann, Nachschrift zu der Abhandlung über Cholera. 579 Kommakulturen ins Peritoneum und Duodenum. Bouchard!) injizierte Kaninchen ohne Schaden 50 Kubikzentimeter! teils sterilisierter, teils unsterilisierter bacillenhaltiger Bouillon in die Venen ohne Schaden, dagegen will er durch Injektion von Cholera-Urin bei den gleichen Tieren eine typische Cholera-Erkrankung erzeugt haben, die von dem Bilde, das Tiere nach Einspritzung normalen Harnes darboten, deut- lich verschieden war. In den Versuchen von Emmerich und Buchner, über welche Pet- tenkofer in Berlin berichtete, erwies sich alkalische Bouillon, in der eine massenhafte Entwicklung von Kommabacillen stattgefunden hatte, nach ihrer Sterilisierung als ganz unschädlich für Meerschweinchen. Samuel?) unterwirft die ganze Theorie einer Giftwirkung vom Darme aus einer scharfen Kritik und kommt zu dem Schlusse, dass nicht ein einziges Motiv, das für die Notwendigkeit der Annahme einer Giftbildung im Darme ins Feld geführt sei, als wirklich beweisend angesehen werden dürfe. Er macht auf die allgemein bekannte Un- fähigkeit des Choleradarms, Wasser (also auch in Wasser gelöste Gifte) zu resorbieren, aufmerksam; er betont den Mangel aller und jeder toxischen Störungen des Zentralnervensystems, und vertritt energisch die Ansicht, dass einzelne Fälle von geringerer Ausscheidung von Flüssigkeit durch den Darm nicht abhalten dürften, in der Eindiekung des Blutes, der Verminderung seiner Menge und dem dadurch be- dingten Sinken des Blutdrucks die Ursache des Choleratodes zu sehen ?). Aus all dem geht hervor, dass weder die experimentellen Beweise für die Existenz eines Giftes im Choleradarme und den Kulturen des Kommabaeillus mit der nötigen Schärfe erbracht sind, noch dass die Choleratheorie eines im Darm lokalisierten und von dort resorbierten Giftes direkt bedarf. Ich habe in meiner Arbeit bisher mit keinem Worte der sehr interessanten und der größten Beachtung werten Resultate gedacht, die Emmerich letzten Herbst in Neapel gewann. Da aber der Grund, warum ich dies that, der Mangel ausführlicher Publika- tionen Emmerich’s über seine Entdeckung, durch die soeben er- schienenen eingehenden Arbeiten von Emmerich*) und Buchner?) weggefallen ist, so trage ich hier das Wichtigste nach. 4) Bouchard: Semaine medicale, 1885, N. 34. 2) Samuel: „Ueber die Choleraintoxikation“. Berliner klin. Wochenschr., 1885, Nr. 36. 3) Nach den Schilderungen, die Dr. Emmerich und Dr. Escherich nach ihrer Rückkehr aus Neapel im ärztlichen Vereine zu München machten, scheint doch eine bei manchen Epidemien wenig reichliche Darmsekretion durchaus nicht selten zu sein. 4) R. Emmerich: „Untersuchungen über die Pilze der Cholera asiatica“, Archiv für Hygiene, Bd. III, S. 291--360. 5) Hans Buchner: „Beiträge zur Kenntnis des Neapler Cholerabaeillus und einiger demselben nahestehender Spaltpilze“, 1. e. S. 361—442. 37 5 580 Lehmann, Nachschrift zu der Abhandlung über Cholera. Emmerich fand in den Organen von 9 an Cholera in Neapel verstorbenen Patienten, deren Sektion 3—14 h nach dem Tode ge- macht wurde, fast konstant ein kurzes Stäbchen, das vorläufig „Neapler Bacillus“ genannt wurde. Der Nachweis dieses keineswegs in sehr großer Zahl in den Organen vorhandenen Pilzes geschah dadurch, dass kleine Stückchen Leber, Lunge, Milz, Niere, Gehirn, kleine Mengen Blut u. s. f. unter den strengsten Kautelen der modernen bakteriolo- gischen Methodik den Leichen entnommen und in Nähr -Gelatine ge- bracht wurden. Hier wuchsen aus den Gewebestückchen charak- teristische Kulturen hervor, die nur in seltenen Fällen von andern Pilzen in geringem Maße verunreinigt waren. Auch aus dem Arm- venenblute einer im Stadium algidum befindlichen Cholerakranken wurde der Pilz gezüchtet, der auch in den Dejektionen der Kranken in der Mehrzahl der Fälle sehr reichlich vorhanden war. Die Konstanz des Befundes war sehr auffallend, die Vermutung Flügge’s, dass die Pilze aus der Luft in die Kulturen gelangt seien, somit wohl hinfällig. Infektionsversuche mit den Pilzen an Meer- schweinchen, Katzen, Hunden und Affen ergaben ein Krankheitsbild und Sektionsbefunde, die mit denen der menschlichen Cholera unverkenn- bare Aehnlichkeit haben, ja vielfach überraschend übereinstimmen. Massenhaftes Erbrechen, zahlreiche Durchfälle, alkalischer Magen- inhalt, Durst, Anurie und große Kälte der Extremitäten sub finem vitae wurden beobachtet. Die Sektion ergab Veränderungen, die dem Bilde der Cholera beim Menschen oft vollkommen entsprachen, die Entzündungserscheinungen des Darmes wechselten von rosiger Rötung bis zur Geschwürsbildung; der von Buhl beim Menschen beschriebene charakteristische, klebrige Peritonealbeleg fand sich stets, die Milz war stets klein, die Muskeln meist trocken. Der spärliche Harn zeigte vermehrten Indicangehalt, der Darminhalt oft den charakteristischen spermaartigen Geruch, die Muskeln öfters einen etwas verminderten Wassergehalt. Auffallend ist, dass große Mengen der eingeführten Pilze zur Infektion nötig sind, was Emmerich durch die geringere Empfäng- lichkeit der Tiere erklärt. Verfütterung der Neapler Bacillen blieb auch bei der Verwendung sehr großer Mengen erfolglos, die Pilze wirkten dagegen stets bei subkutaner oder intravenöser Injektion oder bei Einverleibung in die Brust- oder Bauchhöhle. Als natürlichen In- fektionsweg denkt sich Emmerich die Inhalation. Aus den Organen der geimpften Tiere waren durch die Kultur die charakteristischen Ba- - eillen stets wieder zu erhalten, ebenso aus dem Kote, wodurch neben- bei die höchst wichtige Thatsache festgestellt ist, dass das massenhafte Vorkommen eines Pilzes im Darm durchaus nicht durch die Einfuhr desselben in den Magendarmtraktus bedingt zu sein braucht. Die Vermutung Flügge’s, dass der Emmerich’sche Pilz nichts mit der Cholera zu thun habe, sondern nur durch unexaktes Arbeiten Lehmann, Nachschrift zu der Abhandlung über Cholera. 581 oder aus faulen Leichen erhalten worden sei, entkräftet Emmerich, indem er anführt, dass er aus 10 an verschiedenen Krankheiten in München verstorbenen Personen keine mit dem Neapler Baeillus identischen Pilze habe herauszüchten können. Buchner hat die Frage, ob der Neapler Baeillus vielleicht mit irgend einem Organismus der Fäulnis identisch sei, mit ganz beson- derer Sorgfalt geprüft und durch Anwendung manigfach modifizierter Nährböden schließlich das Resultat erhalten, dass bis jetzt kein Pilz unter den zahlreichen von ihm untersuchten sei, der nicht durch das Mikroskop, durch die Wuchsform und die Kolonieform, dureh Züchten in verschiedenen festen und flüssigen Nährsubstanzen, oder endlich durch das Studium seiner chemischen Umsatzprodukte sicher vom Neapler Baeillus differenziert werden könne. Morphologisch und biologisch steht nach Buchner’s Forschungen der Emmerieh’sche Pilz unter den pathogenen näher studierten dem Typhusbaeillus am nächsten. Sporenbildung wurde bisher nicht an ihm beobachtet, auch die Angaben über Sporenbildung bei Typhus von Gaffky und andern glaubt Buchner noch für ungenügend ge- sichert halten zu müssen. Der Neapler Baeillus zeigt im Gegensatz zum Kommabacillus eine sehr große Widerstandsfähigkeit gegen äußere Einflüsse. 12 Tage lang blieb eine Kolonie, fest gefroren, häufig Temperaturen von minus 20—24° Celsius ausgesetzt, ohne dass er nach dem langsamen Auf- thauen sich dadurch irgendwie geschädigt zeigte. Noch wichtig erscheint die Eigenschaft, dass auch nach fünf- monatlichem Aufbewahren von Seidenfäden bei 24—26°, an denen die Neapler Baeillen in sporenfreiem Zustande angetrocknet waren, sich ebenso üppige Kolonien entwickelten, als sie nur je beobachtet wor- den waren. Leber die untere Grenze ‘der Temperatur, bei der die Neapler Baeillen noch wachsen, fehlen vorerst leider die Angaben !). Es leuchtet ein, dass, wenn auch die bisherigen Angaben über den Neapler Bacillus noch lange nicht hinreichen, ihn für oder gegen eine theoretische Vorstellung von der Cholera zu verwenden, doch in ihm ein sehr beachtenswerter Konkurrent des Koch’schen Kommas erstanden ist 2). 1) Nach Angaben von Koch auf der 2. Cholerakonferenz ist übrigens der Kommabaceillus auch viel lebenskräftiger, als anfangs geglaubt wurde. Nicati und Rietsch fanden ihn 81 Tage im Hafenwasser von Marseille, Koch 144 Tage auf Agar entwicklungsfähig. Erst nach 175 Tagen erwies er sich abgestorben. In neuester Zeit hat Hüppe die Bildung einer eigentümlichen Dauerform von Arthrosporen für den Koch’schen Vibrio angegeben, es muss wohl ehe man darauf Schlüsse aufbaut, abgewartet werden, ob kompetente Beurteiler diese interessante Beobachtung ebenso deuten wie ihr Entdecker. 2) Bekanntlich hat die bayrische Regierung Emmerich und Buchner dieses Jahr nach Palermo geschickt, um weitere bakteriologische Cholera- 589 Lehmann, Nachschrift zu der Abhandlung über Cholera. In diesem Sinne äußerte sich auch Pettenkofer gegenüber Koch in Berlin: Er bestreite, dass das, was wir vom Kommabacillus wissen, geeignet sei, in uns die Ueberzeugung zu erwecken, dass er die Choleraursache sei; auf den widerstandsfähigern, vom Kreislauf, nicht von dem Intestinaltraktus aus wirkenden Pilz Emmerich’s setze er mehr Hoffnung, doch könne nur ein Pilz Anspruch auf all- gemeine Anerkennung als Ursache der Cholera machen, von dem nach- gewiesen sei, dass er die epidemiologischen Thatsachen erkläre, oder wenigstens nicht mit ihnen in Widerspruch stehe. So steht gegenwärtig die bakteriologische Seite der Frage: Em- merich hält seine Bakterien, durch die Lunge ins Blut eindringend, für die Ursache der Krankheit, den Kommabaeillus vermutet er als konstanten aber spärlichen normalen Darmbewohner, der sich erst im Choleradarme üppig vermehren kann. Koch hält dagegen an seinem Bacillus fest, besteht darauf, dass außer Emmerich noch niemand in den inneren Organen bei Cholera Pilze gefunden habe, die er also für Verunreinigungen, Leichenbewohner oder ein zufälliges Aceidens halten müsse. Virchow glaubt, das häufige ja konstante Auffinden der Pilze in Neapel lasse die Emmerich’schen Pilze doch als etwas erscheinen, was mit dem Choleraprozess zusammenhänge, etwa als eine Komplikation, wie er in manchen Epidemien häufig diphtheri- tische Affektionen bei Cholerakranken beobachtet habe. Es herrscht also, trotz aller Arbeit und zahlreicher gut konsta- tierter Thatsachen, in diesem Teil der Frage noch sehr viel Dunkel, dessen Lüftung wir aber wohl von der nächsten Zeit erhoffen dürfen. In epidemiologischer Hinsicht haben die letzten Monate wenig neues gebracht. Koch, der bisher die Fragen der örtlichen und zeitlichen Dispo- sition meist ganz unberührt ließ, versuchte auf der Berliner Konferenz einige der dahin gehörigen Thatsachen von seinem Standpunkte aus zu erklären. Eine Hauptursache der jährlich wechselnden Ausbreitung der Cholera in Indien, bald über kleinere Distrikte, bald über das ganze Land, findet er in der wechselnden, persönlichen Disposition der Be- wohner, die nach den größten Epidemien durch die Durehseuchung so vieler schwer und leicht befallener erheblich vermindert sei. Koch slaubt namentlich dadurch erklären zu können, warum die Cholera in Indien sich meist etwa 5—4 Jahre lang von Jahr zu Jahr mehr ausbreite, um dann wieder ein Minimum zu erreichen — nach ihm dauert eben die Immunität nach dem Bestehen der Krankheit etwa so lange. Pettenkofer wies unter auderem darauf hin, dass durch das forschungen zu machen. Die vorläufigen Mitteilungen (Aerztl. Intelligenzblatt Nr. 45) lauten für die beiden Forscher günstig, doch glaube ich, ehe nähere Angaben vorliegen, hierauf nicht eingehen zu sollen. Lehmann, Nachschrift zu der Abhandlung über Cholera. 585 Erlangen einer persönlichen Immunität z. B. die Zweiteilung der Münchner Epidemie von 1872/73 durchaus nicht zu erklären sei, da die Sommerepidemie auf Wochen erlosch, obwohl erst verhältnismäßig sehr wenige erkrankt waren und die Winterepidemie weit größere Dimensionen annahm. Koch will übrigens durch die persönliche Disposition die zeit- liche Disposition Pettenkofer’s nicht ganz ersetzen; er erkennt 2. B. die Thatsache an, dass in Niederbengalen zur heißen und trocknen Zeit die Cholera eine viel größere Ausbreitung erreicht als in der heißen und feuchten — aber er sucht dies unter anderem durch Kon- zentration des Inhaltes der überall zerstreuten Tanks zu erklären, deren Wasser dann eine viel bessere Nährlösung für die Komma- bacillen abgebe als sonst; das Trinken dieses pilzreichen Wassers erzeuge dann die Epidemien. In ähnlicher Weise wird vielfach ver- sucht, den Einfluss der Grundwasserschwankungen auf Cholera und Typhus auch für europäische Städte darzuthun. Dass dieses letztere wenigstens ganz unerlaubt ist, ist durch die in München von Aubry') und Wagner?) ausgeführten Untersuchungen dargethan, die fanden, dass bei niederem Stande des Grundwassers dasselbe sogar reiner ist als bei hohem. Hier sei auch an die interessanten Versuche von Soyka?) erinnert, der experimentell festzustellen suchte, wie die Gährthätigkeit von nie- deren Pilzen (Hefe) im Boden durch die Feuchtigkeitsverhältnisse be- einflusst werde, und dabei fand, dass ein ganz bestimmtes Feuchtig- keitsoptimum existiert. In neuester Zeit hat Soyka in Fortsetzung dieser Studien*) die Bedeutung der Grundwasserschwankungen für den Transport der Mikroorganismen in den Kapillarräumen des Bodens untersucht und dabei das höchst bemerkenswerte Resultat gefunden, dass, während wie Hofmann beobachtete, Spaltpilze viele Wochen lang brauchen, um wenige Zentimeter weit zu wachsen, ähnliche Spaltpilze in wenigen Tagen durch die Kapillarität 30—60 cm weit gehoben werden können’). Dazu wird aber namentlich dann Gelegenheit geboten sein, wenn bei starker Verdunstung aus den obersten Bodenschichten aus tieferen Lagen reichlich Kapillarwasser nach oben steigt, bei welcher Gelegen- heit auch der Grundwasserspiegel sinkt. Es ist so direkt bewiesen, dass bei sinkendem Grundwasser ein reichliches Aufsteigen von Pilzen aus der Zone des kapillaren Wassers in die Verdunstungszone statt- 4) Aubry: Zeitschrift für Biologie, VI, S. 285. 2) Wagner: Zeitschrift für Biologie, II, 289 u. III, 86. 3) Soyka: Prager medizinische Wochenschrift, Nr. 4, 1885. 4) Soyka: Prager medizinische Wochenschrift, Nr. 28, 30, 31, 1885. 5) Emmerich (Vgl. Schrakamp, Arch. für Hygiene II) hat schon letz- tes Jahr ähnliche Versuche angestellt, gegen die aber noch kleine Einwände möglich waren. 584 Lehmann, Nachschrift zu der Abhandlung über Cholera. finden kann, während umgekehrt bei anhaltenden Niederschlägen die Bodenpilze in das jetzt steigende Grundwasser hinabgeschwemmt werden. Den von Koch behaupteten Einfluss von Hungersnöten auf die Choleraverbreitung in Indien gibt Pettenkofer nur für einige Gegenden wie Niederbengalen und Bombay zu, wo die Cholera bei Troekenheit am stärksten herrscht; in den stets trocknen Hunger- jahren ist dagegen das Pendschab grade besonders cholerafrei, weil dort nur durch stärkere Niederschläge der Boden überhaupt genügend feucht für die Cholera wird. Pettenkofer blieb überhaupt, den obigen Ausführungen Koch’s gegenüber, gestützt auf zahlreiche Thatsachen in Indien und Europa, auf seiner Ueberzeugung von dem: wesentlichen Einflusse des Bodens und dessen Feuchtigkeitsgehalt für die Cholera stehen. 2 Bezüglich dessen, was über die örtliche Immunität in Berlin vorge- braeht wurde, bot die Besprechung, einzelne Fälle abgerechnet, wenig von Bedeutung. Koch vermutet z. B. für die Immunität von Lyon in der Gewohnheit, die Wäsche außer dem Hause zu waschen und sich hierzu entweder des rasch strömenden Rhone oder ziemlich weit entfernter Wäscherdörfer zu bedienen, einen wichtigen Faktor und glaubt, alle von Pettenkofer beigebrachten Gründe wankend machen zu können; Ich bedaure, dass mir Raummangel ein weiteres Eingehen in die Details dieser Kontroversen, durch die sich Pettenkofer in keiner Weise in seinen Ueberzeugungen erschüttert fühlte, verbietet. Hoffen wir, dass die Berliner Konferenz, die Virchow mit feinem Takte und der ausgesprochenen Tendenz leitete, die Berührungspunkte zwischen den gegnerischen Ansichten zu betonen und hervorzuheben, dazu beigetragen hat, die Frage zu klären und durch vereintes Wirken der Epidemiologen und der Bakteriologen endlich zu lösen. Zum Schlusse sei noch des eben erschienenen Memorandums !) gedacht, welches eine vom Staatssekretär für Indien berufene Cho- lerakommission in London abgegeben hat. Zwölf der hervorragendsten englischen Aerzte, zum großen Teil Generalärzte, welche die Cholera in ihrer Heimat kennengelernt und jahrelang verfolgt haben, sprachen einstimmig aus, „dass die kommaförmigen Baeillen, welche gewöhn- lich bei Cholera gefunden werden, diese Krankheit bei Tieren („lower animals“) nicht hervorrufen, und dass man keinen Grund habe an- zunehmen, dass sie dies beim Menschen thun, weil der Umstand, dass sie in Teichen (tanks), welche die gewöhnliche Wasserversorgung der Umwohnenden bilden, gefunden wurden, ohne dass das Auftreten der Krankheit damit verbunden war, zwingt eine solche Annahme zu verneinen.“ 1) The Etiology of Cholera. Transactions of a Committee convened in 1885 by the Secretary of State for India in couneil. Hüppe, Komma-Bacillen. Kurth, Bacterium Zopfü. 585 Ebenso einstimmig wird schließlich ausgesprochen: „Obschon die eigentliche Ursache der Cholera nicht ermittelt ist, ist vom allge- meinen Charakter der Krankheit soviel hinlänglich bekannt, um dem praktischen Handeln eine zuverlässige Grundlage zu geben, und die Kommission empfindet, dass sie sich nicht trennen darf ohne ihrer Ueberzeugung Ausdruck zu geben, dass sanitäre Maßregeln im wahren Sinne und sanitäre Maßregeln allein die einzigen zuver- lässigen Mittel sind, Ausbrüchen der Krankheit vorzubeugen, ihre Verbreitung einzuschränken und ihr Auftreten zu mildern, wenn sie herrscht. Die Erfahrung in Europa und im Osten hat gezeigt, dass Sanitätskordons und Quarantänen (welche Form sie immer haben mögen) als Mittel dem Eortschreiten der Krankheit Einhalt zu thun nicht bloß nutzlos, sondern gradezu schädlich sind, und dies nicht bloß wegen der vielen unvermeidlichen Härten, die ihre Durchführung in sich schließt, sondern auch, weil sie während der Epidemiezeiten Unruhe verursachen und die öffentliche Aufmerksamkeit von der Ver- folgung sanitärer Maßregeln von gesichertem Werte ablenkt, Maß- regeln, welche überdies geeignet sind, das Vorkommen aller Art von Krankheit zu vermindern“. Der Leser wird erkennen, dass die englische Cholerakommission mit Sätzen geschlossen hat, die von Pettenkofer seit lange und wiederholt ausgesprochen worden sind. Hüppe, F. Ueber die Dauerformen der sogenannten Komma- Baeillen. Fortschritte der Med., Bd. 3, 1885, Nr. 19, S. 619—626. Kurth, H. Ueber Bacterium Zopfä, eine neue Bakterienart. Berichte der deutsch. botan. Ges., Bd. I, 1883, S. 97—99 mit 1 Taf. — Die ausführliche Arbeit mit einer Doppeltafel in: Botanische Zeitung, 1883. Dem allgemein giltigen, durch botanische und zoologische Unter- suchungen längst gesicherten biologischen Gesetz, wonach die niedern Organismen sich äußern ungünstigen Verhältnissen anzupassen wissen durch Bildung von Entwicklungszuständen, welche die Art sicherer erhalten, als die gewöhnlichen, vegetativen Zustände, ordnen sich, wie namentlich die Untersuchungen der letzten Jahre bereits für viele Fälle gezeigt, auch die Spaltpflanzen unter. Indess bleiben immer noch manche Spaltpilz- und Spaltalgenspecies auf solche Entwicklungs- formen und deren Entstehungsweise speziell zu untersuchen. Nament- lich sind es gewisse pathogene Spaltpilze, inbezug auf die ein Nach- weis solcher Stadien noch aussteht, und diese Lücke macht sich dem Mediziner um so fühlbarer, als eine sichere Bekämpfung dieser Orga- nismen erst dann in Aussicht steht, wenn man neben den vegetativen auch die Dauerstadien ermittelt haben wird. 586 Hüppe, Komma-Bacillen. Kurth, Bacterium Zopfit. Es stehen die Nachweise u a. noch aus von der Recurrenspirochäte, von den Pilzen, die Koch, Prior und Finkler bei der Cholera asiatica und nostras fanden ete. Durch die Beobachtung veranlasst, dass in Agar- Agar-Kulturen sich noch nach 9 Monaten entwicklungsfähige Keime des Koch’schen Pilzes der Cholera asiatica vorfanden, prüfte der erstgenannte Ver- fasser die schon von verschiedenen Forschern angeregte Frage nach der Bildung von Dauerzuständen dieses Pilzes und fand unter An- wendung der bekannten, bereits von Brefeld, Prazmowski, Hansen, Zopf, Kurth, Ehlers, De Bary u. a. in Anwendung gebrachten Methode der direkten Beobachtung (Benutzung von Geiß- ler’schen Kammern), dass die kurzen gekrümmten Stäbchen (die so- genannten Kommas), aus denen die Schrauben des Pilzes bestehen, sich gliedern in je 2 kurze, Kugelform annehmende Stücke, die etwas größeren Durchmesser als die Stäbchen erhalten, auch stärkeres Licht- brechungsvermögen und eine deutliche Gallertmembran aufweisen. In- dem dieser Prozess sich auf alle Glieder der Schraube fortsetzte und die runden Teilstücke gegenseitige Verschiebungen erlitten, bildete sich ein Häufechen jener gallertigen Kügelchen, eine Zoogloea. Verf. macht die Angabe, dass sich die Körperchen nicht durch Teilung ver- mehren und unbeweglich sind. Aus ihrer Resistenz gegen Eintrocknen ergibt sich, dass sie Dauerformen repräsentieren; sie keimen zur kommaartigen Form aus. Diese Mitteilungen lehren, dass Hüppe Entwicklungszustände gefunden hat, welche denjenigen entsprechen, für die Cohn und der Referent die Bezeichnung „Kokken“ oder „Gonidien“ eingeführt haben, und für welche De Bary neuerdings den Ausdruck „Arthro- sporen“ in Anwendung gebracht hat. Auffallend ähnlich ist der Entwieklungsgang des darmbewohnen- den Cholerapilzes dem von Bacterium Zopfü, einem Spaltpilze den Kurth im Hühnerdarm auffand und über den er sorgfältige Unter- suchungen veröffentlichte. Hier sind die Fäden teils grade, teils unregelmäßig, teils sehr regelmäßig spiralförmig gewunden und die stäbchenförmigen Glieder der graden Fäden, die natürlich grade Stäbchen darstellen, sowie die Glieder der Schraubenfäden, die selbstverständlich gekrümmte Stäbehen (man würde von medizinischer Seite sagen „Kommas“) repräsentieren, gliedern sich in isodiametrische Stücke, welche sich zu Kugeln abrunden und Kokken darstellen. „Das Kokkenstadium, sagt Kurth, besitzt eine besondere Fähigkeit die Membran zu ver- gallerten, während bei den Stäbchen und Fäden nichts auf die gleiche Eigenschaft hinweist“. Auch ihr Inhalt sei konzentrierter, wofür das Vermögen spreche, in der Zeiteinheit mehr Anilinfarbstoff zu ab- sorbieren, außerdem seien sie unfähig, durch Teilung wieder Kokken zu erzeugen, wohl aber wachsen sie bei geeigneten Be- Hüppe, Komma-Bacillen. Kurth, Bacterium Zopfit. 587 dingungen wiederum zu Stäbehen aus. Ausgedehnte Versuche bezüg- lich der Resistenz gegen Eintrocknen führen Kurth zu dem Resultate, „dass die Kokken des Bacterium Zopfii als ein Ruhezustand bezeichnet werden müssen, der unter ungünstigen Verhältnissen das Leben der Art länger zu erhalten vermag, als der vegetative Zustand“. Wir sehen also, dass Kurth bereits vor 3 Jahren an dem darm- bewohnenden Bacterium Zopfi im wesentlichen die nämlichen entwick- lungsgeschiehtliehen Momente festgestellt hat, wie Hüppe an dem Cholerapilz. (Doch scheint Hüppe keine Kenntnis von der Arbeit seines Vorgängers gehabt zu haben, da er dieselbe nicht erwähnt.) Zum schnelleren Vergleich beider Pilze lasse ich eine Parallel- Uebersicht folgen: Cholerapilz. Bacterium Zopfii. Vorkommen: IMenschendarm. Hühnerdarm. Wuchsform der Fäden: Schrauben verschiedenen Grade Fäden, unregel- Charakters. mäßige und sehr regel- mäßige Schrauben von Gliederung der 2440 Umgängen. Fäden: sekrümmte Stäbchen ıgrade Stäbchen, ge- (Kommas). krümmte Stäbchen (Kommas). Endprodukt der Gliederung: Kugelglieder. Kugelglieder. Stäbehenschwär- mer: vorhanden. vorhanden. Eigenschaften der Kugelform: 1) Gallertmembran. Gallertmembran. 2) Liehtbreehungsvermö- | Liehtbrechungsvermögen gen, stärker als bei der stärker als bei den Stäbehenform. Stäbchen. 3) Mangel des Schwärm- | Schwärmzustand. zustandes. 4) Zooglöenbildung. Zooglöenbildung. 5) Mangel der Teilungs-| Mangel der Teilungsfähig- fähigkeit. keit. 6) Resistenz gegen Ein- | Resistenz gegen Eintrock- trocknen. nen. 7) zu Stäbehen auskei-|zu Stäbchen auskeimend. mend. Hieraus ergibt sich, dass der Cholerapilz zu dem Bacterium Zopfii in sehr nahen verwandtschaftlichen Beziehungen steht. Nach den 588 Ray Lankester, Pleomorphismus der Bakterien. Untersuchungen des Referenten an der sumpfbewohnenden Spirochaete plicatilis (Zur Morphologie der Spaltpflanzen Leipzig 1882 und Spalt- pilze, 1. Aufl., 1885) kann es ferner als feststehend betrachtet werden, dass die den Schrauben des Cholerapilzes so ähnlichen Schrauben- fäden, die man früher irrtümlich für einzellig ansah, Gliederung in (kommaähnliche) gekrümmte Stäbchen besitzen, welche als Produkt weiterer Gliederung ellipsoidische bis kugelige Zellen (Kokken, Go- nidien oder Arthrosporen) erzeugen, die sich schließlich aus dem Ver- bande trennen und gallertige Membranbeschaffenheit annehmen. Der Cholerapilz zeigt in seiner Entwicklung also auch mit Spirochaete plicatilis große Aehnlichkeit. Es ist daher wohl vorläufig kaum etwas dagegen einzuwenden, wenn Hüppe den Cholerapilz zu Spirochaete stellt. W. Zopf (Halle). Pleomorphismus der Bakterien. Von Prof. Ray Lankester in London. In dem interessanten Aufsatze von Dr. Fisch im „Biologischen Centralblatt“ vom 15. April dieses Jahres über die „systematische Stellung der Bakterien“ lese ich, dass wir durch die Untersuchungen von Zopf die Thatsache kennen gelernt haben, dass die Bakterien pleomorph sind. Ich muss indess die Klarlegung dieser Thatsache für mich selbst in Anspruch nehmen. Zopf untersuchte dieselbe Form, welche mir bei meinen Untersuchungen diente, nämlich Bacterium rubescens, welche Zopf fälschlich als Deggiatoa roseo - persicina bezeichnet. De Bary hat in seiner jüngsten Arbeit über „Pilze, Mycetozoen und Bakterien“ mein Verdienst in dieser Frage anerkannt; Zopf aber erkennt in seiner Abhandlung „Zur Morphologie der Spalt- pflanzen“ nicht genügend an, dass er darin (soweit der Pleomor- phismus in betracht kommt) nur die Thatsachen und die Beweise für dieselben reproduziert, welche ich neun Jahre vorher veröffentlichte. Ich bitte die Leser des „Biologischen Centralblatts“, meine Arbeit „On a peacheoloured Bacterium“ im „Quarterly Journal of Microsco- pical Seience“ vol. XIIL, 1873 nachzulesen und einen weitern Aufsatz in demselben Journal, vol. XVI, 1876. Ich glaube, Zopf hat in dieser Beziehung etwas für sich in An- spruch genommen, was mir zukommt, indem er in seiner Abhandlung „Zur Morphologie der Spaltpflanzen“ meine früheren Untersuchungen nicht hinlänglich beachtete. London, den 3. November 1885. Carriere, Einiges über die Sehapparate von Arthropoden 589 H. Viallanes, Ftudes histologiques et organologiques sur les centres nerveux et les organes des sens des annimaux articules. I. Le ganglion optique de la langouste (Palinurus vulgaris). Bibliothöque de l’&cole des Hautes Etudes, sect. des sc. nat. Tome XXIX 1884. II. Le ganglion optique de la Libillule (Aeschna maculatissima). Annales des seiences nat. Zool., Ser. VI, T. XVII, Nr. 4—6. G. V. Ciaccio, Figure dichiarative della minuta fabbrica degli occhi de’ Ditteri. Bologna 1884. Sidney J. Hickson, T'he Eye and Optie Traet of Insects. Quarterly Journal of Microscopical Science. April 1885. Die Untersuchungen von Viallanes und Ciaccio erschienen nach dem Abschlusse meiner Abhandlung über die Sehorgane!), so dass ich sie für dieselbe nicht mehr verwerten konnte, und ich möchte das, was ich ungern unterlassen musste, durch eine Besprechung an dieser Stelle nachholen. Die Arbeit Hiekson’s, welche sich auf einzelne Vertreter ver- schiedener Ordnungen erstreckt, wurde in diesem Frühjahre, fast gleichzeitig mit meinen Untersuchungen über die Sehorgane ausge- geben, und der Autor gelangt darin zu zwei Schlussfolgerungen, welche mit den von mir durchgeführten Anschauungen übereinstimmen. Die erste ist die, dass der Retina.der Wirbeltiere nicht nur die Summe der Einzelaugen oder Ommatidien entspricht, sondern diese samt dem ganzen dahinterliegenden Ganglienapparat, während die Ommatidien allein den Sinneszellen mit den Stäbchen und Zapfen gegenüberzustellen sind. Betrachtet man bei vergleichend anatomischen Untersuchungen die Retina nicht als eine Einheit, sondern trennt sie — wie ich auch vorschlug — in die Schicht der Sehzellen und das Retinaganglion, so finden wir bei allen Tieren mit höher organisierten Augen zwischen die Sehzellen und das Gehirn einen mehr oder weniger zusammen- gesetzten Ganglienapparat eingeschoben. Die zweite These Hiekson’s bringt die hohe Ausbildung des Ganglienapparates bei den Arthropoden in direkte Beziehung mit der relativ geringen Leistungsfähigkeit der Ommatidien. Bei den Wirbel- tieren sei infolge der dichten Stellung der Sehzellen das von den- 4) J. Carriöre: Die Sehorgane der Thiere, vergleichend anatomisch dar- gestellt. München und Leipzig. R. Oldenbourg. 1885. 590 Carriere, Einiges über die Sehapparate von Arthropoden. selben aufgefangene Bild sehr scharf, bei den Arthropoden infolge der relativ großen Entfernung der Ommatidien von einander viel unvoll- ständiger und deshalb bei den letzteren der Leitungsapparat der Retina feiner ausgearbeitet und vollständiger als bei den Wirbeltieren. Hickson stellt diesen Satz ruhig und bestimmt hin, und in der That scheint die Annahme einer solchen Ausgleichung (Kompensation) glücklich und wenig anfechtbar zu sein. Mir selbst war sie sehr sym- pathisch, so dass ich sie in meinen Vorlesungen wenigstens in Form einer Hypothese vortrug. Dagegen glaubte ich sie nach dem Charak- ter, welchen ich meiner Arbeit zu geben wünschte, indem ich nur Beobachtungen und auf solche gegründete Theorien bringen, auf Hypothesen gebaute Spekulationen aber vermeiden wollte, darin weg- lassen zu müssen Denn erstens wissen wir nichts positives über die Leistung des Retinaganglion bei den Wirbeltieren, und zweitens ist auch bei diesen die Beziehung zwischen der größern oder geringern Dicke der Stäbehen und der Ausbildung des Retinaganglion noch nicht so weit festgestellt, dass sich ein für alle Wirbeltiere giltiger Satz daraus ableiten ließe. Wir bedürfen noch sehr vieler Beobachtungen, und zwar solcher, bei welchen anatomische und physiologische Unter- suchung vereint ist, ehe wir über diesen Punkt urteilen können. — Nun zu dem anatomischen Teil der Untersuchung. Grenacher und ich hatten angenommen, dass bei den Fliegen die vier kleinen Zellen an der Spitze des Pseudoconus die Reste der zum größten Teil in die flüssige Masse des Pseudoconus umgewandelten Krystall- zellen seien. Hickson hatte ganz ähnliche Bilder vor sich, und er- klärt danach den Pseudoconus als von vier Zellen gebildet, deren jede eine große, von Flüssigkeit gefüllte Vakuole enthalte. (Der Pseudoconus verschiedener Museiden und von Volucella hat gallertige Beschaffenheit, schrumpft kaum bei der Konservierung und färbt sich stark und gleichmäßig mit Hämatoxylin.) Die den Zwischenraum zwischen den Ommatidien zum größten Teil ausfüllenden Tracheen -Endblasen zeichnet Hickson als lange Schläuche. Am eingehendsten untersuchte er die Ganglien des Auges, und unterschied drei derselben als Opticum, Epioptieum und Perioptieum, welche den von mir als Gehirn-, zentrales und peripheres Ganglion des Optieus bezeichneten Teilen entsprechen. Die Punkte, in welchen Hiekson Grenacher’s (bezw. meiner) Darstellung direkt widerspricht, beziehen sich auf die Zahl der Re- tinulazellen, den Bau des peripheren Optieusganglion und die Form der Cornealinsen. Es finden sich nach seiner Angabe nur sechs Retinulazellen und ebenso viele Rhabdomere, deren Kerne einen Kranz dieht unter dem Pseudoconus bilden, aber einige dieser Zellen besitzen noch einen aut halber Höhe gelegenen Nebenkern. Carriere, Einiges über die Sehapparate von Arthropoden. 591 Während ich den Hauptbestandteil des peripheren Ganglion als „Palissadenzellen“ bezeichnete, sind nach Hickson diese Gebilde keine Zellen, sondern scharf umgrenzte, isolierte Palissaden von Neuro- spongium (Hick son’s Bezeichnung für die Marksubstanz der Ganglien); die ovalen, in regelmäßiger Reihe angeordneten Kerne gehörten nicht den Palissaden an, sondern lägen zwischen ihnen, und ein Teil der Nervenfasern ginge unverändert durch diese Schicht, der andere bilde dieselbe, indem jede Faser sich in das Netzwerk einer Palissade auflöse. Ich ergriff die Gelegenheit, welche mir die letzte in diesem Spät- herbst mein Zimmer besuchende Musca vomitoria bot, um nach Hick- son’s Methode !) eine Nachuntersuchung vorzunehmen, und fand, dass weder die Darstellung dieses Autors, noch die von mir gegebene dem wahren Sachverhalte entsprechen. Zur richtigen Erkenntnis sind nicht nur Schnittserien nötig, deren Richtung parallel der Axe der Palissaden, sondern auch andere, die quer zu derselben gelegt sind. Solche zeigen, und zwar bei Musca vomitoria wie bei Volucella pellucens, dass mit den von dem mittlern Ganglion kommenden Nervenfaserbündeln ganz feine Tracheen an die Grenzmembran des äußern Ganglion antreten. Innerhalb desselben erweitern sich die Tracheen zu zylindrischen Schläuchen, von denen immer zwei, dicht aneinander liegend, so dass die sich berührenden Wände abgeplattet werden, in grader Richtung, und in regelmäßigen Reihen angeordnet die Faser- (Mark-) Sub- stanz des Ganglion durchsetzen. Die Wände dieser schlauchförmigen Erweiterungen sind hier wie zwischen den Ommatidien glatt, ohne Spiralfaden. Jeder dieser Tracheenzylinder ist nun von einer Anzahl — sechs bei Musca, mehr bei Volucella — von röhrenförmigen Nerven- fasern umgeben und vollkommen eingeschlossen; diese Fasern wären eigentlich als Bündel zu bezeichnen, denn sie enthalten in einer hellen, sich nur wenig färbenden Masse eingebettet feine, sich stark färbende fadenförmige Fasern, deren Zahl nicht leicht zu bestimmen ist; es sind ungefähr sieben, doch scheinen es häufig weniger zu sein. Nach dem Verlassen der Markschicht treten die Nervenbündel aus- einander und ziehen je zu einem Ommatidium; ob die wieder verengten Tracheen direkt in die Ommatidienschieht eintreten, oder erst in die unter der Basalmembran derselben liegenden größeren Tracheenstämme münden und von diesen aus die Tracheenschläuche entspringen, kann ich im Augenblick noch nicht mit Sicherheit angeben; doch ist das ein relativ untergeordneter Punkt. In dem Ganglion bildet der Tracheen- zylinder mit seinem Mantel von Nervenröhren ein Ganzes, und jeder solcher, einem Kabel ähnlicher Komplex ist von dem benachbarten dureh die dazwischen einflochtenen Fasern der Marksubstanz getrennt. 4) Härtung in Ueberosmiumsäure-Dämpfen und Alkohol, Färben der fixierten Schnitte mit Hämatoxylin. 592 Carriere, Einiges über die Sehapparate von Arthropoden. Auf nicht sehr dünnen Längsschnitten in Alkohol gehärteter Augen sieht man, wie ich früher nach solchen angab, aus Fasermasse be- stehende Palissaden, die durch helle Zwischenräume von einander ge- trennt sind und in den Palissaden stärker gefärbte röhrenförmige Axen. Es ist nicht schwer, beide Bilder aufeinander zu beziehen: die hellen Räume sind die — bei letzterer Methode nicht sichtbaren — Tracheenzylinder, die scheinbar einheitliche Palissade wird von der zwischen zwei Zylindern gelegenen Fasermasse und die dunklere Axe von den Nervenröhren gebildet. Meine frühere Darstellung lässt sich also mit meinen Befunden in Einklang bringen, während Hick- son’s Angaben mit meinen letzten, aus sehr klaren Präparaten hervor- gegangenen Resultaten sich nicht vereinigen lassen. Ich muss sie des- halb für unrichtig halten, ebenso wie seine Hypothese über den Bau, die Onto- und Phylogenie des äußern Ganglion opticum. Diese eigentümliche Einrichtung scheint auch anderen Dipteren zuzukommen; ich schließe das wenigstens aus einer Abbildung, welche Hiekson nach einem Querschnitte durch die Palissadenschicht von Eristalis gibt. Ob sie aber weiter unter den Insekten verbreitet ist, darüber gestatten meine jetzigen Präparate noch keine bestimmte Aussage. Auch in einigen anderen Punkten setzt sich Hiekson irriger Weise in Widerspruch mit früheren Angaben. Ob sieben oder sechs Retinulazellen vorhanden sind, kann man noch als einen Streitpunkt betrachten; denn es weichen darin nicht nur Querschnitte des- selben Ommatidium auf verschiedener Höhe von einander ab, sondern Ciaceio fand auch in seinen vortreffliehen Untersuchungen bei einer Anzahl von Dipteren-Familien deren sieben, bei der Mehrzahl (worunter Musca) sechs; immer aber sind sieben Rhabdomere vor- handen, in der von Grenacher angegebenen Stellung. Bei Musca besteht, wie auch aus den Abbildungen Ciaccio’s sichtbar ist, jedes Rhabdomer aus zwei Teilen: einem innern, welcher sich stark färbt, umgeben von einem sich wenig färbenden Mantel, und diese hellen Mäntel sind deutlich gegeneinander abgegrenzt. — Ebensowenig dürfte Hiekson’s Ansicht über die Bildung der Cornealinsen mit den Vor- gängen bei der Entwicklung übereinstimmen. Dagegen hat dieser Autor zuerst die Gestalt der Cornealinsen richtig angegeben; sie sind in der That hier wie bei Volucella und vielleicht allen verwandten Familien bikonvex, die innere Wölbung aber mit bedeutend kleinerem Durchmesser als die äußere, und nur auf sehr dünnen Schnitten sichtbar. Schließlich möchte ich Hickson auf ein Missverständnis auf- merksam machen, in welchem er sich über die in Deutschland ge- bräuchliche und durch Leydig eingeführte Bezeichnung der Bestand- teile von Ganglien befindet (S. 6 und 16 seiner Arbeit). Leydig (z. B. „Vom Bau des tierischen Körpers“ S. 226) unterschied an den TErui Carriere, Einiges über die Sehapparate von Arthropoden. 593 Ganglien der wirbellosen Tiere eine aus Zellen bezw. Zellkernen zu- sammengesetzte Rinde und eine zentrale, aus feinem Netzwerk von Fasern bestehende Substanz. Für letztere führte er — nach ihrem Aussehen auf Querschnitten bei mittlerer Vergrößerung — den Namen Punktsubstanz ein. Diese Punktsubstanz Leydig’s ist genau das, was Hickson jetzt als Neurospongium neu beschreibt, im Glauben, Leydig’s Bezeichnung beziehe sich auf die von zahllosen Zellkernen gebildete Rinde der Ganglien. Die regelmäßige Kernreihe, welche auf den Ommatidien ungefähr im ersten Drittteil ihrer Höhe sichtbar ist, wird auch von Ciaceio abgebildet. Doch sollen diese Kerne nicht einer Retinulazelle ange- hören, wie Hickson und ich annahmen, sondern kleinen, spindel- förmigen Pigmentzellen, welche zwischen die Kanten der Retinulazellen eingelagert sind. Bei Musca ist das etwas schwierig zu beobachten, meine Präparate von Volucella aber sprechen für diese Ansicht. Es sind somit alle Retinulakerne bei den brachyceren Dipteren in dem äußern Drittteil der Retinula vereinigt. Eine eigentümliche Sache ist es mit der Zahl der Retinulazellen; die Angaben schwanken darüber, wie erwähnt, nicht nur bei ver- wandten Gattungen, sondern auch bei derselben Species. Ich möchte deshalb auf die Beobachtung hinweisen, dass man zuweilen, wie bei Volucella, an dem äußersten Ende der Retinula mit voller Sicherheit sieben Zellen zählen kann, während in dem mittlern und untern Teil nur sehr selten die gleiche Zahl, meist nur sechs Zellen, deutlich sind. Und doch müsste man, wenn die Rhabdomere je von einer Zelle gebildet werden, deren eine gleiche Anzahl erwarten. Dann allerdings nicht, wenn man mit Ciaccio in den Rhabdomeren Nerven- stäbe (Fortsetzungen der Nervenfasern) und in den Retinulazellen nur umhüllende Pigmentzellen derselben sieht — eine Annahme, welche bei der großen Aehnlichkeit zwischen den röhrenförmigen Nerven- bündeln und den Rhabdomen der Dipteren sehr begreiflich ist. Ich glaube aber aus Gründen, welche die vergleichende Anatomie und die Entwicklungsgeschichte geben, mich dieser Anschauung nicht an- schließen zu dürfen, sondern suche eine Erklärung in der bekannten Verschiedenzahl der Retinula-Elemente bei den Arthropoden überhaupt, in den Unterschieden darin bei Gattungen derselben Familie und schließlich dem Umstande, dass zuweilen die Ommatidien an dem einen Ende eine größere Anzahl von Zellen besitzen als an dem an- dern. Dies tritt en, wenn im Verlaufe der Retinula eine Zelle aus- geschaltet wird oder mit einer benachbarten verschmilzt. Anderseits können auch Rhabdomere verschmelzen, und so die letzteren in ge- ringerer Anzahl vorhanden sein. Und ich glaube, dass wir aus der Zahl der einen auf die der anderen schließen dürfen, also bei sieben Rhabdomeren gleich viele ursprüngliche Retinulazellen annehmen müs- sen, von denen aber eine während der Entwicklung des Ommatidium 38 594 Carriere, Einiges über die Sehapparate von Arthropoden. ganz oder teilweise zurücktreten oder mit einer benachbarten ver- schmelzen kann, so dass wir dann statt der normalen Zahl eine ge- ringere finden. Uebrigens liegt unsere Kenntnis des Arthropoden- auges noch so in den Anfängen, dass es wichtiger ist, Material bei- zuschaffen, als Erklärungen von noch vereinzelten Fällen zu versuchen. Das geschieht wohl am besten durch systematisches Bearbeiten ein- zelner Gruppen, wie es Ciaccio begonnen hat, und mit eingehender Berücksichtigung nicht nur der Gattungen, sondern auch möglichst vieler Species; denn auch zwischen diesen scheinen, wie mich die Museiden vermuten lassen, nicht unbedeutende Verschiedenheiten vor- zukommen. Ciaccio, aus dessen Abhandlung ich schon einiges anführte, untersuchte die Fächeraugen von 14 Dipterenarten aus 12 Familien, mit Berücksichtigung des ganzen Auges mit seinen Ganglien, und stellte dieselben durch schöne Abbildnngen in großem Maßstabe in allen Einzelheiten deutlich dar. Mit Ausnahme des Kırystallkegel- Abschnittes, bei welchem die Beziehungen der Krystallzellen zu dem Pseudoconus nicht klar erkannt wurden, kann man zuweilen vielleicht die Auslegung, welche der Verfasser von seinen anatomischen Resul- taten gibt, nicht aber die letzteren anzweifeln. Ich will hier anfügen, dass ich kürzlich Querschnitte des Pseudoconus erhalten habe, welche die Grenzen der ihn zusammensetzenden vier Teile deutlich zeigen, sowie dass er aus einer sich mit Hämatoxylin stark färbenden Sub- stanz besteht, welche mit der Cornea enger verbunden ist als mit den, ebenfalls scharf von einander abgegrenzten Krystallzellen; auf Längsschnitten durch die Ommatidien wird häufig der ganze Pseudo- conus von der sich abhebenden Cornea aus den von den Pigment- und Krystallzellen gebildeten Kästehen herausgezogen, während die Zellenreste und Kerne der letzteren an ihrem Platze zurück bleiben. In der Ganglienmasse unterscheidet Ciaceio, von außen nach innen, Nervenzellenlage und Nervenfaserlage, dann Ganglion opticum, Portio externa der Marksubstanz des Ganglion supraoesophageum und Portio media der Marksubstanz desselben Ganglion. Davon entsprechen die ersten beiden Lagen meinem peripheren Ganglion, die beiden fol- genden dem mittlern, und die Portio media dem innern Ganglion opticum. — Sieben Retinulazellen fanden sich bei den Hippoboseiden, Oestri- den, Syrphiden (Kristalomyia), Asiliden, Leptiden, Bombyliden,. Tipu- liden, sechs dagegen bei den anderen 10 Familien, und auch von den Syrphiden wurden zwei Species (Syrphus Corellae und Lasiophtieus pyrastri) mit nur sechs Retinulazellen gefunden. Wie Ciaeecio, so sahen auch Hickson und ich die kleinen Pigmentzellen an der Basalmembran zwischen den Ommatidien. — Die Monographien, mit deren Veröffentlichung Dr. Viallanes, hepetiteur aA l’ecole des Hautes Etudes, im vorigen Jahre begann, ent- Ve ee Carriere, Einiges über die Sehapparate von Arthropoden. 595 halten bis jetzt die feinere Anatomie der Retinaganglien eines Ver- treters der Crustaceen (Palinurus) und eines Insektes (Aeschna), beide mit einer Anzahl schöner Abbildungen geschmückt. Meine eignen Untersuchungen berührten zwar nicht die beiden Species; aber an der Hand meiner Serienschnitte durch das Sehorgan von Astacus fluvia- tilis und einer Libelle (Callopteryx) kann ich die Darstellung von Viallanes genügend beurteilen. Er orientierte sich durch in den drei Hauptebenen gelegte sagittale, horizontale und vertikale Schnittserien, und kam auf solche Weise zu einer genauen Kenntnis des Baues der Ganglien und ihres Zusammenhanges. Die Abbildungen, welche den- selben erläutern, sind teils nach genauen Zeichnungen im großen Maß- stabe reduziert, teils Photographiedruck nach den Präparaten. Die wenigen kritischen Bemerkungen, welche ich hier zu machen habe, beziehen sich nur auf Aeußerlichkeiten. So verfolgt Viallanes den Lauf der Nervenfasern von außen nach innen, während es meinen Anschauungen besser entspricht, sie im Anschluss an die Entwick- lungsgeschichte von dem Gehirn nach den Ommatidien ziehen zu lassen, und beschreibt ein Ganglion mit mehreren Abteilungen, wo ich von einer Kette von Ganglien spreche. Dass sich einzelne, aus irgend einem Grunde zur Untersuchung herausgegriffene Tiere nicht ohne weiteres auch als Typen für den Bau des Sehorgans in den betreffen- den Klassen verwerten lassen, wird Viallanes bei der weitern Ausdehnung seiner Untersuchungen selbst finden. Da die schönen Darstellungen, welehe Berger und Krieger von dem Gehirn der Arthropoden gegeben haben, die Retinaganglien nur wenig oder gar nicht berücksichtigen, und Mysis, von deren Augen- stiel Grenacher einen Längsschnitt abbildet, sich etwas abweichend verhält, beziehe ich mich auf meine Abbildung von Astacus (5. 171). Im Verhältnis zu diesem ist der Ganglienapparat des Palinurus ge- drungener gebaut, die einzelnen Ganglien erscheinen namentlich auf den Horizontalschnitten so dieht aneinander, dass die Bezeichung des Ganzen als einer „masse ganglionaire“ gerechtfertigt erscheint; doch finden wir die bei Astacus beschriebenen vier Ganglien hier wieder, wenn auch die gegenseitigen Raumverhältnisse andere sind: Das erste Ganglion — lame ganglionnaire — (dem peripheren Ganglion der In- sekten entsprechend), ist sogar in seinem feinern Bau, der Anord- nung der Schichten, bei beiden Tieren sehr ähnlich gestaltet; mit dem zweiten, bei Palinurus und (wahrscheinlich) auch bei Astacus ungefähr keilförmigen Ganglion ist es ebenso wie dieses mit dem dritten, durch die jedes mal ein Chiasma bildenden Nervenfasern verbunden. Dabei umfasst das der Basalmembran der Ommatidien konzentrische erste Ganglion das zweite von beiden Seiten her, während nach oben und unten sich seine Ausdehnung nicht über die des letztern erstreckt. An das vierte, an Masse bedeutendste Ganglion tritt der Sehnerv an, aus Bündeln feinster Fibrillen und dieker Röhrenfasern zusammen- 38 * 596 Carriere, Einiges über die Sehapparate von Arthropoden. gesetzt, die von einander getrennt bis in das Zentralorgan einerseits und das vierte Ganglion anderseits reichen; in dem letztern lassen sich die Bündel noch eine Strecke weit verfolgen, bis sie in der Faser- masse des Ganglienmarkes dem Blick entschwinden. Während bei Astacus die aus dem vierten Ganglion austretenden Nervenfasern wie zwischen den übrigen Ganglien ein Chiasma bilden, erscheinen sie bei Palinurus in der Form eines kurzen, aus Punkt- substanz und feinen Fasern zusammengesetzten Stieles. Viallanes bezeichnet die vier Ganglien als lame ganglionnaire, masse medullaire externe, interne, terminale. Die Ganglien des Auges von Aeschna zeigen große Uebereinstim- mung — auch bis in die feinsten Einzelheiten — mit denen von Calop- tery&. Hier scheint mir besonders zu erwähnen zu sein, dass Vial- lanes auch die Entwicklung der Ganglien während des Larvenlebens bis zum Imago zu verfolgen suchte, und dass seine Resultate der Theorie Hiekson’s nicht günstig sind. Auch bei jungen Larven gehen die auffallend stark lichtbrechenden Nervenfasern unverändert durch die Markschicht des peripheren Ganglion, in welcher erst spät die bei dem Imago regelmäßig angeordneten Kerne auftreten, anschei- nend von der innern Grenzschicht her eindringend. Das zweite Ganglion ist von vorn nach hinten stark komprimiert (keilförmig), seine Zellenrinde wird von Viallanes in zwei, übrigens gleich zusammengesetzte Teile unterschieden, die Rinde der konvexen äußern Fläche (der Schneide) als ganglion en coin (keilförmiges Ganglion), die der Seiten als Ringganglion (couronne ganglionnaire) bezeichnet. Ich halte es, wie oben bemerkt, nicht für praktisch, die zellige Rinde eines Ganglion zu der Markmasse, die doch zum großen Teil von den Ausläufern des kernhaltigen Zellenendes gebildet wird, in solchen Gegensatz zu bringen, dass man einen Teil der Rinde ebenfalls als Ganglion benennt. Bei einer Agrion sp. fand ich auf Tangentialschnitten des mitt- lern Ganglion, welche mit Hämatoxylin gefärbt wurden, in der Mark- masse sehr deutliche Querschnitte lichtbreehender Fasern mit blau gefärbtem Axenfaden, in sich schneidenden Kreislinien regelmäßig angeordnet. Jede dieser Fasern, die ich wohl für röhrenförmige Nerven- fasern halten darf, ist mit stark tingierter Marksubstanz umgeben und von der benachbarten durch heller gefärbte Substanz getrennt. Neuere Untersuchungen zeigen mir denselben Bau dieses Ganglion bei den erwähnten Dipteren und einem Lepidopter (Makroglossa stel- /atarum), machen mich aber zugleich gegen die Auffassung der Quer- schnitte als von „Nervenfasern“ bedenklich, sie scheinen mir eher sehr dünnwandige, feine Röhrchen zu sein. In dem dritten Ganglion (masse med. interne) wie in dem zwei- ten ist die Marksubstanz durch Bänder von Fasern und Kernen in mehrere konzentrische Lagen geteilt. (Bei Callopteryx fehlt der lobus Wilekens, Paläontologie der Haustiere. 597 internus des dritten, vielleicht ist er auch bei Abtrennnung des Auges zurückgeblieben). Die Chiasmen, welche die Nervenfasern zwischen den drei Ganglien bilden, sind auch bei Caloptery& vorhanden, aber nur auf Horizontal- schnitten sichtbar. (Mit Berücksichtigung der von Viallanes gegebenen Darstellung wäre meine Fig. 117 als Vertikalschnitt zu bezeichnen, da der Kopf der Libellen bei der Metamorphose eine Drehung um 90° von oben nach unten macht, ein Umstand, der für die Vergleichung mit dem Larvenauge wichtig ist.) Die Veränderungen, welche die Ganglien während des Larven- lebens durchmachen, kann ich nach meinen Präparaten bestätigen. Bemerkenswert ist noch, dass der sehr kurze N. optieus aus zwei getrennten Strängen besteht, von denen der obere von der obern, vordern Seite, der untere von dem mittlern und untern Innenrande des Gehirns entspringt. Zum Schlusse noch einige Bemerkungen zur Termimologie. Die höher entwickelten Insektenaugen besitzen drei Ganglia optica, welche Viallanes als: lame ganglionnaire, masse me&dullaire externe und interne, Hiekson als perioptieon, epiopticon und opticon bezeichnen; ich hatte ihnen die Namen peripheres, zentrales und Gehirnganglion des N. optieus gegeben. Ich möchte nun vorschlagen, bei künftigen Untersuchungen diese Ganglien in einfacherer Weise als äußeres, mitt- leres und inneres Ganglion optieum zu benennen. Sehr konstant scheint bei den Arthopoden im allgemeinen das äußere zu sein, und es wäre wohl von Interesse zu verfolgen, in welcher Weise bei niederen Formen die Reduktion, bei höheren Krebsen die Vermehrung der Ganglien vor sich geht. Das mittlere Ganglion kann die Form eines Kegels oder eines Keiles mit konvexer Schneide besitzen; im erstern Falle sehen wir auf horizontalen und vertikalen Durehschnitten das Chiasma der aus- tretenden Nervenfasern vollständig, im letztern nur auf den senkrecht zur Schneide des Keils gerichteten Schnitten. Hier würde ich auch die durch ihre Kürze sich empfehlenden Bezeichnungen kegelförmig und keilförmig für die Gestalt des Ganglion und die Form des Chiasma anraten; denn letztere ist von der der Ganglien abhängig, und im einen Falle zwei mit der Spitze einander berührenden Kegeln, im andern zwei mit der Schneide gegen einander gerichteten Keilen vergleichbar. J. Carridre (Straßburg). Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haustiere '). 8. Die hundeartigen Tiere (Caniden) des Diluviums. Die diluvialen Schichten, die Höhlen und Sandsteinlager von fast ganz Europa enthalten nach Pietet (Pal&ontol. I p. 203) die Ueber- 1) Vgl. Bd. V Nr. 17 dieser Zeitschrift. 598 Wilekens, Paläontologie der Haustiere. reste zahlreicher Hundearten, deren Formen sich mehr denen der gegenwärtig lebenden nähern. Für die bemerkenswerteste Thatsache inbetreff der diluvialen Hunde hält P. das Vorkommen einer Art, welche die größte Aehnlichkeit hat mit dem Haushunde; sie ist ge- wöhnlich in den paläontologischen Katalogen verzeichnet unter dem Namen Canis familiaris fossilis. Aber P. meint — entgegen der An- sicht von Marcel de Serres — dass dieser Hund ein wildes Tier gewesen sei, weil einerseits die Seltenheit oder die Abwesenheit von Menschenknochen und Ueberresten menschlicher Industrie, anderseits die Vermengung der Knochen von (©. familiaris fossilis mit denen an- derer wilder Fleischfresser, gegen seinen Haustierstand spreche. P. glaubt, dass seine Formen unabhängig seien von jedem äußern Ein- flusse, und dass man ihn vergleichen müsse mit dem Wolfe, dem Schakal und dem Fuchs und anderen, deren Veränderlichkeit weniger groß ist, und nicht mit den zahlreichen Rassen des Haushundes. Der diluviale Hund bildet nach P. eine wilde Art, welche vollkommen verschieden ist von allen denjenigen, die noch heute in diesem Zu- stande leben. Aber nach den aus seinen Knochen und Zähnen sich ergebenden Merkmalen steht er doch näher dem Haushunde, als es der Wolf oder gar der Fuchs thut. Wenn man annimmt, dass meh- rere Arten aus der diluvialen Epoche zu der unsrigen gelangt sind, dann erscheint es möglich, dass der fossile Hund der Stammvater unserer Haushunde gewesen sei. P. hält es für unmöglich, dass der Haushund vom Fuchs abstamme; aber man habe über die größere oder geringere Wahrscheinlichkeit gesprochen, dass die verschiedenen Rassen des Hundes aus dem Wolf oder dem Schakal ihren Ursprung nehmen. P. meint, mit Berufung auf Blainville, dass der Haus- hund von keiner gegenwärtig wild lebenden Art abstamme, wohl aber von einer Art, die zur Diluvialzeit gelebt und die Ueberschwemmungen überlebt habe, welche zu dieser Zeit den größten Teil von Europa unter Wasser gesetzt haben. Thatsache ist, dass zur Diluvialzeit eine oder mehrere wilde, dem Haushunde näher stehende Arten gelebt haben, welche nicht der heutige Wolf, Schakal und Fuchs waren. Als diluviale Formen des Hundes werden in der Literatur folgende aufgeführt. Canis spelaeus (der Höhlenwolf), dessen Ueberreste — zwei Schädel, ein halber Unterkiefer, einige Zähne und Knochenstücke — aus dem Knochenlager der Gailenreuther Höhle!) von Goldfuß (Osteol. Bei- 1) Diese Höhle gehört zu den Muggendorfer Höhlen in Oberfranken. Die erste Mitteilung über die Knochen der Gailenreuther Höhle verdanken wir Joh. Friedr. Esper, der in seinem Werke „Ausführliche Nachricht von neu ent- deckten Zoolithen“ u. s, w., Nürnberg 1774, Zähne von Caniden beschreibt und abbildet, welche zum Teil wenigstens dem später von koldfuß so benannten Höhlenwolfe angehören; dass übrigens ein von ihm gefundener Eckzahn „dem von einem Wolf in allem gleicht“, hat schon Esper (a. a. 0. 8. 58) ausge- y ‚8. Die hundeartigen Tiere des Diluviums. 599 träge u. s. w. in Nova Acta Acad. Leop. Carol., 1823, t. 11, ps. 2, S. 451) beschrieben und abgebildet sind, zeigt eine merkwürdige Uebereinstimmung seines Schädels mit dem des Wolfes, welche durch etwas geringere Größe schwächere Fortsätze und dünnere Knochen des fossilen nicht gestört wird. Die merklichste Abweichung ist eine größere Breite des Gaumens zwischen den drei letzten Backenzähnen, indem der Höhlenwolf in dieser Hinsicht, bei einer geringern Länge des Vorderkopfes, doch den größern und stärkern Schädel des ge- meinen Wolfes um etwas übertrifit. Der Unterkiefer und das Gebiss bieten keine Verschiedenheiten dar. Aus dem Bau des Schädels lässt sich nach G. kein spezifischer Unterschied des Höhlenwolfes und des gemeinen Wolfes der Jetztzeit erschließen. Andr. Wagner („Charak- teristik der in den Höhlen um Muggendorf aufgefundenen urweltlichen Säugetierarten“ in Abh. der II. Kl. d. k. Akademie d. Wissensch. zu München, VI, Abt. I, S. 239), der einen noch größern Schädel von ©. spelaeus als Goldfuß in der Gailenreuther Höhle gefunden hat, bezweifelt nicht die Gleichzeitigkeit von ©. spelaeus und Ursus spelaeus, dagegen erscheint ihm die Fossilität von C. familiuris fossilis — dem Knochen aus deutschen, englischen, belgischen und französischen Höhlen zugeschrieben wurden — fraglich zu sein. Canis spelaeus ist nach Pictet (a. a. ©. S. 205) in den meisten Höhlen Europas ge- funden worden, ferner in den Knochenbreschen Sardiniens und Frank- reichs und wahrscheinlich auch in den diluvialen Schichten des Arno- thales. Aus knochenführenden Höhlen Südrusslands, sowie aus dem Diluviallehm von Odessa und Nerubaj beschreibt Alex. v. Nord- mann („Paläontol. Südrusslands“, 1858, S. 132 ff.) fossile Ueberreste von C. /upus spelaeus Goldf. und von €. vulpes foss. Cuv. Außer der normalen größern Art des gemeinen Fuchses, welche etwas größer war als die der lebenden Art, fand G. im Diluviallehm von Odessa und Nerubaj auch zwei Unterkiefer, einen zweiten Halswirbel und einige Gliederknochen, welche er einer kleinern Art von Fuchs zuschreibt, die er ©. fossilis meridionalis genannt hat. Seine Größe übertraf um ein Geringes die von ©. Corsac; sein Fleischzahn kommt dem des Eisfuchses gleich, er ist aber kürzer und merklich schmäler; der erste Mahlzahn ist kleiner als der entsprechende von €. vulpes, der Umriss seiner Kaufläche ist verhältnismäßig mehr verlängert und er erscheint im mittlern Querdurchmesser schmäler. Canis familiaris fossilis, dessen Ueberreste — einige Glieder- knochen, Wirbel, zwei Bruchstücke vom linken Oberkiefer, mehrere vom Unterkiefer und einzelne Zähne — von Marcel de Serres, Dubreuil und Jean-Jean („Recherches sur les Ossem. foss. des sprochen und er sagt von anderen Eckzähnen — die er irrtümlich laniarir nennt, da laniarius eigentlich einem Fleischzahn entspricht —, „die Gestalt der Zähne verrät Geschöpfe aus dem Hundegeschlecht*. H00 Wilekens, Paläontologie der Haustiere. Cavernes de Lunel-Vieil“ in M&emoires du Museum d’Hist. nat., 1829, T. 18, p. 339) beschrieben und abgebildet sind, steht nach seiner Gestalt in der Mitte zwischen dem Jagdhunde und dem Wolfe. Die Schnauze dieses Hundes ist länger und alle Teile des Skeletes sind verhältnismälsig stärker, namentlich die Rücken- und Lendenwirbel, als die entsprechenden Teile bei der Mehrzahl unserer Hunde, mit Ausnahme jedoch der Schäferhunde. Die Abdrücke der Muskelansätze an den Knochen bestätigen dasselbe; sie weisen hin auf stärkere und kräftigere Fleischfresser, als es die Mehrzahl der gegenwärtigen Hunde ist. Einige Individuen dieses Hundes gleichen mehr dem Wolfe, andere mehr dem Fuchs, so dass ihnen ein einheitlicher Typus fehlt, woraus man schließen kann, dass die Ueberreste der Höhle von -Lunel- Vieil verschiedenen Rassen, vielleicht auch verschiedenen Arten des Hundes angehört haben. Unter dem Namen Canis propagator beschreibt Kaup (Oken’s Isis, 1834, $S. 533) eine rechte Unterkieferhälfte mit dem letzten Prämolarzahn, dem Fleischzahn und dem ersten Molarzahn, die zu- sammen mit Ueberresten von Elephas primigenius, Cervus eurycerus und Bos primigenius im Diluvium des Rheinbettes gefunden wurden. Der Unterkiefer hat alle Eigenschaften eines echten Fossils und er gehörte einem Tiere an, welches kleiner war als C. spelaeus und ©. familiaris Marc. de Serres und gleiche Größe hatte mit dem Schweißhunde (CO. famil. scoticus). Wegen der nahen Verwandtschaft dieses Kiefers mit dem der Jagdhunde hält K. es für nicht unwahr- scheinlich, dass dieses Tier der Stammvater der Jagd- nnd vielleicht auch der Metzgerhunde ist und in diesen Rassen fortlebt. Herm. v. Meyer vereinigt diese Art mit ©. familiaris fossilis Marc. de Serres. Nach der Pfarrei Neschers bei Issoire (Puy-de-Döme), wo Croizet Pfarrer war, benannte er einen linken Unterkiefer mit einem Eckzahn und fünf Backenzähnen: Canis Neschersensis. Blainville (a. a. O. S. 125) beschreibt diesen Ueberrest, dessen Größe und Form ziem- lich dem Schakal gleicht, mehr aber noch — insbesondere im Gebiss — einem jungen Wolfe von der ZL. Lycaon genannten Varietät, der noch heute die Pyrenäen bewohnt. Gervais (a. a. 0. 8.213) stellt dieses diluviale Fossil von Neschers in die Mitte zwischen Schakal und Wolf. Blainville (a. a. ©. S. 125) erwähnt — außer dem schon oben besprochenen ©. borbonidus — noch zwei von Bravard benannte diluviale Arten: ©. Jwvillacus und C. medius, deren Ueberreste zu Juvillae in der Auvergne gefunden sind. Diese Arten sind ohne Be- schreibung geblieben; Giebel (a. a. O. S. 46) meint, dass sie über- einstimmend seien mit (©. issiodoriensis und Neschersensis, ebenso wie ©. borbonidus übereinstimmt mit O©. megamastoides; er bezweifelt auch die Selbständigkeit der von Jäger (Fossile Säugetiere Württembergs, Abt. I, S. 16) augestellten Arten, Canis, Lupus und Vulpes ferreoju- 8. Die hundeartigen Tiere des Diluviums. 601 rassicus, die nur begründet sind auf einzelne Zähne aus den Bohnerz- gruben der schwäbischen Alb. Auch die Zugehörigkeit der von G. Cuvier beschriebenen fossilen Knochen hundeartiger Tiere ist zweifelhaft. Dies gilt insbesondere von den zwei Zähnen „qui annoncent un animal du genre Canis, mais, d’une taille gigantesque“ (Ossem. foss.. 4me ed., t. VII, p. 481), die gefunden wurden zu Avaray bei Beaugeney, zusammen mit Knochen vom Mastodon, Nashorn und Riesentapir. Der eine, ein vorletzter Backenzahn des linken Oberkiefers, gleicht in der Form dem des Wolfes, aber er ist mehr als doppelt so groß; der andere gleicht dem untern Eckzahne des Wolfes; er ist verhältnismäßig noch größer als jener Backenzahn. Die zugehörige, von den Paläontologen ©. giganteus benannte Art — die mindestens fünf Fuß Höhe und acht Fuß Länge gehabt haben soll — wird von Pictet (a. a. O. S. 207) für ein Amphicyon erklärt. Aus dem Tuff der Höhle von Gailenreuth bei Muggendorf zog Cuvier selbst zwei Eekzähne und einige Glieder- knochen, welche Ueberreste mit denen von Bären und Hyänen ver- einigt waren, von denen er annimmt, dass sie einem Tiere angehören „fort voisin du Renard, si ce n’est le Renard lui-m&me“. Die Paläon- tologen haben dieses Tier Canis vulpes fossilis oder C. spelaeus ge- nannt. Pictet (a. a. O. S. 205) meint, dass C. vulpes spelaeus mit dem Fuchs dieselbe Aehnlichkeit habe wie ©. spelaeus mit dem Wolf. Aus derselben Fundstätte — der Höhle von Gailenreuth — be- stimmte Andreas Wagner (Oken’s „Isis“, 1829, S. 988) einen Schädel und drei Unterkiefer als dem Höhlenfuchs, Canis (spelaeus) minor angehörig!); wahrscheinlich stimmt diese Art mit ©. vulpes spelaeus Cuvier’s aus der Gailenreuther Höhle vollkommen überein. Herm. v. Meyer (Palaeologica S. 129) erwähnt noch eines fossilen hunde- artigen Tieres aus dem Berge Perrier, welches Croizet und Jobert (angeblich im Journ. de G&ol., 1830, S. 151), als vom lebenden Fuchs nicht verschieden, beschrieben haben. In seinen „Recherches sur les Ossemens fossiles decouverts dans les cavernes de la province de Liege“, 1834, II, p. 17 berichtet P. C. 1) Wagner selbst sagt von diesen Ueberresten, die sich in der Samm- lung der Universität Erlangen befinden, „sie sind offenbar neuern Datums“. Blainville a. a. O. S. 103) meint, dass Wagner den Höhlenfuchs bestimmt habe nach Ueberresten, welche seine Vorgänger dem gemeinen ©. Lupus spe- laeus zugeschrieben haben, aber er verwechselt — obwohl er die Mitteilung von Andreas Wagner richtig anführt — damit eine Mitteilung von Rudolf Wagner (in Okens „Isis“, 1831, 8.552) über einige Gliederknochen und einen Zahn eines hundeartigen Tieres — „welches etwas größer war als der Fuchs“ — aus der Knochenbresche von Cagliari. Rud. Wagner hat das zugehörige Tier gar nicht benannt, sondern Blainville hat dem italienischen Funde Rud. Wagner’s den Namen beigelegt, der dem oberfränkischen Funde An- dreas Wagner’s gebührt, 602 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. Schmerling über Knochen der Gattung Canis, welehe in belgischen Höhlen gefunden wurden. Er schreibt dem Hunde eine Anzahl von Zähnen zu und einen, Taf. II Fig. 1 abgebildeten Schädel aus der Höhle von Fond-de-Foret, wo er gefunden wurde mit mehreren Wirbeln und anderen Resten von Löwen; es ist der Schädel eines Hundes von mittlerer Größe. Auch fand S. einige Gliederknochen vom Hunde, aus dessen Ueberresten in den belgischen Höhlen er glaubt zwei Varietäten aufstellen zu können. In den Höhlen von Chokier, d’Engis, d’Engihout und anderen fand S. ziemlich beträchtliche Ueberreste vom Wolfe, die einer einzigen fossilen Art angehören, welche sich von der heutigen des gemeinen Wolfes nicht unterscheidet. Vom fossilen Fuchs sammelte S. zahlreiche Knochen zusammen mit solchen von Bären, Löwen und Hyänen; jene zeigen viele Beziehungen zu denen der gegenwärtig lebenden Art, aber ein kleinerer Unter- kiefer führte S. zu der Annahme, dass neben der dem heutigen Fuchs ähnlichen Art — die er Vulpes major nennt — eine kleinere Art oder Varietät zu jener Zeit gelebt habe, der er den Namen Vulpes minor gibt; die größere Art stand viel höher auf den Beinen, während die kleinere verhältnismäßig stärkere Knochen hatte. In seinen „Comparaisons entre les OÖssemens des Cavernes de la Belgique et les Ossemens des Kjoekkenmoedding du Danemark, du Groenland et de la Laponie“ meint J. Steenstrup!), dass — wäh- rend die Kjökkenmöddinger der Eskimos von Grönland und der Be- völkerung des Steinalters in Dänemark nur die Reste eines einzigen Haustieres, des Hundes, enthalten, der gewiss sehr oft in Grönland und vielleicht auch in Dänemark als Nahrungstier diente — die Spuren des Hundes in den Höhlen so wenig zahlreich und so ungewiss sind, dass Dupont zweifelte, ob die Bevölkerung des Zeitalters der Mammut und der Rentiere im Besitze dieses ausgezeichneten Ge- fährten gewesen sei. Fossile Hundeknochen aus englischen Höhlen haben W. Buck- land (Reliquiae diluvianae, 1823), R. Owen (Hist. of Brit. foss. Mammals, 1846) und Boyd Dawkins („Die Höhlen und die Urein- wohner Europas“, a. d. Engl. v. J. W. Spengel, 1876), aus den Höhlen von Gibraltar G. Busk („On the ancient or quaternary Fauna of Gibraltar“ in Transact. of the Zoolog. society of London, vol. X, pt. 2, 1877, p. 88), aus indischen Höhlen Faleconer (Palaeont. Memoirs and Notes, 1868) aufgezählt. Der letztere erwähnt der fos- silen Hunde von den Siwaliks im Britischen Museum, welche von Baker und Durand im Journ. of the Asiatie Society, 1836, vol. V, 1) Diese Abhandlung von Steenstrup liegt mir vor in einem Sonder- abzuge, ohne Angabe der Zeitschrift; nur aus einer mit Pl. 18 bezeichneten Tafel ersehe ich, dass der Sonderabzug den Comptes-rendus du Congres pre6- historique entstammt; wahrscheinlich ist es der Kongress, der im J. 1869 zu Kopenhagen stattgefunden hat. 8. Die hundeartigen Tiere des Diluviums. 6053 p. 581 beschrieben sind; er selbst beschreibt (a. a. ©. I. 341) die Ueberreste eines Canis Vulpes (?) und ein linksseitiges Oberkiefer- stück von Canis — ohne Artangabe — das, aus den Siwaliks stam- mend, sich im Museum der asiatischen Gesellschaft von Bengalen befindet. Die Caniden des Diluviums haben in neuerer Zeit — wenigstens für die fossilen Formen Frankreichs — eine sehr gründliche und über- sichtliche Bearbeitung erfahren durch J.B. Bourguignat („Recherches sur les Ossements de Canidae, constates en France a l’etat fossile pendant la periode quaternaire“ in Annales des se. geol., 1875, VD. B. kennt neun Arten von Caniden aus quaternären Höhlen und Lagern in Frankreich. Diese Arten erscheinen in vier Wandlungsstufen; die älteste Stufe (phase 6&ozoique) umfasst drei Arten: Lycorus nemesianus, Ouon europaeus und (uon Edwarsianus. In der zweiten Stufe (phase dizoique) fehlen die beiden erstgenannten, aber Cuon Edwarsianus kommt noch vor; dann tauchen auf Canis ferus, Lupus spelaeus, Lupus vulgaris und Vulpes vulgaris. In der dritten Stufe (phase trizoique) ist auch Cuon Edwarsianus verschwunden; die wilden Hunde werden zahlreicher und fangen an in den Hausstand des Menschen einzutreten; zu dieser Stufe gehören: Canis ferus, Lupus spelaeus und L. vulgaris, Vulpes vulgaris und als neue Formen Lupus neschersensis und Vulpes minor. In der vierten, neuesten Stufe (phase ontozoique) sind Lupus spelaeus, neschersensis und Vulpes minor erloschen und es kommen nunmehr als gegenwärtig lebende Caniden noch vor: Lupus vulgaris, Vulpes vulgaris und die zahlreichen Rassen (oder Arten) des Haus- hundes. Ich werde jetzt, unabhängig von diesen Perioden, die von Bour- suignat aufgestellten Canidenarten in betracht ziehen, in der Reihen- folge wie er selbst sie beschrieben hat. Canis ferus ist eine neue Benennung von Bourguignat für Canis familiaris fossilis, weil er den Hund der ältern vorgeschicht- lichen Zeit für ein wildes Tier hält, welches der Mensch erst im Laufe der Zeit in den Hausstand übergeführt hat. Bourg. macht hier darauf aufmerksam, dass eine große Zahl von Naturforschern den Wolf mit dem Hunde zusammengeworfen hat und dass sie selbst den Hund als vervollkommneten Nachkommen des Wolfes betrachtet. B. theilt diese Meinung nicht, sondern er glaubt, dass die Hunde in vorgeschichtlichen Zeiten zugleich mit den Wölfen gelebt haben. Aus diesem Grunde trennt B. Wölfe und Hunde, trotzdem ihr Knochenbau wenig Unterschiede zeigt!). Zu Canis ferus zählt B. auch die Ueber- reste der Hunde aus der Höhle von Lunel-Vieil bei Montpellier; aus 1) Nach G. Cuvier (Ossem. foss., 4me &d., t. VII, p. 466) ist bei den Wölfen der dreieckige Teil der Stirn hinter den Augenhöhlen ein wenig schmaler und flacher, der Scheitelkamm ist länger und höher, und die Zähne, namentlich die Eckzähne, sind verhältnismäßig dicker. 