HARVARD UNIVERSITY. Teas AeA OF THE MUSEUM OF COMPARATIVE ZOOLOGY. ae N, Biologisches Centralblatt. FE age a = lologisches Gentralblatt, Unter Mitwirkung Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professoren in Miinchen, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal, Professor der Physiologie in Erlangen. Achtundzwanzigster Band. 1908. Mit 151 Abbildungen. eee ya © Beipzig: Verlass von Geors Thieme, 1908. le By Inhaltsübersicht des achtundzwanzigsten Bandes. = Original; R = Referat. Arrhenius, Svante: Immunochemie R — Das Werden der Welten. R ; Braem, F. Die Knospung der ] Marzeiden « ein Bindeoled zwischen peachlecht: eer und ungeschlechtlicher Fortpflanzung. O. Brandt, A. Ein neuer Besuch des Faust- oder Steppenhuhns (Synnhaptes paradoxus) in Europa. O Burck, W. Darwin’s Krsurunpsgeretz and Gründlagen ar Blütenbiologie. 0 Capparelli, A. Die Phänomene der Hygromipisiee O. .. . . . 489. Child, C. M. Driesch’s harmonic equipotential systems in form-regu- on Os See VEN cto. Se ees seen) ERO A are ON eles Cholodkovsky, N. Zur Frage tiber die biologischen Arten. O Chwolson, O. D. Lehrbuch der Physik. R rite Demoll, R. Die Königin von Apis mell., ein Aisne. 02 Dettweiler, F. Die Aufzucht des Rindes. R. : Distaso, A. Die Beziehung zwischen den Piomentbandern des Mantels a denen der Schale bei Helix nemoralis L. und hortensis Müller nebst Bemerkungen tiber die Entstehung des Pigmentes bei Mollusken. O Dobell, C. C. Some Remarks upon the Ge of Bodo lacertae (Grassi). O 5 : Doflein, F. Uber Schufzanpaesune Quick Koeln O Ehrlich, R. Ein Beitrag zur Frage von der Membran der Chosnoflegellaien. 0 Erklärung sures Errera, L. Cours fe Bheaiolomie molecalaiee’ TEs: ee Falger, F. Untersuchungen über das Leuchten von Acholoe’ ‘aster reola: O Forel, A. Konflikt zwischen zwei Raubameisenarten. O — Zur Farbenbildung der Raupe der Saturnia carpini. O Franz, V. Das Pecten, der Fächer, im Auge der Vögel. O. VI Inhaltsübersicht. Franz, V. Die Struktur der Pigmentzelle. O . I Frisch, K. Studien über die Pigmentverschiebung im Pacettenauge. O 662. Garcke. A. Illustrierte Flora von Deutschland. X Goldschmidt, R. und Popoff, Methodi. Uber die sogen. hyaline Pleat schicht der Seeigeleier. O Hatschek, B. Beantwortung der (Heoransenen Bingo Plates: gegen meine Vererbungstheorie. O : Hegi u. Dunzinger. Illustrierte Flora von eyiiticlenrona R ar Henriksen, M. E. Darwinısm Do-Dayı Ru. ene eee eaten Hesse, E., Lucilia als Schmarotzer. O De eo Höber, J. Neuere Untersuchungen über den Harbensan von Tieren. AR Issaköwitsch, A. Es besteht eine ne Fortpflanzung bei den Clado- ceren, ance nicht im Sinne Weismann’s. ©) Jahrbuch für wissenschaftliche und nralheche Tierzucht onechhe alien der Züchtungsbiologie. R . . Se Jahresbericht tiber das Gebiet der Pilanzenleanlkheien RR ur SER: Jordan, H. Über Entwickelung vom physiologischen Standpunkte aus. O Jost. Wiesner, J Der Lichtgenuss der Pflanzen. R : Kisskalt und Hartmann: Praktikum der Baktcriologie und Zoos v Knoblauch, A. Die Arbeitsteilung der quergestreiften Muskulatur und die funktionelle Leistung der ‚flinken“ und „trägen“ Muskelfasern. O. Ladenburg, A. Naturwissenschaftliche Vorträge in gemeinverständlicher Darstellung. & . Rae Pe oe ieee NE wa io Lehmann, O. Scheinbar lebende Kristalle, Pseudopodien, Cilien und Muskeln. Om gr u ee N Se One Loeb, J. Über Heliotropismus und die periodischen Tiefenbewegungen pelagischer Tiere. O : Lubosch, W. Die starmmesreschicHahene Entwicklang der Synomiuiltade and der Sehnen mit Hinweisen auf die Entwicklung des Kiefergelenks der Säugetiere. O. . be Mangold, E. Über des Leuchten und Klettern der Sehlangensterhe: O Mordwilko, A. Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse, Aa Passerini. O . euere Volle Müller, A. Allgemeine Chemie der Kolloide. R Müller-Pouillet’s Lehrbuch der Physik. R Müller, R. Sexualbiologie. R Nagel, W. Handbuch der Physiologie des Menschen. I ER EEE Nüßlin, O. Zur Biologie der Gattung Chermes. O. Blech. Sardi — “ur Biologie der Gattung. Chermes: IE, 0202 2m oe ee lO) Ostwald, W, Prinzipien der Chemie. R. Pappenheim, A. Folia haematologica und dell Solon? R reiten Vive SONG oe ee der Schlafbewegungen bei Pflanzen. O P opoff, M. Erklärung Über das Vorhandensein von non in den Tebeizanen von Re vivipara. OÖ. A BoC Ce Prowazek, S. v!’ Das Lecithin und seine piolomeeke Bedeutung. ©. Studien zur Biologie der Zellen. O . FB na Reichensperger. Über Leuchten von Schlansenntennen Ok Salensky, W. Radiata und Bilateria. O . Inhaltsübersicht. Schimkewitsch, M. Über die Beziehungen zwischen den Bilateralia und denvenadiata: Oo oye. Face cee LZIN ee Schultz, E. Uber ontogenetische und nheloccnetecke Ruekbildimeen O 673 Semon, R. Hat der Rhythmus der Tageszeiten bei Pflanzen erbliche iin. drücke hinterlassen? O Swarezewsky, B. Über die Kon eubilding Br ener helatiens Buck 0 Thilo, O. Die Augen der Schollen. O Tigerstedt, R. Handbuch der phys Solosischen Methode IR Trojan,-E. Das Leuchten der Schlangensterne. O re N Tschulok, S. Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenzthentie O dl oo ae Viehmeyer, H. Zur Koloniegründung der parasitischen Ameisen. O Vries, Hugo de. Plant-Breeding, comments on the experiments of Nilsson and Burbank. R. TR RE a NER Wasielewski, Th. v. Studien und Mikrophotogramme zur Kenntnis der pathogenen Protozoen. KR és ite Wasmann, E. Zur Kastenbildung und Syatematık den Torten 0 — Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus und der Sklaverei bei den Ameisen. ©. Roa ee en 257202897 23210353: — Nachtrag zu: Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus und der Sklaverei bei den Ameisen. ©. Sr cue SE Werner, F. Nochmals Mimikry nl Schutze Orr a rl WO: Bi EN gi ee er: rt Biologisches Centralblatt Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. XXVIII. Bd. 1.Januar 1908. Mi f A Leipzig. Verlag von Georg Thieme. — Rabensteinplatz 2. Das Biologische Centralblatt, das mit der gegenwirtigen Nummer seinen XXVIII. Jahrgang eröffnet, hat den Zweck, die Fortschritte der biologischen Wissenschaften zusammenzufassen, und den Vertretern der Einzelgebiete die Kenntnisnahme der Leistungen auf den Nachbar- gebieten zu ermöglichen. Zur Erreichung dieses Zieles enthält das Blatt: 1. Original-Mitteilungen, besonders Berichte über Forschungs- resultate, welche ein allgemeineres Interesse über den Kreis der engeren Fachgenossenschaft hinaus beanspruchen können. 2. Referate, welche den Inhalt anderweitig veröffentlichter Ar- beiten in knapper, aber verständlicher Weise wiedergeben. Besonders auch Selbstanzeigen, in denen die Herren Gelehrten von ihren an anderen Stellen erschienenen Arbeiten, soweit sie in das Gebiet unseres Blattes gehören, sachlich, gehaltene Auszüge liefern. 3. Zusammenfassende Übersichten über wichtigere Fort- schritte der Wissenschaft, wo nötig, unter Rücksichtnahme auf frühere Erscheinungen der Literatur, um so die dauernden Bereicherungen unseres Wissens festzustellen. 4. Besprechungen von Büchern, bibliographische Nachweise und kürzere Notizen. Ausser den Hauptfächern der biologischen Naturwissen- schaften (Zoologie, Botanik, Anatomie und Physiologie) mit ihren Nebenfächern (Entwickelungsgeschichte, Paläonto- logie u.s.w.) finden auch die Ergebnisse andrer Wissenschaften Berücksichtigung, soweit sie ein biologisches Interesse haben. Der Abonnementsbetrag ist M. 20.— pro Jahrgang von 24 Heften. Der soeben abgeschlossene Band XXVII war 828 Seiten stark mit _ 195 Textabbildungen und 2 Tafeln. Bestellungen nimmt jede Buch- handlung oder Postanstalt entgegen. Probehefte gratis und franko. (Bezugsbedingungen älterer Bände umstehend.) Zur gefl. Beachtung! Um neu hinzuiretenden Abonnenten den Bezug der bisher er- schienenen Bände des) „Beciogischen Centralblaties“ zu erleichtern, liefert die unterzeiehnete Verlagsbuchhandlung bis auf weiteres komplette Serien (Band I—XXVJ) für Mk. 340.— (anstatt für Mk. 448.—). Der Preis einzelner früherer Jahrgänge beträgt, solange der Vorrat reicht, & Mk. 16.— mit Ausnahme von Bd. XIV — XXVI, welche bei Einzelbezug 4 Mk. 20.— kosten. Werden zwar keine kom- pletten Serien, wohl aber eine grössere Anzahl von Bänden gewünscht, so ist die Verlagshandlung gern bereit, auf Wunsch eine spezielle Offerte zu machen. Besonders wissenschaftliche Bibliotheken und Institute seien auf | diese günstige Offerte aufmerksam gemacht. Die offerierten Exem- | plare sind durchweg tadellos neue, worauf im Gegensatz zu anti- | quarischen Offerten hier besonders hingewiesen sei. Leipzig. Verlagsbuchhandlung Georg Thieme. _Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Internationale Monatsschrift Anatomie und Physiologie. Herausgegeben von E. A. Schäfer L. Testut (Edinburg) (Lyon) und F. Kopsch (Berlin). Die bisher erschienenen Bände kosten: Bd. IV... a, WO ee MES 97450. 2 BAR EN ae Z 1) Vo ap RUN ee ga‘ RON The ees be a Cas N cane RP EON 5 VII an SUXVM. » 65.—. sg VENEN N Bs ROM UTD ie Shane Se 2 RR ~ TR VRR NEN NT RR Ve RI RO A 5:03) ciel RAS EDER FUREN RER ER Ran U NO On „ 59.—. RL ne AR aos a | cera ere pi DET N hy SER. NT MON. BERKER RELEASE DU 5 EL sive tach ue ole EI RR me KE OUI oD. ©. @ tt RER RR EEE & RAVEN, 48.30. Bd. [-XXIL statt M. 1517.30 fiir M. 1050.—. AS, x Biologisches Centralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig,; München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. Bd. XXV1IIl 1.Januar 1908. As 1. Inhalt: De Vries, Plant-Breeding, comments on tlıe experiments of Nilsson and Burbank. — Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. — Viehmeyer, Zur Kolonie- gründung der parasitischen Ameisen. — Nagel, Handbuch der Physiologie, Hugo de Vries. Plant-Breeding, comments on the experiments of Nilsson and Burbank. Chicago. The open Court publishing Co. (London, Kegan Paul, Trench, Trübner & Co.), 1907. Die Ziele des neuen Buches von de Vries werden am besten in seinen eigenen Worten!) aus dem Vorwort wiedergegeben werden. „Unter dem Einfluss der Arbeiten von Nilsson, Burbank u. a. hat sich das Zuchtwahlprinzip in der Praxis in demselben Sinne verändert, in welchem sich auch seine Bedeutung in der Wissen- schaft bei der Annahme der Artentstehung durch plötzliche Mu- tationen ändert. Die Methode der langsamen Verbesserung der Rassen von Kulturpflanzen durch wiederholte Auswahl verliert ihre Zuverlässigkeit und wird ersetzt durch den hohen praktischen Wert der „elementaren Arten“, welche durch eine einzige Auswahl isoliert werden können. Die Erkenntnis der Bedeutung dieses Prinzips wird ohne Zweifel bald die ganze Gestaltung der Kulturpflanzen- zucht verändern. Hybridisation ist die wissenschaftliche und willkürliche Ver- einisung bestimmter Merkmale. Sie bringt keine neuen Merkmals- einheiten hervor, nur deren Verbindung ist neu. Von diesem Gesichtspunkte aus stimmen die Resultate von Burbank u. a. 1) In Übers. durch den Ref. XXVIII. 1 2 de Vries, Plant-Breeding, comments on the experiments of Nilsson ete. ~ ganz mit der Mutationstheorie überein, die auf dem Prinzip der Einheitsmerkmale begründet ist. Diese weitreichende Übereinstimmung zwischen Wissenschaft und Praxis wird die Grundlage für die weitere Entwickelung sowohl der praktischen Pflanzenzucht als der Entwickelungslehre bilden. Diesen Satz zu beweisen ist die Hauptabsicht dieser Essays.“ Solcher Essays sind in dem Buche sechs enthalten. Der erste, „Evolution and mutation“, gibt einen kurzen Über- blick über Darwinismus und Mutationstheorie, offenbar für solche Leser, bestimmt, welche die größeren Werke des Verfassers nicht kennen. Der zweite Abschnitt behandelt „die Entdeckung der elemen- taren Arten von Kulturpflanzen durch Hjalmar Nilsson.“ De Vries selbst hat in dieser Zeitschrift (Ältere und neuere Selektionsmethode, Biolog. Centralbl., XXVI. Bd., 1906, p. 355) eine kurze Darstellung der wesentlichsten Gesichtspunkte gegeben. Die ausführlichere Bearbeitung ın dem neuen Buche ist für jeden Bio- logen und für alle Pflanzenzüchter von größtem Interesse, zumal sie durch zahlreiche Abbildungen erläutert wird. Der dritte Abschnitt „On corn-breeding* befasste sich mit der für Amerika so ungemein wichtigen Frage nach der Zucht von Maissorten. Auch vom vierten Abschnitt (die Neuzüchtungen Luther Burbank’s) hat der Verfasser im Biologischen Centralblatt (1907, p. 609) eine kurze Übersicht gegeben, auch hier wird durch inter- essante Abbildungen die verdienstliche (aber in manchen populären Darstellungen ins Unsinnige verzerrte), Tätigkeit Luther Bur- bank’s erläutert. Der fünfte Abschnitt behandelt eine für die Praxis des Züchters wichtige Frage, „die Vergesellschaftung von Merkmalen“, die man auch als „Korrelationen“ bezeichnet hat, ein Wort, das freilich ın sehr verschiedenem Sinne gebraucht wird. Eines der bekanntesten Beispiele von „Korrelationen“ in dem von de Vries gebrauchten Sinne ist die Färbung der Levkojensamen, die im allgemeinen der der Blüten gleicht — blaublühende Levkojen haben z. B. auch dunkelblau gefärbte Samen. Solche an sich oft wenig auffallende Beziehungen sind für den Züchter sehr wertvoll, weil sie ihm bei der Auswahl Zeit ersparen können. In demselben Kapitel werden auch die Kreuzungen besprochen und zum Schlusse eindringlich die Wichtigkeit des Studiums der Korrelationen hervorgehoben. Der sechste Abschnitt bespricht kurz die geographische Ver- teilung der Pflanzen, namentlich auch die Anpassungsfrage. De Vries ist ein Gegner jeder „direkten Anpassung“, das Angepasstsein ist nicht zustande gekommen durch die Einwirkungen des Standorts, De Vries, Plant-Breeding, comments on the experiments of Nilsson ete. 3 sondern die Pflanzen haben sich die Standorte ausgesucht, an denen sie — auf Grund ihrer Eigentümlichkeiten — am besten wachsen konnten. Als Beispiel mögen die Wüstenpflanzen dienen. De Vries sagt von ihnen, „alle ziehen günstigere Lebensbedingungen als die ihnen gebotenen vor. Sie ertragen die Wüste, aber nur mit Schwierigkeit. Ihr Leben ist mehr ein hungriges als ein freudiges. Sie vermehren sich in erstaunlicher Weise, aber nicht aus Üppig- keit, sondern weil sie keinen Wettbewerb haben. Sie wachsen und erreichen nicht ihre volle Größe und sonstigen Eigenschaften, wie sie es unter besseren Bedingungen tun könnten. Sie ziehen be- wässerten Grund und die feuchte Waldluft bei weitem vor und entfalten nur hier ihre wahre Natur. Sogar die Kakteen waren ursprünglich Waldpflanzen, man kann sie kräftig zwischen dicht stehenden Sträuchern wachsen sehen. So drängt sich uns die Über- zeugung auf, dass Wüstenpflanzen in der Regel nicht das Produkt der Trockenheit sind. Sie können irgendwo anders unter anderen Bedingungen entstanden sein, durch ihre eigenartige Befähigung, Trockenheit zu ertragen, erlangten sie ibre rapide Vervielfältigung, sobald sie in ihrer Wanderung die trockenen Regionen erreichten und dort frei von Wettbewerb wuchsen.“ Das ist eine vom Stand- punkte der Mutationstheorie aus konsequente, aber doch einiger- maßen einseitige Auffassung, denn sie trägt, nach des Ref. Meinung, der Abhängigkeit der Organbildung von äußeren Faktoren doch zu wenig Rechnung. Gewiss brauchen die Wüstenpflanzen nicht nach lamarckistischer Auffassung sich selbstätig dem Wüstenklima angepasst zu haben, aber andererseits scheint mir zweifellos, dass bei manchen Wüstenpflanzen die ganze Organisation eine solche ist, dass sie nur für die in der Wüste gegebenen Standortsbedingungen geeignet sind, geradeso wie es Wasserpflanzen gibt, die nicht nur das Leben im Wasser vertragen, sondern in ihm sogar offenbar „enjoyment“ finden. Wenn alle diese Wüstenpflanzen an, anderen Standorten entstanden und nachträglich nach der Wüste gewandert sind, so ist nicht recht einzusehen, wie sie vorher den Wettbewerb mit anderen Pflanzen ausgehalten haben. Doch es ist hier nicht der Ort, solche viel umstrittene Fragen zu besprechen. Es sollte nur auf das sehr interessante neue Werk von de Vries hingewiesen werden, das um so größere Bedeutung finden wird, als es allgemein verständlich geschrieben ist. Für solche, deren Muttersprache nicht das Englische ist, ıst nur die häufige Anwendung von Volksnamen für die Pflanzen störend. Wer kann immer wissen, was für Pflanzen „veches“, „marigolds“ u. a. eigentlich sind? Die Leser wären dankbar, wenn in solchen Fällen stets der wissenschaftliche Name der Pflanze beigefügt wäre. K. Goebel. 1* 4. Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. Von S. Tschulok, Fachlehrer (Zürich). IE Bei der allgemeinen Anerkennung, welche die Deszendenztheorie gegenwärtig in den Kreisen der Naturforscher genießt und bei dem großen Einfluss, welchen sie auf das wissenschaftliche Denken und Forschen nicht alleın im Gebiete der Naturwissenschaften, sondern weit über die Grenzen desselben ausübt, muss es auffallen, dass selbst die grundlegenden Fragen der Methodologie auf diesem Ge- biete so wenig durchgearbeitet sind. In der Tat ist es leicht zu zeigen, dass in den Ansichten vieler Biologen eine merkwürdige Unklarheit über einige methodologische Punkte herrscht, abc über die gegenseitige Ber hue der verse miedencn Partial- probleme innerhalb des weiten Gebietes der biologischen Entwickelungstheorie und über den logischen Charakter ihrer Beweismittel. Diese Unklarheit zeigt sich schon ın der Beurteilung der histo- rischen Seite der Frage, ja schon in der Benennung. Fragen wir doch emmal: wer hat die biologische Entwickelungslehre begründet? Geben wir E. Haeckel das Wort, dessen Verdienst um den Aus- bau und die Ausbreitung der biologischen Entwickelungslehre ja unbestritten ist, so erfahren wir von ihm folgendes: „Man muss scharf unterscheiden, erstens die Abstammungslehre oder Deszen- denztheorie von Lamarck, welche bloß behauptet, dass alle Tier- und Pflanzenarten von gemeinsamen, einfachsten, spontan entstandenen Urformen abstammen und zweitens die Züchtungslehre oder Selektionstheorie von Darwin, welche uns zeigt, warum diese fortschreitende Umbildung der organischen Gestalten stattfand, welche physiologischen, mechanisch wirkenden Ursachen die ununter- brochene Neubildung und die immer wachsende Mannigfaltigkeit der Tiere und Pflanzen bedingten“ (Natürliche Schöpfungsgeschichte, 10. Aufl., 8. 102). Also scheint es hier klar zu sein, dass Lamarck die Deszen- denztheorie begründet hat und Darwin nachher die treibende Kraft der organischen Entwickelung erkannt hat. Und doch heisst es noch auf derselben Seite, dass „fast die gesamte Biologie vor Darwin den entgegengesetzten Anschauungen huldigte und dass fast bei allen Zoologen nd Botanikern die absolute Selbständigkeit der organıschen Spe zıes als selbstverständliche Voraussetzung eile: Formbetrachtungen galt. Das falsche Dogma von der Bad keit und unabhängigen Erschaffung der einzelnen Arten hatte eine so hohe Autorität und eine so allgemeine (Geltung gewonnen und wurde außerdem durch den trügenden Augenschein bei oberfläch- licher Betrachtung so sehr begünstigt, dass wahrlich kein geringer Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. 5 Grad von Mut, Kraft und Verstand dazu gehörte, sich reformatorisch dagegen zu erheben und das künstlich darauf errichtete Lehrgebäude zu zertrümmern.“ Wer vollbrachte nun diese Heldentat? Darwın. Also ist doch Darwin als der Begründer der Deszendenztheorie zu feiern und sollte unter Darwinismus die Deszendenztheorie oder der biologische Teil der Entwickelungslehre verstanden werden. Nein, doch nicht. Denn auf der folgenden Seite heisst es: „die Entwickelungstheorie als solche ist nicht neu; alle Naturphilosophen, welche sich nicht dem blinden Glauben an das Dogma einer über- natürlichen Schöpfung gebunden überliefern wollten, mussten eine natürliche Entwickelung annehmen. Aber auch die Deszendenz- theorie, als der umfassende biologische Teil der universalen Ent- wickelungslehre, wurde von Lamarck bereits so klar ausge- sprochen und bis zu den wichtigsten Konsequenzen ausgeführt, dass wir ihn als den eigentlichen Begründer derselben verehren müssen. Daher darf nicht die Deszendenztheorie als Darwinismus bezeichnet werden, sondern nur die „Selektionstheorie“ (das. S. 108). Nun sollte es ein fiir allemal feststehen, dass Darwin’s Ver- dienst einzig und alleın in der Begründung der Selektionstheorie liest. Dem widerspricht aber entschieden die soeben angeführte Stelle, wo gesagt wird, die überwiegende Mehrzahl (fast alle) der Zoologen und Botaniker vor Darwin huldigten dem Schöpfungs- dogma. Hat Lamarck die Deszendenztheorie begründet, wozu müsste sie noch einmal von Darwin begründet werden? Und ferner wird doch von Haeckel selbst Darwin’s Verdienst als ein „doppeltes“ bezeichnet: „er hat erstens die von Lamarck und (Goethe aufgestellte Deszendenztheorie in viel umfassenderer Weise als Ganzes behandelt und im Zusammenhang durchgeführt, als es von allen seinen Vorgängern geschehen war. Zweitens aber hat er dieser Abstammungslehre durch seine ihm eigentümliche Züchtungs- lehre (Selektionstheorie) das kausale Fundament gegeben, d. h. er hat die wirkenden Ursachen der Veränderungen nachgewiesen, welche von der Abstammungslehre nur als Tatsachen behauptet wurden“ (S. 116). ; Folglich hat Darwin doch auch ein Verdienst um die Be- sründung der Abstammungslehre. Worin besteht aber dieses Ver- dienst? Schätzen wir die Verdienste beider Männer, Lamarck und Darwin, so wie sie von Haeckel charakterisiert werden, gegeneinander ab, so gelangen wir zu folgendem Vergleich: La- marck hat die Abstammungslehre „klar ausgesprochen und bis zu den wichtigsten Konsequenzen durchgeführt“, Darwin hat sie „in viel umfassenderer Weise als Ganzes behandelt und im Zusammen- hang durchgeführt“. Also so ziemlich gleichlautende Ausdrücke. Aber wie verschieden war doch die Wirkung! Nach Lamarck 6 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. blieben fast alle Zoologen und Botaniker Anhänger des Schöpfungs- dogma, nach Darwin haben sie sich alle der Entwickelungslehre zugewandt! Und trotzdem soll nicht Darwın der Begründer der Abstammungslehre sein, sondern Lamarck! Eine recht sonder- bare Situation. Allein hier erinnern wir uns an den zweiten Punkt. Liegt vielleicht die Ursache des großen Unterschiedes in der Wirkung darın, dass der eine, Lamarck, die Abstammungslehre „nur als Tatsache behauptet“, während der andere, Darwin, auch die Fak- toren der Entwickelung mit berücksichtigte? Wer wird aber be- haupten, dass Lamarck die Frage nach den Ursachen der Ver- änderungen außer acht gelassen hätte? Bei Haeckel selbst finden wir doch wieder Stellen, die diese Behauptung entschieden negieren. Auf S. 102 lesen wir in einer Darstellung der Lehre von Lamarck: „Die Schwimmhäute zwischen den Zehen der Schwimmfüße bei Fröschen und anderen Wassertieren sind lediglich durch das fort- währende Bemühen zu schwimmen, durch das Schlagen der Füße in das Wasser, durch die Schwimmbewegungen selbst entstanden. Durch Vererbung auf die Nachkommen wurden diese Gewohnheiten befestigt und durch weitere Ausbildung derselben die Organe um- gebildet. So richtig im ganzen dieser Grundgedanke ist}), so legt doch Lamarck zu ausschließlich das Gewicht auf die Ge- wohnheit (Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe), allerdings eine der wichtigsten!), aber nicht die einzige Ursache der Formveränderung. Dies kann uns jedoch nicht hindern, anzuer- kennen, dass Lamarck die Wechselwirkung der beiden organischen Bildungstriebe, der Anpassung und Vererbung ganz richtig begriff. Nur fehlte ıhm dabei das äußerst wichtige Prinzip der ‚natürlichen Zuchtwahl im Kampfe ums Dasein‘, welches Darwin erst 50 Jahre später aufstellte.“ Folglich hat Lamarck doch nicht bloß die Abstammung als Tatsache behauptet. Auch er hat den treibenden Kräften der Ver- änderungen nachgespürt und war sogar so glücklich, das Wechsel- spiel der Vererbung und Anpassung zu begreifen und eine der wichtigsten Ursachen der Veränderung aufzufinden. Auch hier stellt sich also wiederum ein gewisser Ausgleich in den Leistungen beider Männer heraus; der eine (Lamarck) hat „eine der wich- tigsten Ursachen“ gefunden (allerdings nicht die einzige), der andere (Darwin) eine „äußerst wichtige“, von der er aber bekamntlich selbst sagte, sie wäre nicht die einzige. Wie ist es schließlich doch zu begreifen, dass Darwin zum Urheber einer so großartigen geistigen Bewegung geworden ist, während Lamarck verkannt und verhöhnt wurde? Und wie steht es nun in Wirklichkeit mit der 1) Von mir gesperrt. Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. i Begründung der Deszendenztheorie? Und was soll Darwinismus heissen ? Ein anderer hervorragender Darwinianer, der Mitbegründer der Selektionstheorie, A. R. Wallace, gibt uns auf diese Fragen eine Antwort, die kaum klarer ist als die Haeckel’sche. Sein 1889 erschienenes Werk betitelt sich „Darwinismus“ und trägt den Unter- titel „Darstellung der Theorie der natürlichen Zuchtwahl“. In seinem Vorwort schreibt er: „ohne die Absicht zu haben, die ge- samte Entwickelungslehre (wohl Deszendenzlehre gemeint. T.) auch nur in den allgemeinen Zügen zu besprechen, möchte ich nur die Selektionstheorie ın einer Art und Weise darstellen, dass jeder gebildete Leser sich einen klaren Begriff vom Werk Darwin’s bilden könnte“ u. s. w. Einige Seiten später heisst es wieder: „indem ich die geschlechtliche Zuchtwahl aufgebe, betone ich um so mehr die Bedeutung der natürlichen Zuchtwahl. Dies ist aber gerade die Darwin’sche Lehre, daher meine ich, dass mein Buch sich die Verteidigung des reinen Darwinismus zur Aufgabe macht.“ Also ist es ausgemacht, Darwin’s Verdienst besteht allein in der Begründung der Selektionstheorie. Wer hat aber die Deszen- denztheorie begründet? Direkte Angaben finden wir bei Wallace nicht, aber indirekt finden wir sie gleich im folgenden dritten Ab- satz des Vorwortes. Es heisst hier wörtlich: , Darwin schrieb für eine Generation, die die Entwickelungslehre nicht anerkannte und mit Verachtung von denjenigen sprach, welche eine Art aus einer anderen auf Grund der Gesetze der allmählichen Veränderung ab- leiteten. Und er tat dies so überzeugend, dass „die Entstehung auf dem Wege allmählicher Veränderung“ jetzt von allen als etwas in der organischen Welt Herrschendes angenommen wird; die neue Generation der Naturforscher kann sich kaum die Neuheit der Idee vorstellen, kann kaum begreifen, warum ihre Väter sie als eine wissenschaftliche Ketzerei betrachteten, die man eher verurteilen muss, als vom wissenschaftlichen Standpunkt aus analysieren.“ Nun hat doch Darwin die Deszendenztheorie begründet und zwar in einer Art und Weise, dass sie gar nicht mehr bezweifelt werden konnte. Denn wie Wallace weiter ausführt, „bezogen sich die gegen die Darwin’sche Theorie gemachten Einwände nicht auf die Tatsache der Veränderung der Arten selbst, sondern auf die Wege, auf welchen diese Veränderung zustande kommt.“ Wallace ist sich wohl dessen bewusst, dass die Vorläufer Dar- win’s mit ihrer Begründung der allgemeinen Deszendenztheorie gar keinen Erfolg gehabt haben; dies geht klar aus seinem treffenden Hinweis hervor, dass Lyell lange Zeit Anhänger der Artkonstanz blieb, obwohl er Lamarck’s Werk kannte und in seinem Buch (bis zur 9. Aufl.) einen Auszug aus Lamarck zum Abdruck brachte. Ja noch mehr, Lyell führte Tatsachen aus der Geologie an, welche 8 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. für die Theorie der fortschreitenden Entwickelung fatal sind. Und erst durch Darwin wurde Lyell „bekehrt“. Also hier wie bei Haeckel, beinahe wörtlich dasselbe fast unbe- greifliche Raisonnement: einerseits hat Darwın die Deszendenz- theorie begründet und der Konstanzlehre den Boden entzogen, anderseits ist doch nur die Selektionstheorie die eigentliche Dar- win’sche Lehre. Ich könnte die Zahl der auf diese Frage bezüglichen Zitate beliebig vermehren. Ich habe nur zwei Autoren herangezogen, weil deren Darlegungen typisch sind und weil ihre Autorität in dieser Frage allgemein anerkannt ist. Aus allen derartigen Äußerungen lässt sich etwa folgender Grundgedanke als Kern herausschälen: Unter Darwinismus muss nur die Selektionstheorie verstanden werden, denn nur die Begründung der Zuchtwahltheorie bildet Darwin’s ureigenstes Verdienst. In der Aufstellung der allge- meinen Deszendenztheorie hatte er Vorläufer (Goethe, Lamarck und viele andere). Doch hatten diese Vorläufer keinen Erfolg bei ihren Zeitgenossen und bis auf Darwin blieben fast alle Zoologen und Botaniker Anhänger des Konstanz- und Schöpfungsdogmas. Erst durch Darwin’s Werk gelangte auch die Deszendenztheorie zu allgemeiner Anerkennung. Es entsteht aber die Frage: warum sind die Bemühungen von Darwın’s Vorläufern so erfolglos ge- blieben, während Darwin dem Deszendenzgedanken bemahe mühelos den Sieg errang? Nun, weil eben alle jene Vorläufer Darwin’s nicht ın der Lage waren, die treibenden Kräfte der von ihnen be- haupteten org ansehen in ickelund, in anschaulicher Weise vor Augen zu führen. Di ist aber Darwin in glänzender Weise lnanem, So sind zu verstehen die Worte Haeckel’s, Darwin habe der Abstammungslehre durch seine ihm eigentümliche Züchtungs- lehre (Slelsklonghenss) das kausale Inner ae gegeben, d.h. de wirkenden Ursachen der Veränderungen nachgewiesen, welche von der Abstammungslehre nur als sehon behaupıeı werden“ (Nat. Sch. 116). Auch Wallace erklärt den Misserfolg der Vorläufer Darwin’s, insbesondere Lamarck’s und der berühmten „Vestiges of the Natural History of Creation“ dadurch, dass sie keinen Ver- such gemacht haben, „die Aufgabe für einzelne Fälle zu lösen, nicht an einzelnen Beispielen gezeigt haben, wie nahestehende Arten einer Gattung sich bilden konnten unter Beibehaltung ihrer unbe- deutenden und anscheinend nutzlosen Differenzen. Dass kein Schlüssel zum Verständnis des Gesetzes gefunden wurde, kraft dessen irgendeine Art einer oder mehreren anderen mit geringen aber Rode anten Differenzen den Urspr ung geben kann“ u. s. w. Seidlitz, der in seiner „Darwin an Theorie (Il. Aufl. 1874) eine lange Liste von 47 Vorgängern Darwin’s aufzählt und die Leistungen der wichtigsten von ihnen ziemlich eingehend würdigt, Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. Q schließt mit folgender Bemerkung: „Alle diese Stimmen aber zu-- gunsten der Veränderlichkeit der Arten, so gewichtig sie auch waren, gewannen nur wenige Anhänger, weil sie den rechten Schlüssel nicht fanden, um auch den Hartnäckigeren die Thore der Wahr- heit zu öffnen.“ „Es ist bemerkenswert, dass ums Jahr 1800 herum in den drei Hauptländern Europas von vier Männern, Goethe, Erasmus Darwın, Lamarck, Treviranus, unabhängig von- einander, derselbe Gedanke als Deszendenztheorie geboren wurde, aber aus Mangel an richtiger Begründung?) nicht zur Geltung kommen konnte, dass ein halbes Jahrhundert später, ums Jahr 1850 herum, wieder mehrere selbständige Transmutationstheorien das Licht der Welt erblickten: ın Deutschland durch Keyserling und Baumgärtner — in Frankreich durch Naudin, in England durch Frecke und Spencer —, die aber ebensowenig lebensfähig sind, weil auch ihnen die weitere Begründung durch mechanische Erklärung fehlt?).“ „Diese brachte erst die 1859 erscheinende neue Theorie, indem sie gerade das bot, was zur Fortdauer notwendig war, nämlich eine Zurückführung der alten Abstammungslehre durch einfache Ver- knüpfung von Wirkung und Ursache, bis auf unantastbare, der Beobachtung und dem Experiment zugängliche Tatsachen. Diese große Geistestat gehört Charles Darwin und gleichzeitig Alfred Wallace an.“ Noch deutlicher wird derselbe Gedanke von dem bekannten russischen Ornithologen Menzbier ausgesprochen. Er schreibt: „Mit einem Worte, Darwin verknüpfte seine Theorie der Ent- wickelung der Arten durch natürliche Zuchtwahl mit der Hypothese der Blutsverwandtschaft der Organismen, der Abstammung der Organismen von einer gemeinsamen Wurzel. Dieser Hypothese war schon Lamarck nahe gekommen; doch gab Lamarck eine so unbefriedigende Erklärung der Entstehung der Arten, dass von einer umfassenden Entwickelung seiner Hypothese niemand hören wollte. Indem er die Frage der Entstehung der Arten bewältigte, zwang Darwin zur Lehre von der allmählichen Entwickelung der organischen Formen oder der sogen. Entwickelungslehre (Deszen- denztheorie) zurückzukehren, welche häufig mit Darwin’s Lehre verwechselt wird, während diese letztere doch nur eine Erläuterung der ersteren ist“ (Einführung in das Studium der Zoologie und Vergleichenden Anatomie, Moskau 1897 (russisch), S. 247/48). Fassen wir zusammen: Sofern sie sich mit dieser historischen Frage beschäftigt, glaubt also die Mehrzahl der gegenwärtigen Anhänger der Entwickelungslehre, dass die ersten Be- grinder derselben (Darwin’s Vorläufer) nur deswegen keinen Erfolg gehabt hätten, weil sie über die treibenden 2) Von mir gesperrt. 10 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. Kräfte und den Verlauf der Artenumwandlung keine rich- tigen Vorstellungen zu entwickeln vermochten, während Darwin, indem er mit seiner Selektionstheorie den rich- tigen Entwickelungsfaktor entdeckte, dadurch (indirekt oder sozusagen nebenher) auch das viel ältere Problem der Deszendenz selbst in völlig befriedigender Weise ge- löst hat. Diese Ansicht entspricht nun ganz und gar nicht der Wirk- lichkeit, was ich ım folgenden zu beweisen mich bemühen werde. Dieser Beweis wird sich sozusagen von selbst ergeben, wenn ich folgende drei Fragen zu beantworten versuche: 1. Ist die Ursache des Misserfolges der Vorläufer Darwin’s richtig erkannt? 2. Ist es möglich, die Richtigkeit der allgemeinen Deszen- denzlehre durch anschauliche Schilderung eines Ent- wickelungsfaktors zu beweisen? 3. Wie kann und muss die Entwickelungslehre überhaupt bewiesen werden? 1: Gehen wir von folgenden Betrachtungen aus. Wenn wir uns ganz allgemein fragen, welche Erscheinungen der Organismen- welt den Gegenstand natur wissenschaftlicher Forschung bilden, so ist es unschwer einzusehen, dass es zwei Gruppen von Problemen gibt, die zusammen den rein wissenschaftlichen Teil der botanischen und zoologischen Disziplinen ausmachen (unter Weglassung der ange- wandten Zoologie und Botanik). Die erste Gruppe der Probleme lässt sich als systematische bezeichnen, indem sie sich haupt- sächlich mit der Wiedererkennung, Beschreibung und Klassifikation der Organismen beschäftigt, die andere Gruppe der Probleme kann als die physikalische bezeichnet werden, indem sie sich mit den Lebensvorgängen der Organismen, ihrer Wechselbeziehung und ihrer /urückführung auf natürliche Ursachen beschäftigt. Ich kann es mir nicht versagen, diese Einteilung der Probleme durch die Worte eines Klassikers der Botanik zu begründen, deren nachträgliche Auffindung mich außerordentlich erfreute. A. Pyr. De Candolle sagt in seiner „Theorie élémentaire de la Botanique* (1813)*) über die Einteilung der Botanik: 1. „Die Pflanzen müssen zuerst von dem Naturforscher als Wesen betrachtet werden, deren eins von dem andern verschieden ist, die man erkennen, beschreiben und in Klassen ordnen soll. Eine Zeitlang wurde unter dem Worte Botanik nichts anderes als dieser Teil derselben verstanden und irrigerweise verlangte man ehemals von einem Botaniker nur diese Kenntnisse.“ (Dieser Teil der Botanik zerfällt nach De Candolle in die Glossologie, die Taxonomie und die Phytographie.) 3) Ich zitiere nach der deutschen Übersetzung von Römer. Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. il 2. „Überdies kann der Naturforscher die Pflanzen auch noch als lebende und organische Wesen zum Gegenstande seines Studiums machen. Man gibt diesem Studium den Namen Physik der Ge- wächse oder der organıschen Botanik.“ (Dieser Teil umfasst die Organographie, die Physiologie, die Pathologie und die Pflanzen- geographie (wohl die ökologische m unserem heutigen Sinne, nicht die floristische, denn De Candolle fügt hinzu: „Die Untersuchung der physischen Ursachen, welche in Verbindung mit der besonderen Natur der Pflanzen jeder derselben gebieten, an einem bestimmten Orte zu leben.“ Den dritten angewandten Teil kann ich hier füg- lich übergehen). (Wenn man bedenkt, dass diese Worte kaum 35 Jahre nach Linn &’s Tode ausgesprochen wurden, so muss man erstaunen über die klare Erfassung und richtige Einteilung des Arbeitsprogramms, über den ganz modernen Geist, von welchem diese Betrachtung getragen wird.) Diese beiden Forschungszweige unterscheiden sich sehr von- einander, und zwar nicht nur durch ıhren Inhalt, sondern auch durch die Methode: der eine hat es mit einer Vielheit von Dingen zu tun, die er zu registrieren und auf einer höheren Stufe der Er- kenntnis zu erklären hat. Bei diesem Erklären handelt es sich für ıhn lediglich um Probleme der Verteilung der Dinge: Verteilung der Organismen auf Gruppen nach dem Grade der Ähnlichkeit (Systematik), Verteilung der Formen im Raume (Faunistik und Floristik, also nicht-ökologische Zoo- und Phytogeographie), Ver- teilung der Organismen in der Zeit (Paläontologie). Die Methode dieses Forschungszweiges bleibt einzig und allein die vergleichende. Wir wollen der Kürze halber ım weiteren diesen ganzen Zweig der biologischen Forschung als das Verteilungsproblem oder die Biotaxie (nach Comte?) bezeichnen. Der zweite Forschungszweig hat es mit Zuständen und Vor- gängen zu tun, welche am Einzelwesen zur Beobachtung gelangen und deren gegenseitige Beziehungen, sowie die Beziehungen beider: zur Außenwelt sich dem Forscher schon auf einer frühen Stufe der Erkenntnis aufdringen. Morphologie und Histologie, Embryo- logie, Physiologie und Okologie sind die allgemein gebräuchlichen Bezeichnungen der hierher gehörenden Einzeldisziplinen. Da es sich hier um Beziehungen handelt, so wird hier die experimen- telle Methode unentbehrlich, da bei der Mannigfaltigkeit der Ein- wirkungen und Äußerungen das Herausheben der einzelnen Faktoren nur durch das Experiment ermöglicht wird. Wir wollen diesen gesamten Zweig der biologischen Forschung als das Beziehungs- problem oder die Biophysik bezeichnen. Würde auf der Erde nur eine einzige Pflanzenart existieren, die die ganze Erdoberfläche gleichmäßig bedeckte und auch die einzige fossil bekannte Pflanzenart bildete, dann gäbe es ın der 12 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. Botamk kein Verteilungsproblem. Das Beziehungsproblem würde aber ın vollem Umfange bestehen bleiben. Anderseits würde das Beziehungsproblem völlig ausgeschaltet sein, wenn wir von den Pflanzen nur fossile Abdrücke, von der Tierwelt etwa nur fossile Ammoniten, Belemniten, Triobiten und Korallen vor uns hätten. Aber das Verteilungsproblem würde ın vollem Umfange bestehen bleiben, denn auch dann gäbe es eine Verteilung in Zeit und Raum und ein System der Pflanzen und Tiere. Freilich gibt es Punkte, in denen die beiden Probleme ineinander zu greifen scheinen, doch wird dadurch die logische Grundlage der hier durchgeführten Einteilung nicht berührt. Wenn nämlich eine auf der Höhe ihrer Aufgabe stehende Systematik auch den inneren Bau der Tiere und Pflanzen mit berücksichtigt, so gewinnt es den Anschein, als ob sie ‚hier in das Gebiet des Beziehungsproblems hineingriffe. Dem ist aber nicht so, denn worauf es der Systematik ankommt, ıst doch nur eine genaue Vergleichung der Zustände zweier Wesen zum Zweck ihrer richtigen Einordnung in das System. Während der andere Forschungszweig jeden Zustand nur in Ver- bindung mit einem Vorgang und beide nur in ihrem gegenseitigen dynamischen Zusammenhang zu erfassen sucht, nimmt die Syste- matik den Zustand als etwas Fertiges, Gegebenes, Statisches. Ja in gewissem Sinne ist die Stabilität der gegebenen Zustände eine not- wendige Voraussetzung für die Bearbeitung des Verteilungsproblems und wollte man dem Heraklitischen Ausspruch „alles fließt“ eine mehr als figürliche Bedeutung beimessen, so wäre jede systematische Arbeit längst zur Unmöglichkeit geworden. Und andererseits ist es auf dem Gebiete der physikalischen Biologie, oder im Bereiche des Beziehungsproblems ein öffentliches Geheimnis, dass die von der Systematik postulierte Stabilität ein nur aus Höflichkeit gedul- detes Vorurteil, ein längst der Geschichte überliefertes Phantom ist. Ebensowenig wird diese Einteilung etwa dadurch entkräftet, dass die Systematik sich der Embryologie zur Feststellung der „Verwandtschaft“ bedient. Denn wenn uns die Beachtung der Ent- wickelung von festsitzenden oder parasitischen Krebsen ihre Ein- ordnung in das System erleichtert, so ist es doch nicht der Entwicke- lungsvorgang an sich und die in ihm sich offenbarenden Beziehungen, die den Systematiker interessieren, sondern eine Verschiebung der Vergleichung zweier Wesen auf eine solche Altersstufe, auf welcher die Ähnlichkeit noch unverkennbar und somit für den systematischen /weck verwendbar erscheint. Für den Biophysiker gewinnt die Cypris-Larve einer Entenmuschel ein besonderes Interesse mit dem Moment, wo sie sich an ein Stück schwimmenden Holzes an- klebt und die eigentümliche rückschreitende Metamorphose zu durchlaufen beginnt, die zur Ausbildung der definitiven Gestalt der festsitzenden „Entenmuschel“ führen. Eine große Zahl der wich- Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. 13 tigsten Probleme fesseln hier das Interesse des Biophysikers. Es gilt den Einfluss der inneren und äußeren Faktoren auf diesen eigentümlichen Entwickelungsvorgang klarzulegen, zu zeigen, welche äußere Einwirkungen die schlummernden Kräfte der Vererbung wachrufen, und wie sich der normale Verlauf der Entwickelung modifizieren lässt u. s. w. Der Systematiker hat für dieses Ent- wickelungsstadium kein Interesse; für ihn ist die Sache erledigt, wenn er durch Beobachtung des Naupkus zur Überzeugung gelangt: die Entenmuschel gehört nicht zu den Muscheln (wie es bei Cuvier noch in der Il. Aufl. des Tierreiches 1830 steht} und nicht zu einer besonderen Klasse neben den Krebsen (wie es bei Milne Edwards 1834 heisst), sondern sie ist em wirklicher Krebs! Ich will ausdrücklich betonen, dass ich hier nicht etwa ein neues „System der biologischen Disziplinen“ aufzustellen oder ein altes aufzufrischen versuche, ich versuche nur die zwei wichtigsten Richtungen abzugrenzen, nach welchen sich die Denkarbeit des Naturforschers in jeder biologischen Disziplin bewegen kann und die bei praktischer Betätigung fortwährend verschmelzen. Eine und dieselbe Disziplin kann gleichzeitig für beide Richtungen des Denkens den Stoff liefern, wie dies eben am Beispiel der Embryo- logie gezeigt worden ist und darin weichen wir von der De Can- dolle’schen Auffassung ab. ‘Ebenso gehört die Biogeographie zum Teil der Biotaxie, zum Teil der Biophysik an. Selbst die Anatomie und in einem geringeren Grade die Physiologie lassen sıch, trotz ihrem vorwiegend biophysischen Charakter, für die Biotaxie ver- werten. (Vgl. z. B. die neueren Bestätigungen der Systematik durch die hämolithischen Reaktionen — Friedenthal, Nuttalu. A.) Die Paläontologie findet hauptsächlich für die Biotaxie Verwertung; doch findet auch hier die biophysikalische Behandlung eine An- wendung, wenn wir z. B. aus der fossilen Flora und Fauna Schluss- folgerungen auf das Klima der geologischen Vergangenheit ziehen oder wenn wir (mt Potonié) den Wechsel in der Verzweigungs- weise der Pflanzen seit der paläozoischen Ära auf mechanische Momente zurückzuführen suchen. Endlich mag noch auf das für unseren Zweck wichtige Beispiel der Morphologie hingewiesen werden. Dass Morphologie nicht einfach eine Beschreibung der Formen bedeutet, ist bereits allgemein bekannt. Die Morphologie als Lehre von der Gestaltung der Lebewesen hat aber einen doppelten Sinn. Einerseits ist es das Erfassen der Einheit in der Mannig- faltigkeit, des ewigen Grundplanes in dem Wechsel der äußeren Erscheinung. Mit dieser Seite dient die Morphologie dem Ver- teilungsproblem oder der Biotaxie. Andererseits ist aber die Ge- staltung der Lebewesen eben eine Lebensäußerung und als solche eines der vornehmsten Probleme der Biophysik. Aber auch eines der schwierigsten: gehört doch diese Fassung des morphologischen 14 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. Problems und die aus ıhr sich ergebende experimentelle Inangriff- nahme erst der jüngsten Phase der Forschung an, während das Studium des Stoff- und Kraftwechsels auf eine mehr als hundert- jährige Vergangenheit zurückblicken kann. 100L Es soll nun untersucht werden, ın welchem Verhältnis diese beiden Zweige der biologischen Forschung zum Deszendenzproblem stehen, oder richtiger gesagt, stehen sollten, denn es handelt sich zunächst nicht um die Frage, wie sich dieses Verhältnis ım wirklichen Gang der wiıssenschaftlichen Entwickelung gestaltet hat, sondern darum, wie es sich von rein logischem Standpunkt aus gestaltet. Biotaxie. Das Verteilungsproblem muss nach drei Richtungen durch- gearbeitet werden. Erstens gibt es eine Verteilung in Gruppen nach dem Grade der Ähnlichkeit oder eine systematische Anordnung der Einzelwesen, zweitens ıst eine Verteilung ım Raum zu kon- statieren und endlich eine Verteilung ın der Zeit. Bei einer solchen Bearbeitung ergibt sich, dass auf allen diesen Gebieten ein wissen- schaftliches Begreifen der tatsächlich vorliegenden Verteilung nur unter der Voraussetzung der Deszendenz möglich ist, oder anders ausgedrückt, nur die Deszendenz erklärt die sonst rätselhaften Er- scheinungen der Verteilung der Lebewesen. 1. Klassifikation. Der erste Anstoß zum Studium der Lebewesen wird meist praktischer Natur gewesen sein, die erste Stufe der Forschungsarbeit wird im Sammeln von Tatsachen bestehen. Aber schon bei der ersten Zusammenstellung des über Tiere oder Pflanzen bekannt gewordenen Tatsachenmaterials wird sich das Bedürfnis nach einem Einteilungsprinzip geltend machen. Immer wird der Forscher zunächst bestrebt sein, dasjenige Moment in den Vordergrund zu stellen, welches ıhn bei der Untersuchung des Materials besonders leitete. Und dies werden in erster Linie Rücksichten auf Nutzen und Schaden, auf Heilwirkung, Giftigkeit, Essbarkeit etc. sein. Konrad Gessner’s Vogelbuch trägt folgenden Untertitel: „Allen Künstlern, als Ärzten, Goldtschmidten, Reissern, 3ıldhauern, Seidenstickern, Weydleuten und Köchen sowohl nütz- lich als nötig.“ Zum Zwecke der raschen Wiedererkennung der einen oder anderen Pflanze, was für ihren Gebrauch ja eine not- wendige Voraussetzung bildet, wird eine immer präzisere Beschrei- bung derselben angestrebt und, wenn die Zahl der beschriebenen Formen stark gewachsen ist, auch eine Ordnung der Objekte nach leicht kenntlichen Merkmalen. Doch bildet sich nach und nach ein immer objektiveres Interesse für die behandelten Gegenstände aus, die objektiv festgestellte Tatsache, dass die Organismen unter- einander in verschiedenem Grade ähnlich sind, wird an und für Tsehulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. AS sich zum Gegenstand der Behandlung. Hier tritt erst das Inter- esse für eine wissenschaftlich betriebene Systematik in den Vorder- grund, erst hier erhält das Verteilungsproblem eine wissenschaftliche Fassung. Von da ab wird neben den bestehen bleibenden prak- tischen Rücksichten die von reinem Streben nach Erkenntnis ge- tragene Bearbeitung eines natürlichen Systems beginnen, d. h. eines Systems, in welchem die einzelnen Formen um so näher beieinander stehen, je größer ihre Ähnlichkeit ist, oder wie der Ausdruck nun- mehr lautet, je näher sie miteinander verwandt sind. ‚Bei einer solchen Bearbeitung des Systems der Lebewesen wird sich sehr bald herausstellen, dass die Gruppen, in welche sich die Lebewesen bringen lassen, eine Über- und Unterordnung aufweisen. Die Zusammenstellung vieler zur Beobachtung gelangenden Einzel- wesen zu einer Art durch Abstraktion von ihren individuellen Be- sonderheiten ist eine bereits in der vorwissenschaftlichen Epoche vollzogene Geistesoperation, deren Produkt, der Begriff der Art, von der Wissenschaft als gegeben aufgenommen wird. Schon auf frühester Stufe der systematischen Behandlung der Lebewesen spricht der Beschreiber von einer neuen „Art“ oder einem „neuen Ge- schlecht“ auch dann, wenn ıhm von diesen nur ein einziges Indi- viduum vorliegt. Es ist also gleichzeitig die Auffassung des Gemein- samen innerhalb der Art, wie des Abweichenden unter verschiedenen Arten, was zur Zusammenstellung und Trennung herausfordert. — Diese Arbeit der Sonderung und Zusammenstellung bleibt aber nicht bei den Arten stehen. Bald wird die Abstraktion auch etwas weiter gehen und das Gemeinsame mehrerer Arten zur Bildung einer höheren Einheit des Systems benutzen und zugleich diese höheren Gruppen mit irgendeiner Bezeichnung versehen und durch ihre unterscheidenden Merkmale auseinanderhalten. So wird der Forscher allmählich einsehen lernen, dass es ım System über- und untergeordnete Gruppen gibt, und es ist lehrreich zu sehen, wie die empirische Erfassung der immer weiteren Gruppen erst schrittweise erfolgt, da die Feststellung der gemeinsamen Züge der immer größeren Kreise, Familien, Ordnungen, Klassen, eine tiefere Kenntnis der Gestaltung und eine größere Gewandtheit im Abstrahieren erfordert. So führt Sachs ın seiner „Geschichte der Botanık* Seite 125 aus: „Es ıst nicht uninteressant, hier zu beachten, wie Kaspar Bauhin zuerst die Spezies zwar mit Diagnosen versah, die Gat- tungen benannte, aber nicht charakterisierte, wie dann Tournefort die Gattungen mit Merkmalen umgrenzte, wie Linné nun zunächst die Gattungen gruppierte und die Gruppen einfach benannte, ohne sie durch Merkmale zu charakterisieren und wie nun endlich An- toine Laurent de Jussieu zu den der Hauptsache nach erkannten Familien die charakteristischen Diagnosen hinzufügte. So lernte 16 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. man nach und nach aus ähnlichen Formen die gemeinsamen Merk- male abstrahieren und immer größer wurden die Formenkreise, deren gemeinschaftliche Merkmale herauszuheben gelang, es vollzog sich so ein induktiver Prozess, vom einzelnen zum allgemeineren fortschreitend. “ Das Ergebnis der systematischen Bestrebungen und der empiri- schen Bearbeitung ist nun derart, dass es sich von einer rationali- sierenden Systematik nicht hatte voraussagen lassen, nämlich eine „natürliche Unterordnung aller organischen Wesen in Gruppen unter Gruppen, die uns freilich nicht immer aufzufallen pflegt, da wir daran gewöhnt sind“ (Darwin). In der Tat, jedes Einzelwesen, das wir betrachten, ist Träger vieler Eigenschaften; von diesen sind einige ihm allein und nur ihm eigen, das sind die individu- ellen Merkmale, andere aber teilt er mit vielen anderen Indi- viduen, das sind die spezifischen oder Artmerkmale; eine weitere Gruppe von Merkmalen kommt ihm gemeinsam mit einer noch vıel größeren Zahl von Einzelwesen zu, die sogar zu ver- schiedenen Arten gehören, dassind die generischen oder Gattungs- merkmale, dann kommen die Familienmerkmale, die Merkmale der Ordnung, der Klasse, des Typus, schließlich des betreffen- den Reiches (Tier oder Pflanze). Ist diese Tatsache festgestellt, so fordert sie eine Erklärung, und die einzige mögliche Erklärung kann eine solche sein, die auf.dıe Entstehung Bezug nımmt. Denn ganz allgemein ist ein Verteilungsproblem dann gelöst, wenn es gelungen ist, die gegebene vorliegende Verteilung, als die notwendige Folge eines vorangehenden Zustandes der Dinge nachzuweisen. Hier sind nun zweı Annahmen möglich: entweder diese Ver- teilung ist em Werk des Zufalls, oder es ist der Ausdruck einer (resetzmäßigkeit. Der Zufall ist kein naturwissenschaftliches Er- klärungsprinzip, es muss nach einer Gesetzmäßigkeit gesucht werden. Diese Gesetzmäßigkeit ın der natürlichen Unterordnung der Orga- nismen in Gruppen unter Gruppen muss als die Äußerung einer in ihnen selbst liegenden Eigenschaft betrachtet werden und diese kann nur die wirkliche Blutsverwandtschaft sein. Nur bei genea- logischer Verteilung mit steigender Divergenz lässt sich eine solche immer allgemeiner werdende Übereinstimmung, eine nach oben all- mählich ausklingende Ähnlichkeit begreifen. Die Bemühungen der Naturforscher, ein möglichst natürliches System aufzubauen, führten ferner zu einem anderen Problem, welches seine Lösung einzig und allen im Deszendenzgedanken finden konnte. Es war dies, was Sachs treffend „die Diskordanz zwischen den morphologischen und physiologischen Merkmalen“ nannte. Der Zweck eines natürlichen Systems ist zunächst der, die Pflanzen oder Tiere so zusammenzustellen, dass diejenigen, welche sich im der Natur am nächsten sind, auch im System am nächsten Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. 17 beieinander stehen. Dieser Zweck wird erreicht, wenn man beı der Einteilung der Lebewesen die Gesamtheit der Merkmale berück- sichtigt, wodurch sich ja das natürliche System gegenüber dem künstlichen charakterisiert. Dabei wird sich aber bald herausstellen, dass nicht alle Merkmale denselben klassifikatorischen Wert haben und die Erkenntnis des natürlichen Systems schreitet, wie A. P. de Candolle sich ausdrückt, von im Dunkeln Umhergreifen (du tatonnement) durch die allgemeine Vergleichung (com- paraison generale) zur Unterordnung der Kennzeichen (sub- ordination des caractéres). Es wird entdeckt, „dass nicht alle Organe, und nicht alle Gesichtspunkte, aus denen man sie betrachten kann, einen gleichen Grad von Wichtigkeit und Dauerhaftigkeit haben; dass einige gleichsam über die anderen zu herrschen scheinen, so dass, wenn man seine Klasseneinteilung zuerst auf diese vor- herrschenden Organe begründet und die der Abteilungen des zweiten Ranges auch von den minder interessanten Organen hernimmt, man dadurch auf die möglichst richtige Nachahmung derjenigen Ordnung, welche die Natur beobachtet, geleitet wird“ (De Can- dolle, Théorie élémentaire p. 91). Nun sollte man meinen, dass unter den „minder interessanten“ Merkmalen sich diejenigen be- finden, welche auch für die Existenz des Lebewesens belanglos sind und umgekehrt diejenigen Merkmale für die Klassifikation in erster Linie ın Betracht kommen, die mit den wichtigsten Lebensprozessen zusammenhängen. In Wirklichkeit verhält es sich gerade umge- kehrt. Sage ich jemandem, die Narzisse hat parallelnervige Blätter, einen unterständigen dreifächerigen Fruchtknoten, ein Perigon von 3+ 3 Blättern, 3-+ 3 Staubgefäße in einer radıalsymmetrischen Blüte, so kann er mit größter Wahrscheinlichkeit vermuten, dass die nächsten Verwandten der Narzisse unter den Schneeglöckchen zu suchen sind, dass als etwas entfernte Verwandte die Lilien auf- zufassen sind, in einem noch geringeren Grade die Orchideen, dann die Gräser und Palmen. Kurz, die Stellung der Narzisse im System ıst durch die obigen kurzen Angaben genau gekennzeichnet. Sage ich aber von der Sommerwurz nur, dass sie ein des Blattgrüns entbehrender Schmarotzer sei, der sich an die Wurzeln anderer Pflanzen ansaugt, so wird es niemanden einfallen, die nächsten Verwandten dieser Art unter den Löwenmaul- und Leimkrautarten zu suchen, etwas entferntere Verwandte ın den Nachtschatten- gewächsen zu erblicken, noch entferntere unter den Lippenblütlern u. Ss. w. Und doch ist das Vorhandensein oder der Mangel des Blattgrüns für das Leben der betreffenden Pflanzenart unter ihren natürlichen Bedingungen viel wichtiger, als die Zahl der Fächer in Fruchtknoten. Hätte die Narzisse statt ıhres unterständigen Frucht- knotens einen oberständigen und statt der 3 + 3 nur 2 + 2 Staub- gefäße, so könnte sie ebenso gut gedeihen, hätte aber die Sommer- XXVIII. 2 1S Viehmeyer, Zur Koloniegründung der parasitischen Ameisen. wurz nicht die Fähigkeit, an der Berührungsstelle mit den Wurzeln der Wirtspflanze Saugscheiben zu bilden, so könnte sie keinen Tag leben. Sobald die Botanıker angefangen haben, sich mit der theo- retischen Begründung derjenigen Regeln, die sie beim Aufsuchen der Verwandtschaften befolgen, zu beschäftigen, mussten sie auf diese anscheinend ganz ungereimte Regel aufmerksam werden. Und wie die theoretisierende Systematik sich zunächst genötigt sah, die Heilkräfte, die Genießbarkeit und andere für der Menschen nütz- liche Eigenschaften der Pflanzen von den Kriterien der Verwandt- schaft auszuschließen, da sie „als bloße Akzidentien“, das Wesen der Pflanzen und ihrer Verwandtschaft nicht berühren (Caesalpin), so sah sich die Theorie des Systems auf einer höheren Entwicke- lungsstufe veranlasst, selbst diejenigen Merkmale aufzugeben, die für die Pflanze selbst von höchstem Nutzen sind; die indifferenten morphologischen Merkmale erlangten dagegen die größte Bedeutung für die natürliche Klassifikation. Diese Diskordanz zwischen dem Nutzen eines Merkmales und seinem klassifikatorischen Wert, ein Ergebnis rein vergleichender Forschung, vermochte nur die Deszen- denztheorie zu erklären. (Fortsetzung folgt.) Zur Koloniegründung der parasitischen Ameisen. Von H. Viehmeyer, Dresden. Erst seit kurzem wissen wir mit Sicherheit, dass die befruchteten Weibchen der verschiedenen Ameisenarten bei der Gründung ihrer Kolonien nicht immer nach demselben Schema verfahren, sondern dass sie in dieser Beziehung stark voneinander abweichen. Wir können alle hierbei in Frage kommenden Erscheinungen in zwei Gruppen bringen, je nachdem die Weibchen in der Lage sind, ihre Jungen vollkommen selbständig großzuziehen oder aber in der Er- ziehung ihrer ersten Nachkommenschaft auf fremde Hilfe angewiesen sind. Die erste Art, die verbreitetste und sicher auch ursprüng- liche, ıst durch eine Reihe von Beobachtungen und Versuche für eine ganze Anzahl von Ameisenarten sicher verbürgt. Sie stellt an die Gründerinnen der Kolonien gewaltige Anforderungen; denn die Weibchen müssen ihre Brut, ohne selber Nahrung zu sich zu nehmen, mit Sekreten ihrer Speicheldrüsen und den Säften ihrer eigenen Eier und Larven, also ganz auf Kosten ihres Körpers ernähren. Sie sind daher alle relativ groß, und ihr Körper enthält besonders im Abdomen reiche Fettmassen. Die Resorption dieser sowie der unnötig gewordenen Flügelmuskulatur scheint tatsächlich die ein- zige Nahrungsquelle dieser jungen Mütter zu bilden, wenigstens bis zu dem Augenblicke, wo die erste kleine Arbeitergeneration die Sorge für die Ernährung der Kolonie übernimmt. Viehmeyer, Zur Koloniegründung der parasitischen Ameisen. 19 Wie lange ein solches Weib imstande ist, ohne jede Nahrung zu leben, dafür nur ein Beispiel. Am 27. Juni 1906 beobachtete ich den Hochzeitsflug von Camp. ligniperdus Ltr.‘). Ein Weibchen, das sich der Flügel schon entledigt hatte, wurde separiert und zog, nachdem die erste Brut durch Austrocknung des Nestes umge- kommen war, eine zweite auf und. brachte bis Ende März 1907 drei Larven zur Einbettung, die aber leider nach 8 Tagen wieder aufgefressen wurden. Das Weibchen, welches nur Wasser erhielt, legte wieder einige Eier, die es aber ganz vernachlässigte. Es lebt noch heute (28. X. 1907) und ist über 1!/, Jahre ohne jede Nah- rung. Da sein Aufenthalt von Anfang an ein kleines Gipsnest war, so ist es auch vollkommen ausgeschlossen, dass es etwa durch Auslaugung der umgebenden Erde geringe Nahrungsmengen erhalten konnte. Das Wasser war das hiesige Leitungswasser, das von organischen Substanzen so gut wie frei ist. Wenn die Weibchen der pilzzüchtenden Attini im ihrer In- frabukkaltasche ein wenig Pilzmasse aus dem heimatlichen Neste mit auf den Hochzeitsflug nehmen und in der selbstgegrabenen, kleinen Nesthöhle mittels zerdrückter Eier und ıhrer Exkremente daraus die Anfänge eines Pilzgartens züchten, so brauchen wir diese Art der Koloniegründung wohl nicht als eine besondere anzusehen, sondern können sie als eine Unterart der ersten Hauptgruppe auf- fassen. | Innerhalb der zweiten Gruppe müssen wir zwei Unterabteilungen machen, je nachdem die Weibchen zur Aufzucht ihrer Jungen Ar- beiter der eigenen oder einer fremden Art verwenden. Die zu der ersten Unterabteilung gehörenden Arten zeichnen sich durch die Neigung zur Bildung von Zweigkolonien aus. Da- durch, dass die Arbeiter dieser Kolonien eine verhältnismäßig große Bodenfläche, die durch belebte Ameisenstraßen ın den verschiedensten Richtungen durchkreuzt wird, ständig durchstreifen, wird es ihnen möglich, einige der beim Hochzeitsfluge in der Nähe des heimat- 1) Es war nach langer Regenzeit der erste warme Sommertag. Eine ungeheure Menge von Geschlechtstieren erfüllte die Luft. Eine Schwarmbildung wurde aber nicht beobachtet. Die Weibchen flogen einzeln, etwa mannshoch über dem Erd- boden, in kreisenden Bahnen und fielen nach kurzem, schwerfälligem Fluge wieder zur Erde. Hier erkletterten sie Grashalme, um sich von dort aus wieder in die Luft zu erheben. Über eine Stunde weit ging ich ständig unter den schwärmenden Tieren, und als die Dunkelheit anbrach, war die Landstraße buchstäblich mit Hun- derten von Weibchen bedeckt, die nur zum kleineren Teile die Flügel abgeworfen hatten. Die Männchen waren in außerordentlich geringer Zahl vorhanden. Die mitgenommenen befruchteten Weibchen legten mehrere Tage später die ersten Eier, eins aber erst nach einigen Wochen. Auch in der freien Natur scheint die Eiablage der Camponotus-Weibchen nicht immer sofort nach dem Hochzeitsfluge zu geschehen, denn im März fand ich neben Kolonien mit Puppen sowohl solche mit schon aus- geschlüpften Arbeitern, als auch solche, deren Larven nicht einmal halb erwachsen waren. Dx* 20 Viehmeyer, Zur Koloniegründung der parasitischen Ameisen. lichen Nestes zur Erde fallenden befruchteten Weibchen aufzugreifen und in das Hauptnest oder eine der Zweigniederlassungen zurück- zuführen. Wenn bei solchen Arten, wie beobachtet worden ist, die Kopula gelegentlich in oder auf dem Neste stattfindet, so ist der Vorgang noch einfacher; die Weibchen brauchen nur in der alten Kolonie zurückgehalten zu werden. Diese neu aufgenommenen Weibchen garantieren der Ameisengesellschaft nicht nur eine weit über das Lebensalter einer Königin hinausgehende Dauer, sondern können auch als Königinnen eines Zweignestes Selbständigkeit er- langen (Koloniegründung durch Abspaltung). Die Gewohnheit verschiedener Arten, neue Kolonien durch Abspaltung zu bilden, blieb aber nicht ohne Einfluss auf die Königinnen dieser Ameisen- gesellschaften. Alle die Momente, die sie zur selbständigen Kolonie- gründung befähigten, wie Körpergröße, Nahrungsreserven u. s. w., wurden überflüssig und verschwanden mehr und mehr, und an die Stelle der mit einer selbständigen Koloniegründung verbundenen Instinkte trat die Neigung, zum elterlichen Neste zurückzukehren. Wenn nun solche befruchteten Weibchen beim Hochzeitsfluge so weit von ihrem Neste verschlagen werden, dass sie dahin nicht zurückkehren können, so lässt sie die Unfähigkeit, ihre Brut selbst aufziehen zu können, Aufnahme in fremden Nestern suchen, sei es bei der eigenen oder einer verwandten Rasse. Hier werden sie verhältnismäßig leicht angenommen, wohl weil bei diesen die gleiche Gewohnheit, die jungen Königinnen der Kolonie zu adoptieren herrscht und diese Neigung leicht auf befruchtete Weibchen der nahe verwandten Rasse übertragen wird. Zur zweiten Unterabteilung gehören die sogen. parasitischen Ameisen?), gleichviel ob sie nur vorübergehend oder dauernd parasitär sind. Die Weibchen der ersteren, die sich oft schon durch ihre rela- tive Kleinheit als unfähig dokumentieren, ihre Kolonien selbständig zu gründen, suchen ın königinnenlosen Nestern oder bei versprengten Arbeiterhaufen verwandter Arten Aufnahme zu erringen und über- lassen den fremden Arbeitern ihre Eier zur Erziehung. Nach 3—4 Jahren sind die Ammen der Königinnenbrut gestorben, und die Kolonie geht aus dem Stadium des vorübergehenden sozialen Parasitismus zur Selbständigkeit über °). i 2) Ich verstehe unter parasitischen Ameisen alle diejenigen Arten, die entweder vorübergehend oder ständig in gemischten Kolonien leben. 3) Eine ganz sonderbare Koloniegründung beobachtete Santschi kürzlich bei Bothriomyrmex atlantis For. Das Weibchen dieser zu den Dolichoderini gehörenden Art dringt in Nester von Zapinoma erraticum var. nigerrimum Nyl. ein. Hier wird es von den Arbeitern mit Misshandlungen empfangen. Es befreit sich durch liebkosende Berührungen mit den Fühlern und sucht sich der Königin zu nähern, erklettert ihren Rücken und versucht sie zu töten. Tagelang bleibt es hier, und Viehmeyer, Zur Koloniegründung der parasitischen Ameisen. oy Die dauernd parasitischen Arten grinden ihre Kolonien wieder auf recht verschiedene Weise. Die eigentlichen Sklavenkolonien*) glaubte man bisher wie die temporär parasitischen auf die Adoption ihrer Weibchen durch Arbeiter verwandter Arten zurückführen zu können. Durch fortgesetzte Raubzüge der Herrenart in die Kolonien ihrer Ammen wird die Zahl der Hilfsameisen ständig erhalten und vermehrt. Wie wir später aber sehen werden, trifft diese Annahme nur für einen Teil der sklavenhaltenden Arten zu; die übrigen gründen ihre Kolonien von vornherein durch Raub von Arbeiterpuppen, aus denen sie sich die zur Erziehung ihrer ersten Brut notwendigen Hilfsameisen vollkommen selbständig erziehen. Andere parasitische Arten, die durch ihre Lebensweise schon so weit degeneriert sind, dass sie ihre Hilfsarbeiter nicht mehr rauben können, gründen ihre Kolonien jedenfalls durch Allıanz ihrer Weibchen mit Königinnen ihrer Hilfsameisen. Diese letzteren erziehen nicht nur die Brut der dazu unfähigen Parasiten, sondern sorgen auch für fortgesetzte Produktion von Hilfsarbeitern. Die in diesen Kolonien überflüssig werdende Arbeiterkaste der Parasiten lässt durch ihre im Verhältnis zu den Geschlechtstieren außer- ordentlich geringe Zahl ihrer Angehörigen erkennen, dass sie im Aussterben begriffen ist. Über die Koloniegründung der auf der tiefsten Degenerations- stufe angelangten arbeiterlosen Ameisenarten wissen wir bis jetzt nur durch Santschi’s Beobachtungen an Wheeleria Santschii For. sicheres. Das Weibchen dieser in Tunesien lebenden Ameise dringt in ein Nest von Monomorium Salomonis L. ein und erreicht hier schließlich vollkommene Aufnahme. Merkwürdigerweise töten hierauf die Monomorium- Arbeiterinnen ihre eigene Mutter, um ledig- lich die Brut der parasitischen Königin aufzuziehen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass bei unseren Anergates die Verhältnisse ebenso liegen; wenigstens ist in den mit Tetramorium gemischten Kolonien bis jetzt weder eine Königin noch die Brut der Wirtsart aufge- funden. Es ist aber ebensowohl möglich, dass die befruchteten Weibchen der Parasiten von weisellosen Kolonien der Rasenameisen adoptiert werden. Mag nun das eine oder das andere der Fall sein, jedenfalls ist derartigen Kolonien eine recht begrenzte Lebens- muss es infolge der heftigen Abwehr der Tapinoma-Königin diesen Platz verlassen, so gesellt es sich zu dem Eierhaufen der Kolonie. So lange es sich in engster Gemeinschaft mit der Königin oder der Tapinoma-Brut befindet, wird es von den Arbeitern nicht belästigt. Auch nach dem Tode der Königin bleibt es hier noch, bis die Misshandlungen immer schwächer werden und endlich mit der vollkommenen Adoption ihr Ende erreichen. 4) Ich meine damit diejenigen Arten, welche Raubzüge in die Nester ihrer Hilfsameisen unternehmen, hier Puppen rauben und aus diesen Sklaven oder Hilfs- arbeiter erziehen. 22 Viehmeyer, Zur Koloniegründung der parasitischen Ameisen. dauer beschieden, da sie mit dem Aussterben der Wirtsarbeiterinnen erlöschen müssen. Überblicken wir noch einmal die verschiedenen Arten der Koloniegründung, so gelangen wir zu folgendem Schema: I. Selbständige Koloniegründung. II. Unselbständige Koloniegründung: A. Mit Hilfe von Arbeitern der eigenen Art (Abspaltung) oder der eng verwandten Rasse oder Varietät (Übergang zum temporären sozialen Parasitismus); B. mit Hilfe von Arbeitern einer fremden Art: 1. Die temporär parasitischen Arten gründen ihre Kolonien durch Adoption (Bothriomyrmex?), 2. die dauernd parasitischen gründen ihre Kolonien: a) durch Raub, b) durch Adoption, c) durch Allianz. Wie überall, so sind aber auch hier keine scharfen Grenzen. Formica pratensis d. G. gründet ihre Kolonien durch Abspaltung von Zweignestern oder durch Adoption ihrer Königinnen von Ar- beitern einer nahe verwandten Rasse oder Varietät. Der Fund von kleinen mit fusca gemischten pratensis-Kolonien weist aber darauf hin, dass die Koloniegründung ebensowohl durch Adoption der pratensis-Weibchen von fremden Arbeitern geschehen kann (tempo- rärer Parasitismus). Das gleiche gilt für F. rufa L., exsecta Nyl. und ewsectoides For. Auch bezüglich der anderen Gruppen dürften be1 weiterem Fortschreiten unserer Beobachtungen sich mancherlei Übergangsstadien herausstellen. Kürzlich hat nun Wheeler eine umfangreiche Arbeit’) ver- öffentlicht, die den Zweck hat, die Koloniegründung namentlich der parasitischen Arten experimentell festzustellen. Seine Versuche bestätigen zunächst die von ihm und Wasmann früher bekannt gegebenen Ansichten und Beobachtungen über die Koloniegründung ~ der temporär-parasitischen Arten; bezüglich der sklavenhaltenden Ameisen aber ergeben seine Experimente, wie schon angedeutet, die bisher unbekannte Tatsache, dass Formica sanguinea rubicunda Em. ihre Kolonien unzweifelhaft durch den Raub von Arbeiter- puppen der F. subsericea Say, einer Varietät unserer fusca, gründet. Er sagt: „Im Gegensatze zu der fast gleichzeitig von Wasmann und mir aufgestellten Hypothese glaube ich jetzt, dass die Sklaverei keinen direkten ontogenetischen oder phylogenetischen Zusammen- 5) On the Founding of Colonies by Queen Ants, with Special ‘Reference to the Parasitic and Slave-Making Species. Bull. Am. Mus. of Nat. Hist., New-York 1906, Vol. XXII, Art. IV, pp. 33—105. Viehmeyer, Zur Koloniegründung der parasitischen Ameisen. 93, hang mit den Verhältnissen hat, welche ich temporären sozialen Parasitismus genannt habe. Obgleich nur eine von den Formen, mit welchen ich experimentierte, nämlich F. sanguinea rubicunda, positive und unzweideutige (clean-cut) Resultate ergab, war das Verhalten der anderen: F. sanguinea aserva und subintegra und Polyergus lucidus, obschon viel weniger befriedigend, doch nicht gerade den von rubicunda herrührenden Ergebnissen entgegengesetzt, sondern eher unzureichend. Dass aserva, subintegra und Polyergus bei der Gründung ihrer Kolonien Verhältnisse bieten mögen, die zwischen jenen von rubicunda und consocians die Mitte halten, ist natürlich möglich. Ich habe die Gründe angegeben, welche mich glauben lassen, dass unter natürlichen Bedingungen das kürzlich befruchtete Weibchen von F. rubicunda eindringt in irgendeine kleine Kolonie von subsericea, eine Art, mit welcher es durch sein ganzes Leben vor der Hochzeit im elterlichen Neste vertraut ist, die Arbeiter tötet, wenn sie es angreifen, sich der Larven und Puppen bemächtigt, über ihnen wacht und ihnen beim Ausschlüpfen hilft. Diese Arbeiter übernehmen dann dieselbe Tätigkeit, wie so viele treue Ammen, indem sie die Königin füttern und ihre Jungen aufziehen, sobald sie hervorgebracht worden sind. Wenn die letzteren die Reife erlangt haben, zeigt sich bei ihnen der Raubinstinkt ihrer Mutter in einer veränderten und oft gesteigerten Form, indem sie verabredete Raubzüge auf benachbarte subsericea-Kolonien unter- nehmen, deren Brut stehlen und dadurch die Kolonie als eine ge- mischte erhalten. Während die beginnende Sklavenkolonie allem Anscheine nach einer temporär parasitischen wie F. consocians sehr ähnlich ist, be- steht in bezug auf das Alter der Kolonieangehörigen ın beiden Fällen ein wesentlicher Unterschied. In den jungen Sklavenkolonien sind die Arbeiter alle jünger als die Königin, während in der jungen consocians-Kolonie einige oder alle Arbeiter älter als die Königin sind. Bei rubicunda befinden sich die von der Königin als Puppen geraubten Arbeiter ın voller Lebenskraft und können 3 oder 4 Jahre leben und bilden so für die Ausbildung der ersten rubiceunda-Brut ein äußerst tüchtiges Hofgesinde. In einer Kolonie mit temporärem Parasitismus sind die Bedingungen nach der Adoption weniger günstig, aber hier ıst ein ausgleichender Umstand ın der verhältnis- mäßigen Leichtigkeit vorhanden, mit welcher die Adoption vor sich gehen mag. Die rubicunda-Königin ist genötigt, ihre große Gestalt, ihre Kraft und Streitlust zurückzuhalten. Sie mag versöhnlich oder indifferent gegen die subsericea sein, bis sie angegriffen wird, aber dann kommt ihr feuriges Temperament, welches für ihre Art so charakteristisch ist, zur Geltung, und sie macht mit den feind- lichen Arbeitern kurzen Prozess. In den obigen Experimenten ist die Reihenfolge der Handlungen so konstant, bestimmt und ziel- 24 Viehmeyer, Zur Koloniegründung der parasitischen Ameisen. bewusst (constant, precise, and purposeful), dass sie eine vollkommen normale Episode in dem Leben eines rebicunda-Weibchens darstellen muss, wenn es dem eigenen Triebe gegenüber einer kleinen Kolonie von feindlichen subsericea-Arbeitern mit ihrer Brut preisgegeben ist“ (pp. 96/97). Einer Anregung Wheeler’s folgend, habe ich mit einigen unserer parasitischen Arten ähnliche Experimente angestellt. Sie folgen hier: 1. Formica truncicola Nyl. Zu den Versuchen standen mir nur künstlich entflügelte Weib- chen zur Verfügung. Nach Wheeler reagieren solche genau wie befruchtete. (Über den Einwand Wasmann’s in: Die moderne Biologie und die Entwickelungstheorie, Aufl. II], siehe weiter unten.) Beim Eindringen in die kleinen fwsca-Nester (30—40 Arb. u. Puppen) zeigten die Weibchen keinerlei feindliche Haltung. Die fusca waren nicht sonderlich furchtsam, flüchteten nicht mit ihren Puppen, sondern griffen die truncicola sofort an. Auf ihre Misshandlungen (Ziehen an Beinen und Fühlern und Giftspritzen) antworteten die Weibchen mit beschwichtigenden Fühlerschlägen. Schon bei den ersten Angriffen wurden die Weibchen gewöhnlich durch frisch geschlüpfte fusca beleckt. Am zweiten Tage waren die Misshand- lungen weniger heftig und andauernd. Als ich bei dem ersten Versuche die Ameisen ın ein kleineres Nest übersiedelte, folgte das truncicola-Weib, als alle fusca hinübergegangen waren, freiwillig. Am dritten Tage wurden gewöhnlich schon andauernde und öftere Beleckungen, trotzdem aber immer noch Misshandlungen durch die fusca beobachtet, welche die Weibchen bis auf die Fühlerbewegungen stets vollkommen passiv über sich ergehen ließen. Mit dem vierten Tage schien die Aufnahme der truncicola-Weibchen meist vollzogen zu sein. Sie wurden nicht mehr misshandelt, oft beleckt, saßen auf dem Puppenhaufen, mitten unter den fusca und zeigten eine gegen die frühere Dulderrolle auffallende Beweglichkeit. Bei An- näherung von Ameisen bewegten sie lebhaft die Fühler, öffneten bei von außen kommenden Störungen drohend die Kiefern, hatten aber absolut kein Interesse für die frsca-Puppen. Eine Fütterung wurde zwar nicht beobachtet, ich glaube aber sicher, dass sie er- folgte. 8—10 Tage nach dem Einsetzen starben die trumcicola- Weibchen, jedenfalls an den Folgen der Misshandlungen. Die Auf- nahme erschien mir um so leichter vor sich zu gehen, je geringer die Zahl der fusca-Arbeiter war oder je mehr frisch ausgeschlüpfte Tiere sich unter diesen befanden. 2. Formica sanguinea Ltr. Befruchtete Weibchen wurden zu 20—40 fusca-Arbeitern mit Puppen gesetzt. Das Benehmen aller sieben Königinnen war voll- Viehmeyer, Zur Koloniegründung der parasitischen Ameisen. 35 kommen übereinstimmend. Sofort nach dem Eindringen ergriffen die fusca jede eine Puppe und flüchteten damit in das Nebennest. Das sanguinea-Weibchen rannte lebhaft in dem Neste umher, ver- trieb die letzten Arbeiter, trug die Puppen auf einen Haufen und suchte dann den geflohenen fusca-Arbeitern die Puppen abzujagen. Hierbei zeigte es keine besondere Feindlichkeit; es hatte zwar die Kiefer. geöffnet, begnügte sich aber damit, den Schwarzen die Kokons einfach zu entreiken. Während der Nacht aber fanden regelmäßig ernstliche Kämpfe statt, ob durch Versuche der fusca, ihre Brut wiederzugewinnen oder nur durch die Verteidigung der einzelnen in das Nebennest geretteten Puppen veranlasst, kann ich nicht entscheiden. Genug, am folgenden Morgen waren die fusca- Arbeiter stets tot und ihre Leiber im Nebenneste auf einen Haufen zusammengetragen. Nicht selten schleppte die sangwinea-Königin an Bein oder Fühler noch den abgebissenen Kopf oder den getöteten Körper einer Schwarzen herum. An demselben Tage zogen die Königinnen manchmal schon eine fusca aus der Puppe. In einem Falle legte das Weibchen am achten Tage, nachdem etwa ein Dutzend Arbeiter die Nymphe verlassen hatten, 12 Eier, die aller- dings in den nächsten Tagen wieder aufgefressen wurden. Die kleine Kolonie war außerordentlich primitiv untergebracht (kleines Präparatenglas) und wohl auch nicht genügend mit Nahrung ver- sehen. Ein im Freien angestellter Versuch zeigte in seinem ersten Teile dasselbe Bild. Ich hatte die sangwinea-Königin in das Nest- loch einer mäßig starken fusca-Kolonie laufen lassen. Eine halbe Stunde später sah ich eine Anzahl der schwarzen Arbeiter mit ihren Puppen zwischen den Kiefern an den Zweigen des Heidekrautes hängen. Als ich zwei Tage darauf das Nest untersuchte, fand ich unter dem kleinen Steine, der es bedeckte, nur zahlreiche fusca- Arbeiter mit ıhren Puppen. Vielleicht war die Königin getötet (ihre Leiche war aber nirgends zu finden), oder sie hatte die Kolonie wieder verlassen. 3. Polyergus rufescens Ltr. Die Amazonenameise ıst hier ın Sachsen bisher nur einmal aufgefunden worden (Linke: Grimma), ich bekam aber eine Kolonie durch die Freundlichkeit des Herrn cand. phil. Dorn, Leipzig, aus Oberfranken. Sie enthielt reichlich Geschlechtstiere: Männchen, normale und ergatoide Weibchen. Ein Teil der normalen Weibchen war entflügelt. Ein ergatoides diesjähriges Weibchen vertrat die Königin und legte auch Eier. Als Hilfsameisen dienten F\ rufibarbrs For. (die Stammart) und ihre Var. fusco-rufibarbis For. 14 Tage, nachdem die Kolonie in meinen Besitz gekommen war, entledigten sich die Polyergus und F. rufibarbis der überzähligen Weibchen, 26 Viehmeyer, Zur Koloniegriindung der parasitischen Ameisen. indem sie dieselben töteten. Zu den Versuchen dienten normale fliigellose und ergatoide Weibchen und 20—50 Arbeiter von F’. fusco- rufibarbis und fusca mit Puppen. Nach dem Befunde der Polyergus- Kolonie scheint die Befruchtung der Amazonenweibchen nicht selten im Neste vor sich zu gehen, ich wüsste mir sonst wenigstens nicht die Flügellosigkeit einer ganzen Anzahl Weibchen zu erklären. Merkwürdig bleibt immerhin, dass die Kolonie keines dieser be- fruchteten normalen Weibchen, sondern ein ergatoides zur Königin erwihlte. Ob es auch befruchtet ist, muss sich erst herausstellen. Vielleicht liegt aber überhaupt bei den Polyergus die instinktive Neigung vor, solche Zwischenformen nicht nur zu züchten, sondern auch den normalen Weibchen vorzuziehen, so dass die Amazonen dem Ziele zustrebten, das Temognathus und andere schon erreicht haben, nämlich dem vollkommenen Ersatze der geflügelten Weibchen durch solche im Arbeitergewande. Normale und ergatoide Weibchen reagierten vollkommen gleich- mäßıg. Im ganzen ahnelte ihr Verhalten dem der truncicola- Weibchen. Niemals zeigten sie sich angreifend. Nur bei einem einzigen Versuche tötete das Polyergus-Weib zwei seiner Peiniger, indem es ihnen mit seinen furchtbaren Mandibeln den Kopf durch- bohrte. Nachdem das Weib die Säbelkiefer angesetzt hatte, zögerte es noch eine Zeitlang und schloss sie erst, als die Angreiferinnen nicht abließen. In allen anderen Fällen ertrugen die Polyergus aber die größten Quälereien, ohne auch nur einen Versuch zur Ver- teidigung zu machen. Beim ersten Angriffe ließen sie sich ge- wöhnlich auf die Seite fallen und zogen die Beine an. Die Auf- nahme geschah ziemlich schnell, am zweiten oder dritten Tage. Die Fütterung durch die fusco-rufibarbis wurde häufig beobachtet und die Beleckung schon vom ersten Tage an. Für die Puppen hatten die Weibchen kein Interesse. Sie starben gewöhnlich schon im Zeitraume einer Woche. Überhaupt schienen die Polyergus- Weibchen recht hinfällig zu sein, da eine 24stündige Separierung regelmäßig ihren Tod herbeiführte. Die Versuche mit fusca (50 Arb.) ergaben dasselbe Resultat; nur starben die Weibchen, ehe die vollkommene Aufnahme (Fütte- rung) erreicht war, wenigstens wurde keine solche beobachtet. Zu einem von fusco-rufibarbis-Arbeitern adoptierten Polyergus- Weibe wurde ein zweites hinzugefügt. Es wurde sofort von den Arbeitern feindlich angegriffen, und die Misshandlungen übertrugen sıch auch auf das schon vollkommen angenommene, mehrfach ge- fütterte und eifrig beleckte erste Weib. Nur waren sie hier nicht ganz so heftig und wurden durch Beleckungen und Fütterungen unterbrochen. Nichtsdestoweniger führten sie aber den Tod des Weibchens noch vor dem zweiten herbei. Viehmeyer, Zur Koloniegründung der parasitischen Ameisen. UN 4. Tomognathus sublaevis Nyl. Von dieser interessanten Ameise fand ich dieses Jahr hier sieben Kolonien, zwei etwa */, Stunden von dem vorjährigen Fund- orte entfernt‘). Eine derselben war eine frisch gegründete. Sie bestand aus einem ergatoiden Tomognathus-Weibe, zwei Arbeitern von Leptothorax acervorum F., einigen Larven und Puppen derselben und einer kleinen Anzahl Eier, von denen ich vermute, dass sie von dem ergatoiden Weibe frisch gelegt waren. Ich separierte das Tomognathus-Weibchen einige Zeit und ließ es darauf in eine Kolonie Lept. acervorum (ca. 30 Arb., 2 Weibchen und viele Larven und Puppen) eindringen. Der Versuch ergab dieselben Resultate wie die Experimente mit F\ sanguinea. Das den Leptolhorax an Größe weit überlegene Weibchen sprang aufgeregt in dem Neste umher, und die Leptothorax flohen mit den Puppen und Larven. Hin und wieder griffen die letzteren das Weib an, aber es siegte stets in dem Kampfe, und innerhalb eines Tages waren sämtliche Leptothorax getötet. Einige von ihnen waren vollkommen zerbissen. Die Puppen und Larven trug das Weibchen auf einen Haufen, aber es zeigte lange nicht das Geschick und den Eifer wie die sanguenea-Königinnen. Auf Grund dieses Versuches muss ich meine früher ausge- sprochene Ansicht, dass die Tomognathus-Weibchen 'ımmer zu mehreren vereint auf Koloniegründung ausziehen, korrigieren. Tomo- gnathus scheint vielmehr sehr wohl imstande zu sein, dies auch ohne Unterstützung tun zu können. 5. Strongylognathus testacens Schenck. Der Hochzeitsflug dieser parasitischen Art fand hier Ende Juli statt. Leider versäumte ıch es, mich mit lebenden Geschlechtstieren zu versorgen, und später fand ich weit ab von der Gegend der Strongylognathus-Nester nur zufällig ein einzelnes entflügeltes Weib- chen unter einem Steine. Ich setzte dasselbe in den Futterraum einer kleinen Tetramorium-Kolonie, die aus einer Königin, einigen 20 Arbeitern, Larven und Eiern bestand. Es lief lange Zeit in dem Futterneste umher, fand endlich den engen Eingang zum Haupt- neste und betrat diesen zögernd. Sowie es aber den Innenraum des Nestes erreicht hatte, machte es kehrt und floh. Da es gar keine Neigung zeigte, in das Nest einzudringen, überführte ich es dorthin mit der Pinzette. Es versuchte wieder zu fliehen, wurde aber ergriffen und in wenigen Minuten getötet. Der Versuch zeigt, dass das Weibchen von Strongylognathus testacens weder geneigt ist, in einer Tetramorium-Kolonie Aufnahme 6) Über den Fund von vier Kolonien dieser nordischen Ameise bei Dresden, deren eine vier geflügelte normale Weibchen enthielt, vgl. meine: Beiträge zur Ameisenfauna des Königreiches Sachsen. Abh. d. naturw. Ges. Isis in Dresden, 1906, Heft II, pp. 56—68 u. Taf. III. ~ 25 Viehmeyer, Zur Koloniegründung der parasitischen Ameisen. zu suchen, noch dort, selbst wenn sie nur wenige Arbeiter enthält, solche finden kann. Wir können ihn daher vielleicht als eine Be- stätigung der Vermutung ansehen, dass die Strongylognathus-Kolonien auf der Allianz ihrer Weibchen anit solchen ihrer Hıilfsameisen be- ruhen. * Ein Vergleich der Ergebnisse von 1, 2 und 3 mit den ent- sprechenden llnaeilon S eh: für 1 und 2 vollkommene Überein- stimmung, nur bei Versuch 3 kam ich zu wesentlich anderen Resul- taten. Ich bedaure jetzt, seine Arbeit erst nach Beendigung meiner Experimente genauer studiert zu haben, ich hätte sonst so manchem Punkte eine größere Aufmerksamkeit widmen können. Immerhin dürfte doch aus denselben, so unvollkommen sie auch sein mögen, mit Sicherheit hervorgehen, dass die temporär parasitischen F'. truneci- cola ihre Kolonien durch Adoption gründen, die Kolonien von F. sanguinea aber von Haus aus, d.h. von der Gründung ab, primäre Raubkolonien sind. Und diese Ergebnisse decken sich mit den von Wheeler an F! consocians und F. rubicunda gemachten. Wasmann wendet gegen Wheeler ein’), dass seine Ver- suche an rubicunda nich mit unbefruchteten Weibchen an- gestellt seien und dadurch ihre Beweiskraft für die Gründungsweise neuer Kolonien verlören. Nach seinen Erfahrungen an der euro- päischen blutroten Raubameise (F. sanguinea) seien die jungen un- befruchteten Weibchen sehr kampflustig und beteiligten sich auch gelegentlich am Transport der Larven und enmenen ın den Be- obachtungsnestern. Sie besäßen also Arbeitercharaktere, welche den befruchteten Weibchen fehlten. Wheeler scheint sich bei der Verwendung künstlich entflügelter Weibchen auf eine Arbeit Loeb’s*) zu stützen. Ich kenne dieselbe nicht und habe auch leider keine Parallelversuche mit künstlich und normal entflügelten Weibchen anstellen können, da ich, wie gesagt, in theoretische Erwägungen erst nach dem auf meine Ex- perimente folgenden Studium seiner Arbeit eintrat, den Einwand Wasmann’s sogar erst nach Fertigstellung dieses Manuskriptes kennen lernte. Bezüglich der Königinnen- und Arbeiterinstinkte, mit deren Vergleich sich Wheeler eingehender beschäftigt, kommt er zu dem Schlusse, dass beide nur quantitativ, „nach Art der fluktuierenden Variation“, verschieden seien. Die Langsamkeit, mit. der ein Weibchen auf gewisse Reize reagiere oder der Mangel solcher Reaktion überhaupt dürfe uns nicht zu dem Glauben ver- 7) Die moderne Biologie und die Entwickelungstheorie, III. Aufl., Freiburg 1. Br. 1906, p. 402, Anm. 2 8) Der Heliotropismus der Tiere und seine Übereinstimmung mit dem Helio- tropismus der Pflanzen. Würzburg 1890. Viehmeyer, Zur Koloniegründung der parasitischen Ameisen. 29 leiten, dass die Fähigkeit nicht vorhanden sei, ebensowenig wie wir von der Abwesenheit eines erblichen Charakters reden könnten, wenn derselbe während einer oder mehrerer Generationen latent bleibe. Aber ich glaube, wir brauchen hier gar keine theoretischen Auseinandersetzungen, wir können die Tatsachen reden lassen. Mag man gegen Wheeler’s Versuche geltend machen, dass sie durch die Verwendung von nur künstlich entflügelten Weibchen nicht stichhaltig seien, so muss man doch meinen sanguinea-Experi- menten gegenüber diesen Einwand fallen lassen. Die be- nutzten Weibchen waren sämtlich befruchtet und stammten zudem sicher aus den verschiedensten Kolonien, denn sie waren einzeln an weit voneinander entfernten Orten in entflügeltem Zustande aufgelesen. Und diese Weibchen reagierten ohne jede Ausnahme so vollkommen gleichmäßig und so deutlich, dass man aus den Versuchen auch nicht das leiseste Anzeichen für eine Adoption herauslesen kann. Vergleichen wir noch einmal das Verhalten der sanguinea-W eibcehen mit dem der Polyergus-Königinnen oder auch der truncicola-W eibchen: Hier aggressive Feindlichkeit, dort passive Duldung; hier außer- ordentliches Interesse für die Brut, dort nicht eine Spur davon; hier Tötung aller Arbeiter, dort keine Tötung. Ich meine, dieser scharfe Unterschied kann nur für zweı gänzlich voneinander ab- weichende Formen der Koloniegründung sprechen. Da aber weiter diese Ergebnisse an sanguinea in allen Punkten mit denen W heeler’s an rulicunda die größte, manchmal geradezu wörtliche Überein- ' stimmung haben, so halte ich bei der außerordentlich nahen Ver- wandtschaft der beiden Raubameisen den Schluss wohl für erlaubt, dass tatsächlich die künstliche Entflügelung die gleiche Wirkung mit der natürlichen nach dem Hochzeitsfluge hat. So seltsam es mir selbst vorkommt, scheint hier doch der Beweis vorzuliegen, dass der nach dem Hochzeitsfluge beobachtete Wechsel der Instinkte nicht auf der Befruchtung selbst, sondern auf der rein mechanischen und ganz äußerlichen Ursache des Verlustes der Flügel beruht. Wenn Wasmann (p. 403) weiter gegen Wheeler seine eigenen Experimente mit befruchteten sangwinea-Weibchen anführt, deren Ergebnis eine Bestätigung seiner Adoptionshypothese und eine Widerlegung der Wheeler’schen Raubhypothese sein soll, so lässt sich demgegenüber nur sagen, dass dann entweder die sanguinea Luxemburgs (ich nehme an, dass die Weibchen von dort stammten) ihre Kolonien durch Adoption, die der hiesigen Gegend aber durch Puppenraub gründen oder aber wird dadurch festgestellt, dass der- artige Experimente über die Koloniegründung überhaupt keine Be- weiskraft haben. Während also die Resultate meiner Versuche an truncicola und sanguinea mit den entsprechenden Wheeler’s eine schöne 30 Viehmeyer, Zur Koloniegründung der parasitischen Ameisen. Übereinstimmung ergeben, so gehen dieselben in bezug auf Polyergas auseinander. Seine /wcidus-Weibchen machten außerordentlich oft von ihren furchtbaren Mandibeln Gebrauch, ähnlich wie rubieunda und bei mir sanguinea; das Verhalten meiner rufescens glich da- gegen, mit einer einzigen Ausnahme, ganz dem von truneicola. Überhaupt zeigten die Versuche an Polyergus bei mir eine solche Gleichmäßigkeit, und die tatsächliche Aufnahme geschah so leicht, dass ich die Möglichkeit ihrer Koloniegründung durch Adoption nicht bezweifeln kann. Aber auch Wheeler’s Mitteilungen ent- halten einen Punkt, der für die Adoption spricht und den er sogar ganz besonders hervorhebt, nämlich die Interesselosigkeit der Weibchen für die Brut der Arbeiter. Das scheint mir aber ein Hauptmerkmal der durch Adoption zur Gründung gelangenden Weib- chen zu sein; denn es ist in gleicher Weise auch bei den temporär parasitischen Arten vorhanden und steht in schroffem Gegensatze zu dem Verhalten von F\ sanguinea, rubicunda und auch Tomognathus. Die letzten beiden Experimente Wheeler’s (49 u. 50) haben mit den meinigen die meiste Ähnlichkeit. Die hier verwendeten Weib- chen von P. lucidus zeigten sich ziemlich passıv, obwohl auch sie einige ihrer Angreiferinnen töteten. Es ist demnach nicht unwahr- scheinlich, dass die nordamerikanischen Polyergus-Königinnen — wie Wheeler auch meint — bezüglich ihrer Koloniegründung einen Übergang von der Raubkolonie zur Adoptionskolonie darstellen. Die Notwendigkeit eines solchen dürfte vielleicht in der durch den Parasitismus hervorgerufenen Abhängigkeit und Degeneration der Amazonenameisen zu suchen sein. Bei unseren Polyergus ist aber die Umwandlung der Instinkte augenscheinlich schon vollzogen, Meine Versuche beweisen nicht nur die Möglichkeit der Annahme von Polyergus-Königinnen durch fremde Arbeiter, sondern sprechen auch durch ihre fast vollkommene Übereinstimmung mit den an truncicola angestellten dafür, dass die Adoption wohl sicher das Anfangsstadium dieser Kolonien ist. Wheeler glaubt, trotzdem seine Polyergus teilweise eine merk- liche, von ihm auch anerkannte Neigung zur Adoption zeigen, dass ihre Kolonien doch gleich denen von rubicunda auf dem Instinkte des Puppenraubes beruhen und dass die Sklaverei phylogenetisch nicht direkt aus dem temporären Parasitismus abgeleitet werden kann. Sie sind nach ihm Zweige eines Stammes und beruhen beide auf der instinktiven Neigung mancher Ameisenarten (F. rufa, exsectoides u. s. w.), Zweignester zu bilden und durch Adoption von Königinnen derselben Art ihre Kolonien zu vergrößern. Ich kann ihm hierin nicht ganz beistimmen. Wie schon gesagt, beruht die Koloniegründung unserer Polyergus wohl sicher auf Adoption; wir können also nicht die Kolonien der gesamten sklavenhaltenden Ameisenarten auf primäre Raubkolonien zurück- Viehmeyer, Zur Koloniegründung der parasitischen Ameisen. 31 führen. Die Adoptionskolonien der Amazonen kann man aber, wenn man will, ohne alle Schwierigkeit aus Raubkolonien wie F. sangwinea und rubicunda ableiten. Raub und Adoption gehen, wie P. lucidus zeigt, ineinander über. Bezüglich des zweiten Punktes, der Phylogenie der Sklaverei, bin ich allerdings seiner Ansicht. Auch mir will es nicht recht glaubhaft erscheinen, dass eine so starke und temperamentvolle Ameise wie sanguinea ein truncicola-Stadium durchlaufen haben soll. Die ganze Hypothese von dem Ursprung und der Entwickelung der Sklaverei baut sich auf der einen Tatsache auf, dass die truncicola-Kolonien primäre Adoptionskolonien darstellen und auf der Vermutung, dass auch die sanguinea ihre Kolonien auf die- selbe Weise gründen. Diese Vermutung wurde auch auf die anderen sklavenhaltenden und parasitischen Arten übertragen und nun von deren vermutlicher Ontogenese auf ıhre Phylogenie geschlossen. Durch Wheeler’s und meine Experimente wird diesem schönen Baue aber ein wichtiger Grundstein entzogen; die Vermutung, dass die sanguinea und rubicunda primäre Adoptionskolonien sind, trifft nicht zu. Ich halte die jetzt nur von Wasmann noch vertretene Hypothese darum zum wenigsten für schwer er- _ schüttert. Die große Mannigfaltigkeit, in der uns der soziale Parasitismus bei den Ameisen überhaupt entgegentritt, weist uns schon alleın darauf hin, dass die jetzigen Vertreter desselben jedenfalls auf den allerverschiedensten Wegen dazu gelangt sind. Daher kommt es, dass gewisse Ameisenarten, wie Tomognathus z. B., sich nicht recht in die Entwickelungsreihe einfügen wollen. Die Tomognathus- Kolonien, die in ihrer ontogenetischen Entwickelung eine so auf- fallende Ähnlichkeit mit der von F. sangwinea und rubicunda zeigen, sind schwerlich derselben Wurzel entsprossen wie diese. Wir haben vielmehr allen Grund zu der Annahme, dass ihre Raubkolonien aus Diebskolonien hervorgegangen sind. Weiter ist es sehr merk- würdig, dass gerade die Unterfamilie der Myrmicini, die, soviel ich weiß, die einzige ist, welche Gast- und Diebsameisen aufweist, uns in bezug auf den sozialen Parasitismus ıhrer Angehörigen am meisten zu raten aufgibt. Das letztere mag, wie Wasmann sagt, seinen Grund darin haben, dass der Parasitismus der Myrmieini älter ist als der der Camponotini und die Anfangsstadien seiner Entwickelung nicht mehr aufweist. Aber es sollte uns auch Veranlassung geben, bei der Erklärung der Entwickelung der parasitischen Arten des Myrmicinenstammes nicht auf Verhältnisse zurückzugreifen, wie sie der Parasitismus der Camponotini noch heute zeigt, sondern viel- mehr auf solche, welche uns die gesetzmäßigen Formen der zu- sammengesetzten Nester bieten. Auch Wasmann betont neuerdings in seiner letzten Veréffent- 29 Nagel, Handbuch der Physiologie. lichung®) über diese Frage mehrfach, dass die Entwickelung des Sklavereiinstinktes nicht eine einzige reale Entwickelungsreihe sei, weder innerhalb der Ameisenfamilie überhaupt, noch innerhalb der Unterfamilien, sondern dass sich dieselbe in eine Reihe von einzelnen Entwickelungsprozessen auflöse, die zu verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Punkten des Ameisenstammes ausgingen und bis zu verschiedener Entwickelungshöhe fortschritten. Aber es war eigentlich unnötig, dies so ausführlich auseinanderzusetzen, denn so sollte doch wohl seine Hypothese von Anfang an verstanden werden. Innerhalb der einzelnen Reihen verläuft seiner Ansicht nach jedoch die Entwickelung des sozialen Parasitismus immer noch so, dass sie ausgeht von der Adoptionskolonie, fortschreitet zur Raubkolonie und bei zunehmender Degeneration wieder zu der Adoptions- resp. Allianzkolonie zurückkehrt. Und das ist, wie mir scheint, nach der jetzigen Lage der Dinge nicht mehr aufrecht zu halten, selbst nicht für die Camponotini. Handbuch der Physiologie. Herausgegeben von W. Nagel. Bd. II. 2. Hälfte Gr. 8. V und 640 Seiten (S.. 385— 1024). Braunschweig. Vieweg und Sohn. 1907. Dieser Halbband des schon zweimal angezeigten Sammelwerkes bringt die Kapitel: Absonderung des Hauttalgs und der Schweiß- drüsen von R. Metzner (Basel); Physiologie der Leber von E. Wein- land (München); Verdauung und Aufsaugung von O. Cohnheim (Heidelberg); die äußere Arbeit der Verdauungsdrüsen und ihr Mechanismus von J. Pawlow (St. Petersburg); Mechanismus der Resorption und der Sekretion von E. Overton (Lund); die histo- logischen Veränderungen der Drüsen bei ihrer Tätigkeit von R. Metzner (Basel. Es fehlen jetzt nur noch die erste Hälfte des ersten und die zweite Hälfte des vierten Bandes sowie die Nachträge. Auch im vorliegenden Halbbande konnten die Verfasser nicht nur sorgfältige Übersichten der vorhandenen Literatur geben, son- dern sich vielfach auf eigene, tiefgehende Studien stützen, ein Umstand, welcher dem Werke für lange Zeit die Bedeutung eines wertvollen Quellenwerks sichert. Wir verweisen in dieser Be- zıehung zunächst auf den von Herrn Pawlow bearbeiteten Ab- schnitt, den wir allerdings noch etwas eingehender behandelt wünschten. Auch was Herr Metzner bringt, wird vielen Biologen eine willkommene Gabe sein. Doch sollen durch diese Beispiele die Beiträge der anderen Herren nicht minder gewertet sein. R. 9) Biologie p. 418 u. ff. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Physikalische Chemie und Medizin. Ein Handbuch. Herausgegeben von Prof. Dr. A. vy. Koränyi, und Prof. Dr. P. F. Richter, Direktor der medizinischen Privatdozent an der Friedrich- Universitatsklinik in Budapest. Wilhelms-Universitat in Berlin. Erster Band. Mit 27 Abbildungen. M. (6.—, in Halbfr. geb. M. 19.—. Band II (Schluss) erscheint Anfang 1908. Beiträge zur wissenschaftlichen und praktischen Medizin. Sonderabdruck des II, Teiles der Festschrift für J. Rosenthal. M. 13.50. Lehrbuch der allgemeinen Physiologie. Eine Einführung in das Studium der Naturwissenschaft und der Medizin von Prof. Dr. 3. Rosenthal. Mit 137 Abbildungen. M. 14.50, geb. M. 16.50. Der physiologische Unterricht und seine Bedeutung für die Ausbildung der Ärzte von Prof. Dr. 3. Rosenthal in Erlangen. M. 2.—. Kompendium der Entwiekelungsgeschichte des Menschen. Mit Berücksichtigung der Wirbeltiere von Priv.-Doz. Dr. L. Michaelis in Berlin. 2. Auflage. Mit 50 Abbildungen und 2 Tafeln. Geb. M. 4.—. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Ne Grundriss ‚der physikalischen Chemie Privatdozent te Max Roloff. — _ _ Mit 13 Abbilduneen: M. 5, geb Mao Vorlesungen über Wirkung und Anwendung der Unorganischen Arzneistoffe für Ärzte und Studierende von Prof. Dr. Hugo Schulz. Geh. Medizinalrat. M. 8.—, geb. M. 9.—. Kohlehydratgehalt und Nährwert von Speisen. Zur Berechnung der Kost von Stoffwechselkranken Priv.-Dozent Dr. Sehwenkenbecher, Aufgezogen auf Karton M. —.60. Die Kristalltheorie der Saugetiere. Neue Anschauungen aus dem Gebiete der Biologie von Dr. K. Sehrwald. M. 1.20. Untersuchungen über Gastrulation und Embryobildung bei den Chordaten. Von Priv.-Doz. Dr. Fr, Kopsch, I. Die morpholog. Bedeutung des Keimhautrandes und die Embryobildung bei der Forelle. Mit 10 lithogr. Tafeln und 18 Abbildungen im Text. M. 8.—. K. B, Hof- und Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. ANS. Biologisches Ca ntralblatt, Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik . Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten, XXVIII.Bd. 15.Januar 1908. _ AE 2, | 4 Leipzig. Verlag von Georg Thieme. Rabensteinplatz 2. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Der Praktiker. Ein Nachschlagebuch für die ärztliche Praxis von Dr. E. Graetzer. see | Atel lng, —— M. 6.—. Klinische Pathologie des Blutes: nebst einer Methodik der Blutuntersuchungen und speziellen Pathologie und Therapie der Blutuntersuchungen von Prof. Dr. E. Grawitz, Berlin. Mit 17 Abbildungen, 5 farbigen Tafeln und 3 Kurven. Zweite neubearbeitete Auflage. M. 18.—, geb. M. 20.—. li Pit Biologisches Gentralblatt Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. Bd. XXV1Ill. 15. Januar 1908. er. Inhalt: Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie (Fortsetzung). — Issaköwitsch, Es besteht eine zyklische Fortpflanzung bei den Cladoceren, aber nicht im Sinne Weismann’s. — Hollrung, Jahresbericht über das Gebiet der Pflanzenkrankheiten. — Müller, Jahrbuch für wissenschaftliche und praktische Tierzucht einschliefslich der Züchtungs- biologie. — Müller, Sexualbiologie. Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. Von S. Tschulok, Fachlehrer (Zürich). (Fortsetzung. Daran schließt sich eine weitere Frage an. Schon Linné hatte den prinzipiellen Unterschied zwischen einem natürlichen und künst- lichen Systeme herausgefühlt. Schon er fand, dass, während ein künstliches System sich mit Hilfe von nur einem Merkmal ausbauen lässt, beim Ausbau des natürlichen Systems sämtliche Merkmale berücksichtigt werden müssen. Aber erst an Hand der Deszendenz- theorie findet sich die richtige Erklärung für diesen Unterschied, indem sie darauf hinweist, dass kein einziges Merkmal eine absolute Konstanz besitzt. Gehen wir von einem Beispiel aus. Von zwei nahe verwandten Hahnenfußarten; die in (geologisch) relativ neuer Zeit von einem gemeinsamen Ahnen hervorgegangen sind, ist die eine an das Leben im Wasser angepasst, die andere ist auf dem Lande geblieben. Die wasserlebende Art zeigt eine ganz andere äußere Gestalt und einen total verschiedenen inneren Bau der Ernährungs- und Festigungsorgane, was mit den besonderen Bedingungen des Wasserlebens zusammenhängt. Sie erhebt aber ihre ephemeren Blüten über den Wasserspiegel und im Grundplan des Blütenbaues ist noch alles so geblieben, wie es bei den gemein- samen Stammformen beider Arten war. Und so ermöglicht uns XXVIL. 2) >) 34 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. die Bliite die Erkenntnis der Verwandtschaft beider Arten, und zwar die physiologisch indifferenten Merkmale der Blüte, nämlich Zahl, Stellungs- und Verwachsungsverhältnisse der Blütenteile. Da aber bei einer alone lemdlon Divergenz zweier Stamm- linien auch der Blütenbau mean Wenemilarıtunen unterliegen kann, so bildet derselbe kein Universalmerkmal, welches für sich allein die Verwandtschaftsverhältnisse zu ermitteln gestattete; so müssen wir bei Zusammenfassung größerer Gruppen, z. B. der Klasse Monokotyledonen doch micdes die vegetativen Organe be- rücksichtigen, die Nervatur der Blätter, den Bau und die Anord- nung der Gefäßbündel. In der Sprache der Deszendenztheorie findet dieses ganze Problem in folgenden Sätzen seine Erledigung: 1. Der klassifikatorische Wert der einzelnen Merkmale ist um so größer, je größer ihre (phylogenetische) Konstanz. 2. Der Grundplan des Blütenbaues hat relativ mehr Konstanz als der Bau der vege- tativen Organe, daher der größere klassıfikatoriısche Wert des ersteren. 3. Da aber auf die Dauer kein Organ eine absolute Kon- stanz hat, so muss die -natürliche Kon alle Organe denials: sichtigen. m diesem Zusammenhang mag folgende Parallele ihren Platz finden. Caesalpin hielt die Reproduktionsorgane für das wichtigste Kriterium der systematischen Einteilung, Linné gründete auf die Reproduktionsorgane sein ,Sexualsystem“, die nachlinneische (aber vordarwinische) natürliche Methode bevorzugte die Reproduktions- organe, und in nachdarwinischer Zeit blieben die Reproduktions- organe immer noch in ihrer führenden Stellung. Aber bei der äußeren Ähnlichkeit des Klassifikationsverfahrens, was für eine weitgehende Differenz der Grundanschauung. Caesalpin nahm die Reproduktionsorgane als Kennzeichen, weil er in ihnen die Offenbarung des von der Natur verfolgten Endzweckes erblickte; sein System wollte natürlich sein, d. h. die Verwandtschaftsverhält- nisse zum Ausdruck bringen, blieb aber ganz künstlich, weil das Kriterium der Klassifikation a priori bestimmt war. Das Linné’sche „Sexualsystem“ war von vornherein als ein künstliches gedacht und doch war Linne stolz darauf, gerade die Reproduktionsorgane, Organe von so großer physiologischer Bedeutung zur Grundlage seines Systems gewählt zu haben. Dabei ist Linne das Opfer eines methodologischen qui pro quo geworden. Denn, wie Sachs ganz richtig homan t, „es würde das Lane: sche Sexualsystem genau denselben klassifikatorischen Wert haben, wenn die Sauber mit der Fortpflanzung gar nichts zu tun ineisioa oder wenn die sexuelle sedeutung derselben ganz unbekannt wäre. Denn gerade diejenigen Merkmale der Staubgefäße, welche Linné klassifikatorisch verwertet, ihre Zahl und Verwachsungsweise sind für die Sexualfunktion selbst völlig gleichgültig“ (Sachs, Gesch. der Botanik, p. 88). Die vor- Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. 35 darwinische „natürliche“ Systematik hielt sich an den Grundplan der Reproduktionsorgane und schrieb ihnen einen höheren klassı- fikatorischen Wert zu, ohne sich erklären zu können, warum dieser Grundplan physiologisch belanglos und doch systematisch wichtig ist. Die nachdarwinische Systematik endlich berücksichtigt in erster Linie den Grundplan der Reproduktionsorgane, weil sie diesen mit Recht als den (immerhin relativ) ruhenden Pol in der Erscheinung Flucht ansieht. Aber nur vom Standpunkte der nachdarwinischen Systematik lässt sich diese ganze eigentümliche Entwickelung der Anschauungen begreifen und erklären. Die Arten der Pflanzen und Tiere sind höchst ungleichmäßig auf die Gattungen, diese auf die Familien, diese auf die Ordnungen u. s. w. verteilt. Neben artenreichen Gruppen gibt es sehr arten- arme; die eine Gattung ist in 100 Arten vertreten, die andere nur in einer Art. Es gibt Arten, die die einzigen Vertreter nicht nur ihrer Gattung, sondern ıhrer Familie, ja manchmal einer ganzen Ordnung und Klasse sind. Die japanische Ginkgo biloba beansprucht nach den neueren Anschauungen für sich allein eine besondere Klasse, womit gesagt werden soll, dass die Unterschiede dieser Art von ihren nächsten Verwandten im heutigen System der Pflanzen keine geringeren sind, als etwa die Unterschiede zwischen Rose und Tulpe, die ja auch zwei verschiedenen Klassen angehören. Ähnliche Beispiele lassen sich aus dem System der Tiere in großer Anzahl anführen. Da ist eine „Ordnung“ der Knochenfische mit über 150 Faimlen und über 10000 Arten, daneben eine andere „Ordnung“ der Lungenfische, die bloß 4--5 Arten beherbergt, eine Ceratodus-Art in Australien, drei Protopterus-Arten in Afrika und eine Art Lepidosiren in Zentralamerika. Die Protracheaten, früher in einer Gattung vereinigt, neuerdings in zwei Familien und mehrere Gattungen verteilt, bilden für sich allein eine ganze Klasse. Neben einer artenreichen Ordnung der Nagetiere mit 21 Fa- milien und 159 Gattungen eine artenarme Ordnung der Rüssel- tiere mit ihren zwei Elephantenarten, neben einer artenreichen Familie der Hohlhörner (Rinder, Schafe, Antilopen) eine artenarme Familie der Giraffen (in den letzten Jahren neben der Giraffe die Okapia). Diese isolierte Stellung einiger Formen im System ist nur dann zu verstehen, wenn man annımmt, dass die Artenbildung und der Artentod nicht in allen Abteilungen in gleichem Tempo vor sich gegangen sind. Die im System isoliert stehenden Arten sind dem älteren Teil eines Astes des Stammbaumes entsprungen, welcher jetzt nur noch ganz spärlich beblätterte Zweige trägt, wäh- rend an der jüngeren Spitze desselben Astes die beblätterten Zweige noch dieht gedrängt sind. So erklärt sich, dass solche isolierte Arten häufig etwas Altmodisches, in der jetzigen Lebewelt Fremd- artiges zeigen. wo 36 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie, Hat sich der Ast oberhalb seiner Ursprungsstelle gegabelt, sind also seitdem zwei neue Familien entstanden, so werden diese ein- samen Formen Merkmale beider Familien in sich vereinigen, ohne mit einer bestimmten Art der einen oder anderen Familie mehr als mit den übrigen Arten übereinzustimmen. In diesem Zusammenhang erhellt aber noch ein anderer Punkt, nämlich dass die höheren Einheiten des Systems — Familien, Ordnungen u. s. w. — keine absoluten Kategorien darstellen. Dass nur die Größe der Kluft, die eine gewisse Gruppe von anderen trennt und die das Ergebnis des Aussterbens von Arten ist, dafür maßgebend ist, ob wir diese Gruppe als besondere Ordnung oder bloß als besondere Familie bezeichnen. Nicht ein ein für allemal heshmnker Differenzgrad gehört dazu, eine Gruppe als Familie zu kennzeichnen, sondern der Mangel von Übergangsformen. 2. Embryologie. Um die neuste V oneiune den Lebe- wesen ım System herauszufinden, müssen sie möglichst genau mit- einander verglichen werden. Zwar handelt es sich um Verteilung von Arten, aber die Merkmale der Arten werden doch von den (Gestalten der individuellen Lebewesen abstrahiert, und diese sind sozusagen immer im Fluss. Ein Einzelwesen wird geboren, wächst und vergeht nach einiger Zeit. Eine wirklich natürliche Systematik hat nun gar keinen Grund, irgendeinen der aufeinanderfolgenden Zustände für die klassifikatorischen Zwecke zu bevorzugen, sondern muss alle Stadien des individuellen Gestaltungsprozesses berück- sichtigen. Und da kommt man zur Einsicht, dass Arten, die in erwachsenem, geschlechtsreifem Zustand sehr wenig Ähnlichkeit aufweisen ( wenigstens äußerlich) und in zwei ganz entfernte Gruppen gestellt würden, in der embryonalen Basics ihres Lebens einander zum Verwechseln ähnlich sind. Die Larven mancher freilebenden zarthäutigen Krebse und die Larven der festsitzenden, mit dicker, kalkiger Schale umgebenen Rankenfüßer sind kaum voneinander zu unterscheiden. Die Embryonen der Säugetiere, Vögel und Rep- tilien zeigen auf frühen Stufen dasselbe Verhalten. Formen, die im erwachsenen Zustand ganz eigentümlich ausgebildet erscheinen, nähern sich ın der frühen Jugend dem Durchschnittstypus ihrer normalen, weniger extravaganten Verwandten, und so kann manchmal die Verwandtschaft nur unter Berücksichtigung der embryonalen Entwickelung erkannt werden. Dazu kommt die weitere wichtige Feststellung, dass Angehörige höherer Klassen in ihrer embryonalen Gestalt Anklänge an die dauernde Gestaltung ihrer entfernten Ver- wandten aus niederen Klassen desselben Typus aufweisen, sie wiederholen gewissermaßen die Entwickelung ihres Stammes (Kiemen- spalten der Säugetierembryonen). Das alles kann nur unter der Annahme der Deszendenz eine rationelle Erklärung finden, ohne diese Annahme bleiben die angeführten Tatsachen zusammenhangslos und völlig unbegreiflich Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. Sl 3. Morphologie. Bei ihrem Streben, ein möglichst natürliches System der Lebewesen zu entwerfen, wird die Systematik von der Morphologie unterstützt, insofern sich diese letztere Disziplin die Erfassung der Einheit in der Mannigfaltigkeit zur Aufgabe stellt. Wenn sie sich auch in diesem Punkte berühren, so tritt doch eher oder später eine Differenzierung speziell morphologischer Probleme hervor, aus der dienenden Stellung schwingt sich die Morphologie zum Rang einer selbständigen Disziplin empor. Als Beispiel mag folgendes angeführt werden. Lamarck sprach bereits von Wirbel- tieren und Wirbellosen, aber er gebrauchte die Ausdrücke in rein systematischem Sinne, um eben eine bequeme Abgrenzung anzu- deuten. Aber erst Cuvier und C. E. von Baer brachten die morphologische Auffassung des „Typus Wirbeltiere“ zur Geltung, indem sie nicht die Abgrenzung nach außen, sondern die Einheit- lichkeit nach innen zum Gegenstande der Forschung machten. Die so emanzipierte Morphologie steht aber gleich von Anfang an vor einem Problem: diese Einheit in der Mannigfaltigkeit, dieser Wechsel der äußeren Erscheinung bei gleichbleibendem Grundplan will eben erklärt werden. Es genügt eben nicht, zu konstatieren, dass Fisch und Vogel im Bau des Achsenskeletts, des Zentralnervensystems, der wichtigsten Sinnesorgane etc. prinzipiell übereinstimmen, es drängt sich immer wieder die Frage auf, was die Ursache dessen sel, dass die vielen Tausende Fisch- und Vogelarten trotz den weit- gehendsten Differenzen in der äußeren Erscheinung und in der Lebensweise an diesen Grundzügen des Baues festhalten, ja, dass diese Grundzüge des Baues bei ihnen allen am allerfrühesten zum Vorschein kommen und gleichsam das Gerüst bilden, an welches sich dann die abweichenden Details anlagern, ohne die Grundzüge zu verwischen. In manchen Fällen schien die Natur sich darın zu gefallen, durch die Überlagerung der störenden Details den Grundplan des Baues möglichst vollkommen zu maskieren. Aber die Forschung versuchte doch diese Hinterlist aufzudecken. Wer würde in dem Flossenfuß des Seehundes und des Waltieres eine pentadaktyle Extremität vermuten? Oder im Pferdefuß und Vogelflügel Modı- fikationen derselben pentadaktylen Extremität erblicken? Wer würde ahnen, dass der Hals der Giraffe genau soviele Wirbel enthalte wie der Hals des Walfisches, dass Schwimmblase und Lunge ein und dasselbe, während die Flosse des Walfisches mit derjenigen der eigentlichen Fische ganz und gar nichts zu tun habe? So kamen die Naturforscher nach und nach zur Erkenntnis, dass nicht die Form, Größe und Funktion eines Teiles, sondern nur seine Lage- beziehung und die Art seiner Verbindung mit anderen Teilen seinen morphologischen Wert charakterisiert und für die Beurteilung der Einheit in der Mannigfaltigkeit zu verwerten ıst. Dass man sich 38 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. wohl hüten müsse, bloß analoge Übereinstimmung (Schwanz der Wale und Fische) wt le Homologie zu verwechseln (Flügel, Pferdefuß, Delphinflosse). Dieser morphologische Wert eines Teiles bleibt also auch dann noch erhalten, wenn seine Dimensionen schon ganz gering sind, wenn er anscheinend keine Rolle mehr ım Leben des Tieres spielt. Daraus ergibt sich der systematische Wert der rudimentären Organe. Was sind aber diese rudimentären Organe? Aus der Tatsache, dass sie sehr häufig den Grundplan des Baues ergänzen, wurde zunächst gefolgert, sie wären eben dazu da, um den Bauplan zu ergänzen. Diese Abirrung des Denkens ist aber so augenscheinlich, dass sie nicht lange die Forscher gefangen halten konnte. Einige Beispiele aus dem Gebiete der Botanik: die (Blatt-)Ranken der Platterbse sind den (Stamm-)Ranken der Rebe nicht homolog, sondern bloß analog, dagegen sind die blattähnlichen Flachsprosse des Mäusedorns vermöge ıhrer Stellung zu den anderen Teilen eben keine Blätter, sondern Sprosse. Die rudimentiren Staubgefäße mancher Blüten ergänzen die Teile der Blüte zur normalen Grund- zahl der betreffenden Gruppe und stellen somit den äußerlich ver- loren gegangenen Grundplan wieder her. Auch hier gibt es also neben der physiologischen Qualifikation eines Teiles noch Angaben über seinen morphologischen Wert und diese sind es gerade, die uns das „wahre Wesen“ jenes Teiles offenbaren. Während die Systematik es mit der Vergleichung von Einzel- wesen zu tun hat, findet die Morphologie schon innerhalb des Einzelwesens ein dankbares Objekt für ihre Betätigung, insofern schon gewisse Teile des Einzelwesens Variationen eines und des- selben gemeinsamen Grundthemas zu sein scheinen. Bei einer ge- füllten Rose haben sich die Staubgefäße in Kronblätter „verwandelt*, „metamorphosiert“; daneben gibt es eine „normale“ Metamorphose: die Blattnatur der Blütenteile drängt sich in vielen Fällen dem unbefangenen Blicke auf, die Nieder- und Hochblätter, die Keim- und Laubblätter sind ebenfalls Blätter, also sämtlich Modifikationen eines Grundorganes, des „Blattes“. Ja, in manchen Fällen hält es schwer, einen richtigen Namen für einen Pflanzenteil zu finden, weil er in der Mitte zwischen zwei heterogenen Gebilden zu stehen scheint: so finden sich in der Blüte der Seerose Teile, die zwischen Kronblättern und Staubgefäßen stehen und sich in ihrer Form bald mehr diesen, bald mehr jenen nähern. Hier bedient man sich eines Verbums, um den Sache al auszudriicken, man sagt, die Kron- blatter gehen allmählich in die Staubgefäße über. Streng genommen ıst auf dieser Stufe der Forschung ein solcher Ausdruck unkorrekt und zu tadeln. Ebenso steht es mit den unmerklich meimander übergehenden Varietäten einer polymorphen Gruppe. von denen man häufig liest. Doch dies nur nebenbei. Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. 39 Was ist nun dieses „Wahre Wesen“, welches uns allein er- möglicht, die Einheit in der Mannigfaltigkeit auszuspüren? Welches einerseits so ewig und unabänderlich ist, dass es sich selbst in der weitgehendsten Abweichung nachweisen lässt und andererseits so nachgiebig und wandelbar, dass ein und dasselbe Urding die ver- schiedensten äußeren Formen annimmt? Diese Einheit in der Mannigfaltigkeit kann in zweierlei Weise aufgefasst werden, entweder in idealistischer oder in realistischer Weise. Für die ıdealistische Auffassung ist das allen Blattarten zugrunde liegende Gemeinsame „die Idee des Blattes“, deren Ver- körperung bald als Niederblatt, bald als Hochblatt, bald als Frucht- blatt erscheint. Für die realistische Betrachtungsweise gibt es nur eine einzige Erklärung für diese Wandelbarkeit und Konstanz der Grundorgane und Baupläne, es ist die wirkliche Blutverwandtschaft, die gemeinsame Abstammung und die tatsächlich stattgehabte Ab- änderung in Verbindung mit Wechsel der Funktion. Die Fleder- maus ist aus einer anderen (jetzt ausgestorbenen) Säugetierart her- vorgegangen, und indem ıhre Vorderextremitäten immer mehr einer neuen Bewegungsweise angepasst wurden, verloren sie die äußere Ähnlichkeit mit den Gang- oder Greifbeinen der übrigen Säugetiere. Im Grundplan ihres Aufbaues blieben sie aber unverändert, die Veränderungen betrafen nur die Länge der Fingerglieder, nicht aber ihre Zahl und gegenseitige Verbindungsweise. Die mit verschiedenen Blattarten ausgestatteten höheren Pflanzen sind aus niederen her- vorgegangen, bei denen ein und dasselbe Blatt zur Ernährung und zur Vermehrung diente, was wir auch jetzt noch bei Wurmfarn und Hirschzunge antreffen, wo dasselbe Blatt assimiliert und Sporen erzeugt. Bei den Blütenpflanzen haben sich besondere Blattarten für jede Einzelfunktion ausgebildet, Schuppen, Kelchblätter, Kron: blätter u.s. w. Deshalb haftet ihnen allen noch die ,Blattnatur* an. Gegen diese Auslegung schien der wichtige, nicht in Abrede zu stellende Umstand entschieden zu sprechen, dass wir innerhalb der Phanero- gamen jene Differenzierung schon vollständig durchgeführt finden, zwischen Phanerogamen und Kryptogamen aber eine nicht zu über- brückende Kluft zu bestehen scheint. Als daher durch Hofmeister’s bahnbrechende Untersuchung die prinzipielle morphologische Über- einstimmung der Reproduktionsorgane sämtlicher Kormophyten nachgewiesen wurde, stand der realistischen Auffassung der Meta- morphose nichts mehr im Wege und zugleich bildete dieser Nach- weis eine der stärksten Stützen, welche die Morphologie für die Deszendenztheorie beizubringen vermochte. Die Entscheidung war von prinzipieller Wichtigkeit. Stellt man sich nicht auf den Boden der Deszendenztheorie, nimmt man nicht eine wirkliche Blutsverwandtschaft aller Arten eines Typus an, dann muss die große Einheitlichkeit im Baue, welche mit dem 40 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. Fortschritt der morphologischen Forschung und der natürlichen Klassifikation immer deutlicher hervortrat, mysteriös erscheinen und die denkenden Forscher auf mystische Anwandlungen führen. Die Einheitlichkeit 1m Bauplan wird dann zum Ausdruck einer „Idee“, die als reine platonische Idee eine ewige Existenz hat und sich in den Einzelformen verkörpert. So führt die idealistische Morphologie notwendig zu der Grundanschauung des mittelalter- lichen „Realismus“ zurück, für welchen die Allgemeinbegriffe vor den Einzeldingen existieren, als reine ewige Ideen in Gott und als angeborene Ideen in unserm Geist. Demgegenüber konnte eine naturwissenschaftliche Auffassung der Metamorphose und der ganzen Morphologie nur nominalistisch sein, d. h. die allgemeinen Begriffe als etwas Sekundäres, erst durch Abstraktion von den Einzeldingen Entstandenes betrachten. In diesem Falle konnte aber nur die wirkliche, reale, nicht bloß ideelle Verwandtschaft den Schlüssel zum Verständnis der Einheitlichkeit im Bauplan trotz der Mannig- faltigkeit im einzelnen, geben. (Es ist sehr. misslich, dass der Begriff des Realismus heute eine ganz andere Bedeutung hat als einst. Wir stellen heute die realistische Auffassung der Metamorphose der idealistischen entgegen; doch ist unsere realistische Auffassung nicht realistisch im Sinne der mittelalterlichen Philosophie, sondern nominalistisch, während die idealistische Morphologie den Standpunkt des mittel- alterlichen Realismus (universalia sunt ante rem) vertreten musste. Man kann also sagen, dass die Morphologie erst durch Über- windung des mittelalterlichen Realismus ihren im modernen Sinne realistischen Charakter erlangt hat.) Es sind nicht etwa bloß philosophische Rücksichten, die uns die realistische Morphologie gegenüber der idealistischen bevorzugen lassen. Die Auffassung des Bauplanes als „Idee“ verwickelt sich in eine große Menge von Schwierigkeiten, aus welchen uns nur die realistische Auffassung, also die Deszendenztheorie, erlöst. Gehören die bikonkaven Wirbel zur Idee „Fisch“, so ist es nicht einzusehen, warum dieses Merkmal auch beim Olm, dann bei der neusee- ländischen Hatteria und dann wieder beim ausgestorbenen Urgreif (Archaeopterix) angetroffen wird? Wie kommt, es, dass Peripatus in sich zwei Ideen vereinigt, die sonst immer getrennt sind? Wie kommt es, dass die eine Pflanze Ranken hat, welche „der Idee nach“ Stengelorgane sind, während eine andere Pflanze dasselbe Bedürfnis durch Ranken befriedigt, welche der „Idee nach“ Blätter sind? Und dann: wenn zur Idee der Schlange der Mangel von Beinen gehört, wie erklärt sich die Anwesenheit von Becken und Hinterbeinresten bei Riesenschlangen? Und die Beckenknochen der Waltiere, die oberen Schneidezähne der Wiederkäuer u. s. w. gehören sie zur Idee der betreffenden Gruppe, dann müssten sie Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. 41 doch auch eine normale Ausbildung erlangen. Kurz, das Vor- handensein von Mittelformen, die eine Mischung von Merkmalen verschiedener Klassen aufweisen, ferner der Gegensatz von Homo- logie und Analogie und die rudimentären Organe — das sind drei Gruppen von Tatsachen, die der idealistischen Morphologie unüber- windliche Schwierigkeiten bereiten und die sich ohne weiteres durch die Deszendenztheorie erklären lassen. 4. Geographie. Die Tatsachen der geographischen Verbrei- tung lassen sich nur unter dem Gesichtspunkt der Deszendenz naturwissenschaftlich begreifen. Vor allem sei darauf hingewiesen, dass es ein natürliches System der biogeographischen Gebiete gibt. Teilen wir die ganze Erde in eine größere Anzahl von faunistischen Provinzen, so zeigt sich, dass diese Provinzen sich wie die Arten des natürlichen Systems verhalten, indem sie sich zu Gruppen ver- einigen lassen, wobei diese Gruppen eine Subordination und Koordi- nation aufweisen. Also werden mehrere Provinzen zu einem Reich vereinigt, und mehrere Reiche zu einer Faunengruppe. Eine jede Provinz trägt neben ihren spezifischen Merkmalen diejenigen des» betreffenden Reiches und der betreffenden noch mehr übergeordneten Faunengruppe. Zwei Provinzen eines Reiches unterscheiden sich weniger voneinander, als wenn sie zu zwei verschiedenen Reichen gehören und noch mehr, wenn sie zu zwei verschiedenen Faunen- gruppen gehören. Die Verteilung der niederen Einheiten auf die höheren ist keine gleichmäßige. Wie es artenreiche und artenarme Gattungen und Familien gibt, so gibt es auch hier Faunen- gruppen mit zahlreichen Reichen und Provinzen und solche mit nur sehr wenigen. Und wie es Arten gibt, die für sich allein eine Familie ausmachen, so gibt es Provinzen, die den Rang eines selbständigen Reiches beanspruchen. Beispiel: Neuseeland. Das sind aber immer solche Provinzen, die von den übrigen durch sehr lange Zeiten getrennt waren. Wir kommen darauf noch zurück. Die Verbreitungsgebiete von Gattungen sind in der Regel größer als diejenigen von Arten, die der Familien noch größer u. s. w. Darin zeigt sich eine merkwürdige Beziehung zu der Zeit, denn das Divergieren der Ordnungen, Familien und Gattungen gehört einer älteren Zeit an, als das Divergieren der Arten. Die Ver- breitungsgebiete der Arten und Gattungen sind im allgemeinen zu- sammenhängende. Wo wir ein zerrissenes Verbreitungsgebiet vor uns haben, da ist entweder der Einfluss des Menschen daran schuld (Wisent in Europa), oder es handelt sich um eine altertümliche Gattung (Peripatus) oder es haben in neuerer Zeit tiefgreifende Veränderungen in der Verbreitung stattgefunden (arktisch-alpine Flora). Auch hier also wiederum eine unverkennbare Beziehung zu der Zeit. 42 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. Nicht die klimatischen Unterschiede zweier Provinzen bestimmen die Differenzen der Faunen, sondern der Grad der Isolation. Bei gleichen klimatischen Bedingungen — verschiedene Faunen und vice versa. Wo die Kontinente sich im Norden fast berühren, da sind die Ubereinstimmungen am größten, wo sie im Süden weit aus- einander gehen, da sind die Unterschiede die denkbar größten — das Klima ist in beiden Fällen gleich, also wird es aus der Be- trachtung ausgeschaltet. Der Endemismus ist ım Süden viel größer als im Norden. „So spiegeln sich in der organischen Welt die beiden großen geographischen Gegensätze wieder: die alte und die neue Welt, die Nord- und Siidkontinente* (Supan). Arabien gehört faunistisch zu Afrıka, denn das Rote Meer ıst geologisch jung. Ebenso gehören Nordafrika und Südeuropa zu- sammen, weil auch das Mittelmeer jung ist. Die Sahara ist die faunistische Grenze zwischen Europa und Afrika, während das Mittelmeer bloß eine Lücke innerhalb einer Provinz, eine interne Bildung der Mediterranen Provinz des borealen Reiches (der arkto- gäischen Faunengruppe) ist. Dass die kontinentalen Inseln in ihrer Fauna und Flora mit dem nächstliegenden Kontinent übereinstimmen, dass die ozeanischen Inseln einen hohen Grad von Endemismus aufweisen und dabei doch im allgemeinen Charakter die größte Übereinstimmung mit dem nächsten Kontinent zeigen, dies ist aus obigem ohne weiteres klar. Also, jede Art hat sich an einer Stelle entwickelt und von da aus überall dorthin verbreitet, wo ıhr keine Schranken im Wege standen. Von diesem Standpunkte lassen sich alle Tatsachen der Biogeographie begreifen. 5. Paläontologie. Aber auch die Verteilung der Lebewesen ın der Zeit, d. h. die geologische Aufeinanderfolge liefert die deutlichsten Beweise für die Deszendenz und bleibt ein Gewirr un- erklärter und zusammenhangsloser Tatsachen und Probleme, wenn man die Deszendenz nicht gelten lässt. Die ausgestorbenen Formen sind durchaus keine „Ungeheuer“, wie sie in der Sprache der popu- laren Bücher heißen, und es ist schon ein Kardinalpunkt zugunsten der Deszendenz, dass die ausgestorbenen Formen sich in das System fügen, welches allein mit Berücksichtigung der lebenden Wesen aufgestellt worden ist; dass die fossilen Formen ihren Platz im System gebieterisch verlangen und im allgemeinen auch ohne wei- teres zugewiesen bekommen. Doch nur „im allgemeinen“, denn im einzelnen machen sie verschiedene Umstellungen und Erweite- rungen der systematischen Gruppen nötig; es müssen bald bloß neue Arten, bald neue Gattungen, Familien u. s. w. eingeschoben werden. Diese Erweiterungen sind um so tiefgreifender, um je ältere Formen es sich handelt. Daraus folgt, dass die gesamte fossile Tier- und Pflanzenwelt eine immer größere Annäherung an die gegenwärtige Lebewelt aufweist. Diese Annäherung ist eine stetige a ne nS ne ae N ne Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. 43 — denn die Lebewesen einer geologischen Formation halten im allgemeinen immer die Mitte zwischen den Formen der älteren und derjenigen der nächstfolgenden. Die Fossilien eines Landes zeigen große Übereinstimmung mit der lebenden Fauna desselben, so z. B. die Beuteltiere in Australien, die Zahnarmen (Riesengiirteltiere und Riesenfaultiere) Südamerikas. Zahlreiche fossile Formen nehmen eine Mittelstellung zwischen verschiedenen heute scharf abgegrenzten Familien und Ordnungen ein (Archaeopteryx). 6. Beispiele Am schönsten und überzeugendsten für die Lehre der Deszendenz sind diejenigen Fälle, in denen die drei Ver- teilungsfragen, die Verteilung der Formen im natürlichen System, ihre Verteilung im Raum und in der Zeit ganz übereinstimmend auf die Abstammung hinweisen und durch diese Annahme die Schwierigkeiten in glänzender Weise ihre Erledigung finden. Das zeitliche Auftreten der Klassen und Ordnungen eines Typus ent- spricht ihrer Stufenfolge im System. Die ersten Reste von Fischen sind uns aus dem Silur bekannt, die ersten Amphibien aus dem Karbon, Reptilien erscheinen ım Perm, die Säugetiere ın der Trias. Die ältesten bekannten Fischreste gehören den niederen Ordnungen, die Knochenfische erst im Jura. Was für wunderliche Annahmen müssen gemacht werden, um diese Tatsachen anders als durch Des- zendenz zu erklären. Die Schwanzflosse ist bei den niederen Fisch- ordnungen diphycerk, bei den mittleren heterocerk, bei den höchsten — homocerk. Genau dieselbe Reihenfolge zeigt sich in den fossilen Resten und in den aufeinanderfolgenden Entwickelungsstadien eines Knochenfischembryos. Dass Arten, die im System eine isolierte Stellung einnehmen, d. h. für sich allen eine ganze Familie oder Ordnung verlangen, die häufig als Bindeglieder weit entfernter Gruppen erscheinen, zugleich auch räumlich isoliert sind und ıhre nächsten Ver- wandten unter den längst ausgestorbenen Formen haben — dieses Zusammentreffen bildet eine der stärksten Stützen der Deszen- denzlehre. Ein solches lebendes Fossil ıst das Reptil Hatteria. Die Hatteria (oder Sphenodon) hat eine merkwürdige isolierte Stellung (eigene Ordnung) im System. Sie scheint die Merkmale der Krokodile mit denjenigen der Eidechsen und dazu noch mit einigen ganz primi- tiven Wirbeltiereigenschaften zu verbinden. Sie ist in ihrer räum- lichen Verbreitung außerordentlich beschränkt, sie hat im welt- abgelegenen Neuseeland ihre letzte Zufluchtsstätte gefunden. Und wo finden sich in der weiten Welt ihre Verwandten? In der Gegen- wart nirgends, aber in der Vergangenheit und zwar in der recht weit zurückliegenden —- die ältesten schon im Palaeozoicum. Die alpine Flora und Fauna der europäischen und nordasiatischen (Gebirge zeigt eine merkwürdige Beziehung untereinander und zur 44 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. arktischen Lebewelt. In einigen Fällen ist es dieselbe Art, die in den höchsten Regionen der Alpen, Pyrenäen, Kaukasus und Altai und dann im hohen Norden Eurasiens ihre Heimat hat. Also ein zerrissenes Verbreitungsgebiet. Manchmal sind es Lokalformen, Varietäten derselben Art, in anderen Fällen aber sınd es besondere, jedoch nahe verwandte Arten. Sie sind einst in der Eiszeit vom hohen Norden ausgewandert und über das ganze Gebiet verbreitet gewesen, haben sich beim Rückzug der Gletscher nach Norden und in die Hochgebirgszone zurückgezogen, sind in den Gebirgen isoliert und zum Teil in Lokalvarietäten, zum Teil in neue Arten von reprisentativem Charakter umgewandelt worden. Ihre ehemalige Verbreitung und die Geschichte ihres Eroberungs- und ihres Rück- zuges sind durch die paläontologischen Urkunden besiegelt. Also vollständigste Harmonie zwischen den Ergebnissen der Verteilung im System, im Raum und in der Zeit. Die australischen Raubtiere, Nagetiere, Pflanzen- und Insekten- fresser sind den europäischen nicht verwandt, sondern bloß analog — sagt uns die moderne Systematik; denn sie gehören systematisch zu der besonderen Unterklasse der Beuteltiere. Unter sich haben sie trotz der großen Abweichungen ım Habitus einige gemeinsame morphologische Ähnlichkeiten: hakenförmiger Fortsatz am Ünter- kiefer, besonderes Gesetz der Reduktion der Zehen, indem die zweite und dritte Zehe sich verkleinern und von gemeinsamer Haut umgeben werden, während bei den Placentaltieren die dritte Zehe immer erhalten bleibt. Die Beuteltiere sind in Australien isoliert, sagt uns die Geographie, einem Gebiet, wo sonst keine Säugetiere vorkommen. Es ist ein altes Isolationsgebiet. Und die Paläonto- logie bestätigt uns, dass selbst die fossilen Säugetierreste dort nur Beuteltieren gehören, keine Placentaltiere finden sich auch fossil in jenem Kontinent. — Es ist also eine Parallelentwickelung einer sehr dauernd isolierten Unterklasse, die zum Teil zu äußerlich ähn- lichen Produkten geführt hat, wie die Entwickelung des jüngeren Placentalierstammes in den übrigen Kontinenten. Man versuche es mit irgendeiner anderen Erklärung! 7. Zusammenfassung. Diese flüchtige Zusammenstellung der Beweismittel der Deszendenztheorie verfolgt nicht etwa den Zweck, der Deszendenztheorie neue Anhänger zu werben, sondern vielmehr den, die Anhänger der Deszendenztheorie darauf aufmerksam zu machen, dass allem schon die Tatsachen der Systematik, Morpho- logie, Embryologie, Geographie und Paläontologie die Richtigkeit der Deszendenzlehre dartun, indem diese Tatsachenreihen nur unter dem Gesichtspunkt der Deszendenztheorie einer wissenschaftlichen Bearbeitung zugänglich werden. Manche drücken sich so aus, diese Tatsachen stellen uns vor die Alternative: Schöpfung durch über- natürliche Kraft oder Entwickelung; aber nicht einmal so viel darf ee Ve Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. 45 man den Schöpfungsdogmatikern entgegenkommen. Denn für die Wissenschaft existiert eine solche Alternative gar nicht. Die vorurteilsfreie Wissenschaft, die sich das Ziel steckt, ein wider- spruchsfreies System von Begriffen auszubilden, kann die erste Hälfte der obigen Alternative nicht einmal als Problem aufstellen, denn eine übernatürliche Einwirkung existiert für die Naturwissen- schaft nicht. So scheint denn der Deszendenzgedanke als der ein- zige übrig zu bleiben, nicht weil er aus einer Reihe anderer mit- konkurrierender Erklärungen ausgewählt wurde, sondern weil er der einzige ist, der bislang zur Erklärung der Tatsachen vorge- schlagen werden konnte. Eine solche Betrachtung mag vielleicht einige Forscher dazu verleitet haben, die Deszendenzlehre als ein Axiom zu bezeichnen (Reinke). Dies ist sie jedoch in keinem Falle, denn es fehlt ihr die unmittelbare Anschaulichkeit, die den Axiomen eigen ist. Zwischen diesen extremen Darstellungen liegt die Wahrheit in der Mitte: Wohl lässt sich die Deszendenzfrage auch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus ın Form einer Alter- native fassen. Die lautet aber dann so: sind die Arten Produkte unabhängiger natürlicher Vorgänge, wie etwa die Kristalle oder die aufeinanderfolgenden Schichten einer geologischen Formation? oder sind sie Produkte eines lange dauernden organischen Wachs- tumsprozesses mit nachfolgender Isolation, wie die Einzelstöcke einer durch Ausläufer gebildeten Erdbeerkolonie oder wie die Sprosse eines Hornkrautes, dessen Hauptachse von hinten abstirbt, wodurch die einzelnen Seitenachsen wie selbständige Pflanzen erscheinen? Alles, was wir von der Biotaxie erfahren, zwingt uns, das letztere anzunehmen. Und, was für unseren Zweck das wichtigste ıst, die Tatsachen, die zur Annahme der Deszendenz zwingen, sind Ergeb- nisse vergleichender Untersuchungen, die sich auf die Verteilung der Organismen im System, im Raum und in der Zeit erstrecken. Die Deszendenztheorie braucht absolut keiner Hilfsannahmen, sie ist in sich selbst vollständig abgeschlossen. Die Überzeugung von der Richtigkeit des Deszendenzgedankens stützt sich hier nicht auf die Beobachtungen über das Verhalten der Lebewesen als Orga- nismen zur äußeren unbelebten Natur oder auf ihre gegenseitigen Beziehungen; der Verlauf der Lebenserscheinungen ist für ihn neben- sächlich. Daher ist der allgemeine Deszendenzgedanke auch voll- ständig unabhängig von den Detailvorstellungen über den Weg, welchen die Organısmen bei ihrer Entwickelung eingeschlagen haben und über die treibenden Kräfte, welche diese Veränderungen ver- anlasst haben. Eine „mechanische* Begründung oder ein experi- menteller „Beweis“ ıst für den so gefassten Deszendenzgedanken, d. h. sofern sich dieser aus den Tatsachen der vergleichenden For- schung ergibt, weder möglich noch notwendig. Ein Beispiel soll uns dieses Verhältnis erläutern. Bei vergleichender Untersuchung 46 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. der europäischen Sprachen finden wir, dass ein und derselbe Be- griff, der des Zweifelns im Französischen mit doute, im Italieni- schen mit dubbio, im Englischen mit doubt und im Lateinischen mit dubito ausgedrückt wird. Wir sagen, diese Sprachen seien miteinander verwandt. Worauf kann aber Verwandtschaft von. Sprachen beruhen? Wir vermuten, dass es nur gemeinsame Ab- stammung mit allmählicher Modifikation ist, welche das reale Band der Verwandtschaft bildet. Wir finden dafür eine Bestätigung in den räumlichen Beziehungen der Völker, in deren Sprachschatz wir diese Ausdrücke finden, denn das geographische Gebiet ist ein zu- sammenhängendes. Wir finden eine Bestätigung in dem merk- würdigen Umstand, dass die Engländer wohl das b in der Schrei- bung bewahrt haben, es aber nie aussprechen: wir haben hier ein typisches rudimentäres Organ vor uns. Und wir finden, dass die- jenige Sprache (Latein), in welcher das b noch geschrieben und ausgesprochen zu werden pflegte, zeitlich derjenigen voranging, in welcher sich seine Schreibung oder wenigstens seine Aussprache verloren hat. Aus alledem schöpfen wir die sichere Überzeugung, dass wir es hier mit einer divergierenden Entwickelungsreihe zu tun haben. Jede andere Annahme, welche uns diese vier Aus- drücke als Produkte unabhängiger, wenn auch durchaus natürlicher Prozesse hinzustellen versuchte, würde unser Kausalbedürfnis nicht befriedigen. Fragen wir aber weiter: wissen wir denn, welche klimatischen (oder politisch-ökonomischen) Umstände jene besondere Ausbildung der Sprachwerkzeuge und des Geistes bei den Engländern, Italienern und Franzosen bewirkt hatten, die die unmittelbare Veranlassung für die besonderen Schreib- und Sprechweisen abgegeben hat? Natürlich wissen wir davon sehr wenig oder nichts, aber trotzdem bleibt unsere Überzeugung von der Entwickelung der Sprachen in Kraft, denn sie stützt sich nicht auf die Begründung und Rekon- struktion des Vorganges der Entwickelung, sondern ausschließlich auf vergleichende Untersuchungen. Biophysik. Sehen wir nun nach, in welcher Weise sich der Deszendenz- gedanke auf dem Gebiete der physikalischen Forschung in der Bio- logie oder im Bereich dessen, was von uns als das Beziehungs- problem bezeichnet wurde, entwickelt. Das erste, was sich hier dem Blicke des Forschers aufdrängt, ist die überall waltende Gesetz- mafigkeit in den Beziehungen der Lebewesen. Erstens gibt es einen genauen innigen Zusammenhang zwischen der Gestalt eines Teiles und seiner Leistung (der Flügel des Vogels, die Schwanzflosse des Fisches, das Gebiss des Raubtieres und des Pflanzenfressers). Dann besteht Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. 47 eine Beziehung zwischen der Ausbildung und Leistung der Teile einerseits, und den Bedingungen, unter denen die Organismen leben, andererseits. So lange sich die Beobachtung auf verschiedene Arten bezieht, ist das Problem weniger akut, weil die Art in der Gesamt- heit ihrer Merkmale im Rahmen ihrer Verhältnisse als Ganzes ge- geben ist. Wenn aber Abweichungen im Bau derselben Art unter verschiedenen Standortsbedingungen zur Beobachtung gelangen, dann muss der Gedanke an eine Veränderlichkeit immer dringender werden. Es werden Beobachtungen angestellt werden, aus welchen sich herausstellen wird, dass Änderungen im Bau mit den Ände- rungen der äußeren Umstände parallel gehen. Es entsteht die Hypothese, dass die Parallelität auf eine Verursachung zurückzu- führen ist. Zur Entscheidung der Frage sind Versuche unentbehr- lich. — Das Ergebnis solcher Versuche ist, dass die Lebewesen einen hohen Grad von Plastizität im Bau und Funktion besitzen; die Gestaltung, Formbildung als Lebensäußerung, ebenso wie auch die auffallende Koinzidenz zwischen Form und Funktion, zwischen beiden und den Lebensbedingungen sind nicht etwas Starres und Unveränderliches, sondern plastisch, veränderlich. Unter diesen, auf der Wechselwirkung innerer und äußerer Einflüsse beruhenden Veränderungen sind manche für die Fortdauer des Lebens unter den veränderten Bedingungen günstig — tragen also den Charakter zweckmäßiger Änderungen oder Anpassungen. Andere sind in dieser ‚Beziehung indifferent. Es ist dies ein reiches, fast unendliches Feld für die Betätigung des forschenden Geistes, ein Gebiet, in welchem der Schlüssel liegt zum Verständnis des Lebens, zum Zurückführen seiner Äußerungen auf die ersten Elemente: Stoff, Kraft, Form. Ist man auf diesem Wege eine Strecke weit vorgerückt, so lässt sich eine immer wieder auftauchende Vermutung nicht unter- drücken: ist nicht vielleicht die ganze gegenwärtige Lebewelt, mit ihrer wunderbaren Formenmannigfaltigkeit und ıhrem staunen- erregenden Reichtum an Beziehungen lediglich ein Ergebnis ge- häufter Variabilität? Ist nicht der Walfisch aus anderen Tieren hervorgegangen, die noch keine Walfische waren und alle die An- passungen desselben noch nicht besaßen? Ist nicht der Vogel aus einer Form hervorgegangen, die jener wunderbaren Anpassungen entbehrten und das Reich der Lüfte noch nicht zu beherrschen vermochten? Hat nicht die Mannigfaltigkeit der Gestaltung ihren Ursprung aus einem Zustand genommen, wo die Zahl der Formen noch viel geringer war und ihr Bauplan einfacher? Sind nicht die merkwürdigen Beziehungen zwischen den Blumen und den sie be- stäubenden Tieren, zwischen dem Einsiedlerkrebs und der Anemone erst allmählich so geworden? Diese Vermutung enthält in sich eine Hypothese, die sich nicht beweisen lässt, näm- 48 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. lich die unbegrenzte Akkumulationsfähigkeit der (in engen Grenzen sicher konstatierten) Variabilität. Und sie involviert ferner eine Schlussfolgerung, welche in das andere Gebiet der Forschung hinüberspielt, nämlich, dass die systematischen Gruppen, Arten, Gattungen, Familien, nicht scharf getrennt ewig und unabänderlich, sondern verschiebbar, auseinander ableitbar sind. In diesem Punkte berühren sich die beiden Probleme, das Verteilungsproblem und das Beziehungsproblem, hier wendet sich die Biophysik an die Biotaxie mit der Frage: „ist es zulässig, ist es gestattet, eine Veränderlichkeit der Arten zu postulieren, die sich aus meinen Untersuchungen mit großer Wahrscheinlichkeit ergibt?“ Worauf die Biotaxie antwortet: „ja, auf meinem Gebiet ıst diese Annahme zu einem unentbehrlichen Forschungsmittel geworden. Experimen- telle Beweise sind mir meiner Natur nach fremd und in diesem Falle auch ganz unmöglich, aber mache ich nicht diese Annahme, so verwickle ich mich in unendliche Widersprüche und verfehle mein Ziel als Wissenschaft — ein widerspruchsfreies System von Begriffen zu geben.“ Durch diese Antwort ermuntert, setzt die Biophysik ihre diesbezüglichen Untersuchungen fort und indem sie ihre Aufgabe immer weiter verfolgt, schwebt ihr von nun an auch noch ein Ziel vor — die Faktoren der organischen Entwickelung zu erforschen. Nicht dass dies fortan ihr einziges Ziel wäre: die nomothetische Forschung, die Erkenntnis der das Lebensphänomen beherrschenden Gesetzmäßigkeit bleibt nach wie vor das Hauptziel der Biophysik, aber indem sie sich mit der Biotaxie in jenem Punkte vereinigt, kann sie diese Gesetzmäßigkeit, die an sich keine Beziehung zur Zeit aufweist, mit zeitlichen Beziehungen verknüpfen. Sie wird dann nicht bloß das Gesetz der Gestaltungsfähigkeit heraus- finden, sondern auch die in der Zeit tatsächlich stattgehabten Ge- staltungen beleuchten. Stellen wir nun zum Schlusse die Unterschiede der Biotaxie und Biophysik in ihrer Beziehung zum Deszendenzproblem über- sichtlich zusammen. Folgendes sind die Hauptpunkte, in denen die Beweisführung der Deszendenzlehre durch die Biotaxie von der Beweisführung der Biophysik abweicht. 1. Die Biotaxie stützt sich auf vergleichende Unter- suchungen, die Biophysik aufexperimentelle Es muss nun an dieser Stelle mit besonderem Nachdruck darauf hingewiesen werden, dass diese Art der Beweisführung für die Biotaxie logisch die einzig richtige ist. Die Biotaxie muss die Verteilung der Organismen im System (inkl. Morphologie und Embryologie), ihre Verteilung im Raum und in der Zeit zur Begründung der Deszen- denzidee heranziehen, sie kann es nicht versuchen, dasselbe auch auf einem anderen Wege zu beweisen. So lange die Biotaxie diese Tatsachenreihen nicht zur Stütze der Deszendenzidee angeführt hat, Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. 49 hat sie die Deszendenz auch nicht begründet, hat sie aber diese Tatsachenreihen als Beweismittel verwertet, so bleibt ihr auf diesem Gebiete nichts mehr zu leisten übrig. Diese Art der Beweis- führung der Deszendenz ist also für die Biotaxie notwendig und hinreichend. 2. Die Biotaxie ıst imstande die Frage definitiv zu beantworten, die Biophysik nicht. Denn wie wir schon oben gesehen haben, bleibt bei der biophysikalischen Beweisführung ein Punkt immer hypothetisch, nämlich die unbeschränkte Akkumu- lationsfähigkeit der Abänderungen. Wir mögen persönlich davon fest überzeugt sein, dass eine solche Akkumulation möglich ist und auch tatsächlich stattgefunden hat, aber wir müssen zugestehen, dass diese Art der Beweisführung doch einen logisch anderen Cha- rakter hat als die andere. Für die Biotaxie gibt es keine solche Schwierigkeit, weil ihre Beweisführung sich auf einem ganz anderen Gebiete bewegt. 3. In der Biotaxie hat das Problem einen alternativen Charakter, in der Biophysik einen additiven oder kom- plementären. Wir haben bereits oben gesehen, dass für die Biotaxie die Frage so steht: entweder sind die Arten Produkte einzelner unabhängiger natürlicher Prozesse oder sie hängen gene- tisch zusammen. Für die Biophysik besteht aber nicht etwa die Frage: sind die Arten veränderlich oder unveränderlich? Denn die Veränderungen der Arten entziehen sich aus dem oben dargelegten Grunde ihrer direkten Untersuchung. Was also die Biophysik studiert, das sind die Veränderungen der Individuen in einer oder einigen Generationen, und wenn sie hier ihre Hauptfrage aufstellt: wodurch entstehen an den Individuen Veränderungen und auf welche Weise werden sie auf die Nachkommen übertragen und fixiert, so ist dies selbstverständlich keine alternative Frage, sondern eine additive, d. h. sie lässt die Möglichkeit zu, dass sich an diesen Veränderungen mehrere Faktoren beteiligen, deren Wirkungen sich summieren. 4. Die Lösung des Problems ist in der Biotaxie ein. deutig, in der Biophysik vieldeutig. Dies ergibt sich eigent- lich aus 3. Freilich, insofern uns die Biophysik sagt, die Arten sind veränderlich und adaptationsfähig, scheint dies eine eindeutige Lösung zu sein. Aber vergessen wir nicht, dass, sofern es sich um Arten handelt, die Biophysik eben doch nicht ein Problem löst, sondern bloß aufstellt. Verlangen wir aber von der Biophysik ın der Hauptsache doch nur eine Lösung des Problems über die Fak- toren der organischen Entwickelung, so ist diese Lösung eine viel- deutige, denn ein und derselbe Effekt kann auf verschiedenen Wegen entstanden sein. 5. In der Lösung des Deszendenzproblems ist die Bio- XXVIII. i 50 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. physik der Biotaxie logisch untergeordnet. In der Tat (nach obigem) vermag die Biophysik die allgemeine Alternative: Konstanz oder Veränderlichkeit der Arten nicht zu lösen, sie muss sich einzig auf das Aufsuchen der Faktoren der organischen Ent- wickelung beschränken; so leuchtet es ein, dass sie nur durch stete Beziehung auf die (von der Biotaxie bewiesene) allgemeine Wahr- heit des Deszendenzgedankens die Ergebnisse ihrer Beobachtungen | an Individuen für die Beleuchtung der Artbildung verwerten kann. Sie sagt uns: die Wirkung der Kälte bedingt bei Individuen einen starken Haarwuchs, die Wirkung des Wassers erzeugt einen ent- gegengesetzten Effekt. Diese Abänderungen scheinen sich in einigen Generationen zu vererben. Wenn die Arten sich überhaupt durch allmähliche Veränderung auseinander entwickelt haben, so kann (immer unter Voraussetzung, dass eine Akkumulation der Abänderung möglich ist), diese direkte Wirkung der Kälte und des Wassers als artbildendes Prinzip betrachtet werden. So sind die dicht behaarten Arten aus den weniger behaarten (Arten) entstanden und so sind die sekundär haarlosen aus den behaarten entstanden. 6. Endlich, um es ganz kurz zu sagen: Die Biotaxie beweist, dass die Arten der Tiere und Pflanzen sich entwickelt haben, erklärt aber nicht, wie dies geschehen ist oder geschehen konnte. Die Biophysik erklärt, wie sich Arten entwickelt haben können, beweist aber nicht, dass sie sich wirklich so, oder dass sie sich überhaupt entwickelt haben. IV. Soweit das logische Verhältnis der beiden Forschungszweige in ihren Beziehungen zum Deszendenzgedanken. Und nun sehen wir zu, wie sich die Deszendenztheorie tatsächlich historisch ent- wickelt hat. Dass die tatsächliche Entwickelung einzelner Probleme und ganzer Disziplinen sich nicht nach dem Schema vollzogen hat, welches wir heute zu deren Darstellung wählen, ist ja eine allge- mein bekannte Tatsache. Hier gilt es aber für diesen speziellen Fall die Ursachen dieser Abweichung nachzuweisen. Und da muss vor allem darauf hingewiesen werden, dass die Forscher nicht, wie oben durchaus angenommen wurde, voraussetzungslos an die Pro- bleme herantraten, sondern immer von einer vorgefassten Idee be- herrscht und geleitet wurden: von dem Schöpfungsdogma. Und diese vorgefasste Meinung, die den Forschern nicht durch die wissen- schaftliche Vorbildung beigebracht, sondern von der herrschenden religiösen Tradition eingeimpft wurde, beeinflusste nicht bloß das Ergebnis einzelner Beobachtungsreihen, sondern auch die ganze Denkweise, wodurch eine Verschiebung in dem gegenseitigen Ver- hältnıs der Probleme, in ihrer Rangordnung eintreten musste. So Issaköwitsch. Es besteht eine zyklische Fortpflanzung bei den Cladoceren ete. 51 ist es z. B. zu verstehen, dass die Zweckmäßigkeit der organischen Bildungen in einer ungebührlichen Weise in den Vordergrund trat ° und alle anderen Probleme der Funktion und Gestaltung überragte. Die Gefahr dieser ungleichmäßigen Verteilung des wissenschaftlichen Interesses steigerte sich dadurch, dass für die Zweckmäßigkeit des Baues der Tiere und Pflanzen eine fertige Erklärung mitgebracht wurde — die Voraussicht des weisen allmächtigen Schöpfers. Haben wir doch in der zoologischen Literatur eine Insektotheo- logie (Lesser 1738), eine Ichtyotheologie (Richter 1754) und eine Petinotheologie (Zorn 1742). So richtete die Tradition eine doppelte Schranke auf dem Wege der Forschung auf: ım Gebiete der Biotaxie die Vorstellung von der Erschaffung und Konstanz der Arten; im Ge- biete der Biophysik die Weisheit des Schöpfers als Erklärungsgrund der mannigfachen Beziehungen der Lebewesen zur Außenwelt und ihrer einzelnen Teile zueinander. Jede naturwissenschaftliche Auffassung des biologischen Problems der Deszendenz hatte vor allem gegen diese Vorstellungen zu kämpfen und für den Kampf sind Waffen nötig. Welche Mittel standen nun der Wissenschaft zur Verfügung und in welcher Weise war sie befähigt, von ıhnen den richtigen Gebrauch zu machen? Durchmustern wir nun die lange Liste der angeblichen Vorläufer Darwin’s und schätzen wir ihre Leistungen von diesem methodo- logischen Gesichtspunkte ab, so kommen wir zu folgendem Resultat. Vor allem sind diejenigen Vorläufer Darwin’s aus der Be- trachtung auszuschließen, welche die Entwickelung in rein idea- listischem (nicht realistischem) Sinne auffassten. Da sind die Natur- philosophen, denen die Entwickelung der organischen Welt ein Postulat der reinen Vernunft war, welche die Entwickelung rationa- listisch (nicht empirisch) begründeten, bei denen sie eine Deduktion war, indem sie sich aus den Grundeigenschaften der Monaden oder irgendwelcher anderer metaphysischen Konzeptionen ergab. Mit dieser Entwickelung verband sich bei ihnen der Glaube an die Konstanz der Art, die rein bildliche Auffassung der „Verwandt- schaft“, der Gedanke an eine geradlinige Stufenleiter der Organismen (unilineare Progression). Hierher gehören die Philosophen der Leibnitz’schen Schule und im 19. Jahrhundert Oken. (Fortsetzung folgt.) Es besteht eine zyklische Fortpflanzung bei den Cladoceren, aber nicht im Sinne Weismann’s. Von Dr. Alexander Issaköwitsch, Zoologisches Institut München. In meiner Arbeit über die ,,Geschlechtsbestimmenden Ur- sachen bei den Daphniden“ gelangte ich infolge meiner experimen- tellen Untersuchungen zu dem Schluss, dass Zyklen im Sinne Weismann’s die Daphniden nicht besitzen. Daraus entnahm re 52 Issakéwitsch, Es besteht eine zyklische Fortpflanzung bei den Cladoceren ete. Strohl!), dass ich jede zyklische Fortpflanzung bei den Daphniden verneine. Seinen Fehler zu korrigieren und darzulegen, wie ich die zyklische Fortpflanzung der Cladoceren verstehe, sollen die folgenden Zeilen dienen. Im Laufe der Ausführungen werde ich öfters auf meine oben erwähnte Arbeit zurückkommen müssen, um die von Strohl gemachten Einwände zu widerlegen. Vor allem aber möchte ich gleich hier darauf hingewiesen haben, dass ich niemals, wie das ipl weise von Strohl behauptet wird, in den niedireen Temperaturen eine direkte und einzige Ursache erblickte, dueon welche die Daphniden zur peschlecimlintien Fortpflanzung gebracht werden. Im Gegenteil, auf S. 17 meiner Arbeit heißt es wörtlich: „die an Daphnia magna-Kulturen gemachten Erfahrungen haben mich überzeugt, dass außer den äußeren Existenzbedingungen auch der jeweilige Zustand des Eierstockes eine gewisse Rolle als deter- minierender Faktor spielt.“ — Im weiteren will ich auch diesen Gedanken ausführlicher darzulegen suchen. Mit meinem Satz: „Zyklen im Sinne Weismann’s besitzen die Daphniden nicht,“ beabsichtige ich zu sagen, dass die Zyklen keine für jede Art ein für allemal und für alle Bedingungen festgelegte sind — d. h. dass sie keine durch die Anpassung erworbene und durch die Vererbung unveränderlich weitergegebene Einrichtung darstellen, wie Weismann das will. Dagegen weise ich in meiner Arbeit auf den überraschenden Pamela der Fortpflanzungsart der Daphniden mit jener der Protozoen hin. Dieser Gedanke wurde von Methodi Popoff in seinen Untersuchungen über die ,,De- pression der Protozoenzelle und der Geschlechtszellen der Meta- zoen“?) weiter ausgearbeitet und führte ihn zu einer Auffassung der zyklischen Fortpflanzung, welcher ich mich vollkommen an- schließe. Auf ein reichliches, hauptsächlich an Protozoen gewonnenes Tatsachenmaterial gestützt, sagt er: „Die parthenogenetischen Eier sınd germinative Zellen, welche sich im Depressionszustand befinden. Dieser Zustand ist aber noch solcher Natur, dass er durch die Selbstregulation der Zelle rück- gängig gemacht werden kann. 2. Durch die sich wiederholenden Depressionen, welche je eine parthenogenetische Generation bezeichnen, werden schließlich die Defekte der Zelle so tief, dass diese sich durch Selbstregulation nicht mehr erholen kann: sie stirbt ab, oder konjugiert.“ — Auf diese Weise entsteht ein Zyklus, — er ist also eine notwendige Folge jener physiologischen Vorgänge in der lebenden Zelle, welche sich in einer Veränderung des Größenverhältnisses von Kern und P lasma äußern. Meine Simocephalus vetulus-Kulturen sind Beweise 1) ron . „Die Biologie von Polyphemus pediculus und die Generations- zyklen der ne. Z001.2 Anz Bd} 32, Alps 19: 2) Archiv f. Protistenkunde, Festband für Prof. Richard Hertwig, p. 43. ‘ Issaköwitsch, Es besteht eine zyklische Fortpflanzung bei den Cladoceren etc. 53 für die Richtigkeit dieser Auffassung: bei unveränderlicher Ten- peratur von 24° C. und andauernd reichlicher Ernährung — also ohne jegliche Veränderung in den äußeren Existenzbedingungen — trat, nach fast 4 Monate Jang dauernder Parthenogenesis*), Zerfall der Eier im Brutraum ein, und die Kolonie ging zugrunde. Die Tiere der letzten Generationen zeigten eine große Tendenz, zur ge- schlechtlichen Fortpflanzung überzugehen, und diese Tendenz wurde mit der Zahl der Generationen immer größer. Setzte man Tiere aus den letzten Generationen der Wirkung niedriger Temperaturen oder spärlicher Ernährung aus, so produzierten sie Dauereier, durch deren Befruchtung die Kolonie von dem Aussterben bewahrt wird: ein neuer Zyklus beginnt. Die erwähnten Untersuchungen Popoffs ließen ihn auch zu den folgenden Ausführungen gelangen: „Wie bei einer Infusorien- kultur durch energisches Eingreifen (Kältewirkung, Hunger u. s. w.) das enorme Wachstum des Kernes sehr rasch herbeigeführt wird und dadurch die lange Reihe von Zellgenerationen, welche bei normalen Existenzbedingungen (gleich hoch bleibende Temperatur und reichliche Ernährung) durchlaufen werden muss, auf ein Minimum verkürzt werden kann, so ist es auch mit der zyklischen Fort- pflanzung. Hier kann auch durch Einwirkung von Kälte, Hunger u. s. w. die parthenogenetische Fortpflanzungsweise gleich durch die geschlechtliche abgelöst werden‘). Nachdem wir nunmehr die Wirkung der Temperatur, des Hungers u. s. w. auf das Kern- wachstum kennen, sind uns diese Prozesse leichter verständlich.“ Die Ursachen der Fortpflanzungsart der Daphniden sind also, mit Popoff zu sprechen, „diejenigen, welche jede lebende Zelle be- herrschen, mit der andauernden Funktion derselben eng verknüpft sind und zu dem wellenförmigen Verlauf der Lebensvorgänge führen.“ Mit anderen Worten kann das Gesagte auch folgendermaßen ausgedrückt werden: 1. Jede Daphnidenart bringt bei einer bestimmten Temperatur und Ernährung eine bestimmte Zahl von parthenogenetischen (senerationen hervor. | 2. Nach dem Ablaufen dieser Generationen verlieren die wei- teren Eier die Fähigkeit, durch Selbstregulation eine neue partheno- genetische Generation zu liefern und gehen entweder zugrunde oder erlangen mit Hilfe der Befruchtung die Fähigkeit zu ihrer weiteren Entwickelung. 3) Ich hatte 10 parthenogenetische Generationen gezogen in dieser Wärme- kultur — das ist eine Tatsache, die beweist, dass die Angabe Weismann’s, Stmo- cephalus vetulus gehe bereits in der zweiten Generation zur Produktion von Ge- schlechtstieren über, auf einem Irrtum beruhe. 4) Siehe meine Parallelversuche in: „Geschlechtsbestimmende Ursachen bei den Daphniden.“ Arch. f. mikroskop. Anatomie u. Entwickelung. Bd. 69, 1906. 54 Issaköwitsch, Es besteht eine zyklische Fortpflanzung bei den Cladoceren ete. 3. Wenn sich die äußeren Bedingungen während des Verlaufes der parthenogenetischen Fortpflanzung plötzlich ändern, so wird die Zahl der parthenogenetischen Generationen entweder verkleinert oder vergrößert. In der freien Natur, wo die Temperatur und die Quantität, wie die Qualität des Nährmaterials ununterbrochen größeren oder kleineren Schwankungen unterworfen ist — tritt uns eine Er- schöpfung der Fortpflanzungskraft durch andauernde Parthenogenesis nie so deutlich vor Augen, wie in meinen Wärmekulturen, in denen die Temperatur wie Ernährung absichtlich immer auf derselben Stufe erhalten wurden’). Einen Beweis dafür, dass die Daphniden auf jede Veränderung der äußeren Lebensbedingungen mit einer Verkleinerung oder Vergrößerung der Zahl der parthenogenetischen Generationen reagieren, kann sich ein jeder holen, wenn er nur kurze Zeit Daphnidenkolonien im Freien beobachtet. Da wird er bald merken, dass bei ein und derselben Daphnidenart ın nahe beieinander liegenden Tümpeln die Geschlechtsperioden sehr oft nicht zusammenfallen, doch sind hierbei die Schwankungen nicht groß, es handelt sich meist nur um wenige Tage. Diese Tatsache muss für die Vertreter der Weismann’schen Anschauungen äußerst 5) Strohl nennt die von mir auf diese Weise geschaffenen Bedingungen „anormal“ und will daher das Resultat meiner Versuche nicht anerkennen. Hier- durch spricht Strohi dem Experiment überhaupt jegliche Beweiskraft ab: Die Bedingungen eines Experiments sind immer absichtlich geschaffene, solche, welche bestimmt sind, die Wirkung eines bestimmten Faktors deutlicher vor Augen zu führen. Hieraus ergibt sich, dass, wenn wir z. B. die Wirkung einer bestimmten Temperatur erkennen wollen, wir dieselbe allein auf das Untersuchungsobjekt einwirken lassen müssen, alle anderen Temperaturen ausschaltend und alle übrigen Lebensbedingungen unverändert belassend. Als Kontrollversuch muss ein Versuch mit einer anderen Temperatur bei den gleichen übrigen Lebensbedingungen ange- stellt werden. Die Ergebnisse der beiden Experimente können entweder gleich aus- fallen oder verschieden. Im ersteren Falle müssen wir schließen, dass die Tem- peratur die in Frage stehende Bedeutung nicht besitzt, im zweiten — ihr diese Bedeutung zuerkennen. Das Resultat eines Experiments hat so lange unbestreitbare Bedeutung, als man keinen Fall kennt, in dem man bei denselben Versuchsbedingungen ein anderes Resultat erzielt, oder bis man nachgewiesen hat, dass in der Versuchs- anordnung Fehler steckten, die das Resultat beeinflussen konnten. Bei meinen Versuchen wurden solche Temperaturen angewandt (8°, 16°, 24° C.), wie sie in der freien Natur für die Cladoceren nichts Ungewohntes darstellend, ohne jegliche Störungen in den Verrichtungen des Organismus ertragen werden. Auch ernährten sich die Tiere von dem ihnen in den Gläsern dargebotenen Detritus ausgezeichnet und waren während der ganzen Dauer der Versuche (etwa ein halbes Jahr) voll- kommen frisch und munter. Meine Wärmekulturen z. B. waren in mehr als 100 Gläsern geführt -— somit also ebensovielmal wiederholt — und ergaben immer dasselbe Resultat, das berechtigt mich, so lange Strohl keine Gegenbeweise erbracht, seiner nackten Negation gegenüber alle meine Schlüsse aufrecht zu er- halten. Dagegen würde es mich sehr interessieren zu erfahren, wie er zu der in ihrer Einfachheit so überraschenden Behauptung kommt, dass die Tiere, „wenn sie nur am Leben bleiben, sich schon irgendwie fortpflanzen werden“?! Issaköwitsch, Es besteht eine zyklische Fortpflanzung bei den Cladoceren etc. 55 ungelegen sein, -— denn wahrlich, wenn für jede Art ein für allemal und bei allen Bedingungen eine bestimmte Zahl von partheno- genetischen Generationen vorgeschrieben ist, — wie kommt es dann zu diesen Unregelmäßigkeiten? Strohl hatte auch mit diesem peinlichen Hindernis zu tun, — jedoch glaubt er es mit den folgen- den Worten beseitigen zu können: „Die Geschlechtsperioden®) sind also in den verschiedenen Tümpeln nicht immer ganz gleich; es scheinen Rassen zu be- stehen.“ Nach Weismann hieß es: Die Geschlechtsperioden sind für jede Art ein für allemal festgelegte; jetzt heißt es nach Strohl, dass die Geschlechtsperioden für jede Rasse ein für allemal fest- gelegte sind. Wer weiß aber, in was für Merkmalen sich diese „Rassen“ voneinander unterscheiden? Strohl gibt keine morpho- logischen Merkmale an, und auf Grund von Verschiedenheiten im Zeitpunkt des Eintrittes der Geschlechtsperioden kann man keine Rassen unterscheiden. Zu solchen Schritten kann man nur durch eine vorgefasste Anschauung verleitet werden. Dagegen sind die erwähnten Tatsachen auf Grund der von Popoff und mir ver- tretenen Prinzipien äußerst leicht verständlich. Man hat nur in Betracht zu ziehen, dass die Dimensionen der Tümpel, welche von den verglichenen Daphnidenkolonien bevölkert sind, meist recht verschiedene sind und dass die Lebensbedingungen der Kolonien deshalb gewisse Unterschiede aufweisen müssen: — es wird in dem kleineren und seichteren Tümpel die Temperatur des Wassers viel größeren Schwankungen unterworfen sein als im größeren und tieferen; auch kann im ersteren viel eher Nahrungsmangel eintreten als im letzteren. Da wir nun wissen, wie die Temperatur und die Ernährung die parthenogenetische Fortpflanzung beeinflussen, so sehen wir in dem Nichtkoinzidieren der Geschlechtsperioden in verschiedenen Kolonien einer und derselben Art nur die notwendige Folge der Einwirkung verschiedener Lebensbedingungen auf die Zahl der parthenogenetischen Generationen. Die Ansicht Weismann’s, dass die Geschlechtsperiode bei jeder Art von Daphniden unabhängig von äußeren Einflüssen an bestimmte Generationen gebunden sei, ist durch das Ergebnis der von mir angestellten Parallelversuche widerlegt: Es hat sich dabei gezeigt, dass die geschlechtliche Fortpflanzung auch bei solchen (senerationen hervorgerufen werden kann, die ohne Veränderung ihrer Existenzbedingungen nur auf parthenogenetischem Wege eine Nachkommenschaft liefern würden. Wenn man somit die geschlecht- liche Fortpflanzung als an bestimmte Generationen gebunden nicht ansehen darf, so bleibt für Weismann und seine Anhänger nichts 6) Bei ein und derselben Art (im vorliegenden Falle bei Polyphemus pedi- culus). A.d. V. 56 Issakéwitsch, Es besteht eine zyklische Fortpflanzung bei den Cladoceren ete. übrig, als von einer zeitlichen Fixierung der Geschlechtsperioden zu sprechen. Und tatsächlich, viel gebräuchlicher ist es, die Ge- schlechtsperioden mit gewissen Monaten in Beziehung zu bringen. So z. B. sagen Weismann und Strohl, dass die Geschlechts- perioden von Polyphemus pediculus in die Monate Juni und Oktober fallen’). Ich gab mir die Mühe, eine Tabelle zu entwerfen, in welcher alle Beobachtungen Weismann’s und Strohl’s an Poly- phemus-Kolonien übersichtlich wiedergegeben sind, und kam dadurch zu einem überraschenden Resultat. Tabellarische Zusammenstellung aller von Weismann und Strohl an Polyphemus pediculus-Kolonien gesammelten Beobachtungen. | | = 0 = | | Mehr 28s ! 5 | Ye ae _23|55% Nur Daten | Nur partheno- parthen. Q als S2S%) 5% 3 5 | Geschlechts- | genetische @ | Geschlechts- |N oF » | 3-4 3 en | ; sö3 =3% ar | tiere ser: 743 | | Dale 20.—31. Mai. . | W(77), W(78), W(79) | = — | = = 1.—10. Juni . || W(76), W(78), S(06) oo | (W 76) — II CO 0,.02% W (78) | = | W (79) | (W 76) = 20:30. 8: W (78) I WRLAO) LS (OG) 22a u 1.—10. Juli... W (76), W (78) — IS (OG) ee a= 10-20, =>. W (79) VE (QO) MiMi be editor = Ale Oe oe TE = WO) WAS) | = 1.—10. Aug. . W (76) — I aaa len 10 202 1,500. — Vises eee aul aloes = 203 — | S (05) en = 1.—10. Sept. . | ~ (06) SO TRO} Ca es) aye — 10-20... 1:2) - — I — — 20:30. 3) : — $06; 407,G)) — | — — 110 OK W (78) u a = S (06) OF 20 Saks cote. W (76) fe ae (By CEO) — S (06) A Seis cons _ | — AWE CACO ae AGO), SWG) 1.—10. Nov. . — | = | — | | W (75) | W (76), S (06) 20.—31. Dez. . W (78) -— | — foe — Auf der Ordinate meiner Tabelle sind die Beobachtungsdaten, auf der Abszisse die möglichen Ergebniskategorien verzeichnet. Es sind in der uns interessierenden Hinsicht nur die folgenden fünf Arten von Ergebnissen möglich: 1. Die Kolonie besteht ausschließlich aus parthenogenetischen Weibchen. 2. Die parthenogenetischen Weibchen bilden in ihr die Mehrzahl. 7) Auch Keilhack (,,Zur Biologie von Polyphemus pedieulus“, Zool. Anz., Bd. 30, 1906) behauptet dasselbe, da er aber über seine Beobachtungen keine ausführlichen Angaben macht, kann ich seine Aussage im folgenden nicht in Be- tracht ziehen. Issaköwitsch, Es besteht eine zyklische Fortpflanzung bei den Cladoceren ete. 57 3. Die Zahl der parthenogenetischen Weibchen ist in ihr der Zahl der Geschlechtstiere gleich. 4. Es überwiegen in ihr die Geschlechtstiere. 5. Die Kolonie besteht ausschließlich aus Geschlechtstieren. Die Beobachtungen Weismann’s sind in der Tabelle durch den Buchstaben W, diejenigen Strohl’s durch den Buchstaben S gekennzeichnet. ige diesen Zeichen in Klammern beigefügten Zahlen geben das Beobachtungsjahr an. In zwei Fällen, in denen der prozentuale Gehalt der Kolonie an Geschlechtstieren verzeichnet war, wurden auch die betreffenden Prozentzahlen neben dem Jahr in der Klammer vermerkt. Was lehrt uns diese Tafel? Schon der erste flüchtige Blick auf sie überzeugt uns, dass von ein für allemal festgelegten Geschlechtsperioden keine Rede sein kann, denn wir finden hier sich vollkommen widersprechende Tatsachen verzeichnet: So z. B. sind uns für den Zeitraum vom 1. bis 20. Juni sieben Beobachtungen bekannt, davon ergaben vier [S (06), W (76), W (78), W (78)], dass die Kolonien ausschließlich aus parthenogenetischen Weibchen bestanden, zwei [W (76), W (76)], dass die Kolonien sich in fast reiner geschlechtlicher Fortpflanzung befanden, und eine [W (79)] zeigt uns eine Kolonie zur Hälfte in geschlechtlicher, zur Hälfte in parthenogenetischer Fortpflanzung begriffen. Andererseits besitzen wir für die Zeit vom 1. bis 20. Okt. sechs Beobachtungen, deren zwei [W (78), W (76)] von reiner par- thenogenetischer Fortpflanzung in den Kolonien sprechen, zwei andere [S(06), S(06)] die rein geschlechtliche Fortpflanzung betonen, und endlich zwei [W (76), W (76)], die auf einen gemischten Cha- rakter in der Fortpflanzungsweise der Kolonien hinweisen. Diese Tatsachen genügen schon an und für sich, um der Lehre Weismann’s den Boden zu entziehen. Doch wollen wir der Ta- belle noch einen aufmerksamen Blick schenken, um zu ermitteln, auf welche Beobachtungsergebnisse gestützt Weismann und Strohl die erste Geschlechtsperiode von Polyphemus pediculus in den Monat Juni verlegen. Außer den oben angeführten zwei Fällen, die das Überwiegen der Geschlechtstiere in den Kolonien im Juni bekunden [W (76), W (76)], liegt uns keine einzige Beobachtung vor, die von einem Torhomadıen der ass edalainen Men polenranta, im Juni spräche. Demgegenüber Desilzen wir fünf Beobachtungen, die eine rein parthenogenetische Fortpflanzung in den Kolonien ergaben [S (06), W (76), W (78), W (78), W(78)], einen Fall [W(76)], in dem die parthenogenetische Fortpflanzung überwog und zwei Fälle mit ge- mischter Fortpflanzung [W (79), S (06). Wenn man ganz unbe- fangen ist und auf Grund dieses Beobachtungsmaterials über die 58 Issaköwitsch, Es besteht eine zyklische Fortpflanzung bei den Cladoceren etc. Art der Fortpflanzung von Polyphemus pediculus 1m Juni einen Schluss ziehen will, — so wird man das Vorherrschen der partheno- genetischen Fortpflanzung in diesem Monat betonen müssen. — Mir ist es unbegreiflich, wie Weismann und Strohl von einer Geschlechtsperiode im Juni, ja Anfang Juli*), sprechen können!?). Wenn dagegen die beiden Autoren die zweite Geschlechts- periode als Ende Oktober eintretend bezeichnen, so stehen sie in keinem so auffälligen Widerspruch mit den von ihnen beobachteten Tatsachen, wie ım vorhergehenden Fall, — denn hier haben wir gegenüber zwei Fällen reiner parthenogenetischer Fortpflanzung [W (78), W (76)] — sieben Fälle |W (76), W(75), W (76), S (06), S (06), S (06), S (06)], in denen die Kolonien sich fast ausschließlich auf geschlechtlichem Wege vermehrten und drei Fälle mit gemischter Fortpflanzung [W (76), W (76), W (77)]. Somit ist man zu sagen berechtigt, dass die Fortpflanzung von Polyphemus im Oktober einen ausgesprochen geschlechtlichen Charakter trägt. Strohl sagt anlässlich seiner Beobachtungen über die sogen. zweite Geschlechtsperiode von Polyphemus, dass die ersten Ge- schlechtstiere schon Ende August auftraten, während die eigent- liche Periode der geschlechtlichen Fortpflanzung auf Ende Oktober bis Anfang November fällt. Diese Vorläufer der Geschlechtsperiode sollen zu einer Zeit aufgetreten sein, in der es noch „sehr warm‘ gewesen sei — eine Tatsache, die nach Strohl’s Meinung, meinen 8) A. Weismann, Beiträge zur Naturgeschichte der Daphoideen. Wiss. Zool. Bd:733, sp: 117. 9) Im hohen Norden Schwedens, wo die kleinen Seen und Teiche erst Mitte Juni eisfrei werden und Ende September schon zufrieren (die eisfreie Zeit dieser Gewässer beträgt somit 3—3'/, Monate), konnte Sven Ekman (,,Phyllopoden, Cladoceren und freilebende Copepoden der nordschwedischen Hochgebirge“, Zool. Jahrb., Abt. f. Syst., Bd. 21, p. 88) an Polyphemus-Kolonien Beobachtungen an- stellen, die ergaben, dass der Höhepunkt der geschlechtlichen Fortpflanzung dieser Cladocere in arktischen Gegenden in die Tage vom 10.—20. Juli fällt. Gleich nach der Periode der geschlechtlichen Fortpflanzung stirbt dort die Kolonie aus. Da ich mit Cen näheren Existenzbedingungen der Cladoceren in diesen nördlichen Gegenden nicht bekannt bin, muss ich mich eines Urteils über die Ursachen dieser Erscheinungen enthalten, glaube aber annehmen zu dürfen, dass die frühe Geschlechts- periode unserer Tiere in diesen Gegenden durch das frühere Eintreten der unserem Herbst entsprechenden Temperaturveränderungen bedingt wird. Die Annahme Strohl’s, dass die erste Geschlechtsperiode der einheimischen Polyphemiden eine Remineszenz an die frühe Geschlechtsperiode ihrer arktischen Vorfahren sei, ist von selbst hinfällig, da wir festgestellt haben, dass die Geschlechtsperiode im Juni überhaupt nicht existiere. An der arktischen Abstammung der Polyphemiden will ich nach Sven Ekman’s Aussagen keine Zweifel erheben, doch scheint mir Strohl’s Beobachtung, dass in unseren Gegenden Polyphemus an heißen, sonnigen Tagen den Schatten der über das Wasser hängenden Gebüsche aufsucht, kein 3eweis für die nordische Herkunft der Art zu sein: wäre es nicht natürlicher, die genannte Eigentümlichkeit im Verhalten unserer Tiere einer gewissen Lichtscheu zuzuschreiben ? Issaköwitsch, Es besteht eine zyklische Fortpflanzung bei den Cladoceren etc. 59 Ansichten über die Beziehungen zwischen Temperatur und Fort- pflanzungsweise der Daphniden widerspricht. ‚Sehr warm“ — ist ein subjektiver Begriff; es fragt sich aber, ob die Temperatur, bei der Strohl diese einzelnen Geschlechtstiere beobachtete, nicht tiefer war als jene, die noch kurze Zeit vorher herrschte? Gegen Ende August werden die Nächte schon erheblich kälter als Mitte des- selben Monats oder den Juli hindurch, und dadurch sinkt auch die tägliche Durchschnittstemperatur. Dieses Sinken, wenn es auch recht schwach sein sollte, kann für Individuen, die durch eine den Sommer über andauernde Parthenogenesis schon in jenen Zustand versetzt worden sind, in welchem sie eine große Tendenz besitzen zur geschlechtlichen Fortpflanzung überzugehen, eine ausschlag- gebende Wirkung besitzen. In meiner Arbeit über die geschlechts- bestimmenden Ursachen habe ich nachgewiesen, dass nach lang dauernder Parthenogenesis die Tiere durch eine geeignete Maßregel, z. B. Herabsetzen der Temperatur, sehr leicht zur geschlechtlichen Fortpflanzung gebracht werden können. Die Tatsache, dass nicht alle Tiere einer Kolonie gleichzeitig sich in dem besagten Zustande befinden, erklärt sich vielleicht auch dadurch, dass die Ursprungs- tiere zu verschiedenen Zeiten sich aus den Dauereiern entwickelt haben — eine Erscheinung, deren Ursachen nach Weismann’s Untersuchungen über „die Entwickelungsbedingungen der Dauer- eier 10)“ uns zur Genüge bekannt sind. Sehr eigentümlich klingt der Satz Strohl’s, dass die Zahl der Geschlechtstiere von Ende August bis Anfang November „ohne irgendwelche Beziehung zur Temperatur immer mehr zunahm, während die Wärme aufgehört und die Kälte längst begonnen hatte... Mir ist es unbegreiflich, wie Strohl die Beziehung zwischen dem Sinken der Temperatur und der immer größer werdenden Zahl der Geschlechtstiere über- sieht. Gibt er doch selbst an, dass Ende August unter der großen Zahl der Jungfernweibchen nur wenige Geschlechtsweibchen vor- handen waren, Anfang September sie 10°/,, Ende September schon 30°/, der ganzen Kolonie ausmachen und ihre Zahl im Oktober und November immer mehr und mehr zunimmt, bis die ganze Kolonie nur aus Geschlechtstieren besteht? Somit bestätigen die an Polyphemus-Kolonien gesammelten Be- obachtungen Weismann’s und Strohl’s in allgemeinen Zügen die von mir über die Beeinflussung der Daphnidenfortpflanzung durch äußere Ursachen ausgesprochenen Ansichten. Sie widersprechen ihnen keineswegs. Die wenigen Fälle, in denen im Oktober und Dezember von Weismann einzelne Jungfernweibchen angetroffen wurden [s. Tabelle W (78), W (76), W (78)], ändern wenig am all- 10) Weismann, Beitr. z. Naturgesch. der Daphnoideen, Wiss. Zool., Bd. 33, p- 191. 60 Issakéwitsch, Es besteht eine zyklische Fortpflanzung bei den Cladoceren etc. gemeinen Bild und weisen nur noch einmal mit Deutlichkeit darauf hin, dass außer den äußeren Ursachen, wie Temperatur und Er- nährung, noch der jeweilige individuelle Zustand des Eierstockes, d.h. die Größe der Depression, in der sich die germinativen Zellen des Eierstockes befinden, eine wichtige, ja die Hauptrolle spielt. — Die so häufig beobachtete Tatsache, dass oft lange Zeit hindurch ein und dieselbe Kolonie im selben Tümpel gleichzeitig partheno- genetisch wie geschlechtlich sich fortpflanzende Tiere aufweist, ist leicht verständlich, wenn man bedenkt, dass die Temperatur- wie Ernährungsverhältnisse auf verschiedene Depressionszustände der Eierstöcke der Tiere einwirken müssen. Daher wird der Eierstock eines Tieres, das schon seit lange dem Ephippium entschlüpft ist, oder eine längere Reihe parthenogenetischer Vorfahren besitzt, viel eher den für die geschlechtliche Fortpflanzung notwendigen Grad der Depression erreichen, als die germinativen Zellen eines vor kurzem dem Ephippium entwichenen, oder eine kürzere Reihe par- 'thenogenetischer Vorfahren aufweisenden Individuums. Dass solche, sozusagen verschieden alte Individuen in einer Kolonie gleichzeitig nebeneinander vorhanden sind — ist selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich ist es, dass eine gemischte Kolonie allmählich in eine rein geschlechtlich sich fortpflanzende’ auslaufen muss!!), denn allmählich erreichen bei allen Tieren nacheinander die Fortpflanzungs- zellen den höchsten Grad der Depression und alle Mitglieder der Kolonie gehen zur geschlechtlichen Fortpflanzung über. Kolonien, in denen dieser Übergang nicht konstatiert wurde, sind einfach nicht lange genug kontrolliert worden. Ein gutes Beispiel für einen solchen allmählichen Übergang ist die schon erwähnte Strohl’sche Kolonie, von der wir die prozentuale Zunahme der Geschlechtstiere von Ende August bis Anfang November, der Zeit, ın welcher sich die Kolonie in rein geschlechtlicher Fortpflanzung befand, kennen. „Die parthenogenetischen Eier sind germinative Zellen, welche sich im Depressionszustand befinden. Dieser Zustand ist aber noch solcher Natur, dass er durch die Selbstregulation der Zelle rück- gängig gemacht werden kann'?).“ Ich glaube annehmen zu dürfen, dass die Selbstregulation der parthenogenetischen Eizelle bei den Cladoceren hauptsächlich auf dem Wege der zwei folgenden, einander in ihrer Wirkung ergänzenden Vorgänge bewirkt wird: 1. Die An- eignung von drei Geschwisterzellen und 2. die Aufnahme der durch die Eierstocksepithelzellen zugeführten Néhrstoffe'’). Bleibt der 11) Es wird vorausgesetzt, dass die äußeren Faktoren die einmal eingeschlagene Richtung ihrer Einwirkung unverändert beibehalten. 12) M. Popoff, „Depression der Protozoenzelle und der Geschlechtszellen der Metazoen“. Arch. f. Protistenkunde, Festband f. R. Hertwig, 1907, p. 77. 13) Bei Cladoceren, bei denen eine Ernährung der parthenogenetischen Eier durch das Epithel des Eierstockes fehlt, wird dieselbe durch die gleichbedeutende im Brutraum (Polyphemus, Bythotrephes) ersetzt. Issaköwitsch, Es besteht eine zyklische Fortpflanzung bei den Cladoceren ete. (| zweite Vorgang aus, was bei schwächerem Stoffwechsel des Tieres (der durch Nahrungsmangel oder plötzliches Sinken der Temperatur herbeigeführt wird) stets eintritt, so genügt der erste Vorgang allein zur Selbstregulation der Eizelle nicht, und sie nimmt ihre Zuflucht zur Auflösung und Resorption jüngerer Keimgruppen. Doch kann auf diesem Wege die gestörte Kernplasmarelation des Eies nur bis zu einer Größe korrigiert werden, bei der das Ei im Ruhezustand verharren muss. Wenn dieser Punkt erreicht wird, — ist das befruchtungsbedürftige Dauerei reif. Es benötigt der Be- fruchtung, um wieder in Tätigkeit zu gelangen und sich zu einem vielzelligen Lebewesen zu entwickeln. Wenn sich aber die Cladoceren in ununterbrochen günstigen Ernährungsbedingungen befinden, so fehlt den Eikeimzellen die Veranlassung, sich zu Dauereiern umzubilden und die sich wieder- holenden Depressionszustände werden durch Aneignung der drei Geschwisterzellen und durch Eierstocksepithelernährung überwunden. Doch kann dieser Vorgang sich nicht unbegrenzt lange immer von neuem abspielen — „durch die sich wiederholenden Depressionen, welche je eine parthenogenetische Generation bezeichnen, werden schließlich die Defekte der Zelle so tief, dass diese sich durch Selbstregulation nicht mehr erholen kann: sie stirbt ab... ')*. Meine Wärmekulturen von Simocephalus vetulus haben gezeigt, dass es sich tatsächlich so verhält >). Die folgenden Sätze sınd das Ergebnis dieser Erörterungen: 1. Die Fortpflanzung der Cladoceren ist in dem Sinne eine zyklische, dass bei ihr mehrere Generationen durchlaufen werden müssen bis die Entwickelung wieder zu demselben Punkt zurück- kehrt, von dem sie ausgegangen, und dass die Zahl dieser Gene- rationen für gewisse, bestimmte Lebensbedingungen (Temperatur und Ernährung) für jede Art eine fixierte ıst. Daraus ergibt sich der modifizierende Einfluss der äußeren Lebensbedingungen auf den Zyklus: durch ihre Veränderung wird letzterer abgekürzt oder verlängert. 2. Die Ursache dieser Bedeutung der Temperatur und Ernährung für den Zyklus liegt a) in jenen von ihnen in der lebenden Zelle geschaffenen physiologischen Vorgängen, welche sich in einer Ver- änderung des Größenverhältnisses von Kern und Plasma äußern und b) in den von ihnen für die Korrektion der gestörten Kern- plasmarelation im Daphnidenorganismus geschaffenen Bedingungen. München, 17. Oktober 1907. 14) Methodi Popoff, ‚Depression ete.“, p. 17. 15) Alex. Issakéwitsch, „Geschlechtsbestimmende Ursachen ete.“, p. 6. 62 Reh, Jahresbericht über das Gebiet der Pflanzenkrankheiten. Jahresbericht über das Gebiet der Pflanzenkrankheiten. Unter Mitwirkung (zahlreicher Spezialisten) herausgeg. von M. Hollrung. 8. Bd.: Das Jahr 1905. Berlin, P. Parey. 1907. 8°. VIII, 340 pp. 15 Mk. Jahrbuch für wissenschaftliche und praktische Tierzucht einschliefslich der Züchtungsbiologie. (Unter Mitwirkung zahlreicher Spezialisten) herausgeg. von R. Müller. 2. Jahrg. Hannover, M. u. H. Schayer. 1907. 8°. LIV, 304 pp. 5 Tafeln. Auf frühere Jahrgänge beider Veröffentlichungen habe ich schon einmal im Biol. Centralbl. (1905, S. 635—637) unter Würdigung ihrer allgemeinen Bedeutung hingewiesen. Es genüge, darauf zu verweisen. In dem Hollrung’schen Jahresbericht behandelt E. Küster im ersten Abschnitte die „Allgemeine Phytopathologie und pathologische Anatomie der Pflanzen“. Es wird gezeigt, welche Einflüsse abnormale Reize, wie Ernährung (Aschenbestand- teile oder organische Nahrung), Turgorverhältnisse bezw. Wasser- mangel, Belichtung bezw. unsichtbare Strahlengattungen, Tempe- raturen, Verwundung, mechanische, chemische Faktoren auf das Gedeihen der Pflanzen haben, und wie schließlich die Organismen aufeinander wirken. Giftwirkungen bestehen z. B. danach in Be- einflussung der Wachstumstätigkeit, des Assimilations- und Atmungs- betriebes, des reizphysiologischen Verhaltens u. dgl. einer- und in formativen Effekten andererseits, wofür mehrere Beispiele ange- führt werden. Besonderen Reiz üben auf den Biologen natürlich die Abnormitäten unbekannter Ursache aus, von denen Arbeiten über die Mosaikblätterigkeit des Tabaks und über Albinismus besprochen werden. Der zweite Abschnitt enthält die spezielle Pflanzenpathologie unter Berücksichtigung der wichtigsten tropischen Nutzpflanzen. Es braucht wohl nur kurz erwähnt zu werden, dass dieser Abschnitt eine Fülle von Tatsachen aus der Biologie (ukologie) der Pflanzen und Tiere, bezw. über ihre gegen- seitige Beeinflussung enthält. Es gibt ja wohl kein Gebiet, das uns so zahlreiche, interessante und wertvolle Einblicke in das Ge- triebe und den Haushalt der Natur, in die Abhängigkeiten der Organismen voneinander tun lässt, als gerade das der Pflanzen- krankheiten. Wir möchten Jedem, der sich mit Selektionslehre ın irgend einer Form befasst, raten, einige Jahre Phytopathologie zu treiben; in Ermangelung eigenen Studiums sollte dann aber jeder wenigstens die betr. Literatur studieren. — Der Abschnitt „Pflanzen - hygiene“ enthält zwei Kapitel: 1. Erhaltung und Steigerung der Wachstumsenergie in den Reproduktionsorganen. Natürliche Resi- stenzfähigkeit, und 2. Schaffung optimaler Wachstumsbedingungen. Ernährung. Reizmittel. Wasserversorgung. Bodenbeschaffenheit. Standraum. Einwirkung nicht nährstoffhaltiger Bodenagenzien. Atmo- sphärische Einflüsse. Betr. Immunität von Pflanzen gegen Mehltau kommt Salmon zum Schlusse, dass der Kampfplatz zwischen Pilz und Wirtspflanze intrazellulär liegt. Der Pilz treibt seinen Keim- schlauch in die Pflanze; hier aber geht dieser zugrunde, wohl in- folge der Abscheidung besonderer Substanzen durch das Plasma Reh, Jahresbericht über das Gebiet der Pflanzenkrankheiten. 63 einerseits der Wirtspflanze, andererseits des Haustoriums des Para- siten. Widerstandsfähigkeit bezw. Empfänglichkeit gegen Rost sind erblich, aber nur für eine bestimmte Rostart und eine beschränkte Ortlichkeit. Bastardierung arbeitet der Empfanglichkeit, auch gegen andere Pilze, entgegen. — Während Arbeiten über sogen. physikalische Bekämpfungsmittel in dem Berichtsjahre fehlen, wird in Ver- besserung und neuer Auffindung chemischer unablässig weiter ge- arbeitet. Zu erwähnen hieraus ıst vielleicht, dass, während Schild- läuse bei Räuchern mit Blausäure zugrunde gingen, ihre Feinde (Coccinelliden und Syrphiden), ebensowohl wie einige andere In- sekten diese überstanden. Froggatt führt dies darauf zurück, dass erstere die Blausäure nicht nur einatmen, sondern auch die in die Rinde eindringende und hier absorbierte einsaugen!). — Der letzte Abschnitt bringt Maßnahmen zur Förderung des Pflanzenschutzes. Das Müller’sche Jahrbuch ist kein eigentlicher Jahresbericht. Es beginnt mit einigen allgemeinen Originalaufsätzen. C. Keller behandelt den Speziesbegriff bei unseren Haustieren. Er geht aus von der, jedem Sachkundigen selbstverständlichen, von Theoretikern aber oft bestrittenen Ansicht, dass man wohl berechtigt sei, mit Darwin von Erscheinungen bei den domestizierten Arten Schlüsse auf die freilebenden Formen zu ziehen. Bei Haustieren müssen wir nach dem Verf. 2 Gruppen unterscheiden, ältere, schon in vorhistorischer Zeit gewonnene, die sich ın eine Reihe guter Arten gespalten haben, wie z. B. Hund (Canis aureus, pallipes, simensis, niger) und Rind (Bos primigenius, sondarcus), von denen jede wieder in eine Anzahl Rassen zerfällt, und jüngere Haustiere, die erst in historischer Zeit gewonnen sind und sich noch kaum von ihren Vorfahren unterscheiden (Hausgans, Ente, Rentier, Schwein u. s. w.). Während „die fluktuierende, nie endende Varia- bilität, die Plastizität ihrer ganzen Organisation“ eines der Haupt- merkmale der Haustiere und -pflanzen darstellt, hat doch schon Darwin erkannt, dass manche scharf markierte Rasse unter Um- ständen ıhre Variation einstellt und sogar für eine enorme Periode bestehen bleiben kann. Derartige Fälle beweisen also gar nichts gegen die Abstammungslehre, gegen die sie so oft mobil gemacht werden. — In einem Aufsatze „Mutationslehre und Tier- zucht“ spricht sich H. Krämer für die Bedeutung ersterer in letzterer aus, muss aber feststellen, dass Beweise hierfür nicht vor- liegen, dass vielmehr alle berichteten Fälle, in denen neue Haustier- rassen durch Mutation entstanden sein sollen, wohl eher durch Rückschlag zu erklären seien. — E. Marchi berichtet über seine „Untersuchungen über die Entwickelung der Hörner bei den Cavicorniern“, A. W. Heidema über „Die Pferde- zucht in den Niederlanden“, H. Waldow von Wahl über „Riograndenser Ziegen und deren Hybriden“, und über 1) Ähnliche Befunde hatte Ref. bei Versuchen mit Schildläusen an Äpfeln, wo Blausäure und Formalin die auf ganzen Apfeln, mit unverletzter Schale, sitzenden nicht tötete, wohl aber die auf Apfelstücken sitzenden (s. Biol. Centralbl. Bd. XX, S. 800, 805). 64 Reh, Sexualbiologie. „Fruchtbare Maultiere*. Während letztere nach allgemeiner Anschauung recht selten sein sollen, konnte der Verf. mehrere derartige Fälle beobachten. Die Mutter war dabei immer eine Maultierstute, der Vater ein Pferd- oder Eselhengst. Im letzteren Falle ist merkwürdig, dass das Junge größer ist sowohl wie Vater als wie Mutter, im Außeren aber durchaus ein reines Maultier dar- stellt. — Den Hauptteil des Jahrbuchs bilden „Auszüge und Hinweise“ über Anatomie, Physiologie, Biologie, Hygiene, Fütte- rung, geographische Verbreitung, Geschichte der Haustierrassen, Volkswirtschaftliches und Züchtung der Haustiere ım besonderen; auch hierin ist wieder eine Fülle allgemein interessanter und wich- tiger Tatsachen enthalten. Zum Schlusse werden einige der wich- tigsten Werke aus dem behandelten Gebiete eingehend besprochen. Reh. Müller, R. Sexualbiologie. Vergleichend-entwickelungsgeschichtliche Studien über das Geschlechtsleben des Menschen und der höheren Tiere. Berlin, L. Marcus, 1907. 82. “XX, 393 pp. 6 Mk. Wohl auf keinem Gebiete der Biologie stößt man auf so viel Unkenntnis und falsche Anschauungen, wie auf dem der Sexual- biologie. Törichte Geheimuistuerei auf der einen, mangelhafte Kenntnisse auf der anderen Seite tragen wohl die hauptsächliche Schuld daran. Um so willkommener muss das vorliegende Buch sein, in dem mit Bienenfleiß alle bekannten Tatsachen des Geschlechts- lebens im weiteren Sinne zusammengetragen, kritisch behandelt und unter große allgemeine Gesichtspunkte gebracht sind. Der Verf., Autorität auf dem Gebiete der Tierzucht, war dazu besonders be- rufen und fußte auf breiter, eigener Erfahrungsbasis. Er geht von der Überlegung aus, dass auch das Geschlechtsleben in allen seinen Erscheinungen natürlichen Gesetzen, und so ın erster Linie auch dem der Entwickelungslehre unterworfen ist. Insbesondere sucht er den natürlichen Ursachen der Geschlechtserscheinungen nachzu- spüren. Die 15 Kapitel des Buches behandeln: Geschlechtstrieb und seine Entwickelung; Ungewöhnliche Außerungen desselben bei Tieren; Geschlechtsreife, Brunst und Menstruation; Geschlechtszeilen und -stoffe; Sekundäre Geschlechtsmerkmale; Beziehungen zwischen Milchdrüsen und Geschlechtsorganen; Folgezustände der Kastration ; Geschlechtliche Mischformen; Mannweiblichkeit und Weibmännlich- keit bei Végeln; Geschlecht und Entartung; Fruchtbarkeit; Ge- schlecht und Krankheit; Telegonie; Geschlechthche Zuchtwahl; Beschaffenheit der Nachkommenschaft. — Pathologische und kultur- geschichtliche Betrachtungen vermeidet der Verf. möglichst, um seine ganzen Ausführungen der Biologie widmen zu können. Das Buch scheint dem Ref. einen Markstein in der Geschlechtsforschung zu bilden, mindestens einen Grundstein, auf den weitere Forschungen weiterbauen können bezw. müssen. Reh. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Anleitung zur Uebungsbehandlung der Hfaxie Geh.-Rat Prof. Dr. A. Goldscheider. Mit 122 Abbildungen. Geb. M. 4.—. Ueber nafurgemässe Therapie. Vortrag, gehalten in der Festsitzung des Vereins fiir innere Medizin Geh.-Rat Prof. Dr. A. Goldscheider. M. 1.—. Ueber die physiologischen Grundlagen der physikalischen Therapie Geh.-Rat Prof. Dr. A. Goldscheider. M. 1.—. Grundriss der gerichtlichen Medizin (einschl. Unfallfürsorge) tür Aerzte und punısten. Mit besonderer Berücksichtigung der einschlägigen Reichsgerichts- entscheidungen von Med.-Rat Dr. R. Gottschalk, M. 5.50. Methodik der Blufunfersuchungen. Von Prof. Dr. E. Grawitz, Berlin. Mit 18 Abbildungen und 6 farbigen Tafeln. Dritte, vermehrte Auflage. M. 4.—, geb. M. 5.—. Dieser Nummer liegt ein Prospekt der Verlagsbuchhandlung Ferd. Enke in Stuttgart, betr. „Jahresbericht über die Ergebnisse der Immunitätsforschung“ Bd. II, herausgegeben von Dr. Weichardt, bei. IK. B, Hof- und Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. — mu | Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. XXVIII Bd. 1.FPFebruar 1908. Ne 3. t Lei pzig. Verlag von Georg Thieme. Rabensteinplatz 2. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Hämatologie des praktischen Arztes. Eine Anleitung zur diagnostischen und therapeutischen Verwertung der Blutuntersuchungen in der ärztlichen Praxis von Prof. Dr. E. Grawitz, Berlın. Mit 13 Abbildungen und 6 farbigen Tafeln. Geb. M. 6.80. Mikroskop, neu und vorzüglich, mit ‘/,, Olimmersion, Abbé, Irisblende, Okular- mikrometer, 3 Objektiven u. 4 Okularen, Vergrösserung 35—1200; komplett im Schrank M. 130.—. W. Tarun, Berlin N. 24. Ziegelstr. 29. Kaufe Halbschatten-Polarisations-Apparat. “ vali Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. Bd. XXVIII. 1. Februar 1908. | Ae 3. Inhalt: Wiesner, Der Lichtzenuss der Pflanzen. — Wasmann, Zur Kastenbildung und Systematik der Termiten. — Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie (Fortsetzung). J. Wiesner. Der Lichtgenuss der Pflanzen. Photometrische und physiologische Untersuchungen mit besonderer Riicksichtnahme auf Lebensweise, geographische Verbreitung und Kultur der Pflanzen. 8°, VII u. 322 S., Leipzig 1907, Verlag von W. Engelmann. Während die Abhängigkeit der Pflanze von der Temperatur schon lange Gegenstand der physiologischen Forschung war, hat man das Studium der Lichtwirkung auf die Vegetation stark ver- nachlässigt. Die Bedeutung des Lichtes für einzelne pflanzliche Funktionen, z. B. die Kohlensäureassimilation, das Wachstum, ist freilich untersucht worden; dass es aber auch wichtig ist, die Be- ziehung der Pflanze als Ganzes zum Licht zu studieren, hat erst Wiesner erkannt. Er hat gezeigt, dass genauere Messungen der Lichtmenge, die der Pflanze zufließt, unbedingt nötig sind, da Schätzungen nicht vor ganz groben Irrtümern bewahren. Seit der ersten Mitteilung über diesen Gegenstand vom Jahre 1893 hat er, unterstützt von einigen Schülern, in rastloser Arbeit diese Fragen weiter verfolgt; er hat photometrische Untersuchungen nicht nur in Mitteleuropa, sondern auch in Ägypten, in Indien und in Amerika ausgeführt. Es wird sein dauerndes Verdienst bleiben, diese Fragen aufgeworfen und ausgebaut zu haben. Eine Zusammen- fassung aller dieser Studien war schon lange zum Bedürfnis ge- worden. Dass sich der Begründer der ganzen Richtung selbst ent- schlossen hat, eine solche zu liefern scheint uns besonders erfreulich. Und dass er die Mühe nicht gescheut hat, die reifen Früchte seiner XXVIII. 5 66 Wiesner, Der Lichtgenuss der Pflanzen. Arbeit in allgemein verständlicher Form darzustellen, wird einem weiteren Kreise von Biologen die Lektüre des vorliegenden Bandes ermöglichen. Man darf indes nicht glauben, das Buch enthalte nur bereits anderwärts publizierte Beobachtungen; namentlich die letzten Kapitel bringen auch wesentliche neue Erfahrungen. Den Inhalt des Buches in einem Referat zu exzerpieren, halten wir nicht wohl für möglich und auch nicht für notwendig. Der Verf. hat schon in dieser Zeitschrift (1899, 1903) über wesentliche Punkte seiner Forschungen berichtet und er hat auch in seiner „Biologie“ (Wien 1902) die Grundtatsachen zusammengestellt. Auf diese Zusammenstellung sei derjenige verwiesen, dem das Buch selbst zu ausführlich ist. — Uns aber möge es gestattet sein, den Hauptinhalt der Schrift nur in groben Strichen zu skizzieren und dann etwas länger bei den neuen Ergebnissen zu verweilen. Als Lichtgenuss bezeichnet der Verf. die Menge des gesamten Himmelslichtes, die auf die Pflanze an ihrem natürlichen Standorte einfällt. Gemessen wird diese mit einem photographischen Ver- fahren, das sich an die von Bunsen und Roscoe ausgebildete Methode anschließt. Die auf die Pfianze einfallende Lichtstärke kann dann entweder in absoluten Werten ausgedrückt werden (wo- bei als Einheit die Intensität gilt, die in einer Sekunde auf dem „Normalpapier“ den ,Normalton“ erzeugt) oder sie kann in rela- tiven Werten, als Bruchteil der Gesamtlichtstärke ausgedrückt werden („relativer Lichtgenuss“). Den eigentlich botanischen Stu- dien mussten umfangreiche Forschungen rein physikalischer Natur vorausgehen. Die maximalen Lichtintensitäten auf der Erde mussten festgestellt werden; auf das Verhältnis zwischen diffusem Licht und Gesamtlicht sowie auf die Veränderungen dieser Werte bei ver- schiedenem Sonnenstand, bei wechselnder Breite und Seehöhe und manche andere Dinge musste geachtet werden. Beim Studium der Pflanze ergab sich dann vor allem die Grundtatsache, dass jede Spezies in der Natur nur bei einer gewissen Lichtintensitat, ge- nauer gesagt bei einem Lichtgenuss, der zwischen einem Minimum und einem Maximum von Licht liegt, zu gedeihen oder überhaupt zu existieren vermag. Diese Lichtintensität ist freilich nicht auf der ganzen Erde die gleiche, sondern sie wechselt, je nach den sonstigen klimatischen Bedingungen, vor allem je nach dem Wärme- genuss der Pflanze. Daraus lässt sich ersehen, welche Bedeutung diese Studien für die Pflanzengeographie besitzen. Dass sie aber auch für die Biologie von großem Werte sind, zeigt sich daran, dass Verf. z. B. über Beziehungen zwischen Lichtgenuss einerseits und Laubfall oder Mykotrophie andererseits berichten kann, vor allem aber daran, dass er sehr ausführlich darlegt, wie die Pflanze den Schädigungen einer zu hohen Lichtintensität begegnet, ein zu schwaches Licht möglichst auszunützen sucht. Wiesner, Der Lichtgenuss der Pflanzen. 67 Neue Angaben finden sich in den drei letzten Kapiteln. Das erste derselben beschäftigt sich mit der Frage nach dem spezi- fischen Grün des Laubes der Holzgewächse. Es ist eine bekannte Tatsache, dass die grüne Farbe der Pflanzen bis zu einem gewissen Grade spezifische Verschiedenheiten aufweist; man denke an das dunkle Grün der Tanne, das helle der Lärche. Ebenso ıst aber auch bekannt, dass diese Farbe sich im Laufe der Entwickelung eines Blattes stark verändert, um dann gewöhnlich einen stationären Ton anzunehmen. Wiesner zeigt, dass dieser nicht nur auf der Menge des Chlorophylls, sondern auch auf deren Verhältnis zur Menge des Xanthophylis und anderer Bestandteile des Blattes be- ruht. Nur bei wenigen Pflanzen kommt es vor, dass dieses „sta- tionire Grün“ wirklich konstant bleibt. Meist blasst es sowohl durch zu hohe, wie durch zu niedrige Lichtintensität ab. Auch unterhalb des Lichtgenussminimums wird noch Chlorophyll ın an- scheinend normaler Menge gebildet und erreicht auch das Laub seinen stationären Farbenton — aber freilich viel langsamer als unter normalen Bedingungen. Bei sommergrünen Holzgewächsen schreitet die Zunahme des Grüns der Blätter gewöhnlich so lange fort, als sie wachsen; bei immergrünen aber stellt sich der stationäre Ton erst im zweiten oder dritten Jahre em. — Im Zusammenhang mit diesen Feststellungen behandelt dann Wiesner die Hypothese Stahl’s über Laubfarbe und Himmelslicht und führt eine Reihe von Beobachtungen an, die nicht zu ihren Gunsten sprechen. In einem Nachtrag gedenkt er auch der Untersuchungen Jénsson’s, die mehrfache Berührungspunkte mit seinen eigenen haben. Von größtem Interesse ist der Abschnitt, der dem „Versuch einer physiologischen Analyse des Lichtgenusses* gewidmet ist. Es wurde oben schon erwähnt, dass der Lichtgenuss ein bestimmtes Maximum nicht überschreiten, unter ein bestimmtes Minimum nicht herabgehen darf — andernfalls hört die Pflanze auf, an der be- treffenden Lokalität vorzukommen. Die obere Grenze des Licht- genusses ist nun ohne weiteres verständlich, die untere aber erscheint deshalb rätselhaft, weil wir ın Kultur viele Pflanzen bei weit ge- ringerer Beleuchtung, als dem Lichtgenussminimum entspricht, wachsen und event. auch gedeihen sehen. Die Gründe, weshalb in der Natur die Pflanzen unterhalb des „Lichtgenussminimums“ plötz- lich aufhören zu existieren, verdienen eingehende Untersuchung. Sie sind zweifellos mehrfacher Art. In manchen Fällen erlischt beim Lichtgenussminimum die Kohlensäureassimilation, und dann ist die Sache einigermaßen verständlich. Bei dichtbelaubten Bäumen existieren aber Blätter bei einer Lichtintensität, bei der sie nur noch schwach assimilieren und bei armlaubigen geht das Blatt bei einer Helligkeit zugrunde, bei der es noch gut assimilieren kann. Für solche armlaubige Pflanzen lassen sich nun bei einer Beleuchtungs- De 68 Wasmann, Zur Kastenbildung und Systematik der Termiten. intensitat, die unterhalb vom Lichtgenussminimum bleibt, zwei Veränderungen wahrnehmen: einmal wird das stationäre Grün nur langsam erreicht, andererseits wird auch die „normale“ Gestalt nicht, ausgebildet, die Pflanze beginnt zu etiolieren; mit der Abnahme der Lichtintensität wird dann die Erscheinung des Etiolements immer deutlicher, am deutlichsten bei vollkommener Dunkelheit. Mit dem Beginn des Etiolements vermindert sich aber die Resistenz der Organe gegen äußere Einflüsse; die bei Unterbeleuchtung er- zogenen Pflanzen sind gegen Regen und gegen Pilze weniger wider- standsfähig und deshalb können sie sich bei der in der Natur herrschenden Konkurrenz nicht halten. Damit sind aber gewiss die Ursachen der in Rede stehenden Erscheinung noch lange nicht erschöpft. Das letzte Kapitel behandelt die Lichtmessung im Dienste der Pflanzenkultur und enthält eine Fülle von Beobachtungen, die für den Forstmann, Gärtner und Landwirt, doch auch für den Physio- logen von größtem Interesse sind. Jost. Zur Kastenbildung und Systematik der Termiten. Von E. Wasmann S. J. (Luxemburg). In der Arbeit „Termiten von Madagaskar und Ostafrika“ (Abh. Senkenb. Naturf. Ges. Frankf. XXI, Heft I, 1897, S. 137ff.) hatte ich den Vorschlag gemacht und begründet, die Soldatenkaste der Termiten für die generische und subgenerische Charakteristik der nach den Imagines schwer zu unterscheidenden Formen zu be- nutzen. Im Biolog. Centralblatt 1902, Nr. 23, S. 714ff. (Einige Bemerkungen zu Sjöstedt’s Monographie der Termiten Afrikas) war jener Vorschlag weiter begründet und gegen die von Sjöstedt erhobenen Einwendungen gerechtfertigt worden; ferner ın den Ann. Soc. Ent. Belg. 1904 (Bd. 48), Heft 10, 5. 370 (Remarques critiques sur la phylogenie et la division systématique des Termitides) gegen- über den Einwendungen von Desneux. Während Sjöstedt und Desneux die theoretische Zulässigkeit und die praktische Möglich- keit bestritten, dass die Soldatenform der Termiten für die gene- rısche Systematik verwendbar sei, war F. Silvestri namentlich in seiner Arbeit ,Contribuzione alla conoscenza dei Termitidi e Termitofili dell’ America meridionale* (Redia Vol. I, 1903), S. 16ff. auf dem von mir 1897 betretenen Wege weitergegangen und hatte dasselbe Prinzip für meine Systematik durchgeführt. Tatsächlich hatte es allerdings auch Desneux akzeptiert, indem er auf Grund von Soldatenformen, deren Imagines noch unbekannt waren, neue Gattungen aufstellte (z. B. Psammotermes Desn. ın Ann. Soc. Ent. Belg. 1902, p. 436; s. auch I/soptera, Fam. Termitidae 1904, p. 24). Wasmann, Zur Kastenbildung und Systematik der Termiten. 69 Neuerdings hat nun Nils Holmgren in semen „Studien über südamerikanische Termiten* (Naumburg a. S. 1906) sich ebenfalls für die hohe Bedeutung der Soldatenform in der Syste- matik der Termiten ausgesprochen (S. 3—9). In seiner Begründung hierfür weicht er jedoch scheinbar von mir ab, indem er nach- drücklich hervorhebt, dass die Soldaten und Arbeiter der Termiten nicht le sien “ seien, sondern „Korrelations- formen“ (S. 7). Dass zwischen unseren Ansichten hierüber keine wirkliche Verschiedenheit besteht, will ich hier zu zeigen suchen. Wenn man unter „Anpassungsformen“, wie es hier von Holm- gren geschieht, solche Formen versteht, deren Charaktere embion- tischen Ursprungs sind, d. h. ontogenetisch bloß auf individuell erworbenen Eigenschaften beruhen und nicht in einer bestimmten Keimplasmakonstitution der fortpflanzungsfähigen Geschlechter ihren Grund haben, so ist es ohne Zweifel richtig, dass die Soldaten und Arbeiter der Termiten keine Anpassungsformen darstellen. Mit Recht hebt er hervor, „dass die geschlechtslosen Individuen in einem Termitenstaat ihr Gepräge nicht normal auf die Nachkommen- schaft der Geschlechtstiere übertragen können“ (S. 6). Eine Ver- erbung von individuell erworbenen (embiontischen) Eigenschaften von Seite geschlechtsloser Individuen ist unmöglich, und deshalb kann auf diesem Wege auch der Ursprung einer eigenen Kaste von geschlechtslosen Soldaten oder Arbeitern nicht erklärt werden. Ich bin deshalb mit Holmgren einverstanden, wenn er sagt: „Eine von einem Soldaten individuell erworbene Eigenschaft ist mit dem Tode des Trägers zum Untergang verurteilt, wenn dieser Charakter nicht schon als eine Qualitätseigenschaft in den Zellkon- stitutionen (Keimplasmakonstitutionen) des Weibchens oder des Männchens oder beider vorhanden ist.“ Daher kommen wir „zu der wichtigen Schlussfolgerung: Die Hauptcharaktere, welche die ldehtslosen meinen vonden es oe iohen. unterscheiden, sind in den Zellkonstitutionen letzterer vorhanden und werden in der Larve bei der eintretenden (diäte- tischen) Geschlechtsreduktion wahrnehmbar. Dass es hier also nicht denkbar sein kann, dass die Soldaten mehr Anpassungsformen als die Imagines ausmachen, scheint mir ganz sicher zu sein“ (S. 7). Beer en will daher die Soldaten und Arbeiter als „Korre- lationsformen“ bezeichnen. Hierauf zieht er aus dieser biologischen Bedeutung der geschlechtslosen Formen bei den Mermuten den Schluss: „Da, wie oben begründet, die Soldaten- und Arbeiter- charaktere Charaktere sind, die auf der Konstitution der Imagines beruhen, so ist es selbstverständlich, dass ihnen der selbe systematische Wert wie den Imagines zuerkannt werden muss.“ Auch mit dieser Schlussfolgerung bin ich einverstanden. Worin besteht also unsere Meinungsverschiedenheit ? 70 Wasmann, Zur Kastenbildung und Systematik der Termiten. Dieselbe besteht in unserer verschiedenen Auffassung des Wortes Anpassungsformen. Holmgren versteht nach obigen Zitaten hierunter jene Formen, deren ontogenetische Entstehung gegen- wärtig noch auf Vererbung erworbener (embiontischer) Eigenschaften beruht. Ich verstand dagegen unter demselben Worte jene Formen, deren phylogenetische Entstehung ursprünglich ihren äußeren Grund in den Anpassungsbedingungen hatte. Das Wort „An- passungsmerkmale‘ in dem von mir untergelegten Sinne steht im Gegensatz zu den „Organisationsmerkmalen‘“ der Systematik. Als Organisationsmerkmale bezeichnet man bekanntlich die größeren Gruppen gemeinsamen biologisch indifferenten Charaktere, z. B. die Eigentümlichkeiten des Fliigelgeiders bei den Hymenopteren, Neuropteren, Isopteren u. s. w. Im Gegensatze hierzu sind An- passungsmerkmale jene Charaktere, welche in den biologischen An- passungsgesetzen ihren phylogenetischen Grund haben, z. B. die Umbildung der Extremitäten bei den wasserbewohnenden Säuge- tieren, die Entwickelung von Exsudatorganen bei echten Ameisen- gästen und Termitengästen, die sonderbare Umbildung der Thorakal- anhänge (ehemals Flügel) bei Termitoxenia u. s. w. Wir können somit sagen: Die sogen. geschlechtslosen Kasten bei den Termiten wie bei den Ameisen sind keine Anpassungs- formen, sondern Korrelationsformen, wenn wir ihre gegen- wärtige ontogenetische Entwickelung berücksichtigen; denn sie haben in einer bestimmten Anlage des Keimplasmas der fortpflanzungsfahigen Geschlechter ihren hauptsächlichen Entstehungs- grund; die Einflüsse der Ernährung und Brutpflege können gegen- wärtig nur noch auslösend und teilweise auch modifizierend auf die Entwickelung jener Formen einwirken. Deshalb dürfen wir ihnen auch bei den Termiten denselben systematischen Wert zuerkennen wie den Imagines'), Wenn wir jedoch die phylogenetische Entstehung und Entwickelung jener Kasten berücksichtigen, so müssen wir sie trotzdem als Anpassungsformen bezeichnen, weil sie der morphologische Ausdruck der Arbeitsteilung sind, welche durch Anpassung an die äußeren Lebensbedingungen bei jenen sozialen Insekten zustande kam. Die ontogenetische und phylogenetische Entwickelung der ver- schiedenen Kasten in den Insektenstaaten ist nach seiner morpho- logischen wie nach seiner psychologischen (instinktiven) Seite ein ebenso interessantes wie schwieriges Problem. Ich möchte hier auf eine neue Arbeit von Wheeler?) hinweisen, welche die Ent- 1) Bei den Ameisen hat man den Arbeitern und Soldaten bekanntlich schon seit 50 Jahren denselben Wert für die Systematik zuerkannt wie den geflügelten Geschlechtern. 2) The Polymorphism of ants, with an account of some singular abnormalities due to parasitism (Bulls Amer. Mus. Nat. Hist. XXIII, p. 1—93 mit 6 Tafeln, Wasmann, Zur Kastenbildung und Systematik der Termiten. al stehung des Polymorphismus bei den Ameisen recht allseitig und sründlich behandelt. In den wesentlichsten Punkten kann ich mich mit den Ausführungen Wheeler’s (S. 66—90) einverstanden er- klären; dieselben haben ohne Zweifel manches neue Licht in diese dunkle Frage gebracht. Ein Hauptmoment für die Entscheidung der Frage, wie wir die Entwickelung der Kasten bei den sozialen Insekten phylo- genetisch zu erklären haben, ist folgendes. Kann nicht die Ge- schloataleslelet bestimmter Formen Bender: der Arbeiter und Soldaten) großenteils eine Folge der schon vörher begonnenen Pe echen Arbeitsteilung gewesen sein? In diesem Falle wäre eine Beeinflussung der enbildies durch direkte Anpassung auf dem Wege der Vererbung en. berer Eigenschaften Diane nicht ausgeschlossen, wenngleich stets die Keimesvariationen der Imagines als Hauptursache für die Entwickelung bestimmter Kasten anzusehen sind. Wie die äußeren Faktoren auf die Umgestaltung der Keimesanlagen einzuwirken vermögen, ıst allerdings ein sehr dunkles Problem. Aber ich bin mit Wheeler ganz einverstanden, wenn er neben der Selektion auch eine bestimmte innere An- passungsfähigkeit der Formen, sowohl in morphologischer wie in psychischer Beziehung annımmt und sich gegen eine „rein me- chanische‘‘ Erklärung der Entwickelungsvorgänge ausspricht (5. 89 und 90). In meinem Buche ‚Die zusammengesetzten Nester und ge- mischten Kolonien der Ameisen“ (MSO: 3: Theda. 2. Kap., S. 214 ff.) hatte ich zu zeigen versucht, dass die phylogenetische Ausbildung der Arbeitercharaktere und ihrer entsprechenden Instinkte nicht duran 15. Jan. 1907). — Zu der von mir 1895 zuerst aufgestellten ,, Pseudogynentheorie“, welche einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Entwickelung der Pseudo- gynen bei Formica-Arten und der Erziehung der Larven von Lomechusini in den Formiea-Nestern annimmt, bringt Wheeler S. 38 ff. neue interessante Bestätigungen (Xenodusa cava und die Pseudogynen von F’. incerta). Er hält es jedoch (S. 33f.) für möglich, dass die Pseudogynen nicht durch eine bestimmte Umzüchtung weib- licher Larven, sondern durch bloße Vernachlässigung derselben von Seite der Ameisen entstehen. Sollte es Wheeler gelingen, auch in solchen Versuchskolonien, welche noch keine Larven von Xenodusa erzogen haben, Pseudogynen zu erhalten, so wäre dies jedenfalls ausschlaggebend. In meinen Versuchsnestern ist mir seit 12 Jahren Ähnliches noch nicht gelungen. Dass die Ameisen manchmal mit der Erziehung von Pseudogynen noch fortfahren, wenn man ihnen die Käferlarven genommen hat, wie ich 1902 mitteilte (Neue Bestätigungen der Lomechusa-Pseudogynentheorie, Verhandl. Deutsch. Zool. Ges. S. 100, Anm.), bietet jedenfalls keinen Beweis gegen meine Hypothese, dass durch die Erziehung jener Käferlarven eine bestimmte Modi- fikation des Brutpflegeinstinktes der Ameisen verursacht werde, aus welcher dann die Pseudogynen hervorgehen. S. 90 bemerkt Wheeler, dass, wenn diese Hypothese sich bestätigte, in dem Verhalten der Ameisen ein ,,splendid example“ von instink- tiver Regulation, analog den organischen Regulationen von Driesch, zu sehen wäre. Ich werde später darauf zurückkommen. 72) Wasmann, Zur Kastenbildung und Systematik der Termiten. Vererbung erworbener Eigenschaften erklärlich seien, sondern in bestimmten Keimplasmavariationen der fortpflanzungsfähigen Geschlechter ihren Grund haben müsse. Aber die Frage, in welchem Zusammenhang die Entwickelung der Arbeiterkaste (und ihrer In- stinkte) mit ihrer Fortpflanzungsfähigkeit steht, ist damit noch nicht erledigt. Sogar fiir die Gegenwart ist es nicht ausgeschlossen, dass durch parthenogenetisch sich fortpflanzende Arbeitermnen eine Vererbung von Arbeitercharakteren stattfinden könne durch Ver- mittlung der von den Arbeiterinnen erzeugten Männchen. An einer Kolonie von Formica pratensis bei Luxemburg habe ich (1903— 1905) in freier Natur und in Versuchsnestern festgestellt, dass in ihr nach dem Verluste der Königin noch mehrere Jahre hindurch Tausende von Männchen parthenogenetisch hervorgebracht wurden). Der- artige Fälle dürften nicht so selten sein, wie man früher glaubte. Ferner darf nicht übersehen werden, dass wir für manche anscheinend neue und sehr auffallende Instinkte nach den Forschungen der letzten Jahre über den Brutparasıtismus von Formica-Königinnen (Wheeler und Wasmann) gar keine neue Keimplasmavariationen bei den Weibehen anzunehmen brauchen. Für die Entstehung des Sklavereiinstinktes von Formica sanguinea habe ich dies in der dritten Auflage meines Buches „Die moderne Biologie und die Ent- wickelungstheorie* (1906, S. 425—431) näher ausgeführt. Vielleicht wird sich auch bei den Termiten herausstellen, dass zwischen den geschlechtslosen Kasten und den Trägern des Keim- plasmas keine so schroffe Kluft besteht. Wenn neotene Ersatz- geschlechter aus Arbeitern herangezüchtet werden, wie es be- sonders bei Hutermes-Arten häufig vorzukommen scheint‘), so ist bereits eine Vererbungsmöglichkeit von Arbeitercharakteren ge- geben®). Grassi und Sandıas erwähnen auch fortpflanzungsfähige Soldaten. Wenn wir auch die Arbeiter- und Soldatenkaste der Termiten gegenwärtig, wie Holmgren betont, als Korrelations- formen anzusehen haben, welche in der Keimplasmaanlage der Imagines ursächlich determiniert sind, so scheint mir doch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass sie phylogenetisch als An- passungsformen erklärt werden können, deren Entwickelung mit der fortschreitenden instinktiven Arbeitsteilung ın den Termiten- 3) Zur Lebensweise von Atemeles pratensoides (Zeitschr. f. wiss! Insektenbiol. 1906, Heft 1), 8. 10 ff. 4) Schon 1897 (Termiten von Madagaskar S. 166) beschrieb ich solche Indi- viduen bei Mutermes laticeps Wasm. In der Termitenliteratur sind arbeiterähn- liche neotene Individuen bereits lange bekannt. Vel. über diese Frage auch An- merkung 5. 5) Silvestri hat dies bereits 1901 betont in seiner Studie ,,Operai ginecoidi di Termes, con osservazioni intorno Vorigine delle varie custe nei Termitidi (R. Accad. d. Lincei X, 1 sem., ser. 5, fase. 12). Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. I Co kolonien ursächlich zusammenhängt. Näher kann ich auf diese interessante Frage hier nicht eingehen). Ich kehre nun zu Holmgren’s „Studien über südamerikanische Termiten“ zurück. Er macht (S. 8) darauf aufmerksam, dass nament- lich bei Rhinotermes zwei qualitativ verschiedene Soldaten- formen vorkommen, sogen. Gabelnasuti und normale Soldaten. Bei Rh. taurus Desn. trifft man beide, während Rh. marginals L. nur Gabelnasuti besitzt. Die Wichtigkeit derartiger Unterschiede für die Systematik und die Phylogenie wird von Holmgren mit Recht hervorgehoben. Seine Studie trägt ohne Zweifel viel dazu bei, dass man die systematische Bedeutung der Soldatenkaste bei den Termiten künftig besser wird würdigen lernen. Auch über manche Fragen der Termitenbiologie gibt seine Arbeit neue Auf- klärungen und Bereicherungen unserer Kenntnis, z. B. über den Nestbau der Termiten (S. 115ff.). Bezüglich der Symbiose zwischen verschiedenen Termitenarten (S. 112ff.) glaubt er, dass bisher kein einziger Fall wirklicher Symbiose nachgewiesen sei. Allerdings versteht er hierunter ein gegenseitiges Nutzverhältnis. Als Diebstermiten, die gelegentlich bei anderen Termitenarten hausen, lässt er Hutermes microsoma Silv. und Mirotermes fur Sılv. gelten. Zur Zahl der Königinnen, die man in Termiten- nestern findet (S. 90ff.) sei als Ergänzung noch bemerkt, dass Herr J.P. Schmalz in S. Catarina in den Nestern von Eutermes arena- rius-fulviceps Sily. nicht selten mehr als eine Königin fand, in einem Falle sogar fünf. (Nach dem in meiner Sammlung befind- lichen Sendungsmaterial von Schmalz.) Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. Von S. Tschulok, Fachlehrer (Zürich). (Fortsetzung.) An der Grenze zwischen idealistischen und realistischen Trans- formisten steht Goethe, über dessen Beziehungen zur Deszendenz- theorie die Ansichten der Forscher geteilt sind. Während einige (Haeckel, Seidlitz) seinen diesbezüglichen Äußerungen einen voll- ständig realen Sinn unterlegen und ıhn als einen der bedeutendsten Vorläufer Darwin’s feiern, sind andere (OÖ. Schmidt, Sachs, Carus) eher geneigt, ihn der rein naturphilosophischen Richtung beizuzählen. In. etwas anderer Weise nımmt auch Lamarck eine Zwischen- stellung zwischen idealistischem und realistischem Transformismus 6) Ich verweise nochmals auf Wheeler’s neue Studie „The Polymorphism of ants“ (1907), welche auch gute Gesichtspunkte zur Entwickelung der Termitengesell- schaften enthält. | 74 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie ein. Zwar ist seine Auffassung. des Problems vollständig realistisch, aber ın der Art der Beweisführur schließt er sich an die ern. philosophische Richtung an. Selbst Charles Martins, der sich in der Einleitung zu der von ıhm besorgten Neuausgabe der Zoo- logischen Philosophie (1873) redlich bemühte, dem verkannten Genie die ihm gebührende Anerkennung zu Torsaheiitan, schrieb über La- marck wörtlich: „Indem Lamarck vielmehr durch Vernunftschlüsse, als durch positive Tatsachen zu überzeugen suchte, hat er die ver- kehrte Methode der deutschen Naturphilosophen Goethe, Oken, Carus, Steffens geteilt?).“ Und weiter heisst es: „wenn man seine zoologische Philosophie liest, so merkt man, warum so streng wissen- schaftliche Männer wie Cuvier und Laurent de Jussien seine Schlussfolgerungen nicht angenommen haben, man begreift, dass sie dieselben bekämpfen mussten“ ete. Fragen wir aber von unserem Standpunkt aus: hat Lamarck die Deszendenztheorie begründet, so kann die Antwort nur negativ lauten. Denn er hat jene Tatsachenreihen, welche allem die zwingende Notwendigkeit dieses Gedankens beweisen, gar nicht in den Kreis seiner Betrachtungen gezogen. Der Grund lag zum Teil darin, dass der positive Stand der Wissenschaft eine solche Darstellung noch nicht zuließ, denn sämtliche Einzeldiszivlinen, an die appelliert werden musste, natürliche Systematik, Morphologie, Embryologie, Geographie und Paläontologie staken noch in den Kinderschuhen. Der Riesenfortschritt, welchen die deskriptive Biologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemacht hat, um einem Darwin das Beweismaterial in ungeahnter Fülle verschaffen zu können, erleuchtet erst recht in diesem Zusammenhange. Der Misserfolg Lamarck’s war aber außerdem dadurch bedingt, dass er sich gar nicht in dieser Richtung nach Beweismitteln umgesehen hatte, sondern fast aus- schließlich von biophysikalischen Betrachtungen ausging. Die ein- zigen Stellen des Buches, welche eine nannte kahken mit einer richtigen Beweisführung zeigen, sind diejenigen, wo er vom relativen und künstlichen Charakter der Klassifikationen spricht, von der Relativität des Artbegriffes, dem Vorhandensein von all- mählichen Abstufungen u. s. w. Wie wenig er sich aber auf diesem einzig konkreteren Boden zu helfen weiß, zeigt sein Verfahren mit den Fossilien. Die Fossilien waren für ihn nicht von den jetzigen verschiedene Arten, sondern bloß ausgestorbene Individuen, die sich von den jetzt lebenden deshalb unterscheiden, weil die Individuen dieser Art sich seitdem verändert haben. „Wenn nun eine Menge dieser versteinerten Muscheln Verschiedenheiten aufweisen, die uns nach den angenommenen Ansichten nicht gestatten, sie für Analoga der bekannten verwandten Arten zu halten, folgt daraus mit Not- ) Zoologische Philosophie. Deutsch von Dr. A. Lang. Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. Td wendigkeit, dass diese Muscheln wirklich ausgestorbenen Arten an- gehören? Außerdem, warum sollten sie ausgestorben sein, da ja der Mensch sie nicht ausrotten konnte’)? Wäre es im Gegenteil nicht möglich, dass die versteinerten Individuen, um die es sich handelt, noch lebenden Arten angehören, die sich indessen seither verändert und die Entstehung der gegenwärtig noch lebenden ver- wandten Arten veranlasst haben.“ Man dürfte nach dieser eigentümlichen Argumentation Lamarck einmal fragen: sind nun Arten veränderlich oder nicht? Und die Gegner hatten mit solchen Argumentationen leichtes Spiel. Es mag hier erwähnt werden, dass nach der Aussage des Ver- fassers „die zoologische Philosophie nur eine neue, umgearbeitete, verbesserte und stark vermehrte Ausgabe seines Werkes, betitelt ‚Untersuchungen über die Organısmen‘ (Recherches sur les corps vivants) darstellt.“ Das Werk umfasst tatsächlich das gesamte Lebensphänomen una sollte für jene Zeit ungefähr dasselbe leisten, was in unserer heutigen Literatur etwa die „Prinzipien der Biologie“ von Spencer, eine „Allgemeine Physiologie“ von Verworn, eine „Allgemeine Physiologie* von Rosenthal und eine „Allgemeine Biologie“ von O. Hertwig zusammengenommen. Dass aber ein Versuch, das Deszendenzproblem auf diesem Wege zu fassen, ın allgemeine Betrachtungen ausarten musste, ıst beim völligen Mangel experimenteller Untersuchungen über die Variabilität ja selbstver- ständlich. Und so wurden der Tonstoff und das Nervenfluidum, die Entstehung der Krebse aus Spinnen, welche „oft ıns Wasser gegangen sind“, die Wärme als die Mutter aller Zeugungen, die fortdauernde Urzeugung niederer Tiere („indem sonst die Ordnung der Dinge, die wir beobachten, nicht existieren könnte“) u. s. w. Marksteine einer Darstellung, welche einem Empiriker Darwin als „erbärmlich“ erscheinen musste, und welcher er „nicht eine Tat- sache, nicht eine Idee“ zu entnehmen vermochte: Sollen wir nun dem Machtspruch der eingangs zitierten Autoritäten folgen und von Lamarck’s Deszendenztheorie reden, oder sollen wir der methodo- logischen Einsicht den Vorzug geben und anerkennen, dass Lamarck’s Verdienste um die eigentliche Begründung der Deszendenztheorie sich so ziemlich dem Nullwerte nähert? _ Ganz ebenso steht es mit den übrigen „Vorläufern“ Dar win’s. Überall finden wir dasselbe: entweder ist es eine rein idealistische 5) Weiter oben schreibt Lamarck: ‚Wenn es wirklich ausgestorbene Arten gibt, so kann dies ohne Zweifel nur unter den großen Tieren, welche die trockenen Teile der Erde bewohnen, der Fall sein, wo der Mensch durch seine unumschränkte Herrschaft die Individuen einiger Arten, die er nicht erhalten oder zähmen wollte, austilgen konnte.“ Lamarck hält es bloß für möglich, dass Megatherien und Mastodonten nicht mehr in der Natur vorhanden wären, Wassertiere und überhaupt kleine Tiere dagegen können nach Lamarck gar nicht aussterben. 76 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. Auffassung der Entwickelung und kommt gar nicht in Betracht, oder es ist realistisch gemeint, erhebt sich aber kaum über die Bedeu- tung eines gelegentlichen, meist schüchternen Hinweises (z. B. Carus), oder endlich, wenn die transformistischen Ansichten systematisch durchgearbeitet und vorgetragen wurden, so bewegten sie sich mehr oder weniger ausschließlich auf biophysikalischem Gebiete, sie gingen nicht vom Verteilungsproblem, sondern vom Beziehungsproplem aus, sie suchten die Faktoren der Entwickelung aufzuzeigen, während die allein zwingende Ableitung der Entwickelungsidee selbst mit den Hilfsmitteln der Biotaxie noch nicht versucht worden war. Und so mussten sie alle der Spekulation verfallen, denn das empi- rische Material über Variabilität war noch gar nicht da. Wir können also im vollständigen Gegensatz zu der oben zitierten allgemein vertretenen Ansicht den Misserfolg der Vorläufer Darwin’s folgender- maßen erklären. Nicht weil sie den Faktoren der Entwickelung keine genügende Beachtung geschenkt, nicht weil sie es unterlassen hatten, eine anschauliche Schilderung von dem Entwickelungs- vorgang zu geben, haben sie verfehlt, auf die Männer der Wissen- schaft einen Einfluss auszuüben, sondern umgekehrt: weil sie, unter Vernachlässigung der vergleichenden Forschung, ihre Argumente einzig und allein aus jenem Gebiete der Biophysik herbeiholten, welches selbst bei einem höheren Stande der empirischen Forschung für sich allein unfähig ıst, einen vollgültigen Beweis zu erbringen, bei dem damaligen Stande aber sie völlig im Stich lassen musste. Wohl gaben sie „mechanische“ Erklärungen, wohl schilderten sie in anschaulicher Weise die Wirkung der Faktoren (Geoffroy, Lamarck), aber sie stützten sich auf keine Tatsachen und ver- mochten ernste Forscher nicht zu überzeugen. So begreifen wir, warum bis zum Jahre 1859 jener Zustand der Dinge berrschte, welcher uns von Haeckel, Wallace, Weis- mann u. a. geschildert wird: das Konstanz- und Schöpfungsdogma herrschte uneingeschränkt und im Zusammenhang damit war natür- hich auch die organische Zweckmäßigkeit und die mannigfachen Beziehungen der Organismen, als das Werk der weisen Vor- sehung vollständig begreiflich. Ein Versuch, die Deszendenzidee zu begründen, galt bei den ernsten Forschern als gefährliche Spekulation. Denn das waren bis dahin alle Versuche in der Tat gewesen. Und nun kam Darwin. Darwin’s ganzer Bildungsgang machte ihn besonders zur Lösung des großen Problems geeignet. Denn er war kein zünftiger Naturforscher, der in langen Studienjahren neben den Tatsachen und Methoden der Disziplin auch die traditionellen Ansichten aufgenommen hätte. Er beschäftigte sich als Liebhaber mit der Naturkunde und war in theoretischen Fragen so vorurteils- frei wie nur irgend möglich, eine tabula rasa im wahren Sinne. Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. hil Die angeborene geniale Beobachtungsgabe, die sich auf den Jagden und Sammelausflügen geschärft und ausgebildet hatte, paarte sich mit einer Unvoreingenommenheit, wie sie bei einem in einer „Schule“ trainierten Naturforscher nicht zu erwarten wäre. Als ihm Henslow den Vorschlag übermittelte, die Reise des „Beagle“ als Naturforscher mitzumachen, begründete er dies folgendermaßen: „ich spreche dies aus, nicht in der Voraussetzung, dass sie ein fertiger Naturforscher, sondern reichlich dafür qualifiziert sind, zu sammeln, zu beobachten und alles, was einer Aufzeichnung auf dem Gebiete der Natur- geschichte wert ist, aufzuzeichnen.“ Um aber diesen unvoreingenommenen Geist, die ungewöhnliche Beobachtungsschärfe und die geniale Intuition auf die Bearbeitung des heranreifenden Entwickelungsproblems zu lenken, bedurfte es eines Studienobjektes, welches geeignet wäre, die Hauptpunkte des großen Problems in recht anschaulicher Weise vor Augen zu führen. Diese Gelegenheit bot sich Darwin auf seiner Reise um die Welt. Es ist aus seiner Autobiographie und aus seinen Briefen hinreichend bekannt, was ihn auf dieser Reise besonders frappierte: es waren die Erscheinungen der geographischen Verbreitung (Insel- fauna, repräsentative Formen in Südamerika u. s. w.) und die Ver- wandtschaft der fossilen Fauna Südamerikas mit der jetzt lebenden, bei totaler Abweichung beider” von den europäischen. Es war also das Verteilungsproblem in systematischer, geographischer und geo- logischer Beziehung, welches Darwin in wohl begreiflicher Weise auf den Deszendenzgedanken geführt hat. 1837 schreibt er ins Taschenbuch: „Im Juli fing ich das erste Notizbuch über die Umwandlung der Arten an. War ungefähr seit dem vorigen März über den Charakter der südamerikanischen Fossilien und die Arten vom Galapagos Archipel sehr überrascht. Diese Tatsachen (ganz besonders die letztere), bilden den Ursprung aller meiner Ansichten.“ Nicht die großen Grundzüge ım Bau ganzer Klassen haben Darwin auf jene Vermutung geführt, sondern auffallende Erschei- nungen, die sich auf die kleinsten taxonomischen Einheiten bezogen. Sein frischer unvoreingenommener Geist war noch nicht von jenen Redensarten gefangen, welche sich den Spezialforschern bei jahre- langer Betrachtung der Objekte aufdrängten und infolge der Ge- wohnung eine „Erklärung“ vortäuschten. Ausdrücke wie „Einheit des Bauplanes“, „Stufenfolge der animalischen Organisation“ u. s. w. waren Darwın ganz fremd. Infolgedessen war seine Auffassung des Problems von Anfang an streng realistisch. Sein Verfahren war empirisch, die induktiven Schlussfolgerungen von einer muster- haften Klarheit und klassischen Einfachheit. Zwei Eidechsenarten auf den Galapagos, verwandt mit amerikanischen Leguanen, aber doch generisch verschieden und auf,zwei Inseln auch spezifisch ver- 718 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. schieden, also endemische Spezies einer endemischen Gattung von amerikanischem Gepräge. Da war das Problem da. Darwin war und blieb also der erste, welcher das allgemeine Deszendenzproblem nicht allein realistisch auffasste, sondern auch bei seiner weiteren Behandlung den Boden des Empirismus nicht verlassen hat und das richtige Verhältnis zwischen Induktion und Deduktion innehielt. Er war es, welcher die Tatsachen der Ver- teilung für den Deszendenzgedanken ins Feld führte, also den- jenigen Beweis erbracht hatte, welchen wir als den logisch einzig richtigen, als den notwendigen und hinreichenden kennen gelernt haben. Wenn ich dies alles bedenke, so stehe ich nicht an zu be- haupten, dass Darwin in der Begründung der Deszendenz- theorie keine Vorläufer gehabt hat. Da ich mich mit dieser Behauptung in Gegensatz zu der herrschenden Meinung stelle, so sei es mir erlaubt, an Hand von Zitaten aus der „Entstehung der Arten“ meine Ansicht zu stützen. Darwin hat zuerst die Hierarchie des natürlichen Systems in deszendenztheoretischem Sinne gedeutet. Schon aus der eigentümlichen Anordnung der Organısmen ım natürlichen System allein scheint sich ıhm der unvermeidliche Schluss zu ergeben, „dass in unseren Klassifikationen noch etwas mehr zum Ausdruck kommt als bloße Ähnlichkeit. Und ich glaube in der Tat, dass dies der Fall ıst und dass die Gemeinsamkeit der Abstammung (die einzige bekannte Ursache der Ähnlichkeit orga- nischer Wesen) das Band ist, welches, wenn auch unter mancherlei Modifikationsstufen, in unseren Klassifikationen sich teilweise ent- büllt.“ Darwin hat zuerst nachgewiesen, dass diese Konsequenz die einzige ist, die sich mit dem realistischen Charakter der Natur- forschung verträgt, während mit den Ausdrücken, das natürliche System enthülle uns den Plan des Schöpfers „für unsere Erkenntnis nichts gewonnen zu sein scheint“. Das ist kurz und bündig und doch betrifft es eine Frage von weittragender prinzipieller Bedeu- tung. Es ist nicht einmal eine Alternative da, sondern ein einziger, zwingender Schluss, denn nur „die oben entwickelte Ansicht erklärt die natürliche Anordnung in Gruppen unter Gruppen, und eine andere Erklärung ist nie versucht worden“ (Darwin, Entstehung der Arten, Kap. XIV (XIII der 1. Auflage) °). Letzteres trifft nicht ganz zu, denn es ist bekannt, dass bereits Linné einen solchen Erklärungsversuch gemacht hat. Er schrieb 1764, also 95 Jahre vor Darwin: 1. Der Schöpfer hat im Anfang das medullare vegetabilische 6) Es ist immer zu berücksichtigen, dass in den ersten vier Auflagen der Ent- stehung nur 14 Kapitel waren, das jetzige VII. Kapitel ist später hinzugekommen. Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. 79 Wesen mit den konstitutiven Prinzipien des mannigfachen korti- kalen Wesens versehen, woraus so viele verschiedene Individuen entstanden sind, als es natürliche Ordnungen gibt. 2. Diese klassischen Pflanzen hat der Allmächtige untereinander gemischt, infolgedessen sind so viele Gattungen innerhalb der Ord- nungen entstanden, die aus diesen Pflanzen entstanden sind. 3. Diese generischen Pflanzen hat die Natur gemischt, woraus so viele Spezies einer Gattung entstanden sind, als es deren heute gibt. 4. Diese Spezies hat der Zufall gemischt, woraus so viele Varie- täten hervorgegangen, als vorzukommen pflegen. (Vgl. Sachs, Ge- schichte der Botanik, S. 114. Die Übersetzung entnehme ich Radl, Geschichte der biologischen Theorien.) Dieser Erklärungsversuch braucht keiner eingehenden Kommen- tare, ebenso wie derjenige von Jakob Theodor Klein, der all- mächtige Schöpfer habe die Tiere in Gattungen und Geschlechter eingeteilt. Da sie mit Begriffen operieren, die nicht naturwissen- schaftlich gefasst werden können, so entziehen sie sich einer wissen- - schaftlichen Diskussion. Sie mögen also bloß angeführt werden. Die ungleichmäßige Verteilung der Arten auf die höheren Gruppen des Systems, Familien, Ordnungen u. s. w. ist durch das Aussterben bedingt und dies erklärt uns auch den relativen Charakter jener Umsgrenzungen. Dies alles wurde zuerst von Darwin erörtert und für die Deszendenztheorie verwertet. Er schrieb: „Die verschiedenen Arten- gruppen endlich, die Ordnungen und Unterordnungen, Familien und Unterfamilien, Gattungen u. s. w., scheinen, wenigstens bis jetzt, ganz künstlich zu sein.“ „Man konnte beı den Pflanzen wie bei den Insekten Beispiele von Artengruppen anführen, die von geübten Naturforschern erst nur ais Gattungen aufgestellt und dann allmäh- lich zum Rang von Unterfamilien und Familien erhoben worden sind, und zwar nicht deshalb, weil durch spätere Forschungen neue wesentliche, zuerst übersehene Unterschiede in ihrer Organisation ermittelt worden waren, sondern nur infolge späterer Entdeckung vieler verwandter Arten, mit nur schwach abgestuften Unterschieden.“ „Waterhouse hat die Bemerkung gemacht, dass, wenn ein Glied aus einer Tiergruppe Verwandtschaft mit einer ganz anderen Gruppe zeigt, diese Verwandtschaft in den meisten Fällen eine allgemeine und nicht. eine spezielle Verwandtschaft ist.“ Und endlich: „Das Erlöschen hat... einen bedeutsamen Anteil an der Bildung und Erweiterung der Lücken zwischen den verschiedenen Gruppen in jeder Klasse gehabt.“ „Aussterben hat die Gruppen nur umgrenzt, durchaus nicht gemacht. Denn wenn alle Formen, welche jemals auf dieser Erde gelebt haben, plötzlich wieder erscheinen könnten, so würde es zwar ganz unmöglich sein, die Gruppen durch Defi- nitionen voneinander zu unterscheiden; trotzdem würde eine natür- 80 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. liche Klassifikation oder wenigstens eine natürliche Anordnung möglich sein.“ Darwin erörterte ausführlich den klassifikatorischen Wert verschiedener Merkmale unter dem Gesichtspunkte der Des- zendenz und erklärte in diesem Zusammenhang den Unterschied zwischen dem natürlichen und jedem künstlichen System. „Daher hat sich ferner oft genug eine bloß auf ein einziges Merkmal, wenn- gleich von höchster Bedeutung, gegründete Klassifikation als mangel- haft erwiesen, denn kein Teil der Organisation ist unabänderlich beständig“ (Kap. XIV). Denim erklärte jene auffallende Diskordanz zwischen der physiologischen Wichtigkeit eines Organes und seinem klassifika- torischen Wert. Er schrieb: „Man kann sogar als eine allgemeine Regel aufstellen, dass ein Teil der Organisation um so wichtiger für die Klassifikation wird, je weniger er für Spezialzwecke be- stimmt ıst.“ „Niemand wird ferner behaupten, rudimentäre oder verkümmerte Organe wären von hoher physiologischer Wichtigkeit oder von vitaler Bedeutung, und doch besitzen häufig derartige Organe für die Klassifikation einen großen Wert.“ Auch den wichtigen mierchicd zwischen Homologie und Analogie in ihrer Beziehung zur Klassifikation erklärte Darwin deszendenztheoretisch. Er schrieb: „Nach der Ansicht, dass Cha- raktere nur insofern von wesentlicher Bedeutung für die Klassı- fikation sind, als sie die gemeinsame Abstammung ausdrücken, lernen wir deutlich einsehen, warum analoge oder Anpassungs- charaktere, wenn auch von höchstem Werte für das Gedeihen der Wesen, doch für den Systematiker fast wertlos sind. Denn zwei Tiere von ganz verschiedener Abstammung können leicht ähnlichen Lebensbedingungen angepasst und daher äußerlich einander sehr ähnlich geworden sein“ u. s. w. Die Bedeutung der rudimentären Organe als Beweismittel der Deszendenztheorie hat Darwin zuerst erkannt. Er schrieb darüber: „In den naturgeschichtlichen Werken liest man gewöhnlich, dass die rudimentären Organe nur der „Sym- metrie wegen“ oder „um das Schema der Natur zu ergänzen“ vor- handen sind, dies scheint mir aber keine Erklärung, sondern nur eine Umschreibung der Tatsache zu sein. Auch ist es nicht konse- quent durchzuführen: so hat die Boa constrictor Rudimente der Hintergliedmassen und des Beckens, und wenn man nun sagt, dass diese Knochen erhalten worden, „um das natürliche Schema zu vervollständigen“, warum sind sie, wie Professor Weismann fragt, nicht auch bei anderen Sc hlangen erhalten worden, welche ah: einmal eine Spur dieser Knochen besitzen ?“ Ruaunentare Organe kann man mit den Buchstaben eines Wortes vergleichen, welche beim Buchstabieren desselben noch beibehalten, aber nicht ausge- sprochen werden und bei Nachforschungen über dessen Ursprung als vortreffliche Führer dienen“. Dass die embryonalen Merkmale Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. 81 für die Systematik von hoher Bedeutung sind, wurde schon vor Darwin erkannt. Aber er gab die Erklärung dafür zuerst. Er schrieb im XIV. Kapitel: „Doch liegt es nach der gewöhnlichen Anschauungsweise keineswegs auf der Hand, warum die Struktur des Embryos für diesen Zweck (die natürliche Klassifikation) höher ın Anschlag zu bringen wäre, als die des erwachsenen Tieres, welches doch nur allein vollen Anteil am Haushalte der Natur nimmt.“ „Wir werden sofort sehen, dass diese Charaktere bei der Klassi- fikation darum so wertvoll sind, weil das natürliche System in seiner Anordnung genealogisch ist.“ Den geographischen und geologischen Tatsachen hat Darwın je zwei lange Kapitel gewidmet. Es ist nicht möglich, alle dies- bezüglichen Äußerungen anzuführen. Nur einige besonders cha- rakteristische Stellen mögen hier folgen. Darwin’s „erste wichtige Tatsache“ der Biogeographie besteht darin, „dass weder die Ähn- lichkeit noch die Unähnlichkeit der Bewohner verschiedener Gegen- den aus klimatischen und anderen physikalischen Bedingungen völlig erklärbar ist.“ Eine zweite Tatsache ist die, „dass Schranken ver- schiedener Art oder Hindernisse freier Wanderung mit den Ver- schiedenheiten zwischen Bevölkerungen verschiedener Gegenden in engem und wesentlichem Zusammenhang stehen“. Eine dritte Tat- sache ist „die Verwandtschaft zwischen den Bewohnern eines Fest- landes oder Weltmeeres, obwohl die Arten ın verschiedenen Teilen und Standorten desselben verschieden sind.“ Beispiel: der rein amerikanische Organisationstypus der verschiedensten Nagetiere Südamerikas. Ferner: „wie sehr auch die Inseln an den ameri- kanischen Küsten in ihrem geologischen Bau abweichen mögen, ihre Bewohner sind wesentlich amerikanisch, wenn auch von eigentüm- licher Art.“ „Wir erkennen in diesen Tatsachen ein tiefliegendes organisches Gesetz, herrschend über Zeit und Raum hinweg auf demselben Gebiete von Land und Meer, unabhängig von ihrer natür- lichen Beschaffenheit. Der Naturforscher müsste wenig Forschungs- trieb besitzen, der sich nicht versucht fühlte, diesem Gesetze nach- zuspüren.*“ Darwin erörterte ausführlich das Fehlen der Säugetiere und der Amphibien auf den ozeanischen Inseln, sowie die Tatsache, dass gerade die Fledermäuse eine Ausnahme von dieser Regel bilden. Darwın erörterte den Endemismus, die arktisch-alpine Flora und Fauna, kurz, Darwin hat die geographischen Beweis- mittel der Deszendenztheorie in erschöpfender Weise verwertet. In bezug auf geologische Tatsachen hat Darwin mit den Be- weismitteln ebenfalls nicht gespart. Er wies darauf hin, dass die ausgestorbenen Formen sich in unser System fügen und dass diese Tatsache sich sofort aus dem Abstammungsprinzip erklärt. „Je älter eine Form ist, desto mehr weicht sie der allgemeinen Regel zufolge von den lebenden Formen ab.“ Darwin verwertete ın XXVIII. 6 R2 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. diesem Sinne die fossilen Verbindungsglieder zwischen Wiederkäuern und Diekhäutern, zwischen Seekühen und Huftieren. Er wies darauf hin, dass „die Fauna einer jeden großen Periode in der Erdgeschichte in ihrem allgemeinen Charakter das Mittel halten müsse zwischen der zunächst vorangehenden und der ihr nachfolgenden“, „dass die Fossilien aus zweı aufeinanderfolgenden Formationen viel näher als die aus zwei entfernten miteinander verwandt seien“. Darwin fügt hinzu: „Diese Tatsache allein scheint ihrer Allgemeinheit wegen Professor Pictet in seinem festen Glauben an die Unveränderlich- keit der Arten wankend gemacht zu haben.“ Darwin erörterte ferner die Tatsachen, dass „Arten verschiedener Gattungen und Klassen weder gleichen Schrittes, noch in gleichem Verhältnis ge- wechselt haben“, dass „nach der allgemeinen Regel die Artenzahl jeder Gruppe allmählich zu ihrem Maximum anwächst und dann früher oder später wieder langsam abnımmt“; dass, „wenn eine Gruppe einmal untergegangen ist, sie niemals wieder erscheint“, u. S. W. Anlässlich der Bemerkung Darwin’s über Professor Pictet drängt sich die Frage auf, ob sich Darwin dessen bewusst war, welche Beweiskraft den Tatsachen der Biotaxie allein schon, unab- hängig von allem Anderen, zukommt. Diese Frage muss bejaht werden. Darwın wusste wohl, welche Beweiskraft den Tatsachen der Biotaxie innewohnt. Am Schlusse des XIV. Kapitels der „Ent- stehung der Arten“ schrieb er: „Die verschiedenen Klassen von Tatsachen schließlich, die in diesem Kapitel erörtert wurden (und dieses Kapitel enthält: natürliche Klassifikation, Morphologie, Em- bryologie, rudimentäre Organe, Homologie und Analogie und Ähn- liches. T.), scheinen mir so deutlich zu verkünden, dass die unzähligen Arten, Sippen und Familien, mit welchen diese Erde bevölkert ist, alle, und jede innerhalb ihrer eigenen Klasse oder Gruppe insbe- sondere, von gemeinsamen Eltern abstammen und im Verlauf der Abstammung wesentlich modifiziert wurden; dass ich ohne Zögern diese Anschauung annehmen wollte, selbst wenn sie nicht von anderen Tatsachen und Argumenten unter- stützt würde ’)*. Wenn es sich somit zeigt, dass Darwin mit vollem Bewusst- sein diejenigen Beweise der Deszendenztheorie vorgebracht hat, die wir vom allgemeinen logischen Standpunkt aus als die einzig voll- gültigen, als die notwendigen und hinreichenden erkannten, wenn sich zugleich herausstellt, dass Darwin’s Vorläufer diese Beweisführung auch nicht einmal gestreift haben, sollte es da einem nicht ein- leuchten, dass Darwin in der Begründung der Deszendenztheorie keine Vorläufer gehabt hat und dass jene angeblichen Vorläufer 7) Von mir gesperrt. Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. 83 nicht bloß deswegen keinen Erfolg ernteten, weil ihnen das Prinzip der Zuchtwahl unbekannt geblieben war. Freilich, ich spreche damit einen Satz aus, der der Ansicht der größten Autoritäten auf dem Gebiete der Entwickelungslehre — Haeckel, Wallace u. A. — zuwiderläuft. Allein auch ich bin ın der Lage, mich wenigstens auf eine Autorität berufen zu können. Und diese ist — Darwin selbst. Es wunderte mich immer, dass die genannten Autoren bei ihren Erörterungen über die Vorläufer Darwin’s es nicht für nötig hielten, wenigstens in einer Fußnote darauf hinzuweisen, dass Darwin selbst durchaus nicht ihrer Mei- nung gewesen ist, dass er von den am meisten gepriesenen Vor- läufern — Goethe, Lamarck, Oken, Treviranus — nichts wissen wollte. Dass dies aber in Wirklichkeit so ist, ergibt sich unwiderleglich aus folgendem. In seiner Autobiographie schrieb er im Jahre 1876: „Es ist zuweilen gesagt worden, der Erfolg der Entstehung der Arten habe bewiesen, dass ,der Gegenstand in der Luft gelegen habe‘ oder ‚dass die Geister darauf vorbereitet gewesen sind‘. Ich glaube nicht, dass dies völlig zutreffend ist, denn ich habe gelegentlich nicht wenige Naturforscher sondiert und es ist mir niemals vorge- kommen, auch nur auf einen einzigen zu stoßen, welcher an der Beständigkeit der Arten zu zweifeln geschienen hätte. Selbst Lyell und Hooker, obschon sie mir mit Interesse zuhörten, schienen niemals mit mif übereinzustimmen.“ Hier bestätigt nun Darwin selbst, dass der Deszendenzgedanke vor seinem Auftreten keine Anhänger hatte, und wenn er in der 6. Auflage seiner „Entstehung“ an zwei Stellen den Satz ausspricht: ‚Jetzt haben sich die Sachen ganz und gar geändert und fast jeder Naturforscher nımmt das große Prinzip der Evolution an“, so ist daraus klar zu ersehen, dass Darwin das Verdienst, die Deszendenzlehre begründet zu haben, für sich in Anspruch nahm. Und wie wenig er sich auf seine Vorläufer gestützt hat, zeigen seine Aussprüche über den größten von ihnen, Lamarck: 1844 schreibt er an Hooker, La- marck sei „wirklich wertlos“, 1849 schreibt er an Hooker, La- marck habe „mit seinem widersinnigen, wennschon geschickten Buche, dem Gegenstand geschadet, wie auch Mr. Vestiges“°). Nichts konnte ihn in dem Grade ärgern, als wenn man sein Buch eine neue Auflage von Lamarck nannte. Am 12. März 1863 schrieb er an Lyell: „Endlich beziehen Sie sich wiederholt’) auf meine Ansichten als auf eine Modifikation der Lamarck’schen Lehre der Entwickelung und des Fortschrittes. Wenn dies Ihre wohlbefestigte 8) Der Schluss dieses Satzes lautet: „und (wie irgendein zukünftiger Natur- forscher, der sich an die nämlichen Spekulationen macht, vielleicht sagen wird) Vir. 22. getan hat‘. 9) In seinem Buche über ,,das Alter des Menschen“. 84 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. Meinung ist, so ist Nichts darüber zu sagen, es scheint mir dies aber nicht der Fall zu sein. Plato, Buffon, mein Großvater vor Lamarck u. A. haben die offenbare Ansicht ausgesprochen, dass, wenn die Arten nicht einzeln erschaffen worden sind, sie von an- deren Arten abgestammt sein müssen, und ich kann zwischen der ‚Entstehung der Arten‘ und Lamarck Nichts weiter gemeinschaft- liches erkennen.“ Weiter heisst es, diese Art den Fall darzustellen bringe seine und Wallace’s Ansichten „in enge Verbindung mit einem Buche, welches ich nach zweimaligem überlegtem Lesen für ein erbärmliches Buch halte und aus welchem ich (ich erinnere mich sehr gut meiner Überraschung) Nichts gewonnen habe.“ Wer Darwin’s bewunderungswürdige Ehrlichkeit kennt, seine Aner- kennung für jeden, dem er nur irgendeine Anregung zu verdanken hatte, wird in den mitgeteilten Sätzen die tiefe, ehrliche Über- zeugung Darwin’s erblicken, dass er bei der Aufstellung und Be- griindung der Deszendenztheorie völlig selbständig gewesen ist, seinem eigenen Antrieb folgte und sich seiner eigenen Mittel be- diente. Nicht nur der Inhalt der Beweisführung ist bei Darwin ein ganz anderer als bei seinen Vorläufern. Denn auch in der richtigen Absteckung des Anwendungsbereiches der neuen Theorie unter- schied sich Darwin in vorteilhafter Weise von allen seinen Vor gängern: erstens sah er richtig ein, dass die Stammbäume an das- Ende und nicht an den Anfang der Darlegungen gehörten, zweitens sah er ein, dass es sich nicht um die Erklärung des gesamten Lebensphänomens handeln kann, und schrieb daher eben nur ein Buch über die „Entstehung der Arten“ und nicht über die Ertstehung des Lebens, über seine inneren Triebkräfte und seine Äußerungen. „In welcher Weise der Nerv lichtempfindlich geworden ist, das geht uns fast ebensowenig an, als die Frage, wie das Leben entstanden sei,‘ — das steht im VI. (früher V.) Kapitel der „Entstehung“ zu lesen. Und in einem Brief an Hooker heisst es unterm 29. März 1863: „Es ist einfach Unsinn, gegenwärtig an den Ursprung des Lebens zu denken, man könnte ebensogut an den Ursprung der Materie denken.“ Leider vermochte sich Darwın in einem Punkte den Anschau- ungen seiner Zeit nicht zu entwinden: er übersah das oben dar- gelegte Verhältnis zwischen Biotaxie und Biophysik in ihrer Be- zıehung zum Deszendenzproblem und blieb bei der Anschauung stehen, die Biophysik habe ebenfalls sogleich den Beweis für den Deszendenzgedanken zu liefern, während wir doch gesehen haben, dass dieselbe nur mit einiger Wahrscheinlichkeit die Faktoren der Entwickelung ermitteln kann, wenn der Deszendenzgedanke an sich durch die Biotaxie als denknotwendig nachgewiesen ist. Gleich in der Einleitung zur „Entstehung“ steht ein Satz, der diese methodo- Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. 85 logisch verfehlte Ansicht erhärtet und fixiert. „Was die Entstehung der Arten betrifft, so ist es recht begreiflich, dass der Natur- forscher in Erwägung der: gegenseitigen Verwandtschaft der orga- nischen Wesen, ihrer embryonalen Beziehungen, ihrer geographischen Verbreitung, ihrer geologischen Reihenfolge und anderer solcher Tatsachen — dass er zu dem Schlusse kommen mag, die Arten seien nicht unabhängig voneinander erschaffen worden, sondern stammen, ähnlich den Varietäten, von anderen Arten ab. Nichts- destoweniger dürfte ein solcher Schluss, selbst wenn er wohlbegründet wäre, ungenügend sein’), so lange nicht auch gezeigt wird, wie sich die unzähligen Arten, die unsere Erde bewohnen, so abgeändert haben, dass sie jene Vollkommenheit der Struktur und der Anpassung erworben haben, die gerade unsere Bewunderung hervorrufen.“ Dieser Passus ist methodologisch etwas ganz Merkwürdiges. Ein wohlbegründeter Schluss, der sich auf ein großes Gebiet von Erscheinungen stützt, ist ungenügend, so lange nicht eine andere Disziplin, die es mit ganz anderen Tatsachen zu tun hat, und sich ganz anderer Mittel bedient, eine Illustration des in ersterem ge- folgerten liefert! Und wie, wenn die beiden Forschungsgebiete sich auf ungleicher Entwickelungsstufe befinden, wie, wenn die eine Disziplin den Gedanken vollständig zu stützen vermag, während die andere noch nicht einmal einer wissenschaftlichen Formulierung desselben fähig ıst? Ein Beispiel soll uns das Verhältnis veran- schaulichen. Kopernikus begründet im Anfang des 16. Jahrhunderts das heliozentrische System. Diese Begründung stützt sich auf rem vergleichende Forschung, sie ergibt sich aus der Registrierung der Stellungen der Weltkörper in verschiedenen Zeiten und lautet: diese Verteilung in Raum und Zeit ist sehr schwer begreiflich (und erfordert dazu zahllose komph- zierte Hilfsannahmen), wenn wir nicht annehmen, dass die Sonne im Zentrum des Systems steht, während die Planeten um sie kreisen. Bei dieser Annahme aber lösen sich alle Schwierigkeiten. Ist nun dieser Schluss genügend, wenn er durch die Tatsachen der Ver- teilung wohlbegriindet ist? Gewiss. Aber nein, man könnte doch einwenden: Dieser Schluss, wenn er auch wohlbegründet ist, ist doch ungenügend, so lange es nicht bewiesen ist, was die Ursache dieser Bewegung der Planeten um die Sonne ist und wie es dazu gekommen ist, dass dieses ganze System seine prächtige Stabilität erreicht hat? Wäre ein solches Argument richtig? Da könnte doch jeder klar denkende Mensch einwenden, diese andere Frage gehöre speziell der Mechanik an, und diese Wissenschaft existierte zur Zeit des Koper- 10) Von mir gesperrt. 86 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. nıkus noch gar nicht. Die Mechanik wurde erst 90 Jahre nach Kopernikus’ Tode von Galilei begründet. Ungefähr in dieselbe Zeit fällt die genauere Ermittelung der Planetenbahnen durch Tycho Brahe und Keppler. Und erst 140 Jahre nach Kopernikus’ Tode konnte Newton die Ursache der Planetenbewegung angeben, also die aus der Verteilung abgeleitete heliozentrische Anschauung „mechanisch begründen“. Selbst die Art dieser mechanischen Be- sründung ist für uns sehr lehrreich. Aus den Keppler’schen Ge- setzen ergibt sich das Gravitationsgesetz: die Planeten bewegen sich um die Sonne (und die Trabanten um die Planeten) so, wie wenn vom Zentralkörper eine Anziehung ausgehen würde, die den Massen direkt, den Quadraten der Entfernungen umgekehrt pro- portional ist. Nun kennen wir auch auf der Erde eine Massen- anziehung, wir nennen sie „Schwere“ und sie äußert sich, so, wie wenn alle Körper nach dem Erdmittelpunkt hingezogen würden. Newton’s geniale Idee bestand bekanntlich in der Prüfung, „ob die Schwere identisch mit der allgemeinen Gravitation sei“. Die Frage konnte positiv beantwortet werden. „Um die Erde kreist der Mond entsprechend dem Gravitationsgesetz, indem seiner Massen- An? R T? erteilt wird, wo R den Abstand des Mondes vom Erdmittelpunkt, T seine Umlaufzeit bedeutet. An der Erdoberfläche aber, d. h. im Abstande des Erdradius r vom Erdmittelpunkt, wird der Massen- einheit die Erdakzeleration g erteilt. Ist nun die Schwere identisch mit der Gravitation, so müssen nach dem Gravitationsgesetz die Beschleunigungen umgekehrt proportional dem Quadrat des Ab- standes vom Erdmittelpunkt sein, also arg track. einheit durch die Erde die Zentripetalbeschleunigung a — 2 Diese Gleichung ist in der Tat befriedigt; denn a = a lasst sich so berechnen: R = 60 r, T = 27 Tage 7 Stunden 43 Minuten = 39343 X 60 Sekunden. Da 2ar = Erdumfang — 40000000 m, so ist 2ar, 2-60 40.000 000-22 - 60 he a pe: a EES ae 0,002 706 m, aus a: g¢ = ¥?: (60r)? folgt g — a 60? = 9,74 m, während experi mentell g = 9,78 m gefunden wird“ (Kayser, Lehrb. d. Physik). Aus Vorstehendem ist ersichtlich, dass diese ganze Beweis- führung die Kenntnis der Größe des Erdhalbmessers und des Mond- abstandes verlangt. Und so lange diese Größen nicht mit hin- reichender Genauigkeit ermittelt waren, war an einen Beweis nicht zu denken, selbst wenn die geniale Idee bereits gefasst worden ist. Newton versuchte die Rechnung schon 1666 durchzuführen, ist aber nicht zum Ziele gekommen; erst nachdem durch die Grad- bogenmessung von Picard 1682 der annähernde Wert des Erd- Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. 87 halbmessers geliefert wurde, konnte dieser Wert ın die Rechnung eingesetzt werden, und da zeigte sich, dass diese Annahme stimmt. Wir sehen an diesem Beispiel, dass die „mechanische Begrün- dung“, die einem anderen Gebiete der Forschung angehört, einen ganz anderen Stand des Wissens zu ihrer Voraussetzung hatte, als die bloße Zurückführung der beobachteten Verteilung auf den vorher nicht geahnten heliozentrischen Grundzug im Aufbau des Sonnen- systems. Wollte Kopernikus gleichzeitig mit der Aufstellung der heliozentrischen Lehre unbedingt auch eine „Erklärung‘‘ der Be- wegungen geben, so könnte er nur auf ganz abenteuerliche Erklä- rungen verfallen, ” denn es existierte noch keine experimentelle Mechanik, es war noch nicht bekannt, dass die Bahnen der Planeten Ellipsen und keine Kreise darstellen u. s. w. Nicht weniger verschieden stand die Sache in unserem Falle. Was zugunsten des Deszendenzgedankens von seiten der Biotaxie anzuführen wäre, ist nicht etwa von Darwin allein gesammelt worden. Die vordarwinische Entwickelung der Morphologie, Em- bryologie und Systematik, selbst der Pflanzen- und Tiergeographie und der Paläontologie hat eine Menge von Tatsachen zutage ge- fördert, auf welche Darwin bloß hinzuweisen brauchte. Er konnte zur Verfechtung der neuen Idee alle die Waffen brauchen, welche von ihren Gegnern geschmiedet worden sind, genau so, wie die antiphlogistische Lehre Lavosier’s sich lediglich mit den von den Phlogistikern zutage geförderten Tatsachen beweisen ließe. Darwin brauchte nur zu sagen: das, was Ihr unter natürlichem System versteht, ist eben ein genealogisches; wenn Ihr euch wohl hütet, eine Homologie mit einer Analogie zu verwechseln, so redet Ihr von gleicher Anpassung bei verschiedener Abstammung und vice versa, wenn Ihr die embryonalen Charaktere so hoch schätzet, wenn Ihr den morphologischen Charakteren einen höheren klassifikato- rischen Wert beimesset, als den physiologischen u. s. w., so lasset Ihr das genealogische Prinzip gelten. Und was war in der Biophysik Dar win vorgearbeitet? Erinnern wir uns an einige Daten. 1838/39 wurde die Zellentheorie begründet, also zwei Jahre nach Darwin’s Rückkehr von seiner Reise. Erst 1844 wurde von Nägeli der Stickstoffgehalt des Zellinhaltes nach- gewiesen, erst 1846 von Mohl der Name Protoplasma für diesen Zellinhalt eingeführt. Und 1844 war Darwin’s Theorie fix und fertig in ihren Grundzügen entwickelt und in einem 231 Folioseiten starken Manuskript dargestellt, wie es aus seiner Biographie be- kannt ist. Diese Theorie enthielt aber nicht bloß die Begründung des Deszendenzgedankens durch die Tatsachen der Verteilung, son- dern auch eine „Erklärung“ des Entwickelungsganges der Arten durch den ‚wichtigsten‘ Faktor, die natürliche Zuchtwahl im Kampfe ums Dasein. Wie kam es dazu? 88 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. Es ist in den methodologischen Anschauungen Darwin’s ein merkwürdiger Zwiespalt, ein innerer Kampf zweier entgegengesetzten Tendenzen zu konstatieren. Der eine, Darwin A, der die großen Züge in der räumlichen und zeitlichen Verteilung der Organısmen geschaut hatte, war überzeugt, dass die Tatsachen der Systematik, Morphologie, Geographie und Paläontologie allein schon völlig hin- reichen, um die Denknotwendigkeit der Deszendenz darzutun und diese Ansicht sprach er am Schlusse des XIV. Kapitels aus!!). Der andere, Darwin B, stellte sich mehr auf den Standpunkt der nicht methodologisch klar denkenden Menge und sagte: wenn man mir mit der Begründung der Deszendenztheorie den Glauben an den Schöpfer nimmt, so muss man mir gleichzeitig eine Kraft angeben, deren Walten ich jene wunderbare Zweckmäßigkeit zuschreiben könnte, die ich bisher der Weisheit des Schöpfers zuzuschreiben pflegte. Und dieser zweite Darwin schrieb jene Stelle in der Einleitung nieder, in welcher der wohlbegründete Schluss als unge- nügend bezeichnet wird. Während Darwin A sich bereit erklärt, sich von den Beweismitteln der Biotaxie allein überzeugen zu lassen, verlangt Darwin B unbedingt biophysikalische Beweise. Darwin A schreibt am 5. September 1857 (an Asa Gray): „Warum ich glaube, dass Spezies sich wirklich verändert haben, hängt von allgemeinen Tatsachen in den Verwandtschaftsverhält- nissen, der Embryologie, den rudimentären Organen, der geologischen Geschichte und der geographischen Verbreitung organischer Wesen ab.“ Also lauter Beweismittel der Biotaxie. Aber gleich ergreift Darwin B die Feder und untergräbt jene ganz richtige methodo- logische Auffassung durch folgenden Zusatz: „Die Tatsachen, die mich am längsten wissenschaftlich orthodox gehalten haben, sind diejenigen der Anpassung: — Die Pollenmassen von Asclepras, — die Mistel mit ihrem von Insekten weiter getragenen Pollen und ihren von Vögeln verbreiteten Samen -—, der Specht mit seinen Füßen und Schwanz, seinem Schnabel und seiner Zunge, um Bäume zu erklettern und sich Insekten zu verschaffen. Von Klima oder Lamarck’scher Lebensweise als derartige Anpas- sungen an andere organische Wesen hervorbringend zu sprechen ist nutzlos.“ Man beachte ganz besonders den von mir gesperrten Satz. Die Tatsachen der Verteilung in Zeit, Raum und System zwingen Darwin zur Annahme der Deszendenz, aber die Tatsachen der An- passung erhalten ihn noch lange wissenschaftlich orthodox. Sprechen denn die Tatsachen der Anpassung gegen Deszendenz? An und für sich ganz sicher nicht. Wohl aber kann es so aussehen, wenn man den vorwissenschaftlichen traditionellen Elementen des Denkens 11) S. oben 8. 80. Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. 89 einen ungebührlichen Einfluss einräumt. Was heisst nämlich bei Darwin ‚wissenschaftlich orthodox‘? Doch wohl nur der Glaube, jede Spezies mit allen ihren Struktureigentümlichkeiten, mit allen ihren verwickelten Beziehungen sei das Produkt eines besonderen Schöpfungsaktes, eines übernatürlichen, für unser wissenschaftliches Denken unfassbaren Vorganges. Darwin scheint aber mit dieser Ansicht ebenso ernst zu rechnen, wie mit jeder wissenschaftlich diskutablen Hypothese: ich halte mich an diese Erklärung, so lange ich nicht eine bessere gefunden habe. Ja, er scheint sogar bei einer Musterung aller bis dahin aufgestellten Ansichten diesem Schöpfungsdogma mehr Wert beizulegen als der Lamarck’schen Hypothese. Dies ist entschieden unrecht. Denn Lamarck’s Ideen mögen inhaltlich noch so verfehlt sein, ihrer Natur nach sind sie naturwissenschaftliche Hypothesen, die mit natürlichen Vorgängen operieren und eine wissenschaftliche Erforschung in Aussicht stellen. Darwin aber verwirft sie gänzlich, weil sie rein spekulativ seien und erklärt orthodox, d. h. beim Schöpfungsdogma zu bleiben, so lange nicht eine wissenschaftlich gutbegründete Ansicht es ihm ver- bietet. Eine merkwürdige Inkonsequenz: bis aufs Haar kritisch gegenüber wissenschaftlicher Hypothesenkonstruktion und blind ver- trauend in das naive Machwerk der Bibel! Wie sehr das Suchen nach treibenden Kräften der Entwicke- lung von dieser Konkurrenz des Schöpfungsdogmas beeinflusst wurde, das hat wieder Darwin selbst hervorgehoben. In der „Ab- stammung des Menschen“, also bereits 1871 schreibt er (I. Bd. S. 132) ,,Nichtsdestoweniger bin ich nicht imstande gewesen, den Einfluss meines früheren und damals sehr verbreiteten Glaubens, dass jede Spezies absichtlich erschaffen worden sei, zu annulieren, und dies führte mich zu der stillschweigenden Annahme, dass jedes einzelne Strukturdetail, mit Ausnahme der Rudimente, von irgend- welchem speziellen, wenn auch unerkannten Nutzen sei. Mit dieser Annahme im Sinne würde wohl ganz natürlich jedermann die Wir- kung der natürlichen Zuchtwahl, sei es während früherer oder jetziger Zeit, zu hoch anschlagen.“ Nur wenn wir diese Mitkonkurrenz des Schöpfungsdogmas be- rücksichtigen, wird es uns psychologisch verständlich, warum Darwin erst durch Auffindung des Faktors der Entwickelung den voll- gültigen Beweis für den Transformismus geliefert zu haben glaubte. Sein Gedankengang lässt sich so darstellen: Die Tatsachen der Verteilung beweisen, dass die Arten sich entwickelt haben. Also kein Eingreifen einer übernätürlichen intelligenten Kraft! Wie er- klären sich aber die zweckmäßigen Einrichtungen, die Anpassungen, die man sonst so bequem der Intelligenz des persönlichen Schöpfers zuschreiben konnte? Lamarck spricht vom Willen der Tiere. Es ist aber absurd. Also vielleicht doch der Schöpfer? Und ein 90 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. Schatten des Zweifels fallt auf den sicheren Schluss des allgemeinen Transformismus. Ist aber eine Kraft gefunden, die die Anpassung hervorbringt, dann erst ist der Schöpfer ganz entbehrlich geworden, dann werfen die Tatsachen der Biophysik keinen Schatten des Zweifels mehr auf den durch die Biotaxie begründeten Transfor- mismus, dann ist die Entwickelung definitiv bewiesen. Nun wusste der Empiriker Darwin, dass die Biophysik ihre Beweise einzig und allen auf experimentellem Wege beibringen kann. Während er aber bei einer Umschau in der schon zu jener Zeit sehr umfangreichen Literatur eine fast unerschöpfliche Fülle der Beweismittel für den allgemeinen Deszendenzgedanken fand, weil eben die gesamten von der Biotaxie angehäuften Tatsachen bloß entsprechend zu deuten waren, um sich in einen großartigen Beweis zu verwandeln, so vermochte er in der biophysikalischen Literatur keine Resultate zu finden, die sich verwerten ließen, denn hier herrschte uneingeschränkt die Spekulation und an ein plan- mäßig durchgeführtes experimentelles Studium der Variabilität war noch gar nicht zu denken. Kein Wunder! Denn für ein solches sind Bedingungen unentbehrlich, welche noch weit von ihrer Ver- wirklichung waren. Erstens gehört doch zu einem solchen Studium eine wenigstens in den Grundzügen geklärte Vorstellung vom feineren Bau der Organismen. Und da war, als Darwin im Juli 1837 be- gonnen hat, „Notizbuch auf Notizbuch mit Tatsachen in bezug auf Spezies zu füllen“, die Zellenlehre noch nicht begründet! Und zweitens gehört doch zu einem experimentellen Studium vor allem eine Hypothese, und eine solche fehlte. Es braucht hier kaum eingehend bewiesen zu werden, dass, während die reine Beobach- tung von keinen Hypothesen auszugehen braucht, die experimentelle Untersuchung insofern vorgefasst ist, als sie schon in der Frage- stellung unbedingt von einer Vermutung ausgeht. Denn das Experi- ment besteht ja in einer künstlichen Ausschaltung aller Faktoren mit Ausnahme desjenigen, dessen Einwirkung genauer studiert werden soll. Also muss diese Wirkung doch zuerst als Hypothese (oder nach Ostwald’s Benennung Protothese) vermutet werden. Eine solche Hypothese über die Variabilität kann aber bei der über- wiegenden Mehrzahl der damaligen Forscher nicht gesucht werden, weil sie am Konstanzdogma festhielten. Und bei den wenigen, die der Frage etwas näher standen (Goethe, Treviranus), trug die ganze Auffassung doch ein so spekulatives Gepräge, dass an eine experimentelle Inangriffnahme nicht zu denken war. So konnte Darwin auch auf biophysikalischem Gebiete am wenigsten von seinen „Vorläufern“ lernen. Denn von den vagen Äußerungen, „der Adler sei durch die Luft zur Luft, die Phoca durch das Wasser zum Wasser gebildet‘ und „daher seine innere Vollkommenheit und seine Zweckmäßigkeit nach außen“ (Goethe) bis zu planmäßigen Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. 