604 Pasteur’s Methode, den Biss tollwütiger Hunde unschädlich zu machen. den angeführten Maßen ergibt sich, dass der letzte Höckerzahn dieses Höhlenhundes breiter war als der des Wolfes, was eine weniger große Wildheit anzeigt. Erst in der trizoischen Stufe fand B. (in der Höhle Fontamie bei St. Cesaire, Alpes-Maritimes) einige Knochen von Hun- den, deren Mehrzahl denen des Schäferhundes, deren übrige denen einer großen Dogge ähnlich war. Diese Hunde waren unzweifelhaft Haustiere, denn B. fand neben ihren Knochen eine ziemlich große Zahl von Ueberresten der menschlichen Industrie. In der ontozoischen Stufe werden die Hunde immer zahlreicher und ihre Knochen finden sich in fast allen Niederlassungen des Menschen. In einer Grotte auf der Ebene von Nove, nördlich von Vence (Alpes-Maritimes), welche B. grotte Camatte genannt hat, konnte er unter den Ueberresten von Hunden feststellen: einen Dachshund (Chien basset, Canis vertagus Linn.), einen Schweißhund (Chien courant, Canis gallieus L.), einen Vorstehhund (Chien darret, Canis avicularius L.), einen Schäferhund (Chien de berger, Canis domesticus L.), dann zwei Arten von Wind- hunden (Levriers), von denen der eine Canis grajus L. war und der andere, größere, nicht näher bestimmt werden konnte. Endlich fand er auch eine Art, welche er, obwohl mit Ungewissheit, dem Spitz (Chien-loup, Canis pomeranus L.) und verschiedene Ueberreste, welche er den verschiedenen Rassen der Doggen zuschrieb. Canis spelaeus Bourguignat’s stimmt überein mit ©. spelaeus Goldfuß und Lupus spelaeus Blainv. B. zählt dazu auch einen Kiefer aus der Höhle von Lunel- Vieil, die Ueberreste von Lupus Schmerling’s und die Ueberreste, welche Pomel angezeigt hat aus der Anschwemmung von la Tour-de-Boulade, von Coudes und von Montaigu-le-Belin in der Auvergne. Lupus vulgaris ist der gewöhnliche Wolf, der noch gegenwärtig in Frankreich lebt; seine Ueberreste finden sich in zahlreichen, von B. angeführten Grotten, Höhlen und Knochenbreschen Frankreichs. Lupus neschersensis Bourguignat’s stimmt vollkommen überein mit Canis neschersensis Croizet’s. Mit Rücksicht darauf, dass Blain- ville in dessen wenigen Ueberresten eine große Aehnlichkeit mit dem Bergwolfe (Canis Lycaon) der Pyrenäen erkannt hat, ändert B. den von Croizet gegebenen Gattungsnamen in Lupus um. (Schluss folgt.) Pasteur’s Methode, den Biss tollwütiger Hunde unschädlich zu machen. (Schluss.) Eine letzte sehr stark virulente Impfung hat den Vorteil die Be- sorgnisse zu verkürzen, welche man über die Folgen von Bissen kranker Hunde haben kann. Denn könnte die Tollwut noch aus- brechen, so würde sie sich schneller zeigen auf ein Gift hin, welches Pasteur’s Methode, den Biss tollwütiger Hunde unschädlich zu machen. 605 heftiger ist in seinen Wirkungen als dasjenige, welches von den Bissen herrührte. Von Mitte August an betrachtete ich die Erhaltung der Gesundheit des Josef Meister als gesichert, und bis heute |26. Ok- tober], nachdem drei Monate und drei Wochen seit dem Fall ver- flossen sind, hat dieselbe nichts zu wünschen übrig gelassen. Ueber die neue soeben mitgeteilte Methode aber, die schlimmen Folgen der Bisse tollwutkranker Hunde zu verhüten, will ich mich heute nicht in eingehender Weise auslassen. Ich will mich auf einige vorläufige Angaben beschränken, geeignet, die Bedeutung der Ver- suche erkennen zu lassen, welche ich zu dem Zwecke anstelle, den Gedanken über die beste der zulässigen Deutungen eine feste Rich- tung zu geben. Wenden wir uns wieder den Methoden vorschreitender Abschwächung tödlicher Gifte und der Prophylaxis zu, welche wir aus denselben her- leiten, so drängt sich, da ja diese Abschwächung unter dem Einfluss der Luft sich vollzieht, als erster Gedanke, wenn wir über die Wir- kungen der Methode Rechenschaft geben wollen, der auf, dass es grade der Aufenthalt der Tollwut-Rückenmarke in der trocknen Luft ist, welcher nach und nach ihre Virulenz vermindert, bis er dieselbe endlich ganz aufhebt. Man würde somit zu der Ansicht kommen, dass die prophylaktische Methode, um welche es sich handelt, auf der Anwendung von verschiedenem Virus beruht, anfänglich von solchem, welcher ohne merkbare Wirkung bleibt, dann von solchem mit schwacher Wirkung und später immer stärker wirkendem. Ich werde ein andermal zeigen, dass die Thatsachen mit einer solchen Anschauungsweise nicht in Einklang stehen. Ich will viel- mehr beweisen, dass die Zunahme der Dauer der Inkubationszeit, wie sie sich |[ef. Nummer 18 dieses Blattes] in der eben beschriebenen Weise bei der den Kaninchen zur Prüfung der Virulenz unserer an der Luft getrocknetem Rückenmarke nacheinander eingeimpften Tollwut geltend machte, eine Folge war von der quantitativen Verminde- rung des in diesen Rückenmarken enthaltenen Tollwut- Virus, aber nicht auf einer qualitativen Abschwächung der Virulenz beruhte. Könnte man annehmen, dass die Impfung eines Virus, dessen Virulenz sich immer gleich bleibt, Immunität gegen die Wutkrankheit auf die Weise hervorbringt, dass man von demselben, mit sehr kleinen Mengen anfangend, von Tag zu Tage mehr gibt: so würde dies eine erste Erklärung für die neue Methode sein, mit welcher ich mich augenblicklich experimentell beschäftige. Man kann aber für diese Methode noch eine andere Deutung beibringen, eine Deutung, die fürs erste zwar sehr wunderlich sich ausnimmt, die aber aus dem Grunde alle Beachtung verdient, weil sie in Uebereinstimmung sich befindet mit gewissen bereits bekannten Dingen, welche die Lebens- erscheinungen mancher niederer Lebewesen, zumal sehr vieler patho- gener Bakterien uns erkennen lassen. 606 Pasteur’s Methode, den Biss tollwütiger Hunde unschädlich zu machen. Viele Mikroben lassen anscheinend in ihren Kulturen Stoffe ent- stehen, welche die Eigentümlichkeit haben, der Entwicklung von jenen selbst hindernd entgegenzutreten. Schon im Jahre 1880 hatte ich Untersuchungen begonnen, welche feststellen sollten, dass die Mikrobe der Hühnercholera eine Art Gift erzeugen müsse (Comptes rendus, T. XC, 1880). Es ist mir nieht gelungen, das Vorhandensein eines solchen Stoffes nachzuweisen; aber ich glaube, man sollte diese Unter- suchungen jetzt wieder aufnehmen, und ich meinesteils werde nicht verfehlen, dabei mit reinem Kohlensäuregas zu arbeiten. Die Mikrobe des Rotlaufs der Schweine gedeiht in sehr verschiedenen Nährflüssig- keiten; aber die Mikrobenmasse, welche sich bildet, ist so gering und breitet sich so wenig aus, dass die Kultur sich nur eben erkennen lässt an schwachen seidenartigen Wellenfäden in dem Ernährungs- substrat. Man möchte meinen, dass sofort ein Stoff sich bildet, wel- cher die Entwicklung dieser Mikrobe hemmt, gleichgiltigz, ob man letztere in lufterfülltem oder luftleerem Raume züchtet. Herr Raulin, mein früherer Assistent, jetzt Professor an der Fakultät in Lyon, hat in der Dissertation, welche er am 22. März 1870 in Paris verteidigte, mitgeteilt, dass das Wachstum von Aspergillus niger einem Stoffe Entstehung gibt, der zum Teil die Fortpflanzung dieses Schimmelpilzes hemmt, wenn nicht der Nährboden Eisensalze enthält. Besteht nun etwa das Tollwut-Virus aus zwei verschiedenen Teilen, birgt es vielleicht neben seinem lebenden Element, welches in das Nervensystem einzudringen vermag, einen andern leblosen Stoff, welcher, wenn in genügender Menge vorhanden, die Entwicklung jenes ersten zu hemmen im stande ist? Ich werde durch Versuche dieser dritten Deutung meiner Methode der Prophylaxis der Tollwut auf den Grund zu kommen suchen, mit all der Aufmerksamkeit, welche sie verdient!). 4) Anm. der Redaktion. Wir haben den vorstehenden Artikel in das Centralbl. aufgenommen, trotzdem sich gegen die Beweiskraft des Pasteur’- schen Versuches selbstverständlich der Einwand erheben lässt, dass zuweilen der Biss eines tollwuten Hundes ohne alle Folgen bleibt, auch wenn man gar nichts thut. So liegt aber der mitgeteilte Fall nicht, denn in diesem blieb nicht bloß der Hundebiss, sondern auch die Impfung mit nachweislich stark wirksamem Virus ohne Folgen. Solche Versuche, die Bedingungen für die Ab- schwächung der giftigen Wirkung der Mikroben und ihrer Produkte aufzu- finden, sind zu wichtig, als dass nicht jeder neue Fortschritt das lebhafteste Interesse erregen sollte. Seit den Tagen Jenner’s bis zu Pasteur’s Studien über Milzbrand ist aber kaum ein neuer Versuch gemacht worden, dem Problem näher zu treten; und die jetzigen Versuche über die Hundswut verdienen jeden- falls sowohl vom theoretischen wie vom praktischen Standpunkt aus, die volle Berücksichtigung der Biologen zu finden. zu Nasse, Primäre und sekundäre Oxydation im Tierkörper. 607 O. Nasse, Ueber primäre und sekundäre Oxydation im Tier- körper. Die meisten der in den Körper eingeführten Stoffe, insbesondere die Nah- rungsstoffe, sind bekanntlich bei Körpertemperatur in den Körperflüssigkeiten nicht oxydierbar durch den sogenannten neutralen Sauerstoff. Ihre Oxydation kommt zu stande dadurch, dass dem Tierkörper eigentümliche, ähnlich der Wärme wirkende Kräfte die komplizierten Atomkomplexe lockern oder spalten, und, so lange sich die Atome noch nicht wieder fest miteinander vereinigt haben, Sauerstoff aufgenommen wird. Diese Art der Oxydation, von der übrigens die Oxydation der Körperbestandteile selbst nicht verschieden ist, soll als primäre Oxydation bezeichnet werden. Wenn bei der Aufnahme von Sauer- stoff nicht beide Atome des Sauerstoff-Moleküls, sondern nur eins derselben verbraucht wird, kann das übrig bleibende Atom andere Oxydationen ausführen. Nur durch solche bei der primären Oxydation frei werdende Sauerstoff-Atome ist die Oxydation von Stoffen möglich, für die der Tierkörper eine lockernde Kraft nicht besitzt. Als sekundäre Oxydation ist dieser Vorgang von dem ersterwähnten scharf zu trennen, Festzustellen, bei welchen primären Oxyda- tionen Sauerstoff- Atome verfügbar werden, musste nun die nächste Auf- gabe sein. Nencki und Sieber haben bereits einen Maßstab für die Menge des in den Geweben gebildeten atomistischen Sauerstoffs gefunden in der Oxydation des Benzol zu Phenol. Unter normalen Verhältnissen und gleichbleibender Er- nährung folgt bei einem bestimmten Individuum der Eingabe von Benzol die Ausgabe einer zu dem Benzol in einem festen Verhältnisse stehenden Menge von Phenol. Diese Regelmäßigkeit hört aber auf bei gewissen Eingriffen, so u. a. bei der Phosphor-Vergiftung: jetzt ist in den Exkreten kein Phenol mehr zu finden Die Erklärung von Nencki und Sieber ungenügend findend, glaubte Nasse prüfen zu sollen, ob nicht ein Zusammenhang bestehe zwi- schen der aufgehobenen Benzol-Oxydation und der bei der Phosphor- Ver- giftung in höchstem Grade herabgesetzten Verbrennung des Fettes. War die Betrachtung, dass bei der Verbrennung des Fettes in den Geweben Sauerstoff- Atome in Menge verfügbar werden, und nur weil diese fehlen, in der Phosphor- Vergiftung die Benzol- Oxydation aufhöre, richtig, so musste auch bei Zusatz von Fett in großer Menge zu einer nicht sehr fettreichen Nahrung die Phenol- Ausscheidung zunehmen. Das ist nun in der That der Fall: mehrere von Herrn Dr. Heffter ausgeführte Analysen zeigen (bei Einführen von 1,0 Benzol) eine Steigerung der Phenol- Ausscheidung von 0,07 auf 0,14. Ganz ähnlich hatte sich bei einer auf N.’s Veranlassung unternommenen Unter- suchung Dr. Heffter’s über die Ausscheidung des Schwefels ergeben, dass die bei fettarmer und fettreicher Nahrung in gleicher Menge entstehende unterschwef- lige Säure bei der fettreichen Nahrung nicht mehr als solche, sondern als Schwefel- säure im Harn erscheint. Der im Eiweiß der Nahrung aufgenommene Schwefel wird im Organismus zum größten Teil zu Schwefelsäure oxydiert und erscheint als solche im Harn. Außerdem enthält der Harn stets noch schwefelhaltige organische Körper, über deren Zusammensetzung man wenig weiß; wie es scheint auch sehr ge- ringe Mengen von Sulfocyanaten und schließlich häufig unterschwefligsaures Salz. Das Vorkommen des letztern wurde bisher im Harn von Hunden, Katzen, Kaninchen, einmal auch bei einem Typhuskranken beobachtet. Die Bildungs- ursache der unterschwefligen Säure zu erkennen, war der Zweck einer längern Reihe von Versuchen, die auf Veranlassung des Herın Nasse angestellt 608 Anzeige. wurden. Durch genaue Analysen wurde im Harn das Verhältnis der Schwefel- verbindungen zu einander a) Schwefelsäure, b) unterschweflige Säure, ec) unbekannte Schwefelverbin- dungen — bei verschiedener Nahrung ermittelt, und zwar wurden sowohl Hunde wie auch Menschen als Versuchsobjekte benutzt. Hierbei ergab sich, dass die unterschweflige Säure ziemlich konstant im Menschen- und Hundeharn vorkommt, dass das Verhältnis zur Gesamtmenge des ausgeschiedenen Schwefels bei den einzelnen Individuen verschieden ist, dass schließlich größere Mengen vorzugs- weise bei einer solchen Nahrung entstehen, die geeignet ist, im Darm die Fäulnis bezw. Gärung zu steigern. Durch diese letztere Thatsache ist man berechtigt anzunehmen, dass der bei der Fäulnis der Eiweißkörper im Darmkanal entstehende Schwefelwasser- stoff die Quelle der unterschwefligen Säure ist. Derselbe wandelt sich bei Be- rührung mit Alkali oder Alkalikarbonat in Schwefelalkali um, welches resorbiert und im Blute zu unterschwefligsaurem Salz oxydiert wird. Wahrscheinlich findet noch eine weitere Oxydation zu schwefelsaurem Salz statt, und nur ein kleiner Teil des Thiosulfats, welcher ihr entgeht, wird im Harn ausgeschieden. N. beabsichtigt, die Studien über die sekundäre Oxydation in Gemeinschaft mit Herrn Dr. Heffter fortzusetzen. Einstweilen kann nur noch mitgeteilt werden, dass Zusatz von Rohrzucker die sekundäre Oxydation nicht zu be- günstigen scheint. Anzeige. Die unterzeichnete von der Königlichen Academia dei Lincei in Rom auf Antrag Sr. Exzellenz des Königlich Italienischen Marine - Ministers ernannte Kommission bringt hierdurch zur allgemeinen Kenntnis, dass ein reichhaltiges Material an Seetieren fast aller Klassen sowie auch marinen Pflanzen in der Zoologischen Station zu Neapel deponiert ist. Dieses Material ist von der italienischen Korvette „Vettor Pisani* auf einer mehrjährigen Erdumschiffung, ferner in dem roten und im ägäischen Meere gesammelt und mit modernen Hilfsmitteln konserviert worden, so dass es sich sowohl für anatomische und histologische, wie auch für systematisch -faunistische Studien eignet. Die Kommission stellt dieses Material zur Verfügung der Gelehrten aller Nationen, welche begonnene Monographien vervollständigen oder neue in Arbeit nehmen, oder aber mit Bearbeitung spezieller organologischer und histologi- scher Probleme beschäftigt sind, und um Ueberlassung des betreffenden sie interessierenden Materials bei der Kommission einkommen. Die bezüglichen schriftlichen Eingaben, über deren Berücksichtigung die Kommission zu be- finden hat, sind an Herrn Prof. Trinchese, Universitä di Napoli, zu richten. Prof Trinchese, Neapel. Prof. Todaro, Rom. Prof. Passerini, Parma. Prof. Giglioli, Florenz. Linienschiffs- Leutnant Chierchia, Neapel. Prof. Dohrn, Neapel. Die Herren Mitarbeiter, welche Sonderabzüge zu erhalten wün- schen, werden gebeten, die Zahl derselben auf den Manuskripten an- zugeben. ; Einsendungen für das „Biologische Centralblatt“ bittet man an die „Redaktion, Erlangen, physiologisches Institut‘ zu richten. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Centralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess wd Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. and. in Dezember 1885. 7 N LNE90. V. Inhalt: Weber, Ueber das Zentralnervensystem der Cetaceen. — Ürampe, Die Ge- setze der Vererbung der Farbe. Zuchtversuche mit zahmen Wanderratten. — Wilekens, Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haustiere. 8. Die hundeartigen Tiere des Diluviums (Schluss). — Bieder- mann, Ueber antagonistische Polwirkungen bei elektrischer Muskelreizung. — Behrens, Die Hybridisation von Salmoniden. — Wiedersheim, Zur Notiz. Ueber das Zentralnervensystem der ÜOetaceen. G.A.Guldberg: Ueber das Centralnervensystem der Bartenwale in: Christiania Videnskabs-Selskabs Forhandlinger, 1885, Nr. 4, p. 154 mit 4 lithographierten Tafeln. Mit der goldenen Medaille gekrönte Abhandlung. In der Anatomie der Cetaceen, die noch so viele dunkle Punkte bietet, war bis in die jüngste Zeit hinein eine nähere Kenntnis des Zentralnervensystems ein Hauptdesiderat. Es liegen allerdings bereits aus dem 17. Jahrhundert Beschrei- bungen des Gehirns der Cetaceen vor,‘ unter welchen die von Ray und Tyson als die ersten genannt werden müssen. Alsdann folgte die von J. Hunter, der zuerst das Gehirn eines Bartenwales be- schrieb, dem sich, um nur die Untersucher zu nennen, die selbständige bezw. neue Angaben machten, Blainville, Jacobson, Scoresby, Rudolphi, Tiedemann, von Baer, Roussel de Vauzeme, Rapp, Stannius, Eschricht, Leuret, Serres und Gratiolet sowie Anderson anschlossen. Dieser stattlichen Zahl entspricht nicht die Reichhaltigkeit der gebotenen Angaben, die meisten derselben sind nur notizenhaft, was wohl in erster Linie an der Schwierigkeit des zu beschaffenden Materiales, vor allem eines gut konservierten lag. Ausgedehntere Mitteilungen gaben eigentlich nur Tiedemann, Leuret und zum Teil Serres und Gratiolet. Hierzu kommt noch, dass im ganzen von den Forschern wenig Rücksicht genommen wurde auf die Beschreibung früherer, was doch um so wichtiger gewesen wäre, da meist jeder Forscher nur über ein Gehirn verfügte. 39 610 Weber, Das Zentralnervensystem der Cetaceen. Erst die neueste Zeit (1883) brachte uns eine Arbeit, die einen bedeutenden Fortschritt verzeichnet: Beauregard beschrieb nämlich nach Broca’scher Methode das Gehirn von Balaenoptera Sibbaldii, der Hauptsache nach jedoch nur die Windungen. Auch der mikro- skopische Bau des Gehirns von Beluga leucas erfuhr in letzter Zeit durch Herbert C. Major eine Bearbeitung, während Haswell das Gehirn eines andern Odontoceten (Kogia Grayi) beschrieb, aber auch nur kurz. Die Zahl der untersuchten Species wäre groß genug, um uns ein genaues Bild vom Bau des Gehirns der Cetaceen zu geben, nicht aber die Zahl der untersuchten Individuen, die vom 17. Jahrhundert bis in die jüngste Zeit hinein Gelehrten in die Hände fielen.. Dadurch er- hielten alle Untersuchungen etwas verzetteltes und unvollständiges. Soweit ich aus der Literatur ersehen konnte wurden auf ihr Ge- hirn untersucht: von Balaenoptera rostrata 2 Exemplare, Balaenoptera Sibbaldii 3 Exemplare (1 erwachsenes und 2 fötale), Megaptera boops 1 Exemplar, Dalaena mysticetus 2 Exemplare (1 junges und 1 erwach- senes), Dalaena spec. 1 fötales. Von Bartenwalen mithin 9 Gehirne von 7 Untersuchern zu sehr verschiedenen Zeiten. Mit dem Gehirn der Zahnwale ist es insofern besser, als Gehirne von Delphinus delphis und Phocaena communis von zahlreichen Forschern in mehreren Exemplaren untersucht werden konnten. Auch war Anderson (Expedition to Western- Yunan. Lond. 1878), dessen Ab- handlung Guldberg entgangen ist, in der Lage mehrere Gehirne von Platanista und Orcella zu studieren. Von anderen Odontoceten und zwar Hyperoodon rostratus, Beluga leucas, Kogia Grayi, Monodon monoceros wurde bisher nur je ein Exemplar untersucht. Bisher sprach ich nur vom Gehirn, aus dem einfachen Grunde, weil von Untersuchungen über das Rückenmark außer ein paar Notizen von Rapp und Owen eigentlich nichts zu melden ist. Unter diesen Umständen wird man die neue oben zitierte zu- sammenfassende Arbeit von G. A. Guldberg „über das Central- nervensystem der Bartenwale“ mit Freuden begrüßen. Und diese Freude wird bei Durchsicht der Abhandlung, die von deutlichen und instruktiven Abbildungen begleitet ist, nicht minder werden. Guldberg stellte seine Untersuchungen in erster Linie an Barten- walen an, hielt dabei aber stets die Odontoceten, speziell Phocaena com- munis zum Vergleich im Auge. Als Material lag ihm vor — und dies ist ein Punkt von großer Wichtigkeit, da derselbe so schwer in gutem Zustande zu beschaffen ist — zwei Gehirne von Balaenoptera museulus, ein fötales Gehirn von Balaenoptera Sibbaldii (4,97 m lang) und von Megaptera boops (18 Zoll lang). Ferner die Hemisphären des Großhirns von Balaenoptera borealis, sowie Hirnhäute, Stücke vom Rückenmark, halbe Gehirne und andere Hilfspräparate von Balänop- teriden und Phocaena. Weber, Das Zentralnervensystem der Cetaceen. 611 Nach emer historischen Einleitung schildert er, wie diese Prä- parate erworben wurden und gibt Anweisung über die Herausnahme des Gehirns bei den riesigen Balaenoptera-Arten, die er mit Recht eine der schwierigsten Operationen nennt, die dem Anatomen aufge- geben werden können. Referent möchte dies aus eigner Erfahrung bestätigen. Zu den mechanischen Schwierigkeiten, dass man diesen Riesen das Gehirn mit Holzsäge und Beilen abringen muss, gesellt sich der fatale Umstand, dass man höchstens 24 Stunden nach Eintritt des Todes noch auf ein brauchbares, herausnehmbares Gehirn rechnen darf. Auch dies kann Referent aus eigner, trauriger Erfahrung be- stätigen. Mit Recht findet Guldberg die Ursache hierfür in der Massenhaftigkeit des Körpers, die, gestützt durch eine, die Wärme schlecht leitende Speckschicht, die Körperwärme lange zurückhält. Zwei Stunden nach dem Tode zeigte der Thermometer an der Schwanz- partie einer Balaenoptera musculus noch 35,4°.C. und die Temperatur des Blutes und der Fleischmasse einer Balaenoptera Sibbaldiü betrug 3 Tage nach dem Tode ungefähr 34° C. Das Gehirn wird mithin, sobald die Zirkulation sistiert, in der besten Weise mazeriert. — Diese Schwierigkeiten, um geeignetes Material zu beschaffen, wird man bei Beurteilung jeder Anatomie des Gehirns der Barten- wale, dann auch der Cetaceen überhaupt, im Auge behalten müssen. Der Verfasser führt uns zunächst auf ein ganz brach liegendes Gebiet, indem er uns seine genauen Untersuchungen über das Rücken- mark mitteilt. Aus diesen will ich nur als von allgemeinerem Interesse herausheben, dass die Medulla spinalis bei den Odontoceten bis zum 9. bezw. 10. Lumbalwirbel reicht. Bei zwei Finnwal-Fötus von ver- schiedener Species (Balaenoptera Sibbaldii und B. musculus) und ver- schiedener Größe fand Guldberg das Ende am 4. Lumbalwirbel. Er vermutet, dass bei den Erwachsenen ein gleiches Verhalten ob- waltet. Aus seinen Messungen an Rückenmarks-Querschnitten geht ferner die interessante Thatsache hervor, dass beim Fötus von Balae- noptera noch deutlich eine Intusmescentia lumbalis vorhanden ist. Dies ist wichtig, daRapp und Owen den Satz aufstellten, dass den Cetaceen die Lenden- Anschwellung abgehe, ebenso wie den Sirenia, was ja bei Verkümmerung der hintern Extremität nicht verwundern kann. Auch Guldberg konstatierte diesen Satz bei einer erwach- senen Phocaena und gleichzeitig, dass die Lenden-Anschwellung bei dem jüngsten der untersuchten Finnwal-Fötus stärker zutage tritt als bei einem ältern. Im Schlussstadium des Fötallebens ist dieselbe mithin vielleicht nieht mehr makroskopisch wahrzunehmen. Die mikroskopische Untersuchung des Rückenmarks lehrt, dass die Fissura longitudinalis posterior, die beim Fötus, wenn auch nicht so deutlich wie die vordere, wahrzunehmen ist, beim aus- gewachsenen Finnwal nicht zu entdeeken ist, ebensowenig wie ein 395 612 Weber, Das Zentralnervensystem der Cetaceen. Septum posticum. Guldberg schließt hieraus, in Verbindung mit ande- ren Thatsachen, dass die beiden Fissuren verschiedenen genetischen Ursprung haben. Auch der Zentralkanal ist beim erwachsenen Tier verschwunden. Die Form der grauen Substanz ist abweichend von der gewöhn- lichen )-( Form. Ihre Hauptmasse wird durch die Cornua anteriora und die graue Kommissur gebildet. Das Rückenmark mit seiner Dura ist bei weitem nicht im stande den sehr geräumigen Wirbelkanal anzufüllen. Dies geschieht viel- mehr in erster Linie durch ein peridurales Gewebe, das sich zwischen dem sogenannten Periost des Wirbelkanals und der Dura ausspannt und aus fetterfülltem Bindegewebe und zahlreichen Gefäßplexus besteht, die wesentlich aus Arterien zusammengesetzt sind, wie dies nach an. deren Untersuchern auch bei anderen in Wasser lebenden Säugetieren vorkommt. Dazu kommen vom 2. Dorsalwirbel an zwei große Venen; eine auf jeder Seite des Rückenmarks. Dieser große Blutreiehtum, der von jeher, auch an anderen Körperstellen, die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, wird in unserem Falle wohl zunächst die Be- deutung haben, das Nervensystem stets mit dem so nötigen arteriellen Blute zu versehen, wofür im Hinblick auf das Tauchen die nötigen Einrichtungen getroffen werden mussten. Bezüglich der Umhüllungs- häute des Rückenmarks möchte ich auf das Original verweisen. — Bezüglich des Gehirns ist es von Wichtigkeit, dass auch hier wieder die Dura ähnliche Verhältnisse darbietet wie am Rückenmark. Sie spaltet sich nämlich in zwei Blätter, von denen das äußere der Schädelhöhle anliegt, während das innere die eigentliche Dura dar- stellt. Beide Blätter sind durch einen Gefäßplexus von einander ge- schieden, der im Hintergrunde und den Seitenpartien der Schädelhöhle enorm entwickelt ist. Hieraus folgt notwendig, dass ein Abguß der Schädelhöhle keineswegs ein getreues Bild gibt von der Gestaltung des Gehirns. Ich möchte dies besonders betonen, da Gervais seiner Zeit allgemeine Schlüsse aus solchen Abgüssen ziehen wollte. Falx und Tentorium sind vorhanden. Die Behandlung des Gehirns leitet Guldberg ein mit einem all- gemeinen Hinweis auf die Form desselben; wobei die Asymmetrie des Gehirns bei Balaenoptera musculus besonders hervorgehoben wird. Die spezielle Beschreibung geht aus vom Fötalgehirn von Megap- tera boops von kaum !/, Meter Länge. Auch hier füllte das Gehirn, dessen Maße und Bau genau angegeben werden, die Schädelhöhle bei weitem nicht aus, was nicht allein auf Retraktion des Gehirns unter Einfluss des Alkohols zu setzen ist. Guldberg nimmt vielmehr an, dass beim Fötus zwischen Gehirn und Sehädelwänden subarachnoidale Hohlräume bestehen, die mit Flüssigkeit und losem Bindegewebe an- gefüllt sind. Wenn trotzdem schon die Anlage der Gehirnfurchen beim Embryo vorhanden wäre, so kann die Bildung dieser Furchen nieht her- er Weber, Das Zentralnervensystem der Cetaceen. 613 vorgehen aus einem Missverhältnis im Wachstum zwischen Schädel-. volumen und Gehirn. Und wenn man hierbei annimmt, dass der dolicho- cephale Schädel die Längsfurchen, der brachycephale die Querfurchen am meisten entwickle, so hält auch das bei den Cetaceen nicht Stich, die wohl die am meisten brachycephalen Tiere sind und bei denen doch die Längsfurchen überaus vorherrschend und primäre sind. Der Hauptinhalt von Guldberg’s Arbeit ist dann weiterhin dem erwachsenen Gehirn von Balaenoptera musculus gewidmet, wobei aber auch andere Balänopteriden und von Odontoceten speziell Phocaena be- rücksichtigt werden. Er schließt sich hierbei der Nomenklatur von Krueg an, was gewiss allgemeinen Beifall finden wird, da hierdurch eine Vergleichung mit dem Gehirn der Zonoplacentalia und Ungulata, die Krueg so trefflich behandelt hat, erleichtert wird. Es ge- schieht nicht um den Wert der Arbeit zu verkürzen, wenn wir den Wunsch nicht unterdrücken können, dass Guldberg einen solchen Vergleich eingehender gezogen hätte. — Nur ganz vereinzelt findet man eine motivierte Abweichung von Krueg’s Nomenklatur. So spricht er in Broca’s Sinne von einer Seissure limbique, welche eigent- lich die Fissura rhinalis posterior und Fissura splenialis Krueg der Carnivora und Ungulata umfasst. An dieser Stelle dürfte Erwähnung verdienen, dass die an ver- schiedenen Körperteilen bei Cetaceen auffallende Asymmetrie auch an der Hypophysis zur Geltung kommt. Wiehtig im Hinblick auf die Riechfunktion dieser Tiere ist es, dass der Lobus olfactorius bei Balänopteriden beim Fötus größer ist als beim erwachsenen Tier, doch ist er von Anfang an klein. Der Traetus olfactorius ist stets vorhanden, der Bulbus olfactorius wie es scheint nur beim Fötus, bei der erwachsenen Megaptera boops und Balaenoptera musculus fehlt er wenigstens. Ich will hier beifügen, dass bei den Odontoceten die Verhältnisse anders liegen. Dort kann z. B. bei Delphinus delphis und Phocaena communis der ganze Nervus olfactorius fehlen; wo er vorhanden ist, z. B. bei Hyperoodon, ist er fein. Der Lobus insulae erreicht bei den Cetaceen wohl die größte Entfaltung unter den Säugetieren. Im Hinblick auf gegenteilige Angaben ist es von Gewicht, dass Guldberg außer dem Corpus eallosum auch die übrigen Hirnkom- missuren beim Fötus entwickelt fand. Die mittlere und hinterste waren jedoch die bestentwickelten. Beim erwachsenen Finnwal jedoch konnte er eine Commissura anterior nicht mit Bestimmtheit nachweisen. Ein Cornu posterius in den Seitenventrikeln war bei Phocaena vorhanden, wie dies jaauch schon Huxley berichtet, bei Balaenoptera konnte Guldberg es aber nicht entdecken. „Doch wagt er nicht zu viel Gewicht auf diesen negativen Fund zu legen, da ein voll- kommneres Material möglicherweise einen andern Thatbestand er- geben würde“. 614 Weber, Das Zentralnervensystem der Cetaceen, Auch die übrigen Unterschiede am Gehirn der Barten- und Zahn- wale sind in der Hauptsache vielleicht nur quantitativer Art. Nur die Seissure limbique scheint einen wesentlicheren Unterschied zu bieten. Die übrigen wichtigen Angaben über die Teile des Gehirns, seine Furchen und Windungen sind nicht geeignet für einen Auszug, doch werden sie Interessenten angelegentlichst anempfohlen. Ein weiterer interessanter Abschnitt beschäftigt sich mit den Größen- und Gewichtsverhältnissen des Gehirns der Bartenwale und Vergleichung dieser Werte mit den entsprechenden bei den übrigen Cetaceen und anderen Säugetieren. Zu diesem Zweck hat der Ver- fasser alle in der Literatur niedergelegten Angaben über Größe und Gewicht von Cetaceen-Gehirnen gesammelt. Da namentlich auch die Gewichtsangaben von Gehirnen herrühren, die länger oder kürzer in Alkohol lagen, mithin an Gewicht verloren hatten, so ist es von Be- deutung, dass Guldberg in einem Falle dasselbe Gehirn frisch und später nach Härtung in Alkohol noch ein mal wägen konnte. Er komnit hierbei zu dem Schlusse, dass man das Gewicht der in Alkohol gehärteten Gehirne um ?/, ihres Wertes erhöhen muss, um das ur- sprüngliche Gewicht zu erhalten. Auf diese Weise werde es möglich die Gewichtsangaben zu verwerten. Die Relation des Hirngewichtes zum Körpergewicht wird aber immer sehr zweifelhaft bleiben, wenn man wirklich genaues verlangt, da Gewichtsangaben über die enorm großen Bartenwale immer nur approximativ sein werden. Dennoch geht aus folgenden Zahlen trotz ihrer Ungenauigkeit hervor, dass das Hirngewicht der Balänopteriden im Verhältnis zum Körper kleiner ist als bei irgend einem andern Säugetier. Eschricht fand nämlich das relative Hirngewicht von Megaptera — 1/9000? und von Balaena mysticetus — "Igsooo-, Legt man die von Sceoresby für das letztere Tier angegebenen Gewichte von Gehirn und Körper zu grunde, so erhält man die Zahl Y/gog,,; was mithin bei solchen großen approximativen Zahlen gut passt. Für den Finnwal berechnet Guldberg das relative Hirngewicht zu !/;4ooo.- Bei den Odon- toceten ist dies Verhältnis übrigens viel günstiger, viel günstiger sogar als bei vielen höheren Säugetieren. Das relative Hirngewicht von Phocaena ist z. B. !/g;, vom Fuchs !/,o;, vom Hund !/,;.- Man darf ferner nicht vergessen, dass die absoluten Werte für Größe und Ge- wicht des Gehirns der Bartenwale die aller anderen Geschöpfe über- treffen. Auch an Tiefe und Reichtum der Windungen ragt das Üeta- ceengehirn über die meisten anderen hervor. Im Hinblick auf diese hohe Entwicklung des Gehirns, verglichen mit dem mutmaßlich viel kleineren Gehirn der Cetaceen aus dem Miocän und Pliocän, ferner im Hinblick auf die Größenzunahme der rezenten Cetaceen verglichen mit den fossilen, kommt Guldberg dazu, einem Gedankengange Flower’s folgend, die Gegenwart als eine „Blütezeit“ der Cetaceen zu betrachten. Gewiss wird man zu- Crampe, Vererbung der Farbe bei zahmen Wanderratten. 615 geben müssen, dass diese Tiergruppe in ihrer Richtung gegenwärtig eine hohe Stufe der Entwicklung erreicht hat, die Cetaceen sind als solche vollkommner geworden verglichen mit ihren ausgestorbenen Ahnen. Ob sie aber auch nach Zahl und Verschiedenheit zugenommen haben ist, meine ich, gegenwärtig wohl noch eine Frage, die vielleicht in entgegengesetztem Sinne wird beantwortet werden müssen, wenn man an die Verschiedenheit nur der fossilen Cetaceen denkt, die P. J. van Beneden auf kleinem Gebiete in Belgien bereits ent- deckte. Ein Resumee über die erhaltenen Resultate und eine kurze Mit- teilung über die Ursprünge der Gehirnnerven schließt die Arbeit. Unwillkürlich fragt man zum Schlusse, ob der Verfasser aus seinen Untersuchungen eine Antwort zu geben hat auf die schon lange ven- tilierte und auch in jüngster Zeit wieder brennend gewordene Frage, ob die Ungulaten oder die Carnivoren die nähern Verwandten der Cetaceen sind. In dieser Hinsicht begegnen wir aber nur folgendem Satz: „Wenn auch das Gehirn des Bartenwals, wie wir nachdrücklich betonen möchten, in einzelnen speziellen Punkten eine Aehnlichkeit mit dem Gehirn des Ungulaten- Typus aufweist, so können wir doch in solchen Annäherungen nicht viel anderes erkennen, als den gemein- samen Charakter aller hoch entwickelten Tiere unserer geologischen Zeitperiode, wo dieselbe nicht gar auf Zurückbildung gewisser einst vollkommner Organteile zurückzuführen sind“. Referent, der sich in letzter Zeit vielfach mit dem Bau der Ceta- ceen und mit der Frage nach deren Ursprung beschäftigt hat und demnächst seine Resultate vorzulegen sich gestatten wird, wagt nicht zu entscheiden, ob mit obigem Satze das letzte Wort gesprochen ist. Doch wie dem auch sein möge, wenn wir auf unsere letzte Frage auch keine Antwort erhalten, wir werden darum die Abhandlung nicht minder befriedigt aus der Hand legen, und dem Verfasser Dank wissen, dass er die Mühe nicht gescheut hat, während dreier Sommer in Fin- marken schwerzugängliches Material zu sammeln, das seiner Arbeit zu grunde liegt. Max Weber (Amsterdam). Crampe, Die Gesetze der Vererbung der Farbe. Zucht- Versuche mit zahmen Wanderratten. Landw. Jahrbücher, Berlin 1885, Bd. XIV, Seite 539—619. Der Verfasser hat seine Zuchtversuche (vgl. diese Zeitschrift, Bd. V, S. 465) fortgesetzt, und er berichtet nunmehr über die Ver- änderung der Abarten bei Fortpflanzung in Farben- Inzucht; unter Farben-Inzucht versteht er die Fortpflanzung eines Stammes von Tieren gleicher Abstammung in einer bestimmten Farbe. 616 Crampe, Vererbung der Farbe bei zahmen Wanderratten. Die vom Verfasser aufgestellten „Vererbungsgesetze“ stützen sich auf weit über hundert Zuchtversuche, aus denen zwischen 14000 und 15 000 Einzelwesen hervorgegangen sind. Die Abarten von Mus decumanus, über deren Eigenschaften der Verfasser in vorliegender Arbeit berichtet, sind die Abkömmlinge aus Kreuzungen zwischen der Art und einer Abart. Nach und nach wurde die Art mit sämtlichen Abarten!) gekreuzt. Das Uebereinstimmende dieser Kreuzungen besteht darin: Die von der Art und der Abart gemeinsam erzeugten Kinder sind ohne Ausnahme grau, entweder ohne (Abart 1) oder mit weißen Ab- zeichen (Abart 2). Die Mischlinge, in Farben -Inzucht fortgepflanzt, liefern in ihrer Geschlechtsfolge alle diejenigen Abarten, in welche sich die Art mit Hilfe der zur Kreuzung verwendeten Abart spalten lässt. Die der Abart 1 gleichenden Mischlinge erzeugen weder mit ihren gleichfarbigen, noch mit ihren der Abart 2 gleichenden Geschwistern jemals Nachkommen, welche in der Farbe mit den Abarten 3 (weiß und grau) und 5 (weiß und schwarz) übereinstimmen. Das Unterscheidende dieser Kreuzungen besteht in folgendem: Die Kinder der Art und der einfarbig bunten Abarten 1 und 7 gleichen sämtlich der Abart 1. Die Kinder der Art und der übrigen Abarten stimmen in der Farbe und den Abzeichen einesteils mit der Abart 1, andernteils mit der Abart 2 überein. Die meisten der Ab- art 2 gleichenden Mischlinge liefert die Kreuzung der Art mit der Abart 4, nach dieser die meisten: die Kreuzungen der Art mit den Abarten 3 und 5. Sämtliche sieben Abarten, in welche sich die Art spaltet, sind nur mittels der weißen Abart 4 zu gewinnen. Weiße Nachkommen liefern die in Farben-Inzucht fortgepflanzten Mischlinge nur dann, wenn dieselben entweder von der Abart 4 ab- stammen, oder aus solchen anderen abändernden Abarten gezogen worden sind, die infolge ihrer Abstammung von der Abart 4 die Eigen- schaft besitzen, ihre Fähigkeit, weiße Nachkommen zu erzeugen, auch auf ihre Zucht aus der Art zu übertragen. 4) Die schon in meinem frühern Berichte erwähnten Abarten hatten fol- gende Haarfarben: Abart 1 grau ohne Abzeichen, 2 grau mit weißen Zeichen, 3 weiß und grau, „ 4 weiß, 5 weiß und schwarz, 6 schwarz mit weißen Zeichen, »„ 7 schwarz ohne Abzeichen. Andere Haarfarben kamen nicht vor. vw Crampe, Vererbung der Farbe bei zahmen Wanderratten. 617 Die schwarzen Abarten mit der Art gekreuzt, liefern Nachkommen, welche — in Farben-Inzucht fortgepflanzt — eine Geschlechtsfolge hervorbringen, in der sowohl die schwarzen, wie auch die grauen Abarten vertreten sind. Ob die zur Kreuzung mit der Art verwendeten Abarten von schwarzer Farbe beständig sind oder abändern, macht hierbei keinen Unterschied. Es würde zu weit führen, hier auf die umfangreichen Einzelheiten der Versuche einzugehen. Ich beschränke mich daher darauf, aus den vom Verfasser zusammengestellten Ergebnissen seiner Versuche die wichtigsten Sätze herauszuheben. Die Abarten von Mus decumanus kommen auf zweierlei Weise zustande: durch natürliche Abänderung der Art, sowie durch Kreuzung der Art mit einer ihrer Abarten und Fortpflanzung der Mischlinge in Inzucht. Verfasser vermutet, dass alle natürlich entstandenen Abarten von Anfang an reinzüchten, weil sie nur Art-Vorfahren haben, die bei keiner in ihrer Farbe fortgepflanzten Abart Einfluss auf die Geschlechts- folge gewinnen. Die auf künstliche Weise, durch Kreuzung der Art mit einer ihrer Abarten hergestellten Abarten ändern der Regel nach ab und sie züchten nur ausnahmsweise von Anfang an rein. Sie ändern ab in- folge des Vorhandenseins von andersfarbigen Vorfahren verschiedener Farbe, der Art und der dieselbe kreuzenden Abart, welehe Einflüsse in der Nachkommenschaft zur Geltung kommen. Der Züchter gelangt somit nur auf künstliche Weise zu abändern- den Abarten, und er ist nur im stande durch künstliche Mittel die- selben in diesem Zustande zu erhalten. Jede Abart vermag die Art zum Abändern zu veranlassen. Die erste Geschlechtsfolge aus der Kreuzung ist grau; aber in ihrer Nach- kommenschaft sind alle Abarten vorhanden, welche die Art gemeinsam mit der sie kreuzenden Abart zu erzeugen vermag. Wie viele und welche Abarten die Art liefert, hängt von der Abart ab, die sie zum Abändern zwingt. Die Farbe der Nachkommen der ersten Geschlechtsfolge aus der Kreuzung ist bedingt durch die Art und die beteiligte Abart in ihrer Eigenschaft als Vorfahren der Mischlinge. Die in Farben-Inzucht gezogenen und selbst in Farben-Inzucht fortgepflanzten Nachkommen der ersten Geschlechtsfolge aus der Kreuzung ändern ab oder sie züchten rein. Für das Eine oder das Andere, sowie für die Grenzen, in denen die Nachkommen der ersten Geschlechtsfolge aus der Kreuzung abändern, sind nicht diese, son- dern die an ihrer Herstellung Beteiligten — Art und Abart in ihrer Eigenschaft als Vorfahren — maßgebend. Jede in Farben-Inzucht fortgepflanzte Abart besitzt zweierlei Vor- fahren: solche, welche in der Farbe und in den Abzeichen mit der 618 Crampe, Vererbung der Farbe bei zahmen Wanderratten. betreffenden Abart übereinstimmen (gleichfarbige Vorfahren) und an- dere, bei denen dies nicht zutrifft (andersfarbige Vorfahren). Zu den andersfarbigen Vorfahren zählen in allererster Reihe die Art und die mit ihr gekreuzte Abart; sie sind die Ursache davon, dass die in Farben-Inzucht fortgepflanzte Abart überhaupt abändert und welche Abarten sie erzeugt. Sie vermögen diese Eigenschaften jedoch nicht unmittelbar zur Geltung zu bringen, sondern sie bedürfen einer Vermittlung, um in den Nachkommen zur Geltung zu kommen. Die Vermittlung übernehmen die ersten Geschlechtsfolgen der in Farben- Inzucht gezüchteten Nachkommen. Wenn die Art mit einer beständigen Abart gekreuzt wurde, so genügt zur Vermittlung eine einzige Geschlechtsfolge. War die zur Kreuzung mit der Art verwendete Abart aber nicht beständig und im stande ihre Fähigkeit abzuändern, auch auf ihre Nachkommen aus der Kreuzung mit der Art zu übertragen, so sind mehrere Geschlechtsfolgen nötig, um jene Vermittlung zu bewirken. Hieran können sich andersfarbige und gleichfarbige Vorfahren der in Farben-Inzucht fortgepflanzten Abart beteiligen. Die andersfarbigen Vorfahren bedingen und unterhalten das Ab- ändern der Abart so lange, wie sie eine einflussreiche Stellung im Stammbaum derselben einnehmen, oder so lange ihr Einfluss auf die Geschlechtsfolge immer wieder von neuem gestärkt wird dureh Zu- führung neuer Vorfahren derselben Farbe mittels zweckentsprechen- der Paarungen der in Rede stehenden Abart in Farben- Reinzucht. Sobald aber an Stelle der Zucht in Farben-Reinzuchi Fortpflanzung in Farben-Inzucht tritt, kann die Zahl der maßgebenden andersfarbigen Vorfahren nicht mehr vermehrt und nieht mehr in ihrem Einfluss ge- stärkt werden. Dieselben vermögen aber auch nicht ihre einfluss- reiche Stellung im Stammbaum der betreffenden Abart zu behaupten, sondern sie werden aus derselben verdrängt durch die gleichfarbigen Vorfahren. Mit jeder neuen Geschlechtsfolge nimmt deren Zahl zu und es gewinnt deren Einfluss auf die Nachkommenschaft an Stärke. Zu dem, was die jüngste Geschlechtsfolge gleichfarbiger Vorfahren nach Maßgabe ihrer Farbe zu leisten vermag, tritt dasjenige hinzu, was die gleichfarbigen Vorfahren der vorangegangenen Geschlechts- folgen inbezug auf die Beschränkung des Einflusses der andersfarbigen Vorfahren bereits geleistet haben. Indem jede Geschlechtsfolge gleich- farbiger Vorfahren auf die nächstfolgende das bereits erworbene und ererbte Maß von Beständigkeit vererbt, wird der Einfluss der gleich- farbigen Vorfahren auf die Nachkommenschaft vervielfältigt oder ge- steigert durch die Zahl der vorausgegangenen Geschlechtsfolgen von derselben Farbe. Die gleichfarbigen Vorfahren der einander folgenden Geschlechts- folgen von den in Farben-Inzucht fortgepflanzten Abarten besitzen somit in verschiedenem Grade die Fähigkeit, den Einfluss der anders- de Crampe, Vererbung der Farbe bei zahmen Wanderratten. 619 farbigen Vorfahren auf die Nachkommenschaft und damit das Ab- ändern der betreffenden Abart zu beschränken. Maßgebend hierfür ist die Stellung der gleiehfarbigen Vorfahren der betreffenden Ge- schlechtsfolge im Stammbaum der Abart. Bei Fortpflanzung derselben in Farben-Inzucht gewinnt diese Fähigkeit allmählich an Stärke durch Vermehrung der gleichfarbigen Vorfahren und durch Vererbung sei- tens der Vorfahren dieser Farbe der vorausgegangenen Geschlechts- folgen. Es kann die gedachte Fähigkeit der langsam dem Reinzüchten sich nähernden Abart schnell, sprungweise und nachhaltig gekräftigt werden, durch Paarung derselben mit der beständigen Abart der- selben Farbe. Hierbei führt die beständige Abart der abändernden mit einem mal eine große Zahl gleichfarbiger Vorfahren zu, und zwar solcher, die in viel höherem Grade befähigt sind, den Einfluss der andersfarbigen Vorfahren auf die Nachkommnnschaft zu beschränken. Die Fortpflanzung der abändernden Abart in Farben-Inzucht und die Paarung derselben mit der beständigen Abart derselben Farbe führen zu den gleichen Ergebnissen: zur Vermehrung der gleichfar- bigen Vorfahren und zur Stärkung ihrer Fähigkeit, die andersfarbigen Vorfahren in ihrem Einfluss auf die Nachkommen zu beschränken. Die Kreuzung zwischen beständigen Abarten führt zur Aufsaugung der einen durch die anderen. Hiermit lassen sich die Ergebnisse der Farben-Inzucht vergleichen. Denn dieselben Abarten, welche bei un- mittelbarer Kreuzung von den anderen aufgesogen werden, unterliegen auch der Verdrängung aus der Nachkommenschaft der abändernden Abarten durch die der aufsaugenden Abart in der Farbe gleichen Vorfahren. Die der Beständigkeit sich nähernde Abart 3 gewinnt zuerst die Fähigkeit die Abart 5 und dann erst die Fähigkeit auch die Abart 4 aufzusaugen. Aus der Nachkommenschaft der in Farben-Inzucht fort- gepflanzten Abart 3 verschwinden demnach zuerst die der Abart 5 und dann erst die der Abart 4 gleichen Nachkommen. Die Abart 3, abstammend von der Art und der Abart 5, züchtet von der zweiten Geschlechtstolge an rein. Dieselbe Abart, entstanden aus der Kreu- zung der Art und der Abart 4, bedarf einer sehr viel größern Zahl von Geschlechtsfolgen ihr in der Farbe gleicher Vorfahren, um zum Reinzüchten zu gelangen. Die in Farben-Inzucht fortgepflanzten Ab- arten 1 und 2 werden mit jeder Geschlechtsfolge der Art ähnlicher; bei den übrigen Abarten ist das Gegenteil der Fall. Bei den ersteren hat die Gewinnung der Beständigkeit die Bedeutung des Zurückkeh- rens zur Art, bei den anderen die Bedeutung des zeitweiligen Selb- ständigwerdens ihrer Abarten. Ein mehreres ist nicht zu erzielen. Die Möglichkeit, dass die Art durch ihre Abarten dauernd beeinflusst oder gar verdrängt werden sollte, erscheint ausgeschlossen. Denn die beständig gewordenen Abarten bestehen nur so lange, wie ihre 620 Crampe, Vererbung der Farbe bei zahmen Wanderratten. Fortpflanzung in Farben-Inzucht erfolgt; mit einander gekreuzt saugt eine die andere auf und die Art alle. Wenn nun auch diese Kreuzungen immer von neuem wieder zu abändernden Abarten führen, so überwiegen doch unter den Misch- lingen diejenigen Abarten, welche der Art am nächsten stehen, die übrigen so bedeutend, dass das schließliche Ergebnis völlig freier Zuchtwahl doch nur die Rückkehr zur Art mit allen sie gegenwärtig kennzeichnenden Eigenschaften sein würde. Wenn es sich nun darum handelt, meint Verfasser, diese Betrach- tungen für die Entwicklungsgeschichte von Mus decumanus als Art zu verwerten, so dürfte die Ansicht, Mus decumanus habe früher selb- ständige Arten — die gegenwärtig nur den Rang von Äbarten be- sitzen — aufgesogen, eine größere Berechtigung für sich haben als jene, wonach Mus decumanus mit der Zeit in neue selbständige Arten, den beständig gewordenen Abarten entsprechend, zerfallen sollte. Aus den im Vorstehenden angeführten Thatsachen entwickelt Ver- fasser schließlich zu den früher (Bd. V Nr. 15 dieser Zeitschrift) er- wähnten noch elf neue „Vererbungs-Gesetze“ (also im ganzen sechs- zehn), deren wörtliche Anführung ich hier unterlasse, weil sie nur die oben erörterten Ergebnisse der Zuchtversuche wiederholen würden. Nur zwei Schlussfolgerungen des Verfassers will ich noch an- führen, welche für den ausübenden Tierzüchter besondere Bedeutung haben. Das Wesentliche der Kreuzungen besteht nicht darin, dass die daran unmittelbar Beteiligten in den Mischlingen oder deren Nach- kommen wieder erscheinen, sondern dass neue Farben erscheinen. Die Kreuzung führt somit nicht zum Ausgleich und zur Verschmelzung der Eigenschaften der mit einander Gekreuzten, sondern sie hat Ab- änderung zur Folge. Für das Einzelwesen findet sich kein Platz unter den Ein- flüssen, welche für die Vererbung der in Farben-Inzucht fortgepflanz- ten Abart maßgebend sind. Es kommt nur als Vertreter seiner Abart und in seiner Eigenschaft als andersfarbiger und gleichfarbiger Vor- fahr in betracht. Denn die Eigenschaft, um die es sich handelt, die Farbe, ist eine Stamm-Eigenschaft und keine dem Einzelwesen eigen- tümliche. Das Einzelwesen ist also gar nicht in der Lage eigentüm- liche Eigenschaften zu erwerben, sondern es überträgt auf seine Nach- kommenschaft ansschließlich seine Stamm - Eigenschaften. M. Wilekens (Wien). Wilekens, Paläontologie der Haustiere. 621 Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haustiere. 8. Die hundeartigen Tiere (Caniden) des Diluviums. (Schluss.) Lycorus nemesianus!) ist eine neue Gattung, welehe Bourguignat auf einem Unterkiefer errichtet hat, der mit vollständigem Gebiss in einer Höhle bei Vence gefunden wurde. Das Gebiss besteht aus drei Schneide- zähnen, einem seitlich zusammengedrückten Eckzahn von Eiform, drei zweiwurzligen Prämolaren, einem Fleischzahn und zwei Höckerzähnen, von denen der erste zweiwurzlige fast viereckig (subtetragone) und der zweite einwurzlige zu einem kleinen Zahnstift vereinfacht ist. Der Kiefer ist schlank, und seine beiden Hälften vereinigen sich unter einem Winkel von 25 Graden. Diese neue Gattung ist also gekenn- zeichnet durch die auf drei beschränkte Zahl der Prämolaren und durch die außerordentliche Kleinheit des letzten Höckerzahns. Mit Rücksicht auf die Form der Zähne steht die Gattung Zycorus den Wölfen nahe; sie steht in der Mitte zwischen Lupus und Cuon. Cuon europaeus ist ebenfalls eine Gattung, welche Bourguignat errichtet hat auf drei Bruchstücken von Unterkiefern mit Zähnen aus der Höhle Mars de Vence (Alpes-Maritimes). Die Bruchstücke, welche zweien Individuen angehören, kennzeichnen ein Tier von der Gestalt des gemeinen Wolfes, ähnlich dem am Himalaya lebenden Buansu, der früher Canis primaevus genannt wurde, von Hodgson aber den Namen Cuon primaevus erhielt; dies ist ein Tier mit feinem Kopf, länglicher Schnauze, von großer Beweglichkeit und Wildheit. Die hauptsächliche Uebereinstimmung zwischen dem Gebiss des fossilen Ouon europaeus und des lebenden Ouon primaevus besteht in dem Vor- handensein eines einzigen Höckerzahns. Zu Cuon Edwardsianus zählt B. zwei Unterkieferbrüchstücke aus der Höhle von Lunel-Vieil, welche Marcel de Serres dem Canis familiaris zugeschrieben hat; die rechte Hälfte des einen Unterkiefers besitzt vier Prämolaren, einen Fleischzahn und nur einen Höckerzahn wie bei Cuon. Die Zähne von Cuon Edwardsianus nähern sich mehr denen von Cuon primaevus als denen von CO. europaeus, und jener war gedrungener gebaut als Cuon europaeus, umsomehr also als Cuon pri- maevus. B. fand auch in der Höhle von Mars de Vence mehrere Prä- molaren, welche er dem ©. Edwardsianus zuschreibt. Die beiden in Frankreich vorkommenden Arten von (won haben nach B., während der eozoischen Periode, zu gleicher Zeit gelebt. Vulpes vulgaris Bourguignat’s stimmt vollkommen überein mit Schmerling’s Vulpes major, mit Canis vulpes Marc. de Serres, ©. vulpes fossilis Pom. und C. vulpes spelaeus Cuv. B. führt 24 Fund- orte in Frankreich an, wo er Knochen dieses Fuchses gesammelt hat. 1) Der Gattungsname ist abgeleitet von Avxos Wolf uud og0os Berg, der Artname von dem alten ligurischen Volksstamme der Nemesier. 622 Wilekens, Paläontologie der Haustiere. Vulpes minor Bourguignat’s ist dasselbe Tier, dessen Ueber- reste aus den Höhlen von Lüttich Schmerling unter gleichem Namen beschrieben hat. Die Abhandlung von Bourguignat enthält drei Tafeln mit Ab- bildungen von Ouon primaevus, ©. europaeus und Lycorus nemesianus. Eine Arbeit „über Caniden aus dem Diluvium“ hat Joh. Wol- drich veröffentlicht im 39. Bande der Denkschriften der math.-naturw. Kl. der k. Akad. der Wiss., Wien 1878. Diese Abhandlung enthält die Literatur und die Geschichte des diluvialen Wolfes, sowie die Bestimmung von 190 Stück Knochen und Knochenbruchstücken von Caniden aus dem Diluviallöss bei Nussdorf, einem Vororte von Wien, sowie von Knochenresten von Caniden aus dem Löss bei Zeiselberg unweit Krems in Niederösterreich; diese Knochen bilden einen Teil der geologischen Sammlung der Universität Wien. Ferner untersuchte W. diluviale Canidenknochen aus dem k. Naturalienkabinet in Stutt- gart, dem k. Museum in München und einigen Privatsammlungen. Woldrieh ist aufgrund seiner Untersuchungen und zahlreicher Ab- bildungen der bisherigen Literatur zu der Ueberzeugung gelangt, dass es zur Zeit des Diluviums oder der quaternären (anthropozoischen) Epoche, neben den von Bourguignat angeführten Arten von Cuon Lycorus und Lupus neschersensis noch drei Formen von Wolf gegeben habe, die er Lupus vulgaris fossilis, L. spelaeus und L. Suessii nennt. Die beiden erstgenannten unterscheiden sich von einander, weniger durch ihre Größe, als vielmehr durch ihre Stärke; doch bemerkt W., dass vom L. vulgaris fossilis häuflg kleinere und schwächere Individuen vorkommen, als vom lebenden Lupus vulgaris Gray’s mittlerer Größe. Woldrich’s L. vulgaris fossilis stimmt mit dem jetzigen europäischen Wolf mehr oder weniger überein; dieser ist sein unmittelbarer Nach- komme. Bei beiden bedingen Alter, Geschlecht und Individualität einzelne Abänderungen des Knochenbaues; von beiden kommen schwä- chere und stärkere Formen vor. L. spelaeus W oldrich’s übertraf durch seine äußerst kräftige Bezahnung und den kräftigen Bau seines Skeletes sowohl den L. vulgaris fossilis wie den L. vulgaris Gray’s. Der zu Ehren von Prof. Ed. Sueß benannte Lupus Suessii — von dem W. zahlreiche Knochen vom Schädel, sowie Wirbel und Gliederknochen untersucht hat — steht nach seiner Größe zwischen L. vulgaris fossilis und Lup. spelaeus, erreicht jedoch einen sehr großen L. vulgaris Gray’s nicht an Höhe; er unterscheidet sich aber von den beiden ersteren in viel wesentlicheren Punkten, als diese unter einander. „Bei einer im Verhältnisse zur Länge des Schädels sehr hoch hinaufsteigenden Schnauze, einem äußerst kräftigen breiten hyänenartigen Halse und einem langen kräftigen Schwanze, war dieses Tier im Verhältnis zu seiner Größe viel kräftiger gebaut als selbst der Lupus spelaeus. Die durchwegs starke Muskulatur verrät einen kräftigen Körperbau; die Glieder waren, obwohl mit kräftigen Muskeln versehen, doch so schlank, u 8. Die hundeartigen Tiere des Diluviums. 623 dass dieses äußerst starke Tier selbst größere Pflanzenfresser flink genug verfolgen und bei seiner Kraft auch bewältigen konnte. Weder L. Suessii noch L. spelaeus, noch Lycorus nemesianus hat unter den bis jetzt bekannten, im wilden Zustande lebenden Caniden zunächst stehende Verwandte. Ob aber L. Suessii seiner Stärke wegen viel- leicht dem Menschen als Hilfsgenosse bei der Bezwingung größerer Pflanzenfresser vorteilhaft erschienen und er dieses Tier im Laufe der anthropozoischen Epoche gezähmt habe, so dass wir etwa in den kräftigen starkhalsigen Fleischerhunden Nachkommen desselben zu suchen hätten“ — wie W. vermutet, will er einer spätern Unter- suchung vorbehalten. Woldrich meint, dass ein von Cuvier abgebildeter Unterkiefer von Lupus fossilis aus Gailenreuth, den auch Blainville unter dem Namen Canis Lupus abgebildet hat, dem L. Suessii angehört und mit ihm vollständig übereinstimmt. Sollte W. die Abbildung zu Blain- ville’s Osteographie, G. Canis, Taf. 13 meinen, die mit ©. Lupus be- zeichnet ist, so finde ich im Vergleich zu seiner Abbildung Taf. IV Fig. 3 des Unterkiefers von L. Suessii doch einige Unterschiede — insbesondere an den beiden letzten Prämolarzähnen, die bei ©. Lupus Blainv. einen kräftiger entwickelten Sporn zeigen als bei L. Suessii — welche der von W. angenommenen „vollständigen Uebereinstim- mung“ widersprechen. Woldrich beansprucht ferner die Abbildung einer Unterkieferhälfte Fig. 5 auf derselben Tafel Cuvier’s!) für seinen L. spelaeus, und die Abbildung einer Unterkieferhälfte daselbst Fig. 4 für seinen L. vulgaris fossilis, während er die Abbildung der Unterkieferhälfte Fig. 2 dem Canis ferus Bourg. zuweist; „so lösen sich“ — sagt W. — „diese vier Abbildungen Cuvier’s vom fossilen Wolf aus der Gailenreuther Höhle in vier verschiedene Formen auf“. Die Aehnlichkeit zwischen dem Unterkiefer von Lupus fossilis Cuv. Taf. 199 Fig. 5 mit Lup. spelaeus W oldr. Taf. 2 Fig. 8 lässt sich nicht verkennen, woraus sich vielleicht schließen lässt, dass beide Unter- kiefer — der aus Gailenreuth und der von Zeiselberg — einer und derselben Art angehören; aber die Abbildung Taf. 199 Fig. 4 bei Cuvier und Taf. 2 Fig. 4 bei Woldrich zeigen meines Erachtens auffallende Unterschiede in der Form des Fleischzahnes und des ersten Höckerzahnes, so dass hier also zwei verschiedene Arten von Wolf vorliegen mögen. Alfred Nehring (Sitzungsber. d. Ges. naturf. Freunde in Berlin, 1884, 5.164) äußert sich über die von Woldrich aufgestellten Wolfs- arten des europäischen Diluviums wie folgt: „L. vulg. foss. und L. spe- laeus erscheinen mir aufgrund meiner Vergleichungen von etwa 40 Wolfssehädeln der Jetztzeit ziemlich problematisch, da ich die von Woldrich angeführten Artkriterien bei den letzteren auch vorfinde, und zwar durcheinander laufend. Ich will durchaus nicht bestreiten, 1) Nach der mir vorliegenden Ausgabe des Atlas von 1836 ist es Taf. 199. 624 Wilekens, Paläontologie der Haustiere. dass man bei genauerem Studium der heutigen Wölfe zwischen Wald- und Steppenwölfen, zwischen Wölfen des Gebirges und der Ebene, zwischen nordischen und südlichen Wölfen bestimmte Differenzen im Schädel und Skelet wird herausfinden können. Auch mögen die Wölfe der Jetztzeit in ihrer Mehrzahl manche kleine Unterschiede gegenüber den diluvialen Wölfen aufweisen, so dass eine gewisse Weiterentwick- lung anzunehmen wäre; aber man wird dabei doch immer betonen müssen, dass es sich nicht um verschiedene Arten handelt, sondern nur um Abänderungen derselben Art, welche sich entweder räumlich nebeneinander, oder zeitlich nacheinander entwickelt haben“. — Ueber L. Suessöi Woldr. enthält sich N. eines Urteils, wenngleich er feststellen kann, dass manche der für diese Art aufgestellten Merk- male auch bei jetzigen Wölfen vorkomme. Von Fuchsknochen bestimmte Woldrich Vulpes meridionalis (Canis fossilis meridionalis Nordmann’s) nach einer rechten Unter- kieferhälfte mit dem 1. Lückenzahn, dem Fleischzahn und dem 1. Höckerzahn, ferner nach einem rechten Oberkiefer - Bruchstück mit dem 2. und 3. Lückenzahn, dem Fleischzahn und dem 1. Höckerzahn, beide Stücke aus der Byeiskäla-Höhle in Mähren stammend. Vulpes meridionalis ist etwas größer als Vulpes niloticus Gray’s, größer als Vulpes Corsac Gray’s und kleiner als Leucocyon lagopus Gray’s. Ob derselbe doch mit einer der zahlreichen Vulpes-Arten Asiens oder Afrikas übereinstimmt oder eine Stammform mehrerer derselben dar- stellt, will W. späteren Untersuchungen anheimstellen. Den Namen Vulpes moravicus gibt Woldrich einem rechten Oberkiefer-Bruchstück mit dem 2. und 3. Lückenzahn, dem Fleisch- zahn und den beiden Höckerzähnen aus der Byeiskäla-Höhle in Mähren; die kleine Fuchsart zeichnet sich aus durch seinen im Vor- derteile sehr breiten Gaumen. Einen linken Eckzahn mit abgebrochener Kronenspitze aus Streit- berg (Oberfranken) bestimmt W. als dem Eisfuchs, Leucocyon lagopus fos- silis, angehörig, doch schließt er die Möglichkeit nicht aus, dass dieser Eekzahn einer der beiden vorgenannten Fuchsarten angehören könne. Ueberreste vom gemeinen Wolf und vom Eisfuchs, Canis lagopus L., wurden von A. Nehring (Arch. f. Anthropol. X. S. 359) auch in den quaternären Schichten von Thiede und Westeregeln gefunden. In seinen „Beiträgen zur Geschichte des fossilen Hundes“ (Mitt. d. Anthropol. Ges. in Wien, 1881, XI. S. 14) berichtet Woldrich über ein Oberkiefer- und ein Unterkiefer- Bruchstück, welche sich unter Knochen diluvialer Tiere aus der Certovä-dira-Höhle bei Neu- titschein in Mähren fanden, in welcher er eine Art erkennt, bedeu- tend kleiner als Canis ferus Bourg., die er Canis Mikii genannt hat. W. vermutet, dass dieser Hund der Stammvater ist von ©. familiaris palustris Rütimeyer’s, dem er an Größe und Bau nahe kommt. Obgleich Prof. Maska, der Entdecker und Erforscher jener Höhle, 8. Die hundeartigen Tiere des Diluviums. 625 in derselben das Dasein des Menschen nachgewiesen hat, so glaubt W. doch nicht, dass Canis Mikii bereits im gezähmten Zustande die- sem Menschen angehört habe, sondern dass dieses Tier noch wild war. Canis Mikii, vertreten durch mehrere Gliederknochen, hat W ol- drich („Diluviale Fauna von Zuglawitz bei Winterberg im Böhmer- walde“ im 82., 84. und 88. Bande der Sitzungsber. der k. Akad. d. Wiss. Wien 1881 bis 1883) auch im Diluvium von Zuglawitz gefun- den, wo außerdem noch eine, von ihm Canis hercynicus genannte Art vorkam; er fand von diesem Tiere — das er für wild hält — einen linken, sehr niedlichen Unterkieferast mit den beiden letzten Lücken- zähnen; W. glaubt diese Art mit Canis familiaris Spalletti Strobel’s in Beziehung bringen zu können. Außerdem vermochte W. im Dilu- vium von Zuglawitz an Knochenbruchstücken und Sehädeltteilen das Dasein festzustellen von Vulpes meridionalis, V. vulg. foss., V. mora- vicus und Leucocyon lagopus foss.; insbesondere von der ersten Art lag ihm ein nahezu vollständiger (im dritten Bericht, Taf. I. Fig. 1 und 2 abgebildeter) Schädel vor. Aus dem Diluvium Nordamerikas ist mir keine Canidenform bekannt geworden, beziehungsweise die darauf bezügliche Literatur nicht zugänglich gewesen ?). Ueber die Caniden des Diluviums von Südamerika, insbeson- dere Brasiliens, berichtet Lund in den Verhandlungen der Akademie der Wissenschaften von Kopenhagen (die mir nicht zugänglich waren). Einen Auszug aus diesen Berichten hat Lund veröffentlicht in Ann. des sc. nat. ser. 2, t. XI unter dem Titel „Coup-d’oeil sur les especes eteintes de Mammiferes du Bresil; extrait de quelques m&moires pre&- sentes A l’Acad. roy. des Sciences de Copenhague“. Er sagt hier (Seite 223), dass die Gattung Hund in den Höhlen von Brasilien die Ueberreste zweier Arten zurückgelassen habe; die eine (Canis troglo- dytes, der Höhlenwolf von Brasilien) ist größer, kräftiger, aber viel niedriger auf den Beinen als der lebende Wolf der Hochebenen (champs eleves) von Brasilien — der Cuara, (©. jubatus C.; die an- dere (©. protalopex, der Höhlenfuchs von Brasilien), zur Untergattung der Füchse gehörig, ist ziemlich ähnlich der lebenden Art — C. aza- rae, Pr. Max. Außer diesen beiden Arten kommt noch eine dritte vor, zur Untergattung der Schakals gehörig, von mittlerem Wuchs, 1) Eine geologisch zweifelhafte Gattung ist Synachodus Cope’s (Proceed. of the Acad. of nat. sc. of Philad., 1879, II, p. 186), deren Gattungsmerkmale sich beziehen auf das Fehlen des zweiten untern Molarzahnes und des innern Höckers des untern Fleischzahnes; die vier Prämolaren haben die gewöhnliche Form und der vierte in beiden Kiefern ist einwurzlig. C. beschreibt eine, von ihm $, mansuetus genannte Art. Vielleicht gehört auch die von Cope (a.a.0. p. 188) beschriebene Gattung Dysodus, mit der Art pravus hierher? Cope bezeichnet die Gattungen Synagodus und Dysodus als die am meisten speziali- sierten unter den Caniden. 40 626 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. aber besser bewehrt (armee) und wilder als die anderen. Sie unter- scheidet sich übrigens durch die Abwesenheit des letzten untern Höckerzahnes derart, dass sie im Unterkiefer hinter dem Fleischzahn nur einen Höckerzahn hat. Diese Art trennt L. von der Gattung Hund und bildet mit ihr eine besondere kleine Gruppe, welche er Speothos nennt, mit der fossilen Art S. pacivorus!). L. hält es für sehr bemerkenswert, dass dasselbe Zahnsystem gefunden wurde in einer Art lebenden Schakal von Indien ?), dem Buaneu oder Colsun (Canis primaevus Hodg., ©. dukhunensis Sykl.), der sich von allen anderen Schakals unterscheidet durch seine unbezähmbare Wildheit. Später hat Lund aus seinem Höhlenwolfe eine besondere Gattung gemacht, welche er Palaeocyon ?) genannt hat. In Ermangelung der dänischen Originalschrift berichte ich nach Bronn (Lethaea geogn. IH. S. 1087), der diese Gattung kennzeichnet: „Von Canis im engern Sinne bloß dadurch verschieden, dass der untere Fleischzahn an der innern Seite keinen Zacken und hinten nur einen Höcker hat.“ B. er- wähnt zwei Arten: P. troglodytes (übereinstimmend mit dem früher erwähnten Canis troglodytes) und P.validus. Von der letzterwähnten Art gibt Pietet (Paleont. I. p. 210) an, dass sie sich von jener un- terscheide durch einen kleinern Wuchs und einen verhältnismäßig stärkern Körper. Blainville (Osteographie, genre Canis p. 129) gibt an, dass Lund wenigstens fünf Arten von Canis in brasilianischen Höhlen ge- funden habe; nur eine bilde eine besondere Gattung. „Malheureuse- ment — sagt Bl. — ces especes ne reposent trop souvent que sur des fragments peu ou point caracteristiques; aussi M. Lund lui-m&me ne les a-t-il distinguces que nominativement.“ In seiner Liste der fossilen Raubtierarten Südamerikas erwähnt Paul Gervais (Rech. sur les Mammif. foss. de l’Amer. meridion., 1855, np 1%) außer den eben genannten drei Arten von Lund — noch folgende, ohne weitere Beschreibung: Canis Iycodes, C. robustior, ©. affinis fulvicaudo, alle drei von Lund in brasilianischen Höhlen gefunden und benannt; endlich noch C. incertus von Laurillard und d’Orbigny und €. Azarae, Blainv., aus der Pampasschicht der Parana. Cope (Proceed of the Acad. of nat. se. of Philad. 1879, II, p- 190) erwähnt auch eine von Lund in Höhlen Brasiliens gefundene Art von Ietieyon; er selbst beschreibt eine, ]J. crassivultus von ihm benannte Art nach einem fossilen Schädel aus Oregon. Die Zahn- 1) Der Gattungsname ist abgeleitet von or&os Höhle, der Artname von Pako (Alpaka), dessen Knochen als Nahrungsüberreste jenes Höhlenfuchses in den Höhlen gefunden sind, die ihm zum Aufenthalt gedient haben. 2) Nach Cope lebt „Speothus primaevus“ gegenwärtig am Himalaya. 3) Diese Gattnng ist nicht zu verwechseln mit Palaeocyon von Blainville. Biedermann, Antagonistische Polwirkungen bei elektrischer Muskelreizung. 697 formel derselben ist: Schneidezähne Eckzähne = Prämolaren = N 3° 4 Molaren = Der einzige obere Höckerzahn ist im allgemeinen dem der übrigen Caniden ähnlich; der untere Fleischzahn hat innen eine Spitze und hinten einen Sporn, an dessen einer Seite eine kleine scharfe Kante sitzt. Das Maul ist oberhalb der Eekzahnfächer etwas zusammengezogen (contracted), wodurch eine seitliche Anschwellung entsteht. Die Augenhöhle ist nicht größer. Die Jochgrube ist kurz. Die Nasenbeine sind hinten verengert, in der Mitte etwas zusammen- gezogen und vorn verbreitert. Die Zähne haben Teil an dem kräf- tigen Charakter des Schädels, mit Ausnahme der Schneidezähne, die klein und schmal sind. Außer den von Lund aufgestellten Arten — von denen nur wenig mehr als Namen bekannt sind — führen H. Gervais und F. Ame- ghino („Les Mammiferes foss. de ’Amerique du Sud“ 1880, p. 37) noch folgende Arten fossiler Hunde an, deren Ueberreste im Diluvium Südamerikas gefunden sind: ©. azarae foss. Amegh. (©. fulvus foss. Brav.), kleiner als der lebende C. azarae, übrigens sehr wenig von ihm verschieden; er ist bezeichnend für das obere Pampasgebiet, auf dem die Nach- Pampasanschwemmungen (alluvions post-pampeennes) ruhen. ©. cultridens Gerv. et Amegh., aus der Provinz Buenos- Ayres der Argentina, von kleinerer Figur als ©. azarae. CO. jubatus Desmarest (C. campestris Max. de Wied) aus der Pampasforma- tion. CO. protojubatus Gerv. et Amegh. (C. pampaeus Brav.) nach einem fast vollständigen Schädel sehr ähnlich dem lebenden ©. ju- batus. C. avus Burmeister’s (C©. platensis Brav.) aus der Provinz Buenos-Ayres, von Burmeister anfangs sehr nahe gestellt dem C. magellanicus, später dem ©. azarae. © C. vulpinus Brav., ausge- zeichnet durch die einander sehr nahe stehenden Lückenzähne. M. Wilckens (Wien). Ueber antagonistische Polwirkungen bei elektrischer Mus- kelreizung. Biedermann, Ueber das Herz von Helix pomatia (Wiener Sitzungsber. LXXXIX. III. Abt. 1834). — Derselbe, Ueber die elektrische Erregung des Schließmuskels von Anodonta (Wiener Sitzungsber. XCI. III. Abt. 1885). — Derselbe, Ueber Hemmungserscheinungen bei elektrischer Reizung querge- streifter Muskeln und über positiv-kathodische Polarisation (ebenda XCH. IlI. Abt 1885). Bei Untersuchung der Wirkungsweise des elektrischen Stromes auf Muskel und Nerven fanden bisher vorzugsweise diejenigen Er- scheinungen Berücksichtigung, welehe sich unmittelbar als Verkürzung des direkt oder indirekt gereizten Muskels darbieten; und in dieser Beziehung durfte das Gesetz der polaren Erregung als der umfas- 40* 628 Biedermann, Antagonistische Polwirkungen bei elektrischer Muskelreizung. sendste Ausdruck der bekannten Thatsachen gelten. Die der Erre- gung zugrunde liegenden Veränderungen der Muskel- oder Nerven- substanz erscheinen diesem Gesetze zufolge bei der Schließung auf die physiologische Kathode d. i. die Gesamtheit aller Austrittsstellen des Stromes aus der erregbaren Substanz, bei der Oeffnung auf die physiologische Anode d. i. die Gesamtheit der Eintrittsstellen be- schränkt und pflanzen sich von hier aus durch Leitung von Querschnitt zu Querschnitt fort. In innigster Beziehung zu den sichtbaren Reiz- erfolgen, den Erregungserscheinungen im engern Sinne, stehen an- dersartige Stromeswirkungen, die sich bisher nur indirekt durch Ver- änderungen der Erregbarkeit und des Leitungsvermögens nachweisen ließen. Ungeachtet zahlreicher und zum teil mustergiltiger Arbeiten (es sei hier nur an Pflüger’s klassische Untersuchungen über die elektrotonischen Erregbarkeitsveränderungen markhaltiger Nerven erinnert) sind jedoch die Wechselbeziehungen zwischen den Erre- gungserscheinungen im engern Sinne und jenen elektrotonischen Ver- änderungen noch vielfach unklar, und es bedarf insbesondere die Frage nach der polaren Entstehung der letztern eingehender Unter- suchung. Dass in dieser Beziehung noch viel zu thun übrig bleibt, hat seinen Grund wohl hauptsächlich in dem Umstande, dass man sich fast ausschließlich bestrebte, die betreffenden Verhältnisse an einem grade hierzu wenig geeigneten Objekte, dem markhaltigen Nerven, aufzuklären, wo die Bedingungen der elektrischen Erregung äußerst komplizierte sind und insbesondere die Einwirkung des phy- sikalischen Elektrotonus vielfach störend entgegentritt. Es erscheint daher unter allen Umständen zweckmäßiger, die Untersuchung zu- nächst auf regelmäßig gebaute Muskeln zu beschränken. Ein wesentlicher Fortschritt in der angedeuteten Richtung wurde neuerdings durch Hering angebahnt, indem er das Studium der so- genannten sekundär-elektromotorischen Erscheinungen als methodi- sches Hilfsmittel bei Untersuchung der elektrischen Erregung ein- führte, wodurch man in zahlreichen Fällen ein außerordentlich viel vollkommeneres Bild von den durch den Strom bewirkten Verän- derungen der irritablen Substanzen gewinnt, als es die Beobachtung der mechanischen Reizerfolge an sich zu geben vermag. Doch darf die Bedeutung der letzteren nicht unterschätzt werden, und oft ge- währen dieselben eine sehr erwünschte Bestätigung und Ergänzung der auf dem früher angedeuteten Wege gewonnenen Resultate. Dies gilt insbesondere von der Untersuchung der Folgeerscheinungen der elektrischen Reizung toniseh kontrahierter Muskeln, d.h. solcher, die sich bei Einwirkung des Stromes bereits in einem dauernden stetigen Erregungszustande befinden. Hier ergänzen sich, wie im folgenden zu zeigen sein wird, beide Untersuchungsmethoden, die Prüfung der Gestaltveränderungen des gereizten Muskels einerseits und die Feststellung des galvanischen Verhaltens nach Beendigung Biedermann, Antagonistische Polwirkungen bei elektrischer Muskelreizung. 