1 experimentellen Untersuchungen über die Variabilität, wie sie eigent- lich erst in unseren Tagen (Klebs, Goebel u. a.) in Angriff ge- nommen wurde, liegt eben ein weiter Weg. ' Wie unvollkommen der Stand der Kenntnisse in dieser Frage war, das zeigt am besten schon die Tatsache, dass selbst die Be- griffsbestimmung der Variabilität eine höchst mangelhafte war. Was wird nicht alles bei Darwin mit Variation bezeichnet! Mit dem- selben Worte Variation wird einmal die bei der Vermehrung ein- tretende Abweichung vom genauen Bilde des Erzeugers bezeichnet, also ein physiologischer Vorgang, der als solcher Gegenstand der experimentellen biophysischen Forschung ist, und ein anderesmal „jene Sippen, die ‚proteische‘ oder ‚polymorphe‘ genannt werden, weil deren Arten eine ungeordnete Menge von Variationen auf- weisen“, so z. B. Rubus, Rosa, Hieracium. Es ist aber klar, dass dieser „äußerst verwirrende Punkt“ gar kein biophysisches Problem darstellt, sofern nicht die tatsächliche Umwandlung einer „Rubus- — Variation“ in die andere bei der Vermehrung nachgewiesen ist. Es ist einfach Sache der Biotaxie, festzustellen, dass hier verwandte Formen dicht zu einem Haufen zusammengedrängt stehen, etwa zu vergleichen der Milchstraße, welche sich doch bei genauer Unter- suchung in einzelne Sterne auflöst. Ist doch für einige dieser poly- morphen Gattungen nachgewiesen worden, dass man hier ebenso- wenig von Ubergängen sprechen darf, wie bei artenarmen Gattungen. Spricht man in solchen Fällen von „Variation“, so wird eben ein Vorgang mit einem Zustand verwechselt, aus dem Verteilungs- problem wird ein Beziehungsproblem gemacht). Und dass die Gesetze der Abänderung und der Vererbung, welche doch die Grundlage einer biophysischen Theorie der Art- bildung abgeben müssen, völlig unbekannt waren, hat niemand deutlicher als Darwin ausgesprochen. „Es gibt gar viele Gesetze, welche die Veränderung regeln.‘ „Einige wenige von ihnen lassen sich einigermaßen erkennen und sollen später noch in aller Kürze erörtert werden.‘ „Die Ergebnisse der verschiedenen unbekannten oder nur dunkel erfassten Gesetze der Abänderung sind unendlich kompliziert und mannigfaltig.“ ‚Die Gesetze, welche die Erblich- keit regeln, sind größtenteils unbekannt.‘ — Diese vier Sätze stehen dicht beieinander ım zweiten Absatz des zweiten Kapitels. Und im Schlusskapitel lesen wir: „Wenn die Ansichten, die von mir in diesem Werke und auch von Wallace vorgebracht wurden, oder wenn analoge Ansichten über die Entstehung der Arten allgemein zugegeben werden, dann wird, wie wir dunkel voraussagen können, eine große Umwälzung in der Naturwissenschaft erfolgen.“ Und nachdem von den Umwälzungen in den systematischen und morpho- 12) Vgl. De Vries, Mutationstheorie. I. Bd., S. 33— 35. 92 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. logischen Auffassungen die Rede gewesen ist, heisst es ferner: „Ein großes, fast noch unbetretenes Feld wird sich den Untersuchungen über die Ursachen und Gesetze der Variation, der Wechselbeziehungen, über die Wirkungen von Gebrauch und Nichtgebrauch, über die direkte Wirkung äußerer Bedingungen u. s. w. erschließen.“ Also blieb für die Biophysik auf diesem wichtigen Gebiete der Variation noch alles in der Zukunft zu leisten. Unter diesen Um- ständen musste es schon ein besonders glücklicher Zufall gewesen sein, wenn es gelingen sollte, gleichzeitig mit der Aufstellung und Begründung des allgemeinen Deszendenzgedankens auch die treiben- den Kräfte der Entwickelung in einwandsfreier Weise festzustellen. Dieser glückliche Zufall scheint eingetreten zu sein, indem Darwin einen Faktor der Entwickelung aufdeckte, welcher „das wichtigste, wenn auch nicht das einzige Mittel der Abänderung war“. Sehen wir nach, wie dies geschehen ist. Nichts charakterisiert besser die Vorurteilslosigkeit des Em- pirikers Darwın, dem das Gespenst der spekulativen Luftschlösser Lamarck’s als warnendes Mene Tekel diente (er sagt wiederholt: Gott bewahre mich vor Lamarck’s „Neigung zum Fortschritt‘), als gerade die Tatsache, dass Darwin sich mit solchem Eifer den Kulturpflanzen und Haustieren zuwandte. Dass die organischen Formen sich entwickelt haben, war für ihn durch die Tatsachen der Verteilung bewiesen (s. Schluss des XIV. Kapitels). Wie sich organische Formen entwickeln, darüber lagen zwar keine wissen- schaftlich durchgeführten Untersuchungen vor, wohl aber gab es ein Gebiet, welches ın dieser Beziehung wertvolles Material ent- hielt, und dieses war, entsprechend der oben geschilderten Sach- lage und dem wahren Charakter der „Vorläufer“ Darwin’s, von den Naturforschern völlig vernachlässigt. Es war das Gebiet der Rassenbildung bei Kulturpflanzen und Haustieren. Es war hier schon in historischer Zeit eine enorme Mannigfaltigkeit entstanden, von welcher es leicht zu beweisen war, dass ihre Ursache nicht in ebensolcher Mannigfaltigkeit der wilden Stammformen liegt; mit anderen Worten, es ließ sich beweisen, dass zahlreiche Rassen von einer oder nur sehr wenigen wilden Arten abstammen. Und die meisterhafte Darlegung dieses Punktes im I. Kapitel der ,,Ent- stehung‘‘ gehört zu den besten Stellen des ganzen Buches (besonders Tauben). Was war nun die treibende Kraft dieser Entwickelung? Zwar ließe sich ein Teil der Wirkung auf die bestimmten und direkten Einflüsse der äußeren Lebensbedingungen und die Gewöhnung zu- rückführen, aber ,,es wäre kühn, solchen Einwirkungen die Ver- schiedenheiten zwischen einem Karrengaul und einem Rennpferd, zwischen einem Windspiel und einem Schweißhunde, einer Boten- und einer Purzeltaube zuschreiben zu wollen.“ Denn es zeigen sich Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. 95 in den Merkmalen der einzelnen Rassen Anpassungen, d. h. un- verkennbare Beziehungen zum Nutzen, zwar nicht der Organismen selbst, aber zum Nutzen, zu den Bedürfnissen oder zur Laune des Menschen. Und zum Verständnis dieser Tatsache gibt es nur einen Schlüssel, es ist das Vermögen des Menschen, die von der Natur sich darbietenden Veränderungen durch Zuchtwahl zu häufen. Also sind die Kulturrassen durch künstliche (bewusste und unbe- wusste) Zuchtwahl entstanden. Darwin’s Eifer war reichlich belohnt. Denn es war damit mehr erreicht, als zu erwarten war. Es ward ein Faktor entdeckt, welcher .zwar nicht die Variabilität selbst beherrscht und leitet (nach Weismann ist ja auch dies der Fall), wohl aber die Akkumu- lation derselben bewirkt, und das ist ja, wie wir oben gesehen haben, für die biophysikalische Beweisführung des Deszendenz- problems der Angelpunkt, um den sich die ganze Frage dreht. Auch hier ist es merkwürdig, zu konstatieren, dass die historische Entwicke- — lung des Problems der logischen Fassung desselben schnurstracks entgegenlief. Während bei unvoreingenommener Untersuchung der Variabilität vor allem die Häufigkeit und die Erscheinungsformen derselben klarzustellen wären, dann die verschiedenen inneren und äußeren Einwirkungen zu prüfen wären und schon zuletzt, an Hand eines reichen Materials an Tatsachen und Gesetzen die Frage nach der event. Akkumulationsfähigkeit der Variationen mit besonderer Rücksicht auf das Spezies- und Anpassungsproblem aufgestellt werden müsste, verlief die tatsächliche Entwickelung gerade umgekehrt. Denn der erste, welcher sich überhaupt vom wissenschaftlichen Standpunkt aus um Variabilität kümmerte, war derjenige, der sie als Beweis für die Speziesfrage brauchte, und für ıhn war gerade das Problem der Akkumulation das Alpha und Omega. So kam es zu der merkwürdigen Situation, dass der schwierigste der direkten Prüfung unzugängliche Punkt des Problems, die Akku- mulation, früher gelöst wurde als die relativ leichteren, einer Prüfung fähigen Punkte — die Gesetze der Abänderung und Ver- erbung. Darwin war sich dessen stets eingedenkt, aber wo er darauf zu sprechen kommt, macht es etwa folgenden Eindruck: ja, ja, die Gesetze sind uns noch nicht bekannt, es ist sehr schade, aber fatal ist es für unsere Theorie nicht, denn, was wir brauchen — die Akkumulation —, das haben wir ja, und zwar für alle Zeiten. Was wir auch alles ın Zukunft neues über Abänderungs- und Ver- erbungsgesetze erfahren mögen, an dieser Vorstellung über die Art der Akkumulation vermag es nichts zu ändern. Dies muss schon hier festgenagelt werden: historisch ıst diese Vorstellung über Akkumulation unabhängig von dem Stand der Kenntnisse über Variation und Vererbung. Warum soll aber und wie kann das Ergebnis der künstlichen 94 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. Rassenbildung auf die im Naturzustand lebenden Organismen über- tragen werden? Dass die Artbildung in der Natur nicht allein durch Klima und Gewöhnung erklärt werden kann, ergibt sich aus den wunderbaren Anpassungen der Organismen (Beispiel: Specht- zunge) und ihren mannigfachen gegenseitigen Beziehungen (Beispiel: Mistel, Beziehung zur Wirtspflanze, Beziehung zu den die zwei- häusigen Blüten bestäubenden Insekten, zu den die Früchte ver- breitenden Vögeln). „Es wäre widersinnig, den Bau dieses Parasiten und seine Beziehungen zu verschiedenen Gruppen von organischen Wesen durch die Wirkung äußerer Bedingungen, durch die Ge- wöhnung oder den Willensakt der Pflanze selbst zu erklären“, sagt Darwin, indem er an seine „Vorläufer“ Geoffroy Saint-Hilaire und Lamarck denkt. ; Es muss also ein solcher Faktor sein, der nicht bloß die Akku- mulation bewirkt, sondern auch die Zweckmäßigkeit der Anpassung zustande zu bringen vermag. Drei Vorfragen sind noch zu erledigen. Die Rassen der Haus- tiere und Kulturpflanzen sind doch andere taxonomische Einheiten als die Arten in der freien Natur, jene sınd ja bloß „Varietäten“. Darauf ist zu erwidern, dass erstens die Differenzen der Rassen, in sämtlichen Merkmalen (auch im Skelett) solche Dimensionen er- reichen, dass sie ausreichen würden, nicht bloß Arten, sondern Gattungen zu begründen. Und zweitens ıst der Unterschied zwischen Arten und Varietäten ein relativer, kein absoluter. Auch die Be- hauptung, es bestehe ein absolutes Kriterium in der Fruchtbarkeit der Blendlinge gegenüber der Unfruchtbarkeit der Bastarde hält vor einer strengen Kritik nicht stand. Gibt es aber auch in der Natur eine Variabilität? Ist sie nicht vielmehr eine besondere Eigenschaft der domestizierten Formen? Dieser Einwand wird in glänzender Weise widerlegt (wobei aller- dings, wie oben angedeutet, die polymorphen Formen in eine zu innige Beziehung zur individuellen Variation gebracht werden). Und somit bleibt die letzte Frage: was spielt ın der freien Natur die Rolle des strengen Richters, der die Träger der nützlichen Ab- änderungen zur Nachzucht wählt, alle anderen dagegen von der Fortpflanzung ausschließt? Auf diese Frage fand Darwin lange keine Antwort, und erst die Lektüre von Malthus’ Ubervélkerungs-. theorie soll ihn auf die Entdeckung des Kampfes ums Dasein ge- führt haben. Es war aber nur die Auslösung der ım Unterbewusst- sein gärenden Gedankenreihe, denn einem so scharfen Beobachter, wie es Darwin war, konnte ja auch ohne die Malthus’schen Argumente die Bedeutung der gewaltigen Überproduktion an Lebens- keimen und die daraus sich ergebende Konsequenz des Überlebens weniger Individuen auf die Dauer nicht entgehen. So wie es aber gekommen ist, hatte die Malthus’sche Idee der Überproduktion Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. 95 für Darwin dasselbe geleistet, was für Newton die Picard’sche Gradbogenbestimmung. Sie gab den Wert, der in die Formel ein- gesetzt werden musste, um die vermutete Analogie zweier Er- scheinungsreihen zu prüfen. Während aber dort erst das Resultat der mit dem eingesetzten Wert angestellten Rechnung die Be- rechtigung der Analogie zu erweisen hatte, war hier ein solcher Beweis der Natur der Sache nach unmöglich. Die Berechtigung des Analogieschlusses lag hier einzig und allein in ihrer Denkmög- lichkeit. Es kann nicht geleugnet werden, dass in der Selektions- theorie ein gutes Stück Rationalismus liegt. Denn während jede andere Theorie über die Faktoren der Entwickelung eine Lücke in der Beweisführung aufweisen muss, insofern die Akkumulation der Abänderungen in der Zeit unbeweisbar ist, hat die Selektions- theorie mit einer doppelten Unsicherheit zu rechnen, indem das Überleben des mit der nützlichen Abänderung ausgestatteten Indi- viduums an sich schon nicht beweisbar, sondern nur wahrscheinlich ıst. Für jede andere Theorie beginnt die Schwierigkeit bei der zweiten Generation, für die Selektionstheorie schon bei der ersten. Das ist auch der Sinn der von Dar win und von vielen seiner Anhänger ausgesprochenen Meinung, die Selektion lasse sich nicht an Hand einzelner Beispiele illustrieren, sondern müsse aus allgemeinen (Gründen gefolgert werden. Darwin selbst schrieb an Bentham unterm 22. Mai 1863: „Tatsächlich muss sich gegenwärtig der Glaube :an natürliche Zuchtwahl auf allgemeine Betrachtungen stützen: 1. Dass sie eine vera causa ist, wegen des Kampfes um die Existenz und der sicheren geologischen Tatsache, dass Spezies doch irgendwie eine Veränderung erfahren. 2. Wegen der im Zu- stande der Domestikation durch die Zuchtwahl des Menschen ein- tretenden Veränderungen. 3. Und hauptsächlich, weil diese Ansicht unter einem begreiflichen Gesichtspunkte eine Masse von Tatsachen miteinander in Verbindung bringt. Gehen wir zu Einzelheiten hinab, so können wir beweisen, dass nicht eine einzige Spezies sich verändert hat (d. h. wir können nicht beweisen, dass eine einzelne Spezies sich verändert hat); auch können wir nicht beweisen, dass die angenommenen Veränderungen wohltätig sind, was die Grund- lage der Theorie ist.“ Und in einem Briefe an Wallace unterm 25. Juli 1866: ,,Wie unglücklich ist es aber, dass es kaum jemals möglich zu sein scheint, zwischen der direkten Wirkung äußerer Einflüsse und dem ‚Überleben des Passendsten‘ zu unter- scheiden.‘ Und 40 Jahre später sagen uns die Anhänger der Selektions- theorie, dass „die Richtigkeit der Selektionslehre nicht aus der Be- trachtung spezieller Fälle sich ergibt und auch nicht an solchen geprüft werden kann, sondern dass sie eine logische Folgerung aus allgemeinen Grundsätzen darstellt“ (Plate, Die Bedeutung und 96 Tschulok, Zur Methodologie und Geschichte der Deszendenztheorie. Tragweite des Darwin’schen Selektionsprinzips. I. Auflage, 1900, S. 37 und in fast gleichlautenden Ausdrücken Weismann, Wal- lace u. a.). Und dieses Unbeweisbare und Unbewiesene sollte das beste Mittel fiir die Begriindung des allgemeinen Deszendenzgedankens abgeben. Ein größeres methodologisches Qui pro quo ist wohl kaum denkbar: eine große Anzahl von sicher beobachteten Tat- sachen führt uns mit zwingender Gewalt zum Transformismus, zur Annahme, dass die Arten nicht erschaffen sind, sondern sich all- mählich entwickelt haben. Es ergibt sich daraus eine Folgerung, dass irgendwelche Kräfte bei dieser Artenumwandlung tätig gewesen sind; wir suchen nach diesen Kräften und finden eine, die wichtig zu sein scheint, deren Wirksamkeit sich jedoch nicht beweisen lässt. Und nun erklären wır, indem wir aus einer Konsequenz eine Voraussetzung machen, die Wirksamkeit dieser Kraft beweise, dass eine Entwickelung stattgefunden hatte. Welcher Zauber hat diese Verwirrung angestiftet? Die Antwort liegt nahe; es war der Zauber einer mechanischen Erklärung der organischen Zweckmäßigkeit, der wissenschaftlichen Erschließung eines Gebietes, welches von jeher als die anerkannte Domäne des Mystizismus und der Teleologie galt. Denn das ist zweifellos: die Selektionsidee war und bleibt die einzige natur- wissenschaftliche Konstruktion, die uns vom Alpdruck der Teleo- logie befreit und das große Werk der Aufklärung vollendet, welches durch Kopernikus begonnen und durch Galilei, Newton, Kant und Laplace fortgesetzt wurde. Der Geist der neuzeitlichen Auf- klärung, der bei seiner Entfaltung die verrosteten Ketten des mittel- alterlichen Aberglaubens und der den Gesichtskreis einengenden Tradition Stück für Stück abschüttelte, machte nur noch vor dem Problem der organischen Zweckmäßigkeit Halt und schien sich in Verlegenheit zu fragen: habe ich dazu so lange gekämpft, um mich schließlich doch zu ergeben? Denn der alte Empedokles’sche Gedanke von den im Chaos umherschwirrenden Augen ohne Ge- sichter, Armen ohne Rumpfe, Köpfen ohne Körper u. s. w. war in Vergessenheit geraten und war für die naturwissenschaftliche Auf- fassung der Neuzeit doch zu abenteuerlich. (Schluss folgt.) ee a — Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der kgl. bayer. Hof- u. Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. em ‘ x ral Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Die Zellen des menschlichen Blufes ım ultravioletten Lichte von Prof. Dr. E. Grawitz in Berlin und Dr. Grünberg in Berlin. === Mit einemwähakel, —— Geb. M. 2.—. D physikalische Prakfikum des Tlichtphysikers. Theorie und Praxis der vorkommenden Aufgaben für Alle, denen Physik Hilfswissenschaft ist. Von Dr. F. Grünbaum und Dr. R. Lindt. Mit 132 Textabbildungen. Geb. M. 6.—. Grundriss der Physik für Mediziner Stabsarzt Dr. med. W. Guttmann. Mit 132 Abbildungen. — Vierte Auflage. M. 3.—, geb. M. 3.80. Elektrizitdtslehre für Mediziner. Einführung in die physikalischen Grundlagen der Elektrizität, Elektrotherapie und Röntgenwissenschaft. Von Stabsarzt Dr. W. Guttmann. Mit 263 Abbildungen und 2 Tafeln. - M. 4.80, geb. M. 5.80. Die Sprachsförungen als Gegenstand des klinischen Unterrichts. Antrittsvorlesung, gehalten in der Aula der Königl. Universität zu Berlin. | Von Dr. H. Gutzmann, Berlin. M. 1.—. K. B. Hof- und Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. >) we am Bivlogisches Gentra hatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. m. Fig. 4. Nr. Ph. Ms. @nz Mnt. Nst. Fig. 3. Horizontaler Querschnitt durch eine End. hypothetische Tetraneurula. Nst. = Nerven- stämme; Gnd. = Gonaden; Gnz. = Genital- Cap zellen; Ant. = Entoderm. P- Fig. 4. Vertikaler Längsschnitt durch eine hypothetische Tetraneurula. Nr. = zir- kumösophagealer Nervenring; Ph. = Vorderdarm (Stomodaeum); Ms. = primäres Mesoderm (Mesenchym); Mnt. = Mitteldarm (Mesenteron); End. = Enddarm (Froctodaeum); Gnz. = Genitalzellen; Gnp. = Genitalporen. Stämme eingebüßt haben, wogegen sich nicht nur der mediane ventrale, sondern auch der dorsale Stamm (bei den Copelatae nur dieser letztere) erhalten hat. Was die Phoronida betrifft, so kann man deren dorsalen (lateralen) Nerv, nach der Ansicht von Schultz, nicht mit dem dorsalen Stamm der Enteropneusta vergleichen, wie dies von Mastermann getan wurde, indem der dorsale Nerv von Phoronis nach den Beobachtungen von Schultz!?) „ein Bündel Nervenfasern, das gar keine Nervenfasern enthält“, darstellt. Mir scheint, dass die von Schultz geschilderten Verhältnisse in keiner 12) Schultz, E. Aus dem Gebiete der Regeneration. Zeitschrift f. wiss. Zoologie, 75. Bd. 1903. Siehe auch Trav. Soc. Imp. Nat. St. Pétersbourg, t. XXIV, 1905. / 136 Schimkewitsch, Uber die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. Weise der von Mastermann ausgesprochenen Deutung entgegen- stehen. Bei den Arachnida können wir die Degeneration der abdominalen Bauchkette zu einem Paar langer Nerven beobachten, welche bisweilen ganglıöse Anhäufungen an ihrem Hinterende auf- weisen, bisweilen aber derselben entbehren. Bei den Phoronida sehen wir genau die gleiche Degeneration des dorsalen Stammes, wobei dessen Ganglienzellen sich offenbar mit dem Kopfganghon vereinigt haben. Der Schlundring erweist sich als der allerbeständigste Teil des Nervensystems, welches bisweilen auf diesen Ring beschränkt ist, während der Überrest des Kopfganglions als eine bloße Verdickung derselben erscheint, wie wir dies bei den Phoronida und Lingua- tulida sehen. Als Ausgangsform für das Muskelsystem der bilateral symmetrischen Formen kénnen wir demnach die vier longitudinalen Muskelbänder oder Muskelfelder betrachten, als Ausgangspunkt für das Nervensystem der bilateral symmetrischen Formen dagegen — den Schlund- ring mit vier zwischen diesen Feldern verlaufenden Stämmen. Zwei der Muskelfelder entsprechen der ven- tralen, die beiden anderen — der dorsalen Seite, wäh- rend von den Nervenstämmen zwei auf den Seiten, die beiden anderen dagegen auf der medianen Bauch- und Rückenlinie liegen. Aus diesem Schema können die ver- schiedenen Formen des Nervensystems bei den Bilate- ralia durch Verlagerung, Reduktion, Metamerisierung und Invagination einzelner Teile desselben abgeleitet werden. Wie es die Nematodes unter den Tieren mit primärer Leibes- höhle sind, bei welchen sich die vierstrahlige Symmetrie am deut- lichsten erhalten hat, so sehen wir unter den Tieren mit sekun- därer Leibeshöhle die Brachiopoda (Fig. 7) die gleiche Stellung einnehmen. Bei ihnen finden wir eine vierstrahlige Symmetrie außer in der Muskulatur auch noch in den Borstenbündeln der Larven und in den Gonaden der Erwachsenen, bei Rhynchonella auch in den Meta- | nephridien, deren bei dieser Form vier in dem mittleren Segment: | enthalten sind!*). Die Borsten der Larve sind in vier Bündeln 13) Dieser Fall lässt sich offenbar nicht mit den „zwei Paaren von Nephridien“ bei Phoronis australis nach Benham) vergleichen, wie dies von Korschelt und Heider (Lehrb. d. vergl. Entwickelungsgesch. Spez. Teil, III. Heft, S. 1248) getan worden ist: Phoronis australis besitzt nur ein Paar von Nephridien, allein ein jedes Nephridium hat zwei Trichter. Selbst wenn dieselbe durch Verschmelzung zweier Nephridien entstanden ist, so gehörten letztere doch verschiedenen Meta- meren an, indem der eine Trichter in die rektale, der andere in die ösophageale Kammer mündet (Benham, W. The anatomy of Phoronis australis. Quart, Journ. Micr. Soc. Vol. XXX, 1889). Schimkewitsch, Uber die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. 137 angeordnet; obgleich nun alle vier Bündel an dem ventralen Ab- schnitt des Mantels liegen, so lässt sıch eine derartige Verlagerung derselben doch sehr leicht durch die stärkere Ausbildung des ven- tralen Mantellappens über den dorsalen erklären. Wenn wir nun in bezug auf andere Fälle des Vorhandenseins mehrerer Paare von Metanephridien in ein und demselben Segmente (Oligochaeta, Capitellidae, Acanthobdella). von einer Polymerisierung eines ursprünglich einzigen Paares sprechen können, so lässt sich dieser Gesichtspunkt in bezug auf Rhynchonella, bei welcher von zwei Paaren von Metanephridien das eine eine ventrale Lage hat, nicht anwenden. Auf Grund aller oben angeführten Betrachtungen glaube ich annehmen zu können, dass als Ausgangspunkt für die meisten Bilateralia ein hypothetischer, radıär gebauter Organis- mus gedient hat, welcher einen circumösophagealen Nervenring mit vier von demselben ausgehenden und längs den Interradien verlaufenden Nervenstämmen sowie vier Muskelfelder, ferner vier cölomiale, in den Radien gelegene Höhlen besaß, von denen eine jede durch ihr Metanephridium nach außen mündete (Fig. 3 und 4). Ein solcher hypothetischer Organismus, oder die Tetraneurula, halte ich für die Ausgangsform der Protocoelia und der Coelomata. Auf dieser Grundlage halte ich es für möglich, dass die rechte und die linke Cölomhöhle der Bilateralia sich eine jede durch Verschmelzung zweier Bezirke gebildet hat, und zwar eines ven- tralen und eines dorsalen, wobei einem jeden von diesen Be- zirken auch seine Metanephridialröhre entsprach. Diese Ver- schmelzung datiert von so alten Zeiten her, dass nicht einmal bei der Entwickelung dieser Höhlen eine Spur derselben zurück- geblieben ist. Es ıst möglich, dass sowohl dem dorsalen wie auch dem ven- tralen Célombezirk je ein Parapodienpaar entsprochen hat, und dass die Anordnung dieser letzteren in vier Reihen ebenfalls eine Spur der früheren vierstrahligen Symmetrie darstellt; geht man noch weiter in dieser Richtung, so wird man auch in der Anordnung jener vier Falten (einem Paar ventraler, auf dem größten Teil ihres Verlaufes getrennt bleibender, und einem Paar dorsaler, miteinander verwachsener) eine ebensolche Spur vierstrahliger Symmetrie er- blicken können, welche nach der ,,Faltentheorie den Ursprung für die Bildung der Extremitäten bei den Fischen und den Wirbeltieren gegeben haben. Allein damit betreten wir bereits ein Gebiet ziem- lich vager Betrachtungen. Es ist noch zu erwähnen, dass sich bei den Protocoelia eine deutliche Spur einer vierfachen Abstammung des Mesoderms erhalten hat: bei den Nemertinen (bei Tetrastemma 138 Schimkewitsch, Über die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. vermiculus) wird nach den Beobachtungen von Lebedinsky'*) das Rumpfmesoderm ın Gestalt von zwei Paaren von Teloblasten an- gelegt, von denen das eine Paar vor, das andere hinter dem Blasto- porus liegt, und es entstehen anfänglich vier mesodermale Streifen, ein Paar ventraler und ein Paar dorsaler. Dabei wird das Mesoderm des Rüssels für sich allein und zwar in Gestalt eines Paares von Teloblasten angelegt. Auch bezüglich der Platodes dient die Hypothese von Lang als Beweis für deren Ursprung von vierstrahligen Formen, allein von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachtet. Ich kann nicht entscheiden, inwiefern die vierfache Anordnung gewisser Organe bei den Platodes eine Neuerwerbung darstellt, und welchen Einfluss die Vererbung der Körperarchitektur eines vierstrahligen Ahnen, ungeachtet der Verlagerung der Hauptachse des Körpers, auf diese Anordnung gehabt haben kann. Ich habe hierbei den Umstand im Auge, dass viele Cestoden vier Saugnäpfe oder dieselben ersetzende Vorrichtungen besitzen (wie z. B. die Rüssel der Tetrarhynchidae), was mit dem Bau des Nervensystems im Zusammenhang steht (worauf Nemec 1889 erst- mals hingewiesen hat), ferner das Vorhandensein von vier Längs- stämmen des Exkretionssystems bei einigen Triclada und von vier Fortsätzen auf dem Körper der Redien einiger Trematoden (so auf den Redien von Cercaria spinifera)’°). Es lässt sich unschwer erkennen, dass der nächste Ahne unserer Tetraneurula unter solchen Organismen, wie die Lucernaridae (Fig. 1), Tesseridae, Scyphostoma, Tetraplatia (Fig. 2) zu suchen sein wird, bei welchen der Unterschied zwischen der ventralen und der dor- salen Seite schon ziemlich scharf ausgesprochen ist. Der Prozess der Metamerisierung erfolgte von diesem Gesichtspunkte aus in der gleichen Richtung wie der Prozess der Strobilation von Scypho- — stoma. Indem wir zu dem Vergleich der Tetraneurula mit den typischen Radiata übergehen, stoßen wir unvermeidlich auf die Frage über den Ursprung des Céloms und über die Genitocöltheorie. 2. Die vierstrahlige Natur der Bilateralia und die Genitocöltheorie. Was die Frage über den Ursprung des Cöloms betrifft, so bietet, meiner Ansicht nach, von allen Hypothesen die Genitocöl- theorie, wenn auch nicht inihrem gesamten Umfang, die meiste Wahr- scheinlichkeit. Wenn sich auch Tatsachen finden, welche auf den ersten Blick mit dieser Hypothese im Widerspruch stehen, wie z. B. 14) Lebedinsky, T. Beobachtungen über die Entwickelungsgeschichte der Nemertinen. Arch. f. mikrosk. Anatomie. 49. Bd., 1897. 15) Sinitzyn, D. Beiträge zur Naturgeschichte der Trematoden. (Russisch.) Warschau 1905. BEWERBERN u Schimkewitsch, Uber die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. 139 De die von mir!®) nachgewiesene Tatsache, dass die Höhlen der Go- naden bei den Arachnida dem Cölom nicht homolog sind1"), so können diese Tatsachen, wie ich dies in der gleichen Arbeit nach- gewiesen habe, dennoch auf Grund der Genitocöltheorie erklärt werden. Ich halte den Satz für fest begründet, wonach die Célom- höhlen der Coelomata sich aus der Wucherung der Go- naden bei den Protocoelia herausgebildet haben. Die Gegen- überstellung von solchen Formen, wie die Nematodes mit den Nematomorpha und Sipunculida, oder die Nemertina mit den Anne- lida, macht diese Ansicht nicht nur wahrscheinlich, sondern sogar durchaus anschaulich. In bezug auf Dinopkilus findet die Annahme von Ziegler!‘) keine Bestätigung, wonach Bezirke des Céloms sich deren Segmentalorganen zugesellt haben. Nach den neuesten Unter- suchungen (Shearer, 1896) stellt es sich heraus, dass die Meta- nephridien von Dinophilus an ihrem blinden Ende mit einer typischen Erweiterung und langen Geißeln versehen sind, welche aus Solenocyten hervortreten’®). Es erweist sich demnach, dass die Nephridien von Dinophilus keinen Zusammenhang mit dem Cö- lom haben, wobei das letztere eine ausschließlich geschlechtliche Funktion beibehält, mit Ausnahme der Metanephridien des fünften Paares, welche zur Entleerung der männlichen Geschlechtsorgane dienen, sowie des sechsten Paares, falls meine Annahme sich be- 16) Schimkewitsch, W. Uber die Entwickelung von Thelyphonus cau- datus (L.) etc. Zeitschr. f. wiss. Zool., Bd. 81, 1906, Heft X, S. 74—78. 17) Das Fehlen einer Homologie zwischen den Gonadenhöhlen und dem Cölom, und die Homologie derselben mit der primären Leibeshöhle wurde von mir erstmals für die Phalangida (1898), sodann von Pedaschenko für die Copepoda und end- lich wiederum von mir für die Thelyphoniden (1906) nachgewiesen. Bei den Pha- langiden entspricht die Gonadenhöhle der Höhle zwischen den beiden Blättern des Bauchmesenteriums, bei den Copepoda dagegen — derjenigen zwischen dem dorsalen Mesenterium. Ungeachtet dieser Natur der Gonade gelangt dieselbe in diesem wie in jenem Fall in Verbindung mit Ausführgängen, welche echte Metanephridien repräsentieren. Bezüglich der Arachniden war von mir die Vermutung ausge- sprochen worden, deren Geschlechtsprodukte wären ursprünglich in das Cölom ge- fallen. Einen Hinweis auf diesen Prozess haben wir in der traubenförmigen Ge- stalt des Ovariums. Aus dem Cölom wurden die Geschlechtsprodukte natürlich durch die Metanephridien nach außen geführt. Bei der Entstehung der Höhle (bei den Vhalangiden zwischen zwei Blättern des Mesenteriums) erlangten die Meta- nephridien eine Verbindung mit dieser letzteren und die Geschlechtsprodukte wurden nunmehr dennoch durch sie nach außen geführt. Dieser Prozess, welcher an und für sich eine Erscheinung sekundären Charakters darstellt, ist von mir durch mehrere Schemata in meiner Arbeit über die Entwickelung der Thelyphoniden illustriert worden. 18) Ziegler, Über den derzeitigen Stand der Célomfrage. Verh. Deutsch. Zool. Ges. 1898. 19) Shearer, C. On the Structure of the Nephridia of Dinophilus. Quart. Journ. Nr. 200 (v. 50, p. 4), p. 1906. 140 Schimkewitsch, Uber die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. stätigt, wonach dieselben bei Dinophilus durch die Eileiter ver- treten sınd. Sobald jedoch die Frage über den Ursprung der Gonaden bei den Protocoelia aufgeworfen wird, so erscheint mir die von den Autoren der Genitocöltheorie angenommene Deutung nicht ın ge- nügendem Maße überzeugend; fe Frage lässt sich hier offenbar dank zurückführen, ob ae serhlkchtliche Funktion der. Genital- höhlen bei den Formen mit primärer Leibeshöhle eine primäre Er- scheinung ist, oder ob dieselbe erst später erworben wurde? In dieser Hinsicht erscheint mir die Auffassung von Hatschek, die auch von Haeckel geteilt wird, als die richtigste, wonach die Gonaden der Formen mit primärer Leibeshöhle von der Gastralhöhle der Radiata abgetrennte Bezirke dar- stellen. Die Physiologie der Célomhéhle erteilt keine Antwort auf die Frage nach deren Ursprung, indem ihr Cölothel geschlechtliche, exkretorische und phagocytäre Funktionen in sich vereinigt. Dem- entsprechend wird eine jede der drei hervorragendsten Hypothesen (d. h. die Genitocöltheorie, die Nepunocoliieont: und die Entero- cöltheorie) bei der Beantw ortung dieser Frage an einer der aufge- zählten Funktionen des Cölothels einen Stützpunkt finden können. Die Beantwortung der Frage über den Ursprung der Célom- wandungen wird man demnach nur, in der Embryologie und der vergleichenden Anatomie suchen müssen. Wendet man sich nun an die Embryologie, so kann von allen Möglichkeiten der Entstehung des sekundären Mesoderms die telo- blastische. Entstehungsweise am wenigsten als eine primäre ange- sehen werden. Wie auch jede andere teloblastische Entstehungsweise eines Organs, so wird auch die teloblastische lntcrenues der Célom- wandungen in der allgemeinen Verringerung der Zahl derjenigen Zellen gesucht werden müssen, welche zum Aufbau des Keimes der betreffenden Form verwendet werden (Rabl, 1889), oder früher bei den Vorfahren der betreffenden Form zum Aufbau derselben gedient haben. In dieser Hinsicht bietet uns der mesodermale Abschnitt des einen Nephridienpaares bei Acanthobdella (und zwar : | der Nephridien des dritten klittellaren Abschnittes) nach Livanow ?°) eine bemerkenswerte Illustration einer solchen Reduktion: statt eines komplizierten, aus vielen Zellen bestehenden Organs, finden wir hier eine einzige nephridiale Zelle. Die Frage, welche von den beiden anderen Arten der Anlage des sekundären Mesoderms für die ältere gehalten werden muss 20) Livanow, N. Acanthobdella peledina Sn 1851. Kazan 1909. - (Russisch.) Dasselbe in: Zool. Jahrb. Anat. Abt., 22. Bd., 1906. Schimkewitsch, Über die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. 141 — die Anlage in Gestalt hohler Vorstülpungen der Gastralhöhle oder diejenige in Gestalt massiver Anschwellungen der Blasto- poruslippen — diese Frage kann nur durch indirekte Erwägungen beantwortet werden. Die Auffassung, wonach die hoble, aus den Wandungen der Gastralhöhle entstehende Anlage des sekundären Mesoderms durch Differenzierung und Migration einer massiven, an den Blasto- poruslippen entstehenden Anlage hervorgehen konnte, kann eben- sogut auch für die Erklärung des direkt entgegengesetzten Pro- zesses verwendet werden, d. h. der Differenzierung einer hohlen, an den Wandungen der Gastralhöhle entstehenden Anlage zu einer kompakten und deren Migration zu den Lippen des Blasto- porus. Die von Ziegler (1888 u. 1889) verfochtene und durch die Parenchymellatheorie gestützte Ansicht, wonach die Invagination in der Embryologie häufig einen Prozess von sekundärem Charakter darstellt (so z. B. bei der Bildung des, Sclerotoms bei Amphioxus) wird wohl schwerlich auf alle Fälle von Entwickelung durch In- vagination ausgedehnt werden können. In dem einen Fall kann die Anlage eines Organs durch Invagination einen sekundären, in anderen Fällen einen primären Charakter tragen. Alles hängt hier von der Natur und dem Ursprung des in der Entwickelung be- eriffenen Organs ab. Der von Cholodkowsky?') unternommene Versuch die Frage zu zergliedern und für die eine Gruppe der Dilateralia (Enterocoelia) die eine Art der Anlage des sekundären Mesoderms, für die andere Gruppe (Gendtocoelia) — die andere Art für typisch anzusehen, er- scheint auf den ersten Blick nicht unbegründet. In der Tat ist die enterocöle Art der Entstehung des Cöloms am deutlichsten bei den Echinodermata, Chordata (Acrania, Vertebrata und die Bildung der Perikardialhöhle bei den Tunzcata) und bei jener Gruppe von oligomeren Würmern ausgesprochen, für welche ich die Bezeichnung Triarticulata??) vorgeschlagen habe, worauf sie Mastermann später Trimetamera (Brachiopoda, Chaetognatha, Enteropneusta, Pterobranchia) benannte, und zu welcher man wahrscheinlich auch die Phoronida und Bryozoarechnen muss. Nach den Untersuchungen von Lebedinsk y?*) 21) Cholodkowsky, N. Contributions 4 la theorie du mésoderme ete. et de la métamérie. Congr. Internat. de Zool. 4 Moscou 1892. 22) Schimkewitsch, W. Sur les rélations génétiques des Métazoaires. Congres Internat. de Zool. 4 Moscou, 1892 (1893). Zuerst wurde dieser Name von mir (1891) fiir die Brachiopoda und Chaetognatha vorgeschlagen, worauf auch auf die Verwandtschaft dieser Gruppe mit den übrigen aufgezählten Gruppen, darunter auch mit den Phoronida hingewiesen wurde. 23) Lebedinsky, J. Die Embryonalentwickelung der Pedicellina echinata Sars. Biol. Centralbl., 25. Bd., 1905. 149 Schimkewitsch, Über die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. stellen die Endoprocta nicht nur typische Coelomata dar, wie ich dies bereits ım Jahre 1892 vermutet hatte, sondern auch typische Triarticulata, indem das sekundäre Mesoderm bei ihnen in Gestalt von drei Paaren cölomialer Segmente angelegt wird. Die Ähnlichkeit zwischen den Endoprocta und den Eetoprocta ist so groß, dass man dieselben wohl kaum voneinander trennen kann, wie Hatschek dies getan hat. Die Ähnlichkeit zwischen den Triarti- culata und den Chordata zeigt sich in der Anlage des Kopfganglions durch Invagination, wobei sowohl die Ganglienzellen als auch die Zellen der Neuroglia aus dieser Ursache innerhalb des Ganglions gelagert sind, während die fibrilläre Substanz an der Peripherie zu liegen kommt. Eine derartige Anordnung ist bei den Entero- pneusta und ebenso auch bei den Phoronida deutlich ausge- sprochen, bei denen das Kopfganglion nach Schultz (1903 u. 1905) bei der Regeneration ebenfalls durch Invagination neuge- bildet wird. Ebenso kann man auch bei der Entwickelung des Kopfganglions bei der Knospung der Phylactolaemata die Invagination als erwiesen betrachten (Säfftigen, 1888; Braem, 1890), während die Ent- wickelung durch Invagination nach mündlichen Mitteilungen von Dawydoff auch bei der Anlage des Kopfganglions der Brachiopoda (unbestimmte Larve) beobachtet wird. Alle diese Erschemungen sprechen dafür, dass die Triarticulata in der Tat eine natürliche Gruppe darstellen, welche in genetischem Zusammenhang mit den Chordata steht, ebenso wie auch mit den Vorfahren der Echino- dermata. Es muss jedoch bemerkt werden, dass unter diesen Formen der enterocöle Ursprung des sekundären Mesoderms nur für die Brachiopoda, die Chaetognatha und für die Enteropneusta zweifellos nachgewiesen ist. Andererseits liegen Hinweise auf einen enterocölen Ursprung des sekundären Mesoderms bei solchen Formen vor, welche wir zu den typischen @enitocoelia rechnen müssten. So liegen Angaben von Erlanger (1895) über den enterocölen Ur- sprung des Céloms und der Gonaden bei den Tardigrada und von Salensky (1906) über den enterocölen Ursprung des Meso- derms bei den Echiuridae vor. Ich lasse die Versuche beiseite, welche dahin unternommen wurden, die Differenzierung der inneren | — Blätter bei den Insekten auf die gleiche Entwickelungsweise zurück- zuführen (Kowalevsky u. a. m.), indem die Frage über den Ur- sprung der inneren Blätter bei den Insekten in gegenwärtiger Zeit sich außerordentlich kompliziert und verwickelt gestaltet hat, ebenso auch die Angaben von Erlanger über die Entwickelung des Meso- derms bei Paludina, welche nicht bestätigt worden sind. Ebenso zweifle ich daran, dass die eigenartigen Beziehungen der meso- dermalen Segmente, welche ich für Thelyphonus beschrieben habe, auf einen enterocölen Ursprung des Mesoderms hinweisen, wie dies Schimkewitsch, Über die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. 143 Salensky**) vermutet. Bei dieser Form sind die Célomsegmente des Cephalothorax ursprünglich an der dorsalen Seite, d. h. nach der mit Dotter angefüllten späteren Darmhöhle zu, offen, und schließen sich später infolge des Umbiegens des äußeren Randes des einschichtigen, die Segmentwand bildenden Plättchens, nach unten. Im Abdomen von Thelyphonus sind die Cölomsegmente ab origine zweischichtig und geschlossen wie bei allen metameren Cölomaten. Die erwähnten Beziehungen erkläre ich mir dadurch, dass bei den Arachniden das gesamte Mesoderm in der Anlage der Extremitäten eindringt und deren innere Oberfläche auskleidet. Das Wachstum eines Mesodermsegments geht zu langsam vor sich, während seine Ausdehnung, infolge des erwähnten Eindringens in die Höhle der Extremität, eine sehr beträchtliche ıst. Aus diesem Grunde hat die Anlage nicht Zeit, zweischichtig zu werden, sondern sie bleibt einschichtig und geht nicht durch Verdoppelung der Zell- schicht mit nachfolgendem Auseinandertreten, sondern durch Um- biegen des äußeren Randes des einschichtigen Plättchens in die geschlossene Blase über. Mit einem Wort, der erwähnte Zustand der mesodermalen Segmente ist eine sekundäre Erscheinung und fällt dem Zeitpunkt seiner Entwickelung nach nicht mit dem Moment der Entwickelung des Mesoderms zusammen, sondern gehört einer späteren Periode an. Jedenfalls unterliegt es keinem Zweifel, dass die enterocöle Entwickelungsweise des Mesoderms bei den typischen Genitocoelia deutliche Spuren hinterlassen hat. Stellt man die Frage, welche von den beiden Arten der Anlage eines Organs als die primäre angesehen werden muss, so besteht die einzige Möglichkeit, auf diese Frage eine Antwort zu erhalten, in der Vergleichung mit tieferstehenden Formen. Kennen wir nun unter den Radiata solche Formen, welche eine Tendenz zur Absonderung peripherer Bezirke der Gastralhöhle auf- weisen? Solcher Formen kennen wir eine ganze Reihe. Kennen wir unter den Radiata solche Formen, bei welchen - massive Stränge mit den Wandungen der Gastralhöhle in Verbindung stehen? Solche Formen kennen wir nicht. Für die Vergleichung der enterocölen Entwickelungsweise des Mesoderms steht uns ein reiches morphologisches Material zur Ver- fügung; für die Vergleichung der Entwickelung des Mesoderms durch von den Blastoporuslippen ausgehende Anschwellungen da- gegen gibt uns die Morphologie der Radiata kein solches Material. Ich halte es jedoch für sehr wahrscheinlich, dass bereits bei den radiären Ahnen der Bilateralia, und zwar bei unserer hypo- 24) Salensky, W. Morphogenetische Studien an Würmern Mém. Acad. Imp. Se. St. Pétersbourg, VIII. Sér., vol. XIX, Nr. 11, 1907. 144 Schimkewitsch, Uber die Beziehungen zwischen den Belateralia und Radiata. thetischen Tetraneurula, diese peripheren Bezirke der Gastralhöhle schon von der Zentralhöhle abgetrennt waren und bereits die Be- deutung von Genitalhöhlen erlangt hatten. Ob wir nun die Genitalanlage als ein von den primären embryo- nalen Blättern selbständiges Gebilde betrachten (eine Auffassung, welche jedoch ın einigem Widerspruch mit der Genitocöltheorie steht, wie sie von E. Meyer gedeutet wird) oder nicht — erscheint von unserem Gesichtspunkt aus betrachtet als ganz belanglos. Sicher ist nur, dass bei dem radıären Ahnen der Bilateralia die Genitalzellen wie hei den Scyphoxoa im Entoderm heranreiften, nicht aber 1m Ektoderm, wie dies bei den Hydroxoa der Fall ist. Von einem solchen Gesichtspunkte aus betrachtet, verliert die ganze Frage über die frühzeitige Differenzierung der Genitalzellen ihren unmittelbaren Zusammenhang mit der Genitocöltheorie. Die Absonderung selbst der (Greenitalhöhlen erfolgte bei den radıären Vorfahren der Zrlaterahia wahrscheinlich durch Wucherung der inneren Ränder der entodermalen Mesodermscheidewände in hori- zontaler Richtung, um so mehr als die mesenterialen Scheidewände (wie z. B. im Fuße von Lucernaria, Fig. 1, und die Mesenterial- fäden der Actinien, welchen eine spezifische verdauende Funktion zukommt) nicht selten auch noch bei den gegenwärtig lebenden Formen eine Tendenz zur Ausbreitung in horizontaler Richtung an den Tag legen. Unsere Tetraneurula war demnach wahrscheinlich eine vierstrahlige, scyphostomenartige Form, bei welcher sich die mesenterialen Kammern, infolge von Wucherung der inneren Bänder der mesenterialen Scheidewände, ın Gestalt von Genitalhöhlen differenziert haben. Die von diesen Rändern gebildete Oberfläche ergab die Wandungen des Mitteldarms (mesenteron), die Schlund- röhre dagegen —— den Vorderdarm (stomodaeum), während die After- öffnung mit dem durch Einstülpung ıhrer Ränder entstandenen Enddarm (proctodaeum) Neubildungen darstellen®*). Die Konzen- tration des Nervensystems dokumentierte sich bei Tetraneurula durch die Bildung eines Schlundringes und vier von demselben aus- gehender Stämme, welche wahrscheinlich an der Basis der mesen- terialen Scheidewände, d. h. interradial verliefen. (Fortsetzung folgt.) 25) Die von Danielssen (1888) beschriebenen Formen Fenja und Aegir, welche angeblich ein ektodermales Darmrohr mit Afteröffnung und gesonderte Genitalhöhlen (resp. Mesenterialkammern) besaßen, haben sich, wie dies auch schon von Schulze (1889) vermutet worden war, als abgerissene Teile von Actinien aus der Gatt. Llaleampoides herausgestellt (Appelhöf, 1897). Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Verlag von Georg Thieme in Leipzig: ‘Grandiice der Entwickelunssmechanik von Dr. Wilh. Haacke. — ——— Mit 143 Abbildungen. ————— MM. 12. , cebaM. 213.50. Studien auf dem Gebiete der ärztlichen Seelenkunde von Hofrat Dr. FE. W. Hagen. I. Gemeinfassliche Vorträge. II. Chorinsky. a M. 3.—. Über die Protozoen als Krankheitserreger und ihre Bedeutung für die Entstehung der Geschwiilste. Von Prof. Dr. G Hauser. M. 1.—. Kompendium der chirurgischen Operations- und Verbandlehre. | Mit Berucksichtigung der Orthopadie. Von Dr. W. Heineke. 3. gänzlich umgearbeitete Auflage. Mit zahlreichen Holzschnitten. M. 16.—, geb. M. 18.—. Die formativen heize der tierischen Ontogenese. Ein Beitrag zum Verständnis der tierischen Embryonalentwickelung. Von Priv.-Doz. Dr. ©. Herbst. M. 5.—. K. B. Hof- und Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. q ' = aur 1 I { 1 Bivlogisches Gentralblatt Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und _ Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in Miinchen, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. XXVIII. Bd. 1. Marz 1908. Ne 5. J Leipzig. Verlag von Georg Thieme. Rabensteinplatz 2. _ Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Pathologie und Therapie der Niereninsuffizienz bei Nephritiden. Auf Grund eigener Untersuchungen von Dr. Géza Kövesi, und Dr. W. Roth-Schulz, Assistent der I. med. Univ.-Klinik, Budapest. Budapest-Nervi, emer. Interner der Klinik. Mit einer Vorrede von Prof. Alex. von Koränyi. Mit dem „Belassa-Preis‘“ gekrönte Schrift. M. 7.—, geb. M. 8.—. Untersuchungen über | Gastrulation und Embryobildung bei den Chordaten. Von Priv.-Doz. Dr. Fr. Kopsch. 1. Die morpholog. Bedeutung des Keimhautrandes und die Embryobildung bei der Forelle. Mit 10 lithogr. Tafeln und 18 Abbildungen im Text. q we RE Mater a Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. Bd. XXYIIl. 1. März 1908. Ae 5. Inhalt: Schimkewitsch, Uber die Beziehungen zwischen den Bilateralia und den Radiata (Fort- setzung). — Reichensperger, Über Leuchten von Schlangensternen. — Mangold, Über das Leuchten und Klettern der Schlangensterne, Über die Beziehungen zwischen den Bilateralia und den Radiata. (Vorläufige Mitteilung.) Von M. Schimkewitsch. (Fortsetzung.) Als eine logische Folgerung des oben Gesagten erscheint die Annahme, dass die Protonephridien und die Metanephridien der Bilateralia Organe von verschiedener morphologischer Bedeutung darstellen. Die Metanephridien lassen sich am naturgemäßesten mit jenen Poren vergleichen, welche bei dem radiären Vorfahren der Bulateralia zum Ausführen der Genitalprodukte dienten und eine Differenzierung der den Actinien eigentümlichen Poren darstellten. In dieser Hinsicht verdienen die Rüsselpore und die Kragenpore der Enteropneusta sowie die ihnen entsprechenden Organe der Pierobranchia, ebenso auch die Rückenpore d. h. die Anlage des Steinkanals, bei den Larven der Echinodermata ganz besondere Be- achtung. Eine Vergleichung dieses letzteren Organs mit den Meta- E nlindien war schon vor langer Zeit unternommen worden (Hartog 1887; Schimkewitsch, 1889). Vor ebenso langer Zeit (1889) Habe ich auf die Übereinstimmung der sogen. Poren der Enteropneusta mit den Metanephridien erlegen. Die Beobachtungen von Davydoff über die Regeneration der Kopfform bei Balanoglossus, wobei das Mesoderm, auf dessen Kosten der Wimpertrichter ge- XXVIII. 10 x 146 Schimkewitsch, Uber die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. bildet wird, und das Ektoderm, aus welchem der ausfihrende Teil des Organs gebildet wird ?*), sowie diejenigen von Schepotieff (1905 und 1907) über die Pterobranchia, wobei er Solenocyten in den Halsporen von Cephalodiscus beschrieben hat, sprechen zugunsten einer solchen Homologisierung. Dazu kommt noch, dass eine Paarig- keit der Riisselpore mehreren gegenwärtig lebenden Mnteropneusta und Pterobranchia eigentiimlich ist und auch Angaben über die Paarigkeit der Rückenpore der Echinodermenlarven vorliegen (Brooks, 1891; Field, 1891). Ebenso werden auch bei den Echino- dermenlarven Anlagen beschrieben, welche jedoch verschiedenen Metameren der linken Körperseite angehören (Seeliger, 1892; Me-Bride, 1894; Bury, 1895). Ubergangsform mit primärer Leibes- Gne. Gnd. höhle zwischen Tetraneurula und einer nematodenartigen bilateralen Form, im Querschnitt. Nd. = dorsaler Nervenstamm; Ms Ni. = lateraler Nervenstamm; Ni. N Nv. = ventrale Nervenstimme ; Ent Din. Gnd. = Gonaden; Gnz. — Genitalzellen; Ms Pnph. = Protonephridien ; in Int. = Entoderm ; Ms. = primiires Mesoderm (Me- No: senchym). Von meinem Gesichtspunkte aus betrachtet repräsentieren die Metanephridien ın Gestalt von sehr kurzen Kanälen oder selbst Poren eine ältere und ursprünglichere Form, als die Metanephridien in Gestalt eines längeren Kanals, und diese letztere Form der Meta- nephridien ist meiner Ansicht nach aus ersterer in der Weise ent- standen, dass das Mesoderm begonnen hatte, nicht nur an der Bildung des Trichters, sondern auch an dem Aufbau des Kanals selbst Anteil zu nehmen. Zu dem gleichen Typus gehören wahr- scheinlich auch die Genitalporen der Nemertinen und in diesen Poren hat man schon längst den Prototypus der Metanephridien der höheren Würmer erblickt. Was nun die Protonephridien betrifft, so konnten dieselben selbständig bei den Platodes und den Protocoelia entstehen. Bei letzteren steht ihre Entwickelung im Zusammenhang mit der Bildung der primären Leibeshöhle (Schizocöl oder Protocöl), welche durch Resorption in dem primären Mesoderm entstanden ist und sich bei den Nemertini und den Coelomata in Gestalt des Blutgefäßsystems 26) Davydoff, ©. Sur le development du nephridium de la trompe chez les “Wnteropneustes. Zool. Anz., XXXI, 1907. Schimkewitsch, Über die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. 147 erhalten hat?”). Die primäre Leibeshöhle konnte bei Tetraneurula parallel mit der Entwickelung ihres Mesoderms noch vor der Diffe- renzierung der Genitalhöhlen auftreten, und mein Gesichtspunkt gibt von vornherein noch keine Lösung für die Frage, ob die Proto- nephridien oder die Metanephridien ältere Organe darstellen. Obgleich uns Angaben über einen ausschließlich ektodermalen Ursprung einiger Formen von Metanephridien, wie z. B. der Kopf- nieren bei den Molluskenlarven**) vorliegen, so wird man doch an- nehmen müssen, dass die typischen Metanephridien im allgemeinen, auch diejenigen der Mollusken, nicht ausschließlich mesodermalen Ursprungs sind. Zugunsten dieser Auffassung in bezug auf die Mollusken sprechen auch die eingehenden Beobachtungen von W ier- zejsky an Physa fontinalis?”). Ist die Ansicht von Jägerskıöld (1901) berechtigt, welcher die exkretorischen Organe der Nematoden als eine Modifikation von Hautdrüsen betrachtet, so stellen diese Organe eine Bildung sui generis dar, die mit den Protonephridien überhaupt nicht ver- glichen werden kann. Bezüglich der Protonephridien der Platodes liegen uns nur Vermutungen vor, dieselben seien ektodermalen Ursprungs. Wenn dies auch ın der Tat der Fall wäre, so würde dadurch nur darauf hingewiesen werden, dass diese Organe bei den Vorfahren der Plattwürmer auf andere Weise entstanden sind, als bei der Tetraneurula. 27) Lebedinsky (loc. cit. 1897) hält die Nemertinen für echte Coelomata, ebenso hat Salensky noch. früher eine Höhle im Mesoderm des Pilidium be- schrieben, welche er als Cölom bezeichnet (Salensky, W. Bau und Metamor- phose des Pilidium. Zeitschr. f. wiss. Zool. 43. Bd., 1886, S. 505, Taf. XIX, Fig. 20). Allein ein echtes Endothel findet sich nur in der Rüsselscheide, welche daher auch die Bezeichnung als Rhynchocölom erhalten hat. Es ist wohl möglich, dass die von Salensky und Lebedinsky beschriebenen Höhlen ein Protocöl dar- stellen. Um diese Frage beantworten zu können, ist es notwendig, die Beziehungen zwischen diesen embryonalen Höhlen einerseits und den Gonaden und dem Blut- gefäßsystem andererseits aufzuklären. Was den Rüssel und die Rüsselscheide der Nemertinen betrifft, so drängt sich die Frage auf, ob wir nicht den Rüssel mit den Tentakeln der radiären Ahnen, die Rüsselscheide dagegen mit dem ihr entsprechenden Bezirk der Gastralhöhle vergleichen können. Die Herabsetzung der Zahl der Ten- takeln bis auf einen z. B. ist dem von Mereschkovsky (1877) beschriebenen und späterhin von J. Wagner (1888) näher untersuchten Monobrachium eigentümlich. Allein man wird auch nicht vergessen dürfen, dass die Tentakeln von Tetraneurula natürlich radiär angeordnet lagen, während der Nemertinenrüssel im dorsalen Inter- radius liegt. Dieser Widerspruch lässt sich jedoch leicht beseitigen, wenn man zu- lässt, dass die mediane Lage des Rüssels wahrscheinlich das Resultat einer Ver- lagerung oder Verschmelzung der ab origine paarigen Anlage ist, wie dies bezüglich der meisten unpaaren Organe der Bilateralia angenommen werden kann. 28) Meisenheimer. Entwickelung von Limax maximus. Zeitschr. f. wiss. Zool. 63. Bd., 1898. 29) Wierzejsky, A. Embryologie von Physa fontinalis. Zeitschr. f. wiss. Zool. 72. Bd., 1905. 10* 1448 Schimkewitsch, Uber die Beziehungen zwischen den Bilaleralia und Radiata. Ein weiterer Fortschritt in der Entwickelung der Tetraneurula bestand demnach in dem Auftreten des pri- mären Mesoderms (Mesenchym), in der Bildung einer pri- mären Höhle im Mesoderm und in der Bildung von Proto- nephridien, wobei die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, dass diese letzteren, in Abhängigkeit von der Tendenz zur Erlangung der zweistrahligen Symmetrie nicht in Gestalt von vier, sondern in Gestalt von zwei Gefäßen entstanden sind (Fig. 5). Hierauf erfolgte auch die Ver- schmelzung beider Mesenterialkammern,resp. der Genital- höhlen einer jeden Seite zu einer Höhle, sowie die Re- duktion der primären Höhle auf das Blutgefäßsystem (Fig. 6). Dieses war der Übergang der Tetraneurula zur zweistrahligen Symmetrie, worauf dieselbe nach erfolgter Differenzierung der Unterschiede im Bau der ventralen und der dorsalen Körperseite und zwar wohl vor allem ın bezug auf die Anordnung des Nerven- systems, zur biserialen Symmetrie übergegangen ist. Die Frage über die Beziehungen zwischen den Proto- und den Metanephridien ıst übrigens noch so wenig ausgearbeitet, und so unklar, dass wir einstweilen natürlich keinerlei hierauf bezügliche Angaben als vollständig erwiesen betrachten können. Wenn es gelingen würde, in durchaus einwandsfreier Art nachzuweisen, dass bei den Würmern ein genetischer Zusammenhang zwischen den Proto- und Metanephridien besteht, so müsste die ganze Stellung der Frage selbst abgeändert werden. In Anbetracht der von Sa- lensky (1907) bei Echiurus und Polygordius entdeckten Verhältnisse erscheint ein solcher Zusammenhang sehr wahrscheinlich. Angenommen, die metamer angeordneten Metanephridien der Annelida wären nicht aus Genitalporen, sondern aus den wiederholt angeordneten Protonephridien der Würmer mit primärer Leibes- höhle entstanden, wobei diese Protonephridien in Verbindung mit der sekundären (resp. Genital-)Höhle getreten sind (vgl. Goodrich, 1895). In diesem Falle müssen wir Dinophilus nicht als eine Form betrachten, bei welcher die Segmentalröhrchen ıhren Zusammen- hang mit dem Cölom verloren haben, sondern als eine Form, bei - | welcher die Segmentalröhrchen noch nicht in Verbindung mit dem Cölom getreten sind. Den ausschließlich geschlechtliche Funktion des Céloms bei Dinophilus würde nicht ein sekundärer, sondern ein primärer Charakter zukommen. Allein in diesem Falle würde die Frage über das Metanephridium der Triartieulata und deren Nachkommen, der Echinodermata und der Chordata, eine ganz andere Fassung erhalten müssen. Die Mehr- zahl dieser Gruppen (mit Ausnahme der Actinotroche) besitzt weder im Larvenstadium noch im embryonalen Zustande Protonephridien. Schimkewitsch, Über die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. 149 Wir könnten deshalb für die Metanephridien dieser Formen den- noch diejenige Bedeutung aufrecht erhalten, welche wir ihnen zu- geschrieben haben, d. h. dieselben als differenzierte Genitalporen auffassen. Die Metanephridien dieser Formen müssen dann als Organe angesehen werden. welche einen anderen Ursprung besitzen, als die Metanephridien der übrigen Würmer und der Mollusken und welche nur durch Konvergenz einige mit diesen letzteren ge- meinsame Züge (z. B. die Solenacyten) "ermanlben haben; jedenfalls müssen wir dieselben aber als ältere und mehr primäre Organe auffassen als die Metanephridien der übrigen Würmer und der ‚Mollusken. Immerhin wird man vermuten können, dass an der Bildung der Metanephridien auch bei diesen letzten beiden Gruppen die primären Genitalgänge ebenfalls Anteil gehabt haben. Diese Gänge bestanden wahrscheinlich aus zwei Abschnitten, einem ektodermalen mit einem mesodermalen, oder dem Trichter, und waren beı den gegliederten Formen metamer angeordnet. Späterhin haben die Trichter ihren Zusammenhang mit dem ektodermalen Abschnitte eingebüßt und haben sich mit den ebenfalls metamer angeordneten protonephridialen Kanälchen ın Verbindung gesetzt. Die Meta- nephridien dieser Gruppen haben demnach, wenn man die Anteilnahme der Protonephridien an ıhrer Bildung für erwiesen erachtet, drei Stadien der Entwickelung durchgemacht: das Stadium der Genitalporen, in welchem sie bei den Nemertinen angetroffen wurden, das Stadium eines kurzen ekto-mesodermalen Kanales, in welcher Form wir dieselben bei den Triarticulata antreffen und endlich das Stadium eines komplizierten sewundenen Kanales, welcher aus dem Trichter des primären Metanephridiums einerseits und andererseits vielleicht aus dem ausführen- den Teil des Protonephridialkanälchens zusammengesetzt ist, in welcher Form wir die Metanephridien bei den Anne- liden antreffen. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet repräsentiert Dino- philus eine Form, bei welcher das hintere oder sechste, durch die Eileiter vertretene Paar von Genitalporen in seiner ursprünglichen Form erhalten geblieben ist, das fünfte Paar mit dem entsprechenden Protonephridienpaar in Verbindung getreten ist und die Samen- leiter gebildet hat, die vier vordersten Paare aber verschwunden sind, während die ihnen entsprechenden Protonephridien in keine Verbindung mit dem Célom getreten sind. Allein eine solche Na sauns lässt sich nur auf medere Anne- liden, wie Dinophilus, anwenden. Das Fehlen einer Verbindung zwischen den Metanephridien und dem Célom bei den echten Anneliden (Hodrich, 1901; Fage, 1906) fasst Salensky (1907) 450 Schimkewitsch, Über die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. ganz richtig als eine sekundäre Erscheinung auf. Im allgemeinen gesprochen, sind uns ganz sichere Fälle einer Absonderung der Trichter von den ihnen entsprechenden Metanephridien bekannt, wie z. B. bei den Hirudineen; ebenso sınd Fälle bekannt, wo die Meta- nephridialtrichter nach ihrer Abtrennung mit Organen anderen Ur- sprungs in Verbindung getreten sind, wie z. B. bei den Amphibien. Die Nephridialtrichter der Anza münden in die Nierenvenen (Nus- baum, 1887; Bles, 1898). Wie bereits oben hervorgehoben wurde, ıst die Frage, ob die Genitalzellen einem bestimmten Keimblatt angehören, oder aber eine unabhängige und durchaus selbständige Anlage (das Genitoderm) darstellen, für die ın Rede stehende Hypothese völlig belanglos. Allein in der eigentlichen Entstehung der Genitalanlage sind ge- wisse Eigentümlichkeiten enthalten, welche meinen Gesichtspunkt indirekt bestätigen. Ich habe hier den Prozess der Differenzierung Querschnitt durch eine hypothetische Fig. 6. Übergangsform nach erfolgter Bildung des + “4 Cöloms und des Blutgefäßsystems. Die Nd. ER Gonaden der rechten und linken Hälfte sind zur Bildung des Cöloms miteinander verschmolzen, doch sind noch zwei Paare von Metanephridien erhalten geblieben. Nd. = dorsaler Nervenstamm ; Nv. = ven- traler Nervenstamm; V/. = lateraler Ner- venstamm; Vd. = dorsales Blutgefäß ; Vv. = ventrales Blutgefäß ; Mnph. = Meta- nephridien ; Coel. = Colom; Gnz. = Geni- talzellen; Het. = Ektoderm; Ent. = Ento- derm; Ms. = primäres Mesoderm (Mesen- chym). Nv. NI. der Genitalzellen bei den Chaetognatha nach den klassischen Unter- suchungen von Bütschli (1873) und Hert wig (1880), den Copepoda, nach den Untersuchungen von Pedaschenko°") und mir°!), ferner bei Chironimus nach Balbiani*?) im Auge. Bei Sagitta werden vier Genitalzellen differenziert. Allerdings liegen die von denselben gebildeten zwei männlichen und zwei weiblichen Gonaden in zwei verschiedenen Metameren, doch entstehen diese vier Zellen durch : die Teilung von zwei Zellen in der Längsrichtung (in bezug auf die Längsachse des Tierkörpers). Man wird daher annehmen müssen, 30) Pedaschenko, D. Die embryonale Entwickelung und die Metamorphose von Lernaea branchialis L. (Russisch.) Tray. Soc. Nat. St. Pétersbourg. t. XXVI, livr. 4, 1899. 31) Schimkewitsch, W. Studien über parasitische Copepoden. Zeitschr. t. wiss. Zool. 61. Bd., 1896. : 32) Balbiani, E. Contrib. A l’etude de la formation des organes sexuels chez les insectes. Rec. Suisse de Zoologie. t. 2, 1895. ' Schimkewitsch, Uber die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. 151 dass die definitive Anordnung der Gonaden in zwei verschiedenen Metameren durch Anpassung der Gonaden an zwei verschiedene Paare von Metanephridien hervorgerufen worden ist, welche ihnen als Ausführgänge dienen, während die ursprüngliche Anordnung der Genitalanlage eine vierstrahlige war, wie sie denn auch bei einer anderen, den Chaetognatha verwandten Gruppe, und zwar bei den Brachiopoda (Fig. 7) beobachtet wird. Bei den Copepoda ge- langen vier Genitalzellen zur Differenzierung, doch verschmelzen zwei derselben mit den beiden anderen, und zwar ist der Prozess der Verschmelzung wahrscheinlich gleichbedeutend mit dem Phago- zytoseprozess. Bei den Männchen verbleibt vermutlich das männ- liche, bei den Weibchen dagegen das weibliche Paar erhalten. Bei Chironomus endlich differenzieren sich zwei Häufchen von Genitalzellen, von denen ein jedes aus vier Zellen besteht, worauf wahrscheinlich ein ähnliches paarweises Verschmelzen stattfindet, wie wir es bei den Copepoda gesehen haben; infolge dieses Ver- schmelzens finden sich späterhin in einem jeden Häufchen nur zwei Zellen. Für mich unterliegt es keinem Zweifel, dass die Differen- zıerung der Genitalzellen in der Vierzahl oder einem Vielfachen derselben durchaus keine Zufälligkeit darstellt, sondern in innigem Zusammenhang steht mit dem vierstrahligen Bauplan der Vorfahren der Bilateralia. Die Differenzierung selbst der Genitalanlage in Gestalt einer geringen Anzahl von Zellen kann als ein Übergang zur teloblastischen Entwickelung angesehen werden (Schimkewitsch, 1896), welche, wie auch jede andere teloblastische Entwickelung, durch die Ver- minderung der Zahl von Zellen, aus denen der Keim aufgebaut wird, bedingt ist; der Umstand jedoch, dass wir ein Vielfaches der Vierzahl an den Zellen der Genitalanlage sehen, ist eine primäre Erscheinung. Es ist wohl möglich, dass mit der Erwerbung der vierstrahligen Symmetrie eine jede Zelle der Genitalanlage sich in vier Zellen teilte, von denen eine jede nach der betreffenden Paramere wanderte. Lässt man jedoch zu, dass die vierstrahligen Formen den Aus- gangspunkt für alle Metazoen, sowohl die bilateral symmetrischen wie auch die sechsstrahligen gebildet haben, so wird man einen deutlichen Hinweis auf eine vierstrahlige Anlage der Gonaden sogar bei den Volvocineae sehen können, bei denen die Zahl der Partheno- gonidien gewöhnlich acht beträgt °?). 33) Es besteht ein gewisser, mir bis jetzt noch nicht ganz klarer Zusammenhang zwischen der vierfachen Anlage der Genitalzellen und der Teilung der Genitalzelle bei der Reduktion in vier Teile, und folglich auch der Bildung der Vierergruppen im Kern während des Reduktionsprozesses. Versteht man unter Schizogonie die Bildung von Zellen, welche nicht für die Konjugation oder Kopulation bestimmt sind, so kann man bei den Metazoa der Schizogonie die Bildung der somatischen Zellen gleichstellen, welche mit der Fur- 452 Schimkewitsch, Uber die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. Pedaschenko sieht ın der Differenzierung zweier Paare von Genitalzellen bei den Copepoda, von denen zwei zugrunde gehen, die Offenbarung eines Hermaphroditismus in statu nascendı. Wenn sich in der Tat bei den Copepoda beide Paare von Genitalzellen weiter entwickeln würden, so müsste dies schließlich zum Hermaphroditismus führen, wie bei Sagitta, wo zwei Zellen die Ovarien abgeben, die beiden anderen dagegen die Hoden. Diese Auffassung widerspricht in keiner Weise dem von mir vertretenen Gesichtspunkte. Der Hermaphroditismus hat da, wo er aus getrennten Ge- schlechtern entsteht, stets eine Differenzierung der ursprünglich gleichartigen Genitalanlage in zwei Teile, einen männlichen und einen weiblichen, zur Ursache. Dies trıtt mit besonderer Deutlich- keit bei den Vertebrata zutage, von Myxine (Schreiner, 1904) und den Anamnia (Teleostei, Amphibia) angefangen bis zu den Säugetieren (Scymonowiez und Kopsch, 1896) und speziell bis zum Menschen (Garre, 1892; Simon, 1903). Der Hermaphroditismus von Sagitta, wie auch der rudimentäre Hermaphroditismus bei den Copepoda und bei Chironomus, haben offenbar denselben Ursprung. Der anfänglich gleichartige vierfache Keim differenziert sich zu einer männlichen und einer weiblichen Hälfte. Dass aber der Hermaphroditismus bei den Crustacea, und im Speziellen bei den Cirripedia, eine sekundäre Erwerbung ist, unterliegt wohl keinem Zweifel. Die Getrenntheit der Geschlechter hat, wenn sie eine primäre Erscheinung darstellt, eine Verwandlung der ganzen Genitalanlage in männliche oder weibliche Elemente zur Ursache; ist dieselbe jedoch sekundärer Natur, ‘wie z. B. bei den Platodes (den Micro- stomidae unter den Turbellaria, Bilharxia haematobia unter den Trema- todes, Dioicocestus unter den Cestodes), so entsteht sie durch Unter- driickung des einen Teiles der Genitalanlage (und zwar des männlichen Teiles bei den Weibchen oder des weiblichen Teiles bei den Mannchen)**). chung des Eies beginnt. Versteht man unter Sporogonie die Bildung von Zellen, welche für die Konjugation oder Kopulation bestimmt sind, so können wir der ° Sporogonie bei den Metazoa nur die Reduktionsvermehrung der Genitalzellen gleich- stellen. Die somatischen Zellen sind nicht zur Kopulation fähig, die durch Re- duktionsteilung gebildeten Zellen dagegen sind zu einer solchen befähigt. Wie bei der Schizogonie die Kernvermehrung der somatischen Zellen auch ohne Karyokinese vor sich gehen kann, gehen auch die Reduktionsteilungen stets karyokinetisch vor sich, gleich der Kernvermehrung bei der Sporogonie der Protozoen. Der Lebenszyklus der Metazoa stellt demnach eine Aufeinanderfolge der beiden gleichen Formen dar, wie auch die Vermehrung der Protozoén (vgl. Hartmann, Biol. Centralbl., Bd. XXIV, 1904). 34) Schimkewitsch, W. Die Mutationslehre und die Zukunft der Mensch- heit. Biol. Centralbl., Bd. XXVI, Nr. 2—4, 1906. Schimkewitsch, Uber die Beziehungen zwischen den Dilateralia und Radiata. 153 Hat sich nun die vierfache Anordnung der Gonaden bei den Brachiopoda deutlich erhalten, so lässt sich indirekt nachweisen, dass auch die andere Gruppe von Würmern, welche die deutlichsten Spuren einer vierfachen Symmetrie behalten hat, und zwar die Nematodes, wahrscheinlich ebenfalls vier Gonaden besessen hat. Die Weibehen der Nematodes besitzen zwei Gonaden, die Männchen dagegen meist nur eine, allein bei Mermis®’) und einigen frei- lebenden Nematoden ist auch die männliche Gonade paarig. Ferner können wir aus zahlreichen Anomalien der Gonaden der Nematoden und speziell von Ascaris, auf folgendes schließen: erstens, dass die gegenwärtige Zahl der Gonaden bei den Weibchen eine reduzierte ist (hierfür sprechen die Fälle, wo Weibchen von Ascaris eine größere Anzahl von Gonaden besitzen); zweitens, dass diese Reduktion auch noch weiter gehen kann (Fälle von Auffinden nur einer Gonade Querschnitt durch einen brachiopoden- artigen Vorfahren der Coelomata mit vier Gonaden und Metanephridien. Vd. — dorsales Blutgefäß; Vv. = ventrales Blutgefäß ; Nv. = ventraler Nervenstamm; Male Nl. = lateraler Nervenstamm ; Ba. Mnph. = Metanephridien ; Coel. Coel. = Colom; Gnz. = Genitalzellen; Vo. Ect. = Ektoderm ; Ent. = Entoderm; Ms. = primäres Mesoderm (Mesen- chym). bei Weibchen von Ascaris). Ein Fall des Vorhandenseins von drei Gonaden bei einem Ascaris-Weibchen wurde von Bals beschrieben, Fälle von nur einer Gonade — durch Schewiakoff und Harms?®). Angaben über eine Gabeiung des Uterus bei den Nematoden finden sich bei Schneider®’). Bei den einen Formen teilt sich der Uterus in zwei Äste, von denen ein jeder sich zu einem Bileiter und Ovarium fortsetzt, bei anderen dagegen endet der eine dieser Uterusäste blind; wiederum bei anderen Formen teilt sich der Uterus in vier Äste (Physoloptera abbreviata, Ascaris rubicunda und 35) Rauther, M. Beitr. zur Kenntnis von Mermis albicans. Zool. Jahrb., Anat. Abt., 33. Bd., 1906. 36) Bals, H. Über einen abnormen Geschlechtsapparat von Ascaris lumbri- codes. Zool. Anz., 30. Bd., Nr. 15, 1906. — Schewiakoff, W. Ein abnorm gebauter weiblicher Geschlechtsapparat von Ascaris lumbricoides. Centralbl. f. Bakter., Bd. 15. — Harms, W. Abnormitäten des Genitalapparates bei Ascariden. Zool. Anz., 30. Bd., Nr. 15, 1906. 37) Schneider, A. Monographie der Nematoden. S. 255—256, 1866. 454 Schimkewitsch, Über die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. A. quadroaxularis), doch sind auch Formen mit fünf Ästen gefunden worden (Frlaria labiata). Selbstverständlich können alle diese Eigentümlichkeiten durch eine einfache Vermehrung der Zahl der Organe infolge von Teilung der ursprünglichen Anlage erklärt werden, wobei man dann bei den Nematoden als Ausgangspunkt nur eine einzige Gonade wird annehmen müssen, um so mehr als auch die ursprüngliche Genital- anlage der Nematoden offenbar unpaar gewesen ist (Nedkoff, 1897; Martini, 1906). Die unpaare Beschaffenheit der Genitalhöhle ist jedoch vom Gesichtspunkte der Genitocöltheorie aus betrachtet, überhaupt eine schwer zu erklärende Erscheinung, und man wird, von diesem Ge- sichtspunkte ausgehend, in der Vermehrung der Gonadenzahl bei den Nematoden eine atavistische Erscheinung erblicken können. Ferner muss noch eine Seite dieser Frage hervorgehoben werden, und zwar die Unvereinbarkeit meines Gesichtspunktes mit der An- (Querschnitt durch einen Poly- Fig. 8. chäten. Vd. = dorsales Blutgefäß; Vv. = ventrales Blutgefäß ; Nv. = ventraler Nervenstamm ; Nl. = lateraler Nervenstamm ; Coel, = Colom; Gnz. = Genitalzellen; Msc. = Längsmuskeln; Ent. = Entoderm; Ms. = primäres Mesoderm (Mesenchym). Ganz. Nv. Nl. Vo. erkennung des primären Charakters des spaltförmigen Blastoporus, welcher sich bei der angeblich typischen Entwickelungsweise in den Mund und den After verwandeln soll. Die Auffassung, welche sich durch die Hypothesen von Sedgwick und Masterman ausgezeichnet erklären lässt, wurde in letzter Zeit von W oltereck auf Grund seiner Beobachtungen über Polygordius **) von neuem aufgenommen, allein dieselbe ist mit den Hypothesen von Lang und Meyer unvereinbar: wollen wir die Nemertini und — die Annelida von den Turbellarien ableiten, so konnte die After- öffnung der Nemertinen und Anneliden natürlich nicht durch Ab- trennung aus der Mundöffnung der Turbellarien entstehen. Es wird wohl diejenige Auffassung der Wahrheit am nächsten kommen, wo- nach der Blastoporus überhaupt keinen Überrest des Urmundes darstellt, welcher der Mundöffnung der Radiata entspricht, und dies um so mehr, als sogar bei diesen letzteren (vgl. die Cnidaria und 38) Woltereck. Wurm,,kopf‘‘, Wurmrumpf und Trochophora. Zool. Anz., 28. Bd., Nr. 8/9, 1904. Schimkewitsch, Uber die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. 155 Porifera) das weitere Schicksal des Blastoporus durchaus nicht immer das gleiche ist. Der Blastoporus stellt den Ort dar, wo die In- vagination des Entoderms erfolgte, eine Invagination, welche nach Metschnikoff die unipolare Imigration und nichts anderes dar- stellte. Für die typische Form der Entwickelung wird man die völlige Obliteration des Blastoporus halten müssen, während die Anpassung des Blastoporus an die Funktionen des Mundes oder der Afteröffnung, oder beide zusammen — spätere Veränderungen darstellen, welche durch die allgemeine, auf eine Verkürzung der Entwickelung gerichtete Tendenz hervorgerufen werden. Ebenso entsteht z. B. das Riechgrübchen von Amphioxus an derselben Stelle, wo sich auch der vordere Neuroporus befindet, was denn auch die Vermutung hervorrief, dasselbe stelle eine Differenzierung dieses Neuroporus dar, während dies in Wirklich- keit ganz voneinander unabhängige Bildungen sind. Eine ähnliche Erscheinung des Zusammenfallens des Entwickelungsortes hat auch in bezug auf den Blastoporus stattgefunden. Tabelle für die genetischen Beziehungen der Bilateralia. | L Shek es Arthro- es SS Endformen I = s poda | S SS Coelomata mit segmen- pub IK BRAIN ES forte nll — |Annelida | = | Triarticulata | — | 1 | | ¢ Coelomata mit _unseg- Ls | I | (ce 2 Sipumeulida | ? Mol- mentiertem Cölom | | lusca = Ba | IR he | ; | Nemer- | ? Nemato- Zwischenformen | — ES Ne RR: = _ | tine mor pha Nematodes Formen ohne Leibes- | ? Kino- höhle oder mit primärer | Platodes = -— rhyncha a — Leibeshöhle | 2? Troch- | helmintes | Al Ä SINE. ae Li ae : | Cteno- | : Radiäre Stadien | Tetraneurula Typische Radiata SG OF: OF ONG Die genetischen Beziehungen der Bilateralia. Die vorstehende Tabelle gibt die genetischen Beziehungen der Bilateralia in der Weise wieder, wie ich mir dieselben vorstelle. Die Platodes stellen nichtadaptive Endformen dar, welche von ctenophorenartigen Organismen abstammen, während die übrigen 156 Schimkewitsch, Uber die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. - Bilateralia (von den Mollusken abgesehen) von der oben charakteri- sierten Tetraneurula herzuleiten sind. Es ist wohl möglich, dass kein einziger der Nachkommen dieser Form em Stadium ohne Leibeshöhle durchgemacht hat, und dass die primäre Leibeshöhle bereits bei der Tetraneurula vorhanden war. Jedenfalls gehörten die nächsten Nachkommen der Tetraneurula Formen mit primärer Leibeshöhle (Protocoelia) an, und die Beant- wortung der Frage über die neotemische Abstammung einiger ocr unter nen (Rotatoria) in diesem oder jenem Sune can wohl Einzelheiten unserer Tabelle abändern, nicht aber das allge- meine Schema unserer Betrachtungen beeinträchtigen. Die Nemer- tin’ und die Nematomorpha betrachte ich als Übergangsformen. Bei den Nemertinen ıst das Protocöl auf die Stufe eines Blutgefäß- systems reduziert, bei den Nematomorpha dagegen besitzt es noch den Charakter von primären Höhlen. Übrigens kann die primäre Höhle auch bei einigen typischen Coelomata erhalten bleiben, ohne dabei den Charakter eines Blutgefäßsystems anzunehmen, wie z. B. bei Dinophilus nach meinen Beobachtungen und bei den parasitischen Copepoda nach Pedaschenko. Bei den Nemertinen hat sich die Tendenz zur Metamerie oder, richtiger gesagt, zur Wiederholung, in der Metamerie oder Wieder- halter der Gonaden ausgedrückt, d.h. in dem Zerfall der ursprüng- lichen Höhle der rechten und linken Gonade in zwei Reihen paariger Gonaden, bei den Nematomorpha hingegen in der wieder- holten Anordnung der Genitalzellen in den ungeteilten Gonaden; doch nähern sich diese letzteren durch die Mächtigkeit, welche sie erreicht haben, bereits der Anordnung eines wahren Céloms. Aus dem soeben Gesagten darf aber durchaus nicht auf eine Verwandtschaft zwischen den Nemertini und den Nematomorpha geschlossen werden. Im Gegenteil gehören diese beiden Gruppen, obgleich sie in meiner Tabelle auf einer Horizontalreihe und auch dies nur annähernd stehen, doch verschiedenen Vertikalreihen an, wobei noch zu bemerken ist, dass auch die Unterbringung derselben auf einer Horizontalreihe, von mir nur als provisorisch betrachtet wird. Bis jetzt ist uns die morphologische Bedeutung des sogen. Blutgefäßsystems der Sipunculiden noch nicht bekannt. Sollte das- selbe ein Überrest der Cölomhöhle der vorderen Metamere sein, so werden sich die Sipunculiden wahrscheinlich als reduzierte Triarticulata®®) herausstellen; wenn es sich aber wirklich um ein 39) od J., beschreibt, wie auf dem Stadium der Trochophore die ven- trale Nervenanlage und die Mesodermstreifen von Phascolosoma gouldii eine Teilung in vier Bezirke aufweisen (The Development of Phascolosoma. Arch. de Zoologie Exper., 4. ser., t. 2, 1904 und Zool. Jahrb.,. Abt. f. Anat., 32. Bd., 1, 1906); allein diese Eigentümlichkeit kommt nur dieser Art zu, und es ist nicht klar, inwiefern Schimkewitsch, Uber die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. 157 Blutgefäßsystem handelt, d/h. um einen Uberrest der primären Höhle, so wird man die Sipunculiden für Coelomata mit nicht seg- mentiertem Célom ansehen müssen. In letzterem Falle drängen sich die Fragen auf: erstens inwiefern die Nematomorpha den Sipun- culida nahestehen und zweitens inwiefern die Stpunculida den Mollusca genihert werden können, welche ebenfalls als nicht- segmentierte (belomata angesehen werden können und von unserem Gesichtspunkte aus betrachtet mit den Sipunculida in eine Hori- zontalreihe gestellt werden müssen. Leider widersprechen sich die Ansichten der Autoren über die genetischen Beziehungen der Mollusca zu sehr, als dass man hierüber mit einer auch nur annähernden Dosis von Wahrscheinlichkeit sprechen könnte. Während die einen Autoren die Mollusken für Nachkommen von metameren Formen in der Art der Annelida (Pelseneer, 1900) halten oder wenigstens von Formen mit Neigung zur Metamerisierung, in der Art der Nematomorpha (Thile, 1902), leiten andere Forscher dieselben von — trochophorenartigen Vorfahren ab, endlich aber lassen eine ganze Reihe von Forschern die Mollusken von den Platodes abstammen. Jedenfalls werden wir die beiden Paare von Nervenstämmen bei den Placophora dabei als das Ergebnis einer Zweiteilung des ursprünglich einzigen Paares ansehen müssen, welches den Seiten- stämmen der Tetraneurula entspricht. Wir müssen jedoch bemerken, dass: bei der Entwickelung von Chiton (Kowalevsky, 1893) beide Paare von Nervenstämmen als vollständig selbständige Verdickungen angelegt werden, aus welchem Grunde ich schon längst den Vor- schlag gemacht habe, die Mollusken als Tetraneura zu bezeichnen *°). In Anbetracht dieses letzteren Umstandes ist auch eine andere Stellung der Frage zulässig: Wäre es nicht möglich, dass die Mollusken einen selbständigen Ast vorstellen, welcher von vier- strahligen Ahnen ausgeht, deren Nervenstämme jedoch eine andere Anordnung aufwiesen, und zwar nicht nach den Interradien, sondern nach den Radien, so dass jene vier Stämme, welche bei den übrigen Bilateralia eın Paar seitlicher Stämme, einen dorsalen und einen ventralen Stamm ergaben, bei den Mollusken zwei Paar seitlicher Stämme entstehen ließen? Ich habe hierbei nur die logische Möglichkeit einer solchen Stellung der Frage im Auge, während mir bei dem gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse eine Annäherung der Mollusken an un- segmentierte Coelomata dennoch am meisten Wahrscheinlichkeit zu bieten scheint, indem es schwer fällt, in der Organisation und Ent- diese Bezirke in der Tat wahre Metameren darstellen. Es ist von besonderem In- teresse, dass nach den noch nicht veröffentlichten Beobachtungen von Selensky die sogen. Blutgefäße der Sipunculiden mit einem echten Célothel ausgekleidet sind. 40) Schimkewitsch, W. Versuch einer Klassifikation des Tierreiches. Biol. Centralbl., 11. Bd., 1891. 158 Schimkewitsch, Über die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. wickelung der Mollusken, abgesehen von der charakteristischen Furchungsweise und der Anlage des Entoderms in Gestalt von vier Zellen, Spuren einer vierstrahligen Anordnung der Organe zu finden. Obgleich die Mollusken auch in einer der mittleren Horizontal- reihen der Tabelle bleiben, so stellen sie doch offenbar Endformen dar. Bezüglich der Abstammung der Arthropoden habe ich an an- derer Stelle*!) die Vermutung ausgesprochen, dass, während die typischen Tracheata von vielgliedrigen oder polymeren Forınen von Würmern abstammen, die Crustacea und Arachnida ihren Ursprung von Formen mit geringer Gliederzahl, wie Dinophilus oder von mesomeren Formen genommen haben. Was die Echinodermata betrifft, so fasse ich dieselben ın meinem oben erwähnten Aufsatz des Jahres 1892 (3) als Formen auf, deren vorderes Paar von Segmenten (Hydrocöl) wahrscheinlich zwei Paaren von Segmenten bei den übrigen Triarticulata entspricht. In neuester Zeit ist auch E. Meyer*?) auf Grund der Befunde einer ganzen Reihe von Autoren (Seeliger, 1892; Bury, 1895; Mac-Bride, 1893, 1896, 1903) zu demselben Schlusse gekommen, welchen er jedoch anders formuliert, indem er nämlich annımmt, dass die Vor- fahren der Echinodermata drei Paare von Gölomhöhlen besessen haben, d. h. typische dreigegliederte Formen darstellen (vgl. Delage, 1903; Mastermann, 1902), wobei er aber dieser Gliederung eine andere Bedeutung beilegt. Ich vermute nur, dass man vielleicht nicht das bilaterale System der Würmer, sondern das radıäre System der Tetraneurula für die Ausgangsform des Nervensystems der Echinodermata wird ansehen müssen. Der Osophagealring der Tetraneurula ist in den adoralen Ring der Echinodermata über- gegangen, während die fünf radıären Stämme aus den vier Stämmen der Tetraneurula entweder durch Spaltung eines im Bivium liegenden Stammes, oder aber durch Festlegung einer anomalen, mit fünf statt vier Stämmen versehenen Form entstehen konnte. Auf die gleiche Weise sind wahrscheinlich die mit mehr als fünf Armen versehenen Arten der Gattung Solaster entstanden. Diese Frage ist so wichtig, dass sie eine besondere Besprechung verdient, indem seit dem Erscheinen meines oben erwähnten Aufsatzes unsere Vor- . stellungen über die Organisation der Kchinodermata vielfach be- deutende Abänderungen erfahren haben. Wenn ich die Echino- dermata in dieselbe Vertikalspalte mit den Triarticeulata gestellt 41) Schimkewitsch, W. Zur Frage über die Abstammung der Crusta- ceen. (Russisch.) Trav. Soc. Nat. St. Pétersbourg, t. XXX, 1900. Vgl..auch meine Arbeit über die Entwickelung von Thelyphonus (loc. cit. 1906). 42) Meyer, E. Theoretische Betrachtungen über die ersten Anfänge des ambu- lakralen Wassergefäßsystems der Echinodermen etc. Zool. Jahrb. Abt. f. Anat., 21. Bd., 1905. Schimkewitsch, Über die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. 159 habe, so geschah dies nicht aus dem Grunde, dass ich dieselben für direkte Nachkommen der jetzt lebenden Triarticulata halte, sondern weil sie wahrscheinlich ebenfalls einen dreigliedrigen Ahnen mit deutlich ausgesprochenem radıären Bau zur Ausgangsform ge- habt haben. Man braucht die Wurzeln dieses Typus nicht unter den polymeren höheren Würmern zu suchen, wenn man nur die Triarticulata für Formen von primärem Charakter und nicht für solche ansieht, welche durch Reduktion aus polymeren Formen ent- standen sind. Es wäre vielleicht richtiger, für die Kchinodermata eine spezielle Vertikalspalte einzuführen, doch halte ich es einstweilen für besser, die Tabelle, deren problematischer Charakter für jedermann ersicht- lich ist, nicht komplizierter zu gestalten. Über die Abstammung der Chordata. Die Frage über die Abstammung der Chordata oder der Noto- neura, wie ich sie zu benennen vorschlug (1591), ist von mir in verschiedenen Aufsätzen und Notizen behandelt worden, welche ich größtenteils leider nur in russischer Sprache veröffentlicht habe’). Einige Auszüge daraus wurden von Spengel in dessen großer Monographie der Enteropneusten angeführt. Ein Teil der von mir damals ausgesprochenen Vermutungen kann in Anbetracht der im Laufe von 20 Jahren bekannt gewordenen neuen Beobachtungen nicht mehr aufrecht gehalten werden, allein ein groBer Teil der damals von mir aufgestellten Sätze bleibt auch heute noch bestehen, während der grundlegende Gedanke über die Abstammung der Chordata von den Triarticulata durch weitere Gliederung der hinteren Metamere noch weiter ausgebildet worden ist. Unter möglichster Vermeidung von Wiederholungen von bereits früher Ausgesprochenem möchte ich an dieser Stelle einige neue Gesichtspunkte in bezug auf diese strittige und verwickelte Frage aussprechen. Vor allem möchte ich auf einen Punkt im Baue der Triarti- culata hinweisen, und zwar auf einige Spuren ihrer äußerst niedrigen Organisation. Zu solchen Zügen rechne ich vor allem das Vorhandensein ges ach. entwickelten Nervengeflechts unter dem gesamten 43) Schimkewitsch, W. Beobachtungen über die Fauna des Weißen Meeres. Balanoglossus mereschkovskii Wagner. (Russisch) Tray. Soc. Nat. St. Péterbourg, t. XX, 1889. — Uber die Beziehungen der Enteropneusta zu den anderen Metazoa. (Russisch.) Ibid. 1889. — Über die Beziehungen zwischen den Acrania und den Enteropneusta. (Russisch.) In Kürze wurden die hauptsäch- lichsten Sätze über diese Frage in zwei kleinen Aufsätzen niedergelegt: Über Balano- glossus mereschkovskii Wagner. Zool. Anz. 1888, Nr. 280. — Über die morpho- logische Bedeutung der Organsysteme der Enteropneusten. Anat. Anz., V. Jahrg., Mr: 2, 1890. 160 Schimkewitseh, Uber die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. Ektoderm der Enteropneusta sowie der Pterobranchia und Phoronida, worauf ich bereits weiter oben hingewiesen habe (S. 148). Etwas Ähnliches sehen wir auch bei den Nemertinen, allein bei diesen letzteren liegt das Nervengeflecht in der Muskelschicht, und um eine völlige Analogie zu finden, werden wir uns den Radiata zu- wenden müssen. Wir haben gesehen (S. 148), dass das Auftreten der Meta- nephridien ın Gestalt von kurzen Kanälchen oder gar von Poren die primäre und älteste Form darstellt. Gerade einen solchen Charakter tragen die Metanephridien bei den KEnteropneusta und den übrigen Triarticulata. Weiter unten werden wir sehen, dass die Abdominalporen der Wirbeltiere als die älteste Form von Nephridialkanälen (Antenephros) angesehen werden können. Die Kolonienbildung und die Fähigkeit zur ungeschlechtlichen Fortpflanzung bei den Bryoxoa und Pterobranchia — eine Eigen- Querschnitt durch einen hypothetischen Vorfahren der Wirbeltiere mit Meta- nephridien, welche unmittelbarnach außen münden (Abdominalporen oder Ante- nephros). Nd. = dorsaler Nervenstamm; NI. = late- raler Nervenstamm; Gng. = Anlagen der Spinalganglien; Ch. = Chorda; Vd. = dorsales Gefäß (Aorta); Vv. = ventrales Gefäß (Aorta); Mel. = Myocodl; Spel. = Splanchnecöl; Mnph. = Metanephri- dien (Abdominalporen); Gnz. = Genital- zellen; Hct. = Ektoderm; Ent. = Ento- derm; Ms. — primäres Mesoderm (Mesen- chym). Mnph. tiimlichkeit, welche auch auf die niedersten Chordata übergegangen ist — repriisentiert einen jener an die Radiata ermnernden Zige. Es soll hier bemerkt werden, dass in den Kolonien der Triarticulata, wie z. B. bei den Pterobranchia, die cölomialen Kanäle, oder | wenigstens Elemente des Célothels die entodermalen Kanäle er- setzen, welche die Höhlen der einzelnen Individuen bei den Kolonien der Radiata miteinander verbinden. Zieht man in Betracht, dass. - das Cölothel seinem Ursprunge nach abgetrennte Bezirke des Ento- derms der Radiata darstellt, so wird diese Erscheinung durchaus begreiflich. Der Versuch von Mac-Bride (1898), den Beweis dafür zu liefern, dass der Embryo von Amphioxus auf einem gewissen Stadium einen dreigliedrigen Bau aufweist, und dass die Vermehrung der Meta- merenzahl durch Abtrennung derselben von dem vorderen Ende der Segmente des dritten Paares erfolgt, dieser Versuch bedarf einer Nachprüfung, in Anbetracht des Widerspruches mit . den Schimkewitsch, Über die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. 61 früheren klassischen Untersuchungen von Kowalevsky (1867) und Hatschek (1882). Überhaupt halte ich es jedoch für wahrschein- licher, dass der vordere unpaare Abschnitt des Céloms der Entero- pneusta und der übrigen Triarticulata, welcher bei dem Embryo von Amphioxus lenken: durch den unpaaren Kopflappen vertreten ist, nicht ab origine unpaar auftritt, wie dies von Masterman angenommen wird, sondern paarigen Ursprungs ist. Es ist schwer zu sagen, ob dieser unpaare Bezirk durch Ver- schmelzung eines Paares von Bezirken (der rechten und linken Seite) entstanden ist, oder durch Verdrängung der Anlage einer Seite durch die Anlage der anderen Seite. Zugunsten der ersteren Voraussetzung spricht die Paarigkeit der Metanephridialröhrchen dieses unpaaren Segmentes (s. S. 145), wie auch die von Davydoff*) angeführten Fälle der anomalen Anlage von zwei (statt einer) Perikardialhlasen (durch Abtrennung vom Riisseledlom) während der Regeneration des Rüssels der Enteropneusta. Zugunsten der zweiten Voraussetzung dagegen sprechen die Beobachtungen von Schepotieff*°) über die Knospung von Rhabdopleura, wobei das Rüsselcölom zuerst paarig erscheint, - worauf jedoch dessen rechte Hälfte die Perikardialzellen bildet, die ~ linke dagegen das definitive Cölom des Rüssels. Es ist wohl möglich, dass die Entstehung der Paarigkeit des Rüsseleöloms bei den verschiedenen Vertretern der Triartieulata auf verschiedenem Wege vor sich gegangen ist; jedenfalls unterliegt es keinem Zweifel, dass dieses Cölom seinem Ursprung nach paarig war. Auch die Paarigkeit des vordersten der drei im Körper des hypothetischen Echinodermenahnen vorhandenen Célomsegmente spricht zugunsten dieser letzteren Anschauung. Im allgemeinen gesprochen ist die ungeheure Mehrheit aller unpaaren Organe paarigen Ursprungs. Ich brauche hier nur an die unpaaren Scheitelanhänge des Chordatengehirns zu erinnern, mit Einschluss des unpaaren Yer der Ascidienlarven, welches sich nach Froriep‘‘) als das ee der rechten Seite erwiesen hat, ferner an die Anlage des bulk en und der Rickenpore der Echinodermenlarven und andere Beispiele von unpaaren Organen. Dieser Gesichtspunkt lässt sich jedoch nicht auf die Frage über die Entstehung der Chorda anwenden. Diese Frage ist bis jetzt 44) Davydoff, ©. Sur la morphologie des formations cardio-péricardiques des Enteropneustes. Zool. Anz., 31. Bd., 1907. 45) Schepotieff, A. Über Organisation und Knospung von Rhabdopleura. Zool. Anz., 28. Bd., 1905. Auch in russischen Sprache: Pterobranchia. St. Peters- burg 1907. 46) Froriep, A. Über Herleitung des Wirbeltierauges yom Auge der Ascidien- larve. Anat. Anz., Ergänzungsheft zum 30. Bd., 1906. XXVIII. 11 162 Schimkewitsch, Uber die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. unbeantwortet geblieben. Man wird wohl kaum die Vergleichung der Chorda mit dem sogen. Nebendarm, wie wir ihn bei einigen Echinodermen und Würmern sehen, oder mit der Chordascheide der Nemertinen (Hubrecht, 1883) aufrecht halten können. Masterman*’) fasst die Chorda ganz richtig als einen diffe- renzierten Fortsatz des Darms auf, allein die von ihm gegebene hypothetische physiologische Erklärung der Entstehung dieses Fort- satzes wird man wohl kaum als beweisend ansehen können. Die von Kemna**) entwickelten Erwägungen, wonach die Chorda als ein Stützpunkt für die Befestigung der Muskulatur anzusehen ist, der in Abhängigkeit von dem Übergang zu einer mehr beweglichen Lebensweise entstanden ist, erklären wohl die weitere Entwickelung der Chorda, allein nicht deren Entstehung. Ebenso wird durch diese Betrachtungen auch noch eine andere Frage nicht gelöst, und zwar warum dieses innere Stützskelett aus dem Entoderm und nicht aus dem Mesoderm entstanden ist, wie dies bei den Crustaceen und den Arachnoiden der Fall ist, welche ein Endosternit oder ähnliche Bildungen besitzen, wofür ich den Namen Mesoskelett vor- geschlagen habe (1894). ; Bei der Betrachtung dieser Frage wird man vor allem im Auge behalten müssen, dass die Mundöffnung bei den Einteropneusta und vielleicht auch bei allen Triarticulata eine Verlagerung erfahren hat (vgl. Willy)®). Bei den gemeinsamen Vorfahren der Triurti- culata und Echinodermata lag diese Öffnung wahrscheinlich in der ersten Metamere. Unter anderem hat Weldon°’) eine Tornaria von den Bahama-Inseln beschrieben, bei welcher der Kopflappen, d. h. die erste Metamere, tentakelartige Anhänge trägt. Es ist wohl möglich, dass diese ursprüngliche Mundöffnung von Tentakeln um- geben war, welche bei den jetzt lebenden Formen verschwunden sind oder durch die tentakelförmigen Anhänge der zweiten Meta- mere ersetzt werden ’°!). Wir haben nunmehr die Frage aufzuwerfen, wie diese Ver- lagerung der Mundöffnung vor sich gegangen ist? 47) Masterman, A. On the Origin of the Vertebrate Notochord and Pha- ryngeal Clefts. Rep. 58. Meet. Brit. Ass. Adv. Se. 1899. 48) Kemna, A. L/origine de la corde dorsale. Ann. Soc. Zool. et Malacol. Belgique. XXXIV. 1904. 49) Willey. Enteropneusta of the South-Pacific etc. Zool. Results. Willey. Cambridge. T. 26—32. 1899. 50) Weldon. Preliminary Note on a Balanoglossus larva from the Bahamas. Proc. R. Soc. London. vol. XLII, p. 146—150. 51) Nach Schepotieff besitzt Cephalodiscus mehrere (und zwar sechs) Arm- paare, welche Tentakel tragen. Wäre es jedoch nicht richtiger gewesen, diese mehrere Paare von Armen als Homologa von Tentakeln mit fiederartig angeordneten sekun- dären Verzweigungen anzusehen, während die echten Arme, resp. das Lophophor, bei Cephalodiscus offenbar an das zweite Segment angewachsen sind und mit dem- selben ein Ganzes bilden. Schimkewitsch, Uber die Beziehungen zwischen den Drlazeralia und Radiata. Ab: Man wird annehmen können, dass die Chorda einen Überrest der ursprünglichen Speiseröhre darstellt, und dass die Mundöffnung, welche sich in der ersten Metamere befand, obliterierte, während anstatt ihrer, vielleicht durch Differenzierung der Kiemenspalten, eine neue, in der zweiten Metamere liegende Mundöffnung entstand. Allerdings existiert die von Kowalevsky bei den Entero- pneusten an der Spitze des Rüssels liegende Öffnung nicht; nichts- destoweniger hat Davydoff°’) Fälle von Anomalıen beschrieben, wo die Chorda mit ihrem distalen Ende nach außen mündet. Zu- gunsten obiger Annahme spricht indirekt auch die Entwickelung der Chorda bei der Knospung von Rhabdopleura und Cephalodiscus nach den Beobachtungen von Schepotieff. Die ektodermale An- lage des Schlundes wächst von .der Bauchseite der Knospe herein und legt sich an die Anlage des Darmes. Aus dem vor dem Schlunde liegenden Teil des primären Darmes entsteht die Chorda, Fig. 10. Schema der anatomischen Verhältnisse des Herzens im Querschnitt: A = bei einem Em- bryo der Anamnia (mit Erhaltung des Mesen- teriums); 6 = bei den Enteropneusta und Pterobranchia. Spl. = Splanchnocöl; Ur. = Herzhöhle; Pre. = Perikardialhöhle; D. = Darm; Ch. = Chorda (Darmblindsack). A aus dem hinter dem Schlunde liegenden Teil dagegen — der eigent- liche Darm. | Eine hiermit auffallend übereinstimmende Erschemung kann man nach E. Schultz bei Phoronis in einigen besonderen Fällen der Regeneration des Schlundes beobachten. Bisweilen regeneriert der Schlund bei Phoronis auf Kosten des Ektoderms nicht apikal, sondern in einer gewissen Entfernung vom Hinterende und in diesem Falle degeneriert der gesamte Abschnitt des Darmes, welcher vor der Schlundanlage liegt und demnach der Chordaanlage der Pterobranchia entspricht**) (vgl. die Erwägungen von Willey be- züglich der Actinotrocha von Phoronis sabatieri, loc. cit. 1899). 52) Davydoff, ©. Über die Regeneration der Eichel bei den Enteropneusten. Zool. Anz., 25. Bd., 1902. A 53) Nach Schepotieff wird der Darm in der Knospe von Cephalodiscus wie bei den Bryozoen aus dem Ektoderm angelegt, bei Rhabdopleura hingegen aus zerstreut liegenden Zellen des peritonealen Epithels. Allein diese paarige Anhäufung (Fig. 21, Taf. XT) liegt im Cölom, zu beiden Seiten des Mesenteriums, während der Darm des erwachsenen Tieres natürlich zwischen den beiden Blättern des Mesen- teriums eingeschlossen liegt. Das Eindringen der Zellen dieser paarigen Anlage in die intermesenteriale Höhle wird von Schepotieff nicht beschrieben. Es ist wohl 11* 164 Schimkewitsch, Uber die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. Sind die Beobachtungen von Davydoff bezüglich des Peri- kardiums der Enteropneusta richtig, so sind die Beziehungen des Herzens zum Darme bei den Enteropneusta und Pterobranchia einer- seits und den typischen Chordaten, namentlich bei den Embryonen der Anamnia (Fig. 10) und der Copelata (nach Salensky, 1902) andererseits, auffallend übereinstimmend. In beiden Fällen stellt das Herz eine Höhle dar, welche von unten her durch das Perikardium und den Darmkanal resp. die Rüsselchorda begrenzt wird’°*). Allein wir müssen noch ein wichtiges, ausschließlich den Ptero- branchia und Enteropneusta zukommendes Unterscheidungsmerkmal hervorheben; bei diesen Formen liegt das Herz vor der funktio- nierenden Mundöffnung, bei den typischen Chordaten dagegen hinter derselben; akzeptieren wir jedoch die oben dargelegte Hypothese, wonach der Mund der Triarticulata sich früher an dem distalen Ende der Chorda befand, so würde auch dieser Unterschied aufge- hoben werden. Ungeachtet aller dieser Argumente glaube ich dennoch, dass wir ber den Triarticulata eher eine Verlagerung der Mundöffnung als die Ersetzung einer Öffnung durch eine andere zulassen können. Einen Hinweis auf den Prozess der Verlagerung des Mundes nach hinten finden wir bei den Enteropneusta, wenn auch nur in indirekter Form. Bei denselben ist die Rückenseite der vorderen Körperpartie zweifellos stark ın der Längsrichtung ausgewachsen. Der Hinweis auf eine solche Wucherung besteht darin, dass das Rumpfeölom zwei Fortsätze in das Kragensegment abgibt, welche sich längs der dorsalen Seite des Céloms des Kragens zu beiden Seiten des Rückengefäßes (perihimale Höhlen der Autoren) erstrecken. Diese Wucherung fand ihren Ausdruck auch in der Bildung eines vom Kragen nach dem Rüssel gerichteten blinden Darmfortsatzes, d. h. der Chorda. Offenbar haben die Organe der Dorsalseite bei den Enteropneusta und Pterobranchia eine gewisse Verlage- rung nach vorne erlitten und diese Erscheinung konnte von einer Verlagerung der Organe der Ventralseite und speziell der Mundöffnung nach hinten begleitet sein. Was die Lage betrifft, welche das Herz hierbei einnimmt,. | möglich, dass diese paarige, im Cölom liegende Anhäufung gar nicht die Aulage des Darms darstellt, welcher in der Knospe von Rhabdopleura wahrscheinlich in der gleichen Weise gebildet wird, wie bei Cephalodiseus und den Bryozoa, d. h. auf Kosten des Ektoderms. 54) Dieses Schema widerspricht dem von mir schon im Jahre 1886 ausge- sprochenen Satze in keiner Weise, wonach das Herz der Bilateralia, darunter auch dasjenige der Chordata, zwischen den beiden Blättern des Mesenteriums liegt, voraus- gesetzt, dass wir die Wandung des Herzens auf den erwähnten Schemata für zwei auseinandergetretene Blätter des Mesenteriums ansehen. DEE Schimkewitsch, Uber die Beziehungen zwischen den Drlateralia und Radiata. 4165 so erinnert dieselbe außerordentlich an die Lage des Herzens bei den Embryonen der Vertebraten bei der sogen. Omphalocephalie. Hat sich die Anlage des Herzens anfänglich durch das Zu- sammenrücken der beiden Perikardialsäcke auf der Ventralseite des Darmes gebildet, wie Davydoff dies annimmt, so konnte ein solches Fe enculken sowohl hinter der Mundonune (normaler- weise) als auch vor derselben (bei anormaler veneer cine der Mundöffnung nach hinten) von statten gehen. Ein anschauliches Beispiel einer analogen Verlagerung eines Organes, hervorgerufen durch die gleiche Ursache, d. h. durch Ver- lagerung der Mundöffnung, bietet uns der Schließmuskel der Cirri- pedien. Natürlich ist derselbe dem Schhefmuskel der übrigen Entomostraken (mit Ausnahme der Cyprinidae) homolog; alleın bei den übrigen Entomostraken liegt dieser Muskel unterhalb des Darmes, bei den Cirripedien dagegen oberhalb desselben, mit Aus- nahme der Gattung /bla, wo er nach Darwin ebenfalls über dem Darme liegt’). Um die Verlagerung des Herzens bei den Entero- pneusta und den eng zu erklären, braucht man daher nicht den Ersatz einer Mundöffnung durch eine andere vorauszusetzen, indem diese Verlagerung sich auch bei einer einfachen Verschiebung der Mundöffnung er- klären lässt. Jedenfalls ist die omphalocephale Lage des Herzens eine für die Knteropneusta und Pterobranchia ganz ausnahmsweise Erschei- nung und kam bei den Vorfahren der Chordaten niemals vor. Mög- licherweise ist dieselbe, wie auch :viele andere Merkmale, durch Fixierung eines Falles von Anomalie entstanden. Man wird demnach annehmen können, dass beı den ältesten Vorfahren der Triartieulata die Mundöffnung sich am Vorderende in der ersten Metamere befand; späterhin wurde sie nach hinten verlagert, und der dabei entstan- dene vordere blinde präorale Vorsprung des Darms ergab dann die Chorda, welche der stark entwickelten ersten Metamere als Stütze diente. Bei den Pterobranchia, welche man, gegen Schepotieff, durchaus nicht als primäre, son- dern als degenerierte Formen betrachten muss, begann infolge ihrer sitzenden Lebensweise eine Annäherung der Mundöffnung und der Afteröffnung auf der Dorsalseite, was zu einer allmählichen Reduktion der ersten Metamere, bei den Bryoxoa und den Pheronida 55) Wegen der embryologischen Erklärung dieser Erscheinung siehe Schimke- sch. W. Über Bau und Entwickelune des du zul. der Arachniden. Zool. Jahrb. Bane: f. Anat., 8. Bd., 1894. 166 Reichensperger, Uber Leuchten von Schlangensternen. dagegen zu einer Reduktion der Chorda wie überhaupt aller anderen Organe dieser Metamere führte. Werfen wir nunmehr die Frage auf, welchen Verlauf die Ent- wickelung der Chorda weiterhin genommen hat, so werden wir offenbar zulassen müssen, dass sich die Entwickelung des Chorda- gewebes allmählich längs der Dorsalwand des Darmes nach hinten zu verbreitet hat. Diese Tendenz zur Wucherung des Chorda- gewebes findet sich nach meinen Beobachtungen (1889) bei dem Vertreter der Enteropneusta 1m Weißen Meere (Saccoglossus meresch- kovskii)*®), bei den Harrimanidae (Ritter, 1900),. sowie bei den übrigen Enteropneusta im jugendlichen Zustande. (Schluss folgt.) Über Leuchten von Schlangensternen. Von Dr. Reichensperger (Zoolog. Institut zu Bonn). Während ich mich im Winter 1906/07 an der zoologischen Station zu Neapel aufhielt, untersuchte ich die histologischen Ver- hältnısse der leuchtenden Ophiurenformen: Ophiopsila annulosa (Sars), Ophiopsila aranea Forb., Amphiura filformis (Müll.) und Amphiura squamata Sars. Im Laufe des Sommers wurden die Arbeiten in Bonn fortgesetzt. Es ergab sich hierbei in Kürze folgendes: In den Lateralstacheln von „Ophiops. annulosa finden sich in großer Zahl eigentümliche, drüsenartige Gebilde. Dieselben liegen ım Innern des Stachels, besonders an der Basıs, ın der Nähe des mittleren unverkalkten Bindegewebsstranges, in welchem der Stachel- längsnerv verläuft: Es sind Zellen von verschiedenartiger Form mit rundlichem, verhältnismäßig großem Kern, welche überaus lange Ausläufer zum Epithel und in dieses hinein senden. Zu jedem Ausläufer gehört anscheinend ein feiner Kanal, der die Kutikula durchbricht. Der Inhalt von Zellen und Ausläufern ist teils schleimig, teils sehr femkérnig und färbt sich intensiv mittels Thionin und Mucikarmin. — Gleiche Gebilde finden sich etwas kleiner im un- verkalkt gebliebenen Gewebe der Wimperstacheln — jedoch nie- mals im Bereich der Wimperstreifen —, sowie an bestimmten — Stellen der Ventralplatten. In den Lateralplatten fanden sich solche | | Zellen bisher nicht. Amphiura filiformis besitzt sehr ähnliche, drüsenartige Gebilde in sämtlichen Stacheln und nur in diesen. Ihre Hauptansammlung liegt am Grunde des Stachels. Auch hier werden lange, mit einer kleinen Verdickung endende Ausläufer gebildet, die bis an die Kutikula reichen. Ausführungsöffnungen wurden nicht bemerkt, 56) Diese Form wird von Spengel auf die von ihm 1893 aufgestellte Gattung Dolichoglossus bezogen; ich behalte den von mir 1892 gegebenen Gattungsnamen bei. | | | | i | | Reichensperger, Uber Leuchten von Schlangensternen. 167 ich glaube jedoch schließen zu dürfen, dass solche vorhanden sind. In unmittelbarer Nähe der Stellen, wo die Ausläufer an die Kutikula herantreten, befinden sich nach außen hin feine, meist mit zwei Spitzen versehene Stäbchen, oft in bedeutender Zahl, in welchen Nervenendigungen festgestellt werden konnten. Bei Amphiura chiajei, einer nicht leuchtenden, verwandten Form von filiformis, sind weder in den Stacheln noch sonst irgendwo die gleichen drüsenartigen Gebilde zu finden. Dagegen treffen wir solche wieder bei Amphiura squamata, und zwar hauptsächlich in den Lateralplatten. Sie sind bei dieser Art jedoch überaus klein und schwer auffindbar; soweit ich mich davon überzeugen konnte, scheint es sich hier um einen interessanten Zerfall von Zellen und vornehmlich von Kernen zu handeln. Das hierdurch entstandene Produkt wird in langen feinen Ausläufern, die wiederum im Epithel eine kleine Anschwellung erfahren, nach außen befördert. Vergeblich suchte ich bisher bei Ophiopsila aranea nach solchen drüsenartigen Gebilden überhaupt. Immerhin glaube ich mit Recht annehmen zu dürfen, dass wir in den genannten Zellen der drei Arten die Träger des Leucht- stoffes vor uns haben. Einmal kommen dieselben — mit Ausnahme der Lateralplatten der Ophiopsila-Arten — stets an eben den Stellen vor, welche Mangold!) als leuchtende nennt. Von der Richtigkeit seiner Beobachtungen konnte ich mich selbst überzeugen. Dann aber scheint mir vor allem beachtenswert, dass an den gleichen Stellen nächst verwandter, aber nicht leuchtender Arten die er- wähnten Drüsengebilde fehlten. Obige Ansicht steht in einigem Widerspruch mit einer kürz- lich erschienenen Arbeit von Fräulein Sterzinger (Innsbruck)?), welche annimmt, dass bei Amphiura squamata die Füßchen leuchten und leuchtenden Schleim produzieren. Eine Produktion von Schleim findet, wie ich an anderer Stelle ausführlich zeigen werde, und wie genannte Verfasserin mit vollem Recht vermutete, in den Füßchen wohl der meisten Ophiuren statt; bei der Untersuchung von 20 Arten aus den verschiedensten Familien konnte ich bei etwa 15 Arten Schleimdrüsen in der Tiefe des Epithels feststellen. Bei den mit größeren Füßchen versehenen Arten, z. B. Amphiura filiformis, Ophiothrix fragilis, zeigte sich aber, dass der Schleim nicht von den gewöhnlichen Epithelzellen insgesamt, wie Fräulein Sterzinger annimmt, sondern von spezifischen, kernhaltigen Drüsen- oder Schleimzellen abgesondert wird. Die Verhältnisse werden dadurch noch verwickelter, dass mehrere Spezies an den Füßchen auch deutlich 1) Mangold, Leuchtende Schlangensterne ete. Arch. f. die ges. Physiologie, Bonn 1907, Bd. 118. 2) J. Sterzinger, Über das Leuchtvermögen von Amph. squamata. Ztschr. f. wiss. Zool., Bd. 88, 1907. 168 Reichensperger, Uber Leuchten von Schlangensternen. zweierlei Sekretarten produzieren, wie z. B. die eben erwähnte Ophiothrix fragilis. Es kommen hier in der Peripherie jeder Pa- pille gewöhnliche Schleimdrüsen vor, außerdem aber, in der Mitte gelegen, Zellen mit starkkörnigem Inhalt, der ganz andere Farb- reaktionen zeigt, wie die Schleimdrüsen. Diese Zellen sind es, die Hamann wohl infolge einer weniger entwickelten Technik, als Sinneszellen beschrieb und abbildete ?). Ausgewachsene Ophiothrix haben aber kein Leuchtvermögen, ebensowenig wie die anderen von mir untersuchten Arten, obige vier ausgenommen. Die Sekrete der Füßchen haben meiner Auffassung nach lediglich Bezug auf die Fortbewegung, bezw. das Klettern der Ophiuren; stellenweise mögen Giftsekrete besonders produziert und zur Verteidigung benutzt werden. Über letztere Möglichkeit könnten physiologische Experi- mente mit lebenden Ophiotrichiden vielleicht Klarheit bringen. Leuchten sah ich die Füßchen phosphoreszierender Arten niemals, trotz oftmaliger Beobachtung frischen Materials. Weder Quatre- fages*) noch Panceri°), noch endlich Mangold (op. cit. S. 627) schreiben den Füßchen Leuchtkraft zu. Ich bin der Meinung, dass es sich bei unseren leuchtenden Arten um intrazelluläre, bezw. intraglanduläre Lumineszenz handelt, die durch Nervenreize ausgelöst wird. Man bemerkt niemals, dass leuchtendes Sekret ausgestoßen wird; auch sagt Mangold aus- drücklich, es sei ihm nie gelungen, ein leuchtendes Substrat von der Oberfläche eines ruhenden oder gereizten Armes abzuwischen. Ferner wird z. B. ein Lateralstachel von Ophdopsila annulosa, oder Amphiura filiformis beim Phosphoreszieren gleichsam ganz durch- glüht, und das hellste Licht strahlt von den innersten Stellen aus, die ich oben als Lager der eigentlichen Leuchtzellen angab. Beim Leuchtprozess geht, soweit ich aus meinen Präparaten ersehen kann, eine Substanzumbildung, wahrscheinlich eine Auflösung der kleinen Körnchen in Schleim vor sich. Nur der Überschuss des veränderten Inhaltes wird wohl durch überaus feine Kanälchen der Kutikula nach außen befördert. Weitere Aufklärung einiger Fragen erwarte ich von der Bear- beitung frischen Materials ganz junger Amphiurenstadien, die ich — konservierte, und deren Leuchten im Muttertier Mangold be- obachtete. Ich hoffe dann die Drüsen und drüsenartigen Gebilde der Ophiuren im Zusammenhang besprechen und einige Beiträge zur Lösung des Leuchtproblems unserer Arten geben zu können. Bonn, 8. Dezember 1907. 3) Hamann, Beiträge zur Histologie der Echinodermen. 4. Heft, Jena 1859. 4) Quatrefages, A. de. Note sur un nouveau mode de phosphorescence, Ann. des sciences nat. II. ser., A. 19, p. 183. 5) -Panceri, Atti R. Acad. d. Se. Fis. et Math. di Napoli 1878, Nr. 1. Mangold, Über das Leuchten und Klettern der Schlangensterne. 169 Über das Leuchten und Klettern der Schlangensterne. Von Ernst Mangold (Greifswald). Auf Grund von Untersuchungen, die ich in der zoologischen Station zu Neapel ausführte, möchte ıch an dieser Stelle über das Leuchten und den Füßchenschleim der Ophiuriden wie auch über das Klettern derselben etwas andere Ansichten zur Geltung bringen, als es in einer mir vorliegenden Arbeit von Irene Sterzinger „Über das Leuchtvermögen von Amphiura squamata Sars*!) ge- schehen ist. Nach den darin mitgeteilten Beobachtungen und meinen eigenen Erfahrungen scheint mir für einige der darin aufgestellten Schlussfolgerungen noch der rechte Beweis zu fehlen. Ich möchte mir daher einige kritische Bemerkungen dazu erlauben, wobei mich der Gedanke leitet, dass jemand, der mit den hier berührten Fragen nicht persönlich vertraut ist, aus der Arbeit von Sterzinger zwar die Schwierigkeit der Beobachtungen erkennen muss, indessen bei nicht sehr genauer Prüfung leicht zu dem Glauben kommen kann, dass die Schlußsätze durch die angeführten Beobachtungen auch wirklich bewiesen seien. Sterzinger kommt zu dem Resultate, dass sich „die Leucht- organe von Amphiura squamata* an der Spitze der Füßchen be- finden und dass das Leuchten durch Schleim erzeugt wird, „der von den Zellen des äußeren Epithels an der Spitze der Füßchen sezerniert wird, sich ın den Interzellularräumen sammelt und durch Öffnungen in kleinen Papillen am vordersten Ende des Füßchens ausgestoßen wird (Extrazelluläre Lumineszenz)* ?). Diese Sätze hatten für mich etwas Überraschendes, da ich in Neapel bei meinen Studien über leuchtende Schlangensterne’) an Ophiopsila annulosa und aranea, an Amphiura filiformis wie auch der von Sterzinger untersuchten squamata zu dem Ergebnis ge- kommen war, dass eine Phosphoreszenz mit schwankender Lo- kalisation, bei verschiedenen Arten ausschließlich an bestimmten Skelettplatten und Stacheln zu beobachten ist. Abgeschnittene Füßchen von Ophiopsila hatte ich ebenso wie ihre Stacheln durch starke Kochsalzlösung und andere chemische Reize gereizt und nur die Stacheln leuchten sehen. Mit größter Deutlichkeit hatte ich bei Ophiopsila, bei welcher sich das Leuchten im Halbdunkel mit einer starken Lupe genau lokalisieren lässt, stets gesehen, wie die langen und beweglichen Füßchen sich dunkel von dem gelbgrünen Glanz der Platten und Stacheln abhoben, ebenso hatte ich bei den anderen Arten und, wie mir ejne erneute Durchsicht meiner Proto- 1) Zeitschr. f. wiss. Zool. 88, 1907, Heft 3, p. 358. 2) p. 380. 3) E. Mangold. Leuchtende Schlangensterne und die Flimmerbewegung bei Ophiopsila. Pflüg. Archiv, 118, 1907, p. 613. 170 Mangold, Über das Leuchten und Klettern der Schlangensterne. kolle ergibt, auch bei der besonders in Rede stehenden Amphiura squamata niemals an den Füßchen ein Leuchten beobachten können. Bei größeren Exemplaren dieser letzteren, ja recht winzigen Art habe ich deutlich gesehen, dass die Seitenplatten leuchten und dass das Leuchten offenbar nur an diesen, in ihrem dorsalen, ventralen und seitlichen Teile, erfolgte, während Rücken- und Bauchplatten nicht leuchteten und auch die Stacheln sich nur als Schatten ab- hoben. Diese Beobachtungen kann ich mit gutem Gewissen als Tatsachen hinstellen, auch gegenüber der Bemerkung Sterzinger’s, welche bezugnehmend auf meine Beobachtung, „dass .die proxi- malen Teile der Basalplatten leuchten“, sagt, dass „dies nicht der Fall“ sei. Das Leuchtbild entspricht bei diesem Tier etwa dem in meiner Fig. Sa von Ophiopsila aranea gegebenen. Nach meinen im Neapler Aquarium an ganz frischem Materiale von mehreren, zum Teil recht stattlichen Arten angestellten Be- obachtungen ist für mich die Wahrscheinlichkeit, dass bei Amphiura squamata in den Füßchenspitzen ein leuchtfähiger Schleim produziert wird, zunächst nicht sehr groß. Dass das leuchtende Substrat ein Drüsensekret sei, bezeichnete ich in meiner Arbeit aus mehreren Gründen als wahrscheinlich, konnte indessen kein leuchtfähiges Sekret isolieren, und histologisch habe ich nicht unter- sucht. Doch hat Dr. Reichensperger*) an den leuchtenden Stellen, also Skelettplatten und Stacheln, der leuchtenden Schlangensterne typische drüsenartige Zellgebilde gefunden, die an den gleichen, aber nıcht leuchtenden Stellen der nächstverwandten Arten nicht vorkommen, und es lässt sich vielleicht aus dieser Übereinstimmung schon mit einiger Berechtigung ein kausaler Zusammenhang ver- muten. Immerhin kann die Möglichkeit, dass bei A. squamata die Füßchenspitzen ein Leuchtsekret produzieren, nicht einfach zurück- gewiesen werden, und ich könnte vielleicht durch wiederholten Zu- fall das Leuchten der Füßchen übersehen haben, andererseits liegt aber kein Grund vor, es ohne Beweis anzunehmen, und ein über- zeugender Beweis ist Sterzinger, glaube ich, nicht gelungen. Sterzinger hat ihre Amphiuren aus Triest erhalten und zwar | „meist schon sehr erschöpft, oder gar im Absterben begriffen, so, — dass die Beobachtung des Leuchtens sehr erschwert war.“ „Mecha- nische Reize erwiesen sich gewöhnlich als unwirksam,“ so dass vorwiegend chemische verwendet wurden. Während diese aber nach einmaligem Aufleuchten schwere Schädigungen oder Tod des Tieres zur Folge haben, konnte ich bei meinem frischen Material ın erster Linie den unschädlicheren und leicht zu wiederholenden mechanischen Reiz anwenden. Trotzdem, wie Sterzinger schreibt, 4) s. den vorstehenden Aufsatz. — ess Mangold, Über das Leuchten und Klettern der Schlangensterne. WA die Beobachtung des Leuchtens auch durch „die Kleinheit des Ob- jekts sehr erschwert“ wurde, ergab die Beobachtung mit freiem Auge, dass das Licht nur an bestimmten Punkten der Arme auf- tritt. Sterzinger gibt eine farbige Abbildung des leuchtenden Tieres nach Lupenvergrößerung, in welcher die Leuchtpunkte völlig symmetrisch angeordnet sind. Wenn man weiß, dass bei einem Schlangenstern die Füßchen fast beständig in wechselnder Bewegung nach allen Seiten auseinanderschlagen, und dass niemals alle zu- gleich eine völlig symmetrische Stellung einnehmen, so erscheint es nach diesem Bilde unwahrscheinlich, dass die niemals als Reihen von Punkten geordneten Füßchenspitzen der Sitz des Phänomens sind. Offenbar hat erst das Ergebnis der histologischen Untersuchung, bei welcher sich an der Spitze der Füßchen Papillen mit Stäbchen und Öffnungen in der Kutikula fanden, die Frage veranlasst, „ob hier nicht vielleicht der Sitz des Leuchtens zu suchen ist“ (p. 363). Die mikroskopische Untersuchung der Phosphoreszenz war in- folge der ın dem chemisch reizenden Medium erfolgenden Be- wegungen „sehr häufig von Misserfolgen begleitet“ (p. 360), da das Tier „ım entscheidenden Moment aus dem Gesichtsfeld entschwand*. Dazu kam die weitere Schwierigkeit, dass die ausgestreckten Füß- chen sich bei der Reizung „sehr rasch zurückziehen, so dass Spitze und Basis einander sehr genähert werden“ (p. 363). Sterzinger sagt weiter selbst, dass es „bei der kurzen Zeit der Beobachtungs- möglichkeit und dem schwachen Lichte der wenigen Leuchtpunkte im Gesichtsfeld“ schwer sei, genau festzustellen, „welche Stelle des Füßchens leuchtet“. Sie „gelangte aber dennoch zur Überzeugung, dass an der Spitze der Füßchen der Sitz des Leuchtens ist, was mir dann auch durch Totopräparate und Schnitte bestätigt wurde“. Ich kann diese Beschreibung nicht überzeugend finden, und Schnitte beweisen natürlich gar nicht, ob etwas intra vıtam geleuchtet hat. Dass diese Beobachtungen nicht einwandfrei waren, wird weiter unten zugegeben, wo Sterzinger bedauert, dass mechanische Reı- zung kein Leuchten hervorrief, „da es auf diese Weise eher ge- lungen wäre, das Leuchten unter dem Mikroskop genau zu be- obachten“. Ich kann diese Schwierigkeiten aus eigener Erfahrung nachfühlen; ich vertauschte deshalb auch bald das Mikroskop mit einer 16fach vergrößernden Lupe, welche bei großem Gesichts- felde die gewünschten Einzelheiten in genügender Schärfe hervor- treten ließ. Ich glaube, dass Panceri und Quatrefages gar nicht so falsch gesehen haben, denn Panceri gibt ja eine ziemlich richtige Abbildung, und wenn Quatrefages das Phänomen immer da sah, wo die einzelnen Armglieder zusammenstießen, so entspricht das ganz richtig etwa den proximalen Teilen der Seitenplatten. 172 . Mangold, Uber das Leuchten und Klettern der Schlangensterne. Ich glaube auch, dass zu sehr der Wunsch des Gedankens Vater war, wenn in einem weiteren Abschnitt über „die Leucht- organe* sich mit einer gewissen Überzeugung der Gedanke auf- drängt, dass in den schleimgefüllten Schläuchen der Füßchenspitzen die gesuchten Leuchtorgane vorliegen. Nun wurde ganz richtig überlegt: „Wenn diese rotgefärbten Schläuche wirklich beim Leuchten der Amphiura beteiligt sind, so muss am stark gereizten Tier eine Veränderung zu beobachten sein. In der Tat fehlten an einem mit Thionin gefärbten Schlangenstern, der stark geleuchtet hatte, die roten Schläuche, es waren höchstens geringe Spuren von Schleim bemerkbar“ (p. 366). Ohne weitere Untersuchungen über sekret- leere Zellen nach starkem Leuchten wird diese einmalige Beobach- tung nachher verallgemeinert, wenn es heißt: „Jedenfalls wird der Schleim beim Leuchten ausgestoßen, da nach dem Leuchten kein Schleim mehr zu beobachten ist,“ und doch wird gleichzeitig der Wunsch ausgesprochen, die bei Tageslicht gemachte Beobachtung der Schleimausstoßung auf Reiz einmal im Dunkeln zu beobachten, „um zu sehen, in welcher Weise das Leuchten mit dem Ausstoßen der Schleimpfropfen in Zusammenhang steht“ (p. 370). Die gleiche Einzelbeobachtung wird noch einmal nachher als „neuer Beweis, dass der Schleim bei Amphiura squamata das Leuchten bedingt“, ins Feld geführt (p. 376), im Vergleich zu der Beobachtung, dass bei Ophiothrix fragilis ım gereizten und ungereizten Zustande ein gleichmäßiger Schleimgehalt angetroffen wurde. Noch etwas später verdichtet sich die Beobachtung noch mehr, indem jetzt daran fest- gehalten wird, ,,dass nach einem starken Aufleuchten niemals Schleim in den Füßchen zurückbleibt‘ (p. 379). Die sich selbst emstellenden Einwände erscheinen mir etwas zu leicht umgangen. Der Schleim, der sich ‘zwischen den nicht leuchtenden Mundfüßchen ansammelt, „scheint... beim Leuchten nicht beteiligt zu sein“, und für die Formen von Ophiuriden und Asteriden, die ebenfalls reichlich Schleimdrüsenzellen an den Füßchen haben, aber nicht leuchten, werden andere Funktionen des Schleims aus- findig gemacht. Bei Ophiothrix ist es einleuchtend, dass der Schleim beim Anheften der Füßchen eine Rolle spielt (p. 379), für Antedon rosaceus wird die Möglichkeit emer Bedeutung für die Herbei- schaffung der Nahrung genannt. Auch „der Schluss, dass Amphiura squamata zweierlei Schleim zu produzieren vermag, einen leuchtenden, der durch das Leuchten aufgebraucht wird, und einen nicht leuchtenden, der wahrschein- lich zum Anheften der Füßchen verwendet wird“ (p. 379), ist weder an sich sehr wahrscheinlich noch bewiesen. Histologisch wird nur eine Art Schleim nachgewiesen. Was nun weiter die Fähigkeit der Schlangensterne, an verti- kalen Glasscheiben mit den Füßchen zu haften, angeht, so hat Mangold, Uber das Leuchten und Klettern der Schlangensterne. 173 Sterzinger diese erst vor wenigen Jahren von Oestergren’) an Ophiocoma und anderen entdeckte Art der Fortbewegung auch bei Amphiura squamata und Ophiothrix fragilis beobachtet. Ich konnte es außer an diesen beiden auch noch bei den ganz geschickten Kletterern Ophiopsila annulosa und aranea und Amphiura filiformis oft sehen. Über den Mechanismus des Anhaftens der Füßchen haben die zweı Forscher schon zweı verschiedene Ansichten ge- äußert. Oestergren spricht von einem Festsaugen, während Ster- zinger es für unwahrscheinlich hält, „dass das Ansaugen der Füß- chen dabei eine so große Rolle spielt, wie Oestergren meint, da ohne Saugscheibe die Herstellung eines luftverdünnten Raumes nicht gut denkbar ist“. Sie kommt vielmehr zu der Überzeugung, dass es sich um ein richtiges Ankleben mittels eines klebenden Sekretes handelt. „Amphiura squamata und Ophiothrix fragilis können an senkrechten Wänden emporklettern, wobei der Schleim an den Füßchen dieselben befähigt, als Anheftungsorgane zu dienen“ (p. 381). Dieser Anschauung gegenüber ist es zunächst auffallend, dass Ophiothrix fragilis, bei welcher die Füßchen besonders reichlich mit kleinen Wärzchen‘) bedeckt sind, die die von Hamann be- schriebenen „Sinnesknospen“’) tragen, in welchen Sterzinger ebenfalls Schleimdrüsen fand, im Vergleich zu den anderen ge- nannten Ophiuren nur unvollkommen zu haften vermag. Ich sah sie stets leicht wieder vom Glase abfallen und auch nie die letzte Armspitze vom horizontalen Boden ablösen. An rauher Felswand dagegen klettert sie nicht ungeschickt, wobei sie sich mit den kammartig gezähnten Stacheln festhakt. Ferner muss hier in Be- tracht gezogen werden, dass auch unter den nicht mit echten Saug- füßchen ausgestatteten Arten der Seesterne sich noch ganz ge- schickte Kletterer, wie z. B. Laidia ciliaris, befinden, die auch nur mittels der Füßchen an vertikalen Glaswänden haften, dass indessen auch hier wieder solche mit gut entwickelten Schleimdrüsenzellen an den Füßchenspitzen, wie Astropecten aurantiacus, nur aus- nahmsweise und unvollkommen zu haften vermögen. Romanes und Ewart*) haben an haftenden Seesternfüßchen wiederholt schwache seitliche Einbuchtungen gesehen und glauben, dass Astro- pecten in dieser Weise einen Teil der Füßchenwand in eine un- 5) Hj. Oestergren. Über die Funktion der Füßchen bei den Schlangen- sternen. Biol. Centralbl. 24, 1904, p. 559. 6) S. die Abbildung von Ophiops. annul. in meiner Arbeit in Pflüger’s Archiv ES, p: 615. 7) ©. Hamann. Die Schlangensterne in Bronn’s Klassen und Ordnungen. 1901, p. 818. 8) Romanes und Ewart. Observations on the locomotor system of Hehino- dermata. Philos. Transact. Royal. Soc. London 1881, Vol. 172, p. 842. 174 Mangold, Uber das Leuchten und Klettern der Schlangensterne. vollkommene Saugscheibe umzuwandeln vermag. Auch Preyer spricht von einem luftverdünnten oder luftleeren Raume am Ende des Saugfüßchens, dessen Grenzen namentlich auch bei Zuidia, welche keine Saugnäpfe besitzt, mit bloBem Auge durch die Glas- wand hindurch leicht zu erkennen sei”). Diese Annahme lokaler Kontraktionen ıst nach sonstigen physiologischen Erfahrungen an schlauchförmigen muskulösen Organen, wie mir scheint, keineswegs von der Hand zu weisen, nur wird man dann auch die gleichen Erscheinungen bei den Ophiuren nicht von dieser Erklärung aus- zuschließen brauchen, wie es Romanes und Ewart ausdrücklich taten, welchen das Klettern der Schlangensterne allerdings noch unbekannt war. Die beiden Forscher machten ihre Beobachtungen über brittle-stars und sand-stars an einer im Text nicht genannten und ın der Tafelerklärung nicht näher bezeichneten Ophiura und verallgemeinerten daraus, dass die Schlangensterne nicht an verti- kalen Flächen zu kriechen imstande seien. Zufällig hatten sie ein Versuchsmaterial verwendet, dem diese Fähigkeit fehlte. So blieb bis auf Oestergren die Beteiligung der Füßchen der Ophiuren an deren Lokomotion unbekannt. Indessen wissen wir jetzt, dass auch der Mangel der Ampullen, welche bei den Ophiuren durch regelmäßige Anschwellungen des radıären Wasserkanals entsprechend der Zahl der Armwirbel ersetzt zu sein scheinen, nicht!) die lokomotorische Funktion der Füßchen hindert, welche im übrigen bis auf das ringförmige Pedalganglıon ähnlich wie die nicht mit echten Saugscheiben ausgestatteten Füßchen der Asteriden ge- baut sind. Die Hypothese von Romanes und Ewart, wonach an den saugnapflosen Füßchen durch lokale seitliche Einziehung der musku- lösen Wand der negative Druck entsteht, der das Ansaugen ermög- licht, scheint mir auch für die Schlangensterne viel für sich zu haben. Echte Saugscheiben sind bei diesen nicht beschrieben, und eine Abbildung, welche Panceri!!) von solchen bei Amphiura squa- mata gegeben hat, beruht auf optischer Täuschung: beim Blick auf die Spitze eines solchen Füßchens in Verlängerung seiner Längs- achse wird nämlich durch den optischen Ausdruck des Füßchen- hohlraumes, welcher dunkel im Zentrum der äußersten Spitze durch- scheint, eine dellenartige Vertiefung vorgetäuscht. Eine andere Erklärungsmöglichkeit, welche mit den Beobach- tungen wohl übereinstimmen, der physiologischen Deutung jedoch beträchtliche Schwierigkeiten bereiten würde, wäre die von Ster- 9) W. Preyer. Über die Bewegungen der Seesterne. Mitt. d. Zool. Station zu Neapel. VII, 1886/7, p. 80. 10) Vgl. ©. Hamann. Die Schlangensterne. Bronn’s Klassen u. Ordnungen. 1901, p. 824. 11) Panceri. Atti R. Accad. d. Scienze Fis. e Math. di Napoli 1878, Nr. 1. Mangold, Uber das Leuchten und Klettern der Schlangensterne. 175 zinger gemachte Annahme, dass das Anheften durch ein von den Füßchen produziertes klebriges Sekret geschieht. Der Eindruck des Klebens drängt sich allerdings fast unwillkürlich auf, und ich habe selbst von ,klebrigen* Füßchen gesprochen, ohne indessen schon über den Mechanismus etwas Näheres auszusagen !?), in erster Linie auf Grund folgender Beobachtung: Wenn man Körnchen von Meeres- sand auf die Ventralfläche eines auf dem Rücken liegenden Arm- stücks von Ophiopsila annulosa bringt, so kann man sehen, wie die Füßchen äußerst zierlich die Fremdkörper entfernen, indem sie nach den Steinchen herüberschlagen, sich dieselben ankleben und zwar oft an der konvexen Seite des Bogens, welchen das geschwungene Füßchen bildet, so dass von einem Umklammern nicht die Rede sein kann. Indem sie dann wie bei der Grabebewegung wieder seitwärts schwingen, werfen sie die Sandkörner über den stacheligen Rand des Armes hinüber. Wenn mehrere Füßchen eın Sandkorn erfasst haben, so stören sie einander, und die Entfernung geht langsamer von statten. Oft bringt auch ein Füßchen ein Steinchen wieder zurück, das gerade vom Nachbarfüßchen über Bord geworfen wurde. Es hat ganz den Anschein, dass die Körnchen nicht durch die eigene Schwere abfallen, sondern ,losgelassen* werden, und das ıst der Punkt, welcher mir schwer verständlich erscheint bei der Annahme, dass ein klebriges Sekret die Steinchen anleimt. Das Sekret müsste doch in Seewasser ziemlich unlöslich sein oder darin erstarren, um einen Klebstoff zu bilden, es müsste aber plötzlich wieder bis zu einem gewissen Grade gelöst werden, wenn ein Sand- korn losgelassen werden oder. ein am Glase haftendes Füßchen die Fläche zum nächsten Schritt verlassen soll. Dass die Füßchen erst durch eigene Muskelkraft die Adhäsion des Klebstoffes überwinden und sich so jedesmal gewaltsam losreißen, ist weder nach der direkten Beobachtung an Ophiuren und Zaidia, bei welcher diese Verhältnisse genau die gleichen sind, wahrscheinlich, noch würde dies bei den zarten Füßchen auf die Dauer ohne beträchtliche Substanzverluste des Epithels und Hautverwundungen vor sich gehen können. Auch sieht man bei der großen Lwidia niemals an der klaren Glaswand Kriechspuren in Gestalt zurückbleibenden Klebschleims, und weiter fühlen sich die Füßchen der Ophiuren und die von Luidia für den mit Seewasser benetzten Finger nicht klebrig, sondern vielmehr äußerst schlüpfrig an, genau wie auch der von Luidia unter gewissen Umständen abundant sezernierte Schleim. Auch habe ich nie gesehen, dass ein abgeschnittenes Füßchen irgendwo festgeklebt wäre. Nach dem Angeführten halte ich es für unwahrscheinlich und jedenfalls nicht für bewiesen, dass das Festhaften der saugnapf- 12) 1. e. p. 639. 176 Mangold, Über das Leuchten und Klettern der Schlangensterne. losen Füßchen der Ophiuren wie der Seesterne allein durch ein Ankleben mit einem sezernierten Klebstoff geschieht. Ob ein solcher überhaupt dabei in eine derartige Funktion tritt, ist eine Frage, die vielleicht eher bis zu einem gewissen Grade bejaht erden kann, da sie der Analogien nicht entbehrt. Sehen wir uns um, wie die Natur in den verschiedensten Tierklassen den Zweck er- reicht, dass eın Tier an vertikaler Fläche haften kann, so ergibt sich, glaube ich, das Resultat, dass dies in den weitaus meisten Fällen durch Ansaugen, d. h. durch Erzeugung eines negativen Druckes erfolgt. Nehmen wir als Beispiel ein anderes, glatt- muskeliges Organ, den Schneckenfuß, so sehen wir, dass dieser, wie es Sımroth treffend beschreibt, dadurch haftet, „dass die immer von hinten andrängenden erhabenen Wellen (peristaltische Wellen) beı ihrem ‚Amsnslenah zur Fläche einen stetigen Druck und ein höchst inniges Pee chmicsen der Sohle nortan, wozu der zähe Schleim noch einen trefflichen Leim liefert; der Luftdruck muss das Tier halten'®).“ Bekanntlich gelingt es nicht immer leicht, eine Schnecke zum Haften an der Glaswand zu bringen, es sei denn, dass man sie wie eine Gummischeibe andrückt. Also zugegeben, dass der Schleim als Bindemittel eine gewisse Bedeutung beim Festhaften und Klettern der Echinodermen besitzt, so neige ich doch mehr der Ansicht zu, dass als wesentlicher Faktor die lokale Bildung von Saugflächen in Betracht kommt. Die Fähig- keit, diese zu bilden, muss allerdings bei den verschiedenen Arten der Ophiuren und Asteriden in schwankendem Maße, wohl je nach verschiedenen biologischen Bedingungen, ausgebildet sein. Das Auf- treten der lokalen Saugscheiben aan man sich ohne Schwierig- keit so denken, dass auf einen Berührungsreiz eine umschriebene Einziehung exfolet, die sich beim ILinalkasen durch reflektorische anime re: ausgleicht. Wenn auch wohl eine besondere Bearbeitung der Frage noch erwünscht wäre, so scheint mir nach dem vorangehenden doch | schon vieles für die Annahme von Romanes und Ewart zu sprechen, dass auch bei den nicht mit präformierten Saugflächen ausgestatteten Füßchen das Festhaften mehr auf einer muskulären Ansaugung als auf der Wirkung eines sezernierten Klebstoffes beruht. 13) s. W. Biedermann. Studien zur vergl. Physiol. d. peristaltischen Be- wegungen. II. Die lokomotorischen Wellen der Schneckensohle. Pflüg. Arch. 107, 1905, p. 1. 14) W. Preyer. Über die Bewegungen der Seesterne. Mitt. d. Zool. Station zu Neapel. VII. 1886/7, p. 80. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der kgl. bayer. Hof- u. Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Über Äthylchlorid und Äthylchloridnarkose Für Ärzte und Zahnärzte von Priv.-Doz. Dr. W. Herrenknecht. Mit 2 Abbildungen. M. 1.50. Die wichtigsten Nahrungs- und Genussmittel, deren wesentlichen Bestandteile, Verfälschungen nebst Prüfung von i Dr. H. Hilger. M. —.80. Einführung in die Augenheilkunde von , Prof. Dr. J. Hirschberg, Geh. Medizinalrat in Berlin. Erste Hälfte. Zweite Hälfte. 1. Abt. Mit 112 Abbildungen. Mit 113 Abbild. und 1 Tafel. M. 8... M. 9.—. Die Zuckerkrankheit von Dr. Felix Hirschfeld, Privatdozent a. d. Universität in Berlin. Ma, seh wer Naturheilkunde und Schulmedizin Prof. Dr. *. Husppe. MR Diesem Hefte liegt ein Prospekt über „The Work of John Samuel Budgett, Balfour Student of the University of Cambridge Being a Collection of his Zoological Papers, together with a Biographical Sketch by A. E. Shipley F.R.S., and Contributions by R. Assheton, E. J. Bles, E. T. Browne, J. H. Budgett and J. G. Kerr edited by J. Graham Kerr‘ bei. K. B. Hof- und Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. HAR BO 1300 Ta Biologisches Centralblatt Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. XXVIIIL. Bd. 15. März 1908. Ne 6. | JT Leipzig. Verlag von Georg Thieme. Rabensteinplatz 2. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Zoologisches Taschenbuch fiir Studierende. Zum Gebrauch bei Vorlesungen und praktischen Ubungen. Zusammengestellt von Emil Selenka. Fünfte völlig umgearbeitete und stark vermehrte Auflage von Dr. Richard Goldschmidt, Privatdozent an der Universität München. Heft 1. Wirbellose, mit 368 Abbildungen. Heft 2. Wirbeltiere, mit 272 Abbildungen. a Beide Teile in Karton M. 5.60. rah logisches Gentralblatt Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in Miinchen, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. Bd. XX VIII. 15. März 1908. As 6. Inhalt: Burck, Darwin’s Kreuzungsgesetz und die Grundlagen der Bliitenbiologie. — Schimke- witsch, Uber die Beziehungen zwischen den Bilateralia und den Radiata (Schluss), — Goldschmidt und Popoff, Uber die sogen. hyaline Plasmaschicht der ‘Seeigeleier, — Arrhenius, Immunochemie. Darwin’s Kreuzungsgesetz und die Grundlagen der Blütenbiologie. Von W. Burck. (Auszug aus einer Abhandlung im Recueil des travaux botaniques Néerlandais. Vol. IV. 1907.) 1. Darwin’s vergleichende Kulturversuche über die Wirkung der Kreuz- und Selbstbefruchtung im Pflanzenreich. Bei seinen ausführlichen vergleichenden Experimenten mit aus gekreuzten und aus selbstbefruchteten Samen erwachsenen Pflanzen, welche dazu dienen sollten, den Satz über die Notwendigkeit der Kreuzbefruchtung zu beweisen und den Vorteil, der für die Pflanzen in einer gegenseitigen Kreuzung gelegen ist, an den Tag zu fördern, ist bekanntlich Darwin zum Resultat gekommen, dass in den meisten Fällen seine gekreuzten Pflanzen die selbstbefruchteten an Größe, Üppigkeit, Stärke und Fruchtbarkeit übertrafen, dass aber bei anderen Pflanzen die Kreuzung vor der Selbstbefruchtung keinen Vorzug hatte, Zu den ersteren gehören: Ipomoea purpurea, Mimalus luteus, Digitalis purpurea, Iberis umbellata, Dianthus caryophyllus, Petunia violacea, Viola tricolor, Cyclamen persicum, Anagallıs collina, Lobelia ramosa und viele andere. Zu den letzteren: Prswm sativum, Lathyrus odoratus, Canna Warscewiexi, Primula sinensis, Nicotiana Tabacum, XXVIII. 12 178 DBurck, Darwin’s Kreuzungsgesetz und die Grundlagen der Blütenbiologie. Apium Petroselinum, Passiflora gracilis, Ononis minutissima, Adonis aestivalis, Hibiscus africanus, Vandellia nummularifolia, eine weiße Varietät von Mimuhıs luteus, eine Varietit von Ipomoea purpurea und weiter noch einzelne Pflanzen, bei welchen auf die Frage, ob sie von der Kreuzung Vorteil hatten durch den Versuch, keine entscheidende Antwort gegeben werden konnte. Die letzteren gehören zu denjenigen Pflanzen, welche mehr oder weniger regelmäßig sich selbst befruchten. Bei der Überlegung der Ursachen des verschiedenen Verhält- nisses seiner Versuchspflanzen der Kreuz- und Selbstbefruchtung gegenüber, glaubte Darwın, dass seine Beobachtungen und Ver- suchsergebnisse alle darauf hinwiesen, dass für die völlige Frucht- barkeit der Eltern und die vollständige konstitutionelle Kraft der Nachkommen ein gewisser Grad von Differenzierung in den sexuellen Elementen notwendig set. Er glaubte, dass die Nachkommen aus einer Kreuzung nur dann einen Vorteil ziehen, wenn die gekreuzten Individuen während vorausgehender Generationen ungleichen äußeren Bedingungen aus- gesetzt waren oder spontan varıert haben, und dass bei Kreuzung zweier Individuen, die längere Zeit unter denselben Bedingungen gelebt, oder sich eine große Zahl von Generationen hindurch durch Selbstbefruchtung fortgepflanzt haben, die gekreuzten Pflanzen über die selbstbefruchteten keine Überlegenheit zeigen, weil die sexuellen Elemente eine gleiche Konstitution bekommen haben. Seit Darwin seine Versuchsergebnisse in diesem Satz zusammen- fasste, haben sich einerseits die Ansichten über das Wesen der Befruchtung erheblich geändert, während andererseits einige kleisto- game Pflanzen bekannt geworden sind, die keine anderen als ge- schlossene Blüten tragen, so dass bei diesen die Möglichkeit der Kreuzung ausgeschlossen ist. Diese neueren Ansichten und Beobachtungen gestatten einen anderen Blick ın Darwin’s Kreuzungs- und Selbstbefruchtungs- versuche. Aus guten Gründen wird jetzt allgemein angenommen, dass die Befruchtung nur dann mit günstigem Erfolge stattfinden kann, das daraus entstandene Individuum nur dann über einen unvermin- derten Wuchs und unverminderte Stärke und Fruchtbarkeit verfügt, wenn die beiden Eltern, statt in ihren sexuellen Elementen zu differieren, © in allen essentiellen Eigenschaften miteinander übereinstimmen und dass, umgekehrt, bei der Bildung des Embryokerns, sowie im vege- tativen Leben des Individuums und besonders bei der Bildung der Sexualzellen des letzteren, Störungen eintreten müssen, sobald die sexuellen Elemente der miteinander gekreuzten Individuen mehr oder weniger differieren. Was die Kleistogamen betrifft, so wissen wir jetzt, dass man, zumal unter den Anonaceen, Gattungen findet, deren Arten alle um ee An nn Burck, Darwin’s Kreuzungsgesetz und die Grundlagen der Bliitenbiologie. 179 ohne Ausnahme geschlossene Blüten tragen: Goniothalamus, Arta- botrys, oder wo wenigstens die Arten einer Untergattung alle kleistogam sind: Unona, Anona u. s. w. Diese Pflanzen geben Veranlassung zu der Annahme, dass sie dieses Merkmal einer gemeinschaftlichen, kleistogamen Stammform ent- lehnen, woraus abgeleitet werden muss, dass sie während ganz unbe- rechenbarer Zeiten sich durch Selbstbefruchtung fortgepflanzt haben, ohne ihre konstitutionelle Kraft und Fruchtbarkeit zu verlieren. Aus Darwin’s Kreuzungsversuchen einerseits und den Be- obachtungen an kleistogamen Pflanzen andererseits geht also hervor, dass Pflanzen, welche sich selbst befruchten, aus einer Kreuzung nicht nur keinen Vorteil ziehen, sondern auch, dass bei ihnen eine ‚lange fortgesetzte Selbstbefruchtung keine schädlichen Folgen hat. Man glaubt annehmen zu müssen, dass die Kleistogamie keine ursprüngliche Eigenschaft ıst und dass die Pflanzen mit geschlossenen Blüten — sei es auch vor vielen Jahrtausenden — aus solchen mit offenen Blüten hervorgegangen sind; man kann also die Kleisto- gamen keine absolut reinen Pflanzen nennen, obgleich die Möglich- keit, dass viele ihrer, zumal unter den Anonaceen, aus regelmäßig sich selbst befruchtenden Chasmogamen entstanden sind, nicht aus- geschlossen ist. Bedenken wir aber, dass ihre Zellkerne Äonen lang von aller Vermischung mit fremden Elementen frei geblieben sind, so können ihre Gameten doch die reinsten genannt werden, welche überhaupt bei Organismen mit geschlechtlicher Fortpflanzung an- getroffen werden. Ihre Chromosome entsprechen den höchsten Forderungen, die man für das Zusammenwirken bei dem Befruch- tungsvorgang und im vegetativen Leben des Individuums stellen kann, und diese Überlegung bringt uns zu der Schlussfolgerung, dass reine Pflanzen von einer Kreuzung keinen Vorteil ziehen und auch zur Erhaltung ihrer konstitutionellen Kraft und Frucht- barkeit keine Kreuzung bedürfen, eine Schlussfolgerung, die mit den neueren Ansichten über das Wesen der Befruchtung im Ein- klang ist. Darwin ıst von der Meinung ausgegangen, dass die ın der „Origin of Species“ geäußerte Vermutung der Notwendigkeit einer gelegentlichen Kreuzung für die Erhaltung der Art sich gründete auf eine Reihe von Tatsachen und Experimenten, die im allge- meinen mit den Erfahrungen der Tier- und Pflanzenzüchter ın Über- einstimmung waren und alle darauf hinwiesen, dass erstens eine Kreuzung zwischen verschiedenen Varietäten oder zwischen den Individuen derselben Varietät, aber von anderer Herkunft, den Nachkommen Kraft und Fruchtbarkeit gibt und dass zweitens, umgekehrt, eine lange fortgesetzte Inzucht die Kraft und Frucht- barkeit vermindert. 12* 1480 Burck, Darwin’s Kreuzungsgesetz und die Grundlagen der Blütenbiologie. Die erste Voraussetzung ıst in der Tat von vielen Autoren hervorgehoben worden und kann eine feststehende Tatsache genannt werden. Nachdrücklich muss aber bemerkt werden, dass hier nur von Kultur- und Gartenvarietäten, d. h. von bastardierten Pflanzen, nicht von reinen Arten die Rede ist. Darwin hat dies nicht beachtet, er meinte, dass die Regel für organısche Wesen im allgemeinen gültig sei. Wenn aus den Arbeiten der Hybridologen und Praktiker: Kölreuter, Knight, Herbert, Gärtner, Sageret, Wiegmann, Rawson, Bornet u. a. hervorgegangen ist, dass die Pflanzen, mit welchen sie ihre Kreuzungsversuche anstellten: Erbsen-, Weizen-, Trauben-, Äpfel-, Melonen-, Kohl-, Kartoffelvarietäten, Hippeastrum-, Gladiolus-, Cistushybriden u. a. sich mit dem Blütenstaub der Stammeltern leichter befruchten lassen als mit dem eigenen Blüten- staub, dass entweder eine Kreuzung mit getrennten Individuen derselben Varietät oder mit Individuen verschiedener Varietäten derselben Art oft leichter zustande kommt als eine Selbstbefruch- tung; und dass dabei die aus einer Kreuzung hervorgegangenen Nachkommen sich durch einen kräftigeren Wuchs und größere Fruchtbarkeit von den aus Selbstbefruchtung entstandenen Indi- viduen unterscheiden, so‘ hat dies alles nur auf Bastarde Bezug. Die vorteilhaftere Wirkung der Kreuzung wurde dadurch erklärt, dass durch die Bastardierung die Zeugungskraft bei Selbstbefruch- tung zurückgegangen sei. Dass auch reine Arten aus einer Kreu- zung einen Vorteil ziehen, ist von diesen Autoren niemals hervor- gehoben worden. Hinsichtlich der zweiten Voraussetzung — dass eine lange fortgesetzte Inzucht die Kraft und Fruchtbarkeit ver- rıngere — muss bemerkt werden, dass weder Kölreuter und Sprengel, noch Andrew Knight, Herbert, Gärtner oder einer der vielen anderen Forscher, welche sich vor Darwın mit Hybridisationsversuchen beschäftigt haben, sich über die Schädlich- keit der Selbstbefruchtung ausgesprochen haben. Was man darüber in der blütenbiologischen Literatur antrifft, ist auf Missverständnis zurückzuführen. Im Gegenteil, die größte Autorität auf dem Gebiete der Hybrido- logie, Gärtner, der im Jahre 1849 sein vortreffliches Werk „Über die Bastarderzeugung im Pflanzenreich* veröffentlichte, war weit davon entfernt, der Selbstbefruchtung „qua talıs“ schädliche Folgen zuzuschreiben. Er glaubte vielmehr, dass die guten Eigenschaften der Art nur durch Selbstbefruchtung erhalten werden könnten, während Fremdbestäubung zu Bastardierung Veranlassung gibt, welche die Pflanze in ihrer Zeugungskraft abschwächt. „Dass die Zeugungskraft der Bastarde in Vergleichung mit Burck, Darwin’s Kreuzungsgesetz und die Grundlagen der Blütenbiologie. 181 der der reinen Arten schwächer ist“ — sagt Gärtner —, „gibt sich vorzüglich auch darin an den Tag, dass sich bei den reinen Arten die Zeugungskraft durch die weiteren Selbstbefruchtungen erhält und kraftigt, dass aber bei den Bastarden, selbst bei den fruchtbarsten, wenn sie sich auch bis in die achte bis zehnte Gene- ration selbst fortpflanzen, die Zeugungskraft nach und nach abnimmt und das Dekrepidieren eintritt, bis sie endlich steril werden und ausgehen, wie uns vielfältige Erfahrung gelehrt hat. Zufällige Ein- mischung von stammelterlichem Pollen kann allerdings den ange- gebenen Gang der hybriden Natur abändern und ein anderes Re- sultat liefern; es ist aber gewiss eine Täuschung“ (l. c. p. 365). Auch Darwin selbst ist später zu der Einsicht gelangt, dass tatsächlich von den schädlichen Folgen der Selbstbefruchtung bei den Pflanzen noch nichts Direktes bekannt war (Variation of anımals and plants under domestication. Vol. II, Chapt. XVII, p: 127). Jedoch glaubte er, dass die Schädlichkeit der Selbstbefruchtung © bei Pflanzen und der engen Inzucht bei Tieren unzweifelhaft fest- steht und dass die Tatsache, dass die schlechten Folgen nicht so klar an den Tag treten als die Vorteile der Kreuzung, dem Um- stande zuzuschreiben sei, dass dieselben sich so langsam anhäufen, dass sie viele Jahre lang aller Aufmerksamkeit entgehen können, um erst ans Licht zu kommen, wenn die in enger Inzucht lebenden Tiere oder die sich selbst befruchtenden Pflanzen mit einem Tiere einer anderen Familie oder einer Pflanze anderer Herkunft gekreuzt werden. Er meinte, dass aus der Tatsache, dass die Kreuzung einen Vorteil bringt, schon ohne weiteres hervorgeht, dass die In- zucht und die Selbstbefruchtung schädlich sind. Demzufolge hat er bei dem größeren Teil seiner Kulturversuche aus der bloßen Tatsache, dass die gekreuzten Pflanzen schon nach der ersten Kreuzung an Höhe, konstitutioneller Kraft und Frucht- barkeit den selbstbefruchteten überlegen waren, die Schlussfolgerung gemacht, dass die Selbstbefruchtung ihnen schädlich war. Nur bei dem kleineren Teil hat Darwin seine vergleichenden Kultur- versuche mehrere Generationen hindurch fortgesetzt, und diese haben die Richtigkeit der Voraussetzung nicht bestätigt. Aus diesen Versuchen ist wohl die vorteilhaftere Wirkung der Kreuzung, aber nicht die Schädlichkeit der Selbstbefruchtung hervorgegangen. Die Versuche mit Ipomoea und Mimulus z. B. ergaben wohl, dass in der ersten Generation die gekreuzten Pflanzen den selbstbe- fruchteten überlegen waren, aber nicht, dass die selbstbefruchteten Exemplare in den folgenden Generationen stets mehr abgeschwächt, kleiner und weniger fruchtbar wurden. „So far is this from being the case“ — sagt Darwin —, „that the difference between the two sets of plants in the seventh, eight, and ninth generations 182 Burck, Darwin’s Kreuzungsgesetz und die Grundlagen der Blütenbiologie. taken together is less than in the first and second generations together“ (p. 55). „Whether the evil from self-fertilisation goes on increasing during successive generations ıs not as yet known; but we may infer from my experiments that the increase if any is far from rapid“ (General results p. 438). Die Resultate der Versuche mit Ipomoea und Mimulus erscheinen also in einem anderen Licht. Wir lernen sie kennen als Pflanzen mit herabgesetzter Fruchtbarkeit und Wachstumskraft, die sich der Kreuzung gegenüber ganz wie Gartenvarietiten verhalten. Bei näherer Betrachtung finden wır, dass der Zweifel an der Reinheit der Versuchspflanzen, erregt bei der Vergleichung der Ergebnisse mit denen, welche aus der Kreuzung und Selbstbefruchtung reiner Pflanzen hervorgehen, vollkommen bestätigt wird durch die be- sonderen Erscheinungen, die während der Kultur aufgetreten sind und welche Darwın alle mit so bewundernswerter Genauigkeit beobachtet und ausführlich beschrieben hat, dass seine Notizen uns gestatten, einen selten klaren Blick m die Natur seiner Versuchs- pflanzen zu werfen. Ich will hier an die Erscheinungen erinnern, welche bei der Kultur von /pomoea aufgetreten sind, an das Auf- treten von drei-verschiedenen, von den anderen abweichenden Typen: der eine mit einer weißen Krone, der zweite mit schön dunkel- purpurnen Blüten, der dritte (Hero) mit größerer Wachstums- kraft, größerer Fruchtbarkeit und „Unempfindlichkeit“ für Kreuzung; an die Neigung der Staubgefäße zum Abortieren bei den Nach- kommen der siebenten und achten Generationen; an das Herabfallen der Blüten vor dem Fruchtansatz bei den Pflanzen der achten Generation; an die enorme Verschiedenheit in Farbe u. s. w. alle Erscheinungen, die auf die zusammengesetzte Natur von Ipomoea hinweisen. Auch Mimulus luteus trägt den Charakter einer hybridisierten Pflanze. Die ersten, aus Handelssamen erwachsenen Exemplare varıierten so stark in der Blütenfarbe, dass kaum zwei Individuen einander gleich waren. Man fand darunter alle Nuancen von gelb mit den verschiedensten purpurnen, karmoisinen, orangen oder kupferroten Flecken. In den dritten und vierten Generationen trat eine Varietät hervor mit ganz anderen Eigenschaften: weißer Blitenfarbe mit karmoisinroten Flecken, größerer Krone, größerer Fruchtbarkeit und mehr Wachstumskraft u. s. w. Dieselbe Bemerkung ist auch bei den anderen Versuchspflanzen: Digitalis purpurea, Iberis wmbellata, Dianthus caryophyllus, Petunia violacea, Lobelia ramosa, Cyclamen persicum, Viola tricolor, Anagallis collina u. a. zu machen. Die mit diesen Pflanzen angestellten Kreuzungs- und Selbst- befruchtungsversuche in Verbindung mit den oben zitierten Ergeb- Burck, Darwin’s Kreuzungsgesetz und die Grundiagen der Bliitenbiologie. 183 nissen der Hybridologen lehren, dass sie alle durch die Bastardierung an Fruchtbarkeit, Stärke und Wuchshöhe zurückgegangen waren und dass das Zurückbleiben der Nachkommen der selbstbefruchteten Pflanzen gegen die durch Kreuzung entstandenen nicht den Folgen der Selbstbefruchtung, sondern denen der Hybridisation zugeschrieben werden muss. Wir kommen also zum Schluss, dass die Pflanzen im allge- meinen zu zwei Kategorien zu bringen sind. Zu der ersteren ge- hören solche Pflanzen, die der Gefahr ausgesetzt sind, dass fremder Pollen auf die Narbe abgesetzt wırd, was zur Keunnnteilonissrnis des Zellkernes ‘oder Bastardierung Veranlassung geben kann, molec! dessen die Pflanze ihre Artmerkmale verliert t, während ie Kraft und Fruchtbarkeit vermindern. Kreuzungen dieser Bastarde mit einem der Stammeltern oder mit einem etwas anders gearteten Nachkömmling desselben Bastards — können die verminderte Kraft und Fruchtbarkeit teilweise wieder herstellen. Solche Pflanzen geben also bei Selbstbestäubung schwächere und weniger fruchtbare Nachkommen als bei gegen- seitiger Kreuzung. Zu der anderen Kategorie gehören Pflanzen, die sich selbst befruchten, deren Feillcerne dlemvantollus von aller Verunreinigung frei hlenhen, Diese behalten von Generation zu Generation ihe spezifischen Eigenschaften, Kraft und Fruchtbarkeit. Die Selbst- befruchtung, statt der Pflanze schädlich zu sein, ist allein imstande, ihr die Erhaltung ihrer Eigenschaften zu gewähren. Il. Uber die Frage, ob die Struktur der Bliiten auf eine Versicherung der -Kreuzbefruchtung hinweist. Aus dem vorigen Abschnitt ıst also hervorgegangen, dass die Meinung, dass eine gegenseitige Kreuzbefruchtung einen Vorteil vor der Selbstbefruchtung voraus hätte, nur für bastardierte Pflanzen gültig sein kann. Es drängt sich darum selbstverständlich jetzt die Frage in den Vordergrund, wie sich dann die verschiedenen Bliteneinrichtungen, die man bis jetzt geglaubt hat nur als be- sondere, unter der Wirkung der natürlichen Zuchtwahl im Kampf ums Dasein erworbene Anpassungen zur Versicherung der Kreuz- befruchtung deuten zu können, sich erklären lassen. Bevor ich dazu übergehe, auf diese Frage näher einzugehen, möchte ich auf den erheblichen Unterschied aufmerksam machen zwischen den in der Blütenbiologie allgemein vorherrschenden Anschauungen und Darwin’s Ansichten. Ich achte dies von desto größerer Wichtig- keit, da — wenn ich mich nicht irre — die Meinung ganz allgemein verbreitet ist, dass die Blütenbiologie auf Darwin’s Ansichten, 484 -Burck, Darwin’s Kreuzungsgesetz und die Grundlagen der Blütenbiologie. Beobachtungsergebnissen und Experimenten gegründet ist. Dies ist aber nur insofern richtig, dass die Blütenbiologie auf Darwin’s ursprüngliche, am Anfang seiner vieljährigen Studien über die Notwendigkeit der gelegentlichen Kreuzung geäußerten Vermutung gegründet worden ist. Darwin aber ist auf dem ım Jahre 1859 eingenommenen Standpunkt nicht stehen geblieben und hat über die beiden wichtigen Fragen, ob kein organisches Wesen sich auf die Dauer durch Selbstbefruchtung zu erhalten vermag und ob die Struktur der Blüte auf eine Versicherung der Kreuzbefruchtung hinweist, ın den späteren Jahren andere Ansichten gewonnen. Die Blütenbiologie hat dieser Tatsache keine Rechnung ge- tragen. Ausgegangen von der ım Jahre 1859 geäußerten Vermutung hat sie sich den weiteren Ansichten Darwin’s nicht mehr ange- schlossen und ist, unabhängig von dem großen Denker, ıhren eigenen Weg gegangen, sich dabei mehr und mehr von ihm entfernend. Durch seine vielumfassenden Beobachtungen und Kulturversuche gewann Darwin einen stets tieferen Blick in die Fortpflanzungs- verhältnisse, die ihm gestatteten, die beiden Fragen stets schärfer zu formulieren. Sie lehrten ibn, dass der Selbstbefruchtung eine viel umfangreichere und wichtigere Rolle zukommt, als er sich vorher vorgestellt hatte. Die ım Jahre 1859 und auch noch im Jahre 1862 ausgesprochene Vermutung „Nature abhors perpetual Self- fertilisation* finden wir in seinen späteren Werken nicht wieder. Die vergleichenden Kulturversuche mit aus gekreuzten und selbstbefruchteten Samen erwachsenen Pflanzen führten ihn zu der Ansicht, dass wenn auch bei der ersten Kreuzung die schädlichen Folgen der Selbstbefruchtung an den Tag treten, doch nicht gesagt werden kann, dass die Pflanzen durch Selbstbefruchtung immer mehr zurückgehen. Auch zeigte er, dass viele Pflanzen spezielle Anpassungen zur Versicherung der Selbstbefruchtung besitzen und spricht er von der Möglichkeit, dass selbstbefruchtete Pflanzen, wenn sie um die Daseinsbedingungen mit gekreuzten Pflanzen zu kämpfen haben, die letzteren an Üppigkeit übertreffen können. Über die Trennung der Geschlechter als eine durch die Pflanze allmählich erworbene Anpassung zur Versicherung der Kreuzung und Verhinderung der Selbstbefruchtung ist er in den späteren Jahren zu emer anderen Ansicht gekommen, während die Frage, ob der Dichogamie die wichtige Bedeutung beizulegen ist, welche er ihr vorhin glaubte zuschreiben zu müssen, später von Darwin nicht mehr unbezweifelt angenommen wurde. Die Annahme, dass die Selbststerilität eine allmählich zur Verhinderung von Selbst- befruchtung erworbene Eigenschaft sei, wurde später von Darwin entschieden zurückgewiesen. Er betrachtete sie vielmehr als ein bei- läufiges, von den äußeren Bedingungen, denen die Pflanze ausgesetzt gewesen ist, abhängiges Resultat. Burek, Darwin’s Kreuzungsgesetz und die Grundlagen der Bliitenbiologie. 185 In der Tat glaubte Darwin am Ende seiner vieljährigen Stu- dien zwar wohl noch immer, dass eine Kreuzung zwischen ge- trennten Individuen auf verschiedene Weise befördert wird; die Meinung aber, dass die Struktur der Blüten ım allgemeinen auf eine Versicherung der Kreuzung hinweist,. hatte er jedoch, wo nicht vollständig, doch größtenteils, preisgegeben. Die Beobachtungen und Überlegungen, welche Darwin dazu geführt haben, seine ursprünglichen Ansichten zu erweitern, will ich hier kurz erwähnen und meine Bemerkungen über einige Blüten- einrichtungen, welche man bis jetzt glaubte, nur als besondere Einrichtungen zur Versicherung der Kreuzbefruchtung deuten zu können, hinzufügen. Ich möchte mich aber dabei beschränken auf die Diklinie, Herkogamie und Dichogamie. Die Ursachen, welche zu der Selbststerilität und Heterostylie geführt haben, möchte ich ganz unbesprochen lassen, indem, meiner Ansicht nach, diese beiden wichtigen Erscheinungen nicht zur Klar- heit gebracht werden können, bevor durch eingehende experi- mentelle Versuche die heterostylen und selbststerilen Pflanzen auf ihre Gametenreinheit geprüft worden sind. Hinsichtlich der Trennung der Geschlechter oder Diklinie hat Darwin bekanntlich im Jahre 1859 in der „Origin of Species“ (p. 74) eine Darstellung gegeben von der Weise, wie er meinte, dass dieselbe unter der Wirkung der natürlichen Zuchtwahl aus dem Hermaphroditismus hervorgegangen sein könnte. Ausgehend von der Meinung, dass bei kultivierten Pflanzen, welche unter neue äußere Bedingungen gestellt werden, bisweilen die männlichen oder die weiblichen Organe mehr oder weniger impotent werden, glaubte er, dass, wenn eine solche Hinneigung zur Impotenz in der freien Natur eingetreten sein möchte, als der Blütenstaub schon regelmäßig von der einen Blüte zur anderen getragen wurde, dieselbe schließlich zu einer vollständigen Trennung der Geschlechter führen konnte, indem die dadurch zustande kommende Arbeits- teilung für die Pflanze vorteilhaft war. In den späteren Jahren aber neigte Darwin sich mehr zu der Meinung hin, dass die Diöcie die ursprüngliche Eigenschaft der Pflanzen sei, aus der der Hermaphroditismus hervorgegangen sei und stellte er den großen Nutzen der Diklinie in Abrede. Obgleich er wohl annehmen musste, dass die Diklinie eine vor- teilhafte Eigenschaft sei, da sie sich sonst nicht erklären ließ, war es ihm doch keineswegs klar, worin der Vorteil der Einrichtung gelegen war; er sah darin ebensowohl eine schädliche als eine vor- teilhafte Seite. Von dem einen Gesichtspunkt aus konnte er sie vorteilhaft nennen, vom anderen aus schädlich. Der Vorteil — so bemerkt er —, dass sie der Kreuzung versichert sind, wird bei den 156 Burck, Darwin’s Kreuzungsgesetz und die Grundlagen der Blütenbiologie. Anemophilen auf Kosten eines enormen Überflusses an Pollen ge- wonnen und bei den Anemophilen und Entomophilen beiden auf Kosten der Gefahr, dass die Befruchtung bisweilen gar nicht zu- stande kommt. Außerdem produziert die eine Hälfte der Individuen keine Samen „and this might possibly be a disadvantage“. In meiner Abhandlung über die Mutation als Ursache der Kleistogamie!) habe ich darauf hingewiesen, dass alle Pflanzen, welche Blüten verschiedener Größe und Gestaltung hervorbringen (Diaphoranthen) in so vielen Hinsichten mit den Kleistogamen über- einstimmen, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach ebenso wie diese, ihr Entstehen einer Mutation zu danken haben. Die männlichen und weiblichen Formen der andro- und gynodiöcischen und der echten diöcischen Pflanzen wären dann ihrer Entstehung nach, mit den konstanten kleistogamen Varietäten der Anonaceen und Orchideen und die andro- und gynomondécischen Formen der Labiaten, Sileneen, Umbelliferen u. a: Diaphoranthen mit den kleistogamen Zwischenrassen zu vergleichen. Es waren aber besonders die Dichogamen und Herkogamen, welche Darwin zu der Ansıcht brachten, dass die Blüten ım allge- meinen zur Beförderung der Kreuzung eingerichtet seien. Und in der Tat glaubte Darwin, als er ein ausführliches Studium von der Blüteneinrichtung und dem Bestäubungsmechanismus der Orchi- deen vornahm, darin die Bestätigung seiner Ansichten zu finden. Es stellte sich heraus, dass in dieser Familie die Blüten der meisten Arten bei der Befruchtung von Insektenbesuch abhängig sind, und dass dieselben auf solche Weise eingerichtet sind, dass sie bis in die kleinsten Details des Baues der Tätigkeit nektar- suchender Insekten in der Weise angepasst sind, dass durch die- selben unfehlbar der Blütenstaub der einen Blüte auf die Narbe einer anderen übertragen werden muss. Es ist wahrscheinlich dem Umstande, dass Darwin aus dem bloßen Baue der Blumen die Deutung des Bestäubungsmechanismus erschlossen hat und keine reichblühenden Arten untersucht hat, zuzuschreiben, dass er aus diesen Untersuchungen den Schluss ge- zogen hat, dass die Insekten dabei eine Kreuzung zwischen ge- trennten Individuen bewirken. Tatsächlich lassen seine Be- obachtungen diese Schlussfolgerung nicht zu. Es leuchtet ein, dass eine solche Individuenkreuzung die einzig mögliche ist bei solchen Pflanzen, als die Pterostylis-Arten, die nur eine einzige Blüte tragen, bei anderen Orchideen aber konstatierte Darwin selbst, dass die Insekten auch die Eigenbefruchtung der Blüte oder die Befruchtung einer anderen desselben Stockes bewirken z. B. bei Coryanthes speciosa (p. 176), Listera ovata, Neottia nidus avis u. a. ‘ 1) Recueil des Travaux botaniques Neerlandais. Vol. II, 1905, p. 130. Burck, Darwin’s Kreuzungsgesetz und die Grundlagen der Bliitenbiologie. 187 \ Tatsächlich ist die Selbstbefruchtung, wie auch Darwin selbst gezeigt hat, bei den Orchideen eine sehr häufig vorkommende Er- scheinung, selbst ist diese Familie besonders reich an kleistogamen Arten. Neben dieser Selbstbestäubung ist die Befruchtung der Blüte mit dem eigenen Pollen durch die Mithilfe der Insekten oder eine Befruchtung der Blüte mit dem Blütenstaube einer anderen Blüte desselben Individuums auch von anderen Autoren nachge- wiesen worden?). In den späteren Jahren hat Darwin auch seine Schlussfolgerung, dass die Orchideen zu einer Kreuzbefruchtung eingerichtet waren, auf denjenigen Arten eingeschränkt, wo die Pollinien eine Abwärts- oder Seitwärtsdrehung erfahren, die für die Bestäubung der Narbe notwendig ist und eine gewisse Zeit erfordert (bei Orchis mascula 30 Sekunden, bei Orchis pyramidalis 18 u. s. w.). Dass dies etwas Akzidentelles ist und keine besondere nützliche Anpassung zur Verhütung der Nachbarbefruchtung, leuchtet ein und wird auch selbstverständlich von Darwin nicht als solche betrachtet. Zwei andere Naturforscher: Frederico Delpino und Friedrich Hildebrand haben sich bald, nachdem Darwin seine Orchideen- studien veröffentlicht hatte, auf die weiteren Untersuchungen der Blumeneinrichtungen und besonders auf die der Dichogamen und Herkogamen gelegt. Die beiden Forscher waren völlig davon überzeugt, dass Darwın durch seine Orchideenstudien seine Vermutung über die Notwendig- keit einer gelegentlichen Kreuzung vollkommen bestätigt gefunden hatte und suchten unter Voraussetzung der Richtigkeit des Kreuzungs- gesetzes die Blüteneinrichtungen anderer Pflanzen zu erklären. Sie fanden aber nicht, was Darwin glaubte nachgewiesen zu haben, dass die Insekten eine Kreuzung zwischen getrennten Individuen bewirkten. Ihre Beobachtungen an dichogamen Pflanzen bestätigten vielmehr diejenigen von Kölreuter und Sprengel. Sie fanden, dass bei den protandrischen Pflanzen der Pollen einer jüngeren Blüte durch die Mithilfe der Insekten auf die Narben einer älteren und bei den protogynischen, umgekehrt, der Pollen einer älteren auf die Narben einer jüngeren übergetragen wird, dass also bei allen mehr oder weniger ausgeprägt dichogamen Pflanzen eine Kreuzung zwischen zwei Blüten desselben Stockes stattfindet. Aus dieser Zeit sind weiter noch die Beobachtungen Engler’s zu erwähnen, der in seiner Abhandlung über die Bewegung der Staubblatter bei den Arten des Genus Saxifraga im Jahre 1868 eine Beschreibung gab von den protandrischen und protogynischen 2) Man vergleiche z. B. Delpino, Über die Befruchtung von Cypripedium (Bot. Ztg. 1867, p. 277). Hermann Müller, Über die Befruchtung von Cypri- pedium Caleeolus, Neottia nidus avis (Listera ovata), Epipactis microphylla, E, viridiflora u. s. w. 188 Burck, Darwin’s Kreuzungsgesetz und die Grundlagen der Blütenbiologie. Arten dieses Genus und deren Bestäubungsmechanismus. Auch Engler konnte die Richtigkeit der Sprengel’schen Beobachtungen bestätigen. Bei den herkogamen Pflanzen fanden die genannten Forscher dieselben Verhältnisse. Obgleich sie ihre Aufmerksamkeit besonders auf die Möglichkeit einer Individuenkreuzung lenkten, fanden sie eine allgemeine Nachbarbefruchtung und konstatierten weiter noch, dass bei diesen Pflanzen in „äußerst vielen Fällen“ durch die Insekten eine Eigenbestäubung bewirkt wird. Alle Beobachtungen also an dichogamen sowie an herkogamen Pflanzen, sowohl die von Kölreuter und Sprengel, als die von Delpino, Hildebrand und Engler haben nur auf eine Blüten- staubübertragung von einer Blüte zur anderen (in der Regel nächsten) Beziehung. Nirgendwo erwähnen diese Schriftsteller, dass sie beobachtet haben, dass der Blütenstaub mit Vorübergang dieser, auf die Narbe einer entfernteren Blüte eines anderen Pflanzen- stockes übergetragen wird. Vorrichtungen, die darauf hinweisen, dass nıcht die nächste Nachbarblüte, sondern eine entferntere ent- weder desselben Individuums oder eines anderen Stockes mit dem mitgeführten Blütenstaub befruchtet werden kann, findet man nur bei den Orchideen mit beweglichen Pollinien. Das Darwin’sche Gesetz, „dass kein organisches Wesen sich eine unbegrenzte Zahl von Generationen hindurch durch Selbst- befruchtung zu erhalten vermag,“ fand also in Hildebrand’s und Delpino’s Blumenuntersuchungen keine Stütze. Die genannten Forscher aber glaubten annehmen zu dürfen — und Darwin war damals noch von derselben Meinung —, dass eine Befruchtung einer Blüte mit dem Pollen einer Nachbarblüte (Nachbarbefruchtung oder Geitonogamie), vielleicht nicht so vor- teilhaft als eine Kreuzung mit einem anderen Individuum, jedoch einen gewissen Vorsprung vor Autogamıe hätte. Als nun aber Darwin einige Jahre später (1876) bei seinen Kreuzungsversuchen mit Digitalis purpurea, Ipomoea purpurea, Me- mulus luteus, Pelargonium xonale und Origanum vulgare experl- mentell nachwies, dass die Nachkommen aus einer Nachbarbefruch- tung denjenigen aus einer Selbstbefruchtung entstandenen nicht überlegen sind, stellte es sich heraus, dass man sich jahrelang in dieser Hinsicht geirrt hatte. Die Voraussetzung, dass die Struktur der Blumen und be- sonders die der Dichogamen und Herkogamen auf eine Versicherung der Kreuzung hinweist, war selbstverständlich damit hinfällig ge- worden. So war auch Darwin’s Meinung. „The whole subject (Dichogamie) requires further investigation, as the great importance of crosses between distinct individuals, in- 6S Oe Ns a ee I) ats Burck, Darwin’s Kreuzungsgesetz und die Grundlagen der Blütenbiologie. 189 stead of merely between distinct flowers has hitherto been hardly recognized.“ Die Bliitenbiologie aber hat die Richtigkeit der Schlussfolgerung nicht anerkannt. Bis dahin waren die blütenbiologischen Anschauungen mit Darwin’s Ansichten parallel gegangen. Beide hielten an den Be- obachtungstatsachen fest. Hier aber hat die Trennung statt. Auf Wahrscheinlichkeitsgründen glaubte man annehmen zu dürfen, dass die Nachbarbefruchtung einen Vorzug vor der Auto- gamie hätte, und dass die Insekten zwar vielmals eine Nachbar- befruchtung bewirkten, trotzdem aber die Kreuzung getrennter Individuen versicherten. Seitdem ist die Blütenbiologie ihren eigenen Weg gegangen und hat sie sich mehr und mehr von Darwin’s Ansichten entfernt. Ihre Anschauungen waren mit den Beobachtungstatsachen nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen. Dass Darwin am Ende seiner Studien über die Frage, ob die Struktur der Blumen auf eine Versicherung der Kreuzbefruchtung hinweist, nicht weit davon entfernt war, die Frage in Abrede zu stellen, geht aus dem Angeführten hervor. Ein anderes Mittel, wodurch eine Kreuzbefruchtung stattfindet „far more general and therefore more important“ als die Diklinie und die Dichogamie und andere im 10. Kapitel seines Werkes über die Kreuz- und Selbstbefruchtung besprochenen Mittel wurde jetzt von ıhm ın den Vordergrund gebracht, nämlich die überwiegende Wirkung des fremden Pollens über den eigenen. Er führt dazu viele Beispiele an, die tatsächlich auf die Prä- potenz des fremden Pollens hinweisen; jedoch wurde dieselbe nur bei mehr oder weniger stark bastardierten Pflanzen nachgewiesen, nämlich bei Pflanzen, von denen wir aus seinen Kulturversuchen wissen, dass sie mit dem Pollen eines anderen Individuums oder einer anderen Varietät sich leichter und vollständiger als mit dem eigenen Pollen befruchten lassen. Bei reinen Arten ist der eigene Pollen immer präpotent über den Pollen einer anderen Art?). Zum besseren Verständnis der Erscheinung der Dichogamie ist es von Wichtigkeit, hier zu bemerken, dass zwar viele dicho- game Pflanzen bei der Befruchtung von der Mithilfe der Insekten abhängig sind, dass man sich aber hüten muss, sich von dieser Abhängigkeit eine übertriebene Vorstellung zu machen. Bei weitem die meisten Dichogamen können Insektenbesuch völlig entbehren, da sie zur Selbstbefruchtung imstande sind. Die meisten Pflanzen, welche ihre Antheren öffnen bevor die Narben konzeptionsfähig 3) Gärtner, |. c., p. 64. 490 Burck, Darwin’s Kreuzungsgesetz und die Grundlagen der Blütenbiologie. sind, haben ihren Blütenstaub noch nicht ganz verloren, wenn die Narben zur Reife gekommen sind; man denke nur an die Arten von Campanula und besonders an die Compositen, wo die Selbst- bestäubung dadurch zustande kommt, dass die Griffelschenkel sich soweit zurückkrümmen, dass ihre Narben mit den auf der Außenfläche des Griffels befindlichen Pollenkörnern in Berührung kommen. Die Gefahr, nicht befruchtet zu werden, liegt bei allen diesen Pflanzen nicht an der Blüteneinrichtung, sondern daran, dass die Insekten, indem sie in den Blüten dem Nektar nachgehen, zu- gleich den Pollen abstreifen. Stellt man die protandrischen Pflanzen unter ein Netz, so dass sie vor Insektenbesuch geschützt sind, so lehrt die Erfahrung, dass sehr viele imstande sind, sich selbst zu befruchten und dass tat- sächlich nur bei viel weniger Pflanzen als man glaubt, die Dicho- gamie eine wesentliche Verhinderung der Selbstbestäubung ist. Dasselbe gilt für die protogynischen Pflanzen. Die meisten, wo nicht alle Pflanzen, deren Narben zuerst zur Entwickelung kommen, besitzen die Fähigkeit, sie lange genug frisch zu erhalten, um die Selbstbefruchtung zu ermöglichen. Auf diese Tatsache hat auch Engler in seiner Abhandlung über die Araceen hingewiesen. Alle insektenbliitigen protogynischen Pflanzen unserer Flora aus den Genera: Potentilla, Rosa, Rubus, Mespilus, Spiraea, Fragaria, Geum, Sorbus, Pirus, Crataegus, Amygdalus, Prunus, Veronica, Scro- phularia, Paris, Majanthemum, Ornithogalum u. a. sind von In- sektenmithilfe bei der Befruchtung ganz unabhängig. Es leuchtet ein, dass unter diesen Verhältnissen die Dicho- gamie keine nützliche Sexualeinrichtung genannt werden kann. Die ungleichzeitige Geschlechtsreife der männlichen und der weib- lichen Sexualorgane ist für die meisten dieser Pflanzen etwas ganz Gleichgültiges, für die ausgeprägt protandrischen Pflanzen und viel- leicht (?) auch für einige wenige ausgeprägt protogynische ist sie ent- schieden eine schädliche Eigenschaft zu nennen, indem sie die Pflanzen bei der Befruchtung ganz von Insektenbesuch abhängig macht. Die Herkogamie aber ıst entschieden eine viel schädlichere Einrichtung, insofern viel weniger herkogame als dichogame zur Selbstbefruchtung imstande sind und also die Abhängigkeit von Insekten bei diesen eine viel allgemeinere ist. Der Insektenbesuch selbst hängt wieder mit der Absonderung einer genügenden Quantität Nektar aus den zuckerführenden Ge- weben nach außen zusammen, und diese Absonderung ist wiederum von den Bedingungen, worunter die Pflanze lebt, abhängig. Dass die Herkogamen aus unabhängig von allem Insekten- besuch sich selbstbefruchtenden Pflanzen hervorgegangen sein müssen, ist, meiner Ansicht nach, ganz klar; wir haben uns vorzustellen, Burck, Darwin’s Kreuzungsgesetz und die Grundlagen der Blütenbiologie. 191 dass die gegenseitige Lage der Sexualorgane in der Blüte durch eine Variation in der Weise abänderte, dass der Pollen nicht mehr auf die Narbe ausgestreut wird. Die schädliche Seite der Herkogamie der Orchideen wurde von Darwin nicht bezweifelt. Er weist auf die enormen Lücken in dem phylogenetischen Zusammenhang der Gattungen, zumal zwischen Cypripediwn und anderen Genera hin und bemerkt, dass „an enormous amount of extinction must have swept away a multitude of intermediate forms“ (p. 226). Er erwähnt auch, dass nach Fritz Müller in den Urwäldern Brasiliens von den meisten Arten der Epidendreae und von denen, welche der Gattung Vanilla angehören, die Blüten nicht befruchtet werden und dass auch sehr viele andere Orchideen in Australien, Südafrika und Europa ebenfalls keine Samen produzieren oder nur sehr spärliche, und glaubt, dass viele Hunderte von Arten in der ganzen Welt dadurch ausgestorben seien. „lt manifestly de- pends on the flowers being constructed with such elabo- rate care for crossfertilisation, that they cannot yield seeds without the aid of insects.“ Er kommt also zum Schluss, dass die große Abhängigkeit vom Insektenbesuch die Orchideen hat aussterben lassen und dass die Anpassung die direkte Ursache der Abhängigkeit war. Darwin glaubte, dass auch in solchen Fallen, in denen eine Pflanze wie Dendrobium speciosum, die auf je tausend Blüten nur eine einzelne Frucht ansetzt, oder eine Vanilla, die sich mit sehr zahlreichen Blüten über die Waldbäume ausbreitet, nicht mehr als zwei Kapseln hervorbringt, diesem Nachteil gegenüber doch der sroße Vorteil steht, dass die wenigen produzierten Samen durch Kreuzbefruchtung entstanden sind, „and this as we now posi- tively know is an immense advantage to most plants“ Wir aber sehen den Vorteil der Kreuzung nicht mehr; für uns bleibt nur die Schädlichkeit der Einrichtung. Für andere Pflanzen war selbstverständlich die Schädlichkeit des Überganges von der Autogamie zur Herkogamie nicht so groß wie für die Orchi- deen, indem sie in den meisten Fällen von Insektenbesuch ver- sichert sind. Dass dieselbe für die Orchideen so äußerst schädlich war, ist dem Umstande zuzuschreiben, dass viele Arten aus den zuckerführenden Geweben der Blüte keinen Nektar nach außen absondern Das Aussterben so vieler Arten kann die Mutationstheorie also erklären; sie macht es auch verständlich, dass viele andere Arten sich nur dadurch haben behaupten können, dass sie durch reichliche Nektarabsonderung von Insektenbesuch versichert waren oder sich, unabhängig von der geschlechtlichen Fortpflanzung, durch Ausläufer, Rhizome und Knollen erhalten können. 492 DBurck, Darwin’s Kreuzungsgesetz und die Grundlagen der Blütenbiologie. Macht man sich von der vorausgesetzten Meinung los, dass die Dichogamie eine als nützliche Anpassung zur Versicherung der Kreuzbefruchtung erworbene Eigenschaft sei und überlegt man, auf welche Weise sie sich erklären lässt, z. B. bei einer so formen- reichen protandrischen Familie als die der Umbelliferen, dann lehrt uns die vergleichende Untersuchung einer größtmöglichen Anzahl Arten, dass wir ın dieser Familie einige Arten antreffen, bei denen die Protandrie in der Weise ausgeprägt ıst, dass die Narben erst zum Vorschein kommen und zur Konzeptionsfähigkeit gelangen, wenn die Staubbeutel schon entleert und die Staubgefäße abgefallen sind, und dass diese durch alle Zwischenstufen mit solchen Formen verbunden sind, welche von homogamen sich nicht mehr unter- scheiden lassen und regelmäßig sich selbst bestäuben. Man lernt dann bald die Protandrie als eine sehr normale Erscheinung kennen, als die Folge der zentripetalen Anlegung der Blütenwirtel in der Folge: Kelch, Krone, Staubgefäße, Frucht- knoten und mit der Tatsache zu vergleichen, dass der Kelch sich früher entfaltet als die Krone und die Krone früher als die Staubgefäße. Die Homogamie erkennt man dann als eine Pro- tandrie mit schnell aufeinander folgender Entwickelung der Ge- schlechtsorgane. Ganz gewiss bedürfen die meisten Fälle von Protandrie in der Familie der Umbelliferen keine weitere Erklärung. Nur kann Zweifel bestehen über die Frage, ob bei denjenigen Arten, wo die Staub- gefäße schon ausgeblüht haben, bevor die Griffel sich aufgerichtet und die Narben zur Entwickelung gekommen sind, die Protandrie vielleicht nicht als eine mehr oder weniger von der allgemeinen Regel abweichende Erscheinung aufzufassen ist. Wir erhalten auf diese letztere Frage die Antwort aus der Entwickelungsgeschichte der Umbelliferenblüte, die schon 1870 von Sieler*) klar gelegt wurde, dessen Untersuchungen später von Schumann’) bestätigt worden sind. Sıeler fand, dass bei einer Anzahl Umbelliferen in der An- legung der Blütenwirtel diese Abweichung beobachtet wird, dass die Staubgefäße noch vor den Blumenblättern und viel früher als die Kelchblätter erscheinen, welche letzteren auch bisweilen ganz zurückbleiben. Die beiden Fruchtblätter entstehen erst zuletzt. Diese Abweichung in der Anlegung erklärt vollkommen die ausgeprägte Protandrie, welche bei diesen Arten angetroffen wird. Zwischen der Anlegung der Staubgefäße und Fruchtblättern ver- | läuft also eine ziemlich lange Zeit; dies zeigt sich nach der Ent- | faltung der Blüte in der Blütezeit der Staubgefäße und des Frucht- ' knotens. 4) Sieler, Bot. Ztg. 1870, Nr. 23, 24. 5) Schumann, Neue Untersuchungen über den Blütenanschluss, 1890, p. 370. | i i fo 4 Burck, Darwin’s Kreuzungsgesetz und die Grundlagen der Bliitenbiologie. 193 Wenn wir auf obengenanntem Grunde annehmen dürfen, dass die Protandrie als eine normale Erscheinung aufzufassen sei und dass jede regelmäßig gebaute Blüte, der Anlage nach, eine pro- tandrische sei, und wir sehen, dass eine Abweichung von den nor- malen Verhältnissen bei einigen Umbelliferen sich auf eine Ab- weichung in der Entwickelung zurückführen lässt, so drängt sich die Frage auf, ob auch nicht die Protogynie in einer Abweichung von der normalen Folge der Anlage der Bliitenwirtel auf dem Blütenboden ihre Erklärung finden muss. Dass dies wirklich der Fall ist, zeigt sich am besten bei den zahlreichen protogynischen Arten in der Familie der Rosaceen. Es ist eine bekannte Tatsache, dass die Apfel- und Birnblüten lange frisch bleiben und dass die Staubbeutel erst aufspringen, wenn die Narben schon 2—3 Tage empfärgnisfähig sind. Sie können also ausgeprägte protogynische Blüten genannt werden. Aus Hofmeister’s ausführlichen Betrachtungen über die Ent- wickelungsgeschichte der Rosaceenbliite®) geht nun hervor, dass bei allen Rosaceen mit zahlreichen Staubgefäßen die Fruchtblätter früher angelegt werden als die Staubgefäße und schon auftreten zur Zeit, wo die Staubgefäße noch nicht über die Fläche der Blüten- achse hervorgetreten sind. Die untersten Wirtel von Karpellen treten lange vor den innersten Staubblattwirteln auf. Die ersten Staubblätter treten über die Fläche des Blütenbodens hervor, un- gefähr mit dem Beginn der auf Dickenwachstum beruhenden Um- gestaltung eines Gürtels der Achse zur Becherform; die anderen — die große Menge der Staubgefäße — treten dann erst später auf der Wand des Bechers hervor. Die Protogynie der Apfel- und Birnblüte, von Pirus aucuparia, Pirus domestica, Geum urbanum, Geum rivale und so vielen anderen Rosifloren findet also ihre Erklärung in der Entwickelungsgeschichte der Blüte. Bei den Papilionaceae eilt die Bildung des einzigen Karpells derjenigen eines Teils der Kelch- und Kronenblätter, sowie sämt- lieher Staubblätter voraus. Das Karpell — so sagt Hofmeister, p- 466 — erhebt sich aus (oder genauer neben) dem Scheitel der Blütenachse schon nach Anlegung der drei vorderen Kelchblätter, noch vor derjenigen der beiden vorderen Petala, und erreicht eine, alle anderen Blattgebilde der Blüte weit überragende Länge, lange bevor sämtliche Stamina angelegt sind. Die Protogynie dieser Papilionaceae lässt sich also erklären. Geranium molle wird in den blütenbiologischen Werken eine protandrische Pflanze genannt. Ganz richtig aber ıst dies keines- 6) Hofmeister, Allgemeine Morphologie, p. 466, 475. Man vergleiche auch Goebel, Vergleichende Entwickelungsgeschichte der Pflanzenorgane 1883, p. 304 und 309. XXVIII. : 13 194 Burck, Darwin’s Kreuzungsgesetz und die Grundlagen der Blütenbiologie. wegs. Ihr Bestäubungsmechanismus ist aber besonders interessant und zeigt mancherlei Abweichung. Wenn die Blüte sich öffnet, liegen die fünf Narbenäste noch aneinander, die papillöse Seite also noch verdeckt; die Antheren sind geschlossen und nach außen gebogen. Nun beginnen die inneren, episepalen Staubgefäße, eines nach dem anderen, sich einwärts zu biegen, ihre Antheren legen sich auf die Spitzen der Narbenäste und springen auf. Noch ehe alle fünf sich geöffnet haben, beginnen die Narbenäste sich auseinander zu breiten, so dass die fünf bis dahin auf ihren Spitzen liegenden Staubgefäße nun in den Winkeln zwischen den Narbenästen zu liegen kommen. Indem jetzt die letzten Antheren des inneren Wirtels aufspringen, werden die Narben mit dem eigenen Pollen bestäubt. War also die Blüte anfangs protandrisch, jetzt ist sie homogam. Während die Narben- äste sich nun mehr und mehr auseinander breiten, biegen sich auch die noch geschlossenen äußeren Staubgefäße in die Mitte und öffnen ihre Antheren. In bezug auf diese letzteren Staubgefäße ist also die Blüte protogynisch. Während des Blühens durchläuft also die Blüte die verschiedensten Stadien. h Sie fängt an, protandrisch zu sein, wird dann homogam und ist schließlich protogynisch. Alle diese Abweichungen lassen sich durch die Entwickelungs- geschichte erklären. Hofmeister zeigte, dass bei den Geraniaceen, Oxalideen, Zygo- phylleen nach der Anlegung des inneren mit den Kronenblättern alternierenden fünfgliedrigen Staubblattwirtels, ein fünfgliedriger Blattkreis zwischen diesen und die Kronenblätter eingeschaltet wird, deren Glieder sich bei Geranium zu den epipetalen Staubblättern ausbilden. Es werden also erst die Kelchblätter, Kronenblätter, episepalen Staubgefäße und Fruchtblätter angelegt und dann die epipetalen Staubgefäße zwischen den Kronenblättern und episepalen Staubgefäßen 7). Dass also die inneren Staubgefäße zuerst aufblühen und die Narben vor dem Aufspringen der äußeren Antheren zur Reife kommen, lässt sich aus der Entwickelungsgeschichte erklären. Von noch einer Anzahl anderer Besonderheiten, die beim Blühen als Abweichungen erscheinen, kann man die Erklärung in der Entwickelungsgeschichte finden, so z. B. von der eigentiimlichen Folge im Öffnen der Antheren bei Begonia, bei Tropaeolum, bei den Malvaceen u. s. w. Die zitierten Beispiele weisen darauf hin, dass man zur Er- klärung der Abweichungen in der gewöhnlichen Folge des Auf- blühens der Blütenwirtel, besonders auf die Entwickelungsgeschichte 7) Man vergleiche Eichler, Blütendiagramme, I, p. 335. Goebel, l.c., p. 295. Burck, Darwin’s Kreuzungsgesetz und die Grundlagen der Bltitenbiologie. 195 der Blüte zu achten hat. Soweit aus den genannten Beispielen hervorgeht, kénnte man sagen, dass eine Bliite protandrisch ist, wenn ihre Staubgefäße früher angelegt worden sind als die Frucht- blätter, und protogynisch, wenn das Umgekehrte der Fall ıst. - Nähere Untersuchungen werden uns lehren müssen, ob dies als eine allgemein gültige Regel angenommen werden darf. Wir finden aber darın eine Bestätigung von dem, was schon oben bemerkt worden ist, dass die Dichogamie nicht als Anpassung zum Zweck der Kreuzbefruchtung entstanden sein kann. Die Pro- tandrie ist ohne Zweifel ein Merkmal, das zu der Organisation der Blüte gehört, eine Eigenschaft, welche mit Anpassungen an be- stimmte, äußere Bedingungen, unter denen die Pflanze lebt, direkt nichts zu tun hat, und die Protogynie ist meiner Ansicht nach, ebensowenig als die Protandrie als ein Anpassungsmerkmal aufzu- fassen. Sie lässt sich mit dem unterständigen Fruchtknoten der Umbelliferen, der spiraligen Anordnung der Staubgefäße und Frucht- blätter der Ranunculaceen u. s. w. vergleichen, alles Organisations- merkmale, welche bei Veränderung der Lebensbedingungen keine Abänderung erfahren und erblich festgehalten werden. Zusammenfassung. Im Vorangehenden habe ich versucht, klarzulegen, dass nur bei bastardierten Pflanzen die Nachkommen aus einer gegenseitigen Kreuzung den Nachkommen aus Selbstbefruchtung überlegen sınd, indem die Bastarde, deren konstitutionelle Kraft und Fruchtbarkeit durch die Bastardierung herabgesetzt worden sind, ihre ursprüng- lichen Eigenschaften durch eine Kreuzung mit einem etwas anders gearteten Nachkömmling derselben Kreuzung oder mit einem der Stammeltern teilweise zurückbekommen können. Reine Pflanzen sowie die Kleistogamen und diejenigen, welche regelmäßig sich selbst befruchten vor der Entfaltung der Blüte, mehen aus einer Kreuzung keinen Vorteil und bedürfen die Kreu- zung nicht für die Forterhaltung ıhrer Eigenschaften. Wenn man bis jetzt geglaubt hat, dass die Diklinie, Dicho- gamie und Herkogamie nur als nützliche Anpassungen an die be- suchenden Insekten zur Versicherung der Kreuzbefruchtung gedeutet werden könnten, habe ich versucht, darzutun, dass diese Voraus- setzung mit den Beobachtungstatsachen in Widerspruch steht, dass die Diklinie und die Herkogamie aller Wahrscheinlichkeit nach durch Sprungvariation hervorgerufen sind und dass Protandrie und Dicho- gamie nicht als Anpassungs-, sondern als Organisationsmerkmale aufzufassen sind. Für die weitere Auseinandersetzung des Themas möchte ich auf meine oben zitierte Abhandlung im Recueil des travaux botaniques Néerlandais hinweisen. Leyden, Oktober 1907. | 496 Schimkewitsch, Über die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. Über die Beziehungen zwischen den Bilateralia und den Radiata. (Vorläufige Mitteilung.) Von W. Schimkewitsch. (Schluss. ) Ich vermute jedoch, dass das Chordagewebe ein viel älteres Erbteil darstellt, als allgemein angenommen wird. Die Ähnlichkeit des Chordagewebes bei den Pterobranchia mit dem Gewebe der Kiemenrinnen hat ja vielleicht keine genetische Bedeutung und ist rein äußerlich, dafür ist aber die Ähnlichkeit zwischen dem Chorda- gewebe und dem entodermalen Stützgewebe der Radiata in der Tat auffallend groß. Dem Charakter ihrer Zellen nach bietet die Chorda der Enteropneusta und Pterobranchia, wie auch die Chorda der typischen Chordata eine zweifellose Ähnlichkeit mit den entodermalen Stützzellen der Hydroxoa, worauf Tiehomiroff im Jahre 188757) hingewiesen hat; doch wird man sich wohl kaum mit der etwas verfrühten Verallgemeinerung dieses Autors einverstanden erklären können, wonach alle skeletogenen Bildungen möglicherweise „auf Kosten des Entoderms (resp. des entodermalen Mesoderms)“ ent- stehen. Ein ähnliches Gewebe findet sich auch bei den Scyphoxoa, und zwar werden selbst bei nahestehenden Formen hohle und massive Tentakel nebeneinander angetroffen. So besitzt ın der Gruppe Tesseridae ein Vertreter (Depastrella) hohle Tentakel, ein anderer Vertreter (Tessera) dagegen massıve Tentakel. Jedenfalls erscheint es sehr wahrscheinlich, dass eine Anhäufung von entodermalem Stützgewebe bei den radi- ären Vorfahren der Triarticulata an der Basis desjenigen Tentakelkranzes vorhanden war, welcher sich bei der Tornaria von den Bahama-Inseln erhalten hat; bei der Bildung des präoralen Darmes resp. der Chorda gab dieses Gewebe, infolge der obenerwähnten Prozesse, denn auch das Material zur Bildung der Chorda ab. Das Stiitzgewebe der Hydroiden entwickelt sich auch im Be- reich des aboralen Tentakelkranzes, wie seine Entwickelung über- haupt überall möglich ist, wo sich Entoderm findet, und aus diesem Grunde bildete die Entstehung von Chordagewebe in der Wandung des Darms, bei der Wucherung der Chordaanlage nach hinten zu, einen Prozess atavistischen Charakters. Auf jeden Fall stellt das Chordagewebe ein Erbteil dar, welches von radiären, mit entodermalem Stützgewebe versehenen Vorfahren herstammt, während die Chorda, als morphologisches Ganzes, von 57) Tichomiroff, A. Zur Entwickelungsgeschichte der Hydroiden. (Russisch.) Bull. Soc. Imp. Natur. Moscou. t. L, livr. 2, 1887, p. 65. Schimkewitsch, Über die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. 197 dreigliedrigen Vorfahren mit präoralem Darm ererbt wurde. Dieser Gesichtspunkt macht uns zwei Tatsachen in der Entwickelungs- geschichte der Chorda erklärlich. 1. Die Chorda tritt vor dem Zentralnervensystem auf. Diese Tatsache galt als ein typisches Merkmal von Heterochronie: es war schwer anzunehmen, dass die Vorfahren der Chordaten zuerst eine Chorda und darauf erst das Zentralnervensystem erworben hatten. Von meinem Gesichtspunkte aus betrachtet ist dies in der Tat der Fall gewesen. Das entodermale Stützgewebe ist von den Vorfahren der Chordaten schon zu einer Zeit erworben worden, wo ihr Nervensystem sich noch nicht konzentriert hatte. 2. Die Anlage der Chorda wächst bei den Amniota, im Gegen- satz zu der Anlage des Nervensystems, in Gestalt eines Vorsprungs, welcher eine schmale Höhle enthält und nach der ovalen Seite ge- richtet ist, während sie bei den Anamnia ebenfalls von hinten nach vorn in Gestalt einer Rinne entspringt und nach ihrer Abtrennung anfänglich einen Kanal enthält. Diese beiden Erscheinungen sind. durchaus verständlich, wenn man die Chorda als den Überrest eines hohlen präoralen Darmfortsatzes auffasst. Ferner erklärt diese Hypothese durchaus den entodermalen Ursprung der Chorda und deren Entwickelung ausschließlich ım Gebiet des Rüssels bei den Einteropneusta und Pterobranchia, diesen am niedrigsten organisierten Chordaten. Bevor ich auf diesen Gesichtspunkt verfallen war, hielt ich die Bedeutung des Riissel- fortsatzes des Darms der Enteropneusta als eines Homologon der Chorda für noch unbewiesen, allein gegenwärtig sind diese Zweifel für mich beseitigt. Leider hat sich die Annahme Masterman’s bezüglich des Vorhandenseins einer paarigen Chorda bei einigen Triarticulata nicht bestätigt und die Organe, welche er für eine paarige Chorda hielt, müssen augenscheinlich vielmehr noch nicht nach außen durchgebrochenen Kiemenspalten gleichgestellt werden (s. unten). Indem ich über die Abstammung der Chordaten spreche, will ich hier in möglichster Kürze nur folgende Fragen berühren. 1. Die Differenzierung des Nervensystems und der damit vor- bundenen Sinnesorgane. 2. Die Differenzierung des Darmes und seines respiratorischen Abschnittes. 3. Die Differenzierung der Metanephridien. Wir haben bereits oben auf die Tendenz des Kopfganglions der Triartieulata zur Invagination hingewiesen, welche bei den Enteropneusta am deutlichsten ausgesprochen ist. Es ist durchaus natürlich, anzunehmen, dass das Nervenrohr der Chordaten den invaginierten dorsalen Stamm der Tetraneurula repräsentiert. 498 Schimkewitsch, Uber die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. Die Frage wird jedoch dadurch verwickelter, dass wir nicht wissen, was aus den lateralen Stämmen der Tetraneurula ge- worden ist. Sie konnten durch die Ganglienleiste vertreten sein oder ın den Bestand des Nervenrohres aufgehen oder den ramus lateralis nervi vagi abgeben, wie dies von Hubrecht (1883) angenommen wurde. Endlich konnten sie auch spurlos verschwinden, was mir noch als das Wahrscheinlichste erscheint, um so mehr als diese Stämme bereits bei den Triarticulata nicht mehr vorhanden sind. Der ramus lateralis stellt augenscheinlich den n. collector einer ganzen Reihe sensibler Äste von Rückenmarksnerven dar; im Be- stand des Nervenrohres lässt sich jene Triplizität nicht erkennen, welche wir ın dem ventralen Stamm der Würmer erblicken; was jedoch die Ganglienleiste betrifft, hat dieselbe meiner Ansicht nach eine ganz besondere Bedeutung. Man wird annehmen können, dass die Ganglienleiste infolge von Wucherung desjenigen Teiles der Nervenanlage gebildet wird, welcher die oberen Ränder der Nervenrinne mit dem Ektoderm verbindet. Bei den Enteropneusta bleibt dieser verbindende Abschnitt in Gestalt einiger Brücken bestehen, welche das Nervenrohr des Kragens mit dem Ektoderm verbinden und in ihrem Innern deutliche Kanäle enthalten. Dieser verbindende Teil der Nervenanlage zerfällt demnach bei den Enteropneusta in einzelne, auf der Mittellinie liegende Brücken, bei den Vertebrata dagegen wird er metamerisiert und zerfällt in zwei Reihen seitlich von dem Nervenrohr liegender Ganglien. Gegenwärtig wird man wohl kaum daran zweifeln können, dass die Vorfahren der Wirbeltiere mehrere Paare von Augen besessen haben, von denen das vordere auf die ventrale Fläche des Nerven- rohrs nach unten verlagerte Paar seine ursprüngliche Paarigkeit beibehalten hat, während die hinteren Paare sich in eine Reihe von unpaaren Gehirnanhängen verwandelt haben. Beweise für die ursprüngliche Paarigkeit dieser Anhänge haben sich in großer Menge angehäuft. Vor allem spricht hierfür die Paarigkeit der zu den unpaaren: Augen herantretenden Nerven und zwar bei dem Neunauge (K linko w- ström, 1893) zu dem vorderen unpaaren Auge, bei /guana (Klin- kowström) und bei Cyclothone (aus den Knochenfischen) dagegen zu dem hinteren Auge (Gierse, 1904). Ferner zeugt hierfür die Paarigkeit der Epiphysenanlage bei den Amphibien (Cameron, 1904) und bisweilen auch bei dem Hühnchen, und zwar unter 600 Hühnerembryonen bei zweien (Hill, 1905). Ebenso ist schon oben, darauf hingewiesen worden, Schimkewitsch, Uber die Beziehungen zwischen den Pilateralia und Radiata. 199 dass das unpaare Auge des Ascidienembryos nach Froriep sich als das Auge der rechten Seite erwiesen hat. Es unterliegt ferner keinem Zweifel, dass das vordere Augen- paar eine Verlagerung erlitten hat, und zwar in Abhängigkeit von dem Umbiegen des vorderen Endes des Nervenrohrs nach der Ventralseite infolge verstärkter Wucherung seiner Dorsalwandung. Allein bei den Knochenfischen, wo in Abhängigkeit von der kompakten Anlage des Nervensystems auch die Augenblasen in Gestalt kom- pakter Auswüchse entstehen, liegen diese letzteren bedeutend näher zur Dorsalseite. Ursprünglich war jedoch die Lage des vorderen Paares von Augenblasen die gleiche wie bei den Blasen der unpaaren Augen, d. h. auf der Dorsalseite der Nervenanlage. Den Prozess des Um- biegens des vorderen Endes des Nervenrohrs wird man auch dann in Betracht ziehen müssen, wenn man die Beziehung der von dem Vorderende des Gehirns ausgehenden Nerven feststellen will. So liegt der von verschiedenen Autoren (Pincus, 1895; Se- wertzow, 1902; Locy, 1898 und 1905; Allis, 1898) beschriebene, vor dem nervus opticus gelegene und von Sewertzow nervus praeopticus, von Locy dagegen — nervus terminalis benannte Nerv (13. Paar) in Wirklichkeit vor dem Riechnerv und innerviert dazu noch das Epithel des vorderen Teils der Riechsäcke; aus diesem Grunde könnte dieser Nerv, welcher wahrscheinlich einen dorsalen Ast der allervordersten Metamere darstellt, als nervus praeolfactorius bezeichnet werden. Ebenso wird man im Auge behalten müssen, dass sowohl die dorsalen als auch die ventralen Äste der Kopf- nerven auf die Ventralseite verlagert sind, und zwar infolge einer starken Entwickelung der Nervensubstanz auf der dorsalen Ober- fläche des Gehirns, während die auf dessen Dorsalseite verbliebenen unpaaren Anhänge gerade an demjenigen Teil des Gehirnes sitzen, wo die erwähnte Entwickelung am schwächsten ausgesprochen ist. Umgekehrt gehören die an derjenigen Stelle, wo diese Entwickelung am stärksten ausgesprochen ist, befindlichen Nerven zu den am stärksten verlagerten. Diese Verlagerung ist bei den Augennerven so weit gegangen, dass dieselben sich an der unteren Fläche des Gehirns kreuzten, wobei die Wurzel des linken Auges auf die rechte Seite und diejenige des rechten Auges auf die linke Seite herübertrat. Mit anderen Worten, die erwähnte Verlagerung bildete die Ursache für die Bildung des Chiasmas der Sehnerven. Die unpaaren Augen der Wirbeltiere sind nach dem blasen- förmigen Typus gebaut, wobei die Linse durch die Blasenwand selbst gebildet wird, während die Seitenaugen nach dem becher- förmigen Typus gebaut sind, und die vordere Plakode der Epi- branchialreihe ihnen als Linse dient. Bei der Regeneration der Linse der Amphibien auf Kosten des oberen Randes der Regenbogenhaut finden wir aber meiner 900 Schimkewitsch, Über die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. Auffassung nach’®) Hinweise darauf, dass auch das becherförmige Auge einstmals eine ebensolche Linse besessen hat, wie die un- paaren Augen und auch noch nicht die Fähigkeit verloren hat, die- selbe bei atavistischer Regeneration wieder hervorzubringen. Bei der Verlagerung des blasenförmigen Auges musste dessen untere Wandung unvermeidlich auf einen Widerstand von seiten der um- gebenden Gewebe stoßen und dieser Widerstand gab wahrschein- lich den ersten Anstoß zu einer Einstülpung der unteren Wand in die obere, d.h. zum Übergang des blasenförmigen Auges in das becherförmige. Bei diesem Übergange musste die ursprüngliche, durch eine Verdickung der Blasenwand gebildete Linse, sich als an dem oberen Rande des Bechers sitzend erweisen, d. h. am Rande der Regenbogenhaut. Die Richtigkeit aller dieser Erwägungen wird noch durch den Umstand bekräftigt, dass die Tritonlarve, selbst wenn man sie ın der Rückenlage (mit dem Bauche nach oben) fixiert, dennoch die Linse an dem oberen Rande der Regenbogenhaut regeneriert (Reinke, 1903). Es weist dies darauf hin, dass die Wirkung der Schwerkraft in dem gegebenen Falle 1m Gegensatze zu den Voraus- setzungen einiger Autoren, gar keinen Einfluss ausübt, und dass das Auftreten einer neuen Linse am oberen Rande der Regenbogen- haut durch innere, tiefer liegende Ursachen bedingt wird: eine solche Ursache bildet denn auch der Atavismus. Man wird nun folgendes ın Betracht ziehen müssen: erstens, dass der Bau der Retina bei den paarigen und bis zu einem ge- wissen Grade auch bei den unpaaren Augen einigermaßen an den Bau der Ganglien erinnert; zweitens, dass die Fasern der Sehnerven bei den paarigen, wie bei den unpaaren Augen, gleich den sensiblen Wurzeln der Cerebrospinalnerven in zentripetaler Richtung wachsen; drittens, dass die Entwickelung selbst der Ganglienplatte eine Diffe- renzierung des (osetia ozesses des verbindenden Abschnittes der Nervenanlage darstellt, und dass in gewissen Fällen (Hoff- mann, 1894 und 1899) die Entwickelung der Ganglien der Kopf- nerven von einer wirklichen Ausstülpung begleitet ıst, welche an die Bildung der Augenanlagen erinnert; viertens, dass die Anlagen der paarigen Augen, gleich den Anlagen der Ganglien, späterhin mit der Plakode der Epibranchialreihe ın Berührung treten. Ziehen wir alle diese Umstände in Betracht, so drängt sich uns unwillkürlich em Vergleich -zwischen den reemanksen und | den Ganglienanlagen auf. Es liegt auf der Hand, dass der verbindende Teil der Nerven- anlage bei dem Ahnen der Wirbeltiere eine Reihe von metameren Biss) Schimkewitsch, W. Uber den atavistischen Charakter der Linsen- regeneration bei Amphibien. Anat. Anz., 21. Bd., 1902. Vgl. Jelgersma. Morph. Jahrb., 35. Bd., 1906. PET. Schimkewitsch, Über die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. 201 paarigen Auswüchsen gebildet hat, wobei in die vorderen Paare von diesen Auswüchsen nach der Hypothese von Boveri’) auch die lichtempfindlichen Zellen, gleich denen von Amphioxus, mit hineingezogen wurden. Ein Teil der Theorie von Boveri lässt sich nicht mit dem von mir hier entwickelten Gesichtspunkte in Übereinstimmung bringen, und zwar die Anerkennung der Lage der Augenblasen an der Ventralfläche der Gehirnanlage als des primären Zustandes. Boveri stützt sich auf den Umstand, dass die augenähnlichen Organe von Amphioxus hauptsächlich auf der Ventralseite konzen- triert sind. Allein nach den neueren Untersuchungen von Joseph (1904) °°) kommt den im vorderen Abschnitte auf der dorsalen Seite des Nervenrohrs von Amphioxus liegenden großen Zellen, welche ihrer Lage nach mit der Ganglienplatte der Wirbeltiere verglichen werden, ebenfalls ein lichtempfindlicher Charakter zu. Machen wir uns diesen Gesichtspunkt zu eigen, so werden wir auf eine Ver- gleichung der von Dogiel (1902) an den Wurzeln der peripheren. Nerven von Amphioxus beschriebenen großen Zellen mit den Cerebrospinalganglien verzichten müssen; dies um so mehr, als diese Zellen sowohl an den dorsalen wie auch an den ventralen Ästen sitzen und mit mehr Wahrscheinlichkeit für Elemente des sympathischen Systems angesehen werden können. Die Hypothese von Boveri gibt uns keine Erklärung für die Herkunft der un- paaren Augenblasen auf der dorsalen Oberfläche des Nervenrohrs‘!). Es haben demnach nur die vorderen Paare dieser Or- gane die Bedeutung von Sehorganen gehabt, welche sie denn auch bis zum heutigen Tage beibehalten haben, während die hinteren Paare den Charakter von Ganglien erworben haben. Über die ursprüngliche Funktion dieser Organe (wahrscheinlich Sinnesorgane) können wir natürlich kein Urteil abgeben, allein es erscheint sehr wahrscheinlich, dass sie früher metamer an der Rückenfläche angeordnete grübchenförmige Sinnesorgane darstellten, welche ihren Charakter und ihre Funktion infolge von Invagination 59) Boveri, Th. Über die phylogenetische Bedeutung der Sehorgane des Amphioxus. Zool. Jahrb., Suppl. 7, 1904. 60) Joseph, H. Uber eigentümliche Zellstrukturen im Zentralnervensystem von Amphioxus. Verh. Anat. Ges., 18. Vers., 1904. 61) Es mag hier auf die auffallende Ähnlichkeit hingewiesen werden, welche zwischen der Form der Augenanlage der vorderen Augen von Thelyphonus (Schim - kewitsch, loc. eit., Taf. III, Fig. 41 u. 42) und den paarigen Augen der Wirbel- tiere hingewiesen werden. Diese Ähnlichkeit lässt sich sehr leicht erklären, wenn wir uns daran erinnern, dass die paarigen Augen der Wirbeltiere, gleich den Augen von Thelyphonus, eine Migration durchgemacht haben, wobei die Linsen dieser wle jener Augen eine spätere, erst in der Folge erworbene Bildung darstellen (das Nähere hierüber siehe loc. cit. p- 67). 992 Schimkewitsch, Uber die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. geändert haben, in die sie bei der Invagination des dorsalen Nerven- stammes mit hineingezogen wurden. Von den Sehorganen hat nur das erste Paar allein seinen urspriinglichen paarigen Charakter beibehalten, dafür wurde es aber nach der ventralen Seite des Nervenrohrs hin verlagert. Es ist noch zu bemerken, dass das Studium des Sehorgans der Salpen Redikorzew ebenfalls zu der Schlussfolgerung veranlasst hat, dass die urspriinglichen Formen dieser Tiere mehrere Augen- paare besessen haben ?). Alles dieses führt mich zu dem Schlusse, dass das Nerven- rohr der Vertebrata und der Chordaten überhaupt, unge- achtet seines komplizierten Baues, eine Modifikation des medianen dorsalen Stammes der Teutraneurula allein, ohne irgendwelche Mitwirkung der lateralen Stämme dar- stellt. Eine ganze Reihe von Erwägungen (namentlich aber das Vor- handensein eines präoralen Darmes) spricht dafür, dass der Prozess der Verlagerung der Mundöffnung nach hinten, welcher mit der Wuche- rung der Dorsalseite des vorderen Embryoabschnittes im Zusammen- hang steht, und bei den dreigliedrigen Vorfahren der Wirbeltiere seinen Anfang genommen hat, auch innerhalb der Gruppe der Wirbeltiere selbst fortdauerte, dabei aber bei diesen einen anderen Weg einschlug. Ein derartiger Verlagerungsprozess ist übrigens auch den Arthropoden eigentümlich. Bei diesen letzteren ist dieser Prozess dadurch ausgedrückt, dass die vorderen, einstmals hinter dem Munde liegenden Extremitäten, eine präorale Lage einnehmen und die ihnen entsprechenden Metameren mit dem Kopflappen verschmelzen. Für gewöhnlich wird angenommen, dass bei den Chordaten der Ersatz einer Mundöffnung durch eine andere, weiter hinten liegende erfolgt ist, und zwar soll die frühere Mundöffnung (pro- stoma) durch die Hypophyse vertreten sein, während die gegen- wärtige Mundöffnung eine Differenzierung einer oder zweier Visceral- spalten darstellt. Allein es wurden auch mehrfach Zweifel bezüglich einer solchen Bedeutung der Mundöffnung ausgesprochen. Die erste Anlage der späteren Mundhöhle macht sich bei Petromyxon dadurch bemerkbar, dass die Zellen des Ektoderms im Bereich der zu-: künftigen Mundhöhle höher werden und die ganze Anlage außer- ordentlich an eine Plakode erinnert. Ferner geht bei der Entwickelung des Hühnereies unter künst- lichen Bedingungen (bei Einführung von Zuckerlösungen in das Ei- weiß) eine außerordentliche Wucherung der Anlagen der Sinnes- 62) Redikorzew, W. Uber das Sehorgan der Salpen. Morphol. Jahrb., 34. Bd., 1905. Schimkewitsch, Über die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. 203 organe, d. h. der Plakoden vor sich, und zwar namentlich der Riechgrube und der Linse, sowie auch der Nervenanlage. Gleich- zeitig hiermit erfolgt auch eine Wucherung der Mundbucht°*). Auf Grund dieser indirekten Erwägungen habe ich die Vermutung aus- gesprochen, die Mundhöhle der Wirbeltiere stelle eine ver- tiefte Plakode dar. Die bisher bekannt gewordenen Hinweise auf eine Paarigkeit der Mundhöhle (Dohrn, 1881; Julia Platt, 1891) können als ein Beweis dafür ausgelegt werden, dass die Mundplakode durch Verschmelzung zweier Plakoden entstanden ist“). Die für die Enteropneusta charakteristische Teilung des Kiemen- abschnittes in zwei Stockwerke, ein oberes, durch welches das Wasser nach den Kiemensäcken geleitet wird, und ein unteres, welches für den Durchgang der Nahrung nach dem Mitteldarm dient, stellt, wie dies schon längst von Gegenbaur und von Häckel angenommen worden ist, den ersten Schritt zur Trennung dieses Darmabschnittes in den Ösophagus und den Endostiel, resp. die glandula thyreoidea dar°°). Was nun die Entstehung der Kiemensäcke betrifft, so erblicke ich deren Ausgangs- und zugleich einfachste Form in den zuerst von mir für Saccoglossus mereschkovskii sodann von weiteren Au- toren für andere Enteropneusta beschriebenen Darmporen, welche die Darmhöhle mit dem äußeren Medium in Verbindung setzen, wie ich dies 1889 nachgewiesen habe. Diese Poren, welche einfache Öffnungen an der Verwachsungs- stelle von Darmwand und Körperwand darstellen und bald in zwei lateralen Reihen, bald in einer einzigen unpaaren Reihe angeordnet liegen, haben die Bezeichnung Darmpfortader erhalten und repräsen- tieren meiner Ansicht nach die einfachste Form von Kiemenspalten. Wahrscheinlich hat der Darm der Wirbeltiervorfahren ursprünglich an seinem vorderen Teil auf beiden Seitenflächen je eine Reihe zur Vergrößerung der Atmungsoberfläche dienender Falten erhalten; späterhin haben sich diese Falten, infolge der Bildung der Poren, in Kiemensäcke verwandelt, wobei durch den Austritt des sauer- 63) Schimkewitsch, W. Experimentelle Untersuchungen an meroblastischen Eiern. II, Die Vögel. Zeitschr. f. wiss. Zool., 73. Bd., 1902. 64) Die Entwickelung ektodermaler Derivate, und zwar speziell der Sinnes- organe und der Zähne, in dem entodermalen Teil der Mundhöhle, welche eine Art Rätsel darstellte, ist nach den Untersuchungen von Greil (1906) durchaus verständ- lich geworden, indem dieser Autor nachgewiesen hat, dass das Ektoderm der Mund- höhle und der Kiemenspalten bei fortschreitender Entwickelung in den Schlund hereinwächst, und dass auf diese Weise das zur Entwickelung der genannten Organe notwendige ektodermale Materiai geliefert wird. 65) Nach der Ansicht von Livini (1903) stellt die Schilddrüse ein Homologon nicht des gesamten Endosty!s, sondern nur eines gewissen Teiles desselben dar, indem sie (bei den Hühnchen und bei Bufo) in Gestalt einer massiven Anschwellung eines nur kleinen Teiles der rinnenförmigen Anlage entsteht. 204 Schimkewitsch, Uber die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata, stoffarmen Wassers durch die Poren der Darm von überflüssigem Wasser und dadurch bedingter Verdünnung des Darminhalts be- freit wurde. In neuester Zeit ist die Frage über die Entstehung der Kiemen- spalten auf ein anderes Gebiet hinübergetragen wurden, indem sie mit dem Vorhandensein von Kiemenrinnen bei den Triarticulata ın Verbindung gebracht wird. Was sind nun diese Kiemenrinnen? Offenbar stellen sie die Fortsetzung jener Furchen dar, welche von der Basıs der Arme (Brachiopoda, Rhabdopleura) zum Munde verlaufen und für die Zu- fuhr von Wasser mit den darin enthaltenen Nahrungspartikelchen zur Mundöffnung dienen. Masterman hat die Vermutung ausgesprochen, dass das erste Paar von Kiemenspalten durch die Schließung der Ränder dieser Rinnen entstanden sein konnte, wodurch sich letztere in Röhren verwandelten, welche die Schlundhöhle mit dem äußeren Medium verbanden. Dieser Hypothese steht vor allem die oben- erwähnte physiologische Bedeutung der Kiemenrinnen entgegen. Der Wasserstrom in ıhnen ist von außen nach innen gerichtet, während in den Kiemenspalten das Wasser von innen nach außen strömt. Man könnte noch eher annehmen, dass sich an dem proxi- malen Ende der Kiemenrinne durch einen Durchbruch eine Öffnung bildete, durch welche das überschüssige Wasser entfernt wurde und welche das erste Paar von Kiemenspalten bildete. Eine solche Annahme würde wenigstens mit der physiologischen Seite dieser Frage im Einklange stehen. Allein es gibt noch ein anderes Hindernis für die Hypothese von Masterman. Cephalodiscus be- sitzt Kiemenrinnen und Kiemenspalten gleichzeitig und seine Kiemen- spalten liegen ım Verlauf dieser Rinnen, so dass ein Teil dieser letzteren hinter den Spalten zu liegen kommt, wie dies von Sche- potieff (1907) beschrieben wird. Diesen Autor steht übrigens auf dem Standpunkt der Hypothese von Masterman, ohne deren | Widerspruch mit den von ihm selbst beschriebenen "Tatsachen zu bemerken °*), Organe konnten unmöglich durch Differenzierung des einen aus dem anderen entstehen und können auch einander nicht homolog sein. | Aus diesem Grunde bin ich dennoch geneigt, die oben- 66) Nachdem mein Aufsatz in russischer Sprache erschienen ist (Travaux de | la Société Imp. des Naturalistes de St. Pétersbourg, Vol. XXX VI, livr. 4) habe ich die Arbeit von Andersson (Die | terobranchier der Schwedischen Südpolarexpedition | 1901—1903 ete. Wissensch. Ergebnisse der Schwed. Siidpolarexpedition. Bd. V, 1907) kennen gelernt. In vielen Beziehungen weichen die Ansichten Andersson’s von denjenigen Schepotieff’s ab, und ich halte es für besonders wichtig, dass ersterer es ebenfalls für unmöglich hält, die Kiemenrinnen der Pterobranchia mit den Kiemenspalten zu analogisieren. | Zwei bei ein und demselben Tiere gleichzeitig vorhandene | | | f | 4 fs Schimkewitsch, Über die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. 205 erwähnten Darmporen der Enteropneusta als die Ausgangs- form für die Kıemenspalten zu betrachten. Die Kiemenrinnen konnten nur eine Bedeutung haben, und zwar diejenige, die zweireihige Anordnung der Darmporen zu be- stimmen. Die Anordnung dieser Poren in Gestalt einer unpaaren Reihe, wie wir sie bei einigen Einteropneusta sehen, ist eine spätere Erscheinung. Diese Poren liegen, wie die Kiemenspalten überhaupt, in dem entodermalen Teile des Darmes. Die Behauptung von Schepotieff, bei Cephalodiscus seien die Kiemenspalten ektodermalen Ursprungs, welche er auf Grund seiner Studien über die Knospung aufstellt (wobei, wie wir gesehen haben, der gesamte Darm aus dem Ekto- derm gebildet wird und die ganze Zeit über seinen Zusammenhang mit dem Ektoderm beibehält), bedarf natürlich einer Stütze durch die embryologischen Untersuchungen. Wir haben aus diesem Grunde kein Recht, die von Willey aufgestellte Homologie der Pleurochordae der Actinotrocha (nach der Terminologie von Masterman) mit den Kiemensiicken zu leugnen, wie dies Schepotieff nur auf Grund dessen tut, dass die Pleurochordae der Actinotrocha in dem entodermalen Teil des Darmes liegen, die Kiemenspalten von Uephalodiscus dagegen -— im ektodermalen. In welcher Zahl sind nun die Kiemenspalten ursprünglich ent- standen, als ein Paar oder als mehrere Paare? In der Tat geht die Zahl der Kiemenspalten, welche bei den Enteropneusta und den Acrania eine so beträchtliche ist, bei den Pterobranchia und einigen Tunicata bis auf ein Paar herab. Selbst für die Ascidien stellt nach Julin®) eine hypothetische Proto- ascidia mit zwei Paaren von Kiemenspalten die Ausgangsform dar. Balanoglossus kowalevskii durchläuft nach Bateson ein Stadium mit einem Paare von Kiemenspalten, worauf Schepotieff hinge- wiesen hat, welcher denn auch annimmt, dass die ursprünglichen Formen nur ein Paar von Kiemenspalten besessen haben. Allein die Frage über die Zahl der Kiemenspalten lässt sich eigentlich auf eine Frage von allgemeinerem Charakter zurück- führen, und zwar auf die Frage, ob die Triarticulata mit einem Paar von Kiemenspalten oder ohne alle Kiemenspalten primitive oder degradierte Formen darstellen? Schep otieff hält dieselben für primitive Formen, allein der einzige Beweis, welchen er dafür aufbringt, ist das Vorhandensein eines rudimentiren Stieles bei der Larve von Balanoylossus kowa- levskii nach den Beobachtungen von Bateson. 67) Julin, M. Recherches sur la phylogénése chez les Tuniciers etc. Zeitschr. | f. wiss. Zool., 81. Bd., 1904; Mitteil. a. d. Zool. Station zu Neapel, 16. Bd., 1904. 906 Schimkewitsch, Über die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. Dieses Argument kann nur dafür sprechen, dass die Vorfahren der Einteropneusta, gleich den Rotatoria z. B., sich mit ihrem Hinter- ende anheften konnten, welche Eigenschaft wahrscheinlich auch den Vorfahren der jetzt sessilen Pterobranchia zukam; man wird aber wohl kaum auf Grund dieses Arguments eine Theorie des primi- tıven Charakters der sessilen Plerobranchia aufbauen können. Selbst wenn die Tunscata auf dem nächsten Wege von Formen mit einem Paare von Kiemenspalten abstammen sollten, wie Julin dies annimmt, so wird dadurch die Frage noch nicht entschieden, wie viele Paare von Kiemenspalten ihre entfernteren Vorfahren besessen haben. Es ist wohl möglich, dass sie mehrere und dazu noch eine recht beträchtliche zahl von solchen Organen besessen haben. Was die von Salensky heschmiehenen Anlagen der Kiemen- spalten bei den Archiannelida betrifft, so liegen die erwähnten rinnen- förmigen Schlundtaschen, welche sich durch den Mund hindurch in die ektodermalen Vertiefungen an der unteren Fläche des Kopfes fortsetzen, in der Zahl von zwei Paaren in dem ektodermalen Teil des Darmes, und eine Vergleichung derselben mit Kiemenspalten oder Kiemenrinnen erfordert große Vorsicht °*). Eine Vergleichung mit letzteren Organen setzt die Annahme voraus, dass die Vorfahren der Archianneliden Arme oder Lopho- phore besessen haben, während wır doch gesehen haben, dass die Archianneliden nicht die geringsten Anzeichen einer solchen Re- duktion aufweisen. Aus diesem Grunde scheinen mir diese Ver- tiefungen ebensowenig mit Kiemenspalten verglichen werden zu können, wie die seinerzeit von Semper beschriebenen Vertiefungen an der äußeren Körperoberfläche der Serpulidae (vgl. Orley, 1895). In bezug auf den Mitteldarm ist in neuester Zeit die Ansicht ausgesprochen worden (Weber, 1903), dass die Anlage der Leber, die dreifache Anlage der Pankreas und die Pylorischen Schläuche der Fische, differenzierte Blindschläuche darstellen, welche in großer Anzahl auf dem mittleren Teil des Darmes saßen. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet kann aber der Darm der Entero- pneusta mit seinen zahlreichen Leberschläuchen sehr wohl als Aus- gangsform gelten. Weiter oben habe ich bereits bemerkt, dass die Abdominal- poren der Wirbeltiere als die am meisten primitive und einfache 68) Salensky, W. Über den Vorderdarm des Polygordius und Saccoeirrus, Biol. Centralbl., 26. Bd., Nr. 7, 1906. Dieselben Vertiefungen, welche Salensky als „hintere Schlundtaschen‘‘ bezeichnet (Fig. 4), sind schon von Hempelmann (loc. cit. 1906) auf seiner Fig. 4, Taf. XXV abgebildet worden, allein nach der Auf- fassung dieses Autors sind dies nichts weiter als die Wandungen des Atrium, welches mit dem äußeren Medium durch die äußere Mundöffnung, mit dem Ösophagus da- gegen durch die innere Mundöffnung in Verbindung steht. | | | — Schimkewitsch, Uber die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. 207 Form von Metanephridien betrachtet werden können ). Bei einigen Knochenfischen besteht die, wie man annehmen kann, der Genital- pore der Cyclostomi durchaus entsprechende Genitalpore gleichzeitig mit den Abdominalporen. Andererseits weist die Genitalpore der Cyclostomi deutliche Spuren einer Paarigkeit auf, und zu der Genital- pore der Knochenfische führen nicht selten zwei Peritonealtrichter. Aus diesem Grunde können wir annehmen, dass die Genitalpore der Fische durch Verschmelzung eines Paares von Poren ent- standen ist. Bereits im Jahre 1889 und später (1892/3) habe ich die Ver- mutung ausgesprochen, dass ein Vergleich der Anlagen der gl. thymus mit den Metanephridien zulässig wäre, für den Fall, dass die ektodermale Abstammung dieser Anlagen bewiesen würde. Den- selben Gedanken hat später auch Willey (1894) ausgesprochen. Wenn nachgewiesen wäre, dass diese Anlagen aus dem ektodermalen Teile der Kiemenspalten hervorgehen, so könnte man dieselben mit den Kragenporen oder genauer gesprochen mit den Metanephridial- trichtern der Enteropneusta, welche in die erste Kiemenspalte aus- münden, vergleichen, ebenso auch mit dem vordersten Paare von Metanephridialröhrchen der Acrania, welches ebenfalls in die erste Kiemenspalte mündet und von Wijhe (1901) als das epibranchiale Paar bezeichnet worden ist. Diese Vergleichung der Anlagen der gl. thymus mit rudımen- tären Metanephridien kann jedoch noch lange nicht als festgestellt betrachtet werden, indem die Frage über die Entwickelung der gl. thymus bis jetzt leider noch nicht definitiv entschieden ist: einige Autoren beweisen die ektodermale Herkunft der gl. thymus, allein die meisten Autoren halten an der früheren Auffassung fest, indem sie sich für die entodermale Natur dieses Organs aus- sprechen. Nach dem Erscheinen der Arbeit von Götte, welcher den ektodermalen Ursprung der Kiemensäcke und Kiemenblättchen (mit Ausnahme der Spirakulartasche und der Pseudobranchie) für die meisten Fische (mit Ausnahme der Cyclostomi) nachweist, hat sich eine abermalige Revision der Frage über den Ursprung der gl. thymus als notwendig erwiesen. Die Befunde von Götte sind durch spätere Untersuchungen (Moroff, 1902) bestätigt worden, wobei eine ektodermale Herkunft für die Spirakulartasche und ihre Pseudobranchie nachgewiesen werden konnte; ebenso können sie sich auch auf die älteren Beobachtungen von Schenk (1871) stützen. Andererseits liegen auch Beobach- 69) Die hier folgenden Betrachtungen sind in meinem „Lehrbuch der ver- gleichenden Anatomie“ (Russisch, St. Petersburg 1905) ausgeführt und im Auszug in einem Referat durch vy. Adelung mitgeteilt worden (Zool. Centralbl., Bd. 12, 92592, 1905). 908 Schimkewitsch, Über die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. tungen vor, welche zugunsten der älteren Auffassungen von Rathke sprechen (Greil, 1906). Die Auffassung von Götte würde jedenfalls eine völlige Homo- logisierung der Kiemenblätter der Fische mit denen der Amphibien und den äußeren Kiemen überhaupt gestatten. Die älteste Form von Wirbeltiermetanephridien, welche wir durch die Genitalpore und die Abdominal- poren, vielleicht auch durch die Anlagen der gl. thymus dargestelt sehen — bezeichne ich als Antenephros und betrachte sie als einen Vorgänger des Pronephros. Der Übergang vom Antenephros zum Pronephros erfolgte nach der Hypothese von Boveri (1892) durch die Bildung eines ekto- dermalen seitlichen Sammelkanales. Wahrscheinlich besaß dieser Kanal ursprünglich den Charakter einer seichten Längsrinne, welche die Mündungen der Metanephridial- kanäle ın sich aufnahm und sich später zu einer Röhre schloss. ‘Die Bildung dieser Rinnen verbreitete sich bei den Acrania auf den Branchialabschnitt und zum Teil auch auf den Postbranchjalabschnitt, bei den Vertebrata dagegen nur auf den postbranchialen Abschnitt; während aber die Rinnen bei den Acrania die Afteröffnung bei weitem nicht erreichen, verliefen sie bei den Vertebrata bis zu dieser Öffnung und verwandelten sich in die Wolff’schen Gänge. Allein die Bildung dieser Rinnen ging nicht über die Afteröffnung hinaus, und die hinter dieser letzteren liegenden Metanephridialröhrchen, oder der Antenephros, bewahrten ihre ursprüngliche Verbindung mit dem äußeren Medium. Es ist unschwer zu ersehen, dass, wenn die Geschlechtsprodukte der Acrania auch gegenwärtig ın die Peribranchialröhre gelangen, dieselben vor der Ausbildung dieser letzteren unmittelbar nach außen treten mussten, wie dies bei vielen Triartieulata der Fall ist; dabei erfolgte dieses Heraustreten aber wahrscheinlich durch eine Durchreißung des Integuments, wie wır dies bei der Eiablage durch die Copelatae sehen. Es erübrigt nunmehr noch, zu erklären, warum bei den meisten Wirbeltieren der Wolff’sche Gang in dem größten Teil seines Ver- laufes und bisweilen noch durchwegs mesodermalen Charakters ist. Es liegt auf der Hand, dass der ektodermale Kanal in seinem vorderen Abschnitte einer allmählichen Reduktion unterworfen und durch eine mesodermale Bildung, wahrscheinlich die Verwachsung — der mesodermalen Bezirke der Nephridialröhrchen, ersetzt wurde. — Von dem Grade der Reduktion des ektodermalen Abschnittes hängt denn auch die Mannigfaltigkeit in der Entwickelungsweise des Wolff’schen Ganges bei den jetzt lebenden Wirbeltieren ab. Genau der gleiche Gedankengang kann auch bei der Erklärung der bekannten Verschiedenheiten in der Entwickelung des Müller’- I N EERFNEEsE E Abe Schimkewitsch, Über die Beziehungen zwischen den Bilateralia und Radiata. 309 schen Ganges bei den Amniota und den Anamnia angewandt werden. Bei den Anamnia entsteht der Müller’sche Gang durch eine Spal- tung des Wolff’schen Ganges, während er bei den Amnzota selb- ständig ın Gestalt einer Einstülpung des peritonealen Epithels ın die darunter liegende Mesodermmasse angelegt wird. Übrigens haben wir einerseits Hinweise darauf, dass die ge- nannte Anlage des Müller’schen Ganges auch bei den Amniota doch nicht dem peritonealen Epithel angehört, sondern durch Wuche- rung des Pronephrostrichters gebildet wird, andererseits aber Hin- weise darauf, dass der Endabschnitt des Müller’schen Ganges selbst bei den Säugetieren durch eine Spaltung des W olff’schen Ganges gebildet wird. Wie dem nun auch sein mag, so bleibt doch jedenfalls der Unterschied in der Entwickelung dieses Organes bei den meisten Anamnia, wo er durch Spaltung des Wolff’schen Ganges entsteht, und den Amniota, wo er sich auf der größten Ausdehnung seines Verlaufes selbständig entwickelt, unbedingt be- stehen. Aus diesem Grunde werden wir den Müller’schen Gang der Anamnia demjenigen der Ammiota als nicht ganz homolog be- trachten müssen. Man wird jedoch vermuten können, dass die. Amniota ursprünglich einen ebensolchen, durch Differenzierung von dem W olff’schen Gange entstandenen Müller’schen Gang besessen haben, welcher dazu diente, die Eier nach außen zu befördern. Man wird ferner annehmen können, dass dieser Gang an seinem Vorderende allmählich kürzer wurde, und dass zu seinem Ersatz an der peritonealen Auskleidung der Leibeshöhle eine Rinne ent- standen ist, längs welcher das Ei sich nach dem vorderen Ende des verkürzten Müller’schen Ganges hin fortbewegte. Späterhin verschloss sich diese Rinne zu einem Kanal, wobei jedoch eine Öffnung erhalten blieb, welche die Verbindung mit der Leibeshöhle aufrecht erhielt und für den Eintritt der Eier ın den Kanal diente, und dieser Kanal schloss sich dem Müller’schen Gange unmittelbar an. Der Müller’sche Kanal der Amniota hat demnach wahrschein- lich eine zwiefache Abstammung. Sein älterer Endabschnitt ent- spricht dem Müller’schen Gang der Anamnia und wird, gleich dem Gange dieser letzteren, durch Spaltung des W olff’schen Ganges gebildet, während sein vorderer Abschnitt eine Neubildung dar- stellt und als solche selbständig entsteht. Bei weiterer Reduktion des Endabschnittes kann der gesamte Müller’sche Gang der Amniota selbständig angelegt werden. Diese Annahme gestattet, wie mir scheinen will, Tatsachen zu vereinigen, welche bis jetzt einander zu widersprechen scheinen. Im allgemeinen gesprochen hat das Prinzip des all- mählichen Ersatzes einer Anlage durch eine andere, wobei diese letztere sich bisweilen sogar aus einem anderen Keimblatte entwickeln konnte, eine viel weitergehende XXVIII. 14 340 Goldschmidt u. Popoff, Uber die sogen. hyaline Plasmaschicht der Seeigeleier. Anwendung in der Embryologie gehabt, als dies für gewöhnlich vermutet wird. Dieses Prinzip, welches ich als Methozisis’) bezeichne, gestattet uns nicht selten, eine Vergleichung zwischen Organen anzu- stellen, welche ihrem Ursprung nach durchaus nicht homolog sind. Dieses Prinzip kann z. B. eine weitgehende An- wendung finden bei der Erklärung des Ersatzes der Mantelknochen (nach der Terminologie von Gaupp) durch die Ersatzknochen (nach derselben Terminologie) im Schädel der Wirbeltiere, oder des Er- satzes des als Deckknochen entwickelten Schlüsselbeins durch den perichondralen Knochen bei den Säugetieren (nach Gegenbaur) u.s. w. Eine ausführlichere Besprechung dieser Frage will ich jedoch auf eine andere Gelegenheit verschieben. Indem wir uns wieder der Frage zuwenden, welche den Haupt- gegenstand des vorliegenden Aufsatzes ausmacht, müssen wir zu- geben, dass zwischen den Triarticulata und den Chordata eine äußerst zahlreiche Reihe von Formen bestanden hat, welche diese beiden außerordentlich verschiedenen Gruppen miteinander verband, ebenso wie auch zwischen den Triartieulata und Radiata eine nicht weniger zahlreiche Reihe uns bis jetzt unbekannt gebliebener Formen existiert hat). Nervi, 1906/7. Uber die sogen. hyaline Plasmaschicht der Seeigeleier. Von Richard Goldschmidt und Methodi Popoff. (Aus dem zoologischen Institut in München ) (Mit 5 Figuren.) Ein jeder beobachtend oder experimentierend mit Seeigeleiern arbeitende Zoologe kennt die glashelle ektoplasmatische Schicht, die sich mehr oder minder deutlich auf der Oberfläche junger Furchungsstadien abhebt. Sie ıst oft in der Literatur beschrieben worden, diente auch mehrmals als Ausgangspunkt für Hypothesen und Hilfshypothesen, ohne dass bisher ihre Entstehung und Bedeutung völlig klargelegt sei. Wir stellten deshalb an Material von Strongylo- centrotus lividus und Echinus microtuberculatus aus Rovigno, das sich nach den Ergebnissen der zu Kurszwecken vorgenommenen 70) Vom Griechischen „usda“ und ,,0005‘“ (die Grenze). b Q 71) Die hier niedergelegten Betrachtungen werden der dritten (russischen) Auf-. lage meiner „Biologischen Grundlagen der Zoologie“ und der zweiten (deutschen) Auflage meines „Oursus der vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere“‘ zugrunde gelegt werden. Eine ausführlichere Darlegung dieser Betrachtungen sowie die weitere Ausführung des Gegenstandes, welchen ich ich in meinem Aufsatze „Die Mutations- lehre und die Zukunft der Menschheit“ (diese Zeitschr., Bd. XXVI, Nr. 2, 3, 4) berührt habe, soll in einer speziellen Arbeit mitgeteilt werden, welche ich für den Druck vorbereite. ' Goldschmidt u. Popoff, Über die sogen. hyaline Plasmaschicht der Seeigeleier. 211 Befruchtung als normal erwies, einige Beobachtungen und Versuche an, um vielleicht die Bedingungen zur Bildung dieser Schicht und ihre Bedeutung klarlegen zu können. Vollständig ist dies nicht gelungen, aber einige Punkte ließen sich immerhin feststellen. I. Bisherige Beobachtungen. Schon im Jahre 1876, in dem Oskar Hertwig seine epoche- machenden Beobachtungen über die Befruchtungsvorgänge der See- igeleier veröffentlichte, fiel ihm auf, dass nach der Abhebung der Dottermembran bei den befruchteten Eiern eine beim lebenden Objekt stärker lichtbrechende ektoplasmatische Schicht wahrzu- nehmen ist. Ohne näher darauf einzugehen, bildete er sie ab. Nähere Angaben über diese Schicht und ihre vermutliche Funktion finden wir ein paar Jahre später in den Arbeiten Selenka’s und Fol’. Selenka, der diese Schicht als automatische Rindenschicht bezeichnete, gibt folgende Beschreibung ihrer Entstehung: „Wäh- rend die Richtungskörper austreten, ergießt sich mit ihnen zugleich ein Tropfen körnchenfreien Protoplasmas nach außen, welches als-— bald den ganzen Dotter umfließt und eine mit Eigenbewegung be- gabte automatische Rindenschicht darstellt.“ Aus dieser letzteren lässt Selenka nachträglich die Dotterhaut entstehen; außerdem aber soll ein Teil dieser Schicht „mit dem Spermatozoon in das ‘Innere des Eies, vielleicht sogar bis in das Zentrum der Strahlen- sonne“ eindringen. „Zum größten Teil jedoch wandert es später, nämlich während der Abfurchung des Eies in die Furchungshöhle, um hier an der Bildung des sogen. Gallertkernes sich zu beteiligen.“ Die automatische Rindenschicht ist nach den Beobachtungen von Selenka bei den Ophiuriden am mächtigsten, bei den Echiniden mäßig und bei den Holothurien äußerst schwach entwickelt. Fast zu derselben Zeit 1879 ist Fol zu etwas anderen An- sichten bezüglich dieser an der Eioberfläche entstehenden Schicht gekommen (Beobachtungen an Toxopneustes lividus und Sphaerechinus brevispinosus). Er lässt ım Gegensatz zu Selenka diese Schicht erst nach der Bildung der Dotterhaut und auf Kosten der Grenz- schicht des Dottersaumes entstehen. Nähere Beachtung schenkte aber erst Hammar diesem Zellteil. Er fasst die Schicht als dem Ektoplasma angehörig auf. Sie dient nach seinen Beobachtungen an Echiniden, Mollusken, Arthropoden etc., die später durch Andrews und durch die Experimente Herbst’s bestätigt wurden, dazu, den organischen Zusammenhang zwischen den einzelnen Zellen zu vermitteln. Ferner machte Hammar die Beobachtung, dass an Präparaten, die gegen Eintrocknung nicht völlig geschützt waren, nach einiger Zeit die ektoplasmatische Schicht schärfer hervortrat. Dieselbe „hebt sich von der Oberfläche des 14* 949 Goldschmidt u. Popoff, Über die sogen. hyaline Plasmaschicht der Seeigeleier. körnigen Protoplasmas weiter ab und gewinnt auch etwas an Licht- brechung. Man sieht dabei feine Fasern sich in wechselnder Zahl und mehr oder weniger regelmäßiger Anordnung vom körnigen Protoplasma nach der Innenseite des abgehobenen Randsaumes hinüberspannen. Dasselbe Bild, welches man bei Abdunstung des die Eier umschließenden Meerwassers sıeht, kann man durch vor- sichtigen Zusatz von Kochsalzlösung hervorrufen.“ Am eingehendsten hat sich Herbst ın seinen bekannten Studien über die Entwicke- lung in kalkfreiem Medium mit dem Gegenstand befasst. Er stellte fest, dass die hyaline Schicht, die er mit Folals Verbindungsmembran bezeichnet, ın kalkfreiem Wasser undeutlich wird, sich nicht scharf nach dem umgebenden Medium zu abgrenzt und strahlige Be- schaffenheit annimmt. Es ist also vor allem die Oberflächenspannung dieser Schicht vermindert worden, und darin glaubt Herbst die nächste Ursache für das Auseinandergehen der Zellen erblicken zu sollen. Dadurch ist aber nur die. Abrundung, nicht das Aus- einanderriicken der Zellen erklärt. Im Verfolg dieses Punktes brachte Herbst Eier nach der Zweiteilung aus Ca-freiem in Ca- haltiges Wasser zurück. Dann blieben die Furchungszellen bei- einander, obwohl die Membram nicht mehr ad integrum hergestellt wurde. Ob dann aus der Tatsache, dass die normale Beschaffen- heit der Verbindungsmembran zum Zusammenhalt der Zellen nicht mehr notwendig ist, der Schluss gezogen werden darf, dass diese Haut nicht allein, sondern im Zusammenhang mit einem anderen ~ Faktor, dem sogar der Hauptanteil zukommen würde, den Zusammen- halt der einzelnen Zellen besorgt, dass also, abgesehen von der hellen Verbindungsmembran noch ein anderer Faktor durch das Fehlen des Ca vermindert worden ist und sich zu den beiden Kom- ponenten der Verminderung der Spannung der Verbindungsmembran und der Bewegung der Zellen bei der Teilung noch eine dritte gesellt, diese Frage will Herbst noch nicht entscheiden. Die ektoplas- matische Schicht Hammar’s haben auch Krassuskaja und Landau untersucht. Nach ihnen ist aber dieselbe im Anschluss an R. Hert- wig nicht als ektoplasmatisch, sondern lediglich als eine gallertige quellungsfähige Schicht aufzufassen. „Der zwischen Eioberfläche und Dottermembran unter normalen Verhältnissen auftretende Zwischenraum ist nach unserer Auffassung nicht von Flüssigkeit eingenommen, sondern durch eine zarte Gallerte, welche nach der Befruchtung abgeschieden wird, bei lebensfähigen Eiern eine große - Quellungsfihigkeit besitzt und durch Imbibition mit Wasser Ur- sache wird, dass die Dottermembran sich von der Eioberfläche ent- fernt. Ist das Ei geschädigt, was später in verlangsamter oder abnormer Furchung zum Ausdruck kommt, so wird die betreffende Gallerte zwar auch gebildet, besitzt aber nicht die genügende Quell- fähigkeit. Daher unterbleibt die Abhebung der Dottermembran.“ Goldschmidt u. Popoff, Über die sogen. hyaline Plasmaschicht der Seeigeleier. 213 In ganz anderer Weise betrachtet H. E. Ziegler diese Schicht. Er geht von seinen Befunden bei den Furchungsprozessen der Ctenophoren- und Echinodermeneier aus. Einige Zeit nach voll- zogener Besamung beobachtete er, dass von dem körnigen Proto- plasma eine hyalıne ektoplasmatische Schicht (Ziegler nennt sie noch „Schicht des aktiven Plasmas“) sich zu differenzieren beginnt, bis sie schließlich eine ziemliche Selbständigkeit erreicht. „Die hyaline Schicht, welche bei den Ophiuriden in so beträchtlicher Dicke am befruchteten Ei hervortritt, darf aber nicht als eine Ab- scheidung des Eies angesehen werden. Sie entsteht dadurch, dass helles Protoplasma sich an der Peripherie ansammelt und die Dotter- körnchen von da zurückgedrängt werden.“ „Ebenso halte ich die hyaline Außenschicht bei den Seeigeleiern für eine protoplasmatische Schicht.* Beim Beginn der Furchung verdickt sich diese Schicht, nach den Angaben Ziegler’s, an der Stelle, wo die Furchungs- ebene durchschnitten wird. Bei den Ctenophoreneiern, wo, wie bekannt, die Furchung von der einen Seite her fortschreitet, ıst eine Verdickung dieser Schicht nur auf der entsprechenden Seite wahrzunehmen. Von diesen Beobachtungen ausgehend nimmt ‚Ziegler an, „dass die Außenschicht unter dean Binfinss der Zentren sich in der Ebene der entstehenden Teilung verdickt, worauf die verdickten Teile der Außenschicht den Zellkörper zusammendrücken und in denselben einschneiden, da die Außenschicht ähnlich einer elastischen Haut über die weichere Innenmasse gespannt ist.“ Aus dieser kurzen Literaturübersicht geht hervor, dass die Meinungen über Entstehung und Bedeutung dieser Schicht weit auseinandergehen. II. Eigene Beobachtungen und Versuche. A. Die Entstehung der hyalınen Außenschicht. Der erste Punkt, über den wir uns Klarheit verschaffen wollten, war: Wie entsteht die hyaline Außenschicht? Ist sie ein gallertiges Ausscheidungsprodukt des Eies oder ein mehr oder weniger umgewandelter Teil des Protoplasmas? Die Beobachtung normal befruchteter Eier in dem wohl nur sehr wenig durch Verdunstung konzentrierten natürlichen Seewasser vom spezi- fischen Gewicht 1,030 lehrte uns folgendes. Unmittelbar nach dem Eindringen des Spermatozoons hebt sich bei normalen Seeigeleiern bekanntlich die Dottermembran ab. Von diesem Moment an beginnen jene Prozesse sich abzuspielen, die zur Vereinigung von Sperma und Eikern zum Befruchtungskern führen. Gleichzeitig mit der Ausbildung dieses letzteren und der ihn begleitenden, bis zu der Eioberfläche reichenden mächtigen Strahlung sieht man anfangs eine äußerst feine, stark lichtbrechende Schicht an der Bioberfäche sich differenzieren, der erste Beginn 944 Goldschmidt u. Popoff, Über die sogen. hyaline Plasmaschicht der Seeigeleier. der hyalinen Plasmaschicht. Dieser Prozess geht folgendermaßen vor sich: Die vorher dicht bis zur Eioberfläche reichenden körnigen Elemente des Plasmas beginnen sich in das Eiinnere zurückzu- ziehen. Es tritt infolgedessen an der Eioberfläche eine durchsichtige körnchenfreie Plasmaschicht auf (Fig. 1a). Die sich nach dem Ei- inneren zusammenziehenden Plasmakörnchen bilden, da sie durch die Aneinanderpressung dichter zu liegen kommen, eine deutliche Grenzlinie zwischen der ektoplasmatischen Schicht — wir werden dieselbe im Anschlusse an H. Ziegler „hyaline Plasmaschicht“ nennen — und dem übrigen Plasma. Während der ersten Mo- mente in der Ausbildung der hyalinen Schicht sieht man noch deutlich die Strahlen von dem gekörnelten Plasma in die hyaline Schicht übergehen, was der letzteren das Aussehen einer Zona radiata verleiht. Mit der fortschreiten- den Verdickung der hyalinen Schicht und der Rückbil- dung der Strah- lung schwindetauch dieses Bild allmäh- lich. Es bleiben in der sonst homo- gen erscheinenden Schicht nur noch eine Anzahl vom körnchenreichen Plasma in die hya- line Schicht hinein- ragende Fortsätze übrig. Die meisten derselben sind einfach und nach der Eioberfläche zu zugespitzt, andere dagegen ver- ästeln sich nach der Peripherie und treten auf diese Weise in Anastomose mit anderen benachbarten Vorsprüngen des Körnchen- plasmas (Fig. 1b). Verläuft der Vorgang ganz normal, so ver- schwinden diese Fortsätze wieder, und die Schicht erscheint ganz homogen, höchstens dass hie und da einzelne Körnchen ın ıhr liegen. Alle die beschriebenen Prozesse spielen sich vom Augen- blick der Ausbildung des Befruchtungskernes bis zur beginnenden Streckung desselben zur ersten Teilung ab. Gleichzeitig damit tritt auch die erste Andeutung der Teilungsfurche auf. An deren Bildungs- stelle merkt man, dass die äußere Oberfläche der hyalinen Schicht unregelmäßige Auswüchse zeigt und diese an Dicke etwas zunimmt. Mit dem fortschreitenden Durchschneiden der Trennungsfurche wird auch die hyaline Schicht in dieselbe hineingezogen. Da an der Umbiegungsstelle ın der Furche die einander genäherten Teile der Goldschmidt u. Popoff, Uber die sogen. hyaline Plasmaschicht der Seeigeleier. 215 Oberfläche der hyalinen Schicht schließlich in ganz innige Berührung kommen und verschmelzen, so ist auch die hyaline Schicht hier bedeutend dicker, als an der ganzen übrigen Eioberfläche (Fig. 2a). Tief in der Furche selbst ist die Schicht nicht stark ausgebildet und beim schon gefurchten Ei tritt dieselbe, dort wo die Blasto- meren etwas auseinanderweichen, als eine dünne, helle Schicht auf. Die hyaline Plasmaschicht ist durch ähnliche Umlagerungen vor und während jeder Teilung bis zu dem 8- und 16zelligen Sta- dium leicht zu verfolgen. Immer sieht man sie bei der Furchung zwischen die einzelnen Blastomeren hineingezogen werden. Da mit der fortschreitenden Furchung die hyaline Schicht immer dünner wird, ist sie nach dem 16zelligen Stadium nicht mehr so deutlich zu verfolgen. Fig. 2 a. Fig. 2 b. Bei der Entstehung der Schicht wies sie den strahligen Bau der ganzen Zellen auf. Dieser kann dann vollständig verschwinden, sich aber im Lauf der Furchung.wieder deutlich zeigen, ohne dass dabei eine Regelmäßigkeit festzustellen wäre. Die einfache Be- obachtung lehrt also — und bei den sogleich zu beschreibenden Versuchen waren die Beobachtungen stets entsprechende —, .dass die hyaline Plasmaschicht in der Tat entsprechend der Angabe Ziegler’s ein ektoplasmatischer Teil des Eies ist und nicht etwa eine gallertige Ausscheidung. Allerdings trifft dies nur für den Moment der Entstehung zu. Denn nachdem die Fortsätze des Körnerplasmas aus der hyalinen Schicht zurückgezogen sind, scheint diese in der Tat eine Umwandlung durchzumachen, die ihren plas- matischen Charakter schwinden lässt. Es geht dies schon daraus hervor, dass die Schicht sich dann membranartig abheben kann, 916 Goldschmidt u. Popoff, Über die sogen. hyaline Plasmaschicht der Seeigeleier. dass, wie wir noch sehen werden, der Kontakt mit der Zeilober- fläche stellenweise gelockert werden kann, dass sie gelegentlich durch Druck sich zerknittern lässt und leicht zerfließlich ist. B. Die Bedingungen der Entstehung der hyalinen Schicht. Schon bei der Beobachtung in normalem Seewasser fiel uns ebenso wie Hammar auf, dass, wenn das Präparat vor Verdunstung nicht geschützt ıst, die hyaline Schicht an Mächtigkeit zunimmt (Fig. 1c). Dies legte die Vermutung nahe, wenigstens eine der Ursachen zur Bildung der Schicht in osmotischen Veränderungen zu sehen. Um dies zu prüfen, brachten wir die bis zum Stadium der ersten Furchungsspindel im Normalwasser befindlichen Eier im hypertonisches Meerwasser (S — 1,045), ein Grad der Hyper- tonızität, der von den Eiern gerade noch vertragen wird. (Das Wasser wurde aus normalem Meerwasser durch langsames Ver- dunstenlassen hergestellt.) Schon nach !/, Stunde war zu bemerken, dass die hyaline Schicht sehr stark an Mächtigkeit gewonnen hatte. Infolgedessen traten sehr deutlich auch die zahlreichen Vor- sprünge des körnchenreichen Protoplasmas in die hyaline Schicht auf. Sie waren bis nahe der Peripherie unverästelt und verzweigten sich dort vielfach pinienartig und anastomosierten miteinander (s. Fig. 1b). Die hyaline Schicht machte deswegen den Eindruck einer groben Vakuolisierung. Hatte man solch ein Präparat vor weiterer Verdunstung des Wassers nieht geschützt, so wurde die hyaline Schicht äußerst dick (Fig. 1c). In solchen Fällen runzelte sich ıhre äußere Oberfläche unregelmäßig, die Vorsprünge des Körnchenplasmas waren nicht mehr deutlich zu sehen und es traten an deren Stellen Einkerbungen, welche in die Schicht tief ein- schnitten. In diesen extremen Fällen machte sie den Eindruck einer dicken, konsistenten Gallerte. Eier, die diesen Zustand erreichten, konnten sich nicht mehr weiter teilen. Abgesehen von diesen Ausnahmsfällen zeigten die Eier bei der Furchung in hypertonischem Wasser noch einige andere auffallende Erschei- nungen. An der Stelle, wo die Furche einschnitt, wurde in vielen Fallen, wie dies bei den Furchungen in normalem Wasser allgemein eintrat, die mächtige hyaline Schicht hineingezogen. Dann ent- standen von der Basis der Furche nach der Oberfläche der hyalinen Schicht gerichtet, radiäre Zuglinien (Fig. 1b), welche ein passives Hineinziehen durch das sich teilende Zellplasma ver- rieten. In manchen Fällen entstanden an dieser gezerrten Stelle Spalten, die sich zu kleinen unregelmäßigen Vakuolen umbildeten. Vielfach aber konnte die Schicht der Furchung nicht folgen und dann löste sie sich von dem darunter liegenden körnchenreichen Protoplasma ab und spannte sich brückenartig über die Furche hin (Fig. 1b). Trotzdem ging die Furchung bei solchen Eiern vielfach zu Ende. Goldschmidt u. Popoff, Über die sogen. hyaline Plasmaschicht der Seeigeleier. 2417 Es geht aus vorstehendem also hervor, dass die hyaline Plasma- schicht durch Hypertonizität des Mediums an Mächtigkeit gewinnt, dass dies auf den Furchungsprozess aber keinerlei Einfluss aus- übt, sofern die Eier überhaupt den veränderten Bedingungen trotzen. Die Beobachtung des Verhaltens der Schicht ın diesen Fällen zeigt besonders klar, dass sie nicht mehr ein Teil des Plasmas ist und jedenfalls bei der Mechanik der Furchung unmöglich eine Rolle spielen kann. Bliebe die hyaline Schicht nach ihrer Entstehung ein Teil ‘des Plasmas, wäre sie ein Ektoplasma wie Ziegler will, so wäre zu erwarten, dass die durch Hypertonizität hervorgerufene Verdickung wieder rückgängig gemacht werden kann. Es wurden deshalb Eier, die schon ?/, Stunde in hypertonischer Lösung gelegen und sich noch nicht geteilt hatten, in hypotonisches Wasser gebracht. Nach 1/, Stunde war eine unbedeutende Abnahme in der Dicke der hyalinen Schicht wahrzunehmen, aber jedenfalls so unbedeutend, dass sie ım Bereich der Fehlergrenzen lag. Es geht eben daraus hervor, dass diese Schicht jetzt nicht mehr dem osmotischen System _ des ganzen Eies angehörte, sondern ein Ding für sich geworden war. Sollten nun die vorhergehenden Angaben beweisen, dass osmo- tische Verhältnisse auch für die Entstehung der Schicht maßgebend sind, so musste ihr Verhalten gegenüber hypertonischem Medium geprüft werden. Es wurden deshalb Eier, die normal befruchtet und bis zur Zeit der Ausbildung der hyalinen Schicht normal ge- halten waren, in hypotonisches Wasser von spez. Gew. 1,015 ge- kracht (hergestellt durch Zusatz destillierten Wassers zum normalen Seewasser). Es war dann zu beobachten, dass die hyaline Plasma- schicht bei allen Eiern äußerst dünn blieb, so dünn, dass manchmal ihre Wahrnehmung sehr erschwert wurde und überhaupt erst mög- lich war, wenn in der einschneidenden Furche eine größere An- sammlung der Substanz stattfand (Fig. 2b). Vielfach konnte über- haupt nichts von der Schicht nachgewiesen werden. Ungeachtet dessen gingen die Teilungen auf ganz normale Weise vor sich. Eine Stunde nach Beginn des Experiments waren die Eier bis zu zwei- und vierzelligen Furchungsstadien vorgeschritten. Weitere Besonderheiten waren nicht zu bemerken, vor allem kein Versuch der Zellen, sich gegeneinander abzurunden. Es geht daraus hervor, dass osmotische Verhältnisse, speziell Hypertonizität des umgebenden Mediums, ein Faktor sind, der die Ausbildung der hyalinen Schicht bedingt. Es frägt sich nur, ob nicht andere Faktoren noch im Spiel sind, resp. die osmotischen Verhältnisse nur indirekt wirken. Eine erschöpfende Antwort können wir hierauf nicht geben, immerhin wurden einige Versuche angestellt, um speziell die Möglichkeit chemischer Einwirkungen zu prüfen. Wir wählten zunächst Substanzen, die einen beschleunigen- 918 Goldschmidt u. Popoff, Uber die sogen. hyaline Plasmaschicht der Seeigeleier. den oder hemmenden Einfluss auf die Teilung ausüben, da ja die Ausbildung der hyalinen Schicht in engem Zusammenhang mit der Zellteilung steht. Alkohol wie Morphinzusatz übten jedoch gar keine Wirkung aus. Wurden sie aber mit Hyper- resp. Hypo- tonızität gepaart, so trat genau die gleiche Wirkung ein wie oben geschildert. Interessantere Ergebnisse versprachen Versuche mit kalkfreiem Seewasser, da ja Herbst die ganzen Beziehungen zwischen der hyalinen Schicht und den Erscheinungen der Entwickelung im kalk- freien Medium festgestellt hatte. Die Versuche, auf die wir später noch zurückkommen werden, ergaben aber genau das gleiche. Die Schicht wurde zunächst ganz normal ausgebildet in gewöhnlichem Ca-freiem Seewasser (Fig. 3a), in bedeutender Mächtigkeit in hypotonischem Ca-freiem Wasser (Fig. 3b), fast aber gar nicht in hypertonischem Ca-freiem Medium. Und endlich führten auch Versuche mit kar- bonatfreiem Wasser Fig. 3 Fig. 3b. zum gleichen Ergebnis. (Ersteres hergestellt nach dem Herbst- schen Rezept, letzteres aus Seesalz.) Wenn nun osmo- tische Verhältnisse der Faktor sind, der in aus- schlaggebender Weise die Bildung der hya- linen Schicht bedingt, wie kommt es, dass sie ja in natürlicher Umgebung auch auftritt? Eine Möglichkeit wäre die, dass eine einfache physikalische Ursache hierfür nicht zu finden sei, da es sich um einen Entwickelungsvorgang han- delt, der von den gleichen unbekannten Ursachen notwendig be- dingt ist, wie z. B. der Furchungsrhythmus. Dagegen spricht die Tatsache, dass das Ausbleiben der Bildung jener Schicht in hypotonischem Medium möglich ıst und sichtlich auf die Ent- wickelung des Ganzen keinerlei Einfluss übt. Die Annahme liegt somit nahe, dass die normale Bildung der Schicht der Ausdruck einer 1m Ei zur Zeit ihrer Entstehung sich vollziehenden Änderung | der osmotischen Verhältnisse ist. Da hypertonisches Medium ver- stärkend wirkte, so muss die Veränderung ın einer Verminderung des Flüssigkeitsgehaltes des Plasma bestehen. Nun ist es merk- würdig dase fic Ausbildung der Schicht zusammenfällt mit der Bilduro der ersten Furchungsspindel, und es liegt nahe, die beiden oe miteinander in Beziehung zu bringen. Wie diese Be- ziehungen im einzelnen sein mögen, ist schwer zu sagen. Dass Goldschmidt u. Popoff, Über die sogen. hyaline Plasmaschicht der Seeigeleier, 249 aber solche Vorgänge, die zu einer Abnahme des Flüssigkeitsgehaltes des Eies führen, parallel mit der Befruchtung gehen, ist nach allen unseren Kenntnissen wahrscheinlich. Bekanntlich hat zuerst Biitschli (1576) in seinem klassischen Werke den Versuch unternommen, die Vorgänge der Zellteilung durch von den Centren ausgehende Diffu- sionsstréme zu erklären. Später kam er auf Grund seiner Versuche an geronnener Gelatine (1892) zur Überzeugung, dass bei der Teilung die Zentren Flüssigkeit aus dem Protoplasma aufnehmen und die Strahlung so erzeugen, dass sie einen Teil der Flüssigkeit chemisch binden, so dass ihre Zunahme weniger beträgt, als dem Plasma Flüssigkeit entzogen wird (s. darüber auch Bütschli, 1892 b, 1898, 1900, 1903). Bei Annahme eines derartigen Vorganges wäre natür- lich mit Beginn der Teilung die postulierte Flüssigkeitsabnahme im Ei gegeben. Von anderer Seite wird größerer Wert auf das Wachsen des Furchungskernes durch Flüssigkeitsaufnahme und auf die Ver- Fig. 4 a. Fig. 4b. dichtung des Plasmas um die Zentren gelegt (Bütschli, 1876; Boveri, 1888; Teichmann, 1903; weiteres ferner bei Wilson, 1901; Giardina, 1903; Bonnevie, 1906). Ohne auf die Theorie der Zellteilung uns einzulassen, genügt es uns, dass allgemein Vorgänge beschrieben oder postuliert werden, die im entscheidenden Moment eine Herabsetzung des Wassergehaltes der befruchteten Eizelle bedingen. Weiter einzudringen in diese Dinge, z. B. den mutmaßlichen Anteil des Spermakerns an der osmotischen Ver- änderung festzustellen, wäre ja mit einigen Versuchen möglich, die besonders die osmotischen Verhältnisse bei künstlicher Partheno- genese beträfen. Leider schlugen diese Experimente in diesem ' Herbst wegen Ungunst des Materials fehl. Dagegen konnten wir an reifen unbefruchteten Eiern nach Einlegen in das hypertonische Wasser folgendes feststellen. Nach wenigen Minuten wurden an der ganzen Oberfläche des Eies feine Pseudopodien gebildet (Fig. 4a), ‚so dass das Ki wie ein Heliozoon aussah. Dann hob sich an einem Pol tropfig eine ektoplasmatische Kappe ab, die allmählich auf die | ganze Eioberfläche sich erstreckte (Fig. 4b). Sie war vollständig | I | | 220 Goldschmidt u. Popoff, Über die sogen. hyaline Plasmaschicht der Seeigeleier, von feinen radiiren Fäserchen durchsetzt und sah völlig aus wie eine Dottermembran. Durch Pressen ließ sich aber leicht fest- stellen, dass davon nicht die Rede sein konnte. Sowohl Entstehung wie Aussehen dieser Schicht war eine ganz andere wie bei der typischen hyalınen Schicht, so dass wir schließen möchten, dass zu ihrer Ausbildung das Vorhandensein einer Strahlung im Ei not- wendig ist. | Wenn allerdings die physikalischen Vorgänge bei der Bildung der Strahlenfigur ausschlaggebend sind, dann müsste be1 jeder neuen Teilung sich von neuem eine hyaline Schicht bilden. Davon ist aber für gewöhnlich nichts zu sehen. Nur bei Versuchen mit hyper- tonischem Medium gelang es einmal, in vier und acht Zellenstadien einen solchen Vorgang zu beobachten. Vielleicht findet er auch normalerweise statt, aber in so bescheidenem Umfang, dass er sich der Beobachtung entzieht. Gänzlicb unerklärt bleibt durch alle diese Versuche, warum die hyaline Schicht sich schließlich vom übrigen Zellplasma abgrenzt und auch chemisch sondert. Es wäre an eine Beziehung zu den ja vielfach angenommenen und auch be- obachteten zentripetalen Strömungserscheinungen bei der Teilung (s. Erlanger, 1897; Rhumbler, 1896, 1899; Bütschli, 1900; Wilson, 1901) zu denken, Beweise dafür fehlen aber. C. Die Funktion der hyalinen Plasmaschicht. Schließlich ist die Frage zu beantworten, ob der hyalınen Plasmaschicht während des normalen Furchungsvorganges eine be- stimmte Funktion zukommt. Hammar hatte sie ja für den Zu- sammenhalt der Furchungszellen verantwortlich gemacht und Herbst sich dem auf Grund seiner Versuche mit Ca-freiem Wasser ange- schlossen. Es lag daher nahe, die Herbst’schen Versuche einmal mit der Wirkung osmotischer Veränderungen zu kombinieren. Es wurden also die Eier bei Beginn der ersten Furchungsspindel (ohne oder mit vorherigem Entfernen der Dottermembran durch Schütteln) in Ca-freies Wasser vom spez. Gew. 1,015-1,030-1,045 gebracht. Es stellte sich heraus, dass die hyaline Schicht zunächst die gleichen Verhältnisse wie bei den Versuchen mit chemisch-normalem | Wasser zeigte. Einige Zeit nachher begann sie aber in allen drei — Lösungen zu zerfließen. Dies wurde eingeleitet durch eine tropfen- artige Zusammenballung (Fig. 5b). Der Vorgang verlief also bei — unserem Material ein wenig anders, als es Herbst beobachtete, in dessen Versuchen die Schicht eine Art von Strahlenkranz um die — Blastomeren bildete. Dieser Prozess störte die Zellteilung weiter _ nicht, nur dass die entstandenen Blastomeren statt verbunden zu — bleiben, auseinandergingen, genau wie es Herbst beschreibt. Das | letztere war noch deutlicher in jenen Fällen zu beobachten, wo die — Eier erst nach vollendeter erster Furchung in das kalkfreie Wasser —_— Goldschmidt u. Popoff, Uber die sogen. hyaline Plasmaschicht der Seeigeleier. 2921 gebracht wurden. Man konnte hier auch sehen, wie die hyaline Plasmaschicht sich von der Eiperipherie zusammenzuziehen begann, in der Furche sich ansammelte, um später in einzelne Kugeln zu zerfließen. Die infolgedessen ohne Zusammenhang gebliebenen Blasto- meren gingen ebenfalls, wie bei dem ersten Versuch, auseinander. Im Verlauf dieses letzten Prozesses zeigten sich aber Unter- schiede bei den verschiedenen Lösungen. So konnte es im hyper- tonischen Wasser infolge der Mächtigkeit der hyalinen Schicht nicht zu einem vollständigen Zerfließen kommen. Die Blastomeren ent- fernten sich zwar etwas voneinander, blieben jedoch noch durch die Reste der hyalinen Schicht verbunden. Infolge des langsamen Fig. 5a. no Verlaufes des Auseinanderrückens konnte man beobachten, dass zwischen den einzelnen Blastomeren Fäden körnigen Protoplasmas sich ausspannten (Fig. 5a). Von Herbst wird ebenfalls derartiges berichtet. Natürlich war die Dotterhaut entfernt.) Dass in hypotonischer Lösung die Blastomeren besonders leicht auseinandergewichen wären, konnte nicht beobachtet werden. Wir möchten also etwa den gleichen Schluss wie Herbst ziehen. Die hyaline Plasmaschicht vermag bei der normalen Furchung die Blastomeren zusammenzuhalten; es ist. dies aber nicht eine not- wendige Funktion, da die Blastomeren auch nicht auseinanderfallen, wenn sie fehlt. Umgekehrt scheint ihre Zerfließbarkeit in Ca-freiem Medium ein Faktor zu sein, der das Auseinandergehen der Furchungs- zellen unter diesen Umständen begünstigt. Dass sie nicht der ein- 9922 Goldschmidt u. Popoff, Uber die sogen hyaline Plasmaschicht der Seeigeleier. zige ist, wie es auch Herbst vorsichtig annimmt, geht daraus hervor, dass das Auseinanderweichen auch erfolgt, wenn in hyper- tonischer Lösung ein Zerfließen nicht stattfindet. Die Dehnung der Schicht, ihr Auseinanderziehen zu Fäden, deutet in diesem Fall auf Ursachen innerhalb der mit einer gewissen Kraftwirkung aus- einanderweichenden Zellen. Herbst lehnt es in einer Fußnote zum Schluss seiner Arbeit ab, zur Erklärung Roux’s negativen Cytotropismus heranzuziehen. Mit Recht weist er darauf hin, dass es ungereimt sei, die in Ursachen besser bekannteren Erscheinungen durch ın den Ursachen unbekanntere erklären zu wollen. Es ist deshalb aber doch nicht ausgeschlossen, dass diese Erscheinungen zu dem Tatsachenkomplex gehören, den man durch die Bezeichnung negativer Cytotropismus umschreiben kann, ohne dass eine. ursäch- liche Erklärung damit gegeben ist. Selbstverständlich geht aus den letzten wie allen erwähnten Beobachtungen und Versuchen hervor, dass die Ziegler’sche Theorie der Zellteilung für das Seeigelei undurchführbar ist. Denn die Teilung verläuft ganz normal, wenn die nach der Theorie aktiv eingreifende Schicht zerflossen ist (Ca-freies Medium), gar nicht oder fast gar nicht gebildet ist (hypotonisches Medium) oder von der Zelloberfläche abgetrennt ist. Zitierte Literatur. Andrews, E. A. (1897 a): Spinning in Serpula Eggs. American Naturalist, Vol. XXXI, September. Derselbe (1897 b): Hammar’s ectoplasmie Layer. Ibid. Dezember. Bonnevie, K. (1906): Untersuchungen über Keimzellen I. Jenaische Zeitschrift, Bd. 41. Boveri, Th. (1888): Zellstudien II. Jena. Derselbe (1903): Über das Verhalten des Protoplasma bei monozentrischen Mitosen. Sitzungsber. d. phys.-med. Gesellsch. zu Würzburg. Bütschli, O. (1876): Studien über die ersten Entwickelungsvorgänge der Eizelle ete. Abh. Senckenberg. nat.-hist. Ges. Frankfurt a./M., Bd. 10. Derselbe (1892 a): Uber die künstliche Nachahmung der karyokinetischen Figur. Verh. nat.-hist. med. Ver. Heidelberg. N.F. V. 1. Derselbe (1892 b): Untersuchungen über mikroskopische Schäume und das Proto- plasma. Leipzig, Engelmann. ' Derselbe (1898): Untersuchungen über Strukturen. Leipzig. Derselbe (1900): Bemerkungen über Plasmaströmungen bei der Zellteilung. Arch. f. Entwickelungsmech., Bd. 10. Derselbe (1903): Bemerkungen zu der Arbeit von H. Giardina. Anat. Anz., Bd. 22. v. Erlanger, R. (1897): Beobachtungen über die Befruchtung und ersten zwi Teilungen an den lebenden Eiern kleiner Nematoden. Biol. Centralbl., Bd. 17. Fol, H. (1879): Recherches sur la fecondation. Mém. de la Soc. de Phys. et d’Hist. nat. de Genéve. Bd. 27. Giardiana, A. (1903): Nota sul mecanismo della fecondazione etc. Anat. Anz., Bd. 22. Hammar, Aug. (1896): Uber einen primären Zusammenhang zwischen den Fur- chungszellen des Seeigeleies. Arch. f. mikr. Anat., Bd. 47. Arrhenius, Immunochemie. 223 Derselbe (1897): Über eine allgemein vorkommende primäre Protoplasmaverbindung zwischen den Blastomeren. Ibid. Bd. 49. Herbst, C. (1900): Uber das Auseinandergehen von Furchungs- und Gewebs- zellen im kalkfreien Medium. Arch. f. Entwickelungsmech., Bd. 9. Hertwig, O. (1876): Beitr. z. Kenntnis d. Bildung, Befruchtung und Teilung des tierischen Eiee.. Morph. Jahrb., Bd. 1. Krassuskaja und Landau (1903): Uber eine an befruchteten und sich furchenden Seeigeleiern um den Dotter zu beobachtende gallertige Schicht. Biol. Cen- tralbl., Bd. 23. ; Rhumbler, L. (1896): Versuch einer mechanischen Erklärung der indirekten Kern- und Zellteilung I. Arch. f. Entwickelungsmech., Bd. 3. Derselbe (1899): Die Furchung des Ctenophoreneies nach Ziegler und deren Mechanik. Ibid. Bd. 8. Selenka, E. (1878): Zoologische Studien. 1. Befruchtung des Eies von To.xo- pneustes variegatus. Leipzig. Derselbe (1883): Studien zur Entwickelungsgeschichte der Tiere, Heft 2. — Die Keimblatter der Echinodermen. Wiesbaden. Teichmann, E. (1903): Uber die Beziehung zwischen Astrosphären und Furchen. Arch. f. Entwickelungsmech., Bd. 16. Wilson, E. B. (1901): Experimental Studies in cytology I. Arch. f. Entwickelungs- mech., Bd. 12. Ziegler, H. E. (1898 u. 1903): Experimentelle Studien über die Zellteilung. Arch. f. Entwickelungsmech., Bd. 6, 7 u. 16. Derselbe (1904): Die ersten Entwickelungsvorgänge des Echinodermeneies, insbe- sondere die Vorgänge am Zellkörper. Festschr. f. E. Haeckel. Svante Arrhenius: Immunochemie. Anwendung der physikalischen Chemie auf die Lehre von den physiologischen Anti- körpern. (Aus dem engl. Manuskript übersetzt von A. Finkelstein.) Leipzig 1907, Akad. Verlagsges., gr. 8°, VI u. 203 8. Das vorliegende Buch, eine augenscheinlich recht erweiterte Wiedergabe von Vorlesungen, die der berühmte theoretische Phy- siker im Sommer 1904 zu Berkeley in Kalifornien gehalten hat, ist sehr eigenartig. Der Verf. ıst auf dem behandelten Gebiet ja ge- wissermaßen ein Dilettant, aber er hat ın wenigen Jahren die über- aus große Literatur desselben in bewundernswertem Maße sich zu eisen gemacht, wie eben dieses Buch mit seiner Fülle tatsächlicher Angaben beweist; seine eigenen Untersuchungen hat er unternommen angeregt durch und in Gemeinschaft mit namhaften Forschern der Im- munitätslehre, Ehrlich, Madsen, Hamburger, indem diese die technische Anordnung, er die theoretische Verwertung der Versuche übernahmen. Aber das Buch beweist, dass er sich auch über die so häufig den Ausfall der Versuche bestimmende Technik genügende Kenntnisse erworben hat, um die wesentlichsten Punkte in ein- fachen Worten klar anzugeben. Das Buch ist in vielen Abschnitten eine Apologie seiner selbst: während es berichtet, wie die Methoden der physikalischen Chemie auf die Wirkung der organischen Fermente und die Reaktionen der Antigene und Antikörper gegeneinander anzuwenden seien und was auf diesem Wege schon erreicht sei, wird die Berechtigung dieser Forschungsweise erst zu erweisen gesucht. Diese apologetische 994 Arrhenius, Immunochemie. Haltung ist verständlich, wenn man weiß, in wie vielfache Polemik Arrhenius verstrickt wurde wegen seiner Deutung einzelner Im- munitätserscheinungen, und wie ihm jedesmal der Einwand ent- gegengehalten wurde, dass gerade für den betreffenden Fall es sich nicht um Vorgänge handle, die sich nach den Regeln der theo- retischen Chemie behandeln ließen. Für den Fernerstehenden ver- wirrend ist es, dass dieser Einwand, in bezug auf Einzelfälle, auch von Ehrlich, dem ersten Vertreter einer chemischen Auffassung der Immunitätserscheinungen, und seinen Schülern erhoben wurde und dass andererseits die grundsätzlichen Gegner Ehrlich’s sich auf Arrhenius berufen. Es ıst nicht möglich, hier auf die verschiedenen Einzelfälle einzugehen, in denen Arrhenius von Ehrlich, Nernst u. a. abweichende Anschauungen vertritt, das einemal die Anwendbarkeit, das anderemal die Unzulänglichkeit einfacherer Reaktionsverhältnisse und entsprechender Formeln verfechtend. Es ist auch unwesentlich, ob er in diesen Einzelfällen recht oder unrecht behalten wird. In dem ganzen Buche sınd eine solche Fülle von gemessenen Reaktions- vorgängen niedergelegt, darunter solche, in denen verhältnismäßig einfache Formeln den bei oberflächlicher Betrachtung fast regellosen Ausfall der Versuche vorauszusagen gestatten, dass genug einwand- freies Material bleibt, um die Berechtigung und Fruchtbarkeit dieser Untersuchungsmethode zu erweisen. Arrhenius selbst betont sehr das Verdienst Ehrlich’s, die chemische Betrachtungsweise eingeführt zu haben; er sieht es nur als notwendige Konsequenz, aber zugleich als Probe auf das Exempel an, nun auch messend und berechnend die Reaktionen zu verfolgen. Denn’ dem qualitativen Ausfall der Versuche können die verschie- densten Annahmen über die Zahl und die Beziehungen der Re- aktionskomponenten entsprechen. Erst die Übereinstimmung der aus der Formel errechneten Beziehungen mit den Beobachtungen wird in den meisten Fällen den Vorzug der einen Hypothese vor den anderen erweisen können. Unzweifelhaft wird es noch außerordentlicher Arbeit bedürfen, ehe auf dem weiten Felde der Fermentwirkungen und der Immunitäts- erscheinungen überall die Vorgänge derart gemessen werden können, um festzustellen, ob es sich um mono- oder bimolekulare Reaktionen, um echte oder „falsche“ Gleichgewichte u. s. w. handle und manche Versuchsreihen, die sich Arrhenius als verhältnismäßig einfach zu berechnend dargeboten haben, werden sich vielleicht auch als unzuverlässig erweisen. Aber jedenfalls wird die „Immunochemie* jedem Forscher auf diesem Gebiet nicht nur sehr viel Anregung, sondern auch eine bequeme Fundgrube der exakten Beobachtungen bieten und manchem Fernerstehenden schon durch die den exakten 7 Naturwissenschaften entlehnte Darstellungsweise und die Vermei- | dung vieler spezieller Kunstausdrücke ein besonders angenehmer © Führer sein. Werner Rosenthal, Göttingen. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Die W eltalter. Liehtstrahlen aus Franz von Baaders Werken von Dr. F. Hoffmann. M. 6.—. Trink- und Badekuren zu Hause. Ein Nachschlagebuch für Ärzte von Dr. Georg Hünerfauth. Geb. M. 2.80. Lehrbuch der Ohrenheilkunde Prof. Dr. L. Jacobson und Dr. L. Blau. Mit 345 Abbildungen auf 19 Tafeln. Dritte, neu bearbeitete Auflage. Geb. M.u8 Über die Behandlung der Schlaflosiskeit Dr. M. Jastrowitz. il Il, Einiges über das Physiologische und über dıe aussergewöhn- lichen Handlungen im Liebesleben des Menschen. Von Dr. M. Jastrowitz. Vortrag, gehalten am 22. Juni: 1903 im Verein für innere Medizin, Berlin. M. 1.—. Die Gehörwerkzeuse der Mollusken in ihrer Bedeutung für das natürliche System derselben von Dr. H. von Ihering. M. —.80. Diesem Hefte liegt ein Prospekt der Verlagsbuchhandlung Wilhelm Engelmann in Leipzig, betr. „Archiv für Zellforschung, herausgegeben von Dr. Richard Goldschmidt“, bei. K. B. Hof- und Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. aan Bio ogisches Gentralblatt Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in Miinchen, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. XXVIII. Bad. 1. April 1908. Ne, Leipzig. Verlag von Georg Thieme. Rabensteinplatz 2. Reg.-Bez. Breslau. Ba cud | Wa Bahnst. Bed oder Nachod. 400 m über dem Meeresspiegel. Saison: Vom i. Mai bis Oktober. Arsen-Eisenquelle: Gegen Herz-, Blut-, Nerven- und Franenkrankheiten. Lithionquelle: Gegen Gicht, Nieren- und Blasenleiden. Natürliche Kohlensäure- und Moorbäder. Neu erbohrte, ausserordentlich kohlensäurehaltige und ergiebige Quelle. Komf. Kurhotel. Theater- u. Konzertsäle. Anstalt für Hydro-, Elektro- u. Licht- Therapie. Medico-mechanisches institut. Hochwasserleitung u. Kanalisation. Badeärzte: Geh. Sanitäts-Rat Dr. Jacob, Dr. Herrmann, Dr. Karfunkel, Dr. Witte, Privat- Dozent Dr. Ruge, Sanitits-Rat Dr. Kuhn, Dr. Silbermann, Dr. Münzer, Dr. Brodzki, Dr. Hirsch, Dr. Loebinger, Dr. .Kabierschke, Dr. Bloch, Dr. Schnabel, Zahnarzt Dr. Wolfes. Brunnen-Versand durch die Generalvertretung Dr. S. Landsberg, Berlin SW., Gitschiner- strasse 107, Telephon Amt IV 1048, und die Bade-Direktion Kudowa Prospekte gratis durch sämtliche Reisebüros, RUDULF MOSSE und Die Bade-Direktion. Verlag von Georg Thieme in ‚Leipzig. | - Vorlesungen über soziale Medizin von Prof. Dr. Th. Rumpf, Bonn. M. 8.—, geb. M. 9.—. eA Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. Bd. XXVIII. 1. April 1908. AT: Inhalt: Semon, Hat der Rhythmus der Tageszeiten bei Pflanzen erbliche Eindrücke hinterlassen ? — Doflein, Uber Schutzanpassung durch Ahnlichkeit. — Kifskalt und Hartmann: Praktikum der Bakteriologie und Protozoologie. — Erklärung. — Henriksen, Darwinism To-Day. Hat der Rhythmus der Tageszeiten bei Pflanzen erbliche Eindrücke hinterlassen ? Von Richard Semon. In einem vor 3 Jahren in diesem Centralblatt veröffentlichten Aufsatz!) habe ich auf eine eigentümliche erbliche Eigenschaft auf- merksam gemacht, die ich bei einer „schlafenden“ Pflanze, Albixzia (Acacia) lophantha aufgefunden und bereits in der ersten Auflage der Mneme?) kurz besprochen habe, eine Eigenschaft, die bis dahin den verschiedenen Untersuchern der Variationsbewegungen ent- gangen war. Dagegen hat in bezug auf das Längenwachstum God- lewskı eine Beobachtung gemacht und als kurze Notiz veröffent- licht?), aus der auf eine ähnliche erbliche Eigentümlichkeit auf diesem Gebiet zu schließen wäre. Zum Teil durch meine Publikationen veranlasst hat dann W. Pfeffer, dem wir grundlegende Untersuchungen über die periodischen Bewegungen der Blattorgane verdanken‘), seine Stu- | 1) R. Semon. Uber die Erblichkeit der Tagesperiode. Biolog. Centralblatt, | Bd. 25, Nr. 8, S. 241—252, 1905. | 2) R. Semon. Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens. Leipzig, W. Engelmann, 1. Aufl., 1904. | 3) E. Godlewski. Über die tägliche Periodizität des Längenwachstums. Anz. 'd. Akad. in Krakau, 1889-90. | 4) W. Pfeffer. Untersuchungen über die periodischen Bewegungen der Blatt- ‚ organe. Leipzig, W. Engelmann, 1875. Er XxVM. 15 | | 926 Semon, Hat d. Rhythmus d. Tageszeiten b. Pflanzen erbl. Eindr. hinterlassen ? dien wieder aufgenommen und neuerdings eine umfangreiche Arbeit über die Entstehung- der Schlafbewegungen der Blattorgane ver- öffentlicht >). Diese Publikation bringt, wie es bei einer weitausgreifenden Arbeit dieses ausgezeichneten Pflanzenphysiologen nicht anders zu erwarten ist, der Wissenschaft wertvolle Bereicherungen: eine Ver- vollkommnung der Untersuchungstechnik durch Einführung der Methode der Selbstregistrierung, die auch ich bereits in meiner Arbeit von 1905 (S. 244) als erstrebenswert bezeichnet hatte; viele wertvolle Beobachtungen ım einzelnen, wichtige, wenn auch wohl noch nicht abschließende Aufschlüsse über die Beziehungen der autonomen Bewegungen zu den Schlafbewegungen. In der Frage endlich, auf die sich meine Forschungen beziehen, und die ich in dem Titel des vorliegenden Aufsatzes formuliert habe: Hat der Rhythmus der Tageszeiten bei Pflanzen erbliche Ein- drücke, vererbbare Engramme hinterlassen?, hat Pfeffer einen nicht ganz leicht zu verstehenden Standpunkt eingenommen. Seine Arbeit nämlich, indem sie mich auf das lebhafteste und sozusagen auf der ganzen Linie bekämpft, ergibt im Grunde eine zwar nicht formelle, aber faktische Bestätigung meines Fundes und seiner Verwertung. Es sei mir gestattet, in folgendem die Klärung des hierin liegenden Widerspruches, die Feststellung dessen, was eigent- lich noch strittig und was allseitig zugegeben ist, vorzunehmen und gleichzeitig zu zeigen, dass man Schlüsse aus dem allmählichen Schwinden der periodischen Bewegungen der Pflanzen, die unter konstanten Verhältnissen gehalten werden, nicht ziehen darf, ohne die engraphischen Einflüsse dieser nur scheinbar indifferenten Ver- hältnisse zu berücksichtigen, d. h. ohne auch hier den mnemischen Faktor in Rechnung zu setzen. Was zunächst die reale Unterlage der Erörterung, die Experi- mente, anlangt, so zeichnen sich diejenigen Pfeffer’s durch folgendes aus: er hat eine größere Anzahl von Arten ıns Bereich seiner Unter- suchung gezogen, er hat für seine Untersuchung selbstregistrierende Methoden ersonnen, er hat endlich mit sehr starken Lichtreizen gear- beitet und möglichst nur die nichtthermischen Strahlen wirken lassen, die Wärmestrahlung also tunlichst beseitigt. Im direkten Gegensatz zu mir hat er aber nur in ganz vereinzelten Fällen Keimpflanzen untersucht, die noch nicht der Periodizität des gewöhnlichen äußeren Beleuchtungswechsels ausgesetzt gewesen waren. Er hat vielmehr mn der Regel nur mit Pflanzen operiert, bei denen die bereits vorhandene 12: 12stündige Periodizität unterdrückt worden war. Dass dieser Unterschied bei richtiger Auffassung dieser Unterdrückung, die 5) W. Pfeffer. Untersuchungen über die Entstehung der Schlafbewegungen der Blattorgane. Abhandl. d. math. phys. Klasse d. kgl. sächs. Ges. d. Wissensch. Bd. 30, Nr. 3, 1907. Semon, Hat d. Rhythmus d. Tageszeiten b. Pflanzen erbl. Eindr. hinterlassen? 227 keineswegs ein bloßes Ausklingenlassen bedeutet, ein äußerst schwer- wiegender ist, liegt auf der Hand und wird uns noch klarer werden, wenn wir der eigentlichen Bedeutung jenes vermeintlichen „Aus- klingens“ auf den Grund gehen. In der sonstigen Versuchsanordnung ist Pfeffer in mancher Beziehung dem von mir eingeschlagenen Weg gefolgt. So hat er vor allen Dingen nicht nur mit 12: 12stündigem Beleuchtungs- wechsel bezw. konstanter Erhellung oder Verdunkelung gearbeitet, was man bisher ausschließlich getan hat, sondern er hat wie ich auch andersartige Tempi angewendet, vor allem 6:6 und 24: 24- stündigen Beleuchtungswechsel, hie und da auch, was ich nicht getan habe 18:18, 8:4, 3:3, 2:2, 1: 1stündigen Wechsel. Die von mir angewendete Untersuchungsmethode unterscheidet sich von der Pfeffer’schen in drei Hauptpunkten: erstens der Nichtanwendung von selbstregistrierenden Methoden; zweitens der ausschließlichen Benutzung von Keimpflanzen, die in ihrem indi- viduellen Leben dem natürlichen Beleuchtungswechsel noch nie ausgesetzt worden waren bei denen also nicht die bereits vor- handene Schlafbewegung durch konstante Beleuchtung oder Ver- dunkelung unterdrückt werden musste; drittens der Anwendung weit schwächerer Reize, wobei ich auf eine Aussiebung der thermischen Strahlen als für unsere Problemstellung irrelevant verzichtet habe. Was den ersten Punkt betrifft, so erkenne ich selbstverständ- lich in der Ausbildung der selbstregistrierenden Methoden durch Pfeffer einen bedeutenden technischen Fortschritt an, der die Beobachtung erleichtert und unter Umständen auch sonst von Vorteil ist. Doch bietet diese Methode wenigstens auf der jetzigen Höhe ihrer Ausbildung auch erhebliche Nachteile. Aus dem Um- stande, dass Pfeffer nicht in einem einzigen Falle eine Keim- pflanze von Albixzia mit seinen selbstregistrierenden Methoden untersucht hat, darf man wohl schließen, dass die Armatur für die Selbstregistrierung, so leicht sie an sich auch ist, für eine schwache Keimpflanze mit ihren zarten Fiederblättchen noch viel zu schwer ist. Offenbar aus diesem Grunde hat Pfeffer (mit einer Ausnahme bei Phaseolus, auf die wir noch zurückkommen) ganz auf die Verwertung dieser äußerst wichtigen Untersuchungsobjekte ver- zichtet. Dies ist zweifellos ein bedeutender Nachteil. Ob mit der Pfeffer’schen Glimmerregistriermethode für Fieder- blätter — die andere von Pfeffer bei stärkeren Einzelblättern und Blattstielen angewandte Methode registriert offenbar sehr feine Details — ebenso feine Details registriert werden wie mit der alten Methode der Ablesung der Winkelstellung der Blätter durch den Beobachter lasse ich dahingestellt. Ein Vergleich der bezüglichen Kurven Pfeffer’s mit den meinigen scheint mir nicht gerade dafür zu sprechen und lässt die Vermutung aufkommen, dass die den zarten 15* 998 Semon, Hat d. Rhythmus d. Tageszeiten b. Pflanzen erbl. Eindr. hinterlassen ? Fiederblättchen zugemutete Arbeitsleistung doch wahrscheinlich eine zu große ist, um feinere Details zum Ausdruck kommen zu lassen. Ein sicheres Urteil könnte man nur abgeben, wenn man von einem Blatt eine selbstregistrierte Kurve schreiben lassen und gleichzeitig durch Ablesung der Bewegungen eines anderen Blattes derselben Pflanze eine Kurve herstellen würde. Solche direkt vergleichbaren Kurven hat Pfeffer nicht vorgelegt und daher muss diese Frage vorläufig unentschieden bleiben. So viel aber steht fest, dass die Nachteile der Ablesung der Blattstellung und fortlaufenden Notierung durch den Beobachter bei hinreichender Gewissenhaftigkeit und hinreichendem Fleiß dieses letzteren minimale sind. Einiger Fleiß allerdings ist erforderlich, und hier habe ich die erste irrtümliche Angabe Pfeffer’s über meine Versuche zu berichtigen. Er schreibt (S. 332 Anm.): „Aus den Kurven (Semon’s) ist zu ersehen, dass diese auf Grund von Ablesungen konstruiert wurden, die zumeist ın etwa 6stündigen Intervallen angestellt waren.“ Dies ist ganz unrichtig. Meine Ablesungen erfolgten in der Regel (vereinzelte Ausnahmen sind natürlich vorgekommen) von 6 Uhr morgens bis 12 Uhr nachts in 2stündigen, von 12 Uhr nachts bis 6 Uhr morgens in 3stündigen Intervallen. Nachts ver- fuhr ich gewöhnlich so, dass ich um 12 Uhr vor dem Zubettgehen die letzte Ablesung machte, mich um 3 Uhr durch eine Weckuhr wecken ließ und um 6 Uhr wieder zur ersten Beobachtung auf- stand, ein bei monatelanger Dauer die Nerven angreifendes Ver- fahren, dessen Ersatz durch Selbstregistrierung sehr zu begrüßen wäre, wenn letztere sich auch auf Keimpflanzen von Albixzia, Mi- mosa etc. ausdehnen ließe. Dass: Pfeffer meinen Kurven die 2- bezw. 3stiindige Ablesung nicht angesehen hat, beruht zum Teil auf einer Eigentümlichkeit der hier untersuchten periodischen Bewegung, die auch an den neuen Pfeffer’schen Kurven zutage tritt (Pfeffer a. a. O. 1907, Fig. 12, S. 311); nämlich auf dem raschen kontinuierlichen Ansteigen der Kurven und dem langen Verweilen auf dem Gipfel und im Tal der Kurve. Eine kleine Überlegung zeigt, dass sich auf solchen Kurven die Ablesungen als solche an vielen Stellen gar nicht markieren’können. Eine genauere Betrachtung meiner Kurven hätte aber Pfeffer ohne weiteres über meine 2- bezw. 3stündige Ablesung unterrichten können. Es ist zu deutlich, als dass ich es im einzelnen nachzuweisen brauchte. Was die benutzten Objekte anlangt, so verwendete ich (außer bei gewissen Vorversuchen, bei denen auch ältere Exemplare von Mimosa pudica beobachtet wurden) ausschließlich Keimpflanzen von Albixxia (Acacia) lophantha in verschiedenen Kulturrassen. Die Samen bezog ich in den Jahren 1903, 1904, 1905 von Haage und Schmidt in Erfurt. Ich gebe zu, dass die Beschränkung auf eine Semon, Hat d. Rhythmus d. Tageszeiten b. Pflanzen’erbl. Eindr. hinterlassen? 229 einzige Spezies ein Mangel ist; diesen Mangel konnte ich aber in Anbetracht anderweitiger Arbeitsaufgaben nicht beseitigen, und er scheidet jetzt ganz aus, weil mittlerweile die von mir bei Albixzia aufgefundene erbliche Disposition durch Pfeffer’s neueste Unter- suchungen auch bei verschiedenen anderen Pflanzen, vor allem Phaseolus nachgewiesen ist. Dass ich endlich ausschließlich mit schwächeren Reizen experi- mentiert habe (10kerzige Kohlenfadenlampe), ist für den Erfolg meiner Versuche nur von Vorteil gewesen, denn auf diese Weise konnte die ererbte Disposition neben der Wirkung der Original- reize (den aitionastischen Reaktionserfolgen) erst in Erscheinung treten, ohne durch letztere zurückgedrängt und unkenntlich gemacht zu werden. Die Wärmestrahlen habe ich bei meinen Reizversuchen absichtlich nicht ausgeschlossen und zwar aus folgendem, a.a.O.S. 243 angegebenen Grunde: „Während die täglichen Temperaturschwankungen bei dieser Versuchsanordnung als so gut wie ausgeschaltet zu betrachten sind, wurden andererseits keine Vorkehrungen getroffen, um ein Steigen der Temperatur im Dunkelschrank während der Belichtung und ein Fallen während der Verdunkelung zu verhindern. Es wurde dies absichtlich nicht vermieden, weil so die Bedingungen den natür- lichen Verhältnissen ähnlicher wurden und weil gerade dadurch innerhalb des Dunkelschranks ein thermischer 6- bezw. 24stündiger Turnus entstand.“ Schwer verständlich ist diesen doch unanfechtbaren Darlegungen gegenüber der allerdings nicht bestimmt ausgesprochene Verdacht Pfeffer’s (a. a. O. 1907, S. 333), jene thermischen Strahlen, die doch immer nur einen 6:6 oder 24: 24stiindigen Rhythmus indu- zieren konnten, seien die Verursacher des in meinen Versuchen neben der Wirkung der Originalreize auftretenden 12: 12stündigen Rhythmus, der als das Ergebnis einer erblichen Eigenschaft jetzt von Pfeffer bei anderen Pflanzen (Phaseolus) nicht geleugnet und nur für Albixzia in Abrede gestellt wird. Noch an verschiedenen anderen Stellen lässt Pfeffer einfließen, es könnten vielleicht Temperaturschwankungen bei meinen Ver- suchen mitgespielt haben. So habe ich in meiner Kurve I S. 246 wiedergegeben, wie ein Blatt einer Albixxia, die in 24 : 24stündigem Beleuchtungswechsel gehalten war, nach Aufhören dieses Wechsels in konstanter Dunkelheit „noch volle 5 Tage lang“ Schlafbewegungen in 12: 12stündigem Rhythmus vollführte. Dazu bemerkt Pfeffer: „Auch muss ich dahingestellt lassen, ob etwa Temperaturschwan- kungen bei dem Versuchen Semon’s (Biol. Centralbl. 1905, Bd. 25, >. 246, Kurve I) mitspielten, bei welchen die Tagesbewegungen der Blättchen von Albixzia noch nach 5tägigem Aufenthalt im Dunkeln deutlich hervortraten.“ Zunächst ist hier wieder ein Irr- 330 Semon, Hat d. Rhythmus d. Tageszeiten b. Pflanzen erbl. Eindr. hinterlassen ? tum zu berichtigen. Ich habe weder angegeben noch in der Kurve graphisch dargestellt, dass die Bewegungen „noch nach“ 5 Tagen bemerklich gewesen seien. Vielmehr sage ich ausdrücklich: „Erst nach Ablauf des fünften Tages trat Dunkelstarre ein.“ In den meisten meiner Versuche hörten die periodischen Bewegungen unter konstanten Beleuchtungsverhältnissen ım Laufe des vierten oder des fünften Tages auf, zuweilen auch noch früher (vgl. meine Kurven S. 246, 247). In Pfeffer’s eigener Kurve von Albixzia (Fig. 13, S. 313) erfolgten deutliche iach tenement noch volle 4 Tage nach der tiperaiieane ins Dunkle (1.—4. Mai) und leichtere Oszilla- tionen sogar noch am 5. Mai. Und zwar bei einer Pflanze, die die Kraft aufwenden musste, diese klemen Oszillationen moet aufzu- schreiben, und die nicht, wie die meinigen, sich völlig frei bewegen konnte. Der hier von Pfeffer urgierte Gegensatz scheint mir sachlich nicht begriindet und der daraus abgeleitete Verdacht, dass Temperaturschwankungen bei meinen Versuchen mitgespielt hätten, etwas weit hergeholt und nicht gerade gerecht. Dies um so mehr, als ich ausdrücklich angegeben habe, wie ich die täglichen (12 : 12stündigen) Temperaturschwankungen durch Dauerheizung des Versuchsraums mittelst eines regulierten Dauer- - brandofens und durch Vornahme der Versuche in einem Thermostaten, dessen wassergefüllte Hohlwände die an sich geringen Temperatur- schwankungen des Raums bis auf ein Minimum ausg sillchem, eliminiert habe. Wie ich jetzt hinzufügen will, habe ich Sorge ai agen, dass die Temperaturschwankungen des äußeren Raums 3°C. nicht überschritten und dass, wie ich mich durch Kontrollmessungen überzeugt habe, die Innentemperatur des unerleuchteten Thermostaten nur mit größter Langsamkeit innerhalb engster Grenzen schwankte. Aber vielleicht überzeugender als diese Angaben wird ein Blick auf meine Kurven noch wirken. Sie zeigen auf das deutlichste, dass die kräftigen 12: 12-stündigen Bewegungen, die man auf ihnen allen wahrnimmt, nicht durch äußere Temperatureinflüsse induziert sind. Denn dann müsste man die Minima zu der Zeit erwarten, wenn es draußen am kältesten ist, also etwa von Mitternacht bis 6 Uhr früh, zumal dann auch der Ofen am ehesten in seiner Funktion nachlassen wird. Nun sieht man an unzähligen Stellen meiner Kurven gerade gegen oder bald nach Mitternacht die Öffnungsbewegungen einsetzen, z. B. in Kurve II am 11., 12., 13., 14., 15. März, in Kurve III am) ial. Januar, in Kurve IV cm 9 12, 13. Januar, conn oft das Maxi- mum der Öffnung in der Morsentrühe um 6, in anderen Fällen wieder alles umgekehrt, überhaupt eine souveräne Unabhängigkeit der Kurven vom Stande der Sonne. Liegt doch in Kurve II das Maxi- mum der Schließung am 8., 9. und 10. März um 6 Uhr abends, in Kurve III dagegen liegt iam dieselbe Zeit das Maximum der Ott. nung. In Kees Il aes die Offnungsbewegung im Laufe der Semon, Hat d. Rhythmus d. Tageszeiten b. Pflanzen erbl. Eindr. hinterlassen? 931 Nacht, in Kurve III im Laufe des Tages. Kurz und gut von einem Hineinspielen der Außentemperatur kann in meinen Versuchen der klaren Sprache der Tatsachen gegenüber, die auch von meinen zahlreichen nicht publizierten Beobachtungsreihen bestätigt werden, keine Rede sein. Wir wenden uns nun zur Erörterung der Frage, ob denn die Versuchsergebnisse Pfeffer’s von den meinen so verschieden sind, dass er es nötig hatte, zu Vermutungen seine Zuflucht zu nehmen, die geeignet sind, den Wert meiner Beobachtungen herabzusetzen, deren völlige Grundlosigkeit sich aber unmittelbar aus meinen Kurven ablesen ließ. Meine Versuche hatten zwei Hauptergebnisse geliefert; erstens: Reizt man Keimpflanzen von Albixzia lophantha, die dem natürlichen, 12: 12stündigen Beleuchtungswechsel in ihrem individuellen Leben noch nie ausgesetzt worden sind, durch 6:6 oder 24 : 24stündigen Beleuchtungswechsel zu Öffnungs- und Schlie- Bungsbewegungen, so erfolgen diese Bewegungen in einem Rhythmus, in dem sich neben der induzierten 6:6 (bezw. 24 : 24) Komponente, eine 12:12stündige also nicht individuell induzierte Komponente auf das deutlichste erkennen lässt (vgl. meine Kurven II, III, V). Zweitens: Hört man mit der Reizung durch 6: 6 (bezw. 24: 24)stiindigen Beleuchtungswechsel auf und hält die Pflanzen fortan in konstanter Dunkelheit oder konstanter Helle, so erfolgen noch einige Zeitlang allmählich schwächer werdende Schlafbewegungen. Auch diese er- folgen in einem ‚ganz wesentlich 12: 12stündigen Rhythmus (vel. Kurve I—.V). Wie stellen sich diesen Versuchsergebnissen die von Pfeffer gegenüber, der nicht mit Keimpflanzen, sondern mit Pflanzen ge- arbeitet hat, deren bereits vorhandene Periodizität künstlich unter- drückt worden war? Fassen wir zunächst mein zweites Versuchs- ergebnis, die rhythmischen sogen. „Nachwirkungen“ ins Auge, die Pfeffer auf Grund eines leicht zu Missverständnissen führenden Vergleichs mit Pendelschwingungen auch als „Nachschwingungen“ bezeichnet, so finden wir, dass auch bei seinen Versuchen bei Phaseolus die Nachwirkungen nach Behandlung mit 18 : 18stiindigem Beleuchtungswechsel in 12: 12stiindigem Rhythmus erfolgten (S. 357). Bei Mimosa Speggaxinii manifestierte sich bei den Nachwirkungen nach Behandlung mit einem 6 : 6stündigem Beleuchtungswechsel und darauf folgender Überführung ins Dunkle ebenfalls ein 12: 12- stündiger Rhythmus (vgl. seine Fig. 20 und S. 339, 340). Nur Albixzia soll hier eine Ausnahme machen. Aber wie verhalten sich dazu Pfeffer’s eigene Beobachtungen? Bei Diskussion seiner Kurve Fig. 15, wo die „Nachschwingungen“ einer mit 6 : 6stündigem Beleuchtungswechsel behandelten Albixxia wiedergegeben sind, sagt er 5. 321: „Vielleicht sind die beiden Hauptmaxima, die in der Kurve Fig. 15 am 25./10. und 26./10. auf 6 Uhr morgens fallen, 932 Semon, Hat d. Rhythmus d. Tageszeiten b. Pflanzen erbl. Eindr. hinterlassen ? Andeutungen einer Nachschwingungsbestrebung im Tagesrhythmus. Eine solche Tendenz trat etwas markierter in einer Kurve hervor, die von einer Pflanze geschrieben wurde, welche nach 6 : 6stündigem Beleuchtungswechsel im Dunkeln gehalten worden war.“ Ich denke, dass besonders der letzte Satz nicht anders zu deuten ist, als dass Pfeffer auch bei Albixzia Andeutungen einer Nachwirkungstendenz im Tagesrhythmus gefunden hat. Es ist des- halb sehr schwer zu verstehen, was ıhn dazu veranlasst hat, meine prinzipiell gleichen nur viel deutlicher ausgesprochenen Versuchs- resultate auf Fehlerquellen zurückzuführen, deren Nichtvorhanden- sein sich aus meinen Kurven nachweisen lässt. Aber vielleicht besteht em tieferer Gegensatz zwischen uns in bezug auf das erste Ergebnis, dass nämlich schon während der Wirksamkeit des 6:6 (bezw. 24: 24)stündigen Beleuchtungswechsels bei den resultierenden Bewegungen neben der induzierten 6:6 (bezw. 24 : 24)stündigen Komponente eine nicht induzierte 12 : 12- stündige Komponente zu erkennen ist. Etwas Derartiges hat Pfeffer bei seiner Versuchsanordnung allerdings nicht bei Albixzia und Mi- mosa beobachtet. Wohl aber ist auch ihm das Auftreten der 12: 12- stündigen Komponente während eines 6:6stündigen Beleuchtungs- wechsels bei Phaseolus entgegengetreten, bei dem nach seinem eigenen Zeugnis S. 357 „gleichviel, ob ein Beleuchtungswechsel von 6:6 oder 8H:4D Stunden stattfand, mehr oder minder deut- lich ein 12: 12stündiger Bewegungsturnus zutage (Fig. 26) trat.“ Ähnlich scheinen nach seinen Beobachtungen auch die Dinge bei Impatiens zu liegen (S. 389). Ist nun dem negativen Resultat Pfeffer’s bei Albixzia und Mimosa in dieser Frage angesichts seinem eigenen positiven bei Phaseolus und wohl auch bei Impatiens und gegenüber meinem so überaus klaren positiven bei Albixzia irgendwelche Bedeutung beizumessen? Es ist nicht schwer nachzuweisen, dass dies absolut nicht der Fall ist. Es handelt sich doch hier um das Gegenspiel zweier gleichzeitig wirkender Komponenten, der erblichen 12 : 12- stündigen und der induzierten 6 : 6stiindigen Komponente, bezw. der erblichen 12: 12stündigen und induzierten 24 : 24stündigen Kom- ponente, ein Gegenspiel, das für den ersteren Fall in meinen Kurven Il und III, für den zweiten Fall in meiner Kurve V so schön zum Ausdruck kommt, indem sich ın einer und derselben Kurve beide Rhythmen, das eine sozusagen dem anderen aufgestickt, mani- festieren. Dass dabei in Kurve II und III die ererbte 12 : 12stündige Komponente über die Komponente der Originalreize dominiert — ın Kurve V halten sich beide Komponenten etwa die Wage —, hängt natürlich von der von mir gewählten Schwäche der Original- reize ab, was ich bereits in meiner Publikation von 1905 S. 245 unten hervorgehoben habe. Semon, Hat d. Rhythmus d. Tageszeiten b. Pflanzen erbl. Eindr. hinterlassen? 9233 mu Verändert man nun, wie Pfeffer es tut, die ganze Versuchs- anordnung, indem man durch künstliche Unterdrückung der 12 : 12- stündigen Bewegung auch die entsprechende Komponente oder Tendenz in einer später noch zu erörternden Weise in ihrer Wirk- samkeit herunterdrückt, und verstärkt man auf der anderen Seite die induzierte Komponente, indem man im Gegensatz zu mir in der Regel zwei 25kerzige Tantallampen statt einer schwächer als 10kerzigen‘) Kohlenfadenlampe anwendet, so müsste ein Wunder geschehen, wenn das Resultat nicht verschieden ausfallen und in Pfeffer’s Versuchen die induzierte Komponente nicht viel stärker hervortreten sollte als in den meinigen. Dass auch bei seiner Versuchsanordnung die 12 : 12stündige Komponente nicht immer unterdrückt worden ist, zeigen seine Resultate bei Phascolus und Impatiens. Es besteht also eine genau so große Übereinstimmung zwischen Pfeffer’s und meinen Versuchsresultaten, als man sie in Anbe- tracht der verschiedenen Vorbehandlung der Versuchsobjekte und der verschiedenen Reizstärke, die angewendet wurde, erwarten konnte. Selbstverständlich steht es jedem Untersucher frei, seine Versuche so anzuordnen, wie es ihm beliebt. Nichts liegt mir also ferner, als zu erwarten, dass Pfeffer bei seinen Originalunter- suchungen meiner Versuchsanordnung auch nur einmal getreulich folge. Wenn er aber genau dieselben Versuchsresultate zu erhalten wünscht oder zu erhalten erwartet wie ich, dann muss man aller- dings verlangen, dass er auch genau dieselben Versuche anstellt wie ich, vor allem die Objekte ebenso vorbehandelt und gleich starke Reize wählt. Dies hat, wie schon erwähnt, Pfeffer nicht in einem einzigen Fall getan. Nicht eine einzige Keimpflanze von Albixzia”) hat er untersucht, nicht ein einzigesmal hat er so schwache Reize angewendet wie ich (schwächer als 10kerzige Kohlenfaden- lampe), sondern gewöhnlich zwei 25kerzige Tantallampen, also einen mehr als 5mal so starken Lichtreiz. Einmal, wie es scheint (a. a. O. S. 332), ist er auf die Hälfte dieser Reizgröße heruntergegangen, hat sich also auch bei diesem Versuch eines mindestens 2'/,mal stärkeren Lichtreizes bedient als ich. Die Vergleichung unserer Versuchsergebnisse hat folgendes er- geben: Pfeffer’s Versuche haben in allen grundsätzlichen Punkten das Ergebnis der meinigen lediglich bestätigt. Die hervorgetretenen Differenzen sind durchweg quantitativer Natur und als solche bei der Verschiedenheit der Vorbehandlung der Versuchsobjekte und der quantitativen Verschiedenheit der angewandten Reize so selbst- 6) Vgl. die Anmerkung S. 245 in meiner Arbeit von 1905. 7) Dagegen hat er einmal mit einer Keimpflanze von Phaseolus operiert. Bei seinen Versuchen an Phaseolus ist er aber ohnehin (auch bei Nichtkeimpflanzen) zu Resultaten gelangt, die die meinigen an Albizzia erzielten durchaus bestätigen. 934 Semon, Hat d. Rhythmus d. Tageszeiten b. Pflanzen erbl. Eindr. hinterlassen ? verständlich, dass ihr Nichtauftreten nicht zu verstehen gewesen wäre. Will man quantitativ genau dieselben Resultate erhalten wie ich, so muss man sich derselben Reizgrößen bedienen und seine Objekte ebenso vorbehandeln, wie ich es getan habe. Nur dann, dann aber auch gewiss, wird man absolut identische Resultate und wird Kurven erhalten, die ebenso vieles ebenso deutlich zeigen wie die meinigen. Aus seinen, wie wir gesehen haben, nur quantitativ von den meinigen verschiedenen Versuchsergebnissen hat nun Pfeffer all- gemeine Schlüsse gezogen, die, wie er zu glauben scheint, ganz er- heblich von denjenigen abweichen, die ich aus den meinigen ge- zogen habe. Aber auch in diesem Punkt befindet er sich im Irrtum und bestätigt lediglich meine theoretischen Schlüsse, wie er meine Versuchsergebnisse bestätigt hat. Der Anschein, als bekämpfe er meine Ansichten, entsteht in diesem Falle dadurch, dass er An- sichten als die meinigen wiedergibt, die ich nie geäußert habe und me für diskutabel gehalten haben würde. So spricht er an zwei Stellen (S. 331, 335) davon, dass meiner Ansicht nach „die Tages- bewegungen keine photonastischen Reizerfolge sein sollen“, oder stellt es so dar (S. 426), als ob ich mich gegen die aitiogene Ent- stehung der Schlafbewegungen schlechthin ausgesprochen hätte. Ich wäre neugierig, die Stelle aus irgendeiner meiner Arbeiten kennen zu lernen, aus der man das Recht ableiten könnte, mir diese Ansicht zuzuschreiben. Auch erneute sorgfältige Durchnahme meiner Ausführungen hat mich nichts finden lassen, was solch eine Annahme erklärlich machen würde. Ich glaube, meine wirkliche Auffassung geht mit absoluter Klarheit aus folgendem Ausspruche meiner Arbeit von 1905 (S. 252) hervor: „Denken wir uns bei. den betreffenden Pflanzen nun diese Disposition [die erb- liche Komponente des 12:12stündigen Rhythmus] ganz hinweg, d. h. versetzen wir ın Gedanken diese Pflanzen mit sonst denselben physiologischen Eigenschaften, demselben Verhalten gegen Originalreize, aber ohne die erbliche Mitgift der 24stündigen [12:12stündigen] Rhythmik unter die natürlichen Bedingungen, so werden sie sich ohne diese Disposition genau ebenso verhalten wie mit der- — selben.“ | Gerade aus dieser praktischen Bedeutungslosigkeit, jener Disposition gegenüber der von mir niemals geleugneten Wirkung der Originalreize, Pfeffer’s „photonastischen Reizerfolgen“, also gegenüber der „aitiogenen Entstehung“ der Bewegungen unter natürlichen Bedingungen, folgerte ich, dass jene erbliche Disposition nicht durch Zuchtwahl entstanden sein könnte, und habe diesen Gedanken dann noch ausführlich gegen Weismann in meiner Schrift: Beweise für die Vererbung erwor- i | | —— Semon, Hat d. Rhythmus d. Tageszeiten b. Pflanzen erbl. Eindr. hinterlassen? 235 bener Eigenschaften®) ausgeführt. Wie weit ich entfernt bin, die „photonastischen Reizerfolge“ zu leugnen, ersieht man ferner aus meiner Besprechung meiner Kurven II, III und V in meiner Arbeit von 1905, S. 245—248, wo ich dem Spiel und Gegenspiel zwischen den photonastischen Reizerfolgen und den Manifestationen der erb- lichen Disposition so ausführlich nachgegangen bin. In Wirklich- keit bekämpft habe ich dagegen die Auffassung Pfeffer’s, „dass die nyktinastischen Nachwirkungen verhältnismäßig schnell ausklingen, dass sıe also nicht erblich geworden sind, obgleich sie unter dem Einfluss des Tageswechsels in einer gewaltigen Zahl aufeinanderfolgender Gene- rationen in demselben Rhythmus wiederholt wurden“?). Meiner Ansicht nach sind vielmehr jene in einer gewaltigen Zahl auf- einanderfolgender Generationen in demselben Rhythmus wirkenden Reize und die durch sie verursachten Erregungen nicht spurlos an den Keimprodukten der betreffenden Organismen vorübergegangen, sie haben vielmehr dort erbliche Engramme zurückgelassen, die „erbliche Disposition, die Schlafbewegungen in einer 24stündigen Periode auszuführen, auch wenn keinerlei Originalreize je in dieser Periodizität auf das Individuum eingewirkt haben“ (a. a. O. 1905, S. 251). Unter welchen Bedingungen diese Disposition manifest wird und dass sie nicht zutage tritt, wenn man Pflanzen von der Kei- mung an in dauernder Helligkeit oder Dunkelheit belässt, habe ich am gleichen Orte (S. 244), sowie in der Mneme (1. Aufl. 1904, S. 95) erwähnt und in der letzterwähnten Publikation bereits aus- gesprochen, dass zur Ekphorie dieses Engramms, d. h. damit jene ererbte Disposition zur Manifestation gelange, eine besondere Konstellation gehöre, nämlich periodische Beleuchtungsreize, die aber in einem beliebigen ganz anderen Rhythmus erfolgen können. Ich sollte denken, meine wirkliche Meinung läge klar genug zutage, und will dies hier nicht weiter durch Zitate beweisen. Ein jeder, der die diesbezüglichen Stellen meiner Arbeiten liest, wird mir darin recht geben und Weismann z. B. der im Gegensatz zu mir jene Disposition auf Zuchtwahl zurückzuführen versucht, hat doch meine Meinung ganz richtig verstanden, wenn er mein Endresultat dahın zusammenfasst, „dass ın der Tat hier der altgewohnte natürliche Beleuchtungsturnus sich der Pflanze erblich eingeprägt hat“ 1°). Wie stellt sich nun Pfeffer zu dieser von mir aufgefundenen und in ihrer eigentümlichen Manifestationsweise möglichst genau präzisierten Disposition? 8) Arch. f. Rassen- u. Gesellschaftsbiologie. 4. Jahrg., 1. Heft, Febr. 1907. 9) W. Pfeffer. Pflanzenphysiologie. II. Bd., 1904, S. 491. 10) W. Weismann. Semon’s Mneme und die Vererbung erworbener Eigen- schaften. Arch. f. Rassenbiologie. 3. Jahrg. 1906, S. 15. 256 Semon, Hat d. Rhythmus d. Tageszeiten b. Pflanzen erbl. Eindr. hinterlassen ? In seiner neuesten Arbeit lesen wir (S. 357) von Phaseolus: „Demgemäß kommen der Pflanze die Eigenschaft und das Bestreben zu, die selbstregulatorisch dirigierten Nachschwingungen in einem dem Tagesrhythmus entsprechenden Turnus zu bringen.“ S. 360: „Im allgemeinen wird man diese Erfolge als eine Resultante ansehen können, die sich aus dem Zusammenwirken der photo- nastischen Reizwirkungen und dem real bestehenden Bestreben nach einen 12: 12stiindigen Bewegungstempo ergibt.“ (Ähnliches wird S. 389 von Impatiens gesagt.) Auf S. 425: „Denn unter diesen Um- ständen macht sich gewöhnlich in etwas eine 12: 12stündige Be- wegungsrhythmik bemerklich, was offenbar durch das innere Streben nach dieser Rhythmik in Verbindung mit verwickelten Verhältnissen bedingt ist, auf die S. 360 hingewiesen wurde. Endlich S. 471: Vermöge der inneren Eigenschaften besteht bei den Blättern von Phaseolus und auch bei manchen anderen Objekten das Bestreben, annähernd in einen 12: 12stündigen Bewegungsrhythmus überzu- gehen etc.“ Aus diesen Proben ersieht man, dass auch in dieser Frage jetzt zwischen Pfeffer und mir eine erfreuliche Übereinstimmung herrscht, und dass diese von mir aufgefundene Disposition, oder wie Pfeffer es abwechselnd ausdrückt: Eigenschaft, innere Eigenschaft, Bestreben, inneres Bestreben, Tendenz, von ıhm anstandslos an- genommen wird. Wenn Pfeffer in seiner Einleitung S. 260 schreibt: „Dagegen scheint aber Semon, wie später gezeigt werden soll, nicht die Erblichkeit der tagesrhythmischen Bewegungstätigkeit, sondern nur der bezüglichen paratonischen Reaktionsfähigkeit im Auge zu haben, über deren reale Existenz nie Zweifel bestanden haben und bestehen konnten“, so habe ich darauf folgendes zu er- widern. Unter dem, was ich als ererbten Bestandteil der Tages- periode angesehen habe, habe ich stets jene „erbliche Disposition“ oder Tendenz verstanden, „die Schlafbewegungen in einer 24stündigen Periode auszuführen, auch wenn keinerlei Originalreize je in dieser Periodizität auf das Individuum eingewirkt haben“, oder, wie Pfeffer sich ausdrückt, „das Bestreben, annähernd in einen 12 : 12- stündigen Bewegungsrhythmus überzugehen“. Meint Pfeffer mit der eben erwähnten bezüglichen paratonischen Reaktionsfähigkeit, „über deren reale Existenz nie Zweifel bestanden. haben und bestehen konnten“, diese ganz besondere innere Higen-. schaft oder Disposition, so haben über sie nur deshalb nie Zweifel bestanden, weil sie eben unbekannt war und man sie weder in den Spezialuntersuchungen Pfeffer’s noch an irgendeiner Stelle seines großen Handbuchs der Pflanzenphysiologie mit einem Wort erwähnt finden wird. Zu ihrer Auffindung war eben die Unter- suchung der Pflanzen nicht bloß mit 12: 12stündigem Beleuchtungs- wechsel oder mit konstanten Beleuchtungsverhältnissen nötig, wie Semon, Hat d. Rhythmus d. Tageszeiten b. Pflanzen erbl. Eindr. hinterlassen? 237 sie früher geübt wurde, sondern mit fremdartigen Rhythmen, 6:6 oder 24: 24stündigem Beleuchtungswechsel, wie ich sie ausgeführt habe. Und dass über sie Zweifel bestehen konnten und noch können, ersieht man am besten daraus, dass Pfeffer noch jetzt versucht, ihr Vorhandensein bei Albixxia, wo ich sie gerade aufge- funden habe, in Zweifel zu ziehen. Nachdem alles dieses festgestellt ıst, ıst das erfreuliche Er- gebnis erreicht, dass sowohl zwischen den neuen Versuchsergebnissen als auch den nunmehrigen theoretischen Auffassungen Pfeffer’s und den meinigen die schönste Übereinstimmung nachgewiesen ist. Nur in einer Frage herrscht eine wirkliche Meinungsverschieden- heit. Bekanntlich dauern die Schlafbewegungen noch einige Zeit lang an, wenn man die Pflanzen in konstante Helligkeit oder kon- stante Dunkelheit bringt, allmählich aber hören sie auf. Pfeffer fasst nun dieses Aufhören lediglich als ein „Ausklingen“ auf, in dem Sinne, wie man diesen Ausdruck in der Sinnesphysiologie zu gebrauchen pflegt, nämlich als das allmähliche Erlöschen einer Reiz- wirkung nach Aufhören des Reizes und bei Andauer eines reiz- losen Zustandes. Diese Auffassung ist in der Tat eine naheliegende; dennoch lässt sich nachweisen, dass sie nicht richtig ist. Denn um von einem Ausklingen reden zu dürfen, müsste man die Objekte zu allererst den betreffenden Reizeinwirkungen entziehen. Was tut man aber, wenn man sie in konstante Helle oder konstante Dunkelheit bringt? Um diese Frage zu beantworten, wollen wir zunächst solche Ob- jekte ins Auge fassen, bei denen, wie bei den Fiederblättchen der Mimosen und Akazien, auch nach Pfeffer’s Ansicht sowohl das Licht als auch die Dunkelheit als Reiz wırkt!!). Erzeugt nun, worin ich mit Pfeffer ganz übereinstimme, eine in 12stündigem Turnus abwechselnde Reizung mit Licht und Dunkelheit eine Nachwirkung, die sich durch 12stündigen Anstoß zur Öffnung und 12stündigen Anstoß zur Schließung äußert, also wenn wir den Öffnungsanstoß mit o, den Schließungsanstoß mit s bezeichnen: 120, 12s | 120, 12s | 120, 12s, so muss eine andauernde Beleuchtung eine Nachwirkung vom Typus 120, 120 | 12s, 12s | 120, 120 und eine andauernde Verdunkelung eine Nachwirkung vom Typus 12s,; 1287| 12s, 128°) lis, 125 hervorbringen, und diese Tag für Tag neu hinzukommenden und 11) Wenn man den Reiz, wie ich es tue, als eine energetische Einwirkung besonderer Art definiert, kann man natürlich die Dunkelheit, d. h. die Abwesenheit von photischer Energie nicht im eigentlichen Sinne als Reiz bezeichnen. Sie wirkt nur als Vorbedingung für das Eintreten von Stoffwechselvorgängen im Organismus, die den eigentlichen Reiz vorstellen, der also in diesem Falle ein innerer, endogener Reiz ist. Vgl. darüber Mneme, 2. Aufl. 1908, S. 12—14. 238 Semon, Hat d. Rhythmus d. Tageszeiten b. Pflanzen erbl. Eindr. hinterlassen ? sich akkumulierenden Nachwirkungen müssen mit mathematischer Notwendigkeit allmählich die alten Nachwirkungen zurückdrängen und schließlich ganz unsichtbar machen, die teils ererbt sind, teils aus der Zeit stammen, in der das Objekt in periodisch wechselnder Beleuchtung gehalten wurde. Auch dass bei Keim- pflanzen, die vom Auskeimen an in konstanter Helligkeit oder Dunkelheit gehalten werden, die also von Anfang an, noch bevor sie zur Ausführung von Schlafbewegungen befähigt sind, dieser starken einseitigen Induktion ausgesetzt werden, keine alternierenden Bewegungen auftreten, wie ich bei Alböixxia gefunden habe, und Pfeffer später für Phaseolus bestätigt hat, ist nur selbstverständlich. Etwas anders liegen die Dinge bei solchen Objekten, bei denen nach der Ansicht Pfeffer’s eine photonastische Reizung nur durch Erhellung, aber nicht durch Verdunkelung ausgeübt wird. Es sind dies vor allem das Blatt von Phaseolus sowie der Blattstiel von Mimosa, während für die Blättchen von Mimosa auch die Ver- dunkelung einen sehr erheblichen Reiz bedingt. Ich will nicht untersuchen, ob die Vorstellungen, die sich Pfeffer von dem Zu- standekommen der Schlafbewegungen der Blätter von Phaseolus und Blattstiele von Mimosa unter der Voraussetzung gemacht hat, dass nur die- Erhellung einen Reiz bedingt, schon als endgültig be- wiesene anzusehen sind, sondern will sie als solche annehmen. Es ıst klar, dass auch unter diesen Voraussetzungen der photonastische Reiz der dauernden Erhellung der unaufhörlich in derselben Richtung denselben Anstoß gibt und nie den Eintritt des indiffe- renten Zustandes gestattet, vermöge seiner stets gleichgerichteten akkumulierenden Nachwirkungen, unbedingt allmählich die früheren alternierenden Erregungsnachwirkungen paralysieren muss. Etwas anders wäre es ın diesem Falle mit der Beobachtung der Nachwirkungen bei diesen Objekten in konstanter Dunkelheit. Einer solchen Beobachtung stehen aber wieder verschiedene Hindernisse ent- gegen. Nach Pfeffer’s eigener Anschauung nämlich (S. 411) „dürften das Blatt von Phaseolus und der Blattstiel von Mimosa in geringem Grade auch durch Verdunkelung gereizt werden“. Nun wird auch eine geringere photonastische Reizung, wenn sie kontinuierlich und ein- seitig immer in einer Richtung geübt wird, notwendigerweise durch Akkumulation ihrer Nachwirkungen, die früheren alternierenden Nachwirkungen beeinträchtigen oder ganz unterdrücken. Dazu kommt, dass die Pflanzen im Dunkeln nach einiger Zeit kränkeln tind ihre Reaktionsfähigkeit überhaupt verlieren. „Eine solche Schädigung tritt bei den Blättern von Phaseolus (S. 345) und Im- patiens (S. 388) häufig schon nach 2 Tagen ein“ (Pfeffer, a. a. O., 1907, S. 434). Einen Einwand möchte ich hier gleich entkräften. Die kon- tinuierliche Helligkeit oder Dunkelheit bewirkt doch bei denjenigen | i Semon, Hat d. Rhythmus d. Tageszeiten b. Pflanzen erbl. Eindr. hinterlassen? 239 der hierher gehörigen Pflanzen, die autonome Bewegungen aus- führen, nicht eine Unterdrückung dieser letzteren. Im Gegenteil, am Blattstiel von Mimosa treten nach Pfeffer autonome Bewegungen beim Aufhören der Schlafbewegungen auf und schwinden bei ihrem Wiederauftreten. Bei Phaseolus werden sie in letzterem Falle nur partiell ausgeschaltet. Dies Verhalten ist merkwürdig und ein Problem für sich. Da aber ım allgemeinen die autonomen Be- wegungen durch Licht- und Wärmereize nicht, oder doch wenigstens nicht direkt beeinflusst werden, so sind sie hier gerade im wesent- lichen Punkte mit den Schlafbewegungen nicht zu vergleichen, da für sie die ungeheure synchrone und engraphische Reizwirkung nicht in Betracht kommt, die für die Schlafbewegungen in dem kontinuierlichen Lichtreiz bezw. dem durch kontinuierliche Dunkel- heit bedingten Reiz liegt. Wenn man Pflanzen, auf deren Organe sowohl die Helligkeit als auch die Dunkelheit reizbedingend wirkt, und zu deren natürlichen Lebensbedingungen ein Wechsel von Hell und von Dunkel seit ungezählten Generationen gehört hat, in kontinuierliche Helligkeit oder kontinuierliche Dunkelheit bringt, so darf man also nicht ver- gessen, dass man sie damit nicht in indifferente Verhältnisse bringt, im denen ihre bisherigen Erregungen ruhig „ausklingen“ können, sondern unter außerordentlich starke, weil anhaltende neuartige Reizbedingungen, die, soweit die Reize auf bisher vor sich gehende Reaktionen überhaupt Einfluss haben, in hohem Grade paralysierend auf diese wirken müssen. Es kann uns auch nicht wundernehmen, dass dieser starke Eingriff ungünstig auf das Ge- deihen der Pflanzen wirkt. In dem einen Punkt hatte ich in meiner Publikation von 1905 nicht Recht, dass ich den Vorgang der Einstellung der Schlafbewegungen unter konstanten Verhält- nissen schlechthin als pathologischen, als eine Funktionsstörung der reizbaren Substanz bezeichnet habe. Pathologische Zustände wirken mit, und zwar nicht bloß, wenn man die Pflanzen in kon- stanter Dunkelheit hält, was sie bekanntlich sehr schädigt, sondern auch wenn man sie konstant beleuchtet. Meine zarten Keimpflanzen vertrugen eine kontinuierliche Beleuchtung in offensichtlicher Weise viel schlechter als abwechselnde Beleuchtung und Verdunkelung, und Pfeffer selbst teilt folgende, in gleichem Sinne zu deutende Beobachtung mit: „Übrigens scheinen die genannten Pflanzen sich im Tantallicht bei tagesperiodischen Lichtwechsel besser zu halten, als bei kontinuierlicher Beleuchtung. Eine ähnliche Beziehung scheint auch, wenigstens für einige Pflanzen, aus den Versuchen Bonnier’s mit Bogenlicht hervorzugehen.“ Aber das wesentliche ist, dass, wie ich oben bewiesen habe, kontinuierliche Beleuchtung unter allen Umständen mit Notwendig- keit durch allmähliche Akkumulation ihrer eigenen konstanten Nach- 340 Semon, Hat d. Rhythmus d. Tageszeiten b. Pflanzen erbl. Eindr. hinterlassen ? wirkungen die Nachwirkungen früherer periodischer Beleuchtung, gleichviel ob ererbt oder individuell induziert, zurückdrängen muss. Aber auch das Aufhören der Nachwirkungen bei kontinuierlicher Verdunkelung darf, in Anbetracht, dass auch die Verdunkelung in allen bekannten Fällen einen Reiz bedingt, dessen Nachwirkungen sich notwendig akkumulieren müssen — ganz abgesehen von der zweifellos schädigenden Wirkung längerer Verdunkelung auf die reizbare Sub- stanz dieser Pflanzen — unbedingt nicht als ein bloßes „Ausklingen“ bezeichnet werden, von dem man nur sprechen kann, wenn man die Organismen den betreffenden Reizeinwirkungen wirklich entzieht. Dass das Aufhören der „Nachwirkungen“ der Schlafbewegungen, wie wir es beobachten, in erster Linie eine Folge akkumulierter Reizwirkungen und Reiznachwirkungen ist, das kann man unmittel- bar aus Pfeffer’s und meinen Versuchsergebnissen ablesen. Dabei erweist sich die Belichtung als ein stärkerer Reiz als die Ver- dunkelung, so dass sowohl bei Pfeffer als auch bei mir die Nach- wirkungen im Dunkeln trotz der größeren Schädigungen, die mit dem Dunkelaufenthalt verbunden ist, eher länger angehalten haben als im Hellen (vgl. Pfeffer, S. 315 und 434 und meine Kurve I einerseits mit den Kurven II—V andererseits). Da Pfeffer viel stärkere Lichtreize angewandt hat als ich, sind in seinen Versuchen die rhythmischen „Nachwirkungen“ in kontinuierlicher Helligkeit auch durchschnittlich rascher unterdrückt worden als in den meinigen. Die übermächtige Wirkung seiner Beleuchtung kann man sehr deutlich aus einem Vergleich seiner Fig. 13 u. 14 ersehen. Man muss sich erinnern, dass Pfeffer ge- wöhnlich zwei 25kerzige Tantallampen verwendet hat ‚(zuweilen auch vier solche Lampen), während ich immer nur mit einer Kohlen- fadenlampe von weniger als 10 Kerzenstärke (vgl. meine Arbeit von 1905, S. 245, Anm.) gearbeitet hatte. Es hat keinen Sinn, Pfeffer’s und meine Kurven in Hinblick auf die Frage der Unterdrückung der Nachwirkungen noch genauer zu analysieren, da uns, als wir arbeiteten, das eigentliche Problem noch gar nicht bekannt war und wir deshalb auf das Wesentliche nicht hinreichend geachtet haben. So wird sich durch neue Ver- suche wahrscheinlich sehr leicht und greifbar nachweisen lassen, in welchem Verhältnis die Raschheit der Unterdrückung der rhyth- mischen Nachwirkungen zu der Stärke der angewendeten Dauer- beleuchtung steht. Auch auf folgendes ist zu achten. Bei Anwen- dung von kontinuierlicher Helligkeit nehmen die Blättchen von Albixxia und Mimosa nach Aufhören der rhythmischen „Nach- wirkungen“, wie dies nicht anders zu erwarten ist Tagesstellung (meine Kurven II—V, Pfeffer, Fig. 14—19), bei Anwendung kon- tinuierlicher Dunkelheit aber Nachstellung (meine Kurve I, Pfeffer’s Fig. 20) ein. Wie aber besonders deutlich meine Kurven, in An- Semon, Hat d. Rhythmus d. Tageszeiten b. Pflanzen erbl. Eindr. hinterlassen? 941 deutungen aber auch die Pfeffer’schen zeigen, wird in der Regel dabei weder die volle Tagesstellung (vgl. besonders meine Kurven III und V) noch die volle Nachtstellung (vgl. meine Kurve I) er- reicht. Man sollte vielleicht das Gegenteil erwarten. Es liegt aber sehr nahe, daran zu denken, dass die unnatürlich ausgedehnte Ein- wirkung eines und desselben Reizes notgedrungen erschöpfend und schädigend auf die reizbare Substanz wirken muss und sie zur Er- füllung maximaler Leistung auf die Dauer unfähig machen wird. Wie es kommt, dass in einem Falle bei Pfeffer eine Albixzzia in kontinuierlicher Dunkelheit volle Tagesstellung angenommen hat (vgl. seine Fig. 13), vermag ich nicht zu sagen. Im Pfeffer’schen Text findet dieses eigentümliche Verhalten keine Erwähnung, wie überhaupt die uns hier beschäftigenden Tatsachen von ihm nicht erörtert worden. Offenbar handelt es sich um einen besonderen Ausnahmefall. In keinem von mir beobachteten Falle nahmen die Blätter bei andauernder Verdunkelung Tagesstellung ein, doch blieben sie öfters nur dreieinviertel, ja nur halb geschlossen stehen. Wenn wir die Abnormität einer kontinuierlichen einseitigen Reizung mit in Rechnung ziehen, verhalten sich also auch in dieser Be- ziehung die Pflanzen, nicht als ob Nachwirkungen einfach „ausge- klungen“ wären, sondern, wie es auch tatsächlich der Fall ist, als ob sie unter einer kontinuierlichen einseitigen Reizung stünden. Von einem „Ausklingen“ unter solchen Bedingungen, den Be- dingungen einer fortgesetzten einseitigen Reizung dürfen wir, wie dargelegt worden ist, nicht reden. Und da wir überhaupt nicht imstande sind, indifferente, d. h. reizlose Bedingungen für diese rhythmischen Nachwirkungen herzustellen, so ist die Frage, ob sie unter wirklich indifferenten Bedingungen ausklingen würden oder nicht, an und für sich unlösbar: Dass aber, wenn man die Bedingungen nicht so einseitig gestaltet, wie Pfeffer es getan hat, sondern sie, wie es in meinen Versuchen geschehen ist, durch inter- mittierenden wenn auch in anderem Rhythmus erfolgenden Be- leuchtungswechsel verhältnismäßig indifferent gestaltet, dass unter solchen Bedingungen die ererbten 12: 12stündigen Rhythmen schön in Erscheinung treten und andauern, das wird durch meine Ver- suchsergebnisse (Kurven II—-V) sowie durch Andeutungen des gleichen Verhaltens unter den ungünstigeren Versuchsbedingungen Pfeffer’s bei Phaseolus (Fig. 26) und Impatiens (S. 389) bewiesen. Ganz indifferente, reizlose Bedingungen sind für die Pflanzen in dieser Beziehung, wie gesagt, nicht zu schaffen. Ich will aber zum Schluss noch zeigen, dass die Vorbehandlung, die Pfeffer seinen Versuchsobjekten zuteil werden ließ, eine viel differentere, einseitiger induzierende gewesen ist, als ich sie bei meinen Ob- jekten angewendet habe, und dass darauf das viel undeutlichere Re- sultat zurückzuführen ist, das Pfeffer im Vergleich zu mir für die XXVIII. 16 242 Semon, Hat d. Rhythmus d. Tageszeiten b. Pflanzen erbl. Eindr. hinterlassen ? angeborene Disposition, die Bewegungen im 12 X 12stündigen Rhyth- mus auszuführen, erhalten hat. Ich benutzte Keimpflanzen, die von ihrem Auskeimen an einem Beleuchtungswechsel von 6:6 bezw. 24:24 Stunden unterworfen wurden. Die dadurch induzierte Be- wegungstendenz (Öffnungsanstoß 01, Schließungsanstoß s?) stellte sich also folgendermaßen zu der angeborenen 12 : 12stündigen: (Öffnungsanstoß 02, Schließungsanstoß s?): 60,165! Got, 6s! | Got 6s!) 260!) 6s! 1202, 123270901202 12s? oder 240% .-| 24s! 12021252 Zor 1282: Pfeffer dagegen benutzte ältere Pflanzen, deren bereits vor- handene Bewegungen er, nicht wie er es auffasst, ausklingen ließ, sondern durch kräftige einseitige Reize, meist andauernde Beleuch- tung aus starken Lichtquellen, unterdrückte. Die von ıhm ge- schaffenen Bedingungen lassen sich folgendermaßen darstellen: 120. 1202.01205,7120! 1202712520022 1s Oder wenn er mit der überhaupt die Pflanze und ihre reizbare Substanz sehr schädigenden kontinuierlichen Dunkelheit arbeitete: 1251. 1255 12822 1252 1202, 12s? | 1202, 1282. Ein Vergleich dieser Zahlenreihen lehrt, wie viel stärker bei der Pfeffer’schen Versuchsanordnung der erblichen 12 : 12stündigen Be- wegungstendenz entgegengearbeitet worden ist, als bei der meinigen. Dazu kommt, dass Pfeffer immer gewartet hat, bis durch seine einseitige Reizung die 12:12stündige Tendenz völlig unterdrückt war, während ich bei meinen Keimpflanzen mit der Registrierung stets sofort begonnen habe, sobald die ersten Öffnungs- und Schließ- bewegungen in hinreichender Deutlichkeit auftraten. Unter diesen Umständen ist es doch nur selbstverständlich, dass die 12 : 12- stündigen alternierenden Bewegungen sich in Pfeffer’s Kurven nicht annähernd so deutlich bemerklich machen konnten als im den meinigen. Dass er dennoch im Grunde zu denselben allge- meinen Resultaten gekommen ist wie ich, wurde bereits oben ge- zeigt. Jene 12: 12stündige Bewegungstendenz ist eben den Pflanzen zu tief eingeprägt, um sich durch einseitige Reizung radıkal unter- drücken zu lassen. Ich schließe mit folgender kurzen Zusammenfassung. Ich habe gezeigt, dass Pfeffer’s Versuche die meinigen, soweit sie sich in gleicher Richtung bewegen, lediglich bestätigt haben, wobei ihr un- deutlicheres Ergebnis vorwiegend auf seine für diese Fragen un- günstigere Versuchsanordnung, besonders die verschiedene Vorbe- Doflein, Über Schutzanpassung durch Ähnlichkeit. 245 handlung der Objekte und die Anwendung stärkerer Lichtreize zurückzuführen ist. Auch theoretisch folgt mir Pfeffer insofern in dem wesent- lichsten Punkt, als er ein (natürlich ererbtes) „Bestreben nach einem 12:12stündigen Bewegungstempo“ für eine Anzahl von Pflanzen jetzt anerkennt. Unrichtig sind dagegen noch seine Ansichten von dem „Aus- klingen“ der Nachwirkungen. Unter den Bedingungen konstanter Helle oder konstanter Dunkelheit ist ein „Ausklingen“ dieser Nach- wirkungen einfach ein Ding der Unmöglichkeit, weil unter diesen Bedingungen die Nachwirkungen durch die starke einseitige In- duktion notwendigerweise unterdrückt werden müssen. Pflanzen, deren Schlafbewegungen durch konstante Belichtung oder konstante Verdunkelung unterdrückt worden sind, stellen also auch nicht Versuchsobjekte dar, die sich in einem ausgeglichenen, indifferenten, sondern in einem höchst einseitig induzierten Zustand befinden, und ıhr positives und negatives Verhalten bedarf einer genauen kritischen Berücksichtigung dieses ihres Zustandes. Sie sind ein sprechender Beleg für die Berechtigung meiner am Schlusse der Mneme ausgesprochenen Abmahnung, „die Physiologie des Orga- nismus losgelöst von seinen und seiner Vorfahren früheren Schick- salen ergründen zu wollen“. Über Schutzanpassung durch Ähnlichkeit. (Schutzfärbung und Mimikry.) Von F. Doflein. In den Anfängen des Darwinismus glaubte man alle Farben der Tiere durch die Selektionstheorie erklären zu können. Seitdem hat man in immer zahlreicheren Fällen erkannt, dass die Farbe von Tieren mit ıhren physikalischen und chemischen Existenz- bedingungen wechseln kann, rein physiologisch bedingt, ohne dass ein Zusammenhang mit der Zweckmäßigkeit im Kampf ums Dasein bestünde. Für diejenigen Fälle, in denen ein solcher Zusammen- hang aber kaum zu leugnen ist, für die Schutzfärbung und Mimikry, haben selbst Gegner der Allgültigkeit der natürlichen Zuchtwahl ihre Wirksamkeit zugegeben. Und viele Gegner der Selektions- lehre wussten sich über die Schwierigkeit, welche diese Tatsachen ihnen boten, nicht anders wegzuhelfen, als indem sie die Richtig- keit der Beobachtungen anzweifelten. Nun sind aber Schutz- färbung und Mimikry empirisch festgestellte Tatsachen, deren Richtig- keit nur vom grünen Tisch aus angezweifelt werden kann. Wer in der freien Natur Tiere beobachtet hat, musste sich von der oft verblüffenden Ähnlichkeit zwischen Tieren und Färbungen oder Gegenständen ihrer Umgebung überzeugen. Und ebenso kann es 16* 44 | Doflein, Über Schutzanpassüng durch Ähnlichkeit. wo von guten Beobachtern nicht bezweifelt werden, dass diese Ähn- lichkeit ihren Trägern in vielen Fällen einen wirksamen Schutz gewährt. Wie es gewöhnlich bei wichtigeren Theorien und Anschauungen geht, so ist auch die Annahme der Schutzanpassung durch Ähnlichkeit vielfach in ungeeigneter Weise angewandt und aus- gebeutet worden. Es ıst leicht, für eine ganze Anzahl von Fällen, bei welchen schützende Ähnlichkeit angegeben wurde, nachzuweisen, dass zu einer solchen die biologischen und morphologischen Voraus- setzungen fehlen. Aber wenn man von einem „Ende der Mimikryhypothese“ spricht, so verkennt man die ganze Fülle von Beweismaterial, welches nicht von Dilettanten, sondern von gut vorbereiteten Forschern zusammengebracht worden ist. Übertreibungen und schematische Anwendung können ein wichtiges und bedeutsames Prinzip sehr leicht in Misskredit bringen. Ich glaube jedoch, dass ich nicht an Beispielen zu beweisen brauche, dass es wirklich Schutzanpassung durch Ähnlichkeit gibt. Eine Diskussion wird sich nur darüber erheben, in welchen Fällen der Begriff Schutzanpassung durch Ähnlichkeit anwendbar ist und durch welche gesetzmäßigen Zu- sammenhänge ıhr Vorkommen in der Natur bedingt wird. Es ıst sehr wohl möglich und sogar wahrscheinlich, dass unter den in der Literatur angegebenen Fällen sich zahlreiche zufällige Ähnlichkeiten ohne Schutzwirkung befinden, auch Ähnlichkeiten, welche nur für das menschliche Auge als solche wirksam sind. Zur Entscheidung der in solchen Fällen sich erhebenden Fragen wird nur das detaillierte Studium der Biologie der schützenden Ähnlichkeiten führen. Und dieses ist ohne weiteres mit der Frage nach dem Zusammenhang, welchen ein geschütztes Tier ın Form, Farbe u. s. w. mit Gegenständen seiner Umgebung besitzt, aufs engste verknüpft, wie wir sogleich sehen werden. Ich bin auf meinen Reisen ım tropischen Amerika und Asien durch Beobachtungen und Überlegungen zu einer bestimmten Auf- fassung des Zusammenhanges geschützter Tiere mit ihrer Umgebung gelangt. , Ich will meine Ansichten im diesem Aufsatz in Kürze skizzieren und hoffe, damit eine Reihe von Studien über die Bio- logie der schützenden Ähnlichkeit zu beginnen, welche später | unter Berücksichtigung der Literatur die Einzelheiten meiner Be- | obachtungen und Experimente zur Darstellung bringen sollen. Die übliche Annahme der Entstehung von sympathischer Fär- bung und Mimikry durch Selektion wird z. B. von Weismann folgendermaßen formuliert (Vorträge über Deszendenztheorie vol. 1, 1902, p. 68): „Wir werden zur Erklärung der sympathischen Fär- bungen mit Darwin und Wallace einen Selektionsprozess an- nehmen, der darin besteht, dass bei einem im Laufe der Zeit ein- ana Dotlein, Über Schutzanpassung durch Ähnlichkeit. 245 tretenden Wechsel in der Färbung der Umgebung des Tieres durchschnittlich diejenigen Individuen leichter der Verfolgung ihrer Feinde entgingen, welche am wenigsten von der Farbe der Um- gebung abstachen und dass so im Laufe der Generationen sich eine immer größere Übereinstimmung mit dieser Farbe feststellte. Varia- tionen in der Färbung kommen überall vor; sobald sie einen solchen Grad erreichen, dass sie ihrem Träger einen besseren Schutz ge- währen als die Farbe der übrigen Artgenossen, muss der Züchtungs- prozess seinen Anfang nehmen, und er wird erst dann aufhören, wenn die Übereinstimmung mit der Umgebung eine vollständige geworden ist, oder doch eine so hohe, dass eine Steigerung der- selben die Täuschung nicht mehr erhöhen könnte.“ Die Einwände, welche gegen diese Erklärung der Tatsachen er- hoben worden sind, sind zu bekannt, als dass ich sie zu wiederholen brauche. Auf einige werden wir ohnehin später zurückzukommen haben. Zugunsten dieser Erklärungsweise sprechen folgende Über- legungen: 1. der Lamarckismus und verwandte Erklärungsarten versagen gegenüber der Mehrzahl der zu erklärenden Fälle. 2. Die Selektionshypothese vereinigt die sicherlich eine einheitliche Gruppe bildenden Erscheinungen der Schutzfärbung und Mimikry unter einem einheitlichen Gesichtspunkt. Ein solcher einheitlicher, die zu erklärenden Erscheinungen zusammenfassender Gesichtspunkt scheint mir aber auch durch die Berücksichtigung der psychischen Vorgänge bei den Schutz suchenden Tieren gegeben zu sein. Im Jahre 1898 beobachtete ich auf der Insel Martinique an den Abhängen des Mt. Pelée verschiedene zur Gattung Anolis ge- hörige Eidechsenarten. Wie ich bereits früher dargetan habe (1900), fanden sich auf den jetzt durch die Eruption zerstörten Tufffelsen in der Nähe des Meeres zwischen kleinen Bäumchen zerstreute Rasenbüschel und andere Pflanzen, welche zum großen Teil dürr und trocken waren. Die drei dort häufigen Anolis-Arten waren ganz verschieden voneinander gefärbt; die eine war bräunlich, die andere grün, die ‘dritte war hellgrau mit dunkleren Flecken mar- moriert. Diese drei Formen jagten vielfach sehr lebhaft an den gleichen Orten nach Insekten, wobei besonders die grüne und die braune Form miteinander wetteiferten. Störte ich ihre Jagd durch meine Annäherung, so erfolgte eine plötzliche Flucht, welche aber die verschiedenen Individuen nicht in die Weite führte. Doch waren sie, obwohl sie in nächster Nähe sein mussten, fürs erste dem Auge entschwunden. Erst nach einiger Gewöhnung erkannte ich, dass eine eigenartige Sortierung der Individuen nach Arten erfolgt war. Die grüne Form hatte die grünen Rasenbüschel aufgesucht, die braunen die dürren, und die marmorierte schließlich hatte die hellen Baumstämmchen aufgesucht, deren sonnenbeschienene Rinde mit 246 Doflein, Über Schutzanpassung durch Ähnlichkeit. den Blätterschatten ihrer Färbung vollkommen entsprach. Im Schutze der umgebenden verbergenden Farben hielten sich die Tiere ganz ruhig, so dass man den Eindruck erhielt, als handelten sie mit dem Bewusstsein, dort gesichert zu sein. . Ganz ähnliches beobachtete ich an der gleichen Lokalität bei zwei Heuschreckenarten, einer braunen und einer grünen. Damals schon drängte sich mir die Überzeugung auf, dass das Wesentliche bei der Erscheinung der Instinkt sei, welcher das Tier veranlasst, die passenden Stellen aufzusuchen. Seither habe ich viel über den Gegenstand nachgedacht und Beobachtungen gesammelt; das hat mich zu Gedankengängen ge- führt, welche ich zuerst in meiner Bearbeitung der Brachyuren der deutschen Tiefseeexpedition (Doflein, 1904) niedergelegt und seitdem weiter entwickelt habe. Alle Tiere, welche imstande sind, einen überlegenen Feind oder eine sonstige Gefahr wahrzunehmen und eine Rettung zu ver- suchen, handeln bei dem Rettungsversuch in einer für die Art, welcher sie angehören, charakteristischen Weise. Man kann unter diesem Gesichtspunkt diese Tiere in zwei große Gruppen einteilen: 1. Die flinken, raschen, mit einer gewissen Plastizität der psychi- schen Vorgänge ausgestatteten Formen. 2. Die trägen, langsamen, mit vielfach hochdifferenzierten, aber einseitig ausgebildeten, wenig modifizierbaren Instinkten ausge- rüsteten Formen. Die Formen der ersten Gruppe pflegen, soweit sie nicht eine aktıve Verteidigung versuchen, die Flucht ins Weite zu unternehmen. Sie pflegen eine große Strecke zurückzulegen, ehe sie die Flucht einstellen. Als Beispiele nenne ich gewisse Hymenopteren und Tagschmetterlinge, manche Fische, viele Vögel und Säugetiere. Insgesamt handelt es sich um Tiere mit guten Sinnesorganen und ausgezeichneten Bewegungswerkzeugen. Die Formen der zweiten Gruppe fliehen niemals in die Weite. Ihre Bewegungen sind langsam und vorsichtig. Bei drohender Ge- fahr suchen sie vielfach ein Versteck ın unmittelbarer Umgebung auf, eine Höhle, eine Erdspalte oder Felsenritze, oder irgendeinen dunklen Ort oder sonstige Deckung; andere Formen verharren sogar bewegungslos an Ort und Stelle; sie ducken sich nieder oder im extremen Fall: sie stellen sich tot. In dieser Gruppe. handelt es sich vielfach um Tiere mit gering entwickelten Sinnes- besonders Sehorganen und mit Bewegungsorganen, welche ihren Besitzern meist keine anhaltende rasche Bewegung erlauben. Diese Einteilung ist wie alle derartigen Gruppierungen cum grano salis zu verstehen; es fehlt nicht an verbindenden Übergängen, .wo die unendliche Mannigfaltigkeit der natürlıchen Hxietenzbeung ungen solche zulassen. Doflein, Über Schutzanpassung durch Ähnlichkeit. 347 Die Flucht in eine schützende Umgebung, die Langsamkeit der Bewegungen, das Totstellen, das alles sind bei den Tieren der zweiten Gruppe Anpassungen, welche auf die Sehorgane ihrer Ver- folger berechnet sind. In einer analogen Weise sind die Tiere mit Schutzfärbung und Mimikry angepasst an eine Lebensweise, welche sie den Verfolgungen durch sehende Feinde aussetzt. Und zwar sind die Verfolger, wie überhaupt die meisten Tiere, mit Augen versehen, welche be- sonders zur Wahrnehmung von Bewegungen geeignet sind. Damit ihre schützende Ähnlichkeit mit der Umgebung wirksam sel, müssen sie zu der zweiten der von mir aufgestellten Gruppen gehören. Der Fluchtreflex muss zur Folge haben, dass die Tiere in der sie schützenden Umgebung sich entweder dauernd oder bei eintretender Gefahr ruhig verhalten. Tatsächlich finden wir auch unter den durch Ähnlichkeit geschützten Tieren sehr viele, deren Biologie mit der geforderten Voraussetzung übereinstimmt. Viele der geschützten Insekten (Stab- und Blattheuschrecken, Spinnen, Käfer u. s. w.) sind Tiere mit sehr geringer Beweglichkeit, welche zum Teil sich sogar tot stellen. Die geschützten Schmetterlinge sind nur für die Ruhestellung geschützt und lassen zum Teil während der Bewegung auffallende Färbungen sehen. Und bei zahlreichen Arten von Crustaceen, Arachnoideen, Insekten, Fischen, Reptilien, Vögeln und Säugetieren sehen wir die verfolgten Individuen sich ganz ähnlich verhalten wie die oben geschilderten Eidechsen auf Martinique. \ In all diesen Fällen muss also ein psychischer Vorgang im weiteren Sinne, ein Reflex oder Instinkt die Tiere veranlassen, die zu ihrem Schutz zweckmäßige Handlung vorzunehmen. Keinem der früheren Theoretiker kann dieser Zusammenhang entgangen sein; ich habe allerdings in der Literatur nicht viele Erörterungen über diese Frage gefunden. Weismann kommt wiederholt auf den Instinkt der geschützten Tiere zu sprechen, immer aber in dem Sinn, dass zugleich mit der Ähnlichkeit auch der zweckmäßige Instinkt durch Selektion entwickelt worden sein müsse. Uns genügt fürs erste die Feststellung der Trägheit der Be- wegungen und der Eigenart des Fluchtreflexes bei geschützten Formen. Wir wenden uns nun zu einer anderen Seite des psychi- schen Vorganges, nämlich der Unterscheidung der schützenden Umgebung. Dass eine solche Unterscheidung bei vielen Tieren stattfindet, ist durch Beobachtungen sichergestellt. Einen einwandfreien Beweis bilden die Fälle des sympathischen Farbenwechsels z. B. beim Chamaeleon, bei den Schollen, bei der Garneele Virbius varians. Besonders bei letzterer Form ist eine überraschend weitgehende Farbenanpassung an die Umgebung nach- gewiesen, welche bedingt ist durch die Wahrnehmung der um- 948 Doflein, Über Schutzanpassung durch Ähnlichkeit. gebenden Gegenstände mit Hilfe der Augen. Bei den Schollen ıst ja durch die bekannten Experimente der Zusammenhang der Um- färbung mit den Sehorganen und dem Nervensystem nachgewiesen, Noch komplizierter ist der psychische Vorgang bei den sogen. maskierten Krabben, bei denen durch die Experimente von Auri- villius nachgewiesen ist, dass sie nicht nur jeweils entsprechend der Umgebung sich maskieren, sondern dass sie sogar bei Änderung der Umgebung sich in der nunmehr zweckmäßigen Weise um- maskieren. Wenn ein Stenorhynchus z. B. vorher mit Ulven auf seinem Rücken bepflanzt war, dann auf eine Wiese von Hydroid- polypen versetzt wird, so rupft er die Ulven, welche ihn in dieser Umgebung nicht mehr unerkennbar machen, aus und ersetzt sie durch Hydroidpolypen. Das, was man bei diesen Formen durch einen physiologischen Vorgang (Virbius) oder eine Handlung des Tieres (Krabben) einer zweckmäßigen Veränderlichkeit unterworfen sieht, das treffen wir bei vielen ihrer nahen Verwandten in einer unveränderlich fixierten Weise an: Ähnlichkeit mit der Umgebung in Form, Farbe und Struktur. So konnte ich noch jüngst während meiner Reise ın Ostasien zahlreiche neue Beobachtungen solcher Art machen und ältere Beobachtungen bestätigen. Zahlreiche Oxyrrhynchen, z. B. Arten von Epealtus und Pugettia ähneln in Farbe und Oberflächen- struktur außerordentlich den dunkelgrünen, élig glatten Thallusteilen der Fucaceen; viele Actaeiden haben eine Oberflächenstruktur von Panzer und Beinen, welche sie Korallen, Kalkalgen und korrodierten Steinen sehr ähnlich machen. Verschiedene Galatheiden, welche ich regelmäßig am gleichen Ort vorfand, glichen, die eine voll- kommen der rosenroten Pennatulide, die andere der orangefarbigen Gorgonide, die dritte den schwarzweiß geringelten Seeigelstacheln, welche ıhren bevorzugten Aufenthalts- und Zufluchtsort bildeten. Ein besonders auffallendes Beispiel ist auch die oxyrrhynche Krabbe Huenia proteus, welche sich häufig zwischen den Algen der Gattung Halimeda findet, denen sie ın ihrem auffallenden äußeren Umriss, in Farbe und Oberflächenstruktur täuschend ähnlich ist. Diese verschiedenen Formen konnte ich lebend untersuchen, worüber ich manches schon in meiner , Ostasienfahrt* (Leipzig 1906) berichtet habe. Brachte ich solche Tiere und verschiedenartige Gegenstände. in eines meiner Aquarien, so waren nach wenigen Minuten die Tiere, wenn sie noch lebenskräftig waren, so verteilt, dass jedes die Unterlage aufgesucht hatte, welcher es selbst ähnlich war. Es findet also ın solchen Fällen sicher ein Unterscheiden und Wählen der geeigneten Umgebung statt. Dabei stürzt sich das einzelne Individuum in den Bereich der schützenden Umgebung, wie sonst ein Tier in ein Versteck. Die rasche Bewegung hört auf, sobald das Tier an Ort und Stelle angelangt ıst. Man hat den a Doflein, Über Schutzanpassung durch Ähnlichkeit. 249 Eindruck, als ob es vorher unruhig, hier ruhig würde; hier macht es die zweckmäßigen langsamen Bewegungen oder hält ganz still und stellt sich tot. Wir haben keine Ursache, anzunehmen, dass der Vorgang hier so sehr verschieden sein wird von dem vorher bei den Tieren mit sympathischer Farbenänderung oder Maskierung geschilderten. In beiden Fällen wird psychisch ein ähnlicher Kausalnexus vorliegen. Um diesen ganz vorsichtig zu beschreiben, will ich mich folgender- maßen ausdrücken: Wie in dem einen Fall das Tier bestrebt ist, einen gestörten Gleichgewichtszustand irgendwelcher Art wieder- herzustellen, indem es sein eigenes Aussehen entsprechend der Um- gebung aktiv verändert, so im anderen Falle, indem es eine ihm selbst ähnliche Umgebung durch Ortsbewegung wieder aufsucht. Also die durch ıhre äußere Erscheinung geschützten Tiere ver- danken die Wirksamkeit dieses Schutzes einmal der Funktion threr eigenen Sinnesorgane und sodann gewissen psychischen Vorgängen, sagen wir einmal der Kürze halber gewissen „Instinkten“. Im Zusammenhang mit dieser Feststellung ist es von großem Interesse, zu prüfen, bei welchen Tiergruppen überhaupt Schutz- färbung und Mimikry vorkommt. Protozoen: keine. Célenteraten: keine. Echinodermen: wenige, unsichere Fälle. Würmer: wenige, unsichere Fälle. Arthropoden: sehr zahlreiche gute Beispiele. Mollusken: wenige unsichere Fälle. Vertebraten: sehr zahlreiche gute Beispiele. Aus dieser Zusammenstellung geht die überraschende Tatsache hervor, dass alle wirklich überzeugenden Beispiele von Schutzfärbung und Mimikry sich in den Stämmen der Arthropoden und Verte- braten finden, denen ja auch immer die Musterbeispiele für diese Naturerscheinung entnommen werden. Je mehr wir in die Bio- logie dieses Gebietes einzudringen versuchen, um so. auffallender tritt uns dieser Zusammenhang entgegen und um so deutlicher sehen wir seine Begründung in der Überlegung, dass es sich ja um die beiden Tiergruppen handelt, bei welchen sowohl die Sinnes- organe als auch die Instinkte ihre höchste Ausbildung erreicht haben. Vergleichen wir den in gewissem Sinn vollkommen planmäßigen Fluchtversuch eines Arthropoden oder eines Vertebraten mit dem scheinbar ganz zwecklosen Zappeln eines aus seiner Umgebung ge- rissenen Wurmes, oder dem ganz einfachen Schutzmechanismus eines Cölenteraten, Röhrenwurmes oder Molluskes, so leuchtet uns ohne weiteres der Gegensatz ein. Dieser Gegensatz bedingt es aber auch, dass wir auf Grund unserer früheren Überlegungen bei jenen Tier- stämmen keine Schutzfärbung und keine Mimikry erwarten können. 250 Doflein, Über Schutzanpassung durch Ähnlichkeit. Ausgenommen natürlich jene Fälle, in denen ein Fortsehritt in der gleichen Richtung, wie bei Arthropoden und Vertebraten stattgefunden hat, also z. B. bei manchen höheren Würmern, bei Cephalopoden etc. Wie wir gleich sehen werden, ist ja auch bei jenen bevorzugten Tierstämmen eine ganze Stufenleiter wie für die sonstigen Eigenschaften, so auch für die Schutzanpassung zu ver- zeichnen. Ich will nicht unterlassen hervorzuheben, dass eine Reihe von Fällen, welche ın der Regel als Schutzfärbungen bezeichnet werden, wenn sie auch manchmal als solche wirksam werden, doch nicht als echte Schutzfärbungen angesehen werden dürfen. So z. B. die zahlreichen Nacktschnecken, welche auf bunt gefärbten Spongien und Cölenteraten weiden und die gleiche Färbung zeigen wie ihr Wirt. Bei diesen scheint vielfach, ähnlich wie für Aeolidier die Herkunft der Nesselkapseln ın den Rückenpapillen auf die Nahrung (verschiedene Oölenteraten) zurückgeführt wurde, der Farbstoff direkt aus den gefressenen Teilen des Wirtes zu stammen und mit diesem zu Sachse Bei den Arthropoden und Vertebraten finden wir nun, wie schon erwähnt, verschiedene Stufen in der Vollkommenheit der Schutzanpassung. Dabei fällt es nun auf, dass unter den Crusta- ceen die vollkommensten Fälle bei den Dekapoden, unter den In- sekten bei den Schmetterlingen, unter den Vertebraten bei den Vögeln vorkommen. Dies erinnert uns daran, dass es sich dabei um Formen mit relativ hoch entwickelten Instinkten und gut ent- wickeltem Gesichtssinn handelt. Ja bei den Schmetterlingen haben wir z. B. Organismen vor uns, bei welchen durch die Untersuchungen von Andreae (1904) ein Unterscheidungsvermögen für Farben nach- gewiesen ist. In dem vorstehenden Abschnitt habe ich darzulegen versucht, dass bei den durch Ähnlichkeit geschützten Tieren der Fluchtreflex beeinflusst wird durch das Unterscheidungsvermögen für die schützende Umgebung. Dieser vielfach bezweifelte Zusammenhang scheint mir dlirch meine Beobachtungen erwiesen!). Wie manche frühere Beobachter zu ihrem Zweifel gekommen sind, ist mir sehr wohl verständlich, wenn ich mich daran erinnere, dass auch ich wiederholt Tiere mit Schutzfärbung in ganz unge- eigneter Umgebung angetroffen habe. Und zwar war dies zum Teil bei Formen der Fall, deren ausgezeichnete Schutzanpassung mir an anderen Orten aufgefallen war. Stets handelte es sich dann aber um Vorkommnisse auf einem Gebiet, ın dessen Umgebung ein geeigneter schützender Untergrund vollkommen fehlte. 1) Vgl. hierzu auch die wichtigen, viel zu wenig beachteten Angaben von Vosseler (1902). Doflein, Über Schutzanpassung durch Ähnlichkeit. 251 ‚Bei höheren Tieren mit Schutzanpassung durch Ähnlichkeit können wir also annehmen, dass die Ähnlichkeit mit bestimmten Gegenständen ohne jeden Zusammenhang mit dem Schutzbedürfnis entstanden ist und erst später von dem Tier ausgenützt wurde. Die sehr verschiedenartigen Ähnlichkeitsanpassungen könnten also auf ganz verschiedenen Wegen entstanden sein. Wir wissen jetzt, dass die Färbung von Tieren durch Tem- peratur und Ernährung in hohem Grad modifiziert werden kann. Ferner übt das von der Umgebung ausgestrahlte Licht einen weit- gehenden Einfluss auf die Färbung und Zeichnung von Tieren aus. Ich erinnere an die bekannten Experimente von Poulton über die Färbungsanpassung von Schmetterlingspuppen. Ich deute ferner meine eigenen Erfahrungen an verschiedenen Arthropoden, welche mit den Ergebnissen von Vosseler an Heuschrecken überein- stimmen, folgendermaßen: dieser Autor hat festgestellt, dass z. B. Wiistenheuschrecken ihre frappante Schutzfärbung emem eigen- artigen Vorgang verdanken. Sie nehmen diese Färbung in den Stunden nach der Häutung ganz allmählich an und dabei kopieren sie jeweils den Untergrund, auf welchem sie sich aufhalten. Wenn ihr Chitinpanzer erhärtet ist, behalten sie die einmal erworbene Färbung dauernd bei. Soweit stimme ich Vosseler’s Beobach- tungen und Deutungen vollkommen bei. Zur Erklärung des eigen- artigen Vorganges denkt dieser Autor nun an ein der Farben- photographie vergleichbares rein chemisches Phänomen. In diesem Punkte weiche ich von ihm ab. Mir scheint vielmehr eine Fähig- keit der Tiere vorzuliegen, die Pıgmente vor dem Erstarren des Chitinpanzers unter dem Einfluss der Augen und des Zentralnerven- systems in solcher Weise zu ordnen, dass das Abbild der Umgebung entsteht, ähnlich, wie dies für die Formen mit veränderlicher Schutz- färbung (s. oben S. 247) nachgewiesen ist. Nachdem der Panzer einmal erhärtet ist, bleibt die Färbung jedenfalls bis zur nächsten Häutung unverändert. Ein schützender Effekt wırd also jedenfalls nur dann ausgeübt, wenn das Tier immer wieder in die schützende Umgebung zurückkehrt. Und das ist für eine ganze Anzahl von Fällen auch nachgewiesen. Diese hier kurz erörterten Phänomene bilden eines der Kapitel, über welche ich später ausführlicher be- richten will. So denke ich mir also die Färbungen der Tiere in verschiedener Weise unter dem Einfluss der äußeren Lebensbedingungen erzeugt. Und ähnlich müssen nach meiner Ansicht viele der Oberflächen- skulpturen, Fortsatzbildungen etc. in einer direkten Abhängigkeit von den äußeren Bedingungen stehen. Viel schwerer zu erklären werden die Formähnlichkeiten der ganzen Tiere sein. Aber auch da werden es ganz verschiedenartige Faktoren sein, welche die Vielheit der in Betracht kommenden Formen herbeigeführt haben. Day Doflein, Uber Schutzanpassung durch Ahnlichkeit. Der uns so überraschende teleologische Zusammenhang, der Schutz der Tiere durch ihre Ähnlichkeit mit der Umgebung ist stets erst nachträglich unter dem Einfluss des Auswahlvermögens der Tiere hinzugekommen. Auch die Instinkte, welche die geschützten Tiere zu ihren zweckmäßigen Handlungen veranlassen, scheinen mir bei eingehen- dem Studium der Biologie einer Analyse zugänglich. Der oben durchgeführte Vergleich mit dem Fluchtreflex eines Tieres, welches in ein dunkles Versteck flüchtet, deutet den Weg an, welcher mir dabei zunächst vorschwebt. Auch für das durch Ähnlichkeit ge- schützte Tier trıtt in dem Moment, in welchem es die ähnliche Umgebung erreicht, ein Zustand der Beruhigung ein, während es in der fremden Umgebung unruhig und reizbar war. Möglicher- weise liegen also zum Teil reine Reflexvorgänge hier vor und wir brauchen jedenfalls keine komplizierten Bewusstseinsakte anzunehmen. Die psychischen Vorgänge bei dem Aufsuchen der den Tieren ähnlichen Umgebung, besonders das Wahrnehmungsvermögen für geeignete Objekte, müssen mit den Vorgängen bei der Erkennung der eigenen Artangehörigen in engem Zusammenhang stehen. Vor allen Dingen weisen uns darauf die biologischen Erscheinungen hin, welche mit den sogen. ,Lockfarben* in Zusammenhang stehen. Wie früheren Untersuchern, so ist auch mir aufgefallen, dass Tiere mit Leuchtorganen durch das Licht einer ins Wasser einge- tauchten Laterne und durch andere leuchtende Meerestiere ange- zogen werden. Damit stimmt meine weitere Beobachtung überein, dass allerlei bunte kleine Meerestiere sich durch die farbigen Kelche von Korallenpolypen anlocken lassen. Längst schon ist es bemerkt worden und hat zu mancherlei poetischen Vergleichen Anlass gegeben, dass die blumenbesuchenden Tiere zu den farbenprächtigsten Vertretern des Tierreichs gehören: die Schmetterlinge, die Kolibris, die Nektarinien. Noch dazu weiß man z. B. von letzteren, dass sie mit besonderer Vorliebe. Blumen aufsuchen, welche die gleichen roten und rotgelben Töne besitzen, welche sie an ihren Schmuckfedern an sich tragen. ä Und so habe ich denn nicht selten gesehen, dass durch Ahn- lichkeit geschützte Tiere ebenso wie auf einen sonstigen ähnlichen Untergrund auf ihre eigenen Artgenossen sich niederließen, als ob deren Nähe ihnen die gleiche Beruhigung gewähre, wie die gewohnte schützende Umgebung. Vielleicht hängt es auch damit zusammen, ’ dass durch Ähnlichkeit geschützte Tiere so vielfach gesellige Nei- gungen haben. Diese Tatsachen und Überlegungen führen mich zu dem Schluss, dass für die Entstehung der Schutzanpassung durch Ähnlichkeit die Hypothese der Selektion aus minimalen Variationen nicht die einzige Erklärungsmöglichkeit bietet. Vielmehr ergibt sich, dass Doflein, Über Schutzanpassung durch Ähnlichkeit. 253 die so überraschend zweckmäßige Naturerscheinung auch dadurch zustande kommen kann, dass schon vorhandene Formen, Färbungen und Zeichnungen sich mit schon vorhandenen Instinkten der Tiere kombinieren. Es scheint mir auf diesem Weg die Möglichkeit gegeben, den Einzelfall biologisch zu analysieren. Bei der bisher üblichen, allzu- sehr generalisierenden Auffassung der Entstehung schützender Ähn- lichkeit durch Selektion war eine der Hauptschwierigkeiten die Erklärung der „ersten Schritte“. Von zahlreichen Autoren ist her- vorgehoben worden, dass es schwer verständlich sei, wie eine Art durch Selektion zur Schutzanpassung gebracht werden könne, da doch die ersten Anpassungsschritte noch gar nicht nützlich gewesen sein könnten. Wenn wir aber annehmen, dass das Aussehen eines Tieres ohne Zusammenhang mit der Nützlichkeit entstanden ist und erst nachträglich durch den Instinkt, durch die Fähigkeiten des Tieres ausgenützt wird, so schwindet diese Schwierigkeit. So habe ich z. B. in Ceylon einen sehr häufigen Schmetter- ling beobachtet, Precis iphita, welcher dunkelbräunlich gefärbt ist und auf der Rückseite der Flügel einen Diagonalstrich besitzt, ähn- lich wie er bei den sogen. Blattschmetterlingen vorkommt. Sonst hat das Tier aber weiter gar keine Blattähnlichkeit. Nun hat es aber den auffallenden Instinkt, wenn es verfolgt wird, nicht davon zu fliegen, sondern in die Tiefen eines Gebüsches zu tauchen und sich dort zwischen dürren Blättern an den Ästen niederzusetzen. Wir haben also hier sozusagen einen werdenden Blattschmetterling vor uns und sehen deutlich, wie der Instinkt das Wesentliche ist und der Blattähnlichwerdung vorangehen muss. Denn wenn einmal so bedeutsame Vorbereitungen zur Ähnlich- keit mit Naturgegenständen gegeben sind, so ist nach meiner Über- zeugung eine züchtende Einwirkung der Auslese durchaus möglich. Alle Tiere, welche Schutzanpassung durch Ähnlichkeit besitzen, sind in hohem Maße der Verfolgung durch sehende Tiere aus- gesetzt (durch Fische, Cephalopoden, Vögel, Insekten, Eidechsen, Frösche, Säugetiere). Von der neuerdings oft bezweifelten Dezi- mierung der tropischen Schmetterlinge durch Vögel habe ich mich selbst überzeugen können, wie ich in meiner „Ostasienfahrt“ dar- gelegt habe. Damit habe ich nur die Beobachtungen bestätigen ‚ können, welche andere in neuerer Zeit in viel. größerem Umfang gemacht hatten, vor allem Guy Marshall. Wenn solche Tiere, welche reichlich gut sehende Gegner haben, außerdem noch durch Feinde verfolgt sind, welche beim Aufsuchen ihrer Beute durch den Geruchssinn oder andere Chemoreflexe ge- leitet werden, so haben sie um so mehr Grund, wie schon Weis- mann u. a. hervorgehoben haben, gegen die eine Gruppe von Feinden wenigstens geschützt zu sein. Vor allen Dingen ist aber a 254 Kisskalt u. Hartmann, Praktikum der Bakteriologie u. Protozoologie. ~ hervorzuheben, dass nur gegen die größeren sehenden Feinde das Moment des Schutzsuchens in Betracht kommt. Es findet also tatsächlich eine sehr intensive Auslese durch sehende Tiere statt. Dass dabei schützende Ähnlichkeit für die betreffende Art tatsächlich vorteilhaft ist, geht daraus hervor, dass für sehr selten gehaltene geschützte Formen manchmal in überraschender Häufig- keit nachweisbar sind, wenn die geeigneten Gegenstände, denen sie ähneln, in der Umgebung vorhanden sind. So ist z. B. ein Phyllium in Ceylon auf dem aus Amerika eingeführten Goyavastrauch, dessen Blättern es sehr ähnelt, manchmal in großen Massen vorhanden. Und bei Rovigno in Istrien fand ich einmal auf einem Flächen- raum von wenigen Quadratmetern m einem mit Sarothamnus be- standenen Gelände viele hundert Exemplare von Bacillus Rossii, welcher dort infolge seiner großen Ähnlichkeit mit den Sprossen des Ginsters sich ungestört hatte vermehren können. Solche und ähnliche Beobachtungen haben mich zu der Über- zeugung gebracht, dass auch unter den oben gemachten Voraus- setzungen die Selektion eine wichtige Rolle bei der Erhaltung, Be- festigung und Vervollkommnung einer Schutzanpassung spielen kann. Bei genügender Berücksichtigung der speziellen Biologie der Tiere werden sich viele den oben geschilderten ähnliche Fälle nach- weisen lassen. In gewissem Sinne können dann Eigenschaften sich sprungweise entwickeln. So wie bei der künstlichen Zuchtwahl der Haustierrassen oder der halbnatürlichen Zuchtwahl der Ameisen- gäste durch die Ameisen, so ist auch hier ein psychischer Faktor bei der Auslese wirksam. Das Tier ist mit Hilfe seiner psychischen Fähigkeiten selber der Züchter, welcher die Art vervollkommnet. Kisskalt und Hartmann: Praktikum der Bakteriologie und Protozoologie. Jena, Gust. Fischer 1907, gr. 8°, 174 8., 89 teils farbige Abbildungen. Den vorliegenden Leitfaden zu praktischen Übungen in der Untersuchung der Parasiten aus dem Protistenreich kann Ref. nach eigener Erfahrung auf das wärmste empfehlen. Wenn auch vor allem die für den Arzt wichtigen Arten berücksichtigt sind, so ist doch die theoretische und technische Durchbildung eine solche, dass auch der Biologe gewiss keine bessere Anweisung für die Einführung in diese Spezialgebjete der Parasitologie finden kann. Die zwei von den beiden Autoren getrennt bearbeiteten Ab- schnitte sind freilich sehr verschieden. Gute Anleitungen zu bakterio- logischen Übungen gibt es ja schon mehrfach; vor ihnen allen zeichnet sich die Arbeit von Kisskalt durch die ins kleinste aus- gearbeitete originelle Einteilung in einzelne Übungen und die sorg- fältige Verteilung auf verschiedene Tage aus; dadurch wird es dem den Leitfaden benützenden Praktikanten ermöglicht, auch wenn er nur täglich einige Stunden arbeiten kann, alle Ubungen durchaus | i | Erklärung. 20%) selbständig und ohne Zeitverlust in 2—3 Monaten durchzunehmen. Auch für ein Arbeiten ohne anleitenden Lehrer ist dieses Praktikum daher geeignet, jedenfalls aber gestattet es dem Praktikanten, sein Tagewerk zu beginnen und zu beenden, ohne immerfort auf die Weisungen des Kursleiters warten zu müssen. _ Trotz dieser genauen, jedenfalls auf großer Erfahrung beruhen- den Einteilung des Stoffes ist zugleich auch auf den immer etwas wechselnden Verlauf der Versuche Rücksicht genommen, so dass sich Hinweise finden, wie die eine oder andere Arbeit auch schon früher oder erst später zu erledigen ist. Und außerdem sind die 42 Übungen sehr reichhaltig und gehen weit über den Rahmen der herkömmlichen bakteriologischen Kurse hinaus, sind aber so ange- ordnet, dass auch, wenn die Zeit zur Erledigung aller mangeln sollte, jedenfalls das Wichtigste und Grundlegende gut geübt werden kann. Für ein Praktikum der Protozoologie hat es bisher an einem Vorbild völlig gefehlt. Wir werden es dem Bearbeiter deshalb nicht zum Vorwurf machen, wenn er eine gleichermaßen ins ein- zelnste gehende Anweisung nicht gegeben hat, besonders da auch die andere Art des Stoffes eine so planmäßige Ausnützung der Zeit wie bei bakteriologischem Arbeiten einerseits weniger notwendig und andererseits kaum möglich erscheinen lässt. Dafür ıst dieser Teil ausgezeichnet durch das Abwechseln kurzer allgemeiner und besonders auch theoretischer Abschnitte und der mehr praktischen speziellen Anweisungen. Die ersteren waren nötig, da eine kurze und leicht verständliche Darstellung der modernen Protozoenkunde noch völlig fehlte; Ref. kann gerade auch sie nur aufs wärmste loben und ebenso die schönen Abbildungen, mit denen sie ausgestattet sind. Da die bakteriologischen Arbeiten nur einige Stunden täglich erfordern, so kann dieser zweite Teil auch gleichzeitig mit dem ersten durchgearbeitet werden, wenn der Lernende sich in kurzer Zeit völlig ausbilden will, oder er kann nach diesem und jedenfalls nicht mit größerem Zeitaufwand erledigt werden. Werner Rosenthal, Göttingen. Erklärung. In Nr. 9, Bd. XXVI (1906) dieser Zeitschrift habe ich einen Aufsatz — „Fischfärbung und Selektion“ veröffentlicht. Ein Jahr später — 1907 — erschien in derselben Zeitschrift (Nr. 8, Bd. XXVI) ein anderer, von W. Kapelkin verfasster Aufsatz „Die biologische Bedeutung des Silberglanzes der Fischschuppen“, welcher dasselbe Thema behandelte. Diesem waren die Bemerkungen beigefügt, dass der Aufsatz 1. eine Übersetzung eines vom Autor im Jahre 1905 russisch geschriebenen Artikels darstelle (erschienen in der Zeit- schrift „Estestwosnanje i Geographie“ Nr. 1) und 2. dass der Ver- fasser schon ein Jahr früher (16. September 1904) über dasselbe Thema vor der Kais. Gesellschaft der Naturforscher zu Moskau vorgetragen habe. In einer mir erst jetzt bekannt gewordenen Veröffentlichung (Zeitschrift „Estestwosnanje i Geographie“ Nr. 9, 1906) schreibt 356 Henriksen, Darwinism To-Day. nun W. Kapelkin, dass ich bei Abfassung meines Aufsatzes im Jahre 1906 seinen russischen Artikel von 1905 als Vorlage benutzt, ihn aber absichtlich nicht erwähnt habe. Um dieser Verdächtigung entgegenzutreten, möchte ich folgendes mitteilen: 1. Der Aufsatz Kapelkin’s „Die biologische Bedeutung“ ete. wurde mir erst in seiner deutschen im Biologischen Centralblatt erschienenen Übersetzung bekannt. 2. Mein im Jahre 1906 erschienener Aufsatz ist die wört- liche Übersetzung eines von mir im Jahre 1903, 7. November vor der Gesellschaft der Naturwissenschaftler — Professoren und Studenten — an der Universität Sofia gehaltenen Vortrags, von dem ein Auszug in den Protokollen der oben genannten Gesellschaft enthalten ist. München, den 1. Februar 1908. M. Popoff. Darwinism To-Day By Vernon L. Kellogg, Professor of Entomology Leland Stanford. University, California. p. 395. Prof. Kellogg has ın this volume discussed the present stand- ing of Darwinism 1. e. the selection theories. He devides it into three parts: Darwinism attacked, Darwinism defended, and Other Theories of Species forming. It is an admirable written book. In a clear and concise form he explains the view of the leading bio- logists on this subject. It will perhaps give the German student a better knowledge on the work done on this subject in The United States. However many American students would have wished the author had paid more attention to work done at home. We have in The United States a number of biologists who has accomplished much in this line but refrain from publishing it, and much has been published but paid little attention to. Another objection which perhaps will be made when the Professor considers such theoretical questions, is too little attention is paid to the results of experimental embryology. We have much research which allows interpretation in finding the causes for structures instead of dealing with them ready made. The work of Professor Tower and a number of other biologists has through their work added much to the interpretation of origin of structures through environmental influence. As to the authors own view we can judge only from his own and his associates work. He seems sceptical as to the ,Almacht* of natural selection and he as many American biologist refuses to give up the Lamarckian theory. The book is especially adapted for the coming generation of biologists, those who have not followed the stru esle in the year passed, but wishes to get an introduction to this important study and for them it is very welcome both here and abroad. Martin E. Henriksen. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Handbuch der Massage Dr. en 2. Auflage. M. 6.—. Die Krankheiten im Kriege Stabsarzt Dr. Knaak. WE =, Das Distinktionsvermogen der peripheren Teile der Netzhaut vo Dr. ©. Königshöfer. M. —.80. Untersuchungen über Gastrulation und Embryobildung bei den Chordaten. Von Priv.-Doz. Dr. Fr. Kopsch. 1. Die morpholog. Bedeutung des Keimhautrandes und die Embryobildung bei der Forelle. Mit 10 lithogr. Tafeln und 18 Abbildungen im Text. m“, Pathologie und Therapie der Niereninsuffizienz bei Nephritiden. Auf Grund eigener Untersuchungen von Dr. Géza Kövesi, und Dr. W. Roth-Schulz, Assistent der I. med. Univ.-Klinik, Budapest. Budapest-Nervi, emer. Interner der Klinik. Mit einer Vorrede von Prof. Alex. von Koränyi. — Mit dem „Belassa-Preis‘“ gekrönte Schrift. er R GEN M. 7.—, geb. M. 8.—. K. B. Hof- und Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. Bin | Biologisches Gentralblatt Unter Mitwirkung von | Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie | in Miinchen, | herausgegeben von Dr. J. Rosenthal | Prof. der Physiologie in Erlangen. - Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. XXVIII. Bd. 15. April 1908. | Ne 8. "Leipzig. | Fe Verlag von Georg Thieme. Rabensteinplatz 2. | Reg.-Bez. Breslau. a 1 | i i ; | =| DBahnst. Kudowa oder Nachod. 400 m über dem Meeresspiegel. Saison: Vom 1. Mai bis Oktober. | Arsen-Eisenquelle: Gegen Herz-, Blut-, Nerven- und Frauenkrankheiten. Lithionquelle: Gegen Gicht, Nieren- und Blasenleiden. Natürliche Kohlensäure- und Moorbäder. Neu erbohrte, ausserordentlich kohlensäurehaltige und ergiebige Quelle. Komf. Kurhotel. Theater- u. Konzertsäle. Anstalt für Hydro-, Elektro- u. Licht- — Therapie. Medico-mechanisches institut. Hochwasserleitung u. Kanalisation. Badeärzte: Geh. Sanitäts-Rat Dr. Jacob, Dr. Herrmann, Dr. Karfunkel, Dr. Witte, Privat- Dozent Dr. Ruge, Sanitäts-Rat Dr. Kuhn, Dr. Silbermann, Dr Münzer, Dr. Brodzki, Dr. Hirsch, Dr. Loebinger, Dr. Kabierschke, Dr. Bloch, Dr. Schnabel, Zahnarzt Dr. Wolfes. Brunnen-Versand durch die Generalvertretung Dr. S. Landsberg, Berlin SW., Gitschiner- strasse 107, Telephon Amt IV 1048, und die Bade-Direktion Kudowa. Prospekte gratis durch sämtliche e Hetseb tie. RUDOLF MOSSE und Die Bade-Direktion. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Roth’s klinische Terminologie. , Zusammenstellung der zur Zeit in der klinischen Medizin gebräuchlichen technischen Ausdrücke, mit Erklärung ihrer Bedeutung und Ableitung von | weil. Dr. Otte Roth. Siebte, vielfach verbesserte und stark vermehrte Auflage. | | Geb. M. 7.—. I: 2 ae 28 i Ser, nl | > en Me ee uw m PR N + 38 Biologisches Gentralblatt Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. Bd. XXVIlIl 15. April 1908. A 8. Inhalt: Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus und der Sklaverei bei den Ameisen. — emoll, Die Königin von Apis mell., ein Atavismus. — Jordan, Uber Entwickelung vom physiologischen Standpunkte aus. — Errera, Cours de Physiologie moléculaire. Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus und. der Sklaverei bei den Ameisen. (Zugleich 162. Beitrag zur Kenntnis der Myrmekophilen.) Von E. Wasmann S. J. (Luxemburg). Seit der Veröffentlichung meiner Studie „Ursprung und Ent- wickelung der Sklaverei bei den Ameisen“!) (Biol. Centralbl. 1905, Nr. 4—-9 u. 19) sind mehrere. wichtige. Arbeiten von Wheeler?), Forel*), Santschi!) und Viehmeyer’) über diesen Gegenstand 1) Diese Arbeit erhielt im März 1906 von der Akademie in Montpellier einen Teil des Lichtensteinpreises. Im Nachtrag (Biol. Centralbl. 1905, Nr. 19) sind auch zwei Arbeiten Wheeler’s von 1905 schon erwähnt. Ich datiere daher die neue Literatur von 1905 an. — Siehe auch die 3. Aufl. meines Buches „Die moderne Biologie und die Entwicklungstheorie“ (Freiburg i. Br. 1906), 10. Kap., S. 393—431. 2) How the queens of the parasitic and slavemaking ants establish their colo- nies (Amer. Mus. Journal V, Nr. 4, Okt. 1905, S. 144—148); On the founding of colonies by queen-ants, with special reference to the parasitic and slavemaking spe- cies (Amer. Mus. Nat. Hist. XXII, 1906, S. 33—105); The polymorphism of ants, with an account of some singular abnormalities due to parasitism (Ibid. XXIII, 1907, S. 1—93); The origin of slavery among ants (Popul. Science Monthly LXXI, 1907, S. 550—559). 3) Moeurs des fourmis parasites des genres Wheeleria et Bothriomyrmex (nach Santschi’s Beobachtungen) (Revue Suisse Zool. XIV, fasc. 1, 1906, S. 51—69). 4) Moeurs parasitiques temporaires des fourmis du genre Bothriomyrmex (Ann. Soe. Ent. France LXXV, 1906, 8. 363—392). 5) Beiträge zur Ameisenfauna des Königreiches Sachsen (Abh. Naturw. Ges. Isis Dresden 1906, Heft IT, 8. 55—69); Zur Koloniegründung der parasitischen Ameisen (Biol. Centralbl. 1908, Nr. 1, S. 18—32). XXVIII. 17 {sie 358 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. ey erschienen, welche die 1905 gewonnenen Resultate einigermaßen modifizieren. Von einem Anfangsstadium des sozialen Parasitismus, auf welchem die Koloniegründung der Königin von der Mithilfe fremder Arbeiterinnen abhängig wird, ausgehend, zweigen sich der eigentliche soziale Parasitismus und die Sklavenzucht nach zwei verschiedenen Richtungen divergierend ab. Bevor ich auf diese allgemeineren Fragen näher eingehe, will ich hier eine Reihe von Beobachtungen und Versuchen über gemischte Formica-Kolonien mitteilen, die ın den drei letzten Jahren von mir angestellt wurden. Auch manche Versuche über die internationalen Beziehungen von Ameisengästen, die in Beobachtungsnester dieser Kolonien gesetzt wurden, sollen hier erwähnt werden. Namentlich durch letztere Versuche, welche auf das Akkommodations- und Regulationsvermögen der sozialen Instinkte bei den Ameisen vielfach Licht werfen, bildet die vorliegende Studie auch einen Beitrag.zur experimentellen Tier- psychologie. Die Arbeit wird folgende Teile umfassen: 1. Zwei natürliche Adoptionskolonien rufa-fusca und die mit einer derselben angestellten Versuche. 2. Eine natürliche Adoptionskolonie exsecta-fusca und die mit derselben angestellten Versuche. . Versuche über die Aufzucht fremder Arbeiterpuppen durch F. truneiecola. 4. Versuche über die Koloniegründung der Königinnen, be- sonders bei verschiedenen Formica-Arten (truncicola, rufa, pratensis, sanguinea). 5. Zur Koloniegriindung bei Polyergus, Strongylognathus und Anergates. . 6. Zur ontogenetischen und phylogenetischen Beziehung zwischen dem sozialen Parasitismus und der Sklaverei bei den Ameisen. oo 1. Zwei natürliche Adoptionskolonien rufa-fusca bei Luxemburg und Versuche mit einer derselben. Inhalt: Koloniegründung verschiedener F'ormica-Arten mit fusca-Arbeiterinnen. — Eine natürliche rufa-fusca-Kolonie vom Stadium 3. Eine natürliche rufa-fusca- Kolonie vom Stadium 1. Versuche mit der rufa-fusca-Kolonie vom Stadium 3: a) Versuche über die internationalen Beziehungen von Atemeles emarginatus und paradoxus. Feind- liches Benehmen der fusca gegen diese Käfer nach der Ankunft der rufa-Königin im Neste rfI. Versuche mit dem Kontrollnest rfII. b) Versuche über die Auf- zucht fremder Arbeiterpuppen in rfII. c) Weitere Entwickelung der gemischten Kolonie in rfI. d) Versuche mit Lomechusa und deren Larven. e) Versuche mit Dinarda dentata und deren Larven. f) Versuche mit indifferent geduldeten Gästen von rufa. g) Versuche mit Platyarthrus. h) Können die Ameisen „zählen“? Schon früher (Ursprung und Entwickelung der Sklaverei, Biol. Centralbl. 1905, S. 195ff.) habe ich zu zeigen gesucht, dass die Königinnen von F. rufa und pratensis ihre neuen Niederlassungen Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. 359 gewöhnlich nicht mit Arbeiterinnen fremder Arten, sondern meist mit Arbeiterinnen der eigenen Kolonie, manchmal auch mit Arbeiterinnen fremder Kolonien der eigenen oder einer nahe verwandten rufa-Rasse gründen. Dass jedoch sowohl rufa als pra- tensis gelegentlich, wenn ihnen Hilfsameisen der eigenen Art nicht zu Gebote stehen, in den Nestern einer fremden Art (fusca) Aufnahme findet und mit dieser ihre neue Kolonie dann gründet, wurde daselbst auch schon hervorgehoben (S. 199— 200). Für pratensis lagen auch bereits einige direkte Anhaltspunkte hierfür vor in den sehr seltenen natürlichen gemischten Kolonien von pratensis mit fusca (von Forel 1871, von Wasmann 1887 beobachtet). Dagegen waren bisher noch keine natürlichen gemischten Kolonien von rufa mit fusca bekannt. Auf dem Bergabhang von Schétter-Marial bei Luxemburg liegen für Formica-Königinnen verschiedener Arten besonders günstige Verhältnisse vor zur Gründung temporär gemischter Kolonien mit fusca. Letztere Art ist dort außerordentlich häufig und zählt auf einem Gebiet von kaum 1,5 qkm wohl an 2000 Kolonien. An steinigeren Stellen ist daselbst auch rufibarbis häufig, etwa 200 Kolonien. Mehrere ältere und jüngere (ungemischte) Kolonien von rufa und pratensis befanden sich dort ebenfalls. Ferner 12 Kolonien von truncicola®), unter denen vier bei ihrer Entdeckung noch mit fusca gemischt waren (drei vom Stadium 1, eine vom Stadium 3). Schließ- lich drei Kolonien von exsecta, unter denen eine exsecta-fusca-Kolonie (vom Stadium 3) sich befand. 1906 fand ich endlich auf demselben Gebiete auch zwei junge rufa-fusca-Kolonien (Stadium 3 und 1). Wie vorsichtig man übrigens bei Beurteilung ganz junger Kolo- mien von rufa oder pratensis sein muss, erfuhr ich 1906, wo ich dreimal (im Juni, Juli und September) auf Schötter-Marial kleine pratensis-Nester mit nur einigen hundert meist kleinen Arbeiterinnen fand. Die Vermutung, dass sie mit fusca gegründet worden seien, lag nahe; aber beim Aufgraben des Nestes fanden sich keine fusca. In allen drei Fällen waren in der Nähe ältere pratensis-Kolonien, in zwei Fällen konnte später ein Zusammenhang mit letzteren direkt beobachtet werden. Wahrscheinlich wurden also hier die jungen Königinnen durch umherstreifende Arbeiterinnen der Mutterkolonie bei der Nestgründung unterstützt, nicht aber durch fusca oder rufibarbis. Schon im Mai 1902 hatte ich auf Schötter-Marial eine isolierte rufa-Königin unter einem Steine gefunden, der ein Nest von fusca bedeckte. Sie war von letzteren noch durch eine Erdwand ge- schieden; ihre Aufnahme hatte also noch nicht stattgefunden. Diesem 6) Die Statistik dieser truncicola-Kolonien siehe in: Zur Kenntnis der Ameisen und Ameisengäste von Luxemburg. III. Teil (Arch. trimestr. de l’Instit. Grand Ducal 1908) 127 960 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. ~ Falle schenkte ich damals keine weitere Aufmerksamkeit. Ich komme nun zu den beiden rufa-fusca-Adoptionskolonien vom Jahre 1906, die an anderen Stellen desselben Gebietes lagen. Am 14. April 1906 fand ich mit meinem Kollegen H. Schmitz unter einem Steine eine echte rufa-fusca-Kolonie vom Stadium 3 der truncicola-fusca-Kolonien. Etwa 50 ziemlich kleine rufa-Ar- beiterinnen und 100 alte (ausgefärbte) fusca-Arbeiterinnen waren in dem Neste sichtbar, das nach seiner Bauart ein reines fusca-Nest war. Eine Anzahl Arbeiterinnen beider Arten wurden für ein Lubbock-Nest mitgenommen. Am 16. April wurde das Nest auf Schötter-Marial wieder besucht und diesmal ganz ausgegraben. Es fanden sich etwa 200 meist kleine rufa-Arbeiterinnen und 200 alte fusca-Arbeiterinnen sowie eine echte rufa-Königin (reine rufa-Rasse), die mit ihren Eierklumpen mitten unter den fusca saß. Eine fusca- Königin war sicher nicht im Neste. Die Königin, die Eierklumpen und möglichst viele Arbeiterinnen beider Arten wurden mitgenommen. Zu Hause lef ich sie aus dem Fangglase in das Lubbock-Nest überwandern, welches bereits die andere Abteilung derselben Kolonie enthielt. Weitere Beobachtungen und Versuche an dieser Kolonie werden unten folgen. Die zweite rufa-fusca-Kolonie fand ich auf Schötter-Marial am 31. Mai 1906 mit meinem Kollegen H. Schmitz. Sie befand sich erst im Stadium 1—2 der trwncicola-fusca-Kolonien. Das- Nest lag unter einem großen Steine und war von reiner fusca-Bauart. Eine rufa-Königin mit einer Anzahl Eierklumpen saß mitten zwischen etwa 100 ziemlich großen und völlig ausgefärbten (alten) frsca-Ar- beiterinnen. Beim Aufheben des Steines ergriffen die fusca sofort die rufa-Konigin und die Eierklumpen und brachten sie in Sicher- heit. Eine fausca-Königin war nicht zu finden. Da ich die Ent- wickelung dieser Kolonie in freier Natur weiter verfolgen wollte, ließ ich sie an Ort und Stelle. Leider war sie infolge der Störung schon am 7. Juni ausgewandert und konnte trotz sorgfältigen Suchens seither nicht wiedergefunden werden. Versuche mit einer rufa-fusca-Kolonie. Dieselben beziehen sich auf die am 14. April 1906 entdeckte natürliche Kolonie vom Stadium 3 bei Luxemburg. a) Versuche über die internationalen Beziehungen von Atemeles emarginatus und paradoxus. Diese Versuche. waren für mich deshalb von besonderem Interesse, weil F. rufa und pratensis in ihren selbständigen Kolonien die kleinen Afe- meles”) (emarginatus und paradoxus) schonungslos tötet; kein eın- 7) Von den großen Atemeles-Arten hat pubicollis die F. rufa als Larvenwirt, pratensoides die I’. pratensis (vgl. Zur Lebensweise von At. pratensoides in: Ztschr. f. wissensch. Insektenbiologie 1906, Heft 1 u. 2). Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. 261 ziger meiner zahlreichen Versuche, diese Käfer bei rufa oder pratensis aufnehmen zu lassen, ist während 20 Jahren in meinen Beobachtungsnestern gelungen®). Dagegen hatten pratensis, die mit fusca in einer natürlichen gemischten Kolonie lebten, den Atemeles emarginatus ohne Schwierigkeit aufgenommen?). Werden sich die rufa in der rufa-fusca-Kolonie ebenso verhalten? In dem Lubbock-Neste, welches am 14. April 1906 eingerichtet wurde, befanden sich 15 rufa und 30 fusca, die aus dem Heimat- neste mitgenommen worden waren. Am 15. April setzte ich nach- einander drei Atemeles emarginatus im ein kleines Anhanggläschen, das mit einer der Öffnungen des Lubbock-Nestes verbunden wurde (diese Atemeles hatten vorher einen Tag mit einigen fremden fusca- Arbeiterinnen in einem Beobachtungsglase zugebracht). Einer der Käfer lief bald in das Nest hinüber und wurde von der ersten fusca, die ıhm begegnete, mit lebhaften Fühlerschlägen untersucht und dann sofort an den gelben Haarbüscheln eifrig beleckt. Bald drängte er sich unter eine Gruppe dicht beisammensitzender rufa und fusca. Eine rufa prüfte ihn mit den Fühlern, griff ihn aber nicht an; eine fusca beleckte ihn. Am Nachmittag des 15. saßen bereits alle drei Atemeles mitten unter den rufa und fusca. Eine rufa beleckte gerade einen derselben an den Haarbüscheln des Hinterleibes. Der Käfer trillerte mit zurückgebogenen Fühlern auf den Kopf der Ameise, wandte sich dann um und forderte sie nach Ameisenart zur Fütterung auf. Die rufa reagierte jedoch noch nicht auf diese ungewohnte Aufforderung. Dagegen beleckten die rufa alle drei Käfer noch öfter und anhaltender als die fusca es taten. Die Atemeles emarginatus waren von beiden Ameisenarten vollkommen aufgenommen. Am 16. morgens saßen sie mitten unter den Ameisen mit stark aufgerolltem Hinterleib, wie es bei den in Formica-Nestern aufgenommenen Atemeles stets der Fall ist. Durch die häufige Beleckung hatten sie den charakteristischen starken Glanz angenommen, der eine Folge ıhrer Beleckung durch Formica ist. Am 16. setzte ich auch einen Atemeles paradoxus (den ich bei F. rufibarbis gefangen und der 2 Tage lang in einem Beobachtungs- glase mit einigen fusca gehalten worden war) in das Anhanggläschen des Lubbock-Nestes. Er wurde anfangs von den fusca, denen er 8) Donisthorpe berichtet in „Entomologists Record“ XV (1903), Nr. 1, über die Aufnahme eines At. paradoxus in einem Versuchsneste von rufa. Er verfolgte das Experiment jedoch nicht weiter, das nach meinen Erfahrungen mit dem Zer- reissen des Atemeles bald geendet haben würde. Emarginatus wird bei rufa übrigens rascher getötet als paradoxus,»da er weniger widerstandsfähig ist. 9) Die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien der Ameisen (1891), S. 173ff. Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen (1899), S. 99. Über die Auf- nahme von Atemeles in einer truncicola-fusca-Kolonie siehe: Ursprung und Ent- Wickelung der Sklaverei (Biolog. Centralbl. 1905, S. 135ff., 162 ff.). 962 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. ~ fremd war’), heftig angegriffen und umhergezerrt. Bald darauf saß er jedoch ruhig in der Nähe der schon aufgenommenen emar- ginatus. Am Nachmittag war bereits kein Unterschied mehr zwischen der Behandlung des paradoxus und der emarginatus. Alle vier Käfer waren vollkommen aufgenommen und wurden von den Arbeiterinnen beider Arten häufig beleckt, von rufa noch öfter als von fusca. Zwei emarginatus waren an diesem Tage bereits in Paarung, die mehrere Stunden andauerte. Drollig war das Benehmen eines emarginatus, wenn er von einer Ameise mit den Fühlern be- rührt wurde; er setzte sich dann manchmal mit gespreizten Beinen hin, erhob den Körper und versetzte ihn in lebhaft zitternde Be- wegung, die mehrere Minuten lang währte. Am 16. April abends hatte ich aus dem ru fa-fusca-Nest auf Schötter- Marial die rufa-Königin mit ihren Eierklumpen und noch etwa 100 rufa-Arbeiterinnen und 100 fusca-Arbeiterinnen in einem Fang- His. 1. HID N Versuchsnest rufa-fusca rfl. glase mitgebracht und dasselbe mit dem Lubbock-Neste verbunden, in welches die Ameisen in der Nacht vom 16. auf den 17. hinüber- wanderten. Das Lubbock-Nest wurde hierauf mit einem Vorneste und einem Fütterungsapparat versehen (Wasmann-Nest). Zum leichteren Verständnis der folgenden Beobachtungen gebe ich hier die Skizze des Nestes. Die fusca besorgten noch ausschließließlich die Brut- pflege im Neste und pflegten die mitgebrachten und die neu ge- legten Eier der rufa-Königin; reufa-Arbeiterinnen sah ich noch nicht: damit beschäftigt. Bei Erhellung des Nestes waren es ferner aus- schließlich die fusca, welche sofort nicht bloß die rufa-Königin. und die Eierklumpen, sondern auch die rufa-Arbeiterinnen ergriffen und in Sicherheit brachten. Einmal wurde an diesem Tage auch ein Atemeles emarginatus bei dieser Gelegenheit von einer fusca an den gelben Haarbüscheln gefasst und fortgetragen. Aber schon 10) F. fusca beherbergt und erzieht in freier Natur nur den emarginatus. Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. 263 begann sich das Benehmen der fusca gegenüber den Atemeles zu ändern, seitdem die rwfa-Kénigin mit ihrer Brut in das Nest ge- kommen war. Am Abend des 16. April waren die drei emarginatus und der paradoxus noch mitten unter den Ameisen, vorzugsweise unter den rufa, zu sehen, die sich eifrig mit ihrer Beleckung beschäftigten; nur ein emarginatus saß unter den fusca. Am Morgen des 17. be- fand sich noch ein Pärchen des emarginatus in Kopula unter den Ameisen des Hauptnestes. Der paradoxus war durch Tabakrauch betäubt worden, den ich in das Fangglas, wo er sich zufällig auf- hielt, hineingeblasen hatte, um die noch übrigen Ameisen in das Hauptnest hinüberzutreiben. Er wurde herausgenommen. Dafür wurden an diesem Tage zwei neue emarginatus hinzugesetzt, so dass jetzt fünf emarginatus im rufa-fusca-Nest sich befanden. Schon vor der Ankunft der neuen zwei Atemeles hatten die fusca ihr Benehmen gegen diese Käfer allmählich geändert. Ein Atemeles-Pärchen, das am Vormittag des 17. April unter den Ameisen des Hauptnestes saß, wurde von den fusca zwar noch wiederholt beleckt, aber dabei ungewöhnlich heftig an den gelben Trichomen gezerrt; dann wurden sie an den Fühlern ergriffen und umher- gezerrt und zogen sich hierauf zeitweilig aus der Nähe der Ameisen zurück. Mittags waren jedoch noch drei von den fünf Atemeles im Hauptneste unter den Ameisen zu sehen. Am Nachmittag hatte ihre Vertreibung schon begonnen. Drei von den fünf Atemeles waren bereits im erhellten Vorneste und suchten aus demselben ins Freie zu entkommen; einer der Käfer machte sogar Flug- versuche. Die zwei übrigen Atemeles befanden sich noch an diesem Nachmittag im Hauptneste. Aber während einer derselben noch von einer fusca nach Ameisenart aus dem Munde gefüttert wurde, waren schon fünf fusca zugleich damit beschäftigt, den anderen Atemeles umherzuzerren und in Stücke zu reißen! Am 18. April waren nur noch drei Atemeles am Leben, die sich konstant im Vor- nest aufhielten und aus demselben zu entfliehen suchten. Um festzustellen, ob die Ankunft der rufa-Königin mit ihrer Brut die Ursache gewesen sei für die Änderung des instinktiven Verhaltens der Ameisen gegenüber den Afemeles, wurde am 18. April ein Kontrollnest mit Arbeiterinnen aus derselben Kolonie ein- gerichtet. 20 fusca, aus dem Neste von Schötter-Marial, zu denen ich zu Hause noch eine Anzahl rufa aus derselben Kolonie setzte !!), wurden zuerst in einem Beobachtungsglase und dann in einem eigenen Lubbock-Neste angesiedelt, die ich als r-f-II im folgenden zitiere, während ich das andere Versuchsnest (Wasmann-Nest), welches die rufa-Königin etc. enthielt, als r-f-I bezeichne. 11) Eine rufa-Arbeiterin aus einer fremden Kolonie, die ich ebenfalls dazu gab, wurde sofort von den fusca angegriffen und getötet. 264 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. In r-f-I war bereits am 19. April kein lebender Atemeles mehr zu sehen. Am 20. morgens fand ich die fünf Leichen derselben teils im Hauptneste, teils im Vorneste, meist schon mit ausgefressener Brust und Hinterleib. Rufa-Arbeiterinnen hatte ich in diesem Neste niemals an den Gewalttätigkeiten gegen die Atemeles sich beteiligen sehen; sie waren gegen diese Gäste ebenso friedlich wie die trunci- cola der früher erwähnten?) truncicola-fusca-Kolonie. Es waren nur die fusca, welche in der gemischten Kolonie nach der Ankunft der rufa- Königin die Atemeles — ihre normalen Gäste in freier Natur! — abschafften. Ihr Adoptions- instinkt, der ein Ausfluss ihres Brutpflegeinstinktes ist, dehnte sich nicht mehr auf die Atemeles aus, welche fortan nur noch als „Beutetiere* behandelt wurden. Es scheint mir dies ein interessantes Beispiel von Instinktregulation (nach Art der organischen Regu- lationen von Driesch) zu sein. In dem Kontrollneste .r-f-II, das keine rufa-Königin besaß, wurden dagegen die Atemeles emarginatus dauernd als echte Gäste von den Arbeiterinnen beider Arten behandelt und auch die Larven dieser Käfer erzogen. Ich zitiere hierfür nur einige Beobachtungen über r-f-II: Am 18. April wurde ein Atemeles emarginatus, ferner Eier- klumpen aus fremden fusca-Nestern hineingesetzt. Die fremden Eierklumpen wurden nicht adoptiert. Am 24. wurden zwei neue Atemeles emarginatus, die eine Woche lang bei fremden fusca ge- halten worden waren, hinzugesetzt. Am 26. saßen die drei Afe- meles, infolge der häufigen Beleckung und Fütterung stark glänzend und wohlgenährt, mitten unter den Ameisen; am 27. war ein Pärchen in Kopula. Am 1. Mai ließ ich die Ameisen aus dem Beobach- tungsneste r-f-II in ein Lubbock-Nest r-f-II umziehen. Einer der Atemeles wurde von einer fusca im Maule hinüpergetragen. Im neuen Neste wurden die drei Gäste von beiden Ameisenarten ebenso gepflegt wie im alten, häufig beleckt und gefüttert. Auch nachdem ich (am 10. und 12. Mai) zwei Lomechusa hinzugesetzt hatte, dauerte die Pflege der kleinen Atemeles fort; in den ersten Tagen beschäf- tigten sich die rufa jedoch häufiger mit Beleckung von Lomechusa als von Atemeles. Am 5. Mai und 9. Juni war ein Atemeles-Pärchen wieder in Kopula unter den Ameisen zu sehen. Die andauernde und sanfte Beleckung eines Atemeles durch rufa habe ich vom 24. Mai und 9. Juni noch besonders notiert; im letzteren Falle wurde das gerade in Paarung befindliche Weibchen beleckt. Am 17. Juni war einer der drei Atemeles eines natürlichen Todes ge- 12) Ursprung u. Entw. d. Sklaverei 1905, 8. 136ff., 141ff. Auch damals waren es die fusca gewesen, welche die At. emarginatus getötet hatten; die truncicola beteiligten sich nicht an diesen Feindseligkeiten (S. 138). Erst durch die Analogie mit obiger rufa-fusca-Kolonie sind mir diese Beobachtungen verständlich geworden. Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. 265 „storben. Die übrigen zwei Exemplare wurden von beiden Ameisen- arten weiter gepflegt, oft beleckt und gefüttert. Die gastliche Behandlung dauerte auch noch an, nachdem ich den Ameisen Ar- beiterkokons von rufa und fusca und Arbeiterlarven von rufa (siehe über diesen Versuch weiter unten) am 26. Juni gegeben hatte. Noch am 8. Juli beobachtete ich die Beleckung und Fütterung beider Atemeles durch rufa und fusca. Am 18. Juni waren drei Larven von Atemeles emarginatus (aus fremden fausca-Kolonien) in das Nest gesetzt worden. Sie wurden sofort adoptiert. Die erste Atemeles-Larve, die von einer fusca zu- erst bemerkt worden war, wurde von ihr anfangs stundenlang im Maule gehalten, um sie nicht zu verlieren. An der Beleckung und Fütterung der Atemeles-Larven beteiligten sich sowohl die fusca als auch die rufa des Nestes. Am 26. Juni wurde noch eine vierte Atemeles-Larve adoptiert. Am 1. Juli waren drei dieser Larven von den Ameisen schon eingebettet und an der unteren Glasscheibe des Nestes in ihren Verpuppungshöhlen sichtbar. Am 10. Juli war auch die vierte Larve eingebettet. In einer der drei anderen Ver- puppungshöhlen war schon ein fast ausgefärbter junger Atemeles sichtbar. Am 11. Juli ließ ich die Ameisen ın ein neues Lubbock-Nest übersiedeln, um diesen jungen Atemeles sowie die Atemeles-Puppen und Larven aus ihren Verpuppungshöhlen für mikroskopische Zwecke herauszunehmen. Obwohl die Verbindungsröhre zwischen beiden Nestern sich zufällig verschoben hatte, so dass während der Nacht das neue Nest offen stand, waren doch die zwei alten Atemeles emarginatus mit den rufa und fusca ins neue Nest gezogen. Einer derselben wurde noch am 15. Juli von einer rufa nach Ameisenart aus dem Munde gefüttert. Auch am 18. Juli wurden sie noch ge- pflegt. Am 20. Juli war der eine, am 21. auch der andere eines natürlichen Todes gestorben; die Leichen lagen unversehrt im Neste. Eine so andauernde dreimonatliche Pflege von Atemeles emar- ginatus kommt selbst in fusca-Beobachtungsnestern selten vor. Dass auch die rufa sich hier an der gastlichen Pflege sowohl der Käfer wie der Larven dieser Art eifrig beteiligten, ist um so interessanter, da in Beobachtungsnestern aus selbständigen rufa- Kolonien Atemeles emarginatus und deren Larven stets sofort ge- tötet und gefressen wurden. Wäre in dem Neste r-f-I nicht die rufa-Königin mit ihrer Brut hinzugekommen, so würde auch dort das Schicksal dieser Atemeles sich wahrscheinlich ebenso günstig gestaltet haben wie in r-f-IT. In r-f-IT wurden auch Versuche mit zwei Lomechusa strumosa vom 10. Mai bis 22. Juni 1906 angestellt. Sie wurden sowohl von rufa wie von fusca (besonders von ersterer) gepflegt, aber weniger 266 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. eifrig als die Lomechusa in r-F-L, worauf ich unten zurückkommen werde. b) Versuche über die Aufnahme fremder Arbeiter- puppen von rufa und fusca wurden mit dem Neste r-f-II am 26. Juni 1906 begonnen. 50 Arbeiterkokons von fusca und 20 Ar- beiterkokons und einige Arbeiterlarven von ru/a (aus fremden Kolo- nien) wurden an diesem Tage in das Nest gegeben. Die Kokons und Larven beider Arten wurden von den fusca abgeholt, aber die rufa- Kokons eifriger als die fusca-Kokons. Die rufa des Nestes be- teiligten sich auch am Transport, jedoch nur von rufa-Kokons. Am 28. etc. wurden die. Kokons und Larven von beiden Ameisen- arten gepflegt. Am 6. Juli bemerkte ich schon, dass weniger von den rufa-Kokons definitiv adoptiert worden waren als von den fusca-Kokons; ein Teil der ersteren, aber keine fusca-Kokons, waren unter die Abfälle geworfen und bereits verschimmelt. Am 20. Juli wurden die ersten vier frischentwickelten fesca-Arbeiterinnen aus den Kokons gezogen. Ein rzfa-Kokon war geöffnet, aber die junge Ameise getötet und teilweise gefressen. Am 26. Juli waren nur fusca-Arbeiterinnen erzogen worden, keine rufa. Dasselbe Resultat am 4. September. Am 14. September waren immer noch einige vertrocknete rafa-Kokons im Neste vorhanden und wurden von den noch lebenden vier rufa und 30 fusca gepflegt; unter letzteren waren nur noch wenige alie Arbeiterinnen, die übrigen aus den adoptierten Kokons frischentwickelt. Da während meiner Abwesen- heit das Beobachtungsnest r-f-I vernachlässigt worden und viele Arbeiterinnen gestorben waren (es lebten außer der rufa-Königin noch etwa 40 rufa-Arbeiterinnen und 8—10 fusca-Arbeiterinnen), so verband ich an diesem Tage die beiden Lubbock-Nester r-f-I und r-f-II durch eine Glasröhre und ließ sämtliche Ameisen in das Nest r-f-I wandern. Da in r-f-II die fusca zahlreicher waren als die rufa, und da die Brutpflege in diesem Neste vorwiegend von fusca besorgt wurde, kann man aus dem Umstande, dass diese rufa-fusca nur fremde Arbeiterpuppen von fusca und keine von rufa erzogen, weitere Schlüsse nicht ziehen. Erst wenn eine natürliche rufa-fusca-Kolonie nach dem Aussterben der fusca einfach geworden ist, können maß- gebende Experimente darüber angestellt werden, ob diese rufa im Stadium 4 die Neigung beibehalten — wie es bei truncicola und exsecta nach meinen Versuchen der Fall ist — auch weiterhin noch’ Arbeiterpuppen ihrer ehemaligen Hilfsameisenart zu erziehen. In alten (mehr als sechsjährigen) rwfa- und pratensis-Kolonien be- steht nach meinen Versuchen diese Neigung jedenfalls nicht mehr, während sie in alten ¢ruwncicola-Kolonien fortdauert (im dritten Teil der vorliegenden Arbeit wird hierüber berichtet werden). Ich kehre nun zu dem Beobachtungsneste r-f-I (Fig. 1) Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 267 zurück. Aus den 1906—08 an ihm angestellten Beobachtungen und Versuchen sei hier noch folgendes erwähnt: c) Weitere Entwickelung der gemischten Kolonie rufa- fusca im Stadium 3. — Am 16. April 1906 waren im Hauptnest außer der rufa-Königin zahlreiche Eierklumpen derselben, ferner ca. 115 rufa und 130 fusca-Arbeiterinnen. Das Vornest diente, da kein eigenes Abfallnest vorhanden war, auch für die Unterbringung der Leichen. Am 25. April hatten die fusca, die diese Arbeit allein besorgten, die Ameisenleichen und Atemeles-Leichen auf einen kleinen Tannenzweig im Vorneste hinaufgeschafft. Am 28. April sah ich bereits mehrere rufa am Forttragen der Eierklumpen bei Erhellung des Nestes sich beteiligen; auch beleckten sie bereits die Eier- klumpen. Sie begannen also bereits mit der Brutpflege sich zu beschäftigen, die vorher (vgl. oben) nur von den fusca besorgt worden war. In der Glasröhre, welche das Vornest mit dem ak neste verband, saß am 3. Mai konstant eine bestimmte fausca-Ar- beiterin als Schildwache. Am 6. Mai waren schon viele alte fusca gestorben, nur etwa 60 noch am Leben. Trotzdem zeigten sich bei Erhellung des Hauptnestes die rufa viel furchtsamer als die fusca. Letztere waren es auch ausschließlich, welche auf die am 25. April in das Nest gesetzten fremden rufa-Gäste Jagd machten (s. unten). Die „Schildwachen“ in der Verbindungsröhre mit dem Vornest waren noch andauernd nur fusca. Bei der Erhellung des Nestes spielten die rufa stets noch die passive Rolle, indem sie von den fusca fortgeschleppt wurden, niemals umgekehrt. Mit der Lomechusa-Pflege (s. unten) gaben sich vorwiegend die rufa ab; erst allmählich nahmen auch die fusca an derselben teil. Die rufa ver- nachlässigten über der Lomechusa-Pflege sogar ihre eigene Königin, während sie von den fusca stets eifrig beleckt und gefüttert wurde. Am 14. Mai waren die ersten, 1,5 mm langen Arbeiterlarven von rufa unter den Eierklumpen sichtbar; am 20. waren einige derselben schon 4mm lang. Am 25. Mai sah ich zwei rufa, obwohl es an In- ektennahrung im Neste nicht fehlte, eine der eigenen, bereits 5 mm großen Larven auffressen. Eine Lomechusa nahm an dem Fraße teil. Am 30. Mai waren die ersten Arbeiterkokons im Neste; am 31. schon mehrere. Für die gute Gesichtswahrnehmung der fusca spricht, dass sie kampflustig aus der Ne rbinduneceonre zwischen Hauptnest und Vornest in das letztere ne sobald ich nur den Finger in der Nähe der Glaswand des Vornestes sehen ließ. Die karnivore Ernährung'?) der rufa-Larven beobachtete ich im Hauptneste am 29. Mai und 1. Juni. Im ersteren Falle 13) Andere ‘Beispiele hierfür bei Formica-Arten siehe „Ursprung u. Entw. d. Sklaverei“ (1905), S. 133 u. 134 Anm. Ferner sah ich in einem fusca-Nest bei Luxemburg (auf Schötter-Marial) am 18. Juni 1906 zerstückelte fremde Ameisen als Fraßstücke auf den großen Arbeiterlarven liegend. 968 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. fütterten die rufa eine große Arbeiterlarve mit dem Ovarıum einer getöteten Schmeißfliege; ım letzteren Falle lagen Klümpchen zer- kauter Ameisenlarven (aus der eigenen Kolonie) auf den großen Arbeiterlarven; fünf derselben hatten ihren Kopf in diese Fraß- stücke eingesenkt. Am 12. Juni waren schon viele rufa-Kokons im Hauptneste; vorübergehend waren sogar einige große weibliche Kokons von Lasius niger adoptiert worden. Am 17. Juni waren neben einer Menge Arbeiterkokons von rufa immer noch viele Arbeiterlarven und Eierklumpen vorhanden. Am 18. sah ich bei Erhellung des Nestes, wie die Kokons und großen Arbeiterlarven hauptsächlich von fusca, die kleinen Larven und Eierklumpen dagegen vorwiegend von rufa transportiert wurden. Am 26. Juni wurde eine in das Vornest gesetzte fremde fusca, von den dort als Wachtposten jetzt anwesenden rufa sofort angegriffen und getötet. Am 10. Juli waren die ersten frischentwickelten rufa-Arbeiterinnen aus den Kokons gezogen; am 26. Juli waren schon 30 neue rwfa-Arbeiterinnen vorhanden. Während meiner Abwesenheit im August 1906 ging es dem Neste schlecht. Am 4. September lebten außer der Königin nur noch 50 rufa-Arbeiterinnen und 20 fusca- Arbeiterinnen. Am 14. September ließ ich, wie bereits oben bemerkt, die n r-f-II noch lebenden Ameisen zur Verstärkung der kleinen Kolonie in r-f- wieder einwandern. Die in r-f-II unterdessen erzogenen neuen fusca-Arbeiterinnen wurden hierbei von den alten rufa und fusca in r-f-L friedlich aufgenommen. 1907 erschien der erste Eierklumpen ım Neste am 17. März. (In allen meinen Formica-Beobachtungsnestern zeigten sich 1907 die ersten Eierklumpen um mehr als einen Monat später als 1906. Der kalte Winter von 1906-07 muss dies bewirkt haben, obwohl im Zimmer eine konstante Temperatur von ca. 15° C. herrschte wie 1905—06.) Am 25. April waren Larven von 4—5 mm Größe vor- handen. Während meiner Abwesenheit im Juni 1907 starben viele Ameisen. Am 12. Juli lebten außer der Königin nur noch 12 rufa und 20 fusca; am 29. November war die Zahl der fusca auf acht | gesunken. Von den in diesem Neste gehaltenen Gästen lebten ım | März 1908 noch eine zweijährige (im Sommer 1906 hier entwickelte) Dinarda dentata und ein bereits 3 Jahre alter Dendrophilus pygmaeus und ein ebenfalls dreijähriger Hetaerius ferrugineus. 1908 erschienen die ersten Eierklumpen der Königin am 3. März. Weitere Versuche über die internationalen Beziehungen verschiedener Ameisengäste in dem Beobachtungs- neste r-f-I. Uber die Aufnahme von Atemeles emarginatus und paradoxus in v-f-I wurde bereits oben (S. 261) berichtet; ebenso auch über Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. 269 wy ihre Abschaffung daselbst durch die fusca nach der Ankunft der rufa-Königin (S. 264), während in r-f-II Atemeles emarginatus und seine Larven konstant gepflegt wurden (S. 264). d) Versuche mit Lomechusa strumosa und deren Larven. Schon 1892 (Biol. Centralbl. XII, Nr. 18—21) habe ich die inter- nationalen Beziehungen von Lomechusa behandelt. Vorliegender Abschnitt bildet einen Nachtrag hierzu, der die Beziehungen von Lomechusa zu den natürlichen gemischten rufa-fusca-Kolo- nien betrifit. Die hauptsächliche normale Wirtsameise von Lomechusa stru- mosa und ihrer Larve ist F\ sanguinea. Nur selten findet man sie bei rufa und pratensis. Dass sie manchmal in freier Natur auch bei letzteren Ameisen ihre Larven erziehen lässt, geht aus meinen späteren Mitteilungen über Pseudogynen dieser Ameisen hervor'*). Da F. rufa ın künstlichen Beobachtungsnestern die Lomechusa un- mittelbar aufnimmt und gastlich pflegt (1892, S. 596—599), so war ein ähnliches Verhalten von seiten der rufa auch in der obigen rufa-fusca-Kolonie zu erwarten. Für fusca als Hilfsameisen von rufa lagen bisher keine Be- obachtungen vor. In Versuchsnestern aus selbständigen Kolonien von fusca oder rufibarbis wurden die Lomechusa stets anfangs heftig angegriffen, dann jedoch meist eine Zeit lang aufgenommen und gepflegt, bald jedoch vernachlässigt oder sogar getötet. Sie in selbständigen Nestern dieser Ameisen dauernd zu halten, ist mir nie gelungen. Anders ist jedoch das Verhalten beider Ameisen gegen Lomechusa dort, wo sie als Hilfsameisen in den betreffen- den Nestern leben. Hier zeigen fusca und rufibarbis eine auffallende Instinktakkomodation an das Leben in der gemischten Kolonie. Als Sklaven von sanguenea nehmen sowohl fusca als rufibarbis die Lomechusa ohne Feindseligkeiten auf und beteiligen sich auch aktiv an ihrer dauernden Pflege. Sogar als Sklaven von Polyergus rufes- cens, der doch selber keine Gastpflege gegen Lomechusa ausiibt, sondern sie nur indifferent duldet, behandeln sie die Lomechusa anders als in ihren selbständigen Kolonien und widmen ihr oft dauernde Gastpflege'’). Diese Instinktakkomodationen der Ameisen, die von der Vulgirpsychologie für „offenbare Intelligenz“ ausge- geben werden, sind eines der interessantesten Kapitel in der experi- mentellen Tierpsychologie. Sie stellen Abänderungen der Instinkte dar, welche durch individuelle Sinneswahrnehmungen und individuelle Sinneserfahrungen bewirkt werden, aber mit „Intelligenz“ im psycho- 14) Erster Nachtrag zu den Ameisengästen von Holländisch Limburg 1898 (Tijdschr. v. Entom. XLI, p. 1—18 Sep.); Neue Bestätigungen der Lomechusa-Pseudo- gynentheorie 1902 (Verhandl. deutsch. Zool. Ges. S. 98—108), S. 102. 15) Meine Beobachtungen hierüber im Jahre 1906 an einem Beobachtungsneste Polyergus-rufibarbis haben dies bestätigt. I70 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. logischen Sinne des Wortes (Einsicht, Abstraktionsvermögen) nichts zu tun haben?®). Es war somit in der gemischten Kolonie rufa-fusca, die in r-f-I gehalten wurde, einerseits zu erwarten, dass die fusca auch hier dieselbe „Instinktakkomodation“ oder „Instinktregulation“ zugunsten von Lomechusa, die ein echter rufa-Gast ist, zeigen würden. Gegen diese Wahrscheinlichkeit sprach jedoch andererseits der Umstand, dass dieselben fusca ihren eigenen echten Gast, Atemeles emar- ginatus, nach Ankunft der rufa-Königin im Neste feindlich be- handelt hatten. Ihr Adoptionsinstinkt schien ausschließlich nur noch auf die Pflege der r«fa-Königin und ihrer Brut gerichtet zu sein; alles, was diese Brutpflege stören konnte, wurde gewaltsam beseitigt. Nicht bloß gegen indifferent geduldete Gäste von rufa, die in das Nest gesetzt wurden, sondern sogar gegen die völlig internationale Assel Platyarthrus Hoffmannseggi, eröffneten sie bei ihrem Erscheinen ım Neste eine heftige Verfolgung (s. unten). Wie würden sie also die Lomechusa aufnehmen? Tatsächlich akkomodierten sich die fusca in r-f-I vollkommen der Pflege dieses echten rufa-Gastes, anfangs passiv, indem sie ihn nicht angriffen, später auch aktiv, indem sie an seiner Beleckung und Fütterung sich dauernd beteiligten. Die Lomechusa-Pflege war in diesem Neste, wo die rufa-Königin vorhanden war, sogar noch eifriger und andauernder als in r-[-II, wo sie fehlte. Selbst die Lomechusa-Larven, die bei meinen Versuchen mit selbständigen fusca-Kolonien von den Ameisen stets sofort aufgefressen worden waren, wurden in r-f-I vollkommen adoptiert und erzogen. Maß- gebend war hierbei für die fusca offenbar das Benehmen der rufa. — Ich gebe hier noch kurz einige Detailbeobachtungen: Versuche mit Lomechusa. — Am 10. Mai 1906 wurde eine Lomechusa in das Vornest von r-f-I gesetzt, am 12. Mai vier Exem- plare zugleich. Da sie unmittelbar aus sanguinea-Nestern kamen und durch ihr plötzliches zahlreiches Erscheinen die im Vornest Wache haltenden fusca aufregten, wurden sie von diesen anfangs heftig angefahren. Am Nachmittag saß jedoch bereits ein Lome- chusa-Pärchen nahe bei der Königin und den Eierklumpen mitten unter den Ameisen des Hauptnestes und wurde von einer Gruppe rufa allseitig beleckt. Die drei übrigen liefen noch im Vorneste umher, wo sie jedoch auch von den fwsca nicht mehr angegriffen wurden. Am 13. Mai morgens waren drei Lomechusa im Haupt | 16) Ich bemerke dies gegen H. E. Ziegler, welcher auch neuerdings noch (Was ist ein Instinkt? Zool. Anz. XXXII, n° 8, 15. Okt. 1907, S. 251—256) jede auf Sinneserfahrung des Tieres beruhende Instinktmodifikation für „Intelligenz“ er- klärt. Vgl. auch meine Schrift ,,Instinkt und Intelligenz im Tierreich“, 3. Aufl., Freiburg i. Br., 1905, 9. Kap. Ferner „Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen“ (Zoologica, Heft 26), 1899. Demoll, Die Königin von Apis mell., ein Atavismus. DA neste, jede von einer Gruppe rufa und fusca umgeben, die sie fort- während beleckten. Die ganze Körperoberfläche der Käfer hatte dadurch bereits einen starken Glanz erhalten. Ein Pärchen war wiederum an diesem Tage mehrere Stunden lang in Kopula unter den Ameisen; ebenso täglich bis zum 23. Mai; dann wieder am 25., 27., 30. Mai, am 4., 8. und 13. Juni. Am 14. Mai saßen alle fünf Lomechusa mitten unter den Ameisen bei den Eierklumpen und Larven; fortwährend wurden sie beleckt, besonders durch rufa, die sogar ihre eigene Königin darüber vernachlässigten. An einer Lomechusa sah ich fünf rufa gleichzeitig beschäftigt, drei beleckten sie, während zwei, die vor ihr saßen, sie aus dem Munde fütterten. Die Fütterung erfolgte (wie stets bei Lomechusa) nach Larvenart, indem der Käfer seinen Kopf ruhig im Munde der Ameise hielt, während diese ihren Kopf hin- und herbewegte und ıhm den Futter- saft gleichsam einpumpte. Genau dieselbe Szene von einer gleich- zeitigen Pflege einer Lomechusa durch fünf rufa, von denen drei sie beleckten, zwei fütterten, sah ich auch am 24. Mai. An der Beleckung der Käfer beteiligten sich die fusca schon vom 13. Mai an, an ıhrer Fütterung, und zwar viel seltener als die rufa, erst vom 17. an. Vom 14. bis 27. Mai saßen alle fünf Lomechusa im Hauptnest unter den Ameisen (nur am 20. und 21. war eine Lome- chusa konstant im Vorneste). Über ihre gastliche Behandlung, Beleckung und Fütterung durch die Ameisen, besonders durch die rufa, täglıch dieselben Beobachtungen. Die Käfer durften sogar auf den Eierklumpen der Ameisen umherlaufen, ohne von den fusca fortgezogen zu werden. Am 20. Mai wurde bei Erhellung des Nestes eine Lomechusa von einer rufa an den gelben Haarbüscheln ergriffen und fortgezogen; am 21. sah ich auch, wie eine fusca bei dieser Gelegenheit eine Lomechusa transportierte. Besonders eifrig wurde das obenerwähnte Lomechusa-Pärchen von den rufa umlagert und fast fortwährend beleckt und gefüttert. (Fortsetzung folgt.) Die Königin von Apis mell., ein Atavismus. Von R. Demoll, Freiburg i. Br. Nach der bisherigen Auffassung musste man notwendig im Bienenei mit Weismann drei Keimesanlagen annehmen; eine männ- liche, eine weibliche und die einer Arbeiterin. Nun ist es aber auffallend, dass eine dritte Art von Individuen, und mithin eine dritte Keimesanlage in ein und demselben Ei nur da auftritt, wo die Auswahl des Nährmaterials, das während der Entwickelung auf- gezehrt wird, in der Hand der Fütternden liegt, also von diesen event. willkürlich geändert werden kann‘). Eine dritte Keimes- _ _1) Von den Cölenteraten-, Bryozoen- ete. Stöcken sehe ich hier ab, da dort die Einzelindividuen durch lebende Substanz miteinander verbunden sind. Die, Demoll, Die Königin von Apis mell., ein Atavismus. anlage, sollte man aber meinen, müsste sich öfte entwickelt haben, wenn sie, wie bei den Bienen, von Vorteil ist, zumal da wir doch sicher annehmen dürfen, dass die Natur um aus- lösende Reize nicht verlegen gewesen wäre, auch wenn ihr der einer verschiedenen Fütterung nicht zu Gebote gestanden hätte. Dass wir aber nun doch nur in Verbindung mit diesem Reize eine dritte oder gar noch eine vierte Art Individuen auftreten sehen, muss doch Bedenken gegen die Annahme von mehr als zweı Keimes- anlagen wachrufen. Anderseits können wir allerdings noch weniger annehmen, dass durch das verschiedene Futter in demselben Ei verschiedene Entwickelungsrichtungen direkt erzeugt werden können. Vielleicht lässt sich aber eine dritte Annahme wahrscheinlicher machen, nämlich die, dass in dem Bienenei nur zweierlei Keimesanlagen, männliche und weibliche, vorhanden sind, dass aber durch eine Fütterung, die einer phylogenetisch früheren Fütterungsweise ent- spricht, in einer phylogenetisch älteren Zelle die Entwickelung eines befruchteten Eies in der Weise modifiziert wird, dass der Embryo nicht mehr die ganze Entwickelung durchläuft, sondern schon auf einem früheren Stadium diese abbricht und so als atavistische Form die Zelle verlässt. In dieser Auffassung werde ich a priori noch durch eine andere Überlegung bestärkt. Ich kann nämlich m der parthenogenetischen Erzeugung der Drohnen keinen anderen Sinn sehen, als dass hierdurch die Pro- duktion derselben willkürlich reguliert werden kann, was für die den Winter überdauernde Apis-Kolonie von hohem Interesse sein muss. Nun aber wäre doch seltsam, dass zweimal die Auslösung bestimmter Determinanten durch verschiedene Fütterung (9 und 9.), ein drittesmal aber (o’) durch etwas prinzipiell davon verschiedenes bewirkt würde. Warum vermochte nicht eine dritte Fütterungs- | weise die dritte Determinantenreihe auszulösen? Warum hier Par- | thenogenese, die doch einen Verzicht auf einen sehr wichtigen | Faktor im Kampf ums Dasein bedeutet? Auch diese Überlegung | scheint mir von vornherein darauf hinzuweisen, dass es sich das einemal nur um einen Atavismus, nicht um einen vollständig | neuen Determinantenkomplex handelt. Nun wurde allerdings wieder in letzter Zeit die parthenogenetische Entwickelung der Drohnen | in Zweifel’ gezogen, ohne dass jedoch ein Beweis dagegen hätte | erbracht werden kénnen. Ich glaube wohl, gestiitzt auf die Unter- | suchung von Petrunkewitsch, die in dieser Hinslcht neuer- — dings durch die Arbeiten von Meves u. a. eine Bestätigung fand, die Parthenogenese ın diesem Falle als bestehend annehmen zu dürfen. Ein anderer Einwurf, der mir wohl leicht gemacht werden wird, besteht in der von Plantas festgestellten verschie- denen chemischen Zusammensetzung des Drohnen- und Arbeiterinnen- futters. Demgegenüber möchte ich betonen, dass Plantas selbst) | Demoll, Die Königin von Apis mell., ein Atavismus. 273 sagt, dass , lie Futterbreie der über 4 Tage alten Arbeiterinnen- und Drohnenlarven ım Stoffgehalt nicht sehr verschieden“ sind. Ferner zeigt sich bei der asiatischen Biene, Apis dorsata, überhaupt kein Unter- schied zwischen den Zellen der Drohnen und denen der Arbeiterinnen. Da aber infolgedessen weder die Königin bei der Ablage der unbefruch- teten Eier, noch die Arbeiterinnen bei der Fütterung an bestimmto Zellen gebunden sind, so folgt, dass hier Drohnen und Arbeiterinnen gleiches Futter gereicht wird, dass also eine geringe chemische Verschiedenheit, wie sie sich bei Apis mell. findet, nicht das Ge- schlecht bestimmen kann. Die Frage, warum also zweimal eine bestimmte Determinantengruppe durch die verschiedenen Nährstoffe, ein drittesmal aber durch Nichtbefruchtung ausgelöst wird, bleibt also dennoch bestehen und scheint mir nur durch die angefiihrte Hypothese ihre Lösung zu finden. Wenn ich es nun wage, im vorliegenden diese Hypothese zu veröffentlichen, obschon sie durch keinen zwingenden Beweis ge- stützt ist, so tue ich es deshalb, weil es mir hinsichtlich Apis mell. sehr zweifelhaft erscheint, ob sich ein unbestreitbarer morphologischer Beweis überhaupt erbringen lässt; nur eine Kritik von seiten der erfahrensten Biologen scheint mir die Entscheidung über die Halt- barkeit dieser Theorie herbeiführen zu können. Untersuchen wir nun die einzelnen Momente von diesem Ge- sientspunkt aus, und zwar: die Mundteile, Speicheldrüsen, den Sammelapparat, die Wachsdrüsen. Dann die Geschlechtsorgane, den Instinkt, das Lebensalter und schließlich die Zelle. Hierbei ist zu beachten: Wenn die Königin eine atavistische Form dar- stellt, dann muss das Stadium, ın dem sie dauernd verharrt, von den Arbeiterinnen in ihrer Entwickelung durchlaufen werden, und anderseits darf kein Organ bei der Königin rudimentiir werden, das die Arbeiterinnen in wohlausgebildetem Zustand besitzen. Die Mundteile sind bei der Königin kürzer. Die Paraglossen zeigen eine ursprünglichere Form, indem sie bei weitem nicht die Medianlinie erreichen, mithin auch kein geschlossenes Rohr bilden, wie es bei den Arbeiterinnen der Fall ist. Was die Speicheldrüsen betrifft, so fehlt der Königin das erste Drüsensystem. Zuweilen jedoch sind — in manchen Fällen nur einseitig — die Öffnungen derselben vorhanden. Da nun, nach Schiemens, dieses Drüsensystem durch Einstülpung der Epidermis entsteht, so dürfen wir wohl annehmen, dass es eine Neuerwerbung der Arbeiterinnen ist, da es zur Futtersaftbildung dient, und dass nun sekundär die Entwickelung desselben ın der Ontogenese eine geringe Verlegung nach rückwärts erfahren hat, so dass wir bei der Königin ab und zu das erste Stadium der ontogenetischen Ent- wickelung derselben — die beginnende Epidermiseinstülpung — zeitlebens beobachten können. XXVIII. 18 74 2 Demoll, Die Königin von Apis mell., ein Atavismus. Der Stachel der Königin ist kürzer, mehr gekrümmt, schwächer und weniger bezahnt, im ganzen also primitiver als der der Ar- beiterinnen. Was den Sanımelapparat betrifft, so fehlt das Körbchen, die Fersenhenkel sind nur angedeutet. Jedenfalls muss man nach der Ausbildung des Sammelapparats einen Rückschlag in eine Zeit annehmen, wo bei der Fütterung der Brut der Pollen noch eine geringere Rollen spielte als der Honig, untermischt mit Speichel. Dass die Fütterung mit flüssıgem Nahrungssaft der Fütterung mit Pollen phylogenetisch vorausging, dafür spricht die Tatsache, dass heute noch alle Bienenembryonen während der ersten 3 Tage mit einem milchigen Futtersaft ernährt werden, während vom dritten Tage an nur noch den Königinnen auch fernerhin dieser Nährsaft gereicht wird, während die Drohnen- und Arbeiterlarven von nun an mit einem Gemisch von Honig und Pollen aufgezogen werden. Ferner sei darauf hingewiesen, dass da, wo wir heute einen Über- gang von animalischer zu vegetabilischer Kost konstatieren können, wie bei Polistes-Arten, nicht Pollen, sondern Honig gereicht wird. Interessant hierbei ist, dass solche honigfütternde Wespen erst dem dem Ausschlüpfen nahen Insekt die vegetabilische Nahrung dar- bieten, während die Larve noch mit animalischer Kost versorgt wird. Es würde also demnach das Futter, mit dem die Königin aufgezogen wird, dasselbe sein, das in dem ihrer Entwickelung entsprechenden, phylogenetisch älteren Stadium das allgemein ver- wendete war. Bei der Betrachtung der Geschlechtsorgane ist zu berück- sichtigen, dass eine künstliche Züchtung der Königinnen von seiten der Arbeiterinnen erst eintreten konnte, nachdem schon eine Tren- nung ın befruchtete oder befruchtbare Weibchen und in Hilfs- weibchen in dem Maße ausgebildet war, wie wir sie heute bei Bombus, Polistes u. a. finden. Man hat die Erfahrung gemacht, dass Weibchen, die unbefruchtet mit der Eiablage einmal begonnen haben, sich nicht mehr befruchten lassen. Es werden also, wie bei Polistes nachgewiesen (s. Siebold), nur diejenigen Weibchen be- fruchtet werden, die etwas später ausschlüpfen als die Männchen. Sind diese Weibchen aber durch reichlichere Fütterung etwas größer als die übrigen und haben sich die Begattungsorgane der Männchen an diese größere Weibchen einmal angepasst, wie es z. B. bei Bombus tatsächlich der Fall ıst, so konnte auf dieser Stufe nun die künstliche Erzeugung von atavistischen Individuen einsetzen, ohne Gefahr, dass die Männchen sich mit einem immerhin anormalen Weibchen nicht begatten würden. Denn da die anderen Hilfs- weibchen infolge ihrer geringen Größe nicht befruchtet werden konnten, so waren die Männchen auf die reichlicher genährten atavistischen Weibchen angewiesen, eine Annahme, die um so | Demoll, Die Königin von Ap7s mell., ein Atavismus. 375 weniger Schwierigkeiten bietet, als man sich diesen Rückschlag allmählich fortschreitend entstanden denken kann. Da nun aber die Königin infolge ihrer weniger vervollkomm- neten Sammelapparate zum Vorratsammeln weniger geeignet war als die normalen Weibchen, so lag eine weitere Arbeitsteilung im Interesse der Kolonie, die darauf hinauslaufen musste, dass die Königin nach und nach alleın für die Fortpflanzung sorgte, dafür aber das Sammeln und Bauen ganz den anderen überließ. Weiterhin konnte dann eine Selektion einsetzen, die die fruchtbaren Weibchen, oder besser deren Kolonie, begiinstigte. Natürlich musste dieselbe Veränderung in den Geschlechtsorganen, die die Königin frucht- barer machte, sich auch im Verlauf der Entwickelung der Ar- beiterinnen bemerkbar machen, doch mit dem Unterschied, dass diese Neuerwerbung bei der Königin das Endglied, bei der Ar- beiterin nur ein Zwischenglied in ihrer Entwickelung darstellte. Es ist dies derselbe Vorgang, der uns als eine Verkürzung oder, wie hier, als eine Verlängerung der Embryonalentwickelung durch Veränderung von Zwischenstufen geläufig ist. Nun konnte aber anderseits die Entwickelung der Geschlechtsorgane in all den Stadien, die auf das der Königin folgen, beliebig abändern ohne irgendeinen Einfluss auf das Wohl der Kolonie, da ja die Arbeiterinnen doch keine Eier mehr legten. Es waren also alle diese Stadien dauernd einer Selektion enthoben und die Folge musste ein Rudimentär- werden der Geschlechtsorgane von dem Stadium der Königin an sein. Während also einerseits durch Selektion eine immer frucht- barere Königin herangezüchtet wurde, musste ın der ontogenetischen Entwickelung der Arbeiterinnen infolge Aussetzens der Selektion ein immer vollkommenerer Geschlechtsapparat immer rudimentärer werden. Betrachten wir von diesem Gesichtspunkt aus die Ovarien einer Puppe (Fig. 1) und einer schon ausgeschlüpften Imago (Fig. 2), so sehen wir allerdings, dass in den letzten Stadien der Ontogenese ein Rudimentärwerden dieser Organe einsetzt, bis sie schließlich von einer ansehnlichen Größe auf ein paar unscheinbarer Gebilde herabgesunken sind. Allerdings zeigt das Ovar der Königin noch ungleich mehr Eischläuche als das in Fig. 1 wiedergegebene. Dass wir diese aber hier nicht mehr wiederfinden, ist kein Beweis gegen meine Ansicht. Denn es ist direkt zu erwarten, dass das Rudi- mentärwerden sich in erster Linie auf die neuesten Erwerbungen erstreckt. Ist dies aber der Fall, so werden diese am wenigsten dazu gelangen, völlig auszuwachsen, womit jedoch nicht gesagt ist, dass sie nicht in der Anlage vorhanden waren. Nur darauf aber kommt es an. Ich komme nun zur Betrachtung der Instinkte. Hier scheint es nun, als ob die Königin Instinkte verloren hätte, die die Ar- beiterinnen noch besitzen, nämlich den Sammel-, Bau- und Brut- 15* 276 Demoll, Die Königin von Apis mell., ein Atavismus. fütterungsinstinkt. Dies dürfte jedoch nicht der Fall sein, falls die Königin ein bestimmtes phylogenetisches Stadium der Arbeits- biene darstellt. Nun konnte ich aber selbst beobachten, dass eine Königin, die direkt nach dem Ausschlüpfen, also bevor sie von Arbeiterinnen gefüttert werden konnte; in einen Zwinger gebracht wurde, sofort sich an die Blumen machte, die in ziemlicher Ent- fernung in dem Gehäuse auf den Boden gelegt wurden, und dabei ihre Zunge eifrig betätigte. — Die Blumen mussten auf den Boden gelegt werden, da die Biene vor dem Versuch schon einen Tag in Fig. 1. Fig. 2. Ovarien einer fertigen Imago beim Nektarsammeln gefangen. Vergr. 1: 16. Gefangenschaft in einem kühlen Keller verbrachte und daher zum Fliegen zu matt war. — Was also diese In- stinkte betrifft, so müssen wir doch wohl annehmen, dass der auslösende Oyanen Einer 16 Parc alten Reiz das _Hungergefiihl ist. Eine Puppe einer Arbeiterin. Königin, die aber sofort nach ihrem Verg. 1:16. Ausschlüpfen gefüttert wird, wird nie Hunger empfinden, daher auch nicht ausfliegen. Das Anfliegen von Blumen ist aber weiterhin wieder not- wendig, um die Instinkte der Brutversorgung (Zellenbau, Fütterung) auszulösen. So können wir uns sehr wohl vorstellen, dass durch die Fütterung diese Reihe von Instinkten unterdrückt werden. Der Instinkt, sich füttern zu lassen, ist anderseits auch bei den Ar- beiterinnen entwickelt und wird häufig betätigt. Was nun den Schwärminstinkt betrifft, so scheint mit dem Rückschlag auch dieser wieder verloren gegangen zu sein, d. h. auf dem phylogenetischen Stadium, dem die Königin entspricht, besaß die Bienenkolonie noch Demoll, Die Königin von Apis mell., ein Atavismus. DIN keinen Schwärminstinkt, oder, vielleicht genauer, noch keinen ın der Weise festgelegten, an bestimmte Umstände gebundenen Schwärm- instinkt, wie wir ihn heute bei den Arbeitsbienen sehen. Denn nicht die Königin leitet das Ausschwärinen, sondern die Arbeite- rinnen; ja bisweilen folgt die Königin nicht einmal den schwärmenden Arbeiterinnen. Was nun die Weiselzellen betrifft, so fallen sie schon durch ihre Form auf; ferner ist sehr bemerkenswert, dass bei Apis mell. die Weiselzellen allein nach Gebrauch wieder abgerissen werden. Je weiter wir zurückgehen bei den zellenbauenden Bienen, um so häufiger finden wir die Gewohnheit, die gebrauchten Zellen wieder abzureissen. Hieran anschließend sagt v. Buttel-Reepen von Apis mell.: „Es ist hierin vielleicht ein Hinweis zu erblicken, dass die runden, isolierten Königinnenzellen die phyletisch älteste Bauart darstellen, da sich alleın an ihnen dieser alte Trieb noch offenbart.“ (Um ein Missverständnis zu vermeiden: in bezug auf Material — Wachs — sind die Zellen natürlich nicht phyletisch älter.) Wäre es nun so überaus seltsam, dass ın einer phylogenetisch älteren Zelle, mit einem phylogenetisch älteren Futter- material auch eine phylogenetisch ältere Form gezüchtet wird? | Die verschiedene Lebensdauer kann sehr wohl durch die ver- schiedene Lebensweise bedingt sein, indem einerseits das Leben der Königin dadurch, dass ıhr das Futter gereicht wird, ein sehr träges, anderseits das der Arbeiterinnen ein sehr aufreibendes ist; wobei ferner in Betracht zu ziehen ist, dass auch die Befriedigung und die Nichtbefriedigung des Begattungstriebes meist wesentliche Veränderungen im Körper- und Seelenleben zur Folge hat, ohne dass wir den Zusammenhang ergründen könnten. Ja, es ist sogar sehr wohl denkbar, dass durch Selektion das Leben verlängert wurde, dass aber zur Auslösung dieser Erwerbung ein Infunktion- treten des Geschlechtsapparates nötig ıst. Auf jeden Fall brauchen wir zur Erklärung dieser Tatsachen nicht verschiedene Keimes- anlagen annehmen, auch dann nicht, wenn wir hier nicht im Ata- vismus die Ursache der verschiedenen Lebensdauer suchen dürfen. Diese Tatsachen sind kein Beweis für meine Ansicht, sprechen aber auch nicht dagegen. Sie lassen sich mit beiden Theorien in Einklang bringen.! Dass verschiedene Lebensbedingungen hier sehr wesentlich mitspielen können, geht aus der Tatsache hervor, dass z. B. befruchtete Polistes-Weibchen überwintern, unbefruchtete da- gegen nicht, obwohl die beiden nur einen geringen Größenunter- schied zeigen ohne die geringste Differenz in der Organisation, ein Unterschied, der lediglich einer reichlicher dargebotenen Futter- menge entspricht; und doch sehen wir solche Differenzen in der Lebensdauer. 278 Jordan, Über Entwickelung vom physiologischen Standpunkte aus. Zum Schluss möchte ich noch bemerken, dass auch in bezug auf dem Umfang des Rückschlags die Selektion wohl wesentlich einwirkte, indem durch sie allmählich der Rückschlag auf das günstigste Stadium fixiert wurde. Ob sich nun all diese Erwägungen auch auf die Ameisen an- wenden lassen, vermag ich vorderhand noch nicht zu entscheiden, und behalte mir die Bearbeitung dieser Verhältnisse vor. A priori scheint es mir allerdings wahrscheinlich, da ja für sie dasselbe gilt, was ich in der Einleitung erwähnte. Außerdem scheinen mir die Zwischenformen zwischen Weibchen und Arbeiterinnen, die sogen. Pseudogynen, sehr dafür zu sprechen. Diese gehen, wie Was- mann (1902) erwähnt, aus Larven hervor, die ursprünglich zu Weibchen bestimmt waren, später jedoch zu Arbeiterinnen umge- züchtet wurden. Nehmen wir hier eine dritte Keimesanlage an, so bieten sich Schwierigkeiten, um diese Übergangsformen zu er- klären, was bei meiner Auffassung mir nicht der Fall zu sein scheint, zumal da diese immer series gebaut sind (Forel). Würde es sich hier um die Vermengung zweier Keimesanlagen handeln, so müsste man doch wohl Asymmetrie erwarten, die denen der Zwitterformen entsprechen. Über Entwickelung vom physiologischen Standpunkte aus. Versuch, der vergleichenden Physiologie ein Arbeitssystem zu Schaffen. Von Hermann Jordan. Da diejenige Disziplin, die man schlechthin „wissenschaftliche Zoologie“ nennt, sich fast ausschließlich mit der Morphologie aller Tiere befasst, so ıst das logische Postulat einer, der vergleichenden Ana- tomie zu koordinierenden vergleichenden Physiologie doch wohl eine Selbstverständlichkeit. Mit vollem Recht wird man erst beide Wissenschaften, zu einem Ganzen vereinigt als Lehre vom tierischen Leben, Zoobiologie oder kurz Zoologie bezeichnen dürfen. Ein Fach, das man Vergleichende Physiologie genannt hat, ist nicht neu, es liegen vielerlei Untersuchungen über die Leistungen recht verschiedenartiger Organismen vor — allein eine verglei- chende Physiologie ıst das noch nicht! Es ist diese Disziplin vorderhand großenteils ein Nebeneinander von Einzeltatsachen, das nicht nur jeder Übersichtlichkeit entbehrt, sondern vor allem der Hauptanforderung, die man an jede vergleichende Biologie stellen muss, nicht entspricht; diese Forderung aber ist: forschend und lehrend vom Einfacheren zum Vollkommeneren gehend, dieses aus jenem zu erklären. "Jordan, Uber Entwickelung vom physiologischen Standpunkte aus. 279 Die vergleichende Anatomie aller Tiere hat diese Aufgabe in glänzender, bewundernswürdiger Weise gelöst, und wir gehen ge- wiss nicht fehl, wenn wir annehmen, dass sie den Erfolg zum großen Teil einer einzigen Idee verdankt: der Evolutionsidee. Die ver- gleichende Anatomie führt durch hypothetische Feststellung von Verwandtschaftsverhältnissen zwischen den einzelnen Arten zum natürlichen System, das seinerseits der Mutterwissenschaft zum Ar- beitsschema der, Vergleichung wird: Die Abstammungslehre ist die Basis der vergleichenden Anatomie. In der nämlichen Form auch für die vergleichende Physiologie das Arbeitsschema der Abstammungslehre zu entnehmen, ist nicht möglich. Wohl können wir morphologisch die durch Anpassung abgeänderten Organe durch ihre embryonale Entwickelung und durch mancherleiı Data, wie rudımentäre Bildungen, auf phylo- genetisch frühere Stadien zurückführen — entsprechende physio- logische Kriterien fehlen vollständig. Dem vergleichenden Physio- logen stellt sich das arbeitende Organ in erster Linie dar, als Produkt der Anpassung an die vorliegenden Lebensbedingungen, nicht aber als Glied in einer genealogischen Reihe: Während die Ascidie den morphologischen Disziplinen, als Verwandter der Vertebraten zu gelten hat, ist sie, was die Leistungen der neuromuskulären. Organe betrifft, ein echtester Evertebrat, der in einer physiologischen Systematik unter den Schnecken zu stehen kommt, sich aber unendlich weit 1m ganzen Typus der funktionellen Einrichtung vom Wirbel- tier unterscheidet. Systematik wird daher stets ein Produkt der vergleichenden Morphologie bleiben. Während die Evolutionslehre recht wohl der Grundgedanke auch der vergleichenden Physiologie ist, so vermag sie he nicht, wie der vergleichenden Anatomie, auch das Schema zu geben, an dessen Hand sie, ihre Einzelerkenntnisse ordnend, ihre vergleichende Arbeit leisten könnte. Wenn wir uns dergestalt nach einem systematisierenden Prin- zıpe umsehen, so dürfen wir nicht vergessen, dass auch eine ver- gleichende Anatomie zum mindesten vor hinreichender Ausbildung der modernen Abstammungslehre, oder gar der korrigierenden Em- bryologie („biogenetisches Grundgesetz“) entstanden ist, und der- gestalt genötigt war, ein rein logisches Prinzip zur Vergleichung mehr oder weniger voneinander verschiedener Tee waned anzu- nehmen: ennde Komplikation, Differenzierung der Organe. In der vergleichenden Physiologie wird naturgemäß hierfür der Grad der Vollkommenheit der Funktion zu treten haben. Wie das zu verstehen sei, mag aus dem Folgenden hervorgehen. Wir Dirachten alk die Organismen in ihrem räumlichen Neben- einander, wie der Me oknenhistonltes eine Reihe von Maschinen- typen gleicher Bestimmung, von deren Erfindungsgeschichte er im 980 Jordan, Uber Entwickelung vom physiologischen Standpunkte aus. einzelnen nichts weiß, in ihrem zeitlichen Nacheinander zur Dar- stellung bringt. Die letzte Ursache des Zusammenhangs: Logik der Erfinder einerseits, etwa Anpassung, Naturzüchtung andererseits bleibt außer Betracht. Wir sehen eine Maschine in ihrer ersten brauchbaren Form; sie ist zweckmäßig, da sie einem Mindest- anspruch, einem Mindestzweck genügen muss, soll sie anders eben brauchbar sein. Allein über dieses Minimum wird sie nicht wesentlich hinausgehen. Aber die Ansprüche steigen nach Eır- reichung des ersten Zieles; ihnen wird sich die Maschine anpassen müssen. So tauchen jeweilig neue Maschinen, Verbesserungen der Grundform auf, es häuft sich Verbesserung auf Verbesserung bis — doch halt, erst noch eimen Rückblick: Die Maschine erreicht ihren Zweck. In welcher Weise, das hat uns noch nicht beschäftigt. Es mag einem Zufall zu danken sein, dass Denis Papin den Dampf einen Kolben in einem Zylinder hin und her treiben lässt, er hätte ebensogut die „Stammform“ unserer modernsten Dampfturbine auf- greifen können, die als Spielerei längst existierte. Genug, er wählte den Zylinder und fast alle unsere Dampfmaschinen haben einen Zylinder. Verbessert, gewiss, aber doch einen Zylinder. So beherrscht mehr noch als die Verbesserungen das Aus- gangsmaterial die Entwickelungsrichtung, eine Zeitlang wenigstens bis das Ausgangsmaterial gänzlich fallen gelassen wird und an seine Stelle etwas anderes tritt, das gewisse Übelstände, die man unter Beibehaltung des Systems vergeblich zu beseitigen suchte, nunmehr völlig behebt und so ein neuer Typus geschaffen wird. Mit der Schiffsdampfmaschine machen wir gerade jetzt diesen Übergang durch. Damit haben wir, wollen wir uns auf die Hauptlinie beschränken, Abzweigungen aller Art aber vernachlässigen, ein rudimentäres Schema der Maschinenentwickelung und der Entwickelung der Funktion bei den Organismen. Kennen wir nun die Art, wie wir höhere mit niederer Funktion zu vergleichen haben, so fehlt uns noch ein Kriterium für höhere und niedere Grade der Leistung: I. Das „niedere* Tier. Wie jede brauchbare Maschine, so ist jedes lebende Tier „zweckmäßig“. Wobei wir unter zweckmäßig nur folgendes verstehen: Der Organismus ist eine Vorrichtung, mit dem etwas erreicht wird, nämlich Leben, welches letztere nämlich den Eindruck erweckt, als sei es recht eigentlich der Zweck des Organısmus!). Da nun alle Organe, alle Leistungen der Lebewesen dazu beitragen, jenen „Zweck“ zu erreichen, und da tatsächlich von allen existierenden Organismen der „Zweck“ erreicht wird, so ist 1) Diese vorsichtige Ausdrucksweise dient, gewisse metaphysische Einwände zu entkräften. Jordan, Über Entwickelung vom physiologischen Standpunkte aus. 281 es schlechterdings eine Selbstverständlichkeit, wenn ich sage: als Ganzes genommen ist jeder Organismus mehr oder weniger zweck- mäßig. Zweck bedeutet hier also nicht: Endresultat einer Hand- lung, soweit jenes in der Vorstellung eines handelnden Subjekts, der Handlung selbst vorausgeht, und ihr die Richtung verleiht, sondern ein erreichtes Resultat schlechthin. Ich meine in dieser Definition wird kein Biologe meiner Behauptung entgegentreten, obgleich es zu bedauern ist, dass wir für beide gekennzeichneten Begriffe nur das eine Wort besitzen. Mit anderen "Worten: Die Aufgabe , Leben“ stellt an den Organismus gewisse Elementaranforderungen, denen genügt werden muss: Ernährung, Stoffwechsel, Reizbarkeit (und Fortpflanzung) sind Bedingungen, ohne deren Erfüllung ein Organısmus unmöglich ist. Der niedrigste Organismus leistet all das und ist dadurch — ich wiederhole mich — zweckmäßig. Allein er besitzt eine Zweck- mäßigkeit niederen Grades: „Leben können“ ist an unserer Kurve, welche die verschie- denen Grade der biologischen Zweckmäßigkeit darstellt, der unterste Anfang, das Minimum; je höher wir an ihr emporsteigen, desto höher werden die Werte für die mathematische Wahrscheinlich- keit, dass das Einzelindividuum trotz aller möglichen Umstände und zwar bei voller Leistungsfähigkeit am Leben erhalten bleibt: Der Organismus kann einer großen Zahl méglicher Fälle in Ansehung aller Bedingungen seines Daseins ausgesetzt sein. Jedes individuelle Mileu aber, sei es die Pfütze, in dem das Protozoon lebt, sei es der Boden des Meeres mit seinen zahlreichen Tier- formen: alle diese Milieus zeichnen sich durch das Vorherrschen einer bestimmten Anzahl von all den logisch „möglichen Fällen“ aus, mag sich das auf den durchschnittlichen Nahrungs- oder Salz- gehalt, auf Temperatur oder sonst etwas beziehen. An diese vor- herrschenden Fälle ist jeder Organismus angepasst und muss es sein, wenn er leben soll, und in der Formel für die mathematische Wahrscheinlichkeit seines Erhaltenbleibens müssen mindestens diese „Fälle“ als „günstige Fälle“ figurieren! Die Tiere aber, die sich nicht über das gekennzeichnete Stadium erheben, die lediglich an die vorherrschenden Möglichkeiten äußerer Bedingungen angepasst, Abnormitäten dieser Bedingungen gegen- über jedoch wehrlos sind, scheinen mir recht eigentlich den Namen „niedere Tiere“ zu verdienen, wenn wir sie mit Arten, vergleichen, die eine ganz andere Einrichtung aufweisen, mit der wir uns weiter unten werden zu beschäftigen haben. Von den beiden Möglichkeiten, mit denen irgendein Getriebe aufrecht erhalten werden kann: prästabilierte Harmonie oder Selbst- regulation, ist jene charakteristisch für das niedere Tier, eine prä- stabilierte Harmonie, die zwischen der Organisation des Tieres und 289 Jordan, Über Entwickelung vom physiologischen Standpunkte aus. den vorherrschenden Varianten äußerer Bedingungen besteht. Aber nicht nur wird die Zahl dieser zulässigen Yanomiten beschränkt sein, jede Änderung der Bedingungen in dem normalen Breiten wird eine Kelle. in der gesamten Ökonomie des Tieres zur Folge haben: das niedere Tier w il zum Spielball in der Hand äußerer Agenten ein Verhalten, welches man mit dem Präfix „poikilo“ — zu be- zeichnen pflegt: z. B. poikilotherm, poikilosmotisch (Höber), auf welch letzteres Verhalten, da es weniger bekannt ist, ich mit einigen Worten eingehen will. Die Protozoen z. B. besitzen eine Ober- fläche, die allen in Betracht kommenden gelösten Substanzen gegen- über semipermeabel ist. Bringt man ein Protozoon aus seinem Medium, also etwa aus sükem Wasser in eine Kochsalzlösung auch nur geringer Konzentration, so geht es unter Schrumpfungserscheinungen zu grunde. Die Empfindlichkeit gegen solche osmot. Druckschwankungen ist ganz enorm; so stirbt das Süßwasserinfusor Vorticella nebulifera in einer NaCl-Lésung von 0,5—1°/,, (Enriques). Durch sehr all- mähliches Hinzufügen des Kochsalzes kann man die Tiere zwar an eine ihnen fremde Konzentration gewöhnen, doch nimmt der Prozess relativ lange Zeit in Anspruch und ist nur innerhalb äußerst enger Grenzen möglich. Für Paramaecium ist diese Grenze schon bei 1°/, (Yasuda) erreicht. Wie dem aber auch sein mag, stets kann die „Gewöhnung“ nur dadurch eintreten, dass der Organismus durch Absorption (oder Exkretion) seinen inneren Salzgehalt quantitativ und qualitativ dem des äußeren Mediums gleich macht (poikilosmot. Verhalten), daraus erhellt aber nach unseren gegenwärtigen Kennt- nissen über das Verhältnis zwischen Kolloiden und Elektrolyten (vgl. z. B. Wolfg. Ostwald), dass der „angepasste“ Organısmus keines- wegs normal sein kann. Ebensowenig gleichgültig für die niederen Organismen wie Schwankungen im Salzgehalt, sind Temperatur- wechsel, auch innerhalb der an sich zulässigen Grade?) für poikilo- therme Tiere. In gleicher Weise, wie durch prästabilierte Harmonie das Ver- haltnis zwischen niederem Organismus und den abgehandelten Kräften geregelt ist, lässt sich das auch für die anderen Bedingungen zeigen. So besteht eine solche z. B. zwischen festgewachsenen Protozoen, Spongien etc., der Größe ihrer Nahrungsfangapparate, vor allem der Größe ihres Stoffwechsels einer-, dem durchschnittlichen Nah- rungsgehalt des Wassers andererseits. II. Das höhere Tier: Wir können uns vorstellen, dass in der Entstehungsgeschichte der Organismen durch Zune der Indi- 2) In dem dargetanen Sinne sind gerade die niedrigsten Organismen an große Schwankungen der Bedingungen angepasst, was sich leicht von der Regulation der höheren wird unterscheiden lassen. Die steten mit der Anpassung verbundenen Änderungen in der Gesamtökonomie sind denn auch offenbar nur mit niedrigster Organisation vereinbar. Jordan, Über Entwickelung vom physiologischen Standpunkte aus. 285 viduenzahl etwa die Harmonie zwischen dem notwendigen Stoff- wechsel des Organismus und der vorhandenen Nahrung sich trübte, so dass durch Akquisition von Entwickelungswerten das in den niederen Tieren gegebene Ausgangsmaterial verbessert werden musste, und so allmählich das entstand, was uns die Morphologie als Phylema hat kennen lehren. Aber wie konnte das geschehen? Zweifellos nur dadurch, dass Organismen anfingen, sich durch Lei- stung ihrer Organe zu Herren der Außenbedingungen zu machen; denn nur dadurch konnte (bei erhaltener Leistungsfähigkeit) die Möglichkeit gewährleistet werden, unter den neuen Bedingungen individuell erhalten zu bleiben; Bedingungen, die ob jener Trübung den anderen Wesen anfingen verderblich zu werden und an welche Anpassungsméglichkeit, im Sinne der prästabilierten Harmonie, etwa durch das zulässige Minimum des Stoffwechsels beschränkt war. Sollte also überhaupt fortgeschritten werden, so musste an Stelle der prästabilierten Harmonie für jede einzelne in Frage kommende Funktion, Regulation eintreten, und es ist schlechthin eine Tat- sache, dass das geschehen ist! Für alle Außenbedingungen, denen das niedere Tier angepasst, in abnormen Fällen aber machtlos aus- geliefert ist, finden wir „höhere Stadien“, bei denen das Wesen fähig ist, sich durch regulatorische Leistung seiner Organe inner- halb weiter Grenzen mannigfaltigen abnormen Variationen der Be- dingungen, unmittelbar und individuell anzupassen. Diese „höheren Tiere“ vermögen also in der Formel für die Wahrscheinlichkeit ihres individuellen Erhaltenbleibens, und zwar unter voller Leistungs- fähigkeit, eine große Zahl von möglichen Fällen durch Regulation zu günstigen zu gestalten, die für das niedere Tier schädlich oder gar verderblich sein würden. So stehen den poikilosmotischen Tieren solche mit sogen. „ideotonischem“ ®) Verhalten, den poikilothermen, homöotherme Tiere gegenüber, das sind jeweilig Wesen, die durch Regulation mehr oder weniger komplizierter Art nicht nur stets den gleichen inneren (nützlichen) Salzgehalt, oder entsprechend die gleiche ihnen eigene Temperatur besitzen, sondern auch Tiere, die innerhalb gewisser weiter Grenzen einen abnormen Wechsel in der Salzkonzentration des äußeren Mediums, entsprechend einen Tem- peraturwechsel ertragen können. Und wenn wir gar auf das wich- tigste Gebiet, die Nahrungsakquisition kommen, so nehmen die Ein- richtungen, auf Grund deren die Organismen sich durch Leistung ihrer Organe die Außenbedingungen untertan machen, kein Ende: von der primitiven Lokomotion, bis zur individuellen Anpassungs- fähigkeit za 2£oyijv, dem Intellekt, haben wir eine unübersehbare Reihe mit einer Unzahl von Abstufungen. Wenn auch bei den, an spezielle Verhältnisse angepassten 3) Vgl. Bottazzi, Fredericq, Dekhuyzen. 284 Jordan, Über Entwickelung vom physiologischen Standpunkte aus. Formen (wie z.B. den Parasiten) zur Beurteilung, modifizierte Ge- sichtspunkte in Anwendung kommen müssen, wenn auch neben dem Dargetanen noch einiges über die Seitenzweige, die Seitenlinien der Entwickelung zu sagen wäre, so will ich mich doch auf die Haupt- linie beschränken und an einem Beispiele, und an Hand der ent- worfenen Skizze, versuchen, ein Bild von der Entwickelung, vom physiologischen Standpunkte aus, zu geben. Es muss sich um die Entwickelung einer einzigen Funktion handeln; denn, wenn wir der Einfachheit halber bislang nur von niederen und höheren Tieren sprachen, so sind wir doch bei weitem nicht immer in der Lage, für den ganzen Funktionskomplex der Ökonomie eines Tieres, ein einheitliches Urteil „höher“ oder „nie- driger“ zu fällen. Ich wähle als Beispiel die Funktion des zentralen Nervensystems, obwohl (wie aus dem Vorhergehenden ohnehin er- hellt) jede andere Funktionskategorie mir den gleichen Dienst hätte leisten können; doch glaube ich aus mancherlei (zum Teil subjektiven) (Gründen gerade an der Zentrenfunktion die Frage am besten durch- führen zu können). Wenn auch ım Grunde von der Amöbe bis zu den Wirbel- tieren alle stereotypen motorischen Erscheinungen sich unter den Begriff „Reflex* ım allgemeinsten Sinne subsummieren lassen, so lässt sich doch gerade auf Grund dieser Vorgänge eine Gruppe Wirbelloser von allen anderen Tieren abtrennen. Das höhere Tier verfügt über eine große Zahl indıvidueller Einzelreflexe, die an ganz bestimmte nervöse Bahnen, Zentren und Muskelgruppen ge- bunden sind, und die in ihrer Mannigfaltigkeit, und feinen gegen- seitigen Abtönung gerade dem höheren Tiere die bekannte große Anpassungsfähigkeit an alle möglichen Umstände verleihen. Diese individuellen Reflexe vermissen wir ganz oder doch zum großen Teile bei den erwähnten Evertebraten, die ich daher unter dem Namen „Reflexarme“ zusammengefasst habe: Die Aufgabe, Sinnesorgane mit Muskeln nervös leitend zu ver- binden und dadurch einen elementaren Reflex zu gewährleisten, löst bei den ın Frage stehenden Tieren durchgehends ein sogen. Nervennetz; d. ı. ei feines Netzwerk von Nervenzellen und -Fasern, das zu den undifferenzierten Muskel- und Sinneszellen des Haut- muskelschlauches (der ja auch selbst das Netz beherbergt) Ausläufer sendet. Jeder Teil dieses Systems, Sinnes-, Muskel- und Nerven- zellen, entbehrt der individuellen Gestaltung, alles ist diffus ange- ordnet, nicht einmal die Längs- und Zirkulärmuskellagen weisen 4) Die den folgenden Beispielen zugrunde liegenden Tatsachen habe ich an folgenden Stellen publiziert: 1901. Zeitschr. Biol., Bd. 41, S. 196—238. — Arch. ges. Physiol., 1905, Bd. 106, 8. 189—228, Bd. 110, S. 533—597. — Biol. Centralbl., 1906, Bd. 26, S. 124-158. — Zeitschr. allg. Physiol., 1907, Bd. 7, S. 85—134. Ebenda wird eine Arbeit über d. Actinie erscheinen. Jordan, Über Entwickelung vom physiologischen Standpunkte aus. 255 nennenswert individuell ausgebildete Gruppierung auf. Und wie die Elemente, so ist auch die Leistung: Wo wir auch immer solch ein Tier reizen, da überträgt das Netz gleichförmig nach allen ‚Seiten die Erregung auf die zunächstliegende Muskulatur’), aber auch nur auf diese, da das Nervennetz mit Dekrement leitet. Diesen elementaren, einheitlichen Reflex der reflexarmen Tiere, dem durch- aus Ubiquität zukommt und der auch alle in Frage kommenden lokomotorischen Erscheinungen mit umfasst, habe ich im Gegensatz zu jenen „individuellen“, den „generellen Reflex“ genannt. Zur Durchführung unserer Idee an dieser einen Funktions- kategorie wähle ich drei Tierformen, die ganz verschiedenen syste- matischen Gruppen angehörend, sich neurophysiologisch, als Re- flexarme verhalten: Actinien, Ascidien und Schnecken. Sie alle besitzen einen echten Hautmuskelschlauch mit allen jenen Ele- menten, deren Bedeutung wir flüchtig kennen lernten. Während nun die Actinien in ıhrer Totalität ein solches neuromuskuläres System unterster Ordnung darstellen, kommt bei den Ascidien noch ein einziges, bei den Schnecken noch zwei Paar (soweit für uns von Wert) aus Nervenzellen und -Fasern bestehende Knöt- chen vor, abgesondert von dem Rest nervöser Elemente, mit denen sie jedoch verbunden sind. Wir nennen sie Ganglien und betrachten sie als übergeordnete Zentren. Die Hautmuskelschläuche der drei Formen für sıch betrachtet, ver- halten sich im Prinzip durchaus gleich, als neuromuskuläre „Systeme unterster Ordnung“. Da ist kein Gesetz, das nicht für alle drei gleich- artig Gültigkeit habe. Bei Ascidien und Schnecken aber kommen noch jene Ganglien hinzu, berufen, die Leistungen des Hautmuskelschlauches quantitativ zu regulieren, d. h. den jeweilig vorliegenden Bedingungen anzupassen. Dem einen Ganglion der Ascidie und den Unter- schlundganglien (Pedalganglien) der Schnecke untersteht dergestalt der relative Verkürzungsgrad der Muskulatur, Tonus genannt, und seine Anpassung an Schwankungen des Innendrucks. Die Reizbar- keit (und Lokomotion) findet nur bei den Schnecken im Üerebral- ganglion ihren Meister. Die Regulation selbst basiert darauf, dass das Ganglion die Leistung des ihm unterstellten Systems je nach Bedarf zu mindern oder zu mehren imstande ist, auf Grund relativ einfacher Gesetze, die uns jedoch nicht beschäftigen sollen. So haben wir es da mit einer Stufenfolge zu tun, die recht wohl ein Prüfsteın sein kann für die Zulässigkeit unserer An- schauungen. Wir werden uns zur Deduktion des Entwickelungs- wertes der akzessorischen Ganglien auf die Betrachtung des gene- rellen und der vorhanden individuellen Reflexe beschränken. 5) Sofern sie für die in Frage kommende Erregungsintensität in Ansehung ihrer Schwelle eingestellt ist. 286 Jordan, Über Entwickelung vom physiologischen Standpunkte aus. I. Der generelle Reflex: Wenn wir schlechthin die Reiz- barkeit unserer drei Formen untersuchen würden, so fänden wir keine Unterschiede, die wir zu unserem Zwecke würden verwenden können: Das war zu erwarten, da nach allem, sich eine Regulier- vorrichtung erst dann offenbaren wird, wenn abnorme Bedingungen vorliegen, denen -das ihr unterstehende System sich anpassen muss. Beobachten wir also z. B. die Tiere bei abnormen Temperaturen: Actinie und Ascidie, beides Formen mit unregulierter Reizbarkeit, haben ein Reaktionsoptimum gleich etwa der Durchschnittstemperatur des Seewassers zur Zeit, als ich diese Untersuchungen ausführte (Ciona 1m Neapeler Sommer bei 22°, Actinoloba im Sommer an der holländischen Küste bei 16°). Bei abnehmender und zunehmender Temperatur findet stets Reaktionsabnahme statt, bis, schon relativ früh, jede Erregbarkeit schwindet (Ciona intestinalis bei 11° und 40°, Actinoloba etwa schon bei 38°). Wir sehen also das niedere Tier in seiner Abhängigkeit von der Außenbedingung. Erregbarkeitssteige- rung durch Wärme, früh einsetzende Wärmestarre, beides indi- viduell unabänderliche, starre Faktoren, welche durch ihre Gegen- sätzlichkeit eine Einstellung bewirken, dıe normale Reaktion unter normalen Bedingungen zur Folge hat: Eintretende Temperatur- abnormitäten aber werden die Reaktion bis zur Unerregbarkeit be- einträchtigen. Wir brauchen nur an die bekannten Retraktions- (Schutz-)Reflexe zu denken, um die Bedeutung des Gesagten zu würdigen. Ganz anders verhalten sich die Schnecken, beliebig ob sie der Land- oder Meeresfauna angehören! Zwischen 9° und 40° und je darüber hinaus, bedingen gleiche Reize durchaus den gleichen Ver- kürzungsgrad ihrer Muskeln. D. h., so lange diese Muskeln mit dem Zerebralganglion in Beziehung stehen. Entfernen wir es, so nımmt innerhalb der gleichen Temperaturgrenzen die Kontraktions- höhe mit dem Temperaturgrade zu, da naturgemäß eine einstellende Wärmestarre bei relativ niederen Wärmegraden nicht zur Ausbildung gekommen ist. II. Die individuellen Reflexe. Mit der Akquisition der Ganglien wurde zugleich noch ein weiterer Entwickelungswert ge- wonnen: die Möglichkeit individueller Reflexe. Bei der Actinie, wo ein solcher noch nicht hat ausgebildet werden können, findet ja auch auf Berührung Einziehung statt, die sogar einen recht komplizierten Mechanismus erheischt, und doch durchaus einen Teil des gene- rellen Reflexes ausmacht. Die Längsmuskeln der Septen, durch keinerlei absonderliche Leitungsbahnen mit den Sinneszellen ver- bunden, zeigen niedrigere Reizschwelle, höhere Kontraktilität und Kontraktionsgeschwindigkeit, als alle anderen Muskeln, so dass sie sich bei jedwedem Reiz zuerst und am ausgiebigsten verkürzen. So wird stets die Mundscheibe in das Innere des sich schützend darüber Jordan, Über Entwickelung vom physiologischen Standpunkte aus. 2387 fe wölbenden Mauerblatts gezogen. Da zeigt sich die Unvollkommen- heit prästabilierter Harmonie zwischen normalen Reizen und Mecha- nismus, denn nach abnorm intensiver Reizung des Mauerblatts zieht dieses sich von der Mundscheibe wieder etwas zurück, die letztere teilweise freigebend. Ganz anders bei ganglientragenden Tieren: Der Schutzreflex der Ascidie, nämlich Retraktion unter Verschluss beider Siphonen auf jede Berührung, hin ist ein individueller Reflex. Da nun nicht das ganze Sein der Muskulatur durch diese Einrichtung (wie bei der Actinie) in Anspruch genommen wird, so hat das zur Folge, dass bei der Ascidie schon zwei wichtige Reflexe nebeneinander ausgebildet werden konnten, bei der Schnecke noch mehr. Noch spielen — bei den Reflexarmen — diese Reflexe keine überwiegende Rolle: Da, mit einem Male, unter Fallenlassen des gesamten Apparates des regulierten Elementarreflexes, beginnen die individuellen Reflexe vorzuherrschen, als das neue System, welches nunmehr das alte Ausgangsmaterial vollständig verdrängt, und den Tieren eine enorme, selbst von den bestorganisierten reflexarmen Formen unerreichte Anpassungsfähigkeit und Mannigfaltigkeit der Lebensäußerungen verleihte: Die Erregbarkeit des Oktopusmuskels z. B. ist nicht ab- hängig von der Anwesenheit der Ganglien, hingegen hat v. Uex- küll uns eine Reihe wohllokalisierter Reflexe bei diesen Tieren gezeigt. Kurz, wir sehen, wie unter Beibehaltung des Ausgangsmaterials, innerhalb des physiologischen Typs, Verbesserung auf Verbesserung folgt, bis, ganz wie bei den Maschinen, das nicht weiter entwicke- lungsfähige System einem neuen weichen muss, das sich schon (wie in der Biologie meist) in untergeordneter Stellung vorher als Ubergang meldete, um nunmehr, herrschend, einen neuen Typus zu bilden. Und innerhalb dieser Typen, die uns die Logik als solche an- zunehmen zwingt, gewährt uns die Vergleichung einen Einblick in das Schaffen der Natur, den ein bloßes Aufzählen der Tatsachen niemals würde bieten können. Und wenn auch die entstehende Reihe, in der für die meisten Funktionen, die Tiere eine andere Folge aufweisen, uns kein Recht gibt, Schlüsse zu ziehen auf den historischen Werdegang der Tiere selbst: die abstrakte Funktion, Aufgabe der allgemeinen, Endziel einer jeden Physiologie, sehen wir vom primitiven Anfang fortschreiten, tastend, versuchend, ver- bessernd, umwälzend, sich entwickeln, von der Amöbe bis schließ- lich hinauf zum Menschen. 288 Errera, Cours de Physiologie moléculaire. L. Errera. Cours de Physiologie moléculaire. Herausgegeben von H. Schouteden. Mit einem Vorwort von H. J. Hamburger. Brüssel 1907. 153 Seiten. Die Vorlesungen des verstorbenen Botanikers Errera behandeln, wie es der Autor ungefähr ausdrückt, die Physik der Molekular- kräfte ın ihrer Anwendung auf die Physiologie. Er subsummiert diesem Thema, indem er den betrachteten physikalischen Erschei- nungen kinetische Vorstellungen zugrunde legt, die allgemeine Physik der Gase, der Flüssigkeiten und der festen Körper: Die Beispiele, an denen er die Bedeutung dieser Teile der Physik für die Physiologie erläutert, sind ganz vorwiegend der bota- nischen Physiologie entnommen. Die Literatur ist bis 1903 be- rücksichtigt. Das Material, in dessen übersichtlicher Zusammenordnung der Hauptwert des Buches zu suchen ist, ist in vier Hauptabschnitte gegliedert, in die Physik der Gase, der Flüssigkeiten, der festen Körper und der gegenseitigen Beziehungen der drei Aggregatzustände zueinander. Die Gasgesetze werden zur Fundierung der Theorie der Lösungen ın der üblichen Form vorgetragen. In der Physik der Flüssigkeiten werden die Gesetze der Oberflichenspannung, Elastizität, Kompressibilität und Viskosität erörtert und deren Be- deutung in der Hauptsache am Beispiel der „künstlichen Amöbe* und der Oberflächengestaltung der Zellen innerhalb der Gewebe kurz dargelegt. Der Abschnitt über die festen Körper behandelt die Elastizität, deren Bedeutung für die mechanischen Eigenschaften von Zellen und Zellsystemen, sowie mit einigen Worten die optischen Eigenschaften. Das Kapitel über die Beziehungen der einzelnen Aggregatzustände zueinander endlich bringt die für die Tran- spiration bei den Pflanzen wesentliche Diffusion und Effusion der (Gase durch Poren, die Erscheinungen der Kapıllarität und Adhäsion, Imbibition, Quellung und Lösung und für diese letztgenannten Phäno- mene eine große Zahl von Beispielen. Unter ihnen sind die eingehender behandelten die Plasmolyse und Turgeszenz, sowie die damit zu- sammenhängenden Reizbewegungen und Turgorregulationen, schließ- lich die Erscheinung des Saftsteigens nebst Diskussion der ver- schiedenen dafür aufgestellten Theorien. Wer sich mit den biologischen Anwendungen der Molekular- physik noch nicht viel beschäftigt hat, dem kann das Werk em- pfohlen werden. R. Höber. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Physisch-Ophthalmologische Grenzprobleme. Ein Beitrag zur Farbenlehre von Dr. H. Krarup. M. 3.—. Das ärztliche Fortbildungswesen in Preussen. Von Prof. Dr. R. Kutner. M. 1.50. Die Albuminurien älterer Kinder. Habilitationsschrift von Priv.-Doz. Dr. L. Langstein. Mit einer Tafel. Me Handbuch der Ernährungstherapie. _ Herausgegeben von BE. von Leyden. Zweite umgearbeitete Auflage herausgegeben von Georg Klemperer. 2 Bände. M. 25.—, geb. Hlbfr. M. 29.—. Grundzüge der Ernährung und Diätetik. Von Prof. Dr. E. von Leyden, Geh. Med.-Rat. M. 2.—. {mG Diesem Hefte liegt ein Prospekt der Verlagsbuchhandlung K. J. Trübner in Strassburg, betr.: „Zeitschrift für Biologische Technik und Methodik, herausgegeben von Dr. Martin Gildemeister“, bei. K. B. Hof- und Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. a Biologisches Centralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und _ Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in Miinchen, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. XXVITI. Bd. 1. Mai 1908. MO. uw Leipzig. Verlag von Georg Thieme. Rabensteinplatz 2. Reg.-Bez. Breslau. a I] | Wa Bahnst. Kudowa oder Nachod. 400 m über dem Meeresspiegel. Saison: Vom 1. Mai bis Oktober. Arsen-Eisenquelle: Gegen Herz-, Blut-, Nerven- und Frauenkrankheiten. Lithionquelle: Gegen Gicht, Nieren- und Blasenleiden. Natürliche Kohlensäure- und Moorbäder. Neu erbohrte, ausserordentlich kohlensäurehaltige und ergiebige Quelle. Komf. Kurhotel. Theater- u. Konzertsäle. Anstalt für Hydro-, Elektro- u. Licht- Therapie. Medico-mechanisches Institut. Hochwasserleitung u. Kanalisation. Badeärzte: Geh. Sanitäts-Rat Dr. Jacob, Dr. Herrmann, Dr. Karfunkel, Dr. Witte, Privat- Dozent Dr. Ruge, Sanitäts-Rat Dr. Kuhn, Dr. Silbermann, Dr. Münzer, Dr. Brodzki, Dr. Hirsch, Dr. Loebinger, Dr. Kabierschke, Dr. Bloch, Dr. Schnabel, Zahnarzt Dr. Wolfes. Brunnen-Versand durch die Generalvertretung Dr. S. Landsberg, Berlin SW., Gitschiner- strasse 107, Telephon Amt IV 1048, und die Bade-Direktion Kudowa. Prospekte gratis durch sämtliche Reisebüros, RUDOLF MOSSE und PE Die Bade-Direktion. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Grundriss der physikalischen Chemie von Dr. Max Roloff, Privatdozent an der Universität in Halle. Mit 13 Abbildungen. M. 5.—, geb. M. 6.— ; rae Weary Neha T: Bea sages A aoa IR ot aN/ or iy OVO wf. | et a u az ae logisches Centralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in Miinchen, om: herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beitrage aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, Miinchen, Luisenstr. 27, Beitrage aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle tibrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. Bd. XXVIII. 1. Mai 1908. Ae 9. Inhalt: Wasmann, Weitere Beitrige zum sozialen Parasitismus und der Sklaverei bei den Ameisen (Fortsetzung). — Hatschek, Beantwortung der theoretischen Einwände Plate’s gegen meine Vererbungstheorie. — Erklärung, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus und der Sklaverei bei den Ameisen. (Zugleich 162. Beitrag zur Kenntnis der Myrmekophilen.) Von E. Wasmann S. J. (Luxemburg). (Fortetzung.) Am 29. Mai liefen vier Lomechusa im Vorneste umher, aus dem sie (wie sie es auch bei sanguinea oft tun) auszuwandern suchten!’). Zwei derselben kehrten in das Hauptnest zurück, wo vom 30. Mai an nur noch drei sich aufhielten. Die gastliche Pflege der dort befindlichen Zomechusa dauerte fort, auch nachdem vom 17. Juni an nur noch zwei und vom 27. Juni an nur noch eine Lomechusa das Hauptnest bewohnte. Bis zu ihrem natürlichen Tode am 26. Juli wurde sie von den rufa beleckt und gefüttert. Die Leichen der gestorbenen Lomechusen, die im Vorneste lagen, waren ebenfalls unversehrt; sie waren also nicht von den Ameisen getötet worden. 17) Die Lomechusa bevorzugen bestimmte ‚„Zentralkolonien“ ihrer Wirtsameise, wo sie sich zur Paarungszeit oft massenhaft zusammenfinden, um sich nach einigen Tagen wieder in andere Nester zu zerstreuen. In der sanguinea-Kolonie Nr. 240 bei Exaten (Holland) fand ich beispielsweise am 12. Mai 1897 oben unter den Steinen und Haidekrautschollen, die auf das Nest gelegt waren, 63 Lomechusa sitzen, darunter 6 Pärchen in Kopula. Vorher und nachher war die Zahl der Käfer in diesem Neste viel geringer. Ähnliche Zentralkolonien kommen auch bei Atemeles paradoxus, pratensoides etc. vor. XXVIII. 19 290 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. Das Ergebnis dieser Beobachtungsreihe war also folgendes: Alle fünf Lomechusa waren von den rufa-fusca dieses Nestes voll- kommen aufgenommen worden. Gepflegt wurden im Hauptneste vom 14. bis 28. Mai alle fünf Käfer, vom 30. Mai bis 16. Juni drei, vom 17. bis 26. Juni zwei, vom 27. Jum bis 26. Juli nur noch einer. Sie starben eines natürlichen Todes. Obwohl vom 12. bis 23. Mai täglich, von da an bis zum 13. Juni alle 2 oder 3 Tage ein Lomechusa-Pärchen im Hauptneste in Kopula zu sehen war, erschienen doch keine jungen Lomechusa-Larven unter den Eierklumpen dieses Nestes. Die Eier von Lomechusa'*) waren wahr- scheinlich sofort von den Ameisen aufgefressen worden. Ferner ist zu bemerken, dass unter den fünf Lomechusa dieses Nestes sich zwei Pärchen befunden hatten. Trotzdem sah ich (mit Ausnahme einer ganz kurzen Paarung eines zweiten Pärchens am 22. Mai) stets nur ein Lomechusa-Pärchen in Kopula. Nach der Analogie mit zahlreichen anderen von mir hierüber angestellten Beobach- tungen!?) glaube ich annehmen zu müssen, dass auch hier ein be- stimmtes Lomechusa-Pärchen von den Ameisen zur Fort- pflanzung instinktiv ausgelesen wurde, dass es also um eine Betätigung der „Amikalselektion“ sich handelte. Auf die in dem Neste r-f-II bei der Aufnahme zweier Lome- chusa ım Mai und Juni 1906 gemachten Beobachtungen gehe ich nicht weiter ein, da sie nichts Bemerkenswertes bieten. Hier war keine Königin und keine Brut im Neste, und die fusca überwogen an Zahl über die rufa. Auch hier akkomodierten sich die fusca der Lomechusa-Pflege ihrer ,Herren* und nahmen an der Be- leckung dieser Käfer teil; die Pflege von Alemeles emarginatus in diesem Neste war jedoch eifriger und anhaltender als jene von Lomechusa. Versuche mit Lomechusa-Larven. — Da in r-f-I keine eigenen Lomechusa-Larven erschienen, so gab ich am 21. Juni zwei fremde, schon große Larven dieser Art aus sanguinea-Nestern hinzu. Sie wurden aus dem Fütterungsröhrchen, wo ich sie hineingelegt hatte, sofort von den fusca abgeholt und ins Hauptnest getragen, 18) Lomechusa (u. Atemeles) sind wahrscheinlich ovovivipar, d. h. sie legen Eier, aus denen bereits nach sehr kurzer Zeit die junge Larve schlüpft. Vgl. Zur Biologie von Lomechusa strumosa (Deutsch. Entom. Ztschr. 1895, Il, S. 294). Bei Atemeles emarginatus konnte ich bereits direkt nachweisen, dass er nicht vivipar ist (Ursprung u. Entwickelung d. Sklaverei 1905, S. 132, Anm. 2). Bei Lomechusa muss der Eizustand jedenfalls äußerst kurz dauern, kürzer als bei Atemeles. Am 4. Juni 1904 nahm ich in einem Beobachtungsneste von sanguinea das plötzliche Auftreten junger Lomechusa-Larven wahr, die an den Ameisenlarven klebten, ohne dass vorher Eier zu sehen gewesen waren. 19) In dem Zettelkatalog meiner Tagebuchnotizen über Lomechusa und Atemeles sind sie unter „Regulierung der Paarung der Gäste durch die Ameisen‘‘ zusammen- gestellt und sollen später: veröffentlicht werden. Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismns ete. 391 wo die rufa sie in Empfang nahmen. Sie wurden abseits von den rufa-Larven hingelegt und waren stets von einer Gruppe rufa um- lagert, welche sie beleckten und fütterten. Am 24. Juni sah ich eine der Lomechusa-Larven mitten unter den großen Arbeiterlarven liegen und eine derselben gerade auffressen. Die andere Lomechusa- Larve war von den Ameisen bereits eingebettet, aber aus der Ver- puppungshöhle wieder herausgezogen worden (was auch bei sanguinea häufig geschieht); sie starb infolgedessen, wurde aber nicht aufge- fressen. Am 25. Juni sah ich, wie die andere Larve von einer rufa bei Erhellung des Nestes aus dem Munde gefüttert und dann (noch vor dem Transport der rufa-Larven) von ihr fortgetragen wurde. Am 27. Juni war auch diese zweite Lomechusa-Larve von den Ameisen eingebettet worden. Der halbkugelförmige _Kinbettungs- hügel war 1 cm hoch und 1 cm breit und wurde von mehreren rufa sorgfältig bewacht. Am 1. Juli war er noch unversehrt. Am 8. Juli wurde er jedoch von den fusca geöffnet, die Puppe heraus- gezogen und gefressen. Die Aufzucht dieser Lomechusa war an der Naschhaftigkeit der fusca gescheitert (auch in den sanguinea- fusca-Nestern kam das häufig vor). Die Aufnahme und Pflege der fremden Lomechusa-Larven in r-f-I war im übrigen günstiger verlaufen als in den selbständigen Beobachtungsnestern von rufa, pratensis und truncicola, wo diese Larven anfangs zwar adoptiert, dann aber bald gefressen wurden und nie bis zur Einbettung kamen. Nur in sanguinea-Nestern ge- lang mir bisher die definitive Zucht der Lomechusa-Larven bis zum Imagostadium. Ob sie in freier Natur hie und da auch bei rufa und pratensis durchgeführt wird, ist aus der oben erwähnten Entwickelung von Pseudogynen in diesen Nestern nicht sicher zu schließen, da auch bereits die jungen Lomechusa-Larven einen kolossalen Schaden an der Ameisenbrut in wenigen Tagen an- richten können. Aus den Beobachtungen an künstlichen Nestern geht jedenfalls hervor, dass die Larven von Lomechusa nicht in so hohem Grade international sind wie die Imagines, welche bei allen unseren großen Formica-Arten unmittelbare Auf- nahme und Pflege finden. Dies hängt wahrscheinlich damit zu- sammen, dass die Pflege der Lomechusa-Larven phylogenetisch jünger ist als die Pflege der Imayines. Nur bei F. sanguinea ist auch die Brutpflege dieses Käfers vollkommen zu einem erblichen Instinkte geworden und dauernd fixiert. e) Versuche mit Dinarda dentata und deren Larven. Am 10. Mai 1906 wurden drei Exemplare dieses indifferent ge- duldeten Gastes von F. sangwinea in das Vornest von r-f-I gesetzt (Fig. 1, S.262). Bei F. rufa kommt in freier Natur nicht dentata, sondern die größere D. Märkeli vor. Bei früheren Versuchen mit selb- Ständigen rufa- oder pratensis-Nestern war dentata, wenn sie in 19% 292 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. größerer Anzahl zugleich im Neste erschien, regelmäßig heftig ver- folgt und schließlich getötet worden; einige wenige Exemplare da- gegen wurden meist bald geduldet und konnten Monate lang in den Nestern leben?°). Sogar i einem Beobachtungsneste von F. sanguinea mit rufibarbis als Sklaven, welches ich von 1893 — 1904 ım Zimmer hielt, konnte ich schließlich keine größere Zahl von D. dentata hineinsetzen, ohne dass eine heftige Dinarda-V erfolgung ausbrach, während die Anwesenheit von ein oder zwei Exemplaren ruhig geduldet wurde ?!). Gewöhnlich wird in den sangwinea-Nestern, welche fusca oder rufibarbis als Sklaven enthalten, D. dentata von den Sklaven ebenso geduldet wie von den Herren. In ihren selb- ständigen, ungemischten Kolonien in freier Natur beherbergt fusca diese Dinarda nicht; rufibarbis beherbergt an ihrer Stelle die kleinere Dinarda pygmaea. In ungemischten Beobachtungsnestern beider Arten wurde dentata von den Ameisen meist heftig ange- eriffen. Wie werden sich die rufa und fusca in r-f-I ihr gegenüber verhalten ? Die in das Vornest gesetzten drei dentata wurden von den dort Wache haltenden fusca anfangs heftig verfolgt, entkamen aber in das Hauptnest hinüber. Hier wurden sie von den rufa indifferent geduldet und nach wenigen Tagen auch von den fusca. Vom 15. Mai an sah ich diese Käfer häufig mitten unter den Ameisen umherschwänzeln, ohne dass sie von einer der beiden Arten ver- folgt wurden; nur selten wurden sie von rufa vorübergehend mit geöffneten Kiefern „angefahren“, wie es auch bei sanguinea zu ge- schehen pflegt. Ihre Duldung blieb konstant. Gewöhnlich hielten sie sich etwas abseits von den versammelten Ameisen auf und nährten sich von deren Leichen und von Nestabfällen. Sie paarten sich wiederholt; die Paarung dauert bei Dinarda kaum einen Bruch- teil einer Minute (bei Lomechusa und Atemeles Stunden lang). Am 12. Juni liefen bereits die ersten jungen Dinarda-Larven im Neste umher, von den Ameisen vollkommen indifferent geduldet. Am 6. bis 10. Juli waren schon zahlreiche Dinarda-Larven in allen Größenstufen vorhanden. Am 15. Juli lebten noch zwei alte Di- narda, stets friedlich geduldet. Am 4. September war bereits: eine Anzahl neuer Dinarda ım Neste zu sehen. Sie unterschieden sich weder in Größe noch in Färbung auch nur im geringsten von ihren. Eltern, obwohl sie sich hier in einem rufa-Nest entwickelt hatten. 20) Ein Versuch, eine pratensis-Kolonie in freier Natur mit D. dentata zu infizieren, hatte keinen Erfolg. Vgl. Kol. 15 der pratensis-Statistik bei Luxem- burg im III. Teil meiner Arbeit „Zur Kenntnis der Ameisen und Ameisengäste von Luxemburg (Arch. trimestrielles de I’Inst. Grand Ducal 1908). 21) Siehe „Vergleichende Studien über das Seelenleben der Ameisen“, 2. Aufl., 1900, S. 41—42. Über das „Zählen“ der Ameisen vgl. auch die unten folgenden Versuche mit Platyarthrus. Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 993 Wie bei allen meinen früheren Experimenten über die Aufzucht der verschiedenen Dinarda-Rassen bei fremden Wirtsameisen zeigten sich die betreffenden Rassen völlig konstant, obwohl sie ursprünglich durch Anpassung an die verschiedenen Wirtsameisen sich differenziert haben und gegenwärtig noch auf verschiedenen Stufen zur Artenbildung stehen °?). Von den Ameisen, sowohl von rufa wie von fusca, wurden die neuentwickelten Dinarda dentata in r-f-L ebenso geduldet wie früher die alten. Sie starben aber — wohl wegen Nahrungsmangel ın der stark heruntergekommenen Kolonie — bis auf wenige, die ich noch am 6. Dezember 1906 unter den Ameisen sah. Am 12. Juli 1907 lebte noch eine einzige; eine Fortpflanzung der Käfer hatte in diesem Jahre nicht stattgefunden. Am 25. März 1908 war diese bereits 2jährige Dinarda noch am Leben, ebenso wie ein bereits dreijähriger Dendrophilus pygmaeus und ein dreijähriger Hetaerius ferrugineus von den Ameisen vollkommen geduldet. f) Versuche mit indifferent geduldeten Gästen von F. rufa. Am 25. April 1906 wurden 25 Stück indifferent ge- duldeter Gäste aus einem rufa-Nest in das Vornest von r-f-I ge- setzt: 4 Thiasophila angulata, 2 Notothecta flavipes, 4 Stenus ater- rimus, 6 Dendrophilus pygmaeus, 2 Monotoma conicicollis, 2 Larven von Clytra quadripunctata und 5 Walkenaera biovata. Die fusca gerieten über diese Masseninvasion in große Aufregung und machten sofort Jagd auf die Eindringlinge, während die weit zahlreicheren rufa ım Hauptnest sich ihnen gegenüber gleichgültig verhielten. Den meisten Spinnen ( Walkenaera) war es schon am nächsten Morgen gelungen, an verschiedenen Stellen des Holzrahmens im Hauptneste sich niederzulassen; jede hatte ein kleines Nest aus einem Klümp- chen Spinnfäden verfertigt und saß auf demselben. In einem dieser Nester sah ich auch drei Spinneneier. Die Spinnen wurden bei Be- gegnung mit den Ameisen jetzt auch von den fusca ignoriert. Die Kurzflügler unter den Käfern (Thiasophila, Notothecta, Stenus) wurden von den fusca gefangen und zerrissen. Sogar die durch ihre vier- eckige Trutzgestalt geschützten Dendrophilus (Histeriden) wurden von den fusca anfangs hartnäckig verfolgt. Zwei derselben wurden am 3. Mai von fusca zerrissen, denen es gelungen war, die Käfer an den Beinen zu fassen. Allmählich, vom 17. Mai an, wurden die noch übrigen Dendrophilus auch von den fusca ruhig geduldet. Sie pflanzten sich im Neste nicht fort. Einer derselben erreichte ein Alter von 3 Jahren. 22) Siehe hierüber meine früheren Ausführungen: Gibt es tatsächlich Arten, die heute noch iu der Stammesentwickelung begriffen sind? (Biol. Centralbl. 1901, Nr. 22 u. 23); Beispiele rezenter Artenbildung bei Ameisengästen und. Termiten- gasten (Biol. Centralbl. 1906, Nr. 17—18); Die moderne Biologie und die Ent- wickelungstheorie, 3. Aufl., 1906, S. 323—333. 994 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. Die Clytra-Larven, denen später noch einige hinzugesetzt wurden, blieben ein Gegenstand heftiger Angriffe der fusca, sobald sie sich mit ihren Gehäusen bewegten. Bei zweien gelang es schließ- lich den fusca, die Larven aus den Gehäusen zu ziehen und zu fressen. Die Clytra-Larven finden sich in freier Natur manchmal auch in fusca-Nestern. Gewöhnlich werden sie auch von diesen Ameisen, wie von rufa, ignoriert oder nur vorübergehend ange- griffen. g) Versuche mit dem panmyrmekophilen internatio- nalen Isopoden Platyarthrus Hoffmannseggi. Diese blinde weiße Assel lebt bei allen hiesigen Ameisen, oft in großer Zahl in einem Neste. Sie wird ferner von ihnen so indifferent geduldet, dass schon Lubbock?’) von ihr sagte: „Man sollte fast meinen, sie trüge eine Tarnkappe.“ Dass sie von den Ameisen wohl be- merkt wird und dass ihre gewöhnliche völlig gleichgültige Duldung nur auf dem indifferenten Eindrucke beruht, den sie auf die Ameisen macht, geht aus folgendem Versuche hervor. Am 2. Mai 1906 setzte ich 20 Platyarthrus, die in einem fremden rwufa-Neste am Tage vorher gefangen worden waren, in das Vornest von r-f-I. Die fusca, die sie hier sehen konnten, griffen sie sofort heftig an und verfolgten sie auch ebenso in dem verdunkelten Hauptneste. Die rufa beteiligten sich nicht an dieser Jagd. Am niichsten Morgen lag ein Haufen zum Teil zerstiickelter Leichen von Platyarthrus 1m Hauptneste. Die der Schlächterei entgangenen Exemplare -— es waren, wie sich später herausstellte, sechs Stück am Leben geblieben — hielten sich abseits von den Ameisen in der Erde des Nestes versteckt. Am 5. Mai hatte ihre Verfolgung aufgehört und die Asseln suchten wieder die Gesell- schaft der Ameisen auf. Eine sah ich an diesem Tage unter einem dichten Haufen von rufa und fusca sitzen, die sich um die Eier- klumpen der Königin versammelt hatten; die Ameisen nahmen nicht die geringste Notiz von ihr. Zwei andere große Indivi- duen sah ich bald darauf langsam, mit lebhaft vibrierenden Fühlern, mitten unter den Ameisen umherspazieren; auch sie wurden vollkommen ignoriert. Überhaupt wurden die Asseln von jetzt an auch von den fusca völlig geduldet, höchstens noch bei Begegnung mit den Fühlern berührt, aber nie mehr angegriffen; später wurden sie ganz ignoriert, ebenso wie schon vorher durch die rufa. Die sechs übrig gebliebenen, sehr großen Individuen pflanzten sich im Neste fort. Am 12. Juni sah ich die erste junge, nur 1 mm große Assel im Hauptneste. Am 1. bis 7. Juli waren bereits zahl- reiche ganz kleine bis mittelgroße Platyarthrus in allen Größen- 23) Ameisen, Bienen, Wespen, 1883, 8. 62. Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. 995 stufen vorhanden. Trotz ihrer Zahl (über 20) wurden sie vollkommen ignoriert. Noch am 9. September waren sie in unverminderter Menge zu sehen, vollkommen geduldet. Zur Erklärung des anfänglich feindlichen Verhaltens von fusca gegen die Platyarthrus in diesem Neste sind folgende Momente zu berücksichtigen: Erstens, der aggressive Charakter der fusca gegen alle fremden Eindringlinge zu jener Zeit. Er wurde bedingt durch die instinktive Sorge dieser Hilfsameisen für die rufa-Königin und thre Brut. Gegenüber diesem Benehmen der fusca trat der friedliche Charakter der „Herren“ in jener gemischten Kolonie auffallend hervor, wie dies auch in der truncicola-fusca-Kolonie 1903 (s. 1905, 8. 135.) und in der exsecta-fusca-Kolonie 1906 (s. unten im zweiten Teil dieser Arbeit S. 303) der Fall war. Zweitens war der Umstand von Bedeutung, dass die Platyarthrus gleichsam durch plötzliche Masseninvasion in das Nest drangen. Wären sie einzeln nacheinander hineingesetzt worden, so würden. sie nach der Analogie mit früheren Versuchen wahrscheinlich kaum berücksichtigt worden sein. Drittens kann auch der fremde Nestgeruch dieser Gäste zu ihrer feindlichen Aufnahme durch fusca beigetragen haben. Dieser Umstand ist jedoch, nach dem friedlichen Verhalten der rufa in r-f-I gegen diese Asseln und nach der Analogie mit anderen Ver- suchen an Platyarthrus sicherlich nur von untergeordneter Bedeu- tung; für gewöhnlich erweist sich diese weiße Assel als vollkommen „international“; auch wenn sie aus fremden Ameisennestern un- mittelbar in das Versuchsnest gesetzt wird. Eine feindliche Behandlung von Platyarthrus habe ich sonst nur in einem einzigen Falle beobachtet. Am 13. Mai 1904 war ein Dutzend Platyarthrus (aus der pratensis-Kolonie 15 bei Luxem- burg) in das leere Fütterungsgläschen eines Lubbock-Nestes von Myrmica laevinodis gesetzt worden. Als die Asseln ın das Nest hinüberwanderten, wurden sie von den Myrmica mit geöffneten Kiefern angegriffen, worauf sie zur Verteidigung einen weißen Spinnstoff aus der Hinterleibsspitze treten ließen. Am 21. Mai waren fast alle von den Ameisen getötet und teilweise aufgefressen worden. Die wenigen überlebenden wurden fortan indifferent ge- duldet. h) Können die Ameisen „zählen“? — Vergleichen wir hiermit die schon oben (bei Dinarda) erwähnte Tatsache, dass in meinen Versuchsnestern von Formica gerade dann eine heftige Dinarda-Verfolgung ausbrach, wenn diese Käfer in größerer Anzahl zugleich oder bald nacheinander’ ins Nest gesetzt wurden, so müssen wir uns die interessante psychologische Frage vorlegen, ob die Ameisen „zählen können“. 296 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. Eine hierher gehörige Beobachtung über Lomechusa bei F. sanguinea sei hier noch erwaéhnt?+). Am Nachmittag des 21. Sep- tember 1898 hatte ich in der pseudogynenhaltigen sanguinea-Kolonie Nr. 191 bei Exaten (Holland) beim Ausgraben des Nestes 97 Lome- chusen gefunden. 12 derselben snumalen in eine weite Glasröhre gesetzt und diese mit einer der Öffnungen des Hauptnestes eines Wasmann-Nestes von sanguinea (mit rufibarbis als Sklaven) ver- bunden. Obwohl in dem Hauptneste damals eine Lomechusa gast- lich gepflegt wurde, gerieten doch die Ameisen über die plötzliche Ankunft einer so großen Zahl von neuen Lomechusa in feindliche Aufregung. Nicht bloß von rufibarbis, sondern auch von sanguinea wurden die Käfer — ganz gegen die sonstige Gewohnheit — an- fangs heftig mailen. Eine sanguinea und eine rufibarbis hielten sogar an der an imchrnssüime zwischen der Glasröhre und dem Hauptnest Wache und trieben jede Lomechusa zurück, die in das Hauptnest hineinlaufen wollte. Allmählich legte sich die Aufregung der Ameisen über diese Masseninvasion von Lomechusa. Nach 2 Stunden saßen die 12 neuen Lomechusa bereits im Hauptneste unter den Ameisen und wurden von diesen beleckt und gefüttert gleich der schon vorhandenen. Am Nachmittag des 22. September setzte ich abermals 12 neue Lomechusa (aus Kolonie 191) in das Glasrohr; diesmal wurden sie von den sanguinea sofort beleckt und auch von den rufibarbis nicht angegriffen. Letztere beteiligten sich auch an dem Transport der neuen Lomechusa in das Haupt- nest. Diesmal wurde also kein „Verfolgungsreflex* durch die plötzliche Ankunft einer gleichen Zahl derselben fremden Gäste ausgelöst. Die Ameisen sind eben keine bloßen „Reflexmaschinen“, sondern hatten durch die Erfahrungen des vorigen Tages ihre Handlungsweise gegenüber derselben Masseninvasion von Lomechusa bereits vollständig geändert. Am Nachmittag des 23. September waren noch 19 Lomechusa (im ganzen 116 Stück) in der Kolonie Nr. 191 gefangen worden; fünf derselben wurden in das Glasrohr des sunguined- rufibarbis-Nestes gesetzt, wo sie sofort aufgenommen und im Hauptneste gastlich gepflegt wurden. Es waren also jetzt 30 Lomechusa in diesem mehrere hundert Ameisen ent- haltenden Beobachtungsneste; bis zu meiner Abreise Anfang Ok- tober 1898 wurden alle 30 von den Ameisen fleißig beleckt und gefüttert. Aber während meiner Abwesenheit war ihre große Zahl den Ameisen lästig geworden. Bei meiner Rückkehr am 21. November fand ich 17 Leichen von Lomechusa im ausgetrockneten Vorneste liegen. Die Kifer waren, wie mein Stellvertreter direkt beobachtet 24) Kurz berichtet wurde über dieselbe bereits in den ,,Vergleichenden Studien über das Seelenleben der Ameisen“, 2. Aufl., 1900, S. 42. Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. 997 hatte, von den Ameisen aus dem Hauptneste gewaltsam heraus- geschleppt und in ein kleines leeres Fütterungsgläschen des Neben- nestes25) eingesperrt worden, dessen Öffnung die Ameisen dann mit Erde verstopften. Die leerehen der dort gestorbenen Lome- chusen wurden dann von den Ameisen hervorgeholt und ins Neben- nest gelegt. Am 23. November war eine 18. Leiche im Nebennest zu sehen; nur vier dieser toten Lomechusen waren teilweise ver- stümmelt oder ausgefressen, die übrigen unversehrt. Die anderen zwölf Lomechusa wurden ım Hauptneste von den Ameisen während des ganzen Winters sorgfältig beleckt und gefüttert. Diese sanguinea-rufibarbis hatten also von den 30 Lomechusen nur ungefähr ein Drittel behalten, die übrigen aber als lästige Schmarotzer vor die Türe gesetzt. Am 12. April 1899 wurde abermals eine Lomechusa von den Ameisen im leeren Fütterungsgläschen interniert und die Öffnung derselben mit Erde verschlossen. Die anderen 11 wurden weiter gepflegt. Dass die Ameisen, ebenso wie die höheren Tiere, die tatsäch- liche Vielheit von Individuen unmittelbar wahrnehmen können, steht außer Zweifel ?°); auch die Zunahme oder Abnahme einer be- stimmten Anzahl entgeht nicht ihrer Aufmerksamkeit. Bei dem sukzessiven Hinzusetzen einer größeren Zahl von Dinarda dentata vermochten die sanguinea und rufibarbis des ebenerwähnten Be- obachtungsnestes die tatsächliche Vermehrung einer geringen Menge sicher wahrzunehmen; denn die Verfolgung begann schon dann, wenn die dritte oder vierte Dinarda ıns Nest kam. Dass die Ameisen hierbei nach Art eines rechnenden Menschen addierten oder subtrahierten, also im menschlichen Sinne „zählten“, wird niemand behaupten wollen. Die unmittelbaren Sinneseindrücke der Ameisen und deren im Gedächtnis der Tiere haftende Sukzession und Kombination genügen vollständig zur Erklärung der Tatsachen, ohne dass wir eine „intelligente Überlegung“ nanen brauchen. Dasselbe gilt aber auch für ähnliche Berichte über das „Zählen“ bei höheren Tieren, z. B. für die Leroy’sche Geschichte von der Krähe, welche die Anzahl der auf sie lauernden Jäger gezählt haben soll. 25) Sowohl das Hauptnest wie das Nebennest dieses kombinierten Beobachtungs- nestes waren Lubbocknester. 26) Dies geht auch aus zahlreichen anderen Beobachtungen und Ver- suchen an Ameisen, z. B. aus manchen der von Lubbock (Ameisen, Bienen und Bere 1883) über das Mitteilungsvermögen der Ameisen angestellten Experimenten ervor, 298 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 2. Eine natürliche Adoptionskolonie exsecta-fusca und Versuche mit derselben. Inhalt. Unsere bisherige Kenntnis über die temporär gemischten exsecta- fusca-Kolonien. Wahrscheinlichkeit der regelmäßigen Koloniegründung von F’. exsecta mit fusca. Eine exsecta-fusca-Kolonie vom Stadium 3 bei Luxemburg. Einrichtung eines Beobachtungsnestes dieser Kolonie. Arbeitsteilung in derselben. Versuche über die internationalen Beziehungen einiger Ameisengäste. Dletaerius ferrugineus, Dinarda Märkeli, Atemeles emarginatus und paradoxus. Weitere Entwickelung dieser Versuchskolonie. Versuche mit der Aufzucht fremder Arbeiterpuppen. /’. exsecta behält (wie trumeicola) nach dem Aussterben der ursprünglichen Hilfsameisen noch die Neigung bei, neue Hilfsameisen derselben Art (fusea) zu erziehen. Natürliche gemischte Kolonien von Formica exsecta mit fusca sind bereits durch Forel bekannt geworden, der in seinem „Four- mis de la Suisse“ (1874, p. 371) drei „colonies mixtes naturelles anormales“ dieser Art erwähnt: eine von easecta i. sp., eine von der Var. rubens For.. und eine von der Var. exsecto-pressilabris For. Das richtige Verständnis dieser Funde, die auch ich früher für zufällige Formen gemischter Kolonien hielt?’), die aber in Wirk- lichkeit gesetzmäßige Formen zeitweilig gemischter Kolonien dar- stellen, wurde erst 1904 durch Wheeler’s Entdeckung der temporär gemischten consocians-fusca-Kolonien und durch meine Publikation über die Adoptionskolonien von truncicola mit fusca erschlossen °?). Wheeler hat damals schon darauf aufmerksam gemacht, dass bei den amerikanischen Forimica-Arten, deren Königinnen dem sozialen Parasitismus huldigen, die Weibchen meist auffallend klein sind. Demnach war auch für F. exsecta die Wahrscheinlichkeit vorhanden, dass ihre Königinnen nach dem Paarungsfluge sich in ein fusca-Nest aufnehmen lassen, um so die neuen Kolonien mit Hilfe fremder Arbeiterinnen zu gründen. Die Weibchen von exsecta (und ihrer Rasse pressilabris) sind nämlich weitaus die kleinsten unter allen einheimischen Formica- Arten. Sie messen (nach den Exemplaren meiner Sammlung aus verschiedenen Gegenden Mitteleuropas) nur 6,5—7 mm, während die normalen (makrogynen) fusca-Weibchen 8—9 mm erreichen. Aller- dings sind auch die Männchen von easecta (6—7 mm) und die Ar- beiterinnen (4,5 — 6,5 mm) viel kleiner als bei den übrigen Arten aus der Verwandtschaft von F. rufa. Während jedoch bei exsecta die obere Größenstufe der Arbeiterinnen jene von fusca und rufibarbis etwas übersteigt, bleibt jene der geflügelten Geschlechter weit unter derjenigen von fusca und rufibarbis, welche ihre Kolonien selb- ständig gründen. Die Vermutung lag also nahe, dass bei exsecta 27) Die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien der Ameisen, 1691, S. 1725. - 28) Siehe Wheeler, A new type of social parasitism among ants (Bull. Am. Mus. Nat. Hist. XX, 1904, p. 347—375); Wasmann, Ursprung und Entwickelung der Sklaverei bei den Ameisen (Biol. Centralbl. 1905), S. 125 ff. Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. 299 die Kleinheit der Weibchen mit sozialem Parasitismus zusammen- hänge. Die Kleinheit der Männchen würde dann als Korrelation zu deuten sein, ebenso vielleicht auch die Verkleinerung der Ar- beiterform. Auffallend ist ferner bei den exsecta-Weibchen ihre im Ver- gleich zu den Arbeiterinnen sehr dunkle, auf der Oberseite fast schwarze Färbung, die oft einen leichten Bronceschimmer besitzt. Dadurch erhalten die exsecta-Königinnen eine große Ähnlichkeit mit den kleinen (mikrogynen) Weibchen von fusca. Die obenerwähnten drei exsecta-fusca-Kolonien Forel’s ent- sprachen dem Stadium 3 der truncicola-fusca-Kolonien. Dass man bisher die früheren Stadien 1 und 2, wo die exsecta-Königin noch keine eigenen Arbeiterinnen bei sich hat, nicht kennt, dürfte großen- teils daran liegen, dass man eine exseeta-Königin unter den fusca- Arbeiterinnen außerordentlich leicht übersieht. Gegen die Wahrscheinlichkeit, dass F. exsecta ihre Kolonien regelmäßig mit fwsca-Hilfsameisen gründet, scheint der Umstand zu sprechen, dass exsecta manchmal sehr starke Kolonien mit vielen zu einer Kolonie gehörigen Nestern hat. Forel berichtete 1874 (p. 207) über eine solche Kolonie auf dem Mont Tendre, die über 200 Nester zählte. Hier ist den befruchteten Weibchen Gelegenheit geboten, neue Nester mit Hilfe von Arbeiterinnen der eigenen Kolonie zu gründen. Aber derartige Fälle dürften für exsecta zu den seltenen Ausnahmen gehören. Ich selbst habe niemals weder in Vorarlberg und Tirol noch ın Rheinland und Westfalen derartige Nestverbände von exsecta beobachten können. Die einzelnen Nester bildeten vielmehr fast immer ebensoviele einzelne Kolonien. Auf einem Bergabhang bei Linz am Rhein, wo ewsecta-Nester häufig waren, konnte ich am 7. bis 8. September 1901 feststellen, dass sogar Nester, die nur 3m voneinander entfernt lagen, verschiedenen, untereinander feindlichen Kolonien angehörten. Während bei F. rufa und pratensis Zweigkoloniebildung die Regel ist?) und des- halb auch die befruchteten Weibchen meist von Arbeiterinnen der eigenen Kolonie unterstützt werden, dürfte dies bei F. easecta nur eine Ausnahme darstellen. Bei ihr ist anzunehmen, dass die Königinnen ihre neuen Kolonien gewöhnlich mit Hilfe von fusca gründen, während diese Gründungsweise bei rufa und pratensis nur ausnahmsweise vorliegt. Bei Luxemburg-Stadt kenne ich bisher nur vier exsecta-Kolonien, von denen drei auf dem fusca-reichen Gebiete von Schötter-Marial liegen, aber weit voneinander entfernt. Unter diesen drei Kolonien gehört Kolonie 1 zum Stadium 5 (alte, volkreiche Kolonie), Kolonie 2 29) Siehe Ursprung und Entwickelung der Sklaverei (1905), S. 195ff. Vgl. auch oben §. 259. Usp 300 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. zum Stadium 4 (junge aber bereits einfache exsecta-Kolonie), Kolonie 3 endlich zum Stadium 3 (junge exsecta-fusca-Kolonie) ??). Die an dieser letzteren Kolonie 1906—08 angestellten Be- obachtungen und Versuche will ich hier nach den Tagebuch- notizen berichten. Am 9. Oktober 1906 wurde diese Kolonie entdeckt. Das Nest war noch ein reines Erdnest (von fusca-Bauart) unter Gras- büscheln. Bei der ersten Untersuchung sah ich ungefähr 150 exsecta- Arbeiterinnen, darunter noch viele frischentwickelte, unausgefärbte; ferner ca. 100 fusca-Arbeiterinnen, sämtlich alte, ziemlich große Individuen; außerdem etwa 100 Arbeiterkokons. Letztere ergaben später bei der Aufzucht nur exsecta, keine fusca. 60 Arbeiterinnen jeder Art und 80 Arbeiterkokons wurden für ein Lubbock-Nest mitgenommen. : Am 22. Oktober wurde das Nest ganz aufgegraben. Es erstreckte sich im Sandboden unter dem Rasen bis auf 0,75 m Tiefe. Sein Volkreichtum war auffallend groß: mit den schon am 9. Ok- tober fortgeholten Arbeiterinnen etwa 250—300 exsecta und gegen 400 fusca. Die fusca waren lauter alte, meist mittelgroße Indi- viduen, keine einzige unausgefärbte darunter. Die exsecta waren von normaler Größe (5—6 mm), darunter ca. 15°/, noch unausge- färbt, teilweise noch ganz frischentwickelt. Arbeiterkokons waren keine mehr da. Die exsecta-Königin saf in einem der tiefsten Nestgänge. Ihre Kleinheit und dunkle Färbung ließ sie mich im ersten Augenblick für eine mikrogyne fusca-Konigin halten. Eine fusca- Königin war sicher nicht in dem Neste, das bis auf den Grund untersucht wurde. Die große Zahl der fusca-Arbeiterinnen in dieser gemischten Kolonie deutet an, dass hier eine exsecta-Königin in einer starken f«sca-Kolonie Aufnahme gefunden hatte und an die Stelle der (schon vorher verstorbenen?) fusca-Königin getreten war. Da 1906 keine fusca-Kokons und auch keine frischentwickelten fusca mehr vorhanden waren, musste die fusca-Königin mindestens schon 1905 gestorben sein. Wahrscheinlich war sie bereits bei der Auf- nahme der exsecta-Königin 1903 nicht mehr am Leben; denn die alten fasca-Arbeiterinnen dieser Kolonie starben in meinem Be- obachtungsneste sämtlich im Sommer 1907, waren also 1906 bereits drei Jahre alt; ebenso alt muss auch diese exsecta-Kolonie 1906 ge- wesen sein. ; Sämtliche Ameisen des ausgegrabenen Nestes wurden mit Aus- nahme einiger Dutzend geflüchteter Arbeiterinnen in einem Fang- glase mit Erde mitgenommen. Zu Hause ließ ich sie durch eine Glasröhre ın das obenerwähnte Lubbock-Nest einwandern; dann er- weiterte ich die Einrichtung desselben durch ein Vornest, ein Ab- 30) Zur Kenntnis der Ameisen ete. von Luxemburg, III. Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 301 fallnest und einen Fütterungsapparat zu einem sogen. Wasmann- Neste (s. Fig. 2). | Arbeitsteilung. — Vom 9. bis 14. November wurde die Fou- rage in der gemischten Kolonie ausschließlich durch fusca be- sorgt. Sowohl der Fütterungsapparat als das Abfallnest wurde nur von fusca besucht. Diese allen waren es auch, welche die in das Abfallnest gesetzten Fliegen töteten und dann als Beute ın das Hauptnest schleppten. Erst ım Verlauf der Wintermonate be- teiligten sich auch die exsecta allmählich an der Verproviantierung des Nestes. Noch länger wurden die Wachtposten im Vorneste ausschließ- lich von fusca gestellt. Am 25. Febr. 1907 hatten die fwsea in den Kork, der das Vornest oben verschloss, eine Öffnung genagt und besuchten vereinzelt die Umgebung des Nestes. An der Öffnung Fig: 2: Versuchsnest exsecta-fusca. des Korkes saß konstant eine bestimmte fusca-Arbeiterin als Wacht- ‚posten 3). Erst am 5. März 1907 besuchten auch die exsecta an einem sonnigen Tage zahlreich das Vor- und das Abfallnest. Den fusca schien dies nicht zu behagen. Wiederholt sah ich, wie große fusca- Arbeiterinnen namentlich die im Abfallnest anwesenden exsecta durch die Verbindungsröhre in das Vornest und von da in das Hauptnest zurücktransportierten. 31) Dass in den gemischten Formica-Kolonien bestimmte Individuen bestimmter Arten der Kolonie die Wachtposten stellen, habe ich schon im März 1896 an einem Sanguinea-fusca-rufibarbis-pratensis-rufa-Neste festgestellt (Vergleichende Studien über das Seelenleben der Ameisen, 2. Aufl., 1900, S. 18). In demselben Beobach- tungsneste besuchte eine bestimmte rufibarbis-Arbeiterin konstant das Fütterungs- tohr zur Fourage für die Kolonie, so dass dieses Individuum schließlich mir den Honig vom Finger annahm (ebenda 8. 43). 302 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. Am 17. März erschienen die ersten Eierklumpen der Königin im Hauptneste. Nun begann ich einige Versuche über die internationalen Beziehungen der Ameisengäste. Am 4. April wurde ein Hetaerius ferrugineus*?) (bei F\. fusco- rufibarbis gefangen) in ein kleines Glasröhrchen (bei a) gesetzt, das eine der Offnungen des Hauptnestes verschloss. Er wurde von den exsecta-fusca friedlich geduldet, von den Ameisen beider Arten wiederholt beleckt, aber im ganzen wenig berücksichtigt. Am 10. Mai sah ich drei exsecta mit den Hetaerius beschäftigt, der ge- rade an einer toten fusca fraß. Sie hielten. ihre Köpfe dicht ge- drängt über dem Hetaerius und beleckten ihn bald gleichzeitig, bald abwechselnd. Am 15. April wurde eine Dinarda Märkeli (bei rufa gefangen) in jenes Glasröhrchen (bei a) gesetzt. Als sie in das Hauptnest hinüberlief, wurde sie von mehreren exsecta heftig angegriffen, ent- kam aber noch. Am folgenden Tage wurde ihr Kopf und Thorax von einer exsecta im Neste umhergetragen. Sie war zerrissen und teilweise aufgefressen worden. Am 15. und 23. Aprıl wurde je ein Atemeles emarginatus ın ein Beobachtungsglas mit Myrmica ruginodis gesetzt, bei der ıch sie gefangen hatte. Am 25. April wurde dieses Glas als Anhang- glas (bei a) durch eine Glasröhre mit dem Hauptneste verbunden. Die Myrmica wurde von den exsecta und fusca sofort heftig ange- griffen, ins Hauptnest hinübergeschleppt und dort getötet. Einen At. emarg. (Nr. 1) sah ich unterdessen an dem Korkpropfen des Anhangglases friedlich bei einer exsecta sitzen. Am 26. waren die Leichen von 17 Myrmica ım Hauptneste zusammengetragen. Am Kork des Anhangglases saß ein At. emarg. (Nr. 1), der gerade eine fusca zur Fütterung aufforderte und von ihr darauf nach Ameisenart (d. h. wie eine befreundete Ameise, nicht wie eine Larve) gefüttert wurde. Später saßen zwei fusca bei ihm; eine -suchte ihn an einem Fühler in das Hauptnest hinüberzuziehen, während die andere ihn- sanft beleckte. Der At. emarg. Nr. 2 war im Hauptneste von einer Gruppe von Ameisen (vier fusca und eine exsecta) umgeben, die ihn festhielten. Als ich sie auseinandertrieb, zeigte sich, dass der Käfer schon tot war. Am 27. April saß der At. emarg. Nr. 1 mit mehreren exsecta zusammen im Anhangglas, ebenso an den folgenden Tagen. Am 29. beobachtete ich eine anhaltende, 4—5 Minuten dauernde Beleckung des Atemeles durch eine exsecta. Hierauf wandte sich der Käfer zu ihr um und forderte sie durch Fühlerschläge und durch lebhaftes Streicheln ihrer Kopfseiten (mittelst der er- hobenen Vorderfüße) zur Fütterung auf. Die exsecta fütterte ıhn dann zweimal hintereinander, und zwar wie eine befreundete Ameise. 32) Bei Luxemburg fand ich ihn nie in exsecta-Nestern; wohl bei Linz a/Rh. i Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 303 So lange er im Anhangglas blieb, wurde er, und zwar jetzt vor- zugsweise von exsecta, gastlich gepflegt. Als er jedoch später in das Hauptnest (zu der Königin und der Ameisenbrut) hinüberging, wurde auch er dort getötet und zerrissen; der Angriff ging von den fusca aus wie beim Atemeles Nr. Zum Verständnis dieses Versuches sei auf die oben (S. 263) mitgeteilten Beobachtungen an der natürlichen Adoptionskolonie rufa-fusca (Nest I) verwiesen, wo nach Ankunft der rufa-Königin im Neste die gastliche Behandlung der Atemeles in eine feindliche sich verwandelte, während in dem Kontrollneste Il, wo keine Königin war, die Atemeles andauernd gepflegt wurden; und zwar waren es die fusca, welche die Atemeles emarginatus ım Neste I angriffen und töteten, obwohl fusca der normale Larvenwirt dieses Käfers ist. Ebenso ist auch das Ergebnis im obigen exsecta- fusca-Nest zu erklären°®). In freier Natur kommt Atemeles emar- ginatus bei exsecta nicht vor**). In meinen Beobachtungsnestern dagegen (aus reinen exsecta-Kolonien) wurde er ederhel, gastlich aufgenommen. Auch mit At. paradoxus wurden in dieser Kolonie mehrere Versuche gemacht zur Zeit, als zahlreiche Arbeiterlarven im Haupt- neste sich befanden und die Zahl der alten fusca schon stark ab- genommen hatte. Am 10. Mai ließ ch einen Tags vorher bei F. rufibarbis ge- fangenen At. paradorus in das Anhangglas (bei a) hineinlaufen, wo ge- rade drei exsecta sich aufhielten. Er verbarg sich sofort in der Erde, um Quarantäne zu halten (Beseitigung des fremden Nestgeruches und Annahme des neuen). Am 11. Mai lief er, von den exsecta nur wenig beachtet, im Anhangglase umher; als eine ihn mit den Kiefern zu be- fassen suchte, bog er den Vorderkörper in die Höhe und trillerte mit den Fühlern auf die hinter ihm stehende Ameise. Eine ihm begegnende fusca packte ihn an einem gelben Haarbüschel des Hinterleibes und zerrte heftig daran. Am 12. lag der Atemeles tot und teilweise ausgefressen im Hauptneste (wahrscheinlich durch fusca zerrissen). Am 13. Mai wurde ein neuer At. paradoxus (bei rufibarbis ge- fangen) in ein Isoliergläschen mit feuchter Erde gesetzt; nach einer Stunde wurde eine exsecta-Arbeiterin aus dem Beobachtungsneste 33) Ebenso erkläre ich mir jetzt auch die gewalttätige Behandlung von Atemeles emarginatus durch die fusca in einer truncicola-fusca-Kolonie (Kol. 2 meiner Statistik der hiesigen truneicola-Kolonien) im Frühling 1903, wo diese Kolonie (gleich den obigen rufa-fusca 1905 und exsecta- -fusca 1906) im Stadium 3 sich befand. Vgl. die diesbezüglichen Beobachtungen in „Ursprung und Entwickelung der Sklaverei“, Biol. Centralbl. 1905, S. 135—140. 34) Nur einmal wurde von Donisthorpe in England 1906 ein Exemplar bei dieser Ameise gefunden und mir zur Ansicht zugesandt. 304 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. ihm beigegeben, später noch zwei. Sie nahmen den Käfer ohne Feindseligkeiten auf und behandelten ihn bald als echten Gast. Am 24. Mai sah ich wiederholt seine Beleckung und Fütterung (nach Ameisenart) durch die exsecta. Am 25. Mai, also nach 12 Tagen, wurde der Atemeles samt den drei easecta in das Vornest des exsecta- fusca-Beobachtungsnestes gesetzt. Schon am Nachmittag sah ich seine Leiche im Hauptneste liegen. Er war also trotz seiner Auf- nahme durch die isolierten drei exsecta**) von den übrigen Ameisen getötet worden, wahrscheinlich durch die noch übrigen ca. 40 fusca in demselben. (Zur Erklärung vgl. oben die Schlussbemerkungen bei den Versuchen mit At. emarg.). Ich kehre nun zur Entwickelung der Versuchskolonie zurück. Aus den am 17. März 1907 erschienenen Eiern der Königin hatten sich am 9. Mai 150—200 Arbeiterlarven und 20 Arbeiter- kokons von exsecta entwickelt. Am 11. Mai waren schon 50—70 Arbeiterkokons vorhanden. Die Zahl der alten fusca war rasch am Abnehmen. Am 9. Mai zählte ich nur noch etwa 50 (gegen- über 150 exsecta-Arbeiterinnen). Nach längerer Abwesenheit nach Luxemburg zurückgekehrt fand ich am 12. Juli noch zwei fusca am Leben. Auch viele alte exsecta waren unterdessen gestorben, aber über 100 frischentwickelte vorhanden; die Gesamtzahl der exsecta-Arbeiterinnen betrug jetzt ca. 200. Am 21. August waren die letzten alten fusca tot. Die exsecta- Kolonie war hiermit eine einfache Kolonie geworden vom Sta- dium 4. Ich begann jetzt meine Versuche mit der Aufzucht fremder Arbeiterpuppen in dieser Kolonie. Am 21. August 1907 wurden gegen 800 Arbeiterkokons (und unbedeckte Arbeiterpuppen) von fusca, ferner 100 Arbeiterkokons von truncicola in das Abfallnest gegeben. 4 Stunden später waren die fremden Kokons noch nicht abgeholt. Acht fremde fusca, die mit jenen Kokons in das Abfallnest getan worden waren, hatten die fusca-Kokons aufgeschichtet und griffen die einzeln aus dem Hauptnest herüberkommenden exsecta heftig an. Am 23. August morgens waren durch die exsecta die sämtlichen fremden Kokons und Puppen ins Hauptnest gebracht und die acht alten fremden fusca getötet. Einige Kokons, vorwiegend truncicola, waren ge- öffnet, die Puppen herausgezogen und gefressen. Auch die unbe- deckten fusca-Puppen wurden großenteils gefressen. Doch sah ich bereits ein halbes Dutzend frischentwickelter fusca-Ar- beiterinnen friedlich unter den exsecta umherlaufen: ob sie aus den Kokons oder aus den unbedeckten Puppen stammten, ließ sich 35) Sogar bei der wilden F\. sanguinea gelang die Aufnahme von At. emar- ginatus und paradoxus wiederholt nach einem solchen Isolierungsverfahren, und zwar dauernd. Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. 305 hier nicht feststellen. Drei aus den Kokons gezogene junge trunci- cola wurden dagegen von den exsecta sofort getötet und teilweise aufgefressen. Am 24. August waren bereits 8—10 junge fusca, darunter mehrere bereits fast ausgefärbt, unter den exsecta zu sehen. Trunei- cola war keine einzige aufgezogen, sondern alle nach Öffnung der Kokons getötet worden. Die noch übrigen Kokons von truneicola wurden ebenso wie jene von fusca durch die exsecta gepflegt und lagen reinlich aufgeschichtet im Hauptneste. Unbedeckte Arbeiter- puppen von fusca waren jetzt keine mehr vorhanden. Am 27. August betrug die Zahl der fusca 20—25, trunei- cola keine einzige. Am 29. sah ich 40—50 fusca im Hauptnest, darunter schon einige ganz ausgefärbte; mehrere frischentwickelte truncicola lagen als halb zerfressene Leichen umher. Am 1. Sep- tember: 50—60 fusca; die ausgefärbten beteiligten sich bereits an der Pflege der übrigen Kokons; truncicola war keine aufge- zogen worden. Am 6. September: 70--80 fusca, keine trunei- cola. Am 12. September: über 100 fusca, keine truncicola, obwohl noch immer ein Dutzend truncicola-Kokons im Hauptneste gepflegt wurden. Am 16. September wurden 40 kleine Arbeiterkokons von pra- tensis ın das Abfallnest dieser Kolonie gegeben. Am 18. waren sie von den exsecta abgeholt und im Hauptneste aufgeschichtet. Ein großer Teil der Puppen war jedoch aus den Kokons gezogen und gefressen worden; von den frischentwickelten pratensis ließen die exsecta keine am Leben. An diesem Tage gab ich wieder ca. 60 Arbeiterkokons von pratensis ins Abfallnest. Am 20. waren sie abgeholt und lagen im Hauptneste. Viele Kokons waren geöffnet worden und die Puppen herausgezogen und gefressen; ebenso waren auch mehrere frischentwickelte pratensis herausgezogen und getötet worden. Am 21. September betrug die Zahl der fusca bereits ca. 150; keine einzige truncicola oder pratensis war erzogen worden. Am 21. Oktober 1907 hatte die exsecta-fusca-Kolonie dieses Beobachtungs- nestes folgenden Stand: Die exsecta-Königin, ca. 150—200 exsecta- Arbeiterinnen, 250—300 fusca-Arbeiterinnen, dagegen keine ein- zige truncicola oder pratensis-Arbeiterin! Dieses Ergebnis ist um so autfallender, da trancicola und pratensis mit exsecta weit näher verwandt sind als fusca. Eierklumpen oder Larven von der exsecta- Königin waren diesen Sommer und Herbst nicht mehr zu sehen. Im Abfallneste lagen die Leichen der aus den Kokons gezogenen und dann getöteten, frischentwickelten truncicola und pratensis in dichter Schicht übereinander. Es sei ausdrücklich bemerkt, dass ich unter den durch die exsecta getöteten jungen Ameisen niemals eine fusca sah; auch beobachtete ich nie eine Misshandlung der XXVIII. 20 306 Hatschek, Beantwortung der theoretischen Einwände Plate’s ete. jungen fusca durch die exsecta; sie wurden gerade so behandelt wie junge Arbeiterinnen der eigenen Kolonie. Aus diesen Versuchen ergibt sich als Schlussfolgerung: F. exsecta behält auch nach dem Aussterben der ursprüng- lichen Hilfsameisen (fusca) in ihrer Kolonie (im Stadium 4) noch die Neigung bei, neue Arbeiterinnen derselben Hilfs- ameisenart zu erziehen, gerade so wie es für die truncicola- Kolonien schon früher von mir gezeigt wurde**). Ob diese Neigung auch in alten (bereits mehr als sechsjährigen) exsecta-Kolonien fortbesteht, in denen keine durch fusca erzogene Arbeiterinnen mehr leben, muss erst durch Versuche festgestellt werden. Wahr- scheinlich verhält sich exsecta auch hierin ähnlich wie trunci- cola, bei welcher jene Neigung auch in alten Kolonien noch fort- besteht 3”). Im Frühjahr 1908 befand sich die exsecta-fusca-Kolonie jenes Beobachtungsnestes noch im obigen Bevölkerungsstand. Die ersten Eierklumpen der Königin erschienen am 15. Februar, die ersten jungen Larven am 23. März. (Fortsetzung folgt.) Beantwortung der theoretischen Einwände Plate’s gegen meine Vererbungstheorie. Von B. Hatschek in Wien. Polemik hat ihre endlichen Grenzen. Die Frage, ob meine Anschauungen von Plate sinngemäß und richtig referiert wurden, woran er noch immer festhält, oder ob dies nicht der Fall war, wie ich behauptete, wird für die Mit- und Nachwelt wohl nach den Worten, die hierüber gewechselt wurden, genugsam erledigt sein!). Ihre Erörterung musste aber, wie ich glaube, vorausgehen, und der Inhalt meiner Theorie musste aufs neue festgelegt werden, um überhaupt den sicheren Standpunkt für eine sachliche Erörterung wieder zu gewinnen. Diese ist es, welche den Inhalt der vorliegenden Abhandlung bildet. 36) Ursprung und Entwickelung der Sklaverei (1905), S. 167—168. 37) Die Versuche darüber folgen im dritten Abschnitte dieser Arbeit. 1) B. Hatschek, Hypothese der organischen Verrerbung. (Ein Vortrag, ge- halten auf der 77. Vers. d. Naturf. u. Arzte in Meran am 29. Sept. 1905.) Leipzig bei Engelmann 1905. Ludwig Plate, Hatschek’s neue Vererbungshypothese. Biol. Centralblatt (Festschrift für Rosenthal) 1906, p. 91-—100. B. Hatschek, Die Generatültheorie, Grundideen meiner Vererbungshypothese und deren Kritik durch Plate. Biol. Centralbl. 1907, p. 311—320. L. Plate, Weitere Bemerkungen zur Hatschek’schen Generatültheorie und zum Problem der Vererbung erworbener Eigenschaften. Biol. Centralblatt 1907, p. 638 —651. Hatschek, Beantwortung der theoretischen Einwände Plate’s ete. 307 Allerdings kann nicht unbemerkt bleiben, dass Plate zu seiner früheren irrtümlichen Auffassung meiner Theorie noch neue Irr- tümer hinzufügt, indem er mir immer wieder Anschauungen zu- schreibt, die mir fremd sind. Er sagt z. B. (diese Zeitschr. 1907, p- 640): „Diese Hatschek’sche Grundidee deckt sich mit der all- bekannten Auffassung, dass der Kern die Lebenstätigkeit beherrscht“ und er spricht auch (p. 647) von „der auch von Hatschek ange- nommenen Oberherrschaft des Kerns über die Lebenstätigkeit der Zelle“. Soll ich da immer wiederholen, dass dies nicht meine An- schauung ist, und dass bei mir von einer Herrschaft oder Oberherr- schaft des Kerns tiber die Lebenstitigkeit der Zelle nirgends die Rede ist, und dass ich vielmehr einer solchen Annahme prinzipiell gegenüberstehe, und dass ich die Funktion des Kerns ausdrücklich als eine genetische oder ,generative“ erkläre? In diesem Sinne ist auch Plate’s neuer Satz, nach welchem es meine Meinung sein soll, „dass die verschiedenen Atomgruppen des Keimplasmas im Verbande des Generatüls das Zellplasma beeinflussen“ ebenso falsch, als die frühere — von ihm selbst als „inkorrekt“ zurückgenommene — Behauptung, dass ich den Atom- sruppen der Kernsubstanz eine katalytische Wirkungsweise auf die Zellsubstanz zugeschrieben hätte. Denn gerade die Annahme einer direkten Einwirkung des Zellkerns auf das Zellplasma ist es, gegen welche meine Theorie sich wendet; der Kern beeinflusst nicht das vorhandene Plasma, sondern ist nur bestimmend für die Eigen- schaften des zukünftig entstehenden Plasmas. Aus den nachfolgenden Ausführungen wird hervorgehen, dass es sich bei Plate nicht etwa nur um eine ungenaue Ausdrucks- weise handelt, sondern dass der Sinn meiner Theorie von ihm miss- verstanden wurde. I. Die generative Funktion. Die Umwandlung der Kernsubstanz in Zellsub- stanz ist eine der ersten Voraussetzungen meiner Hypothese. Der wesentliche Teil der Kernsubstanz ıst nichts anderes als jugend- liche Zellsubstanz. Alle Zellsubstanz ist aus Kernsubstanz hervor- gegangen. Plate hält diese Annahme für „höchstunwahrscheinlich „; er meint: „Wenn eine solche Umwandlung der Kernsubstanz in Zytoplasma stattfände, so müsste sie doch durch Beobachtung festzustellen sein. Statt dessen sehen wir die wesentlichsten Kernbestandteile, die Chromosomen, stets scharf vom Zytoplasma abgesetzt und wir kennen keine Ubergangsstadien zwischen beiden* (diese Zeitschr. 1907, p. 640). Wir entgegnen, dass die Auswanderung von Teilchen aus dem Zellkern in den Zelleib sich vorläufig durch Beobachtung weder beweisen noch widerlegen lässt und daher eine hypothetisch zu- 20* 308 Hatschek, Beantwortung der theoretischen Einwände Plate’s ete. lässıge Annahme darstellt. Manche Tatsachen ließen sich hierfür geltend machen, sind aber auch einer anderen Deutung zugänglich, so z. B. die Kernlagerung an dem Orte reger Bildungsvorgänge innerhalb der Zelle. Nichts steht der Annahme entgegen, dass im stationären -—- sog. ruhenden — Zustande des Kernes, wo die Chromatinsubstanz in Form eines feinsten Ast- oder Netzwerkes insbesondere an der Kernoberfläche verteilt ist, womit auch schon rege Beziehungen zur Umgebung angedeutet erscheinen, Partikel- chen derselben durch die Kernmembran austreten, sei es vereinzelt oder ın Form feinster Fadenausläufer, die sich bisher unserer Beobachtung entzogen hätten. Diese Auswanderung wird von De Vries, Weismann, O. Hert- wig angenommen. Die weitergehende Vorstellung, dass alle Zellsub- stanz zu irgendeiner Zeit aus Kernsubstanz entstanden sei, wurde von De Vries (Intrazelluläre Pangenesis, Jena 1889, p. 196) aufgestellt, und O. Hertwig, der sich in seiner „Allgemeinen Biologie“ als neue Auflage von „Zelle und Gewebe“ noch deutlicher als früher hierüber ausspricht (p. 364), schließt sich ihm vollkommen an. Dies geschieht in einem vorwiegend der Zytologie gewidmeten Buche. Plate aber behauptet: „Diese Auffassung widerstreitet meines Erachtens allen zytologischen Erfahrungen“ (l. c. p. 640). Und trotzdem ich schon früher ausdrücklich erklärt hatte, es müsse angenommen werden, dass der Kern insbesondere in seiner Ernährung vom Zelleib ab- hängig und demnach für sich allein nicht existenzfähig sei (Vor- trag, p. 12, 13). fügt Plate zu seinem Ausspruche noch hinzu: „wenn der Kern im wesentlichen jugendliche Zellsubstanz ist und nur von einer Hülle älterer Zellsubstanz umgeben wird, dann müsste er doch für sich existenzfähig sein, was doch nicht der Fall ist“. Nun kommen wir aber zu dem von Plate mit der größten Bestimmtheit ausgesprochenen theoretischen Einwande Was hat diese Annahme — so fragt er — mit dem Vererbungsproblem an sich zu tun? „Ich antworte: gar nichts,“ ruft Plate aus, und er fährt fort: „Wichtig ist allem, dass die Kernsubstanz alias Generatül das Zellplasma (Ergatül) beherrscht in allen seinen Leistungen“... „Ob diese Kernsubstanz sich außerdem noch in Zytoplasma ver- wandelt oder nicht, ist für das Vererbungsproblem gleichgültig“ (cp 21640) Sollte dieser schwere Vorwurf der unzulänglichen Auffassung, welchen Plate hiermit dem Theoretiker macht, wirklich ernst zu nehmen sein? Oder ist er in diesem Falle nicht etwa nur auf den gewiss sehr löblichen Übereifer des Kritikers zurückzuführen? Jener Vorwurf würde sich auch gegen De Vries und O. Hert- wig richten, denn auch diese nehmen kein anderes Abhängigkeits- verhältnis der Zellsubstanz von der Kernsubstanz an als dasjenige der Entstehung der einen aus der anderen, und auch sie lehnen Hatschek, Beantwortung der theoretischer Einwände Plate’s etc, 309 die Idee ab, dass außerdem dynamische oder enzymatische Wir- kungen, die vom Zellkerne ausgehen, die Art der Tätigkeit des Zelleibes bestimmen oder beherrschen (De Vries, Pangenesis p. 169 ff., O. Hertwig, Allgemeine Biologie p. 363). Dies ist auch meine Ansicht. Von den Eigenschaften der Kern- substanz leiten sich jene der Zellsubstanz ab, und zwar in prin- zıpiell gleicher Weise wie von den Eigenschaften des Kindes jene des gereiften Mannes, zu welchem es heranwächst, sich ab- leiten. Die beiden Substanzen verhalten sich ähnlich zueinander wie im Körper der Vielzelligen die Fortpflanzungszellen zum Ge- samtkörper. Denn die Fortpflanzungszellen beherrschen nicht etwa die Eigenschaften des Gesamtkörpers, sondern sie enthalten die Bedingungen für die Eigenschaften der nächsten Generation. Eine ähnliche Arbeitsteilung, wie jene zwischen Fortpflanzungszellen und Körperzellen, wırd also schon innerhalb der Zelle angenommen, doch besteht sie hier in anderer Form; die zeugende Substanz tritt nicht aus der Zelle aus, um neue Zellen zu bilden, sondern inner- halb der Zellorganisation dient sie zum Ersatze, zur steten Er- neuerung der absterbenden Lebensteilchen. Schon innerhalb der Zelle bestünde also der Gegensatz von sog. „sterblichen“ und fortlebenden Teilen, der sich bei den Vielzelligen nochmals im großen wieder- holt und in manchen Fällen (z. B. Bienenstaat) eine dritte Stufe der Wiederholung erfährt. Hier liegt nun ein Unterschied vor zwischen meiner Annahme und derjenigen von De Vries und O. Hertwig. Während diese in herkömmlicher Weise auch der Zellsubstanz (z. B. bei den Ein- zelligen) eine unbegrenzte Wachstumsfähigkeit zuschreiben, meine ich, dass man konsequenterweise diese Fähigkeit als begrenzt an- nehmen muss, wenn man die vollkommene Abhängigkeit der Higen- schaften des Zelleibes durch die vom Zellkerne ausgehende Er- zeugung desselben erklären will. Die entgegengesetzte Anschauung, nämlich die Lehre von der Beherrschung der Zelleigenschaften durch Einflüsse, die vom Zell- kerne auf den Zelleib ausgeübt werden, ist überhaupt.als Erklärung für die Vererbung unhaltbar. Abgesehen von den großen Schwierig- keiten, welche der Durchführung dieser Idee sich entgegenstellen, sind auch prinzipielle Einwendungen dagegen zu erheben, welche sich auf das Verhältnis zwischen beherrschter und beherrschender Substanz beziehen. Die beherrschte Substanz müsste die Fähigkeit besitzen, auf die mannigfachen Einflüsse, die von der beherrschenden Substanz ausgehen, in bestimmter, mannigfacher Weise zu reagieren, sie müsste an jene angepasst sein und sich auch fortdauernd an sie anpassen. Das bedeutet, dass sie selbst in gleichem Schritte mit der anderen, der beherrschenden Substanz, sich phylogene- 310 Hatschek, Beantwortung der theoretischen Einwiinde Plate’s ete. tisch verändern und dass sie thre Veränderungen vererben könnte; es wären dann aber beide ın gleichem Maße für die Vererbung von Bedeutung. Von einigen Forschern wird geradezu von einer Symbiose von Kernsubstanz und Zellsubstanz gesprochen — ein Organismus, der angeblich für den anderen die Vererbung besorgt! Dies zeigt uns auch, wie sehr manche moderne Vererbungshypothesen den Begriff der Einheit der Organisation aufgegeben haben, ein Begriff, den wir durch die Erklärung des Kernes als Zeugungssubstanz zu retten suchen. Man kann den Kern entweder schlechtweg für ein Arbeits- organ der Zelle halten oder man kann ıhn als ıhr Vererbungsorgan erklären; letzteres ist aber nur möglich, wenn man ihm die genera- tive Funktion zuschreibt. II. Differenzierungstheorie. Differenzierung ist das Grundproblem der Entwickelung. Die Erklärung der Gestaltung ist eine sekundäre Frage, denn diese ıst bedingt durch die fortgesetzte Tätigkeit aller der ver- schiedenen Plasmasubstanzen, die während des ganzen Ganges der Entwickelung ın Erscheinung traten. Die große Mannigfaltigkeit von Plasmasubstanzen, die schon in einem einzelligen Organismus und noch vielmehr in dem Gesamt- körper eines vielzelligen Organismus vorhanden ist, und die zweifellos im Verlaufe der Entwickelung schrittweise sich steigert, wird von De Vries und O. Hertwig, welche ja auch die Entstehung des Zell- plasmas aus dem Kernplasma annehmen, dadurch erklärt, dass es schon im Kerne eine entsprechend große Mannigfaltigkeit von Kern- substanzen geben soll; und zwar ist dieselbe in allen Zellkernen des Gesamtkörpers vorhanden, nur jene Art von Kernsubstanz (oder jene Kombination von Kernsubstanzen) aber, dıe aus einem beson- deren Anlass aus dem Kerne irgendeiner Zelle auswandert und in Zellplasma sich verwandelt, bestimmt den Charakter derselben. Nach De,Vries und O. Hertwig kann sich eine Kernsubstanz nur in eine Art von Zellsubstanz umwandeln, diese ihre Reifung oder Umwandlung erfolgt nur in eindeutiger Weise. Wenn man aber die Annahme macht. dass sich die Kernsubstanz je nach der besonderen Veranlassung in verschiedener Weise umwandeln könne, dann wäre es nicht nötig, eine so große Mannigfaltigkeit von Kern- substanzen vorauszusetzen; es könnte eine geringere Anzahl, ja es könnte eine einzige Art von Kernsubstanz innerhalb eines Organis- mus angenommen werden. Und eben dieser Standpunkt ist es, welchen ich vertrete. Man wird die Frage aufstellen: Ist diese Anschauung möglich, ıst sie wahrscheinlicher, ist sie besser be- gründbar als jene andere? Hatschek, Beantwortung der theoretischen Einwände Plate’s ete. Sl Für die De Vries- OÖ. Hertwig’sche Theorie liegt wohl eine gewisse Schwierigkeit darin, jene Einrichtungen auszudenken, durch welche gerade der jeweils für die Zelle notwendige Kernbestandteil zum Auswandern aus dem Zellkern veranlasst würde. Die eigent- liche Schwäche der Theorie liegt aber in der Annahme einer großen Zahl latenter, d. ı. lebender aber nicht in Funktion gesetzter Teilchen — im Gegensatz zu der physiologisch näher liegenden Anschauung, dass alle vorhandenen lebenden Teilchen in ihrer spezifischen Weise sich stetig betätigen. Versuchen wir dagegen unsere eigene Vorstellung zu analy- sieren, welche ich mit den Worten zusammenfasste, dass der Diffe- renzierungsprozess auf einer stufenweise und in divergenten Rich- tungen erfolgenden chemischen Veränderung der Protoplasmamoleküle (Ergatüle) beruht. Aus der unmittelbaren Anschauung ergibt es sich, dass das Protoplasma seine Beschaffenheit ändert, dass diese Umwandlung eine stufenweise fortschreitende ist, dass dieselbe nicht in einer Richtung, sondern in divergenten Richtungen erfolgt. Das sind die Tatsachen, an welche die theoretische Erklärung sich möglichst enge anschließen sollte. Nach unserer theoretischen Anschauung soll die Differenzierung vom Zellplasma selbst ausgehen, die Kernsubstanz soll keinen an- deren Anteil an dem Differenzierungsprozesse haben als den, dass sie der erste Ausgangspunkt aller Entwickelungsreihen des Proto- plasmas ist. Von einem unmittelbar beherrschenden Einfluss der Kernsubstanz ist nicht die Rede. Gleichwohl kann die Kernsubstanz jederzeit in den Entwickelungsprozess eintreten, indem sie an das Protoplasma jeder Entwickelungsstufe sich direkt (chemisch) an- gliedern und in solches sich verwandeln kann, ein Vorgang, den wir durch eine besondere Hilfsannahme zu begründen versuchten (vgl. p. 9 meines Vortrages). Die Divergenz in der Weiterentwickelung ursprünglich gleich- artiger Plasmasubstanzen ist an den unterschiedlichen Anlass ge- knüpft — z. B. Vorhandensein von Dotterplättehen in den Ento- dermzellen, Mangel derselben in den Ektodermzellen —, der stets außerhalb des Biomoleküles gelegen sein muss, obwohl innere Ursachen, d. i. die Beschaffenheit des Plasmamoleküles selbst, für die Natur der beiderlei Umwandlungsprodukte von wesentlichster Bedeutung sind?). 2) Plate sagt (diese Zeitschr. 1906 p. 94): Als reiner Epigenetiker hätte er (Hat- schek) nur noch die weitere Konsequenz zu ziehen brauchen, dass alle diese che- mischen Umwandlungsreihen auf Kosten des Deutoplasmas geschehen und durch die äußeren Faktoren veranlasst werden, wie sie im Wechsel des Milieus und der Lage- beziehungen der Zellen zueinander zum Ausdruck gelangen. ‘Diesen Schluss zieht er jedoch nicht...“ Wenn etwa von diesen äußeren Umständen als Ursache der 312 Hatschek, Beantwortung der theoretischen Einwände Plate’s ete. Bei Weismann, der mit bewundernswerter Konsequenz ein entgegengesetztes Prinzip durchführt, beruht die Divergenz auf der gesetzmäßigen Entfaltung des Keimplasmas, und die veranlassenden Umstände spielen anscheinend keinerlei Rolle, bei ©. Hertwig wirken sie auslösend für die Aktivierung schon vorbereiteter Diffe- renzen (Auswanderung differenter Kernsubstanzen), in meiner Theorie wird denselben noch größere Bedeutung zugeschrieben, da sie direkt die divergente Veränderung der Plasmasubstanzen herbeiführen. Die Entfaltung der Lebenstätigkeit ist es, die selbst wieder diese Um- stände schafft; und auch die ersten Differenzierungsanlässe, die schon in der Eizelle vorliegen, sind auf bereits früher abgelaufene Lebensprozesse zurückzuführen. Die stetig sich steigernde Kompli- kation der Anlässe ist ein wesentlicher Teil des Entwickelungs- prozesses selbst. In meinem Vortrage hatte ich die Wirkungsweise dieser Diffe- renzierungsanlässe, die von verschiedenster, meist aber chemischer Natur sein werden, nicht weiter erörtert, um die Darstellung nicht zu komplizieren, da sonst schon bei der Differenzierungstheorie auch auf die Ergatintheorie hätte Bezug genommen werden müssen; doch will ich hier einige kurze Bemerkungen darüber machen. Man könnte sich vielleicht damit begnügen, auszusagen, dass alle funktionellen Reize, die auf das embryonale noch wandlungs- fahige Ergatül einwirken, zugleich auch Differenzierungsreize für dasselbe sind; Arbeitsprozess und Differenzierungsprozess würde bei denselben zusammenfallen. Während das differenzierte Ergatül aus der Arbeitsphase (Dissimilation — Assimilation) zu seinem ur- sprünglichen Zustande zurückkehrt, würde das zur weiteren Ab- änderung disponierte embryonale Molekül aus dieser Phase in ver- änderter Qualität hervorgehen, und je nach der Art des Reizes würde die Arbeitsleistung und auch die damit verbundene differen- zive Abänderung verschieden ausfallen. Es scheint mir aber, dass die Erklärung noch weiter gehen könnte. Die Wechselwirkung von Kern und Zellsubstanz durch Vermittlung der Ergatine müsste, wenn sie für die differenzierte Substanz Geltung hat, auch bei der embryonalen eine ähnliche Rolle spielen. So hatte ich schon in den allgemeinen Umrissen meiner Diffe- renzierungstheorie versucht, 1m Gegensatz zu anderen Theoretikern an dem so naheliegenden epigenetischen Prinzip festzuhalten, ein Versuch, der von Plate aufs heftigste bekämpft wird. Meine theo- Veränderung die Rede wäre, so hieße dies eine unberechtigte Forderung an das epigenetische Prinzip stellen, wird aber von denselben nur als Anlass gesprochen, so ist damit genau meine Ansicht wiedergegeben, die Plate mit Unrecht mir ab- spricht (Über „Anlass“ und „Ursache“ vergleiche man die Ausführungen von Bunge, Physiol. Chemie, p. 44). lee ea a Hatschek, Beantwortung der theoretischen Einwände Plate’s etc. 313 retischen Annahmen sollen erstens unmöglich und zweitens nicht epi- genetisch sein. Wiederholt erklärt er es nämlich für unmöglich, dass von einer Atomgruppe des Generatüls auf das Protoplasma eine spezifische Wirkung ausgeübt werde, ohne dass diese Atomgruppe aus dem Molekül austritt. Ich habe nun aber eine unmittelbare Einwirkung des Kerns auf das Protoplasma überhaupt gar nicht angenommen, und sein Einwand richtet sich keineswegs gegen meine Vorstellungen. Bei Plate liegt immer wieder derselbe Irrtum vor, dass er mir eine Idee zuschreibt, von welcher er selbst sich nicht losmachen kann. Auch alle seine Auseinandersetzungen über angebliche kata- lytische Wirkungen des Kernes beruhen auf eben demselben Irrtum. Plate selbst kennzeichnet das Wesen einer epigenetischen Differenzierungstheorie mit folgenden Worten: „Der präformistischen oder deterministischen Auffassung gegenüber steht die epigenetische, welche zwar auch eine komplizierte atomistische Architektur der Vererbungssubstanz annimmt, aber diese doch stets in ıhrer Ge- samtheit wirken und sich verändern lässt. Bezeichnen wir die ver- schiedenen Atomgruppen des Keimplasmas mit a, b, ec, ...z, so würde nach der epigenetischen Vorstellung das ganze Alphabet als eine Einheit anzusehen sein, die sich im Laufe der Ontogenie gesetzmäßig verändert durch Aufnahme und Abgabe von Stoffen.“ Dieser Plate’sche Satz ist zweifellos seinem Sinne nach einem Hatschek’schen Satze entlehnt, den Plate selbst zwei Seiten vorher zitiert und welcher lautet: „Es ist daran zu erinnern, dass die gesamte Komplikation des Generatüls in alle von ihm ableit- baren Ergatüle übergeht und dass nicht etwa eine Auseinander- legung der verschiedenen Teile des Moleküls oder ein zeitweilig aktiver und inaktiver Zustand des einen oder des anderen Teiles zur Erklärung der Differenzierungen des Körpers in Anspruch ge- nommen wird.“ Ob meine Theorie dieser selbstgestellten und von Plate freundlichst übereinstimmend formulierten Forderung genügt oder nicht, das wird wohl leicht zu entscheiden sein. II. Ergatintheorie. Die Ergatintheorie, welche zunächst die Vererbung funktio- neller Abänderungen erklären will, zerfällt in zwei Teile. Erstens versucht sie eine neue Erklärung für eine feststehende Tatsache, nämlich für die funktionellen Anpassungen am Individuum selbst, und zweitens für eine nicht streng nachweisbare, aber sehr wahrscheinliche Tatsache, nämlich die abgeschwächte Wieder- holung jener Anpassungen in der nächsten Generation durch entsprechende Veränderung der Keimzellen. Die funktionelle Selbstanpassung besteht darin, dass durch Übung oder Betätigung jedes Organ bis in seine kleinsten 314 Hatschek, Beantwortung der theoretischen Einwände Plate’s etc. Teile der Funktion entsprechend quantitativ und qualıtativ ver- bessert wird. Man hat früher versucht, dies physiologisch durch erhöhte Blut- oder Stoffzufuhr zu erklären. An Stelle dieser unzu- länglichen Erklärung setzte Roux die Lehre von der Überkompen- sation der arbeitenden Substanz, indem ihre erhöhte Arbeit zugleich mit erhöhter Stoffaufnahme und infolgedessen mit Molekülvermehrung verbunden sein soll. Da ich das Wachstum der Arbeitssubstanz (Zellsubstanz) für ein indirektes — durch Angliederung von Wachstumssubstanz (Kern- substanz) erfolgendes — halte, so muss von mir auch jene Steige- rung des Wachstums als ein indirekter Vorgang erklärt werden, der darin besteht, dass bei erhöhter Arbeitsleistung der Zellsubstanz auch die Kernsubstanz erhöht funktioniert und zahlreichere Mole- küle an die Zellsubstanz abgibt. Zu dieser erhöhten Tätigkeit wird sie durch eine regulatorische Einrichtung veranlasst, indem die Arbeitssubstanz bei dem Arbeitsprozesse eigentümliche Stoffe, „Ergatine“ genannt, in den Zellsaft absondert, welche von der Kernsubstanz gebunden werden und dadurch auf dieselbe wirken, und zwar als Wachstumsreiz (besonders bei erhöhter Ab- sonderung) und auch qualitativ (im Falle sie selbst qualitativ ab- geändert sind). Die Dreigliederung des Vorganges ist also folgende: 1. Der funktionelle Reiz wirkt auf die Arbeitssubstanz. 2. Von der Ar- beitssubstanz ausgehende Reize wirken sodann auf die Wachstums- substanz und es erfolgt gesteigerte Vermehrung oder auch qualitative Veränderung derselben und 3. erfolgt durch deren Angliederung auch eine solche der Arbeitssubstanzen. Plate macht gegen diesen ersten Teil der Ergatintheorie zwei Einwendungen. Erster Einwand: „Diese Auffassung erscheint mir (Plate) nicht haltbar, denn sie widerspricht der auch von Hatschek ange- nommenen Ansicht von der Oberherrschaft des Kerns (Generatüls)“ (l. c. 1907, p. 647). Als Antwort darauf würde der wiederholte Hinweis genügen, dass diese ,Oberherrschaft“ eben nicht meine Ansicht, sondern dass gerade die Bekämpfung dieses Prinzips meiner Theorie eigentümlich ist. Die differenzierten Zellen des Körpers zeichnen sich durch ihre spezifische Energie aus, d. h. durch die besondere Empfindlichkeit für den bestimmten Reiz und die darauf- folgende bestimmte Arbeitsleistung; auf den Nervenreiz antwortet die Muskelzelle mit Kontraktion, die Drüsenzelle mit Sekretion, die Sinneszelle der Retina aber antwortet auf den Lichtreiz mit der Erregung eines Nervenreizes, der durch die Nervenbahn fortgeleitet wird u. s. w. Das Protoplasma der differenzierten Zelle, nicht aber ihr Kern ist es nun, in welchem sich die besonderen Strukturen ausgebildet finden, welche dieser besonderen Reizbarkeit und dieser Hatschek, Beantwortung der theoretischen Einwände Plate’s etc. 315 besonderen Arbeitsleistung dienen (Muskelfibrillen, Drüsenkörnchen, Sinnesstibchen etc.). Im Falle, dass der funktionelle Reiz durch das Nervensystem der Zelle zugeführt wird (Muskelzelle, Drüsen- zelle), zeigen die Nervenendigungen stets deutliche Beziehungen zu den funktionellen Strukturen des Zelleibes, während solche zum Zellkerne fehlen. — Wenn wir nach unserer Theorie in dem Kern die Zeugungssubstanz der Zelle erblicken, so ist es auch folgerichtig, nicht dieser, sondern der Arbeitssubstanz die spezifische Reizbar- keit zuzuschreiben, und ihre eigene Reizbarkeit durch die Arbeits- substanz wird im Sinne jener regulatorischen Zusammenhänge zu betrachten sein, wie solche in immer ausgedehnterer Weise im Organismus nachgewiesen werden und zweifellos auch zwischen Zelleib und Zellkern bestehen. Zweiter Einwand: „Es ist nicht einzusehen, warum das Ergatül, wenn es auf den Außenreiz selbständig mit der Bildung eines Ergatins reagieren kann, nicht auch sofort selbständig die Neubildung zu bewirken vermag“ (l. c. p. 647). Antwort: Die Ergatine sind als ein Teil der Dissimilationsprodukte zu betrachten und ihre Bildung ist daher mit dem Arbeitsvorgang selbst gegeben. Dagegen ist die Molekülvermehrung der Ergatüle jedenfalls ein späterer Vorgang, der in dem Dissimilationsvorgang selbst nicht enthalten ist. Es ist ein Vorgang, den Roux als Überkompensation von Atomgruppen, ich dagegen als neue Angliederung von gene- rativen Molekülen erkläre. Die Frage Plate’s sollte also eigent- lich Jauten, wozu brauchen wir überhaupt die Annahme von Genera- tülen, und sie ist dann identisch mit der Grundfrage nach dem Vorhandensein einer Vererbungssubstanz überhaupt, die schon vorher genugsam erörtert worden ist. Es freut mich zu finden, dass das Prinzip der regulatorischen Beziehungen zwischen Zellkern und Zelleib in seiner Anwendung auf die funktionelle Selbstanpassung im allgemeinen genommen Plate’s Beifall gefunden zu haben scheint, denn er entwickelt nun auch seine Ideen darüber, welche allerdings von den meinen sehr abweichen, und die ich als Beispiel einer unphysiologischen Denkweise ohne jede kritische Bemerkung (von mir ist nur das Merkzeichen (?) und (!) in der dritten Zeile) zitieren will. Plate sagt: „Hinsichtlich der Grundanschauungen differiere ich nun etwas von Hatschek.“ ... „Ich.gehe von der wohl allgemein akzeptierten (?) Ansicht aus, dass der Kern die physiologischen (!) Leistungen der Zelle beherrscht. Daraus folgt, dass wenn eine Zelle durch einen von außen kommenden Reiz zu Neubildungen oder veränderten Lebenserscheinungen gezwungen wird, dieser Reiz zunächst auf den Kern einwirken muss, und dass dann erst infolge dieser Kernbeeinflussung die Reaktion des Zellplasmas eintritt. In der Sprache der Determinantenlehre heisst dies: der Außenreiz 316 Hatschek, Beantwortung der theoretischen Einwände Plate’s ete. wirkt zuerst auf die im Kern befindliche Determinante der Zelle und diese zwingt das Zytoplasma zu veränderter Tätigkeit und ruft so die sichtbare Neubildung hervor. Gehen wır weiter davon aus, dass in allen oder wenigstens in den meisten Kernen sich das ganze Keimplasma, also der gesamte Determinantenkomplex befindet, so bleibt zu erklären, warum der auf eine Zelle wirkende Außen- reiz immer die zu dieser Zelle resp. zu diesem Gewebe gehörige Determinante beeinflusst und nicht etwa eine oder mehrere von ganz anderen Gewebssorten. Da liegt die Annahme nahe, dass die zugehörige Determinante sich in ihrer Zelle stets in einem besonders empfindlichen und aktiven, alle übrigen Determinanten sich in einem mehr oder weniger passiven, inaktiven Zustande befinden“ (l. c. p. 467). Der zweite Teil der Ergatintheorie, welcher die funktionelle Erbanpassung betrifft, geht von folgenden Voraussetzungen aus: Die Ergatine besitzen einen spezifischen Charakter, entsprechend den spezifischen Zellen resp. den spezifischen Ergatülen, von welchen aus sie entstehen. Vermöge ihrer Spezifität verbinden sich die Ergatine mit je einem anderen spezifischen Atomkomplex des Generatüls, an welches sie herantreten. Alle spezifischen Ergatine gelangen mit dem Saft und Blut- strome auch zu anderen Zellen und auch so zu den Fortpflanzungs- zellen. Im Zellkerne derselben bewirken sie Veränderungen, welche adäquat sind den ım Kerne der spezifischen eigenen Zellen von ihnen bewirkten Veränderungen. Diese Veränderungen sind die Ursache der Wiederholung derselben Anpassungen, die an den spezi- fischen Zellen des Individuums auftraten, an den entsprechenden Zellen der nächsten Generation. Gerade solche Eigenschaften, wie wir sie hier für die Ergatine angenommen haben, sind von der modernen Immunitätsforschung für die eiweißartigen Gifte, die Toxine, und ebenso für die im Organismus erzeugten Antitoxine (sowie auch für andere Antıkörper) experimentell nachgewiesen worden. Eine ungeheure Arbeitsleistung, die in Tausenden von Publikationen niedergelegt ist, hat uns die hundertfältigen verschiedenen Antitoxine und die ebenso mannig- faltigen Hämolysine, Agglutinine und Präcipitine als eiweibartige Stoffe, die im Organismus entstehen, kennen gelehrt, die sich alle durch die wunderbare Spezifität ihrer Herkunft und ihrer Wirkung auszeichnen. Mit dieser Eigenschaft hängt es zusammen, dass sie nebeneinander im Blute transportiert werden können, ohne sich zu beeinflussen, denn sie wirken nur auf bestimmte Substanzen (eben auf jene, durch welche ıhr Auftreten veranlasst wurde) und zu welchen ıhr Chemismus passen muss, „wie der Schlüssel zum Schlosse“. An diese Forschungen, die unsere Vorstellungen vom Wesen der lebenden Substanzen in ungeahnter Weise zu modi- Hatschek, Beantwortung der theoretischen Einwände Plate’s etc. ET fizieren und zu erweitern geeignet sind, wagte ich bei der Annahme der Ergatine anzuknüpfen und damit die Vererbungstheorie auf einen Weg zu verweisen, der mir zweifellos zum Ziele zu führen scheint. Was soll man nun angesichts dieser ganzen, durch zwei Jahr- zehnte schon sich erstreckenden Literatur zu den folgenden, dem dritten und vierten Plate’schen Einwande, die sich auf den zweiten Teil der Ergatintheorie beziehen, sagen? Dritter Einwand (,Haupteinwand“!). ... „dass solche chemische Plasmaprodukte doch kaum unverändert bis zu den Kernen der Keimzellen durch das Blut und die Körpersäfte transportiert werden können, um hier die adäquate Veränderung derselben Atom- bezirke zu bewirken, wenigstens nicht, wenn eine größere Zahl von Geweben sich gleichzeitig verändert“ (I. c. p. 648). „Wie soll man es verstehen, dass alle die Hunderte oder Tausende von Ergatinen, welche von den verschiedenen Ergatülen produziert werden und sich in derselben Blutflüssigkeit befinden, unverändert nebeneinander bestehen bleiben und sich nicht gegenseitig umsetzen. So viele Gedanken, so viele Fragezeichen!“ (Diese Zeitschrift 1906, p. 99). „Das scheint mir eine unmögliche Annahme zu sein, die allen der- artigen, schon mehrfach von Hatschek geäußerten Ansichten einer Übertragung der erworbenen Eigenschaft durch chemische Reizstoffe auf dem Wege der Blutbahnen den Boden entzieht“ (l. e. p. 648). Vierter Einwand: „Endlich sehe ich ein schwerwiegendes Bedenken darın, dass Hatschek uns nicht verständlich macht, warum das Ergatın immer ın erster Linie auf den seinem Ergatül entsprechenden Atombezirk des Generatüls einwirkt und nicht etwa auf irgendwelche andere Bezirke“ (l.c. p. 648). Die Kenntnis der Immunitätsforschung hätte Plate vor solchen Einwänden bewahrt, die längst durch Tatsachen widerlegt sind. Er beruft sich aber auch auf die Chemie im engeren Sinne, indem er sagt: „Einen solchen Satz, dass nur ähnlich strukturierte Körper aufeinander wirken, kennt die Chemie nicht.“ Plate vergisst hier wohl an die zahllosen Erscheinungen, die unter dem Begriff der Polymerisation zusammengefasst werden. Er schließt mit dem lapi- daren Satze: „Diese vier Bedenken machen meines Erachtens die Hatschek’sche Vorstellung von Ergatinen unmöglich.“ Ich legte besonderen Wert auf die Vorstellung, dass nach meiner Theorie die funktionelle Erbanpassung auf eine gleichsinnige Ab- änderung der Generatüle zurückzuführen ist, die in den Körper- zellen und in den Keimzellen sich annähernd gleichzeitig und voneinander unabhängig ergibt, hervorgerufen durch die gleiche Ur- sache, die von den ergastischen Substanzen des Körpers ausgeht. Dadurch soll das schon von Weismann betonte Prinzip der „korre- Spondierenden“ (oder adäquaten) Abänderung eine ungeahnt aus- 318 Hatschek, Beantwortung der theoretischen Einwände Plates ete. gedehnte neue Anwendung — und zwar im Sinne der Lamarck’- schen Theorie — finden. Plate verkennt diesen klaren Zusammenhang, indem er den von mir angenommenen Vorgang als eine Übertragung somatischer Abänderungen durch chemische Reizleitung bezeichnet. Er will denselben auch ganz unrichtigerweise mit dem von Nägeli ange- nommenen Prozess vergleichen, wonach eine Veränderung, die an irgendeiner Stelle des Körpers im Idioplasma auftritt, sich durch Reizleitung auf das gesamte Idioplasmanetz des Körpers fortsetzt; und er will ihn mit Unrecht in Gegensatz bringen zu der Ver- änderung durch „Simultanreize* (= „korrespondierende Abänderung“ Weismann). „In beiden Fällen“ — so sagt Plate — „handelt es sich um eine gleichsinnige Veränderung homologer Determinanten, aber bei den Simultanreizen sind diese Veränderungen voneinander unabhängig und werden bewirkt durch die gleiche Ursache, während bei den Leitungsreizen die somatische Veränderung zum genitalen Keimplasma weitergeleitet wird“ (I. ec. p. 649). Wenn Plate den Transport der Ergatine durch den Blut- oder Saftstrom als eine chemische Reizleitung bezeichnet, so bedeutet dies eine vollkommene Verkennung dieses Begriffes. — Der Reiz, der ein Sinnesorgan trifft, wird in Erregung umgesetzt, die in dem Nerven fortgeleitet wird; die Erregung ist nach den neueren physio- logischen Anschauungen eine chemische Wandlung der Nerven- substanz, die sich von Stelle zu Stelle längs der Fibrille fortpflanzt. Die Reizleitung oder, präziser ausgedrückt, die Erregungsleitung, könnte demnach ganz allgemein als eine chemische bezeichnet werden. Der Transport der Ergatine, die als Reiz auf die Ergatüle wirken sollen, ist aber weder eine Reizleitung noch auch eine che- mische Reizleitung — ebensowenig wie etwa der Transport der Riechstoffe durch die Luft zu den Riechzellen hin, oder die Fort- pflanzung des Schalles oder Lichtes eine Reizleitung ist. Diese Reizstoffe werden von den Ergatülen gleichzeitig zu den Generatülen der eigenen Zelle und zu jenen der Genitalzellen entsendet, und es liegt nicht eine Einwirkung der einen Generatüle auf die anderen vor; es ist dies vielmehr eine „parallele Induktion“ nach der Aus- drucksweise von Detto. Es handelt sich hier aber nicht um „Außen- reize“. In der Herkunft dieser Reize (wenn wir sie überhaupt so nennen wollen) von den Arbeitssubstanzen liegt ihre Bedeutung für die funktionelle Vererbung, und darin liegt der Unterschied gegenüber der Theorie der simultanen Außenreize. Direkte Einwirkung von Reizen auf die Generatüle ohne Ver- mittlung der Ergatüle (Plate)*) wird wohl wenig bedeutsam 3) L. Plate, Über die Bedeutung des Darwin’schen Selektionsprinzips, 2. Aufl. Leipzig bei Engelmann, 1903, p. 82, sowie diese Zeitschr. 1907, 1. c., p. 649. Hatschek, Beantwortung der theoretischen Einwände Plate’s etc. 319 sein, da jenen die intensivere spezifische Reizempfindlichkeit fehlt. Selbst in dem Beispiel der Kältewirkung könnte die intensivere Einwirkung auf den Zelleib, gefolgt von entsprechenden Stoffwechsel- vorgängen und Ergatinbildung, die Zwischenrolle spielen. Nebst der funktionellen, bestimmt gerichteten, Abänderung ist auch die variative, „richtungslose“, anzuerkennen; ich bin geneigt, die letztgenannte Abänderung der Generatüle als eine indirekte Folge der ersteren zu betrachten, vielleicht unter vermittelnder Einwirkung der Amphimixis. Bei der Erklärung irgendeiner Abänderung ist vor allem zu fragen, ob sie eine funktio- nelle oder eine variative ist. Die Ergatintheorie ist noch in vieler Beziehung zu vervoll- ständigen. Insbesondere ist noch das Lokalisationsproblem zu er- örtern, d. i. die Erbabänderung eines bestimmten Muskels, eines bestimmten Knochenteiles; es bleibt noch das „Lokalzeichen“ zu erklären, welches den Ergatinen eigentümlich ist. Besondere Hilfs- annahmen sind hier unerlässlich! Dies ist näherliegend und wich- tiger als auf Einzelfragen einzugehen, die z. T. auf Scheinprobleme zurückzuführen sind, wie z. B. die Plate’schen Fragen: Warum kann man durch Bluttransfusion nicht weiße Kaninchen in schwarze verwandeln? Warum sind Blattgallen nicht vererbbar? etc. Plate erklärt am Schlusse seiner letzten Besprechung: „Die Generatültheorie ist abzulehnen, denn die Ergatine sind nicht geeignet zur Übertragung einer somatischen Erwerbung auf die Keimzellen.