629 der Reizung anderseits, und man kann sagen, dass ein befriedigender Einblick in das Wesen der durch den Strom bewirkten Veränderungen in der That erst durch die Kombinierung beider Untersuchungsme- thoden zu gewinnen ist. Im folgenden sollen in kurzem die wesentlichsten Ergebnisse einer derartigen auf 3 verschiedene Objekte sich erstreckenden Untersuchung mitgeteilt werden. Ich beginne mit der Besprechung der mechanischen Reizerfolge bei elektrischer Erregung des Herzmuskels, da sich die Verhältnisse hier am übersichtlichsten gestalten. Bereits vor längerer Zeit zeigte Engelmann, dass der Ven- trikel des Froschherzens ungeachtet seiner Zusammensetzung aus mikroskopisch kleinen Spindelzellen dem elektrischen Strom gegen- über sich durchaus so verhält, wie ein parallelfaseriger, monomerer Stammesmuskel, indem die einzelnen, anatomisch gesonderten Zell- individuen physiologisch leitend mit einander verbunden sind, sodass eine direkte Fortpflanzung der Erregung von Zelle zu Zelle möglich ist und die Ventrikelwand daher gewissermaßen wie aus einer gleich- artigen, erregbaren Substanz gebildet erscheint. Das Gesetz der po- laren Erregung gilt demgemäß für den Herzmuskel auch nicht in dem Sinne, wie für polymere quergestreifte Muskeln, wo jedem einzelnen Teilstücke je eine physiologische Kathode und Anode entspricht, son- dern wie für monomere längsdurchströmte Muskeln, bei welchen die Erregung primär nur an zwei Stellen (der Ein- und Austrittsstelle des Stromes) ausgelöst wird. Ohne an dieser Stelle auf die experi- mentellen Thatsachen näher einzugehen, welche Engelmann zum Beweise der eben besprochenen Verhältnisse beigebracht hat und die in dieser Zeitschrift zum teil bereits Erwähnung fanden (Bd. I. 1881. S. 749 f.), sei nur hervorgehoben, dass man die ausschließliche Wirk- samkeit der Kathode oder Anode bei Schließung beziehungsweise Oeffnung eines Kettenstromes auch mittels der sogenannten unipo- laren Methode am diastolisch erschlafften Ventrikel des Froschherzens leicht nachzuweisen vermag. Man setzt zu diesem Zwecke die eine Elektrode auf irgend eine indifferente Stelle des Rumpfes und berührt mit der andern die Oberfläche des blutgefüllten, in situ befindlichen Ventrikels, nachdem derselbe vorher mittels eines von Bernstein angegebenen Verfahrens durch Abquetschen an der Vorhofsgrenze ruhig gestellt wurde. Es zeigt sich dann, dass eine systolische Kon- traktion bei Schließung des Stromes nur in dem Falle eintritt, wenn die Berührung mit der Kathode erfolgt, während eine Oeffnungs- kontraktion umgekehrt nur nach längerer Berührung mit der Anode erzielt werden kann. Bis hierher stimmt daher das Verhalten des Herzmuskels gegen den Strom durchaus mit dem eines beliebigen Skeletmuskels überein. Ein auf den ersten Blick sehr auffallender Unterschied scheint sich jedoch zu ergeben, wenn man mit den er- 650 Biedermann, Antagonistische Polwirkungen bei elektrischer Muskelreizung. wähnten Befunden die Ergebnisse der Reizung während einer systo- lischen Zusammenziehung vergleicht. Mit besonderer Klarheit treten die betreffenden Erscheinungen an dem zartwandigen Herzen von Helix pomatia hervor, das sich zu diesen Versuchen auch schon des- halb vorzüglich eignet, weil man dasselbe leicht in einen Zustand lang anhaltender tonischer Kontraktion zu versetzen vermag, was beim Froschherzen nur schwer gelingt. Wird das freipräparierte Schneckenherz nach Unterbindung des abführenden Gefäßstammes mit einer entsprechenden Kanüle verbun- den, so lässt sich bei Füllung mit dem Blute des Tieres der Innen- druck der Flüssigkeit leicht beliebig variieren, und man überzeugt sich bei dieser Gelegenheit, dass die rhythmischen Zusammenziehungen des Ventrikels zum großen Teil nur durch die Wandspannung bedingt und unterhalten werden. Sinkt der Innendruck auf Null, so hören stets auch die Kontraktionen auf, deren Zahl bis zu einer gewissen Grenze mit der Drucksteigerung wächst. Wirkt unmittelbar nach Herstellung des Präparates ein beträchtlicher Druck auf die Innen- wand des Ventrikels dauernd ein, so kommt es in der Regel nach einer Reihe abnehmender Pulsationen zu einer anhaltenden Ruhe des Herzens im Zustande systolischer Kontraktion. Leitet man nun mittels unpolarisierbarer Elektroden einen Kettenstrom von entsprechender Stärke in der Längsrichtung durch das Präparat, so beobachtet man bei Schließung des Stromkreises in allen Fällen eine sofortige Er- schlaffung des Ventrikels, die jedoch bemerkenswerterweise niemals gleichzeitig an allen Punkten der durchflossenen Strecke erfolgt, son- dern ausnahmslos an dem Ende beginnt, wo der Strom eintritt, also an der Anode. Die Erschlaffung verbreitet sich unter Umständen von hier aus in Form einer Welle über den ganzen Ventrikel, und falls der Strom geschlossen bleibt, pulsiert jener je nach der Richtung des letztern so, dass die „Erschlaffungswelle“ bald von der Spitze zur Basis, bald umgekehrt verläuft. Nicht selten sieht man nach Oeff- nung des Stromes die Erscheinung sich umkehren, indem jetzt bei den ersten 2—3 der Oeffnung folgenden Diastolen die Erschlaffung an der Kathodenseite beginnt und von hier aus über den Ventrikel abläuft. Besonders instruktiv sind Versuche, bei welchen es gelungen ist den Ventrikel durch Quetschung in der Mitte in zwei erregbare, durch eine schmale unerregbare Zone getrennte Hälften zu teilen. Schiekt man durch ein derartiges Präparat einen Kettenstrom in f oder | Richtung, so sieht man stets nur die anodische Hälfte er- schlaffen, die kathodische lässt entweder keinerlei Veränderungen erkennen, oder sie kontrahiert sich deutlich bei Schließung des Stromes, wenn ihr Tonus minder ausgeprägt war. Bei Oeffnung des Kreises kehrt sich günstigen Falles dieses Verhalten gradezu um: jetzt er- schlafft der kathodische Ventrikelabschnitt, während der anodische sich zusammenzieht. Auch am Froschherzen gelingt es bei geeig- Bus un er de ae ME u ee Biedermann, Antagonistische Polwirkungen bei elektrischer Muskelreizung. 631 netem Verfahren die gleichen Erscheinungen wahrzunehmen. Bedient man sich der oben erwähnten unipolaren Reizmethode und lässt man den Strom grade im Beginn einer Systole durch die den bloßgelegten Ventrikel des langsam schlagenden Herzens berührende Elektrode eintreten, so sieht man als erste Wirkung schwacher Reizung regel- mäßig eine Erschlaffung in der nächsten Umgebung der Berührungs- stelle eintreten, die sich bei jeder neuen systolischen Zusammen- ziehung wiederholt, solange der Strom geschlossen bleibt. Auch hier kehrt sich die Erscheinung um, wenn man den Strom im geeigneten Momente (während der stärksten systolischen Zusammenziehung) öffnet, nachdem er vorher längere Zeit durch die das Herz berührende Elektrode ausgetreten war. Die mitgeteilten Erfahrungen lehren, dass der elektrische Strom, welcher bei direkter Einwirkung den erschlafften, ruhenden Muskel zur Kontraktion an- regt, eine schon bestehende Erregung in nicht minder sesetzmäßiger Weise zu hemmen und so eineErschlaffung des kontrahierten Muskels herbeizuführen vermag. Ja man kann sogar zeigen, dass sich diese „Hemmung“ im Herzmuskel in ganz ähnlicher Weise wie die „Erregung“ vom Orte ihrer Ent- stehung aus fortpflanzt. Da es sich in beiden Fällen um reine, nur hinsichtlich des Entstehungsortes verschiedene Polwirkungen handelt, kann man berechtigter Weise ebenso von zwei verschiedenen „Hem- mungen“, einer Schließungs- und Oeffnungshemmung oder besser einer anodiscehen und kathodischen Hemmung sprechen, wie man auch zwei gleichwertige Erregungen als Schließungs- und Oeffnungserregung unterscheidet. Um den Schlüssen, welche man aufgrund der vorerwähnten Be- obaehtungen am Herzmuskel bezüglich der Wirkungsweise des elektri- schen Stromes ziehen kann, eine breitere Grundlage zu geben, schien es wünschenswert, analoge Erscheinungen auch noch an anderen Ob- jekten und insbesondere am quergestreiften Stammesmuskel nachzu- weisen. Es ist ohne weiteres klar, dass sich in diesem Falle hem- mende Wirkungen des Stromes durch entsprechende Gestaltverän- derungen des gereizten Muskels nur dann verraten können, wenn der- selbe sich in einem gleichmäßigen, stetigen Kontraktionszustand be- findet, während andernfalls nur die gewöhnlichen Erregungserschei- nungen direkt beobachtet werden können, und es musste daher zu- nächst ein Mittel gefunden werden, eine derartige „tonische“ Erregung herbeizuführen. Tetanisieren vom Nerven aus, woran man wohl auch denken konnte, erwies sich in der Folge als ungeeignet, da- gegen führte die Vergiftung mit Veratrin schließlich zu dem ge- wünschten Ziele. Es ist seit lange bekannt, dass quergestreifte Muskeln nach Ver- giftung mit Veratrin in einen ganz eigentümlichen Zustand geraten, in dem sie jeden kurzen Reiz mit einer lang anhaltenden, tetanischen 632 Biedermann, Antagonistische Polwirkungen bei elektrischer Muskelreizung. oder wohl richtiger „tonischen* Kontraktion beantworten. Befestigt man nun ein so vorbereitetes Sartoriuspräparat im Hering’schen Doppelmyographen, indem man zugleich die Mitte des Muskels leicht klemmt, sodass beide Hälften ihre Gestaltveränderungen gesondert verzeichnen, und schließt man einen Kettenstrom von mittlerer Stärke, unmittelbar nachdem durch einen Momentanreiz der eharakteristische Veratrin-Tetanus erzeugt wurde, so sieht man die anodische Hälfte sich bei der Schließung sofort beträchtlich verlängern, während in der Regel gleichzeitig die kathodische Muskelhälfte sich noch etwas mehr verkürzt oder aber keinerlei merkliche Längenänderungen er- kennen lässt. Bei Oeffnung des Stromes treten dann günstigen Falles grade entgegengesetzte Gestaltveränderungen beider Muskelhälften ein, indem sich nun die anodische (infolge der Oeffnungserregung) deutlich verkürzt, während zugleich die kathodische stärker erchlafft, als es ohne Hinzukommen der Reizung voraussichtlich der Fall ge- wesen wäre. Wie bei dem Herzmuskel sehen wir also auch hier als Folgen der elektrischen Erregung mit dem Kettenstrome polare und zwar antagonistische Veränderungen auf- treten, die sich einerseits durch Kontraktion, anderseits durch Erschlaffung vorher kontrabierter Teile verraten. Da sich aus dem parallelfaserigen, glatten Schließmuskel unserer Anodonta- Arten mit leichter Mühe ein Präparat gewinnen lässt, das in Form und Größe etwa einem mittlern Sartorius vom Frosche ent- spricht, und wie dieser der elektrischen Reizung mittels unpolarisier- barer Elektroden zugänglich gemacht werden kann, so schien sich dieser Muskel für den vorliegenden Zweck um so besser zu eignen, als er, wie schon Bernstein fand, unmittelbar nach den bei der Präparation nötigen Eingriffen in eine außerordentlich starke und stundenlang anhaltende, tonische Kontraktion verfällt. Allein grade dieser ungewöhnlichen Intensität des „Tonus“ im Verein mit der Träg- heit aller Reaktionen bei künstlicher Reizung dürfte es zuzuschreiben, sein, dass der Erfolg hinter den gehegten Erwartungen zurückblieb, indem weder bei der Schließung noch bei der Oeffnung des Reiz- stromes eine erhebliche Verlängerung der anodischen, bezüglich ka- thodischen Muskelhälfte mittels derselben graphischen Methode nach- weisbar war, welche bei dem veratrinisierten Sartorius so überzeu- sende Resultate lieferte. Demungeachtet sprechen jedoch die später zu erörternden sekundär-elektromotorischen Erscheinungen an dem- selben Objekte ganz unzweifelhaft für das Vorhandensein polarer Hemmungswirkungen, und es dürfte lediglich der geringen Empfind- liehkeit der angewendeten graphischen Methode zuzuschreiben sein, wenn es bisher nicht gelungen ist, auch den mechanischen Erfolg der Hemmung nahzuweisen. Im übrigen bieten die schon vor längerer Zeit von Fick (Beitr. eu Be! Biedermann, Antagonistische Polwirkungen bei elektrischer Muskelreizung. 635 z. vergl. Physiologie d. irritablen Substanzen. 1863.) untersuchten Ge- staltveränderungen des elektrisch gereizten Muschelmuskels an und für sich in vieler Beziehung Interesse. Vor allem erscheint bemerkenswert, dass, solange noch ein starker Tonus des Muskels vorhanden ist, stets nur die Oeffnung eines Ket- tenstromes in sichtbarer Weise erregend wirkt, die Schließung da- gegen in der Regel ganz wirkungslos bleibt, während umgekehrt diese letztere in den Vordergrund tritt, sobald sich der Muskel in möglichst erschlafftem Zustande befindet. Hiermit steht in Uebereinstimmung, dass kurzdauernde und daher insbesondere induzierte Ströme den tonisch verkürzten Muskel auch selbst dann nicht sichtbar zu erregen vermögen, wenn sie in rascher Folge (tetanisierend) einwirken. Da- gegen gelingt es immer leicht, Tetanus des erschlafften Muskels sowohl mittels des Schlitteninduktoriums wie auch durch rhythmische Unterbrechung eines Kettenstromes zu bewirken. Letzternfalls ge- nügt hierzu schon eine sehr langsame Aufeinanderfolge von Schlie- ßungen. Sowohl die Schließungs- wie auch die Oeffnungskontraktion des Muschelmuskels entspricht auch abgesehen von dem verschiedenen zeitlichen Verlaufe nicht dem, was man bei Reizung quergestreifter Muskeln als „Zuekung“ bezeichnet; es handelt sich nicht um eine successive oder auch gleichzeitige Erregung sämtlicher Querschnitte des Muskels, sondern die betreffenden Gestaltveränderungen entspre- chen vielmehr der Schließungs- beziehungsweise Oeffnungsdauerkon- traktion quergestreifter Muskeln, indem sie sich wie diese vorzugs- weise auf die polaren Abschnitte beschränken, wie sich besonders schön bei Fixierung der Muskelmitte und gesonderter Verzeichnung der Gestaltveränderung jeder Hälfte zeigen lässt. Aus diesem Ver- halten geht schon hervor, dass die Erregung auch in diesem Falle nicht in der Kontinuität des Muskels an der Grenze jeder einzelnen Faserzelle stattfindet, sondern wie bei einem monomeren Muskel nur an der Ein- und Austrittsstelle des Stromes in beziehungsweise aus dem Gesamtmuskel. Noch deutlicher zeigt dies der Erfolg der ein- seitigen Abtötung der Faserenden, indem nach einem solchen Ein- griffe immer diejenige Stromesrichtung stärker oder allein erregend wirkt, bei welcher der Strom an dem unversehrten Muskelende aus- oder eintritt. Der Schließmuskel von Anodonta verhält sich also dem Strome gegenüber ganz ebenso, wie nach Engelmann’s Unter- suchungen der Ureter des Kaninchens und der Herzmuskel. An die mitgeteilten Erfahrungen über Erregungs- und Hemmungs- erscheinungen bei elektrischer Reizung ruhender und dauernd erregter Muskeln schließen auf das engste die Ergebnisse der Untersuchung des galvanischen Verhaltens derartiger Präparate unmittelbar nach Beendigung der Reizung an. Da sich erregte, thätige Muskelsubstanz in unmittelbarem Kon- 6534 Biedermann, Antagonistische Polwirkungen bei elektrischer Muskelreizung. takt mit unerregter zu dieser letztern negativ elektrisch verhält, so ergibt sich mit Berücksichtigung des Gesetzes der polaren Erregung als notwendige Folge, dass ein Muskel, sei es nun ein quergestreifter oder ein glatter, nach jeder elektrischen Reizung ganz abgesehen von etwaigen, physikalischen Polarisationserscheinungen, in bestimmter gesetzmäßiger Weise elektromotorisch wirksam werden muss und zwar in verschiedenem Sinne, je nachdem es sich um einen erschlaff- ten, also in relativem Ruhezustand befindlichen, oder um einen tonisch kontrahierten Muskel handelt. Nehmen wir zunächst den einfachsten Fall an, es handle sich um Reizung eines parallel-faserigen, monomeren und ruhenden Stammesmuskels, etwa des Sartorius vom Frosche, so lässt sich dem Gesagten zufolge erwarten, dass nach Oeffnung eines genügend star- ken Kettenstromes, nachdem derselbe vorher den Muskel einige Zeit in der Längsrichtung durchfloss, mittels des Galvanometers gesetz- mäßige Spannungsdifferenzen sowohl bei Ableitung von der anodischen wie kathodischen Muskelhälfte nachweisbar sein werden. (Die Fuß- punkte des ableitenden Bogens berühren hierbei die Muskelmitte und Je ein Sehnenende.) Die Oeffnungserregung an der Anode muss zur Entstehung eines in der entsprechenden Hälfte auftretenden Nach- stromes Anlass geben, dessen Richtung mit der des Reizstromes im Muskel zusammenfällt („positiv-anodische Polarisation“ He- ring’s), während die kathodischen Faserstellen teils infolge der all- mählich abklingenden Schließungserregung, teils infolge anderweitiger durch den Strom bedingter Veränderungen sich in der Regel mehr oder weniger negativ zur Muskelmitte verhalten und daher einen dem Reizstrom entgegengesetzten, negativen Nachstrom der kathodischen Hälfte bedingen werden (Hering’s „negativ-kathodische Po- larisation“). Vermeidet man die Anwendung übermäßig starker Ströme, so lassen sich, wie Hering zeigte, innerhalb der interpo- laren Strecke niemals irgend erhebliche Spannungsdifferenzen nach- weisen; eine innere, positive oder negative Polarisation im Sinne du Bois Reymond’s ist also nicht vorhanden !). Die oben beschriebenen Gestaltveränderungen des während einer systolischen Kontraktion mit dem Kettenstrom gereizten Herzmuskels lassen ein wesentlich verschiedenes Verhalten der sekundär elektro- motorischen Erscheinungen erwarten. Leider stößt aber hier die Un- tersuchung auf große, hauptsächlich in der Kleinheit des Objektes begründete Schwierigkeiten, wogegen der durch einen starken Tonus ausgezeichnete Muschelschließmuskel sich grade für diesen Zweck außerordentlich gut zu eignen scheint. Wie schon erwähnt, kann man aus dem an und für sich viel zu dieken Muskel leicht dünnere, regelmäßig geformte Streifen ausschnei- den, welche beiderseits noch mit den Schalen in Verbindung stehend 1) Vergl. Biolog. Centralblatt Bd. IV. 1885. 8. 378 ff. Biedermann, Antagonistische Polwirkungen bei elektrischer Muskelreizung. 635 Polarisationsversuche ganz in derselben Weise gestatten, wie der un- versehrte, mit Knochenstumpfen versehene Sartorius des Frosches. Ist der Muskel möglichst erschlafft, so stimmen denn auch die se- kundär-elektromotorischen Erscheinungen in allen wesentlichen Punkten mit denen überein, welche man unter gewöhnlichen Verhältnissen am Sartorius beobachtet. Infolge des sehr langsamen Abklingens der Schließungserregung erreicht jedoch der negativ-kathodische Nach- strom hier eine vergleichsweise bedeutendere Stärke. Auch bei Ab- leitung von der anodischen Muskelhälfte beobachtet man ganz wie am Sartorius bei Aussendung schwächerer Ströme oder bei kurzer Schlie- Bungszeit stärkerer nur negative Nachströme, denen sich jedoch posi- tive anschließen, sobald die Bedingungen zur Auslösung von Oefl- nungserregung gegeben sind. Bei genügender Stärke und Schließungs- dauer des Reizstromes kommt es dann wohl auch zu rein positiv- anodischer Polarisation. Durch einseitige Abtötung der Muskelenden oder Ableitung von zwei der interpolaren Strecke angehörigen Punkten lässt sich leicht zeigen, dass sowohl der positiv-anodische wie auch der negativ-kathodische Nachstrom durch polare Veränderungen des Muskels bedingt sind. Mit Rücksicht auf die Zusammensetzung des Muschelmuskels aus einzelnen Zellen ist es besonders bemerkens- wert, dass innerhalb der interpolaren Strecke stets nur vergleichs- weise unerhebliche Spannungsdifferenzen beobachtet werden, wenn man die Möglichkeit der Fortleitung der Erregung von den Polen her ausschließt. Handelt es sich nun um ein frischeres Präparat mit beträcht- lichem Tonus, so zeigt sich das galvanische Verhalten nach der Rei- zung wesentlich verschieden, und vor allem sind es starke Ablen- kungen im Sinne eines dem Reizstrom gleichgerichteten positiven Polarisationsstromes, welche unter diesen Ver- hältnissen bei Ableitung von der kathodischen Muskel- hälfte die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Fragt man nach der Ursache dieses positiv-kathodischen Nachstromes, so kann zunächst nicht davon die Rede sein, denselben im Sinne du Bois- Reymond’s als Ausdruck einer innern positiven Polarisation des ganzen Gebildes anzusehen, denn dagegen spricht nicht nur das Fehlen irgend beträchtlicher Spannungsdifferenzen innerhalb der interpolaren Strecke, sondern auch die Thatsache, dass es nach einseitiger Ab- tötung des anodischen Endes und dadurch bedingter Ausschaltung der Oeffnungserregung leicht gelingt, gegensinnige Nachströme von der Kathoden- und Anodenhälfte des Muskels abzuleiten. Berück- sichtigt man nun aber das oben beschriebene Verhalten des tonisch kontrahierten Herzmuskels gegen den elektrischen Strom und erwägt man, dass, wie sich in der That zeigen lässt, jede erschlaffte Stelle der Ventrikelwand sich positiv verhält zu jeder andern noch in Kon- traktion begriffenen, so ist leicht ersichtlich, dass das galvanische 636 Biedermann, Antagonistische Polwirkungen bei elektrischer Muskelreizung, Verhalten des mit dem Kettenstrom gereizten Herzmuskels sich ganz ähnlich dem des Muschelmuskels unter gleichen Umständen gestalten müsste, insbesondere hinsichtlich der positiv-kathodischen Polarisation. Denn es ist klar, dass, wenn nach Oeffnung des Stromes an der Ka- thode eine lokale Erschlaffung oder auch nur eine erhebliche Ver- minderung des daselbst bestehenden Erregungszustandes eintritt, dies notwendig zur Entstehung eines dem polarisierenden gleichgerichteten, also positiven Nachstromes innerhalb der entsprechenden Muskel- hälfte führen müsste. In gleicher Weise würde dann natürlich auch der negativ-anodische Nachstrom als Folge einer die Oeffnung über- dauernden anodischen Schließungshemmung (bei mangelnder Oeff- nungserregung) anzusehen sein. l Diese Auffassung musste jedoch zweifelhaft bleiben, da es nicht wie am Herzmuskel gelungen war, auch an dem Schließmuskel von Anodonta das Vorhandensein polarer Erschlaffungserscheinungen gra- phisch sicher nachweisen. Unter diesen Verhältnissen war es um so erwünschter, in dem mit Veratrin behandelten Sartorius vom Frosche ein Objekt zu be- sitzen, welches nicht nur, wie gezeigt wurde, in ausgezeichneter Weise die durch den elektrischen Strom bewirkten Hemmungserscheinungen durch entsprechende Gestaltveränderungen erkennen lässt, sondern ebensosehr auch zur Untersuchung der mit den wechselnden physio- logischen Zuständen veränderlichen sekundär - elektromotorischen Er- scheinungen geeignet ist. Behandelt man das eine oder andere Ende eines Sartorius von Rana temporaria lokal mit Veratrin und schiekt hierauf, nachdem man sich von der Abwesenheit erheblicher Spannungsdifferenzen bei Ableitung von dem vergifteten Ende und der Muskelmitte überzeugt hat, einen mäßig starken Kettenstrom für ganz kurze Zeit derart durch den Muskel, dass dessen Austritt durch das veratrinisierte Ende erfolgt, so beobachtet man bei unmittelbar darauffolgender Schließung des Bussolkreises stets eine sehr starke Ablenkung des Magneten im Sinne eines meist sehr nachhaltigen, dem Reizstrom entgegengesetzten Stromes. Es kann nicht bezweifelt werden, dass es sich hier um einen „Aktionsstrom“ im Sinne Hermann’s handelt, bedingt durch die nur langsam abklingende Dauerkontraktion des mit Veratrin be- handelten Muskelabschnittes. Reizt man gleich darauf abermals in ganz derselben Weise, während der rasch kompensierte Aktionsstrom besteht oder noch zunimmt, so erfolgt nach Oeffnung desReiz- kreises und Schließung des Bussolkreises regelmäßig ein Rückschwung des Magneten im Sinne eines gleich- gerichteten, positiven Polarisationsstromes. Nimmt die Schließungsdauer des polarisierenden Stromes über eine gewisse, bald erreichte Grenze zu, so wird der positive Ausschlag immer schwächer und schlägt endlich ins Gegenteil um. Grade wie bei den entspre- en E i \ ß | rn Biedermann, Antagonistische Polwirkungen bei elektrischer Muskelreizung. 657 chenden Versuchen am Muskelschließmuskel zeigt sich auch hier, dass Abtötung der kathodischen Faserenden das Zustandekommen des po- sitiven Nachstromes in keiner Weise behindert, während bekanntlich die positiv-anodische Polarisation wie die ihr zugrunde liegende Oeffnungserregung durch einen derartigen Eingriff dauernd vernichtet wird. Bei dem Fehlen aller inneren Polarisationserscheinungen dürfte die nächstliegende Annahme wohl die sein, dass der positiv- kathodische Nachstrom im vorliegenden Falle durch eine im Augen- blick der Oeffnung des Reizstromes sich entwickelnde Hemmung der daselbst bestehendeu Dauererregung und dadurch bewirkte relative Positivität der betreffenden Faserstellen erzeugt wird. Dies wird um so wahrscheinlicher, als hier die Gestaltveränderungen zweifellose Anhaltspunkte für eine solche Vorstellung gewähren. Es bleibt daher nur zu untersuchen, inwieweit auch andere Erfahrungen hiermit über- einstimmen. Da ist denn zunächst das Verhalten der anodischen Po- larisation bemerkenswert. Da, wie die Untersuchung der Gestaltveränderungen lehrt, die Folgeerscheinungen der unter dem Einfluss der Anode während der Schließungsdauer des Stromes erzeugten Veränderungen der erregten Muskelsubstanz mit jenen übereinstimmen, welche man unter gleichen Umständen bei Oeffnung des Stromes an der Kathode wahrnimmt, so lässt sich erwarten, dass in allen Fällen, wo an dem einseitig vera- trinisierten Sartorius positiv-kathodische Polarisation beobachtet wird, auch die negativ-anodische Polarisation in den Vordergrund treten wird, sobald der Reizstrom an dem vergifteten Muskelende eintritt. Denn von der Erfahrung ausgehend, dass eine Faserstelle um so schwerer erregt wird, in einem je höhern Grade sie es bereits ist, darf man wohl annehmen, dass auch im vorliegenden Falle die Oeff- nungserregung gegenüber der Nachwirkung der anodischen Schlie- ßungshemmung zurücktreten wird, welch letztere sich, wie leicht zu ersehen, durch einen dem polarisierenden entgegengesetzt gerichteten, negativen Nachstrom verraten muss, wie es denn auch thatsächlich der Fall ist. Mit Rücksicht auf die mitgeteilten Erfahrungen dürfte es nun wohl kaum zu bezweifeln sein, dass die sekundär - elektromotorischen Erscheinungen an dem tonisch kontrahierten Muskelschließmuskel und insbesondere die positiv-kathodische Polarisation desselben in glei- cher Weise zu deuten sind wie die entsprechenden Erscheinungen an dem mit Veratrin vergifteten Sartorius, wenn sich auch die polare Hemmung der bestehenden Erregung an dem erstgenannten Objekte nicht direkt durch entsprechende Gestaltveränderungen verrät. Es ist sehr bemerkenswert, dass die positiv-kathodische Polari- sation keineswegs auf solche Fälle beschränkt ist, wo der Muskel sich zur Zeit der Reizung bereits in einem dauernden Erregungszu- stande befindet, sondern unter Umständen auch an normalen, ruhen- 638 Biedermann, Antagonistische Polwirkungen bei elektrischer Muskelreizung. den Skeletmuskeln vorkommt und daher nicht in allen Fällen als Folge einer Erregungshemmung in dem früher erörterten Sinne ge- deutet werden kann. Schon Hering beobachtete zuweilen schwache Spuren positiv-kathodischer Polarisation an ganz frischen, unver- sehrten Sartorien von kana esculenia. Die Wiederholung dieser Ver- suche an den viel geeigneteren Muskeln von R. temporaria zeigte jedoch, dass hier unter Umständen sehr beträchtliche positive Nach- ströme bei Ableitung von der kathodischen Muskelhälfte zur Beo- bachtung gelangen, ja dass dies sogar die Regel und ein Kennzeichen gut beschaffener Präparate darstellt. Allerdings sind diese Wirkungen stets viel schwächer, als an einem in Dauererregung befindlichen Veratrinmuskel, aber bei genügender Empfindlichkeit der Bussole immerhin sehr in die Augen springend. Diese Fähigkeit normaler quergestreifter Muskeln positiv-kathodische Polarisation zu zeigen nimmt bei Wiederholung der Reizungen in der Regel rasch ab und hängt auch sehr von der Schließungsdauer des polarisierenden Stromes ab, indem sie bei Wachsen derselben zunächst doppelsinnig (erst — dann +) und bald rein negativ wird. Sie ist überhaupt eine an die möglichste Leistungsfähigkeit des Muskels gebundene Erscheinung und stimmt in dieser Beziehung mit der positiv-anodischen Polari- sation überein, ohne jedoch der gleichen Ursache wie diese ihre Ent- stehung zu verdanken. Dies geht schon daraus hervor, dass sowohl der positiv-kathodische, wie der + anodische Nachstrom ausschließ- lich durch polare und daher gegensinnige Veränderungen der Muskel- substanz bedingt werden. Es wurde schon früher erwähnt, dass die Entwicklung des + ka- thodischen Nachstromes durch Abtötung des entsprechenden Muskel- endes nicht nur nicht aufgehoben, sondern sogar oft wesentlich ge- fördert wird. Dies ist grade besonders auffallend an normalen nicht vergifteten Sartoriuspräparaten, indem hier positiv- kathodische Wir- kungen oft so zu sagen künstlich durch Verletzung des den Austritt des Reizstromes vermittelnden Muskelendes hervorgerufen werden können. Es liegt nahe, die Erscheinung dann in gleicher Weise zu deuten wie an dem einseitig mit Veratrin behandelten Muskel, näm- lich als vorübergehende Hemmung einer lokalen Dauererregung, welche hier durch den mechanischen oder chemischen Eingriff (Abquetschen der Faserenden oder Behandlung derselben mit konzentrierten Salz- lösungen) zweifellos verursacht wird und die starke Spannungsdif- ferenz zwischen Längsschnitt und künstlichem Querschnitt wenigstens teilweise mitbedingt. Unter dieser Voraussetzung verliert die That- sache, dass, wie gezeigt wurde, die positiv-kathodische Polarisation durch Abtötung der kathodischen Faserenden in keinem Falle gestört wird, sofort alles Befremdende und ergibt sich vielmehr als notwen- dige Konsequenz der hier vertretenen Anschauungen. Zu erklären bleibt nur der positiv-kathodische Nachstrom an unversehrten, ruhen- Behrens, Die Hybridisation von Salmoniden. 639 den Muskeln. Hier scheint nur die Annahme übrig zu bleiben, dass es sich um eine Reaktionserscheinung der lebenden Sub- stanz gegen die vorausgehende (Schließungs-) Erregung handelt, indem dieselben (kathodischen) Faserstellen, welche während der Schließungsdauer des Stromes zweifelsohne stark negativ gegen die Muskelschnitte sich verhielten, unmittelbar nach der Oeffnung vorübergehend eine Veränderung im entgegengesetzten Sinne erleiden, die sich galvanisch durch ein Positivwerden gegenüber anderen nicht alterierten Faserstellen verrät. Man darf wohl eine Analogie hierzu in dem bekannten Umschlagen der elektromotorischen Erregbarkeits- veränderungen des Nerven erblicken, sowie vielleicht auch in dem Umstande, dass es gelingt, die Muskelsubstanz durch Behandlung mit gewissen ehemischen Stoffen (Kali- und Natronsalze) örtlich nicht nur negativ (und minder erregbar), sondern auch positiv (und erregbarer) zu machen. Fassen wir schließlich die Ergebnisse der im Auszug mitgeteilten Untersuchungen zusammen, so zeigt sich, dass die Annahme zweier, den polaren Erregungsprozessen antagonistischer Hemmungsvorgänge, zu welcher die Beobachtung der Gestaltveränderungen des elektrisch gereizten Herzmuskels hindrängte, sich als diejenige erweist, welche auch sämtliche Folgeerscheinungen der elektrischen Reizung querge- streifter und glatter Muskeln, soweit dieselben bisher bekannt sind, in einfachster Weise zu erklären vermag. Dies gilt ebensowohl be- züglich der mechanischen Reizerfolge, wie auch hinsichtlich der elek- tromotorischen Nachwirkungen. Die positiv-anodische und negativ- kathodische Polarisation einerseits, die positiv -kathodische und nega- tiv-anodische Polarisation anderseits verdanken hiernach paarweise zusammengehörig polaren, antagonistischen Veränderungen der Mus- kelsubstanz ihre Entstehung, von denen’ die einen zu Negativität der betreffenden Faserstellen, die anderen zu Positivität derselben führen. Den ersteren entspricht als mechanischer Reizerfolg die Schließungs- und Oeffnungskontraktion, den letzteren (bei Vorhandensein eines tonischen Kontraktionszustandes) die Schließungs- und Oeffnungser- schlaffung. Während aber die bei Schließung des Stromes eintreten- den Veränderungen direkt durch diesen veranlasst sind, handelt es sich bei den Folgen der Oeffnung wesentlieh um Reaktionserschei- nungen der veränderten Muskelsubstanz selbst, und nicht nur die anodische Oeffnungserregung, sondern auch die kathodische Oeffnungs- hemmung ist in diesem Sinne zu deuten. Biedermann (Prag). Die Hybridisation von Salmoniden hat Jahre lang den Gegenstand von Untersuchungen gebildet, welche Gibson- Maitland und Day in Howietown in der Nähe von Stirling angestellt haben, und über welche der letztgenannte der British Association for the Advancement 640 Wiedersheim, Zur Notiz. of Science bei ihrer letzten Versammlung berichtete. Danach können Lachs und Forelle, Forelle und Alpenforelle und verschiedene Arten der letztern unter sich fruchtbare Bastarde erzeugen. Hybriden aus Lochleven - Forellen- Eiern, die mit Lachs-Milch befruchtet waren, setzen im 4. Jahre Eier ab, grade wie junge Lachsweibchen, die unter gleichen Verhältnissen leben. Das männ- liche Element scheint bei diesen Bastarden das Uebergewicht zu haben; ebenso scheint dies der Fall zu sein bei Bastarden, welche durch Befruchten von Lochleven-Forellen-Eiern mit der Milch der amerikanischen Alpenforelle erhal- ten waren, und ebenso bei solchen, welche die Befruchtung von Eiern der letz- tern mit der Milch der britischen Alpen-Florelle geliefert hatte. Dagegen schien das weibliche Element in den Bastarden vorzuherrschen, welche aus Eiern der amerikanischen Alpen-Forelle, mit der Milch von Lochleven-Foreilen befruchtet, hervorgegangen waren. Bei allen Bastarden zwischen verschiedenen Arten waren Fälle von Missbildung zahlreich und die Sterblichkeit groß; am geringsten stellten sich diese Uebelstände, wenn zwei Formen von Alpenforellen gekreuzt wurden; sie waren besonders sehr häufig, wenn die Tiere, welche ge- kreuzt wurden, noch jung waren. Behrens (Gütersloh). Zur Notiz. Schon vor längerer Zeit hat Herr Dr. A. Ziegler in Freiburg i./B. eine Serie von Wachsmodellen über die Entwicklung des menschlichen Herzens hergestellt. Denselben lagen die inden Ecker’schen „Erläuterungs- tafeln zum Studium der Physiologie und Entwicklungsgeschichte“ abgebildeten Präparate zu grunde, z. T. auch fußten sie auf den Bischoff’schen Arbeiten über die Entwicklung des Hundes und Kaninchens. Alle diese Modelle er- wiesen sich als recht brauchbar und hatten sich demgemäß der allgemeinsten Anerkennung zu erfreuen, allein es existierten doch da und dort gewisse Lücken; und nicht überall entsprachen sie den wirklichen Verhältnissen. Diese Mängel beruhten auf der zur damaligen Zeit noch viel unvollkommenern Technik in der Herstellung anatomischer und embryologischer Präparate, wie namentlich in der Unmöglichkeit, durch Kombination von Schnittserien ein körperliches Präparat zu rekonstruieren. Dies ist nun bekanntlich im letzten Dezennium anders geworden, und die kürzlich in 3. Lieferung erschienene Arbeit von Pro- fessor His über die „Anatomie menschlicher Embryonen“ erfüllt alle Ansprüche, wie sie an eine erschöpfende Darstellung der verwickelten Kreis- laufsverhältnisse, wie vor allem an diejenige des Zentralapparates, gestellt werden können. Herr Dr. A. Ziegler hat nun im Anschluss an das His’sche Werk und genau nach den von His selbst angefertigten Originalmodellen eine neue, aus 12 Nummern bestehende Serie von Wachs-Präparaten über die Ent- wicklungsverhältnisse des menschlichen Herzens hergestellt und dadurch aufs neue seine unerreichte Meisterschaft auf technischem Gebiete bewiesen. — Ich stehe daher nicht an, die Ziegler’schen Modelle den Fachgenossen aufs wärmste zu empfehlen und ihnen die Verbreitung zu wünschen, die sie wirk- lich verdienen. R. Wiedersheim (Freiburg). Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. ee a ie A Biologisches Gentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. v2 Band. 1. Januar 1886. Nr. 21. Inhalt: Klebs, Kritische Bemerkungen zu der Abhandlung von Hansgirg, Ueber den Polymorphismus der Algen. — Möbius, Die Niere des männlichen Seestich- lings, eine Spinndrüse. — Emery, Ueber Phylogenie und Systematik der Insekten. — Dahl, Die Fußdrüsen der Insekten. — Thorell und Lindström, Ueber einen Silurskorpion von Gotland. — Paneth, Die Entwicklung von quergestreiften Muskelfasern aus Sarkoplasten. — Spengel, Schwerkraft und Zellteilung. — Krause, Die anatomische Literatur in Italien (Nachtrag). — Sitzungsberichte der Gesellschaft für Morphologie und Physiologie in München. — Solger, Ueber das verschiedene Verhalten bestimmter Abschnitte anscheinend normalen Gelenkknorpels nach Einwirkung von absolutem Alkohol. Kritische Bemerkungen zu der Abhandlung von Hansgirg, Ueber den Polymorphismus der Algen. Botanisches Centralblatt, Bd. XXIL, Nr. 8—13; XXII, Nr. 8. Von Georg Klebs. Der Gedanke des Polymorphismus der verschiedensten niederen Organismen ist seit deren Entdeckung und näherer Beschreibung schon mehrfach in der Wissenschaft aufgetaucht und dann sehr bald seine phantastische Uebertreibung von seiten ungenau beobachtender Forscher bloß gelegt worden. So wurden die Anschauungen des ältern Agardh und von Kützing in seinen ersten Arbeiten, nach denen die verschiedensten Algen auseinander entstehen sollten, widerlegt; so wurden die längere Zeit herrschenden Ideen über den Polymorphismus der Pilze gründlichst zerstört. In neuerer Zeit hat sich der Poly- morphismus zu den Bakterien geflüchtet. Es ist ja auch natürlich, dass bei solehen Organismen, deren Lebenserscheinungen, deren innere Organisation sehr wenig bekannt sind, bei denen wesentlich rein äußerliche morphologische Kennzeichen als Art- und Gattungscharak- tere, die dann in der That auch vielfach variieren, benutzt werden, es sehr bequem ist, aufgrund der Variation eben dieser Kennzeichen sogenannte Uebergangsformen zu finden und mit Hilfe dieser die natürlich in gewisser Verwandtschaft zu einander stehenden, sonst 41 642 Klebs, Kritische Bemerkungen. aber ganz verschiedenartigen Organismen zusammenzuwerfen. Das sorgfältige Studium der Bakterien in neuerer Zeit hat aber auch bei diesen inbetreff der Frage des Polymorphismus Klarheit gebracht. Es gibt Arten unter ihnen, welche sich sehr konstant unter verschie- denen Lebensbedingungen erhalten und deren Entwicklungsgang in demselben gleichen und sehr einfachen Rythmus bei den zahllosen auf- einanderfolgenden Generationen sieh abspielt. Es gibt andere Arten, bei welchen das Gleiche stattfindet, aber die Entwieklung in mehreren dureh verschiedene Formausbildung charakterisierten Phasen verläuft. Unter diesen Arten mit einförmigem oder vielförmigem Entwicklungs- gang kommen nun immer auch solche vor, die in manchen ihrer Eigen- schaften vielfache Variationen zeigen, und diese Variabilität kann teils auf inneren Ursachen beruhen, teils im bestimmten notwendigen Zusammenhang mit der Veränderung gewisser äußerer Lebensbedin- gungen stehen. Wenn wir aber zwei nah verwandte Formen beobach- ten und deren Zusammengehörigkeit zu einer Art entweder als ver- schiedene Glieder in dem EntwicklJungsgange derselben Species oder als verschiedene Anpassungsformen von ihr nachweisen wollen, gibt es nur einen einzigen wissenschaftlichen Weg dazu, und derselbe be- steht in der Ueberführung der einen Form in die andere auf dem Wege der Kultur. Diese Umwandlung muss an einem und demselben Individuum direkt und kontinuierlich von Anfang bis zu Ende ver- folgt werden. Ist die Kulturmethode in der Weise ausgebildet, dass auch von anderer Seite diese Umwandlung herbeiführt werden kann und ist die Nachprüfung geschehen, dann und nur dann wird man den genetischen Zusammenhang zweier bisher gesonderter Formen als be- wiesen ansehen. Diese Darlegung ist eigentlich selbstverständlich und oft genug schon betont worden, aber wenn man sieht, wie fort und fort bis in die neueste Zeit dagegen gesündigt wird, kann es nicht schaden, wenn man immer wieder den angeführten Weg als den einzig rich- tigen hervorhebt und dann mit aller Schärfe gegen die auf oberfläch- licher Beobachtung, kritikloser Methode sich gründenden Behauptungen von einem weitgehenden Polymorphismus der niederen Organismen vorgeht. Die vorliegende Arbeit von Hansgirg, einem Forscher, der sich seit langer Zeit speziell mit Algen beschäftigt hat, gibt Anlass zu den obigen Bemerkungen. Der Verfasser klagt über die jetzt herrschende Stagnation in der modernen Algologie und beabsichtigt, neuen Fluss in dieselbe zu bringen, indem er die „bahnbrechenden genialen“ Ideen von Agardh, Kützing, Itzigsohn wieder zur Herrschaft bringen will. Das Hauptresultat seiner Untersuchungen besteht darin, dass der gesamte Formenreichtum der Algen sich in eine relativ kleine Anzahl von Arten gliedert, von denen jede eine große Mannigfaltig- keit von Formen umschließt, die bisher in besonderen Arten, ver- schiedenen Gattungen, ja Familien und Algenklassen getrennt worden Klebs, Kritische Bemerkungen. 645 sind. Am genauesten untersuchte Hansgirg bisher die blaugrünen Phycochromaceen und die chlorophyligrünen Chlorophy- eeen, und nimmt für die ersteren 14, für die letzteren etwa 12 solcher formenreicher Arten an. Ausführlich beschreibt der Verfasser die Formenreihe von Seytonema Hofmanni var. Julianum; zu ihr gehören ungefähr 40 bisher als verschieden angesehene Arten, darunter Arten der Gattung Stigonema (1), Lyngbya (8), Nostoce (1), Chroococeus (T), Gloeothece (3), Gloeocapsa (8), @loeocystis (!) (1), Aphanocapsa (6). Gegen die Begründung dieses weitgehenden Polymorphismus lässt sich folgendes einwenden. 1) Aus der Darlegung des Verfassers geht hervor, dass er in keinem einzigen Falle direkt unter dem Mikroskop die eine Form auf dem Wege der Kultur in die andere übergeführt hat. Vielmehr hat er sich, wie Agardh, Kützing, die Pilzpolymorphisten damit be- gnügt, dass die verschiedenen Formen von Chroococeus, Lyngbya, Nostoc ete. an denselben Standorten vorkommen. Es bedarf keines Wortes mehr, um die Haltlosigkeit einer so begründeten Behauptung nachzuweisen. Nun beruft sich der Verfasser aber auch auf Ueber- gangsformen zwischen den von ihm als zusammengehörig betrachteten Arten. Nun, bei den Phycochromaceen liegt es ähnlich wie bei den Bakterien, auch bei den ersteren sind die inneren Organisationsver- hältnisse noch in tiefes Dunkel gehüllt, die Lebenserscheinungen noch weniger als bei den Bakterien bekannt. Die unterscheidenden Merk- male beziehen sich auf die äußere Gestalt der Zellen, die Art ihres Verbandes, der Scheidenbildung, Verzweigung. Manche dieser Charak- tere variieren wohl in der That, aber wir wissen bei den wenigsten Phycochromaceen, in welchem Umfange diese Variation eintritt, welche Arten variabel sind, welche es nicht sind. Auch hier können nur Kulturen unter experimentell veränderten, möglichst verschiedenen Lebensbedingungen über die Art und die Grenzen der Variabilität einer bestimmten Form Aufschluss geben, nicht aber die oberfläch- liche Vergleiehung der an demselben Standort vorkommenden, unge- fähr ähnlichen Formen. Der Verfasser hat sich die Sache sehr be- quem gemacht. So will er z. B. nachweisen, dass das stets rot ge- färbte Porphyridium eruentum, dessen Stellung zu den Phycochromaceen noch durchaus nicht unzweifelhaft ist, sich in die blaugrüne Lyngbya antliaria umwandle. Und der Beweis für dieses, wenn richtig, höchst merkwürdige Phänomen, das im Widerspruch steht zu der so viel- fältig beobachteten Thatsache, dass die Farbstoffe für die Algen sehr charakteristisch sind, so dass darnach ganze Klassen unterschieden werden? kein Kulturnachweis, keine Untersuchung der betreffenden Farbstoffe nach irgend welcher Riehtung; dabei tritt noch bei den beiden weit von einander stehenden Organismen ein Unterschied her- vor, der nach unsern jetzigen Erfahrungen noch als sehr groß ange- sehen werden muss. Nämlich Porphyridium besitzt nach Entdeckung Az 644 Klebs, Kritische Bemerkungen. des Verfassers selbst geformte rote Chromatophoren, die Lyngbya da- gegen diffus verteiltes Phycochrom; doch lässt der Verfasser ohne Bedenken, ohne auch nur auf diese ebenfalls merkwürdige Erschei- nung aufmerksam zu machen, beide Formen sich in einander um- wandeln. Es kostet ja auch keine mühsamen Kulturversuche, die flüchtige Vergleichung genügt. 2) Der Verfasser hat sich nicht Klarheit verschafft über den Unter- schied jener Formen, welche notwendige Glieder des Entwicklungs- ganges sind, von jenen, welche Anpassungsformen an bestimmte äußere Verhältnisse sind. Er hebt ausdrücklich an einer Stelle hervor, dass seine Arten (mit den 40 Unterarten) konstant seien, dass dieselben im Laufe des Jahres den großen von ihm angenommenon Kreis von Formen durchmachen, die letzteren darnach als regelmäßige Stufen der Artentwicklung erscheinen. Im Widerspruch damit drückt er sich in der Arbeit an verschiedenen anderen Stellen in der Weise aus, dass man vermuten muss, dass er die Unterarten nur als Anpassungsformen ansieht. Mehrfach heißt es, dass Wechsel der Temperatur, der Ein- fluss verschiedener Feuchtigkeitsgrade in der umgebenden Luft, des Substrates, intensives Sonnenlicht u. s. w. die verschiedenen Formen der Scytonema Hofmanni wie Stigonema, Nostoc, Chroococcus direkt hervorrufe. Irgend ein Versuch ist nicht gemacht worden, diese Be- hauptungen sind willkürlich, schweben in der Luft. Dabei stört den Verfasser nicht die von ihm selbst gemachte Angabe, dass diese Formen häufig dicht nebeneinander an den feuchten Wänden von Treibhäusern vorkommen, wo die äußeren Bedingungen jedenfalls in hohem Grade die gleichen sind, so dass ein äußerer Grund für die Umwandlung nicht vorhanden ist. Der Verfasser geht über diese Widersprüche mit unbehinderter Leichtigkeit hinweg. 3) Obwohl der Verfasser uns glauben machen will, dass die ver- schiedenartigsten Formen wie Chroococcus, Nostoc, Stigonema ete. zu einer Art zusammengehören, behauptet er zugleich, dass zwei ein- ander ganz nahe stehende, nur als Varietäten derselben Art unter- schiedene Algen die Endpunkte zweier ganz verschiedener großer Formenreihen sind. So unterscheidet er ein Scytonema Hofmanni var. Julianum mit 38 Arten, und ein Scytonema Hofmanni var. genuinum mit 22 Species, die letzteren von den ersteren sehr verschieden, oft besonderen, bisher scharf getrennten Gattungen angehörend. Nichts zeigt besser die gänzliche Willkürlichkeit in dem Verfahren des Ver- iassers, den Mangel an wissenschaftlicher Methode, als diese sehr un- wahrscheinlichen, vor allem ganz unbegründeten Behauptungen. So viel wird aus dem Vorstehenden klar geworden sein, dass die Anschauungen des Verfassers über dan Polymorphismus der Phyco- chromaceen wegen des mangelnden Beweises zu verwerfen sind, dass sie infolge dessen hoffentlich dasselbe Schicksal wie die wieder ans Licht gezogenen Ansichten von Agardh, Kützing haben werden, "> a a Klebs, Kritische Bemerkungen. 645 nämlich unberücksichtigt zu bleiben. Denn statt unsere Kenntnis zu för- dern, vermehren solehe Ideen nur die schon herrschende Verwirrung auf dem Gebiete der genannten Algen. UmKlarheit und Ordnung in dieselben hinein zu schaffen, gibt es nur den Weg, dass man von ganz wenigen Formen ausgeht, dieselben vor allem rein kultiviert, Jahre lang ihrer Entwicklung nach verfolgt, ihre Variabilität aus inneren Ursuchen wie im Zusammenhange mit bestimmten äußeren Bedingungen erforscht. Es ist ja unzweifelhaft, dass zahlreiche Arten von Kützing u. a. zu streichen sein werden, dass es auch unter diesen Algen sogenannte pleomorphe, reichgegliederte Arten gibt. Aber ohne langwierige, von steter scharfer Selbstkritik geleitete Untersuchungen ist der Nachweis nicht durchzuführen. In ganz derselben Weise wie für die Phycochromaceen ver- sucht der Verfasser auch seine polymorphistischen Ideen auf die Chlorophyceen zu übertragen. Hier, wo es sich schon um besser bekannte Verhältnisse handelt, tritt der Mangel jener wissenschaft- lichen Begründung, die rein willkürliche Konstruktion seiner Formen- reihen noch viel schärfer hervor. Näher darauf einzugehen, ist nach dem Gesagten nicht nötig. Der Verfasser hat aber noch einen besondern Anhang zu seiner Arbeit veröffentlicht, worin er sich auch auf das Gebiet der Flagel- laten hinwagt, und das möge eine noch speziellere Beleuchtung er- fahren. Darin hat er ganz recht, wenn er sagt, dass die bisherigen Beobachtungen über Schwärmsporen der Phycochromaceen noch zweifel- hafter Natur sind. Aber was er seinerseits dafür anführt, ist noch sehr viel zweifelhafter. Er hat zusammen mit Oseillaria-Arten, z. B. O. Froehli- chii, blaugrüne Monaden beobachtet, welche er nun, ohne ihre Entstehung aus Öseillarienfäden, noch ihr Heranwachsen zu solchen wirklich gesehen zu haben, einfach für die Schwärmsporen der betreffenden Algen an- nimmt. Allerdings zeigt er noch eine gewisse Vorsicht, indem er für diese Wesen, trotzdem dass er sie für Schwärmsporen hält, eine neue Gattung gründet, nämlich Chroomonas. Bei der ganz allgemein ge- haltenen Beschreibung und dem Mangel einer Abbildung ist es nicht möglich ein Urteil zu gewinnen; vielleicht sind es schon längst be- kannte blaugrüne Flagellaten. Jedenfalls spielen aber diese zweifel- haften Schwärmsporen noch eine besondere Rolle bei dem Verfasser, insofern sie ihm zu der großen Entdeckung verholfen zu haben scheinen, dass die Euglenen, diese bekannten grünen Flagellaten, sich in die blaugrünen Oseillarien umwandeln können. Es wäre eine ganz interessante, wenn auch nicht sehr erfreuliche und für die biologischen Wissenschaften schmeichelhafte Aufgabe historischer Schilderung, die Beobachtungen darüber zusammenzustellen, aus welchen anorganischen oder organischen Substanzen, aus welchen pflanzlichen oder tierischen Organismen im Lauf der Zeiten die Entstehung dieser grünen Euglenen schon gesehen worden ist. Noch fort und fort bis in die neueste Zeit 646 Klebs, Kritische Bemerkungen. wird die Geburt der Euglenen aus den verschiedensten Dingen beob- achtet. So hat vor einigen Jahren Ge&eza Entz sie aus den kleinen Algenzellen hervorgehen und sich in dieselben umbilden gesehen, welche in Symbiose mit Infusorien leben. Wigand hat ganz kürzlich die Entstehung der Euglenen aus Amöben bemerkt, die selbst wieder aus Protoplasma von Pflanzenzellen sich gebildet haben. Jetzt erscheint Hansgirg und lässt die Euglenen in Oseillarien sich umwandeln bezw. aus denselben entstehen. Wenn es sich um die außerordentlich kleinen und schwierig zu untersuchenden Bakterien handelte, würde man bei solchen IImwandlungsbeobachtungen sich begnügen, auf den Mangel an genügendem Nachweis aufmerksam zumachen. Wenn Forscher, die den betreffenden Verhältnissen ferne stehen, solche Behauptungen aufstellen, wird man nicht viel Aufhebens machen. Wenn aber jemand, der sich seit vielen Jahren mit niederen Organismen beschäftigt hat, eine solehe Umwandlung der relativ großen und wohl bekannten Euglenen gesehen haben will, muss die Kritik etwas schärfer ihn an- fassen. Entweder ist nun die Beobachtung des Verfassers richtig; dann ist sie eine der merkwürdigsten und interessantesten, die seit lange gemacht ist — oder sie ist unrichtig; dann hat sich in diesem Falle der Verfasser Täuschungen sehr grober Art zu schulden kom- men lassen. Nun verweist er allerdings auf eine später erschei- nende ausführliche Arbeit, und das endgiltige Urteil muss bis dahin verschoben werden. Jedoch ist die Art und Weise der Begründung, die der Verfasser uns jetzt schon gibt, eine derartige, dass sie ein nur zu klares, scharfes Licht auf seine Arbeit wirft. Statt dass er uns in kurzen Worten einige der Uebergangszustände von Euglenen in Oseillarien schildert, z. B. eine Euglene mit diffus verteiltem Phyco- chrom, eine Oseillarie mit Augenfleck, kontraktiler Vakuole, Paramy- lum, versucht der Verfasser uns seine Behauptung dadurch glaubhaft zu machen, dass er uns bloß auf die Analogien zwischen Euglenen und Oseillarien hinweist und entwickelt hiebei eine ziemliche Unkenntnis längst bekannter Verhältnisse. Er beruft sich auf die gleiche Art der Bewegung, obwohl cie Erscheinungsform derselben, das Hin- und Herkriechen der ziemlich starren Fäden und die Metabolie, sowie Schwärmbewegung der Euglenen so verschieden als nur möglich ist, er beruft sich auf die Teilung, die bei beiden solche Verschiedenheiten zeigen, wie sie bei niederen Organismen kaum größer gedacht werden können; ja er beruft sich auf jene zweifelhaften blaugrünen Monaden als Uebergangsformen zwischen Euglenen und Oseillarien und findet schließlich darin Analogie zwischen beiden, dass beide keine Stärke besitzen und keine geschlechtliche Befruchtung zeigen (!!). Mag seine Behauptung richtig sein oder nicht, diese Art der Begründung bleibt in allen Fällen ein Zeichen von Unkenntnis und vor allem Urteils- losigkeit. Um nun dem voraussichtlich erfolgenden Einwurf des Ver- fassers gleich zu begegnen, dass seine bahnbrechenden Ideen nur in Möbius, Niere des männlichen Seestichlings. 647 den traditionell festgesetzten Anschauungen der beschränkten Mitwelt bezw. des Kritikers den Hauptwiderstand finden, mag noch hervor- gehoben werden, dass es sich nicht um die prinzipielle Bekämpfung des Polymorphismus an und für sich handelt. Es handelt sich hier auch nicht um die Unrichtigkeit einzelner Beobachtungen, die jedem passieren kann, sondern darum, dass der Verfasser mit Pathos zur Aufwühlung der „stagnierenden“ modernen Algologie zu Mitteln greift, die infolge des Mangels einer wissenschaftlichen Arbeit sich nicht halthar erweisen und leicht zerbrechlich sind, sodass es nicht wunder nehmen kann, wenn er selbst dabei verwundet wird. Die Niere des männlichen Seestichlings, eine Spinndrüse. K. Möbius, Ueber die Eigenschaften und den Ursprung der Schleimfäden des Seestichlingnestes. In: Arch. f. mikrosk. Anat. Bd. 25 1885. Mit 1 Taf. Der Seestiehling (Spinachia vulgaris Flem.) baut ein Nest aus verschiedenen Seepflanzen, welche im flachen Wasser wachsen. Es hat eine sphärische Form und ungefähr 5—8 cm Durchmesser und wird an größeren lebenden Pflanzen oder an den Holzpfählen der Uferbauten befestigt. Im westlichen Gebiete der Ostsee werden diese Nester im Mai und Juni in der Seegrasregion angelegt und mit 150 bis 200 Eiern, die in mehrere Klumpen geteilt sind, versehen. Die Pflanzenmasse des Nestes und die Eierklumpen sind von weißen Fä- den umsponnen, welche 0,12—0,13 mm Durchmesser haben. Diese bestehen aus aneinandergeklebten Strängen, die wiederum aus sehr feinen parallelen Fäden zusammengesetzt sind. Der Spinnstoff tritt in der Fortpflanzungszeit aus der männlichen Harn-Genitalöffnung als eine klebrige Masse hervor, die sich leicht in Fäden ausziehen lässt und dann erstarrt. Das Stichlingsmännehen braucht also nur seine Harn- Geschlechtsöffnung einen Augenblick gegen das Nest zu drücken und dann um dieses herumzuschwimmen, wenn es spinnen will. Die Bildungsstätte des Nestfadenschleimes sind die Harnkanälchen der Niere; das Reservoir für gebildeten, aber noch nicht verwendeten Schleim ist die Harnblase. Sowohl die Nieren wie die Harnblase des Männchens sind in der Fortpflanzungs- zeit auffallend vergrößert. Nach seinen chemischen Eigenschaften schört der Spinnstoff zu den Mucinen. Kochende konzentrierte Salzsäure färbt ihn violett und löst ihn dann auf. In siedender Sal- petersäure wird er gelb, aber nicht gelöst. In kochender Essigsäure ist er ebenfalls unlöslich. In Kalilauge wird er aufgelöst. Aus dieser Lösung wird er durch tropfenweis zugesetzte Essigsäure weiß gefällt, in überschüssiger Essigsäure aber wieder aufgelöst. Siedendes Baryt- wasser löst ihn auf, siedendes Kalkwasser aber nicht. 648 Emery, Phylogenie und Systematik der Insekten. Für den Nachweis der Bildungsstätte des Spinachia- Mueins lie- ferten die lehrreichsten Schnittpräparate Nieren, welche zwei Tage in zweiprozentiger Osmiumsäure und dann in Alkohol gehärtet, und darauf mit Celloidin durehtränkt wurden, um die Fäden in den Harn- kanälchen festzuhalten. In den mittels Mikrotom hergestellten Quer- und Längsschnitten durch alle Teile der Niere findet man nach Be- handlung mit Hämatoxylinlösung Harnkanälchen von verschiedener Beschaffenheit. Einige bestehen aus lauter typischen Epithelzellen mit deutlichen runden Kernen und tragen Flimmerwimpern; andere enthalten neben solchen Zellen ungefärbte Zellen mit abgeflachten, der Basis näher gerückten Kernen, und sind an ihrem freien Ende mit einem hellen Schleimpfropf besetzt. In manchen Harnkanälchen sind sämtliche Epithelzellen mit einer blaugefärbten körnigen Masse gefüllt, die aus ihren Lumenenden hervordringt und sich gegen die Axe des Kanälchens in feine schwarzgefärbte Fäden verwandelt, welche sich zu Strängen vereinigen. Noch andere Harnkanälchen enthalten neben typischen Epithelzellen auffallend schmächtige ganz geschwärzte Zellen, deren Inhalt in Fadenform in das Kanälchen hineinfließt und sich mit anderen Fäden im Zentrum des Kanälchens zu einem Strange vereinigt. Aus diesen Befunden geht hervor, dass die Epithelzellen der Harnkanälchen, wenn sie Spinnfadenschleim bilden, folgende Um- wandlungen erleiden. Der Kern wird flach und rückt an die Basis der Zelle. In den Hohlräumen des protoplasmati- schen Wabengerüstes entsteht zunächst eine Substanz, welche durch Hämatoxylin nicht gefärbt wird (Mucigen); diese geht über in eine durch Hämatoxylin intensiv blau werdende Substanz, welche sich endlich in einen körn- chenfreien hyalinen Schleim verwandelt, den Hämatoxy- lin nicht färbt, den aber Osmiumsäure schwärzt. Hier- nach verhalten sich die schleimbildenden Epithelzellen der Harn- kanälchen männlicher Seestichlinge ebenso wie die Zellen echter Schleimdrüsen. Nach der Fortpflanzungszeit vermindert sich das Volumen der männlichen Nieren und der Harnblase wieder und diese enthält dann bloß Harnflüssigkeit, während sie in der Brutzeit vorzugsweise mit Schleim angefüllt ist. K. Möbius (Kiel). Ueber Phylogenie und Systematik der Insekten. F. Brauer, Systematisch-Zoologische Studien. 1) System und Stammbaum. — 2) Die unvermittelten Reihen in der Klasse der Insekten. — Sitzungsberichte d. k, Akad. d. Wiss. in Wien, XCI. Bd., 1. Abt, S. 237 — 284. Trotz der äußerst umfänglichen und täglich sich häufenden ento- mologischen Literatur und der großen Zahl der Entomologen sind wir Emery, Phylogenie und Systematik der Insekten. 649 noch davon weit entfernt, eine gründliche Kenntnis der Organisation der verschiedenen Insektengruppen zu besitzen. Dieser Mangel hat einerseits wohl seinen Grund in der ungeheuern Menge des zu über- wältigenden Materials, anderseits aber auch in den oberflächlich ge- haltenen Arbeiten, durch welche oft nieht einmal das äußere Chitin- skelet eingehend dargestellt wird. Diese Umstände bereiten der phylo- genetischen Forschung große Schwierigkeiten. Eine weitere Schwierig- keit erwächst dem Phylogenetiker aus der Seltenheit und schlechten Erhaltung der paläozoischen fossilen Insekten, deren wenige Formen meist nur durch Flügel bekannt sind, aus welchen wir per analogiam auf die Beschaffenheit des übrigen Körpers zu schließen genötigt sind. — Aber grade solche Schlüsse sind an Tieren aus so weit gelegenen Zeitperioden sehr bedenklich und wohl oft trügerisch. Es wurden in neuerer Zeit viele Insektenstammbäume aufgestellt, die meisten leider auf Gestalts-Aehnlichkeiten und anderen oberfläch- lichen Merkmalen, also auf sehr schwacher Basis gegründet. Solche Versuche, selbst wenn sie von sonst kompetenten Autoren gemacht sind (z. B. von Packard), wollen wir gänzlich übergehen. Dagegen verdient die vorliegende Brauer’sche Arbeit ganz besonders berück- sichtigt und kritisiert zu werden. In derselben hat B. versucht, die bisherigen Resultate entomologischer Forschungen für ein natürliches System der Insekten zu verwerten. Die in den Lehrbüchern aufgeführten Ordnungen an Insekten ent- sprechen sehr ungleichwertigen Abteilungen der Klasse und enthalten zum Teil sehr heterogene Formen. Einige davon (Orthopteren, Neurop- teren) sollten deshalb nach B. verteilt werden; nur dadurch würde es möglich, diese Ordnungen scharf zu charakterisieren und ferner ihre natürlichen Affinitäten zu prüfen. — Bei dieser Verteilung wer- den besonders das Chitingerüst des Thorax, die Flügelmuskulatur, der Bau der Flügel und Mundteile, die Stellung des Mundes am vor- dern Ende des Kopfes (orthognath) oder unter dem Kopf (hypognath), die Zahl der Malpighi’schen Schläuche und die Metamorphose in Anspruch genommen. B. betrachtet die Thysanuren (inel. Collembola) als ursprünglich flügellose Insekten und trennt sie als Apterygogenea von den übrigen geflügelten oder erst sekundär flügellos gewordenen Pterygogenea. Gegen eine solche bereits von anderen Autoren gehegte Anschauung ist wohl nichts einzuwenden, nur möchte Ref. hervorheben, dass die meisten Thysanuren in ihrer Organisation deutliche Zeichen stattge- fundener Reduktion zeigen: das Fehlen der Malpighi’schen Schläuche in vielen Formen ist gewiss kein primitives Verhältnis, denn, falls die Tracheaten eine monophyletische Gruppe bilden, so sollte die ge- meinsame Stammform der Arachniden, Myriopoden und Insekten die charakteristischen Exkretionsorgane bereits besessen haben. Es lässt sich aber an der Hand der vorliegenden Beobachtungen nicht be- 650 Emery, Phylogenie und Systematik der Insekten. stimmen, auf welcher Höhe der Ausgangspunkt dieser Rückbildungen gelegen war. Wahrscheinlich sind auch die Punktaugen der meisten Thysanuren auf reduzierte zusammengesetzte Augen zurückzuführen, ähnliche Fälle kommen auch bei Coleopteren (Rhysodiden) und Ameisen (keiton) vor. Als Pterygogenea betrachtet B. alle ungeflügelten Metabola (Pulici- dae ete.); unter den Ametabola die Mallophaga und Pedieulidae, indem er hier die ungleiche Entwicklung der Thorax - Segmente auf frühern Flügelbesitz zurückführt. Um letztern Satz unbedingt festzustellen, wäre es doch wichtig nachzuweisen, dass in der Organisation dieser Tiere keine aktuellen Verhältnisse bestehen, welche die vorwiegende Entwicklung des Meso- bezw. Metathorax bedingen könnten. Inbezug auf die Pterygogenea-Gruppe bemerkt B. sehr treffend, dass, während bei den meisten die Jungen mit beißenden Mundteilen geboren werden, welche entweder zeitlebens als solche bestehen (Menognatha) oder sich später in saugende verwandeln (Metagnatha), die Rhynchoten allein (inkl. Pedieuliden) schon in der embryonalen Entwicklung einen stechenden Rüssel bilden (Menorhyncha). Diese sonst in jeder Beziehung sehr gut abgegrenzte Ordnung tritt dadurch in scharfem Gegensatz zu allen übrigen Hexapoden auf und soll sich deshalb sehr frühzeitig vom Stamm abgegliedert haben. Unter den Meno- und Metagnatha werden Ametabola (mit Hemi- metabola) und Metabola unterschieden, erstere als eine ältere Formen- reihe, aus welchen die Metabola ein- oder mehrstämmig entstanden sind. Die höchst heterogene Ordnung der Orthopteren (im Sinne Gerstäcker’s) wird in mehrere geteilt: Dermatoptera, Ephe- merina, Odonata, Pecoptera (Perlidae), Orthoptera genuina, Corrodentia (Termitina, Psocina, Mallophaga) und Thysanoptera werden also als eigne Ordnungen betrachtet, wobei besonders die Thoraxverhältnisse und die Zahl der Malpighi’schen Schläuche als charakteristisch aufgeführt werden. Unter den Metabola werden die Neuropteren besonders nach den Larvenformen in drei neue Ord- nungen geschieden: Neuroptera sensu str. (Planipennia), Panor- patae und Triehoptera; die Flöhe nach Kräpelin als Sipho- naptera von den Dipteren getrennt. Die Hymenopteren werden als Metabola polynephria wegen der zahlreichen Harngefäße den übrigen Metabola oligonephria gegenübergestellt. — Diese Vermehrung und Spezialisierung der Ordnungen scheint besonders für die Ameta- bola gerechtfertigt, sie gibt uns wenigstens bestimmtere Anhaltspunkte zu weiteren Betrachtungen. Die einzelnen von B. charakterisierten Ordnungen erscheinen als in sich abgeschlossene Gruppen und bieten keinerlei bestimmte Ueber- gsangsformen zu einander, sie bilden etwa parallele Reihen oder End- zweige längst abgetrennter Aeste des gemeinsamen Stammbaums; leider haben uns die bis jetzt bekannten fossilen Insekten über die Emery, Phylogenie und Systematik der Insekten. 651 gemeinsamen ausgestorbenen Grundformen keinerlei Notizen gegeben. Deshalb kommt Verf. auch nicht zur Aufstellung eines bestimmten Stammbaums, sondern nur zur Feststellung von Gruppen, welche auf einen gemeinsamen Ursprung hinzuweisen scheinen; die Pterygoge- nea ametabola haben sich aus Formen der Apterygogenea- Gruppe entwickelt. Erstere haben sich getrennt mn Menorhyneha (Rhynchota) und Menognatha, unter welchen letzteren die Ephe- meridea, Odonata und Pecoptera als Amphibiotica wohl eine natürliche Gruppe bilden mögen. Von diesen sind die Odonata am weitesten differenziert und unter allen Insekten am vollkommensten dem andauernden Fluge angepasst, was sich besonders in der voll- ständigen Unterdrückung der indirekten Flügelmuskulatur kund gibt. Die Ephemeriden und Dermatopteren scheinen in der doppelten Ge- schleehtsöffnung ursprüngliche Verhältnisse bewahrt zu haben; gleiches thun die Perliden inbezug auf die im Imago bleibenden Tracheen- kiemen. Bei letzteren, sowie bei Termitinen ist die Bauchplatte des ersten Hinterleibsringes rudimentär oder fehlend, ein Verhältnis, wel- ches bei Metabolen sehr verbreitet ist. Unter den Metabolen-Insekten stehen die Coleopteren als beson- dere abweichende Gruppe da und lassen sich mit keiner andern Ordnung verbinden. Dagegen können zwischen Neuroptera, Pa- norpata, Triehoptera, Lepidoptera und Diptera, besonders durch das Studium der Metamorphose, Affinitäten nachgewiesen wer- den, wodurch dieselben zu einer höhern Abteilung als Petanoptera sich verbinden lassen. — Es besteht nämlich bei den Panorpata, Tricho- ptera und Lepidoptera eine besondere Larvenform, welche bei Schmet- terlingen als Raupe (Larva erueiformis) allgemein bekannt ist und sich durch ihren zylindrischen mit sechs Thorakalbeinen, einem Paar Analfüßen und gewöhnlich noch mehreren Paaren Abdominalfüßen versehenen Leib auszeichnet; unter den Neuropteren haben auch die Larven von Corydalis ein Paar Analfüße, wodurch sie sich den Tricho- pteren-Larven anschließen. Was die Dipteren betrifft, so zeigen einige Culieiden-Larven Rudimente von Thorakal- und Abdominalfüßen, welche vermutlich auf die gleichen raupenartiger Larven zurückzuführen sind; auch die Mumienpuppe einiger Culieiden deutet auf eine damalige Verbindung der Dipteren mit den Lepidopterenstamm. Sehr bedeu- tend ist für die Beziehungen der Lepidopteren zu anderen Ordnungen die Thatsache, dass bei den niedersten Formen, den Tineiden, die Mandibeln im Imago-Stadium und noch deutlicher in der zum Teil freigliedrigen Puppe deutlich entwickelt sind, was auf kauende Vor- fahren weist; die höheren Makrolepidopteren scheinen gar keine Man- dibeln mehr zu besitzen, und ihre Puppe ist eine typische Mumien- puppe oder Chrysalis. Die bei Tineiden wie bei Panorpaten und Trichopteren reduzierte erste Bauchplatte des Abdomens erscheint bei den Makrolepidopteren wieder, und zugleich tritt der Metathorax gegen 652 Emery, Phylogenie und Systematik der Insekten. den Mesothorax an Umfang hedeutend zurück. Diese auf geringere Leistung der Hinterflügel bezügliche Erscheinung erreicht ihre höchste Entfaltung bei den Dipteren, wo infolge des Mangels dieses Flügel- paares der Metathorax selbst stark reduziert ist. Von einem frühern mandibulaten Zustande behalten unter den Dipteren nur die Larven der Orthorhaphen noch einen beißenden Mund. Die Hymenoptera trennt B. von den übrigen Metabolen wegen des Besitzes zahlreicher Harngefäße. Dieser Satz scheint Ref. aus weiter aufzuführenden Gründen nicht gerechtfertigt, und es scheinen ihm die raupenartigen Larven der Phytophaga (wie auch von Walter hervorgehoben wurde) für eine innigere Verwandtschaft mit der Petano- pteren-Gruppe zu sprechen. Auch dürfte der gleiche Bau der Haft- lappen an dem Tarsus von Hymenopteren und Lepidopteren auf eine nahe Verwandtschaft beider Ordnungen hindeuten. Es bleiben uns noch die Siphonaptera übrig, welche B. mit vielen Zweifeln an die Petanopteren-Gruppe anreiht. Obschon ihre drei Thorax- segmente gleich gebildet sind, dürfen die Flöhe nur auf geflügelte Ahnen zurückgeführt werden, da sonst keine ursprünglich flügellosen Metabolen bekannt sind; auch scheint der Mangel einer Bauchplatte am ersten Abdominalsegment auf einen geflügelten Zustand hinzu- deuten, umsomehr, als ähnliche Thoraxverhältnisse bei flügellosen Hymenopteren (Ameisenarbeiter, Feigeninsekten- Männchen) bekannt sind. An eine nähere Verwandtschaft mit Dipteren ist inbezug auf den ganz verschiedenen Thoraxbau und nach den schönen Unter- suchungen Kräpelin’s über die Mundteile nicht zu denken. B. spricht die Vermutung aus, es könnten die Flöhe vielleicht sich den Coleo- pteren anschließen, unter welchen der schmarotzende Platypsyllus Castoris mit Puliciden einige Aehnlichkeiten bietet. Diese Hypothese scheint Ref. durch die von B. nicht berücksichtigte und (wie unten gezeigt werden soll) für die Systematik gut zu verwertende Struktur der Ovarien bekräftigt. Während holoistische (der Dotterbildungszellen ent- behrende) Ovarien den meisten Ametabolen (Psociden und Hemipteren ausgenommen) gemeinsam sind, wurden sie von Brandt unter den Metabolen nur bei nicht adephagen Coleopteren bei Flöhen und bei der Dipteren - Gattung Sciara gefunden. Die Coleoptera ade- phaga und alle übrigen Metabola haben Eiröhren mit Dotterkammern. Es sollen nun einige Betrachtungen angeknüpft werden, welche nach Ref. die B.’schen Schlüsse einigermaßen ergänzen und modifizieren mögen. — B. hat sehr großes Gewicht auf die Zahl der Malpighi’- schen Schläuche gelegt. Als Ordnungscharakter ist dieses Verhältnis jedenfalls nicht unbedeutend. Kann er aber, wenn man nur die Be- funde am erwachsenen Tiere berücksichtigt, für die Scheidung höherer Gruppen gelten? Darüber ist Ref. verschiedener Meinung. Die Ameta- bola menognatha sind mit Ausnahme der Corrodentia und Thysano- ptera sämtlich polynephria, aber nach Rathke sollen bei jungen Emery, Phylogenie und Systematik der Insekten. 