“ Die Art der Schlussfolgerung von Plate ist irrrig, schon deshalb, weil er damit verkennt, dass den einzelnen Teilen meiner Theorie eine gewisse Selbständigkeit zukommt, die für die richtige Auf- fassung derselben sehr wesentlich ist. Man kann die generative Funktion des Zellkerns annehmen, ohne der Differenzierungs- und der Ergatintheorie zu folgen. Das ist der Standpunkt von De Vries und O. Hertwig, und vielleicht steht auch Weismann demselben nicht so fern, als man glauben möchte. Man könnte auch die generative Theorie mit der Differen- zierungstheorie verbinden, ohne die Ergatintheorie anzuerkennen — indem man etwa die funktionelle Erbabänderung leugnet und nur die variative annimmt. Man könnte aber auch umgekehrt die Ergatintheorie aner- kennen, ohne die Differenzierungstheorie zu billigen; sie könnte nämlich ganz wohl der De Vries-O. Hertwig’schen, ja sogar der Weismann’schen Lehre angegliedert werden, welcher letzteren sie eine Brücke zur Annahme des Lamarck’schen Prinzips bietet. Endlich könnte die Ergatintheorie sogar Geltung haben, wenn man überhaupt keine besondere Vererbungssubstanz annimmt, wenn man also dem Kern keine generative Funktion, sondern irgendeine 390 Erklärung. Arbeitsfunktion innerhalb der Zelle zuschreibt. Die Ergatine, welche in diesem Falle nur den regulatorischen Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Arbeitssubstanzen der Zelle zu dienen hätten, könnten ganz wohl zugleich auch auf jene in den Fortpflanzungszellen wirken — ein Standpunkt, wie ihn etwa Rabl*) einnimmt. Die Theorie ist aber deshalb in ihrem ganzen Umfange aufrecht zu halten, weil sie zurzeit den Tatsachen am besten Rechnung trägt — und zwar unter Berücksichtigung folgender Gründe: 1. Nur die generative Funktion kann zur Erklärung einer be- sonderen Vererbungssubstanz dienen, welche man mit Recht auf Grund der Befruchtungsphänomene im Zellkerne annimmt. 2. Eine epigenetische Differenzierungstheorie entspricht besser als eine präformistische den physiologischen Vorstellungen. 3. Die Identität der Selbstanpassung und Erbanpassung ist am besten aus parallelen Wirkungen zu erklären, die von den funktio- nellen Substanzen ausgehend gleichzeitig die generative Substanz der Körperteile und jene der Fortpflanzungszellen treffen. Hierzu erscheinen nach den neueren physiologischen Erfahrungen eiweiß- artige, in den Blut- oder Saftstrom gelangende Substanzen geeignet, die entsprechend ihrer spezifischen Herkunft eine spezifische Wir- kungsweise besitzen. Erklärung. Herr Herbert Havıland Field ersucht uns um die Erklärung, dass er mit der im Eingang seiner Anzeige der Festschrift für Edward Laurens Mark (Biol. Centralbl. 1907, S. 730) enthaltenen Bemerkung über die geringe Verbreitung, welche derartige Fest- schriften zu finden pflegen, durchaus nicht hat sagen wollen, dass diese Festschrift vollkommen unbeachtet geblieben sei. Insbesondere soll hiermit gern festgestellt werden, dass von jener Schrift auch an anderen Stellen, insbesondere in den Berichten der Zoologischen | Station zu Neapel, Kenntnis genommen ist. Die Redaktion unseres Blattes hat keinen Anstand genommen, die Bemerkung des Herrn Field abzudrucken, da sie ja nur eine allgemein anerkannte Tat- sache feststellt, ohne dass damit einem anderen Organ ein Vorwurf gemacht worden wäre. Unser Blatt, das nicht den Anspruch er- hebt, Vollständigkeit auf referierendem Gebiet zu bieten, sondern | nur gelegentlich seine Leser auf hervorragende Erscheinungen der | Literatur aufmerksam machen will, ist natürlich weit davon entfernt, | die Verdienste anderer auf diesem Gebiete verkleinern zu wollen. | 4) C. Rabl, Uber die züchtende Wirkung funktioneller Reize. Leipzig bei! Engelmann 1904. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Der Militärarzt. Ein Ratgeber bei der Berufswahl für einjährig-freiwillige Ärzte, Studierende der Medizin, und Abiturienten von Stabsarzt Dr. Lobedank. M. 1.50. Das Kleinhirn. Neue Studien zur normalen und pathologischen Physiologie Von Prof. Dr. L. Luciani Deutsch von Dr. MW. ©. Fraenkel. Mit 48 Abbildungen. M. 10.—. Die Vorstufen des Lebens. Von _ Prof. Dr. L. Luciani. (S.-Abdruck a. d. Biologischen Centralblatt). M. 1.—. Mikroskopische Untersuchungen der Fäces. Ihre Bedeutung und ihre Anwendung in der ärztlichen Praxis. Von Dr. Ricardo Lynch (Buenos Ayres). M. 1.20. K. B. Hof- und Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. m \Y\» 0 q = oe é Bad LE Biologisches Centralbiatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Fostanstalten. XXVIII. Bd. 15. Mai 1908. Ne 10. + Leipzig. Verlag von Georg Thieme. Rabensteinplatz 2. Reg.-Bez. Breslau. a ll 0W2 Bahnst. Kudowa oder Nachod. " 400m über dem Meeresspiegel. Saison: Vom 1. Mai bis Oktober. Arsen-Eisenquelle: Gegen Herz-, Blut-, Nerven- und Frauenkrankheiten. Lithionguelle: Gegen Gicht, Nieren- und Blasenleiden. Natürliche Kohlensäure- und Moorbäder. Neu erbohrte, ausserordentlich kohlensäurehaltige und ergiebige Quelle. Komf. Kurhotel. Theater- u. Konzertsäle. Anstalt für Hydro-, Elektro- u. Licht- Therapie. Medico-mechanisches Institut. Hochwasserleitung u. Kanalisation. Badeärzte: Geh. Sanitäts-Rat Dr. Jacob, Dr. Herrmann, Dr. Karfunkel, Dr. Witte, Privat- Dozent Dr. Ruge, Sanitäts-Rat Dr. Kuhn, Dr. Silbermann, Dr. Münzer, Dr. Brodzki, Dr. Hirsch, Dr. Loebinger, Dr. Kabierschke, Dr. Bloch, Dr. Schnabel, Zahnarzt Dr. Wolfes. Brunnen-Versand durch die Generalvertretung Dr. S. Landsberg, Berlin SW., Gitschiner- strasse 107, Telephon Amt IV 1048, und die Bade-Direktion Kudowa. Prospekte gratis durch sämtliche Reisebüros, RUDOLF MOSSE und A Die Bade-Direktion. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Medizin und Coe Vortrag gehalten in der Berliner Medizinischen Gesellschaft am 18. März 1908 von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. W. His, Berlin. ug ann J Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in Miinchen, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beitrage aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. Bd. XXVIII. 15. Mai 1908. Ne 10. Inhalt: Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus und der Sklaverei bei den Ameisen (Fortsetzung). — Nüsslin, Zur Biologie der Gattung Chermes. — Trojan, Das Leuchten der Schlangensterne. Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus und der Sklaverei bei den Ameisen. (Zugleich 162. Beitrag zur Kenntnis der Myrmekophilen.) Von E. Wasmann S. J. (Luxemburg). (Fortsetzung.) 3. Versuche über die Aufzucht fremder Arbeiterpuppen durch Formica truncicola. Inhalt: a) Versuche mit künstlichen Beobachtungsnestern. Erster Versuch: mit einer jungen (vierjährigen) Kolonie. Zweite und dritte Versuchsreihe: mit alten (6—10jährigen) Kolonien. Ergebnis: £. truncicola behält auch in ihren alten Kolo- nien die Neigung bei, Arbeiterinnen von fusca zu erziehen. — Auswanderung der Kolonie und freiwillige Rückwanderung in ein Lubbock-Nest. Sezession der fusca aus der gemischten Kolonie. Nachzucht von geflügelten Weibchen aus den Eiern der verstorbenen Königin; keine Pseudogynenerziehung aus kümmerlich ernährten Weibchenlarven. b) Versuche mit Nestern in freier Natur; bisher ergebnislos. Vergleichsversuche mit #. exsecta; positives Ergebnis in einer jnngen Kolonie. Vergleichsversuche mit rufa und pratensis; Ergebnis negativ. Schlussfolgerungen. Die hier zu lösende Frage war: welchen Einfluss hat die Grün- dung der truncicola-Kolonien, die regelmäßig mit Hilfe von fusca- Arbeiterinnen erfolgt, auf das Verhalten der truneicola-Arbeiterinnen gegenüber den Arbeiterkokons von F. fusca? Auf die Bedeutung dieses Problems für die Entwickelung der Sklaverei werden wir unten zurückkommen. a) Versuche mit künstlichen Beobachtungsnestern. Erste Versuchsreihe. — Dieselbe wurde angestellt im Früh- ling und Sommer 1904 mit der trumneicola-Kolonie Nr. 2 (von Luxem- XXVIII. 21 392 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. burg), nachdem dieselbe in meinem Beobachtungsneste das Stadıum 3 erreicht hatte, wo sie nach dem Tode der ursprünglichen Hilfs- ameisen ( gem eine einfache ¢runcicola-Kolonie geworden war. Über diese Versuche ist bereits im Biol. Centralbl. 1905 (Ursprung und Entwickelung der Sklaverei), S. 165—168 näher berichtet worden. Ich gebe daher hier nur kurz die Ergebnisse wieder. Männliche Puppen von F. sanguinea wurden nicht adoptiert, sondern aus den Kokons gezogen und gefressen. Arbeiterkokons von sanguinea wurden adoptiert und einige frischentwickelte Arbeiterinnen aus den Kokons gezogen, aber sofort von den truncicola wieder getötet. Arbeiterkokons von rufibarbis wurden in Menge adoptiert, auch wurden manche aus ıhnen entwickelte Arbeiterinnen noch mehrere Tage im Neste geduldet, dann aber während des Ausfärbungs- prozesses sämtlich getötet; keine einzige wurde als ausgefärbte Ar- beiterin am Leben gelassen. Dagegen wurde von zahlreichen Ar- beiterkokons der F. fusca eine beträchtliche Anzahl Arbeiterinnen endgültig als Hilfsameisen aufgezogen und vollkommen adoptiert. Hiermit begann das Stadium 6 (sekundär gemischte Kolonie) dieser truncicola-Kolonie. Um festzustellen, ob auch alte (sechs- oder mehrjährige) truncicola-Kolonien, in denen keine durch die ursprünglichen Hilfs- ameisen erzogene truncicola-Arbeiterinnen mehr am Leben sind, die Neigung zur Aufzucht von fusca-Arbeiterinnen beibe- halten, wurden folgende weitere Versuche gemacht: Zweiter Versuch. — Am 11. September 1905 wurde ein Dutzend truncicola-Arbeiterinnen aus einer mindestens sechsjährigen Kolonie bei Luxemburg (Kol. Nr. 5 der Statistik) mitgenommen und ihnen zwei Dutzend Arbeiterkokons von fusca in einem Be- obachtungsglase zur Erziehung gegeben. Die truncicola waren jedoch zu wenig zahlreich und zeigten keine Lust, sich ein Nest einzurichten. Sie gingen samt den Kokons bald zugrunde. Dritte Versuchsreihe (Frühling und Sommer 1906). — Am 11. August 1904 hatte ich bei Derenbach im Ösling eine starke truncicola-Kolonie (vom Stadium 5) gefunden, deren Nest an und in der Seitenmauer einer email war. Von dem alten Nest ging damals ein volkreicher Arbeiterzug zu dem 54 m entfernten neuen Neste in derselben Mauer. Die Kolonie muss damals schon wenigstens achtjährig gewesen sein, da sie mehrere tausend Ar- beiterinnen zählte, darunter 30—40°/, große. Am 23. Mai 1906, als die Kolonie etwa zehnjährig war (oder älter), wurde das Nest, das unter Schieferstücken ın der Erde an der Mauer sich befand und mehrere kleine Pflanzenhaufen über den Nesteingängen zeigte, großenteils ausgegraben**). “Die Königin, 38) Als Gäste fanden sich Loelaps laevis, Nicoletia albinos und eine Lipura sp. Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. 393 einige kleine Larven und mehrere hundert Arbeiterinnen verschie- dener Größenstufen wurden mitgenommen und zu Hause in ein Lubbock-Nest tibergesiedelt**). . Der Hinterleib der Königin war sehr umfangreich; sie begaun auch sofort, Eier in Menge zu legen. Am 1. Juni wurde die Nesteinrichtung mit zwei Glasgefäßen, die als Vor- und Obernest dienten, verbunden (Wasmann-Nest, vgl. Fig. 3). Am 5. Juni waren bereits zwei größere Ameisenlarven vorhanden, die in den letzten Tagen rapid gewachsen waren; sonst sah ich nur Eierklumpen. Am 17. Juni waren außer Eierklumpen und vielen jungen Arbeiterlarven mehrere 5—6 mm lange Larven und ein großer Arbeiterkokon zu sehen. Am 18. Juni gab ich 20 Ar- beiterkokons von fusca in das Obernest. Eine kleine dort anwesende truncicola-Arbeiterin begann sofort, sie eilig in das Hauptnest hinabzutragen. Mehrere große Fig. 3 truncicola, die herzukamen, folgten ihrem Bei- spiel. Am 19. Juni wurden abermals 30 Ar- beiterkokons von fusca ins Obernest gelegt. Einige derselben wurden im Hauptneste von den truncicola geöffnet und die Puppen ge- fressen, die übrigen adoptiert. Am 26. Juni kamen wieder 60 neue /usca-Arbeiterkokons ins Obernest. Am 27. waren wenigstens 50 fusca-Kokons im Hauptneste bei den eigenen truncicola-Kokons aufgeschichtet. Am 30. Juni wurden abermals ca. 50 fausca-Arbeiterkokons und 100 rufa-Arbeiter- kokons ins Obernest gegeben. Sie wurden eifrig abgeholt, aber den größten Teil der rufa-Kokons fand ich in den folgenden Tagen geöffnet und die Puppen gefressen, während die meisten fusca- Kokons adoptiert wurden. Am 3. Juli lag eine Menge fusca-Kokons bei den eigenen Kokons aufgeschichtet. Eierklumpen, Larven und Kokons waren im Hauptneste sorgfältig voneinander geschieden untergebracht; aber zwischen den eigenen Arbeiterkokons und den adoptierten wurde kein Unterschied gemacht. Die Königin fuhr noch am 6. Juli fort Eier zu legen (fortwährend seit drei Monaten). Gegen 100 fusca-Kokons waren adoptiert, von den rufa-Kokons 39) Die Versuche, die ich an diesem Neste mit Lomechusa und ihren Larven, mit Hetaerius u. s. w. anstellte, sollen anderswo berichtet werden. 21* 394 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. waren die meisten zur Nahrung verwandt worden. Am 11. Juli wurden wieder etwa 400 fusca-Arbeiterkokons und unbedeckte Ar- beiterpuppen in das Obernest getan. An diesem Tage sah ich die erste frischentwickelte Arbeiterin im Hauptneste. Es war eine große Arbeiterin von rufa oder von truncicola (an der Färbung noch nicht unterscheidbar). Am 12. Juli waren bereits drei frischentwickelte fusca-Arbeiterinnen vorhanden, die von den truncicola sorgfältig beleckt wurden. Am 14. war ihre Zahl schon größer, einige bereits der Ausfärbung nahe. Die vermeintliche große rufa sah ich nicht mehr (wahrscheinlich von den truncicola getötet). Am 16. betrug die Zahl der fusca 12; bei drei frischentwickelten großen Arbeiterinnen ließ sich noch nicht entscheiden, ob es rufa oder truncicola seien. Am 17. Juli: über 20 fusca und 4—-5 große frischentwickelte Arbeiterinnen (rufa oder truncicola). Am 19. Juli: Zahl der fusca 30-—40, viele schon aus- gefärbt. Kein einzigesmal sah ich, dass eine der fusca von den truncicola misshandelt oder getötet worden wäre. Unter den großen Arbeiterinnen, die sich seither entwickelt hatten, war jetzt die Mehrzahl an der Kopffärbung bestimmt als fruncicola zu erkennen; nur 5—-7 schienen noch nicht ausgefärbte rufa zu sein. An diesem Tage gab ich 50 Arbeiterkokons von rufibarbis ins Obernest; sie wurden längere Zeit nicht abgeholt. Am 20. Juli waren 50 fusca und 6—7 wahrscheinliche rufa unter den neuen Arbeiterinnen ver- treten, die übrigen truncicola. Am 21. Juli wurden wieder 100 fusca-Arbeiterkokons und un- bedeckte fusca-Arbeiterpuppen, ferner etwa 300 Arbeiterkokons von pratensis ins Obernest gelegt. Am 22. waren die fremden Kokons großenteils adoptiert und bei den eigenen Kokons im Hauptneste aufgeschichtet, aber vorwiegend jene von fusca. Viele pratensis- Kokons dagegen waren geöffnet, an den Puppen sah ich truncicola und fusca gemeinsam fressen; auch eine ganz junge pratensis- Arbeiterin wurde von ihnen aufgezehrt. Die Zahl der fusca-Ar- beiterinnen ım Hauptnest betrug bereits ungefähr 100, jene der rufa, die jetzt an der Kopffärbung erkennbar waren, nur 6—7, lauter große Individuen. An diesem Tage wurden wieder 50 Ar- beiterkokons und einige Männchenkokons von rufibarbis in das Ober- nest getan, ferner 100 Arbeiterkokons von Lastus niger. Sogar letztere wurden von den truncicola großenteils ins Hauptnest ge- tragen und vorübergehend adoptiert; später wurden sie fortgeworfen oder die Puppen gefressen. Am 23. Juli zählte ich ca. 150 Ar- beiterinnen von fusca, darunter die Hälfte schon ausgefärbt, ferner sichere rufa 4—5, zweifelhafte rufa (bezw. truncicola) 15—20, sichere truncicola ungefähr 50 unter den in den letzten Wochen entwickelten Arbeiterinnen. Am 25. Juli legte ich in das Obernest 50 Arbeiterkokons von Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 395 wy Camponotus ligniperda und 50 große Arbeiterkokons von F. sanguinea, die ich am Tage vorher von Hohscheid (in Osling) mitgebracht hatte. Drei im Obernest anwesende truncicola kümmerten sich anfangs wenig um die fremden Kokons und betasteten sie nur prüfend mit den Fühlern; bald aber begannen sie dieselben zu putzen. Nach einer Viertelstunde war eine Masse trwncicola oben erschienen und begann den Transport der Kokons. Am Nachmittag wurden noch 50 exsecta-Arbeiterkokons ins Obernest gelegt. Am 26. Juli waren die exsecta-Kokons ins Hauptnest gebracht und dort aufgestapelt; ebenso ein Teil der sanguinea-Kokons; dagegen sah ich dort keinen Camponotus-Kokon. Letztere waren in das als Abfallstätte dienende Vornest geworfen, wo auch die meisten Kokons von Lasius niger lagen. Am 26. Juli 1906 waren folgende Arbeiterinnen seit Ende Mai in diesem Versuchsneste endgültig aufgezogen worden: truncicola 80—100 (aus den Eiern der eigenen Königin); fusca 250—300; rufa (ausgefärbte) 20; pratensis (ausgefärbte) 3; ca. 30 wahrscheinliche rufa und 2 wahrscheinliche pratensis waren wegen mangelhafter Ausfärbung noch nicht sicher erkennbar. Ich musste nun für längere Zeit verreisen und unterdessen gedieh das Beobachtungsnest schlecht. Wegen Schimmelbildung wurde das früher als Hauptnest dienende Lubbock-Nest von meinem Kollegen H. Schmitz durch ein Gipsnest (Janet-Nest) ersetzt *°), in welches die Ameisen umzogen. Durch den Kork, der das Vornest oben verschloss (Fig. 3), hatten die Ameisen ein Loch genagt und manche truncicola hatten sich im Zimmer zerstreut. Als ich an- fangs September 1906 zurückkehrte, fand ich die Königin noch im Hauptneste vor, aber keine Eier, Larven oder Puppen. Die noch anwesenden Arbeiterinnen waren: 40—50 truncicola (die übrigen gestorben oder entwichen); ca. 600 fusca und 200 pratensis und 30—40 rufa. Das Hauptnest sah ganz schwarz aus durch die Masse der fusca und pra- tensis! Da während meiner Abwesenheit keine neuen Kokons in das Nest gegeben worden waren, müssen die fremden Arbeiterinnen aus den im Juni und Juli adoptierten Kokons erzogen worden sein. Folgendes war also das Resultat dieser Versuchsreihe: Es waren dieser truncicola-Kolonie von Mitte Juni bis Ende Juli gegeben worden Arbeiterkokons von folgenden Arten: FP, fusca ca. 660, rufibarbis 100, rufa 100, pratensis 300, exsecta 50, sanguinea 50, Camponotus ligniperda 50, Lasius niger 100. Unter diesen wurden schon als Puppen fortgeworfen: Camp. hgniperda und Lasius niger. ; 40) In Lubbock-Nestern tritt iibrigens Schimmelbildung weniger leicht ein als in Gipsnestern. 326 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. Als Puppen adoptiert, aber nicht aufgezogen wurden: Formica rufibarbis, sanguinea und ewsecta. Definitiv aufgezogen wurden: F. fusca (ungefähr 1°/,,, also fast alle Puppen); F. pratensis (ungefähr ?/, der gegebenen Puppen); F. rufa (ungefähr !/, der gegebenen Puppen). Dieses Ergebnis lässt sich folgendermaßen ausdrücken: Außer den Arbeiterinnen der eigenen Rasse wurden nur jene Arbeiterinnen erzogen, welche zur ehemaligen Hilfs- ameisenart oder zu fremden Rassen der eigenen Art ge- hörten; und zwar wurde von den Arbeiterpuppen der Hilfsameisenart ein bedeutend höherer Prozentsatz (über 90°/,) erzogen, als von den viel näher mit truncicola ver- wandten Rassen der eigenen Art (50—70°/,). Hieraus scheint mir zu folgen, dass F. truncicola auch in ihren alten selbständigen Kolonien noch eine ausge- sprochene Neigung besitzt, die Puppen derjenigen For- mica-Art zu erziehen, mit deren Hilfe ihre Kolonien ge- gründet werden. Das erwähnte truncicola-Nest bot im September 1906 ganz den Anblick eines sanguinea-Nestes, in welchem dreierlei verschiedene Sklaven erzogen worden waren. Nur ist bei sanguinea die Ampli- tude der Sklavenzucht eine noch größere, indem (in Beobachtungs- nestern) Arbeiterinnen sämtlicher Formica-Arten von ihr erzogen werden (vorzugsweise allerdings auch hier diejenigen der nor- malen Hilfsameisenarten !), während Zrumcicolaaußer der primären Hilfs- ameisenart nur noch zwei mit trauncicola nahe verwandte Rassen erzog. Ich füge hier aus den stenographischen Tagebuchnotizen noch die weiteren Schicksale dieser künstlich gemischten truncicola-fusca- pratensis-rufa-Kolonie bei. Am 17. September 1906 fiel mir auf, dass die truncicola-Königin dunkler aussah als ım Frühjahr und Sommer. Mein Kollege K. Frank bestätigte diese Wahrnehmung, die nicht rein subjektiv sein konnte. Welchen Einfluss die dunklere Färbung ihrer jetzigen Nestgenossen auf die Königin haben konnte, ist allerdings nicht ersichtlich; vielleicht hing die Erscheinung mit dem höheren Alter und der verminderten Fruchtbarkeit der Kénigin zusammen. Um die Zahl der truncicola im Neste zu vermehren, wurden am 19. Sep- tember 12 Arbeiterkokons (aus Kol. 9 der Statistik) in das Ober- nest gegeben. Schon nach zwei Stunden wurden einige frisch- entwickelte Arbeiterinnen (noch weißlichgelb) aus den Kokons gezogen. Am 20. September waren jedoch vier dieser jungen truncicola aufgefressen worden und nur noch als Chitinreste übrig. Wahrscheinlich war es durch die fusca oder pratensis geschehen. Mangel an Insektennahrung herrschte nicht, da die Ameisen reich- lich mit Schmeißfliegen gefüttert wurden. Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 3927 Während des Winters 1906—1907 erhielt sich die Kolonie im alten Stand. Am 21. Februar 1907 habe ich folgende Beobach- tungen notiert, die für die Einrichtung künstlicher Beobachtungs- nester von Interesse sind. Als ich am 21. Februar das Nest revi- dierte, sah ich im Hauptneste nur ein paar Ameisen und einen Hetaerius, an einer Schmeißfliege fressend. Auch im Vorneste waren die Ameisen nicht zu sehen. Bei näherer Untersuchung zeigte sich, dass sie ein großes Loch in den Korkpfropfen des Vor- nestes genagt hatten und, da es ıhnen im Janet-Neste nicht gefiel, samt der Königin ausgezogen waren. Nach längerem Suchen ent- deckte ich am Rande des Brettes, auf welchem das Nest auf dem Tische stand, eine dichte Anhäufung von Flausen, die offenbar aus den Ritzen des Tisches stammten. Die Ameisen hatten sich unter dem durch die Feuchtigkeit etwas aufgewölbten Brette nieder- gelassen und den offenen Bogen dann mit jenem eigenartigen Nest- material (etwa eine Handvoll Flausen) verstopft. Ich setzte ihnen hierauf ein teilweise mit frischer Erde gefülltes Lubbock-Nest (mit drei Öffnungen im Rahmen) neben das Brett, um sie wieder ein- zufangen. Am nächsten Morgen (22. Februar) war die ganze Kolonie — einige Dutzend im Zimmer zerstreuter Ameisen abge- rechnet — samt der Königin in das Lubbock-Nest einge- wandert. Das Janet-Nest dagegen war auch von den letzten Ameisen, die am 21. noch dort- gewesen waren, verlassen. Vor einer der Öffnungen des Lubbock-Nestes hielt eine große rufa kon- stant Wache*!). Auch am 23. Februar blieben beide Nester offen (d. h. die seitlichen Zugänge geöffnet, die obere Glasscheibe blieb bedeckt) auf dem Tische stehen; das Janet-Nest blieb verlassen. Unter dem Brett saßen noch etwa 50 fusca; vor einem der Ein- gänge des Lubbock-Nestes hielten sich eine truncicola und zwei rufa auf. Ich schloss nun die Öffnungen des Lubbock-Nestes, fing die noch draußen befindlichen Ameisen und ließ sie in das Lubbock-Nest einwandern. Dasselbe wurde am 24. Februar wieder als Hauptnest an die Stelle des Janet-Nestes gesetzt und mit dem Vorneste verbunden (vgl. die Abbildg. Fig. 3 S. 323). Am 17. März waren die ersten Eierklumpen der Königin in dem Hauptneste zu sehen*?). Am 21. März hatten die Ameisen wiederum ein Loch in den Kork des Vornestes genagt. Etwa 150— 200 fusca waren unter das Brett gezogen, auf welchem das 41) Über die Arbeitsteilung in den gemischten Formica-Kolonien siehe eine Reihe von Versuchen in meiner Schrift „Vergleichende Studien über das Seelen- leben der Ameisen“, 2. Aufl., 1900, S. 17—18. 42) Auch in neun anderen Beobachtungsnestern von Formica-Arten erschienen die Eierklumpen 1907 erst Mitte März; 1906 dagegen erschienen sie in meinen Polyergus-Nestern schon am 2. Februar, in meinen Formica-Nestern Anfang Januar bis Mitte Februar. Die Zimmertemperatur war in beiden Jahren dieselbe (ca. 15° C.). 328 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. Nest stand; nur sehr wenige Individuen der übrigen Arten waren ihnen gefolgt. Ich stellte hierauf ein neues Lubbock-Nest, nach- dem ich Zucker in dasselbe gestreut, unter das Brett. Am 23. wanderten die fusca in dieses Nest ein. Besonders eine große fusca war eifrig beschäftigt, eine Gefährtin nach der anderen im Maule aufgerollt hineinzutragen; sie holte dieselben sogar aus den umliegenden Ritzen des Tisches. Am 23. morgens saßen im Lubbock- Nest 150—200 fusca, sechs truncicola und zwei pratensis; andere Ameisen waren draußen nicht mehr zu sehen. Ich verband daher das neue Nest durch eine Glasröhre mit dem Hauptnest und ließ die Ameisen in das letztere hinüberwandern. Diese Sezession vom 21. März war offenbar von den fusca ausgegangen. Auf ähnliche Weise können möglicherweise auch natürliche truncicola-fusca- Kolonien thre fusca verlieren, wenn den trumncicola das ursprüng- liche fwsca-Nest nicht mehr behagt, während den fusca das von den truncicola beim Nestwechsel gewählte neue Nest nicht zusagt. Aller- dings glaube ich, dass in freier Natur die trencicola-fusca-Kolonien gewöhnlich durch das Aussterben der ursprünglichen Hilfsameisen, nicht durch Sezession der fusca, zu einfachen Kolonien werden). Am 25. April 1907 war die truncicola-Königin gestorben. Ihre Leiche wurde von den Arbeiterinnen noch am 9. Mai umhergetragen und beleckt. Es waren noch zahlreiche Eierklumpen, aber keine jungen Larven, ım Hauptneste zu sehen; aus diesen Eiern wären wahrscheinlich, wenn die Königin nicht gestorben wäre, Arbeiterinnen erzogen worden wie im Vorjahre. Am 21. Mai waren jedoch neben den Eiern bereits eine Anzahl großer (bis 6 mm langer) Larven von Geschlechtstieren zu sehen, aber keine Arbeiterlarven. Am 12. Juli waren die Eier verschwunden; an Stelle der großen Larven sah ich jetzt große Kokons; sonst war keine Brut im Neste. Am 26. Juli wurde das erste Weibchen aus dem Kokon gezogen. Am 30. Juli waren vier junge Weibchen vorhanden. Die Ameisen hatten also nach dem Tode der Königin aus den befruchteten Eiern Weibchen statt Arbeiterinnen erzogen. Da jedoch keine Männchen aus parthenogenetischen Eiern erzogen worden waren (die Ameisen hatten schließlich in dem vernachlässigten Neste alle Eier aufgefressen), fand ich am 29. Juli die jungen Weibchen ge- tötet und ins Vornest hinausgeworfen. Am 18. September wurde das Beobachtungsnest ausgeräumt und die noch lebenden Arbeite- rinnen in Freiheit gesetzt. Die letzterwähnten Beobachtungen scheinen mir in zweierlei Beziehung bemerkenswert. Erstens wegen der Nachzucht von Weib- chen nach dem Tode der Königin (Instinktregulation im Sinne der 43) Über eine Kolonie sanguinea-fusca-pratensis (Nr. 247) bei Exaten, welche durch zeitweilige Sezession der sanguinea-fusca sich spaltete, habe ich bereits früher | berichtet (Ursprung u. Entwickelung der Sklaverei, Biol. Centralbl. 1905, S. 255— 261). | \ Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. 399 organischen Regulationen von Driesch). Zweitens, weil trotz des Nahrungsmangels in dem vernachlässigten Beobachtungsneste die noch übrigen weiblichen Larven zu echten Weibchen und nicht zu Pseudogynen erzogen wurden. Wenn, wie Wheeler“) neuerdings vermutungsweise ausgesprochen hat, mangelhafte Ernährung der Weibchenlarven zur Entstehung von Pseudogynen führen würde, so hätte man hier wohl Pseudogynen erwarten dürfen. b) Versuche mit Nestern in freier Natur. Die letzterwähnte alte truncicola-Kolonie benahm sich in meinem Beobachtungsneste fast ganz wie eine sklavenhaltende sanguinea- Kolonie. Sie bot im Sommer 1906 durch die Aufzucht einer großen Menge sekundärer Hilfsameisen, die zum weitaus größten Teil ihrer primären Hilfsameisenart (fusca) angehörten, das Bild einer sanguinea- Kolonie, der man Arbeiterpuppen fremder Arten ın einem Be- obachtungsneste gegeben hat. Nur war der Umkreis der erzogenen fremden Arten kleiner als bei sanguinea; denn es wurden außer den fusca nur Arbeiterinnen der mit Zruncicola nächstverwandten Rassen (rufa und pratensis erzogen). Lässt sich dieses Ergebnis auch auf die Verhältnisse in freier Natur anwenden? Erster Versuch (am 25. Juli 1906 mit Kolonie Nr. 13 der Luxemburger truncicola-Statistik angestellt). — An diesem Tage wurden über 1000 Arbeiterkokons und unbedeckte Puppen von fusca und einige 100 Arbeiterpuppen von rufibarbis vor dem Neste dieser im Stadium 5 befindlichen (mindestens sechsjährigen), ziemlich starken Kolonie ausgeschüttet. Schon nach wenigen Minuten fingen die truncicola an, die fremden Puppen abzuholen. Am 12. Sep- tember fand ich die Kolonie leider ausgewandert, während ich einen Monat auf Reisen abwesend war. Das neue Nest wurde auf dem mit Gebüsch bewachsenen Bergabhange nicht gefunden. Im Jahre 1907 blieb das alte Nest der im vorigen Jahre volkreichen Kolonie Nr. 13 unbewohnt bis zum 16. Juli, wo ich nur wenige Arbeiterinnen und ein Männchen von fruncicola unter den Steinen, die das Nest bedeckten, fand. Sklaven (fusca oder rufibarbis) sah ich weder an diesem Tage noch am 26. Juli. Die Hauptmenge der Ameisen war aus dem mir unbekannten neuen Neste immer noch nicht zurück- gekehrt. Seit dem 28. August war das Nest von den Zruncicola wieder ganz verlassen. Dieser Versuch verlief also bisher resultatlos. Zweiter Versuch (am 20. August 1907 mit Kolonie Nr. 5 der Luxemburger iruneicola-Statistik angestellt). — Auf die Steine 44) The Polymorphism of ants, with an account of some singular abnormalities due to Parasitism (Bull. Am. Mus. Nat. Hist. XXIII, 1907), p. 33—34. Auf diese vortreffliche Arbeit habe ich schon kürzlich im Biol. Centralbl. (1908 Nr. 3, S. 70) hingewiesen. 330 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. ‚dieses Nestes, das einer volkreichen (mindestens siebenjährigen)*?) Kolonie vom Stadium 5 angehörte, wurde einige 100 Arbeiterkokons und unbedeckte Arbeiterpuppen von fusca gegeben. Schon nach wenigen Minuten begannen einige mittlere und kleinere (keine größere) Arbeiterinnen von truncicola mit dem Transport der Kokons und Puppen in das Nestinnere. Am 3. September konnte ich jedoch unter den Steinen keine fusca-Arbeiterinnen oder Kokons derselben sehen, sondern nur truncicola. Da das Nest sehr umfangreich war und nur die obersten Steine des Haufens umgewandt werden konnten, ist es möglich, dass trotzdem fusca aufgezogen worden waren. Jedenfalls lieferte auch dieser Versuch bisher kein positives Resultat. Vergleichsversuche über die Aufzucht fremder Arbeiter- puppen durch F. exsecta. In dem Beobachtungsneste einer jungen, natürlichen exsecta- fusca-Kolonie von Luxemburg wurden 1907, nachdem die Kolonie durch Aussterben der alten Hilfsameisen einfach geworden war, unter den fremden Arbeiterpuppen, die ich ihnen gab, nur fusca aufgezogen, diese aber in großer Anzahl. Näheres hierüber ist im zweiten Teile dieser Arbeit (Nr. 9, S. 304ff.) mitgeteilt. Darüber, ob auch in alten, bereits seit mehr als drei Jahren einfach ge- wordenen exsecta-Kolonien auch noch die Neigung zur Erziehung von fusca-Puppen fortbesteht, habe ich bisher noch keine Versuche angestellt. Vergleichsversuche über die Aufzucht fremder Arbeiter- puppen durch F\. rufa und pratensis. In den letzten 20 Jahren habe ich nicht selten künstlichen Beobachtungsnestern dieser beiden Ameisen Arbeiterpuppen fremder Formica-Arten gegeben. Sie wurden niemals aufgezogen, wenn die Nester selbständigen, ungemischten rufa- oder pratensis- Kolonien angehörten. Nur wenn diese Ameisen als Sklaven mit F. sanguinea oder Polyergus rufescens zusammenlebten, beteiligten sie sich auch an der Brutpflege ihrer Herrenart und anderer Sklaven- arten (fusca und rufibarbis). Zwei Versuche mit selbständigen Kolonien sollen hier noch erwähnt werden, da sie speziell den Zweck verfolgten, die Ameisen zur Aufzucht fremder Arbeiterinnen zu bewegen. Am 30. März 1904 hatte ich etwa 50 Arbeiterinnen aus der Kolonie Nr. 4 der pratensis-Statistik von Luxemburg mit zwei Königinnen in ein Lubbock-Nest einquartiert. Am 13. Juli gab 45) Im Sommer 1904 war die Kolonie bereits ungemischt, wahrscheinlich vier- | jahrig. Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. — Bi ‘ich ihnen mehrere hundert unbedeckte Puppen und Kokons von rufi- barbis-Arbeitern. Dieselben wurden zum Teil adoptiert und am 15. und 16. Juli hatten sich bereits mehrere ruföbarbis- Arbeiterinnen entwickelt und krochen im Neste umher. Am 19. waren sie jedoch von den pratensis sämtlich wieder getötet worden. Am 26. Juli erhielt das Nest 200 Arbeiterkokons von fusca. : Sie wurden teil- weise adoptiert, aber keine einzige fremde Arbeiterin aufgezogen, obwohl Arbeitermangel im Neste herrschte. Mit F. rufa machte ich einen Versuch am 25. Juli 1906. Etwa 100 Arbeiterinnen aus einer alten (mindestens achtjährigen) Kolonie wurden in ein großes Beobachtungsglas gebracht und ihnen ge- geben: 100 Arbeiterkokons und unbedeckte Arbeiterpuppen von F. fusca, 50 Arbeiterkokons von sanguinea, 50 von Camponotus ligniperda und 100 von Lasius niger. Die rufa adoptierten diese fremden Puppen nicht, sondern fraßen sie zum Teil auf und be- deckten die übrigen mit Erde. Die im ersten Teile dieser Arbeit (Nr. 8 S. 266ff.) erwähnte Beobachtung, dass eine aus einer natürlichen Adoptionskolonie rufa- fusca von Luxemburg entnommene Abteilung (rufa-fusca II) keine fremden Arbeiterkokons von rufa, wohl aber solche von fusca aufzog, ist nicht beweiskräftig, da nur wenige rufa und viele fusca in dem betreffenden Versuchsneste sich befanden und letztere damals allein die Brutpflege ausübten. Bei rufa und pratensis scheint somit, in ihren alten Kolonien wenigstens, keine Neigung vorhanden zu sein zur Aufzucht der Ar- beiterpuppen ihrer ehemaligen Hilfsameisenart, während eine solche bei truncicola in ausgesprochener Weise sich zeigt. Der Grund für diesen Unterschied dürfte darin liegen, dass bei rufa und pra- tensis die Koloniegründung der Königin bloß fakultativ (oder ausnahmsweise) mit Hilfe der Arbeiterinnen von fusca (bezw. von rufibarbis) erfolgt, bei truncicola dagegen obligatorısch. FM! trun- cicola steht daher der ,Sklavenzucht“* ohne Zweifel näher als jene, wenn wir das Verhalten ıbrer Arbeiterinnen gegenüber fremden Ameisenpuppen berücksichtigen. Würde sie in freier Natur vor- zugsweise vom Raube von Ameisenpuppen sich nähren, so wäre sie ec ipso auch schon eine Sklavenhalterin; denn dafür, dass sie uster den geraubten Puppen gerade diejenigen ihrer ehemaligen Hilfsameisenart (fwsca) zur Aufzucht auswählt, ist bereits durch die Gründungsweise ihrer Kolonien gesorgt, die regelmäßig mit fusca geschieht. Betrachten wir dagegen das Benehmen der Königinnen von truncicola und rufa gegenüber den Arbeiterpuppen von fusca, so steht »ufa der Sklavenzucht näher als truncicola. Dies wird sich im folgenden Abschnitt ergeben. SD Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. 4. Neue Versuche über die Koloniegründung, mit besonderer Berücksichtigung der parasitischen und sklavenhaltenden Formica-Arten. Inhalt: Versuche über die Koloniegründung von Lasius niger und Tetra- morium caespitum. Junge Kolonien von rufibarbis und fusca. Versuche über die selbständige Koloniegründung der Weibchen von Formica rufa und pratensis; negatives Ergebnis. * Versuche über die Aufnahme von truneicola-Königinnen bei F. fusca. Uber- sicht über die Verhältnisse in freier Natur. Versuche mit Beobachtungsnestern. Verschiedenheit der Ergebnisse des zweiten und dritten Versuchs. Versuche über die Aufnahme der Königinnen von rufa und pratensis bei Arbeiterinnen von fusca und rufibarbis: I. Versuchsreihe mit alten Königinnen. II. Versuchsreihe mit jungen Königinnen nach dem Paarungsfluge: Versuche a und f. Tötung einer rufa-Königin durch fusca; Aufnahme einer anderen bei allmählicher Annäherung. Versuche b und c. Zwei pratensis-Königinnen bei fusca getötet. Friedliche Beseitigung einer rufibarbis-Königin durch eine pratensis-Königin? | Versuch d, mit einer rufa- und einer pratensis-Königin. Interesse der rufa: Königin | für die Arbeiterkokons von fusca. Friedliche Beseitigung der rufa-Königin durch die pratensis-Königin? Aufnahme der pratensis-Königin mit Arbeiterkokons von fusca durch alte rufibarbis-Arbeiterinnen. Dreifach gemischte Kolonie. Versuch e. Allmähliche Aufnahme einer rufa-Königin bei fusca. Absonderung der rufa-Königin mit gestohlenen Arbeiterkokons von fusca; schließlich Adoption durch die alten fusca. Rückblick. Versuche mit Königinnen von F\ sanguinea. Bedingungen für ihre Kolonie- gründung in freier Natur. Versuche mit 12 sangwinea-Königinnen nach dem Paarungsfluge. Verschiedenheiten in den Ergebnissen dieser Versuche. Neigung der Königin zur Koloniegründung durch Puppenraub von fusca vorwiegend; manch- mal auch Adoption durch die alten fusca. Vergleich mit den Ergebnissen bei 1’, rufa. Reflexionen über die Entstehung des Sklavereiinstinktes von sanguinea. Be- merkungen über die Versuche mit unbefruchteten Weibchen. | Die gewöhnliche Art der Koloniegründung bei den Ameisen ist bekanntlich die, dass ein einzelnes befruchtetes Weibchen nach — dem Paarungsfluge die neue Kolonie vollständig allein gründet und die ersten Arbeiterinnen selbst erzieht‘°®). Am häufigsten kann man diese Koloniegründung unter unseren | einheimischen Ameisen bei Lasius niger*') und Tetramorium cae- | spitum beobachten. Am 30. Juli 1906 hatte ich in Lippspringe (bei Paderborn) | nach einem Paarungsflug von Lasius niger und umbratus mehrere entilügelte Weibchen einzeln in Glasröhren mit feuchter Erde ge- setzt; ebenso einige Tage später einige Weibchen von Lasius flavus. | 46) Vgl. hierüber: Ursprung u. Entw. d. Sklaverei, 1905, S. 169ff., wo die frühere Literatur großenteils erwähnt ist. 47) Über ‚Gründung neuer Kolonien bei Lasius niger hat seither auch Al. Mräzek eine Studie veröffentlicht (Zeitschr. f. wissensch. Insektenbiol. 1906, Heft) 3—4, 8. 109—111). Dass die Eiablage bei Lasius-Weibchen „regelmäßig erst nach der Überwinterung beginnt“, trifft (nach meinen obigen Versuchen) für Lasius niger nicht zu. Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. 333 Die Königinnen von Lasius niger hatten bereits beim Paarungs- fluge einen viel umfangreicheren Hinterleib als diejenigen der beiden anderen Arten; erstere begannen schon nach wenigen Tagen mit der Eiablage, letztere nicht. Für eine jener Königinnen von Lasius niger will ich hier einige Daten geben. Am 3. August hatte sie schon einen Eierklumpen von 10 Eiern und bewachte und beleckte ihn sorgfältig; wenn ich das Glas in die Hand nahm, ergriff sie den Eierklumpen und suchte ıhn zu verstecken. Am 7. August waren ca. 30 Eier vorhanden. Die Königin drehte sich, wenn sie durch die Beobachtung gestört wurde, gewöhnlich im Kreise herum, als ob sie in einer geschlossenen Erdhöhle säße. Die Eier wurden von ihr konstant gepflegt. Am 4. September waren sechs junge Larven vorhanden, am 19. September zwei kleine Arbeiterkokons, außerdem noch 20 kleinere und größere Larven. Am 19. September waren drei Arbeiterkokons sichtbar, am 1. Oktober vier. Am 1. November war eine sehr kleine, noch graue Arbeiterin aus dem Kokon gezogen; sie wurde von der Königin häufig beleckt; es waren nur noch zwei Kokons und 10 Larven zu sehen (die übrigen gefressen). Am 6. November waren drei Arbeiterinnen entwickelt; sie beteiligten sich bereits am Forttragen der Larven. Als ich einige Wassertropfen und Zuckerkrümchen in das Nest gab, leckte auch die Königin selbständig daran. Die übrigen Larven wuchsen nicht weiter und die Kolonie starb im Winter durch Austrocknung des Nestes. (Fortsetzung folgt.) Zur Biologie der Gattung Chermes. Von Prof. Dr. 0. Nüfslin-Karlsruhe. Eine gedankenreiche und bedeutungsvolle vorläufige Mitteilung!) Karl Börner’s gibt mir Veranlassung, im nachfolgenden meine Anschauungen über die Phylogenie des heutigen fünfteiligen Normal- zyklus der Gattung Chermes zum Ausdruck zu bringen. Börner hat in seiner kleinen Arbeit eine ganze Reihe wichtiger Forschungen niedergelegt. Vor allem gibt er zum ersten Male eine systematisch-phylo- genetische Skizze der bisher unter „Chermes“ vereinigten Formen, die er in die Gattungen Pineus, Gnaphalodes und Chermes zerlegt. In biologischer Hinsicht hat K. Börner die zuerst von Dreyfus?) mit Entschiedenheit vertretene Theorie der Parallelreihen be- stätigen können, und zwar durch den experimentellen Nachweis, dass die von Cholodkovsky artlich unterschiedenen Ch. viridis Ratz. und Ch. abietis Kalt. einerseits, sowie Ch. strobilobius Kalt. und Ch, lapponicus Cholodk. andererseits Kinder je einer Funda- 1) Karl Börner, Systematik und Biologie der Chermiden. Zool. Anz.. Bd. XXXII, 1907, Nr. „14, 8. 413—428. 2) L. Dreyfus, Uber Phylloxerinen. Wiesbaden 1889. 33 Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. trix-Mutter sind und aus je einer und derselben Galle hervorgegangen sein können. Durch diesen Nachweis und durch genauere anatomische For- schungen hat Börner das System der Chermes-Läuse gründlich reformiert und die rein parthenogenetischen SpeziesCholodkovsky’s beseitigt. : In biologischer Hinsicht hat Börner weiterhin eine völlig neue Anschauung vertreten: er hat die Beziehungen der Wirts- koniferen zu ihren Parasiten umgetauscht. Während seit Blochmann?) und Dreyfus?) die Fichten als ursprüngliche oder Hauptnährpflanzen aller Chermes-Arten angesehen wurden, die Kiefern, Lärchen und Tannen dagegen als Zwischenwirte galten und die Generationen des Zwischenwirts entsprechend dieser Anschauung als emigrantes, alienicolae, exules, remigrantes etc. benannt wurden, vertritt K. Börner erstmals die Auffassung, es seien die bisherigen Zwischenkoniferen, also die Kiefern, Lärchen und Tannen, die ursprünglichen Wirtspflanzen gewesen und die Fichten als Gallenpflanzen die Zwischenwirte geworden. Infolge dieser neuen Auffassung der Wirtsrelation nennt Börner die bisher Migrans alata oder emigrans (Lichtenstein und Blochmann) genannte 2. Generation jetzt Cellares mit der Sukzessionsziffer 4, die bisher emigrans, exul, alienicolae (Lichtenstein, Blochmann) genannte 3. Generation Virgines (hiemales und aestivales) mit der Ursprungszahl 1. Während man früher als ursprünglichen Wirt die Pflanze auf- gefasst hatte’), auf welcher die Sexualesgeneration lebt und das Weibchen das befruchtete Ki ablegt, als Zwischenwirt die- jenige, auf welcher die Art sich ausschließlich partheno- genetisch fortpflanzt, verfährt K. Börner gerade umgekehrt. Diese Umkehrung stützt Börner hauptsächlich durch zwei Motive: 1. Weil nur bei. ihrer Annahme die Spaltung der Gattung Chermes in Arten entsprechend ihrer Anpassung an die verschie- denen „ursprünglichen“ Koniferen (Kiefern-, Lärchen- und Tannen- Arten) erklärt werden könne, 2. weil noch heute mehrere Chermes-Arten (pini Koch, strobi Htg., piceae Ratz.), ohne auf der Fichte die Fundatrix- und Galienlaus-Generationen erzeugen zu müssen, Sexuparae- und Sexuales-Generationen hervorzubringen imstande seien, während bei den abgekürzten, ausschließlich auf der Fichte lebenden Zyklen (den Cholodkovsky’schen Formen abietis Kalt. und lap- 3) F. Blochmann, Uber die regelmäßigen Wanderungen der Blattläuse ete. Biol. Centralbl., Bd. IX, 1889, S. 271. Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. 335 ponicus Cholodk.) niemals Sexuparae- und Sexuales-Gene- rationen entstehen könnten. Die Virgines auf Kiefern, Lärchen und Tannen seien daher die „Quelle der Sexuales* und damit die ursprünglichste Gene- ration. Der schwierigsten Frage, welche bei einer solchen Umkehrung der Wirtsrelationen für Chermes entstehen muss, der Frage, wie es denn gekommen sei, dass die 7—5 Chermes-Spezies der Kiefer, Weymuthskiefer, Arve, Lärche, Weißtanne, sibirischen Tanne, alle den gleichen Instinkt gewonnen haben konnten, auf Fichten zu wandern und daselbst Gallen zu erzeugen, sucht Börner mit der Hypothese zu begegnen: es sei der gemeinsame Ahn der heutigen Chermes-Arten auf die Fichte zur Gallenbildung gewandert, habe „dies zum Gesetz fixiert“ für „seine Kinder und Enkel- kinder“, also für alle seine phylogenetischen Deszendenten, die bei einer solchen Annahme natürlich erst später sich in Arten differenziert haben konnten. Da Börner in seiner systematisch-phylogenetischen Skizze die auf der Kiefer lebenden Arten seiner Gattung Pineus als die Stamm- ältesten auffasst, so müsste der Urahn der heutigen Chermes-Arten auf der Kiefer gelebt haben, auf die Fichte gewandert sein, dort Gallen erzeugt, daher schon einen fünfteiligen Generationszyklus gehabt haben! Wie von diesem pentagenetischen Kiefernurahn die Cherimes- Arten der Lärchen und Tannen entstanden sein konnten, für diese Frage gibt Börner in seinem vorläufigen Aufsatz keine Erklärung, eine solche erscheint mir auch unmöglich zu sein. Börner hat sich, so scheint mir, statt die artliche Spaltung erklären zu können, durch die Annahme des pentagenetischen Kiefern- urahns den Weg zur Erklärung der Entstehung der Chermes-Arten verlegt. Andererseits muss es unannehmbar erscheinen, für den phylo- genetischen Urahn der Unterfamilie der Chermesinae (Börner), den kompliziertesten aller Heterogoniezyklen, den fünfteiligen Zyklus als Ausgangspunkt zur Erklärung seiner Biologie zu wählen, um so mehr, als in der nächstverwandten Unterfamilie der Phylloxerinae (Börner) nur trimorphe und menöcische Heterogoniezyklen vorkommen (Phylloxera quercus, vastatrix), wenn auch die ungeflügelte Frühjahrsgeneration den Sommer hindurch sich zu wiederholen pflegt, so dass z. B. bei Phylloxera quercus durch einmalige Wiederholung der ungeflügelten Generation ein tetragenetischer aber trimorpher und monöcischer Zyklus entstanden ist, während bei der Reblaus die Generationszahl noch etwas weiter steigen und infolge paralleler Entwickelung sowohl an Wurzeln als auch an Blättern und geringer Verschiedenheiten der unge- Hügelten Wurzel- und Blattvirgines ein tetramorpher Zyklus im ‚Entstehen begriffen zu sein scheint. 336 Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. Im nachfolgenden soll versucht werden, für die phylogenetische Entwickelung der Chermesinen und ihres heute so komplizierten Heterogoniezyklus eine andere Hypothese aufzustellen, wobei wir von der trımorphen drei- bis mehrteiligen mon öcisch en Heterogonie ausgehen, von einer Biologie also, wie sie in allen Unterfamilien der Blatläuse und bei den Afterblattläusen vorkommt, und welche sich schon durch dieses allgemeine Vorkommnis als ein logischer und sichererer Ausgangspunkt empfiehlt. Ich knüpfe zu diesem Zwecke an die Biologie von Mindarus an, einer zur Unter- familie der Schizoneurinae gehörigen Blattlaus, deren Zucht ich von Winterei zu Winterei Jahre hindurch verfolgt hatte, welche mir hierdurch auch in bezug auf Einzelheiten bekannt ist, die ge- eignet sind, in manchen Beziehungen das Dunkel zu erleuchten, welches immerhin eine Hypothese für die phylogenetische Ent- wickelung einer so komplizierten fünfteiligen Heterogonie, wie es diejenige von Chermes ist, umhüllt. Mindarus ıst auch als lebendig gebärende Aphide be- sonders geeignet, weil infolge dieser Eigenschaft durch die mikro- skopische Untersuchung der Mutterlaus einer Generation der sexuelle Charakter der nachfolgenden Generation, insbesondere auf Schnitten, ermittelt werden kann, was bei den durchweg eierlegenden After- blattläusen (Phylloxera und Chermes) niemals möglıch ist. Mindarus hat einen trimorphen, normal aus den drei Gene- | rationen: Fundatrix, Sexupara und Sexuales bestehenden monöcischen Entwickelungszyklus, der sich bei M. abietinus*) Koch auf der Weißtanne, bei M. obliquus Cholodk. auf der nord- amerikanischen Weibfichte (Picea alba Link) abwickelt. Die drei Generationen des Zyklus verlaufen bei M. abietinus in der Regel innerhalb der zwei Monate Mai und Juni (bezw. Ende | April bis Ende Juni), und zwar während der Entwickelung, also während des mehr oder weniger zarten Zustandes der Tannen- triebe, und zwar nur an diesem Baumteil, während das Ende Juni abgelegte befruchtete Dauer- und Winterei etwa 10 Monate, ebenfalls an dem Triebe (bezw. an dessen Knospen und Nadeln), im Latenzzustande verharrt. Eine Vermehrung der Ziffern der parthenogenetischen Gene- rationen ist dadurch erschwert, dass alle drei Generationen zu \ N ihrem Wachstum auf zarte Triebteile angewiesen sind, woraus sich auch die auffallend kurze Aktivperiode des dreiteiligen Zyklus erklärt. Trotzdem ist die Vermehrung jener Ziffern in potentia vorhanden und erfolgt auch tatsächlich als eine gar nicht seltene 4) Nüßlin, Über eine Weißtannentrieblaus (Mindarus abietinus K och). All gemeine Forst- und Jagdzeitung 1899, 8. 210. — Ders. Über das Auftreten de Weißtannentrieblaus etc. Daselbst 1904, S. 1. — Ders. Zur Biologie der Schizo: neuridengattung Mindarus Koch. Biol. Centralbl. 1900, Bd. XX, 479. | | | | | I! \ N Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. 337 Ausnahmeerscheinung in der Weise, dass die geflügelte sexu- pare Generation an Stelle der Sexuales wiederum eine partheno- genetische Nachkommenschaft erzeugt‘). Ob auch die erste parthenogenetische Generation der Saison: die ungeflügelte Fun da- trix sich als solche wiederholt, ist bis jetzt nicht mit voller Sicherheit auf direktem Wege festzustellen gewesen, da die Em- bryonen und Larven des ersten Stadiums der Fundatrix und der Sexupara nicht mit voller Sicherheit zu unterscheiden sind und die fortlaufende Zucht mit Isolierung bei der Beweglichkeit dieser Tiere einerseits und ihrer großen Empfindlichkeit andererseits, sehr schwierig durchzuführen ıst. Höchstwahrscheinlich aber kann auch aus einer Fundatrıx wieder eine Fundatrix-Nachkommenschaft ent- stehen, wie aus verspätet auftretenden Fundatrices indirekt zu folgern ist. Sicher ist, dass die Fundatrix direkt ohne das Zwischentreten einer geflügelten Sexupara-Generation Sexuales erzeugen kann’); und da solche Sexuales gebärenden Fundatrices auch noch Ende Mai und ım Juni auftreten können, so folgt daraus eben indirekt, dass der geschlechtsgebärenden Fundatrix eine normale virgo- pare Fundatrix vorhergegangen sein muss, denn immer ist die aus dem Winterei entkommende Generation eine ungeflügelte Fundatrix. Die zweite Fundatrix war eben ausnahmsweise an Stelle der ge- flügelten Sexupara getreten‘). Die geflügelte Sexupara ist erst nach der ersten Häutung mit voller Sicherheit zu erkennen, und zwar an der reicheren Wachsdrüsenentwickelung, welche im Gegen- satz zu der gleichalterigen Fundatrix vom zweiten Abdominalsegment an marginal und am sechsten Segment sogar pleural und spinal auftreten, ferner an den seitlichen Epidermisverdickungen der Meso- und Metathorax (Flügelanlagen), sowie an den Epithelverdickungen vor den Larvenaugen (Anlagen der Facettenaugen). Dagegen lässt sich das parthenogenetische und gamogenetische Weibchen (2 und 9) schon als Embryo im Mutterleibe unter- scheiden. Diese Unterscheidung, sowie die Untersuchung der von einer parthenogenetischen Mutter abgelegten Larven ermöglichte den Nachweis der oben angeführten Anomalien und Abweichungen vom normalen Entwickelungszyklus, welche sich von größter Wichtigkeit für die Begründung unserer späteren Hypo- these erweisen werden. Der Unterschied zwischen @ und ¢ liegt bei jungen Embryonen 5) S. Allgem. Forst- u. Jagdztg. 1899, S. 211. 6) Wie nahe sich die beiden parthenogenetischen Generationen stehen, zeigt sich besonders bei Mindarus obliquus Cholodk., bei welcher Art es Sexuparae gibt, welche die Drüsenanordnung der normalen Geflügelten, ebenso deren zusammen- gesetzten Augen, sowie Stirn- und Scheitelaugen, nicht aber Flügel besitzen, und ebenso kann die erste Fundatrix, insbesondere am Auge, Übergangsmerkmale zur Sexupara besitzen. XXVIII. 22 38 Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. So im Aussehen der Ovarien, wie die Figurenskizzen 1 und 2 erläutern sollen. Bei dem parthenogenetischen @ folgt auf das Keim- oder Endfach eine einzige relativ größere Eizelle ohne einen Zylinder- epitheltrichter des sekundären Eileiters, eine Eizelle etwa vom Durch- messer des ganzen Endfaches, oder aber schon eine gefurchte Ei- zelle, d. h. ein junger Embryo. In der Peripherie der Eizelle ist gelegentlich auch der einzige Richtungskörper (Kern) zu sehen (Fig. 1). Bei dem gamogenetischen 9 dagegen folgt im jugend- lichen Embryozustande auf die großen dunklen Zellen (Kerne) des Keimfachs eine Anzahl hellerer Zellen mit deutlichem Kern und proximal davon der Epithelbecher des sekundären Eileiters. Eine der hellen Zellen wird später zum Ei, welches sich auf Kosten der übrigen hellen Zellen und der Keimfachzellen enorm vergrößert. Während beim 2 des Mindarus-Embryo eine Reihe von 2—4 Eiern und Embryonen sich kettenförmig an ein Keimfach angliedern, ent- spricht beim fortgeschrittenen 9 Embryo stets nur ein Ei einem Keimfach. Fig. 29. Mindarus, embryonale Genitalanlagen. Halbschematisch. Wir geben zunächst das Schema des normalen Entwickelungs- zyklus von Mindarus abietinus Koch. | Winterei am vorigjährigen Endtrieb Ungeflügelte Virgo (2), Fundatrix Am Maitrieb Geflügelte Vir , Sexupara teflügelte Virgo (Q) exup AS Gnu Ungeflügelte Sexuales (fd und 9) Befruchtetes Winterei. Wie Experimente gezeigt haben, ist die geflügelte Sexupara außerordentlich beweglich und fliegt gern von der Tanne, auf der sie geboren wurde, ab, um an einer anderen Tanne ihre Sexuales lebendig zu gebären. Die eigentliche Bestimmung der geflügelten Sexupara ist also die örtliche Verbreitung der Spezies und die Überführung der Nachkommen auf neue Wirtsindividuen und Pflanzen, hier also auf Tannen, die noch nicht von Mindarus-K olo- nien heimgesucht und noch nicht durch den Schmarotzer für ein gedeihliches Fortkommen der Spezies entwertet sind. Nüßlin, Zur Biologie der Gatiung Chermes. 335 Zur Entstehung eines mehr als dreiteiligen Zyklus gehört nun, wie die Beispiele aller mehr als trimorphen Blattlaus- und After- blattlaus-Heterogonien zeigt, eine Migration auf andere Pflanzen (oder Pflanzenteile)’), wodurch infolge des umgestaltenden Einflusses der neuen Wirtspflanze eine morphologische Änderung der Nach- kommenschaft der übergesiedelten Generation hervorgerufen werden kann. Dazu gehört einmal ein Gedeihen dieser Nachkommenschaft auf der neuen Wirtspflanze, sodann ganz besonders die Voraus- setzung, dass die Nachkommenschaft des geflügelten Wanderers eine anpassungsfähige Virgo, nicht aber die Sexualgeneration ist. Beide Voraussetzungen liegen im Bereiche des Möglichen, die letztere Voraussetzung ist durch tatsächliche Vorkommnisse bei Mindarus eine bewiesene Tatsache, daher als erfüllt zu betrachten. Zahlreiche geflügelte Mindarus sind Mütter von Virgines ge- wesen. Diese Beobachtung ist von mir zuerst durch Züchten (wo- bei einzelne Geflügelte in Celluloidzylindern an Tannentrieben an- gesetzt worden waren), gemacht und dann durch Untersuchung von Schnittserien durch Geflügelte und Nymphen bestätigt worden. Dass geflügelte Läuse sich auf andere als die gewohnten Wirts- pflanzen verirren können, ist eine nahegelegene Möglichkeit, dass sie auf der fremden Wirtspflanze Virgines-Kolonien absetzen können, ist nach vorigem wahrscheinlich. Das einzig Hypothetische bleibt jetzt die Voraussetzung des Gedeihens und der morphologi- schen Umgestaltung. Diese Voraussetzung hat nichts an sich, was a prior! unwahrscheinlich wäre, wir dürfen -daher diese Voraus- setzung in Form einer Hypothese wagen, sie ist auch der einzige Weg, auf welchem wir überhaupt eine Erklärung versuchen können. Gedeiht aber das Virgo-Volk auf dem neuen Wirt, so muss es auch zur Fortpflanzung gelangen. Wenn seine nächsten Nach- kommen Sexuales sind, so wird die Wanderung für die Spezies ohne Ergebnis bleiben, da ein Gedeihen der Sexuales oder der nächstjährigen Fundatrix auf der fremden Wirtspflanze einmal un- wahrscheinlich und jedenfalls für die Entstehung eines pentamorphen Zyklus wertlos gewesen wäre. Nehmen wir dagegen an, die Nachkommen der ungeflügelten Generation auf der neuen Wirtspflanze seien Geflügelte geworden, so werden diese später bei der eintretenden Wanderung, ihrem ererbten Geruchsinstinkte folgend, zur Tanne zurückfliegen, und dort würden sie, wenn es normale Geflügelte, d. h. Sexuparae sind, das Winterei ablegen, und den Zyklus aufs neue eröffnen. Damit aus solchen zufälligen Vorkommnissen des dreiteiligen 7) Bei der Reblaus ist ein tetramorpher Heterogoniezyklus in dem Sinne vor- handen, als die Virgines auf Blättern, welche Blattgallen erzeugen, von den Virgines auf den Wurzeln derselben I'flanze, welche die Wurzelgallen verursachen, auch morphologisch etwas abweichen. II 340 Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. Zyklus ein pentamorpher Zyklus werde, muss noch weiter voraus- gesetzt werden, dass die auf die fremde Wirtspflanze verschlagene und dort gedeihende und zur Fortpflanzung gelangende Generation (emigrans, exulans, alienicolae) eine Reihe von Generationen, vielleicht eine Reihe von Jahren, sich rein parthenogenetisch und ihresgleichen erzeugend, fortzupflanzen vermag, um die morpho- logischen Änderungen, die sie durch neue Anpassung auf dem „Zwischenwirt“ angenommen hat, konstitutionell zu fixieren, dass sie aber trotzdem gelegentlich wieder infolge vererbter Anlage ge- flügelte Sexuparae zu erzeugen vermag. Für diese Voraussetzungen lässt uns allerdings Mindarus ım Stich, für ihre Beurteilung müssen wir die Erfahrungen an Chermes zu Rate ziehen und finden auch tatsächlich in der Biologie von Chermes piceae Ratz. viele obige Voraussetzungen stützenden Momente. Die Emigrans- und Exulans-Generationen einzelner Chermes- Artenhaben in verschiedenem Grade die Fähigkeit, 1m Frühjahr, wenn die Nadeln der jungen Triebe ihrer Wirtskoniferen (Kiefern, Lärchen und Tannen) kaum entwickelt sind, ihre Entwickelungsrichtung zu spalten, so dass dieselben Mütter aus einem Teil®) ihrer Eier ihres- gleichen (Exules), aus dem übrigen Teil aber eine ganz andere Nam, die geflügelte mans zu erzeugen vermögen. Diese Befähigung zur ek lane von Parallelpeneritionen ist bei Chermes nicht nur der Emigranten-Virgo, sondern auch der auf der Fichte entstehenden Gallengeneration gegeben, wie Börner jetzt gezeigt hat, so dass ein Teil der Gallenläuse auf die Zwischen- onen auswandert und die Eimigransgeneration erzeugt, welche den pentamorphen Zyklus fortsetzen, ein Teil aber auf der Fichte verbleibt und den engen bimorphen rein parthenogenetischen und monöcischen Zyklus auf der Fichte (Fundatrix — geflügelte Cellaris — Fundatrix) entstehen lässt. Dass aber die Emigrans-(Exulans)-Generation auch fortlaufend, ja Jahre hindurch, rein parthenogenetisch auf der Zwischenkonifere sich fortzupflanzen vermag, um alsdann unter geeigneten Saison- Aerhiltnissen eines Jahres und vielleicht (geographisch) eines Ortes, die Sexuparae, welche zur Fichte zurückfliegen, hervorbringen kann, ist für Chermes pint Koch, strobi Htg. und piceae*®) Rtzb. zum Teil wahrscheinlich gemacht, zum Teil Be ceed worden. 8) er bei Mindarus kommt es vor, dass die parthenogenetische Generation nicht ausschließlich Gleichartiges erzeugt. Ganz besonders lässt sich auf Schnitt- serien feststellen, dass neben parthenogenetischen auch gamogenetische Embryonen liegen können. Auch die Zucht in Isolierzylindern ergibt gelegentlich ganz ver- schiedenartige Nachkommen von einer und derselben Mutter. 9) 1907 war für die Sexuparenentwickelung von Chermes piceae ungünstig. An etwa 20 Versuchstannen konnte nur eine einzige Sexupara bis zur vollen Ent- wickelung festgestellt werden. Zahlreiche Sexuparen gingen vor und während des Nympheneaarane zugrunde. Nüßlin, Zur Biologie der Gatiung Chermes. 341 Aber nicht nur die Fähigkeit zu längerem Aufenthalt auf der fremden Wirtspflanze zur Erzeugung einer Reihe gleichartiger un- geflügelter Generationen und zur gelegentlichen Rückkehr durch Erzeugnng einer geflügelten Sexuparageneration, wird durch die Erfahrungen an Chermes bestätigt, die letzteren und besonders das Beispiel von Chermes piceae') lehrt uns auch, welches Gedeihen, welche Anpassungsfähigkeit und welche reiche Gestaltungs- fähigkeit die emigrans auf der Zwischenkonifere zu erreichen vermag. Alle diese Erfahrungen, die im vorhergehenden in bezug auf Mindarus und Chermes mitgeteilt wurden, werden uns instand setzen, aus einem normal dreiteiligen und zwar trimorphen monö- cischen und einjährigen Zyklus einen pentamorphen diöcischen zwei- jährigen Zyklus theoretisch abzuleiten. Wir lassen zunächst noch- mals den normalen (rechts) und den ausnahmsweisen Zyklus (links) von Mindarus abietinus folgen. Hibernierendes Ei I. Generation. Ungeflügelte Virgo' (Fundatrix ©) 1. Generation Be | II. Generation. Gefliigelte Virgopara (Q) Gefliigelte Sexupara(Q) 2. Generation III. Generation. Ungefliigelte V irgo? (Q) Ungeflügelte Sexuales (Qu. 3) 3. Generation | | IV. Generation. Geflügelte Sexupara (Q) Befruchtetes Ei. V. Generation. Ungefliigelte Sexuales (Qu. d) Befruchtetes Ei Die linksstehende Reihenfolge der mit römischen Ziffern be- zeichneten Generationen, die bei Mindarus tatsächlich vorkommen kann, enthält die pentamorphe Serie von Chermes, gleichsam in nuce. Voraussetzungen zu ihrer tatsächlichen Entstehung sind: 1. Die Wanderung der geflügelten Virgoparen auf eine Zwischen- konifere. 2. Das Gedeihen ihrer Nachkommen (Virgo?) auf dem Zwischen- wirt und ihre gestaltliche Umänderung durch Anpassung an den Zwischenwirt, so, dass Virgo? verschieden von Virgo! wird, sich also als emigrans von den Fundatrix unterscheidet. 3. Erzeugung einer rückwandernden Sexuparen durch die Virgo?. 4. Verteilung der fünf Generationen auf zwei Jahre, indem die Virgo? (Emigrans) als Larve auf dem Zwischenwirt über- wintert. 5. Vorzeitige Entwickelung des befruchteten Eis, so dass die Larve im ersten Stadium überwintert. 10) Nüßlin, Die Biologie von Chermes piceae Ratz. Naturw. Ztschr. für Land- u. Forstwirtschaft 1903. — Ders. Zur Biologie der Gattung Chermes Htg. Verhandl. d. Naturw. Vereins zu Karlsruhe, XVI. Bd., 1903. 349 Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Ühermes. Die Heteromorphie der beiden geflügelten Generationen II und IV ist immer gering, bei den Chermes-Arten wesentlich auf die Ver- schiedenheiten in der Eierzahl und der damit zusammenhängenden Größe der Tiere beschränkt, so dass es gerechtfertigt sein könnte, bei Chermes nur von einer tetramorphen fünfteiligen Heterogonie zu sprechen. Wenn wir im vorhergehenden versucht haben, die phylogene- tische Entwickelung der fünfteiligen komplizierten Chermes-Biologie aus dem einfachen allverbreiteten trimorphen Zyklus der Blatt- und Afterblattläuse wahrscheinlich zu machen, so sind wir weit entfernt, zu meinen, dass sich alleın aus der Migration auf verschiedene Zwischenwirte auch schon die artliche Sonderung der Cher- mesinen, bezw. der früheren Gattung Chermes, erklären lasse. Wir zweifeln zwar nicht daran, dass das Aufsuchen verschie- dener Zwischenwirte auch gewisse Beiträge zur artlichen Differen- zierung der verschiedenen Zwischenwirtsparasiten geliefert haben wird, allein die wichtigeren Artdifferenzen werden schon vorher er- worben worden sein, als der Parasit noch monécisch war und mit dreiteiligem Zyklus auf der Fichte saß. Weshalb es Börner für „unmöglich“ hält, „die Arten- gliederung der Chermiden auf ihre gemeinsame Gallenpflanze zu verlegen‘ (l. c. S. 426), erscheint uns nicht recht verständlich. Die Erklärung der artlichen Spaltung einzelner Chermiden, z. B. von Chermes strobilobius Kalt. und abietis L. wird doch nicht dadurch erleichtert, dass wir sie von der Lärche, statt von der Fichte aus versuchen. Diese Erklärungen sind für uns übrigens genau ebenso leicht und ebenso schwierig, ob es sich nun um Chermes- Arten, oder um Lachnus-Arten, oder um I/ps-Arten der Fichte handelt, d. h. wir stehen hier wie dort vor unlösbaren Rätseln und werden in der Hauptsache wohl nie dazu gelangen, bei Parasiten auf einem und demselben Wirt eine Erklärung für die Spaltung in einzelne Arten geben zu können. Nach den vorhergehenden Auseinandersetzungen haben wir keinerlei Veranlassung, die Börner’sche Umkehrung der Wirts- korrelation anzunehmen. Wir dürfen die Blochmann’sche Auf- fassung, wonach die Fichte als der ursprüngliche Wirt und die Kiefern, Lärchen und Tannen als Zwischenwirte der Chermes-Arten anzusehen sind, beibehalten, und dürfen ebenso die im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte eingebürgerten Namen und Ziffern des pentamorphen Chermes-Zyklus beibehalten, vor allem die charakteristischen Bezeichnungen der Emigrans und Exules für die ausschließlich auf dem Zwischenwirt lebenden Gene- vationen und ihre Nummerierung mit III; ebenso dürfen wir den Zyklus seinen Anfang von der Fundatrix-Generation nehmen lassen und dieselbe mit I beziffern. Trojan, Das Leuchten der Schiangensterne. 343 So, erheblich die Veränderungen sein werden, welche durch Börner’s Forschungen im System der Chermesinen zum Aus- druck gelangen werden, in der Auffassung und in den Ausdrucks- formen für die Wirtskorrelation sollte eine Änderung des bisherigen unterbleiben. Das Leuchten der Schlangensterne. Von Dr. Emanuel Trojan, Assistent am Zoologischen Institute der k. k. Deutschen Universität in Prag. (Aus dem Zoologischen Institute der k. k. Deutschen Universität in Prag.) Wenn je ein Gebiet des Tierreiches wenig Bearbeiter gefunden hat, so ist es in erster Reihe das der Ophiuriden. Was wir von dem Bau der Tiere dieser Ordnung kennen, stammt zum großen Teile von Ludwig (78, 79, 80, 01), Haman (89, 99) und Lang (94). In allerletzter Zeit scheint sich aber das Interesse für Schlangen- sterne und zwar solche, die eigenes Leuchtvermögen besitzen, zu regen. Ich selbst konnte im April 1906, durch die Munifizenz der Gesellschaft zur Förderung Deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen in die Lage versetzt, an der Zoologischen Station in Neapel einige Wochen wissenschaftlich arbeiten zu können, das herrliche Phänomen des Leuchtens an Ophiopsila aranea, Ophiopsila annulosa und Ophiocantha spinulosa studieren. Leider gestatteten mir die Unbilden des damaligen heftigen Vesuy- ausbruches nicht, mich mit mehr Material zu versorgen; das gesammelte erwies sich nach der Rückkehr in die Heimat für ein- gehende histologische Untersuchungen als unzulänglich. Liebens- würdigerweise teilte mir Herr Dozent Mangold aus Bonn, der um Weihnachten desselben Jahres zum Studium des Leuchtens bei Schlangensternen an der Neapler Station weilte, mit, dass die von mir untersuchten Arten zurzeit häufig auftreten, worauf ich auf eigenen Wunsch von Dr. Lo Bianco Material in reichlichem Maße bekam und meine Untersuchungen fortsetzen konnte. Mangold’s (07, S. 625) indessen erschienenen Publikation seiner physiologischen Untersuchungen entnehme ich, dass er Gelegenheit hatte, außer den Arten Ophiopsila annulosa und O. aranea auch Amphiura squa- mata, ferner aber auch Amphiura filiformis, dessen Leuchten bisher überhaupt nicht bekannt war, eingehenden Studien zu unterziehen. Vor kurzem endlich erschien im LXXX. Bd. der Zeitschrift für wissenschaftl. Zoologie eine Arbeit „Über das Leuchtvermögen von Amphiura squamata Sars“ von Irene Sterzinger aus Inns- bruck (07). Diese Publikation nun ist es namentlich, die mich ver- anlasst, einige Bemerkungen zur Sache hier niederzulegen. Das Leuchten des Schlangensternes Amphiura squamata, mit dem sich Frl. Sterzinger befasste, war mir nach mündlichen Mit- teilungen des Herrn Prof. Dr. Hans Molisch von früher her be- 344 Trojan, Das Leuchten der Schlangensterne. kannt. Ich selbst hatte während meines dreiwöchentlichen Aufent- haltes in Neapel keine Gelegenheit, den genannten Ophiuriden näher kennen zu lernen. Als ich aber die beiden Opkiopsila-Arten und Ophiocantha spinulosa in der Dunkelkammer der Station zum ersten Male in ihrem Glanze erstrahlen sah, freute es mich, reich- lichen Ersatz in diesen viel schöneren Leuchtsternen gefunden zu haben. Handelte es sich doch um Exemplare, die Amphiura squa- mata um das 3—5fache übertrafen. Die Lichtmenge war dem- entsprechend eine viel größere. Ophiopsila aranea und Ophiocantha spinulosa hielten sich das Gleichgewicht, Ophiopsila annulosa aber übertraf die beiden bedeutend. Im allgemeinen konnte man bemerken, dass die genannten drei Arten in Ruhe gar keine Neigung zum Leuchten zeigten, immer mussten sie durch mechanische oder chemische Reize dazu gebracht werden. Das bloße Berühren der Arme der Tiere brachte bereits ein Leuchten hervor. Natürlich wirkte das Stechen mit einer Nadel, das Zwicken mit einer Pinzette ebenso. Bei Anwendung der für tierische Lu- miniszenz alten, bewährten chemischen Reizmittel wie Brunnen- wasser, aqua destillata, Alkohol, Ammoniak und Säuren ließ der Effekt nicht auf sich warten. Unter dem Einflusse schärferer Me- dien, wie hochgradigen Alkohols und mehrprozentiger Säuren war das Leuchten zwar intensiver, dafür aber auch kürzer. Wenn gereizt, erstrahlten die Arme von Ophiopsila annulosa total bis auf einen schmalen, dorsalen Streifen im magischen grün- lichen Lichte, sehr intensiv dann, wenn sie gewaltsam abgebrochen wurden. Gleich Würmern sich krümmend, glühten sie weiter, immer schwächer und schwächer. Mit ihren Bewegungen war auch ıhr Leuchten zu Ende; sie waren tot. Immerhin dauerte dieser Vorgang mitunter bis zu einer halben Stunde. Niemals trat die Luminiszenz an allen Armen zugleich auf; in der Regel blitzte es unmittelbar an der mit einer Nadel oder Pin- zette berührten Stelle auf und von da aus flimmerte es in sanften Lichtwellen weiter. Fast gleichzeitig erschien auch das Licht am Grunde der nicht gereizten Arme und verbreitete sich in zentri- petaler Richtung. Die ganze Erscheinung lässt sich trefflich - mit dem Anzünden und Leuchten von vielfach angebohrten dünnen Gasröhren, wie sie bei Illuminationen verwendet werden, vergleichen. Gerade so, wie dort ein Flämmehen von dem anderen Feuer fängt und das Licht unter dem Einflusse eines leisen Windes in Wellen sich wiegt, so geschah es auch hier. Ganz dasselbe gilt von dem Leuchten der Ophiopsila aranea, nur mit dem Unterschiede, dass, da die Glieder der Arme dieses Schlangensternes durch Einschnitte deutlich voneinander abgesetzt sind, das Licht an diesen Stellen unterbrochen war; überdies zeigte es einen Stich ins Blaue. Bei Ophiocantha spinulosa beschränkte sich die Luminiszenz auf die Trojan, Das Leuchten der Schlangensterne. 345 Ventralseite der Arme und schien in den Ambulakralfüßchen ihren Sitz zu haben. Die Nuance des Lichtes glich der der vorigen Art. Nicht uninteressant verliefen meine Versuche mit leuchtenden Ophiuriden, die das Leuchten unter dem Einflusse der Wärme und das Leuchten außerhalb des nassen Mediums betrafen. Kleine Exemplare von Ophropsila aranea wurden in der Dunkel- kammer auf Uhrgläser gelegt. Ungereizt leuchteten sie nicht. So oft aber ein Uhrglas mit einem solchen Schlangenstern vorsichtig auf die flache Hand gelegt wurde, begann es seine Arme behende zu regen; es dauerte keine 5 Sekunden und Ophiopsila aranea er- schien in ihrem vollen Glanze. Der Schimmer hielt sich unter dem Einflusse der Körperwärme länger als bei Anwendung sonstiger Reizmittel, hörte aber alsbald auf, sowie das Tier mit dem Uhr- glase auf seinen früheren Platz auf dem Tische zurückgebracht wurde. So konnte ich die kleinen Exemplare nach kurzen Inter- vallen dreimal, größere bis sechsmal zum Leuchten zwingen. Um ja sicher zu sein, dass es lediglich die Wärme meiner Hand ist, die das Tier zum Leuchten veranlasst, ließ ich alle Vorsicht walten, um ja nicht im Finstern mit dem Schlangenstern in unmittelbare Berührung zu kommen. Da ich ferner bemerkt hatte, dass auch Anblasen seine Luminiszenz hervorruft, vollführte ich die Bewegung des Uhrglases ganz langsam, um ja jeden Luftzug zu vermeiden. Auf Grund wiederholter Versuche mit diesem Ophiuriden bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass die Wärme sein Leucht- vermögen fördert. Die anderen Versuche, die sich auf das Leuchten außerhalb des nassen Mediums bezogen, wurden mit Ophiopsila annulosa aus- geführt. Wenn ich diesen Schlangenstern in eine trockene Schale legte und im Finstern beobachtete, leuchtete er ungereizt, wie zu erwarten war, nicht. Bei der ersten Berührung der Arme mit dem Finger zeigte sich das Licht sofort, verschwand aber auch sehr bald. Jede Wiederholung eines solchen Reizes hatte ein Aufleuchten zur Folge; doch eines versetzte mich mehr ins Staunen als das andere. Statt dass die Intensität des Lichtes abgenommen hätte, wuchs sie merklich. Auch die Bewegungen der Ophiopsila wurden lebhafter. Als mir die Luminiszenz am herrlichsten schien, öffnete ich das Fenster der Dunkelkammer und sah, dass der Schlangen- stern im Begriffe war, seine Arme abzuwerfen. Das dies ziemlich rasch vor sich ging, schloss ich gleich das Fenster, um allenfalls den schönen Eindruck noch zu genießen. Doch währte es nicht lange, die abgeworfenen Arme zerfielen in Stücke und erloschen. Der ganze Vorgang lässt sich etwa in folgender Weise erklären: Der Aufenthalt des Ophiuriden außerhalb des Wassers ist nicht natürlich und versetzt das Tier an und für sich in einen gereizten Zustand. Anfangs gibt sich derselbe nicht so lebhaft zu erkennen, 346 Trojan, Das Leuchten der Schlangensterne. da doch Spuren von Wasser dem Körper anhaften. Im Laufe des Versuches trocknet die Oberfläche des Tieres allmählich, was jeden- falls eine stetige Erhöhung des Reizes bedeutet, die im Augenblicke des Todes ihren Gipfel erreicht. Dies deckt sich auch vollkommen mit der Wahrnehmung, dass Schlangensterne am schönsten leuchten, wenn man sie durch scharfe Konservierungsmittel plötzlich tötet. Der Unterschied zwischen dem Verhalten anderer leuchtender Tiere und dem der Schlangensterne bei diesen Versuchen ließ be- reits damals in mir die Vermutung aufkommen, dass wir es bei Ophiuriden kaum mit sekretorischer Luminiszenz zu tun haben, wenn aber doch eine solche auf Grund histologischer Untersuchungen nachgewiesen werden sollte, sie ein spezielles Kapitel tierischen Leuchtens für sich in Anspruch nehmen wird. Überdies aber war es noch ein Umstand, auf den ich später zu sprechen kommen werde, der gegen ein extrazelluläres Leuchten sprach. Für den Schlangenstern Amphiura squamata will nun Frl. Ster- zinger dennoch ein solches mit Sicherheit nachgewiesen haben; es soll seinen Sitz ausschließlich an den apikalen Enden der Ambula- kralfüßchen haben. Der histologische Bau dieser Stellen wird also geschildert (07, S. 369): „Das verdickte Epithel am Ende des Füß- chens stellt ein Konglomerat von Zellen mit großen Kernen und wenig Protoplasma dar, welche alle Schleim zu sezernieren ver- mögen. Dieser sammelt sich dann in den Interzellularräumen und vereinigt sich zu einzelnen dickeren Strängen, die sich Gänge zwischen den Zellen bahnen und zu den Papillen ziehen, wo der Schleim durch eine Öffnung in der Kutikula entleert wird.“ Das sollen die Leuchtorgane des Tieres sein. Daran kann ich meine Befunde an Ophiocantha spinulosa anschließen. Für diesen Schlangen- stern gelten die oben geschilderten histologischen Verhältnisse in vollem Umfange, bloß mit dem Unterschiede, dass sie nicht nur auf die apikalen Enden beschränkt sind, sondern allseits auf dem ausstreckbaren Teile der Ambulakralfüßchen angetroffen werden. Sie gelten aber auch für die Ambulakralfüßchen der Scheibe und einigermaßen für die Mundwinkel (die ausführliche Publikation hier- über behalte ich mir für ein anderesmal vor). Das bisher Gesagte würde allein genügen, um meine Zweifel an der Richtigkeit einer Bezeichnung, die Frl. Sterzinger in die Literatur über das Leuchten der Schlangensterne einführt und die auch leicht Anklang finden könnte, gerechtfertigt erscheinen zu lassen; es ist das Wort „Leuchtorgane“. Welche Stelle der Füß- chen bei Ophiocantha spünulosa sollte ich mit dieser Benennung belegen? Gilt derselbe histologische Bau nicht auch für Teile des- selben Tieres, die niemals leuchten? (ich meine die Scheibe). Die Verfasserin gibt überdies selbst zu, dass sie die oben geschilderte Schleimsekretion auch bei einigen nichtleuchtenden Echino- Trojan, Das Leuchten der Schlangensterne. 347 dermen gefunden hat. Kurz, ich vermisse ein Charakteristikum, das eine bestimmte Stelle des Körpers von Amphiura squamata oder Ophiocantha spinulosa spezifisch zu Leuchtorganen stempeln würde. Das Leuchten bietet keine Gewähr, weil es ungemein schwer ist, in dem Gewirr von Stacheln und Füßchen, dazumal bei leb- hafter Bewegung, mit Sicherheit anzugeben, was leuchtet. Der beste Beweis hierfür sind die gleichzeitigen Untersuchungen Mangold’s und des Frl. Sterzinger; während die letztere, wie oben erwähnt, die apikalen Enden der Füßchen leuchten sah, nimmt der erstere die proximalen Teile der Basalplatten der Stacheln als leuchtend an. Indessen bringt uns ein Vergleich den Anschauungen des Frl. Sterzinger näher. Was würden wir sagen, wenn es gelänge, zweier Tiefseefische habhaft zu werden, mit typischen, morpho- logisch gleich gebauten Leuchtorganen, die jedoch nur beim Indi- viduum A Licht ausstrahlen, nicht aber beim Individuum B? Ich lasse hier Pütter (05, S. 18) sprechen, der in seinem Referate die modernen Anschauungen über die Luminiszenz interpretiert: „Die chemischen Vorgänge, die in den lebenden Objekten und ihren Produkten in so gewaltigem Umfange ablaufen, sind auch die Ur- sache des Organismenlichtes. Dass chemische Prozesse mit der Produktion der verschiedenartigsten Strahlengattungen einhergehen, ist dem Physiker nichts Auffälliges, im Gegenteil, wir müssen annehmen, dass bei jeder chemischen Reaktion Strahlen entstehen. Was das Phänomen der organismischen Luminiszenz erstaunlich macht, ist nur der Umstand, dass in diesem Falle die produzierten Strahlen innerhalb des sichtbaren Teiles des Spektrums liegen und die nötige Intensität haben, um durch unser Auge wahrge- nommen zu werden. Es ist also die Luminiszenz nur ein Spezial- fall vieler ähnlicher Vorgänge und theoretisch nicht interessanter wie diese, nur auffälliger für unsere Naturbetrachtung mit Hilfe des Auges.“ Auf unseren Fall übertragen hieße das: Auch von den Leucht- organen des Individuums B gehen Strahlen aus, die aber nicht jene Wellenlänge besitzen, um von unserem Auge als Licht wahrgenommen zu werden. Wer weiß aber, ob sie nicht von anderen Lebewesen als solche, oder überhauptals irgendwelche empfunden werden, wo unsere Sinne eine Wahrnehmung versagen? Einen ähnlichen Gedanken- gang schlägt die Verfasserin in ihrer Publikation ein. Die Schleim- sekretion ist ein chemischer Prozess und als solcher von strahlender Energie begleitet; in einem Falle — Amphiura squamata — nimmt sie unser Auge als Licht wahr, in anderen Fällen — Ophiotrix fragilis, Astropecten aurantiacus, Antedon rosacea — aber nicht. Wäre es bei dieser Auffassung nicht besser, wenn tiberhaupt, dann eher von „Strahlenden Organen“ als „Leuchtorganen“ zu sprechen? Es wäre dies nicht das erstemal. Tauschte doch schon von Lenden- 348 Trojan, Das Leuchten der Schlangensterne. feld (05) in seiner letzten Arbeit auf diesem Spezialgebiete den Ausdruck ,luminous“ mit „radiating*“ aus. Die Gründe, die ihn hierzu bewogen, habe ich (06, S. 283) bereits an einer anderen Stelle hervorgehoben und kann sie hier nur wiederholen: „Es wäre möglich,“ meint er, „dass die innern Teile der Organe eine Strahlung erzeugen, die entweder selbst eine Ätherbewegung ist und direkt in das umgebende Wasser ausgesandt wird, oder aber eine Strah- lung im engeren Sinne, welche erst durch ihren Anstoß an andere Teile des Organes die Erzeugung von Lichtätherschwingungen ver- anlasst. Die Länge der Ätherwellen, die auf diese Weise direkt oder indirekt erzeugt werden, sei bei ein und demselben Organ stets die gleiche, bei verschiedenen Organen verschieden; manchmal seien diese Wellen vielleicht auch außerhalb des sichtbaren Teiles des Spektrums gelegen. Die unsichtbaren Ätherwellen dürften wahrscheinlich von größerer Länge sein als die, welche das rote Ende des Spektrums hervorbringen, weil solche wahrscheinlich das Wasser auf größere Entfernung durchdringen und weil die weit- sichtigen Augen einiger Tiefseefische besonders zu ihrer Perzeption angepasst zu sein scheinen. Die langen Ätherwellen dürften ultra- rotes Licht, noch längere vielleicht elektrischer Natur sein.“ Aber noch etwas anderes ist es, was mich veranlasst, im vor- liegenden Falle Einwand gegen den Ausdruck „Leuchtorgane“ zu erheben. Wer sich längere Zeit eingehend mit dem Leuchten der Tiere beschäftigt, pflegt unter der Bezeichnung „Leuchtorgan“ etwas anderes als das oben (S. 346) Geschilderte zu verstehen, weil der Ausdruck „Organ“ überhaupt etwas Komplizierteres in sich birgt; so sprechen wir mit Recht von Leuchtorganen bei Fischen, Cephalo- poden, Leuchtkäfern u. a. m. Die Annahme, dass es Schleim sei, der da bei den Schlangen- sternen leuchtet, hätte nichts Ungewöhnliches an sich, dazumal leuchtender Schleim bei niederen Tieren keine Seltenheit ist. An- fangs macht es allerdings einen stutzig, wenn man die gleichen histologischen Verhältnisse auf den Ambulakralfüßchen der Arme und der Scheibe findet, Schleimfladen auch in den Mundwinkeln nachweist, obzwar die Tiere nie dazu gebracht werden können, mit der Scheibe zu leuchten. Doch dieser Umstand würde wenig be- sagen und ließe sich nur dahin erklären, dass die uns zu Gebote stehenden mikrochemischen Reagentien derzeit zu grob sind, um die feinen Nuancen „leuchtendes Sekret* und „nichtleuchtendes“ zu verraten. Hier wären die Worte Krause’s (95, S. 94) am Platze: „Die mikrochemischen Reaktionen genügen nicht, wenn es sich um die Frage nach der Natur eines von Drüsenzellen gelieferten Sekretes handelt, sie können höchstens die Diagnose stützen...“ Wir kämen wie die Verfasserin zu dem Schlusse, dass ein Ophiuride zweifachen Schleim, einen leuchtenden und nichtleuchtenden produzieren kann. Trojan, Das Leuchten der Schlangensterne. 349 Diese Ansicht des Frl. Sterzinger teile ich auf Grund meiner zahlreichen physiologischen Untersuchungen durchaus nicht, wenn- gleich sich meine histologischen Befunde bisher mit den ihren decken und muss daher meinen Standpunkt zum Leuchtphänomen der Ophiuriden hier präzisieren und dies aus zwei Gründen: 1. Verschafft uns die Verfasserin bei aller Sorgfalt, mit der sie sich ihrer Aufgabe unterzog, über das Leuchten als solches nicht die volle Klarheit; das Resumé ihrer diesbezüglichen Befunde drückt sie folgendermaßen aus (07, S. 380): „Das Leuchten wird durch Schleim erzeugt, der von den Zellen des äußeren Epithels an der Spitze der Füßchen sezerniert wird, sich m den Interzellularräumen sammelt und durch Öffnungen in kleinen Papillen am vordersten Ende des Füßchens ausgestoßen wird (extrazelluläre Luminiszenz).“ 2. Könnte ihre Publikation den Eindruck hervorrufen — in einigen Fällen hat sie dies meines Wissens bereits getan — dass das Leuchten von den Schleimfladen stamme, ja dass vielleicht auch das Ausstoßen von Schleimpfropfen am Leuchtvorgange beteiligt sei. Zunächst das letzte. Es erinnert mich lebhaft an das Aus- stoßen leuchtenden Schleimes bei gereizten Saepiolinen, der in Form von leuchtenden Kügelchen aus dem Trichter herausgespritzt wird. Doch etwas Ähnliches habe weder ich noch jemand anders an leuchtenden Ophiuriden wahrgenommen. Ich gebe zu, dass die aus- gestoBenen Propfen zu jenen Schleimfladen gehören, sie sind aber eher ein unbrauchbares Exkret und leuchten entschieden nicht. Ja, ich gehe noch weiter und spreche selbst jenen Schleim- fladen jegliche Luminiszenz ab. Dass dies mit Recht geschieht, beweist zunächst der Umstand, dass ich jene Schleimbildungen in reichlichem Maße selbst an solchem Material nachweisen konnte, das ich durch meine physiologischen Versuche derart erschöpft hatte, dass nicht einmal die schärfsten Reizmittel ein Leuchten des Tieres herbeiführen konnten. Die Tötung des Objektes nahm ich plötzlich vor, um ja nicht Zeit zur Bildung neuen Schleimes ver- streichen zu lassen. Sollte die Luminiszenz auf ein Sekret zurück- zuführen sein, wäre sie nur für dessen status nascendi zulässig, wie ihn in herrlicher Weise jene Präparate zeigen, einem Schleier gleich zwischen den Kernen dahinziehend, so sanft wie das Leuchten selbst, nicht aber dort, wo das Sekret im Begriffe ist, Fladen zu bilden und die Ambulakralfüßchen zu verlassen. Noch ein anderer Umstand spricht für die Richtigkeit meiner Auffassung, dass das Licht von jenen Schleimfladen nicht stammen kann; er ist mit der Wiederlegung extrazellulären Leuchtens für Ophiuriden auf Grund vergleichender Studien eng verknüpft und soll daher später angeführt werden. Wenn es sich bei den Schlangensternen tatsächlich um extra- zelluläre Luminiszenz handelt, so wollen wir in kurzem Umschau halten, was über diese im Tierreiche überhaupt bekannt ist. 350 Trojan, Das Leuchten der Schlangensterne. Will (88) hat bei dem Polychaeten Chaetopterus pergamentuceus Drüsen gefunden, die leuchtenden Schleim absondern. Vom Körper des Wurmes abgewischt, leuchtet der Schleim weiter. Von Nereis cirrigera (Ehrenberg 36, S. 547) lässt. sich leuchtender Schleim abwischen, ohne dass er seine Leuchtkraft damit einbüßen würde. „Unter den Mollusken,“ schreibt Pütter (05, S. 26), „ist Pholas dactylus ein gutes Beispiel für die Entwickelung von Leuchtdrüsen und die Absonderung leuchtenden Sekretes .. .: durch Reizung kann man das leuchtende Sekret dieser Drüsen in ziemlicher Menge er- halten und Molisch (04) erbrachte den Nachweis, dass das Leucht- sekret fret von Leuchtbakterien ist, deren vermutete Anwesenheit einmal als Grund für das Leuchten der Bohrmuschel angesehen worden ist.“ Der Tausendfuß Geophilus electricus scheidet Schleim ab, der auch fern vom Tier weiter leuchtet. Andere solche Bei- spiele liefern die Centropagiden Pleuromma, Leuckartia, Haetero- chaeta, die Oncaeiden und viele andere Tiere mehr (Giesbrecht 95). Leuchtende Tiefseecephalopoden und Tiefseefische sind nach dieser Richtung aus naheliegenden Gründen nicht untersucht worden, wenn auch nach Brauer’s (04) vorläufigen Mitteilungen ein extra- zelluläres Leuchten für einige der letzteren mit Sicherheit ange- nommen werden kann. Auch aus dem, was Dr. Steche (07) der Deutschen Zoologischen Gesellschaft über das Leuchten der Ober- flächenfische Photoblepharon palpebratus und Heterophthalmus katoptron mitteilte, dass nämlich die Leuchtorgane dieser Tiere herausge- schnitten ihre Leuchtkraft stundenlang behalten, spricht für extra- zelluläre Luminiszenz. Allerdings leuchtet ein abgebrochener Ophiuridenarm auch bis !/, Stunde lang, doch glaube ich, dass die Korrelation, die zwischen einem Leuchtorgan und seinem Träger, dem Fische, besteht, und jene zwischen dem Ophiuriden und einem seiner Arme grundsätzlich verschieden ıst. Im allgemeinen lässt sich sagen, dass bei Fällen extrazellulärer Luminiszenz das Sekret auch fern vom Lichterzeuger weiterleuchtet. Warum gelingt es nun bei den Schlangensternen niemals, nur eine Spur des Leucht- stoffes zu isolieren? Als ich, wie erwähnt, in Neapel weilte, hatte ich Gelegenheit, gleichzeitig mit dem Leuchten der Schlangen- sterne auch die Luminiszenz anderer Tiere, bei denen erwiesener- maßen der Leuchtprozess extrazellulär vor sich geht, zu untersuchen und nie versagte das Experiment, wenigstens irgendein Pünktchen leuchtete fern von seinem Urheber auf. Bei Schlangensternen mit 1 dm langen Armen, aie dazu noch so erstrahlten, dass nur ein dünner Riickenstreifen dunkel blieb, war jegliche Mühe umsonst; Streichen des Armes mit dem Finger, Schaben mit dem Finger- nagel oder Skalpell, Zerreiben leuchtender Armteile zwischen den Fingern hatten keine Isolation des Lichtes zur Folge, sondern seinen Untergang. Trojan, Das Leuchten der Schlangensterne. 354 Frl. Sterzinger scheint solche Versuche mit Amphiura squa- mata nicht gemacht zu haben. Auch aus der Publikation Mangold’s (07, S. 619) entnehme ich, dass er bei seinen Versuchen in dieser Richtung nicht so weit ging wie ich, sondern sich mit der Tatsache abfand, dass ein Abwischen leuchtenden Substrates von der Ober- fläche ruhender oder gereizter Ophiopsilenarme niemals gelang. Er schließt die Möglichkeit sekretiver Prozesse dennoch nicht aus, da es sich seiner Ansicht nach um einen Stoff handeln könnte, der im Momente des Austrittes aus dem tierischen Körper aufleuchtet. Diese Auffassung scheint durch meine Versuche genügend wider- legt, denn durch das gewaltsame Zerdrücken leuchtender Arm- stücke würden gewiss viele Teilchen des hypothetischen Schleimes, dem Zellverbande entrissen, plötzlich mit dem umgebenden Medium, seı es Luft oder Wasser — auf beides untersuchte ich die Tiere — in Berührung kommen und müssten isoliert leuchten. Doch dem war nicht so. Wenn ich nun meine Beobachtungen am lebenden Material und meine bisherigen histologischen Befunde kurz zusammenfasse, dass 1. das Leuchten der Schlangensterne sich mit erregter Lebens- tätigkeit steigert, 2. von den leuchtenden Tieren nicht isolierbar und 3. eng an das Leben der Tiere, bezw. ihrer Teile gebunden, 4. dass endlich die Histologie leuchtender und nichtleuchtender Stellen ein und desselben Tieres die gleiche ist, dann wird es begreiflich erscheinen, dass ich mich von extrazelluläler Lumi- niszenz abwende und behaupte: Die Luminiszenz der Schlangen- sterne ist rein intrazellular. Warum sollten nicht gewisse Zellen des epidermalen Verbandes die Fähigkeit des Leuchtens besitzen? Die Schleimsekretion kani dessenungeachtet vor sich gehen. Vor kurzem habe ich (U7) die Frage geteilter Funktion in den epi- thelialen Zellen der Euphausien gelöst. Der Fall ist ganz analog dem vorliegenden, nur mit dem geringen Unterschiede, dass der sezernierte Schleim nicht nach außen, sondern nach innen befördert wird, erhärtet und zum Aufbau des sog. Reflektors und Refraktors dient. Nun wird sich auch, ohne dass wir Zuflucht zu der geringen Empfindlichkeit unserer Reagentien nehmen, der Umstand erklären lassen, warum wir denselben Schleim an leuchtenden und nichtleuch- tenden Stellen des Tieres in unseren Präparaten nachweisen können. Unerlässlich für die Lösung des Leuchtproblems bei Tieren bleibt aber die Forderung, dass die histologischen Untersuchungen Hand ın Hand mit möglichst zahlreichen physiologischen gehen müssen. Prag am 7. Januar 1908. Literaturverzeichnis. 1904. Brauer, A., Über die Leuchtorgane der Knochenfische. Verh. deutsch. zool. Ges. S. 16--34. 359 Trojan, Das Leuchten der Schlangensterne. 1836. Ehrenberg, Das Leuchten des Meeres. Abhandl. kgl. Akad. Wiss. Berlin, 8.389 Il. 1895. Giesbrecht, W., Mitteilungen über Copepoden. 8. Uber das Leuchten der pelagischen Copepoden und das tierische Leuchten im allgemeinen. Mitteil. Zool. Stat. Neapel. Bd. XI, S. 648—689, 1889. Hamann, Anatomie und Histologie der Ophiuren und Crinoiden. Jen. Zeitschr. Naturw. Bd. XXIII, S. 233--388. Heft 4 der Beiträge zur Histologie der Echinodermen. Jena. 1895. Krause, R, Zur Histologie der Speicheldrüsen. Die Speicheldrüsen des Igels. Arch. mikr. Anat. Bd. XLV, S. 94-133. 1894. Lang, A., Lehrbuch der vergleichenden Anatomie der Echinodermen und Enteropneusten. IV. Teil. Jena. 1905. v. Lendenfeld, R., The Radiating Organs of the Deep Sea Fishes. In: Mem. Mus. Harvard. Coll. Vol. XXX, S. 165—207. Mit 11 Taf. 1878. Ludwig, H., Beiträge zur Anatomie der Ophiuren. Zeitschr. wiss. Zool. Bd. XXXI. 4 Taf., 1 Holzschn., S. 346—394. 1879. — Die Echinodermen des Mittelmeeres; Prodromus einer monographischen Bearbeitung derselben. Mitt. Zool. Stat. Neapel. Bd. I, Leipzig, S. 523—580. 18550. — Neue Beiträge zur Anatomie der Ophiuren. Zeitschr. wiss. Zool. Bd. XXXIV, 3 Taf., S. 333—365. 1899. — und Hamann, O, Echinodermen (Seesterne). Bronn’s Klassen und Ordnungen des Tierreichs. Buch Il. 1901. — Dasselbe (Schlangensterne). Ebenda Bd. II, Abt. 3, Buch III. 1907. Mangold, E., Leuchtende Schlangensterne und die Flimmerbewegung bei Ophiopsila. Arch. ges. Physiol. Pflüger. Bd. OXVIII, S. 613—640. 1905. Pütter, A., Leuchtende Organismen. Sammelreferat. Zeitschr. allgem. Physiol. Bd. V, Sammelreferate, S. 17—53. 1907. Steche, C., Leuchtende Oberflachenfische aus dem 'malayischen Archipel. Verh. deutsch. zool. Ges., S. 85—93. 1907. Sterzinger, J., Über das Leuchtvermögen von Amphiura squamata Sars. Zeitschr. wiss. Zool. Bd. LXXXVIII, S. 357—382, 2 Taf. 1906. Trojan, E., Neuere Arbeiten über die Leuchtorgane der Fische. Zusammen- fassende Übersicht. Zool. Zentralbl. Bd. XIII, S. 273—284. 1907. — Zur Lichtentwickelung in den Photosphärien der Euphausien. Arch. mikr. Anat. Entwickelungsgesch. Bd. LXX, S. 177—189 mit 2 Textfig. Während die vorliegende Arbeit im Drucke war, fand ich in dem am 1. März d. J. erschienenen 5. Hefte dieser Zeitschrift zwei Aufsätze, die mit der Publikation des Frl. Sterzinger in Beziehung stehen; die eine „Über das Leuchten und Klettern der Schlangen- sterne“ rührt von Ernst Mangold (Greifswald), die andere „Über Leuchten von Schlangensternen“ von Dr. Reichensperger (Bonn). Der ersteren entnahm ich, dass sich Mangold heute für eine intra- zelluläre Luminiszenz der Schlangensterne viel entschiedener aus- spricht als früher. Dr. Reichensperger veröffentlicht in Kürze seine histologischen Befunde an leuchtenden Ophiuriden, die ihn glauben machen, dass das Leuchten dieser Tiere intrazellulär, bezw. intraglandulär sei. Nachdem ich nun ganz unabhängig von diesen beiden Autoren und von anderen Gesichtspunkten ausgehend zu dem gleichen Resultate wie jene betreffs der Art der Luminiszenz bei Ophiuriden gelangt bin, glaube ich, dass die Richtigkeit des- selben hinlänglich verbürgt ist. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der kgl. bayer. Hof- u. Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. i 5 ey seeds Kursus ın Mearestorschung, Wie früher soll auch in diesem Jahre während der Zeit vom 10. August bis 15. Oktober in Bergen ein Kursus in Meeresforschung abgehalten werden. Der Unterricht wird in Vorlesungen, praktischen Übungs- kursen und Exkursionen bestehen und wird nach dem folgenden Plan erfolgen: Dr. Appellöf, Evertebratenfauna des Nordmeeres, Systematik und Biologie, wöchentliche Exkursionen in den Fjorden; Dr. Damas, Tierisches Plankton des Nordmeeres, allgemeine Planktonbiologie; Helland-Hansen, Hydrographie mit Laboratoriumsübungen; Jörgensen, Vegetabilisches Plankton; Docent Kolderup, Ablagerungen des Meeres, Glacialgeologie Norwegens. Vorlesungen in deutscher Sprache. Jeder Teilnehmer bezahlt eine Vergütung von 150 Kronen (norw., 1 Krone = 1,12 Mk.), gleichgültig, ob er an allen oder nur an einem Fach teilnimmt. Mikroskope, Lupen und Präparierbesteck müssen mitgebracht werden. Anmeldungen müssen bis zum ı. Juli an „Das Institut für Meereskunde des Museums in Bergen, Norw.“ geschickt werden. | Gleichzeitig bittet man um Mitteilung über die Ausdehnung, in welcher man an den Kursen teilzunehmen wünscht. Ausführlicher Prospekt und sonstige Auskünfte werden auf Wunsch zugeschickt. K. B. Hof- u. Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. Bu \ u08 Wak jologisches Gentralblatt, Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Fostanstalten. XXVIII. Bd. 1. Juni 1908. Ne 11 u, 12. Leipzig. Verlage von Georg Thieme. Rabensteinplatz 2. Verlag von Gustav Fischer in Jena. IDie Funktionen der Nervencentra von Prof. Dr, W. v. Bechterew, 0. Akademiker, Direktor der psychiatrischen Nervenklinik der mediz. Akademie, Präsident des psychoneurologischen Instituts in St. Peterburg. Deutsche Ausgabe in Verbindung mit dem Verfasser redigiert durch Dr. Richard Weinberg, Professor der Anatomie in St Petersburg. Erstes Heft: Einleitung. Untersuchungsmethoden, Rückenmark und verlängertes Mark. Mit 96 Abbildungen im Text. 1908. Preis 16 Mark, geb. 17 Mark 50 Pf. Zellen-Studien von Dr. Theodor Boveri, Prof. an der Universität Würzburg, Heft 6. Die Entwicklung dispermer Seeigel-Eier. Ein Beitrag zur Befruchtungslehre und zur Theorie des Kerns. Mit 10 Tafeln und 73 Figuren im Text. Preis: Mark 30.—. 7 4 a : Von Dr. Luigi Luciani, Prof. Physiologie der Menschen. d. Physiologie u. Direktor d. physiol. Instituts der k. Univ. von Rom. Ins Deutsche übertragen und bearbeitet von Prof. Dr. Silvestro Baglioni und Dr. Hans Winterstein. Mit einer Einführung von Dr. Max Verworn, Professor der Physiologie und Direktor des physiol. Instituts der Univ. Göttingen. Mit 65 teilweise farb. Abbild. im Text. Vollständig in etwa 12 Lieferungen zum Preise von je 4 Mark. Bisher erschien Lieferung 1—10 bezw. Band I, II u. III. 1905/7. Preis: Bd. I 12M,, geb. 13M., Bd. II 12M., geb. 13M., Bd. III 16 M., geb. 17 M. Aya M. HL 1° Tone Biologisches Centralblatt Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. Bd. XXYVIIl. 1. Juni 1908. A 11 u. 12. Inhalt: Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus und der Sklaverei bei den Ameisen (Fortsetzung). — Prowazek, Das Leeithin und seine bivlogische Bedeutung. — Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. -- Ostwaldt, Prinzipien der Chcmie. — Berichtigung. Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus und der Sklaverei bei den Ameisen. (Zugleich 162. Beitrag zur Kenntnis der Myrmekophilen.) Von E. Wasmann 8. J. (Luxemburg). (Fortsetzung.) Am 24. Juli 1906 fand ich bei Hohscheid im Ösling (Luxem- burg) zahlreiche Tetramorium-Königinnen, meist schon entflügelt, umherlaufen. Einige entflügelte Weibchen traf ich unter Steinen bereits ın kleinen Erdhöhlen vor, die sie sich gegraben hatten. Ebenso verhielten sich sieben Weibchen, die ich in ein Beobach- tungsglas mit feuchter Erde gesetzt hatte. Mehrere dieser Königinnen starben infolge der Kämpfe untereinander. Am 4. September war nur noch eine Königin sichtbar, die in ihrer Erdröhre mit einem Eierklumpen und einem Dutzend Larven von 1-2 mm Länge saß. Am 25. Juni 1906 fand ich bei Luxemburg (auf Schétter-Marial) eine ganz junge Kolonie von Formica rufibarbis. Sie wohnte noch in einer kleinen einfachen Erdröhre, an deren Grund eine hasel- nussgroße Kammer sich befand, in welcher die Königin mit kaum 50 zum Teil frischentwickelten Arbeiterinnen und unbedeckten Ar- beiterpuppen saß. Ich war auf das Nest aufmerksam geworden durch die leeren Kokons, die vor dem Eingange lagen; ihre Zahl entsprach ziemlich genau derjenigen der noch vorhandenen unbe- XXVIII. 23 354 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. deckten Puppen; letztere waren somit von den Arbeiterinnen vor- zeitig aus den Kokons gezogen worden‘). Zwei junge fusca-Kolonien unter Steinen fand ich bei Luxem- burg ebenfalls am 25. Juni 1906. Die eine enthielt eine Königin, die andere zwei; in beiden war erst ein halbes Dutzend kleiner Arbeite- rinnen neben den Larven und Puppen von Arbeiterinnen vorhanden. Versuche über die selbständige Koloniegründung durch Weibchen von F. rufa und pratensis. Ich habe 1905 (S. 287) die Hypothese aufgestellt, dass bei rufa und pratensis die Fähigkeit der selbständigen Koloniegründung durch ihre befruchteten Weibchen verloren gegangen sei, weil ihnen nach dem Paarungsfluge gewöhnlich die Hilfe von Arbeiterinnen der eigenen Kolonie zu Gebote steht. Zur experimentellen Prüfung sei hier noch folgendes beigefügt. Während der letzten 20 Jahre habe ich wiederholt nach dem Paarungsfluge gefangene Königinnen von I. rufa, bezw. pratensis in Beobachtungsnestern isoliert ge- halten. Sie starben stets, ohne Eier gelegt zu haben. Am 24. Juli 1906 machte ich noch einen Versuch mit zwei rufa-Königinnen, die ich bei Hohscheid im Ösling, nach dem Paarungsfluge umher- laufend, gefangen hatte. Sie wurden zusammen in ein Glas mit Erde gesetzt. Am 6. August waren beide gestorben. Eier waren nicht erschienen. Ebenso endete ein im Mai 1908 mit einer rufa- Königin angestellter Versuch. Versuche über die Aufnahme von truncicola-Königinnen bei FL fusca. " Dass F. truncicola gesetzmäßig temporär gemischte Adoptions- kolonien mit Arbeiterinnen von fusca gründet, wurde bereits 1905 (Ursprung und Entwickelung der Sklaverei) gezeigt und auch die verschiedenen Stadien der ontogenetischen Entwickelung einer truncicola-Kolonie aufgeführt. Durch die Statistik *) von 15 (bezw. 12) truncicola-Kolonien bei Luxemburg-Stadt und die gleichzeitig im Zimmer gehaltenen Beobachtungsnester konnte ich diese Resultate seither bestätigen und ergänzen. Unter 12 Kolonien auf Schötter- Marial (von 1900-—1908) waren drei (Kol. Nr. 1, 2, 7) bei ihrer Auffindung im Stadium 1 (¢rancicola-Konigin mit fusca-Arbeiterinnen), eine im Ende des Stadiums 3, wo noch einige fwsca-Arbeiterinnen neben den truncicola-Arbeiterinnen lebten; die übrigen befanden sich in den Stadien 4—5 der wieder einfach gewordenen Kolonie. In den Kolonien Nr. 1 und 2 (April 1900 und 1901) stammte 48) In anderen Fällen stammen die unbedeckten Puppen auch aus frei sich verwandelnden Larven. 49) Zur Kenntnis der Ameisen und Ameisengäste von Luxemburg, III. Teil (Archives trimestr. Inst. Grand-Ducal Luxembourg 1908). Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 355 die Königin vom vorjährigen Paarungsfluge, und es waren sur alte fusca-Arbeitermnen in großer Anzahl (über 100) bei ihr. In der Kolonie Nr. 7 (16. August 1905) stammte dagegen die Königin vom diesjährigen Paarungsfluge, die Zahl der alten fusca war nur gering (höchstens 40) und es befanden sich noch Arbeiterkokons im Neste, deren Aufzucht sämtlich fusca ergab. Vielleicht bildeten die fusca dieser Kolonie ursprünglich nur einen Zweig einer der benachbarten selbständigen fusca-Kolonien, von welcher sie sich bei der Aufnahme der truncrcola-Königin abgetrennt und auch einige Kokons mitgenommen hatten; dadurch würde sich die Abwesenheit einer fusca-Königin in diesem Falle leichter erklären als durch die Annahme, dass die truncicola-Königin in einer alten weisellosen fusca-Kolonie aufgenommen wurde, wie es für die Kolonien Nr. 1 und 2 wahrscheinlich war. Die auf Kolonie Nr. 2 bezüglichen Beobachtungen sind im. Biol. Centralbl. 1905 eingehend mitgeteilt worden. Bezüglich der übrigen Kolonien verweise ich auf die Archiv. Luxembourg. 1908. Daselbst finden sich auch genauere Angaben über die Variabilität der truncicola-Weibchen in Größe und Färbung. Ferner wurde die Entwickelung der truncicola-Kolonie Nr. 7 (wie früher jene von Nr. 2) in einem Beobachtungsnest im Zimmer verfolgt von August 1905 bis gegenwärtig. Seit Mai 1906 befindet sie sich im Stadium 3 (aus Arbeiterinnen beider Arten gemischte Kolonie). Obwohl die truncicola-Königin regelmäßig mit Hilfe von fusca- Arbeiterinnen ihre neue Kolonie gründet und zur selbständigen Koloniegründung noch unfähiger erscheint als die r2fa-Kénigin, so zeigt sie doch noch Spuren des Brutpflegeinstinktes. In der Kolonie Nr. 2 trug die Königin noch am 17. Mai 1901, nachdem sie bereits monatelang mit den fusca-Arbeiterinnen zusammenlebte, bei Er- hellung des Nestes ihre Eierklumpen im Maule fort. Ich gehe nun zu den Versuchen über die Aufnahme von truncicola-Ké6niginnen bei fremden farsca-Arbeiterinnen über. Da ich hierfür weder künstlich entflügelte unbefruchtete Weibchen noch alte Königinnen aus truncicola-Nestern verwenden wollte, sondern nur Weibchen, die nach dem Paarungsfluge umherirrten, so ist die Zahl meiner Versuche nur gering. Erster Versuch. Am 28. Juli 1904 setzte ich ein entflügeltes truncicola-Weibchen, das in der Nachbarschaft eines fusca-Nestes umherlief, zu drei fwsca-Arbeiterinnen in ein Glas mit Erde. Der Versuch verlief resultatlos, weil die Erde verschimmelte und die Ameisen in wenigen Tagen starben. Zweiter Versuch’). Am 4. September 1905 fand ich auf 50) Dieser Versuch ist bereits im Biol. Centralbl. 1905, S. 651 kurz erwähnt. Für die Beweiskraft desselben scheinen mir jedoch nähere Angaben nötig, die oben folgen. 23% 356 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. dem truncicola-Gebiete von Schötter-Marial bei Luxemburg eine truneicola-Königin unter einem Steine, der ein verlassenes fusca- Nest bedeckte. Eine einzige fusca-Arbeiterin sah ich noch beim Aufheben des Steines ın einem Nestgange verschwinden; vermut- lich hatten die fusca vor der truncicola-Königin sich zurückgezogen. Die Königin wurde mitgenommen und in ein Lubbock-Nest mit feuchter Erde gesetzt. Dann ließ ich 40 fusca-Arbeiterinnen aus einer fremden Kolonie mit einigen Arbeiterkokons ın dasselbe Nest ein- wandern. Bei Begegnung wurde die fremde Königin von den fusca nicht feindlich angegriffen, aber sie wichen ihr aus und hielten sich fern. Am 6. September saß die Königin noch abseits von den fusca; wenn sie beim Umherlaufen unter die fusca geriet, wurde sie von diesen nicht feindlich angegriffen, nur mit den Fühler- spitzen berührt und dann ignoriert. Am 8. September wurde eine junge fusca-Königin, die ich unter einem Steine allein sitzend ge- fangen hatte, in dasselbe Nest gesetzt. Sie wurde sofort von den fusca wütend angegriffen, von vier oder sechs gleichzeitig umge- zerrt. Am 9. September war sie bereits getötet, während die trun- cicola-Königin nicht einmal vorübergehend angegriffen wurde. Am 15. September saß letztere immer noch abseits von den fusca. Am 16. sah ich eine fusca bei ihr, welche die Königin an einem Vorder- bein festhielt, während diese sie mit den Fühlern streichelte. Am 17. wurde die Königin von zwei fusca längere Zeit festgehalten. Am 18. saß konstant eine fusca friedlich neben ihr, ohne sie fest- zuhalten. Die übrigen fusca hielten sich noch fern.. Am 19. hatte sich die Königin den versammelten fusca bereits genähert, saß aber noch nicht unter ihnen. Vom 9. Oktober an war sie endlich voll- kommen aufgenommen. Zwischen ihrer Behandlungsweise und derjenigen der Königin ın der natürlichen Adoptionskolonie trun- cicola-fusca Nr. 7 (die gleichzeitig in einem anderen Beobachtungs- neste gehalten wurde) war fortan kein Unterschied mehr. Dieser Versuch hatte also ein positives Ergebnis für die Adoptionshypothese. Dritter Versuch. Ein am 3. September 1907 bei der trun- cicola-Kolonie Nr. 9 umherlaufendes entflügeltes Weibchen (mit sehr dünnem Hinterleib) wurde in ein Lubbock-Nest gesetzt, das durch eine diagonale Holzleiste in zwei Hälften geschieden war, jedoch so, dass ein breiter Durchgang offen blieb. In die eine Ab- teilung setzte ich das truneicola-Weibehen, in die andere ließ ich ca. 50 fusca-Arbeiterinnen mit 100 Arbeiterkokons einwandern. Die Iruncicola-Königin saß an diesem und den folgenden Tagen isoliert in der einen Abteilung. Zufällig herüberkommende fusca griffen sie nicht an, aber die Königin machte auch ihrerseits keinen An- näherungsversuch. Am 9. September sah ich zwei tote fusca neben ihr liegen; dass dieselben bei einem nächtlichen Angriff auf die Königin von dieser getötet worden waren, lässt sich nur vermuten; Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 357 ich sah keinen solchen Angriff, und zufällig vorbeikommende fusca ignorierten sie vollständig. Am 10. September saß die truncieola nahe der Stelle, wo die fwsca, aus der anderen Nesthälfte herüber- gekommen, mit ihren Kokons sich versammelt hatten. Die fusca brachten hierauf die Kokons wieder auf die andere Seite der Holz- leiste zurück, während die truncicola allem da blieb. Am 11. Sep- tember kehrten die fusca zuerst einzeln zurück; einige suchten die fremde Königin von ihrem Platze fortzuziehen; sie wehrte sich nicht, sondern betrillerte die Angreifer mit ihren Fühlern. Später kamen etwa 20 fusca mit einem Teil der Kokons herüber. Am Nachmittag war die Königin jedoch wieder alleın in dieser Nest- abteilung, die fusca in der anderen. Auch am 12. vormittags saß sie völlig isoliert, anscheinend noch gesund. Am Nachmittag zeigte sie jedoch Lähmungserscheinungen an den Tarsen, infolge des früheren Umherzerrens durch die fusca. Ich setzte sie deshalb in Alkohol. Der Grund, weshalb in diesem Falle keine Aufnahme erfolgte, ist vielleicht darin zu suchen, dass diese Kénigin nicht (wie die vorige im Versuch Nr. 2) eine Quarantäne, in einem fusca-Nest versteckt, hatte durchmachen können. (Für die Aufnahme von Atemeles bei Formica-Arten ıst diese Quarantäne von großer Be- deutung, um den fremden Koloniegeruch des Gastes zu beseitigen.) Vielleicht waren auch die fusca beim dritten Versuch deshalb weniger zur Annahme der fremden Königin geneigt, weil sie aus einer starken Kolonie stammten und noch zahlreiche Arbeiterkokons bei sich hatten im Versuchsneste. Endlich ist auch die Möglichkeit zu berücksichtigen, dass dieses Zruncicola-W eibehen nicht befruchtet war und deshalb nicht als Eierlegerin von den weisellosen fusca endgültig adoptiert wurde. Jedenfalls zeigen diese Versuche, dass die Aufnahme einer truncicola-Königin bei fusca auf geringeren Widerstand stößt als die Aufnahme einer rufa- oder pratensis-Königin unter ähnlichen Bedingungen (vgl. die unten folgenden Versuche mit rufa- und pratensis-Weibchen). Letztere wurden von den fusca weit heftiger angegriffen und verteidigten sich auch meist energischer. Noch heftiger wurden die sangwinea-Kéniginnen meist angegriffen; aber auch hier gelang einmal die Adoption (Versuch Nr. 12 mit sanguinea). Das Interesse für die Aneignung der Arbeiterkokons von fusca, das sich bei den sanguinea-Kéniginnen und auch bei einigen rrrfa- Königinnen zeigte, fehlte bei den trumcvcola-Königinnen in obigen Versuchen. In Verbindung mit ıhrer geringeren Körpergröße und namentlich ıhrem kleineren Kopf deutet das ganze Benehmen der truncicola-W eibchen darauf hin, dass sie ihre Kolonien durch fried- liche Adoption bei fremden alten fwsca-Arbeiterinnen gründen, wie auch Wheeler für F. consocians und Viehmeyer für trunei- 358 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. cola annimmt. Truncicola ist in ihrer Koloniegründung auf dem Wege zum sozialen Parasitismus, wenn auch noch nicht sehr weit, so doch schon so weit vorangeschritten, dass sie ihre Kolonien nur noch durch Adoption, nicht aber durch Puppenraub gründen kann. Hierauf wird unten weiter eingegangen werden. Versuche über die Aufnahme der Königinnen von F. rufa (und pratensis) bei F. fusca (und rufibarbis). Zu diesen Versuchen wurden teils alte Königinnen, teils junge, nach dem Paarungsfluge gefangene, benutzt, aber keine künstlich entflügelte jungfräuliche Weibchen. I. Erste Versuchsreihe. — Über die Aufnahme alter rufa-Königinnen durch Arbeiterinnen von fusca (24. April bis 21. Mai 1906). Versuch a. — Aus einer alten (mindestens 10—12jährigen) rufa-Kolonie wurden nacheinander drei Königinnen entnommen. Da alte ruwfa-Kéniginnen nach meinen früheren Versuchen in Holland durch Arbeiterinnen fremder Kolonien von rufa und rufo-pratensis leicht aufgenommen worden, wollte ich sehen, ob dies auch durch fusca- Arbeiterinnen geschieht. Das Ergebnis war ein positives, zeigte aber, dass die Aufnahme nicht so leicht erfolgt wie im obigen Falle. Zwei jener Königinnen wurden zu 12 fwsca-Arbeiterinnen einer normalen Kolonie in ein Beobachtungsglas (a) gesetzt. Anfangs wurden beide angegriffen und umhergezerrt, bald aber ruhig gedul- det. Nach drei Tagen waren beide Königinnen endgültig adoptiert und hatten Eier gelegt, die von den fusca gepflegt wurden. Am 1. Mai setzte ich das Beobachtungsglas (fusca a), in welchem noch acht fusca lebten, durch eine Glasröhre in Verbindung mit dem früher erwähnten Lubbock-Nest rufa-fusca IL), welche ich vorher durch eine diagonale Holzleiste in zwei Abteilungen getrennt hatte, zwischen denen nur ein enger Durchgang blieb. Die fusca a wan- derten bald in die eine leere Abteilung des Lubbock-Nestes hinüber und nahmen auch die beiden rwfa-Kéniginnen mit. Am 6. Mai waren nur noch vier von den fusca a am Leben. Ich öffnete nun die enge Verbindung zwischen den beiden Abteilungen des Lubbock- Nestes r-f-IIL, um zu sehen, ob die rufa-Königinnen von den rufa- fusca-Arbeiterinnen adoptiert werden würden. Dies geschah jedoch nicht. Die herüberkommenden fremden fusca kümmerten sich um die rufa-Königinnen nicht, sondern kehrten in ihre Nestabteilung zurück. Nur ein ebenfalls herübergekommener Atemeles emarginatus 51) Siehe im ersten Teil dieser Arbeit, oben S. 263, r-f-II. enthielt nur ca. 20 fusca-Arbeiterinnen und einige rufa-Arbeiterinnen. Die rufa-Königin dieser Kolonie befand sich in r-f-I, Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 359 blieb lange bei einer der ru/a-Königinnen sitzen. Die letzten fusca a waren von ihren Nachbarn getötet worden. Am 8. Mai setzte ich die Abteilung der beiden rufa-Königinnen in Verbindung mit einem Beobachtungsglase, das 15 fwsca-Arbeiterinnen aus einer fremden selbständigen fusca-Kolonie enthielt, auch Eierklumpen und junge Larven von fusca waren dabei. Die fusca wanderten bald mit ihrer Brut in das Lubbock-Nest hinüber. Die beiden rufa-Königinnen wurden von ihnen nicht feindlich angegriffen, sondern völlig ignoriert. Am 10. Mai war die eine Königin gestorben; die andere saß immer noch allein in einer Nestecke. Am 12. Mai setzte ich zwei Lome- chusa strumosa zu den fusca dieser Abteilung. Sie wurden — wie es bei fusca in selbständigen Kolonien stets der Fall ıst®?) — nicht definitiv aufgenommen, sondern bald misshandelt. Am 13. Mai hatte die eine Lomechusa zu der rufa-Kénigin in eine Nestecke sich zurückgezogen; die andere Lomechusa war durch die Misshandlung schon fast gelihmt. Am 15. und 16. Mai dasselbe Bild. Am 21. Mai war auch die zweite rufa-Kénigin gestorben und beide Lomechusa tot. Versuch f. — Die dritte der am 24. April aus einem alten rufa-Neste entnommenen Königinnen wurde am 25. ın ein Lubbock- Nest gesetzt, das eine kleine selbständige fusca-Kolonie mit zwei schon vier Jahre alten fwsca-Kéniginnen enthielt. Hier wurde die rufa-Königin entschieden feindlich behandelt und war schon am 27. Mai getötet. II. Zweite Versuchsreihe. — Über die Aufnahme junger rufa- und pratensis-Königinnen bei F. fusca und rufi- barbis (Juni 1906 bis Frühjahr 1908). Versuchsreih'en a und f (mit mehreren rvrfa-Königinnen nach- einander in einem kleinen Janet’schen Gipsnest a**) von F. fusca). Am 8. Juni 1906 setzte ich eine rufa-Kénigin, die ich zwei Tage vorher umherlaufend -gefangen und unterdessen in einem Glas mit Erde isoliert gehalten hatte, in das Beobachtungsnest a, welches 60 fusca-Arbeiterinnen (aus einer starken ungemischten Kolonie) mit zahlreichen Eierklumpen enthielt. Sie wurde von den fusca alsbald angegriffen und umhergezerrt, von anderen dagegen beleckt. Sie wehrte sich nicht und tötete keine der sie angreifenden fusca. Am 9. Mai war sie bereits der Misshandlung erlegen und lag mit verstümmelten Fühlern auf dem Rücken. Am 16. Juni wurde das frsca-Janet-Nest a durch 30 Arbeiter- 52) Als Hilfsameise von sanguinea, rufa oder truncicola behandelt dagegen fusca die Lomechusa gerade so freundschaftlich wie die „Herrenart‘“ es tut. Uber diese „Instinktregulation“ siehe S. 269. 53) Um den Ameisen natürlichere Existenzbedingungen zu bieten und das zu rasche Austrocknen zu verhüten, hatte ich dies Nest — entgegen der J anet’schen Methode — teilweise mit Erde gefüllt. 360 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. kokons von fwsca (aus fremden Kolonien) verstärkt. Am 18. Juni bemerkte ich in dem Neste eine 4 mm lange, demnach höchstens 4—5 Tage alte Larve von Atemeles emarginatus. Dieselbe hatte sich aus einem der am 7. Juni geholten Eierklumpen (aus einer fusca-Kolonie von Schötter-Marial) entwickelt, die ich damals sämt- lich für frsca-Eier hielt. Atemeles ist also nicht vivipar**), wie ich früher vermutet hatte, sondern legt Eier, die von jenen seiner Wirtsameise äußerlich nicht zu unterscheiden sind, aber sich viel rascher entwickeln. Am 21. Juni gab ich eine fast erwachsene Larve von Lomechusa strumosa (Johannisberg, 20. Juni bei F. san- guinea-fusca gefunden) in das Nest. Sie wurde von den fusca an- fangs adoptiert und vorübergehend beleckt, kroch aber unruhig umher und war bereits am 22. aufgefressen (wie es bei /’. fusca in deren selbständigen Kolonien stets geschieht). Versuch f, der im Janet-Neste a beendigt wurde: Am 25. Juni 1906 hatte ich eine isolierte rwfa-Kénigin auf Schötter-Marial in der Nähe von fusca-Nestern umherlaufend ge- funden. Sie wurde in einer Glasröhre mit Erde mitgenommen und am 27. Juni eine fusca-Arbeiterin zu ihr gesetzt. Als diese der rufa-Königin sich näherte, wurde sie mit geöffneten Kiefern be- droht und wagte keinen Angriff. Bald saßen beide friedlich bei- sammen. Am 29. hatte sich die Königin eine kleine Höhle in der Erde gegraben. Die frsca-Arbeitern hielt sich von ihr entfernt, bei Begegnung verhielten sie sich zueinander indifferent. Am 2. Juli hielt sich die Königin meist in ihrer Erdhöhle auf oder flüchtete in dieselbe, wenn ich das Glas berührte; die fusca blieb immer noch fern von ihr. An diesem Tage setzte ich vier fusca- Arbeiter aus dem Janet-Neste a (siehe oben!) in die Glasröhre zu der rufa-Königin. Eine derselben packte alsbald die Königin an einem Vorderbein, worauf diese mit geöffneten Kiefern und einge- krümmtem Hinterleib sich zur Wehr setzte; die angreifende fusca ließ sie hierauf los und zog sich zurück. Am Nachmittag (vier Stunden nach dem Hineinsetzen der frsca-Arbeiterinnen) saßen die fünf fusca bereits friedlich bei der rırfa-Königin; keine Spur von gegenseitigen Feindseligkeiten. Sobald ich mit dem Finger das Glas berührte, nahm die rufa-Königin sofort mit geöffneten Kiefern und erhobenem Vorderkörper eine Verteidigungsstellung ein, während die fusca sich ruhig verhielten. Am 3. Juli dasselbe Verhältnis zwischen der rufa-Kénigin und den fusca; ein durchaus friedliches, aber noch kein freundschaftliches (keine Beleckung oder Fütterung). An demselben Tage setzte ich noch zwei fsca-Arbeiterinnen aus dem Janet-Nest a hinein. Nachmittags bauten die sieben fusca ge- meinschaftlich mit der rzıfa-Königin an einem Erdneste. Auch die 54) Vgl. auch „Ursprung und Entwickelung der Sklaverei“ 1905, S. 132, Anm. 2 und in vorliegender Arbeit oben S. 290 Anm. 18. — Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismns ete. 361 rufa-Königin trug Erdklümpchen ım Maule heraus, aber seltener als die fusca. Am 4. Juli war das gemeinschaftliche Nest fertig. Sobald ich das Glas berührte, zog die r«fa-Königin sich in die Tiefe der Nesthöhlung zurück, wärend die fusca oben sitzen blieben. Am 5. und 6. Juli dieselbe Beobachtung über das Benehmen der Nest- insassen; völliger gegenseitiger Friede. Am 7. Juli verband ich nun das Glas, welches die ru fa-Königin mit den sieben fusca-Arbeiterinnen aus Janet-Nest a enthielt, durch eine Glasröhre mit dem letzteren Neste. Die rufa-Königin ging in das Janet-Nest hinüber und wurde dort von fünf fusca zugleich an den Fühlern und Beinen festgehalten. Sie wehrte sich jedoch nicht, sondern suchte durch Streicheln mit den Fühlerspitzen ihre An- greiferinnen zu beschwichtigen. Am Nachmittag — fünf Stunden nach der Verbindung der beiden Nester — saß die rufa-Königin bereits friedlich mitten unter den fusca des Janet-Nestes, bei den Larven und Arbeiterkokons derselben. Sıe war vollkommen und dauernd aufgenommen und wurde noch an demselben Tage von einer vor ıhr sitzenden Arbeiterin gefüttert. Der Hinterleib der am 9. Mai von denselben fusca getöteten rufa-Königin lag noch immer frei (nicht mit Erde bedeckt) im Neste. Fortan wurde die aufgenommene r«fa-Königin ım Janet-Neste a vollkommen als eigene Königin behandelt. Ich verstärkte die kleine, etwa 40 Arbeiterinnen zählende Kolonie — eine Anzahl der früher vorhandenen war durch eine Öffnung in das Zimmer gelangt und hatten den Rückweg nicht mehr gefunden — im Laufe des Sommers durch Arbeiterkokons aus fremden frrsca-Nestern. Das Nest zählt gegenwärtig (Januar 1908) noch gegen 100 fusca. Der erste Eierklumpen der rufa-Königin war am 17. März 1907 zu sehen; Ende April waren immer noch Eier, aber keine Larven vor- handen; die Eier wurden später wieder aufgefressen und 1907 kam keine Larve zur Entwickelung. 1908 erschienen die ersten Eier am 16. Februar, erst im Mai wuchsen Larven hervor. Versuchsreihe b und e (mit mehreren pratensis-Königinnen in einem Lubbock-Nest von /. fusca). b. — In ein Lubbock-Nest mit Erde wurde am 8. Juni 1906 eine pratensis-Königin (mit schwacher Beimischung von truneicola-Färbung) gesetzt, die ich am 6. Juni bei Hohscheid unter einem Steine in der Nachbarschaft einer rufibarbis-Kénigin, die unter demselben Steine saß, gefunden hatte. Dann setzte ich das Nest durch eine Glasröhre in Verbindung mit einem Fangglase, das 40 fusca-Ar- beiterinnen mit Eierklumpen enthielt. Die herüberwandernden fusca wichen der pratensis-Königin aus, ohne sie anzugreifen. ¢. — In eine kleine Kristallisationsschale mit Erde wurden am 8. Juni 30 fusca-Arbeiterinnen einer anderen Kolonie gesetzt und dann eine am 6. Juni auf der Straße bei Göbelsmühl gefangene pra- 362 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. tensis-Königin (mit Beimischung von rufa-Färbung) gebracht. Die fusca fielen sofort wütend über sie her und begannen sie umher- zuzerren. Die pratensis-Königin setzte sich energisch zur Wehr und biss eine fzrsca tot; dann suchte sie sich von den anderen ıhr anhängenden Feinden ebenso zu befreien, was ıhr bis auf zwei gelang. Ich nahm nun diese pratensis-Königin mit einer Pinzette heraus und übertrug sie samt den zwei an ihren Beinen verbissenen fusca ın das Lubbock-Nest zu der pratensis-Königin b. b und e. Die Angriffe der fusca richteten sich zunächst gegen die zwei fremden /usca-Arbeiterinnen, die gleich getötet wurden. Die pratensis-Königin e wurde heftiger angegriffen als b. Beide verteidigten sich mit eingekrümmten Hinterleib und bissen mehrere fusca tot. Am 9. Juni morgens wurde pratensis e von einer Menge fusca an Fühlern und Beinen gefesselt gehalten und umhergezerrt; sie schien schon ganz erschöpft. pratensis b wurde von drei fusca an den Beinen festgehalten und war unversehrt. Einige Stunden später saßen beide Königinnen isoliert in einer Ecke und wurden nur gelegentlich von fusca angegriffen. Meist ‘suchten sie durch Fühlerschläge den Gegner zu beschwichtigen; bei heftigeren An- griffen wehrten sie sich jedoch und bissen vereinzelte fusca tot. Auch am Nachmittag dauerten diese Kämpfe mit Unterbrechungen fort; pratensis e war bereits fast gelähmt und konnte sich kaum noch bewegen. pratensis b versuchte an diesem Nachmittag den fusca sich zu nähern, wurde aber von diesen angegriffen und fortgezerrt. Am 10. Juni morgens lag pratensis e tot mit verstümmelten Fühlern in emer Nestecke; pratensis b wurde von den fusca, deren Nähe sie zu suchen schien, nur selten mehr angegriffen. Am 11. Juni war pratensis b noch unversehrt, aber von der ihr anhaftenden Erde des Nestes ganz beschmutzt. Ich nahm sie - mit einer Pinzette heraus und setzte sie in ein kleines, nur teil- weise mit Erde versehenes Lubbock-Nest zu der rufibarbis-Konigin, in deren Nähe ich sie am 6. Juni bei Hohscheid gefunden hatte. Bald näherte sich die pratensis-Königin der rufibarbis-Königin und begann sie mit lebhaften Fühlerschlägen und indem sie mit den Vorderfüßen deren Kopfseiten streichelte, zur Fütterung aufzu- fordern. Die rufibarbis-Königin reagierte. anfangs nicht darauf, sondern blieb mit erhobenem Vorderkörper, gesenktem Kopfe und Fühlern wie eingerollt sitzen. Ich hielt nun der pratensis-Königin, als sie sich von der rufibarbis-Königin etwas entfernt hatte, einen Tropfen Zuckerwasser an der Spitze eines Strohhalmes unmittelbar an den Mund. Aber sie leckte nicht daran, sondern suchte die rufibarbis-Königin wiederum auf. Letztere hatte sich ein kleines Loch in die Erde des Nestes gegraben und drehte sich in dem- selben andauernd herum, wodurch sie die Nesthöhlung erweiterte. Die pratensis-Königin suchte lange nach ihr vergebens. Endlich Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 363 fand sie die Höhlung. Nun saßen die beiden Königinnen wieder andauernd beisammen; die rufibarbis-Königin stand halb aufgerichtet mit angezogenen Fühlern; die pratensis-Königin saß vor ıhr und forderte sie fortwährend durch Fühlerschläge und durch Streicheln mit den Vorderfüßen zur Fütterung auf! Am 12. Juni saßen die beiden Königinnen andauernd beisammen. Am 13. starb die vufi- barbis-Königin, wahrscheinlich vor Erschöpfung durch das andauernde Anbetteln von Seite der pratensis-Königin b. Am Nachmittag setzte ich diese wieder in das frühere Lubbock-Nest zu den fusca-Ar- beiterinnen (mit Eierklumpen und jungen Larven) zurück. Sie wurde heftig angegriffen und umhergezerrt, wobei sie sich nicht, wie früher, zur Wehr setzte, sondern die fusca durch Fühlerschläge zu be- schwichtigen suchte. Am 14. Juni wurde die pratensis-Königin von den fusca eingemauert, d. h. mit einem Erdwall umgeben und längere Zeit von mehreren fusca bewacht. Einige Stunden später hatte sie sich befreit und saß in einer Nestecke; eine von ihr ge- tötete fusca hing an einem ihrer Beine. Am 15. Juni saß sie an der von den fusca am weitesten entfernten Nestecke in der Erde verborgen. Sie war noch unversehrt. Am 16. lag sie jedoch tot, mit ausgestreckten, völlig schlaffen Beinen in ihrer Nestecke. Sie war also den Folgen der früheren Misshandlungen erlegen. Versuchsreihe d (mit einer rufa- und einer pratensis-Königin bei wenigen fusca-Arbeiterinnen mit Kokons; dann Adoption der pratensis-Königin und der fusca-Kokons durch F. rufibarbis). Am 18. Juni 1906 setzte ich ın ein Lubbock-Nest mit Erde fünf fusca-Arbeiterinnen mit 50 fusca-Arbeiterkokons, nachdem ich einige Minuten vorher in dasselbe Lubbock-Nest eine am 7. Juni auf Schötter- Marial umherlaufende, seither isoliert gehaltene Königin von FP. rufa und eine am 18. Juni ebendort umherlaufende pratensis-Königın **) gesetzt hatte. Die /usca flüchteten ihre Kokons in eine Nestecke. Die rufa-Königin nahte sich ihnen und wurde von einer fusca sofort heftig angegriffen und an einem Vorderbein gezerrt. Die rufa- Königin wehrte sich mit eingekrümmtem Hinterleibe und biss die fusca, begann aber dann sofort dieselbe an der ganzen Körper- oberfläche zu belecken. Als eine zweite fusca hinzukam und in eines der Beine der ru/a-Konigin sich verbiss, wandte diese sich gegen die neue Angreiferin, biss sie heftig in den Rücken und be- leckte sie dann ebenfalls. Darauf lief die Königin weiter, mit den beiden an ihren Beinen hängenden fusca, welche kein Lebenszeichen mehr gaben. Die thr anhängenden fsca-Leichen zerbiss die Königin und befreite sich so von ihnen. Die pratensis-Königin hielt sich unterdessen in einer Ecke auf, fern von den fusca und deren Kokons. 55) Es handelt sich also hier wie bei den vorigen Versuchen um befruchtete Weibchen, welche nach dem Paarungsfluge sich selbst ihrer Flügel entledigt hatten und zur Koloniegründung sich einen Nestplatz bezw. Aufnahme suchten. 364 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. Als sie einige Stunden später ihr Versteck verließ und zufällig zwischen den fusca-Kokons hindurchlief, wurde sie von den drei überlebenden fusca ebenfalls angegriffen und befreite sich von ihnen durch energische Gegenwehr. Als die rufa- und die pratensis-Königin einander beim Umherlaufen im Neste zuerst begegneten, bedrohten sie sich feindlich mit den Kiefern und entfernten sich dann wieder voneinander (vgl. hiermit das Benehmen der pratensis-Königin b gegenüber der rufibarbis-Königin beim vorigen Versuche). Am 19. Juni hatten die drei fusca ihre Kokons mitten im Neste aufgespeichert. Die beiden fremden Königinnen hielten sich abseits von ihnen und von einander. Als die rufa-Königin von einer ihr begegnenden fusca wütend angegriffen und in Fühler und Beine gebissen wurde, wehrte sie sich nicht mehr, sondern reagierte nur durch Zusammenrollen ıhres Körpers und durch heftige Fühler- schläge, durch welche sie die Angreiferin zu beschwichtigen suchte. Dies geschah sogar dann, wenn die fusca ihren Hinterleib ein- krümmte und sie mit Gift zu bespritzen suchte. Am 21. morgens waren nur noch zwei fusca am Leben, da die übrigen bei ihren Angriffen auf die fremden Königinnen getötet worden waren. Jetzt hatten die fusca die rufa-Königin zugelassen und aufge- nommen; sie saß mitten unter den Arbeiterkokons und Arbeiter- larven von fusca, nahe bei den zwei Arbeiterinnen. Die pratensis- Königin hielt sich fern davon in einem anderen Nestteile auf. Besonders bemerkenswert war das lebhafte Interesse, das die rufa-Königin gegenüber den Arbeiterkokons von fusca zeigte. Nachdem ich das (bedeckte) Lubbock-Nest in die Sonne gestellt hatte, trug sie gemeinschaftlich mit den zwei fusca sämt- liche Kokons an die erwärmte Stelle des Nestes. Bei Erhellung desselben nahm sie sofort einen Kokon ins Maul und flüchtete mit demselben, kehrte aber, als ich das Nest allmählich wieder ver- dunkelte, mit ihrem Kokon zu den übrigen Kokons, den zwei Larven von fusca und den zwei Arbeitern zurück. So oft ich das Nest erhellte, wiederholte sich dieselbe Szene; stets war es die rufa- Königin, welche die Kokons sofort wegzutragen begann, während die zwei fusca-Arbeiterinnen sich meist gleichgültig verhielten. Noch an demselben Tage starb die eine der beiden überlebenden fusca, wahr- scheinlich an den Folgen der früher erhaltenen Bisse. Bei Er- hellung des Nestes wurde ihre Leiche von der rufa-Königin ins Maul genommen und gleich den fusca-Kokons fortgetragen. Die andere fusca fütterte wiederholt die ru/a-Königin aus ihrem Munde, so oft diese sie dazu durch Fühlerschläge und Streicheln der Kopf- seiten aufforderte; das Fütterungsröhrchen, in welchem sich Zucker befand, wurde nur von der fusca besucht. An diesem Nachmittage sah ich, wie bei Erhellung des Nestes der Transport der Kokons gleichmäßig von der fwsca-Arbeiterin und der rufa-Königin besorgt Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 365 wurde. Letztere nahm meist zuerst eine der beiden fusca-Larven, um sie fortzutragen. Wiederholt sah ich die ru/a-Königin an der feuchten Erde des Nestes lecken, nachdem ich Wasser hinein- gespritzt hatte. Die pratensis-Königin streicht um die rufa-fusca- Gesellschaft häufig herum, wagt es aber nicht, sich zu nähern, obwohl sie oft die Fühler nach den Kokons ausstreckt. Später an demselben Abend sah ich die rufa-Königin im Neste umher- laufend; bei Begegnung mit der pratensis-Königin wich sie ihr aus. Bei Begegnung mit der fusca-Arbeiterin streichelte sie dieselbe mit den Fühlern und beleckte ihren Kopf; die fusca antwortete auf die- selbe Weise und fütterte dann die rufa-Königin. Am 22. Juni morgens hielt sich die r«fa-Königin bei den Kokons auf, beteiligte sich jedoch bei Erhellung des Nestes nicht mehr am Transport derselben. Die pratensis-Königin streifte immer noch in einiger Entfernung umher. Um 9'/, Uhr vormittags saßen die rufa- Königin, die fasca-Arbeiterin und die pratensis-Königin nahe bei- sammen, etwas abseits von den Kokons. Die pratensis-Königin näherte sich der rufa-Königin, beleckte sie mehrere Minuten lang und forderte sie schließlich zur Fütterung auf. Die rufa-Königin reagierte jedoch nicht, sondern hielt ihre Kiefer geschlossen. Wäh- rend der Beleckung durch die pratensis-Königin hatte sich die rufa- Königin förmlich zusammengekauert (aufgerollt). Einige Minuten später näherte sich die pratensis-Königin der fusca-Arbeiterin und forderte sie zur Fütterung auf durch Belecken des Kopfes und Streicheln mit den Fühlern und Vorderfüßen. Die fusca fütterte sie hierauf 11/, Minuten lang. Die rufa-Königin war unterdessen wieder zu den fusca-Kokons zurückgekehrt und blieb auf ihnen sitzen. Um 11 Uhr saßen die pratensis-Königin und die fusca-Ar- beiterin auf den Kokons; die rufa-Kénigin saß weit abseits. Bald darauf war umgekehrt die rufa-Königin bei den Kokons, die pra- tensis-Königin abseits. Bei Erhellung des Nestes beteiligten sich die Königinnen nicht am Transport der Kokons und Larven. Im Verlauf des Nachmittags starb die letzte fusca-Arbeiterin, nachdem sie von der pratensis-Königin oft nacheinander um Fütte- rung angebettelt worden war. Ich setzte hierauf eine neue erwachsene fusca-Arbeiterin aus einer anderen Kolonie hinein. Abends 7 Uhr lag die rufa-Königin tot, aber unversehrt im Neste; sie war ver- mutlich an Erschöpfung gestorben, da sie nicht hinreichend ge- füttert werden konnte von der einen fusca. Die pratensis-Königin war noch munter und gesund. Die neue fusca-Arbeiterin saß bei den Kokons. Am Morgen des 23. Juni lag auch die fusca tot im Neste. Nur die pratensis-Königin war noch am Leben mit den 30 fusca- Arbeiterkokons. Als ich die Leiche der rufa-Königin herausnahm und untersuchte, fand ich ihre Mundteile ganz verklebt (aber rein 366 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. von Erde). Sollte auch sie’ durch die wiederholte Aufforderung zur Fütterung durch die pratensis-Königin getötet worden sein? (vgl. die rufibarbis-Königin beim vorigen Versuche). Am 24. Juni verband ich das Lubbock-Nest mit einem Fang- glase, in welches ich soeben 20 rufibarbis-Arbeiterinnen einer großen, kampflustigen Rasse aus einem Neste in unseren Garten gesetzt hatte. Ich erwartete, dass sie sofort über die pratensis-Königin herfallen und sie töten würden. Aber nach einer halben Stunde schon hatten sich die meisten rufibarbis friedlich um die pratensis- Königin in einer Nestecke versammelt und dorthin auch die fusca- Arbeiterkokons getragen. Sowohl die pratensis-Königin als die fusca-Kokons wurden von den rufibarbis dauernd adoptiert! Am 25. und 26. Juni fand ich dieses Ergebnis bestätigt. Am 27. Juni setzte ich noch 30 rufibarbis-Arbeiterinnen (aus derselben Kolonie wie am 24.) in einem Fangglase in Verbindung mit dem Lubbock-Nest. Auch sie alliierten sich sofort mit der pra- tensis-Königin! Am 28. Juni hatten die rufibarbis ein Erdnest gebaut, in dessen Hauptkammer die adoptierte Königin mit den fusca-Kokons saß. Die Königin bildete konstant den Mittelpunkt der kleinen Kolonie und wurde sorgfältig beleckt und gefüttert. Am 9. Juli erschien der erste Eierklumpen im Neste; die Eier waren von der pratensis-Königin gelegt. Sie verschwanden aber im August wieder, indem sie von den rufibarbis gefressen wurden. Am 16. Juli wurden die zwei ersten fwsca-Arbeiterinnen aus den Kokons gezogen; am 17. waren sie schon fast ausgefärbt. An dem- selben Tage wurden bei Erhellung des Nestes mehrere neue frisch- entwickelte fusca-Arbeiterinnen von den rufibarbis fortgetragen. Am 27. waren bereits 10 fusca als völligadoptierte Hilfsameisen aufgezogen. Am 21. Juli hatte ich ihnen abermals etwa 50 Arbeiterkokons von fusca gegeben. Am 4. September bestand die kleine gemischte Kolonie aus etwa 50 rufibarbis-Arbeiterinnen und 60 fusca- Arbeiterinnen mit der pratensis-Königin; die Eierklumpen die ich noch Ende Juli im Neste gesehen, während meiner Ab- wesenheit (im August) verschwunden. Bis Ende Januar 1907 waren von der pratensis-Königin noch keine neuen Eier gelegt worden. Der erste Eierklumpen erschien am 17. März. Am 9. Mai waren schon gegen 60 Arbeiterlarven von 1,5—5 mm Länge vorhanden; am 25. Mai ein Dutzend Kokons; dieselben lieferten sehr kleine, dunkle pratensis-Arbeiterinnen. Am 12. Juli waren nochmals er- wachsene Arbeiterlarven zu sehen, am 19. Arbeiterkokons, am 16. August wieder mehrere neue, ebenfalls sehr kleine pratensis- Arbeiterinnen. Die Kolonie ist also 1907 dreifach gemischt ge- worden: die pratensis-Königin mit den von ihr erzeugten Arbeite- rinnen, ferner rufibarbis und fusca als Hilfsameisen. Auch letztere Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 367 lebten noch im Frühjahr 1908. Die ersten Eierklumpen der Königin erschienen 1908 am 21. Januar, die ersten Arbeiterkokons am 11. März, die ersten neuen Arbeiterinnen am 9. Mai. Versuch e (Aufnahme einer rufa-Königin bei F. fusca mit deren Arbeiterkokons). Am 25. Juni 1906 hatte ich entflügelte rufa-Königin auf Schötter- Marial unter einem Steine, nahe bei einem fusca-Nest versteckt, gefunden. Sie wurde in ein Fangglas mit 10 fusca-Arbeiterinnen und 100 Arbeiterkokons aus letzterer Kolonie gesetzt. Schon wäh- rend des Heimweges wurde die rufa-Königin von den fusca aufge- nommen, von einer bereits aus dem Munde gefüttert. Sie grub sich hierauf selbständig ein Loch in der Erde neben den aufgehäuften fusca-Kokons. Am 26. wurde die Kolonie in eine kleine Kristalli- sationsschale mit feuchter Erde übertragen. Von den 10 fusca waren nur noch fünf vorhanden, die übrigen waren entkommen; sie verhielten sich völlig friedlich gegen die rufa-Königin, welche die Kokons bewachte und mit geöffneten Kiefern auf die Pinzette losfuhr, so oft ich einen Kokon herausnehmen wollte. Ich sah die rufa-Königin auch selbständig an Zuckerkrümchen lecken, und zwar sehr anhaltend; einmal verfolgte ich den Vorgang unter der Lupe 5 Minuten lang. Am 27. Juni betteten die fusca ihre Kokons um und bauten Gänge in der Erde. Am 28. saß die rufa-Königin allein in einer Erdhöhlung; neben ihr lag eine aus dem Kokon ge- zogene fusca-Puppe; da die Kokonhülle unmittelbar daneben lag, musste die Königin den Kokon geholt und geöffnet haben. Sie nahm die unbedeckte Puppe, die noch ganz weiß war, häufig in den Mund und beleckte sie. sorgfältig. Die übrigen fusca-Kokons befanden sich an einer anderen Neststelle mit den fünf fusca-Ar- beiterinnen. Später kam die Königin aus ıhrer Höhle und setzte sich zu den fusca, von denen sie mit den Fühlern gestreichelt wurde. Die Königin ging auch häufig im Neste umher und untersuchte dasselbe mit ihren Fühlerspitzen, als ob sie etwas suche. Am 29. Juni sah ich die rufa-Königin wieder in ihrer Erdhöhle sitzen und dieselbe selbständig (ohne Hilfe der fusca) erweitern durch Heraustragen von Erdkrümchen und Holzfasern. Eine unbedeckte fusca-Puppe lag neben ihr in der Höhle und wurde häufig aufge- nommen und beleckt. Die fusca hielten sich mit den Kokons an einer anderen Neststelle auf. Erst am 30. Juni saß die Königin konstant auf dem Kokonhaufen der fusca, von den vier noch leben- den alten fusca umgeben; ebenso am 1. und 2. Juli. Bei jeder Annäherung meines Fingers an das durch eine Glasplatte ver- schlossene Nest setzte sich die rufa-Königin mit emporgerichtetem Körper und geöffneten Kiefern in Verteidigungszustand, während die fusca sich ruhig verhielten. Es war bereits ein halbes Dutzend noch weißer Arbeiterpuppen aus den Kokons gezogen; wahrschein- 368 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. lich stammten sie wie ım obigen Falle aus Kokons, welche die rufa- Königin geholt und in ihrer Höhle geöffnet hatte und die dann später von den fusca zurückgeholt wurden; keine einzige Puppe war gefressen worden (vgl. dagegen unten). Da die Erde in der Kristallisationsschale zu schimmeln begann, übertrug ich am 2. Juli die Nestinsassen in ein Fangglas und setzte dasselbe durch eine Glasröhre in Verbindung mit dem Lubbock-Nest b, in welchem zwei pratensis-Königinnen von 40 fusca misshandelt und getötet worden waren (s. oben Versuch b S. 361ff.). Es lebten noch etwa 30 fusca, die übrigen waren bei den Angriffen auf die pratensis-Königinnen getötet worden. Diese fusca stammten aus derselben Kolonie wie die 10 bezw. 5 fusca, welche die rufa-Königin soeben aufgenommen hatten. Am 4. Juli saß die rufa-Königin noch im Fangglase mit 30 fusca-Kokons und nur einer fusca-Arbeiterin. Die übrigen fusca waren in das Lubbock-Nest übergegangen und hatten auch die Mehrzahl der Kokons mitgenommen. Am 5. Juli dasselbe Ergebnis; nur war die Zahl der bei der Königin befindlichen Kokons auf 20 herabgegangen. Eine fusca lag tot im der Verbindungsröhre mit dem Hauptnest, welche von Seite des Fangglases her teilweise mit Erde verstopft war. Die rzfa-Königin hatte sich also wahrschein- lich dem Versuch der fusca des Lubbock-Nestes, ihr die Kokons (während der Nacht) zu nehmen, widersetzt und dabei eine An- greiferin getötet. Die bei der Königin verbliebene fusca war un- versehrt. Von den ım Hauptnest befindlichen Kokons waren 8—10 geöffnet und die Puppen teilweise gefressen. Am 6. Juli saß die rufa-Königin allein mit nur noch 12 Kokons im Fangglas; die fusca-Arbeiterin hatte sie verlassen. Bei jeder Annäherung meines Fingers an das Fangglas setzte sich die Königin sofort mit geöffneten Kiefern in Verteidigungsstellung. Am Morgen des 7. Juli waren endlich alle Kokons von den fusca in das Hauptnest herübergeholt, und auch die rufa-Königin saß dort mitten unter den fusca und den Kokons. Sie wurde hier und da von einer Arbeiterin am Beine festgehalten, aber niemals gezerrt, mehrere fusca beleckten sie eifrig. Am ‚8. Juli war ihre le Aufnahme zweifellos; sie wurde wie eine normale Königin dieser Kolonie behandelt. Am 9. Juli lag sie jedoch tot mitten unter den fusca, welche sie beleckten. Da sie von ihnen nicht misshandelt worden war, muss sie an Er- schöpfung oder infolge der früheren nächtlichen Kämpfe um die Kokons gestorben sein. — Besonders bemerkenswert ist an diesem Versuche das Verhalten der rufa-Königin, welche, statt bei den alten Arbeiterinnen Aufnahme zu suchen, die Kokons sich an- eignete, dieselben verteidigte, Puppen aus den Kokons zog und dicselben pflegte — ganz wie eine sanguinea-Königin nach der en hypothese! Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. 369 Rückblick auf diese verschiedenen Versuche mit Königinnen von rufa und pratensis. Die Resultate waren sehr mannigfaltig, geben uns aber doch einige allgemeinere Gesichtspunkte. Die Königinnen von rufa und pratensis werden in selbständigen, weisellosen fusca-Kolonien jeden- falls meist heftiger angegriffen und schwieriger aufgenommen als die trunmeicola-Königinnen. Auch verteidigen sie sich mutiger und töten eine größere Zahl ihrer Angreifer; hierin nähern sie sich den sanguinea-Königinnen. Immerhin bestätigen diese Versuche die Beobachtungen in freier Natur insoweit, als sie zeigen, dass die definitive Adoption emer rufa- oder pratensis-Königin durch Ar- beiterinnen von fusca oder rufibarbis unter günstigen Verhältnissen manchmal gelingt. Diese günstigen Verhältnisse bestehen haupt- sächlich in einer allmählichen Annäherung der rufa-Königin an die fusca der betreffenden Kolonie, die anfangs nur durch eine geringe Zahl von Arbeiterinnen vermittelt wird (Versuche a, f und e). Unerklärlich ist mir bisher die plötzliche Aufnahme einer pratensis-Königin durch eine größere Anzahl rufibarbis im Versuch f; vielleicht war die Anwesenheit der fremden Arbeiterkokons bei der Königin von Einfluss hierauf. Während ferner die truncicola-Königinnen gegen die Arbeiter- kokons von fusca sich bei meinen bisherigen Versuchen (ebenso auch bei Viehmeyer’s Versuchen, 1908, S. 24, die jedoch mit künstlich entflügelten, unbefruchteten Weibchen angestellt wurden) gleichgültig verhielten und nur an die alten fusca Annäherungs- wersuche machten, zeigten wenigstens zwei der obigen r«fa-Königinnen (Versuche d und e) ein auffallendes Interesse für die Arbeiter- kokons von fusca, welche von ıhnen gesammelt und verteidigt und deren Puppen sogar aus den Kokons gezogen und gepflegt wurden. Auch hierin zeigt sich eine offenbare Verwandtschaft mit dem Be- nehmen der sanguinea-Königinnen. Selbständige Nahrungsaufnahme beobachtete ich bei jungen rufa-Königinnen (Versuch e); ebenso auch bei jungen sanguinea-Königinnen. Merkwürdig ist das Sterben einiger Königinnen (von rufibarbis 1m Versuch b und e, von rufa im Versuch d), nachdem sie von einer fremden Königin um Fütte- rung angebettelt worden waren. Sollte sich auf diese Weise eine Beseitigung der alten Königin durch eine neu aufgenommene fremde bei Formica erklären lassen? Versuche mit Königinnen von F! sanguinea. Wenn man derartige Versuche richtig einschätzen will, muss man vor allem auf die Beobachtungen in freier Natur Rücksicht nehmen und zusehen, ob die Bedingungen und die Resultate der Versuche mit letzteren stimmen. Nun habe ich aber während meiner von 1884—1899 fortgesetzten Beobachtungen bei Exaten XXVIII. 24 370 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. in Holländisch Limburg, wo sanguinea sehr häufig ist, feststellen können, dass diese Ameise zur Bildung von Zweigkolonien neigt °®). Vielfach werden daher auch bei sanguinea, ähnlich wie bei rufa und pratensis, von den befruchteten Weibchen nach dem Paarungsfluge nicht neue Kolonien, sondern nur neue Zweignester von Kolonien gegründet. Einige neuere Beobachtungen hierfür (Hohscheid im Ösling) werden unten noch angeführt werden. Ferner fand ich zwar sehr häufig entflügelte sangaunea-Königinnen nach dem Paarungsfluge umherlaufend, ohne jedoch während 20 Jahren ihr Eindringen in Sklavennester feststellen zu können. Einmal fand ich bei Exaten eine solche sanguwinea-Königin tot bei einem rufi- barbis-Neste; sie wurde von mehreren rufibarbis heftig umhergezerrt; wahrscheinlich war sie bei dem Versuche, in das Sklavennest ein- zudringen, getötet worden. Mein Kollege H. Schmitz teilte mir mit, dass er im Sommer 1898 (unweit Exaten) eine sanguinea- Königin sah, welche in ein fusca-Nest, das mehrere Eingänge hatte, einzudringen versuchte. Sie lief in den einen Eingang hinein, kam wieder heraus, lief dann zu dem anderen Loch, und so mehrmals hin und her. Die fusca des ziemlich volkreichen Nestes kamen und gingen, ohne sich um die fremde Königin zu kümmern. Ob sie schließlich ım Neste verschwand oder nicht, konnte sich der Beobachter nicht mehr erinnern. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die jüngsten sangwinea- Kolonien, die ich während 16 Jahren bei Exaten fand, stets eine beträchtliche Anzahl alter fusca- Arbeiterinnen, aber keine fusca- Kokons mehr besaßen. Die jüngste Kolonie (23. Mai 1889) ent- hielt etwa 90 fusca und nur fünf frischentwickelte sanguinea mit der Königin der letzteren. Das lässt eher auf eine Adoptions- kolonie als auf eine Raubkolonie schließen, da fusca-Kokons fehlten. Wenn es gelänge, in freier Natur einmal eine sanguinea-Königin zu finden, die nur mit fusca-Kokons, ohne alte fusca-Arbeiterinnen, in einem ehemaligen fusca-Neste sich niedergelassen hat, so würde die Raubhypothese eine sichere Stütze in den natürlichen Verhält- nissen finden. Ohne Zweifel gibt es in sanguinea-reichen Gebieten zahlreiche schwache und durch wiederholte Beraubung ihrer Nester (durch die sanguinea-Arbeiterinnen) stark eingeschüchterte Sklavenkolonien, welche deshalb vielleicht auch einer einzeln eindringenden sanguinea- Königin keinen ernstlichen Widerstand entgegensetzen, so dass sie ihnen einen Teil der Puppen abnehmen kann. Auch ist zu be- rücksichtigen, dass man nach einem Paarungsfluge von sanguinea manchmal eine große Zahl ihrer entflügelten Weibchen auf einem verhältnismäßig kleinen Gebiete umherlaufend findet (vgl. die unten 56) S. hierüber 1895, Ursprung der Sklaverei S. 201. Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 3711 folgenden Beobachtungen von Hohscheid Juli 1906). Wenn aber mehrere dieser Königinnen zugleich oder bald nacheinander in das- selbe Sklavennest eindringen, so werden die Bewohner desselben um so leichter in die Flucht getrieben, da diese „Masseninvasıon“ den Eindruck eines der gefürchteten Raubzüge machen kann. Durch die Kämpfe, welche die jungen sanguinea-Königinnen untereinander führen (vgl. unten), kann dann die Zahl desselben in dem betreffen- den Neste auf eine beschränkt werden. Diese Erwägungen sprechen zugunsten der Raubhypothese Wheeler’s und Viehmeyer's. Ich gehe nun zu meinen Experimenten über. Am 24. Juli 1906 fand ich auf dem sangwinea-Gebiete von Hoh- scheid im Ösling auf einem Gebiete von nur etwa 100 qm zahl- reiche entflügelte sanguinea-Kéniginnen umherlaufen*’), von denen ich 15 fing und in ein Glas mit Erde setzte. Sie mussten von einem kurz vorher stattgefundenen Paarungsfluge stammen; denn in einer starken sanguinea-Kolonie desselben Gebietes sah ich oben im Neste 25—30 bereits entflügelte, aber außerordentlich behende Weibchen umherlaufen’*). Mehrere Meter von diesem Neste ent- fernt traf ich unter einem Steine ein ebensolches sanguenea-W eib- chen mit drei großen Arbeiterinnen zusammen; wahrscheinlich handelte es sich hier um eine in Bildung begriffene Zweig- kolonie. Die in dem Fangglase befindlichen sanguinea-Königinnen be- kämpften sich untereinander häufig, mit aufgerichtetem Vorder- körper einander gegenüberstehend oder eimander umherzerrend. Drei von den 15 Königinnen wurden dadurch an den Fühlern oder Beinen verstümmelt und mussten herausgenommen werden. Am 25. Juli gab ich einige Zuckerkrümchen und Wasser in das Glas. Die Königinnen leckten an beiden eifrig, besonders an ersteren. Die noch übrigen 12 Königinnen wurden folgendermaßen auf Ver- suchsnester verteilt: Nr. 1 und 2. — Am 25. Juli setzte ich diese zwei Königinnen mit einer Pinzette in ein Fangglas, das mit einem Lubbock-Nest verbunden wurde, in welchem 50—60 fusca-Arbeiterinnen mit etwa 100 Arbeiterkokons sich befanden. Die eine Königin wurde sofort von den fusca bemerkt, als sie in das Nest hinüberlief, und heftig angegriffen. Die andere Königin verbarg sich anfangs in der Erde des Nestes, wurde aber bald entdeckt und ebenso heftig angegriffen. Die ersten Angreifer wurden von den Königinnen getötet, aber ın 57) Über die an derselben Stelle umherlaufenden Tetramorium-Königinnen, deren selbständige Koloniegründung ich verfolgte, siehe S. 353. 58) An der großen Schnelligkeit der Bewegungen kann man solche junge Weib- chen, auch abgesehen von ihrem kleinen Hinterleib, von den alten Weibchen leicht unterscheiden, die nur in konzentrierten pseudogynenhaltigen Kolonien in solcher Menge sich finden. 24 372 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismas etc. wenigen Minuten waren sie überwältigt, wurden an Fühlern und Beinen von vielen fusca zugleich umhergezerrt und mit Gift be- spritzt. Die übrigen fusca liefen mit ihren Kokons wild durch- einander und suchten zu flüchten. Am folgenden Morgen lagen beide Königinnen tot und teilweise verstümmelt im Neste. Von den fusca waren nur etwa 8—10 im Kampfe gefallen. — Nach diesem Versuche scheint es, dass wenn nur eine oder zwei sangwinea- Königinnen in ein einigermaßen volkreiches fusca-Nest plötzlich ein- dringen, keine Aussicht auf Erfolg vorhanden ist. Sie werden von den fusca getötet, bevor sie sich der Kokons bemächtigen können. Dass die eine der beiden Königinnen anfangs in der Erde des Nestes sich zu verbergen suchte (Quarantäne, Annahme des Nest- geruches) deutet eher nf ihre en a sich später allmählich adoptieren zu lassen. Vgl. unten Nr. 12. Nr. 3. — Diese Kon wurde am 25. Juli in ein Glas mit feuchter Erde versetzt und eine alte fwsca-Arbeiterin zu ihr gesetzt. Diese griff sofort die Königin an, biss sich an einem ihrer Beine fest und wurde von ihr getötet. Eine zweite alte fusca, die ich hinzusetzte, verbarg sich anfangs in der Erde. Ich gab hierauf 50 unbedeckte Arbeiterpuppen von fusca ın das Glas. Nach einer halben Stunde war auch die zweite fusca getötet; die Königin hatte die fusca-Puppen auf einen Haufen gesammelt und bewachte ihn. Am 26. Juli saß sie konstant auf dem Puppenhaufen. Wenn ich den Finger dem Glase näherte, nahm sie Verteidigungsstellung ein und ergriff dann eine Puppe, um sie fortzutragen. Ebenso in den folgenden Tagen. Die Königin beleckte auch die Puppen. Anfang August musste ich verreisen. Die Ameisen wurden unterdessen von meinen Kollegen K. Frank und H. Schmitz weiter beobachtet und in ein Lubbock-Nest übergesiedelt. Bei meiner Rückkehr fand ich am 4. September 10 junge fusca-Arbeiterinnen vor, die von der Königin aus den unbedeckten Puppen erzogen worden waren. Die ersten Eierklumpen der Königin waren am 15. August, die ersten Arbeiterlarven anı 23. August erschienen (K. Frank). Den ersten sehr kleinen Arbeiterkokon sah ich am 11. September; es waren außerdem nur noch zwei Larven vorhanden, die übrigen waren aufgefressen; am 22. September war auch der Kokon verschwunden. Der Hinterleib der Königin nahm schon im September an Umfang zu. Am 17. März 1907 erschien wieder ein Eierklumpen. Am 9. Mai waren vier Arbeiterlarven vorhanden, die größte ca. 5 mm. Am 18. September bestand die Kolonie aus der sangwinea-Königin, einer sehr kleinen, unterdessen entwickelten sangwinea-Arbeiterin und 10 fusca. Am 20. November wurde das Nest ausgeräumt, da alle Insassen (durch Austrocknen des Nestes) bis auf eine fusca gestorben waren. — Dieser Versuch hatte also ein positives Er- gebnis. Die sangrinea-Königin adoptierte die fusca-Puppen (vgl. Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 373 auch die rufa-Kénigin im Versuch e S. 367) und erzog sich aus denselben die Hilfsameisen für ihre junge Kolonie. Nr. 4 und 5. — Am 25. Juli wurden die beiden Königinnen zusammen in ein Beobachtungsglas mit feuchter Erde gesetzt. Ich gab hierauf 20 Arbeiterkokons und einige große Kokons von sanguinea und drei große alte sangwinea-Arbeiterinnen aus einer fremden Kolonie hinzu. Die Königinnen vereinigten sich mit den drei san- guinea-Arbeiterinnen fast augenblicklich und ohne Kampf; sie be- wachten gemeinschaftlich die Kokons. Am 27. Juli saßen die beiden Königinnen in kleinen Erdlöchern unterhalb der sanguinea-Puppen; die drei Arbeiterinnen saßen oben und hatten schon fünf frisch- entwickelte Gefährtinnen aus den Kokons erzogen. Seit dem 14. August waren bereits Eierklumpen der Königinnen vorhanden. Die Kolonie war dann eingegangen, weil das Nest einmal zu lange in der Sonne gestanden hatte. — Dieser Versuch zeigt, dass die jungen sangwinea- Königinnen leicht von einer geringen Zahl von Arbeiterinnen aus einer fremden Kolonie derselben Art aufgenommen werden (das- selbe ist auch bei rufa und pratensis der Fall). Dass auf diese Weise auch in freier Natur von den nach dem Paarungsfluge umher- irrenden sanguwinea-Königinnen neue Kolonien gegründet werden können, dürfte außer Zweifel stehen. Nr. 6 und 7. — Am 25. Juli wurden die beiden Königinnen zusammen in ein Glas mit feuchter Erde gesetzt. Ich gab ihnen 40 Arbeiterkokons von fusca und zwei noch unausgefärbte, junge fusca-Arbeiterinnen bei. Letztere assozuerten sich mit den Königinnen. Die ältere der beiden fusca sammelte mit der einen der beiden Königinnen die Kokons auf einen Haufen; bei Annäherung meines Fingers trug die auf dem Haufen sitzende Königin sofort einige Kokons weg; die andere Königin hielt sich in der Erde versteckt. Am 27. saßen beide Königinnen auf dem Puppenhaufen; die eine war ım Kampfe mit der anderen an den Fühlern verstümmelt worden und konnte sich kaum mehr bewegen; ıch nahm sie des- halb heraus. Der erste Eierklumpen von der überlebenden Rivalın erschien am 9. August, eine Larve am 23. August; Eier und Larven wurden aber wieder gefressen. Die Zahl der fusca (aus den adoptierten Kokons) betrug am 4. September ungefähr 25. Am 19. September gab ich ın das Lubbock-Nest, ın welches die Ameisen umquartiert worden waren, 50 neue Arbeiterkokons und unbedeckte Puppen von fusca; sie wurden von den Sklaven sofort adoptiert. Auch der Hinterleib dieser Königin (wie von Nr. 3) begann im Herbste sichtlich an Umfang zuzunehmen. Am 17. März 1907 sah ich die ersten Eierklumpen, am 9. Mai 11 Arbeiterlarven, von denen eine schon fast erwachsen war. Am 12. Juli war die ganze Brut wieder aufgefressen. Am 21. August gab ich den Ameisen 12 Ar- beiterkokons von fusca und zwei von truncicola; nur erstere wurden 374 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. erzogen, obwohl auch letztere adoptiert worden waren. Am 24. waren schon drei frischentwickelte fusca zu sehen, am 1. September 12. 1908 lebte die Königin noch mit etwa 30 fusca-Sklaven. Im Mai waren Larven vorhanden. — Auch dieser Versuch ergab (wie Nr. 3) ein positives Resultat zugunsten der Hypothese, dass die sanguinea-Königin ihre neue Kolonie mit Hilfe von Puppen und ganz jungen Arbeiterinnen der Sklavenart gründen kann. Nr. 8. — Zu dieser Königin wurden am 25. Juli 1906 20 Ar- beiterkokons von F. exsecta und zwei alte exsecta-Arbeiterinnen ge- geben. Die Königin trug Kokons auf einen Haufen zusammen, die exsecta auf einen anderen Haufen; ein Streit zwischen beiden Parteien war aber kaum bemerkbar. Am 26. hatten sich die exsecta mit der Königin vereinigt und bewachten gemeinschaftlich die Puppen. Am 31. Juli starb die sangawinea-Königin (Nr. 8) wahr- scheinlich infolge der vorausgegangenen Kämpfe mit den anderen Königinnen am 24. und 25.) und wurde durch die Königin Nr. 9 ersetzt, die bisher isoliert in einem Glas mit feuchter Erde gehalten worden war. Die Kolonie wurde hierauf in ein Lubbock-Nest über- tragen. Nr. 9. — Am 4. September lebten die beiden exsecta noch friedlich mit der sanguwinea-Konigin. Aber weder Eier noch Larven von sanguinea waren erschienen; auch wurden keine neuen exsecta- Arbeiterinnen aus den Kokons gezogen, die noch weiter gepflegt wurden, nachdem sie schon vertrocknet waren. Der Hinterleib der Königin nahm nicht an Umfang zu im Herbste. Am 9. September setzte ich sieben kleine pratensis-Arbeiterinnen mit 50 Arbeiter- kokons in das Nest. Die sangeinea-Konigin hielt sich mit den beiden exsecta fern von den pratensis; auch zeigte sie keine Neigung, die Kokons derselben zu rauben. Einige pratensis griffen die Königin wiederholt an und zerrten sie sogar umher, ohne dass sie Wider- stand leistete; am 22. September waren jedoch einige alte pratensis tot (von ihr getötet?). Aus den Kokons war bereits eine junge pratensis entwickelt, am 30. September schon viele. Die sanguinea- Königin mit den exsecta hielt sich immer noch von den pratensis abseits, wurde aber bei Begegnung von den alten Arbeiterinnen nicht mehr angegriffen. Am 4. Oktober endlich saß die Königin vollkommen aufgenommen mitten unter den pratensis; wahrschein- lich war ihre Aufnahme durch die frischentwickelten Arbeiterinnen vermittelt worden. Die einzige noch lebende easecta hielt sich ab- seits. Am 4. Oktober sah ich, wie die Königin zugleich mit zwei pratensis eine frisch entwickelte pratensis-Arbeiterin aus dem Kokon zog. Obwohl die Königin von ihren Hilfsameisen häufig gefüttert wurde, wuchs der Umfang ihres Hinterleibes nicht. Am 5. November waren alle pratensis aus den Kokons entwickelt. Am 6. Dezember hatte sich auch die eine noch übrige exsecta ihnen zugesellt. Trotz kN Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 375 der völligen Aufnahme der sanguinea-Königin legte sie 1907 keine Eier. Am 16. und 18. September 1907 gab ich zahlreiche neue Arbeiterkokons von pratensis hinzu. Am 21. Oktober zählte die Kolonie ungefähr 100 Arbeiterinnen. Bis Mai 1908 sind noch keine Eierklumpen erschienen. — In diesem Versuche wurde also eine sanguwinea-Königin von pratensis adoptiert, zeigte aber keine Neigung zum Puppenraub. Nr. 10. — Diese Königin wurde am 25. Juli 1906 in ein Glas mit feuchter Erde gesetzt; später wurde sie ın ein Lubbock-Nest übertragen. Sie legte keine Eier. Am 9. September verband ich das Nest durch eine Glasröhre mit einem Lubbock-Nest von F' fusca, das 50—60 Arbeiterinnen aber keine Kokons mehr enthielt; von den Arbeiterinnen waren einige im August entwickelte, die anderen alte. Die fusca blieben in ihrem Neste und ignorierten die benach- barte sanguinea-Konigin vollständig. Am 30. September war die Verbindungsröhre von der Seite des sanguinea-Nestes her mit Erde und Wattefasern verstopft. Am 10. Oktober war die Verbindungs- röhre wieder offen und die sanguinea-Königin saß gewöhnlich am Eingang desselben, ging aber nicht in das fusca-Nest hinüber. Am 9. November war die Röhre wiederum auf der sanguinea-Seite ver- stopft, bald darauf wieder offen. Am 6. Dezember waren die fusca immer noch nicht herübergekommen, wohl aber eine An- zahl Myrmica laevinodis, die früher einen Teil des fusca-Nestes innegehabt hatten. Die sanguinea-Koénigin lag tot in ihrem Neste, wahrscheinlich durch die Stiche der Myrmica umgekommen. — Dieser Versuch zeigt, dass eine sanguwinea-Königin lange Zeit an der Schwelle eines fusca-Nestes sich aufhalten kann, ohne dass die fusca sie vertreiben oder töten. Dadurch ist aber auch die Möglichkeit ihrer allmählichen Aufnahme gegeben (vgl. Nr. 12). Nr. 11 und 12. — Die beiden Königinnen wurden am 25. Juli 1906 in ein Lubbock-Nest mit feuchter Erde gesetzt, das durch eine diagonale Holzleiste in zwei gleiche Hälften geteilt war und nur einen schmalen Durchgang zwischen beiden Hälften hatte. In die eine Hälfte (a) kamen die zwei Königinnen, die an diesem und dem folgenden Tage oft miteinander kämpften. Die andere Nesthälfte (b) wurde am 27. Juli durch eine Glasröhre in Verbindung gesetzt mit einem fusca-Lubbock-Nest (50 Arbeiterinnen und viele Arbeiter- kokons), in welchem die sanguinea-Kéniginnen Nr. 1 und 2 am 25. getötet worden waren. Die eine der beiden Königinnen ina (Nr. 11), starb schon am 27. Juli, bevor noch die Verbindung zwischen b und dem fusca-Neste angebracht worden war. Die fusca zogen in die leere Nest- abteilung b hinüber und drangen dann vom 30. Juli an allmählich auch in die Abteilung a ein, wo die sangwinea-Königin Nr. 12 saß. Diese Königin wurde von den fusca nach vorübergehenden Feindseligkeiten 376 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. adoptiert. Sie starb am 16. August*’), ohne Eier gelegt zu haben. — Dieser Versuch zeigt, dass eine sanguinea-Kénigin manchmal auch von alten fusca, welche Arbeiterkokons bei sich haben, schließlich aufgenommen wird, wenn die fusca keine Königin mehr besitzen und sich der in ihrem Neste vorgefundenen sanguinea-Königin allmäh- lich nähern können. Zusammenfassung. Diese Versuche wurden hier eingehend mitgeteilt‘), um einen Vergleich mit denjenigen Wheeler’s (1906, On the foundig of colonies) und Viehmeyer’s (1908, Koloniegriindung)*!) zu ermög- lichen. In mancher Beziehung stimmen meine Resultate mit den- jenigen der obigen Forscher überein. Wenn die sangwinea-Königin plötzlich in ein fausca-Nest eindringt, wird sie von den alten fusca heftig angegriffen, verteidigt sich energisch und bemächtigt sich der Puppen, welche sie sammelt und aufzieht. Aber wenn die fusca auch nur einigermaßen zahlreich waren, unterlag die sanguinea- Königin bei meinen Versuchen, bevor sie dieses Ziel erreichen konnte. Dies war auch bei mehreren Versuchen Wheeler’s mit sanguinea-rubicunda und bei allen seinen Versuchen mit sangwinea- subintegra und aserva der Fall. Andererseits zeigen meine Ver- suche, dass manchmal, wenn eine allmählıiche Annäherung zwischen der im Sklavenneste versteckten sangwinea-Königin und den fusca erfolgen kann, die Königin auch von den alten Arbeiterinnen schließ- lich adoptiert wird (Versuch Nr. 12). Es lässt sich also zwischen ihrer Koloniegründung durch Puppenraub (pupillary parasitism Santschi’s und Wheeler’s) und zwischen derjenigen durch Adoption (tutelary parasitism Santschi’s und Wheeler’s) keine so scharfe (Grenze ziehen. Beide Formen scheinen vorkommen zu können und manchmal ineinander überzugehen. In freier Natur dürfte die Verbindung beider Formen dadurch sich vollziehen, dass die beim Eindringen der sangıinea- Königin in ein fusca-Nest mit ihren Puppen geflüchteten alten /wsca-Arbeiterinnen allmählich wiederum zurück- kehren und dann mit den unterdessen von der sanguinea-Königin (aus den geraubten Puppen) aufgezogenen jungen Arbeiterinnen sich assoziieren. So erklärt sich die große Zahl der Hilfsameisen in Jungen sanguinea-Kolonien (vgl. oben S. 370) jedenfalls leichter als durch Puppenraub allein. 59) Vielleicht noch infolge der Kämpfe mit ihrer Rivalin Nr. 11, vielleicht auch infolge der anfänglichen Misshandlungen durch die fusca. 60) Kurz erwähnt sind dieselben bereits in der dritten Auflage meines Buches „Die moderne Biologie und die Entwickelungstheorie 1906, S. 403. Sie sind jedoch der Wheeler’schen Hypothese nicht so ungünstig, wie ich damals glaubte. 61) Ich nehme an, dass es sich in seinem Berichte S. 24—25 um sieben ver- schiedene Versuche handelt, die er mit sieben Königinnen anstellte. Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 377 Auch zwischen der Koloniegründung von rufa und sanguinea zeigen sich nach meinen Versuchen manche auffallende Übergänge. Die rufa-Königin wehrt sich oft heftig gegen die angreifenden fusca und tötet manche ihrer Angreifer. Andererseits zeigt sie sich manchmal sehr interessiert für die Arbeiterkokons von fusca, sammelt und verteidigt dieselben und zieht den Aufenthalt bei den Sklaven- puppen sogar der Adoption durch die alten Arbeiterinnen vor (Ver- such e S. 367). Und doch ist F. rufa in freier Natur keine sklavenhaltende Ameise, und wenn sie fremder Hilfsameisen bei ihrer Koloniegründung sich bedient, so geschieht das gewöhn- lich durch Adoption, nicht durch Puppenraub. Überhaupt verdienen die Analogien zwischen der Kolonie- gründung von rufa und sanguinea besondere Berücksichtigung für unsere Frage. Wie bei ersterer so kommt auch bei letzterer die Gründung neuer Nester durch Zweigkoloniebildung häufig vor. Wie ferner die Königin der ersteren leicht von fremden Arbeite- rinnen der eigenen Art aufgenommen wird und mit ihnen eine neue Kolonie gründen kann, so auch die Königin von sanguinea (Versuch Nr. 4 und 5 S. 373). Wie erstere, wenn sie keine Ar- beiterinnen der eigenen Art zur Koloniegründung findet, an fremde Hilfsameisen sich wendet (sozialer Parasitismus), so auch letztere. Wie bei ersterer, so kommen auch beı letzterer zweierlei Formen der parasitischen Koloniegründung vor, durch Adoption von seiten der alten fusca und durch Okkupation der Arbeiterbrut. Bei rufa ist jedoch die parasitische Koloniegriindung noch fakultativ, bei sanguinea bereits mehr obligatorisch. Ferner sehen wir, dass von den beiden Zweigen, die von der fakultativen parasitischen Koloniegründung ausgehen, der eine, welcher zu den Adoptions- kolonien führt, bei frumeicola obligatorisch geworden ist, während der andere, der zu den Raubkolonien führt, bei sanguinea mehr oder minder obligatorisch ausgebildet ist. Es bestehen also mannig- fache Verbindungsstufen zwischen fakultativer und obligatorischer Form der parasitischen Koloniegründung einerseits und zwischen den beiden Formen der parasitischen Kolonigründung (durch Adoption und durch Puppenraub) andererseits. Jedenfalls müssen wir, wenn wir uns die phylogenetische Entstehung der gesetzmäßigen Formen von Adoptionskolonien einerseits und von Raubkolonien anderer- seits bei Formica phylogenetisch einheitlich „vorstellen“ wollen, von einer Formica-Art ausgehen, bei welcher die parasitische Kolonie- gründung bereits fakultativ auftrat und noch die Möglichkeit der Entwickelung beider Zweige der parasitischen Koloniegründung vorlag. In diesem Sinne können wir also sagen, dass der Ursprung der Sklaverei von F\ sanguinea nicht bei einer „truncicola-ähnlichen Form“ zu suchen ist, sondern eher bei einer „rufa-ähnlichen Form“; 378 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. denn bei truncicola ist die parasitische Koloniegründung durch Adoption bereits obligatorisch geworden. Andererseits bietet uns aber die Neigung von F. truncicola‘?), unter fremden Arbeiter- puppen, die man ihr gibt, gerade diejenigen ihrer ehemaligen Hilfs- ameisenart (fusca) aufzuziehen, den besten Anhaltspunkt dafür, wes- halb auch bei den Sklavenhaltern (wie sanguinea) die Puppen der ursprünglichen Hilfsameisenart, mit welcher die Kolonie gegründet wurde, künftighin erzogen und nicht gleich anderen geraubten Puppen fremder Arten einfachhin aufgefressen worden. Für die hypothetische Erklärung des Ursprungs der Sklaverei bleiben daher auch die bei truncicola gewonnenen Resultate von maßgebender Bedeutung. Auch insofern kann man ein ¢truncicola-Stadium als „Vorstufe“ des sanguinea-Stadiums bezeichnen, als erstere nur zeit- weilig (drei Jahre lang) gemischte Kolonien bildet, letztere da- gegen (wenigstens unsere europäische sanguinea 1. sp.) dauernd gemischte; denn dass die dauernd gemischten Kolonien von tem- porär gemischten abzuleiten sind, ist wohl nicht zu bezweifeln. Aber diese Ableitung muss von solchen temporär gemischten Kolo- nien ausgehen, bei denen die Koloniegründung durch Adoption noch nicht so obligatorisch geworden ist wie bei truncicola, sondern bei denen noch die Möglichkeit der Koloniegründung durch Puppen- raub offen steht (wie bei rzfa) und sich allmählich weiter ent- wickeln kann. Wenn wir über die phylogenetische Entstehung des Sklaverei- instinktes Erwägungen anstellen, so können dieselben selbstverständ- lich nur hypothetischer Natur sein. Ein abschließendes Urteil über die Frage zu fällen, ist wenigstens gegenwärtig noch unmög- lich; wir müssen uns daher mit der Devise begnügen: tentando progredimur. Dennoch halte ich diese Hypothesen nicht für nutzlos. Wir kommen durch sie der Wahrheit wenigstens immer wieder einen Schritt näher, und sie besitzen zudem einen nicht zu unter- schätzenden heuristischen Wert. Seit den Publikationen von Wheeler und mir über die temporär gemischten Kolonien von F’. consocians bezw. truncicola hat die Erforschung der Gründungsweise neuer Kolonien ohne Zweifel einen Aufschwung genommen. Auf einen Punkt möchte ich hier noch zurückkommen, nämlich auf die Verwendung künstlich entflügelter, unbefruchteter Weibehen für derartige Experimente®). Wenn auch das Be- 62) Siehe die obigen Versuche (S. 321ff.). Bei rufa ist diese Neigung nicht vorhanden, weil bei ihr die parasitische Koloniegründung nur fakultativ ist. 63) Santschi, 1906 (Bothriomyrmex, p. 386) sagt hierüber: „Malgre ces résultats plutöt surprénants (de Wheeler), je crains un peu, que la serie des in- stinets successifs qui doit amener normalement la femelle parasite ä son but, ne soit quelquefois troublée ou devoyée par un procédé qui supprime un anneau naturel (la fecondation) de la chaine psychique. Il devient alors difficile d’affirmer que tel ou tel acte de Vinsecte soit réellement normal.‘ Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 379 nehmen derselben in manchen Punkten mit demjenigen befruchteter Weibchen übereinstimmt, so glaube ich doch, dass die dauernde Adoption einer solchen Königin durch fremde Hilfsameisen min- destens viel leichter erfolgt, wenn die Königin befruchtet ist. Schon in der eigenen Kolonie ist ihre Behandlung eine verschiedene von derjenigen der jungfräulichen Weibchen. In meinen Beobach- tungsnestern von Polyergus und Formica habe ich beobachtet, dass die jungen Weibchen, wenn sie nicht zur Befruchtung gelangen, von den Arbeiterinnen (bezw. den Sklaven) im Neste entflügelt und dann bald darauf sogar getötet werden. Ein Beispiel bei F. truncicola wurde früher schon angeführt (oben S. 328). In einem meiner Beobachtungsnester von Polyergus mit rufibarbis als Sklaven (aus der Polyer ns aller Nr. 4 von Luxemburg) wurden im Sommer 1906 aus Kokons, die aus der eigenen Kolonie stammten, gegen 100 junge Weibchen erzogen, aber alle nach einigen Wochen ent- flügelt und getötet; obwohl in dem Versuchsneste keine eierlegende Königin, weder eine normale noch eine ergatoide noch auch eine gynäkoide Arbeiterin (Eirsatzkönigin)‘) sich befand, wurde keines dieser entflügelten Weibchen als Königin adoptiert. Wenn die Ar- beiterinnen der eigenen Kolonie mit den unbefruchteten Weibchen so verfahren, so scheint mir a fortiori anzunehmen, dass ein unbe- fruchtetes Weibchen in einer fremden Kolonie nicht so leicht end- gültig als Königin adoptiert wird, als wenn es um ein befruchtetes Weibchen sich handelt. Vielleicht erklärt sich auch hieraus, wes- halb bei meinen Versuchen über die Koloniegründung von sanguinea die Adoption der Königin durch alte Hilfsameisen wenigstens in einem Falle gelang, während dies bei den zahlreichen Versuchen Wheeler’s mit rubicunda, subintegra und aserva nie der Fall war. Wheeler hat übrigens selber (Founding of colonies 1906, S. 96) die Möglichkeit betont, dass die beiden letzteren sanguinea-Rassen zwischen der parasitischen Koloniegründung durch Puppenraub (rubicunda) und derjenigen durch Adoption (consocians) eine Mittel- stufe bilden können. d. Zur Koloniegriindung von Polyergus, Strongylognathus und Anergates, Inhalt: a) Zur Koloniegründung von Polyergus rufescens. Forel’s und meine älteren Versuche über die Adoption der Polyergus-Königinnen durch fremde Hilfsameisen. Aufnahme einer ergatoiden Königin in freier Natur durch Sklaven einer fremden Polyergus-Kolonie; Versuche im Beobachtungsnest; Erzeugung von Arbeiterinnen durch jene Königin. Ersatzköniginnen, aus Arbeiterinnen umgezüchtet. Schlussfolgeruugen. b) Zur Koloniegründung von Strongylognathus testaceus bei Tetramorium. Vorkommen von Königinnen der Hilfsameisen in diesen Kolonien. Erklärung der- 64) Vgl. Ameisenarbeiterinnen als Ersatzköniginnen (Mitt. Schweiz. Ent. Ges. XI, 1905, Heft 2, S. 67—70). 380 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. selben als Allianzkolonien. Versuche über Adoption und Allianz. Str. testaceus und Huberi in einem Beobachtungsneste. Schlussfolgerungen. c) Zur Koloniegründung von Anergates. Eigentümlichkeiten der Anergates- Tetramorium-Kolonien. Janet’s Versuche über Adoption und Allianz. Spaltungs- hypothese v. Hagen’s. Neuere Beobachtungen und Versuche. Schlussfolgerungen. a) Zur Koloniegritindung von Polyergus rufescens ®°). 8 5 yerg Die von Viehmeyer 1908) mitgeteilten Versuche über die Aufnahme von Polyergus-Weibchen bei fremden Arbeiterinnen von F. fusco-rufibarbis (Var. von rufibarbis) bestätigen durchaus die früheren Beobachtungen von Forel und mir, dass nämlich die Polyergus-Königinnen durch fremde Arbeiterinnen einer Sklavenart leicht aufgenommen werden, während sie von Polyergus-Arbeiterinnen heftig angegriffen werden. Die Versuche von Viehmeyer wurden mit Weibchen (normalen und ergatoiden) angestellt, die aus einer Polyergus-Kolonie entnommen und dann unmittelbar zu fremden Arbeiterinnen von fusca-rufibarbis gesetzt wurden. Forel’s und meine Versuche dagegen beziehen sich auf solche Weibchen, die draußen umherlaufend gefangen worden waren, und daher teilweise schon eine „Quarantäne“ hatten durchmachen können, die in freier Natur der Aufnahme fremder Königinnen gewöhnlich vorangeht und dieselbe erleichtert. Da Forel’s diesbezügliche Versuche in seinen „Fourmis de la Suisse“ (1874, S. 256) fast ganz in Vergessenheit geraten zu sein scheinen, will ich sie hier kurz in Erinnerung bringen. 1866 hatte er ein isoliertes befruchtetes Polyergus-Weibchen gefunden und in ein Gefäß mit feuchter Erde gesetzt. Die Königin starb, ohne ein Nest gebaut oder Eier gelegt zu haben. Am 13. August 1869 fand er ein entflügeltes Polyergus-W eibchen auf einem Wege laufend. In ein Beobachtungsnest gesetzt, trank es gierig Wasser, was die Arbeiterinnen von Polyergus nicht zu tun pflegen. 10 fremde fwsca-Arbeiterinnen aus einer selbständigen Kolonie, die zu dem Weibchen gesetzt wurden, nahmen dasselbe fast unmittelbar als Königin auf; die Allianz war eine dauernde. 1872 sah Forel, als er einen Raubzug von Polyergus beobachtete, einen heftigen Kampf im Grase. Die Ameisen waren auf ein fremdes befruchtetes Weibchen der eigenen Art gestoßen und mehrere derselben bissen sich sofort mit Wut an ihm fest. Forel befreite das Weibchen und setzte es in ein Glas mit einem Dutzend rufibarbis-Arbeiterinnen einer selbständigen Kolonie. Die Aufnahme erfolgte sofort. Das Weibchen starb nach einer Woche, ohne Zweifel infolge der im obigen Kampfe erhaltenen Verletzungen. Ich gehe nun zu meinen eigenen Beobachtungen über. Die 65) Vgl. hierüber auch 1905, Ursprung der Sklaverei S. 264 ff. 66) Biol. Centralbl. Nr. 1, S. 25ff. Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 381 eine derselben ist schon 1891 (Die zusammengesetzten Nester S. 84ff.) berichtet und soll hier nur kurz skizziert werden. Die andere ist neu, aus dem Jahre 1906. Beide beziehen sich auf ergatoide Königinnen, die sich bei einer fremden Polyergus-Kolonie versteckt hatten und hier Aufnahme durch die Hilfs- ameisen suchten. Am 1. September 1888 fand ich neben dem Nesteingang einer Polyergus-fusca-Kolonie (bei Nr. 2 der Polyergus-Kolonien von Exaten in Holland) eine ergatoide Königin ım Heidekraut versteckt. Ich glaubte daher, die Königin gehöre zur selben Kolonie und setzte sie mit einigen Arbeiterinnen und Sklaven aus jenem Neste in ein Glas mit Erde. Bald bemerkte ıch, dass sie von den Amazonen heftig angegriffen und gebissen wurde; sie verhielt sich völlig passiv; von den fusca wurde sie nicht angegriffen. Ich nahm sie heraus und setzte sie zu sechs fusca aus jener Kolonie in ein Beobachtungs- nest. Letztere hielten sich anfangs fern von ihr, während die Königin thre Gesellschaft aufsuchte, sich einer derselben näherte und sie zur Fütterung aufforderte. Sie wurde von der fusca ge- füttert, die sich fortan zu ıhr hielt, abseits von den übrigen. Am nächsten Morgen hatten die fusca ein Nest in die Erde gebaut, und die Polyergus-Königin saß, von den fusca umlagert und beleckt, ın demselben. Die Aufnahme war eine dauernde. Aber nach mehreren Tagen zeigten sich Lähmungserscheinungen an einem Vorderbein, die sich bald auf den ganzen Körper ausdehnten. Sie starb an den Folgen der am 1. September durch die Polyergus- Arbeiterinnen erhaltenen Bisswunden. Am 4. Mai 1906 fand ich bei der Polyergus-Kolonie Nr. 2 von Luxemburg eine ergatoide Königin unter einem der Steine, die vor dem Neste lagen, mitten unter einer Anzahl rufibarbis-Sklaven jener Kolonie sitzend. Ich nahm daher an, dass sie dieser Polyergus- rufibarbis-Kolonie angehöre und setzte sie mit 50 Sklaven und 12 Arbeiterinnen dieser Kolonie in ein großes Fangglas mit feuchter Erde, um in einem Beobachtungsneste festzustellen, ob die ergatoide Königin befruchtet sei und Arbeiterinnen erzeuge. Schon auf dem Heimwege fiel es mir auf, dass einzelne Polyergus-Arbeiterinnen sich in die Rückennähte der Königinnen verbissen hatten, die zu- sammengekauert dalag. Zu Hause ließ ich die Ameisen in ein Lubbock-Nest übersiedeln. Die Königin wurde von den rufibarbis hinübergetragen; die Angriffe der Amazonen ließen allmählich nach. Am 5. Mai morgens hatte die Königin schon einen Eierklumpen gelegt; -ein Ei, das noch an ihrer Hinterleibsspitze klebte, wurde von einer rufibarbis mit den Kiefern in Empfang genommen. Am 7. Mai waren zwei große Eierklumpen vorhanden. An diesem Tage verstärkte ich das Nest durch eine größere Anzahl Arbeiterinnen und Sklaven aus der nämlichen Kolonie Nr. 2. Am 8. Mai morgens lag die 389 Prowazek, Das Lecithin und seine biologische Bedeutung. ~ Polyergus-Königin zusammengekrümmt und regungslos auf der Seite; nur ihre Tarsenspitzen zuckten noch. Sie war ohne Zweifel von den neu angekommenen Polyergus-Arbeiterinnen®’) während der Nacht, als die Einwanderung der neuen Arbeiterinnen aus dem Fangglase erfolgte, angegriffen und umgebracht worden. Die ruf- barbis umlagerten die Königin noch immer, beleckten sie und trugen sie bei Erhellung des Nestes fort. Am 9. Mai nahm ich die tote Königin heraus‘). Am 27. Juni war ein Dutzend Larven bis zu 5 mm Länge aus den Eiern der Königin entwickelt; am 8. Juli waren Kokons vorhanden, die Arbeiterkokons zu sein schienen. Tatsächlich wurden aus denselben im August nur Arbeiterinnen, keine Männchen erzogen ®°). (Fortsetzung folgt.) Das Lecithin und seine biologische Bedeutung. Von 8. Prowazek. (Aus dem Institut für Schiffs- und Tropenhygiene in Hamburg. Leiter: Prof. Nocht.) Die biologische Bedeutung des Lecithins und der verwandten Substanzen, die sich durch eine fettartige Lösungsfähigkeit aus- zeichnen, wie Cholesterin, Protagon und Cerebrin wurden zuerst durch Overton (Vierteljahrschr. der naturf. Ges. in Zürich, Bd. 44, 1899) erkannt, indem er den Beweis erbrachte, dass die Protoplasma- - grenzschichte sich wie eine Haut aus den oben erwähnten Sub- stanzen verhält — in sie dringen also alle Stoffe, die sich im fetten Öl lösen, ein. Stoffe wie Glyzerin, deren Löslichkeit im Wasser bedeutend größer ist als im Öl, dringen in die Protoplasten langsam ein, während wegen der hohen Fettlöslichkeit Dichlorhydrin fast sofort eintritt. Das konstante Verhältnis, in dem sich bei einer 67) Da die Amazonen nach meinen früheren Versuchen in Holland (Zusammen- gesetzte Nester, 1891, S. 87—S8) auch nach einjähriger Trennung ihre Königin „wiedererkennen“ und nicht angreifen, so ist als sicher anzunehmen, dass die Königin in obigem Beobachtungsneste wirklich eine fremde Königin gewesen war. 68) Vom 8. Mai 1906 an wurden in diesen Polyergus-rufibarbis-Neste Ver- suche über die Aufnahme von Atemeles paradoxus angestellt, vom 10. Mai an auch mit Lomechusa strumosa. Beide Versuchsreihen ergaben positive Ergebnisse, die an anderer Stelle mitgeteilt werden sollen. Da die rufibarbis hier als Sklaven bei Polyergus lebten, nahmen sie auch die Lomechusa leicht auf und pflegten sie bis Anfang Juni (vgl. hierzu die Bemerkungen im 1. Teil dieser Arbeit S. 269). Sogar die Polyergus-Arbeiterinnen beteiligten sich manchmal — jedoch nur oberflächlich — an der Beleckung von Lomechusa. Die Lomechusa-Larven, die ich diesem Neste gab, wurden zwar anfangs von den rufibarbis adoptiert, bald aber gefressen. Dinarda dentata (von F. sanguinea kommend), wurde indifferent geduldet und gelangte sogar zur Fortpflanzung; die aus den Larven stammenden Exemplare glichen voll- kommen den Eltern, obwohl sie hier nicht in einem sanguinea-Nest, sondern in einem Polyergus-rufibarbis-Nest aufgewachsen waren. 69) Dagegen hatte eine ergatoide Königin von Polyergus, die ich 1885--1886 in einem Beobachtungsneste in Exaten (Holland) hielt, nur Männchen erzeugt (die zusammengesetzten Nester 1891, S. 84). en Prowazek, Das Lecithin und seine biologische Bedeutung. 383 bestimmten Temperatur der fragliche Stoff demnach auf seine beiden Lösungsmittel verteilt, bezeichnete Nernst als den Verteilungs- koeffizienten. Overton (Jahrb. f. wiss. Bot. 1900) fand ferner, dass auch die sogen. vitalen Farbstoffe (Neutralrot, Methylenblau, Bismarckbraun u. s. w.) sich in den oben genannten fettartigen Stoffen, die er „Lipoide* nannte, lösen und daher wohl auch die Plasmahaut zu durchdringen vermögen. Nach zahlreichen diesbezüg- lichen Untersuchungen färben sich in dem hier angedeuteten Sinne vital zunächst vakuoläre Einschlüsse und Granula, die Lipoidcharakter besitzen. Auch den sogen. Fermentgranula der Protozoen scheint eine lipoide Grundlage zuzukommen. Der basısche Farbstoff löst sich nämlich in dem Granulalipoid in seiner Oxyform auf und färbt sie in der Nuance der sauren Lösungsart; denselben Farbenton nimmt auch das im Wasser gelöste Lecithin an. In der Folgezeit erkannten Overton und Hans Mayer (Arch. f. exper. Path. u. Pharmak. 1899), dass zwischen den Lipoiden und der Löslichkeit von narkotisierenden Substanzen, die die Lebens- tätigkeit der Zellen sistieren können, ein ähnliches Verhältnis be- steht, wie das bezüglich der Vitalfarbstoffe ermittelte. Die nar- kotische Wirksamkeit der Stoffe ist der Löslichkeit in den Lipoid- substanzen proportional. Durch diese Feststellungen wurde die Bedeutung der Lipoide für die Permeabilität der Zellmembranen, für die Aufnahme von Stoffen in die Zelle und für die Aufnahme von Arzneistoffen enthüllt. Gleichzeitig erkannte man bereits, dass weniger rein chemische als physikalisch-chemische Gesetze dabei eine Rolle spielen. Die Bedeutung der Lipoide ist aber auch auf dem Gebiete der Immunitätslehre nicht zu unterschätzen. Flexner und Nogushi (Journ. of exper. medicine, Bd. 6, 1902) wiesen nach, dass das Cobragift durch Lecithin aktiviert oder komplettiert wird und hierauf die roten Blutkörperchen löst. Sachs und K yes (Berl. klin. Wochenschr. 1903) stellten dann quantitative Beziehungen zwischen Cobragift und Lecithin, das ein Bestandteil der Blutkörper- stromata ist, fest und vergleichen ihre Wirkung mit Amboceptor und Komplement im Sinne der Ehrlich’schen Seitenkettentheorie. Wichtig ist dann die Feststellung von Morgenroth (Berl. klın. Wochenschr. 1905), dass das Cobragift durch geringe Mengen Salz- säure in eine tautomere Form übergeführt wird, die das spezifische Antitoxin nicht bindet, sich aber mit dem Lecithin zu einem Leci- thid vereinigt und leicht durch tierische Membranen dialysiert, als ob es krystalloid gelöst wäre. Die Toxin-Lecithinverbindungen zeichnen sich durch Hitzebeständigkeit, Alkohol-, Toluol- und Chloro- formlöslichkeit aus. Dungern (Münch. med. Wochenschr. 1907) ermittelte ferner noch die Tatsache, dass im Cobragift zwei Hämo- lysine vorkommen und zwar ein immunkörperähnliches Lysin und eines, das die Lecithinhämolyse vermittelt. Durch den Nachweis 384 Prowazek, Das Lecithin und seine biologische Bedeutung. der Reversibilität der Toxin- und Lecithinverbindungen wurden die schwierigen Probleme der Toxichemie der organischen Chemie näher gerückt. Landsteiner und Jagié (Münch. med. Wochenschr. 1904) beobachteten ferner, dass ebenso wie Cobragift + Lecithin ein wirksames Hämolysın bilden, es auch mit der Verbindung Kiesel- säure — Lecithin der Fall ist, wobei sich zunächst die Kieselsäure an die Blutkörperchen anlagert und dann deren Lösung durch Lecithin ermöglicht. Das Lecithin hat neben Basenkapazität auch Säure- bindungsvermögen und so ist die Affinität der Kieselsäure leicht verständlich; die Verbindung dürfte einen salzartigen Charakter besitzen. Es ist möglich, dass im Stoffwechsel manche Fermente die Rolle von Cobragift oder Kieselsäure übernehmen und ihre Wirkung erst durch das Lecithin komplettiert wird. Die Lecithine wären dann nicht nur Lösungsmittel der Zelle, sondern auch Aktiva- toren der Fermente. Landsteiner und Eisler (Centralbl. f. Bakt. 1905) erbrachten experimentell den Beweis, dass die Lipoide der Blutkörperchen das Hämolysin binden; sobald die Stromata entfettet werden, nimmt die absorbierende Wirkung der hämolytischen Stoffe ab. Dabei ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass neben den fettähnlichen Stoffen, die eigentlich nur die Rolle eines Mittlers spielen, besondere Eiweiß- körper der Membranen in spezifischer Weise ın die Prozesse ein- greifen. Für die Gegenwart von Lipoidbestandteilen in der Hüll- schicht der Blutzellen haben Koeppe (Pfliiger’s Archiv 1903), Albrecht (Sitzungsber. f. Morphol., München 1903) und Weiden- reich physiologische und morphologische Beweise erbracht, nach- dem bereits früher Herrmann und Wooldridge die Lehre von der Existenz der Lipoide in den Blutkörperchen verfochten hatten. -Pascucci (Hofmeister’s Beitr. z. chem. Physiol. u. Pathol., Bd. 6, 1905) fand ferner, dass 30°/, des Gesamtvolumens der Blutzellen in Äther, Chloroform und Alkohol lösliche Stoffe darstellen und Cholesterine und Lecithine sind. Für diese Annahme konnte er auch sinnreiche experimentelle Beweise erbringen. Alle Stoffe, die Lecithin und Cholorestin ganz oder teilweise lösen, bewirken auch das Lackfarbenwerden des Blutes, also Alkohol, Äther, Benzol, Chloroform, Petroläther, Natronlauge, Solanin, Galle, taurocholsaures Natron, Cobragift und Tetanotoxin. Schließlich sei noch erwähnt, dass auch Lecithin im Innern der Zellen vorkommt. Reincke und Rodewald (Untersuchungen aus dem bot. Laboratorium der Uni- versität Göttingen 1881 und 1883) fanden in Plasmodien von Aetha- lium septicum 0,20°, Lecithin. Für die Existenz von Lipoiden in den Protoplasmamembranen können noch folgende Tatsachen geltend gemacht werden: Vom Rande der Blutkörperchen und zwar sowohl des Menschen als auch der meisten daraufhin untersuchten Tiere (Ratten, Meerschweinchen, Prowazek, Das Lecithin und seine biologische Bedeutung. 395 Hühner) lösen sich oft lange Fäden ab, die zunächst am Ende ge- knöpft erscheinen, später kugelförmige Anschwellungen erhalten und wohl durch Oberflächenspannungsänderungen schlängelnde und flatternde Bewegungen ausführen. In der Dunkelfeldbeleuchtung besitzen sie denselben Glanz wie die Membranen der Rotzellen. Sie gleichen vollkommen den Kugelfäden, die man bei der emulsion- artigen Lösung des Lecithins im Wasser erhält. Auch bei Try- panosomen und Spirochäten scheint eine lipoidartige Komponente ein Bestandteil des Periplast zu sein. Die Trypanosomen besitzen ın der Dunkelfeldbeleuchtung annähernd denselben Glanz wie die Membranen der Rotzellen, die Spirochäten dagegen glänzen, wie zuerst Arning festgestellt hatte, im Gegensatz zu den Bakterien viel lebhafter. — Die Membranen der Trypanosomen lösen sich bis auf kaum sichtbare Schatten ın der Galle auf; teilweise werden sie gelöst und ihrer Lipoide beraubt durch Saponin, Petroläther und Chloroform. In 1—5°/, Kochsalzlösungen wird den Trypanosomen- leibern zunächst Flüssigkeit entzogen, sie werden lichtbrechender, nach dem Absterben dringt wieder Flüssigkeit ins Innere der Try- panosomen, die Zellen werden gebläht und blassen ab. Von be- sonderer Wichtigkeit scheint auch die Beobachtung zu sein, dass zunächst die roten Blutzellen, später aber auch die Trypanosomen je nach ihrem Lebenszustand von dem Lecithin aufgelöst werden. Manchmal kann man direkt unter dem Mikroskop beobachten, wie sich kleine Lecithintrépfchen hüllenartig an dem Trypanosomenleib ansetzen und durch Oberflächenspannungsgesetze gleichsam das Protoplasma heraussaugen, so dass schließlich der Randfaden der undulierenden Membran allein in lebhafter Bewegung begriffen ist, ein Beweis, dass die Bewegungen dieses Organoids von dem Proto- plasma unabhängig sind. Dieses Gebilde ist länger als die Zelle selbst, da es aber vollständig in dieselbe eingepflanzt ist, verleiht es ihr die charakteristische gedrehte Form. Den Beweis für die Selbständigkeit der Bewegung des Organoids kann man noch auf eine andere Weise erbringen. Bringt man zu dem Blut Trypano- soma equinum nur Spuren von 0,3°/,iger Salzsäure, so kommt es zuweilen vor, dass die Trypanosomen, die fast eine Woche in dieser Lösung leben, sich zwar noch teilen, trotzdem kommt es dabei zu keiner typischen Durchschnürung des Zelleibes mehr; zumeist wird bloß der neue Randfaden der zweiten undulierenden Membran frei und führt ohne Protoplasma flatternde Bewegungen aus. Offenbar besteht der Teilungsvorgang aus zwei unabhängig voneinander bestehenden Phasen und zwar der Vermehrung der Organoide und der Zelleibdurchschnürung. Diese wird durch die Spuren von Salz- säure zurückgehalten oder nimmt einen atypischen Verlauf. Wahr- scheinlich werden in dem Periplast, wie wir noch später genauer sehen werden, die Lipoide durch die Salzsäure niedergeschlagen XXVIII. 25 386 Prowazek, Das Lecithin und seine biologische Bedeutung. und verdichtet, wodurch die Teilung des Zelleibes erschwert wird. Aus all den angeführten Beobachtungen scheint nun hervor- zugehen, dass die Membranen der Protozoen- und vieler Metazoen- zellen zwar nicht ganz aus Lipoiden bestehen, immerhin ihnen aber Lipoidsubstanzen in größeren Mengen gleichsam eingetragen sind; da nun sowohl die Rotzellen wie die Hämatozoen Lipoide in ihren Membranen besitzen, kann man sich auch vorstellen, dass auf ge- wissen Entwickelungsstadien die Lipoidkomponenten der Membranen der Hämatozoen in die der Rotzellen übergehen und die Parasiten sich ihnen anlegen. Etwas derartiges kann man bei den Lues- spirochäten, bei gewissen Entwickelungsstadien der Affenmalaria, bei einigen Piroplasmenformen und bei Trypanosomen beobachten. So sahen Uhlenhuth, Hübener und Woithe (Arb. aus d. Kais. Gesundheitshamt, 27. Bd., 1907) bei Atoxylbehandlung der Dourine, dass die Trypanosomen mit den Erythrozyten fest verknüpft waren. Vielleicht spielen die Lipoide bei der Einwanderung der Parasiten in dıe Zellen überhaupt eine wichtige Rolle. II. Die physikalisch-chemischen Eigenschaften des Lecithins haben besonders Porges und Neubauer (Biochem. Zeitschr., 7. Bd., 1907) untersucht und kommen zu dem Resultat, dass nach dem Vor- gange von Höber die Lecithinsuspension den hydrophilen Kolloiden zuzuzählen ist, wofür auch die Lecithinquellbarkeit und -benetz- barkeit spricht. Das Lecithin, das aus Glyzerinphosphorsäure, Fett- säuren und Cholin besteht, löst sich in Äther, Alkohol, Benzol, Petroläther, Chloroform, Galle und 1°/,ige Kalilauge auf. In Saponin- lösungen (5°/,) bildet es eine milchige, etwas trübe Lösung, in der bei mikroskopischen Beobachtungen kleine Trépfchen suspendiert sind. Mit Osmiumsäure schwärzt es sich, aber nicht in der Nuance von Deckschwarz wie die eigentlichen Fette. In Wasser quillt das Lecithin zu einer kleisterartigen, gelblichen Masse auf. Unter dem Mikroskop bemerkt man zahllose Tröpfchen, solide oder ausgehöhlte Kügelchen (Cavula) und Fädchen, die sich schlängelnd bewegen, ganz wie die von Blutkörperchen sich loslösenden, beweglichen Fäden, die von ähnlichem Aussehen sind. Ähnliche Myelinformen treten in der absterbenden Nervenfaser auf. Schüttelt man Try- panosomen mit Lecithin in physiologischer Kochsalzlösung, so bilden sich oft um die Parasiten tropfenartige Hüllen, die diese durch ihre Bewegungen vielfach aussacken und in ihnen auf diese Weise gleichsam Röhren bauen, ein Beweis, dass die Substanzen ziemlich stark zähflüssig sind. In sulforiemsaurem Natron (Giemsa), das man durch Natronlauge neutralisiert hat, entstehen zunächst aus den wachsartigen Lecithinfragmenten helle Schlieren, die sich Prowazek, Das Lecithin und seine biologische Bedeutung. 387 ganz eigenartig auflösen. Es bilden sich an der ganzen Oberfläche schaumartige, äußerst regelmäßige Alveolen, deren Zahl stetig zunimmt, so dass nach und nach die ganze Substanz verschäumt. Es kommen unter Umständen derart Schaum- und Netzstruk- turen zustande, die ganz den Protoplasmastrukturen ähnlich sind, so dass man unwillkürlich zu der Ansicht verleitet wird, dass auch im Protoplasma am Aufbau der Strukturalveolen Lipoid- substanzen beteiligt sind. Setzt man in dem Deckglaspriparat einer solchen Lösung eine Spur von verdünnter Schwefelsäure zu, so tauchen alsbald scharf umschriebene Vakuolen auf, die wie die Vakuolen der Protozoen wachsen und pulsieren. Besaß die Lösungssubstanz eben amphoteren Charakter und löst man durch Schütteln mit einem Glasstab bestimmte Mengen von Lecithin in ihr auf, so kann man rundliche Lipoidgebilde gewinnen, gleichsam Lecithinamöben, in denen man unter den oben geschilderten Be- dingungen die Pulsation der Vakuolen gut verfolgen kann. Sie vollzieht sich in der Art, wie sie von Bütschli und Rhumbler zuerst er- mittelt wurde: aus mehreren Bildungsvakuolen entsteht durch Zu- sammenfließen die eigentliche Vakuole, ihr Rand wird lichtbrechend, ihr Volumen nımmt zu und sie entleert schließlich langsam ihren Inhalt nach außen. Durch Säuren, etwa durch verdünnte Salzsäure wird die wässerige Lecithinlösung getrübt und es bildet sich ein deutlich wahrnehmbarer Niederschlag; mikroskopisch kann man um die ein- zelnen Trépfchen Niederschlagshäutchen nachweisen, die ziemlich derb sind. Durch einen Überschuss von 1°/,iger Kalilaugenlösung wird die Lösung wieder aufgehellt. Analoge Bildungen kommen zuweilen bei Zusatz von 3°/,iger Kochsalzlösung zu einer wässerigen Lecithinemulsion zustande. Es bilden sich auf diese Weise künst- ‚liche „Lecithinzellen“, die ganz nach Analogie der bekannten Traube’schen Zellen im Innern das Lecithin wieder lösen, worauf die Spannung der Niederschlagsmembranen gelockert, submikro- skopisch eingerissen wird, sich sodann wieder von neuem bildet u.s.f. Derartige künstliche Zellen wachsen wie die Traube’schen Zellen. Setzt man einer wässerigen Lecithinlösung 1—2°/,ige Koch- salzlösung hinzu, so bilden sich um einzelne Lecithinkörperchen teilweise kristallähnliche Niederschlagsflächen, die sich später be- ständig verändern, aus. Optisch konnte ich mich von der Kristall- natur dieser Gebilde nicht überzeugen. In Fig. 1 sind die Bewegungen einer derartigen „Lecithinamöbe* mit dem Zeichenapparat nach- einander gezeichnet worden. Bei Zusatz von stärkeren Kochsalz- lösungen (3—15°/,) hellt sich die Lecithinlösung auf und das Leci- thin wird in Suspensionsform niedergeschlagen; der Niederschlag schwimmt bei stärkeren Konzentrationen wegen des geringeren spez. Gewichtes auf der Oberfläche. In 30°/, Kochsalzlösung entstehen 25% 388 Prowazek, Das Leeithin und seine biologische Bedeutung. Lecithinkristalloide, deren Inhalt später tropfig ausfällt, während die äußeren ebenen Flächen eine Art von Kristallkavulum darstellen. Das Lecithin, das kaum einer tierischen (Nervenzellen, Sperma, Blut, Eiter, Eier, Milch) oder pflanzlichen Zelle fehlen dürfte!), spielt anscheinend im Stoffwechsel eine wichtige Rolle, indem es den Nuklöimen des Kernes die Phosphorsäure zuführt, andererseits werden umgekehrt nach den Untersuchungen von Miescher über den hungernden Rheinlachs die Phosphate des Rumpfmuskels zur Bildung der Lecithine der Eier verwendet. Der Umstand, dass das Lecithin sich Farbstoffen (Hämotoxylin, Saffranın, Azur-Eosin Cochenillealaun) gegenüber wie eine Kernsubstanz verhält, zwingt zu der Annahme, dass die Phosphorsäure im Lecithin als Meta- Biere eo) a. ZO > CD C a ( m ( Gs phosphorsäure vorhanden ist, ebenso wie letztere von Giemsa auf Grund der färberischen Reaktionen (Fällbarkeit der Kernstoffe durch HPO, und Chromatinfärbung von künstlichen Albuminmetaphos- phaten) als ein die Kernfärbung bedingender Bestandteil der Zell- kernsubstanz nachgewiesen wurde. Auf Grund dieser Beobachtungen darf man nicht alles, was sich in der Zelle mit Kernfarbstoffen färbt, gleich als Chromatin auf- fassen, es sei denn, dass der morphologische Beweis für die Genese des fraglichen Zelleinschlusses aus dem Kern tatsächlich erbracht wird. — Wie bereits bemerkt wurde, ıst das Lecithin hämolytisch; die Hämolyse des Lecithins ist bereits von Landsteiner für die Leeithinpräparate der Fabriken Merck, Grübler, Riedel und die Marke Agfa festgestellt worden. Es wird dabei offenbar die Lipoid- 1) Boinke (Arch. f. Entw.-Mech. 24, 1907) nimmt an, dass in den Zellen ein lipoidartiger Hemmungsstoff vorkommt, der die Mitose zurückhält und durch Äther entfernt wird. 1899 stellte ich Versuche mit in Ätherwasser regenerierenden Triton- larven an, konnte mich aber von einer rascheren Regeneration nicht überzeugen. Die Versuche müssten noch wiederholt werden. Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. 389 komponente der Membran des Blutkörperchens, die Koeppe bereits vermutet hatte, direkt in die verwandte Lecithinkomponente über- gehen. Im Laufe der Zeit werden auch die Trypanosomen vom Lecithin gelöst. Ratten, die mit einer derartigen, 24 Stunden alten Lösung behandelt wurden, konnten aber in keiner Weise immuni- siert werden, noch war man imstande, therapeutisch den Krank- heitsverlauf irgendwie zu beeinflussen. Dasselbe gilt von der Hühnerspirochätose. Nach Bassenge (Deutsche med. Wochenschr. 1908) kommen dem Lecithin auch bakteriolytische Eigenschaften zu, und man kann sogar auf diese Weise ein’für manche Bakterien zur Immunisierung brauchbares Toxin gewinnen. Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. Von W. Pfeffer. Zwar ist der Standpunkt unserer Kenntnisse bis zum Jahre 1903 in meiner Physiologie!) zusammengefasst, doch dürfte es zweck- mäßig sein, hier, speziell in bezug auf die Entstehung der Schlaf- bewegungen, die fundamentalen Punkte zu kennzeichnen, um an der Hand dieser darzutun, wie wenig berechtigt die Polemik ist, die Semon meiner Auffassung dieses Problems und speziell meiner neuesten Publikation ?) über diesen Gegenstand in dieser Zeitschrift (1908, Bd. XXVIII, p. 225) angedeihen heb. Zunächst sei hervorgehoben, dass in erster Linie festgestellt werden musste, ob die Schlafbewegungen durch den Wechsel der Außenbedingungen veranlasst werden, der sich täglich in rhyth- mischer Wiederholung abwickelt, oder ob sie auf einer erblich über- kommenen, rhythmischen Bewegungstätigkeit beruhen, die sich auch bei voller Konstanz der Außenbedingungen abspielt und nötigenfalls durch den täglichen Wechsel der Beleuchtung u. s. w. zeitlich reguliert wird. Die Erfahrungen, dass diese tagesrhyth- mischen Bewegungen auch dann eine gewisse Zeit anhalten, wenn die Pflanze unter konstanten Außenbedingungen gehalten wird, machen es begreiflich, dass zunächst viele, ja wohl die Mehr- zahl der Forscher der zuletzt erwähnten Auffassung zuneigte?). Dieses Fortdauern der Bewegungen beruht indes, wie ich im Jahre 1) Pfeffer, Pflanzenphysiol., II. Aufl., Bd. II (1904), p. 476. Die für uns in Betracht kommenden prinzipiellen Punkte sind in gleichem Sinne in meiner Schrift, Die periodischen Bewegungen der Blattorgane 1875, dargelegt. 2) Pfeffer, Untersuch. ü. d. Entstehung d. Schlafbewegungen der Blatt- organe 1907 (Abhandl. d. math.-phys. Klasse d. Sächs. Gesellsch. d. Wissensch. Bd. 30). Diese und die beiden in der vorigen Anmerkung zitierten Publikationen werden fernerhin bei Zitaten durch die Angabe des Publikationsjahres gekennzeichnet. 3) Näheres findet man bei Pfeffer, |. c. 1875, p. 30, 163, sowie in Kürze auch in der in Anm. 2 zitierten Schrift p. 259. 390 Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. 1875 zeigte, auf Nachwirkungen (Nachschwingungen), die bei Kon- stanz der Beleuchtung und der anderen Außenfaktoren allmählich an Amplitude abnehmen und gewöhnlich schon nach einigen Tagen ausgeklungen sind. Bei der Pflanze, der nunmehr die Schlafbewe- gungen abgehen, können diese aber jederzeit durch den normalen oder durch einen künstlichen tagesrhythmischen Beleuchtungswechsel wieder hervorgerufen werden. Gleichzeitig wurde auch dargetan, dass es sich bei den Schlafbewegungen nicht etwa um eine zeit- liche Regulation der autonomen Bewegungen handelt, die eben da- durch ausgezeichnet sind, dass sie durch eine selbstregulatorische Tätigkeit, also bei voller Konstanz der Außenbedingungen, fort- dauern, die aber nicht bei allen schlaftätigen Pflanzen vorhanden sind und welche bei allen untersuchten Pflanzen sich in einen sehr viel kürzeren Rhythmus abspielen (1875, p. 153; 1907, p. 455). Nach diesen empirisch ermittelten Resultaten — die, beiläufig bemerkt, bei meinen erneuten Untersuchungen (1907) in prinzipieller Hinsicht volle Bestätigung fanden — sind demgemäß die tages- rhythmischen Schlafbewegungen Bewegungsreaktionen, die durch den täglichen rhythmischen Wechsel der Außenbedingungen ausgelöst werden, und zwar reagieren viele Organe, insbesondere auch viele Laubblätter, am stärksten auf Beleuchtungswechsel, andere Organe, 2. B. gewisse Blüten, vorwiegend auf Temperaturwechsel. Dieses photonastische und thermonastische Reaktionsvermégen‘), das viel- fach in einem geringeren oder in einem verschwindend geringen Maße bei vielen (physiologisch dorsiventralen) Organen gefunden wird, ist eben bei den schlaftätigen Pflanzen in einem besonders hohen Grade ausgebildet’). Ebenso kennzeichnen die Nachschwin- gungen eine besonders ansehnliche Ausbildung einer regulatorischen Tätigkeit, deren Erfolg sich sowohl bei Organismen als auch bei geeigneten selbstregulatorisch arbeitenden Mechanismen darin kund- gibt, dass der Übergang in einen neuen Gleichgewichtszustand, sowie die Wiederherstellung des durch einen Eingriff gestörten Gleichgewichtszustandes mit allmählich ausklingenden Oszillationen verknüpft ist®). Da aber die Ausgiebigkeit dieser Oszillationen von den Eigenschaften des Objekts, sowie von den obwaltenden Verhältnissen abhängt, so ist es begreiflich, dass derartige Oszilla- tionen nicht überall deutlich hervortreten und oft kaum oder nicht bemerklich sind. Ubrigens gibt es auch zur Schlaftätigkeit be- fähigte Organe, bei denen die Nachschwingungen nicht ansehnlich 4) Mit photonastisch u. s. w. soll nur gekennzeichnet werden, dass eine diffuse (homogene) Wirkung des Lichts ete. vorliegt, während die Reizerfolge durch ein- seitige Wirkung des Lichts etc. als Phototropismus etc. bezeichnet werden. Pfeffer, 1.262 1902,p 356. )), Vel Pfeffer, “lc 1901, p A476. oO) Etetieny Lic 1904, p. 366, 49a Ionm ec lOO. pn439: Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. 391 oder sogar so gering sind, dass sie der gewöhnlichen Beobachtung entgehen. In jedem Falle aber sind die Nachschwingungen, eben weil sie bei Konstanz der Außenbedingungen ausklingen, in letzter Instanz (gleichviel in welcher Weise), ebensogut wie die Schlafbewegungen, durch den äußeren Anstoß veranlasst. Ein Zusammenhang mit den Schlafbewegungen gibt sich auch darin kund, dass die Phasen der Nachschwingungen ebenfalls um 12 Stunden verschoben sind, wenn eine gleiche Verschiebung der vorausgegangenen Schlafbewegungen dadurch herbeigeführt worden war, dass die Pflanze während der Nacht beleuchtet und am Tage verdunkelt wurde (Pfeffer 1907, p. 436 etc.). Da aber die Nachschwingungen ein äußerlich sichtbar werdendes Zeichen von verwickelten physiologischen Pro- zessen sind, deren Verlauf und Erfolg, ebensogut wie bei den zu- nächst angeregten Reizprozessen, durch die Eigenschaften des Ob- jekts reguliert und bestimmt werden, so kann Übereinstimmung zwischen dem Rhythmus der primären Reizerfolge und dem der Nachschwingungen nicht generell gefordert werden. Ja es ist sogar möglich, dass Ausgleichsoszillationen auch dann auftreten, wenn durch die ausgeübte Reizwirkung speziell eine deutliche (primäre) Bewegungsreaktion nicht ausgelöst worden war (Pfeffer 1907, p. 439, 440). Aus den mitgeteilten Erfahrungen über die Abhängigkeit von der Außenwelt musste und muss notwendigerweise gefolgert werden, . dass die Schlafbewegungen, somit auch die Nachschwingungen, nicht auf einer erblich überkommenen Bewegungstätigkeit beruhen, wie es bei den autonomen Bewegungen der Fall ıst, sondern dass sie durch die rhythmische Wiederholung von (photonastischen oder thermonastischen) Reizanstößen zustande kommen (Pfeffer 1875, p. 37, 42; 1904, Bd. II, p. 491). Damit diese Außenwirkungen aber den besagten Erfolg haben, muss natürlich das Objekt mit den zureichenden Eigenschaften, also mit einem entsprechenden Reaktionsvermögen (inkl. Bewegungsfähigkeit) ausgestattet sein, das ihm vermöge seiner Abstammung, also als erblich überkommene Mitgift innewohnt. Diese generellen und fundamentalen Schlussfolgerungen setzen keine nähere Kenntnis des Reizprozesses und der Vermittlung der Aktion voraus, und es ist deshalb wohl möglich, dass in bezug auf diese Verhältnisse (wie das auch bei vielen anderen Kategorien von Reizvorgängen vorkommt) bei verschiedenen Pflanzen und Organen erhebliche Differenzen bestehen. Solche wurden bereits in meinen “ersten Untersuchungen (1875) z. B. in Hinsicht auf die spezifische Sensibilität, die Reaktionszeit, die Vermittlung der Aktion aufge- deckt, und meine neuen Studien (1907) haben noch weitere spezi- fische Eigenheiten konstatiert. 392 Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. Da aber die Schlafbewegungen durch (aitionastische) Reiz- prozesse zustande kommen, so ist eine korrekte kausale Inter- pretation nur möglich, wenn allen Prinzipien Rechnung getragen wird, die bei Auslösungsvorgängen in Betracht kommen’). So ist vor allen Dingen zu beachten, dass der äußere Anstoß nur auslösend wirkt, dass also die Eigenschaften des Objekts darüber entscheiden, ob überhaupt bei einem bestimmten Anstoß eine Re- aktion eintritt und wie sich diese in formaler, zeitlicher etc. Hin- sicht gestaltet. Durch diese Eigenschaften kann es z. B. auch be- dingt sein, dass infolge einer rhythmischen Reizung bei dem einen Objekte immer derselbe Bewegungsrhythmus herauskommt, wenn auch das Tempo des Reizanstoßes verändert wird, während sich bei einem anderen Objekte der ausgelöste Bewegungsrhythmus mit dem Tempo des Reizanstoßes ändert. Letzteres wird z. B. der Fall sein, wenn bei intermittierender, einseitiger Beleuchtung eines Keimstengels ¢ eine periodische Bewegung deshalb entsteht, mal die oe heliotropische ik (sofern die Dunkelperiode genügend ausgedehnt wird) immer wieder durch die geotropische und autotropische Gegenwirkung teilweise oder ganz ausgeglichen wird (Pfeffer 1904, Bd. II, p. 248). Denn innerhalb der zu- lässigen Grenzen muss der sich als Resultante aus diesen anta- gonistischen Prozessen ergebende Rhythmus schon dann sich ändern, wenn, bei gleichbleibender Lichtintensität, das Tempo der inter- mittierenden Beleuchtung modifiziert wird, und außerdem lässt sich die Schnelligkeit der heliotropischen Reaktion durch die Ver- änderung der Lichtintensität modifizieren. Dagegen werden z. B. die Senkung und die Wiedererhebung eines gegebenen Blattstiels von Mimosa pudica annähernd in demselben Tempo ausgeführt, gleichviel ob die Reaktion durch einen einzelnen Stoß ausgelöst wird oder durch Induktionsschläge, die (bei schneller Aufeinander- folge) in einem längeren oder kürzer en Rhythmus angewandt werden. Der Blattstiel von Mimosa bietet zugleich ein Bete! dafür, dass sich diejenigen Oszillationen, die mit der Waederherstellune der gestörten Gleichgewichtslage verknüpft sind, in einem anderen Rhythmus abspielen können als die primäre Reizreaktion. Es schien mir geboten, diese generellen Grundzüge in bezug 7) Vgl. Pfeffer, Pflanzenphysiol., II. Aufl., Bd. I, p. 9ff., Bd. II, p. 358 ff. 3ereits in den Periodischen Bewegungen (1875, p. 120) habe ich die durch den Licht- oder Temperaturwechsel veranlassten Reaktionen in prinzipieller Hinsicht als Auslösungsvorgänge angesprochen. Es geschah das also zu einer Zeit, in welcher die Auffassung dieser Probleme noch nicht geklärt war und man in der Pflanzen- physiologie geneigt war, derartige Reaktionen als möglichst unmittelbare Erfolge der Wirkung des Lichts, der Wärme ete. anzusehen. Siche hierüber Pfeffer, Pflanzenphysiologie, II. Aufl., Bd. II, p. 368 und Die Reizbarkeit der Fflauzen, 1893, p. 10 (Sep. a. Verh. d. Gesellsch. deutsch. Naturforscher u. Ärzte zu Nürnberg). Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. 393 auf Reizvorgiinge hervorzuheben, weil dieselben von Semon nicht gebührend berücksichtigt wurden, wie seine*) Forderung zeigt, es miisse gelingen, durch einen in anderem Tempo erfolgenden Be- leuchtungswechsel die zeitlichen Perioden zu ändern, und nach einiger Zeit auch entsprechend veränderte Nachwirkungen zu er- zielen, wenn meine Auffassung über die Entstehung der Schlaf- bewegungen richtig sei. Er erklärte sich deshalb gegen meine Auf- fassung, weil er fand, dass bei den Blättchen von Acacia lophantha die abwechselnd 6 (oder 24) Stunden beleuchtet und verdunkelt wurden, trotz der photonastischen Wirkungen, die tagesperiodischen Bewegungen hervortraten, die dann noch ungetrübter fortgesetzt wurden, als die in der besagten Weise vorbehandelten Pflanzen in konstante Beleuchtung oder Finsternis kamen. Tatsächlich steht aber ein solches Verhalten, gleichviel ob es sich bei einigen oder bei allen Pflanzen findet, durchaus nicht ın Widerspruch mit den von mir festgestellten Fundamenten, die ganz generell nur aussagen, dass die Schlafbewegungen durch den rhyth- mischen Wechsel von Beleuchtung oder Temperatur ausgelöst werden, und die innerhalb dieses Rahmens in prinzipieller Hinsicht jede beliebige allgemeine oder spezielle Eigentümlichkeit des Reiz- prozesses, des Verlaufs der Reaktion u. s. w. zulassen. Ebensogut wie die Tatsache, dass einseitige Beleuchtung, nach Maßgabe der Eigenschaften des Organısmus, eine heliotropische Krümmung her- vorruft, nicht verschoben wird, wenn sich herausstellt, dass die Reaktionsprozesse im näheren eine große Mannigfaltigkeit von spezifischen Eigentümlichkeiten bieten, so bleibt auch die Tatsache, dass der Beleuchtungs- oder der Temperaturwechsel die Schlaf- bewegungen veranlassen, unverrückt bestehen, wenn die ausgelösten Reizprozesse u. s. w. eine noch so große Mannigfaltigkeit aufzu- weisen haben. Natürlich muss die auf weiter und weiter gehende Aufklärung abzielende Forschung in diesem wie in allen Fällen dahin streben, die uns entgegentretenden komplexen Vorgänge in die maßgebenden Faktoren zu zergliedern und demgemäß auch zu- nächst das spezifische Reaktionsvermögen festzustellen, das ja selbst wieder eine komplexe Größe ist (vgl. Pfeffer, Pflanzenphysiologie, II. Aufl., Bd. I, p. 4). Bei den ausgedehnten Untersuchungen, die meinen, 1m Jahre 1875 publizierten „Periodischen Bewegungen“ zugrunde legen, musste ich schon mit Rücksicht auf die sonst unüberwindbare Ar- beitslast zunächst darauf bedacht sein, die noch unsicheren funda- mentalen Punkte, u. a. auch in bezug auf die Entstehung der 8) Semon, Biolog. Centralbl. 1905, Bd. XXV, p. 242. Diese, sowie die beiden anderen für uns in Betracht kommenden Publikationen Semon’s in Die Mneme, 1904, p. 95 und im Biol. Centralbl. 1908, Bd. XXVIII, p. 225 werden fernerhin bei Zitaten durch Angabe der Jahreszahl gekennzeichnet. 394 Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. Schlafbewegungen, aufzuklären. Zu diesem Zwecke genügte ein ver- gleichendes Studium über das Verhalten der Pflanzen bei Konstanz der Außenbedingungen (Beleuchtung, Temperatur etc.) und bei tagesperiodischem Wechsel der (natürlichen oder künstlichen) Be- leuchtung oder der Temperatur. Die Frage, ob und inwieweit sich durch einen anderen Beleuchtungsturnus auch eine andere Be- wegungsperiodizität hervorrufen lässt, und wie, falls solches zu- trifft, der Rhythmus der Nachwirkungsbewegungen sich gestaltet, wurde gar nicht geprüft?). Die Möglichkeit, dass den schlaftätigen 9) In bezug auf das photonastische Reaktionsvermögen ergab sich schon bei meinen ersten Untersuchungen (1875, p. 43, vgl. auch 1907, p. 322), dass die Ampli- tude und die zeitliche Dauer der durch eine Helligkeitsabnahme ausgelösten Be- wegungsreaktion mit der Intensität des Anstoßes und anderen Umständen in ziem- lich weiten Grenzen veränderlich sind. Jedoch beobachtete ich bei plötzlicher voller Verdunkelung der zuvor in kontinuierlicher Beleuchtung gehaltenen Acacia lophantha, dass sich der ausgelöste Hin- und Hergang ziemlich langsam, nämlich in 13—18 Stunden abspielte, dass aber die sich anschließenden Nachwirkungsbewegungen an- nähernd im Tagestempo ausgeführt wurden (1875, p. 43, 44, Taf. IB. Vgl. auch 1907, p. 335, 491). Übrigens wird auch von den Nachschwingungen der normalen Schlafbewegungen nur annähernd das Tagestempo eingehalten (1875, p. 51; 1907, p- 436), und es ist mit Sicherheit zu erwarten, dass sich der Rhythmus der Nach- schwingungen durch äußere Bedingungen etc., ebensogut wie bei den autonomen Bewegungen, in gewissen Grenzen modifizieren lässt (vgl. 1907, p. 424, 436; Pfeffer, Pflanzenphysiol., II. Aufl., Bd. II, p. 394; Hosseus, Uber d. Beeinflussung d. autonomen Bewegungen durch äußere Faktoren 1903). Der Ausspruch, dass sich die Nachschwingungen nach den tatsächlich ausge- führten Bewegungen richten (1875, p. 45, 172), bezieht sich zunächst auf die nor- malen Schlafbewegungen, die aber schon eine komplizierte Resultante sind. Meine spezielle Annahme, dass die Schlafbewegungen des primären Blattstiels von Mimosa pudica aus der infolge der tagesperiodischen Lichtwirkung angestrebten Bewegung und der mit der Lage der Blätter veränderlichen Lastwirkung resultieren, hat sich als irrig herausgestellt (1907, p. 384), und somit ist auch der Schluss hinfällig, dass sich in diesem Falle die Nachschwingungen nach der in der supponierten Weise erzielten Resultante richten. Immerhin kann man, wenn man durchaus will, aus dem Wortlaut in den „Periodischen Bewegungen‘, der übrigens nach der damaligen Lage der Sache beurteilt werden muss, allenfalls herauslesen, dass nach meiner An- sicht allgemein für das Tempo der Nachschwingungen das Tempo der vorausgegangenen Bewegungen maßgebend sei. In einem solchen generellen Sinne habe ich das sicher nie angenommen, und bestimmt weiß ich, dass ich bei der Ausarbeitung der Phy- siologie mit Absicht in dieser Frage eine bestimmte Äußerung unterließ, weil ich mir voll bewusst war, dass sich bei der Kompliziertheit des Problems nur empirisch entscheiden lässt, was realiter zutrifft. Aus denselben Erwägungen habe ich auch in der Physiologie nicht weiter die Frage behandelt, ob sich bei den schlaftätigen Pflanzen (natürlich in gewissen Grenzen) durch einen entsprechenden Beleuchtungs- rhythmus ganz glatt ein anderer als der tagesperiodische Bewegungsrhythmus er- zielen lässt, obgleich speziell für die Blüten von Crocus bereits bekannt war, dass man durch einen abgekürzten Temperaturwechsel in ausgesprochener Weise einen kürzeren Bewegungsrhythmus hervorrufen kann. Aber auch wenn ich in bezug auf die Beziehungen zwischen dem Tempo der Schlafbewegungen und der Nachwirkungs- bewegungen eine irrige Auffassung vertreten hätte, so würde das, wie im Text be- tont ist, für die fundamentale Frage über die Entstehungsursache der Schlaf- Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. 395 Organen ein Reaktionsvermögen zukommt, vermöge dessen sie während eines andersartigen Beleuchtungsrhythmus und ferner bei den Nachschwingungen eine tagesperiodische Bewegungstätigkeit anstreben oder erreichen, habe ich nie bestritten, auch habe ich neuerdings (1907) in diesem Punkte keinen prinzipiellen Wider- spruch gegen Semon erhoben. Vielmehr habe ich die Existenz eines solchen, durch die Eigenschaften der Pflanze bedingten Strebens in evidenter Weise für die Blätter von Phaseolus festgestellt (1907, p. 357, 424, 441) und somit Semon’s Auffassung für einen kon- kreten Fall bestätigt. Die prinzipielle Auffassung wird aber doch nicht dadurch verschoben, dass ich in einem Einzelfall, nämlich bei den Blättchen von Acacia lophantha, nicht eine so ausgesprochene tagesperiodische Tendenz konstatieren konnte, wie sie von Semon bei diesem Objekte angegeben wird (Weiteres über diesen Spezial- fall folgt später). | Ob eine solche tagesperiodische Reaktionstendenz allen schlaf- tätigen Pflanzen zukommt, ist eine noch offene Frage. Nur so viel ist schon nach den bisherigen empirischen Erfahrungen gewiss, dass diese Tendenz in einem spezifisch verschiedenem Grade ausgebildet sein kann (Pfeffer 1907, p. 441). Dasselbe gilt, wie schon p. 390 erwähnt wurde, auch für die Nachwirkungsbewegungen, für die auch noch zu entscheiden ist, ob in allen Fällen durch die interne Regu- lation ein tagesperiodisches Tempo erzielt wird, oder ob es auch Objekte gibt, bei denen ein anderer Rhythmus eintritt, wenn die Pflanze zuvor, unter dem Einfluss eines andersartigen Beleuchtungs- wechsels photonastische oder thermonastische Bewegungen in einem anderen als tagesperiodischen Rhythmus ausführte (vgl. Pfeffer 1907, p. 440). Aus der Tatsache, dass das Blatt von Phaseolus bei einem 18:18stündigen Beleuchtungswechsel in vollendeter Weise einen 36stündigen Bewegungsrhythmus einhält, nach der Überführung in konstante Beleuchtung aber bald zu tagesperiodischen Nach- wirkungsbewegungen übergeht, kann nicht gefolgert werden, dass sich alle Pflanzen analog verhalten (Pfeffer 1907, p. 441). Welcher Art aber auch die näheren und besonderen Eigen- tümlichkeiten des Reaktionsvermögens u. s. w. sein mögen, so ist doch die Tatsache, dass die Schlafbewegungen, sowie die Nach- schwingungen dieser bei Konstanz der Beleuchtung, der Temperatur, überhaupt der Außenbedingungen ausklingen und schwinden, ein vollgültiger Beweis dafür, dass die tagesperiodische Bewegungs- bewegungen ohne Belang sein. Übrigens ist bereits in den ,,Periodischen Bewegungen“ das Zusammenwirken zwischen den Nachwirkungsbewegungen und den photo- nastischen oder thermonastischen Reaktionen in prinzipieller Hinsicht korrekt be- handelt worden (1875, p. 69 ete.; 1904, p. 501). Da es aber bei unseren prinzi- piellen Erörterungen auf Einzelheiten und Nebensachen nicht ankommt, beschränke ich mich auf diese kurzen Andeutungen. 396 Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. tätigkeit, sowie die von dieser abhängigen Nachwirkungsbewegungen nicht erblich sind!?) (wie das bei der rhythmischen autonomen Be- wegungsstätigkeit der Fall ist), sondern durch die Reizwirkung äußerer Faktoren (Lichtwechsel oder Temperaturwechsel) ausgelöst werden. Dieses Schwinden der Schlafbewegungen und deren Nach- schwingungen bei konstanter Beleuchtung scheint als ein normaler Vorgang cierto xs auch von Semon?!) anerkannt zu werden, der acter (1905, p- 249) auch das Ausklingen bei konstanter Beleuch- tung als einen pathologischen Vorgang erklärte, obgleich die schon damals vorliegenden Erfahrungen diesen Schluss nicht erlaubten. Denn letztere zeigten, dass das Ausklingen sowohl in künstlicher, als auch, jenseits des Polarkreises, in natürlicher Dauerbeleuchtung bei Pflanzen eintritt, die gesund und vollkommen normal reaktionsfähig sind (Pfeffer 1907, p. 331). Auf Grund der Annahme, der Stillstand der Nachwirkungs- bewegungen sei durch einen pathologischen Zustand verursacht, musste man aber doch wohl schließen, dass nach Semon’s Auf- fassung (1905) die Nachschwingungen ohne die Herbeiführung eines solchen pathologischen Zustandes nicht zum Stillstand kommen, also unbegrenzt fortdauern würden. Weil mir nun außerdem aus Semon’s Darstellung nicht klar wurde, ob er wirklich dieser An- sicht sei, oder ob er, wie es nach anderen Stellen schien, zur dauernden Unterhaltung der Bewegung eine zeitweise Wirkung des Beleuchtungswechsels nötig erachte, so musste ich (1907, p. 333) unentschieden lassen, wie sich Semon eigentlich die Sache vor- stellt. Ich würde auch heute nen darüber in Zweifel sein, wenn Semon nicht inzwischen (1908, p. 239) seine frühere Ansicht über das pathologische Zustandekommen des Aufhörens der Nach- schwingungen aufgegeben hätte. Sofern aber Semon zugibt, dass die Schlafbewegungen durch den Lichtwechsel (oder Temperatur- wechsel) hervorgerufen werden, so stimmt seine Ansicht in dem Hauptpunkt, wie ich schon faker (1907, p. 333) hervorhob, in prin- zipieller Hinsicht mit der von mir. vertretenen Auffassung überein, die freilich von Semon als irrig erklärt wurde und wohl auch noch wird (vgl. p. 393). Übrigens muss man auch außerdem nach den neuesten Erörterungen (1908, p. 234) vermuten, dass Semon die Schlafbewegungen als photonastische Reizerfolge anerkennt. Wenn das zutrifft, dann würde sich also Semon tatsächlich in der Hauptsache derjenigen generellen Auffassung über die Entstehung der Schlafbewegungen angeschlossen haben, die ich bereits im « 10) sEteiher sel: C1875," p. 36,42, 172,012 0221904, Bd Dep 10919 -11) Semon, |. c. 1908, p. 239 sagt freilich nur, dass er früher mit Unrecht das Einstellen der Schlafbewegungen unter konstanten Verhältnissen als pathologischen Vorgang angesehen habe. Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. 397 Jahre 1875 vertrat und deren Berechtigung auch heute noch fest- steht !?). Dass es sich aber bei der Erforschung der Ursachen der Schlaf- bewegungen zunächst um die fundamentale Frage handelt, ob eine autogene Tätigkeit (d. h. eine selbstregulatorische Tätigkeit bei Konstanz der Außenbedingungen), oder ein aitiogener Reizvorgang vorliegt und dass dann des weiteren das Streben dahin gehen muss, im näheren die vielleicht in spezifisch verschiedener Art vermittelten Reiz- und Reaktionsvorgänge aufzuklären, wurde bereits (p. 389) betont. Ebenso ist schon (p. 393) hervorgehoben, dass es zu diesen näheren Aufklärungen ın dem besagten Rahmen auch gehört, ob, wofür Semon zuerst eingetreten ist, gewissen Pflanzen als erbliche Eigenschaft eine Disposition zukommt, vermöge der die ausgelöste Bewegungstätigkeit eine tagesperiodische Periodizität anstrebt. Da aber diese besondere Disposition zur Erzielung der Schlafbewegungen auch nach Semon (1908, p. 234) nıcht notwendig ist, so kommt ihr gar nicht eine generelle, fundamentale Bedeutung zu (vgl. Pfeffer 1907, p. 442). Da in allen Fällen der Komplex der gegebenen, also der vermöge der Abstammung als erbliche Mitgift überkommenen Eigenschaften darüber entscheidet, ob und wie ein Organismus (oder ein Organ) unter den jeweils bestehenden Bedingungen auf einen Anstoß reagiert, so ist es auch selbstverständlich, dass ein photonastisch reagierendes Objekt mit den zureichenden Eigen- schaften (Reaktionsfähigkeiten, Dispositionen) ausgestattet ist‘). Es ıst deshalb nicht nötig, in jedem Einzelfalle diese zu den physio- logischen Elementen gehörenden Beziehungen hervorzuheben, und das um so weniger, als ja tatsächlich zunächst nur die erzielte Re- aktion das Indizium ist, auf Grund ‘dessen wir dem Objekte eine bestimmte, spezifische Eigenschaft (Disposition, Reaktionsfähigkeit) zuschreiben. In solchem Sinne ist natürlich auch stets die ent- 12) Wenn Semon (1908, p. 233, 236, 242) sagt, dass ich jetzt in allen wesent- lichen Punkten mit ihm tibereinstimme, so ist dieser Ausspruch, sofern er sich auf die Disposition zu tagesperiodischer Reaktion bezieht, deshalb nicht richtig, weil ich die Existenz dieser Disposition prinzipiell nie bestritten habe (vgl. p. 395). Falls sich aber dieser Ausspruch Semon’s auch auf die generelle Frage über die Ent- stehung der Schlafbewegungen beziehen sollte, so ist er in dieser Richtung deshalb unrichtig, weil ich meine Auffassung seit 1875 nicht geändert habe und nicht zu ändern brauchte und demgemäß in diesem Punkte Übereinstimmung nur dann be- steht, wenn sich Semon meiner Auffassung angeschlossen hat. 13) Naturgemäß habe ich die Sache nur in diesem generellen Sinne als selbst- verständlich aufgefasst, wie z. B. auch aus meiner letzten Arbeit 1907, p. 334 zu ersehen ist, wo sich aus dem Wortlaut unzweifelhaft ergibt, dass sich ,,selbstverstiind- lich“ nicht auf die Existenz einer Disposition zu tagesrhythmischer Schwingung be- zieht. Ich gebe aber zu, dass der Wortlaut in der vorläufigen Hinweisung in der Einleitung (1907, p. 260) mangelhaft ist und dass es begreiflich ist, wenn Semon (1908, p. 326), bei alleiniger Berücksichtigung dieser Stelle, „selbstverständlich“ auf die spezielle Disposition zu tagesrhythmischer Bewegungstätigkeit bezogen hat. 398 Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. sprechende Reaktionsfähigkeit (Disposition) als erbliche Mitgift bei meinen Untersuchungen vorausgesetzt, bei denen u. a. der Nach- weis geführt wurde, dass die bezüglichen Pflanzen auf den tages- rhythmischen Beleuchtungs- oder Temperaturwechsel derart reagieren, dass die normalen Schlafbewegungen zustande kommen, die dem- gemäß typische (aitiogene) Reaktionserfolge sind und eben nicht auf einer erblichen (autogen regulierten) rhythmischen Bewegungs- tätigkeit beruhen. Es ist mir in der Tat unverständlich, wie Semon (Mneme 1904, p. 95) sagen kann, dass es sich bei den Schlafbewegungen „um ererbte Dispositionen und nicht, wie Pfeffer gemeint hat, um individuell erworbene handelt“, da ich doch selbstverständlich die den photonastischen u. s. w. Reaktionen zugrunde liegenden Eigenschaften als auf erblich überkommenen Qualitäten beruhend angenommen habe und annehmen musste. Ebenso ist es mir un- verständlich, dass Semon, der tatsächlich die Erblichkeit von Dis- positionen im Auge hat, die infolge des Außenanstoßes (Licht- wechsels) zu einer tagesperiodischen Bewegungstätigkeit führen '*), mir gegenüber für die Erblichkeit der erst durch die Auslösung in Tätigkeit tretenden, tagesrhythmischen Bewegungs- und Nach- schwingungstätigkeit eintritt. Da Semon neuerdings '’) bestätigt, dass er meine Ansicht, nach der eben diese Bewegungstätigkeiten nicht erblich sind, bekämpft habe, so dürfte er wohl auch jetzt noch die Erblichkeit der tagesrhythmischen Bewegungstätigkeit an- nehmen, die er andererseits aber als aitionastische (photonastische) Reizerfolge anzusehen scheint (1908, p. 234). Sofern aber Semon etwa behaupten wollte, dass die Schlafbewegungstätigkeit (nebst Nachschwingungen) erblich ist, obgleich sie ohne entsprechende Reizanstöße, also bei Konstanz der Außenbedingungen, schwindet und dann nicht mehr in wahrnehmbarer Weise besteht, so würde er mit demselben Rechte auch behaupten können, dass die helio- tropische Bewegungstätigkeit erblich ist, obgleich sie realiter nur bei einer heliotropischen Reizung in Erscheinung tritt, oder dass dem Pendel eine inhärente Schwingungstätigkeit zukommt, weil eine solche durch Anstöße erzielt werden kann !®). 14) Es wird dies von Semon in der letzten Publikation (1908, p. 236) aus- drücklich hervorgehoben. 15) Semon, 1908, p. 235. Da in dem wörtlichen Zitate aus meiner Physio- logie (II. Aufl., Bd. II, p. 491) ,,nyktinastische Nachwirkungen“ steht, so sei hier betont, dass im Zusammenhang mit dem ganzen Text kein Zweifel bestehen kann, dass mit diesem Ausdruck nur die realisierten Nachwirkungsbewegungen gemeint sind. 16) Der Vergleich mit einem Pendel ist natürlich nur bildlich zu nehmen. Wenn man aber etwa an dem direkten mechanischen Impuls als Bewegungsursache Anstoß nimmt, so kann man ja leicht ein Pendel konstruieren, bei dem die rhyth- mischen Anstöße durch Auslösung veranlasst werden. Das würde z. B. erreicht sein, wenn man die Ausdehnung eines Metallstabes durch rhythmische Temperatur- Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. 399 Wie bei allen physiologischen Studien müssen wir auch bei dem Studium der Schlafbewegungen die erblich überkommenen Eigenschaften als gegeben hinnehmen, und es ist eine andere, zu- meist nicht exakt lösbare Frage, wie diese Eigenschaften bei der Entstehung und Umbildung der Art entstanden sind. Es würde also auch an unserer Auffassung der Schlafbewegungen bei den derzeit gegebenen Organismen nichts geändert werden, wenn die fortgesetzte Inanspruchnahme durch die tagesrhythmische Reiz- wirkung, bezw. Bewegungstätigkeit die erbliche Fixierung einer tages- rhythmischen Bewegungsdisposition zur Folge gehabt haben sollte. Dass ich nicht zu denen gehöre, welche die erbliche Fixierung von somatischen Vorgängen für unmöglich halten, mag beiläufig bemerkt sein (vgl. meine Pflanzenphysiol., II. Aufl., Bd. II, p. 243). Wir wollen nunmehr zu den theoretischen Erörterungen über- gehen, die Sem on erst in der jüngsten Publikation (1908, p. 237— 245) anstellte. Nach diesen soll das Schwinden der Nachwirkungs- bewegungen durch die Gegenwirkungen von Reizungseffekten be- wirkt werden, die durch Licht sowie durch Lichtmangel, auch bei konstanter Beleuchtung und Finsternis, ausgeübt werden. Dem- gemäß könne man gar nicht wissen, wie sich die Sache in einem indifferenten, d. h. reizlosen Zustand abspielen würde. Wenn in diesem Gedankengang Semon verlangt, dass deshalb, weil das nor- male Aufhören der Nachwirkungsbewegungen durch Hemmungen bedingt werde, nicht von Ausklingen die Rede sein könne, so hat er wohl nicht beachtet, dass man dann auch bei einem Pendel nicht von Ausklingen der Schwingungen reden dürfte. Denn das Ausklingen ist auch bei dem Pendel durch Hemmungen (Widerstände) be- dingt, bei deren absolutem Fehlen bekanntlich die Schwingungen unbegrenzt fortdauern würden. Ich wüsste ohnehin nicht, warum man nicht berechtigt sein soll, „Ausklingen“ ın dem üblichen gene- rellen Sinne (unabhängig von der Ursache) zur Kennzeichnung eines allmählichen Schwindens und demgemäß auch für die Nachwirkungs- bewegungen der Schlafbewegungen zu verwenden, die man ebenso, zur Kennzeichnung des tatsächlichen Geschehens, ohne jedes Be- denken als Nachschwingungen bezeichnen kann. Da aber doch nur der wirkliche Organısmus und die diesem zukommenden Eigenheiten und Eigenschaften Gegenstand des Stu- diums sein können, und da ein Lebewesen in einem indifferenten schwankungen dazu benutzt, in periodischer Wiederholung den Strom eines galva- nischen Elementes zu schließen, der dann also in demselben Rhythmus durch elektro- magnetische Wirkung einen mechanischen Impuls auf das eiserne Pendel ausüben würde. — Die im Text besprochenen Fragen sind übrigens in demselben Sinne auch in meiner Arbeit „Untersuchungen über die Schlafbewegungen 1907“, p. 330 ff., be- handelt worden. 400 Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. (reizlosen) Zustand undenkbar und nicht existenzfähig ıst, so hat die Frage nach dem Verhalten in einem solchen indifferenten Zu- stand überhaupt keine Bedeutung. Tatsächlich ist eben ein jeder Organismus ein mit einer Summe von spezifischen Eigenschaften ausgestattetes, vielseitig reaktionsfähiges, selbstregulatorisch arbei- tendes Wesen, das vermöge seiner Eigenschaften (inkl. Reaktions- fähigkeiten) auf die Annahme und die Erhaltung eines den jeweiligen inneren und äußeren Bedingungen entsprechenden Zustandes (Gleich- gewichtszustandes)!”) hinarbeitet, ein Wesen, das demgemäß durch die Störung dieses Gleichgewichtszustandes im allgemeinen zu Re- aktionen und Tätigkeiten veranlasst wird, welche die Ausgleichung der Störung, also die Wiederherstellung des Gleichgewichtszustandes erstreben ?). Das macht sich u. a. darın geltend, dass (ebenso wie andere Organe) auch ein Blatt, natürlich nur sofern es noch aktionsfähig ist, in die alte Lage zurückkehrt, wenn es in den zu- lässigen Grenzen, z. B. durch Ausbiegen oder durch eine geotropische Reaktion, aus derselben abgelenkt wurde. Die auf die Herstellung und die Erhaltung der jeweiligen Gleichgewichtslage hinarbeitenden Prozesse setzen sich in jedem Falle aus einem Komplex von näheren und ferneren Faktoren zu- sammen. So ist bei diesen Vorgängen, auch in den Blättern, der- jenige Komplex von Prozessen beteiligt, dessen uns entgegentretende Aktionsresultante wir als Autotropismus bezeichnen, und häufig spielen z. B. die geotropische und heliotropische Orientierung eine mehr oder minder hervorragende Rolle. Außer durch die Modi- fikation der tropistischen und anderweitigen Reizanstöße, kann also z. B. auch durch die Veränderung der Temperatur, der Lichtinten- sıtät, überhaupt der diffusen (also nicht tropistisch wirkenden) Außen- bedingungen eine Verschiebung der Gleichgewichtslage veranlasst werden. So hat die Überführung in einen anderen konstanten Temperatur- oder Beleuchtungsgrad bei vielen (physiologisch dorsi- ventralen) Objekten eine geringe oder auch eine ansehnliche Ver- änderung der Gleichgewichtslage zur Folge. Aber auch ohne eine bleibende Lageänderung können bei Versetzung in eine andere konstante Temperatur, Beleuchtung etc. geringe oder ansehnliche transitorische Ablenkungen (Bewegungen) veranlasst werden, indem mit dem Übergang auf den den neuen, konstanten Verhältnissen entsprechenden Zustand die Auslösung von Bewegungsvorgängen verknüpft ist). 17) Dass jeder Gleichgewichtszustand .auch als ein bestimmter Reizzustand be- zeichnet werden kann, ist in meiner Pflanzenphysiologie, II. Aufl., Bd. I, p. 15 erläutert. 18) Siehe z. B. Pfeffer, Pflanzenphysiologie, II. Aufl., Bd. II, p. 5 6, 596; Bd.10p2 25: 19) Vgl. Pfeffer, Pflanzenphys., II. Aufl., Bd. II, p 385, 476, 546, 596, 686. Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. 401 Wie auf solche Weise und durch die mit den angedeuteten Verhältnissen zusammenhängenden Prozesse die aitonastischen Re- aktionen und Bewegungsvorgänge, also auch die Schlafbewegungen vermittelt und nahe: werden, ist im Zusammenhang in meiner Physiologie ?°) dargestellt. In dieser und an anderen Stellen ist ebenfalls erläutert, dass und warum sich die Gleichgewichtslage der Laub- und Blütenblätter, sowie anderer Organe, auch bei vollster Konstanz der Außenbedingungen, durch Veränderung von Innen- faktoren, verschieben kann. Es ist deshalb merkwürdig, dass Semon (1908, p. 241) angibt, die Tatsache, dass Blätter in konstanter Be- leuchtung und Dunkelheit eine verschiedene Lage annehmen, sei ' von mir nicht erwähnt und beachtet, während doch die ganze Behandlung des Problems der Schlafbewegungen mit dieser Frage verknüpft ist. Zudem ist auch von mir speziell der Lagenände- rungen gedacht, welche die Blättchen von Albixxia lophantha, des Versuchsobjekts Semon’s, sowie die Blättchen von Mimosa pudica und Speggazzinii bei Konstanz der Beleuchtung und der Dunkelheit sowie mit dem Älterwerden ausführen?'). In der Tat ist es lange bekannt und leicht zu sehen, dass bei dauerndem Aufenthalt im Dunklen die Blättchen der jungen Blätter von Albixxia und ın einem noch höheren Grade die von Mimosa, eine mehr oder minder zusammengefaltete, die der älteren Blättchen aber eine mehr oder minder der Tagstellung genäherte oder auch eine ganz aus- gebreitete Gleichgewichtslage annehmen. Bei richtiger Würdigung des Gesagten ist einleuchtend, dass bei Konstanz der Beleuchtung oder Verdunkelung (auch bei Konstanz der Temperatur) nicht, wie Semon 22) will, besondere Reizanstöße und Be- wegungsbestrebungen entwickelt werden, welche speziell den Nachwir- kungsbewegungen entgegenarbeiten und diese zum Stillstand bringen. Denn tatsächlich wanton Be gsreaktionen nur bei dem ences in den neuen stationären Gleihecarentenictand oder wie man auch 20) Pfeffer, 1. c., p. 476. Vgl. auch Pfeffer, I Cal 907, ps, 405: 2) Better, Periodische Bewegungen 1875, p. 49; Entstehung der Schlaf- bewegungen 1907, p. 310, 316, 337. 22) Semon, I. c. 1908, p. 237, 243 u.s. w. Ich nehme an, dass mit ein- seitiger Reizung gemeint ist, dass die Wirkung speziell gegen die Nachschwin- gungen gerichtet ist, dass also nicht eine, spezifische tropistische Reizung damit gekennzeichnet sein soll. — Es wird hier natürlich vorausgesetzt, dass auch die inneren Faktoren konstant bleiben, denn wenn in diesen eine Änderung eintritt, so kann dadurch ein Außenfaktor, trotz seiner vollen Konstanz, zu spezifischen Rei- zungen nutzbar gemacht werden. So wird z. B. das Auftreten der heliotropischen Sensibilität im Entwickelungsgang zur Folge haben, dass jetzt eine Krümmung gegen eine Lichtquelle eintritt, die bis dahin keine heliotropische Reizung erzielte. Aber ätuıch die innere Verschiebung der Ansprüche an Temperatur oder an andere diffuse Bedingungen kann zu Reizeffekten führen. Siehe Pfeffer, Pflanzenphysio- logie, II. Aufl., Bd. II, p. 161, 388, 596. XXVII. 26 402 Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. sagen kann, beim Übergang in den neuen stationären Reizzustand 23) ausgelöst, der eben dadurch ausgezeichnet ist, dass in ıhm (d. h. durch ıhn) kein rhythmisches Krümmungsbestreben entwickelt wird, dass also das Organ stabil in seiner Lage verharrt, sofern nicht Bewegungen durch anderweitige Ursachen hervorgerrufen werden. Es liegen hier in prinzipieller Hinsicht Verhältnisse vor, die wir uns etwa an einem Metallthermometer versinnlichen können. Bei diesem wird durch jede Erhöhung und Erniedrigung der Temperatur eine Krümmungsbewegung verursacht, wodurch es in die dem kon- stanten Temperaturgrad entsprechende stationäre Gleichgewichtslage übergeht, in der es so lang verharrt, als die Temperatur konstant ist und in die es unter dieser Bedingung nach einer Ablenkung zurückkehrt (bezw. zurückzukehren strebt), gleichviel wie die Ab- lenkung bewirkt wurde und ob sie im Sinne des Steigens oder Fallens des Thermometers gerichtet war. Bei objektiver Abwägung der Verhältnisse stellt sich also die Ansicht Semon’s, für welche dieser auch anderweitige Argu- mente nicht beigebracht hat, als unzulässig heraus. Wenn Semon (1908, p. 240) darauf hinweist, dass (was zumeist, aber nicht generell zutrifft) die Blätter im Dauerlicht eine der Tagstellung, in der Dunkelheit eine der Nachtstellung genäherte Lage annehmen, so zeigt das doch nur, dass (analog wie bei dem Metallthermometer bei Temperaturänderung) die Gleichgewichtslage bei Konstanz der Beleuchtung und Verdunkelung (bezw. bei Konstanz eines ver- schiedenen Temperaturgrades) eine verschiedene ist, aber es folgt daraus nicht, dass durch die konstante Beleuchtung oder Verdunke- lung (bezw. durch die konstante Temperatur) besondere, auf Be- wegung hinarbeitende Reizanstöße entwickelt werden. Falls, wie es scheint, die Nachschwingungen ım Dauerlicht etwas schneller aus- klingen als im Dunkeln, so kann das schon dadurch verursacht sein, dass bei gewöhnlicher Beleuchtung, wie es häufig der Fall sein wird, eine heliotropische Orientierungswirkung und damit durch das Hinzutreten eines weiteren energetischen Faktors, die Her- stellung der Ruhelage beschletinigt wird (vgl. Peffer 1907, p. 315; Semon 1908, p. 240). Übrigens können auch andere Momente im Spiele sein, da Amplitude und Dauer der Nachschwingungen jeden- falls von dem jeweiligen Zustand des Organismus abhängig sind, der sich mit den Außenbedingungen, also auch mit der Beleuchtung, der Temperatur u. s. w. je nach den Umständen wenig, oder auch erheblich ändert. Eine Zustandsänderung, die zumeist eine Re- duktion der Nachschwingungen herbeiführen dürfte, ıst wahr- scheinlich mit jedem pathologischen Zustand, also auch mit einem solchen verknüpft, der durch schädigende Beleuchtungsverhältnisse 23) Siehe diese Arbeit p. 400 Anm. 17. Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. 403 verursacht wird. Aber daraus folgt nicht, dass die Nachschwingungen auch in der gesunden und normal reaktionsfähigen Pflanze durch die Dauerbeleuchtungen gehemmt werden (vgl. Pfeffer 1907, p. 434; Semon 1908, p. 239). Natürlich kann durch ein Bewegungsstreben, gleichviel welcher Art es ist und wie es veranlasst wird, ein merklicher Erfolg nur unter Überwindung der Widerstände erzielt werden, die in dem Organismus nicht nur durch die rein mechanischen Eigenschaften der Masse, sondern auch durch die physiologischen Tätigkeiten und Reaktionen verursacht werden, zu denen u. a. auch diejenigen gehören, welche durch eine Ablenkung aus der den übrigen Ver- hältnissen entsprechenden Gleichgewichtslage erweckt werden. Diese Widerstände kommen ebensogut für die Nachschwingungen in Be- tracht wie für jeden anderen Bewegungsvorgang, und da sich der Erfolg zunächst aus den angedeuteten, an sich komplexen Faktoren ergibt, so kann man auch speziell die ausklingenden Nachwirkungs- bewegungen, wie es bereits von mir in den Periodischen Bewegungen (1875, p. 121) geschah, ganz allgemein als Resultante aus dem kon- stanten (regulatorischen) Streben nach Gleichgewichtslage und dem Erfolgen des erhaltenen Anstoßes ansprechen. Da aber ein jeder physiologischer Vorgang ein komplizierter Prozess ıst, da ferner durch die spezifische Auslösung und Inanspruchnahme, sowie durch die gegenseitigen Beeinflussungen, der Zustand (die Stimmung) des Organismus, also auch seine sensorischen und motorischen Be- fahigungen und Leistungen modifiziert werden können?'), so kann man nicht behaupten und erwarten, dass bei demselben Objekte die dem Bewegungsstreben entgegentretenden physiologischen Gegen- reaktionen und Widerstände bei jeder Art von Reizung in quanti- tatıver oder doch ın qualitativer Hinsicht übereinstimmen. Indes liegt keine einzige Erfahrung vor, die darauf hinwiese, dass ın der Pflanze gerade den tagesperiodischen Nachschwingungen mit be- sonderen Mitteln und mit ganz besonderer Energie entgegengearbeitet wird. So lange aber die realisierte Bewegung das einzige Zeugnis für die Existenz eines autogenen oder aitiogenen Reizanstoßes ist, vermögen wir auch nicht mit aller Strenge nachzuweisen, ob da, wo die Bewegung aufhört auch der zugrunde liegende Auslösungs- vorgang (sensorischer Prozess) endlich ganz schwindet. Das gilt demgemäß ebenso für die tagesperiodischen Nachschwingungen, obgleich in diesem Falle die Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass die internen Vorgänge, durch welche die tagesrhythmische Nach- 24) Vgl. z. B. Pfeffer, Pflanzenphysiologie, II. Aufl., Bd. I, p. 16; Bd. II, p- 361, 609, 616. Über die Ausschaltung von autonomen Bewegungen durch die Schlafbewegungstätigkeit siehe Pfeffer, Entstehung der Schlafbewegungen 1907, p- 455. 26 404 Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. schwingungstätigkeit veranlasst und reguliert wird”®), schließlich ganz ausklingen. Denn gerade das allmähliche Schwinden lässt darauf schließen, dass bei diesem Vorgang, der doch ein aitiogener Reizerfolg ist, auch die internen, rhythmischen Prozesse endlich ganz aufhören. In analoger Weise wird man aus der allmäh- lichen Abnahme der durch einen Anstoß hervorgerufenen Nach- schwingungen eines Pendels auf ein endliches, völliges Ausklingen auch dann schließen, wenn dieses selbst innerhalb der Beobachtungs- zeit nicht erreicht wird. Ebenso wird man doch deshalb, weil die durch die heliotropische Wirkung einer intermittierenden Beleuchtung erzielte rhythmische Bewegungstätigkeit (p. 392) mit Nachschwin- gungen ausklingt, nicht behaupten, dass eine diesen Nachschwin- gungen zugrunde liegende rhythmische Tätigkeit dem Organismus als erblich überkommener Bestandteil zukommt. Will man aber, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, die Existenz einer erblichen rhythmischen Tätigkeit z. B. für die Nachschwingungen der Tagesperiode dadurch retten, dass man die Vorgänge in das Unkontrollierbare verlegt, so könnte man sich etwa darauf berufen, dass die Realisierung der Bewegungsreaktion auch dann unterbleibt, wenn die nötige Verkettung in den sensorischen oder zwischen den sensorischen und motorischen Prozessen an irgendeiner Stelle unter- brochen ist, und dass wahrscheinlich derartige Ausschaltungen im Organismus eine weit größere Rolle spielen, als wir zurzeit wissen ?®). Ein absolut zwingender Beweis gegen eine solche Voraussetzung wird nicht so leicht, ja vielleicht gar nicht zu führen sein, weil man zur Rettung der Idee immer wieder andersartige Kombinationen ersinnen kann, wenn einmal eine bestimmt formulierte Theorie durch empirische Erfahrungen unmöglich gemacht wird. Allerdings spricht in Wirklichkeit nichts dafür, dass das all- mählige Ausklingen und Schwinden der tagesperiodischen Be- wegungen auf einer derartigen Ausschaltung in der Reizungs- und Reaktionskette beruht, dass also in Wirklichkeit die diese Bewegungen veranlassenden inneren, tagesrhythmischen Prozesse bei konstanten Außenbedingungen unbegrenzt anhalten. Hiergegen kann man u. a. anführen, dass das Ausklingen ebenso eintritt, wenn bei dem Über- gang in konstante Verhältnisse die Außenbedingungen eine ver- hältnismäßig leichte, also nicht eine derartige Änderung erfahren, 25) Die Nachschwingungen werden ebenso durch innere, sich in rhythmischer Wiederholung abspielende Prozesse (Reizanstöße) veranlasst, wie die autonomen Be- wegungen, bei denen aber diese Anstöße nicht ausklingen, sondern selbstregulatorisch dauernd fortgesetzt werden. Vel. über autonome Bewegungen Pfeffer, Pflanzen- physiologie, II. Aufl, Bd. I, p. 10; Bd. II, p. 388; Entstehung der Schlafbewe- gungen 1907, p, 458. 26) Siehe z. B. Pfeffer, Pflanzenphysiologie, II. Aufl., Bd. II, p. 358, sowie die Anm. 24 zitierte Literatur. Er Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. 405 wie sie doch wohl zur Erzielung einer tiefer einschneidenden inneren Änderung erforderlich erscheint. Denn wenn man z. B. die Schlaf- bewegungen durch mäßige Temperaturschwankungen, oder, bei der dauernd im Licht verbleibenden Pflanze, durch mäßige Lichtschwan- kungen hervorruft, so befinden sich die Objekte ununterbrochen in guten Existenzbedingungen und erfahren eine geringere Varia- tion der Außenbedingungen, als sie ihnen normalerweise in der Natur, auch schon während der Beleuchtungszeit am Tage, be- gegnet. Durch solche oder andersartige Interpretationen wird aber nichts an der Tatsache geändert, dass die Realisierung der Schlafbewe- gungen, auf die sich korrekterweise zunächst alleın meine Schluss- folgerungen (p. 391, 397) beziehen, nicht durch eine inhärente (erbliche) Tätigkeit, sondern durch photonastische oder thermonastische Re- aktionen erzielt wird. Das ergibt sich unzweifelhaft aus den ver- gleichenden Studien über das Verhalten der Pflanzen bei Konstanz und bei Veränderung der in Frage kommenden Faktoren, also bei einer Methodik, die seit Beginn der exakten Forschung in allen Zweigen der Naturwissenschaften zur Entscheidung der Frage an- gewandt wurde, ob ein Vorgang in einem lebendigen oder toten Objekte von der Veränderung in der Außenwelt abhängig oder un- abhängig ist und die zu diesem Zwecke zweifellos auch fernerhin stets angewandt werden muss. Diese Methodik ist ja eben deshalb geboten, weil dann, wenn die Bedingungen nicht konstant sind, es fraglich bleibt, ob ein in Erscheinung tretender Vorgang von der Veränderung in der Um- gebung in irgendeiner Weise abhängig ist. Wenn man aber aus der Tatsache, dass tagesperiodische Bewegungen durch einen rhyth- mischen Wechsel der Beleuchtung bei einer Pflanze erweckt werden, der dieselben bei Konstanz der Außenbedingungen abgehen, schließt, dass diese Bewegungstätigkeit inhirent (erblich) ist, so begeht man im Prinzip denselben Fehler, wie dann, wenn man aus der Tat- sache, dass ein Pendel durch von außen kommende Anstöße in Schwingungen versetzt wird, folgert, dass ihm die Schwingungs- tätigkeit als inhärente Eigenschaft zukommt. So gut wir aber wissen, dass ein ruhendes Pendel durch geeignete Anstöße in Be- wegung kommen muss, ist es auch gewiss, dass u. a. der Wechsel von Beleuchtung oder Temperatur nicht spurlos an einer Pflanze vorübergehen kann, die erfahrungsgemäß auf einen solchen Wechsel mit einer photonastischen oder thermonastischen Bewegungsreaktion antwortet. Semon (1908, p. 241) befindet sich also ım Irrtum, wenn er meint, die Pflanzen befänden sich z. B. bei einem 6: 6- oder 12: 12stiindigen Beleuchtungswechsel, gegenüber dem Aufent- halt in konstanter Beleuchtung, in verhältnismäßig indifferenten Bedingungen, und die Frage, ob die Schlafbewegungen erblich seien, 406 Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. müsse durch das Verhalten bei rhythmischen Wechsel der Be- leuchtung entschieden werden. Das Verhalten beı Modifikation eines Außenfaktors ist aber die gebotene und stets benutzte Methode um die Abhängigkeit eines Geschehens von einer Außenbedingung festzustellen und näher zu verfolgen. In diesem Sinne ist demgemäß speziell auch die An- wendung eines verschiedenartigen Rhythmus der Beleuchtung oder der Temperatur imstande, in mancherlei Hinsicht Aufschluss zu geben. So wird u. a. die Frage, ob schlafbefähigte Pflanzen ver- möge ihrer Eigenschaften einen tagesperiodischen Verlauf der akti- vierten Bewegungen anstreben, unter Umständen nur auf dem an- gedeuteten Wege lösbar sein. Das wird der Fall sein, wenn ver- folgbare Nachschwingungen fehlen, bei deren Vorhandensein die fragliche Disposition wohl im allgemeinen auch in den Nach- schwingungen und dann in diesen zumeist ungetrübter hervortreten dürfte, weil bei Konstanz der Außenbedingungen die paratonischen Reaktionserfolge des Beleuchtungs- oder Temperaturwechsels weg- fallen. Da es für die allgemeine Auffassung unwesentlich ıst, wenn über einzelne Objekte und Punkte im speziellen keine volle Über- einstimmung besteht (vgl. p. 395), so wollen wir auch nur mög- lichst kurz auf einige Differenzen eingehen, welche in bezug auf die Blättchen von Albixzia (Acacia) lophantha zwischen Semon und mir vorliegen. Diese Differenzen laufen ın der Hauptsache darauf hinaus, dass nach Semon den schlaftätigen Blättchen dieser Pflanze eine sehr ausgesprochene Disposition zukommt, die Be- wegungen in einen tagesperiodischen Rhythmus zu lenken, während ich gerade bei diesen Blättchen eine derartige ausgesprochene Dis- position vermisste. Semon (1905, p. 243) stellte seine Hauptversuche mit Keim- pflänzchen der Acacia lophantha an, die bei intermittierender Be- leuchtung einer elektrischen zehnkerzigen Kohlenfadenlampe in der Weise kultiviert wurden, dass sie abwechselnd 6 oder 24 Stunden in das Licht und ın das Dunkle kamen. Unter diesen Umständen beobachtete unser Autor bei diesen Blättchen ein deutliches Her- vortreten von tagesperiodischen Bewegungen, und zwar in der Art, dass diese während des besagten Beleuchtungswechsels nur mäßig durch die paratonischen Wirkungen alteriert wurden und dann, ohne diese Störungen, noch einige Zeit mit nachlassender Ampli- tude anhielten, wenn die Pflanzen weiterhin in konstanter Ver- dunkelung oder Beleuchtung gehalten wurden. Diese Beobachtungsresultate würden ın der Tat zeigen, dass die Blättchen vermöge der inhärenten Eigenschaften einen tages- periodischen Rhythmus anstreben, wenn feststände, dass der Er- Pfeffer,Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. 407 folg nicht aus dem Zusammenwirken des Beleuchtungswechsels mit anderen Faktoren resultierte, die sich in Verbindung mit dem angewandten Lichtwechsel änderten. Sobald aber, gleichviel auf welche Weise, ein tagesperiodischer Rhythmus herauskommt, dann ist auch derselbe Rhythmus bei den Nachschwingungen aus den- selben Gründen zu erwarten, wie bei den Nachwirkungsbewegungen der normalen, täglichen Schlafbewegungen. Aus den Mitteilungen Semon’s (1905, p. 243) ist aber nicht sicher zu ersehen, dass bei den angewandten Beleuchtungswechsel und Versuchsbedingungen keine anderen Faktoren mitbestimmend eingriffen, und deshalb ver- mochte ich die beobachteten Bewegungserfolge nicht als zureichenden Beweis für die fragliche Disposition anzuerkennen (Pfeffer 1907, p. 333). Auch durch die neueren Mitteilungen Semon’s (1908, p. 227), sind meine Bedenken noch nicht gehoben. Denn wenn auch bei konstanter Beleuchtung oder Verdunkelung im Inneren des Brutschrankes, in dem sich Semon’s Versuchs- objekte befanden, die Temperatur nur sehr langsam und wenig schwankte, so wurden doch beim Erhellen und Verdunkeln, infolge der Wärmewirkung der Lampe, Temperaturunterschiede von 4—5° C. hervorgerufen (Semon 1305, p. 243). Dazu kommt, dass diese Be- obachtungen, die vermutlich an einem Thermometer mit blanken Quecksilbergefäß angestellt wurden, nicht den Effekt anzeigen, der auf die Pflanze durch die Strahlungen der Lampe ausgeübt wurde. Da der Versuchsraum ın dem Brutschrank voraussichtlich nicht groß war, dürfte die Entfernung zwischen Pflanze und Lampe nicht ansehnlich gewesen sein, und da sich zwischen beiden keine Wasser- schicht befand, so dürfte die Pflanze bei dem Anzünden der Lampe, obgleich diese nur zehnkerzig war, erhebliche und zudem plötzliche Änderungen der Temperatur und auch der Transpiration erfahren haben. Die Höhe der Temperatursteigerung des Pflanzenkörpers würde sich auch nicht aus dem Temperaturüberschuss eines ge- schwärzten Thermometers ableiten lassen (vgl. Pfeffer 1907, p. 292), schon deshalb nicht, weil die Abkühlung durch die Steigerung der Transpiration hinzukam, hinsichtlich welcher man nur vermuten kann, dass sie beim Erhellen schnell anstieg, um dann (infolge der Selbst- regulation) allmählich wieder bis zu einem gewissen Grade abzunehmen. Inwieweit derartige Verhältnisse die infolge des Beleuchtungs- wechsels angestrebte Bewegung der Blättchen modifizierten, lässt sich nicht sagen. Doch werden nach den Beobachtungen von Jost bei den Blattchen von Albixxta lophantha durch ansehnlichere Tem- peraturänderungen erhebliche Bewegungen ausgelöst, die zudem bei plötzlichem Wechsel der Temperatur einen entgegengesetzten Ver- lauf nehmen, wie bei langsamen Wechsel ?”). Die Rücksichtnahme 27) Jost, Jahrb. f. wiss. Bot. 1898, Bd. XXXI, p. 310, 389. Vgl. Pfeffer, Ic. 1907,-p. 330, 370. “408 Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. auf solche Umstände waren Veranlassung, dass ich bei meinen Versuchen dahin strebte, bei dem Beleuchtungswechsel die Wirkung der Strahlung möglichst zu reduzieren, extreme Einflüsse zu ver- meiden und zu kontrollieren, ob langsamer und schneller Beleuch- tungswechsel denselben Erfolg haben (vgl. Pfeffer 1907, p. 288, 419). Die tagesrhythmischen Nachwirkungsbewegungen brauchen wir aus dem schon (p. 407) angegebenen Grund nicht weiter zu disku- tieren. Ganz nebensächlich aber ıst es hier für uns, ob die Nach- schwingungen etwas länger oder kürzer anhielten und inwieweit etwa die Dauer derselben durch äußere oder andere Bedingungen etwas modifiziert wurde?®). Hervorgehoben sei noch, dass Semon auch bei diesen Nachschwingungen ein allmähliches Abnehmen der Amplitude und bei den in kontinuierlicher Beleuchtung erwachsen- den Blättchen keine tagesrhythmische Bewegungstätigkeit beob- achtete (vgl. diese Arbeit p. 396). Bei meinen Versuchen, die mit Pflanzen ausgeführt wurden, welche unter normalen Bedingungen am Tageslicht erwachsen waren, ergab sich aber, dass die Blättchen von Albixzia lophantha z. B., bei einem 6:6stündigen oder 3: 3stiindigen Beleuchtungs- wechsel bald ın elegantester Weise eine dem entsprechenden Be- wegungsrhythmus annehmen (1907, p. 319, 424). Da bei der ange- wandten Registriermethode der Gang der Bewegungen, und somit eine jede kleine Abweichung exakt aufgezeichnet wird, so ist damit gesagt, dass unter diesen Versuchsbedingungen eine tagesperiodische Bewegungstätigkeit nicht in nennenswerter Weise zur Geltung kam (1907, p. 321). Aber auch dann, wenn Pflanzen, die einige Zeit einen 6:6stündigen Bewegungsrhythmus ausgeführt hatten, nun- mehr in kontinuierlicher Beleuchtung gehalten wurden, erhielt ich Kurven, in denen eine tagesperiodische Bewegung nicht mit Sicher- heit hervortrat?°). Eine solche wurde indes sehr deutlich bei den Blättern von Phaseolus vulgaris vitellinus dadurch angezeigt, dass diese in kontinuierlicher Beleuchtung schnell zu tagesperiodischen Nachschwingungen übergingen, wenn sie zuvor, bei einem 18: 18- stündigen Beleuchtungswechsel, in vollendeter Weise einen 36stün- digen Bewegungsrhythmus ausgeführt hatten (1907, p. 357, 441). 28) Ich unterlasse deshalb eine Diskussion der auf diesen Punkt bezüglichen Bemerkungen Semon’s (1908, p. 229). — Vgl. übrigens Pfeffer 1907, p. 314, 372, 402, 435. 29) Da es nach der Darstellung Semon’s (1908, p. 231) scheinen könnte, als ob ich die tagesperiodische Disposition für Albizzia geleugnet habe, so be- merke ich, dass ja diese Disposition auch von Semon (1908, p. 234) nicht als eine allgemein notwendige Eigenschaft angesehen wird, dass ich aber speziell über Albizzia nur gesagt habe, dass ich nach einem 6: 6stündigen Beleuchtungs- wechsel eine Tendenz zu tagesperiodischer Nachschwingung nicht sicher beobachtet habe und eine nähere Untersuchung, ob diese Tendenz unter diesen Umständen in einem geringen Grade bestehe, nicht für wichtig halte (Pfeffer 1907, p. 320, 441). Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. 409 Nun sind allerdings meine Versuche bei einer stärkeren Be- leuchtung angestellt als die von Semon, der eine zehnkerzige Lampe benutzte. Indes wandte ich gerade bei Albixxia in der Regel eine verhältnismäßig schwache Beleuchtung an (zwei Tantal- lampen a 25 Kerzen, vgl. 1907, p. 289, 310) und ein gleiches Re- sultat erhielt ich bei einem 6: 6stündigen Beleuchtungswechsel auch dann, als ich dieses Licht auf ungefähr die Hälfte, d. h. so weit herabsetzte, dass ein gleich helles Tageslicht sicherlich nicht mehr zum dauernden Gedeihen unserer Pflanze ausreichen würde (1907, p. 332). Sofern also bei einer andersartigen rhythmischen Beleuch- tung mit noch schwächerem Licht eine tagesperiodische Bewegung hervortreten sollte, so würde diese Eigenschaft doch für diejenigen Pflanzen, die sich unter einigermaßen zureichenden Beleuchtungs- bedingungen befinden, keine praktische Bedeutung haben. Warum ich in dieser Frage die von Semon erhaltenen Beobachtungs- resultate nicht für beweisend halte, ist (p. 406) erwähnt. Sollte sich aber bei einwandsfreien Versuchsbedingungen das von Semon angenommene Verhalten als zu Recht bestehend ergeben, so würde damit eine Eigentümlichkeit gekennzeichnet sein, und man würde dann wohl das Ausbleiben der tagesperiodischen Bewegungstendenz bei etwas stärkerer Beleuchtung als die Folgen einer Ausschaltung durch die paratonische Inanspruchnahme ansehen müssen, wie sie in analoger Weise bei dem Zusammengreifen von Schlafbewegungen (paratonischen Effekten) und autonomen Bewegungen vorkommt (Rietfer 1907, p. 455). Falls den Blättern von Albixxia das fragliche Verhalten wirk- lich zukommt, dann wird es aber aller Wahrscheinlichkeit nicht nur bei den in schwacher Beleuchtung erwachsenen Keimpflanzen, sondern auch bei den unter normalen Verhältnissen erwachsenen Pflanzen hervortreten, sobald diese in die zureichenden Bedin- gungen versetzt sind. Denn es handelt sich ja um eine erbliche Eigenschaft, die ın Beziehungen zu den Schlafbewegungen steht und die doch wohl nicht durch die Schlafbewegungstätigkeit oder durch die übrigen Bedingungen unterdrückt werden wird, die zur Realisierung der Schlafbewegungen notwendig sind. In der Tat haben meine Versuche mit Phaseolus vulgaris vitellinus ergeben, dass, soweit untersucht wurde, die Blätter dasselbe Verhalten und dasselbe Reaktionsvermögen zeigten, gleichviel ob die Pflanzen in kontinuier- licher Beleuchtung erzogen worden waren, oder ob ım Tageswechsel erwachsene Pflanzen verwandt wurden, bei denen die Nachschwin- gungen in Dauerbeleuchtung, sei es mit, sei es ohne photonastische Gegenwirkungen °°), zum Stillstand gekommen waren. So stellten 30) Siehe Pfeffer, ]. c. 1875, p. 34; 1. ec. 1907, p. 317. — Kam es auf die Vermeidung einer photonastischen Gegenwirkung an, so wurde in der l. e. 1907, p- 305 angegebenen Art verfahren. 410 Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. sich bei den in diesen drei verschiedenen Manieren vorbehandelten Pflanzen bei einem entsprechenden Beleuchtungswechsel nicht nur die normalen Schlafbewegungen, sondern auch eine 18: 18stündige Bewegungsperiodizität ein, und auf letztere folgten in kontinuier- licher Beleuchtung stets Nachschwingungen in einem 12: 12stündigen Rhythmus (Pfeffer 1907, p. 359, 441). Ferner trat in merklicher Weise die Neigung zu einem 6: 6stündigen Rhythmus auch dann her- vor, als das einemal einem entsprechenden Beleuchtungsturnus eine Pflanze unterworfen wurde, die in Dauerbeleuchtung erwachsen war, das anderemal eine solche, die unter Mithilfe von photonastischen Gegenwirkungen ihre Schlafbewegungen in kontinuierlicher Beleuch- tung eingestellt hatte*?). Wenn man also z. B. durch eine geeignete Erhellung gegen Abend eine photonastische Wirkung ausübt, die auf eine Bewegung hinarbeitet, welcher der normalen Schlafbewegung entgegengesetzt gerichtet ist, so werden dadurch bei Phaseolus das Reaktions- vermögen, sowie speziell auch die Disposition zu einem tages- periodischen Tempo nicht alteriert. Dasselbe wird wohl bei allen Pflanzen der Fall sein, und es liegt keine Tatsache vor, die ver- muten ließe, dass sich etwa bei den Blättchen von Albixxia lophantha die fragliche Disposition durch photonastische oder andere Ein- witkungen derart zurückdrängen lässt, dass sie nach der Wieder- herstellung geeigneter Außenbedingungen ın der gesunden und aktionsfähigen Pflanze stark reduziert oder ganz geschwunden er- scheint. Ohnehin erfährt diese erbliche Disposition mit der photo- nastischen Auslösung der Schlafbewegungen eine zeitliche Regulation und es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass die Schlafbewegungen bei einer bestimmten Pflanzenart gleichzeitig und in derselben Weise auftreten würden, wenn man nebeneinander Samen aussäet, von denen die einen bei uns, die anderen in einem Lande geerntet wurden, in dem die Sonne 12 Stunden später aufgeht. Es lässt sich das um so sicherer behaupten, als sogar bei den schon in Gang gesetzten Schlafbewegungen eine Verschiebung des Rhythmus um 12 Stunden ziemlich schnell gelingt, wenn man den bisherigen Beleuchtungsturnus um 12 Stunden verschiebt (Pfeffer 1907, p. 321, 447). Mit dem sicheren Nachweis, dass bei den im Tageswechsel er- wachsenen Pflanzen die Schlafbewegungen und die Nachwirkungs- bewegungen in kontinuierlicher Beleuchtung (oder Temperatur) zum Stillstand kommen und durch einen rhythmischen Beleuchtungs- 31) Das in Fig. 26 (1907, p. 360) dargestellte Versuchsresultat ergab sich bei einem 6:6stündigen Beleuchtungswechsel mit Pflanzen, die im Dauerlicht, unter Mithilfe von photonastischen Gegenwirkungen ihre Schlafbewegungen eingestellt hatten. Bei den Versuchen mit den im Dauerlicht aus Samen erwachsenen Pflanzen wurde aber 8 Stunden beleuchtet und 4 Stunden verdunkelt (vgl. 1. c. 1907, p. 360). Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. 4411 wechsel (oder Temperaturwechsel) jederzeit wieder erzeugt werden können, ist zugleich erwiesen, dass auch bei Keimlingen die Schlaf- bewegungen ohne photonastische (oder thermonastische etc.) Reiz- wirkungen nicht auftreten. Wie somit gar nicht anders erwartet werden konnte, fand ich das auch bei den Keimpflanzen von Pha- seolus bestätigt, die in kontinuierlicher Beleuchtung erzogen wurden °?). Zur Feststellung dessen, dass auch bei den Blättchen von Albixzia die Schlafbewegungen durch photonastische Reaktionen zustande kommen, war somit eine Kultur von Keimlingen in kontinuierlicher Beleuchtung absolut nicht nötig und zur Entscheidung der von mir in das Auge gefassten Hauptfragen bedurfte es also derartiger Versuche nicht (1907, p. 330). Übrigens teilt Semon (1905, p. 244) mit, dass die von ihm in Dauerbeleuchtung erzogenen Blättchen von Albixzzia bewegungslos waren, und vielleicht wird unser Autor auch diesen Mangel von Bewegungstätigkeit jetzt nicht mehr als einen pathologischen Erfolg ansprechen (vgl. diese Arbeit p. 396, 408). Hätte ich aber Zeit gefunden, Keimlinge von Albixzia in Dauer- beleuchtung zu erziehen, so würde das wohl bei starker Beleuchtung geschehen sein, um auch in dieser Hinsicht tunlichst normale Ver- hältnisse herzustellen. Denn bei so schwacher Beleuchtung, wie sie Semon anwandte, wird man, auch in einem entsprechend ge- dämpften Tageslicht, nur kümmerliche und nicht normale Pflänzchen erhalten. Auf Grund dieser Erwägungen will ich aber durchaus nicht die Vermutung aussprechen, dass Semon bei seinen Keim- lingen nur abnorme (pathologische) Bewegungstätigkeiten beobachtete; ich schließe vielmehr aus den mitgeteilten Versuchsresultaten, dass die kleinen, zarten Blätter gut reaktionsfähig waren und schöne Bewegungsreaktionen auszuführen vermochten. Auf weitere Einzelheiten haben wir hier nicht einzugehen, so auch nicht auf die spezifischen Differenzen des Reaktionsvermögens, auf das Zusammengreifen verschiedener Faktoren und auf andere Umstände, die bei der realen Gestaltung der Schlafbewegungen mit- wirken oder mitwirken können (vgl. Pfeffer, 1. c. 1904, Bd. II, p. 501 ete.). Doch sei hier nochmals hervorgehoben, dass das Zu- standekommen der Schlafbewegungen von den aitionastischen Re- aktionen abhängt, die natürlich eine zureichende Aktionsfähigkeit und Reaktionsfähigkeit voraussetzen, die aber nicht so gestaltet sein müssen, dass durch sie ın bestimmter Weise auf einen tages- rhythmischen Gang der Bewegungen hingearbeitet wird. Ferner 32) Da es nach Semon (1908, p. 233, Anmerk.) scheinen kann, als ob ich nur einmal mit einer im Dauerlicht aus Samen erzogenen Pflanze von Phaseolus operiert habe, so sei bemerkt, dass (Pfeffer, 1. c. 1907, p. 348) in drei Versuchs- reihen zusammen 12 Pflanzen in kontinuierlicher Beleuchtung erzogen wurden, von denen bei 6 Pflanzen die Bewegungsvorgänge und Reaktionserfolge mit Hilfe der Registriermethode aufgezeichnet wurden. 412 Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. sind die Nachschwingungen nicht allgemein notwendig, die aber, wo sie sich finden, günstig mitwirken, weil sie annähernd ein tages- periodisches Tempo einhalten und deshalb täglich gleichsinnig mit den neuen photonastischen oder thermonastischen Auslösungen zu- sammengreifen (vgl. meine Physiologie, II. Aufl., Bd. II, p. 490). Warum ich früher für bestimmte Fälle die Bedeutung der Nach- schwingungen überschätzte, ist in meiner jüngsten Arbeit über diesen Gegenstand (1907, p. 447 etc.) dargelegt worden. Da Semon (1907, p. 227) Zweifel darüber äußert, ob bei der von mir angewandten Selbstregistrierung die Bewegungen der Blätt- chen von Albizzia lophantha in zureichender Weise aufgezeichnet werden, so muss ich noch kurz auf die Methodik zu sprechen kommen. Ich sollte freilich meinen, aus der Besprechung dieser in meiner Schrift (1907, ’p. 268, 279, 307, 317) wäre zu ersehen, dass ich die angewandte Methode allseitig kritisch erwogen und auf ihre Brauchbarkeit ge- prüft habe, auch in bezug auf Albixxia. Ich glaubte deshalb ein Ein- gehen auf Einzelheiten um so mehr unterlassen zu können, als die mitgeteilten Kurven, insbesondere auch durch die scharfe Kenn- zeichnung der Wirkung eines Beleuchtungswechsels bei den Blätt- chen von Albixzia, Zeugnis für die sichere Registrierung des realen Bewegungsvorganges ablegen. Dieser wird tatsächlich durch unsere Methode, wie eine sorgfältige Prüfung ergab (abgesehen von der Kontinuität der Kurve) exakter gekennzeichnet, als durch die üb- liche Methode, die darın besteht, dass man durch den Vergleich mit verschiedenen Kartondreiecken in Zeitintervallen den Winkel ermittelt, den die Blättchen eines Paares miteinander bilden. Denn, wie ich aus reichlicher Erfahrung weiß, muss man hierbei, vorzüg- lich wenn ein schnelles Messen während der Dunkelperiode geboten ist, mit einem Fehler von 5 Grad rechnen (Pfeffer 1875, p. 34, 49). Dagegen wird mit unserer Methode (bei der benutzten Vergrößerung der Bewegung), selbst wenn die Bewegung der Blättchen in der- selben Richtung fortschreitet, sicher eine Änderung des Blättchen- winkels um 3-—4 Grad, oder auch schon um 2 Grad bemerklich, und es wird sogar eine noch etwas größere Genauigkeit erreicht, so lange die Blättchen plan ausgebreitet oder mäßig zusammen- geneigt sind (vgl. Pfeffer 1907, p. 279, 312). Wenn aber ein in fixer Lage befindliches Blättchen bewegungstätig wird, oder wenn eine Wendung der bisherigen Bewegungsrichtung eintritt, wie es doch gerade bei der Realisierung einer antagonistischen Bewegungs- tätigkeit, also auch bei dem Einschieben eines weiteren Bewegungs- rhythmus der Fall ist, so wird schon eine noch geringere Winkel- änderung der Blättchen in der Kurve deutlich markiert. Eine spezielle Prüfung ergab denn auch, dass unter solchen Umständen noch geringfügige (photonastische) Bewegungen der Blättchen in der Kurve hervortraten, die wohl durch die Verschiebung der Blätt- Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. 413 chenspitze gegenüber einer fixierten Nadelspitze zu erkennen waren, die aber bei der üblichen Methode der Winkelbestimmung der Be- obachtung entgangen wären. Mit der Tatsache, dass die Schreibspitze schon eine geringe Bewegung scharf aufzeichnet, ist zugleich dargetan, dass die Blätt- chen die ihnen durch die Methode zugemutete Arbeitsleistung leicht vollbringen. Tatsächlich wird bei guter Handhabung der Methodik jedes einzelne Blättchen höchstens mit 5 mg in Anspruch genommen (1907, p. 269). Es wurde aber festgestellt, dass kräftige Blätt- chen, wie ich sie verwandte, sich nicht merklich oder nur minimal biegen, wenn ihre Spitze (bei horizontaler Blattlage) sogar mit 20 mg belastet wird*?) und dass die Blättchen auch bei einer solchen Be- lastung ihre Schlafbewegungen ganz ebenso fortsetzten, wie die übrigen desselben Fiederstrahls. Aber selbst dann, wenn die Be- lastung so weit gesteigert wird, dass die Blättchen bei horizontaler Lage deutlich gebogen werden, dauern die Schlafbewegungen dennoch in normaler Weise fort**). Es ist deshalb verständlich, dass in einem Kontrollversuche die registrierte Kurve in unveränderter Weise fort- geschrieben wurde, als die von dem Schreibzeiger ausgehende Span- nung der Glimmerblättchen auf das Doppelte gesteigert worden war. Die Spitze des Schreibzeigers konnte aber speziell in diesen Versuchen mit einem minimalen Druck (etwa 1 mg) gegen die Schreibfläche angepresst werden, da der Verbindungsfaden zwischen dem Schreibzeiger und dem Glimmerapparat bei der Bewegung der Blättchen eine seitliche Verschiebung nicht erfahren kann (vel. Pfeffer 1907, p. 281). Da also bei jeder Stellung der Blättchen schon eine kleine Winkel- änderung markiert wird, so gibt uns die geschriebene Kurve über das Wesen des Verlaufes, und ganz besonders auch über jeden Stillstand und jede Umkehrung der Bewegung sicheren Aufschluss. Das genügt aber vollständig für unsere Zwecke, für die es ohne Belang ist, dass die Winkeländerungen der sich bewegenden Blätt- chen und die Fortbewegung der Schreibspitze nicht in einem genau proportionalen Verhältnis stehen (1907, p. 308), was übrigens z. B. ebenfalls bei der Registrierung der Blattbewegungen von Phaseolus der Fall ist (1907, p. 278). Weiter hat es für unsere Zwecke keine Bedeutung, ja ist sogar in gewissem Sinne ein Vorteil, dass mit unserer Methode nur ein Mittelwert aus der Bewegungstätigkeit einer ganzen Anzahl von Blättchen der Albixzia aufgezeichnet wird. 33) Bei diesen Versuchen benutzte ich rechteckige Plättchen von dickerem Stanniol (wie es zu Flaschenköpfen gebraucht wird), die zusammengefaltet auf die Spitze des Blättchens geschoben und dann leicht angepresst wurden. 34) Die Schlafbewegungen werden mit großer Energie angestrebt, wie sich aus dem gegen eine Widerlage ausgeübten Druck ergibt. Pfeffer 1875, p. 103; 1907, p. 410, 418. 414 Pfeffer, Die Entstehung der Schlafbewegungen bei Pflanzen. Übrigens sind die autonomen Oszillationen dieser Blättchen sehr gering, und es ist bekannt, dass die Bewegungen der gesunden Blättchen eines Fiederstrahles auffallend gleichmäßig auszufallen pflegen. Dass eine solehe Übereinstimmung auch bei den Versuchs- blättchen bestand, wurde aber nicht nur dadurch kontrolliert, dass darauf geachtet wurde, ob alle Blättchen dem Glimmer angepresst blieben, sondern auch noch dadurch, dass vor und nach dem Ver- suche durch das Zurückschlagen der Glimmerblättchen die Versuchs- blättchen freigegeben und daraufhin beobachtet wurden, ob sie sich nunmehr gleichmäßig und in derselben Weise bewegten wie die übrigen Blättchen desselben Fiederstrahls, die nicht in Berührung mit dem Glimmer kommen und kamen. Während der Registrierung erlaubt aber der Vergleich der freien und der dem Glimmer anliegenden Blättchen eine gute Kon- trolle, ob sich auch die letztgenannten normal bewegen; denn eine kleine Abweichung in der Lage eines Blättchens innerhalb des- selben Fliederstrahls tritt dem Beschauer sehr deutlich entgegen. Eine weitere Garantie für die fehlerfreie Registrierung ergab sich aus der sogar unerwarteten Ähnlichkeit der beiden Kurven die gleichzeitig und unter gleichen Bedingungen von Blättchen- gruppen zweier Individuen geschrieben wurden (vgl. Pfeffer 1907, p. 275). Bei Benutzung einer Methode, die auf ihre Exaktheit allseitig geprüft war und eine stetige Kontrolle zuließ, wäre es doch min- destens überflüssig gewesen, wenn ich mich, wie es Semon (1908, p. 228) fordert, der Mühe unterzogen hätte, gleichzeitig auch noch den Bewegungsgang mittelst der üblichen Winkelbestimmung, also mittelst einer Methode zu verfolgen, die nachweislich an Exaktheit zurücksteht. Übrigens habe ich selbst in früherer Zeit (1875) zahl- reiche Bewegungen, auch bei den Blättchen von Albixzia, mit dieser Winkelbestimmung verfolgt, und dıe damals, zumeist bei Ablesungen in 2—4stündigen Intervallen erhaltenen Resultate stimmen, soweit ein Vergleich möglich ist (z. B. ın bezug auf Schwinden der Be- wegungen bei kontinuierlicher Beleuchtung, photonastische Re- aktionen, Nachschwingungen, normale Schlafbewegungen) in den Hauptzügen mit den neuerdings durch Selbstregistration gewonnenen Kurven überein. Eine solche Übereinstimmung wurde aber auch er- halten, als ich wiederum, und zwar vielfach, die Bewegungen anderer Blättchen der Versuchspflanzen bis zu einem gewissen Grad ver- folgte, um zu erfahren, ob sich die zur Selbstregistration dienenden und die übrigen Blätter gleichartig verhalten, und um ein ausge- dehnteres Material von Beobachtungstatsachen zu gewinnen. Aller- dings wurden derartige Winkelmessungen begreiflicherweise mit Aus- wahl, d. h. nur zeitweise, aber gerade so angestellt, dass das Verhalten an entscheidenden Punkten und Wendepunkten einigermaßen zu- Pfeffer, Die Entstehung der Pflanzen bei Schlafbewegungen. 415 reichend übersehen werden konnte und dabei darauf Rücksicht ge- nommen, dass mir die Nachtruhe nicht unnötig gestört wurde. Da es sich aber bei solchen Beobachtungen doch wesentlich nur um eine Kontrolle handelte, so ist in meiner Arbeit nur beiläufig (1907, p- 312) darauf hingewiesen, dass die registrierten Kurven durch- aus dem direkt beobachteten Gang der Blättchen von Albixxia entsprechen. Eine so genaue und kontinuierliche Kenntnis des Bewegungs- verlaufes, wie sie die registrierten Kurven gewährt, ist übrigens ın vielen Fällen nicht gerade nötig und es ist tatsächlich die Ent- scheidung vieler und gerade fundamentaler Fragen auch auf Grund von Beobachtungen möglich, die in 2—3stündigen oder sogar in noch größeren Intervallen angestellt wurden °°). Wenn ich begreiflicherweise recht kräftige Blättchen und Pflanzen benutzte, so wurde doch auch bei einigen Versuchen mit mittelkräftigen Blättern von Albixxia eme vollständig exakte Regi- strierung der Bewegungen erhalten. Auch bin ich überzeugt, dass man bei großer Sorgfalt mit unserer Methode sogar noch mit ziem- lich kleinen und zarten Blättern eine brauchbare, wenn auch in den Einzelheiten vielleicht nicht so genaue Registrierung der Be- wegungen erzielen könnte. Bei sehr zarten Blättern dürfte man aber auch bei Benutzung eines Lichtstrahls als gewichtslosen Hebel- arm Schwierigkeiten finden, da hierbei ebenfalls eine Welle von der Pflanze in Bewegung gesetzt werden muss (Pfeffer 1907, p. 286). Eine Verkettung der Blättchen mit einer in Bewegung zu setzenden Masse würde dagegen bei der Herstellung von Bildserien durch direkte photographische Aufnahmen wegfallen. Obgleich mir für solche Zwecke ein automatisch arbeitender Apparat zur Ver- fügung stand, habe ich doch aus den 1907, p. 286 angedeuteten Gründen auf die Verwendung dieser Methode verzichtet. 35) Deshalb habe ich auch keinen Wert auf die nur beiläufig in einer An- merkung (1907, p 332) gegebene Bemerkung gelegt, dass die von Semon mitge- - teilten Kurven aus Ablesungen konstruiert wurden, die zumeist in etwa 6stiindigen Intervallen angestellt waren. Ich glaubte dieses daraus entnehmen zu können, dass die Kurven Semon’s (1905, p. 246, 247) öfters eine horizontale Linie für derartige Zeitabschnitte auch dann zeigen, wenn die Blättchen nicht in Nachtstellung an- einandergepresst waren oder sich nicht am Licht in Tagstellung befanden. Denn nur unter solchen Umständen habe ich sowohl in den Versuchen mit Winkelablesungen (vgl. Pfeffer 1875, Taf. I u. II), sowie bei der Selbstregistrierung einen völlig horizontalen Verlauf der Kurven gefunden, weil eben die Blättchen andernfalls in Bewegung zu sein pflegen (Pfeffer 1875, p. 48; 1907, p. 326). Aus der neuer- dings gegebenen Mitteilung Semon’s (1908, p. 228), dass die Ablesungen in 2—3- stündigen Intervallen angestellt wurden, geht hervor, dass ich mich in dieser Er- wägung geirrt habe. \ 416 Ostwald, Prinzipien der Chemie. Wilhelm Ostwald. Prinzipien der Chemie. Eine Einleitung in alle chemischen Lehrbücher. Akademische Verlagsgesellschaft m. b. H. Kl. 8°, XVI + 540 S., .907. Indem ich mit Vergnügen melden kann, dass das vor einem Jahr hier (Bd. 27, 5. 286) besprochene Werk Ostwald’s bereits in zweiter Auflage erschienen ist, möchte ich die Aufmerksamkeit dieses Leserkreises auch auf das neueste Buch Ostwald’s lenken, dessen Titel oben angegeben ist. Allerdings fordert die diesmalige Gabe eine nicht unerhebliche Mitarbeit seitens des Lesers, doch ist dieser durch das frühere Werk ganz gut dazu vorbereitet und welcher, selbst Vielbeschäftigte, wird sich nicht gerne zu einer solchen Mitarbeit entschließen, wenn er erfährt, dass es sich in diesem Buche um nichts Geringeres als um den ersten Versuch einer Darstellung der Chemie in Gestalt eines rationellen, wissenschaftlichen Systems ohne Bezugnahme auf die Eigenschaften individueller Stoffe handelt. Mit anderen Worten: das Buch ist eine allgemeine Chemie im ursprünglichen Sinne des Wortes. Und der Nutzen, den der Biologe daraus für die Aus- gestaltung seiner allgemeinen Biologie ziehen kann ist mannig- faltıg. — Und eine allgemeime Biologie besitzt ja jeder, obwohl es bis jetzt nur wenige versucht haben sie niederzuschreiben. Einzelheiten gebe ich nicht, denn wenn der Verfasser für diese „Einleitung“ nicht weniger als 35 — wenn auch kleine — Druck- bogen gebraucht hat, was können davon etwa ebensoviel Zeilen Inhaltsangabe wiedergeben? Auch von der sonst vielfach brauch- baren Mitteilung der Kapiteliiberschriften möchte ich absehen, da es sich ja hier nicht um Umgestaltung eines bekannten Lehrstoffes, vielmehr um Neuerschaffung eines solchen handelt. Doch möchte ich es nicht verschweigen, dass nicht wenig davon, was Ostwald in diesem Buche vertritt, selbst von den fortschritt- lichsten Chemikern (den „physikalischen “) nicht geteilt wird. Ins- besondere das schon vor einigen Jahren begonnene unbarmherzige Entkleiden der Chemie von den hypothetischen Bildern der wir- belnden und tanzenden Atome und Moleküle hat verschiedentlich offenen Widerspruch und noch vielmehr passive Resistenz hervor- “ gerufen. Diesbezüglich ein allgemeines Urteil abzugeben steht mir nicht ob, doch erscheint es mir so, dass für die Darstellung der chemischen Seite der Lebensvorgänge die Ostwald’sche hypothesenfreie Darstellungsweise unbedingt zu bevorzugen ist. Aristides Kanitz. Berichtigung. In meinem in Nr. 7 des Centralblattes veröffentlichten Aufsatz: Hat deı Rhythmus der Tageszeiten bei Pflanzen erbliche Eindrücke hinterlassen? sind leider zwei sinnstörende Druckfehler stehen geblieben. S. 237, Z. 36 von oben muss es statt‘ 120, 120 | 12s, 12s | 120, 120 heißen: 120, 120 | 120, 120 | 120, 120. Und S. 242, Z.5 von oben muss es statt Schließungsanstoß s? heißen: Schließungsanstoß s!. München, 6. Mai 1908. Richard Semon. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der kgl. bayer. Hof- u. Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. o iat hy Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Schiller als Arzt. Ein medizinisch-geschichtliches Gedenkblatt an den 100jährigen Todestag Schillers von Prof. Dr. H. Magnus. M. 1.50. Die mikroskopische Technik der ärztlichen Sprechstunde von Dr. Paul Meissner, Berlin. Zweite, vermehrte und verbesserte Auflage. Mit 32 teils farbigen Abbildungen. Geb. M. 2.20. Die Stellung der Krankenpflege in der wissenschaftlichen Therapie. Rede, gehalten in der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Düsseldorf von Prof. Dr. M. Mendelsohn. M. —.60. Über den Entwickelungsgange der Psychiatrie und die Bedeutung des psychiatrischen Unterrichts von Geh.-Rat Prof. Dr. F. Meschede. Mu Kompendium der Entwickelungsgeschichte des Menschen. Mit Berücksichtigung der Wirbeltiere von Priv.-Doz. Dr. LL. Wichaelis in Berlin. 2. Auflage. Mit 50 Abbildungen und 2 Tafeln. Geb. M. 4.—. Dieser Nummer’ liegt ein Prospekt der Verlagsbuchhandlung B. G. Teubner in Leipzig, betr.: „Goebel, Morphologie“, bei. K. B. Hof- und Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. Sa 2 © kad fs =)‘ hits AVS Biologisches Gentralblatt. . Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Fostanstalten. XXVIII. Ba. 1. Juli 1908. Ne 13. ~ Leipzig. Verlag von Georg Thieme. Rabensteinplatz 2. Reg.-Bez. Breslau. dä II | We Bahnst. Kudowa oder Nachod. 400 m tiber dem Meeresspiegel. Saison: Vom i. Mai bis Oktober. Arsen-Eisenquelle: Gegen Herz-, Blut-, Nerven- und Frauenkrankheiten. fy Lithionquelle: Gegen Gicht, Nieren- und Blasenleiden. “= Natürliche Kohlensäure- und Moorbäder. =; Neu erbohrte, ausserordentlich kohlensäurehaltige und ergiebige Quelle. #3 Komf. Kurhotel. Theater- u. Konzertsäle. Anstalt für Hydro-, Elektro- u. Licht- = Theravie. Medico-mechanisches Institut. Hochwasserleitung u. Kanalisation. mm Badeärzte: Geh. Sanitäts-Rat Dr. Jacob, Dr. Herrmann, Dr. Karfunkel, Dr. Witte, Privat- Dozent Dr. Ruge, Sanitäts-Rat Dr. Kuhn, Dr. Silbermann, Dr. Münzer, Dr. Brodzki, Dr. Hirsch, Dr. Loebinger, Dr. Kabierschke, "Dr. Bloch, SS Schnabel, Zahnarzt Dr. Wolfes. Brunnen-Ver sand durch die Generalvertretung Dr. S. Landsberger, Berlin SW., Gitschiner- strasse 107, Telephon Amt IV 1046, und die Bade- Den Kudowa ao une gratis durch sämtliche Reisebüres, RUDULF MOSSE und Die Bade-Direktion. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Medizin und Überkultur. Vortrag gehalten in der Berliner Medizinischen Gesellschaft am 18. März 1908 von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. W. His, Berlin. a nr. | 1908 Biologisches Centralblatt Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut; einsenden zu wollen. Bd. XXVITI. 1. Juli 1908. Ae 18. Inhalt: Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus und der Sklaverei bei den Ameisen (Schluss). — Swarezewsky, Uber die Knospenbildung bei Acineta gelatinosa Buck. — Forel, Konflikt zwischen zwei Raubameisenarten. — Forel, Zur Farbenbildung der Raupe der Saturnia carpini. Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus und der Sklaverei bei den Ameisen. (Zugleich 162. Beitrag zur Kenntnis der Myrmekophilen.) Von E. Wasmann S. J. (Luxemburg). (Schluss). Im Jahre 1907 wurden in diesem Beobachtungsneste aus Kolonie 2 keine der zahlreichen Polyergus-Arbeiterinnen zu einer eierlegenden , Krsatzkénigin“ 7°) umgezüchtet, während dies in einem Beobachtungsneste aus der Polyergus-rufibarbis-Kolonie Nr. 1 von Luxemburg 1904—1905 wiederholt geschehen war. In Kolonie Nr. 1 hatte ich auch in freier Natur 1904, wie schon früher in Holland’!), mehrere solche „gynäkoide Arbeiterinnen“ mit auffallend großem Hinterleib und stark entwickelten Ovarien gefunden. Die letztgenannte Kolonie erzeugte auch in freier Natur nur noch Männchen im Jahre 1904 (1905 war sie verschwunden). Dagegen fanden sich in den Kolonien Nr. 2 und 4, welche in freier Natur noch Weibchen und Arbeiterinnen erzeugten, niemals gynäkoide 70) Vgl. „Ameisenarbeiterinnen als Ersatzköniginnen“ (Mitt. Schweiz. Ent.- Ges. XI, Heft 2, 1905, S. 67—70). 71) Die ergatogynen Formen bei den Ameisen (Biol. Centraibl. 1895, Nr. 16 u. 17), S. 609ff. Zwischenformen zwischen gynäkoiden Arbeiterinnen und ergatoiden Weibchen von Polyergus sind äußerst selten (März 1889, Kol. Nr. 3 von Exaten). XXVIII. 27 418 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. Arbeiterinnen vor; auch in einem Beobachtungsneste aus Kolonie Nr. 4, das keine Königin (weder eine normale noch eine ergatoide) enthielt, wurde 1906—1908 keine einzige Arbeiterin zur Ersatz- königin umgezüchtet. Diese Eigentümlichkeit scheint also bei Polyergus auf bestimmte Kolonien beschränkt zu sein, welche schon in freier Natur die befruchteten (die normalen und die ergatoiden) Weibchen verloren haben. Es seien hier noch einige Versuche über die Aufzucht fremder Kokons er- wähnt, die 1906 mit dem Beobachtungsneste aus Kolonie Nr. 2 angestellt wurden ”°). Am 13. Juli wurden 50 Arbeiterkokons von rufa in das Obernest gegeben; sie wurden anfangs von den rufibarbis adoptiert, dann aber die Puppen gefressen. Am 18. Juli bemerkte ich, dass die Polyergus zu einem Raubzuge das Nest verlassen wollten. Am 19. verband ich deshalb das Nest mit einem Fangglas, das 12 sanguinea-Ar- beiterinnen, 4 fusca-Arbeiterinnen und eine Anzahl Arbeiterkokons und unbedeckte Arbeiterpuppen von sanguinea enthielt. Drei Polyergus genügten, um die sanguinea in die Flucht zu schlagen. Zwei sanguinea töteten sich gegenseitig, indem sie sich mit Gift bespritzten, andere wurden durch Kopfbisse von Polyergus getötet. Letztere raubten jedoch die sangwinea-Puppen nicht, die erst später von den rufibarbis ab- geholt wurden; die Puppen und jungen Ameisen wurden gefressen, nur eine frisch- entwickelte sanguinea blieb einige Stunden am Leben. Arbeiterkokons von rufi- barbis und exsecta, die ich am 21. Juli in das Obernest gab, wurden von den rufibarbis adoptiert, aber nur die ersteren wurden erzogen. Bezüglich der Koloniegründung von Polyergus rufescens geht aus den obigen Mitteilungen über die bei Kolonie Nr. 2 von Exaten und Kolonie Nr. 2 von Luxemburg gefundenen ergatoiden Köni- ginnen folgendes hervor: 1. Dieselben werden von fremden Sklaven, sowohl von fusca als von rufibarbis leicht aufgenommen. Bei der Kolonie Nr. 2 von Luxemburg war die Aufnahme schon in freier Natur erfolgt. 2. Sıe werden dagegen von den fremden Polyergus-Arbeiterinnen heftig angegriffen und getötet; dabei verhalten sie sich völlig passiv. 3. Wahrscheinlich wird also ın freier Natur die von einem Teil der Sklaven einer Polyergus-Kolonie aufgenommene fremde Königin mit diesen auswandern und anderswo ihr Nest gründen”). 4. Wenn die fremde ergatoide Königin befruchtet war, wie dies im zweiten der obigen Fälle zutraf, können auf diesem Wege neue Polyergus-Kolonien entstehen. Gewöhnlich aber geschieht die Gründung der neuen Polyergus- Kolonien wohl dadurch, dass die Weibchen nach dem Paarungs- fluge in der Nähe von Nestern einer Sklavenart, nicht von fremden Polyergus-Nestern, sich verstecken und dort Auf- nahme finden. Das Aufsuchen von Sklavennestern wird für die 72) Diese Versuche ergänzen die 1905 (Ursprung der Sklaverei), S. 121ff. mitgeteilten Versuche, die auf Polyergus-Kolonie Nr. 1 von Luxemburg sich be- zogen. 73) Man findet fast nie Polyergus-Kolonien nahe beinander (Forel). Bei Luxemburg fand ich auf demselben Bergabhang drei Kolonien in Abständen von 30 bezw 100 m voneinander. ee Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. 419 Polyergus-Königinnen dadurch erleichtert, dass wie Forel und Emery’*) beobachtet haben, Weibchen manchmal die Sklavenraub- züge der Arbeiterinnen begleiten. Ob die fremde Polyergus-Königin in einem selbständigen Sklavenneste von allen Arbeiterinnen oder nur von einem Teile derselben, der sich von seiner Königin trennt, adoptiert wird’), müsste erst durch weitere Beobachtungen ent- schieden werden. Letzteres würde leichter erklären, weshalb auch in jungen Polyergus-Kolonien die Königin der Sklavenart fehlt. Eine solche junge Polyergus-rufibarbis-Kolonie erwähnt Forel 1874 (S. 302). Bei Exaten fand ich 1887. eine ganz junge Polyergus- fusca-Kolonie. Auch die Polyergus-rufibarbis-Kolonie Nr. 3 von Luxemburg hatte bei ihrer Entdeckung (April 1904) erst eine geringe Zahl kleiner Arbeiterinnen und dreimal soviel (etwa 100) rufibarbis- Sklaven; eine Königin der Sklavenart war auch hier nicht zu finden. Auf Wheeler’s Versuche über die Koloniegründung von Po- lyergus lucidus’®) werden wir im sechsten Teile diese Arbeit zurück- kommen. Ihr Resultat spricht eher zugunsten der Adoption als des Puppenraubes der Königin, obgleich die Adoption in keinem dieser Versuche gelang, die mit unbefruchteten, künstlich ent- flügelten Weibchen angestellt wurden. Über einen Fall, wo ein Sklavenwechsel bei Polyergus rufes- cens in freier Natur eintrat, berichtet Wheeler 19077). Forel zeigte ihm eine Kolonie bei Morges (Schweiz), die 1907 nur fusca als Sklaven enthielt, während sie 1904 nur rufibarbis-Sklaven ge- habt hatte. Gegen die schon von Forel (1874) konstatierte Tat- sache, dass Polyergus vorzugsweise die Kolonien jener Sklavenart beraubt, mit welcher die betreffende Polyergus-Kolonie gegründet wurde, folgt hieraus nichts”®). Auch meine Beobachtungen be- stätigen die Forel’sche Regel. Bei Exaten (Holland) fand ich in allen Polyergus-Kolonien nur fusca als Sklaven, bei Lainz (Wien) und bei Luxemburg in allen nur rufibarbis, obwohl auch Nester der anderen Sklavenart auf den betreffenden Gebieten lagen. 74) Forel, Fourmis de la Suisse p. 299. Emery berichtet in einer während des Druckes der vorliegenden Arbeit erschienenen Publikation: Osservazioni ed Es- perimenti sulla Formica Amazzone, Bologna 1908 (Rend. Acc. Sc. Ist. Bologna 1907-—08, p. 49--62) über seine Beobachtungen und Versuche mit Polyergus. Dass die Pol.-Weibchen, welche die Expeditionen der Arbeiterinnen begleiten, keine Puppen rauben, ist jetzt auch Emery’s Ansicht. Er fand dieselbe auch durch Experimente bestätigt. Andererseits aber erzielte er in keinem Fall eine definitive Aufnahme eines entflügelten Pol.-Weibchens durch fremde fusca. 75) Santschi (Moeurs parasitiques temporaires de Bothriomyrmex, Ann. Soc. Ent. Fr. 1906, p.379ff.) hat versucht, durch die Trennungshypothese den Ursprung der Sklaverei überhaupt zu erklären. Im 6. Teil dieser Arbeit werde ich darauf zurückkommen. 76) Founding of colonies p. 86—89. 77) Origin of slavery p. 555. 78) Vgl. hierüber auch meine Ausführungen 1905, S. 264. Zi 490 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. b) Zur Koloniegründung von Strongylognathus testaceus. In den gemischten Kolonien von Str. testaceus mit Tetramorium caespitum findet man regelmäßig neben den verschiedenen Ständen von Strongylognathus und deren Brut auch (im Sommer und Herbst) Arbeiterpuppen von Tetramorium an. Da Str. testaceus keine Sklavenjagden veranstaltet und auch durch ihre geringe Größe und die geringe Zahl ihrer Arbeiterinnen in diesen gemischten Kolonien ”°) dazu nicht mehr befähigt ist, blieb die obige Erscheinung ein Rätsel, das sich erst 1890 aufklirte®®), Am 21. Juni 1890 fand ich näm- lich bei Prag eine sehr volkreiche Kolonie (ca. 5000 Strongylognathus- Arbeiterinnen und 15000 Tetramorium-Arbeiterinnen), welche zwei Königinnen enthielt, eine von Strongylognathus und eine von Tetramorium; ferner waren hier neben zahlreichen Geschlechts- puppen von Strongylognathus und Arbeiterpuppen beider Arten auch einige Puppen der geflügelten Geschlechter von Tetramorium vor- handen. In einer kleinen Kolonie bei Prag hatte ich schon am 28. Mai 1890 ebenfalls eine Tetramorium-Königin gefunden, aber keine Strongylognathus-Königin; da jedoch außer Arbeiterinnen beider Arten auch Arbeiterpuppen derselben sich vorfanden, muss eine Strongylognathus-Königin sicher vorhanden gewesen sein*?), Über einen dem letzteren ähnlichen Fall, den er mit Forel bei Genf 1907 beobachtete, berichtete Wheeler 1907°?). Auf Grund der Funde von 4890 hatte ich 1891 (S. 114) die Hypothese aufgestellt, dass die gemischten Kolonien von Strongylo- gnathus testaceus mit Tetramorium caespitum Allıanzkolonien seien, die dadurch entstehen, dass das StrongylognathusW eibchen nach dem Paarungsfluge eine junge Tetramorium-Königm aufsucht, die erst in der Bildung ihrer Kolonie begriffen ıst und sich mit ihr alliiert (Allometrose Forel’s.. Auch Viehmeyer hat sich dieser Ansicht angeschlossen**) auf Grund eines Versuches, den er mit einem isoliert aufgefundenen entflügelten Weibchen von Strongylo- gnathus angestellt hatte; zu einer kleinen Tetramorium-Kolonie ge- setzt, suchte es zu entfliehen und wurde von den Arbeiterinnen getötet. Schon 1891 (S. 107ff.) wurde über Versuche berichtet, die ich über die Adoption von geflügelten Weibchen und Männchen von 79) Meist beträgt dieselbe selbst in ziemlich volkreichen Kolonien kaum 100, und die Tetramorium-Arbeiterinnen sind durchschnittlich sechsmal so zahlreich vertreten. Ausnahmen hiervon sind selten; eine derselben ist die obenerwähnte Kolonie vom 21. Juli 1890. 80) Die zusammengesetzten Nester ete. 1891, S. 110ff. 81) Beide Kolonien wurden noch mehrere Monate lang in Beobachtungsnestern gehalten. In dem Neste der ersteren Kolonie kletterten auch die Str.-Arbeiterinnen häufig auf der großen Tetr.-Königin umher und beleckten sie. 82) Origin of slavery S. 556. 83) 1908, Koloniegründung S. 27—28. Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 421 Str. testaceus bei fremden Tetramorium angestellt hatte; die Stron- gylognathus wurden nicht aufgenommen, sondern getötet. Dagegen gelang eine Allianz, die ich am 3. August 1888 zwischen einer Strongylognathus-Tetramorium-Kolonie und einer selbständigen Tetra- mortum-Kolonie versucht hatte. Anfangs griffen die an Zahl über- legenen selbständigen Tetramorium die Arbeiterinnen von Strongylo- gnathus und deren Hilfsameisen heftig an, während sie die geflügelten Männchen und Weibchen von Strongylognathus fast ganz unbehelligt ließen, aber schon am folgenden Tage hatten beide Parteien sich friedlich vereinigt. Am 5. August wurde abermals eine Abteilung Strongylognathus-Tetramorium zu der neuen Allianzkolonie gesetzt, diesmal erfolgte die Vereinigung ohne Kampf. Am 18. August waren die zahlreichen geflügelten Männchen und Weibchen, welche die selbständigen Tetramorium bei sich gehabt hatten, sämtlich tot und nur die geflügelten Geschlechter von Strongylognathus blieben neben den Arbeiterinnen beider Arten in dieser künstlichen Allianz- kolonie übrig; mehrere unbefruchtete Weibchen lebten in derselben bis zum Frühling 1889. Auch dieser Versuch spricht dafür, dass die Mischung der Kolonien von Str. testaceus und Tetramorium auf dem Wege der Allianz erfolgt, nicht aber durch Adoption einer Strongylognathus- Königin in einer bereits erwachsenen Tetramorium-Kolonie**). Zu- gleich zeigt dieser Versuch, dass in der Allianzkolonie die geflügelten Geschlechter der Hilfsameisenart beseitigt werden. In den natür- lichen gemischten Kolonien dürfte es hier trotz der Anwesenheit von einer Königin beider Arten fast nie bis zur Erziehung von geflügelten Geschlechtern der Hilfsameisenart kommen, weil, wie auch Forel annimmt, die Tetramorium die Aufzucht der kleineren Geschlechtstiere von Strongylognathus derjenigen der größeren ihrer eigenen Art vorziehen. Im Juli 1889 stellte ich auch einen Versuch an mit einer An- zahl unbefruchteter Weibchen und Arbeiterinnen von Str. testaceus, die von ihren Hilfsameisen getrennt wurden und dann Arbeiterpuppen von Tetramorium erhielten; sie schenkten ihnen kaum Beachtung und pflegten sie nicht. Die Strongylognathus vermochten jedoch mehrere Wochen ohne ihre Hilfsameisen zu leben. In bezug auf die Nahrungsaufnahme verhielten sie sich viel selbständiger als die Polyergus, die von der Fütterung durch ihre Sklaven abhängig sind. Im Juli 1890 wurde dieser Versuch mit einer Anzahl Arbeiterinnen von Strongylognathus wiederholt, mit demselben Ergebnis. Dass die Larven in den Strongylognathus- Tetramorium-Kolonien 84) Es sei hier übrigens auf eine merkwürdige Beobachtung Forel’s (Fourmis d. I. Suisse 1874, p. 256) aufmerksam gemacht, der einmal mitten in einer Kolonie von Leptothorax acervorum etn flügelloses Weibchen von Str. testaceus fand. 422 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. durch die Hilfsameisen auch mit Insektenresten gefüttert werden (karnivore Ernährung), beobachtete ich bei Luxemburg in einem Neste in freier Natur am 13. Juli 1904. Am 2. September 1904 wurde ein Beobachtungsnest eingerichtet mit fünf Arbeiterinnen von Str. testaceus, ca. 100 Tetramorium- Arbeiterinnen und einigen hundert Arbeiterpuppen aus einer ge- mischten Kolonie, worauf ich ihnen 50 Arbeiterinnen und mehrere hundert Arbeiterpuppen aus einer einfachen Tetramorium-Kolonie beigab. Auch hier war schon am folgenden Tage eine vollkommene Allıanz zwischen beiden Parteien eingetreten. Das Nest wurde dann durch eine Glasröhre mit einem Lubbock-Neste verbunden, welches eine kleine Kolonie von Strongylognathus Huberi (ca. 30 Arbeite- rinnen und einige Männchen und geflügelte Weibchen) mit Tetra- morium (ca. 50 Arbeiterinnen von zweierlei Varietäten)°>) enthielt, welche Escherich mir aus Fully im Wallis zugesandt hatte. Die Str. Huberi drangen in das Nachbarnest ein und raubten einen Teil der Larven und Puppen von Tetramorium. Die fremden Tetra- morium leisteten ihnen nur wenig Widerstand trotz ihrer großen Zahl, während sie mit den Hilfsameisen derselben sich anfangs heftig umherzerrten; zwischen den Str. Huberi und testaceus fanden nur vereinzelte Kämpfe statt. Am nächsten Morgen hatten die Tetramorium beider Parteien sich alliert und pflegten gemeinschaft- lich die Puppen; die wenigen Str. testaceus waren alle im Kampfe getötet worden; von Str. Huberi waren zwei tot, von den fremden Tetramorium-Arbeiterinnen einige Dutzend. Am 5. September gab ich der Kolonie wiederum einige hundert Arbeiterpuppen aus fremden Tetramorium-Nestern; sie wurden von den Str. Hubert sofort geraubt. Die Kampfesweise dieser Ameise gleicht, wie schon Forel früher beobachtet hat (1874, S. 349), ganz derjenigen von Polyergus, indem sie mit ihren Säbelkiefern den Kopf des Gegners zu ergreifen suchen. Ich hielt die Kolonie in dem Beobachtungs- nest bis Ende Juli 1905. Für Str. testaceus ıst es nach den oben mitgeteilten Beobach- tungen sehr wahrscheinlich, dass die Weibchen ihre neuen Kolonien gründen durch Allianz mit einer Tetramorium-Königin oder durch Aufnahme in eine ganz junge Tetramorium-Kolonie, die noch keine alten Arbeiterinnen hat. Über die Gründungsweise der Kolonien bei den südlichen Strongylognathus-Arten, die noch die Fähigkeit zum Puppenraub besitzen, wissen wir bisher nichts. Auf die mut- maßlichen phylogenetischen Beziehungen zwischen beiden werde ich im sechsten Abschnitt dieser Arbeit kurz eingehen. 85) Also war eine der Varietäten durch Sklavenraub in freier Natur in das Nest gekommen. Siehe hierüber im 6. Teil dieser Arbeit. Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 493 c) Zur Koloniegründung von Anergates. Anergates atratulus, die arbeiterlose Schmarotzerameise des ge- mäßigten und nördlichen Europa, bietet in bezug auf ihre Kolonie- gründung mit Tetramorium caespitum noch vieles rätselhafte, > ob- wohl schon seit mehr als 40 Jahren eine Reihe von Forschern sich mit dieser Frage beschäftigt hat. Über die verschiedenen Hypo- thesen, die hierüber durch v. Hagens, Forel, Lubbock, Adlerz, Janet und mich aufgestellt worden sind, wurde bereits 1891 **) und 1902°”) von mir berichtet, ebenso auch über die verschiedenen Versuche, welche Adlerz, Janet und ich über die Adoption der Anergates-Weibchen bei fremden Tetramorium angestellt haben. Charakteristisch für die gemischten Anergates-Tetramorium- Kolonien sind folgende Züge: 1. Das Fehlen der eigenen Arbeiterkaste von Anergates, die durch Tetramorium-Arbeiterinnen ersetzt ist; meist (nicht immer) sind letztere von relativ bedeutender Körpergröße und stammen somit wahrscheinlich aus sehr alten Tetramorium-Kolonien. 2. Die konstante Abwesenheit von Arbeiterpuppen der Hilfs- ameisenart; dies deutet darauf hin, dass schon bei der Aufnahme der Anergates-Königin in eine Tetramorium-Kolonie keine Königin der Hilfsameisenart mehr vorhanden ist. 3. Die Flügellosigkeit und „Puppenähnlichkeit“* der Männchen, die Kleinheit sowohl der Männchen wie der geflügelten Weib- chen von Anergates und die absolute Inzucht, die in diesen Kolo- nien herrscht, deuten auf eine sehr tiefe Stufe des sozialen Para- sitismus hin. 4. Ebenso auch die sehr große Zahl der jungen Weibchen und Männchen in diesen Kolonien, welche die Zahl der Hilfsameisen manchmal fast erreichen kann. Über 100 Weibchen und Dutzende von Männchen sind selbst in mittelstarken Kolonien, die kaum einige hundert Hilfsameisen zählen, keine Seltenheit. Wheeler fand in einer starken Kolonie bei Morges (Schweiz) im Juni 1907 sogar gegen tausend geflügelte Weibchen und mehrere hundert Männchen **). : 5. Die Seltenheit der Anergates-Kolonien im Vergleich zur großen Zahl ihrer geflügelten Weibchen. Dies deutet an, dass ihre Koloniegründung bei Tetramoriwm mit großen Schwierigkeiten ver- knüpft ıst, obwohl nach den übereinstimmenden Versuchen ver- schiedener Forscher die jungen Anergates-Weibchen bei fremden Tetramorium-Arbeiterinnen leicht aufgenommen werden. 86) Die zusammengesetzten Nester etc. S. 137 ff. 87) Neues über die zusammengesetzten Nester etc. S. 30ff. (Separat). 88) Origin of slavery p. 556. Vgl. auch die unten angegebenen Zahlen in einer Kolonie von Luxemburg. 494 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. 6. Die riesige Physogastrie der alten Königinnen von Anergates, die nur sehr selten in diesen Kolonien gefunden wurden **), deutet an, dass durch die Fruchtbarkeit der Königin die Kurzlebigkeit ihrer Kolonie kompensiert werden muss, um die Art zu erhalten. Wie lange eine Anergates-Tetramorium-Kolonie leben kann, ist noch nicht sicher; aber da Hilfsameisenpuppen stets fehlen, kann sie das individuelle Alter der Tetramorium-Arbeiterinnen, mit denen die Kolonie gegründet wurde, nicht überschreiten (3 oder 4 Jahre?). 7. Das häufige Zusammentreffen der Kolonien von Strongylo- gnathus testaceus und von Anergates auf denselben Telramorvum- Gebieten. Schon v. Hagens hat darauf aufmerksam gemacht und ich fand es bei Exaten in Holland, bei Linz a./Rh. und bei Luxem- burg bestätigt. Wahrschemlich beruht dieses Zusammentreffen darauf, dass auf alten Tetramorium-Gebieten sich besonders günstige Bedingungen für die verschiedene Koloniegründung dieser beiden parasitischen Arten finden. Diese Punkte bergen noch viele Rätsel in bezug auf das Wesen, die Gründungsweise und die Dauer der Anergates-Tetramo- rium-Kolonien. Unter allen bisherigen Versuchen, durch die Aufnahme junger Anergates-Arbeiterinnen ın einer fremden Tetramorium-Kolonie wirk- lich eine neue Anergates-Kolonie zu erziehen, hatte nur ein einziger, über welchen Janet 1896°°) berichtete, wahrscheinlich Erfolg. Er hatte bei einer starken Tetramorium-Kolonie in seinem Garten 20 junge (im Beobachtungsnest befruchtete) Weibchen von Anergates ausgesetzt. Im folgenden Jahre fand er 4 m von der (ausgewan- derten) letztjährigen Tetramorium-Kolonie entfernt eine Anergates- Tetramorium-Kolonie mit einer physogastren Königin. Bei der Seltenheit der Anergates-Kolonien ist es mindestens wahrscheinlich, dass diese Kolonie durch die Aufnahme eines der obigen Anergates- Weibchen entstand. Bei einem anderen Versuche, welchen Janet 1897°!) mitteilte, hatte er in einem Beobachtungsneste eine Allianz bewirkt zwischen einer Anergates-Tetramorium-Kolonie, die ein physo- gastres Weibchen enthielt, und einer selbständigen Tetramorium- Kolonie, die ebenfalls eine Königin besaß. Nach einigen Tagen lag die Anergates-Königin tot im Neste; auch die jungen Weibchen und Männchen von Anergates verschwanden wieder; die Tetramorium- Königin dagegen blieb am Leben, und die Kolonie war wieder eine einfache Tetramorium-Kolonie geworden. Das Ergebnis dieser Allıanz war also das umgekehrte von demjenigen, das ich bei einem Ver- 89) Unter allen Kolonien, die ich in Holland, Rheinland und Luxemburg fand, gelang es nur in einer Kolonie, eine Anergates-Königin zu finden. Auch Forel traf sie nur sehr selten, Adlerz nie, Janet selten. 90) Conférence sur les fourmis p. 27—28. 91) Rapports des animaux myrmécophiles avec les fourmis p. 57. Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 425 suche mit Str. testaceus erhalten hatte (oben S. 421), wo die Ge- schlechtstiere von Tetramorium verschwanden und nur jene von Strongylognathus übrig blieben. Dies spricht wohl dafür, dass die Anergates- Tetramorium-Kolonien keine Allianzkolonien sind, sondern Adoptionskolonien, und zwar solche, in denen ein Anergates- Weibchen nach dem Tode der Tetramorium-Königin adoptiert wurde. Schon v. Hagens (1867) und Adlerz (1886) hatten die Ver- mutung ausgesprochen, dass die Adoption des Anergates-W eibchens nicht in einer ganzen Tetramorium-Kolonie erfolge, sondern in einem Zweige derselben, der sich dann von der Tetramorium-Königin trennt und mit der Anergates-Königin auswandert. Diese Hypothese hatte auch ich 1891 als eine der Möglichkeiten zur Gründung von Anergates-Tetramorium-Kolonien akzeptiert, aber nicht als die wahr- scheinlichste; denn es ist bei dieser Annahme schwer begreiflich, weshalb die Hilfsameisen in diesen Kolonien niemals Arbeiter- puppen ihrer eigenen Art bei sich haben. Bei der Adoption eines Anergates-Weibchens in einer bereits weisellosen Tetramorium- Kolonie besteht dagegen diese Schwierigkeit nicht. Zugunsten der v. Hagens’schen Spaltungshypothese spricht scheinbar eine Anergates- Tetramorium-Kolonie, die ich im September 1896 bei Linz a./Rh. fand. Sie bewohnte drei, je einen Meter von- einander entfernte Nester, die durch Gänge unter Steinen zusammen- hingen. Aber auch hier fand sich m keinem der Nester eine Tetramorium-Königin oder Arbeiterpuppen dieser Art, sondern im ganzen nur einige hundert alte Tetramorium-Arbeiterinnen von bedeutender Körpergröße, 50 geflügelte Weibchen und ein Männ- chen von Anergates und zahlreiche Larven der letzteren Art. Es scheint also auch hier wahrscheinlicher, dass die Tetramoriuin- Königin bereits bei der Gründung der Anergates-Kolonie fehlte. Drei junge Anergates-Weibchen, eine Anzahl Larven und einige Tetramorium-Arbeiterinnen wurden aus dieser Kolonie genommen und in ein Beobachtungsnest zu einer größeren Anzahl fremder Tetramorium-Arbeiterinnen aus einer selbständigen Kolonie gesetzt. Die Anergates-W eibchen wurden ruhig geduldet, aber wenig beachtet und starben nach einigen Wochen. Die von den fremden Tetra- morium adoptierten Anergates-Larven wuchsen vom September bis Ende Mai des folgendes Jahres kaum merklich; dann ging die Kolonie ein. Über meine neueren Beobachtungen und Versuche in Luxem- burg sei hier noch eine kurze Übersicht gegeben. Eine starke Anergates- Tetramorium-Kolonie mit einer physo- gastren Anergates-Königin fand ich am 28. Mai 1904 bei Luxem- burg-Stadt. Sie enthielt über 100 geflügelte Weibchen, mehrere Dutzend Männchen, über 1000 Puppen von Anergates (vorwiegend weibliche) und etwa 2000 alte Tetramorium-Arbeiterinnen, die jedoch 426 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. hier — entgegen meinen sonstigen Erfahrungen — nur von geringer Körpergröße waren. Die Königin mit ihrem erbsengroßen Hinter- leib wurde beim Transport durch die Tetramorium mehr geschoben als gezogen, indem eine Menge Arbeiterinnen sich unter ihren Bauch drängten und ıhr so voranhalfen (auch Forel hat dies schon be- obachtet). Die Königin und der größte Teil der übrigen Nest- insassen wurde für ein Beobachtungsnest (a) mitgenommen. Paa- rungen von Anergates waren ın demselben in den folgenden Wochen fortwährend zahlreich zu sehen (absolute Inzucht). Manchmal paarten sich die Männchen mit noch ganz frischentwickelten, unaus- gefärbten Weibchen. Die geflügelten Weibchen suchten nach der Paarung häufig das Nest zu verlassen. Arbeiterpuppen aus einer selbständigen Tetramorium-Kolonie, die ich der Kolonie am 14. Juni gab, wurden nicht aufgezogen, sondern sämtlich gefressen. Die Königin legte noch bis Ende Juni (wo ich sie herausnahm) eine Masse Eier, aus denen rasch Larven verschiedener Größenstadien heranwuchsen, die durch ihre rötliche Färbung und dichte, fast borstige Behaarung sich auszeichneten. Am 21. Juli war schon ein junges Anergates-Weibchen aus den Ende Mai gelegten Eiern entwickelt. Mit den Weibchen und Männchen aus diesem Neste a wurde eine Reihe von Versuchen angestellt über ihre Aufnahme bei fremden Tetramorium. Vom 4.—10. Juni wurden nacheinander 12 junge, noch geflügelte aber bereits befruchtete Anergates- Weibchen und zwei Männchen in ein kleines Beobachtungsnest b mit fremden Tetramorium gesetzt, das einige hundert Arbeiterinnen und Arbeiterpuppen enthielt. Unter den hineingesetzten Anergates waren zwei Pärchen in Kopula, die auch im fremden Neste in Paarung blieben. Sämtliche Individuen wurden sehr leicht aufge- nommen, nur die ersten Weibchen wurden vorübergehend an den Flügeln gezupft. Aber keines der befruchteten Weibchen wurde zur Königin auserlesen. Aın 22. Juni waren sämtliche Weibchen und Männchen von Anergates wiederum aus dem Neste verschwunden. Am 24. Juli 1907 fand ich bei Hohscheid im Ösling unter einem Steine eine kleine Anergates-Tetramorium-Kolonie, die etwa 100 geflügelte Weibchen, 6 Männchen, eine Anzahl Larven von Anergates und 150 Arbeiterinnen enthielt; eine physogastre Königin war nicht zu finden, trotz sorgfältigen Suchens. Ein Pärchen in Kopula wurde in ein kleines selbständiges Tetramorium-Nest (ohne Königin) in ein Beobachtungsglas gesetzt. Noch am folgenden Tage war das Pärchen fast fortwährend in Kopula. Am 26. saß das Weibchen, immer noch geflügelt, mitten unter den fremden Tetra- morium. An diesem Tage wurden noch zwei Weibchen, ein Männchen und 20 Larven von Anergates hinzugesetzt. Sie wurden sofort aufgenommen, auch die Larven konstant gepflegt. Die Kolonie ging während des August ein. Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. 49 nter welchen Umständen di »finitive Annahme Unter welchen Umständ lie definitive Annal eines jungen, befruchteten Anergates-Weibchens als Königin in einer fremden Tetramorium-Kolonie erfolgt, ieba auch bei diesen Versucher aufgeklärt. blieb also h bei d V hen noch unaufgeklärt Dass die Koloniegründung von Anergates durch Adoption eines 5 5 g Anergates-Weibchen in einer weisellosen alten Tetramorium- olonie, oder vielleicht auch in einem Zweige einer alten Kolonie Kolonie, od lleicht aucl Zweige einer alten Kol vor sich geht, ist allerdings bisher die wahrscheinlichste An- nahme. Auf die mutmaßlichen phylogenetischen Beziehungen, welche die Anergates-Kolonien mit denjenigen anderer parasitischer oder sklavenhaltender Arten verbinden, werde ich ım sechsten Teil dieser Arbeit kurz eingehen. 6. Die Beziehungen zwisehen dem sozialen Parasitismus und der Sklaverei bei den Ameisen. Inhalt: Zur historischen Entwickelung dieser Frage. Übersicht über die ontogenetischen Beziehungen zwischen parasitischer Koloniegründung, Sklaverei und extremem sozialen Parasitismus bei den Ameisen. Prüfung der phylogene- tischen Beziehungen; hypothetischer Charakter derselben. Idealer und realer Entwickelungsgang. Nur für wenige Gruppen haben wir feste Anhaltspunkte für die realen Entwickelungsverhältnisse. Nähere Erörterung der phylogenetischen Be- ziehungen zwischen parasitischer Koloniegründung und Sklaverei bei Formica und Polyergus. Santschi’s Erklärung der Sklaverei aus der Spaltungshypothese. Ta- belle der mutmaßlichen phylogenctischen Entwickelung des Parasitismus und der Sklaverei bei den Ameisen. Ch. Darwin hatte ın seiner „Entstehung der Arten“ (8. Kap.) die Hypothese aufgestellt, die Sklaverei bei F. sanguinea sei da- durch entstanden, dass der ursprüngliche zufällige Brauch, fremde Puppen als Nahrung zu sammeln, durch die natürliche Zuchtwahl verstärkt und endlich zu dem Zwecke, Sklaven zu erziehen, bleibend befestigt wurde. Diesen Erklärungsversuch Darwin’s hatte ich schon 1891°°) als unzureichend zurückgewiesen, während Wheeler ihn noch 1901 verteidigte®®). Der neue und sehr fruchtbare Ge- danke, den Ursprung der Sklaverei aus der parasitischen Gründungsweise der Kolonien durch deren Königinnen zu erklären, wurde von Wheeler und mir 1905 unabhängig von- 92) Die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien. III. Abschn., 2. Kap. 93) Siehe meine Ausführungen hierüber „Ursprung und Entwickelung der Sklaverei‘ Biol. Centralbl 1905, S. 118ff. Um so unbegreiflicher ist es, weshalb Wheeler in seiner neuesten Arbeit „Origin of slavery“ (1907), S. 554 meine An- sicht mit derjenigen Darwin’s auf dieselbe Stufe stellt und S. 558 sogar behauptet, meine Erklärung des Sklavereiinstinktes sei „a fine modern example of Moliére’s famous opium fallacy and of the resources of scholastic methods in zoology!‘ Selbst- verständlich werde ich trotzdem W heeler’s Arbeiten auch im folgenden nach ihrem wissenschaftlichen Inhalte vollkommen würdigen. 428 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. einander und fast gleichzeitig ausgesprochen°*). Ich formulierte damals diesen Gedanken dahin, dass die Sklaverei ontogenetisch und phylogenetisch aus einem anfänglichen temporären Parasitismus entstanden sei und dann durch ihre Entartung schließlich zu den tiefsten Formen des permanenten Parasitismus wieder hinabgeführt habe (1905, S. 280-—284). Dass jedoch die Entwickelung der Sklaverei keinen einheitlichen Entwickelungsprozess darstelle, sondern in viele, voneinander unabhängige Prozesse sich auflöse, hob ich damals schon hervor und betonte es noch nachdrücklicher 1906°). Dass ferner manche Formen des extremen sozialen Parasitismus vielleicht nicht durch Entartung der Sklaverei, sondern auf kürzerem Wege aus einem ehemaligen Gastverhältnisse entstanden sein können, wurde ebenfalls schon 1906 (S. 413) von mir hervorgehoben ®°). Schon seit Ende des Jahres 1905 wurde Wheeler®’) durch seine Versuche über die Koloniegründung von Formica sanguinea- rubicunda veranlasst, den früher von ihm angenommenen Zusammen- hang zwischen temporären Parasitismus und Sklaverei wiederum aufzugeben und für letztere eine unabhängige Entstehung anzu- nehmen. 1906°%) hat er diese Ansicht ausführlicher entwickelt. Santschi®), dem wir die interessanten Entdeckungen des Para- sitismus von Wheeleria und Bothriomyrmex verdanken, äußerte sich (Moeurs parasitiques p. 383) dahin, dass von einem gemäßigten temporären Parasitismus ausgehend zwei Entwickelungsreihen anzu- nehmen seien, deren eine zur Sklaverei, die andere zum extremen sozialen Parasitismus führe. Wheeler!) lässt neuerdings (1907, S. 558) ebenfalls von der obligatorischen Adoption der Königin durch Arbeiterinnen einer fremden Art einerseits den temporären sozialen Parasitismus, andererseits die Sklaverei sich abzweigen. Da die obligatorische Adoption einer fremden Königin durch Ar- beiterinnen einer Hilfsameisenart offenbar bereits ein niederer 94) Wheeler, An interpretation of the slavemaking instincts in ants, Bull. Am. Mus. Nat. Hist. XXI, 14. Februar 1905; Wasmann, Ursprung u. Entw. d. Sklaverei, Biol. Centralbl. 4. Heft, 15. Febr. 1905, S. 124—125. 95) Die moderne Biologie und die Entwickelungstheorie, 3. Aufl., 10. Kap., 11. Abschnitt. 96) Viehmeyer hat dies in seiner Kritik meiner Ansicht im Biol. Centralbl. 1908, Nr. 1 (Koloniegründung S. 32) übersehen. 97) How the queens of the parasitic and slavemaking ants establish their colo- nies (Ain. Mus. Journ. V, Nr. 4, Okt. 1905, S. 144—148). 98) On the founding of colonies by queen ants, with special reference to the parasitic and slavemaking species (Bull. Am. Mus. Nat. Hist. XXII, S. 33—105). 99) Forel, Moeurs des fourmis parasites des genres Wheleria et Bothrio- myrmex (Revue Suisse Zoologia. XIV fase. 1, 1906, S. 51—69); Santschi, Moeurs parasitiques temporaires des fourmis du genre Bothriomyrmex (Ann. Soc. Ent. France LX XV, 1906, S. 363—392). 100) The origin of slavery among ants (Popular Science Monthly LXXI. Dez. 1907, S. 550—559). Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 499 Grad des sozialen Parasitismus ist, muss ich annehmen, dass er zur Annahme eines ursächlichen Zusammenhanges der Sklaverei mit einer primitiven Form des Brutparasitismus zurückgekehrt ist. Wenn er S. 554 sagt: „Wasmann and Santschi believe that slavery has arısen from temporary parasitism, but although I myself first advanced this opinion, I have been compelled to abandon it“ — so spricht er sich wohl nur gegen den Ursprung der Sklaverei aus einer bereits definitiv fixierten Form des temporären Para- sitismus aus. S. 556 dagegen sagt er: „lt is not improbable, that all three of these derivative types, namely temporary, permanent and dulotic parasitism, have developed independently out of the primitive adoptive type of colony formation, although the details of this development are still very obscure.“ Wie er sich diesen „primitiven adoptiven Typus der Koloniegründung“ denkt, geht aus einer Tabelle S. 558 hervor, wo er ıhn als „obligatory adoption of queen by workers of another species“ bezeichnet. Die Adoption einer fremden Königin durch Arbeiterinnen einer anderen Art stellt aber nicht bloß in ihrer obligatorischen, sondern’'auch schon in ihrer fakultativen Form eine Anfangsstufe des sozialen Para- sitismus dar und führt meines Erachtens notwendig durch das Durchgangsstadium von fakultativen temporär gemischten Kolonien, bevor sie zu den gesetzmäßigen Formen der temporär gemischten Kolonien einerseits und der dauernd gemischten sklavenhaltenden -Kolonien andererseits führen kann. Diese meine Ansicht ist also von der gegenwärtigen Wheeler’s mehr in der Ausdrucksweise als in der Sache verschieden. Dagegen glaubt Viehmeyer 1908 !°') (S. 31 u. 32), dass die „jetzt nur noch von Wasmann vertretene Hypothese“ des genetischen Zusammenhangs zwischen Sklaverei und sozialem Parasitismus „zum wenigsten schwer erschüttert“ und selbst für die Camponotini „nicht mehr aufrecht zu halten“ sei. Mir scheint dagegen, dass diese Hypothese vielmehr in einem neuen Stadium ihrer Entwickelung angelangt ıst und nur eine neue, eben bereits angedeutete Form erhalten muss, in Übereinstimmung mit Santschi’s und Wheeler’s neueren Ausführungen. Bevor ich zur Formulierung derselben übergehe, soll hier ein kurzer Überblick gegeben werden zuerst über die ontogenetischen und dann über die mutmaßlichen phylogenetischen Verhältnisse auf diesem phytog Gebiete. A. Ontogenetische Verhältnisse. Camponotini: I. Selbständige Koloniegründung wie bei den meisten übrigen Ameisen. 101) Biol. Centralbl. XX VIII, 1. Heft, „Zur Koloniegründung der parasitischen Ameisen“. 430 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. If. Abhängige Koloniegründung; die Königinnen können nur noch mit Hilfe von Arbeiterinnen ihre neuen Kolonien gründen: 1. Mit Hilfe von Arbeiterinnen der eigenen Rasse oder Art: Formica rufa, pratensis, exsectoides etc.; ferner großenteils auch bei F. sanguinea (Zweigkoloniebildung). 2. Mit Hilfe von Arbeiterinnen fremder Arten (para- sitische Koloniegründung). 2a. Fakultative Formen: bei F. rufa, pratensis, exsectoi- des ete. Sämtlich Adoptionskolonien, und zwar tem- porär gemischte. 2b. Obligatorische Formen: Dieselben scheiden sich in: b!. Temporär (nur primär) gemischte !%) Adoptionskolonien: F. truncicola, wahrscheinlich auch F\. exsecta; in Nord- amerika F. consocians und eine Reihe von Wheeler beschriebener Arten mit kleinen Weibchen (F. micro- gyna, impexa, nepticula etc.). b?. Dauernd (oder mindestens auch sekundär) gemischte Raubkolonien. Nach ıhrer sekundären Mischung (durch Sklavenraub) sind zwei Formen zu unterscheiden: a. Fakultative Formen: Vielleicht F. Wasmanni') und wahrscheinlich F\. sangainea-aservain Nordamerika'), ß. Obligatorische Formen: F. sanguinea in Europa, ihre Rasse rubicunda in Nordamerika (wahrscheinlich auch subintegra). Ferner sicher die europäischen und die amerikanischen Formen von Polyergus. Nach ihrer Gründungsweise durch die Königinnen lassen sich in b? folgende Formen unterscheiden: a!. Gründung durch Adoption: Polyergus rufescens in Europa (Forel [1874], Wasmann [1891], Vieh- meyer [1908]. Wahrscheinlich auch F. Wasmanni in Nordamerika und einige sanguinea-Rassen Nord- amerikas, die seltener Sklaven halten (suböntegra und aserva); manchmal auch F'. sanguinea in Europa. p!. Gründung durch Puppenraub: F. sanguinea in Eu- ropa (meist) und rubicunda in Nordamerika. Viel- leicht bildet Polyergus lucidus in Nordamerika einen Übergang zwischen den Koloniegründungen a! und Bs (NV beeler). 102) Uber die Bedeutung der Ausdrücke „primär“ oder „sekundär“ gemischte Kolonien siehe 1905, S. 202. Vielleicht ist auch die von F. de Lannoy (Ann. Soc. Ent. Belg. LII, 1908, p. 48ff.) beobachtete Symbiose von Lasius fuliginosus mit L. mixtus als (fakultative?) Adoptionskolonie zu deuten. Emery (ebenda p. 182) vermutet, dass L. fuliginosus seine Kolonien mit Hilfe von ZL. mixtus gründe, wie es I. truncicola mit Hilfe von F\ fusca tut. 103) Siehe 1905, Ursprung der Sklaverei S. 277 ff. 104) Von F. Pergandei sehe ich ab, da ihre Stellung zu unsicher ist. Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 434 Dolichoderint: Nur bei Bothriomyrmex meridionalis bisher sozialer Parasitismus beobachtet (Santschi!): temporär mit Tapinoma nigerrimum ge- mischte Kolonien. Gründung durch Adoption eines B-Weibchens in einem Teile einer T-Kolonie. Das B-Weibchen tötet dann das T-Weibchen. Myrmieini: Überall selbständige Koloniegründung mit Ausnahme weniger Gruppen: Aphaenogaster tenesseensis: Temporär gemischte Adoptionskolo- nien mit Arbeiterinnen von A. fulva (J. Schmitt, Wheeler, 1904). Tomognathus sublaevis: Dauernd gemischte Raubkolonien, mit Leptothorax als: Hilfsameisen. Gründungsweise durch Puppenraub von seiten der Weibchen (Adlerz, 1886; Viehmeyer, 1906). Strongylognathus: Hier treffen wir zwei Gruppen an, die beide Tetramorium caespitum als Hilfsameisen haben: a. Raubkolonien: bei Strongylognathus Hubert (Forel, 1874; Escherich, 1906)!%) und Christophi-Rehbinderi (Forel, 1904). Gründungsweise dieser Kolonien unbekannt. b. Allianzkolonien: bei Strongylognathus testaceus; kann keine Sklaven rauben. Gründung der Kolonie durch Allianz eines befruchteten Str.-Weibchen mit einem Tetramorium-W eibchen (Wasmann, 1891) !°®). Myrmoxenus Gordiagini lebt nach Ruzsky!”) in der Steppe von Akmolinsk (asiat. Russland) mit den Arbeiterinnen von Lepto- thorax serviculus zusammen. Dieses Verhältnis soll demjenigen von Strongylognathus und Tetramorium gleichen. Epoecus, Sympheidole, Epipheidole in Nordamerika. Diese drei Gattungen haben die Arbeiterform verloren und leben in Kolonien bestimmter anderer Myrmicinen (Epoecus bei Dichothorax, Symphei- dole und KHpipheidole bei Pheidole) mm dauerndem Parasitismus (Pergande, Wheeler). Wahrscheinlich (nach Forel) lebt auch Myrmica myrmicoxena als arbeiterloser Parasit bei Myrmica lobi- cornis (Schweiz). Wheeleria Santschii in Tunesien hat ebenfalls keine Arbeiter- kaste und lebt als dauernder sozialer Parasit in den Kolonien von Monomorium Salomonis (Santschi!). Gründung der Kolonie durch Adoption eines Wh.-Weibchens in einer M.-Kolonie, deren Arbeite- rinnen später selbst die eigene M.-Königin beseitigen. 105) Siehe hierüber Escherich, Die Ameise 1906, S. 152, Anm. 1 und Was- mann, Biologie, 3. Aufl., 1906, S. 408 (Hilfsameisen aus verschiedenen Tetramorium- Kolonien in einer Str.-Kolonie). Siehe auch oben im 5. Teile dieser Arbeit S. 422. 106) Forel und Wheeler fanden 1907 ebenfalls in einer Kolonie dieser Art eine Tetramorium-Königin (Wheeler 1907, Origin of slavery S. 556). 107) Neue Ameisen aus Russland, Zool. Jahrb. System., Bd. XVII, Heft 3, 1902, S. 476. 439 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. Anergates atratulus: Tiefste Stufe des sozialen Parasitismus. Die Männchen ungeflügelt und puppenähnlich, die befruchteten Weibchen erreichen eine kolossale Physogastrie: die Arbeiterform ist durch Tetramorium caespitum ersetzt. Nach ihrer Gründungs- weise sind diese Kolonien sehr wahrscheinlich Adoptionskolonien (Wasmann, 1891 und 1902; Janet, 1896 und 1897). Adios): Selbständige Koloniegrindung der Weibchen (v. Ihering, E. Göldi, J. Huber!), die von Wheeler wegen der gleichzeitigen Anlage des Pilzgartens als „redundant type“ bezeichnet wird. ~ Doryline: Bei den riesigen flügellosen Weibchen von Dorylus (und Anomma) und Eeiton ist die Koloniegründung wahrscheinlich von der Mithilfe der eigenen Arbeiterinnen abhängig (Zweigkoloniebildung). Nähere Beobachtungen darüber fehlen noch. B. Phylogenetische Verhältnisse. Vor allem sei nochmals hervorgehoben, dass von einer ein- heitlichen realen stammesgeschichtlichen Beziehung zwischen sozialem Parasitismus und Sklaverei keine Rede sein kann, weil die Formen, welche sich theoretisch zu einem einheitlichen idealen Gesamtbilde anordnen lassen, zum Teil ganz verschiedenen Unterfamilien, zum Teil weit verschiedenen Gattungen angehören, die durch keine reale Verwandtschaft sich unmittelbar verbinden lassen !®). Die stammesgeschichtliche Entwickelung der Sklaverei und des sozialen Parasitismus löst sich demnach in eine Anzahl selbständiger Entwickelungsprozesse auf, die sich einander nur theoretisch ergänzen. Dagegen können wir innerhalb einiger Gruppen auch einen realen Entwickelungsgang mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit hypothetisch konstruieren; so z. B. zwischen den Anfangsstadien des Brutparasitismus und der Ent- wickelung der Sklaverei innerhalb der Gattung Formica, ferner zwischen der weiteren Entwickelung des Sklavereiinstinktes bei Formica und Polyergus. Ebenso ist ein zum permanenten sozialen Parasitismus führender Degenerationsprozess der Sklaverei inner- halb der Gattung Strongylognathus anzunehmen. Dass die nörd- lichste Art dieser Gattung, Sir. testaceus, ehemals auch wirklich Sklaven raubte, bevor sie zum sozialen Parasitismus überging, ist sehr wahrscheinlich; ja wir können sogar in dem Wechsel der klimatischen Verhältnisse die äußere Ursache dieser Umbildung 108) Eine Gruppe der Myrmiecini, die von einigen jedoch als eigene Unterfamilie betrachtet wird. 109) Selbstverständlich folgt hieraus nichts gegen eine monophyletische Ent- wickelung des ganzen Formicidenstammes, die auf anderen Gesichtspunkten beruht. Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismns etc. 433 finden, wie ich schon 1902 zeigte!!%). Aber wie wir bei den Cam- ponotint nur von der aufsteigenden Entwickelung des Sklaverei- instinktes bis zu dem in Polyergus bereits überschrittenen Höhe- punkte ein reales hypothetisches Gesamtbild entwerfen können, so fehlen uns bei den sklavenraubenden südlichen Strongylognathus- Arten die realen Anhaltspunkte für die Vorgeschichte des Sklaverei- instinktes. Auch für die Fortsetzung der Degeneration dieses In- stinktes von Strongylognathus testaceus abwärts fehlen uns zuver- lassige Wegweiser. Dass die bei der genannten Art schon wenig zahlreiche Arbeiterform schließlich ganz aussterben und dass da- durch eine tiefere Stufe des permanenten sozialen Parasitismus erreicht werden konnte, wie wir sie bei der arbeiterlosen Gattung Wheeleria und auf dem allertiefsten Punkte bei Anergates treffen, ist wohl nicht zu leugnen. Aber ob die Vorfahren von Anergates ein dem Strongylognathus testaceus analoges Stadium ehemals durchgemacht haben, dafür bieten sich uns nur sehr schwache Anhaltspunkte in der Identität der Hilfsameisen beider Arten und in der noch weiter nach Norden reichenden Verbreitung von Aner- gates (1902, S. 30). Im übrigen ist es für die meisten arbeiterlosen Schmarotzerameisen wahrscheinlicher, dass sie nicht auf dem Um- wege der Entartung eines ehemaligen Sklavereiinstinktes, sondern auf dem kürzeren Wege der parasitischen Entartung eines ehe- maligen Gastverhältnisses bis zum Verluste der eigenen Arbeiter- kaste herabgesunken sind. Aber die Möglichkeit, dass selbst eine heute noch auf dem Höhepunkt der Sklaverei stehende Gattung wie Polyergus durch die steigende Abhängigkeit von ihren Hilfs- ameisen und die allmähliche Degeneration ihres Sklavereinstinktes schließlich bis zur tiefsten Stufe des permanenten sozialen Para- sitismus herabsinken kann, wird uns durch die Verhältnisse bei den Myrmicinen jedenfalls nahegelegt. Dass die Gattung Tomognathus eine Ausnahmestellung unter allen sklavenhaltenden Ameisen einnimmt, wurde schon öfters her- vorgehoben. Der Ursprung ihrer Sklavenhalterei ist wohl sicher nicht auf temporär gemischte Kolonien zurückzuführen (Aufnahme eines T7.-Weibchens durch Leptothorax-Arbeiterinnen), sondern sehr wahrscheinlich auf zusammengesetzte Nester von Tomognathus mit Leptothorax, m denen erstere als Diebsameisen neben letzteren lebten. Diese Hypothese stellte ich schon 19021!) auf, und Viehmeyer hat sie 190611?) weiter ausgeführt. Von einer Allgemeingültig- keit des Satzes, dass alle Raubkolonien der Ameisen phylogenetisch aus Adoptionskolonien hervorgegangen sind, konnte daher schon bisher keine Rede sein. 110) Neues über die zusammengesetzten Nester etc. Sep. S. 29. 111) Neues über die zusammengesetzten Nester. Sep. S. 36. 112) Beiträge zur Ameisenfauna des Königreichs Sachsen, S. 67. XXVIII. 28 434 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. Wenden wir uns nun zu der phylogenetischen Beziehung zwischen Brutparasitismus und Sklaverei bei den (amponotint. Bei Formica haben wir zwischen den verschiedenen Formen der Koloniegründung und auch zwischen den verschiedenen Formen von temporärem sozialem Parasitismus und Sklaverei so mannig- faltige Übergänge, dass die Verhältnisse für eine hypothetische Konstruktion des wahrscheinlichen phylogenetischen Entwickelungs- ganges recht günstig liegen. Ähnliches gilt auch für die Beziehungen zwischen der Sklaverei bei Formica und Polyergus. Als selbstver- ständlich setze ich auch hier voraus, dass wir weder Polyergus direkt von F! sanguinea, noch letztere von rufa oder truncicola oder einer anderen heutigen Art ableiten dürfen; es kann sich nur um analoge Stadien handeln, die in früheren Entwickelungsprozessen durchlaufen wurden. Darin wird man wohl übereinstimmen, dass wir den Ausgangs- punkt sowohl für die Entwickelung der. gesetzmäßigen Adoptions- kolonien als auch der gesetzmäßigen Raubkolonien ın fakultativen Formen dieser Koloniebildungen zu suchen haben. Von welcher Beschaffenheit diese fakultativen Formen gewesen sein müssen, darüber geben uns F. rufa und truncicola einige Anhaltspunkte. F, rufa zeigt uns, wie durch die Lebensverhältnisse einer For- mica-Art die Fähigkeit zur selbständigen Koloniegründung der Königinnen verloren gehen konnte. Darüber habe ich mich schon früher eingehend genug ausgesprochen !'®) und auch Wheeler und Viehmeyer haben diese Auffassung akzeptiert. F. rufa zeigt uns ferner !!*), wie bei der noch fakultativen parasitischen Kolonie- gründung die Königin durch Arbeiterinnen einer fremden Art adoptiert wird, während bei der Königin andererseits auch bereits Spuren der Neigung auftreten, die Puppen der Hilfsameisenart sich anzueignen und aus ihnen ihre ersten Gehilfinnen zu erziehen. Von einem derartigen Stadium ausgehend müssen wir uns wohl die allmähliche Differenzierung von Adoptionskolonien und Raubkolonien vorstellen. Die Entwickelung beider geht nach verschiedenen Richtungen: die der ersteren nach der para- sitischen, die der letzteren nach der dulotischen Richtung. In den gesetzmäßigen Adoptionskolonien sehen wir bereits bei F\ trun- cicola die Richtung zum „tutelaren Parasitismus“ eingeschlagen durch Abnahme der Körpergröße (namentlich der Kopfgröße) der Königin. Bei den nordamerikanischen F. consocians u. s. w. ist diese Richtung, welche dem temporären sozialen Parasitismus angehört und von der Entwickelungsmöglichkeit der Sklaverei immer weiter abführt, schon weiter fortgeschritten; die Königinnen werden immer 113) 1905, Ursprung der Sklaverei S. 287 u. 1906, Biologie, 3. Aufl., S. 425ff. 114) Siehe oben im 4. Teil dieser Arbeit S. 369. Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. 435 ungeeigneter, durch Puppenraub ihre Kolonien zu gründen. Es wäre daher nicht angängig, von dieser Entwickelungsrichtung die Entstehung der Sklaverei bei Formica abzuleiten. F. truncicola steht jedoch, was die Größe der Königinnen an- geht, noch sehr nahe der F. rufa und zeigt überdies eine auffallende Variabilität der Körpergröße derselben''’). Sie ist von dem hypo- thetischen Differenzierungspunkte zwischen Adoptionskolonien und Raubkolonien noch wenig entfernt, und die Größe und Zahl ihrer Arbeiterinnen würde dieselben auch zum Puppenraub gut befähigen; aber ihre Nahrungsweise ist nicht auf letzteren gerichtet, da sie mehr Blattlauszucht als Insektenjagd treibt. Die auch noch in den alten Kolonien andauernde Neigung der truncicola-Arbeiterinnen, die Puppen ihrer ehemaligen Hilfsameisenart (F. fusca) zu erziehen !!%), gibt uns jedenfalls die beste Erklärung dafür, weshalb auch in den Raubkolonien von F. sanguinea die Puppen ihrer Hilfsameisenart vorzugsweise erzogen werden. Die sonst schwer zu beantwortende Frage, warum die geraubten fusca-Puppen bei sanguinea nicht ein- fach gefressen werden, findet hier ihre befriedigende Erklärung: auch bei einer nicht sklavenraubenden Art liegt dieselbe Erschei- nung vor, weil sie ebenfalls ihre Kolonien mit Hilfe einer fremden Hilfsameisenart gründet!!”). Dass die Befunde an f. truncicola auch neues Licht verbreiten über die Grundlagen der Sklaverei bei F. sanguinea, dürfte also wohl zuzugeben sein. Die Neigung zur Sklavenzucht beruht psychologisch darauf, dass die primären .Hilfs- ameisen bereits bei der Erziehung der ersten Arbeitergenerationen der Kolonie beteiligt waren; so bleibt also nur noch die Neigung zum Sklavenraub zu erklären, und diese ist großenteils schon in der karnivoren Ernährungsweise von sanguinea begründet '!!?). Wenden wir uns nun zu der anderen Seite des Problems. Wenn eine Formica-Art, die bereits fakultativ ihre Kolonien mit Hilfe fremder Arbeiterinnen gründete, zu einer sklavenhaltenden Ameise werden sollte, so musste diese Entwickelung ausgehen vom Stadium einer Adoptionskolonie, nicht vom Stadium einer Raubkolonie, das erst später erreicht werden konnte. Die Königin musste ihre Kolonien anfangs dadurch gründen, dass sie bei fremden alten Arbeiterinnen der Hilfsameisenart sich aufnehmen ließ (wie es F. rufa tut). Zur Gründung ihrer Kolonien durch 115) Nähere Maße sind angegeben im III. Teil meiner Arbeit „Zur Kenntnis der Ameisen und Ameisengäste von Luxemburg (Arch. trimestr. Inst. Grand-Duc. d. Luxembourg 1908). 116) Siehe hierüber den 3. Teil der vorliegenden Arbeit S. 326. 117) Siehe hierüber bereits Biol. Centralbl. 1905, S. 168 und 648. 118) Dass Raub fremder Puppen auch bei nicht sklavenhaltenden Ameisen in freier Natur vorkommt, habe ich bereits 1905 (Urspr. d. Sklaverei), S. 117ff.) er- wähnt. 28% 436 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. Puppenraub in den Hilfsameisennestern konnte sie erst allmäh- lich übergehen, wenn der Sklavereiinstinkt sich bei ihr sowohl wie bei den Arbeiterinnen weiter entwickelt hatte. Erst dann war meines Erachtens die praktische Möglichkeit gegeben, dass die Königin durch ihr Eindringen in eine schwache Sklavenkolonie, die durch Raubzüge der Arbeiterinnen schon eingeschüchtert war, die alten fusca vertreiben und der Puppen sich bemächtigen konnte. Die Bildung von Adoptionskolonien stellt also das primäre Stadium dar in der Entwickelung der Sklaverei, die Bildung von Raubkolonien ist erst eine sekundäre Folge der neuen Ent- wickelungsrichtung. Wir werden daher kaum fehlgehen in der Annahme, dass unsere europäische F. sanguinea und ihre subsp. rubicunda in Nordamerika ihre Kolonien ehemals noch nicht durch Puppenraub gründeten, sondern durch friedliche Adoption. Wahrscheinlich überwiegt diese ursprünglichere Form der Kolonie- sründung jetzt noch bei einigen nordamerikanischen sangwinea- Rassen, deren Sklavereiinstinkt auf einer minder hohen Stufe steht und welche kleinere, schwächere Weibchen haben !"?). Wir kommen also bezüglich der hypothetischen Phylogenie der Sklaverei bei Formica zu dem Ergebnis, dass die Bildung von Adoptionskolonien der Bildung von Raubkolonien voranging, dass somit die Sklaverei von einer Anfangsstufe des temporären sozialen Parasitismus abzuleiten ist, von welcher einerseits die gesetzmäßigen temporär gemischten Kolonien, andererseits die gesetzmäßigen Formen der sklavenhaltenden Kolonien sich ab- zweigten. Ob man jene Anfangsstufe als ein „Zrumncicola-ähnliches Stadium“ bezeichnen will, wie ich es 1905 und 1906 tat, oder lieber als „ein reıfa-ähnliches Stadium“, wie ich es oben (S. 377) auf Grund meiner Versuche mit rufa-Königinnen vorschlug, dürfte von neben- sächlicher Bedeutung sein. Wir kommen nun zu Polyergus. Innerhalb dieser Gattung hat die Entwickelung des Sklavereinstinktes der Camponotini ihren Höhe- punkt erreicht. Wir werden den Beginn dieses Stadiums in phylo- genetischer Beziehung an ein „sanguinea-ähnliches Stadium“ bei einer sklavenhaltenden Formica-Art der Tertiärzeit anschließen müssen. Durch die weitere Entwickelung des Sklaveretinstinktes steigerte sich einerseits die Befähigung dieser „Amazonen“ zum gewaltsamen Puppenraub sowohl morphologisch (Säbelkiefer) wie psychologisch (Expeditionstaktik); andererseits aber wurde die Ab- hängigkeit der „Herren“ von ihren Sklaven eine absolute und 119) Wheeler selbst sagt auf Grund seiner Versuche mit subintegra (1906, Founding of colonies p. 84): „It is of course, quite possible, that these small females may be less pugnacious than those of pure rubicunda and rely on amicable adoption by the workers of incipient subsericea-colonies rather than on killing the workers and appropriating the young.‘ hte Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. 437 leitete dadurch die Degeneration des Sklavereiinstinktes ein, die zum permanenten sozialen Parasitismus hinabführt. Den Beginn der Differenzierung zwischen Polyergus und For- mica müssen wir in ein Stadium der Instinktentwickelung setzen, das an den Höhepunkt des sanguinea-Stadiums sich anschliesst. Daher werden wir vielleicht auch annehmen müssen, dass die Polyergus-Königinnen ursprünglich ihre Kolonien durch Puppen- raub gründeten !?°). Aber gegenwärtig besteht eine so weite Kluft zwischen Polyergus und Formica, dass wir aus den Beobachtungs- tatsachen keine Aufklärung über jenes hypothetische Anfangsstadium mehr erwarten dürfen. P. bicolor Wasm.!?!) aus Wisconsin hat zwar in der Färbung Ähnlichkeit mit F. sanguinea, besitzt aber verhältnismäßig sehr kleine Weibchen, die zum gewaltsamen Puppen- raub weniger geeignet erscheinen als die großen Weibchen von P. rufescens und lucidus. Immerhin dürfte man am ehesten bei einer der nordamerikanischen Polyergus-Formen, deren Sklaverei- instinkt nicht so hoch entwickelt ist wie bei der europäischen Form, Anklänge an ursprüngliche Verhältnisse erwarten. Die Weibchen von P. lucidus wurden bei W heeler’s Experimenten (1906, S. 86— 89) von den fremden Hilfsameisen nicht adoptiert!??), sondern miss- handelt und getötet; zwei dieser Weibchen zeigten sich sehr kampf- lustig und aggressiv, aber keines kümmerte sich um die fremden Puppen. Für unseren europäischen Polyergus rufescens kann es nach den Beobachtungen von Forel, mir und Viehmeyer wohl als sicher gelten, dass die Königinnen verhältnismäßig leicht bei fremden alten Hilfsameisen (sowohl bei fusca als bei rufibarbis)'*%) Aufnahme finden. — Dies deutet darauf hin, dass bei unserem Polyergus die Gründungsweise neuer Kolonien zum Adoptions- stadium zurückgekehrt ist, welches hier den Beginn eines perma- nenten sozialen Parasitismus einleitet, während es bei Formica umgekehrt die Vorstufe zur Entwickelung des Sklavereiinstinktes bildete. Hier muss noch ein von Santschi!?*) besonders betonter Ge- sichtspunkt zur Erklärung des Ursprungs der Sklaverei aus einem Anfangsstadium des sozialen Parasitismus berücksichtigt werden, nämlich die Spaltungshypothese. Schon 1867 hatte v. Hagens!?) die Vermutung geäußert, die 120) Für Polyergus ist die Raubhypothese zuerst aufgestellt worden durch Emery, 1904, Sur Vorigine des fourmilieres p. 459—461 (Compt-R. VI. Congr. Int. Zool.). 121) Neues über die zusammenges. Nester, 1901, Sep. S. 3-—5. 122) Es handelte sich um unbefruchtete, künstlich entflügelte Weibchen. Viel- leicht wäre die Adoption befruchteter Weibchen gelungen ? 123) Uber rufibarbis siehe die neuen Beobachtungen oben S. 381. 124) 1906, Moeurs parasitiques tempor. d. Bothriomyrmesx p. 379 ff. 125) Über Ameisen mit gemischten Kolonien Berl. Ent. Ztschr. 1867, S. 108. 438 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. befruchteten Weibchen von Anergates ließen sich in einem Teile einer größeren Tetramorium-Kolonie nieder. Adlerz!?‘) hat sodann 1886 diesen Gedanken dahin ausgeführt. dass die Tetramorium- Arbeiterinnen, welche die fremde Königin aufgenommen haben, mit ihr eine von der alten Kolonie getrennte Niederlassung gründen. Ich hatte 1891 '!?”) diese Hypothese erörtert und als eine der Még- lichkeiten für die Gründung neuer Anergates-Kolonien erklärt, ob- wohl nicht als die hauptsächliche. In ein neues Stadium ist die Spaltungshypothese 1906 getreten durch Santschi’s Beobachtungen über die parasitische Keloniegründung von Bothriomyrmex. Ev wies (p. 379) darauf hin, dass die Kolonien von Tapinoma mehrere Nester besitzen, die untereinander in Verbindung durch Arbeiterinnen stehen. Wenn in einem derselben ein Bothriomyrmex-Weibchen Aufnahme gefunden hat, können später die Bothriomyrmex-Arbeiterinnen mit ihren Hilfsameisen auch in andere Nester derselben Kolonie laufen, die dort befindlichen Arbeiterpuppen von Tapinoma mitnehmen und sie dann in ihrem Neste gemeinschaftlich mit ıhren Hilfs- ameisen aufziehen. Auf ähnlichem Wege glaubt Santschı auch den Ursprung der Sklaverei aus dem temporären Parasitismus erklären zu können. Die Sıtte, Sklaven zu rauben, könne dadurch entstanden sein, dass eine Hilfsameisenkolonie nach der Aufnahme der fremden Königin in zwei Teile sich spaltete, die verschiedene Nester be- wohnten, welche untereinander ın Verbindung blieben. Anfangs waren es nur die Hilfsameisen des parasıtischen Teiles der Kolonie, welche Arbeiterpuppen aus dem selbständigen Teile herüberholten. Später nahmen die Arbeiterinnen der parasitischen Art an dem Abholen der Puppen teil und pflegten sie gemeinschaftlich mit den Hilfsameisen. Schließlich wurde der Puppenraub ständig nur noch von Arbeiterinnen der parasitischen Art ausgeführt und endlich entwickelte sich auch bei der Königin derselben an Stelle der para- sitischen Koloniegründung (durch Adoption) die dulotische (durch Puppenraub). In dieser geistreichen Hypothese Santschi’s wird somit der Ursprung der Sklaverei bei der parasitischen Art auf das Benehmen ihrer Hilfsameisen als auf seine erste äußere Veranlassung zurückgeführt. In ihrer weiteren Ausgestaltung bietet sie ein ein- heitliches ıdeales Gesamtbild der Entwickelung der Sklaverei, welches wohl auch auf manche reale Verhältnisse, z. B. ın der Entwickelung der Sklaverei bei Formica, teilweise zutreffen mag. Jedenfalls setzt auch diese Hypothese als Ausgangspunkt bereits em Anfangsstadium des sozialen Parasitismus voraus (Aufnahme 126) Myrmekologiska studier II, p. 23 127) Die zusammenges. Nester etc. S.1 Arbeit S. 425. 4. 39ff. Siehe auch oben im 5. Teil dieser Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 439 der fremden Königin in einem Teile einer Hilfsameisenkolonie). Als Hilfshypothese wird sie neben den oben erwähnten Momenten ohne Zweifel erfolgreiche Anwendung finden können !?°). * x % Zusammenfassung der Ergebnisse über den phylo- genetischen Zusammenhang der Sklaverei mit dem so- zialen Parasitismus: Die Anfangsstadien der Sklaverei in der Gattung For- mica sind wahrscheinlich in fakultativen Adoptions- kolonien zu suchen, also in einem Anfangsstadıum des sozialen Parasitismus; von dort zweigten sich die gesetz- mäßigen Formen des temporären sozialen Parasitismus einerseits und die fakultativen und gesetzmäßigen For- men der Sklaverei andererseits ab. Letztere kann von ihrem Höhepunkt, den sie ın Polyergus bereits über-. schritten hat, zum dauernden sozialen Parasitismus hınab- führen (nach der Analogie mit Strongylognathus). Für die Sklaverei bei Tomognathus ist jedoch die Entwickelung aus ursprünglich zusammengesetzten Nestern anzu- nehmen, nicht aus ursprünglichen Adoptionskolonien. Ferner ıst zu berücksichtigen, dass der permanente so- ziale Parasitismus bis zu seiner tiefsten Stufe (Verlust der eigenen Arbeiterkaste und Degenerationserschei- nungen bei den geflügelten Geschlechtern) nicht bloß durch Entartung eines ehemaligen Sklavereiinstinktes, sondern vielfach auch auf direkterem Wege, teilsaus dem temporären sozialen Parasıtismus, teıls durch para- sitische Entartung eines ehemaligen Gastverhältnisses entstanden sein kann. In Form einer Tabelle finden sich diese Ergebnisse anbeı übersichtlich zusammengestellt. In 4 und 4! habe ich die Gegen- sätze als Adoptionskolonien und sklavenhaltende Kolonien (Raub- kolonien) bezeichnet, nicht als tutelären und pupillären Parasitismus (Santschi und Wheeler), weil die Gründung von Raubkolonien auf beiderlei Weise erfolgen kann, durch Adoption oder durch 128) Sie erklärt beispielsweise am leichtesten das Fehlen der Königin der Hilfs- ameisenart in den parasitischen und sklavenhaltenden Kolonien auch für jene Fälle, wo eine gewaltsame Beseitigung dieser Königin, sei es durch die eigenen Hilfsameisen (Monomorium-Königin bei Wheeleria), sei es durch die fremde Königin (Tapınoma- Königin bei Bothriomyrmex) nicht anzunehmen ist. Allgemeine Gültigkeit dürfte die Spaltungshypothese jedoch nicht haben, und eine solche wollte auch Santschi ihr nicht zuschreiben; das Fehlen von Arbeiterpuppen in vielen temporär und per- manent gemischten Kolonien spricht gegen dieselbe und macht für diese Fälle die Aufnahme der parasitischen Königin in einer weisellosen alten Kolonie wahr- scheinlicher. 440 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. ke > I. Einfache Ameisenkolonien mit selbständiger Kolonie- gründung. Y Die Koloniegründung wird abhängig von der Mithilfe von Ar- Die Königin verliert die Fähigkeit, allein ihre Kolonie zu gründen. Y Die Koloniegründung wird noch mit Hilfe von Arbeiterinnen der eigenen Art besorgt. Y Die Koloniegründung erfolgt immer häufiger durch Adoption der Königin bei Arbeiterinnen einer fremden Art (Beginn der temporär gemischten Adoptionskolonien, fakultativer sozialer Parasitismus). Y Y Obligatorische Formen der 4’. Fakultative und obligato- temporär gemischten Adop- rische Formen der sklaven- beiterinnen. tionskolonien. haltenden Kolonien (Raub- Y kolonien). Koloniegründung Permanenter sozialer Para- anfangsdurch Adoption, dann sitismus; Verlust der eigenen durch Puppenraub, dann Arbeiterkaste. wieder durch Adoption (Po- lyergus). Y 5'. Permanenter sozialer Para- sitismus; schließlich Verlust der eigenen Arbeiterkaste. Koloniegründung durch Al- lianz der Königinnen (Strong. test.) oder durch Adoption (Anergates). II. Zusammengesetzte Nester, mit selbständiger Kolonie- b. gründung der 2 Gastverhältnis. Y Gemischte Kolonien von Gast- ameisen mit ihren Wirten (Lept. Eimersoni). Y Permanenter sozialer Para- sitismus; Verlustder Arbeiter- kaste bei der Gastameise. al Komponenten. N N SU Diebsverhältnis. Y b!. Gemischte Kolonien von Raub- Cu ameisen mit ihren früheren Nachbarn (Sklaverei von To- mognathus). Koloniegrün- dung durch Puppenraub der Königinnen. Y Permanenter sozialer sitismus. Para- Swarezewsky, Uber die Knospenbildung bei Acineta gelatinosa Buck. 441 Puppenraub der Königin. Die Spaltungshypothese Santschi’s dürfte in manchen Fällen. von 4 und 4! ihre hauptsächliche An- wendung finden. Ob Anergates wirklich als Endstufe von 5! zu betrachten ist, oder von 5 oder ec, kann einstweilen nicht sicher entschieden werden. — Der Charakter dieser Tabelle ist in bezug auf den phylogenetischen Zusammenhang der wirklich existierenden Formen des sozialen Parasitismus und der Sklaverei tiberhaupt selbstverständlich ein durchweg hypothetischer. Aber ich halte diese hypothetische Konstruktion dennoch für nützlich zu dem doppelten Zwecke, erstens, um heuristisch anzuregen zur weiteren Erforschung der tatsächlichen Verhältnisse auf diesem Gebiete, und zweitens, damit wir allmählich zu einem immer besseren Ver- ständnis des wahrscheinlichen genetischen Zusammenhangs jener Verhältnisse fortschreiten. Wenn wir auch zu diesem Endziele der phylogenetischen Forschung niemals ganz gelangen können, zumal die Paläontologie uns über die bias sehen Werhaleniace der Ver- gangenheit nur schwache Aufklärung zu bieten vermag, so ist doch jeder noch so kleine Fortschritt unserer Erkenntnis auch auf diesem Gebiete freudig zu begrüßen. Die neueren Arbeiten von Forel- Santschi, Wheeler fia Viehmeyer haben ohne Zweifel viel dazu beigetragen, um unsere Anschauungen über das Verhältnis des Brutparasitismus zur Sklaverei bei den Ameisen zu klären; sie haben namentlich manchen bisher dunklen Punkt ın der Kolonie- gründung der parasitischen und sklavenhaltenden Ameisen beleuchtet; ich erkenne dies gerne an und habe mich in vorliegender Arbeit bestrebt, unsere anscheinenden Meinungsverschiedenheiten auf sach- licher Grundlage zu vereinigen. Über die Knospenbildung bei Acineta gelatinosa Buck. Von B. Swarezewsky. Im Dezember 1907 gelangte in meine Hände ein ziemlich reiches Material einer Acineta-Spezies, die anscheinend zu der im Jahre 1884 von Buck festgestellten Form Acineta gelatinosa zu rechnen ist. Bei der Untersuchung dieser Tiere stellte es sich heraus, dass viele Individuen sich gerade in der Knospungsperiode befanden. . Mir ist es gelungen, diesen Prozess zu verfolgen, und die Resultate meiner Beobachtungen will ich im folgenden kurz darlegen. Als Vorbereitungsstufe zur Knospenbildung ist der folgende Prozess im Kern aufzufassen. Der Kern hat im Ruhezustand eine mehr oder minder sphärische Form. Die chromatische Substanz ist in ihm in Form verschieden großer Körner aufgespeichert, die dem achromatischen Netz aufliegen. Zur Zeit der Knospenbildung zieht sich der Kern spindelförmig aus, seine Chromatinsubstanz ordnet sich in ziemlich dicke Fäden an, die mehr oder minder parallel der Längsachse im Kern liegen (Fig. 1). 442 Swarezewsky, Über die Knospenbildung bei Acineta gelatinosa Buck. Ein solcher spindelförmig ausgezogener Kern ist in der Mehr- zahl der Fälle ın der Längsachse des Tieres gelegen; in anderen Fällen etwas schief zu dieser und nur sehr selten liegt ein solcher Kern quer zur Längsachse des Tieres. Sodann teilt sich der Kern in zwei ungleiche Teile, wobei diese Teilung auf zweierlei Weise vor sich gehen kann: 1. Der Tochterkern trennt sich vom Mutterkern durch eine Durchschniirung des distalen Endes desselben (Fig. 3) 2. oder die Abtrennung geschieht an irgendeiner Stelle in der Mitte des Mutterkernes (Fig. 2,8). Bei der Kernteilung resultieren in beiden Fällen in derselben Weise, wie das schon für andere Suctoria beschrieben worden ist, ungleiche Teile, so dass man diesen Vorgang eigentlich als Kernknospung bezeichnen müsste. Im erst- genannten Fall entsteht der Tochterkern als Terminalknospe am Mutterkern, im zweiten Falle liegt die Knospe seitlich dem Mutter- kerne an (Fig. 2, 8). Im Moment der Teilung verschwindet die fädige Struktur des Kernes und nur an der Verbindungsstelle der Tochterkernknospe mit dem Mutterkern kann man Reste dieser Struktur bemerken. Der Kernknospung folgt die Knospung des gesamten Tieres. Die Knospen können in seltenen Fällen am oberen Teile des Tieres entstehen (Fig. 2), wie das schon früher von verschiedenen Be- obachtern beschrieben wurde; jedoch kann man öfters die Ent- stehung der Knospen an irgendeiner Stelle an der Seite des Mutter- körpers beobachten; es entsteht dabei eine Seitenknospe. Es ist hierbei zu bemerken, dass die Bildung der Seitenknospen nicht nur bei seitlicher, sondern auch bei terminaler Kernknospung vor sich gehen kann. Im letzteren Falle krümmt sich der spindel- förmige Kern in der Weise, dass sein distales Ende umbiegt und der Kern Hufeisenform annımmt; auf diese Weise nımmt das an- fangs distale und nach oben gerichtete Kernende eine seitliche Lage an. Es ist klar, dass bei dieser Lage der Kernknospe das entstehende Tochterindividuum seitlich am Muttertier zu liegen kommt (Fig. 3). Die Bildung des Tochterindividuums geht auf die Weise vor sich, dass gleichzeitig mit der Abtrennung des Tochterkernes auch das Plasma der Knospe sich vom Muttertierkörper abfurcht. Der Knospenkörper ist immer vom umgebenden Medium durch eine dünne Wand des Mutterplasmas getrennt. Mir ist es niemals gelungen, vor der Knospenbildung die Einsenkung der oberfläch- lichen Körperschicht des Tieres, wie das z. B. von Bütschli (1876) für Tocophria (Podophrya) quadripartita Clap. und Lachm. be- schrieben wurde, zu beobachten. Ebenfalls habe ich die sogen. (Geburtsöffnung nicht finden können. Die Entstehung von mehr als einer Knospe an einem Mutter- tier gleichzeitig konnte ich nie beobachten. Swarezewsky, Uber die Knospenbildung bei Acineta gelatinosa Buck. 443 Die neugebildete Knospe bricht durch die dünne Plasmawand des Muttertieres hindurch und tritt nach außen (Fig. 4). = a = I Als Charakteristikum dieser Knospen ist anzuführen, dass ihnen jeglicher Cilienbesatz fehlt und sie metabolische Körper darstellen, die sich mit Hilfe dicker und kurzer pseudopodienartiger Fortsätze von der Stelle bewegen. 444 Swarezewsky, Über die Knospenbildung bei Acineta gelatinosa Buck. Die Knospe kriecht der Oberfläche des Muttertieres entlang herab auf den Stiel, wo sie sich auch unmittelbar unter dem Mutter- tierkörper befestigt (Fig. 5). Die auf diese Weise am Stiele des Muttertieres ansıtzende Knospe bildet ein eigenes Stielchen und eine Hülle. Der Knospen- stiel erscheint im Vergleich zu jenem des Mutterindividuums von äußerst primitiven Bau. Er sieht aus wie ein sich leicht schlängelnder Faden. Solche am Stiel des erwachsenen Tieres ansitzende junge Tiere habe ich sehr oft beobachten kénnen'), doch war ihre Zahl an einem Stiel nie höher als zwei (Fig. 6, 7). Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass auch eine größere Zahl von Knospen gebildet werden kann, denn ich habe öfters sehen können, dass, während am Stiel des Muttertieres schon zwei junge Tierchen ansaßen, der Kern des Muttertieres von neuem sich zur Knospenbildung an- schickte (Fig. 7). Ich hatte Gelegenheit zu beobachten, dass nicht nur in den großen, vollständig ausgebildeten Tieren Knospen entstehen, sondern dass auch in den jungen, am Mutterstiel eben festgesetzten Tierchen Knospen gebildet werden können. Dieser Vorgang ist vollständig dem beim großen Muttertier beschriebenen analog (Fig. 8). Ungeachtet des reichen mir zur Verfügung stehenden Materials konnte ich kein einzigesmal eine an einem gemeinsamen Stiel sitzende Kolonie größerer Tiere antreffen. Andererseits machen auch die kurzen und schwachen Stielchen der am Stiele des Muttertieres ansitzenden Jungen den Eindruck von provisorischen Befestigungsorganen, was zusammen mit dem vorgenannten Mangel von kolonieartigen Verbänder größeren Tiere mich zur Annahme führt, dass die jungen Tiere nach einem kürzeren oder längeren Aufenthalt am Muttertierstiel denselben verlassen, um sich endgültig an einer anderen Stelle niederzulassen. Auf welche Weise dieser Umzug sich vollzieht, konnte ich nicht beobachten. Wenn wir uns nun der Literatur zuwenden, so finden wir, dass die Bildung der äußeren und inneren Knospen bei den Suc- torıen von verschiedenen Autoren bei einer ganzen Reihe von Formen beschrieben worden ist; jedoch ist es nur wenigen gelungen, nicht nur die Bildung, sondern auch die Trennung oder den Aus- tritt der Knospen, sowie auch deren weitere Schicksale zu verfolgen. Doch alle diese Untersuchungen, wie die von R. Hertwig (1875), Bütschli (1876), Maupas (1881) und endlich Sand (1901) stimmen in einem Punkt überein, nämlich dass die äußeren, sowie die inneren Knospen als Ciliosporen (Lang), d. h. ,,Bewimperte 1) 15—17°/, der von mir beobachteten Tiere hatten an ihrem Stiel diese Jungen. Forel, Konflikt zwischen zwei Raubameisenarten. 445 Knospen“ und im besonderen bei den Acineten als peritrich be- wimperte auftreten. Somit sehen wir, dass die in diesem Aufsatz mitgeteilte Tat- sache im sehroffen Gegensatz zu allen bisherigen diesbezüglichen Literaturangaben steht, da bei unserem Tier die Knospen als ver- schieden große metabolische, mit pseudopodienartiger Fortsätze aus- gertistete Körper auftreten. So weit ich auf Grund der mir bekannten Literatur urteilen kann, wurde noch nirgends beobachtet, dass die freigewordenen Knospen sich am Stiele des Muttertieres festsetzen, was, wie mir scheint, als unmittelbare Folge der Amöbennatur der Knospen der von mir untersuchten Acineten aufzufassen ist. München, März 1908. Literaturverzeichnis. 1875. Hertwig, R. Beiträge zur Kenntnis der Acineten. Inaug.-Dissertation. Leipzig, 1875. 1876. Bütschli. Uber Entstehung des Schwärmsprösslings der Podophria quadri- partita. Jen. Zeitschr. Bd. 10, 1876. 1877/78. Fraipont. Recherches sur les Acinétiniens de la cöte d’Ostende. Bull. Ac. Belg. Ser. 2, Bd. 44 (1877) und 45 (1878). 1851. Maupas, Contribution 4 l’étude des Acinetiens. Arch. de zool. experim. et gener. Bd. 9, 1881. 1901. Sand, R. Etudes monographique sur le Groupes des infusoires tentaculiféres. Bruxelles, 1901. Konflikt zwischen zwei Raubameisenarten. Von Dr. A. Forel in Yvorne. In Chigny bei Morges (meinem früheren Wohnsitz) lag auf einer Mauer, die unsere Terrasse von der Straße trennte, seit vielen Jahren eine starke Kolonie von Formica sanguinea Latr. Die Mauer war etwa 2 m hoch über die Straße, aber ihre Oberseite lag fast auf gleicher Ebene wie die Terrasse selbst. Am 26. Juni 1907, gegen !/,2 Uhr, bemerkte ich, wie die sanguinea rottenweise die Mauer hinabstiegen und dann an der Westseite der Straße hinunter rannten. Dann überschritten sie die Straße schräg und gingen gegen deren Ostseite. Ich vermutete einen gewöhnlichen Angriff gegen ihre Sklavenart Formica fusca L. und schaute, ob ein Nest dieser Art auf der Ostseite der Straße läge. Statt dessen entdeckte ich, zu meiner größten Überraschung, eine offenbar neu angesiedelte Kolonie von Polyergus rufescens Latr., d. h. von der berüchtigten Amazonenameise. Ich hatte wenig Zeit, war aber durch die Sache im höchsten Grade interessiert. Um den erwarteten Kampf zu beschleunigen, setzte ich einige der Polyergus-Sklaven (ebenfalls Formica fusca) mit zwei Polyergus und einigen Puppen auf die Straße vor der Fronte der sangwinea. Letztere gingen nach gewöhnlicher Taktik zuerst etwas zurück, wurden aber von den 446 Forel, Konflikt zwischen zwei Raubameisenarten. zwei Polyergus wütend angegriffen, die wie wahre Japaner nach der Jiu Jitzu-Methode ihre Feinde angriffen. Nun holte ich aus einem weiter liegenden gewöhnlichen Nest von Formica fusca einen Sack voll Ameisen und Puppen und stellte denselber®ca. 20 cm weit vom Polyergus-Nest vor der Vorhut der sanguinea. Damit wollte ich den Krieg beschleunigen, indem ich durch den gewöhn- lichen Raubgegenstand beider Arten, beide Ameisensorten anzu- ziehen beabsichtigte. Unterdessen waren die zwei Polyergus bereits von der Masse der sanguinea überwältigt worden und letztere warfen sich auf die eben gebrachten fusca. Nun fingen die Polyergus an aus ihrem Nest herauszutreten, während ihre Sklaven einige sanguinea aus der Vorhut festhielten. Letztere hatten Verstärkungen geholt und kamen in großer Zahl. Jetzt begann eine der komischsten Ameisenszenen, die ich je gesehen habe; es war wirklich zum Lachen. Die sanguinea waren offenbar in der Absicht ausgezogen, einen gewöhnlichen Raubzug auf fusca zu unternehmen und mein Köder hatte ihren Angriffsmut noch gestärkt. Nun aber zogen zunächst etwa 25—30 Polyergus einzeln aus dem Nest und stürzten sich mit gewohntem Mut auf sie los. Da fing der Jiu Jitzu-Kampf erst recht wieder an. Zu- nächst verteidigten sich die sanguinea gegen diesen mutigen Angriff ziemlich energisch. Aber ein einziger Polyergus warf mit seiner Kampfart gleich 5—7 Gegner fast zu gleicher Zeit um. Manche sanguinea bekam sogar mittelst der säbelförmigen Kiefer der Polyergus den von mir früher (Fourmis de la Suisse) beschriebenen Hirnstich, der sie kampfunfaihig machte und nun fingen die ersten Angreifer an zu begreifen, dass sie an die Unrechten gekommen waren und konzentrierten sich langsam rückwärts, während die Zahl der Polyergus zusehends wuchs. Die sanguinea wurden auf die Straße zurück- geworfen und verfolgt. Um 2!/, Uhr hatte der eigentliche Kampf begonnen. Bereits eine halbe Stunde nachher, um 2°/, Uhr, waren die sanguinea ım vollen Rückzug und liefen mit blutigen Köpfen zu ihrem Nest zurück. Die Polyergus begnügten sich damit, die sanguinea ungefähr bis zur Mitte der Straße zu verfolgen. Letztere zerstreuten sich dann in wilder Flucht. Am andern Tag hüteten sich die sangrrinea wohl, ihren unglück- lichen Angriff zu erneuern. Einige wenige streiften scheu von der Mauer hinunter an der Westseite der Straße; das war alles. Die Polyergus waren wieder nach Hause zurückgekehrt, denn bei ihnen war die Zeit der Raubzüge noch nicht da. Während die Formica sanguinea thre Raubzüge schon Ende Juni zu beginnen pflegt, fängt der Polyergus die seinigen erst im Juli an. Diese Beobachtung erinnert stark an den Kampf, den ich früher experimentell (Fourmis de la Suisse, S. 314 und 315) hervorgerufen hatte. Aber ich hatte damals eine künstliche Kolonie von Polyergus Forel, Zur Farbenbildung der Raupe der Saturnia carpini. 447 in nächster Nähe einer sangwinea-Kolonie gebracht, und letztere wurde dann aus ihrem Nest mit Puppen und Larven in die Flucht gejagt. Hier dagegen war der Konflikt spontan entstanden, indem die sanguinea zwar die Fusca-Sklaven der Polyergus, letztere selbst aber nicht gewittert, resp. nicht unterschieden hatten. Die Ent- fernung beider Nester gestattete den sanguinea, schnell genug zu fliehen, um einem Angriff ihres eigenen Nestes durch die von ihnen angegriffenen Polyergus vorzubeugen. Wenn aber die Polyergus ihre Verfolgung bis zum sangrinea-Nest fortgesetzt hätten, wären letztere ganz sicher mit Sack und Pack aus ihrem eigenen Heim geflohen, wie in dem Fall, den ich in meinen Fourmis de la Suisse beschrieben habe. Dieser spontane Konflikt der beiden Raubameisen ist seltsam genug, um eine Erwähnung zu verdienen. Er bestätigt in allen Teilen meine früheren Beobachtungen. Ich erinnere noch daran, dass die Formica sanguinca größer ist als der Polyergus; im vor- liegenden Fall war auch ihre Kolonie bedeutend stärker bevölkert und bestand aus sehr großen Individuen. Übrigens hatte auch hier, wie früher, ein ganz kleiner Rudel Polyergus genügt, um dank seiner Jiu Jitzu-Taktik und seiner Kühnheit den überlegenen Feind in die Flucht zu jagen. Nebenbei gesagt, kann diese Beobachtung auch zur Bestätigung des Gedächtnisses und der Engrammassoziation bei den Ameisen angeführt werden. Die sangwinea waren nun „belehrt“ und er- neuerten ihren Angriff nicht mehr. Wären sie durch einen blinden „Lropismus“ oder durch eine „unbekannte Kraft* (Bethe) nur so hingezogen gewesen, so hätten sie unbelehrt den Angriff erneuern müssen. Zur Farbenbildung der Raupe der Saturnia carpini. Von Dr. A. Forel (Jugenderfahrung). Die neueren Forschungen im Gebiet der direkten Einwirkung physikalischer Reize auf Leben und Entwickelung veranlassen mich, eine alte Beobachtung aus dem Jahre 1863 zu veröffentlichen, die ich noch später einige Male wiederholte und die leicht nachzu- machen ist. Ich erwähnte sie in einer Diskussion im Zoologen- kongress zu Bern 1904. Die Raupe der Saturnia carpini ist in den ersten Stadien schwarz mit rötlichen Punkten. In den zwei letzten Stadien wird sie grün mit gelben Körnern auf den Ringen. Nur ausnahmsweise behält sie auch in diesen letzten Stadien schwarze Ringe in der freien Natur. In den ersten Stadien leben die noch kleinen Raupen gemeinschaftlich auf Prunus, Crataegus, Carpinus ete. Damals nahm ich wiederholt einen großen Teil der kleinen 448 Forel, Zur Farbenbildung der Raupe der Saturnia carpini. schwarzen Raupen einer solchen Gesellschaft und setzte sie mit Futter in groBe, dunkle, geschlossene Holzschachteln. Die sehr resistenten Raupen entwickelten sich ganz gut, behielten aber alle, ohne Ausnahme, mehr oder weniger breite schwarze Ringe bis zur Verpuppung. Einige blieben sogar fast ganz schwarz, mit nur schmalen grünen Zwischenringen. Als ich zur Vergleichung die Sträucher aufsuchte, wo ich sie als junge Raupen gefangen hatte, fand ich dort nur einige ganz grün gewordene erwachsene Raupen, die zweifellos ihre Geschwister waren. Es unterliegt und unterlag bereits damals für mich keinem Zweifel, dass das Dunkelbleiben der Raupen dem Mangel an Licht- wirkung, und, dass das Grünwerden umgekehrt der Einwirkung der Sonnenstrahlen zu verdanken war. Die Ausnahme, dass auch im Freien ab und zu einzelne Raupen schwarze Ringe behalten, be- stätigt nur die Regel. Das Experiment kann sehr leicht genau nachgemacht werden. Man braucht nur je eine Hälfte eines Nestes junger Saturnia carpini Raupen am Sonnenlicht und die andere Hälfte in der Dunkelheit aufzuziehen. Die prachtvollen Experimente, die von Dr. Kammerer u.a. in der biologischen Versuchsanstalt im Prater zu Wien gemacht werden und die ıch selbst dort sah, veranlassen mich zu dieser kleinen Mitteilung. Von Herrn Prof. Dr. Gustav Jaeger in Stuttgart erhalten wir eine Zu- schrift, in welcher es heisst: „Im Biologischen Centralblatt« Bd. XXVI, 1906, S. 272 erschien eine Originalarbeit „Fischfärbung und Selektion“ von M. Popoff. Dort heisst es nach einigen einleitenden Worten: „Um so verwunderlicher ist es, dass man bisher eine Gruppe des Tierreichs nahezu ganz unberiicksichtigt gelassen hat, bei welcher eine ganz auffallende Ein- heitlichkeit der Färbung zu Erklärungsversuchen geradezu herausfordert. Ich meine die umfangreiche Gruppe der Fische. In dieser Gruppe nämlich ... ist eine unverkennbare Regelmäßigkeit im, Erscheinen von einigen Farbentönen zu be- merken: fast alle Fische haben einen silberglänzend gefärbten Bauch, während die Rückenseite meist dunkel abgetönt ist.“ In der Anlage übersende ich Ihnen die Abschrift eines von mir verfassten Aufsatzes über die „Farbe der Fische“, welcher vor 40 Jahren im Jahrgang 1868 der Zeitschrift „Ausland“ Nr. 27 8.813 erschienen ist, und aus dem Sie er- sehen werden, dass mir für die von Herrn Popoff behandelte Beziehung der Fischfärbung zur Selektionstheorie die Priorität gebührt.“ Von dem Wiederabdruck des erwähnten Artikels glauben wir absehen zu dürfen. Herrn G. Jaeger gebührt offenbar die Priorität des Gedankens. Herr Popoff verdient jedoch Entschuldigung, wenn er von dem nicht in einer Fach- zeitschrift erschienenen Artikel keine Kenntnis hatte. Die Redaktion. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Soeben erschien : Dr. Wesenberg-Lund Plankton investigations of the Damısh lakes Vol. II. General part: The baltie Freshwaterplankton its origin and Variation Text and Appendix with 46 tables . . . . .. 70 M Vol. I. Special part erschien im Jahre 1904 . . . 50 u Published by the aid of the Carlsberg-fund Gyldendalske Boghandel. Nordisk Forlag Kopenhagen. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Miller’s Lehrbuch der konservierenden Zahnheilkunde. Vierte, umgearbeitete und erweiterte Auflage herausgegeben von Prof. Dr. med. W. Dieck, Abt.-Direktor am zahnärztlichen Institute, Berlin. Mit 501 Abbildungen. M. 15.—, geb. M. 16.—. Die Mikroorganismen der Mundhöhle. Die örtlichen und allgemeinen Erkrankungen, welche durch dieselben hervorgerufen werden. Von Prof. Dr. W. D. Miller. 2. Auflage. Mit 134 Abbildungen und 18 Photogrammen. M. 12.—. K. B. Hof- und Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. ei; Biologisches Centralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie : in Miinchen, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Fostanstalten. | XXVIII. Bd. 15. Juli 1908. Ne 14, I Leipzig. Verlag von Georg Thieme. Rabensteinplatz 2. Verlag von R. Friedländer & Sohn in Berlin. Soeben erschien: Die Lebensvorgänge in Pilanzen u. Tieren. Versuch einer Lösung der physiologischen Grundfragen von Dr. Julius Fischer, Ingenieur. Mit {3 in den Text gedruckten Figuren. Preis 3 Mark. Durch jede Buchhandlung zu beziehen. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. ‘Der Pythagoraische Lehrsatz und seine Bedeutung für die Korperwelt von Professor Dr. A. Rauber, Dorpat. Mit 9 Textabbildungen. Fe ren seen M. 1.20. Se SEN ae He > u A a] ~~ LU U logisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. 15. Juli 1908. Ae 14, Bd. XXVIII. Inhalt: Franz, Das Pecten, der Fächer, im Auge der Vögel. — Knoblauch, Die Arbeitsteilung der quergestreiften Muskulatur und die funktioneile Leistung der ‚‚tliinken‘“ und ‚„‚trägen‘“ Muskelfasern. — Brandt, Ein neuer Besuch des Faust- oder Steppenhuhns (Syrrhaptes para- doxus) in Europa. — Arrhenius, Das Werden der Welten. — Müller-Pouillet’s Lehrbuch der Physik. Das Pecten, der Fächer, im Auge der Vögel. Von Dr. V. Franz (Helgoland). Da ich noch gar nicht abzusehen vermag, wann ich genug Mußestunden finden werde, um meine Untersuchungen über das Vogelauge zum Abschluss zu bringen, so will ich im folgenden einiges von den Entdeckungen mitteilen, die vermutlich die interessantesten von allen bleiben werden. Es handelt sich um das Pecten (den Fächer). Das Pecten ist bekanntlich ein aus der Sehnerveneintrittstelle frei in den Glaskörperraum hineinragendes, wellblechähnlich ge- faltetes Blatt, meist tiefschwarz pigmentiert. Sein Reichtum an Blutgefäßen ist seit langer Zeit bekannt, unschwer kann man, wie z. B. in meiner Fig. 6, den Verlauf der Gefäßstämme mit bloßem Auge verfolgen, und ein Mikrotomschnitt, wie der in Fig. 10 etwas schematisch wiedergegebene, zeigt eine Unmenge von Gefäßen. Sonst aber wissen wir fast so gut wie nichts über den Bau dieses für alle Vogel- und einige Reptilienaugen so außerordentlich cha- rakteristischen Organs. Was die Funktion des Pecten betrifft, so hat Rabl!) in seinen Arbeiten über die Linse (1899) eine Hypothese ausgesprochen, die 1) Literaturverzeichnis am Schlusse. XXVIII. 29 450 Franz, Das Pecten, der Fächer, im Auge der Vögel. vielfach Anklang findet: dass nämlich das Pecten ein Regulator für den inneren Druck sei. Nicht nur der außerordentliche Gefäßreich- tum des Pecten macht diese Vermutung wahrscheinlich, sondern auch der ausgesprochene Parallelismus, der nach Rabl zwischen der Ausbildung des Pecten und dem Akkommo- dationsvermögen be- steht. So sagt Rabl (i cS: 114,30 Bszist vielleicht nicht ganz zufällig, dass ich ihn (den Fächer) unter den Sauriern gerade bei jenen von ganz beson- derer Größe gefunden habe, bei welchen der Ringwulst an der Linse am stärksten ent- wickeltist: beiSchelto- pusik und Chamäleon.“ Den Ringwulst der Linse hält nämlich Rab] für ein Akkom- modationsorgan. Wei- Aquila chrysaetus, Auge. 2 X nat. Größe. terhin erwägt Rabl, Fig. 3. Fig. 2. Pavo cristatus, Auge. 2 X nat. Größe. Fig. 3. Podargus australis, Auge. 2 X nat. Größe. dass bei den bekanntlich stark akkommodierenden Vögeln einerseits der Ringwulst, andererseits das Pecten ganz allgemein besonders hoch- gradig ausgebildet sind, und er fügt den Satz an: „Es wäre von Interesse, zu untersuchen, ob und welche Beziehungen zwischen Franz, Das Pecten, der Fächer, im Auge der Vögel. 454 der Ausbildung dieses Fächers und der Entwickelung des Ring- wulstes bestehen.“ Ein Parallelismus zwischen Ringwulst- und Pectenausbildung scheint mir nun tatsächlich zu bestehen. Er wird schon einigermaßen verdeutlicht durch die Figuren 1— 3°). Im Adlerauge (Fig. 1) erscheint das Pecten (trotz der perspektivischen Verkürzung) mächtig, ebenso der Ringwulst der Linse. Ähnlich ist es im Auge des Pfau (Fig. 2). Dagegen ist im Auge des australischen Eulenschwalm, Podargus australis (Fig. 3), das Peeten winzig und auch der Ringwulst der Linse relativ dünn. Rabl’s Ansicht über die Funktion des Ringwulstes dürfte “nun im wesentlichen richtig sein, wie überhaupt seine Vorstellung über die Akkommodation des Vogelauges*). Nicht nur durch den Nachweis eines Parallelismus zwischen der Entwickelung des Ring- wulstes und der Fluggeschwindigkeit bei Vögeln wird die An- nahme, dass der Ringwulst ein Akkommodationsorgan sei, wahrschein- lich, sondern auf Grund feineren Details im Bau des Ringwulstes kam Rabl zu der sehr einleuchtenden Vorstellung, dass die Cilienfort- sätze auf den Ringwulst einen Druck ausüben und die Linse dadurch bei der Akkommodation komprimieren (Rabl, 1898). Diese Meinung Rabl’s hat sich allerdings bisher nicht Bahn gebrochen, man pflegte vielmehr Beer beizupflichten, welcher (1892) allerdings hatte nachweisen wollen, dass die Akkommodation im Vogelauge durch Entspannung der Linse erfolge, wie man es seit Helm- holz meist auch für das Menschenauge annımmt. Aber ganz so einfach liegen die Verhältnisse keineswegs. Neuerdings (1906) ist v. Pflugk in einer sehr ansprechenden Arbeit lebhaft für die ent- gegengesetzte Ansicht eingetreten, wie er überhaupt für Säugetiere und Vögel nicht der Helmholz’schen, sondern der Schoen’schen Akkommodationstheorie huldigt. Die drei Autoren: Rabl, Beer und v. Pflugk stehen also alle miteinander in Widerspruch. Aber weder Beer noch v. Pflugk sınd den Rabl’schen Darlegungen so weit nachgegangen, dass sie etwas zu deren Widerlegung beigesteuert hätten. Sollte also v. Pflugk gegenüber Beer im Recht sein, was nicht unwahrscheinlich ist, so wäre es immer noch sehr möglich, dass auch Rabl’s Vorstellungen zutreffen, und die morphologisch- histologischen Befunde Rabl’s erachte ich als nicht zu unter- schätzende Momente zugunsten seiner Hypothese, dass der Ringwulst die Bedeutung eines Akkommodationsorgans habe. So verdienen also auch die weiteren Rabl’schen Schlussfolgerungen ein nicht geringes 2) Inwieweit diese Figuren Kunstprodukte zur Abbildung bringen, ist von mir an anderer Stelle genau gesagt worden (1907); v. Pflugk ist es zum ersten Male gelungen, das Vogelauge besser zu fixieren. 3) Ich spreche hier nur von der Linsenakkommodation. Außerdem hat bekannt- lich das Vogelauge eine Hornhautakkommodation. 29% 459 Franz, Das Pecten, der Fächer, im Auge der Vögel. Vertrauen, und ich halte es tatsächlich für sehr möglich, dass das Pecten ein Organ ist, welches mit seinen leicht kompressiblen Blut- gefäßen die beim Akkommodieren entstehenden intraokularen Druck- schwankungen abdämpft').. Damit ist aber die Funktion des Pecten noch lange nicht erschöpft. Eine ganz andere Reihe von Tatsachen führte mich dazu, den Beziehungen zwischen Pecten und Sehnerv weiter nachzugehen. Mich leitete der Gedanke, dass das Pecten den intraokularen Druck- schwankungen gegenüber vielleicht nicht nur eine regulatorische, sondern auch eine sensorische Funktion verrichten könne, was mir durch mancherlei Gründe nahegelegt wurde. Den physikalischen Vorgang dieser Druckschwankungen stelle ich mir folgendermaßen vor: Es ist erwiesen, dass sich bei der Akkommodation die Krümmung der hinteren Linsenfläche und bei Vögeln auch der Ort des hinteren Linsenpols verändert (v. Pflugk). Sowie diese Bewegungen vor sich gehen, müssen Druckänderungen ım Glaskörper vor sich gehen, die sich von der Linse aus ein Stück weit (je nach ihrer Stärke) in das Innere des Glaskörpers hinein fortsetzen. Es ıst mir aber bei der geringen Kompressibilität aller Flüssigkeiten nicht wahrscheinlich, dass sich die Druckschwankungen nur nach Art einer Schallwelle fortpflanzen. Denn die Lageverände- rungen des hinteren Linsenkontours erreichen weit größere als mole- kuläre Dimensionen. Daher werden sich die Druckschwankungen fast momentan in geringen Verschiebungen innerhalb des Glas- körpers auslösen. Ich spreche von Verschiebungen und nicht von Strömungen, da der Glaskörper keine bloße Flüssigkeit ist, sondern ein mit Flüssigkeit getränktes, schwammähnliches, aus ungemein feinen Fäden bestehendes Gerüst. Ich möchte von hydrodynamischen Druckschwankungen sprechen, im Gegensatz zu Schwankungen des hydrostatischen Druckes. Ein hydrodynamischer Druck ist ein solcher, der durch strömende Flüssigkeit oder in unserem Falle durch die sich verschiebenden Glaskörperpartien hervor- gerufen wird. Solche hydrodynamische Druckschwankungen müssen es also sein, die das Pecten empfindet. Die sensorische Funktion des Pecten schien mir von vornherein aus folgenden Gründen wahrscheinlich: Sinnesorgane bergen stets ektodermale Bestandteile, nämlich meist Sinneszellen und stets Nervenfasern. Nun wissen wir neuer- 4) Leuckart’s Annahme von der ernährenden Funktion des Pecten ist bis jetzt so wenig bewiesen wie widerlegt. Schleich’s Auffassung (nach Rabl [1889] zitiert), das Pecten solle das monokulare und das binokulare Gesichtsfeld gegen- einander abgrenzen, erklärt wohl kaum etwas, sondern beschreibt nur den Tatbestand. Auf die Ansichten noch älterer Autoren brauche ich wohl hier nicht einzugehen. Franz, Das Pecten, der Fächer, im Auge der Vögel. 453 dings, dass der Retina viel mehr entwickelungsmechanische Po- tenzen zukommen, als man ehemals annahm und je vermutet hätte, Die Retina kann die Linse regenerieren. Von den ektodermalen Zellen der Retina stammt regelmäßig die Irısmuskulatur, der Muskel der Campanula im Fischauge, ferner (ganz oder zum Teil) die Zo- nula zinnii und der Glaskörper. Von der einschlägigen Literatur habe ich einiges in einer früheren Arbeit (1905) zusammengestellt, in welcher ich auch einige Beiträge zu diesen Fragen liefern konnte. Sollte es unmöglich sein, dass auch dem Pecten ektodermale Be- standteile eigen sind? Dieser Gedanke ging mir häufig durch den Kopf. Er wurde mir auch durch den recht bemerkenswerten Umstand wahrschein- licher, dass der Glaskörper, der ja selbst retinalen Ursprungs ist°), sich nie glatt vom Pecten ablösen lässt; sondern er hängt stets am obersten First des Pecten®) fest. Sodann ist der nahen räumlichen Beziehungen zwischen Seh- nerv und Pecten zu gedenken. Es besteht ferner nicht nur ein Parallelismus zwischen dem Ausbildungsgrade von Ringwulst und Pecten, sondern in gleichem Sinne variert bei den verschiedenen Vogelarten die Hornhautdicke und die Dicke des Sehnerven (vgl. Fig. 1—3). Das Verhalten der Hornhaut lässt sich verstehen, da sie im Vogelauge gleich der Linse bei der Akkommodation wirksam ist. Das Verhalten des Sehnerven ist nicht so leicht verständlich. Sollte es nur dadurch zu erklären sein, dass besser akkommodierende Augen auch eine feiner organisierte und stärker innervierte Retina be- sitzen? Der Sehnerv ist im Pfauauge (Fig. 2) verhältnismäßig noch dicker als im Adlerauge (Fig. 1). Der Adler wird wohl schärfer sehen als der Pfau, aber der Pfau hat ein größeres Pecten. Bei Podaryus hingegen (Fig. 3) ist das Pecten nicht nur winzig, es macht überhaupt einen beinah rudimentären Eindruck, da es gar nicht gefaltet ist und nur ein paar kniffähnliche Biegungen zeigt, und bei diesem Vogel fand ich auch den dünnsten Sehnerven von allen bisher untersuchten (ca. 20 Arten). So scheint zwischen Seh- nerv und Pecten eine noch unmittelbarere Beziehung zu bestehen als zwischen Linsenringwulst und Pecten. Weiter spricht für die Vermutung, dass das Pecten ein Sinnes- organ sei, der Bau des Pecten. Derselbe ist höchst variabel, und zwar in dem Maße, dass er für jede Spezies durchaus charakte- ristisch ist, obwohl er auch innerhalb der Spezies individuellen 5) Cirincione’s Darstellung der Glaskörperfrage halte ich nicht für so klar und einleuchtend wie die Arbeiten von v. Koelliker, v. Szily und Wolfrum, welche den ektodermalen Ursprung des Glaskörpers fortschreitend mit immer größerer Gewissheit erweisen. 6) „Kamm des Pecten“ zu sagen, wäre eine Tautologie. 454 Franz, Das Pecten, der Fächer, im Auge der Vögel. Variationen unterliegt. Ein paar besonders markante Beispiele stellen die Figuren 4—9 dar. Allen gemeinsam ist, dass die aufstrebenden Falten oben etwas gegeneinander konvergieren. (Wo es nicht so scheint und wo z.B. die Falten etwas gekrümmt sind, wie ın Fig. 6, beruht dies auf postmortalen Deformationen.) Jede Falte strebt nämlich der hin- teren Linsenfläche zu! Ferner sind niemals alle Falten gleich hoch, sondern sie sind abgestuft wie Orgelpfeifen. Dadurch werden, wenn das Pecten ein Drucksinnesorgan ist, stärkere Druckschwankungen von anderen Teilen empfunden als schwächere, da die stärkeren sich auch bis zu den kürzeren Falten fortpflanzen werden. Stärkere Reize werden also nicht nur an ne sıch stärker wirken als schwächere, sondern außerdem eine größere Zahl von perzipieren- \ den Elementen treffen. | ii it Noch niemand hat | | 3 ferner die kleinen | II Ve Spitzchen gesehen, es © li | I die sich auf fast jedem i| [4 Pecten finden. Dass sie Ih wegen der tiefschwar- zen Färbung sehr schwer zu erkennen sind, weißkeiner besser als ich selbst. Ich habe in meiner früheren Zeichnung vom Stein- kauzauge (1907) lange Zeit ein solches Spitzchen stehen gehabt, glaubte es aber nach wiederholter Prüfung des Präparats fortradieren zu müssen. Jetzt habe ich es aber mit aller Bestimmtheit gesehen. Im Adlerauge hat das Pecten sogar zwei solche Spitzchen (Fig. 4), die auf den höchsten Falten stehen. Ähnlich ist es bei dem (hier nicht abgebildeten) Pecten des Seeadlers (Haliaetus albieilla). Ein Spitzchen finde ich bei Corvus corone (Nebelkrähe, Fig. 5, ähnlich beim Raben, Corvus corax), auch bei Pavo cristatus (Fig. 6). Bei Pavo sieht man auch noch scharfe, schneideähnliche Aufsätze und undeutliche Spitzchen. Ein undeutliches Spitzchen ist beim Fla- mingo (Fig. 7) vorhanden. Ich will hier nicht auf alle Verschieden- heiten eingehen, die ich fand. Die prägnantesten Beispiele sind erwähnt, wenn wir noch zwei hinzunehmen: Podargus australis mit seinem winzigen, aber mit zwei feinen Spitzchen besetzten Pecten TE VRR \ Aquila chrysaetus; Pecten. 6 X nat. Größe. Franz, Das Pecten, der Fächer, im Auge der Vögel. 455 (Fig. 8), und das ganz eigentümlich gestaltete Pecten vom Uhu (Bubo maximus, Fig. 9). All die kleinen, gegen die Linse gerichteten Spitzchen werden jedem Zoologen den Eindruck von sensorischen Organen hervorrufen. Sieht man nun noch, wie beim Uhu das Spitzchen lang finger- förmig ausgezogen ist und in ein kleines Knöpfchen endigt : nn Pavo cristatus, Pecten. Corvus corone, Pecten. 6 X nat. Größe. 6 X nat. Größe. Blutgefäße eingezeichnet. Fig. 7. Fig. 8. Fig. 7. Phoenicopterus roseus, Pecten. 6 X nat. Größe. Fig. 8. Podargus australis, Pecten. 6 X nat. Größe. Fig. 9. Bubo maximus, Pecten. 6 X nat, Größe. (Fig. 9), so ist an der sensorischen Funktion des Pecten wohl kaum mehr ein Zweifel. Alles spricht vielmehr schon mit großer Wahrscheinlichkeit dafür, dass das Pecten ein Sinnesorgan ist, befähigt, die bei der Akkommodation entstehenden Druckschwankungen zu empfinden. Den Beweis erbringt aber erst die histologische Untersuchung. Ich fragte mich, warum denn gerade immer Spitzchen aus- gebildet seien, während doch zum Empfangen von hydrodynamischen Druckschwankungen ein platten- oder tellerähnliches Gebilde viel 456 Franz, Das Pecten, der Fächer, im Auge der Vögel. geeigneter schiene? Der erste Mikrotomschnitt, den ich durch das (erste) Spitzchen von Aquila legte, gab die überraschende Antwort: Das Spitzchen ist an seinen Seiten dicht mit Sinnes- haaren besetzt. Man kann dieselben deutlich in Fig. 11 sehen. Man sieht auch viele feinste Fasern im Innern des Spitzchens, und manch- mal kann man den Ubergang einer Faser in ein Sinneshaar verfolgen. Offenbar sind die Fasern Neurofibrillen. Sie liegen in anschei- nend etwas gröbere Gewebsbestandteile eingebettet, und die ganze Faserung des Gewebes verrät, dass die feinen Fasern zu den Sinnes- haaren hin verlaufen. Der Faserverlauf geht nämlich vom Innern aus strahlenförmig nach allen Seiten und trifft steil, häufig sogar senkrecht auf die Oberfläche, so dass die Sinneshaare ihn gleichsam nach außen fortsetzen. Auch die massenhaften schwarzen Pigment- körnchen schließen sich ım ganzen unverkennbar diesem Faser- verlauf an. (Der blasse Ton (@), welcher die Fig. 11 sowie manche der folgenden umgibt, deutet den festhaftenden Glaskörper an.) Bubo maximus, Pecten. Querschnitt, etwas schematisiert. ca. 15—20 X nat. Größe. Die quer zum Peetenspitzchen stehenden Sinneshaare werden offenbar höchst geeignet sein, um Druckschwankungen zu empfinden, die von der Linse herkommend, sich parallel der Längsrichtung des Spitzchens fortpflanzen. Auch im Pecten des Uhu findet man, wie die Fig. 12 bei sehr starker Vergrößerung zeigt, Sinneshaare am Schaft des fingerähn- lichen, knépfchentragenden Spitzchens. Aber in viel größerer Zahl sah ich beim Uhu eine andere Art von Reizperzeptoren: winzig kleine Kölbcehen. Solche sind z. B. in Fig. 13 u. 14 dargestellt (x). Sie besetzen im ganzen First des Pecten die Oberfläche, und zwar nicht nur die der Linse zugewandten, sondern auch die abgewandten Partien, z. B. Fig. 15, %. (Hierbei ist zu bemerken, dass die Falten sehr häufig ganz oder zum Teil in der Längsrichtung des Pecten ‘oben wie mit einer Brücke überdacht und — ich sprach oben schon von schneideähnlichen Aufsätzen beim Pecten von Parvo — eine Tatsache, welche zum Verständnis der Fig. 15 beitragen wird.) Sehr oft kann man den Zusammenhang eines Kélbchens mit einer Ra > Franz, Das Pecten, der Fächer, im Auge der Vögel. 457 Nervenfaser deutlich erkennen. An den senkrechten Wänden findet sich dann wieder zwischen vielen Kölbehen hier und da ein einzelnes Sinneshaar (Fig. 16). Was weiterhin recht bemerkenswert ıst, das sind die Be- ziehungen solcher Kélbchen zu den Gefäßen. Die Wandung der Biol. ee ee = Er Aquila chrysaetus, Längsschnitt durch den obersten Teil des ersten Pectenspitzchens. Winkel, Oc. 1, Obj. 7, Zeichenapp. @ = Glaskörper, = Sinneshärchen. Gefäße ıst nämlich mit solchen Kölbchen dicht umstellt, wie aufs deutlichste Fig. 17 u. 18 lehren (Z = Gefäßlumen, e= Endo- thel, dx = Blutzelle). Ich glaube, aus der Funktion des Pecten als eines Drucksinnes- organs lassen sich alle diese Eigentümlichkeiten leicht verstehen: Sinneshaare nur an den vertikalen Wänden (quer zur Richtung der 458 Franz, Das Pecten, der Fächer, im Auge der Vögel. Druckwellen), an den horizontalen Wänden aber ausschließlich Kölbehen, und solche Kölbehen auch an den offenbar leicht kom- pressiblen Gefäßen! Auch ist es zu verstehen, dass diese Reizperzeptoren sich nur ın den oberen Teilen, am und nahe beim First des Pecten finden, während sie weiter unten stets fehlen (Fig. 19). Weiter unten sieht man nämlich keine Kélbchen oder Sinneshaare. Sie nehmen vielmehr nur diejenigen Partien ein, an welchen der Glaskörper festhängt. Fig. 12. Fig. 13. Fig. 12. Bubo maximus. Längs- schnitt durch die Pectenspitze. Fig. 12—21 Winkel, Oc. 1, Obj. hom. Immersion !/,,. Zeichenapp. G = Glaskörper, / = Sinneshärchen. Fig. 13 u. 14. Bubo maximus. Längs- schnitt durch den First des Pecten. G — Glaskörper, k = Sinneskölbchen. ich glaubte nun anfangs auf Querschnitten durch das Pecten nach Nervenstämmen suchen zu müssen, und diese an solchen Stellen, wie z. B. Fig. 20 bei x zu erkennen, wo vielleicht ein parallelfaseriges Gewebe im Querschnitt getroffen ist. Aber dies erwies sich bald als verfehlt; sondern das ganze Peeten ist ner- vöses Gewebe von einerlei Art, sehr ähnlich dem der Nervenfaser- schicht in der Retina, ausgenommen die Blutgefäße. Zunächst lässt sich nämlich auch bei den stärksten Vergröße- rungen und in recht dünnen Sehnitten (5 «) bei guter Färbung ' (Heidenhain’sches oder Delafield’sches Hämatoxylin) nirgends ein Bindegewebe erkennen, sondern nur feine, durcheinander ziehende Franz, Das Pecten, der Fächer, im Auge der Vögel. 459 Fasern, wie sie auch mit den Sinneselementen in Verbindung treten. Das ganze Gewebe ist außerordentlich arm an Kernen, ja im oberen Teile des Pecten konnte ich solche überhaupt nicht sehen. Auch Fig. 16. Längsschnitt durch das Pecten von Bubo maximus. igi. Bubo maximus. Längs- schnitt durch die Briicke des Pecten. Fig. 17 u. 18. Bubo maxt- mus. Schnitt durch das Pecten. L = Gefäßlumen, e = Endothel, bz = Blut- zelle. dies spricht für den nervösen Charakter des Gewebes. Ferner ist das Pigment überall in einzelnen Körnern vorhanden (vgl. die Figuren), welche denen des Retinapigmentes bis auf ihre bedeutendere 460 Franz, Das Pecten, der Fächer, im Auge der Vögel. Größe ähneln, jedoch sind gar keine Pigmentzellen sichtbar, wie sie in der mesodermalen Chorioidea sehr leicht erkennbar sind. Von großem Interesse müssen nun natürlich Schnitte durch die Wurzel des Pecten im Augengrunde sein, und ein solcher Schnitt ist in beistehender Figur 22 abgebildet. Die Gewebe sind allerdings in Wirklichkeit ungleich viel zarter und feiner, als sie hier dargestellt werden konnten. Man sieht folgendes: Fig. 19. Der Nervus opticus (no) tritt mit seinen zahlreichen Fa- sern von unten her in das Auge ein. Links sieht man noch ein Stück Dura (d), Arachnoidea (a) und Pia mater (p) des Sehnerven, darüber die Sehnervenfaser (vo) selbst, dann folgt die Sklera (sc), die Chorioidea Bubo maximus. Schnitt durch das Pecten. (ch), das Pigmentepithel (p), die Stäbchen und Zapfen (st,x) und die übrigen Netzhaut- schichten bis zur Nervenfaserschicht (nf). Rechts ist nur der eintretende Sehnerv (Nervus opticus, no) zu sehen, der sich übrigens noch sehr weit über die Grenzen des Bildes hinaus erstreckt. Denn es hegt ein Längsschnitt durch das Pecten vor, welcher alle Falten trifft, von welchen aber nur die äußerste dar- gestellt ıst, und der Sehnerv ver- breitet sich hier flächenartig, senk- recht zur Sklera, unter die ganze Länge des Pecten. 2 Sehr auffällig ist besonders, dass Bubo maximus. Schnitt durch das in der Nervenfaserschicht der Netz- Pecten. haut (»f) die senkrecht (radial) verlaufenden Fasern überwiegen, während dies sonst die horizontal (tangential) verlaufenden tun. Diese Fasern kommen (was sich bei den meisten verfolgen lässt) direkt aus dem Sehnerven und sammeln sich über die Nervenfaser- schicht zu einer eigenen „Pectenfaserschicht“, pf in Fig. 22. In der Mitte der Pecten, weiter rechts als die Figur reicht, fehlen sogar die horizontalen Fasern so gut wie gänzlich, ohne dass da- durch die Abgrenzung einer Pectenfaserschicht aufhörte. Es ändert Franz, Das Pecten, der Fächer, im Auge der Vögel. 461 sich nämlich an dieser Grenze vielfach, wie auch in Fig. 22, die Richtung des Faserverlaufes, und vor allem liegt hier eine Kern- zone in der Pectenfaserschicht. Namentlich am untersten Rande liegen in ihr kleine Zellkerne sehr dicht, etwas mehr nach oben nehmen sie sehr rasch an Dichtigkeit ab. Diese „Pectenfaserschicht‘ verdient nun deshalb diesen Namen, weil sie alle ihre Fasern in das aufstrebende Pecten hinein ent- sendet, wie es aus Fig. 22 ersichtlich ıst. Man kann also auch hier an der untersten Wurzel des Pecten, wo das Pigment etwas lockerer ist, aufs deutlichste erkennen, dass das ganze Pecten aus nervösem Gewebe besteht, mit Ausnahme natürlich der Blutgefäße. Beiläufig bemerke ich — was sich ja fast von selbst versteht —, dass nicht nur die Pectenfaserschicht in nächster Entfernung vom Pecten schon aufhört (in Fig. 22 links ist sie nur noch ganz dünn), sondern dass im übri- gen Netzhautbereich Fig. 21. auch die Nervenfaser- schicht der Retina die gewöhnliche, parallel- faserige Struktur hat. Die Blutgefäße des Pecten kommen aus dem Sehnerven, ın wel- chem sie, wie mir Seh- nervenquerschnitte zeigen, schon keinen einheitlichen Stamm mehr bilden, sondern vr Be viele kleine Stämm- Bubo maximus. Schmitt durch das Pecten. chen. In Fig. 22 sieht man kaum Blutgefäße im Sehnerven; das liegt daran, dass sie vor dem Foramen opticum des Auges mehr in die Peripherie des Sehnerven eindringen, während jener Schnitt durch die Mitte ge- führt ist. Von Interesse ıst die höchst eigenartige Struktur der Gefäßwandungen im Pecten. Man sieht immer, dass das Gefäß- lumen Z von einem gewöhnlichen Endothel begrenzt ist (ein Fig. 17, 18, 19, 21). Auf dieses folgt dann ein äußerst dünnes Häutchen, welches zwar manchmal nicht erkennbar ist (da es wohl im Natur- zustande nicht so isoliert daliegt), manchmal aber auch verdoppelt erscheint: feinste Membranen; weiter nach außen liegt eine dickere, gelatinöse strukturlose Gefäßhülle. Letztere ist in Fig. 21 breit angeschnitten. Wir haben hier augenscheinlich ganz eigen- artige Gefäßhüllen vor uns, die gleichfalls nervösen Ursprungs ‘sind, denn anders könnte man sich ihre besondere Beschaffenheit 4652 Franz, Das Pecten, der Fächer, im Auge der Vögel. nicht erklären. Media, Muscularis und Adventitia fehlen stets. Es ist also gar nicht daran zu denken, dass zugleich mit den Gefäßen noch weitere Bindegewebsbestandteile in das Pecten eingedrungen seien. Fig. 22. Bubo maximus. Schnitt durch die Wurzel des Pecten, Winkel, Oc. 1, Obj. 7. Zeichenapp. d= Dura, a = Arachnoidea, p = Pia mater, se = Sclera, ch = Cho- rioidea, p = Pigmentepithel, st, z — Stäbchen und Zapfen, nf = Nervenfaserschicht, no — Nervus opticus, pf — Pectenfaserschicht, g = Gefäße. Es ändert sich auf Grund aller hier aufgeführten Befunde nicht nur unsere physiologische, sondern auch unsere morphologische Auffassung vom Pecten. Man pflegt das Pecten bisher als ein Derivat der Chorioidea und als einen Rest von in die fötale Augen- spalte eingedrungenem Mesodermgewebe aufzufassen, ähnlich wie den Processus falciformis der Fische. Das Pecten hat aber mit dem Processus falciformis nichts gemein, ist auch nicht em Derivat Franz, Das Pecten, der Fächer, im Auge der Vögel. 463 der Chorioidea, sonderi des Sehnerven’) und der Arteria ophthal- mica. Insoweit es vom Sehnerven stammt, hat es mit der Retina enge Verwandtschaft, ja man kann sagen, es ist mit seinem Blutgefäß- reichtum geradezu ein Geschwisterorgan der Säugetierretina, welche ja gleichfalls Gefäße birgt. Eine höchst interessante, aber für mich noch nicht sicher ge- löste Frage ist die, ob die Sinneselemente des Pecten gleich denen der Retina erst sekundär innerviert werden; oder ob diese Sinnes- elemente die unmittelbaren Endigungen von Nervenfasern sind. Im ersteren Falle wäre das Pecten in erster Linie ein Derivat der Retina und damit in zweiter Linie ein solches des Sehnerven. Im zweiten Falle ist es ein unmittelbares Derivat des Sehnerven, und eigentlich retinale Bestandteile wären ihm nicht eigen. Hier könnte vielleicht eine embryologische Untersuchung Klar- heit schaffen, zu welcher ich z. Zt. leider kein Material habe. Einst- weilen scheint mir die letztere Vermutung die zutreffende zu sein, und zwar auf Grund des Verhaltens der Kerne im Pecten. Die Kerne sind im Pecten nur sehr spärlich vorhanden mit Ausnahme der untersten Wurzel, ja in den oberen Teilen fehlen sie, wie schon gesagt, gänzlich. Sie würden also von den zugehörigen Zelikörpern sehr weit entfernt sein. Aber ein sicherer Beweis liegt darin keineswegs, und wir wollen bedenken, dass die (heute bejahte) Frage, ob die äußeren Körner der Retina die Kerne zu den Stäb- chen und Zapfen vorstellen, auch nicht an einem Tage entschieden wurde. Sensible Nervenendigungen ohne ektodermale Sinneszellen sind ja allerdings selten, aber sie sind sicher bekannt, z. B. ın den Tast- körperchen (Vater-Pacinischen Körperchen) oder in den freien Nervenendigungen in Muskein. Jedenfalls aber liegt hier noch eine ungelöste Frage. Auch darüber bin ich unsicher, ob die Kölbchen alle von einerlei Art sind oder vielleicht von mehrerlei, wie die Retinaelemente. Die Figuren zeigen nur, was ich deutlich erkennen konnte, ich habe mich bemüht, nichts hineinzusehen. Jedenfalls sind die Kölb-. chen des Uhu von sehr verschiedener Größe. Noch ein paar Bemerkungen über die funktionelle Bedeutung einiger Eigentümlichkeiten aller Pectina. Die wellblechähnliche Faltung, die nur bei dem winzigen Pecten 7) Ich muss die Frage nach dem Nervenzentrum der Pectenfasern unerörtert lassen. Wenn auch das Pecten morphologisch ein Derivat des Sehnerven ist, so sind die Pectenfasern dennoch keine optischen Fasern. Solche kommen vielmehr erst durch die Verbindung mit Lichtperzeption zustande. 464 Franz, Das Pecten, der Fächer, im Auge der Vögel. von Podargus australis fehlt, hat vermutlich dieselbe Bedeutung, wie beim wirklichen Wellblech, welches man zu Bauzwecken benutzt. Sie dient zur Versteifung des ganzen Organs. Die verschieden hohen Falten sind stets so angeordnet, dass die niedrigsten dem Netzhautzentrum zunächst legen, die höchsten viel weiter außen, oft zu alleräußerst. Offenbar wird bei diesem Bau des Pecten die Sehfunktion möglichst wenig gestört. Die Pigmentierung des Pecten dürfte einerseits die Nerven- fasern vor Belichtung schützen. Die Anordnung der Körnchen macht dies vielfachwahrscheinlich; andererseits dämpft sie sicher das auf- fallende Licht ab und verhütet zugleich sein Eindringen in die Blutgefäße und bewahrt damit die Netzhaut vor störenden Licht- reflexen. Ich möchte einige Bemerkungen über die Konservierung ein- schalten und zugleich Herrn Prof. Fritz Roemer in Frankfurt a./M. meinen wärmsten Dank dafür sagen, dass er mir viel kostbares, teils ıhm selbst, teils dem Senckenbergischen Museum gehörendes Material zur Bearbeitung anbot. Die von ihm mir überlassenen Augen waren teils in Formol, teils in Müller’scher Lösung konser- viert. Das Formol hatte überall vortrefflich konserviert und fixiert. Die makroskopischen Deformationen der Augen sind nur relativ gering (zum Teil sind sie nur durch die Kontraktion der Linse be- dingt), und die im Vorstehenden gegebenen Abbildungen von mikroskopischen Schnitten beweisen wohl die Fixiertüchtigkeit des Formols für das Pecten. Man eröffnet den Bulbus gar nicht, sondern legt ihn ganz in Formol. Bei der bekannten Fähigkeit des Formols, das Nervenfasergewebe gut zu konservieren, und bei dem im Vorstehenden dargestellten Bau des Pecten ist es ja leicht zu verstehen, dass die Lösung schnell den Weg durch den Nervus opticus zum Pecten findet und das letztere bis ın seine sehr feinen Bestandteile, wie die Kölbchen, gut fixiert. Höchstens die Struktur der Zellkerne ermangelt in den Präparaten der vollen Schärfe, wo- rauf es aber hier nicht ankommt. — ‘Die mit Müller’scher Lösung konservierten Bulbi zeigen meist gröbere Deformationen, welche naturgemäß auf Deformationen der Elementarbestandteile der Ge- webe beruhen werden. Mikrotomschnitte durch das Pecten von Corvus corax (Rabe), fixiert in Solutio mülleri, zeigen mir durchaus nicht klarere Verhältnisse als die Schnitte durch Formolmaterial. Doch hoffe ich, noch klarere Bilder erhalten von Augen, die ich selbst ın verschiedenen Sublimatlösungen konservierte. Eins der interessantesten Kapitel der Biologie ist die ver- gleichende Betrachtung der Morphologie der Sinnesorgane von physiologischen Gesichtspunkten aus. Man kann sich auch in unserem Franz, Das Pecten, der Fücher, im Auge der Vögel. 465 Falle fragen, ob Organe, die dem Pecten funktionell gleichartig oder ähnlich sind, Organe also, die in ähnlicher Weise wie das Pecten Schwankungen des umgebenden Flüssigkeitsdruckes perzi- pieren, auch sonst im Tierreich vorkommen. Mir sind aus der Literatur zwei Bei- spiele bekannt, die hier zum Vergleiche herangezogen werden dürfen. ; Zunächst die „bud- like organs“ am Kiefer des zu den Halieu- taeiden gehörenden Fisches Malthopsis spi- nulosa. Diese Organe hat E. Trojan mikro- skopisch untersucht und als Anhang zu der v. Lendenfeld’- schen Bearbeitung der „Axial section through a Bud-like Organ,“ Malthopsis Leuchtorgane bei Tief- spinulosa. Nach Trojan. seefischen der Alba- trossexpedition be- schrieben und abge- bildet (siehe Literatur- verzeichnis unter von Lendenfeld). Diese kleinen Knöpfchen sind, wie die von Trojan gegebene Ab- bildung (Fig. 23) zeigt, sehr reich an Blutge- fäßen sowie auch an Nerven. Außerdem sind ihnen Bestand- ‘Steenstrupia rubra Forbes in natürlicher Größe. Rechts der stark vergrößerte Scheitelaufsatz etwas teile des Cor nee EISEN. kontrahiert mit ausgestreckten borstenähnlichen Or- Die Ner venendigungen ganen. Nach Hartlaub. konnte Trojan nicht sehen. Das Organ erinnert durch seinen Reichtum an Nerven- fasern und Blutgefäßen entschieden an das Pecten im Auge der Vögel. Über die Funktion äußert Trojan, es sei wahrscheinlich, „that the function performed by them is the perception of hydro- static pressure.“ Ich würde zwar weniger an den hydrosta- tischen Druck, als an hydrodynamische Druckschwankungen denken, halte aber jedenfalls die Trojan’schen Angaben für sehr XXVIII. 30 466 Franz, Das Pecten, der Fächer, im Auge der Vögel. beachtenswert. Es ist ein Sinnesorgan ganz eigener Art, dem eben höchsens das Pecten an die Seite gestellt werden kann. Zweitens möchte ich auf ein eigentümliches Organ hinweisen, welches Cl. Hartlaub bei der Hydromeduse Steenstrupia rubra fand und in den „Wissenschaftlichen Meeresuntersuchungen“ sowie im „Nordischen Plankton“ abbildete. Wir sehen diese Meduse in Fig. 24 ın natürlicher Größe abgebildet. Die Glocke der Meduse trägt einen Scheitelaufsatz, ein Spitzchen, welches nebenstehend vergrößert abgebildet ist. Es ist mit vielen, geknöpften Sinnes- borsten besetzt — denn um etwas anderes als um ein Sinnesorgan kann es sich hier garnicht handeln. Erinnert dieser Scheitelaufsatz mit seinen kleinen Borsten nicht auffallend an das oben beschriebene Spitzchen am Pecten des Adlerauges? Ich meine, die Analogie ist unverkennbar und man kann es wohl für möglich halten, dass auch die Funktion in beiden Fällen eine ähnliche ist. Denn eine Em- pfindung für den stärkeren oder schwächeren Anprall des Wassers wird man bei Tieren, die von den Bewegungen des Wassers so ab- hängig sind wie die Quallen, sicher annehmen dürfen. — Merk- würdig ist, dass nach Hartlaub der Scheitelaufsatz bei Steenstrupia sich ausdehnen und zusammenziehen kann, und dass er nur ım kontrahierten Zustande den bürstenartigen Besatz mit kurzen Stäb- chen zeigt. „Keinesfalls“, bemerkt Hartlaub noch, „handelt es sich bei letzteren um Nesselfäden“. Die Eigentümlichkeiten der beiden ganz verschiedenartigen Organe, der bud-like organs von Malthopsis und des Scheitelauf- satzes von Steenstrupia, finden sich im Pecten der Vögel kombiniert. Ist es also als entschieden anzusehen, dass das Pecten eine Empfindung von intraokularen Druckschwankungen vermittelt, so muss doch noch einer höchstwahrscheinlich irrtiimlichen Vorstellung vorgebeugt werden. Wir verlassen damit das Gebiet der Morpho- logie und Physiologie und betreten dasjenige der Psychologie; und wir können wohl behaupten, nur selten lässt sich auf dem (Gebiet der Psychologie der Tiere etwas so Bestimmtes und so Klares aussagen wie in diesem Falle — wenn es auch selbstver- ständlich zuletzt hypothetisch bleibt. Man darf gewiss nicht glauben, dass die Empfindung der intra- okularen Druckschwankungen den Vögeln zu Bewusstsein kommt. Der Vogel wird von diesen Druckschwankungen so wenig wissen, wie überhaupt von seinem Pecten, oder wie der Mensch von seinem Akkommodationsapparate. Diese Empfindungen gelangen jedenfalls ebensowenig „ins Oberbewusstsein“ wie bei uns Menschen die Inner- vationsmuskelempfindungen im Müller’schen Muskel, sie bleiben „unbewusst“, werden „ım Unterbewusstsein“ verarbeitet und als etwas ganz anderes „in die Außenwelt projiziert“. Mit anderen Franz, Das Pecten, der Fächer, im Auge der Vögel. 467 Worten, sie geben dem Tiere unbewussten Aufschluss über die in jedem Momente zum scharfen Erkennen von Gegenständen erforder- lichen Akkommodationsbewegungen und bringen damit die Ent- fernung der gesehenen Gegenstände zum Bewusstsein. R. Hesse unterscheidet in seinem auf der letzten Naturforscher- versammlung gehaltenen Vortrage verschiedene Arten des Sehens: Helldunkelsehen, Richtungssehen, Bewegungssehen, Entfernungs- sehen, Farbensehen. Entsprechend können wir die Sehorgane ein- teilen, und zwar einigermaßen auch diejenigen der Wirbeltiere. Bei den Selachiern bin ich (1905, 1906) zu der Ansicht gekommen, dass deren Augen weder ein hervorragendes Farbensehen, noch eine Akkommodation und damit ein Entfernungssehen ermöglichen. Sie sind in erster Linie Helldunkelaugen. Natürlich sind die verschie- denen Arten von Augen nicht scharf voneinander getrennt, sondern durch Übergänge und Kombinationen miteinander verbunden. Die Teleostieraugen sind nach Beer (1894), dessen schöne Versuche ich zu bestätigen Gelegenheit fand (1835), schon in viel höherem Grade Entfernungs- oder Akkommodationsaugen. Im Vogelauge erreicht aber die Akkommodation das höchste Maß (ein viel höheres als beim Menschen), und zahlreiche Teile des Auges (Hornhaut, Linse, intraokulare Muskulatur) zeigen dies schon bei bloß mor- phologischer Betrachtung an. Nachdem nunmehr ım Pecten ein eigenes Organ zur Empfindung der Entfernungen gefunden ist, können wir wohl sagen, das Vogelauge ist das Akkommodations- auge xat &£oyiv. Zusammenfassung. Das Pecten im Auge der Vögel ist nicht ein Derivat der Chorioidea, sondern es besteht mit Ausnahme seiner aus der Arteria ophthalmica stammenden Gefäße nur aus nervösem (Gewebe, es ist somit ein Derivat des Sehnerven. Selbst die Gefäßscheiden sind, mit Ausnahme des Endothels, nervösen Ursprungs. An seiner Ober- fläche trägt das Pecten Sinneshaare und Sinneskölbehen. Es ist also ein intraokulares Sinnesorgan, und alle seine makroskopischen wie mikroskopischen Baueigentümlichkeiten zeigen an, dass es zur Perzeption von intraokularen Druckschwankungen dient, welche beim Akkommodieren durch die Bewegungen der Linse entstehen. Dem Vogel kommt dadurch höchstwahrscheinlich die Entfernung der gesehenen Objekte schärfer zum Bewusstsein. Literatur. Beer, Th, Studien über die Akkommodation des Vogelauges. Pflüg. Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 53, 1892. : — Die Akkommodation des Fischauges. Pflüg. Arch. Bd. 58, 1894. 30% 468 Knoblauch, Die Arbeitsteilung der quergestreiften Muskulatur etc. Cirincione, S., Über den gegenwärtigen Stand der Frage hinsichtlich der Genese des Glaskörpers. Arch. f. Augenheilkunde (Knapp u. Schweigger), Wies- baden 1904. Vgl. auch Verhandl. d. anat. Ges. 17. Vers., Bd. 23, 1905, Ergänzungsheft. Franz, V., Zur Anatomie, Histologie und funktionellen Gestaltung des Selachier- auges. Jen. Zeitschr. f. Naturwiss. Bd. 40, 1905. — Beobachtungen am lebenden Selachierauge. Jen. Zeitschr. Bd. 41, 1906. — Bau des Eulenauges und Theorie des Teleskopauges. Biol. Centralbl. 1907. Hartlaub, Cl., Bericht über eine zoologische Studienreise nach Frankreich, Groß- britannien und Norwegen. Wissenschaftl. Meeresuutersuchungen, N. F., Bd.5, Abt. Helgoland, 1904. — Nordisches Plankton. v. Helmholtz, H., Uber die Akkommodation des menschlichen Auges. Graefe’s Archiv I, 1855. — Handb. d. physiol. Opt., 2, Aufl., Hamburg und Leipzig 1896. Hesse, R., Das Sehen der niederen Tiere. Erweiterte Bearbeitung eines auf der 79. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Dresden 1907 ge- haltenen Vortrags. Jena, Gustav Fischer, 1908. v. Koelliker, A., Über die Entwickelung und Bedeutung des Glaskörpers. Z. f. wiss. Zool. Bd. 76, 1904 und Verh. d. anat. Ges. 17. Vers., Bd. 23, 1903, Ergiinzungsheft. v. Lendenfeld, R., The radiating organs of the deep sea fishes. With an appendix on the structure of the bud-like organs of Malthopsis spinulosa Garman, by Emanuel Trojan. Report on an exploration etc. by the steamer „Al- batross“, in Memoirs of the Museum of Comporative Zoology at Harvard College, Vol. XXX, Nr. 2, Cambridge 1905. Leuckart, R., Organologie des Auges, in: Graefe-Saemisch, Handb. d. ges. Augen- heilkunde Bd. 2, Leipzig 1876. v. Pflugk, A., Uber die Akkommodation des Auges der Taube, nebst Bemerkungen über die Akkommodation des Affen (Maccacus cynomolgus) und des Menschen. Wiesbaden, J. F. Bergmann, 1906. Rabl, ©., Uber den Bau und die Entwicklung der Linse, II. Teil. Die Linse der Reptilien und Vögel. Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. 67, 1898. — Über den Bau und die Entwicklung der Linse, III. Teil. Die Linse der Säugetiere, Rückblick und Schluss. Daselbst Bd. 65, 1899. & Schleich, G., Das Sehvermögen der höheren Tiere. Antrittsrede bei Übernahme der Professur f. Augenheilk. zu Tübingen 1896. Zitiert nach Rab] (1899). Schoen, L’Accomodation dans l’oeil humain. Arch. d’ophthalmol. Févr. 1901. v. Szily, A, Zur Glaskérperfrage. Anat. Anz. Bd. 64, 1904. Wolfrum, Zur Entwickelung der normalen Struktur des Glaskörpers. Graefe’s Archiv f. Ophthalmol., Bd. 65, 1907. Die Arbeitsteilung der quergestreiften Muskulatur und die funktionelle Leistung der „flinken“ und „trägen“ Muskelfasern. Von Prof. Dr. med. August Knoblauch. Das Vorkommen verschieden stark gefärbter Muskeln in der Wirbeltierreihe ist längst bekannt und seit mehr als hundert Jahren von den Anatomen beschrieben worden. Krause (1) hat die topographische Verteilung der roten und blassen Skelettmuskeln des Kaninchens eingehend geschildert. Ranvier (2) hat das Ver- Knoblauch, Die Arbeitsteilung der quergestreiften Muskulatur etc. 469 dienst, darauf hingewiesen zu haben, dass rote und blasse Muskel- fasern nicht nur zu größeren Faszikeln und Muskeln vereinigt wie beim Kaninchen, sondern auch in demselben Muskel innig mit- einander gemischt vorkommen (Rochen, Zitterrochen). Er hat zu- erst die Vermutung ausgesprochen, dass beide Arten quergestreifter Muskeln in der ganzen Wirbeltierreihe zu finden sein werden, und hat damit den Anstoß zu einer langen Reihe von Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen Farbe, Struktur und Tätigkeit der quergestreiften Muskulatur gegeben. v. Grützner (3) hat Ran- viers Vermutung bestätigt, indem er bei Frosch und Kröte, bei verschiedenen Säugetieren und auch beim Menschen beide Faser- arten nachwies. Die Muskulatur der Wirbellosen neben derjenigen der Wirbeltiere haben besonders Rollett (4), Knoll (5) u. a. in den Kreis eingehender vergleichend-anatomischer Untersuchungen ein- bezogen. Gleichzeitig hat uns auch die experimentelle Physiologie zwei verschiedene Arten von quergestreiften Muskeln und Muskel- fasern kennen gelehrt, die sich durch den Ablauf der Kontraktion bei elektrischer Reizung, durch ihr chemisches Verhalten und andere Eigenschaften ausreichend voneinander unterscheiden, und die als „träge“ und ,flinke“ Fasern bezeichnet werden. Wiederum ist es Ranvier gewesen, der darauf hinwies, dass Tetanus an den roten Kaninchenmuskeln leichter zu erzielen ist als an den blassen, und dass die letzteren bei Tetanisierung schneller ermüden als die roten Muskeln. v. Grützner hat diesen Befund bestätigt und ıhn dahin ergänzt, dass die der roten Muskulatur des Kaninchens ent- sprechenden „trüben“ Fasern des Froschsartorius sich langsamer zusammenziehen, nach Nervendurchschneidung später entarten und nicht so schnell ermüden als die „hellen“ Fasern desselben Muskels, die der blassen Kaninchenmuskulatur entsprechen. Rollett, Knollu.a. haben analoge Verschiedenheiten im Ablauf der Zuckungen an der Muskulatur der niederen Tiere (Insekten, Mollusken etc.) festgestellt. v. Grützner (6) und sein Schüler Gleiss (7) haben ferner einwand- frei erwiesen, dass der blasse Muskel selbst bei geringerer Arbeits- leistung mehr Milchsäure produziert als der rote. Auch ist, wie von Rösner (8) festgestellt wurde, das Verhalten der beiden Muskel- arten bei mechanischer Erregung des Nerven und Muskels ein ver- schiedenes. Die Perkussion des Nerven führt zu einer raschen Zuckung des blassen Muskels, während der rote Muskel ruhig bleibt. Im Gegensatz hierzu ist die direkte mechanische Erregbarkeit beim blassen Muskel schwach, beim roten stark und oft bis zur Wulst- bildung gesteigert. Vergleichend-histologische Untersuchungen haben indessen er- geben, dass die „roten“ Muskelfasern keineswegs immer, d. h. bei allen Tierarten, auch „träge“, die „blassen“ Fasern keineswegs 470 Knoblauch, Die Arbeitsteilung der quergestreiften Muskulatur ete. immer auch ,flmke“ sind. Vielmehr sind die beiden physio- logisch-differenten Arten der quergestreiften Muskelfasern weniger durch ihre Farbe charakterisiert als vielmehr vorwiegend durch verschiedene Dimensionen der Faserquerschnitte, verschiedenes Verhalten des Sarkoplasmas und der Muskelsäulchen zueinander und durch verschiedene Zahl und Stellung der Muskelkerne. Und zwar sind es bei den verschiedenen Tierarten keineswegs stets die gleichen charakteristischen Merkmale, welche die flinken von den trägen Muskelfasern unterscheiden. Bald treten vielmehr besonders auffällige Verschiedenheiten ın der Anordnung des Sarkoplasmas und der Muskelsäulchen und zugleich in der verschiedenen Stellung der Kerne hervor — Hydrophilus und Dytiscus (Rollett) —; bald nur Unterschiede in der Dimension der Faserquerschnitte und in der reichlicheren oder spärlicheren Einlagerung feiner Körnchen in das Sarkoplasma — Frosch und Kröte, viele Warmblüter (v. Grützner), Pecten (Knoll) —; bald Kalıberunterschiede der Muskelfasern und Verschiedenheiten hinsichtlich der Zahl und Stellung der Muskel- kerne -—— Kaninchen (Ranvier), Mensch (Arnold [9]). So ist esunmöglich, für die flinken und trägen Muskel- fasern präzise und einheitliche, für die sämtlichen Klassen und Arten der Wirbellosen und der Wirbeltiere zu- treffende histologische Merkmale anzugeben. Im wesent- lichen charakterisiert sich indessen — wenigstens in der Wirbel- tierreihe — die träge Muskulatur durch feineres Kaliber der Faser, reichliche Einlagerung feiner Körnchen ın das Sarkoplasma und dadurch bedingte deutliche Längsstreifung auf dem Längsschnitt und Trübung auf dem Querschnitt der Muskelfasern, häufig auch durch eine größere Zahl nicht ausschließlich randständiger, sondern auch innenständiger Muskelkerne — und, wenn sie in größeren Bündeln oder Muskeln vereinigt ist, durch die rötere Farbe (trübe, protoplasmareiche Muskelfaser, roter Muskel). Andererseits ıst die flinke Muskelfaser charakterisiert durch ein dickeres Kaliber, spärliche Einlagerung von Körnchen in das Sarkoplasma, infolge- dessen besonders deutliche Querstreifung auf dem Längsschnitt ohne wesentliche Trübung auf dem Querschnitt, häufig auch durch die geringe Zahl vorwiegend randständiger, dem Sarkolemm unmittelbar anliegender Kerne — und wenn zu größeren Faszikeln oder Muskeln vereinigt, durch die blassere Farbe (helle, protoplasmaarme Muskel- faser, heller, blasser, weißer Muskel). | Zur Beurteilung der funktionellen Leistung der flinken und trägen Muskelfasern empfiehlt es sich, eine Bewegung zu analysieren, die durch einen einzigen Muskel ausgeführt wird, welcher beide Faserarten ın getrennten, mit dem bloßen Auge er- kennbaren Bündeln enthält. Eine solche Bewegung ist das Schließen der Schalen bei bestimmten Muschelarten, die nur einen Schließ- Knoblauch, Die Arbeitsteilung der quergestreiften Muskulatur ete. ATA muskel besitzen (Monomyarier). Ein besonders geeignetes Objekt ist der Schließmuskel von Pecten varius L., einer Kammuschel aus dem Mittelmeere. Der Schließmuskel dieses Tieres setzt sich aus zwei scharf gesonderten Teilen zusammen, von denen der eine für das bloße Auge eine gelbliche oder gelblichgraue, der andere eine weiße Farbe hat. Der gelblichgraue Anteil des Muskels enthält, wie die histologischen Untersuchungen von Ihering’s (10) und Knoll’s (11) erwiesen haben, vorwiegend quergestreifte Fasern, während der weiße Anteil nur eine durch der Länge nach ange- reihte, stärker lichtbrechende Teilchen bedingte Längsstreifung er- kennen lässt. Die Fasern des gelblichgrauen Anteils des Muskels tragen also die histologischen Charaktere der flinken, die Fasern des weißen Anteils diejenigen der trägen Muskulatur. In Überein- stimmung hiermit stehen die Ergebnisse“ der elektrischen Reizung, die Knoll in exaktester Weise ausgeführt hat. Isolierte Reizung des gelblichgrauen Anteils des Muskels — nach Durchschneidung des weißen Anteils — durch einzelne Schließungs- und Öffnungs- schläge des induzierten Stromes führt zu einer deutlichen Kon- traktion des Muskels, wobei die aufgezeichnete Zuckungskurve bei jeder Reizung einen steilen Anstieg und Abfall erkennen lässt. Bei rascher Folge von Stromschluss und Öffnung nehmen die Zuckungen an Intensität bald ab, und manchmal tritt nach solchen Reizungen eine sehr starke Erschlaffung des Muskels über das ursprüngliche Maß hinaus auf. Bei längerer Tetanisierung erfolgt in der Regel das Absinken der Kurve noch während der Fortdauer des Reizes. Es zeigt sich also, dass der gelblichgraue Anteil des Schließmuskels sowohl bei Reizung mit Einzelschlägen als auch namentlich beı tetanisierenden Reizen sehr schnell ermüdet. Am weißen Anteil des Muskels dagegen — nach Durch- schneidung des gelblichgrauen Anteils — erweisen sich Einzel- schläge ganz wirkungslos. Die Verwendung starker tetanisierender Ströme führt dagegen zu einer sehr trägen, aber auch sehr lange, sogar über die Reizung hinaus anhaltenden und nur ganz allmäh- lich nachlassenden Zusammenziehung des Muskels. Histologisch und bei faradischer Reizung erweist sich also der gelblichgraue Anteil des Schließmuskels bei Pecten varius L. als ein flinker Muskel, der weiße Anteil als ein träger Muskel. Zu welchem Bewegungseffekt führt nun die Kon- traktion des ganzen Muskels, zu welchem die isolierte Kontraktion eines jeden seiner beiden Anteile? Das eigentümliche Schwimmen oder Springen von Pecten ge- hört zu den fesselndsten Beobachtungen, zu denen sich dem Be- schauer der Seewasseraquarien Gelegenheit bietet. Plötzlich erhebt sich eine der am Boden ruhenden Muscheln, um durch rasch auf- einanderfolgende Schließungen der Schalen sich in unberechenbaren AWD Knoblauch, Die Arbeitsteilung der quergestreiften Muskulatur ete. Zickzacklinien durch das Wasser zu bewegen und dann nach mehreren Sekunden wieder auf dem Boden des Aquariums zur Ruhe zu gelangen. Droht dem Tiere irgendeine Gefahr, so schließt es bei intaktem Muskel seine Schalen blitzschnell und hält sie lange Zeit anhaltend und fest geschlossen. Nach Durchschneidung des weißen Anteils — isolierte Wirkung des gelblichgrauen Anteils (flınke Fasern) — schließt die Muschel auf äußere Reize ıhre Schalen rasch, aber nur für wenige Minuten; nach Durchschneidung des gelblichgrauen Anteils — isolierte Wir- kung des weißen Anteils (träge Fasern) — schließt sie auf Reize die Schalen nur sehr wenig und langsam, hält sie aber dann in der gewonnenen Stellung sehr fest (v. Ihering)!). Die flinke Muskulatur leitet also die Bewegung ein; die träge Muskulatur setzt die eingeleitete Bewegung ausdauernd fort. Diese funktionelle Verschiedenheit der beiden Faserarten darf wohl auch für die Muskulatur der höheren Tiere und des Menschen angenommen werden, bei denen flinke und träge Fasern häufig miteinander vermengt in demselben Muskel verlaufen. Es zeigt sich also auch an der quergestreiften Muskulatur, deren funktionelle Leistung seither als eine einheitliche aufgefasst worden ist, das große biologische Grundgesetz der Arbeitsteilung. Zu einer ähnlichen Auffassung ist offenbar Ranvier gekommen, indem er die hellen Muskeln als die Hauptmotoren, die roten als die Regulatoren der Bewegung in der Gleichgewichtslage betrachtet, während Ernst Meyer(13) und Krause die weißen Muskeln des Kaninchens für entartete Muskeln infolge von Domestikation (Züch- tung und mangelhafte Bewegung) erklärt haben. Nahe kommt unserer Auffassung die Ansicht Knoll’s, dass Muskeln, die an- dauernde Arbeitsleistungen zu verrichten haben, vorwiegend trübe, sarkoplasmareiche Fasern enthalten. Wenn es sich bei der Differenzierung der quergestreiften Muskulatur in flinke und träge Fasern um das Gesetz der Arbeits- teilung handelt, muss eine vergleichend-biologische Betrach- tung unsere Anschauungen bestätigen. In der Tat lässt sie uns 1) v. Ihering zieht aus seinen Beobachtungen den Schluss: Die Schließ- muskeln der Muscheln erleiden vielfach eine Differenzierung in zwei morphologisch und physiologisch verschiedene Teile, von denen der eine als Antagonist des Schalen- ligaments den Schluss der Schalen, der andere ihre plötzliche, rasche Schließung bewirkt. Schon vorher hatte G. Schwalbe (12) auf Grund seiner histologischen Unter- suchungen des Schließmuskels der Auster (Ostrea edulis L.), der entsprechende Struktureigentümlichkeiten zeigt, die Vermutung ausgesprochen, „dass die doppelt schräggestreiften Fasern der Auster mehr für plötzlich und energisch auszuführende 3ewegungen eingerichtet sind, während die fibrillären Fasern vielleicht den festen Schluss besorgen, der hier nur durch andauernde Kontraktion zu erzielen ist“. Knoblauch, Die Arbeitsteilung der quergestreiften Muskulatur ete. 413 erkennen, dass die Art der Ortsbewegung in der Wirbel- tierreihe dem relativen Mengenverhältnis der flinken (hellen) und trägen (roten) Fasern der Skelettmuskulatur entspricht. Bei gleichem morphologischem Bau der Extremitäten- muskeln sind einzelne Froscharten, deren Muskulatur vorwiegend helle Fasern enthält, befähigt, plötzlich aufzuspringen und sich springend fortzubewegen (Raniden, besonders Rana agilis Tho.), während die Kröte (Bufo) mit vorwiegend trüber Muskulatur lang- sam und träge, aber mit großer Ausdauer dahinkriecht. Auf ähn- liche Unterschiede in dem histologischen Aufbau der Skelett- muskulatur aus flinken und trägen Fasern mag die verschiedene Art der Fortbewegung bei unserem einheimischen Feuersalamander (Salamandra maculosa Laur.) und dem Salamander des Kaukasus (S. caucasia Waga) zurückzuführen sein. Unser Feuersalamander bewegt sich bekanntlich bei Fluchtversuchen äußerst plump und schwerfällig fort; die Art der Bewegung des Kaukasussalamanders ist dagegen ein eidechsenartiges Huschen unter mannigfachen Krüm- mungen und Wendungen des schlanken Körpers und schlängelnden Bewegungen des Schwanzes. Allein diese eidechsenartige Behendig- keit des Tieres erlahmt sehr bald, und nun wird seine Fortbewegung ‚zu dem schwerfälligen, unbeholfenen Kriechen unseres Feuersala- manders (14). Die Schenkelmuskulatur der Hühnervögel (Meleagris, Phasianus, Gallus), deren schwerer, starker Körper mit kräftigen Beinen mehr dem Leben auf der Erde als dem Fluge angepasst ist, ist vor- wiegend rot, während das Brustfleisch des Truthahns und Haus- huhns, die gelegentlich einmal rasch auffliegen, um sich alsbald wieder niederzulassen, weiß ist. Im Gegensatz hierzu ist das Brust- fleisch der ausdauernd fliegenden Taube rot, des Albatros (Dio- medea), der über 3500 km weit aufs Meer hinauszufliegen imstande ist, wie mir Südpolarfahrer sagen, dunkelrot. Wie verschieden ist das Verhalten des Kalbchens und der Kuh, des Lämmcehens und des Schafes auf der Weide! Während die Kuh — mit ihrem roten Fleisch — in bedächtigem Schritt ständig fressend langsam dahinschreitet und nur selten eine leb- haftere Bewegung macht, führt das Kälbehen — mit seinem weißen Fleisch — immer wieder seine schnellen, anmutigen Sprünge aus, aber stets nur kurz, um alsbald wieder bedächtig hinter seiner Mutter herzulaufen. Und wie tollt das Lämmchen auf der Weide; wie schnellt es im Sprung in die Höhe, während das Schaf nur durch den anspringenden Hund zu einem schnelleren Lauf anzu- treiben ist?). 2) Daneben sind natürlich für die motorische Unruhe der jungen Tiere auch psychische Momente bestimmend, indem die meisten Sinneseindrücke in Bewegungs- impulse umgesetzt werden, denen das jugendliche Individuum sofort wahllos nachgibt- 474 Knoblauch, Die Arbeitsteilung der quergestreiften Muskulatur ete. In bester Übereinstimmung mit der Anschauung, dass nur die träge (rote) Muskulatur zu ausdauernder Tätigkeit fähig ist, steht die Tatsache, dass der am ausdauernsten arbeitende Muskel, das Herz, das von dem Augenblicke der ersten Kontraktion an bis zum Tode in ständiger Tätigkeit ist, in der ganzen Tierreihe — bei den Wirbellosen und Wirbeltieren — aus protoplasmareichen (trägen) Muskelfasern aufgebaut ist. Nächst dem Herzen sind es — bei den Säugetieren — die Atmungsmuskulatur und die Augen- muskeln, die in ständiger Tätigkeit sind (die Augenmuskeln wenig- stens im wachen Zustande) und in weitaus überwiegender Zahl rote (träge) Fasern enthalten. Ähnlich ist es mit der Kau- und Schling- muskulatur der Säugetiere; und hier ist es geradezu charakteristisch, dass bei den hastig kauenden und schlingenden Raubtieren die Kaumuskulatur schon für das bloße Auge wesentlich heller ist als bei den Wiederkäuern. In fernerer Übereinstimmung mit unserer Auffassung der funktionellen Bedeutung der beiden Arten quergestreifter Muskel- fasern stehen weitere anatomische Befunde und längst fest- gestellte Tatsachen der Physiologie. Entsprechend ihrer funk- tionellen Aufgabe, Bewegungen ausdauernd auszuführen, ist in der roten Muskulatur die Blutversorgung anscheinend ausgiebiger und der Sauerstoffverbrauch größer als in der blassen. Ranvier (15) hat an Kaninchen, deren Gefäßsystem mit Berlinerblau injiziert war, die Blutversorgung der blassen (M. adductor magnus) und roten Muskulatur (M. semitendinosus) studiert und ist dabei zu interessanten Ergebnissen gelangt. Die Gefäße der roten Muskeln sind in Form von Maschen angeordnet, die beinahe ebenso lang als breit sind. Die in der Längsrichtung der Maschen verlaufenden GefaBzweige haben eigenartige Erweiterungen, die sich auch an den Stellen des Zusammenfließens einzelner Kapillaren und an den kleinen Venen befinden. Die Blutgefäße der blassen Muskeln sind dagegen in Form länglicher, rechtwinklicher Maschen angeordnet, deren in der Länge verlaufende Zweige an den Rändern der Muskel- bündel liegen, während die queren kreisförmige Anastomosen bilden. Die ausgiebigere Blutversorgung der roten Muskeln dient offenbar dem erhöhten Sauerstoffbedürfnis, das nach Ehrlich’s Unter- suchungen in den einzelnen Organen des tierischen Körpers sehr verschieden ist. In seiner epochemachenden Arbeit „Über das Sauerstoffbedürfnis des Organismus“ (1885), die am 10. März 1887 von der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft mit dem Tiedemannpreis ausgezeichnet worden ist, hat Ehrlich darauf hingewiesen, dass die verschiedenen Organe des Tierkörpers in ver- schieden starkem Maße das dem lebenden Körper eingeführte Ali- zarınblau S zu Alizarıinweiß reduzieren. Auch die Muskulatur zeigt diese verschieden starke Reduktionsfähigkeit, indem einzelne Muskeln Knoblauch, Die Arbeitsteilung der quergestreiften Muskulatur ete. 475 (die stark reduzierenden) ihre Eigenfarbe behalten und andere (die nicht, resp. weniger stark reduzierenden) unmittelbar nach dem unter Krämpfen erfolgenden Tode des vergifteten Versuchstieres blau erscheinen. Ehrlich hat aus seiner Beobachtung geschlossen, dass die stark reduzierenden Muskeln (z. B. die glatte Muskulatur des Darms) infolge ihrer erhöhten funktionellen Inanspruchnahme die sauerstoffbedürftigeren sind. Bei einem Kontrollversuch hat sich ergeben, dass beim Kaninchen die roten Muskeln rot bleiben (Mm. semitendinosus, soleus, multifidus, masseter etc.), die blassen dagegen stark bläulich gefärbt waren (Mm. rectus femoris, adductor magnus, gastrocnemius etc... Es zeigt sich also auch hier ein Unterschied ım Verhalten der roten und blassen Muskulatur, der in der verschieden großen Erschöpfbarkeit der beiden Faserarten seine Erklärung findet. Das Versuchstier geht unter heftigen klo- nischen und tonischen Krämpfen (Strecktetanus) zugrunde. Schließ- lich ist die ausdauernde rote Muskulatur allein noch tätig und dem- gemäß reduktionsfähig, während die viel rascher ermüdende blasse Muskulatur längst gänzlich erschöpft ist und damit’ihre Reduktions- fähigkeit verloren hat. So behält die rote Muskulatur bis zum Tode des Tieres ihre Eigenfarbe; die blasse färbt sich dagegen bläulich. Auf der geringeren Reduktionsfähigkeit der hellen Fasern be- ruht offenbar auch die von v. Grützner und Gleiss erwiesene Tatsache, dass im blassen Muskel selbst bei geringerer Ar- beitsleistung mehr Milchsäure (C,H,O,) als im roten Muskel nachzuweisen ist. Ein Teil der im tätigen Muskel ent- stehenden Milchsäure wird wahrscheinlich im Muskel selbst zu Kohlensäure und Wasser weiter oxydiert (C,H,O, + 60 = 300, —5H,0), wobei der zur Verbrennung notwendige Sauerstoff aus dem den Muskel durchströmenden Blute stammt. Ist nun das Sauerstoffbedürfnis und die Fähigkeit, aus dem Blute Sauerstoff zu entnehmen, in der roten Muskulatur größer als in der blassen, wie es nach der Alizarinblau S-Vergiftung des Versuchstieres den Anschein hat, so wird im tätigen roten Muskel ein größerer Teil der gebildeten Milchsäure zu Kohlensäure und Wasser verbrannt werden und somit dem Nachweis entgehen als ım tätigen blassen Muskel. Es wird also im blassen Muskel die Milchsäurebildung anscheinend eine größere sein als im roten Muskel. Die Auffassung, dass es die Aufgabe der flinken Muskulatur ist, lediglich die Bewegung einzuleiten, während die träge Muskulatur die eingeleitete Bewegung ausdauernd fortsetzt, führt notgedrungen zu der Annahme einer weiten Verbreitung der flinken Fasern in der gesamten quergestreiften Muskulatur. Wenn zur Einleitung einer Bewegung die Anwesenheit flinker Fasern uner- lässlich ist, muss jeder Muskel, der isoliert eine bestimmte Be- wegung ausführt, aus beiden (flinken und trägen) Faserarten auf- 476 Knoblauch, Die Arbeitsteilung der quergestreiften Muskulatur etc. gebaut sein (Schließmuskel von Pecten varius L.), die entweder in getrennten Bündeln oder innig miteinander vermengt verlaufen können. Hingegen kann von zwei Muskeln, die der Ausführung derselben Bewegung dienen (Mm. gastrocnemius und soleus des Kaninchens), der eine aus flinken, der andere aus trägen Fasern bestehen. So wird, je nachdem ein Muskel isoliert zur Ausführung einer Bewegung in Tätigkeit tritt oder mehrere Muskeln resp. Muskelgruppen in gleichem Sinn zusammenwirken, der histologische Aufbau der einzelnen Muskeln aus flinken und trägen Fasern ein sehr verschiedener sein. Die Annahme, dass zur Einleitung der allerersten Bewegung das Vorhandensein heller Fasern unerlässlich ist, und das tatsäch- liche Vorherrschen der hellen Fasern in der Skelettmuskulatur bei jugendlichen Individuen einer Art, bei deren erwachsenen Indi- viduen die trüben Fasern überwiegen, macht es in hohem Maße wahrscheinlich, dass alle trüben Fasern der quergestreiften Musku- latur sich aus hellen Fasern entwickeln, also gewissermaßen durch das „helle Stadium“ hindurchgehen. Diese supponierte Umwand- lung der hellen in trübe Fasern könnte entweder aus inneren Differenzierungsursachen in der kontraktilen Substanz geschehen („Selbstdifferenzierung* Roux), also völlig unabhängig von der funktionellen Inanspruchnahme des betreffenden Muskels und von seiner Leistung, die erst durch die erfolgte Differenzierung ermög- licht werden würde, oder — was wahrscheinlicher ist — es könnte als Anpassung an die veränderte Lebensweise, zu der das heran- wachsende Individuum im Kampf ums Dasein gezwungen ist, und als Folge der Differenzierung der Funktion, der Dauerarbeit, eine „funktionelle Differenzierung“ der quergestreiften Muskulatur ein- treten und die Umwandlung der hellen in trübe Muskelfasern er- folgen. Kalb und Lamm sind auffällige Beispiele für das Vorhanden- sein einer überwiegenden Zahl flinker Fasern im jugendlichen Alter: Es muss weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben, festzustellen, wie sich im späteren Leben des Individuums die Diffe- renzierung der beiden Faserarten des Muskels der ihm gestellten funktionellen Aufgabe anpasst und in welchem Stadium der onto- genetischen Entwickelung träge Muskelfasern an die Stelle der flinken treten. So eröffnet unsere Anschauung von der Arbeitsteilung der quergestreiften Muskulatur neue Ausblicke auf ein weites, bisher noch wenig beachtetes Gebiet vergleichend- anatomischer und entwickelungsgeschichtlicher For- schung. 118% 14. Knoblauch, Die Arbeitsteilung der quergestreiften Muskulatur ete. 477 Literaturverzeichnis. . Krause, Die Anatomie des Kaninchens. Leipzig 1864. . Ranvier, Des quelques faits relatifs 4 Vhistologie et ä la physiologie des mus- cles striés. Archives de physiologie normale et pathologique. 1874, 8. 1 und Lecons d’anatomie générale sur le systeme musculaire. Paris 1880. v. Grützner, Uber physiologische Verschiedenheiten der Skelettmuskulatur. Breslauer ärztliche Zeitschr. 1883, S. 189. — Zur Physiologie und Histo- logie der Skelettmuskeln. Ebenda. S. 257. — Zur Anatomie und Physiologie der quergestreiften Muskeln. Recueil zoologique suisse. Tome I, Nr. 4. — Zur Muskelphysiologie. Breslauer ärztliche Zeitschrift 1886, Nr. 1 u. a. . Rollett, Untersuchungen zur näheren Kenntnis der quergestreiften Muskel- fasern. Sitzungsber. der math.-naturwissenschaftl. Kl. d. Kgl. Akademie der Wissenschaften. Wien, Bd. 24, Abt. III, 1857, S. 291. — Untersuchungen über den Bau der quergestreiften Muskeln. Denkschriften der math.-natur- wissenschaftl. Kl. d. Kgl. Akademie der Wissenschaften. Wien, Bd. 49, 1885, S. 81. — Dasselbe. II. Teil. Ebenda. Bd. 51, 1886, ‚> 48. — Bei- träge zur Physiologie der Muskeln. Ebenda. Bd. 53, 1887, 8. 193. — Uber die Flossenmuskeln des Seepferdchens. Schultze’s Arch. f. or Anat. Bd. 32, 1888, S. 233. — Anatomische und physiologische Bemerkungen über die Muskeln der Fledermäuse. Sitzangsber. der math.-naturwissenschaftl. Kl. d. Kgl. Akademie der Wissenschaften. Wien, Bd.98, Abt. III, 1889, S. 169. . Knoll, Über helle und trübe, weiße us rote quergestreifte Muskulatur. Sitzungs- ber. der math. -naturwissenschaftl. . d. Kgl. Akademie der Wissenschaften. Wien, Bd. 98, Abt. III, 1889, S. ae — Uber protoplasmaarme und proto- plasmareiche Muskulatur. Denkschriften der math.-naturwissenschaftl. Kl. d. Kgl. Akademie der Wissenschaften. Wien, Bd. 58, 1891, S. 633. v. Grützner, Beiträge zur Physiologie des quergestreiften Muskels. Tageblatt der 60. Vers. Deutsch. Naturf. u. Ärzte. Wiesbaden 1887, 8. 269 und Biol. Centralbl., Bd. 7, 1887/88, S. 733. . Gleiss, Ein Beitrag zur Muskelchemie. Pflüger’s Arch. Bd. 41, 1887, S. 69. . Rösner, Über die Erregbarkeit verschiedenartiger quergestreifter Muskeln. Pflüger’s Arch. Bd. 81, 1900, S. 105. . Arnold, Über das Vorkommen „heller‘‘ Muskeln beim Menschen. Festschr. zur Feier des 500jährigen Bestehens der Ruperto-Carola, dargebracht von dem Naturh.-med. Verein zu Heidelberg. 1886, 8. 1. . v. Ihering, Über Anomia, nebst Bemerkungen zur vergleichenden Anatomie bei Muscheln. Zeitschr. f. wissensch. Zool. Bd. 30, Suppl. 1878, S. 13. . Knoll, Zur Lehre von den Struktur- und Zuckungsverschiedenheiten der Muskelfasern. Sitzungsber. d. math. “paeee ccna Kl. d. Kgl. Akademie der Wissenschaften. Wien, Bd. 101, Abt. III, 1892, S. 481. . Schwalbe, Uber den feineren Bau der Muskelfasern nal Tiere. Schultz e’s Arch. f. mikrosk. Anat. Bd. 5, 1869, 8. 205. E. Meyer, Über rote und blasse quergestreifte Muskeln. Du Bois- Rey- mond’s Arch. f. Anat. u. Physiol. 1875, S. 217. Knoblauch, Der Kaukasische Feuersalamander, Salamandra caucasia (W aga). Bericht der Senckenberg. Naturforsch. Gesellsch. Frankfurt a./M. 1905, S. 89 und Mitteilungen des Kaukasischen Museums. Tiflis, Bd. 2, 1905, 8. 25 (in russischer Sprache). . Ranvier, Note sur les vaisseaux sanguins et la circulation dans les muscles rouges. Archives de physiologie normale et pathologique. 1874, S. 446, PISPXIX Fig. 9. 478 Brandt, Ein neuer Besuch des Faust- oder Steppenhuhns ete. Ein neuer Besuch des Faust- oder Steppenhuhns (Syrrhaptes paradoxus) in Europa. Notiz von Prof. Dr. Alexander Brandt. Heutigen Tages brachte mir einer meiner früheren Zuhörer, der Kommunalarzt des Kreises Lebedin (Gouvernement Charkow), T. S. Mikucki, ein frisches weibliches Exemplar des in der Auf- schrift genannten Vogels zur Bestimmung. Dasselbe wurde in der genannten Gegend unweit des Dorfes Tolstoé am 4. Mai n. St. tot unter einer Telephonleitung in der Steppe gefunden. Das betreffende Exemplar möchte zu einem großen Schwarm gehört haben, dessen Stärke die Bauern auf etwa 200 Stück schätzten. Im Verlauf von vier Tagen, vom 4. bis 7. Mai, hatte unser Ge- währsmann selbst Gelegenheit zwei Schwärme zu beobachten, einen von etwa 20, den anderen von etwa 30 Stück. Sie huschten in Wellenlinien rasch über die Steppe und machten den Eindruck, als wären sie eben aufgescheucht worden. Auch Bekannte des Herrn Mikucki hatten den auch ihnen ganz fremden Vogel beobachtet, einer auch zwei Exemplare erhalten, welche sich gleichfalls an einer Drahtleitung zu Tode gestoßen hatten. Weitere Nachrichten über das neueste Erscheinen des zentralasiatischen Steppenbewohners diesseits des Kaspimeeres und Urals werden vermutlich nicht lange auf sich warten lassen. Gleichzeitig werden wir wohl abermals mit innigem Bedauern über die vandalıstische Vernichtung der seltenen Gäste vernehmen müssen. Möchten die betreffenden Be- hörden und Vereine für diesesmal energisch und zeitig einschreiten! In Russland sind die Aussichten hierzu allerdings mehr als schwach, doch lässt sich vermuten, dass die unbekannte Ursache, welche den Drang der merkwürdigen asiatischen Vögel nach Westen bedingt, sich nicht auf den kleineren Zug in hiesiger Gegend beschränkt, sondern eine Massenemigration bewirken könnte, welche sich über das westliche Europa bis zum Atlantischen Ozean ausdehnen könnte. So wars bekanntlich in den sechziger Jahren, als zum erstenmal, so weit die Urkunden reichen, Syrrhaptes paradoxus mm Europa auftrat. Denken wır an die Einwanderung der schwarzen Ratte aus Asıen ım Mittelalter und der braunen Ratte ım 18. Jahrhundert, an die Völkerwanderungen, welche einem guten Teil der Bewohner von Europa den Ursprung gaben, erinnern wir uns ferner der An- nahme, dass die gesamte europäische Fauna asiatischen Ursprungs sein könnte, so muss es im höchsten Grade wünschenswert er- scheinen die Einbürgerung eines neuen Ankömmlings in Europa ungestört zu beobachten. Charkow, den 8. Mai 1908. Svante Arrhenius: Das Werden der Welten. (Deutsch von L. Bamberger.) Akad. Verlagsgesellschaft. Leipzig 1908). In 8 Kapiteln behandelt Arrhenius den Vulkanismus, die Himmelskérper als Wohnstätten lebender Wesen, die Strahlung Arrhenius, Das Werden der Welten. 479 der Sonne, die Polarlichter, die erdmagnetischen Erscheinungen, die Kosmogenie und die Ausbreitung des Lebens durch den Welten- raum. Fast in jedem Kapitel des gemeinverständlich gehaltenen Werkchens findet der Leser eine Fülle geistreichster Ideen, origi- nelle Betrachtungsen und scharfsinnige Spekulationen, wie sie sich wohl selten auf so geringem Raume vereinigt finden. In aller Kürze sei einiges skizziert: Die Theorie der Vulkane wird auf physikalisch-chemischer Grundlage aufgebaut: Es wird gezeigt, dass das feurig-flüssige Magma eine Lösung mit dem zu ihm ge- langenden Wasserdampf bildet, dass es so unter Wasserbindung in den Rissen der Erdoberfläche, durch die das Wasser zu ihm ge- langte, emporsteigt, hierbei in kältere Schichten gelangt und dadurch sein chemisch gebundenes Wasser wieder abgibt. Dadurch muss in höheren Schichten geringeren Druckes der Druck im Magma mächtig anwachsen, indem der frei werdende Wasserdampf an Menge zunimmt, je höher das Magma steigt. So erfolgt schließ- lich der Durchbruch, und der Wasserdampf reisst die fein ver- teilte Lava mit, die als ein Schlamm- und Aschenregen die be- kannten Wirkungen ausübt. Es folgt alsdann die Diskussion der Ergebnisse der modernen Erdbebenforschung: Von jedem Erd- bebenzentrum gehen zwei Wellen aus. Eine Welle geht durch das Erdinnere auf dem kürzesten Wege mit etwa 10 km in der Sekunde und eine, die stärkere Welle, durch die Erdrinde mit etwa 3 kin Geschwindigkeit. Diese empirischen Resultate gestatten weit- gehende Schlüsse auf die Natur des Inneren unseres Planeten. Im 2. Kapitel folgen Betrachtungen von mehr biologischem Inter- esse. Die Kohlensäure der Luft wirkt wie das Fenster eines Treib- hauses: Sıe lässt die Sonnenstrahlen durch, aber die von der Erde zu- rückstrahlende Wärme lässt sie nicht durch. Daraus folgt, dass eine Anreicherung der Atmosphäre mit Kohlensäure einen mächtigen klimatischen Einfluss haben muss. Ein epochenweise auftretender Vulkanismus mit gesteigerter Kohlensäureerzeugung kann eine neue Kohlenzeit hervorrufen, wie sie sıe s. Zt. höchstwahrscheinlich hervor- gerufen hat. Dann folgt eine sinnreich erdachte Kosmogenie. Hier wird den Nebelflecken eine Rolle von größter ökonomischer Bedeu- tung für die Existenz der Welt zugeteilt. Alle Sonnen strahlen nicht nur elektromagnetische, sondern auch materielle Strahlung vermöge des Strahlungsdruckes ın den Weltenraum. So werden Austausche zwischen fernen Welten möglich, die materieller Natur sind. Die Hauptfänger dieser materiellen Teile sind die mächtig ausgedehnten Nebelflecken. Diese speichern die Energie der durch den Strahlungs- druck zugeführten Teile auf, bis sich in den Nebeln größere Konden- sationskerne bilden, die als Gravitationszentren wirken, den Nebel schließlich auf die Kerne zusammenziehen und so einen Vorgang ein- leiten, der unter Freiwerden aller aufgespeicherten, potentiellen Energie des Nebels vor sich gehen muss, der also bewirkt, dass die Volumenverringerung des Gasnebels unter solcher Selbsterwär- mung erfolgt, dass aus dem ursprünglich nahe dem absoluten Null- punkte befindlichen Gase ein Gasball von enormer Temperatur, 480 Müller-Pouillet, Lehrbuch der Physik. eine Sonne, entsteht. Dann ist die Strahlung, die mit der vierten Potenz der Temperatur zunimmt, enorm gewachsen. Weiterhin er- kalten die Sonnen; es nimmt die Energie des Systems schnell ab, bis eine starre Kruste sich bildet, bis schließlich die Bedingungen für organisches Leben auftreten. Bei weiterem Erkalten der Systeme verschwinden die Lebensbedingungen wieder. Der Himmelskörper ist tot und ausgestorben. Erst ein Zusammenstoß führt ihn wieder in den Ausgangszustand, den Nebel, zurück. Die Einführung des Strahlungsdruckes in die Kosmogenie ermöglicht hier einen Kreis- prozess, der den Clausius’schen „Wärmetod* in gewisser Hinsicht umgeht. Auch die Hypothese der Panspermie wird durch ihn möglich: Denn auch kleine Lebewesen folgen dem Strahlungsdruck und da sie zum Teil nach neueren Untersuchungen Temperaturen über- stehen, die von der Größenordnung des absoluten Nullpunktes sind, so werden die Sporen der Lebewesen von belebten Planeten, der Gravitation entgegen, in den Weltenraum getragen. Sie werden sich dort entwickeln, wenn sie auf Himmelskörper stoßen, deren physikalischer Zustand eine Fortentwickelung möglich macht. Die geniale Kombinationsgabe des berühmten physikalischen Chemikers hat hier auf einem anderem Grenzgebiet der Physik von neuem theoretische Gesichtspunkte von tiefster erkenntnistheore- tischer Bedeutung geschaffen. Prof. Erich Marx. Müller-Pouillet’s Lehrbuch der Physik. 10. Aufl. Herausgegeben von L. Pfaundler. — 2. Bd., 1. Abt. Die Lehre von der strahlenden Energie (Optik). Von Otto Lummer. Gr. 8, XXII u. 880 8. 8 (z. T. farbige) Tafeln. Braunschweig, Vieweg & Sohn, 1907. - Der 2. Bd. des bekannten, nun in 10. Auflage erscheinenden Lehrbuchs (vgl. Biol. Centralbl. 1906, S. 192) ist wiederum von Herrn Lummer neu bearbeitet worden. Neben der Elektrizitäts- lehre hat die Optik in den letzten Jahren eine vollständige Um- formung erfahren. Bei der Wichtigkeit, welche gerade diese beiden Kapitel der Physik für den Biologen haben, wird eine Darstellung aus der Feder eines so bedeutenden Gelehrten, wie der Verfasser dieses Bandes anerkanntermaßen ist, doppelt willkommen sein. Alle Vorzüge des längst berühmten Buches sind in diesem Bande ver- einigt; klare Darstellung, Verständlichkeit ohne Voraussetzung vieler Vorkenntnisse, große Vollständigkeit, genaue Beschreibung aller wichtigen Apparate, unterstützt durch vorzügliche Abbildungen (der Band enthält außer den Tafeln 754 Abbildungen im Text), klare Entwickelung der Untersuchungsmethoden sowie der Theorien. Es kann daher allen denen, die sich in die Lehre vom Licht einar- beiten wollen, wie denen, welche über eine bestimmte Frage ge- nauere Aufschlüsse suchen, aufs wärmste empfohlen werden. J. Rosenthal. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Soeben erschien : Dr. Wesenberg-Lund Plankton investigations of the Danish lakes Vol. II. General part: The baltie Freshwaterplankton its origin and Variation Text and Appendix with 46 tables . . . . 2... 70 M Vol. I. Special part erschien im Jahre 1904 . . . 50 4% Published by the aid of the Carlsherg-fund Gyldendalske Boghandel. Nordisk Forlag Kopenhagen. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Vorlesungen fiir Schiffsarzte der Handelsmarine über Schiffshygiene, Schiffs- nnd Tropenkrankheiten — yon Med.-Rat Prof. Dr. B. Nocht, Chefarzt des Seemannskrankenhauses und Leiter des Institutes für Schiffs- und Tropenkrankheiten in Hamburg. 34 Abbildungen und 3 Tafeln. M. 8.40, geb. M. 9.40. Das Berufsgeheimnis des Arztes von Dr. S. Plaezek, Berlin. Zweite, vollständig umgearbeitete Auflage. Moe Hierzu ein Prospekt der Verlagsbuchhandlung Gebrüder Borntraeger in Berlin, betr.: „Zeitschrift für induktive Abstammungs- und Vererbungs- lehre“. Herausgegeben von C. Correns (Leipzig), V. Haecker (Stuttgart), G. Steinmann pou R. v. Dim meen), Be von E. Baur (Berlin). K. B. Hef- und Univ. Bucharuckanek von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Centralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel. und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie Se | | in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Fostanstalten. XXVIII. Bd. 1. August 1908. J’ Leipzig. Verlag von Georg Thieme. Rabensteinplatz 2. Ne 15. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Die Simulation von Krankheiten und ihre Beurteilung. Herausgegeben und bearbeitet von oo Geheimrat Dr. L. Becker, Berlin. M. 8.—, geb. M. 9.—. Vorlesungen über soziale Medizin Fron Dr. Thumper Bonn. M. 8.—, geb. M. 9.—. DEN ah x Aye PA) BEN RPS US BE teva yan 12U08 logisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. Bd. XXVIII. 1. August 1908. As 15. Inhalt: Lehmann, Scheinbar lebende Kristalle, ee Cilien und Muskeln: _ yet Die Phänomene der Hygromipisie. — Chwolson, Lehrbuch der Physik, Scheinbar lebende Kristalle, Pseudopodien, Cilien und Muskein. Von O. Lehmann. Nach H. Driesch!) sind uns die Organismen, von Stoffwechsel- und Formbildungsphänomenen abgesehen, nur gegeben als sich be- wegende Körper. Nur ihre Bewegungen sind es daher, die eigentlich naturwissenschaftlich untersucht werden. Die einfachsten dieser Bewegungen sind die Pseudopodienbildung bei Amöben und die Protoplasmaströmung in Pflanzenzellen. Schon hier stößt aber ein Versuch physikalischer Erklärung auf sehr große Schwierigkeiten. Einen solchen Versuch hat wohl zuerst Dutrochet?) unternommen, insofern er auf die Analogie mit der damals gleich- falls noch unerklärten Bewegung von Kampferstückchen auf Wasser aufmerksam machte. Sehr eingehend hat ähnliche Bewegungs- erscheinungen, welche ich später der Kürze halber „Kontakt- bewegungen“ nannte°), aus gleichem Grunde der Leipziger Anatom E. H. Weber?) untersucht, ohne aber ihre Ursache zu erkennen. Letztere wurde erst aufgedeckt durch meine in ganz anderer Ab- 1) H. Driesch, Die Seele als elementarer Naturfaktor, Leipzig, W. Engel- mann, 1903, S. 19. 2) Dutrochet, Compt. rend. 12, 2, 1841. i 3) O. Lehmann, Molekularphysik, Leipzig, W. Engelmann 1, 271, 1888. 4) E. H. Weber, Pogg. Ann. 94, 447, 1855. XXVIII. 31 482 Lehmann, Scheinbar lebende Kristalle, Pseudopodien, Cilien und Muskeln. sicht im Jahre 1874 unternommenen Versuche?°), als Oberflächen- spannungsdifferenz, was mich dann natürlich veranlasste, Ver- suche zu machen, ob wirklich améboidale Bewegungen bei schleimigen Flüssigkeiten, wie es das Protoplasma ist, auf solche Weise ent- stehen können®). Bütschli und Quincke’) haben die Idee weiter- geführt, ohne wesentliche neue Resultate zu erzielen‘); gleiches gilt von späteren Arbeiten anderer. Das Ergebnis kann man dahin aussprechen, ein Protoplasmatropfen werde, falls er der Wirkung ungleicher Oberflächenspannung ausgesetzt wird, in Strömung kommen, wie jeder andere Flüssigkeitstropfen, die Aussendung von Pseudopodien und Ähnliches lasse sich aber auf diesem Wege nicht erklären. Ich habe versucht, das Hervortreiben solcher Fortsätze durch lokale Verminderung der Oberflächenspannung künstlich her- vorzurufen®), das Ergebnis war aber lediglich eine weitere Klärung der Vorstellungen über die Wirkungsweise der Molekularkräfte 1), nicht aber Erklärung der Pseudopodienbildung. Mit Recht sagt wohl Verwornt!: „Amöboidbewegung, Muskelbewegung und Flimmerbewegung sind ihrem Wesen nach identisch, sie beruhen auf abwechselnder Kontraktion und Expansion der lebendigen Sub- stanz durch gegenseitige Umlagerung ihrer Teilchen.“ Man wird aber vergebens in einem Lehrbuch der Physik nach derartigen Kräften bei Umlagerung von Teilchen Umschau halten. Die einzige Kraft, welche allenfalls in Betracht kommen könnte und welche auch von W. Pfeffer!?) und Th. W. Engelmann®’) wirklich bei- gezogen wird, ıst die Turgorkraft. Insofern gallertartige Ge- bilde in Betracht kommen, welche Zellen- oder Wabenstruktur **) besitzen, kann der osmotische Druck, auf welchem die Turgor- kraft beruht, ähnlich wie die Wärme ım Falle des gespannten Kautschuks zweifellos Kontraktionserscheinungen hervorrufen. Ich habe mich darüber a. a. ©. S. 532 in folgender Weise ausgesprochen: „Würde man einen zelligen Körper im gestreckten Zustande er- 5) O. Lehmann, Zeitschr. f. Kristallogr. 1, 467, 1877. 6) O. Lehmann, Zeitschr. f. Kristallogr. 10, 14, 1885 und Molekularphysik 1, 273, 1888; 2, 499, 1889. 7) G. Quincke, Wied. Ann. 33, 624, 1894. 8) J. Loeb, Vorlesungen über die Dynamik der Lebenserscheinungen, Leipzig, Ambr. Barth, 1906, nennt jene Hypothese über die Ursache der Protoplasmabewegung die Quincke’sche Theorie, was mir mit Rücksicht auf. die ältere Literatur, die Quincke kannte (obschon er sie nicht immer zitiert), nicht gerechtfertigt erscheint. 9) O. Lehmann, Molekularphysik 1, 270, 1888; Zeitschr. f. Kristallogr. 12, 399, 1887; Wied. Ann. 43, 516, 1891. 10) O. Lehmann, Zeitschr. d. Ver. d. Ingenieure, 1908, S. 387. 11) M. Verworn, Allgemeine Physiologie, 2. Aufl., Jena, G. Fischer, 1897, 8.20%. 12) W. Pfeffer, Pflanzenphysiologie, Bd. 2, Leipzig, W. Engelmann. 13) Th. W. Engelmann, Berl. Akad. Ber. 39, 694, 1906. 14) Siehe O. Lehmann, Molekularphysik 1, 525, 1888. Lehmann, Scheinbar lebende Kristalle, Pseudopodien, Cilien und Muskeln. 483 wärmen, so müsste er sich kontrahieren, da sich die Flüssigkeit in den Zellen stärker ausdehnt als deren Wandungen, so dass die ellipsoidisch gestreckten Zellen sich der Kugelform nähern müssten, wodurch sie sich in der Richtung der größten Achse, d. h. in der Richtung der Streckung kontrahieren.“ Wird das Volumen der Flüssigkeit in den gestreckten Zellen durch Osmose vergrößert, so wird natürlich dasselbe geschehen müssen. Schreibt man nun aber auch mit Bütschli dem Protoplasma Wabenstruktur zu, so ist doch nicht einzusehen, inwiefern diese Waben derart gestreckt sein sollen, dass Kontraktion durch Quellung möglich würde. Dazu ist die Existenz der Wabenstruktur durchaus nicht erwiesen, es scheint sich eher um ein Netzwerk kleiner, fester Teilchen (Micellen, Tagmen, Plasomen, Bioblasten, Pangenen, Bio- phoren, Inotagmen u. s. w.) zu handeln. Betrachten wir die Erscheinungen möglichst .vorurteilslos, so können wir sagen, dieselben müssen verwandt sein den Erschei- nungen der Elastizität. Dieselben molekularen Kräfte, welche eine Taschenuhr betreiben, indem sie die aufgezogene Feder ver- anlassen sich abzuwickeln, sind auch tätig, wenn eine Muskelfaser sich kontrahiert. Eine besondere Zellularstruktur ist dazu ebenso- wenig nötig wie bei der aufgezogenen Feder. Aber welches ist die Kraft, die die Muskelfeder spannt? Ist es nicht geradezu ein Widerspruch, anzunehmen, im gestreckten, erschlafften Zustand sei der Muskel gespannt, im kontrahierten habe er seine potentielle Spannungsenergie verloren und an den in Bewegung gesetzten Körper in Form von kinetischer Energie abgegeben ? Es gibt immerhin eine scheinbar äußerliche Analogie, welche diesen Vergleich zu rechtfertigen scheint. Nach den erwähnten Untersuchungen von Th. W. Engelmann sind nämlich alle Ele- mente des Organismus, welche die Fähigkeit haben, sich zu kon- trahieren, doppelbrechend, wie wenn sie gespannt wären und ver- lieren die Doppelbrechung während der Kontraktion, um sie aufs neue anzunehmen im Zustande der Erschlaffung. Welches soll aber die Kraft sein, die in dem gestreckten (er- schlafften) Muskel eine innere Spannung aufrecht erhält? Ich bin der Meinung, dass die Untersuchungen über flüssige Kristalle die Existenz einer Kraft aufgedeckt haben, welche dies zu leisten vermag. Man hat wohl schon oftmals das Wachstum von Organismen mit dem von Kristallen verglichen. M. Verworn?’) sagt dies- bezüglich: „Man hat bei der Vergleichung von Organismen mit den anorganischen Substanzen mit Vorliebe den Fehler begangen, den Organismus einem Kristall gegenüberzustellen, statt ihn mit einer Substanz zu vergleichen, die ähnliche Konsistenz, überhaupt ähn- 15) M. Verworn, Allg. Physiol., 2. Aufl., Jena 1897, 121. 31% 484 Lehmann, Scheinbar lebende Kristalle, Pseudopodien, Cilien und Muskeln. liche physikalische Verhältnisse bietet, wie die lebendige Substanz, also etwa mit einer dickfltissigen Masse.“ Verworn steht, wie man sieht, noch ın neuester Zeit auf dem Standpunkt, dass kri- stallisiert und fest identisch seien, was man allerdings als (neues Ergebnis der „klassischen Untersuchungen des Herrn Tammann‘“) sogar in den hervorragendsten Lehrbüchern der Physik !°) angegeben findet. Früher dachte man zwar ebenfalls nicht an die Möglichkeit der Existenz flüssiger Kristalle, doch wurden wenigstens gewöhn- liches Glas und andere amorphe (nicht kristallisierte) Stoffe zu den festen Körpern gerechnet, bis durch W. Ostwald‘), G. Tam- mann!®) u. a. verkündet wurde, sämtliche amorphe Stoffe gehörten zu den Flüssigkeiten! Dass eine solche Behauptung aufgestellt werden konnte, hat seinen Grund darın, dass die Unterscheidung vollkommener Elastizität, welche den festen Körper charakteri- siert!?), von unvollkommener, welche auch Flüssigkeiten zukommt, im allgemeinen nicht leicht ist und dass man die den physikalisch- chemischen Betrachtungen zugrunde liegende Hypothese der Identität der Moleküle in den verschiedenen Aggregatzuständen und polymorphen Modifikationen zu retten suchte, welche mit der Existenz flüssiger Kristalle unvereinbar ist?°). Welche Konfusion in dieser Beziehung auf physikalischem Gebiete herrscht, zeigt z. B. eine Notiz von N. A. Orlow?!), der darin, dass Schusterpech zu einer kugeligen Blase aufgetrieben werden kann, einen Beweis ge- funden zu haben glaubt, dass auch „feste Flüssigkeiten“ exi- stieren, welche Neuigkeit durch populäre Zeitschriften ??) geschäftig weiter verbreitet wird, obschon doch bei genügend starkem Druck eine zweifellos feste kristallinische Silber- oder Stahlplatte in gleicher Weise zur Kugel geformt würde. Man mag hieraus ersehen, dass die Aufstellung des Begriffs der flüssıgen Kristalle keine so einfache Arbeit war, wie z. B. D. Vor- länder ?*) annımmt, der meint, die Entdeckung einer trüben, farben- schillernden und zwischen gekreuzten Nikols Aggregatpolarisation 16) ©. D. Chwolson, Lehrbuch der Physik, deutsch, Braunschweig 1905, Bd. 3, S. 583, lässt die Frage der Existenz flüssiger Kristalle noch unentschieden, in der im Erscheinen begriffenen französischen Ausgabe sind deren Eigenschaften indes bereits eingehend berücksichtigt. S. ferner O. Lehmann, Physik. Zeitschr. 8, 42, 1907. 17) W. Ostwald, Lehrb. d. allg. Chemie, Bd. II (2), p. 392, 1897. 18) G. Tammann, Wied. Ann. 62, 284, 1897. 19) O. Lehmann, Fliissige Kristalle, Leipzig, W. Engelmann, 1904, S. 86. 20) O: Lehmann, Vierteljahrsber. d. Wien. Ver. z. Ford. d. phys. u. chem. Unterr. 12, 239, 1907. 21) N. A. Orlow, Phys. Zeitschr. 8, 612, 1907. 22) Z. B. Zur guten Stunde, Berlin, Deutsches Verlagshaus Bong u. Co., 21, 117, 1908. 23) D. Vorländer, Kristallinisch-flüssige Substanzen, Stuttgart 1908. Lehmann, Scheinbar lebende Kristalle, Pseudopodien, Cilien und Muskeln. 485 zeigenden Schmelze durch F. Reinitzer**) habe mich ohne weiteres dazu geführt. In Wirklichkeit glaubte ich bereits 3 Jahre zuvor bei Rodwell’s zähflüssiger Modifikation des Jodsilbers, deren fließend- kristallinische Natur ich bereits im Jahre 1876 erkannt hatte), ölartig leichtflüssige Kristalle gefunden zu haben, die eine Luft- blase umfließen können°°) und erst 1 Jahr nach Reinitzer’s Publi- kation, in welcher sich von flüssigen Kristallen noch nichts findet, ist mir gelungen nachzuweisen, dass dessen trübe Schmelze als eine Phase zu betrachten ist, aber ohne Erkenntnis der Form und des Verhaltens ihrer Kristallindividuen. Der Beweis, dass jene Schmelze als Aggregat flüssiger (nicht fließender fester) Kristalle bezeichnet werden kann, gelang mir erst 190627), nachdem ich Gelegenheit gehabt hatte, an anderen Stoffen, insbesondere bei Ammonium- oleat?*) das Verhalten flüssiger Kristalle näher zu studieren, wozu Reinitzer’s trübe Schmelze, wegen der Kleinheit der einzelnen Kristallindividuen sich nicht eignet. Besser zu gebrauchen als Reinitzer’s Cholesterylbenzoat ist, wie ich später fand, das Cho- lesteryloleat und noch weit besser als Ammoniumoleat und Cho- lesteryloleat das Lecithin*®) mit etwas Wasser aus heißer Lösung in Alkohol kristallisierend. Es ıst vielleicht kein Zufall, dass diese drei hervorragenden Beispiele von Stoffen, welche in flüssigen Kri- stallen auftreten, Bestandteile des Protoplasmas sınd und dass alle drei mit Wasser, in welchem sie unlöslich sind, sogen. Myelin- formen bilden können, deren Wachstum in mancher Hinsicht an das der Organısmen erinnert. Die Form der flüssigen Kristalle aller drei Substanzen ist ziem- lich dieselbe, es sind sehr schlanke, optisch einachsige Pyramiden mit gerundeten Kanten, also nahezu en Querschnitt. Von gewöhnlichen Flüssigkeiten unterscheiden sie sich also wesent- lich dadurch, dass sie eine bestimmte Gestalt haben. Während beispielsweise ein in spezifisch gleich schwerem Gemisch von Wasser und Alkohol freischwebender Öltropfen vollkommene Kugelform annimmt, erscheint ein flüssiger Kristall als schlanke Doppelpyramide (Fig. 1), als Polyeder. Würde man ihn zur Kugel zusammen- drücken, so würde er beim Nachlassen der Kraft sich sofort wieder zu Polyederform ausrecken. Man könnte nun sagen, dieser Versuch beweist ja, dass die Kristalle nicht flüssig, sondern fest sind, die Rückkehr zur Polyeder- 24) FE. Reinitzer, Sitzb. d. Wien. Akad. 97 (1), 167, 1888. 25) O. Lehmann, Zeitschr. f. Kristallogr. 1, 120, 492 Anm., 1877. 26) O. Lehmann, Wied. Ann. 24, 27, 1885, Taf.I, Fig. 68 u. 68; 38, 389, 1889. 27) ©. Lehmann, Phys. Zeitschr. 7, 722, 789, 1906. a) O. Lehmann, Zeitschr. f. phys. Chem. 18, 91, 1895. 29) Zu beziehen von E. Merck, chemische Fabrik in Darmstadt, aus Eiern dargestellt 10 g zu 2,20 Mk. | 586 Lehmann, Scheinbar lebende Kristalle, Pseudopodien, Cilien und Muskeln. form erscheint nur verständlich als Wirkung vollkommener Elastizität. Dieser Einwand trifft nicht zu! Die Kugel würde sich nämlich auch dann zum Polyeder ausdehnen, wenn sie nicht durch Zusammendrücken eines solchen entstanden, sondern daraus herausgeschnitten wäre; denn wenn man den flüssigen Kristall in beliebig gestaltete Fragmente (Fig. 2) verteilt, so reckt sich als- bald jedes ntle einer inneren Kraft, die Unmoslich Elastizität sein kann, ion zu einem normalen Polyeder aus (spontane Homöotropie), ganz wie die beim Zerquetschen eines freischweben- den Öltropfens entstehenden kleinen Tröpfchen sich sofort ganz von selbst zu genauen Kugeln abrunden. Und ebenso, wie kleine freischwebende Öltröpfehen in Berührung gebracht zu einem großen kugelrunden Tropfen zusammenfließen, so gilt dies auch von poly- edrischen flüssigen Kristallen, welche sich ganz von selbst zu einem homogenen polyedrischen Kristallindividuum (Fig. 1) vereinigen, selbst wenn sie nicht (wie bei Fig. 3) überein- Pig. 1. Fig. 2 Fig. 3. stimmende Stellung haben. Beispielsweise deuten die Fig. 4——7 vier aufeinanderfolgende Zustände ‘beim !Zu- sammenfließen an. Nur unvollkommen findet allerdings die Vereinigung statt, wenn die gegenseitige Stellung Zwillingsstellung ist, wie bei Fig. 8, wobei dann ein Zwillingskristall wie Fig. 9 die resultierende Gleichgewichts- form ist. So wie man auch zwei verschieden- artige Öltropfen, z. B. von Olivenöl und Mineralöl sich zu einem Tropfen vereinigen lassen kann, so kann auch z. B. ein flüssiger Kristall von Lecithin mit einem solchen von Ammoniumoleat sich zu einem Individuum ver- einigen, doch ist das Ergebnis im allgemeinen genau wie bei den Öltropfen zunächst nicht ein homogener Mischkristall, sondern ein Schichtkristall, der erst allmählich ım Laufe langer Zeit durch Diffusion oder Lösung der einen Substanz in der anderen in einen Mischkristall übergeht. Die Fig. 9—12 stellen die Vereinigung zweier verschiedener Tropfen zu einem Schicht- und Mischtropfen dar, die Fig. 13—15 die Bildung eines flüssigen Schicht- bezw. Mischkristalls. Das Gleichgewicht eines Tropfens kann man auf die Gegen- wirkung zweier Kräfte zurückführen, einer wahren Kraft (mit zwei Angriffspunkten) der Molekularattraktion und einer Trägheits- kraft (mit nur einem Angriffspunkt) der auf dem Bewegungszustand der Moleküle beruhenden Expansivkraft. Man kann sagen, ein Flüssigkeitstropfen verhält sich so, als ob er aus Molekülen be- stiinde, welche sich in lebhaftester wimmelnder Bewegung befinden, Lehmann, Scheinbar lebende Kristalle, Pseudopodien, Cilien und Muskeln. 587 aber trotzdem nicht (dem Trigheitsgesetz entsprechend) auseinander- fliegen, weil sie sich anziehen mit einer Kraft, deren Größe mit wachsender Entfernung zunimmt (wie z. B. die Spannung einer Spiralfeder mit wachsender Dehnung) ?®). Eine Außerung der Molekularattraktion ist die Oberflächen- spannung. Weil sich die Moleküle anziehen, deshalb verhält sich Fig. 4. Bigs: Fig. 6. Big. der Tropfen so, als ob er in eine elastische gespannte Membran (Oberflächenhäutchen) eingeschlossen wäre. Man kann sich auch die Anziehungskraft durch einen äußeren Druck ersetzt denken und sagen, der Tropfen verhält sich so wie ein Gas, dessen Moleküle sich nicht anziehen, unter sehr starkem Druck, dem Binnendruck. Dieser Druck hält der Expansivkraft das Gleichgewicht. Eine 30) Dies ist keine Hypothese, sondern ein Gleichnis, dessen wir zur Be- schreibung der Erscheinungen unbedingt bedürfen. Hierauf habe ich schon vor mehreren Jahren (Frick’s phys. Technik, 6. Aufl., 1890, S. 140 und Natur 1889, Nr. 32) aufmerksam gemacht. 488 Lehmann, Scheinbar lebende Kristalle, Pseudopodien, Cilien und Muskeln. Flüssigkeit von kleinerer Oberflächenspannung hat auch kleinere Molekularattraktion, kleineren Binnendruck, somit geringere Ex- pansivkraft. Beim Zusammenfließen zweier verschiedenartiger Tropfen (Fig. 10) breitet sich notwendig die Flüssigkeit mit kleinerer Ober- flächenspannung auf der anderen aus (Fig. 11), ihr Binnendruck wäre aber viel geringer, nicht ausreichend die Expansionskraft der eingeschlossenen Flüssigkeit zu kompensieren, somit folgt, auch an der gemeinschaftlichen Grenze muss ein die Differenz darstellender Binnendruck (Adsorptionskraft) vorhanden sein, selbst wenn in- folge unbeschränkter Mischbarkeit die Grenze (wie bei Fig. 12) eine verwaschene wird. In diesem Fall äußert sie sich aber nicht durch das Auftreten einer Oberflichenspannung, eine solche ist nur an der äußeren Tropfenoberfläche vorhanden; sie bleibt auch ohne Einfluss auf die Expansionskraft (d. h. auf den osmotischen Druck) in jeder der beiden Schichten, denn jede Flüssigkeit expan- diert (diffundiert) in den von der anderen eingenommenen Raum so, als ob diese nicht vorhanden wäre, nur mit bedeutend vermin- derter Geschwindigkeit. Bei diesem Eindiffundieren der äußeren Schicht in die innere leistet allerdings die Adsorptionskraft Arbeit, der Energiegewinn ist aber Null, da diese Arbeit vollständig zum Auseinanderdrängen der Moleküle verbraucht wird, falls, wie in der Regel der Fall, das Gesamtvolum ungeändert bleibt°!). Weshalb nımmt nun der flüssige Kristall Polyederform, nicht Kugelform an? Könnte dies darauf zurückgeführt werden, dass etwa die Oberflächenspannung an verschiedenen Punkten verschieden groß ist? Nein, denn dann müsste stationäre Kontaktbewegung eintreten, wir hätten ein perpetuum mobile! Die Ursache kann nur beruhen ın Verschiedenheit der Expansivkraft nach verschie- denen Richtungen, durch welche das Oberflächenhäutchen an ver- schiedenen Stellen verschieden stark ausgebeult wird, bis der da- durch geweckte Oberflächenspannungsdruck, welcher mit zunehmender Konvexität der Oberfläche stärker wird, ausreicht, den Überschuss der Expansivkraft an der betreffenden Stelle zu kompensieren. Um nun aber weiter diese Anisotropie der Expansivkraft zu erklären, muss angenommen werden, infolge Anisotropie der Mole- küle (z. B. infolge stäbchenförmiger Gestaltung derselben) trete eine molekulareRichtkraft auf, welche sie zwingt, parallele Stellung anzunehmen, so dass die molekularen Stöße, auf welche die Ex- pansıvkraft beruht, von der Richtung abhängig werden. Davon, dass solche Anısotropie der Moleküle vorhanden sein muss, kann man sich leicht überzeugen, wenn man die Kristalle durch Hin- und Herschieben des Deckglases über den Objektträger 31) Siehe O. Lehmann, Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ingenieure, 1908, 8. 387. Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie.. 489 in wälzende Bewegung bringt. Ist auch anfänglich die Anordnung der einzelnen Kristalle, wie Fig. 16 andeutet, eine ganz unregel- mäßige, so vereinigen sie sich doch alsbald, wie in Fig. 17 skizziert ist, zu langen Ketten senkrecht zur Bewegungsrichtung (durch Pfeile angedeutet), derart, dass die Achsen überall übereinstimmend werden, (nämlich die Richtung dieser Ketten erhalten), wie nicht nur aus der Form, sondern auch aus der Dunkelstellung zwischen gekreuzten Nikols zu schließen ist. Man kann sagen, die Kristalle verhalten sich so, wie wenn sie eine breiartige Masse aus feinen Stäbchen und einer klebrigen Flüssigkeit wären (erzwungene Homöo- tropie). Dass die Kristalle nicht etwa wirklich solche Breimassen sind, kann schon daraus geschlossen werden, dass sich die gleiche Erscheinung mehr oder weniger deutlich bei allen bildsamen Kri- stallen zeigt, auch festen; das Verhalten gleicht stets etwa dem des Bartes von Eisenfeilspänen an einem Magneten, welche durch magnetische Kraft gezwungen werden, sich stets möglichst parallel zu richten, wie man auch die ganze Masse drücken und drillen mag. Dem Magnetismus entspricht bei Kristallen die molekulare Richtkraft und diese steuert gewissermaßen die molekularen Be- wegungen so, dass die Expansivkraft, welche bei gewöhnlichen Flüssigkeiten mit gleicher Stärke nach allen Richtungen wirkt, bei flüssigen Kristallen emseitig wird und dadurch Polyederform her- vorruft. Die einseitige Expansivkraft spannt gewissermaßen den Kristall, sowie man eine Feder beim Aufziehen — spannt. (Schluss folgt.) Die Phänomene der Hygromipisie. Studien und Untersuchungen. Von Prof. A. Capparelli. (Physiologisches Institut der Kgl. Universität Catania.) Mit einer Textfigur und einer Tafel. I. Kapitel. Einleitung. — Definition des Hygromipisiephänomens. Die hygromipisimetrische Zeit. Apparat für das hygromipisimetrische Studium. Beschreibung des Phänomens. Kontraktion der Säule A. Verschiedene Direktion der aufsteigenden Säule A. 490 - Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. Diskussion über die Frage: ob das Phänomen physikalischer oder chemisch-physi- kalischer Natur sei? Ionisation. Hauptfaktoren des Phänomens. Dichtigkeit. Mischbarkeit der beiden Flüssigkeiten. Zerstörung der Oberflichenspannung der Flüssigkeiten. Chemische Reaktionen. Osmotische Pression. Einfluss von soliden Partikelchen, welche in den Flüssigkeiten suspendiert sind. Serum und rote Blut- körperchen. Gelegentlich einer Mitteilung, die ich im Februar des vorigen Jahres in der „Academia Gioenia di Scienze naturali“ von Catania gemacht habe, machte ich auf eine physikalisch-chemische Erschei- nung aufmerksam, welche auch biologisches Interesse hat. Ich erörterte damals dieses Phänomen in zusammenfassender Weise und versprach, bei Gelegenheit dasselbe einer genaueren Unter- suchung zu unterziehen, sowie die Ergebnisse derselben mitzuteilen. Dieses Versprechen erfülle ich nunmehr mit der gegenwärtigen Abhandlung, die ich in zwei Kapitel einteile. Im ersten befasse ich mich mit dem Studium des Phänomens im allgemeinen, im zweiten beschäftige ich mich ausschließlich mit der Wichtigkeit und Anwendung, welche es in der Biologie besitzt. Wie ich bereits in der vorigen Mitteilung!) auseinandergesetzt habe, zeigt sich das Phänomen immer, wenn die Oberflächen zweier mischbarer Flüssigkeiten von verschiedener Dichtigkeit miteinander _ in.Berührung kommen und eine derselben in einem Kapillarrohr und die andere in einem Gefäß enthalten ist. Kaum berührt der untere Meniskus der im senkrecht gerichteten Kapillarrohr ent- haltenen Flüssigkeit, die zugleich auch die dichtere ist, die Ober- fläche der weniger dichten Flüssigkeit des unterhalb liegenden Ge- fäßes, so zeigt sich das Phänomen, d. h. diese letztere, weniger dichte Flüssigkeit dringt ein und steigt wie eine volle Säule in das Zentrum der Flüssigkeit, welche im Kapillarrohr enthalten ist, wäh- rend im Kapillarrohr selbst ein kleines Röhrchen gegen die Wände des Kapillarrohres, wo die dichtere Flüssigkeit sich befindet, senk- recht heruntersteigt, ohne scheinbar mit der weniger dichten Flüssig- keit sich zu vermischen. Das Phänomen hört auf, wenn alle Primitivflüssigkeit aus dem Kapillarrohr verschwunden ist und an ihre Stelle die im unteren Gefäß oder Rezipienten befindliche Flüssigkeit getreten ist. Dieses Verhalten der beiden Flüssigkeiten bezeichnete ich mit dem Namen des Substitutionsphänomens. Ich will fortan dieses Phänomen mit dem Namen Hygromipisie belegen, vom Griechischen öyo6s feucht oder allgemein Flüssigkeit und vom Zeitwort dusißouaı ersetzen. Ich habe das Wort öyoös angewendet und nicht das Wort ö9we, weil das Phänomen nicht bloß mit Wasser, sondern mit allen mischbaren Flüssigkeiten sich offenbart. Das Hygromipisiephinomen ist demnach eine Eigenschaft, welche Flüssigkeiten von verschiedener Dichte und Löslichkeit besitzen, 1) Biolog. Centralbl. 1907, Nr. 20. Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. 491 nämlich sich gegenseitig zu verlagern und einzudringen in einer bestimmten Richtung, ohne sich zu vermischen, wenn ihre obersten flüssigen Schichten in zwei verschiedenen Ebenen gelegen, also superponiert, miteinander in Berührung kommen. Es ist klar, dass das Phänomen nichts mit einem Diffusionsvorgang zu tun hat, sei es wegen der Schnelligkeit, sei es auch, weil die Flüssig- keiten sich nicht vermischen, sondern sich verlagern und sich gegen- seitig durchdringen. Die Substitutionsdauer, d. h. die Zeit, welche nötig ist, damit die dichtere Flüssigkeit höher steige als die weniger dichte Flüssigkeit, bildet das wichtigste Moment des Phänomens, näm- lich dasjenige, welches die Beziehungen klar legt, die dabei zum Vor- schein kommen zwischen den beiden Flüssigkeiten, die sich durch- dringen und sich verlagern, diese Substitutionsdauer, sage ich, wurde von mir als Hauptpunkt des Phänomenverlaufs besonders ın Be- tracht gezogen. Der größeren Einfachheit wegen und um überflüssige Ausdruck- und Wortwiederholungen zu vermeiden, will ich mit A die weniger dichte Flüssigkeit bezeichnen, d. h. wenn sie nicht als spezielle Flüssigkeit angegeben wird, immer schwach gefärbtes destilliertes Wasser, das 0,20°/,, Fuchsin enthält. Enthält die Lösung viel Fuchsin, so muss man dies bei der Berechnung ın Betracht ziehen. A ıst somit immer die aufsteigende Flüssigkeit und D ist die dichtere Flüssigkeit des Kapillarrohrs, welche heruntersteigt. Ich will mit dem Ausdruck der hygromipisischen oder ein- fach der Substitutionszeit diejenige Zeit bezeichnen, welche die Flüssigkeit A braucht, um die ganze von der Flüssigkeit D ın An- spruch genommene Säulenlänge zu durchlaufen. Die Flüssigkeit D repräsentiert nicht ganz die Zeit, welche nötig ist, damit die ganze Flüssigkeit A vollständig die Flüssigkeit D aus dem Kapillarrohr vertreibe. Sie zeigt nur die Zeit an, welche A braucht, um die Säule D zu durchlaufen und den oberen Meniskus der Flüssigkeit D zu erreichen, denn ich habe nachgewiesen, dass, wenn die Säule A bis zum oberen Teil der Flüssigkeit D gelangt ist, sie längs der Wandung wieder heruntersteigt, und damit die Verdrängung der Flüssigkeit D von der Kapillarwandung ergänzt. Für das Studium des in Rede stehenden Phänomens konstruierte ich einen höchst einfachen Apparat, den ich Hygromipisimeter nannte. Derselbe besteht, wie beistehende Figur zeigt, aus einem senkrechten Stützbalken X mit einer Cremailliere, die mit einem Ring ver- sehen ist, welcher senkrecht auf- und abläuft vermittelst eines ge- zahnten Rades in der Cremailliere. An diesem Ring ist vermittelst einer Federeinrichtung M ein Kapillarrohr B befestigt, welches kalibriert und in Millimeter geteilt ist. Dasselbe ist an seinen beiden Enden offen; sein Durchmesser beträgt 1 mm. Dieses Kapillarrohr kann man leicht senkrecht aufhängen oder vom Stütz- 499 Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. ww balken entfernen, sowohl zum Zwecke der Reinigung, wie für die aufemanderfolgenden Bestimmungsversuche. Seitlich und parallel dem Kapillarrohr ıst ferner noch ein Baudin’sches Thermometer angebracht für die Bestimmung der Umgebungstemperatur oder auch der Versuchsflüssigkeiten. Der senkrechte Stützbalken /# ist auf einem Horizontalbrett eingeschraubt, welches man mit einer Schraubeneinrichtung H in Hygromipisimeter. Horizontalstellung bringen kann. Ferner ist derselbe noch mit einer Libelle G versehen, mit sphärischer Blase. Eine einfache Einrichtung erlaubt es, für eine Reihe von Beobachtungen das GefaiB oder den Rezipienten, worin die Flüssigkeit sich befindet, zu fixieren. Ein bewegliches Fernrohr C lässt ganz genau die Zeit bestimmen, in welcher der Flüssigkeitsmeniskus A das äußerste Ende der Flüssigkeit D, welche im Kapillarrohr B enthalten ist, erreicht. Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. 493 Um gleichzeitig mehreren Beobachtern das Phänomen deutlich in vergrößertem Maßstabe zu zeigen, habe ich von einem gewöhn- lichen Projektionsapparat Gebrauch gemacht und dieses bequemen und einfachen Apparates habe ich mich bei meinen Untersuchungen bedient; vollständig überzeugt, dass, wenn man die Messungen, die man damit machen kann, durch die photographische Registrierung der Kurve ersetzen könnte, man auch diejenige minutiöse mathe- matische Genauigkeit erreichen könnte, die ich, offen gestanden, durch meine Beobachtungen nicht zu erreichen vermochte und zwar ausschließlich wegen der relativen Unzulänglichkeit der mir und meinen Studien zu Gebote stehenden Mittel, über welche ich ver- fügen konnte! Im Kapillarrohr B, in welchem die Flüssigkeit D enthalten ist und welche in dasselbe vermittelst einfacher Kapillarıtät eingestiegen ist, hat dieses bei senkrechter Aufhängung einen konvexen unteren und einen oberen konkaven Meniskus. In dem Augenblick, wo der konvexe Meniskus die horizontale Fläche der Flüssigkeit A berührt, verschwindet die Oberflächenspannung der beiden Flüssigkeiten ent- weder ganz oder teilweise; es löst sich dann ein Flüssigkeitsring los, welcher senkrecht in A aufsteigt, von dem Flüssigkeitssäulchen, das von dem Glaskapillarrohr des Hygromipisimeters heruntersteigt. Gleichzeitig steigt in Form eines vollen Zylinderchens mit kon- vexem Meniskus in D, die Flüssigkeit A im zentralen Teil in höchst regelmäßiger Weise und mit beschleunigter Bewegung, wie Dr. G. Polara?) es bestimmen konnte, im Falle die Wände des Glas- kapillarrohres genügend gereinigt worden waren vor dem Beobach- tungsversuch und etwas unregelmäßig im Unterlassungsfalle. Wenn das aufsteigende flüssige Zylinderchen A den Meniskus der Flüssig- keit D erreicht hat, dann wird er konkav und die neu aufsteigende Flüssigkeit kehrt um, wechselt ihre Richtung und sinkt, indem sie an der Kapillarwand hingleitet, wobei diese Flüssigkeit, indem sie heruntersteigt, eine Figur bildet, welche einem Pfeil mit stumpfer Spitze gleicht. Man beachte, dass der Durchmesser des Kapillar- rohres keinen Einfluss dabei hat, denn der Vorgang ereignet sich auch in dem Falle, wenn die Flüssigkeit D in Röhren von großem Durchmesser enthalten ist. Eine Tatsache, die man hervorheben muss, ist die, dass die aufsteigende flüssige Säule A sich zusammenzieht, nachdem sie die Flüssigkeit D verlagert hat und bis zu der Höhe im Kapillarrohr ansteigt, welche sie normalerweise haben sollte, wenn sie im Ka- pillarrohr D zuerst angesogen worden wäre. Diese Erscheinung ist sehr deutlich, wenn man den Versuch folgendermaßen anstellt: Man projiziert auf einen Schirm mit einem gewöhnlichen Projektions- 2) G. Polara. „Sul nuovo fenomeno di sostituzione dei liquidi.“ Bollettino dell’Accademia Gioenia di Scienze naturali fascic. XCIV, Giugno 1907. 494 Capparelli, Die Phänomene der Hygropimisie. apparat und man lässt dabei die Flüssigkeit Din Form des destillierten Wassers und die Flüssigkeit A in Form des käuflichen Alkohols mit Fuchsin oder irgendeinem anderen Anilinfarbstoff funktionieren. Man sieht dabei die Säule A in ihrer ganzen Länge D aufsteigen, aber an dem oberen Meniskus D angekommen, und ehe noch die Reste von D vollständig aus dem Kapillarrohr verdrängt sind, zieht sich die Säule zusammen und nimmt die Höhe ein, welche der von der geringen Menge verunreinigte Alkohol, der sich während des Aufstiegs beigemischt hatte, gewöhnlich im Rezipienten vermöge einfacher Kapillarıtät einnehmen würde. Das Phänomen zeigt sich auch ın nicht senkrechter Stellung der beiden Flüssigkeiten. Wenn man mit ein wenig geschmolzenem Kitt zwei gewöhnliche Deckgläschen des Mikroskops nur im zen- tralen Teil zusammenkittet derart, dass die zwei Glasplättchen parallel zueinander in 1 mm Entfernung stehen und sie dann in eine Flüssigkeit D eintaucht, so wird diese Flüssigkeit den ganzen Kapillarraum ausfüllen und wenn die zwei Glasplättchen ein wenig schief gegeneinander gestellt sind, so wird die Flüssigkeit im oberen Teil in gebogener Linie sich verteilen. Wenn man hierauf mit einer Seite den kleinen Apparat in die mit Fuchsin gefärbte Flüssigkeit A eintaucht, dann sieht man letztere schnellstens auf den beiden Seiten aufsteigen, dagegen den Horizontalraum durchlaufen und auf der entgegengesetzten Seite absteigen, wenn durch irgendein Hindernis die Flüssigkeit A nicht zugleich beiderseits aufgestiegen ıst. Man sieht auch noch die Flüssigkeit A horizontal sich bewegen, sobald das Hindernis sich zeigt, welches von Seite des Stückes des Kittes dazwischengelegt ist und welches die zwei Glasplättchen verklebt. Diese Beobachtung ist identisch mit derjenigen, welche bei den zylindrischen Kapillarröhren früher erwähnt wurde, an deren Statt eine kapillare Oberfläche mit parallelen Wänden ersetzt ist mit der Beigabe einer größeren Freiheit der aufsteigenden Flüssigkeit an den Enden der beiden Gläschen. Die Ergebnisse dieses Versuches beweisen, dass die Fähigkeit zweier verschieden dichter Flüssigkeiten, meinander zu dringen und sich zu verlagern, eine allgemeine ist, welche auch da sich zeigt, wenn die Stellung der beiden Flüssigkeiten keine senkrechte ist. Prüfen wir nun, ob das Phänomen ein rein physikalisches ist, wie die oberflächliche Beobachtung es glaubwürdig machen möchte, oder wie ich es gesagt habe, ein physikalisch-chemisches. Dass es ein physikalisches Phänomen ist, dessen Faktoren von chemischen Bedingungen der fraglichen Körper abhängen, das sieht man auch vermittelst einer summarischen Prüfung. Die ausführliche Erklä- rung von Nasini’), einem kompetenten Forscher für chemisch- 3) R. Nasini. „La fisica chimica“. Il suo passato, quello che é e quello che si propone. Padova 1907. Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. 495 physikalische Phänomene, macht es leicht verständlich. Indessen, um alle Zweifel zu entfernen, dass außer dem physikalischen Faktor bei der Erzeugung des Phänomens auch die chemischen Faktoren in Betracht kommen, wollen wir eine schnelle Prüfung des Gegen- standes vornehmen. Der Hauptbeweis bei der Hervorbringung der Bewegung der beiden Flüssigkeiten ist zweifelsohne die verschiedene Dichtigkeit derselben. In der Tat, gleichdichte Flüssigkeiten ver- ursachen keinen schnellen Wechsel oder Austausch; es kann nur infolge ihrer gegenseitigen Berührung nach genügender Zeit die bekannte Erscheinung der einfachen Diffusion eintreten, während- dem hingegen die Phänomene der Hygromipisie sich um so mehr einstellen, je größer der Dichtigkeitsunterschied der beiden Flüssig- keiten ist. Hieraus folgt, dass die gegenseitige Vermischung oder Wechselmischung nicht durch einfache Diffusion zustande komme. Die verschiedene Dichtigkeit der beiden Flüssigkeiten genügt nicht zur Erzeugung des Phänomens; denn, wenn man tatsächlich Öl als A und Wasser als D anwendet, so trıtt das Phänomen nicht auf. Es ist auch noch nötig, dass die zwei Flüssigkeiten mischbar seien, d. h. gegenseitig löslich, wenn es auch manchmal vorkommen kann zwischen zwei Flüssigkeiten, die nur teilweise mischbar sind, d. h. wenn die eine wenig löslich ın der anderen ist, oder, wenn eine der beiden Flüssigkeiten teilweise mischbar gemacht worden ist durch Modifizierung ihrer chemischen Natur. Freilich geht, wie- wohl sie der direkten Beobachtung nicht zugänglich ist, die Mischung in kleinem Maßstabe vor sich an der Oberfläche der in Bewegung sich befindenden flüssigen Säulen; während der Entstehung des Phänomens muss demnach mit der größeren Verdünnung der Lö- sungen die lonisierung eintreten. Es ist wahr, dass dieses Vorkommnis auch mit flüssigen kolloi- dalen Substanzen sich ereignet, welche, wie wir wissen, sehr große Molekeln besitzen müssen, die vielleicht, weil nicht spaltbar, auch nicht ionisierbar sind, aber es ist andererseits wohl nicht mehr wie billig, daran zu denken, dass die Kryoskopie nachgewiesen hat, dass dieselben, wenn auch in schwacher Art und Weise, sich ionisieren können; lehrt ja doch die Chemie, dass die Substanzen, welche wir als kolloidale ansehen, selbst die reinsten, wahrscheinlich mit anderweitigen und besonders mit mineralischen Substanzen oder Salzen verunreinigt sind. Auch muss man nicht außer acht lassen, dass die Studien über die ultramikroskopischen Partikelchen den Beweis zu erbringen scheinen, dass die Substanzen, welche als reine Kristalloide galten, es in Wirklichkeit nicht sind; deswegen, wenn diese Angaben bestätigt werden sollten, verschwindet der Unter- schied zwischen Kolloiden und Kristalloiden. Deswegen kann man auch nicht bei der Erzeugung des Hygromipisiephänomens die Ionisierung ausschließen, selbst in Fällen reiner Kolloidalsubstanzen. 496 Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. Sicherlich sind die Hygromipisieerscheinungen spontane Phänomene oder Formen, äußerst empfindlich bei den Kristalloidlösungen, aber diejenigen, welche bei den tierischen organischen Flüssigkeiten sich zeigen und die nichts anderes sind, wie Mischungen von Kristalloiden und Kolloiden, haben die gleiche Empfindlichkeit. Die ungleiche Mischung der beiden Flüssigkeiten, welche Austausch erleiden, lässt bei salzigen Lösungen von verschiedener Zusammensetzung, näm- lich bei den Doppelspaltungen, an wesentlich chemische Erschei- nungen denken. Dass infolgedessen die lonisierung ein wichtiger Punkt bei der Erzeugung des Phänomens der Hygromipisie sei, glaube ich durch den folgenden Versuch beweisen zu können. Wenn man eine Lösung von Quecksilberbichlorid zu 4°/, als Flüssigkeit D funktionieren lässt, so ergibt es sich, dass die Flüssig- keit A eine Zeit von 21“ braucht. Nach gründlicher Reinigung des Apparates lässt man eine wiisserige Lösung, wie die vorige und gleichfalls zu 4°/, titrierte von Quecksilberzyanür als D funktionieren. A braucht, um den gleichen Raum zu durchlaufen, 27”; mithin ein sehr bedeutender Unterschied! Nun unterscheiden sich die beiden Flüssigkeiten nicht nach dem Prozentgehalt des Lösungsmittels selbst, sie unterscheiden sich nur hinsichtlich der Ionenzahl, weil die (Juecksilberchloridlésung, wie bekannt, mehr ionisiert ist. Daraus ergibt sich, dass die lonisierung es ist, welche das Hauptergebnis des Phänomens beeinflusst, nämlich die Zeit, in welcher der Aus- tausch zwischen den beiden Flüssigkeiten sich vollzieht. Ohne weitere Prüfung hat man, meiner Ansicht nach, aus den soeben angegebenen Daten Gründe genug, um zugeben zu können, dass chemische und physikalische Faktoren zur Hygromipisieerzeugung beitragen. Aus dem bereits Erörterten ergibt sich, dass wir physi- kalische Studien über chemisch verschiedene Körper machen, welche vermöge ihrer verschiedenen Zusammensetzung die Dauer des physi- kalischen Momentes modifizieren. Die frühere Auseinandersetzung begründet demnach die Benennung der diesbezüglichen Phänomene als chemisch-physikalischer Art. Prüfen wir nunmehr, welche die Hauptfaktoren des Phänomens sind? Vor allem ist die Hygromipisieerscheinung, wie oben er- wähnt, besonders von der Dichtigkeit, welche die Lösungen dar- bieten, abhängig. Bei gleichdichten Flüssigkeiten zeigt sich das Phänomen nicht oder ist, gegebenen Falles, eine einfache Diffusions- erscheinung. Den ausschließlichen Einfluss der Dichtigkeit kann man folgenderweise demonstrieren: man nimmt zwei Flüssigkeiten verschiedener Dichtigkeit: Wasser und Alkohol. Man füllt ein Zylinderrohr von 2 cm Durchmesser, welches an einem Ende ge- schlossen ist, mit destilliertem Wasser. Dieses Zylinderrohr kann von beliebiger Länge sein. Ich benutze eines von 5,6 em Länge. Da dieses Zylinderrohr an einem Ende geschlossen ist, so kann Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. 497 man dasselbe umkehren, ohne dass Wasser dabei herausfließt. Wenn das offene Ende desselben Zylinderrohres sich der Ober- fläche von gefärbtem Alkohol nähert, dann beginnt das Hygromi- Be onen, und kaum beginnt die NRohollscinG sich zu erheben, so entfernt man das mit Alkohol gefüllte Zylinderrohr. Dabei be- merkt man, dass obwohl der Kontakt mit dem Alkohol unterbrochen ist, der gebildete Meniskus zu steigen fortfährt bis zur Erreichung des anderen Endes des Zylinderrohres. Dieser Meniskus steigt nach Art eines Korkstückes oder einer Luftblase und zwar ausschließlich vermöge des Eigengewichtes. In diesem Falle kann man deutlich die Mithilfe der Flüssigkeit D anschließen, welche in ihrer Be- wegung heruntersteigend, eine entgegengesetzte Strömung in der aufsteigenden Flüssigkeit A bedingen kann. Es fehlt mithin jeder chemische und physikalische Faktor, der die Ursache des Alkohol- aufstiegs sein sollte, wenn nicht die einfache Differenz des Higen- gewichtes mit im Spiele wäre. Neues, wiederholtes Eintauchen hat die Wiederholung ebendesselben Phänomens zur Folge. Die Bestätigung jedoch, dass es sich hier ausschließlich um Dichtig- keitserscheinungen handle, erhält man an der Hand folgender Be- obachtung. Wenn man in das Zylinderrohr des Hygromipisimeters de- stilliertes Wasser bis zu einer gewissen Höhe aspiriert und hierauf vom oberen Ende hineinbläst, um es vollständig aus dem Kapillar- rohr zu vertreiben, so bleiben die Wände mit Wasser überzogen. Lässt man sofort vermöge einfacher Kapillarıtät die Flüssigkeit D in die Höhe steigen und blickt man, wie gewöhnlich, senkrecht auf diese Flüssigkeit, so erscheint, ohne sich zu vermischen, das destillierte Wasser, welches die Wände benetzt, in Form einer kleinen, farb- losen Schicht. Wenn man dann das Zylinderrohr des Hygromipisie- meters bis zur Flüssigkeit A erniedrigt (leicht gefärbtes destilliertes Wasser), dann tritt das bekannte Phänomen auf: D steigt in ge- wohnter Weise auf und bleibt stehen oder macht Halt unterhalb der oberen Schicht des destillierten Wassers. Die Erklärung dieser Neuheit ist selbstverständlich: A und D besitzen die namliche Dichtigkeit, weil die kleine bezw. geringe Menge von in A gelösten Anilins, hinsichtlich der Dichtigkeit nicht mit in Betracht kommt. Mir wurde der Einwand gemacht, dass das Phänomen einzig und allein auf Grund des Gravitationsgesetzes zustande komme. Gegen diese irrige Zumutung kann, wie ich glaube, die oberfläch- liche Beobachtung genügen, dass die flüssige Säule senkrecht in die Flüssigkeit A heruntersteigt, wenn letztere in einem hinreichend langen Rezipienten enthalten ist und dass das flüssigkeitsleere Zylinderchen D mit seiner absteigenden Bewegung den Aufstieg von A bedingt, welche Bewegung, Serade im Basar zum Gravitations- phänomen, nach oben strebt. Aber auch in diesem Falle zeigt eine XXVIII. 32 498 Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. aufmerksame Prüfung, dass es die Dichtigkeit und nur diese es ist, welche die Flüssigkeit zum Abstieg bestimmt, die nicht die be- kannten Gesetze der Gravitation befolgt beim Heruntersteigen, sondern der Abstieg wird ım Gegenteil durch die Beziehungen der Konzentration der beiden Flüssigkeiten reguliert. Endlich muss man auch noch bemerken, dass das Aufstieg- phänomen von A auch noch in dem Falle stattfindet, wenn das Kapillarrohr des Hygromipisimeters nicht immer in A eingetaucht bleibt und dieses schließt wohl aus, dass nicht die Raumleere es ist, die sich zu bilden bestrebt vermöge des Abstieges von D, welche den Aufstieg von A bedingt, eine Raumleere, welche übrigens nicht in Korrespondenz mit dem Meniskus der Flüssigkeit D sich bilden kann, da ja das Kapillarrohr am oberen Ende offen ist und in der in diesem enthaltenen Flüssigkeit der obere Meniskus frei im Luftraum liegt, während der untere in die Flüssigkeit einge- taucht ist, welche unter gewöhnlichem Druck steht. Man beachte nur, dass bei der Modifizierung dieser Versuchsbedingungen und bei Umkehr derselben, d. h., wenn die Flüssigkeit D eingeschlossen ist in einem Zylinderrohr, welches am oberen Ende geschlossen und voll mit Flüssigkeit gefüllt ist, da, wo virtuell die Leere vorhanden ist und vom barometrischen Druck unterhalten wird, während der Phänomenerzeugung, letzteres ebenfalls sich zeigt, weil die Dichte und nicht die Gravitation der Hauptfaktor des Phänomens ist. Der Einwand, dass die Hygromipisie nicht stattfinde, wenn das Kapillarrohr in Horizontallage gestellt werde, ist nicht stichhaltig, denn ich habe soeben bewiesen, dass ın den flüssigen Schichten bezw. Flächen das Phänomen auch in Horizontalstellung sich bilde und sogar in absteigender Lage, wenn nämlich die Massenverlage- rungen sich einfinden können, welche durch die verschiedene Dichtig- keit bestimmt und durch die anderen Phänomenfaktoren begünstigt werden und so unter gewissen Bedingungen noch die Wirkungen der Dichtigkeit kontrabalanzieren können. Im Falle von Horizontalstellung des Kapillarrohres kann das Phänomen sich nicht zeigen, denn es ist der direkte Widerstand des Glases, der sich dem anfänglichen Aufstieg und dem Austausch der Flüssigkeiten entgegensetzt. Wenn aber statt der horizontalen man eine leicht geneigte Lage innehält, dann zeigt sich das Phä- nomen teilweise und zwar in dem Teile, wo das Glas nicht unmittel- bar Opposition macht und die beiden Flüssigkeiten nach Art zweier im Kapillarrohr sich verteilen: die Flüssigkeit A mit der Basis nach unten und die Flüssigkeit B mit der Basis nach oben. Mit einem Wort, die Richtung oder Neigung des Hygromipisi- meter-Kapillarrohres mit Initialphänomen, wenn sie nicht mit den Hauptfaktoren der Erscheinung im Kontraste steht, übt keinen Ein- fluss aus. Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. 499 Unerlässliche Bedingung für die Erzeugung des Phänomens ist, dass die beiden iss ekeen mischbar und dass, wenn die Baden Flüssigkeiten bezw. le flüssigen Flächen A und B mit- einander in oh ung kommen, ihre oberflächliche Spannung ganz oder teilweise sich enmldhikei bis zum Minimalgrad. Wenn dieses nicht eintritt, tritt auch das Phänomen nicht ae selbst unter den günstigsten Bedingungen, unter welchen die Dichtigkeit wirken könnte. So, wenn OL als A und wenn Wasser als B funktioniert, so zeigt sich nicht das Phänomen, wie es ebenfalls nicht eintritt, wenn man für A Wasser und für B Quecksilber anwendet. Das Öl kann zwar einen Austausch mit dem Wasser eingehen, wenn man es vorher mit einer alkalischen Lösung vermischt, die es teilweise verseifen oder emulsionieren kann. Die Flüssigkeit A, indem sie teilweise die Seifenschicht, welche den kleinen Öltropfen umgibt, löst, bewirkt den Aufstieg des letzteren. Ebenso geschieht es, wenn das Öl mit Alkohol cc wird. Wenn man Mandelöl und abso- luten Alkohol nimmt und beide schüttelt, so emulsioniert sich der größte Teil des Öles, aber die beiden Elissiskeiten streben danach, sich méglichst schnell voneinander zu nema, Wenn man in diesem Falle die Flüssigkeit: Alkohol +- Ol als A und farbloses destilliertes Wasser als D funktionieren lässt, so sieht man, dass der Alkohol und das Öl in Tropfenform austauschen; aber auf mittlerer Höhe im Kapillarrohr des Hygromipisiemeters fährt das Öl fort sehr lang- sam aufzusteigen, während der Alkohol das letztere verlässt und auf eigene Faust, selbständig, schnellstens an den oberen Meniskus ankommt. So kann man ganz gut sehen, wie der Alkohol den Aufstieg nach 5“ effektuiert, weil es immer eine längere Zeit, wie gewöhnlich, braucht, während das Öl 7 braucht. I diesem Falle Bi sich elwas Öl gelöst und mit Alkohol hat es das allgemeine Gesetz befolgt, während ein anderer Teil sich emulsioniert hat und mechanisch mit fortgerissen wurde. Diese Tatsache hat noch All- gemeininteresse, denn sie beweist, dass bei den Hygromipisie- erscheinungen Durchdringungen und Trennungen in den Flüssig- ‘ keiten des Organismus bald mehr für den einen, bald mehr für den anderen Körper, sich geltend machen können oder dass solide Körper geschleift und fortgerissen werden können und dass sie dabei noch eine Erklärung für das sogen. Elektivvermögen gewisser Organe geben. Die chemischen Erscheinungen, wie die Doppelspaltungen, -zersetzungen, die sich bilden zwischen Flüssigkeiten, welche von Salzgemischen repräsentiert werden, wenn sie miteinander in Be- rührung kommen, beeinflussen nicht die Hervorbringung der Hygro- mipisieerscheinung. Die nachfolgende Beobachtung ist entscheidend und illustrativ für die obige Bestätigung. co 500 Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. | Hohe der ~ = 5 Fliissig- Durch; a =) = a keit im messen dee) Se q| a Flüssigkeit D breath Flüssigkeit A. Kapillar- | 80-3 '© So apillar- : moN le en schnittes py" S ales | rohr 3 6) | mm mm 1. | 25 | Kochsalzwasserlésung Destilliertes Wasser . 0,9 IO? Pe NT QC Mer an : 23 2.| 25 Schwefelkupferwasser- a ie 0,9 10“ löosunezlOEnn 2. ae 23 32125 Kochsalzwasserlösung | Schwefelkupferlösung OR: : Pp aie MOOT RS : 0,9 = 4.|25 Schwefelkupferlösung | Kochsalzw asserlösung 10 203 OCR ie he OS = 5.25 Kochsalzwasserlösung Schwefelkupferwasser- LOOT NE. 23.2, 8losune2o4]j,. 0,9 22104 6. | 25 Id. 23 | Schwefelkalilösung 90, 0,9 18“ 725 I 23 Schwefelkupferlösung 20 5 0,9 18“ 8. | 25 pe 23 Kochsalzlösung 20), 0,9 18“ Aus diesen Beobachtungen geht hervor, dass die einfache Ver- dünnung der beiden Lösungen von NaCl in destilliertem Wasser und CuSO,-Lésung, welche während der Bestimmung zustande kommt, die zwei hydromipisimetrischen Zeiten unverändert lässt. Diese in Lösung befindlichen Salze geben mit dem nämlichen Titer keinen Austausch (vgl. Nr. 3—4), wiewohl man zugeben kann, dass eine Doppelspaltung, -zersetzung infolge der Vermischung zustande komme. Wenn man an dessen Statt die Dichtigkeit von A modi- fiziert, d. h., wenn man, wie in unserem Falle, den Titer dieser Lösung ungefähr auf die Hälfte reduziert, dann vermindert sich der Wert den hygromipisimetrischen Zeit, was so viel heisst, als dass die Schnelligkeit des Aufstiegs von A sich vermehrt. Die Flüssie- keiten A CuSO,, K,SO,, NaCl in wässeriger Lösung auf die Hälfte des vorigen Titers reduziert, mit der Flüssigkeit D NaCl in Lösung zu 10°], geben die nämliche hygromipisimetrische Zeit. Wenn man nun genau überlegt, beweisen also die Beobachtungen Nr. 6 und 7, dass, wenn diese IL ostringen Doppelspaltungen, -zersetzungen kml Ver- mischung eingehen, sie auf die hygromipisimetrische Zeit ohne Einfluss sind. Dagegen zeigt die Beobachtung 8, dass zwei Lösungen von NaCl von verschiedener Dichtigkeit im Falle ihrer Vermischung auf chemischem Wege unter sich nicht reagieren. Es tritt unter ihnen kein Doppelaustausch auf und doch bleibt die hygromipisi- metrische Zeit, wie in den beiden vorangehenden Fällen, unver- ändert. So scheint es mir auf Grund dieser Reihe von Beobach- tungen genugsam erwiesen, dass die event. chemischen Reaktionen, welche zwischen den Flüssigkeiten A und D statthaben, irgend- welchen Einfluss auf die Dauer des Phänomens ausüben. Es scheint jedoch, dass man diese Auffassung nicht ohne Vorbehalt und ohne Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. 501 Ausnahmen annehmen könne und in der Tat möchten die nach- folgenden Beobachtungen geeignet sein, das gerade Gegenteil glauben zu machen! “is Höhe der TEEN: j is Sieh tc Durch- ps | 3 Flüssig- RR | USE o| 2 Sera messer des) o © Ela ee lee: keit im En: RER: Hae ss Flüssigkeit D an: Flüssigkeit A Kapillar- | 28.5 "3 sis ul schnittes San Zila rohr lesa LS mm mm = 1. | 26 | Gesättigte Kalilösung . 23 Kochsalzlösung zu 5°, 0,9 25%, 2.|26 ” 6 23 Schwefelsäure von der Dichigkeit 41/,°/, . 0,9 za Nämlich, wenn die Reaktion eine direkte und intensive ist, dann modifiziert sich auch die Substitutionszeit, trotz der identischen Dichtigkeit der beiden Flüssigkeiten. Aber es ist immerhin gut, daran zu denken, dass der Unterschied zwischen der Beobachtung 1 und 2 von 4 Sekunden repräsentiert wird und dass man begrün- deten Grund hat anzunehmen, dass diese wenigen Sekunden von Wärmeentwickelung abhängen, welche die Reaktion begleitet von 2 und ich fand auch, dass die Temperatur der Flüssigkeiten nam- haften Einfluss hat. Zur Bestätigung des Prinzips, dass die Lösungen von gleicher Dichtigkeit die gleiche Substitutionszeit innehalten, dient die nachfolgende Beobachtung und andere, die ich der Kürze wegen übergehe. ai = en Durch- = 38 en messer des & & |, a|\ 4 Flüssigkeit D ea ea nae Fliissigkeit A Kapillar- | 07 '3 >| eo schnittes an Zales rohr = oO mm mm = 1.| 26 | Kochsalzlösung von 2° Gefärbtes destilliertes Beaumé Dichtigkeit 2 Wassens sn... 0,9 42" 2. | 26 Schwefelkalilösung von ı Gefärbtes destilliertes 2°), Beaumé Dichtig- Wasseneen en: 0,9 41“ keit SER 2 Der Unterschied, den die Beobachtungen 1 und 2 darbieten, nämlich von 1” ist unbedeutend, darf also unbeachtet bleiben, denn er bewegt sich innerhalb der möglichen Fehlergrenzen mit den mir zu Gebote stehenden Mitteln für die Ermittelungen. Ich habe auch noch sehen wollen, ob die in den betreffenden Flüssigkeiten gelösten Gase die Zeitdauer der Hygromipisimetrie modifizieren würden. 502 Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. | 43 Hohe der Deen { | | Flüssig- la 5 & | EEE keit im stig te en 83) 2 5 55 = 5 | Flüssigkeit D Kapillar- Flüssigkeit A Kapillar- er la nn schnittes |S Zu rohr 3 KS mm mm 1 Pala Se eee Gekochtes destilliertes SLOG ime 23 Wasser 0,9 delice 2.| 11 | Obige Lösung. 8,96° |, 23 Destilliertes Wasser 0,9 WI 3.| 11 | Obige Lösung gekocht Destilliertes Wasser . 0,9 Uae 8.90. 0 wee. ees 4. | 11 | Gesättigte Lösung me Destilliertes Wasser 0,9 u“ COP arama 2 23 Saat Kochsalzwasserlösung Gesättigtes destilliertes HO! 23 Wasser, mit CO, . 0,9 11“ 6.| 11, Lösung mit co, ge- | Gesättigtes destilliertes siittigt wie oben . . 23 Wasser, mit CO, . 0,9 1,119 Aus den in den oben angegebenen Beobachtungen ermittelten Erfahrungen folgt, dass die gelösten oder durch Sieden aus den Flüssig- keiten vertriebenen Gase A und B keinen Einfluss auf die Sub- stitutionszeit ausüben, unter der Bedingung nämlich, dass das Sieden der Dissolutionen oder des destillierten Wassers in geschlossenen Rezi- pienten vor sich geht, um nicht die geringsten Flüssigkeitsmengen in Dampfform zu verlieren; denn das Phänomen ist, wie ich dies wiederholt gezeigt habe, derart empfindlich, dass sogar minimale Modifikationen der Dichtigkeit die Substitutionszeit erheblich ver- ändern. Auch bin ich zur Überzeugung gelangt, dass die aufge- lösten Gase keinen Einfluss auf die hygromipisimetrische Zeit aus- übten, selbst, wenn ich die beiden Flüssigkeiten ihrer Luft beraubte oder selbige mit CO, sättigte und sogar, wenn ich viel leichtere Gase, wie H, in Anwendung zog. Unterziehen wir nun dem Substitutionsverfahren die zwei wässerigen Lösungen vom gleichen Titer von Quecksilberchlorid und Oyanür. Se Tele Glas Durch- = au Flüssig- : - des 6 © = 2 et keit im ee Genes s|¢ Flüssigkeit D eaten Flüssigkeit A Kapillar- | 59-3 © S| | sete schnittes "aN Zu rohr 3 Ö | mm mm = 1. | 24 | Wasser. Lös. von Queck- Destilliertes Wasser . 0,9 Due silberchlorid zu 4°/, . 23 2.|24 | Wasser. Lös. von Queck- | | Destilliertes Wasser . 0,9 a | silbereyaniir zu 4°/, 23 | & Man ersieht aus der Tabelle, dass die beiden hygromipisimetri- schen Zeiten einen bedeutenden Unterschied aufweisen. Wiewohl die beiden Lösungen von gleichem Prozentgehalt sind, welche, wie Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. 503 unter diesen Bedingungen die gleiche hygromipisimetrische Zeit geben sollte, und mit Losungen von verschiedenen Proportionen, so ist dennoch zwischen diesen stets die angegebene Differenz er- halten geblieben. Der Unterschied in ihren Lösungen ist haupt- sächlich durch die Zahl der verschiedenen Ionen repräsentiert, weil die Quecksilberchloridlösung, wie ja bekannt, mehr ionisiert ist. Der Unterschied ist so erheblich, dass, abgesehen von jeder anderen Betrachtung, man konsequenterweise zugeben muss, dass die hygro- mipisimetrische Ermittelung in ähnlichen Fällen eine Angabe machen kann über die Anzahl der Ionen von zwei Lösungen mit gleichem Titer. Ich konnte nicht sicher und auf absolute Art und Weise bestimmen, ob der osmotische Druck einen bedeutenden Einfluss auf die Er- zeugung des Phänomens habe. Aus einigen Versuchen, die ich hier mitteile und die ich gewöhnlich als Seradleae für die Dauer der Substitutionszeit nehme, zu schließen, scheint der osmotische Druck keinen erheblichen Einfluss zu haben. Wir sehen tatsächlich, dass wenn man eine wässerige Lösung von K,SO, anwendet und eine Lösung von KNO,, beide von gleiche Prozentgehalt, so erhält man die in nachfolgender tabellarischer Übersicht angezeigten Ergebnisse: X = Bone der Durch- | # = üssigkei na issigkeit + r- | 80. © 5| 2 Kapılar schnittes "a. PALS rohr | a5 Oö mm RE SEEN mm z. 1. | — | Schwefelkali in Lösung Destilliertes Wasser . 0,9 hs co, > 23 2.1 — Salpetersaures Kali in Destilliertes Wasser . 0,9 12° Bosuns 1,1100... 23 Wie man sieht, beträgt der Unterschied der Substitutionszeit fast das Doppelte in Lösungen, welche gleichen Prozentgehalt des Lösungsmittels besitzen. Wenn man die Prozentgehalte der erringen ala erhält man trotzdem die namhafte Deren wie sich aus der obersten Tabelle der folgenden Seite ergibt. Ein geringer Urtersehian bei der hyeromipisimetrischen Zeit würde dem Zweifel Raum geben, dass er der verschiedenen [oni- sierung zu verdanken sei, aber ich habe nachgewiesen, dass bei den Lösungen, wo der Unterschied in der al der Ionen ein erheblicher ist, die Differenz der hygromipisimetrischen Zeit eine relativ kleine ist, mithin muss ein anderer Faktor, welcher der Be- obachtung nische für diesen namhaften Unterschied beitragen. Dass dieser Unterschied vollends nicht vom osmotischen Druck abhängig sei, wird durch die Beobachtungen bewiesen, welche in der nachfolgenden Tabelle sich vorfinden. 504 Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. 43 Hohe der | 1 Ä „| & Flüssig- — Du g a ee keit im | ee tea messer des| © 5 2 a) 8 Flüssigkeit D Kapillar- | Flüssigkeit A Kapillar- boa Ze Seal schnittes |". Fils rohr 3 ® mm mm 1. | 23 | Schwefelkali in wässer. Gefärbtes destilliertes Bosunssson ne. 23 Wasser. u... 0,9 12a 2. | 23 | Schwefelkali in wässer. Gefärbtes destilliertes ILS or Se : 23 Massen ne ss 0,9 15% 3. | 23 | Schwefelkali in wässer. Gefärbtes destilliertes Tkosuns#4yn 0... 23 \WMassern 2 tar 0,9 308 4, | 23 | Schwefelkali in wässer. Gefärbtes destilliertes Bösune 2%, 3. . » 23 Wasser u 0,9 22302 5.123 | Salpetersaures Kali in Gefärbtes destilliertes wässer. Lös. 8,96°/, 23 NVessenäe na 0,9 15“ 2/5 6. 23 | Salpetersaures Kali in Gefärbtes destilliertes wässer. Lösung 6°], 23 WASSER 3 8 SR 0,9 25% 7. | 23 | Salpetersaures Kali in Gefärbtes destilliertes wässer. Lösung 4°), 23 Wasser em. 0,9 Ir 8. | 23 | Salpetersaures Kali in Gefärbtes destilliertes wässer. Lösung 2°, 23 Wasser. un. 0,9 AN Wo man zwei isosmotische Lösungen von salpeter- und schwefel- saurem Kali anwendet, ist die Substitutionszeit, anstatt identisch zu sein, um isosmotisch zu erscheinen, bedeutend verschieden, | Hohe der Fa 5 5 Flüssig- Durch- | & s|& keit im Et ae = 5 3 Flüssigkeit 2 Kapillar- Flüssigkeit A a a & 3 rohr e m. O mm | mm = 1.| — | Schwefelkali 1,11°/, . 23 Destilliertes Wasser . 0,9 a Salpetersaures Kali 2. | — I Aan Oe ees 23 Destilliertes Wasser . 0,9 Ley! Wenn man von den Lösungen vom gleichen Titer Gebrauch macht und zwar von den gleichen bezw. denselben Substanzen, so hat man: 3 | Hohe der : = „58 Flüssig- Dura), no 3 a ee | keit im ee Se des Eee aig Flüssigkeit D Ze ee Flüssigkeit A Kapillar- | 0°77 ‘© Sie Kapillar- schnittes a Z| 5 | rohr ae ie) mm | mm 1./24 | Lösung von schwefel- Gefärbtes destilliertes saurem Kali 1,01°/,. | 23 Wassers. Se sr. 0,9 Savoie 2.,24 | Lösung von salpeter- Gefärbtes destilliertes saurem Kali 1,01°%,,| 23 Wasser 2. ota: 0,9 15! Demnach, obwohl gleiche Prozentgehalte vorhanden sind, so hat man doch eine nicht unerhebliche Verschiedenheit der Substitutionszeit Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. 505 zwischen den beiden Flüssigkeiten und dieses hängt wohl von dem Vorhandensein des osmotischen Druckes ab, weil die isosmotischen Lösungen der nämlichen Substanzen varrueren in bezug auf die hygromipisimetrische Zeit ungefähr, wie die gleicher Prozentgehalte der obigen Tabellen. In diesem Falle ist der Unterschied zwischen den beiden Lösungsmitteln größer. Man muss aber nicht vergessen, dass die isosmotischen Lösungen von schwefel- und salpetersaurem Kalı nicht, wie im vorigen Falle, die gleichen Prozentgehalte des Lösungsmittels besitzen. Wenn die zwei Lösungen auf den gleichen Prozentgehalt gebracht werden, so erhält man das Ergebnis wie in der oben angegebenen Tabelle. Es bleibt daher scheinbar erwiesen, dass der osmotische Druck keinen Einfluss hat auf die Dauer der hygromipisimetrischen Zeit. Um die Prüfung der Verhältnisse, welche Einfluss haben auf die Dauer des Phänomens, muss man das Verhalten der sehr mo- bilen und wenig dichten Flüssigkeiten studieren, wie beispielsweise Äther und Alkohol. Dieser letztere macht schnellstens Austausch mit den Flüssigkeiten, mit denen er mischbar ıst. Höhe der Durch- 3) 8 Flüssig- messer des| & © Sl Flissiokei | keit im ee Kanill a Ss 3 üssigkeit D KRssillan | Flüssigkeit ı apillar- sae = = a | schnittes 9 & o | {= | oO mm | mm iF 1. 24) Ungefärbt destilliertes | | Absoluter Alkohol. . Oe and Iassern = 0.0. 23 | 2.| 24 | Ungefärbt destilliertes | Alkohol von 75°),. - 0,9 6 Wasser ae 223. 3.24 | Ungefärbt destilliertes | | Alkohol von oe 0,9 14.137 WEISSER ct sh 28 | | 4.| 24 | Ungefirbt destilliertes | | Alkohol von 25°/,. . 0,9 28% Masern a... |G. 23 | Erwähnenswert ist noch die Tatsache, dass die Flüssigkeiten, welche wenig geeignet sind zum Austausch, es in erheblichem Maße werden, wenn selbige auch in geringer Menge mit Flüssigkeiten gemischt, den schnellen Austausch zu erleiden vermögen und die ich agile Flüssigkeiten nennen möchte. Ich habe eben bemerkt, dass der Alkohol gerade eine dieser Flüssigkeiten ıst, welche sich derartig verhält und zwar in typischer Weise. Die vorhergehende Tabelle zeigt sein Verhalten mit den verschiedenen Wasserverdün- nungen. Über diesen Umstand habe ich in meiner vorigen Arbeit Erwähnung getan *). Aus dem, was ich oben auseinandergesetzt habe, geht hervor, dass die Erscheinungen der Hygromipisie komplexe Phänomene 4) „Un fenomeno di fisica-chimica e le sue applicazioni in Biologia.“ Studi ericerche del Prof. A. Capparelli. Atti della Accademia Gioenia, Serie ta, Vol. XX. 506 Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. chemischer Physik sind; dass dieselben wesentlich von der ver- schiedenen Dichtigkeit der beiden Flüssigkeiten abhängen, mögen dieselben organische oder anorganische oder Mischungen von orga- nischen oder unorganischen Körpern sein; dass die Mischbarkeit der beiden Lösungen einen absoluten, bestimmten Einfluss haben; dass die gelösten Gase gar keinen Einfluss auf den osmotischen Druck ausüben. Ich selbst kann noch eine Erklärung über den Verlauf des Phänomens geben, nämlich die: warum die Säule A ganz genau im Zentrum der flüssıgen Säule D emporsteigt und warum der Meniskus von A während des Aufstiegs konvex ist? Es ist einleuchtend, dass wenn die oberflächliche Spannung der beiden Flüssigkeiten A und D bei dem Beginnen des Phänomens aus Dichtigkeitsgründen A danach strebt, in Masse in der Flüssigkeit D sich zu verlagern und mitten durch dieselbe wieder emporzusteigen, während diese das Bestreben zeigt, herunterzusteigen beim Nachlassen des Kapillar- einflusses, welcher auf die Flüssigkeit D ausgeübt wird und zwar nach Aufhebung der Oberfliichenspannung der beiden flüssigen Flächenschichten. Die äußere Reibung indessen übt ihren Ein- fluss mehr auf den peripherischen Teil von D aus und A findet weniger Schwierigkeit, im Zentrum sich durch die Flüssigkeit D durchzuzwingen, während an der Peripherie die entgegengesetzte oder umgekehrte Strömung hinderlich ist. Der aufsteigende Impuls, den sie wegen der geringeren Dichtigkeit besitzt, wenn die Bewegung einmal eingeleitet ist, muss an ihrer Peripherie umgekehrte Strö- mungen bedingen, nämlich: absteigende Strömungen, muss nämlich das Heruntersteigen des leeren Zylinderchens der Flüssigkeit D begünstigen. Diese absteigenden Strömungen sind es, welche dann die konvexe Form des Meniskus der Flüssigkeit A bestimmen und mithin den Aufstieg dieser Flüssigkeit begünstigen. Es ist auch gut, bei den Erscheinungen der Hygromipisie das Verhalten von ame en ann. soliden Pachkelehen zu beachten, denn bei den Vorgängen unseres Organismus begegnen wir öfters korpus- kulierten Flüssigkeiten. Ich habe zuerst beobachtet, ob anorganische Körper, welche in den Flüssigkeiten suspendiert sich vorfinden, dabei irgendwelchen Einfluss ausüben? Bei der Gelegenheit habe ich mich des Talkes, welches man in feinem Pulver und frei von lösbaren Substanzen haben kann und die den Verlauf des Hygromipisiephänomens stören könnten, bedient. Folgendes ist das Ergebnis (s. die gegenüber- Sialhencd obere Tabelle). Wie man sieht, modifiziert der a pendiehe Talk nicht die Sub- stitutionszeit. Betrachten wir nun den Einfluss der suspendierten organischen Körper. Ich habe bereits in meiner ersten Arbeit den Einfluss Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. 507 Höhe der Dae: 5 5 Flüssig- eins sg] RAR keit im me beeen pee des| 2 + a| 3 Flüssigkeit D Kann Flüssigkeit 4A Kapillar- Sb. 3 = = ns schnittes ne O mm | mm ln 1. | 23 | Destilliertes Wasser mit Gefärbtes destilliertes Seo OU Talk 2°. 2. 23 0. Wiassetanaku un. ot 0,9 | 2. | 23 | Schwefelnatr. in Wasser- Gefärbtes destilliertes | lösung 8,96°,. . - 23 Wasser nn ne, 0,9 10% 3. | 23 | Schwefelnatr.in Wasser- Gefärbtes destilliertes lösung mit 8,96°, Wasserkoe.. 2): 0,9 104 Italo ee oe en | der suspendierten roten Blutkörperchen im Blutserum nachgewiesen und ich füge nunmehr neue Angaben hinzu. Betrachten wir in- dessen zu allererst das Verhalten der Stärke, welche ım destillierten Wasser suspendiert ist. S Hohe der | ihren i a = Flüssig- N 18 u, RB keit im ae chee WEG Ges Gs g|& Flüssigkeit D Re ate Flüssigkeit A Kapillar- | 89.53 5/5 areas schnittes Dan FAS rohr | | = oO mm | mm 5 1. | 24 Kochsalzwasserlösung | Ungefärbtes Wasser mit SO ii aes eae 23 Stärke im Verhältnis vont890% or = i 0,9 DY 2.|24 | Kochsalzwasserlösung Ungefärbtes Wasser . 0,9 12% SSO CU 3 ee 2} 3. | 24 zen Ungefärbtes Wasser mit SEIO un 23 Stärke im Verhältnis von 8,96°/, und hier- autshltrierb. . iu 0,9 124 | Der Einfluss der prepeadienten Stärke auf die hygromipisi- metrische Zeit ist in diesem Falle unverkennbar! Es ist kein Unter- schied im Falle des filtrierten Wassers, welches stärkefrei ist und das, um auszuschließen, dass die Stärke event. irgendwelche Sub- stanz im Wasser hätte lösen lassen können; denn diese 12“ in Nr. 3 der beigegebenen Tabelle, koinzidieren genau mit 12“ von Nr. 2, wo einfach farbloses Wasser als A funktionierte. Verschieden ist demnach das Verhalten der von mir untersuchten organischen Sub- stanzen von den in den Flüssigkeiten suspendierten anorganischen während des Hygromipisiephänomens. Für die suspendierten anorganischen Substanzen muss man der Vermutung Raum geben, dass bei der Tendenz der suspendierten Körper für die Präzipitation die Substanzen während ihrer Abstieg- bewegung auch die höchst empfindliche Bewegung der beiden Sub- stitutionsflüssigkeiten stören könnten. Es ist auch wahrscheinlich, 508 Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. dass das verschiedene Verhalten von dem Umstande abhängt, dass organische Körper suspendierte Zellen sind, deren Form und In- haltszusammensetzung sich modifizieren mit der verschiedenen Dichtigkeit und Zusammensetzung der Flüssigkeiten, in denen sie eingetaucht sind. Ich hebe bei dieser zufälligen Gelegenheit die besondere Wichtigkeit hervor, welche die Hygromipisieerscheinungen haben bei dem Angeben der innewohnenden Eigenschaften der organisierten Materie der in den Flüssigkeiten suspendierten Körper und das, was ich bei dem Talk ermittelt habe, wird man höchst- wahrscheinlich bei allen anorganischen Substanzen annehmen können. Verlauf der hygromipisimetrischen Kurve des Rindsblutes, welches verschiedene Mengen von roten Blutkörperchen enthält. ie = | 137° | | | [ Saas IGE a felis Bi BEE ae | IGE Sa aR ean [ 4—+ H 33° isco er (ale zen] 1 st | BES | Te el zl 2 4 ” A nd 5 R ve E Cl 66 _ 68 i k Die Ordinatenzahlen repräsentieren die Zahl der roten Blutkörperchen per mm? und ihr Wert ist verständlich bei der Multiplizierung mit 100000. Die Abszissen- zahlen repräsentieren die hygromipisimetrische Zeit, in Sekunden ausgedrückt. In betreff der roten Blutkörperchen wissen wir, dass dieselben auf das Hygromipisiephänomen Einfluss haben. Um dieses zu er- klären, bestimmte ich zuerst den Wert t = Zeit, der Hygromipisie- erscheinung einzig und allein mit dem Blutserum, welches ich mittelst Zentrifugierung erhalten hatte. Bei dieser Reihe von Ver- suchen verwendete ich Rindsblut. Die erhaltenen Werte stellen die Durchschnittszahl von fünf aufeinanderfolgenden Beobachtungen über das Blutserum zweier Tiere (vgl. die beiden folgenden Tabellen). Ich habe auch mehrmals sehen wollen, ob die hygromipisi- metrische Zeit sich modifiziere während der wenigen Tage meiner verschiedenen Beobachtungsdauer über das Blut und ich fand dabei, dass dasselbe zentrifugierte und das sich selbst für einige Tage über- Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. 509 ra „ah ae "ia 224 SBHolaS = 3 Flüssigkeit D Bag 2 Flüssigkeit A 53 EE as Wage 5a "Ed au: =| datum @) mm mm GE 1. |24| Rindsblutserum zentri- Ungefärbt destilliertes | | puplehtet es) | 23) Wasser oe 110,908: 1932 1119. Nove 2. 24, Rindsblutserum zentri- | | Ungefärbt destilliertes | | fugiert Beer 0223... Wasser eran N) ER DI 3. |24| Rindsblutserum zentri- | Ungefärbt destilliertes | | | HUNCH bee ee ka | 28 | Wasser ee SOO BE ON | | lassene Serum unverändert bleibt, wie es aus der beifolgenden Tabelle erhellt: | 5853 Bal ee | 3, eve 3.58 5.5 | Beobach- 38 Flüssigkeit D Sage Flüssigkeit A S253 5353| tungs- . = AE a Fe > datum S mm | | mm me | slate SEE 1. 24) Zentrifugiertes Rinds- | Ungefärbt destilliertes | blutserum - . . .| 23 | Wasser. 0.919342 132Noy . 24 Zentrifugiertes Rinds- | Ungefärbt destilliertes | blutserum . . . 21023 W asser . ERS) ES Aa 3. |24| Zentrifugiertes Rinds- Ungefärbt destilliertes blutserum . . . . 23 Wasser 5 DIN, 4. 24| Zentrifugiertes Rinds- | Ungefärbt destilliertes | blutserum elec Wasser . 0,9 [34% 16. ,, 5. |24 Zentrifugiertes Rinds- Ungefärbt destilliertes | blutserum.. =... | 23 Wasser. . Oi Sa ie 5, 6. |24 Zentrifugiertes Rinds- Ungefärbt destilliertes | blutserum . . 1503. Was. 0:37 322 0187, Nachdem es nun festgestellt war, dass die Substitutionszeit ım zentrifugierten Serum unverändert bleibt und zwar für einige hinter- einanderfolgende Tage, wurde die Anzahl der roten Blutkörperchen, welche in einer konstanten gegebenen Menge von Serum sich vor- fanden, folgendermaßen bestimmt. Rindsblut wurde gut zentri- fugiert. Hierauf wurde der Blutkörperchenrest, soweit wie nur immer möglich, von seinem Serum befreit, gesammelt. Von diesem Rest wurden genau bestimmte und ın verschiedenem Verhältnis gemischte Mengen mittelst einer graduierten Eprouvette, mit derselben Menge von Serum genommen. Nach der Mischung der roten Blutkörper- chen mit dem Serum wurde mit dem Thoma-Zeissapparat die Be- stimmung der Anzahl der Blutkörperchen vorgenommen und hierauf die hygromipisimetrische Zeit bestimmt. Die Ergebnisse waren nachfolgende: 510 Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. 2. Pan on 2 a Flüssigkeit D EERE Flüssigkeit A REINE a 3|& mee Age) ee | wes Zins = = Be datum ®) mm | mm A 1./14 | Rindsblutserum mit Ungefärbt destilliertes 3750 Blutkörper- Wasser... .| 0,9 .130,6“| 19. Nov. chen per mm® . . | 23 2. 14,3, Rindsblutserum mit | Ungefärbt destilliertes 93750 Blutkörper- Wasser. 0 chen per mm? . . | 23 3. 14,2) Rindsblutserum mit | Ungefärbt destilliertes 93750 Blutkörper- Massen aoe wits. 0. 310,0. 088 BSle hoal teames chen per mm? . . | 23 Indem man im Serum das Zahlenverhältnis der roten Blut- körperchen varıierte, kam man zu den folgenden Ergebnissen: En = noe Durch- is = 1S keit He) messer des 5 © ,, alg Fliissigkeit D Kan a Fliissigkeit A Kapillar- | 50.2 "3 3 © | Kapillar- hm man a I So schnittes jan S IO mm mm = 1. 14 Zentrifugiertes Rinds- Ungefärbt destilliertes blutserum © os) ae 23 Wasser! oh use ater 0,9 | 344 2. |14 Serum mit roten Blut- | Id. 0,9 38" körperchen: 8267 570 23 3. |14| Serum mit roten Blut- Id. 0,9 392 körperchen: 4111870 23 4. |14 Serum mit roten Blut- Id. 0,9 28" körperchen: 2833333 23 5. 14 Serum mit roten Blut- Id. 0,9 28 körperchen: 2138980 23 6. 14) Serum mit roten Blut- Id. 0,9 28,4" körperchen: 944000 23 7.14 Serum mit roten Blut- Id. 0,9 30,4 körperchen: 118980 23 8. 14| Serum mit roten Blut- Id. 0,9 oiled körperchen: 65750 . 23 9. 14| Serum mit roten Blut- Id. 0,9 32,4" körperchen: 30915 23 10. 14) Serum mit roten Blut- Id. 0,9 33.02 körperchen: 10840 . 23 Aus diesen Angaben ersieht man: dass die fortschreitende Ver- minderung der Rotkörperchenzahl von einer progressiven Verminde- rung der hygromipisimetrischen Zeit begleitet ist, während eine noch stärkere und fortschreitende Verminderung die Substitutions- zeit zum ursprünglichen Ausgangspunkt zurückführt, d. h., die hohe Zahl und die große Verminderung der Rotkörperchen haben unge- fähr dieselbe hygromipisimetrische Zeit (vgl. am Ende). Eine Er- klärung über diese sonderbare Erscheinung ist schwer zu geben Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. 511 g| a eo lows 2,38 © © „| Beobach- s| 3 Flüssigkeit D BEER Flüssigkeit A Behe) S07 S| tungs- 21a Se aM @ in aN) datum zus A = Oo m m ee mm Er ag 1.)14 | Rindsblutserum mit Ungefärbt destilliertes 6250000 roten Blut- Wasser . eee OSO) 32 Sil 0. Dez körperchen (zentrif.) | 23 | 2.115 | Rindsblutserum mit Td. 0.92 82.0.2 70 6250000 roten Blut- körperchen (zentrif.) | 23 3.,14,6 Rindsblutserum mit Id. 0,9 3203 I 1500000 roten Blut- körperchen (zentrif.) | 23 4.15 | Rindsblutserum mit Id. 0.992132 142 10. 2 oe 1500000 roten Blut- körperchen (zentrif.) | 23 5. 114,6) Rindsblutserum mit Id. 0,92 132% er 700000 roten Blut- körperchen (zentrif.) | 23 6. 15 | Rindsblutserum mit Td. 0:92 32 O54 10l ae 00000 roten Blut- körperchen (zentrif.) | 23 | und ich werde sie auch nicht abzugeben versuchen, wo man es nicht beweisen kann, dass die Rotkörperchen dem Blutserum des Materials = „eh | 3 an | op Balsa s|/a piss : oP aS) ER i Zass| zo | = d:6| 2a ss Flüssigkeit D SaG5 Fliissigkeit A Seea8| 24 883233 895% 5 |v rm Pog | 32) |S aa oa | aie So A. mE an | Be SSee 8/88 5 nt an (Mt Sate aS aes 1. |15) Zentrifugiertes Rinds- Ungefärbt destillliertes | blutserum 5 | Wasser . 3. || AO payee NGS (ela eS 2. /15| Zentrifugiertes Rinds- Id. 0,9821 33:32 21692 ae blutser. mit 250000 | roten Blutkörperchen pezmmır 2.223 3. 15| Rindsblutserum mit Id. Mara loos 147" 495000 roten Blut- | körperchen per mm? | 23 4. 15) Rindsblutserum mit Id. ONO 13220 | OO at lA eae 1000000 roten Blut- körperchen per mm? | 23 5 |15) Rindsblutserum mit Id. QE) Be 120205 1475 : 2600000 roten Blut- körperchen per mm? 23 | 6. 15| Rindsblutserum mit Id. 0:97 7,32:5:2 180 7147. 4200000 roten Blut- körperchen per mm? | 23 7. 15] Rindsblutserum mit Id. 0:92 33,22. 2182.20 1472 6000000 roten Blut- | körperchen per mm? | 23 | 8. 115) Rind$blutserum mit Id. 0988 34452210209,6. | 1472 8979800 roten Blut- | körperchen per mm? | 23 | 512 Chwolson, Lehrbuch der Physik. nachgeben, welches im Serum sich löst und zwar bei starker Ver- dünnung, um die Dichtigkeit zu variieren. Indessen zeigt die voran- gehende Beobachtung (vgl. beil. Tab.), dass das Serum, mit kleiner Menge von Blutkörperchen gemischt, seine Eigenschaften nicht modi- fiziert. Es verhält sich auf die gleiche Art und Weise nach einigen Tagen, wie im frischen Zustande in bezug auf die hygromipisi- metrische Zeit. Die angeführte Tatsache ist nicht abhängig von der Dichtigkeit, welche fortschreitend mit der Zahl der roten Blut- körperchen variiert, wie aus der letzten Tabelle zu ersehen ist.’ Die roten Blutkörperchen sind hinsichtlich ihrer Form nicht viel verändert, so dass keine andere Vermutung denkbar ist, als diejenige, dass einzig und allein das Verhalten der hygromipisi- metrischen Zeit ausschließlich von ihnen abhänge und man muss unbedingt zugeben, wenigstens experimentell aufgefasst und erklärt, dass eine unbekannte Beziehung vorhanden ist zwischen der Anzahl der roten Blutkörperchen und dem Blutserum, eine Beziehung, welche infolge des hygromipisimetrischen Studiums erklärt wird. (Schluss folgt.) O. D. Chwolson. Lehrbuch der Physik. 4. Bd. Die Lehre von der Elektrizität. 1. Hälfte. Übersetzt von H. Pflaum. Gr. 8. XII u 915 S., Braunschweig, Vieweg & Sohn, 1908. Das groß angelegte Lehrbuch von Chwolson, über welches wir schon mehrfach berichtet haben, rückt langsamer vor, als ver- sprochen war. Vollständige Umarbeitung des russischen Originals für die deutsche Ausgabe ist Schuld daran, kommt aber schließlich letzterer zugute. Der jetzt vorliegende Halbband enthält die Lehre vom konstanten elektrischen Felde und fast die gesamte Lehre vom konstanten Magnetfelde. Von dem Standpunkt der Vor-Maxwell’- schen Theorien ausgehend, werden die Tatsachen sorgfältig be- schrieben und so der Grund vorbereitet, auf welchem dann die neueren Theorien von Faraday, Maxwell-Hertz und die Elek- tronentheorie entwickelt werden können. Die große Bedeutung, welche die neue Elektrizitätslehre für die biologischen Probleme gewonnen hat, wird dieses Buch jedem Biologen willkommen machen. Hoffen wir, dass der Schlussband nicht allzulange auf sich ‘warten lasse. Damit werden wir einen zuverlässigen Führer gewinnen, der uns ın diesem wichtigen Gebiete von wahrem Nutzen werden kann. Auf die prächtige Einleitung mache ich noch besonders aufmerksam. Sie gibt auf 18 Seiten eine klare Darlegung des Verhältnisses zwischen Tatsachen und theoretischer Darstellung derselben, welche geradezu musterhaft genannt werden muss. J. Rosenthal. — — ee = - Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der kgl. bayer. Hof- u. Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Bl, BE Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und -Dr-R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig. München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. = > Bd. XXVIII. 15. August 1908. Ac 16. Inhalt: Lehmann, Scheinbar lebende Kristalle, Psendopodien, Cilien und Muskeln (Schluss). — Capparelli, Die Phänomene der liygromipisie (Schluss). — Franz, Die Struktur der Pigmentzellen. — Nagel, Handbuch der Physiologie des Menschen. Scheinbar lebende Kristalle, Pseudopodien, Cilien und Muskeln. Von O. Lehmann. (Schluss.) Würde ein gewöhnlicher kugelförmiger Flüssigkeitstropfen (etwa durch Abkühlung) plötzlich in einen flüssigen Kristall übergehen, was sich in zahlreichen Fällen, z. B. bei Cholesteryloleat wirklich beobachten lässt, so würde der kugelförmige Tropfen durch jene innere Kraft zu einem Polyeder ausgestreckt, welcher sich bei Er- wärmung bis zur Umwandlungstemperatur plötzlich wieder zur Kugel kontrahieren würde. Man könnte die auftretende Kontraktions- kraft zu mechanischer Arbeitsleistung ausnützen und würde finden, dass die Arbeit auf Kosten von Wärmeenergie entsteht, allerdings nicht direkt. Die Wärme wird nämlich nur dazu gebraucht, die Umwandlung der Moleküle des flüssigen Kristalls in solche der amorph flüssigen Modifikation zu bewirken, also chemische Energie zu erzeugen und die Bewegung entsteht dann direkt auf Kosten der letzteren. Zu diesem Ergebnis führt die Be- trachtung analoger Fälle. Bei flüssigen Kristallen ist es lediglich der Öberflächenspannungs- druck, welcher die Kontraktion veranlasst, eine sehr geringfügige Kraft, welche nicht in Vergleich gestellt werden kann mit der Größe XXVIII. 33 514 Lehmann, Scheinbar lebende Kristalle, Pseudopodien, Cilien und Muskeln. der Muskelkraft. Wie bereits bemerkt, verhalten sich aber auch feste Kristalle ganz ähnlich wie flüssige, denn vom Standpunkt der Molekulartheorie unterscheiden sie sich von solchen nur dadurch, dass ihren Molekülen die Fähigkeit abgeht, von selbst oder bei einem unterhalb der Elastizitätsgrenze liegenden Zwang von Ort zu Ort zu wandern, was Voraussetzung der Erscheinung des Fließens, der bleibenden Deformation und der Relaxation ist. Dehnt man einen festen Kristall, so sucht er sich mit großer Kraft zu kontrahieren wie eine gespannte Feder, da infolge der Vergrößerung der Molekularabstände in der Dehnungsrichtung die Molekular- attraktion beträchtlich über die Expansivkraft, mit'welcher sie sich vorher im Gleichgewicht befand, gewachsen ist. Dieser Überschuss ist es, welcher sich als Kontraktionskraft geltend macht und durch eine äußere Kraft äquilibriert werden muss. Beim Stauchen wird infolge der durch Annäherung der Moleküle bedingten Schwächung der Attraktion umgekehrt die Expansion überwiegend und der Überschuss erscheint als federnde Widerstandskraft, welche durch die komprimierende Kraft überwunden wird. Auch bei einem festen Kristall wäre die beim Schmelzen auf- tretende Kontraktionskraft nicht größer als beim flüssigen, da sie lediglich von der Oberflächenspannung herrührt. Ersetzen wir aber Schmelz- und Erstarrungsprozess durch enantiotrope Umwandlung (Umwandlung im eine polymorphe Modifikation), so kann auch die Kraft der Zusammenziehung beträchtliche Werte annehmen, wie die von mir bei Protokatechusäure, Chinondihydroparadikarbonsäure- ester und Paraazophenetol beobachteten Schubwirkungen*?) lehren. Man kann die auftretende Kraft Gestaltungskraft nennen, da sie wieder hervorgeht aus dem Zusammenwirken von Molekular- attraktion und Expansivkraft. Letztere ist eine innere spannende Kraft, welche als ausdehnende Kraft wirkt, falls durch Umwand- lung der Moleküle deren Attraktionskraft vermindert ist. im Fall des Paraazophenetols ıst die auftretende Schubkraft eine so beträchtliche, dass sogar dünnwandige Glasgefäße, in welchen die Kristalle enthalten sind, gesprengt werden können, obschon sich das Volumen bei der Umwandlung nicht vergrößert, sondern im Gegenteil verkleinert. Schon meine früheren Untersuchungen über Polymorphie, namentlich aber diejenigen über flüssige Kristalle haben zu dem Ergebnis geführt, dass die enantiotrope Umwandlung nicht darauf beruhen kann, dass dieselben Moleküle sıch zu einem anderen Raumgitter zusammenlagern, wie die alte Theorie der Poly- morphie annahm, sondern dass eine Anderung der Molekiile ein- treten muss *), als deren Folge dann die Raumgitteränderung sich 2) O. Lehmann, Ann. d. Phys. 21, 381, 1906. 