653 Termiten viele Vasa Malpighii vorhanden sein, deren Zahl bei alten Tieren reduziert wird. Es mögen also wohl die Termitinen von poly- nephreen Formen abstammen; aber anderseits haben manche Ortho- pteren (Blattina, Gryllodea) in ihrer Jugend nur wenigere Harnschläuche, andere von Anfang an eine große Anzahl. Wie sich in ihrer Ent- wicklung die Psociden und Physopoden verhalten ist unbekannt. Wenden wir uns zu den Metabola, so erscheinen im Gegenteil die meisten als Oligonephria, und nur die Hymenopteren haben viele Vasa Malpighii. Aber, abgesehen davon, dass einige Hymenopteren nur wenige Harngefäße besitzen, lehrt uns die Entwicklungsgeschichte, dass dieselben stets in geringer Anzahl embryonal angelegt werden und in der Larve bestehen, sodass die Vermehrung dieser Schläuche eine nachträgliche und wahrscheinlich innerhalb der Gruppe erworbene ist. Diese Verhältnisse scheinen Ref. nicht zu genügen, um die Hyme- noptera von der großen Gruppe der Petanoptera fern zu halten. Nur dann werden wir die Zahlverbältnisse der Harnschläuche für ein natür- liches System verwenden können, wenn die Ontogenie derselben in den verschiedenen Gruppen genügend untersucht sein wird. Die Strukturverhältnisse der Ovarien scheinen für die Aufstellung des Systems nicht ohne Gewicht zu sein. Eine Einteilung der Insek- ten nach diesem anatomischen Merkmal und nach den Metamorphosen ergibt folgende Tabelle. Ametabola et hemimetabola ovariis holoistieis Dermatoptera, Amphibiotica, Orthoptera. Ametabola ovariis meroisticis Psocidae, Rhynchota (inel. Pedieulis). incerta Termitina, Thysanoptera, Mallophaga. Metabola ovariis holoistieis Pulieidae, Coleoptera non adephaga. Metabola ovariis meroisticis Coleoptera adephaga, Neuroptera, Panorpata, Trichoptera, Lepidoptera, Diptera, Hymenoptera. Das holoistische Ovarium stellt gewiss die ursprüngliche Form dar, aus der die meroistische Form polyphyletisch entstanden sein mag (Rhynchota, Psocidae, Coleoptera adephaga, Petanoptera). Wir wollen diese Verhältnisse besonders für die Systematik der Metabola verwerten, da bei den Ametabolen-Gruppen der Termitina, Mallophaga und Thysanoptera die Eibildung bis jetzt unbekannt geblieben ist. Wir können annehmen, dass die Coleopteren und Puliciden von einer holoistischen, die Petanoptera (inel. Hymenoptera) von einer meroisti- schen Form entstammen; oder, falls eine monophyletische Entstehung des meroistischen Eierstocks angenommen werden sollte, so müssten wir annehmen, dass bei Flöhen und nicht adephagen Coleopteren die Ovarien durch eine rückläufige Umbildung zur holoistischen Struktur 654 Emery, Phylogenie unfl Systematik der Insekten. zurückgekehrt sind, oder endlich dass die Coleopteren nieht monophy- letisch entstanden sind. Letztere Annahme ist durchaus zu verwerfen. Dass die Coleopteren eine eigenartige und durchaus einheitliche, allen übrigen Metabolen gegenüberzustellende Gruppe bilden, beweist wohl am besten die Bildung ihrer Antennen. Die Fühler aller Käfer sind nach einem konstanten elfgliedrigen Typus gebaut, welcher von der gemeinsamen Stammform vererbt wurde; abweichende Zahlen der Fühlerglieder sind meistens durch Reduktion (Clavigeriden, Lamellieornier, Cureulioniden) oder höchst selten durch Vermehrung der normalen Zahl bei kammförmigen Antennen (Rhipicerus, Polyar- thron) entstanden. Die Fühler aller anderen Metabola sind von einem vielgliedrigen Typus ableitbar; woraus sich allerdings bei aculeaten Hymenopteren eine dem Käfertypus nieht unähnliche, aber durch Ge- schlechtsdimorphismus ausgezeichnete Grundform gebildet hat (2 12-, d 13 gliedrig). Wir können demnach eine diphyletische Abstammung der jetzt lebenden Ordnungen der Metabola annehmen, und dadurch erhellt uns neues Licht zur Beurteilung der Larvenformen und zur Aufstellung eines Stammbaums derselben. — Eine gemeinsame Larvenform finden wir in beiden Hauptgruppen der Metabola, d.i. eine mehr oder minder durch spezielle Anpassung modifizierte orthognathe campodeoide Larve. — Innerhalb der Coleopteren-Ordnung bleibt diese Larvenform in der ganzen Abteilung der Adephaga wenig verändert. In der andern Abteilung der Käfer, die wir der vorigen als Polyphaga entgegen- stellen können, entstehen aus der orthognathen Campodea-Larve zwei hypognathe Formen, wovon die eine Campodea-Habitus behält, die andere mit zylindrischem Leib die charakteristische sechsbeinige Engerlingform der Coleopteren-Larven darstellt; die fußlose Cureulio- niden-Made ist wohl als aus dieser Form entstanden zu betrachten. — Der Ursprung der Pulieiden - Made ist jetzt nicht bestimmbar. Unter den Petanopteren bewahren nur die Neuroptera sensu str. eine wenn auch sehr bedeutend modifizierte und meist mit Fang- zangen versehene orthognathe campodeoide Larve. Bei den anderen Ordnungen erscheint als typische Form die Raupe, eine hypognathe zylindrische Larve, mit thorakalen, analen und meistens (die Tricho- pteren ausgenommen) 1—8 Paar abdominalen Füßen. Bei den Hyme- noptera apocrita und bei sämtlichen Dipteren ist die Raupenform durch fußlose Maden ersetzt. Die Raupe der Petanopteren und die Engerlingform der Coleopteren scheinen also jede für sich monophy- letisch entstanden zu sein, die Madenform ist polyphyletisch (Coleo- pteren, Pulieiden, Hymenopteren, Dipteren); die orthognathe campo- deoide Larve als Ahnenform von ametabolen Vorfahren vererbt. — Abweichende durch spezielle Anpassungen entstandene Larvenformen, wie z. B. diejenigen der Pteromalinen, sollen hier nicht besonders berücksichtigt werden. Nach diesen Prinzipien lässt sich folgender Stammbaum der Insektenlarvenformen aufstellen: Emery, Phylogenie und Systematik der Insekten. 655 Metabola Metabola holoistiea meroistiea © SI 8 ie a 8 ® & > _ © = fußlos = mit & Saug- | 5 mund © oO, Ei S o - rS =) Sg oi eb) _ = e ee A = as fußlos fußlos fußlos ; % ohne mandi- < After bulat Ee & 2 Eu an re See =, anye = 8 = gS © = S ce 2 m an = - oo 8 = > o, + SEE TR ir o 2,8 u "3 oO a SEE SL ae SE. ee = = g' > oo 8 Eu e - = Triehoptera 35 58 = mit Bauchfüßen ohne Bauchfüße Bee (z. T. orthognath ?) = = — , BE 8 Hypognath raupenförmig ee ? Poly- Ade- Neuroptera sensu str. phaga phaga orthognath wu, | | Coleoptera Petanoptera "Orthognath-campodeoid (Urform) (Larve der ametabolen Ahnen). 656 Dahl, Die Fußdrüsen der Insekten. Da die Urlarvenform sämtlicher Metabola eine orthognathe ge- wesen zu sein scheint, so sollten ihre ametabolen Ahnen gleichfalls einen orthognathen Mund besessen haben. Ob nun die Metabola aus den Ametabola mono- oder diphyletisch entsprungen sind, und welche jetzt lebenden oder fossilen Formen mit den Urmetabolen am nächsten verwandt sein mögen, soll künftigen Forschungen vorbehalten bleiben. C. Emery (Bologna). Friedr. Dahl, Die Fußdrüsen der Insekten. Archiv f. mikr. Anat. Bd. XXV. S. 236—263. Taf. XII, XII. Seine früheren Untersuchungen zu ergänzen untersuchte Dahl die zur Bewegung auf glatten Flächen dienenden Haftorgane an den Tastern verschiedener Insekten. Wirkliche Saugnäpfe stellen nur die modifizierten Haargebilde an den Vordertastern von Dytisciden-Männchen dar. Bei anderen Käfern, bei Forfieuliden und der Neuropteren-Gattung Sialis sind verschiedenartig geformte Hafthaare vorhanden, welche an den Spitzen oft etwas erweitert sind, aber daselbst immer weich, wo- durch sie die Fähigkeit bekommen, sich an äußere Gegenstände dicht anzuschmiegen. Diese Haare, sowie die weiche Hautsohle der meisten Orthopteren, die paarigen Haftlappen der Fliegen und die un- paaren der Schmetterlinge und Hymenopteren, sollen durch eine dünnflüssige Substanz feucht gehalten werden, welche von beson- deren Drüsenzellen abgesondert wird. — Bei Käfern findet D. zweierlei Drüsen: die einen, von ihm Hautdrüsen genannt, haben deutliche Mün- dungen zwischen den Hafthaaren; die anderen, die er als Haftdrüsen bezeichnet, treten mit den Hafthaaren in Verbindung, haben aber keine sichtbaren Oeffnungen. Verf. nimmt an, dass ihr Sekret durch die Chitinwand der Haare transsudiert. Die Ansicht von D., dass diese Drüsen z. B. nicht aus der Hypodermis, sondern aus dem Binde- gewebe entstammen sollen, scheint Ref. keineswegs begründet, da keine ontogenetischen Thatsachen zum Beweis angeführt werden. — In der sehr kompliziert gebauten Hautsohle der Orthopteren fand D. auch keine Poren; als Drüsenapparat fungiert die faltig abgehobene Hypodermis. — Eine besonders entwickelte und tiefe Matrixeinfaltung steht mit dem Haftlappen der Hymenopteren in Verbindung. Es hat also D. seine frühere Theorie der Blutausschwitzung auf- gegeben; er nimmt jetzt Drüsen an, welche ihr Sekret nicht durch besondere Oeffnungen nach außen ergießen, sondern durch die un- sichtbaren Poren einer kontinuierlichen Membran durchsickern lassen. Von einem Ankleben sieht er für alle Fälle ab, denn ein klebriges Sekret wäre nieht dünnflüssig genug, um durch eine nicht durehbohrte Thorell und Lindström, Silurskorpion von Gotland. 657 Chitinhaut nach außen treten zu können. Das Haften soll also nicht durch Kleben, sondern durch Kapillarattraktion bewirkt sein. C. Emery (Bologna). T. Thorell and G. Lindström, On a Silurian Scorpion from Gotland. With 1 pl. (and contour pl.). Stockholm 1885. 4° 33 pg. Aus Konigl. Svenska Vetenskaps- Akademiens Handlingar, 21. Bd., Nr. 9. In dem an Seetieren außerordentlich reichen Korallen - Kalkstein bei Wisby auf Gotland entdeckte Ende 1884 Professor G. Lindström wohlerhaltene Reste eines Skorpions, den er alsbald durch brief- liche Mitteilung an den kürzlich verstorbenen Akademiker Milne- Edwards und Abdruck dieses Schreibens in den Comptes Rendus der Pariser Akademie der Wissenschaften (1884, Dez. 1, p. 984) unter dem Namen Palaeophonus nuncius dem wissenschaftlichen Publikum bekannt gab. Da dieser Skorpion das erste aus dem Silur bis dahin bekannt gewordene Landtier war und nach Bekanntwerden desselben nur noch ein einziges, aber sehr problematisches Insekt, die Palaeoblattina Dowvillei Brongniart, als gleichfalls dem Silur angehörend aufgefunden wurde, die wenigen paläozoischen, als die ältesten angesehenen Insekten aus früheren Funden aber sämtlich erst dem Devon entstammen und auch äußerst selten sind; so erregte, wie nicht anders zu erwarten gewesen, der Fund dieses uralten Land- tiers in weitesten Kreisen großes und gerechtes Aufsehen. Die Schichten, denen der Silur-Skorpion entstammt, bergen nach Lindström von Seetieren auch solche Arten (wie Pterygotus osiliensis Fr. Schm., Strophomena-, Eatonia-Arten),-welche den Nachweis liefern, dass dieselben Aequivalente der oberen Ludlow-Schichten Englands und Schottlands, der untern Helderborg-Gruppe der Vereinigten Staaten von Nordamerika und der Schichten von Kaugatoma und Rootziküll auf Oesol sind, welche alle dem obern Silur angehören. Der merk- würdige Fund musste durch den Umstand noch an Interesse gewinnen, dass fast gleichzeitig ein zweites, sehr ähnliches Exemplar im Silur von Lesmahagon auf Schottland entdeckt ward, über das B. N. Peach („Ancient- Air-breathers“ in Nature, Vol. 31, Nr. 796, Jan. 29, p- 295—298, Fig., 1885) und andere berichteten. Nachdem in zahl- reichen lebenden Sprachen durch kurze, orientierende Notizen auf die Existenz dieses ältesten Landtieres im allgemeinen aufmerksam gemacht worden war, ist nun der hervorragendste Arachnologe der Gegenwart, Professor T. Thorell, im Bunde mit Professor G. Lindström mit der überschriftlich zitierten, ausführlichen Be- schreibung und mit genauen Abbildungen des seinen rezenten Nach- kommen so sehr ähnlichen silurischen Skorpions hervorgetreten. Da 42 “ 658 Thorell und Lindström, Silurskorpion von Gotland. die von den später-fossilen und den rezenten Skorpionen abweichende Bildung der in eine Spitze auslaufenden Beine des Palaeophonus viel- leicht als Stütze der von E. van Beneden, Ray Lankester, Mac Leod, Peach und andern vertretenen Ansicht, dass die Skorpione den Merostomen (Gigantostraken) verwandt seien und diese mit samt den Trilobiten der Klasse der Arachniden angehören müssten, ver- wertet werden wird, so hat Thorell hier auch Gelegenheit genommen, seine den Theorien Ray Lankester’s (vergl. diesbezüglich diese Zeitschrift, Bd. 2, 1882—83, p. 543—44) nicht günstige, durch zahl- reiche Thatsachen wohl begründete Auffassung von dem Verwandt- schaftsverhältnisse der Skorpione und der Pfeilschwanz- oder Molukken- krebse (Lömulus) ausführlich zu entwickeln. Es wird dabei keineswegs in Abrede gestellt, dass eine überraschende Aechnlichkeit zwischen den Skorpionen und den Merostomen, zu denen Limulus und die Eurypteriden gehören, in mehr als einer Hinsicht besteht und der Thatsache Ausdruck gegeben, dass die Arachniden überhaupt den Crustaceen weit näher verwandt sind, als den Insekten und Myriopoden. Bereits beim Embryo des Skorpions und des Limulus wird diese Uebereinstimmung wahrgenommen, jedoch nur während seiner ersten Entwicklungsstadien, in denen der Embryo von Limulus schon früh- zeitig eine an Trilobiten erinnernde Erscheinung hat. Während aber der Embryo des Skorpions seine Abdominalbeine schon bald verliert, entwickeln sich die der Merostomen zu dem Operceulum und den blatt- förmigen, Kiemen tragenden, Abdominalanhängen dieser Tiere. Ent- stehen nun, was wahrscheinlich ist, die Brustkämme des Skorpions aus dem zweiten Paare der Abdominalbeine seines Embryos und geht seine Genitalplatte aus dem ersten dieser Beinpaare hervor — eine durchaus unerwiesene Voraussetzung —, so sind freilich ihrem Ur- sprunge nach die Genitalplatte und die Kämme des Skorpions mit dem Opereulum und dem ersten Paare der Abdominalanhänge der Merostomen identisch. Allein die Genitalplatte des Skorpions ist wahr- scheinlich nichts anderes, als der Sternit des ersten Abdominal- segmentes, und da bei manchen Arachniden, z. B. dem Afterskorpion und der Milbe der Embryo von dem des Skorpions und der Spinne sehr abweicht, so liegt vielleicht keine Berechtigung vor, aus einer größern oder geringern Uebereinstimmung zwischen Embryonen defini- tive Schlussfolgerungen bezüglich der Verwandtschaft zwischen den fraglichen Tieren abzuleiten. — Die Uebereinstimmung der Merostomen oder wenigstens der Eu- rypteriden mit den Skorpionen in der Zahl der Segmente und auch häufig im Gesamthabitus ist freilich auffallend groß, namentlich infolge der Bildung eines gegliederten Schwanzanhanges. Da jedoch dies- bezüglich eine große Menge unbestrittener Krebstiere, so die meisten Coptopoden, gleichfalls mit dem Skorpion übereinstimmen und sowohl in der Klasse der Crustaceen als der der Arachniden. die Zahl der Thorell und Lindström, Silurskorpion von Gotland. 659 Leibessegmente eine sehr veränderliche ist, so kann Uebereinstimmung der Merostomen mit den Skorpionen in diesem Punkte um so weniger Ausschlag geben, als der Körper von Limulus allem Anscheine nach nur aus 15, nicht, wie der des Skorpions und der Eurypteriden, aus 19 Segmenten besteht. Wie die Merostomen und Skorpione, so be- sitzen auch die Coptopoden hinter dem After ein Segment, das Telson, wenngleich dasselbe bei jenen einfach, bei diesen gegabelt ist. Eine bedeutendere klassifikatorische Wichtigkeit muss der Kon- formität der in Frage stehenden Tiere bezüglich der Zahl und An- ordnung der Anhänge des Cephalothorax beigelegt werden. Nun be- sitzen statt der 6 Paare von Cephalothoraxanhängen des Skorpions und des Zimulus die Eurypteriden deren bloß 5 Paare, und während bei den Merostomen alle diese Anhänge den Mund umringen und in ihrem Hüftenteile, mit einziger Ausnahme des vordersten Paares, am Kaugeschäfte beteiligt sind, bilden dagegen beim Skorpion nur die Hüften des zweiten Paares dieser Anhänge wahre Kinnladen; zwar zeigen auch die Hüften der beiden auf das zweite folgenden Paare beim Skorpion (wie bei den Weberknechten, Opilio) einen grade nach vorn oder innen gerichteten Fortsatz, der auch noch den Mundwerk- zeugen beigerechnet werden muss, aber es sind bei allen Arachniden wenigstens die beiden hintersten Paare der Anhänge im allgemeinen in beträchtlicher Entfernung vom Munde gelegen und dienen aus- schließlich als Ortsbewegungsorgane. Auch ist die Uebereinstimmung in der Zahl der Anhänge des Cephalothorax bei Merostomen und Skorpionen deshalb mehr scheinbar als wirklich, weil die Embryologie des Skorpions und der Spinne für die Richtigkeit der Ansicht spricht, dass die Zahl der Gliedmaßenpaare der Arachniden in Wahrheit nicht 6 wie beim Zimulus ist, sondern 7, wie beim Gros der Insek- ten, so zwar, dass die sogenannten „Kieferfühler“ der Arachniden den Mandibeln der Insekten allein gleichkommen, das den Insekten- fühlern entsprechende Gliedmaßenpaar der Arachniden aber ihr (em- bryonal paarig angelegtes) Rostrum (oder Labrum) ist. Ein spitzaus- laufendes Endglied der Laufbeine aber, welches Palaeophonus mit den Eurypteriden gemein hat, kehrt auch bei anderen, sonst sehr ver- schieden organisierten Arthropoden wieder und kann daher auch nicht als Beweis einer Verwandtschaft zwischen den in Rede stehenden Gruppen herangezogen werden. Bezüglich ihrer Augen aber zeigen die Merostomen und ihre nächsten Verwandten, die Trilobiten, eine so auffallende Ueberein- stimmung mit Apus und namentlich Argulus, dass ihr Bau und ihre Anordnung mehr als alles andere für einen gemeinsamen Ursprung der Merostomen und Trilobiten einerseits und der Phyllopoden, Coptopoden und der andern Entomostraken anderseits zu sprechen scheint. Auch möchte durch Michael’s Entdeckung von über den Hüften befind- lichen Drüsen bei den Oribatiden unter den Milben, die wohl richtig 42 * 660 Thorell und Lindström, Silurskorpion von Gotland. mit den Segmental-Organen oder Nephridien der Würmer und den Coxaldrüsen des Limulus und des Skorpions homologisiert wurden, Bertkau’s Ansicht eine Bestätigung erhalten, dass diese bei vielen Crustaceen und Arachniden vorkommenden Organe von gemeinsamen niedrig stehenden Vorfahren ererbt seien und deshalb ihr Vorkommen bei Limulus und dem Skorpion nicht als Beweis einer engern Ver- wandtschaft eben dieser Tiere miteinander angesehen werden kann. Und in anbetracht der anderen Charaktere, auf welche gestützt man die Merostomen oder wenigstens Limulus als Verwandten des Skorpions angesehen wissen will, so sind auch deren einige, wie Ray Lan- kester selbst zugibt, zugleich mehreren unbestrittenen Crustaceen eigen. Von den ausschließlich den beiden in Rede stehenden Gruppen gemeinsam bleibenden Charakteren aber scheinen allein zwei von spezifischer Bedeutung zu sein, das Vorhandensein eines knorplig- faserigen Entosterniten im Cephalothorax und eine gewisse Ueberein- stimmung im Bau der Geschlechtsorgane, die sich speziell in den unter einem Opereulum auf dem ersten Abdominalsegmente gelegenen Genitalöffnungen zeigt. Aber diese Charaktere werden wieder durch die Verschiedenheiten im Bau der Atmungsorgane und durch die Thatsache völlig aufgewogen, dass die Skorpione und alle höheren Arachniden Malpighi’sche Gefässe führen, die Merostomen aber, wenigstens Limulus, nebst allen unstreitigen Crustaceen dieser Ge- fäße ermangeln. Es ist somit weder in der Organisation noch in der ontogeneti- schen Entwicklung der Merostomen irgend eine Thatsache bekannt, welche eine Trennung derselben von den Krebsen und ihre Vereinigung mit den Spinnentieren in eine Klasse begründete. Und selbst wenn man eine direkte Abstammung der Skorpione von den Merostomen annehmen wollte, würde das doch noch kein Grund sein, ihren Wasser- atmenden Vorläufer mit den Arachniden zu verbinden — man würde dann auch zu einer Einverleibung des unbekannten, wahrscheinlich Saurier-ähnlichen Ahnen der Vögel in die Klasse der Vögel sich ge- nötigt sehen. Die Merostomen würden vielmehr in diesem Falle that- sächlich erst dann zu Arachniden geworden sein, nachdem sie das Wasser ganz verlassen und begonnen hätten, mit Tracheen zu atmen. Nun spricht aber gegen die Richtigkeit der Annahme einer direkten Abstammung der Skorpione von den Merostomen unter anderem die Entdeckung des Silurfossilen Palaeophonus; denn durch ihn ist der Beweis erbracht, dass der Typus der Skorpione in der Zeit beinahe ebenso weit zurückreicht als der der Merostomen. Ray Lankester hätte, um die postulierte Abstammung der Skorpione von mit ein- fachen (Skorpionen-) Augen versehenen Eurypteriden plausibel zu machen, die Hypothese nötig, dass die Kiemenblätter der Eurypteriden nach und nach in den Leib eingesunken wären und so direkt in die Blätter-Tracheen der Skorpione sich verwandelt hätten. Balfour Paneth, Entwicklung von Muskelfasern aus Sarkoplasten. 661 dagegen, der auch zu der Auffassung der Merostomen als Arachniden neigt, nimmt an, sie stammten von luftatmenden Tieren ab und hätten erst sekundär ihre Kiemen erworben. Jedoch keine dieser Voraus- setzungen wird durch irgend etwas uns von der Entwicklung anderer Tiere her bekanntes unterstützt. Auch erscheint Balfour’s Meinung, nach der die Branchiaten eine den Tracheaten koordinierte natürliche Reihe bilden, deshalb schwerlich haltbar, weil eine engere Verwandt- schaft der Arachniden mit den Crustaceen unzweifelhaft ist. Entspräche Ray Lankester’s Annahme, die Skorpione seien die ältesten luftatmenden Arachniden und hätten der ganzen Reihe der existierenden Formen dieser Tierklasse, erst den Pedipalpen, dann den Spinnen und durch diese den Milben u. s. w. Ursprung verliehen, der Wirklichkeit, so hätten die Arachniden in ihrer phylogenetischen Entwicklung eine Art retrograder Entwicklung durchgemacht oder eine Degenerierung erlitten und hätten, statt von niederen zu stets höher organisierten Formen vorzuschreiten, sich in umgekehrter Rich- tung entwickelt. Die Möglichkeit eines derartigen Entwicklungs- prozesses kann freilich nicht ausgeschlossen werden, doch setzt sie voraus, dass die Merostomen einen um vieles ältern Zweig der Arthro- poden bilden, als die Arachniden sind, und dass diese sich in einem verhältnismäßig späten präkambrischen Alter abgezweigt hätten. Diesem gegenüber dürfte die Entwieklung der Masse der Arachniden wahr- scheinlicher eine von tieferen zu höheren Formen gewesen sein, etwa von den Milben oder den Afterskorpionen oder den Weberknechten verwandten, mit Tracheenröhren atmenden Tieren durch die Merido- gastra (— Anthraecomarti) zu den mit Blättertracheen atmenden Spinnen, Pedipalpen und Skorpionen — in welchem Falle die Arachniden einen sehr alten Typus bilden müssen, deren mit den Merostomen gemein- samer Ursprung weit in den Stammbaum der Arthropoden zurück- verlegt werden muss. Es würde alsdann aber die Uebereinstimmung zwischen Skorpionen und Eurypteriden ganz unabhängig von engerer Verwandtschaft untereinander bedingt, vielleicht als Folge einer Kon- vergenz der beiden durch die Arachniden und Merostomen gebildeten Stämme in einigen Zweigen aufzufassen sein. F. Karsch (Berlin). Paneth, Die Entwicklung von quergestreiften Muskelfasern aus Sarkoplasten. Aus dem physiologischen Laboratorium der Wiener Universität. — Sitzungs- berichte d Wiener Akad. d. Wiss., XCII. Bd., III. Abt., Juli-Heft, 1885. Unter dem Namen „Sarkoplasten“ beschrieb Margo vor circa 25 Jahren zuerst in den Sitzungsberichten, dann auch ausführlicher 662 Paneth, Entwicklung von Muskelfasern aus Sarkoplasten, in den Denkschriften!) der Wiener Akademie quergestreifte Körperchen von sehr verschiedenartiger, im allgemeinen rundlicher Form, aus denen sich quergestreifte Muskelfasern entwickeln sollten. Er fand sie bei Kaulquappen und jungen Fröschen, dann auch bei andern Wirbel- tieren und glaubte, diesen Modus der Entwicklung den er allen andern damals bekannten gegenüberstellte, auch an den Muskeln von Arthro- poden und Mollusken, an glatten Muskelfasern und am Herzmuskel gesehen zu haben; er glaubte, dass alle Muskelfasern, auch bei der ersten Anlage der Gewebe, so entständen. Trotzdem seine Arbeit zahl- reiche Abbildungen enthält, wurden seine Bilder seither nieht wieder gesehen, nur zwei Autoren, Brücke?) und Schenk?), erwähnen seiner in zustimmender Weise, alle andern Verfasser von Lehrbüchern, ebenso wie diejenigen, die sich speziell mit der Histiogenese quer- gestreifter Muskeln beschäftigt haben, verhalten sich ablehnend. Verfasser hat zunächst an Kaulquappen, aber nicht der ersten Stadien und kleinen Fröschen, die eben den Schwanz abgeworfen hatten, von 3—4 em Länge, das von Margo Beschriebene wiederge- funden. Bei einer großen Anzahl der untersuchten Tiere fand sich die Muskulatur verschiedener Körperstellen von Sarkoplasten durch- setzt, oft in so großer Menge, dass sie sich auf jedem Zupfpräparat an mehreren Stellen fanden. Die Tiere waren frisch eingefangen, so dass der Verdacht, es habe sich um einen krankhaften Prozess ge- handelt, entfällt. Die Sarkoplasten stellen stark lichtbrechende Körperchen dar, teils, und zwar die kleinsten, homogen, teils quergestreift, deren Form von der einer Kugel bis zu der einer langgestreckten „Wurst“ alle Zwischen- stadien aufweist. Sie liegen in Spalträumen zwischen fertigen Muskel- fasern und in bindegewebigen Platten. Sie verhalten sich gegen alle Reagentien und Färbemittel wie „kontraktile Substanz“; sie sind doppeltbrechend, auch wenn sie keine Querstreifung zeigen. Die Anwendung verschiedener Härtungs- und Tinktionsverfahren lehrte, dass diese Sarkoplasten im Innern von membranlosen Zellen liegen, dass neben ihnen (und nicht, wie Margo geglaubt hatte, in ihnen) der Kern. der Zelle liegt. Während Margo in den Sarkoplasten Zellen sah und ihnen endogenetische Vermehrung zuschrieb, betrachtet sie Verfasser als Teile (Produkte) von Zellen. Er glaubt, dass Zellen, die bei der ersten embryonalen Differenzierung der Gewebe übrig blieben, nachträglich wachsen, und in ihrem Innern, wahrscheinlich zu wiederholten malen, kontraktile Substanz ablagern. Diese zunächst in ganz unregelmäßiger Weise abgelagerten Klumpen kontraktiler Substanz sind eben die Sarkoplasten. Dabei findet auch Kernteilung statt; karyokinetische Figuren konnten jedoch nicht nach- 1) XX. Bd., 1861. 2) Vorlesungen über Physiologie, 3. Aufl, Wien 1834, 2. Bd., S. 353. 3) Grundriss der Gewebelehre, 1885, 8. 72. Spengel, Schwerkraft und Zellteilung. 663 gewiesen werden, obwohl speziell nach ihnen gesucht wurde; viel- mehr beschreibt Verfasser Bilder, die auf direkte „Kernzerschnürung“ schließen lassen. Die Sarkoplasten wachsen in die Länge gleichzeitig mit den Zellen, in denen sie liegen; sie verschmelzen schließlich zur Bildung einer quergestreiften Muskelfaser, wobei Kerne und Reste von Proto- plasma eingeschlossen werden und als „Muskelkörperchen“ an ver- schiedenen Stellen des Querschnitts liegen, wie überhaupt in den Skeletmuskeln der Frösche. Dieselben Sarkoplasten fand Verfasser auch in den Muskeln von Schweinsembryonen späterer Stadien (15 em und 20 cm lang), wo sie gleichfalls zwischen fertigen Muskelfasern lagen. Dagegen konnte er bei einer Anzahl jüngerer Embryonen von Wirbeltieren, sowie bei heranwachsenden Ratten und vor kurzem aus dem Winterschlaf erwachten Erdzeiseln keine Sarkoplasten finden. Indem Verfasser die positiven Befunde Margo’s, soweit sich die- selben auf Wirbeltiere beziehen, einer genauern Kritik unterzieht» kommt er zu dem Schlusse, dass auch Margo Sarkoplasten nur bei älteren Embryonen, nicht bei der ersten Differenzierung der Gewebe gefunden habe. Dies, zusammen mit dem Resultat seiner eignen Unter- suchungen und mit den Beschreibungen, welche die Autoren von der ersten Anlage der Skeletmuskulatur der Wirbeltiere geben, führen ihn zu dem Schlusse, dass die Entwicklung von quergestreiften Muskelfasern aus Sarkoplasten in späteren Stadien der embryonalen Entwicklung von Wirbeltieren konstant und regelmäßig stattfinde, dass sie sich von dem Modus der Histiogenese quer- gestreifter Muskelfasern bei der ersten Anlage des Kör- pers vor allem dadurch unterscheide, dass es dabei nicht zur Bildung von langen Muskelfasern komme, die im Innern Protoplasma und Kerne, und außen quergestreifte Substanz tragen, dass vielmehr die kontraktile Substanz dabei zu- nächst ganz unregelmäßig im Innern von Zellen abge- lagert werde. Schwerkraft und Zellteilung. O0. Hertwig, Welchen Einfluss übt die Schwerkraft auf die Teilung der Zellen? Jenaische Zeitschr. f. Naturw. Bd. 18. 8. 175—205. — E. Pflüger, Ueber die Einwirkung der Schwerkraft und anderer Bedingungen auf die Richtung der Zellteilung. Dritte Abhandlung. Arch. f. d. ges. Physiologie, Bd. 34. S. 607 —616. — G. Born, Biologische Untersuchungen. I. Ueber den Einfluss der Schwere auf das Froschei. Arch. f. mikrosk. Anat. Bd. 24. S. 475—545. Die durch Pflüger angeregte Frage, ob die Schwerkraft einen 664 Spengel, Schwerkraft und Zellteilung. Einfluss auf die Teilung des Eies übt, beziehungsweise welcher Art dieser Einfluss ist (siehe Biol. Centralblatt Bd. III. S. 596) hat auch dureh die jüngsten Untersuchungen ebensowenig wie durch die früheren Abhandlungen von Roux und Born (siehe Biol. Centralblatt Bd. IV. S. 371) eine den Ansichten Pflüger’s günstige Beantwortung er- fahren. Pflüger selbst sieht allerdings seinen Standpunkt als un- erschüttert an; doch nähert er sich in seinem neuesten Artikel über diesen Gegenstand der Anschauungsweise seiner Gegner, wie uns scheint, mehr als er einräumen möchte. Es ist gewiss kein unwe- sentliches Zugeständnis, wenn Pflüger jetzt den Vorgängen, die sich bei der Teilung des Zellkernes abspielen, eine wichtige Rolle zu- schreibt und anerkennt, dass die Zelle sich senkrecht auf die Rich- tung der „karyokinetischen Streekung“ teilt, diese letztere Richtung aber bedingt sein lässt durch die Widerstände, welche die Streckung innerhalb der in ungleichem Grade flüssigen Teile des Eies findet. Der Prüfung dieser Ansicht dienen auch Pflüger’s neue Versuche, in denen er die Furchung von Batrachiereiern beobachtete, welche zwischen zwei vertikalen Glasplatten eingeklemmt und dadurch mehr oder minder komprimiert waren. In der Regel stellte sich die erste Furchungsebene senkrecht zu beiden Glasplatten und die zweite horizontal (!). Hertwig stellt sich im Gegensatz zu Pflüger, dem experimen- tierenden Physiologen, auf den Standpunkt des vergleichenden Em- bryologen und gewinnt an eigenen und fremden Beobachtungen über die Furchung der verschiedensten tierischen Eier eine sehr breite Basis zur Beurteilung der aufgeworfenen Frage. In den Vordergrund stellt er die Thatsache, dass bei solchen kugligen Eiern, welche wie diejenigen der Echiniden einer äqualenten Furchung unterliegen, über- haupt keine primäre Eiaxe zu unterscheiden ist, sondern die erste Furche jede beliebige Riehtung haben kann. Es geht natürlich schon daraus mit zwingender Notwendigkeit hervor, dass die Schwerkraft den ihr von Pflüger zugeschriebenen schlechtweg richtenden Ein- fluss auf die Lage der Teilungsebenen nicht hat. Um aber weiter in positivem Sinne zu entscheiden, won weleben Umständen die Auf- einanderfolge und Richtung der Furchungen abhängt, stellt Hertwig eine Reihe von Betrachtungen über den Bau der Eizelle an. Es wird zunächst die Verteilung der verschiedenen Dotterbestandteile — des Bildungs- und des Nahrungsdotters — in der ungeteilten Eizelle ins Auge gefasst. Die Unterscheidbarkeit einer besondern Eiaxe wird bedingt durch den Reichtum des Eies an Nahrungsdotter, der, solange er nur spärlich auftritt, den Eiinhalt gleichmäßig durchsetzt, wenn er aber in größerer Menge vorhanden ist, sich in ungleicher Weise darin verteilt, und zwar so, dass in der Regel zwei leicht erkennbare Pole entstehen, ein an Nahrungsdotter armer, dagegen an Bildungsdotter reicher formativer oder animaler und ein umgekehrt an Nahrungs- DS a 2 Spengel, Schwerkraft und Zellteilung. 665 dotter reicher, aber an Bildungsdotter armer vegetativer. An solchen Eiern beobachtet man stets, wenn sie in einer Flüssigkeit frei schwim- men, dass ihr animaler Pol nach oben gekehrt ist, ihre Ei- axe senkrecht steht. „Wir können daraus schließen, dass im allgemeinen dem Bildungsdotter ein geringeres spezifisches Gewicht zukommt als dem Nahrungsdotter.“ Neben der Schwere aber be- stimmen noch andere in den Eisubstanzen selbst gelegene Kräfte die Anordnung der Teile. Hertwig weist besonders auf gewisse Er- scheinungen bei der Bildung der Richtungskörper und bei der Be- fruchtung hin. Das Keimbläschen rückt, wie man namentlich aus Hertwig’s eignen Untersuchungen weiß, aus der ursprünglichen zentralen Lage an die Oberfläche des Eies, und zwar entweder an den animalen Pol, wo ein solcher bereits ausgebildet war, oder an einen andern Punkt, der dadurch zum animalen Pole wird. Dabei nimmt es vermöge der Anziehungskraft, die es auf den Bildungs- dotter ausübt, etwas von letzterem aus dem Innern des Eies mit an die Oberfläche und vermehrt dadurch die Menge des Bildungsdotters am animalen Pole. Und in ähnlicher Weise äußert sich die auf der Ver- schmelzung zweier Kerne, des Eikernes und des Spermakernes, be- ruhende Befruchtung in einer Attraktion von Bildungsdotter zum ani- malen Pole, da der Furchungskern sich stets in der Nähe des letztern befindet. So wird es auch erklärlich, „dass die befruchteten Frosch- eier sieh energischer und rascher drehen als die unbefruchteten.“ Was nun aber die Lage des befruchteten Kernes (Furchungskernes) im Eie angeht, so ergibt sich aus allen bekannten Thatsachen ein deutliches Wechselverhältnis zwischen dem Kern und dem Bildungs- dotter: ist dieser gleichmäßig durch das Ei verteilt, so liegt der Kern zentral, ist er aber polar angesammelt, so ist auch der Kern gegen den animalen Pol gerückt. „Der Kern sucht stets die Mitte seiner Wirkungssphäre einzunehmen.“ Von dieser Grundlage aus lässt sich nun ein Verständnis für die Teilungen des Eies gewinnen. Diese beginnen, wie be- kannt, immer mit Veränderungen des Kernes. „Während dieser ursprünglich ein einheitliches Kraftzentrum mit gesetzmäßig be- stimmter Lage vorstellt, bilden sich einige Zeit vor Beginn der Eiteillung zwei getrennte und einander entgegengesetzte Kraft- zentra an ihm aus“, die sich von einander entfernen. Eine Linie, welche dieselben verbindet, nennt Hertwig die „Kernaxe“; sie ent- spricht also wesentlich dem, was Pflüger als die „Richtung der karyokinetischen Streckung“ bezeichnet. Da von der Lage dieser Kernaxe die Richtung der Furchungsebene abhängt, welche sich stets senkrecht dazu stellt, so führt sich die Frage nach der Ursache der Richtung der letzteren zurück auf die Frage nach der Ursache der Stellung der Kernaxe. Diese aber wird durch dieselben Umstände bedingt wie die Lage des Kernes, nämlich durch die Verteilung des 566 Spengel, Schwerkraft und Zellteilung. Protoplasmas im Ei. „An dem Furchungskern bilden sich die zwei vor jeder Teilung auftretenden Kraftcentra in der Richtung der größten Protoplasmaansammlungen der Zelle.“ Aus diesem Prinzip lassen sich die Erscheinungen des Furchungsverlaufes und der Reihen- folge der Furchungsrichtungen ohne Schwierigkeiten ableiten. Bei kugligen Eiern mit gleichmäßig verteiltem Dottermaterial und zen- tralem Kern würde die erste Kernaxe, soweit nicht etwa der Bil- dungsort der Richtungskörper einen bestimmenden Einfluss übt, jede beliebige Stellung im Ei einnehmen können. Nach der Zweiteilung jedoch müssen sich die Kernaxen schon parallel zur Ebene der ersten Furehung stellen, die zweite Furchungsebene mithin senkrecht zur ersten. In den vier Quadranten endlich kann die Kernaxe nur parallel stehen dem Längsdurchmesser beziehungsweise der Axe, in welcher sich die beiden ersten Furchungsebenen schneiden: entsprechend stellt sich die dritte Furchungsebene rechtwinklig zu den beiden ersten. Für die inäquale und partielle Furchung besteht wesentlich nur der Unterschied, dass bereits die Lage der ersten Kernaxe bedingt ist durch die ungleichmäßige Verteilung des Protoplasmas. Da dieses in der oben näher erörterten Weise sich gemäß der Schwere anordnet, d. h. mehr oder minder in Gestalt einer Scheibe oder Halbkugel den animalen, vermöge seines geringern spezifischen Gewichtes oben schwimmenden Pol einnimmt, so kann die erste Kernaxe sich inner- halb dieser Scheibe nur horizontal einstellen, und dies hat zur Folge, dass die erste Furchungsebene das Ei senkrecht durchschneiden muss. „Die Einstellung in der lothrechten und horizontalen wird um so genauer sein müssen, je mehr sich der Gegensatz zwischen animalem leichterem und vegetativem schwererem Pole ausgeprägt hat.“ Danach erklären sich auch die von Pflüger beobachteten abnormen Fur- chungserscheinungen bei Froscheiern, die in Zwangslage fixiert sind. Es finden eben Umlagerungen in der Substanz des Eies statt, der Art, dass das leichtere Protoplasma mit dem Kerne gegen den obern Pol emporsteigt. Gegenüber Born betont Hertwig, dass nicht nur der Kern dabei eine Rolle spiele, sondern in hervorragender Weise das Protoplasma, indem „zwischen ihm und dem Kern Wechselwir- kungen stattfinden“, wie ja bei dotterarmen Eiern der Kern durchaus nicht die Neigung zeigt, an die Oberfläche zu steigen, sondern im Gegenteil sich ins Zentrum einstellt. In bezug auf die Ausgangs- frage, welchen Einfluss die Schwerkraft auf die Eiteilung übe, lautet das Resultat der Erwägungen Hertwig’s, wie kaum noch ausdrück- lich hervorgehoben zu werden braucht, natürlich rein negativ: „An sich übt die Schwerkraft keinen direkten Einfluss auf die Teilung der Zellen aus. Ebensowenig beherrscht sie nach einem allgemeinern noch unbekannten Gesetz die Organisation.“ Vielmehr „hängt die Richtung und Stellung der Teilungsebenen in erster Linie von der Organisation Spengel, Schwerkraft und Zellteilung. 667 der Zellen selbst ab; sie wird direkt bestimmt durch die Axe des sich zur Teilung anschickenden Kerns. Die Lage der Kernaxe aber steht wieder in einem Abhängig- keitsverhältnis zur Form und Differenzierung des ihn umhüllenden protoplasmatischen Körpers.“ Im Gegensatz zu Hertwig, der eine allgemeine Lösung der Frage auf vergleichend -entwicklungsgeschichtlicher Grundlage an- strebt, beschränkt Born sich auf Beobachtungen an einem einzigen Objekt, dem Ei von kanıu fusca, geht darin aber mit größter Ge- nauigkeit zu Werke. Er wendet die Pflüger’sche Methode der Be- festigung der Eier in Zwangslage an, verfolgt an diesen Eiern zu- nächst die äußerlich sichtbaren Veränderungen unter Zuhilfenahme von Skizzen jedes einzelnen Eies und untersucht sodann dieselben, nachdem sie mit gewissen Kautelen gehärtet, an feinen Schnitten, welche in bestimmter Richtung mittels des Mikrotoms angefertigt werden. Die Untersuchung betrifft also, wie man sieht, in erster Linie den Einfluss, den die Schwerkraft überhaupt auf die Froscheier ausübt, weniger den Einfluss derselben auf die Teilung der Frosch- eier, und zwar aus dem Grunde, weil eben auch Born nicht im stande gewesen ist, einen derartigen Einfluss, wie ihn Pflüger sta- tuirt hatte, nachzuweisen. Seine Beobachtungen führen der Haupt- sache nach zu dem Resultat, dass an den in Zwangslage versetzten Eiern Umlagerungen der spezifisch ungleich schweren Eibestandteile stattfinden. Die Einzelheiten lassen sich nicht wohl wiedergeben ohne größere Ausführlichkeit, als es ihre Bedeutung für die Haupt- frage rechtfertigen würde. Es haben sich indess einige Punkte herausgestellt, welche von großem Interesse sind und an dieser Stelle nicht übergangen werden dürfen. Für die Art der Substanzumla- gerungen ist vor allem charakteristisch; dass die verschiedenen Be- standteile sich nieht vermischen, sondern nur aneinander vorbeischie- ben: der schwerere weiße Dotter gleitet unter der Oberfläche des Eies herab, der leichtere braune steigt in den freiwerdenden Raum empor. Dabei schlägt der weiße Dotter, wenn er anfangs eine auch nur wenig exzentrische Lage hatte, den kürzesten Weg ein. Er be- wegt sich längs eines Meridianes, der durch die beiden „sekundären“ Pole des fixierten Eies geht und den Born den „Störungsmeridian“ nennt. Dieser Meridian ist von großer Bedeutung, indem nämlich in den meisten Fällen entweder die erste oder die zweite Furchungs- ebene mit demselben zusammenfallen. Ferner bewegt sich in der Regel der Spermakern, dessen Weg an der Pigmentstraße kenntlich ist, in der Strömungsrichtung. Die Pigmentstraße rührt her von der dunklen Pigmentrinde des Eies und fehlt nie, woraus sich der Schluss ergibt, dass das Spermatozoon „nicht von jeder beliebigen Stelle der Eioberfläche aus, sondern nur von einer mit Pigmentrinde bedeckten eintreten kann.“ Interessant ist endlich die Thatsache, dass die Sub- 668 Krause, Anatomische Literatur in Italien. stanzumlagerungen an unbefruchteten Eiern in anderer ganz unregel- mäßiger Weise verlaufen und namentlich erst ganz langsam eintreten. Es ergibt sich daraus, dass die Befruchtung einen Einfluss auf die Konsistenz der Eisubstanzen ausübt, „in dem Sinne, dass dieselbe nunmehr leichtflüssiger werden und infolge dessen sich die durch die Schwere bewirkten Veränderungen rascher vollziehen.“ Hinsichtlich der Bedeutung der Kernlage für die Furehungsriehtung und der Ur- sachen der ersteren gelangt Born zu dem gleichen Resultat wie Hertwig: „man kann sich die Höheneinstellung und die Horizontal- stellung der Kernspindel in der Axe des normalen Eies dadurch her- leiten, dass man eine richtende Wirkung der Protoplasmateile des Eies auf dieselbe verschieden je nach deren Beschaffenheit und Ent- fernung annimmt.“ Uebrigens lässt diese Arbeit Born’s eine Ver- folgung der Schicksale und Wege des Kernes und des denselben um- hüllenden Protoplasmas vermissen. Die Beobachtungen über die Substanzumlagerung gewähren end- lich eine weitere Stütze für den auch aus anderen Thatsachen in neuester Zeit wiederholt abgeleiteten Satz, dass die Vererbung nicht auf der Struktur des Plasmas beruht, sondern nur durch den Kern vermittelt wird. Denn da aus solchen zwangsmäßig verlagerten Eiern, wie schon Pflüger angegeben hatte und Born nunmehr bestätigt, ganz normale Kaulquappen hervorgehen, obwohl in ihnen „kein Teilchen mehr seine normalen Lagebeziehungen und seine ursprüng- lich gegebene Nachbarschaft behalten hat“, so kann die Vererbung unmöglich auf der Struktur des Protoplasmas beruhen, sondern nur durch den Kern vermittelt werden. J. W. Spengel (Bremen). Die anatomische Literatur in Italien. Von W. Krause (Göttingen). [Nachtrag')]. t) G. Tizzoni, Sulla fisiopatologia del tessuto muscolare striato. Estratto dalla Gazetta degli Ospitali. 19. Apr. 1885. N. 31. — 2) S. Giovannini, Carioeinesi delle cellule dello strato di Malpighi in aleune lesioni patologiche ed esperimentali. Daselbst, 15. Marz. N. 21. — 3) 8. Giovannini, Sull’ atti- vita degli elementi del derma (carioeinesi) in talune affezioni infiammatorie e neoplastiche delle pelle. Daselbst, 3. Magg. N. 35. — 4) S. Giovannini, In- torno alla mitosi delle cellule dello strato di Malpighi nell’ innesto epidermico. Daselbst, 13. Magg. N. 38. — 5) G. Cattani, Sull’ acerescimento fisiologico del systema nervoso. Daselbst, 26. Apr. N. 33. — 6) G. Cattani, Sulla fisio- patologia del gran simpatico. Daselbst, 15. Apr. N. 30. — 7) G. Piseuti, Sulla rigenerazione di aleuni elementi del midollo delle ossa (cellule midollari, cellule giganti). Daselbst, 29 Marz. N. 25. Aus dem Laboratorium von Tizzoni in Bologna sind eine Reihe 1) Vgl. Nr. 16, 8. 508. Krause, Anatomische Literatur in Italien. 669 histologischer und experimenteller Untersuchungen über die Karyomi- tose hervorgegangen; dieselben betreffen die Haut, die quergestreiften Muskeln, die Knochen, den Sympathicus, das Cerebellum, das Groß- hirn u. s. w. Tizzoni (1) reizte die Muskeln des Oberschenkels vom Kaninchen durch Einschnitte, welche unter den mechanischen Einwirkungen bevorzugt wurden. Nicht nur die Zellen des Bindegewebes und die Wanderzellen des letztern zeigten, nachdem die Kaninchen ge- tötet worden waren — vom Tage nach der Operation an — zahl- reiche mitotische Kernfiguren, sondern die letzteren fanden sich auch innerhalb der Blutgefäße, wie dies Tizzoni in anderen Ge- weben ebenfalls beobachtet hat. Es ließen sich die sämtlichen Kern- mitosen in aufsteigender und absteigender Reihe verfolgen. Letz- tere Bemerkung inbetreff der Tochterknäuel etwa ist bedeutungsvoll (Ref.), weil hierüber bekanntlich eine Kontroverse zwischen Flem- ming und Strasburger besteht, welchem letztern die absteigende Reihe oder regressive Metamorphose zweifelhaft erschien, und weil Tizzoni’s Beobachtungen Mitosen beim Säugetier betreffen. Nicht nur die Sarkolemkerne, sondern auch die im Innern der Muskelfasern (M. semitendinosus des Kaninchens, Ref.) gelegenen Muskelkerne boten Mitosen dar, gleichviel ob es sich um noch un- veränderte, oder in Zerfall ihrer kontraktilen Substanz begriffene oder endlich um Muskelfasern handelte, von welchen auf dem Wege der Neubildung bezw. Regeneration auswachsende feine Fortsätze in das umgebende Bindegewebe hineinwucherten. Auch Giovannini (2) sah alle Formen der progressiven und regressiven Karyomitose bei Säugern, beim Kaninchen und beim Menschen im tiefen Stratum mucosum s. Malpighii der Epidermis. Benutzt wurden die Flemming’sche ‘ Osmium - Chrom - Essigsäure- Mischung, die Kleinenberg’sche Pikrin-Schwefelsäure und die Müller’sche Flüssigkeit (von Flemming nicht empfohlen, Ref.) zur Fixierung, absoluter Alkohol zur Härtung. Mit dem Thoma’schen Mikrotom wurde geschnitten, mitSafranin oder wässeriger Hämatoxylin- lösung oder Alaunkarmin gefärbt. Die Karyomitosen saßen in Nestern oder Herden (focolari) zusammen; eine bestimmte Anordnung der Tei- lungsebene z.B. parallel der Epidermisoberfläche war nicht vorhanden. Untersucht wurden mit positivem Resultat: Wunden, Epidermis nach Jodpinselungen, exfoliative Dermatitis, Psoriasis, spitze Kondylome, Lupus und Epidermis über einem kavernösen Spindelzellensarkom der Haut. An den Rändern experimentell erzeugter Hautwunden des Ka- ninchens, sowohl nach Schnitten, wie nach Galvanokaustik oder che- mischen Aetzungen waren im Stadium der Heilung bezw. Vernarbung oder Regeneration konstant Mitosen nachzuweisen. Eben solche fand Giovannini (2),- was sehr interessant ist, in der Epidermis von Hautstückehen, die nach der Reverdin’schen Methode auf offene 670 Krause, Anatomische Literatur in Italien. Wunden transplantiert waren und hiermit ist zum ersten mal, so viel auch dem Ref. bekannt ist, ein aktiver Neubildungsprozess der Epi- dermis solcher Hautstückchen nachgewiesen. Dabei waren die inter- eiliaren Räume zwischen den Verbindungsbrücken benachbarter Epi- dermiszellen (früher sogenannten Stachelzellen) erweitert und enthielten Wanderzellen. Hierbei wurde auch Färbung mit Gentianaviolet an- gewendet. An den Rändern alter Unterschenkelgeschwüre, von syphi- litischen Geschwüren, ulzerierter Gummata der Haut und suppurativen Hautknoten bei ererbter Syphilis zeigten sich dieselben Verhältnisse (Giovannini, 2). Endlich beobachtete letzterer (3) Karyomitosen an Bindegewebszellen der Kutis beim Kaninchen nach Hautschnitten, bei syphilitischen Papeln der Labia majora und spitzen Kondylomen des Menschen, auch bei Ekzembläschen. Aber bei Bläschen- oder Blasenbildung erst mit dem Beginn der Wiederherstellungsprozesse. Cattani (5) untersuchte frisch exstirpierte Gewebsstücke ganz junger Kaninchen vom N. ischiadieus, den N. spinales, den Ganglien des N. sympathieus, des großen und kleinen Gehirns. Die Binde- gewebskerne des Endoneurium, die Kerne der Kapillargefäße, der Nervenfasern der Stämme, sowohl der markhaltigen als der mark- losen, aber auch die Kerne der Ganglienzellen boten Karyomitosen dar, und es waren letztere im Sympathicus von überraschender (vera- mante meravigliosa) Größe und Eleganz. Sowohl die Kerne der Neuroglia, der Kapillargefäße und der Epithelauskleidung der Hirn- ventrikel, als die Ganglienzellen selbst: die großen multipolaren Purkyüe’schen Ganglienzellen des Cerebellum und die Nervenzellen der Großhirnrinde — ergaben dieselben Resultate. Bei erwachsenen Ka- ninchen inzidierte Cattani (6) auch wohl Aeste oder Ganglien des Halssympathieus und sah später nicht nur im Bindegewebe, sondern auch an den Neurilemkernen der Nervenfasern und den Kernen der Ganglienzellen selbst zahlreiche Karyomitosen auftreten. Letztere zeichneten sich durch die Deutlichkeit ihrer chromatophilen Kernfäden aus; die Zellen selbst waren heller, ihre Ränder unregelmäßiger als in der Norm, wovon eine Anfüllung der Zellenkapseln (sog. pericellu- laren Lymphräume) mit Wanderzellen die Ursache zu sein schien. Pisenti (7) untersuchte das Knochenmark, in welchem Bizzo- zero Karyomitosen an roten kernhaltigen Blutkörperchen nachge- wiesen hatte. Pisenti benutzte die Osmium-Chrom-Essigsäure-Mischung (s. oben) für das Femurmark vom Hunde und Kaninchen. Zahlreiche Mitosen aber ohne eine bestimmte Verteilungsweise im roten Knochen- mark zeigten sich an den Markzellen, seltenere auch in den Riesen- zellen. Manche Kerne der letzteren boten keine deutlichen Figuren dar, andere aber Sterne, Tochtersterne u. dergl.; was aus den Mark- zellen wird, ob sie den Knochen verlassen oder in demselben trans- formiert werden, sollen weitere Untersuchungen entscheiden. Die große Bedeutung der zahlreichen, im Vorhergehenden regi- O0. Bollinger, Zur Aetiologie des Milzbrandes. 671 strierten Thatsachen leuchtet wohl von selbst ein; sie ist um so größer als die Thatsachen Säugetiere und den Menschen, also ver- gleichsweise recht schwierige Untersuchungsobjekte betreffen. Abge- sehen von dem Anwachsen transplantierter Hautstückchen sind die Karyomitosen in Ganglienzellen des Kleinhirns, Großhirns und Sym- pathieus bei jungen Tieren, der Muskelkerne und Sarkolemkerne quer- gestreifter Muskelfasern, endlich in Riesenzellen des roten Knochen- markes wohl die interessantesten. Zum ersten mal ist eine Neu- bildung von Ganglienzellen nach der Geburt im Gehirn aufgedeckt worden — ein Faktum, dessen Tragweite kaum zu übersehen ist. Jetzt erfüllt sich, was die Einsichtigen inbetreff physiologischer Ver- wertung voraussahen, als Flemming seiner Zeit die Zuschärfung der Untersuchungsmethoden für Karyomitose in die Hand nahm und auf italienischem Boden haben die ausgestreuten Samenkörner so schöne Früchte getragen. Sitzungsberichte der Gesellschaft für Morphologie und Phy- siologie in München. Bd. I, 1885, 1. Heft (München, Rieger’s Verlag). OÖ. Bollinger, Zur Aetiologie des Milzbrandes. Bollinger berichtet über eine von L. Friedrich im patholo- gischen Institut angestellte Untersuchung über die Bedeutung der meteorologischen Einflüsse, namentlich der Bodenfeuchtigkeit und Lufttemperatur für die Entstehung von Milzbrandepidemien. Eine frühere Zusammenstellung von Feder (1876) hatte keine positiven Resultate. Die tabellarischen Erhebungen Friedrich’s, welche sich auf die Milzbrandepidemien von 1860— 1883, sowie die Temperaturen und Niederschläge nach den Aufzeichnnngen der kgl. meteorologischen Zentralstation in ihren Wechselbeziehungen erstreck- ten, ergaben, dass in den Milzbrandbezirken Sinken des Grundwassers bei höherer Temperatur konstant eine Steigerung der Erkrankungs- zahl von Milzbrand im Gefolge hatten. Das Gleiche wurde für den Rauschbrand ermittelt. Die vielfach angezogene Verbreitung des Milzbrands durch Fliegen und Bremsen erscheint nieht von großer Bedeutung, da die größte Zahl der Erkrankungen auf eine Zeit fällt, in der die Zahl dieser Insekten bereits abgenommen hat. Mit Hilfe der angezogenen Momente lässt sich gegebenen Falls die Entstehung einer Milzbrandepidemie vorhersagen. Bei der Diskussion gibt Dozent Th. Kitt einen kurzen Bericht über Versuche, die er inbetreff der Entwicklung von Milzbrandstäb- chen auf tierischen Exkrementen angestellt hatte. Rinderkot ist ein sehr guter Nährboden, so lange er feucht bleibt und eine gewisse 672 Solger, Verhalten normalen Gelenkknorpels nach Einwirkung von Alkohol, Temperaturhöhe vorhanden ist. Hingegen ermöglichte der Pferdekot, sowie auch Harn von Pferden, Rindern und Schafen kein Auswachsen und Vermehren der ausgesäten Kulturen. Wenn das Nährmaterial vertrocknet, hört die Entwicklung auf. Kitt sieht in der Weiterent- wicklung der mit dem Kote milzbrandkranker Tiere ausgeschiedenen Mikroorganismen ein Hauptmoment für die Weiterverbreitung und Er- haltung des Milzbrandvirus. Graser (Erlangen). B. Solger, Ueber das verschiedene Verhalten bestimmter Abschnitte anscheinend normalen Gelenkknorpels nach Ein- wirkung von absolutem Alkohol. Virchow’s Archiv f. path. Anatomie u. Physiologie ete. 102. Band. 1885. In einer kleinen Arbeit im neuesten Heft von Virchow’s Archiv macht Solger auf eine eigentümliche Differenz der Intercellularsubstanz von Gelenk- knorpeln aufmerksam. Verf. verfügt zur Zeit nur über 4 Fälle, welche sämt- lich das Kniegelenk 30—60jähriger Individuen betreffen, wobei pathologische Verhältnisse innerhalb desselben absolut auszuschließen waren. Am frischen Präparat war diese Differenz nicht sichtbar, sondern trat erst nach Einwirkung reichlicher Mengen von Alkohol auf. Nach derselben zeigte sich nämlich, dass in dem Knorpelüberzug der Kondylenfläche von Femur sowie Tibia ein dif- ferentes optisches Verhalten und ein Unterschied der Niveauverhältnisse ein- trat, und zwar in sämtlichen 4 Fällen an ganz bestimmten Stellen, so z.B. am Condylus femoris stets an der Patellarfläche. Diese zeigte sich stets unter der Alkoholwirkung weniger geschrumpft und hatte das opake Aussehen frischen Knorpels bewahrt, während die anderen Partien eingesunken und vollkommen durchsichtig geworden waren. Auf einer einfachen Diekendifferenz des Knorpel- überzuges konnte diese Erscheinung nicht beruhen, da eine solche auf Schnitte nicht nachzuweisen war. Ebenso erwiesen mikroskopische Schnitte unter verschiedener Behandlung mit Färbemitteln keinen Strukturunterschied der Intercellularsubstanz. Ueber die Bedeutung der Erscheinung gibt Verf. keinen Aufschluss; es möchte vielleicht „eine Alteration derIntercellularsubstanz vorliegen, die mit geringem Gehalte in Gewebsflüssigkeit oder mangelhaf- temFesthalten derselben seiner wasserentziehenden Reagenz gegen- über einhergeht“. F. H. Die Herren Mitarbeiter, welche Sonderabzüge zu erhalten wün- schen, werden gebeten, die Zahl derselben auf den Manuskripten an- zugeben. Einsendungen für das „Biologische Centralblatt“ bittet man an die „Redaktion, Erlangen, physiologisches Institut‘ zu richten. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Oentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. V. Band. 15. Januar 1886. Nr. 22. Inhalt: Weismann, Ueber die Bedeutung der geschlechtlichen Fortpflanzung für die Selektionstheorie. Virchow, Ueber Akklimatisation (I). — Zograff, Ueber den sogenannten Labyrinthapparat der Labyrinthfische. — Emery, Ueber dimorphe und flügellose Männchen bei Hymenopteren. — Emery, Entwick- lungsgeschichte der Maulwurfgrille und der Biene. — Oskar und Richard Hertwig, Experimentelle Untersuchungen über die Bedingungen der Bastard- befruchtung. — Strasser, Ueber den Flug der Vögel. — List, Ueber den Bau, die Sekretion und den Untergang der Drüsenzellen. Aug. Weismann, Ueber die Bedeutung der geschlechtlichen Fortpflanzung für die Selektionstheorie. Vortrag in der ersten allgemeinen Sitzung der Naturforscherversammlung zu Straßburg. Abgedruckt im Tageblatt der 58. Versammlung $. 42 u. ff. R. Virchow, Ueber Akklimatisation. Vortrag in der zweiten allgemeinen Sitzung der Naturforscherversammlung zu Straßburg. Abgedruckt im Tageblatt der 58. Versammlung $. 540 u. ff. Die beiden, bei Gelegenheit der Naturforscherversammlung zu Straßburg gehaltenen Vorträge, deren Titel der Leser in der Ueber- schrift findet, stehen zu einander in soleh naher Beziehung, dass wir sie im engsten Anschluss aneinander besprechen werden. In beiden Vorträgen spielt die Vererbungsfrage eine Rolle, obwohl zu dem erstern Vortrage offenbar theoretische, zu dem letztern vorzugsweise praktische Gesichtspunkte den Anstoß gegeben haben. Beide Vorträge greifen in das Gebiet der Biologie ein, und so mag es wohl gerecht- fertigt sein, für die Leser des Biologischen Centralblattes die Erörterung Weismann’s „Ueber die Vererbung“ und jene R. Virchow’s „UeberdieAkklimatisation“ inden Hauptzügen zu skizzieren. Wir beginnen nicht allein aus Rücksicht auf die Zeitfolge mit dem Vortrage Weismann’s, sondern noch aus einem andern Grunde Virchow hat einen Satz seines Vorredners angegriffen; von Seite Weismann’s erfolgte eine Entgegnung, deren Bedeutung erst dann in das rechte 43 674 Weismann, Bedeutung der Fortpflanzung. Virchow, Akklimatisation. Licht rückt, wenn wir mit unserer Darstellung die durch die Tages- ordnung gegebene Reihe einhalten. Weismann verteidigte die Selektionstheorie gegen den Einwand Nägeli’s, dass die Zuchtwahl Darwin’s nicht genüge, um den ge- setzmäßigen Gang in der Entwicklung der Organismenwelt zu er- klären, und dass „der Kampf ums Dasein“ nur das mechanische Moment für die Bildung der Lücken abgebe. Die Ursache der Umwandlungen sucht Nägeli bekanntlich vorzugsweise im Innern des Organis- mus, in der lebenden Substanz selbst, in ihrer Molekularstruktur. Gegen diese Auffassung zieht der Redner ins Feld mit dem Satz: es beruhe alles auf Anpassung: „es gibt keinen Teil des Körpers, und sei er der kleinste und unbedeutendste, überhaupt kein Struktur- verhältnis, das nicht entstanden wäre unter dem Einfluss der Lebens- bedingungen, sei es bei der betreffenden Art selbst, sei es bei ihren Vorfahren, keines, das nicht diesen Lebensbedingungen entspräche, wie das Flussbett dem in ihm strömenden Fluss“. Diese weitgehende Ansicht wird durch ein Beispiel anschaulich erläutert. Die Wale, oder, wie sie wegen ihres fischähnlichen Aussehens gewöhnlich ge- nannt werden: die Walfische sind plazentale Säuger, welche zur Sekundärzeit !) durch Anpassung an das Wasserleben aus Landsäuge- tieren hervorgingen. Alles nun, was für sie charakteristisch ist, was sie von den übrigen Säugetieren scheidet, beruht auf Anpassung, auf Anpassung an das Wasserleben. Ihre Arme sind zu steifen, nur noch im Schultergelenk beweglichen Flossen umgewandelt, auf ihrem Rücken, an ihrem Schwanz breitet sich ein Hautkamm aus, ähnlich der Rücken- und Schwanzflosse der Fische; ihr Gehör ist ohne Ohrmuschel und die Nase öffnet sich nicht vorn an der Schnauze, sondern oben an der Stirn, so dass das luftbedürftige Tier auch im sturmbewegten Meer atmen kann, sobald es an die Ober- fläche emportaucht. Der ganze Körper hat sich in die Länge ge- streckt, ist spindelförmig, fischähnlich geworden, geschickt zum raschen Durcehschneiden des flüssigen Elements. Bei keinem andern Säugetier, die Sirenen ausgenommen, fehlen die Extremitäten; bei den Walen aber sind die Beine durch den mächtig entwickelten Ruderschwanz überflüssig geworden, sind rudimentär geworden und stecken jetzt tief im Fleisch des Tieres verborgen als eine Reihe kleiner Knochen und Muskeln, die noch den ursprünglichen Bau des Beines bei ein- zelnen Arten erkennen lassen. Aus demselben Grund, weil es über- flüssig war, ist das den Säugetieren zukommende Haarkleid ge- schwunden; die Wale brauchen es nicht mehr, weil eine dicke Speck- lage unter der Haut ihnen einen noch bessern Wärmeschutz verleiht. 4) Wohl ein Druckfehler, statt Tertiärzeit, denn in Europa fehlen Wale in der Sekundärzeit, und die amerikanischen Funde sind noch nicht diskutabel aus verschiedenen Gründen. Weismann, Bedeutung der Fortpflanzung. Virchow, Akklimatisation. 675 Diese Speckschichte war notwendig, um das spezifische Gewicht herabzusetzen und dem des Seewassers gleich zu machen. Der Schädel zeigt eine ganze Reihe von Eigentümlichkeiten, die alle direkt oder indirekt mit der Lebensweise zusammenhängen. Bei den Bartenwalen fällt besonders die ungeheure Größe des Gesichtsteils des Schädels auf, die ganz enormen Kiefer, welche einen ungeheuren Rachen umschließen. Diese so sehr charakteristische Bildung ist kein Ausfluss jener innern Bildungskraft, jener selb- ständigen Umwandlungen des Idioplasmas, denn es lässt sich leicht zeigen, dass die Größe des Gesichtsteiles auf einer Anpassung an die ganz eigentümliche Ernährungsweise beruht. Zähne fehlen, sie sind nur noch als Zahnkeime beim Embryo vorhan- den, eine Reminiszenz an die bezahnten Ahnen. Von der Decke der Mundhöhle hängen große Platten von Fischbein senkrecht herab, an den Enden in Fransen zerschlissen. Diese Wale leben von kleinen, etwa zolllangen Weichtieren, welche in zahllosen Scharen im Meer umherschwimmen oder umhertreiben. Um nun von so winzigen Bissen leben zu können, ist es unerlässlich, dass die Tiere sie in kolossaler Menge bekommen können, und dies wird erreicht durch den ungeheu- ren Rachen, der große Wassermassen auf einmal aufnehmen und durch die Barten durchseihen kann; das Wasser läuft ab, die kleinen Weich- tiere aber bleiben im Rachen zurück. Auch die inneren Organe weichen, soweit wir ihre Funktion im genaueren verstehen, insofern vom Bau der andern Säuger ab, als sie direkt oder indirekt durch die Anpassung an das Wasserleben verändert sind. An der innern Nase und dem Kehlkopf sind eigentümliche Einrichtungen vorhanden, die gleichzeitiges Atmen und Schlucken ermöglichen, die Lungen sind von ungewöhnlicher Länge, und geben dadurch dem Wal ohne Muskel- anstrengung die horizontale Lage im Wasser; das Zwerchfell liegt wegen der Lungen beinahe horizontal und gewisse Einrich- tungen an den Blutgefäßen gestatten dem Tier das lange Tauchen. Wenn alles, was an den Tieren Charakteristisches ist, auf Anpassung beruht, was bleibt dann noch zu thun übrig für dieinnere Entwicklungskraft? Was bleibt noch vom Walfisch übrig, wenn man die Anpassungen hinwegnimmt, fragt der Redner und gibt zur Antwort: nichts als das allgemeine Schema eines Säugetiers; dieses aber war schon vor der Entstehung der Wale in ihren Vorfahren vorhanden ! Wenn nun das, was die Wale zu Walen macht, durch Anpassung entstanden ist, dann hat so die innere Entwicklungskraft offenbar keinen Anteil an der Entstehung dieser Gruppe von Tieren. Die Selektions- theorie lässt neue Arten dadurch hervorgehen, dass veränderte Lebens- bedingungen den Organismus ändern, falls er ihnen auf die Dauer stand halten soll, und dass infolge dessen Selektionsprozesse eintreten. Diese bewirken, dass unter den vorhandenen Variationen allein die- 43* 676 Weismann, Bedeutung der Fortpflanzung. Virchow, Akklimatisation. jenigen erhalten bleiben, welche den veränderten Lebensbedingungen am meisten entsprechen. Die Umwandlung erfolgt nur in kleinsten Schritten und würde auf der Summation der individuellen Unterschiede beruhen. Es leidet keinen Zweifel, dass solche überall vorhanden sind, und es erscheint sonach auf den ersten Blick ganz selbstverständlich, dass sie auch alle das Material darstellen können, mittels dessen Selektion neue Formen hervorbringt. Die Sache ist indess nicht so einfach, als sie bis vor kurzem noch erschien, denn es werden, nach des Redners Ueberzeugung, bei allen durch echte Keime sich fortpflanzenden Organismen nur solche Cha- raktere auf die folgende Generation übertragen werden können, welche der Anlage nach schon im Keim enthal- ten waren. Die Vererbung beruht darauf, dass von der wirk- samen Substanz des Keimes, dem Keimplasma, stets ein Minimum unverändert bleibt, wenn sich der Keim zum Organismus ent- wickelt, und dass dieser Rest des Keimplasmas dazu dient, die Grund- lage der Keimzellen des neuen Organismus zu bilden. Es besteht demnach Kontinuität des Keimplasmas von einer Generation zur andern. Man kann sich das Keimplasma vorstellen als eine lang dahinkriechende Wurzel, von welcher sich von Strecke zu Strecke einzelne Pflänzchen erheben; das sind die Individuen der aufeinander folgenden Generationen. Daraus folgt nun für Weismann die Nichtvererbbarkeit erworbener Charaktere, denn wenn das Keimplasma nicht in jedem Individuum wieder neu erzeugt wird, sondern sich von dem vorhergehenden ableitet, so hängt seine Be- schaffenheit, also vor allem seine Molekularstruktur nicht von dem Individuum selbst ab, in dem es grade zufällig liegt, das Individuum ist vielmehr nur der Nährboden, auf dessen Kosten das Keimplasma wächst; seine Struktur aber ist von vornherein gegeben. Hier erlauben wir uns, um einige Bemerkungen beizufügen, die Feder des Referenten niederzulegen. Es ist die Thesis hin- gestellt, dass stets nur ein „Minimum des Keimplasmas unverändert bleibe“. Darin liegt implieite die Annahme, dass das Maximum veränderbar sei. Schon der folgende Satz postuliert aber, dass das Keimplasma in toto sich von dem vorhergehenden Individuum ableite. Ist dieser letztere Ausspruch giltig, wie es nach allem vor- ausgesetzt werden darf, stammt alles Keimplasma unverändert von dem Vorfahren, gibt es nach des Redners Ueberzeugung keine Vererbbarkeiterworbener Charaktere, dann stürzt die Selektionstheorie von ihrem Thron durch einen ihrer besten An- hänger. Denn was ist nach allgemeiner Anschauung „Anpassung“ anderes, als die Erwerbung einer bestimmten Eigenschaft während des individuellen Lebens unter dem Druck äußerer Agentien? Indivi- duen sind es, die sich anpassen, deren Organismus (in specie deren Idioplasma) sich entsprechend umändert, eine neue Eigenschaft er- Weismann, Bedeutung der Fortpflanzung. Virchow, Akklimatisation. 677 wirbt. Nur so wird ein neuer Charakter erworben, so denkt sich der Darwinismus die Anpassung. — Die Kontinuität oder schärfer bezeichnet die Identität des Keimplasmas, seine Unveränderlichkeit im Sinne des Redners soll das Vererben erworbener Charaktere un- möglich machen, aber diese Identität des Keimplasmas macht dann offenbar auch jede Anpassung undenkbar. Denn setzt sich das Keim- plasma von Generation zu Generation unverändert fort, dann kann es nur Gleiches erzeugen, unverändert, in ewigem Einerlei. Wenn wir nun statt dessen überall dem reichsten Formenwechsel begegnen, so liegt, meint der Redner, dies in der Form der Fortpflanzung, nämlich in der Verschmelzung zweier gegensätzlicher Keim- zellen. Mit Hilfe der amphigonen Fortpflanzung baut sich ihm die Welt der höhern Organismen auf. „Die Keimzellen enthalten das Keimplasma, und dieses wiederum ist vermöge seiner spezifischen Molekularstruktur der Träger der Vererbungstendenzen des Organis- mus, von welchem die Keimzelle herstammt. Es werden also bei der amphigonen Fortpflanzung zwei Vererbungstendenzen gewissermaßen miteinander gemischt. In dieser Vermischung liegt die Ur- sache der erblichen individuellen Charaktere und iin der Herstellung dieser Charaktere die Aufgabe der amphi- gonen Fortpflanzung. Sie hat das Material an indivi- duellen Unterschieden zu schaffen, mittels dessen Selek- tion neue Arten hervorbringt“. Der Redner begegnet sofort einigen naheliegenden Einwänden, und weist darauf hin, man möchte vielleicht eher geneigt sein, zu glauben, dass eine fortgesetzte Ver- mischung etwa schon vorhandener Unterschiede, wie sie durch Amphi- gonie gesetzt wird, nicht zu einer Steigerung dieser Unterschiede, sondern zu einer Abschwächung und allmählichen Ausgleiehung derselben führen müsse. Bei den kleinen Verschiedenheiten aber, welche die Individuen charakterisieren, sei dies anders, weil eben jedes Individuum sie besitze, nur wieder in anderer Weise. Hier könnte ein Ausgleich der Verschiedenheiten nur dann eintreten, wenn wenige Individuen schon die ganze Species ausmachten. Die Zahl der Individuen aber, welche zusammen eine Art darstellen, ist eine unendlich große. Eine Kreuzung aller mit allen ist unmög- lich und deshalb auch eine Ausgleichung der individuellen Unter- schiede. Sobald bei der sexuellen amphigonen Fortpflanzung ein Anfang individueller Verschiedenheit gegeben sei, so könne nie wieder Gleichheit der Individuen eintreten, ja die Verschiedenheiten müssen sich sogar im Laufe der Generationen steigern, nicht im Sinne größerer Unterschiede, wohl aber in dem immer neuer Kombi- nationen der individuellen Charaktere. „Durch amphigone Fortpflanzung muss schon in wenigen Generationen eine große An- zahl wohlmarkierter Individualitäten hervorgehen, weil das Keimplasma der Träger von Vererbungstendenzen ist. Es können so- 675 Weismann, Bedeutung der Fortpflanzung. Virchow, Akklimatisation. mit nur solche Charaktere von einer auf die andere Generation über- tragen werden, welche anererbt sind, d. h. welche virtuell von vorn- herein in der Struktur des Keimplasmas gegeben waren, nicht aber Charaktere, die erst im Laufe des Lebens infolge änßerer Einwir- kungen erworben wurden. Die Resultate der Uebung, des Gebrauchs oder Nichtgebrauchs einzelner Teile können nach des Redners Mei- nung keine erblichen Unterschiede abgeben, können nicht auf die folgende Generation übertragen werden, sie sind vorübergehende, pas- sante Charaktere. Dagegen erzeugt die amphigone Fortpflanzung „immer neue Kombinationen von individuellen Merkmalen“, und wie wir wohl hinzusetzen dürfen, aus sich selbst, aus ihrem Innern heraus, und zwar infolge der „Vererbungstendenzen“, welche, wie uns scheinen will, der „innern Bewirkung“ Nägeli’s gleichen wie ein Ei dem andern; es handelt sich nur um einen Wechsel des Ausdrucks und eine Verschiebung des geheimnisvollen Prozesses in das Innere der Keimzelle. Wir haben den Leser bis zu jener Stelle geführt, von der aus der Redner beginnt, auf der Grundlage des eben angeführten Satzes von der Bedeutung der amphigonen Zeugung, die stufenweise Ent- wieklung der organisierten Wesen zu erklären. Wir könnten also hier abschließen, denn es kann sich nicht darum handeln, dieser eingehenden Erörterung zu folgen. Doch ist es wohl gestattet, auf die Wale noch einmal zurückzugreifen, welche als Beispiel für die Macht der Anpassung aufgerufen wurden und beweisen sollten, dass innere Entwicklungskraft keinen Anteil an der Ent- stehung dieser Tiergruppe haben könne. Es will dem Referenten scheinen, als ob die Macht der Anpassung grade in diesem wie in so manchem andern Falle überschätzt wird. Man darf sich doch nicht verhehlen, dass neben den äußeren Be- dingungen auch noch innere Kräfte mitwirken müssen. Ohne den Vor- wurf der Sophistik auf sich zu laden, könnte man den Satz mit guten Gründen verteidigen, dass der wichtigste Faktor bei der Erschaffung der Wale, wenn dieser Ausdruck der Kürze halber gestattet ist, die innere Entwicklungskraft gewesen ist. Nach allem was wir wissen, dürfen wir annehmen, dass ihr die Hauptarbeit zugefallen sein dürfte, auch dann, wenn nicht das ganze Tier, sondern nur das Keim- plasma im Sinne Weismann’s dabei beteiligt gewesen wäre. Es ist nicht zu sagen, ob wir den Redner richtig aufgefasst, bis jetzt will es uns aber scheinen, dass er und Nägeli auf demselben Boden stehen, ein jeder nennt die wirkende Hauptkraft, das eigentliche Movens nur etwas anders — Nägeli innere Bewirkung, Weismann Ver- erbung durch das kontinuierliche Keimplasma. Der erstere ist bis zum äußersten konsequent, und spricht der natürlichen Zucht- wahl jede tiefergehende Bedeutung ab, Weismann will trotz der Nichterblichkeit erworbener Charaktere auch die Selektion retten, Zograff, Labyrinthapparat der Labyrinthfische. 