3) O. Lehmann, Ann. d. Phys. 20, 77, 1906. 9 v ©) v Lehmann, Scheinbar lebende Kristalle, Pseudopodien, Cilien und Muskeln. 515 vollzieht. Die Umwandlungsvorgänge sind ganz ähnlich denjenigen bei Dissoziation lockerer chemischer Verbindungen (Kristallwasser- verbindungen) und die Umwandlungskraft°*), welche eine Modi- fikation auf eine andere ausübt, wenn sie mit derselben in Be- rührung gebracht wird, ist wohl in ihrer Wirkung verwandt denjenigen, welche man bei chemischen Prozessen als katalytische bezeichnet, allerdings nicht in dem Sinne, dass sie lediglich einen stattfindenden Prozess beschleunigt, sondern auslöst. Fragen wir also nach der Quelle der Arbeitsleistung der bei enantiotropen und monotropen Umwandlungen auftretenden Schub- kräfte, so kann sie wohl kaum ın etwas anderem gesucht werden als in der bei der Umwandlung verschwindenden potentiellen che- mischen Energie. Denn Hinderung der Schubkraft hindert auch die Umwandlung und durch hinreichend große Gegenkraft kann sogar die Umwandlung (der chemische Prozess) rückgängig gemacht werden. Wir haben hier einen Fall direkter Umwandlung chemischer Energie in mechanische, wie er uns sonst nur bei der der Muskelkontraktion begegnet. Ist schon der Umstand, dass die Muskelkraft ın jeder Hinsicht der auf Molekularattraktion beruhenden Elastizität gleicht und der Gestaltungskraft, so ist der weitere Umstand, dass keine andere Kraft außer letzterer direkte Umwandlung von chemischer Energie in mechanische zu bewirken vermag, ein deutlicher Hin- weis darauf, dass Muskelkraft und Gestaltungskraft im Prinzip identisch sind. Da es sich bei der Muskelarbeit um Oxydations- vorgänge handelt, welche sich naturgemäß innerhalb eines festen Kristalls nicht vollziehen können, ist der Vergleich mit der Um- wandlungskraft eines Kristalls allerdings direkt nicht zutreffend. Die lebende organische Substanz ist aber gallertartig, d. h. sie be- steht nach meinen Untersuchungen °°) aus einem schwammigen Ge- rüst kleiner Kristallchen**), welche in Muskelfasern, insofern diese optisch anisotrop erscheinen, grofenteils parallel geordnet sein müssen. Da in den Zwischenräumen Diffusion möglich ist, sowohl Zutritt von Sauerstoff aus dem Blut, wie auch Abgabe der durch die Muskeltätigkeit gebildeten Kohlensäure u. s. w., erscheint eine chemische Umwandlung der Muskelfibrillen in solcher Schnelligkeit, in welcher die Muskelkontraktionen erfolgen können, recht wohl möglich. Die Muskelkraft wäre demnach physikalisch betrachtet nichts anderes als Gestaltungskraft, ausgelöst durch die Umwand- 34) ©. Lehmann, Verh. d. Karlsr. naturw. Ver. 19, 114, 1906. 35) O. Lehmann, Zeitschr. f. Kristallogr. 1, 453, 460, 1877; Molekularphysik 1, 50325135522, 532, 533, 1888. 36) Vgl. auch C. Naegeli, Theorie der Gärung, München 1879, 123; J. M. van Bemmelen, Zeitschr. f. anorg. Chem. 13, 234, 298, 1896; P. P. v. Wei- mann, Zeitschr. f. Chem. u. Industr. der Kolloide’ 2, 370, 1908. 99O* vO 546 Lehmann, Scheinbar lebende Kristalle Pseudopodien, Cilien und Muskeln. lungskraft eines vom Nerven abgeschiedenen Stoffes, welcher ge- wissermaßen katalytisch die Umwandlung der Kriställchen (Micellen) einleitet. Das Ergebnis scheint sehr gut zu harmonieren mit den Untersuchungsresultaten von Th. W. Engelmann”), welchen zu- folge die Muskelkontraktion in engem Zusammenhang steht mit Verschwinden und Wiederauftreten der optischen Anisotropie der Muskelfasern. Er schreibt (S. 716): „Als primäre physiologische Ursache derselben betrachte ich die, an chemische Aktivität ge- bundene Formveränderung kleinster, ultramikroskopischer, 1m Proto- plasma enthaltener doppelbrechender Teilchen, quellungsfähige Molekülkomplexe, die ich als Inotagmen bezeichnet habe. Es mag dahingestellt bleiben, ob diese ... im Ruhezustand faserförmig zu denkenden Teilchen bleibende, oder ob sie vorübergehend ent- stehende und wieder vergehende festere Gebilde sind. Jedenfalls sind es meiner Auffassung nach nur die Formveränderungen dieser Gebilde, welche den Kontraktionen der Muskelfibrillen, Flimmerhaare u. s. w. zu vergleichen sind und auf gleichem Prinzip wie letztere beruhen. Auf sie alleın ist also der Ausdruck „Kon- traktion“ anzuwenden. Sie veranlassen sekundär jene rein physi- kalischen Bewegungen, die ich als „Tropfenbewegungen“ bezeichnen möchte, d. h. die auf Oberflächenspannungsdifferenzen beruhenden Protoplasmaströmungen“ °°). Zeigen sich nun große Analogien zwischen den Kraftäußerungen sich umwandelnder Kristalle und den Bewegungserscheinungen bei Lebewesen, so gilt dies nicht minder hinsichtlich der Wachstums- erscheinungen. Der häufig gemachte Einwand, Kristalle seien starre Gebilde, lebende Substanz dagegen gallertartig weich oder zähflüssig, ist durch die Entdeckung der flüssigen Kristalle hinfällig geworden, und von ganz besonderem Interesse ıst, dass bei solchen (Gebilde beobachtet werden können, die sogen. Myelinformen, welche mit organischen Bildungen außerordentlich große Ähnlich- keit besitzen. Entdeckt wurden die Myelinformen bereits 1854 von R. Vir- chow°®); trotz mannigfacher Untersuchungen konnte man aber lange Zeit hindurch über ihre Natur nicht ins Klare kommen. H. Ambronn®°) hielt sie für schlauchförmige, mit einer der zwei aufeinander reagierenden Flüssigkeiten gefüllte Niederschlagsmem- 37) Th. W. Engelmann, Berl. Akad. Ber. 39, 694, 1906. 38) Die Vermutung, dass nähere Untersuchung des Verhaltens flüssiger Kri- stalle wohl zur Aufklärung über das Wesen der Muskelkraft führen könne, habe ich bereits an verschiedenen Stellen ausgesprochen, z. B. Flüssige Kristalle, 1904, S. 258; Flüssige Kristalle und die Theorien des Lebens, Leipzig, Ambr. Barth, 1906, S. 54, 2. Aufl., 1908; Aus der Natur, Leipzig, E. Nägele, 4, 18, 1908 u. s. w. 39) R. Virchow, Virchow’s Archiv 6, 571, 1854. 40) H. Ambronn, Ber. d. k. sächs. Ges. d. Wiss. 42, 425, 1890. ty! Lehmann, Scheinbar lebende Kristalle, Pseudopodien, Cilien und Muskeln. 517 branen; nach G. Quincke*!) sollten sie hohle, mit Kristallen und schleimiger Masse gefüllte Säcke und Röhren von Ölsäure sein. Daß es sich um eigenartige Bildungen fließender Kristalle handelt, wurde zuerst von mir erkannt*?). Erst in neuester Zeit gelangte ich indes zu völlig klarer Erkenntnis ihrer Struktur, nachdem von Ch. P. White‘) nicht nur eine größere Zahl weiterer Fälle von Myelinbildungen aufgefunden, sondern insbesondere auch der Nach- weis erbracht war, dass diese Bildungen, nicht, wie man bisher an- nahm, immer nur an der Grenze zweier aufeinander reagierender oder mindestens in Kontakt stehender Flüssigkeiten auftreten können, sondern ähnlich wie Kristalle inmitten einer einzigen homogenen Lösung, speziell bei Mischungen von geschmolzener Fettsäure (Pal- mitinsäure) und Cholesterin bei Zugabe von Glyzerin oder Wasser. White hält nichtsdestoweniger an der Ansicht fest, Oberflächen- spannungsdifferenzen seien die eigentliche Ursache der Bildung. Durch Beobachtung der bei Stearinsäure (statt Palmitinsäure) ent- stehenden Formen kam ich aber zu anderer Ansicht. Sind nämlich flüssige Tröpfchen des Fettsäure-Cholesteringemischs in der heißen wässerigen Flüssigkeit suspendiert, sei es, daß sie sich bei der Ab- kühlung von selbst ausgeschieden haben oder dass man künstlich eine Emulsion erzeugt hat, so scheiden sich in diesen Tröpfehen bei fortgesetztem Abkühlen flüssige Kristalle aus (Fig. 18), die mit der Oberfläche in Kontakt kommend, sich alsbald auf dieser aus- breiten und zwar ganz wie in anderen Fällen (z. B. Ammonium- oleat) so, dass die optische Achse überall senkrecht zur Tropfen- oberfläche steht (Fig. 19). Der Tropfen isotroper Flüssigkeit erhält also einen doppeltbrechenden flüssig-kristallinischen durchaus homo- genen Überzug (Fig. 20) und zeigt infolgedessen zwischen gekreuzten Nicols in jeder Lage ein schwarzes Kreuz wie ein Sphärokristall (Fig. 21). Die Polarisationsfarbe ist natürlich nicht von dem Durch- messer des Tropfens abhängig, sondern von der Dicke der flüssıg- kristallinischen Schicht, welche sich in weiten Grenzen ändern kann. Man beobachtet deshalb nebeneinander völlig schwarze, d.h. isotrope, graue, weiße, gelbe, rote Tropfen, sogar solche mit mehreren farbigen 41) G. Quincke, Wied. Ann. 53, 630, 1894. 42) O. Lehmann, Wied. Ann. 56, 771, 1895; Flüssige Kristalle, S. 253, 1904. 43) Charles Powell White, Medical Chronicle, March 1908. 718 Lehmann, Scheinbar lebende Kristalle, Pseudopodien, Cilien und Muskeln. Ringen. Ein schwarzer Tropfen kann plötzlich weiß werden (mit schwarzem Kreuz), wenn er mit einem frei in der Flüssigkeit aus- geschiedenen flüssigen Kristall oder mit einem andern bereits über- zogenen Tropfen in Berührung kommt. Man kann einen solchen doppeltbrechenden Tropfen einen hohlen flüssigen Kristall mit isotrop-flüssigem Inhalt nennen. Letzterer kann sehr geringfügig. kaum sichtbar sein, so dass das Gebilde eher als flüssiger Sphärokristall mit kleinem fliissigem Einschluss zu bezeichnen wäre. Da nun aber ein flüssiger Kristall, wie oben besprochen, das Bestreben hat, Polyederform anzunehmen (spontane Homöotropie), so vermag ein kleiner Fliissig- keitseinschluss der Gestaltungskraft nicht zu widerstehen, wird aber dadurch selbst in die Länge gezogen. So entsteht eine eigenartige Missbildung, ein zylindrischer Tropfen, welcher wieder mit einer fliissig-kristallinischen Haut derart überzogen ist, dass die optische Achse allenthalben senkrecht zur Flüssigkeitsoberfläche steht (Fig. 22). Fig. 24. Zwischen gekreuzten Nicols sieht man entsprechend ein stark ver- längertes Kreuz mit breitem, fast die ganze Länge des Zylinders einnehmendem Querbalken oder bei Drehung um 45° die in Fig. 23 dargestellte Figur, wobei der achsiale schwarze Strich durch die Totalreflexion in der achsialen Röhre bedingt ist. Derartige Ge- bilde sind naturgemäß um so stabiler, je geringer die lichte Weite der Höhlung ist, bei Vergrößerung derselben wird aber die Ober- flächenspannung überwiegend, es entsteht eine Neigung, in zwei Teile zu zerfallen, wie die Fig. 24 und 25 andeuten, wobei aber nicht selten das Gebilde an der Einschnürungsstelle wieder stabil wird, so dass man zwei durch einen zylindrischen Stab verbundene Kugeln erhält. Es kann auch das Ganze plötzlich zu einer Kugel zusammenschrumpfen, was namentlich dann geschieht, wenn sich der Zylinder infolge einseitigen Wachstums zu einem Ring zu- sammenbiegt und die Enden in Berührung kommen. Wie man sieht, sind dies im wesentlichen dieselben Erscheinungen, die man bei den von mir als „scheinbar lebende“ bezeichneten Kristallen Lehmann, Scheinbar lebende Kristalle, Pseudopodien, Cilien und Muskeln. 519 des Vorländer’schen Paraazoxyzimtsäureäthyläthers beobachtet **), Diese entstehen augenscheinlich dadurch, dass bei hinreichend niedriger Temperatur sich nicht sofort flüssige Kristalle aus der Lösung ausscheiden, sondern zunächst Tröpfehen übersättigter Lösung, welche dann ähnlich wie die eben besprochenen Myelin- formen bei fortschreitender Abkühlung einen flüssig-kristallinischen Überzug erhalten. Die Tröpfchen sind allerdings hier so fein, dass sie nur als dunkle Punkte oder bei den zylindrischen Formen als dunkle achsiale Linie bemerkt werden. Auf die verschiedenen Analogien dieser Bildungen mit niedrigsten Lebewesen habe ich bereits an anderer Stelle hingewiesen *’). Nach den eben besprochenen neuesten Ergebnissen gehen die Analogien sogar noch weiter, insofern die Myelinformen auch als künstliche Zellen mit flüssig-kristallinischer Haut betrachtet werden können. Ihre Haut ist halb-durchlässig, weil flüssıge Kristalle nur sehr wenige fremde Stoffe (chemisch analog zusammengesetzte, isomorphe) aufzulösen, somit auch durchzulassen vermögen; diese aber ın voll- kommenem Maße. Beispielsweise könnte flüssig-kristallinisches Ei- weiß wohl eiweißartige Stoffe durchdiffundieren lassen, nicht aber Wasser u.s.w. Aus den Untersuchungen von G. Quincke scheint sogar hervorzugehen, dass alle gut wirkenden halbdurchlässigen Membranen (auch bei gewöhnlichen osmotischen Versuchen) fltissig- kristallinisch sind. Eine Myelinform kann somit auch wachsen durch Erhöhung des osmotischen Druckes in ihrem Innern infolge von Osmose und zwischen dem Wachstum der künstlichen Zellen, künstlichen Vegetationen (Silikatvegetationen u. s. w.) und dem wirklicher Zellen scheint ein tiefer gehender Zusammenhang vorzuliegen; namentlich insofern, als auch anisotrope amorphe und gallertartige Stoffe, z. B. Zellulosemembranen u. s. w. durch die Mischkristalle nicht isomorpher Stoffe mit den kristallinischen ver- bunden sind, in gewissem Sinne somit! ebenfalls als kristallinisch betrachtet werden können, wenn ihnen auch, eben weil sie Gemische verschiedener Molekülarten sind, die für einen Kristall charakte- ristiche Fähigkeit zu wachsen abgeht. Man hat meine Ausführungen häufig dahin missverstanden, ich wäre der Meinung, es handle sich bei den scheinbar lebenden Kristallen um wirkliche Lebewesen ‘°), obschon ich bereits früher*") ausdrücklich bemerkt hatte: „Selbstverständ- lich sind dieselben nicht als wirkliche Lebewesen aufzufassen“ **). 44) ©. Lehmann, Die scheinbar lebenden Kristalle, Esslingen a./N. 1907, J. F. Schreiber. 45) Arch. f. Entwickelungsmech. d. Organ. 21, Heft 3, 1906. 46) Siehe L. Kathariner, Germania, wissensch. Beil. 1907, Nr. 36, >. 287. 47) O. Lehmann, Ann. d. Phys. 20, 63, 1906. 48) Dort ist darauf hingewiesen, dass die scheinbar lebenden Kristalle etwas ganz anderes sind als hohle Niederschlagsmembranen (kiinstliche Zellen), womit 520 Lehmann, Scheinbar lebende Kristalle, Pseudopodien, Cilien und Muskeln. Später *°) habe ich dies allerdings eingeschränkt, weil mir die vorhan- denen Definitionen des Lebens °°) nicht genügend sicher erschienen, um jene Behauptung im strengen Sinne des Wortes als wissenschaft- liches Ergebnis hinzustellen. Wie Roux (a. a. ©.) erwähnt, gehört zu einem Lebewesen vor allem die Fähigkeit der Assimilation und der Dissimilation. Man hat auch oftmals ein Lebewesen mit einer Flamme verglichen, deren Existenz eben gerade in der fortwährenden Zufuhr von Brennstoff und Beseitigung der Ver- brennungsprodukte beruht. Bereits in dem Vortrag auf der Stuttgarter Naturforscher- versammlung!) habe ich aber darauf hingewiesen, es existiere auch ein latentes Leben, d. h. ein solches ohne Stoffwechsel, was allerdings Kathariner (a. a. O.) bestreitet. Augenscheinlich ist diesem unbekannt, dass Kochs*?), nachdem er Samen monatelang in möglichst evakuierten zugeschmolzenen Glasröhren aufbewahrt hatte, dieselben vollkommen keimfähig befunden hat, obschon sich in den Röhren keine ausgeschiedenen Gase vorfanden; ebenso, dass nach Macfadyen’) Mikroorganismen viele Monate bei — 200° er- halten werden können (bei einer Temperatur, die chemische Reak- tionen unmöglich macht) ohne ihre Keimkraft einzubüßen. Arrhenius, ein Anhänger des Kosmozoismus, nımmt sogar auf Grund anderer Erfahrungen an, Bakterien könnten sich in dem luftleeren äußerst kalten Weltraum aufhalten und durch den Strahlungsdruck von einem Weltkörper zum andern getrieben werden, ohne ihre Keim- fähigkeit zu verlieren. Dass im Laufe langer Zeit in Samen- körniern eine Veränderung vor sich geht, beweist nichts für einen Stoffwechsel in denselben, denn auch amorpher Schwefel oder vulkanısierter Kautschuk verändern sich allmählich und der „sogen. Mumienweizen* war vermodert, aus gleichem Grunde wie auch jede andere organische Substanz unter gleichen Umständen ver- modert wäre. Dass das Leben des Keimlings lediglich ın Auf- zehrung der vorhandenen Eisubstanzen bestehe ohne jede äußere sie häufig verwechselt werden (siehe z. B. A. Gockel, Monatsschr. „Hochland‘“. Kempten 1907, J. Kösel; L. Rhumbler, Aus dem Lückengebiet zwischen organis- mischer und anorganismischer Materie, Wiesbaden 1906, Bergmann u. s. w.), die gewöhnliche Auffassung dieser künstlichen Vegetationen als richtig angenommen. Neuerdings habe ich indes auf Grund von Quincke’s Versuchen erkannt, dass sie nicht zutreffend sein kann, dass sie vielmehr in den meisten Fällen künstliche Zellen mit flüssig-kristallinischen Wänden vorliegen (s. O. Lehmannn, Verh. d. d. phys. Ges. 10, 407, 1908). 49) ©. Lehmann, Illustr. Ztg. 128, 806, 1907 (9. Mai Nr. 3332). 50) Siehe W. Roux, Umschau 10, 141, 1906. 5l) O. Lehmann, Flüssige Kristalle und die Theorien des Lebens, Leipzig, ' Barth, 1906, 8. 7. 52) W. Kochs, Biol. Centralbl. 10, 1890 (zitiert nach Verworn). 53) Siehe S. Arrhenius, Das Werden der Welten, Leipzig 1907, S. 201. Lehmann, Scheinbar lebende Kristalle, Pseudopodien, Cilien und Muskeln. 594 Stoffaufnahme oder Abgabe, entspricht nicht dem Begriff des Stoff- wechsels, welcher im Keimling nur langsamer verlaufen soll. Der geringe Stoffwechsel bei Winterschlaf und Scheintod be- weist, dass der Stoffwechsel nicht einfach eine Funktion der Be- schaffenheit des Lebewesens ist, sondern abhängt vom Energie- verbrauch für die Lebenstätigkeit und vom Stoffverbrauch für das Wachstum, dass er also wahrscheinlich verschwindet, falls diese ‚gleich Null werden, ohne dass das Leben aufhört. Bekannt ist ferner, dass bei Teilung einer Amöbe in eine kern- lose und eine kernhaltige Hälfte der ersteren, obschon sie noch lebt, die Fähigkeit der Nahrungsaufnahme fehlt. Dies ist ein Fall der als Nekrobiose bezeichneten allgemeinen Lebenserscheinung, deren Unterschied vom wahren Leben übrigens einfach darin besteht, dass der endgültige Tod wesentlich früher eintritt als unter normalen Umständen. Die Nekrobiose beweist nach meiner Ansicht auch, dass die Selbstregulation aller Funktionen nicht so unbedingt zu den charakteristischen Eigentümlichkeiten des Lebens gehört, wie Roux es aufgestellt hat. Ein abgefallenes Blatt, ein gebrochener Apfel, ein abgeschnittener Weidenzweig leben noch, wenn sie auch all- mählich verdorren oder eintrocknen und wenn auch der letztere unter günstigen Bedingungen sich wieder zum Baum entwickeln könnte, so lässt sich doch das welke Blatt selbst nicht durch Wiederanheilen an die frühere Stelle zur weiteren Entwickelung bringen. Es stirbt unaufhaltsam allmählich ab, aber erst lange nach Erlöschen der Selbstregulation. Dass bei Organısmen das Wachstum auf andere Weise statt- finden soll als bei Kristallen, wie Kathariner meint, vermag ich ohne weiteres auch nicht einzusehen. Allerdings wächst z. B. ein Eiweißkristall in Eiweißlösung nur durch Apposition°*); wäre er ein Lebewesen, so müsste er sich bilden können in einer Mischung der Lösungen von Eiweißspaltungsprodukten (Aminosäuren ete.), wie sie sich z. B. im Darmkanal vorfinden, und zwar in der Art, dass diese Lösungen in den Kristall eindiffundieren und dort neue Eı- weißmoleküle bilden, die sich zwischen die vorhandenen einlagern 54) Wie z. B. Bechhold mittelst seines Ultrafilters gezeigt hat, ist eine Ei- weißlösung kolloidal, d. h. sie besteht (nach obigem sowie nach Zsigmondy, von Weimarn u. a) aus kleinen suspendierten Kriställchen, könnte also eigent- ‘lich, da sie schon kristallisiert ist, nicht kristallisieren; indes können ja verschiedene Modifikationen bestehen. So ist z. B. die wässerige Lösung von Schmierseife kolloidal, man erhält auch daraus keine (fließenden) Kristalle. Dagegen bilden sich sehr schöne aus der alkoholischen, nicht kolloidalen Lösung. Ob es möglich ist, dass z. B. die Hämoglobinkristalle, welche H. Przibram untersucht hat, aus der (nach Bechhold) kolloidalen wässerigen Lösung sich durch Aneinander- lagerung ultramikroskopischer Kriställchen gebildet haben, müsste erst erwiesen werden und ist durchaus unwahrscheinlich, 522 Lehmann, Scheinbar lebende Kristalle, Pseudopodien, Cilien und Muskeln. “und sie auseinander drängen. In einem homogenen Kristall kann solche Diffusion aber nicht stattfinden, da Kristalle keine Poren haben’) und am allerwenigsten Lösungen hochmolekularer Stoffe, wie es die Eiweißspaltungsprodukte sind, eindiffundieren könnten. Bei Myelinformen und scheinbar lebenden Kristallen ist der Vor- gang einfach der, dass fertige Moleküle durch die Adsorptionskraft aus der Lösung in den Kristall hineingezogen werden. Organismen sind aber keineswegs homogene Körper wie Kristalle, weshalb häufig, schwer zu unterscheiden ıst, ob das Wachstum durch An- oder Ein- lagerung erfolgt, zumal die Stoffe meist gallertartig, d. b. von un- sichtbaren, mit Flüssigkeit erfüllten Kanälen durchzogen sind, so dass Anlagerung von hier aus an die das Netzwerk bildenden Kri- ställchen (Micellen u: s. w.) erfolgen kann, aber auch Intussuszeption ganz wie bei Myelinformen, falls nämlich die Gallerte aus kleinen fließenden Kriställchen besteht. Der Einwand, letztere seien aniso- trope Gebilde, während die lebende Materie im allgemeinen isotrop ist, hat kaum Bedeutung, da ein regelloses Gemenge kleinster Kri- ställchen ısotrop erscheint’) und die Kraft, welche das Heran- oder Hineinziehen der neu hinzukommenden Moleküle bewirkt, in allen Fällen die gleiche ist, nämlich die Adsorptionskraft oder Molekularattraktion ’”). Dass amorphe Körper nicht wachsen können, soll nach Goßner darauf beruhen, dass ıhren Molekülen die molekulare Richtkraft fehlt; doch habe ich schon an anderer Stelle darauf hingewiesen °®), dass die wahre Ursache in der Konstitution der amorphen Körper beruht, welche als Gemisch mehrerer Molekülarten aufzu- fassen sınd. Dass die Bewegungserscheinungen bei Organısmen, welche allerdings bisher physikalisch nicht zu deuten waren, vielleicht doch 55) Nach Siedentopf, Physikal. Zeitschr. 1905, S. 855 und L. Wöhler, Zeitschr. f. anorg. Chem. 47, 353, 1905 diffundiert allerdings Natriumdampf in klare Kristalle von Steinsalz, auch soll Joddampf in Jodkaliumkristalle eindringen können, Jod in Kupferjodür (s. K. Bädeker, Phys. Zeitschr. 9, 431, 1908) u. s. w. 56) Ich glaube dies aus dem Verhalten flüssiger Kristalle, insbesondere den Erscheinungen der Pseudoisotropie schließen zu dürfen. Nach A. Kundt, Poge. Ann. 123, 410, 1864 und V. v. Ebner, Sitzber. d. Wien. Akad. 118 Ila, 1283, 1859 müsste allerdings stets Depolarisation (Aggregatpolarisation) auftreten. 57) Meines Erachtens ist alles Kristallwachstum Wirkung der Adsorptionskraft, welche sich nicht nur auf gleichartige, sondern auch auf isomorphe und ganz fremd- artige Moleküle erstreckt. Nach B. Goßner (Dissertation, München 1908) soil allerdings ein Unterschied bestehen zwischen isomorphen Mischkristallen und anomalen, welche letztere im Gegensatz zu ersteren Adsorptionsverbindungen wären. Die Unter- scheidung beruht aber lediglich darauf, dass übersehen wurde, welchen Einfluss der einfache Kontakt zweier Körper auf Schmelzpunkt und Sättigungstemperatur ausübt. (Siehe O. Lehmann, Wied. Ann. 24, 1, 1855.) 58) ©. Lehmann, Flüssige Kristalle 1904, S. 210ff. und Vierteljahrsber d. Wien. Ver. z. Förder. d. phys, chem. Unt. 12, 239, 1907. Lehmann, Scheinbar lebende Kristalle, Pseudopodien, Cilien und Muskeln. 595 einmal eine vollkommene Deutung, etwa auf Grund der Wirkung von Gestaltungs- und Umwandlungskraft, erfahren können, ist nach dem Dargelegten gar nicht unwahrscheinlich. Die Probe auf die Richtigkeit der Erklärung wird in der Weise zu machen sein, dass man künstlich einen Motor herstellt, welcher in gleicher Weise chemische Energie direkt in mechanische ver- wandelt wie der Muskelmechanismus eines Lebewesens. In wirt- schaftlicher Hinsicht wäre ein solcher Motor von größter Bedeutung, da er in bezug auf Wirkungsgrad und geringes Gewicht voraus- sichtlich alle bekannten und möglichen thermodynamischen Motoren übertreffen würde. Ob es nach Lösung dieser Aufgabe gelingen könnte, künstlich ein Lebewesen herzustellen, ist eine andere Frage, die unlösbar er- scheint, wenn man den Satz von der Unmöglichkeit der Urzeugung als Axiom betrachtet. Der Umstand, dass auf der Erde nicht immer dieselben Lebewesen vorhanden waren wie heute, sondern eine „Entwickelung“ stattgefunden hat, spricht durchaus nicht für jenes Axıom. Dass heute Urzeugung nicht mehr stattfindet, kann darın seinen Grund haben, dass früher die Bedingungen andere waren. Die Temperatur der Sonnenoberfläche ist heute etwa 6000°, dem- gemäß liegt das Energiemaximum im gelbgrünen Teile des Sonnen- spektrums. Früher als in Anbetracht des ungeheuren Energie- verlustes der Sonne, deren Temperatur eine außerordentlich viel höhere sein musste, lag das Energiemaximum im ultravioletten Teil des Spektrums, die Sonne produzierte hauptsächlich chemisch wir- kende Strahlen, vielleicht sogar Radiumstrahlen, eine Wirkung, über welche wir gar nicht orientiert sind, da künstlich die Temperatur eines Körpers nicht über 4000° gesteigert werden kann°?). .Man hat wohl die Unmöglichkeit der Urzeugung darauf zurück- geführt, dass sich die psychischen Erscheinungen nicht mechanisch erklären lassen, dass außer Stoff und Kraft noch ein weiterer Faktor zu einem Lebewesen gehört, eine „Seele“, welche lenkend ein- greifen kann. Doch besteht diese Schwierigkeit nur für die dua- listische Theorie, nicht für die monistische, den Hylozoismus, welcher jedem einzelnen Atom eine davon untrennbare Seele zu- schreibt und die psychischen Fähigkeiten der Lebewesen durch das Zusammenwirken der Atomseelen erklärt. Im Kristall, ın welchem jedes Atom ein den Naturgesetzen folgendes Ganzes dar- stellt, ist solches Zusammenwirken ausgeschlossen, der Kristall ist kein Lebewesen. Im Organismus können sich die Atome wegen der angennommenen Seelenverbindung anders verhalten, als physi- kalische und chemische Gesetze vorschreiben, so lange diese 59) Siehe auch O. Lehmann, Die absolut höchste Temperatur, Phys. Zeitschr. 9, 251, 1908. 524 Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. Verbindung besteht, so lange der Organismus lebt. Tod be- deutet Aufhebung der Verbindungen zwischen den Atomseelen. Urzeugung ist unmöglich, weil Atomseelen-Verbindungen nicht von selbst eintreten können. Vielleicht hängt dies damit zusammen, dass nicht die chemischen Atome ın Betracht kommen, sondern die weitaus kleineren Urteilchen, zu deren Kenntnis die Erschei- nungen der Radioaktivität geführt haben. Der Beweis derartiger Hypothesen kann aber natürlich nur in der Weise erbracht werden, dass wirklich künstlich ein Lebewesen hergestellt wird, wenn auch nur ein solches einfachster Art. Diesen Beweis, oder event. den Beweis des Gegenteils, wird man aber nur erbringen können, falls zunächst die Kräfte und Stoffe, welche in Organismen in Aktion treten, mit aller Präzision erforscht sind. Die Unter- suchung der flüssigen Kristalle dürfte, wie gezeigt, solche Forschung wesentlich fördern. Karlsruhe, 20. April 1908. Die Phänomene der Hygromipisie. Studien und Untersuchungen. Von Prof. A. Capparelli. (Physiologisches Institut der Kgl. Universität Catania.) Mit einer Textfigur und einer Tafel. (Schluss. Kapitel II. Die Kolloidalen bei den Hygromipisieerscheinungen. Verhalten der Mischungen von Kolloidal- und Kristalloidsubstanzen. Die subkutane Aufsaugung ist eine Er- scheinung der Hygromipisie. Subkutane Aufsaugung der Kolloide und der Ole. Schlussfolgerungen. Da ich mit dem Studium der Hygromipisieerscheinungen im Tierorganismus mich befassen will, habe ich mich auch vergewissern wollen, welches das Verhalten der kolloidalen Substanzen sei, welche in Flüssigkeiten suspendiert sind und welche die etwaigen Be- ziehungen zwischen den kolloidalen und kristalloiden Flüssigkeiten seien, Mischungen, welche einen so großen Teil der organischen Flüssigkeiten ausmachen. Die nebenstehende Tabelle verdeutlicht diese Verhältnisse. Aus dieser Tabelle ersieht man, dass es ein verschiedenes Ver- halten gibt zwischen Kristalloiden und Kolloiden bezüglich der Hygro- mipisiephänomene, falls die Kolloide in Suspensionsform in den Flüssig- keiten in gleichem Prozentverhältnis vorhanden sind, verhalten sie sich wie viel weniger dichte Flüssigkeiten gegenüber den Kristalloiden. Tatsächlich ersieht man aus der obigen Tabelle, dass zum Zwecke des Austausches dieselben als Flüssigkeit A funktionieren müssen. Man beobachtet weiter, dass die Substitutionszeiten nicht identisch Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. 525 sind für den nämlichen Prozentgehalt von Kolloid. So besteht im vor- liegenden Prüfungsfalle eine nicht unbedeutende Differenz zwischen Gummi und Tannin. Hinsichtlich des Verhaltens den Substitutions- erscheinungen gegenüber nähert sich das Tannin mehr den Kri- stalloiden, als das Gummi unter gleichen Umständen. Es scheinen sogar die mineralischen sich von den organischen Kolloidsubstanzen abzutrennen. So konnte ich beobachten, dass Kalisilikat in sehr starker Konzentration in 50” mit dem destillierten Wasser Austausch erleidet. Wie man sieht, ich erwähne es beiläufig, gibt uns das hygro- mipisimetrische Studium klare Auskunft über die innigste Natur der Körper und vermöge desselben kann man es wissen, ob eine Kolloidalsubstanz einer Kristalloidsubstanz sich nähere oder sich von derselben entferne. . |S ne der | Durch- Fe os | messer des & © BE BARR 5 | keit im | ie Eee Rie es ja ax |g Fliissigkeit 1) Kanllar Flüssigkeit A Kapillar- 50-5 °S Sl | ee schnittes ZEN Zi le rohr oe S ie mm mm = 1. 22) Arabigummi in Wasser- | Kochsalzwasserlösungzu | lösung zu 8.962. 2.| 23 [OOO en. eS. : 0,9 — 2. 22| Tanninsaure zu 8,96°/, | 23 | Kochsalzwasserlésung zu | SION al, Ve 3. 122] Arbigummi zu 8,96 °15. .' 23 | Schwefelnatr. zu 8,96°/,| 0,9 I 4. 22| Tanninsäure zu 8,96%, | 23 Schwefelnatr. zu 8,96°/, 09,9 ee 5. 22 Chlornatrium zu 8,96), | 23 Arabigummi zu 8,96°/, 0,9 (E10. 6. |22| Schwefelnatr. zu 8,96 °/, | 23 Arabigummi zu §,96°), 0,9 yale yee 7. |22| Chlornatrium zu 8,96°/,| 23 | Tanninséure zu 8,96°/,| 0,9 38% 8. 122] Schwefelnatr. zu 8,96°/, | 23 | Tannınsaure, zu 896%. 09... 30% | | | Ich will in diesem II. Kapitel beweisen, dass gewisse biologische Erscheinungen, welche wir als Abkömmlinge der bekannten physi- kalischen Energien erklären, wie: Diffusion, Osmose, Kapuillaritit, im Gegenteil das ausschließliche Ergebnis des Hygromipisiephäno- mens sind. Ich habe nichts anderes vor, wie eine einzige Funktion genau zu bestimmen, die so wichtig ist und sich für ein metho- disches Studium so gut eignet, wie dieses bei der subkutanen Auf- saugung der Fall ist.. Wohlan denn, hier ist das Ergebnis meiner Beobachtungen ! Einem Frosch wird mit einem Faden ein Schenkel umschnürt und zwar der rechte, um auf diese Art den Kreislauf mit dem übrigen Teil des Tierkörpers zu unterbrechen, während der andere Schenkel vollständig unversehrt bleibt. In den Körper des Ga- strocnemius des unversehrten Schenkels und des umschnürten werden */, ccm mit Methylenblau gefärbtes destilliertes Wasser eingespritzt. Das in dem Muskel des umschnürten Schenkels 526 Japparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. eingespritzte Wasser verschwindet in 65“ und dasjenige des unver- sehrten Schenkels in 35“. Natürlich, im umschnürten Schenkel, wo keine Aufsaugung stattfinden kann, muss man zuvörderst daran denken, dass das Verschwinden einem einfachen Diffusions- oder Imbibitionsvorgang zu verdanken sei. Um gerade dieses auszuschließen, habe ich folgenden Versuch gemacht: Ich trennte den Gastrocnemius eines Frosches und dehnte ıhn aus, indem ıch an dem unteren Ende desselben ein Gewicht anbrachte und tauchte ıhn hierauf in mit Methylenblau gefärbtes Wasser. Nach 20° war von dieser Lösung kaum ein Bruchteil eines Millimeters in das Innere des Muskels eingedrungen, und das geschah dort, wo ich das Peri- mysium losgetrennt hatte, um mich in gleiche Bedingungen zu setzen wie vorhin, d. h., wie im Falle der endomuskulären Ein- spritzung, da wo die Flüssigkeit ın unmittelbare Berührung mit dem Muskelgewebe sich befand und nicht vom Perimysium be- schützt war. Auf Grund dieses Ergebnisses kann man demnach ausschließen, dass das Verschwinden der Lösung innerhalb des Muskels infolge von Imbibition, Diffusion oder Osmose zustande gekommen sei. Die Zeitdifferenz, kürzer 1m unversehrten Schenkel als im umgebundenen, lässt sich sehr gut erklären: weil die Be- wegung der Blutflüssigkeit und der Lymphe die Flüssigkeiten ver- lagert, so erneuert sie und begünstigt sie die Phänomene der Hygro- mipisie und auch die von gewöhnlicher Diffusion, welche man denen von Hygromipisie zurechnen muss, jedoch in viel milderem Ver- haltnis. Auch kann man nicht entgegenhalten, dass in diesem Falle des losgetrennten, geschundenen und eingetauchten Schenkels in die Lösung auch noch Erscheinungen der Hygromipisie sich erzeugen können, denn es existieren nicht mehr die Beziehungen der Kapil- laren und Lymphgefäße und ihres flüssigen Inhalts, wie im ersten Fall, wo die Kapillaren außer ihren Normalbeziehungen auch die in ıhnen enthaltene Flüssigkeit bewahrt haben, ohne welch letztere kein Hygromipisiephänomen vorkommen kann. Fahren wir daher weiter fort mit der ganzen Reihe von Versuchen! Wenn einem Frosch, wie gewöhnlich, das Bein an der Wurzel des Schenkels abgebunden wird, um so den Kreislauf des Beines zu unterbrechen und hierauf in der Nähe der Ligatur eine gewisse Portion von Haut entfernt wird, so viel, um einen Teil von Muskelmasse bloßzulegen und in das Bein subkutan eine gewisse Menge von fuchsinhaltiger Wasser- lösung eingespritzt wird, so sieht man nach 10‘, 15‘, dass das blasse, blutleere Muskelgewebe sich an der Oberfläche fleckenweise und gegenüber den Gefäßgruppen sich vom Anılin rot färbt, welches sich so sehr vom Blutrot unterscheidet. In diesem Falle, obwohl der Kreislauf im Bein aufgehoben, ist die unten eingespritzte Flüssig- keit in die Höhe gestiegen. Mithin ist die Verlegung der Flüssig- keit sicherlich durch die flüssigen Wege der Lymphgefäße und der Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. HOT ys % A Blutbahnen zustande gekommen. Man kann wohl die Mithilfe der Diffusion ausschließen, denn die Zeit, um einen verhältnismäßig langen Raum zu durchlaufen, ıst ja zu kurz. Die direkte Durch- dringung vermittelst Druckes kann man ebenfalls ausschließen, denn die Färbung erfolgt langsam und nicht schnell, wie es der Fall sein sollte, wenn die Flüssigkeit mittelst Druckes wieder empor- steigen würde und von dieser Kraft getrieben würde bis oben in die Blut- und Lymphkapillaren. Es bleibt also nichts anderes übrig, als daran zu denken, dass die Flüssigkeit vermöge des Hygro- mipisiephänomens durchgedrungen set. In den vorhergehenden Versuchen bleibt jedoch, was anatomisch wenig annehmbar ist, ein Zweifel übrig, nämlich der, dass, wenn der Schenkelknochen oberhalb der Ligatur sich befindet und zwar in Berührung mit dem übrigen Skelett und unter Verhältnissen, dass an demselben der Kreislauf unterhalb der Ligatur unterbunden sei, die Verlegung oben an der Flüssigkeit geschehen könnte mittelst partieller Wiederherstellung des Kreislaufes. Indessen der folgende Versuch lässt keinen Zweifel mehr übrig. Wie im vorigen Fall macht man die Ligatur an der Wurzel des Beines von einem Frosch mit einem Faden, man tötet und hängt ıhn senkrecht auf. Hierauf schneidet man mit einer Schere um das Knie kreisförmig herum, so, um die unmittelbare Kommunikation mitten durch dasselbe unterhalb der Haut oben zu unterbrechen und man entfernt ferner die beiden nächsten Lappen und injiziert unter die Beinhaut eine alkoholische Eosinlösung zu 70°/,, welche mit zwei Teilen destil- lierten Wassers verdünnt wird. Man entblößt teilweise die Schenkel- muskeln nach 2—3’ und man sieht dann die Muskeln des Schenkels sich färben. Die Färbung ist stärker längs des Verlaufes der Lymph- sefäße. In diesem Falle kann man ganz und gar ausschließen, dass die Flüssigkeit infolge von Druck emporgestiegen sei. Der Haut- schnitt am Knie schließt dies aus. Bei Wiederholung dieses Ver- suches und Einspritzung in den Gastrocnemius braucht die Eosin- lösung eine noch längere Zeit als die, welche es in Anspruch nımmt, wenn man selbige unter die Haut vornimmt, was wohl den Vorteil beweist, welchen die Subkutaneinspritzungen zeigen, im Vergleich za den endomuskulären und parenchymatösen. Das gelöste Material wird schneller aufgesogen vom Subkutangewebe als von dem mitten durch das Parenchym. Die Färbung der Schenkelmuskeln, wiewohl sie unverkennbar ist, kann für gewisse Leute, die an diese Art der Beobachtung nicht gewohnt sind, zweifelhaft bleiben. Um mich auf apodik- tische Weise zu vergewissern, schnitt ich vorsichtig ein wenig Muskelsubstanz ab in der Nähe der Schenkelwurzel und breitete sie auf ein Deckgläschen aus und untersuchte sie mikroskopisch. In einem solchen Falle ist es leicht, deutlich die eosinophilen, die 598 Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. mononukleierten gefärbten Zellen des Blutes zu beobachten, sowie auch emige veränderte rote, ebenfalls gefärbte Blutkörperchen. Es war daher das Blut und die Lymphe oben in Berührung gekommen mit der alkoholisch-wässerigen Eosinlösung, welche unten subkutan in den Schenkel eingespritzt worden war. Die alkoholisch-wässerige Eosinlösung färbt die Elemente lebend. Das Ergebnis, das ich klar und präzis für eine ungewöhnliche Anzahl von Versuchen, die immer übereinstimmten und bestätigten, ohne eine negative Probe zu geben, erhielt, überzeugten mich stets ın der Annahme, dass ich das Resorptionsphänomen vor mir hatte, mit Ausschluss des zirkulatorischen Vermögens, d. h. ohne Kreis- lauf. Indem ich so jeden anderen bekannten Faktor auszuschließen vermochte, musste ich die Aktion der Eosinlösung ausschließlich als eine Folgeerscheinung des Hygromipisiephänomens deuten und erklären. Das damit erhaltene Ergebnis war so wichtig, dass ich je länger je mehr das Bedürfnis fühlte, mit neuen Mersuchen jeden etwaigen Vorwurf zu entfernen und vor allem denjenigen, wie ich bereits angegeben und nachgewiesen habe, dass die Flüssigkeit vermittelst des von dem Rohr der Pravaz’schen Spritze ausgeübten Druckes, sich nach oben im Augenblick der Einspritzung verlagern würde. Um somit diesen Misstand auszuschließen, habe ich den Versuch wie folgt modifiziert. Ich präparierte den Froschschenkel wie im vorhergehenden Falle und habe die Einspritzung wie gewöhnlich vorgenommen. Sofort nach der Einspritzung habe ich oben ein wenig Muskelmasse abgeschnitten, auf ein Deckgläschen ‘gebracht und ausgebreitet und mikroskopisch untersucht. In diesem Falle, wenn die Flüssigkeit durch den Druck getrieben worden wäre, hätte ich die weißen eosinophilen Körper gefärbt antreffen müssen und wegen der Kürze der Zeit habe ich auf einige Zeit diese Präparate liegen lassen und sie dann mit negativem Erfolg untersucht, währenddem ich am gleichen Bein nach 10— 15‘, nach Abtragung von wenig Muskelsubstanz, an der Stelle, wo die andere vorher abge- tragen worden war, bei Untersuchung des Muskelsaftes, wie ım vorigen Fall, beständig positive Ergebnisse erhielt. Man kann daher in diesem Falle vollständig den Faktor „Druck“ ausschließen, währenddem nichts anderes übrig bleibt, als zuzugeben, dass die Flüssigkeit mittelst des Hygromipisiephänomens in die Höhe empor- gestiegen sei und man kann dabei noch ausschließen allen und jeden Konkurs des „Druckes“ mit nachfolgendem Versuch. Man präpariert das Bein in gewohnter Weise und injiziert hierauf !/, cam der gewöhnlichen Eosinlösung, mit der Abänderung, dass man die re atur etwas tiefer anbringt und dass man statt mit einem Selen dent dieselbe mit einem elastischen Faden macht, um nicht die mittlere Lage oder Tunica media der Gefäße anzuschneiden und Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. 529 die Gewebe zu misshandeln. Die obere Ligatur oder Unterbindung bringt man auf gewohnte Art und Weise an. Nach einigen Minuten, wenn das Gleichgewicht des Druckes sich eingestellt hat, ist die eingespritzte Flüssigkeit ın die Gewebe eingedrungen, d. h., die Eosinflüssigkeit. Hierauf löst man die Unterbindung, nämlich den elastischen Faden, und in diesem Falle kann man jenseits derselben, nach einigen Minuten, die gewöhnlichen, gefärbten, weißen Körper vorfinden. Dass die subkutane Aufsaugung beinahe ausschließlich von den Hygromipisiephinomen reguliert sei, erfährt man noch aus den nachfolgenden Versuchen. Man spritzt einem Frosch mittlerer Größe, und zwar in das Bein, !/, ccm einer physiologischen Kochsalzlösung, bezw. unter die Haut der rechten Extremität und in die andere !/, ccm einer Mischung eines Teiles Alkohol und zweier Teile physiologischer Kochsalz- lösung. Die erstere verschwindet nach 3‘, die zweite nach 2! 20", wie man es voraussehen konnte, denn ich habe nachgewiesen, dass die Hinzufügung von agilen Flüssigkeiten zu solchen, welche wenig Asılität besitzen, nämlich zu solchen, welche in einer relativ längeren Zeit austauschen im Gegensatz zu ersteren, welche schnellen Aus- tausch erleiden, diese letzteren auch agiler machen und ihre hygro- mipisimetrische Zeit wird um so kleiner, je größer ıhr Verdünnungs- grad ist. Wenn man den vorigen Versuch abändert, wie ıch hier unten zeigen .werde, so bekommt man noch beweisendere Daten. Wenn man hingegen einen großen Frosch verwendet und man spritzt 1 ccm ein von physiologischer Kochsalzlösung in den rechten Schenkel und 1 cem Mischungsflüssigkeit von einem Teil Alkohol und zwei Teilen physiologischer Kochsalzlösung, so sieht man, dass die erstere in 4‘ und die zweite in 2' 40" aufgesogen wird. Somit bleibt es glänzend erwiesen und bestätigt, dass die subkutane Aufsaugung vermöge der Hygromipisie reguliert wird. Für die Hygromipisie geschieht der Austausch zwischen den Flüssigkeiten nicht bloß im aufsteigenden Sinne oder Richtung, sondern auch in absteigender Richtung. Das habe ich zum Teile auch außerhalb des Tierorga- nismus gezeigt, aber man kann es im Organismus auf folgende Art demonstrieren: Man präpariert das Froschbein in gewohnter Weise, indem man nämlich an dessen Wurzel unterbindet und hierauf injiziert man in der Kniegegend */,, ccm einer wässerigen Lösung, welche ein wenig Fuchsin enthält. Die Haut der Extremität bleibt dabei unversehrt. Nach wenigen Minuten (5--10) schneidet man teilweise die Haut an und zwar sowohl oben wie unten am Bein, oder man entfernt auch die Haut vom Fuß; man sieht alsdann die Weichteile gefärbt und zwar oben und unten und nach 15—20' ist die Fär- bung, welche immer mehr zunahm, sehr ausgeprägt sichtbar! XXVIII. 34 530 Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. Wenn tatsächlich die Erscheinung der subkutanen Aufsaugung nichts anderes wie eine Hygromipisietatsache ist, so muss man auf Grund dieser Auffassung auch die Vorkommnisse der Aufsaugung der Kolloidalsubstanzen erklären können. Man denke doch daran, dass das Öl schnellstens aufgesogen wird, wenn es subkutan beigebracht wird und das zu allererst und im offenem Widerspruch mit den Hygromipisieerscheinungen. Wir wissen in der Tat, dass das Öl, da es nicht mit den Flüssigkeiten des Organismus mischbar ist, nicht resorbiert werden sollte, wenn die Aufsaugung desselben eine Tatsache der Hygromipisie ist. Prüfen wir daher ordnungsgemäß diese zwei Tatsachen und zwar mit Hilfe der experimentellen Kontrolle. Wenn man subkutan in den Schenkel eines Frosches 1 cem einer konzentrierten arabischen Gummilösung, nämlich zu 8,96°/, einspritzt, so diffundiert sie langsam und nach 40‘ findet man an der Einspritzungsstelle eine große Menge der Lösung selbst vor; 25’ nach der vorgenommenen Gummieinspritzung injiziert man in den Rückensack °/,, cem einer fuchsinhaltigen Wasserlösung, nach 21‘ eine zweite derselben; wenn man etwas Flüssigkeit hierauf aus dem Schenkel herausholt, so ıst dieselbe farblos. Dieser Umstand könnte vermuten lassen, dass das arabische Gummi im Schenkel keinen Austausch gemacht habe mit den Flüssigkeiten des Orga- nismus, aber trotz der ausgebliebenen Färbung des Gummi kann man es beweisen, dass dem nicht so ist, sondern dass die Gummi- dichtigkeit modifiziert ist. Man hatte in der Tat die Substitutions- zeit der Gummilösung vor der Vornahme der Einspritzung gemerkt und man fand sie zu 45“, währenddem sie hernach 42“ betrug, was so viel heisst, dass die molekulare Konzentration des Gummi verändert war; sie hatte von derselben dem Organısmus abgetreten. -— Wahrscheinlich weil die konzentrierten Kolloidalsubstanzen nicht aufgesogen werden, werden sie es doch einzig und allein deswegen, weil sich Strömungen bilden, welche von den Gefäßen des Orga- nismus zur eingespritzten Flüssigkeit hingelangen und diese ist es, welche sich immer mehr verdünnt; in dem Falle resorbiert sich die verdünnte Lösung, welche diejenige ist, die in Substitution eintreten kann mit der Gefäßflüssigkeit. Der folgende Versuch erläutert besser meine Vermutung: In den Schenkel eines großen Frosches spritzt man die ge- wöhnliche konzentrierte Gummilösung von 1 ccm und nach 10‘ 1 ccm einer Eosinwasserlösung. Nach 30° unterbindet man oben den Schenkel, entfernt denselben vom Tier und wäscht ihn sorgfältig. Man schneidet hierauf in die Haut ein und man sammelt vom Schenkel die gummöse Lösung zusammen, welche in diesem Falle ziemlich stark gefärbt ist, wie überhaupt das ganze Bein, was zum Beweise dient, dass Strömungen vorhanden seien, welche vom Blute bis zur Einspritzungsstelle des Beines gehen. Man bestimmt ferner Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. 531 die hygromipisimetrische Zeit und man findet dabei, dass, während dieselbe 44” betrug, dieselbe nunmehr 38” ausmacht, mithin hat sich lie Lösung in ihrer Konzentration modifiziert. Es sind dies Modifikationen der Dichtigkeit, welche zeigen, dass das in den Organismus gelangte Gummi mehr betragen muss als das Re- sultat es angibt; denn wahrscheinlich sind in die Gummilösung zur Ergänzung des Gummiverlustes unorganische Salze einge- drungen, welche die Gummilösung durchdrungen hatten. Mithin macht in Wahrheit das Verhalten des Gummi während der Auf- saugung keine Ausnahme, noch widerspricht es ın bezug auf das, was mittelst der Hygromipisieerscheinungen festgestellt worden war. Betrachten wir nunmehr das Verhalten der Öle bei der Auf- saugung. Die ruhige und einfache Überlegung ist die folgende: die subkutan eingespritzten Öle werden sehr schnell aufgesogen. Da das Öl jedoch mit den Organismusflüssigkeiten nicht mischbar ist, kann es nicht mit den Flüssigkeiten in Beziehung treten,. als im Substitutionsfalle. Sein Verschwinden und seine Aufsaugung im Unterhautbindegewebe kann somit kein Hygromipisiephänomen sein. Sehen wir nun, zu welchem Ergebnis der Versuch führt? Wenn einem Frosch subkutan in das Bein ’/,, eem süßes, reines Mandelöl eingespritzt wird, so verschwindet es nach 35’. Dies Öl gab mit Lackmuspapier neutrale Reaktion und dieselbe er- hielt sich bis ans Ende des Versuches, nämlich bis zum völligen Schwund. Bei der Nachsuche des Öles im Blute des Beines und in den Muskeln mittelst der Osmiumsäure, wurde es in Form kleinster Körperchen gefunden. Im selbigen Frosch, am andern Bein, werden 7/,, ccm einer Mischung zu gleichen Teilen von Mandelöl und wässeriger Lösung von kaustischem Kali in gesättigter Lösung eingespritzt; nach 25‘ ist die Mischlösung vollständig auf- gesaugt und während die Reaktion vorher, im Anfange des Ver- suchs bezw. der Aufsaugung, stark alkalisch war, wurde sie gegen das Ende neutral. Das Öl wurde also gewöhnlich im Blute ge- funden und die Phygozyten waren voll von Oltropfen. Und nun, um die Aufsaugung des Ules zu verstehen als ein Hygromipisiephänomen, muss man denken und zeigen, dass nach der Einspritzung das Öl zum Teil sich verseife oder sich in seine Komponenten: Fettsäure und Glyzerin spalte. Währenddem ich vorhin gezeigt habe, dass das Öl nicht Aus- tausch erleide, habe ich andererseits bewiesen, dass es dem be- kannten Gesetz des Austausches folge, wenn es mit Seifen vermischt ist; dann wird auch das nicht verseifte Öl mit fortgerissen und erleidet Austausch. Ohne ausschließen zu können, dass das einge- spritzte Öl in Säure und Glyzerin gespalten werde, weil die neu- trale Reaktion des Olrestes aus dem nicht übriggebliebenen, un- gespaltenen Öl gegeben, die saure Reaktion der Fettsäure, welche 34” 532 Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. ich mit den mir zu Gebote stehenden Mitteln nicht leicht beobachten konnte, maskieren kann, so ist es andererseits doch sicher, dass sich Seife gebildet hat adimend der Aufsaugung. Es ist in der Tat sehr haves zu denken, dass das Kali in Mischung mit dem Öl von den Fettsäuren neutralisiert worden sei, welche ren der Auf- saugung sich entwickelt haben, vermöge der Spaltung des einge- spritzten Öles. So können wir uns ganz gut Rechenschaft ablegen über die neutrale Reaktion, welche die übriggebliebene Mischung des Öles und Kalis angenommen hat, einige Zeit nach der vorge- nommenen Einspritzung. Alles zusammengenommen, so muss die Aufsaugung der Fette in die gewöhnliche Norm der Hye gromipisie- simone eintreten. Dass im oben angegebenen Versuch sich tatsächlich Seifen bilden, habe ich, wiewohl es notorisch ist, dessenungeachtet an der Hand von Torsnshen zeigen wollen und zwar mit dem folgenden Experiment: In jedes Bein desselben Frosches wurden 1 ecm Oles eingespritzt. Nach 40’ wurde das übrige Ol gesammelt und mit Äther und destilliertem Wasser behandelt. Das Wasser trennt sich vom Äther und das filtrierte Wasser zeigt neutrale Reaktion, während der Äther sauer reagiert. Die beiden Flüssigkeiten wurden im Dampfbad verdunstet und die beiden Reste zeigten eine wässerige neutrale Reaktion, während der ätherische von ausgesprochen saurer Reaktion ıst! Der wässerige feste Rückstand wurde in wenig Wasser wieder aufgelöst. Diesem letzteren werden einige Tropfen Phenol- phthalein hinzugesetzt, welche die wässerige Lösung trüben, aber der Niederschlag löst sich wieder bei Erwärmung und Zusatz von viel Wasser. Nachdem die Lösung klar germane war mittelst Erwärmung, bildete sich die ea ask Rotfärbung, die sich mit der Zeit und Ruhe noch deutlicher machte und die den Beweis für die Gegenwart der Seife ım Wasserauszug lieferte. Wie bekannt, tritt die Färbung nicht gleich auf, weil die Seifenlösung auf das Reagens nicht wirkt, weil die Alkalien nicht frei waren, während mit der Verdünnung die hydrolytische Spaltung des Salzes eingetreten war, weil die hochsiedenden Fette schwache Säuren darstellen und somit die freigewordenen Alkalien das Reaktionsmittel beeinflussen. Ich habe somit nachgewiesen, dass im Schenkel des Tieres die eingespritzten Öle a pespalicn haben in ihre Komponenten und dass sich Seifen gebildet haben, wenigstens in solcher Menge, um, wie ich es gezeigt habe, die Möglichkeit der Überführung das Öls von der dine amtemarseseslle gegen die Blut- und Tomplediare vermöge der Essomiolsschemns zu begünstigen. Freilich nehme ich an, dass die Aufsaugephänomene des Darmes und viele Erscheinungen des Stoffwechsels als nicht verschiedenen Fakt or die Hygromipisie besitzen müssen und ich habe auch des- wegen versucht, besonders die Aufsaugungserscheinungen des Darmes Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. 53: (Se) einer experimentellen Kontrolle zu unterziehen. Diese sind aber zu verwickelt und weniger zugänglich, wie diejenigen der Subkutis. Ich erinnere daher an meine diesbezüglichen Probeversuche, die ich vor allen anderen als unvollkommene, besonders von der experi- mentellen Seite aus betrachte und für annehmbar erachte nur für die allgemeinen Kriterien, welche dem Studium des Phänomens entspringen. Ich teile diese Probeversuche auch mit, weil sie von diesen Anwendungen und Kenntnissen ausgehen, welche für die Biologie -héchst nützlich sind. Einem kleinen Hunde wurden um 12 Uhr ein Brotimbiss, um 1 Uhr eine Brotmilchmahlzeit gereicht und um 2 Uhr wurde er getötet. Aus dem Milchbrustgang (Duct. thor.) sammelt man eine kleine Menge von Lymphe; aus dem geronnenen Blut eine gewisse Menge von Serum und aus dem Dünndarm ebenfalls eine gewisse Menge von Darmsaft. Sowohl der Chylus wie der Darmsaft werden nach ihrer Akühlung filtriert und mit dem Hygromipisimeter ge- prüft. Der Darmsaft erhält sich nicht auf der Höhe von 22 oder 23 mm im Kapillarrohr von 1 mm, wie dies gewöhnlich die anderen Flüssigkeiten zu tun pflegen. Er erreicht indessen die Höhe von 16 mm, wie dieses bei den weniger dichten und sehr agilen Fliissig- keiten der Fall ist. | | Be der | | puke es S| 5 | x USSIg messer des & Se Ale Fliissigkeit D pen im | Flüssigkeit A | Kapillar- | 2 3 Ble | papular: | schnittes Ta re IS rohr | FA & mm nen, he | | | 1. 23) Gedärminhalt | 16 | Rindsblutserum . . | 0,9 | 4' 30° 2.23 Rindsblutserum 23 = Gedärmmhalt =... | 0,9 | — se23eRındsblütserum .. . | 238: | Lympher.. ......- 09 [230% 4.123| Gedärminhalt . . . | 16 | Lymphe et: | 0,9 | 10 | ee | Aus diesen hyg gromipisimetrischen Beobachtungen ersieht man sofort, dass der Darmsaft eine nicht sehr dichte Flüssigkeit dar- stellt: dass er weniger dicht wie das Blutserum ist; dass die aus dem Milchbrustgang (Duct. thor.) gesammelte Lymphe während der Darmaufsaugung eine viel weniger dichte Flüssigkeit ist wie der Darmsaft und das Blutserum. In kürzester Zeit hat man mittelst dieser Art von Studium eine Kenntnis gewonnen, welche mit ander- weitigen Mitteln eine sehr lange Zeit verlangt hätte und wegen der Geringfügigkeit des zu Gebote stehenden Materials, für gewisse Flüssigkeiten wenigstens, wäre diese rein unmöglich gewesen. Ich machte auch noch Probeversuche, um zu bestimmen, wie viel Anteil die Erscheinungen der Hygromipisie an der Darmauf- saugung haben könnten? Ich entblößte den Darm eines Frosches und spannte das Mesen- 904 Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. terium so aus, um den Verlauf der Chylusgefäße beobachten zu können. Ich spritzte in eine an beiden Enden gebundene Schlinge Wasserstoffsuperoxyd ein. Ich konnte dabei genau konstatieren, dass 43” nach der vorgenommenen Einspritzung kleine Gasblischen in den Chylusgefäßen bemerkbar sind. D.h., mit anderen Worten ausgedrückt, dass in dieser Zeit das Wasserstoffsuperoxyd von der Darmoberfläche in den Inhalt der Chylusgefäße übergetreten war; denn, wie man es bekanntlich weiß, in diesen wird bei Berührung mit den Flüssigkeiten des Organismus Sauerstoff in Freiheit gesetzt. Ich bereitete mir Blutserum vom nämlichen Tier und ließ das- selbe als Flüssigkeit D funktionieren und das Wasserstoffsuperoxyd als A Flüssigkeit. Die dabei erhaltene hygromipisimetrische Zeit ist gleich 33°. Wenn man nun bedenkt, dass ich bereits nachgewiesen habe, dass die Lymphe noch weniger dicht wie das Blutserum ist, nämlich bei dem gleichen Tier, d. h., weniger dicht ist wie das Serum, wohlverstanden, wenn ich dasjenige hätte haben können, was natürlich eine materielle Unmöglichkeit ist, nämlich die Lymphe der Chylusgefäße, so hätte ich voraussichtlich eine Zahl bekommen, die derjenigen sich nähert, welche ich bei der Darmaufsaugung erhielt. Ungeachtet dieses anfänglichen günstigen Ergebnisses verließ ich diese Art von Untersuchungen, denn eine andere Schwierig- keit schien mir unüberwindlich, nämlich diejenige, genau die Länge der Uhylusgefäße messen zu können an dem Punkte, wo die kleine Gasblase bemerkbar und zu beobachten ist, nämlich an der Ober- fläche des Darmes, weil der Verlauf der Chylusgefäße ein unregel- mäßiger ist. Schlussfolgerungen. Aus den vorhergehenden Untersuchungen resultiert eine Eigen- schaft, welche die Flüssigkeiten verschiedener Dichtigkeit besitzen, nämlich -die Eigenschaft der gegenseitigen Penetration und Sub- stitution, die kinetische Erscheinungen bedingen, die der Beachtung wert und würdig sind. Weil im lebenden Organismus die Phänomene der Hygro- mipisie, wie ich dieselben vermöge der subkutanen Resorption habe beweisen können, den wesentlichsten Teil ausmachen, so darf man wohl auf Grund derselben auch konsequenterweise vermuten, dass sie namhaften Anteil nehmen müssen an den komplexen physi- kalısch-chemischen Erscheinungen, von denen die Darmresorption und wahrscheinlich auch die Aszensions- und Penetrationsbewegung der Verdauungsprodukte abhängt. Schließlich muss auch im Hin- blick darauf die alte Auffassung und Deutung der sogen. vis a tergo einer neuen Platz machen. Diese neue Auffassung gründet sich eben auf die Hygromipisiephänomene. Capparelli, Die Phänomene der Hygromipisie. 535 Die Einführung dieser neuen Anschauung lässt uns an die Möglichkeit denken zu begreifen, auf welche Art und Weise im Organismus die Trennung von gewissen gemischten Substanzen zu- stande komme oder mit anderen Worten, lässt uns an die Elektivität gewisser Gewebe und Organe denken. Wie ich in einer vorhergehenden Arbeit’) habe nachweisen können, offenbaren uns die Hygromipisiephänomene ein neues Ver- halten der Kolloidalsubstanzen und zerstören mithin eine entgegen- gesetzte Annahme, die wir über gewisse Eigenschaften derselben gemacht hatten. Durch diese Hygromipisiephänomene ist es leicht, eine Kenntnis der Ionenzahl einer gegebenen Lösung zu erlangen, weil die lonıi- sation auf die Dauer der Hygromipisiezeit von Einfluss ist. Die Hygromipisiephänomene offenbaren uns die Existenz neuer Probleme. So verleiht, wie ich in dieser Abhandlung nachgewiesen habe, das mehr oder weniger zahlreiche Vorhandensein der roten Blut- körperchenzahl dem Blutserum ein ganz besonderes Verhalten und modifiziert die Eigenschaften desselben und zwar dermaßen, dass man mit Recht an eine miss- und verkannte, d. h. ignorierte Be- ziehung zwischen den roten Blutkörperchen und dem Serum denken muss, die ausschließlich von der Anzahl derselben abhängt. Die Hygromipisie erklärt uns, wie die subkutane Resorption der Substanzen, inbegriffen auch derjenigen der Fette, zustande komme und zeigt uns ferner, wie man gewisse chemische Stoffe auf möglichst schnelle Art und Weise in den Blutkreislauf könne gelangen lassen, welche wir zu Heilzwecken unter die Haut ein- spritzen. Zu diesem Zwecke sollen schwache alkoholische oder ätherische Verdünnungen der Lösungen vorgezogen werden in den Fällen, wo man eine schnelle Resorption wünscht. Die Hypromipisie zeigt uns weiter, dass die subkutanen Ein- spritzungen den endomuskulären und parenchymatösen vorzuziehen seien, insofern sie im ersteren Fall schneller in die Blutmasse ge- langen, was uns ebenfalls vermuten lässt, dass unter der Haut ein faktischer, wirklicher Resorptionsapparat vorhanden ist. Eine nützliche Anwendung endlich, welche man von der Hygro- mipisiemethode machen kann, ist diejenige, möglichst schnell die Dichtigkeitsdifferenz einer oder mehrerer Flüssigkeiten zu bestimmen, besonders in den Fällen, wo man nur über äußerst geringe Mengen von Flüssigkeit verfügt! 5) A. Capparelli: „Ein physikalisch-chemisches Phänomen und seine Anwen- dung in der Biologie“. Biol. Centralbl., 1. Okt. 1907, Bd. XXVII. 536 Franz, Die Struktur der Pigmentzelle. Die Struktur der Pigmentzelle. Von Dr. V. Franz (Helgoland). Noch heute ist bei den Biologen die Meinung weit verbreitet, die „Zusammenballung* der mesodermalen Chromatophoren beruhe auf einer amöboıden Bewegung dieser Zellen, nämlich auf einer Ein- ziehung der pseudopodienähnlichen Zellfortsätze. Verworn bekennt sich in seinen Werken „Die Bewegung der lebendigen Substanz“) und „Allgemeine Physiologie*?) zu dieser Meinung und sagt in dem letztgenannten Werke ausdrücklich (S. 245 Anm.), die in neuerer Zeit mehrfach geäußerte Ansicht, dass es sich bei den Bewegungen der Pigmentzellen allen um eine Wanderung der Pigmentkörnchen handle, ohne gleichzeitige Formveränderung des Protoplasmakörpers, habe bisher keine genügende Stütze erhalten?). Ähnlich sagt Wilson in seinem neuen Werke*) „The Cell“ (S. 102): „These cells have, in an extraordinary degree, the power of changing their form and of actively creeping about“. Andererseits ist aber die zweite Ansicht der intrazellulären Körnchenströmung schon ziemlich alten Datums, und diejenigen Forscher, welche sich sehr eingehend mit den Pigmentzellen be- schäftigt haben, sind sich, soweit sie überhaupt zu einer bestimmten Ansicht über die Frage kamen, darüber einig, dass die „Kontraktion“ der Pigmentzellen nur eine scheinbare ist, dass in Wirklichkeit nur die Pigmentkérnchen innerhalb der Zellfortsätze bei der „Kon- traktion“ zentralwärts, bei der „Expansion“ nach den peripheren Teilen hin wandern. Brücke erklärte schon 1852 in seiner klassischen Arbeit über den Farbenwechsel des Chamiileons*), die Ausläufer der Pıgmentzellen würden nicht eingezogen, sondern sie werden nur von Pigmentkörnchen entleert, welche ıhrerseits nach dem Zentrum der Zelle hinströmen. Diese Ansicht haben spätere Unter- sucher (R. Virchow‘), J. Lister)’), angenommen, während andere (A. Lode®), W. Biedermann)’, zu keiner vollständigen Klarheit 1) Jena 1892. 2) III. Aufl., Jena 1901. 3) Auch Kennel spricht sich in seinem Lehrbuche der Zoologie (1905, S. 57/58) für die Annahme einer wirklichen Kontraktion und Expansion der Pigment- zellen aus, wie ich Ballowitz, Biol. Centralbl., Bd. XIII, S. 625, entnehme. 4) The Cell in development and Inheritance, New-York 1906 (Columbia Uni- versity Biological Series IV). 5) Brücke, Denkschr. d. k. k. Akad. d Wiss., Wien 1852, Bd. 4. 6) R. Virchow, Chromatophoren beim Frosch. Arch. path. Anat , Bd. VI, 1854. 7) J. Lister, On the Cutancous Pigmentary System of the Frog, Philos. Transact. of the Royal Soc. of London, Vol. CXLVIII, 1559. 8) A. Lode, Beitr. z. Anat. u. Physiol. des Farbenwechsels der Fische. Sitzber. d. k. Akad. d. Wiss., Bd. XCIX, Heft 1, Abt. 3, 1890. 9) W. Biedermann, Uber den Farbenwechsel der Frösche. Pflüg. Arch. f. ges. Physiol., Bd. LI, 1892. Franz, Die Struktur der Pigmentzelle. 537 über die Frage nach der Art der Zusammenballung kommen konnten '°). Vor allem aber ist einer sehr schönen und sorgfältigen Untersuchung von B. Solger!!) zu gedenken. Solger gelang es, an den Gore auf den Shanpen der Rnochenneche, insbesondere des Hechtes, den Zellkontur der von Pigment- körnchen entleerten, verästelten, protoplasmatischen Fortsätze der Pigmentzellen zu sehen und sie anderen Forschern in Glyzerin- präparaten zu demonstrieren. Damit ist m. E. schon der Nachweis erbracht, dass die Pigmentverschiebung auf einer intrazellulären Körnchenströmung beruht, selbst wenn Solger keine weiteren Tat- sachen zur Stütze für seine Anschauung zur Kenntnis gebracht hätte. Tatsächlich gelang ihm jedoch auch noch der Nachweis eines außerhalb des Zellkerns gelegenen Zentrums der Pigment- verschiebung, nach welchem die Körnchen bei der Pigmentballung hinströmen. Übrigens hat auch Biedermann (. c.) diese pigment- freien lee zu Gesicht bekommen, ohne ihre Bedeutung vollständig zu würdigen. Ballowitz (l. ¢.) ist es sodann geglückt, die Fortsätze bis in die feinsten Verästelungen hinein mittels der Golgi-Methode zu färben, und derselbe Forscher kam auch zu Beobachtungen über die Innervation der Chromatophoren'!?): die Chromatophoren sind von feinsten Nervenfibrillen umsponnen, und wenn das Pigment nach dem Zentrum hin zusammengeballt ist, lässt sich aus der Verteilung der Neurofibrillen noch die ungefähre Lage der Pigmentzellenfortsätze erkennen. Bei dieser literarischen Situation kann ich mich nur, wie ich es auch schon bei Gelegenheit einer früheren Arbeit?) tat, der zweitgenannten Ansicht einsehen. dass nämlich die Chromato- phorenballung wirklich durch intrazelluläre Körnchenströmung zu- stande kommt. Wenn Verworn zu dem entgegengesetzten Urteil kam, so will ich nur noch erwähnen, dass ihm die Arbeit von Solger durchaus nicht etwa entgangen war. Sie wird in der „Allgemeinen Physio- logie* an anderer Stelle zitiert. Ich gestehe also, mich der Meinung Verworn’s nicht anschließen zu können. Ja ich würde es gar nicht für nötig erachten, neue Be- 10) Vgl. hierzu auch das Referat von E. Ballowitz: Über die Bewegungs- erscheinungen der Pigmentzellen. Biol. Centralbl.. Bd. XIII, 1893. 11) B. Solger, Über pigmentierte Zellen und deren Zentralmasse. Mitteil. aus dem naturwissenschaftl. Verein für Neu-Vorpommern und Rügen in Greifswald. XX. Jahrg., Berlin 1889. 12) E. Ballowitz, Die Nervenendigungen der Pigmentzellen, ein Beitrag zur Kenntnis des Zusammenhanges der Endverzweigungen der Nerven mit dem Proto- plasma der Zellen. Zeitschr. f. wissenschaftl. Zool., Bd. LVI. 13) V. Franz, Beobachtungen am lebenden Selachierauge. Jen. Zeitschr. f Naturwissenschaft, Bd. XLI, 1906, S. 454, 538 Franz, Die Struktur der Pigmentzelle. weise für die intrazelluläre Körnchenströmung in den Pigment- zellen zu häufen, wenn ich nicht zu sehr schönen und klaren Bildern am lebensfrischen Gewebe gelangt wäre und ferner auch einige weitere, auf die „Protoplasmastrahlung“* der Pigmentzellen bezügliche Tatsachen mitteilen könnte. Meine Beobachtungen wurden begünstigt durch ein äußerst geeignetes Objekt, welches noch keinem früheren Untersucher des Gegenstandes zur Verfügung gestanden hatte. Es sind dies Fisch- larven. An diesen kleinen und außerordentlich zarten Tierchen, deren ich bei Gelegenheit anderer Studien in diesem Frühjahr sehr viele lebend in die Hände bekam, sind die Pigmentzellen noch sehr sparsam verteilt und verhältnismäßig sehr groß. Immer aufs neue lenken sie die Aufmerksamkeit des Beobachters auf sich, denn sie bieten dem Auge auch einen ästhetisch schönen Anblick, und fast unwillkürlich machte ich die Beobachtungen, die ich im folgenden darstellen will. Ich untersuchte hauptsächlich Larven von Pleuronectes platessa L., Gadus morrhua Gthr., Gadus merlangus L., Agonus cataphractus (L.) und Liparis vulgaris Flem. Die ersten drei erhielt ich im Februar und März teils aus Planktonfängen an Bord des „Poseidon“, teils aus den pelagischen Eiern, die in der Biologischen Anstalt auf Helgoland zur Entwickelung gebracht wurden. Die Agonus-Larve wird im März und April sehr häufig bei Helgoland im Plankton gefangen. Liparis-Larven wurden aus Eiern gezüchtet, die vom Meeresboden gedredgt waren. Zellkontur. Wie schon gesagt, ist der Nachweis des Zellkonturs an den von Pigment entleerten Fortsätzen der Chromatophoren die beste Stütze für die Annahme der intrazellulären Körnchenströmung, oder, wie man statt „Kontraktion“ besser sagen kann, der Attraktion der Pıgmentkörnchen. Statt Annahme sollte man lieber Tatsache sagen. Ich verweise auf das untrüglich klare Bild der pigment- freien Fortsätze an gelben, wie an schwarzen Chromatophoren, die ich am 12. Februar 1908 im Flossensaum einer sehr jungen Pleuro- nectes platessa-Larve sah (Fig. 1). Als ich dieses mikroskopischen Bildes ansichtig wurde, habe ich es sofort mittels Zeichenapparates bei starker Vergrößerung festgehalten, und es wurde zum ersten Anstoß zu dieser Arbeit. Wir sehen in Fig. 1 links unten eine gelbe Chromatophore, deren gelbe Lipochromkörnchen sämtlich aus den Fortsätzen heraus und nach dem Zentrum der Zelle zu (nach unten im Bilde) geströmt sind, und rechts oben sehen wir eine schwarze Chromatophore, deren Pigment nicht ganz, aber doch zum großen Teil sich zentral gesammelt hat. Einige Melaninkörnchen sind hier in den Fortsätzen hängen geblieben, es tritt also hier ın Franz, Die Struktur der Pigmentzelle. 539 Erscheinung, was zuerst von Fr. Heincke'*) und hernach von vielen anderen Forschern beobachtet wurde, dass nämlich bei der „Kontraktion“ der Pigmentzellen häufig einiges Pigment nicht eingezogen wird, sondern in loco zurückbleibt. Ich bemerke noch, dass die Pigmentzellen auf dem Flossensaum der Platessa-Larve von Fig. 1. Fig. 2. der normalen Stern- form abweichen und als Ganzes mehr ge- streckt sind, ähnlich wie es Zimmer- mann») für die Pig- mentzellen auf den Stacheln erwachsener Teleostier beschreibt und abbildet. Auf dem Rumpf derselben Larve sind die Pig- meutzellen von der normalen Sternform, doch konnte ich hier die Fortsätze weniger weit verfolgen (Fig. 2). Ich habe die pigmentfreien Zellfortsätze später 14) Fr. Heincke, Bemerkungen über den Farbenwechsel einiger Fische. Schriften des naturwissenschaftl. Vereins f. Schleswig-Holstein, Bd. I, Heft 3. 15) Zimmermann, Stud. üb. Pigmentzellen I: Über die Anordnung des Archi- plasmas in den Pigmentzellen der Knochenfische. Arch. f. mikr. Anat., Bd. XLI, 1593. 540 Franz, Die Struktur der Pigmentzelle. noch öfter gesehen, aber mir mit Ausnahme der Fig. 3 (Gadus merlangus, „Poseidon“, März 1908) keine Zeichnungen mehr davon gemacht, weil ich die Fortsätze niemals wieder in gleicher Voll- stindigkeit und Schönheit wie in Fig. 1 zu Gesicht bekam. Ich vermag nicht zu sagen, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit der Zellkontur an den pigmentfreien Fortsätzen sichtbar wird. Nur soviel scheint mir sicher, dass hierzu ein bis zu gewissem Grade abnormer oder moribunder Zustand der Gewebe erforderlich ist. Niemals sah ich pigmentfreie Fortsätze an den noch in der ganz durchsichtigen Chorionhülle des Eies befindlichen Larven, niemals auch an solchen Larven, die eben vor meinen Augen aus- geschlüpft waren. Eine gewisse Moribundität trıtt jedoch sehr leicht ein, da die zarten Tierchen gegen die Wärme des Laboratoriums sowie auch gegen Berührungen und sonstige Schädigungen sehr empfindlich sind. Wollte ich jedoch das Sichtbarwerden der Zell- fortsätze experimentell hervorrufen, sei es auf osmotischem oder auf anderem Wege, so arbeitete ich stets erfolglos und blieb auf. den Zufall angewiesen, der übrigens keineswegs immer günstig war. Bei Agonus- und bei Liparis-Larven konnte ich z. B. nicht ein einziges- mal die Zellfortsätze erblicken, obwohl die Pigmentzellen hier sicher von ganz derselben Natur sind wie bei Plewronectes oder bei Gadus und überhaupt bei allen Teleostiern. Radiare Stabe. Eine weitere wichtige Eigenschaft der Pigmentzellen, auf welche zuerst Solger in seiner bereits erwähnten sowie in noch zwei anderen Arbeiten'®), 17) hingewiesen hat, ist die radıäre Struktur der Pigmentzelle. Man sieht die Pigmentkérnchen häufig in radıären Reihen gruppiert und bemerkt auch eine feine „Protoplasma- strahlung“, deren Zentrum außerhalb des Zellkerns hegt. Solger erblickte damals sofort in seiner Entdeckung ein Analogon zu dem kurz vorher von Boveri aufgefundenen Centrosom und erörterte auch die Beziehungen dieses Befundes zu der ingeniösen, später so vielfach bestätigten Hypothese van Beneden’s, dass ein extra- nukleäres Zellzentrum in weitester Verbreitung in den lebenden Zellen vorkomme. Tatsächlich ist ein solches dynamisches Zentrum auch in den Pigmentzellen sicher vorhanden, ja em Zentrum von wunder- barer Gewalt, welches die Bewegungsvorgänge ın einer bei großen Fischen oft millimetergroßen Zelle (mit Fortsätzen) beherrscht und dabei noch ziemlich schnelle Bewegungen auslösen kann. (Kin Fisch wechselt bei psychischer Erregung sofort zusehends die Farbe.) 16) Solger, Zur Struktur der Pigmentzelle, Zool. Anz., 1889. 17) Nachtrag zu dem Artikel „Zur Struktur der Pigmentzelle“. Zool. Anz. 1890. Franz, Die Struktur der Pigmentzelle. 541 Und hieran wird gar nichts geändert, auch wenn ich der feinen „Protoplasmastrahlung“, die von diesem Zentrum ausgeht, eine ganz andere Bedeutung zuschreibe. Diese „Protoplasmastrahlung“ hat nach meinen Beobachtungen weder eine Verwandtschaft mit sonstigen radiärstrahligen Attraktionssphären, noch hat sie mit der Fig. 4. Fig. 6. Fig. 7. Fig. 8. fi be a (4 R und aed A Ku r tf 4 yy Anziehung der Pigmentkörnchen nach dem Zentrum hin direkt etwas zu tun, sie besteht vielmehr aus starren skelettartigen Stäben. Schon Solger hat sich diesem Eindruck nicht ganz ent- ziehen können, er spricht von geradlinigen, farblosen „Fortsätzen*, die in starrer Ruhe verharrten, und dem entspricht auch seine Abbildung (Fig. 2a und b in den Mitteil. d. naturw. Ver. f. Neu- Vorpommern und Rügen 1880) sowie die Figuren, welche Zimmer- mann (Il. c.) gibt. Es ist zwar schwierig genug, diese Stäbe bei starken Vergrößerungen (Ölimmersion) und starker Abblendung im pigmentfreien Plasma zu sehen. Aber die Beobachtung wird be- deutend erleichtert, wenn Pigmentkérnchen neben den Stäben liegen und ihren Verlauf kenntlich machen. So konnte ich die Fig. 4—8 zeichnen. Besonders wichtig erscheinen mir die Verzwei- gungen, welche die Stäbe hier und da erkennen lassen. Die Stäbe sind übrigens auch überall in den verästelten Fortsätzen der Pigmentzellen zu sehen, und Fig. 8 mag vielleicht eine äußerste Endverästelung darstellen. Für die Frage nach der Bedeutung dieser Stäbe ist ferner ihre periphere sowie ihre zen- trale Endigung von Interesse. Was die periphere Endigung der Stäbe betrifft, so konnte ich diese zwar direkt nicht sehen, doch lassen sich aus der Anordnung der Körnchen, welche ja, wie in Fig. 4, 5, 8, stets die Stäbe frei lassen, wichtige Aufschlüsse über den Verlauf der Stäbe entnehmen. Da ergibt sich nun, wie die schematische Fig. 9 zeigt, dass die Stäbe ein deutliches „Bestreben“ verraten, steil und womög- lich senkrecht auf die Zelloberfläche zu treten. Ähnliches zeigt 542 Franz, Die Struktur der Pigmentzelle. g übrigens auch die von Heidenhain!®) entworfene Zeichnung einer Pigmentzelle. Die Verzweigungen der Stäbe sowie die Endigungen steil bezw. senkrecht auf der Zelloberfläche beweisen, dass die Stäbe nicht unter einer Zugwirkung vom Zentrum aus stehen und vielmehr als Stützgebilde aufgefasst wer- den müssen. Für diese Auffassung spricht ferner die zentrale Endigung der Stäbe. Ich selbst kam bei der Untersuchung derselben am lebensfrischen Material zwar nicht allzuweit. Ich kann nur sagen, dass meistens (nicht immer!) eine sehr kleine zentrale Partie der Pigmentzelle pigmentfrei bleibt, dass dieser pigmentfreie Bezirk oft nicht kreisförmig, sondern polygonal begrenzt ist, und dass hier und da auch eine Reihe von Pig- mentkörnchen quer über die zentrale, ungefärbte Partie hinwegging. Diese Beobachtungen stehen durchaus im Einklang mit jenen, welche Zimmermann (l.c.) mittels diffiziler Färbemethoden am Zentrum Fig. 10. Fig. 11. Nach Zimmermann. Nach Zimmermann. der Pigmentzellen machte. Zimmermann färbte bei Blennias trigloidea die Stäbe, die ,Archiplasmastrahlen“, wie er sie nennt, und konstatiert dabei, dass sie 1m Zentrum nicht mehr radıär an- geordnet sind, sondern ein äußerst mannigfaltig gestaltetes Netz bilden. Auf den äußersten Fäden dieses Netzes stehen die Plasma- strahlen steil oder meistens senkrecht In meiner Ausdrucksweise heisst das, die Stäbe bilden im Zentrum ein fachwerkartiges Ge- rüst, welches seinerseits die radıären Stäbe trägt. Ich erlaube mir hier zur Verdeutlichung des Gesagten zwei von den schönen Abbildungen Zimmermann’s durch einfache Federstrichzeichnungen vergrößert wiederzugeben, Fig. 10 u. 11. Es erinnern diese Gerüst- strukturen entschieden an jene, die namentlich neuerdings von Val. Haecker bei Acantharien beschrieben wurden, wo auch vielfach 18) M. Heidenhain, I’lasma und Zelle I, S. 221, Jena 1907 (zugleich 14. Lief. d. Handb. d. Anat. d. Menschen, herausgeg. von K. v. Bardeleben). Franz, Die Struktur der Pigmentzelle. 543 radiire Pfeiler, die die Plasmahaut stützen, auf einer gittrigen Skelettschale senkrecht stehen. So glaube ich denn auch allen Grund zu haben, in beiden Fällen — Chromatophoren und Acantharien — eine ähnliche Funktion an- zunehmen, und meine also, die Pigmentzelle birgt in sich ein aus Stäbchen bestehendes Skelett, dessen Zentrum mit dem dynamischen Zentrum der Pigmentattraktion zusammenfällt. Die Frage ist wohl nicht allzu schwer zu beantworten, warum die Pigmentzelle ein solches Skelett enthält. In der Pigmentzelle finden viel regere intrazelluläre Verlagerungen statt als in irgend- einer anderen Zelle, und die Ausbildung eines, die Erhaltung der Form der ganzen Zelle gewährleistenden Skelettes wurde damit zur Notwendigkeit. Zugleich haben die Stäbe diejenige Anordnung, welche am allerbesten dıe bald zentral, bald peripher gerichteten Verschiebungen der Pigmentkérnchen ermöglicht. Es wäre, wie ich beiläufig bemerken möchte, interessant, wenn sich ein ähnliches Skelett in den ektodermalen Pigmentzellen des Retinaepithels nachweisen ließe. Hier finde ich wohl auch am ehesten Platz für eine kurze Erörterung der Frage, ob den Pigmentzellen eine aktive, amöboıde, kriechende Beweglichkeit eigen sein mag. Wenn dies von Verworn, Kennel, Wilson (l.c., s. 0.) an- gegeben wird, so glaube ich, diese Forscher standen noch unter dem Eindrucke der älteren Annahme, dass alle Pigmentverschie- bungen een Bewegungen der Zellen beruhen. Im Gegen- satz dazu macht mir die Pigmentzelle als Ganzes mit ihrem Stäbe- skelett einen recht starren Eindruck. Es ist indessen nicht ganz unmöglich, dass die Stäbe nur aus einer „relativ festen“ Substanz bestehen, und dass dennoch gewisse Bewegungen nach Art eines Kriechens vorkommen. Ich möchte bemerken, dass ich einmal ge- sehen habe, wie während der Beobachtungsdauer ın einer Pigment- zelle zwei deutlich ohne Kunstgriffe sichtbare Kerne einander etwas näher rückten, wobei sie gleichzeitig sich etwas zu verkleinern schienen. Ich möchte daher auch eine aktive Beweglichkeit und ein Formveränderungsvermögen der ganzen Zelle nicht völlig ın Abrede stellen, wie wohl auch ähnliches an den weitverästelten Ganglienzellen beobachtet wurde. Jedoch habe ich niemals ein Kriechen der Pigmentzellen wirklich gesehen, und in allzu ausge- dehntem Maße kann es sicher nicht stattfinden, da die Anordnung der Pigmentierung bei den verschiedenen Fischlarven das beste spezi- fische Charakteristikum für die Systematik abgıbt!?). (Schluss folgt.) 19) Ähnliches gilt auch für Krustazeen, bei welchen übrigens gleichfalls die Pigmentverschiebungen intrazellular sind. Vgl. Keeble, Fr. und Gamble, F. W.: The Colour-Physiology of higher crustacea. Philos. Transact. Roy. Soc. London, Ser. B, vol. 196, 1904. HAA Nagel, Handbuch der Physiologie des Menschen. W. Nagel. Handbuch der Physiologie des Menschen. Bd. IV, 2. Hälfte, 1. Teil, Gr. 8, 202 8., 18 Fig. und 1 Tafel. Braunschweig, Vieweg u. Sohn, 1907. Nachdem wir vergebens bis heute auf die Ausgabe des Schluss- heftes von Nagel’s Handbuch gewartet haben, berichten wir über das schon vor Jahresfrist ausgegebene Heft, welches die allgemeine Physiologie der quergestreiften Muskeln, bearbeitet von M. v. Frey, die allgemeine Physiologie der glatten Muskeln und die spezielle Bewegungslehre mit Überblick über die Physiologie der Gelenke, beide aus der Feder von R. du Bois-Reymond enthält. Herr v. Frey scheint seine Aufgabe dahin gefasst zu haben, dass er alles Elementare, das, was man ın den gewöhnlichen Lehr- büchern der Physiologie za finden pflegt, als bekannt voraussetzt und vorzugsweise die Ergebnisse der neueren und eingehenderen Untersuchungen schwieriger Punkte kritisch vorträgt. Dass diese Darstellung eines Forschers, der in diesem Gebiete selbst Hervor- ragendes geleistet hat, viele wertvolle Bemerkungen enthält, muss rühmend hervorgehoben werden. Sie entspricht ja auch dem Zweck des Sammelwerkes, welches nach der Ankündigung als ein Nach- schlagwerk für den Physiologen von Fach bestimmt sein soll. Außer- lich macht sich die Beschränkung, welche sich der Verfasser auf- erlegt hat, auch schon darin bemerklich, dass die Beschreibung der Untersuchungsmethoden sehr knapp gehalten ıst und dieser ganze Abschnitt ganz ohne die Beigabe von Figuren geblieben ist. Dass ganz und gar darauf verzichtet wurde, auch die ältere Literatur zu berücksichtigen, macht sich an manchen Stellen bemerklich, unter anderem auch darın, dass z. B. die Tatsache der Abnahme des galvanıschen Widerstands der Muskeln beim Absterben auf den Amerikaner Kodis (1901) zurückgeführt wird, während sie doch ausführlich in einer auf Emil du Bois-Reymond’s Veranlassung von Johannes Ranke durchgeführten Untersuchung festgestellt worden ist (vgl. Ranke, Tetanus, Leipzig 1865, S. 29ff.). Den Abschnitt über die glatten Muskelfasern hat Herr R. du Bois-Reymond nach dem Tode von P. Schultz zu bearbeiten übernommen und sich dabei ganz auf die Vorarbeiten dieses früh- verstorbenen Physiologen gestützt. Mehr auf eigenen Füßen konnte derselbe Bearbeiter in dem letzten Abschnitt stehen, da er hier eigene Erfahrungen verwerten konnte, im übrigen aber die Ergeb- nisse der wichtigen, das ganze Gebiet auf exakte Grundlage stellenden Versuche und Berechnungen von O. Fischer zu verwerten in der Lage war. Hoffen wir, dass das Erscheinen des noch fehlenden Schluss- heftes nicht allzu lange auf sich warten lässt und damit das Werk, welches den jetzigen Stand unserer physiologischen Kenntnisse zu- sammenfasst, zum Nutzen aller, die es angeht, abgeschlossen werde. J. Rosenthal. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der kgl. bayer. Hof- u. Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Kr % Soeben erschien : Dr. Wesenberg-Lund Plankton investigations of the Danish lakes Vol. I. General part: The baltic Freshwaterplankton its origin and Variation Text and Appendix with 46 tables . . . ... 0K Vol. I. Special part erschien im Jahre 1904 . . . 50 u Published by the aid of the Carlsberg-fund Gyldendalske Boghandel. Nordisk Forlag Kopenhagen. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Fragen der Liebe. Eine biologische Studie, der Dichtkunst des scheidenden Jahrhunderts gewidmet. Von Professor Dr. A. Rauber, Dorpat. M2 Naturalismus in der Kunst. Von Professor Dr. A. Rauber, Dorpat. ML, Tk, Käthchen Schirmachers „Halb“ und Eduard von Hartmanns „Ganz“. Vom Biologischen Standpunkt beurteilt. Von Professor Dr. A. Rauber, Dorpat. M. 1.—. K. B. Hof- und Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. Biologisches Centralblatt Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie — in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Fostanstalten. XXVIII.Bd. 1. September 1908. Ne 17. “lei pzig. | Verlag von Georg Thieme. Rabensteinplatz 2. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Lehrbuch der allgemeinen Physiologie. Eine Einführung in das Studium der Naturwissenschaft und der Medizin von Prof. Dr. 3. Rosenthal. Mit 137 Abbildungen. -M. 14.50, geb. M. 16.50. Der physiologische Unterricht und seine Bedeutung für die Ausbildung der Arzte Prof. Dr. J. Rosenthal. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. Bd. XXVIII. 1. September 1908. Ag 17. Inhalt: Franz, Die Struktur der Pigmentzellen (Schluss). _— Dobell, Some Remarks upon the „Autogamy‘‘ of Bodo lacertae (Grassi). — Popoff, Uber das Vorhandensein von Tetraden- chromosomen in den Leberzellen von Paludina vivipara. — Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfirbuug. — Preisausschreiben. Die Struktur der Pigmentzellen. Von Dr. V. Franz (Helgoland). (Schluss.) Reihengruppierung der Pigmentkörnchen, Absterbeerscheinungen. Nur eine verhältnismäßig geringe Bedeutung kann ich der oft beobachteten Reihengruppierung der Pigmentkörnchen beimessen. Ich habe gefunden, dass von einer solchen stets um so weniger bemerkt wird, je lebensfrischer das Material ist. Die Reihen- gruppierung der Pigmentkörnchen ist also als Absterbeerscheinung aufzufassen, und die Figuren 4, 5 und 8 erklären sofort, wie sie zustande kommt. Es ist nur natürlich, dass die Pigmentkörnchen bei ihren Bewegungen leicht durch die radiären Stäbe — trotz deren günstiger Anordnung — gehemmt werden, und deshalb bleiben sie leicht in radiären Linien liegen, und zwar um so leichter, je schwerfälliger infolge eintretender Moribundität ihre Bewegungen werden. Solger spricht außer von der radıären Reihengruppierung der Körnchen auch von einer tangentialen, d. h. zirkulären, und seine Abbildung verrät auch eine solche. Ich kann die Darstellung Solger’s durchaus verstehen, denn auch ich habe eine zirkuläre Anordnung des Pigments oft beobachtet, am schönsten einmal im Monat März 1908 bei einer Larve von Gadus morrhua auf dem „Posei- don“. Dort wurden auch die beiden Figuren 12 u. 13 entworfen (vgl. XXVIII. 35 546 Franz, Die Struktur der Pigmentzelle. auch Fig. 2). Das Pigment hat sich hier offenbar noch nach dem Zen- trum hin zusammenziehen wollen, wurde aber dabei in den Fort- sätzen infolge eintretender Moribundität gehemmt, und nur in der zentralen Scheibe, wo es freieren Raum hatte, konnte es sich nach dem Zentrum hin noch ziemlich ungehindert bewegen. Daher sehen wir in der zentralen Scheibe die Pıgmentkörnchen nur hier und da in den Stäben in schöner radıärer Gruppierung, in den Wurzeln der Zellfortsätze aber haben sie sich sichtlich angestaut, wodurch eine gewisse zirkuläre Gruppierung des Pigments in die Erschei- nung tritt. Deutliche Pigmentanstauungen sehen wir übrigens auch an den großen, hellen Zellkernen, deren in Fig. 12 zwei, in Fig. 13 einer sichtbar sind, leicht erkennbar, weil ihr Raum von Pigment frei ist und nur wenige Körnchen darunter oder darüber legen. as 9 Pig, 12. Das Zentrum der Pigmentattraktion bleibt übrigens keineswegs stets von Pigment frei, wie gewöhnlich angegeben wird, sondern das Pigment kann sich auch ganz dicht auf ihm anhäufen (Fig. 13). Wenn aber das Zentrum von Pigment frei bleibt, so sieht man (in schwarzen Chromatophoren) manchmal genau in seiner Mitte einen schwarzen Punkt (Fig. 12), dessen Bedeutung mir unklar ist. Anhang. Anhangsweise möchte ich hier zwei Fragen streifen, die man mir vielleicht, da ich den Pigmentzellen näher getreten bin, stellen würde. Die eine Frage betrifft die Entwickelung der verschiedenen Pigmentzellen auseinander. Tornier?®),?') hat neuerdings ausge- 20) G. Tornier, Experimentelles über Erythrose und Albinismus der Kriech- tierhaut. Sitzber. d. Ges. naturf. Freunde. Berlin, Nr. 4, Jahrg. 1907. 21) G. Tornier, Nachweis über das Entstehen von Albinismus und Melanis- mus und Neotenie bei Fischen. Zool. Anz., Bd. XXXII, Nr. 9/10. Franz, Die Struktur der Pigmentzelle. 547 führt und es durch Experimente bekräftigt, dass die Pigmentzellen (allerdings bei Amphibien und Reptilien) in folgender Anordnung: weiße, gelbe, rote, braune, graue, schwarze, eine Stufenfolge ver- schiedener Ausbildungsgrade vorstellen und dass jede Art sich in die nächstfolgende, bei regressiver Entwickelung auch in die nächst- vorhergehende umwandeln könne. Hiermit stimmt es wohl einiger- maßen überein, dass ich bei Fischlarven stets nur zwei Arten von Pigmentzellen: schwarze und gelbe, unterscheiden konnte, während beim erwachsenen Gobius ruthensparrinach Heincke (l. ¢.) auch noch grünlichgelbe und rotgelbe bis rote vorkommen. Allerdings spricht Zimmermann in seiner bereits mehrfach zitierten Arbeit bei erwach- senen Teleostiern wiederum nur von zwei Arten: gelben und schwarzen Chromatophoren, doch werden auch die anderen bei den von ıhm untersuchten Fischen kaum fehlen. Erwähnen möchte ich auch noch, dass ich früher bei Cyclopterus hımpus-Larven den Eindruck hatte, als seien die schwarzen Chromatophoren dieser Larve noch in zwei Unterarten zu teilen: solche mit großer Scheibe und dicken Veräste- lungen, und solche mit äußerst kleiner Scheibe und sehr feinen Verästelungen. Im allgemeinen pflegen übrigens die Scheibe und die ersten Verästelungen bei den schwarzen Chromatophoren gröber gebaut zu sein als bei den gelben, und in den letzteren pflegen die Pigmentkörnchen auch lockerer zu legen. Für Tornier’s Ansicht spricht wiederum eine Beobachtung, die ich gelegentlich bei einer Liparis-Larve machte. Ich glaubte hier anfangs drei Arten von Pigmentzellen zu unterscheiden, nämlich außer den schwarzen und gelben noch rotgelbe; doch überzeugte ich mich bei genauerem Zu- sehen, dass viele hellgelbe Pigmentzellen eine zentrale rotgelbe Anhäufung der Pigmentkörnchen zeigten, so dass die Entwickelung der einen Art Chromatophoren aus der anderen wahrscheinlich wird 22). Die zweite Frage betrifft die Ursachen der Pigmentverschie- bungen. Zunächst ist es klar, dass die Pigmentverschiebungen unter dem Einflusse des Nervensystems erfolgen können. Außer- dem ist durch Biedermann (I. c.) und Steinach?’) mit genügender Klarheit gezeigt worden, dass auch die direkte Wirkung der Be- lichtung eine Zusammenballung der Chromatophoren hervorruft. Ferner hat die Erstickung in Stickstoff- oder Wasserstoffatmosphäre, auch bei gänzlicher Loslösung der Chromatophoren vom Nerven- system, keine Zusammenballung der Chromatophoren zur Folge, 22) Dieselbe Erscheinung beobachtete ich hernach auch bei älteren Platessa- Larven (Übergänge zum Bodenstadium), und sie ist jedenfalls noch viel weiter ver- breitet. Zusatz b. d. Korrektur. 23) E. Steinach: Über den Farbenwechsel bei niederen Tieren, bedingt durch die direkte Wirkung des Lichtes auf die Pigmentzellen. Centralbl. f. Physiol., Bd. V, 1892. wo oO ( 548 Dobell, Some Remarks upon the ,,Autogamy of Bodo lacertae (Grassi). während das Absterben unter normalen Umständen eine solche be- wirkt. Hierzu kann ich mitteilen, dass sicher eine maximale Ex- pansion der Chromatophoren eintritt, wenn man eine Fischlarve im ausgehöhlten Objektträger unter dem Deckglase dem Erstickungs- tode nahe bringt, während andererseits die maximale Kontraktion, besser Ballung oder Attraktion des Pigments erfolgt, wenn der Tod infolge zu großer Wärme im offenen Wasserglase eintritt. Diese postmortale Zusammenballung erinnert, wie schon Verworn hervorhob, an die postmortale Abkugelung der Amöben und nicht minder an die postmortale Kontraktion aller Muskeln (Totenstarre), und überhaupt zeigen die mesodermalen Pigmentzellen in allen soeben erwähnten physiologischen Eigenschaften, wie ich (l. c.) zeigte, eine ganz auffällige Analogie mit dem Verhalten der ektodermalen, pigmentierten Muskelzellen im Sphineter der Selachieriris, wofern man die wohl berechtigte Annahme macht, dass der Sphincter hier an Kraft den Dilatator überwiegt. Es verdient aber hervorgehoben zu werden, welche Schwierigkeiten in diesen Analogien zwischen Pigmentzellen und Muskelzellen liegen, da die Ballung der Pigment- zellen zunächst nicht auf einer echten Kontraktion, sondern auf einer intrazelluliren Körnchenströmung beruht. Zusammenfassung. 1. Der Ballungsvorgang der Pigmentzellen beruht auf intra- zellulären Pigmentkérnchenstré6mungen. 2. Die plasmatische Radıärstruktur der Pigmentzellen besteht in einem intrazellulären Skelett, dessen Vorhandensein wegen der regen intrazellulären Körnchenströmungen genügend erklärt ist, dessen Bau in einigem an Acantharienskelette erinnert. Some Remarks upon the „Autogamy“ of Bodo lacertae (Grassi). By €. €. Dobell, Trinity College, Cambridge. (Aus dem Zoologischen Institut München.) The following comments have been called forth by my observation of some curious organisms occurring in the gut of the frog, Rana temporaria L. I will first briefly recapitulate the „autogamy“ which Prowazek has described in Bodo lacertae'), and then describe these organisms and their development, pointing out the bearing of the one upon the other. Bodo lacertae is said by Prowazek to display two different sexual processes — autogamy and heterogamy. The former takes 1) „Untersuchungen über einige parasitische Flagellaten“ in: Arb. kaiserl. Ge- sundheitsamte, Bd. XXI, Heft I, 1904. Dobell, Some Remarks upon the „Autogamy“ of Bodo lacertae (Grassi). 549 place as follows: A number of Bodos become united at their po- sterior ends, forming a kind of „Agglutinationsstern“. Each animal later undergoes a shortening and finally rounds itself off and forms a delicate cyst membrane. The autogamy-cysts thus occur together in little heaps. Inside each cyst an autogamy is now enacted. At first the nucleus increases in size. Then small bladder-like chro- midia are extruded from it into the cytoplasm. Their maximal number is 8. They soon come together and fuse, forming the sexual nucleus. A stage is thus reached in which the cyst contains two nuclei — the pale (poor in chromatin) somatic nucleus, and the darker (richer in chromatin) sexual nucleus. The sexual nucleus now divides by amitosis; each daughter nucleus again dividing similarly, so that four nuclei are formed. Of these, two divide once more, so that six small nuclei come to lie round the somatic nucleus. Four of these are reduction nuclei and degenerate: the other two are the gamete-nuclei, which increase in size, approach one another, and fuse. Thus once more the cyst contains two nuclei — the old somatic nucleus and the new synkaryon, formed by the fusion of the gamete nuclei. In this stage the cyst remains for some time: then finally the new nucleus increases in size and forms a new karysome, while the old nucleus degenerates”). A thick cyst membrane is formed, and we thus reach the final stage — the yellow, durable cyst. Whilst I was working at the life-histories of the protists in the gut of the frog, l’came across some small cysts which bore a very close resemblance to those described by Prowazek as be- longing to Bodo lacertae. It appeared to me that they were the cysts of some small protozoon which went through an autogamic process almost identical with that of Bodo. For some time I ima- gined that the cysts belonged to the Octomitus in the frog’s gut, but I was unable to confirm, this opinion. I was able to find practically every stage described by Prowazek (See text-fig. 1, a—p). First of all, there were cysts containing a single large nucleus, usually with a conspicuous karyosome (a). Then there were stages showing the bladderlike „chromidia* emerging from the nucleus (b, ce). And a very large number of the cells had an appearance like that shown in d, where the „old, somatic nucleus“ and the ,chromidia* are completely separate. I also found stages in which 2) Prowazek’s description is not clear on this point. He says that the ,,old nucleus“ decreases in size, becomes dense, uniformly darkly-staining with iron-haema- toxylin, and sometimes shows a central pale space. He then describes and figures (Fig. 81, plate III) how the two nuclei may come together. No figure of a uni- nucleate cyst in given, nor is it definitely stated that the ,,somatic nucleus‘ com- pletely disappears — though in one place it is referred to as“ den alten der De- generation anheimfallenden Kern“ (p. 27). 550 Dobell, Some Remarks upon the „Autogamy“ of Bodo lacertae (Grassi). the ,chromidia“ appeared massed together (e), forming the new ,sexual nucleus“ — which, when fully formed appeared beside the ,somatic nucleus“, thus giving rise to a binucleate cyst (f). I fur- ther found stages -— though these were few — in which the ,sexual nucleus“ was dividing (g), and more frequently cysts in which the ,sexual nucleus“ appeared to have given rise to two „daughter nuclei“ (4). Quite a number of cysts presented appearances which could be interpreted as subsequent divisions of these nuclei. For example, in j one nucleus alone is apparently in division, whilst in k both ,nuclei* have divided, forming the first pair of „reduction nuclei“. In / a somewhat similar stage show is. After Bie- 1. searching for them, I was able to find cysts (m) which showed the formation of the „second reduction nuclei*. In all these stages the somatic nucleus is still present. It usually has an annular appearance, with a large peripheral karyosome. It is interesting to compare this with the „somatie nucleus“ in Bodo. During these stages Prowazek describes this as the... ,alten Kern, der blass und chromatinarm ist und nur ein weitmaschiges achromatisches Geriistwerk, dem seitlich der oft zerfallene Innenkörper anliegt, besitzt...“ And further he remarks. „Der alte Kern blasst stetig ab und das Chromatin verklumpt öfters in Brockenform an seiner Peripherie.“ In the cyst depicted in n we apparently see the „autogamy“ of the „reduced nuclei“, while the four little „reduction Dobell, Some Remarks upon the ,,Autogamy“ of Bodo lacertae (Grassi). 551 nuclei“ lie grouped together and in course of absorption. Nor were the last stages of all wanting — the uninucleate, thick walled, yellowish cysts (0), which sometimes had the appearance of enclosing a single monad (p). The appearances thus seemed in perfect harmony with Pro- wazek’s discoveries. The striking resemblance between the „auto- gamy cysts“ of Bodo and those just described can easily be seen by anyone who will take the trouble to compare my figures with those of Prowazek. One slight difference will at first be apparent — namely, as regards the actual cyst itself. For although Pro- Fig. 2. wazek constantly refers to the cysts as such, in no case (save the very last stages) does he figure a cyst-wall. A further remarkable resemblance is to be seen in the way in which the cysts are nearly always to be found in little clusters (see text-fig. 2). Most commonly they occur in groups of 4, 8, 12 or 16, though often also in groups of 6 as shown in Prowazek’s Fig. 67, Pl. II, which bears a really remarkable likeness to many of the cysts I encountered. My cysts were almost always united by a granular connective substance, as in Fig. 2, where we see 4 cysts — each containing apparently a ,somatic nucleus“ and a mass of „chromidia*. Sa In not a few cases I found darkly staining strands lying m the eyst (see text-fig. 3). These I imagined to be the degenerating 552 Dobell, Some Remarks upon the „Autogamy‘“ of Bodo lacertae (Grassi). remains of the two axial rods of the Octomitus to which I then attributed the cysts. Now all these results were obtained by staining with iron- haematoxylin, after sublimate-alcohol fixation — just as were Pro- wazek’s. On stainmg with more reliable nuclear stains (Dela- field’s haematoxylin, borax carmine), I was surprised to find that only the ,somatic nucieus* was coloured, the „chromidia“ and their derivatives remaining quite unstained. This fact might perhaps also appear to be in harmony with Prowazek’s description. For although he does not say whether or not the »chromidia* in the „autogamy-cysts* are coloured by any other stains than iron-haematoxylin, he records that the „chromidium“ *) in the free-living form (,gametoid* individual) „mit den gebräuch- lichen Kernfarbstoffen, wie Grenacher’s Hamatoxylin, Pikrokarmin und Boraxkarmin . . . färbt sich sehr schlecht, nur mit EH kann man ihn gut zur Darstellung bringen.“ In addition to their pecu- liar reactions to nuclear stains, the „chromidia* appeared during life to be much more highly refractive than chromatin usually is. The foregoing facts made me exceedingly sceptical of my ori- ginal interpretation of the phenomena, and it was obvious that the only way of deciding the matter lay in careful observation of the living organisms. I| therefore directed special attention to the living cells, and observed the following phenomena. — For many hours — sometimes for days — the cysts remained quite unchanged. The first change which then occurred was quite unexpectedly a change of shape. The cysts, which had previously been spherical, became elongated (Fig. 4a). Meanwhile the ,chromidia“ appeared smaller. Later, I found that the cyst wall mene and the cells assumed an oval form (Fig. 4b), the ,chromidia“ becoming very small and finally dissolving in many cases, Still later, the „old nuclei‘, in- stead of een, divided, and the cells began to multiply by budding (Fig. 5), and vacuoles made their appearance. Multipli- cation proceeded very rapidly, so that large masses of cells were soon formed. After growing in this manner for a few days (in moist chambers), some of the cells began — as a rule — to form long tube-hke outgrowths (Fig. 6), probably as a result of the anaerobic conditions. Mans of ce elongated forms subsequently diveded into chains of long, brick-like cells (Fig. 7). In old cul- tures, the refractive bodies („chromidia*) again became conspicuous in ihe cells. 3) From the reactions and general behaviour of this structure, it is not at all obvious why it should be called a „chromidium“. There is no proof that it corre- sponds with other structures usually so designated. Prowazek himself does not seem clear about its real significance. It does not consist of chromatin, but of „eine — sit venia verbo — plastinartige . . . Substanz (oder Substanzen) . . .“ Dobell, Some Remarks upon the ,,Autogamy of Bodo lacertae (Grassi). 553 Beyond this stage I did not follow the growth of the organisms. There can he little doubt that these cysts have nothing whatever to do with the Protozoa living in the frog’s gut — that they are onthe contrary, yeasts, or vegetable organisms allied to the yeasts. What, then, are the ,chromidia‘? From their general behaviour and reactions I think there can be little doubt that they are some kind of reserve material, which is largely — if not entirely — used up in germination. Though the material varies in form — being sometimes in strands or rodlets, sometimes in large lumps, etc. — its arrangement in the cell appears to me to be entirely adventitious. When it is absent, uninucieate cysts are presented — the first stage in our arbitrary arrangement of the cysts (Fig. 1a). When the granules lie round the nucleus, an appearance suggesting the for- Fig. 6. Le NEW mation of chromidia is seen (Fig. 1b, ¢). When the granules are in pairs — a not uncommon condition — we see the formation of „reduetion nuclei* (A, 4, m etc.). And so on: all stages are to be found if one looks for them. When I had reached these conclusions, the conviction forced itself upon me that Prowazek had really committed the error of describing similar organisms as stages belonging to the life-cycle (autogamy) of Bodo. The resemblance, amounting almost to iden- tity, appears to me to be too close to be accidental. Dr. Pro- wazek himself would, I am sure, be one of the first to acknowledge the ease with which such a mistake might be made. The difficulties of singling out the stages in the development, of one organism from a great number are often very great. The following points now require to be considered from this new point of view. 554 Dobell, Some Remarks upon the „Autogamy‘“ of Bodo lacertae (Grassi). 1. My organısm was, of course, observed in the frog, while Prowazek’s was in the lizard. I do not claim that they are identical, but merely urge that similar forms exist in both. Pro- wazek has himself Les. (l. e., p. 3), the presence of yeasts in the lizard’s gut, and I can con dom this observation. I have also been able to observe!) — in the living organism — the deve- lopment of yeasts like those in the frog from very similar cysts. These cysts bear a strong resemblance to rounded-off Bodos, being about the same size. The ,chromidia“ are less refringent then those in the frog’s yeast. 2 lett ch gives no indication of the size of the „autogamy cysts“ of Bodo. I am therefore unable to say how far this is in agrement with the cysts I have observed. ‘These are, on an average, between 4 and 6 uw in diameter. 3. The reason why the cysts occur together is to be found by searching for them in the upper part of the frog’s intestine. Here the cysts are often to be found enclosed in an asc-like capsule. This disappears when they reach the large intestine, only a trace of the investment being there found (Rie. 2). lo this capsule originates, [ am unable to say, having followed only a part of the life-cycle of the organism. 4. In the frog, there are at least two different species of yeast — one with a thick cyst (Fig. 1, 0), giving rise to thick-walled yeasts, and one with a thin cyst (Fig. 1«), giving rise to thin-walled yeasts. Probably more than one kind of yeast also exists in the lizard. 5. Prowazek says that ,Die Autogamiecysten kamen auch meistens in der Vergesellschaftung mit den gametoiden Formen vor“ (l.c. p. 25). Yet he figures a cyst with a different kind of ,chromidium“ as belonging to the ,gametoid* form (Pl. III, fig. 67). The subsequent history of these cysts is not given. I find it im- possible to reconcile his statements. 6. Finally, I may say that Prowazek’s figures are not — to me — entirely convincing. For example, the dividing nuclei“ in figs. 71 and 73 (Pl. III) do not give me the impression of being ai, nuclei. Again, figs. 68, 74 and 76 are, to my mind, all similar conditions, in which the reserve material in collected about the nucleus. Moreover, no figure is given in which the formation of the second reduction nucleus is clearly shown — figs. 74 and 75 being somewhat doubtful. I may note, also, the remarkable diffe- rence in size between the ,gamete neler nm fies. 75 and 76. Fig. 80 and 81 are, I believe, degenerate forms (Cp. my fig. 1, p, har shows the protoplasm shrunken from the cell-wall). 4) In Lacerta muralis, both at Munich and Naples. Popoff, Uber das Vorhandensein von Tetradenchromosomen etc. 555 In Hartmann’s section on „Protozoology“ in „Kısskalt and ” fo} ” Hartmann’s Praktikum“ (Jena 1907) some of Prowazek’s figures oO are reproduced and to some extent modified. For example, the two „reduction nuclei“ (which Prowazek never shows clearly), are figured quite unmistakably in fig. 8g (p. 117). And a very distinct network is shown in the ,sexual nuclei“ in fig. 8e — neither of which is justified from Prowazek’s publication. Further, Hart- mann states that ,Nach der Befruchtung kann direkt im gleichen Wirt wieder das freie Flagellat aus der Cyste hervorgehen oder aber die Cyste wird zu einer Dauercyste und dient der Neuinfektion“ (p- 117). I can find no statement by Prowazek to this effect. Nor can I see how he could have made such an observation, since all his description of the „autogamy“ was based on stained pre- parations, and not upon observation of the living animal. I think sufficient has now been said to show that autogamy and chromidia are as yet unproven in the case of Lodo. My desire in making the foregoing remarks has been to point out that too much emphasis should not be laid upon this case — which is fre- quently quoted in recent papers on the chromidia hypothesis —~ before it receives ample confirmation. Explanation of Text-figures. (All figures are drawn from permanent preparations [fixed hot sublimate-alcohol, stained Heidenhain’s iron-haematoxylin|, with the aid of a Leitz 2 mm oil-immer- sion apochromat, with compensating ocular 12.) Fig. 1, a—p. Various forms of cysts from the large intestine of the frog — arbı- trarily arranged to show an ,,autogamy“ similar to that described in Bodo lacertae. Fig. 2. Four cysts from the frog’s intestine — connected by remains of capsule. Fig. 3. A cyst from the intestine, showing darkly staining rodlike structures. Fig. 4, a and 0, stages in the development of the cysts in the faeces. Fig. 5. Formation of buds by yeasts which have developed from the cysts. Fig. 6. A yeast forming a long outgrowth — from a hanging-drop slide culture of the faeces. Later stage of a similar form, showing segmentation into 4 cells. AI Fig. Uber das Vorhandensein von Tetradenchromosomen in den Leberzellen von Paludina vivipara. Von Methodi Popoff. (Aus dem zoologischen Institut in München.) Mit 6 Textfiguren. Die genaue Erforschung der Umänderungen, welche die Ge- schlechtszellen in der letzten Periode ihrer Entwickelung durchmachen, hat eine Fülle von komplizierten Wandlungen des Kernchromatins dieser Zellen aufgedeckt. Die am Ende ihrer Vermehrungsperiode angelangte Geschlechtszelle fängt allmählich zu wachsen an, und durch das Leptotene-, Synapsis- und Pachytenestadium kommt sie 558 Popoff, Über das Vorhandensein von Tetradenchromosomen etc. dieser Forscher durch chemische und mechanische Einwirkungen auf das sich furchende Cyclopsei die Entstehung von unzweifel- haften Tetradengruppen in ausgiebiger Menge hervorrufen. Ich selbst hatte vor zwei Jahren die Gelegenheit, in den Leberzellen von Paludina vivipara äußerst deutliche Tetradengruppen zu be- obachten, und beabsichtigte, diese Gebilde einem eingehenden Stu- dıum zu unterwerfen. Durch anderweitige Arbeiten in Anspruch genommen, konnte ıch aber dasselbe nicht rechtzeitig ausführen. Jetzt, mit dieser verspäteten Mitteilung hoffe ich, einen Beitrag zu den Unter uchmen Br della Valle’s und Ignaz Selllork bringen zu Kamen Hier lasse ich die kurze Schildern: der ge- machten Befunde folgen; auf ıhre theoretische Bedeutung werde ich zum Schluss näher eingehen. Die zur Un asndhrns, dienenden Paludina waren durchwegs erwachsene Tiere. Sie wurden mit dem Gemisch von Gilson Fig. 1. Fig. 2 Petrounkewitsch fixiert und mit Eisenhämatoxylin gefärbt. Die Leberzellenelemente sind bei Paludina groß und stellen ein günstiges Untersuchungsmaterial dar. In der Leber sind ziemlich oft Zellen zu finden, welche sich in verschiedenen Stadien der Teilung befinden. Bei der normalen Teilung treten lange schleifenförmige Chromosomen auf. Die Zahl derselben beträgt 14 (Fig. 1), eine Zahl, welche mit der bei den Spermatogonien (Meves)’) und Omoganten (Popoff)*) gefundenen in Ubereinstimmung steht. Die in den. Äquatorialplatte prec ente cen Chromosomen zeigen einen außerordentlich deutlichen Lemsesmalit Derselbe tritt nur kurz vor dem Stadium der Aquatorialplatte auf (Fig.2. Nur ein Teil von dem Kern ist angeschnitten).. Das Auseinanderweichen der Chromosomen geschieht nach den allge- mein bekannten Regeln. Zwischen diesen Mitosen trifft man hier 7) Meves, Fr. (1903). — Über oligopyrene und apyrene Spermien und über ihre Entstehung, nach Beobachtungen an Paludina und Pygaera. Arch. f. mikr. Anat., Bd. 61. 8) Popoff, M. (1907). — Eibildung bei Paludina vivipara und Chromidien bei Paludina und Helix. Arch f. Mikr. Anat., Bd. 70. Popoff, Über das Vorhandensein von Tetradenchromosomen ete. 559 und da Teilungsstadien, welche einen ganz anderen Charakter auf- weisen. Dasjenige, was an denselben am meisten auffällt, ist die Gestalt der Chromosomen. Dieselben zeigen schon bei schwacher Vergrößerung (Okul. 7, Obj. 1) einen gedrungenen Bau. Bei stärkerer Vergrößerung (Hom. Immers. 2 mm, Comp. Okul. 4, 8, 12) ist folgendes zu beobachten (Fig. 3a, b; 4). Jedes Chromosom ist durch eine deutliche Quer- und Längsspalte in vier Stücke geteilt. Fig. 3a. Fig. 3b ® Og, 23 ® Fig. 4. Fig. 5. @ Auf diese Weise entsteht das Bild einer richtigen Tetrade. Die Tetraden haben eine längliche Form, da die hintereinanderliegenden Stücke stäbchenförmig ausgezogen sind. Die einzelnen Stäbchen jeder Tetrade sind mit schwach grau durchschimmernder Plastin- substanz miteinander verbunden. Die meisten Tetraden, die mir zu Gesicht kamen, waren in der Äquatorialplatte angeordnet. In den meisten Fällen waren die Tetraden so orientiert, dass sie mit der Längsachse parallel der Aquatorialebene zu liegen kamen H60 Popoff, Über das Vorhandensein von Tetradenchromosomen ete. (Fig. 3a, b). Es fehlte aber nicht an Bildern (Fig. 4), welche eine senkrechte Stellung der Tetraden in bezug auf die Äquatorialebene zeigten. In dieser Beziehung ist keine Regelmäßigkeit vorhanden. Interessant ıst die Feststellung der Tetradenzahl. Dieselbe beträgt in den Fällen, wo eine genauere Zählung möglich war — 14 (siehe Fig. 3a, b, welche zwei aufeinanderfolgende Schnitte derselben Zelle darstellen), d. h. die Zahl der Tetradenchromosomen entspricht der normalen Zahl von Chromosomen bei Paludina. Dieses Ergebnis stimmt auch mit der folgenden Beobachtung überein. Es kommt vor (Fig. 3a, 5)°), dass nur einzelne Chromosomen einer Aquatorial- platte Tetraden darstellen, die anderen dagegen ein mehr oder minder verklumptes Aussehen aufweisen. In diesem Fall stimmt die Chromosomenzahl ebenfalls mit der Normalzahl überein. Ähn- liche Beobachtungen konnte auch F. della Valle vielfach an ver- schiedenen Gewebszellen von Amphibien machen. Von hier aus können wir für den vorliegenden Fall den Schluss ziehen, dass ganze Chromosomen durch Auftreten eines Längs- und Querspaltes sich zu Tetraden umgewandelt haben müssen. Dieser Befund steht ım Widerspruch mit den diesbezüglichen Beobachtungen bei den Geschlechtszellen. Dort finden wir eben, dass die Tetraden fast immer doppelwertiger Natur sind und durch Hintereinanderlagerung von einzelnen längsgespaltenen Chromosomen (Ophriotrocha — Kor- schelt)!’) oder aber durch die unvollständige Trennung zweier längsgespaltener Chromosomen (Paludina — Popoff!!), Dierocoehum lanceatum — Goldschmidt)!?) entstehen. Noch ein weiterer Unter- schied in dem Verhalten der Tetradenchromosomen in den Ge- schlechts- und Somazellen ist, dass bei den letzteren ganze Tetraden an die Spindelpole wandern, während die Tetraden der Geschlechts- zellen einer Teilung unterliegen. Den Beginn solch eines Aus- einanderrückens von ganzen Tetraden zeigt Fig. 3a, b. Da sieht man, wie einige Tetraden schon die Äquatorialebene verlassen und sich mehr dem einen Pol genähert haben. Solche Bilder trıfft man merkwürdigerweise sehr selten. Die meisten Tetraden, die ich be- obachten konnte, waren in einer Äquatorialplatte angeordnet. Die durch die eben beschriebene Chromosomenverteilung entstandenen Zellen bekommen auf diese Weise eine reduzierte Zahl von Chro- mosomen. Dieser Verteilungsmodus erinnert, wenn man zunächst 9) Alle Figuren sind mit Comp. Okul. 12, Homog. Immers. 2 mm bei Tubus- länge 170 mit dem Abbe’schen Zeichenapparat auf dem Arbeitstisch entworfen. 10) Korschelt, E. (1895). — Über Kernteilung, Eireifung und Befruchtung bei Ophriotrocha puerilis. Zeitschr. f. wiss. Zool., Bd. 60. 11) Popoff, M. (1907). — l. ec. 12) Goldschmidt, R. (1908). — Über das Verhalten des Chromatins bei der Eireifung und Befruchtung des Dierocoelium lanceatum. Arch. f. Zellforschung, Bd. 1,. Heft 1. Popoff, Uber das Vorhandensein von Tetradenchromosomen ete. 561 von der Form (Tetraden oder ganze Chromosomen) der Chromosomen absieht, an den Reduktionsprozess, den zuerst Goldschmidt?*) bei Zoogonus mirus beobachtet hat und der später auch von Prandtl"), mir'’) und Enriques!‘) bei den Reduktionsteilungen von Infusorien wiedergefunden wurde. Nach diesem Verteilungs- modus gehen bei der Bildung des ersten Richtungskörpers bezw. der Mikronukleusteilungen der konjugierenden Infusorien ganze Chromosomen auseinander. Diese Verteilungsweise erklärt einiger- maßen noch einen anderen Befund bei den Leberzellen von Paludina. Es kommen nämlich Äquatorialplatten vor, wo nur eine geringe Zahl von Tetradenchromosomen vorhanden ist. Solch ein Stadium stellt Fig. 4 dar. Dort konnte ich nur sechs Chromosomen zählen. _Wie in diesem Fall die Verteilung der Tetraden bei der nächsten Teilung vor sich gehen mag, konnte ich nicht ermitteln; die dazu nötigen Stadien waren in den Präparaten nicht zu finden. Für die Entstehung von karyokinetischen Figuren mit 6—7 Tetradenchromo- Fig. 6. somen wäre aber auch ein anderer als der oben erwähnte Modus mög- lich. Es könnte nämlich vorkommen, dass in diesem Fall die Tetraden das Endergebnis einer unterdrückten Teilung wären, wie ich das im An- schluss an W oltereck!")und Hert- wig!*) für die während der ersten Wachstumsstadien in den Ovocyten von Paludina ausnahmsweise auf- tretenden Tetraden beschrieben habe. Sichere Anhaltspunkte für solch eine Entstehung der Te- traden konnte ich aber in den Leberzellen nicht finden '!?). 13) Goldschmidt, R. (1905). — Eireifung, Befruchtung und Embryonal- entwickelung des Zoogonus mirus. Zool. Jahrb., Bd. 21. 14) Prandtl, H. (1906). — Die Konjugation von Didinium nasutum. Arch. f. Protistenkunde, Bd. 7. 15) Popoff, M. (1908). — Die Gametenbildung und die Konjugation von Carchesium polypinum. Zeitschr. f. wiss. Zool., Bd. 89, Heft 3. 16) Enriques, P. (1907). — La conjugazione e il differenziamento sessual® negli Infusori. Arch. f. Protistenkunde, Bd. 9, 3. Heft. 17) Woltereck, R. (1898). — Zur Bildung und Entwickelung des Ostra- kodeneies. Zeitsch. f. wiss. Zool., Bd. 64. 18) Hertwig, R. (1907). — Über den Chromidialapparat und den Dualismus der Kernsubstanzen. Ges. f. Morph. u. Phys. München. 19) Es treten aber manchmal in der Geschlechtsdriise von Paludina, und zwar in den Ovogonien, vorzeitig ausgebildete Tetraden, deren Zahl mit der normalen Chro- mosomenzahl zusammenfällt. Die Tetradenbildung würde in dem Fall mit den bei den Leberzellen beschriebenen Prozessen übereinstimmen. Solch ein Stadium stellt die Fig. 6 dar, wo man ca. 11—12 Tetraden zählen kann. In dem darauf- folgenden Schnitt sind noch zwei Tetraden und zwei Chromosomen angeschnitten. XXVIII. 36 562 Popoff, Über das Vorhandensein von Tetradenchromosomen ete. Es bleibt uns noch einiges über die Beschaffenheit der karyo- kinetischen Figur selbst hinzuzufügen. Die Spindeln mit Tetraden- chromosomen zeigen deutlich ausgebildete Spindelfasern, welche einen wellenförmigen Verlauf haben. Die Fasern sind vielfach mit- einander verflochten. An den beiden Polen zeigen die Spindeln scharf tingierbare, verhältnismäßig sehr große Centrosomen. Dentet schon der unregelmäßige Verlauf der Spindelfasern auf ein nicht normales Verhalten der sich teilenden Zelle hin, so tritt dasselbe in noch höherem Maße beim Auseinandergehen der Chromosomen auf. Nicht alle Chromosomen der Äquatorialplatte weichen gleich- zeitig nach den Polen auseinander, sondern dies geschieht unregel- mäßıg. Neben Chromosomen, welche dem einen Pol schon genähert:. sind, findet man solche, welche noch am Äquator liegen. Solche Unregelmäßigkeiten, die auf einen abnormen Zustand der Zellen hindeuten, konnte auch P. della Valle bei den Tetradenchromo- somen aufweisenden somatischen Zellen der Amphibien beobachten. Wenn wir die mitgeteilten Beobachtungen überblicken, ergibt sich, dass Tetradenchromosomen nicht nur in den Geschlechtszellen, sondern auch ın den somatischen Zellen vorkommen können. In diesen letzteren treten sie mit dem Beginn des Abnormwerdens der Zellen auf. Diese Konstatierung, auf die P. della Valle ebenfalls aufmerksam gemacht hat, findet ihre Bestätigung in anderen ähnlichen Beobach- tungen, auf die ich zum Teil schon hingewiesen habe. So z. B. konnte R. Hertwig die Entstehung von tetradenähnlichen Gebilden in den Furchungszellen der mit Strychninlösungen behandelten Eier erzielen. Némec beschrieb ähnliche Chromatinanordnungen bei den mit Chloralhydrat behandelten Wurzelzellen von Pisum sativum. Schiller konnte kürzlich durch Einwirkung von ver- schiedenen Chemikalien auf die sich furchenden Cyclopseier eben- falls außerordentlich deutliche Tetradengruppen erzielen. Er erzielte sie außerdem, indem er einen Strom von Kohlensäure über die Eier leitete und noch durch verschiedene mechanische Eingriffe. In allen diesen Fällen haben wir durch die Einwirkung von äußeren Agentien eine künstliche Ablenkung der Zellfunktionen von ihrem aormalen Verlauf. Die Folgen solch eines Versetzens der Zellen in abnormen Zustand — die Bildung von Tetradenchromosomen — stimmen mit denjenigen überein, welche sich bei Zellen bemerkbar machen, die aus inneren Ursachen — andauernde Funktion, Er- nährungsstörungen u. s. w., wie dies in unserem Fall ist — in einen abnormen Zustand in bezug auf Ausübung der Lebensfunktionen geraten. In beiden Fällen haben wir zweı ganz parallele Reihen von Erscheinungen. Die Konstatierung, dass das Erscheinen von Tetradenchromo- somen bei den somatischen Zellen immer ein Abnormwerden der- Popoff, Uber das Vorhandensein von Tetradenchromosomen etc. 563 selben bedeutet, ist von großer Wichtigkeit; sie lässt auch das Erscheinen von Tetradenchromosomen bei den Geschlechtszellen von anderen Gesichtspunkten betrachten. Hier muss ich etwas weiter aus- holen. Wenn man Protozoenkulturen (Infusorien) züchtet, bemerkt man, dass Perioden starker Tätigkeit mit solchen abwechseln, wo die Lebensfunktionen verlangsamt werden, das sind die Depressions- perioden (Calkins *°) — Paramaecium; Hertwig?') — Paramaecium, Actinosphaerium, Dileptus; Popoff?) — Stylonichia, Paramaecium ; W oodruff**) — Oxytrichen ete.). Nach einer Reihe solcher De- pressionen treten die Tiere in Konjugation ein (Hertwig, Pro- wazek*), Prandtl, Popoff). Von diesem Zusammenfallen der tiefen Depressionen mit dem Erwachen des Konjugationstriebes aus- gehend, habe ich in meinen früheren Arbeiten?!) u.??) versucht, eine Parallele zwischen der Lebensgeschichte einer Protozoenkultur und der Generationsfolge einer Geschlechtszelle zu ziehen. Diese Parallele führt zum Resultat, dass der Lebenslauf einer Generationsfolge. von Geschlechtszellen genau demjenigen einer Protozoengenerationsfolge entspricht, d. h. in der Generationsfolge einer Geschlechtszelle lassen sich Anzeichen finden, welche auf Depressionsperioden hin- weisen. Als solche sind die vielfach auftretenden gelappten Kerne (Elpatjewsky)?°), die unterdrückten Teilungen (Hertwig,Popoff), die Chromidienbildung und die während der Wachstumsperiode auftretenden Degenerationswellen, die Dotteraufspeicherung etc. auf- zufassen. Diese Auseinandersetzungen führen zum Schluss, dass die reifen Geschlechtszellen gerade nicht die normalsten Zellen eines Organismus darstellen, sondern Zellen sind, welche sich in tiefer Depression befinden (Näheres darüber siehe in den Arbeiten 1 u. 22). Alle komplizierten Umänderungen, welche eine Generationsfolge von Geschlechtszellen durchmacht, lassen sich von diesem Gesichtspunkt aus unschwer als Folgeerscheinungen der ganzen Lebensgeschichte dieser Zellen auffassen. Der Gedanke, dass die Geschlechtszellen in den letzten Zeiten ihres Lebens — in der Wachstumsperiode — Zeichen von Depression aufweisen, wurde zuerst von Hertwig’‘) ausge- sprochen und dann von mir (1, 22) nach anderen Gesichtspunkten ‘ 20) Calkins, G. (1902—1904). -— Studies on the Life-history of Protozoa. 21) Hertwig, R. (1904). — Uber physiologische Degeneration bei Actino- sphaerium Eichhorni. Festschr. f. Haeckel. 22) Popoff, M. (1907). — Depression der Protozoenzelle und der Geschlechts- zellen der Metazoen. Arch. f. Protistenk. Festschr. f. R. Hertwig. 23) Woodruff, L. (1905). — An experimental Study on the Life-history of Hypotrichus Infusoria, Journ. of exper. Zool. Vol. II, Nr. 4. 24) Prowazek, S. (1899). — Protozoenstudien. Arb. aus dem zoolog. Inst. Wien, Bd. 11. 25) Elpatjewsky, W. (1908). — Über das Bidder’sche Organ. 26) Hertwig, R. (1907). — Über die Ursache des Todes. Öffentl. Vortrag. Erschienen in Allg. Ztg. Nr. 288—289. 36° 564 Popoff, Über das Vorhandensein von Tetradenchromosomen ete. weiter ausgedehnt und ausgeführt. An die zur Begründung dieser Behauptung angeführten Tatsachen lassen sich auch die Beobach- tungen von P. della Valle, Schiller etc. und die vorliegenden Befunde an den Leberzellen von Paludina anschließen. Präzisieren wir näher diesen Kardinalpunkt. Die Angaben über das Erscheinen von Tetradenchromosomen in den somatischen Zellen 1m Zusammen- hang mit dem abnormen Zustand dieser letzteren lassen das Er- scheinen der Tetraden in der letzten Phase der Geschlechtszellen- entwickelung auch als Folge des abnormen Zustandes, in welchem diese Zellen sich befinden, auffassen. In beiden Fällen haben wir dieselben Vorbedingungen, welche Anlass zu denselben Bildungen geben. Auf diese Weise kommen wir zu einer physiologischen Auf- fassung der Ursachen der Tetradenbildung. Zu denselben Resul- taten, d. h. dass die Tetradenbildung bei den Geschlechtszellen Ausdruck eines abnormen Zustandes derselben ist, ıst auch P. della Valle von ganz anderen Gesichtspunkten ausgehend gekommen. Von seinen oben erwähnten Befunden an den somatischen Zellen von Amphibien ausgehend und sie mit dem Vorkommen von Te- traden bei den Geschlechtszellen vergleichend, kommt der Verfasser zum Schluss, dass „Tutti le precedenti formazionı e molto pro- babilmente, quando esistono, ache quelle della profase del primo fuso di maturazione, non hano alcun rapporto con la riduzione cromatica, ma sono indice di una costituzione patologica dei cromosomi* (gesperrt von mir). Ähnliche Gedanken in bezug auf die Tetradenchromosomen bei den Geschlechtszellen hat fast gleichzeitig mit P. della Valle auch Marcus?) ausgesprochen. Er geht dabei aus seinen Beobachtungen über die Umänderungen, welche die Chromosomen während der Thymusentwickelung durch- machen. Er nımmt an, dass durch die andauernden Teilungen der Thymuszellen Missverhältnisse in der Verteilung des Chro- matins und des Plastins in den Chromosomen eintreten, durch die er sich die verklumpten Chromosomen am Ende der Thymus- entwickelung zu erklären sucht. Ohne in eine Diskussion dieser Erklärung einzutreten, gehe ich gleich zu den weiteren Schluss- folgerungen des Verfassers über: Seine Beobachtungen auf die Ge- schlechtszellen übertragend und sie von dem oben angedeuteten (Gesichtspunkt über den Lebenslauf einer Geschlechtszelle betrachtend, nimmt Marcus ebenfalls an, dass die Tetradenchromosomen als Zeichen eines abnormen Funktionszustandes der Geschlechtszellen aufzufassen sind. Von diesem physiologischen Standpunkt über die Entstehung der Tetraden ausgehend wollen wir sehen, ob nicht eine befriedigende 27) Marcus, H. (1908). — Beiträge zur Kenntnis der Gymnophionen. Arch. f.mikr: Anat., Bd. 7. Popoff, Uber das Vorhandensein von Tetradenchromosomen ete. 565 Erklärung für manche mit den Tetradenchromosomen eng ver- knüpften Fragen zu geben ist. Vielfach in der ersten Reifungsspindel der Geschlechtszellen sind verklumpte Chromosomen zu beobachten, welche eine gewisse Ähnlichkeit mit den Tetraden aufweisen, aber streng genommen noch keine Tetraden sind. Diese Chromosomen, bei denen die quere Spalte kaum angedeutet ist, haben Anlass zu vielen Dis- kussionen gegeben. Von solchen Bildern ausgehend haben sich manche Forscher, besonders Grögoire?‘) und seine Schule, be- müht, die Möglichkeit von dem Vorhandensein von Tetradenchromo- somen überhaupt in Abrede zu stellen, indem sie zu beweisen suchen, dass die Bilder, die man allgemein als Tetraden beschreibt, hervorgerufen werden durch die stärkere Anhäufung des Chromatins an den Enden von zwei nebeneinanderliegenden Chromatinstäbchen (Lerat)?*). Noch tetradenähnlicher wird dieses Bild nach den obengenannten Forschern, wenn sich die Stäbchen außerdem noch kreuzen würden. Dieser schon seit Jahren dauernde Streit hat seine Begründung, wenn man dem Modus der Verteilung der Chro- mosomen (Quer- oder Längsteilung) bei der Bildung des ersten und zweiten Richtungskörpers einen großen theoretischen Wert bei- misst. Geht man aber bei diesen Betrachtungen von den hier an- gedeuteten Gesichtspunkten aus und sieht man in den Tetraden- chromosomen, in der „tetradenähnlichen Verklumpung* oder in der einfachen Verklumpung der Chromosomen nur den Ausdruck eines Abnormwerdens der Zelle, so wird der Streit belanglos. Alle die erwähnten Chromosomentypen sind nur individuelle Unterschiede, zu denen jedesmal die Abnormität der Zellfunktionen führt. Eine unfehlbare Regelmäßigkeit kann in solchen Fällen nicht existieren. Dass diese Behauptung vollkommen den Zuständen, wie wir sie bei den Geschlechtszellen antreffen, entspricht, beweist der Umstand, dass fast jedem Forscher, welcher sich genauer mit den Umände- rungen der Geschlechtszellen in den letzten Phasen der Wachs- tumsperiode abgegeben hat, aufgefallen ist, dass jene Fälle, wo alle Chromosomen einer Spindel in Tetradenform auftreten, nicht ge- rade zu den öfters zu treffenden Erscheinungen zu zählen sind und dass vielfach neben zwei oder drei ganz deutlichen Tetraden sich einfache verklumpte Chromosomen oder wenigstens „in Bildung begriffene Tetraden* finden. Und wie viele Fälle gibt es, wo in einer und derselben Geschlechtsdrüse einige von den Zellen echte Tetraden, andere dagegen Chromosomen „mit nur einem undeut- lichen Längs- oder Querspalt“ oder aber einfache, verschiedentlich 28) Grégoire, V. (1905). — Les résultats acquis sur les cindses de maturation dans le deux régnes. La cellule, T. XXII. 29) Lerat (1902). — La premiere cinése de maturation dans lovogénése et la spermatogénése du Cyclops strenuus. Anat. Anz., Bd. 21 566 Popoff, Über das Vorhandensein von Tetradenchromosomen ete. verklumpte Chromosomen aufweisen! Alles dies zeigt zur Genüge, wie ich glauben möchte, dass der Ausgangspunkt der von Grégoire -unternommenen Revision aller Richtungsteilungen nicht zu einem befriedigenden und einheitlichen Abschluss führen kann. Einer rein morphologischen Betrachtung wird es unmöglich sein, alle die oben angedeuteten Abstufungen in den Richtungskérperchromosomen zusammenzufassen und ohne Zuhilfenahme vieler Hypothesen die vorhandenen Unterschiede zu überbrücken. Alle bis jetzt gemachten Versuche zeigen zur Genüge, dass die bei den Reifungser een handen. Unterschiede sich allzu schwer in ein starres System einfügen lassen. m Schluss bleibt mir noch die Frage zu erörtern, ob den Tetraden der Geschlechtszellen wirklich jene Bedeutung zukommen mag, die man ihnen heutzutage fast allgemein zuschreibt. Da die Tetraden in den Geschlechtszellen eine weite Verbreitung besitzen, was nach der hier vertretenen Auffassung gar nichts so außerordent- liches ist, da die Geschlechtszellen eben Zellen sind, welche in einer bestimmten Periode ihres Lebens dem Untergang zuneigen, könnte man die These verteidigen, dass die Natur sich diesen Zustand der Geschlechtszellen zunutze gemacht hat, um eine Reduktion der chromatischen Substanz herbeizuführen. Gegen solch eine Auf- fassung lassen sich kaum schwerwiegende Gründe anführen und das um so weniger, da gewisse Unterschiede ım Verhalten der Tetraden der somatischen und Geschlechtszellen gegeben sind. Als auffallendster Unterschied ıst in erster Linie, worauf ich schon früher hingewiesen habe, die Tetradenzahl zu erwähnen. Dieselbe beträgt bei den Geschlechtszellen stets die Hälfte von der nor- malen Chromosomenzahl, was nach den Untersuchungen von P. della Valle und meinen Befunden an den Leberzellen von Paludina, bei den somatischen Zellen nicht der Fall ist. Ein weiterer nicht minder wichtiger Unterschied ist es, dass die Tetraden der soma- tischen Zellen nicht jener Verteilung, wie sie in den Geschlechts- zellen bei der Bildung der zwei Richtungskörper auftritt, unter- worfen sind, sondern dass bei den somatischen Zellen ganze Tetraden nach den Polen zu wandern. Dieses abweichende Verhalten würde, im Gegensatz zu P. della Valle, dafür sprechen, dass die Tetraden bei den Geschlechtszellen, abgesehen von den Ursachen ihrer Ent- stehung, dafür benutzt werden mögen, um eine Chromatinreduktion herbeizuführen, welche nach der starken Wachstumsperiode zu einer Erhöhung der Spannungsverhältnisse zwischen Kern und Plasma des reifen Kies (Hertwig) führen würde, die für die spätere Fur- chung desselben von ausschlaggebender Bedeutung ist. Diese hier angeführte Möglichkeit für die Erklärung der Unterschiede, welche in dem Verhalten der Tetradenchromosomen der somatischen und Geschlechtszellen zutage treten, scheint mir annehmbarer zu sein Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. 567 als diejenigen Versuche, welche für die Erklärung der Tetraden- teilungen von der Hypothese ausgehen, welche im Chromatin die Vererbungssubstanz xat’ oir erblickt. Die theoretischen Schwierig- keiten, welche sich solch einer Auffassung entgegenstellen, hat in der letzten Zeit Fick®®) besonders eingehend zusammengestellt und kritisch beleuchtet, so dass es kaum nötig ist, noch einmal auf diesen Gegenstand zurückzukommen. Diese Auffassung hat zu dem unendlichen und nach tatsächlichen Beobachtungen kaum präzis zu begründenden Streit von „Längs- und Querteilung* der Chromo- somen geführt. Indem diese Betrachtungsweise das Hauptgewicht der cytologischen Forschung auf einen einzigen, wie ich nach den vorhergehenden Ausführungen annehmen möchte, nicht so wichtigen Punkt in den Lebenserscheinungen der Zelle verlegt hat, wird sie auf die Dauer kaum fördernd für die Erkenntnis des Zellenlebens sein können. München, Mai 1908. Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. Von Dr. Franz Werner. Meine Ausführungen in dieser Zeitschrift (Bd. XXVII, Nr. 6, 1907) über diesen Gegenstand bedürfen in mancher Beziehung einer Ergänzung und Erweiterung, um so mehr, als ich mich vielleicht nicht immer mit wünschenswerter Deutlichkeit ausgedrückt habe. Meine Stellung zu dem sehr bemerkenswerten und von mir als willkommene Reaktion auf meinen eigenen Artikel lange erwarteten Aufsatz von F. Doflein „Über Schutzanpassung durch Ähnlichkeit (Schutzfärbung durch Mimikry)“, ebenfalls in dieser Zeitschrift, Bd. XXVIII, Nr. 7, 1908, wird sich aus nachstehenden Erörterungen als eine durchaus nicht grundsätzlich abweichende erweisen, Woran ich aber festhalten muss, abgesehen von dem Punkt, worin wir übereinstimmen, nämlich in der Annahme, dass die Selektion die Ausnützung von auf anderem Wege entstandener Ähnlichkeiten betreibt — ist meine Überzeugung von der Überschätzung der Mi- mikry und Schutzfärbung in ihrer schützenden Wirkung. Ich will mich hier im wesentlichen an meine eigenen Erfahrungen und Beobachtungen halten; dieselben sind nicht am grünen Tisch, sondern im Verlaufe von mehr als 20 Jahren an dem freien Tier- leben meines Heimatlandes Österreich und eine Anzahl der nörd- lich und südlich das Mittelmeer begrenzenden Länder, die ich zum großen Teil mehrmals besucht habe (Griechenland, Kleinasien, Algerien, Ägypten ete.). 30) Fick, R. (1905). — Betrachtungen über die Chromosomen; ihre Indi- vidualität, Reduktion und Vererbung. Arch. f Anat. u. Phys. Ders, (1907). — Vererbungsfragen, Reduktions- und Chromosomenhypothesen ; Bastardregeln. Ergebn. Anat. Entwickelungsgesch., Bd. 16. 568 Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. Auf Literatur will ich mich daher nicht weiter einlassen, da die Anzahl der unser Thema behandelnden Arbeiten eine so große ist, dass auch ihre bloße Erwähnung allein fast so viel Platz ein- nehmen würde, als das, was ich hier zu sagen habe. Ich möchte meine Ausführungen in folgender Weise anordnen: 1. Nochmals die anthropomorphistische Anschauung in Mi- mikry- und Schutzfärbungslehre. 2. Die spezifischen Feinde der Tiere. 3. Schützende Säfte, Schreck- und Warnfarben. 4. Welche Tiere entbehren der Anpassungsfarbung ? 5. Die primitiven Anpassungsfärbungen der landlebenden und bodenbewohnenden Tiere (Vertebraten, Arthropoden). 6. Ähnlichkeit nicht mimetischer Tiere. 7. Entstehung von Blatt- und Astnachahmern. I. Es ist eine sehr verbreitete aber nichtsdestoweniger unrichtige Anschauung, dass ım allgemeinen der Besitz einer Anpassungs- färbung an sich ein Schutz für das betreffende Tier sei. Wenn wir bedenken, dass die Anpassungsfärbungen auf physiologische Vorgänge zurückzuführen sind, welche von vornherein mit dem Schutz ganz und gar nichts zu tun haben, wenngleich sie schützend werden können, wenn wir ferner den Umstand ins Auge fassen, dass bei großen, gleichartigen Bodenflächen, wie Wüste, Sumpf- land, Grassteppe u. dgl. Feind und Beute dieselbe Anpassungs- färbung aufweisen, so müssen wir wohl zugeben, dass die Färbung allein nicht zum Schutz ausreichen kann und andere Schutzeinrich- tungen ergänzend eintreten müssen, wie große Schnelligkeit, Fähig- keit sich zu verstecken oder tot zu stellen, sich einzugraben, Panzer, Stacheln oder Dornen, schließlich aktive Verteidigungsmittel (Gebiss, Hörner, Geweihe, Krallen, event. auch scharfe Säfte etc.). Es unterliegt aber weiterhin gar keinem Zweifel, dass diese Schutzeinrichtungen alle miteinander nur einen relativen Wert haben können, d. h. dass sie nicht jedes Individuum der Art und keines zu allen Zeiten zu schützen imstande sind, da sonst ihre natürlichen Feinde dem Hungertode überantwortet wären, der in der freien Natur unter normalen Umständen kaum vorkommen dürfte, wohl aber bei Dürre, starken Schneefällen, Überschwemmungen und an- deren Elementarkatastrophen. Es wird also das unvorsichtige, krüppel- hafte, sinnesschwache Tier auch mit Schutzfärbung einem mäßig sinnesscharfen (gut sehenden) und auch das normale Tier einem beson- ders scharfsichtigen Feinde zum Opfer fallen; ganz abgesehen von den „Nasentieren“. Bei dem Umstande, dass im allgemeinen jedes Raub- tier sich von anderen Tierarten ernährt, die individuenreicher sind und sich stärker vermehren als ıhr Feind, hat dies nicht nur nichts zu ~~ Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. 569 sagen, sondern es ist eine notwendige Regulierung des Zahlen- verhältnisses der Individuen der zusammenlebenden Arten. Der Tod durch ein anderes Tier, dem es zur Nahrung dient, ist — und das muss betont werden — für die weitaus größte Zahl aller Tiere die normale Todesart. Wird einer Art durch eine besonders gute Schutzfärbung oder dergleicheu die Möglichkeit geboten, sich dem natürlichen, namentlich dem spezifischen, auf sie angewiesenen Feind, zu entziehen, so muss dieser baldigst durch bessere Aus- bildung seiner Sinnesorgane darauf reagieren, wenn er nicht zu- grunde gehen soll. Es ist dieselbe Geschichte wie mit der sukzes- siven Erfindung von Schiffspanzern, welche so stark gemacht werden, dass kein Geschoss hindurchdringt, und von Geschützen, welche dann doch imstande sind, die Panzer durchzuschlagen. Wir dürfen die Natur nicht mit den Augen eines ängstlichen Tierschützlers ansehen. So lang der Mensch und die Elemente nicht eingreifen oder in der eigenen Organisation der Art nicht der Keim zum Ver- fall liegt, ist eine Ausrottung einer Art nicht sehr wahrscheinlich, wenn auch noch so viele Individuen durch die Feinde derselben zu- grunde gehen. Wir sehen sogar, dass Parasiten oft in großer Zahl ein Tier unter sonst normalen Lebensverhältnissen kaum behelligen, ıhm aber verhängnisvoll werden, wenn das Tier in Gefangenschaft ge- langt (Riesenschlangen und ihre Bandwürmer aus der Gattung Solenophorus). Auch in den schönsten Fällen von Mimikry bei tropischen Schmetterlingen ist der wichtigste Schutz nicht die übereinstimmende Färbung, sondern die geringe Zahl der Individuen im Vergleich zu dem der „Modelle“, wodurch die Wahrscheinlichkeit, dass gerade die ungeschützte Art gefressen wird, eine minimale ist. Dass übrigens manche anscheinend durch Giftsäfte geschützten Arten in Wirklich- keit nur durch die große Zahl, in der sie vorkommen und durch die relativ geringe Zahl ihrer spezifischen Feinde geschützt sind, diesen aber ım Falle eines Angriffes rettungslos zur Beute fallen, lehren meine Erfahrungen an einigen wenig gut fliegenden nord- ostafrikanischen Tagfaltern aus den Gattungen Danais und Acraea: Es ist eine Erscheinung, die mir aufgefallen ist, dass beide Danais-Arten des ägyptischen Sudans (D. chrysippus L. und Do- rippus Klug) selten verletzte Flügel besitzen, während sonst bei allen anderen Tagfaltern des Gebietes zur selben Jahreszeit Flügel- defekte die Regel bilden und namentlich die das Hauptkontingent der sudanesischen Tagfalter vorstellenden Pieriden (Pier isu. Teracolus) nur äußerst selten in unverletzten Exemplaren erbeutet werden konnten. Dasselbe gilt auch für die Acraea-Art desselben Gebietes (A. encedon L.). Beide Arten haben zwar meines Wissens keine Nachahmer im Gebiete, gehören aber zu denjenigen Formen, von denen man im allgemeinen annimmt, dass sie durch ihre übel- 570 Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. riechenden, bezw. schmeckenden Körpersäfte geschützt sind. Was ist näherliegend, als anzunehmen, dass die Integrität des Flügelrandes bei ihnen darauf zurückzuführen ist, dass sie von Vögeln nicht gefressen werden? Aber in diesem Falle weit gefehlt. Sowohl Danais als Acraea haben beide ziemlich resistente Flügel, ganz ähnlich wie unser einheimischer Zitronenfalter, Gonepteryx rhamni, von dem man in der Regel unter Dutzenden von Exemplaren kaum ein ver- letztes findet. Auch leben — wenigstens in dem von mir bereisten (Gebiete — beide nicht in der dornigen Steppe, sondern stets auf sumpfigem, hochgrasigem Boden. Meine Acraea stammen vor- wiegend aus der Umgebung von Faschoda (Kodok), direkt vom sumpfigen Nilufer, sowie vom ebenfalls sumpfigen Ufer des Sobat- flusses, die Danais waren an einigen sumpfigen Stellen bei Gon- dokoro (Nord-Uganda) geradezu gemein. Hier sind sie den Ge- fahren, die ihnen die Dornen der Sträucher bereiten würden, nicht ausgesetzt, — natürlich, weil ihnen die Vögel nichts tun, brauchen sie nicht, wie die Pieriden, ins Dorndickicht zu flüchten. Aber hier wird ihnen die Resistenz der Flügel gefährlich. Während Pieriden, die von einem Vogel fliegend verfolgt werden, oft nach Hinter- lassung eines ganzen Viertels ıhrer Flugfläche sich retten können, ist dies den Danais und Acraea nicht möglich. Sie fallen ihren Feinden, als welche ich namentlich einen Spornkuckuck?!) kennen lernte, rettungslos zum Opfer, und die Flügel bleiben, tadellos er- halten und an der Wurzel abgeknipst, unter einem Strauch liegen. Sollte dieser Umstand nicht auch anderwärts ın Frage kommen, wo man sieht, dass gewisse Falter anscheinend ganz gefahrlos sich herumtreiben, weil ihre Flügel keine Spur von feindlichen Angriffen tragen, während ın Wirklichkeit alle wirklich überfallenen Exem- plare auch ausnahmslos verloren sind. Eidechsen wie in Indien kommen dort als Danais-Vertilger nicht in Betracht, weil sie stets auf trockenem Gelände -leben, also die Danais-Fundorte meiden. Auf den von mir bereits geäußerten Einwand, dass in so vielen Fällen der im Sehen ungeübte Mensch (und dieser Mensch kann auch ein Zoologe sein und doch eine Menge Tiere übersehen, welche den Blicken eines geübten Sammler, sogar bei deren vollkommener Bewegungslosig- keit, wenn auch vielleicht erst nach längerem, aufmerksamen Suchen, nicht entgehen) seine Erfahrungen ame das Tier überträgt, will ich weiter nicht mehr eingehen. Der alte Sammler und Beobachter be- stimmter Tierformen, der Wilde und das Raubtier finden das, was sie suchen, weil sie wissen, wo und wann und wie sie es zu suchen haben. Man kann ein großer Forscher und doch freilebenden Tieren gegenüber blind sein. Mir scheint das Tierexperiment wichtiger. 1) Centrepus, in den Sümpfen des nörddichen Sudan häufig; auch traf ich einmal eine Mandelkrähe (Corzetas abyssinica) und einen Bienenfresser (Merops), ein Verzehrer von Acraea bezw. Danais. Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. 571 Man könnte aber diesem Einwand selbst den folgenden ent- gegenhalten: Wer sagt uns denn, dass der geübte Sammler selbst alle Tiere aus derjenigen Gruppe, auf die er Jagd macht, wirklich sieht und nicht einen großen Teil übersieht? Er hätte dann zwar den subjektiven Eindruck, alles auf einem bestimmten Fleck vor- kommende Getier gesehen zu haben, würde aber bei schärfster Kontrolle zugeben müssen, dass er sich geirrt habe. Ebendasselbe müsste aber dann auch für das Tier zugegeben werden. Dieser Einwand sieht zwar sehr wesentlich aus, ist aber in Wirklichkeit bedeutungslos. Man kann tatsächlich ein Gebiet von beschränktem Umfange in bezug auf bestimmte Tierformen in kürzerer oder längerer Zeit völlig „ausfangen“, d. h. diese Tiere daselbst direkt ausrotten; was aber von seite eines Raubtieres des- halb nicht geschieht, weil sein Hunger nicht groß genug ist, um seine gewöhnliche Beute zu dezimieren und die Möglichkeit ihrer Fortpflanzung auszuschließen. Solche, die große Nahrungsmengen auf einmal verschlingen, sei es, dass sie große Tiere unzerstückelt verzehren, wie die Schlangen oder aber schwierigere Verhältnisse des Nahrungserwerbes haben, wie diejenigen, welche auf sehr flinke, vorsichtige und wehrhafte Tiere jagen, wie etwa die großen Raub- tiere, die auf scheue, flinke Huftiere angewiesen sind, fressen selten solche, welche täglich fressen (wie z. B. die Eidechsen) finden dafür reichlich und regelmäßig Nahrung vor. In beiden Fällen ist eine Dezimierung der Beutetiere so gut wie ausge- schlossen. Damit will ich nur sagen, dass die Möglichkeit auch für ein Tier, eine andere Tierart in seinem Jagdgebiete bis zum letzten Exemplar auszurotten, zwar zugegeben werden kann, dass aber kaum die Notwendigkeit dazu besteht. Ferner ist zu bemerken, dass der Sammler, wenn er auf ganz kleine Tiere ausgeht, aller- dings nicht mehr auf seine Augen sich verlassen kann, sondern mit Sieben, Netzen und ähnlichen Fangapparaten arbeiten muss, dass aber für Tiere diese Mangelhaftigkeit des Gesichtsinnes nicht in Frage kommt, denn 1. nehmen viele Tiere andere Tiere unter einer gewissen Größe überhaupt nicht als Nahrung an, sondern ignorieren sie auch, wenn sie sie sehen, vollständig; 2. werden in anderen Fällen kleine Tiere von unverhältnis- mäßig großen überhaupt ohne Inanspruchnahme des Gesichts- sinnes mit Hilfe ähnlicher Apparate, wie sie der Sammler besitzt (Reusenapparate der Wale und planktonfressende Fische) ge- fangen; 3. werden in weiteren Fällen, z. B. von Vögeln, auch sehr kleine Tiere tatsächlich mit außerordentlicher Genauigkeit gesucht und auch gefunden. 972 Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. Ich glaube also diesen Einwand nicht ernstlich in Betracht ziehen zu dürfen. Es kann kein Zweifel darüber bestehen — und ich wiederhole das —, dass die Schutzfärbungen für ıhre Träger von Nutzen sind; von Nutzen vor allem gegenüber dem mäßig gesättigten Feind, der nicht mehr alle seine für die Aufspürung der Beute in Betracht kommenden Sinne anspannt; gegenüber dem gelegentlichen Feind, der seine normale, ihm besser zusagende Nahrung vielleicht eher sieht, besser unterscheidet; von Nutzen aber weiterhin dem Tier gegenüber einer schlecht witternden, schlecht sehenden Beute; immer natürlich in viel höherem Grade bei Bewegungslosigkeit als bei, wenn auch langsamer, Bewegung. Dabei ist es sehr bemerkenswert, dass vielfach Jungtiere, die erfahrungsgemäß weniger flink und vorsichtig sind als die Erwachsenen, noch dazu eine lebhafte, auf- fallende Färbung und Zeichnung tragen, die stammesgeschichtlich bedeutungsvoll, für ıhre Erhaltung aber nichts weniger als vor- teilhaft ist. Die Schutzfärbungen, was immer für welcher Art und Höhe der Ausbildung, smd noch immer zu unvollkommen, um den Gedanken zu rechtfertigen, sie selbst sei Endziel ihrer Ent- stehung gewesen; wir kommen immer wieder darauf zurück, dass sie ein sehr nützliches und willkommenes Nebenprodukt eines physiologischen Vorganges sein müssen. Il. Wenn man einen eifrigen und überzeugten Vertreter der Nütz- lichkeit der Schutzfärbung auf die Notwendigkeit aufmerksam macht, zuzugeben, dass die Schutzfärbung gegen die Feinde eines bestimmten Tieres nur einen beschränkten Schutz gewähre, da ja diese Feinde von diesem Tier leben, und niemand behaupten wird können, dass einer im Magen einer mit Hilfe des Gesichtssinnes oberirdisch jagenden Wüstenschlange gefundenen sandfarbigen Eidechse ihre Färbung genützt hätte, dann erhält man häufig die Antwort: Ja, wenn die Schutzfärbung nicht wäre, so hätte dieses Tier (Eidechse oder dergleichen) eben noch mehr Feinde — oder: Wenn auch die Schutzfärbung gegen diesen Feind nichts nützt, so doch gegen andere ete. Diese Antworten, die an sich ja vollkommen begreiflich sind, gehen von der Fiktion aus, als hätte jede Tierart eine unbegrenzte Zahl möglicher Feinde, von denen eben eine oder die andere Art besonders ın Betracht kommt, die übrigen aber durch bestimmte Schutzeinrichtungen abgewehrt werden können. Diese Annahme ist eine ganz falsche. Wenn wir nicht ganz allgemein Frosch für Rana temporaria, Eidechse für Lacerta viridis, Nagetier für Mus decumanus setzen, also Gattung oder Familie mit der Art ver- wechseln, so hat jede Tierart nur eine beschränkte Zahl von Feinden, Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. 573 die in verschiedenen Gebieten nicht einmal überall die Feinde der- selben Art sind. Dazu kommt noch die eine große Rolle spielende individuelle Geschmacksverschiedenheit, die Wichtigkeit der Größen- unterschiede zwischen Räuber und Opfer (von manchen größeren Raubtieren werden kleine Arten aus derselben Familie, aus der große ihnen zur Nahrung dienen, nicht angerührt). Manche Arten haben wohl viele Feinde, erhalten sich aber fast ausnahmslos ebenso- sehr durch Schnelligkeit der Bewegungen und starke Vermehrung, als durch Schutzfärbung; andere aber wieder nur sehr wenige, aus ganz bestimmten Gruppen, und es wäre eine ganz miissige Be- hauptung, in diesem Falle zu sagen, sie hätten ohne Schutzfärbung noch mehr Feinde. Wir können mit absoluter Sicherheit sagen, dass Coronella austriaca, unsere Schlingnatter auch dann nicht unter die Feinde des Grasfrosches gehen würde, wenn dieser ohne Schutz- färbung wäre; und wir sehen andererseits, dass sie ausnahmslos von Tieren lebt, die Schutzfärbung besitzen. Was sollen wir erst von reinen Säugetierfressern sagen, deren Beute wohl nahezu (Stink- tiere) ausnahmslos Schutzfärbung trägt. Ebenso werden wir eine Ringelnatter nicht zum Verzehren von Eidechsen bringen können; Python regius frisst nur Nagetiere, aber keine Vögel, Hunectes notaeus, die Paraguay-Anakonda, alle möglichen Wirbeltiere, nur keine Amphibien, dagegen Coluber quadrivirgatus Mäuse, Eidechsen, Frösche und Fische; dabei sehen wir wieder, dass von einer und derselben Art, z. B. von Schlangen, ein Individuum sehr gerne Kröten, aber keine Wasserfrösche, von einer anderen Art ein Indi- viduum Tauben und Nagetiere annımmt, ein anderes Säugetiere hartnäckig versckmäht. Und wie engbegrenzt sind erst die Raub- instinkte bei gewissen Insekten. Die riesige Raubfliege Laphria yibbosa sah ich in den Voralpen Niederösterreichs stets nur Dung- käfer (Aphodius) und Marienkäfer (Öoecinelliden) rauben, und von den Schlupf- und Grabwespen weıß man ja, wie sehr sie in bezug auf die Tiere, die sie mit ıhren Eiern beschenken oder als Futter für ihre Larven auswählen, spezialisiert sind, wie sie aber ihre Beute (die in diesem Falle ja freilich nicht ihnen, sondern ihrer Nachkommenschaft zur Nahrung dient) auch in den verborgensten Schlupfwinkeln beikommen. Wenn wir also auf die Möglichkeit hinweisen, dass Tiere ohne Schutzfärbung noch mehr Feinde hätten, als sie jetzt haben, so begeben wir uns auf das Gebiet der reinsten Spekulation. Ich möchte eher folgendes sagen: Je mannigfacher die Auswahl im Nahrungserwerb einer bestimmten karnivoren Tierart ist, desto weniger ist im allgemeinen eine der in Betracht kommenden Arten in ihrem Bestande gefährdet. III. Widrige, scharfe oder übelriechende bezw. giftige Ausschei- dungen, wie Schreck- oder Warnfarben stehen zweifellos miteinander 974 Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. vielfach in Zusammenhang, müssen aber von vornherein durchaus keine Schutzeinrichtungen gewesen sein oder es jetzt sein. Die Gift- oder Abwehrstoffe gelangen entweder mit der Nahrung in den Körper oder sie sind Ausscheidungen bestimmter Drüsen oder solche des Exkretionssystems. Die lebhaft gefärbten Stellen des Körpers, die als Schreck- oder Warnmittel funktionieren sollen, sind eben diejenigen, wo bestimmt gefärbte chemische Verbindungen, Stoff- wechselprodukte abgelagert werden. Ihre obengenannte Bedeutung ist, wenn überhaupt nachweisbar, eine sekundäre. Wir können ebensogut wie bei Molchen und Unken bei Auripigment und Realgar, Nickel-, Kobalt-, Uran- oder Cadmiumsalzen behaupten, dass sie eine Schreckfarbe besitzen. Wo diese Farbe sozusagen „ostentativ“ vor- gewiesen wird, wie z. B. bei der bekannten Schreckstellung der jombinator-Arten, da kann man sie wohl als Warnfarbe bezeichnen. In allen übrigen Fällen aber soll man lieber Vorsicht beim Ge- brauch dieses Wortes walten lassen und diesen lebhaften Farben nur einen bescheidenen Wert zuerkennen. Wenn wir sehen, dass gewisse bunte Raupen von Vögeln verschmäht werden, dass gewisse, lebhaft gefärbte Amphibien von der einen oder der anderen Tierart nicht — oder nur von jungen Tieren berührt werden, so beweist dies ım allgemeinen sehr wenig, nämlich nicht mehr als das, dass diese Vögel oder was es sonst für Tiere sind, eben nicht die wirk- lichen Feinde dieser betreffenden Raupen oder Amphibien sein können. Es gibt wahrscheinlich Tiere, die diese Raupen doch fressen; und es gibt eine ganze Menge von Tieren, welche Amphibien trotz ihrer Warnfarben, welche ja doch das Vorhandensein giftiger Sekrete anzeigen sollen, ohne Schaden, ja mit Vorliebe verzehren, nämlich viele Schlangen (z. B. Tropidonotus, Heterodon, Leptodira, Causus u. v. a.), die sich um die schärfsten Hautsekrete (wie z. B. das von Bufo viridis) gar nicht kümmern und welche zu den wich- tigsten Amphibienfeinden gehören. Aber wir finden sogar, dass solche Schlangen, welche normalerweise keine Amphibien fressen (z. B. Coluber), dies gelegentlich ohne Schaden tun, und zwar nicht etwa bloß Frösche, sondern auch Erdsalamander. Manche Tiere töten die stark sezernierenden Amphibien, ohne sie zu fressen, wie dies der Storch den Kröten gegenüber halten soll. Dass er ebenso als Feind der Kröten betrachtet werden muss, als wie als Froschfeind, wenn er die Kröten auch nicht verzehrt, ist’ klar. Welche Tiere aber würden Amphibien fressen, wenn sie nicht sezernieren würden? Doch sicherlich nicht mehr als jetzt; denn auch die Nahrungsauswahl ist etwas historisch Gewordenes; im wesentlichen bedingt durch die Auswahl der Tierformen, die einer bestimmten Art zur Zeit ihrer Entstehung zur Verfügung stand und modifiziert durch die Veränderungen in der diese Art umgebenden Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. 575 Tierwelt seit dieser Zeit. Die Größe der Artenauswahl ist der Organi- sationshöhe direkt proportional. Dasselbe gilt für die übelschmeekenden Insekten. Wir schließen daraus, dass Vögel oder Eidechsen Heu- schrecken mit Begierde verzehren, Wanzen verschmähen, dass diese durch das Sekret ihrer Stinkdrüsen geschützt sind. Das sind sie auch, aber nur so lange, als besseres Futter vorhanden ist. Wenn man einer Eidechse in ihrem Käfig Heuschrecken und Baumwanzen vorsetzt, so wird sie jedenfalls sich mit den Heuschrecken sättigen und dann die Baumwanzen ın Ruhe lassen; wie auch ein Mensch seine Lieblingsspeisen hat und diese vorzieht, wenn er die Aus- wahl hat. Aber daraus zu schließen, dass Baumwanzen wegen ihres _Geruches oder ihres Geschmackes überhaupt nicht gefressen werden, wäre verfehlt. Was das anbetrifft, so habe ich bei griechischen Lacerta viridis var. maior und verschiedenen anderen größeren Arten, namentlich zu früherer Jahreszeit, wenn Heuschrecken noch rar sind, den Magen vollgestopft mit einer Auswahl. der stinkendsten Insekten: Tenebrioniden, Carabus-Arten und Baum- wanzen (ähnlich unserer Brachypelta aterrima oder vielleicht iden- tisch mit ihr) gefunden, und ebenso findet man Reste von solchen am Eingang der Erdlöcher dieser Eidechsen in Menge. Anderer- seits ist der von den Heuschrecken bei Berührung aus dem Munde abgesonderte Saft so bitter und widrig schmeckend, dass man wohl auch diese Tiere für geschützt ansehen könnte?). Trotzdem aber hat kaum eine Insektengruppe so viele Feinde als gerade die Orthopteren. Wir können also auch in diesem Falle sehen, dass die Schutz- sekrete kaum den normalen Feinden gegenüber gebraucht werden können, die ja an sie gewöhnt sein müssen und sie ohne weiteres mit der Beute ın den Kauf nehmen, sondern dass sie eher die Be- deutung haben, gelegentliche Feinde, so lange sie der Hunger nicht zu arg quält, abzuwehren. Es wird daher der gelbe Saft eines Marienkäferchens einen Laubfrosch abschrecken, der diesen Käfern gelegentlich einmal Beachtung schenkt und nach ihnen, wenn sie an ihm vorbeikriechen, seine Zunge schleudert; aber da, der Laub- frosch, wie überhaupt die Frösche, keine regelrechte Jagd auf Käfer machen, so kommt dies für sie gar nicht in Betracht; die großen Raubfliegen der Gattung Laphria aber kümmern sich nicht um diese blutschwitzende Abwehr der Käferchen, sondern fangen sie, wo sie nur können, um sie auszusaugen. Da aber in den niederöster- 2) Dass auch bei uns z. B. Laufkäfer der Gattung Carabus durch ihr überaus ätzendes Drüsensekret nicht geschützt sind, ersehe ich aus einem im Herbst des Vor- jahres bei Hütten an der Aspangbahn, Niederösterreich, gefundenen Gewölle eines kleinen Raubvogels, dass außer Resten von Byrrhus gigas und pilula (diese durch Sichtotstellen geschützt!), Geotrupes vernalis und sylvaticus, auch solche von Chryso- carabus auroniteus, Mesocarabus catenulatus und Cychrus attenuatus enthielt. 576 Preisausschreiben. reichischen Voralpen, wo ich meine Beobachtungen anstellte, kaum so viel Frösche auf einem Areale von bestimmter Größe leben, als Hunderte von Laphrien, so sind letztere für die Coccinellen jedenfalls gefährlicher, als es die Frösche auch dann wären, wenn sie die Coccinellen nicht verschmähen würden. Die auf Sträuchern oft in Massen vorkommenden, einen unangenehmen Saft von sich gebenden Afterraupen gewisser Blattwespen werden von vielen Verte- braten verschmäht, von Mantis religiosa, die ich auf denselben Sträu- chern antraf, mit Begierde gefressen, trotz der energischen Abwehr- bewegungen, welche manche dieser Larven (von Cladius z. B.) ausführen. — (Gehört übrigens eine Tierart zu einer für eine andere Tierart als Nah- rung in Betracht kommenden Tiergruppe, so spielt Färbung, Körper- form, größere oder geringere Sekretion kaum je eine Rolle; darauf beruht ja die Möglichkeit, exotische Kleinraubtiere bei uns ın Ge- fangenschaft halten zu können. Müssten wir madagassische Schlangen mit madagassischen Tauben und Eidechsen, australische Eidechsen mit australischen Käfern und Heuschrecken füttern, so wäre die in Deutschland so hoch entwickelte Pflege von Terrarientieren schon längst gewesen. Aber die Fähigkeit des Erkennens geht so weit, dass nieder- österreichische Ringel- und Würfelnattern Grottenolme, die sie jeden- falls nie in ihrem Leben gesehen haben, ohne Bedenken verzehren und ebenso wird auch Cobitis fossilis, eine auffallend gestreckte und von der normalen Fischform ziemlich abweichende Art, auch von solchen Wassernattern gefressen, die sicher nie in der Lage waren, in Freiheit einen solchen Fisch zu sehen. (Schluss folgt.) Das Kuratorium des Keplerbundes stellt hiermit einen Preis von 1000 Mk. für die Lösung der folgenden Aufgabe: „Die ältesten (vorsilurischen) Funde von Lebewesen sollen nach ihrer Be- deutung für die Eintwickelungslehre neu untersucht und allgemein verständlich dargestellt werden.“ Das Preisrichteramt haben folgende Herren gütigst übernommen: Geh. Bergrat Prof. Dr. Beyschlag-Berlin, Geh. Bergrat Prof. Dr. von Branca- Berlin, Prof. Dr. Jäckel- Greifswald, Prof. Dr. von Koken- Tübingen; ferner der Unter- zeichnete als Vertreter des Kuratoriums des Keplerbundes. Die Arbeiten (in deutscher Sprache) sind bis zum 31. Dezember 1909 mit Motto und Namen in verschlossenem Briefumschlag an den Unterzeichneten, der auch sonstige Auskunft erteilt, einzusenden. Die preisgekrönte Arbeit wird Eigen- tum des Keplerbundes. I. A. des Kuratoriums des Keplerbundes Dr. phil. E. Dennert, Wissensch. Direktor des Keplerbundes. Godesberg a. Rh., Mai 1908. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Medizinischer Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Rauber’s Lehrbuch Anatomie des Menschen. VII. neu ausgestattete Auflage bearbeitet von ~ Dr. Fr Roose. Priv.-Doz. und I. Assistent am Anatomischen Institut zu Berlin. Abt. 1. Allgemeiner Teil. 221 teils farbige Abbildungen. Gebunden M. 5.—.. | , 2 Skelett, Bänder. 425 teils farbige Abbildungen. | (Gebunden M. 8.-—. | „3. Muskeln, Gefässe. 396 teils farbige Abbildungen. Gebunden M. 14.—. , 4. Eimgeweide. 454 teils farbige Abbildungen. Gebunden M. 10.50. „5. Nervensystem. 399 teils farbige Abbildungen. Gebunden M. 12.—. „ 6. Sinnesorgane, Generalregister. 251 teils farbige Abbildungen. Gebunden M. 8.—. Das altberühmte Werk bietet mit seiner von keinem anderen Lehrbuch erreichten reichhaltigen illustrativen AusgestaltungdasVollkommenste, was die moderne Technik schafft. Durch Vergrösserung des Formates war es möglich, die Abbildungen so gross herzustellen, wie sie keiner der neueren At- lanten bringst. Die neue Auflage macht daher die Anschaffung eines Atlas überflüssig, vereinigt also in sich die Vorzüge eines Lehrbuchs und eines Atlas. K. B. Hof- und Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. WY) ../ 1008 _ Tie Biologisches Centralblatt Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, ‚herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Fostanstalten. # Leipzig. Verlag von Georg Thieme. Rabensteinplatz 2. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. ei herapeutische Technik ima Cie ar Zliciie Ie yexas. Ein Handbuch fiir Arzte und Studierende. Herausgegeben von Prof. Dr. J. Schwalbe, Berlin. Mit 457 Abbildungen. Mk. 20, Hibfrz. geb. M. 23.—. XXVIII. Bd. 15. September 1908. Ne 18. Kompendium der Lichthehandlung { Dr. H. E Schmidt. Mit 20 Abbildungen. Geb. M. 2.—. Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. Bd. XXVIII. 15. September 1908. ° 18. Inhalt: Child, Driesch’s harmonic equipotential systems in form-regulation. — Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung (Schluss). — Thilo, Die Augen der Schollen. Driesch’s harmonic equipotential systems in form-regulation. C. M. Child. The importance of ,, harmonic equipotential systems“ in Driesch’s autonomistic hypothesis is known to all who are familiar with his later work. One of his „Beweise der Autonomie der Lebens- vorginge“ is based upon the supposed method of regulation in such systems. My own experimental work has, up to the present, suggested conclusions very different from those of Driesch and I have called attention from time to time to facts which seemed scarcely in accord with his views. Driesch’s replies to some of my criticisms are polemical rather than critical; in other cases, as I have pointed out (Child, 1907e), his statements of my experimental results and conclusions are incorrect, in consequence of misapprehension, and in some instances he has cast doubt upon the correctness of my observations, or has ignored them. His polemics require no further consideration, and as regards many other points, reference to the earlier discussions (Driesch, 1905b, 1908: Child, 1907e) is suffi- cient for the present. It seems desirable, however, in the interests of both theoretical biology and the experimental method, to examine in the light of the available facts Driesch’s conception of the harmonic equi- XXVIII. 37 578 Child, Driesch’s harmonie equipotential systems in form-regulation. potential system, together with certain other features of his hypo- thesis, in order to determine if possible whether the present status of our knowledge actually justifies the position which he maintains. I venture, therefore, to present the following consideration, in spite of the risk involved of eliciting from Driesch a further expression of his somewhat unflattering opinions with which I am already familiar. The frequency with which the critics of this author have been formed with opinions of this sort serves in some degree to lessen their effect. Reference to Driesch’s criticisms will be made only so far as they duely concern. the subject in hand. I. Certain of Driesch’s assumptions. The consideration of Driesch’s (Driesch, 1893, 1894 etc.) ideas of organic form as expressed in his earlier writings 1s beyond the scope of the present paper, though we find here certain assump- tions and views which, if accepted, lead very naturally and logicaly to his later conclusions. For example, ın his „Analytische Theorie“ (1894, p. 128) appears the following: „Man hat nun wohl die An- sicht geäußert, dass jedes Stadium der Ontogenese die notwendige Folge des vorhergehenden und die Ursache des folgenden sei; dieser Satz ist aber nicht ohne weiteres zuzugeben, denn erstens ist die Ontogenese kein einheitlicher Vorgang, sondern ist aus vielen teilweise voneinander unabhängigen und in eben dieser Unabhängig- keit gegebenen Vorgängen zusammengesetzt, zum andern verstehen wir, wie erörtert, keinen dieser Vorgänge aus seiner Ursache auch nur einigermaßen.“ It is of course quite true that at certain stages different processes of ontogeny may proceed independently of each ‘other, but it does not follow that each stage is not the necessary result of the preceeding and the cause of the following, not is it necessarily true that ontogeny ıs „kein einheitlicher Vorgang“, at least as regards the determination and initiation of the various processes. Processes occurring independently at a certain stage may have been initiated in direct or indirect relation to each other, or they may be the results of processes so initiated. It is impos- sible to determine whether ontogeny is an „einheitlicher Vorgang“ or not until we know it from the beginning. Present inability to understand the processes from their causes may well be, and doubtless is, because we know the causes only in small part. Such assertions as this of Driesch’s are, to say the least not at present justified by the facts. Turning to the development of the conception of the harmonic equipotential system, we find that this is likewise connected with certain assumptions. In „Die Lokalisation morphogenetischer Vor- ginge“ (Driesch, 1899a, p. 77) it is pointed out that the locali- zation of ontogenetic processes becomes a peculiar problem when Child, Driesch’s harmonie equipotential systems in form regulation. 579 „harmonisch-äquipotentielle Systeme mit primärer Richtungsorgani- sation sich bei Ausschluss äußerer Ursachen differenzieren. Unter dem Ausdruck „äußere Ursachen“ sind hier nicht nur im strengen Sinne die Faktoren der Außenwelt verstanden, sondern wenn die Differenzierung eines Systems in Frage kommt, das Teil eines Orga- nismus ist, auch alle etwa von anderen Teilen desselben auf ihn geschehenden Beeinflussungen, wie sie z. B. ın attraktiven, taktischen Reizwirkungen, bei Berührungen etc. vorliegen; auch solche Reizarten müssen also, damit unser Problem auftrete, ausgeschlossen sein. „Sind auch sie, und damit die äußeren Ursachen überhaupt, ausgeschlossen, so wird eben deshalb die Lokalisation der Differen- zierungsvorgänge ein Problem, weil sich mit Hilfe der von uns wissenschaftlich gekannten Ursachsarten nicht verstehen lässt, wie es nun an jenem in sich prospektiv gleichartigen Material zum Eintritt einer Verschiedenheit gerade an diesem oder gerade an jenem Ort komme.“ Here Driesch apparently becomes involved in serious error. If I understand him, his argument is essentially that there ıs nothing among the causes known to science to account for the localization of morphogenetic processes in material which is prospectively alike and which differentiates with exclusion of all factors external to it. This argument seems to involve the tacit assumption that where prospective likeness exists present likeness must also exist, for if differences exist within the material then a basis for further localı- zation exists, at least a possible basis, and Driesch’s problem cannot become a real problem until it is demonstrated that such existing differences are not the basis of further localization. Actually, however, present likeness does not follow from prospective likeness. Material at present widely different may still possess the capacity for producing like effects under conditions different from those now existing. In an organism the parts may possess similar prospective potences but may at present differ from each other widely, since they are or have been under different conditions. Moreover, the past or present relations may play a part in determining which of the prospective potences shall be realized in a particular case. A simple illustration will serve to make this point clear: All units (theoretically all atoms) of a given substance, e. g., oxygen, are prospectively alike, i. e., they possess the same potentialities, yet oxygen in combination with carbon (CO or CO,) is different from oxygen in combination with hydrogen (H,O). Moreover the oxygen in these different substances may behave differently when the substances are placed under identical conditions, 1. e., different potentialities may be realized in the two cases. Yet under these and other conditions the prospective potences of the oxygen remain the same. co ot | 580 Child, Driesch’s harmonie equipotential systems in form-regulation. As long as a given part of an organism remains a constituent of the whole it is affected more or less by processes and conditions arising from other parts, and these may induce specific localized differences in it, but without necessarity altering the prospective potence of the various regions. When the part is isolated the effects of other parts upon it cease, but the localized differences existing may determine the localization and character of following processes. In other words, the past history of material which is „prospektiv gleichartig‘ may establish a basis for the localized realization of different potentialities in different parts of ma- terial in a particular case. In Planaria, for example, the regu- latory processes occur in visible and in part experimentally deter- mined relation to visible localized differences which exist in the piece, and in cases where visible differences do not exist, there is no reason for assuming that they ar not present. Moreover, it is absolutely impossible to exclude entirely what Driesch calls external conditions in the separation of a part from other parts. The act of separation itself alters the complex of external conditions to which the part is subjected, both in that it eliminates all influence of other parts and in that it brings new regions into direct relation with the surrounding medium. Assuming that prospective likeness is equivalent to present likeness, and that external factors in the widest sense can be ex- cluded, the problem of localization is simply the problem of the self-production of heterogeneity from homogeneity. But Driesch has never presented any real evidence to show that any case of ontogenetic or regulatory development is of this kind. When we look for proof we find merely assertions that it is so, but without evidence, and none of his experiments constitutes proof. That such assumptions must be made „damit unser Problem auftrete* I readily erant, but it still remains to be proven that the problem is real and not a „Scheinproblem“, ‚and I believe that such proof is at present impossible. As regards Tubularia Driesch apparently does not even con- sider the possibility of localized differences which are not visible. He says: „Ist doch die einzige am Stamm in der Längsrichtung vorhandene Differenz die, dass er an einem Ende eine Wundfläche hat, am anderen nicht (i. e., after the removal of the hydranth). In bezug auf diese Wundfläche, aber nicht an ıhr wird eben in typischer Lokalisierung, die Hydrantenanlage gebildet, das ist alles, was wir sagen können; mehr können wir auf Grund dessen, was wir über formative Mittel wissen, eben nicht sagen, und so tritt uns denn die elementare Natur des Problems der Lokalisation wieder in ganzer Schärfe auch hier entgegen“ (Driesch, 99a, p. 51). The facts in the case are that no visible differences exist except Child, Driesch’s harmonic equipotential systems in form -regulation. 581 the wounded surface at one end and that the tentacle-ridges, which are the most conspicuous parts of the hydranth-primordium do not arise at the cut surface, but the distal end of the hydranth is at the cut surface in all cases. If Driesch’s conclusion is justifiable on the basis of these facts then we are justified in concluding that every scientific problem which is at present unsolved is elementary in nature, But let us examine the case of Tubularia somewhat more fully, in order to determine whether possible factors of localization exist, and whether any of the data of experiment afford any evidence with regard to such factors. In the first place, every piece which is capable of becoming a new whole possesses some degree of polarity, and experimental data indicate that this polarity consists in differentiation or specification along the axis (Child, 1907g): in Tubularia polarity disappears completely so far as morphogenesis is concerned in pieces below a certain size. There is no ground for believing that polarity is a fundamental property of protoplasm and that each element or particle possesses it. If polarity is simply axial difference in specification or in correlation of parts, then it may afford a basis for localization, though perhaps insufficient alone to account for all details. Secondly, the act of separation establishes a new „end“ or terminal region and the new hydranth forms at this end. The tip of the manubrium coincides in position with the end of the piece. The first visible changes leading to the formation of a new hydranth begin at the end, and the phenomena in short pieces suggest that the various parts of the new whole are localized in succession, beginning at the end (Child, 1907d, 1907f). For Driesch these small pieces which give rise to partial structures are simply „atypical“, a sort of „freak of nature“ and can teach us nothing concerning „normal“ phenomena. But if we attempt to analyse the process of morphogenesis in Tubularia on the basis of all the phenomena instead of a part, the assertion that the elementary nature of the problem appears clearly becomes, even with our present knowledge, almost absurd. The possible „mechanistic“ factors involved in the formation of a whole from a part are therefore, when reduced to the lowest termes: first, the constitution of the piece and the regional diffe- rences which exist in it in consequence of its previous differentiation as a part of an organism; second, the internal changes which result from its isolation, i. e., from the cessation of the action of other parts upon it, and these are undoubtedly different in different regions; third, the changes in relation to the extra-organic environ- mant, resulting from formation of terminal regions by the act of separation, or the exposure of new surfaces to direct contact with 582 Child, Driesch’s harmonic equipotential systems in form-regulation. the medium, etc. These also are localized to a greater or less extent. None of these possible factors can be excluded in actual experiment. Until Driesch has analyzed these and demonstrated that they are insufficient, his hypothesis deserves but little consideration as a proof „Lebensautonomie* so far as form regulation 1s concerned. II. Earlier definitions of the harmonic equipotential system. Driesch’s systems are discussed and defined for the first time in his „Lokalisation morphogenetischer Vorgänge“ (Driesch, 1899a). The definition of the harmonic equipotential system given here is as follows: „Jedes Element kann Jedes“ (p. 73), and as a further characterization, „es steht hier nämlich jeder der möglichen Effekte zu jedem anderen in einem ganz festen relativen Lage- verhältnis, auch tritt, mit wenigen Ausnahmen, jeder Effekt nur einmal oder doch in bestimmter Zahl auf: eben seine Zahl und sein Lageverhältnis zu jedem anderen Effekt ist hier ein ganz wesentliches spezifisches Merkmal“ (p. 73). In another paper (Driesch, 1899b) he says concerning these systems: „die Proportionalität alles Geschehens bleibt bei beliebiger Entnahme von Material des Systems bewahrt.“ In „Die organischen Regulationen“ (1901) his definition is as follows: „Es kann an solchen Systemen jedes Element jede der überhaupt möglichen Einzelheiten gleichermaßen leisten“ (p. 171), and further: „dass Alles was kraft der vorliegenden Potenzen wirk- lich, in jedem einzelnen Falle entsteht, zueinander in ganz bestimmte Beziehungen gesetzt ist“ (p. 172). In all of these definitions the idea of proportionality is appa- rently important: at least, [ so interpret the expressions „ganz festen relativen Lageverhältnis“ and „ganz bestimmte Beziehungen“ and the assertion that „seine Zahl und sein Lageverhältnis zu jedem anderen Effekt ıst hier ein ganz wesentliches spezifisches Merkmal.“ Moreover in „Die organischen Regulationen“ (1901, pp. 172—179) Driesch develops certain mathematical formulae as expressions of certain characteristics of harmonic equipotential systems. We are concerned here only with the formula for change in localization with change in absolute size. Driesch begins his consideration of this point as follows: ,Fragen wir uns zunichst, ob sich nicht ein Ausdruck finden lässt, der etwas darüber aussagt, wie sich die Lokalisation eines bestimmten Effektes mit der absoluten Größe des Systems ändert. Wir wollen dabei den einfachen Fall der Hydrantenreparation die Tubularie zugrunde legen, an der wir nur ebene Verhältnisse zu berücksichtigen brauchen, nämlich nur die Abstände der in Betracht kommenden Teile vom distalen Ende. Child, Driesch’s harmonic equipotential systems in form-regulation. 583 Es ist hier konstatiert, dass von einer bestimmten Stammlänge an abwärts, die Längen der Gesamtanlageareale verschiedener Objekte sich annähernd verhalten wie ihre Stammlängen, und dass ferner ein bestimmtes Anlagegebilde, etwa der Anlagering des proximalen Tentakelkranzes, zu einem anderen Anlagegebilde oder zur Gesamt- anlage des gleichen Individuums immer annähernd in derselben Längenproportion steht. „Wir wollen annehmen, dass diese Proportionalitäteh ganz strikte bewahrt bleiben (was sie natürlich wegen der Vernach- lassigung des Räumlichen und namentlich deshalb, weil die Tubu- laria wegen ihres festen Perisarks ja in allen Versuchen einer Serie denselben Stammdurchmesser, bei allein wechselnder Länge auf- weist, nicht tun).“ The development of the formula does not con- cern us at present, but merely the formula itself, which is -=A or x = gA, in which x is the distance of the distal end of a given organ-primordium from the distal end of the stem, g is the length of the piece and A is a constant. According to Driesch this formula shows us that ,die Ort- lichkeit des Geschehens bei der Differenzierung harmonisch-äqui- potentiellen Systems ist in einfachen Fällen ihrer Größe direkt proportional“ (1901, p. 176). He also says: „Auch der Ausdruck für das eigentlich Lebensautonome oder wie der übliche, besser zu vermeidende Ausdruck lautet, für das „Vitalistische* am Ge- schehen ist in dem x—=gA... enthalten (1901, p. 178). As regards this formula it is to be noted that it rests wholly on two assumptions; first, that the length of the whole hydranth- primordium in pieces below a certain size is strictly proportional to the length of the piece; and second, that strict proportionality exists between the various parts of the hydranth-primordium with decrease in size of the whole. Driesch himself admits as quoted above that these assumptions do not correspond with the facts, yet he regards the result as an expression „für das eigentlich Lebensautonome... am Geschehen.“ In short, the facts them- selves do not give us such an expression. But again Driesch assumes that striet proportionality is not maintained simply because hydranths of different sizes develop within a perisarc of approxi- mately the same diameter and the measurements concern only linear dimensions of space. In the following section our present knowledge concerning proportionality in Tubularia is briefly con- sidered. ill. Proportionality in Tubularia. A. Proportionality in Regulation to Length of Piece. In one of his studies on regulation in Tubularia, Driesch (1899 b) showed that in pieces below a certain size a decrease in 584 Child, Driesch’s harmonic equipotential systems in form-regulation. the length of the primordium occourred with decrease in the length of the piece, and that this decrease in length of the primordium amounted to about 50°/, when the length of the piece was double the length of the typical hydranth-primordium. He also showed that the two tentacle-areas of the primordium maintain approximate proportionality during this decrease. He did not show, however, that the length of the hydranth-primordium decreases proportionally to the length of the piece, or even approximately proportionally, yet he asserts, as quoted above, that in pieces below a given length the lengths of the whole primordia in different pieces are approxi- mately proportional to the lengths of the respective pieces. His experiments showed simply that in pieces below a given length de- crease in length of the piece is accompanied by decrease in the length of the primordium formed in it, but they did not even show that such decrease was approximately proportional; in fact mea- surements show clearly that it is not proportional, though Driesch did not make use of the facts which concern this point. In my study of Tubularia I found from a considerable number of measurements that the length of the hydranth-primordium de- creases less rapidly than the length of the stem in all cases (Child, 1907f, p. 289, Table III). Moreover, I found, on exami- nation of Driesch’s measurements, that they showed exactly the same thing. I have given the results of Driesch’s measurements in Table IV of my paper (Child, 1907f, p. 289). They show very clearly for all groups compared that the length of the hydranth- primordium decreases less rapıdly than the length of the piece. In Driesch’s recent criticism of my work (Driesch, 1908‘), 1) So far as a critical consideration of this paper is desirable it will be found in the following pages. Some considerable part of it, however, consists either of reassertion of the authors views, without actual criticism of the results of my work, or of condemnation of that work, and to these portions no reply is necessary. In support of my earlier criticism (Child, 1907e) that Driesch had failed at various points to state both the results of my experiments and my conclusions correctly, it is perhaps worth noting that Driesch’s second attempt to state the results of my work on Leptoplana (Child, 1904a, 1904b) is a failure like his first. His first statement was: „Nach Child nimmt bei Leptoplana das Regenerations- vermögen nach hinten zu ab“ (Driesch, 1905b, p. 694). I called attention to the incorrectness of this statement (Child, 1907e, p. 142), and pointed out that my experiments on Leptoplana showed that posterior regeneration is qualitatively com- plete at all levels (I should have added, posterior to the cephalic ganglia), but is quantitatively incomplete in the absence of food: that anterior rsgeneration, however, is always qualitatively incomplete at all levels posterior to the cephalic ganglia, as I had stated in my original paper. In his reply to my criticisms Driesch corrects his earlier statement as follows: ,,Nach Child nimmt bei Leptoplana das Ver- mögen, die qualitativ richtigen Regenerate quantitativ vollständig auszubilden, nach hinten zu ab, wenn keine Nahrung gereicht wird (Driesch, 1908, p. 408). This statement is not even correct for posterior regeneration, for as a matter of fact posterior regeneration in the absence of food is much more nearly complete quanti- Child, Driesch’s harmonic equipotential systems in form-regulation. 585 p- 413) he such as this, and this is by no means an isolated case, make Driesch’s frequent imputations to others of carelessness tatively in the posterior than in the anterior regions. Moreover, Driesch has not yet stated at all the rather important result that regeneration in the anterior direction is always not merely quantitatively, but qualitatively incomplete at all levels posterior to the cephalic ganglia, whether food is present or not. Repeated incorrect statements, says: ,,Wo also in aller Welt habe ich von mathematisch- strikter Proportionalität geredet? Das wüsste ich wahrlich gern. Und ferner wäre mir lieb zu wissen, wo bei seinen Proportionalitätsmessungen an Hydrantanlagen von Stammstücken verschiedener Größe oder verschiedener regionaler Herkunft oder verschiedener Polarität denn Child auch nur irgend etwas gefunden hat, was von meinen wahren Befunden und Aussagen, wie sie vorliegen, abweicht?“ The answers to these questions are to be found in the above quotations from D riesch's „wahren Befunden und Aussagen, wie sie vorliegen“, and my remarks concerning them. Driesch’s formula x = gA for „das eigentlich Lebensautonome — am Geschehen“ is impossible without the assumption of strict mathematical proportionality. Moreover, he has nowhere stated that the lengths of the primordia decrease less rapidly than the lengths of the pieces. What he did state was ,,es ist hier (i. e., for Tubularia) konstatiert, dass von einer bestimmten Stammlänge an abwärts, die Längen der Ge- samtanlageareale verschiedener Objekte sich annähernd verhalten wie ihre Stamm- längen“ (Driesch, 1901, p. 174). I must still believe that this statement does not express my own results, for I found that under certain conditions the length of the piece might decrease more than twice as rapidly as the length of the pri- mordium. Driesch has also accused me (Driesch, 1908, pp. 412—413) of imputing to him the belief that a mathematically exact proportionality exists in Tubularia. This I have never done, I have maintained and must still do so on the basis of the above quotations, that Driesch’s conception of the harmonic equipotential system is based on the assumption of mathematically exact proportionality. The formula x = gA has been discussed above: in the definitions quoted we find the expressions „ganz festen relativen Lageverhältnis“ and „ganz bestimmte Beziehungen‘. If words possess any definite meaning, it seems to me that we are forced to inter- pret these various expressions as signifying exact proportionality. I was familiar with Driesch’s various statements to the effect that only approximate proportionality existed in Tubularia, but I cannot find that he has ever stated that there are characteristic regional, polar and dimensional differences in the proportions of the primordia. But Driesch (1908, p. 413) still asserts, in spite of my data, that approxi- mate proportionality exists in Tubularia. Final decision upon this point is impos- sible until Driesch defines approximate proportionality. But a brief reference to some of my data will show the basis for my conclusions. In my measurements (Child, 1907f, p. 289, Table III), where pieces of given lengths compared, I found that in pieces of 4 mm and 2 mm respectively the difference in the lengths of the primordia was in one series about 9°/,, in another 21°/,, i. e., the length of the pieces hat decreased 50°/, and the length of the primordia, in one case 9°/,, in the other 21°/,. In pieces of 6 mm and 4 mm respectively, a decrease in length of the pieces, of 33,3°/,, the decrease in length of the primordia was 5°/, and in pieces of 6 and 2 mm respectively, a decrease in length of the pieces of 66,7°/,, the decrease in length of the primordia was 25°/,. Is this approximate proportionality between the length of the primordium and the length of the piece? Driesch, in his measurements (Driesch, 1899 b, Table VIII, p. 119), grouped pieces of three different lengths in eech class, e. g., he compared pieces, 3, 4, and 586 Child, Driesch’s harmonic equipotential systems in form-regulation. and misunderstanding somewhat less effective than they might otherwise be. As regards my ,reaction energy“ (See Child, 1907b, 1907d: Driesch, 1908, pp. 414—415), it is perhaps not far removed from the facts as Driesch’s „entelechie“. Driesch (1899b, pp. 120—121) has attempted to explain teleo- logically the proportional decrease in length of the primordium with decrease in the length of the piece. His explanation is essentially, that the new hydranth must posses a stem in order to emerge from the perisarc, and that it is also „zweckmäßig“ that a region capable of future reparation“ should be present. Consequently when the piece is to short to permit the formation of a hydranth- primordium of full length and also a stem, the length of the prı- mordium decreases. But, as the measurements — both Driesch’s and my own — show, the shorter the piece the less the relative length of the stem proximal to the hydranth. Consequently in pieces sufficiently short, we may expect to find hydranths alone produced, without any stem, or even distal parts of a hydranth without proximal portions. All who are familiar with the pheno- mena of regulation in short pieces in Tubularia know that very short pieces do actually produce structures of these kinds. In short the phenomena in longer pieces with decreasing length foreshadow those which occur in very short pieces. Driesch disposes of the phenomena in very short pieces as follows: „In der Tat unterbleibt ja, wie früher geschildert, bei sehr weit oralwärts dem ursprüng- lichen Individuum entnommenen Stiickchen, die sich sehr rasch reparieren, jene quantitative Regulation: aber was resultiert daraus? eine durchaus atypische Bildung oder zwar ein ganzer Kopf, der aber wegen fehlenden oder zu kleinen Streckstückes nicht aus dem Perisark frei wird, oder auch, wenn er etwa durch die Bewegungen seiner Tentakeln sich frei macht, bald abstirbt und keine reparative Potenzen besitzt“ (1899b, p. 121}. These are results which we do not „teleologisch sehr wohl verstehen“, but this apparently is of no importance to Driesch, for they are either „ganz atypische 5 mm with pieces 1,5, 2 and 2,5 mm in length without separating the different absolute lengths. But since the decrease in length of the primordium depends in part upon the absolute lengths of the pieces compared and not merely upon their relative lengths, Driesch’s measurements give simply average results for relative decrease of 50°/, in pieces of different absolute length. Consequently his figures, when treated in the same way as my own show in general greater decreases in the lengths of the primordia for a given decrease in the length of the pieces (Child, 1907, p. 189. Compare Tables III and IV). If he had compared pieces of a single given length with pieces of another given length his actual percentages would have been different and much nearer my own, and he would not have found that the decrease in the length of the primordium was 50°/, in pieces double the length of the typical primordium, but much less than that. Child, Driesch’s harmonic equipotential systems in form-regulation. 587 Bildungen* or else they „soon die and are incapable of reparation“. According to Driesch’s definition of regulation, it includes only cases where a return or approach to the ,normal condition occurs (Driesch, 1901, p. 92), hence abnormal or atypical results are unimportant. Nevertheless, I believe that these pieces present certain problems of considerable importance: first, why does any localization and development occur in pieces too short to form wholes? second, why do partial structures of relatively large size occur in some pieces, while others of the same length give rise to wholes of smaller size? third, why do partial structures always represent the distal portions of hydranths, never the proximal? Driesch offers no solution to these problems but says merely: „klar ist nur, dass irgendwelche „innere Mittel“ hier in Frage kommen* (Driesch, 1908, p. 414), He does not even mention my results and suggestions but refers merely to his and my own „ziemlich wenig besagende Vermutungen“. With respect to the regional occurence of partial and atypical structures in the stem, Driesch says in this paper: „Sie tun es nicht (i. e., they do not represent harmonic equipotential systems), wenn sie gar zu jungem Gewebe entstammen, also dem Original- stamm sehr weit distal entnommen sind“ (Driesch, 1908, p. 414). In view of the fact that both Morgan and I have shown posi- tively that stemless hydranths and partial structures may appear in any region of the stem, provided the pieces are sufficiently short (for literature see Child, 1907f), it is somewhat surprising to find Driesch repeating his original views on this point without refe- rence to the observations of others. If he has read my paper he cannot be ignorant of the facts. Does he believe that the obser- vations of Morgan and myself are incorrect or does he simply prefer to ignore them? I have loan (Child, 1907 f) that here 4 is a complete gradation between results that Driesch regards as typical and the stemless hydranth and distal partial hydranth. Shorter pieces are necessary for the formation of partial structures and stemless hydranths in the proximal than in the distal regions of the stem, and this fact is correlated with the well known fact that shorter hydranths appear in pieces from the proximal regions, whether the pieces are long or short, than in pieces from the distal regions. In short, there is every reason to believe that the same factors which give rise to wholes in longer pieces give rise to the stemless hydranths and the partial structures in the shorter pieces. To my mind the formation of distal partial structures and stemless hydranths in very short pieces from any region of the stem constitutes in itself a very serious objection to Driesch’s hypothesis: it is impossible, as Driesch practically admits, to under- 588 Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. stand these pieces teleologically. What is it that determines that locali- zation shall occur at all in these pieces? It certainly cannot be the „entelechy“, and if not then typical localization of morphogenetic pro- cesses 1s possible in Tubularia without the guidance of the entelechy. If it is possible in these short pieces, why not in other long pieces? The phenomena of regulation in these short pieces show most clearly that Driesch’s sharp distinction between the „typical“ and „atypical“ in form is not only useless but false as regards Tubularia, for structures wich Driesch regards as typical, 1. e., the hydranths of reduced length with stems actually show the same cha- racteristic, viz., a greater decrease in proximal than in distal structures with decreasing length of the stem, which leads in still shorter pieces to the formation of stemless hydranths and distal partial structures. To sum up concerning short pieces: Both Driesch’s measure- ments and my own show that in pieces below a certain length the localization of each „effect“ or part of the primor- dium differs typically in its relative position in the piece with every further decrease in the length of the piece. Proportionality between the length of the ereliun and the length of the piece is therefore not even approximately maintained if T unterstand the word „approximately* but changes in a typical direction. It should also perhaps be noted that this change cannot be accounted for by the fact that hydranth-primordia of different sizes arise within the perisarc, which is of approximately the same diameter in all cases (cf. Driesch, 1901, p. 174). If the differences were due to this factor, we should expect. the measurements to show that the length of the primordia decreased more rapidly than the length of the piece, but as a matter of fact, the measurements show exactly the opposite. I mention this point because Driesch, in his criticism of my work (Driesch, 1908, p. 413f footnote 1) has called attention to his earlier statements upon this point. The quotations which Driesch gives from his earlier papers (Driesch, 1908, p. 411) do not help the matter, so far as I can see, for they do not concern the real point involved. I believe I have answered his questions fully as to where he has made the assertions concerning which he inquires. (Schluss folgt.) Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. Von Dr. Franz Werner. (Schluss.) . IV. Es ist selbstverständlich, dass ein Tier besser geschützt ist, wenn es eine Anpassungsfärbung trägt, als im anderen Falle. Aber welchen Tieren fehlt sıe? Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. 589 I. Solchen, welche Pracht- oder Schmuckfarben tragen, welche augenscheinlich für die Erhaltung der Art von größerer Wichtig- keit sind, also der Schutz, den ihnen eine Anpassungsfarbe verleihen würde. Das gilt namentlich von männlichen Vögeln, Eidechsen, nicht aber für die Tagschmetterlinge, welche (uch bei bunter Fär- bung der Unterseite) durch die vertikale Flügelhaltung wenigstens in der Ruhe gut geschützt sind. Eidechsen mit Farbenwechsel — Agama, Calotes, Anolis -— können im männlichen Geschlechte ihr Prachtkleid in ganz kurzer Zeit in die Anpassungsfärbung über- gehen lassen. II. Solchen, welche durch andere Umstände: harte Körper- bedeckung, große Schnelligkeit und Vorsicht, ja auch durch Drüsen- sekrete vor Angriffen im allgemeinen geschützt sind (freilich werden die harten Rüsselkäfer und Tenebrioniden der Mittelmeerländer von Eidechsen, die ungemein flinke Lacerta oxycephala von der noch viel flinkeren Schlange Zamenis dahlii, die vorsichtigsten Nager von Katzen und Schlangen, Igeln und Wieseln, der Erdsalamander, die Wechsel- kröte und die Bergunke, drei an den ätzenden Drüsensekreten be- sonders ergiebige Amphibien, von der Ringelnatter gefressen; be- merkt möge hier freilich werden, dass niedere Vertebraten von widrigen Düften nicht abgestoßen werden und auch sehr starker Moschusgeruch, der Säugetiere abschreckt, Schlangen gleichgültig lässt; daher sind die Stinktiere Nordamerikas wahrscheinlich absolut geschützt, da es hier keine landlebenden Großreptilien gibt). Da- gegen genießen wirkliche wehrhafte, durch das Gebiss oder andere Waffen (Hörner, Geweihe, Hufe, Krallen, Stacheln) sich aktiv ver- teidigende Tiere, ebenso solche, welche aktive Schreckeinrichtungen (eles ause von Chim ydosaurus, Amphibolurus barbatus, aufstellbare Hinterhauptslappen von Chamäleons, Halsverbreiterung vieler Nattern) besitzen, wenn sie dabei wehrhaft sind, also ihrer Schreckeinrichtung durch Beißen Nachdruck verleihen können, tatsächlich eines aus- giebigen Schutzes, der sogar lebhafte Färbung paralysieren kann. Auch das Sichtotstellen der Käfer und Gespenstheuschrecken halte ich für eine sehr wirksame Schutzeinrichtung. Es darf die Abneigung, der Schutzfärbung und Mimikry eine zu weitgehende Wirksamkeit im Leben der Tiere zuzugestehen, freilich nicht dazu führen, etwa das Vorhandensein einer tatsach- lichen, oft weitgehenden Übereinstimmung überhaupt bestreiten zu wollen. Aber auch das Anolis-Beispiel Doflein’s vermag mich nicht zu überzeugen, dass die Schutzfärbung auch nur vor dem Beobachter selbst Schutz gewährt hätte. Er sagt ja selbst, dass er die Anolis nach einiger Gewohnune des Auges Shlreblic ‘+h doch gesehen habe. Glaubt er ach selbst, dass sie auch ein kleiner onto oder ein anderer Feind — ich wei’ nicht, welche Feinde die Anolis auf Martinique haben - sie hätte sehen können? Auch Agama colo- 590 Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. narum habe ich bei Gondokoro oft wegen ihrer Farbenanpassung bewundert; aber oft und oft gesehen, wie der unverschämte kleine Habicht Meberax metabates auch auf ganz ruhig sitzende niederstieß und sie mir vor der Nase entführte. Ebenso bin ich oft, wenn ich ım Steppengrase liegend meine Umgebung überblickte, durch eine zwischen den amen jagende Eidechse (Mabi ua stréata) auf die Nähe von Phasmiden (Gratidia voluptaria) und kleinen Acridiern die von mir selbst fast nur mit dem Streifnetz gefangen werden kennten, aufmerksam gemacht worden. Wenn Kammerer experimentell an Kröten und anderen Am- phibien Schutzfärbung hervorgerufen haben will, so ist dies meines Erachtens nicht ganz richtig; aber er hat wenigstens gezeigt, wie Schutzfärbung bei manchen Tieren entstehen kann. Auch bei Kröten, Unken, Molchen ist ein Farbenwechsel noch vorhanden, der aber viel langsamer eintritt, wie beim Laubfrosch, Chamäleon, Agama, Calotes und Anolis sowie bei den Pleuronectiden. Während eines von den eben- genannten schnell farbenwechselnden Tieren oft schon in wenigen Minuten mit der Umgebung völlig übereinstimmt, so dauert es bei den ersterwähnten, z.B. Bufo vulgar’ 7S, Bombinaton Molge cristata, oft tage-, ja wochenlang: aber sie wird bei diesen Tieren ebensowenig mer nd festgehalten, wie bei den schnell ändernden. Wohl aber kann man sich vorstellen, dass wenn eine solche Kröte sehr lange Zeit, etwa ihr ganzes Leben auf einer Unterlage von bestimmter Färbung ver- bringt, ein Farbenwechsel nicht mehr einzutreten braucht, die Chro- matophoren in der ursprünglich eingenommenen Stellung verharren und dauernde Farbenanpassung eingetreten ıst. Natürlich kann man auch in diesem Falle experimentell an dem phylogenetisch wichtigen „Farbkleidmuster“ der Zeichnung nichts ändern, also eine andere Verteilung der Flecken oder Streifen nicht bewirken, ebensowenig wie ein Chamäleon bei seinem Farbenwechsel andere Flecken- und Streifenmuster hervorbringen kann, als die seiner Art entsprechenden und auf ganz bestimmte Stellen lokalisierten. Wohl aber ist es denkbar, dass wir experimentell die Größe der Zeich- nungselemente (Flecken) verändern, diese bei Vergrößerung zum Verschmelzen oder andernfalls zum Schwunde bringen können, wie es Kammerer beim Salamander tatsächlich gelungen ist. Wenn wir also, wie Doflein, wohl richtiger als Vosseler, es darstellt, eine Fähigkeit der Pigmentanordnung unter dem Einflusse der Augen und des Zentralnervensystems für die Tierwelt im allge- meinen annehmen, so sind wir der Erklärung der Schutzanpassung — ohne die ;jNützlichkeit von vornherein in Anspruch nehmen zu müssen, sondern als rein physiologischen Vorgang betrachtet, schon erheblich näher gerückt. Mehr will ich nicht. Ich will nur die Nützlichkeit als Faktor bei der Entstehung un- bedingt ausschalten. Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. 594 We Wir kommen zu einem Punkt, der speziell die Mimikry be- trifft. Ich meine hier den Umstand, dass mit großer Sorgfalt Formen zusammengestellt werden, von denen eine als Modell, die andere als Nachahmer fungiert, dass aber niemand daran denkt, dass unter gleichen Lebensbedingungen auch verschiedene Formen weitgehende Übereinstimmung zeigen, von denen die einen ebenso oder ebensowenig geschützt erscheinen, wie die anderen. Diese aber werden mit keinem Worte erwähnt, obgleich ihre Ähnlichkeit oft noch weit größer ist als die der berühmtesten Mimikrybeispiele. Es wird z. B. wenig Zoologen geben, welche die vollkommen unter gleichen Umständen auf Neu-Guinea und dem Bismarck- und Molukken- archipel lebenden Baumschlangen Python amethystinus und Dipsado- morphus irregularis ohne weiteres zu unterscheiden imstande wären; erstere ist eine Boide, letztere eine opisthoglyphe Colubride. Nie- mand wird aber ım Ernst daran denken können, dass eine die andere imitiert; beide leben von denselben Tierarten, sind ihnen gleich gefährlich und was ihre Feinde anbelangt, gegen die sie sich durch thr Gebiss in gleicher Weise verteidigen, so dürften sie außer dem Men- schen kaum welche haben. Ein anderes Beispiel: die Laubheuschrecke Clonia Wahlbergi und die Gespenstheuschrecke Palophus centaurus. Beide in der Färbung bis ins Detail ähnlich, beide unter gleichen Lebensbedingungen in Deutschostafrika lebend. Wird Palophus von Clonia nachgeahmi? Wozu? Sollte in diesem Falle die bei beiden gleiche Anpassungsfärbung bei der einen Art nicht aus- reichen? Und, wenn die Stinkdrüsen der Phasmiden das schützende des Palophus sind, unter deren geborgtem Glanze die Clonia ein- hergeht, warum reicht denn eigentlich die Schutzgestalt der Phas- miden nicht aus? Im allgemeinen ist die Natur nicht so ver- schwenderisch, zwei Dinge zu geben, wenn der Organismus mit einem auskommen kann und die Stinktiere aller Art sind sonst nicht gerade nicht die besten Anpassungsbeispiele! Aber nehmen wir sogar den Schutz der Stinkdrüsen des Palophus auch für die mit einem kräftigen Gebiss versehene und so nicht ganz wehrlose Clonia an, wie steht es mit den unendlichen Wieder- holungen anderer Formen gerade in der Orthopterenordnung. Imitiert die Acridiergruppe der Proscopiden die Phasmiden oder umgekehrt? Sind die kleinen tropisch-amerikanischen glasflügeligen Mantiden Modelle oder Nachahmer der Mantispiden (Ordnung Nez- roptera) derselben Gebiete, die ihnen so ähnlich sind, dass sie auch von Entomologen häufig verwechselt werden? Wer ist Modell und Nachahmer, wenn wir den kleinen Ohrwurm Labia minor mit ge- wissen kleinen Staphyliniden vergleichen? Wer bei gewissen Blattiden-Weibchen (Heterogamia, Pellita, Pseudoglomeris) und land- lebenden Isopoden, bezw. Glomeriden (in letzterem Falle stinkt 7 99 Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. Modell und Nachahmer). Auch Burr, der diese und ähnliche Fälle als Mimikry beschreibt, ist seiner Sache gar nicht sicher?). Solche Beispiele kann man seitenlang herzählen und in allen Fällen ist die Ähnlichkeit eine mindestens ebensogroße als die zwischen Trochilium und Vespa crabro?°). Ich habe aber schon in meinem früheren Aufsatze hervor- gehoben, wie gut verhältnismäßig gerade erdfarbige Tiere geschützt erscheinen. Das ist um so bemerkenswerter, als gerade die braune oder graue Erdfarbe die einfachste, primitivste Färbung ist, die ein Tier überhaupt tragen kann. Sie ist die normale Erscheinungsform des verbreitetsten aller Farbstoffe des tierischen Körpers, des Mela- nins, die Jugendfärbung der meisten landbewohnenden Wirbeltiere und vieler Fische und fast alle anderen tierischen Farben (vielleicht, aber durchaus nicht sicher, mit Ausnahme gewisser, auf kleine Tiergruppen beschränkter, wie die Farben der Federn mancher Vögel u. s. w.) leiten sich davon ab; teils durch Verdünnung, durch chemische Veränderung, durch Überlagerung durch die gelbgefärbten Hornschichte der Epidermis oder luftführender Zellschichten u. s. w. Wenn also Prof. Sajé (in: Promotheus, Jahrg. XIX, 7-8, p. 943, 944) meint, dass es für den Hasen, wenn er nicht Schutz- färbung tragen würde, ganz gleichgültig wäre, ob er schwarz oder weiß wäre, so muss man ıhm bis zu einem gewissen Grade bei- stimmen. Warum ist er aber nicht weiß oder schwarz? Einfach deshalb, weil diese beiden „Farben“ nur als Reaktion auf bestimmte Einwirkungen der Außenwelt erscheinen®), welche aber unter den normalen Lebensbedingungen des Hasen eben nicht eintreten. Treten sie aber ein, so wird beim Hasen ebenso die weiße Farbe auftreten wie beim Alpenhasen, ebenso die schwarze wie beim zahmen Kaninchen. Es ist nicht im geringsten einzusehen, warum der Hase seine im wesentlichen primitive Färbung aufgeben sollte, wenn sie für ıhn unter den gegebenen Verhältnissen am besten geeignet ist. Diese Färbung wird eben nur aufgegeben, wenn wesentliche Einflüsse von 3) In bezug auf die angebliche Mimikry der Volucella-Arten, welche Fliegen ja allgemein als schlagende Beispiele für mimetische Hummelähnlichkeit angeführt werden, sagt Dr. P. Speiser in Entom. Jahrb. f. 1908 (Krancher), p. 161—167: „Genaueres Zusehen belehrt indessen eines anderen. Die biologische Naturforschung darf nicht im Zimmer über die Beziehungen ihrer Tierlein untereinander medisieren und philosophieren, sie muss hinaus an den grünen Tisch der Natur!“ Speiser weist klar nach, dass von einer Hummelmimikry der Volucellen keine Rede sein kann. Ich muss auf die Ausführungen dieses Verfassers selbst verweisen, der nach jeder Richtung hin den Beweis dafür führt, „dass das Aussehen der Volucella-Arten nicht dazu dienen kann (— nur so darf man sagen, allenfalls auch: „von ihnen be- nützt werden kann“; Ausdrücke wie „den Zweck haben‘, ,,beabsichtigen“, „dazu da sein“ sind als durchaus fehlerhaft auf jeden Fall zu vermeiden —) die Hummeln oder Wespen zu täuschen. Auch Sharp u. a. haben bereits diese Meinung mit guten Gründen bekämpft. 4) Vgl. die Ausführungen von Tornier und Kammerer über Melanismus. Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. 593 außen sich geltend machen und es ist bemerkenswert, dass die bei weitem meisten Anpassungsfärbungen der Tiere — nämlich die- jenigen, die sich als Färbungsanpassung an eine bestimmte Vege- tations- oder Gesteinsformation, nicht an eine bestimmte Pflanze oder einen Pflanzenteil dokumentieren — bloße geringe Modifikationen des Melanins (fast nur Verdünnung desselben) vorstellen. Wenn also die primitive Melaninfärbung (oder bei Arthropoden die einfache braune Färbung des Chitinpanzers) in so zahlreichen Fällen erhalten bleibt, so ist dies deshalb der Fall, weil eben gar kein Anstoß zur Änderung gegeben wurde. Dass eine genaue Anpassung weder erreicht, noch notwendig ist’), sieht man an den zahlreichen Fällen dimorpher Reptilien, deren beide Geschlechter aber unter genau denselben Lebensverhältnissen leben — von Arten mit Hoch- zeitskleid des Männchens ganz abgesehen — ich weise hier nur auf die grauen Weibchen und braunei Männchen von Coronella austriaca und die umgekehrte Erscheinung bei Vipera berus hin —, wenn hier das eine Geschlecht genau angepasst ist, so könnte es das andere keinesfalls sein. Bei den meisten bodenfarbigen und sehr gut geschützt aussehenden Tieren stimmt die Färbung bei näherer Betrachtung nicht nur nicht genau mit dem des Bodens überein, sondern macht nicht einmal den Versuch einer Annäherung, wovon man sich in jedem Falle leicht überzeugen kann. In einem verlassenen Steinbruch bei Sievering (Wien) leben in Menge Ocdi- poda caerulescens und Calliptamus tlalicus nebst weniger zahlreichen Sphingonotus coerulans. Jedes einzeln betrachtete Exemplar dieser drei Arten von Feldheuschrecken scheint an sich wunderbar dem Boden angepasst zu sein. Von ihnen ist aber nur der in der Fär- 5) Es ist übrigens eine merkwürdige Sache mit dem, was wir Menschen unter Schutzfärbung und schützender Ähnlichkeit verstehen. Es ist durchaus nicht nötig, dass eine lange Reihe von immer besser angepassten Ahnen existiert, um ein Ding zu liefern, welches im höchsten Grade allen Anforderungen entspricht, die wir in bezug auf Unauffindbarkeit und Unkenntlichkeit stellen. Niemand wird behaupten wollen, dass ein Korkstöpsel, ein Ende Bindfaden, eine Pinzette, ein Bleistift, ein Federmesser Ergebnisse langer Anpassung an den Aufenthalt im Wald oder über- haupt in freier Natur sind; und trotzdem wird niemand, wenigstens kein Sammler von Erfahrung, in Abrede stellen können, dass die oben genannten Gegenstände, auf einen ganz kleinen Raum weggelest, oft erst nach langem Suchen oder gar nicht wieder aufgefunden werden können — von demselben Sammler, vor dem keine An- passung ein Tier seines Spezialfaches schützt. Ein besonders lehrreiches Beispiel bot sich mir vor kurzem auch im Kamptal in Niederösterreich. Von einem Wachholder- strauch, der im Gebiete allenthalben von der flügellosen Laubheuschrecke Yphippiger vitium bewohnt wird, fiel von einem Pärchen dieser Art das Männchen vor mir ins Gras herunter. Und siehe da — während wir (d. h. ich und meine Kinder) auf dem natürlichen Substrat jedes Exemplar ohne Schwierigkeit aufzufinden imstande waren, fanden wir im Grase das herabgefallene Exemplar erst nach viertelstündigem, eifrigem Suchen, obwohl seine Färbung von der des bereits ziemlich dürren Grases stärker differierte als von der des Juniperus. XXVIII. 38 594 Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. bung ziemlich konstante Sphingonotus wirklich bodenfarbig; Callip- tamus fast gar nicht und bei Oedipoda finden wir, dass kein Exem- plar dem anderen gleicht und kaum ein Fünftel aller dem Boden; es waren gelbbraune, rotbraune, graubraune und graublaue ın allen Abstufungen vorhanden. Nehmen wir an, diese Exemplare hätten die Färbung — nach Vosseler — gleich nach dem Ausschlüpfen aus dem Ei erhalten, was allerdings die Möglichkeit der späteren Egalisierung der Flügeldecken mit der Körperfärbung bedingt — so können wir nicht umhin, zuzugeben, dass von der ganzen Menge von Oedipoda dieses Steinbruches immer eine Anzahl der Schutz- färbung entbehrt, da die Geburtsfärbung unmöglich stets dem jeweiligen Substrat entsprechen kann. Aber — es ist auch gar nicht nötig! trotz der mannigfachen Färbung und der mehr weniger scharf ausgeprägten Zeichnung ist eine leidliche Ähnlichkeit mit dem Boden vorhanden, die immerhin einen wenig scharfsichtigen Feind ein oder das anderemal täuschen mag, namentlich im Zu- sammenhang mit dem sehr verwirrenden gleichzeitigen Auffliegen mehrerer Exemplare. Es ist in dem vorzitierten Aufsatz von Saj6 schon mit Bezug- nahme auf einen früheren Artikel von Weiß der Laubfrosch als. Beispiel für die Lehre von den Schutzfarben herangezogen worden. Er sagt wörtlich: „Die Farbenänderung des Laubfrosches speziell der Umstand, dass er auf glatter Unterlage eine grüne, auf rauher eine dunkle Farbe annimmt, widerspricht der Lehre von den Schutz- farben durchaus nicht. Denn die Laubblätter sind ja mehr oder weniger glatt, während die Borke der Bäume rauh ist. Wenn also der Frosch durch die glatte Unterlage dazu bewogen wird, grün zu werden, bekommt er dadurch eine Schutzfarbe, denn die Baum- blätter, auf denen er zu sitzen pflegt, sind nicht nur glatt, sondern auch grün...“ etc. Eine verunglücktere Beweisführung ist nicht leicht denkbar. Sie geht erstens von der Prämisse aus, dass die Sache mit der Unterlage richtig ist, was nicht ım entferntesten stimmt, da die inneren Zustände (Hunger, Sättigung u. a.), ferner die Wirkung von Temperatur, Licht und Feuchtigkeit nicht ın Rechnung gebracht sind und Laubfrösche auf genau derselben Unter- lage alle Färbungen, deren sie überhaupt fähig sind, haben können (wenn auch nicht haben müssen). Zweitens ist der Laubfrosch in einem beträchtlichen Teil seines Lebens, nämlich in der Jugend und immer, wenn er bei Tage der Ruhe pflegt, bedeutend heller als seine Unterlage und sehr auffällig; und drittens muss Prof. Saj6 in dem Grade der Anpassungsfärbung, den er für die Laubfrösche notwendig hält, sehr bescheiden sein, wenn er nur grün und dunkel unterscheidet. Ist dunkelgrün nicht grün oder nicht dunkel? Wie wird ein Laubfrosch, der auf einem dunkelgrünen glatten Blatte sitzt?; wird er grün (hellgriin), dann ist es keine Schutzfärbung; +: DM Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. 595 wird er dunkel, so stimmt es nicht mit der glatten Unterlage. Und warum ist ein grüner Wasserfrosch, der auf einem glatten, grünen Seerosenblatt in der Sonne sitzt, ebenso grün, wie einer, der gleichzeitig in der Sonne auf dem rauhen Ufer sitzt? Gilt nur hier die Kontaktwirkung nicht oder sind nicht etwa bei Laub- und Wasserfrosch doch dieselben Einflüsse wirksam ? Was nun im Gegensatz zur Färbung als solcher die Zeichnung, das Farbkleidmuster anbelangt, so ıst das eine Sache für sich und hat mit der Schutzfärbung nur soviel zu tun, dass sie beibehalten wird, wenn sie nicht direkt schädlich wirkt oder auf anderem Wege paralysiert werden kann; sie ist in erster Linie ein stammesgeschicht- lich wichtiger, konstanter Modus der Ablagerung des im Körper erzeugten und überflüssig gewordenen Pigments. Also könnte man die Farbflecke der tierischen Haut direkt als ein den Speichernieren verschiedener niederer Tiere physiologisch verwandtes Organ be- trachten. Dass eine solche Anordnung des Pigments für viele Tier- arten ein überwundener Standpunkt ıst, beweist die allbekannte Tatsache, dass eine außerordentlich große Menge von Vertebraten zwar die stammesgeschichtlich charakteristische Zeichnung in voller Deutlichkeit in der Jugend tragen, dass sie aber im Alter voll- ständig sich rückbildet (Löwe, Edelhirsch, Tapır, Wildschwein, Äskulapschlange, Polypterus u. s. w.) oder dass sie nur vereinzelt und stellenweise auftritt (Zebrastreifung bei Pferd und Esel). Wenn also die Zeichnung, wie ich schon in früheren Jahren hervorhob, mit der Schutzfärbung nichts zu tun hat, so können auf demselben Substrat die verschiedenst gezeichneten Tiere beisammen leben, wenn sie nur dieselbe Färbung besitzen; und dies ist auch tatsächlich überall der Fall. Ein Beispiel aus der Sahara möge genügen. Es können auf einem kleinen Gebiete gefunden werden: Varanus griscus (quergestreift), Psammophis schokari (längsgestreift), Cerastes cornutus (gefleckt), Acanthodactylus scutellatus (retikuliert). Die nächst wichtigste Anpassungsfärbung für die Landfauna ist zweifellos die grüne; und diese entsteht auf zweierlei Weise: bei den Vertebraten wohl in den meisten Fällen durch Überlagerung des Melanins durch eine luftführende Zellschicht, wodurch die blaue Färbung entsteht, über welcher die gelbe Hornschicht der Epidermis lagert, wodurch Grün hervorgerufen wird. Oder aber durch direkte Umwandlung des braunen Pigments in ein grünes, wie bei den Orthopteren. Hier finden wir in vielen Fallen (Mantis, Sphodromantis, Hierodula, Polyspilota, Miomantis, Tylopsis, Decticus, Acrida, Paracinema u. v. a.) eine grüne Form neben einer braunen bestehen und zwar ohne Übergänge. Es ist wohl für alle derartigen Orthopteren richtig, was H. Przibram in seinen schönen Arbeiten über den Farbenwechsel von Sphodro- mantis und Mantis nachweisen konnte, nämlich dass die Larven in 38* 596 Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. brauner Farbe aus dem Ei kriechen und dass die Farbenveränderung bei einem und demselben Individuum im Laufe der Zeit eintreten kann. (Aufzucht, Farbwechsel und Regeneration einer ägyptischen Gottesanbeterin [Sphodromantis bioculata Burm.]. Arch. f. Entw.- Mech. XXII, p. 149— 206, 1906 und: Aufz., Farbw. u. Reg. unserer europäischen Gottesanbeterin [Mantis religiosa L.].) Welche Ein- flüsse die Umwandlung der Färbung von braun in grün bewirken, konnte Przibram trotz vieler Experimente nach verschiedenen Richtungen hin nicht ermitteln. Die hier vor sich gehenden che- mischen Veränderungen mögen ähnlich sein wie diejenigen, welche die Umwandlung des roten, orangefarbigen oder gelben Pigmentes junger Riesenschlangen (Corallus, Nardoana, Chondropython) in grün (Corallus caninus, Chondropython) oder braun (©. madagascariensis, Nardoana) bewirken. Bei Formen, welche in der Ausbildung ihres Körpers und dessen Anhängen blattförmige sind, werden die braun bleibenden dürren Blätter ähnlich (Acanthops, Deroplatys, Gongylus, Phyllocrania), während diejenigen, bei welchen das braune Pigment sich in Grün verändert, die „Wandelnden Blätter“ vorstellen (Phyllum, Bran- estkia?, Idolum). Was die Entstehung von blatt- oder astförmigen Formen unter den Orthopteren anbelangt, so habe ich mich jetzt überzeugt, dass unter den Phasmiden ähnliche generalisierte Typen existieren, wie es unter den Mantiden gewisse Orthoderiden sind, welche — abge- sehen von den wohlentwickelten Raubbeinen — Perliden täuschend ähnlich sehen. Solche» generalisierte Formen mit gut ausgebildeten Flugorganen müssen wir als Ausgangsformen für die Entstehung sowohl der Ast- als der Blattnachahmer zu grunde legen. Ganz kurze Formen werden unter den Phasmiden überhaupt nicht ge- funden; sie sind alle wenigstens einigermaßen gestreckt und das hängt damit zusammen, dass sie keine Springer sind, wie etwa die Locustodeen, bei denen man an der Gattung Saga (Clonia und Peringueyella werden sich wohl ähnlich verhalten) sehen kann, dass gleichzeitig mit der Reduktion des Springvermégens — Saga springt bereits wenig, worauf auch schon die Dickenreduktion der hinteren Femora hindeutet -— der Körper sich in die Länge streckt. Es ist also schon eine, ich möchte sagen, richtunggebende Streckung des Körpers in der Längsachse vorhanden. Derartig generalisierte Phas- miden leben wahrscheinlich — von den generalisierten Mantodeen, den Orthoderiden, zum Teil wenigstens, wissen wir es mit Be- stimmtheit — auf dem Erdboden zwischen (nicht an) Gras oder an Baumstämmen. Hiermit war schon die Zweiteilung der Entwickelungsrichtung gegeben. Die an Baumstämmen lebenden sind wahrscheinlich schon von vornherein abgeplattet gewesen. (Man beachte, dass bei der Orthoderidengattung Elaca das stark Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. 597 abgeplattete Weibchen an den Akazienstämmen lebt, das schlanke Männchen aber im Grase; dasselbe gilt auch noch für Tarachina, wo die Verschiedenheit der Geschlechter in dieser Beziehung weniger ausgesprochen ist; sind beide Geschlechter abgeplattet [Humbertiella, Theopompa], dann leben beide an Baumstämmen.) Wir werden — wie dies für die Mantiden wohl feststeht — auch für die Phas- miden finden, dass aus allen Hauptgruppen immer die breiteren, abgeplatteten, mehr die Baumstämme, die mehr schlanken den Erd- boden aufsuchen werden, so dass wir Parallelreihen von mehr ab- geplatteten und gestreckten Formen erhalten. Die abgeplatteten Formen, von denen die Weibchen außerdem stets ein breiteres und (außer zur Zeit der Eireife) flaches Abdomen besitzen, sind die Vorläufer der Blattbewohner und Blattnachahmer. Unter den Or- thoderiden gibt es wahrscheinlich nur wenige Blattbewohner (Choera- dodis und ? Orthodera); sie sind alle exzellente Läufer — eine Eigenschaft, die Blattbewohnern wenig nützt. | Gehen wir nun zu den übrigen Mantidenformen über, so finden wir schon eine mehr ausgesprochene Differenzierung; sie leben ent- weder auf dem Boden im Gras (das sind die langgestreckten Formen) oder an Baumrinden (nur mehr wenige: Liturgousa, Dactylopteryx) oder auf dürrem oder frischem Laub. Während bei den Mantodeen und Phasmodeen die Blatt- bezw. Rindenähnlichkeit mit dorsoventraler Abplattung koinzidiert, sind die entsprechenden Formen der Locustodeen seitlich kompress, wenigstens die Flugorgane in der Ruhe steil aufgerichtet. Ob dies mit der Sprungtätigkeit zusammenhängt, vermag ich nicht zu sagen. Unter den Acridiern und Grillen, die primär gras- bezw. bodenbewohnend sind, fehlen Blattnachahmer durchwegs und auch die sekundär Busch- bewohner gewordenen zeigen keine Spur einer derartigen Entwicke- lungsrichtung. Was nun die weitere Ausbildung der Blattähnlich- keit anbelangt, so möchte ich sie, wie ich schon früher bemerkte, unbedingt auf das Konto hypertrophischer Entwickelung unter dem Einfluss des tropischen Klimas setzen. Wir finden Laubbäume überall auch im gemäßigten Klima, sowohl nördlich als südlich von den Wendekreisen, aber wir finden Blattheuschrecken nur ın den Tropen, auch da nur, wo ein feuchtes Klima herrscht, welches in jeder Beziehung auf Wachstum und Entfaltung des Organismus und seiner Teile einen intensiven Einfluss hat. Daher fehlen Blattnachahmer im ägyptischen Sudan (bis auf wenige, aus den umgebenden Urwäldern eingewanderte und stets sehr seltene Arten), weil hier die Grassteppe vorherrscht und das Klima während eines sehr großen Teiles des Jahres trocken ist, dagegen finden wir sie überall in der westafrikanischen Region der tropischen Urwälder und überall auch dort im Osten, wo ausgedehnte zusammenhängende Waldbezirke vorkommen; die vollkommensten Blattmantiden Afrıkas, 598 Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. Idolum und Phyllocrania leben sogar vorwiegend oder ausschließlich in der ostafrikanischen Subregion, aber auch unter Verhältnissen, die denen des Kamerungebietes entsprechen, nicht oder (Idolum) nur äußerst selten und vereinzelt im Grenzgebiet der Savannen des Sudan (oberer Weißer und Blauer Nil). Bäume gäbe es in der sudanesischen Savanne auch genug, auch stellenweise große Wälder — aber es sind keine Tropenwälder. In solchen erst wachsen den Chamäleons Hörner und Rückenhautsäume, in den Tropen Amerikas und Indiens den Eidechsen Kehlsäcke und Rückenkämme, Kapuzen auf dem Hinterkopf u. dergl. Wo sieht man dergleichen — auch in den Tropen — außerhalb der Urwaldregionen? Die Wirkung der Sonne allein sind die leuchtenden Farben, welche bei Eidechsen und auch Vögeln noch außerhalb der Wendekreise gefunden werden; die Wirkung des Tropenklimas aber die Hypertrophien der Körper- anhänge, und zu diesen gehört die Blattförmigkeit der mimetischen Heuschrecken. Ich habe schon in einer orthopterologischen Arbeit zu zeigen versucht, dass einer der wichtigston Unterschiede zwischen der sudanesischen Fangheuschreckengattung Stenovates und der echt tropisch-afrikanischen Gattung Heterochaeta darin besteht, dass bei letzterer die Dornen an den Hüften der Vorderbeine in dreieckige Blättchen umgewandelt sind®); ebenso sind die Femora der Raub- beine vieler echt tropischer Fangheuschrecken Afrikas (z. B. bei Cilnia) im Vergleich zu ihren nicht tropischen Verwandten bedeu- tend verbreitert und abgeplattet und dasselbe gilt auch für die indische Gattung Zlestias, die im allgemeinen ganz und gar nicht blattförmig ist und bei welcher die Vorderfemora ganz enorm er- weitert erscheinen. Kleine blattförmige Erweiterungen der Beine finden sich auch schon bei einer Gattung astförmiger Mantiden (Danuria), an den Mittelbeinen und zwar meist nur an den Schenkeln, bei den Kameruner Urwaldformen Macrodanuria und Phitrus auch an den Tibien, bei den zwei sudanesischen Arten von Danuria (impannosa und schweinfurthi) aber noch gar nicht, wohl aber schon bei der in Nord-Uganda vorkommenden D. bolawana. Auch die hornartigen spitzigen Fortsätze der Augen bei gewissen Mantiden gehören in diese Kategorie: sie sind bei der rein paläarktischen Oxythespis turcomaniae minimal entwickelt, dagegen sehr stark bei der tropischen O. senegalensis. Was die ast- oder grashalmförmigen Orthopteren anbelangt, so ist zu bemerken, dass schlanke, zylindrische Formen von vornherein am liebsten auf Grashalmen oder ästigen Sträuchern leben, weil ihnen diese allein die Möglichkeit geben, sich vor ihren Feinden 6) Seither sind in Westafrika Übergangsformen beider Gattungen gefunden worden, so dass Griffini beide zusammengezogen hat! Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. 599 zu verstecken, was sie einfach dadurch ausführen, dass sie sich auf die vom Feinde abgewendete Seite des Halms oder Astes begeben, was mit einer ganz geringen, unauffälligen Bewegung möglich ist und von allen sudanesischen Grasheuschrecken bei Beobachtung ausgeführt wird; es entspricht diese Gepflogenheit vollkommen der- jenigen der Baumläufer (Säugetiere, Vögel, Eidechsen, Mantiden), welche, spiralig an der Rinde immer höher hinauflaufend, immer auf der vom Beschauer abgewendeten Seite des Baumes ruhig ver- weilen; eine breite Orthopterenform kann sich natürlich hinter einem Grasstengel oder -dünnen Ästehen nicht der Beobachtung: entziehen, ja noch mehr, sie lässt beim Klettern ein starkes Schwanken und eine große Unsicherheit erkennen, so dass z. B. schon mäßig verbreiterte Mantiden nur mehr im Grase laufen, aber sich nur selten an Grasstengeln aufhalten. Ebenso unbehaglich fühlen sich auch extrem stabförmige Formen auf Blättern. In dieser Beziehung verhalten sich im wesentlichen Laubheuschrecken (auch die boden- bewohnenden Decticiden) nicht selten als wirkliche Blatt-, Feld- heuschrecken als reine Bodenbewohner. An einem Orte, wo Platycleis grinea und Oedipoda coerulescens zahlreich zusammenlekten und der Boden mit Buschwerk und dürrem Grase bedeckt war, sah ich zwar überaus häufig die Decticide auf das Gebüsch fliegen, dagegen wich Oedipoda (und die mit ihr zusammenlebende Art Sphingonotas coern- lans) dem Buschwerk sorgfältig aus und flog lieber weiter, um sich wieder auf dem Boden niederlassen zu können. Ich glaube, dass die Wissenschaft bei dem Versuch, die Mı- mikryerscheinungen auf direkte Einwirkung der Umgebung zurück- zuführen, nicht zu kurz kommt und dass wir in allen etwas genauer bekannten Fällen finden werden, dass die erreichte mehr oder weniger weitgehende Ähnlichkeit der Nachahmer mit ihren Modellen nicht auf die Wirkung der Selektion in der Weise, dass sie diesen Mo- dellen immer ähnlicher werden, beruht, sondern darauf, dass die- selben Einflüsse immer weiter wirksam sind. Sind beide Teile, Modell und Nachahmer, Tiere, so wirken vermutlich die gleichen Einflüsse in zum mindesten ähnlicher Weise, um so mehr, je näher verwandt sie einander sind. Ich bin aber überzeugt, dass, wenn man das Modelltier, nicht aber die Nachahmer, diesen Einflüssen entziehen würde, diese in derselben Richtung sich weiter entwickeln würden und der Fall eintreten könnte, dass sie ın der Ausbildung der betreffenden Eigentümlichkeiten ihre Originale noch übertreffen würden. Ich habe in meinem ersten Artikel die anscheinende Mimikry der Körperhaltung .besprochen, die bei Schlangen sehr auffallend erscheint, aber eben auch keine ist. Ich rechne hierher auch den von Vosseler beschriebenen Fall von einer Gottesanbeterin (Em- pusa egena), die mit ausgebreiteten Flügeln auf einem Steine saß 600 Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. und ganz einer vom Winde geschaukelten Windenblüte ähnlich sah. Die schaukelnden Bewegungen verrieten aber das Tier, weil damals gerade Windstille herrschte. Also: Übertreibung der Mimikry ist ungesund. Ich habe diesen Fall so lange für einen sehr schönen Mimikryfall gehalten, bis ich darauf kam, dass die schaukelnden Bewegungen schon bei der Empusa-Larve vorkommen, die noch nicht den leisesten Anspruch darauf machen kann, einer Winden- blüte ähnlich zu sein und dass auch bei den Phasmiden und zwar bei den flügellosen Dixippus morosus diese Bewegung eine ganz gewöhnliche ist. Mit anderen Worten: Die erwachsene Empusa tut nichts anderes als was sie als Larve schon getan hat, es fällt ihr nicht nur nicht ein, einer Windenblüte ähnlich sein zu wollen, sondern auch nicht, wegen dieser Ähnlichkeit auf diese ihre eigen- tümliche Bewegungsart (wie wir sie ähnlich auch bei gefangenen Elephanten beobachten und in ihrer Bedeutung absolut nicht klar- legen können) zu verzichten. Dies wäre das wichtigste, was ich vorbringen möchte. Ich glaube, dass der Grundsatz, die Wirkung der Selektion bei der Entstehung der schützenden Ähnlichkeit völlig auszuschalten und erst zu einer Zeit, wenn durch rein physiologische Ursachen bereits sozusagen ein Substrat dafür geschaffen ist, eintreten zu lassen, uns über alle Schwierigkeiten hinweghilft, die aus der immer wiederkehrenden Frage, ob denn die ersten überaus geringen Ähn- lichkeiten schon nützlich gewesen sein können, entstehen. Wenn wir annehmen — und ich glaube, dass wır Grund genug zu dieser Annahme haben — dass die Farbenanpassung direkt unter ordnendem Einflusse der Augen und des nervösen Zentral- apparates zustande kommen kann und gekommen ist, so wird für die einfache Farbenanpassung allein überhaupt kaum ein weiteres Erklärungsprinzip nötig sein. Für die Mimikry dagegen liegt die Sache etwas anders. Bei Nachahmung von Tieren durch andere Tiere, so weit sie wirklich schützend ist, werden wir in den meisten Fällen eine Einwirkung der Außenwelt, sei sie in den klimatischen oder Ernährungsverhältnissen begründet, nicht von der Hand weisen dürfen; und ferner dürfen wir in vielen Fällen, ob wir die mir völlig unglaubwürdige Schlangenmimikry oder die entschieden viel besser begründete Schmetterlingsmimikry ins Auge fassen, nicht auf den Umstand vergessen, dass beide Formen, Modell und Nach- ahmer, derselben Gruppe angehören, daher die Zeichnungsverhält- nisse sehr leicht auch infolge einer — wenn auch weitschichtigen — Verwandtschaft wenigstens in ihren Grundzügen ähnlich auftreten und durch gleichartige Einwirkung der Außenwelt auch in der Färbung gleich hervortreten können. Wenn wir sehen, dass Schlangen- arten, die im System gewiss ebensoweit auseinanderstehen, wie Heliconiden und Pieriden, Danaiden und Nymphaliden, dabei aber cy Werner, Nochmals Mimikry und Schutzfärbung. 601 nicht einmal im entferntesten Mimikryverdacht stehen können, in ihrer Färbung und Zeichnung bis ins Detail übereinstimmen, wenn wir ferner einsehen können, dass in verschiedenen Familien der Lepidopteren ohne weiteres derselbe primitive Zeichnungstypus (wenn auch vielleicht in manchen Fällen wieder sekundär) auftreten kann (glashelle Flügel mit dunkel beschuppten Abdomen), so dürfte die Entstehung komplizierter Formen gleichzeitig in verschiedenen Familien ohne Zuhilfenahme der Selektion doch auch keinen außer- ordentlichen Denkschwierigkeiten begegnen, um so mehr, wenn wir bedenken, dass eine völlige Ubereinstimmung ja gerade bei den komplizierten Farbenzusammenstellungen niemals besteht. Hier mag ja allerdings die Selektion die letzte Hand ans Werk gelegt und die Vertilgung der dem nunmehr wirklich Modell gewordenen „Giftfalter“ weniger ähnlichen Kopien durch schmetterlingfressende Vögel veranlasst haben. Nebenbei bemerkt, ist die Meinung mancher Autoren, wie z. B. auch Sharp, dass die Schmetterlinge relativ wenig von Vögeln behelligt werden, sicherlich irrig. Ich habe nicht nur in der Heimat, sondern auch — und dies ganz auffallend — im Sudan oft schmetterlingfressende Vögel beobachtet und in der Umgebung meines seinerzeitigen Aufenthaltes Khor Attar am Weißen Nil waren die Weißlinge der Gattung Teracolus beständig von Vögeln bedroht, denen sie nur durch Verstecken in dem dichten Dorngestrüppe entgehen konnten; über danaidenfressende Vögel habe ich bereits vorhin berichtet. Die einzige schwierige Frage scheint mir noch immer die Form- mimikry und zwar die Nachahmung der Form eines Tieres durch ein anderes (bei Ausschluss der Annahme von Einwirkung gleicher Lebensweise). In dieses Gebiet fallen die Ameisen- und Termiten- gäste vom Mimikrytypus, sowie vereinzelte Fälle auffallender Ameisen- ähnlichkeit (Myrmecophana fallax — auch einheimische Rhynchoten- larven aus der Gruppe der Reduviiden lassen sich diesem Beispiel an die Seite stellen). Hier müssen wir der Selektion wohl einen von vornherein weiteren Spielraum zugestehen. Wie ich mir Blatt- und Astformen entstanden denke, habe ich schon früher darzustellen versucht. Hier darf nicht außer acht gelassen werden, dass der Laubheuschrecken- oder Mantidenvorderflügel schon von vornherein durch ein Geäder, welches ganz ohne Beziehung zur Blattform sich ausgebildet hat, eine Blattähnlichkeit besitzt, die durch die zwei normalen Pigmentierungsformen (grün und braun) noch ge- steigert wird und dass bei Verbreiterung der Flügeldecken die ursprünglich dem Flügelrande ziemlich parallel verlaufenden Längs- adern mehr und mehr in einem Winkel zur Hauptader sich stellen, wodurch die Blattähnlichkeit noch vermehrt wird. Schon unsere europäischen geflügelten Locustiden und Phaneroptiden haben recht blattähnliche Elytren. » 602 Thilo, Die Augen der Schollen. Die Augen der Schollen. Von Dr. med. Otto Thilo in Riga. Die eigentümliche Augenstellung der Schollen war bis vor kurzem ein ungelöstes Rätsel. Vergeblich bemühten sich so her- vorragende Forscher, wie Johannes Müller, Steenstrupu.a. zu ergründen, wie sie entsteht und welchen Nutzen sie den Fischen schafft. Die Beantwortung dieser Fragen war für sie deshalb unmög- lich, weil ihnen alle Vorbedingungen hierzu fehlten. Die Ent- wickelungsgeschichte der Schollen war noch wenig erforscht und auch die Lebensverhältnisse der jungen Schollen waren noch zu wenig bekannt. Erst in den letzten Jahrzehnten wurden folgende Tatsachen festgestellt: 1. Schollen entstehen aus Eiern, die an der Oberfläche des offenen Meeres schwimmen. 2. Die ausgeschlüpften Jungen sind genau so ebenmäßig gebaut wie andere Fische. Sie tragen zu jeder Seite des Kopfes ein Auge nnd schwimmen genau so aufrecht wie alle übrigen Fische. In dieser Gestalt führen sie den Namen „pelagische Formen“ oder „Oberflächenformen“. 3. Wenn die Schollen eine Länge von etwa 1 cm erreicht haben, wird ıhr Körper breiter und flacher. Sie fangen dann an auf der Seite zu schwimmen. Gleichzeitig suchen sie auch den Boden auf. Aus den „Oberflächenformen“ wurden dann die ,Bodenformen*. Bei Schollen von 1,5 cm Länge sitzt gewöhn- lich das eine Auge auf der Stirn, bei Schollen von 2 cm Lange findet man meistens beide Augen schon auf einer Seite. Das Wandern des einen Auges dauert nach Stephen Williams nicht linger als 3 Tage. Auf Grund dieser Tatsachen wurde das „Wandern der Augen“ von Pfeffer 1886 so gründlich erforscht, dass spätere Forscher nur noch seine Angaben bestätigen konnten, so z. B. neuerdings Stephen Williams (1902), der auch das Gehirn und die Hirn- nerven der Schollen genauer beschrieb und abbildete. Trotzdem blieben zwei wichtige physiologische Fragen — so- weit mir bekannt — unbeantwortet. 1. Warum schwimmen die Schollen auf der Seite? 2. Welche Kräfte bewirken das Wandern des einen Auges? Die Beantwortung dieser beiden Fragen bildete die Aufgabe meiner Arbeit „Die Vorfahren der Schollen“. Diese Arbeit ist jedoch in Deutschland nur wenig bekannt, da sie im Bulletin de l’Academie des sciences de St. Petersbourg erschien; denn diese Zeitschrift ist im Deutschland wenig verbreitet. Ich habe daher über die Beantwortung der ersten Frage im Biol. Centralblatt be- richtet (15. Nov. 1902). Ich wies darauf hin, dass die Schollen Thilo, Die Augen der Schollen. 603 erst dann anfangen, auf die Seite zu schwimmen, wenn ihr Körper anfängt, so breit und flach zu werden, wie der Körper eines Rochen. Am Grunde liegen können sie mit diesem Körper auch nur auf der Seite. Sie fallen eben um, wie ein Veloziped, das nicht gestützt wird. Das eine Auge wandert dann auch auf die obere Seite des Kopfes hinüber, um so dem lästigen Sande zu entgehen. Auf die Kräfte, welche diese Augenwanderung bewirken, konnte ich in der erwähnten Besprechung nicht weiter eingehen, da ich andere physiologische und biologische Fragen zu besprechen hatte. Ich will es daher versuchen, hier das Versäumte nachzuholen. Ich halte dieses besonders deshalb für notwendig, weil es mir gelungen ist, durch ein sehr wertvolles Material meine früheren Forschungen wesentlich zu vervollständigen. Ich glaube alle meine Ergebnisse am besten zusammenzufassen, indem ich auf die Frage antworte: Welche Kräfte bewirken das Wandern des Auges? Fig. 2 zeigt den Schädel einer jungen Flunder vor der Augen- wanderung in 40facher Vergrößerung. Fig. 1. Fig. 2. Fig. 3. Flunderlarve vor der Schädel zu Fig. 1. Augenwanderung. Vergr. 40. Erwachs. Flunder mit symmetr. Augen (Mopskopfbild). Nat. Gr. Die Riickenflosse reicht noch nicht bis auf das Schädeldach, sondern nur bis zum Hinterhauptbein. An dieses schließen sich die beiden Seitenwandbeine. Zwischen den Augen sieht man die beiden Stirnbeine durch eine schmale Furche voneinander getrennt. Dieser Raum zwischen den Augen schrumpft aber bald zu einer schmalen Leiste zusammen; denn das wandernde Auge drückt hier eine tiefe Grube ein und wölbt so die ganze Zwischenwand vor (Fig. 6 u. 7). Ihr oberster Rand wird hierbei am meisten eingebogen; denn auf ihm liegt ja hauptsächlich das wandernde Auge. Hierdurch 604 Thilo, Die Augen der Schollen. wird die ganze Wand zugleich auch zum anderen Auge hin ver- dreht. Eine ähnliche Verdrehung erleidet auch der Knochen am Grunde der Augenhöhle (Parasphenoid Fig. 9). Sonst werden die übrigen Schädel- und Gesichtsknochen durch- aus nicht in so hohem Grade verbildet, wie das auf den ersten Blick erscheint. Schon Brühl und Pfeffer machen darauf auf- merksam. Trotzdem ist die Ansicht ganz allgemein verbreitet, dass die Schollen ein „schiefes Maul“ haben. In einer alten lettischen Sage z. B. heißt es, dass die Butten ein schiefes Maul haben, weil sie einmal Gott lästerten. Auch Fritz Reuter erzählt in „Läuschen und Rimels“, dass die Butte einmal aus Missgunst ein schiefes Maul zog. Es blieb ihr schief stehen, da plötzlich die Beetglocke stehen blieb. Ja sogar in manchen zoologischen Werken kann man lesen, dass die Schollen ein „schiefes Maul und einen verdrehten Schädel“ haben. Alle diese Angaben beruhen jedoch nur auf einer allgemeinen „optischen Täuschung“. Das schiefe Maul der Butten verschwindet sofort, wenn man sie sich nur etwas genauer ansieht. Man fragt dann erstaunt: Wodurch entsteht wohl diese ganz allgemeine Täuschung? Das erkennt man leicht, wenn man dem Schädel einer Scholle die Haut abzieht. Man sieht dann, dass die Fortsetzung der Rücken- flosse nicht in der Mittellinie des Schädeldaches verläuft. Dieses täuscht eine Ungleichheit beider Schädelhälften vor. Die Ver- drehung des ganzen Schädels wird aber wohl hauptsächlich vorge- täuscht durch die eigentümliche Krümmung der Zwischenwand beider Augen (Fig. 6 u. 7). Bei einer genaueren Zergliederung erkennt man jedoch bald, dass hauptsächlich nur diese Wand verbogen und verdreht ist, dass aber andere Teile des Schädels nur geringe Ungleichheiten zeigen. Die Verdrehung der Zwischenwand entstand, wie oben erwähnt, weil das wandernde Auge zunächst auf den oberen Rand der Wand erhoben wurde und von dorther sich eine neue Augenhöhle ein- drückte. Hinter dem wandernden Auge her rückt eine Hautfalte, die allmählich verknöchert und so eine kreisrunde neue Augenhöhle bildet (Fig. 4). Es liegen dann beide Augen auf einer Seite und ihre schmale Zwischenwand ist ein Nachbleibsel der beiden Stirn- beine (wel Mis. 2, 5. u 2). Alle diese Verhältnisse kann man ganz bequem bei 10—20facher Vergrößerung beobachten, das wird ein jeder zugeben, der junge Schollen untersucht hat. Pfeffer berichtete also eine ganz unum- stößliche Tatsache, als er die Angabe machte: Das wandernde Auge drückt die Zwischenwand der Augen ein und gelangt so auf die andere Seite des Kopfes. Thilo, Die Augen der Schollen. 605 Das Auge erleidet nach seinen Angaben hierbei folgende Lage- veränderungen: Zunächst wird es auf die Firste der Zwischenwand so hoch gehoben, dass seine obere Hälfte die Firste überragt. Bald aber wendet es auch seine Puppillen dem anderen Auge zu und liegt dann dicht neben ıhm, nur durch eine schmale Leiste von ihm getrennt. Bei diesen Lagenveränderungen liegt es bisweilen so offen da, dass man sogar die vorderen Augenmuskeln sehen kann. Allmählich jedoch wird es von Hautdecken umschlossen. Diese verknöchern und das Auge liegt dann in einer kreisrunden Knochenschale (Fig. 4). Alle diese Verhältnisse kann man unmittel- Fig. 4. Fig. 5. Obere Augenhöhle Untere Augenhöhle. Erwachsener Flunder. Schadelizu Fig. 1. Mopskopfartig gewölbt. Fig. 6. Fig. 7. Fig. 8. Flunder nach vollendeter Augenwanderung. Beginn der Augen- Augenmuskeln des Zeus. wanderung beim Stein- butt. Verg. 10. bar unter der Lupe beobachten, sie sind also eine unbestreitbare Tatsache. Es bleibt daher nur noch übrig, nachzuweisen, wodurch sie entstehen. Gewiss sehr mit Recht sagt hierüber Gegenbaur (1901), dass man wohl zunächst an Wirkungen der Augenmuskeln denken muss, jedoch soll man sich hierbei vor einer grob mechanischen Deutung hüten. Denn bei derartigen Vorgängen ist auch die Beschaffenheit des Gewebes, seine Veränderlichkeit und noch vieles andere von der größten Bedeutung. Dieser Anschauung Gegenbaur’s musste ich mich vollständig anschließen, als ich den ganzen Vorgang näher untersuchte. Ich glaube, der Leser wird auch aus meinen Darlegungen ersehen, dass ich die verschiedenartigsten Verhältnisse berücksichtigt habe. 606 Thilo, Die Augen der Schollen. Zunächst untersuchte ich die Augenmuskeln der verschieden- artigsten Fische. Hierauf stellte ich ein Modell her nach dem Augenmuskel des Fisches Zeus'), der ein naher Verwandter der. Schollen ist. Ich konnte jetzt den Vorgang ganz genau experi- mentell verfolgen. Das Modell?) besteht aus einer Holzkugel, an der vier Schnüre befestigt sind. Die vier Enden der Schnüre ziehe ich durch zwei Löcher einer Blechplatte und zwar sind die Löcher so angebracht, dass die durchgezogenen Schnüre genau so verlaufen, wie die Augen- muskel des Zeus (Fig. 8). Wenn ich nun an den beiden unteren Schnüren ziehe, so wird die Holzkugel auf die Firste der Blech- platte erhoben, genau so wie das Auge der Schollen bei der Augen- wanderung. Ziehe ich jetzt an den beiden oberen Schnüren, so wird die Pupille nach oben gedreht und das künstliche Auge auf die andere Seite des Kopfes befördert. Hierbei wird auch die Firste der Blechplatte eingedrückt, genau so wie die Firste der Augenscheidewand (S. 605). Dieses Eindrücken ist zum Gelingen des Experimentes durchaus erforder- lich und daher war ich genötigt, hier eine bewegliche Klappe anzubringen. Machte ich die Klappe leicht beweglich, so gelang das Experiment spielend. Hingegen musste ich sehr stark ziehen, wenn die Hängen der Platte schwer beweglich waren. Auch dieses entspricht den natürlichen Verhältnissen; denn die Augenwanderung kommt bei den jungen Schollen nur deshalb zu- stande, weil bei ihnen die Zwischenwand noch weich und bedeutend schmäler ist als bei anderen Fischarten. Fig. 1 zeigt z. B. einen Flunder, bei welehem die Augenwanderung nicht zustande kam, weil die Wand zwischen ihren Augen beinahe doppelt so breit ist wie an gewöhnlichen Flundern vor der Augenwanderung (vgl. Fig. 2 und 3). Außerdem wird noch die Wand durch zwei starke seitliche Leisten versteift. Derartige Hindernisse können allerdings die Augenmuskeln nicht überwinden. Solche symmetrische Schollen sind allerdings ganz besonders selten. Die hier abgebildete verdanke ich Herrn Professor Max Braun in Königsberg. Er hatte sogar die große Güte, eine Zer- gliederung dieses Unikums zu gestatten. Sie stammt aus Altpillau bei Königsberg. Sie hat eine Länge von 8 cm, Breite von 4 cm, wenn man die Länge der Schwanzflosse und die Breite der After- und Riickenflosse abrechnet. Wir haben also gesehen, die Augenmuskeln bilden die „Zug- kräfte“, welche das Auge erheben und auf die andere Seite des 1) Vgl. Boulenger. Zeorhombi. Account of Teleostei, p. 541. Thilo. Zoolog. Anz. 1907, 2. April. Das Schwinden der Schwimmblasen bei den Schollen. 2) Derartige Modelle befinden sich in den Museen von Frankfurt a./M., Berlin, Hamburg, Wien u. a. Thilo, Die Augen der Schollen. 607 Kopfes befördern. Hierbei erzeugen sie einen Druck, der eine neue Augenhöhle in das noch weiche Gewebe eindrückt. Aber das nachgiebige Gewebe verknöchert bald und bildet dann „Stützkräfte“, die das Auge in seiner Stellung erhalten. Besonders wirksam ist hierbei eine Hautfalte, die hinter dem wan- dernden Auge herrückt und so gleichsam die Tätigkeit der Augen- muskeln unterstützt. Der Leser ersieht wohl aus diesen Darlegungen, dass ıch bei meinem Experimente die Wirkungen der Augenmuskeln genau wiedergebe, zugleich berücksichtige ich aber auch die Einwirkung des wachsenden und verknöchernden Gewebes. Die Augenmuskeln erleiden selbstverständlich bei der Augenwanderung bedeutende Veränderungen. Ich habe diese Veränderungen sehr genau be- schrieben in meiner Arbeit „Die Vorfahren der Schollen“. Viele meiner dortigen Ausführungen werden jedoch wohl bloß dem Fig: 9. Fig. 10. Symmetrischer Flunder Fig. 1. Augenmuskeln einer asymmetrischen Augenmuskeln. Flunder. musc. nect. ext. erhalten. musc. nect. ext. geschrumpft. Augenarzte verständlich sein. Ich will daher hier nur einige be- sonders auffallende Veränderungen der Augenmuskeln besprechen, die auch zugleich allgemeiner verständlich sind. Wohl einem jeden Augenarzte, der Schieloperationen ausgeführt hat, wird in Fig. 10 auffallen, dass am Schollenauge ein Muskel sehr bedeutend ge- schrumpft ist, ebenso bedeutend wie bei manchen schielenden Menschen. Hingegen ist derselbe Muskel bei der symmetrischen Scholle (Fig. 1) an beiden Augen nur wenig schwächer als die übrigen Muskeln (Fig. 9). Auch die beiden unteren Muskeln sitzen in der Nähe der Hornhaut (Fig. 9), sie sind nicht so tief zum Seh- nerven herabgerutscht wie in Fig. 10. Hieraus ersieht man, die eigentümliche Lagerung der Augen- muskeln bei den Schollen ist wohl zum größten Teil nicht ver- erbt, sondern erst durch Anpassung hervorgerufen. Dieses konnte ich auch feststellen, als ich an sehr jungen Schollen die Augen- muskeln untersuchte. Zu derartigen Untersuchungen eignen sich übrigens die Flundern mehr als die Steinbutten. Nach Dunker zeigen einige Flunder eine Annäherung zur symmetrischen Form, 608 Thilo, Die Augen der Schollen. indem „die Körperhöhe bei ihnen niedriger und der Unterschied zwischen gewissen paarigen Organen geringer ist“. Auch sind 25°], der Flunder linksäugig und 75°/, rechtsäugig. Die Steinbutten hin- gegen sind in der Regel linksäugig. Eine große Seltenheit ist ein rechtsäugiger Steinbutt, aus Riga, welchen ich dem Biologischen Institut in Helgoland übergab. Hiernach könnte es fast scheinen, dass bei den Flundern nicht von vornherein die Neigung besteht, ein bestimmtes Auge auf eine ganz bestimmte Seite hinüber zu befördern. Sie liegen also wohl nicht von vornherein so ununterbrochen stets auf einer und der- selben Seite, wie z. B. die Steinbutten. Jedenfalls war das bei der symmetrischen Flunder Fig. 1 der Fall; denn bei ihr sind beide Seiten gleichmäßig dunkel gefärbt. Ganz selbstverständlich erklärt das nicht ihre symmetrische Augenstellung. Schon oben wies ich darauf hin, wodurch bei ihr die Augenwanderung ausblieb. Sie wurde verhindert durch die Breite und Festigkeit der Augenscheidewand. Wodurch entstand nun diese Eigentümlichkeit ihres Schädels? Hierüber wage ich keine Vermutungen aufzustellen. Ich will hier nur anführen, dass ihr Schädel an Bildungen erinnert, die man häufiger bei anderen Fischarten findet. Ich meine die sogen. „Mopsköpfe“. Diese zeigen eine mehr oder weniger starke Wölbung des Schädeldaches und auch mehr oder weniger verkümmerte Gesichtsknochen. Hier reicht wohl die Tatsache aus, dass die breite und feste Zwischenwand der Augen, die Augenmuskeln verhinderte, ein Auge auf die andere Seite des Kopfes zu befördern. Ich hoffe, diese Tatsache und mein Experiment (S. 606) zeigen deutlich, wie überhaupt die ganze Augenwanderung zustande kommt. 1. Die Augenmuskeln bilden Zugkrifte, die das Auge auf den oberen Rand der Zwischenwand beider Augen erheben. Hierdurch erzeugen sie einen Druck, welcher die Wand verbiegt und so das Auge auf die andere Seite des Kopfes befördert. 2. Hinter dem wandernden Auge her rückt eine Hautfalte, welche allmählich verknöchert und so den Rückgang des Auges verhütet. Zum Schluss sage ich allen meinen herzlichsten Dank, die mich bei dieser Arbeit unterstützten. Die Professoren Pfeffer-Ham- burg, Ehrenbaum-Helgoland zeigten mir ihre hochinteressanten Präparate und versorgten mich mit wertvollem Material. Professor Max Braun-Königsberg stellte mir die symmetrischen Flunder zur Verfügung. Die mopsköpfigen Karpfen lieferten mir Herr E. Leon- hard-Dresden, Herr Janschewski-Appricken (Kurland). Verlag von Georg Thieme in ‘Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Uniy.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Die Medea des Euripides im Lichte biologischer Forschung von Prof. Dr. A. Rauber, Dorpat. Mit 12 Abbildungen. M. 2.—. Die Don Juan-Sage im Lichte biologischer Forschung von Prof. Dr. A. Rauber. Dorpat. Mit 10 Abbildungen. M. 2.—. Der Überschuss an ee und seine biologische Bedeutung von Prof. Dr. A. Rauber, Dorpat. M. 5.—. Weibliche Auswanderung und ihr Verhältnis zu einer biologisch begründeten Bevölkerungspolitik. Beitrag zu einer naturgemässen Lösung der Frauenfrage von Prof. Dr. A. Rauber, Dorpat. ar 2: mo Abbilduneen —— M. 5.—. Das Geilügelgeäder der Käfer. Zugleich ein fragmentärer Versuch zur Auffassung der Käfer im Sinne der Deszendenztheorie. K. B. Hof- und Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. Bi osisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie ; in Miinchen, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal * Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. XX VIII. Bd. 1.Oktober 1908. A 19. Ft Leipzig. Verlag von Georg Thieme. Rabensteinplatz 2. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Handbuch der Bioehemie des Menschen und der Tiere. Unter Mitwirkung hervorragender Fachgelehrten herausgegeben von Professor Dr. phil. et med. Carl Oppenheimer in Berlin. Liefg. 1—5. Das Handbuch der Biochemie erscheint in etwa 20 Lieferungen zum Preise von je 5 Mark. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Der Pythagoraische Lehr satz und seine Bedeutung für die Körperwelt von Professor Dr. A. Rauber, Dorpat. — — -__.,M1t'9.Dextabbildungen: — M. 1.20. Biologisches Centralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. Bd. XXVIII. 1. Oktober 1908. Ae 19, Inhalt: Child, Driesch’s harmonie equipotential systems in form-regulation (Schluss). — Salensky, Radiata und Bilateria. — Mordwilko, Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse, Aphididae Passerini.— Hegi und Dunzinger, Illustrierte Flora von Mitteleuropa. — Tigerstedt, Handbuch der physiologischen Methodik. — Pappenheim, Folia haematologica und Folia serologica, Driesch’s harmonic equipotential systems in form-regulation. C. M. Child. (Schluss.) B. Proportionality in Relation to Position. As regards the proportionality of primordia from different regions and poles, I showed (Child, 1807b) that in primordia form different regions and poles of the stem typical differences in pro- portionality exist. These differences consist in differences in the relative lengths of different parts of the primordia and may reach almost 50°/, (cf. Child, 1907b, p. 427, Table XIH and adjoining text). To take a concrete example: The distal tentacle-area (area II) is about 48°/, longer in aboral primordia from the extreme proximal regions of long stems, than it is in oral primordia from the extreme distal region of the same stems. In the same cases the proximal tentacle area (area IV) is 31°/, longer in the aboral proximal than in the oral distal primordia. Other examples may be found in the table referred to. Such differences are not merely chance or irregular differences, but are characteristic, and typical in direction, and their amount depends chiefly on the distance in the original stem between the regions where the primordia compared are formed and on the polar position of the primordia. Moreover, these differences cannot be XXVIII. 39 610 Child, Driesch’s harmonie equipotential systems in form-regulation. due to the fact that primordia of different sizes arıse in a perisarc- tube of approximately the same diameter, for the changes in the distal tentacle-area (area II) are nearly double those in the proximal tentacle-area (area IV), as is shown in my table (Child, 1907b, p. 427, Table XIII). Driesch states (1908, p. 413) that I find that „die Proportionalität in den positiven Anlageteilen des neuen Hydranten sehr strikte bewahrt ist und dass nur die Zwischen- stücke in ihrer Länge gegen sie verstoßen.“ I thake the „positiven Anlageteile“ to be the tentacle-areas (incidentally why should they be called „positive“?). But I have shown that the changes in the distal tentacle-area are in most cases nearly twice as great as those in the proximal tentacle-area. Can we speak of approximate proportionality when such diffe- rences appear as those which I have shown to exist? I believe we must conclude that the proportions of the parts of the hydranth-primordium are typically different according to the position of the primordia in the stem, 1. e., their distance from the oral end, and also accor- ding to their polar position. In short the localization of the parts of the primordium is not exen approximately constant in relation to the length of the primordium. Tubularia then does not agree with the characteristics of Driesch’s harmonic equipotential systems which have been quoted above. And finally, in the last of my papers on Tubularia, I showed that it is possible to control experimentally to some extent the proportions of the hydranth-primordium in Tubularia, or in other words to determine the formation of primordia of typical different proportions by different experimental conditions (Child, 1907 g, pp. 317—322). These experiments are briefly as follows: the four areas of primordia developing from the oral end of the stems after removal of fully developed hydranths were measured and compared with those of primordia developing from the oral ends of stems after the removal of primordia. Primordia developing after the removal of primordia are somewhat shorter than those developing after the removal of fully developed bydranths (Child, 1907 g, p. 318, Table I), but comparison of their proportions shows most clearly that the distal portions, especially area I (Child, 1907, p. 319, Table II), are relatively considerably longer, and the proxi- mal regions, especially area IV, are relatively considerably shorter in primordia following primordia than in those following fully deve- loped hydranths. Evidently the development of a hydranth induces changes in the stem proximal to ıt. When we remove developing primordia, as in my experiments, these changes have affected the distal part of the region where the new primordium will form, more than the proximal, but by the time the hydranth has attained full development the changes in the stem proximal to it extend at Child, Driesch’s harmonic equipotential systems in form-regulation. 611 least over an area equal to the whole length of the new primordium. Consequently a primordium following a primordium has dispro- portionately long distal parts as compared with a primordıum following a hydranth, The differences in this case are e certainly not due to the deve- lopment of primordia of different sizes in the perisarc-tube of approximately the same size, neither are they due to stretching of the stem proximal to the primordia removed, for at the time of their removal the stretching had not begun. In these cases it is very clear that conditions or processes in one part of the stem play a part in determining the character of morphogenesis in another part. The proportions of the primordium differ according to the conditions to which the stem has been sub- jected before its isolation. In this case, then, external factors in Driesch sense (See p. 579) are not and cannot be excluded, and if they play a part in this case, there is every reason to suppose they do in others. In short, these experiments show positively that the proportions of the primordia in Tubularia are determined in some degree by conditions external to them, and, what is also important, conditions which cannot be excluded in any experiment. As to the use of mathematics in cases like that Tubularia, I agree perfectly with Driesch (Driesch, 1908, p. 412). My measure- ments of Tubularia were made for exactly the same purpose as his own. I was of course well aware that Driesch did not regard proportionality in Tubularia as mathematically exact: anyone who examines a few primordia cannot fail to be convinced on this point. On the other hand, Driesch did not measure all of the different areas of the primordia separately, and he confined his measurements to primordia from certain regions of the stem. Consequently his measurements fail to show bat mine show very clearly, viz., a typical and practically constant difference in proportion between primordia from different regions and poles. His data are simply insufficient to extablish his conclusion that proportionality is approxi- mately maintained in Tubularia, and more complete series of measurements would have made such a conclusion impossible, unless Driesch’s idea of what constitutes approximate proportionality is very different from my own. But in any case Tubularia does not agree with the definitions of harmonic equipotential systems, which have been quoted above. We do not find that „es steht hier näm- lich ,jeder“ der möglichen Effekte zu jedem anderen in einem ganz festen relativen Lageverhältnis“ (Driesch, 1899a, p. 73). IV. Later definitions of harmonie equipotential systems. Driesch’s later definitions of harmonic equipotential systems seem to differ rather widely from those which have already been 39* 612 Child, Driesch’s harmonic equipotential systems in form-regulation. quoted. For example, in one of his reviews of developmental physiology he says: „Bekanntlich nenne ich harmonisch-äuquipoten- tielle Systeme solche Formganze, bei denen eine Differenzierungs- oder Wachstumsgesamtleistung in ihren Einzelheiten jeweils ein- zelnen Elementen des Ausgangsganzen zufällt, derart, dass jedes Einzelne dieses Ganzen jedes Einzelne jener Leistung vermag, alles Einzelne aber derart in Harmonie steht, dass die Leistung selbst ein Ganzes ist“ (Driesch, 1905b, p. 679). And again in his discussion of my work: „Ein harmonisch- äquipotentielles System liegt vor, wenn von dem Fragment eines originalen Ganzausgangs das morphogenetische Resultat als Ganzes geliefert wird, derart, dass die zu diesem Resultate führenden Einzelleistungen auf die Einzelelemente (Zellen) des Fragments, so wie es da ist, verteilt werden. Das Resultat ist „ganz“, wenn ihm kein wesentlicher Teil seiner Zusammensetzung fehlt und die Anordnung der Organisationskonstituenten im großen und ganzen die normale ist“ (Driesch, 1908, p. 414). These definitions contain nothing concerning proportionality. Moreover, on another page of this latest paper the following refe- rence to the matter of proportionality appears in connection with the discussion of my measurements of Tubularia: „Nur ganz unbe- stimmt und allgemein hat unter solchen Umständen das Wort „proportional“ einen Sinn: es soll nur ausdrücken, dass z. B. bei allgemeiner Verkleinerung jeder einzelner Teil kleiner wird, und nicht etwa der eine größer wird und der andere unverändert bjeibt“ (Driesch, 1908, p. 412). I find it quite impossible to reconcile this statement concerning proportionality with those which have been quoted from Driesch’s earlier papers. Moreover, according to the definitions of harmonic equipotential systems just quoted not even approximate proportiona- lity is necessary provided the result is a „whole“. These seem to me to be very different definitions from those quoted in section II of this paper in which he says: „es steht hier nämlich jeder der möglichen Effekte zu jedem anderen in einem ganz festen relativen Lageverhältnis — eben seine Zahl und sein Lageverhältnis zu jedem anderen Effekt ist hier ein ganz wesentliches spezifisches Merkmal.“ And again: „dass Alles was — in jedem einzelnen Falle ent- steht, zueinander in ganz bestimmte Beziehungen gesetzt ist.“ So far aslam aware Driesch has nowhere called attention to this difference in his different statements. Are we then to regard „ein ganz festes relatives Lageverhältnis“ of the various parts to each other as „ein ganz wesentliches spezifisches Merkmal“ of a harmonic equipotential system, or are those cases in which, in addition to the other characteristics, „die Anordnung der Organi- sationskonstituenten im großen und ganzen die normale ist“ har- Child, Driesch’s harmonic equipotential systems in form-regulation. 613 monic equipotential systems? If the earlier definitions are correct Tubularia is certainly not a harmonic equipotential system; if these new definitions are correct then all that Driesch has said con- cerning the importance of proportionality in these systems is value- less. For example, the formula x = gA, which Driesch regards as the expression „für das eigentlich Lebensautonome* in locali- zation with decrease of size in Tubularia (Driesch, 1901, pp.174—180; also p. 583 above) can be obtained only by assuming mathemati- cally exact proportionality in Tubularia. If Driesch believes that „nur ganz unbestimmt und allgemein hat unter solchen Umständen das Wort „proportional“ einen Sinn“ what possible significance can a formula derived from the assumption of mathematically exact proportionality posses for Tubularia? If the formula has no signi- ficance then it is impossible to determine that the „Entelechie- konstante A“ exists in the case of Tubularia: or in other words, it is impossible to discover „das eigentlich Lebensautonome* in the phenomena of regulation with decrease of size in this species. Actually then, the differences in Driesch’s different definitions of the harmonic equipotential system leave us in a dilemma as to what such a system actually is. Furthermore, if typical regional, polar and dimensional differences in localization occur, as they do in Tubularia, they must be the result of some physiological factor or factors existing at the different regions or poles, i. e., of an „extensive Mann sfalhekeit! or a „machine“ in Driesch’s sense and cannot be due to the „intensive Mannigfaltigkeit“ or „ente- lechie“. If, notwithstanding these differences, Tubularia is still a harmonic equipotential system, then it is impossible to obtain evi- dence from it or from any other such system in which such regional or polar or dimensional differences appear, for the hypothesis of „Lebensautonomie*. In short, if exact proportionality is an essential characteristic of a harmonic equipotential system, Tubularia is not such a system, and if proportionality is not essential then the entelechy-constant cannot be derived from the phenomena of regulation in such systems, since the derivation of this constant assumes exact proportionality. V. Fact and regards hypothesis in certain special cases. As regards another so-called harmonic equipotential system, viz. the sea-urchin egg”) Driesch himself (Driesch, 1900, 1902b) 2) I am glad to acknowledge an error of statement contained in the words; „others have shown that the eggs of the sea-urchin and the ascidian are not har- monic equipotential systems as Driesch supposed them to be“ (Child, 1907e, p. 145). This statement is of course entirely incorrect so far as it concerns the sea-urchin egg, as Driesch has pointed out (Driesch, 1998, p. 409). As regards the ascidian egg it is not incorrect, though I should have mentioned the fact that 614 Child, Driesch’s harmonic equipotential systems in form-regulation. discovered an apparent inequipotentiality in ‘the polar direction, „eine gewisse Differenz des Eiplasmabaues in „animal-vegetativer“ Richtung —, welche zwar nicht ausreicht, dem Keim den Charakter eines harmonisch-äquipotentiellen Systems zu nehmen, aber doch der Sonderentwickelung einzelner Elemente desselben Widerstände verschiedener Intensität entgegensetzt* (Driesch, 1900, p. 407). He suggests by way of interpretation that „ein allmähliches Starrer- werden des Plasmas“ takes place. In later papers he has referred to this case as showing an „Einschränkung“, „Verundeutlichung“, „Maskierung“ of the harmonic equipotentiality. The question at once arises as to the differences in actual experiment between an inequipotential system and an equipotential system with ,masked“ equipotentiality. How is the one to be distinguished from the other? So far as I am aware Driesch has not given us a basis for such distinction. It seems to me important to distinguish between fact and assumption in this case. The fact is that the sea-urchin egg is not equipotential in certain respects. Driesch assumes that the equi- potentiality is ,masked“ or made indistinct by certain physical characteristics of the cytoplasm. What reasons are there for such an assumption? The only one which I am able to find is that Driesch must interpret visible inequipotentiality in this manner, 1.e., as a ,masking“ of the real equipotentiality, or else must admit that the sea-urchin egg is not an equipotential system in the ,animal- vegetative direction. In other words this interpretation is merely an attempt to save the general hypothesis as applied to this parti- cular case; the sea- Trieti egg is assumed to be equipotential, and visible mmegtipotentiahtics ia then be assumed to be something non-essential. If Driesch admits that my observations on Tubularia show anything that cannot be regarded as approximate proportionality, he may readily interpret them as a „masking“ of the equipotentia- lity, if proportionality has any connection with it. If, however, as Driesch seems at present to believe, proportionality is involved in only the most vague indefinite sense, then I see no possibility of distinguishing between equipotentiality and inequipotentiality. Driesch’s conception of the „normal“ or typical form as a „Zweck“ toward which the course of morphogenesis is directed involves a sharp distinction between „normal“ and ,abnormal“ or „atypical“. The entelechy determines the normal form and individual departures from the norm or failures to attain it are due to incidental physical or chemical conditions, or are ,errors“ etc. It is not difficult to the results of Conklin and Driesch concern different genera. The error on my part was due, however, to inadvertence, not to ignorance of the literature as Driesch so kindly suggests. Child, Driesch’s harmonic equipotential systems in form-regulation. 