679 ohne der Schwierigkeiten zu gedenken, in die er dadurch seine eigne Hypothese verwickelt. Was bleibt, wenn die Anpassung allein die Wale zu stande bringt, dann dem Keimplasma noch zu thun übrig? Nägeli war nicht so radikal wie der Redner, er lässt der Zuceht- wahl noch ihr, wenn auch beträchtlich gemindertes Recht und setzt nur den Hauptnachdruck auf die innere Bewirkung. So kann er mit der Vererbbarkeit erworbener Charaktere rechnen, ohne die nun ein- mal nicht auszukommen ist. Denn irgendwann und irgendwie muss auch das kontinuierlichste Keimplasma während des individuellen Lebens jene Veränderung erfahren, erwerben, die es bei dem Akt der amphi- gonen Fortpflanzung übertragen soll. Weismann konzentriert die Variabilität im die Keimzelle, während wir alle übrigen die Ansicht haben, dass das Idioplasma des Organismus es sei, das unter dem Einfluss der Variabilität steht, dass es der ganze Organismus sei, der Reize empfängt, und Eigenschaften erwirbt, und Eigenschaften vererbt. Trotz dieser nur kurz angedeuteten Bedenken halten wir die Weis- mann’sche Erörterung für bedeutungsvoll, weil sie den Anstoß gibt, den Grad innerer Bewirkung und äußerer Einflüsse genauer abzuwägen, als dies bis jetzt geschehen ist. Schon aus diesem Grunde glaubten wir einige Einwände sofort beifügen zu sollen. Im übrigen sind wir dem verehrten Redner dankbar, dass er diese große Frage an diesem Orte aufgeworfen hat und stimmen vollkommen seinen treffenden Schlussworten bei: „Ohne Hypothese und Theorie gibt es keine Naturforschung. Sie sind das Senkblei, mit dem wir-die Tiefe des Ozeans unverstandener Er- scheinungen untersuchen, um danach den fernern Kurs unseres Er- forschungsschiffes zu bestimmen. Sie geben uns kein absolutes Wissen, aber sie geben uns den Grad der Einsicht, der augenblicklich mög- lich ist. Ohne Leitung theoretischer Anschauungen aber weiterforschen, heißt soviel als im dicken Nebel auf gut Glück weitergehen ohne Weg und ohne Kompass. Man kommt auch auf diese Weise wohin, aber ob in eine Steinwüste unverständlicher Thatsachen, oder in das geordnete System klarer, zusammenhängender, nach einem Ziel füh- render Wege, das ist dann Sache des Zufalls, der in den meisten Fällen gegen uns entscheidet“. J. Kollmann (Basel). (Schluss folgt.) Ueber den sogenannten Labyrinthapparat der Labyrinth- fische (Labyrinthiei). Von Nikolaus Zograff in Moskau. Die Labyrinthfische sind schon seit alter Zeit wegen ihrer eigen- tümlichen Lebensweise und Lebensfähigkeit vielfach besprochen wor- den. Seit Dahldorf und John, welche im Jahre 1797 der „Linnean Society“ zum ersten mal die wunderbaren Erzählungen über die 680 Zograff, Labyrinthapparat der Labyrinthfische. Kletterfähigkeit von Anabas scandens überlieferten !), erschienen fast jährlich hie und da allerlei interessante Anekdoten über diese und über andere Arten der Labyrinthiei. Der größte Teil dieser Erzäh- lungen stimmt darin überein, dem Leser immer aufs neue die Fähig- keit dieser Fische, außerhalb des Wassers leben zu können, zu ver- sichern, Wunderdinge zu erzählen von dem kunstvollen Nestbau und die Gewohnheiten dieser Fische beim Laichen u. s. w. zu schildern. Die Anpassungs- und Lebensfähigkeit dieser Tiere wird in vielen Handbüchern als klassisches Beispiel angeführt, und man findet we- nige Lehrbücher, wo nicht über die Wanderungen des Anabas aus einem Wasserbecken in das andere in freier Luft, oder über das viele Stunden lang dauernde Leben der Ophiocephalen auf den indischen Märkten nach der Entfernung der Eingeweide gesprochen wird. Dessen ungeachtet gibt es in der Literatur sehr wenige Mitteilungen über den Bau dieser interessanten Fische im allgemeinen, sowie speziell über den Bau des ihnen eigentümlichen Labyrinthapparates. Cuvier war, meine ich, der erste und fast der einzige Forscher, der diesen Apparat untersuchte. Er beschrieb ihn in seinem be- rühmten Fischwerke ?2) als einen Komplex von feinen, knöchernen Lamellen, der in die Räume zwischen diesen Lamellen, wie ein Schwamm, Wasser aufnehmen und damit die Kiemen der Tiere wäh- rend ihres Aufenthaltes in offner freier Luft befeuchten könne. Er meinte, dass diese knöchernen Lamellen Auswüchse der oberen Schlundknochen seien, und mit Blut von einem Arterienaste, welcher direkt von der gemeinsamen Arteria branchialis sich abzweigt, ver- sorgt werden. Die Ansichten Cuvier’s finden sich noch jetzt von allen Hand- und Lehrbüchern wiederholt, obgleich diese interessante Frage später noch einmal von Peters in Angriff genommen worden war. Peters untersuchte besonders das Kiemenskelet der Labyrinthiei und sprach die Meinung aus, dass diese knöchernen Gebilde nicht das vierte Glied des Kiemenbogens, sondern das dritte darstellen, folglich nicht gänzlich den Schlundknochen, welche von den vierten Kiemenbogengliedern gebildet sind, homolog sind ?). Ich kenne sonst keine morphologischen oder physiologischen Abhandlungen über diese Fischfamilie, obgleich, wie gesagt, die Literatur an sonstigen Schil- derungen derselben sehr reich ist. Ich hatte Gelegenheit einige lebendige Macropodus venustus zu untersuchen, die in meinen Aquarien aus den von zwei ursprünglichen Paaren abgelegten Eiern sich entwickelt hatten und konnte einiges Weitere an Spiritusexemplaren von Anubas scandens var. macrocephalus 1) Transact. of Soc. Linn. London, T. III, 1797. 2) Histoire naturelle des poissons par Cuvier et Valenciennes, T. VII, 1831, p. 328. 3) Wilh. Peters, Ueber das Kiemengerüst der Labyrinthfische. Müller’s Archiv für Anatomie und Physiologie, 1853. Zograff, Labyrinthapparat der Labyrinthfische, 681 sowie solchen von Osphromenus olfax feststellen. Die Spiritusexemplare verdankte ich der Liberalität meines verehrten Lehrers, des Herrn Prof. Bogdanow; sie stammten aus den Sammlungen des zoologischen Museums der Moskauer Universität. Der Labyrinthapparat von Macropodus, sowie auch von anderen Labyrinthfischen, liegt in einer Tasche unter dem Kiemendeckel. Der Ausgang dieser Tasche befindet sich ebenfalls unter dem Kiemen- deekel unweit von dessen hinterem Rande und ist sehr eng, so dass, wenn das bisweilen in der Tasche sich befindende Gas aus der Aus- gangsöffnung ausströmt, es im Wasser in Form von sehr kleinen Gas- bläschen erscheint, welche viel kleiner sind, als die von dem Männchen des Macropodus während des Nestbaues durch die Mundöffnung aus- gestoßenen Luftblasen. Die Oeffnung ist von einem festen binde- gewebigen Ringe umgeben, und ihre Wandungen zeigen keine Muskel- fasern, so dass sie nicht willkürlich geschlossen werden kann. Die Wandungen der Tasche sind mit einer Schicht von sehr kleinen, nie- drigen Epithelzellen bekleidet; unter dem Epithel liegt das Cutisbinde- gewebe, und zwischen beiden bemerkt man einige zerstreute Pigment- zellen, welche den übrigen auf der ganzen Körperoberfläche vorhan- denen Chromatophoren gleich sind. Der Labyrinthapparat nun befindet sich an der innern Wand dieser Tasche, und zeigt sich bei Macropodus venustus aus drei Platten zusammengesetzt, welche an ihren Basen miteinander verbunden sind. Diese Lamellen sind von länglich abgerundeter, fast halbelliptischer Form, ihre Ränder verlaufen nicht glatt, sondern unregelmäßig aus- gebuchtet, wie Austernschalen. Ebenso uneben ist die Oberfläche dieser Platten, denn diese zeigt sich bedeckt mit seichten, wellenförmig ver- laufenden Vertiefungen. Die mittlere von diesen Platten ist mit ihrer abgerundeten Spitze nach außen bezw. in der Richtung der äußern Wand der Tasche gerichtet, die vordere Platte ist der ventralen und dorsalen Fläche des Körpers parallel, die hintere steht auf letzterer senkrecht. Die mittlere Platte berührt mit ihrer Spitze mehrfach die gegenseitige Wand der Tasche und teilt somit unvollständig die Taschen- höhle in zwei gesonderte Räume. Bei Osphromenus olfax und besonders bei Anabas scandens haben die Platten einen viel kompliziertern Bau, indem sie viel größer und dünner sind und viele blattförmige Auswüchse haben. Cuvier schil- dert sie vortrefflich in seinen Abhandlungen, aus welchen man überall die Zeichnung des Labyrinthapparates des Anabas wiederholt findet. Doch sind diese Zeichnungen ungenügend für das vollständige Er- kennen selbst nur der äußern Form des Apparates. Sie sind meistens nur in der Ansicht von vorn gezeichnet, nicht aber im Profil. Wenn man das Organ von vorn betrachtet, so scheint es, dass die Blätter des Apparates unmittelbar aufeinander liegen, und so kommt man leicht auf den Gedanken, dass diese Blätter wirklich zwischen sich 682 Zograff, Labyrinthapparat der Labyrinthfische. Wasser aufhalten können; sieht man sich aber das Organ auch von der Seite an, so bemerkt man, dass die Blätter des Apparates nicht dieht übereinander liegen, sondern ziemlich weit von einander ent- fernt sind. So fand ich z. B. bei einem großen, ungefähr 0,15 m langen aus Java stammenden Exemplare von Anabas scandens var. macrocephalus den Abstand zwischen den einzelnen in vier Reihen übereinander liegenden Blättern etwa 2 mm weit. Gleiches gilt für Osphromenus, und was den Labyrinthapparat von Macropodus betrifft, so ist es augenscheinlich, dass er nicht wie ein Schwamm nach der Deutung Cuvier’s funktionieren kann. Man kann auch schwerlich annehmen, dass der Apparat von Anabas, aus vier Reihen zwei Milli- meter weit von einander entfernter Blätter bestehend, eine genügende Menge Wasser halten kann, um die Kiemen des Fisches während seines oft sehr langen Aufenthaltes außer dem Wasser befeuchten zu können. Alle Autoren, selbst die, welche die Erzählungen über das Klettern und die Wanderungen sehr skeptisch behandeln, schreiben, dass die Labyrinthfische nicht weniger als fünf Tage ohne Wasser leben und bekanntlich die heiße Zeit im Schlamm ausgetrockneter Pfützen und Teiche überdauern können, und es ist doch nicht anzu- nehmen, dass im heißen Indien die kleine Menge des in der Labyrinth- apparattasche befindlichen Wassers während einer so langen Zeitdauer nicht verdunsten solle. Betrachtet man den Bau des Apparates etwas näher, so findet man eine andere Erklärung seiner Funktion und Bedeutung. Der Labyrinthapparat besteht in seinem Innern aus einem feinen zierlichen Knochengerüst; unmittelbar an das Periost des Gerüstes schließt sich das Bindegewebe an, welches in das der Cutis übergeht, und letztere, die Cutis, ist mit Epithel bekleidet. Der Bau des Ap- parates ist also im allgemeinen nicht kompliziert; doch enthalten die sleich am Anfang genannten Gewebe in sich eingeschlossen auch andere Bildungen. Das innere, dem Periost angrenzende Bindegewebe, welches aus sternförmigen Zellen mit sehr kleinen Zellkörperchen und langen dünnen fadenförmigen Ausläufern besteht, schließt zwischen seinen von den Ausläufern gebildeten Maschen eine Menge von großen Fettzellen ein, welche nicht das ganze Gewebe dicht ausfüllen, son- dern in große kugelrunde Fetthäufchen gruppiert sind. Diese Fett- haufen, von innen her die Oberflächen der Labyrinthplatten empor- hebend, geben diesen letzteren das früher erwähnte wellenförmige Aussehen. Das äußere Bindegewebe der Cutis besteht gleichfalls aus stern- förmigen Zellen, doch sind diese Körper größer und die Ausläufer kürzer, als in jenem mit Fett gefüllten Gewebe; auch sind die Maschen zwischen den Ausläufern viel enger. Im obersten Teil dieses Binde- gewebes bemerkt man eine Menge von Blutkapillaren, welche daselbst prachtvolle, eigentümliche Wundernetze bilden. Die Kapillaren sind Zograff, Labyrinthapparat der Labyrinthfische. 689 nicht in diehtem ordnungslosem Netze auf der ganzen Oberfläche des Apparates verteilt, sondern bilden über jeder Fettkugel ein besonderes kleines Wundernetz, woher die Oberfläche des Organs ein sehr schönes und außerordentliches Aussehen bekommt. Jedes einzelne Kapillar- netzehen bezieht seine eignen Arterien- und Venenästehen, welche aus den größeren dicht in der Nähe der Mittellinie der knöchernen Ge- rüste durchlaufenden Stämmcehen sich abzweigen. Das einzelne Kapillar- netzchen sieht nieht eigentlich netzförmig aus, sondern gleicht mehr einer Rosette, oder einer mehrfach zusammengesetzten Blumenkrone. Die Arterien- und Venenästchen jedes einzelnen rosettenförmigen Ka- pillarnetzes laufen dieht beisammen und verästeln sich in die Kapil- laren im Zentrum der Rosette, auf deren höchstem Punkte (man erinnere sich, dass jedes rosettenförmige Netzchen die äußere Hälfte der Fettkugeln bedeckt und folglich die Form von einer nach außen konvexen kuppelförmigen Kappe hat). Jede Verästelung der Arterien- oder Venenästchen zerfällt in drei, vier oder fünf, höchstens sechs Kapillaren. Diese Kapillaren verlaufen strahlenförmig aus dem Zen- trum nach der Peripherie der Rosette; dort begegnen sich die Arterien- und Venenkapillaren und gehen in einander über, wie man es auf der schematischen Abbildung in «a sieht. Die vereinigten Kapillaren bilden eine Schlinge, deren Kontur einem Blumenblättehen-Kontur ähnlich ist. Im Innern dieser Schlinge ver- einigen sich zwei andere Kapillaren (in der Figur bei 5), welche ihrerseits wieder andere Kapillarenmaschen umschlingen u. s. w., so dass jede blumenblättehenförmige Kapillarenschlinge als ein äußerer Rand einer Reihe von konzentrischen Kapillar- schlingen erscheint. Es versteht sich, dass SchematischeAbbildung eines die blumenförmigen Kapillarrosetten nicht inzelnen rosettenformigen immer so regelmäßig sind, wie es auf dem ee en ; } is | j chlingenhälften stellen die Schema abgebilet ist; bisweilen bemerkt nike ie ro man zwei, seltener auch drei Rosetten- streiften die venösen dar zentren, und dann bekommt das einzelne rosettenförmige Wundernetzchen ein unregelmäßiges Aussehen. Die Kapillargefäße sind dieht vom Bindegewebe umschlungen, so dass, wenn man nach längerer Mazeration in 35 °/, Alkohol das Netz an einigen Stellen herauspräpariert, man im Bindegewebe kleine Aus- höhlungen erhält, welche genau den im Gewebe verlaufenden Kapil- laren entsprechen. Die Kapillarnetze sind nicht auf der ganzen Oberfläche der La- mellen zu finden. So finden sie sich nicht im Bindegewebe an den Grenzen zwischen den einzelnen rosettenförmigen Netzen, und die Ränder der Lamellen entbehren ihrer gänzlich. Das Bindegewebe der 684 Zograff, Labyrinthapparat der Labyrinthfische. schmalen Ränder der Lamellen besteht aus großen Zellen mit saftigem Körper und kleinen Ausläufern. Diese großen Zellen gruppieren sich um die Spitze des knöchernen Gerüstes der Lamelle und erscheinen auf den Querschnitten als lange dünne Zellen, die, auf der Knochen- lamellenspitze radiär angeordnet, alle zusammen eine fächerförmige Figur bilden. Die ganze Zellenmasse bildet am Rande einen dicken weichen Randwulst, der höher als die übrige Oberfläche der Labyrinth- apparatlamelle ist. Der ganze Apparat ist mit Epithel bekleidet. Dieses Epithel sieht ebenso aus wie das, welches die Taschenwandungen überzieht; doch sind seine Zellen im frischen Zustande etwas höher und größer, ziehen sich aber dafür bei dem Zusatze der fixierenden oder konservierenden Reagentien desto mehr zusammen. Zwischen den Epithelzellen liegen zahlreiche Becherzellen; dieselben sind aber so kontraktil, dass man sie auf den Schnitten, welche in Paraffin oder Glyzerinseife angefertigt wurden, gänzlich vermisst. Auf den mit Osmiumchromsäure behan- delten und in Eiweiß geschnittenen Präparaten, sowie auf den in Chromessigsäure mazerierten Zerzupfungspräparaten sieht man diese Zellen dagegen vortrefflich. Die Labyrinthapparate von Anabas und Osphromenus weichen nicht viel von dem, was ich über Macropodus venustus mitgeteilt habe, ab. Es scheint mir, dass die Fettkugeln bei Anabas weniger entwickelt sind, doch könnte dies vielleicht auch von dem langen Liegen im Spiritus herrühren. Es kann auch sein, dass die Anabas, welche öfter in der freien Luft bleiben und ihr Organ brauchen, weniger als die Makropoden aus den Kapillarnetzen Fett in die benachbarten Gewebe abgeben. Aus dem Mitgeteilten geht hervor, dass der Labyrinthapparat ein gut entwickeltes Blutgefäßnetz mit zu- und abführenden Gefäßen ent- hält. Leider konnte ich nicht genau ermitteln, aus welchen größeren Gefäßen die Labyrinthapparatgefäße sich verästeln. Auch aus Cuvier’s Mitteilungen ist dies nicht zu entnehmen, denn dieser meint nur, das arterielle Blutgefäß zweige sich von der ge- meinsamen Arteria branchialis ab. So schien es indess auch mir, und es gelang mir, an den nicht injizierten Exemplaren einen Zusammen- hang zwischen dem Apparat und der erwähnten Arterie zu sehen; nur die Injektionen gelangen mir nicht wegen der Kleinheit und der Zart- heit der Fischehen und wegen des Mangels an lebendigem Material, denn ich konnte nicht mehr als fünf Exemplare untersuchen. Die übrigen Fischehen habe ich im Interesse des Fortbestehens meiner kleinen Kolonie verschont gelassen. In den Venenstamm gelang es mir einmal eine kleine Menge der Injektionsmasse durch die Aorta abdominalis einzuspritzen. So sage ich mit Cuvier, dass „es mir scheint“, dass die Labyrinth-Arterien aus der Arteria branchialis stammen, und dass die Labyrinth- Venen in die Aorta abdominalis einmünden. Zograff, Labyrinthapparat der Labyrinthfische. 685 Wozu kann ein so eigentümliches und oberflächlich liegendes Wundernetz dienen? Anfangs glaubte ich, einen Zusammenhang zwischen dem Nestbau aus den mit Gas gefüllten Schleimbläschen und diesem Apparate zu finden; aber der Nestbau wird nur von dem Männchen besorgt, und der Apparat ist bei den Weibchen genau so gut entwickelt, wie bei den männlichen Fischehen. Ferner wird der Schleim aus dem Munde ausgespritzt, und die topographische Lage des Apparates erlaubt dem Gase oder dem Schleime nicht, aus der Labyrinthtasche in die Mundhöhle zu gelangen; die Luft geht viel- mehr aus der Tasche direkt durch die Kiemendeckelöffnung nach außen. Ueber die Meinung Cuvier’s, dass diese Apparate zur Wasserkonservierung dienen, habe ich meine Ansicht bereits ausge- sprochen. Wenn man aber die außerordentliche Lebensweise dieser Fischehen betrachtet, wenn man sich daran erinnert, dass die Makro- poden in China in kleinen Gräben, selbst in Pfützen zwischen den Garten- oder Plantagenbeeten leben, und dass der größte Teil dieser Gräben und Pfützen gänzlich oder fast gänzlich während der heißen Zeit austrocknet, wenn man ferner daran denkt, dass die Osphromenus olfax und die Anabas — den Lepidosiren und Protopterus ähnlich — für die trockne Zeit in den Schlamm sich eingraben, und dass der Anabas aus einem Wasserbehälter in einen andern überzusiedeln im stande ist, so fragt man sich, wie atmen denn diese Tiere mit ihren Kiemen während der Dauer dieser außergewöhnlichen Zustände? Die Unmöglichkeit eines längern Wasserbehaltens in dem Labyrinthapparate von Macropodus und Ophiocephalus behufs Befeuchtung der Kiemen und die ungenügende Deutung Cuvier’s der Funktion dieses Apparates bei Anabas, Osphromenus und Colisa einerseits, anderseits das Vor- handensein ausgezeichnet entwickelter Wundernetze mit zu- und ab- führenden Gefäßen, so wie die mächtige Entwicklung von Becher- zellen, welche einen den Apparat befeuchtenden Schleim aussondern, machen mich glauben, dass der Labyrinthapparat ein Luft oder, ge- nauer gesagt, kühle Luft einatmendes Organ ist. Sollten spätere Untersuchungen zeigen, dass Cuvier’s Meinung und die meinige über die Stammäste der Labyrinthapparatgefäße unrichtig sind, so würde die von mir vorgeschlagene Deutung der Funktion des Apparates doch nicht darunter leiden, weil wir wissen, dass die Hautgefäße von Lurchen, welche auch nicht von den größeren Blutgefäßstämmen direkt sich verästeln, fähig sind, das in ihnen enthaltene Blut mit dem Sauerstoff der umgebenden feuchten Luft in Verbindung zu bringen. Leider sind meine Versuche, größere Mengen von dem aus der Labyrinthapparattasche ausgestoßenen Gase zu sammeln und zu unter- suchen, negativ geblieben; doch hoffe ich später, wenn die übrig ge- bliebenen Fischehen mir reicheres Material geben werden, diese Ex- perimente, sowie die Versuche, das Gefäßsystem des Apparats zu injizieren, fortsetzen zu können. 686 Emery, Ueber dimorphe und flügellose Männchen bei Hymenopteren. Ueber die morphologische Bedeutung dieses Apparates lehrten mich Untersuchungen ganz Junger Makropoden einsehen, dass derselbe wirklich, wie Peters meint, ein drittes Glied des vorletzten Kiemen- bogens ist; doch ist mit dem Kiemenbogenknochen noch ein anderer kleiner Knochen verwachsen, der wahrscheinlich nichts als ein Haut- knochen ist. Ueber dimorphe und flügellose Männchen bei Hymenopteren. Paul Mayer, Zur Naturgeschichte der Feigeninsekten. Mitt. Zoolog. Station Neapel. III. Bd., S. 551—590, Taf. 25 --26, Gustav Mayr, Feigeninsekten. Verhandl. d. K. k. Zoolog. Bot. Ges. in Wien. 1885, 8. 147—249, Taf. 11—13. Gottfrid Adlerz, Myrmecologiska studier. I. Formicowenus mitidulus Nyl. Ofvers. K. Vetensk. Akad. Förhandl., 1884, Nr. 8, p. 43—64, Taf. 27. Es kann als eine allgemeine Regel gelten, dass im männlichen Geschlecht die Lokomotionsorgane eine ebenso große und oft sogar größere Entwicklung erreichen als im weiblichen. In der zahllosen Reihe der Insekten konnte diese Regel bis vor wenigen Jahren als eine ausnahmslose gelten; es waren ja viele Formen bekannt, bei welchen die erwachsenen Männchen geflügelt, die Weibchen dagegen flügellos und sogar fußlos (Strepsiptera) sind; der entgegengesetzte Fall schien niemals beobachtet worden zu sein. In der That war dem aber nicht so; denn schon 1817 hatte Gallesio in den Feigen die flügellosen Männchen der Blastophaga gesehen und dieselben in Begattung mit dem geflügelten Weibchen überrascht, und später (1845) war die Richtigkeit dieser Angaben von Gasparrini und Seacchi bestätigt worden. Leider bekümmerte sich die entomolo- gische Welt wenig oder gar nicht um die in botanischen Schriften vergrabenen Notizen. — Nach und nach haben sich nun ähnliche Fälle zu einer stattlichen Zahl vermehrt; sie betreffen zwei in jeder Hinsicht fern von einander stehende Hymenopteren-Familien, nämlich: die Chaleididen und die Formieiden; erstere aus der großen Gruppe der Terebrantia, letztere aus der Abteilung der Aculeata. Die von Prof. Grafen zu Solms-Laubach in Verbindung mit Paul Mayer mit großem Fleiß ausgeführten Untersuchungen über die Caprifikation und die sich daran anknüpfende systematische Arbeit von Gustav Mayr über die in Feigen gefundenen Hymenopteren haben eine ganze Reihe uns hier interessierender Formen kennen ge- lehrt, welche zu verschiedenen Gruppen der Chaleididen zu gehören scheinen. Einige dieser Formen sind wahrscheinlich Schmarotzer von anderen; leider sind unsere biologischen Kenntnisse noch zu unvoll- kommen, um über diese Verhältnisse zu einigermaßen sicheren Schlüssen gelangen zu können. Soviel scheint festzustehen, dass die sonder- baren Agaoniden unmittelbare Gäste des Feigenfruchtknotens sind. Es sind auch eben diese Tiere, die, inbezug auf Gestalt der flügel- Emery, Ueber dimorphe und flügellose Männchen bei Hymenopteren. 687 losen Männchen, am intensivsten modifizierten Formen. Die Männchen sind hier von den zugehörigen Weibchen so verschieden, dass man, ohne den Nachweis des Zusammenlebens und der Begattung, wohl nie auf den Gedanken gekommen wäre, dieselben zu einem Genus zu vereinigen. Während die Weibchen von Blastophaga die Feige, in welcher sie geboren wurden, fliegend verlassen, um in andere Feigen ihre Eier abzulegen, bleiben die Männchen ihr kurzes Leben lang in der mütterlichen Feige. Nachdem sie ausgeschlüpft sind, suchen sie die Fruchtknoten auf, in welchen die jungen Weibehen in Erwartung eines Erlösers sitzen, nagen mit ihren Kiefern ein Loch darin und schieben dann den fernrohrartig ausstülpbaren Hinterleib durch die Oeffnung hinein, um das Weibehen noch in seiner Wiege zu befruchten. Die ganze Gestalt des Tieres ist wohl als Resultat der Anpassung an diese besondere Art des Lebens und der Fortpflanzung zu be- trachten; der Mangel der Flügel, die reduzierten Augen, beziehen sich offenbar auf die fast sitzende Lebensweise in einem geschlos- senen finstern Raum. Aber nicht alle feigenbewohnenden Chaleididen bieten uns dieselben morphologischen Verhältnisse. Bei manchen Gattungen, welche sich zum Teil den Torymiden anreihen, sind die Männchen geflügelt und sonst normal gebaut. Drei Gattungen zeigen aber einen höchst merk- würdigen Dimorphismus im männlichen Geschlecht. Aöpocerus hat außer den normalen Männchen eine andere Form mit rudimentären Flügeln und reduzierter Gliederung des Thoraxskelets, ohne Ocellen und mit Mandibeln von besonderem Bau. Bei Heterandrium und Crossogaster ist der Leib der flügellosen Männchen noch bedeutender modifiziert und von der Gestalt der geflügelten Form noch mehr ab- weichend, solche Männchen bieten eine auffallende Aehnlichkeit mit Arbeiter-Ameisen (ef. Mayr Fig. 43 Heterandrium uniannulatum). Die Kenntnis flügelloser Ameisen-Männchen ist minder alt. Erst 1863 entdeckte v. Hagens die flügellosen krüppelhaften Männchen des sonderbaren, ohne Arbeiter in Nestern von Tetramorium caespitum parasitisch lebenden Weibchens von Anergates atratulus. Schon früher hatte Roger eine eigentümliche Ameise beschrieben, die er in Ananas- häusern sammelte, wo Gesellschaften von Ponera punctatissima lebten. Der Leib des Tieres war dem eines Ponera- Arbeiters durchaus ähn- lich, aber am Ende des Hinterleibes bemerkte R. die hervorragenden männlichen Begattungsorgane. Diese Ameise wurde von ihm als neue Species P. androgyna genannt, wobei er auf die Analogie dieser Form mit den von Lesp£&s erkannten aus dem männlichen Geschlecht entstandenen Termitenarbeitern aufmerksam machte. Später fand Forel dieselben Tiere in einem Neste von P. punctatissima nebst zahlreichen geflügelten Weibchen wieder; da keine normalen Männchen vorhanden waren, so sprach er die Vermutung aus, es mögen diese Individuen als Männchen fungieren. Das geflügelte Männchen von 688 Emery, Ueber dimorphe und flügellose Männchen bei Hymenopteren. P. punetatissima scheint im Norden bis jetzt nicht gefunden worden zu sein, wohl aber in Italien, wo es vom Ref. mehrmals gefangen wurde und die P. androgyna nicht vorzukommen scheint. Betrachten wir letztere Form als ein flügelloses ergatoides Männchen, so hätten wir bei dieser Species einen Fall von Dimorphismus des Männchens; durch die von weiblichen Arbeitern durchaus nicht verschiedene Bil- dung des Kopfes und Zahl der Fühlerglieder wäre aber Ponera andro- gyna von allen anderen flügellosen Ameisen-Männchen ausgezeichnet, dieses Verhältnis verleiht derselben einen bereits von Forel hervor- gehobenen hermaphroditenartigen Habitus. — Zuletzt hat Adlerz unsere Kenntnisse von flügellosen arbeiterähnlichen Ameisen-Männchen durch seine Studien über Formicoxenus nitidulus um einen neuen Fall erweitert. Während das Weibchen die normale Form bietet, ist das Männchen einem Arbeiter durchaus gleich gestaltet, unterscheidet sich aber davon durch die 12gliedrigen Antennen (bei Arbeiter und Weib- chen sind sie nur 11 gliedrig), die Ocellen und die äußern Geschlechts- organe an der Hinterleibsspitze. Diese flügellose Männchenform war auch schon früher gesehen worden, aber falsch gedeutet. A. fand auch einige Männchen mit deutlichen Flügelansätzen. Das Erscheinen von flügellosen Männchen bei so verschiedenen und keineswegs näher verwandten Formen dürfte auf den Einfluss ähnlicher Verhältnisse zurückgeführt werden. Ohne Zweifel wurden diese Formen darum fixiert, weil sie dem Bedürfnis entsprechen, die Befruchtung aller Weibchen zu sichern. Wir haben es hier mit einem Zustand zu thun, welcher den kleistogamen Blüten gewisser Pflanzen einigermaßen als analog betrachtet werden kann. Bei Anergates, wo in einem Neste immer nur ein fruchtbares Weibchen existiert, wird dadurch beständige Paarung unter Geschwistern bedingt, ein mit der Autogamie bei phanerogamen Blumen vergleichbarer Zustand. Bei anderen Formen, wo mehrere Weibchen in einer Ameisengesellschaft zusammen leben oder in einer Feige ihre Eier gelegt haben können, wird die Kreuzung verschiedener Stämme, wir wollen sagen die Diehogamie nieht ausgeschlossen, aber auch nicht vorwiegend sein. Dagegen be- günstigt das Ausschwärmen geflügelter Geschlechtstiere die Kreuzung der Stämme im höchsten Grade. Sind zweierlei Männchen vorhanden, so tritt ein Verhältnis auf, welches demjenigen der Pflanzen mit offenen und geschlossenen Blumen verglichen werden kann. Fragen wir nun, in welcher Weise die flügellosen Männchen zuerst entstanden sein mögen, ob sie auf einmal erschienen oder sich ganz allmählich aus geflügelten Formen entwickelten, so scheint erstere An- nahme viel mehr für sich zu haben. Der Flügel mangelnde, gewisser- maßen monströse Individuen mögen ihre Eigenschaften auf ihre Nach- kommen übertragen haben, welche dann sich weiter differenzierten. So wird zuerst der Dimorphismus des männlichen Geschlechts ent- standen sein, welchem der Schwund der geflügelten Form folgen ni Emery, Entwicklungsgeschichte der Maulwurfgrille und der Biene. 689 musste. Eine stufenweise Rückbildung der Flügel durch Nichtgebrauch würde die Bildung dimorpher Zustände unerklärt lassen. Gehen wir von der geflügelten Form als primitiv aus, so lassen wir daraus als Zwischenstadium den Dimorphismus entstehen und aus diesem, durch Erlöschen der geflügelten, das ausschließliche Bestehen von flügellosen Männchen. Dass der flügellose Zustand der Männchen bei Ameisen für die sichere Befruchtung der jungen Weibchen günstig sein soll, wurde bereits von Adlerz hervorgehoben. Bekanntlich verwandeln sieh die Männchen früher als die Weibchen und werden dann von den Arbeitern oft mit großer Mühe im Bau zurückgehalten; dennoch entweichen davon immer welche, oft sogar sehr viele und gehen dadurch für die Erhal- tung der Art verloren. Dieser Mangel schwindet mit dem Flügellos- werden. Bei den Feigenhymenopteren kann man ähnliches annehmen. Ungeflügelte Männchen wandern nicht aus, sondern verbleiben in der Feige, wo sie sich einzig und allein dem Zeugungsgeschäft widmen. Auch den Weibchen wird dadurch die zum Zusammentreffen der Ge- schlechter nötige Schwärmzeit erspart; da die Befruchtung sehon vor dem Freiwerden stattfindet, so begeben sich die jungen Weibchen so- fort in benachbarte Feigen, um dort ihre Eier abzulegen. C. Emery (Bologna). Entwicklungsgeschichte der Maulwurfgrille und der Biene. A. Korotneff, Die Embryologie der @ryllotalpa. Zeitschr. f wiss. Zoolog, Bd. 41, S. 570—604 m. Taf. XXIX—XXXI und 1 Holzschn B. Grassi, Studi sugli Artropodi. — Intorno allo sviluppo delle Api nel- l’uovo. — Estratto dagli Atti dell’ Accad. Gioenia di Se. nat. in Catania; Ser. 3, VokyXVII,p.178, 20 Tav: Die von K. am großen dotterreichen Ei der Maulwurfgrille, von G. am durchsichtigen kleinen Ei der Biene angestellten Untersuchungen ergänzen und bestätigen sich gegenseitig, um so mehr, als beide Forscher über viele wichtige Punkte ganz unabhängig von einander zu gleichen Resultaten gekommen sind. — Merkwürdig ist, dass in beiden Formen, vor der Bildung des Blastoderms, ein Stadium beobachtet wurde, in welchem die amöboiden Embryonalzellen keinen dentlichen Kern zu besitzen scheinen. Mit diesem Befunde könnte das kürzlich von A. Sommer bei einer Poduride beschriebene Verhältnis verbunden werden; hier soll das fertige Ei vollkommen kernlos sein. Ob es sich in allen diesen Fällen um wirkliche Kernlosigkeit handelt, oder um diffuse Kernformen, wie solche von Gruber bei Protozoen entdeckt worden sind, dürfte noch untersucht werden, und wäre inbezug auf die neueren Anschauungen Weismann’s und anderer über Vererbung nicht ohne Interesse (Ref.). Bei Gryllotalpa sind die Embryonalzellen anfangs über die Ober- fläche des Eies zerstreut, einige wandern in die Tiefe des Dotters und bilden die von K. als primäres Entoderm bezeichneten Dotterzellen. 44 690 Emery, Entwicklungsgeschichte der Maulwurfgrille und der Biene. Aus dem Ektoderm allein sondert sich das Mesoderm. Zuerst stellen sich, unter dem Ektoderm, Zellen dar, die K. als Mesenehym bezeichnet, und erst später erfolgt längs der ventralen Mittellinie die Abtrennung des Myoblasten. Noch später entstehen aus dem Ektoderm in der Nähe der Tracheen andere ebenfalls als Mesenchym zu betrachtende Zellengruppen, welche auch von Tichomiroff bei Bombyx beobachtet wurden. Die embryonalen Hüllen, Serosa und Amnion, entstehen als Ekto- derm-Falte. — Nachdem die Gliedmaßen angelegt sind, bildet sich die Metamerie aus. K. zählt 18 Segmente, d. i. 4 Kopf-, 3 Thorax-, 10 Abdominal- und 1 Schwanz-Segment (dieselben Zahlen fand Ticho- miroff an Dombyx). Das Nervensystem zeigt ursprünglich eine ent- sprechende Gliederung in 17 Ganglienpaare, welche durch Verschmel- zung der 3 hinteren Kopfganglien (im Text heißt es irrtümlich Brust- ganglien) und der 3 letzten Hinterleibsganglien auf 13 reduziert wer- den. Die Cerebralganglien sind im Anfang von einander getrennt und mit der Bauchkette nur durch schmale Kommissuren verbunden. Das von Nusbaum als „Chorda“ bezeichnete Gebilde ist eine mediane Ektodermbildung, welche sich zwischen beide Ganglienstränge hinein- schiebt und mit der Bildung des Bindegewebes im Nervensystem gar nichts zu schaffen hat; letzteres Gewebe soll aus eingewanderten Blutzellen entstehen. Ganz besonders interessant sind die Beobachtungen über Bildung des Entoderms und des Darmkanals. Die Zellen des primären Ento- derms (die Dotterzellen) bedingen eine radiäre Zerklüftung des Dot- ters; die dadurch entstandenen Dotterpyramiden zerfließen zentral mit einander. Einige Zellen wuchern und bilden, unter der noch nicht seschwundenen serösen Hülle, die dorsale Wandung des Leibes, die Rückenplatte oder das Rtiekenorgan. Durch das Wachstum der die lateralen Körperwände bildenden Teile wird das Rückenorgan all- mählich bedeckt, seine Zellen sinken in den Dotter hinein und scheinen denselben zu zerstückeln. Nachdem die ektodermalen Teile des Darms (Vorderdarm und Hinterdarm) sich gebildet haben, wandern noch amöboide Zellen in den Dotter hinein und scheinen an der Verflüs- sigung desselben beizutragen. Nach dem Ausschlüpfen wird nach und nach durch Pumpbewegungen sämtlicher Dotter, einschließlich der in demselben enthaltenen, zum Teil degenerierten Zellen, also des ganzen sorenannten primären Entoderms in den als „Kropf“ bezeich- neten Anhang des Vorderdarms befördert. Das Mesenteron bekommt also vom primären Entoderm keine Epithel- Auskleidung, und das Mitteldarm- Epithel d. i. das definitive oder sekundäre Entoderm ent- springt aus dem Mesoderm; nach K. durch wandernde Blutzellen. — Die morphologische Bedeutung des sonderbaren „Rückenorgans“ soll nach K. keine andere sein als die eines Propfes, welcher die dorsale Lücke der embryonalen Körperwandungen ausfüllt. Physiologisch Emery, Entwicklungsgeschichte der Maulwurfgrille und der Biene. 691 spielt das Organ eine wichtige Rolle, in der Verarbeitung der zur Ernährung des Embryo bestimmten Dottermasse; zu dieser, wenn man so sagen will, Verdauung des Dotters werden nach einander dreierlei Zellen thätig: 1) die Dotterzellen; 2) das Rückenorgan; 3) einge- wanderte Blutkörperchen. Durch obige Betrachtungen lässt sich der Mangel des Rückenorgans bei dotterarmen Eiern erklären. Die Bildung des Herzens wird sehr eingehend geschildert. Wir wollen nur folgendes wiedergeben. Blutzellen sind schon frühzeitig zwischen Dotter und Mesoderm fast überall vorhanden, das Herz wird angelegt in Form zweier Rinnen, welche mit den dorsalen Rändern des Myoblastes gegen einander zusammenrücken und sich endlich zum Herzrohr vereinigen; jene Rinnen begrenzen eine weite Blutlakune, welche die Rückenseite des Dotters bedeckt und zum Herzlumen ver- kleinert wird. Die Entwieklung der Biene ist in einigen Beziehungen viel ein- facher, weil die komplizierten zur Verdauung des Nahrungsdotters notwendigen Einrichtungen gänzlich fehlen. Dotterzellen sind nach der Bildung des einschichtigen Blastoderms vorhanden, bedingen aber keine Zerklüftung des Dotters. Das Blastoderm ist zuerst kontinuier- lich über das ganze Ei verbreitet, wird aber später auf dem Rücken unterbrochen. Das Mesoderm entsteht aus dem Ektoderm dadurch, dass eine mediane Bauchplatte gleichmäßig einsinkt und von den lateral gelegenen Partien überwuchert wird. Diese Platte ist zuerst einschiehtig, wird aber später zweischichtig und spaltet sich nachher zur Bildung der Leibeshöhle. Das vordere und das hintere Ende der Mesodermplatte bilden, indem sie weiter vordringen, das Kopf- und Schwanzmesoderm, aber aus diesen Endteilen des Mesoderms entsteht auch das definitive Entoderm, d. i. die .epitheliale Auskleidung des Mitteldarms. Die Dotterzellen gehen dabei zu grunde; nach G. sollen die von Tiehomiroff, sowie von O. und R. Hertwig zum Beweis der Entstehung des Entoderms aus den Dotterzellen angeführten Bilder auch im Sinne seiner Ansichten erklärt werden können. — Amnion und seröse Hülle sind bei der Biene nicht getrennt, sondern bilden eine einzige Zellschieht. G. möchte die Embryonalhüllen der Insekten phylogenetisch aus einer besonders modifizierten Hautduplikatur ab- leiten, welehe von den Vorfahren der Klasse ererbt wurde; eine solche Duplikatur würde etwa dem Mantel vieler Entomostraken vergleichbar sein (Ref.). Nach G. entstehen die Cerebralganglien unabhängig von der Bauchkette und verbinden sich erst nachträglich mit ihr. Das ganze Nervensystem und, soweit es gelang den Vorgang zu beobachten, auch die Kommissuren, werden direkt aus dem Ektoderm angelegt. — Die Antennen bilden sich aus der Scheitelplatte und stehen außerhalb der Reihe der übrigen Gliedmaßen. Ein von Bütschli bereits gesehenes 44# 592 OÖ. und R. Hertwig, Bedingungen der Bastardbefruchtung. Kopfgliedmaßen-Paar, welches nur für kurze Zeit vor den Mandibeln erscheint um bald zu schwinden, deutet G. als den hinteren Antennen der Crustaceen vergleichbar. Abdominalgliedmaßen fand G. nur aus- nahmsweise und nicht an allen Segmenten. — Ueber die Bildung des Herzens stimmen die Beobachtungen von G. gut mit den oben referier- ten überein, beide unterstützen die Bütschli’sche Hypothese von der Entstehung des Gefäßsystems aus Residuen der Furchungshöhle bezw. der primitiven Leibeshöhle. Die Geschlechtsorgane entstehen als zwei mesodermalen Längsstreifen im 4.— 8. Abdominalsegment. Die Tracheen werden sehr frühzeitig angelegt: es sind 10 Paar Stigmen vorhanden, indem das 1. Thorax- und die 2 letzten Abdominal- segmente derselben entbehren. An einer entsprechenden Stelle der 2 letzten Segmente erscheint die Anlage der Vasa Malpighi, welche erst nachträglich, wenn sich der Hinterdarm bildet, ihre Mündungen in denselben versetzen. Tracheen und Harngefäße sollen also, wie be- reits P. Mayer vermutete, homodyname Bildungen sein. Diese An- sicht wird auch durch den Befund Tiehomiroff’s am Seidenwurm unterstützt; letzterer fand nur 9 Stigmenpaare, aber 3 Paare Mal- pighi’sche Gefäße. G. spricht weiter die Vermutung aus, dass die Spinndrüsen und andere von ihm gefundene Ektodermeinstülpungen „Kopfkanäle“ in der Nähe der Mandibeln und Maxillen mit Tracheen homodynam sein möchten. — Falls eine entodermale Entstehung für die Antennendrüse der Crustaceen und die Schleifenkanäle der Anne- liden nachgewiesen wäre, so könnte erstere den Kopfkanälen des Bienenembryo als homolog, beide, sowie die Tracheen und die Mal- pighi’schen Schläuche den Anneliden-Nephridien als gleichwertig be- trachtet werden. Mit einer solehen Anschauung scheinen Ref. die Verhältnisse bei Peripatus nicht gut vereinbar, da hier zugleich Nephridien und Tracheen vorhanden sind, oder man sollte annehmen, dass die Tracheen von Peripatus und von den anderen Arthropoden nicht gleichwertig sind. Nimmt man an, dass die Tracheen und die Malpighi’schen Schläuche aus diffus verbreiteten Hautdrüsen hervorgegangen sind, so könnte man weiter vermuten, dass ihre Mündungen später mit den Oeffnungen der Nephridien sich vereinigten, wodurch sie eine segmentale Anord- ordnung erhielten. Aber dazu ist auch gar nicht notwendig, die Nephridien aus dem Ektoderm entstehen zu lassen, was allen bis jetzt angestellten Untersuchungen widersprechen würde. C. Emery (Bologna). Oskar und Richard Hertwig, Experimentelle Untersuchungen über die Bedingungen der Bastardbefruchtung. Untersuchungen zur Morphologie und Physiologie der Zelle. Heft 4. Jena, Gustav Fischer, 1885. Im zweiten Bande dieser Zeitschrift (S. 258—261) ist über Un- O0. und R. Hertwig, Bedingungen der Bastardbefruchtung. 693 tersuchungen berichtet, welche R. Köhler über die Kreuzung ver- schiedener Echinodermen- Arten angestellt hat. Es hat dann weiter Enrico Stassano Beobachtungen ähnlicher Art angestellt, die gleichfalls von positiven Erfolgen begleitet waren (Zool. Anzeiger, Jahrg. 6. 1883. S. 393— 395). In jüngster Zeit haben die Gebrüder Hertwig dieses Thema aufgenommen, und zwar nicht, um nochmals die von den Vorgängern hinlänglich konstatierten Thatsachen zu prüfen, sondern im Interesse der Lösung einer allgemeinern Frage. Diese Frage lautet: welches sind die Bedingungen, unter denen Bastardbefruchtung stattfinden kann? Durch eine zufällige Beobachtung wurden die Verfasser gleich im Anfang ihrer Untersuchungen auf den Umstand aufmerksam gemacht, der sich ihnen auch im weitern Verlauf als der entscheidende ergeben hat. Das Material lieferten ihnen nämlich gleichfalls Seeigel und zwar Strongylocentrotus lividus, Echinus microtuberculatus, Sphaerechinus granularis und Arbacia pustulos«. Nun waren sie eines Tages ge- nötigt, Eier von Strongylocentrotus in einem Schälchen mit Wasser bis zum folgenden Tage unbefruchtet stehen zu lassen. Als sie dann den Versuch einer Kreuzung mit Sphaerechinus granularis machten, gelang die Befruchtung in überraschender Weise: während bei den früheren Experimenten, zu denen nur ganz frisches Material verwendet war, stets nur einzelne Eier befruchtet worden waren, trat in diesem Falle weitaus die Mehrzahl derselben in die Entwicklung ein. Es war also offenbar durch das Liegen im Wasser eine Verän- derung der Eier hervorgerufen, welche die Bastardierung begünstigt. Um die Richtigkeit dieses Satzes zu konstatieren, wurden ver- schiedene Versuche angestellt, deren erste die Aufgabe hatten, das Verhalten der frischen, unmittelbar dem Körper entnommenen Ge- schlechtsstoffe festzustellen. Dabei ergab sich nun eine vollständige Bestätigung der Angaben Köhler’s, nicht nur hinsichtlich des Ein- tritts der Kreuzbefruchtung überhaupt, sondern auch in dem Punkte der Ungleichheit des Resultates, je nachdem von einer Species Eier oder Samen zur Kreuzung mit einer andern verwendet wurden: E. microtub. ? Str. lividus g: vollständiger Erfolg. 5 a & E & 2: nur einzelne Teilungen. Sph. granularis 2 5 A d: desgl. r)] Ph] d )) n 2: desgl. Arb. pustulosa 2 s 4 d: desgl. . a d 5 B 2: häufig ganz erfolglos. 4; = 2 Sph. granularis g': nur einzelne Teilungen. “ n d a R 2: desgl. oder erfolglos. Es erhellt aus diesen Experimenten zugleich, dass in weitaus den meisten Fällen nur ein kleiner Teil der frischen Eier der Bas- tardbefruchtung zugängig ist. Die Versuche wurden deshalb mit 694 O0. und R. Hertwig, Bedingungen der Bastardbefruchtung. Strongylocentrotus lividus und Sphaerechinus granularis fortgesetzt und zwar in zweierlei Weise: 1) indem zu einer und derselben Portion zu wiederholten malen Sperma zugesetzt und der Erfolg dieser „succes- siven Nachbefruchtungen“ beobachtet wurde, und 2) indem Eier, welche verschieden lange Zeit in Meerwasser gelegen hatten, mit frischem Samen der andern Art gekreuzt wurden („ungleichzeitige Kreuzbefruchtung“). Die Resultate waren im allgemeinen ganz über- einstimmender Art, und ich begnüge mich daher damit, hier diejenigen einer einzelnen Versuchsreihe wiederzugeben, zu welcher Eier von Sphaerechinus granularis und Sperma von Stronchylocentrotus lividus angewendet wurden. Man sieht daraus zugleich, um was für Zeit- räume es sich handelt. „i. Befruchtung nach !/, Stunde: Aeußerst vereinzelte Eier entwickeln sich. Bastardierungs- minimum. 2. Befruchtung nach 2!/, Stunden: Etwa 10°/, entwickeln sich normal. 3. Befruchtung nach 6!/, Stunden: Etwa 60°/, entwickeln sich normal. 4. Befruchtung nach 10%/, Stunden: Alle Eier entwiekeln sich mit Ausnahme von 5°/,. Bastar- dierungsmaximum. 5. Befruchtung nach 25 Stunden: Ein Teil entwickelt sich normal, ein zweiter in unregel- mäßiger Weise, ein kleiner Rest bleibt unbefruchtet.“ Da zu diesen Versuchen meistens frisches Sperma verwendet wurde, ist eigentlich die Möglichkeit, dass auch Verschiedenheiten der männlichen Geschlechtstoffe zu diesem Ergebnis beigetragen haben könnten, ausgeschlossen. Die Verfasser haben indess auch noch einige besondere Versuche angestellt, in denen sie ganz frisches Sperma zu Eiern zugesetzt haben, welche verschiedenen Weibchen ent- nommen und ungleiche Zeiträume in Wasser aufbewahrt waren. An dem Resultat wurde dadurch nichts geändert. Und so kommen sie zu dem Schlusse, dass „der verschiedene Erfolg der Bastardierungs- experimente fast ausschließlich von der Veränderlichkeit der Eier abhängt.“ „Bei den Echinodermen lassen sich die Eier, nicht wenn sie am lebenskräftigsten sind, sondern bei abnehmender Lebensenergie durch Sperma einer andern Art befruchten.“ Dabei kommt noch eine Beobachtung in betracht, welche das Verhalten der Eihülle, der Dotterhaut, bei der Befruchtung betrifft. Diese hebt sich, wie wir dureh Untersuchungen von den Gebrüdern Hertwig, Fol u. a. wissen, unter dem Einfluss der Befruchtung ab und verhindert dadurch das Eindringen mehr als eines Spermatozoons. Nun findet nach längerem Verweilen der Eier im Seewasser zwar anfangs auch noch eine Abhebung der Dotterhaut statt, aber viel Strasser, Ueber den Flug der Vögel. 695 langsamer und schwächer, und zuletzt unterbleibt sie, womit die Ent- wicklungsfähigkeit des Eies aufhört. Hier haben wir also deutliche Anzeichen, dass mit dem längern Aufenthalt der Eier im Wasser thatsächlich eine Schwächung der Lebensenergie verbunden ist. Da diese Schwächung aber ihrerseits die Bastardierungsfähigkeit steigert, so dürfen wir schließen, dass zu den Kräften, mit denen das nor- male, lebenskräftige Ei ausgestattet ist, auch solche gehören, welche die Bastardbefruchtung zu verhindern streben. J. W. Spengel (Bremen). H. Strasser, Ueber den Flug der Vögel. Ein Beitrag zur Erkenntnis der mechanischen und biologischen Probleme der aktiven Lokombotion. Jena, Gustav Fischer, 18855, XVI. Auch abgedruckt in der Jenaischen Zeit- schrift für Naturwissenschaft, Bd. XIX, N. F., XII, 1885, S. 174—429. Wie der Verfasser schon in dem Titel andeutet, handelt es sich um die Erkenntnis eines mechanischen und biologischen Problems, und wie wir hinzusetzen wollen, eines Problems der allerschwierigsten Art. Die Konstruktion eines fliegenden Wirbeltieres ist selbst für die Meisterin Natur eine gewaltige Aufgabe gewesen, weil es sich nicht bloß um die Herstellung des Lokomotion-Apparates an sich handelte, sondern auch um die entsprechende Massenverteilung an dem ganzen Körper. Durch die vorliegenden Studien sollte die Rolle, welche der lokomotorische Apparat im Haushalte des einzelnen Tieres und bei der Umformung der Arten spielt, beleuchtet werden. Das war der leitende Gesichtspunkt, den der Verfasser hier, wie schon bei anderen Studien über die Ortsbewegung der Tiere im Auge gehabt hat!). Im Reich der Luft ist die Möglichkeit der Ortsbewegung an einen engen Kreis von Mitteln gebunden. Während ‘die übrigen Wirbeltierklassen die Muskulatur des ganzen Körpers für die Ortsbewegung verwenden können, ist es bei dem Vogel nur der Flügel, in welchen die domi- nierende Bedeutung als Lokomotionsapparat konzentriert ist. Aus diesem Grunde herrscht eine auffallende Gleichförmigkeit der Flug- apparate, und eine vollkommene Unterordnung der ganzen übrigen Organisation des Körpers unter die Forderungen der Flugmaschine. Dieser Teil der Untersuchung ist für den Biologen unstreitig der interes- santeste, und wir werden grade darüber einige Ansichten des Ver- fassers folgen lassen, nachdem eine kurze Inhaltsübersicht dem Leser zeigen wird, in welcher Weise das vorliegende Material angeordnet ist. Nach den unerlässlichen Vorbemerkungen üher den Flug, über Normal- flug, Kräftekurven ete. wird die anatomische Disposition der Maschine betrachtet; der Untersuchung der Bewegungsform und der Luftwider- 1) H. Strasser, Ueber die Grundbedingungen der aktiven Lokomotion. Halle 1880. —, Zur Lehre von der Ortsbewegung der Fische. Stuttgart 1882. —, Ueber den Flug der Vögel. Freiburger Univ.-Buchdruckerei 1834. 696 Strasser, Ueber den Flug der Vögel. stände folgen die eignen Beobachtungen an Schwalben, Krähen, Tauben und Möven, die Besprechung der neuen Registriermethoden u. s. w. Ein zweiter Abschnitt trägt den Titel „das Wechselspiel der Kräfte“, ein dritter Abschnitt erörtert die notwendige Menge und Verteilung der Muskulatur, ihre Arbeit, das Verhältnis des Stoffumsatzes zu der äußern Arbeit, den Einfluss der Anzahl der Flügelschläge und der Größe des Schlagwinkels, den Einfluss der Flügelform, den Flug in Wellenlinien und das Kreisen. Diese Auseinandersetzungen umfassen 15 Bogen; dort, wo es das Verständnis erforderte, sind graphische Darstellungen in den Text eingefügt, wie denn überhaupt die graphische oder geometrische Methode eine ausgedehnte Anwendung gefunden hat. Ein interessantes Resultat der Untersuchung gipfelt in dem Satz, dass die relative Vergrößerung des Flügels im Verhältnis zum Rumpf- gewicht eine bestimmte Grenze hat, dass die Zunahme des Flügels nur bis auf einen bestimmten Punkt gesteigert werden kann, weil gleichzeitig, offenbar nach dem unerbittlichen Gesetz des korrelativen Wachstums, das Gesamtgewicht und die Gesamtgröße des Körpers mit dem Gewicht und mit der Größe des Flügels zunimmt. Mit zu- nehmenden Dimensionen steigert sich die Schwierigkeit des Fliegens überhaupt, und allem Anschein nach ist die Grenze bei dem Kondor bereits erreicht. Die Fähigkeit des Fluges ist deshalb wahrscheinlich von kleineren Tieren zuerst erreicht worden, und es wird diese An- sicht durch die Thatsache nicht widerlegt, dass sich in denselben geologischen Schichten mit den Zahnvögeln Amerikas gigantische Flugsaurier gefunden haben, die zum Teil eine Flügelspannweite von nahezu 25 Fuß besessen haben müssen. Diese Riesen konnten wohl kaum fliegen im wahren Sinne des Wortes. Ihre Flügel waren eine jener nutzlosen Extravaganzen, welche sich die Natur in ihrer schöpfe- rischen Laune mehrfach erlaubt hat. Was die Vögel betrifft, so fehlt in den Schichten unterhalb der jüngern Kreide bis jetzt jede Spur eines größern guten Fliegers. Der größte, I/chthyornis, mochte kaum größer als eine Taube gewesen sein. Archäopterix hatte etwa die Größe einer Krähe. Sollten die Untersuchungen grade der giganti- schen Flugsaurier später herausstellen, dass solche Riesen dennoch gute Flieger sein konnten, so würde dadurch doch nicht der Satz auf- gehoben, dass es kleine Tiere waren, an welchen die Natur die Fähig- keit des Fluges zuerst zu entwickeln vermochte. Diese Voraussetzung stimmt mit allen übrigen biologischen Erfahrungen. Der Uebergang der Perennibranchiaten in einen terrestrischen Lungenatmer musste an den Embryonen vorbereitet werden, wie uns noch heute unsere Molche und Batrachier zeigen, und die mesolithischen Säugetiere, von denen die größte Zahl mit hinlänglicher Sicherheit als Beuteltiere erkannt wurden, alle sind von zwerghafter Größe, kaum stärker als Mäuse und Ratten. Also die ersten Säugetiere sind ein Geschlecht von Zwergen, die Stammväter der späteren Riesen — kleine Marsupialier. In diesen Kreis der Erfahrungen passt vollkommen das Ergebnis der Unter- Strasser, Ueber den Flug der Vögel. 697 suchung über den Flug der Vögel, mit Hilfe der geometrischen und physiologischen Methode gewonnen: dass es kleine Tiere waren, an denen zuerst die Lösung des Flug-Problems gelang. Die Bedingungen der Flugbewegung und ihr Studium am normalen Fluge, bei welebem die Thätigkeit des Apparates eine symmetrische ist, und in regelmäßigen einander vollkommen gleichen Perioden sich wiederholt, erlaubte dem Verfasser einige Fälle der Anpassung des Organismus des Wirbeltieres an die Bewegung des Fliegens ge- nauer zu bestimmen. 1) Bei unveränderter Anordnung in Form der Muskeln, aber gleiehmäßiger Zunahme aller Dimensionen muss die Qualität der Substanz im Sinne einer größern Spannungsfähig- keit sich ändern. 2) Die Riehtung der Fasern kann sich im Sinne einer größern Parallelstellung der Fasern zueinander umge- stalten. Schlanke, lange Muskeln werden dadurch in kürzere und diekere verwandelt. 3) Es wird die Zahl der Muskelfasern vermehrt. 4) Die Hebelarme der Muskeln ändern sich, indem mit wachsen- den Dimensionen die Muskeln relativ von dem Gelenke wegrücken. Diese vier Momente können auch in beliebiger Weise mit einander kombi- niert werden. Bei den großen guten Fliegern liegen die Muskeln der Schulter weiter auseinander (Anpassungsmöglichkeit Nr. 4), ferner scheinen die Muskelsehnen verhältnismäßig länger zu sein (Anpassungs- möglichkeit 1 u. 2). Der Vorteil des Abrückens der Muskeln vom Gelenk würde jedoch bald seine Grenze finden, wenn zwischen den vergrößerten Dimensionen eine tropfbar-flüssige oder eine feste Aus- füllungsmasse eingeschaltet wäre. Hier ruft die Anpassung, denn so darf man die folgende Erscheinung wohl ausdrücken, die Luftsäcke in die entstandenen Zwischenräume hinein, eine Einriehtung, welche für die Entwicklung größerer Flugtiere von entscheidender Bedeutung wird. Die mit Luft erfüllten Räume zwischen den Muskeln der Schul- ter kommunizieren mit Nachbarhöhlen und mit den großen Lufträumen im Innern der Brust, und können ohne nennenswerten Widerstand in ihrer Form vergrößert und verkleinert werden. Bei den größten Fliegern haben die Lufträume der Schulter verhältnismäßig die größte Ausdehnung. Die Hauptbedeutung der Pneumatisation liegt also darin, dass durch sie ein expansiveres Wachstum der Teile mög- lich gemacht wird. Während so bei der Zunahme der Dimensionen die Muskeln weiter auseinanderrücken, die Sehnen länger werden, die Ansatzflächen vom Gelenk wegwandern und an langen Fortsätzen sich inserieren (Fureula, Crista sterni, Fortsätze des Humeruskopfes), drängen sieh bei kleinen Vögeln die Muskeln zu einer fast kontinuier- lichen Masse um das Gelenk zusammen. Sie füllen den Raum zwischen Ursprung und Ansatz gänzlich aus, so dass keine freie Sehne mehr zu sehen ist. Alle diese Aenderungen sind mit einer Verkleinerung des Exsursions-Koeffizienten verbunden, und damit geht eine Steige- rung der Geschwindigkeit Hand in Hand. Der rasche Flügelschlag der kleinen Vögel, ebenso wie die Kontraktionsgeschwindigkeit der 598 List, Bau, Sekretion, Untergang der Drüsenzellen, Muskeln bei den Insekten findet dadurch eine genügende Erklärung. — Den mechanischen Auseinandersetzungen fehlt, wie der Verfasser selbst bemerkt, die Eleganz und Bündigkeit, welche die Werke der Physiker von Fach auszeichnet. Man möge dies als unvermeidliches Uebel mit in Kauf nehmen, da nun einmal ein Anatom die in Rede stehenden Fragen in die Hand nehmen, und die dazu notwendigen physikalischen Kenntnisse sich mühsam und auf Umwegen erwerben musste. Kollmann (Basel). Ueber den Bau, die Sekretion und den Untergang von Drüsenzellen. Von Dr. Josef Heinrich List in Graz. Wie dürftig unsere Kenntnisse vom Bau der Drüsenzellen sind, lehrt am besten W. Flemming’s schönes Werk: Zellsubstanz, Kern und Zellteilung. Wenn man bedenkt, dass der größte Teil der interessanten Befunde genannten Forschers nur mit Hilfe von Immersionssystemen gewonnen wurde, so wird sich einem naturgemäß die Frage aufdrängen, ob es nicht möglich sei, ein Objekt zu finden, das leicht zugänglich, auch groß genug wäre, um mit Anwendung ver- hältnismäßig schwacher optischer Mittel Strukturen beobachten zu können. In der That schienen mir seit der mir gelungenen Auffin- dung von Drüsenzellen im Blasenepithele von Amphibien dieselben ein zur Beobachtung außerordentlich günstiges Objekt zu sein. Der Wunsch nun einerseits über diese interessanten Gebilde, die in mor- phologischer Beziehung von F. E. Schulze so trefflich beschrieben worden, nähern Aufschluss zu erhalten, anderseits einen kleinen Bei- trag zur Ausfüllung der bereits sehr fühlbar gewordenen Lücke un- serer Kenntnisse von Drüsenzellstrukturen zu liefern, ließ mich eine Arbeit unternehmen, worüber ieh nachfolgend kurz zu referieren mir erlaube. Ich glaubte meinen Zweck am besten dadurch zu erreichen, dass ich eine bei Wirbeltieren und Wirbellosen außerordentlich häufige Art von Drüsenzellen, die sogenannten Becherzellen, einer mög- lichst eingehenden Untersuchung unterwarf und als Vergleichsobjekt die Zellen anderer Drüsen, besonders aber der Schleimdrüsen heranzog. Ich werde also nachfolgend über den Bau, die Sekretion und den Untergang der Becherzellen berichten und am Schlusse meiner Erörterungen die Analogien derselben mit den Schleimdrüsen- zellen besprechen. Mit dem Namen Becherzellen bezeichnete F. E. Schulze Gebilde, die zwar lange früher schon bekannt und beschrieben wurden, denen aber keine besondere Beachtung geschenkt worden war. Erst durch Schulze’s umfassende, auf eine große Anzahl vergleichend -histologischer Beobachtungen gestützte Unter- suchung gewann man eine befriedigende morphologische Einsicht in dieselben. Unter Becherzellen versteht man nun in den verschie- densten Epithelien bei Wirbeltieren und Wirbellosen vorkommende, gewöhnlich rundlich blasenartige, ellipsoidähnliche oder birnförmige List, Bau, Sekretion, Untergang der Drüsenzellen. 699 Gebilde, welche von einer deutlichen Membran umgeben sind, und in denen stets ein Kern nachzuweisen ist, die also jene Bestandteile besitzen, die ihnen den Charakter der Einzelligkeit verleihen. So einfache Formen nun, als es vielleicht auf den ersten Blick erscheinen möchte, zeigen die Becherzellen durchaus nicht. Schon Schulze teilte dieselben in richtiger Erkenntnis der Unterschiede in zwei Gruppen, unbefußte und befußte Formen ein, indem er die letz- teren mit Weingläsern, den sogenannten Römern, verglich. Auch ich wurde durch meine Untersuchungen dahin geführt, 2 Typen zu unterscheiden und behielt auch den von Schulze eingeführten Aus- druck bei. Nur war ich gezwungen, um eine leichtere Beschreibung zu bewerkstelligen, die unbefußten Becherzellen noch in unge- stielte und gestielte Formen zu trennen. I. Unbefußte Becherzellen. a) Ungestielte Formen. Zeigen stets kugelige, ellipsoidähnliche oder mehr zylindriseh- walzenförmige Formen; sind stets ohne Anhangsbildungen und der Nucleus liegt gewöhnlich am Grunde der Theca. b) Gestielte Formen. Die Theca zeigt dieselbe Gestalt; an ihrem untern Teile findet man einen Anhang, der verschiedenartig gestaltet gewöhnlich einen glänzenden, Farbstoffe nur in äußerst geringer Menge aufnehmenden Inhalt besitzt. Stets liegt der Kern in der Theca, über dem Stiele der Becherzelle. II. Befußte Becherzellen. Die Theca setzt sich nach unten zu fort und bildet in ausge- prägten Formen eine Art Handhabe, welche mannigfaltige Form zeigt. Stets liegt der Nucleus — eine Eigentümlichkeit, die sie von den oben besprochenen Formen wesentlich unterschei- det — im Fuße selbst. Wenden wir uns nun nach dieser kurzen zur Uebersicht dienen- den Einleitung zur Besprechung des Baues. Die Membran, die die Becherzellen umgibt, erscheint als eine doppelt konturierte derbe, mannigfache Alterationen duldende echte Zellenmembran, die auf der äußern Oberfläche stets glatt, nie mit Höckerchen besetzt erscheint, die etwa als Ausdruck von gerissenen Intereellularbrücken angesehen werden könnten. Nicht selten bemerkt man, dass die Membran so- wohl an ungestielten wie an gestielten Formen an jener Stelle, an welcher der Kern liegt, also am Grunde der Theca, eine Ausbauchung zur Aufnahme des Nucleus besitzt. An den gestielten und den be- fußten Formen zieht sich die Membran nach unten zu fort zur Be- grenzung des Stieles bezw. des Fußes. Allerdings ist es sehr häufig nicht möglich, an dem Anhangsgebilde beider Zellenarten die Membran stets deutlich zu beobachten. Sie stimmt oft in ihren optischen Eigen- schaften mit dem Inhalte des Stieles überein, während man manchmal 700 List, Bau, Sekretion, Untergang der Drüsenzellen. auch an befußten Formen bemerken kann, dass die Membran all- mählich in den Inhalt des Anhanges übergeht, so dass eine Tren- nung von Membran und Inhalt nicht differenziert erscheint. Der Inhalt der Theca besteht nun bei sämtlichen Becherzellen aus zwei Substanzen: eine in Form eines polygonale oder auch mehr rundliche Maschen bildenden, die ganze Theca durchziehenden, aus dünnen Strängen bestehenden Gerüstwerkes angeordnete Substanz, die bestimmte Farbstoffe außerordentlich begierig aufnimmt, Filar- masse, und eine zwischen den Maschen befindliche, Farbstoffe nur in geringerer Menge aufnehmende anschenend homogene Substanz, Interfilarmasse. Die einzelnen Maschen des Gerüstwerkes der Filarmasse bestehen nun aus Strängen, die in den Becherzellen aus den verschiedensten Epithelien nieht nur eine verschiedene Dicke (Stärke) zeigen, sondern deren Anordnung auch mannigfach variiert. Es wäre ein überflüssiges Beginnen hier alle Maschenformen bespre- chen zu wollen. Ich bemerke, dass im allgemeinen die Stränge rund- liche oder auch mehr polygonale Maschen bilden; die Stränge selbst erscheinen grade, gewunden, verschiedenartig geknickt, und bilden an den Ecken der Maschen stets größere oder kleinere Verdiekungen (Knotenpunkte), von welchen Stränge nach anderer Richtung abgehen. Die ganze innere Oberfläche der Theca ist nun von einem solchen polygonalen Netzwerke ausgekleidet, und sehr häufig gelingt es an Schnitten, Stränge, die der Theca anliegen, zu sehen. Die knotigen Verdiekungen selbst, die selbstverständlich auch auf der innern Fläche der Theca zu sehen sein werden, und von welchen Stränge in das Innere derselben ziehen, haben zu der irrtümlichen Ansicht Schieffer- decker’s Veranlassung gegeben, wornach die innere Fläche der Theca mit Buckeln ausgestattet wäre. Diese Verdieckungen gehören also nicht zur Theca, sondern sind nur Teile der an derselben liegenden Filarmasse. Das ganze aus polygonalen oder auch mehr rundlichen Maschen bestehende Gerüstwerk derselben ist als eine einheitliche Masse anzusehen. Nie kann man bemerken, dass die einzelnen Stränge in den Knotenpunkten etwa durch einen Kitt mit einander verbunden wären. Sehr häufig kann man am Grunde der Theca eine größere An- sammlung von Filarmasse bemerken. Die Maschen sind dann ge- wöhnlich lang gestreckt und die ganze Masse zieht sich ringsum an der Thecawand hinauf nach oben zu, mit einer Ausbauchung sich ab- grenzend. Die Interfilarmasse, die stets homogen erscheint und Farbstoffe in weit geringerer Menge aufnimmt, erscheint in manchen Maschen, besonders in den dem Nucleus zunächst liegenden, intensiver gefärbt. Inwieweit sich hier eigentümliche Veränderungen innerhalb der Theca abspielen mögen, bin ich nicht im stande zu entscheiden. Der Kern zeigt außerordentlich mannigfache Form in den ver- schiedenen Becherzellen. Während derselbe in den unbefußten Formen List, Bau, Sekretion, Untergang der Drüsenzellen. 7101 als eine abgeplattete halbmond- oder kuchenförmige Masse am Grunde der Theca der Membran dicht anliegt und nur in seltenen Fällen mehr sphärisch erscheint oder von der Membran etwas entfernt liegt, ist er in den befußten Becherzellen nur sphärisch oder ellipsoidähnlich. An frisch untersuchten Becherzellen konnte ich stets ein deutliches Netzwerk und Nucleoli im Kerne nachweisen. Niemals gelang es mir aber, einen Zusammenhang des Gerüstwerkes des Kernes mit dem der Filarmasse nachzuweisen, wie Klein behauptet. Als Beweis dagegen möchte ich noch den Befund anführen, den ieh an Becher- zellen aus dem Kloakenepithele verschiedener Plagiostomen gemacht habe. An gehärteten Schnittpräparaten konnte ich oft den ganzen aus Filar- und Interfilarmasse bestehenden Inhalt der Theca von der Membran getrennt außerhalb derselben liegen sehen, während der Kern fest an der Membran haftete und nicht eine Spur von Filar- masse an seiner Oberfläche zeigte. Der Inhalt des Stieles der Becherzellen erscheint gewöhnlich stark glänzend, verhält sich zumeist indifferent gegen Tinktionsmittel und dürfte sich wohl dureh einen Umwandlungsprozess aus dem ur- sprüngliehen Inhalte gebildet haben. Manchmal gelingt es auch Spuren von Granulation zu bemerken. Die Form des Stieles selbst ist äußerst mannigfaltig. Von der fadenförmigen bis zur bandartig verbreiterten und kurzen gedrungenen Form findet man die verschie- densten Uebergänge. Im Kloakenepithele von Seyllium konnte ich fadenförmige Stiele beobachten, die von der Oberfläche bis zur Mu- cosa reichten. Einen Zusammenhang der Stiele mit Nervenfasern aufzufinden ist mir trotz vielfacher Versuche nicht geglückt. Der Inhalt des Fußes zeigt sich ebenfalls aus Filar- und Inter- filarmasse zusammengesetzt. Nur findet man das Gerüstwerk der erstern Substanz aus kleinen höchst .unregelmäßigen Maschen be- stehend, die häufig nur undeutlich ausgeprägt sind. Im Tinktions- verhalten stimmt der Inhalt des Fußes mit der Zellsubstanz der ge- wöhnlichen Epithelzellen überein. Die Form des Fußes ist sehr variabel. Häufig erscheint derselbe als eine Art Handhabe, kolben- förmig am untern Ende zur Aufnahme des Kernes; oder er zeigt zylindrisch - walzenförmige Form. Der Kern liegt entweder im obern, mittlern oder untern Teile des Fußes. Die Sekretion der Becherzelle beginnt, wenn sie die Oberfläche erreicht und ein Stoma erhalten hat. Sämtliche in den tieferen Schichten des Epithels vorfindlichen Formen sind geschlossen. Schon am überlebenden Objekte kann man aus den Stomata Sekretballen ausstoßen sehen. Man braucht nur eine Bartel von Cobitis fossilis abzuschneiden und unter das Deckglas zu bringen, um aus den Sto- mata der zahlreich vorkommenden Becherzellen das Sekret austreten zu sehen. Untersucht man nun mit Härtungsmitteln fixierte und hierauf tingierte günstige Schnittpräparate (z. B. Oberhaut von Tor- pedo marmorata, Oberhaut der Oberlippe und Barteln von Cobitis 702 List, Bau, Sekretion, Untergang der Drüsenzellen. Jossilis, Kloakenepithel der Plagiostomen), so kann man sehr häufig geöffnete Becherzellen finden, über deren Stoma eine Sekretmasse aus Filar- und Interfilarmasse bestehend liegt. Die Maschen sind ge- wöhnlich zerknittert, auch gerissen, und häufig kann man ein ganzes Gewirr von einzelnen Strängen beobachten. Soweit man nun aus ge- härteten Präparaten Schlüsse ziehen kann, steht mir unzweifelhaft fest, dass die Sekretion auf einer Art Quellungsprozess beruht. Wenn man frische geschlossene Becherzellen mit konzentrierter Essig- säure behandelt, so kann man ein Anschwellen der Theca und Stoma- bildung beobachten; aus dem Stoma selbst konnte ich dann stets Sekretmasse hervorquellen sehen. Selbst an geöffneten Formen konnte ich oft frisch untersucht über der Oeffnung kein Sekret beobachten. Nach Zusatz von Essigsäure aber bemerkte ich eine zum größten Teile aus Interfilarmasse bestehende, aus dem Stoma hervorquellende Substanz. Der Quellungsprozess beruht entschieden auf einer Zu- nahme der Interfilarmasse. An Blasen von Bombinator igneus, in deren Epithel massenhaft Drüsenzellen vorkommen, und die mit sal- petersaurem Silberoxyd behandelt und mit Wasser ausgewaschen worden waren, konnte ich über den Stomata Pfröpfe beobachten, die an Größe die Theea bei weitem übertrafen, und die zum größten Teile nur aus Interfilarmasse bestanden. An Schnittpräparaten der Oberhaut von Torpedo, die aus !/‚prozentiger Chromsäure stammten und die nachher tingiert worden waren, konnte ich häufig über dem Stoma einen ansehnlichen „Propf“ beobachten, während im Innern der Theca Filar- und Interfilarmasse noch fast ganz unverändert nachzuweisen waren. Soviel ich nun an Präparaten gesehen habe, tritt der Quellungsprozess stets im obersten Teile der Theca ein und schreitet nach unten zu langsam fort. Im Zusammenhang mit dem Quellungsprozess steht die Stomabildung. Dass ein einfaches Reißen der Membran nicht anzunehmen ist, hat schon F. E. Schulze ge- zeigt, da man nie Risse oder dergleichen an denselben beobachten kann. Wahrscheinlich handelt es sich um einen eigentümlichen Re- sorptionsprozess, der den obersten Teil der Theecawand ergreift. Das Stoma wird mit zunehmender Sekretionsthätigkeit größer, und sitzt sehr häufig einem Halse der Becherzelle, die dann ein flaschen- förmiges Aussehen erhält, auf. Da aber eine Sekretion bestimmt nachzuweisen ist, so wird man die Becherzellen als einzellige Drüsen betrachten müssen. Wenn man nun die verschiedene Größe der über dem Stoma lie- genden Sekretballen (Pröpfe) und ihre Zusammensetzung betrachtet, so kommt man zweifellos zur Ansicht, dass die Becherzelle nicht etwa ein einziges Mal einen Sekretballen ausstößt, sondern im stande sein wird, diesen Vorgang öfter zu wiederholen. Es wird allmählich eine ganze Sekretmasse über dem Stoma aufgestapelt, die selbst die umliegenden Epithelzellen bedeckt. Wir sehen hier einen wesent- lichen Unterschied von den mancherlei Aehnlichkeit besitzenden List, Bau, Sekretion, Untergang der Drüsenzellen. 705 Sehleimdrüsenzellen. Nach Heidenhain und seiner Schule sollen die Schleimdrüsenzellen nach jedem Sekretionsakte ausgestoßen wer- den, eine Lehre, die in neuerer Zeit allerdings durch das Bemühen zahlreicher Forscher mächtig erschüttert wurde. Ich gab mir sehr viele Mühe aufzufinden, ob nicht eine Veränderung des Kernes in den sezernierenden Becherzellen selbst zu beobachten wäre, wie seit Hei- denhain aus verschiedenen Drüsenzellen bekannt geworden. Allein alle meine Bemühungen blieben erfolglos. Der Nucleus liegt in ge- schlossenen und geöffneten Sekret ausstoßenden Zellen stets als halb- mondförmige Masse am Grunde der Theca, der Wand dicht an. Sein Tinktionsverhalten stimmt in geschlossenen wie in geöffneten Zellen vollkommen überein. Schiefferdeceker wollte zwar in Becherzellen aus der Amphibienblase an Alkoholpräparaten verschiedenartige Sta- dien des Kernes beobachtet haben. Ich muss gestehen, dass ich solche Bilder, wie sie Schiefferdecker zu sehen glaubte, nie be- obaechten konnte. Wenn man bedenkt, dass schon an in den mittleren Sehiehten vorfindlichen geschlossenen, also noch nicht in Funktion getretenen Becherzellen der Kern bereits als abgeplattete halbmond- förmige Masse am Grunde der Thecawand liegt, ein Kernstadium, welehes nach Schiefferdeeker der in der stärksten Sekretion be- findliehen Becherzelle entsprechen würde, so werden die Behauptungen ebengenannten Forschers gradezu hinfällig. Erklärlich ist mir der Irrtum Sehiefferdeeker’s, da er geschlossene Becherzellen gar nicht beobachtet zu haben scheint. Ich bin nun auch so glücklich über den Untergang (Aus- stoßung) der Becherzellen selbst interessante Aufschlüsse mitteilen zu können. Obwohl ich schon bei Untersuchung des Blasenepithels der Amphibien ganz bestimmt eine Ausstoßung vermutete, so gelang es mir damals trotz meiner Bemühungen nicht, eine solche nachzu- weisen. Dank der glücklichen Wahl des Objektes (Oberhaut von Torpedo marmorata, Kloakenepithel der Plagiostomen) gelang es mir nun unzweifelhafte Untergangsstadien aufzufinden. Soweit man aus Präparaten urteilen kann, geht der Ausstoßungsprozess folgender- maßen vor sich. Das Stoma erweitert sich, wie bereits oben erwähnt, bei fortschreitender Sekretion. Die unterhalb liegenden Epithelzellen, die nun in die Höhe rücken, drücken auf die Wand der Theca, welche infolge dessen mannigfache Alterationen erleiden muss. Die früher schön geformte Theecamembran wird zerknittert, die umliegen- den Epithelzellen ricken auseinander, um der sich verbreiternden Becherzelle Raum zu schaffen; das Gerüstwerk der Filarmasse wird verzerrt, indem die Maschen in die Länge bezw. Quere gezogen wer- den; der oberste Teil der Becherzelle (Umgebung des Stomas) haftet fest an den benachbarten Epithelzellen, die Becherzelle wird immer flacher und gelangt nun schließlich ins freie. So hängt also die Ausstoßung der Becherzellen selbst von der Regenerationsthätigkeit der Epithelzellen ab. Man kann nicht selten im Epithele Becherzellen 704 List, Bau, Sekretion, Untergang der Drüsenzellen. finden, in welehen man nur noch spärliche Reste von Filar- und In- terfilarmasse nachzuweisen im stande ist. Die Membran erscheint schlaff und kollabiert, Solche erschöpfte Becherzellen warten nur noch auf den Nachschub der unterhalb liegenden Epithelzellen, um ihrem Untergange (Tode) entgegen zu gehen. Ich bemerke, dass der Kern an solehen in Ausstoßung begriffenen Becherzellen auch der Thecawand anliegt, sich aber häufig intensiver tingiert zeigt, als in noch in Funktion stehenden Zellen. Vergleichen wir nun die besprochenen Becherzellen mit den Zellen der echten Schleimdrüsen (z. B. Gaumendrüsen des Kaninchens u. s. w.), so findet man mancherlei Analogien. Die Schleimdrüsenzellen sind ebenfalls von einer deutlichen Membran begrenzt, die aber auf der äußern Oberfläche durchaus nicht immer glatt, sondern mit Höcker- chen besetzt erscheint, als Ausdruck gerissener Interzellularbrücken. Der Nucleus ist häufig‘ sphärisch, oder liegt als abgeglattete Masse nicht selten der Membran dicht an. Der Inhalt der Zelle besteht ebenfalls aus zwei Substanzen: eine in Form eines polygonale oder auch mehr rundliche Maschen bildenden, den ganzen Raum innerhalb der Membran durchziehenden Gerüstwerkes und eine zwischen den Maschen befindliche, anscheinend homogene Substanz, Interfilarmasse. Die Filarmasse verhält sich Tinktionsmitteln (namentlich Anilinfarben) gegenüber ebenso wie die der Becherzellen. Während sie bestimmte Farbstoffe begierig aufnimmt, sich also intensiv färbt, tingiert sich die Interfilarmasse nur sehr schwach. Häufig kann man an dem dem Kerne zunächst liegenden Teile der Drüsenzelle eine schwanzartige Fortsetzung der Membran beobachten, die man ebenfalls als Stiel bezeichnen kann. Auch Stomata gelingt es an isolierten Schleim- drüsenzellen nachzuweisen. Die letzteren aber einfach mit den Be- cherzellen zu identifizieren, wie Schiefferdecker will, geht nicht an. Man betrachte nur die mannigfachen Formen der Becherzellen, den Sekretions- und den Ausstoßungsprozess. Niemals gelang es mir an den Schleimdrüsenzellen in dem untern dem Kerne zunächst liegenden Teile eine solche diehte, hohlkugelförmig abgegrenzte An- ordnung der Filarmasse wie bei den Becherzellen nachzuweisen. Die Membran, die die Becherzelle umgibt, erscheint stets als prall ge- spannte, manchen Alterationen Widerstand leistende Wand; niemals konnte ich an isolierten Schleimdrüsenzellen so ausgeprägte Mem- branen beobachten; vielmehr zeigten sie mannigfache Einbuchtungen, die ich bei Becherzellen nicht wahrnehmen konnte. Aus all dem geht wohl deutlich hervor, dass wir die Becherzellen, überall wo sie vor- kommen, als spezifische Gebilde betrachten müssen. Berichtigung. In Nr. 21: Dahl, Fußdrüsen der Insekten, soll es heißen Seite 656 Zeile 3 von oben Tarsen statt Taster. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches CGentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. V. Band. 1. Februar 1886. Nr. 23. Selektionstheorie. Virchow, Ueber Akklimatisation (Schluss). — A. Mayer, Ueber die Assimilationsprodukte der Laubblätter angiospermer Pflanzen. —- Schimper, Ueber die Bildung und Wanderung der Kohlehydrate in den Laubblättern. — Üurley, Differenzierung des Bienenvolkess, — Wilekens, Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haus- tiere. 9. Die vorgeschichtlichen und die Pfahlbauhunde. — Merk, Ueber die Anordnung der Kernteilungsfiguren im Zentralnervensystem und in der Retina bei Natternembryonen. — Hoffmann und Rauber, Lehrbuch der Anatomie des Menschen. Bd. II. Abt. 2, Abschn. 6: Nervenlehre. — Sitzungsberichte der Gesellschaft für Morphologie und Physiologie in München. — Arnaud und Pade, Bestimmung der Salpetersäure und der Nitrate in den Pflanzen. — Arnaud, Quantitative Bestimmung der Salpetersäure durch Fällung von Cinchonaminnitrat. — Brasse, Ueber die Gegenwart der „Amylase‘‘ in den Blättern. Aug. Weismann, Ueber die Bedeutung der geschlechtlichen Fortpflanzung für die Selektionstheorie. Vortrag in der ersten allgemeinen Sitzung der Naturforscherversammlung zu Straßburg. Abgedruckt im Tageblatt der 58. Versammlung $. 42 u. ff. R. Virchow, Ueber Akklimatisation. Vortrag in der zweiten allgemeinen Sitzung der Naturforscherversammlung zu Straßburg. Abgedruckt im Tageblatt der 58. Versammlung 8. 540 u. ff. (Schluss.) Der Vortrag Virchow’s greift nach verschiedenen Seiten, nicht bloß in die Tiefen des wissenschaftlichen, sondern auch in die Tiefen unseres täglichen Lebens hinein, und wiederholt gibt der Redner eine neue Parole aus, welche besonderer Berücksichtigung wert erscheint. Wir wollen grade diese Zielpunkte betonen, von denen zweifellos der eine oder der andere von weiteren Kreisen aufgenommen und weiter verfolgt werden wird !). 1) Im Eingang ergreift der Redner die Gelegenheit, um die Einrichtung unserer Naturforscherversammlungen als der Reform bedürftig zu bezeichnen. Auf diesen Versammlungen gehen die einzelnen wissenschaftlichen Kreise, 45 706 Weismann, Bedeutung der Fortpflanzung. Virchow, Akklimatisation. Schon die einleitenden Worte des Vortrages enthalten eine direkte Aufforderung an die Aerzte, die wichtige Frage der Akklimatisation ins Auge zu fassen. Die Zeit, in welcher wir leben, sagte der Redner, hat inbezug auf Deutschland eine nicht geringe Aehnlichkeit mit den Zeiten, welche nach der Auffindung des Seeweges nach Ostindien und nach der Ent- deeckung von Amerika für die Staaten des Mittelmeeres eintraten. Eine Bewegung, wie die, welche die Portugiesen und Spanier ergriff, beginnt im Augenblick bei uns ihre ersten Wellen zu schlagen. Eine Kolonialmacht wird hergestellt werden, und die Naturforscher und - Aerzte werden diesem Vorgang, den die Regierung nun einmal be- schlossen hat, nicht mit passiver Haltung gegenüber stehen können. Sie können das schon deshalb nicht, weil mit Recht sowohl die Re- gierung wie die Nation von der Wissenschaft Antworten fordern auf eine ganze Reihe von Fragen. Es wird asolut notwendig sein, dass die Wissenschaft die Grundlagen bietet, auf denen einstmals die Ord- nüng der neuen Gemeinwesen drüben eingerichtet wird. Es hat lange gedauert, ehe man vom Standpunkte der Aerzte aus die thatsächlichen Erfahrungen sammelte, aufgrund deren man für die in großer Ausdehnung sich aufbauenden Kolonien die geeig- neten Verwaltungsformen finden musste. Im Jahre 1884 hat man zum ersten mal einen besondern Kongress der Kolonialärzte, bei Gelegen- heit der Kolonialausstellung in Amsterdam, berufen. Damals wurde die Geschichte der Kolonialmedizin entwickelt, welche lehrt, dass weder die Portugiesen noch die Spanier jemals über gewisse, ziem- lich allgemein gehaltene, naturwissenschaftliche Bücher, namentlich Kräuterbücher, hinausgekommen sind. grade so wie wir in dem übrigen Leben, mehr und mehr auseinander. Man ver- mag nur seine Sektion zu besuchen, was in den anderen vorgeht, bleibt selbst für den Wissensdurstigsten unerreichbar, man erfährt es erst später durch das Tageblatt. In Straßburg ließ es sich z. B. nur durch bestimmte Kompromisse erreichen, dass ein paar Sektionen wenigstens etwas von den gegenseitigen Verhandlungen durch direkten Besuch erfahren konnten. Hoffentlich hat Virchow als Geschäftsführer der 59. Versammlung in Berlin Gelegenheit, diesem Uebelstand der strengen Isolierung etwas abzuhelfen. In anderen Län- dern hat man schon längst, um der geistigen Verwandtschaft verschiedener Disziplinen gerecht zu werden, eine dritte Sitzungsform zwischen die Spezial- Sektionen und die allgemeinen Sitzungen eingefügt. Es sind dies z. B. die „Conferences“ der Association frangaise, von denen während der Dauer des Kongresses nur zwei und zwar nur abends stattfinden. In diesen Kon- ferenzen werden wissenschaftliche Vorträge abgehalten, welche, über den Kreis der Sektionen hinausgreifend, für Fachleute mehrerer Sektionen ein Interesse bieten. Möchte es gelingen, dass auch wir Mittel finden, auf unseren großen Naturforscherversammlungen, welche von Jahr zu Jahr an Umfang und Bedeu- tung gewinnen, den Zusammenhang der einzelnen Disziplinen stärker zum Ausdruck kommen zu lassen, als dies bisher der Fall war. Weismann, Bedeutung der Fortpflanzung. Virchow, Akklimatisation. 707 Die alte hippokratische Vorstellung von der Veränderlichkeit des Menschen durch die Verhältnisse des Ortes, durch das Klima, hat sich im Laufe der Jahrtausende bis heute erhalten und durch das Selbst- gefühl der Menschen mehr und mehr zu jenem bahnbrechenden Ge- danken entwickelt, der gewöhnlich unter dem Namen des „Kosmo- politismus des Menschen“ ausdrücken soll, dass menschliche Ansied- lung eigentlich überall geschehen könne. Dieser selbe Gedanke ist es auch, der bis in die neueste Zeit hinein immerfort die Vorstellung von der Entwicklung der verschiedenen Rassen und Stämme des Menschengeschlechtes beherrscht hat. — Wir befinden uns in diesem Augenblick in der kritischen Periode, wo alle diese Gedanken streitig werden. Die Annahme einer Erwerbung neuer Eigenschaften durch Lebensweisen, also durch Menschen, Pflanzen und Tiere, in der Weise, dass sich diese Eigenschaften nachher erblich fortsetzen, dass daraus neue, erblich sich erhaltende Sonderheiten für die Nachkommenschaft hervorgehen, ist nach Weismann’s Ausführungen nicht zulässig. Das ist ersichtlich das grade Gegenteil von dem, was wir gewöhnlich voraussetzen inbezug auf die Entstehung der Arten und ihre Abhängig- keit von äußeren Verhältnissen. Bei der Erblichkeit kommt es nicht darauf an, dass sie durch Jahrtausende sich fortsetzt, sondern es ge- nügt, wenn sie einmal konstatiert wird. Wie weit die Art nachher fruchtbar ist, das ist eine andere Frage. Wir haben jedoch in der Pathologie so viele Beispiele für anhaltende Vererbung, die durch eine Reihe von Generationen koustatiert sind, dass niemand vergeb- lich nach Beispielen suchen wird. Lange ehe Darwin geboren wurde, kannte die Pathologie die Thatsache von der Anpassung des Organis- mus an die neuen Verhältnisse, und niemand hat sich das in ärzt- lichen Kreisen jemals anders vorgestellt, als dass eine solche Anpas- sung mit materiellen Veränderungen des Organismus verbunden sei, dass es sich nicht etwa bloß um eine Art Umkostümierung handelt, die äußerlich vollzogen wird, sondern dass eine innere Umwandlung, zum Teil ganz neue Organverhältnisse geschaffen werden müssen. Bei der Akklimatisation kommen zweierlei Verhältnisse vor. Das eine ist die einfache Unbehaglichkeit, die Indisposition, wie man sagt; das andere ist die wirkliche Krankheit, die Klimakrankheit. Die Klimakrankheit tritt ein in dem Augenblick, wo der Organismus als Ganzes so sehr beteiligt wird, dass seine Existenz oder wenigstens seine Integrität in Zweifel gezogen wird. Bis zu dem Augenblick, wo das nicht der Fall ist, spricht man bloß von einer Indisposition. Dasselbe Individuum, das aber am Morgen indisponiert ist, kann am Abend krank sein. Es geht unmittelbar ein Zustand im den andern über. Die Literatur über die Arten der exotischen Krankheiten ist allmählich recht groß geworden, aber es fehlt fast ganz an eingehen- den Untersuchungen darüber, worin die besonderen Umwandlungen bestehen, die hier stattfinden. Das Gebiet der Indispositionen ist das- 42" 708 Weismann, Bedeutung der Fortpflanzung. Virchow, Akklimatisation. jenige, welches uns viel mehr interessieren müsste. Wenn an sich eine Veränderung des Organismus notwendig ist, um eine dauernde Akklimatisation, ja eine dauernde Gewöhnung nicht bloß des Indivi- duums, sondern auch seiner Nachkommenschaft an das neue Land herbeizuführen, dann ist es klar, dass dieser Teil der Wissenschaft eigentlich der wichtigere ist. Nebenbei wird er auch derjenige sein, der allgemein ein höheres Interesse haben müsste, denn für jeder- mann, der sich klar werden will darüber, wie die Menschen so ge- worden sind, wie sie sind, für jeden, der die Geschichte der Mensch- heit ergründen will, hat es höchstes Interesse zu wissen: sind wirk- lich die verschiedenen Rassen und Stämme aus einer gemeinsamen Quelle hervorgegangen? und wodurch sind sie so verschieden ge- worden? Noch kein Mensch hat beobachtet, dass eine Rasse in die andere übergegangen ist, kein Mensch hat gesehen, dass etwa eine: weiße Bevölkerung, welche sich unter den Tropen angesiedelt hat, schwarz geworden wäre. Trotzdem, wenn man die Akklimatisation untersucht, so gerät man bei jeder unbefangenen Untersuchung sofort wieder auf den alten hippokratischen Standpunkt. Unzweifelhaft ist, dass gewisse geographische Bezirke mit gewissen somatologischen Eigentümlichkeiten der darauf wohnenden Menschen in Verbindung stehen. Bastian nennt das ethnologische Provinzen. Für alle hat es ein Hauptinteresse, die Akklimatisationsfähigkeit des weißen Mannes zu kennen. Die Erfahrung hat in jedem Jahre stärker gelehrt, dass der weiße Mann nicht bloß ein weißer Mann ist, sondern dass inner- halb der weißen Rasse mit größter Schärfe die verschiedenen einzelnen Glieder unterschieden werden müssen, welche wir gewöhnt sind, unter. jenem gemeinsamen Namen zusammenzufassen. Es ergibt sich z. B., dass innerhalb der weißen Rasse ein prägnanter Unterschied existiert zwischen den Semiten und den sogenannten Ariern. Alle statistischen Thatsachen, alle im großen zu verfolgenden Erfahrungen zeigen uns, dass die Semiten viel mehr befähigt sind für Akklimatisation als die Arier. Bei den Ariern ergeben sich wieder ähnliche Unterschiede. Die südlichen Völker, die Portugiesen, die Spanier, die Malteser, die Sizilianer u. a., sie zeigen eine so viel höhere Akklimatisationsfähig- keit als die Nordländer, dass für einen praktischen Versuch der Kolonisation es einen ganz enormen Unterschied macht, mit welchem Material gearbeitet wird. Diese allgemeinen Bemerkungen dürfen jedoch nicht gleich als entscheidend genommen werden. Wir kommen damit erst in den Anfang der Untersuchung, wobei zunächst in den Vordergrund der Gedanke tritt, dass eine Bevölkerung, welche unter südlichen Breitegraden zu leben gewöhnt ist, leichter auch in subtropische oder wirklich tröpische Regionen überwandern könne. Wir müssen dann aber auch anderseits in betracht ziehen, dass, je weiter man nach Süden kommt, die sogenannten arischen Stämme immer mehr den Verdacht alter Mischungsverhältnisse er- Weismann, Bedeutung der Fortpflanzung. Virchow, Akklimatisation. 709 regen. Wenn z. B. die Malteser sehr viel widerstandsfähiger sind als die Sizilianer, so wird man auf den Gedanken kommen, dass es sich hier um alte Mischungen handelt, welche von Alters her in der Bevölkerung stecken und die Widerstandsfähigkeit erhöhen. Wenn man nur die vulnerablen Stämme, die Europäer, in betracht zieht, dann zeigt sich bald, dass ein sehr beschränktes Gebiet vorhanden ist, auf dem sie sich mit einer gewissen Sicherheit entwiekeln können. Das Hauptgebiet ist Nordamerika und der südliche Teil von Australien. Die Kolonialgeschichten bieten eine sehr merkwürdige Erschei- nung dar, das ist die abnehmende Fruchtbarkeit der Ehen und das damit zusammenhängende geringere Anwachsen, sehr häufig das all- mähliche Absinken der Bevölkerung. Ist es doch bis auf den heu- tigen Tag noch nicht gelungen, in Ostindien irgend eine dauernde Kolonisation zu erzielen. Virchow will die Aufmerksamkeit nament- lich unserer Aerzte, derer, welche zur Marine oder welche auf Han- delsschiffe gehen — was immer häufiger geschieht — der Reisenden, welche wir in die Fremde schicken, oder welche selbst diesen Weg ‚suchen, darauf lenken, wie wichtig es wäre, wenn diese Verhält- nisse nicht bloß in der rohen statistischen Form, in der sie sich gegen- wärtig uns im besten Falle darstellen, sondern in der verständnis- vollen Weise des Physiologen zum Gegenstand der Untersuchung ge- macht würden. — Was leidet denn hauptsächlich bei dieser Bevölkerung, die uns sonst scheinbar gleicht, an der wir keinen tief gehenden Unterschied der äußern Erscheinung wahrnehmen? Das, was uns am meisten entgegentritt, und was nach dem Zeugnis aller Kolonialärzte in starkem Grade eintritt, ist wahrscheinlich die verminderte Bildung des Blutes. Das wäre aber erst genauer zu untersuchen. Die Leber ist das Organ, welches zu der Geschichte des Blutes in nächster und unmittel- barster Beziehung steht, welches am meisten von da aus beeinflusst wird, und leider müssen wir sagen, das Organ, welches nicht bloß bei den Malariakrankheiten, sondern auch bei gewöhnlichen Akkl- matisationskrankheiten der Hauptangriffspunkt ist. Diese Beispiele sind nur hervorgehoben, um nicht bloß den anwesenden Aerzten und Naturforschern, sondern auch denen draußen recht eindrücklich zu sagen, dass diese Dinge durchaus untersucht werden müssen. Es ist das einer der Punkte, wo die deutsche Wissenschaft nicht bloß freie Bahn findet, sondern wo sie auch eine tiefgehende Pflicht zu üben hat, denn unzweifelhaft wird es nicht eher möglich sein, zu einem auch nur vorläufig abschließenden Urteil in so schwierigen Fragen zu kommen, ehe wir nicht eine genaue Kenntnis haben von den Aenderungen, welche im Organismus sich vollziehen, und von der be- sondern Art der Störungen, welche in jedem einzelnen Organ eintreten vermöge dessen, was man die Akklimatisation nennt. Hier sind große Aufgaben zu lösen, damit man einigermaßen im voraus die Bedingungen erwägen kann: was kann man den Leuten versprechen? was kann 710 Weismann, Bedeutung der Fortpflanzung. Virchow, Akklimatisation. man von der Organisation einer Kolonie erwarten? unter welchen Umständen darf man hoffen, dass man ohne zu große Sorge den Ein- zelnen hinausschickt? Wir müssen diesen Dingen näher treten, eine Organisation des Studiums schaffen und uns entschließen, auf dem Wege der Erfahrungen, die wir auf dem Boden unserer Heimat ge- wonnen haben, auch diese fremden Gebiete zu erforschen und fest- zustellen, wie weit es überhaupt denkbar und möglich ist, dass eine dauernde Kolonisation gelingen wird. — Aus den Bemerkungen Vircho w’s geht hervor, dass er die Vererbung erworbener Merkmale, normaler wie pathologischer, annimmt. Die Ent- gegnung Weismann’s (siehe das Tageblatt S. 550 u. f.) auf die von Virchow hervorgehobenen Punkte zeigt, dass auch für Weismann die Verschiedenheiten der Menschenrassen durch klimatische Verschieden- heiten hervorgerufen sein können, aber nicht direkt, sondern indirekt, und zwar so, dass die günstigsten individuellen Variationen, welche sich innerhalb einer menschlichen Kolonie darboten, erhalten blieben, sich fortpflanzten und somit ihre eignen günstigen Eigenschaften auf die Nachkommenschaft übertrugen. Ref. kann hinzufügen, dass dies der allgemeine Standpunkt aller derjenigen ist, die sich jemals eine physiologische Vorstellung von dem Prozess der Vererbung zu machen suchten. Es muss in jeder Species Individuen geben, welche gegen bestimmte Reize der Umgebung unempfindlich sind, deshalb konstant bleiben, nicht umgeändert werden und also nichts erwerben und nichts zn vererben haben. Ohne diese Zähigkeit existierten auf der Welt nur die Repräsentanten einzelner großer Familien, und alle übrigen Formen wären durch einen beständigen Wechsel ihrer Organisation schon längst alle einander gleich geworden. Damit eine neue Er- werbung dauernd werde, ist Vererbbarkeit der gewonnenen Eigen- schaft unerlässlich, das ist unbestreitbar. Unter welchen Umständen sie es wird, das ist die Aufgabe der Forschung — ein weites und schwieriges Feld, das die Berücksichtigung aller Begleiterscheinungen erfordert. Es kann dabei erlaubt sein, dass die Vertreter der ver- schiedensten Wissensgebiete getrennt marschieren, aber doch nur so, um später gemeinschaftlich den Sieg zu erringen. Dabei kann der Einzelne wohl einen bestimmten Kreis von Thatsachen zeitweise um- gehen und unberücksichtigt zur Seite lassen; das große und wichtige Kapitel erworbener normaler und pathologischer Eigenschaften und ihrer Uebertragung muss aber unstreitig an der rechten Stelle einen hervorragenden Platz finden. Die Rede Virchow’s wird nach dieser Richtung hin von großem belebendem Einfluss sein, nicht allein wegen des allgemeinen Hin- weises auf die Wirkungen der Akklimatisation, sondern noch mehr wegen der gleichzeitigen Stellung präziser Fragen, welche bei Unter- suchungen dieser Art zunächst eine Beantwortung finden müssen. J. Kollmann (Basel). A. Mayer, Assimilationsprodukte der Laubblätter. 1 Arthur Meyer, Ueber die Assimilationsprodukte der Laub- blätter angiospermer Pflanzen. Botanische Zeitung. 43. Jahrg. Nr. 27. 32. Der Verfasser begründet zunächst die Ansicht, dass außer den Kohlehydraten auch noch andere Stoffe, namentlich Proteinstoffe, möglicherweise zur vorübergehenden Speicherung des assimilierten Kohlenstoffs dienen. Der größte Teil der Arbeit betrifft die Lösung der Frage: In Form welcher Kohlehydrate wird der assimilierte Kohlenstoff in den assimilierenden Zellen vorübergehend gespeichert? Es ist von Wichtigkeit, diejenigen Kohlehydrate aufzusuchen, welche nach eingetretener Belichtung in den assimilierenden Zellen sich rasch vermehren und umgekehrt zufolge Verdunkelung sich eben so rasch vermindern. Durch Böhm’s und des Verfassers Untersuchungen ist der Nach- weis erbracht, dass nur junge Blätter erhebliche Mengen von Kohle- hydraten aus anderen Pflanzenteilen beziehen, während die assimi- lierenden Zellen erwachsener Laubblätter dies nicht zu thun vermögen. Im Februar untersuchte Laubknospen der Linde enthielten im Paren- chym der jungen Laubblätter reichliche Mengen von Stärke. Am 5. April fand sich in den seit dem 10. März dunkel gehaltenen, in- zwischen 3,5 cm groß gewordenen Blättchen überall Stärke. Bei einer durch mehrtägige Verdunkelung in ihren Blättern stärkefrei - gemachten Tabakpflanze wurden nach Entfernung sämtlicher Knos- pen- und Blütenstände durch kreisförmige, von beiden Seiten her aufgelegte Filzscheiben von 8 em Durchmesser Stellen der Blätter dunkel gehalten. Es ergab sich, dass die zwischen den Filzscheiben liegenden Blattstücke frei von Stärke blieben, während die belich- ‘teten Teile mit Stärke sich anfüllten.. Ebenso verhielt sich ein in ähnlicher Weise behandeltes Blatt von Syringa vulgaris. Bezüglich der Stärkemenge, welche in den Blättern vorübergehend abgelagert wird, zeigen die Angiospermen ein verschiedenes Verhalten. Die Dikotyledonen speichern meist reichlich Stärke, während die Monokotyledonen daran arm sind. Bei einigen findet sich gar keine Stärke, so bei Asclepias Cornuti, Narcissus poeticus, N. odorus, N. bi- florus, Leucojum aestivum, Amaryllis undulata, Orchis fusca. Zur Ent- scheidung der Frage, ob die gefundenen Unterschiede im Stärkegehalt abhängig von dem Verhältnis der Assimilationsenergie zur Schnellig- keit der Fortleitung der Assimilationsprodukte ist, wurden abge- schnittene Blätter verschiedener Pflanzen in einem mit kohlensäure- reicher Luft gespeisten Apparate der Sonne ausgesetzt. Dabei zeigte sich, dass die Aufhebung der Auswanderung der Reservestoffe und die vermehrte Kohlensäurezufuhr bei den untersuchten Allium - Arten, bei Asphodelus, Anthericum, Senecio, Astrantia, Iris keine merkliche Vermehrung der Stärke zur Folge hatte, dagegen hatten die sonst re 2 A. Mayer, Assimilationsprodukte der Laubblätter. stärkefreien Liliaceen Hemerocallis und Muscari in den abgeschnit- tenen Blättern reichlich Stärke gebildet. Aus den angeführten Thatsachen ergibt sich die Wahrscheinlich- keit, dass in vielen Fällen neben Stärke auch noch andere Stoffe vorübergehend gespeichert werden. Diese Voraussetzung wurde durch die Untersuchung des ausgepressten Saftes von reichlich, von sehr wenig und von gar keine Stärke speichernden Pflanzen bestätigt. Die beiden letzteren Klassen enthielten relativ viel lösliche und reduzierende Substanzen, mit aller Wahrscheinlichkeit Glykosen, da- neben aber auch erhebliche Mengen von nicht reduzierenden Stoften, welehe wahrscheinlich Kohlehydrate aus der Gruppe des Inulin und des Rohrzuckers sind. Außerdem kommen durch Bleiessig nicht fäll- bare Substanzen, vielleicht Glykoside oder Gummiarten vor. Zur Entscheidung der Frage, ob die Menge der vor oder nach der Inversion reduzierenden Kohlehydrate von der Assimilation des Kohlenstoffs durch die Blätter abhängig ist, wurden die Blätter von Allium porrum und Yucca filamentosa untersucht. Bei Allium zeigten die verdunkelten Blätter das geringste Re- duktionsvermögen, das höchste diejenigen, welehe im abgeschnittenen Zustande beleuchtet wurden, ein mittleres Verhalten ergab der Saft von Blättern, welche einen Tag lang beleuchtet wurden, während sie sich an der Pflanze befanden. Die Menge der nicht reduzierenden Kohlehydrate steigt im allgemeinen mit der Menge der gespeicherten Glykose. Bei Yucca waren wohl infolge der für die Untersuchung un- günstigen Jahreszeit zwischen den verdunkelten und den nicht ver- dunkelten Blättern nur geringe Unterschiede zu beobachten, dennoch war zu erkennen, dass die Gesamtmenge des reduzierenden und des nicht reduzierenden Kohlehydrats beim Verdunkeln der Blätter ab- und bei der Assimilation zunimmt. Das in Allium porrum enthaltene Kohlehydrat ist ein Zucker, welchen der Verfasser nicht zur Krystallisation zu bringen vermochte; das Drehungsvermögen kommt demjenigen des Invertzuckers nahe und die Reduktionsfähigkeit stimmt mit der des Traubenzuckers un- gefähr überein. Der Zucker der Lauchblätter besteht sicher nicht aus reiner Dextrose und enthält einen links drehenden Bestandteil, vielleicht Levulose. Das zu 3 Prozent in den Blättern von Yucca filumentosa vor- kommende, nicht reduzierende Kohlehydrat, welches sich reichlich auch in den Rhizomen findet, ist, wie der Verfasser überzeugend nachweist, mit dem von Schmiedeberg in Scilla maritima aufge- fundenen Sinistrin identisch. Es ist somit die Annahme gerechtfer- tigt, dass Sinistrin in den Yucca-Blättern vorübergehend als Reserve- stoff gespeichert wird. An diese Untersuchungen knüpft der Verfasser theoretische Er- A. Mayer, Assimilationsprodukte der Laubblätter. 13 örterungen. Die in den Pflanzen vorkommenden Kohlehydrate bilden nach ihrem chemischen Verhalten und nach ihrem Diffusionsvermögen 4 Gruppen und zwar 1. die Glykosegruppe — (,H,,0, — Dextrose, Laetose, Levulose; 2. die Rohrzuckergruppe — C,>5H550,, — Rohrzucker; 3. die Inulingruppe — (C,H,,0;); — Inulin, Laetosin, Sinistrin; 4. die Stärkegruppe — (C,H,.0;)13 (?) — Stärke. Die Stoffe der Gruppen 2, 3, 4 sind als successiv höhere Kon- densationsprodukte der Gruppe 1 aufzufassen. Die Stärke der Re- servestoffbehälter entsteht durch Kondensation der Glykosemoleküle infolge einer durch das Protoplasma bewirkten Wasserentziehung. Die Glieder jeder einzelnen Gruppe können sich in physiologischer Beziehung gegenseitig vertreten. Beim Aufbau neuer Verbindungen aus Kohlebydraten und bei den Wanderungen der letzteren von Zelle zu Zelle werden die Kohle- hydrate mit großem Molekulargewicht in Glykosen gespalten. Bezüg- lich der Transportfähigkeit scheint Rohrzucker den Glykosen nahe zu stehen. Zur ausgiebigen Speicherung werden umgekehrt Kohle- hydrate mit größerem Molekulargewicht vorzugsweise verwendet, sel- tener wird Rohrzucker gespeichert. Geht man von der Annahme aus, dass die Anhäufung löslicher Assimilationsprodukte im Zellsaft der assimilierenden Zellen die Assi- milationsthätigkeit stört, so erscheint es als das vorteilhafteste Ver- hältnis, wenn neben der Stärke sich nur geringe Mengen von lös- lichen Kohlehydraten finden; dies scheint bei den höchst entwickelten Angiospermen in der That der Fall zu sein. Dagegen scheint das Protoplasma zahlreicher monokotylen und sehr weniger dikotylen Pflanzen ein geringes Kondensationsvermögen zu besitzen. Sie erzeu- gen keine oder nur wenig Stärke in ihren Blättern. In vielen Fällen wird auch dann keine Stärke abgelagert, wenn man die Zellen zur Anhäufung von Zucker zwingt. Zwischen den Stärke speichernden und den fast ausschließlich Glykose enthaltenden stehen die Sinistrin führenden Blätter von Yucca filumentosa in der Mitte. Aus den beobachteten Thatsachen geht nach des Verfassers An- sicht hervor, dass je nach den Umständen bei der Assimilation das eine Mal direkt Stärke, das andere Mal direkt Zucker gebildet wird. Die Erfahrung, dass die Blätter sich bezüglich der vorübergehend gespeicherten Kohlehydrate analog den typischen Reservebehältern verhalten, legt die Frage nahe, ob nicht auch bezüglich der Protein- substanzen ähnliche Verhältnisse obwalten. Kellermann (Wunsiedel). 14 Schimper, Wanderung der Kohlehydrate in den Laubblättern. A. F. W. Schimper, Ueber Bildung und Wanderung der Kohlehydrate in den Laubblättern. Botanische Zeitung. 43. Jahrgang. Nr. 47—49. Die Arbeit von Schimper bildet eine wertvolle Bestätigung und Ergänzung der von Arthur Meyer festgestellten Thatsachen; be- züglich der theoretischen Folgerungen herrscht zwischen beiden For- schern keine völlige Uebereinstimmung. Die Wanderung der Kohlehydrate weist Schimper durch direkte Beobachtung mit Hilfe des Mikroskopes nach. Zur Untersuchung wurden mit Alkohol ausgezogene, in eine wässerige, yodhaltige Lösung von Chlorhydrat gelegte Blätter verwendet. In dieser Weise behandelte Blätter von Impatiens parviflora er- schienen im auffallenden Lichte tintenschwarz mit Ausnahme der - gelb bleibenden Blattnerven. Wurden die Blätter verdunkelt, so ver- schwand allmählich die Stärke. Das Lösungsprodukt war, wie ex- perimentell festgestellt wurde, Glykose, welche in den Blattstiel und in den Stamm wanderte. Die aus dem Mesophyll sowohl, als aus den Blattnerven durch Zerreiben mit Wasser gewonnene Flüssigkeit besaß das Vermögen, Kartoffelstärke zu lösen; es ist sonach die Verzuckerung der Stärke in den I/mpatiens-Blättern auf die Anwesenheit eines diastatischen Fermentes zurückzuführen. Da der Zucker in den Nerven der /mpatiens-Blätter auch dann noch in erheblicher Menge nachweisbar ist, wenn das Mesophyll be- reits keine Zuckerreaktion mehr gibt, so ist die Annahme berechtigt, dass die Glykose nicht das eigentlich wandernde Kohlehydrat ist, sondern dass sie von Zelle zu Zelle in einen noch unbekannten Stoff umgewandelt wird. Aus der nicht wohl im Auszug wiederzugebenden, genauen ana- tomischen Sehilderung des Blattes von I/mpatiens ist hervorzuheben, dass die Bastseite der Gefäßbündel des Hauptnerven und der Seiten- nerven erster Ordnung von einer Stärkeschicht überzogen ist. Außer- dem überzieht ein aus langgestreckten Zellen bestehendes, von dem Verfasser als „Leitscheide“ bezeichnetes Gewebe in einfacher Schicht die dünnsten Auszweigungen der Gefäßbündel und in mehrfacher Lage die stärkeren Bündel. Die Chloraljodprobe lässt erkennen, dass nach vorausgegangener Belichtung sowohl das Mesophyll, als die Leitscheide stärkehaltig sind. Nach 24stündiger Verdunkelung erweisen sich die Leitscheiden und die ihnen zunächst angrenzenden Mesophylizellen als frei von Stärke. Bei längerer Verdunkelung verschwindet die Stärke überall. Nach dem gänzlichen Auflösen der Stärke verschwindet die Glykose zuerst aus dem Mesophyll und den schwächeren Nerven, dann im Hauptnerven fortschreitend von oben nach unten. Die Glykose be- Schimper, Wanderung der Kohlehydrate in den Laubblättern. 715 wegt sich der Hauptsache nach in den Zellen der Leitscheide, nicht etwa in den Gefäßbündeln selbst. Dies ergab sich zweifellos aus Versuchen mit den Blättern von Plantago media, welche, obwohl ihre Gefäßbündel durehschnitten waren, im Dunkeln ebenso rasch stärke- frei wurden, als unverletzte Blätter. Auch die Stärkeschicht ist für die Wanderung der Kohlehydrate bedeutungslos, da sie bei der Ent- leerung der Blätter im Dunkeln ihre Stärke nicht verliert. Die Zellen der Leitscheide besitzen eine größere Anziehungskraft für die Kohlehydrate, als diejenigen des Mesophylis. Vorher stärke- frei gemachte Blätter von Impatiens wurden so auf dreiprozentige Zuckerlösung gelegt, dass die Stiele sich außerhalb des Wassers be- fanden. Es ergab sich, dass die Leitscheide rascher als das Meso- phyll stark zuckerhaltig wurde, auch bildete sich in jener zuerst Stärke. Blätter von Hydrocharis morsus ranae, dessen Cuticula, wie der Verfasser mit Salzlösung feststellte, überall gleich permeabel ist, zeigen ein analoges Verhalten, aber in noch viel auffallenderer Weise. Bei der nämlichen Behandlung erschien das Gefäßbündelsystem als schwarzes Netz auf gelbem Grunde. Die Zellen der Leitscheide waren dicht mit Stärkekörnern gefüllt, während das Mesophyll nur wenige und kleine Körner enthielt. Bei dieser Pflanze findet die Stärkerückbildung in besonders energischer Weise statt. Die Blätter zeigen, nach der Verdunkelung mit Jodchloral behandelt, genau das umgekehrte Bild, wie die von Impatiens. Die Gefäßbündel erscheinen als ein Netz von schwarzen Linien, während die Maschenräume gelb oder in weniger entleerten Zellen schmutzig-blau sind. Die Hydrocharis-Blätter besitzen eine zwischen den Gefäßbündeln gleichsam ausgespannte, ein- oder mehrschichtige Lage von lückenlos aneinander schließenden Zellen, welche oben und unten von sehr lockerem Parenchym begrenzt ist. Diese Schicht, welehe der Ver- fasser als Diaphragma bezeichnet, spielt bei der Wanderung der Stärke eine wichtige Rolle insofern, als die Stärke zuerst in das Diaphragma und von da in die Leitscheiden wandert, welche in basi- petaler Richtung entleert werden. Bei abgetrennten Blättern findet eine Stauung des Stromes statt, sodass die Stärke sich in den Schei- den anhäuft, während das Parenchym mehr oder weniger entleert wird. Die Entfernung der Stärke erfolgt bedeutend rascher aus dem vorzugsweise der Assimilation dienenden, oberhalb des Diaphragmas, als aus dem unterhalb desselben liegenden Parenchyms. Dass die in den Leitscheiden sich findende Stärke nicht unmittel- bares Assimilationsprodukt, sondern Wanderstärke ist, geht am besten aus dem Verhalten teilweise panachierter Blätter hervor. Es ent- halten nämlich bei Oroton superbum die Nerven auch in ihrem chloro- phylllosen Teile Stärke, während das chlorophylifreie Mesophyll sich 716 Schimper, Wanderung der Kohlehydrate in den Laubblättern. frei von Stärke erweist. Die dünnsten im chlorophylifreien Meso- phyll liegenden Nervenenden sind frei von Stärke, weil sie nichts abzuleiten haben. Bei Coleus tritt in derselben Weise neben wenig Stärke viel Glykose in den Nerven der grünen und der weißen Teile auf. Beide Stoffe fehlen im chlorophylllosen Mesophyll. Nach der allgemeinen Annahme sind die Milchsaftgefäße für den Transport der Eiweißkörper, sowie der Stärke von Wichtigkeit. Es gelang dem Verfasser durch Versuche mit Blättern von Euphorbia Peplus, Lathyris und Heterophylla nachzuweisen, dass die Milchsaft- gefäße wenigstens den Transport der Stärke nicht vermitteln. Während Stärke und Glykose aus den Leitscheiden verdunkelter Blätter nach wenigen Tagen verschwinden, werden die Stärkekörner der Sieb- röhren weder kleiner, noch weniger zahlreich. Die von Haberlandt beschriebenen anatomischen Beziehungen zwischen Mesophyli und Milchsaftröhren fand der Verfasser nicht bestätigt. Eine Wanderung der Stärke aus dem Mesophyll zu den Milchsaftgefäßen findet nicht statt. Der zweite Teil der Arbeit ist Untersuchungen über die Assimi- lation gewidmet. Die Glykose- und Stärkemengen der Blätter sind einander um- gekehrt proportional. Die stärkefreien und glykosereichen Blätter von Allium fistu- losum verloren nach eingetretener Verdunkelung ihren Zuckergehalt, wenn sie mit der Pflanze in Verbindung waren; ebenso verhielt sich das Lebermoos, Plagiochila asplenioides, sowie Orchis maculata und Iris germanica. Der Verfasser kommt mit Arthur Meyer zu dem Resultate, dass in den Blättern stärkefreier Pflanzen vorübergehend Glykose gespeichert wird. Der Gehalt an Stärke und Glykose hängt nicht, wie man voraus- setzen könnte, von der Menge und Wirksamkeit eines Fermentes ab, da der Saft der stärkefreien, beziehungsweise stärkearmen Blätter von Allium Cepa und Euphorbia helioscopia gegen Kartoffelstärke beinahe wirkungslos war, während der Blättersaft von der stärke- reichen Euphorbia Peplus und von Tropaeolum sich sehr wirksam erwies. Böhm’s Versuche, welcher fand, dass die unter normalen Ver- hältnissen keine Stärke bildenden Blätter dazu veranlasst werden können, wenn sie auf eine ziemlich konzentrierte Zuckerlösung gelegt werden, sind dahin zu erklären, dass das Chlorophyll dieser Pflanzen erst dann Stärke erzeugt, wenn die Konzentration der die Chloro- phylikörner umgebenden Glykoselösung ein bestimmtes Maximum überschreitet. Die von Böhm für stärkefrei erklärten Blätter von Iris germanica bilden nur unter ganz besonders günstigen Assimila- tionsbedingungen Spuren von Stärke, reichliche Mengen dagegen auf 2Oprozentiger Zuckerlösung und in kohlensäurereicher Luft. BEREE . Curley, Differenzierung des Bienenvolkes. 717 Bei der Gattung Euphorbia finden sich alle möglichen Ueber- gänge zwischen stärkereichen und glykosereichen Blättern. Diese Erscheinungen lassen sich weder durch eine ungleiche Wirkung eines diastatischen Fermentes, noch durch ungleich rasche Ableitung erklären, da die stärkearmen Blätter mehr Glykose führen, als die stärkereichen. Eine befriedigende Erklärung gewährt nur die Annahme, dass in allen Fällen zuerst Glykose gebildet wird, und dass die Stärke aus der Glykose entsteht, wenn die Konzentration der letzteren ein bestimmtes, nach der Art verschiedenes Maximum überschreitet. Kellermann (Wunsiedel). Curley, Differenzierung des Bienenvolkes. Die Differenzierung des Bienenvolkes in Weibehen, Männchen und Arbeiter aufgrund der Selektionstheorie phylogenetisch zu erklären, hat in jüngster Zeit Edwin A. Curley in einem vor der Brooklyn Entomological Society gehaltenen Vortrage unternommen, den „Nature“ vom 19. November 1885 in extenso mitteilt. Wir geben im Folgenden einen kurzen Abriss dieser Hypothese. Curley geht aus von einer Stammform der Bienen, welche be- reits so weit gelangt ist, in Zeiten des Ueberflusses Honig für die schlechteren Zeiten aufzuspeichern. Von diesem Vorrat füttert sie ihre Brut. Weiterhin werden ihre Kräfte zur Versorgung derselben immer mehr in Anspruch genommen, infolge dessen ihre Reproduk- tionskraft abnimmt. Sie bringt daher weniger und unvollkommene Eier hervor. Diese Eier werden entweder taub sein oder sie werden unvollkommene Nachkommenschaft liefern. Die Unvollkommenheit kann verschiedene Organe betreffen. Es’ können z. B. die Beine oder die Flügel oder die Augen defekt sein, am größten wird aber die Zahl derer sein, bei welehen die Geschlechtsorgane Einbuße erlitten haben, da dies die Organe sind, welche bei der Mutter am meisten von den unglücklichen Umständen zu leiden gehabt haben. Diese Tiere werden im Kampf ums Dasein einen großen Vorteil vor den übrigen voraus haben, da die Reproduktionsorgane für die Erhaltung des Individuums nicht notwendig sind. Während daher die andern früher oder später zu grunde gehen, werden die nur in den Repro- duktionsorganen unvollkommenen Individuen unter Umständen, wo die vollkommenen am Leben bleiben, gleichfalls erhalten werden. Sind die Jungen bis zu einer gewissen Stufe der Entwicklung gelangt, so wird in ihnen der ererbte Instinkt wach werden und sie werden der mütterlichen Fürsorge ein gewisses Verständnis entgegen- bringen, mit anderen Worten: sie werden kindliche Liebe zeigen. Es ist notwendig, dass dieselbe auftritt, ehe die Differenzierung in Weib- chen, Männchen und Arbeiter beginnt. 718 Curley, Differenzierung des Bienenvolkes. Man darf nicht glauben, dass die Kleinheit dieser winzigen Ge- schöpfe sie zu diesem starken Gefühle unfähig macht. Ohne starke Zuneigung ist das Leben der Bienen ganz unerklärlich, während mit derselben ihr Verhalten als der natürliche Ausfluss einer gewissen Summe von Intelligenz, angewendet auf bestimmte Lebensbedingungen, erscheint. Die kindliche Liebe nimmt bei allen von der Mutter aufgezogenen Tieren so lange zu, bis dieselben geschlechtsreif sind und sich Ehe- genossen suchen; alsdann verschwindet sie. Was geschieht aber, wenn die Jungen von Natur unfähig sind, die Paarung zu vollziehen? Dann wird die Kindesliebe notwendiger- weise in dem Individuum stetig wachsen und an Stelle der geschlecht- lichen Zuneigung und des mütterlichen Instinktes treten. Die Richtigkeit dieses Satzes zeigt sich an dem Beispiel der Maultiere, welche irgend einer alten Stute, die bei ihnen Mutterstelle vertritt, die größte Zuneigung beweisen. Während die vollkommenen Bienen der Brut davongehen, um die Art fortzupflanzen, bleiben die unvollkommenen bei der Mutterbiene zurück, oder wenn sie stirbt, so übertragen sie ihre Zuneigung auf eine oder die andere ihrer vollkommenen Schwestern. Jetzt muss ein neuer Honigvorrat gesammelt, neue Eier sollen gelegt und versorgt werden. Die weibliche Biene arbeitet eifrig und versagt sich, getreu ihrem Instinkt, die notwendige Nahrung, um desto mehr für die künftige Nachkommenschaft aufzuspeichern. Ihre ungeschlechtlichen Genossinnen, denen die von der Mutter ererbte Energie nicht müßig zu sein gestattet, beginnen, sie in ihrer Arbeit zu unterstützen. Dadurch hat die Familie einen großen Vorteil im Kampfe ums Dasein. Die Mutterbiene, nicht länger überarbeitet, legt nunmehr wieder vollkommene Eier. In dieser Familie werden die Dienerinnen daher keine Nachfolger haben. Aber der zeitweilige Ueberfluss der einen Familie wird den Mangel in anderen Familien, die keine Gehilfinnen haben, noch vermehren. In diesen wird daher eine Anzahl unentwickelter Bienen produziert werden, welche bei der Versorgung der nächsten Generation als Ge- hilfinnen thätig sind. So werden Generationen mit und ohne Gehilfinnen fortwährend mit einander abwechseln. Einige Bienen von derselben Brut, wie die Gehilfinnen, werden eine gewisse Schwäche der Reproduktionsorgane zeigen, obgleich sie das Nest verlassen und sich paaren. Einige von diesen werden mit Genossen zusammentreffen, die in gleicher Lage sind, und die Mehr- zahl ihrer Nachkommen wird demgemäß fortpflanzungsunfähig sein. Sie werden der Mutterbiene als Gehülfinnen dienen. Die weniger unvollkommenen Geschwister können verschiedene Grade der Repro- duktionsfähigkeit zeigen, aber alle haben unter ihren Nachkommen einige, welche zur Reproduktion nicht fähig sind, und Gehilfinnen sind daher zahlreich. DE nu EDIT ENDEN EL ET FE Wilckens, Paläontologie der Haustiere. 719 In allen Familien, wo Gehülfinnen sind, treten anfangs auch un- entwickelte Männchen auf; aber da dies für die Bienen eine schäd- liche Variation ist, so werden sie durch Naturauslese beseitigt. Alles in allem werden diejenigen Familien am erfolgreichsten sein, welche die größte Zahl unentwickelter Weibchen haben. Die während dieser ganzen Zeit von den Müttern gesammelte Erfahrung erscheint schließlich als Instinkt in den Nachkommen wie- der. Es entsteht zuletzt ein Typus, welcher für die Mehrzahl der Bienen der geeignetste scheint. Derselbe verlangt Unvollkommenheit der Reproduktionsorgane bei der gesamten Nachkommenschaft, wenn nieht besonders gute und reichliche Nahrung bereits in sehr früher Jugend geboten wird. Das normale Produkt ist daher eine Gehilfin und die Zahl der Männchen und Weibchen steht unter der Kontrole der Gemeinschaft. Mit der Erweiterung des Instinkts und der Zunahme der Intelligenz übernehmen die Gehilfinnen mehr und mehr gänzlich die Sorge für den Haushalt, und die Mutter gibt sich immer ausschließlicher dem Werke der Fortpflanzung hin, bis ihre Kräfte zu dem Maße anwachsen, dass sie im stande ist, Nahrung direkt in Eier zu verwandeln und Hunderttausenden von Individuen das Leben zu geben. F. Moewes (Berlin). Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haustiere '). 9, Die vorgeschichtlichen und die Pfahlbau-Hunde. Die diluvialen Formen der Hunde setzen sich unmittelbar fort in die „subfossilen“ Hundeformen der europäischen Pfahlbauten und in diejenigen, welche gewöhnlich als vorgeschichtliche bezeichnet werden. In seiner „Untersuchung der Tierreste aus den Pfahlbauten der Schweiz“ (1860, S. 8) stellt Rütimeyer unter den Pfahlbauknochen aus Mosseedorf bei Bern auch unzweifelhafte Spuren von der Anwesen- heit des Haushundes fest; immerhin zeigt die spärliche Anwesenheit solcher Knochen, dass der Hund damals kein häufiges Haustier war. Auch die übrigen schweizer Pfahlbauten (Robenhausen, Meilen, Wan- gen u. 8. w.) enthielten unzweifelhafte Knochen, darunter auch einige Schädel vom Haushunde. Inbezug auf die Ausbildung der Augen- fortsätze des Stirnbeins und die Zuspitzung der Schnauze zeigen indess schon die wenigen Hundeschädel der Pfahlbauten merkliche Schwankungen; doch scheint in der Periode der Pfahlbauten des Steinalters nur eine einzige und sehr gleichförmige Rasse von Haus- hund gelebt zu haben. 1) Vgl. Bd. V Nr. 20 dieser Zeitschrift. 720 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. In der „Fauna der Pfahlbauten der Schweiz“ (Neue Denkschr. der Schweiz. Ges. f. d. ges. Naturw. 1862) behandelt Rütimeyer die Pfahlbaureste der Caniden ausführlicher und zugleich übersicht- licher. Der Wolf war sehr selten, meistens fanden sich nur Zähne, die wahrscheinlich als seltene Jagdbeute in den Besitz der Pfahlbauer sekommen waren; aber in Wauwyl fand man das nahezu vollständige, ganz ausgewachsene Skelet eines Wolfes von sehr ansehnlicher Größe. Der Fuchs fehlte in keinem, mit irgend welcher Sorgfalt ausgebeu- teten Pfahlbau der Steinperiode, und allerorten erschien er in ziem- lich großer Anzahl; aus den Messer- und Zahnspuren an den zahl- reichen Schädeln und anderen Knochen ergibt sich auf die unzwei- deutigste Weise, dass er den Pfahlbauern zur Speise gedient hat. In späteren Perioden scheint der Fuchs als Nahrung entbehrlich gewor- den zu sein; R. fand ihn in keinem Pfahlbau der Bronzeperiode. Während der Wolf der Pfahlbauzeit von dem heutigen nicht verschie- den gewesen zu sein scheint, waren die Pfahlbauknochen des Fuchses kleiner und zierlicher als die des gegenwärtig lebenden. Der Haushund des Steinalters der Pfahlbauten zeigte meistens fast unverletzte Schädel, woraus R. schließt, dass er wesentlich zur Jagd und vielleicht zum Hüten der kleinen Viehherden benutzt wurde und durchaus nicht als Nahrungstier betrachtet werden darf. Die äußeren Merkmale dieser Schädel, welche nach Rütimeyer (a. a. OÖ. S. 118) einen Hund von mittlerer Größe andeuten, bestehen in dem leichten, eleganten Bau derselben, der geräumigen, schön ge- rundeten Schädelkapsel, den großen Augenhöhlen, der ziemlichen Kürze der mäßig zugespitzten Schnauze, dem nur mäßig starken Gebiss und besonders in der Abwesenheit aller stärkeren Knochen- und Muskel- kanten, wodurch namentlich das gefällige, zierliche Gepräge dieser Schädel bewirkt wird. Die Jochbogen sind nur mäßig gewölbt und schwach, der Hinterhauptskamm ist schwach ausgeprägt, die Schläfen- gruben stoßen auf der Mittellinie des Schädels gar nicht oder zu einem schwachen Scheitelkamm zusammen, die Augenfortsätze des Stirnbeins sind schwach ausgebildet und schön abgerundet. Der Unterkiefer entspricht durch Schlankheit und geringe Höhe dem Gepräge des Schädels, die Zähne stehen in regelmäßiger Reihe hintereinander. Unter unseren heutigen Hunden finden wir diese Charaktere am treuesten wieder beim Jagdhunde und beim Wachtelhunde, und R. fügt hinzu, dass auch die Größe nicht nur des Schädels, sondern auch der Gliederknochen, sowie ihr allgemeiner Typus inbezug auf Kräftig- keit, größere oder geringere Schlankheit, Ausbildung der Muskel- ansätze u. s. w. den Haushund des Steinalters mit unseren Wachtel- hunden zusammenstellen. Aus den von Aebi vorgenommenen Schädelmessungen ergibt sich, dass in den Querdurchschnitten der Pfahlbauhund mit dem Wachtel- hunde übereinstimmt, der in dieser Beziehung den etwas gestreckteren 9. Die vorgeschichtlichen und die Pfahlbauhunde. mol Schädel des Jagdhundes übertrifft. Inbezug auf die äußeren Umrisse, sowie auf die senkrechten und Längenmaße standen die Schädel aus den Pfahlbauten auf der Seite des Jagdhundes; Rütimeyer erkennt in der Thatsache, dass der Jagd- und Wachtelhund, vom Wolf und Schakal gleich weit entfernt, die älteste Form des Haushundes (als solche betrachtet er den Pfahlbauhund der Steinperiode) darstellen, wenigstens einen kleinen Fortschritt in der so schwierigen Frage nach den wilden Stammeltern dieses Haustieres. L. H. Jeitteles („Die vorgeschichtlichen Altertümer der Stadt Olmütz und ihrer Umgebung“ in Mitt. d. anthropol. Gesellschaft in Wien, 1872, II, S. 169) hat zahlreiche Schädel des Torfhundes, Canis familiaris palustris — wie er ihn im Sinne Rütimeyer’s nennt — aus den schweizerischen und süddeutschen Pfahlbauten und die Gips- abgüsse zweier Schädel von Canis familaris minor Canestrini’s aus den modenesischen Terramare, zwei Schädel von Coneise aus dem Museum zu Lausanne, sowie einen Hundeschädel untersucht, der in einem altrömischen Fass aus dem Festungsgraben vor dem Münster- thore in Mainz gefunden wurde; alle diese Schädel stimmten unter einander sehr gut überein und sie zeigten die von Rütimeyer auf- gestellten Merkmale in völlig gleicher Weise, so dass J. die Beständig- keit dieser Rasse zufolge eigner Untersuchung bestätigen kann. Der Fund in Mainz beweist zugleich, dass sich diese Form aus der Stein- zeit im reinsten Charakter bis zu Anfang der christlichen Zeitrech- nung am Rhein erhalten hat. In Olmütz fand sich von dieser Rasse nur eine linke Unterkieferhälfte, die aber auf das Genaueste mit den von J. in Basel verglichenen Unterkiefern des Torfhundes aus Roben- hausen und Wangen, sowie mit den Angaben in Rütimeyer’s „Fauna der Pfahlbauten“ und bei Canestrini übereinstimmt. J. bestätigt die Ansicht Rütimeyer’s, dass der Hund der Steinzeit dem Wachtel- hunde der Gegenwart zunächst steht; aber eben so nahe, vielleicht noch näher steht dem Torfhundschädel jener des Dachshundes, und auch der Spitzhund oder Pommer erscheint dem Hunde des Stein- alters sehr verwandt. Wie das Torfschwein und das ziegenförmige Schaf des Steinzeitalters in zahmen Rassen noch in der Schweiz fort- leben, so glaubt J. eine dem Dachshunde nahestehende, aber grad- beinige Hundeform mit entschiedener Schakalfärbung, die in der Schweiz und in Bayern noch vorkommt, als unmittelbaren Nachkommen des Torfhundes bezeichnen zu können. Sehr genaue Vergleichungen der Schädel des Torfhundes mit dem von Canis aureus L. aus Algier und Asien, sowie mit den Zeichnungen, Beschreibungen und Maß- angaben bei Guldenstädt („Schakalae historia“ in den Nov. Com- ment. Acad. Petropolit., t. XX, 1875, S. 49 u. ff.), Cuvier und Blainville, überzeugten Jeitteles, dass der Schädel des Torf- hundes ganz und gar übereinstimmt mit dem des kleinen oder eigent- lichen Schakals, insbesondere mit dem des algerischen Schakals. Es 46 72, Wilckens, Paläontologie der Haustiere. unterliegt für J. nicht dem geringsten Zweifel, dass die Bewohner der schweizer Pfahlbauten den kleinen Schakal gezähmt und als „Lorfhund“ benutzt haben. Entweder brachten sie das schon ge- zähmte Tier aus Afrika mit, oder, was wahrscheinlicher ist, der kleine Schakal, der ja jetzt noch in Griechenland, der Türkei und auf der Insel Curzola in Dalmatien zuhause ist, lebte damals an den Süd- abhängen der Alpen und er wurde hier von den Bewohnern der Terramare gezähmt. Im Torfgrunde unter der Stadt Olmütz wurden zwei fast voll- ständige Schädel einer vom Torfhunde gänzlich abweichenden Hunde- form gefunden, zusammen mit Menschenknochen und Resten von Torf- schwein und Torfkuh. Jeitteles hält jene Schädel für die des Hun- des der Bronzezeit und er nannte die Art — seiner Mutter zu Ehren — Canis matris optimae. Ganz ähnlich erwiesen sich die beiden Hunde- schädel, welche 1868 in dem Pfahlbau von Würzburg gefunden wur- den; einen gleichen Schädel sah J. ferner im paläontol. Museum zu Stuttgart, in den Ausgrabungen von Troppau und in mehreren Privat- sammlungen. Der Schädel des Hundes der Bronzezeit unterscheidet sich von dem des „Torfhundes“ — des Hundes der Steinzeit — durch hedeutendere absolute Größe; während die Länge am Schädelgrunde beim Torfhunde zwischen 130 und 152 mm schwankt, beträgt sie beim Bronzehunde 177 bis 189 mm und sie misst selbst bei einem ungewöhnlich kleinem Tiere noch 162 mm. Dabei ist die Schnauze weit mehr zugespitzt, der Gaumen nicht bloß länger, sondern auch bedeutend schmäler (besonders in seinem hintern Teile), das Profil des Schädels viel flacher und sanfter ansteigend, die Hirnkapsel we- niger gewölbt als beim Torfhunde. Bei letzterem stoßen die Schläfen- gruben auf der Mitte des Schädels gar nicht, oder (bei älteren Tieren) erst weit oben zu einem schwachen Scheitelkamm zusammen; beim Bronzehunde dagegen vereinigen sie sich sehr bald und bilden einen langen, meist sehr deutlich und hoch hervortretenden Scheitelkamm, der — merkwürdigerweise — nur bei älteren Tieren teilweise wieder zur Rückbildung und zum Verschwinden kommt. Auch sind die Nasen- beine beim Bronzehunde länger. Wegen des sanften Schädelprofils ist die Höhe über dem Keilbein im Verhältnis zur Schädellänge klei- ner als beim Torfhunde. Endlich sind die Gehörblasen beim Bronze- hunde weniger entwickelt und aufgetrieben als beim Torfhunde, der sich in dieser Beziehung inniger an Fuchs, Eisfuchs und Hyäne an- schließt. Um die Beziehungen des Bronzehundes zu den wilden und zahmen Caniden der Gegenwart zu ermitteln, verglich J. (a. a. O. S. 220) eine sehr große Anzahl von Schädeln aus allen Weltteilen und ebenso zahlreiche Abbildungen von solchen, und er kam zu der Ueberzeugung, dass unter den wilden Canis-Arten der Jetztzeit der Präriewolf Nord- 9. Die vorgeschichtlichen und die Pfahlbauhunde. 123 amerikas ((anis latrans Say — Lyeciscus latrans Ham. Smith) und die ihm zunächst verwandten Arten ©. lupaster Ehrenb. und der Dingo Australiens nahezu als mit ihm übereinstimmend angenommen werden können, während ihm unter den zahmen Hunderassen der Gegenwart der Schäferhund Westeuropas am nächsten kommt. Edmund Naumann („Die Fauna der Pfahlbauten im Starn- berger See“ im Arch. f. Anthropol., 1875, VIII, S. 39) bestätigt im wesentlichen die Angaben von Jeitteles. Er findet jedoch, dass der Schädel des krummbeinigen Dachshundes von dem des Torfhundes in vielen und wesentlichen Punkten abweicht, namentlich ist die größere Entwicklung der Hirnkapsel bei ersterem auffallend; im all- gemeinen ist der Schädel des Dachshundes kurz und breit, nach vorn zugespitzt. Den Bronzehund fand N. in den Pfahlbauten des Starn- berger Sees weit zahlreicher vertreten als seinen ältern Verwandten; er stellte für ihn eine Vertretung durch neun Individuen fest; außer acht Schädelstücken fand sich ein ziemlich vollständiger Schädel. Der Bronzehund zeigt im Gegensatze zu der Form des Torfhundes stark ausgeprägte Muskelansätze, überall kräftig entwickelte Leisten und ein kräftiges Gebiss. N. untersuchte in der an Hundeschädeln unge- wöhnlich reichen zoologisch -zootomischen Sammlung zu München !) besonders die Schädel solcher Formen, welche als Nachkommen des Bronzehundes gelten können ?). Das Ergebnis dieser Untersuchung war: überall wenig entwickelter Scheitelkamm; eigentümliche Form der Hirnschale, die sich nicht nach vorn und hinten zuspitzt, wie bei den wilden Caniden und den großen Haushunden der Vorzeit (?), sondern die vielmehr eine schöne und freie Wölbung zeigt, offenbar zu gunsten des Gehirnraumes; das Stirndreieck ist breit; im Ober- und Unterkiefer rücken die, überdies wenig entwickelten Prämolar- zähne um nicht unbedeutende Entfernungen auseinander, insbesondere der zweite und dritte, eine Erscheinung, die auf eine Verkümmerung des Fleischfressergebisses zurückzuführen ist; dagegen sind die Höcker- zähne immer etwas größer und stärker, während die Eckzähne in der Entwicklung zurückgeblieben sind. Da allen diesen Abweichungen dieselben Ursachen zu grunde liegen — meint N. — so ist auch das Auftreten der einen Erscheinung bedingt durch die andere. So sehen wir, dass durch das Zurücktreten des Gebissmuskelapparates, durch die Verkümmerung der Schläfenmuskeln eine freiere Entwicklung des 1) Naumann spricht in seiner Abhandlung wiederholt von „hiesiger“ Sammlung, ohne irgendwo einen Ort zu nennen. Da er aber Herrn Professor Zittel als seinen Lehrer bezeichnet, so nehme ich an, dass unter der „hiesigen“ Sammlung die Münchner gemeint ist. 2) In einer Anmerkung erklärt N., dass er von den eigentlich monströsen Bildungen (Bulldogge, Mastiff, Pinsch, King Charles u. s. w.) abgesehen habe, aber er sagt nicht, welche Rassen er als Nachkommen des Bronzehundes an- sieht. Uebrigens ist der Pinsch keineswegs eine „monströse Bildung“. 46* 724 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. Gehirns verursacht wird. Allmähliche Zunahme der tierischen In- telligenz erscheint also im Hausstande des Hundes als Folge der An- passung. Für so wichtige Veränderungen genügte ein Zeitraum von der Bronzezeit bis zur Gegenwart. Genaue Vergleiche der Reste von der Roseninsel im Starnberger See und zweier Gipsabgüsse eines Schädels von Olmütz, sowie eines solchen von Troppau, zeigten Herrn Naumann, dass in der Form des Bronzehundes zwei Abänderungen vorhanden sind, welche nicht auf geschlechtliche Abänderung oder gar auf individuelle Schwan- kungen zurückführbare Unterschiede zeigen. Die eine Abänderung ist nach dem Bau des Schädels und des Skeletes ganz windhundartig, die andere steht den größeren Jagdhunden ungemein nahe; N. meint, dass diese Abänderungen des Bronzehundes auf den altägyptischen Windhund und auf den Schweißhund der Pyramiden zurückzuführen seien. Die merkwürdige Thatsache, dass der große Hund der Bronze- zeit eben nur für diese Periode bezeichnend ist, führt Herrn Nau- mann zu der Annahme, dass dieser Hand mit dem Handelszuge der Phöniker oder Etrusker nach Mittel- und Nordeuropa gelangt ist. Diese Ansicht wurde bereits von Ch. Darwin ausgesprochen. In einem später gehaltenen Vortrage („Die Stammväter unserer Hunderassen“ Wien 1877) bestätigt Jeitteles nicht bloß die Be- ziehungen des Torfhundes zu dem Wachtelhunde, Spitz und Dachs- hunde, sondern er dehnt diese Beziehungen auch aus auf sämtliche Pintschformen und auf die Rattler. Gegen Naumann hält er die Beziehungen des Torfhundes zum Dachshunde aufrecht. Es gibt frei- lich extreme Formen, sagt J., die dem Torfhunde ziemlich fern zu stehen scheinen; hat man aber ein reiches Material, so kann man zwischen Torfhund, Spitz, gradbeinigem und krummbeinigem Dachs- hund und Rattler bis zu der extremsten Bildung ganz kleiner Pintscher herab alle möglichen Uebergänge zusammenbringen. Bezüglich des Bronzehundes — von dem Jeitteles nach dem Erscheinen seiner oben erwähnten Abhandlung noch weitere Reste (aus dem Dabersee in Pommern, aus der Höhle Byeiskala in Mähren, aus Ober- und Niederösterreich und Bayern) untersucht hat — gesteht er die von Naumann behaupteten Abänderungen in eine windhund- und jagdhundähnliche Form zu, möchte aber die zweite, häufigere Form als schäferhundähnliche bezeichnen. Als Nächstverwandte des Bronzehundes unter den zahmen Hunden der Jetztzeit betrachtet J. den Schäferhund Mitteleuropas und Schottlands (the scotsh colly), den Pudel und gewisse größere Jagdhunde. Schwieriger als die Er- mittlung der Beziehungen des Bronzehundes zu den Rassen der Gegen- wart war Herrn Jeitteles die Frage, von welchem wilden Tiere dieser alte Hund abstammen möge. Während er früher, aufgrund der Uebereinstimmung der Schädelformen, annahm, dass der amerikanische Präriewolf oder Coyote (Canis latrans Say’s) der Stammvater des ee 9. Die vorgeschichtlichen und die Pfahlbauhunde. 7125 Bronzehundes sei, und dass der Präriewolf einst auch in Europa ge- lebt habe (er hielt die „Steppenwölfe“ an den Flüssen Ural und Wolga und die „Rohrwölfe“ Ungarns für die versprengten Nachkommen des Präriewolfes), erklärt er nunmehr, aufgrund eines untersuchten Schä- dels vom indischen Wolfe oder Landgah der Mahratten (Canis pallipes Sykes), dass dieser der Stammvater des Bronzehundes sei. Das be- zeichnende Merkmal für diese kleineren Wölfe Indiens, welches J. an die Möglichkeit einer Abstammung zahmer Hunde von ihnen denken lässt, besteht in der absoluten Schwäche des obern Fleischzahnes und in seiner relativen Kleinheit gegenüber den Höckerzähnen binter ihm. Die Hunde und ebenso der indische Wolf haben also den eigent- lichen Raubtiercharakter im Zahnbau weit weniger ausgebildet als der europäische Wolf, den Rohrwolf mit einbegriffen (a. a. ©. S. 30). Umfassende Untersuchungen über die Hunde der Pfahlbauten hat Th. Studer im zwei Abhandlungen veröffentlicht. In der ersten („Beitrag zur Kenntnis der Hunderassen in den Pfahlbauten“ im Arch. f. Anthropol., 1880, XII, S. 67) erwähnt St. als lebende Hunderasse, welche dem Hunde der alten Pfahlbauten am nächsten zu stehen scheint, den Haushund der Papuas des neubritanischen Archipels, den Canis Hiberniae Quoy Gaimard’s. Diese Rasse wird von den genannten Forschern gekennzeichnet als spitzschnauzig, mit kurzen, aufrechtstehenden spitzen Ohren, schlanken Läufen und anliegendem Haar von brauner oder gelber Farbe. St. sah während der Reise der Korvette „Gazelle“ diesen Hund in den meisten Dörfern an der Südküste von Neu-Irland und Neu-Hannover. Im Holzhafen (Neu- Irland) fanden sich an einer Begräbnisstätte Schädel vom Mensch, Schwein und Hund, wahrscheinlich Reste eines Leichenmahles. Der Hundeschädel zeigt nach St. alle Merkmale des kleinen Hundes der Pfahlbauten, und Rütimeyer — dem er vorgelegt worden — schreibt darüber !): „der (Schädel) bis in die kleinsten Details mit den zahl- reich vor mir liegenden Hundeschädeln des schweizerischen Stein- alters, bekanntlich der einzigen Rasse dieser Epoche, übereinstimmt“. Etwas vorsichtiger sagt Studer (a. a. O. S. 70): „Ich zweifle nicht, dass der Hund der Steinzeit Europas dem Hunde der Neu-Irländer ziemlich ähnlich sah“, aber er wagte doch nicht zu behaupten, dass der Torfhund der Steinzeit und der Haushund der Papuas in einem verwandtschaftlichen Verhältnisse stehen. Die Untersuchung reichlichen Materials aus den Pfahlbauten der spätern Steinzeit, namentlich Lattrigens, scheinen Herrn Studer in bezug auf die Abstammung des Bronzehundes etwas abweichende Ergebnisse zu geben, deren Bestätigung von vermehrtem Material abhängig sein wird. Im allgemeinen hat der Schädel aus dem Pfahl- 4) In einer Anmerkung zu „Einige weitere Beitr. üb. d. zahme Schwein u. das Hausrind“ in Verh. d. naturf, Ges. in Basel, 1877, VI, 3, Seite 28. 726 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. bau von Lüscherz !) noch ganz das Gepräge des Hundes aus den älteren Pfahlbauten, nur wird er im allgemeinen kräftiger, die Joch- bogen sind stärker, die Hinterhauptsleiste höher; häufig findet sich auch durch frühes Zusammentreten der Schläfenleisten ein deutlicher Scheitelkamm. Zugleich lassen sich zwei Typen unterscheiden, von denen der eine die Schnauze spitz und schmal, der andere sie breit und stumpf hat. Beide Formen sind noch nicht sehr scharf getrennt, Zwischenformen kommen häufig vor. Auch Verschiedenheiten inbezug auf die Breite der Stirn kommen vor, der Stirnhöcker tritt mehr oder stark hervor, bei einigen ist auch das Schädelprofil sanfter ansteigend. Ganz ähnliche Verhältnisse zeigen die Schädel der Hunde von Lat- trigen und Sutz. „Bei allgemeinem Habitus der kleinen. Rasse von Schaffis kräftigern Bau, stärkere Jochbogen, Entwicklung von Scheitel- leisten mit Variationen inbezug auf die Schnauzenentwicklung. In den- selben Stationen finden sich aber noch Schädel von bedeutenderen Dimensionen und Stärke“. Nach diesen Thatsachen sehen wir also — sagt Studer — in der spätern Steinzeit und in der Uebergangszeit zum Bronzealter eine Mannigfaltigkeit in der Form des Hundes auftreten, welche dem Verhalten des Haushundes in der ältern Steinzeit ziemlich wider- spricht. Wir sehen einesteils größere, mehr jagdhundähnliche Formen auftreten, an welche sich die große Form des Bielersees unmittelbar anschließt, anderseits Formen, welche nach der windhundähnlichen Rasse des Bronzealters hinzuführen scheinen; alle diese Formen sind unter sich und mit dem Torfhunde verbunden. Beim Uebersehen des ganzen Materials drängt sich Herrn Studer der Gedanke auf, dass man es hier mit genetisch zusammenhängenden Formen zu thun habe. Die in der ältern Steinperiode noch starre Form wird in der jüngern Zeit und der Uebergangszeit plastisch und sie zweigt sich nach verschiedenen Richtungen auseinander. St. glaubt zu der Annahme berechtigt zu sein, dass die großen Hunde- rassen der Bronzezeit nur ein Züchtungsprodukt seien aus der ur- sprünglichen kleinen Rasse der Steinzeit, und dass die Uebergangs- formen dazu die mittelgroßen Hunde der spätern Steinzeit darstellen. Die andere (in den Mitt. der Bern. naturf. Ges. 1883 veröffent- lichte) Arbeit Studer’s führt den Titel „Die Tierwelt in den Pfahl- bauten des Bielersees“. In Schaffis kommen nur Reste vom Torfhund vor, von der Größe eines Spitzes und ähnlicher Form, nur mit stum- pferer Schnauze. Das Profil ist in der Gegend der Nasenwurzel ein- gesenkt, der Schädel schön gewölbt, die Jochbogen schwach ent- wickelt, die Schläfenleisten treten in der Mitte des Scheitels nur im hintersten Teile zur Bildung eines Scheitelkammes zusammen. Da- 1) Lüscherz am Bielersee gehört einer etwas jüngern Epoche der Stein- zeit an als Schaffis, Coneise, Robenhausen, Meilen, Moosseedorf u. 8. w. 9. Die vorgeschichtlichen und die Pfahlbauhunde. an gegen tritt an den zahlreichen Schädeln und anderen Skeletteilen von Lattrigen, Lüscherz und Vinelz, bei Beibehaltung des allgemeinen Charakters des Torfhundes, eine ungemeine Mannigfaltigkeit in Größe und zum Teil in Form auf, wodurch eine beginnende Rassenabände- rung angedeutet wird. Aus sämtlichen Schädeln lassen sich zwei Reihen aufstellen, deren Ausgangspunkt im Torfhunde von Schaffis liegt, deren divergierende Endpunkte die große breitschnauzige und die große schmalschnauzige Form sind; dazwischen bleiben aber noch indifferente Formen, welche die des kleinen Torfhundes von Schaffis nur in vergrößertem Maßstabe fortsetzen. Endlich zweigt sich von dem Torfhunde noch eine kleinere Form ab, deren Schädel mit dem des modernen Spitzhundes die größte Uebereinstimmung zeigt. Studer meint, dass die verschiedenen Formen der Hunde aus den Pfahlbauten der spätern Steinzeit das Produkt der Veränderung und Züchtung der kleinen Rasse der ältern Steinzeit sind. Von den durch diese Einflüsse entstandenen größeren Formen scheint die breit- schnauzige Rasse zu den Jagd- und Wachtelhunden, die spitzschnauzige zu den Schäferhunden der Jetztzeit hinzuleiten. In dem Pfahlbau von Möringen wurde nur ein Schädel von der großen Form des Bronzehundes gefunden, dessen Gesichtsteil eine größere Entwicklung als der Hirnteil hat und dessen Hirnschädel verhältnismäßig weniger Raum besitzt; nach den Schädelmaßen steht dieser Hund in der Mitte zwischen dem Torfhunde und dem Canis matris optimae J eitt. Aus den vorliegenden Thatsachen zieht Studer den Schluss, dass die Bewohner der ältesten Pfahlbauten nur eine Rasse von Hunden kannten !), den kleinen Canis palustris Rütim., und dass diese Rasse 1) Mit dieser Schlussfolgerung von Studer, ebenso wie mit der gleich- lautenden Ansicht von Rütimeyer, kann ich mich nicht einverstanden er- klären. Ich hatte Gelegenheit die Hundeschädel des Museums für Naturgeschichte in Bern, welche Herr Studer auf der vorjährigen (vom 10. bis 12. April 1885) Ausstellung des österr. Hundezuchtvereines in Wien ausgestellt hatte — zu- sammen mit Prof. Woldriech — zu besichtigen. Wir beide fanden, dass der Schädel des Kastens II, Nr. 8, der bezeichnet war als „reiner Torfhund aus dem Pfahlbau von Schaffis, älteste Steinzeit der Pfahlbauten“, eine schmale Schnauze hat, während die Schnauze des Torfhundes Nr. 10 „aus dem Pfahl- bau von Moosseedorf, älteste Steinzeit der Pfahlbauten“ breiter ist. Der Torf- hund Nr. 9 „aus dem Pfahlbau von Lattrigen (Bieler See), jüngere Steinzeit der Pfahlbauten“ zeigt viel mehr Aehnlichkeit mit Nr. 8 als dieser mit Nr. 10. Auffallend war uns die große Aehnlichkeit des Schädel Nr.3 in Kasten I „aus den Torflagern von La Töne (Neuenburger See), gallische Eisenzeit, vorrömisch“, mit dem rezenten Schädel Nr. 3 des Kastens IV, der als „Wasserwachtelhund* bezeichnet war, ebenso die Aehnlichkeit des Schädels Nr. 20 in Kasten II „aus dem Pfahlbau von Lüscherz, jüngere Steinzeit“, mit dem rezenten Schädel des „Spitz“ Nr. 4 in Kasten IV. Dagegen vermag ich in dem Schädel des oben erwähnten „Hundes von Neu-Irland“ Nr. 13 in Kasten VI keineswegs die von Rütimeyer behauptete vollkommene Uebereinstimmung mit dem 128 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. bei weiterer Entwicklung der Kultur nach verschiedenen Richtungen hin durch Züchtung abgeändert wurde. Diese Rasse hatte zur neolithischen Zeit eine ausgedehnte Ver- breitung über Europa, und sie findet sich noch in der Bronzezeit in Deutschland, Oberitalien, Aegypten und selbst noch zur Römerzeit am Rhein. Studer erwähnt noch, dass Anutschin (zwei Rassen des Hundes aus den Torfmooren des Ladogasees 1882) diesen Hund in vorgeschichtlichen Ablagerungen der Steinzeit vom Ladogasee nach- gewiesen habe, einer Periode, die zwischen den dänischen Kjökken- möddingern und der Kulturepoche der schweizerischen Pfahlbauer steht. Doch stimmt der Schädel des Ladogahundes nicht ganz überein mit dem des Torfhundes. Anutschin?) glaubt aus den Eigentümlichkeiten seines Ladogahundes, C. Inostranszewi, gegenüber dem Torfhunde schließen zu dürfen, dass derselbe eine kräftigere, noch weniger durch den Hausstand veränderte Form darstelle, die eine größere „Primor- dialität“ beanspruchen dürfe, eine Thatsache, welche die Beschaffen- heit der Knochen, die diehter und mit stärker hervortretenden Rauhig- keiten und Gefäßabdrücken versehen sind, noch unterstützt. Nach Anutschin kommt dem Hunde der Steinzeit ein kleiner Hund am nächsten, welcher jetzt noch bei den Lappen, den Samo- jeden, den Tschuktschen und Tungusen, sowie bei den Völkern Nord- west-Amerikas angetroffen wird; derselbe wird geschildert als von kleinem Wuchs, von 1!/, Fuß Schulterhöhe, mit langen glatten grau- melierten Haaren, mit weißem Bauch und anfgerichteten Ohren. Dem- nach finden wir — sagt Studer — über den ganzen Norden Asiens und den Nordwesten Amerikas eine Hunderasse verbreitet, welche mit dem in der neolithischen Zeit in ganz Europa vorkommenden Torfhunde übereinstimmt. Die gleiche Rasse findet sich wieder auf den Inseln der Südsee in fast unveränderter Form, vielleicht auch in China. Studer verwirft den Schakal als Stammvater des Torfhundes und er meint, dass der Hund mit anderen Haustieren von den ersten Einwanderern der arischen Völkerfamilie — als solche betrachtet er die Pfahlbauer — aus ihrer Heimat gebracht wurde, denn einen ge- zähmten Hund fanden sie bei den schon vorhandenen paläolithischen Völkern nicht vor. St. hält es nicht für unmöglich, dass Canis Mikü Woldr. der Stammvater von Canis palustris sei. Bezüglich der Ab- stammung des Bronzehundes, weicht St. — mit Rücksicht auf Canis - Inostranszewi Anutschin’s — von seiner frühern Ansicht ab; er Schädel des Torfhundes zu erkennen; die Schnauze jenes Papuahundes ist jedenfalls breiter und der Schädel kürzer als der unter Nr. 10 ausgestellte Schädel aus dem Pfahlbau von Moosseedorf. 4) Da mir die Schrift von Anutschin nicht zugänglich ist, so folgy ich der Darstellung von Studer a. a. O. S. 31 des Sonderabzuges. EI U Merk, Kernteilungsfiguren im Zentralnervensystem bei Natternembryonen. 