615 see that facts may become of relatively slight importance in the hight of such conceptions, for facts can neither prove nor disprove their correctness. But it is also easy to see that these conceptions do not afford a basis for „proof“ of the „Autonomie der Lebens- vorginge“, for while the facts can be interpreted in this way, such interpretation is far from necessary. The sea-urchin egg, for example, is not a harmonic equipotential system along the polar axis in fact, but merely ex hypothesi. In his various discussions of harmonic equipotential systems Driesch has referred repeatedly to Planaria as constituting such a system. In connection with these references it is stated that „regeneration“ in the stricter sense does not occur or is very slight in Planaria. For example, he says that „eigentliche Regenerations- erscheinungen — hier gerade nicht vorliegen“ (Driesch, 1899a, p. 54), and again „wird eine Planaria der Quere nach in Stücke geschnitten, und wird dann eines der Operationsprodukte kontinuier- licher Beobachtung unterzogen, so sieht man, wie an diesem Stück neue Wachstumsvorgänge nur ın ganz geringem Maße auftreten — leider gestattet die Natur des Objektes eine intimere histologische Untersuchung nicht“ (Driesch, 1899a, p. 55). And in a later paper (1901, pp. 180—181) he again speaks of the „geringfügige Regene- rationsprozesse. “ It is of course a matter of personal opinion as to what the limits of „geringfügige Regenerationsprozesse“ may be, but Driesch’s assertion quoted above, that eigentliche Regenerationserscheinungen — hier nicht vorliegen“ is certainly incorrect. Examination of the living animals shows very clearly the formation of an „Anlage“ composed of new tissue formed at the cut surface and this under- goes gradual differentiation. Moreover, Flexner (1898) found abundant mitosis in the region of the cut surface: in Morgan’s work (1898, 1900, 1901) it 1s sufficiently clear that at least the terminal regions of the parts removed are replaced by new tissue in all cases. Bardeen (1902) found both mitosis and amitosis involved in the development of the new tissue, and I have been able to confirm his results (Child, 1907h). It is also clear from the work of Morgan and other later investigators that the whole head and often a considerable region posterior to it and in many cases almost the whole, in short pieces from the anterior region the whole, of the postpharyngeal region, 1. e., half of the body, are formed by true regeneration in Driesch’s sense. And finally, Driesch’s assertion that the nature of the object does not permit a more exact histological investigation is certainly far from correct, for as a matter of fact it is not in the least difficult to determine that there is really very little ,Substanzverlagerung“ so far as actual cells are concerned, though of course a transfer of substances 616 Child, Driesch’s harmonic equipotential systems in form-regulation. in the form of nutrition does occur. Even the new pharynx, when formed in the old tissue, as 1s commonly the case, ıs the result of localized cell division, at first chiefly mitotic, later chiefly amı- totic, 1. e., even in this case an „Anlage“ is formed by cell division and later undergoes differentiation. In her recent paper on this subject Stevens (1907) has assumed that cell migration occurs extensively in addition to cell division. Steinmann (1908) has pointed out the insufficiency of her evidence for cell migration, and since frequent cell division has been observed by Flexner, Bardeen and myself the assumption of cell migration is un- necessary. But, leaving these later results out of consideration, it was sufficiently evident from the earlier work that regeneration is an important factor in regulation in Planaria. This particular case has constituted a considerable difficulty to me in my attempts to obtain a clear idea of Driesch’s exact conception of the harmonic equipotential system. In my work on Cerianthus, I decided after some hesitation that, so far as the occurrence of true regeneration was concerned, this form correspon- ded as-closely to Driesch’s of harmonic equipotential systems general definitions as did Planaria, since in Cerianthus the actual amount of regeneration is under most conditions proportionally much less than in Planaria. I therefore called attention to the fact that as regards proportionality Cerianthus does not correspond to Driesch’s definition since proportionality is not maintained with decrease in size of the piece (Child, 1905). In one of his reviews of literature Driesch says concerning this work: „Wir glauben zwar vornehmlich in seinen Beobachtungen an Cerianthus, bei dem anfänglich unproportionale Regenerate in ihrem zu dicken Stamm- abschnitt allmählich dünner und länger werden, doch Restitutionen unseren Sinnes erblicken zu müssen“ (Driesch, 1905b, p. 68). This statement appears in a section devoted to the consideration of harmonic equipotential systems, and so far as I can see, means that Driesch regards Cerianthus as a harmonic equipotential system. But elsewhere in the same paper he says that „Child den ‚analytischen Begriff des harmonisch-äquipotentiellen Systems gänzlich missverstanden hat, wenn er in der Meinung, diesen Begriff ad absurdum zu führen, beibringt, dass Cerianthus von Bruchstücken aus, umbekümmert um deren Größe, gleiche Anteile nach beiden Richtungen regeneriere, dass also keine Proportion zwischen Stamm und Regenerat bestehe. Bei allen Regenerationen handelt es sich ja eben um komplex-äquipotentielle Systeme in meinem Sinne“ (Driesch, 1905, p. 791). Later I attempted to defend my position by comparing Cerianthus with Planaria (Child, 1907e, pp. 140—141), and to this Driesch has again replied: „Ich habe Child, Driesch’s harmonie equipotential systems in form-regulation. 617 den Begriff des harmonisch-äquipotentiellen Systems ja gerade kon- struiert für solche Restitutionserscheinungen, die nicht Regene- rationen sind“ (Driesch, 1908, p. 410). The facts of the case are then these. Driesch has included Planaria in his list of harmonic equipotential systems, but has practically ignored the part which true regeneration plays in regu- lation in this form. Cerianthus, which is certainly as much a har- monic equipotential system as Planaria, so far as method of regu- lation is concerned, Driesch regards at one point as such a system, while elsewhere he takes the opposite view because regeneration occurs in Cerianthus. I am quite willing to admit that I find myself unable to arrive at Driesch’s real meaning with regard to this point. I note also that Moszkowski (1907) regards the actinian body as a harmonic equipotential system. His conclusions are based on a study of Actinia aequina and Actinoloba dianthus in which resti- tution occurs in essentially the same manner as in Cerianthus. It is beyond the scope of the present paper to discuss the essential differences between harmonie equipotential and complex equipotential systems, though I believe it can readily be shown that what Driesch regards as the essential differences are either hypothetical or purely differences of degree. In fact, if I under-: stand Driesch’s latest definition of the harmonic equipotential system, its actual existence seems to me somewhat doubtful. In this definition (Driesch, 1908, p. 414) it is stated that „die zu diesem Resultate (i. e., the whole) führenden Einzelleistungen auf die Einzelelemente (Zellen) des Fragments, so wie es da ist, verteilt werden“. It is the clause ,so wie es da ist“ of whose meaning I am uncertain. If it means that no changes which play a part in determining the morphogenetic result are brought about by the act of isolation, then I believe that the harmonic equi- potential system does not exist in nature, for the data of experi- ment indicate that the changes in the piece resulting from its isolation are, at least in many cases and probably in all, very um- portant factors in the following localization and differentiation. If the clause means that localization 1s accomplished in such cases without the formation of new cells or new material, then certainly Planaria is not such a system, and in Tubularia cell division occurs to a considerable extent before visible differentiation. As regards the other adult forms the data ore not conclusive, but iso- lated blastomeres (e. g. in the sea-urchin) evidently become wholes without the formation of new cells, and the question as to whether new material is formed in these cases is at present idle. 618 Child, Driesch’s harmonic equipotential systems in form-regulation. VI. Driesch’s first „Beweis der Lebensautonomie“. This first „proof“ is briefly stated as follows in „Die Seele“ -(Driesch, 1903, p. 74): „Eine Maschine bleibt nicht dieselbe, wenn man thr beliebige Teile nimmt oder ihre Teile beliebig verlagert; deshalb kann das sich auf Basis harmonisch-äquipotentieller Systeme abspielende Formbildungsgeschehen kein maschinelles chemisch- physikalisches Geschehen sein.“ In a later work the argument is given somewhat more fully. „Es ist nun klar, dass sich „Entwickelung“ allgemein, wie sie von einem natürlich gegebenen, ungestörten, ganzen Keim aus vor sich geht, wohl möchte prinzipiell physikalisch-chemisch verstehen lassen, falls man sich den Keim als eine zwar in ihren Einzelheiten unter der Grenze selbst mikroskopischer Sichtbarkeit liegende Ma- schinerie außerordentlich komplizierter Art vorstellte. „Ist aber zugegeben, dass der Ausgang, aus dem sich ein so kompliziertes Ganzes, wie ein Tier, entwickelt, nur eine äußerst komplizierte Maschine allenfalls sein könne, so muss notwendiger- weise solche Maschine auch für jeden Ausgang eines relativ gleichen „Ganzen“, also auch für jeden der „Ausgänge“, welche bei unseren harmonisch-äquipotentiellen Systemen zu „verkleinerten Ganzen“ führen können, Sun werden.“ „Diese „Ausgänge* aber sind beliebig, und jedes Element derselben kann jedes, wobei die Harmonie bewahrt wird.“ „Also müsste jedes Element unserer Systeme gleichzeitig jeden Teil der supponierten Maschine, ja sogar jeden Teil in jeder beliebigen Größe darstellen.“ „Das ist sinnlos.“ „Damit ist aber gezeigt, dass die „Differenzierung har- monisch - äquipotentieller Systeme“ überhaupt nicht, jedenfalls nicht nur auf Basis einer aus chemisch- physi- kalischen Faktoren kombinierten Maschine, dass sie also nach anderer Gesetzlichkeit, als sie aus dem Anorga- nischen bekannt, also „autonom“ vor sich geht“ (Driesch, DIOLS p. 115)! The argument is also stated in much the same form in the , Vitalismus* (Driesch, 1905,.p. 201—208). Several points require consideration in connection with this „proof“. In the first place, according to Driesch the development of a harmonic equipotential system becomes an ,autonomistic pro- blem* only when external conditions in the broadest sense, 1. e., including all effects arising from other parts, are excluded, and when all elements of the part are prospectively alike (See Section I of this paper). But, as I pointed out, it is absolutely impossible to exclude external conditions in Driesch’s sense completely in any case, and moreover, a machine, 1. e, a „typische chemisch- Child, Driesch’s harmonic equipotential systems in form-regulation. 619 physikalische Spezifitätskombination (Driesch, 1901, p. 187) may exist whose parts are prospectively alike. Such a machine may exist in a isolated part and constitute the basis for future localization. In other words the conditions under which morphogenesis in har- monic equipotential systems becomes an „autonomistic“ problem cannot be realized in nature, Driesch’s „proof“ applies, therefore, only to a postulated not a real case. It is evident from Driesch’s argument quoted above that he makes no distinction between a prospective potential „machine“ and a real machine. The reason for his failure to make such a distinction appa- rently lies in his belief that external conditions including the rela- tions with other parts play no part inthe development of harmonic equipotential systems. I have shown that external conditions cannot be excluded in any case, but even if we admit for the sake of argument that they may be excluded, it is not necessary to accept Driesch’s conclusion that each element of such a system according to the mechanistic hypothesis must represent at the same time every part of every machine which it is capable of forming in the future. Conceivably at least localized differences, 1. e., parts of a real machine, visible or invisible may exist which are capable in consequence of their relations to each other of bringing about new localizations, i. e., of forming a new machine. But this new ma- chine does not exist as such until it is formed. Up to that time it exists merely as the ,properties“ and relations of the parts of the old machine and these do not posses the typical space con- figuration which the machine itself possesses when it is formed. But as a matter of fact there is no case in regulatory deve- lopment in which these factors alone are involved. As I pointed out above (p. 581) the possible mechanistic factors involved in the formation of a whole from a part are in their lowest terms: first, the constitution of the part and the regional differences which exist in it in consequence of its previous differentiation as a part of an organism; second, the internal changes which result from its 1s0- lation, which are undoubtedly localized; third, the changes in relation to the extra-organic environment which result form the formation of new surfaces of contact with the medium, new terminal regions etc., and these are also localized to a greater or less extent. Similar possible factors, though differing in specific character are involved in those cases where a whole is formed after dislocation of the parts. And it is impossible to exclude any of these factors in any experiment. In short Driesch’s assertion that the mechanistic hypothesis must assume that all parts of all potential machines are present as such, 1. e., in typical space configuration at the beginning is not 620 Child, Driesch’s harmonic equipotential systems in form-regulation. correct. A mechanistic interpretation is possible if each part con- stitutes a part of only one machine at any given time, and there is no reason to suppose that it constitutes anything more than this. To put the matter briefly, the act of separation of the part, or of dislocation of the parts establishes directly or indirectly the conditions for the formation of a new machine, which did not exist as such before this act. Before there existed merely a potence, 1.e., a possibility of forming this new machine under certain conditions: this potence exists in the constitution of the original machine and in the conditions, but it does not possess the space configuration of the new machine itself. The formation of new machines which did not exist as such previously is a familiar pheno- menon in inorganic nature, e. g., in the formation of a flame from a combustible substance under certain conditions. But whether the new machine shall be similar to the old in cases of regulatory development, and indeed whether any new machine shall be formed, depends both upon the constitution of the part or parts and upon the conditions which are present. It is possible, for example, to prevent the formation of a hydranth in a piece of Tubularia stem in many different ways, e. g., by in- serting the end in sand, by closing it with wax ete. If the harmonic equipotential system which Tubularia is supposed to be can accom- plish the processes of development independently of external con- ditions the reason for the failure to develop under these conditions is not apparent. Driesch states the case as if the formation of the new whole occurred in all cases, but this is very far from being true. I am of course aware that Driesch assumes the entelechy acts in con- junction with ,mechanical“ conditions or employs these conditions as „Mittel“, but I fail to see the necessity for assuming the exi- stence of the entelechy and the assumption of „Mittel“ seems to be merely a second hypothesis for the purpose of rendering the first plausible. Driesch’s use of the word „beliebig“ is a good illustration of the case in point. In the first statement of his „proof“ quoted above he says: ,eine Maschine bleibt nicht dieselbe, wenn man ihr beliebige Teile nimmt“, in the second ,diese Ausgiinge aber sind behebig“. In experiment, however, it is not in the least difficult to isolate pieces of Tubularia or of any other of Driesch’s harmonic equi- potential systems which are incapable of forming a whole, 1. e., which do not remain the same, or as I should prefer to put it, do not possess the same potences as the whole. Evidently then the organism, like Driesch’s postulated machine does not remain the same „wenn man ihm beliebige Teile nimmt“. In all cases so Child, Driesch’s harmonic equipotential systems in form-regulation. 621 far known a minimal size exists, below which no piece is capable of forming a whole. Driesch is of course perfectly familiar with this fact, but it plays no part in his general conclusions concerning these systems. But the existence of such a minimal size-limit is of itself a very strong argument for the existence of an „extensive Mannigfaltigkeit“ 1. e., a „machine“ as the basis of the processes leading to the formation of a new whole. It should also be noted that the minimal size-limit is not determined solely by the amount of material present. It may differ widely in different regions of the body: in Planaria, for instance, minimal pieces from certain regions are several times as large as those from other regions and I have found that the size of the minimal piece differs with age (these results are not yet published). In Tubularia also (Child, 1907 f) the size of minimal pieces differs considerably in different regions of the body, being much less in proximal than in distal regions. Moreover, in certain cases, e. g., in Planaria, axial hetero- morphosis is particularly characteristic of certain regions of the body, and the same is true, though in less degree of Tubularia. Such facts as these cannot be ignored or interpreted as mere incidents im any consistent and logical hypothesis of regulation. Driesch’s second „proof“ of „Lebensautonomie* is as follows: „Eine nach den drei Dimensionen typisch spezifisch verschiedene Maschine bleibt nicht ganz, wenn sie geteilt wird, deshalb liegt der Genese äquipotentieller Systeme mit komplexen Potenzen im Be- reiche des Formbildungsgeschehens kein maschinelles, chemisch- physikalisches Geschehen zugrunde“ (Driesch, 1903, p. 74). This „proof“ is also given in later works (Driesch, 1904, pp. 116—118; 1905a, pp. 208—211). This is open to the same objections as the first: the original machine in the organısm does not remain the same when it is divided, but the act of division results under certain conditions in the realization of a new machine which previously existed only as a potence or possibility. Driesch’s argument for „beinahe unendliche“ complexity of the machine which, according to the mechanistic hypothesis, must underlie the phenomena of „normal“ development (Driesch, 1904, p. 115; 1905a, pp. 206—207) also fails to take account of the fact that the complexity is largely potential at the beginning of deve- lopment and is therefore not necessarily represented at that time by a corresponding „typische chemisch-physikalische Spezifitäts- kombination“. Herbst’s conclusion that „wir sind also nicht im- stande, nachzuweisen, dass die Zahl der Verschiedenheiten im An- fange der Entwickelung geringer ist als die Gesamtzahl der ım Laufe der Ontogenese stattfindenden Differenzierungsprozesse; d.h. 622 Child, Driesch’s harmonic equipotential systems in form-regulation. alle maschinellen Einrichtungen, welche zu letzteren notwendig sind, müssen bereits im Hi gegeben sein“ (Herbst, 1901, p. 117), rests on a similar basis. Moreover, it is not necessary to conclude that the egg cannot be simpler than the adult organism because we cannot at present prove that it 1s simpler. And when we take into account all the facts, 1. e., the conditions of development as well as the constitution of the egg, the assumption that the ege is simpler than the organism attains a higher degree of probability than any other. We are then, I believe, justified in concluding that, so far as it concerns form regulation, Driesch’s „Autonomielehre“ with its „proofs“ is simply a hypothesis, and a hypothesis which at present has no solid basis in facts. A few of its characteristic features may be summed up as follows: it proceeds at various points as if the present status of our knowledge of the physiology of organic form were final; it assumes the exclusion of factors which cannot actually be excluded in any experiment; it seems to assume that the capacity for future or prospective likeness in the parts or elements is equivalent to present likeness, so far as morphogenesis is concerned; it practically ignores „atypical“ results of experiment ; in certain cases, e. g., as regards Tubularia, it assumes that visible localized differences are the only localized differences existing; it interprets actual inequipotentiality in certain cases as „masked“ equipotentiality; and finally different statements concerning certain points, e. g., proportionality in harmonic equipotential systems, are not consistent. We are indebted to Driesch for many facts and analytical concepts of great value, but not as yet for a proof of „Lebens- autonomie“ in form regulation. Hull Zoological Leaborotory. University of Chicago. June 1908. Bibliography. Bardeen, C. R., 1902. Embryonic and Regenerative Development in Planarians. Biol. Bull. Vol. III, Nr. 6, 1902. Child, C. M., 1904 a. Studies on Regulation. V. The Relation between the Central Nervous System and Regeneration in Leptoplana: Posterior Regeneration. Journ. Exp. Zool. Vol. I, Nr. 3, 1904. — 1904b. Studies on Regulation. VI. The Relation between the Central Ner- vous System and Regulation in Leptoplana: Anterior and Lateral Regene- ration. Journ. Exp. Zool. Vol. I, Nr. 4, 1904. — 1905. Form-Regulation in Cerianthus. IX. Regulation, Form, and Proportion. Biol. Bull. Vol. VIII, Nr. 5, 1905. — 1907 a. An Analysis of Form-Regulation in Tubularia. I. Stolon-Formation and Polarity. Arch. f. Entw.-Mech. Bd. XIII, H. 3, 1907. — 1907b. An Analysis ete. II. Differences in Proportion in the Primordia. Arch. f. Entw.-Mech. Bd. XXIII, H. 3, 1907. — 1907c. An Analysis ete. III. Regional and Polar Differences in the Re- Child, Driesch’s harmonie equipotential systems in form-regulation. 6923 lation between Primordium and Hydranth. Arch. f. Entw.-Mech. Bd. XXIII, Jal, Bh LO Child, C. M., 1907 d. An Analysis ete. IV. Regional and Polar Differences in the Time of Hydranth-Formation as a Special Case of Regulation in a Complex System. Arch. f. Entw.-Mech. Bd. XXIV, H. 1, 1907. — 1907 e. Some Corrections and Criticisms. Arch. f. Entw.-Mech. Bd. XXIV, ee 190. — 1907f. An Analysis of Form-Regulation in Tubularia. V. Regulation in Short Pieces. Arch. f. Entw.-Mech. Bd. XXIV, H. 2, 1907. ° — 1907 g. An Analysis etc. VI. The Significance of Certain Modifications of Regulation: Polarity and Form-Regulation in General. Arch. f. Entw.-Mech. BA Oxy. Hi. 2, 1902. — 1907 h. Amitosis as a Factor in Normal and Regulatory Growth. Anat. Anz. Bd. XXX, Nos. 11 and 12, 1907. Driesch, H., 1893. Die Biologie als selbständige Grundwissenschaft. Leipzig 1893. — 1894. Analytische Theorie der organischen Entwickelung. Leipzig 1594. — 1899a. Die Lokalisation morphogenetischer Vorgänge. Arch. f. Entw.-Mcch. Bd. VIII, H. 1, 1899. — 1899b. Studien über das Regulationsvermégen der Organismen. 2. Quanti- tative Regulationen bei der Reparation der Tubularia. Arch. f. Entw.-Mech. Bde 19°, El. else: — 1900. Die isolierten Blastomeren des Echinidenkeimes. Arch. f. Entw.-Mech. Bd. X, H. 2—3, 1900. — 1901. Die organischen Regulationen. Leipzig 1901. — 1902a. Uber ein neues harmonisch-äquipotentielles System und über solche Systeme überhaupt. Arch. f. Entw.-Mech. Bd. XIV, H. 1—2, 1902. — 1902b. Neue Ergänzungen zur Entwickelungsphysiologie des Echiniden- keimes. Arch. f. Entw.-Mech. Bd. XIV, H. 3—4, 1902. — 1902c. Neue Antworten und neue Fragen der Entwickelungsphysiologie. Ergebn. d. Anat. u. Entwickelungsgesch. Bd. XI (1901), 1902. — 1903. Die ‚Seele‘ als elementarer Naturfaktor. Leipzig 1903. — 1904. Naturbegriffe und Natururteile. Leipzig 1904. — 1905a. Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre. Leipzig 1905. — 1905b. Die Entwickelungsphysiologie von 1902—1905. Ergebn. d. Anat. u. Entw.-Gesch. Bd. XIV (1904), 1905. — 1908. Uber einige neuere „Widerlegungen‘‘ des Vitalismus. Arch, f. Entw.- Mech. Bd. XXV, H. 3, 1908. Flexner, S., 1598. The Regeneration of the Nervous System of Planaria torva and the Anatomy of the Nervous System of Double-headed Forms. Journ. of. Morphol. Vol. XIV, Nr. 2, 1898. Herbst, C., 1901. Formative Reize in der tierischen Ontogenese. Leipzig 1901. Morgan, T. H., 1898. Experimental Studies of the Regeneration of Planaria maculata. Arch. f. Entw.-Mech. Bd. VII, H. 2—3, 1898. — 1900. Regeneration in Planarians. Arch. f. Entw.-Mech. Bd. X, H. 1, 1900. — 1901. Growth and Regeneration in Planaria lugubris. Arch. f. Entw.-Mech. Bd. XIII, Heft 1—2, 1901. Moszkowski, M., 1907. Die Ersatzreaktionen bei Actinien (Actinia aequina und Actinoloba dianthus). Arch. f. Entw.-Mech. Bd. XXIV, H. 3, 1907. Steinmann, P., 1908. Untersuchungen über das Verhalten des Verdauungssystems bei der Regeneration der Tricladen. Arch. f. Entw.-Mech. Bd. X XV, 1908. Stevens, N. M., 1907. A Histological Study of Regeneration in Planaria simpli- cissima, Planaria maculata Planaria and morgani. Arch. f. Entw.-Mech. Bd XOX He 251907. 694 Salensky, Radiata und Bilateria. Radiata und Bilateria. Kritische Skizze von W. Salensky (St. Petersburg). Die Versuche, die Bilaterien von den Radiaten, speziell von den Cölenteraten abzuleiten, sind sehr zahlreich. Die Grundsätze der diesbezüglichen theoretischen Betrachtungen stimmen meistens mit den embryologischen und anatomischen Tatsachen überein, des- wegen sollen diese Anschauungen als am besten gelungene für Er- klärung der Genesis der Bilaterien gehalten werden. Die detaillierte Bearbeitung der Grundprinzipien dieser Theorie war freilich nicht besonders fruchtbar; die Frage: in welcher von den Cölenteraten- gruppen müssen wir den Ausgangspunkt für die Bilaterien suchen, ist nicht gelöst. Man kann darüber viel streiten, ohne zu irgend- einem sicheren Schluss gelangen zu können. Deswegen will ich hier in die Diskussion dieser Frage gar nicht eingehen. Ich will hier vielmehr die allgemeinen Prinzipien hervorheben, welche bei der Beurteilung der theoretischen Anschauungen besonders wichtig erscheinen. Den Anlass dazu hat mir der in dieser Zeitschrift vor kurzem publizierte Aufsatz von Schimkewitsch!) gegeben. Der- selbe berührt verschiedene morphogenetische Fragen, welche ich hier nicht alle besprechen will und werde mich nur auf die Frage über die tetraradıale Ausgangsform beschränken. Auf Grund verschiedener theoretischer Voraussetzungen kommt Schimkewitsch zum Schluss: „dass als Ausgangspunkt für die meisten Belateralia ein hypothetischer, radiir gebauter Organismus gedient hat, welcher einen zirkumösophagealen Nervenring mit vier von demselben ausgehenden und längs der Interradien verlaufenden Nervenstämmen, sowie vier Muskelfelder,. ferner vier cölomiale, in den Radien gelegene Höhlen besaß, von denen jede durch ihr Meta- ° nephridium nach außen mündete.“ Dieser hypothetischer Organis- mus, welcher als Ausgangspunkt die Protocölier und Célomaten darstellen soll, nennt er Trochoneurula. Aus der Beschreibung von Schimkewitsch geht hervor, dass dieser Urahne der Bilaterien bereits hoch organisiert war, Cölom- höhlen, Muskelfelder und ein ziemlich hoch entwickeltes Nerven- system besaß. Wie und woher hat er eine so hohe Organi- sation erworben? Wir stoßen bei der Lösung dieser Frage auf eine große Schwierigkeit, welche kaum durch die einfachen theo- retischen Manipulationen beseitigt werden kann, weil die letzten sich auf tatsächliches Material nicht stützen. Wenn wir selbst die Gonocéltheorie zur Hilfe anziehen, so wird dieselbe uns sehr wenig dabei helfen, da es noch zu beweisen ist, dass die Célomhéhlen von den Gonaden wirklich entstehen können. Ich habe schon in 1) W. Schimkewitsch, Uber die Beziehungen zwischen den Bilateralia und den Radiata (Biol. Centralbl. Bd. XXVIII, Nr. 4 u. 5, 1908). Salensky, Radiata und Bilateria. 635 meiner früher erschienenen Schrift (Morphogenet. Stud. IV in Mém. de l’Acad. Imp. de St. Petersburg Bd. XIX, 1907) zu beweisen versucht, dass man mit Hilfe der Gonoecöltheorie in der theoretischen Entscheidung solcher genealogischen Frage keine recht großen Fort- schritte machen kann. Schimkewitsch trägt auch zur Entschei- dung dieser Frage in der jetzt ın Rede stehenden Schrift fast gar nichts bei. Die Lösung dieser Frage ist auch in einer anderen Beziehung sehr wichtig. Um einen der Tetraneurula ähnlichen Organismus für den Ausgangspunkt der Bilaterien halten zu können, müsste es bewiesen sein, dass die vierstrahlige Anordnung seiner Organe eine primäre und nicht etwa durch eine weitere Differen- zierung aus der bilateral-symmetrischen Form entstandene ist. Schim- kewitsch geht in die Diskussion dieser Frage nicht ein; er begnügt sich nur mit der Anführung solcher Tierformen, bei denen seiner Meinung nach die „Spuren“ des vierstrahliigen Bau erhalten ge- blieben sind. Diese Spuren sollen nach den Angaben des Verfassers in der Anordnung der Muskulatur und des Nervensystems der Nematoden, Chätognathen, Sipunculiden, der meisten Ver- treter der Anneliden und Arthropoden erhalten sein. Wir wollen diese Beispiele näher betrachten und uns zunächst zur Muskulatur wenden. Die Muskulatur aller genannten Tiere bietet natürlich einen verschiedenen Grad der Vollkommenheit und verschiedene Formen der Differenzierung dar. Wenn wir z. B. uns mit der Betrachtung der Anneliden begnügen, deren „meiste Vertreter‘‘ nach dem Aus- druck des Verfassers einen vierstrahligen Bau der Muskulatur zeigen müssen, werden wir daselbst ganz verschiedene Formen der Diffe- renzierung der Längsmuskulatur antreffen. Es genügt, nur die Muskulatur der so nahe beieinander stehenden Anneliden, wie Proto- drelus und Saccocirrus miteinander zu vergleichen, um sich zu über- zeugen, dass bei dem ersten die Längsmuskeln in vier, bei dem zweiten — ın sechs Muskelfelder zerlegt sind. Bei dem Heran- ziehen anderer Vertreter der Anneliden werden wir ganz gewiss allerlei verschiedene Modifikationsformen der Längsmuskulatur an- treffen, welche uns kaum den Beweis von einem vierstrahligen Bau liefern können. Noch wichtiger ist der Ursprung dieses vierstrahligen Baues der Muskulatur. Die vielfach untersuchte Entwickelungsgeschichte der Poly- gordius liefert uns die sichersten Beweise dafür, dass die vierstrahlige Anordnung seiner Längsmuskulatur keineswegs primitiv ist. Aus den betreffenden Untersuchungen erfahren wir, dass diese Muskeln in Form von zwei streng bilateral symmetrischen Mesoblaststreifen entstehen, die sich unter Bildung der Cölomhöhlen in zwei sym- metrisch hohle, in Metameren abgeteilte, Säcke verwandeln, deren Wände zur Bildung verschiedener mesoblastischer Organe (Muskeln, XXVIII. 40 626 Salensky, Radiata und Bilateria. peretonealen Hüllen etc.) dienen. Die beiden Säcke stoßen dorsal und ventral in medianen Linien zusammen und verwachsen unter Bildung der beiden Mesenterien. Die Längsmuskelschicht, welche das Produkt des somatischen Blattes der Célomsicke darstellt, be- steht ursprünglich ebenfalls aus zwei symmetrisch angeordneten Hälften: einer linken und einer rechten, welche beide erst im Laufe der weiteren Entwickelung je in zwei Muskelbänder sich teilen (vgl. meine Morphogenetische Studien III, loc. cit.). Es ergibt sich daraus, dass die tetraradiale Anordnung der Muskeln bei den Archianneliden die Folge einer sekundären Differenzierung darstellt und keineswegs als eine primäre Erscheinung betrachtet werden darf. Die ganze Entwickelung der Muskulatur der Archianneliden (und Anneliden überhaupt) führt uns somit den Beweis, dass die tetraradiale An- ordnung der Muskeln aus der bilateral-symmetrischen entstanden ist und nicht umgekehrt, wie es ım Sinne Schimkewitsch ge- schehen sollte. Es muss noch hervorgehoben werden, dass bei der Trennung der Muskelschicht in vier Felder, die Peritonealhillen und die Cölomhöhle ungeteilt bleiben; sie behalten ihre bilateral-symmetrische Anordnung bei, und wenn Schimkewitsch von „vier cölomalen Höhlen“ bei seiner Tetraneurula spricht, so werden dieselben kaum bei irgendwelchen Célomaten realisiert gefunden. Ebenso wie bei den Archianneliden entwickelt sich das Meso- blast bei den Chatognathen, mit dem Unterschiede aber, dass bei ihnen die beiden Mesoblaststreifen in Form von zwei sym- metrischen von dem Archenteron sich abtrennenden Blasen ent- stehen und deswegen von Anfang an die Cölomhöhlen umschließen. Die Teilung der Muskelschicht in vier Felder wurde meines Wissens nicht untersucht; doch ist es sehr wahrscheinlich, dass sie nach demselben Typus, wie bei den Archianneliden vor sich geht. Das Mesoblast der Nematoden wird bekamntlich ebenfalls in Form von zwei symmetrisch gestellten Mesoblaststreifen angelegt. Die Scheidung der Muskelschicht in vier Muskelfelder ist auch hier das Resultat der sekundären Differenzierung derselben. Die Nema- toden bieten aber ım Vergleich mit den anderen hier betrachteten Tieren einen wesentlichen Unterschied in der Beziehung dar, dass bei ihnen keine Cölomhöhle und keine Peritonealhüllen zur Aus- bildung kommen. Deswegen ist hier der Bau der Mesoblastbildungen viel einfacher als bei den anderen früher besprochenen Würmern. Wir sehen aus den eben angeführten Fällen, dass der sogen. vierstrahlige Bau nicht den primitiven Zustand des Muskelsystems, sondern das Produkt der weiteren Differenzierung der bilateral- symmetrischen Anlagen darstellt, welche ebensowohl zu der Vier- strahligen, wie auch zu der sechsstrahligen Anordnung der Muskel- bänder führen kann. Weiterhin soll auch besonders hervorgehoben Salensky, Radiata und Bilateria. 627 werden, dass niemals das ganze Mesoblast, sondern nur die Muskel- schicht desselben eine strahlige Anordnung bekommt; die Peritoneal- hüllen und die Cölomhöhle behalten immer ihre symmetrische An- ordnung. Daraus dürfen wir den Schluss ziehen, dass der vierstrahlige Bau der Muskeln nicht eine primäre, sondern eine sekundäre Er- scheinung ist und dass somit die bilaterale Symmetrie nicht aus der Vierstrahligkeit, sondern umgekehrt die Vierstrahligkeit aus der bilateralen Symmetrie entstanden ist. Dieser Schluss, welcher den Prinzipien von Schimkewitsch diametral entgegengesetzt ist, ist vollkommen richtig, da die vierstrahlige Anordnung der Muskeln bei den Anneliden und den meisten anderen Tieren eine sekundäre Erscheinung, das Produkt der weiteren Differenzierung darstellt. (Gehen wir nunzum Nervensystem über. Für die Ausgangsform des Nervensystems der Bilaterien hält Schimkewitsch das der Nema- toden. Bekanntlich sendet der Nervenring der Nematoden vier Haupt- äste nach hinten und sechs kleinere nach vorne ab. Im ganzen treffen wir in dem größten Körperteil der Nematoden eine vierstrahlige Anordnung der perepherischen Nerven; die Nerven sind aber nicht gleichmäßig entwickelt; der Medialnerv der ventralen Seite ist viel stärker entwickelt als die anderen. Dieser Unterschied in der Nervenentwickelung kann vielleicht dadurch erklärt werden, dass die Nematoden von solchen Tierformen abstammen, welche einen starken Bauchnervenstrang besaßen. Bei der Herleitung des bilateralen Nervensystems der Anne- liden und Vertebraten aus der vierstrahligen Form der Nematoden stoßen wir auf bedeutende Schwierigkeiten, welche zu ihrer Be- seitigung eine Zuflucht zu Hilfshypothesen nötig macht. Die paarige Anlage des Bauchmarkes der Anneliden und Arthropoden bietet an und für sich noch keinen Beweis für die Abstammung des Nervensystems der letzteren aus dem vierstrahligen Nervensystem der Nematoden dar. Die beiden Anlagen nimmt Schimkewitsch für die Homologa der Lateralnerven der Nematoden; er hält aber für möglıch, dass in „vielen Fällen an der Bildung des ventralen Nervenstammes auch die den medianen ventralen Stämmen der Nema- toden entsprechende Anlage Anteil genommen hat.“ Er verweist dabei auf die Arbeiten von Rauther?) an den Gordiiden und von Hempelmann?) an Polygordius. Ich könnte außerdem noch Fraipont‘) und Hatschek°) hinzufügen, welche beide eine drei- 2) Rauther, Beitr. zur Kenntnis der Morphologie ete. der Gordiiden (Jen. Zeitschr. f. Naturwissensch. Bd. XL, 1905). 3) Hempelmann, Zur Morphologie des Polygordius (Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. LIII, IV, 1906). 4) Fraipont, Le genre Polygardius (Fauna u. Flora d. Neapol. Bucht). 5) Hatschek, Uber die Entwickel. d. Echiurus (Arb. a. d. Zool.-Zoot. Inst. in Wien Bd. III, 1881. 40% 628 Salensky, Radiata und Bilateria. teilige Zusammensetzung des Bauchmarks des Polygordius (Frai- pont) und des Echiurus (Hatschek) angeben. Das Nervensystem der Gordiiden kenne ich aus meiner eigenen Erfahrung nicht; der Bau und die Entwickelung des Bauchmarks des Polygordius und die Entwickelung desselben bei Echiurus habe ich dagegen genau untersucht und beschrieben‘). Was Polygordius anbetrifft, so hoffe ich bewiesen zu haben, dass der scheinbar dreistämmige Bau des- selben dadurch bedingt wird, dass die in zwei Längsreihen ange- ordneten Neurogliazellen in das bilateral gestaltete Bauchmark hinein- dringen und von demselben einen mittleren und zwei seitliche Teile absondern. Es ist jedenfalls eine sekundäre Erscheinung und hat kaum große morphogenetische Bedeutung, denn in den Fällen, wo dieselben Neuroghazellen, wie bei Protodrilus, in Form nur einer longitudinalen Reihe hineinwachsen, wird das Bauchmark nicht in drei Stämme geteilt. Hatschek behauptet, dass an der Bildung des Bauchmarks des Echiurus nicht nur die beiden Seitenstränge, sondern auch der Mittelstrang teilnimmt, welch letzterer ganz selbständig aus dem Neurotrochoid angelegt wird. Ich habe bei meinen Studien der Metamorphose des Echiurus”) meine Aufmerksamkeit speziell darauf gerichtet und kam nach sorgfältigen Untersuchungen zum Schluss, dass das Bauchmark des Echiurus bloß aus zwei symmetrischen Ektodermverdickungen entsteht, zwischen welchen kein Verbindungs- strang während der Entwickelung auftritt. Es entbehrt sogar der Neurogliazellen, welche bei den Anneliden bekanntlich so verbreitet sind und von den ventral-medianen Teilen des Ektoderms (von dem Neurotrochoid in einigen Fällen) entstehen. Die Behauptung Hat- schek’s lässt sich dadurch erklären, dass er keine Schnitte aus Echiurus-Larven beobachtet hat. Von den „Spuren“ des vierstrahligen Baues des Nervensystems der Vertebraten bin ich noch weniger überzeugt als von denen der Würmer. Deswegen will ich in die Betrachtung des Nervensystems der Vertebraten nicht eingehen. Auf Grund der näher betrachteten, von Schimkewitsch selbst betonten Tatsachen kommen wir zum Schluss, dass die letzten keineswegs zur Bestätigung der Trochoneurula-Hypothese angewendet werden können. Sie führen ım Gegenteil den Beweis, dass der vierstrahlige Bau einiger Organe, auf welche Schimkewitsch sich stützen will, das Resultat der Differenzierung aus bilateral-sym- metrischen Organen ist. Der schwache Punkt der Schimkewitsch’- schen Hypothese liegt in der Verwechslung der primären morpho- 6) W. Salensky, Morphogenetische Studien an Würmern (Mem. de l’Acad. Imp. de St. Petersbourg, T. X VI, 1905 u. T. XIX, 1907). 7) W. Salensky, Uber die Metamorphose des Echiurus (Bull. de Acad. Imp. de St. Petersbourg, 1908, Heft 3 u. 4). Salensky, Radiata und Bilateria. 629 genetischen Erscheinungen mit den sekundären. Ich habe hier nur eine Seite der Hypothese, namentlich den Beweis der Existenz einer vierstrahligen Grundform berührt. Es bleibt noch ein anderer wichtiger Punkt, nämlich der Übergang der vierstrahligen Grund- form in die bilateral-symmetrische übrig, welchen ich ganz unbe- rührt lassen will, weil derselbe keine Tatsachen in der Embryologie und in der vergleichenden Anatomie der Tiere für sich hat. Die Embryologie und die vergleichende Anatomie hat ein großes Material angesammelt, welches, wenn nicht gerade zu der _ endgültigen Lösung unserer Frage dienen kann, doch unsden richtigen Weg zur Entscheidung liefert. Darüber will ich hier kurz reden. In den letzten Jahren ist eine Reihe von Beobachtungen über die ersten Entwickelungsvorgänge (Furchung und Keimblattbildung) der Würmer und Mollusken angehäuft, welche uns ein reiches Ma- -terial für die Beurteilung der Frage über die Entstehung der Bilateralsymmetrie liefern. Ich habe hier namentlich die Beobach- tungen von Wilson, Conklin, Mead, Lillie etc. im Auge, welche ich in meinen „Morphogenetischen Studien“ ausführlich besprochen habe. Das Hauptergebnis dieser Untersuchungen besteht darın, dass die Mesenchymzellen radial, das Mesoblast — bilateral-sym- metrisch angeordnet sind. Das Mesenchym kommt gewöhnlich viel früher als das Mesoblast zum Vorschein. Daraus dürfen wir den Schluss ziehen, 1. dass die radıale Form die ursprüngliche ist und die bilateral-symmetrische ihr nachfolgt und 2. dass der Übergang der radialen Form zu emer bilateral-symmetrischen durch das Auf- treten des Mesoblasts eingeleitet wird. Wenn wir diese Grundsätze auf die Phylogenese der Tiere übertragen, kommen wir zu dem Schluss: dass die Tiere, welche das Mesenchym allein in ihrem Inneren besitzen, einen radiären Bau darstellen müssen; dass dagegen die Tiere, welche außer dem Mesenchym noch das Mesoblast haben, bilateral-symmetrisch kon- struiert sein müssen. Als Repräsentanten der mesenchymatischen Tiere sind jetzt die Cölenteraten und die Platoden bekannt. Die ersten sind (mit Ausnahmen, von welchen ich weiter reden will) radial, die zweiten bilateral-symmetrisch. Man könnte glauben, dass gerade die letzt- genannten Würmer den eben aufgestellten Satz widerlegen. Das ist aber gerade nicht der Fall, weil nach den Untersuchungen von Wilson*) und Mead?) auch bei der Entwickelung der Polycladen echte Urmesoblastzellen auftreten, welche symmetrisch gestellt sind, später aber in ihrer Entwickelung unterdrückt sind. Deswegen 8) Wilson, Consideration on Cell-Lineage ete. (Annales of New-York Acad. of Se. Vol. XI). 9) Mead, The early Development of marine Annelides (Journ. of Morphology Vol. XIII). 630 Salensky, Radiata und Bilateria. müssen wir die Polycladen und wahrscheinlich alle ihnen ver- wandten Platoden als mesoblastische Würmer betrachten. Als echte mesenchymatöse Tiere müssen wir also nur die Cölen- teraten betrachten. Sie sind radıär gebaut, haben aber die Tendenz, in die bilateral-symmetrische Form überzugehen. Diese Tendenz äußert sich in allen Klassen der Cölenteraten: bei den Medusen, Polypen und Ctenophoren in verschiedener Weise. Ich brauche mich hier nicht mit Einzelheiten aufzuhalten, da diese allgemein bekannt sind und Fälle in jedem Lehrbuch der Zoologie zu finden sind. In allen Fällen handelt es sich um eine gewisse Entwicke- lung der gegenüberliegenden Gastrovaskularräume, welche in dieser Weise eine sagittale resp. eine frontale Achsenfläche bezeichnen. Die Homologie der Célomhéhlen der Bilaterien mit den Gastro- vaskularsäcken der Célenteraten ist durch eine Reihe klassischer Untersuchungen festgestellt. Die enterocöle Bildung der Cölom- höhlen stimmt mit den embryologischen Tatsachen am-besten; des- wegen entspricht die phylogenetische Ableitung der Célomaten von den mesenchymatösen Célenteraten am besten den embryologischen Tatsachen. Auf Grund dieser Tatsachen müssen wir die Ausgangs- form der Bilaterien als einen radıär-symmetrischen, cölenteraten- ähnlichen (mesenchymatösen) Organısmus uns vorstellen, in welchem durch gleichartige Abänderungen der gegenüberliegenden Radien die sagittalen und die frontalen Körperachsen angedeutet sind. Durch das Abtrennen der zu beiden Seiten der Achse liegenden Gastrovaskularsäcke tritt die Verwandlung dieses mesenchymatischen Organismus in einen mesoblastischen, cölomatösen und bilateral- symmetrischen ein. Wir müssen noch annehmen, dass ein solcher Organismus die trichterförmigen Exkretionsorgane in der Form, wie wir sie bei den Aequoraeiden und manchen anderen Medusen antreffen, besaß. Die Phylogenese des Nervensystems bietet die schwierigste Aufgabe dar. Hoffentlich werden unsere Kenntnisse darüber durch die genaue Untersuchung der von Woltereck be- schriebenen Scheitelplatte der Solmundella bereichert. Die sichere und genaue Aufstellung der Ausgangsform der Bila- terien hängt von den weiteren Fortschritten unserer Kenntnis der Embryologie und der vergleichenden Anatomie der Tiere ab. Der Zweck meines vorliegenden Aufsatzes besteht darin, die Beweise beizubringen, dass der Ubergang der Radiaten zu den Bilaterien sich mit dem Auftreten des Mesoblastes vollzogen hat und dass schon aus diesem Grunde eine so hoch organisierte Form wie die Tetraneurula keinen Anspruch erheben kann, der Urahne der Bila- terien zu sein. Mordwilko, Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse, Aphididae Passerini. 631 Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse, Aphididae Passerini. Von A. Mordwilko, Privatdozent a. d. Universität St. Petersburg. Die zyklische Fortpflanzung der Pflanzenläuse. II. Die Migrationen der Pflanzenläuse. 2. Ursachen der Migrationen. Ernährungsbedingungen der Pflanzenläuse!). Beobachtet man das Leben der Pflanzenläuse auf Holzpflanzen während der Vegetationsperiode dieser letzteren, so wird man nach- folgende, von Jahr zu Jahr sich wiederholende Schwankungen ın der Intensivität der Fortpflanzung bei den Pflanzenläusen beobachten können. Im Frühjahre geht die Fortpflanzung verhältnismäßig sehr intensiv vor sich; gegen Ende des Frühjahres hingegen und ım Anfang des Sommers lässt dieselbe nach, wird im Sommer ganz gering und erleidet bei zwei Arten vom Ahorn sogar einen völligen Stillstand (Chattophorus aceris L. unter den Blättern namentlich von Acer pla- tanoides und Ch. testudinatus Thornton, hauptsächlich auf und unter den Blättern von A. compestre); be1-den migrierenden Pflanzen- lausarten endlich wird die Fortpflanzung während des Sommers von holzartigen (Hauptpflanzen) auf krautartige Gewächse oder auf die Wurzeln irgendwelcher Holzpflanzen übertragen (Zwischen- pflanzen). Allein gegen das Ende des Sommers und ım Herbste nimmt die Fortpflanzung der Pflanzenläuse auf den Holzgewächsen wiederum an Intensität zu und um dieselbe Zeit erfolgt auch die Rückwanderung der Pflanzenläuse von den Zwischenpflanzen auf die Hauptpflanzen. Auf gewissen Bäumen und Sträuchern wird die Fortpflanzung der Pflanzenläuse im Sommer so herabgesetzt, dass einige Autoren zu der Ansicht veranlasst wurden, die betreffenden Pflanzenlausarten migrierten auf irgendwelche andere Gewächse?); die von mir aus- geführten sorgfältigen dahingehenden Beobachtungen haben dagegen ergeben, dass es sich in den erwähnten Fällen nur um eine Herab- setzung der Reproduktionsfähigkeit der parthenogenetischen Weib- 1) Der nachstehende Aufsatz bildet gewissermaßen ein Autoreferat einzelner Kapitel meiner in russischer Sprache gedruckten Arbeit „Zur Biologie und Mor- phologie der Pflanzenläuse. 2. Teil. Horae Soc. Entom. Rossicae, T. 33, 1901, und zwar speziell des 2. Kapitels derselben (pp. 162—216; Sep. pp. 85—139). 2) Kessler, H. Beitrag zur Entwickelungs- und Lebensweise der Aphiden. Nova Acta der Kais. Leopold.-Karol. Deutschen Akademie der Naturforscher. Bd. XLVII, Nr. 3, 1884. Zu den migrierenden Pflanzenläusen zählt Kessler irr- tümlicherweise auch Aphis viburni Scop., Aphis mali Fabr., Phyllaphis fagi L. — Lichtenstein, J. Evolution biologique des Aphidiens du genre Aphis et des genres voisins. Compt.-rend. T. 99, pp. 819—821. Dieser Autor rechnet folgende auf Holzpflanzen lebende Pflanzenläuse irrtümlicherweise für migrierend: A. frangulae, mali, viburni, sowie die kräuterbewohnenden A. eraccivora, Siphonophora absinthii. 632 Mordwilko, Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse, Aphididae Passerini. chen handelt, unter gleichzeitiger Verminderung ihrer Dimensionen im Vergleich mit den Frühjahrsweibehen und dem Auftreten ge- wisser anderer Merkmale, so z. B. anderer Färbung. Eine abge- schwächte Fortpflanzung während des Sommers wurde bei Aphis mali Fabr., viburni Scop., Rhopalosiphum berberidis Koch., Drepa- nosiphum platanoides Schr., Ohaitophorus lyropictus Kessler, Phyl- laphis fagi L., Phylloxera quercus Boy de Fouse. (= coccinea Kalt.) u. a. m. beobachtet. Bei dem unter den Blättern von Acer pseudoplatanus saugenden Drepano- siphum platanoides Schr. besitzen die geflügelten Fundatrices-Weibchen, welche aus den auf der Rinde von Ästen und Stämmen überwinterten Eiern hervorgegangen sind, ein grünliches Abdomen mit dunkelgrünen oder sogar schwarzen Querbändern auf dessen Oberseite. Gegen Ende April und Anfang Mai (a. St.) legen diese Weib- chen auf den Spitzen junger Triebe und unter jungen Blättchen die Larven der zweiten Generation ab, welche sich mit der Zeit ebenfalls zu geflügelten Weibchen entwickeln, deren Abdomen jedoch grünlich-gelb und ohne schwarze Querbinden ist. Diese letzteren Weibchen werden unter den ausgewachsenen Blättern des Ahorns angetroffen, ihr Abdomen ist schmal und sie legen meist nur außerordentlich selten Larven der nächsten Generation ab. So habe ich im Juni und in der ersten Hälfte des Juli (a. St.) 1896 im Warschauer botanischen Garten unter den Blättern von Acer pseudoplatanus sogar niemals auch nur eine Larve oder Nymphe antreffen können. Ich habe diese Pflanzenläuse eine Woche lang mit Ahornblättern in Glas- röhrchen gehalten und ebenfalls keine Ablage von Larven beobachten können. Wenn ich den Hinterleib solcher Weibchen öffnete, so fand ich in den Eiröhren nur Bier und bei weitem noch nicht völlig ausgebildete Embryonen von bis zu 0,32 mm Länge, während die Größe völlig ausgebildeter Embryonen 1,00 mm erreicht. Allein von Mitte Juli oder vom August an beginnen die geflügelten (Sommer-) Weibchen von Dr. platanoides Larven abzulegen und von dieser Zeit an beginnt auch die Zahl der unter den Blättern des Ahorns sitzenden Läuse rasch zuzunehmen. Die Herbstsexuparen besitzen, gleich den Fundatrices, einen Hinterleib mit dunklen Querstreifen. Bei Chaitophorus lyropictus Kessl. erleidet die Fortpflanzung während des Sommers zwar keine Unterbrechung, allein sie erfolgt mit weniger Energie als im Friihjahre. Auch sind die ungeflügelten Sommerweibchen von geringerer Größe als die ungeflügelten und geflügelten Weibchen der zweiten Generation. So er- reichen diese letzteren nach Kessler‘) bis zu 3,0 mm Länge, während die unge- flügelten Weibchen der. dritten Generation nur 2,5 mm Länge aufweisen. Diese letzteren sind von gelbweißer Farbe, besitzen einen, vom Kopfe bis zum zweiten Abdominalsegment verlaufenden dunkelbraunen Lingsstreif und eine leierförmige braune Zeichnung auf dem Abdomen; die ungeflügelten Weibchen der zweiten Gene- ration dagegen sind von dunkelbrauner Farbe. Die ungeflügelten Sommerweibchen saugen in kleinen Gesellschaften längs den Rippen auf der Unterseite der Blätter des Ahorns, namentlich aber an Acer platanoides. Gegen den Herbst hin findet eine Verstärkung der Fortpflanzung statt. Von den Ahornläusen verdienen besondere Beachtung Chaitophorus aceris Koch (vorzugsweise unter den Blättern von Acer platanoides) und Ch. testudinatus Thornton (vorzugsweise auf und unter den Blättern von A. campestre). Die un- 3) Kessler, H. F. Die Entwickelungs- und Lebensgeschichte von Chaito- phorus aceris Koch, Chaitophorus testudinatus Thornton und Chaitophorus Iyropietus Kessler. Nova Acta der Kais. Leopold.-Karol. Deutschen Akademie der Naturforscher, Bd. LI, Nr. 2, 1886. Mordwilko, Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse, Aphididae Passerini. 633 geflügelten und die geflügelten parthenogenetischen Weibchen der zweiten Generation dieser Pflanzenlausarten legen von Mitte Mai an die Larven der dritten Generation ab, welche, wie dies zuerst von Kessler‘) nachgewiesen wurde, fast 3 Monate hin- durch unverändert bleiben und an ein und derselben Stelle leben. Die blassgelben, langbehaarten Larven von Ch. aceris sitzen in runden Häufchen unter den Ahorn- blättern, während die auf dem Blatte kaum bemerkbaren Larven von Ch. testudinatus von grünlicher Farbe und mit schuppenförmigen Haaren am Rande des Körpers und zum Teil auch auf den Extremitäten einzeln, bisweilen aber zu 4—5 in einer Reihe hauptsächlich auf der Oberseite des Blattes saugen; dabei liegen sie dem Blatte so dicht an, dass es bisweilen sogar schwer fällt, sie mit der Spitze einer Nadel zu entfernen. Gegen Ende des Sommers beginnen diese Larven der dritten Generation zu wachsen, sich zu häuten und nach der vierten Häutung Larven der zweigeschlechtigen Sexualesgeneration abzulegen. Rhopalosiphum berberidis Kalt. tritt Anfang Mai auf den Spitzen der jungen Triebe und auf den Blättern des Sauerdorns (Berberts vulgaris) in beträchtlichen Kolonien auf, welche hauptsächlich aus ungeflügelten Weibchen bestehen. Sie sind von rötlichgelber Farbe mit braunroten Flecken und Streifen auf der Rückentläche des Körpers. In dem letzten Drittel des Mai (a. St.) treten auch geflügelte Weib- chen auf. Allein Ende Juni und im Juli trifft man nur ungeflügelte Weibchen an, welche zerstreut, seltener in kleinen Häufchen unter den Blättern der Berberitze leben. Diese Weibchen sind kleiner als die Friihjahrsweibchen und von gleich- mäßiger hellgelber Farbe. Von ihnen abgelegte Larven sind um diese Zeit sehr selten anzutreffen. Allein schen im August nimmt die Vermehrung der Läuse wieder zu und dieselben werden wieder kolonienweise sowohl unterhalb der Blätter als auch auf den Spitzen von Trieben angetroffen. Im August treten wiederum geflügelte parthenogenetische Weibchen auf. Die geschlechtlichen Weibchen stimmen ihrer Färbung nach mit den parthenogenetischen Frühjahrsweibchen überein. Im Juli und August a. St. des Jahres 1897 beobachtete ich unter den aufge- rollten Blättern eines kleinen Schneeballstrauchs (Viburnum opulus) in dem War- schauer botanischen Garten nur wenige größere Kolonien kleiner ungeflügelter Weib- chen und Larven von Aphis viburni Scop., während im Frühjahre die Spitzen der Triebe und die Unterseite der Blätter des Schneeballs dicht von diesen Läusen bedeckt sind. Fast bis in den September hinein verblieben die Läuse beinahe in dem gleichen Zustande; Mitte September jedoch begannen die Kolonien anzuwachsen und unter den Blättern erschienen auch geflügelte Weibchen, welche anfingen, hier Häufchen geschlechtlicher Individuen (wahrscheinlich geschlechtliche Weibchen) ab- zulegen. Im Jahre 1893 fand ich kleine Häufchen von Läusen Mitte Juni (a. St.); geflügelte Weibchen waren um diese Zeit schon recht selten geworden. Aphis mali Fabr. pflanzt sich auf den Spitzen der Triebe und unter den Blättern des Apfelbaumes, des Quittenbaumes, bisweilen auch des Weißdorns und des Birnbaumes, namentlich an jungen Stecklingen, im Laufe des ganzen Sommers fort. Im Juli nimmt jedoch die Vermehrung an Intensität ab und im August fällt es sogar bisweilen schwer, Läuse an den erwähnten Stellen anzutreffen. So habe ich Mitte August (a. St.) des Jahres 1895 im Warschauer pomologischen Garten nur mit Mühe einzelne Kolonien von Aphis mali, dazu noch von unbedeutender Größe, auffinden können, in denen schon ovipare geschlechtliche Weibchen und eine kleine Anzahl ungeflügelter Männchen aufgetreten waren. Alle diese Individuen hatten ein schwächliches Aussehen. Ebenso hat auch Schmidberger‘) seinerzeit darauf hingewiesen, dass vom Ende des Sommers an die Lebensfähigkeit von A. mali geringer wird und die Fruchtbarbeit der Individuen abnimmt. Von der zweiten Hälfte des Septembers angefangen, pflanzen sich die Läuse jedoch recht energisch 4) Ibid. 5) Schmidberger, J. Beiträge zur Obstbaumzucht und zur Naturgeschichte der den Obstbäumen schädlichen Insekten. Linz 1839. 634 Mordwilko, Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse, Aphididae Passerini. fort und saugen um diese Zeit vorzugsweise an den Blättern, zum Teile aber auch noch an den Trieben. Bei Phyllaphis fag: L., welche an der Unterseite, wie auch an der Oberseite von Blättern der Rotbuche (Fagus silvatica), besonders der rotbraunen Varietit> saugt, nimmt die Intensität der Fortpflanzung in der zweiten Hälfte des Juni (a. St.) und im Juli so sehr ab, dass Kessler durch diesen Umstand, in Verbindung mit Ungenauigkeiten in der Beobachtung, dazu veranlasst wurde, diese Art von Pflanzen- läusen zu den migrierenden zu rechnen®). Ebenso bemerkt auch Kaltenbach: „Lebt vom Mai bis Juli gesellig unter den Blättern der Rotbuche (Fagus silvatica). Sobald die Blätter eine festere Konsistenz erhalten, verschwindet die Baumlaus und ihr Aufenthalt anf denselben kann höchstens 2 Monate dauern’).‘“ Am 21. Juni (a. St.) 1896 fand ich unter den Blättern der rotbraunen Buche im Warschauer botanischen Garten, mit Ausnahme einiger weniger überlebender geflügelter Weib- chen, ausschließlich nur Larven und kleine, gelblichweiße ungeflügelte Weibchen ohne dunkle Querstreifen auf der Dorsalseite des Abdomens, welche aber ungeachtet dessen in ihrem Inneren fast vollständig entwickelte Embryonen enthielten. Die im Frühjahre auftretenden ungeflügelten Weibchen erreichen 2,82 mm Länge und in ihren Eiröhren fand ich etwa 50 Embryonen und Eier, wobei die größten Embryonen eine Länge von 0,41 mm aufwiesen. Die größten, von mir am 21. Juni gefundenen ungeflügelten Weibchen erreichten dagegen nur 1,06 mm Länge; in einem solchen Weibchen zählte ich zehn Embryonen und mehrere Eier, wobei die größten Embryonen eine Länge von 0,29—0,34 mm erreichten. Ein Ablegen von Jungen seitens der im Sommer auftretenden ungeflügelten Weibchen habe ich nicht beobachtet, obgleich ein solches Ablegen wegen der zum Teil schon recht ent- wickelten Embryonen im Inneren dieser Weibchen nicht unwahrscheinlich ist. In einem solchen Zustande können diese Pflanzenläuse den ganzen Sommer hindurch angetroffen werden; gegen Herbst wird die Fortpflanzung indessen lebhafter und die oviparen Weibchen (mit Querstreifen auf der dorsalen Oberfläche des Körpers) erreichen eine Länge von 2,25 mm. Die ungeflügelten Weibchen von Schizoneura lonigera Hausm. verbreiten sich nach Kessler°) vom Frühjahre angefangen, vom unteren Teil des Stammes der Apfelbäume nach oben hin und an den Trieben — sowohl nach oben als nach unten zu; allein im Juli und August, namentlich bei trockener Witterung, ver- schwinden die Läuse fast gänzlich vom Stamme. Nach einiger Zeit beginnt die Vermehrung indessen wieder in verstärktem Maße zuzunehmen und zwar nach allen Richtungen hin, bis sie im September und Oktober ihren Höhepunkt erreicht. Von Interesse sind die Beobachtungen von Dreyfus an Phylloxera quercus Boyer de Fousc., welche unter den Blättern von Wuercus pedunculata und an- deren Eichen saugt. Die in kleinen, seitlichen Falten der Blätter saugenden Funda- trices legen, im Vergleiche mit den Sommergenerationen, die größte Anzahl von Eiern ab; die neuen Generationen von Läusen werden, bereits von der zweiten an- gefangen, immer kleiner; ebenso nimmt auch die Zahl der von jedem Weibchen abgelegten Eier immer mehr und mehr ab; diese Abnahme dauert bis zum September fort, wo wiederum parthenogenetische Weibchen, wenn auch in geringerer Anzahl auftreten, welche in Größe und zum Teile auch in der Ablage der Eier mit den im Mai auftretenden Fundatrices-Weibchen übereinstimmen). Die Fundatrices von Ph. quereus besitzen nach Balbiani mindestens 24 Eiröhren in beiden Ovarien, 6) Kessler, H. F. Nova Acta der Kais. Leopold. Akad., Bd. XLVII, Nr. 3, 1884, p. 137. 7) Monographie der I flanzenläuse, Aachen 1843, p. 147. 8) Die Entwickelungs- und Lebensgeschichte der Blattlaus. Kassel 1885, pp: 4—5. 9) Dreyfus, L. Neue Beobachtungen bei den Gattungen Chermes L. und Phylioxera Boyer de F. Zool. Anz. 1889, Nr. 299 u. 230. Mordwilko, Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse, Aphididae Passerini. 635 während bei den im Juni bis Juli gefangenen gewöhnlichen ungeflügelten Weibchen ein großer Teil der Eiröhren während der Entwickelung des Individuums reduziert wird, und deren nur 2—5 oder 6 in jedem Ovar übrig bleiben 1°). Ganz eigenartig verhält sich Mindarus abietinus Koch nach den Beobachtungen von O. Nüsslin. Aus den auf den Trieben der Weißtanne (Abies pectinata) überwinterten Eier schlüpfen Ende April und im Mai Fundatriceslarven aus, welche sich unter den Schutz der Knospenscheiden begeben. Die neuen Generationen von Läusen saugen an den Maitrieben. Aus den von den Fundatrices abgelegten Larven entwickeln sich vorzugsweise geflügelte Weibchen, bisweilen aber auch ungeflügelte. Die geflügelten Weibchen geben vorzugsweise geschlechtlichen (mit Rüsselchen versehenen) Indi- viduen den Ursprung, bisweilen aber auch parthenogenetischen Weibchen. Aus den ungeflügelten parthenogenetischen Weibchen können bisweilen ebenfalls geschlechtliche Individuen hervorgehen. Die geschlechtlichen Weibchen (Sexuales) legen latente überwinternde Eier ab, womit der Jahreszyklus der Generationen sein Ende er- reicht, welcher von Ende April bis zum Juni andauert, d.h. gegen 2 Monate. Einen ähnlichen Entwickelungsgang bietet auch M. obli- quus Cholodk. (auf den Trieben von Picea alba) nach den Beobach- tungen von Cholodkovsky und Nüsslin'!). Bei den migrierenden Pflanzenlausarten lässt die Vermehrung auf den (holzartigen) Hauptgewächsen zum Anfang des Sommers eben- falls nach und wird dann durch die geflügelten Weibchen ganz auf die meist krautartigen Zwischengewächse (seltener auf die Wurzeln holzartiger Gewächse) übertragen. Die aus überwinterten Eiern hervorgegangenen ungeflügelten Fundatricesweibchen übertreffen sehr häufig die ungeflügelten parthenogenetischen Weibchen der nächsten Generationen an Größe und unterscheiden sich dabei durch geringere Entwickelung ihrer Fortbewegungsorgane (Beine) und Sinnesorgane (Augen, Fühler); 1m Zusammenhange mit diesen beiden Erscheinungen sind diese Weibchen auch noch durch größere Re- produktionsfähigkeit ausgezeichnet. Die ungeflügelten partheno- genetischen Weibchen der zweiten sowie der darauffolgenden Gene- rationen, wenn solche zur Entwickelung gelangen, bringen schon eine geringere Nachkommenschaft hervor; eine noch geringere Nach- kommenschaft produzieren indessen die migrierenden geiliigelten Weibchen und zwar namentlich diejenigen unter ıhnen, welche sich gegen Ende des Frühjahres und im Sommer entwickeln. So be- saßen die am 5. Mai (a. St.) 1596 im Warschauer botanischen Garten von der Vogelkirsche genommenen geflügelten Weibchen von Aphis padi Lin. eine Länge von bis zu 2,92 mm; viele ge- 10) Balbiani, G. Le Phylloxera du chéne et le Phylloxera de la vigne. Paris 1884, pp. 14—15. 11) Ibid. 636 Mordwilko, Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse, Aphididae Passerini. flügelte Weibchen dagegen, welche Ende Mai (a. St.) gefangen wurden, wiesen eine Länge von nur 1,82 mm auf. Bei vielen migrierenden Arten gelangen schon in der zweiten Generation ge- flügelte Weibchen zur Entwickelung, welche denn auch auf die Zwischengewichse hinüber migrieren. Hierher gehören vor allem sämtliche gallenbildenden Pemphiginae von der Pappel und Ulme, ebenso die Chermes-Arten von der Fichte. Bei Aphis piri Koch besteht die zweite Generation größtenteils nur aus geflügelten Weib- chen, alleın bisweilen kann man unter diesen letzteren auch einzelne ungeflügelte Weibchen antreffen. Bei Schizoneura corni Fabr. auf alten, hartgewordenen Hartriegeln ist die gleiche Erscheinung zu beobachten; allein je zarter die Triebe und Blätter junger Hartriegel sind, um so mehr Generationen von Sch. corni entwickeln sich auch auf ihnen, wobei eine jede einzelne Generation ungeflügelte Weib- chen enthält. In diesem Falle kann die Migration verhältnismäßig lange Zeit hindurch vor sich gehen. Sehr verschieden ist das Ver- halten von Aphis evonymi Fabr. auf dem Spindelbaume, alleın früher oder später migrieren diese Läuse auf Zwischengewächse. Von der zweiten Hälfte des Sommers an, je nach den ver- schiedenen Arten von Pflanzenläusen und zum Teile auch infolge zufälliger Lebensbedingungen, etwas früher oder später, beginnen die geflügelten Sexuparen von den Zwischengewächsen auf die Hauptgewächse zurückzukehren; in der Unterfamilie der Aphidinae kehren auch geflügelte Männchen zurück, welche noch auf den Zwischengewachsen zur Entwickelung gelangt sind. Bei den von der Pappel, Ulme und Esche migrierenden Pemphiginae saugen die gegen Ende des Sommers zurückkehrenden Sexuparen nicht mehr an den Hauptgewächsen, sondern legen hier unmittelbar an der Rinde der Stämme und Äste Larven von geschlechtlichen Indi- viduen (ohne Rüssel) ab. Bei den migrierenden Pflanzenläusen aus der Gruppe der Aphidina und bei Schixoneura corni dagegen saugen die Sexuparen zuerst an der Unterseite der Blätter und legen dann erst Larven von geschlechtlichen Individuen ab. Setzt man die Läuse jedoch Mitte Sommers von den Zwischengewächsen auf die Hauptgewächse herüber, so saugen sie an diesen letzteren nicht, was zum Teile auf die um diese Zeit verschiedenen Be- dingungen des Lebens auf den Hauptgewächsen zurückzuführen ist. Fin positives Resultat ergeben derartige Versuche nur in bezug auf Aphis evonymi Fabr., Siphocoryne zylostei Schr., 8. capreae Fabr., Hyalopterus trirhodus Walker (aquilegiae Koch). Auf verschiedenen krautartigen Gewächsen, sowie an den Wurzeln von Büschen und sogar von Bäumen weisen die Pflanzen- läuse dagegen während der ganzen Vegetationsperiode der betreflen- den Gewächse ein mehr oder weniger gleichmäßiges Verhalten auf und ihre Vermehrung ist selbst im Sommer mehr oder weniger Mordwilko, Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse, Aphididae Passerini. 637 intensiv. Während sich die Pflanzenläuse indessen an den ober- irdischen Teilen der holzartigen Gewächse von allem Anfange des Frühjahres an, sobald die Knospen aufspringen und sogar noch früher zu entwickeln beginnen, treten sie auf den krautartigen Ge- wächsen verhältnismäßig erst sehr spät auf, und zwar zu der Zeit, wo diese Gewächse schon verhältnismäßig weit entwickelt sind; zum Teile treten auch diese Gewächse häufig verhältnismäßig spät auf. Eine Ausnahme bilden nur die Pflanzenläuse, welche auf den Wurzeln, seltener an den oberirdischen Teilen perennierender Kräuter überwintern (so z. B. Pemphigus affinis Kalt. (ranunculi Kalt.) auf Ranunculus repens u. a. m.). Auf den oberirdischen Teilen der holzartigen Gewächse wird die Vermehrung der Pflanzenläuse im Sommer demnach entweder stark herabgesetzt oder aber sie wird auf krautartige Gewächse übertragen; auf den krautartigen Gewächsen dagegen vermehren sich die Pflanzenläuse im Sommer, ohne dass irgendwelche Schwan- kungen in der Intensität der Fortpflanzung zu bemerken wären. Es fragt sich nun, wodurch ein solch verschiedenes Verhalten der Pflanzenläuse im Sommer auf holzartigen Gewächsen einerseits und auf krautartigen sowie auf den unterirdischen Teilen der holzartigen Gewächse andererseits zu erklären ist, ebenso auch das verschiedene Verhalten auf den oberirdischen Teilen von holzartigen Gewächsen zu verschiedenen Zeitpunkten ıhrer Vegetationsperiode, d. h. ım Frühjahre, im Sommer und ım Herbste. Ber der Beantwortung dieser Frage wird man vor allem den Umstand im Auge behalten müssen, dass sich das Verhalten der Pflanzenläuse sowohl auf ein und denselben Gewächsen, aber zu verschiedenen Zeiten ihrer Vegetationsperiode, als auch auf ver- schiedenen Gewächsen zu ein und derselben Zeit nur dann ändern kann, wenn sich gleichzeitig auch deren Existenzbedingungen ändern. Denn würden sich die Lebensbedingungen nicht ändern, so könnte man sich unmöglich vorstellen, auf welche Weise dann ın dem Verhalten der Pflanzenläuse irgendwelche Veränderungen auftreten könnten. Es müssen demnach einerseits auf den holzartigen Ge- wächsen und andererseits auf den krautartigen verschiedene Existenz- bedingungen für die Pflanzenläuse obwalten. Allein die einen Existenzbedingungen und zwar namentlich die Bedingungen für die Ernährung stehen in unmittelbarer Abhängigkeit von den Higen- tümlichkeiten der Nährpflanzen; andere Existenzbedingungen da- gegen, wie z. B. Temperaturverhältnisse, der Feuchtigkeitsgehalt der Luft, die gegenseitigen Beziehungen zu anderen Tieren (nament- lich zu den Feinden in Gestalt von Raubinsekten und parasitischen Schlupfwespen) stehen in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit den Eigentümlichkeiten der Nährpflanzen. Da nun ferner alle die zuletzt erwähnten Existenzbedingungen der Pflanzenläuse zu jeder 638 Mordwilko, Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse, Aphididae Passerini. beliebigen Jahreszeit, so z. B. auch im Sommer, sowohl auf den oberirdischen Teilen der holzartigen,.wie auch an den oberirdischen Teilen der krautartigen Gewächse genau die gleichen sind, so liegt es auf der Hand, dass die Unterschiede in den Existenzbedingungen der Pflanzenläuse auf holzartigen Gewächsen einerseits, auf kraut- artigen andererseits auf eine Verschiedenheit in den Ernährungs- bedingungen auf beiden zurückzuführen ist. Hierauf wird man den Schluss ziehen können, dass sich für die Pflanzenläuse auch auf ein und denselben holzartigen Gewächsen, jedoch zu verschiedenen Zeiten von deren Vegetationsperiode hauptsächlich die Ernährungs- bedingungen ändern, wodurch denn auch das verschiedene Verhalten der Läuse in den verschiedenen Phasen der Vegetationsperiode dieser Gewächse bedingt wird. Auf diese Weise werden wir zu der Schlussfolgerung veranlasst, dass zu der Zeit, wo die Vermehrung der Pflanzenläuse am intensivsten vor sich geht, auch Nahrung für dieselben im Überflusse vorhanden sein muss, und umgekehrt. Im Frühjahre und im Herbste müssen auf holzartigen Gewächsen die günstigsten Enährungsbedingungen für die Pflanzenläuse geboten werden, ın der Mitte des Sommers dagegen die allerungünstigsten. Es frägt sich nun, ob dieser Unterschied in den Bedingungen der Ernährung auch ın der Tat vorhanden sind und womit derselbe ım Zusammenhange steht? Auf Grund der Untersuchungen des Botanikers M. Büsgen'?) beziehen die Aphididen sowie einige Cocciden ihre Nahrung aus den Pflanzen, indem sie die Borsten ihres Saugapparates in die Elemente des Weichbastes oder Phloöms versenken, wo sie bald die eine, bald eine andere Zelle aussaugen, ohne dabei irgendeinen speziellen Bestandteil des Weichbastes (die Siebröhren, die leitenden Zellen oder die Zellen des Combiforms) zu bevorzugen. Für eine solche Bevorzugung würde übrigens auch gar kein Grund vorliegen, indem alle diese Elemente an Eiweißstoffen und Kohlenhydraten reich sind, und dazu noch in flüssiger Form, wodurch das Saugen selbst bei geringem Lumen der Saugröhre bedeutend erleichtert wird. Es lässt sich unschwer erkennen, aus welchem Grunde die Pflanzenläuse das Phloöm vor anderen Geweben der Pflanzen be- vorzugen: das Phloöm stellt dasjenige Gewebe dar, in welchem (und dies ist namentlich in den Siebröhrchen der Fall) die ver- schiedenen plastischen Substanzen (Proteine, Kohlenhydrate u. s. w.) vorzugsweise in der Pflanze zirkulieren; durch das Phloém strömt demnach fortwährend die zur Ernährung der Pflanzenläuse erforder- liche Nahrung. Dabei bietet auch das Erlangen dieser Nahrung den Pflanzenläusen keine Schwierigkeit, indem die Zellwände der 12) Der Honigtau. Jena 1891. Kap. VI. Tigerstedt, Handbuch der physiologischen Methodik. 639 Elemente des Phloéms zart genug sind, um von der Spitze des Saugapparates der Pflanzenläuse durchstochen zu werden; besonders zart müssen diese Wände dann sein, wenn die Reservestoffe durch die Pflanze strömen, denn bei dieser Gelegenheit erleidet die Sub- stanz, aus welcher die Zellwände der betreffenden Elemente be- stehen, eine chemische Metamorphose, indem sie zum Teil in lös- liche oder quellbare Substanzen übergehen'*). Wenn demnach aus irgendwelcher Ursache die Bewegung der plastischen Substanzen durch das Phloömgewebe der Pflanze an Stärke zunimmt, so ver- bessern sich gleichzeitig auch die Ernährungsbedingungen für die Pflanzenläuse, und umgekehrt. Wenn wir alles dies in Betracht ziehen, müssen wir zu dem Schluss gelangen, dass die Fortbewe- gung der plastischen Substanzen in den holzartigen Gewächsen während der Vegetationsperiode derselben gewissen Schwankungen unterworfen sein muss, was denn in Wirklichkeit auch der Fall ist. (Schluss folgt.) Hegi u. Dunzinger. Illustrierte Flora von Mitteleuropa. München, Lehmann’s Verlag. Diese, schon vor einem Jahr hier angezeigte Flora ist. nun mit Lieferung 11 zum Abschluss des ersten Bandes gediehen. In dieser, 10 Bogen umfassenden Lieferung wird die zur Einleitung dienende allgemeine Morphologie zum Abschluss gebracht. Der erste Band schließt mit den Getreidearten ab. In der prächtigen Ausstattung, den schönen, teils schematischen und teils photographischen Ab- bildungen, mit denen insbesondere diese Einleitung, aber auch der Florentext ausgestattet sind, in der erschöpfenden Reichhaltigkeit dieses Textes und in der Schönheit der Tafeln werden alle Er- wartungen erfüllt, welche die ersten Lieferungen erweckt hatten. Ä W. Handbuch der physiologischen Methodik. Herausgegeben von Robert Tigerstedt. Bd. 1, 2. Abteil., Gr. 8, 232 8., 97 Fig. Bd. 2, 2. Abt., Gr. 8, 188 S., 36 Fig. Leipzig, 1908, S. Hirzel. Die Physiologie, welche so vielfache Berührung mit anderen Wissenschaften hat, benutzt dementsprechend für ıhre Untersuchungen sehr mannigfaltige Methoden, welche zum größten Teil diesen „Hilfswissenschaften“ entlehnt und den besonderen Zwecken der Physiologie angepasst sind. Die Kenntnis der bei früheren Unter- suchungen bewährten Methoden ist deshalb wichtig. Eine Zusammen- stellung der gangbarsten ist (abgesehen von einem unvollendet ge- bliebenen Versuch Gscheidlen’s) von Cyoni. J. 1876 veröffentlicht worden. Herr Tigerstedt hat es jetzt unternommen, eine neue, dem jetzigen Stand der Forschungen entsprechende Darstellung zu 13) Pfeffer, W. Pflanzenphysiologie. Bd. 1, 2. Aufl., 1897, p. 483. 640 Eappernen. Folia haematologica und Folia serologica. geben, in Verbindung mit einer Anzahl von Experimentatoren welche in einzelnen Gebieten der Physiologie besondere Erfahrungen besitzen. Von dem auf 3 Bände berechneten Werk sind zunächst die beiden oben genannten Hefte erschienen. Im ersterwähnten Hefte bespricht zunächst Herr Pütter (Göt- tingen) die Methoden zur Erforschung des Lebens der Protisten (S. 1 - 68). Seine ausführliche Darstellung gibt fast eine vollständige Physiologie der Protisten nach dem Stande unserer jetzigen Keunt- nisse. Die Untersuchungen an wirbellosen Tieren behandelt Herr Bethe (Straßburg) auf S. 69— 112, die Anwendung der physikalisch- chemischen Methoden Herr Asher (Bern) auf S. 113— 232. Jedem Abschnitt ist ein ausführliches Literaturverzeichnis beigegeben. Das zweitgenannte Heft enthält die Untersuchung der Atem- bewegungen von Schenk (Marburg) auf S. 3—53, die Methodologie der Enzymforschungen von Oppenheimer (Berlin) auf S. 54— 98, der Bewegungen des Verdauungsrohrs von Magnus (Heidelberg ) auf S. 99—149 und die operative Methodik des Studiums der Ver- dauungsdrüsen von Pawlow (St. Petersburg) auf S. 150-—188. Eine genauere Würdigung der einzelnen Beiträge behalten wir uns bis nach dem Erscheinen der weiteren Hefte vor. J. Rosenthal. Folia haematologica und Folia serologica. Herausgegeben von Arth. Pappenheim, Verl. Dr. Werner Klinkhardt, Leipzig. Die erstgenannte Zeitschrift ist ım ersten Halbjahr 1908 in einem Umfang von 879 S. erschienen. Neben schön ıllustrierten Originalabhandlungen, hauptsächlich über die Morphologie der Blut- körperchen, hat sie sehr zahlreiche und gute Referate aus allen Ländern und aus dem gesamten Gebiet der Lehre vom Blut und der Körpersäfte, also auch über das ganze Gebiet der humoralen Immunität gebracht. Sie soll nun in zwei nebeneinander erscheinende und einander ergänzende Zeitschriften, F. haematologica und F. serologica zerlegt werden, von denen die ersteren die gesamte Morphologie der körperlichen Blutelemente beim Gesunden und Kranken, die letzteren die ganze Immunitätslehre, daneben aber auch die in Blut vorkommenden Protozoen und verwandte Blut- infektionen und auch noch interne Sekretion und Opotherapie, Et physiologie und Blutnachweis umfassen soll. Dem Bedürfnis, gegenüber der ungeheuer vielfältigen und ver- streuten Literatur und den mannigfaltigen Wechselbeziehungen der medizinischen Spezialgebiete untereinander, streng spezialisierte Sammelstellen zu schaffen, die einen raschen Überblick und dauerndes Zurechtfinden in den weit zerstreuten Arbeiten über bestimmte Fragen gestatten, werden die beiden Zeitschriften wohl sehr ent- sprechen. W.R. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. RZ NE Be BE, Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Über die Entwickelung der jetzigen therapeutischen Anschauungen in der inneren Medizin von Prof. Dr. E. Romberg, Tübingen. | M. —.80. Grundriss der physikalischen Chemie Privatdozent Dr. Mi. Roloff, Halle. Mit 13 Abbildungen. M. 5.—, geb. M. 6.—. kehrbuch der allgemeinen Physiologie. Eine Einführung in das Studium der Naturwissenschaften und Medizin von Hofrat Prof. Dr. J. Rosenthal, Erlangen. Mit 137 Abbildungen. M. 14.50, geb. M. 16.50. Der physiologische Unterricht und seine Bedeutung für dıe Ausbildung der Arzte von Hofrat Prof. Dr. 8. Rosenthal, Erlangen. M. 2.—. Die Pulsionsdiverfikel des Schlundes Anatomie, Statistik, Ätiologie Dr. W. Rosenthal, Göttingen. M. 3.60. K. B. Hof- und Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. e Biologisches Centra hatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof..der Physiologie in Erlangen. VYierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Fostanstalten. XXVIII.Bd. 15. Oktober 1908. Ne 20. N I Mi "Leipzig. Verlag von Georg Thieme. Rabensteinplatz 2. Verlag der H. Laupp’schen Buchhandlung in Tühingen. Der Bau des Menschen als Zeugnis für seine Vergangenheit. Von Dr. R. Wiedersheim, Professor an der Universität Freiburg 1. B. Vierte, gänzlich umgearbeitete und stark vermehrte Auflage. Mit 155 Figuren im Text. — Lex.-8°. 1908. M. 7.—. Geb. M. 8.—. Die neue Auflage dieses in Fachkreisen längst anerkannten Buches sucht den neuen Errungenschaften auf den einschlägigen wissenschaftlichen Gebieten nach ' Möglichkeit Rechnung zu tragen. An Zusätzen sind namentlich zu erwähnen die Resultate der biologischen Serumforschung und die Betrachtungen über das Altern der Organe in der menschlichen Stammesgeschichte und dessen Einfluss auf krank- ' hafte Erscheinungen. Durch all dies hat das Buch nicht nur eine beträchtliche Änderung, sondern auch eine bedeutende Vertiefung des Stoffes erfahren. Das Werk ist keinesfalls nur für die zukünftigen Naturwissenschaftler, Anatomen, Pathologen und Anthropologen geschrieben, sondern es bietet auch dem Laien die beste Einführung in die Probleme der Entwicklungs- geschichte und eine höchst anregende Belehrung über, die eigenartige Stellung des Menschen in der Natur. 1907 ist erschienen: Das Foramen „interventrieulare“ (Monroi) Entwicklungsgeschichtlich-anatomische Studie von Dr. med. Richard Volz in Ulm. Mit 6. Abbildungen, 82. 19072: M. — 60. — Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. Bd. XXVIil. 15. Oktober 1908. Ae 20. Inhalt: Falger, Untersuchungen iiber das Leuchten von Acholoe astericola. — Mordwilko, Bei- träge zur Biologie der PHanzenliuse, Aphididae Passerini (Schluss). — v. Frisch, Studien über die Pigmentierung im Facettenauge. — Niedenzer, Garcke’s Illustrierte Flora von Deutschland. — Wasielewsky, Studien und Mikrophotogramme zur Kenntnis der pathogenen Protozoen. — Miiller, Allgemeine Chemie der Kolloide. Untersuchungen iiber das Leuchten von Acholoe astericola. (Aus dem zool. Inst. d. k. k. Universitat Innsbruck.) Von Dr. Ferdinand Falger. Die Dorsalseite des Polynoiden Acholoe astericola ist mit einer Doppelreihe von Elytren bedeckt, die sich dachziegelartig über- einanderlegen und nach bestimmten Gesetzen mit den Dorsalcirren abwechseln. Das erste Segment trägt ein Elytrenpaar, das zweite Dorsal- cirren, das dritte und vierte Elytren; dann erfolgt ein regelmäßiger Wechsel zwischen je einem Elytren und einem dorsalcirrentragenden Segmente bis zum 23. Segmente. Dieses und das nächste tragen Dorsaleirren, das 25. Elytren, das 26. und 27. Dorsaleirren u. s. w. im Wechsel a-b-b (eine Elytre, zwei Dorsalcirren) bis zu den letzten drei Segmenten, die sämtliche Dorsalcirren tragen. Die Anzahl der Elytren beträgt demnach 12 — n, die der Dorsaleirren 12 + (2n +1). ‚Die Elytren sind häutige Schilde, fischschuppenähnlich, von ovaler bis fast kreisrunder Form und !/,—1 mm Durchmesser. Sie sind in der Mitte milchig-weiß bis fast durchsichtig, am Rande, XXVIII. 41 642 Falger, Untersuchungen über das Leuchten von Acholoe astericola. und zwar nur an dem Ende, das nach hinten schaut, haben sie einen braunen, halbmondförmigen Streifen. Die Elytre sitzt auf einem kurzen, dorsal gelegenen Stiele, dem Elythrophor, von dem sie jedoch sehr leicht abfällt, besonders wenn die Acholoe dem Tode entgegen geht. Bezüglich des Leuchtvermögeus der Acholoe schreibt schon P. Panceri’), dass die Elytren die einzigen Organe sind, die bei Acholoe Licht produzieren; das Leuchten sei stark und erfolge auf Reiz hin und pflanze sich von einer Elytre zur anderen fort. Doch sollen Elytren, die vom Tiere abgelöst sind, nicht leuchten. Es heisst diesbezüglich 1. ¢.: „Acholoe ast. & una delle specie pit: lucenti ed opportunissima attesa la lunghezza del corpo, alla dimostrazione delle correnti luminose che percorrono le elitre nell’ anımale stimulato I. La luce nelle polinoe emana delle elitre esclusivamente. II. Le elitre delle polinoe s’ılluminano colla stimulazione de!l’ animale trasmettendosi I eccitamento da elitra ad elitra dal capo alla coda ovvero in senso inverso secondo il punto di applicazione dello sti- molo. III. Lo stesso luminoso potere non si conserva essa tosto dopoche un’ elitra sia staccata. Wahrend meines Aufenthaltes an der k. k. zoologischen Station in Triest in den Herbstferien 1905 stellte ich diesbeziiglich Ver- suche an. Erst machte ich Beobachtungen an der ungereizten Acholoe, dann machte ich eine Serie von Reizversuchen, deren Beschreibung und Resultate hier wiedergegeben werden sollen. Sämtliche Beobachtungen wurden in einer Dunkelkammer ge- macht; wurde dabei Licht benützt, so war es das matte Licht einer roten Lampe. Die Versuchstiere lagen in einer ca. 15 cm langen und 5 cm breiten Schale mit ebenem Boden und waren 1 cm hoch mit See- wasser bedeckt. Das Versuchsmaterial wurde den Ambulakralrinnen von frisch- gefangenen Asteropectenarten, meist Asteropecten aurantiacus ent- nommen, und während der Zeit, da es nicht zu Versuchen benützt wurde, unter möglichst günstigen Verhältnissen im Aquarıum auf- bewahrt. I. Beobachtungen am ungereizten Tiere. Acholoe kroch am Boden der Glasschale herum, versuchte manchmal auch die senkrechten Glaswände zu erklimmen und stand davon selbst dann nicht ab, wenn sie bereits außerhalb des Wassers war. 1) P. Panceri: La luce e gli organi luminosi di aleuni anneliti Atti d. accad. Napoli 1878, Vol. VII. Falger, Untersuchungen über das Leuchten von Acholoe astericola. 643 Wahrend des Kriechens zeigt Acholoe auf dem Riicken meist einen grünlich bis bläulichweißen Schimmer, dem Lichtstreifen ähnlich, den man erhält, wenn man ein Schwefelhölzchen an der Mauer streicht. Dabei leuchtete nicht der ganze Rücken gleichmäßig, vielmehr ging das Licht bald mehr von der vorderen, bald mehr von der hinteren Hälfte oder der Mitte des Tieres aus. Die Intensität des Lichtes war im allgemeinen auf der ganzen leuchtenden Strecke gleich, nur erfolgte dann und wann ein Aufblitzen einiger oder einzelner Elytren, das bald wieder so weit herabgemindert wurde, dass diese Elytren gleich stark wie ihre Nachbarn leuchteten. Während dieses gleichmäßigen schwachen Leuchtens konnte man deutlich sehen, dass nur eine halbmondförmige, randständige Partie der Elytre Licht von sich gibt. IH, Beobachtungen am gereizten Tiere. Als Reize wurden verwendet: 1. mechanische, 2. chemische, 3. thermische, 4. elektrische Reize. Die Untersuchungsverhältnisse waren die gleichen wie am un- gereizten Tiere. 1. Mechanische Reizung. Schon bei ganz geringen Reizen, wie z. B. der Bewegung des Wassers, leichter Erschütterung des Gefäßes, ın dem sich Acholoe befand, reagierten die Individuen durch Aufleuchten, falls sie nicht schon vor der Reizung leuchteten, oder durch Verstärkung der Lichtintensität, wenn sie schon vor der Erregung den oben be- schriebenen Schimmer zeigten. Noch besser gelang die Reaktion, wenn man die Tiere mit einer Nadel berührte oder einen leichten Druck auf sie ausübte. Bei solchen lokal bestimmten Reizen leuchtet erst die berührte Stelle intensiv auf, dann schreitet dieses Licht mit ziemlich großer Geschwindigkeit, jedoch nicht so schnell, dass man die progressive Fortpflanzung nicht mehr verfolgen könnte, sowohl nach vorne als auch nach rückwärts fort. Dabei leuchteten aber nicht alle Elytren ganz gleich stark, manche zeigten intensiveres, manche ein schwächeres Licht. Dies ist w@hl darauf zurückzuführen, dass die Leuchtorgane im Moment der Reizung nicht alle gleich stark empfindlich oder „geladen“ sind, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist. Dieses starke Licht dauerte einige Sekunden, erlosch dann voll- ständig oder es blieb ein leuchtender Schimmer zurück. Ebenso, wie sich das Licht bei seinem Entstehen von Elytra 41% 644 Falger, Untersuchungen über das Leuchten von Acholoe astericola. zu Elytra fortpflanzt, so erlöschen auch nicht sämtliche Elytren zu- gleich, sondern eine nach der andern. Das Licht hatte wiederum die bläulichgrünlichweiße Farbe; auch hier konnte man deutlich den leuchtenden halbmondförmigen Streifen an den einzelnen Elytren bemerken, während die mittleren Partien dunkel blieben. Dieses Leuchten bei Berührung und überhaupt auf mechanische Reize hin ist so stark, dass man es selbst bei nicht allzu starker Tageshelligkeit bemerken konnte. 2. Chemische Reize. Das Versuchstier wurde erst in eine größere Uhrschale init frischem Seewasser gebracht, so dass es von diesem noch voll- ständig bedeckt war. Dann goss ich in das Wasser, jedoch nicht unmittelbar auf das Tier, 1—4 Tropfen Salzsäure und das Resultat war ein anfangs blitzartiges, dann mehr andauerndes, jedoch nicht regelmäßiges Leuchten. Wurde der Reiz dadurch kombiniert und erhöht, dass ich einen Induktionsstrom durch das Tier leitete, so wurde die Intensität des Leuchtens noch erhöht. Nach einiger Zeit verschwand das Licht und kam auch dann nicht wieder, als ich das Tier in reinem Seewasser abgespült hatte. Die zweite chemische Reizung wurde mit Kalilauge gemacht. Dem frischen Seewasser, in dem sich die Tiere befanden, wurden einige Tropfen von Normalkalilauge (;5 NaOH) beigemengt, doch rief dies keine Reaktion hervor, es erfolgte keine Lichtabgabe. Dass aber Kalilauge die Luminiszenz herabsetzt, zeigt folgendes. Durch das auf die eben beschriebene Weise chemisch gereizte Tier wurde ein Induktionsstrom geleitet; da erfolgte zwar ein Aufleuchten, jedoch dauerte es nur ganz kurze Zeit. Dass daran nicht der elektrische Strom schuld war, zeigen die Kontrollversuche mit demselben ohne vorherige Reizung mit Kalilauge. Hier wären noch die Versuche anzuschließen, die zeigen sollten, wie Acholoe und ihre Leuchtkraft sich gegenüber Sauerstoff und Kohlensäure verhalten. Da jedoch bei diesen Versuchen immer auch zugleich elektrische Ströme verwendet wurden, will ich sie nach Abhandlung der thermischen und elektrischen Reize einschalten. Thermische Reizung. Solche konnte ich nur nach einer Seite hin ausführen, insoweit es nämlich das Verhalten von Acholoe gegenüber 'Temperaturerhöhung betrifft. Zu diesem Zwecke wurde dem normal temperierten Seewasser, in dem sich das Versuchsobjekt befand, ‘sowohl heißes Seewasser langsam zugegossen, als auch eine rapıde Temperaturerhöhung her- Falger, Untersuchungen über das Leuchten von Acholoe astericola. 645 vorgerufen. Acholoe leuchtete zwar, als sie in die Versuchsschale hineingegeben wurde, nach einiger Zeit jedoch hörte die Licht- emission auf, und dann erst wurde der Versuch begonnen. Im ersteren Falle, bei langsamer Temperaturerhöhung, stellte sich an- fangs ein schwaches Leuchten ein, das sich steigerte, wenn der Temperaturunterschied größer wurde. Die Maximaltemperatur, bei der Acholoe noch leuchtete, war ca. 40° C. Ist diese obere Reiz. schwelle erreicht, dann findet zunächst ein Aufhören des Leucht- vermögens statt, dem alsbald der Tod des Tieres folgt, selbst wenn man es in die für seine Lebensbedingungen normale Temperatur zurückversetzt. Ebenso tritt nach momentaner Temperaturerhöhung auf 36— 44°C. und darüber ein einmaliges Aufblitzen der Elytren ein, das sofort wieder verschwindet und dem der Tod des Tieres folgt. 4. Elektrische Reizung. Die elektrischen Reize haben vor den andern und insbesondere den mechanischen Reizen das voraus, dass sie mit großer Exakt- heit gemessen werden können und dass man sich ihrer sicher und bequem bedienen kann. Ich machte solche Versuche sowohl mit konstanten als auch mit Wechselströmen. Für alle elektrischen Versuche benützte ich drei Elemente a 1 Volt. Die Versuchstiere wurden auf eine rechteckige Glasplatte gelegt, und den Kontakt der Ströme erzielte ich dadurch, dass von den Klemmschrauben auf der Schmalseite der Platte je ein Staniol- streifen ausging, der der Platte aufgeklebt war. Der Abstand in der Mitte der Platte zwischen den beiden freien Enden des Staniol- streifens betrug 15 mm. Darauf wurden die beiden Versuchsobjekte so gelegt, dass das Vorderende den einen Pol berührte, das Hinter- ende den andern. Verbessert wurde der Kontakt durch Befeuchtung mit Seewasser. Obgleich die Staniolstreifen ziemlich groß waren (40 mm lang, 7mm breit), war doch der Widerstand ein relativ großer, so dass die Stärke des Stromes, die tatsächlich wirkte, lange nicht mehr den 3 Volt entsprach. Eine genaue Messung des Stromes konnte ich nicht machen, da mir die dazu unbedingt notwendigen Apparate fehlten. Um den Strom jederzeit unterbrechen zu können, brachte ich einen Stromunterbrecher („Schlüssel“) an. a) Versuche mit konstanten Strömen. Wurde der Strom geschlossen, so leuchtete das ganze Tier jäh auf; die Leuchtkraft ließ dann nach, hörte manchmal sogar zeit- weise ganz auf, wurde sofort aber wieder sehr stark, wenn der Strom geöffnet wurde. Ebenso leuchteten die Elytren noch kurze Zeit nach Stromöffnung weiter. Hierauf änderte ich die Richtung 646 Falger, Untersuchungen über das Leuchten von Acholoe astericola. des Stromes und schaltete den Strom wieder ein. Wurde er dann durch Acholoe geleitet, so konnte man sehen, dass bei jedem Wechsel der Stromrichtung ein momentanes Aufblitzen der Elytren erfolgte. Dass ein Verhältnis zwischen der Stromrichtung und dem Orte des Entstehens des Lichtes sowie der Reizleitungsrichtung bestände, konnte ich nicht bemerken. b) Versuche mit dem Wechselstrom. Zu diesen Versuchen benützte ich einen primären Strom, den ich von drei Elementen 4 1 Volt bezog. Beim Induktor war die Anzahl der Umdrehungen auf der äußeren, verschiebbaren Rolle 20500. Die Tiere wurden nun auf die Glasplatte gelegt und der Strom durch sie hindurchgeleitet. Dabei ging ich in der Weise vor, dass ich die äußere Rolle erst so weit als möglich herauszog und dann langsam hineinschob (Verstärkung der Spannung). Das Resultat war, dass bei Erreichung der unteren Reizschwelle, die je nach dem Individuum zwischen 12 und 9 cm Rollenabstand schwankte, die Elytren ein intensives Licht von sich gaben. Die Stärke des Lichtes hält sich bei frischem Versuchsmaterial fast immer auf der gleichen Höhe; doch konnte ich bei längerer Dauer des Versuches eine feine Schwankung der Stärke des Lichtes bemerken. Die Phasen helleren und weniger hellen Leuchtens folgten aber so rasch nacheinander, dass das Licht zu vibrieren schien. Ließ die Leuchtkraft nach, so konnte sie sofort dadurch wieder gehoben werden, dass man den Rollenabstand verringerte, also die Spannung erhöhte. | Unter diesen Verhältnisseu leuchtete Acholoe 20—30 Minuten, hernach erlosch das Licht; gönnte man dem Tiere eine längere Er- holungspause in gutem, frischem Seewasser, so leuchtete es wieder. Die Dauer dieses zweiten Leuchtens hing von der Erholungszeit ab. Diese Versuche beziehen sich alle auf die lebenden Tiere, an denen die Elytren noch angeheftet sind. Ich ging nun daran, auch abgelöste Elytren auf ihre Leucht- kraft zu untersuchen. Wie ich bereits anfangs bemerkte, betont Panceri ausdrück- lich, dass Elytren nicht leuchten, sobald sie vom Tiere -abgelöst sind. Eine Reihe von Versuchen, die ich diesbezüglich machte, erwies das Gegenteil. Ich löste sowohl von bereits gereizten als auch von ungereizten Acholoe Klytren ab und ließ durch sie den Induktionsstrom hin- durchgehen. Dabei blieb die Anordnung der Apparate die gleiche. Das Resultat war, dass die Elytren, die frisch vom Tiere abgelöst waren, noch leuchteten, und zwar bei einer unteren Reizschwelle Falger, Untersuchungen über das Leuchten von Acholoe astericola, 647 von 12 cm Rollenabstand. Das Leuchten dauerte ununterbrochen 13 Minuten lang, doch wurde dabei die untere Reizschwelle stets höher (nach oben verschoben), so dass schließlich der Rollenabstand nur mehr 15 mm betrug. In bezug auf Intensität, Farbe u. s. w. war das Licht gleich wie an unverletzten Elytren. Nachdem die Leuchtkraft nach 13 Minuten versiegt war, wurden die Elytren kurze Zeit ungereizt gelassen und hierauf noch einmal der Strom hindurch gesandt. Wiederum leuchteten die Elytren 2—3 Sekunden lang. Nach viertelstündiger Ruhe erfolgte neuer- liche Reizung, auf die die Elytren nochmals mit zweisekundenlangem Leuchten antworteten. SpätereVersuche, die in einer Zwischenzeit von !/,—24 Stunden erfolgten, blieben resultatlos. Die Elytren schienen ihr ganzes Leuchtmaterial aufgebraucht zu haben, oder die Nerven, die schon dadurch in ihrer Funktion beeinträchtigt wurden, dass sie vom Zentrum getrennt waren, gingen infolge der ‚relativ hohen Versuchsströme zugrunde. Bei einem zweiten Versuche löste ich die Elytren vom lebenden Tiere ab, reizte sie kurze Zeit (sie leuchteten dabei) und ließ sie dann 13 Stunden lang in frischem Seewasser. Als sie nach dieser Zeit wiederum dem Strome ausgesetzt wurden, gaben die Elytren längere Zeit Licht von sich. Nach einer weiteren Pause von 3 Stunden erfolgte auf Reiz ebenfalls ein Aufleuchten, das aber nur mehr einige Sekunden lang dauerte. Später wiederholte Ver- suche an diesem Material ergaben keine Reaktionen mehr. Dann legte ich abgelöste, frische Elytren in destilliertes Wasser und reizte sie in diesem Medium. Es erfolgte jedoch keine Licht- produktion. Bei sämtlichen Versuchen hatte ich mich ebenso wie bei den folgenden vor dem Versuche überzeugt, dass das betreffende Indi- viduum das Leuchtvermögen besitze und wiederholte alle Versuche öfters. Die Resultate waren bis jetzt stets dieselben, wenn man davon absieht, dass die Reizschwelle bei verschiedenen Individuen klemen Schwankungen unterlag. Nachdem ich auf diese Weise über die Reize und ihre Reaktionen informiert war, suchte ich dem Wesen des Leuchtens dadurch näher zu kommen, dass ich Acholoe in bezug auf ihre Leuchtkraft in sauevstoffreichem, kohlensäurereichem und schließlich sauerstoft- freiem Wasser untersuchte. Die Reizung erfolgte stets auf elektrischem Wege. Um sauerstoffreiches Wasser zu bekommen, wurde '/, Stunde lang reiner Sauerstoff durch das Wasser geleitet. Als die Tiere in diesem Stadium gereizt wurden, leuchteten sie sehr schön auf; die untere Reizschwelle sank bis 13,5 em Rollenabstand. Dann leitete ich durch frisches Seewasser !/, Stunde lang Kohlensäure hindurch und untersuchte die Acholoe in diesem Sta- 648 Falger, Untersuchungen über das Leuchten von Acholoe astericola. dium. Das Tier leuchtete hier ebenso wie ın gewöhnlichem See- wasser. Als Schlussexperiment nahm ich eine Reizung in sauerstoff- freiem Wasser vor. Zu diesem Zwecke kochte ich Seewasser längere Zeit, ließ es dann langsam abkühlen, wobei ich die Flasche ver- schloss und leitete dann bei Luftabschluss 1!/, Stunde lang Kohlen- säure hindurch. Dann wurde das Wasser ın eine flache Versuchs- schale gegossen, in welche die erwähnte Glasplatte mit den beiden Polen und dem Versuchstiere kam, und das Ganze wurde mit einer Schicht reinen Olivenöles bedeckt, um eine Sauerstoffresorption aus den darüber liegenden Luftschichten zu verhindern. Nun wurde der Induktionsstrom durch das Tier geleitet; es erfolgte jedoch nicht die geringste Leuchtreaktion, weder beim Öffnen noch beim Schließen des Stromes, selbst bei einer bis auf 1 cm hinauf- geschraubten Rollenentfernung. Man konnte wohl an den Krüm- mungen des Wurmes sehen, dass er den Reiz des Stromes in sehr. starker Weise empfand, aber von Leuchten war nicht das geringste wahrzunehmen. Als aber das gleiche Tier wieder ın frisches Seewasser zurück- gebracht wurde, reagierte es, durch den Strom gereizt, sofort durch helles Leuchten. Fasst man die Resultate aller Versuche zusammen, so ist folgendes sicher: 1. Der leuchtende Teil von Acholoe astericola ist die Elytra allein. 2. Nicht die ganze Elytra leuchtet. sondern nur ein halbmond- förmiger, randständiger dunkler Streifen, der sich bei Osmium- färbung schwärzt. 3. Die Elytren leuchten sowohl am Tiere als auch einige Zeit hindurch (16 Stunden) nach Ablösung vom Rücken der Acholoe. 4. Grundbedingung für das Leuchten ist die Anwesenheit von freiem Sauerstoff; ohne diesen erfolgt keine Lichtproduktion; das Leuchten ist also ein Oxydationsprozess. 5. Das Leuchten erfolgt stets auf Reiz hin, wobei zwischen Reiz und Lichtreaktion eine direkte Relation besteht. Zum Schlusse komme ich noch einer angenehmen Pflicht nach, indem ich meinem hochverehrten Lehrer, Herrn Professor Dr. Karl Heider, sowie dessen Assistenten, Herrn Privatdozenten Dr. A. Steuer für die freundlichen Ratschläge, Herrn Professor Dr. K. W. v. Dalla Torre für seine liebenswürdige Beihilfe bei Beschaffung der Literatur und Herrn Professor Dr. K. J. Cori für sein bereit- williges Entgegenkommen bei Veranstaltung der Versuche an der Mordwilko, Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse, Aphididae Passerini. 649 k. k. zoologischen Station in Triest meinen herzlichsten Dank ab- statte. Die histologische Untersuchung der Elytren hat Herr F. Kut- schera übernommen und wird darüber a. a. O. berichten. Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse, Aphididae Passerini. Von A. Mordwilko, Privatdozent a. d. Universität St. Petersburg. (Schluss.) Es ist bekannt, dass die überwinternden Knospen und blatt- tragenden Triebe in der ersten Zeit ihrer Entwickelung im Früh- jahre ausschließlich auf Kosten des Reservemateriales wachsen, welches während des vorhergehenden Jahres in Gestalt fester orga- nischer Verbindungen ın den nicht dem Wachstum unterworfenen Teilen der Pflanze abgelagert wurde (hauptsächlich in dem Mark und den Markstrahlen, in den Zellen der Rinde, ebenso in gewissen Ele- menten des Holzkörpers und zwar der Wurzeln, des Stammes und der Äste; hierbei ist zu bemerken, dass Reservesubstanzen aller- dings auch in den überwinternden Knospen abgelegt werden). Nach der Energie zu urteilen, mit welcher ım Frühjahre die Prozesse des Wachstums neuer Triebe und Blätter wie auch der Stämme (in die Breite) vor sich gehen, muss man annehmen, dass um diese Zeit auch die Herbeischaffung des zum Wachstum notwendigen Materiales, in Gestalt gelöster organischer Substanzen, ebenso energisch vor sich geht; als Bahnen für die Fortbewegung dieser Substanzen dienen aber vorzugsweise die Siebröhren und das Phloöm überhaupt!!). Da nun die Pflanzenläuse ihre Nahrung aus den Ele- menten des Phloéms beziehen, so folgt hieraus offenbar, dass im Frühjahre Nahrung für dieselben im Überflusse vorhanden sein muss und zwar die ganze Zeit hindurch, so lange das Wachstum der neuen Triebe und Blätter auf Kosten der Reservesubstanzen andauert. Sobald jedoch die Blätter zur Entwickelung gelangen, beginnen sie selbst organische Substanzen hervorzubringen, welche teilweise zum weiteren Wachstum gewisser Teile der Pflanze verwendet werden, zum Teile aber von einem gewissen Zeitpunkte an in Ge- stalt von Reservesubstanzen für die Triebe des nächsten Jahres abgelagert werden, in jedem Falle aber sich von den Blättern aus nach anderen Teilen der Pflanze hin fortbewegen. Je intensiver die Produktion organischer Substanzen ın den Blättern und über- haupt in den grünen Teilen der Pflanze vor sich geht, um so inten- 14) Pfeffer, W. Ibidem, pp. 591—592. 550 Mordwilko, Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse, Aphididae Passerini. siver wird offenbar auch die Strömung dieser Substanzen in dem Phloöm erfolgen und um so günstiger werden sich dann auch die Ernährungsbedingungen für die Pflanzenläuse gestalten. Im Früh- jahre sınd aber die äußeren Bedingungen sehr günstig für eine intensive Produktion von organischen Substanzen ın den Pflanzen, indem der Boden zu dieser Zeit bei genügender Wärme und mäßigem Sonnenlicht noch eine beträchtliche Menge Wassers enthält. Im Sommer hingegen, und namentlich ın dessen Mitte, wird die Produktion von organischen Substanzen schwächer und mit ihr auch die anderen vegetativen Prozesse, darunter auch das Strömen der plastischen Substanzen durch die Pflanze. So sammeln sich z. B. im Sommer die Reservesubstanzen für die Triebe des nächsten Jahres ım Verlaufe eines verhältnismäßig langen Zeitraumes an, wie dies schon aus den Angaben von Hartig'’) hervorgeht, dem- nach also sehr langsam; im Frühjahre dagegen werden diese Reserve- substanzen ın verhältnismäßig kurzer Zeit aufgebraucht. Die haupt- sächlichsten Gründe dafür, weshalb in der Mitte des Sommers eine Abschwächung der vegetativen Prozesse ın den Pflanzen erwartet werden muss, sind in der relativen Trockenheit der Luft und des Bodens sowie in der verhältnismäßig hohen Temperatur zu suchen. (Gerade durch das Zusammentreffen dieser Bedingungen werden die Wechselbeziehungen zwischen der Aufnahme des Wassers durch die Wurzeln und das Verdunsten desselben durch die Blätter zu- gunsten dieser letzteren Erscheinung beeinträchtigt, was seinerseits zu einer Abschwächung der assimilierenden Tätigkeit der Blätter führen muss. Aber auch abgesehen hiervon „verstärkt sich sogar unter unveränderten äußeren Bedingungen die Transpiration bei mäßig oder stark ausdünstenden vegetativen Trieben holzartiger Gewächse in viel rascherer Progression als die Fähigkeit des Stammes und der Wurzel, Wasser aufzunehmen und weiterzuleiten; von einem gewissen Zeitpunkte angefangen kann daher dem Triebe so viel Wasser zugestellt werden, wie viel er durch die rasche Ausdünstung verliert“; diese Erscheinung führt zu einer Verkürzung der Inter- nodien, zu einer Schwächung und völligem Stillstande der Blatt- entwickelung und endlich zu der Vollendung des Wachstums des Zweiges'"). Allein die erhöhte Temperatur des Sommers verursacht außerdem auch noch ein Austrocknen des Bodens, welcher nicht nur ärmer an Wasser wird, sondern auch alle in denselben ge- langenden Wasserteilchen fest in sich zurückhält!?). Bei unge- 15) Vgl. Pfeffer, W. Pflanzenphysiologie. Bd. I, 2. Aufl., p. 619. 16) Vgl. Sachs, J. Vorlesungen über Pflanzenphysiologie- 2. Aufl., Leipzig 1887, pp. 202, 204—205. — Pfeffer, W. loc. cit., Bd. I, pp. 147—148. 17) Wiesner, J. Die Biologie der Pflanzen. Übers. i. d. Russ. St. Peters- burg 1892, p. 37; ebenso 51—52, 59—63. IS)@Bkeiter, Were; cit.,.p: 147 Mordwilko, Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse, Aphididae Passerini. 651 nügender Zufuhr an Wasser muss die Pflanze gleichzeitig auch einen Mangel an jenen mineralischen Substanzen verspüren, welche gleichzeitig mit dem Wasser in die Pflanze übergehen. Da nun das Wasser und die mineralischen Substanzen des Bodens obhlı- gatorische Bestandteile darstellen, aus denen die Pflanze in Ver- bindung mit der Kohlensäure der Luft ihre plastischen Substanzen aufbaut, so folgt ohne weiteres, dass die Produktion dieser plastischen Substanzen im Sommer nachlassen muss und hiermit auch deren Strömung innerhalb der Pflanze. Allein die Pflanze produziert im Sommer nicht nur weniger plastische Substanzen, sondern sie ver- braucht bei einer gewissen mehr oder weniger hohen Temperatur auch mehr organische Substanz als sie aus der Kohlensäure und dem Wasser zu assimilieren imstande ist. Und zwar werden bei mehr oder weniger erhöhter Temperatur die Wechselbeziehungen zwischen der Assimilierung der Kohlensäure durch die Pflanze und deren Ausscheidung bei der Atmung zugunsten dieser letzteren Er- scheinung beeinträchtigt, und dies in um so höheren Maße, je höher die Temperatur steigt!?). Eine schwache Produktion organischer Substanzen unter gleichzeitigem mehr oder weniger beträchtlichem Verluste derselben bei der Atmung muss nun naturgemäß zu einer Abschwächung oder gar zur vollständigen Unterbrechung ın der Fortbewegung der organischen Substanzen durch die Pflanze führen. Dieser Umstand kann seinerseits wiederum zu einer Verdickung der Zellwände bei den zur Leitung der plastischen Substanzen dienenden Elementen führen (wenn die erhöhte Strömung dieser Substanzen einer Überführung der Zellwandsubstanzen in quellbare oder lösliche Substanzen befördern kann). Durch alle diese soeben erwähnten Umstände wird denn auch augenscheinheh die Erschei- nung hervorgerufen, dass in gewissen Gegenden ım Hochsommer, wenn die Witterung nicht übermäßig feucht ıst, die Bäume und Sträucher infolge mangelnden Grundwassers einer anormalen und vorzeitigen Blattdürre anheimfallen, wie dies von Kraus für Er- langen und Halle mitgeteilt wurde ?°). Alles dieses beweist zur Genüge, dass die Ernährungsbedingungen für die Pflanzenläuse im Sommer und namentlich in der Mitte des- selben auf holzartigen Gewächsen sich überhaupt mehr oder weniger ungünstig gestalten müssen, wenngleich dies nicht nur für Pflanzen verschiedener Arten, sondern selbst für solche von ein und derselben Art nicht in gleichem Maße der Fall sein wird, wenn dieselben nur verschiedenen Bedingungen der Beleuchtung, Temperatur, Feuchtig- keit, endlich der Zusammensetzung und Eigenschaften des Bodens unterworfen sind. Nur durch ungünstige Ernährungsbedingungen OQ) Miehebter, We oe: cit., p. 321. 20) Kraus, G. Einige Bemerkungen über die Erscheinung der Sommerdürre unserer Baum- und Strauchblätter. Bot. Ztg., 1873, pp. 402, 419. 652 Mordwilko, Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse, Aphididae Passerini. lässt sich die sofort in die Augen fallende Abnahme in der Ver- mehrung der Pflanzenläuse im Sommer auf vielen holzartigen Ge- wächsen ohne weiteres erklären, worauf schon weiter oben hinge- wiesen wurde. Durch dieselbe Ursache werden auch die Migrationen der Pflanzenläuse auf Zwischengewächse (d. h. hauptsächlich auf krautartige Gewächse) hervorgerufen. Wir haben bereits oben darauf hingewiesen, dass auf holz- artigen Gewächsen gegen Sommer und während des Sommers selbst auch die Größe der ungeflügelten wie auch der geflügelten partheno- genetischen Weibchen eine geringere wird. Allein in diesem Falle spielt nicht allein die Verschlechterung der Ernährungsbedingungen, sondern auch die mehr oder weniger hohe Sommertemperatur eine gewisse Rolle. Die Temperatur muss auf die Pflanzenläuse, in ihrer Eigen- schaft als kaltblütige Tiere, einen mehr oder weniger direkten Ein- fluss ausüben: bei Erniedrigung der Temperatur werden die vitalen Funktionen des Pflanzenlausorganısmus herabgesetzt und bei ge- nügend niederer Temperatur verfallen die Pflanzenläuse in Erstarrung, aus welcher sie durch Erhöhung der Temperatur wieder erweckt werden können). Die bisweilen im Frühjahre eintretende lang- samere Entwickelung der Fundatrices lässt sich wiederum durch eine Erniedrigung der Temperatur erklären, welche zeitweilig, die Lebenstätigkeit des Organismus der Pflanzenläuse bis auf em Minimum herabsetzend, auch deren Entwickelung hemmt, obgleich dieser Um- stand natürlich nicht verhindern kann, dass Fundatrices eine be- trächtliche Größe erreichen. Umgekehrt werden durch eine Er- höhung der Temperatur auch die vıtalen Funktionen des Organismus der Pflanzenläuse erhöht und wenn gleichzeitig auch die Befähigung des Tieres zur Aufnahme von Nahrung aus der Pflanze und zu einer darauffolgenden Assimilierung derselben in gleichem Maße erhöht wird, so werden wir auf eine rasche und beträchtliche Ent- wickelung und Vermehrung der Pflanzenläuse rechnen können. Bei einer gewissen Höhe der Temperatur kann es sich jedoch erweisen, dass die Menge von Nahrung der erhöhten Lebenstätigkeit der Läuse nicht entspricht und zwar selbst dann, wenn die Menge von Nahrung eine unveränderte bliebe; dabei sind aber die Ernährungs- bedingungen für die Pflanzenläuse auf holzartigen Gewächsen im Sommer nicht nur nicht die gleichen wie im Frühjahre, sondern sie werden sogar noch beträchtlich ungünstiger. Das Ergebnis einer gemeinsamen gleichzeitigen Einwirkung mehr oder weniger hoher Temperatur und ungünstiger Ernährung muss denn auch in einer geringeren Größe der parthenogenetischen Weibchen wie auch ın 21) Kyber, J. Einige Erfahrungen und Bemerkungen über Blattläuse. Ger- mar’s Magazin der Entomologie. T. I, T. 2, 1815 und andere Autoren. Mordwilko, Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse, Aphididae Passerini. 653 einer herabgesetzten Reproduktionsfähigkeit derselben seinen Aus- druck finden. Gleichzeitig verhindert auch die hohe Sommer- temperatur die Entwickelung einer zweigeschlechtigen Generation von Pflanzenläusen, indem sie augenscheinlich ähnlich wie die reich- liche Nahrung auf den in der Entwickelung begriffenen Organısmus wirkt. Allein die Pflanzenläuse zeigen sogar zu ein und derselben Zeit und auf ein und derselben Pflanzenart ein verschiedenes Ver- halten in Abhängigkeit davon, wie sich die Ernährungsbedingungen in jedem einzelnen Falle für sie gestalten. So werden z. B. die jungen und saftigeren Pflanzen und namentlich deren Endtriebe den alten Pflanzen und älteren Pflanzenteilen vorgezogen, wie dies u. a. bei Aphis mali Fabr. zu beobachten ist, welche nur selten und ungern alte Apfelbäume heimsucht und namentlich im Sommer nur sehr selten auf solchen Bäumen anzutreffen ist, während junge Pflänzlinge stark von dieser Art zu leiden haben. An Lachnus fasciatus Kalt. habe ich im September 1894 in Warschau be- obachten können, dass die oviparen (geschlechtlichen), an den Zweigen starker und großer Fichten saugenden Weibchen eine be- deutendere Größe erreichen (und zwar von 3 - 4 und sogar 4!/, mm), als die gleichzeitig an den Zweigen kleiner und hinfälliger, von Chermes-Arten stark geschwächter Fichten saugenden Weibchen (deren Größe nur 3—3'/, mm betrug). An den Blättern der Rot- buche (Fagus silvatica) fand ich Anfang Juli (a. St.) 1896 in dem feuchten Oizowtale (Gouv. Kieletz) ungeflügelte Individuen (Larven und Imagines) verschiedener Größe, aber auch Nymphen und ge- flügelte Weibchen von Phyllaphis fagi L., während um dieselbe Zeit ım Warschauer botanischen Garten nur Larven und kleine unge- flügelte Weibchen dieser Art anzutreffen waren. Auf einem Hart- riegelstrauch in Warschau (im Hofe der Universität) entwickeln sich alljährlich vom Frühjahre an nur Fundatrices und die zweite, geflügelte Generation (beider Formen)??), welch letztere denn auch in vollem Bestande migriert, so dass auf diesem Hartriegel die Pflanzen- läuse verhältnismäßig schon sehr früh verschwinden. Der erwähnte Hartriegelstrauch zeichnet sich u. a. auch dadurch aus, dass seine Blätter sehr bald hart werden und dass der Strauch selbst verhält- nısmäßig früh zu blühen anfängt. Auf anderen Hartriegelsträuchern aber, in verschiedenen Gärten und Parks, entwickeln sich in der zweiten und sogar in den nachfolgenden Generationen neben ge- flügelten Weibchen auch noch ungeflügelte (mit sechsgliedrigen Fühlern und zahlreich fazettierten Augen); auf einigen jungen und zarten Hartriegelsträuchern dagegen, welche im Schatten wachsen und spät oder gar nicht blühen, vermehren sich die Pflanzenläuse, 22) Vgl. diese Zeitschrift, Bd. 27, 1907, pp. 787-—789. 654 Mordwilko, Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse, Aphididae Passerini. namentlich an den Spitzen der jungen Triebe, bis zur Mitte Juli, wobei die ganze Zeit über sowohl Nymphen und geflügelte Weib- chen (beider Formen zusammen oder in verschiedenen Kolonien) als auch ungefliigelte Weibchen nebeneinander angetroffen werden können. Allerdings ist es schwer, solche späte Kolonien von Schixo- neura corn’ aufzufinden, da dieselben verhältnismäßig selten sind. Ähnliche Erscheinungen lassen sich auch bei einigen anderen Arten von Pfianzenläusen konstatieren. Aphis evonymi migriert überhaupt ım Verlaufe eines verhältnismäßig langen Zeitraumes sogar von ein und demselben Exemplare des Spindelbaumes (vo- nymus europaea) aus. So fährt z. B., nachdem ein beträchtlicher Teil der Läuse schon Ende Mai (a. St.) von dem Spindelbaume ausgewandert ist, ein gewisser Teil derselben immer noch fort sich auf denselben Sträuchern bis zum Juli und auch noch später bald hier — bald da noch weiter fortzupflanzen. Kaltenbach?) hat Pflanzenläuse dieser Art auf dem Spindelbaume noch bis in den August hinein gefunden, während dieselben nach Bonnet bereits anfangs Juli nicht einmal mehr an den saftigen Trieben saugen wollten, welche er ıhnen anbot; zu derselben Zeit beobachtete letzt- genannter Forscher, dass die erwachsenen Weibchen der vierten und fünften Generation ihren Dimensionen nach mehr als doppelt so klein waren, wie die Weibchen der ersten und zweiten Gene- ration (seine Aufzuchtsversuche begann Bonnet am 6. Juni, dem- nach bei weitem nicht von den Fundatricesweibchen angefangen **). Auf verschiedenen Rebsorten zeigt die Gallenreblaus sogar in Amerika ein verschiedenes Verhalten. Nach Riley gedeiht dieselbe vorzugsweise auf Vitis riparia, obgleich sie auch auf anderen Sorten gefunden wird; auf gewissen Sorten jedoch, namentlich auf labrusca, tritt sie dagegen fast nie auf?°). Ganz besonders auffallend macht sich die Abhängigkeit zwischen der Verschlimmerung der Ernährungsbedingungen und den Migra- tionen bei den Gallenläusen bemerkbar, indem schon das Sichöffnen der Gallen an und für sich eine Folge von beginnendem Vertrocknen und Absterben darstellt, welches erst einige Zeit nach dem Aus- schlüpfen der Läuse aus den Gallen endigt. So sind z. B. die auf der Ulme vorkommenden Gallen von Tetraneura ulmi (caerulescens) ım August schon trocken, hart und schwarz (in der Umgebung von Warschau öffnen sich diese Gallen von Mitte Juni (a. St.) an bis zum Ende dieses Monats). Außerdem entwickeln sich meinen Be- obachtungen nach bei Tetraneura ulmi in den größeren Gallen auch 23) Monographie der Familie der Pflanzenläuse. Aachen 1843, p. 80. 24) Bonnet, Ch. Oeuvres d’Histoire naturelle et de Philosophie. T. 1, Traité d’Insectologie. Neuchatel 1779, 1-ere partie. Observ. IV, pp. 56—-59. 25) Riley, ©. V. Uber dem Weinstock schädliche Insekten. Heidelberg 1878, pp. 10—11. Mordwilko, Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse, Aphididae Passerini. 655 größere Nymphen und geflügelte migrierende Weibchen, in den kleineren Gallen dagegen umgekehrt kleinere Exemplare, welche auch eine geringere Zahl von Nachkommen zur Welt bringen. Die größeren geflügelten Weibchen (aus den größeren Gallen) besitzen eine Länge von bis zu 2,00 mm, die kleineren Weibchen dagegen (aus den kleineren Gallen) nur eine solche von 1,44—1,50 mm. Die kleineren Gallen werden hauptsächlich in dem Falle gebildet, wenn deren viele an einem Blatte sitzen, und zwar zu 20—4U nebeneinander. In der gleichen Weise enthalten bei Phylloxera vastatrix in den Gallen auf den Blättern amerikanischer Rebsorten die erwachsenen, Ende Juli erbeuteten Weibchen, welche bereits eine große Zahl von Eiern abgelegt haben, nach Balbianı, aus 20 Eiröhren bestehende Ovarien, während Weibchen, welche im Juli als Larven auf die Blätter einheimischer Rebsorten herüber- gesetzt wurden und auf diesen ebenfalls Gallen gebildet hatten (offenbar infolge schlechterer Ernährungsbedingungen) reduzierte Ovarien besaßen: das eine Weibchen hatte bis zu sechs Röhren, ein anderes neun funktionierende und eine große Anzahl nicht funktionierender; ein drittes Weibchen dagegen wies zwar keine Reduktion der Eiréhren auf, allein das Ovar war in seiner Ent- wickelung hinter dem Ovar der Larve zurückgeblieben, so dass viele Eiröhren sich später als reduziert erwiesen haben würden °®°). In den Gallen erleiden die ın Blättern, an Blattstielen und an Trieben in normaler Weise verlaufenden vegetativen Prozesse eine Abänderung; infolgedessen können einerseits die Ernährungsbedin- gungen für die Pflanzenläuse sich einigermaßen günstiger gestalten, während diese günstigeren Bedingungen sich andererseits mehr oder weniger lange Zeit hindurch hinausziehen können. In der Tat kann die Entwickelung der Chermes-Läuse der zweiten Generation auf der Fichte nur dank der Bildung von Gallen bis zum Ende des Augusts andauern, obgleich diese Entwickelung allerdings nur außer- ordentlich langsam vor sich geht; auf den Nadeln der Fichte da- gegen würden die Chermes-Läuse schon von der zweiten Hälfte des Juni (a. St.) angefangen nicht mehr saugen können, da die Nadeln „u dieser Zeit fest und hart wurden. Und in der Tat saugen die aus den Gallen ausschlüpfenden geflügelten Ohermes-Läuse um diese Zeit nicht an den Nadeln der Fichte, sondern sie fliegen, wenn sie mit noch unreifen Eiern die Gallen verlassen haben, auf die Nadeln anderer Koniferen, wie z. B. der Lärche, der Weißtanne, der Zeder über, wo die Nadeln an und für sich zarter sind als auf der Fichte (besonders bezieht sich dies auf die Lärche). An der äußeren Oberfläche der Gallen von Chermes strobilobius kann man im Sommer 26) Balbiani, G. Le Phylloxera du chéne et le Phylloxera de la vigne. Paris 1884, pp. 32—33. 656 Mordwilko, Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse, Aphididae Passerini. häufig Larven dieser Art finden, welche nur sehr selten das Stadium der Nymphe erreichen, während die innerhalb der Gallen wohnenden Läuse sämtlich auswachsen und sich zu Nymphen verwandeln. Cholodkovsky konnte sich davon überzeugen, dass diese äußeren Larven meist schon nach der ersten oder zweiten Häutung absterben und nur äußerst selten das Stadium einer Nymphe erreichen?”). Es liegt klar zutage, dass die inneren und die äußeren Bewohner der Gallen gänzlich verschiedene Ernährungsbedingungen vorfinden und an den Nadeln der Fichte Mitte Sommer überhaupt nicht saugen. Erblickt man die Ursache der Migration der Pflanzenläuse von den Hauptgewächsen in einer Abschwächung der Zirkulation der plastischen Substanzen innerhalb der Pflanze, so könnte man ver- muten, dass, wenn im Sommer neue, junge Triebe an den Haupt- gewächsen auftreten, dieselben den Pflanzenläusen augenscheinlich fast die gleichen Ernährungsbedingungen darbieten müssten wie ım Frühjahre, und dass die Läuse, wenn man sie um diese Zeit von den Zwischengewächsen auf solche frische Triebe herübersetzt, an denselben saugen, sich entwickeln oder fortpflanzen müssten. Die von mir in dieser Richtung angestellten Versuche ergaben jedoch für Aphis avenae Fabr. (eine Übersiedlerform von padi L.), A. far- farae Koch (= piri Koch), Schizoneura venusta Pass. (= corni Fabr.) ein negatives Resultat. Ein positives Ergebnis erzielte ich nur bei meinen Versuchen mit der Überführung von Aphis papa- veris Fabr. und A. rumicis L. (beides Übersiedlerformen von A. evonymi Fabr.) von verschiedenen krautartigen Gewächsen auf die Blätter des Spindelbaums (Hvonymus europaea): die Läuse begannen hier in der Tat zu saugen und sich fortzupflanzen. Obgleich die Bildung von Gallen durch Phylloxera vastatrix auf den Blättern der Weinrebe im Laufe des ganzen Sommers vor sich gehen kann, so gelingt es doch nicht immer, durch junge Wurzelläuse der Rebenphylloxera eine Gallenbildung hervorzurufen. Riley gelang es einstmals, im Winter auf einem jungen Clinton-Stocke die Bildung von Gallen durch junge Wurzelläuse herbeizuführen?®). Auch Bal- biani?®) ist es gelungen, ein positives Resultat zu erzielen, indem in trockener Luft an Wurzeln erzogene Läuse, nachdem sie auf Blätter gesetzt wurden, auf denselben auch saugten und sich fortpflanzten, und zwar vielleicht aus dem Grunde, weil die Blätter, auf welche sie gesetzt wurden, schon entwickelt waren. Das Misslingen derartiger Versuche kann entweder dadurch erklärt werden, dass die im Frühjahre herrschenden Bedingungen ın der Vegetation der Pflanzen sich im Sommer eben nicht wieder- 27) Beiträge zu einer Monographie der Koniferenläuse. Horae Soc. Entom. Ross. XXXI, pp. 23—24. 28) Riley, Ch. loe. cit., p. 17. 29) Compt.-rend. Acad. sc., Paris 1873, 6 octobre. Mordwilko, Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse, Aphididae Passerini. 657 holen, oder aber vielmehr durch den Umstand, dass sich bei den migrierenden Pflanzenläusen mit der Zeit eine weitgehende Speziali- sierung der einzelnen Generationen und Formen herausgebildet hat, infolge deren die Zwischengenerationen sich nur - wenig an das Saugen auf den Hauptgewächsen anpassen können. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass zum Herbste auf vielen baumartigen Gewächsen eine Zunahme in der Vermehrung der Pflanzenläuse zu beobachten ist, ebenso dass um diese Zeit (bisweilen auch schon von Mitte Juli an) die Läuse von den Zwischen- gewiichsen auf die (holzartigen) Hauptgewächse überfliegen. Diese Erscheinung weist darauf hin, dass von diesem Zeitpunkte an die Ernährungsbedingungen auf den Hauptgewächsen, im Vergleiche zu der vorangehenden Zeitperiode, sich etwas günstiger gestaltet haben. Wir wollen uns nunmehr klar machen, welche dementsprechende Veränderungen gegen das Ende des Sommers hin ın der Vegetation der holzartigen Gewächse eintreten können. | Es erscheint sehr wahrscheinlich, dass gegen den Herbst zu, mit der Abnahme der Wärme und der Zunahme in der relativen Feuchtigkeit der Erde und der Luft, gleichzeitig auch die Vegetations- bedingungen der holzartigen Gewächse günstiger werden und gleich- zeitig auch die Zirkulation der plastischen Substanzen an Intensität zunimmt: diese letzteren werden nunmehr bei dem Aufhören des Wachstums der vegetativen Organe und der Entwickelung der Früchte hauptsächlich in verschiedenen Organen der Pflanze als Reservematerial für die Triebe und Blätter des nächsten Jahres abgelegt. Noch später, vor dem Abfallen der Blätter, muss sich das Strömen der plastischen Substanzen noch verstärken, indem die Blätter nunmehr nicht nur von den Produkten der Assimilation, sondern auch noch von dem Inhalt ihrer Zellen befreit werden, so dass ım Herbste, nach dem Ausdrucke von Sachs, nur noch das befreite oder entleerte Zellgerüst der Blätter von den Bäumen abfallt®*®). Riesmüller hat die Translokation der mineralischen wie auch der organischen Verbindungen an den Blättern von Fagus silvatica in andere Teile der Pflanze beobachtet, wobei es sich herausstellte, dass das Gewicht der trockenen Blattsubstanz herab- gesetzt wird, obgleich die Menge von Fettkörpern, Kalk, Magnesia, Kieselsäure und Zellulose in den Blättern um diese Zeit zunimmt; die Abnahme des Gewichtes erfolgt dagegen auf Kosten von stick- stoffreien Extraktivstoffen, Eiweißkörpern, Kali und Phosphorsäure *?). Mit der Verbesserung der Ernährungsbedingungen nimmt auch die Vermehrung der Pflanzenläuse an Intensität zu. So beginnen 30) Sachs, J. Entleerung der Blätter im Herbst. Flora, 1863, Nr. 13 u. 14. Ebenso: Vorlesungen über Pflanzenphysiologie. 2. Aufl., Leipzig 1887, p. 313. 31) Zitiert nach Famintzyn, A. Lehrbuch der Physiologie der Pflanzen (Russ.) St. Petersburg 1887, p. 261. SXOXSNZTILT, : 42 658 Mordwilko, Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse, Aphididae Passerini. die geflügelten Sommerweibchen von Drepanosiphum platanoides Schr. schon von Mitte Juli (a. St.) an, gewisse Jahre aber auch später, unter den Blättern von Acer pseudoplatanus Larven abzu- legen, während sie sich früher fast gar nicht fortpflanzen; Ende August und im September bemerkt man dagegen unterhalb der Blätter der genannten Ahornart bereits eine ganz beträchtliche An- zahl von Pflanzenläusen und zwar von verschiedenem Alter. Ebenso beginnen von der zweiten Hälfte des Sommers an auch die Larven der dritten Generation von Chaitophorus aceris Koch und Ch. testudi- natus Thornton zu wachsen und ebenso nimmt um diese Zeit auch die Vermehrung von Ch. lyropictus Kessler an Intensität zu. Im September dagegen, oder schon gegen Ende August (a. St.), kann man eine verstärkte Vermehrung vieler anderer Pflanzenlausarten bemerken, wie z. B. von Aphis mal Fabr., A. wburni Scop., Rhopalosiphum berberidis Kalt., Phyllaphis fagi L., Schixoneura lanigera Hausm., Phylloxera quercus Boyer de Fonsc. Gegen Ende des Sommers treten auch für die migrierenden Pflanzenläuse günstigere Ernährungsbedingungen auf den holzartigen Gewächsen ein, so dass dieselben nunmehr beginnen, von den Zwischengewächsen hierher überzusiedeln. Bei den migrierenden Arten der Gruppe Aphidina saugen auf den Hauptgewächsen die geflügelten Sexu- parae und die geflügelten Männchen, welche ebenfalls von den Zwischengewächsen hierher herüberfliegen; bei Schizoneura corni saugen ebenfalls geflügelte Sexuparae, ebenso auch kleine un- geflügelte geschlechtliche Individuen. Bei anderen migrierenden Arten der Unterfamilie Pemphiginae dagegen saugen die auf die Hauptgewächse herübergeflogenen Sexuparae hier nicht mehr, son- dern legen unmittelbar auf der Rinde der Stämme und Äste rüssel- lose Larven geschlechtlicher Individuen ab. Um die Zeit, wo die Pflanzenläuse an die Hauptgewächse zurückkehren, gelingen auch die Versuche mit der Überführung geflügelter Läuse (und deren Nymphen) von den Zwischengewächsen auf die Hauptgewächse. Entsprechende Versuche habe ich mit Aphis padi (avenae), A. piri (farfarae), A. erataege (ranunculi), Rho- palosiphum ribis Buct. (lactucae Kalt.), Schixoneura corni (venusta) ausgeführt. Alleın ungeflügelte parthenogenetische Weibchen, welche von den Zwischengewächsen genommen werden, verhalten sich den Hauptgewächsen gegenüber ın anderer Weise als die geflügelten Sexuparae und deren Nymphen. So habe ich z. B. nicht bemerkt, dass ungeflügelte Weibchen von Sch. venusta, welche von den Wurzeln von Gramineen genommen wurden, längere Zeit hindurch unter den Blättern des Hartriegels gesaugt hätten: entweder zer- streuten sie sich, oder aber, wenn sie zusammen blieben, so legten sie keine Nachkommenschaft ab; einmal krochen sie auf dem in ein Glas mit Wasser gestellten Hartriegeltrieb fast bis zur Wasser- Mordwilko, Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse, Aphididae Passerini. 659 oberfläche herab und begannen hier am Triebe zu saugen. Auf die Blätter der Vogelkirsche herübergesetzte ungeflügelte Weibchen von Aphis avenae saugen dagegen mehr oder weniger gerne auf diesen Blättern, doch habe ich eine Ablagerung von Nachkommen hier nicht bemerken können. Dieser Umstand beweist auf das deutlichste, dass bei den migrierenden Pflanzenläusen eine scharf ausgesprochene Teilung der Arbeit zwischen den verschiedenen Formen der Individuen oder aber zwischen den verschiedenen Generationen eingetreten ist. Zum Sommer fliegen die migrierenden Pflanzenlausarten auf verschiedene krautartige Gewächse über (und zwar bald an deren oberirdische, bald an deren unterirdische Teile); seltener wandern dieselben auf die Wurzeln holzartiger Gewächse über. Aus welchem Grunde die krautartigen Gewächse im Sommer den Läusen günstigere Existenzbedingungen bieten als die holzartigen, ist im allgemeinen schwer zu entscheiden. Offenbar spielen hier die Eigentümlich- keiten des Baues und der Vegetation der Kräuter eine große Rolle. Sehr viele krautartige Gewächse, namentlich die als Zwischen- gewächse dienenden, entwickeln sich erst nach den holzartigen, so dass vor ıhrer Entwickelung oder noch bevor sie erschienen sind, auf den holzartigen Gewächsen bereits eine oder zwei Generationen von Pflanzenläusen zur Entwickelung gelangen. Mir schien die Frage von besonderem Interesse, ob die Fundatricesweibchen auf den Zwischengewächsen saugen können; für viele Arten migrierender Pflanzenläuse konnten diesbezügliche Versuche jedoch nicht ange- stellt werden, weil zur entsprechenden Zeit noch keine passenden Zwischengewächse aufzufinden waren. Auf vielen krautartigen Gewächsen leben gewisse Ärten von Pflanzenläusen beständig (ohne von holzartigen Gewächsen hierher zu migrieren). Zum Herbste oder am Ende des: Sommers werden von den geschlechtlichen Weibchen solcher Läuse Eier auf die Blätter, Stiele oder Früchte abgelegt, und diese Eier überwintern an den betreffenden vertrockneten und abgestorbenen Pflanzenteilen (hierher gehören Siphonophora ulmariae Schr. (= pist Kalt.), S. millefolü, S. cerealis (= granaria), Myxus absinthii, Aphis brassicae, A. plantaginis, Sipha glyceriae u. a. m.). Entsprechend dem ver- hältnismäßig späten Auftreten dieser Kräuter erscheinen aber auch die Pflanzenläuse erst sehr spät auf denselben. So kann man z. B. in der Umgebung von Warschau in gewissen Jahren Mitte April nur sehr wenige kleine, eben hervorgewachsene Stengel von Tuna- cetum vulgare, Urtica dioica, Capsella bursa-pastoris antreffen, wäh- rend die Stengel von Artemisia absinthium, A. vulgaris, Cichoriwm intybus, Chenopodium und Carduus noch später auftreten, z. T. erst gegen Anfang Mai (a. St.). (Fllago und Gnaphalium erscheinen erst während dieses Monats. Auch die Pfianzenläuse erscheinen auf diesen 42” 660 Mordwilko, Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse, Aphididae Passerini. Gewächsen erst Ende April oder im Mai fa. St.].) Auf künstliche Weise lässt sich die Entwickelung der Fundatrices solcher Pflanzen- lausarten aus den überwinterten Eiern natürlich beschleunigen. So habe ich z. B. in Warschau Mitte März (a. St.) des Jahres 1904 Erbsensamen in einen im Zimmer stehenden Blumentopf gesteckt und legte auf die etwas hervorgewachsenen Erbsenpflänzchen am 26. März (a. St.) vertrocknete Blätter und Stengel von Lathyrus ensifolius mit darauf überwinterten Eiern von Stphonophora ulmariae (pisi); Larven von Fundatrices waren auf den jungen Gipfelblättern der Erbsen schon am 31. März und am 1. Aprıl (a. St.) zu sehen. Indem ich im Jahre 1899 im Warschauer botanischen Garten, vom. 24. April (a. St.) angefangen, die Pflanzen sorgfältig untersuchte, fand ich erst am 12. Mai eine kleine Kolonie von Myzus tanaceti auf jungen Stengeln von Tanacetum vulgare, sodann am 18. Mai an jungen Blättchen von Tanacetum boreale Kolonien ungeflügelter Individuen von Siphonophora millefolii (and zwar sowohl erwachsene wie auch junge Läuse); auf Artemisia absinthium waren jedoch noch keine Läuse aufgetreten, ebensowenig wie auch auf vielen anderen Kräutern. Auf einem bereits ausgewachsenen Rumex maximus da- gegen waren um diese Zeit bereits geflügelte Weibchen von Aphis evonymi aufgetreten, welche von dem Spindelbaum hierher über- geflogen waren und schon Larvenhäufchen abgelegt hatten. Überhaupt ist zu bemerken, dass, während bei vielen Pflanzen, wenigstens bezieht sich dies auf die holzartigen Gewächse, ver- schiedene vegetative Prozesse im Sommer herabgesetzt erscheinen, die krautartigen Gewächse sich zu der gleichen Periode gut entwickeln und gleichzeitig ın den meisten Fällen den Pflanzenläusen dabei durchaus günstige Ernährungsbedingungen darbieten. Durch die Verschiedenheit in den Bedingungen der Vegetation zwischen den holzartigen und den krautartigen Gewächsen lässt sich denn auch die Ursache erklären, warum viele Arten von Pflanzenläusen von ersteren auf letztere migrieren. Auf den einjährigen Zwischengewächsen, und zwar sowohl auf deren oberirdischen Teilen, wie auch auf den Wurzeln, können die migrierenden Pflanzenlausarten sich nur im Sommer entwickeln; dasselbe gilt auch für die oberirdischen Teile der mehrjährigen krautartigen Gewächse, da diese Teile gegen das Ende der Vege- tationsperiode hin absterben und vertrocknen. Auf den unter- irdischen Teilen der mehrjährigen krautartigen Gewächse dagegen können die Pflanzenläuse auch während des Winters in Gestalt von Larven und jungen ungeflügelten Individuen fortbestehen, um im Frühjahre einer Reihe neuer Generationen den Ursprung zu geben. In derartigen Fällen entwickeln sich gegen das Ende des Sommers hin und im Herbste meist nicht alle Larven zu Nymphen und ge- flügelten Weibchensexuparen, welche dann auf die Hauptgewächse _Mordwilko, Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse, Aphididae Passerini. 661 zurückfliegen, sondern ein Teil der Larven entwickelt sich zu unge- flügelten Weibchen, oder aber er überwintert in Abhängigkeit von Zeit und Temperatur, ohne sich weiter zu entwickeln, in der Erde. Von Interesse ist jedoch hierbei der Umstand, dass auf den Zwischengewächsen keine zweigeschlechtige Generation zur Ent- wickelung gelangt und dass hier keine überwinternden Eier abge- legt werden. Diese Erscheinung wird jedoch erst ın dem nächst- folgenden Kapitel zur Besprechung gelangen. Auf den Wurzeln einiger Sträucher, wie z. B. auf der schwarzen Johannisbeere, auf der Weinrebe sowie auf einigen Bäumen, wie z. B. dem Birnbaum und dem Apfelbaum, saugen im Sommer eben- falls Pflanzenläuse, welche sich hier auch fortpflanzen; es sind dies: auf den Wurzeln von Ribes nigrum — Schixoneura fodiens Buct. (eine Ubersiedlerform von Sch. ulmi De Geer), auf den Wurzeln der Weinrebe — Phylloxera vastatrix (Wurzelform), auf den Wurzeln des Birnbaumes -— Schixonewra piri Goethe, auf den Wurzeln des Apfelbaumes — Sch. lanigera Hausm., auf den Wurzeln der Weib- tanne — Pemphigus poschingeri Holzn. Phylloxera vastatrix Plan- chon überwintert auf den Wurzeln in Gestalt noch ungehäuteter Larven, “ch. piri??), lanigera®*) und Pemph. poschingeri**) dagegen in Gestalt junger ungeflügelter parthenogenetischer Weibchen. Allen auch auf einigen Sträuchern und Bäumen erscheinen die Pflanzenläuse nicht etwa zu der Zeit, wo sich die Knospen öffnen, sondern beträchtlich später, fast gleichzeitig mit den Läusen auf den krautartigen Gewächsen. Hierher gehören u. a. die Arten Aphis sambuci L. auf Sambucus nigra, Hyalopterus pruni Fabr. auf Prunus domestica, Siphonophora caraganae Mordw. auf den Trieben. Blättern und Schoten von Caragana arborescens. Diese Pflanzen- läuse treten erst von Mitte Mai (a. St.) an ın halbwegs bemerk- barer Menge auf. Sehr spät tritt Aphis laburni Kalt. auf der weißen Akazie auf. In Warschau habe ich Pflanzenliuse der letzt- genannten Art im Juli in großer Menge beobachtet. Kaltenbach fand deren ungeflügelte und geflügelte Weibchen im Juli bis August °?). Der vollständige Entwickelungszyklus von A. laburni ıst bis jetzt noch nicht bekannt geworden. Die Chermes-Läuse, welche auf der Fichte Gallen bilden und am Anfang und in der Mitte des Sommers diese letzteren verlassen, 32) Goethe, H. Die Wurzellaus des Birnbaums. Stuttgart 1884. 33) Göldi, E. Studien über die Blutlaus. Schaffhausen 1885. — Port- schinsky, J. Über die Insekten, welche sich den Obstgärten in der Krim schäd- lich erweisen. Die Blutlaus und einige andere Pflanzenläuse. (Russ.) St. Peters- burg 1886. 34) Nüsslin, ©. Die Tannenwurzellaus. Allgem. Forst- und Jagdzeitung. Dezemberheft 1889. 35) Kaltenbach, J. Monographie der Familie der Pflanzenläuse. Aachen 1843, p. 85. 662 v. Frisch, Studien über die Pigmentverschiebung im Facettenauge. setzen sich nicht auf den Fichtennadeln fest, sondern fliegen auf andere Koniferen hinüber und zwar auf die Lärche, die Weißtanne und die Zeder, wo sie sich auf den Nadeln niederlassen. Es ıst sehr wohl möglich, dass die Nadeln der Fichte zu der betreffenden Zeit für die zarten Emigranten nicht die passende Nahrung abgeben. Wir haben sogar gesehen, dass sich die Larven von Chermes stro- bilobius, welche auf die Außenseite der Gallen geraten, nicht voll- ständig entwickeln können; auf die Nadeln gehen diese Läuse über- haupt nicht über. Allein die gegen Ende des Frühjahres auf die Fichte zurückkehrenden gefiiigelten Ohermes-Sexuparen saugen auf den Fichtennadeln, ebenso wie die aus ihnen hervorgehenden ge- schlechtlichen Individuen. Die sich im Anfang August auf den Fichtennadeln entwickelnden Larven der Fundatrices von Ohermes abietis und Ch. lapponicus dagegen saugen hier augenscheinlich nicht, da dieselben später, ohne sich zu häuten, auf den Knospen der Fichte überwintern. Druckfehlerberichtigung. Von der ersten Hälfte dieses Artikels (Nr. 19) sind folgende Fehler zu berichtigen: Auf S. 631 Z. 19 v. o. lies: campestre statt compestre; 8. 632 Z. 7 v.o. lies: Boyer de Fonsc statt Boy de Fousc; 8. 633 Z. 3 v. u. lies: 4) Kessler, H., Ibid.; iS. 634 Z. 30 v. o. lies: lanigera statt lonigera und Z. 38 Fonse., statt Fouse. — S. 635 ist für die Anmerkung 11) Ibid. folgendes zu lesen: 11) Nüsslin, O. Uber eine Weißtannentrieblaus (Mindarus abietinus Koch). Alle. Forst- und Jagdzeitung. Juniheft 1899. — Über das Auftreten der Weiß- tannentrieblaus (M. abietinus Koch) im Badischen Schwarzwalde während des Sommers 1905. Ibid. Januarheft 1904 — Zur Biologie der Schizoneuridengattung Mindarus Koch. Biol. Centralbl. Bd. XX, 1900, pp. 479—485. — Cholod- kovsky, N. Aphidologische Mitteilungen. 9. Zur Kenntnis der auf Nadelhölzern lebenden Schizoneurinen. Zool. Anz. Bd. XXII, 1899, pp. 473—474. — 17. Zur Geschichte der Schizoneura obliqua in Ibid. Bd. XXIV, 1901, p. 296. Auf S. 636 Z. 26 v. o. ist zu lesen: Ulme, Esche, Geißblatt; auf Z. 8 v. u.: Ein statt Fin und auf Z. 4 v.u.: Sträuchern statt Büschen; 8. 638 Z. 7 lies: Hieraus statt Hierauf; Z. 21 ist statt sind; Z. 29 bambiforws statt bombiforms. Studien über die Pigmentverschiebung im Facettenauge. Von Karl v. Frisch. (Aus dem Physiologischen Institut der Wiener Universität.) Die im folgenden mitgeteilten Versuche führten keineswegs zu klaren Resultaten. Wenn diese dennoch veröffentlicht werden, ge- schieht es, weil in diesem Falle auch die negativen und oft unver- ständlichen Ergebnisse nicht uninteressant scheinen und vielleicht zu weiteren Untersuchungen anregen. Fast alle Facettenaugen enthalten bekanntlich zwei meist deut- lich voneinander geschiedene Lagen eines schwarzen Pigmentes und außerdem eine stark lichtreflektierende Substanz, ein „Tapetum“. v. Frisch, Studien über die Pigmentverschiebung im Facettenauge. 663 Dieses wird bei Insekten von den feinen Verästelungen der ins Auge eindringenden, natürlich mit Luft erfüllten Tracheenzweige, bei Krebsen von einer körnigen, in eigenen Zellen eingeschlossenen Masse gebildet. Für jene Tiere, welche ihre Augen bei sehr ver- schiedenen Helligkeitsgraden gebrauchen, also namentlich für die Nachttiere, besteht die Notwendigkeit, die Menge des Lichtes, das zum perzipierenden Teil des Auges gelangt, zu regulieren. Dies geschieht dadurch, dass die Pigmente ihre Lage je nach der Hellig- keit zweckmäßig ändern. Das gilt vielleicht auch für das Pigment- epithel der Retina im Wirbeltierauge. Doch während dieses außerdem in der Veränderlichkeit der Pupillenweite eine wichtige Einrich- tung zum Abblenden überschüssigen Lichtes besitzt, ist im Facettenauge die Iris funktionell durch Pigment- zellen ersetzt und die Verschie- bungen sind gegenüber dem Wirbel- tierauge dementsprechend kompli- zierter. Ich möchte zunächst das Wesen dieser Pigmentverschiebung kurz auseinandersetzen'). Als Bei- spiel nehme ich die Crevette (Palae- mon), da sich auf sie die meisten meiner Versuche beziehen. Die Augen dieses Tieres zeigen nämlich die eben erwähnten Veränderungen in sehr ausgesprochenem Maße, sind auch aus anderen Gründen für solche Untersuchungen geeignet und verhältnismäßig leicht zu be- schaffen. Die nebenstehende schematische Zeichnung stellt einen Teil eines Schnittes durch ein Palaemon-Auge vor. C ist die Cornea, M die Membrana fenestrata, welche das eigentliche Auge gegen das Augenganglion abgrenzt und mit zahlreichen Lücken zum Durch- tritt der Nerven etc. versehen ist. Die Sehnervenfasern verlaufen vor ihrer Endigung in den Retinulazellen (Rx). Je sieben von diesen (im Schema nur zwei) schließen das Rhabdom (Rh, quer- gestreift gezeichnet), den lichtperzipierenden Teil des Ommatidiums, ein. An ihrem distalen Ende enthalten sie in einer Anschwellung 1) Genaueres s. bei 8. Exner, ,,Die Physiologie der facettierten Augen von Krebsen und Insekten.‘‘ Wien 1891. Vgl. auch M. Stefanowska: La disposition histologique du pigment dans les yeux des arthropodes sous Vinfluence de la lumiere. Recueill zoologique Suisse, T. V, 1890 und W. Szezawinska. Contribution a Petude des yeux de quelques crustacés. Dissertation de Geneve, 1891. 664 v. Frisch, Studien über die Pigmentverschiebung im Facettenauge. ihren Kern (A). Zwischen Cornea und Rhabdom liegt der Kristall- kegel. Wenn ich ım folgenden vom Kristallkegel rede, meine ich nur seinen vorderen Teil (Ar), welcher hauptsächlich als licht- brechendes Medium in Betracht kommt (er wirkt als Linsenzylinder), während seine Fortsetzung, welche ıhn mit dem Rhabdom verbindet (im folgenden: Verbindungsstück, V) den gleichen Brechungsindex wie die Umgebung hat. Im Dunkelauge, d. h. im Auge eines längere Zeit dunkel gehaltenen Tieres (links im Schema) liegt nun das „Irıspigment“ (/p) zwischen den Kristallkegeln, unmittelbar hinter der Cornea, während die Verbindungsstücke pigmentfrei sind. Distal lagert dem Irispigment eine kleine Menge Tapetum auf, das ,listapetum“. Hinter der Membrana fenestrata befindet sich die zweite Pigmentlage, das „Retinapıgment“ (Rp). Eine dichte Lage von Tapetum umhüllt die proximalen Enden der Rhabdome, von ihnen durch die Retinulazellen getrennt, und sendet Fortsätze nach vorn, die bis zur Schicht der Retinulazellkerne reichen können, und nach hinten durch die Lücken der Membrana fenestrata und das Retinapigment hindurch. (Das Tapetum erscheint in auffallen- dem Licht glänzend, in durchfallendem schwarz, an dünnen Schnitten gelb. Es ist im Schema punktiert gezeichnet.) Ist das Tier aber hellem Tageslicht ausgesetzt, so umhüllt das Irispigment die hinteren Teile der Verbindungsstücke (rechte Hälfte des Schemas), während die Kristallkegel vom Pigment entblößt sind. Das Iristapetum macht alle Verschiebungen des Irispigments mit. Das Retinapigment ist in den Retinulazellen durch die Mem- brana fenestrata nach vorn gewandert und seine Hauptmasse liegt nun vor den Rhabdomen und reicht bis zu den Kernen der Retinula- zellen. Die distalen Fortsätze des Tapetums sind meist zurück- gezogen. In doppelter Weise ist durch diese Veränderung das Auge vor einem UÜbermaß von Licht geschützt: 1. Während im Dunkelauge ein Lichtstrahl, der ein Rhabdom durchsetzt hat, von der Tapetum- hülle reflektiert wird und seinen Weg in umgekehrter Richtung noch einmal zurücklegt, wodurch die Erregung, die er bewirkt, ver- doppelt wird, werden im Lichtauge die Strahlen durch das von hinten zwischen Rhabdom und Tapetum eingewanderte Retina- pigment absorbiert. 2. Denken wir uns in einiger Entfernung vor dem Auge einen Punkt, von dem die Strahlen S ins Auge ge- langen. Befindet sich das Irispigment in Dunkelstellung, so werden nicht nur Strahlen, welche auf ein Ommatidium in der Rich- tung seiner Achse treffen (S,), zur Perzeption gelangen, son- dern auch die (von demselben Punkt ausgehenden) Strahlen, welche die benachbarten Ommatidien treffen und durch deren Kristallkegel in ihrer Richtung entsprechend abgelenkt werden (z. B. S,). Bei Lichtstellung des Pigments werden solche Strahlen, v. Frisch, Studien über die Pigmentverschiebung im Facettenauge. 665 wie aus der Zeichnung ersichtlich ist, vom Irispigment abge- fangen (S,). Durch meine Versuche hoffte ich nun zu finden, auf welche Weise das Licht diese Veränderungen bewirkt und ob sie nur durch Licht, oder auch durch andere Reize hervorgerufen werden können. Bevor ich darauf eingehe, will ich meine Erfahrungen über den zeitlichen Verlauf der Pigmentverschiebung mitteilen. Man kann sich über die Lage des Pigmentes im Auge auf zweierlei Art unterrichten: Durch Anfertigung von Schnittpraparaten *) und durch Untersuchung mit dem Augenspiegel. Man wird je nach den Umständen beide Methoden anwenden, da jede ihre Vorteile hat: Die erste gibt genauere Resultate, die zweite kann am leben- den Tier, ohne dass es zu Schaden kommt, angewendet werden. Be- trachtet man mit dem Augenspiegel (also in der Richtung des ein- fallenden Lichtes) ein Lichtauge, d. h. ein Auge, dessen Pigment sich in Lichtstellung befindet, so sieht man an der zugewendeten Seite desselben einen schwarzen Fleck („Pseudopupille*), der bei Drehung des Auges so wandert, dass er stets dem Beobachter zu- gekehrt bleibt. Die Erscheinung erklärt sich dadurch, dass die ein Lichtauge treffenden Strahlen, wenn sie nicht zu schräge auffallen (denn dann werden sie größtenteils vom Iristapetum zurückgeworfen) vom Pigment absorbiert werden. Im Dunkelauge aber werden sie vom Retinatapetum reflektiert und gehen denselben Weg zurück, den sie gekommen. Im Dunkelauge erscheint daher bei der Augen- spiegeluntersuchung die Pseudopupille leuchtend. Der Übergang von der Dunkelstellung zur Lichtstellung erfolgt, wie schon bekannt ist, schneller, als der Übergang von Licht- zur Dunkelstellung. In bezug auf die erforderliche Zeit herrschen die größten Verschiedenheiten. Meine Versuche mussten sich auf Palae- mon, einige Hummern und mehrere Sphingiden, nämlich Deslephila euphorbiae L. (Wolfsmilchschwärmer), Chaerocampa elpenor L. und Ch. porcellus L. (Weinschwärmer) beschränken. Bei diesen letzteren schwindet das Leuchten, wenn man sie aus dem Dunkeln ans diffuse Tageslicht bringt, binnen 1—3 Minuten vollständig. Setzt man sie jetzt wieder dunkel, so dauert es eine Stunde oder länger (es gibt da individuelle Verschiedenheiten), bis die ganze Pseudopupille wieder leuchtend geworden ist (das Leuchten wird zuerst in ihrem Zentrum sichtbar, während der Rand noch schwarz ist). Ein mehrere Stunden dunkel gehaltener und dann ans diffuse Tageslicht ge- brachter Palaemon verliert das Leuchten meist binnen !/, Stunde, also viel weniger rasch als der Schmetterling. (Die Intensität 2) Als Fixierungsflüssigkeit ist für Krebsaugen Pikrinsäuresublimat zu empfehlen ; die Augen bleiben darin, bis sie entkalkt sind. Dann Härtung in steigendem Alkohol (Jodzusatz zur Entfernung des Sublimats), Einbettung in Celloidin. 666 v. Frisch, Studien über die Pigmentverschiebung im Facettenauge. des Lichtes scheint, nebenbei bemerkt, auf die Geschwindigkeit, mit der sich die Reaktion vollzieht, keinen so großen Einfluss zu haben, wie man denken sollte.) Die Augen eines dunkel gesetzten Tagtieres brauchen zum Übergang zu extremer Dunkelstellung un- gefähr °/,—1!/, Stunden. Um eine etwas genauere Vorstellung von dem Verlauf der Verschiebung zu bekommen, habe ich eine Anzahl Palaemones, die 1!/, Stunden im Dunkeln gehalten waren, gleichzeitig ans diffuse Tageslicht gebracht, in bestimmten Inter- vallen getötet, ihre Augen fixiert und geschnitten. Während sich das Pigment der Augen eines nach 5 Minuten dauernder Belichtung getöteten Tieres noch in vollkommener Dunkelstellung befindet, ist nach 15 Minuten das Retinapigment deutlich nach vorn gerückt und hat seine Verschiebung nach 25 Minuten der Hauptmasse nach beendet. Dementsprechend ıst das Leuchten erst schwächer ge- worden und dann allmählich geschwunden. Viel träger ist das Iris- pigment, das nach 15 Minuten noch etwa bis zur Mitte der Kristall- kegel reicht und nach hinten so weit über sie hinausragt, als es von der Cornea zurückgewichen ist und erst nach 45 Minuten zum größten Teil hinter den Kristallkegeln liegt, womit es noch lange nicht die extreme Tagstellung einnimmt. Ein analoger Versuch an dunkel gesetzten Tagtieren zeigte, wie das Irispigment binnen einer Stunde vollständig zwischen die Kristallkegel hineinrückte. Vom Retinapigment lag nach 65 Minuten noch ein wenig vor den Rhabdomen, nach 75 Minuten nichts mehr. Die Tiere müssen natürlich, da die Pigmentverschiebungen von ihrem Gesundheitszustand abhängig sind, gut gehalten werden, vor allem ist die Durchlüftung des Aquarium nicht zu vernachlässigen’). Um zu sehen, welche Art von Lichtstrahlen für die Pigment- verschiebung am günstigsten sei, habe ich an Deilephila ein paar Versuche gemacht, bei denen Dunkelaugen von diesen Tieren in verschiedene Teile eines Spektrums gelegt wurden. Als Lichtquelle diente eine Bogenlampe, das Spektrum wurde durch ein Schwefel- kohlenstoffprisma erzeugt und durch einen schrägen Spiegel in vertikaler Richtung auf den Tisch geworfen. Von Zeit zu Zeit wurden die Augen aus dem Spektrum genommen und bei Kerzen- licht mit dem Augenspiegel betrachtet. Ich habe sie auch nach einer bestimmten Dauer der Belichtung fixiert, doch merkte ich zu spät, dass die angewandte Fixierungsflüssigkeit (Pikrinsäuresublimat) für diese Objekte unbrauchbar ist. Nach einigen Vorversuchen, welche ich wegen ihrer Unvollkommenheit nicht mitteile, die aber in der Hauptsache mit den anderen Versuchen übereinstimmten, erwies 3) Kiesel („Untersuchungen zur Physiologie des facettierten Auges,‘‘“ Wien 1894) beobachtete an zwei Nachtschmetterlingen, die er 1*/, und 3 Wochen im Dunkeln hielt, trotz der kontinuierlichen Dunkelheit ein periodisches Schwinden des Leuchtens, das er für eine Begleiterscheinung des Schlafes hält. v. Frisch, Studien über die Pigmentverschiebung im Facettenauge. 667 sich folgende Anordnung als praktisch: Nachdem die Schmetter- linge genügend lang im Dunkeln gesessen, werden ihnen bei mög- lichst schwacher Beleuchtung die Augen abgekappt (abgekappte Dunkelaugen von Deilephila und Chaerocampa behalten im Dunkeln stundenlang das Leuchten und verlieren es am Licht ebenso rasch wie am unverletzten Tier) und auf einer Torfplatte, welche an den richtigen Stellen mit passenden Vertiefungen versehen ist, in das Spektrum gelegt. Knapp über den Augen ist eirie mit Paraffin- papier überzogene Glasplatte befestigt, durch welche das Licht zer- streut und so das Netzhautbild vergrößert wird. Zum ersten so angestellten Versuch dienten fünf Wolfsmilch- schwärmer. Es kamen je zwei Augen nebeneinander in denselben Teil des Spektrums, jedoch, um nicht durch individuelle Verschieden- heiten getäuscht zu werden, nie zwei Augen desselben Tieres. Von diesen fünf Augenpaaren kam je eines in Rot, Gelb, Grünblau, Blauviolett und Violett. Nachdem sie 7 Minuten so bestrahlt waren, wurden sie mit dem Augenspiegel angesehen: Die sechs ın rotem, gelbem und grünblauem Licht gelegenen Augen leuchteten unverändert, die vier ın blauviolettem und violettem Licht aber viel schwächer. Zu einem zweiten Versuch wurden drei Individuen verwendet. Es kam je ein Auge ins äußerste Rot, Rot, Gelb, Grünblau, Blau- violett, Violett. Nach 5 Minuten betrachtet, zeigten sich wieder die ersten vier unverändert leuchtend, die im Blauviolett und im Violett gelegenen Augen dagegen schwach leuchtend. Nun wurden alle in unveränderter Lage ins Spektrum zurückgebracht und nach weiteren 5 Minuten wieder angesehen: Die violett bestrahlten Augen hatten das Aussehen von Lichtaugen, die übrigen waren noch un- verändert. An ihnen schwand das Leuchten bei fortgesetzter Be- strahlung im Lauf der nächsten halben Stunde; die Details über den zeitlichen Verlauf anzuführen, halte ich für überflüssig. Beim dritten Versuch hatte ich wieder drei Schmetterlinge, von deren sechs Augen zwei in verschiedene Teile des Rot, eines in Gelb, eines in Grün, eines in Blau und eines in Violett gelegt wurden. Schon 3 Minuten nach dem Beginn der Bestrahlung war mit dem Augenspiegel zu sehen, dass das blau und das violett be- strahlte Auge schwächer leuchteten als die anderen vier, die noch vollkommene Dunkelaugen waren. Nach weiteren 2 Minuten Be- strahlung war auf dem Violettauge das Leuchten fast vollständig geschwunden; bei den anderen schwand es während der nächsten halben Stunde. Es wird also bei Deilephila der Übergang vom Dunkelauge zum Lichtauge durch die kurzwelligen Strahlen des Spektrums am raschesten herbeigeführt. Leider konnte ich diese Versuche wegen Mangels an Material nicht fortsetzen. A 668 v. Frisch, Studien über die Pigmentverschiebung im Facettenauge. Versuche mit elektrischer Reizung. Durch Licht erregbare Pigmentzellen sind im Tierreich sehr verbreitet. Ich brauche nur an den durch Gestaltänderung der Pig- mentzellen*) bedingten Farbenwechsel zu erinnern, den Chamäleonen, Fische, Frösche bei Wechsel der Beleuchtung zeigen. in diesen Fällen gibt es außer Licht noch andere wirksame Reizmittel: Das Pigment reagiert auf thermische, chemische, elektrische Reize ete. Gegen solche ist das Pigment im Facettenauge merkwürdig stumpf. Die Chromatophoren in der Haut der oben genannten Tiere stehen unter dem Einfluss des Nervensystems. Es gehen z. B. expandierte Melanophoren der Froschhaut, wenn man die zugehörigen Nerven elektrisch reizt, in den Zustand der Pigmentballung über; durch- schneidet man die Nerven, so tritt Pigmentexpansion ein, wenn nicht andere Reize stören. , Die Xantholeukophoren verhalten sich gerade entgegengesetzt. Man spricht in solchen Fällen von einer Reizstellung und einer Ruhestellung der Pigmentzellen. Nach Enselman n°) ist beim Newnaurnemene des Frc oschauges die Reiz- line gleich der Lichtstellung: „In Simian e ears versetzte Dunkelfrösche, im Dunkeln getötet, zeigten völlig entwickelte Licht- stellung der Zapfen wie des Pigmentes. Gleichen Erfolg hatte Tetanisieren der Augen von Dunkelfröschen in vivo oder unmittelbar nach der Exstirpation 1m Dunkelzimmer mit abwechselnd gerichteten Induktionsschlägen mäßiger Dichte.“ Der Versuch, für dıe Pigmente im Facettenauge die Reizstellung zu finden, führte zu dem merkwürdigen Er- gebnis, dees sie durch elektrische Reize nicht beeinflusst wer den Die Experimente wurden mit einem Schlittenitdikerum und 4) Man nimmt jetzt wohl allgemein an, dass bei der scheinbaren Kontraktion einer Pigmentzelle diese selbst ihre Gestalt behält und das Pigment in ihr seine Lage ändert. Für die Irispigmentzellen der Krebse scheint dies zunächst nicht ein- leuchtend, wenn man bedenkt, dass das Pigment bei dem Übergang von der Dunkel- zur Lichtstellung um das drei- bis vierfache ihrer Länge nach hinten rückt und dabei die scharfe vordere und hintere Begrenzung behält. Dazu kommt, dass auch die Kerne der Zellen dabei die Lage ändern. Ich habe an Schnitten von Dunkel-, Licht- und Ubergangsaugen von Palaemon das Pigment durch nascierendes Chlor (Kaliumehlorat + Salzsäure in Alkohol) entfernt, dann die Schnitte gefärbt und durch Vergleich mit entsprechenden nicht entpigmentierten Schnitten mich über- zeugt, dass die Kerne der Irispigmentzellen jede Verschiebung des Pigmentes mit- machen. Dennoch kommt es mir wahrscheinlicher vor, dass die äußere, vielleicht festere Hülle der Zellen ihre Lage behält und sich in ihr die Hauptmasse des Protoplasmas mit den eingeschlossenen Körnchen bewegt, wobei der Zellkern mit- genommen wird. Denn man sieht, wenn man die Präparate genauer betrachtet, häufig zwischen den Kristallkegeln und ihren Verbindungsstücken mit den Rhab- domen Reihen zurückgebliebener Pigmentkörnchen (dass diese nicht beim Schneiden durchs Messer verschleppt worden sind, erkennt man an Schrägschnitten.) >) Arch. f. d. gesamte Physiologie 35, 1885. v. Frisch, Studien über die Pigmentverschiebung im Facettenauge. 669 Nähnadelelektroden®) an Palaemon, Hummern und Sphingiden aus- geführt. a) Palaemon. Meine Versuche sind an abgeschnittenen Augen, an sagittal halbierten und (meist) an lebenden Tieren gemacht. In letzterem Fall wurde gewöhnlich eine Elektrode ın den Thorax, die andere ins Auge eingestochen, ın einzelnen Fällen nur an das- selbe angelegt. Es wurde mit schwachen, mittelstarken und starken Strömen kurze Zeit oder minutenlang, oft in längeren Pausen ge- reizt. Da an Dunkelaugen nicht ganz ohne Licht gearbeitet werden konnte, pflegte das Leuchten, wenn der Versuch lange genug dauerte, schwächer zu werden oder ganz zu schwinden; das geschah stets an dem gereizten und nicht gereizten Auge ganz gleich- zeitig, auch wenn das Tier vorher sagittal halbiert worden war. Nach den Versuchen habe ich in elf Fällen die Augen geschnitten (wobei viermal dem Tier das eine Auge abgeschnitten worden war, bevor das andere gereizt wurde) und keinen Unterschied zwischen den Pigmentstellungen der gereizten und der nicht gereizten Augen gefunden. Lichtaugen waren weder durch schwache noch durch starke Ströme in Dunkelstellung zu bringen. Es wurde mit dem Augen- spiegel geprüft und in drei Fällen habe ich die Augen geschnitten. b) Homarus. An größeren Krebsen lässt sich natürlich viel bequemer experimentieren. Bei den folgenden vier an Hummern angestellten Versuchen wurde eine Elektrode am Ursprung des Augenstiels (im unverkalkten Gelenk), die andere distal vom Kalk- stiel am Rande der Cornea eingestochen und mit schwachen, all- mählich gesteigerten Strömen gereizt. Der erste Versuch wurde an einem großen Tier gemacht, das schon matt war und dessen Augen, obwohl es einige Stunden dunkel gehalten war, nicht leuchteten. Es trat auch nach längerem Reizen des einen Auges kein Leuchten auf. Die nachträgliche mikro- skopische Untersuchung zeigte gar keinen Unterschied in der Pigmentstellung zwischen dem gereizten und nicht gereizten Auge. In den übrigen drei Fällen handelte es sich um ungefähr 20—30 cm lange Tiere: Ein aus dem Dunkeln ans Licht gebrachter Hummer wurde in der schon angegebenen Weise gereizt, als das Leuchten soeben geschwunden war. Es wurde durch die Reizung nicht wieder hervorgerufen. Die zwei anderen Versuche beziehen sich auf Dunkel- tiere, deren Augen prachtvoll leuchteten: Das einemal wurden beide Augen des Tieres nacheinander gereizt; es war mit dem Augen- spiegel eine Wirkung weder am ganzen Auge, noch an der Stelle des Einstichs zu sehen. Da bei dem Versuch eine Lampe brannte, 6) Als Elektrode, welche ins Auge eingestochen wird, eignet sich noch besser eine feine Insektennadel. 670 v. Frisch, Studien tiber die Pigmentverschiebung im Facettenauge. schwand das Leuchten, und zwar in derselben Zeit, in der es auch sonst bei gleicher Beleuchtung zu schwinden pflegte (binnen 15—20 Minuten). Da die Augen nicht zerstört waren und am nächsten Tag nach einigen Stunden Dunkelhaft wieder prachtvoll leuchteten, konnte dasselbe Tier noch einmal benützt werden: Es wurde ein Auge ungefähr 20 Minuten lang in Pausen gereizt, bis das Leuchten vergangen war. Es schwand am gereizten und am nicht gereizten Auge gleichzeitig. c) Deilephila euphorbiae, Chaerocampa elpenor. Ks wurde entweder von zwei nebeneinander aufgesteckten Schmetterlingen der eine tetanisiert und seine Augen mit dem des anderen ver- glichen, oder es wurde einem Tier der Kopf sagittal durchschnitten und die eine Hälfte nach Einstich der Elektroden am Rande des Auges oder von hinten aus mittels Platindrahtelektroden gereizt. Einen Teil der Augen habe ıch dann fixiert, über diese kann ich aus dem bereits angegebenen Grunde nichts sagen. Den Augen- spiegelbefund habe ıch bei sechs Versuchen an Dunkeltieren und fünf an Lichttieren verzeichnet: Gereizte Dunkelaugen hörten nicht zu leuchten auf, Lichtaugen wurden nicht leuchtend. Chemische Reize. Ebensowenig führten Versuche, bei denen Palaemon-Augen der Wirkung von Säuren ausgesetzt wurden, zu einem positiven Er- gebnis. Es wurde so verfahren, dass Dunkeltieren die leuchtenden Augen knapp am Körper abgeschnitten wurden und je eines in ein Schälchen mit der Säure (meist Salzsäure), das andere zum Ver- gleich in Meerwasser oder auf Kork in eine mit feuchtem Filtrier papier ausgelegte Deckeldose („feuchte Kammer“) gelegt wurde So wurden sie wieder dunkel gestellt und nach bestimmten Zeiten mit dem Augenspiegel untersucht. Da das Pigment in abgeschnittenen Dunkelaugen von Palaemon, auch wenn man alles Licht von ihnen fernhält, ca. binnen 1 Stunde in eine Mittelstellung, die sich aber mehr der Lichtstellung nähert, übergeht und somit das Leuchten schwindet, konnte es sich nur darum handeln, ob dies durch die Einwirkung der Säure beschleunigt (oder gehemmt) wird. Das war nicht der Fall. Von sechs Tieren kam je ein Auge in eine feuchte Kammer, das andere in Salzsäure 2°/,,7), 6/0; 19°/., (zwei Augen) und Sal- petersäure 2°/,, und 5°/,,. Von sechs anderen Tieren wurde je ein Auge in Meerwasser gegeben, dem Salzsäure zugefügt war, die Vergleichsaugen lagen auch in Meerwasser. Die Salzsäure wurde mit dem Meerwasser auf 2°/,,, 5°/,, und 10°/,, verdünnt. In allen 7) Volumprozent der konz. wässerigen Lösung. Garcke, Illustrierte Flora von Deutschland. 671 diesen Fällen schwand das Leuchten an den der Säure ausge- setzten Augen in derselben Zeit wie bei den zugehörigen Ver- gleichsaugen. Sauerstoffmangel scheint für die Pigmentverschiebung nicht von Belang zu sein. Ein Dunkel-Palaemon wurde in einem kleinen, verschlossenen, mit Meerwasser gefüllten Gefäß 1 Stunde dunkel gehalten und dann, als das Wasser schon an Sauerstoff verarmt war (nach 3 Stunden waren die Tiere meist tot) samt dem Gefäß ans diffuse Licht gebracht. Nach 1 Stunde war, wie die Augen- spiegeluntersuchung zeigte, das Pigment in die Lichtstellung über- gegangen. Bei einem anderen Palaemon, der, bevor er ans Licht gebracht wurde, 2 Stunden in dem kleinen Gefäß dunkel saß, schwand das Leuchten binnen 1 Stunde nicht vollkommen (aller- dings dämmerte es schon stark) und Schnittpräparate durch die nach Ablauf der Stunde fixierten Augen zeigten die Pigmente in Übergangsstellung. Die Augen zweier Dunkeltiere, die im Dunkeln erstickten, habe ich geschnitten und die Pigmente in Dunkelstellung gefunden. Die Augen eines am Licht erstickten Tagtieres blieben Lichtaugen. Strahlende Wärme Um zu sehen, ob das Pigment für Wärmestrahlen empfindlich ist, habe ich einen berußten Kochkolben mit heißem Wasser gefüllt und im Dunkelzimmer ein abgekapptes Lichtauge und zwei Dunkelaugen von Deilephila sowie ein Auge eines genadelten, lebenden Dunkeltieres nahe an den Kochkolben gebracht und nach 5 Minuten wieder mit dem Augenspiegel ange- sehen, es war an keinem Auge eine Änderung eingetreten. Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass die Köpfe von vier lebenden Dunkeltieren von Detlephila euphorbiae !/;—°|, Stunden ım Dunkeln mit Radıum bestrahlt wurden, ohne dass sich eine Wirkung auf das Augenpigment zeigte; und ebenso hatte eine !/,stündige Bestrahlung der Köpfe zweier lebender Dunkeltiere von Chaerocampa elpenor mit Röntgenstrahlen®) keinen Einfluss auf das Augenleuchten. (Schluss folgt.) Aug. Garcke’s Illustrierte Flora von Deutschland. 20. Aufl. herausgegeben von Fr. Niedenzer. Paul Parey, Berlin 1908. Die neue Auflage dieser äußerlich im alten Gewande erschei- nenden Exkursionsflora hat durch den neuen Herausgeber einige wesentliche, zeitgemäße Aenderungen erfahren. Die Anordnung der Gattungen ist nun nach Engler’s und Prantl’s Natürlichen Pflanzen- familien statt nach de Candolle’s System erfolgt und die tabel- 8) Weiche Röhre, Entfernung ca. 20 em; Brust und Hinterleib mit Blei ab- gedeckt. 672 Müller, Allgemeine Chemie der Kolloide. larische Übersicht der Familien am Beginn des Buches durch eine Bestimmungstabelle der Familien ersetzt worden. An diese schließen sich die im Texte verteilten Bestimmungstabellen der Gattungen. Dadurch wurde es möglich, die zuerst stehende Bestimmungstabelle nach Linné sehr zu kürzen. Im übrigen ist die Reichhaltigkeit der früheren Auflagen erhalten geblieben. W. Arthur Müller. Allgemeine Chemie der Kolloide. (Bd. VIII des Handb. der angew. physikalischen Chemie, herausgeg. v. Bredig.) 204 S., 22 Abb. im Text. Leipzig 1907. Joh. Ambr. Barth. Die Chemie der Kolloide, das früher so sehr vernachlässigte (Gebiet, ist ım letzten Jahrzehnt eines der wichtigsten Kapitel der allgemeinen Chemie geworden. Seine Bedeutung für die Biologie kann wohl kaum zu hoch angeschlagen werden, da ja alle Gewebe aus Kolloidkörpern aufgebaut sind und für viele, früher für ganz spezifisch vital gehaltene Vorgänge sich m der experimentellen Kolloidchemie weitgehende Analogien finden. Unter diesen Umständen wird das vorliegende Buch, das die mannigfaltigen Einzelergebnisse und die Theorien in übersichtlicher und klarer Darstellung bringt, auch den Biologen eine willkommene Gabe sein. W.R. Th. von Wasielewski. Studien und Mikrophotogramme zur Kenntnis der pathogenen Protozoen. 2. Heft, 175 S., 25 Textbilder und 8 Lichtdrucktafeln. Leipzig 1908. Joh. Ambr. Barth. i In dem vorliegenden Buche sind jahrelange, mühevolle Unter-. suchungen niedergelegt, die sich auf die Blutparasiten, insbesondere die Malariaformen der Vögel, beziehen. Wenn es dem Verfasser auch nicht vergönnt war, große neue Entdeckungen zu machen, sondern seine Untersuchungen im wesentlichen die Beobachtungen anderer Forscher bestätigen oder aus äußeren Gründen bei einem non liquet Halt machen mussten, so ist das Buch doch durch die sorgfältigen Einzelergebnisse und die außerordentlich klaren Mikro- photogramme seltener und wichtiger Entwickelungsstadien sehr wertvoll. Besonders nützlich aber wird es jedem, der sich mit diesem ebenso lockenden wie schwierigen Forschungsgebiet beschäftigt, werden durch die genauen Angaben, die der Verfasser über die Technik, z. B. die Zucht, Ernährung, Infektion der Malarıa über- tragenden Mücken mitteilt und die das Ergebnis mühevoller Er- fahrungen sind. W. R. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer. Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. t Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Roth’s klinische Terminologie. Zusammenstellung der zurzeit in der klinischen Medizin gebräuchlichen technischen Ausdrücke, mit Erklärung ihrer Bedeutung und Ableitung von | weil. Dr. Otto Roth. Siebte, vielfach verbesserte und stark vermehrte Auflage. Geb. M. 7.—. Die Krankheifen der Sehorgane in der Hrmee von Stabsarzt Dr. A. Roth. M. 3.50. Sehproben Verwechselungs- nad Snellen’s Prinzip | Sehproben entworfen von Generaloberarzt Dr. A. Both. 5 Tafeln mit 4 Textbeilagen. | 2 Tafeln mit 1 Textbeilage. Aufgezogen in Futteral. | Aufgezogen in Futteral. Ma i M. 1.60. Vorlesungen über soziale Medizin von Prof. Dr. Th. Rumpf, Bonn. M. 8.—, geb. M. 9.—. Die Krankentiirsorge der Gemeinden von Dr. Fr. Schanz. WWE 250 Aufgabe und Ziel der modernen Therapie von Prof. Dr. H. Schulz. Me SEE ee SS nn en nz up Dieser Nummer liegt ein Prospekt aus dem Verlage der Weidmann’schen Buchhandlung in Berlin, betr.: „Leitfaden für den Biologischen Unterricht K, B. Hof- und Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen, lologisches Gentralblatt. ~ Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. -Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Fostanstalten. Leipzig. Verlag von Georg Thieme. | Rabensteinplatz 2. Verlag von GUSTAV FISCHER in JENA. Soeben erschien: Ueber die Bastarde von Helix Hortensis Müller und Helix Nemoralis L, vm voessehong zur ex perimentellen Verer aban salohire von Arnold Lang. o. Professor der Zoologie und vergleichenden Anatomie an der Universität und am eidgenössischen Polytechnikum eae in Zürich. Mit 4 lithograph. Tafeln. Preis: 15 Mark. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Vorlesungen über Wirkung und Anwendung der Unorsanischen Arzneistoffe für Ärzte und Studierende von -Prof. Dr. Hugo Schulz, | Geh. Medizinalrat. : M. $.—, geb. M. 9.—. XXVIII. Bd. 1. November 1908. Tw at Biologisches Gentralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie. alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. Bd. XXVIII. 1. November 1908. ARl. Inhalt: Schultz, Uber ontogenetische und phylogenetische Rückbildungen. — Lubosch, Die stammes- geschichtliche Entwickelung der Synovialhaut und der Sehnen mit Hinweisen auf die Ent- wickelung des Kiefergelenks der Säugetiere. — v. Frisch, Studien über die Pigmentierung im Facettenauge (Schluss). Über ontogenetische und phylogenetische Rückbildungen. Von Eugen Schultz (St. Petersburg). In einer Reihe von Schriften habe ich zu beweisen gesucht, dass unter gewissen Bedingungen die Entwickelung und Differen- zierung von Zellen, Organen und ganzen Tieren rückgängig ge- macht werden kann, dass eine rückgängige Entwickelung möglich ist und dass diese, wenn sie nicht durch Anpassung abgelenkt wird, dieselben Stadien in umgekehrter Reihenfolge durchläuft, die die Entwickelung genommen hatte. Eine solche rückläufige Entwicke- lung wird aber nicht nur durch Hunger etc. hervorgerufen, sondern wir sehen sie auch bei rudimentären Organen in der normalen Embryogenese. So wichtig die rudimentären Organe vom Standpunkte jedes nicht voreingenommenen Forschers für jede Theorie der Vererbung und Embryogenese überhaupt sind, so wurden sie doch fast nur ım Interesse der Phylogenie untersucht und als Indizien für Verwandt- schaften und als einleuchtende, demonstrative Beweise der Ab- stammungslehre verwendet. Wie so oft verhinderte auch hier Popularisierung der Wissen- schaft die Vertiefung der Forschung. Man suchte immer [rappantere Beweise für die Deszendenztheorie und diese Bekehrungsarbeit lenkte XXVIII. 43 674 Schultz, Über ontogenetische und phylogenetische Rückbildungen. die Gelehrten vom tieferen Eindringen in das Wesen dieser Pro- zesse ab. Dass ein Organ sich in der Ontogenie anlegt, sich weiter ent- wickelt, ohne zu funktionieren und darauf wieder rückgebildet wird, dient als Beweis, dass es ein ursprüngliches Gesetz und keine An- passung ist, welche dieses Wiederauftauchen nun nutzloser Gebilde verursacht, die ja praktischer direkt zu eliminieren wären. Was ist nun die Ursache der Rückbildung eines Organes? Zweifellos ist .es der Nichtgebrauch dieses Organes im Leben der einzelnen Individuen, welcher den Schwund desselben in der Stammes- geschichte verursacht. Wie man sich hier Stammesgeschichte und Ontogenie verknüpft denkt, ob auf dem weiten Umwege neo-darwi- nistischer Anschauungen, oder auf dem direkteren der Vererbung funktioneller Anpassungen, lassen wir dahingestellt sein. Erst recht ist von der direkten ursächlichen Verknüpfung, die die weitere Aus- bildung des Organes hemmt, noch nichts bekannt, und sich mit Redensarten über die schlechte Ernährung retrograder Organe und Materialentziehung etc. zu begnügen, heisst das Problem nur ver- schleiern, denn die Ernährung allein ist es sicher nicht, die ein Organ sich rückbilden lässt, und Funktionieren ist kein einheitlicher Begriff für verschiedene Organe und Gewebe; der Mangel der Kon- traktion der Muskeln und der Lichtmangel, der den Verlust des Sehorgans verursacht, sind ganz heterogen; auch gibt es eine Masse Organe, die überhaupt nur für eine einmalige Funktion ausgebildet werden, wie z. B. die Muskulatur des Uterus, oder die Flügel der geschlechtlichen Ameisen, die nur einmal beim Hochzeitsfluge ge- braucht werden. Kohl nımmt für das Rudimentiirwerden des Auges als direkte Ursache Hemmungen an. Ich glaube aber nicht, dass irgendein Hemmungsreiz dabei wirksam zu sein braucht; und in Analogie mit dem, was uns von der unvollkommenen Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale und der äußeren Geschlechtsorgane bekannt ist und was von Herbst zusammengestellt wurde, wäre es ein- facher anzunehmen, dass auch hier der Reiz fehlt, welcher die volle Ausbildung eines Organes bedingt, dasselbe auf der Höhe hält und den Eintritt rückläufiger Entwickelungsprozesse verhindert, dieser Reiz kann nur die Funktion selbst sein oder von ihr hervorgerufen werden. Wir können also nur ganz allgemein sagen, dass die Unnötig- keit eines Organes den Schwund desselben herbeiführt. Solches Unnötigwerden einer Anpassung wird besonders dann eintreten, wenn ein Tier seine Lebensweise ändert und mit dem Übergang in ein neues Medium alle Anpassungen an das bisherige Medium un- nütz werden. So, wenn ein Landtier mit Anpassungen ans Land- leben zum Wasserleben übergeht, wenn für ein Höhlentier die Seh- Schultz, Über ontogenetische und phylogenetische Rückbildungen. 675 organe, oder für einen Parasiten die fürs Freie eingerichteten Be- wegungsorgane nutzlos werden, die für schwer verdauliche Nahrung angepasste Darmdifferenzierung funktionslos wird. Bleiben wir z. B. bei den. Cetaceen stehen. Sie sind un- zweifelhaft von Landtieren entstanden, und mit dem Übergang ins Wasser wurden alle Anpassungen ans Land aufgegeben, in vielen Fällen ganze Organbestandteile, ja ganze Organe, wie z. B. die Speicheldrüsen. Das äußere Ohr wird mehr oder weniger ge- schlossen. Der Hals, dessen Differenzierung und Gelenkigkeit eine Landanpassung war, die beim Schwimmen nur hinderlich sein konnte, wird wieder verkürzt, und die Wirbel selbst werden flacher. Die ganze Wirbelsäule wird gleichfalls sehr vereinfacht, nur die Wirbel des Schwanzes, der zu einem mächtigen Fortbewegungs- organe wird, gewinnen sekundär verlängerte Dornfortsätze (Sirenen, Cetaceen). Wir sehen also die einen Organe einfach rudimentir werden, einfach atrophieren, während die anderen sich nicht einfach rückbilden, sondern dabei auch neue Anpassungen erwerben. Sehr typisch tritt dieses bei den Extremitäten zutage. Die Hinter- extremitäten reduzieren sich vollkommen, das Skelett der vorderen wird sehr rudımentär, da die Extremität aus einer Flosse entstanden ist und nun wieder zum Flossenzustande zurückkehrt (wie auch das- jenige der ans Wasser angepassten Schildkrötenextremität), gewinnt aber dabei auch neue Anpassungen, wie die Hyperphalangie. Bei Ichthyosaurus finden wir ja sogar eine Vergrößerung der Phalangen- zahl. Das Intermedium wird bei einigen Cetaceen zwischen den distalen Enden der Ulna und des Radius wieder beweglich, was bei keiner anderen Säugergruppe vorkommt, wohl aber bei der so ‚ursprünglichen Schildkrötenextremität. Die Zahl der Karpalelemente steigt bei den Zahnwalen auf 12 und thre Lage ist durchaus typisch für die hypothetische Ausgangsform des Säugetierkarpus, wie er sich bei der Schildkröte erhalten hat, oder wieder geworden ist. Eine Rückbildung ist auch die Verkürzung des Armes und Vorder- armes, eine Anpassung die Verlängerung der Finger. Ursprüng- lich ist die einförmige Gestalt der Zähne. Die Testes der Cetaceen, Sirenen und Phociden liegen wieder in der Körperhöhle selbst, wie bei den Vorfahren der Säuger. Ähnliche Rückbildungen erleiden die Flügel einiger Tiere, wenn sie ihr Luftleben aufgeben. So bei den Käfern Madeiras und der Kerguelen. Auch hier geht ein Organ einfach verloren. Eine phyletische Rückbildung finden wir an den Augen blinder Insekten. Die Krebse der Mammuthöhle in Kentucki haben nur die beweglichen Stiele der Augen nachbehalten, während die Augen selbst vollständig atrophiert sind. Eine Menge von Rückbildungen finden wir endlich bei Para- siten, — der Extremitäten, der Sinnesorgane des Nervensystems etc. IK oO 676 Schultz, Über ontogenetische und phylogenetische Rückbildungen. Wie gehen nun diese Rückbildungen in der Ontogenie vor sich? Meistenteils haben wir es mit einem Stehenbleiben auf einem früheren Entwickelungsstadium, zu tun: das Organ differenziert sich nicht zu Ende, und dieses sehen wir in all den Fallen, wo das Organ phylogenetisch schon längst außer Tätigkeit gesetzt ist. Im Beginne phylogenetischer Regression aber legt sich das Organ normal an, entwickelt sich weiter und erreicht vielleicht noch die höchste Stufe der Entwickelung, um nachher sich wieder zurück- zuentwickeln. Auch Kohl, der ja gerade die Hypothese von einer Hemmung in der Entwickelung in Fällen rudimentärer Organe an- genommen hatte, sagt in betreff der rudimentären Sehorgane: „dass neben dieser Hemmung freilich in den meisten Fällen auch in der Ontogenie wirkliche Rückbildungen eintreten, zeigt sich bei Betrachtung der verschiedenen Tiere sehr deutlich“ (p. 266). Bei Anguis fragilis legt sich die freie Extremität als Stummel an, der sich darauf rückbildet (Born). Bei anderen Reptilien kommt es, wie es scheint, nicht mehr zu einer ontogenetischen Rückbildung. Die im erwachsenen Zustande fußlosen Caeciliiden weisen während der Entwickelung kleine Verdickungen an der Stelle der vor- deren Extremitäten auf, die nachher wieder verschwinden (Hypo- geophis nach Brauer). Dasselbe beschrieb Sarasın auch für die hinteren Extremitäten. Auch bei Cetaceen sind die Hinterglied- massen auf frühen Entwickelungsstadien nachgewiesen worden (Guldberg, Kükenthal), so bei Phocaena communis. Beim Strauße wird der erste und fünfte Finger angelegt und wieder rück- gebildet (Mehnert): das Knorpelgewebe schwindet und an seine Stelle treten indifferente Gewebezellen, die Konturen werden un- deutlich und alle Andeutung, dass sie Skeletteile waren, schwindet. Auf den jüngsten Entwickelungsstadien von Phocaena communis (Kükenthal) erscheinen nicht zwei, sondern acht Zitzenanlagen, doch werden die übrigen wieder rückgebildet. Ähnliche Rück- bildungen weist das Haar vieler Tiere — auch des Menschen auf; vollständig aber schwindet das Haar der Cetaceen. Es wird durch ein Fettlager ersetzt, welches besser als das leicht durch- nässte Haar, die Wärmeausstrahlung verhindert. Die erwachsenen Sirenen haben nur geringe Reste eines Haarkleides, während die Embryonen noch Spuren eines über den ganzen Körper sich er- streckenden Behaarung haben. Das neugeborene Nilpferd hat lanugoartiges Haar, welches später sehwindet. Bei jungen Balae- noptera musculus kommen an der Spitze der Unterkiefer keine Haare mehr zum Vorscheine, wohl aber Vertiefungen als Rest der Haarfollikel; solche Gruben finden wir am ganzen Körper, tiefere, flachere und endlich nur entsprechende Pigmentflecke. Beim Weiß- wal und Narwal kommen auch keine Spuren von Haaren mehr vor. Hier sehen wir so recht den Weg des allmählichen Schwundes Schultz, Über ontogenetische und phylogenetische Rückbildungen. 677 eines Organes in der Phylogenie. Auch die Hautdrüsen, glatte Muskeln und Hautnerven reduzieren sich. Dieser allmähliche Schwund scheint hier überall während der Ontogenese vor sich zu gehen, so dass wir auch hier ontogenetische Rückbildungen und nicht „Hemmungen“ vor uns haben. Bei den Zahnwalen legt sich ein typisches äußeres Ohr in Gestalt von sechs Höckern an, die aber zu einer Papille sich vereinen, die wieder vollständig verstreicht. Ähnliches sehen wir bei den. rudimentären Augen von Myxine glutinosa. Bei der Entwickelung sind die een zuerst noch dickwandig, die Linse wird als Ektodermverdiekung angelegt (v. Kupffer), schwindet nachher aber wieder. Auch bei Proteus anguineus wird die Linse angelegt, bildet sich darauf aber wieder zurück (Kohl). Micropterus — eine Ente aus Südamerika — kann in erwachsenem Zustande nicht fliegen, wohl aber in der Jugend. Der Schwanz ist beim mendlilichen Embryo stark ent- wickelt, bildet sich darauf aber zurück. — Es ließen sich gewiss leicht noch viele Beispiele solcher rückläufiger ontogenetischer Ent- wickelung auffinden. Jede phylogenetische Rückbildung äußert sich demnach, wie ich es mir vorstelle, in der Ontogenie in der Weise, dass die Ent- wickelung des betreffenden Organes zuerst zu Ende verläuft und nachher wieder die letzten Stadien rückgebildet werden, d. h. die Jüngsten Zellen werden zerstört, so dass che betreffende Ore gan auf einer früheren Entwickeh ungsstufe erscheint. Da die embry one Ent- wickelung rudimentärer Groene leider meist nur ungenau erforscht ist, so sind uns nur die Endstadien besser bekannt, während es meist unentschieden bleibt, ob eine ontogenetische Rückdifferen- zierung im betreffenden Falle vor sich geht. Auf späteren phylo- genetischen Stadien fällt die Differenzierung und Rückdifferenzierung fort, und wir erhalten Abbreviationen, wie sie Mehnert nannte, d. h. frühzeitigen Abschluss der Entfaltung. Ich nehme also an, dass wir um so umfangreichere ontogenetische Rückbildungen zu Gesicht bekommen, je kürzere Zeit zurück eine phylogenetische Rückbildung begonnen hat. Ein Beispiel dafür bietet die Ver- schmelzung der letzten Wirbel bei einigen Säugern (Schwein, Schaf). Es ist höchst charakteristisch für den Prozess, was Schauinsland darüber sagt: „Zu bemerken ist endlich noch, dass sich die Rück- bildungserscheinungen und namentlich die zu lang angelegte Chorda, nicht etwa, wie man vielleicht meinen sollte, am meisten bei Tieren mit kurzen Schwänzen finden, sondern dass sie ım Gegenteil ın größter Ausbildung bei langschwänzigen Arten vorkommt und viel- leicht gerade deswegen, weil bei diesen der Reduktionsprozess noch ın lebhaftem Flusse ist.“ Auch bei Vogelembryonen wird nach M. Braun das letzte Chordaende — das Chordastäbchen angelegt und wieder resorbiert. 678 Lubosch, Die stammesgeschichtl. Entwicklung der Synovialhaut ete. Schon bei den angeführten Beispielen können wir bemerken, dass sowohl in der phylogenetischen Regression als auch in der ontogenetischen das zuletzt gebildete zuerst schwindet, — dass wir es also auch hier mit jener Umkehrbarkeit der Lebensprozesse zu tun haben, welche ich unlängst ausführlicher behandelt habe, und mit einer Verjüngung der betreffenden Teile, falls diese in der Phylogenie zur Anlage zurückkehren oder in der Ontogenie auf dem Stadium der Anlage stehen bleiben. Es genügt, auf das Auge von Myzine, dessen Choroidalrinne sich das ganze Leben hindurch er- hält, hinzuweisen. Freilich können nur reine Rückbildungen ein volles Bild der rückläufigen Entwickelung geben. Dort, wo das be- treffende Organ nicht nur zurückgebildet wird, sondern dabei auch Anpassungen erleidet, wie z. B. die oben erwähnte vordere Ex- tremität der Cetaceen, die Bildung des Pygostyls der Vögel etc. haben wir es schon mit sekundären Komplikationen zu tun, welche das Gesetz verschleiern. Ähnlich verhalten sich in vielen Fällen die rudimentiiren Augen. Im allgemeinen aber werden auch hier die zuletzt differenzierenden Teile zuerst aufgegeben: Cornea, Tumor aqueus, Glaskörper, später auch die Linse. Sehr instruktive Bei- spiele bietet das Gliedmaßenskelett. Braus sagt darüber: „Bei allmählichem Verluste der freien Gliedmaße verlaufen die Rück- bildungen am Skelett meist so ab, dass von der distalen Spitze nach dem Zonoskelett zu ein Abschnitt nach dem anderen ver- schwindet, bis endlich auch der Extremitätengürtel selbst in Fort- fall kommt. In der Ontogenie können noch Anlagen von Skelett- teilen auftreten, die weiter distal liegen als diejenigen, welche in endgültigem Zustande erhalten bleiben.“ Wie bekannt geht aber die Differenzierung der Extremität in umgekehrter Richtung distal vom Zonoskelett zu den Phalangen. (Schluss folgt.) DiestammesgeschichtlicheEntwicklungderSynovialhaut und der Sehnen mit Hinweisen auf die Entwicklung des Kiefergelenks der Säugetiere. (Vorläufige Mitteilung auf Grund eines auf der 22. Versammlung der Anatomischen Gesellschaft in Berlin gehaltenen Vortrages.) ’) Von Dr. W. Lubosch, a.-o. Professor, Jena. Längere Zeit bereits sınd Fragen, die mit der Entstehung der Gelenke zusammenhängen, Gegenstand meiner Untersuchungen. Die schon durch die Abhandlungen von Schaffer (96, 01, 03, 05) 1) Der Wortlaut des gehaltenen Vortrages ist nebst den Abbildungen der dort demonstrierten Wandtafeln in den Verhandlungen des Kongresses enthalten. Die dort gegebene kurze Vortragszeit hat nicht gestattet, die Grundlagen der vorge- tragenen Anschauungen ausführlich zu behandeln. An dieser Stelle erscheint der & Lubosch, Die stammesgeschichtl. Entwicklung der Synovialhaut etc. 679 und Studnitzka (97, 03), insbesondere aber durch die große Ar- beit von Hansen (05) begründeten Vorstellungen vom Wesen des Knorpelgewebes sind in merkwürdiger Weise derjenigen Beurteilung entgegengekommen, die ich mir Belles über einige Fragen der Ge nese etching im Laufe der Zeit gebildet hatte. Es sei mir ge- stattet, in meiner folgenden Darstelhne die Aufmerksamkeit auf einige dieser Fragen zu lenken, auf die schon jetzt zusammenfassend eine Antwort gegeben werden kann, obwohl zahlreiche Einzelheiten noch einer besonderen weiteren Bar kung bedürfen und eine Fort- setzung meiner Arbeiten erfordern. Schon Studnitzka und Schaffer Hatton mehrfach darauf hingewiesen, dass die Grundlage des hyalinen Knorpels eine von der späteren Grundsubstanz verschiedene sei und in primitiveren Zuständen gekennzeichnet werde durch ihre Neigung zur Bindung saurer Farben. Hansen hat dann durch eine sehr sinnreiche neue Methodik diese primäre Grundlage der späteren Grundsubstanz als eine aus kollagenen Fibrillen und Fasern bestehende Masse gekenn- zeichnet, die, aus der ursprünglichen intercellularen Substanz her- vorgehend, von den ursprünglichen Bildungszellen weiter ausgestaltet werde. Diese kollagene Grundsubstanz ist acidophil. Die in ihrem Inneren enthaltenen Zellen besitzen die Fähigkeit, einen als Chon- droitinschwefelsäure bezeichneten Stoff abzusondern, der wahr- schemlich vereinigt mit Eiweißstoffen (als ein „Salz“) vorkommt. An verschiedenen Lokalitäten, in verschiedenem Alter und bei ver- schiedenen Individuen äußert sich diese Tätigkeit der Knorpelzellen verschieden stark. Sie macht sich dadurch kenntlich, dass durch die secernierten Stoffe im Umkreis der Zellen eine „Maskierung“, „Hyalinisierung“ der kollagenen Grundsubstanz herbeigeführt wird. Mechanisch äußert sich dies ın der entstehenden Festigkeit des Gewebes, optisch in einem Verschwinden der Fibrillen und Fasern — chemisch darin, dass um die Zellen herum dıe be- kannten blauen Höfe entstehen, bewirkt durch das dort reichlich vorhandene basophile Excret der Knorpelzellen. — Diese Tätigkeit der Knorpelzellen haben wir uns als in mannigfacher Weise durch äußere Reize beeinflusst vorzustellen. Auch befindet sich das Knorpelgewebe außerhalb der Zellen in seiner Intercellularsubstanz in lebhafter Tätigkeit und sehr verschiedenartigen Zuständen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die Morphologie aus diesen Tatsachen einen erneuten Anlass gewinnt, die Knorpelzelle als ein Element von sehr spezifischem Werte zu betrachten. Wir wollen auf die spärlichen Beobachtungen, ohne sie — trotz der daran Vortrag so, wie er ursprünglich niedergeschrieben worden war. Der Leser wird zur Ergänzung auf die in den „Verhandlungen ete.“ veröffentlichten Abbildungen ver- wiesen. 680 Lubosch, Die stammesgeschichtl. Entwicklung der Synovialhaut ete. geübten Kritik (z. B. Studnitzka 03, p. 288 und Schaffer, Anat. Anz. Bd. 19, p. 32) — für völlig belanglos zu halten, keinen über- großen Wert legen, wonach die Chondroblasten in Beziehungen zum äußeren Keimblatt stehen. Wir wissen, dass das Knorpel- gewebe fast überall aus dem Mesenchym seinen Ursprung nimmt. Gleichwohl sind es nun aber Mesenchymzellen von einer so spe- zifischen Leistung, dass man die Frage aufwerfen kann, ob wirklich jede beliebige Zelle, die irgendwo im Mesenchym gelegen ıst, zur Bereitung und Ausscheidung jenes komplizierten Stoffes für befähigt gehalten werden soll, oder ob es nicht eher Zellen sind, die die Fähigkeit dazu auf Grund der Vererbung früherer Zustände bewahrt haben. Wollte man die so merkwürdige Affinität der Chondroitinschwefelsäure zu basischen Farbstoffen als wichtiges Kriterium auffassen, so träten die Chondroblasten dadurch in große Nähe der schleimbereitenden Epithelzellen. Man stellt sich nun die Beziehungen des Knorpels zum Mesenchym so vor, als ob die embryologisch zu beobachtenden Vorgänge uns wirklich einen Aufschluss über jenen Zusammenhang gäben, und gelangt daraufhin zu der Anschauung, dass auch während des individuellen Lebens jederzeit Knorpel beliebig im Bindegewebe entstehen könne. Dies wäre dann „Stammesgeschichte“ des Knorpels. Man zieht bestimmte Faktoren als adäquate Reize heran und meint, dass der Druck z. B. ausreiche, um in Sehnen, Sehnenscheiden, Ligamenten, Gelenk- kapseln u. s. w. Knorpel aus Bindegewebe entstehen zu lassen. Seitdem wir aber nun wissen, dass im Knorpel bereits uran- fanglich eine kollagene, ja sogar meist bereits in Fibrillen diffe- renzierte Substanz vorhanden ist, so würde eine nicht fernliegende Auffassung jene Beziehungen gerade umgekehrt deuten können, so nämlich, dass an bestimmten Stellen des Körpers sich Binde- gewebe da entfaltet, wo auf primitiveren stammesgeschichtlichen Zuständen hyaliner Knorpel vorhanden gewesen ist. Hierdurch würde zwar der tatsächliche Ablauf der Ontogenese nicht modi- fiziert werden, wohl aber manche bisher des Zusammenhanges und der Erklärung ermangelnde Erscheinungen zu klarerem Ver- ständnis gelangen. Gerade durch die vergleichende Betrachtung der Wirbeltiergelenke glaube ich Anhaltspunkte für die Vertretbarkeit jener Ansicht gewonnen zu haben. Bevor ich zu diesen Beobachtungen übergehe, wird es aber, glaube ich, nicht ohne Interesse sein, an einem Beispiel zu betrachten, von wie großer Wichtigkeit es wäre, das stammesgeschichtliche Ver- hältnis beider Gewebsarten zueinander zu kennen. Dies Bei- spiel wird uns durch das Kiefergelenk der Säugetiere geliefert. Wir wissen, dass seine beiden Komponenten in vielen Fällen von Binde- gewebe überkleidet sind. An sich ist dies nichts den Säugetieren und dem Menschen völlig Fremdes. So haben z. B. die Gelenke Lubosch, Die stammesgeschichtl. Entwicklung der Synovialhaut ete. 681 zwischen den Rippenköpfchen und den Wirbeln, das Sternoclavi- kulargelenk und einige Sternocostalgelenke „faserknorplige“ Über- züge (cf. Stieda, 07). Aber merkwürdigerweise sind das nun ge- rade solche Gelenke, die in irgendeiner Weise außerhalb der Reihe der übrigen stehen; es hat mit ihnen, um so zu sagen, irgendeine besondere Bewandtnis. Am Kiefergelenke herrschen aber ver- gleichungsweise ganz besondere Verhältnisse. Zwmnächst fehlt der Bindegewebsüberzug gerade dem Gelenk, dessen Homolog es nach einigen neueren Untersuchungen wieder sein soll. Weder bei Reptilien noch Vögeln habe ich im Kiefergelenk etwas ähnliches finden können — ebensowenig wie es anderen Autoren bekannt geworden ist. Andererseits ist aber nun die Ausbildung dieser Bindegewebsschwarte innerhalb der Säugetiere wiederum sehr ver- schieden mächtig. Bei Monotremen und Edentaten ist sie sehr stark (Lubosch, 06, 07). Bei anderen fehlt sie ganz, wie es z.B. Fuchs (06, p. 29) ‘Hi den Igel, Schaffer (88, p. 324) itr das Lamm und ich (06, p. 593) für ae Fledermaus geschildert habe. Sodann ist die histologische Shan dieser Schicht, wo sie vorkommt, sehr auffällig. Meist liegt hier ein Gewebe vor, auf das im allgemeinen die von Schaffer für das „vesikulöse Gewebe“ entworfene Schilderung passt (neben vielen anderen Stellen be- sonders 03, bl. An seiner Stelle kann aber auch echter Knorpel darin angetroffen werden, wie sehr viele Mitteilungen in der Lite- ratur zeigen. Ich selbst habe bei Dasypus und Bradypus dicht unter der Oberfläche Inseln von Knorpelzellen mit basophilen Kapseln angetroffen. Denken wir endlich daran, dass mit dem Kondylus des Unter- kiefers eine Sehne in Beziehung steht und dass nach neueren Untersuchungen (besonders Gaupp, 05) im Zusammenhang mit dieser Sehne allem Anschein nach die Differenzierung des Meniscus erfolgt (in dem gleichfalls Knorpelzellen vorkommen können), so erhellt aus all dem, dass es nicht hinreicht, sich vorzustellen, dass jener de se websüberzug aus dem Mesenchym, oder selbst dem do nen: Gewebe „übrig bleibe“. Die Tatsache, dass ein- mal sehr viel „übrig bleibt“, ein anderesmal gar nichts, Bann durch den Einfluss funktioneller Zustände nicht wirksam erklärt werden. Schnabeltier und Echidna mit ziemlich gleicher Struktur kauen sehr verschieden, die Insektivoren kauen schwerlich intensiver als die insektivoren Beuteltiere und dennoch verschiedene Struktur (vgl. meine Abhandlung im Biol. Centralblatt, 07 b). Hierbei war es zum ersten Male, wo sich mir die Frage erhob, ob nicht etwa ein primordiales Knorpelstück auf dem Wege der Stammesgeschichte in Bindegewebe übergehe, um erst indirekt dann da den später auftretenden knorpligen Elementen den Ur- sprung zu geben. Dass Übergang dieses Knorpels in Bindegewebe 682 Lubosch, Die stammesgeschichtl. Entwicklung der Synovialhaut ete. vorkommt, zeigt eine Bemerkung von Fuchs (06, p. 34). Dieser Autor hatte bei einem Didelphys-Embryo im Squamosum einen breiten Knorpelkern gefunden. Bei einer erwachsenen Didelphys virginiana fand er an der Stelle des Knorpels nur straffes Binde- gewebe; „er (der Knorpel) scheint also vollkommen zurückgebildet zu werden“. Ich selbst habe bei einem jungen 20 cm langen Exem- plar von Tamandua (07, p. 555) den Kondylus mit einer viel geringeren Bindegewebsschwarte bedeckt gefunden, als bei einem alien Exemplar — dafür aber bei dem jungen ix mplın einen großen Teil des Kondylus aus solchem Gewebe gebaut erkannt, das Schaffer (88, p. 311) beim Lamm als „unreifen Knorpel“ be- zeichnet. Die Charaktere dieses Gewebes (geringe Affinitat zu Hämatoxylın — in meinem Falle des Tamandua auch zu Bismarck- braun), die großen, wenig retrahierten Zellen, würden die Über- tragung des Namens „Vesiculöses Gewebe“ auch auf dieses Gewebe rechtfertigen. Es war nun klar, dass zur Erforschung des sich hier bietenden Problems nicht das Bacforsolente benutzt snore konnte, wo ja so manche Fragen komplizierend dazu kommen — sondern vielmehr der som: Vorgang der Gelenkbildung ins Auge zu fassen war. Die von mir zu lenderen Zwecken ipepatmelich fetes und verarbeiteten Wirbeltiergelenke (über 150) boten Material genug für meine Zwecke. Leider sind viele Präparate bereits vor 4 lehnen hergestellt worden, so dass die neueren Methoden von Hansen noch nicht angewendet erscheinen. Gleichwohl ergibt sich des Mit- teilenswerten immerhin Einiges. Ik Fragen wir, wie Wirbeltiergelenke entstehen, so lehrt die Ent- wickelungsgeschichte, dass eine im Vorknorpelstadium einheitliche Anlage sich in diskrete Knorpelstücke sondert, und dass Gelenk- spalt und Gelenkkapsel nebst allen accessorischen Gebilden (Plicae synoviales, Menisci, Disci) aus dem interarticulären Gewebe ent- stehen. -—— Hingegen weist die Phylogenese natürlich darauf hin, dass Gelenke durch Gliederung ursprünglich kontimuierlicher Ele- mente entstehen. Es bedarf nicht der Beweise für diese — wenigstens was die Extremitäten anlangt — wohl kaum zu bezweifelnde An- nahme. Ich erinnere an die Zustände am Schultergelenk von Cera- todus, wie sie Semon geschildert hat, wo beide Gelenkstücke noch inniger ın Kontakt stehen, als später bei den terrestrischen Tieren. Ganz allgemein bekannt ist auch, dass die distalen Extremitäten- gelenke noch bei Amphibien innigere Verbindungen aufweisen als die homologen der Amnioten. Wir wenden uns zunächst zur Betrachtung grade dieser distalen Gelenke. Für sie liegt eine kurze escola: vor, die Schaffer Lubosch, Die stammesgeschichtl. Entwicklung der Synovialhaut ete. 685 (03 d) vom Salamander und Triton — Bombinator und Frosch ge- geben hat. Ich selbst kenne die Fußgelenke von erwachsenen Urodelen (Necturus, Spelerpes, Salamander, Tritonen) und von Fröschen verschiedenen Alters, die lebend nach Entfernung der Haut fixiert, entkalkt und meist dorso-volar geschnitten wurden, Schaffer hat nun richtig betont, dass beim Salamander (I. c., p. 735) an den distalen Gelenken Kopf und Pfanne nicht ausgeprägt seı. An der volaren Seite bestehe eine kontinuierliche Verbindung beider Elemente, während dorsal ein Spalt auftrete, der in den proxi- malen Gelenken immer größer werde. Außer diesen zutreffend geschilderten Verhältnissen lässt sich nun noch einiges Weitere sehen. Zunächst macht sich an allen untersuchten Gelenken ein Gegen- satz geltend zwischen der dorsalen und volaren Wand. Dieser Gegensatz fehlt, soweit ich sehe, nur bei dem distalen Fingergelenk von Necturus, wo beide Skelettelemente noch völlig kontinuierlich verbunden sind und nur ein kleiner Spalt dazwischen auftritt. Die volare Wand stellt jene von Schaffer erwähnte kontinuierliche Ver- bindung dar. Beim Triton (vgl. hierzu Verh. anat. Gesellsch. 1908, Fig. 1. Im folgenden werden die Figuren meines Berliner Vortrages ohne weitere Quellenangabe zitiert), wird sie durch Gruppen von Zellen gebildet, die in eine streifige Grundsubstanz eingelagert sind. In der Richtung der Grundsubstanzzüge und der Anordnung der Zell- nester scheint zunächst keine Regel wahrzunehmen. Die Grund- substanz hat, obwohl keine Fasern nachweisbar sind, offenbar mehr kollagenen Charakter, da sie nach Mallory dunkler als der Knorpel, mit Säurefuchsin sich rosa bis rot färbt. In der Verbindungszone findet kontinuierlicher Übergang von einem Knorpel zum anderen statt, sowohl für Grundsubstanz als auch für Zellen, die völlig den Charakter der Knorpelzellen bewahren also nicht zum „vesiculösen Gewebe“ zu rechnen sind, wenngleich sie ihre Gestalt gegen die der Knorpelzellen etwas verändern. Innerhalb dieses Gewebes treten spärliche Spalträume auf. Beim Salamander (Fig. 2) habe ich dieses Gewebe zwischen den Knorveln mächtiger ausgedehnt angetroffen. Das Gelenk war hier also weniger frei als bei Triton. Dazu waren die Spalten sehr eng und spärlich. Andererseits fand ich unter den Tritonen Molge, ferner Spelerpes und in proximalen Gelenken Necturus in der Entwickelung weiter. Hier waren die Spalträume größer, mehrfach zusammengeflossen, und so der Spalt aus dem Zu- sammenfluss der kleinen Höhlen größer geworden. Bei Spelerpes und Molge war am Metacarpophalangeal- und proxi- malen Interphalangealgelenken die Kontinuität nur noch an der volaren Seite erhalten, gleichzeitig aber lag z. B. bei Necturus (Fig. 3) sehr deutlich ein Rest dieses Zwischengewebes jederseits auf der Oberfläche des Knorpels. Bei Necturus war dieser 654 Lubosch, Die stammesgeschichtl. Entwicklung der Synovialhaut ete. Überzug weniger stark am Metacarpophalangeal-, stärker am Inter- phalangealgelenk, während am Endgelenk, wie schon erwähnt, eine Trennung überhaupt noch nicht erfolgt war. Bei all dem werden die Nester der Knorpelzellen gleichsam zersprengt und geraten ent- weder weiter nach volar, um dort mit den Sesamknoten in Be- zıehung zu treten, oder sie hängen auch, an zarten Fäden gehalten, innen in der Gelenkhöhle. Dem feineren Bau nach wird dieses Gewebe von Schaffer für Salamander, Triton, Bombinator als ei elastischer, für den Frosch mehr fibröser Knorpel aufgefasst. Die volar davon legen- den Sesamknötchen sollen bei den Amphibien nach Schaffer rein fibrös sein, ohne ausgesprochen vesikulöse Zellen. Ich habe beim Salamander gefunden, dass volares Synchondrosengewebe und Sesamknoten gleicherweise aus „vesiculösem Gewebe“ bestehen. Andererseits liegen beim Triton wirklich Knorpelzellen im Syncho- drosengewebe vor. Auch bei den anderen untersuchten Urodelen stehen die Zellen des Synchondrosengewebes denen der benachbarten Knorpel sehr innig nahe. Bedeutsam ist ein Befund, der in Fig. 3 meines Vortrages abgebildet ist. Hier ist eine Zelle in Teilung zu sehen, die halb im Knorpel, halb im Synchodrosengewebe liegt. Der Knorpel liefert also einen Zuwachs zum Gewebe der Synchondrose. All dies zeigt die Unmöglichkeit, einen scharfen Unterschied zwischen beiden Geweben im morphologischen Sinne zu machen, da sie offenbar einander homolog sind. : Beim Frosch habe ich ebensowenig, wie Schaffer am distalen (Gelenk eine offene Spalte finden können. Hier standen die beiden Knorpel kontinuierlich durch eine Knorpelmasse in Verbindung, die sich mehr dem Charakter des vesiculösen Gewebes näherte (dünne Scheidewände), aber kontinuierlich in die Knorpel überging. Haben wir bis hierher nur der volaren Wand gedacht, so wollen wir nun einen kurzen Blick auf die dorsale werfen. Hier klafft das Gelenk stets (außer beim Frosch und Necturus distal) auseinander. Es ist stets durch Bindegewebe abgegrenzt; aber es bestehen zwei wichtige Verhältnisse. Nämlich 1. handelt es sich bei allen Ge- lenken um einen Doppelspalt, eine sehr wichtige Tatsache, die Schaffer nicht berichtet, indem eine vertikale Lamelle, die also zwischen beiden Knorpeln liegt, eindringt. Diese Lamelle setzt sich entweder mit der volaren Wand in Verbindung, oder sie endigt frei oder hängt an einer der beiden Wände fest (vgl. Fig. 2); 2. aber zeigte dieses Bindegewebe einige Besonderheiten, auf die ich später an einer anderen Stelle (S. 689) eingehen werde. Sie bestehen darin, dass im Bindegewebe, kurz gesagt, Reste einer hya- linen Knorpel-Grundsubstanz, in Strängen und Fäden angeordnet, vorkommen. Wenn Schaffer (l. ce.) den Amphibiengelenken die „Reptilien*- Lubosch, Die stammesgeschichtl. Entwicklung der Synovialhaut ete. 685 gelenke gegenüberstellt, so gilt das zwar für deren jüngere Formen. Aber noch bei Cheloniern finden wir Zustände, die aus jenen so- eben beschriebenen eine Erläuterung empfangen. So z. B. im Meta- carpophalangealgelenk von Emys (Fig. 6). Volar sehen wır ein fibröse Kapsel. Von da ins Innere vorspringend einen Zapfen von vesiculösem Gewebe. Der eigentliche volare Abschluss des Gelenkes liegt aber noch weiter dorsal. Er wird hier durch faserige, dicke Stränge gebildet, die zum Knorpel hin homogen werden und kontinuierlich in ıhn übergehen. Seitlich setzt sich dies Gewebe sehr weit auf die Gelenkflächen fort. Der volare Abschluss ist also, wie ersichtlich, noch ın Bildung begriffen. Jene kleinen Spalten der Amphibien- gelenke sind größer geworden. Dabei wird die ursprüngliche Syn- chondrose mehr und mehr verzehrt. Hierbei wird ein Zapfen vesiculösen Gewebes als „Plica synovialis* aus der größeren Konti- nuität herausgeschmolzen. Es lässt sich denken, dass bei schließ- licher Aufzehrung auch der dorsalen Spangen eine Gelenkkapsel und eine Synovialfalte bestehen bleiben muss. Der dorsale Ab- schluss wird durch einen ähnlichen Zapfen gebildet, wie er beı den Amphibien beschrieben worden war. Bei einer Analyse dieser Erscheinungen gelangen wir zu sehr wich- tigen Schlüssen. Dass die Entstehung der Spalten an die Mechanik der Bewegung gebunden ist, ist klar. Stellen wir uns den auf den Zehenspitzen ruhenden Fuß des Salamanders als einen einheitlichen Knorpelstab vor (Fig. 4 u. 5), der nur stärker gebogen werde, so kommen hier die höchst komplizierten Gesetze der „Knickung“ zur Anwendung. Wir wollen der Einfachheit halber uns einen bieg- samen Stab denken, der an zwei Punkten dorsal fixiert ist und gegen diese Befestigung empor gedrückt wird: So finden sich nach bekannten Gesetzen dorsal Zugwirkungen, volar Druck wirkungen. Der Stab wird ferner dorsal schmäler (durch Gegendruck) und volar dicker (durch Gegenzug). Was die volar wirksamen Druckkräfte anbelangt, so entspricht jeder Druckkraft bekanntlich ein Kräfte- paar, in dessen Richtung Verschiebung der Teile eintritt (Scheer- kraft), die halb so groß ist als die Druckkraft; und da in verschie- denen Phasen der Biegung der Druck verschieden gerichtet ist, werden auch die dort wirksamen Schubkräfte mannigfach ge- richtet sein. Da es sich nun aber um lebendes Material handelt, so wırd weder Zerreißung dorsal, noch Zerdrückung volar stattfinden. Viel- mehr wird sich die gewebsbildende Tätigkeit der Zellen den ver- änderten Reizen anpassen. Der Ubergang eines druckfesten in ein zugfestes Gewebe wird sich dadurch kennzeichnen, dass überall da, wo Zug- oder Schubkräfte auftreten, der adäquate Reiz zur Knorpel- 686 Lubosch, Die stammesgeschichtl. Entwicklung der Synovialhaut ete. bildung wegfällt, dafür aber die fibrillären Strukturen als zugfeste Gebilde ausgeprägt werden. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass die scheinbar regel- lose Anordnung der volaren Zellgruppen und Bindegewebsfasern von Sachverständigen genau so als gesetzmäßig erkannt werden könnte, wie die Spongiosastruktur. Hansen (05, p. 746) meint, dass selbst die Fibrillen des ausgebildeten Gelenkknorpels der gesetz- mäßige Ausdruck mechanischer Verhältnisse seien, und neuerdings hat man auch in der Anordnung der Knorpelkanäle, den Vorläufern der Spongiosastruktur, Gesetzmäßigkeit zu erkennen geglaubt. Gleich- zeitig muss darauf hingewiesen werden, dass hier ein Weg gegeben ist, auf dem eine Einsicht in Differenzierung von Gelenkkopf und Gelenkpfanne gewonnen werden dürfte, die wohl schwerlich in der Phylogenese durch Reibung freier Flächen entsteht, wie es das be- kannte Fick’sche Experiment veranschaulicht, sondern bereits dann, wenn die Skelettstücke noch nicht schleifen, durch die Gruppierung der hier waltenden Kräfte bewirkt erscheint. In ähnlicher Weise wie Biegung und Knickung hier, wird man Torsionswirkungen für die Differenzierung großer Gelenke, z. B. der Zonobasalgelenke bei Selachiern in Anspruch nehmen können. Es leuchtet ein, dass die Wirkung der Muskulatur und die Bedeutung des Muskelansatzes im. Fick’schen Sinne hierbei von Bedeutung ist. Eine genaue Ana- lyse der „Knorpeltrajektionen* unter Berücksichtigung der Be- schaffenheit des knorpligen Materials und der Muskelwirkung müsste meiner Ansicht nach — wenn sie überhaupt ausführbar ist — ge- statten, einiges über die ursachen der Gelenkform festzustellen. Was hier angedeutet worden ist, kann bezeichnet werden als Sonderung primitiver Scharniergelenke. Wie sich die Dinge in Wirklichkeit verhalten, zeigt sehr gut ein Schnitt durch Unter- schenkel und Fuß des erwachsenen Salamanders (Fig. 2). An allen Gelenken haben wir hier den Gegensatz zwischen volarer (druckfester) und dorsaler (zugfester) Wand. Nur an einer Stelle, wo offenbar Biegung in umgekehrter Weise stattfindet, ist auch die Beschaffen- heit der Wände umgekehrt. Es ist zu beachten, dass wir an der „Extensorenseite*“ nur Spuren des eigentlichen Geschehens an- treffen. Man kann sich hier vorstellen, dass sich der Knorpel im individuellen Leben der Vorfahren der Amphibien zuerst an den Stellen stärksten Zuges in Bindegewebe auflöst und gleichzeitig nach zwei Seiten zurückweicht, so dass nur in der Mitte eine konti- nuierliche Verbindung zwischen der volaren und dorsalen Wand übrig bleibt, eben jene erwähnte, den Doppelspalt erzeugende Lamelle. Es ist endlich bemerkenswert, dass an der unteren Extremität der Urodelen bis zum Kniegelenk hin, dies eingeschlossen, alle Ge- Lubosch, Die stammesgeschichtl. Entwicklung der Synovialhaut ete. 687 lenke derartige Scharniergelenke sind; Flexoren- und Extensorenseite sind stets deutlich unterschieden. Der Gelenkspalt im Knie des Salamanders ist zwar größer als in den distalen Gelenken, doch sind die druckfesten Gewebsteile hier als Menisci differenziert, während die Extensorenseite weitere Beziehungen (zu Sehnen) ge- wonnen und die Scheidewand die Verbindung nach hinten ver- loren hat. Es scheint, als ob an diesen primitiven Gelenken für die von mir geltend gemachte Auffassung einige Anhaltspunkte gegeben sind: nämlich, dass die Knorpelzellen unter Wegfall des spezifischen Reizes die Abscheidung ihres spezifischen Produktes eingestellt haben, dass dafür aber die Ausbildung der primär bereits vor- handenen fibrillären Strukturen (in der von Schaffer, Studnitzka und Hansen für den Knorpel beschriebenen Weise) in den Vorder- grund getreten ist. Es fragt sich nun, ob auch an größeren Gelenken des Körpers Anhalt für diese Auffassung zu gewinnen sein wird. Zunächst möchte ich hier einen etwas abseits stehenden Be- fund anführen, den es mir gelungen ist, am Schultergelenk eines erwachsenen Triton zu machen (Fig. 7). Hier stand die Scapula mit dem knorpeligen Humeruskopf durch eine zarte Platte stellenweis in Verbindung. Es lag also selbst bei diesem wohl differenzierten Gelenk eines stammesgeschichtlich jungen Tieres unvollständige Sonderung vor, wie sie bei den großen Gelenken der Selachier und Teleostier die Regel zu sein scheint. Auf dem Knorpel lagen hier am Humerus einige breite, platte Epithelzellen, nicht unähnlich denen, wie sie bei Amphibien oft die innere Lage der Synovialhaut bilden. Dieser Befund zeugt also nicht nur von einem primitiven Zusammen- hang selbst zwischen Scapula und Humerus, sondern auch von einem ursprünglich zellig-bindegewebigen Zustand der Oberfläche des Gelenkknorpels, wovon sogleich noch die Rede sein wird. In histologischer Hinsicht liegt nun für größere Gelenke ein Heer von Beobachtungen vor, die sich a) auf die Beschaffenheit der Gelenkflächen, b) auf die Übergangszone von Synovialhaut und Gelenkfläche, c) auf die Synovialhaut selbst beziehen. Diese Beobachtungen hat man stets unter dem Gesichts- punkt beurteilt, dass es sich hier um Übergänge von Bindegewebe in Knorpelgewebe, vermöge der sogen. „freien“ Entstehung des Knorpels im Bindegewebe handele. Der eben gegebenen Einteilung folgend, will ich zu diesen Beobachtungen hier Einiges hinzufügen. Was zunächst die Beschaffenheit des Gelenkknorpels anbelangt, so weiß man von höheren Wirbeltieren, dass er ähnlich wie die dem Perichondrium naheliegenden Teile eines Knorpels stark acıdo- O88 Lubosch, Die stammesgeschichtl. Entwicklung der Synovialhaut ete. phil ist, d. h. nach neuerer Auffassung: dass in ihm die kollagene Grundsubstanz weniger durch die spezifische Knorpelsubstanz mas- kiert wird. Damit steht die oft deutlich fibrılläre Struktur in Zu- sammenhang (vgl. u. a. v. d. Stricht [90], Hammar [94], neuer- dings Hansen [05]). Hansen erklärt die Absplitterung von Fetzen, die man so oft am Gelenkknorpel beobachtet, durch die stärkere Entwickelung leimgebender Substanz. Derselbe Autor hebt hervor (l. e, p. 746), dass in kleinen Gelenken von Säugetieren oft „eine ganz dünne, aus verdichtetem Bindegewebe bestehende Membrana vitrea“ gefunden werde -— also, wie wir sagen können, eine Art Perichondrium. Charakteristisch ist nun erstens, dass diese Überkleidung der Gelenkknorpel bei primitiveren Formen tatsächlich und in beträcht- licher Ausbildung noch existiert und zwar bei Selachiern und Teleostiern, z. B. in den Gelenken zwischen dem Schultergürtel und den Basalien — oder zwischen den Basalien und den proximalen Radien. Bei älteren Acanthiasembryonen haben diese Gelenke einen Bau, wie ihn weit in der Entwickelung fortgeschrittene Zehengelenke bei Amphibien zeigen. Die Oberfläche ist von einer dünnen peri- chondralen Lage überzogen. Auch bei dem von mir untersuchten Gelenkkomplex einer jungen Raja stellata zwischen Gürtel und Pro-, Meso- und Metapterygium kleidet eine Synovialhaut das Gelenk allseitig kontinuierlich aus. Viel auffälliger ist nun der Zustand bei einigen Teleostiergelenken (Schleie, Weißfisch), wo an bestimmten Stellen echtes vesiculöses Gewebe die Gelenkflächen über- kleidet, nach der Oberfläche in Bindegewebe, nach der Tiefe in Knorpel übergehend, also annähernd so, wie es im Kiefergelenk der Säugetiere der Fall ıst. Doch sind die Verhältnisse bei Knochenfischen so kompliziert, dass ich hier auf meine späteren definitiven Mitteilungen verweisen muss. Dass am Humeruskopf vom Triton in einem Falle ein Fetzen Synovialhaut lag, wurde oben betont. An peripherischen Gelenken von Emys wurde gleichfalls streckenweis Synovialhaut auf dem Knorpel gefunden. Am Knie- und Hüftgelenk vom Frosch legen an der Oberfläche des Knorpels kollagene Fäden, die ein Geflecht zu den Meniscı hin herstellen, so dass hier kein Hohlraun;, sondern ein Wabennetz besteht. Von ganz merkwürdigem Interes 2 scheint mir ein Befund am Ellbogengelenk der Maus zu sein (vgl. Fig.,8). Hier lag inmitten der Incisura semilunaris der Ulna inselförmig ei derbes, cirkumskriptes Bindegewebslager, das beiderseits kontinuierlich in den Knorpel tiberging. Es ist möglich, dass diese Stelle ‚er be- kannten „knorpellosen Zone“ der menschlichen Ulna ent: richt: dann ıst der Befund aber erst recht wichtig, weil er zeigt, dass auf den Wegfall des spezifischen Reizes (hier der Gelenkbewegung) der Knorpel sofort mit der Produktion von Bindegewebe reagiert. Lubosch, Die stammesgeschichtl. Entwicklung der Synovialhaut ete. 689 Was die Übergänge zwischen Gelenkhaut und Gelenkknorpel anbelangt, so wäre es überflüssig, den zahlreichen Beschreibungen (Tillmanns, Hammar, Boehm u. v. a.) ähnliche hinzuzufügen, weil ja jedes untersuchte Gelenk sie zeigt. Nur einige vielleicht neue Befunde sollen erwähnt werden: Man trifft gelegentlich an den Knorpel angrenzend das vesi- culöse Gewebe Schaffer’s, wie z. B. an der Incisura semilunaris der Ulna. Es erinnert ein solches Bild (Fig. 8 rechts unten) un- mittelbar an die Abbildung, die Studnitzka (03, Taf. 37/38, Fig. 9) von dem Wachstum des Knorpels bei Cyclostomen gibt. An größeren Gelenken von Amphibien fand sich häufig am Ansatz der Ge- lenkkapsel eine Zone, an der sehr klar die Ausprägung von Fibrillen an der Peripherie von Knorpelzellen zu erkennen war (vgl. Fig. 9). Einige Worte über das merkwürdige Gewebe der Labra glenoı- dalia und Menisci bei Amphibien mögen hier Platz finden. Diese Gebilde, die wir ja bei Urodelen kontinuierlich aus dem volaren Synchondrosengewebe verfolgen konnten, stehen bei Triton, Sala- mander und Frosch mehr oder weniger kontinuierlich in geweb- lichem Zusammenhange mit der Pfanne des Hüftgelenkes oder den Condylen des Femur und der Tibiaoberfläche. Zu ihnen übergehend, ändert sich der Typus des Knorpelgewebes. Es empfängt den Charakter eines saftspaltenreichen Gewebes, in dem Zellen mit un- regelmäßigen Ausläufern liegen, ın der Nähe des Knorpels dichter und runder, entfernt davon weiter auseinandergerückt und unregel- mäßig gestaltet. In der acıdophilen Grundsubstanz zwischen ihnen findet sich ein Netz von basophilen (also knorpeligen) Fäden und Körnern. Aber auch bei Anwendung der Mallory’schen Fär- bung (Phosphormolybdänsäure, Hämatoxylın) nehmen diese Ge- bilde dunkelblaue Farbe an (erweisen sich also als kollagene Fäden). Ich glaube, hier an Befunde von Studnitzka (97, p. 624—629, auch Taf. 31, Fig. 5 und 6) denken zu können, der knorpelige Fäden, von einem Knorpel weit ins Bindegewebe reichend, beschrieben hat und dabei zweifelhaft geblieben ist, ob es sich um‘ Überführung von Bindegewebe in Knorpel oder von Knorpel in'Bindegewebe handelte. Ebenso aber werden wir an die Mitteildngen von Retterer (05, p. 78—81) erinnert, der an den Kniegélenkmenisci von Kaninchen und Meerschweinchen ein solches Netzwerk „a trame spongieuse et cartilagineuse* beobachtet hat, von Hem er sagt, dass es den Reaktionen nach weder rein knorpelig,“ noch rein kollagen, noch elastisch sei. Ebenso ist nun teilweise ”das Gewebe beschaffen, das wir oben als Gewebe der Extensorehseite an den Zehen der Urodelen kennen gelernt hatten (590.19 0834). XXVIII. 44 690 Lubosch, Die stammesgeschichtl. Entwickelung der Synovialhaut ete. Was endlich die Gelenkmembran anbelangt, so ist ihr ver- gleichendes Studium bisher wenig betrieben worden. Es sei hier nur kurz erwähnt, dass es gelegentlich innerhalb der Synovialhaut, fernab vom Gelenke, zur Bildung eines Stückchens hyaliner Grundsubstanz kommt. Ferner wurde in einem sehr interessanten Falle eine Ober- flächeneuticula gefunden von der Art, wie sie sich sonst nur von Ge- lenkknorpeln abzublättern pflegt. Im Kniegelenk eines erwachsenen Frosches, wo dies der Fall war, lag solche Cuticula aber gleicher- maßen über den Rand des Knorpels und das Bindegewebe der Kapsel hinerstreckt (Fig. 10). Viel wichtiger scheint es mir nun, darauf hinzuweisen, dass die Synovialhaut innerhalb der Wirbeltiere eine progressive Entfaltung erfährt. Die von Hammar (94) gegebene Einteilung in einen zellenarmen und zellenreichen Typus gilt nur für einen Teil der Sauropsiden und die Säugetiere. Die Synovialhäute der Amphibien sind durchgängig als sehr zellenarme Gebilde ange- legt, während bei Fischen und einigen Gelenken der Amphibien die der Synovialhaut homologen Bezirke noch aus komplettem oder modifiziertem Knorpelgewebe bestehen. Schon hieraus erhellt, dass hier, um mich so auszudrücken, homologe Organbezirke eine völlige Umbildung ihrer Struktur erfahren. Das wird noch merk- würdiger, wenn wir darauf hinweisen, dass es mir bei aller Ähnlichkeit im Gelenkbau bei keinem der vielen von mir untersuchten Amphibien- gelenke möglich gewesen ist, in der Nähe der Gelenke dasjenige Ge- webe zu entdecken, das bei Säugetieren kaum im kleinsten Gelenke fehlt: nämlich das Fettgewebe. Bei Reptilien (Fingergelenke von Emys) ist es bereits vorhanden. Bei den Amphibien ist das Fehlen dieses Gewebes um so merkwürdiger, als dicht dabei in den Mark- räumen der Knochen wohlausgebildete Fettzellen liegen. Es muss also wohl, um diesen Ausdruck anzuwenden, nicht im Belieben der Natur legen, hier und da im Bindegewebe Fettzellen entstehen zu lassen, sondern es müssen bestimmte Tendenzen dazu ım Ge- webe vorhanden sein, doch kann ich gegenwärtig eine bestimmte Formulierung dieser Beziehungen für die Gelenke noch nicht geben. Es ist daran zu erinnern, dass ım kaudalen Gebiete des periaxialen Stützgewebes der Cyclostomen zuerst von Gegenbaur, neuerlich von Studnitzka und Schaffer, Beziehungen der fetthaltigen Zellen zum Knorpelskelett aufgedeckt worden sind, sei es, dass diese Zellen selbst zu Knorpelzellen werden können, sei es, dass sekundär in Knorpelzellen Fett entsteht. — Was das bei Säugetieren beobachtete Fettgewebe anbelangt, so zeigt es bei der Maus sehr auffällig die Textur des sogen. „braunen“ Fettgewebes. Es sınd ım vorstehenden eine Reihe von Tatsachen zur Mit- teilung gelangt, die der eingangs von mir dargelegten Anschauung Lubosch, Die stammesgeschichtl. Entwicklung der Synovialhaut ete. 691 “wohl günstig sind. Alle Wirbeltiergelenke mit ihren so mannig- faligen hessen der Torde nanlanen Gewebearten sind dergestz alt aus einem Gusse, dass es schwer begreiflich wäre, wie das ent- stehen sollte, wenn man die ontogenetische Entwickelung der Ge- lenke frei von jeglichem regelnden, bestimmenden Einfluss ansehen wollte. Solcher Einfluss existiert offenbar. Die innere Lage der Gelenkkapsel samt all ıhren Teilen ıst als im Laufe der Stammes- geschichte aus Knorpel entstanden zu betrachten. Sie ist an die Stelle von Knorpel getreten, der während der individuellen Lebens- zeiten successiv durch die Tätigkeit des Gelenkes in seinem Be- stande verzehrt worden ist. Für die ontogenetische Entwickelung des einzelnen Gelenkes ergibt sich daher die Annahme spezifischer, durch Vererbung übertragener Eigenschaften. Die Anwendung dieser Ergebnisse auf das Kiefergelenk der Säugetiere liefert höchst merkwürdige Ausblicke. Wir sehen dann, dass. offenbar das „Kiefergelenkblastem“, in dem, scheinbar so ab- weichend, bald zuerst der Knochen mit sekundär auftretenden Knorpelkernen erscheint (Schaffer), bald der Knorpel das erste und der Knochen das spätere ist (Fuchs), — dass offenbar dieses Blastem selbst schon eine lange Geschichte hinter sich haben muss. Suchen wir nach einem primordialen Knorpelstück, dessen Abkömm- linge — in ähnlicher Weise, wie bei peripherischen Gelenken an- Beenie — hier wieder erscheinen, so kann allein nach der ganzen Sachlage nur jenes erbindungss ick zwischen Hammer und Meckel’schem Knorpel in Betracht kommen, dessen „Rückbildung“ zwar stets erwähnt, aber nie erforscht worden ist. Die Annahme einer ursprünglichen Entstehung des neuen Kiefergelenkes durch eine Kontinuitätstrennung innerhalb der Länge des Verbindungs- stückes erscheint als Postulat, wenn wir uns auf die phyletische Entstehung der Gelenke überhaupt stützen. Hier würde der Schlüssel nicht nur für das Verständnis der ontogenetischen Prozesse, sondern auch für die Gestaltung des res wildest Gelenkes hecent re Es zeigt sich uns nun aber noch ein zweiter Weg, auf dem primordialer Gelenkknorpel zu ausgedehnter Verwendung zu ge- langen scheint, und zwar bei der Untersuchung der Stammes- geschichte der Sehne. Leider sind unsere Kenntnisse hier gering, da Fischsehnen, bis auf eine unvollständige Angabe, nicht unter- sucht worden sind. Vergegenwärtigen wir uns zuvörderst die theoretischen Voraus- setzungen für die stammesgeschichtliche Entwickelung jener merk- würdigen Gebilde, die den fleischigen Teil des Muskels mit dem Skelett verbinden und oft von sehr beträchtlicher Länge werden. Die Sehne ist ausgezeichnet durch die parallel-faserige Anordnung 44: 692 Lubosch, Die stammesgeschichtl. Entwicklung der Synovialhaut ete. ihrer leimgebenden Fibrillen und die charakteristische Gestalt und Anordnung ihrer Zellen. Parallele Anordnung von Bindegewebs- fasern allein ergibt noch keine „Sehne“, wie Regenerationsversuche an durchschnittenen Sehnen (Schradieck, 1900) gezeigt haben. Sehnendefekte werden nicht durch Sehnengewebe ersetzt, sondern durch Bindegewebszüge, die von der Cutis oder von Fascien her einwachsen ohne Entstehung charakteristischer Sehnenzellen. Wir nehmen an, dass die Struktur der Sehne durch den Zug des Muskels unterhalten wird und allem Anschein nach auch entstanden ist. War nun die Sehne von Anfang an ein binde- gewebiges Organ, so entsteht natürlich die Frage, wie sie beschaffen war, als der Muskel zu wirken begann, aber noch nicht gewirkt hatte? Also: wie konnte die bindegewebige Sehne parallelfaserig werden, ohne dass gezogen wurde? Es lässt sich weiter als wahr- scheinlich bezeichnen, dass der parallelen Anordnung der Fasern die entsprechende Gruppierung der Zellen notwendig vorhergegangen sein muss. Denn selbst wenn die Fibrillen gemäß neueren An- schauungen frei in der Grundsubstanz entstünden, so müsste gleich- wohl eine charakteristische Anordnung dieser Grundsubstanz, in Strängen oder Streifen, der Fibrillenbildung voraufgehen; diese ihrerseits ist aber nur auf die reihenweis gelagerten Zellen zuriick- führbar. Aus der vergleichenden Anatomie der Sehnen sind einige be- merkenswerte Probleme hier anzureihen. Die wohl älteste Sehne des Wirbeltierkörpers ist diejenige, durch die die Zunge von Bdello- stoma und Myxine zurückgezogen wird. Sie steht völlig vereinzelt da, denn sonst setzen sich die Muskeln des Fischkörpers an die Septa intermuscularia an. Diese primitive Befestigung ist aber noch keine Sehne. Bei Teleostiern kommen schon kurze Sehnen vor. Bei Amphibien ist es merkwiirdig, wie verschieden weit oft noch der fleischige Teil des Muskels nach abwärts reicht, oft noch bis ans Perichondrium der Gelenkgegend. Bei den Reptilien hat Tandler für den Gecko (03, p. 311 und 320) wertvolle Angaben gemacht. Danach reicht bei der einen Art der M. Extensor brevis mit seinem Muskelfleisch weit nach abwärts, während der Extensor longus schon am Handriicken sehnig ist; der Flexor sublimis ist fleischig fast bis zur Insertion; bei einer anderen Art bleibt der Flexor sublimis bis zum Ansatz am Sesamknoten fleischig, während der Flexor longus schon oberhalb des Carpalkanales sehnig wird. Die Entstehung der mit den Sehnen verbundenen Einrichtungen, z. B. die Sehnenscheiden, auch die Perforation einer Flexorensehne durch die andere — sind bislang stammesgeschichtlich funktionell in keiner Weise zur Erklärung gelangt. [Anmerkung während der Re- vision: Rabl hat auf dem Kongress der Anatomischen Gesellschaft in Berlin (1908) Mitteilungen über diese Fragen gemacht. | Lubosch, Die stammesgeschichtl. Entwicklung der Synovialhaut ete. 693 Es existiert nun eine reiche Literatur über die Beziehungen der Sehnen zu knorpelartigen Elementen, die hier nicht ausführlich referiert werden soll. Man hat diese Ein- und Auflagerungen lange Zeit für echte Knorpelteile gehalten. Schaffer (l. c.) hat aber aus diesem Gewebe eine besondere Gruppe des Stützgewebes gebildet, die er das „vesiculöse“ nennt und dem er ganz bestimmte Attribute beilegt. Physikalisch sei dies Gewebe (nach Schaffer) wohl als Knorpel zu bezeichnen — histologisch indes nicht. Gleichwohl zeige dieses Gewebe Übergänge einerseits zu Bindegewebe, anderer- seits zu Knorpel. Studnitzka (03) fasst die Trennung beider Gewebe nicht so scharf. Nach seiner Ansicht ist es das ontogene- tische Stadium des „Vorknorpels“, das in seiner Ausbildung zu echtem Knorpel gehemmt worden sei und hier in einer Dauerform erscheine, die er ebenfalls „Vorknorpel“ benennt — eine Bezeich- nung, die trotz der Einwände Schaffer’s aus bestimmten Gründen für zweckmäßig erachtet werden muss. Beide Autoren sind darin einig, dass dies Gewebe gleichzeitig eine Brücke schlage sowohl zum Chordagewebe und dem primitiven „weichen Knorpel“ der Neunaugenlarve, als auch zu den Knorpeln gewisser wirbelloser Tiere. Was nun das beobachtete Vorkommen dieses Gewebes ın den Sehnen anlangt, so will ich, ohne die Literatur hier ausführlich heranzuziehen, folgende Übersicht geben. Man hat es gefunden: 1. In den Ansätzen der Sehnen, an Sesamknoten von Am- phibien, Reptilien, Vögeln und Säugetieren (Literatur bei Schaffer [03, e und 06], ferner neuerdings Gebhardt und Bidder). 2. Reihenweis ım Innern von Sehnen. 3. Als Auflagerungen auf Sehnen (namentlich bei Vögeln und kletternden Säugetieren, Schaffer, |. c.). 4. Im Innern von Sehnenscheiden (Vögel und Säugetiere). 5. Als cirkumskripte Einlagerungen in Sehnen: Sesambeine, Achillessehnengewebe. Diesen Befunden möchte ich nun selbst einige anreihen. Was zunächst die Beziehungen der Sehnen zu den Sesamknoten anbe- langt, so ist zu betonen, dass bei den meisten von. mir untersuchten Amphibiengelenken diese Sesamknoten in inniger Beziehung zu den Gelenkenden standen. Histologisch muss daher dies Gewebe zweifellos ebenso beurteilt werden wie jenes Synchondrosengewebe. D. h. wird das Synchondrosengewebe, selbst wenn es nicht mehr sämt- liche Attribute des echten hyalinen Knorpels besitzt, als dem Knorpel nahestehend betrachtet, so können wir eine Sonderung dieses Ge- webes von dem Gewebe der Sesamknoten ebensowenig vornehmen. Selbst wenn diese Sesamknoten histologisch von dem Gelenkknorpel später stärker differieren, wird die Betrachtung, die den Ausgang vom 694 Lubosch, Die stammesgeschichtl. Entwicklung der Synovialhaut ete. Knorpel nimmt, den Einfluss würdigen, die der hier wirkende Muskel- zug ausübt, um das ursprünglich biegungsfeste Knorpelgewebe in zugfestes Gewebe überzuführen. Eine Beobachtung, für die mir ein Beleg in der Literatur nicht bekannt geworden ist, ist folgende. Der Ursprung eines Oberschenkelmuskels am Becken einer erwachsenen Eidechse (Fig. 12) wird von einer starken Masse vesiculösen Gewebes gebildet. Zwischen den Zellen dieses Gewebes ist es zu stärkerer Ausbildung von Fibrillen gekommen. Am gewaltigsten sind diese aber in der Richtung der Muskelfasern entwickelt. Nach lateral hin sieht man diese Bindegewebsbündel näher zusammenrücken, bis sie außen echtes sehniges Gefüge angenommen haben. Die Zellen selbst werden dabei reihenweis zusammengedrängt und werden zu Sehnenzellen, wobei sie noch eine Kapsel behalten. Am Ansatz der Muskelfasern wird je ein Bündel für eine ganze Reihe Fasern verbraucht. Jede einzelne Faser sitzt schließlich in einem kleinen Kelch von vesiculösem Gewebe darin. Ganz ähnliche Bilder kann man ın der Sehne sehen, die das Kniegelenk des Frosches vorn überspannt. Was die ın Sehnen eingelagerten Zellen anlangt, so habe ich solche eigentlich nirgends vermisst. Ich kann aber nicht sagen, dass sie stets „vesiculös“ waren. Recht oft habe ich sie von dicken basophilen Höfen umgeben gefunden, namentlich eben an den An- sätzen. Auffällig war an Querschnitten durch das Ligamentum cruciatum einer Maus der ungewohnte Anblick von Knorpelzellen mit ramifizierten blauen Kapseln. Am Olecranon der Maus war sehr schön erkennbar, wie die Knorpelzellen beim Übergang in die Sehne sich nicht regellos teilten, sondern gleichsam vom Knorpel aus reihenweise in die Sehne hineingeschoben wurden. Die letzte bemerkenswerte Tatsache wäre die Verbindung einer Sehne mit dem Kniegelenk eines erwachsenen Salamanders (Fig. 11). Am Femur geht diese Sehne kontinuierlich ın den Gelenkknorpel über. Die Knorpel- zellen drängen sich reihenweis hinein. Weiter im Innern nehmen sie mehr den Charakter vesiculöser Zellen an. Nach der vorderen Fläche des Schenkels zu grenzt dieser Sehnenzug an dichteres Sehnengewebe, in dem aber gleichfalls eingekapselte Zellen liegen. Nach einwärts liegt die Synovialhaut locker der Sehne an. Bei Anwendung der Mallory’schen Färbung färbten sich die inneren Teile der Sehne ganz ähnlich wie der Knorpel, während der vor- dere Teil hell gefärbt wurde bis auf einzelne blaue Streifen und Linien. Doch möchte ich auf die anatomischen Besonderheiten mehr Wert legen als auf den Ausfall dieser Färbung. Schließlich möchte ich hinzufügen, wie die eingangs erwähnte Zungenmuskelsehne von Myxine gebaut: ist. Schaffer (J5) erwähnt, dass sich das vesiculöse Gewebe des Zungenbeins distal in die Sehne hineinerstrecke, sagt aber über Lubosch, Die stammesgeschichtl. Entwicklung der Synovialhaut ete. 695 den Bau dieser Sehne selbst nichts. An einer dem hiesigen Institut gehörigen Serie durch den Kopf einer erwachsenen Myxine zeigte sich, dass diese Sehne in der Mitte ihrer Länge dem Sehnengewebe der höheren Formen im großen und ganzen glich. Es zeichnete sie aber aus: 1. Der Mangel einer Felderung durch ein Peri- und Endo- tendineum. 2. Die im Vergleich mit Amniotensehnen außerordentlich zahl- reichen Zellen, so dass hier auf jede Zelle viel weniger Faserbündel kamen. Sodann aber zeigte sich, dass nicht nur distal, sondern auch proximal, und zwar dort ebenfalls im Zusammenhang mit Knorpeln, vesiculöses Gewebe in die Sehne trat. Das vesiculöse Gewebe lag in der Achse der Sehne, von da nach der Peripherie in die Zellen der Sehne übergehend. Zwei Viertel der Sehne etwa waren frei von vesiculösen Zellen, während das vorderste und hinterste Viertel sie in ihrer Achse enthielt. Meine Beobachtungen und die Beurteilung aller literarisch vor- handenen Dokumente machen mir eine nähere genetische Beziehung zwischen Knorpel und Sehne wahrscheinlich. Von der Art dieser Beziehung kann man sich natürlich noch kein deutliches Bild machen, weil erst durch diese Auffassung bestimmte Fragestellungen für eine Untersuchung ermöglicht sind. Insbesondere wäre zu fragen, ob die Sehnen in ganzer Ausdehnung gleiche Entstehung haben und ob an der stammesgeschichtlichen Bildung von Zwischensehnen und Aponeurosen das Muskelgewebe beteiligt ist. Man könnte es aber immerhin rechtfertigen, sich folgende Vorstellung des Zu- sammenhanges zu bilden: Der Muskelzug übt vermittelst des Peri- chondriums einen Reiz auf den Knorpel aus, der zur Bildung eines knorpeligen Zapfens oder Stranges führt. Der Reiz bewirkt die Teilung der Knorpelzellen in der Richtung des Reizes. Durch fort- gesetzten Zug wird die Umwandlung des Knorpels in zugfesten Faserknorpel und schließlich in reine Fasersubstanz bewirkt. Hier wiederum, wie früher bei der Besprechung der Synovialgebilde sind es die Vorstellungen von Schaffer, Studnitzka und Hansen, die uns die Ausbildung von kollagenen Fibrillen aus hyalinem Knorpel verständlich machen. Dieser Anschauung ist, soweit ich sehe, nur Ranvier (88) nahe gekommen, allerdings auch nur für die ontogenetische Entstehung der Sehne. Auf S. 421 semer „Histo- logie“ (Deutsche Ausgabe) lässt er einen Teil des Periostes aus Fasern gebildet werden, die im Knorpel selbst entstehen. „Sie entwickeln sich daselbst, wie die Sehnenfasern auf Kosten der Knorpelsubstanz und zwischen ihnen sind reihenförmige Zellen an- geordnet, die denen der embryonalen Sehnen ähnlich sind und wie 696 Lubosch, Die stammesgeschichtl. Entwicklung der Synovialhaut ete. diese letzteren von den Knorpelzellen abzustammen scheinen.“ — p: 383, wo er von der Sklera der Selachier spricht, lässt er deren Bindegewebsfasern aus der Knorpelsubstanz entstehen. An der- selben Stelle endlich beschreibt er die Achillessehne des neugeborenen Kaninchens. Man sieht am Calcaneus „die Knorpelkapseln sich in der Nähe der Sehne zu lineären Reihen ordnen, die parallel mit derselben sind und zwischen sich lange Streifen von Grundsubstanz freilassen. Diese Bänder von Knorpelsubstanz setzen sich direkt in die Bündel der Sehne fort, ohne dass es möglich wäre, die (Grenze zwischen dieser und dem Knorpel genau zu bestimmen.“ Morphologisch bedeutsam wird diese Anschauung allerdings erst, wenn es gelingt, sie für die stammesgeschichtliche Entwick- lung als gültig nachzuweisen, wie es oben versucht worden ist. Dann erst würde sich eine große Reihe auseinanderstehender Verhältnisse einheitlich erklären. Denn dass dann die Fähigkeit der Sehne, Knorpel zu bilden, viel tiefer begründet ist als es die Lehre vom Druck, der den Knorpel hervorrufe, tun kann, liegt auf der Hand. Denken wir an die Achillessehne des Frosches, an das os pisiforme oder an die Patella, so würde die Möglichkeit, solche Gebilde stammes- geschichtlich als entfernte Abkömmlinge des primordialen Glied- maßenknorpelskelettes zu betrachten, nicht ohne Wert sein. Wir haben den Gelenkknorpel somit als eine Lokalität kennen gelernt, von der aus knorpeliges Material zu weiterer, sehr ausge- dehnter Verwendung zu gelangen scheint. Die bewirkenden Ur- sachen sind, während der stammesgeschichtlich sich vollziehenden ns die, eine solche Dee enden Kräfte (direkter und indirekter Reiz de ‘Muskelzuges auf den Knorpel. Die ermöglichende nes ohne die jener Reiz wirkungslos bliebe, liegt in der eigentümlichen Struktur des Knorpelgewebes, in seiner Vereinigung einer kollagenen Grundsubstanz mit Zellen, die ein spezifisches Excret liefern. Die Herrschaft beider oder nur eines Bestandteiles hängt von der Qualität des wirkenden Druckes oder Zuges ab. Jena, Ostern 1908. Literatur. Ranvier, Technisches Lehrbuch der Histologie, übersetzt von Nicoti und von Wyss, 1888. Schaffer, Die Verknécherung des Unterkiefers und die Metaplasiefrage. Arch. f. mikrosk. Anat. Bd. 32, p. 234—266, Taf. IX—XII, 1888. van der Stricht, Recherches sur le cartilage articulaire des oiseaux. Archives des biologie, Tom. X, 1890. Hammar, Uber den feineren Bau der Gelenke. Arch. f. mikr. Anat., Bd. 43, 1894. Schaffer, Uber das knorpelige Skelett von Ammocoetes branchialis, nebst Be- merkungen über das Knorpelgewebe im allgemeinen. Ztschr. wiss. Zool., Bd. 61, p. 606—659, Taf. XXVII—XXIX, 1896. Lubosch, Die stammesgeschichtl. Entwicklung der Synovialhaut etc. 697 Studnitzka, Über die Histologie und Histogenese des Knorpels der Cyclostomen. Arch. f. mikr. Anat., Bd. 48, p. 606—643, Taf. XXX u. XXXI, 1897. Hansen, Über die Genese einiger Bindegewebssubstanzen. Anat. Anz., Bd. 16, p. 417—438, 1897. Schradieck, Untersuchungen an Muskel und Sehne nach der Tenontotomie. — Diss. inaug. Rostock 1900, 107 Seiten. Schaffer, Über den feineren Bau und die Entwickelung des Knorpelgewebes und über verwandte Formen der Stützsubstanz. I. Teil, Ztschr. f. wiss. Zool., Bd. 70, p. 109—170, T. VII u. VIII, 1901. Tandler, Beiträge zur Anatomie der Geckopfote. Ztschr. f. wiss. Zool., Bd. 75, p- 308—326, Taf. XXITI—XXIV, 1903. a) Schaffer, Knorpelkapseln und Chondrinballen. Anat. Anz., Bd. 23, p. 524—541, 1903. b) — Uber das vesiculöse Schutzgewebe. Anat. Anz., Bd. 23, p. 464—479, 1903. c) — Uber die Sperrvorrichtungen an den Zehen der Vögel. Ztschr. f. wiss. Zool., Bd. 73, p. 377—428, Taf. XX VI—XXVII, 1903. d)Schaffer, Über Knorpel und knorpelähnliche Bildungen an den Zehen von Rep- tilien und Amphibien. Centraibl. f. Phys., Bd. 16, 1903, p. 734—736. Studnitzka, Histologische und histogenetische Untersuchungen über das Knorpel-, Vorknorpel- und Chordagewebe. Anat. Hefte, Bd. 21, p. 278—525, Taf. XXXV—XLIV, 1903. Schaffer, Uber den feineren Bau und die Entwickelung des Knorpelgewebes und über verwandte Formen der Stützsubstanz. II. Teil, Ztschr. wiss. Zool., Bd. 80, p. 155--258, Taf. XII—XIV, 1905. Hansen, Untersuchungen über die Gruppe der Bindesubstanzen. Anat. Hefte, Bd. 27, p. 536—820, Taf. XXXV—XLIV, 1905. Gaupp, Neue Deutungen auf dem Gebiete der Lehre vom Säugetierschädel. Anat. Anz., Bd. 27, 1905. Retterer, Les menisques interarticulaires du genou du Lapin et de la transformation du tissu fibreux en cartilage & trame spongieux et cartilagineux. Compt. rend. soc. biol., Bd. 57, p. 78—81, 1905. -— La structure des menisques interarticulaires du genou de quelques grands mammiferes. Compt. rend. soc. biol, Bd. 27, p. 253—205, 1905. Schaffer, Anatomisch-histologische Untersuchungen tiber den Bau der Zehen bei Fledermäusen und einigen kletternden Säugetieren. Ein weiterer Beitrag zur Kenntnis der Bindesubstanzen. Ztschr. f. wiss. Zool., Bd. S3, p. 231—284, Taf. VIII—XI, 1906. Fuchs, Untersuchungen über die Entwickelung der Gehörknöchelchen, des Squa- mosums und des Kiefergelenkes der Säugetiere etc. etc. Arch. f. Anat. u. Phys. Anat. Abt. Suppl., p. 1—10, Taf. I—VI, 1906. Lubosch, Das Kiefergelenk der Monotremen. Jen. Ztschr., Bd 41, p. 549—606, Taf. XXVI—XXIX, 1906. a) — Das Kiefergelenk der Edentaten und Marsupialier, Semon’s Zool. Forschungs- reisen IV. Jenaer Denkschriften VII, p. 521—556, Taf. XXXI—XXXV, 1907. b) — Universelle und spezialisierte Kaubewegungen bei Säugetieren. Biol. Centralbl. 1907, Bd. 27, p. 615—625, 652-—665. Stieda, Diskussionsbemerkung zum Vortrage: Das Kiefergelenk der Säugetiere, gehalten vom Autor auf der 79, Versamml. Deutscher Naturforscher und Arzte zu Dresden, 1907. 698 v. Frisch, Studien über die Pigmentverschiebung im Facettenauge. Studien über die Pigmentverschiebung im Facettenauge. Von Karl v. Frisch. (Aus dem Physiologischen Institut der Wiener Universität.) (Schluss.) Versuche über den Einfluss des Lichtes auf abgeschnittene Augen und isolierte Pigmentzellen. Da die Mittel, durch welche man sonst kontraktile Organe und solche, die unter dem Einfluss des Nervensystems stehen, in Er- regung versetzen kann, hier vollständig versagen, muss man wohl annehmen, dass die Pigmentverschiebung im Facettenauge nicht durch kontraktile Organe im gewöhnlichen Sinne des Wortes be- dingt ist und dass sie unabhängig vom Nervensystem durch direkte Einwirkung des Lichtes veranlasst wird. Die Dunkelaugen von Deilephila und Chaerocampa zeigen zwar eine große Selbständigkeit, indem sie nicht nur an sagittal halbierten Köpfen, sondern auch nachdem sie mit einem scharfen Messer vom Kopf abgekappt worden sind, wie normale Augen unverletzter Tiere reagieren; sie bleiben im Dunkeln noch stundenlang leuchtend und werden, wenn man sie ans Licht bringt, in der gewöhnlichen Zeit zu Lichtaugen. Jedoch könnte es sich hier um einen Reflex im Augenganglion, also doch um einen nervösen Vorgang handeln. Abgekappte Augen von Tagtieren wurden im Dunkeln nicht leuchtend. Bei Palaemon habe ich mich vergeblich bemüht, einen direkten Einfluss des Lichtes festzustellen. Es wurden folgende Versuche gemacht): a) Augen von frisch getöteten Tieren wurden in Meerwasser '°) zerzupft und bei Belichtung von einer Seite unterm Mikroskop betrachtet. Dazu diente folgende einfache Vorrichtung: Auf einem Objektträger sind vier ungefähr 1 mm dicke Glasstreifen mit Kanada- balsam so aufgekittet, dass sie miteinander ein Diaphragma bilden, 9) Parker machte ähnliche Versuche an einem anderen Krebs („Pigment migration in the eyes of Palaemonetes“ a preliminary notice. Zool. Anz., 19. Bd., p- 281—284); er fand, dass sowohl samt dem Stiel abgeschnittene, als auch vom Stiel getrennte Augen noch Pigmentverschiebung zeigen und schließt daraus, dass der Vorgang vom Hirn und vom Ganglion opticum unabhängig sei. Daran, dass die Verschiebung oft nur teilweise stattfinde, sei das Absterben der Gewebe schuld. Dass in einigen Fällen die Verschiebung vollkommen stattfand, beweise die Unab- hängigkeit vom Zentralnervensystem. Er sagt aber nicht, ob auch abgeschnittene Lichtaugen, dunkel gestellt, entsprechende Pigmentverschiebung zeigten und wie sich abgeschnittene Dunkelaugen verhielten, wenn man sie nicht dem Licht aus- setzte. Vielleicht steht hierüber etwas in seiner späteren Publikation (,Photo- mechanical changes in the retinula pigment cells of Palaemonetes, and their relation to the central nervous system“), die ich nur aus der Besprechung im Neapeler Jahresbericht (1897, Arthropoden, S. 25) kenne. 10) Die Körperflüssigkeit der Krebse ist dem Meerwasser, in dem sie sich durch längere Zeit befinden, isoton. v. Frisch, Studien über die Pigmentverschiebung im Facettenauge. 699 dessen Innenraum durch Auflegen eines Deckglases abgeschlossen werden kann. In diesen Raum kommt das zu beleuchtende Prä- parat. Einer von den vier Glasstreifen ist an seinem äußeren Rande unter emem Winkel von 45° abgeschliffen. Durch einen Spalt wird von unten auf die Schliffläche intensives Licht ge- worfen, das an ihr total reflektiert wird und parallel der Ober- fläche des Objektträgers in den Innenraum des Diaphragmas gelangt. Es wurden im Zupfpräparat Teile von Iris- und Retinapigment und Tapetum eingestellt, gezeichnet und während 1—2stündiger ein- seitiger Belichtung beobachtet. Fremdes Licht war natürlich abge- sperrt. In sechs Versuchen konnte eine Gestaltsveränderung an diesen Massen, die auf die Wirkung des Lichtes zu beziehen ge- wesen wäre, nicht bemerkt werden. b) Es wurden Dunkelaugen distal vom Kalkstiel mit einem scharfen Messer durchschnitten und der abgekappte Teil in einem Schälchen mit Meerwasser in vier Fällen dunkel gestellt, in sieben Fällen ans Licht gegeben, 1—2 Stunden (in drei Fällen kürzer) so stehen gelassen, dann fixiert und geschnitten. Da beim Abkappen das hinter der Membrana fenestrata gelegene Retinapigment ver- letzt wurde, konnte an ıhm eine Verschiebung nicht erwartet werden und es kam nur das Irispigment in Betracht. Die Membran selbst und alles, was vor ihr gelegen ist, blieb, wie die Untersuchung der Schnitte lehrte, in der Regel unverletzt. Das Irispigment befand sich entweder ganz zwischen den Kristallkegeln, also in vollkommener Dunkelstellung, oder es war etwas von der Cornea zurückgewichen und ragte dann um die entsprechende Strecke nach hinten über die Kristallkegelenden hinaus. Da dies bei den dunkel gestellten und bei den belichteten Augen in gleichem Maße vorkam, war auch hier ein Einfluss des Lichtes nicht zu konstatieren. c) Proximal vom Kalkstiel, also an ihrem Ursprung abge- schnittene Augen verhielten sich sehr verschieden, ohne dass ich dafür, trotz zahlreicher Versuche, einen Grund finden konnte. Sie wurden nach dem Abschneiden entweder in ein Schälchen mit Meerwasser oder in eine „feuchte Kammer“ gelegt, so dass sie vor dem Vertrocknen geschützt waren. So behandelte Dunkel- augen verloren ihr Leuchten, gleichgültig, ob sie ins Dunkle oder ans Licht gestellt wurden. Die Zeit vom Abschneiden der Augen bis zum Schwinden des Leuchtens betrug im Mittel ca. 1 Stunde, variierte aber sehr, und zwar in gleicher Weise bei dunkel gestellten wie bei belichteten Augen. Manchmal war nach 1/, Stunde vom Leuchten nichts mehr zu sehen, manchmal leuchteten sie noch nach mehreren Stunden. Dass abgeschnittene und dann dunkel gestellte Lichtaugen nicht leuchtend wurden, braucht wohl kaum erwähnt zu werden. d) Bei einigen Tieren habe ich den Nervus opticus im Körper, 700 v. Frisch, Studien über die Pigmentverschiebung im Facettenauge. vor seinem Eintritt in den Augenstiel durchgeschnitten. Es traten dann an diesen Augen die Pigmentverschiebungen nicht mehr ein. Jedoch weiß man nicht, ob nicht daran die gestörte Ernährung schuld ist, da mit den Nerven auch die Blutgefäße durchschnitten wurden. 5 Ich habe deshalb versucht, auf andere Weise darüber Aufschluss zu erhalten, ob hier nervöse Vorgänge im Spiele sind. Auf solche wird man schließen dürfen, wenn es sich herausstellt, dass durch Belichtung oder Verdunkelung eines Auges auch das andere be- einflusst wird oder dass sich die Belichtung einer kleinen Stelle eines Auges in ihrer Wirkung auf das ganze Auge gleichmäßig verteilt; allerdings wird man nicht umgekehrt aus dem Bestehen einer lokalen Lichtwirkung die Unabhängigkeit vom Nervensystem folgern dürfen, da es sich ja um lokale Reflexe handeln könnte. Versuche über lokale Lichtwirkung am lebenden Tier"). Am Irispigment der Schmetterlinge hat bereits S. Exner?) eine lokale Lichtwirkung nachgewiesen: „... Man kann sich von dieser lokalen Lichtwirkung auf das Augenleuchten und somit auf das Irispigment leicht dadurch überzeugen, dass man ein in der Dunkelheit gefangenes Tier von einer gewählten Richtung aus mit dem Augenspiegel untersucht. Wenn dann die betreffende Augen- stelle ihr Leuchten eingebüßt hat, so leuchten noch andere Stellen des Auges, die man nun, indem man das Tier dreht, der Beobach- tung zugänglich macht. „Am schlagendsten habe ich mich von der lokalen Lichtwirkung durch folgenden Versuch überzeugt. Ein großer Windenschwärmer (Sphinx convolvuli) wurde an einem Abend, während seine Augen leuchteten, auf einer Korkplatte fast unbeweglich so befestigt, dass eines seiner Augen in der oberen Gesichtsfeldhälfte die Lampe und von dieser beleuchtetes weißes Papier sah, während die untere Hälfte des Auges einem möglichst dunkel gehaltenen Raume gegen- überstand. Die beiden Sehfeldhälften stießen in einer scharfen horizontalen Linie aneinander. Nach ca. 10 Minuten zeigte das Auge, mit dem Augenspiegel untersucht, in der oberen Hälfte kein Leuchten mehr, während die untere Hälfte noch schön leuchtete. 11) Auch hierüber hat Parker Versuche an Palaemonetes angestellt und sagt in seiner vorläufigen Mitteilung (l. ¢.): ,,... When in a given animal one eye is exposed to light at the same time that the other is kept in the dark, the pig- ment;of each eye adjusts itself to its appropriate condition, thus demonstrating the independence of the two eyes in this respect... In einer späteren Arbeit (s. Neapler Jahresber. ]. ce.) teilt er auch noch mit, dass die Pigmentyerschiebungen ebenso unabhängig voneinander in einzelnen Teilen desselben Auges vor sich gehen; zum Verkleben diente eine Mischung von Lampenruß und Kanadabalsam. 12) 1. c., p. 149 ff. v. Frisch, Studien über die Pigmentverschiebung im Facettenauge. 701 Bei passender Stellung des Auges zum Beobachter konnte man die Grenze der beiden Hälften einstellen und gewahrte nun einen korrekten Halbmond mit scharfer horizontaler Grenze und nach unten gewendeter Konvexität ... Diesen Versuch habe ich zweimal mit demselben Erfolg ausgeführt.“ „Auch habe ich ihn in folgender Weise modifiziert. Ich sorgte dafür, dass die ganze Umgebung der Lampe und das Zimmer mög- lichst dunkel waren und das Tier, ruhig gehalten, die Lampe immer mit derselben Facettengruppe sehen musste. Das Resultat war, dass, während das ganze Auge noch leuchtete, eine beschränkte Stelle dunkel geworden war...“ Meine Versuche sind an Krebsen angestellt und führten zu etwas anderen Resultaten. Eine Verschiedenheit im Verhalten zwischen Schmetterlingen und Palaemon') wird nicht sehr wunder- nehmen, wenn man — abgesehen von den morphologischen Diffe- renzen — die Verschiedenheit der Vorgänge in ihren Augen be- rücksichtigt: Während in dem Dunkelauge des Krebses unter dem Einfluss des Lichts sich die beiden Pigmente entgegenwandern, das Retinapigment nach vorn, das Irispigment nach hinten (wobei seine Hauptmasse beisammen bleibt und es sich von der Cornea so viel entfernt als es nach hinten fortschreitet), ferner das Iristapetum sich mit dem Irispigment verschiebt und wahrscheinlich auch ein Abströmen von Retinatapetum nach hinten stattfindet, ist im Schmetterlingsauge die Stellung des (Tracheen-)Tapetums und des Retinapigmentes eine fixe und es breitet sich nur das Irispigment nach hinten aus!*) (es verteilt sich dabei auf eine größere Strecke, während es im Dunkelauge vorn zwischen den Kristallkegeln kon- zentriert ist). Das partielle Verdunkeln der Krebsaugen ist nicht ganz leicht. Ihre Gestalt, glatte Beschaffenheit und ihre große Empfindlichkeit selbst gegen geringe Lichtmengen sind erschwerende Umstände. Ich bin nach einigen missglückten Versuchen folgendermaßen ver- fahren: Eine 5prozentige Lösung von Celloidin in Atheralkohol wird mit Ruß (durch eine Terpentinflamme erzeugt) zu einem dicken, rasch erstarrenden Brei gemischt und mit diesem werden die Augen verklebt. Da die-Tiere die lästige Kappe mit ihren Füßen geschickt abzulösen verstehen, muss man auch den Augenstiel mit einschließen, so dass sich die zusammenhängende Celloidinmasse über den vor- deren, verdickten Teil des Auges nicht abstreifen lässt. Die Augen 13) Von einigen Versuchen an Hummern sehe ich ganz ab. Die Augen waren durch wiederholtes Experimentieren so geschädigt, dass keine sicheren Resultate erlangt werden konnten. 14) Das Schwinden des Leuchtens wird also hier durch das zurückwandernde Irispigment, bei Palaemon dagegen zunächst durch das beweglichere Retinapigment veranlasst. 702 v. Frisch, Studien über die Pigmentverschiebung im Facettenauge. wurden dann samt der Kappe, die sich bei der weiteren Behandlung auflöst und nicht stört, fixiert und geschnitten. Zunächst will ich bemerken, des die Verdunkelung beider Augen dieselbe Wirkung hat wie Dunkelhaft des ganzen Tieres, des also nicht, wie dies ase las n fiir den Fr a : angibt (1885), die Belichtung des Körpers bei verdunkelten Augen Lichtstellung des Augenpigments zur Folge hat. Von vier Wonsueen hatte einer ein negatives Resultat: Einem Tagtier wurden beide Augen ver- klebt, das Tier 2 Stunden am Licht gelassen, dann getötet “amd die Augen fixiert, beide befinden sich in Lichtstellung. Aber abgesehen davon, dass man nicht sehr selten auf Individuen stößt, deren Augen im Dunkeln überhaupt nicht leuchtend werden, kann hier leicht der Rußüberzug nicht vollkommen dicht gewesen sein. Es dürfte daher dieser Fall gegenüber den folgenden nicht schwer ins Gewicht fallen: 1. Ein Dunkeltier bekam über beide Augen Ruß- kappen, wurde so über 1 Stunde im diffusen Tageslicht gelassen und dann getötet. In beiden Augen war das Pigment vollkommen in der Dunkelstellung geblieben. 2. Einem Tagtıer wurden beide Augen verklebt und dasselbe 21/, Stunden am Tageslicht gelassen, dann getötet. Beim Herausfangen aus dem Aquarium fiel eine Kappe ab, das Auge leuchtete. Die mikroskopischen Präparate zeigten das Retinapigment in Dunkelstellung, das Irıspigment zwar nach vorn gerückt, aber noch nicht zwischen den Kristallkegeln, sondern in einem Auge an ıhrem hinteren Rande, im andern meist noch etwas weiter zurück. 3. Kin Tagtier blieb mit verdeckten Augen 6 Stunden am diffusen Tageslicht. Iris- und Retinapigment sind in Dunkelstellung. Sehr sonderbare Resultate lieferten die Versuche, in denen ein Auge verklebt wurde, während das andere offen blieb: 1. Einem Dunkeltier wurde ein Auge verklebt, dann kam es 1 Stunde ans diffuse Tageslicht, wurde dann getötet und seine Augen fixiert. Das verklebte Auge ist ein vollkommenes Dunkel- auge. Im freigebliebenen Auge hafinden sich die Pigmente auf einer Seite in Tagstellung (ca. 2/,), auf der anderen Seite in Dunkel- stellung. 2. Genau ebenso wurde ein zweites Dunkeltier behan- delt, wieder ist das Pigment des verdeckten Auges in Dunkelstellung, von den Schnitten durch das freie Auge zeigt ein Teil das Iris- pigment vorn an den Kristallkegeln, bei den übrigen liegt es hinten (da die Augen nicht in einer bestimmten Orientierung geschnitten wurden, kann ich nicht sagen, ob sich dieselben Stellen gleich verhielten); das Retinapigment liegt ohne erhebliche Differenzen überall mäßig dicht vor den Rhabdomen. 3. Einem Tagtier wurde das eine Auge verklebt, das andere nicht, es blieb 6 Stunden am Tageslicht. In beiden Augen befinden sich die Pigmente auf einer Seite in einer anderen Stellung als auf der anderen Seite, und v. Frisch, Studien über die Pigmentverschiebung im Facettenauge. 703 zwar im verklebten Auge zur Hälfte in vollkommener Dunkel- stellung, zur Hälfte in Übergangsstellung, im freien Auge zur Hälfte in vollkommener Lichtstellung, zur Hälfte in Übergangsstellung. 4. Bei einem zweiten, ebenso behandelten Tagtier sind die Pig- mente des verklebten Auges annähernd, nicht vollkommen, in Dunkelstellung, die des offenen in (nicht überall vollkommener) Lichtstellung. Bei zwei anderen Tagtieren, die mit einem verkappten und einem offenen Auge 26 Stunden am Leben gelassen wurden und (die Nacht ausgenommen) am Licht standen, kann ich über die dunkel gehaltenen Augen wegen ihres schlechten Erhaltungs- zustandes nichts sagen, die unverdeckten sind vollkommene Licht- augen. Schließlich sind noch folgende drei Versuche mitzuteilen: 1. Einem Tagtier wurde ein Auge teilweise verklebt, am nächsten Tag fiel beim Fangen des Tieres die Kappe ab, trotz sofortiger Unter- suchung mit dem Augenspiegel war nirgends ein Leuchten zu be- merken. 2. Einem Dunkeltier wurden beide Augen teilweise verklebt, dann kam es ans Licht und wurde nach 1 Stunde getötet und seine Augen fixiert; in beiden befinden sich die Pigmente überall in Lichtstellung. 3. Einem anderen Dunkeltier wurde ein Auge teilweise verklebt, das andere frei gelassen und auch nach istündigem Aufenthalt im Tageslicht beide fixiert. Das partiell belichtete Auge zeigt eine gleichmäßige Mittelstellung seiner Pig- mente: Das Irispigment hat sich von der Cornea entfernt, reicht aber überall noch zwischen die Kristallkegel ungefähr um dieselbe Strecke hinein, um die es sie nach hinten überragt. Das Retina- pigment liegt in mäßiger Dichte vor den Rhabdomen. Das Retina- pigment des anderen Auges ist überall, das Irispigment aber nur auf einer Seite in Lichtstellung, auf der anderen Seite liegt es am hinteren Rand der Kristallkegel. Überblickt man die Befunde, so scheinen sie am klarsten in jenen Fällen, wo Dunkeltiere, mit den Rußkappen versehen, nach einstündiger Belichtung getötet wurden. Waren beide Augen verklebt, so blieben sie in Dunkelstellung; war nur eines verdeckt, so blieb dieses in Dunkelstellung, während das andere auf einer Seite in Lichtstellung überging, auf der anderen nicht oder nicht so vollkommen; partielle Belichtung eines Auges verteilte sich in ihrer Wirkung gleichmäßig auf das ganze Auge. Unregelmäßiger reagierten die Pigmente bei denselben Ver- suchen an Tagtieren, welche nach dem Verkleben der Augen viel länger (6—26 Stunden) am Leben gelassen wurden. Sehr auffallend ist die Wirkung, die das Verkleben eines Auges auf einen Teil des andern ausübt: Bei den Dunkel- tieren, die mit einem verklebten Auge 1 Stunde am Licht blieben, 704 v. Frisch, Studien über die Pigmentverschiebung im Facettenauge. ist das vollständig freie andere Auge nur zum größreen Teil zum Lichtauge geworden, auf einer Seite sind die Pigmente in mehr oder minder vollkommener Dunkelstellung verblieben; bei den Tag- tieren, welche 6 Stunden mit einem verdunkelten Auge am Licht standen, ist das offene Auge nur zum Teil ein vollkommenes Licht- auge geblieben, auf einer Seite ist das Irispigment nach vorn, das Retinapigment nach hinten gewandert; wurden die Tiere aber erst am nächsten Tag getötet, so zeigte das unbedeckte Auge eine gleichmäßige Lichtstellung des Pigmentes. Die Versuche sınd nicht so zahlreich, dass man die Befunde verallgemeinern könnte. Vielleicht erklärt sich manche Unregel- mäßigkeit in den Ergebnissen und das Fehlen einer lokalen Wirkung bei partieller Belichtung durch Diffusion des Lichtes innerhalb des Auges und des ganzen Körpers. Es ist nämlich nicht außer acht zu lassen, dass der Körper von Palaemon durchscheinend ist und dass in trüben Massen das Licht weithin geleitet werden kann. Hat doch Steinach gezeigt, dass selbst bei Wirbeltieren das in ein Auge eindringende Licht diffus in das andere gelangen und für die Größe der Pupille bestimmend sein kann. Wie man sieht, ist es mir nicht gelungen, etwas Sicheres darüber zu erfahren, auf welche Art die Wirkung des Lichtes auf die Pigmentzellen im Facettenauge vor sich geht. Handelt es sich um eine reflektorische Auslösung der Pigmentverschiebung durch die Lichtwirkung, so ist eine Nervenerregung ihre unmittelbare Veranlassung; warum bleibt es dann ganz erfolglos, wenn man die Nerven des Auges durch ein anderes Mittel, z. B. Induktionsschläge, in den Erregungszustand versetzt? Ist die Wirkung des Lichtes auf die Pigmentzellen eine unmittelbare, dann hätte man wohl von den Versuchen an abgeschnittenen Augen und isoliertem Pigment mehr als negative Resultate erwarten dürfen. Auch spricht der merkwürdige Einfluss, den bei Palaemon das Verkleben eines Auges auf das andere ausübt, gegen ein solches Verhalten. Doch er- scheint es, besonders wenn man die große Wirksamkeit der kurz- welligen Strahlen berücksichtigt, nicht ausgeschlossen, dass durch das Licht im Augeninnern hervorgerufene chemische Veränderungen das erregende Moment seien. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der kgl. bayer. Hof- u. Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. 3 N inate Dele gts Sr Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Therapeutische Technik für die ärztliche Praxis. Ein Handbuch für Ärzte und Studierende. Bearbeitet von Geheimen Rat Prof. Dr. Czerny, Exzellenz in Heidelberg; Prof. Dr. Englisch in Wien; Prof. Dr. Eversbusch in München; Prof. Dr. Friedrich in Kiel; Geheimrat Prof. Dr. Fritsch in Bonn; Prof. Dr. Dr. Bosse in Berlin: Hildebrand in Gemeinschaft mit Oberarzt Geheimrat Prof. Dr. Hoffa in Berlin; Prof. Dr. Hoppe-Seyler in Kiel; Staatsrat Prof. Dr. Kobert in Rostock; Priv.-Doz. Dr. Müller in Breslau; Prof. Dr. Ad. Schmidt in Dresden; Oberarzt Dr. HA, E. Schmidt in Berlin; Prof. Dr. J. Schwalbe in Berlin; Prof. Dr. Siebenmann in Basel; Geheimrat Prof. Dr. v. Strümpell in Breslau; Geheimrat Dr. O. Vierordt in Heidelberg. Herausgegeben von Prof. Dr. Julius Schwalbe. M. 20.—, Halbfranz geb. M. 23.—. I. Technik der Massage. Il. Technik der Gymnastik. Ill. Technik der mechanischen Orthopädie. Geh. Med.-Rat Prof. Dr. A. Hoffa, Berlin. \ IV. Technik der Hydro- und Thermo- therapie. Geh. Hofrat Dr. O. Vier- ordt, Heidelberg. V. Technik der Radiotherapie. Von Dr. H. E. Schmidt, Oberarzt am Uni- versitätsinstitut für Lichtbehandlung in Berlin. VI. Technik der Arzneibereitung und Arz- neianwendung. Anhang: Trink- und Badekuren. Staatsrat a. D. Prof. Dr. Kobert, Direktor des Pharma- kologischen Instituts der Universität in Rostock. Vi . Ausgewählte Kapitel aus der allge- meinen chirurgischen Technik. Prof. Dr. O. Hildebrand, Direktor der chirurgischen Klinik der Charite, in Gemeinschaft mit Oberarzt Dr. Bosse in Berlin. Vill. Technik der Behandlung einzelner Or- gane. 1. Auge. Prof. Dr. O. Evers- busch, Direktor der Universitäts- Augenklinik in München. Inhalt: 2. Ohr. Prof. Dr. F!. Siebenmann, Vor- steher der oto-laryngologischen Klinik in Basel. 3. Nase, Rachen, Kehlkopf, Tra- chea, Bronchien. Prof. Dr. E. P. Friedrich, Direktor der Poliklinik für Ohren-, Nasen- und Halskrankheiten in Kiel. 4. Pleura, Lunge. Prof. Dr. @. Hoppe- Seyler, Direktor des städtischen Kranken- hauses in Kiel. 5. Herz. Prof. Dr. J: Schwalbe, Berlin. 6. Speisenröhre, Magen, Darm (innere Behandlung). Prof. Dr. Ad. Schmidt, Dresden. 7. Darm (Chirurgie), Abdomen. Ge- heimrat Prof, Dr. Uzerny, Exz., Heidel- berg. : 8. Harnorgane, männliche Geni- talorgane. Prof. Dr. X. Finger, Vor- steher der Klinik für Syphilis, Wien. 9. Weibliche Genitalorgane. Ge- heimrat Prof. Dr. H. Fritsch, Direktor der Frauenklinik in Bonn. 10. Nervensystem. Geheimrat Prof. Dr. A. v. Strümpell, Direktor der medi- zivischen Klinik in Breslau. Sachregister. kK. B. Hof- und Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. EEE a JE ac a a ht SF en a Sl in ua en Biologische Gentralblatt, Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Fostanstalten. XX VIII Bd. 15. November 1908. NM 22, “ Leipzig. Verlag von Georg Thieme. Rabensteinplatz 2. Verlag von GUSTAV FISCHER in JENA. Soeben erschien: Unsere Ahnenreihe (Progonotaxis Hominis). Kritische Studien über Phyletische Anthropologie. Von Ernst Haeckel, Professor an der Universität Jena. Festschrift zur 350jährigen Jubelfeier der Thüringer Universität Jena und der: damit verbundenen Übergabe des Phyletischen Museums am 30. Juli 1908. Mit 6 Tafeln. | Preis: 7 Mark. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Der Pythagoräische Lehrsatz und seine Bedeutung für die Körperwelt von Professor Dr. A. Rauber, Dorpat. Mit 9 Textabbildungen. M. 1.20. Biologisches Centralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. Bd. XVII. 15. November 1908. At 22, Inhalt: Schultz, Uber ontogenetische und nen Rückbildungen (Sehluss). — Nüfslin, Zur Biologie der Gattung Chermes. — Wasmann, Nachtrag zu: Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus und der Sklaverei bei den Ameisen. — Loeb, Über Heliotropismus und die periodischen nn Be Tiere. — Child, A. Correetion. Über ossetlsche cae ioe actiectic Rückbildungen. Von Eugen Schultz (St. Petersburg). (Schluss.) Die Erscheinungen der ontogenetischen Reduktion lassen sich in der Weise darstellen, wie ich es auf umstehender Figur ver- suchte. — X// sind Entwickelungsstadien eines rudimentären Organes, 1—44 irgendwelche Zeitintervalle. Im allgemeinen entwickeln sich rudimentäre Organe sehr langsam, so dass die Winkel sehr klein und die Linien en flach as müssten was aber die Ubersicht- lichkeit der Zeichnung ausclin Kanon rende, Immerhin sehen wir auf der Tafel, dass jede folgende Generation später die höchste Ent- wickelung des betreffenden Organes erreicht, als die vorhergehende. Die Anlage (a,b, c,d...) selbst wird bei sich rückbildenden Organen, wie Mehnert nachgewiesen hat, in immer spätere Entwickelungs- stufen verlegt, was auch auf unserem Diagramm zu sehen ist. XJTist das Endstadium. Ob aA und Aa etc. einen gleichen Winkel mit den Horizontalen bilden, d. h. ob die Rückentwickelung gleich schnell verläuft wie die Entwickelung ist nicht bekannt. Dass aA und Aa etc. überhaupt gerade Linien sind, ist unwahrschein- lich, da ja alle Entwickelung nie in gleichem Tempo verläuft. XXVIII. 