729 hält es für möglich, dass die großen Hunderassen in Europa und Asien durch Kreuzung mit Wölfen entstanden sind, wie in Amerika neue Hunderassen entstanden durch Kreuzungen mit O. latrans und ©. canerivorus. (Schluss folgt.) ! M. Wilckens (Wien). L. Merk, Ueber die Anordnung der Kernteilungsfiguren im Zentralnervensystem und der Retina bei Natternembryonen. Sitzungsberichte d. k. k. Akademie d. Wissensch. in Wien, 92. Bd. Schnitte durch junge Embryonen von Tropidonotus natrix lehren, dass die dem Zentralkanale des Rückenmarkes bezw. den Ventrikeln zugekehrte Fläche des Medullarrohres mit Mitosen wie besät ist, wo- gegen in der übrigen Partie des Rohres fast keine Kernteilungsfigur zu erblicken ist. Etwas Aehnliches gilt von der Retina. Hier findet sich Mitose an Mitose in der äußern Schichte des distalen Blattes, also an der Fläche, die genetisch dem Epithele der Hirnventrikel gleichwertig ist. — Während bei jungen Embryonen in der ganzen übrigen Hirn-Rückenmarkswand Kernteilungen nur ganz ausnahms- weise, vereinzelt zu finden sind, ändern sich erst in den späten Ent- wicklungsstadien die Verhältnisse dahin, dass, mit abnehmender Zahl der Mitosen in der Ventrikelwand, auch in der übrigen Hirnsubstanz, namentlich in der Umgebung des Kleinhirns und in den Großhirn- hemisphären die karyokinetischen Figuren häufiger werden. — Eine Ausnahme macht nur das Kleinhirn, welches gleich von seiner ersten Anlage an durch seine ganze Substanz in unregelmäßiger Weise von Mitosen durchsetzt erscheint. Ganz besonders muss hervorgehoben werden, dass die Teilungs- ebene bei den Mitosen fast immer eine radiäre ist, so dass die beiden neuen Kerne neben einander zu liegen kommen. Es muss sich also, namentlich in den jungen Stadien, die den Ventrikeln zusehende Schichte in einem besonders hohen Spannungs- grad befinden; und es liegt nahe, daraus den Schluss zu ziehen, dass durch eine solche Einrichtung die Hirnblasen sich von selbst in ihrer Form erhalten, etwa so wie ein gemauertes Gewölbe nur noch fester wird, wenn man an der konkaven Seite neue Steine einschiebt. Anderseits gelangt man zu dem zweiten, viel sicherern Schluss, dass, vorausgesetzt dass die Karyokinese die einzige Art ist, wie sich Kerne und Zellen im Hirne teilen, das Epithel der Ventrikel die Matrix für die ganze Hirnwand, wenigstens eine be- trächtliche Zeit des Embryonallebens hindurch, vorstellt. Zu entsprechenden Schlüssen berechtigen auch die Beobachtungen am Rückenmarke. Für die Retina ergibt sich, dass sie in ihrem Wachstume vorerst von der äußern Fläche ihres distalen Blattes 730 Hoffmann und Rauber, Lehrbuch der Anatomie des Menschen. durch Kernteilung Kernmaterial ansammelt, das in seiner Entwick- lung zuerst die Ganglienzellen ansetzt, zwischen sich die Opticusfasern und die Molecularis externa differenziert, dass ferner von der äußern Zone der innern Körnerschicht die übrige Schiehtung ausgebildet werde, dass mit dem Momente der Ausbildung der Zapfen die Zell- teilung aufhört und einer weitern Metamorphose der Zellen Platz macht; endlich dass die Retina am Augenhintergrunde früher reif wird, als an der Ora, an welcher Stelle das Wachstum der Retina am spätesten aufhört. Aber auch ein mechanisches Prinzip kommt hier, wie bei der Entwicklung des Zentralnervensystems zur Geltung. Durch die Kern- teilungszone in der äußern Schichte des distalen Blattes muss dieses in der primären Augenblase dem proximalen Blatte genähert werden; ohne Druck von Seite des Augeninnern, allein durch diese zweck- dienliche Einrichtung bildet sich die sekundäre Augenblase aus der primären, sie biegt sich ein wie ein Brett, das nur auf einer Seite tüchtig nass gemacht wurde. Obwohl zunächst nur für den Schlangenembryo nachgewiesen, darf doch angenommen werden, dass die hier angeführten Schluss- folgerungen — wenn auch vielleicht mit kleinen Modifikationen — für die gesamte Wirbeltierreihe Geltung haben werden. Obersteiner (Wien). C. E. E. Hoffmann und A. Rauber, Lehrbuch der Anatomie des Menschen. II. Bd. 2. Abt. Die Lehre von dem Nervensystem und den Sinnes- organen. Dritte Auflage bearbeitet von Dr. A. Rauber. Erlangen, E. Besold, 1886. Sechster Abschnitt: Nervenlehre. Seite 287—669 !). Bereits in der zweiten Auflage von C. E. E. Hoffmann’s Lehr- buch der Anatomie hatte das Kapitel vom Nervensystem eine sehr ausgedehnte und sorgfältige Bearbeitung erfahren — es war dies damals (1881) durch G. Schwalbe geschehen?). 4) Ueber den VII. Abschnitt: Lehre von den Sinnesorganen — wird dem- nächst eine weitere Besprechung in diesem Blatt erscheinen. Red. d. Biol. Centralbl. 2) Diese Bearbeitung von Herrn Professor Rauber — in teilweiser An- lehnung an die viel umfangreichere von Herrn Professor Schwalbe — ist, wie Herr Professor Obersteiner ja auch selbst in seiner hier folgenden Be- sprechung des Rauber’schen Buches hervorhebt, für den Anfänger im Studium der Anatomie berechnet. Sie ist nicht dazu bestimmt, die große Neurologie Schwalbe’s zu ersetzen, sondern soll neben dieser hergehen; sie soll dem Anfänger ein nützliches und bequemes, seinen Ansprüchen ange- asp Hoffmann und Rauber, Lehrbuch der Anatomie des Menschen. dal In der vorliegenden Auflage hat A. Rauber eine in jeder Be- ziehung neue und originelle Darstellung des Nervensystems geliefert; aus den früheren Auflagen ist nur eine große Anzahl Abbildungen mit herübergenommen. Der Umfang des zu besprechenden Kapitels erscheint nahezu auf die Hälfte reduziert (382 Seiten gegen 740 Seiten der zweiten Auflage); es soll dadurch, ohne der Klarheit der Aus- einandersetzungen zu schaden eine sorgfältig erwogene Breite der Dar- stellung gewonnen werden, welche die Bedürfnisse des Anfängers nicht überschreitet, und der Darstellungsweise der übrigen Kapitel der Anatomie mehr entspricht. Ueber das Maß, welches der Entwieklungsgeschichte einzuräumen sei, äußert sich der Verfasser dahin, dass ein Lehrbuch der Anatomie zwar ohne entwicklungsgeschichtlichen Geist nicht abgefasst sein dürfe, allein als solche habe die Entwicklungsgeschichte doch in einem Buche der genannten Art zurückzutreten. Indem ich nun zur Besprechung der einzelnen Abschnitte über- sehe, muss ich, wie bereits angedeutet, nochmals hervorheben, dass das Buch eine Fülle interessanter und origineller Anschauungen ent- hält, welche es unmöglich macht, all dasjenige referierend oder kriti- sierend zu bemerken, was einer speziellen Erwähnung wert wäre. — Es wird also eine Beschränkung hier jedenfalls notwendig, hingegen grade dem Fachmann die Lektüre dieses geistreichen, anregenden Werkes wärmstens empfohlen sein. 1) Allgemeines. Formelemente. Ich hebe nur weniges heraus: Apolare Nervenzellen, als normale fertig entwickelte funktionskräftige Formen, sind höchst zweifelhaft. Wo solehe Zellen vorhanden sind, handelt es sich entweder um Entwicklungsstufen oder um pathologische Vorkommnisse; es kann ja hier ebenso gut wie in anderen Gebieten Hemmungsbildungen geben. — Die sogenannten Körner fasst R. als kleine bipolare Nervenzellen, die nur Spuren von Protoplasma be- sitzen, auf. Bei der Darstellung des Baues der Nervenzellen und ihrer Kerne finden die neuesten Erfahrungen über den Bau des Zellleibes und des Zellkernes Berücksichtigung. Die namentlich in der Umgebung des Kernes deutliche konzen- trische Streifung im Protoplasma der Nervenzelle ist — wie die Jahres- ringe am Stamm der Bäume — unzweifelhaft in erster Linie als eine Wachstumserscheinung zu deuten, wenn sie auch eine andere Unter- lage hat, als veränderte Temperaturverhältnisse. Sie ist der, in ver- schiedenen Fällen verschieden deutlich sich ausprägende Ausdruck passtes Handbuch bieten, während nach wie vor das große Werk Schwalbe’s das bleiben soll, wozu es von Anfang an bestimmt war: ein Sammel- und Nachschlagewerk für den Fachmann. Die Verlagshandlung. 132 Hoffmann und Rauber, Lehrbuch der Anatomie des Menschen. eines konzentrischen Wachstums. Nehmen wir hinzu, dass die Ausläufer der Zellen auf ein örtlich gewaltig gesteigertes radiäres Wachstum hinweisen, so haben wir ein kombiniertes, radiär - konzen- trisches Wachstum vor uns, welchem die sich entwickelnde Zelle — allerdings gelegentlich mit verschiedenen Modifikationen — unterliegt. Bezüglich der Nervenfasern sei hervorgehoben, dass die ovalen Kerne der Schwann’schen Scheide gewöhnlich als Reste der embryo- nalen Bildungszellen der ganzen Nervenfaser angesehen werden; man fasst sie aber mit besserem Grunde als Reste der Bildungszellen nur für Mark- und Schwann’sche Scheide auf. Ueber die morphologische und physiologische Bedeutung der Nervenplexus sei erwähnt, dass Plexusbildungen teils Schutzeinrich- tungen darstellen, insofern ein bestimmtes Gebiet von verschiedenen Seiten her mit Nervenfasern versorgt wird, teils eine stärkere Be- festigung des Endgebietes an die Peripherie im Gefolge haben, und teils auch die Möglichkeit gewähren, dass von verschiedenen zentralen Herden aus ein bestimmtes Gebiet ausgestattet werden kann. Für die Anastomosen der Nervenstämme schlägt R. mit Recht den passendern Namen „Konjugationen“ vor. 2) Im speziellen Teile wird zuerst das Rückenmark abge- handelt. Rauber ist geneigt, eine Einheitlichkeit der Endigungsweise je für die hinteren und die vorderen Nervenwurzeln anzunehmen. Be- sonders spricht er sich gegen jene Angaben aus, welche für Teile der vorderen und hinteren Wurzeln ein direktes Aufsteigen bis zum Ge- hirne wollen. Ein solches Verhalten würde dem segmentalen Charakter des Rückenmarkes — bis jetzt ohne Not — widersprechen; am nächsten liegend erscheint die direkte Nervenversorgung der einzelnen Dermato- und Myomeren durch zugehörige Neuromeren. Das Gehirn beherrscht als eine Gruppe dominierender Neuromeren jedes einzelne Körper- segment; der dieser Funktion zugrunde liegende strukturelle Plan ist ein einfacher, durch Längskommissuren gegebener, die sich von der grauen Substanz des Gehirnes zur grauen Substanz der Segmente des Rückenmarkes erstrecken. Gelegentlich der Besprechung der Gefäßverteilung im Rücken- marke äußert sich R. über die Lymphbahnen im Zentralnervensystem überhaupt. Die adventitiellen Lymphbahnen innerhalb der Adventitia werden jetzt wohl bereits allgemein anerkannt; anders steht es mit den außerhalb der Adventitia befindlichen, eigentlich perivaskulären Räumen, die viele lediglich als Schrumpfungsprodukte ansehen. — Die perivaskulären Räume stehen allerdings mit den adventitiellen Lymphbahnen nicht in Zusammenhang; letztere sind aber — mit Ein- schluss der subarachnoidalen Räume — ein sekundäres Erzeugnis. Diesem Lymphsystem geht zeitlich ein anderes, Urlymphsystem, voraus, das in sehr starker Ausbildung vor jeder Gefäßentwicklung Hoffmann und Rauber, Lehrbuch der Anatomie des Menschen. 133 und zur Zeit der ersten Gefäßbildung angetroffen wird. — Dieses protolymphatische System, in welchem Saftströmungen entschieden vorkommen, bedarf keiner bindegewebigen Wände, wie das deuto- Iymphatische System. In den perivaskwären (und epicerebralen und epimedullären) Räumen finden wir die Reste des Urlymphsystems, die für die Saftströmung immer noch eine Bedeutung besitzen können. 3) Das Gehirn. Aus den einleitenden Seiten über Größe, Volumen u. s. w. des Gehirns mag eine Betrachtung herausgehoben werden, da dieselbe dafür charakteristisch ist, in welcher Weise der Verfasser einer naturphilosophisehen Auffassung des Gegenstandes Raum gewährt. Verfasser fragt, wie es kommt, dass trotz einer starken, seit Jahr- tausenden dauernden Auslese, welche das Schlechtere und Schwächere dem Untergange anheimfallen lässt zugunsten des besser Ausgerüsteten, und diesem zum Siege verhilft, anscheinend dennoch so viele dürftig ausgestattete Gehirne das Licht der Welt erblicken und sich des Lichts der Welt erfreuen. Man sollte ja erwarten, es müsse endlich einmal die Zeit kommen, in welcher lauter vorzüglich ausgestattete Eltern ebensolche Kinder in das Dasein rufen, und die Menschheit einzig aus bevorzugten Wesen bestehen werde. Als erklärende Um- stände für diese auffallende und schwerwiegende Thatsache führt R. in teilweiser Anlehnung an Broca folgendes an: 1) Ist es offenbar für die Natur selbst eine ungeheure Aufgabe, ein so wunderbares Gebilde, wie das menschliche Gehirn in großer Vollkommenheit allzu häufig hervorzubringen. 2) Gehen viele vorzüglich ausgestattete Köpfe er- fahrungsgemäß frühzeitig zugrunde, indem sie Gefahren stärker aus- gesetzt zu sein scheinen. 3) Schützt und erhält der Kulturstaat alle seine Kinder in gleicher Weise, während in rauheren Zeitaltern dürftig ausgestattete und schwache Wesen leichter der unmittelbaren Aus- rottung verfallen waren. Die spezielle Auseinandersetzung des feinern Gehirnbaues zeichnet sich durch Klarheit der Darstellung und Rücksichtnahme auf die aller- letzten Fortschritte aus. Das Corpus genieulatum mediale, das gewöhnlich als Bestandteil des Mittelhirnes angesehen wird, rechnet Rauber auf Grundlage ent- wicklungsgeschichtlicher Thatsachen zum Zwischenhirn; es ist eine Abteilung des Sehhügels, die von diesem äußerlich durch den vordern Vierhügelarm abgeschnürt wird, aber auf der vordern Fläche und dorsalwärts innig mit der grauen Substanz des Thalamus zusammen- hängt. — Beide Corpora geniculata, das mediale und das laterale, sind ferner durch eine Markschleife miteinander verbunden, die R. als Ansa intergenicularis bezeichnet; dieselbe stellt eine mit ihrer Konvexität nach vorn gerichtete Platte von eirca 2 mm Breite dar, und ist beim Neugebornen deutlicher als beim Erwachsenen aus- geprägt. 734 Hoffmann und Rauber, Lehrbuch der Anatomie des Menschen. Sehr ausführlich werden die Hirnfurchen und Windungen be- sprochen; aus den bemerkenswerten Auseinandersetzungen des Ver- fassers über die Ursachen der Hirnwindungen greife ich nur den Hinweis heraus, dass die reichliche Zellenvermehrung und Zellenver- größerung in den tieferen Rindenschichten als eigentliche Veranlassung der Faltung angesehen werden darf. In dem Abschnitte über die Entwicklungsgeschichte des Zentral- nervensystems scheint namentlich die Beobachtung von Teilungsvor- gängen an den Zellkernen des Medullarrohres von Bedeutung. Die Art der Kernteilung ist durchweg die karyokinetische (mitotische). Ueber den Abschnitt Leitungsbahnen behalten wir uns einige Worte für einen spätern Zeitpunkt vor; es ist nämlich der größte Teil davon, um auch die Ergebnisse wichtiger neuerer Untersuchungen, welche in der Veröffentlichung begriffen sind, noch aufnehmen zu können, einstweilen nicht ausgegeben und soll erst beim Abschluss des Gesamtwerkes, gleichzeitig mit dem Gesamtregister geliefert werden. 4) Hirnnerven. — 5) Rückenmarksnerven. — 6) Das Gangliennervensystem. Diese drei Kapitel entziehen sich der Natur des Gegenstandes wegen, den sie behandeln, einer eingehendern Besprechung. Dennoch möchte ich wenigstens auf jene Darlegungen aufmerksam machen, welche dazu bestimmt sind, die häufig angegebenen charakte- ristischen Unterschiede zwischen spinalen und sympathischen Ganglien zu beleuchten. In dieser Beziehung hat man namentlich auf ein verschie- denes Verhalten der Zellfortsätze hingewiesen; für die Spinalganglien sollen Zellen mit einem Fortsatze, der. sich nach erhaltener Mark- umhüllung in zwei Teile spaltet, charakteristisch sein, für die Sym- pathieusganglien aber multipolare Zellen. Nach des Verfassers Anschauung bedingt aber die verschiedene Zahl der Fortsätze noch nicht notwendig die Zugehörigkeit zu ver- schiedenen Systemen. Die Fortsatzbildung der Zellen mag vielleicht vielmehr beeinflusst werden durch den Ort, wohin die Ausläufer ziehen, durch das Organ, für welches sie bestimmt sind. — Uebrigens ist auch die supponierte Einheitlichkeit der Zellenformen im Spinal- gangliensystem nicht vorhanden, was sich an verschiedenen Beispielen nachweisen lässt. Schließlich darf nieht unerwähnt bleiben, dass die äußere Aus- stattung des Werkes in jeder Beziehung eine vorzügliche genannt werden muss. Obersteiner (Wien). mer are Arnaud und Pade, Salpetersäure und Nitrate in Pflanzen. 135 Sitzungsberichte der Gesellschaft für Morphologie und Phy- siologie in München. Bd. I, 1885, 1. Heft (München, Rieger’s Verlag). H. Buchner, Zur neuern Literatur über die Frage vom genetischen Zusammenhang der Milzbrand- und Heubakterien. B. hält seine Lehre, dass sich aus Milzbrandbakterien bei geeig- neter Behandlung eine morphologisch gleiche, aber unschädliche Heu- bakterienart entwickeln könne, gegenüber den Koch’schen Wider- legungsmomenten anfrecht. Als neue Stütze seiner Untersuchungen führt er die genaue Nachprüfung durch den Botaniker A. Praz- mowski') an, welcher zu den nämlichen Resultaten wie er selbst gelangt ist. Prazmowski gibt an, dass sich die veränderten Bak- terien außer durch den Mangel der virulenten Eigenschaften durch viel lebhaftere Eigenbewegungen von den echten Milzbrandbakterien unterscheiden. Bei reichlicher Vermehrung trüben sie die Nährlösung und bilden an deren Oberfläche schmutzigweiße Decken von schlei- miger Beschaffenheit. Buchner hält nach dieser Beschreibung die Resultate P.’s für identisch mit denen seiner ersten Versuchsreihe und erklärt sonach die Kritik, die er durch Koch erfahren, für widerlegt. Graser (Erlangen). A. Arnaud und L. Pade, Bestimmung der Salpetersäure und der Nitrate in den Pflanzen. Comptes rendus. 98. S. 1488—1492. Das aus der Rinde von Remigia purdieana von Arnaud neuerdings dar- gestellte Alkaloid Cinchonamin (C,sHz,N,0) bildet ein in angesäuertem Wasser fast unlösliches, kKrystallisiertes Nitrat. Schnitte von Parietaria offieinalis, Borago officinalis, Digitalis purpurea, Chenopodium murale, welche in eine mit Salzsäure angesäuerte Lösung von chlorwasserstoffsaurem Cinchonamin gelegt worden waren, zeigten unter dem Mikroskop zahlreiche Krystalle von Cinchonaminnitrat. Stengelstücke dieser und anderer salpeterhaltigen Pflanzen, welche in die angesäuerte Lösung eines Cinchonaminsalzes gelegt wurden, bedeckten sich innerhalb 12 Stunden mit Krystallen von Cinchonaminnitrat. Die gleiche Reak- tion trat bei Anwendung des ausgepressten Saftes ein. Kellermann (Wunsiedel). 1) Vgl. dieses Blatt, Bd. IV, Nr. 13. 736 Brasse, Amylase in den Blättern. A. Arnaud, Quantitative Bestimmung der Salpetersäure durch Fällung in Form von Oinchonaminnitrat. Anwendung dieses Verfahrens zur Bestimmung der Nitrate in natürlichen Wässern und in den Pflanzen. Comptes rendus. 99. S. 190—193. Die Flüssigkeit, welche die Nitrate enthält, wird je nach Umständen durch Soda oder Schwefelsäure neutralisiert, die Chloride werden durch Silberacetat gefällt; der Silberüberschuss wird durch Natriumphosphat beseitigt. Die fast zur Trockne gebrachte, filtrierte Flüssigkeit wird nochmals filtriert, mit einem Tropfen Essigsäure angesäuert und kochend mit einer warmen Lösung von Cinchonaminsulfat versetzt. Nach 12 Stunden wird der Niederschlag mit einer gesättigten Lösung von Cinchonaminnitrat und zuletzt mit einigen Tropfen Wasser ausgewaschen und bei 100° getrocknet. Bei der Untersuchung von Pflanzensäften dampft man bis zur Extraktdicke ein, versetzt mit 40prozentigem Alkohol, filtriert, verjagt den Alkohol und verwendet statt des Silberacetats eine geringe Menge von neutralem Bleiacetat. Der Bleiüberschuss wird durch Natriumsulfat entfernt. Kellermann (Wunsiedel). L. Brasse, Ueber die Gegenwart der „Amylase“ in den Blättern. Comptes rendus. 99 S. 878— 879. In allen Blättern, welche untersucht wurden, nämlich in denen der Kar- toffel, der Dahlia, der Topinambur, des Maises, des Tabaks und des Rieinus, sowie in den reifenden Samen des Mohnes, des Rieinus und in den reifenden Früchten der Sonnenblume findet sich ein Stärke verzuckerndes Ferment. Dasselbe kann aus dem ausgepressten Safte durch Füllung mit Alkohol gewonnen werden. \ Kellermann (Wunsiedel). Verlag von Eduard Besold in Erlangen. In allen Buchhandlungen ist vorräthig: Lehrbuch der Anatomie des Menschen in zwei Bänden von Dr. C. E. E. Hoffmann, und Dr. August Rauber, w. Professor in Basel. Professor an der Universität Leipzig. Dritte teilweise umgearbeitete und vermehrte Auflage. Zweiter Band zweite Abteilung. Die Lehre von dem Nervensystem und den Sinnesorganen. 1886. Mit 300 Holzschnitten. Preis 14 Mark. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Oentralblatt unter Mitwirkung von Dr. M. Reess und Dr. E. Selenka Prof. der Botanik Prof. der Zoologie herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der ie in Erlangen. 24 Nummern von je 2 Bogen bilden einen "Band. Preis des Bandes 16 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. V. Band. 15. Februar 1886. Nr. 24. elalk: Vöchting, Ueber die ein. der aenenteen — ns Die chloro- phylifreien Humusbewohner Westindiens. — Ludwig, Neue Beobachtungen über blumenthätige Hymenopteren. — Leydig, Haller, Ueber das Blau in der Farbe der Tiere. — Chun, Kosmopolitische Verbreitung pelagischer Tiere. — Wilekens, Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haustiere. 9. Die vorgeschichtlichen und die Pfahlbauhunde (Schluss). — Fränkei und Simmonds, Die ätiologische Bedeutung des Typhus-Bacillus. — Sir John Lubkock, Geistige Fähigkeiten des Hundes. — H. v. Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik. — James Eisenberg, Bakteriologische Diagnostik. — F. Müller, Wurzeln als Stellvertreter der Blätter. — Ueber vegetabilische Ernährung. — Abonnements - Einladung. H. Vöchting, Ueber die Regeneration der Marchantieen. Pringsheim’s Jahrb. für wiss. Botanik XVI. 3; 48 Seiten. 4 Tafeln. Die Untersuchungen über die künstliche Teilung von Organismen und die darauf erfolgende Regeneration des Ganzen aus den Teilen haben nach vielen Beziehungen große Bedeutung. Im allgemeinen lässt sich bei den Pflanzen eine solche Teilung sehr viel weiter trei- ben als bei den Tieren, die Regenerationsfähigkeit ist bei ersteren eine sehr viel größere als bei den letzteren, was im Zusammenhange damit steht, dass die einzelnen Organe resp. die einzelnen Zellen eine relativ große Selbständigkeit bei den Pflanzen besitzen. Ein- zelne Stücke von Stengeln, Wurzeln, ja Blättern sind fähig die ganze Pflanze wieder herzustellen, und von dieser weitgehenden Re- generationsfähigkeit macht die Gärtnerei die umfassendste Anwen- dung, indem sie auf diesem Wege Pflanzen ins unbegrenzte vermehrt. Ueber die Regeln, nach welchen bei den höheren Pflanzen die Re- generation solcher Stecklinge vor sich geht, hat Vöchting schon früher eine ausführliche Untersuchung veröffentlicht; in der vorlie- genden Arbeit behandelt er die betreffenden Fragen an niedriger stehenden Pflanzen, einigen Lebermoosen. Die Marchantieen sind Lebermoose, welche ein auf dem Boden kriechendes Laub besitzen, das aus grünen, etwas fleischigen, wieder- 47 158 Vöchting, Ueber die Regeneration der Marchantieen. holt gablig geteilten Lappen zusammengesetzt ist. Jeder einzelne Lappen hat auf seiner Rückenseite eine seichte Mittelrippe und wächst an seiner Spitze mit Hilfe eines Vegetationspunktes unbegrenzt weiter. Das der Spitze entgegengesetzte Ende des Lappens, welches in Dauer- gewebe übergegangen ist, wird als basales Ende bezeichnet. Die Fortpflanzungsorgane der Marchantieen bestehen in kleinen Behäl- tern, den Brutbechern, in welchen ungeschlechtlich zahlreiche kleine Brutknospen gebildet werden, ferner in männlichen und weiblichen Infloreszenzen, welche auf verschiedene Lappen verteilt sind. Alle diese Organe haben nur ein begrenztes Wachstum. Bei der Unter- suchung wurden besonders zwei Marchantieen benutzt: Lamularia vulgaris, ursprünglich eine südeuropäische Art, welche aber jetzt auch bei uns, besonders in den Gewächshäusern auf Blumentöpfen, ver- breitet ist und ferner die bei uns überall gemeine Marchantia poly- morpha. Die Lappen des Laubes wurden nun zuerst durch senkrecht zur Längsaxe gerichtete Querschnitte in einzelne Stücke zerschnitten. Ein jedes derselben ist fähig, neue Adventivknospen zu bilden, welche das Laub regenerieren. Das Eigentümliche liegt darin, dass solche Knospen nur an jener Schnittfläche der Stücke entspringen, welche der Spitze des ursprünglichen Lappens entspricht, nicht aber an der entgegengesetzten, dem basalen Ende zugewendeten. Wenn an den Teilstücken noch etwas von dem Gewebe des Vegetationspunktes vor- handen ist, so bildet sich aus diesem an der vordern Schnittfläche zuerst eine schnabelartige Verlängerung, an der erst die Adventiv- knospen entstehen, während bei den nur aus Dauergewebe gebildeten Stücken die Schnittflächen sich nicht weiter verändern. In weiteren Versuchen wurden die Lappen der Länge nach zerspalten. Am schnellsten entstanden Adventivknospen an solchen Längsteilstücken, welche einen Teil der Mittelrippe besaßen, da an dieser überhaupt, auch bei den Querstücken in der ersten Reihe der Versuche, die Knos- pen sich ausbilden wegen des lange im teilungsfähigen Zustande ver- bleibenden Gewebes der Rippe. Aber es ging, wenn auch sehr viel langsamer, die Knospenbildung ebenso an solehen Längsstücken vor sich, die nur aus Randteilen des Lappens bestanden. Wie bei den Querstücken, so ist auch bei den Längsstücken die Entstehung der Adventivknospen an die der Spitze des Lappens entsprechende Schnitt- fläche gebunden. Mannigfache Versuche wurden angestellt bezüglich der Frage, ob äußere Verhältnisse für den Ort der Neubildung: von Einfluss sind. Es zeigte sich, dass im allgemeinen die Adventiv- knospen immer am vordern Ende der Teilstücke entstehen, in welcher Lage zum Horizont oder zum Lichteinfall dieselben auch kultiviert wer- den, so dass nur innere unbekannte Ursachen den Entstehungsort bedingen. Jedoch dass in der That äußere Verhältnisse von Einfluss sind und bei weiterer Untersuchung sich noch vielleicht viel bedeu- he ee FE De ae ° Vöchting, Ueber die Regeneration der Marchantieen. 139 tungsvoller erweisen werden, dafür spricht die Beobachtung, dass an Teilstücken von mittlerem Alter, welche in horizontal verkehrter Lage wachsen — d. h. die ursprüngliche Unterseite nach oben gewendet — Adventivknospen in einiger Entfernung von der Spitze selbst in der Nähe der Basis auftraten. Diese Ausnahme von der Regel führt Vöchting darauf zurück, dass bei solchen verkehrt kultivierten Lappen die sonst auf der Unterseite vor sich gehende Haarbildung unterbleibt und nur die disponiblen Nährstoffe für eine intensivere Bildung von Adventivknospen verbraucht würden. Aber auch bei der Richtigkeit dieser Hypothese würde doch damit ein Einfluss äußerer Verhältnisse — in diesem Falle Nahrungsüberschuss — nachgewie- sen sein. Weitere Versuche wurden in der Weise angestellt, dass die Lappen des Lebermooses parallel zur Fläche zerschnitten wurden. Dadurch wurden die verschiedenen das Laub zusammensetzenden Gewebezonen isoliert, die Epidermis, die Chlorophylischicht, das Markgewebe. Aber auch bei Stücken der einzelnen Gewebe trat durch Bildung von Ad- ventivknospen eine vollständige Regeneration ein. Ueberhaupt lässt sich die Zerstückelung des Laubes sehr weit treiben. So wurden die Thallusstücke zu einem grobkörnigen Brei zerschnitten, von welchen die größten Stücke etwa die Größe eines halben Kubikmillimeters besaßen. Die weitaus größte Anzahl der Stücke, selbst die kleinsten nur aus wenigen Zellen bestehenden, bildeten noch Adventivknospen, so dass wohl die Annahme berechtigt erscheint, nach der jede einzelne Zelle die Fähigkeit besitzt, den ganzen Organismus zu regenerieren. Diejenigen Organe der Lebermoose, welche nur ein begrenztes Wachstum haben wie die Brutbecher, die männlichen und weiblichen Infloreszenzen, wurden ebenfalls hinsichtlich ihrer Regenerationsfähig- keit untersucht. Kleine Stücke von der Wand des Brutbechers, Teilstücke von den Stielen der Infloreszenzen sowie von diesen selbst wurden kultiviert und zeigten sich ebenfalls fähig Adventivknospen zu bilden. Aus zahlreichen Versuchen ergab sich als allgemeine Regel für die Entstehung der Neubildungen, dass dieselben stets an der basalen Schnittfläebe der Teilstücke entstanden, d. h. also an jenem Ende, welches dem ursprünglichen Anheftungspunkt der be- treffenden Organe zugewendet war. Das Ergebnis der Teilungsversuche bei den Lebermoosen stimmt mit den vom Verfasser früher erhaltenen Resultaten überein, nach wel- chen bei der Regeneration abgeschnittener Teile bei den höheren Pflanzen die Natur der Schnittfläche vorzugsweise den Charakter der Neubildung bestimmt. Bei Stengelstücken, z. B. bei den in der Gärtnerei angewandten Stecklingen, entstehen an der der Spitze entsprechenden Schnittfläche bezw. nahe derselben neue Stengelsprosse, am entgegengesetzten basalen Ende neue Wurzeln. Bei Wurzelstecklingen entstehen dagegen an dem der Spitze der Wurzel zugewendeten Ende neue Wurzeln, an 47* 740 Vöchting, Ueber die Regeneration der Marchantieen. der Basis Stengel, während bei den begrenzt wachsenden Organen wie den Blättern sowohl Sprosse wie Wurzeln aus der Basis hervor- gehen. Die Ursachen, welche diese Regeln für den Ort der Neubil- dungen an abgeschnittenen Pflanzenteilen bestimmen, sind bisher voll- kommen dunkel geblieben. In der vorliegenden Arbeit hat der Verf. versucht, sich ein anscbauliches Bild zu machen von diesen Ursachen, indem er sie auf Organisationsverhältnisse in der Molekularstruktur zurückführt, sich anschließend an die von Pflüger ausgesprochenen Ansichten über die Regeneration von Organen bei den Tieren. Als den wesentlichen gestaltenden Teil der Zelle nimmt der Verfasser mit Nägeli ein relativ festes Plasmagerüst an, welches aus Molekeln zusammengesetzt ist, „die gleichsinnig polarisiert sind und je nach dem Bau des Organs ein- oder zweiseitig offene Ketten im Sinne der Chemiker darstellen. Ein Organ mit einseitig unbegrenztem Wachs- tum wie die Laubfläche unseres Lebermooses besteht somit aus Molekel- reihen, deren einzelne Glieder im allgemeinen der Längsaxe des Or- ganes parallel polarisiert sind und deren offene Enden sich im Vege- tationspunkte befinden. Hier besitzen die Ketten ihre freien Affinitäten, die durch stets neu anschließende Molekeln gesättigt werden. Ein Organ, das an zwei Enden, an Scheitel und Basis unbegrenzt wächst, ist aus Ketten zusammengesetzt, welche an beiden Enden offen sind, am Scheitel und an der Basis freie Affinitäten haben. Ein Gebilde mit begrenztem Wachstum endlich wie das Blatt einer höhern Pflanze, die Infloreszenzen und Brutbecherwände der Lebermoose, denken wir uns aufgebaut aus Molekelreihen, die an ihren nach der Peripherie gerichteten Enden sämtlich geschlossen sind. Durch die künstlichen Schnitte wird nun das Gleichgewicht, welches sich in der bestimmten Anordnung der Teilchen erhält, gestört; die Ergänzung erfolgt nach Maßgabe des Baues des an der Schnittfläche angrenzenden Plasmas. Bei einem Stück der Laubfläche von Lunularia mit einseitig unbe- grenztem Wachstum wird infolge des Schnittes nur das apikale Ende Neubildung zeigen, weil nur hier die offenen Enden der Molekelreihen sich finden, die das Bestreben haben sich zu sättigen und zwar mit Molekeln, die selbst wieder offen sind. Bei Stengelstücken höherer Pflanzen sind an beiden Enden Molekeln mit ungesättigten Affinitäten vorhanden, eine Regeneration erfolgt an beiden Enden. Nicht also spezifische Nährstoffe für Wurzeln, Stengel bewirken die Neubildung dieser Organe an den Teilstücken; sondern dieselben Nährstoffe wer- den zur Bildung der verschiedensten Organe benutzt, deren Natur von der bestimmten Struktur des an der Schnittfläche vorhandenen Plasmagerüstes abhängt. Wie der Verfasser selbst hervorhebt, han- delt es sich bei diesen Ideen mehr um eine sinnbildliche Veranschau- lichung, als um eine wirkliche Erklärung der noch ganz rätselhaften Verhältnisse. Obwohl nun nach den bisherigen Beobachtungen nur innere Ur- Vöchting, Ueber die Regeneration der Marchantieen. 7141 sachen die Regeln für die Regeneration zu bestimmen scheinen, könnten doch äußere Faktoren dabei eine gewisse Rolle spielen. Der Verf. hat sich die Frage selbst vorgelegt, namentlich hinsichtlich eines Ein- flusses der Schwerkraft. Der Gedanke, dass vielleicht während des Wachstums in den Organen durch die Einwirkung äußerer Kräfte, besonders der Schwerkraft, eine gewisse Prädisposition geschaffen ist, welche dann auch bei abgeschnittenen Teilen der Organe immer in derselben Richtung die Regeneration bestimmt, war für die Thallus- lappen der Lebermoose jedenfalls ausgeschlossen, da an den in den verschiedensten Richtungen gewachsenen Laubflächen, sei es an senk- rechten oder schief geneigten Wänden, sei es horizontal, die Regene- ration immer an denselben Orten vor sich ging. Die Frage ließ sich aber noch von einer andern Seite angreifen, indem man von den ungeschlechtlichen Vermehrungsorganen, den sogenannten Brutknospen der Lebermoose ausging. Diese kleinen, rundlichen, etwas flach ge- drückten Zellkörper entstehen in becherförmigen Organen auf der Ober- seite des Laubes, und sind eigentlich aus zwei symmetrischen Hälften zusammengesetzt, von denen jede an der entgegengesetzten Seite einen gleichnamigen Vegetationspunkt mit unbegrenztem Wachstum besitzt. Jede solche Brutknospe verhält sich wie eine Zwillingsbildung, die durch eine neutrale Ebene in der Mitte geteilt ist und bei der Keimung nach Zugrundegehen des Verbindungsstückes in zwei ge- trennte Individuen sich auflöst. Verfolgt man die Entwicklungs- geschichte dieser Brutknospen bis zu den ersten Zellteilungen, so findet man, dass in dem zweizelligen Anfang je eine gleichsinnig ge- richtete Wand entsteht, welche denselben in 2 Hälften trennt, von denen jede zu den späteren, die reife Brutknospe zusammensetzenden Zwillingshälften sich ausbildet. Diese Wand, durch welche demnach die ganze weitere Gestaltung der Knospen bedingt ist, steht bei allen im Brutbecher einer horizontal wachsenden Laubfläche in der Rich- tung des Erdradius. Die Möglichkeit lag vor, dass diese Stellung direkt durch die Schwerkraft bestimmt sei, in ähnlicher Weise, wie es nach der Annahme von Pflüger bei der Anlage der ersten Furchungswand eines befruchteten Froscheis sich verhalten sollte. Indess legten die Experimente des Verfassers klar, dass die Stel- lung der betreffenden Wand unahhängig von dem Einfluss der Schwer- kraft ist und nur durch innere Ursachen bedingt wird. Die Brutknospen lassen sich in ähnlicher Weise wie die anderen Organe der Lebermoose in hohem Grade künstlich zerteilen, wobei die Teilstücke durch Bildungen von Sprossen sich zu normalem Laube entwickeln können. Bei dieser Regeneration tritt der eigenartige Bau der Brutknospen ebenfalls deutlich hervor. Rechts und links von der neutralen Ebene, welche jede Knospe in den beiden Zwillingshälften trennt, ist jedes Stück derselben derartig organisiert, dass es nach Isolierung durch künstliche Teilung nur an dem Ende neue Sprosse bildet, welches von der neutralen Ebene abgewendet ist. 742 Johow, Die chlorophylifreien Humusbewohner Westindiens. Den Schluss der interessanten Arbeit bildet die Darstellung der feineren histologischen Verhältnisse, welche bei der Neubildung von Sprossen an den Teilstücken der verschiedenen Organe ins Spiel treten. Im allgemeinen lässt sich sagen, dass stets auf der morpho- logischen Unterseite des mütterlichen Organs, sei es nun die Laub- fläche oder ein Infloreszenzstiel oder ein Teil der Infloreszenz selbst, die Adventivsprosse hervorgehen, und zwar findet die Neubildung aus den untersten Zelllagen des betreffenden Teilstückes statt. G. Klebs (Tübingen). Fr. Johow, Die chlorophylifreien Humusbewohner West- indiens, biologisch-morphologisch dargestellt. Sep.- Abdr. aus Pringsheim’s Jahrb. f. wiss. Bot. XVI, 3. 34 Seiten, 3 Tafeln. Unter den unsere Flora zusammensetzenden höheren Pflanzen mit ihrem reich entwickelten grünen Laub treten als abweichende auf- fallende Pflanzengestalten jene Gewächse hervor, welche bei dem Mangel grüner Blätter gleich den Pilzen auf vorgebildete organische Substanzen in ihrer Ernährung angewiesen sind und teils als Sapro- phyten im Humus der Wälder oder als Parasiten auf anderen grünen Pflanzen leben. Von echten Saprophyten besitzen wir in unserer ein- heimischen Flora nur einige wenige Beispiele, so den bleichen Fich- tenspargel Monotropa Hypopitys, ferner einige Orchideen, besonders die bekannte Nestwurz Neottia Nidus avis. In den Tropen, wo alles - pflanzliche Leben aufs höchste gesteigert ist, treten solche Sapro- phyten in etwas größerer Mannigfaltigkeit auf, bilden aber auch dort nur einen winzigen, wenn auch auffallenden Bestandteil der Flora. Der Verfasser, welcher auf einer Reise in Westindien diesen Sapro- phyten seine besondere Aufmerksamkeit zugewendet hat, gibt in der vorliegenden Arbeit die Resultate seiner Untersuchung. Auf den Inseln Trinidad und Domenica fanden sich in den feuchten schattigen Urwäldern der Berge sowohl wie der Ebene folgende Sapropbyten: die Burmanniaceen Burmannia capitata und Apteria setacea, die Or- chidee Wullschlaegelia aphylla, die Gentianee Voyria in den 3 Arten V. tenella, V. uniflora und V. trinitatis. Diese Saprophyten weichen in ihren Organisationsverhältnissen nach vielen Beziehungen von dem ge- wöhnlichen Typus grüner, sonst ihnen nah verwandter Pflanzen ab, und diese Abweichungen stehen mittelbar oder unmittelbar mit der eigen- tümlichen Lebensweise in engerem Zusammenhange. Das Wurzel- system, einer entwickelten Hauptwurzel meist entbehrend, besteht ge- wöhnlich aus einem wurzelähnlichen, im Substrat verborgenen Stamm- organe, einem Rhizom mit Adventivwurzeln, welche selten wie bei Burmannia lang fadenförmig, meist fleischig mit kurzen dieken Aus- zweigungen versehen sind, so dass das ganze Wurzelsystem ein ko- ee ee ae er ee een. Johow, Die chlorophylifreien Humusbewohner Westindiens. 143 rallenartiges oder vogelnestartiges Aussehen gewinnt. Die korallen- artige Form tritt bei jenen Saprophyten auf, welche wie Corallorhiza, Epipogon bei uns, Voyria trinitatis in den Tropen in festem Lehm- boden vegetieren, während das vogelnestartige Wurzelsystem für die- jenigen charakteristisch ist, welche wie Neottiau bei uns, Wullschlae- gelia auf Trinidad in lockerem Humus leben. Die geringe Ober- flächenentwicklung des Wurzelsystems bei den Saprophyten gegenüber der reichen Gliederung und Ausbreitung desselben bei den grünen Pflanzen steht damit in Zusammenhang, dass die ersteren infolge des Mangels an stark transpirierenden Blättern einen geringen Wasserver- brauch zeigen, sodass eine der Hauptfunktionen der Wurzel, die Aufnahme und Leitung des Wassers, sehr eingeschränkt ist. In Uebereinstim- mung damit finden wir auch in dem anatomischen Bau der Wurzel- organe, dass das Gefäßbündelsystem eine geringe Entwicklung bei den Saprophyten zeigt, besonders die wasserleitenden verholzten Zell- elemente sehr gering ausgebildet sind oder, wie bei den Voyria-Arten, fast ganz fehlen. Das Wurzelsystem der westindischen Saprophyten zeichnet sich auch ferner noch dadurch aus, dass die sonst vorhan- denen Wurzelhaare fehlen. Auffallend ist das konstante Vorkommen eines Pilzes in den Zellen des Rhizoms der Voyria-Arten. Schon in den jüngsten Zellen des Rindengewebes treten dicht verflochtene Pilz- mycelien auf, die bis in das späteste Alter der Zellen vorhanden sind, ohne anscheinend deren Leben und Funktionen irgendwie zu stören. Als solche ganz regelmäßige Begleiter treten fädige Pilze auch bei unseren einheimischen Saprophyten wie Neottia, Corallorhiza, Mono- tropa auf, und die Vermutung liegt nahe, dass wir es hier mit einer Art Symbiose zu thun haben, bei der der Pilz eine wichtige Rolle für die höhere Pflanze spielt, insofern er vielleicht bei der Verar- beitung der Humussubstanzen mitwirkt. Es würde in diesen Fällen eine ähnliche Form der Symbiose sein, wie sie nach der Entdeckung von Frank zwischen dem Mycorhiza-Pilz und manchen Waldbäumen wie der Buche ete. existiert. Aus den im Substrat kriechenden wurzelartigen Organen erheben sich die blütentragenden Stengel an die Oberfläche der Erde. Sie erscheinen als einfache, selten verzweigte, zarte fadenförmige Sprosse, welche entweder bleich oder rot, violett-braun, aber nie grün gefärbt sind, und die vor den andern Pflanzensprossen sich durch den Mangel ausgebildeter grüner Blätter auszeichnen. Statt dessen finden sich nur kleine rudimentäre bleiche Schüppchen. Diese oberirdischen Stammorgane der Saprophyten haben nur die Funktion, die Blüten aus der Erde in die Luft zu erheben, damit hier die Befruchtung vor sich gehen kann. Die Blüten, welche schon vollständig fertig noch in dem Substrat angelegt werden, sind diejenigen Organe der Saprophyten, welche die geringsten Abweichungen von dem normalen verbreitetsten Typus 744 Ludwig, Neue Beobachtungen über blumenthätige Hymenopteren. zeigen und infolge dessen von größter Bedeutung sind, wenn man die systematische Stellung der betreffenden Pflanzen bestimmen will. Jedoch treten auch hier einige eigentümliche Verhältnisse auf, beson- ders bezüglich der Ausbildung der Samen, welche sich durch ihre staubartige Kleinheit und die sehr geringe Entwicklung des Embryos auszeichnen, welch letzterer im reifen Samen einen undifferenzierten Zellkörper ohne die sonst vorhandenen Anlagen von Wurzel, Stamm, Kotyledonen darstellt. Besonders merkwürdig sind die Samenknospen bei den Voyria-Arten, insofern sie der sonst vorhandenen Integu- mente entbehren, also nackt sind. Auch tritt in ihrer Entwicklung eine Eigentümlichkeit hervor, da die Samenknospen direkt aus der ersten Zellanlage ohne weitere Krümmung sich entwickeln, obwohl sie nach der Lage des Embryosackes und der Anordnung des Eizell- apparats in ihm zu den gekrümmten, den sogenannten anatropen Sa- menknospen gehören. Bei den Voyria-Arten steht auch die Ausbil- dung des Embryos im reifen Samen auf der tiefsten Stufe, da er höchstens aus 4 Zellen, bisweilen sogar nur aus einer einzigen be- steht. Die Kleinheit und geringe Ausbildung der Samen haben die Saprophyten auch mit manchen Parasiten wie z. B. den Klee- und Hanfteufeln, den Orobanche- Arten gemein. Beide sind in ihrer Kei- mung an ein ganz bestimmtes nicht überall vorkommendes Substrat gebunden; es müssen also möglichst viele Samen gebildet werden, um die Wahrscheimlichkeit, einen günstigen Boden zu finden, zu er- höhen. Die große Zahl wird erreicht auf kosten der Ausbildung des einzelnen Samens, was deshalb anderseits nicht ein großer Nachteil ist, weil die Samen, einmal auf ein günstiges Substrat gefallen, sich gleich aus den Stoffen desselben ernähren können, während die Keimlinge der anderen grünen Pflanzen sich erst dann selbst ernähren können, wenn sie ihre grünen Blätter entfaltet haben. G. Klebs (Tübingen). Neue Beobachtungen über blumenthätige Hymenopteren. Literatur: Dalla Torre, K. W., Zur Biologie von Bombus Gerstaeckeri Mor. (B. opulentus Gerst.) Zoolog. Anzeiger, 1885, Nr. 210. Id., Heterotrophie, Ein Beitrag zur Insekten -Biologie. Kosmos 1886. Bd. I, Heft 1, S. 12—19. Müller, Fritz. Feigenwespen. Kosmos 1886. Bd. I, Heft 1, S. 62—64. Die unermüdliche, an merkwürdigen Zügen so reiche Blumenthätig- keit der Hymenopteren ist bereits ein Lieblingsstudium Hermann Müller’s gewesen, dessen grundlegende Arbeit „Die Entwicklung der Blumenthätigkeit der Insekten“ im 9. Bd. des Kosmos erschienen ist; sie ist auch der Hauptgegenstand der vorliegenden Abhandlungen. In den ersten beiden macht uns der bekannte Innsbrucker Biologe Prof. von Dalla Torre mit einer neuen eigentümlichen Art von Ludwig, Neue Beobachtungen über blumenthätige Hymenopteren. 745° Nahrungsteilung innerhalb desselben Tierstockes bekannt, die als „Heterotrophie“ bezeichnet wird und darin besteht, dass Weibchen einerseits, Arbeiter und Männchen anderseits ihre Blumenthätigkeit auf verschiedenen nahe verwandten Pfanzenarten entfalten. Bei der in den Alpen zwischen 1500 und 2000 Meter Höhe lebenden Hummel Bombus Gerstaeckeri Morawitz — der von Gerstäcker gegebene Name B. opulentus ist bereits einer chinesischen Hummel gegeben worden — besuchen nämlich die Weibchen ausschließ- lich die Blüten des gelben Eisenhutes, Aconitum Lycoctonum, (richtiger A. ranunculifolium Reichb.), Männchen und Arbeiter dagegen ebenso ausnahmslos die blaublütigen Arten Aconitum Napellus und A. paniculatum. Es wird diese eigentümliche Teilung des Tisches als eine Anpassung an die außerordentlich kurz andauernde Arbeitszeit des Bombus Gerstaeckeri betrachtet, die so besser aus- genützt wird. Während nämlich bei allen anderen promiscue sammeln- den Bombus-Arten die Weibchen schon kurz nach dem Schmelzen des Schnees erscheinen und an die Staatengründung gehen, werden bei dieser Art erst im Juli und selbst noch Ende August Mutterhummeln angetroffen und mit ihnen gleichzeitig Arbeiter; Männchen erscheinen erst vom 20. August ab. Morphologisch prägt sich dies eigentüm- liche Verhältnis aus durch die auffällige Rüssellänge der Weibchen (21—23 mm), die nur die Ausbeutung der Nektarien von Aconitum Lyeoctonum, und die auffällige kurze Rüssellänge der Arbeiter (S—12mm), die nur die Ausbeutung der blauen Aconitum-Arten gestattet. Mit Bombus Gerstaeckeri fliegt übrigens auch zahlreich die im der Färbung sehr ähnliche Fliege Arctophila „bombiformis“, vielleicht ein Commensale der Hummel. In der Abhandlung Fritz Müller’s, die sich anschließt an die gleichwichtige Arbeit von Gustav Mayr über Feigeninsekten (Ver- handl. d. k. k. zool.-bot. Ges. in Wien 1885), sind interessante Be- obachtungen über die Feigenwespen von 9 brasilianischen Ficus-Arten (vom Itajahy) niedergelegt. Wie bei den Feigen anderer Länder, sind auch hier die Arten von blastophaga die hervorragendsten Bestäubungsvermittler. Wäh- rend jedoch in der alten Welt — von Blastophaga grossorum, dem Unv der Alten abgesehen — jede Blustophaga zu einer besondern Fieus-Art gehört, ist Dlastophaga brasiliensis in 5—7 Ficus-Arten des Itajahy der besondere Bestäubungsvermittler (nur eine zweite blastophaga, B. bifossulata fand sich in einer einzigen Feigenart). Bei Pharmacosycea radula (?), die sich überhaupt am frühesten von dem Ficus-Stamm abgezweigt zu haben scheint, ist Btastophaga vertreten durch die nahestehende Tetrapus americanus. Neben Blastophaga finden sich — bisher als Parasiten derselben betrachtet, nach Verf. aber gleichfalls Gallenerzeuger und Bestäu- bungsvermittler, wenn auch von geringerer Bedeutung — in allen 746 Leydig, Haller, Ueber das Blau in der Farbe der Tiere. brasilianischen Feigen noch schlanke Wespen mit langer Legescheide, Tetragonaspis-Arten und deren ungeflügelte Männchen, von G. Mayr noch zur besondern Gattung Ganosoma gestellt (Tetragonaspis flavi- collis mit Ganosoma robustum allein in 7 Ficus-Arten). Bei Pharma- cosycea ist hier wiederum Tetragonaspis-Gonosoma vertreten durch Trichaulus-Critogaster. Wenigstens ist es auch hier sehr wahrschein- lich, dass die dreierlei ungeflügelten Oritogaster- Formen mit einem vierten geflügelten Tier die Männchen des Trichaulus versicolor sind. Gegen ungebetene Gäste dürfte Pharmacosycea besondere Schutz- mittel haben, wenigstens sind die Feigen dieser Art frei von anderen Wespen, während es bei anderen Ficeus-Arten noch von allerlei anderen Wespenarten wimmelt, über deren Verhalten in der Feige noch nichts Näheres bekannt ist. Am Itajahy sind 38 Feigenwespen beobachtet worden — Gustav Mayr beschreibt im ganzen 63 verschiedene Arten; davon fand Fritz Müller nicht weniger als 21 Arten in den Feigen eines einzigen Baumes. Bei den kleinfrüchtigen Feigen pflegt in jede Feige nur ein ein- ziges Blastophaga-Weibehen einzudringen, so dass der Feige kein zu großer Schaden durch die Brut erwächst, diese reichlicheres Futter findet und möglichst viele Feigen bestäubt werden. Einer brieflichen Mitteilung zufolge hat Verf. noch eingehendere Untersuchungen der Feigen des Itajahy vor, von denen erst ein kleiner Teil und auch dieser noch nicht genügend auf seine Wespen unter- sucht ist. F. Ludwig (Greiz). Ueber das Blau in der Farbe der Tiere. B. Haller, Ueber das blaue Hochzeitskleid des Grasfrosches. Zool. Anz., Jahrg. VII, Nr. 207, S. 611 fg. — F. Leydig, Ueber das Blau in der Farbe der Tiere. Zool. Anz., Bd. VIII, Nr. 212, S. 752 fg. — B. Haller, Ergänzung zu obigem Aufsatze. Zool. Anz., Jahrg. IX, Nr. 213, S. 18. B. Haller in Retesdorf (Siebenbürgen) beobachtete im zeitigen Frühjahr vorigen Jahres in einer quelligen Lache in der Nähe seines Wohnortes „himmelblaue Grasfrösche“, und zwar fand derselbe, dass diese blaue Farbe ausschließlich den Männchen von Rana arvalis Nils. zukomme, und dass ferner diese Blaufärbung an Intensität zu- nimmt mit steigender geschlechtlicher Aufregung des Froschmännchens. Etwa taubengrau gefärbt verlassen die Männchen, gewöhnlich etwas später als die Weibchen, ihren schlammigen Winteraufenthalt, um sich alsbald auf die Suche nach den brünstigen Weibchen zu begeben und verhältnismäßig schnell ihr graues Kleid durch verschiedene ver- mittelnde Farbentöne hindurch in ein himmel- oder hellblaues umzu- tauschen. Belästigungen des Frosches lassen diese Färbung schnell verschwinden, und nur schwer gelingt es, Hautstücke in annähernd Leydig, Haller, Ueber das Blau in der Farbe der Tiere. 7147 bläulicher Färbung zur mikroskopischen Untersuchung zu bringen. In denjenigen Fällen, wo H. dies gelang, fand derselbe die bekannten dunkelpigmentierten Zellen, welche sonst unter dem Epithel oder doch in dessen Nähe gelagert sind, durch die bindegewebige Cutis nach innen gewändert, um dort oberhalb und unterhalb der Muscularis eine Netzlage zu bilden. Somit erklärt sich diese Blaufärbung des sich paaren wollenden oder sich paarenden Männchens von Rana arvalis Nils. dadurch, dass das von der schwarzen Unterlage des Pigmentzellen - Netzwerkes zurückgeworfene Licht ein aus der binde- gewebigen Cutis und dem Epithel bestehendes „trübes Medium“ zu durchdringen hat und das Schwarz auf diesem Wege zum Blau ab- blasst. Die blaue Färbung kann sich, wie erwähnt, sehr schnell verlieren; es müssen somit die diese Färbung durch Veränderung ihrer Lage erzeugenden Pigmentzellen ebenfalls ihre Lage sehr schnell und gleich- mäßig zu verändern im stande sein, und dies lässt naturgemäß, zumal die blaue Färbung mit dem Auftreten des Begattungstriebes zeitlich eng verbunden ist, auf einen Nerveneinfluss als Grund dieses Farben- wechsels schließen. In der That fand H. in einem Falle den Kern einer dunkeln Pigmentzelle mit einem blassen, schlingenbildenden Faden verbunden, welchen er für einen Nervenfaden erklärt. Im Anschluss an diese Mitteilung von Haller erinnert Leydig daran, dass diese Beobachtung ihrem Thatbestande nach nicht neu und auch schon öfter in der Literatur angegeben worden ist und knüpft daran eine allgemeine Betrachtung, unter welehen Umständen und aus welchen Gründen man überhaupt blaue Färbungen bei Tieren findet. Gleichzeitig erinnert L. daran, dass die blaue Färbung der Ge- sichts- und Gesäßschwielen der Paviane noch ihrer Aufklärung harre, sowohl was ihre Natur, als auch was ihren Sitz anbelangt. Sonst unterscheidet Leydig vier Arten von Blaufärbungen bei Tieren. Erstlich kommt, aber selten, ein wirkliches blaukörniges Pigment vor. Die blaue Pigmentierung des Flusskrebses beruht z. B. nach seiner Untersuchung auf der Anwesenheit von blauen Kry- stallen [deren chemische Zusammensetzung noch unbekannt], ebenso haben die Pigmentkörner des Tentakeleinziehmuskels bei Limax variegatus Drap. einen „wirklich blauen Ton, und ein Blau ließ sich auch beobachten an der Kloakenwölbung einiger Triton-Arten (T. hel- veticus und T. taeniatus) und an Larven von Salamandra maculosa“. Jedoch wurde L. nicht klar darüber, ob man es in den letztgenannten Fällen wirklich mit blauem Pigment zu thun habe. Eine zweite, häufiger vorkommende Art blauer Färbung bei Tieren beruht auf Interferenz, bedingt durch die verschiedene Breehung der auf die Fläche fallenden oder eine Substanz durch- dringenden Lichtstrahlen. Jedoch ist hierbei wiederum zweierlei zu 748 Leydig, Haller, Ueber das Blau in der Farbe der Tiere. beobachten: entweder das Blau rührt her von den durch Ehren- berg bekannt gewordenen „Plättchen“ oder „Flitterchen“ krystalli- nischer Beschaffenheit (Hautdecke niederer Wirbeltiere, blauer Schiller des Tapetum cellulosum im Auge); oder das Blau kann geknüpft sein an Fibrillen des Bindegewebes (Tapetum fibrosum im Auge der Wiederkäuer, Larve von Pelobates fuscus). Drittens wird ein Blau hervorgerufen durch Ueberlagerung des schwarzen Pigments von einem „trüben Mittel“. So erscheint die Haut des Laubfrosches, wenn abgezogen und von innen her betrachtet, blau, und auf gleiche Art zu erklären ist die bläu- liche Färbung gesottener Fische. So erscheint auch die Iris blau, wenn ihr Stroma pigmentlos ist und dasjenige der Uvea durch- schimmert. Und hierher gehört auch das blaue Hochzeitskleid des Grasfrosches'), das vorher schon beobachtet und beschrieben worden war von Steenstrup, Siebold, Thomas und Fatio. Leydig erklärt dieses Blau herrührend von dem Zusammenwirken dreier Ur- sachen: in den Schichten der Lederhaut findet sich ein bläuliches, schwach irisierendes Pigment (harnsaure Verbindung), dann wirken dazu die dunkeln, beweglichen Farbzellen der Chromatophoren, und endlich trägt auch dazu bei die bei der Paarungszeit allgemein auf- tretende Schwellung der Lederhaut des Froschmännchens, bedingt durch die Füllung ihrer Lymphräume. Aus dem Beweglichen, das den letzten zwei Momenten eigen ist, erklärt sich der schnelle Wechsel im Auftreten und Verschwinden des Blau, während die Bewegung der dunkeln Chromatophoren auch schon von Leydig als von der Stimmung des Nervensystems abhängend erkannt wurde. So hatte ebenfalls Leydig bereits nachgewiesen, dass Endausläufer der Nerven mit Chromatophoren der Hautdecke bei Lacerten und Ophi- diern sich verbinden, was für die Haut von Amphibien auch Ehr- mann dargethan hat. Außerdem kommen endlich viertens blaue und andere Färbungen bei Tieren vor (und zwar außer blauen allerhand andere: gelbliche, braune, rötliche), welche „durch abgeschiedene Stoffe, Hautsekrete, erzeugt werden und daher abwischbar sind“. Solche Absonderungen können bestimmte Gestalten annehmen, Fäden oder Schüppchen bilden und werden in chemischer Beziehung im allgemeinen wachsartige Natur haben. Beispiele hierfür sind die himmelblaue Farbe am Hinter- leibe der Libelulla depressa, das „bereifte“ oder „beduftete“ Gehäuse von Landschneckeu, z. B. Helix carthusiana Drap. (H. carthusianella Müll.) und leicht wegzuwischende gelbe, braune oder rötliche Farben- überzüge heimischer Limax-Arten. Ebenso liegen ziemlich zahlreiche Angaben über ähnliche Hautfärbungen bei Reptilien, Vögeln und Säugetieren vor. idn. 1) Leydig, Anure Batrachier der deutschen Fauna. Bonn, 1877, S. 121. . Chun, Kosmopolitische Verbreitung pelagischer Tiere. 749 Carl Chun, Kosmopolitische Verbreitung pelagischer Tiere. Zool. Anz., Jahrg. IX, Nr. 214 u. 215, 8. 55 fg. u. 71 fg. In Anknüpfung an eine Diskussion mit Fol über die Artzusammen- gehörigkeit zweier ÜÖtenophoren-Formen aus dem Kamtschatkischen und Japanischen Meere einerseits und dem Golfe von Neapel ander- seits, wobei Fol die Bemerkung gemacht hatte, dass man „solche, in allen Stadien ihres Lebens durchaus pelagische Tierformen offenbar als Weltbewohner betrachten müsse“, stellt Carl Chun einige Sätze auf über die Bedingungen, unter denen pelagische Tiere eine kosmopolitische Verbreitung gewinnen können. Ein schwieriges Gebiet ohnehin wird dasselbe noch schwerer zu bearbeiten durch den Umstand, dass diese Tierformen meist schwer, oft gar nieht zu konservieren sind, so dass die Feststellung der Zu- sammengehörigkeit mancher Formen zur einen oder andern Art in vielen Fällen nichts weniger als leicht ist. Bei alle dem steht es fest, dass auch unter den pelagischen Tieren unterschieden werden kann zwischen solchen, welche auf en eng begrenztes Gebiet be- schränkt sind, und anderen, welche eine sehr weite Verbreitung gefunden haben. Unzweifelhaft üben Temperatur und Salzgehalt des Wassers einen großen Einfluss in dieser Beziehung aus. [Möbius hat danach bekanntlich als eurytherme und euryhale Tiere im all- gemeinen solche bezeichnet, welche wenig empfindlich sind gegen Schwankungen in Temperatur und Salzgehalt des Wassers, zum Unter- schiede von anderen, welche dies nicht sind. Natürlich kommen dabei nieht nur pelagische Tiere in betracht, sondern Meeresbewohner im allgemeinen.]| Nun kennt man aber zahlreiche und auffallende Beispiele dafür, dass gewisse Tiere nicht nur in sehr verschieden gesalzenem Wasser vorkommen, sondern auch einen ziemlich raschen Wechsel in dieser Hinsicht ertragen können, und Chun will diese Einflüsse, soweit sie die horizontale Verbreitung pelagischer Tiere bedingen, ihrer Bedeutung nach erst in zweite Reihe gestellt haben. Hauptsache vielmehr sind Meeresströmungen und beständige Winde, wie dies Semper bereits entwickelt hat!). Und wenn diese zwei Momente als Hauptmotiv zu betrachten sind für die Verbreitung, so dürften sie auf der andern Seite auch als hervorragendste Ursache anzusehen sein für die Verhinderung derselben, als Verbreitungs- schranken. Indess steht es fest, dass eine Reihe pelagischer Formen trotz dieser Schranken kosmopolitische Verbreitung gefunden hat, und es fragt sich, durch welche Mittel dies geschehen konnte. Chun gibt als solche hauptsächlich vier Momente an. 4) C. Semper, Natürl. Existenzbedingungen der Tiere. Internat. wiss. Bibl. Bd. 39 und 40. Leipzig, F. A. Brockhaus, 750 Chun, Kosmopolitische Verbreitung pelagischer Tiere. Das erste ist ein hohes geologisches Alter einer Form, so dass dieselbe bereits in einer Zeit entstand und lebte, wo die Lagerung der Festlandsmassen eine andere war, und wo infolge dessen auch Meeresströmungen und beständige Winde andern Verlauf nahmen als heute. Ein zweites Moment liegt in der Ausstattung gewisser pelagi- scher Formen mit kräftigen Fortbewegungsorganen; denn mittels der- selben war und ist es ihnen unter Umständen möglich, Meeresströ- mungen selbstthätig schwimmend zu durchkreuzen. Ein drittes Moment ist der unfreiwillige Transport von pelagi- schen Tieren oder deren Keimen durch Treibholz |? muss wohl auch den Strömungen folgen!]| und Schwimmvögel, indem jene an den Füßen letzterer hangen bleiben. „Viertens endlich trägt der Wind direkt zur kosmopolitischen Verbreitung bei, dass pelagische Formen auf dem Wasser flottierend ihm eine breite Angriffsfläche darbieten“. Als Formen, denen kosmopolitische Verbreitung und hohes geo- logisches Alter zugleich zukommen, sind unter Protozoen zu nennen eine ganze Reihe von Foraminiferen (Orbulina-, Globigerina-, Hastigerina-, Pulvinulina-, Candeina- und Pullenia-Arten), ferner Cilioflagellaten (Dinoflagellaten, Bütschli), z. B. Ceratium tripos, Dinophysis- und Histioneis-Arten u. a. m. Auffällig anderseits ist die geringe Neigung der Radiolarien zu kosmopolitischer Verbrei- tung, welche eine hochgradige Empfindlichkeit gegen Erniedrigung der Temperatur besitzen. Kräftige Schwimmorgane kommen unter pelagischen Tieren besonders den Cetaceen, den größeren pelagischen Fischen und einigen Cephalopoden zu; jedoch scheint bei Fischen als wesent- liches Sondermoment die Ernährungsweise hinzuzukommen. Wenigstens ist es auffällig, dass nur omnivore Formen als Kosmopoliten in allen wärmeren Meeren gefunden werden. Pelagier von so ansehn- licher Größe mögen nun ihrerseits sehr viel dazu beitragen, die hori- zontale Verbreitung kleinerer Formen wesentlich zu unterstützen, namentlich dann, wenn es sich um solche kleinere Formen handelt, denen, weil durch „Skelette“ oder Außenschalen geschützt, ein ge- wisser Grad von Widerstandsfähigkeit gegen äußere Unbilden inne- wohnt. Als solche kleinere Formen wären hervorzuheben Urustaceen und schalentragende Heteropoden und Pteropoden. „Dabei ist be- zeichnend, dass grade die kosmopolitischen Arten durch zahlreiche Borstenanhänge an den Gliedmaßen und am Schwanze ausgezeichnet sind, die ein leichtes Festhaften an den Kiemenblättern und sonstigen Partien des Fischkörpers ermöglichen“, während manche in ihrer Verbreitung eng begrenzte Arten (z. B. Pontellia inermis) eine verhält- nismäßig glatte Oberfläche darbieten. Bei solchen Tieren, welche sich gewohnheitsmäßig (z. B. die Hyperiden unter den Crustaceen) Wilckens, Paläontologie der Haustiere. 751 an andere pelagische Formen festsetzen, muss erklärlicherweise die Wirkung der Verschleppung am deutlichsten zutage treten. Von Physalien und Velellen endlich könnte man sich recht wohl denken, dass ihnen, da sie auf dem Wasser flottieren, anhal- tende starke Winde quer über Meeresströme forthelfen, und in der That kommt beiden Gattungen nach den bisherigen Befunden eine sehr weite Verbreitung zu. Nunmehr wäre noch die Kehrseite zu betrachten, ob es nämlich zutrifitt, dass Formen, denen die oben genannten vier Möglichkeiten weiter horizontaler Verbreitung mehr oder weniger abgeschnitten sind, in der That nur innerhalb enger Verbreitungsgrenzen vorkommen. Dies trifft vor allem (außer auf die eben genannten Physalien und Velellen) zu auf die zarten pelagischen Cölenteraten und deren Larven, welche „bei Stürmen oft bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt werden, falls sie nicht in tiefere Wasserschichten aktiv hinabsteigen“; denn wir kennen keine kosmopolitischen Cölenteraten außer den genannten Physalien und Velellen, und „nennen eine Art schon weit verbreitet, wenn sie, wie Aurelia aurita, Tiara pileata, Phialidium variabile, an allen europäischen Küsten vorkommt“. Nun ist gewiss der Cölen- teraten- Typus ein geologisch sehr alter, so dass eine weite Verbrei- tung der einzelnen Formen im übrigen zu erwarten wäre; aber desto klarer tritt die Begründung der Thatsache hervor, dass Winde und Strömungen — für geeignete pelagische Tierformen sonst ein wesent- liches Hilfsmittel zu weiter geographischer Verbreitung — eine Verbreitungsschranke für solche Formen ausmachen, welche infolge ihrer zarten Bildung eine nur geringe Widerstandsfähigkeit besitzen gegen äußere Unbilden. idn. Uebersicht über die Forschungen auf dem Gebiete der Paläontologie der Haustiere. 9. Die vorgeschichtlichen und die Pfahlbau-Hunde. (Schluss des Ganzen.) . Einen neuen Haushund der Bronzezeit erkennt Woldrich (Mitt. d. anthropol. Ges. in Wien, 1877, VII, S. 61) in einem Schädel, einem rechten Unterkiefer und Skeletteilen aus alten Höhlungen im Lehm einer Ziegelei bei Weikersdorf in Niederösterreich, die mit Asche aus- gefüllt waren; ferner in einem Schädelbruchstück aus einer ähnlichen Aschenschicht bei Pulkau in Niederösterreich und in einem rechten Unterkiefer-Bruchstück aus einer Aschenlage bei Ploscha in Böhmen; diese Knochen fanden sich zusammen mit Erzeugnissen aus Bronze und Geräten aus der Bronzezeit. W. stellt den Hund aus Weikers- dorf, den er Aschenhund oder (©. familiaris intermedius nannte, in 759 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. 2 die Mitte zwischen ©. f. palustris Rütim. und Ü. f. matris optimae Jeitt. Der Aschenhund zeichnet sich aus „durch die Kürze der Schnauze bei bedeutender Stirn- und hintern Oberkieferbreite, sowie durch ein breites Schnauzenende (über den Eckzahnfächern) bei ziem- licher Höhe der Schädelkapsel und deren Breite über den Gehöröff- nungen“. Von den beiden Varietäten des ©. f. matris optimae Jeitt. unterscheidet sich €. f. intermedius überdies noch durch die verhält- nismäßig bedeutendere Entfernung des Hinterhauptkammes von den Schneidezahnfächern, die kürzeren und vorn (auch absolut) breiteren Nasenbeine, das längere Stirnbein, die bedeutendere Höhe des Schä- dels zwischen der Stirnmittellinie und der Choanendecke und über dem Keilbein; ferner durch das (auch absolut) schmälere. Hinterhaupt- loch und den geringern Hirnraum, wozu wohl auch die Dicke der Schädelknochen beitragen könnte. Die Gesamtlänge der Backenzahn- reihe ist im Verhältnis zur Schädellänge an der Basis durchwegs größer als bei dem Bronzehunde Jeitt., nur die Maße des hintern Höckerzahnes sind absolut und relativ kleiner als bei jenem. W. „ver- mutet“, dass C. f. intermedius vom afrikanischen Dib oder großen Schakal, Canis lupaster Ehr. und Hempr. abstammt, der in Aegypten schon in alter Zeit gezähmt wurde; W. meint, es sei nicht unwahr- scheinlich, dass derselbe zur Bronzezeit auf Handelswegen nach Europa gekommen sein könnte. In einem Bronzefunde bei Spandau bestimmte Nehring (Verh. d. Berl. Ges. f. Anthropol. u. s. w., 1883, S. 357) einige Gliederknochen eines Hundes, den er nach der Größe in die Mitte stellt zwischen den Torfhund Rütim. und den Bronzehund Jeitt.; „er dürfte sich dem (©. intermedius Woldr. am meisten nähern“. Pellegrino Strobel („Le razze del cane nelle terramare dell’ Emilia“, Reggio dell’ Emilia, 1880) fand Ueberreste des Torfhundes, des Aschenhundes und des Bronzehundes auch in den Terramaren der Emilia, außerdem aber noch eine vierte Form, kleiner als die der bis- her aufgefundenen „vorgeschichtlichen“ Hunde, der er den Namen Canis Spaletti gab. Von dieser Form, die der Uebergangszeit zur Bronze angehört, fand sich in der Terramare von Bagno bei Rubiera ein Schädel, in der von Montecechio zwei Unterkiefer und in dem Pfahl- bau von Castione ein fraglicher (incerto) Ellenbogen. Der Schädel von ©. Spaletti, dessen Länge vom vordern Rande des Hinterhauptsloches bis zu den Fächern der Schneidezähne nur 130 mm und dessen größte Breite zwischen den Jochbogen 82 mm beträgt, unterscheidet sich von allen übrigen hauptsächlich durch den stumpfen Hinterhauptsstachel und den Mangel eines Scheitelkammes. Der Gehirnschädel ist lang und vorn hoch, die Scheitelbeine kennzeichnen sieh durch ihre auf- fallende Wölbung, die Gehörblasen (casse timpaniche) sind von mitt- lerer Größe, gewölbt, mit weiter Gehöröffnung, die Verschmälerung (strozzatura) der Stirnbeine durch die Schläfengrube ist bemerkens- ln Pe ve we 9. Die vorgeschichtlichen und die Pfahlbauhunde. 199 wert, die Hinterhauptschuppe ist klein, der Hinterhauptshöcker wenig erhaben, aber breit, und das Hinterhauptsloch ist eng. Die Schnauze ist kurz und spitz (sottile). Die Jochbogen erscheinen, von der Seite gesehen, in vertikaler Richtung gebogen, von oben oder unten gesehen bilden sie eine halbelliptische (semiellittica) Krümmung. Der Kopf von (©. Spalletti nähert sieh nach St. dem des italienischen Fuchs- hundes (Cane volpino) der Spitzrasse, er hat aber auch Aehnlichkeit mit dem des Pintsches, ©. gryphus. Endlich erkannte A. Nehring (Sitzungsbericht d. Ges. naturf. Freunde in Berlin, 1884, S. 153) eine fünfte Form des „vorgeschicht- lichen“ Hundes in zwei Schädeln, von denen der eine aus einer Torf- schicht zwischen dem Plötzensee und der Spree, im Nordwesten von Berlin, der andere vor dem Potsdamerthore in Spandau ausgegraben ist. Diese Schädel übertreffen die aller bisher beschriebenen vorge- schiehtlichen Hunde bedeutend an Größe und sie haben auch manche Eigentümlichkeiten in der Form aufzuweisen — die durch Messungen festgestellt, aber nicht beschrieben und abgebildet sind. N. nannte diese große, wolfsähnliche Hunderasse der Vorzeit Canis fam. decu- manus; er glaubt die Abstammung dieses Hundes auf Canis lupus zurückführen zu können. Die einzigen wesentlichen Unterschiede zwischen den Schädeln von ©. fam. decumanus und den Schädeln wilder Wölfe sind die geringere Größe des obern Fleischzahnes und der geringere Abstand der Jochbogen bei ersteren. N. hält die Ver- kleinerung der Fleischzähne und die relative Vergrößerung der Höcker- zähne bei den Haushunden für eine Folge der Lebensweise im Haus- stande des Menschen. Nach seiner Ansicht ist der Wolf, ©. Zupus, samt seinen zahlreichen Varietäten (bezw. Ortsrassen) ganz wesent- lich als Stammvater unserer größeren Hunderassen anzusehen. Neben ihm kommen aber außerdem für die kleineren Hunderassen die ver- schiedenen Arten und Rassen von Schakals in betracht. N. meint, dass die einzelnen Völker der Vorzeit sich bei der Zähmung wilder Caniden zunächst an die in ihrem Gebiete vorkommenden Arten hiel- ten; später habe dann vielfach durch Wanderungen und Handels- verkehr ein Austausch der gezähmten Formen stattgefunden. Die Heranziehung der verschiedenen Arten oder Rassen von Wolf für die Abstammung der Haushunde hat schon früher Ch. Darwin („Das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestika- tion“, Uebers. v. J. Vietor Carus, 1868, I, Seite 31) ausgesprochen ; er sagt: „Nach der Aehnlichkeit der halb domestizierten Hunde ver- schiedener Länder mit den in diesen noch lebenden wilden Arten, nach der Leichtigkeit, mit welcher beide oft noch gekreuzt werden können, nach dem Werte, welchen Wilde selbst halb gezähmten Tieren beilegen und nach anderen Umständen, welche ihre Domestikation begünstigen, ist es sehr wahrscheinlich, dass die domestizierten Hunde der Erde von zwei guten Arten von Wolf (nämlich ©. Zupus und C. 48 754 Wilekens, Paläontologie der Haustiere. latrans) und von zwei oder drei anderen zweifelhaften Arten von Wölfen (nämlich den europäischen, indischen und nordamerikanischen Formen), ferner von wenigstens einer oder zwei südamerikanischen Arten von Caniden, dann von mehreren Rassen oder Arten von Schakal und vielleicht von einer oder mehreren ausgestorbenen Arten ab- stammen“. Uebrigens meint Darwin (a. a. OÖ. S. 18), dass die Paläontologie nieht viel Lieht wirft auf die Frage der Abstammung. „Dies hängt ab auf der einen Seite von der großen Aehnlichkeit der Schädel, sowohl der ausgestorbenen wie der lebenden Wölfe und Schakals, auf der andern Seite von der großen Unähnlichkeit der Schädel der verschiedenen Rassen domestizierter Hunde“. Gegen die Abstammung des Hundes vom Wolfe macht Blain- ville (Osteographie, Canis p. 142) geltend, dass der wieder wild ge- wordene Hund seit mehr als zweihundert Jahren im Amerika Hund geblieben und nicht wieder Wolf geworden ist, wie das der Fall ist beim Schwein und der Katze, welche wieder Wildeber (Sanglier) oder Wildkatze geworden sind; man könne daraus schließen, dass der Haushund überall einer ist, wo er sich findet, verschieden von wilden Arten, weniger jedoch vom Wolfe inbetreff der Organisation als von jedem andern, weniger noch vielleicht vom Schakal in Be- ziehung auf Sitten und Gewohnheiten, und dass er demzufolge eine besondere Art bildet, wie das Genie Linne’s es ahnte, als er ihn bezeichnete mit dem Namen (. familiaris. Die Abstammungsfrage des Hausliundes, welche sich bisher vor- wiegend auf dem Gebiete der Vermutungen bewegte — wenn sich diese auch auf die Vergleichung von Schädeln stützen konnten — hat in neuester Zeit einen weitern Gesichtskreis erhalten durch die Er- forschung der Inkahunde aus den Gräbern von Ankon bei Lima m Peru. Herr Nehring hat es übernommen, unter den vielen bemerkens- werten Gegenständen, welche die Herren Reiss und Stübel dort aus- gegraben und nach Berlin gebracht haben, die wissenschaftliche Be- arbeitung der Säugetiere und Amphibien auszuführen. Vorläufige Mit- teilungen über die Inkahunde hat Nehring veröffentlicht im „Kosmos“ 1884, II, S. 94, und im Anschlusse an seinen Vortrag auf der Natur- forscher- Versammlung in Magdeburg i. J. 1884, in deren Tageblait S. 169 sowie auch in dem Sitzungsber. d. Ges. naturf. Freunde zu Berlin, 1885, Nr. 1, 8. 5. Nehring untersuchte vom Inkahunde, Canis Ingae Tschudi’s, eine vollständige Mumie, zwei Vorderteile solcher Mumien und sieben einzelne Köpfe bezw. Schädel. Die Haare der Mumie sind von gelber Grundfarbe und zwar teils hellgelb, teils schmutziggelb (lehmgelb); auf dieser Grundfarbe finden sich vielfach braune Flecke von größe- rem Umfange und unregelmäßiger Gestalt. Der Schwanz der einen vollständigen Mumie ist mit dichten, buschigen, steifen, gelben Haaren 9. Die vorgeschichtlichen und die Pfahlbauhunde. 