45 706 Schultz, Uber ontogenetische tnd phylogenetische Rückbildungen. a, p, y... Jd, K, Z sind die Endstadien je einer Reihe von Gene- rationen. Vergleichen wir diese Endstadien, so bekommen wir die phylogenetische Reihe, welche uns gleichfalls die Entwickelungs- stadien 7— XII wiedergibt. Wir ersehen aus der Tafel noch, dass die ersten Generationen rückläufige ontogenetische Prozesse auf- weisen, die folgenden nicht mehr (also nur „Hemmungen“), zuletzt bleibt nur noch die Anlage übrig. Im Beginne aller phyletischen Regression eines Organes haben wir also rückläufige Entwickelung, später eine teilweise raschere -— direkte Resorption, endlich bloße Hemmung (wie man es immerhin unabhängig von der wirkenden Ursache nennen mag). Schnelle, totale Resorption ist nichts anderes, als sehr beschleunigte Re- duktion, welche sich auf einmal auf eine Reihe von Stadien und nicht nur auf die letzten bezieht. Die Resorption durch Phago- cyten ist wohl überall eine sekundäre Erscheinung, eine Fort- schaffung des schon Degenerierten. Die mächtigsten Involutions- prozesse 1m Tierreich haben wir wohl bei Sacculina (Delage): die res 46 bz 6.940 | zt Y 8 el Tt nf | = Pale E 7 | bee T Be i | Se | zus + = H abedefgh ik Im HER «HSER we zweiästigen Extremitäten des Naupliusstadiums werden einfach abge- worfen, Chitinsehnen und Antennenmuskeln ausgestoßen, der Thorax in toto amputiert, Stirndrüse und die gesamte Körpermuskulatur erleidet Rückbildungen. Es entsteht endlich ein aus embryonalen Zellen bestehender Sack. Die einzelnen Stadien der Rückbildung sind nicht mehr zu erkennen, da alles dem allgemeinen Entwicke- lungsgange sekundär angepasst und cenogenetisch beschleunigt ist. Wir haben hier eine solche Rückbildung aller Larvencharaktere, dass wir eigentlich eine doppelte Embryonalentwickelung vor uns haben. Auch die ,Complimental males“ der Cirripedien, das Männ- chen von Donellia, Rotatorien etc. sind vielleicht, wenn nicht durch Neotenie, oder richtiger Progenese, so vielleicht urspriinglich auf dem Wege rückläufiger Entwickelung entstanden. Die Zahl der Fälle, wo eine rückläufige ontogenetische Entwicke- lung noch vor unseren Augen abläuft, ist überhaupt nicht groß. Überall, wo die Zeit dazu hinreichte, finden wir, statt der rückläufigen Entwicke- lung rudimentärer Organe, das Stehenbleiben auf niedrigerem Stadium, wodurch ein ganz nutzloser Prozess erspart wird. Beispiele davon sınd häufig. Die rudımentären Zähne des Walfisches durchbohren Schultz, Über ontogenetische und phylogenetische Rückbildungen. 707 nie mehr das Zahnfleisch und bleiben auf unvollkommener Ent- wickelungsstufe stehen. Bei rudimentären Augen bleiben die Cornea, das Linsenepithel ete. groß und von embryonalem Charakter, während sie beim normalen Sehorgan kleiner werden. Die Haare der Barten- wale haben ganz den Bau, „welchen Weber von fötalen Haaren beschrieben hat“ (Kükenthal). Das Auge von Typhlichthys sub- terraneus liegt von der Körperoberfläche entfernt, Augenmuskeln sind noch nicht vorhanden. Das Auge selbst bleibt auf dem Sta- dium einer eben erst in Bildung begriffenen Augenblase: die Höhle der primären Augenblase ist noch deutlich zu sehen. Vom Proteus- auge sagt Wiedersheim: „Überhaupt bleibt das Proteusauge auf niederer Entwickelungsstufe stehen.“ Ganz embryonalen Charakter bewahren die Muskeln: die Querstreifung derselben ist schwer zu erkennen; dazwischen liegen noch glatte Muskelfasern und die kern- führende Partie ist noch angeschwollen, wie bei eben sich differen- zierenden Fasern. Der primäre Prozess der Reduktion wird nicht nur durch Hem- mungen, sondern auch durch sekundäre Anpassungen „verfälscht“. Vor allem betrifft das jene Fälle, wo die betreffenden Organe wohl vom erwachsenen Tiere aufgegeben sind, nicht aber von der Larve. Bei der Larve erhalten sich oft später sich reduzierende Organe lange. Bei ihnen können wir deswegen viele palingenetische Züge finden, die sich hier ungestört erhalten können, weil die Larve vom veränderten Lebenszustande nicht getroffen wird. Dies trifft bei vielen Parasiten zu, so bei den parasitischen Copepoden und augen- scheinlich auch bei parasitischen Mollusken. — Wie Kohl und Eigenmann gezeigt haben, reduzieren sich bei verschiedenen Tier- formen verschiedene Teile des Auges, weil ja selbst das reduzierte doch in gewisser Hinsicht ein Sinnesorgan bleibt, auch „besitzen die hierhergehörigen Sehorgane zuweilen besondere Einrichtungen“ (Kohl), — positive Anpassungen, „zur Korrektur des abnormen Zustandes“, so z. B. die Verwachsung der Lider. Besonders wechselvoll sind die Rückbildungen der Vorniere, weil auch hier Anpassung neben Rückbildung einhergeht. Noch durch andere Umstände kann unser Gesetz sehr verdeckt werden: Alle retrograden Organe zeigen bekanntlich große Schwan- kungen in der Größe, der Art der Entwickelung, der Zeit des Auftretens und der Grade der Reduktion. So schwankt die Bulbus- form von Talpa und Proteus bedeutend, wir finden abnorm große Zellen im Pigmentepithel der Proteusiris, verschieden starke Ent- wickelung des Ciliarkörpers bei Talpa etc. Auch schreitet die Ent- wickelung rudimentärer Organe noch in einer Richtung fort, während sie in anderer schon in Rückbildung übergeht. Die Nephrostome der Vorniere von Petromyxon können manchesmal bis zur Meta- morphose erhalten bleiben, desgleichen auch der Glomerulus 45* 708 Schultz, Uber ontogenetische und phylogenetische Riickbildungen. (W. Müller, Fiirbringer). Ähnliche Schwankungen in der Zeit des Schwundes der Vorniere fand Spengel (1876) bei Stphoneps thomensis. — Oft sehen wir bei rudimentären Organen Verschmel- zungen, z. B. einzelner Knochenelemente, oder eine paarweise Verschmelzung der Zähne von Beluga leucas, oder der rudimen- tären Randstrahlen der Extremitäten. Es ist bekannt, dass rudi- mentäre Organe überhaupt bedeutend varueren, und die Variation erklärt sich vielleicht durch die Ausschaltung der sich entwickelnden Organe aus der allgemeinen Reizkette. Doch alle diese Komplikationen können nicht verhindern, dass wir auf ‘genauerer Analyse und auf der Reinheit des nicht ange- passten Reduktionsprozesses fußend, in der ontogenetischen Rück- bildung rudimentärer Organe dasselbe Grundgesetz der Umkehr- barkeit des Lebensprozesses sehen, welches ich an anderer Stelle ausführlich behandelt habe. Unsere Methode der Forschung muss hier dieselbe sein, welche der Arzt benutzt, den charakteristischen Verlauf einer Krankheit von sekundären Komplikationen zu trennen. Aber ebenso, wie bei Reduktionen durch Hunger oder durch Regeneration man nicht nur ein Embryonalwerden des ganzen Or- ganes, sondern auch der einzelnen Teile beobachten kann, so sehen wir oft auch ein Embryonalwerden der Zellen oder in anderen Fällen ein Embryonalbleiben derselben, in jenen Fällen, wo eine Reduktion während der Ontogenese vorliegt. Bei der Rückbildung der Urniere der Säuger z. B. verliert das Epithel sein für sekre- torisches Nierenepithel charakteristisches Aussehen und wandelt sich in gewöhnliches Zylinderepithel um, um endlich zu degene- rieren (Mihal kovics). Die metanauplialen Längsmuskeln von Lernaea branchialis verlieren bei der Metamorphose der Larve ihre kontraktile Substanz und bekommen das Aussehen von Muskel- anlagen (Pedaschenko). Wir sahen, dass in allen zitierten Fallen die rückläufige onto- genetische und phylogenetische Entwickelung sich nur auf einzelne außer Gebrauch gekommene Organe bezieht. Ist nun nicht auch eine Riickdifferenzierung des ganzen Tieres auf ein phylogenetisch vorhergehendes Stadium möglich, falls z. B. die Ursache, welche das Entstehen einer neuen Art hervorrief, wieder außer Wirkung tritt. Hinweise auf eine solche Rückbildung finden wir wirklich bei Eimer nach einigen paläontologischen Funden angeführt. Andererseits scheint ein Organ, welches phylogenetisch fast zu einer Anlage rückgebildet worden ist, doch so lange diese Anlage besteht, die Fähigkeit zu besitzen, das verloren gegangene Organ schnell wieder zur Entwickelung zu bringen. So hat Pagurus den Hautpanzer auf dem Rücken des Abdomens eingebüßt, aber Birgus latro, der wahrscheinlich von einer ähnlichen Form abstammt, hat diesen Panzer wieder erworben. | Schultz, Über ontogenetische und phylogenetische Riickbildungen. 709 Nach alledem scheint es mir, dass der Prozess der phyletischen Regression durch die ontogenetische Regression erklärt wird und auf sie zurückzuführen ist. Da die reine phyletische Regression eine rückläufige Entwickelung ist, deren Etappen die entsprechenden der ontogenetischen Regression wiederholen, so gewinnt das Studium solcher Regressionsprozesse, auf die leider nur wenig Gewicht ge- legt wurde, auch für die Phylogenie an Bedeutung, wodurch sie in den Augen vieler Zoologen vielleicht erst beachtungswert werden. Ich kann mich nicht enthalten, hier aus dem rein zoologischen Rahmen hinauszutreten und darauf hinzuweisen, dass auch in Perioden geschichtlicher Regression, wie ım frühen Mittelalter, sich eine ebensolche Rückbildung der menschlichen Fähigkeiten bemerkbar macht. Morphologisch sichtbar wird sie ın der Entwickelung der Kunstformen. Die Zeichnung gewinnt in dieser Zeit allmählich den Charakter der Zeichnung der Urvölker. In umgekehrter Reihen- folge werden während dieser Zeit alle Erwerbungen aufgegeben, das Gefühl des räumlichen Zusammenhanges geht verloren, die Konturzeichnung tritt wieder auf, die nur mit Farbe gefüllt wird. In der Bildhauerei ging die Rückentwickelung in vielen Fällen bis zum Frontalstil. Literaturverzeichnis. Born, G. Eine frei hervorragende Anlage der vorderen Extremität bei Embryonen von Anguis fragilis. — Zool. Anz., Bd. VII, 1883. Brauer, A. Beiträge zur Kenntnis der Entwickelungsgeschichte und der Anatomie der Gymnophionen. — Zool. Jahrb., Bd. X, 1897, Bd. XII, 1899. Braun, M. Entwickelung des Wellensittichs. — Arb. zool.-zoot. Inst. Würzburg, Bd. V, 1881. Braus, H. Die Entwickelung der Form der Extremitäten und des Extremitäten- skeletts. — Handb. d. Entwickelungsl herausg. v. O. Hertwig, Bd. III, 111906. Delage, Y. Evolution de la Sacculine. Arch. Zool. expér. (2. serie), T. II, 1884. Fürbringer, M. Zur vergleichenden Anatomie und Entwickelungsgeschichte der Exkretionsorgane der Vertebraten, Morph. Jahrb., Bd. IV, 1878. Guldberg. Über temporäre äußere Hinterflossen bei Delphinembryonen. Verh. Anat. Ges. 1894. Herbst, K. Formative Reize in der tierischen Ontogenese. Leipzig 1907. Kohl, Rudimentäre Wirbeltieraugen. I—III, Bibl. Zool, Bd. XIV, 1892, 1893, 1895. Kiikenthal, W. Vergleichend-anatomische und entwickelungsgeschichtliche Unter- suchungen an Waltieren, II. Jena 1893. Kupffer, ©. v. Zur Kopfentwickelung von Bdellostoma. Studien z. vergl. Ent- wickelungsg. d. Kopfes der Cranioten, Heft 4, 1900. Mehnert. Kainogenesis. Jena 1897. — Biomechanik. Jena. Mihalkovicz, Untersuchungen über die Entwickelung des Harn- und Geschlechts- apparates der Amnioten. Intern. Monatsschr. Anat. u. Physiol., Bd. II, 1885. Müller, W. Uber die Persistenz der Urniere bei Myxine glutinosa. Jen. Ztschr. fr Naturw., Bd. VIL 1873. Pedaschenko, D. Embryonalentwickelung und Metamorphose von Lernaea bran- chialis L. Trav. Sc. Natur. Petersburg, V. 26, 1900 (russisch). 710 Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. II. Sarasin, P. u. F. Zur Entwickelungsgeschichte und Anatomie der ceylonischen Blindwühle Ichthyophis glutinosus. Ergebn. naturw. Forsch. auf Ceylon. Wiesbaden 1887—1893. Schauinsland, H. Die Entwickelung der Wirbelsäule nebst Rippen und Brust- bein. Handb. d. Entwickelungslehre herausg. von OÖ. Hertwig, Bd. III, 2. Teil, 1906. E. Schultz, Über Reduktionen I—IV. Arch. f. Entw.-Mech., Bd. XVIII, XXI, XXIV, XXV, 1904, 1906, 1907, 1908. — Uber Verjiingung. Biol. Centralbl. Bd. XX V, 1905. — Uber umkehrbare Entwickelungsprozesse etc. Vortr. u. Aufs. über Entw.- Mech., Heft IV, 1908. Spengel, J. Das Urogenitalsystem der Amphibien. Arb. zool.-zoot. Inst. Würz- burg, Bd. III, 1876. N Berichtigung. S. 675 Zl. 2 v. o. ist nach nutzlos werden, oder einzusetzen; S. 677 Zi. 20 v u. lies: so sind uns die Endstadien, statt: so sind uns nur die Endsstadien; S. 678 Zl. 18 v. o. ist zu lesen: die sich zuletzt differenzierenden und statt Tumor aqueus humor aqueus. Zur Biologie der Gattung Chermes. II’). Von Prof. Dr. 0. Nüfslin-Karlsruhe. In meinem ersten Aufsatz über das obige Thema habe ich die alte Blochmann’sche Auffassung über die , Wirtsrelation* der Chermes-Arten, welche die Fichte als ursprünglichen Wirt, die Kiefern, Tannen und Lärcnen als Zwischenwirte angesehen hat, gegen die von Börner?) vorgenommere Umkehrung dieser Wirts- relation zu verteidigen gesucht, indem ich, auf der Grundlage der Mindarus-Biologie, eine Hypothese für eine von einer Virgopara- Fliege ausgehende Migration aufgestellt hatte. Seitdem ist Börner’s Hauptwerk*) erschienen, in welchem seine Theorie der Umkehrung der bisher angenommenen Wirtsrelation auf breiterer Basıs gestützt erscheint, und in welchem die gesamte biologische Darstellung, die Nomenklatur und die phylogenetisch systematische Interpretation, die auch in das Morphologische hinübergreift, von jener Grundidee Börner’s beherrscht wird. Gerade hierdurch bietet das Börner’sche Werk, auch für den Chermes-Spezialisten, dem Verständnis große Schwierigkeiten; denn abgesehen von der weitgehend geänderten systematischen Nomen- klatur, treten uns auch für die Bezeichnung der Generationen teilweise neue Namen entgegen, welche nicht zu der bisherigen Schulmeinung passen. Es muss deshalb die Frage aufgeworfen werden, ob diese Neuerung notwendig, d. h., ob sie berechtigt 1) Vgl. Biol. Centralbl., 1908, Bd. XXVIII, S. 333-—343. 2) Systematik und Biologie der Chermiden. Zool. Anz., Bd. XXXII, 1907, 8. 413—427. 3) Eine monographische Studie über die Chermiden. „Arbeit. aus der Kais. Biol. Anstalt für Land- u. Forstwirtschaft“, Bd. VI, Heft 2, 1908. Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. II. AA gewesen ist. Ich bin, auch nach reichlicher Durcharbeitung des hochbedeutenden Haupiwerkes und trotz mehrerer Briefe Börner’s, nicht in die Lage versetzt worden, die Berechtigung der U mkehrung der Wirtsrelation einsehen zu kalsinem und ich “hedaman diese lis kehrung von seiten Börner’s aufs lebhafteste, weil Börner unter dem geistigen Zwang seiner: Theorie zu Anschauungen und zu Be- zeichnungen geführt worden ist, welche das Verständnis der Sache erschweren, während unter der Herrschaft der alten Blochmann’- schen Wirtsauffassung bei Chermes einfachere Auffassungen und Ableitungen möglich gewesen wären. In dem vorliegenden Aufsatz möchte ich zunächst noch einmal auf die Frage der Wirtsrelation und Nomenklatur zurück- kommen, sodann aber die Frage nach der Genese der Börner’schen „Aestivalis“ und „Hiemalis“, sowie nach der Phylogenie und Systematik der Chermides diskutieren. Dass es sich immer bei solchen Fragen nur um ein „Diskutieren“, nicht um ein „Entscheiden“ handeln kann, ist selbstredend. Es muss aber vom größten Wert sein, wenn die Anschauungen eines so bedeutungsvollen Reformators, wie ein solcher Börner für , Chermes“ geworden ist, um so strenger einer Kritik unterworfen werden, je mehr sie den bisherigen Anschauungen zuwiderlaufen. I. Die Wirtsrelation. In meinem ersten Aufsatz über diesen Gegenstand in dieser Zeitschrift (1908, S. 333--343) gab ich in erster Linie eine Ab- leitung der diözischen pentamorphen Heterogonie von der monö- zischen trimorphen Heterogonie der Gattung Mindarus, bei welcher die geflügelte Generation zwar in der Regel sexupar, aber auch aus- schließlich virgopar, oder gemischt virgopar und sexupar auftreten kann, wie mir die Erfahrung bei Mindarus abietinus Koch gezeigt hat. Gerade diese Gattung, bei welcher die einzelnen Generationen noch wenig scharf fixiert sind, bei welcher auch die Virgo sexupar sein kann, schien mir besonders geeignet zu sein, um als hypo- thetische Parallele des hypothetischen noch monözisch gedachten Urchermiden zu dienen, um von diesem aus die Diözie abzuleiten. Heute möchte ich meiner damaligen Migrations- und Diözie- hypothese noch einige Erörterungen anschließen, welche es wahr- scheinlich machen sollen, dass der Urheber der Migration eine Virgopare und keine Sexupare gewesen ist, und dass die Fichte die ursprüngliche Wirtspflanze für die Chermesinen gewesen sein wird. 1. Börner leitet bekanntlich die erste Migration von einer Sexu- para-Fliege ab. Nach seiner Auffassung müssen sich die Sexuales anpassen, lie darauffolgende Generar der Fundatrix muss sich zu einem besonderen Typ differenzieren, „der seinerseits die Mutter- WA Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. 11. schaft der sexuparen Fliege übernahm, die den Weg zur Mutter- pflanze des Stammvolkes zurückfinden sollte“ (S. 383) !). Das sind enorme Zumutungen! Zunächst sollen sich die Sexu- ales anpassen. Nun sind die Sexuales bei allen Phylloxeriden larvoid und biologisch gleichsam konzentriert. Ihr ganzes Wachs- tum vollzieht sich räumlich und zeitlich eng auf einer Nadel unter dem absterbenden Leib der Sexuparen, gedeckt von deren Flügeln und meist von Wachswolle. In rascher Folge häuten sich die Se- | xuales und ernähren sich bei Chermes saugend an der Nadel. Dieser morphologisch-biologische Charakter ist in langer Ahnenreihe fest fixiert worden, denn die Sexualis ist die ursprünglichste Generation des ganzen Zyklus. Von den Aphidinen her bis zu den Pemphiginen ist der larvoide Charakter schrittweise gesteigert worden, und der Phylloxeridenurahn hat ıhn zweifellos schon ausgeprägt besessen. Den Sexuales ist die einzige Aufgabe zuteil geworden, ein ein- ziges befruchtetes Ei zustande zu bringen, und zwar, wie so häufig in der Natur, unter wesentlicher Einschränkung ihrer Ernährung. Es ıst daher äußerst unwahrscheinlich, dass die Sexuales- Generation den Beginn einer Anpassung an neue Ernährungsbedin- gungen eines neuen Wirtes einzuleiten vermochte. Wohl aber ist es wahrscheinlich, dass die Funktionstüchtigkeit der sexuellen Generation ungünstig beeinflusst wurde. Wie Darwin wiederholt hervorgehoben hat, wie wir es von der künstlichen Fisch- zucht wissen, werden gerade die in Funktion tretenden Fortpflanzungs- organe durch die geringsten Störungen in der Lebens- und Er- nährungsweise ıhres Trägers ungünstig beeinflusst. Die infolge des Wanderflugs der Sexuparen auf einer falschen Nahrungspflanze abgesetzten Sexuales werden daher keine An- passung erreicht haben, welche es notwendig ‘machte, dass die Fundatrix sich strenger differenzierte (S. 383), sondern sie würden durch die gewaltige Ernährungsstörung auf einer generisch ver- schiedenen Konifere höchstwahrscheinlich gar nicht zur dritten Häu- tung und nicht zur Ei- und Samenreifung gelangt sein? Ganz anders liegt die Sache, wenn der Überflug auf die fremde Konifere durch eine virgopare Geflügelte geschehen ist. Die rein theoretische Betrachtung eröffnet hier ganz andere Aussichten für die auf der fremden Konifere geborene Virgo- junglarve. Jede parthenogenetisch entstandene und aufs neue par- thenogenetisierende Blattlausgeneration ist phylogenetisch jünger und weniger fest fixiert als die Fundatrix- oder gar als die Sexuales-Generation, sie ist daher auch eher zur Abänderung und zur Anpassung befähigt. 4) Die Seitenzahl bezieht sich wie im folgenden, wenn nicht eine andere Quelle genannt wird, auf Börner’s Hauptwerk: Eine monographische Studie über die Chermiden. Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. IT. 7113 Aber auch die Erfahrung lehrt uns die Neigung einer Emigrans zur Polyphagie, Veränderlichkeit und Anpassungsfähigkeit. Die Emigrans von pectinatae Chol. gedeiht auf der sibirischen Tanne, Balsamtanne und auf der Weiftanne®), die Exsulans von piceae Ratz. auf Weiß-, Nordmanns-, Balsamtanne, auf Abies veitschi, nobilis, concolor und cephalonica (5.57), von Pineus pini Koch auf Kiefer, Bergkiefer, Pinus banksiana und contorta. Die Variabilität der Emigrans-Generation zeigt sich ebensowohl in der Mannigfaltigkeit der verschiedenen Exsulans-Generationen der Ch. picae als in der Sonderung der Aestivalis-Generation. Dass durch Polyphagie der Emigrans-Exsulans neue Varietäten entstehen können, scheint die der Pineus strobi nächstverwandte Varietät pineoides Chol. zu beweisen, welche sich an Fichtenrinde entwickelt hat. Auch zeigt die Emigrans-Generation eine Veränderlichkeit in bezug auf ihre Nachkommenschaft, sie kann ebensowohl ihresgleichen zeugen (Latenzlarven), als Sommergenerationen, als auch Sexuparen. Es erscheint danach kaum noch zweifelhaft, dass es eine virgopare Geflügelte gewesen sein wird und keine Sexu- pare, welche bei den Chermesinen die Migration einge- leitet hat. 2. Börner mutet aber in seiner Chermesinen-Migrationstheorie nicht nur der Sexuales-Generation, sondern auch den beiden folgenden Generationen die allerweitgehendsten Anpassungen und Umänderungen zu, während die alte Migrationstheorie nur einer einzigen Generation eine Anpassung auf der Zwischenkonifere zuweist, derart, dass schon ihr nächster Nachkomme den Weg zur Fichte zurücksucht. Wie viel einfacher ist nach der alten Theorie der Überflug durch eine virgopare Geflügelte und die Anpassung der Virgo-Tochter zu verstehen, als nach der Börner’schen Theorie der Überflug durch die Sexupara mit der Anpassung der Sexuales, der Fundatrix und der Ceillaris an eine neue Wirtspflanze! Dazu ist der Fortpflanzungsinstinkt immer durch besondere Treffsicherheit ausgezeichnet, und es erscheint deshalb besonders un- wahrscheinlich, dass es gerade die der Fortpflanzung dienstbare Sexupara gewesen sein soll, welche neue ungewohnte Wirtspflanzen aufgesucht hat. 3. Nach Börner hat ein Pineus-Urahn, auf einer Pinus lebend, die Migration auf die Fichte eröffnet und für alle Chermesinen zum Gesetz gemacht (S. 277), und nach Börner muss diese Diözie von der Sexuparen ausgegangen sein. Wenn nun auf solche Weise bei dem Chermesinenurahn der Zyklus ursprünglich zwischen den 5) Cholodkovsky, Beiträge zu einer Monographie der Koniferenläuse. Teil I, Horae soc. ent. Ross,, Bd, XXX, 1895, S. 64. 114 Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. IL. beiden Wirten Kiefer und Fichte wechselte, wie entstand z. B. der Zykluswechsel bei Chermes abietis zwischen Lärche und Fichte? Von den Sexuparen konnte dieser neue Wechsel nicht aus- gegangen sein, denn seine Wanderung auf die Fichte war ja vom Urahn allen Deszendenten zum Gesetz fixiert. Es bleibt jetzt zur Erklärung des Wirtwechsels auf Lärche statt Kiefer nur der Uberflug der virgoparen Cellaris übrig! Also das einemal müsste die Migration von der Sexuparen, das anderemal von der Cellaris abgeleitet werden. Das wäre aber logisch-inkonsequent und würde eine unnötige Komplikation des Erklärungsversuchs für die Migration bedeuten. Die Cellaris ist ja auch nach Börner (S. 284) als eine virgo- pare Fliege differenziert worden, „die den Weg zur Wirtspflanze des Stammvolkes zurückfinden sollte“, wie würde es sich damit in Einklang bringen lassen, wenn nunmehr der Cellaris die Aufgabe zugewiesen würde, auf Wanderschaft zur Entdeckung einer neuen Wirtspflanze auszuziehen! Und ferner müsste dieser auf der Lärche glücklich angelangten Cellaris und ihren Nachkommen auferlegt werden, allmählich die Erinnerung an die alte Wirtspflanze, an die Kiefer, zu verlieren, um zu einer spezifischen Lärchenart zu werden. Wie viel einfacher ist die Annahme, auf die Fichte als ursprüng- lichen Wirt die Art- bezw. die Gattungsdifferenzierung zu verlegen, und die Entstehung der Migration auf die Kiefern, Tannen und Lärchen von bereits differenzierten Chermesinentypen unabhängig voneinander vor sich gehen zu lassen. Es gibt Motive genug zur Gruppensonderung der Chermesinen auf der Fichte selbst. 4. Prinzipiell kann ich Börner’s Meinung keineswegs teilen, dass es „unmöglich“ sei, „die Artengliederung der Chermiden auf ihre gemeinsame Gallenpflanze, also auf die Fichte, zu verlegen“ ®), und dass deren Artensonderung nur erklärlich werde, wenn man dieselbe als parasitäre Anpassung an die verschiedenen Arten der bisherigen Zwischenwirte, Börner’s ursprünglichen Wirten, auffasse. Auf die artenzüchtende Kraft der einzelnen Pflanzenarten hat Börner ein zu großes Gewicht gelegt, lebt doch Pineus pint auf sel- vestris, montana, banksiana und contorta gerade so, wie die Funda- trix von Chermes abietis L. auf verschiedenen Picea-Arten vorkommt, oder gar Siphonophora rosae L. und ulmariae Schr.') auf den hetero- gensten Wirten sich festgesetzt haben. Die wirklichen Motive für 6) Börner, Systematik und Biologie der Chermiden. Zool. Anz., Bd. XXXII, 1907, S. 426. 7) Mordwilko, Beiträge zur Biologie der Pflanzenläuse. Biol. Centralbl., Bd. XXVII, 1907, S. 748: Siphonophora rosae L. — auf jungen Trieben. . von Rosa centifolia, canina, ferner an den Stengeln von Dipsacus, Siphonophora ulma- riae Schr. (= pisi Kalt.) — an einigen krautartigen Gewässern und an Gebüschen, wie Lathyrus, Medicago falcata, Pisum sativum, Ervum, Spiraea ulmaria, Ononis, Colutea u. a. m. Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. II. 7115 die generische, z. T. auch für die artliche Spaltung entziehen sich unserer Beurteilung, und gerade die Chermesinen geben die größten Rätsel auf. 5. Auch bei den Aphiden ist es von jeher für die diözischen Formen, schon vor Blochmann, die Meinung aller Autoren ge- wesen, dass der Hauptwirt diejenige Pflanze sei, auf welcher der Anfang und das Ende des Generationenzyklus lebt, dass dagegen auf dem Zwischenwirt die mittleren rein parthenogenetischen Generationen vorkommen, dass daher niemals die Sexupare zum Zwischenwirt überleite, sondern nur als Endgeneration auf ihm ent- stehen kann. Ganz besonders aber werden wir in dieser Auffassung bestärkt, wenn wir die Migrationsverhältnisse der zahlreichen Aphidinen, Schizo- neurinen und Pemphiginen vergleichen, mit welchen uns neuestens Mordwilko im Biol. Centralblatt bekannt gemacht hat. Wir be- wundern die Fülle dieser neuen Forschungen und müssen nur be- dauern, dass das ausführliche Hauptwerk°) infolge des russischen Textes noch nicht zugänglich gemacht worden ist. Wenn wir die zahlreichen Migrationszyklen der verschieden- artigsten Aphiden vergleichen, so stellt sich ihre phylogenetische Entwickelung etwa in den folgenden Stufen dar. 1. Stufe: Keine eigentliche Migration, keine Diözie, aber weitgehende Polyphagie. Hier kann sich der vollständige Generationszyklus einer Spezies, der nach Mordwilko ursprünglich tetramorph ist, bald auf je einer einzigen, bald wechselweise und unterbrochen auf ver- schiedenen Arten der zahlreichen scheinbar gleichwertigen Wirte abspielen. Hierher zählen vor allem zahlreiche Aphidinen, einige Lachninen und Schizoneurinen, aber auch wohl noch Mordwilko Pemphigus spirothecae Pass. und Phylloxera quercus Boyer. 2. Stufe: Fakultative Migration, fakultative Diözie, wenig beschränkter Polyphagie. Der ganze Lebenszyklus kann sich auf einem oder einigen Wirten (Hauptwirten) vollständig vollziehen, auf anderen Wirten kann dagegen nur ein Teil der Generationen (meist der mittlere), nie aber das geschlechtliche Weibchen zur Entwickelung kommen. Der Zyklus kann aber auch in bezug auf den Wirt gemischt sein, in- dem ein Teil der Generationen eines genetisch zusanımengehörigen Zyklus auf dem Haupt-, ein Teil auf dem Zwischenwirt entstanden ist. Hier tritt zum erstenmal begrifflich der Unterschied zwischen Haupt- und Zwischenwirt deutlich hervor. 8) Horae ent. Ross., Bd. XXXI, 1897, S. 253—313 und Bd. XIV, 1901, SE303- 1012. 716 Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. II. Der Zwischenwirt beherbergt meist nur die mittleren Gene- rationen von der ersten virgoparen Fliege des Hauptwirtes an, die dadurch zur Migrans alata wird, ausnahmsweise auch, wohl durch Fußwanderung, von der Wan dea) an, nie aber lebt das Sexualis-Weibchen auf dem Zwischenwirt. So kann z. B. Stpho- coryne xylostei Schr.'!’) seinen ganzen Zyklus von der Funda- trix bis zum Winterei Hatten Inmalna auf Geisblattarten ab- solvieren, der mittlere Teil seines Zyklus, von der ersten virgoparen bis zur sexuparen Fliege und dem geflügelten Männchen, kann aber ebenso auf allerlei Doldenblütlern leben. Auf dieser 2. Stufe beginnt schon die Sonderung der virgo- paren Tiere in bezug auf ihre Veranlagung und ihrem „Ge- schmack* für die Wirtspflanzen, aber immer noch zieht ein Teil den Haupt-, ein Teil den Zwischenwirt vor. 3. Stufe: Oblig ratorische Migration, obligatorische Diözie, deutlich nuance Polyphagte. Hier ist es der Art nicht mehr gegeben, den ganzen Gene- rationenzyklus auf dem Hauptwirt zu vollziehen, der mittlere Teil muss auf dem Zwischenwirt leben. Die Migrans alata-Generation hat sich in ihrem Fortpflanzungsinstinkt ausschließlich an die Zwischenpflanze angepasst, alle’) ihre Individuen sind in der a Sommergäste auf der Zwischenpflanze ge- worde Eicher gehören einige Aphidinen, z. B. Aphis cerataegi Pass., wahrscheinlich die Schizoneurine corn? F., ganz besonders aber viele Pemphiginen, bei welchen wohl polyphage und monophage Monözie, nicht aber mehr fakultative, sondern nur obligatorische Diözie vor- zukommen scheinen. Der Generationenzyklus verläuft meist in einem Jahre zu Ende, kann aber auch schon hier zwei Jahre erheischen, wie bei Hor- maphis ud Schimer, wo die Emigranslarve überwintert, An die Stufe 3, speziell an En: maphis, dhlelden sich aufs .engste die Chermesinen an, indem Zlormaphis spinosa auf der Zwischen- 9) Bei Aphis evonymi F. ee auch die Fundatrix auf den Zwischenwirten. Mordwilko, Biol. Centralbl., 1907, S. 808. 10) Mordwilko, |. c, 8. S12, 11) Vielleicht gibt es Zwischenformen zwischen Stufe 2 und 3. Bei einzelnen Aphiden scheinen trotz der obligatorischen Diözie neben den Migrantes alatae noch geflügelte Sommergenerationen aufzutreten, welche auf dem Hauptwirt bleiben, aber in der Folge ihrer Generationen die Fähigkeit verlieren, eine Sexupara zu erzeugen. So scheinen hierher Schizoneura corni F. (Mordwilko, 8. 786) und Aphis padi Kalt. (Mordwilko, S. 801), bei welch letzterer die geflügelte Sommergeneration gröber als die Sexupara ist, zu gehören. 12) Hormaphis (Mordwilko, 8. 793) ist als Gruppe systematisch noch unklar, da sie im Hinterleibsende an die Aphidinen, in der Aderung der Flügel an die Pem- phiginen, in der Fünfzahl der Fühlerglieder der Geflügelten an die Chermesinen, in Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. Il. TAT, pflanze (Birke) eine Exsulans-Generation hervorbringt, während die Migrans alata in emer Art Galle zur Entstehung gelangt'°). Auch bei zahlreichen anderen Aphiden erzeugt die Fundatrix auf dem Hauptwirt Gallenbildungen, und zwar ganz besonders bei Schizoneurinen und Dem ie main, welche auch in bezug auf das Larvoidwerden des Männchens zu den Phylloxerinen hinüber- leiten. Während bei den Aphidinen die Fundatrix und ihre Nachkommen oft nur an der Unterseite des kaum veränderten Blattes saugen (Aphis sambuei L., padi Kalt., evonymi F.), erzeugen diese Bere onen bei anderen Arten lear ollane und Zusammen- klappung (Aphis crataegi Kalt., piri Koch). Bekannt sind ja die zahlreichen echten Gallen, welche die Fundatrices der Ulmen und Pappeln — Schizoneurinen und — Pemphiginen hervorrufen, Gallen, in welchen wie bei den Chermesinen die Migrans alata (= Cellaris) zustande kommt. Die phylogenetische Serie dieser Gallenbildungen, welche bis auf Vorkommnisse der rein polyphagen und der fakultatiy diözischen Zyklen zurückführen, lassen keinen Zweifel darüber, dass die Gallen- generation, welche die Migrans alata erzeugt, auch bei den Cher- mesinen auf die Hauptwirtspflanze zu verlegen ist, auf welcher auch die Sexuales entstehen. 6. Diejenige Chermesinenform, welche nach Börner’s An- schauung in morphologischer Hinsicht als die phylogenetisch ur- sprünglichste erscheint, Chermes abietis L., führt auch heute noch das ausschließlichste Fichtenleben. Ihr Leben auf der Lärche beschränkt sich, wenn wir von der Eiablage der Cellaris absehen, bezug auf die Emigrans ferner an Aleurodes erinnert. Siehe auch Börner (Mono- graphie, S. 283, Anm.), der eine besondere Unterfamilie Hormaphidinae aufge- stellt hat. 13) Die Erklärung der Entstehung der Chermesinen-Diözie ist mit besonderen Schwierigkeiten verbunden, da die Zwischenpflanzen der Chermesinen Nadelhölzer sind, welche in bezug auf die Ernährungsmöglichkeiten für die Schlussgeneration und den Beginn des Hauptzyklus dem Hauptwirt nicht nachstehen. Bei den Aphiden, welche auf krautartige Pflanzen und auf Gramineen wandern, ist es denkbar, dass zeitig im Sommer vertrocknende Pflanzen (Umbelliferen) für die Schlussgeneration ungeeignet sind. Da nur die Fichte vermöge des Baues ihrer Nadel (s. Börner, S. 222) wirk- liche Ohermes-Gallen zu erzeugen vermag, so ist es nicht unmöglich, dass diese spezi- fische Qualität der Fichte in Zusammenhang mit der Tatsache steht, dass die Fichte der Hauptwirt der Chermesinen werden musste von dem Zeitpunkt an, als die Cher- mesinen Gallenerzeuger geworden sind. Möglicherweise lebten sie ehemals wie manche Arten der Lachninen polyphag nach dem Verhalten der obigen 1. Stufe. Ich möchte hier auf ein genaueres Eingehen um so mehr verzichten, als mir Herr Dr. Mordwilko in liebenswürdigster Weise Mitteilungen gemacht und baldige Publikation in deutscher Sprache über seine Ideen von der Genese der Chermesinen- migration in Aussicht gestellt hat, die er (russisch) schon zum Teil 1901 zum Aus- druck gebracht hat. Den Brief des Herın Kollegen Mord wilko erhielt ich erst nach Abschluss meines Manuskriptes. 118 Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. II. auf die kurze Frühjahrsperiode, in welcher die Emigrans und ihre Tochter, die Sexupara, heranreift. Eine Wiederholung der Emi- grans-Generation in Form von Exsulantes gibt es hier noch nicht. Dagegen bleibt ein Teil der Gallenläuse, die Cellares monoecae, ganz auf der Fichte, um hier den engeren bigenetischen Zyklus ab- zuschließen, ein Vorkommnis, welches ich im Gegensatz zu Börner nicht als den „letzten Schritt“ '*) der Chermesinen-Polyzyklie, sondern als ein achaistisches Relikt aus der Zeit des monözischen Zustandes auffasse. Tatsächlich gibt es auch bei Mindarus abietinus Koch noch heute Geflügelte, die statt sexupar, wie es die Norm ist, virgopar sein können, so dass auf die Virgo I des Frühjahrs (Fundatrix) durch Vermittelung der Geflügelten eine Virgo II ent- steht, die von der VirgoI noch nicht abweicht. Die Tatsache, dass die phylogenetisch älteste Chermes- Form auch die typischste Fichtenbewohnerin unter allen Chermesinen und zugleich diejenige Art ist, welche am kürzesten auf der Zwischenkonifere Aufenthalt nimmt, gibt für die alte Auffassung der Fichte als Urwirtspflanze ein beredtes Zeugnis. 7. Ein Argument, welches für die Fichte als Hauptwirt spricht, liegt auch in der relativen Fruchtbarkeit derjenigen Generationen, welche einander für die beiden Wirtspflanzen parallel zu setzen sind, also der Fundatrix und Emigrans, sowie der Migrans cularis dioeca und Sexupara. Diese Generationen sind auf der Fichte durchweg größere und wesentlich fruchtbarer, als die parallelen auf der Zwischen- konifere. ’ 8. Dagegen muss der längere Aufenthalt auf der Zwischen- konifere, zunächst in der Form von mehreren der Emigrans gleich- artigen Exsulantes-Generationen, sodann in Form differenzierter Sommer-Generationen (Aestivales), oder gar in Form verschiedener an verschiedene Organe der Zwischenkonifere angepasster Exsulans- Generationen (Chermes piceae) als ein phylogenetisch jüngeres abge- leitetes Verhalten aufgefasst werden. Aus der ursprünglich einzig vorhanden gewesenen Emigrans-Generation auf derZwischenkonifere sind die Exsulantes, wie ontogenetisch noch heute, so auch einst phylogenetisch entstanden, als eine Folge besonderen Ge- deihens auf der Zwischenkonifere. Wie auch Börner annimmt (S. 281, Anm.), ist die Entstehung der Parthenogenese auf die besondere Gunst der Ernährungs- bedingungen zurückzuführen. Indem nun die gleiche Ursache auch zur Vereinfachung der Organisation der parthenogenetischen Gene- rationen (Wegfall der mit der Flügelbildung verbundenen Anlagen), 14) Zool. Anz., 1907, S. 423. Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. II. 719 zur Pädogenesis hinstrebt, wird die Zahl der Sexuparen ver- mindert, diejenige der pädogenetischen Exsulantes vermehrt. Zuletzt erscheinen entweder gar keine geflügelten Sexuparen mehr, oder doch nur unter besonders günstigen Umständen. Solches treffen wir bei Pineus pint Koch und strobi Htg. und bei Dreyfusia piceae Rtzb. Dafür sehen wir bei den Genannten eine förmliche Wucherei in Exsulantes-Generationen, sei es in Form von verschiedenartigen Generationsserien, welche ver- schiedene Pflanzenteile besetzt halten (bei piceae: die alte Stamm- rınde, die Knospen und die Nadeln), sei es in Form einfacher Wiederholung gleichartiger Generationsserien (Pineus). Durch eine solche Ausartung der Parthenogenese auf der Zwischenkonifere wurde tatsächlich, zum mindesten in großen geographischen Gebieten, die Gamogenese der Art vernichtet (piceae, strobi), und damit die Existenz auf dem ursprünglichen Wirt illusorisch gemacht, indem die Sexuales entweder ganz ausfallen (sirobr), oder doch funktionsuntüchtig geworden sind (piceae). Es lehrt uns ein Vergleich der abietis-Biologie mit der piceae-, oder gar mit der strobi-Biologie am deutlichsten das sekundär- pathologische Verhalten der beiden letzteren Erscheinungen. Bei abietis das Normale und der Hauptaufenthalt auf der Urwirts- pflanze (Fichte) mit schadlosem Exkurs auf die Lärche, bei piceae und 'strobi das pathologische Extrem hierzu, ein fast exklusives üppiges Gedeihen auf dem Zwischenwirt und eine zersplitterte un- regelmäßige wirkungs- und aussichtslose Heimkehr rudimentir ge- wordener Generationen auf die Fichte, so, dass für die ursprüngliche Wirtspflanze die Art verloren zu gehen droht. Das Gedeihen auf der Zwischenkonifere war bei Beginn der Diözieentwickelung eine Grundbedingung für das Gelingen der Mi- gration. Dieses Gedeihen birgt in sich aber auch die vorstehend geschilderten Gefahren. Schon Cholodkovsky hat mit Recht einem ähnlichen Ge- danken Ausdruck verliehen: „Man bekommt unwillkiirlich den Ein- druck, dass die Exsules sich selbst überlassen... immer weniger Sexuparen erzeugen und danach streben, auf der Zwischenpflanze eine vollständige parthenogenetische Spezies zu bilden“ !°). Ich be- greife es daher nicht, dass Börner an diese Stelle Cholodkovsky’s die Bemerkung knüpft, dass es ihm „fast unbegreiflich erscheint, wie Cholodkovsky nicht auch schon denselben Gedanken“ (d. h. die Annahme des Zwischenwirts als Urwirt) „aufgegriffen hat‘. Denn gerade die Erkenntnis des abnormalen, des pathologischen und die ursprüngliche Spezies gefährdenten Charakters des über- triebenen Exsulantes-Gedeihens müsste doch als ein Haupt- 15) Börner zitiert (Monographie, S. 276). 720 Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. II. argument gegen Börner’s Annahme der bisherigen Zwischen- konifere als ursprünglichen (normalen) Wirt Berücksichtigung und Auslegung verdient haben. Wie kann man da noch ım Zweifel darüber sein, welche Pflanze die ursprüngliche Quelle des Lebens der Art gewesen ist, die Fichte, auf welcher die dem befruchteten Ei entsprossene Fundatrix lebt und den Zyklus einleitet, auf welcher die Sexuales die amphigone Fortpflanzung zum Schlusse des ganzen Zyklus ge- währleisten, oder die Zwischenkonifere, auf welcher infolge üppigster parthenogenetischer Fortpflanzungsweise die gamogenetische Gene- ration durch Schwächung der auf die Amphigonie hinstrebenden An- lagen gefährdet werden kann, wie es die Beobachtungen bei piceae und sirobö deutlich kundgeben. 9. Obgleich alle Phylloxeriden ovipar sind, gibt es doch bei ihnen kein Winterlatenzei. An dessen Stelle tritt eine Larvenform. Meist ist es bei den Chermesinen eine Junglarve im ersten Stadium, welche mit einem harten Chitinpanzer, und meist daneben mit einem Pelz von Wachswolle ausgestattet den Wanter überdauert. Eine solche besonders differenzierte Latenzwinterlarve treffen wir bei der Fundatrix-Generation aller Chermesinen, bei der auf der Zwischenkonifere überwinternden Emigrans- bezw. Exsulans- Generation dagegen nur bei den phylogenetisch älteren Gattungen, nicht aber bei der jüngeren Gattung Pineus. Es erhellt hieraus, dass die differenzierte Latenzwinterlarve eine sehr ursprüngliche Bildung ıst. Da dieselbe beider Funda- trıx aller Gattungen vorhanden ist, nicht aber für alle Gattungen ‚bei der Emigrans und Exsulans, so muss wohl die Fundatrix als die ursprünglichere, und die Wirtspflanze der Fundatrix als Urwirt der Chermesinen aufgefasst werden. 10. Während selbst Börner in seiner Begründung der Ent- stehung der Migration von der Sexuparafliege aus, sowie der Um- kehr der Blochmann’schen Wirtsrelation, die Motive der Sexu- paren-Entwickelung auf dem seitherigen Zwischenwirt und der Unmöglichkeit einer von der Fichte als Urwirt ausgehenden Er- klärung der spezifischen und generischen Sonderung der Chermesinen nur als subjektive Gründe charakterisiert, führt er als objek- tiven Hauptgrund für seine Theorie ins Feld: „die Diözie muss von der Sexuparafliege ausgegangen sein, da sich sonst umgekehrt die Virgo-Völker mehr gleichen und in ent- sprechender Weise auf denselben Wohnpflanzen leben müssten, wie jetzt in Wirklichkeit die Sexupara-Nach- kommen “ 1°), Betrachten wir zunächst die Börner’schen Hauptgruppen, so 16) Monographie, S. 278. Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. II. oA sind folgende vier zu trennen: Chermes, Onaphalodes, Dreyfusia und Pineus. Da wird wohl niemand bestreiten, dass die Sexupara- -Nachkommen, d.h. die Fundatrices in ihrem besonders charakte- ristischen ersten Larvenstadium für die genannten vier Gruppen verschiedener sind als die Nachkommen der Virgoparafliegen, die Emigrantes und Exsulantes; hat man doch vor Börner haupt- sächlich die Fundatrix-Larven zur Determinierung und Unter- scheidung der Gruppen verwendet. Die Ks tivalis-Larven von Cnaphalodes einerseits und von Pineus andererseits, die Hiemalis-Miitter von Cnaphalodes einer- seits und von Dreyfusia piceae (solche fast ohne Wachsdriisen und mit isolierten Kopf- und Thoraxschildern), andererseits die Aestivalis-Mutter von Dreyfusia piceae und die Virgo-Mutter von Pineus sind doch kaum weiter differierend als die Fundatrix-Larven von Chermes abietis und einer der genannten Gattungen und Arten. Dazu kommt, dass öfters die Unterschiede innerhalb der Häutungs- stadien der genannten Generationen größer sind als die Unter- schiede gleicher Häutungsstadien zweier Formen. Wenn aber Börner, wie eine Stelle S. 278 anzudeuten scheint, Fundatrices und Emigrantes der Chermesinenarten nur inner- halb je einer der vier Gruppen im Sinne gehabt hat, so muss erinnert werden, dass wir mit Sicherheit nur in der Gattung Pineus die Fundatrix und zugleich die Emigrans von zwei Arten (pine und szbiricus) kennen, in den drei anderen Gattungen (Untergattungen) beide Generationen nur von je einer Art: Chermes abietis, Onaphalodes strobilobius und Dreyfusia pectinatae ! Was nun die Unterschiede der Virgo-Junglarven der beiden Pineus-Arten betrifft, so hat s¢biricus zwei Paar Scheitelplatten auf dem Kopfrücken, pin‘ durch Verwachsung nur ein Paar, die Funda- trix-Junglarve von söbiricus hat median getrennte Spinalplatten, die von pint (orientalis) verwachsene. Welcher Unterschied, der zwischen den Virgo-Larven, oder der zwischen den Fundatrix- Larven, ist größer? Ich glaube, dies entzieht sich unserem Urteil. Auf solche Abmessungen hin dürfen wir wohl schwerlich eine be- währte Migrationstheorie umstoßen. Wir and auch, selbst wenn sich die Fundatrices nehirere er Arten einer Gattung ähnlicher wären als die entsprechenden Emigrantes, keineswegs der Meinung Börner’s, dass eine solche größere Übereinstimmung der Fundatrix gegen den Ursprung auf der Fichte als Urwirtspflanze ins Feld geführt werden darf. Gerade umgekehrt ist es wahrscheinlich, dass eine Ahnenform auf einer Urwirtspflanze, welche durch Migrationen einzelner Gene- rationen auf verschiedenen Zwischenwirten in verschiedene Varie- täten oder Arten sich spaltet, größere Divergenzen innerhalb der auf den diversen Zwischenwirten differenzierten Emigrans-Gene- XXVIII. 46 722 Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. II. ration zeigen muss, als sie bei der Fundatrix-Generation zum Vorschein kommen können. Der Anstoß zur Änderung wird durch Anpassung an den Zwischenwirt ausgelöst, er muss daher stärker’ auf die direkt auf den nahen icbenden Generationen ein- wirken, als auf die Fundatrix, die ältere und fester fixierte Generation, zu der er erst auf Umwegen gelangen kann. Was die Wirtsarten betrifft, so kann sowohl die Fundatrix (z. B. bei abietis) verschiedene Fichtenarten bewohnen, als auch z. B. die Emigrans und Exsulans von Pineus pini auf verschiedenen Kiefernarten zu gedeihen imstande ist. Wenn ich nach dem Vorhergehenden Börner’s Ableitung der Diözie von der Sexupara-Fliege aus ablehne und mich den Anschauungen der älteren Autoren anschließe, so möchte ich doch nicht unterlassen, besonders hervorzuheben, dass der Unterschied zwischen der virgoparen und der sexuparen Geflügelten in erster Linie in dem Fortpflanzungscharakter ihrer Nachkommen, ob gainogenetisch oder parthenogenetisch, gelegen ist, viel weniger in dem morphologischen Charakter des Trägers selbst. Bei Mindarus abietinus Koch ist die einzige Geflügelte des normal dreiteiligen Zyklus normal sexupar. Sie kann aber auch gelegentlich rein virgopar oder gemischt virgo- und sexupar sein!”), wie solches durch Zuchtversuche und durch Untersuchung auf Schnittserien festgestellt werden konnte. Wenn auch Börner!°) die Biologie von Mindarus für abge- leitet hält, so ıst doch, trotz der Zusammenziehung des Zyklus auf drei Generationen, eine potentia für Vermehrung der Generationen vorhanden, da gelegentlich nach der (Virgoparen) Geflügelten, Vir- gines auftreten können. Bei Mindarus abietinus ist die Äqui- potenz der Geflügelten im Bereich der Möglichkeit gelegen. Der Unterschied zwischen der Migrans alata und der Sexu- para kann später infolge der Anpassung der Sexupara an die Zwischenpflanze erheblich werden, scheint aber gelegentlich zu schwanken. So bei Tetraneura ulmi Deg., bei welcher die Migrans alata gelegentlich die Erscheinung der Sexupara zeigen kann: die Caerulescens Pass.- Form !?). Il. Die Nomenklatur der Generationen. Unter dem Einfluss seiner neuen Theorie von der Umkehrung der Wirtsrelation von Chermesinen und Pemphiginen hat Börner die alte Terminologie der Generationen in der Weise ge- ändert, dass er nur die Ausdrücke Fundatrix, Sexupara und 17) Nüßlin, Biol. Centralbl., 1908, S. 337 18) Monographie, S. 283, Anm. 2. 19) Mordwilko, Biol. Centralbl., 1907, S. 781. Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. II. 123 Sexuales beibehalten, die rein biologischen Termini Migrans alata, Emigrans und Exsulans in Cellaris und Virgo (bezw. Hie- malis und Aestivalis) umgeändert hat. Virgo im weiteren Sinne umfasst die Emigrans und die Exsulans. Wir sind es Börner, der die Chermesinen-Systematik und Biologie so erfolgreich reformiert hat, schuldig, alles von ihm sicher Begründete anzunehmen. Wo aber eine solche sichere Begründung von Börner noch nicht gegeben werden konnte, wo im Gegenteil die Wahrscheinlichkeit gegen die von Börner aufgestellte Migrations- hypothese zu sprechen scheint, da dürfen wir auch nicht die neuen Termini Börner’s annehmen, welche das Verständnis der an und für sich so verwickelten Fortpflanzungsweise der Chermesinen erschweren müssen, weil sie den Anschluss an das bisher Gelehrte fast unmög- lich machen. Wir haben daher die Anschauungen und Termini der älteren Autoren zu respektieren, so lange nicht deren Unrichtigkeit bewiesen ist. Wir stellen im nachfolgenden zunächst die Termini und die Ziffern der Reihenfolge dar, welche für den einfachsten penta- morphen diözischen Heterogoniezyklus der Aphiden, und ganz speziell der Chermesinen, historisch aufeinandergefolgt sind. Lichtenstein Blochmann Dreyfus Cholodkovsky Börner 1878 1889 1889 1895 1907 Generation I: Fundatrix Fundatrix Fundatrix Fundatrix IV: Fundatrix Generation IT: \ Migrantes Emigrantes Emigrantes < Emigrantes Migrans alata V: Cellaris | Migrant. alatae Generation III: | Virgines ee a ies ; Fundatrix spuria here Gemmantes Alienicolae a Sa nee I: Virgo, Exsul Generation IV: Pupiferae Remigrantes Sexuparae Sexupara II: Sexupara Generation V: Sexuales Sexuales Sexuales Sexuales III: Sexuales Mit anderen Worten: Börner lässt den Zyklus mit I auf der bisherigen Zwischenpflanze beginnen, kehrt deshalb die Generations- ziffern um; von der Generationstermini behält er nur die biologisch für seine Hypothese passenden: Sexupara, Sexuales, und, etwas inkonsequent, Fundatrix bei, diejenigen aber, welche seiner Migrations- theorie widersprechen, werden umgetauft: die Migrans alata in Cellaris, die Emigrans in Virgo. Wenn wir nun die Börner’sche Wirtsrelation nicht annehmen, müssten wir, streng genommen, nach dem Prioritätsgebrauch zu den 46% 124 Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. 11. Blochmann’schen Termini zurückkehren, da Lichtenstein’s „Pupiferae* unrichtig gewählt waren. Da jedoch Cholodkovsky’s Forschungen bis vor wenigen Jahren die Chermes-Literatur be- herrscht haben, und seine Darstellungsweisen in allerleı Lehr- bücher übergegangen sind, muss es sich empfehlen, seine Gene- rationstermini beizubehalten, um die Verwirrung nicht zu vergrößern, um so mehr, als sie unter der Annahme der alten Wirtsrelation durchaus bezeichnend sind. Da jedoch Börner’s neueste Arbeit die Grundlage aller zukünftigen Chermes-Forschung bilden muss, so wäre es wohl angezeigt, ım Interesse der leichteren Verständigung statt Migrans alata in Zukunft Migrans cellaris zu sagen. Das voll- ständige Fallenlassen eines Ausdrucks zugunsten der für die Chermes- Biologie so charakteristischen Wanderung zur Zwischenkonifere würde bedauerlich sein. Bezüglich der komplizierteref Chermesinenzyklen müssen wir Börner’s Ausdrücke (Migrans) Cellaris monoeca und (Migrans) Cellaris dioeca anerkennen, da Börner zuerst den sicheren Nachweis geliefert hat, dass. die mit der Migrans cellaris beginnende Spaltung in einen monözischen und einen diözischen Zyklus eine Parallelentwickelung, nicht aber, wie Cholodkovsky glaubte, eine Artenspaltung bedeutet. Es bleibt daher in der obigen Zusammenstellung nur noch der Ausdruck virgo Börner’s als ein neuer Name übrig. Zwar hatte ihn schon Dreyfus für die erste Generation auf der Zwischen- konifere verwendet mit der Nr. III, bei Börner bedeutet aber der Ausdruck virge die erste Generation des ganzen Zyklus, hat also einen Sinn, bei welchem die Börner’sche Wirtsrelation eine Rolle spielt. Er kann deshalb nicht zur Anwendung kommen, so lange die alte Wirtsrelation anerkannt wird, und muss auch vor dem bis- herigen Terminus Emigrans zurücktreten, welcher die Beziehung zur Zwischenpflanze zum Ausdruck bringt. Der von Cholodkovsky gebrauchte Terminus Exsul ist von Börner nicht angenommen worden. Exsul, Exul oder Exsulans sollte ein Ausdruck für die von der Emigrans geborenen, auf der Zwischenpflanze lebenden, und sich zum Teil in weiteren partheno- genetischen Folgen wiederholenden Generationen sein. Es kann nämlich bei allen Chermesinen, außer bei abietis, die Emigrans zweierlei Nachkommen erzeugen: 1.Sexuparen und 2. emigrans- artige Ungeflügelte, letztere meist in mehreren Generations- folgen. Diese letzteren Generationen wurden Exsules genannt. Da sie auf der Zwischenkonifere überwintern, und im folgenden Frühjahr und in der Folge sich weiter entwickeln können, da ferner, zum mindesten in geographischen Gebieten, die Sexuparen und Sexuales funktionsuntüchtig werden, bezw. die Folgegenerationen Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. II. 725 der Fundatrix und Migrans cellaris, und damit auch die echte von der Fichten-Cellaris geborene Emigrans-Generation ausfallen können, so kann sich auf der Zwischenkonifere ein ausschließlich parthenogenetischer Zyklus entwickeln, der zuerst neben dem pentagenetischen Zyklus, zuletzt ohne denselben, wie es scheint ins Unbegrenzte, sich fortzusetzen vermag. An die Stelle der Emigrans hat nun Börner den Terminus Hiemalis, an Stelle der Exsulans den Ausdruck Aestivalis gesetzt, aber die Börner’schen Ausdrücke decken sich dem Sinne nach nicht vollständig mit den bisher gebrauchten. Vor allem sind die Börner’schen Termini Hiemalis und Aestivalis morphologische Begriffe, Emigrans und Exsulans dagegen rein biologische, bezw. genetische, indem die Exsulans immer die Tochter einer Emigrans gewesen sein muss. Dagegen können im alten Sinne er and Exsulans morphologisch identisch, aber ebenso auch chen sein. Wo nun Emigrans und Exsulans morphologisch gleichartig sind, vermied Börner die Ausdrücke Hiemalis und Aestivalis und setzte dafür schlechtweg Virgo, oder er wählte Zusammen- setzungen wie Virgo-Hiemalis und Virgo-Aestivalis?), Aus- drücke, welche nicht ganz der ursprünglichen Bedeutung entsprechen, indem sie den genetischen und Saisencharakter, der in den Namen liegt, nicht aber den von Börner ursprünglich gemeinten rein morphologischen Sinn wiedergeben. Die Bezeichnung Exsulans sollte in Zukunft mit Rücksicht auf den von Börner zum ersten Male fixierten und eingeführten Terminus Aestivalis, auf diejenigen Fälle bes nk werden, in denen nachweislich die Emigrans fehlt, weil deren vor- hergehende Generationen fehlen, oder doch noch unbekannt ge- blieben sind, so bei Chermes piceae, Pineus strobi. Wenn wir in solchen Fällen auch annehmen dürfen, dass die Exsulans der einstigen Emigrans, aus der sie als Tochter- generation entstanden ist, ähnlich sein ini, so kann doch anderer- seits die Möglichkeit ich! bestritten werden, dass eine Generations- serie, die ant isoliertem geographischem Gebiete lange Zeiten hindurch in rein parthenogenetischer Weise fortgelebt hat, durch die An- passung an neue Verhältnisse Abaddenuunen sonlien hat. Die gegenteilige Voraussetzung würde nach unseren bisherigen Er- fahrungen geradezu un, ehnesiheimlich sein. Insofern halte ich es nicht fir enti, von einer Dreyfusia pieeae-Emigrans zu sprechen; wir kennen bis heute mit Sicherheit nur eine piceae-Exsulans, ebenso nur eine strobi-Exsulans. (Schluss folgt.) 20) Monographie, S. 184 u. 189. 126 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. Nachtrag zu: Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus und der Sklaverei bei den Ameisen ’). Von E. Wasmann S. J. (Luxemburg). 1. Zur Entwickelungsdauer der Arbeiterinnen von Formica exsecta. S. 300ff. wurde die Geschichte dieser natürlichen Adoptions- kolonie exsecta-fusca berichtet. Hier einige Ergänzungen dazu über Entwickelungsdauer der Arbeiterinnen und karnivore Ernährung der Larven. Mitte Februar 1908 waren Kierklumpen der exsecta-Königin ım Neste erschienen (s. oben S. 306). Von Mitte März ab waren Larven sichtbar, die sehr rasch wuchsen. Am 3. April wurden bereits die ersten Larven zur Verpuppung von den exsecta und fusca eingebettet. Die Zahl der Kokons nahm rasch zu. Schon am 8..Maı wurden die ersten frischentwickelten Arbeiterinnen aus den Kokons gezogen. Die Dauer des Puppenstandes betrug somit bei ihnen 35 Tage, die Gesamtdauer ihrer Entwickelung von der Eiablage an ungefähr 80 Tage. Im Frühjahr und Sommer 1908 wurden im ganzen 150—200 neue exsecta-Arbeiterinnen in diesem Beobachtungsneste aufgezogen. Einen Fall von Kannibalismus und karnivorer Ernährung der exsecta-Larven beobachtete ich in diesem Neste am 16. April 1908. Eine 3 mm lange Larve wurde von einer etwas größeren aufgezehrt, welche vor ihr lag und ihren Kopf in sie eingesenkt hatte. (Andere Fälle von karnivorer Ernährung bei Formica-Larven s. oben S. 267, Anm. 13.) 2. Aufzucht von fusca-Arbeiterinnen durch exsecta einer alten Kolonie. Dass junge exsecta-Kolonien, die erst kürzlich mit Hilfe von fusca gegründet wurden, nach dem Aussterben der ursprünglichen Hilfsameisen noch die Neigung beibehalten, die Arbeiterkokons von fusca zu erziehen, wurde bereits oben (S. 304—306 und 330) er- wähnt. Es war noch zu untersuchen, wie sich alte, mehr als sechsjährige exsecta-Kolonien verhalten, deren Arbeiterinnen nicht mehr von fusca erzogen worden sind und keine individuelle Erinne- rung an das Zusammenleben mit fwsca haben können. Am 24. Juni 1908 wurden gegen 50 Arbeiterinnen aus einer alten exsecta-Kolonie bei Luxemburg, die schon im Jahre 1904 eine starke, ungemischte, wenigstens 4—5jährige Kolonie gewesen war, entnommen. Ich ließ sie am 25. in ein neueingerichtetes Lubbock- nest einwandern und setzte dasselbe durch eine Glasröhre ın Ver- 1) S. Biol. Centralbl. 1908, Nr. 8—13. Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. oT bindung mit einem Anhangglase, welches ca. 200 Arbeiterkokons von fusca enthielt, die am 24. aus drei verschiedenen Nestern ge- holt worden waren; auch vier alte fwsca-Arbeiterinnen aus einer dieser Kolonien waren dabei. (Ich bezeichnete dieses neue Be- obachtungsnest als exsecta-fusca Il, während das Beobachtungsnest der obenerwähnten jungen Adoptionskolonie [1908, S. 301— 306] als exsecta-fusca | bezeichnet wurde.) Am 26. Juni waren die meisten fusca-Kokons von den exsecta -bereits in das Lubbocknest herübergebracht, sorgfältig gereinigt und aufgeschichtet, während die vier alten fusca getötet wurden. Am 29. und 30. waren sämtliche Kokons herübergetragen und adoptiert; einige wenige wurden geöffnet und die Puppen gefressen. Erst am 11. Juli war eine ganz frischentwickelte, noch grauliche fusca-Ar- beiterin unter den exsecta zu sehen; sie wurde ruhig geduldet. Von da an nahm die Zahl der fusca, die von den exsecta aus den Kokons gezogen und adoptiert wurden, rasch zu. Am 13. Juli waren 12 fusca zu sehen, drei oder vier schon fast ausgefärbt; letztere beteiligten sich auch bereits mit den exsecia am Transport und der Pflege der fusca-Kokons; am 14. Juli waren 20 fusca vorhanden, am 18. schon 50. Es waren auch jetzt noch hauptsächlich die exsecta, welche die jungen fusca aus den Kokons zogen; keine einzige derselben wurde misshandelt oder getötet, alle aufgenommen. Am 18. Juli gab ich in das Anhangglas dieses Beobachtungs- nestes eine größere Anzahl (einige 100) Arbeiterkokons von F. rufa und rufibarbis. Am 19. waren sie noch nicht abgeholt, und auch noch am 21. lagen die meisten im Anhangglase; unter den in das Hauptnest hinübergetragenen waren mehrere rufa-Kokons, die durch ihre Größe leicht kenntlich waren, geöffnet, die Puppen herausge- zogen und gefressen. Am 23. Juli waren gegen 80 fusca-Arbeiterinnen unter den exsecta des Nestes zu sehen, aber keine rufa oder rufi- barbis. Die exsecta-fusca hatten schließlich auch die meisten rufa- und rufibarbis-Kokons adoptiert, aber viele r«fa-Puppen lagen als zerstückelte Leichen im Neste umher (die rufibarbis-Puppen ließen sich von den fwsca-Puppen nicht unterscheiden). An diesem Tage gab ich abermals 60— 80 Arbeiterkokons von fusca in das Anhang- glas. Am 24. Juli betrug die Zahl der fasca-Arbeiterinnen im Neste bereits ungefähr 100; auch ein fwsca-Mannchen war unter ihnen zu sehen, alle von den exsecta wie ihresgleichen behandelt. Am 27. wurden zwei frischentwickelte rufa von den exsecta umhergezerrt und schließlich getötet. Am 28. sah ich zwei fusca damit beschäftigt, eine von den drei jetzt vorhandenen jungen rufa zu zerreißen; am 29. war keine lebende rufa mehr zu sehen. Eine Anzahl rufa- Leichen lag bereits unter den Nestabfällen im Anhangglase. Auch am 3. August waren wieder mehrere junge rufa-Arbeiterinnen aus den Kokons gezogen worden; auch sie wurden, nachdem sie einige 128 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus etc. Stunden umhergelaufen waren, von den exsecta und fusca miss- handelt und getötet. Rufibarbis war überhaupt keine erzogen worden. Am 17. September fand ich bei der Rückkehr von einer längeren Reise folgenden Stand des Beobachtungsnestes exsecta-fusca Il vor: 10 alte exsecta-Arbeiterinnen (die übrigen waren unterdessen ge- storben) und gegen 200 fusca-Arbeiterinnen, aber keine einzige rufa oder rufibarbis. Dieser Versuch bestätigt, dass Formica exsecta auch in ihren alten Kolonien die Neigung beibehält, /usca als Hilfs- ameisen zu erziehen. Sie verhält sich also hierin analog der F. truncicola (oben 1908, S. 326). Da rufa und pratensis aus alten Kolonien diese Neigung nicht besitzen (oben 5. 330ff.), scheint mir hieraus zu folgen, dass exsecta, ähnlich wie truncicola, ıhre neuen Kolonien regelmäßig, nicht bloß ausnahmsweise, mit Hilfe von fusca gründet. Dass auch die Kleinheit der exsecta-Königinnen hierauf hinweist, wurde bereits früher (S. 298) bemerkt. Mit dem Beobachtungsneste exsecta-fusca I (natürliche Adoptions- kolonie) wurden die Versuche vom letzten Jahre (oben S. 306) in diesem Sommer fortgesetzt. Am 10. August 1908 gab ich diesen exsecta-fusca einige Hundert pratensis-Arbeiterkokons in das Abfall- nest. Die exsecta und fusca schleppten die Kokons eifrig in ihr Nest; aber keine einzige pratensis wurde aufgezogen, sondern die von der Puppenhülle befreiten jungen Ameisen sofort getötet. Die Neigung zur Aufzucht fremder Puppen blieb also auch hier auf die ehemalige Hilfsameisenart (fusce) beschränkt. 3. Aenigmatias ein Parasit der Ameisenpuppen? In dem obenerwähnten Beobachtungsneste exsecta-fusca II er- schien auch die interessante flügellose Phoride Aenigmatias blattoides Mein., und zwar, wie es scheint, aus den Kokons von Formica fusca ausgeschlüpft. Aenigmatias blattoides wurde von Meinert 1890 beschrieben und abgebildet?). Sein erstes Exemplar stammte aus einem kleinen Neste von „Formica fusca“ bei Kopenhagen. Bei Luxemburg fand ich Aenigmatias wiederholt in verschiedenen Jahren, stets im Juli und zwar bei verschiedenen Ameisen. Die Funde sollen hier kurz er- wähnt werden. 2) Die einzige, noch vorhandene Type dieser Art (ein zweites Exemplar ging verloren), welche mir Meinert in dem Universitätsmuseum von Kopenhagen im Sommer 1908 freundlichst zeigte, ist stark eingetrocknet und ließ keine zuverlässigen Unterschiede von meinen Exemplaren erkennen. Wir sind daher auf die Beschrei- bung und Abbildung Meinert’s zur Kenntnis der Art angewiesen. Auf einige Ab- weichungen meiner Exemplare von Meinert’s Beschreibung wurde ich durch Dr. Enderlein aufmerksam gemacht, welcher sich zur näheren Untersuchung meines Materials anbot. Einstweilen bezeichne ich oben auch meine Aenigmatias als blattoides Mein. Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 729 Am 17. Juli 1902 ließ ich in meinem Zimmer aus einem Lubbock- nest mit Formica rufibarbis, denen ich einige Zeit vorher Arbeiter- kokons von Lasius niger gegeben hatte, die Ameisen in ein anderes Lubbocknest umziehen. Plötzlich sah ich auf der Außenseite der Glasröhre, welche beide Nester verband, eine Aenigmatias hurtig umherlaufen. Sie war neben der Ausgangsstelle des alten Nestes, wo eine kleine Lücke war, herausgeschlüpft und suchte nun ver- geblich einen Eingang in das neue Nest. Ob die kleine Fliege in diesem Falle ursprünglich zu F. rufibarbis gehörte oder ob sie mit den Kokons von Lasius niger in das Beobachtungsnest gelangt war, blieb zweifelhaft. Das zweite Exemplar von Aenigmatias fing ich im Garten unseres Hauses am 19. Juli 1904 unter einem Steine, der ein zusammen- gesetztes Nest von F. rufibarbis mit Lasius niger bedeckte. Auch in diesem Falle ließ sich nicht feststellen, zu welcher der beiden Ameisenarten der Gast gehörte. Das dritte Exemplar fand ich am 31. Juli 1905 unter einem Steine in unserem Garten, der ein reines rufibarbis-Nest bedeckte. Die Fliege lief mitten unter den Ameisen sehr rasch umher wie ein kleiner Silphide (Nemadırs), dem sie auch in Form und Färbung gleicht. Diesmal war über ihre Zugehörigkeit zu F. rufibarbis kein Zweifel. Am 10. Juli 1908 sah ich mit meinem Kollegen K. Frank S.J. zwei Exemplare von Aenigmatias in dem obenerwähnten Lubbock- neste exsecta-fusca Il umherlaufen; sie waren beide frischentwickelt, noch nicht ganz ausgefärbt und erhärtet. Bei Begegnung mit den Ameisen — es waren damals nur exsecta ım Neste — wurden sie nicht angegriffen, sondern höchstens mit den Fühlerspitzen berührt. Sie suchten übrigens meist durch blitzschnelle Wendungen einer direkten Begegnung mit den Ameisen auszuweichen. Auch suchten sie aus dem Neste zu entkommen, indem sie zwischen Holzrahmen und Glasplatte des Nestes sich eindrängten. Eines wurde in dieser Stellung von mir abgefangen, das andere ließ ich zwei Tage zur Beobachtung im Neste. Das Lubbocknest war schon seit 16 Tagen eingerichtet und wurde täglich beobachtet. Die beiden Aenigmatias hatten sich also sicher erst am 9. oder 10. Juli daselbst entwickelt, zumal sie noch etwas heller grau und weicher waren als die früher gefangenen Exemplare. Mit der aus einem Gartenbeete entnommenen Erde, die zur Einrichtung des Nestes gedient hatte, konnten die Puppen nicht ins Nest gelangt sein, zumal dieselbe vorher genau untersucht worden war. Es bleibt nur die Annahme übrig, dass sie mit den Arbeiterkokons von Formica fusca, die ich am 24. Juni aus Nestern auf Schötter-Marial geholt, in das Anhangglas des Nestes gekommen waren. Sie müssen sich daher höchstwahrschein- lich aus den fusca-Puppen entwickelt haben, welche von den exsecta adoptiert worden waren. 730 Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. Dass man Aenigmatias bisher nicht öfter ın den Ameisennestern von I. rufibarbis, F. fusca (und Lasius niger?) gefunden hat, dürfte sich vielleicht aus dem Umstande erklären, dass diese kleinen Dip- teren nach ihrer Entwickelung die Nester verlassen und nur zur Eiablage dieselben aufsuchen. Ob Platyphora Lubbocki Ver., wie Dahl glaubt, das Männchen von Aenigmatias blattoides ist, scheint mir noch zweifelhaft. Durch Zuchtversuche mit Arbeiterkokons der betreffenden Ameisenarten im Juli dürfte es wohl noch gelingen, diese Frage zu lösen. 4. Versuche über die selbständige Koloniegründung von Formica rufa. Ebenso negativ wie die bisherigen Versuche (oben S. 354) ver- lief auch der folgende. Am 2. Mai 1908 fing ich eine entflügelte rufa-Königin, die nahe bei einer trecicola-Kolome umherlief. Da bei rufa (wegen des größeren Umfangs und der höheren Temperatur ihrer Nester) die geflügelten Geschlechter am frühesten unter allen Formica sich entwickeln — ich habe ihren Paarungsflug oft schon Ende April und Anfang Mai beobachtet — stammte dieses Weibchen wahrscheinlich von einem diesjährigen Paarungsfluge. Es wurde in ein Beobachtungsglas mit feuchter Erde gesetzt und grub sich da- selbst eine Höhle. starb aber schon am 15. Mai, ohne Kier gelegt zu haben. 5. Eine neue natürliche Adoptionskolonie exsecta-fusca. Über die bisher bekannten temporär gemischten Kolonien von F. exsecta mit fusca wurde oben (1908, S. 298ff.) berichtet. Die Angaben über die folgende Kolonie, welche gleich der von mir 1906 bei Luxemburg entdeckten im Stadium 3 sich befand, aber etwas minder volkreich war als diese, verdanke ich meinem Kollegen P. J. Assmuth S. J. Derselbe fand am 17. Mai 1908 ein easecta-fusca-Nest an einem Waldwege nahe beim Werbellin-See (bei Eberswalde, Brandenburg). In dem Erdneste, das unter Grasbüscheln lag, fanden sich ungefähr 200 exsecta-Arbeiterinnen und 100 fwsca-Arbeiterinnen. Eierklumpen waren im Neste, aber keine Larven und Puppen. Eine Königin wurde nicht gefunden, da zum vollständigen Aufgraben des Nestes die Zeit fehlte. Eine Anzahl Arbeiterinnen beider Arten wurde mitgenommen und in einem Beobachtungsneste gehalten. Larven und Puppen von Tetramorium, die am 31. Mai ihnen gegeben worden waren, wurden eingetragen, aber bald gefressen. Kokons von Arbeiterinnen und Männchen von £" fusca und 8—12 Larven von Atemeles emarginatus wurden der Beobachtungskolonie am 21. Juni gegeben und von ihr sofort adoptiert. Die Atemeles-Larven wurden von den exsecta fleißig Wasmann, Weitere Beiträge zum sozialen Parasitismus ete. 13 umhergetragen und gepflegt; zwei derselben waren am 5. Juli zur Ver- puppung eingebettet; zur Entwickelung kamen sie nicht, da die Puppenhügel von den Ameisen geöffnet und die Puppen gefressen wurden. Am 16. Juli wurden die ersten fusca-Arbeiterinnen aus den adoptierten Kokons gezogen, am 21. Juli die ersten fusca- Männchen. Auch letztere sind von den exsecta dauernd aufge- nommen worden; noch am 17. August waren 6 Männchen im Neste zn sehen. Puppen von Lasius niger (Arbeiterinnen und Geschlechtstiere) wurden am 5. Juli dem Beobachtungsneste gegeben. Sie wurden jedoch bald aus den Kokons gezogen und gefressen. Da in diesem Versuchsneste neben den exsecta auch fusca als Hilfsameisen vorhanden waren, kann die Aufzucht der Arbeiterinnen und Männchen von fusca weniger befremden. 6. Wheeler’s neue Beobachtungen und Versuche. Während des Druckes dieses Nachtrages erschien eine neue Arbeit Wheeler’s „The Ants of Casco Bay, Maine, with Obser- vations on two Races of Formica sanguinea“ (Bull. Am. Mus. Nat. Hist. XXIV, p. 619—645, 25. Sept. 1908). Deshalb kann ich hier nur kurz über dieselbe referieren. F. sanguinea subintegra Em. hält viel mehr Sklaven als san- guinea rubicunda Em., während sanguinea aserva For. viel weniger Sklaven hält. In ihrer Koloniegründung durch Puppenraub gleichen die Königinnen von subintegra und aserva nach Wheeler’s Ver- suchen jenen von rubicunda. Wheeler erwähnt ferner eine neue gemischte Kolonie von F. exsecta pressilabris mit fusca, die er Juli 1907 im Kanton Tessin (Schweiz) fand. Er vermutet, dass auch exsecta suecica Ad\. die noch kleinere Weibchen hat als exsecta, ıhre Kolonien durch Adoption bei fusca gründe. Bezüglich des Verhältnisses zwischen sozialem Parasitismus und Sklaverei hält auch Wheeler es jetzt für möglich, dass ein rufa- ähnliches indifferentes Stadium den gemeinsamen Ausgangspunkt gebildet haben könne für die Entwickelung beider. Er wendet diesen Gedanken an auf die stufenweise Entwickelung der Sklaverei bei sanguinea aserva, rubicunda und subintegra. Andererseits betont er die Schwierigkeiten, die einer Entstehung des Puppenraubes aus ehemaligem Parasitismus entgegenstehen. Ich glaube, dass dieselben sich lösen lassen, wenn man ein noch indifferentes Stadium des fakultativen sozialen Parasitismus als Ausgangspunkt nimmt, zumal die Neigung zum Puppenraub auch hier schon fakultativ vorhanden ist (nach meinen Versuchen mit rxfa-Königinnen). Wir sind übrigens, wie auch W heeler hervorhebt, erst am Beginn des phylogenetischen Verständnisses dieser Erscheinungen. -739 Loeb, Uber Heliotropismus und die periodischen Tiefenbewegungen etc. Über Heliotropismus und die periodischen Tiefenbewegungen pelagischer Tiere. Von Jacques Loeb. (From the Physiological Laboratory of the University of California, Berkeley, Cal.) 1. Durch eine Reihe von Arbeiten, von denen die erste in Ge- meinschaft mit Groom veröffentlicht wurde), glaube ich den Nach- weis erbracht zu haben, dass der Heliotropismus der Tiere ein wesentlicher, vielleicht der wesentlichste Faktor ist, der die verti- kalen Tiefenbewegungen der freischwimmenden Organismen der Oberfliche der Seen und des Meeres bestimmt. Diese Versuche waren meist mit Organismen angestellt, die mit dem Planktonnetz gefangen waren und für die es gelang, im Laboratorium den Nach- weis zu führen, dass vertikal von oben einfallendes Licht sie zwingt, sich an der Oberfläche des Gefäßes zu sammeln, resp. vertikal nach abwärts zu wandern. Die zur Untersuchung dienenden Formen waren Kopepoden des Süßwassers und des Ozeans, Larven von Polygordius, Daphnien, pflanzliche Organismen, wie Volvox und andere typische Planktonformen’?). Die periodische tägliche Tiefenwanderung dieser Tiere besteht wesentlich darin, dass sie gegen Abend zur Oberfläche wandern und am Morgen ihre Abwärtswanderung beginnen; sie gelangen jedoch bei der Abwärtswanderung nie unter die Region, in welche das Licht mit einer für die heliotropische Empfindlichkeit der Orga- nismen ausreichenden Intensität dringt. Diese periodischen Tiefen- bewegungen der pelagischen Organismen führten wir darauf zurück, dass äußere Umstände einen periodischen Wechsel 1m Sinne des Heliotropismus derselben bestimmt; sie werden am Morgen negativ heliotropisch und wandern abwärts, während sie gegen Abend positiv heliotropisch werden und vertikal aufwärts wandern. Der Zusammenhang zwischen dem Wechsel 1m Sinne des Helio- tropismus und der Richtung der Vertikalbewegung dieser Organismen konnte nun durch folgende Versuche klar gemacht werden. Es gelingt, eine Reihe von marinen pelagischen Organismen, z. B. marine Kopepoden, Larven von Polygordius, sowie gewisse Süßwasserkrebse, z. B. Daphnia, dadurch positiv helietropisch zu machen, dass die Temperatur des Wassers erniedrigt wird. Eine Erhöhung der Temperatur beseitigt den positiven Heliotropismus, oder macht die Organismen negativ heliotropisch. Dieser Einfluss der Temperatur auf den Heliotropismus ist viel deutlicher bei den erwähnten marinen Formen als bei Daphnia. Die Bedeutung dieser Tatsache für die periodischen Tiefenbewegungen der Tiere lässt 1) Groom und Loeb, Biol. Centralbl., Bd. 10, S. 160, 1891. 2) Loeb, Pflüger’s Arch., Bd. 54, S. 81, 1893; Bd. 115, S. 564, 1906; Vor- lesungen über die Dynamik der Lebenserscheinungen, S. 199, Leipzig 1906. Loeb, Uber Heliotropismus und die periodischen Tiefenbewegungen ete. 733 sich in wenigen Worten darlegen. Da die Temperatur des Wassers am Tage von ‘der Oberfläche gegen die Tiere stetig abnimmt, so müssen diese Tiere bei ihrer Abwärtswanderung bald in eine Tem- peratur geraten, in der sie positiv heliotropisch werden. . Der posi- tive Heliotropismus hindert ihr weiteres Hinabsteigen und zwingt sie aufwärts zu wandern. Wenn gegen Abend die Temperatur des Wassers abnimmt, so müssen sie infolge ihres positiven Helio- tropismus in immer höhere Regionen und endlich an die Oberfläche selbst gelangen. An der Oberfläche werden sie infolge ihres positiven Helio- tropismus festgehalten. Sobald aber am Morgen die Temperatur an der Oberfläche wieder steigt, verschwindet der positive Helio- tropismus, und es ist kein weiterer Grund für das aktive Aufwärts- schwimmen der Tiere vorhanden und sie sinken oder schwimmen abwärts. Sie können aber nicht unter eine gewisse Tiefe sinken, da sie alsbald wieder in eine Schicht geraten, mn der die Temperatur niedrig genug ist, um sie wieder positiv heliotropisch zu machen. Es gibt ein zweites Mittel, um diese Tiere positiv heliotropisch zu machen, nämlich der Zusatz von Säure insbesondere Kohlen- säure. Dieses Mittel bewährt sich vorzüglich bei Süßwasserorganısmen. Die verschiedensten Formen, z. B. Kopepoden oder Algen wie Volvo, welche gegen diffuses Tageslicht indifferent oder schwer negativ heliotropisch sind, können durch Zusatz von etwas Säure zum Wasser sofort energisch positiv heliotropisch gemacht werden. Auch diese Tatsache spielt, wie ich glaube, eine entscheidende Rolle bei den periodischen Tiefenbewegungen der pelagischen Tiere. Am Morgen muss nämlich eine Abnahme der Kohlensäurespannung in Seen statt- finden, da ja unter dem Einfluss des Lichtes die Algen die Kohlen- säure ın Stärke umwandeln. Diese Abnahme der Kohlensäure be- dingt eine Abnahme des positiven Heliotropismus. Die Tiere werden, da sie keine aktiven Schwimmbewegungen mehr nach oben aus- führen, abwärts sinken oder schwimmen. Während am Morgen eine immer stärker werdende Kohlensäureassimilation stattfindet, tritt am Nachmittag gerade das Gegenteil ein. Der Kohlensäure- gehalt des Wassers nimmt stetig zu und wird allmählich wieder einen Wert erreichen, bei dem die Tiere anfangen, positiv heliotropisch zu werden. Der positive Heliotropismus wird sie zwingen, vertikal nach oben zu wandern. Bei Daphnien lässt sich sehr schön zeigen, wie Temperaturabnahme und Zunahme der Kohlensäurespannung zusammenwirken, um die Organismen positiv heliotropisch zu machen. Wenn nämlich die Temperaturabnahme allein oder die Zunahme der Kohlensäurespannung allein nicht ausreicht, diese Tiere positiv heliotropisch zu machen, so gelingt das sehr schön durch eine Kom- bination beider Mittel. Noch ein dritter Umstand beeinflusst den Sinn des Heliotropismus, 734 Loeb, Über Heliotropismus und die periodischen Tiefenbewegungen ete. nämlich das Licht selbst. Sehr intensives Licht hat die Tendenz, gewisse Tiere negativ heliotropisch zu machen. Am schönsten lässt sich das für die ultravioletten Strahlen nachweisen. Es gelingt mit denselben leicht, die Larven von Balanus negativ heliotropisch zu machen). Auch die violetten Strahlen wirken in demselben Sinne, nur schwächer. Es ıst kaum nötig, des Näheren auszuführen, dass auch dieser Umstand dahın wirken muss, die pelagischen Organismen zu veranlassen, am Tage abwärts, am Abend aufwärts zu wandern. Außer diesen und anderen Umständen, welche auf den Sinn des Heliotropismus einen‘ Einfluss haben, kommen noch andere Bedingungen für die täglichen Tiefenwanderungen in Betracht, nämlich der Geotropismus der Organismen und die innere Reibung des Wassers. Auf die Bedeutung der letzteren hat Wolfgang Ostwald zuerst hingewiesen und gezeigt, dass dieselbe mit der Temperatur abnimmt. Deshalb werden pelagische Tiere, deren spezifisches Gewicht größer ıst als das von Wasser, aın Tage leichter sinken als in der Nacht‘). 2. In einer neueren Arbeit von V. Bauer wird die Berech- tigung der Zurückführung der periodischen Tiefenbewegungen pe- lagischer Organısmen auf den Heliotropismus bestritten’). Sonder- barerweise hat aber Bauer nicht mit Planktonorganismen gearbeitet, sondern mit Mysis. Er glaubt bei dieser Form gefunden zu haben, dass dieselbe nur horizontalem Licht gegenüber heliotropisch ist, dass sie aber gegen vertikal emfallendes Licht sich ganz anders verhält. So sollen nach ihm positiv heliotropische Mysiden, wenn die Lichtstrahlen horizontal in das Aquarium fallen, zur Lichtquelle sich bewegen, wenn aber die Lichtstrahlen von oben in das Aquarium fallen, sollen diese Tiere ım Gegenteil von der Lichtquelle fortgehen, d. h. nach unten sich bewegen» Er hält es für selbstverständlich, dass die Planktonformen sich ebenso verhalten und in sarkastischer Weise tadelt er mich, dass ıch den Einfluss vertikal einfallenden Lichtes nie geprüft habe. Ich bedauere, dass Bauer meine Arbeiten nicht gelesen hat, und dass er es außerdem unterlassen hat, ein paar Versuche mit richtigen Planktonformen (d. h. mit dem Planktonnetz gefangenen Organismen) anzustellen. Beides hätte er in Neapel leicht ausführen können. Hätte er das getan, so hätte er sich davon überzeugen können, dass seine Behauptungen über meine Versuche und über das Verhalten der pelagischen Planktonformen gegen vertikal ein- fallendes Licht unrichtig sind. | In der von Groom und mir vor 18 Jahren veröffentlichten Arbeit findet sich folgender Passus: „Wir wollen kurz auf die 3) Loeb, Pflüger’s Arch., Bd. 115, S. 576, 1906. 4) Wolfg. Ostwald, Pfltiger’s Arch., Bd. 95, S. 23, 1903. 5) V. Bauer, Zeitschr. f. allgem. Physiol., Bd. 8, S. 343, 1908. Loeb, Uber Heliotropismus und die periodischen Tiefenbewegungen etc. 755 Tiefenwanderungen der pelagischen Tiere zurückkommen. Die Er- scheinung der periodischen täglichen Tiefenwanderung der Nauplien sing im Glase Wasser vor unseren Augen ebenso vor sich, wie sie auf hoher See beobachtet ist. Die Nauplien gingen am Tage auf den Boden des Becherglases und konnten abends und in der Nacht durch schwaches Licht wieder an die Oberfläche gelockt werden °).“ In der 1893 veröffentlichten Arbeit teilte ich Versuche an ma- rınen Kopepoden mit, die mit dem Planktonnetz gefangen waren und für welche ich besonders den Nachweis führte, dass sie durch das Licht nach oben geführt werden. Die Versuche wurden näm- lich in einer vertikalen Eudiometerröhre angestellt und es wurde gezeigt, dass in einer solchen vertikal stehenden Röhre die positiv heliotropischen Tiere bis zur Oberfläche aufsteigen, wenn sie dem von oben einfallenden Himmelslicht ausgesetzt werden. Dass es sich um einen Einfluss des Lichtes und nicht der Schwerkraft handelt, wurde dadurch nachgewiesen, dass, wenn man den oberen Teil der Eudiometerröhre mit einer dunkeln Kappe bedeckte, die Tiere nur bis zum höchsten Punkt des dem Licht ausgesetzten Teiles der Röhre emporsteigen und sich hier sammelten’). Ich möchte ferner darauf hinweisen, dass ich wohl an Tausen- den von positiv heliotropischen Formen experimentiert und stets gefunden habe, dass sie auch vertikal einfallendem Licht gegenüber positiv heliotropisch sind. Ich wollte jedoch nichts ın dieser Frage dem Zufall überlassen und so verschaffte ich mir nach dem Erscheinen der Arbeit von Bauer Süßwasserplankton, das jederzeit in ausgezeichnetem Zu- stand hier zu haben ist. Im Dunkelzimmer wurde ein Aquarium aufgestellt, in welches durch eine Glühlampe Licht von oben her geworfen wurde. Wie in meinen früheren Versuchen bewegten sich die positiv heliotropischen Daphnien und Kopepoden an die Ober- fläche des Aquariums und blieben hier gesammelt. Man sah, dass beständig einzelne Individuen langsam und passiv herabzusinken begannen, dass sie aber alsbald wieder anfingen, aufwärts zu schwimmen. Die Längsachse der Tiere war nahezu vertikal und der Kopf war nach oben gerichtet. Wenn man Daphnien wählt, welche schon natürlicherweise positiv heliotropisch sind oder welche man durch Zusatz von einer minimalen Menge von Kohlensäure positiv heliotropisch macht, so kann man folgendes feststellen. So lange die Tiere so stark positiv heliotropisch sind, dass sie sich auch gegen eine Lichtquelle bewegen, deren Licht horizontal ın das Aquarium fällt, so lange schwimmen sie auch an die Oberfläche des Aquariums, wenn man dasselbe von oben erleuchtet. Die Tiere 6) Grom und Loeb, Biol. Centralbl., Bd. 10, S. 172, 1891. 7) Loeb, Pflüger’s Arch., Bd. 54, S. 106, 1893. 136 Child, A. Correctinn. hören erst dann auf, unter dem Einfluss von vertikal einfallenden Strahlen nach oben zu wandern, wenn sie auch aufhören, gegen eine Lichtquelle hin zu schwimmen, welche ıhr Licht horizontal ın das Aquarium schickt. | Wie es kam, dass die Mysiden in den Versuchen von Bauer sich nicht gegen eine vertikal über dem Aquarium angebrachte Lichtquelle bewegten, vermag ich nicht anzugeben. Ich vermute, dass die Mysiden, an denen dieser Autor arbeitete, nur einen ge- ringen Grad heliotropischer Empfindlichkeit besaßen, und deshalb überhaupt nicht zu Schlüssen über das Wesen der heliotropischen Reaktionen und ıhrer Beziehung zu den Tiefenbewegungen zu ge- brauchen waren. Es könnte aber bei den Mysiden noch ein anderer Umstand in Betracht kommen, nämlich dass es den Tieren schwer ist, längere Zeit vertikal aufwärts zu schwimmen, oder ihren Körper vertikal ım Wasser zu halten. A. Correction. ©. M. Child. In the first part of the paper entitled „Driesch’s Harmonic-equipotential Systems in Form Regulation“ (Biol. Centralbl., Bd. XX VIII, Nr. 18, Sept. 15, 1908) certain accidental transpositions appear, involving parts of the text and a foot- noote. Unfortunately the writer failed to receive the proof-sheets of this paper in time to correct these errors before the paper appeared, and since they destroy the continuity of certain paragraphs and the sense of certain statements, he desires to note the following corrections to be made: From the word „he“ in the first line of page 585 go to the word „says“ in the fifth line of the matter printed as footnote on-p. 585. The sentence should read: „In Driesch’s recent criticism of my work (Driesch, 1908, I, p. 413), he says: ‚Wo also in aller Welt habe ich von mathematisch-strikter Proportionalität geredet‘“ etc. All that follows in the footnote on pages 555 and 586 as printed, belongs to the text, not to the footnote, and should follow the sentence quoted above. From the end of the footnote as printed, i. e., from the last word of the footnote on p. 586, continue on the sixth line of p. 586 with the words: „Driesch (1899b, pp. 120—121) has attempted* ete. T he footnote requires further correction, as follows: Beginning with the words, , Repeated incorrect statements* in the fourth and fifth lines of the foot- note on p. 585, continue on the first line of the text on page. 585 with the words „such as this“. All that follows from this point to the word „entelechie* in the Sifth line of page. 586 should appear in the footnote, not in the text. Hull Zoological Laboratory. University of Chicago, Octobre, 1908. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der kgl. bayer. Hof- u. Univ.-Buchdr. yon Junge & Sohn in Erlangen. I BER =a EDS Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Kohlehydraf und Nährwerf von SDelsen Zur Berechnung der Kost von Stoffwechseikrankheiten von Priy.-Dozent Dr. HM. Schwenkenbeecher. Aufgezogen auf Karton. Plakatformat. M. —.60. Über den ann Sand unserer r Kenntnis der geographischen Zoologie von P. L. Selater. Autorisierte deutsche Ausgabe von A. B. Meyer. M. 2.80. Die Krisfalltheorie der Sdugetiere. Neue Anschauungen aus dem Gebiete der Biologie von Dr. K. Sehrwald. M. 1.20. Die Lehre kombrosos und ihre anatomisehen Grundlagen im Lichte moderner Forschung von Dr. D. Sernoff. Deutsch von R. Weinberg. M. 1.—. Masern, Keuchhusten, Scharlach, Diphtherie, Bild und Behandlung. Merkworte für Studierende und Praktiker von y Dr. ©. Soltmann. M. —-.75, DB” Dieser Nummer liegt ein Prospekt der Verlagsbuchhandlung Julius Springer in Berlin, betr.: EF. Röhmann, Biochemie. Ein Lehrbuch für Mediziner, -Zoologen und Botaniker, bei. K. B. Hof- und Univ.-Buchäruckerei von Junge & Sohn in Erlangen.. Mi ie et “7 5 le 1 © >77 Emigrans \ Sexvpara ca en, 2 | lafenzlarve \ | on = Jar NE \ e \ für Chermes abietis L. \ | ) Sexua/as y \_Emigrans J und Cnaphalodes stro- tA . 2 ea bilobius Kalt. gegeben. Fundafrıx : Streng genommen han- latenzlarve 5 : delt es sich nicht um q 24 : Schema pb). einen Fortpflanzungs- Fig. 2. zyklus, sondern um Sexvupara ein Stehenbleiben (La- Sexuales tentbleiben, Be- harren) der aus dem Ei entkommenen Jung- Fichte | . larve bis zum nächsten Cellarıs monoeca G Emigrans Frühjahre. Dieser sogen. „Zy- klus“ ¢ rettet und kon- serviert den Bestand der Emigrans auf der Zwischenkonifere Migrans cellaris dıioeca und liefert den Keim für die Entwickelung der rein parthenogenetischen Exsulans-Serien (C! und C?) auf der Zwischenkonifere. Dass bei den Chermesinen solche Latenzlarven auftreten, Fundatrix 24) Wir haben das von Börner eingeführte Schema dadurch abgeändert, dass wir statt des Kreises eine Ellipse wählten und diese unsymmetrisch teilten, um da- mit wiederzugeben, dass der Fichte ein größerer Anteil an der Generationenerzeugung zukommt, ferner setzten wir das Symbol für die beiden Wandergenerationen auf die Trennungslinie selbst, weil diese Generationen auf beiden Wirten vorkommen. 25) Zur Biologie der Gattung Chermes. Verhandl. d. naturw. Ver. zu Karls- ruhe. XVI. Bd., 1903. SS ee Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. II. 7141 und nicht Dauereier, dass auch im Gegensatz zu allen Aphiden das befruchtete Ei nicht als Latenzei in den Winter geht, sondern als Fundatrix-Latenzlarve, ist einer der typischen Charaktere für die ganze Familie der Phylloxeriden gegenüber der Familie der Aphiden. Ob bei Chermesinen Eier überhaupt erfolgreich über- wintern können, ist zwar von Cholodkovsky°°) für seine Chermes (Dreyfusia) pectinatae angenommen worden, muss jedoch als eine Ausnahme betrachtet werden, die noch der Nachuntersuchung bedarf. Diese Winterlarven sind nun bei der Laubholzgruppe, bei den Phylloxerinae, durchweg weichhäutig, bei den Chermesinen nur noch bei den Emigrans-(Exsulans-)Larven der Gattung Pineus. In allen übrigen Fällen: bei den Fundatrix-Winterlarven aller Chermesinen und bei den Emigrans-(Exsulans-)Winterlarven der Gattungen Chermes, Dreyfusia und Cnaphalodes hat eine kräftige Ausbildung des Chitins, meist auch eine Ausscheidung von Wachs- wolle, für die Winterlarven Schutzorgane geschaffen. Durch die kräftige Ausbildung der Sklerite sind solche Winter- larven besonders scharf charakterisiert, da die Anordnung der Sklerite nicht nur sehr deutlich, sondern auch generisch sehr mannigfaltig erscheint. Wir können das Chitinkleid als einen Metamorphosen- zustand auffassen. Dass für die Winterlarven besondere Schutz- organe (Chitinsklerite, Wachswolle) vorübergehend zur Entwickelung gelangt sind, Einrichtungen, wie sie sonst auch für Wintereier ver- breitet sind, lag im Interesse der Erhaltung der betreffenden Gene- rationen. Dass wir sie heute bei den Fundatrix-Larven aller Gattungen finden, weist auf den Vorsprung hin, den die Fichten- serie als die phylogenetisch ältere errungen hat. Im gleichen Sinne haben die phylogenetisch älteren Gattungen Chermes, Cnaphalodes und Dreyfusia einen Vorsprung in bezug auf die Winterlarve der Emigrans der jüngsten Gattung Pineus gegenüber erfahren. Für diese Winterlarven empfiehlt es sich, einen Terminus ein- zuführen, und ich möchte den Ausdruck „Latenzlarve“* vor- schlagen, obgleich ich die Winterlarve der pecese-Exsulans zuerst Beharrungslarve genannt hatte. Ich würde den Ausdruck hie- malis gewählt haben, um teilweise mit Börner zusammenzutreffen, wenn nicht Börner mit Hiemalis die ganze Generation der Emi- grans identifiziert hätte. Da Hiemalis (Börner) = Emigrans (= Exsulans z. Teil) ist, und im Hauptsinn des Wortes den Kontrast zu Aestivalis bedeutet, so fällt der im Worte selbst liegende Sinn gleichsam zu Boden, und als Generationsname für die erwachsene Form hat Hiemalis gar keinen Sinn, da müsste es Vernalis lauten. Es ist aber im allgemeinen Gebrauch, irgendeine Form mit Rücksicht 26) „Horae“ 1895, S. 67. 742 Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. II. auf das ausgebildete Stadium zu bezeichnen (Migrans alata, Sexu- para, Sexuales), nicht mit Rücksicht auf die Larvenform. Also Hiemalis (Börner) muss fallen, und an Stelle von Hiemalis trıtt Emigrans (bei piceae, strobi: Exsulans), an Stelle der Hiemalis-Larve: Emigrans (Exsulans)-Latenzlarve. 2. Wir schlieBen nun an die phylogenetisch (morphologisch) älteste Form die in diesem Sinne jüngste Gattung Pineus an, weil sie in biologischer Beziehung, wenn auch in ganz anderer Richtung als Chermes s. str. Ursprünglichkeiten kundgibt, die zu zeigen scheinen, dass Pineus auf einer frühen Stufe „stehen geblieben ist“ (Börner, 'S. 123). Dieses „Stehengebliebensein* beziehe ich mit Börner auf das Fehlen der Latenzlarve und auf das Fehlen einer echten Aestivalis-Differenzierung. Dagegen bin ich nicht Börner’s Mei- nung, dass die reiche Entwickelung der rein parthenogenetischen Propagation auf der Zwischenkonifere Chermes abietis gegenüber als ein archaistischer Charakter aufgefasst werden kann, wie ich oben auseinandergesetzt habe. Was die Aestivalis-Frage betrifft, so sagt Börner selbst: „Biologisch ist es von großer Bedeutung, dass das Stammvolk“ (Emigrans) „von Pineus monomorph ist“ (S. 170), und weiter S. 175: „Ein durchgreifendes morphologisches Merkmal“ existiert wohl kaum zwischen ihnen“ (d. h. zwischen der ersten Sommergeneration — Virgo aestivalıs Börner) „und den Winterläusen, obgleich die Drüsen bisweilen etc.“ _ Zwar zeigen einzelne Individuen?’) der ersten Sommergeneration Ahnlichkeiten in der Fühlerform mit den früheren Stadien der Sexupara, aber diese Unterschiede sind. nicht konstant (S. 185 und 189). Wenn auch einzelne Individuen der Emigrans I (Virgo aestivalis Börner) im 2. Stadium der Fühler Ähnlichkeit mit der Sexuparen erkennen lassen können, so ist dies doch keineswegs bei allen Individuen und ebensowenig bei der folgenden Emigrans- Generation II der Fall (S. 176). Börner ist geneigt, in diesen unbeständigen Vorkommnissen den Anfang einer Aestivalıs-Differenzierung zu erblicken: „Das Wichtige ist, dass es bei Pineus pint...nur ein einförmiges Virgovolk gibt, in dem sich nur die Geschwister der ge- flügelten Sexuparen unauffällig durch den Fühlerbau auszeichnen und sich dadurch als im ersten Entstehen fixierte Sommerläuse (Virgines aestivales) charakteri- sieren.“ Eine Stelle Börner’s bei der Besprechung der Gattung Pineus im allgemeinen (S. 170): „Es ist noch nicht erwiesen, ob meine Aestivales nicht vielleicht solehe Individuen sind, die zunächst 27) Monographie, S. 185. are Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. II. 143 die Entwickelung zur Sexupara einschlugen, dann aber, vielleicht durch äußere Faktoren (Witterung) veranlasst, noch vor der ersten, spätestens aber vor der zweiten Häutung zur Aestivalis- Virgo zurückkehrten“, deutet daraufhin, dass Bör ner seine Pineus-Sommer- läuse gleichsam eine Zeitlang innerhalb des 1. und 2. Stadiums die Entwickelungsrichtung der Sexupara einschlagen, dann aber ab- zweigen lässt, und damit bekundet, dass die Aestivalis als Diffe- renzierung aus den Sexuparen entstanden sind. Ich halte diese Auffassung allein für richtig, da die Sexupara die phylogenetisch ältere Generation gewesen sein muss. Börner hat sich mir brieflich auch in gleicher Weise geäußert. Ich betone diese Sache deshalb, weil die Schemata Börner’s, sowohl die dichotomischen (S. 292), als auch die graphischen (S. 253, 240 ete.), desgleichen die Textdarstellungen (S. 127, 128) den Anschein erwecken, als hätte sich umgekehrt die Sexupara auf einem gewissen Stadium der Aestivalis aus dieser entwickelt. Wir lassen im nachfolgenden die beiden Schemata für die Gattung Pineus folgen. Schema a. Fundatrix | Migrans cellaris Emigrans BEN: A Emigrans I Sexupara C | | Emigrans II Sexuales Emigranslarve Fundatrix-Latenzlarve Schema b. Fig. 3. Sexupara Sexuales Emigrans FmigrensZ Fundafrıx Migrans cellarıs dıoeca Wir unterscheiden also bei Pineus nur zwei Zyklen: außer dem normalen A-Zyklus, der der gleiche wie bei Chermes abietis bleibt, (44 Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. 11. noch einen zweiten monomorphen aber trigenetischen rein par- thenogenetischen einjährigen monözischen Zyklus auf der Kiefer. Dieser O'-Ayklus bei Pineus hat sich aus dem c-Zyklus bei Chermes abietis dadurch entwickelt, dass die Emigrans-Latenzlarve vorzeitig schon im Sommer zur Entwickelung gelangt ist. Insoferne enthielt der c-Zyklus von Ch. abietis den Keim für den C!-Zyklus von Pineus. Der von der Fundatrix ausgehende 5-Zyklus fehlt bei dem Pineus-Phylum vollständig. Börner hat bei seinem Pineus-Schema (S. 261) statt Emi- grans: Virgo (Hiemalis), statt Emigrans I: Virgo (Aesti- valis), statt Emigrans II schlechtweg Virgo gesetzt. Ich kann diese Neuerung nicht als Verbesserung ansehen, da Börner selbst sein Virgo-Volk monomorph nennt. Wenn ich statt Exsulans I und ExsulansII: EmigransI und EmigranslII setze, so ist es geschehen, weil ich jetzt?*) in Hinsicht auf den Aestivalis- Begriff Börner’s bei Dreyfusia und Cnaphalodes den Exsulans-Begriff enger fasse, für solche Zyklen und Arten, bei denen eine echte Emigrans verloren gegangen, bezw. noch nicht bekannt ist. 3. Gattung Dreyfusia. Unser Wissen ist für die Tannen-Chermesinen noch recht lückenreich. Dreyfusia funitectus Dreyf. kann hier ganz vernach- lassigt werden. Von Dreyfusia pectinatae kennen wir zwar durch Cholodkovsky den Hauptzyklus A befriedigend, aber bezüglich des C-Zyklus sind verschiedene Deutungen möglich, und der B-Zyklus scheint völlig zu fehlen. Sicher vorhanden ist bei Dreyfusia piceae eine typische Aesti- valis-Generation. Ob bei pectinatae statt der Aestivalis-Wieder- holung eine Emigrans-Wiederholung anzunehmen ist, oder nach der Meinung Börner’s Aestivalis-Wiederholung und Emigrans- Latenzlarven, lässt sich vorerst noch nicht sicher entscheiden, da zur Zeit der Cholodkovsky’schen Forschungen die Aestivalis- Entdeckung, die wir Börner verdanken, noch unbekannt war. Eigene Befunde bei Dreyfusia piceae, die gleichfalls noch kontroll- bedürftig sind, lassen es aber ımmerhin als möglich erscheinen, dass eine Aestıvalis-Generation und daneben Emigrans-Wieder- holung vorkommt. Börner fasst den Zyklus von pectinatae, wie folgt (s. die beiden nebenstehenden Schemata), auf: Von den beiden Zyklen (außer A) hätten wir: Erstens den c-Zyklus wie bei Chermes abietis, zweitens den 0?-Zyklus ähnlich wie bei der Gattung Pineus, nur mit dem Unter- schiede, dass bei pectinatae die beiden Aestivalis-Generationen 28) Gegenüber dem früheren Gebrauche des Begriffes Exsulans. 29) „Horae‘‘ 1895, S. 67. Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. II. 7145 nach Börner sich morphologisch scharf von Emigrans unter- scheiden. Der Zyklus ¢ wird von Börner deshalb vermutet, weil Cholodkovsky die Larvennachkommen der Aestivalis il als übereinstimmend mit den Latenzlarven der Emigrans beschreibt, für welche Börner eine Weiterentwiekelung im Sommer für aus- geschlossen halt. Daher weist Börner die Emigrans-Latenz- larven ausschließlich dem engsten e-Zyklus zu, obgleich Cho- lodkovsky besonders hervorhebt, dass diese Latenzlarven weitere Schema a. Fundatrix Migrans cellaris Emigrans Cie | 02 A Emigrans-Latenzlarve Aestivalis I Sexupara | — | Emigrans-Latenzlarve Aestivalis IT Sexuales Schema b. Fig. 4 Sexupara a Aestivalisl Fichte ee C2 G. Emigrens Fundafrix \ ay Migrans celleris d10eca Generationen der Saison entstehen lassen, welche sich von der Emigrans (Vernalis) nicht unterscheiden sollen. Da auch ich ?®) für Dreyfusia piceae Ratz. ähnliche Beobach- tungen von der Weiterentwickelung der Latenzlarven Nachkommen der von alter Tannenrinde stammenden Emigran s-(Vernalis-)Mütter gemacht habe, und die Nachkommen dieser Larven an alter Stamm- rinde nicht für gleichwertig mit der Nadel-Aestivalis hielt, so muss die Frage, ob bei Dreyfusia neben dem Aestivalis-Zyklus C? nicht etwa noch ein Emigrans-Zyklus C!, wie wir einen solchen bei Pineus getroffen haben, vorkommt. Die morphologische eo Nüßlin, Zur Biologie der Chermes piceae. Verhandl. d. Deutsch. Zool. Ges., 1908. 746 Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. II. Aestivalis-Unterscheidung ist erst von Börner in allerneuester Zeit als wichtiger Bestandteil der Chermesinen-Wissenschaft zu- geführt worden, welcher sowohl zur Zeit der Cholodkovsk y’schen wie auch meiner Forschungen noch 1907 gefehlt hat. Auf Grund der Börner’schen Errungenschaften müssen daher die Erscheinungen der Biologie bei pectinatae und piceae nochmals nachgeprüft werden, und ich muss deshalb im vorliegenden Aufsatz von der ausführ- lichen Erörterung meiner von Börner zurzeit noch abweichenden Auffassungen in der Dreyfusia-Biologie absehen. 4. Gattung Onaphalodes, Spezies strobilobius Kalt. Wir setzen diese Gattung an den Schluss, nicht mit Rücksicht auf deren phylogenetisch-systematische Stufenfolge, sondern in Hin- sicht auf die reiche Komplikation ihrer Biologie, welche außer dem A-Zyklus, den B-, c- und C?-Zyklus enthält, den C?-Zyklus nach Börner trigenetisch. Dagegen ist von dem Pineus-0!-Zyklus nichts bekannt geworden. Cnaphalodes strobilobius hat die nachfolgende Biologie (s. die beiden nebenstehenden Schemata): Wir sehen aus den biologischen Schemen, dass jede Aesti- valis-Generation, gerade so wie die Emigrans-Mutter, einen Teil ihrer Eier konservativ für die Lärche in der unveränderlichen un- beeinflussbaren Form der Latenzlarven gleichsam absondert, während der andere Teil der Eier sich weiter in der Sexupara- und Aestivalis-Richtung entwickelt. Hierbei kommt deutlich zum Ausdruck, dass der sogen. Zyklus ¢ nicht als eigentlicher Zyklus aufgefasst werden kann, da auch bei den Aestivalis-Generationen _Latenzlarven vorkommen. Wenn wir die C-Zyklen in ihrer möglichen Genese nochmals vergleichend überblicken, so können wir von Chermes abietis aus- gehen, bei welcher Form für die Erhaltung der Emigrans- Gene- ration auf der Zwischenkonifere dadurch Sorge getragen worden ist, dass nicht alle Eier die Bestimmung fanden, als Sexuparen für die Lärche geopfert zu werden, welche zur Fichte heimkehren. Gerade zu Beginn der Diözie musste es für deren Fixierung von größtem Wert erscheinen, einen Teil der Nachkommenschaft für die Zwischenkonifere zu sichern. Dies konnte entweder durch Deponierung latent bleibender Eier (oder bei Phylloxeriden von Larven) geschehen, oder durch Einrichtung eines parthenogenetischen echten Zyklus einiger auf der Zwischenkonifere verbleibender unge- flügelter Generationen, welche ursprünglich mit der Mutter-Emi- grans formidentisch waren (C'-Zyklus), bei weiterer Anpassung aber sich zur Aestivalis differenzierten (C?-Zyklus). Möglicherweise lag dazwischen noch eine Biologie, in welcher der C!- und 0?-Zyklus gemischt auftrat, wie ich solches für die Gattung Dreyfusia ver- mute. Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. II. 147 In allen Fällen der C!- und 0?-Zyklen konnte als weiteres Sicherungsmittel für die Erhaltung der Emigrans-Biologie auf der Zwischenkonifere die Wirksamkeit der Latenzlarve hinzu- kommen, um die Wirkung zu summieren. Wir sehen dies bei Dreyfusia und Onaphalodes, und Börner selbst hat das gleiche für Schema a. Fundatrix ee Cellaris monoeca Migrans cellaris dioeca Fundatrix Emi grans € a: IE | Ge Emigrans-Latenzlarve Aestivalis I Sexupara onl Emigrans-Latenzlarve Aestivalis II Sexuales ae Emigrans-Latenzlarve Aestivalis III Fundatrix-Latenzlarve Emigrans-Latenzlarve Schema b. Fig. 5. Sexupera Sexug/es larche Fichte AesHvalıs] Cellarls monoece > Emigrans Fundatrıx Migrans cellarıs dioeca Pineus vermutet, wo möglicherweise die weiche Larve beharrt und überwintert, gerade so wie ich dies als ursprüngliches Verhalten für Chermes abietis ansehen möchte, bevor diese phylogenetisch älteste Chermesine einen geschützten Latenzlarvenzustand erworben hatte. Aus allem aber ersehen wir die große Bedeutung, welche der Latenzlarve und vor allem der geschützten Latenzlarve für die Er- 748 Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. II. haltung der Emigrans-Serie zukommt, eine Bedeutung, auf welche ich zuerst 1903 hingewiesen hatte, und welche Börner 1908 ım obigen Sinne deutlich hervorhebt. Dass bei Arten, wie Dreyfusia piceae, welche den A-Zyklus in- folge der Unfruchtbarkeit ıhrer Sexuales-Generation eingebüßt und damit die Amphigonie verloren haben, eben dieselbe Latenz- larve auch die Rolle, welche die amphigone Fortpflanzung durch Amphimyxis im Sinne der Konstanzerhaltung spielt, übernehmen wird, diese Annahme war nur eine weitere Konsequenz, welche ich zuerst 1903 gezogen hatte und welche ich auch noch heute für alle diejenigen Fälle festhalte, in welchen die amphigone Fortpflanzung verloren gegangen ist, bezw. verloren zu gehen droht. Was den B-Zyklus der Cellaris monoeca betrifft, so kommt er nur bei der phylogenetisch ältesten Gattung Chermes s. str. und bei der ebenfalls phylogenetisch alten und zugleich biologisch am wei- testen fortgeschrittenen Gattung Cnaphalodes vor, fehlt aber sicher bei der phylogenetisch jüngsten und biologisch in mancher Rich- tung ursprünglichsten Gattung Pineus, und ebenso bei der Gattung Dreyfusia, welche sich ın einzelnen Punkten biologisch an Pineus anzuschließen scheint (ausgebreitetes Rindenleben der Emigrans- Serie und mutmaßlicher C!-Zyklus). Er erscheint deshalb als eine Eigentümlichkeit des gemeinsamen Urahns der auf die Lärche migrierenden Gattungen Chermes und Cnaphalodes, zwei Gattungen, welche auch koustitutionell durch die grünlich-gelbliche Färbung aller Larven und der larvoiden Sexuales blutsverwandt zu sein scheinen, im Gegensatz zu den in den larvoiden Stadien rötlichen Formen der Gattungen Pineus und Dreyfusia. Sowohl wegen des Vorkommens der B-Biologie bei Chermes s. str. als auch wegen des Ausfalls der Sexupara- und Sexuales- Generationen im B-Zyklus, halte ich denselben für einen ursprüng- lichen, aber abgekürzten, Sonderzyklus auf dem Urwirt, der aus der Zeit der fakultativen Diözie abzuleiten ist. Börner dagegen hält die Monözie der Cellaren für das Jüngste Glied der biologischen Zyklen. IV. Phylogenie und Systematik. An dieser Stelle seien nur in Kürze einige Bemerkungen ange- reiht, und die von uns befolgte Trennung der Chermesinae in die vier Gruppen (Gattungen) Chermes, Cnaphalodes, Dreyfusia und Pineus gerechtfertigt. Der Reformator der Chermesinae-Systematik (Börner) hat Chermes s. str. und Dreyfusia als Untergattungen zu einer Gattung Chermes s. lat. vereinigt, eine Vereinigung, die ich im Interesse der fortlaufenden Darstellung der Biologie nicht befolgt habe. Bio-. Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. II. 749 logisch ist die Vereinigung von Chermes s. str. und Dreyfusia kaum zu rechtfertigen, morphologisch steht sie auf schwachen Füßen. Die Wachsdrüsenbildungen der Emigrans und Fundatrix-Latenz- larven sind in beiden Untergattungen so erheblich abweichend, ebenso ist die Grundfärbung der larvoiden Sexuales und der Larven- formen bei Chermes s. str. gelblich oder grünlich, bei Dreyfusia rötlich, welche Färbungen auf eine konstitutionelle Verschiedenheit?!) hinweisen, dass ich das von Börner angeführte Gemeinsame für Chermes und Dreyfusia, insbesondere in bezug auf die Drüsen- fazetten der Imagines, nicht so hoch werten kann, wie es Börner getan hat. Börner selbst betont in seiner systematischen Besprechung (S. 120—123) und anderwärts, die große Unabhängigkeit der vier Chermesinengruppen, die bald in dieser, bald in jener Generation die größten Verschiedenheiten, bald bei entfernteren Gruppen er- hebliche Annäherungen zeigen. Bei einer solchen gegenseitigen Unabhängigkeit der vier Gruppen, und Unsicherheit der systematischen Stellung zueinander erscheint es nicht angezeigt, zwei Gruppen näher zusammenzufassen, die bio- logisch so große Gegensätze zeigen wie Chermes s. str. und Dreyfusia: Chermes s. str. CB Dreyfusia CB Aestivalis: fehlt vorhanden b-Zyklus: vorhanden fehlt Zwischenwirtsbiologie: minimal zu größter Ausdehnung geneigt Zwischenwirt: Lärchen Tannen Fundatrix: saugt an der Basis der auf der Knospe Knospe Galle: den Trieb mehr oder den Trieb völlig auf- weniger schonend brauchend Börner selbst hat die generelle Differenzierung auf generisch verschiedene Wirte verlegt, und es erscheint nur konsequent, wenn wir zwischen Chermes s. str. und Dreyfusia Gattungs- und nicht bloß Untergattungsunterschiede annehmen. Wenn wir aber’ letzteres vorziehen, dann wäre es besser ge- wesen, nur zwei Gattungen Chermes s. lat. und Pineus zu unter- scheiden und der Gattung Chermes s. lat. die drei Untergattungen Chermes s. str. CB, Cnaphalodes CB und Dreyfusia CB unterzuordnen. Sobald wir vier Gattungen wie oben unterscheiden, muss Prneus den Rang einer Obergattung oder Gruppe erhalten, der die drei übrigen entgegenzusetzen sind. Börner hat die große morphologische Differenz zwischen Pineus und den drei übrigen Gattungen zum erstenmal zur Evidenz auf- geklärt. 31) Mit Rücksicht auf eine solche konstitutionelle Bedeutung der Färbung der Körpersäfte kann ich auch nicht glauben, dass Chermes viridanus Chol. eine Pineus- Art ist. 750 Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. II. Aber auch ihre biologischen Unterschiede hat er zum ersten Male deutlich hervorgehoben. Die morphologischen wie die bio- logischen Unterschiede von Pineus und den drei übrigen Gattungen verdienen den Rang einer über der Gattung stehenden Kategorie: Chermes s. str. CB, Pineus CB Cnaphalodes CB nnd Dreyfusia CB Stigmen am 6. Abdominal- segment: fehlen vorhanden Anale Wachsdriisen: fehlen bei Driisen tragenden Gene- rationsstadien vorhanden Emigrans-Larven: zarthäutig geschützte Latenzlarven Facetten der Fundatrix- Larve: polygonal rundlich Zwischenwirt: Kiefern Tannen oder Lärchen Fundatrix-Saugstelle: fern von der Knospe nahe der oder aufder Knospe Gallen: lang, locker und mit nicht rundlich und verwachsen verwachsenen Rändern Engster c-Zyklus: fehlt ist vorhanden Zwischenwirtsbiologie der Emigrans-Serie: kaum auf Nadeln, fast aus- teils ausschließlich auf Na- schließlich auf Rinde deln, teils gemischt auf Nadel und Rinde C!-Zyklus: bildet den ausschließlichen fehlt, oder ist möglicher- Nebenzyklus auf den weise bei Dreyfusia neben Zwischenwirt dem C?-Zyklus vorhanden Aestivalis-Differen- zierung: fehlt vorhanden Nach allem tragen die heutigen Chermesinae den Charakter eines systematischen Relikts. Die wenigen von Börner unter- schiedenen 11 Arten (darunter zwei fragliche) verteilen sich auf vier Gattungen, bezw. Untergattungen, und darüber liegen wiederum zwei Kategorien von höherem Rang als Gattungsdignität. Zwei der von Börner angeführten Formen Pineus pineoides Chol. und viri- danus Chol. sind bisher nur als rein parthenogenetische bekannt geworden, und es muss noch als offene Frage angesehen werden, ob nicht bei den Chermesinen einzelne ursprünglich amphigonen Zyklen unter Varietätenbildung in neue rein parthenogenetische Zyklen überzugehen im Begriffe stehen. V. Parthenogenetische Spezies? ©. Börner ist ein Reformator für die Systematik der Cher- -mesinen geworden, und er verdankt seinen großen Erfolg seiner Überzeugung als strenger Systematiker. Diese Überzeugung spricht sich an verschiedenen Teilen seines Werkes aus. : So sagt er S. 286: „Wie für die weibflügeligen Pflanzenläuse überhaupt die Parthenogenese und Heterogonie, ist für die Cher- mesinen die diözische Heterogonie eine Naturnotwendig- keit“ und S.287: „So dogmatisch, so altmodisch es klingen mag, gerade hier kann ich auf Grund der von anderen und mir gemachten Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. II. 751 Beobachtungen nicht von der Konstanz der Art, der Gattung lassen. Mit diesen und anderen Äußerungen steht es gleichsam in Widerspruch, wenn er einerseits Formen wie Pineus pineoides (Chol.) CB und viridanus Chol. als Arten (oder Varietäten) auffasst, ob- gleich sie nur in monomorpher Parthenogenese erscheinen, und andererseits zustimmt, dass Pineus strobi und Dreyfusia bei uns ausschließlich parthenogenetisch geworden sind. Diese Widersprüche aber sind bei Börner nur scheinbare. Er lässt die Amphigonie nur zeit- oder ortsweise fehlen, sie kann im Zyklus, der bei jeder Art eine didzische Heterogonie sein muss, latent bleiben oder ausfallen, aber irgendwo (geographisch), oder irgendwann, und sei es erst nach „Jahrhunderten“, muss sie ange- nommen werden. „Ein Sichemanzipierenwollen von der zweige- schlechtlichen Generation, die Heranzüchtung einer reinen Par- thenogenese aus der sicherlich uralten Heterogonie ist... eine phylogenetische Unmöglichkeit“ (S. 285). Dies ist der Standpunkt Borner’s. Er steht in direktem Gegensatz zu Cholodkovsky, welcher sicher zu weit gegangen war, indem er Chermes abietis Kalt. und Chermes lapponicus Chol. als rein parthenogenetische Spezies auf- gestellt hatte. Hine ganz andere Frage ist es aber, ob diese rein partheno- genetischen Parallelzyklen wie die B- und C-Zyklen für immer und ewig an die Amphigonie gebunden sein müssen, oder ob die Mög- lichkeit zugestanden wird, dass sie sich einmal von der Amphigonie emanzipieren und ım Sinne von Cholodkovsky zu rein partheno- genetischen Arten werden können. In diesem Sinne kann ich mich dem dogmatischen Standpunkt Börner’s nicht anschließen, muss aber zugeben, dass ich beide Standpunkte mehr als Gefühls- und Glaubens-, wie als Erfahrungs- sache betrachte. VI. Die Saugtätigkeit der Chermesinen und die Gallenbildungen. Die Chermesinenläuse saugen in ihren verschiedenen Generationen und Häutungsstadien bald nur auf Nadeln oder nur auf Rinde, oder wechselnd an beiden Wirtsorganen. Das Saugen an der Nadel kann mit einem gewissen Recht als ursprünglicher aufgefasst werden, als das Saugen an der Rinde, denn 1. Saugen alle Imagines nur an der Nadel, sowohl die Cellaren als die Sexuparen, und ebenso alle Sexuales, von fünf Generationen des normalen pentamorphen Zyklus also schon drei. Gerade die Imagines und die Sexuales ver- einigen aber gewissermaßen die Repräsentation der monogene- tischen Amphigonie. 759 Nüßlin, Zur Biologie der Gattung Chermes. II. 2. Saugen einzelne Emigrans-Jungläuse (Ch. abietis L. und On. strobilobius Kalt.) kurze Zeit, und zwar zuerst an Lärchen- nadeln, um erst später an die Rinde überzugehen. Es ıst dieses Verhalten um so mehr zu beachten, als die Gattung Chermes s. str. zweifellos die phylogenetisch älteste ist. 3. Nach Börner (S. 217) saugen auch Fundatrix-Junglarven zu- erst an Nadeln. Nach meinen Beobachtungen sitzt die Pineus pini Koch auf der Piceae orientalis zuerst an der Basis der Nadeln, welche letztere jedoch auch von Börner als Rinde aufgefasst wird, so dass dieser Fall nach Börner nicht hierher gehören würde. 4. Bei Dreyfusia pectinatae Chol, leben die Emigrantes (und Aestıvales) ausschließlich auf Nadeln, so dass bei dieser Spezies ein Rindenleben ganz fehlt, indem auch die Fundatrix auf der Knospe saugt. Auch bei Dreyfusia piceae lebt die eigentliche Aestivalis auf Nadeln. 5. Nur bei der phylogenetisch jüngsten Gattung Pineus überwiegt das Rindenleben derart, dass die Fundatrix — ausschließ- lich, und die Emigrans-Serien fast ausschließlich, auf der Rinde leben. 6. Das auffällige Vorkommen der Exsulans-Generationen von Dreyfusia piceae, sowie der Pineus strobi auf älterer Stamm- rinde, bei denen der volle 4-Zyklus verloren gegangen ist, muss als eine sekundäre Anpassung angesehen und kann nicht als ursprüngliches Verhalten aufgefasst werden. Ich befinde mich daher in gegensätzlicher Auffassung zu Börner, welcher (S. 217) sagt: „Ich selbst möchte jene“ (d. h. die Rinden- sauger) „auch für ursprünglicher halten, und den Übergang auf die Nadel mit der larvoiden Umformung der Sexuales und mit der Anpassung an Larix und Abies ın Zusammenhang bringen.“ Während die Saugtätigkeit auf den Nadeln, wenn wir von der Gallenbildung absehen, nur Gelbfleckigkeit und Verkrümmung er- zeugen kann, vermögen die Rindensauger Anschwellungen und zum Teil gewaltige Deformierungen hervorzurufen. Neuerdings hat Börner in den Figuren 71, 72 und 73 auf S. 220 und 221 seiner Monographie solche Bildungen ın Text und Bild dargestellt. Dass solche Bildungen nicht als Gallen aufgefasst werden können, wie es zuerst Cholodkovsky und dann andere getan haben, hatte ich schon früher hervorgehoben, eine Auffassung, der auch Börner gefolgt ist (S. 220). In seiner „Monographie“ hat Börner in bezug auf die echte und einzige Chermes-Galle (an der Fichte) den Nachweis zu liefern ge- sucht, dass die bisherige Auffassung einer Nadelgalle unrichtig sei. Die Chermes-Galle ist „eine echte Rindengalle* sagt Börner Hesse, Zucrlia als Schmarotzer. 753 S. 222. Die Rindenstiele der Nadeln, nicht die Nadeln selbst, seien es, welche durch den Stich der Fundatrix-Mutter zur Hyper- trophie und abnormen Wucherung gereizt werden. Da aber, wie Börner selbst angibt, durch die Wucherung der Rindenstiele die Trennungszone zwischen Rindenstiel und Nadel rückgebildet wird, und die Nadel selbst in die Bildung der Gallenschuppe ganz auf- gehen kann (S. 222 und Fig. 76, S. 223), so ist damit eine Defor- mierung der Nadeln zugegeben, wenn auch der erste Anreiz von dem Rindenstiel der Nadel ausgegangen sein mag. Außerdem ist zu bedenken, dass die Fundatrices von pectinatae und strobilobius auf der Knospe sitzen, also die Nadelanlagen in der Knospe bei ihrem Saugen direkt beeinflussen. Die Chermes-Galle der Fichte kann daher nicht als reine Rindengalle aufgefasst werden, sondern als eine ge- mischte Rinden- und Nadelgalle. Lucilia als Schmarotzer. Von Dr. Erich Hesse. Im Anschluss an meinen Bericht „Lucika in Bufo vulgaris Laur. schmarotzend“!) möchte ich hier wieder mehrere Fälle dieses Parasitismus als weitere Beiträge bekannt geben, sieben davon aber- mals genannte Kröte, einen anderen die Misteldrossel (Turdus visei- vorus L.) als Wirt betreffend. Die an Bufo beobachteten Fälle belege ich mit fortlaufenden Nummern; da vielleicht im Laufe der Zeit noch mehr Material zu- sammenkommen wird, lassen sich auf diese Weise die einzelnen Fälle bei gegenseitigen Vergleichen kurz und leicht mit ihrer Nummer heranziehen. Das Benehmen der Kröten, die alle wieder in demselben Be- halter untergebracht wurden, glich dem in den |. c. beschriebenen Fällen; ich fasse mich deshalb kurz. Auch Zeichnungen gebe ich nicht bei; die Lurche wurden, wie dies aus den einzelnen Fällen ersichtlich sein wird, entweder gar nicht oder mehr oder weniger weit von den Larven angegriffen oder zerstört; im übrigen verweise ich auf die Tafel in meinem ersten Bericht. Fall IV. Am 3. September 1906 eine ca. 6 cm lange Kröte tot gefunden auf dem Damm zwischen Mühl- und Mittelteich in Rohrbach, der Kadaver trotz der enormen Hitze noch ganz frisch, das Tier also wohl erst kurz zuvor verendet. Die bereits halb- erwachsenen Fliegenlarven auf der rechten Seite in dem schon sehr stark zur Fraßhöhle ausgedehnten Nasenloch (größter Durchmesser ca. 6 mm, Höhe ca. 3 mm), nach innen bis in die Orbita vorge- 1) Biol. Centralbl., Bd. XXVI (1906), S 633—640. XXVIII. 48 754 Here Lucilia als Schmarotzer. drungen, das Auge jedoch noch nicht zerstört; auf der linken Seite nur in dem etwas erweiterten Nasenloch. — 4. September: Rechte obere Schädelhälfte nebst Auge ausgefressen, Larven in Mundhöhle und Schlund. — 5. September: Vordere Kopfhälfte abgefressen, Larven in die Leibeshöhle vorgedrungen, z. T. auch schon den Wirt verlassend und in die Erde gehend. — 6. September: Schädel, Brust und Leibeshöhle ausgefressen bezw. zerstört, Larven alle ın der Erde. Im Innern des Kadavers viele kleine Carabus-Fligel- decken und -Reste, vom Mageninhalt der Kröte herrührend. — Leider gingen in diesem Fall die Larven, die sich z. T. schon ver- puppt hattes, sämtlich zugrunde; sie waren fast alle von Schimmel- pilzen dicht bedeckt. Fall V. Am 24. Juni 1907 eine ca. 4!/, cm lange Kröte ge- funden unter großem Stein am Nordufer des Großen Teiches in Rohrbach. Die halberwachsenen Larven in beiden erweiterten Nasen- löchern; Kröte noch sehr munter. — 25. Juni: Kaum verändert, nur Fraß- höhlen etwas vergrößert. — 26. Juni vormittags: Besonders rechtes Nasenloch stark erweitert, außerdem unter dem rechten Auge eine neue ca. 3 mm große Fraßhöhle, das rechte Auge halb geschlossen, darunter hinter dieser Fraßhöhle beulenartige Hervorwölbung; Kröte den Kopf senkend, schon matt; ım Wassernapf eine ertrunkene Larve; — mittags: Kröte einseitig im Kreis herumgehend; — abends: Kröte im Lehm wühlend, augenscheinlich vor Schmerzen; kurz darauf tot, auf dem Rücken liegend, die Hinterbeine mäßig ausgestreckt, die Vorderbeine über die Brust zusammengebogen (vgl. Fall III, 1. c., S. 638), Maul offen, Fraßhöhlen kaum erweitert; Larven nach innen vorgedrungen. — 27. Juni: Larven in dem ge- öffneten und aufgedunsenen Rachen und Schlund. — 28. Juni: Larven die Leibeshöhle ausfressend, auch Körperhaut z. T. bereits ver- schwunden. — 29. Juni: Kadaver bis auf die äußersten Teile der Extremitäten und wenige Skelettstücke völlig vernichtet; nur noch wenige Larven daran. — 30. Juni: Alle Larven in der Erde. Kröte bis auf Hände und Füße also. vollkommen zerstört; vom Mageninhalt Flügeldecken und Reste kleiner Carabiden (vgl. Fall IV o.) sowie Ameisen. Schlüpfen der Imagines: 1:6. VI. 258. 225 — Ibe " 10 a 4 5 6 fe) 5 LEER ee 42 were. Ze 45 80. alla LARC. 20 ete Te I eee Fall VI. Am 13. August 1907 abends eine ca. 7!/, cm lange Kréte eingefangen im Kanitzsch. Nur zwei noch kleine Larven in dem kaum erweiterten rechten Nasenloch; Kréte noch ganz normal. — 14. August vormittags und nachmittags: Unverändert. — 15. August vormittags: Das Nasenloch nach dem Auge hin etwas keulenförmig 2 en Hesse, Lucilia als Schmarotzer. 755 erweitert; Kröte schon matter; nachmittags: Kaum verändert. — 16. August vormittags: Kaum verändert; nachmittags: Die Larven von der Kröte entfernt, halbtot im Wassernapf liegend (vgl. Fall II, l. c., S. 636. Bemerkung über Selbsthilfe!); rechte Choane stark gerötet, sonst keinerlei Veränderung. — 17. August: Fraßloch mit Iymphenähnlicher Flüssigkeit erfüllt; Kröte matt, nicht im Wasser- napf gewesen. — 18. August: Wundloch ein wenig zurückgegangen und verheilend; Kröte lebhafter. — 19. und 20. August: Kaum ver- ändert. — 21. bis 23. August: Wundloch mehr und mehr verheilend bis zur alten Nasenlochform. — Vom 24. August an Wundloch sich ganz allmählich verengend, immer noch etwas Ausfluss. — 10. Sep- tember: Wundloch vollständig zugewachsen. — In der Folgezeit ist zu beobachten, wie die das ursprüngliche Nasenloch schließende Wundhaut nach und nach wieder dünner wird, man sieht sie beim Atemhohlen der Kröte fibrieren. Hierin tritt in dem ganzen kommenden Jahr keine Änderung ein bis zum 28. August 1908; an diesem Tage bemerke ich an der sonst vollkommen trockenen Kröte eine feuchte Ausschwitzung an der Stelle des rechten Nasen- loches, und in der Nähe, noch besser mit der Lupe, erkenne ich ein kleines Loch in der Wundhaut hinten oben, letztere war also wieder durch ein Foramen durchbrochen worden. Seitdem hat sich dieses „neue“ Nasenloch nur sehr wenig erweitert. Ich werde die Kröte vorläufig noch am Leben lassen, um event. erst später über etwaige Regeneration der rechten Nasenhälfte u. s. w. eine genauere Untersuchung anzustellen; bemerkenswert ist dies Ver- halten ja immerhin. Fall VIi. Am 12. Juni 1908 eine ca. 6 cm lange Kröte ge- funden am Bahndamm Möckern-Leutzsch; mit eigenartiger hoher und weicher Geschwulst am rechten Nasenloch. Behaftet mit 81 Fliegeneiern oberhalb des rechten Armes hinter der Parotis, sowie mit: 19 Stück unmittelbar vor der Achselhöhle des linken; Tier sehr lebhaft und normal. — 13. und 14. Juni: Unverändert. — 15. Juni: Desgleichen. — 16. Juni mittags: Alle Eier ausgeschlüpft, aber nur drei der winzigen Larven am Körper der Kröte in der Nähe des Kopfes, die übrigen wohl alle beim Herumkriechen an der Erde oder dem Gewurzel im Käfig abgestrichen; Lärvchen sich kaum oder nicht bewegend; abends: Kröte gehäutet, leere Eihülsen und die drei Lärvchen verschwunden, erstere vollkommen intakt; da keine Spur der Haut zu finden war, diese also wohl wie ge- wöhnlich verschlungen (vgl. Fall I, 1. e., S. 634). — Vom 17. Juni an Kröte fortdauernd gesund, munter und intakt, von den Schma- rotzern also nicht befallen; hier waren dieselben somit durch günstigen Zufall sämtlich auf irgendwelche Weise, vor der Häutung vielleicht auch mit Hilfe der Extremitäten, wie erwähnt abgestrichen oder entfernt worden. — Am 8. August setzte ich die Kröte wohl- 48* 756 Hesse, Lucilia als Schmarotzer. behalten wieder in Freiheit. (Bemerkt sei noch, dass die sonder- bare Geschwulst [s. 0.] nach und nach etwas zurückging.) Fall VIII, IX, X. Am 20. Juni 1908 unternahm ich mit den Herren Prof. Dr. Voigt, cand. rer. nat. Weigold und e. r. n. Marx eine ornithologische Exkursion nach Universitätsholz-Rohr- bach; an diesem Nachmittag sammelten wir 9 Stück befallener Kröten, und wir hätten noch mehr mitnehmen können, da wir noch eine Anzahl konstatierten, es jedoch für diesen Tag genügen lassen wollten. 3 Stück behielt ich für mich, die anderen überließ ich genannten Kandidaten. Meine 3 Kröten waren sowohl mit Eiern wie mit Larven behaftet; letztere saßen bei allen in den erweiterten Nasenlöchern, die Eier dagegen an den verschiedensten Stellen der Körperoberseite, und zwar zählte ich bei dem einen Stück im ganzen 86, bei dem andern 81 und bei dem dritten 72 Eier. Die Kröten waren nur halberwachsen und ca. 4 cm lang; jedes der Tiere wurde in dem alten Behälter in einem besonderen Pappverschlag unter- gebracht. — 21. Juni: Die eine Kröte schon sehr matt, im übrigen alles unverändert. — 22. Juni vormittags: 2 Kröten bereits tot; abends: Bei beiden toten der Kopf bereits ausgefressen; die noch lebende schon ganz matt, ein Auge zerstört; Fliegeneier bei allen noch nicht geschlüpft. — 23. Juni: Die beiden ersten Kröten bereits halb ausgefressen; die dritte tot, Kopf ausgefressen; Fliegeneier bei allen ebenfalls noch nicht geschlüpft. — 24. Juni: Die beiden ersten Kröten bis auf wenige Knochen und Extremitätenreste fast völlig aufgefressen; bei der dritten die Larven in der Leibeshöhle; somit sind hier auch die zahlreichen noch nicht geschlüpften Fliegen- eier sämtlich mit zerstört worden. — 25. Juni: Bei den beiden ersten Kröten die Larven alle in der Erde; die dritte fast gänzlich aufgefressen. 26. Juni: Bei der dritten Kröte Larven z. T. noch in den Kadaverresten, z. T. darunter in der Jauche fressend. — 27. Juni: Alle Larven in der Erde; die Reste der 3 Krötenkadaver vertrocknet. — Obwohl ich, wie erwähnt, jede Kröte in einen be- sonderen Verschlag brachte und die Scheidewände bis auf den Boden des Gesamtbehälters durchführte, müssen sich doch eine große Zahl von Larven aus den beiden ersten Verschlägen nach dem dritten großen Raum am Grund hindurchgezwängt haben; denn es schlüpften im ersten Verschlag Me : Rie : 7 3 | also insges. nur 5 St. = A © 140: ım zweiten Verschlag ame sa Yop ” 8. ” 6 N | ” 9. ” 2 ” 10. ” 1 N a al also insges. nur IX St. — 11, 60: Hesse, Zueilia als Schmarotzer. ~ Or I im dritten großen Raum dagegen amd. VLD. SS N 8. ” 28 ” 3 2 N 9 ” 16 ” 31 : 10. also insgeset17 St. = 61 o’, 56 9; ” 6 ” 8 ” ” fale ” i) ” 12 ” ” 13. ” ier, 2 ” in diese dritte Abteilung sind somit aus den beiden ersten kurz vor der Verpuppung Larven eingedrungen, da jede der Kréten von etwa der gleichen Zahl Schmarotzer befallen war. Insgesamt schlipften also in diesen 3 Fallen 139 Imagines = 76 d‘, 63 9. In allen obigen Fallen handelte es sich demnach wiederum nur um Bufo vulgaris L. als Wirt; die Tiere waren mittelgroß bis er- wachsen. 5 Fälle (V, VII—X) gehören abermals den Monaten Juni/Juli (vgl. Fall I—III!), einer dem August und einer dem September an (vgl. 1. c., S. 639). In Fall V sowie den Fallen VIII—X zusammengenommen waren die d der Fliegen an Zahl überlegen; Puppenzustand 10—20 Tage. Schließlich wäre noch hervorzuheben, dass die Larven in allen bisherigen Fällen ihr Zerstörungswerk vom Kopfe aus, und zwar fast immer von den Nasenlöchern an, begannen, niemals in ent- gegengesetzter Richtung; schließlich sind ja auch die Nasenlöcher die geeignetste Stelle zum Eindringen für die Schmarotzer. Mit diesen kurzen Mitteilungen möchte ich es für die an Bufo beobachteten Fälle vorläufig wieder bewenden lassen. Am 2. Juli 1908 fand ich gegen Mittag in der Harth b. Zwenkau ein mit 5 fast flüggen Jungen besetztes Nest der Misteldrossel (Turdus viscivorus L.), das ca. Sm hoch über dem Boden auf einer alten Eiche an einer Schneise stand. Nach einiger Zeit wieder hierher zurückgekehrt, sah ich, dass eine der jungen Drosseln aus dem Nest herausgefallen, jedoch vollkommen intakt und noch völlig lebensfrisch war; im Grase hockend schrie sie des öfteren. Ich verweilte längere Zeit in der Nähe, um das Benehmen der alten Vögel zu beobachten; hierbei bemerkte ich, dass mehrere Lucilien die junge Drossel umschwärmten und sich auf sie niedersetzten; ganz nahe tretend konnte man nun feststellen, wie diese Lucilien ihre Eier auf dem Nestling ablegten, und zwar taten sie dies nicht oberflächlich auf die Federn, sondern bohrten das Hinterleibsende nebst der Legeröhre tief in das Rückengefieder des Tieres; ca. 30 Eier waren auch in den Rachen bezw. an die Zunge abgesetzt worden, da derselbe gewöhnlich nach dem Schreien eine Weile leicht ge- 758 Höber, Neuere Untersuchungen über den Farbensinn von Tieren. öffnet war, was die Fliegen als günstige Gelegenheit zur Hiablage augenscheinlich also öfters benutzt hatten. Drei dieser Lucilien fing ich direkt von dem Vogel weg; sie waren an Größe verschieden: 2 Stück maßen ca. 10 mm, das andere nur ca. 7!/, mm. Herr Prof. E. Girschner (Torgau), dem ich für seine große Freundlichkeit auch an dieser Stelle wiederum bestens danke, bestimmte sie als Lucilia caesar L. Es war mir jedenfalls sehr interessant, diese Fliegen einmal unmittelbar bei der Eiablage an einem noch lebenden Objekt, das ja allerdings bald und noch lange vor dem Ausschlüpfen der Larven verendet wäre, beobachten zu können. Leipzig, den 18. Oktober 1908. Neuere Untersuchungen über den Farbensinn von Tieren. Ein Problem, das die Biologen seit langem beschäftigt, ist die Frage nach der Fähigkeit des Farbenerkennens in der Tierreihe. Untersuchungen, die ım Laufe der letzten Jahre von verschiedenen Seiten gemacht wurden, bedeuten einen solchen Fortschritt auf diesem Gebiet, dass eine zusammenfassende Darstellung berechtigt erscheint. Die zu besprechenden Versuche sind, abweichend von manchen früheren, nur an höheren Tieren (Säugetieren und Vögeln) ange- stellt und berücksichtigen, was wichtig ist, auch die Adaptation der Netzhaut. Unter Adaptation versteht man bekanntlich die Fähigkeit des Sehorgans, sich wechselnden Helligkeiten anzupassen, nach längerem Aufenthalt im Dunkeln Dinge zu unterscheiden, die beim Eintreten in den dunkeln Raum zunächst unsichtbar .sind. Die Netzhaut, deren Licht perzipierende Schicht die der Stäbchen und Zapfen ist, hat die Fähigkeit, Sehpurpur zu produzieren, eine Substanz, die zur Anpassung an die verschiedenen Helligkeiten von ausschlaggebender Bedeutung ist, indem sie beim Aufenthalt im Dunkeln sich bildet, beim Aufenthalt ım Hellen mehr und mehr ausgeblichen wird. Aus den verschiedensten Untersuchungen ging hervor, dass die Stäbchen diejenigen Organe sind, in denen die Pro- duktion des Sehpurpurs stattfindet. Als man die Netzhäute gewisser Tierspezies untersuchte, kam man vorübergehend zu dem Ergebnis, dass z. B. in der Retina der Tauben und Hühner die Stäbchen fehlen sollten. Man sprach ihnen demgemäß die Fähigkeit der Adaptation ab, man hielt sie für Hemeralopen, für „hühnerblind“, wie der Volksausdruck lautet, für „nachtblind“, wie die Verdeutschung dieses mit bestimmten Krank- heitsprozessen verknüpften Vorgangs ist, bei dem die Patienten unfähig sind, in der Dämmerung sich zu orientieren. — Die früheren Annahmen sind jetzt dahin modifiziert, dass in der Retina der Tagvögel die Stäbchen zwar nicht vollständig fehlen, aber wie Max Schultze’) 1) Zur Anatomie u. Physiologie d. Retina. Arch. f. mikr. Anat., Bd. II. Höber, Neuere Untersuchungen über den Farbensinn von Tieren. 759 sagt, in so geringer Menge vorhanden sind, dass sie den Zapfen der menschlichen Netzhaut quantitativ etwa gleich zu stellen seien. Die zahlreichen, gründlichen Untersuchungen aber über das etwaige Vorhandensein von Sehpurpur in der Tauben- und Hühnerretina haben fast ausnahmslos negative Resultate gezeitigt. Alle diese morphologischen Befunde ließen nun eine funktionelle Prüfung sehr wünschenswert erscheinen. Es sind zunächst die schönen Untersuchungen von Prof. Karl Hess in Würzburg?), mit denen wir uns zu beschäftigen haben. Sind die Hühner und Tauben einer Adaptation fähig? lautete die erste Frage, die zur Beantwortung stand. Die Versuche wurden in der Weise ausgeführt, dass zunächst die Hühner im Dunkeln Körner picken sollten; aber auch selbst im ausgehungerten Zustand verhielten sie sich passiv, bis eine ge- nügende Helligkeit eintrat. Um einem Einwand, es könne sich ebensogut um eine Leitung durch das Riech- wie durch das Seh- organ handeln, zu begegnen, wurden mit einem Stab Schatten auf dem belichteten und mit Körnern bestreuten Boden entworfen — entsprechend diesen Schattenfiguren blieben die Körner unberührt. Nun ging Hess weiter, indem er die Schwellenwerte für die Hühner feststellte, er ließ erstens sie im Hellen ihre Körner picken und setzte mäßig rasch die Beleuchtung herab; ferner ließ er zweitens die Tiere für eine halbe bis eine Stunde im gänzlich ver- dunkelten Raum sich aufhalten; dann Belichtung, so dass die Tiere pickten; wieder mäßig schnelle Verdunkelung, bis sie ihr Picken einstellten; im ersteren Fall erhielt er Schwellenwerte für hell- adaptierte, im zweiten Fall für dunkeladaptierte Hühner, wenn sie der Adaptation überhaupt fähig waren. Die abnehmende Beleuch- tung erwies sich besser für die Versuche als die zunehmende; beı dieser geht ein Teil des Lichtes gewissermaßen auf das Wecken der Aufmerksamkeit der Tier®, man erhält schwankendere Resultate. Als Vergleichsobjekt nahm Hess seine eigene Adaptation, indem er sich mit den Hühnern entsprechend lang im Hellen oder im Dunkeln aufgehalten hatte. Exakte Zahlenwerte wurden so ge- wonnen, dass die Lichtquelle, eine Tantallampe, mit einer Irisblende zu verdunkeln war und man an einer Mikrometerschraube die Größe der Öffnung direkt ablesen konnte. En Und überraschender konnten die Resultate wohl kaum sein, denn diese für hemeralop verschrieenen Tiere, die so arm an Stäbchen in ihrer Netzhaut sind, bei denen man noch keinen oder höchstens Spuren von Sehpurpur nachgewiesen hat, denen man daher alle Fähigkeit der Adaptation absprach, sie erwiesen sich nicht nur für fähig, sich wechselnden Beleuchtungen überhaupt anzupassen, nein, sie sind genau so adaptationstüchtig wie der Mensch! - Nachdem Hess diese weitgehenden Anpassungsfähigkeiten der Hühner und Tauben an wechselnde Beleuchtung festgestellt hatte, wandte er sich der Untersuchung des Farbensinns dieser und anderer 2) Arch. f. Augenheilkunde, 1907, Bd. 59, Heft 4. 760 Höber, Neuere Untersuchungen über den Farbensinn von Tieren. Vögel zu. Er vermied es, den Versuchstieren etwa gefärbte Futter- körner zu streuen, wobei Geschmack oder Geruch hätte beeinflusst werden können, sondern verfuhr in der Weise, dass er die auf glattem, schwarzem Tuch auf dem Boden des Käfigs ausgestreuten Futterkörner in verschiedenen Farben erscheinen ließ, indem er mit Hilfe einer Bogenlampe ein Spektrum erzeugte, das durch ent- sprechende Spiegeleinstellung auf das Tuch fiel. Bei einem Spektrum von mittlerer Lichtstärke fängt ein hell- adaptiertes Huhn am roten Ende zu picken an, nimmt auch dunkelrot erscheinende Körner; erst wenn rot ganz aufgepickt ist, wendet es sich den gelben und grünen zu; hier 1m Grünen hört es auf, allen- falls pickt es noch im Blaugrünen. Wird nun das Spektrum licht- stärker gemacht, so pickt es noch ım Blau, im Violett auch dann nicht. Ein lange Zeit dunkel adaptiertes Huhn fängt bei mittellicht- starkem Spektrum ebenfalls bei rot an zu picken, es pickt etwas weiter nach dem kurzwelligen Ende hin als das helladaptierte; aber die blauen und violetten Körner, die dem menschlichen, dunkel- adaptierten Auge deutlich heller erscheinen als die im äußeren Rot liegenden, werden auch jetzt unberührt gelassen. Es geht daraus hervor, dass für das Huhn und die sich gleich verhaltende Taube die sichtbare Grenze des 8 Spektrums nach dem langwelligen Ende hin etwa genau mit jener für unser Auge zu- sammenfällt, dagegen ıst das Spektrum für diese Vögel nach dem kurzwelligen Ende hin im Vergleich zu unserem Auge hochgradig verkürzt; die blaugrünen und blauen Strahlen sind kaum, die vio- letten überhaupt nicht mehr ım stand, auf das Auge derselben er- regend zu wirken. Eine zweite Methode, um gleichzeitig mit verschiedenen Farben zu untersuchen und diese auch zu gleicher Zeit in verschiedenen Helligkeiten erscheinen zu lassen, bestand darin, dass zwei farbige Prismen in einem Rahmen in den Lauf der Lichtstrahlen gebracht wurden, z. B. ein rotes und ein blaues; die farbigen Felder, die unmittelbar aneinanderstoßend hierdurch auf dem Boden entstehen, können durch Verschieben der Prismen, beides oder eines der beiden in ihrer Helligkeit variiert werden; farbige Plangläser sind noch vor die Prismen zu setzen und endlich ıst durch ein Auswechseln der farbigen gegen graue Prismen eine weitere Variationsmöglich- keit gegeben. Mit dieser Methode wurden auch scheue Tiere in einem Glaskäfig untersucht und zwar werden außer den Tauben und Hühnern noch Truthähne, Finken und Dohlen aufgeführt; am eingehendsten sind aber wohl die Untersuchungen an Hühnern und Tauben vorgenommen worden und die Schlussfolgerungen beziehen sich zunächst auf diese. Erste Feststellung mit dieser zweiten Methode ist, dass, wenn ein graues Prisma und ein graues Planglas im Rahmen sich be- finden, so dass zwei Felder am Boden entstehen, die nur durch ganz geringe Helligkeitsdifferenz voneinander verschieden sind, die Tiere in dem auch far das menschliche Auge etwas helleren Feld Höber, Neuere Untersuchungen über den Farbensinn von Tieren. 761 zu picken anfangen; ist hier alles aufgepickt, so gehen sie ins dunklere Gebiet und picken dort so lang, wie die Körner auch dem Menschen wahrnehmbar sind. x Also in den Helligkeitswahrnehmungen Übereinstimmung mit der menschlichen Netzhaut. Nun das Ergebnis, wenn in dem Rahmen ein rotes und ein blaues Prisma sich befinden, so dass auf dem Boden ein dunkelrotes und ein hellblaues Feld entstehen: hell- oder kurze Zeit dunkeladaptierte Tiere picken fast ausnahmslos zunächst die Körner des roten Feldes; ist da nichts mehr zu holen, so gehen sie unsicherer an die des hellblauen. Wird nun das Blau durch Hinzufügen eines blauen Planglases gesättigter, so erreicht man, dass die blau erscheinenden Körner überhaupt nicht mehr gepickt werden, sondern nur die im ‚roten Feld, auch dann, wenn sie für das menschliche Auge ganz dunkelrot und nur gerade noch sichtbar sind; die von Huhn und Taube nicht mehr gesehenen Körner im blauen Gebiet erscheinen dem kurze Zeit dunkeladaptierten menschlichen Auge beträchtlich heller und leichter sichtbar, also eine wesentliche Differenz. Nach 5—10 Minuten Dunkeladaptation wird bei gewissem Blau vom Huhn gepickt, das, direkt aus dem Hellen kommend, sich nur ans Rot hielt. Aber auch beim Dunkeladaptierten ist bald ein Blau zu finden, wo es das Picken einstellt, wenn auch für das mensch- liche Auge die Körner hell und deutlich sichtbar bleiben. Zur Erklärung dieses eigentümlichen und vom Menschen ab- weichenden Verhaltens wird eine noch nicht erwähnte Differenz im Bau der Vogelretina gegenüber der menschlichen herangezogen: Die Zapfen der Vogel-(wie auch mancher Reptilien-)Netzhaut besitzen farbige Olkugeln. Hensen*) hatte die Hypothese aufgestellt, dass die Funktion dieser Olkugeln wohl darın bestände, bestimmte Lichtstrahlen zu absorbieren, die nicht zur Perzeption gelangen sollten. Hess macht sich nun Waelchlis Untersuchungen‘) nutzbar. Dieser fand in einem Teil der Netzhaut, und zwar in dem für das Picken der Körner hauptsächlich in Betracht kommenden hinteren oberen Quadranten eine enorme Ansammlung der roten und orange- farbenen Ölkugeln, während dort andersfarbige kaum vorhanden sind: beim Huhn wird dieser Bezirk als gelbes Feld, bei der Taube als rotes bezeichnet; bei beiden finden sich hier eben fast nur rote, gelbe und orangefarbene Olkugeln. Nach Waelchlis mikrospektro- skopischen Untersuchungen lassen die roten nur Rot, die orange- farbigen nur Rot, Gelb und Grün, vom Rest kaum etwas hindurch. Da Hess nun in all seinen Untersuchungen seine eigenen retinalen Fähigkeiten als Vergleich benutzte, musste er auch das Substrat verändern, um gleiche Versuchsbedingungen zu schaffen: er setzte vor sein eines Auge ein orangefarbenes, vor sein anderes ein rotes Glas, nun traten auch für ihn die im roten und rotgelben. 3) Siehe Wiedersheim. Lehrbuch der vergl. Anatomie der Wirbeltiere. 4) Arch. f, Ophthalmologie 1881 und 1883, 762 Höber, Neuere Untersuchungen über den Farbensinn von Tieren. Strahlenbezirk liegenden Körner leuchtend hervor, während nach dem kurzwelligen Ende hin alles an Deutlichkeit verlor. Also die Hauptdifferenz des Farbensinns von Huhn und Mensch, die Einschränkung nach dem kurzwelligen Ende des Spektrums ist: morphologisch begründet, wie durch den Versuch mit den farbigen Gläsern nachgewiesen wurde, und der Schluss ıst wohl berechtigt, dass die Sehqualitäten des Huhns denen des Menschen ähnlich oder gleich seien, sobald dieser sich mit roten und orangefarbenen Gläsern bewaffnet. Die Hess’schen Untersuchungsresultate wurden von G. Abels- dorff*) auf anderem Wege, gewissermaßen mit einem anderen Reagens aufs schönste bestätigt. Während Hess die Helligkeitsempfindungen und den Farben- sınn der Tiere quası subjektiv von ihnen selber sich zeigen lässt, durch Anfangen oder Aufhören der Nahrungsaufnahme, benutzt Abelsdorff die von Sachs‘) zuerst ermittelte Tatsache, dass von farbigen Lichtern je nach ihrer scheinbaren Helligkeit eine größere oder geringere Pupillenverengerung hervorgerufen wird, und zwar so, dass das am hellsten erscheinende die stärkste Pupillenverenge- rung bewirkt. Wie Hess so vergleicht auch Abelsdorff Mensch und Versuchstiere; die Pupillenweite bei Einfall der verschieden- farbigen Lichter bei der Haustaube war folgende: grüne und blaue Lichter hatten eine viel geringere pupillomotorische Wirkung bei der Taube als beim Menschen; wurden nacheinander rote und blaue, gleich helle Lichter benutzt, so trat nur beim Rot Pupillenverenge- rung ein. Also, wie ja auch aus den Hess’schen Versuchen klar hervor- ging: hochgradige Verkürzung des Spektrums nach dem kurzwelligen Ende in seiner Reizfähigkeit auf die Netzhautelemente der Taube. In den hier referierten Versuchen ist wohl der große Fort- schritt darin zu sehen, dass wir über den Farbensinn von Tieren dadurch Aufschluss erhalten,. dass untersucht wird, welche Farbe den stärksten Reiz auf die Netzhaut des Versuchstieres ausübt. Das psychologische Moment, das die Forschung so außerordentlich erschwert, fällt hier fort. Sobald zum Zweck der Untersuchung des Farbensinns der Dressur zugängliche Tiere benutzt werden, so sind die Resultate nicht mehr eindeutig, denn der assoziative Denk- inhalt, muss dabei eine Bewertung finden. Andererseits ist es ein Vorteil, dass man bei diesen Tieren Methoden anwenden kann, die direkt von der Untersuchung der menschlichen Farbentüchtigkeit übernommen sind, eine Erleichterung für den Schluss auf event. gleiche Sinnesqualititen. Zur Illustration des Gesagten will ich zunächst über die Unter- suchungen von Himstedt und Nagel’) berichten. Es handelt sich um Feststellung, ob bei Hunden ein Farben- 5) Arch. f. Augenheilkunde, Bd. 58, Heft 1. 6) Arch. f. Ophthalmologie, Bd. XXXIX, Heft 3. 7) Festschrift der Albrecht-Ludwigs-Universität in Freiburg 1902. Höber, Neuere Untersuchungen über den Farbensinn von Tieren. 163 unterscheidungsvermögen existiere. Der Untersuchung wird das Prinzip der Farbengleichung zugrunde gelegt. Nämlich wenn ein Individuum zwei gleichartige Dinge, die sich nur durch ihre Farben unterscheiden, indem sie z. B. rot und blau sind, auseinander hält, so ist noch die Möglichkeit, dass die Helligkeiten der Objekte maß- gebend sind. Wird beispielsweise bei Farbenpaaren wie rot und gelb oder rosa und blaugrün in den Schattierungen so lange variiert, bis man gleiche Helligkeiten erzielt, so entsteht bei einem partiell Farbenblinden eine sogen. Verwechslungsgleichung. Nagel sagt nun: „Farbensinn ist bei einem Tiere dann nachgewiesen, wenn es nicht nur ein bestimmtes Rot von einem bestimmten Blau unter- scheidet, sondern wenn es ein bestimmtes Rot von allen Ab- schattierungen von Blau, vom hellsten bis zum dunkelsten sicher unterscheidet.“ Die Farbensinnuntersuchung von Himstedt und Nagel hat an einem Pudel stattgefunden. Zunächst lernte der Hund Rot von anderen Farben unterscheiden). Alle sekundären Einflüsse, wie Geruch der Farbe oder Form der Gegenstände werden sorgfältig vermieden. Schließlich sucht der Pudel unter blauen, grauen, roten Kugeln auf den Befehl „bring rot“ mit Sicherheit die roten heraus und zwar, wenn rot in allen Schattierungen vorhanden ist, zunächst die leuchtend feuer- roten, dann bei erneuertem Befehl erdbeerrot, karminrot, schließ- lich auch noch zögernd eine leuchtend orange gefärbte Kugel, wenn er alle anderen roten Schattierungen gebracht hatte. Wurde nun der Befehl „bring rot“ noch einmal wiederholt, so brachte der Pudel nach langem Bedenken auch eine mit Bismarckbraun gefärbte Kugel mit deutlich rétlicher Nuance. Diesen Farbenton kann der farbenblinde Mensch von den rein roten nicht unterscheiden, der Hund offenbar gut, denn nur, wenn kein reines Rot mehr zu apportieren war, brachte er die bismarckbraune Kugel mit sicht- lichem Widerstreben. — Nach vollendeter Dressur ist dem Pudel mit blau und grau?) in allen Schattierungen gegenüber der ganzen Skala der verschiedenen Rots kein Irrtum mehr passiert; er konnte sie sicher unterscheiden. Die Autoren fassen ihre wichtigen Beobachtungen in dem Satz zusammen: wer das Verhalten des Hundes gesehen hat, kann keinen Augenblick darüber im Zweifel sein, dass es sich bei ihm um ein wirkliches Farbenunterscheidungsvermögen, einen wirklichen Farben- sinn handelt. Eine ähnliche Fragestellung, wie sie den Himstedt-Nagel- schen Untersuchungen zugrunde liegt, finden wir bei zwei russischen Forschern Samojloff und Pheophilaktowa!®). Auch sie unter- suchen den Farbensinn des Hundes, er soll gleich helle aber ver- 8) Später ist von Himstedt die Dressur des Pudels auf alle Farben mit Erfolg ausgedehnt worden; siche Nagel, Centralbl f. Physiol., Bd. XXI, Nr. 7, Juni 1907. 9) S. Anm. 8. 10) Centralbl. f. Physiol., Bd. XXI, Nr. 5, Juni 1907. 764 Höber, Neuere Untersuchungen über den Farbensinn von Tieren. schiedenfarbige Gegenstände voneinander unterscheiden, und zwar farbige von grauen in gleichen Helligkeitsstufen. Sie legen bei ihren Resultaten der Dressur eine große Bedeutung bei, denn sie sagen, sie hätten ım Verlauf ihrer Untersuchungen von ihrer ur- sprünglichen Fragestellung, ob der Hund Farben unterscheidet, zu der Frage, ob er es durch vieles Üben dazu bringen könne, über- gehen müssen. Da ja aber nur da etwas zu bilden möglich ist, wo eine bildungsfähige Masse sich findet, so kommt es zunächst auf das Resultat an, das mit der vielen Übung erzielt wurde; ob die Ver- suche aber in gleicher Weise für das Problem des tierischen Farben- sinns zu verwerten sind, wird sich zeigen. Samojloffund Pheophilaktowa gingen folgendermaßen vor: auf einem Kasten war an der Vorderseite eine grüne Papierscheibe befestigt; diese Vorderseite konnte wie ein Deckel vom Hund fort- gestoßen werden und dann fand er ım Kasten ein kleines rundes (Gebäck. Nachdem er auf diese Handlung dressiert war, wurden neben dem Kasten mit der grünen Papierscheibe zwei Kästen mit grauen Papierscheiben aufgestellt. Und zwar wurden diese grauen Papiere aus einer ganzen Serie genommen, die von weiß bis schwarz reichend, 50 Nummern mit naturgemäß sehr allmählichen uber- gängen der grauen Töne enthält, von der Voraussetzung ausgehend, dass zwischen diesen vielen Nuancen auch eine sich finden müsste, die im Helligkeitsgrad vollständig, manche, die annähernd mit der farbigen Scheibe übereinstimmten. Die fast 1200 Versuche, die mit dem Hund in dieser Weise ausgeführt wurden, waren in mehrere Abteilungen geteilt; in der 1. Abteilung aus 613 Versuchen be- stehend, machte der Hund 30°/, Fehler, d.h. er suchte den Kuchen in einem Kasten mit grauer Scheibe; in der 2. Abteilung, die aus 560 Einzelversuchen bestand, sanken die Fehler auf 10°/,. Einzelne graue Nummern, die der Hund anfangs gar nicht von der farbigen Scheibe unterscheiden konnte, wurden extra geübt und zwar mit entschiedenem Erfolg, denn bei Nr. 17 und 18 der grauen Serie, die z. B. zu diesen gehörten, wurden nach der Übung nur noch 10°/, Fehler erzielt, während anfangs scheinbar die Unterscheidung dieser Nuancen vom Grün ganz unmöglich war. Also bis zu diesem Punkt ein positives Resultat, wenn auch vielleicht nicht so schön und fehlerfrei wie bei dem Himstedt- Nagel’schen Pudel; ein Farbenunterscheidungsvermögen erscheint aber auch bei diesem Hund sicher nachgewiesen. Nun berichten die Autoren noch über interessante Resultate bei einer Versuchsabänderung, die uns zeigen, dass beim Hund der Formensinn offenbar stärker ıst als der Farbensinn. Sie erschwerten, nachdem sie den Hund auf die grüne Kreisscheibe abgerichtet hatten, ihre Versuche folgendermaßen: auf den Deckel des das Gebäck enthaltenden Kastens wurde in der bekannten grünen Farbe, bald die vertraute Kreisscheibe, bald eine dreieckige, bald eine quadra- tische befestigt, die er von den kreisförmig belassenen grauen in ihren verschiedenen Abtönungen zu unterscheiden hatte, um seinen Lohn davon zu tragen. In den 33 Versuchen, die in dieser Weise aus- Dettweiler, Die Aufzucht des Rindes. 765 geführt wurden, war 18mal die grüne Kreisscheibe angemacht und alle 18 Male fand er sie; als aber das grüne Dreieck 9mal ihm den Kasten mit dem Backwerk zeigen sollte, sprang er stets zu einer grauen Kreisscheibe; und als ihm 6mal die grüne Scheibe in quadra- tischer Form sich zeigte, sprang er ebenfalls alle 6 Male zu einer grauen in irgendwelcher Nuance. Es wird mit Recht folgender Schluss gezogen: „der Hund hat nach vielen Bemühungen gelernt, den Kuchen mit der grünen Kreis- scheibe aufzusuchen, sowie er aber anstatt der grünen Kreisscheibe einer grünen Scheibe anderer Form begegnete, so hat er sofort nicht nach dem Gegenstand von der gleichen Farbe, sondern nach dem Gegenstand von gleicher Form gegriffen.“ Worin besteht nun die Differenz dieser verschiedenen Unter- suchungsmethoden, um Aufschluss über den Farbensinn der Tiere zu erhalten? Hess untersucht bei Hühnern und Tauben die Reizwirkung der verschiedenen Lichtstrahlen und erkennt sie an der Nahrungs- aufnahme; er berücksichtigt die Adaptation, da er sie bei diesen Tieren als vollständig der menschlichen äquivalent nachgewiesen hat. Abelsdorff untersucht die Reizwirkung des verschieden ge- färbten Lichts und erkennt sie an der Pupillenweite, diese mit der menschlichen bei der gleichen Farbe und gleicher Helligkeit ver- gleichend. Himstedt und Nagel unterrichten einen Hund, den akustischen Reiz eines Wortes mit einem optischen Reiz zu assozieren. Samojloff und Pheophilaktowa lehren den Hund, durch den Lohn eines Backwerks grün von grau zu unterscheiden. Würde man nun beim Hund ebenfalls eine Differenz in der Reizwirkung der Strahlen verschiedener Wellenlänge finden? Nach den Hess’schen Untersuchungen ist das nicht anzunehmen und so scheint es berechtigt, dressurfähige Tiere, deren Retina im Bau mit der menschlichen übereinstimmt, auf ıhre Sinnesqualitäten in ähnlicher Weise zu untersuchen wie den Menschen und auch nicht auf eine Dressur zu verzichten, die die Tiere auf empirischem Wege Analogieschlüsse zu ziehen und danach zu Handeln lehrt. Josephine Höber, Zürich. Dettweiler, Fr. Die Aufzucht des Rindes. Beiträge zur Zucht und Aufzucht nebst Erhebungen über die Methoden und Kosten der Aufzucht einzelner Schläge. Berlin, P. Parey, 1908, 8°. Unter den Vorwürfen, die am häufigsten Darwin gemacht werden, scheint der schwerstwiegende der zu sein, dass er ohne weiteres die Verhältnisse bei der künstlichen Zuchtwahl auf die freie Natur übertragen und so der natürlichen Zuchtwahl eine Be- deutung beigemessen habe, die ihr in Wirklichkeit gar nicht zu- komme. Stillschweigend, oder auch laut geäußert, hat dieser Vor- wurf zur Voraussetzung, dass künstliche und natürliche Zuchtwahl zwei ganz verschiedene Dinge seien. Nun kannte Darwin sowohl 766 Dettweiler, Die Aufzucht des Rindes. die Verhältnisse in freier Natur als auch die in der Tierzucht wie wenig Andere aus eigener, reicher Erfahrung, und es wäre daher eine bei ihm nicht vorauszusetzende Geistesblindheit gewesen, dass er sie beide gleich setze, wenn sie wirklich so verschieden wären, wie seine (Gegner behaupten, und zwar, so weit ersichtlich, vom grünen Tische aus behaupten. Es ist allerdings nicht jedermanns Sache, die Verhältnisse in der freien Natur so zu studieren, dass man über reiche eigene Erfahrung verfügt; und die Verhältnisse bei der künst- lichen Zuchtwahl, insbesondere bei der Tierzucht, sind den meisten wissenschaftlichen Biologen noch fremder. Und doch sind gerade sie für die Kenntnis und das Verständnis der ganzen Vererbungs-, Anpassungs- und Zuchtwahlfragen von allergrößter Bedeutung. Stellen sie doch ein Jahrtausende altes und ununterbrochenes Ex- perimentieren größten Stiles dar, wobei die Organismen, mit denen experimentiert wird, meist aufs allergenaueste bekannt sind. Die wenigsten wissenschaftlichen Biologen haben eine Ahnung, wie überaus genau der Züchter seine Zuchtprodukte kennt und beobachtet, so unendlich genau und bis in die kleinsten Einzelheiten gehend, dass der Nichtziichter meist wie vor einem Rätsel steht und dann allerdings leider oft glaubt, dass der Züchter ihm etwas vormache oder sich etwas einbilde. Er unterschätzt eben die von Kindes- beinen an geübte und durch sorgfältigstes Studium ins Schärfste ausgebildete Beobachtungsgabe des Praktikers. Um so wichtiger sind daher Arbeiten biologisch geschulter Tierzüchter. So bietet auch vorliegendes Buch für den Deszendenztheoretiker eine Fülle lehrreicher und anregender Tatsachen und Gesichtspunkte. Der Verfasser, früher Tierzuchtinspektor in Hessen, jetzt in Mecklen- burg, verfügt über einen reichen Schatz praktischer Erfahrung und als Privatdozent an der Universität Rostock über die biologisch- wissenschaftliche Basis, die seinen Ausführungen erst den richtigen Wert verleiht. Insbesondere die vier Kapitel der allgemeinen Ein- führung: Entstehung und Anpassung der Haustiere; Entstehung der Rinderrassen; Wahl der Zuchtrichtung; Befruchtung und Vererbung, sind von großem, allgemeinem Interesse. Wir können uns hier nur darauf beschränken, einige Sätze anzuführen, betreffend der Aus- führung und der Beispiele auf das Werk seibst verweisend. Es ist eigentlich selbstverständlich, dass der Verfasser, als praktischer Tier- züchter, Anhänger der „Vererbung erworbener Eigenschaften“ ist. Er verlangt allerdings, dass die entsprechenden Einwirkungen derart sind und so lange wirken, dass sie die Geschlechtsorgane beeinflussen. Dabei sind einige Körperteile leichter beeinflussbar, „wie namentlich die den Einwirkungen des Klimas leichter zugäng- lichen, als Haut und Haare, Hörner, Hufe und Klauen; wenige Jahre können hier Aenderungen bewirken. Andere Körperteile aber sind schwerer veränderlich, und zu den verhältnismäßig am schwersten veränderlichen Teilen gehört der Schädel.“ Die heutigen Rassen teilt Verfasser ein in Naturrassen (die alten „Landschläge*), die lediglich durch Anpassung an die natürlichen Verhältnisse der Gegend, in der sie leben, entstanden sind, Kulturrassen, um deren Dettweiler, Die Aufzucht des Rindes. 7167 Abänderung der Mensch bemüht war, und dazwischen Ueber- gangsrassen. Jede Rasse ist ein Kunstprodukt, entstanden unter der Wechselwirkung von Vererbung, Anpassung und Kreuzung, und trägt daher immer die Neigung zur Veränderung in sich. Alle aber sind Produkte ihrer Scholle und ändern bei Verpflan- zung in eine andere Gegend mehr oder weniger ihre Eigen- tümlichkeiten ab. Insbesondere werden sie dabei oft unfruchtbar, weibliche Tiere häufiger als männliche. Unter den äußeren Ein- flüssen ist in erster Tine wichtig die geologische Formation mit der davon abhängigen Pflanzenwelt. „Sie zieht den Zucht- bestrebungen Grenzen, welche ungestraft nicht überschritten werden dürfen. Der Boden liefert dem Rind das für seine Entwickelung ausschlaggebende Rauhfutter und bestimmt Körpergröße, Gewicht und Leistung.“ Insbesondere darf man nie eine Rasse von besserem Boden auf schlechteren verpflanzen, sondern nur umgekehrt, wobei indes die verschiedenen Rassen verschiedene Empfindlichkeit zeigen. Ferner ıst das Klima von größter Bedeutung. Die Dauer des Weideganges ist natürlich überaus wichtig für die ganze Ernährung, der Feuchtigkeitsgehalt der Luft beeinflusst alle Epidermisbildungen, selbst die Hörner, die Höhenlage wirkt auf Atmung, Blutbildung u.s.w. „Die in diesen äußeren Verhältnissen liegende Naturzüchtung ist wichtiger als all unsere künstliche Ziichtungsweisheit.“ Auch in bezug auf die zweite Entstehungsursache der Rassen, die Kreu- zung, ist der Züchter nicht allmächtig. Insbesondere ist deren Erfolg abhängig von der näheren und weiteren Verwandtschaft der zu kreuzenden Rassen; nur bei ziemlich weiter Verwandtschaft scheint die phylogenetisch ältere Rasse größere Vererbungskraft zu haben. Maßgebend für die Kreuzung ist die Vererbungskraft ein- zelner Individuen, die ganzen Schlägen ihre Eigenschaften auf- prägen können. Dabei ist die Vererbung nicht immer eine direkte, von Vater auf Sohn, von Mutter auf Tochter, sondern häufig eine geschlechtlich gekreuzte, von Vater auf Tochter u. s. w., und hier- durch wieder eine z. T. latente, von Vater durch Tochter auf Enkel u.s.w. Ganz merkwürdig ist dabei, dass der Bulle z. B. die Fähig- keit, viel oder wenig Milch zu geben, ja, was noch wichtiger und auffallender ist, sogar die Fähigkeit, fettreiche oder fettarme Milch zu geben, und damit in Zusammenhang stehend die äußere Form des Euters und der Zitzen, von seiner Mutter auf seine Töchter in überwiegendem Maße vererbt. Ueberhaupt vererbt der Bulle be- sonders Leistungen und allgemeine Konstitution, darunter auch recht häufig Krankheiten. Dagegen leistet die Mutter „dem krankmachenden Einflusse des Vaters energisch Widerstand und gestaltet schließlich eine schwere Vererbung in eine weniger bedrohliche Form“. „Ueber- haupt hat die krankhafte Vererbung seitens des Vaters einen pro- gressiven, diejenige seitens der Mutter einen rezessiven Charakter.“ Auch sonst ist der Bulle das fortschreitende, die Kuh das zurück- haltende Element. Zum Schlusse noch zwei Sätze: „Innerhalb der Grenzen, welche durch Klıma und Boden, sowie durch den diesen Verhältnissen an- 768 Ladenburg, Naturwissenschaftliche Vorträge in gemeinverständl. Darstellung. gepassten Landwirtschaftsbetrieb bestimmt werden, ıst der künst- lichen Züchtung ein verhältnismäßig weiter Spielraum eingeräumt für die Zuchtwahl der zugleich den wirtschaftlichen Zwecken, wie den natürlichen Verhältnissen des Ortes angepassten Haustiere. Es müssen nur die Grenzen der Anpassungsfähigkeit berücksichtigt werden.“ „Wenn man seine Zuchtrichtung immer mit den ge- gebenen natürlichen Verhältnissen in Einklang erhält, muss man schon nach einigen Jahren zielbewussten Strebens Erfolg in der Rindviehzucht sehen.“ Wir sehen, der Züchter ist nicht allmächtig. Er muss mit denselben „Gesetzen“ und Bedingungen rechnen, die auch die natürliche Zuchtwahl beherrschen; er kann lediglich die Richtung und die Geschwindigkeit der Abänderung bestimmen, ist aber ab- hängig von allgemeinen, diese bestimmenden Gesetzen. Auch die Kreuzung kann nicht unter dem Einfluss künstlicher oder natür- licher Zuchtwahl erworbene Eigenschaften beseitigen, oder mit jenen nicht übereinstimmende neue Eigenschaften einprägen. Auch sie ist bestimmten Gesetzen unterworfen. Und diese allgemeinen, gleicherweise natürliche und künstliche Zuchtwahl beherrschenden und bedingenden Gesetze zu erforschen, ist niemand geeigneter als der Tierzüchter; Darwin wusste ganz wohl, warum er, um die natürliche Zuchtwahl kennen zu lernen, die künstliche eingehend studierte. Reh. Albert Ladenburg. Naturwissenschaftliche Vorträge in gemeinverständlicher Darstellung. Gr. 8, 264 S., Leipzig 1908, Akademische Verlagsgesellschaft m. b. H. Durch schwere Krankheit an der gewohnten experimentellen Tätigkeit verhindert, hat sich der verdiente Chemiker veranlasst gesehen, eine Reihe von Vorträgen, die er im Laufe von 40 Jahren, meist ın Kiel und Breslau gehalten hat, zusammenzustellen und teils unverändert, teils nach dem neuen Stande unseres Wissens ergänzt und überarbeitet, herauszugeben. Sie sind fast ausschließ- lich chemischen Inhalts und bringen dem Biologen wichtige Kapitel dieser ihm so naheliegenden Wissenschaft in klarer, auch für den Außenstehenden verständlicher Weise näher. Die Darstellung ist übersichtlich, da wo es nötig erschien, durch einfache Zeich- nungen erläutert. Den Beschluss bildet die seinerzeit so viel be- sprochene Kasseler Rede über den Einfluss der Naturwissenschaften auf die Weltanschauung in unverändertem Abdruck, aber mit einem Epilog versehen, in welchem sich L. gegen die unberechtigten An- eriffe, die er erfahren hat, mit wenigen ruhigen und sachlichen Worten verteidigt. J. Rosenthal. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der kgl. bayer. Hof- u. Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Die geographische Verbreitung der Wirbeltiere in Grönland und Spigbergen mit Berücksichtigung der Beobachtungen Nansens ; von Dr. H. Trautzsch. M. 1.20. Beiträge zur Theorie der nafürlihen Zuchtwahl von A. R. Wallace. Deutsche autorisierte Ausgabe von A. B. Meyer. M. 6.—. Anatomische Tabellen für Präparierübungen und Repetitionen von Dr. med. ©. Walter. Heft I. (Bänder, Muskeln, Schleimbeutel und Schleimscheiden, Kanäle und Öffnungen ete.) Geb. M. 3.—. Heft Il. (Arterien und Nerven.) Geb. M. 3.40. _ Beifräge zur Krifik der Darwinschen Theorie von Professor Dr. G. WV ol ff. Mig . Mechanismus und Vifalismus von Professor Dr. G. Wolff. M. 1.40. ® WEB” Dieser Nummer liegt ein Prospekt der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart, betr.: , Guenther, Vom Urtier zum Menschen“, bei. K. B. Hof- und Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. tt L 1a = $$ Biologisches Centralblatt, Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig . Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Viorundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. XXY1IlIl.Bd. 15. Dezember 1908. No QA, "Leipzig. Verlag von Georg Thieme. Rabensteinplatz 2. Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Soeben erschien: Fehr bucht der allgemeinen Pathologie und allgemeinen pathologischen Anatomie von Dr. med. Richard Oestreich, Privatdozent der Universität und Prosektor des Königin Augustahospitals in Berlin. Mit 44 Textabbildungen und 14 Abbildungen auf 11 Tafeln in Dreifarbendruck. | M. 13.50, geb. M. 14.20. Biologisches Centralblatt. Unter Mitwirkung von Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig Professor der Botanik Professor der Zoologie in München, herausgegeben von Dr. J. Rosenthal Prof. der Physiologie in Erlangen. Vierundzwanzig Nummern bilden einen Band. Preis des Bandes 20 Mark. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut, einsenden zu wollen. Bd. XXVIII. 15. Dezember 1908. N 24, Inhalt: Cholodkovsky, Zur Frage über die biologischen Arten. — Prowazek, Studien zur Bio- logie der Zellen. — Braem, Die Knospung der Margeliden, ein Bindeglied zwischen ge- schlechtlicher und - ungeschlechtlicher Fortpfianzung.|} Zur Frage über die biologischen Arten. Von N. Cholodkovsky, St. Petersburg. Vor einigen Jahren habe ich in dieser Zeitschrift die allge- meinen Resultate meiner vieljährigen Forschungen über die Biologie der Chermes-Arten kurz dargelegt'). Unlängst erschien nun ein Artikel von C. Börner?), in welchem der Verfasser die Existenz der von mir aufgestellten biologischen Arten völlig ın Abrede stellt und die von mir nur zum Teil angenommene Theorie der Parallelreihen Dreyfus’ in ihrem vollen Umfange wiederherzustellen sucht. Irgend- welche Beweise zugunsten seiner Anschauung hat Börner in jenem Artikel nicht beigebracht, wohl aber versprochen, dieselben in seiner ausführlichen Arbeit darzulegen. Ohne die Erscheinung dieser Ar- beit abzuwarten, hat nun Prof. O. Nüsslin in Nr. 10, Bd. XXVIII dieser Zeitschrift?) die Ansichten Börner’s auf Grund jener vor- läufigen Mitteilung als eine Reform in der Chermes-Biologie be- grüßt). 1) N. Cholodkovsky. Über den Lebenszyklus der Chermes-Arten und die damit verbundenen allgemeinen Fragen. Biol. Centralbl., Bd. 20, Nr. 8, 1900. 2) ©. Börner. Systematik und Biologie der Chermiden. Zool. Anz., Bd. 3 Nr. 14, 1907. 3) ©. Nüsslin. Zur Biologie der Gattung Chermes. Biol. Centralbl., Bd. 28, Nr. 10, 1908. XOOV IIL. 49 SR IN a nt 770 Cholodkovsky, Zur Frage über die biologischen Arten. Schon unmittelbar nach dem Erscheinen des Artikels ©. Borner’s sah ich mich durch den Ton des Verfassers und durch seine An- zweifelung der Zuverlässigkeit meiner Beobachtungen veranlasst, ihm zu antworten und auf einige mögliche Quellen der Irrtümer von seiner Seite hinzuweisen). Gleichzeitig aber habe ich mich ausgesprochen, dass es mir gewiss sehr interessant sein wird, seine ausführliche Arbeit zu lesen. Bei der erstaunlichen Mannigfaltig- keit und Kompliziertheit der Formen und der Lebensweise der Chermes-Arten, bei der außerordentlichen Schwierigkeit der bezüg- lichen Untersuchungen war es doch immer möglich, dass ich etwas übersehen oder missverstanden hatte, oder sogar, dass Börner wirklich etwas prinzipiell Neues gefunden hat. Auch habe ich mich immer bemüht, die goldenen Worte Claude Bernard’s nicht zu vergessen: „ne craignez jamais des faits contraires, car trop souvent ils contiennent un germe d’une découverte.“ Ich habe also erwartet, im Buche Börner’s irgendwelche neue und wichtige, mir unbekännt gebliebene, gegen die Lehre von biologischen Arten sprechende Tatsachen zu finden, und ich muss nun gestehen, dass ich in dieser Hoffnung durchaus getäuscht wurde. Als nämlich das Buch’) erschien, habe ıch dasselbe aufmerksam durchgelesen und, zu meiner Verwunderung, nicht nur keine Widerlegung, sondern in allen irgendwie wichtigen Punkten eher eine Bestätigung meiner Resultate gefunden. Die Kardinalfrage der Chermes-Forschung ist die Existenz aus- schließlich parthenogenetisch sich fortpflanzender, selbständiger Formenreihen und die damit verbundene Aufstellung der sogen. biologischen Arten, die sich lediglich durch ihre Entwickelungs- weise voneinander unterscheiden, in morphologischer Hinsicht aber fast identisch sein können. Als solche biologische Arten betrachte ich u. a. den exklusiv parthenogenetischen Ch. abietis Kalt. mit dem ıhm entsprechenden, aber eine amphigone Generation besitzenden Ch. viridis Ratz., sowie den Ch. lapponicus m. mit dem Ch. strobi- lobins Kalt. Börner hat nun behauptet, bewiesen zu haben, dass Ch. abietis und Ch. viridis (resp. Ch. strobilobius und Ch. lapponicus) von einer Stammutter (Fundatrix vera) erzeugt werden können, worauf dann aus einer und derselben Galle (der „Mischgalle“) die „monözischen* und „diözischen“ Geflügelten entspringen sollen. So etwas habe auch ıch einst geglaubt, habe das aber nie beobachten können. Da nun Dreyfus berichtet, in Deutschland auf Lärchen zwei Formenreihen von Viridis-Emigranten — eine grüne und eine gelbe gefunden zu habeu, ich aber in Russland stets nur mit 4) N. Cholodkovsky. Aphidologische Mitteilungen. Zool. Anz., Bd. 32, Nr. 23, 1908. 5) Carl Börner. Eine monographische Studie über die Chermiden. Arbeiten aus der K. Biolog. Anstalt für Land- und Forstwirtschaft, Bd. 6, Heft 2, 1908. | | Cholodkovsky, Zur Frage über die biologischen Arten. asl der griinen Reihe zu tun hatte, — so habe ich nach dem Er- scheinen der vorläufigen Mitteilung Börner’s für möglich gehalten, dass Börner gerade die mir unbekannte gelbe Formenreihe be- obachtet hat, welche sich vielleicht auf die von ihm angegebene Weise fortpflanzen sollte. Selbstverständlich konnte aber diese Fortpflanzungsweise nur durch das positive Ergebnis eines wissen- schaftlich durchgeführten Experiments bewiesen werden, und habe ich also erwartet, bei Börner ein solches Ergebnis zu finden. Seine „monographische Studie* enthält aber absolut nichts der- artiges. Einerseits ist es ihm „nicht gelungen“, über die gelbe und grüne Rasse „Gewissheit zu schaffen“ (S. 137), andererseits ist ihm der einzige von ihm unternommene Versuch, die „monözischen“ und „diözischen“ Cellaren aus einer Galle zu züchten, für Ch. abietis- viridis sowohl als für Ch. strobilobius-lapponicus „aus einem be- dauerlichen Unglücksfall“ (infolge des Absterbens der Versuchs- bäumchen) „nicht geglückt“ (S. 244, 250). Zu gleicher Zeit hat er aber „die biologische Trennung der monözischen und diözischen Gallenfliegen in wiederholten Zuchtexperimenten stets im Sinne Cholodkovsky’s bestätigt gefunden“ (S. 311). Was also Börner wirklich beobachtet hat, das stimmt mit meinen Resultaten überein: was er aber in biologischer Hinsicht anders als ich beschreibt oder deutet, das hat er durch keine Tatsache bewiesen °°). In seiner vorläufigen Mitteilung wirft mir Börner vor, dass „die Schule Cholodkovsky’s“ einen Beweis der Bildung von 5a) Zusatz beim Lesen der Korrektur. Soeben erschien eine neue Mit- teilung Börner’s (Über Chermesiden, II. Zool. Anz., Bd. 33, Nr. 17—18), in welcher er über sein erneutes, endlich „gelungenes“ Experiment berichtet, durch welches er meine „Theorie der parthenogenetischen Arten“ definitiv widerlegt zu haben glaubt. Ich muss aber erklären, dass ich sein Experiment für durchaus nicht beweiskräftig halte. Erstens ist nämlich nicht bewiesen, dass seine Versuchsbäume wirklich chermesfrei waren (vgl. weiter unten über seinen Versuch mit der „ehermesfreien“ Lärche); zweitens konnten die frei im Garten stehenden Tannen von den angeflogenen Sexuparen auch von weiter Entfernung infiziert werden. Experimente mit Chermes-Arten müssen weit vorsichtiger und sorgfältiger einge- richtet werden, als es Börner getan hat, sonst können sie leicht zu ganz falschen Schlüssen führen. Außerdem erregen die von ihm mitgeteilten Resultate auch in mancher anderer Hinsicht Bedenken. Er schreibt nämlich, dass die von ihm er- haltenen Gallen in der Zeit vom 21. August bis 6. September reiften. Das wäre nun nicht nur in St. Julien bei Metz, sondern sogar in Nordrussland (wo die Viridis- Gallen durchschnittlich Mitte Juli — nach dem neuen Stil — sich öffnen) viel zu spät. Dann berichtet er, dass die von den Geflügelten abgelegten Eier erst mittler- weile grasgrün geworden sind, nachdem sie anfangs hellgrün, mit einem Stich ins Gelbliche, ausgesehen hatten. Bei dem von mir beobachteten Ch. viridis sind aber die Eier bereits in deu Eiröhren grasgrün, indem sie nach der Ablage in wenigen Tagen dunkelgrün (ich möchte sagen schwärzlichgrün) werden. Hat Börner nicht in der Tat die mir unbekannte gelbe Rasse) resp. Spezies) beobachtet? In einem solchen Falle könnten wir vielleicht beide im Rechte sein, ohne dass meine Beobachtungen widerlegt würden. 49" CUP ~ Cholodkovsky, Zur Frage über die biologischen Arten. biologischen Arten durch langjährige Zuchtexperimente „schuldig geblieben ist“. Es ist zwar richtig, dass ich über meine Zucht- versuche mit der Bildung von Abietis- und Lapponicus-Gallen bis jetzt nichts publiziert habe. Und doch habe ich solche Versuche seinerzeit unternommen und weiter geführt, als es Börner gelungen ist. In meinen „Beiträgen“®) erzähle ich, wie ich in den Jahren 1889—91 den Ch. abietis auf die Kiefern und andere Nadelhölzer zu übersiedeln versuchte „Die in Töpfe gepflanzten Bäumchen wurden den Winter hindurch in einem kalten Raum gehalten und haben den Winter vortrefflich überlebt.“ Nun waren zum Kontroll- versuche auch einige chermesfreie Fichtenbäumchen in Töpfe gepflanzt, mit Ch. abietis (durch die Ablage der Eier von Gallen- fliegen) infiziert und den Winter ebenfalls glücklich überstanden. Im nächsten Sommer haben sich auf diesen (die ganze Zeit streng isoliert gehaltenen) Bäumchen Gallen entwickelt, aus welchen wieder lauter gelbe Abietis-Fliegen hervorgekommen sind, die auf denselben Bäumchen ihre gelben Kier ablegten, worauf aus diesen Hiern typische Fundatrices-Larven von Ch. abietis (länglich, schmal, mit langen Rüsselborstenschlingen) sich entwickelten. Man wird mich vielleicht fragen, weshalb ich dieses Ergebnis nicht veröffentlicht habe? Vielleicht ist das wirklich von meiner Seite gewissermaßen eine Fahrlässigkeit gewesen; aber, wie gesagt, es handelte sich für mich lediglich um einen Kontrollversuch, um sicher zu sein, dass die auf der Kiefernrinde absterbenden Larven auf der Fichte (also in den für dieselben passenden Existenz- bedingungen) lebensfähig sind und gut gedeihen können. Später aber habe ich dieses Experiment nicht mehr wiederholt, da zweierlei hibernierende Fundatrices-Larven konstatiert wurden, wo- durch also vollgültig bewiesen war, dass beide Formenreihen (Abietis und Viridis) in allen Phasen des Zyklus, vom An- fang bis zum Ende, ganz getrennt verlaufen. Ich habe also die weiteren Zuchtversuche für überflüssig gehalten, da schon im voraus zü erwarten war, dass aus Viridis stets nur Viridis, aus Abietis stets nur Abietis sich entwickeln wird. Eine Einlenkung der rein parthenogenetischen Reihe in die amphigone zu erwarten, war für mich „gleichbedeutend mit dem Glauben, dass aus den von Abietis-Geflügelten abgelegten Eiern plötzlich keine Fundatrix vera, sondern irgendwelche andere Larven (z. B. solche, wie bei Ch. viridis, mit kurzen Borstenschlingen) ausschlüpfen werden‘, was ich für ebenso unwahrscheinlich hielt, als etwa „das Ausschlüpfen eines Zeisigs oder eines Stieglitzes aus den Eiern vom Kanarienvogel“”). 6) N. Cholodkovsky. Beiträge zu einer Monographie der Koniferenläuse, I. Teil, S. 85—86. Horae Societatis Entomologicae Rossicae, Bd. 30, 1895. 7) N. Cholodkovsky. Die Koniferenläuse Chermes, Feinde der Nadelhölzer. 3erlin 1907 (S. 12). Cholodkovsky, Zur Frage über die biologischen Arten. 173 Außerdem würde der Beweis von zwei oder drei aufeinanderfolgen- den rein parthenogenetischen Zyklen die Gegner der unbegrenzten Parthenogenese gewiss nicht befriedigen: sie könnten immer be- haupten, dass die Einlenkung der Parthenogenese in die Amphi- gonie vielleicht erst nach 4, 10, 20, 100 Generationen erfolgen wird... ... Ich lege also ein ganz besonderes Gewicht auf die bereits von Dreyfus nachgewiesenen Unterschiede der überwinternden Funda- trices-Larven von Ch. abietis und Ch. viridis. In späteren Ent- wickelungsstadien der Stammütter verwischen sich zwar diese Unter- schiede, aber die Winterlarven beider Spezies lassen sich stets sicher voneinander unterscheiden. Für die Fundatrices-Larven von Ch. strobilobius Kalt. und Ch. lapponicus m. lassen sich nun solche Unterschiede nicht nachweisen, — wenigstens ist das bis jetzt weder mir noch anderen gelungen. Hier unterscheiden sich also die beiden Formenreihen fast nur durch ihren biologischen Zyklus, der bei der einen einjährig und rein parthenogenetisch ist, bei der anderen aber in 2 Jahren verläuft und eine amphigone Generation enthält. Auch die Gallenfliegen beider Spezies sind einander äußerst ähnlich, besonders bei Ch. strobilobius Kalt. und Ch. lapponicus var. praecor m. Aber die Gallenfliegen von Strobilobius legen Eier, aus welchen Fundatrices spurtae (Larven) mit sehr kurzen Borstenschlingen hervorgehen, während die aus den von Lapponicus-Fliegen abgelegten Eiern schlüpfenden Larven wahre Fundatrices sind und sehr lange Borsten- schlingen aufweisen. Börner vermag zwar „den Wert dieses Organes für die Systematik nicht hoch einzuschätzen (Eine mono- graphische Studie u. s. w., S. 102); hier hat er aber sehr unrecht, da die langen oder kurzen Rüsselborsten nicht nur für die Unter- scheidung der Generationen und Arten ein vortreffliches Merkmal abgeben, sondern auch auf die Anpassung zum Saugen auf der Fichtenknospe und zur Gallenbildung einerseits, zum Saugen auf der dünneren Rinde der Zwischenpflanze andererseits deutlich hin- weisen. Für Börner sind die morphologischen Unterschiede der erwachsenen Formen allein maßgebend; sind sie sehr klein oder gleich Null, so sollen die Formen auch in biologischer Hinsicht identisch sein. „Meiner Erfahrung widerspricht es scharf — sagt er op. cit. S. 242 —, dass gleichartige Formen, wie eben die Gallen- fliegen von Strobilobius und Lapponicus praecox sich ungleichartig fortpflanzen könnten und dadurch ihre Artverschiedenheit beweisen würden“ u.s.w. Das ist ihın „eine phylogenetische Unmöglich- keit“. Nun, meine Erfahrung hat mich aber gelehrt, dass die Chermes-Arten auch in Hinsicht der Artenbildung sich ganz anders verhalten als die überwiegende Mehrzahl der Insekten und mit dem Maßstabe der letzteren nicht zu messen sind. 174 Cholodkovsky, Zur Frage über die biologischen Arten. Den Ch. praecox hat Börner „in Deutschland nie gesehen“. Das kann entweder davon abhängen, dass Börner nicht so glücklich war, denselben zu finden, oder aber dass Ch. praecox eine nordische Varietät ist, die vielleicht in Deutschland wirklich nicht vorkommt. Herr Börner entscheidet aber diese Frage viel einfacher: er kann „mit der Vermutung nicht zurückhalten, dass es auch ın Russland einen Lapponicus praecox nicht gibt“. Wahrhaftig eine beneidens- werte Zuversichtlichkeit! Aber nein: der Ch. praecox kommt in den Fichtenwäldern Nordrusslands, wo Lärchen gänzlich fehlen, in Hülle und Fülle vor. Auf Wunsch kann ich Herrn Börner Fichten- zweige mit aufspringenden Praecox-Gallen und mit den auf Fichten- nadeln Eier legenden Praecox-Fliegen zusenden, damit er aus diesen Eiern die Fundatrices-Larven mit langen Borstenschlingen züchten kann. Zum Ersatz für den verworfenen Ch. praecox beschenkt uns Börner mit einer „neuen Spezies“ — dem Chermes affinis, den er aber nur nach einigen Alkoholexemplaren der erwachsenen Fundatrix kennt, so dass diese „Spezies“ ein würdiges Gegenstück zu Ch. atratus Buckton oder Ch. lariceti Altum bildet. Von mir fordert Börner sehr viel, um eine Chermes-Spezies zu begründen (z. B. für Ch. viridis „langjährige Zuchtversuche“), von sich selbst aber entschieden viel zu wenig. In seinem Buche spricht Börner wiederholt von den „Misch- gallen*, worunter er auch die angeblich von einer Fundatrix be- gründeten Gallen versteht, aus denen ,mondédzische“ sowohl als „diözische* Fliegen entstehen sollen. Das letztere vermochte er, wie wir sahen, nicht zu beweisen. Mischgallen können aber in der Tat vorkommen, wenn an der Gründung der Galle mindestens zwei verschiedene Fundatrices beteiligt sind. Man kann sich z. B. sogar Strobilobius- Viridis-Gallen vorstellen, obschon diese Spezies zu sehr verschiedenen Zeiten Flügel bekommen (Strobilobius — Anfang Juni, Viridis aber Anfang Juli); da nämlich die Viridis-Galle viel größer als die Strobilobius-Galle ist, so muss das Vertrocknen der Strobilobius- Zellen nicht unbedingt zum Vertrocknen der ganzen Galle führen. Börner spricht aber (S. 244) von Mischgallen von Strobslobius und Lapponicus tardus. Bei Ch. strobilobius springen nun die Gallen Anfang Juni, bei Tardus aber erst Ende Juli oder Anfang August auf; beide sind klein und bestehen aus relativ wenigen Zellen. Wenn also eine solche Mischgalle im Juni aufspringt, so wird sie in wenigen Tagen ganz vertrocknen. Aus einer Galle Strobilobius und Tardus zu züchten, ist daher schon keine ,phylogenetische‘, sondern eine biologische Unmöglichkeit. Handelte es sich nicht viel- mehr im Falle Börner’s gerade um Strobilobius-Praecox-Gallen, die, selbstverständlich, wenigstens von zwei Fundatrices begründet waren? Cholodkovsky, Zur Frage über die biologischen Arten. 175 Sehr eingehend beschreibt Börner die verschiedenen Stadien der auf der Lärche lebenden Strobxlobirs-Emigranten. Da nun diese Seite der Lebensgeschichte von Ch. strobilobius sehr verwickelt ist und da hier neue Entdeckungen noch am ehesten zu erwarten waren, so ist mir dieser Teil der Arbeit Börner’s besonders inter- essant gewesen. Ich habe mir also zur Aufgabe gestellt, im Sommer 1908 die betreffenden Generationen nochmals zu verfolgen und die Angaben Börner’s einer Prüfung zu unterwerfen. Nach Börner erzeugt die reife Pundatrix spuria („Hiemalis-Mutter“) zweierlei Art von Eiern: die einen führen zu den Sexuparen und zu den Exsules, die anderen aber (und zwar eine verschwindend kleine Anzahl) direkt wieder zu den hibernierenden Larven, die sich in die Rindenritzen verkriechen, um das ganze Jahr hindurch untätig zu bleiben und erst im nächsten Frühjahr weiter zu wachsen. Das- selbe beschreibt er auch für Ch. viridis. Diese Angaben konnte ich leider nicht prüfen, da ich durch meine amtlichen Pflichten bis zum 15. Juni verhindert war, an die Untersuchung zu treten. Ich kann aber nicht verhehlen, dass mir die Art und Weise, auf welche Börner sich von der Existenz dieser zweierlei Art von Eiern über- zeugt haben will, etwas verdächtig erscheint. Er hat nämlich (S. 242) die reifen Eier geöffnet und „fand in ihnen fast regel- mäßig beide Larvenformen vor“. Nun sind aber die bezüglichen Chermes-Larven nicht nur in den Eiern, sondern sogar unmittelbar nach dem Ausschlüpfen aus dem Ei sehr zart und weichhäutig, indem die charakteristischen Hauptplatten erst nach einigen Stunden ganz deutlich hervortreten. Die Methode Börner’s ist also von einem zweifelhaften Wert und kann leicht zu Irrtümern führen. Auch sein Versuch mit der „chermesfreien“ Lärche (S. 310) be- friedigt mich nicht. Es ist ja geradezu unmöglich, sämtliche feine Rindenritzen einer Lärche so gründlich zu untersuchen, dass man von der absoluten Abwesenheit der winzigen „Hiemales“-Larven sicher sein könnte. Um als chermesfrei zu gelten, muss die Lärche, streng isoliert, aus einem Samen auferzogen sein; von einer solchen Vorsichtsmaßregel erwähnt aber Börner nichts. Auch die Exsules („Aestivales“) sollen nach Börner zweierlei Eier legen, aus denen also einerseits wieder „Aestivales“, anderer- seits aber „Hiemales“-Larven sich entwickeln. Hier konnte ich schon meine Prüfung anstellen. Ich habe nun eine große Anzahl von Exsules-Eiern angesammelt, daraus Larven gezüchtet und die letzteren auf Balsampräparaten sorgfältig untersucht. Alle ohne Ausnahme erwiesen sich den „Hiemales“ ähnlich, d.h. mit der charakteristischen Winterstruktur der Haut ver- sehen. So oft ich diese Untersuchung im Juni, Juli und August wiederholte, das Resultat war immer dasselbe. Ich habe mich auch bemüht, sämtliche Häutungen der Exsules nochmals zu verfolgen, 776 Cholodkovsky, Zur Frage über die biologischen Arten. um auch auf diesem Wege zu prüfen, ob wirklich, wie es Börner verlangt, die ersten Larvenstadien derselben stets eine der cha- rakteristischen Plattenstruktur entbehrende Haut aufweisen. Für die Exsules der ersten Generation (die also aus den von der Fundatrix spuria abgelegten Eiern stammen), war das nun leicht zu erfüllen, da die Tiere sich fast immer auf eine Stelle der Lärchen- nadel auf die Dauer ansaugen und daselbst alle Häutungen durch- machen, so dass hinter einer eierlegenden Mutter meist ihre sämt- lichen abgeworfenen Haute zu finden sind, — darunter auch die abgestreifte plattenlose erste Haut. Für die späteren Exsules- Generationen war aber die Aufgabe schon schwieriger zu lösen, da diese Läuse meist nach jeder Häutung ıhren Platz ändern, so dass hinter einem saugenden Individuum fast immer nur eine oder zwei oder auch gar keine abgeworfenen Häute liegen. Mit einiger Mühe gelang es mir aber auch ın diesen Fällen, die abgestreiften Häute aller drei Stadien zu finden, wobei die erste Haut immer wieder die Plattenstruktur aufwies. Somit wurden meine früheren, von Börner als „irrig“ gerügten Angaben vollends be- stätigt. Börner hält zwar nicht „für absolut ausgeschlossen“, dass eine „sommerliche Hiemalis noch im selben Jahre Mutter werde“, sie „muss“ aber, nach seiner Meinung, in diesem Falle zur nackten Hiemalis-Mutter (= Fundatrix spuria) werden, die „habituell so wesentlich verschieden ist von der Aestivalis-Mutter* (= Exsul). Schade ist eben, dass Börner allzusehr besorgt ist das zu finden, was seiner Ansicht nach sein muss, anstatt seine Aufmerksamkeit mehr auf das tatsächlich Bestehende zu richten. Meine Untersuchungen haben also gezeigt, dass sämtliche aus den Exsules-Eiern schlüpfende Larven eine gleiche Struktur der Haut besitzen. Im letzten Sommer habe ich aber bemerkt, dass sogar die Nachkommen der ersten (d. h. der aus den Eiern von Funda- irix spuria stammenden) Exsules-Generation sich nicht alle un- mittelbar weiter entwickeln, indem einige ungehäutet in die Rinden- ritzen sich verkriechen, offenbar um in diesem Zustande zu überwintern. Dasselbe wiederholt sich auch bei den folgenden Generationen. Andere Larven entwickeln sich aber weiter und werden zu Eier- legerinnen. Obschon also die aus den Exsules-Eiern sich entwickeln- den Larven morphologisch alle gleichgebaut sind, erweisen sie sich in biologischer Hinsicht (ähnlich den biologischen Arten) als wirklich zweierlei, da sie verschiedene Entwickelungsrichtung be- kunden. Die Angabe Börner’s, ich hätte in meinem Schema des Ent- wickelungszyklus von Oh. strobilobius drei aufeinanderfolgende Sexu- paren-Generationen. angenommen, — beruht auf einem sonderbaren Missverständnis. Die drei gekreuzten Striche bedeuten selbstver- ständlich nicht die drei Generationen (was auch dem Text schroff Cholodkovsky, Zur Frage über die biologischen Arten. ahaa widerspräche), sondern bezeichnen nur den Weg der Sexuparen von der Lärche zur Fichte. Aber genug von Ch. strobilobius. Auch für andere Chermes- Arten kritisiert Börner meine Ergebnisse in ganz derselben Weise. Für den Ch. pint z. B. leugnet er die Existenz der von mir ent- deckten geflügelten Exsules. Die von mir beschriebenen Fliegen sollen Migrantes alatae aus den von mir vermissten Gallen gewesen sein. Wer meine Chermes-Arbeiten gelesen hat, der weiß, dass auch ich früher dieser Meinung war (vgl. „Beiträge“, I. Teil, S. 92) und lange Jahre vergebens nach jenen Gallen suchte. Dann habe ich aber bemerkt*), dass auf den Kieferntrieben etwa 2—3 Wochen nach dem Abfliegen der Sexuparen wieder Nymphen erscheinen, aus denen sich Geflügelte entwickeln, die, anstatt von der Kiefer wegzufliegen, auf den Kiefernnadeln ihre Eier ablegen. Aus diesen Eiern entwickeln sich nun typische zu einer auf der Kiefernrinde saugenden Generation führende Larven. Deshalb habe ich jene Fliegen geflügelte Exsules genannt. Um nun aller weiteren Kritik endgültig vorzubeugen, will ich hier die Art und Weise, in welcher ich die soeben beschriebene Erscheinung konstatierte, ausführlich beschreiben. Ein Zweig von Pinus silvestris mit solchen „ver- späteten* Pini-Nymphen wurde abgeschnitten, in ein kleines Glas mit Wasser gesteckt und das Ganze in ein größeres Glas gebracht, das mit Gaze zugebunden wurde. So war jener Zweig von der Außenwelt sicher isoliert. Nach einigen Tagen entwickelten sich aus den Nymphen Geflügelte, die auf den Kiefernnadeln (und zwar meist auf der flachen inneren Seite derselben) Eier ablegten, aus welchen dann die oben genannten Larven gezüchtet wurden. Das beweist wohl zur Genüge, dass meine geflügelten Exsules nicht aus Gallen stammten. Noch schwächer ist die gegen meinen Ch. viridanus gerichtete Kritik Bérner’s begriindet. Diese Spezies, die er nie gesehen hat, ist ihm, wie ich bereits auf anderer Stelle bemerkt habe, ganz be- sonders unangenehm, da sie sich seinen Theorien nicht einfügt. Indem nämlich Börner solche schwerwiegende Merkmale wie die bereits von Blochmann mit Recht hervorgehobene verschiedene Länge der Rüsselborstenschlinge nicht systematisch verwerten will, ver- leiht er einem überzähligen Stigmenpaar oder der bei vielen Formen äußerst variablen Verteilung der Hautdrüsen der „Larvenmütter“ eine ungebührlich große Bedeutung und errichtet auf diese Weise sein phylogenetisches „System der Chermiden“, das ihn zu weit- läufigen Spekulationen führt. Da nun nach diesem System der Ch. viridanus in die „Pineus-Gruppe“ gestellt werden muss, während 8) N. Cholodkovsky. Aphidologische Mitteilungen, Nr. 19, Zool. Anz., Bd. 26, Nr. 693, 1903. 778 Cholodkovsky, Zur Frage über die biologischen Arten. diese Spezies ausschließlich auf der Lärche lebt, — so soll ich die- selbe höchst lückenhaft beschrieben, mit allerlei anderen Spezies verwechselt haben u. s. w. Wäre es doch von seiten Börner's nicht besser gewesen, angesichts der direkt widersprechenden Tat- sachen die Theorie abzuändern oder gar aufzugeben? Wie sehr aber Börner in seinen Theorien befangen ist, zeigt wohl am besten seine Vermutung, dass die von mir beschriebenen (auf der Lärche gezüchteten!) Viridanıs-Fliegen aus Orientalis-Gallen stammen sollten! (S. 274, 267). So schlechter Meinung von meiner Be- obachtungsgabe Herr Börner auch sein mag, wird er mir doch wenigstens glauben, dass ich kein Daltonist bin und das Dunkelrote vom Hellgrünen richtig zu unterscheiden weiß! In meiner Antwort auf die vorläufige Mitteilung Bérner’s habe ich u. a. geschrieben: „OÖ. Börner schließt seinen Artikel mit folgendem charakteristischem Passus: „ich schließe mit dem Satze, dass unsere künftigen Zuchtversuche nicht die Auffindung bio- logischer Arten durch gesteigerte Parthenogenese zu bezwecken haben, sondern ganz im Gegenteil u. s. w.“ Nun, ich kann auf- richtig sagen, dass ich die Aufstellung biologischer Arten nie „be- zweckt“ habe. Eine sehr lange Zeit habe ich selbst geglaubt, dass Ch. abietis und Ch. viridis nur Parallelreihen einer Spezies seien; erst nach langer, mühevoller Arbeit, unter dem Zwang der Tat- sachen und unerwartet für mich selbst, bin ich zur Idee der bio- logischen Arten gekommen. Darin liegt auch die beste Garantie für die Richtigkeit meiner Schlussfolgerungen. Sich aber von vorn- herein Zwecke stellen, dies oder dies zu beweisen, — das will ich anderen überlassen.“ In seiner Entgegnung auf diese Antwort?) fragt nun Börner, offenbar um jenen verhängnisvollen „lapsus calami“ möglichst zu berichtigen: „Ist Cholodkovsky wirklich der Meinung, dass ich die überaus schwierige Frage der Chermes- Biologie von vornherein in der Absicht in Angriff genommen habe, meine jetzige Anschauung zu beweisen?‘ u.s. w. Nun, die soeben angeführte Probe der Beweisführung Börner’s (in betreff des Ch. viridanus) ıst wohl geeignet zu zeigen, dass ich zu einer solchen: Meinung berechtigt bin. In einer Fußnote auf der S. 273 seiner „Studien“ schreibt Börner: „Jüngst schreibt Cholodkovsky: „im Mai, wenn die Wachsausscheidung noch nicht bemerkbar ist, finden wir auf dem Frühlingstriebe nur winzige, mit bloßem Auge kaum sichtbare gelb- grüne Lärvchen, die vorzugsweise am Gipfel des Triebes sitzen und davon später allmählich gegen die Basis des Triebes sich zerstreut ansiedeln.“ Dadurch werden die beschriebenen Junglarven als erste Sommergeneration gekennzeichnet, denn Winterläuse sitzen als 9) ©. Börner. Über das System derChermiden. Zool. Anz., Bd. 33, Nr. 5—6, 1908. Cholodkovsky, Zur Frage über die biologischen Arten. 179 Mütter niemals auf Maitrieben; die echten Winterläuse sind dem- nach Cholodkovsky seither entgangen“ u. s. w. Nun, die über- winternden Larven sitzen gewiss nicht auf Maitrieben, die jaim Winter nicht existieren; sie begeben sich aber auf die Spitze des Maitriebes, sobald derselbe aufbricht (wie das z. B. auch bei Ch. pini und Oh. sibiricus der Fall ist) und bilden zugleich die erste Sommergeneration. Ich will noch einige gegen mich gerichtete Äußerungen Börner’s auf dem Gebiete der Chermes-Morphologie in aller Kürze berühren. Auf der S. 102 bemerkt er bei der Schilderung des Borstensackes, dass ich „merkwürdigerweise* angebe, dass die Borstenschlinge unter dem Bauche des Tieres gelegen sei. Habe ich aber irgendwo die Existenz des Borstensackes in Abrede gestellt? Ich übergehe ihn nur mit Stillschweigen, da ich keine Chermes-Anatomie darlege und mich auf diejenigen Merkmale beschränke, die zu syste- matischen und biologischen Zwecken verwertbar sind. Der ausge- dehnte Borstensack befindet sich ja auf der Unterseite des Ab- domens, die Borstenschlinge liegt im Sacke, — sie befindet sich also ebenfalls unter dem Abdomen. Auf der S. 111 finden wir die Behauptung, dass es die von mir beschriebenen und abgebildeten sekundären Äderchen der Flügel „bei den Chermesiden nicht gibt“. Wahrscheinlich hat Börner niemals einen lebenden oder frisch getöteten, in Alkohol abgespülten geflügelten Chermes unter dem Mikroskop beobachtet, — sonst hätte er diese Äderchen ganz deutlich sehen können. In Glyzerin- präparaten bleiben dieselben sogar monatelang erkennbar. Auch Wachshärchen soll es bei Chermes nicht geben (S. 97). Börner hat aber nicht bemerkt, dass ich unter den Wachshärchen nicht haarförmige Auswüchse der Chitinhaut, sondern die Wachs- ausscheidung selbst, die öfters die Gestalt von Haaren oder Fäden annimmt, verstehe, was übrigens aus meiner Darstellung ganz deut- lich hervorgeht und vor Börner noch von niemandem missverstanden wurde. Noch vieles könnte ich Börner erwidern. Aber schon des oben Angeführten ist, glaube ich, schon genug. Das eine hat Börner missverstanden oder falsch gedeutet, das andere nicht gesehen und schlechtweg geleugnet. Das sind also die Stützen der von Niisslin eilig begrüßten „Reform“. Nur das eine will ich noch berühren, Börner wirft mir vor, dass ich die Bildung neuer Arten durch die Parthenogenese annehme. So etwas habe ich aber nie und nirgends behauptet. Vielmehr habe ich den Ursprung gewisser Chermes-Arten auf den veränderten Einfluss der äußeren Faktoren und zwar namentlich Einfluss der Ernährung — nicht aber auf die Parthenogenese als solche —, zurückgeführt. Ich hoffe also, dass jeder sachkundige und vorurteilsfreie Leser aus allem hier Gesagten den Schluss ziehen wird, dass die Lehre 780 Cholodkovsky, Zur Frage über die biologischen Arten. von biologischen Arten durch die Kritik Börner’s nicht ım min- desten erschüttert ist. Es fällt auch nicht schwer zu zeigen, dass gerade in den letzten Jahren in verschiedensten Ordnungen von Insekten hochinteressante, zugunsten dieser Lehre sprechende Tat- sachen auftauchen. Es sei mir erlaubt, zur Ergänzung der von mir früher (1900) angezeigten Fälle hier noch einige lehrreiche Bei- spiele anzuführen. 1. Der bekannte, unlängst verstorbene Kenner der Tenthre- diniden, Pastor F. Konow, hat geglaubt, dass Lophyrus pind L. und Lophyrus similis Htg. identisch seien, da er zwischen den Imagines keinen morphologischen Unterschied festzustellen ver- mochte, obschon die Larven beider Spezies einander ganz unähn- lich aussehen. Nun hat aber W. Baer!P) auf das überzeugendste bewiesen, dass diese Spezies (wie freilich die Forstentomologen schon früher annahmen) ganz getrennt und selbständig sind, da sie sich biologisch ganz unähnlich verhalten und außerdem auch ım Imagozustande beständige, wenngleich verschwindend kleine und deshalb früher unbekannt gebliebene Unterschiede (im Bau der Fühler, der Legeröhre und des Penis) aufweisen. Offenbar handelt es sich um zweı biologische Arten. Musca corvina F. gehört zu den in Russland sowie in West- europa am weitesten verbreiteten Musciden- Arten. Der bekannte russische Entomologe J. A. Portschinsky!!) hat viele Jahre hin- durch ihre F aan ne studiert und dabei gefunden, dass sie in Nord- und Mittelrussland ovipar, in Siidrussland aber vivipar ist. Anfangs hat er geglaubt, dass es sich hier nur um zwei verschiedene een naresmeisen einer und derselben Spezies handelt, später gelangte er aber zur Überzeugung, dass die alte Spezies M. corvina F. in zwei selbständige Arten zu spalten ist — die M. ovipara und die M. larvipara (in litteris). Im Imagozustande sind die beiden Spezies äußerlich vollständig identisch —, wenigstens ist es nicht gelungen, irgendwelche morphologische Unterschiede zu finden. Anatomisch unterscheiden sie sich aber nur im weib- lichen Geschlecht, da die Weibchen von M. larvipara einen eigen- tümlich gebauten, von mir (Zool. Anz., Bd. 33, 1908) beschriebenen Geschlechtsapparat aufweisen. 3. Zu einem Ähnlichen Resultate wie meine Chermes-Forschungen haben auch die neuesten italienischen Arbeiten über Phylloxera- Arten geführt'!?). Es hat sich nämlich u. a. erwiesen, dass die 10) W. Baer. Lophyrus similis Htg. Zeitschr. f. Land- und Forstwirt- schaft, Jahrg. 4, 1906, S. 84—92. 1) J. Portschinsky. Über verschiedene Fortpflanzungsarten und über die verkürzte Entwickelungsweise einiger Fliegen. Horae Soc. Ent. Rossicae, Bd. 19, 1855. — Ders. Die Biologie der Fleisch- u. Mistfliegen. Ibid., Bd. 26, 1892. Russisch. 12) ©. v. Janieki. Ergebnisse der neuen Forschungen in italien über die Biologie der Phylloxeriden. Zool. Centralbl., Bd. 15, 1908, Nr. 12—13. Cholodkovsky, Zur Frage über die biologischen Arten. 7181 europäische (Phyllozera vastatrix, die bekanntlich von der gleich- namigen amerikanischen Spezies herstammt, die Fähigkeit zu Blätter- gallenbildung fast vollständig, die amphigone Honeptemmane aber wohl vollends eingebüßt hat Thad zu einer ausschließlich partheno- genetisch sich fortpflanzenden „Rasse“ geworden ist, wobei sie auch zur Riickkehr auf die amerikanische Weinrebe unfähig geworden zu sein scheint. Ich erinnere nun daran, dass ich bereits 1896 geschrieben habe!?): „es ist nun auch wirklich möglich, dass unter verschiedenen Formenreihen von Phylloxera vastatrix oder anderen Phylloxera-Arten einerseits rein parthenogenetische, andererseits die Parthenogenese mit der sexuellen Fortpflanzung abwechselnde Zyklen resp. Spezies oder Varietäten entdeckt werden.“ Diese Vermutung und somit auch die Anwendung der Lehre von den Bo sschen Arten auf die Phylloxera hat sich nun also glänzend er Aus den Gesprächen mit vielen Entomologen sowie aus den Angriffen Börner’s habe ich den Eindruck gewonnen, dass die biologischen Arten den Herren Systematikern von Fach „Dorn den Augen, Dorn den Sohlen“ sind. Man hält sich fest an die rein äußerlichen, verhältnismäßig groben morphologischen Unterschiede der erwachsenen Formen, von einer systematischen Verwertung der rein entwickelungsgeschichtlichen und biologischen Merkmale will man aber nichts hören. Mit der Logik ıst es ın diesem Falle von seiten dieser Herren sehr schlecht bestellt. „Ein Hundeei — schrieb ich 1900 —-, äußerlich dem Schweineei sehr ähnlich, stellt nichts- destoweniger ebensogut eine bestimmte Spezies vor, wie das ent- wickelte Mer; neh seine Inneren Eigenschaften ist dasselbe vom Schweineei ebensosehr verschieden, wie ein erwachsener Hund von einem erwachsenen Schwein. Bei einer völligen äußeren Gleichartig- keit ist also eine völlige innere Verschiedenheit möglich, und es steht nichts der Annahme im Wege, dass eine solche latente Verschiedenheit bis in die spätesten Entwickelungsstadien sich er- halten kann.“ Dem ist noch hinzuzufügen, dass im Falle der bio- logischen Arten es sich doch immer um ‚einander sehr nahe- stehende Spezies handelt und dass sie meist auch durch äußerliche morphologische, wenngleich verschwindend kleine, aber doch be- ständige Merkmale unterschieden werden können. Und warum sollten die anatomischen Unterschiede (wie der Bau des weiblichen Geschlechtsapparates bei Musca ovipara und M. larvipara) oder der verschiedene Entwickelungsverlauf resp. biologische Zyklus weniger wichtig sein, als die kleinen Verschiedenheiten der Elytrenskulptur eines Käfers, die Borstchen oder Riechgrübchen der Fühler einer Blattlaus, die relative Länge der Schwungfedern eines Vogels u. dgl.? 13) Vgl. „Beiträge“, T.I, Kap. VII, S.45—46. Horae Soc. Ent., Bd. 31, 1896. 782 v. Prowazek, Studien zur Biologie der Zellen. Die Lehre von den biologischen Arten steht also fester als je. Ich kann getrost wiederholen, dass im Verwerfen der Möglichkeit einer unbegrenzten Parthenogenese und der Existenz von biologischen Arten dieselbe Routine steckt, welche in früheren Zeiten selbst der Anerkennung der Parthenogenese überhaupt eifrig entgegenwirkte und der Wahrheit erst nach einem langen und harten Kampfe Platz machte. Hat doch kein geringerer als der berühmte Franz Leydig einst geschrieben '*): „Gar manchem Leser der zitierten v. Siebold’- schen Schrift mag es gegangen sein wie dem Schreiber dieses; man durchgeht das sinnig geschriebene Buch mit Spannung vom Anfang bis zum Ende und freut sich über Bienenzüchter und Naturforscher, aber die eigentliche Wirkung ist keine angenehme, besonders für die nicht, welche mit Liebe der Idee huldigen, es halte die Natur ın den wichtigsten Lebensvorgängen an gewissen Maximen gerne fest und lasse sie nicht leicht fahren. Von diesem Gesichtspunkte aus möge es entschuldigt werden, wenn ich gegen die „wahre Partheno- genesis“, so wie sie hingestellt wird, einige Einwendungen erhebe.“ Leydig hat dabei vergessen, dass die „Maximen“ der Natur eben vom Menschengeist entdeckt und festgestellt werden, der sich, wie die Natur selbst, immer weiter entwickelt. So bin ich fest über- zeugt, dass auch die biologischen Arten, wie die Parthenogenese, mit der Zeit zur allgemeinen Anerkennung gelangen werden. Studien zur Biologie der Zellen. h Von Dr. S. von Prowazek. (Aus dem Institut ,,Oswaldo Cruz“ in Manguinhos Rio de Janeiro. Vorstand: Dr. Oswaldo Goncalves Cruz.) I. Zur Struktur und Morphe der Zellen. In dieser Zeitschrift (Bd. XXVIII, Nr. 11 u. 12, 1908, p. 387) wurde darauf hingewiesen, dass wahrscheinlich lipoidartige Sub- stanzen bei dem Zustandekommen vieler, wenn nicht aller waben- förmiger Strukturen des polymorphen Protoplasmas beteiligt sind, und es galt nun zum mindesten Indizienbeweise für eine derartige Annahme beizubringen. Als Versuchsobjekte wurden Protozoen und Seeigeleier im reifen und unreifen Zustande gewählt. Hauptsächlich beschäftigte ich mich mit Ciliaten und zwar Paramaecium, Vorticella und Col- pidium. Leider besitzen wir bis jetzt kein einwandsfreies chemisches Kriterium für den Nachweis der Lipoide in der Zelle. Aus diesem Grunde konnten nur verschiedene lipoidlösliche Substanzen wie Saponin, Galle, taurocholsaures Natrium 1°/,, cholalsaures Natron, 14) F. Leydig. Naturgeschichte der Daphniden. Tübingen 1860. v. Prowazek, Studien zur Biologie der Zellen. 183 ferner ölsaures Natrium auf das Verhalten der lebenden Zellen ge- prüft werden. Eigentliche Fette, die sich mit Sudan färben und mit Osmium schwärzen, wurden in erheblicheren Mengen in den untersuchten Zellen nicht gefunden. Nur in den Paramäcienzelleibern, in denen sich nach Gram zahlreiche Granulationen färben, wurden einzelne Körnchen nachgewiesen, die auch in den Seeigeleiern vorkommen, sich zwar mit Neutralrot, aber nicht mit Sudan tingieren. 1. Bei den angedeuteten Untersuchungen fiel es zunächst auf, dass im Gegensatz zu den bisherigen Annahmen die wenigsten Zellen allein von einer reinen Lipoidschicht gegen das äußere Medium umschlossen sind, sondern dass die sie umgrenzenden Membranen, wie Pelliculae, ja Niederschlagshäutchen, einen viel komplizierteren Aufbau besitzen müssen und höchstens nur zum Teil lipoidartige Bestandteile in sich bergen (Colpidium, Amoeba). Auf einer anderen Stelle wurde darauf hingewiesen, dass auch von der Membran der roten Blutkörperchen und dem Periplast der Trypanosomen unter dem Einfluss der erwähnten Stoffe ein aller- dings nur sehr schwer sichtbarer Schatten übrig bleibt. Für die Eizellen der Seeigel haben zuerst J. Loeb und E. v. Knaffl-Lenz (Pflüg. Arch. f. Phys. 1908) dargetan, dass die Zellmembran nicht aus einem lipoidartigen Körper bestehen kann, dass dagegen das Protoplasma reich an diesen Substanzen ist und wahrscheinlich eine Emulsion aus Lipoiden und Proteinen darstellt. Unsere Versuche lieferten folgende Resultate: \ Bei Paramäcien spaltet sich unter Saponineinfluss die Pellicula, an der die äußeren Skulpturen erhalten bleiben, während der Inhalt des Protozoons die Tropfenform annımmt. Bei den Vortizellen wird die Pellicula durch ölsaures Natrium, sowie 1°/, cholalsaures Natron nicht wesentlich beeinflusst, während die Haute von Chilomonas größtenteils durch die letztgenannte Substanz, die Pelliculae von Colpidium auch durch taurocholsaures Natrium mit der Zeit gelöst werden. Von besonderem Interesse ıst das Verhalten der Amoeben dem Saponin gegenüber; von vielen Forschern wird bekanntlich angenommen, dass die Oberfläche der Amoeben von einer labilen Lipoidschicht umgeben ıst. Höchst auffallend war nun die Tat- sache, dass Amoeba proteus bei Saponinzusatz nicht plötzlich explosivartig zerfließt, sondern dass zunächst das Ektoplasma licht- brechender wird und stark zusammenschrumpft. Später bläht sich die Amoebe erst auf, wobei die äußere Kontur ganz scharf bleibt und erst ın der Folgezeit abblasst; man ist auf diese Weise sogar in der Lage, sie als eine besondere, allerdings nicht persistente Membran zu isolieren. Die Versuche lieferten also keinen Anhaltspunkt für die An- (84 v. Prowazek, Studien zur Biologie der Zellen. nahme einer reinen Lipoidschicht an der Oberfläche der Amoeba, wie sie eigentlich theoretisch postuliert worden ist. 2. Wie verhält sich nun das übrige Protoplasma den auf- gezählten Stoffen gegenüber? In den Seeigeleiern tritt unter Einwirkung von Saponin und Galle eine von der Peripherie mehr oder weniger rasch zentripetal vorschreitende Entmischung in dem Zellinhalt ein; hier und da treten alsbald zusammentretende Flüssigkeitsinseln auf, in denen ein lebhafter Molekulartanz sichtbar ist. — Hernach kommt es rasch zu einer Art von Koagulation der Lipoidsubstanzen; der Inhalt wird für eine kurze Zeit lichtbrechender, dann lösen sich diese Substanzen auf, und das Hi vergrößert sich, nachdem es vorher eine Art von Befruchtungsmembran (Loeb, Knaffl-Lenz) ausgebildet hatte, um das doppelte seiner ursprünglichen Größe. Eine ähnliche innere Lösung, verbunden mit Aufblähungs- erscheinungen, wurde bei langsamer Einwirkung von Saponin auf Paramäcien und Vorticella beobachtet; die Pellicula hebt sich im ersteren Falle deutlich ab. Bei Anwendung von cholalsaurem Natron (1°/,) ist man bei Vorticella ebenso wie bei Chilomonas in der Lage, ein ruckweises Auflösen der Alveolen zu verfolgen, worauf sich erst die Zelle stark aufbläht. Colpidium gibt unter Einwirkung von taurocholsaurem Natrium seine ursprüngliche Ge- stalt auf, bläht sich auf und zerfließt schließlich gänzlich. Besonders interessant ıst das Verhalten von sich teilenden Colpidien, die nur mehr durch eine äußerst zarte, letzte Protoplasma- brücke miteinander im Zusammenhang stehen. Durch die lipoidlösenden Eigenschaften des taurocholsauren Natriums werden die Infusorien ihrer Morphe gleichsam beraubt, nehmen zunächst im rein physikalischen Sinne eine Tropfenform an, quellen auf, vergrößern sich; im selben Moment vereinigen sie sich aber nach physikalischen Gesetzen wie zwei Öltropfen zu einem Plasmatropfen mit zwei Kernen. Aus allen diesen Beobachtungen folgt zunächst, dass mit großer Wahrscheinlichkeit das Protoplasma reich an Lipoiden ist, die gleichsam die Eiweißstoffe emulgieren, verschäumen, dadurch aber im morphologischen Sirne eine innere Strukturspannung in der Zelle hervorrufen; werden diese Substanzen gelöst, so erfährt in allen Fällen die Zelle eine Art von Aufblähung. Die an sich untypischen Lipoide verleihen also dem physikalisch untypischen Protoplasmatropfen bei dem Zusammentreten mit Zellproteinen in einem gewissen Sinne eine typische Gestalt mit innerer Spannung, die in dem Fall von sich teilenden Colpidien durch lipoidlösliche Stoffe behoben, wieder in das Reich untypischer physikalischer Gesetzmäßigkeiten fällt. Es ist klar, dass in diesem Sinne die Lipoide gleichsam Träger der Morphe ersten Grades sind, sowie v. Prowazek, Studien zur Biologie der Zellen. 785 dass sie als solche aber sehr wohl einfach im Sinne der Proto- plasmamechanik analysierbar sind. Damit ist es aber über die Frage, ob sie im Verlauf der Differenzierung nicht doch im Dienste besonderer autonomer Formfaktoren stehen, gar nichts ausgesagt. Als Formenbildner (Morpheträger) zweiten Grades treten auf den Plan des Zellgeschehens plastische fibrilläre Differen- zierungen der Pellicula, des Ektoplasmas und zum Teil auch des Entoplasmas mit typischen Verlauf auf, die in der letzten Zeit bei einer großen Reihe von sogen. einzelligen Lebewesen nachgewiesen worden sind (Hypotriche, Peritriche, Heterotriche). Es sind dies die Bandfäden der undulierenden Membranen der Trypanosomen, Fig. 1. Schematische Darstellung der Entwickelung der Morphe eines Z'rypanosoma. Die Zahlen geben die Reihenfolge der formativen Teilungen der Karyosoms und seiner Derivate an. die Achsenstrahlen der Heliozoen, die Rhizoplaste der Flagellaten und die Achsenstäbe der Trichomonaden, deren Protoplasma unter Druck wie ein Wassertropfen an dem Achsenstab abfließen kann. Sie hängen mehr oder weniger mit dem Kern, d. h. mit den Karyosomen, Centrosomen, Centrosphären, Blepharoplasten etc. zu- sammen, so dass eigentlich diese Kerngebilde die Morphe- träger zweiten Grades sind. Für die Trypanosomen wurden diese morphegebenden Filardifferenzierungen auf Teilungen der Karyosomderivate zurückgeführt (Arch. f. Entw.-Mech. 1908). Ihr Verlauf und ihre Spezifität wurde also aus der Teilungsmechanik des Kernes „erklärt“, dessen polare Teilung gleichsam den letzten unerklärbaren Rest bildet. In dem Bestreben nach dem Begreifen XXVITI. 50 786 v. Prowazek, Studien zur Biologie der Zellen. der Morphe sind wir bei den Trypanosomen demnach am weitesten vorgedrungen (Fig. 1). Auf Schnitten durch eine Effloreszenz bei Verruga peruviana glaube ich vielfach auch die Fibrillen der Haut bis zu dem Nukleolus der Zellkerne verfolgen zu können; weitere Untersuchungen in diesem Sinne wären sehr erwünscht. Franz konnte in den Pigmentzellen der Fische gleichfalls starre, skelettartige Stäbe mit formativen Tendenzen nachweisen und ver- gleicht sie mit den von V. Häcker beschriebenen Gerüststrukturen der Acantharien (Biol. Centralbl., XXVIII. Bd., 1908). Der zunächst weiter nicht erklärbare, höchstens historisch be- greifbare, spezifisch typische Verlauf aller dieser Fibrillen zwingt das flüssige Protoplasma nach Art der Drahtgestelle bei den be- kannten Plateauschen Versuchen zu typischen Zellgestaltungen, die wir beschreiben, noch nicht „erklären“ können. II. Zur Kernmembranfrage. Über die Frage nach der Existenz und Natur der Kernmembran existiert bereits eine umfangreiche Literatur, und es ist hier nicht der Ort, dieselbe genau zu referieren, zumal mir die gesamte dies- bezügliche Literatur nicht zur Verfügung steht. Albrecht (Ergebn. d. allgem. Pathol. 1900/01) bespricht eingehend die Gründe, die für eine besondere, mit der umgebenden Zellflüssigkeit nicht misch- bare Oberflächenschicht am Kerne sprechen, dagegen glaubt Bon- nevie (Arch. f. Zellforschung 1908, I. Bd.) annehmen zu müssen, „dass eine geschlossene, außerhalb sämtlicher Chromosomen ver- laufende Membran als selbständiges Gebilde überhaupt nicht existiert.“ Für die Existenz einer Kernmembran spricht der Umstand, dass in von Plasmodiophora befallenen Brassicazellen in einem hyper- trophischen Kern ein zweiter Kern mit einer deutlichen Kern- membran sich ausgebildet hatte, sowie eine Beobachtung von Kasanzeff (Inauguraldissert., Zürich 1901), derzufolge bei Para- maecium Kleinkerne mit zwei Membranen auftreten. „Die Tatsache, dass die zweite Membran im Innern der ersten entsteht, spricht dafür, dass die Mikronukleusmembran ein Produkt des Kleinkernes selbst, nicht des umgebenden Protoplasmas ist.“ In den sich auflösenden Seeigeleiern kann man die Kern- membran durch Saponinzusatz leicht zur Darstellung bringen; man ist in der Lage, sie zu isolieren, sie schrumpft sodann unter Falten- erscheinungen, um sich später wieder aufzublähen. Bei unreifen Seeigeleiern diffundiert der Inhalt des Kernes nach außen, des- gleichen die Substanz des plötzlich verschwindenden Nukleolus. In ähnlicher Weise kann man die Membran bei Colpedium durch tauro- cholsaures Natrium darstellen. Trotzdem kann die Membran der v. Prowazek, Studien zur Biologie der Zellen. 187 bandförmigen Kerne, z. B. der Vorticellen, nicht absolut fest sein, denn bei Zusatz von ölsaurem Natrium und cholalsaurem Natron, sowie Saponin zieht sich das Kernband bei der Auflösung der Zell-Lipoide plötzlich entweder zu einem oder zu zwei dann kleineren Tropfen, in denen ein lebhafter Molekulartanz sichtbar ist, zu- sammen. Wie kommt aber gerade die Bandform des Kernes im normalen Tier zustande? Fibrilläre Differenzierungen, an die man zunächst denken musste und deren Andeutungen ich zuerst zu sehen glaubte, sind zunächst nicht nachweisbar. Sollten etwa auch Zell-Lipoide diese Strukturformen bedingen, da sie nach deren Lösung verschwinden? Lezithin bildet bekanntlich bei der Auflösung oft wurstförmige, sich verflechtende Gebilde und mit Osmium kann man in Lezithintropfen (Marke: Agfa) sich schwärzende, komplizierte Figuren dar- stellen, die wohl auf direkte Fettverunreinigungen zurückführbar sind (Fig. 2). Trotzdem glaube ich, kann man allein aus dem Vorhandensein von Kernlipoiden gerade und nur gerade diese _Lezithintropfen in spezifischen, bandförmigen Kerne der Vorti- 1°, Osmiumlösung. cellen oder die rosenkranzförmigen Kerne der Stentoren nicht erklären, und man muss wieder zunächst elemen- tare Morpheeigentümlichkeiten annehmen, die vorläufig nicht in be- sonderen Filarstrukturen lokalisiert werden können. III. Beziehung der Plasmalipoide zur Chininwirkung. In der Erkenntnis der Narkose, sowie der Wirksamkeit ge- wisser Pharmaka wurden wir durch die von Overton und Hans Mayer festgestellte Tatsache, dass die durch narkotisierende Kräfte ausgezeichneten Substanzen sich ın den Zell-Lipoiden ansammeln, be- sonders gefördert, wiewohl der eigentliche Kern des Wesens der Narkose dadurch nicht aufgeklärt worden ist. Im Anschluss an die hier mitgeteilten Untersuchungen wurde der Versuch gemacht, gewisse Beziehungen des Chinins (Chin. muriaticum) zu den Lipoiden (Lezithin von Kahlbaum 1°/, in gew. Wasser und physiol. Koch- salzlösung) zu ermitteln. Lezithin wird durch Chinin 1:1000, 2000, 3000 in kurzer Zeit in Form von agglutinierten Tröpfchen nieder- geschlagen, in Verdünnungen 1 : 200—600 bildet es größere Tropfen, die durch ihre geringe Oberflichenspannung zu noch größeren Tropfengebilden zusammentreten und wegen der Fettverunreinigung längere Zeit schweben bleiben. In Chininlésungen von 1: 5000—10000 sedimentiert der Lezithinniederschlag infolge seiner zunehmenden Feinheit sehr langsam. Setzt man Paramäcien und Colpidien zu dem Chininlezithinsediment 1: 1000 oder 1:2000 hinzu, so sterben sie nicht sofort ab, sondern leben im letzteren Falle mitunter bis 10 Stunden, während die darüber stehende klare Flüssigkeit sie 50* 788 v. Prowazek, Studien zur Biologie der Zellen. rasch tötet. Nach früheren Untersuchungen (Giemsa und Verf. Arch. f. Schiffs- u. Tropenhygiene, Verhandl. d. deutsch. tropenmed. Ges. 1908) starben dagegen Colpidien in Chininverdünnungen von 1:6000 maximal in !/, Stunde ab, und die tödliche Grenze für Paramäcien liegt etwa bei Verdünnungen 1:25000. Aus dem Ver- such folgt also zunächst, dass das Chinin in erheblicher Weise von dem Lipoid irgendwie gebunden wird. Es scheint jedoch nicht so sehr allein chemisch gebunden zu sein, sondern man muss vielmehr mit der Möglichkeit rechnen, dass bei der erwähnten. Art von Sedimentierung noch physikalische Absorptionsgesetze eine wichtige Rolle spielen. So wurde einige Male beobachtet, dass in dem groben fettropfenähnlichen Zentri- fugatrückstand der Lezithinchininmischung 1 : 200 die Paramäcien in umgekehrter Weise früher zugrunde gingen, als in der darüber befindlichen Lösung. Leider sind hier die Resultate nicht so ganz eindeutig, weil das Lezithin kein chemisch reiner Körper ist, sowie leicht verun- reinigt wird, und die Reaktionen der Protisten von ihrem Er- nährungszustand und Alter, wie Kontrolluntersuchungen beweisen, stark beeinflusst werden. Man kann aber das feine Lezithinsediment (Verdünnung 1: 2000, 3000) physikalisch durch Wärme (57°C.) in ein grobtropfiges Sediment verwandeln, in dem dann die Para- miicien auch rascher absterben als vor der Erwärmung. Es be- steht demnach eine Korrelation zwischen der Größe der Oberflächen- spannung der ausgefällten Tröpfehen des hydrophilen Lipoidkolloids und der Konzentration des Chinins an der Oberfläche; nimmt mit der Größe der Tropfen die Oberflächenspannung ab, so vergrößert sich die Konzentration des Chinins auf der Oberfläche, und es wird wirksam. Dass die großen Tropfen tatsächlich eine geringe Ober- flächenspannung besitzen, beweist auch der Umstand, dass sie mühelos von den Paramäcien passiert, „durchfahren“ werden. Diese Tatsachen beanspruchen insofern ein besonderes Interesse, als wir uns mit Hilfe dieser Lipoideigenschaft ein Bild von der Vermannigfachung des. Stoffwechselgebietes machen können, indem durch einfache physikalische Entmischungen und Ober- flächenspannungsänderungen durch die Lipoide in die winzigen Alveolarwerkstätten der Stoffwechselreaktionen Substanzen einge- leitet und wieder von dort entfernt werden können. IV. Teilungsorganoide der Zelle. Bei verschiedenen cytologischen Untersuchungen wurde darauf geachtet, welche Organoide der Zellen sich eigentlich vermehren, teilen und knospen. Das Ergebnis dieser Untersuchungen sowie diesbezüglicher Literaturstudien war, dass die meisten granulären Organoide v. Prowazek, Studien zur Biologie der Zellen. 89 sich allein teilen, dagegen ist es bis jetzt nirgends mit Sicher- heit nachgewiesen worden, dass die fibrillären ,Radien* der Zell- strahlung, die Muskel-, Neuro-, Bindegewebsfibrillen, sowie Band- fäden der undulierenden Membranen, Geißeln und Cilien der Teilung unterworfen sind; sie entstehen vielmehr jedesmal meistens längs der alten eindimensionalen Strukturgebilden von neuem. Auch etwas festere Differenzierungen, wie die Cytostomstiibe des Prorodon werden bei der Teilung innerhalb der Cyste nicht etwa längsgeteilt, sondern gehen je zur Hälfte auf die Tochterzelle über, worauf der fehlende Rest regeneriert wird. Fig. 3. a a) Flagellat von Para- moeba. Blepharoplast mit geteilten Zen- Kern und Zellkern der Paramoeba in Chardi-Zentriolen triolen. geteilt. b) Kern von Flagellaten mit geteiltem Zentriol. | @ a \ a 9 3 Kern und dessen Teilung bei einer Süßwasser- Amoeba. Die granulären Differenzierungen der Zellen, wie die Centriolen der Karyosome, die als zweite Kerne aufzufassen sind, die Centriolen der Zentralkörper der Heliozoen (Acanthocystis), viele Blepharoplast- centriolen und Basalkérperchen sind geteilt und befinden sich meistens dauernd auf den Diplosomstadien. Sie stehen im Sinne R. Hert- wıg’s gleichsam beständig im Teilungswachstum, während die übrigen Zellbestandteile dem funktionellen Wachstum unter- liegen, so dass die Teilung nicht effektiv werden kann. In dein sogen. Nebenkern der Paramoeba Eilhardi wurden die Centriolen immer im Teilungszustand gefunden. Sie gehen als konti- nuierliche Gebilde auf den Flagellaten dieser Amoeba über und 790 Braem, Die Knospung der Margeliden treten wiederum als gedoppelte Centriolen des Blepharoplasts auf (Fig. 3 u. 4). In sich teilender Stäbchenform wurden auch die Centriolen bei einer Amoeba des Süßwassers beobachtet, deren Teilung dann verfolgt wurde (Fig. 5). Die mehr oder weniger ausgesprochene Zweiheit der Cen- triolen könnte man andererseits auch auf die beiden Gameten- centriolen zurückführen, die nicht verschmelzen und demnach ge- doppelt generationsweise übertragen werden. Als Analogie könnte man auf das langandauernde Isoliertsein der Gametenkerne bei der sogen. Befruchtungsspindel der Coccidien und Ciliaten hinweisen. Schließlich verschmelzen die Gametenkerne bei den Myxosporidien gleichfalls ziemlich spät und bei Amoeba diploidea nach Hartmann und Nägler (Ges. Naturforsch. Freunde 1908) überhaupt nicht. Die letztere Annahme scheint mir aber ım Verhältnis zu der erstgenannten Hypothese, derzufolge die granulären Gebilde immer im Teilungswachstum wären, eine geringere Wahrscheinlichkeit zu besitzen. Nach dieser Hypothese würden sich die Zellen erst dann teilen, wenn die vegetativen Funktionen der Zelle periodisch etwas zurücktreten, wodurch die durch sie gesetzte Hemmung für die Teilung beseitigt wird. Manguinhos, Anfang Oktober 1908. Die Knospung der Margeliden, ein Bindeglied zwischen geschlechtlicher und ungeschlechtlicher Fortpflanzung. Von F. Braem. Als Chun im Jahre 1895 das erste Heft seiner „Atlantis“ ver- öffentlichte (Zoologica, Stuttgart, H. 19, Lfg. 1), standen diejenigen, welche aus den bis dahin bekannten Tatsachen eine allgemeine Theorie der Knospung im Tierreich gefolgert hatten, scheinbar vor einem Zusammenbruch. Die Angaben Chun’s über die Knospen- bildung der proliferierenden Medusen bedeuteten ein vollständiges Novum. Zweifel an ihrer Richtigkeit konnten nicht aufkommen. Ich selbst hatte damals Gelegenheit, das Material, das mir der Autor für diesen Zweck bereitwillig zur Verfügung stellte, zu unter- suchen. Ich hoffte im Stillen, dass es vielleicht doch noch eine andere Auffassung ermöglichen würde, aber diese Hoffnung schlug fehl. Die strengste Prüfung vermochte die Resultate Chun’s nicht zu erschüttern. Dieselben sind inzwischen auch von anderer Seite bestätigt worden (G. Trinci in: Mitt. d. zool. Station Neapel, Bd. 16, 1903, S. 1ff.). Früher hatte man die Knospung ansehen dürfen als eine spon- tane Äußerung des Regenerationsvermögens, das mit sämtlichen innerhalb des betreffenden Organismus überhaupt gesonderten Keim- schichten, mindestens also mit zweien, arbeitete. Bei diesem Zu- Braem, Die Knospung der Margeliden. 7191 sammenwirken von embryonalen Vertretern der Hauptschichten des Körpers vereinigten sich die ursprünglichen Differenzierungsprodukte des Eies zu einer dem Ei analogen, totipotenten Gemeinschaft, und so konnte aus einem scheibenförmigen Zellkomplex der Gesamt- organismus wiederhergestellt werden. Jetzt zeigte es sich, dass in einem zweischichtigen Organismus das eine Keimblatt für die Knospung ganz entbehrlich war und die Knospe sich lediglich aus dem anderen aufbaute. Wenn zwei gesicherte Tatsachen oder Tatsachenreihen sich so widersprechen, so kann der Widerspruch nicht in den Tatsachen selbst liegen, sondern er muss in unserer Auffassung der Vorgänge begründet sein. Es muss also auch hier notwendig entweder die frühere Deutung der Knospenbildung modifiziert werden, oder der neue Befund muss eine Auslegung zulassen, welche den Widerspruch aufkebt. , Ich habe bereits in meiner Schrift über die Keimblätter (Biol. Centralbl., Bd. 15, 1895, S. 477; Sep.-Abdr. S. 28) diesen Fall diskutiert und auf zwei Wege hingewiesen, die eine Lösung des Problems ermöglichen könnten. „Erstens“, sagte ich dort, „könnte die noch unbekannte Em- bryonalentwickelung von Rathkea Aufschluss geben ... „Zweitens könnte aus der Tatsache, dass die Rathkea-Knospen in derselben Zellregion auftreten, in der sich auch die Geschlechts- produkte entwickeln, auf eine nahe Beziehung beider geschlossen werden. Die knospenden Zellen wären alsdann nur junge Keim- zellen, die, statt sich zu Eiern und Samen zu differenzieren, als indifferente Embryonalzellen zu einer Morula zusammentreten, um so auf dem kürzesten Wege die Bildung des neuen Organismus hervorzurufen. In diesem Falle würde die Rathkea-Knospung sich weit von den sonst beobachteten Knospungsweisen entfernen, welche letzteren eine direkte Verwandtschaft der proliferierenden Gewebe mit den Keimzellen nicht erkennen lassen.“ Die Richtigkeit dieser zweiten Auffassung glaube ich jetzt be- stimmter vertreten zu können, und ihrer Begründung sind die folgenden Zeilen gewidmet. — Die Formen, an denen Chun die einblätterige Knospung fest- gestellt hat, sind Rathkea octopunctata und Lixxia Claparedei, beide zur Medusenfamilie der Margeliden gehörig. Wie bei allen Cölenteraten, so baut sich auch bei den Marge- liden der Körper aus zwei Keimschichten auf, einer ektodermalen äußeren und einer entodermalen inneren. An jedem Punkte der Leibeswand finden wir diese beiden Schichten miteinander vereinigt, in ähnlicher Weise, wie es bei der allbekannten Hydra der Fall ist. Überhaupt können wir unserer Vorstellung vom Bau einer Margelide das Bild der Hydra zugrunde legen, da im Prinzip die 792 Braem, Die Knospung der Margeliden. gleichen Verhältnisse obwalten, nur dass es sich jetzt nicht um ein festsitzendes Tier, sondern um einen im Meere flottierenden, frei beweglichen Organismus handelt. Die Verschiedenheiten, welche durch die abweichende Lebensweise bedingt sind, können wir hier als nebensächlich außer acht lassen. Die Knospung vollzieht sich nun folgendermaßen. An gewissen Stellen des Ektoderms beginnt das Zellgewebe zu wuchern und eine leichte Verdickung zu bilden (Fig. 1, ec). Innerhalb dieser ektodermalen Verdickung grenzt sich dann eine Gruppe von Zellen ab (Fig. 2, en‘), in deren Mitte alsbald ein Hohl- raum auftritt, um den sich die Zellen in Form eines einschichtigen Epithels gruppieren (Fig. 3, en‘), während sie ihrerseits von einer Fig. 1. Fig. 1—3. Drei Knospenanlagen von Rathkea in mittleren Längsschnitten, nach Chun,l.c. Taf. II, Fig. 6—8. Bei der Reproduktion verkleinert. ec Verdickung des mütterlichen Ektoderms als Anlage der jüngsten Knospe; ec‘ Ektoderm der Knospe; en Entoderm des Muttertieres; en‘ Entoderm der Knospe. Zeilenlage umgeben werden, die sich aus der äußersten Schicht der Verdiekung gebildet hat (Fig. 3, ec‘, vgl. Fig. 2, ec‘). Der so ent- standene, jetzt bereits scharf umschriebene Auswuchs des miitter- lichen Körpers repräsentiert uns die junge Knospe. Ihre beiden den Hohlraum umschließenden Schichten, die äußere und die innere, liefern die entsprechenden Schichten des neuen Tieres, der Hohl- raum selbst stellt die verdauende Kavität dar. Nach Wandlungen mannigfacher Art, die wir hier übergehen können, bricht dann am freien Ende der Knospe die Mundöffnung durch, und endlich löst sich das Tochtertier in ganz ähnlicher Weise von der Mutter los, wie wir es bei den reifen Knospen des Hydrapolypen beobachten können. Braem, Die Knospung der Margeliden. 193 Das Eigentümliche und in der Tat Befremdende dieser Ent- wickelung liegt also in dem ersten Ursprung der Knospe, die sich einzig und allein von der mütterlichen Ektodermschicht herleitet. Überall, wo wir sonst Knospenbildung beobachten, können wir sie auf ein lokalisiertes Wachstum des Muttertieres zurückführen, dessen Keim- schichten direkt in die des Tochterindividuums übergehen. So liefern bei Hydra die beiden Blätter der Leibeswand auch die ent- sprechenden Blätter der Knospe, und gerade ihr Zusammenwirken macht uns den ganzen Vorgang erst recht verständlich, da ja, wie schon betont wurde, auf diese Weise die geweblichen Differen- zierungsprodukte des Körpers zu einer dem Ei analogen Gemein- schaft sich vereinigen. Denn in den Keimblättern wurden die organbildenden Potenzen des Eies nach zwei verschiedenen Rich- tungen hin auseinandergelegt, und nur in dem Zusammenspiel dieser beiden Richtungen war fortan die Möglichkeit zur Bildung eines neuen Organismus gegeben. Bei den Margeliden aber kann von solch einem Zusammenwirken verschiedener Keimblätter keine Rede sein. Vielmehr ist es gerade nur das eine Keimblatt, das ektodermale, das unter völligem Ausschluss des anderen, entoder- malen, die Knospe bildet. Und zwar begibt sich dabei das Selt- same, dass das proliferierende Ektoderm gleich im Anfang nicht nur das Ektoderm der Knospe, sondern auch deren Ento- derm liefert, also eben dasjenige organbildende Element, dessen Fehlen den eigentlichen Charakter des Ektoderms ausmacht. Wir stehen hier augenscheinlich vor einem Widerspruch. Ein Ektoderm, welches Ekto- und Entoderm liefert, kann kein richtiges Ektoderm sein. Ein Gewebe, das alle Keimblätter und einen voll- ständigen Organısmus hervorbringt, kann nicht mehr als ein be- stimmtes Keimblatt betrachtet werden, es ist indifferent wie das Ei selbst, oder wie dessen Teilungsprodukte, bevor sie sich in die verschiedenen Keimblätter sonderten. Und ebenso können auch die Zellen, welche bei den Margeliden die Knospe bilden, keine wirklichen Ektodermzellen sein, mögen sie immerhin durch ihre Lage dem Ektoderm angehören; sie sind indifferent wie die ersten Zellen des Embryo, und sie gleichen denselben auch darin, dass sie durch einen ganz ähnlichen Spaltungsprozess, eine Art Dela- mination, in die definitiven Keimblätter zerlegt werden. Diese absolute Embryonalität der proliferierenden Zellen ist das eigentlich Charakteristische bei der Knospung der Margeliden. Die Knospe ist hier nicht mehr das Produkt eines Wachstums- prozesses, bei dem die Keimschichten des Muttertieres gleichmäßig beteiligt sind; sie ist das Produkt einer ganz bestimmten Zell- sorte, welche von allen Differenzierungen frei geblieben ist und die organbildenden Kräfte beider Keimblätter, d. h. des Gesamt- organismus, in sich vereinigt. 794 Braem, Die Knospung der Margeliden. Nun gibt es unseres Wissens nur eine Zellsorte, bei der ein solches Verhältnis zu Recht besteht, nämlich die Keimzellen, jene Elemente, aus denen sich weiterhin die Geschlechtsprodukte in der zwiefachen Gestalt von Spermatozoen und Eiern entwickeln. Die Keimzellen, männliche und weibliche, repräsentieren zunächst ein gleichförmiges Material, in welchem der Dimorphismus der Ge- schlechtsprodukte noch nicht ausgeprägt ist, in dem aber doch be- reits die organbildende Potenz derselben, die allen Geschlechtszellen gemeinsame Fähigkeit, den Organismus wieder zu erzeugen, gegeben ist. Sie sind demnach die Regenerationszellen xar’ 2£oynv, die ein- zigen Zellen, welche nach keiner Richtung, auch nicht im Sinne der verschiedenen Keimblätter, differenziert worden sind, die aber gerade deshalb die embryonale Natur des Eies bewahrt haben, von dem sie in direkter Deszendenz ihren Ursprung herleiten. Sie sind sozusagen die Stammhalter der regenerativen Kraft dieses Eies, das sich nicht ganz und gar in den ausgestalteten Organen des Tieres erschöpfte, sondern einen Teil seines Materials unverändert beiseite stellte, um daraus die künftigen Generationen zu bestreiten. Von der Eizelle, aus der sich das Tier entwickelte, bis zu den Geschlechtsprodukten, die es hervorbringt, spannt sich also eine Brücke von Keimzellen aus, die zwischen beiden eine ununter- brochene Verbindung herstellt. Auf dieser Brücke, der „Keim- bahn“, wandern gleichsam die undifferenzierten Teilungsprodukte des Eies durch den Organısmus hin, neben und mit ihren mehr oder minder differenzierten Geschwistern, den arbeitenden Körper- zellen, und erst auf der letzten Station, zur Zeit wo die Geschlechts- reife eintritt, macht sich auch bei ihnen eine Differenzierung geltend, indem die einen durch Aufnahme von Nährstoffen zu großen, ruhen- den Eiern, die andern durch oft wiederholte Teilungen- zu kleinen, beweglichen Spermatozoen werden. — Damit hätten wir denn einen Standpunkt gewonnen, von dem aus die Knospung der Margeliden begreiflich erscheinen würde. Wenn wir nämlich nachweisen könnten, dass es sich bei den knospen- den Zellen in Wirklichkeit um Keimzellen handelte, so würde die Funktion dieser Zellen eben dadurch erklärt sein, denn in den Keimzellen sind ja in geradezu idealer Weise die Bedingungen er- füllt, an welche wir allgemein die Wiedererzeugung des Gesamt- organısmus geknüpft sehen. In der Tat ist es nicht schwer, einen solchen Beweis zu liefern. Es steht fest, dass die Geschlechtsprodukte der Margeliden gleich den Knospen im Ektoderm ihre Entstehung nehmen, und zwar aus Zellen, die denen der Knospenanlage vollkommen gleich sınd. Sie entwickeln sich ferner zunächst an Punkten, wo wir nach dem Stellungsverhältnis der Knospen auch diese würden er- warten können, so dass es oft fast unmöglich ist zu entscheiden, Braem, Die Knospung der Margeliden. 795 ob wir es mit einer Knospe oder mit einer Geschlechtsanlage zu tun haben. Und sie treten endlich zu einer Zeit auf, wo die Knospung bereits ihrem Erlöschen nahe- ist, die geschlechtliche Tatigkeit folgt also erst auf die ungeschlechtliche. Dies Fig. 4. Manubrium einer weiblichen Lizzia Claparedei mit Knospen und Eiern (Helgo- land, 11. Juli 1894). Chromessig-äure, alkohol. Karmin. Unter Zugrundelegung des Medianschnittes mit Benutzung von Chun’s Textfigur 4, ]. ec. S. 42, nach der Serie kombiniert. In der dem Beschauer zugekehrten Hälfte des Manubriums sind neben den Knospen und den vier großen Eiern diejenigen Gebiete, welche von deutlich differenzierten Ovarialzellen eingenommen werden, durch Andeutung der Kerne bezeichnet. In den punktierten Bezirken liegen embryonale Zellen, die ihrem Aussehen nach ebensogut Knospenzellen wie Ovarialzellen sein können. Ich vermute jedoch, dass die im Umkreise der Knospen V und VII ge- legenen Zellen sich größtenteils zu Eiern entwickelt hätten. Der Punkt * ist der- jenige, wo nach dem Stellungsgesetz der Knospen die Knospe VIII zu erwarten wäre, ihre Differenzierung ist aber noch nicht eingetreten, und auch dieser Zell- bezirk steht mit dem Ovarium in direkter Verbindung. An den weiß gelassenen Stellen hat das Ektoderm den Charakter des differenzierten Epithels der Leibes- wand. (I) Region der ältesten, schon abgefallenen Tochterknospe; auch die ihr gegenüberliegende, zweite Knospe ist bereits abgeschnürt; IZI älteste der vorhandenen Knospen; VII jüngste deutlich entwickelte Knospe. Bezüglich der Knospe VI s. die Anmerkung 1. letztere lehrt uns von neuem, dass die ungeschlechtliche Fort- pflanzung wesentlich zur Vermehrung der Geschlechtstiere dient, vor allem aber sehen wir nun, dass die knospenden Zellen wirklich in der Keimbahn gelegen sind, auf jener Zellenstraße, die von 796 Braem, Die Knospung der Margeliden. den Geschlechtsprodukten zu der mütterlichen Eizelle zurückführt. Denn wenn die Knospen an den nämlichen Stellen und aus der gleichen Körperschicht sich entwickeln wie die Geschlechtsprodukte, nur früher als diese, so entspringen sie gerade da, wo die Keim- bahn gleichsam in die Geschlechtsprodukte ausmündet, notwendig also aus Keimzellen. Am deutlichsten trıtt uns das natürlich auf dem Stadium vor Augen, wo beide Arten der Fortpflanzung sich am nächsten be- rühren, d.h. wo die Knospung gerade der Geschlechtszellenbildung zu weichen beginnt. Denn der Wechsel vollzieht sich wohl nie- mals als scharfer Bruch, sondern immer nur als allmählicher Über- gang, so dass Knospen und Geschlechtszellen sich eine Zeit lang miteinander vermischen, bis schließlich, nach Loslösung der letzten Knospen, die Geschlechtszellen das Feld behaupten. Eine solche Periode des Übergangs ist in der beigedruckten Figur für ein weib- liches Individuum dargestellt. Hier sind mitten unter den Knospen überall schon die Eier sichtbar, und man kann sagen, dass die Knospen aus dem Genitalfelde selbst hervorwachsen!). Die Identität der knospenbildenden Zellen und der Keimzellen wird auch noch dadurch bekräftigt, dass diese Art der Fortpflanzung unseres Wissens nur auf dem Medusenstadium, d. h. bei den Ge- schlechtstieren vorkommt. Leider ist die Entwickelung in ihren früheren Stufen noch nicht direkt beobachtet, aber sie lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit auf Grund der Entwickelung nahe verwandter Formen (Eudendrium) erschließen. Danach ist zu ver- muten, dass aus den geschlechtlich erzeugten Larven zunächst ein festsitzender Polypenstock hervorgeht, dessen einzelne Glieder ganz wie die Hydraknospen unter Beteiligung beider Keimblätter ge- bildet werden, und an dem dann auf die gleiche Weise auch die Medusen ihre Entstehung nehmen. Erst bei diesen, den Geschlechts- tieren, die sich vom Stocke loslösen und frei umherschwimmen, beginnt jene andere, hier erörterte Knospung durch Keimzellen, und wir dürfen wohl annehmen, dass dieselbe nur deshalb nicht bereits früher eintrat, weil sie an ein ganz bestimmtes, der Reife sich näherndes Stadium der Keimzellenentwickelung gebunden ist. Denn wenn die Keimzellen auch schon im jugendlichen Organismus vorhanden sind, so befinden sie sich darin doch in einem Zustande 1) In dem der Figur 4 zugrunde liegenden Präparat fehlt die Knospe VI, welche der Knospe V gegenüberstehen und in ihrer Ausbildung die Mitte halten sollte zwischen den Knospen V und VII, vollständig. Daraus folgt, dass das sonst unverbrüchliche Stellungsgesetz der Knospen Ausnahmen erleiden kann, wenn Knospen und Geschlechtsprodukte miteinander konkurrieren. Offenbar hat sich die Knospe VI nicht entwickelt, weil an ihrer Stelle bereits Ovarialzellen differenziert waren, die dort tatsächlich zu finden sind. Es zeigt sich also, dass die Geschlechtsprodukte “ nicht nur die Knospen ablösen, sondern dass sie innerhalb der Reihe der Knospen als Ersatz dafür auftreten können. Braem, Die Knospung der Margeliden. 197 der Ruhe und der Verborgenheit, aus dem sie verhältnismäßig erst spät, mit Beginn der Geschlechtsreife, zu selbständiger Tätigkeit erwachen. Und gerade das Stadium, wo sie einerseits ihren Ruhe- zustand verlassen, andererseits aber noch nicht in bestimmterer Weise zu männlichen oder weiblichen Ge- schlechtszellen sich differenziert haben, scheint sie zur Bildung von Knospen zu befähigen. Es ist, als regte sich dann in ihnen ein allgemeiner Trieb, ihre spezifische Energie zu entfalten, d.h. die Wieder- erzeugung des Organısmus ins Werk zu setzen. Aber dieser Trieb hat sich noch nicht derart in den einzelnen Zellen individualisiert, dass sie, jede für sich, die Entwickelung zu Eiern und Spermatozoen anstrebten, sondern sie vereinigen sich gruppenweise, als Knospen, zu gemeinsamer Arbeit, um so auf dem kürzesten Wege ıhr Ziel zu erreichen. Der formbildende Trieb herrscht noch über eine Vielheit von Zellen, und erst im weiteren Verlauf der Entwickelung macht sich die ein- zelne Zelle in ıhrer Eigenart geltend, differenziert sich das Zellindividuum in seiner besonderen Weise zum Ge- schlechtsprodukt. — So konstatieren wir denn bei diesen Medusen engere Beziehungen zwischen geschlechtlicher und ungeschlechtlicher Fortpflanzung als in irgend einem der sonst bekannten Fälle. Dort sahen wir die Knospung durch Zellen ver- mittelt, welche die Differenzierung zu verschiedenen Keimblättern durchge- macht hatten und damit in den engeren Verband des Individuums getreten waren. Die somatischen Zellen waren die Knospenbildner, ohne dass Knospe VII von Fig. 4 nebst dem darüber gelegenen Ovarium, nach dem Medianschnitt. Vergr. 600. Ov großes Ei, seitlich getroffen. eine direkte Verwandtschaft zwischen ihnen und den Geschlechts- produkten erkennbar war. Diese Zellen mussten bei der Knospung in der Weise zusammenwirken, dass ihre Verschiedenheiten sich gegenseitig ergänzten und der totipotente Charakter des Kies in 798 Braem, Die Knospung dnr Margeliden. der Vereinigung wiederhergestellt wurde. Es waren also jedenfalls mehrere verschiedene Zellarten zur Knospenbildung notwendig, mindestens aber so viele, als Keimschichten in dem betreffenden Organismus vorhanden waren. Jetzt dagegen sehen wir die Knospung durch Zellen vermittelt, welche von allen Differenzierungen ver- schont und im ursprünglichen Besitz der regenerativen Kräfte des Eies geblieben sind. Diese Zellen sind daher für sich alleın zur Herstellung des Gesamtorganismus befähigt, es findet keine Wieder- vereinigung verschiedener Zellarten statt. Die Geschlechtszellen, unter Ausschluss der somatischen Zellen, sind die Knospenbildner, das ist das Neue und Eigentümliche dieser Entwickelungsform, die dadurch aufs schärfste vor allen anderen Knospungsweisen gekenn- zeichnet ist?). Trotzdem haben die beiden Knospungsarten noch genug mit- einander gemeinsam, um als bloße Abstufungen der gleichen Ent- wickelungsrichtung gelten zu können. Auch früher sahen wir die Knospung an embryonale Zellen geknüpft, mit der Maßgabe frei- lich, dass die Embryonalität keine unbedingte, sondern durch den Charakter des Keimblattes, in dem die Zellen lagen, beschränkt war: es waren die embryonalen Vertreter der Keimblätter, die sich in der Knospe zu einem Ganzen vereinigten. Da es sich aber immer nur um zwei oder drei Keimblätter handelte, so kamen auch für die Knospung nur zwei oder drei verschiedene Zellformen in Betracht, in so viele Teile waren also die organbildenden Qualitäten des Eies auseinandergelegt und differenziert worden. Bei den Marge- hiden ist nun auch dieser letzte Rest von Differenzierung in Weg- fall gekommen. Die Knospung hat einen Schritt weiter getan und noch tiefer ins Embryonalleben zurückgegriffen: es sind die quali- tativ unveränderten Teilungsprodukte des Eies, mit denen sie arbeitet, und damit ist sie zugleich bei dem nämlichen Zellmaterial angelangt, aus dem auch die geschlechtliche Fortpflanzung ihren Bedarf deckt, bei den Keimzellen. Ein wichtiger Schritt, aber immerhin nur ein Schritt. Ein Schritt, wichtig besonders deshalb, weil er zwei sonst streng geschiedene Fortpflanzungsarten, die ge- schlechtliche und die ungeschlechtliche, in allernächste Verbindung bringt. 22. Oktober 1908. 2) Hiernach wäre die Knospung der Margeliden passend als „Gonoblastie‘, zu bezeichnen, im Gegensatz zu der gewöhnlichen „somatoplastischen“ Knospen- bildung. Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der kgl. bayer. Hof- u. Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. ee Alphabetisches Namenregister. A. Abelsdorff, G. 762. 765. Adelung, v. 207. Adlerz 423. 424. 425. 431. 438. Albrecht 384. 786. Allis 199. Ambronn, H. 516. Andersson 204. Andre, E. 126. Andreae 250. Andrews, E. A. 211. Appelhöf 144. Aristoteles 97. Arning 385. Arnold 470. 477. Arrhenius, S. 223. 234. 478. 520. Asher, L. 640. Assmuth, P. J. 730. Aurivillius 248. B. Bädeker, K. 522. Baer, C. E. v. 37. Baer, W. 780. Balbiani, E. 150. Balbiani, G. 634. 635. 655. 656. Ballowitz, E. 537. Bals, H. 153. Bamberger, L. 478. Bardeen, ©.R.615. 616. 622. Bassenge 389. Bateson 205. Baudin 492. Bauer, V. 734. 735. 736. Bauhin, K. 15. Baumgärtner 9. Bechhold 521. Beer, Th. 451. 467. Bemmelen, J. M. van ! Benham, W. 136. Bentham 95. Bernard, Cl. 770. Bethe, A. 447. 640. Beyschlag 576. Biedermann, W. 128. 5302-932 04: Bidder 693. Bles 150. Blochmann, F. 334. 2192 720.723. 124. Boehm 689. Bois-Reymond, E. Bois-Reymond, R. Bonnet, Ch. 654. Bonnevie, K. 219. Bonnier 239. Born, G:676. 109% Börner, K. 333. 334. 340. 342. $43. 710. Tale ale ze AI AO), ie 1022: TES Oe UB la. Wake: 740. 741. 742. 743. 745. 746. 748. 749. 751 752. 753. 769. Ae Do Te TCs CEOs Tess CUS 781. Bornet 180. Botazzi 283. Boulenger 606. Boveri, Th. 201. 208. 540. Braem, F. 142. 790. On Bar or du du (86. ZAG 710. QUER. 544. 544. 219. Brahe, Tycho de 86. Branco, v. 576. Brandt, A. 478. Brauer, A. 350. 676. 709. . Braun, Max 606. 608. 677. 709. Braus, H. 678. 709. Bride, Me 146. 158. 160. Brooks 134. 146. Brücke, E. 536. Brühl 604. Buck 441. Buffon 84. Bunge 312. Bunsen 66. Burbank, L. 1. 2. Burck, W. 177. Bury 146. 158. Büsgen, M. 638. Bütschli, ©. 150. 219. 220. 387. 442. 444, 445. 482, 483. Buttel-Reepen, H. 277. 339. Ziel 718. (23. 139: 744. 750. 770. 775. 780. ©. Caesalpin 18. 34. Calkins, G. 563. Cameron 198. Candolle, A. P. De 10. 11. Swale Ole Capparelli, A. 489. 505. 524. 539: Carnot. 125. 1267127 Carus 73. 74. 76. 104. Child, C. M. 577. 581. 584. 585. 586. 587. 609. 610. 613. 615. 616. 622. 736. Cholodkowsky, N. 141. 333. 800 662. G3. dole 072. 334. 719. 744. 769. 770. 778. 779. Chun 790. 791. Chwolson, ©. D. 512. Cirincione, S. 453. 468. Claus 109. 110. 111. Clausius 480. Cohnheim, O. 32. Comte 11. Conklin 614. 629. Cori, K. J. 648. Cowles 134. Cruz, O. G. 782. Cuénot, L, 122. 127. 128. Cuvier 13. 37. 74. Cyon, E. v. 639. 635. 723. 745. 656. 724. 746. Gale D. Dalla Torre, K. W. v. 648. Danielssen 144. Darwin, Ch. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 16. 51. 63.73. 74. 76. 77. 78. 79. 80. 81. $3. 84. 87. 88. 89. 90. 91. 92. 93. 94. 95. 96. 103. 109. 114. ade 182. 187. 256. 768. 140% 82. 98. 99. 100. 101. 102. 105. 106. 107. 108. 11:02 1302 1.10, 2113. 119..116.2.11.2.2 165. 178. 179. 180. 181: 183. 184. 185. 186. 188. 189. 191. 224. 318. 427. 112.209: Darwin, E. 9. Davydoff, C. 142. 145. 163. 164. 165. Dekhuyzen 283. Delafield 458. Delage, Y. 158. 706. 709. Delpino, F. 187. 188. Demoll, R. 271. Dennert, E. 576. Desneux 68. Detto, C. 318. Dettweiler, Fr. 765. Distaso, A. 120. Dobell, ©. C. 548. Doflein, F. 243. 246. 589. 590. Dogiel 201. Dohrn, A. 203. Donisthorpe 261. 303. Dorn 25. Dreyfus, L. 333. 634. 2A, TELO Css la 741. 752. KR 161. 567. (23. Alphabetisches Namenregister. Driesch, H. 71. 329. DiCa wuss 92.9: 580. . 583. 584. 585. . 588. 610. 611. 3. 614. 615. 616. . 619. 620. 621. 030. Dungern 383. Dunker 607. Dunzinger 639. Dutrochet 481. 481. 581. 586. 612. 617. 622. EK. Ebner, V. v. 522. Ehrenbaum 608. Ehrenberg 350. Ehrlich, B. 223. 2247383: 474. 475. Ehrlich, R. 117. Eichler 194. Eigenmann 707. Eisler 384. Ekman, S. 58 Elpatjewsky, W. 563. Emery 419. 430. 437. Empedokles 97. Enderlein 728. Engelmann, Th. W. 482. 483. 516. 668. 702. Engler 187. 188. 190. 671. Enriquez, P. 282. 561. Entz, G. 119. Erlanger, R. v. 142. 220. Errera, L. 288. Escherich 422. 431: Ewart 173. 174. 176. Exner, S. 663. 700. KF. Fage 149. Falger, F. 641. Famintzyn, A. 657. Faraday 512. Fick, A. 686. Fick, R. 567. Field 146. Field, H. H. 320. Finkelstein, A. 223. Fischer, O. 544. Fleischmann, A. 108. Flexner, S 383. 615. 623. Hol I. 222712: Forel, A. 257. 259. 278. 298. 299. 380. 419. 420. 421. 422. 423. 424. 426. 428. 430. 431. 437. 441. 445. 447, 616. Goldschmidt, R. Fraipont 445. 627. 628. France 119. Frank, K. 326. 372. 729. Franz, V. 449 468. 536. 537. 545. 786. Frecke 9. Fredericq 283. Frey, M. v. 544. Frick 587. Friedenthal, H. 13. Frisch, K. v. 662. 698. Froggatt 63. Froriep, A. 161. 199. Fuchs, H. 681. 682. 691. 697. Fiirbringer, M. 708. 709. G. Galilei 86. 96. Gamble, F. W. 543. Garcke, A. 671. Gardina, A. 219. Garré 152. Gartner 180. 181. 189. Gaupp, E. 210. 681. 687. Gebhardt, W. 693. Gegenbaur, ©. 203. 210. 605. 690. Geoffroy St. Hilaire 76. 94. 102. 115. Gerould, J. 134. 156. Gessner, K. 14. Giemsa 386. 388. 788. Gierse 198. Giesbrecht, W. 350. Gilson 558. Girschner, E. 758. Gleiss 469. 475 477. Gockel, A. 520. Godlewski, E. 225. Goebel, K. 3. 91. 193. 194. Goethe, H. 661. Goethe, J. W. 8. 9. 73. 74. 83. 90. 107. 115. Göldi, E. 432. 661. 126. 210. 560. 561. Goodrich 148. Goßner, B. 522. Götte 207. 208. Grassi 72. Gray, A. 88. 101. 102. 103. Gregoire, V. 565. Greil 203. 208. Grenacher 552. Griffini 598. Grobben 111. Groom 732. 734. 735. Grützner, P. v. 469. 470. 475. 477. Gscheidlen 639. Guldberg 676. 709. H. Haage 228. Haekel; BE. 4. 5. 6. 7. 8. 736583. LAC, 140; Haecker, V. 542. 557. ' Hagens, v. 380. 423. AD AS (he Hamann, O. 168. 173. Hamburger, K. J. 223. Hammar, Aug. 211. 216. 220. 688. 689. 696. Hansen 679. 682. 686. 688. 695. 697. Harms, W. 153. Hartig 650. Hartlaub, Cl. 466. 468. Hartmann 152. 254. 790. Hartog 145. Hatschek, B 140. 142. 161. 3002 30%. 311.313. 314. 315. 317. 627. 628. Hegi 639. Heidema, A. W. 63. Heidenhain, M. 458. 542. Heider, K. 136. 648. Heincke, Fr. 539. 547. Helmholtz, H. 98. 451. 468. Hempelmann, F. 130. 134. 206. 627. Henriksen, M. E. 256. Hensen, V. 761. Henslow 77. Herbert 180. Herbst, ©. 211. 212. 220.221. 222. 621. 623. 674. 709. Herrmann 384. Hertwig, R. 52. 126. 212. 444. 445. 557. 562. 564. 566. Hertwig, O. 75. 211. 309823107 311. 312. Hertz 512. Hess, K. 759. 761. 762. Hesse, E. 753. Hesse, R. 467. 468. Hildebrand, Fr. 187. 188. Hill 198. Himstedt 762. 763.764. 765. Höber, J. 765. Höber, R. 282. 288. 386. Hodrich 149. Hoff 106. Hoffmann 200. XXVIII. 550. 218. 622. 150. 561. 308. 319. 765. ® Alphabetisches Namenregister. Hofmeister 39. 104. 193. 194. Hollrung, M. 62. Holmgren, N. 69. 70. 72. 73. Hooker 83. 84. 99. 100. Hopkins 101. Hosseus 394. Hiibener 386. Huber, J. 432. . Hubrecht 162. 198. Huxley, Th. 106. 107. H. - Issaköwitsch, A. 51. 61. 3. Jäckel 576. Jaeger, G. 448. Jägerskiöld 147. Jagié 384. Janet 359. 380. 432, Janicki, C. v. 780. Janschewski 608. Jelgersma 200. Jennyns 100. 107. Jhering, v. 432 AT. Jönsson 67. Jordan, H. 278. Joseph, H. 201. Jost 68. 407. Julin, M. 205. 206. Jussieu, A. L. de 15. 74. 423. RK oe Kahlbaum 787. Kaltenbach, J. 634. 654. 661. Kammerer 448. 590. 592. Kanitz, A. 416. Kant 96. Kapelkin, W. 255. 256. Kasanzeff 786. Kathariner, L. 519.520. 521. Kayser 86. Keeble, Fr. 543. Keilhack 56. Keller, C. 63. Kellogg, V. L. 256. Kemna, A. 162. Kennel 536. 543. Keppler 86. Kessler, H. F. 631. 633. 634. 662. 105. 424, 471. 472. 632. Keyserling 9. Kiesel 666. Kisskalt 254. 555. Klebs, G. 91. Klein, J. Th. 79. Klinkowström 198. Knaffl-Lenz, E. v. 783. 784. Knight 180. Knoblauch, A. 468. 477. Knoll, Ph. 469. 470. 471. A DA ie Koch, W. 520. Kodis 544. Koeppe 384 389. Kohl 676. 677. 707. 709. Koken, v. 576. Kölliker, A. 123. 453. 468. Kölreuter 180. 187. 188. Konow, F. 780. Kopernikus 85. 86. 87. 96. Kopsch, F. 152. Korschelt, E. 136. 560. Kösel, J. 520. Kowalevsky, A. 131. 157. 161. 163. Kowalevsky. W. O. 129.131. Kramer, H. 63. Krancher 592. Krassuskaja 212. Kraus, G. 651. Krause 468. 472. 477. Krause, R. 348. Kükenthal, W. 676. 709. Kundt, A. 522. Kupffer, C. v. 677. 709. Küster, E. 62. Kutschera, F. 649. Kyber, J. 652. Kyes 383. 142. 707. EL. Ladenburg 768. Lamarck 4. 5. 6. 7. 8.9. 37. 74. 75. 76. 83. 84. 88. 89. 92. 94.102. 106. 107. 5725003182313 Landau 212. Landsteiner 384. 388. Lang, A. 74. 119. 120. 125. 127. 129. 138. 154. 343. 445. Lange, F. A. 109. Lannoy, F. de 430. Laplace 96. Lavoisier, A. 87. Lebedinsky, J. 141. 147. Lebedinsky, T. 138. 51 802 Lehmann, O. 481. 482. 488. 513. 514. 515: 51.9..520=92222.:523: Leibnitz 51. Lendenfeld, R. v. 347. 468. Leonhard, E. 608. Lerat 565. 566. Leroy 297. Lesser 51. Leuckart, R. 452. 468. Leydig, F. 782. Lichtenstein, J. 334. 631. MOD Lillie 629. Lilljeborg 738. Linden, M. Gräfin v. 126. Linke 25. Linné, ©. 11.. 15. 33. 34. 671. Lister, J. 536. Livanow, N. 140. Livini 203. Lo Bianco 343. Locy 199. Lode, A. 536. Loeb, J. 28. 482. 732. 783. 784. Lubbock 297. 423. Lubosch, W. 678. 681. 697. Ludwig, H. 343. Lummer, O. 480. Lyell 7. 8. 83. 101. 102. 106. M. Macfadyen 520. Madsen 223. Magnus, R. 640. Mallory 683. 689. Malthus 94. 343: 347. SOL. sade. Marchi, E, 63. Marcus, H. 564. Marke BE. 1.320: Marshall, Guy 253. Martini 154. Martins, Ch. 74. Marx 756. Mary, E. 480. Mastermann, A. 154.158. 204. 205. Maupas 444, 445. Mayer, Hans 383. 787. Maxwell 512. Mead 629. Meckel 691. 135. 485. 517. 465. 735. Mangold, E. 167. 168. 169. 136. LOR U2 71977. Alphabetisches Namenregister. Mehnert, E. 676. 677. 705. 709. Meinert 728. Meisenheimer 147 Mendel, G. 120. Menzbier 9. Merck, E. 485. Mereschkovsky 147. Metschnikoff 128. 155. Metzner, R. 32. Meves, Fr. 272. 558. 158. Meyer, Ernst 472. 477. Miescher 388. Mihalkovics 708. 709. Mikucki, T. S. 478. Mill, I. 812.100: Milne, Edwards 13. Mohl 87. Molisch, H. 343. 350. Mordwilko, A. 631. AA ely 623. Morgenroth 383. Moroff 207. Moszkowski, M. 617. 623. Moynier de Villepois 128. 129. Mrazek, Al. 332. Müller, Arthur 672. Müller, Fritz 191. Müller, Hermann 187. Müller, Joh. 209. 464. 602. Müller, R. 62. 63. 64. Müller, W. 708. 709. N. Nagel, W. 32. 544. 763. 764. 765. Nageli, C. 87. 105. 108. 318. 515. Nagler 790. Nasini, R. 494. Naudin 9. Nedkoff 154. Nemec, B. 138. 557. Nernst, W. 224. 383. Neubauer 386. Newbigen, M. J. 126. Newton 86. 95. 96. Niedenzer, Fr. 671. Nilsson, Hg. 1. 2. Nogushi 383. Nusbaum 150. Nuttal 13. Meyer, Ed. 130. 144. 154. 649. CNG N22: Morgan, T. H. 587. 615. 480. 762. Nüßlin, O. 333. 336. 341. 635. 661. 662. 710. 722. Tals (40. 469: ®. Oestergren, Hj. 173. 174. Oken 51. 742 832 115, Oppenheimer, ©. 640. Orley 206. Orlow, N. A. 484. Ostwald, W. 90. 416. 484. Ostwald, Wolfg. 282. 734. Overton, E. 32. 382. 383. 787. Br Panceri, BP 168.) 171. 174 642. 646. Papin, D. 280. Pappenheim, A. 640. Parker 698. 700. Pascucci 384. Pawlow, J. 32. 640. Pedaschenko, D. 139. 150. 152. 156. 708. 709. Pelseneer 157. Pergande 431. Petrunkewitsch 272. 558. Pfaundler, L. 480. Pfeffer 602. 604. Pfeffer, W. 225. 226. 227. 228. 229. 230. 231. 232. 233. 234.235 230° 2372 238. 239. 240. 241. 242. 243. 389. 390. 391. 392. 393. 394. 395. 396. 397. 398. 400. 401. 402. 403. 404. 407. 408. 409. 410. 411. 412. 413. 414. 415. 482. 639. 649. 650. 651. Pflugk, A. v. 451. 452. 468. Pheophilaktowa 763. 764. 765. Picard 86. 9. Pictet 82. Pincus 199. Plantas 272. Plate, L. 95. 306. 307. 308. IES 3122 313. Sie Slim 317. 318. 319. Plateau 786. Plato 84. Platt, J. 203. Polara, G. 493. Popoff, M. 52. 53. 55. 60. 61. 210. 256. 448. 555. 558. 560. 563. Porges 386. Portschinsky, J. A. 661. 780. Potonié 13. Pouillet 480. Poulton 251. Prandtl, H. 561. 563. Prantl 671. Pravaz 528. Preyer, W. 174. 176. Prowazek, S. 382. 548. 549. 554. 550. 551. 552. 553. 555. 563. 782. Przibram, H. 521. 595. 596. Pütter, A. 347. 350. 640. ©. Quatrefages, A. de 168. Quincke, G. 482. 517. 520. R. Rabl, C. 140. 450. 451. 452. Radl, E. 79. Ranke, J. 544. Ranvier 468. 469. 470. 474 477. 695. 696. Rathke 208. 320. 468. Rauther, M. 132. 133. 153. 627. Rawson 180. Redikorzew, W. 202. Reh 64. 768. Reichensperger 352. Reinitzer, F. 485. Reinke, F. 200. 388. Reinke, J. 45 Retterer 689. 697. Reuter, Fr. 604. Rhumbler, B. 220. 3 Richter 51. Riesmüller 657. Riley, ©. V. 654..656 Ritter 166. Rodewald 384. Rodwell 485. Roemer, F. 464. Rollett, A. 469. 470. 477. Romanes 173. 174. 176. Roscoe 66. 166. Rosenthal, J. 75. 480. 512. 544. 640. 768. Rosenthal, W. 224. 255. Rösner 469. 477. Rössle 126. Roux, W. 222. 476. Ruzsky 431. 520. . 520. Alphabetisches Namenregister. S. Sachs 383. 762. Sachs, J. 15. 16. 34. 73.79. ae By ae 1095 tae 650. 657. Safftigen 142. Sageret 180. Sag6 594. Salensky, W. 130. 142. 143. 157. 164. 147. 148. 149. 206. 624. 628. Salmon 62. Samojloff 763. 764. 765. Sand, R.-444. 445. Sandias 72. Santschi 20. 21. 257. 376. 378. 419. 427. 428. 429. 431..437. 488. 439. 441. Sarasin, F. 676. 710. Sarasin, P. 676. 710. Schaffer, J. 678. 679. 680. 681. 682. 683. 684. 687. 689. 690. 691. 693. 694. 695. 696. 697. Schauinsland, H. 677. 710. Schenck, F, 640. Schenk 207. Schepotjeff, A. 131. 134. 146. 161. 162. 163. 165. 204. 205. Schewiakoff, W. 153. Schiemens 273. Schiller, J. 557. 558. 562 564. Schimkewitsch, W. . 129. 131:.139 1812. 14579150 1912 152. 197.2.158. 159: 165..196. 200: 201: 203: 624. 625. 626. 627. 628. Schleich, G. 452. 468. Schmalz, J. P. 73. Schmidberger, J. 633. Schmidt 228. Schmidt, Heinrich 104. Schmidt, ©. 73. Schmitt, J. 431. Schmitz, H. 260. 325. 370. Bier Schneider, A. 153. Schoen 451. 468. Schouteden, H. 288. Schradieck 692. 697. Schreiner 152. Schultz, E. 135. 142. 163. 623.205 10: Sehultz, P. 544. Schultze, Max 758. Schulze 144. | Schumann 192. Schwalbe, G. 472. 477. 803 Seymonowicz, L. 152. Sedgwick 154. Seeliger 146. 158. Seidlitz 8. 73) 111. 117. Selenka, E. 211. Semon, R. 225. 228. 235 236. 389. 393. 395., 396. 397. 398, 399. 401. 402: 403. 405. 406. 407. 408. 409. 411. 412. 414. 415. 416 Semper 206. Sewertzow 199. Sharp 592. 601. Shearer, ©. 139. Siebold, v. 274. 782. Siedentopf 522. Sieler 192. Silvestri, F. 68. 72. Simon 152. Simroth 176. Sinitzyn, D. 138. Sjöstedt 68. Solger, B. 126.537. 540. 545. Speiser, P. 592. Spencer, H. 9. 75. 107. Spengel, J. 134. 159. 166. 708. 710. Sprengel 180. 187. 188. Stahl 67. Steche, ©. 350. Steenstrup, J. 602. Stefanowska, M. 663. Steffens 74. Steinach, E. 547. 704. Steinmann, G. 128. . Steinmann, P. 616. 623. Sterzinger, J. 167. 169. 170. 170" 1773 411042934322340) 347. 34903512 352. Steuer, A. 648. Stevens, N. M. 616. 623. Stieda 681. 697. Stricht, van der 688. 696. Strohl, 322522 547 5582 56. 5.02.58 599.00: Studnitzka 679. 680. 689. 690. 693. 695. Supan 42. Swarczewsky, B. 441. Szezawinska, W. 663. Szily, A. v. 453. 468. 687. 697, ur Tammann, G. 484. Tandler 692. 697. Teichmann, E. 219. Thile 157. Thilo, ©. 602. 606. 51+ 804 Tichomiroff, A. 196. Tigerstedt, R. 639. Tillmanns 689. Tornier, G. 546. 547. 592. Tournefort 15. Tower 256. Traube 387. Treviranus 9. 83. 9. Trinei, G. 790. Trojan, E. 343. 465. 1'schulok, 824. 33.732.927. U. Uhlenhuth 386. Vv. Valle, P. della 560. 562. 564. 566. Verworn, M. 75. 482. 4 484. 536.. 537. 543. 5 Viehmeyer, H. 18. 257.3 369. 371. 376. 380. 4 428. 429. 430. 431. 4 434. 437. 441. Virchow, R. 516. 536. Voigt 756. Vorländer, D. 484. 519. Vosseler 250. 251. 590. 594. 59. Vries@Hl.de 1222.93. 97. Site 319. 308. 309. 310. W. Waelchlis 761. Wagner, J. 147. DOG DDS. Alphabetisches Namenregister. Waldow von Wahl, H. 63. Wallace, A. R. 7. 8. 9. 76. 100. 83.. 84. 91. 95. 96. 102-1316 Erz 244: Wasielewski, Th. v. 672. Wasmann, E. 22. 24. 28. Pb ail, Os 25 2508299: 2.U8..289. 298232123353: 417. 428. 429. 430. 431. 432. 726. Waterhouse 79. Weber 206. Weber, E. H. 481. Weidenreich 384, Weigold 756. Weimann, P. P. v. 515. Weimarn, v. 521. Weinland, E. 32. Weismann, A. 51. 54.55. 56:52 Weismann, W. 235. Weiß 594. Weldon 162. Werner, F. 567. 588. Wettstein, R. v. 113. Wheeler 22. 24. 28. 29. 30. DOs 376. 427. 432. 441. Salis 0p 298. 378. 428. A434. ad, White, Ch. P. 517. Wiedersheim 707. 761. Me Ct Os 329. SO SH: 419. 420. 423. 429. 430. 431. 436. 437. 439. 52. 53. NOs Oo: 16. 80...93. 96: 116. 234. 247. 253. 271. 308. 312. 317. 318. 319. 556. 557. Wiegmann 180. Wierzejsky, A. 147. Wiesner, J. 65. 67. 650. Wigand 106. Wijhe 207. Will 350. Willey 162. 163. 205. 207. Williams, St. 602. Wilson, E. B. 219. 220. 536. 543. 629. Wöhler, L. 522. Woithe 386. Wolf, G. 117. Wolff 208. Wolfrum 453. 468. Woltereck, R. 154. 561. 630. Woodruff, L. 563. Wooldrige 384. Y. Yasuda 282. 2. Zelinka, ©. 131. Ziegler, H. E. 21322142215. 270. Zimmermann 539. 541. 542. 547. Zorn 51. Zsigmondy 521. 139. 141: 217. 222. Alphabetisches Sachregister. A. Abstammungslehre 4. 33. 73. 97. 129. 145. 155. 196. Absterbeerscheinungen der Pigmentzellen 545. Acacia lophanta 406. Acholoe astericola 641. Acineta gelatinosa 441. Adoption 30. Adoptionskolonie 258. 298. 730. Aenigmatias 728. Aestivalis 737. Akkommodation 449, Albizzia lophanta 406. Ameisen 18. 257. 289. 321. 417. 445. 726. Ameisengäste 260. 289. 298. 379. 417. 728. Amphiura chiajei 167. Amphiuru filiformis 166. Amphiura squamata 167. 169. 343. Anergates 379. 423. Anpassung 3. 69. 243. 313. 567. 588. Aphididae Passerini 631. 649. Aphis mali 633. Apis mellificans 271. Arbeiterinnen bei Ameisen 321. 726. Arbeiterpuppen, Aufzucht von 321. 726. Arbeitsteilung der quergestreiften Musku- latur 468. Artentstehung 1. 4. 33. 73. 97. 177. 769. Arten, biologische 769. Atavismus 271. Atemeles emarginatus 260. 302. Atemeles paradoxus 260. 303. Aufzucht fremder Arbeiterpuppen durch Formica truncicola 321; durch For- mica exsecta 726. 333. 393. Auge 449 602. 662. 698. Augenmuskel 607. Autogamie 548. Autonomie 577. 609. BR. Bakteriologie 254. Bastardierung 1. 177. Befruchtung 1. 51. 177. 548. Berichtigung 736. Beziehungsproblem 46, Biene 271. Bilateralia 129. 145. 196. 624. Biologie, allgemeine 1. 4. 33. 73. 97. 129. 145. 177. 225. 243. 278. 306. 567. 577. 588. 609. 673. 705. 769. Biophysik 46. Biotaxie 14. 33. Blattorgane, periodische Bewegung 225. 389. Blut 640. Blütenbiologie 177. Blutkörperchen 508. Bodo lacertae 548. Bufo vulgaris 753. ©. Chaerocampa elpenor 670. Chaitophorus aceris 632. Chaitophorus lyropictus 632. Chemie, allgemeine der Kolloide 672. Chemie, Prinzipien der 416. Chermes 333. 710. 737. 769. Chinin, Beziehung der Plasmalipoide zur Chininwirkung 787. Choanoflagellaten 117. 806 Chordata, Abstammung 159. 196. Chromatophoren 120. 447. 536. 545. Chromosomen 555. Cilien 481. 513. Cladoceren 51. D. Daphniden 51. Deilephila euphorbiae 670. Deszendenztheorie 4. 33. 73. 97. 155. 196. Dichogamie 186. Differenzierungstheorie 310. Diklinie 185. Dinarda dentata 291. Drepanosiphum platanoides 632. E. Echinus microtuberculatus 210. Ei 210. Elytren 641. Entwickelung 278 ; stammesgeschichtliche ‘der Synovialhaut und der Sehnen 678; des Kiefergelenkes der Säugetiere 678. Entwickelungslehre 1. 4. 33. 73. 97. Entwickelungsphysiologie 278. 577. 602. 609. 673. 705. 736. 782. Ergatintheorie 313. KF, Facettenauge 662. 698. Facher im Vogelauge 449. Farbenbildung der Raupe der Saturnia carpine 447. Farbensinn von Tieren 758. Fausthuhn 478. Fischfärbung 255. 448. Flora von Mitteleuropa 639; von Deutsch- land 671. Folia haematologica 640. Folia serologica 640. Formica exsecta 298. 330. 726. Formica fusca 258. 289. 354. 358. 445. 726. Formica pratensis 330. 354. 358. Formica rufa 258. 289. 330. 354. 358. Formica rufibarbis 358. Formica sanguinea 24. 369. 445. Formica truncicola 24. 321. 354. Formregulation 577. 609. Fortpflanzung 51. 177. 210. 333. 441. 548. 631. 649. 710. 737. 769. 790. G. Gallenbildungen durch Chermesinen 751. Gelenke 682. Generatültheorie 306. Alphabetisches Sachregister. Genitocöltheorie 138. 145. Geschlechtsleben 64. Geschlechtsperioden 51. 333. 548. 710. Geschlechtszellen 563. H. Hämatologie 640. Heliotropismusund die periodische Tieten- bewegungen pelagischer Tiere 732. Helix hortensis 120. Helix nemoralis 120. Herkogamie 186. Hiemalis 737. Homarus 669. Homogamie 192. Hybridisation 1. 177. Hygromipisie 489. 524. Hygromipisimeter 492. 1. Immunität 223. 640. Immunochemie 223. Isopoden 294. K. Kastenbildung 68. Keplerbund, Preisausschreiben 576. Kernmembran 786. Kernsubstanz 307. 555. Kernteilung 555. 788. Kiefergelenk der Säugetiere, Entwicke- lung 678. Klettern der Schlangensterne 169. Knospenbildung 441. 790. Kolloide, Allgemeine Chemie der 672. Koloniegründung parasitischer Ameisen 18. 257. 332. 379. 423. 726..230. Königin von Apis mellifica 271. Königin von Formica truncicola 354; F. rufa 358; F. fusca 358; F. san- guinea 369. Kreuzungsgesetz 1. 177. Kristalle, scheinbar lebende 481. 513. i. Leberzellen, Tetradenchromosomen in den 559. Leeithin 392. Leuchten der Schlangensterne 166. 169. 343; von Acholoe astericola 641. Lichtgenuss 65. 389. Lichtwirkung, lokale am lebenden Tier 700; und periodische Tiefenbewegung pelagischer Tiere 732. Lipoide 382. 782. Literatur 320. Alphabetisches Sachregister. Lizzia Claparédei 791. Lomechusa 289. Lueilia 753. M. Mantel der Schnecken 120. Margeliden 790. Medusen 790. Membran der Choanoflagellaten 117. Methodik, physiologische 639. Migration der Pflanzenläuse 631. 649. 710. Mikrophotogramme zur Kenntnis der pathogenen Protozoen 672. Mimikry 243. 567. 588. Mindarus 336. Mindarus abietinus 635. Mneme 225. Molekularphysiologie 288. 481. 490. 513. 782. Mollusken 120. Morphe der Zelle 782. Muskelfasern 468. 481. 513. Muskulatur 468, Mutation 1. Myelinformen 516. N. Naturwissenschaft, allgemeine 479. 768. Nomenklatur der Generationen 722. ®. Ontogenese bei Ameisen 429. Ophiocantha spinulosa 344. Ophiopsila annulosa 166. 169. 343. Ophiopsila aranea 345. Ophiuren 166. 169. 343. Organoide der Zelle 788. Bei Palaemon 669. Paludina vivipara 555. Parasitismus 18. 257. 289. 321. 333. 353. 417. 726. 753. Parthenogenese 52. 177. 333. 750. 790. Pecten im Vogelauge 449. Pflanzengeographie 67. Pflanzenkrankheiten 62. Pflanzenläuse 333. 631. 649. 710. 737. 769. Pflanzenphysiologie 1. 65. 177. 225. 389. Phaseolus vulgaris vitellinus 409. Phyllaphis fagi 634. Phylloxera quercus 634. Phylogenese 624. 748. Phylogenese bei Ameisen 432. Physik, Lehrbuch der 480. 512. Physiologie, Handbuch der 32. 544. 807 Physiologie, vergleichende 278. Pigment 120. 447. 536. 545. 662. 698. Pigmentbänder 120. Pigmentkörnchen, Reihengruppierung der 545. Pigmentverschiebung im 662. 698. Plasmaschicht, hyaline 210. Platyarthrus Hoffmanseggi 294. Polyergus rufescens 25. 379. 417. Polynoiden 641. Polyphemus pediculus 56. Preisausschreiben 576. Proportionalität bei Tubularien 583. Protandrie 192. Protozoologie 254. 672. Pseudopodien 481. 513. Facettenauge ER. Radiärstäbe der Chromatophoren 540. Radiata 129. 145. 196 624. Rathkea octopunctata 791. Raubameisen 445. Raupe der Saturnia carpini, Färbung 447. Reduktion 673. 705. Regulation 577. 609. Rhopalosiphum berberedis 633. Khythmus der Tageszeiten 225. 389. Rind, Aufzucht des 765. Rückbildungen 673. 705. Ss. Saturnia carpini 447. Säugetiere, Entwickelung des gelenkes 678. Saugtätigkeit der Chermesinen 751. Schizoneura lonigera 634. Schlafbewegung der Pflanzen 225. 389. Schlangensterne 166. 169. 343. Scholle, Auge der 602. Schutzanpassung 243. Schutzfärbung 243. 255. 567. 588. Seeigel 210. Seeigelei 210. Seestern 166. 169. 343. Sehnen, Entwickelung der 678. Selbstanpassung, funktionelle 313. Selbstbefruchtung 52. 177. Selektion 1. 4. 33. 73. 97. 177. 243. 255. 256. 448. Serologie 640. Sexualbiologie 64. Sinnesorgane 449. Sklaverei bei Ameisen 18. 257. 289. 321. 3332. 3932411126: Speziesbegriff 63. Steppenhuhn 478. Strongylocentrotus lividus 210. Kiefer- 808 Alphabetisches Sachregister. Strongylognathus testacens 27. 379. Struktur der Zelle 782. Symmetrie, vierstrahlige bei den Bila- teralia 130. 145. Synovialhaut, Entwickelung der 678. Syrrhaptes paradoxus 478. System, äquipotentielles harmonisches 577. 609. 736. Systematik 68. 639. 671. 722. 748. a: Tageszeiten, Rhythmus der bei Pflanzen 225.989: Teilungsorganoide der Zelle 788. Tetradenchromosomen 555. Tiefenbewegung, periodische pelagischer Tiere 732. Tierzucht 62. 765. Termiten 68. Tomognathus sublaevis 27. Tubularien 583. Vv. Vererbung 225. 306. 765. Verteilungsproblem 14. 33. Vitalismus 577. 609. Vogel 449. 478. Vorträge, naturwissenschaftliche in ge- meinverständlicher Darstellung 768. W. Wandern des Auges der Schollen 603. Welten, Werden der 478. Wirtsrelation bei Chermes 711. 2. Zelle, Biologie der 782. Zellkontur der Chromatophoren 538. Zellsubstanz 307. Züchtung 1. 62. 177. 765. Zuchtwahl 1. 4. 33. 73. 97. 177. Zyklenbildung (Fortpflanzung) 51. 333. 631. 649. 710. 737. 769. De a ann Pet te Jon SUR ARE ae Ss oct. We | Verlag von Georg Thieme in Leipzig. Ueberanstrengung beim Schreiben und Musizieren von _ Prof. Dr. J. Zabludowski. Mit 9 Abbildungen. M. 1.20. Ziemssen’s Rezepttaschenbuch fiir Klinik und Praxis. Achte neu bearbeitete Auflage von Prof. Dr. H. Rieder. Taschenformat geb. M. 3.50... Einführung in die Sprache der Medizin Dr. H. pe M. —.40. Steinbach s Formulare zur Geschäfts- u. Buchfihrung des praktischen Arztes und Medizmalheamten. Herausgegeben von Sanitatsrat Dr. Kollm in Berlin. I. Journal mit Kassabuch und Anleitung zur Buchführung. N Siebente Auflage. 100 Seiten geb. M. 4.—, 200 Seiten geb. M. 7.—. II. Hauptbuch und Anleitung zur Buchführung. 200 Seiten. Fünfte Auflage. Geb. M. 6.—. III. Leitfaden dazu. 100 Seiten. Zweite Auflage. M. —.80. K. B. Hof- und Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen. \ N . x 5 ji * 7 x we * ¢ : oe { Y © \ ‘ > x A 7 = 9 - N ‘ = 2 “ 3 : te - a 2 a & > a any f er ee, © 5 5 I Pan) f o an. ya t [fe F uh 5 hs TUN Oh 3 2044 103 127 015 =—— ee Bann nen En ann nn an Tre he rt nen