755 rundum besetzt, so dass er wolfsähnlich erscheint. Die Größe dieser Hunde ist durchwegs eine mäßige; einige Exemplare bezeichnet N. sradezu als klein. Das größte Exemplar hat etwa die Größe eines deutschen Jagdhundes kleinern Wuchses oder eines kleinen Schäfer- hundes. Die Beschreibung des lebenden Inkahundes von Tscehudi (Fauna Peruana S. 249) passt in den wichtigsten Punkten durchaus auf die Hunde von Ankon. Auch bei diesen ist der Kopf verhältnis- mäßig klein, die Schnauze ziemlich scharf zugespitzt, die Oberlippe nicht gespalten, obere Augenflecken sind nicht vorhanden, die Ohren stehen aufrecht, sie sind dreieckig und spitzig, der Körper ist unter- setzt, der Schwanz nach vorn gerollt und ganz behaart. Mit der von Tsehudi hervorgehobenen Bissigkeit des ©. Ingae steht die unge- wöhnliche Stärke und Ausbildung aller mit dem Gebiss im Zusammen- hange stehenden Schädelteile bei den Hunden von Ankon im schönsten Einklange. In der an Hundeschädeln so reichen Sammlung der land- wirtschaftlichen Hochschule zu Berlin findet N. wenige europäische Haushundschädel, welche auch nur annähernd den Eindruck der Beiß- fähigkeit machen wie die Schädel der Ankonhunde. Das Gebiss zeigt an allen Schädeln derselben einen gemeinsamen Typus. Die Zähne zeigen nicht nur sehr ausgeprägte, energische Umrisse, sondern sie sind auch verhältnismäßig groß und diek, was besonders bei dem Fleischzahn, dem ersten Höckerzahn und dem hintersten Lückenzahn in die Augen fällt. Sehr bemerkenswert ist ferner das starke Abändern in der Zahl der Backenzähne. Von den 10 Inkahunden, welche N. untersucht hat, zeigt kein einziger die regelmäßige Zahnformel der Caniden; es fehlt entweder der vorderste Lückzahn oder der letzte Höckerzahn, entweder in allen vier Kiefer- hälften oder doch in einer oder der andern. Die Hunde von Ankon entfernen sich also im Gebiss verhältnismäßig weit von ihren wilden Vorfahren, und ihre Zahnformeln weisen hin auf einen langjährigen Hausstand. Sämtliche Schädel zeigen trotz der im Gebiss bemerkbaren Zeichen eines weit zurückreichenden Hausstandes sehr kräftige, ausgeprägte Formen und eine ansehnliche Dicke und Sehwere der Knochen. Die Stirnbeine besitzen oberhalb der Augenhöhlen und des vordern Teiles der Schläfengrube eine sehr bedeutende Wölbung, während ihr in der Stirnnaht zusammenstoßender Teil eine auffallende Vertiefung zeigt, wie N. dieses in demselben Maßstabe kaum bei irgend einem euro- päischen Haushunde gleicher Größe beobachtet hat. Die Augenhöhlen, welche eine fast kreisrunde Form und eine auffallend scharfe Um- randung zeigen, sind verhältnismäßig klein. Die Gehirnkapsel ist verhältnismäßig schmal und dem entspricht auch die geringe Räumig- keit der Schädelhöhle. Die Choanen sind durchwegs höher bezw. tiefer und die Flügelbeine stärker entwickelt als bei europäischen Haushunden gleicher Größe und Form. Der hintere Gaumenteil, der 756 Wilckens, Paläontologie der Haustiere. von den Fleisch- und Höckerzähnen umschlossen wird, ist verhältnis- mäßig breit. Die Gehörblasen sind größer und stärker als bei euro- päischen Haushunden. Der Schnauzenteil steigt nach vorn auffallend stark empor und dementsprechend sind die Nasenbeine verhältnis- mäßig kurz. Die Unterkiefer zeigen eine auffallende Stärke und sie sind sowohl in wagrechter wie in sagittaler Richtung auffallend ge- krümmt. Nehring konnte an den ihm vorliegenden Schädeln der Ankon- hunde nach der Schädelbildung mit Bestimmtheit drei Rassen unter- scheiden: eine schäferhundähnliche, C. Ingae pecuarius, eine dachs- hundähnliche, ©. Ingae vertagus, und eine bulldogähnliche Rasse, €. Ingae molossoides; bei der letztern zeigte sich das starke Ueber- greifen des Unterkiefers über den Zwischenkiefer, das dem Bulldog eigentümlich ist. N. hält es für im höchsten Grade wahrscheinlich, dass die dachshundähnliche und die bulldogähnliche Rasse aus der größern, mit gestreckterem Schädel versehenen schäferhundähnlichen Rasse hervorgegangen ist. Er führt triftige Gründe dafür an, dass eine Kreuzung mit von den Spaviern eingeführten Dachshunden und Bulldogs ausgeschlossen ist, obwohl Tschudi eine solche Kreuzung für wahrscheinlich hält. Nebring meint, dass der nordamerikanische Wolf, Lupus ocei- dentalis, und neben ihm vielleicht auch der Coyote, Canis latrans, als wilde Stammarten der Inkahunde von Ankon anzusehen sind. Der Hauptstammvater sei jedenfalls Lupus occidentalis und zwar wahr- scheinlich die in Mexiko und Texas verbreiteten Varietäten desselben (Lupus mexicanus und I. rufus). Er führt annehmbare Beweise dafür an, die sich beziehen: auf die Uebereinstimmung des Gebisses in der Form der einzelnen Zähne, insofern sie nicht bei den Inkahunden durch die Einflüsse des Hausstandes verändert sind; auf die auf- fällige Wölbung der Stirn mit bedeutender Einsenkung der Stirnmitte bei L. oceidentalis und C©. Ingae; auf die übereinstimmende Form der Gaumenbeine und der Choanen; auf die Aehnlichkeit des Schädels der schäferhundähnlichen Inkahunde mit den Schädeln der Eskimo- hunde und der Aehnlichkeit dieser im Schädelbau, in der äußern Form und im Wesen mit der nordischen Form des Lupus occidentalis. Was die Größenunterschiede des Schädels betrifft, so macht N. darauf aufmerksam, dass es gradezu erstaunlich sei, welche Abänderungen die Gefangenschaft bei den Wölfen schon in der ersten Geschlechts- folge hervorbringt mit Rücksicht auf die Größe und das Maßverhältnis des ganzen Schädels, wie auch besonders auf die Größe, Form und Stellung der Zähne. Uebrigens betont Nehring (Sitzungsber. d. Ges. naturf. Freunde, 1884, S. 164) mit Recht, dass es „für eine richtige Beurteilung der Abstammung unserer Haushunde vor allem notwendig sein wird, durch Züchtungsversuche experimentell festzustellen, in Fränkel u. Simmonds, Die ätiologische Bedeutung des Typhus-Bacillus. 757 welcher Riehtung sich Wölfe und Schakale verändern, wenn sie der Domestikation unterworfen würden. In dieser Hinsicht fehlt es noch sehr an exakten, konsequent fortgesetz- ten Untersuchungen, und es wäre sehr wünschenswert, dass Züch- tungsversuche der angedeuteten Art in unseren zoologischen Gärten und ähnlichen Instituten mit der nötigen Ausdauer durchgeführt, und die Züchtungsprodukte einer sorgfältigen Untersuchung unterzogen würden“. M. Wilckens (Wien). Eugen Fränkel und M. Simmonds, Die ätiologische Be- deutung des Typhus- Bacillus. Untersuchungen aus dem allgemeinen Krankenhause zu Hamburg. (Leopold Voss. Hamburg. 1886. 67 Seiten.) Seitdem durch Eberth, Koch und Gaffky der Nachweis ge- liefert ist, dass in den Organen von Typhuskranken, insbesondere der Milz und den Mesenterialdrüsen, bestimmte, wohl charakterisierte Bakterien in einer typischen Anordnung als ziemlich konstanter Be- fund anzutreffen sind !), war die Ueberzeugung, dass diese Bakterien mit dem Typhus in ätiologischem Zusammenhange ständen, eine ziem- lich allgemeine. Mehrere spätere Untersuchungen bestätigten diese Befunde; im vorigen Frühjahre war es Pfeiffer in Wiesbaden auch gelungen, schon während des Lebens die Bacillen in einigen Fällen in den Ausleerungen nachzuweisen mit Hilfe des Plattenverfahrens, wobei er aber zum Ausgießen wegen der gleichzeitig enthaltenen ver- flüssigenden Arten Agar- Agar verwendete. Gaffky hatte auch eine lange Reihe von Experimenten ange- stellt, um die letzte zur Feststellung der Pathogenität nötige Forde- rung zu erfüllen, nämlich den Nachweis zu liefern, dass es möglich sei, mit der Reinkultur bei Versuchstieren eine ähnliche Erkrankung hervorzurufen — aber mit negativem Erfolg. Durch eine sehr ausgedehnte Typhusepidemie, die im vorigen Sommer und Herbst in Hamburg herrschte, hatten die Verfasser Ge- legenheit, die früher bekannten Thatsachen durch weitere Beob- achtungen zu stützen, und es gelang ihnen auch bei Tieren, durch Einverleibung von Typhus-Baeillen eine Krankheit hervorzurufen, die mit dem Bilde beim Menschen ziemlich viel Aehnlichkeit darbietet. Die Untersuchungen an Typhusleichen erstrecken sich auf 31 Sek- tionsfälle. In den meisten derselben handelte es sich um verhältnis- mäßig frische Erkrankungen, die ohne wesentliche Komplikationen durch den typhösen Prozess an sich letal verlaufen waren. 1) Gaffky (Mittheilungen aus dem k. k. G.-A., Bd. II) fand in 24 von 26 darauf untersuchten Fällen die betreffenden Bacillen. 758 Fränkel u. Simmonds, Die ätiologische Bedeutung des Typhus - Baecillus. Da von allen Organen die Milz am konstantesten typische Ver- änderungen zeigt, beschränkten sich die Verfasser darauf in dieser nach dem Vorkommen der Bacillen zu suchen, und zwar sowohl in Schnittpräparaten, als auch mit Hilfe des Plattenverfahrens. Bei 2 Fällen verunglückte der Versuch durch Zufälligkeiten, von den übrigen 29 Fällen wurden in 25 die Eberth’schen Bacillen und zwar stets in Reinkultur nachgewiesen. Die 4 negativen Befunde fielen auf Leichen von Individuen, bei denen der Typhus bereits nahezu abge- laufen und der Tod durch accessorische Erkrankung herbeigeführt war. Die naheliegende Frage, ob die Zahl der aufgefundenen Baecillen in einem bestimmten Verhältnisse zur Intensität der Erkrankung oder zur Dauer des Prozesses stände, konnte aus den Beobachtungen nicht entschieden werden. Inbezug auf die Form und das Wachstum der Typhusbaeillen bringen die Untersuchungen nichts Neues. Es sind ziemlich große dicke Stäbchen mit abgestumpften Enden und ausgesprochenen Eigen- bewegungen. Da die Größe der einzelnen Individuen in den Kulturen sehr wechselnd ist, muss die Sicherstellung der Diagnose bloß nach dem mikroskopischen Bilde als unzuverlässig bezeichnet werden. Cha- rakteristisch ist das Wachstum auf gekochten Kartoffeln. In den ersten Tagen sieht man weiter nichts, als dass die Oberfläche etwas feucht und glänzend geworden ist, während man beim Untersuchen eines ent- nommenen Partikelchens erkennt, dass bereits eine üppige Vegetation von Bacillen eingetreten ist. Erst nach längerem Stehen bildet sich ein kaum in die Augen fallender blassgrauer Schleier. Das Wachs- tum auf Gelatineplatten und im Impfstich ist nicht sehr bezeichnend. Die Untersuchung der Schnittpräparate geschah an mit Methylen- blau gefärbten Präparaten. In den ersten untersuchten Fällen gelang es den Verfassern leicht, die Bacillen in dem charakteristischen herd- weisen Auftreten nachzuweisen. Es war schon durch Gaffky darauf aufmerksam gemacht worden, dass man nur sehr wenig vereinzelte Baecillen im Gewebe findet, dass dieselben vielmehr in Haufen zusammen- geschichtet sind, was ebenfalls als ein Charakteristikum galt. Beim fünften und sechsten Falle aber scheiterten alle Bemühungen , diese Herde aufzufinden, obwohl auf den Gelatineplatten ziemlich reichliche Kolonien aufgegangen waren. Durch eine Beobachtung an Kaninchen kamen nun die Verfasser auf die Idee, dass in den Fällen, wo man sehr reichliche Bacillenbaufen auffindet, eine Vermehrung post mortem stattgefunden haben müsse. Und es stimmte dies auch zu dem’ nega- tiven Befund an jenen beiden Typhusleichen, welche kurze Zeit nach dem Tode bereits seziert worden waren. Diese Anschauung gewann noch mehr Wahrscheinlichkeit nach einer Mitteilung aus der Kieler Klinik von Reher, welchem es in einer Reihe von Fällen, wo die Milz kurz nach dem Tode untersucht wurde, nicht gelungen war, die Herde aufzufinden, während in einer Leiche, die erst längere Zeit & ! Fränkel u. Simmonds, Die ätiologische Bedeutung des Typhus-Bacillus.. 759 nach dem Tode seziert wurde, sehr reichliche herdförmig angeordnete Baeillen gefunden wurden. Durch eine nach dieser Richtung hin an- gestellte Versuchsreihe wurde dann klar dargethan, dass durch län- geres Verweilen der Milz in einem warmen Raume die Zahl und Aus- dehnung der Herde regelmäßig wachsen. Während des Lebens ent- stehen keine derartigen Ansammlungen, doch bleibt auch so dies herdweise Vorkommen noch ein Kriterium, indem bei anderen, nament- lich Fäulnisbakterien, keine ähnlichen Beobachtungen gemacht werden konnten. Von anderen Organen untersuchten Verfasser nur die Leber und fanden in 8 von 13 Fällen Typhus-Bacillen und Herde. Gewöhnlich fanden sich in der Leber zahlreiche Herderkrankungen, welche von den Verfassern als zirkumskripte Degenerationen gedeutet werden, in deren Umgebung sich erst sekundär reaktive Entzündung einstellt. In keiner der Komplikationen (Parotitis, mehrere Pneumo- nien, Meningitis, Pleuritis, retrotonsilläre Phlegmone) wurden Typhus- Bacillen aufgefunden. Es wurden auch die Organe mehrerer unter typhusähnlichen Symptomen gestorbener Personen untersucht, jedoch niemals den Typhus-Baeillen gleiche oder ähnliche Organismen gefunden. Die Untersuchungen, ob es nicht möglich sei, intra vitam das Vorkommen der Typhus-Bacillen zur Differentialdiagnose zu verwerten, hatten, soweit sie den Nachweis im Blute betrafen, keine Resultate, auch aus dem Blut der Leichen konnte nur in einem Falle eine ein- zelne Kolonie gewonnen werden. Die Untersuchung der Stühle wurde bei 11 Kranken mit dem Plattenverfahren ausgeführt, und in dreien derselben gelang der Nachweis von Typhus-Bacillen. Es bleibt also vorläufig bei dem Standpunkte, wie auch Pfeiffer es angegeben, dass negativer Befund nicht zu verwerten ist, während eventuell in einem recht zweifelhaften Fall der positive Befund sehr wünschens- werte Stützen für die Diagnose abgeben kann. Jedenfalls aber sind diese Befunde ein neuer Beweis für die Gefährlichkeit der Typhus- ausleerungen. Das wichtigste ist aber, dass es den Verfassern gelungen ist, durch Einimpfung von Reinkulturen ihrer Bacillen eine intensive meist tödliche Erkrankung bei den Versuchstieren hervorzurufen. Bei Meerschweinchen gelang es nur einmal, durch Einspritzen in die Bauchhöhle eine intensivere Erkrankung hervorzurufen. An 31 Mäusen wurden 35 Injektionen in die Bauchhöhle vorgenommen. Bei 27 derselben trat nach der Injektion eine intensive Erkrankung ein, die meist nach kurzer Zeit (1—2 Tagen) tödlich verlief. In der Leiche fand sich ganz konstant Schwellung der Milz, der Mesenterialdrüsen, der Peyer’schen Plaques, und aus den Organen gelang es, die Typhus- Bacillen nachzuweisen. Hervorzuheben ist noch, dass immer eine 760 Fränkel u. Simmonds, Die ätiologische Bedeutung des Typhus - Bacillus. größere Menge Infektionsmaterial nötig war, um den Tod herbei- zuführen. Ferner wurden 50 Kaninchen teils durch Bauchhöhlen - Injektion, teils durch Einverleibung in die Blutbahn oder in den Darm infiziert. Die meisten der Tiere erkrankten schon kurze Zeit nach der Infektion, zeigten Trägheit in den Bewegungen, verminderte Fresslust, bisweilen diarrhoische Entleerungen. Der Tod erfolgte bisweilen schon nach 3—4 Stunden, meist in 2—4 Tagen. Eine Anzahl Tiere über- lebte auch die Infektion unter allmählich eintretender Besserung. Messungen wurden leider nicht vorgenommen. Anatomisch konstatierten die Verfasser an allen gestorbenen Tieren einen typischen Milztumor, der durchaus an den Befund bei Typhus- milzenerinnerte. Ferner zeigte sich konstant Schwellung der Mesenterial- drüsen; in den meisten Fällen Veränderungen des Follikelapparates im Darm, markige Schwellung der Peyer’schen Plaques, dreimal Verschorfung an den geschwellten Follikeln. Mehr als zufällige Be- funde oder Komplikationen wurden konstatiert: Vergrößerung der Lymphdrüsen in der Achsel- und Leistengegend, Ekcehymosen an den serösen Häuten, parenchymatöse Schwellung von Leber und Nieren. An der Impfstelle traten niemals beträchtlichere Reizerscheinungen auf. Bei allen Fällen wurden nun in der Milz wieder die Baeillen und zwar fast konstant als Reinkultur nachgewiesen in der als cha- rakteristisch angeführten post mortem sich ausbildenden herdweisen Anordnung. Auch in mehreren Schnittpräparaten aus anderen Organen (Leber, Nieren, Mesenterialdrüsen) wurden die Bacillen aufgefunden. Im ganzen wurden 79 gelungene Injektionen vorgenommen. 5 Injektionen in den Darmtraktus, 5 Injektionen in das Unter- hautgewebe, 1 Einspritzung in die Lunge und 2 Inhalationsversuche blieben völlig resultatlos. Von 20 Injektionen in die Bauchhöhle lieferten 2, von 46 Injek- tionen in die Blutbahn 20 ein positives Resultat. Diese Zahlen ent- halten auch Versuche, die an ein und demselben Tiere nochmals vorgenommen wurden. Diese wiederholten Impfungen hatten stets einen viel geringern Erfolg, auch wenn sie mit sehr konzentrierten Aufsehwemmungen vorgenommen wurden, was die Verfasser zu der Annahme brachte, dass durch das einmalige Ueberstehen der Infek- tion eine gewisse Immunität gegen weitere Erkrankungen erzielt werde. Auch zeigt sich, dass nicht alle Tiere gleich empfänglich für die Impfung waren, für welche Beobachtungen auch aus der mensch- lichen Pathologie Analoga bekannt und angenommen sind. Die Ver- fasser weisen noch darauf hin, dass dadurch die Möglichkeit einer Schutzimpfung gegen den Typhus nahe gelegt sei. Wenn auch betont werden muss, dass die Versuche nicht so ab- schließend und vielseitig ausgeführt sind, dass alle Zweifel beseitigt f ? Sir John Lubbock, Geistige Fähigkeiten des Hundes. 61 wären, und dass namentlich die Einverleibung größerer Mengen von Infektions-Material, wie sie gewöhnlich vorgenommen werden musste, trotz der Gegenargumentation etwas sehr Mißliches hat, steht doch so viel sicher, dass den Typhusbacillen pathogene Eigenschaften zu- kommen und dass die Erkrankungen mit dem Typhus beim Menschen einige Aehnlichkeit darbieten. Unerklärlich bleiben die negativen Be- funde aus Gaffky’s Experimenten. Der Ausdruck „Pilz“ sollte auf Bakterien nieht mehr angewendet werden. Der Arbeit sind mehrere gute Abbildungen des makroskopischen und mikroskopischen Befundes beigegeben. Graser (Erlangen). Sir John Lubbock, Geistige Fähigkeiten des Hundes. In einer Sitzung der biologischen Sektion der „British Association“ hielt Sir John Lubbock einen Vortrag über Versuche, welche er angestellt hatte, um die geistigen Fähigkeiten eines in seinem Besitze befindlichen, auf den Namen „Van“ hörenden schwarzen Pudels zu prüfen. Sir John Lubbock teilte ungefähr folgendes mit. „Ich nahm zwei Stücke Kartonpapier, etwa zehn Zoll lang und zwei Zoll breit; auf das eine derselben malte ich in großen Buch- staben das Wort „Futter“ (food), das andere ließ ich leer. Alsdann brachte ich die beiden Tafeln über zwei Näpfen an und that in den Napf, welcher unter der mit „Futter“ bezeichneten Tafel stand, ein kleines Stück Brot und Milch, was Van fressen durfte, nachdem er auf die Tafeln aufmerksam gemacht worden war. Dieses Verfahren wurde so lange wiederholt, bis Van satt geworden war, und auch an den darauffolgenden Tagen fortgesetzt. Nach etwa zehn Tagen be- gann Van zwischen den zwei Tafeln zu unterscheiden. Darauf legte ich letztere auf den Boden und ließ den Pudel mir dieselben bringen, was er bald genug that. Brachte der Hund die leere Tafel, so warf ich sie einfach weg; brachte er mir aber die „Futter“-Karte, so gab ich ihm ein Stückchen Brot, und ungefähr nach Verlauf eines Monats hatte er ganz hübsch zwischen beiden Tafeln zu unterscheiden gelernt. Dann bezeichnete ich mehrere weitere Kartontafeln mit den Worten „hinaus“ (out), „Thee“ (tea), „Knochen“ (bone), „Wasser“ (water) — und noch einige andere mit Worten, von denen ich nicht wollte, dass er ihnen irgend welche Bedeutung beilegte, wie „nichts“ (nought), „Ball“ (ball) u. s.w. Van merkte bald, dass das Bringen einer Karte der Ausdruck eines Wunsches sei und lernte auch bald unterscheiden zwischen den leeren und den bezeichneten Karten ; länger nahm es ihn in Anspruch den Unterschied zwischen den Worten zu machen, aber allmählich gelang es ihm doch, einige Karten zu erkennen, so diejenigen mit „Futter“, „hinaus“, „Knochen“, „Thee“ u.s.w. Wenn er dann ge- fragt wurde, ob er wohl gern einen Spaziergang unternehmen möchte, 762 Sir John Lubbock, Geistige Fähigkeiten des Hundes. so holte er vergnügt die „hinaus“-Karte, welche er aus mehreren anderen heraussuchte und mir brachte, oder lief mit derselben in augenscheinlichem Triumph zur Thür. Ich brauche kaum dabei zu erwähnen, dass die Karten nicht immer an derselben Stelle lagen; die Plätze wurden vielmehr ganz willkürlich gewechselt und die Tafeln in mannigfacher Weise aufgestellt. Auch konnte sie der Hund nicht durch den Geruch unterscheiden, denn sie glichen einander alle vollkom- men, und alle gingen beständig durch unsere Hände. Auch hatte ich eine gewisse Anzahl Karten mit demselben Wort bezeichnet; und wenn er eine Karte mit dem Worte „Futter“ darauf brachte, so legten wir dann nicht wieder dieselbe Karte hin, sondern eine andere mit dem gleichen Wort darauf, dann eine dritte, vierte und so fort. Für dem einzigen Begriff Nahrung waren somit achtzehn oder zwanzig Karten in Gebrauch, so dass der Hund augenscheinlich durch den Geruch nicht geleitet wurde. Niemand, der ihn auf eine Reihe von Karten niederbliceken und dann diejenige aufnehmen sah, welehe er brauchte, konnte, glaube ich, daran zweifeln, dass er sich dessen bewusst war eine Forderung zu machen, dass er nicht allein eine Karte von der andern unterscheiden, sondern auch das Wort und den Gegenstand in Zusammenhang miteinander bringen konnte. Dies ist natürlich nur ein Anfang, aber es lässt, glaube ich sagen zu dürfen, Schlüsse zu und dürfte wohl noch weiter ausgedehnt werden können, obwohl be- stimmte Wünsche und Ansprüche von Tieren eine große Schwierig- keit bilden. Meine Frau hat eine sehr schöne und zutrauliche eollie, „Patience“, welcher wir sehr zugethan sind. Dieser Hund war oft im Zimmer, wenn Van die „Futter*-Karte brachte und mit einem Stück Brot be- dacht wurde. Patience musste das tausend mal gesehen haben, bellte aber in der üblichen Weise, und nicht ein einziges mal fiel es ihr ein eine Karte zu bringen. Sie berührte die Karten gar nicht oder nahm auch nur die geringste Notiz von ihnen. Darauf machte ich folgenden Versuch. Ich schnitt mir sechs Karten, ebenfalls etwa zehn Zoll lang und drei Zoll breit und kolo- rierte dieselben zu je zwei, zwei gelb, zwei blau, zwei orange. Drei davon legte ie auf den Boden, dann holte ich eine von den anderen herbei und bemühte mich Van zu lehren mir das Duplikat zu bringen. Wenn ich also die blaue Karte emporhielt, so sollte er mir die andere blaue Karte vom Boden aufheben; hielt ich die gelbe empor, dann die andere gelbe und so weiter. Brachte er die unrechte Karte, so wurde er veranlasst dieselbe fallen zu lassen und nach einer andern sich umzusehen, bis er die richtige brachte, worauf er mit etwas Futter belohnt wurde. Diese Lektionen wurden von Miss Wendland gegeben und dauerten stets eine halbe Stunde, während welcher Zeit er die richtige Karte im Durchschnitt etwa fünfundzwanzig mal brachte. Ich glaubte bestimmt, dass er bald begriffen haben würde, was von | | un H. von Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik. 163 ihm verlangt wurde — aber es war nicht so. Wir setzten den Unter- richt fast drei Monate hindurch fort, oder nur, da einige Tage aus- fielen, etwa zehn Wochen; aber ich kann nicht sagen, dass am Ende dieser Zeit Van anscheinend auch nur die geringste Vorstellung davon hatte, was von ihm verlangt wurde. Es schien vielmehr rein vom Zufall abzuhängen, welche Karte er brachte. Es gibt, glaube ich, keinen Grund dafür daran zu zweifeln, dass Hunde Farben unter- scheiden können, aber da es ja möglich gewesen wäre, dass grade Van hätte farbenblind sein können, wiederholten wir denselben Ver- such, nur dass wir die farbigen Tafeln durch andere ersetzten, welche mit I, II und III bezeichnet waren. Dies setzten wir nun wiederum drei Monate fort, oder, die Unterbrechungen berücksichtigend, etwa zehn Wochen, aber zu meiner Ueberraschung gänzlich ohne Erfolg“. Nichtsdestoweniger ist Sir John Lubbock noch nicht völlig davon überzeugt, dass es entweder ihm oder anderen nicht doch noch mit solchen Farbenunterscheidungsversuchen glücken sollte. Gleich negative Erfolge übrigens hatte er bisher mit Versuchen, welche er anstellte, um zu ermitteln, ob sein Pudel Van zählen könne. Hermann v. Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik. Zweite umgearbeitete Auflage. Erste Lieferung. Hamburg und Leipzig. Verlag von Leopold Voss. 1886. Das berühmte Handbuch, die Grundlage der heutigen physiologi- schen Optik, welches zuerst i. J. 1867 als 9. Band der Karsten’schen allgemeinen Encyelopädie der Physik erschien, war seit Jahren ver- griffen Die neue Ausgabe, zu deren Bearbeitung sich jetzt der Herr Verf. entschlossen hat, ist weder ein unveränderter Abdruck noch eine völlige neue Bearbeitung des alten Werks, sondern der Herr Verf. hat einen Mittelweg eingeschlagen, indem er einem im wesentlichen unveränderten Abdruck teils einzelne Verbesserungen und Berichtigungen angedeihen ließ, teils in ganz neuen Zusätzen und Umarbeitungen einzelner Stellen den Fortschritten der Wissenschaft Rechnung trug. Die in der ältern Auflage jedem Paragraphen angehängten Literaturnachweise sind fort- gelassen und sollen am Schluss durch eine von Herrn A. König zu- sammengestellte vollständige Literaturübersicht ersetzt werden. Um die älteren Citate auch in der neuen Auflage finden zu können, sind die Seitenzahlen der ersten Ausgabe am Rande des neuen Textes angegeben, und alle neuen Zusätze und Umarbeitungen sind durch ein am Rande beigefügtes n bezeichnet. Eine andere dankenswerte Aenderung betrifft den Fortfall der Tafeln und den Ersatz der auf diesen dargestellten Figuren durch Holzschnitte im Text; auch einige der älteren Holzschnitte sind durch bessere ersetzt und andere neue sind oder sollen noch hinzugefügt werden. 164 James Eisenberg, Bakteriologische Diagnostik. Von den Zusätzen und Neubearbeitungen des bis jetzt allein vor- liegenden ersten Hefts behandelt die erste (S. 13) die Bestimmung der Konstanten des Ophthalmometers, die zweite (S. 14—22) gibt eine ausführliche Anleitung zur Messung der Krümmung und der Dimen- sionen der Hornhaut mit diesem Instrument, teilt die von Donders gegebene Zusammenstellung der Ergebnisse solcher Messungen mit und das Verfahren zur Messung der Hornhautkrümmung und der Ab- weichung der Gesichtslinie von der Hornhautaxe in verschiedenen Meridianen. Bei der Bestimmung der Tiefe der vordern Augen- kammer (S. 29) werden das Kornealmikroskop von Donders und die Messungen von Krapp, Mandelstamm und Schöler und Reieh nachgetragen. Die Beschreibung der Netzhaut ist gänzlich umgearbeitet und durch einige neue Figuren erläutert. In der Dioptrik des Auges finden wir auf S. 64 die elementare Ableitung eines Gesetzes über die Aenderung der Divergenz der Strahlen durch Spiegelung oder Brechung an gekrümmten Flächen und eine etwas veränderte Darstellung der Abbildung flächenhafter Objekte durch eine brechende Kugelfläche und zwei kleinere Ein- schaltungen in der Darstellung der Brechung an einer kugligen Fläche. Diese Bemerkungen werden genügen zu zeigen, dass trotz der Erhaltung des Hauptinhalts doch überall die bessernde Hand angelegt worden ist, wo es galt, neue Ergebnisse der Forschung einzufügen oder die Darstellung klarer oder genauer zu machen. Schon äußer- lich erkennt man dies an der Vermehrung des Raums von 59 auf 80 Seiten in dieser ersten Lieferung. Nach dem Erscheinen der folgen- den Lieferungen werden wir auf das Werk zurückkommen. J. Rosenthal (Erlangen). James Eisenberg, Bakteriologische Diagnostik. Hilfstabellen beim praktischen Arbeiten. Hamburg und Leipzig. Verlag von Leopold Voss. 1886. Die praktische Bedeutung der Mikroorganismen, besonders die Wichtigkeit der Unterscheidung der eigentlich pathogenen von andern häufig vorkommenden und der Diagnose der einzelnen Species hat mebr oder minder ins einzelne gehende monographische Bearbeitung aller bekannten oder einzelner Formen hervorgerufen. Bei der Mannig- faltigkeit der Formen aber und der oft nur durch das Verfolgen aller Entwicklungsstadien möglichen Unterscheidung ist eine übersichtliche Zusammenstellung der Charaktere in tabellarischer Form, ähnlich den Anleitungen zur chemischen Analyse, ein gewiss dankenswertes Unternehmen. Ein solches liefert der Herr Verfasser, ein Schüler Koch’s, in dem vorliegenden Bande. Auf 32 Tabellen sind 76 Mikro- organismen in ihren wichtigsten Merkmalen beschrieben, nämlich 24 nichtpathogene, 37 pathogene und als Anhang 15 Pilzformen. Die re 4 A F. Müller, Wurzeln als Stellvertreter der Blätter. 165 erste Abteilung zerfällt wieder in solche, welche die Gelatine ver- flüssigen, und solche, die dies nicht thun; die 2. Abteilung zerfällt in solche, welche auch außerhalb des Tierkörpers gezüchtet worden sind, und solche, bei denen dies bisher noch nicht gelungen ist. Unter den Pilzen sind besonders die pathogenen berücksichtigt. Was die Anordnung der Tabellen betrifft, so enthält jede Tabelle der beiden ersten Abteilungen Angaben über: den Namen, den Ent- decker und die Literatur; Form und Anordnung; Beweglichkeit; Wachs- tum und zwar auf Platten, in Stichkulturen, auf Kartoffeln, auf Blut- serum; Temperaturverhältnisse; Schnelligkeit des Wachstums; Sporen- bildung; Luftbedürfnis; Gasproduktion; Verhalten zu Gelatine; Farben- produktion; Pathogenese. Bei der dritten Abteilung sind die Angaben geordnet in folgende Reihen: Fundort; Name, Entdecker und Literatur; Farbe des Rasens; Anordnung des Mycels; Fruktifikationsorgane; Wachstum; Temperaturverhältnisse; Untersuchungsmethoden; Patho- genese. Den Tabellen vorausgeschickt ist eine Zusammenstellung der wichtigsten Quellen - Literatur über Bakterien und Pilze, welche frei- lich, soweit sie Zeitschriften nennt, z. B. Deutsche medizinische Wochen- schrift, dem Suchenden wenig nützt; eine Angabe der einzelnen Haupt- artikel nach Band oder Jahrgang bezw. Seitenzahl oder Nummer wäre erwünscht gewesen. Was die Auswahl der beschriebenen Formen anlangt, so wollte Verf. von den vielleicht nach Hunderten zählenden Mikroorganismen nur einige wenige herausgreifen, welche einem sehr häufig begegnen, und die besonders charakterisiert sind. Ob seine Auswahl immer das Richtige getroffen hat, kann zweifelhaft sein. Jedenfalls würde Ref. bei einer nötig werdenden neuen Ausgabe eine mäßige Vermehrung nicht für unnötig halten. Jedenfalls wird aber schon das jetzt Ge- botene dem Anfänger auf dem schwierigen Gebiete der Bakteriologie und zuweilen auch dem schon Geübtern zur schnellen Orientierung häufig nützlich sein. J. Rosenthal (Erlangen). Fritz Müller, Wurzeln als Stellvertreter der Blätter. Kosmos, 1885, II. Bd., Heft 6, S. 443. Mit 1 Holzschnitt. Während Pflanzen, bei denen grüne Stengel die Rolle der fehlenden Blätter ersetzen, in zahlreichen Arten bekannt sind, ist ein Fall, wie ihn Verf. beschreibt und illustriert, völlig neu. Es handelt sich hier nämlich um eine baumbewohnende Orchidee (Aöranthus?), welche, obwohl nur aus Wurzeln und kleinblumigen Blütenständen bestehend, sich selbständig ernährt, indem die langen vielfach durch einander geschlungenen Wurzeln chlorophylihaltig sind und an Stelle der Blätter die Assimilation besorgen. F. Ludwig (Greiz). 766 Ueber vegetabilische Ernährung. Ueber vegetabilische Ernährung. Wilhelm Ohlmüller berichtet in der „Zeitschrift für Biologie“, 20, S. 393—395 über die Zusammensetzung der Kost siebenbürgischer Feldarbeiter (auch Referat in „Ber. d. Deutsch. chem. Ges.“, Jahrg. 18, Nr. 8, Referate S. 293). Dieselben, welche bei angestrengter Thätigkeit eine nur aus Mais- mehl, Saubohnen, Salz und Wasser bestehende sehr einfache Kost ge- nossen, führten darin eine sehr reichliche Menge von Nahrungsstoffen ein, welche Voit’s Normalkost weit übersteigt. Ohlmüller berechnet 181,9 g Eiweiß, 93,3 g Fett, 967,7 g Kohlehydrate täglich. Rein vegetabilische Nah- rung kann demnach also auch bei starker Arbeit den menschlichen Körper erhalten. Im Anschluss an diese Beobachtung Ohlmüller’s teilt Herr Dr. Carl Öchsenius in Marburg der Redaktion des „Biolog. Clbl.“ folgendes mit: Die fast ausnahmslos sehr starken Bergleute des chilenischen Nordens nähren sich ebenfalls ganz überwiegend mit vegetabilischer Kost. Deren Haupt- bestandteil bilden Hülsenfrüchte, namentlich Bohnen (Phas. vulg. var.), dazu treten Mehlsorten in Brot- und anderer Form, getrocknete Früchte, Zwiebeln, spanischer Pfeffer, Mate etc., gedörrtes Fleisch (charqui) kaum hin und wieder, wohl aber wird etwas Rinds-, seltener Schweinefett zum Anschmelzen der Speisen verwendet, welches jedoch auch ohne Schaden Ersatz durch Oel findet. Alkoholische Getränke gelangen nicht in die von der Küste abgelegenen oft in großer Meereshöhe befindlichen Minen, höchstens in nur kleinen Mengen für medizinische Zweeke. Häufig vergehen 6—9 Monate. ehe die Bergleute nach größern mit Genussmitteln versehenen Ortschaften kommen, um da ihren durch lange schwere Arbeit verdienten Lohn rasch zu verschmausen, zu ver- trinken, zu verspielen und zu verjubeln. Leider gibt es vorerst nur wenige, die vorziehen, im Gebirge bei gewohnter Lebensweise zu bleiben und ihre Er- sparnisse zusammenzuhalten, und an solchen lässt sich durchaus keine Ab- nahme der Arbeitsfähigkeit und Leistungen wahrnehmen. Aber sogar in andern warmen Gegenden Chiles, wo Fleisch erhältlich, verschmähen die Arbeiter solches für gewöhnlich. Als Neuling glaubte ich einmal meinen Leuten in Yaquil ein besonders Zeichen von Wohlwollen da- durch zu geben, dass ich ihnen zweimal wöchentlich Hammelfleisch mit anderem Gemüse statt der ewigen Bohnen [porrotos, frejoles!)] als Mittagsessen vor- setzen ließ; schon nach vierzehn Tagen jedoch beschwerten sie sich darüber und verlangten die gewohnte Kost zurück, die ihnen natürlich, schon weil billiger, gern wieder zugestanden wurde. 1) Diese sind allerdings viel schmackhafter und weicher als die unsrigen, haben bei rundlicher Gestalt weniger mehr als Erbsengröße und wurden ihrer guten Eigenschaften wegen 1870 massenhaft von Chile nach Bordeaux zur Ver- proviantierung der französischen Loire - Armee eingeführt. Abonnements - Einladung. 167 Einladung zum Abonnement auf das Biologische Gentralblatt. Das Biologische Centralblatt hat den Zweck, die Fortschritte der biologischen Wissenschaften zusammenzufassen und den Vertretern der Einzelgebiete derselben die Keuntnis der Leistun- gen auf den Nachbargebieten zu ermöglichen. Je umfangreicher die Forsehungen auf allen Einzelgebieten werden, um so notwendiger erscheint es, den Zusammenhang derselben durch Übersichten über die Ergebnisse der Einzelforschungen zu erhalten. Wenn auch wirkliche Vollständigkeit dabei zu erreichen unmöglich bleibt, so wird das Biologische Centralblatt doch mehr als bisher nach einer Annäherung an dieselbe streben. Zu diesem Zweck wird dasselbe von jetzt ab in einer besondern Rubrik: Aus den Verhandlungen gelehrier Gesellschaften kurze Berichte bringen über solche Mitteilungen und Vorträge, welche mit Gebieten der Biologie sich beschäftigen, insofern diesel- ben ein allgemeineres Interesse für sich in Anspruch zu nehmen geeignet sind. Es sollen hierbei die Gesellschaften des Inlandes sowohl als auch diejenigen des Auslandes gleichmäßige Berück- sichtigung finden. Dadurch soll es aber nieht ausgeschlossen sein, auf Gegenstände von hervorragender Bedeutung noch nachträglich in ausführlicher Weise zurückzugreifen. Wie bisher schon, wird das Biologische Centralblatt aber besondern Wert legen auf Zusammenfassende Übersichten. Diese sollen, wenn nötig unter Rücksichtnahme auf frühere Er- scheinungen der Literatur, die dauernden Bereicherungen unseres Wissens, gesondert von den weniger wichtigen Einzelbeobachtungen, feststellen und im Zusammenhang darstellen, um den Boden kennen zu lehren, auf welchen neue Bestrebungen mit Aussicht auf Erfolg sich stützen können. Neben diesen sollen auch Originalmitteilungen Aufnahme finden über Forschungsresultate, welche, über den Kreis der engern 768 Abonnements - Einladung. Fachgenossenschaft hinaus, ein allgemeineres Interesse zu fin- den geeignet sind. Daneben soll in Form von Referaten, welche von bewährten Kennern der einzelnen Fächer verfasst werden, der Inhalt wichtiger Arbeiten, welche dem biologischen Gebiete angehören, in knapper, aber sinngetreuer und streng wissenschaftlicher Weise wiedergegeben werden in einer solchen Form, dass ein allgemeines Verständnis für sie vorauszusetzen ist. Eine sachliche Kritik soll dabei nicht ausgeschlossen sein. Auch wird das Blatt nach wie vor Selbstanzeigen bringen, d. h. von den Herren Gelehrten selbst verfasste, sachlich gehaltene Auszüge aus Arbeiten, welche sie in größerer Form in anderen Schriften erscheinen lassen. Wir hoffen, in diesen Bestrebungen auch fernerlin bei den Herren Gelehrten und Herausgebern reichliche Unterstützung zu finden, namentlich auch durch Übersendung von Rezensions- Exemplaren und Sonderabzügen, welche wir zu baldmöglichster Erledigung unsern Mitarbeitern über- geben werden. Der Besprechung neu erschienener Bücher und kürzeren Notizen von allgemeinem Interesse wird der noch ver- fügbar bleibende Raum gewidmet werden, weshalb wir die Einsendung solcher stets mit Dank begrüßen werden. Die Verlagshandlung wird alle Beiträge für das Centralblatt: Originalmitteilungen, Übersichten, Referate, Bücherbesprechungen und kürzere Notizen mit 48 Mk. für den Druckbogen oder 3 Mk. für die Seite des bisherigen Satzes honorieren und den Herren Mitarbeitern jede von ihnen gewünschte Zahl von Sonderabzügen in Umschlag mit aufgedrucktem Titel und Angabe der Nummer, in welchem die Ar- beit zur Veröffentlichung gelangt, gegen Berechnung der Selbstkosten zur Verfügung stellen. Bestellungen auf solche Abzüge bittet sie gleich bei Einsendung der Manuskripte machen zu wollen. Redaktion und Verlagshandlung. Bestellungen nehmen alle Buchhandlungen des In- und Auslandes, sowie sämtliche Postanstalten an; bei direkter Einsendung des Be- trags an die Verlagsbuchhandlung erfolgt Franko - Zusendung. ERLANGEN, im Februar 1886. Verlagsbuchhandlung von Eduard Besold. Verlag von Eduard Besold in Erlangen. — Druck von Junge & Sohn in Erlangen. Alphabetisches Namen -Register. Die Namen von Verfassern von Arbeiten, welche in diesem Bande enthalten sind, sind durch ein * ausgezeichnet. A. Adlerz, G. 686—689. Agardh 641—644. Agassiz 192. Albini, B. S., 243. Albinus 243, 271. * Albrecht 144—159, 187 —189, Albrecht 11, 256, 371—372. Allen, J. A., 117—120, 526. Allen Starr 58. Ameghino 120, 433. Anderson 79, 609. Annutschin 728. Arnaud 735—736. Arnold 207. Artaud 60. Aubry 583. Agmard 218, 494. B. Babes 578. Baird, Sp., 191. Baker 428. Balbiani 139, 179. Balfour 75—77, 336, 660. Bambeke, van 146. Bär, K. E. von 88, 609. Bardeleben, K. 96. Barland, Hub. 339. Barrois, J. 260. Bary, 888. Bastian 708. Baumert 223 —224. Baur 104. Bean 191. Beauregard 610. Bechterew 24. * Behrens 128, 160, 351, 352563: Bell 94, 103, 107. Bemmelen, J. T.van 141. Beneden, van 163, 166— 181, 658. Benedikt 50. Bennet, E. T. 335. Berger, 595. Bergmeister 39. Bernard, Cl. 308, 483. Bert, P. 128. Bertkau 660. Betz 56. Beudant 483. * Biedermann 627-639. Bianchi 48. Blainville 236, 427, 459— 468, 489-—495, 518 — 523, 598, 609, 626, 721, 754. Blaschko 27. Blaue 16. Blochmann 224. Blumenbach 333. de- 97 —102, 586, Bockendahl 369. Boerhave 242, 446. Bog, Will. 337. Bogdanow 284. * Bohr, Chr. 259. Bois, Jac. du 253. Bois-Reymond, du 634. Bojanus 82, 90, 426. Bollinger 671. Bonaparte 335. Bonome 541. Born 70—74, 663—668. Boubee 517. Bouchardat 400. Bourguignat 603, 621. Boussingault 399. Brandt, Joh. Fr. 92, 104. Brass 67, 193, 262. Brasse 736. Brauer 648. Bravard 495, 522, 600. Brebisson 358. Brefeld 586. Brehm, A. 42. Brissot 339. Broca 121. Bronn 236, 426, 518, 626. Brooks 192. Brown-Sequard 20. Brücke 662. Brunn, von 505. 49 230, TO Bryden 552. Buchner, Hans 578—582, 7398 Buckland 117, 602. Buffon 88. Buhl 551, 580. Burckhardt 61. Burdon-Sanderson 546. Burggräve 243—246, 340, 380, 406, 443. Busk 121. Bütschli 97—102, 224, 393, 691. c. Calori 509. Caldwell 75—77, 332— 336. Canestrini 721. Cardanus 347. Carnoy 194—197. * Carriere, J. 589—597. Carus, J. V. 105. Caesar, Jul. 91. Cattani, G. 668—670. Cautley 185, 427, 489. Charcot 55—58, 414. Chiarugi 503, 507, 511, 537 —541. Christiani 27, 469—471. Christmar-Dirckinck-Holm- feld 127. Chun, C. 749—751. Ciaccio 589—594. Cienkowsky 7. Claus, C. 105. Cohn, F. 417—418. Colenso 384. Collado, Luis 276. Colosanti 127. Commail 400. Cope, Edw. D. 420—430, 527—529. Coste, Hil. de 253. Crampe 465—468, 615— 620. Croizet 267, 296, 522. Cuneus, Gabr. 413. Cuningham, James 552, 556—560. Cunningham, D. 549. Curley 717—719. 514, Curtius 339. Cuvier 79, 81, 99, 116, 210—215, 264—266, 333, 426, 518—521, 601, 680, 684, 721. D. Dahl 453, 656 — 657. Dahldorf 679. * Dalla Rosa, 434—440. Dalla Torre 744—745. Dalton 48. * Danilewsky 400. Danillo 25, 31. Darwin, Ch. 454, 465, 483, 674, 724, 753. Dawkins, W. Boyd 109, 121, 602. De Bary 97—102, 586, 588. Decaisne 549. Dekay 83—84. Delbrück 549, 553 De /’Isle 1 —72. Delpino 225—227, 561. Dönhoft 393. Drasch 14—17, 207. Drude 226. Du Bois-Reymond 230, 634. Dubaux 399—404. Dubreuil 269, 599. Duge 450. Duplessis-Gouret 69. Durand, Henri 427. Duvernoy 111, 113. E. Eberth 757. Edinger 414. Esenbeck, Nees von 2. Ehlers 586. Ehrenberg. 748. Eimer, Th. 315. Eisenberg, James 764. Emmerich 577, 579. Engelmann 629. Ermengem, van 577. Ewald, C. A. 313. F. Falconer 234, 265, 426. Faloppi 242. Alphabetisches Namenregister. Fatio 748. Faujas, St. Fond 80. Ferran, J. 321-326. Ferrier 19. Ficalbi, Eug. 463—469. Fick 632. Filhol 212, 332, 493. Finkler 578, 586. Fischer, G. 84. * Flemwing, W., 166— 181, 289 — 293. Flemming 164, 193. Flügge 323, 580. Forel, A. 393, 687. Forsyth 115. Fraas, O., 240. Franck 188. Frank, B. 225, 743. Fränkel, Eug. 757—761. Frantzius, A. von 110. Fritsch, A, 328—332. Fritsch, G. 17—20. Frommann, C. 159—160. G. Gaffky 757. Gaudry 211, 239, 329, 464. Gauthier 578. Gegenbaur 11, 151: Geoffroy St. Hilaire 75, 333: Gervais 84, 209, 306, 432. Gesner 79. Giebel, C. G. 109. Giovannini 669. Goldfuß 269, 558— 562. Goltz 19, 49—52, 62. Göthe, W. von 82, 455. Gottschau 12. * Graber, V. 385—399, 449— 459, 483— 489. Graff, L. von 40-42, 69. Grancher 575. Grant, R. 75, 333. * Graser, E. 757—761. Grassi 689. Gratia 147. Gratiolet 609. Grenacher 590. * Gruber, A. 137—141. Gruber, A. 689. Alphabetisches Namenregister. Gruber, M. 578. Guläberg 609. Guldenstädt 721. Gussenbauer 59. H. * Haacke, W 367—369. Haacke, W. 76, 332. Haberlandt 222, 746. Hagens, von 687. Haller 242, 471. Haller, B. 746—747. Hallier 191. Hansen 197—199, 351. Hansgirg 641—644. Harlan 84, 115, 279. Hartmann, R. 301. Harvey, Will. 243. Hatschek 231. Hauser, G. 36—5%, 321— 326,392. Hayden 425. Hefiter 607. Heinricher 222 — 223. Hellich 68. Helmholtz 62, 763— 764. Henle 207, 289—293. Henneberg 319. Hennum 199 —208. Hensen 12, 144, 193. Herberstain, von 89. Hering 634. Hertwig, 0. 161-166, 663. Hertwig, O. und R. 691, 692 - 695. Heuser, E. 175. Hickson 589. * Hiltner 33—40. His 11, 39, 144. Hitzig 17—20, 50. Hodgson 621. Hoffer, Ed. 481. Hoffmann, C, E. E. 730. Hoffmann, C. K. 39. Hofmeister 322. Home, Everard 333. Hönigschmied 14. Hoppe -Seyler 320. Hunter, J. 609. Hüppe 101, 585 —588. Huxley 121, 207. Hyrtl 414. J. Jäger 269, 518. Jarocki 91. Jean-Jean 269. Jeitteles, L. H. 721—725. Jhering, H. von 439. Jobert 267. Johow 742 — 744. Joseph 439. Julin 177. Juranyi 197. K. Kalkowsky 190. Kamienski 226. Kaup 264, 600. Kirchner 224. * Klebs, G. 353 — 367, 641—646, 737—747. Klem.d4:7h249: Koch, K. 189, 545, 577, 586. Köhler, R. 693. * Kölliker, A. von 11—12. * Kölliker, Th. 371—373. Kopernitzky 283. Korotneff 689. Kowalewsky 214, 238— 241, 263, 421. Kräpelin 395. * Krause, W. 537 — 543. Kreuzhage 182. Krieger 595. Kriworotow 30. Krönlein 59. Krukenberg 197. Kühne 262. Kupffer 436. Kützing 641. L. Lacaze - Duthiers 567. * Lampert, K. 102— 109. Landzert 283. Lartet 233, 461. Lebedeff 311. Leche, W., 95. * Lehmann, K.B. 513-518, 545—560. 577—585. Tal Leidy, J. 115, 218, 305, 131, 419, 523. Leisering 151, 187. Lendenfeld 368. Lepine 59. Lespes 687. Lesson 76. Letheby 546. Leydig 746— 748. Lieberkühn 12, 144. Liebscher 223. Lindström 657. Lisso 60. * List, J. HB. 369310, 499—502, 698 — 704. Löb 47. Löffler 568. London 207. Löw, E. 33 — 36. Lubbock 393, 761—763. Luciani 28, 61. * Ludwig, F.561— 564, 769. Ludwig Ferdinand, Prinz von Bayern 123—127. Lustig 12 — 14. Lustig, Al. 127—128. Lydekker 114, 220, 241,269. M. Mae Munn 351. Mac Leod 481 - 483. Macpherson 551. Marcacci 26. Marcel-de-Serres 84, 269, 599. Marenzeller 103. Margo 661. Marique 146. Marno 183. Marsh 303, 418, 428, 523. Mayer, Ad. 256. Mayer, Paul 686. Mayr, Gust. 636, 745. Meckel 75. Meißner 229. Merk, L. 729—730. Meyer, Arth. 711—713. Meyer, H. von 82—84, 88, 210, 279, 493. Meynert 22—24 Mihalkowiez 11. 49* 712 Miliarakis 181—182. * Möbius, K. 647—648. Molisch, H, 1—4, 286. Monakow 28. Morse 191. Moseley, N. N. 141 — 144, 352. Müller, Franz 187. Müller, Friedr. 314 Müller, Fritz 564, 744, 765. Müller, Herm. 33—36, 482 Müller, Karl 187. Müller, W. 11. * Munk, Imm. 308 — 320. Munk, Imm. 19—21, 27, 469— 470. N. Nägeli 133—135, 163, 674, 740. * Nasse 287-288. Nathusius, H. von 299 Naumann, Edm. 723. Nehring 185, 269, 623, 752. Nencki 607. Nieati 578. Nicolet 240. Nilsson 88, 94. Nordmann, A. von 599. Nussbaum 138, 162, 176. ®. * Obersteiner 729—734 Obersteiner 56. ÖOchsenius, Carl 766. Ohlmüller, W. 766. Östen-Sacken, von 183. Owen, R. 56. P. Packard 649. Pade 735. Pagenstecher, A. 109. Pallas 79, 91. *= Paneth 661—663. Paneth 207. Panum, P. L. 257—259. Partsch, J. 68. Pasteur 572—576, 604— 606. Peach, B. N. 657. Peale, Rembr. 115. Peales 80. Pellegrino Strobel 752. Perris, Ed. 392. Peters, A. W. 680. Peters, K. F. 236, 464. Pettenkofer 316, 513, 547 — 560, 577 —585. Pfeffer 350. Pfeiffer 757. Pfitzner 179, 193. Pflüger, E.70— 74.207, 740. Pietet 209, 460, 493, 522, 597, 601. Pisenti 670. Pitres 57. Planta, A. von 350 — 351. Plateau 483. Pollender 181. Pomel 522. Pouchet 578. Prantl 350. Prazmovski 586. Preusse 315. Pringsheim 197. Prior 586. Proust 546. Prschewalski 428. Pusch 92. 8. Quevenne 400. Quoy Gaymard 725. R. Rabl 179. Radenhausen 400. Radziejewski 310. Rambaud 155. Ranvier 14. Rapp 609. Rathke 11, 158, 652. Rauber, A. 730—733. * Ray Lankester 588. Ray Lankester 658. Raymond 60. Reichert, C. B. 45. Renault 155. Richardson 117. Rietsch 578. Riley, Ch. V. 561. Röhmann 314. Alphabetisches Namenregister. Rolleston 302. Rollet 208. Romiti 505, 541. * Rosenthal, J. 64, 763— 765. Roux 664. Royer, Heron 74. Rückert 126. Rudolphi 609. Rütimeyer 87, 93, 110, 117, 209, 297, 719. S. Saccardo 350. Sachs 98. * Salensky 6 -8, 564 --568. Sanderson, Andr& 184— 187. Sazepin 393. Schäfer 21. Schenk 662. Schiefferdecker 700 — 703. Schiemenz 393. Schiff 19, 24, 32. Schimper 714—717. Schmankewitsch 483. Schmarda 456. Schmiedeberg 712. Schmitz 193. Schneider, A. 170,176, 261. Schorler 193. Schottelius 578. Schultze, F. E. 16, 702. Schultze, M. 46, 127. Schütz, F. W. 300, 568— 571. Schwalbe, G. 414, 730. Schwann, Th. 290. Schwarz, Fr. 65 - 67, 360. Scoresby 609. Seidel 251. * Selenka E. 8— 10, 294— 295. Selenka 102, 164, 167. Semper, K. 103—104, 142, 483, 749. Sertoli 14. Sherrington 21. Siebold 748. Simon, John 545. Simmonds, M. 757 —761. Alphabetisches Namenregister. Sloane, Sir H. 79. Smith 191. Smith, Will. J. 70. Snow 545. * Solger, B. 95, 127, 468— 469, 672. Solms-Laubach, Graf 225, 564, 686. Soltmann 26. Sommer, A. 689. Sommerschuh 517. Soyka 583. * Spengel, J. W. 70—74, 663 - 668, 692— 695. Spengel 455. Sprengel, C. Chr. 33. Srb 505. Stahl 4—6, 353—359. Stannius 609. Steenstrup, J. 602, 748. * Stieda, L, 278—286. Stöhr, Ph., 369. Strasburger 7, 65, 129— 137,464, 193: Strasser, H. 695—698 Stricker 207. Strobel, Pell. 752. Strümpel 60. Studer, Th. 725 —728. Subbotin 311. T. Tamburini 29, 48. Tarenetzky 278—286. Tartuferi 539. Thanhoffer 128. Thomas 111 —113. Thorell 657—661. Tiehomiroff 690. Tiedemann 609. Tizzoni 669. = Tollin, H., 242— 255, 271 — 278, 336 — 348, 373— 383, 404—413, 440—448, 471—480. Tschirch 197. U. V. Valenti 511. Verraux, Jules 335. Vesal 242— 255, 271—278, 336—348, 373—383, 404 —413, 440—448, 471— 480 Viallanes, H. 589-597. Vintschgau 449. Virchow 551, 584, 673— 679, 707— 710. Vöchting 737— 1742. Vogel, J. 190. Vogt, C. 192. Voit, von 310, 316. Vossius 207. Vulpian 25. W. Wagner, Andr. 88, 267, 522, 599, 601. Waldeyer 45 —46. *= Weber, Max 609 — 615. Wehenkel 145. Weiswmann, A. 673 — 679, 689, 707—710. Welcker 283. Wernicke 54 109. 708 Whitman 192. Wiedersheim 315. * Wiedersheim 328 — 332. Wieler 3. Wiesner, J. 326—328. * Wilckens, M. 79—95, 109 —123, 208-222, 263 — 270,295 — 308, 332, 418 — 434, 459—465, 465 — 468, 429—502, 518—529, 597 — 604, 615—620, 620— 627, 719— 729, 751— 757. * Wilhelm, K., 326 —-328. Woldrich 622—623. Wolff, E. 182. Wood 211. * Wortmann 4—6. Wulp, van der 183. Wurm 41. X. Y. Yung, Emil, 192. 2. Zacharias, E. 134, 193— 197: * Zacharias, 0. 223— 233, 259— 262. Zacharias, ©. 67—70, 190. Zawarikin 315. * Zograff, Nik. 679—686. Zopf, W. 97—100, 588. * Zopf, W. 321326, 585 —588. Zuckerkandl 188, 543. Zuntz 319. Alphabetisches Sachregister. A. Ablenkung der Wurzeln durch Gase arte: Absinth, Wirkung d. A. auf Hunde 25. Acanthodon 493. Acotherulum 212. Actinophrys sol 139. Adapis 211 fg. Adephaga 654. Adoxa 4. Adventivembryonen bei Pflanzen 7. Aeburnus 487. Aelurodon 528. Aerotropismus 1 fg. Aeschna 589 fg. Aetiologie der Cholera 513 fg., 545 fg., B77/.fg, — des Milzbrandes 671 fg. — des Typhus 757 fg. Akklimatisation 673 fg, 705 fg. Aktinien, Farbstoffe der A. 352. Algen, Polymorphismus der A. 641 fg. Alkaloide von Lupinus luteus 223. Ameisen, Geruchssinn der A. 393. Ammoniak in seiner Einwirkung auf Wurzeln 3. Amöben 261. Amöbocyten im Blut 529 fg. Amöboide Zellen im Darmepithel von Stenostomum 260. Amphibien, Bastardbildung bei A. 70 fg. —, Becherzellen im Blasenepithel 499. Amphieyon 460. Amylase in den Blättern 736. Anabas 680. - Anatomie der Zunge 123 fg. — , Lehrbuch d. A. von Hoffmann und Rauber 730 fg. Anatomische Varietäten 505. Anchitherium 235. Angiospermen, Laubblätter der A. 711g. Anodonta, Schließmuskel der A.-Arten 632. Anoplotherium 220 fg. Anpassung als Ursache von Umwand- lungen 674. Antagonistische Polwirkungen bei elek- trischer Muskelreizung 627 fg. Anthidium 3A. Anthophora pilipes 34. Aphelotherium 210 fg. Apiden, blütenbesuchende 481 fg. Apterygogenea 451. Archaeotherium 218 fg. Archegosauridae 329. Arctocyon 459. Arthropoden, 589 fg. Ascaris megalocephala 123, 166. Asellus aquaticus 483. Aspergillus Oryzae 417. Assimilationsprodukte der Laubblätter TR: Assoziationsfasern (nach Meynert) 23. Astasieen 261. Auerhahn, Taubheit d. A. beim Balzen 40 fg. Auchenia 431. Sehapparate der A. Alphabetisches Sachregister. Aulastoma, stoffe 387. —, Verhalten gegen Salzwasser 488. Ausfallserscheinungen (nach Goltz) bei Verletzung der Großhirnrinde 49. Verhalten gegen Riech- B. Bacillus, Komma-B. 321 fg., 546 fg., 585 fg. Baecillus, Typhus-B. 581, 757 fg. Bacterium Termo 37. — Zopfiü 585 fg. Bakterien, Systematische Stellung der B.ng7 TE: —, Vermehrung der B. 100. —, Pleomorphismus der B. 100, 321, 588. -——, Fäulnis-Bakterien 36 fg., 321 fg. —, Heu- u. Milzbrand-B. 735 fg. —, Rotlauf-B. 568 fg. Bakterien-Forschung (Hüppe) 189. Bakteriologische Diagnostik (Eisenberg) 765. Balaena 610 fg. Balaenoptera 610 fg. Ballota 34. Balzen des Auerhahns 40 fg. Barockfurehung (Born) 74. Bartenwale 609 fg. Bastardbefruchtung, Bedingungen der B. 692 fg. Bastardbildung bei Amphibien 70. Batrachierschlangen 330. Becherzellen im Blasenepithel der Am- pbibien 499. —, im allgemeinen 698 fg. Befruchtung des tierischen Eies 8 fg. — der Phanerogamen 129 fg. — und Isotropie des Eies 161. —, Reifung und Zellteilung 166. —3- Vorgang (Beneden) 170. Beggiatoa 101. Beluga 610 fg. Bestäubung vermittelnde Insekten33, 744. Biene, Entwicklungs-Geschichte der B. 707 fg. Bienenvolk, Differenzierung des B. 746. Bilaterale Symmetrie beim Ei 167. Biologische Station in Granton 415. Biss tollwütiger Hunde (Pasteur) 752 fg., 604 fg. 709 Blasenepithel der Amphibien 499. Blastophaga 562, 686 fg., 745 fg. Blattbau, isolateraler 222. Blätter, Wurzeln als Stellvertreter der BB. /63. Blau in der Farbe der Tiere 746 fg. Blumenbesuch von Insekten 33 fg. Blumenrot 199. Blumenthätige Hymenopteren 744 fg. Blut, Parasitologie des B. 529 fg. Blüten, Farbstoffe der B. 197. Blüten besuchende Apiden 481. Blütenstaub der Haselstaude 350. Böhmen, Gaskohle und Permformation 328 fg. Bombinator igneus (Bastardbildung) 72. Bombinator im Salzwasser 488. Bombus hortorum 34. B. hypnorum u. B. lapidarius 482. Bouche d’imprögnation (vergl. Dotter- hügel) 167. Brachionus 230. Branchiosaurus 329. Bufo vulgaris, B. calamita 71 fg. c. Calao Rhinoceros 128. Cameliden, Paläontologie der C, 418 fg. Camelotherium 433. Caniden, Paläontologie der C. 459, 489, 518, 397, 621, 419,731. Capillar: s. Kapillar. Caprificus 562 fg. Cebochoerus 212. Central: s. Zentral. Cercle parapolaire beim Ei (Beneden) 167. Cercoleptes 459. Cercomonas ramulosa 261. Cetaceen, Zentralnervensystem der C. 609 fg. Chara 19. Chasmotherium 210 fg. Chauliodontia 329. Chemische Reize bei den Tieren (Graber’s Versuche) 385 fg., 449 fg., 483 fg. Chitonen, Sinnesorgane in den Schalen der Ch. 141. Chlamidococcus 261. Chlor, Chlorwasserstoff, Chloroform in ihrer Einwirkung auf Wurzeln 3. 176 Alphabetisches Sachregister. Chlorophylifreie Humusbewohner West- indiens 742 fg. Choeromorus 233. Choeropotamus 210 fg. Cholera und die Cholera-Theoriend513fg., 545 fg., 577 fg. Aelteste Literatur über Cholera 514. Grundwasser bei Cholera 550. Cholera - Konferenz in Berlin 577. Giftbildung bei Cholera 579. Ursache der Cholera in Indien 582. Chorda dorsalis im Nasenseptum eines erwachsenen Rindes 144 fg., 187 fg., 256. Chromatische Figur 149. Chromulina 102. Cilissa 35. Circaca lutetiana 5. Citrus 7. Closterium moniliferum 353. Cobitis fossilis 369 fg. Coccen: s. Kokken. Coelioxys 34. Cönogenie 8. Colliculus anterior eminentiae quadri- geminae 539. Copulation: s. Kopulation. Cornea bei Chitonen 143. Corpuseule germinatif (Beneden) 168. Corti’sches Organ 45. Couche corticale beim Ei (Beneden) 167. Crassulaceenblätter, Sauerstoff - Aus- scheidung der C. 256. Cuon 621. Cupuliferen, Ernährung der C. 226. Cyanophyceen 101. Oyclops agilis, ©. rubens 69. Oynips picnes 562 fg. Oynodon 49. Oyrtostomum 139. Cyto-Idioplasma 135 Cytoplasma 132. D. Daphnia magna 68. Darwin’sche Krümmung der Wurzeln 3. Dasypoda 35. Dauerform der Komma- Baeillen 585. Deiters’sche Zelien 45. Delphinus 610 fg. Desmidiaceen, Bewegung und Schleim- bildung 353 fg. Diagnostik, Bakteriologische 764 Dichobune 210 fg. Dicotyles 237. Didelphys 294. Differenzierung des Bienenvolkes 717. Diluvialablagerungen, Pferde aus D. 185. Dimetrodon 78. Dinotherium 264 fg. Dotter, Bildungs- u. Nahrungs-D. 664. Dotterhaut 9. Dotterhügel 9, 167. Drepanidien 529 fg. Drüsen, einzellige, im Blasenepithel der Amphibien 499 fg. Drüsenzellen, Bau, Sekretion und Unter- gang 698 fg. Ductus endolymphaticus 44. _ E. Echidna 75, 332 fg. Ei, Zur Befruchtung des tierischen Eies 8 fg. Befruchtung und Isotropie des Eies 161 fg. Reifung, Befruchtung und Zelltei- lung (Beneden) 166 fg. Furchungsvorgang bei Leptodera 229. Zellkörper, Protoplasma des Eies 167. Kern oder Keimbläschen des Eies 168. Morphologische Differenzierung im Ei 170. Bilaterale Symmetrie beim Ei 167. Haften der Spermatozoen am Ei 9. Ei der Monotremen 332. Ei von Vermetus 564. Einfluss des Magnetismus auf die Entwicklung des Eies 160. Einfluss der Schwerkraft auf die Entwicklung des Eies 663 fg. Eiweiß -Zerfall 309. Elotherium 218 fg. Embryo, Bildung des Embryos in der Samenknospe 7. Energie, formgestaltende, der Zelle 138. Einhydroceon 528. Entelodon 216 fg. > € Alphabetisches Sachregister. Enterochlorophyll 351. Epibolie 564 fg. Epithel, Wanderzellen im Epithel 369. Epithelbekleidung des menschlichen Ovariums 504. Equiden, quaternäre 185. Ernährung, vegetabilische 766. F. Fähigkeiten, geistige, des Hundes 761. Farbe der Tiere, das Blau in der F. der Tiere 746. Farbe der Tiefseekrabben, gekochten Krebse und Paguren 367. — , Vererbung der F., Zuchtversuche mit zahmen Wanderratten 465, 615. Farbstoffe der Aktinien 352. — der Blüten 197. Fauna der Gaskohleete. Böhmens 328 fg. Fäulnis erregende Bakterienarten 36 fg., 321. Feigen, Gallblüten und Samenblüten der Feigen 551. Feigeninsekten 551, 686 fg., 745. Fett: Resorption, Bildung, Ablagerung 308 fg. Fettsäuren, Fütterung von F. 309. Synthese der F. im tierischen Orga- nismus 313. Fette Milchkügelchen 401. Ficus Carica 562. Filarmasse in den Becherzellen des Amphibienepithels 500. Flagellaten 529. Flug der Vögel 695 fg- Follikulare Knospung der Salpen 6. Fortpflanzung, geschlechtliche: Bedeu- tung derselben für die Selektions- theorie 673 fg., 705 fg. Fossa oceipitalis media 507. Froschherz, Ventrikel des F. 629. Fühlsphären auf dem Großhirn 21. Funkia ovata 7. Furchung (Wurm -Eier) 229. — bei Vermetus 564. —: Barockfurchung (Born) 174. Fußdrüsen der Insekten 656. Fußganglien, Entwicklung der F. bei Vermetus 566. N G. Galanthus nivalis 194. Galecynus 518. Galeotherium 519. Gallblüten und Samenblüten der Feigen 561 fg. Gärungserreger, die Schimmelpilze als G. 417. Gaskohle, Fauna der Gaskohle Böh- mens 328 fg. Gebirgs-Seen im Riesengebirge 67 fg. Gehirn, Physiologie des Gehirns 469. — der Cetaceen 609 fg. Gehörbläschen, Entwicklung der G. bei Vermetus 566. Gehörorgan der Wirbeltiere 42. Geißelinfusorien 260. Geistige Fähigkeiten des Hundes 761 fg. Gelb der Blumen und Früchte 198. Geotropismus, Einfluss des Lichtes auf den G. 4. Geschmacksorgane, Morphologie und Physiologie der G. 12 fg. Gesundheitsamt, Kaiserliches 288, 568. Globulespolaires: sieheRichtungskörper. Gonidien 98. Gordius aquaticus 229. Grantons biologische Station 419. Großhirnrinde, physiologische Unter- suchungen der G. 17 fg., 47 tg. Großrussische Bevölkerung, Kraniologie “der G. B. 278 fg. Grundwasser bei Epidemien 550. Gulo 489. Gyrus: vierter G. frontalis 538. H. Haemamoebocyten 529 fg. Haematococcus pluvialis 261. Haemocytozoen, Haematozoen, Haemo- gregarinen 529 fg. Haplodactyla 105. Harpagodon 493. Haselstaude, Blütenstaub der H. 350. Hasenscharte, Odontologie der Kiefer- spalte bei der H. 371 fg. Haustiere, Paläontologie der Haustiere 79, 109, 208, 263, 295, 418, 459, 489, 518, 597, 615, 719, 751, Hemicyon 461. 778 Heriades 34. Heterohyus 212. Heterotrophie bei Bäumen 228. — bei Insekten 744. Heu- und Milzbrand- Bakterien 7535. Hippopotamus 216. Hirnoberfläche mit Rindenterritorien nach Munk 19. Hochgebirgsseen im Riesengebirge 67 fg. Holothuria Graefei, H. erinacea 104, 105. Holothurien und ihre Variationsfähig- keit 102. Homocamelus 424. Honigsaugende Papageien 384. Humusbewohner, chlorophylifreie, West- indiens 742 fg. Hund, geistige Fähigkeiten des H. 761. Hyaemoschus 235. Hyaenarctos 49%. Hyaenodon 49. Hyaliner Knorpel, Bau des h. K. 543. Hyaloplasma 134 fg. Hybridisation der Salmoniden 639. Hydrocyon 461. Hydrocotyle bonariensis 6. Hylonomidae 329. Hymenopteren, dimorphe und flügellose H.-Männchen 686. Blumenthätige H. 744. Hyopotamus 209. Hyotherium 235. Hyperodontogenia 509. Hypophysis, Entstehung der H. 11. Hyracotherium, Hyraz 210. ik, Idioplasma (Nägeli) 133, 163. Infusorien, künstliche Teilung bei 1. 137 fg: Interfilarmasse in den Becherzellen des Amphibienepithels 500. Insekten, Phylogenie der I. 648 fg. Fußdrüsen der I. 656. Heterotrophie bei I. 744. Iris bei Chitonen 143. Isolateraler Blattbau 222, Isotropie und Befruchtung des Eies 161. Alphabetisches Sachregister. K. Käferschnecken 142. Kalksteine der Permformation Böhmens 328. Kamelartige Tiere, Paläontologie der k. T. 418. Kapillarnetze im Labyrinthapparat der Labyrinthfische 683. Kern oder Keimbläschen des Eies 168. Kernsubstanz und Protoplasma 165. Kernteilungsfiguren, Anordnung der K. ım Zentralnervensystem bei Nattern- embryonen 729. Kieferspalte, Odontologie der K. 371. Kieselsäure, Bedeutung der K. für die Haferpflanze (und andere Getreide- Arten) 182. Knorpel, Bau des hyalinen K. 543. Knospung, follikulare 6. Kohlehydrate als Nahrung 316. — in Laubblättern 710, 714. Kohlensäure in ihrer Einwirkung auf Wurzeln 3 Kokkenstadium 586. Komma-Bacillus 321, 546, 578, 585. Kontagionisten (Cholera) 513, 543. Kopulation der Sexualprodukte (Bene- den) 171. Kopulationskern 175. Kosmopolitische Verbreitung der pela- gischen Tiere 749. Kraniologie der großrussischen Bevöl- kerung 279 fg. Krebse, Farbe der gekochten K. 367. Krebsrot 367. L. Labyrinthapparat der Labyrinthfische 679 fg. Lacerta viridis, selben 535. Lamium 34. Laubblätter, Assimilationsprodukte der L. 710. Kohlehydrate in den L. 714. Leptodera 229. Leucocyon 625. Leucocyten in der Oberhaut von Cobitis fossilis 369. Leucocyten im Blute 529. Hämocytozoen der- Alphabetisches Sachregister. Licht, Einfluss des L. auf den Geotro- pismus 4 fg. Eiufluss des L. auf die Bewegung der Desmidiaceen 358. Limbus spiralis 45. Limulus 658. Lipochrome 197, 351. Listriodon 240 fg. Lokalisation von Gefühlen und Vor- stellungen im Hirn 20 fg. Lokalisten (Cholera) 513, 547. Lophiodon und Lophiotherium 209. Luftbehälter der Vögel 128. Luftsäcke der Vögel 468. Lunularia 741. Lupinus luteus 223. Lupus 621 fg. Lynceus striatus 69. Lythrium 34. M. Macropodus 680. Maecula neglecta 44. Magnetiswus, Einfluss des M. auf die Entwicklung des Embryos 160. Malpighi’sche Schläuche 649. Männchen, dimorphe und flügellose bei Hymenopteren 686. Marchantia 196, 737. Marchantieen, Regeneration der M. 437 fg. Marrubium 34. Masse me&dullaire (Beneden) 167. Maulwurfgrille, Entwicklungsgeschichte der M, 689 fg. Megachile 35. Megalästheten (Chitoniden) 142 Megalomery& 423. Melecta 35. Melosauridae 329. Membrana basilaris 45. Meno- und Metagnatha 650. Merycodus 425. Mesostomum viridatum 69. Microchoerus, Microtherium 211. Miesmuschel, aus Salzwasser in süßes versetzt 484. Mikroorganismen in der Milch 400. Mikroskop, das (Zacharias-Vogel) 190. Mikrosomenscheiben desKerpfadens 193. 779 Milch, chemische Zusammensetzung der Milch 399 fg. Milchkügelchen, fette 401. Milzbrand - Epidemien 671. Milzbrand- und Heubakterien 735 fg. Monotremen, Ei der M. 332. Monotropa hypopitys 225, 742. Monotrope Insekten (Blumenbesuch) 34. Monotus relictus 69. Motorische (Hirn-) Zonen beim Hunde (Munk) 53. Musca vomitoria 591. Mus decumanus 466. Muskeln, tonisch kontrahierte 628. Muskelfasern, Entwicklung der M. aus Sarkoplasten 661 fg. Muskelreizung, elektrische 627. Mycelium der Pilze 98, 225. Mycorrhiza 227, 743. N. Nasenseptum, Chorda dorsalis im N. eines Rindes 144, 187, 256. Natternembryonen, Kernteilungsfiguren im Zentrainervensystem bei N. 719 fg. Neapler Cholera - Epidemie 580 fg. Nematoden, Palmform - Stadium 228. Nervenstäbe in Rhabdomeren 593. Nervenzentren und galvanischer Strom19. Nervöse Zentralorgane, Bau dern.Z. 414. Nervus acusticus der Wirbeltiere 44, ‘Nervus glossopharyngeus 15. Nervus opticus der Säugetiere 38. Neurospongium nach Hickson 593. Niere des Seestichlings, eine Spinn- drüse 647. Nitrate und Nitrite in der Pflanze 286, 735. Nostoc 101. Nothoscardum fragrans 7. Nucleo - Hyaloplasma, Nucleo - Mikro- somen 134. Nuklein 163, 193. Nukleolus 193. Odontoceten 610. Odontologie der Kieferspalte bei der Hasenscharte 371. Oligobunis 528. 780 Oligotrope Insekten (bezüglich Blumen- besuch) 34. Onchidium 142. ÖOppossum, Entwicklung des O. 294 fg. Optik, physiologische, von Helmholtz 163. Organismen, künstliche Teilung von O. TaT. Ornithorhynchus 75, 332 fg. Öscillaria 101. Os interparietale — Os Incae 506. Osmia 34. Osphromenus 681. Otomesostoma morgiense 69. Ovarium, Epithelbekleidung des mensch: lichen O. 504. Oxydation im Tierkörper 607. Oxytricha 139. > Palaeoblattina 657. Palaeochoerus 213. Palaeocyon 459, 626. Paläontologie der Haustiere 79, 109, 208, 263, 295, 418, 459, 489, 518, 597, 610, 719, 751. Palaeophonus 657. Palinurus 589 fg. Palissadenzellen beim peripheren Gan- glion (Sehapparat der Arthropoden) Sue Palmetten - Stadium, Palmform - Stadium, Palmstadium bei Rotatorien und Ne- matoden 228 fg. Panurgus 35. Papageien, honigsaugende 384. Papilla vallata, P. foliata 13. Paramaecium coli 139. Parameryx 418. Paraplasma (Kupffer) 168. Parasitologie des Blutes 529. Pelobates cultripes, P. fuscus 71. Pentadactyloideen 77. Peridinium fuscum 69. Periza cinerea, P. vesiculosa 19. Permformation Böhmens, Fauna 328 fg Petanoptera 651. Pfannenknochen, Vorkommen und Be- deutung 9. Pfeilerzellen (Gehörorgan) 45. Alphabetisches Sachregister. Pflüger’s Bastardierungsversuche bei Amphibien 70 fg. Pferde aus Diluvialablagerungen 185. Phanerogamen, Befruchtung der Ph. 129 fg. Phaseolus multiflorus 6 Philodinäen 229. Phocaena 610. Phosphor, giftige Wirkung des roten P. 287 Phyllophorus 103. Phylogenie der Insekten 648 fg. Physiologische Optik von Helmholtz 763. Pinus Pumilio 131. Pilsener Becken 329. Pilze als Ernährungsvermittler 225 fg. Pleomorphismus der Bakterien 100, 321 fg., 588. Pliauchenia 428. Poebrotherium 419. Polarisation, positiv-anodische und ne- gativ- kathodische 634. Polwirkung, antagonistische, bei elek- trischer Muskelreizung 627 fg Polyembryonie der Pflanzen 6 fg. Polygordius 231. Polymorphismus der Algen 641 f. Polyphemus pediculus 69, 259. Polyspermie 164. Polytrope Insekten (bezüglich Blumeu- besuch) 34. Primula farinosa 35, 481. Procamelus 421. Processus condyloideus, 3.0838. occip 506. Prophylaxis der Tollwut (Pasteur) 572, 604. Prosopis 35. Protolabis 423 Protomery& 421. Protoplasma und Kernsubstanz 165. Protoplasma des Eies 167. Protoplasma nach Flemming 168. Pseudoconus (Insektenauge) 590 fg. Pseudocyon 461, 523. Pseudopodienbildung 259. Psithyrus 34. Psolus 105. Pterodon 492. Pterygogenea 650. Punktsubstanz nach Leydig 593. Pyrenoidsubstanz der Algen 19. Alphabetisches Sachregister. @. Quaternäre Equiden 184 fg. R. Rakonitzer Becken 329. Rana Re jusca, Prapılıs,, I. R. esculenta 71 f. Rathke’sche Tasche 11. Regeneration der Marchantieen 737 fg. Regenerationsfähigkeit bei Infusorien 137 fg. Region parapolaire (Beneden) beim Ei 167. Reifung, Befruchtung und Zellteilung des Eies 166. Reize, chemische, bei den Tieren 385, 449, 483. Retina der Wirbeltiere im Vergleich zu den Ommatidien 589. Retina der Natternembryonen 729 fg. Retinastiel (Hiltner) 39. Rhabdomer 590. Rhagatherium 209. Rhinoceros 264. Rhizome, Geotropismus von Rh. 4 fg. Rhopalodina 105. Riechfunktion der Cetaceen 613. Richtungskörper 171. Riechreize, Wirkung im allgemeinen und auf bestimmte Organe 387. —, Wirkung auf die Haut 449, Riechschleimhaut des Kaninchens 127. Riechstoffe unter Wasser 387. Riesengebirge, Hochgebirgsseen im R. 67. Rindenblindheit (Munk) 29. Rindenorte (Exner) 18. Rindenterritorien der (Munk) 19 fg. Rinder des Diluviums und der Pfahl- bauten 79, 109. Rot der Blumen und Früchte 198. Rot der Tiefseekrabben und gekochten Krebse 367. Rotatorien, Palmform - Stadium der R. 227. Rotifer 230. Rotlauf der Schweine 568 fg. Rückenmark der Cetaceen 611 fg. viridis, Hirnoberfläche Sak& 417. Salix alba 6. Salmoniden, Hybridisation S. 639. Salpen, Follikulare Knospung der S. 6. Salpetersäure in Pflanzen 735. Salzgehalt, Empfindlichkeit der Tiere gegen Salzgehalt 483 fg. Samenblüten der Feigen 561 fg. Saprophyten, 225, 742 fg. Sarkoplasten, Entwicklung der quer- gestreiften Muskelfasern aus S. 661. Sauerstoff - Ausscheidung der Crassula- ceenblätter 256. Säugetiere, Nervus opticus der S. 38. Schädel, spheno-ethmoidaler Teild. 8.11. —, prächordaler oder prävertebraler 11. Schallreize bei Periplaneten 386. Schimmelpilze als Gärungserreger 417. Schläfemuskel, menschlicher, postem- bryonales Wachtum 434 fg. Schleimbildung der Desmidiaceen 353 fg. Schließmuskel der Anodonta-Arten 632. Schnabeltiere, Fortpflanzung der $. 75 fg. Schneckenherz, Zusammenziehungen des S. 630. Schweine, Rotlauf der S. 568. Schwerkraft, Einfluss derselben auf die Bewegung der Desmidiaceen 360. Schwerkraft und Zellteilung 663, 741. Seen im Riesengebirge 67. Seestichling, Niere des S. eine Spinn- drüse 647. Seewalzen, Variationsfähigkeit der S. 102. Sehapparate der Arthropoden 589. Sekundär - elektromotorische Erschein- ungen 628. Selektionstheorie, Bedeutung der geschl. Fortpflanzung für die S. 673, 705. Septicämie und Fäulnis- Bakterien 321. Sexualität, allgemeines 349. Sexualprodukte, Kopulation der 8. 171. Silurskorpion von Gotland 657 fg. Sinnesorgane in den Schalen der Chi- tonen 141. Sinopa 524. Skorpion, Silur-Sk. von Gotland 657. Solanum dulcamara 481. Sommerstation, amerik. zoolog. 190. Spaltalgen 101. 182 Spaltpilze 97 fg, 189, 321 fg. Spermakern 132. Spermatozoen, Haften der S. am Ei 9. S. bei Bastarderzeugung 74. Eindringen der S. ins Ei 162, 171. S. im Uterus 170. S. von Polyphemus pediculus 259. Mittelstück der menschlichen S. 505. Spheno-ethmoidaler Teil desSchädels 11. Spherodes 35. Spirogyra 194. Sporen bei Pilzen 99. Sporozoen 529. Spumella vulgaris 102. Stabkranzfasern(Nerven d.Großhirns) 22. Stachys 34. Station, biologische in Granton 415. Stegocephalen 329. Stelis 34. Stenostomum leucops 99, 260. Stentor coeruleus 137. Stichopus 103. Sudeten, Biolog. Forschungen in den S. 256. Suiden, Paläontologie der S. 208, 263, 295, 418. Surreta 183. Symmetrie, bilaterale beim Ei, 167. Synapta digitata 140. Synergiden 131. Tane Kosi 417. Tapir 264. Tasche, Raschke’sche 11. Taubheit des Auerhahns beim Balzen 40. Taxotherium 491. Teilung, künstliche, bei Infusorien 137. —, —, bei Marchantieen 737. Tetraconodon 220. Thallophyten, chlorophylI-lose und chlo- rophyll-haltige 98. Theromorpha (nach Cope) 78. Thylacinus 492. Thyone, Thyonidium 103. Tiefseekrabben, Farbe der T. 367. Tollwütige Hunde und ihr Biss (Pasteur) 572, 604. Tomarctus 528. Tonisch kontrahierte Muskeln 628 Alphabetisches Sachregister. Trientalis europaea 5. Triton 72, 500. Triton im Salzwasser 485. Trochophora 231. Tropidonotus 729. Trypanomonas, Trypanosoma 530, 534. Tsetse-Fliege 183. Typhus-Bacillus 581, 757. U. Ursus 4. V. Variationsfähigkeit der Seewalzen 102. Varietäten, anatomische 505. Vegetabilische Ernährung. 766. Veratrin, Einwirkung des V. auf Mus- keln 631. Verbreitung pelagischer Tiere 749. Vererbung im allgemeinen 673 fg. V. erworbener und nicht erworbe- ner Charaktere 676. V. der Farbe, Zuchtversuche bei Wanderratten 465, 616. Befruchtung und Isotropie des Eies, eine Theorie des V. 161. Verkieselung lebender Organe bei den Pflanzen 181. Vermetus, Entwicklungsgeschichte von V. 564. Vicia faba 6. Vögel, Luftbehälter 128. Luftstärke 468. Flug der V. 695. Vortex truncatus 69. Vulpes 621 ig. W. Wachstumsrichtung der Wurzeln 1 fg. Wanderratten, Zuchtversuche bezüglich Vererbung der Farbe 465, 615. Wanderzellen im Epithel 369. Weißfisch im Salzwasser 487. Wirbeltiere, Gehörorgane der W. 42 fg. Worttaubheit 61. Wurzeln, Wachstumsrichtung 1 fg. Geotropismus 4 fg. W, als Stellvertreter der Blätter 765. X. Xiphodon 211, 420. Alphabetisches Sachregister. Zahnwale 610 fg. Zea Mays 66. Zelle, formgestaltende Energie der Zelle 138. Zellen, amöboide im Darmepithel von Stenoostomum 260. gestaltender Teil der Zellen 740. Struktur, Lebenserscheinungen und Reaktionen 159. Formen der Zellen 198. Zellkern, pflanzlicher und dessen Tei- lung 65 fg. 183 Zellkörper des Eies 167. Zellsubstanz (Flemming) 168. Zellteilung, Reifung und Befruchtung des Eies 166. Zellteilung und Schwerkraft 663, 741. Zentralorgane, nervöse, Bau derselben 414. Zentralnervensystem der Oetaceen 509. Z. der Nattermembryonen 729. Zeugungstheorie (Strasburger) 129 fg. Zonen, motorische (Munk) beim Hunde 53 fg. Zoolog. Sommerstationen 190. Zunge, Zur Anatomie der Z. 123. € Base uiid un awien ._— a .